Die
MUbiihne
Der ^chatibtihneXllZ£L3ahr
Ubchensdirifl foft)litik Rimsi-Wiriwhafl
Bedrondetvmi Siegfried Jacateofm
Vnier Miiarbeii vonKuriTucholfiky
geleiiei wm Cad v.Qssieizky
ZZJahrgang
Zweites Halbjahr
19 3 1
VotagderWetibahne
Charlotfenbiirjg'KairfsfrAsse 152
Register der jWeltbiihne*
XXVII. Jahrgang (1931), 2. Band
Autorenregister
Anonyme Beit rage.
- Was sich auf der Erde
AblaBhandel 1931 . .
27
39
begibt, wenn die
Liebe Weltbiihne! 27 39
28
77
Ernte gut ist . . .
34
313
32 236 33 276 34 314
37
423
Der Heilige der Notver-
38 460 40 538 43 653
44
689
ordnung
34
313
45 727 48 836 49 873
50
907
Uberfall auf die Reichs-
51 943
bank ,,»...
34
314
Antworten 27 40 28 78
29
117
Autarkic .....
35
351
30 158 31 198 32 237
33
277
Herrn Ktilz zur Be-
34 315 35 352 36 385
37
424
achtung
35
351
38 461 39 499 40 539
41
576
Alles Schicksal . . .
35
351
42 614 43 654 44 690
45
728
Segen der Erde . . .
35
351
46 766 47 801 48 838
49
874
Maskuline Begierden .
36
384
50 908 51 945 52 984
Pietat
37
423
Unsern amerikanischen
No violence . .
37
423
Gasten gewidmet , ,
28
76
Spate Reue ....
38
458
Hausse im Bett der
Seine Heben Dendro-
Zeugin
28
76
logen .
38
459
Moblierte Wirtin emp-
Jom Kippur ....
39
498
pfiehlt sich . , ,
28
77
Also — ?
40
537
Wohlerworbenes Eigen-
Theaterkultur ...
40
537
tum
29
116
Germanisch ....
40
538
Glatt erledigt . . .
29
116
Ein kesser Nacbkomme
40
538
Begreiflich
29
116
Physik
40
538
Ein Ziel, aufs Innigste
Wer — ?
41
574
zu wiinschen . . ,
29
116
Gut aufgehoben . . .
41
574
Monogame Sprach-
Reklame-Lyrik . . *
41
574
kunde
30
157
Ludendorf! und das
Die Notverordnung
30
157
Goethe-Jahr . . ,
41
574
Mildernde Umstande .
30
157
Lehm
41
574
Rechtwinklige Buste
Der Macen ....
41
575
erwiinscht . . , ,
31
197
Der Trachtengedanke .
41
575
Verweye doch, dti bist
Motto: Ich habe seit
so schon . , . ,
31
197
meiner Kadettenzeit
Was ware wenn . , ,
31
197
kein Buck mehr ge-
Lange Leitung , , .
32
235
lesen ......
41
575
Leutnant warst du
Zwischenstufen . * .
43
652
einst
32
235
Trotzdem . * 43 653
44
689
Die SelbstbewuBte , .
32
236
Kurzsichtig
44
689
Neues vom Tage , ,
32
236
Wer soil sich da mel-
Zur Dbung . , . ,
33
275
den?
44
689
Volksentscheid . '. .
33
276
Was geschieht, wenn
Das Verbot des tAn-
einer die Verantwor-
griffs'
34
311
tung tragt? ....
45
726
Ideale 45 726
Mit Ahoi ..... 45 726
Die Wochenschau . . 45 726
Natur und Kunst . . 45 727
Ja, warum denn? . . 46 765
Allgemeinbildung . . 47 800
Fragen und Meinungen 48 811
Das Wort der Stunde . 48 $36
Prima Zeugnisse . . 48 836
Adaptierung fur heute 48 837
Ornament Redslob
DRP 49 873
Entwelscht 49 873
Die moralische Anstalt 49 873
Weltecho des leipziger
Prozesses . . . . 50 884
Tekla auf der Tour . 50 906
Christen unter sich . . 50 907
Ein bis zwei Stunden
nach dem Tode . . 50 907
Schmock definiert . . 51 942
Ein Liebling der deut-
schen Musen ... 51 943
Sachsisches .... 51 944
Schaukel-Redslob . . 51 944
Haben wir einen
Reichstag? Wir haben
einen Reichstag! . . 52 980
Sigilla Veri, ein Juden-
lexikon ..... 52 982
Angel, Ernst; Filme im
Zeichen der Krise . 34 304
Apfel, Alfred: Der
schtltzende Paravent 32 232
Der Fall des Doktor
Engel 44 662
Alsberg < 46 798
und Halle, Felix: Eine
Beschwerde ... 35 323
Arnheim, Rudolf: Lehr-
stiick vom Richter
Lindsey 30 142
Bressart 31 184
Tabu 35 346
Hans Albers .... 36 383
Geschaft und trotzdemi 37 408
Der okonomische Tee . 38 449
Die Russen spielen . . 39 485
Kurz und unfreundlich 40 526
Charakterdeutung als
Wissenschaft 41 556 42 599
43 639
Zwei Filme .... 41 572
Marokko 42 612
Teils teuer, teils gut . 44 674
Psychologie des Kon-
fektiousfilms . . . 45 711
Moralische Prosa . . 47 787
Eloessers zweiter Band 48 834
Babys, Jungen und
Madchen .... 49 655
Anmerkung .... 49 869
Mixed Grill .... 50 892
Stil und Stumpfsinnim
Film . . . ■ . . . 51 932
Zwolf Uhr nachts . . 52 969
Asiaticus: Kanton und
Nanking 37 395
Manabendra Nath Roy 49 . 850
Bargenhusen, Jan: Die
Deutsche Planung . 30 150
Schatzwechsel — und
was dann? .... 32 228
Die schwarze Front . , 34 286
Wir hoffen auf Wirt-
schaftswunder ... 46 731
Einer muO geschlachtet
werden! 48 827
Bauer, Hans: Der Olym-
pier ...... 27 35
Der Expeditionsfilm . 39 498
Behne, Adolf: Die Kunst
als Waffe .... 34 301
Die Akademie am
Scheidewege . . . 35 344
Feihinger . - ... 40 535
Die Welt von unten
oder Zweierlei 01 .-46 754
Benedikt XV.: Der Krieg
ist eine grauenhafte
SchlachtereiJ ... 31 171
Bennr Gottfried: Dieneue
literarische Saison . 37 402
Blei, Franz: Parabel . . 45 708
Bleier, August: Nathan
Soderblom 29 112
Brentano, Bernard v.: Der
Philosoph der
Schwerindustrie . .
Breuer, Robert: Ober den
Schutzverband . . .
Brod, Max : Kampf mit
einem Prominenten .
Buckler, Johannes: Die
Meerengen ....
Zehn Millionen
Deutsche vorbestraft!
Der rote Handel lockt .
Werkspionage . , .
Potentiel de guerre . .
Esperanto
Citron, * Bernhard: Geld-
geber der Nazis . .
Reichsaufsichtsamt . .
Wirtschaft bringt Not .
Alte und neue Banken
Flucht aus der Soziali-
sierung . . . . . 36 376
36
369
48
818
39
494
27
13
43
628
45
700
47
.777
49
868
52
961
28
72
29
110
31
186
33
268
m
38 437
40
512
42
606
43
643
44
680
45
718
47
792
49
664
50
898
52
974
35 340
28
67
30
148
40
527
48
837
29
83
Subventionen ....
Die Krise des Kapitalis-
mus
Die Plane der Industrie
Verschlossenes Gold .
Risse im Stahlkonzern
Brechung der Zins-
knechtschaft . . ,
Dezentralisation . . .
Banken der Zukunft .
Das Vierte Reich . ,
Morgan und Borsig . .
Cohen-Portheim, Paul:
Anglikana ....
Connor, Herbert: Die
Schlagerindustrie im
Rundfunk ....
Die Schlagerclique de-
mentiert .....
Corbusier, Le: Drohung
iiber Paris ....
Dehmel, Richard; Der Ar-
beitsmann ....
Droste, Thomas: Was
wird werden? . . .
Ebermayer, Erich: Wer-
thers Leiden 1931 . 47 785
Eckhardt, Ferdinand: Epi-
log zur Bauausstel-
lung ...... 31 194
Eggebrecht, Axel: Die
heiligsten Guter . . 29 100
Das wirkliche Ruhr-
gebiet 33 271
Der GroBe Plan ... 41 560
Unsre fidelen Gefang-
nisse 46 761
Ekert-Rothholz, Alice:
Welt fur Manner . . 28 66
Alle spielen Blindekuh 34 310
Die Neuerscheinung . 35 343
Tonende Wochenschau 37 417
Zeittheater! Zeittheater! 40 532
London in rot und grau 44 669
Legende von den Him-
melsplagen .... 46 755
Jeden Tag: Auktion! . 49 855
Ezzelino : Vorsicht : Ge-
schichtsromanf . , 30 155
Die Begrufiung ... 38 458
Falkenfeld, Hellmuth:
Hegel 43 634
Feldmann, Siegmund:
Paul Doumer ... 27 5
Finck, Werner: Wenn das
so weiter geht . . . 46 765
Fischer, Ernst: Otto
Bauer und James
Maxton 32 208
Der Pfrimer-Putsch . 38 437
Flake, Minna: Gegen die
Bonzen des Aeskulap 43 647
Flesch, Intendant Hans:
„Schlager im Rund-
funk" ...... 31 182
Floch, Richard: Dem
VDA gewidmet . . 52 979
Franck, Sebastian: Wirt-
schaft am Tage vor
der Diktatur ... 28 69
Frank, F.: Der Zuhalter . 35 325
Franke, W.: Polizei-
berichte ..... 50 889
Frei, Bruno: Gesprach
mit Patel .... 41 547
Futo, Evelyn: Spruche . 43 651
Gantner , Anton : Pater
Muckermann . . . . 33 257
Gattamelata ; Habt ihr
schon bemerkt . . 29 115
Der M-Stil .... 49 872
Gehrke, M. M.: Mitro-
paisches ..... 28 75
Es pafit nicht ins
Schema 44 685
Das Andre Polen . . 52 978
Gerlach, Hellmutv,: Nun
mufl sich alles, alles
wenden! 37 421
Friedrich Leopold . . 38 456
Hitlers Vorlaufer . . 48 814
Paul-Boncour hat
Recht! 51 914
Gerstorff, K. L.: Wir
haben noch keine
Reparationen gezahlt! 28 41
Bruch in der natio-
nalen Front . . ,32 201
Von Bruning bis Seyde-
witz 34 289
Frankreichs Gold . . -37 389
Welt-Inflation ... 39 470
SPD gespalten! ... 40 504
Am runden Tisch bei
Hindenburg ... 43 625
Kalter Abbau ... 45 696
Rufiland in der Wirt-
schaftskrise ... 47 771
Zentrum und Fascis-
mus 49 844
Illusionen fiber Hitler . 52 950
Glenk, Hans : Wer kampf t
fur uns? .... 39 492
Wer ist beleidigt wot-
den? 47 7%
IV
35
335
41
569
31
36
179
378
37
38
393
444
Goldschmidt, Alfons;
Union der festen
Hand 27 20
Der Optimist . ... 29 107
Mussolinito .... 31 175
Zehn Jahre I.A.H. . . 41 550
Goncourt, Edmond de:
Zur Goldkrisc . . 39 491
Goering, Max: Wie emp-
fangen wir unsre
Krieger? .... 31 190
Grauli: Unser Adolf . . 51 944
Halle, Felix und Apfel,
Alfred (siehe Apfel)
Harris, Frank : Amerika-
nisches Mittelalter
Hasenclever, Walter: Pre-
miere in Moabit . .
Hauser, Kaspar: Deut-
sches Chaos . . .
Kleine Nachrichten . .
Kurzer AbriB der Na-
tionalokonomie . .
Der kartellierte Zeisig
Haufig, Ernst Moritz:
Staatenreigen vor
dem Weihnachtsbaum 51 943
Heine, Heinrich: Zu die-
sem Devaheim . . 37 422
Zu dieser Zensur . . 40 515
Hill, Oktavius: Die Wah-
rung tanzt .... 47 798
Hiller, Kurt: Scheier
spukt 27 17
Sozialistenbund ... 28 47
Freiwilliger Arbeits-
dienst 30 154
Die Schuldigen strafen 31 165
Einen Schritt noch,
Einstein! .... 33 250
Nationaler Philoso-
phatsch 38 441
Lenin und der Mate-
rialisms 44 670 45 704
Imaginare Schonheits-
konkurrenz .... 48 832
Ohnmachtiger Pazifis-
mus 50 882
Hirsch, Leo: Das Dum-
ping der Seelen . . 27 35
Das Zimmer im Innen-
ministerium ... 36 374
Holitscher, Arthur: Bruno
Weils Boulanger-
Buch 41 570
Horney, Rolf: SchultheiB-
Kulissen .... 51 936
Hudes, T. N.: Leben der
Autos und polnische
Diploma ten , , , ,
Hyan, Hans: Die Mord-
kurve . . 37 396
Isolani, Gertrud: In mei-
ner Eigenschaft
als
Kalenter, Ossip: Reise-
freuden
„Sein Liedchen blast
der Postilion ..."
Moblierte Zimmer , .
Kdllai, Ernst : Tanzkunst
durch Eilboten , .
Religiose Kunst? , .
Lyonel Feininger: Zwan-
zigtausend ....
Das Dritte Reich im
Bild ......
Kaminski, Harms-Erich:
Briining in Rom . ,
Der deutsche Sumpf ,
Das Laster der Spar-
samkeit
An einem Sterbebett ,
Internationale Ge-
sprache
Der Troubadour der
groBen Dame . . .
Kunde von 1936 . . .
Karsch, Walther: Zuruck
zur Barbarei! , . .
Nachwort zu einer Ex-
hortatio BenediktsXV.
Ein Volk klagt an! . ,
Courths-Mahler rot . .
Interview mit Max
Seydewitz ....
Lex Weinert ....
Wahn-Europa 1934 . *
Spielzeug Mensch , .
Werfel theoretisiert
Kastner, Erich: Auf einer
kleinen Bank vor
einer groBen Bank .
Dummheit zu Pferde .
Poesie rer. pol. . . .
GroBe Zeiten (neueste
Ausgabe) ....
Hunger ist heilbar . .
Gesprach mit dem Mi-
nisterium ....
Fabian und die Sitten-
richter
Herbstnacht in Berlin ,
46 760
38 439
27 3a
27 37
33
38
274
460
30
32
145
22S
46
763
49
852
32
36
2Q6
366
40
42
516
587
44
659
47
51
7®t
923
30
132
31
36
39
173
382
495
40
42
45
47
51
508
582
723
774
926
29
30
31
104
138
189
32
39
236
489
40
523
43
44
642
683
Die Dame schreibt der
Dame 45 717
Das Riesenspielzeug . 47 791
Heiliger Abend . . .
Keilpflug, Erich R.: Wie
macht man Sudsee-
filme?
Renter, Heinz Dietrich:
Notverordnung als
Preisausschreiben
Kersten, Kurt: Schlacht-
feld und Lohntiite
Kessel, Martin: In Wirk-
lichkeit aber
Kesser, Hermann: Zu
dieser Zensur . . .
Der Flieger komrat!
Klaffke, Helmut: Die Fa-
milie 40 530
Kurzer Hinweis auf
Zehnsassa .... 51 935
Klein, Wol demar : Mon-
tagu Norman . . . 36 3S0
Koffler, Dosio: Kaiser-
Film ,.,,-,, 45 702
Kolmar, Alfred: Selbsthilfe
oder Auslandshilfe? . 29 105
Aufspaltung der deut-
schen Zolleinheit
Konzern-Schwachsinn .
Kraszna-Krausz, A.: Film-
wirtschaft , , t .
Kunkel, Johann: Synthe-
tische Politik . . .
51 939
29 114
31 196
41 568
28 64
33 261
48 820
34 294
45 722
52 965
Langer, Felix: Das ewige
Butterbrot . . . .
Lehmann-Rufibiildt, Otto:
Potentiel de Guerre
30 130
Der osterreichische Re-
Der
marque . .
Leonhard, Rudolf
Revolver . . .
Unfug mit Jimmy Wal
ker
Filmoptimisten . .
Lernet-Holenia, Alexan
der: Beilis . . .
Lichtenberg: Gelehrte
Lind, Emil: Buhnengenos-
senschaft und Oppo-
sition
Links, Jakob: Die ge
tafnte Schupo . .
Tarnow oder R.G.O.?
Lo wen thai, Fritz : Meu-
ternde Matrosen . .
Luschnat, David: Schrift-
steller-Schutzverband
41 545
37 420
29 91
51 940
31 177
38 454
46 752
46 745
46 757
27 26
28 53
36 357
46 740
42 584
Magnus, Max: Ufa-Dra-
maturgie .....
Ufa und Autoren . »
Marcuse, Julian: .Aposto-
lische Gynakologen .
Matthias, Lisa: Die Frau
und die Behorde . .
Mayer, Otto: Neue Arbei-
terchore
Mehring, Walter: Harden
Kleiner Seitenhieb . .
Die Operette riistet
auf
Menczer, Bela: Bethlens
Gliick und Ende . .
Mtihlen, Arno: Der Ober-
landjager ....
Mtihsam, Erich: Gewerk-
schaft der Schrift-
steller
Aktive Abwehr . . .
Neergaard, Ebbe: Ameri-
kas Filmherrschaft .
Nek: Wenigstens die
Schreibmaschine . .
Olden, Rudolf: f,Geplante
Vorschriften" . . .
Zu Schnitzlers Tod . .
Ossietzky , Carl v. : Rei-
tende Bettler . . .
Es ist erreicht! . . .
Stillhalten und mit-
singen
Brtining und sein Ruhm
Volksentscheid . . .
Btilowplatz ....
Zu spat! . . . . .
Am runden Tisch . .
Pilsudski-Regime . .
Armer Curtius! . . .
Pogrom und Polizei
Volker ohne Signale .
Dieser Winter
Rechts ist Trumpf! . .
50 zu 50
Die beiden Groener .
Biilow und Schleicher ,
Braun und schwarz , .
Groener funkt da-
zwischen ....
Wer gegen wen? . .
Der Weltbuhnen-ProzeB
Of fener Brief an Reichs-
wehrminister Groener
Kommt Hitler doch? .
Trotzki spricht aus
Prinkipo ....
Tabula rasa - -
32 233
37 411
27 33
45 709
43 651
42 956
51 929
52 971
35 320
43 631
28 57
50 880
32 219
49 867
39 474
43 648
27
29
1
79
30 119
31 159
32 199
33 239
34 279
35 317
36 355
37 387
38 453
39 463
40 501
41 541
42 579
43 617
44 .655
45 693
46 729
47 767
48 803
49 839
50 875
51 911
52 947
VI
Pallenberg, Max: Antwort
an Max Brod ... 40 533
Panter, Peter: So verschie-
den ist es im mensch-
lichen Lcben — ! . . 29 103
Europaische Kinder-
stube ...... 33 266
Lehar am Klayier . . 34 307
Zwei Sprachbucher . . 35 341
Der musikalische Infini-
tiv 36 361
Schnipsel . 37 416 44 673
51 934
Einer, der es genau weiB 41 554
f 43 650
Kritik als Berufssto-
rung 46 749
Auf dem Nachttisch . 49 857
Pol, Heinz: Ullstein und
Ufa ...... 39 477
Zum Sterben zuviel . . ,? 40 519
Rapprochement ... 43 635
Polgar, Alfred: Die schone
Helena 27 30
Theater 38 451
Kabale und Liebe . . 39 490
„Ruckkehr" .... 40 535
Der Theaterdichter
Schnitzler .... 44 679
Geschichten aus dem
Wiener Wald ... 46 756
Hoffmanns Erzahlungen 49 862
Wunder der Wochen-
schau 50 902
Billingers „Rauhnacht" 52 972
Prigge, Richard: Medizin
und Publikum ... 30 138
Quidde, Ludwig: Korrup-
tion auf Filzpan-
toffeln
Raff, Friedrich: Mifito-
nende Wpchenschau .
Die neueste (lMiflto-
nende Wochenschau' '
Die Attrappe ....
Ray, Marcel : Laval in
Washington . . .
Reimann, Hans: Zeddies .
Der Fall M
Klavier auf Platten
Marathon-Tanz . . .
Der wahre Grund . .
Reiner, K. L.: Gombos,
der letzte Ritter . .
fteiser, Hans: .Deutscher
Winter "*■ „ . . .
Ringelnatz, Joachim: Im
Aquarium in Berlin .
35 332
38 4158
39
497
51
941
43
621
37
422
44
668
45
715
48
822
50
906
42
610
52
983
33
276
Abglanz
Herbst im FluB , . .
Roda, Roda: Der Schwei-
zerische Mazen . .
Der Menschenfreund .
Der Hofliche ....
Sand, Georges : Stimme
des Besiegten . . .
Shaw, George Bernard:
Das miBverstandene
Ruflland
Simplex: Vernunftige
Zauberer ....
Lied des Deutschen
von 1931 ....
Solten, Robert: Studen-
tenkrawalle . . .
Spender, S. : Philologi-
sches ......
Swift, Jonathan: Poli-
tische Prozesse . .
Justiz
Scner , Peter : Edle f ar-
bentragende Jugend .
MacDonald in Deger*
loch
Das Lied vom Dingel-
dey
Casar auf Reisen . .
Fascistenparade . . .
Anarchie in Bayern .
Schiller, Norbert; Salz-
burger neues Welt-
theater .....
Schiicking, Julius Lothar:
Protest gegen „posi-
tiv"
Stalin: Eine Rede . . .
Stein, A: Die Ehre in
Giatz
Sternberg, Fritz: Linke
Sozialdemokraten
und SowjetruBland .
Stossinger, Felix: Der
englische Dolchstofi .
Pax britannica . . .
Autarkic . . . . .
Zur Amerikalegende .
Revolutionsmusik . .
Coudenhove blamiert
Europa
Passionsmusik . . .
Generate und Demo-
kratie
Sturmann, Manfred: Rent-
nerinnen
35 351
45 727
35 349
37 422
40 537
50 891
36
360
33
272
41
574
28
73
35
350
47
48
795
836
29 113
31 192
34 314
36 384
42 608
45 725
42 605
37 418
28 45
35 348
31 167
30
125
34
281
42
610
45
121
47
797
49
847
50
904
52 955
41 575
VII
Tarn, Thomas; Die
nachste Notverord-
nung 33 247
„Lange Wellen" ... 38 432
Deflation oder In-
flation? 41 564
Nachkriegs-Kapitalismus 46 736
Der Irrtum der Ge-
werkschaften ... 51 920
Tiger, Theobald: An das
Publikum ..... 27 32
Der Mitesser . . . . * 30 147
Autarkie ..... 32 231
Die Losung . , . .34 293
Also wat nu — ja oder
ja? 35 347
Der Priem . . ... 36 373
Goethe-Jahr 1932 . . 38 452
Theobald Tiger ... 38 457
Imma mit die Ruhe! . 40 525
Beit Friehstick ... 41 567
An das Baby .... 43 646
Betriebsunfatl ... 47 795
Sie, zu ihm .... 48 826
Media in vita . . . 50 901
Die Seriosen .... 52 977
Timpe, Theodor: Ein
Ketzer wird gemacht 46 742
Toller, Ernst: Giftmord-
prozefi Riedel-Guala 41 552
Traven, B.: Banken-
Krach 31 185
Tucholsky, Kurt: Erkla-
rung 33 276
Im Gefangnis begreift
man 50 902
Valles, Jules: Volkskunst 33 273
Victor, Walther: Gott
in Montreux ... 30 156
Villard, Oswald Garrison:
Hoovers Tragodie . 29 87
Vola, Heinrich: Schau-
bude anno 2000 . . 37 423
Voss, Margarete: Arbeits-
lose Jugend 19(31 . . 38 458
Der Konflikt .... 43 653
Wallenstein, G.: Deut-
scher Winter 1931/32 40 538
Walter, Arnold: „Die
schalkhafte Witwe" . 44 687
Das Unaufhorliche . .
49
870
Mahagonny . . , .
52
981
Walter, Hilde: Frauen-
dammerung? . . .
27
24
Die Stehkragenfront
wankt
46
739
Wehner, Carl : Persien
und PreuBen . * -
44
684
Wieland, Hans: Hitlers
Fliegerei ....
51
918
Wild, Jonathan: Und
nochmals: Schafft die
Todesstrafe ab . .
27
34
Tonkin . . 32 213
33
262
Winder, Ludwig: Stefan
Rott
46
762
Wolfenstein, Alfred; Han-
noverscher Roman
50
903
Wrobel, Ignaz: Der Ver-
dachtsfreispruch , ,
27
33
Der Predigttext ....
28
72
Zuzutrauen . ... .
29
111
Der bewachte Kriegs-
schauplatz . . .
31
191
Die Augen der Welt .
32
216
Die Herren Wirtschafts-
ftihrer .....
33
254
Herr Wichtig ....
34
312
Reparationsfibel . .
35
328
Am Telephon . . .
37
418
Eines aber
38
454
Sigilla Veri ....
39
■483
Parteiwirtschaft . . .
40
533
Die Kriegsschuldfrage .
42
609
Die Verrater ....
45
720
Ein kleiner Volksschul-
lehrer
48
831
Hegesippe Simon . ,
50
895
Basel ......
51
940
Rote Signale ....
52
959
Zeun, Curt: Doktor Gen-
ter in Lubeck . . ,
Ziegelmiiller, Franz:
Schiele, Baade und
Andre
Zucker, Wolf: Wieder-
sehen mit England
29 98
Reisen mit Doktor
Oberall
42 590
27 9
28 62
49 869
vm
Sachregister
Abbau, Kalter — ...
Abglanz
AblaBhandel 1931 . . .
Absatznot — Arbeitsnot
Abwehr, Aktive — . .
Adaptierung fur heute .
Adolf, Unser — . . .
Ahlwardt
Ahoi, Mit — .....
Akademie, Die — am
Scheidewege ....
Albers, Hans — ...
AUegorie, Eine deutsche —
Allgemeinbildung .
Alsberg
Also — ? ......
— wat nu — ja oder
ia?
Amerikalegende, Zur — ,
Amerikanischen Gasten,
Unsern gewidmet
Amerikanisches Mittel-
alter
Amerikas Film-Herrschaft
Anarchie in Bayern . .
Anglikana
fAngriffs\ Das Verbot
dcs — . . . ': . , .
Anmerkung . / . . ,
Apostolische Gyna-
kologen . . . . .
Aquarium, Im — in Berlin
Arbeiterchore, Neue — .
Arbeitsdienst, Freiwilli-
ger —
Arbeitslose Jugend 1931 .
Arbeitsmann, Der — , .
Arbeitsnot, Absatznot —
Attrappe, Die — . . . .
nAufmarsch"
Auktion, Jeden Tag: — !
Auslandshilfe, Selbsthilfe
oder — ?
Ausreise- Verbot, Das — .
Autarkic 32 231 35 351
— , Pressechef verkiindet
die — ......
Autoren, Ufa und — . .
Autos, Leben der — und
polnische Diplomaten .
„AvantgardeM ....
Aeskulap, Gegen die Bon-
zen des — ....
45 696
35 351
27 39
40 512
50 860
48 837
51 944
48 814
45 726
35 344
36 383
39 4S9
47 800
46 758
40 537
35 347
45 721
28 76
35 335
32 219
45 725
35 340
34 311
49 869
27 33
33 276
43 651
30 154
38 458
48 837
40 512
51 941
43 651
49 855
29 105
30 121
42 610
31 163
37 411
46 760
39 485
43 647
Baade, Schiele, — und
Andre
Baby, An das — ...
— s, Jungen und Madchen
Bademunde, „Die Schlacht
von * — " . ...
Balasz, Bela — . . . .
Ball, „Der — " . . . .
Bank, Auf einer kleinen
— vor einer groBen —
— en, Alte und neue — .
— en der Zukunft . . .
— en-Krach . . * . .
Barbarei, Zurtick zur — !
Basel
Bauausstellung, Epilog
zur — ......
Bauer, Ludwig — ...
— ,Otto —
— , Otto — und James
Maxton
Bayern, Anarchie in — .
Becher, Johannes R. — .
Beer, Rtidiger Robert — .
Begierden, Maskuline —
Begreiflich
Begruftung, Die — ...
Behorde, Die Frau und
die —
Beilis
Benedikt XV
Benn, Gottfried — ...
Berlin, Herbstnacht in —
— , Im Aquarium in — .
„ — Alexanderplatz" . .
Beschwerde, Eine — . .
Besiegten, Stimme des —
Bethlens Gluck und Ende
Betriebsunfall ....
Bett, Hausse im — der
Zeugin . , . . .
Bettler, Reitende — . .
Bild, Das Dritte Reich
27 9
43 646
49 855
37 408
50 894
37 408
29 104
33 268
49 864
31 185
30 132
51 940
31 194
49 860
31 167
32 208
45 725
41 560
31 159
36 304
29 116
38 458
45 709
46 745
31 173
49 870
44 683
33 276
41 572
35 323
50 891
35 320
47 795
28
27
76
1
Billingers f1Rauhnacht" .
Blank, Herbert — . . .
Blech, Leo — ....
Blindekuh, Alle spielen
MBomben auf Monte
Carlo"
Bonzen, Gegen die — des
Aeskulap
Borsig, Morgan und — .
49 852
52 972
30 132
49 862
34 310
36 383
43 647
52 974
IX
Boulanger-Buch, Bruno
Weils —
Braun und schwarz . .
Brecht, Bert — . . . .
Bredel, Willi — . . .
Bremer, P. H
Bressart
Britannica, Pax — ...
Brod, Max — . . .
— ( Antwort an Max — .
Briining in Rom . . . .
— und Hugenberg , .
— und sein Ruhm . . .
— ( Von — bis Seyde-
witz .......
Buchner, Eberhard — , .
Buchrucker, Major —
Butterbrot, Das ewige —
Buhnengenossenschaft und
Opposition ....
Bulow und Schleicher
— Platz
Buste, Rechtwinklige —
erwiinscht . . , .
Carlowitz, Doktor von —
Casar auf Reisen . , .
Chaos, Deutsches — . .
Chaplin, Charlie — . .
Charakterdeutung als
Wissenschaft 41 556
43 639
Charell, Erik — 44 674
Christen unter sich .
Christiansen, Broder —
„City-Lights" ....
Connor, Herbert — .
Coudenhove blamiert
Europa ....
Courths-Mahler rot
Crozier, General — .
Curtius, Armer — f .
Dame, Der Troubadour
der groBen — ...
— f Die — schreibt der —
Deflation oder Inflation?
Degerloch, MacDonald
in —
Demokratie, Generale
und —
Dendrologen, Seine lie-
ben — ......
Deri, Max —
Deutsche Planung, Die —
— Sumpf, Der
— en, Lied des —
1931 ....
— r Winter . . .
— r Winter 1931/1932
41 570
45 693
52 981
39 495
46 742
31 184
34 281
46 762
40 533
32 206
39 467
31 159
34 289
49 859
30 132
37 420
27 26
44 655
33 239
31 197
39 474
36 384
31 179
34 304
42 599
46 752
50 907
49 872
34 304
31 182
49 847
39 495
49 858
37 387
47 781
45 717
41 564
31 193
52 955
38 459
40 535
30 150
36 366
41 574
52 983
40 538
Deutsches Chaos ... 31 179
Devaheim, Zu diesem — 37 422
Dezentralisation ... 47 792
Diel, Louise — .... 49 857
Diktatur, Wirtschaft am
Tage vor der — . . 28 69
Dingeldey, Das Lied
vom — 34 314
Dominicus 34 312
Doumer, Paul — ... 27 5
Dritte Reich, Das — —
im Bild 49 852
Dummheit zu Pferde . . 30 138
Dumping, Das — der
Seelen ...... 27 35
Dupont, E. A. — ... 37 408
Dyke, W. S. van — . . 44 674
Ehre, Die — in Glatz . 35 348
Ehrenburg, II j a.— . . . 29 100
Eigenschaft, In meiner —
als 27 38
Eigentum, Wohlerworbe-
nes — 29 116
Einer, der es genau weiB 41 554
— mufi geschlachtet wer-
den! 48 827
Eines aber 38 454
Einstein, Einen Schritt
noch, — ! .... 33 250
Eisenmann ..... 27 13
Ekk, Nikolai — .... 39 485
Eloessers zweiter Band . 48 834
„Emil und die Detektive" 49 855
Engel, Der, Fall des Dok-
tor — 44 662
—.Erich — ..... 41 572
England, Wiedersehen
mit — . . 28 62 29 98
Englische DolchstoG
Der .... 30 125
„Enthousiasmus" ... 39 485
Entwelscht 49 873
Erde, Segen der — . . 35 351
— , Was sich auf der —
begibt, wenn die Ernte
gut ist 34 313
Erklarung ..... 33 276
Ernst, Franz — .... 46 742
Ernte, Was sich auf der
Erde begibt, wenn die
— gut ist 34 313
Es ist erreicht! .... 29 79
Esperanto 52 961
Europa, Coudenhove bla-
miert — 49 847
Europaische Kinderstube 33 266
Expeditionsfilm, Der — . 39 498
Exportkampf, Vom —
zum Kriege . ... 28 69
Fabian und die Sitten-
richter 43 642
Familie, Die — .... 40 530
Farhentragende Jugend,
Edle .... 29 113
Fascismus, Zentrum und
— . . 49 844
Fascistenparade . . . . 42 608
Fehling, Jiirgen — . . . 52 972
Feininger 40 535
— , Lyonel — : Zwanzig-
tausend ..... 46 763
Film, Stil und Stumpfsinn
im — 51 932
— e, Zwei — ..... 41 572
■ — e im Zeichen der
Krise ..... 34 304
— Herrschaft, Amerikas
— 32 219
— optimisten ..... 46 752
— wirtschaft 52 965
Flieger, Der — kommt! . 48 820
— ei, Hitlers — .... 51 918
FluB, Herbst im — . . 45 727
Foch . 52 955
Forst de Battaglia, Otto
..... 41 554
Fragen und Meinungen .48 811
Frankreichs Gold ... 37 389
Frau, Die — und die Be-
horde . 45 709
— endammerung ? ... 27 24
Friedell, Egon — ... 27 30
Friedrich Leopold ... 38 456
Friehstick, Beit — ... 41 567
50 zu 50 42 579
Furstenberg, Von — zu
Jakob Goldschmidt . 33 268
Gallone, Carmine — . . 44 674
Garvens, O. — .... 35 328
Gefangnis, Im — begreift
man 50 902
— se, Unsre fidelen — . 46 761
Gefecht, „Das letzte — " . 39 469
Geld, Politik ohne — . , 31 161
— geber der Nazis . . 28 72
Gelehrte 46 757
Generate und Demokratie 52 955
Genter, Doktor — in Lu-
beck ...... 42 990
..Geplante Vorschriften" . 39 474
Germanisch 40 538
Gescbaft und trotzdem! . 37 408
Geschichtsroman, Vor-
sicht: — ! 30 155
Gewerkschaften, Der Irr-
tum der — .... 51 920
Glatt erledigt .... 29 116
Glatz, Die Ehre in — . 35 348
Glaeser, Ernst — 49 869 50 894
Gobsch, Hanns — . - . . 45. 723
Gold, Verschlossenes — 43 643
—krise, Zur — . . . . 39 491
Goldschmidt, Jakob — . 29 107
— , Von Fiirstenberg zu
Jakob — 33 268-
Gott in Montreux .... 30 156
Gombos, der letzte Ritter 42 610
Goethe- Jahr 1932 . . . 38 452
— :, Ludendorff und das — 41 574
Grill, Mixed — . . 50 892
Grimm, Hans — ... 52 947
Grofie Plan, Der . 41 560
— Zeiten (neueste Aus-
gabe) .32 236
Grocner, Die beiden — . 43 617
— , Offener Brief an
Reichswehrminister : — 49 839
— funkt dazwischen . .46 729
Grund, Der wahre — . 50 906
Guala, Giftmordprozefi
Riedel— . , . . . 41 552
Guerre, Potentiel de —
29 91 30 130 49 868
Gulbransson, O. — . .35 32&
Gut, Teils teuer, teils — 44 674
— aufgehoben , . . . 41 574
Giiter, Die heiligsten — . 29 100
Gynakologen, Aposto-
Hsche — 27 33
Habt ihr schon bemerkt 29 115
Hannoverscher Roman , 50 903
Harden 42 596
„Harold, halt dich fest" . 34 304
Hausse im Bett der Zeugin 28 76
Hegel ....... 43 634
Heilige, Der — der Not-
verordnung .... 34 313
— r Abend 51 939
— sten Giiter, Die . 29 100
Heine, Th. Th. — . . . 35 326
Helena, Die schone — . 27 30
Hemingway, Ernest — . 38 451
Herbst im Flufl .... 45 727
— nacht in Berlin . . . 44 683
Heute, Adaptierungfur— 48 837
Hielscher, Friedrich ■— . 38 441
Hiipert, Heinz — 38 451 46 756
Himmelsplagen, Legende
von den — .... 46 755
Hindemith, Paul — . . 49 870
HindenbuVg, Am1 runden
Tisch bei — ... 43 625
Hirsch, Karl Jakob — .50 903
Hitler, Illusionen iiber — 52 950
— , Kommt — doch? . 50 875
— s Fliegerei ..... 51 918
— s Vorlaufer .... 48 814
XI
Hofbauer, Josef —
Hoffmanns Erzahlungen .
Hoovers Tragodie . . .
Horvath, Odon —
Hoflich, Sergeant — .
Hofliche, Der — . . .
Hugenberg, Bnining und
51
940
49
862
29
87
46
756
49
859
40
537
39
467
39
467
39
489
Humor der Woche ,
Hunger ist heilbar
I. A. H.f Zehn Jahre — . 41 550
Ibaiiez, Carlos — ... 31 175
Ideale . . 45 726
Industrie, Die Plane der
— 42 606
Infinitiv, Der musika-
lische — 36 381
Inflation, Deflation oder
— ? 41 564
— , Welt — 39 470
Innenministerium, Das
. Zimmer im — ... 36 374
Internationale Gesprache 44 659
Italiaander, Rolf — . . 34 312
Ja, warum denn? ... 46 765
Jom Kippur 39 498
Joseph, Doktor — ... 47 774
Jugend, Arbeitslose — *
1931 38 458
— f Edle farbentragende — 29 113
Junge Liebe 38 452
Jungen, Babys, — und
Madchen 49 855
Justiz 48 836
Kabale und Liebe , . 39 490
Kaiser-Film 45 702
Kalter Abbau .... 45 696
Kanton und Nanking . 37 395
Kapitalismus, Die Krise
des —...... 40 512
Kartellierte Zeisig, Der — 38 444
Kat 38 451
Katajew. Valentin — . . 39 485
Kastner, Erich — ... 47 787
Ketzer, Ein — wird ge-
macht ...... 46 742
Kind, „Das — und die
Welt" 49 855
— erstube, Europaische — 33 266
Kircher, Rudolf — ... 31 159
Kisch, Egon Erwin — . 49 861
Klavier auf Platten . . 45 715
Kleine Nachrichten . . 36 378
Knickerbocker, Hubert
H. — ." 45 700
, 43 650
Kommunisten und Volks-
entscheid 30 119
Konfektionsfilms, Psycho-
logic des — .... 45 711
Konflikt, Der — ... 43 653
KongreB, „Der — tanzt" 44 674
Konzern-Gefahren ... 31 187
Schwachsinn , . . , 45 72S2
Korruption auf Filzpan-
toffeln 35 332
Kortner, Fritz — . . 44 674
Kraus, Karl — .... 51 929
Kredit und Kreditinstitute 40 514
Krey, Franz — ... 39 495
Krieg, Der — ist eine
grauenhafte Schlach-
terei! 31 171
— e, Vom Exportkampf
zum — ...... 28 69
— er, Wie empfangen wir
unsre — ? .... 31 190
— sscbauplatz, Der be-
wachte — 31 191
— sschuldfrage, Die — . 42 609
Kritik als Berufsstorung 46 749
Kunst, Natur und — . 45 727
— .Religiose — ? ... 32 225
—.Die — als Waffe . 34 301
Kurz und unfreundlich . 40 526
— sichtig , 44 689
Kiilz, Herrn — zur Beach-
tung 35 351
Lahusen 28 72
Lamprecht, Gerhard — . 49 S56
Lange Leitung .... 32 235
„Lange Wellen" .... 38 432
Lapradelle 27 13
Laval in Washington . . 43 621
Leben, „Der Weg ins — " 39 485
— , So verschieden ist es
im menschlichen 1 29 103
Legende ...... 31 159
* — von den Himmels-
plagen ..... 46 755
Lehar am Klavier ... 34 307
Lehm 41 574
Lehmann-RuBbuldt,
Otto — 49 868
Leipziger ProzeB, Welt-
echo des . . . 50 884
Leitung, Lange — ... 32 235
Lenin und der Materialis-
mus ... 44 670 45 704
Leutnant warst du einst ... 32 235
Lewin, Kurt — .... 49 855
Lichtbild, „Das Deutsche
— " 50 892
xn
Licbc, Junge — . * . . 38 452
— , Kabale und — ; . . 39 490
— , „Nic wicdcr — " * . 31 184
— , „Wer nimmt die —
ernst..." .... 41 572
Lindsey, Lehrstuck vom
Richter — .... 30 142
Linke Sozialdemokraten
und SowjetruBland . 31 167
Literarische Saison, Die
ncue .... 37 402
Lloyd, Harold — ... 34 304
Lohntiite, Schlachtfeld
und — - 41 568
London in rot und grau 44 669
Losung, Die — .... 34 293
Lubitsch, Ernst — ... 34 304
Ludendorf i und das
Goethe-Jahr ... 41 574
Liibeck, Doktor Genter
in — 42 590
Lutkens, Charlotte — . 45 721
M, Der Fall — 44 688
MacDonald in Deger-
loch 31 192
Mahagonny 52 981
Mann, Thomas — ... 33 266
Marathon-Tanz .... 48 822
Marokko 42 612
Martin, Karl Heinz — . 41 572
Marx, Der gerechtfertigte
— 40 512
Maskuline Begierden . 36 384
Materialismus, Lenin und
der — ... 44 670 45 704
Matrosen, Meuternde — 46 740
Maxton, Otto Bauer und
James — 32 208
Macen, Der — .... 41 575
Madchen, Babys, Jungen
und — 49 855
, — in Uniform" ... 49 855
Manner, Welt fur — . . 28 66
Media in vita .... 50 901
Medizin und Publikum . 30 138
Meerengen, Die — ... 27 13
Meinungen, Fragen und — 48 81 1
Mensch, Spielzeug — . . 47 774
— enfreund, Der — . . . 37 422
— lichen Leben, So ver-
schieden ist es im —
Mildernde Umstande . /
Ministerium, Gesprach
mit dem — ....
Mirkin-Getzewitsch . .
Mitesser, Der — ...
Mitropaisches ....
Moabit, Premiere in — .
29 103
30 157
40 523
27 13
30 147
28 75
41 569
Monogame Sprachkunde
„Monte Carlo" ....
, „Bomben auf "
Montreux, Gott in — . .
Moralische Anstalt, Die
— Prosa
Mordkurve, Die —37 398
Moratorium, Das stille —
Morgan und Borsig . .
Motto: Ich habe seit mei-
ner Kadettenzeit kein
Buch mehr gelesen .
Moblierte Wirtin emp-
fiehlt sich
— Zimmer . . . . .
M-Stil, Der — ....
Muckermann, Pater — .
Murnau, F. W. — . . .
Musen, Ein Liebling der
deutschen — . . . .
Mussolinito
Nachkomme, Einkesser —
Nachkriegs-Kapitalismus
Nachrichten, Kleine — .
Nachttisch, Auf dem —
Nachwort ......
Nanking, Kanton und —
Nationalen Front, Bruch
in der . . . .
Nationaler Pmlosophatsch
Nationalokonomie, Kurzer
AbriB der — . ...
Natur und Kunst . . .
Naumann, Friedrich — .
Nazis, Geldgeber der —
Neuerscheinung, Die — .
Neues vom Tage . . .
1936, Kunde von — . .
No violence . ....
Norman, Montagu — . .
Not, Wirtschaft bringt —
Notverordnung, Der Hei-
lige der — ....
— ,Die —
— , Die nachste — ...
— als Preisausschreiben .
Nun muB sich alles, alles
wenden!
Nurnberg, Rolf — . . .
Oberlandjager, Der — .
Offenbach, Jaques —
27 30
Olympier, Der — ...
Operette, Die — riistet
auf
Optimist, Der — ...
Oederlin, Max — ...
30
157
34
304
36
383
30
156
49
873
47
787
38
439
31
186
52
974
41 575
28 77
38 460
49 872
33 257
35 346
51 943
31 175
40 538
46 736
36 378
49 857
31 173
37 395
32 201
38 441
37 393
45 727
48 814
28 72
35 343
32 236
51 923
37 423
36 380
31 186
34 313
30 157
33 247
31 196
37 421
51 929
43 631
49 862
27 35
52 971
29 107
49 859
XIII
Oekonomische Tee, Der
38 449
Oel, Die Welt von unten
oder Zweierlei — . . 46 754
Pallenberg, Max — . .
Parabel
Paravent, Der schut-
zende — ......
Paris, Drohung uber — .
Parteiwirtschaft .. . . .
Passionsmusik ....
Patel, Gesprach mit — .
Paul-Boncour hat Recht!
Pax britannica ....
Pazifismus, Ohnmachti-
ger —
Persien und Preufien
Pfrimer-Putsch, Der — .
Philologisches ....
Philosoph, Der — der
Schwerindustrie . .
— atsch, Nationaler — ,
Physik .
Pietat . .
Pilsudski-Regime . . .
Plan, Der GroBe — . ,
— ung, Die Deutsche — .
Platten, Klavier auf — .
Poesie rer. pol, . . . ,
Pogrom und Polizei . ,
Polen, Das Andre —
Polgar, Alfred ....
Politik, Synthetische —
— ohne Geld ....
Politische Prozesse — .
Polizei, Pogrom und —>
— berichte
Polnische Diplomaten, Le-
ben der Autos und —
„Positiv'\ Protest gegen
Postilion, „Sein Liedchen
blast der — . . ." . .
Potentiel de Guerre 29 91
49 868
Predigttext, Der — ...
Premiere in Moabit
Pressechef verkiindet die
Autarkie ....
PreuBen, Persien und
Priem, Der — ...
Prima Zeugnisse . .
Prominenten, Kampf mit
einem — ' . . . .
Prozesse, Politische —
Psychologie des Kon-
fektionsfilms . . .
39 494
45 708
32 232
40 S27
40 533
50 904
41 547
51 914
34 281
50 882
44 684
38 427
35 $50
36 369
38 441
40 538
37 423
36 355
41 560
30 150
45 715
31 189
38 453
52 978
44 674
41 545
31 161
47 795
38 453
50 889
46 760
37 418
33 274
30 130
28 72
41 569
31 163
44 684
36 373
48 836
39 494
47 795
45 711
Publikum, An das — .. 27 32
— .Medizin und — ... 30 138
Rapprochement .... 43 636
Rationalisierung, Soziali-
sierung und — . . , 31 187
„Rauhnacht'\ Billingers — 52 972
Rechts ist Trumpf! . . 41 541
Rechtwinklige Biiste er-
wunscht 31 197
Redslob, Schaukel-— . , 51 944
—.Ornament — DRP. . 49 873
Reger, Erik — . , . , 27 20
Reibnitz, Kurt v. — . . 47 781
Reichsaufsichtsamt . . 29. 110
Reichsbank, Oberfall auf
die — 34 314
Reichstag, Haben wir
einen — ? Wir haben
einen — ! 52 980
Reimann, Hans — . . . 35 341
Reinhardt, Max — 27 30 39 490
49 862
Reisefreuden 27 37
Reklame-Lyrik .... 41 574
Religi6se Kunst? ... 32 225
Remarque, Der _ oster-
reichische — .... 51 940
Renouvin ...... 27 13
Rentnerinnen .... 41 575
Reparationen, Wir haben
noch keine — gezahltf 28 41
Reparationsfibel .... 35 328
Reue, Spate — .... 38 458
Revolutionsmusik ... 47 797
Revolver, Der — ... 31 177
R.G.O., Tarnow oder — ? 36 357
Riedel-Guala, Giftmord-
prozefi — 41 552
Riesenspielzeug, Das — . 47 791
Rom, Bruning in — . . 32 206
Rote Handel, Der
lockt ...... 45 700
— Signale ..... 52 959
Rott, Stefan — .... 46 762
Roy, Manabendra Nath — 49 850
Ruhe, Imma mit die — ! . 40 525
Ruhrgebiet, Das wirkliche
— ....... 33 271
Runden Tisch, Am 35 317
, Am bei Hin-
denburg 43 625
Rundfunk, Die Schlager-
industrie im — ... 28 67
— , „Schlager im — " . , 31 182
Russen, Die — spielen . 39 485
RuBland, Das miBver-
standene — . ... 36 360
— in der Wirtscbaftskrise 47 771
,(Ruckkehr" 40 535
XIV
Sagan, Leontine — ' . . 49 855
*,Salto Mortale" .... 37 408
Salzburger neues Welt-
theater 42 605
Samson, R. — - , . .. 38 452
Sassmann, Hanns — . . 27 30
Sachsisches 51 944
Seeleh, Das Dumping der
— 27 35
Segen der Erde ... 35 351
Seitenhieb, Kleiner — . . 51 929
SelbstbewuBte, Die — . . 32 236
Selbsthilfe oder Auslands-
Wfe? 29 105
Semi-Kurschner ... 39 483
Seridsen, Die — ... 52 977
Seydewitz, Interview mit
Max — 40 508
—.Urn — 39 464
— Von Briining bis — . 34 289
Sie, zu ihm 48 826
Siegfried, Andre — . . 39 463
Sigilla Veri 39 483
, ein Judenlexikon 52 982
Signale, Volker ohne — 39 463
Simon, HegSsippe — . . 50 895
Sittenrichter, Fabian und
die —,....., 43 642
„Soir de Raffle' ... 44 674
„Solidaritat" 43 651
SowjetruBland, Linke So-
zialdemokraten und — 31 167
Sozialdemokraten, Linke
— und SowjetruBland 31 167
Sozialisierung, Fluent aus
der — 36 376
Sozialisierung und Ratio-
nalisierung .... 31 187
Sozialistenbund - ... 28 47
Soderblom, Nathan — . 29 113
Sparsamkeit, Das Laster
der — 40 516
Spat, Zu — I 34 2179
SPD gespaltenf ... 40 504
Spengler, Oswald — .. 36 369
Spielzeug Mensch ... 47 774
Sprachbucher, Zwei — . 35 341
Sprachkunde, Monogame
— ....... 30 157
Spruche 43 651
Subventionen .... 38 437
Sumpf, Der deutsche — 36 366
Sudseefilme, Wie macht
man — ? 29 114
Sunder, „Der brave — " 44 674
Synthetische Politik . . 41 545
Schatzwechsel — und was
dann? . 32 228
Schaubude anno 2000 . . 37 423
Schaukel-Redslob ... 51 944
Scheffler, Karl — ... 49 858
Scheler spukt ... . 27 17
Schema, Es pafit ntcht
ins — 44 685
Schicksal, Alles — ... 35 351
Schiele, Baade und Andre 29 9
Schiller, Friedrich v. — . 39 490
Schilling, E. — .... 35 328
Schlachtfeld und Lohntute 41 568
f,Schlager im Rundfunk" 31 182
— clique, Die — demen-
tiert 30 148
— Industrie, Die — im
Rundfunk 28 67
Schleicher, Bulow und — 44 655
Schmock definiert , . . 51 942
Schnipsel 37 416 44 673 51 934
Schnitzler, Der Theater-
dichter — . , . . 44 679
— s, Zu — Tode .... 43 648
Schonheitskonkurrenz,
Imaginare — .... 48 832
Schreibmaschine, Wenig-
stens die — . . . .49 867
Schrifts teller, Gewerk-
schaft der — ... 28 57
— Schutzverband ... 42 584
Schuldigen, Die — stra-
fen .31 165
SchultheiB-Kulissen . . 51 936
Schultze-Pfaelzer, Ger-
hard — 30 132
Schulz, W. — .... 35 328
Schupo, Die getarnte — .28 53
Schutzverband, Schrift-
steller-^- 42 584
-^-,Ober den — . . . .48 818
Schwarz, Braun und — . 45 693
Schwarz, Georg — . , . 33 271
— , Hanns — . . . . . 36 383
Schwarze Front, Die 34 286
Schweizerische Mazen,
Der 35 349
Schwerindustrie, Der Phi-
losoph der — ... 36 369
Staatenreigen vor dem
Weihnachtsbaum . . 51 943
Stahl-Konzern, Risse im
— 44 680
Stalin spricht . . / . 28 45
Stauf, Ph. — 39 463
StauB, Hans — .... 47 774
Stehkragenfront, Die —
wankt .....; 46 739
XV
Steinberg, Paul — - . • •
50
889
Sterbebett, An cincm — .
42
587
Sterben, Zum — zu-
viel..,?
40
519
Sternberg, Josef v. — -
42
612
Stewart, Donald — . .
40
535
Stillhalten und mit-
singen
30
119
StraBer, Otto — . . .
30
132
Stocker, Adolf — ...
48
814
Studentenkrawalle . . .
28
73
Tabu ...
35
346
Tabula rasa
52
947
Tanzkunst dutch Eilboten
30
145
Tarnow od^r R.G.O.?.
36
357
Tekla auf der Tour , .
50
906
Telephon, Am — ...
37
418
Temeraire, „Fighting — "
39
463
Teuer, Teils — , teils
gut
44
674
Theater
38
451
— kultur
40
537
Thiel, Rudolf — . . . .
50
892
Thiele, Wilhelm — . .
37
408
Thony, Ed. — ....
35
328
Tiessen
43
651
Tiger, Theobald — ...
38
457
Tode, Ein bis zwei Stun-
50
907
— sstrafe, Und nochmals:
Schafft die — - ab . .
27
34
Tonkin ... 32 213
33
262
Trachtengedanke, Der —
41
575
„Trader Horn'* ....
44
674
Tretjakow, Sergej — . .
37
402
Trotzdem . . 43 653
44
689
Trotzki spricht aus Prin-
kipo
51
911
Troubadour, Der — der
groBen Dame . . .
47
781
Ufa, Ullstein und — . . 39 477
— und Autoren .... 37 411
— Dramaturgic .... 32 233
Ullstein und Ufa . . . 39 477
Unaufhorliche, Das — . . 49 870
Unfreundlich, Kurz und
— 40 526
Uniform, „Madchen in — " 49 855
Union der festen Hand . 27 20
Uberall, Reisen mit Dok-
tor — 49 869
Uberfall auf die Reichs-
bank 34 314
Ubung, Zur — . . . . 33 275
VDA, Dem — gewl^et . 52 979
Verantwortung, Was ge-
schieht, wenn einer
die — tragt .... 45 726
Verdachtsfreisprucb, Der
— ....... 27 33
Verrater, Die — .... 45 720
Verschieden, So — ist es
im menschlicben Le-
ben — I 29 103
Verweye doch, du bist so
schon 31 197
Vierte Reich, Das 50 898
Vinna, Clyde de — . . 44 674
Violence, No — .... 37 423
Volk, Ein — klagt an! . 36 382
— sentscheid . 32 199 33 276
— sentscheid, Kommu-
nisten und — ... 30 119
— skunst ...... 33 273
— sschullehrer, Ein klei-
ner — 48 831
Vorbestraft, Zehn Mil-
lionen Deutsche — ! . 43 628
Volker ohne Signale . - 39 463
Wagemann, Ernst — . . 38 432
Wahn-Europa 1934 . . 45 723
Walker, Unfug mit
Jimmy — .... 38 454
Was ware wenn 31 197
— wird werden? ... 29 83
Washington, Laval in — 43 621
Wahrung, Die — tanzt . 47 799
Weill, Kurt — .... 52 981
Weils, Bruno — Boulan-
ger-Buch 41 570
Weinert, Lex — ... 42 582
Weiskopf, F. C. — . . 50 894
Wellen, „Lange — ' . . 38 432
Welt, Die Augen der — 32 216
— , Die •— von unten oder
Zweierlei 01 ... 46 754
— buhnen-Prozefi, Der — 48 803
— echo des leipziger
Prozesses 50 884
— Inflation ..... 39 470
Wenn das so weiter
geht 46 765
Wer — ? 41 574
— gegen wen? .... 47 767
— ist beleidigt worden? .47 796
— kampft fur uns? . . 39 492
— soil sich da melden? 44 689
Werfel theoretisiert . . 51 926
Werkspionage .... 47 777
Werthers Leiden 1931 . 47 785
Wertoff, Dsiga — ... 39 485
Wichtig, Herr — ... 34 312
XVI
Wiener Wald, Geschich-
ten aus dem — — .
Winter, Deutscher —
-—.Deutscher — 1931/32
— ,Dieser —
Wirklichkeit, In — aber . , .
Wirtin, Moblierte —
empfiehlt sich , . ,
Wirtschaft am Tage vor
der Diktatur . . .
— bringt Not ....
— sbeirat, Der — ...
— sftihrer, Die Herren —
— swunder, Wir hoffen
auf —
Witwe, „Die schalkhafte
Wochenschau, Die —
— , Die neueste „MiB
tonende — " .
— ( MiBtonende —
— , Tonende —
— , Wunder der —
—Kino . . .
Wolf-Ferrari
Wort, Das — der Stunde
46 756
52 983
40 538
40 501
28 64
28 77
28 69
31 186
43 625
33 254
46 731
44 687
45 726
39 497
38 458
37 417
50 902
37 408
44 687
48 836
Zauberer, Vernunftige — 33 272
Zeddies 37 422
Zehn Millionen Deutsche
vorbestraftf .... 43 628
Zehnsassa, Kurzer Hin-
weis auf — .... 51 935
Zeisig, Der kartellierte
— 38 444
Zeittheater! Zeittheater! 40 532
Zensur 30 122
— , Zu dieser — 33 261 40 515
Zentrum und Fascismus 49 844
Zeugin, Hausse im Bett
der — 28 76
Ziel, Ein — f aufs Innigste
zu wunschen ... 29 116
Zinsknechtschaft,
Brechung der — , . 45 718
Zolleinheit, Aufspaltung
der deutschen — , . 34 294
Zuckmayer, Carl — . . 38 451
Zuhalter, Der — . , . 35 325
Zuzutrauen 29 111
Z wischenstuf en ...» 43 662
Zwolf Uhr nachts , . 52 969
XXV4I. Jalftf$ft&g *. Jnli 1931 Hammer 27
Reitende Bettler voncanv.ossietzky
In Siidamerika gibt es Bettler zu Pferde. Sie reiten auf ihrem
* diirren Klepper von einer Hazienda zur anderm und halten
den Caballeros mit groBer Gebarde die hohle Hand unter die
Nase. Wer gibt, dem danken sie so erhaben, als ware er der
Beschenkte. Wer nicht gibt, dem wtinschen sie alk'Nattern
des Urwaldes an den Hals,
Mag der Hoover-Plan auch fur die kranke Weltwirtschaft
keine Heilung sondern nur eine Morphiumspritze bedeuten, so
eroffnet er in der Politik der Vereinigten Staaten doch eine
neue Epocbe, Denn Amerika hat bisher weder iiber die Kriegs-
schuldennochuberdie Reparationen mit sich reden lassen* DaB
Europa blechen mufi, schisn. ein von dem amerikanischen lieben
Gott ganz besonders verhangtes Fatum zu sein. An dieser Doktrin
lieBen die amerikanischen Regierungen nicht riitteln, und die
Offentlichkeit war hinter ihnen, Der bedeutende englische
Publizist Wickham Steed scbreibt in der ,Prager Presse': „Was
President Hoover heute vorschlagt, hatte mit groBerer Aus-
wirkung vor zehn Jahren geschehen konnen, wenn President
Harding, der Nachfolger des Prasidenten Wilson, kuhn und
weise genug g ewe sen ware, die Ratschlage zu befolgen, die
ihm die meisten seiner kompetenten Berater gab en, Er hatte
fur die Vereinigten Staaten die moralische und politische,
ebenso wie die finanzielle Fiihrerschaft der Welt behalten
konnen. Die meisten Krisen, die seither die finanzielle Lage
betroffen haben, hatten vermieden werden konnen und nicht
minder der Krach der amerikanischen Prosperitat im Oktober
1929, der dann nie eingetreten ware,"
Amerika ist das zugestromte Geld nicht gut bekommen,
und auch fiir den deutschen Schuldner muBte etwas geschehen,
um seine weitere Zahlungsfahigkeit zu sichern. So warf
denn Herbert Hoover mit der groBartigen EntschluB-
fahigkeit amerikanischer Politiker, die im Gegensatze zu
ihren europaischen Kollegen ganz undoktrinar sein konnen, von
einem Tag zum andern das Steuer herum und verkiindete das
Moratorium, Es ist nicht ganz so weitbegliickend, wie es in
Europa gemacht wird. Aber es ist doch ein erster Akt von
kapitalistischem Solidarismus, anzeigend, dafi das Finanzkapi-
tal sich auf gewalfige Kampfe riistet und deshalb vor neuen,
uberraschenden Methoden nicht zuriickschreckt. Natiirlich
spielten auch die innenpolitischeni Verlegenheiten der Republi-
kanischen Partei Amerikas mit. Denn in ganz kurzer Zeit
wiirde Deutschland selbst das ihm nach dem Young-Plan zu-
stehende Recht auf ein Moratorium' geltend1 gemacht haben,
und das ware drub en als eine grolje Niederlage des Regimes
Hoover gedeutet word en. Man hatte den Prasidenten fiir das
Versagen des Zahlungsplans verantwortlich gemacht. So aber
1 i
spielte Hoover das Pravenire, £r kam nicht nur Deutschland
vorausi er entwarf auch das Zauberbild einer abcbbcndcn Welt-
krise, einer neuen Welle von Prosperitat,
Der Hoover-Plan isi also kein Kind hotter Idealitat, wohl
aber ein Ergebnis begriiBenswerter Einsicht. Das Ungliick ist
nur, daB er auch Fragen von erheblichem politischen Gewicht
mit sick fiihrt, und daB der amerikanische Wohltater diese
Last einstweilen auf dem dtinnen Plafond der deutsch-franzosi-
schen Beziehungen niedergelegt hat Die Vereinigten Staaten
konnen gut generos sein. Um. ihre Inter essen handelt es sich
ja zunachst, wenn sie ihren Schuldnern Stundung gewahren,
Aber es wird auch von den andern Staaten GroBmut gefordert,
und hier muB die, Antwort naturgemaB anders ausfailen. Der
Hauptwiderstand aber muB von Frankreich kommen, dessen
Budget zwar ganz gewiB nicht auf den deutschen Zahlungen
aufgebaut ist, das aber keine Lust hat, sich seine edelmutigen
Waliungen von Amerika vorschreiben zu lassen, Nicht mit
Unrecht folgert Frankreich, daB nach dem von Amerika ge-
wiinschten Feierjahr, der Young-Plan in seiner alten Gestalt
niemals wieder effektiv werden wird. Niemand weiB, wer in
einem Jahr in Deutschland regieren wird, so sagt man in Paris,
vielleicht Herr Schachtf der schon lange die Einstellung aller
Zahlungen f ordert. Aber vielleicht, wahrscheinlich, wird auch
die jetzige Regierung, falls sie alsdann noch am Leben ist, ahn-
lich argumentieren oder neue Ausfliichte fur neuen Aufschub
f inden oder gleich eine allgemeine Vertragsrevision verlangen
und nur gegen Konzessionen militarischer oder territorialer
Art weiterzahlen. Und das Land, das am meisten unter dem
Kriege gelitten hat, dessen Norden und Westen unter der Ra-
serei der Materialschlachten in Aschenhaufen zerfallen ist,
wird dann um seine Entschadigung geprellt sein. Das ist die
Auffassung in Paris.
Die deutsch-franzosischen Beziehungen haben ihre eigne
Tragik, Beide Volker sind mit den iibelsten Nationalisten un-
ter Gottes Sonne gesegnet; beide brauchen einen Schieds-
richter, der ihre Inter essen zur Angleichung fiihrt, anstatt sie
gegeneinander auszuspielen. * Statt dessen fin den sie einen
von ausschlieBlich kommerziellen Motiven geleiteten Wohl-
tater, der die politischen Konsequenzen seiner Caritas auf
beide abwalzt und untereinander auskegeln laBt. Der.Hoover-
PLanj hat Frankreich uberrumpelt und erheblich isoliert. Das
gibt dem Chauvinismus neues Futter und vergiftet das Ver-
haltnis zu Deutschland von neuem. „Es ist wieder Ruhrstim-
mung in Frankreich," schreibt Leon Blum*
Frankreichs lange gehegter Wunsch ist die Streichung der
gesamten Kriegsschulden. Das kann es jedoch nicht allein
durchsetzen, dazu braucht es die Unterstiitzung Deutschlands.
Die Fiihrer der deutschen Politik aber haben nicht den Mut,
eine Linie zu verfolgen, dte zur grundsatzlichen Anderung der
Haltung gegeniiber dem sogenannten Erbfeind zwingt. Ver-
standigung mit Frankreich uber die Kriegsschulden, das wiirde
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wohl ein enges wirtschaftliches Zusammengehen und dam it be-
trachtliche Erleichterung bedeuten, aber auch Verzicht auf ein
territoriales Revisionsprogramm und auf eigne machtpolitische
Plane. Man weiB es in Deutschland nicht genugend, daB be-
ztiglich der Kriegsschulden ganz Frankreich einer Meinung ist,
und daB die amerikanische Hartnackigkeit in dieser Frage
wiederholt die heftigsten Demonstrationen hervorgerufen hat.
Deshalb empfmden grade die linken Parteien in Frankreich
jetzt Hoovers unvermutete Aktion wie einen Faustschlag, Sie
sehen die Reparationen in Dunst aufgehen, Deutschland aber
test an einen angelsachsischen Block gekettet, wahrend Frank-
reich allein bleibt, ein AuBenseiter Europas. Das erklart die
scheinbare Unlogik der sonst verstandigungsfreundlichen Radi-
kalen, die unter Herriots Ftihrung diesmal in die Nachbar-
schaft von Louis Marin $ erteten, Das erklart aber auch die tod-
liche Verlegenheit der Regierung Laval, die Amerika nicht ein-
fach mit einem runden Nein antworten konnte, andrerseits aber
auch die groBten Anstrengungen machen muBte, um die Kon-
tinuitat des Young-Plans aufrechtzuerhalten. So geriet die
Regierung Laval, die Deutschlands Not durchaus nicht verkennt
und deren Kriegsminister Maginot erst kurzlich erklart hat,
daB Vertrage nicht fur die Ewigkeit bestimmt seien, in den
wenig sympathischen Zwang, grade den fur uns so wichtigen
amerikanischen Vorschlag des vollstandigen Feierjahres anzu-
fechten, Und in die Ecke tfedrangt, stand Frankreich als der
hartnSckige, unbelehrbare Glaubiger da. der zu feder Erleich-
terung Nein sagt, mag auch der Schuldner daruber zugrunde
gehen. Als der Shylock, dem in seiner formalistischen Be-
seasenheit sein Schein wichtiger ist als selbst das eigne
Interesse.
Die amerikanische Denkschrift zeigte wie mit dem aus-
^estreckten Finger auf Frankreich: Dort steht der Schuldige!
Dabei wollte Laval alles andre, nur nicht den grundsatzlichen
Widerstand gegen den Hoover-Plan. Aber er wollte das Pre-
stige Frankreichs wahren. und er wollte eine juristisch wasser-
dichte Garantie fiir den Fortbestand des Young-Plans heraus-
schlagen. Die amerikanische Diplomatie aber forderte ein glat-
tes Ja, sie tat Frankreich nicht einmal den Gef alien, auf ein
kleines Scheingefecht einzugehen. Ihre Meinung, die allerdings
nicht im Memorandum steht, aber von Herrn Mellon sicherlich
mundlich vorgetragen wurde, ist die: Wenn es in Deutschland
so weiter gehtf kommt der Fascismus, und dann verfallen unsre
inyestierten amerikanischen Kapitalien, und auch ihr bekommt
keinen blanken Sou mehr zu sehen. Deshalb muB Bruning
unterstiitzt, Deutschland saniert werden! Den Franzosen aber
ist der Unterschied zwischen Bruning und Hitler nicht klar
und wird es niemals werden, daher ihr zaher Widerstand, daher
das ganze verknurrte, langatmige Palaver zwischen Washing-
ton und Paris.
Was in Deutschland geschehen ist und noch geschieht, lie-
fert der franzosischen Starrheit die besten Argumente. Die
Zollunion, die noch immer nicht offiziell beerdigt ist, noch
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immer in den Zeitungen Iarmend gespenstert, die Stahlhelm-
paraden, die Exzesse nationalistischer Sttidenten — das alles
ist nicht geeignet, den franzosischen Nachbarn zu beruhigen.
GewiB, man verkennt in dem sehr stabilen, sehr biirgerlichen
Frankreich die besondere Psyche eines Krisenlandes, Aber
man kann den Franzosen nicht die Frage verwehren, was denn
in Deutschland von den besser unterrichteten Amtsstellen ge-
gen den Nationaiismus geschieht. Hat denn nicht Frankreich
grade jetzt vor einem Jahre das Rheinland vor dem vertrags-
maBigen Terrain geraumt? Und die Wirkung war nur ein un-
erhorter Aufschwung des Chauvinismus. geschurt von dem Ka-
binettsminister Treviranus, der mit seihen provozierenden Re-
visionsreden umherreiste. Das war Deutschlands Ant wort auf
die friihere Raumung.
Es darf auch nicht tibersehen werden, was fur ein wahn-
witziges Echo der Hoover-Plan in Deutschland gefunden hat.
Die nationalistische Presse, also der weitaus liberwiegende Teil
derPresse, verkiindete sofort in larmenden Lettern, daB wir zum
letzten Male Reparationen gezahlt hatten, Mit Hoover gegen
Frankreich, immer feste druff! Das war der Tenor, Das war
die Sprache gegen denjenigen Vertragspartner, aul dessen Cou-
lanz wir vornehmlich angewiesen sirid. Vergeblich versuchte
der Reichskanzler in seiner nachtlichen Rundfunkrede an
Frankreich dies en katastrophalen Eindruck abzuschwachen. Er
ist nicht durchgedrungen. Das Stahlhelmgeklirr iibertonte
sein diinnes Organ-
Die deutschen Nationalisten vereimgen in ungemein gut
gelungener Synthese Heldentum und Schnorrerei. Was fiir tolle
Widersprtiche tanzen in der nationalistischen Agitation heriim.
Wir sind ein armes Volk, aber wir brauchen ein starkes Heer.
Wir leiden unter der Last der Tribute, aber wir muss en Kolo-
nien haben, Wir haben fiinf Millionen Arbeitslose, aber das
Vaterland muB wieder gr6Ber werden. Wir leiden unter Kapi-
talmangel, aber ungezahlte Milliarden sind nach Holland und
in die Schweiz verschoben. Wir katzbuckeln vor den Machten,
aber wir werden sofort rabiatt wenn es sich nicht lohnt. Wir
tragen unsre Schabigkeit auf hohem RoB, und wenn man uns
nach Chequers zum Friihstiick eingeladen hat und Hoover uns
eine Spende zukommen laBtt so geschieht das nurf weil unsre
Oberlegenheit anerkannt wird. Was die Franzosen anbelangt,
so werden wir es ihnen schon zeigen. Von uns Helden will
dieses verachtliche Rentnervolk Reparationen, wo wir doch
eigentlich gesiegt haben und nur durch unsre echt ritterliche
Gutmiitigkeit an der Ausnutzung des Sieges gehindert worden
sind!
In Siidamerika gibt es Bettler zu Pferde. Sie reiten auf
ihrem diirren Klepper von einer Hazienda zur andern und hal-
ten den Caballeros mit groBer Gebarde die hohle Hand unter
die Nase. Wer gibt, dem danken sie so erhaben, als ware er
der Beschenkte, Wer nicht gibt, dem wunschen sie alle Nat-
tern des Urwaldes an den Hals.
Paul Downer von Siegmund Feldmann
Jetzt, wo der ernste, wiirdige, puritanische Greis in das von
der Pompadour zu ihrer Erlustierung erbaute Elysee ein-
gezogen ist, wird seine Physiognomie der Betrachtung besser
standhalten. Es lohnt sich schon, ihn einmal genauer zu be-
schauen. Unter den politischen Protagonisten der dritten Re-
publik war er einer der aktivsten und agilsten und zugleich
einer der unsichtbarsten. Nur einmal, bei seiner hartnackigen
Campagne fiir die Einkommensteuer, dem einzigen unverriick-
baren Dogma seines beweglichen Programms, wanderte er die
HeerstraBe der Volksversammlungen ab. Sonst hielt er sich
im Schatten der Kulissen, er posaunte keine Leitartikel und
machte auch im Parlament von seiner maBigen Rednergabe nur
Gebrauch, wo es unbedingt notig war. Die Welt kannte ihn
kaum, trotzdem er wiederholt und in schwierigen Zeiten an
der Spitze der Regierung stand: einer der wenigen Ministra-
beln erster Ordnung, auf den man immer wieder zuriickgriif.
Aber auch die, so um ihn herumsaBen und ihn regieren
sahen, wufiten nicht immer Bescheid und waren auf Ober-
raschungen gefaBt. Er war ein Spieler besonderer Art. Er
legte die selbstgemischten Karten off en auf den Tisch und
mit der gleichen Offenherzigkeit mogelte er, vor aller Augen
und so unerschrpcken selbstverstandlich, daB den Bemogelten
der Vorwurf des Vertrauensbruches im Halse stecken blieb.
Schon in seinen parlamentarischen Aniangen hatte er sich
von dem iiblichen Gewimmel der Streber abgesondert, die ein
Abfall erledigt. Ein erbitterfcer Arbeiter und einer der drei
((geborenen" Finanzminister der Republik — der zweite war
Rouvier, der dritte ist Caillaux — genoB er fruhzeitig eine
Autoritat, der man vieles nachsieht, Sein Stolz rechnete aber
nicht mit dieser Nachsieht; ihm geniigte sein riesiges Selbst-
vertrauen, das von konzentriertester Kraft gespeist wurde
und ihn auch schlieBlich auf immer verfehlten Wegen
an das richtige Ziel gebracht hat. Dieses Ziel war die Prasi-
dentschaft der Republik.
Selbst seine heftigsten Widersacher sahen es nicht als eine
Vermessenheit an, als er, der jungste unter den Fiihrern und
seit mehr als einem Lustrum aus dem GroBbetrieb der Politik
(ibers Meer und in die Verwaltung abgeschoben, 1906, beim
Abgang Emil Loubets, den Anspruch auf die hochste Stellung
im Staat erhob, Er erhob ihn nicht mit der duckmauserischen
Bescheidenheit, die dem Ehrgeiz das verschlissene Mantelchen
des Pflichtgefuhls umhangt; er pochte darauf wie auf sein
Recht. Warum auch ein andrer und nicht er, der dem Ge-
meinwohi statt durch Worte durch eine Tat gedient hatte?
Diese Tat hatte er jenseits der Meere vollfiihrt, indem er in
einem Zeitraum von nur fiinf Jahren Indochina zur besten Ko-
lonie Frankreichs entwickelte. (Marokko war erst ein allmah-
lich reifender Wunschtraum.) Vor ihm unzuganglich, un-
ergibig, unbotmaBig, ein Chaos, eine ewige Gefahr, erfreut sich
dieses weitgebreitete Reich, das er durch ausgedehnte Ver-
kehrsanlagen erschloB, heute aller Segnungen der Ordnung und
zinst seit einem Vierteljahrhundert bereits dem Mutterlande
2 . . 5
vom OberschuB seines Hand els und Ackerbaus, AIs er hin-
unterkam, war freilich der Boden schon durch zahllose Ge-
metzel fur diese Ernte gediingt. Immerhin war die Befrie-
digung, wie man <jetzt sagt, noch ein hartes Stuck Arbeit, und
die hat Herr Doumer rasch geleistet, das muB man ihm lassen.
Er hat in seiner Jugend nicht umsonst eine Abhandlung iiber
die Flugbahn der Geschosse geschrieben.
Trotzdem konnte er damals in Versailles den Preis seiner
Miihen nicht pfliicken — oder vielleicht gerade datum, Demo-
kratien — mit Ausnahme der deutschen — sind ihrem Wesen
nach und zu ihrem Gliick miBtrauisch, und wer wie Herr
Doumer ein Draufganger war, mufite ihren Verdacht erwecken.
Allerdings hat er vom ersten Tag an diesen Verdacht fast ge-
rechtfertigt, zum mindesten herausgefordert. Nachdem er 1888
von den Boulangisten gewahlt und 1889, weil er sie schwer
enttauscht hatte, geworfen worden war, trat er 1895 in das
radikale Kabinett Bouigeois ein, urn 1896 von dem antiradika-
len Agrarierkabinett Meline -den glanzenden Posten eines ost-
asiatischen Vizekonigs anzunehmen, den er nur aufgab, um
1902 auf das Programm des von Clemenceau zusammen-
geschweifiten , .Blocks" Deputierter der Nationalisten von
Laon zu werden. Diese Auswechselbarkeit des Bekenntnisses,
muBte selbst jene zur Vorsicht stimmen, die so dachten wie er,
Aber wie dachte er? Diese Frage begleitete ihn auf sei-
ner ganzen Laufbahn, Er war in einem sehr frommen Provinz-
nest diirftig beamtet, als er, einundzwanzig Jahre alt, ein armes
Madchen heiratete, das er schon als Knabe geliebt hatte; aber
keine Anfechtung, keine Einschuchterung, keine . Drohung
konnte seinen EntschluB erschiittern, sich mit der biirgerlichen
Trauung zu begniigen und auf die kirchliche zu verzichten.
Seiner Ehe entsprossen acht Kinder, fiinf Sohne und drei
Tochter, von denen keines getauft wurde, und als seine alteste
sich vermahlte, stellte er die Bedingung, daB auch ihre Kinder
nicht getauft werden durften, weil er selbst von konfessionell
registrierten Enkeln nichts wissen wollte, Nichtsdestoweniger
stimmten 1906 im Versailler KongreB alle Klerikalen des Se-
nats und der Kammer fur ihn, Sie zogen diesen asketisch
hagern Teufelsbraten, dem sie ein paar Jahrhunderte vorher
mit Wonne einen Scheiterhaufen gestiftet hatten, dem
gemiitlichen, runden, weinfrohlichen Fallieres vor, dessen
Frau jeden Sonntag zur Messe ging und dessen Toch-
ter Altardecken stickte. Aber dieser gemiitliche Fal-
lieres hatte sich fur Dreyfus eingesetzt und war mit
Combes, Briand und Jaures gegen das Konkordat angerannt,
wahrend der Teufelsbraten, vergebens freilich, seinen ganzen
EmfluB im Parlament aufbot, um die Trennung von Staat und
Kirche zu hintertreiben und dieser ihre ,,historische" Stellung
in Frankreich zu retten.
Was war Berechnung, was Uberzeugung? Manche ein-
sichtigen Leute meinten damals, daB ihm als Kandidaten des
„Blocks*' mindestens ebenso viele Stimmen zugefallen und
vielleicht sogar seinen Erfolg entschieden hatten. Auf diese
Zeitdistanz laBt sich das, zumal in der vollig veranderten
Atmosphare, nicht mehr beurteilen. War es doch selbst
mitten in den Ereignissen oft schwer, sich diesen zwiespaltigen
Charakter auseinanderzulegen, der iibrigens nur ira Rahmen
der franzosischen Politik so widerspruchsvoll erschien. Drii-
ben in England, wo die Weltpolitik alle innern Probleme zu-
riickdrangt, hatte man sich besser mit ihm abgefunden, Denn
iiber Schwankungen und Wandlungen hinweg ist Herr Doumer
eines gewesen und geblieben: ein leidenschaftlicher Imperia-
list. Und da er zugleich ein Mann der Zwecke war, der die
unfruchtbare Arbeit noch starker haBte als den MiiBiggang,
wollte er auch die Mittel. Daher war er, ohne sich an die
Beklemmungen seiner vielen Freunde auf der Link en zu
kehren, Militarist und Anti-Dreyfusard; daher griindete und
forderte er katholische Missionen und aus dem gleichen
Grunde straubte er sich gegen den Bruch mit dem Vatikan,
dessen Mitarbeit ihm fur den Einflufi Frankreichs im Orient
unentbehrlich schien, Worin er sich, beilaufig bemerkt, mit
Gambetta begegnete, der das spater von Mussolini auf den
Fascismus umgepragte Wort gesprochen hat; „Der Anti-
klerikalismus ist kein Ausfuhrartikel".
Auf diese Vereinfachung zuriickgefuhrt, ware sein poli-
tisches Charakterbild ja leicht zu deuten. Sie konnte auch
sein sturmisches Machtbediirfnis erklaren, das er niemals ver-
hehlte. Es ihm vorzuwerfen, ware unrecht; er handelte nur
dem demokratischen Grundsatz gemaB: Der Tuchtigste voran.
War er der Tuchtigste? Er selbst hat jedenfalls keinen
Augenblick daran gezweifelt undl sein Schicksal hat ihn nicht
dementiert, Sein Leben fiillt die Gufiform seines Wunsches
liickenlos aus, aber diese Form hat er sich selber geschmie-
det. Man konnte unter dem politischen Personal der dritten
Republik kaum eine Natur von gleicher Willenskraft nennen.
Doumer ist das staunenswerteste Beispiel einer vom Ver-
stande geleiteten Beharrlichkeit, die sich Schritt um Schritt
den Aufstieg bahnte, ohne vom Zufall auch nur die geringste
Gunst zu erwarten, Er war der Ingenieur seines Glucks, der
alles seiner Miihe, seiner Voraussicht und seiner Entschlossen-
heit zu dank en hat. Maurice Barres, der sich sein Lebelang
nach einem „Professor der Energie" heiser schrie, hatte ihn
seinen Mitbiirgern als erzieherisches Vorbild hinstellen
konnen, Ihm selber nachzuahmen, ware er kaum geneigt und
fahig gewesen, Denn diese Energie erwuchs aus einer Niich-
ternheit, die sich keinen Seitensprung der Phantasie gestattet,
und keinen Traumf der nicht nutzbar und nicht miinzbar ist.
Und das taugt fur Dichter nichts.
Paul Doumer kam in den allerarmlichsten Verhaltnissen
als Sohn eines bei Bahnbauten beschaftigten Erdgrabers zur
Welt. Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt und iiber-
lieB der Mutter die Sorge um das Kind, das sie nur mit den
groBten Opfern durch die Volksschule brachte. Hierauf gab
sie ihn zu einem Graveur, bei dem er als Lehrling und spater
als Geselle ein musterhafter Arbeiter wurde. Er blieb es
sechs Jahre, bis zu dem Zeitpunkt, wo er sein — Abituriuni
bestand. Nach seinem Zehnstundentag in der Werkstatt hatte
sich der Knabe nachstens Lateinisch und Griechisch, Ge-
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schichte, Naturkunde und allc sonstigen Weisheiten ange-
eignet, die man von einem Baccalanreus fordert. Aber noch
bevor er diesen stolzen Titcl erwarb, hattc cr der Akadcmic
der Wissenschaften die bcrcits erwahnte Abhandlung uber die
Flugbahn der Geschosse eingereicht, die ihm ohne jedes
weitere Examen zu der sofortigen Bestallung aLs Lehrer der
Mathematik und Physik am Gymnasium in Mende verhaif.
Vorerst probeweise a Is Hilfslehrer, aber um sein Fortkommen
war ihm nicht bange. In Mende warf er sich mit verdoppel-
ter Gier aufs Lernen, schlief nur jede zweite Nacht und hielt
sich wach, indem er Wasser trank. Zu Tee oder Kaffee
reichte es nicht, denn er verwendete von seinem Anfangs-
gehalt von 152 Franken nur die 52. Die 100 sparte er auf,
weil er sich vorgesetzt hatte, nach Jahresfrist seine Braut
heimzufiihren. Und weil er es sich vorgesetzt hatte, fiihrte
er es auch aus.
Nichts aber ist bezeichnender fur diesen Edelarrivisten,
als wie er in die Kammer kam. Er war, seiner Schulmeisterei
in Mende bald iiberdrussig, nach Paris gezogen, um Journalist
zu werden: ein recht mittelmaBiger, hauptsachlich auf ge-
ringere Provinzblatter angewiesener Journalist, der sich einen
Namen nicht machen konnte; und da er weder Gonner noch
Geld besaB, hatte er nur sehr wenig Hoffnung, die Pforten des
Palais Bourbon je vor sich auf springen zu sehn. Da geschah
es, dafi der Deputierte von Anxerre eines plotzlichen Todes
verblich und seine Wahler eine Abordnung nach Paris ent-
sandten, um ihm einen wiirdigen Nachtolger zu kiiren. Es
sollte natiirlich etwas Beriihmtes sein, ein donnernder Debatter,
ein Volkstribun, ein Mann von Gewicht und Ansehen- Sie
nahmen jedoch den jungen schmachtigen Doktor der Rechte —
auch das war er unterdes gewo.rden! — einen Anfanger, der
Dbumer, also so gut wie gar nichts hieB und sich in seinem
fadenscheinigen Bratenrock an ihre Fersen geheftet hatte. Sie
nahmen ihn, weil er die paar Wochen bis zu ihrer Ankunft
benutzt hatte, um sich Tag fiir Tag die beiden Zeitungen von
Anxerre von der ersten bis zur letzten Zeile einzuverleiben
und iiber alle lokalen Verhaltnisse, Interessen, Parteiungen
und Personalverhaltnisse so fabelhaft genau zu unterrichten,
daB die guten Leute den Mund aufrissen. Sogar daB die Spar-
kasse frisch gestrichen werden miiBte, und wen der neue Eigen-
tiimer des Cafe du Commerce gegeniiber dem Rathaus ge-
heiratet hatte, wuBte er. Einen bessern Vertreter der Stadt
konnten sie niemals auftreiben.
Konnte man ihn dariiber befragen, dann mochte ich wetten,
daB er sich schon am Abend seiner Kammerwahl zugeschwo-
ren hat, President der Republik zu werden. Nun ist er es, und die
Welt wartet, wie er sich anrauchen wird. Voreilige und iiberf liis-
sige Neugierde, Er ist ein Republikaner von Geblut, keiner, der
bloB auf dem beriihmten Boden der Tatsachen stent, und
wie er immer mit alien Moglichkeiten gerechnet hat, wird er
auch jetzt mit alien Moglichkeiten seines Amtes rechnen. Er
hat nie mit der Demagog! e paktiert, und ohne sie kann man
sich heute auf Abenteuer nirgends einlassen. Auf seine innern
Gesinnungen kommt es nicht so sehr an, sie mogen die alten ge-
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blieben sein. Wenn man als Knabe seine mathematischen
Pubertatsdrange wirklich durch kein andres Problem ent-
spannen kann, als ausgerechnet durch die Flugbahn der Ge-
schosse, ist man gezeichnet. Er schrieb aber auch als gereif-
ter Mann ein von hymnisch.er Andacht erfiilltes Buch iiber die
Heiligkeit der Familief und nachdem er im Kriege von seinen
ftinf Sohnen drei, und von seinen drei Schwiegersohnen einen
verloren hat, diirfte seine Oberzeugung von der Heiligkeit der
Kanonen immerhin ein biBchen erschiittert worden sein.
Und liberdies finden im nachsten April Neuwahlen statt
Schiele, Baade Und Andre von Franz Ziegelmfiller
JVAan sagt, der UntersuchungsausschuB des Reichstags, der
iiber die Roggen-Affare des Ietzten Jahres zu Gericht
safi, habe nur leeres Stroh gedroschen. Das ist aber nicht
richtig. Eher kann man sagen: er hat schlecht gearbeitet; er
hat nicht das aus der Materie herausgeholt, was wohl heraus-
zuholen gewesen ware — wenn nicht die Vertreter der Sozial-
demokraten und der Regierungsparteien im AusschuB durch
ihr an passive Resistenz grenzendes Verhalten die Unter-
suchung so ungemein erschwert hatten. So ist manches Korn
in den Ahren geblieben. Aber ein grofier Haufen Spreu ist zu-
tage- gefordert worden, und manches gute Korn darunter. Und
wenn nun der nachste heftige WindstoB kommt — dann fliegt
die Spreu davon, und vielleicht werden dann auch nach und
nach die Korner sichtbar.
Das erste Luftchen ist schon voriibergezogen, ohne daB es
in der (Mfentlichkeit iiberhaupt bemerkt worden ware, und
eine Handvoll Spreu ist mit davongewirbelt worden. Wer flog
da? Es war der Bankier Andrea, ein iiberaus ehrenwerter
Mann, der Mitinhaber und, nach dem Tode seines Kollegen
Richard Pohl, sozusagen der Senior-Chef des hochangesehenen
Privatbankhauses Hardy & Co. Ganz still ist er plotzlich ver-
schwunden. Nachdem er kurz vorher im Untersuchungsaus-
schuB aufgetreten war, mit dem Anspruch, der deutschen
Landwirtschaft durch den Verkauf des sogenannten Scheuer-
Konzerns unschatzbare Dienste geleistet zu haben. Nachdem
er vor dem AusschuB reichlich torichte Reden iiber den Segen
der Planwirtschaft gehalten hatte, Nachdem zu erkennen ge-
wesen war, daB er die Materie, iiber die er vernommen wer-
den muBte — Aktieniragen, Miillereifragen — , nur hochst unzu-
langlich beherrschte. Und nachdem im Untersuchungsaus-
schuB der Verdacht immer deutlicher ausgesprochen worden
war, daB die Bilanzen des Scheuer-Konzerns, an dessen Auf-
bau Andrea als maBgebender Bankmann beteiligt wart fiir den
Verkauf an die PreuBenkasse irauffrisiert" worden seien. Wo-
bei durchaus strittig bleiben muB, wo die Grenze zwischen le-
galem und unzulassigem Bilanzfrisieren zu ziehen ist, und die
Grenze zwischen Bilanzfrisieren und Bilanzfalschungen.
Wenn der nachste WindstoB kommt, wenn erst einmal
richtig hineingeblasen wird in den Spreu- und Kornerhaufen,
wenn die Geschichte der Scheuer-Bilanzen klargelegt wird —
dann wird Herr Andrea noch ein paar Nachfolger finden. Da
ist zunachst der ehemalige Gencraldircktor Karl Scheuer selbst.
Aus seinem Konzern ist er schon hinausgeweht worden; die
neucn Herren, PreuBenkasse und Rentenbank-Kreditanstalt,
fanden schon vor Jahresfrist keincn Gcfallen mehr an ihm.
Nun hat cr seine Gewinne, und die als ,,Abfindungssumme" be-
zeichnete Provision fiir den Verkauf seines Konzerns, wieder
in eine Getreidefirma hineingesteckt, und diese Gesellschaft,
die sich der besten personlichen Beziehungen zur Stiitzungs-
stelle — eben dem alten Scheuer-Konzern — erfreute, hat bei
der Roggensttitzungsaktion »groBM verdient. Wahrscheinlich
war* das aber das letzte gute Geschaft, das Herr Scheuer
machte. Als Zeuge vor dem UntersuchungsausschuB hat er
sich ,,nicht mehr erinnern" konnen, wie es denn mit seinen
Konzern-Bilanzen eigentlich beschaffen war. Bei einer erneu-
ten Untersuchung wird sein Gedachtnis, durch Vorlage der
Bilanzakten, wieder aufgefrischt werden mussen. Und dann —
blast ein frischerer Wind.
Der Nachste: Scheuers Freund, Gonner und Ges,chafts-
partner, Fred Hagedorn, Staatssekretar z. D. — noch immer
z- D.! Auch nicht mehr lange, wie man annehmen darf. Der
stille Partner an Scheuers Aktiengeschaften bei der ,,Muhlen-
vereinigung" (das ist eine der Konzern-Gesellschaften), der
Spekulant bei der Roggenstiitzung — er, der als Reichsvertre-
ter im Aufsichtsrat der Rentenbank-Kreditanstalt den Ankauf
des Scheuer-Konzerns befiirwortete und damit seine eignen
Geschafte forderte: er ist schon beinahe passe.
Der Nachste) Jetzt kommt ein besonders schwerer Fall.
Der Freund und Vertraute der f1groBen,§ deutschen Politiker,
der Berater Bninings und Brauns, President Klepper von der
PreuBenkasse — sollte er wegen dieser lumpigen Scheuer-
Aifaren sttirzen, sollte man ihm einen Strick daraus drehen
konnen, daB er von Andrea, Scheuer und Hagedorn in einer
gradezu phantastischen Weise iiber den Loffel balbiert worden
ist* daB er 27 Millionen Mark fiir ein paar wacklige Aktien-
gesellschaften bezahlt hat, die, wie man nunmehr weiB, hoch-
stens, allerhochstens die Halfte davon wert gewesen sind?
Nein, so schnell sturzt Klepper nicht, der Mann mit den guten
politischen Beziehungen nach alien (fast alien!) Seiten. AuBer-
dem hat er seine Mitschuldigen: Minister Dietrich im Reich,
Minister Hopker-Aschoff inPreuBen — beide warenFeuer und
Fett fiir den Scheuer-Kauf ; wenigstens hat das einer der Zeu-
gen, einer, der es wissen konnte, unter seinem Eide ausgesagt.
Aber wenn auch, infolge einer fast unbegreiflichen Laxheit des
Vorsitzenden im UntersuchungsausschuB, des Staatsparteilers
Doktor August Weber, diese Frage ebensowenig geklart wor-
den ist, wie die Historien der Vorbesprechungen iiber das „Ge-
schaft" in den Konventikeln der Arbeiterbank, unter Mitwir-
kung von Klepper, Bachem, Heilmann, Scheuer und Baade —
soviel ist sicher, daB Kleppers Renommee als Geschaftsmann
jetzt, seitdem man weiB, wie er mit den frisierten Bilanzen
hereingelegt worden ist, einen schrecklichen, einen fast tod-
lichen StoB erhalten hat.
Weiter: es kommt Doktor Fritz Baade, der Reichskom-
missar fiir die Roggenstiitzung, Schieles rechte Hand in der
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Getreidepolitik, gestern noch der Stolz der SPD., heute ihr
Sorgenkind. Auch sein Ruf, als Fachmann des Getreidege-
schafts, ist im AusschuB ganzlich cntzwei gegangen. Es ist
festgestellt worden, dafi die Stiitzungsaktionen mangclhaft vor-
bcreitet und dilettantisch durchgefiihrt worden sindt dafi sie
also an ihren eigncn Fehlcrn scheitern mufiten, nicht infolge
irgendwelcher geheimnisvoller Sabotageakte. Wie laienhaft
Baade sein Geschaft gefiihrt hat, das ist dem AusschuB sozu-
sagen ad oculos demonstriert worden, als dort eine (fV^crbilli-
gungsaktion" fur Futtergetreide angekiindigt wurde, von der
man am nachsten Tag schon beschamt eingestehen mufite: sie
sei ein groBer Fehler gewesen. Vier Stunden lang war die
Aktion im Gange, dann muBte sie schleunigst abgebrochen
werden. In diesen vier Stunden hatten ein paar gewandte
Handler, die in ein paar Minuten besser rechnen konnten, als
Baade und seine Leute im Ministerium wahrend der tage- und
wochenlangen geheimen Vorbereitung der ,, Aktion", viele
Hunderttausende verdient — auf Kosten des iibrigen Handels,
der Landwirtschaft und der Reichskasse.
Aus Riicksichtnahme auf die Partei Baades und auf
,,seinen" Minister hatte die gouvernementale Gruppe im Unter-
suchungsausschuB — vielleicht! — alle Fehler und Dummheiten
des Reichskommissars mit dem Mantel der politischen
Nachstenliebe bedeckt. Aber man konnte es ihm nicht
verzeihen, daB er in den Fragen, die ihn personlich an-
gingen, in den Fragen seiner Beziige, die Geduld und die.Ar-
beitskraft des Ausschusses durch ,,wissentlich falsche Aus-
kiinfte", wie man in der hoflichen parlamentarischen Sprache
notorische Unwahrheiten eines Regierungsvertreters nennt, in
schandlichster Weise miBbraucht hatte. Wozu noch gesagt
werden darf, daB er auf sachliche Fragen, soweit sie ihm un-
bequem waren, und das war zumeist der Fall, in der gleichen
sophistischen Weise zu , antworten pflegte. Der Politiker
Baade hat im AusschuB einen Knacks wegbekommen, von dem
er sich so schnell nicht erholen wird. Der Getreide-Fachmann
Baade ist erledigt — der nachste WindstoB wird ihn weglegen.
Es ist ein Trost im Ungliick, Leidensgefahrten zu haben.
Der Nachste: • Staatssekretar Heukamp, Reichsernahrungs-
ministerium, Er hat Baade gedeckt, gedeckt bis ztim AuBer-
sten. Wer sich einmal die Miihe nimmt, seine erste Aussage
iiber die Bezuge Baades mit seiner letzten zu vergleichen, der
wird finden, daB ihn der Vorwuri, den AusschuB „durch falsche
Angaben irregefuhrt zu haben", genau so treffen muB wie
seinen Schutzling. Nun, auch fur ihn wird ein nachster Wind-
stoB kommen — und dann fliegt die Spreu davon.
Aber ist etwa Herr Minister Schiele vie! besser? Er hat
erklart, er wolle mit den t,Saboteuren" der Roggenstiitzung
vor dem AusschuB griindliche Abrechnung halten, er ^wolle sein
^Material" vorlegen, und dann...! Nichts geschah. Der Mi-
nister bekam plotzlich kalte FiiBe. Er hat schmahlich ge-
kniffen. Leider ist cs, wegen gewisser strafprozessualer Be-
denken, nicht moglich, das Verhalten eines Ministers mit den-
selben Worten zu charakterisieren, wie man sie im analogen
Fall gegeniiber einem Privatmann anwenden kann, der eine
11
Gruppe von Menschen als „Saboteure" verdachtigt, ohne dann
vor dem zur Klarung des Sachverhalts eingesetzten Gericht
den angekiindigten Beweis dafiir zu erbringen.
Und dabei ware es noch nicht einmal so schwer gewesen,
zu zeigen, wo die ,,Saboteure" der Stiitzung eigentlich gesessen
haben) Da war zunachst Herr Baade selbst, der durch ver-
fehlte Dispositionen sein redliches Teil dazu beigetragen hat,
die Aktion festzufahren, Da war weiter die eine der beiden
Stutzungsgesellschaften, die D.G.H. (Deutsche Getreidehandels-
gesellschaft), deren Leitung jeden nur moglichen Fehler auch
gemacht hat ( — wobei iibrigens die hinter ihr stehende ,,Be-
zugsvereinigung der Deutschen Landwirte" manchen guten
Brocken verdiente). Und schlieBlich war da auch, und damit
schliefit sich der Ring, die andre Stiitzungsgesellschaft, bei der
die eigentliche Durchfuhrung der Aktion lag: die Dachgesell-
schaft des ehemaligen Scheuer-Konzerns, die G.I.C. (Getreide-
Industrie- und Commissions- Aktiengesellschaft). Sie mufite
verdienen, um ihre Existenzberechtigung zu erweisen, um eine
Rente fur die 27 Millionen der Scheuer-Transaktion heraus-
wirtschaften zu konnen. So wurden Umsatze fabriziert, was
nur das Zeug halten wollte. -Besonders deutlich wurde dieser
Drang nach dem Geschaft bei zwei Gelegenheiten, namlich
beim AbschluB des Kredit- und Arbeitsvertrages mit der G.I.C.
im Marz 1930, - und bei der „groBen" Stiitzung im August und
September desselben Jahres. An dem genannten Vertrag, der
fiir die G.I.C. und die hinter ihrstehenden Banken nur Vorteile
ohne jedes Risiko brachte, die D.G.H. aber schwer belastete,
hat Minister Schiele im AusschuB eine gradezu vernichtende
Kritik geubt. Leider vergaB er dabei ganz, zu erwahnen, dafi
er beim AbschluB des Vertrags — dessen Kenntnis er zu Be-
ginn seiner Ministertatigkeit uberhaupt ableugnete — sowohl
im Aufsichtsrat der G.I.C. wie auch im Verwaltungsrat der
D.G.H. gesessen hat ...
Bei der. eigentlichen Stiitzung, im Spatsommer des letzten
Jahres, wurde die ..Sabotage" noch deutlicher. Herr Sinasohn,
der Borsen-Direktor der Stutzungsiirma, hat die Tendenz der
Stiitzungsaktion seinen Geschaftsfreunden gegeniiber ganz
offen als .jSchwindel" bezeichnet. Man hat bei der G.I.C.
Handler und Spekulanten ermutigt, Roggen an die Stiitzungs-
stelle zu yerkaufen, hat also das ungeheure Angebot, unter
dem die Aktion spater zusammenbrach, selbst herangezogen.
„Ich will ja gar nicht wissen, woher der Roggen kommt . . ,'\
so sagte Direktor Sinasohn, und alle, die bei Leerverkaufen
und Fixergeschaften gern ihre Finger drin haben, stiirzten
sich auf den Roggenmarkt, Was half es da, daB Baade seinen
Freunden den guten geschaftlichen Rat gab, doch Roggen zu
kaufen und a la Hausse zu spekulieren! Die Gegenparole, die
von Sinasohn und seinen Hintermannern ausging, war wirk-
samer — nicht etwa deshalb, weil sie eine groBere Resonanz
gefunden hatte, sondern deshalb, weil sie die jedem Eingeweih-
ten klar erkennbare hoffnungslose Lage der Stiitzungsaktion
als Argument gebrauchen konnte.
Sicherlich ist es ein Verdienst, rechtzeitig klar ausgesprochen
zu haben, was jeder Kenner der Verhaltnisse sehen konnte:
12
daB die Stiitzung dcr Roggenpreise in der Zeit vor den Sep-
tember-Wahlen zusammenbrechen werde. Nur einer durfte
diese seine Erkenntnis nicht klar aussprechen, und das war
der Treuhander der Stiitzungsaktion — also die G.LC. Als sie
es trotzdem tat, verletzte sie ihre Treuhanderpflichten. Da-
bei mag unentschieden bleiben, ob die Stiitzungsmanover
Schieles und Baades von <len ,,jungen Leuten" der G.LC. und
der Preufienkasse primar aus sachlichen (also aus wirtschafts-
politischen) Motiven bekampft worden sind, oder in enster
Linie deswegen, um der G.LC. beim erwarteten Zusammen-
bruch der Stiitzung ein groBes, ein ganz groBes Geschaft zu-
zufuhren. Wenn die let zt ere Absicht vorgeherrscht hat, so
kann man nur sagen, daB die Rechnung richtig war.
Minister Schiele und sein Kommissar; sie haben beide ge-
wuBt, dafi der schlimmste und starkste Gegner ihrer Stiitzung
die Gruppe der G.LC. war, ' deren Zusammenarbeit mit dem
Presidium der Preufienkasse, oder doch wenigstens mit einer
Clique im Prasidium, deutlich zu erkennen war. Schiele und
Baade; sie beide haben vor dem AusschuB geschwiegenf als
es an die Klarung dieser vielleicht interessantesten Frage
heranging. Es war wohl ein neues Burgfriedens-Abkommen
zwischen ihnen und Herrn Klepper abgeschlossen worden. Nur
nichts vor die Offentlichkeit bring en! Das Parlament darf
zwar bewilligen — aber es soil moglichst nichts kontrollieren
oder untersuchen.
Baade, Schiele und Klepper und die iibrigen Mitwisser der
Geschichte haben also geschwiegen. Der Untersuchungsaus-
5chuB, der nicht energisch genug zugedroschen hat, hat zu viel
Spreu produziert, man kann die guten Korner der niitzlichen
Erkenntnisse in diesem Haufen Kaff nicht so leicht finden.
Deshalb muB man einmal ordentlich pusten, damit die leichten
Bestandteile, die Sinasohns und wie sie alle heiBen, davon-
fliegen; so kann man den eigentlichen Gehalt der Stiitzungs-
affare ofienlegen. Dann zeigt sich dem Beschauer, daB die
Stiitzungsaktion mit 100 Millionen Mark ZubuBe aus offent-
lichen Mitteln zu Bruch gehen muBte, weil Baade sein Hand-
werk nicht verstand — , und es zeigt sich weiter, daB aus die-
sem Zusammenbruch ein gutes Geschaft fiir diejenigen wurde,
die aktiv und passiv die Katastrophe mit herbeigefiihrt haben:
fiir die G.LC, die ehemalige Scheuer-Gesellschaft, und fiir
ihren Patron, die PreuBenkasse.
Die Meerengeil von Johannes Buckler
/~\stern, Pfihgsten oder Weihnachten greift T. W. in seine
Schreibtischschublade und nimmt eine „Enthullung" iiber
den Ursprung des Krieges heraus, die die andre Seite, meistens
Iswolski oder Poincare, stark belastet, ohne uns damit — nach
unsrer Oberzeugung — zu entlasten. Wir erlauben uns, dies
einmal zu einem andern Termin zu tun.
Vier franzosisch-russische Wahrheitssucher, die Herren
Lapradelle, Eisenmann, Renouvin und Mirkin-Getzewitsch, ha-
ben eine Sammlung von Dokumenten in den Editions Interna-
tionales herausgegeben, die uns einen Blick in den Abgrund
3 13
tun lassen, der die offiziellen Erklarungen der Regierungen von
den heimlichen Abmachungen trennt. Und, getreu den Tradi-
tionen dcr franzosischen Liga fur Menschenrechte, in den eig-
nen Reihcn die Feinde der Demokratie und Gerechtigkeit an-
zugreifen, behandelt Jaques Kayser in den „CahiersM ausfuhr-
lich diese Veroffentlichungen. Er greift sich dabei den Band
.JConstantinopel und die Meerengetir heraus, Aus den dort
veroffentlichten Dokumenten Lassen sich klar die mit der
Entente schon lange vor Kriegsausbruch vereinbarten russi-
schen Kriegsziele erkennen.
Nikolaus IL traumte davon, das Vermachtnis Peters des
GroBen zu erfiillen und seinem Reich Konstantinopel, die
,,Zarenstadt'\ einzuverleiben. Der Balkankrieg von 1912 und
die daraus entstandenen europaischen Debatten lieBen ihm die
Verwirklichung seiner Wunsche nahe erscheinen. Er berief
deshalb Anfang 1914 eine Konferenz von Sachverstandigen
unter dem Vorsitz von Sasonow nach Petersburg, um die Mog-
lichkeiten eines Angriffs auf die Meerengen zu besprechen. Ein
Beamter des AuBenministeriums, Bazili, fafite das Ergebnis in
einem Memorandum zusammen, dem wir folgendes entnehmen;
Da die augenblickliche Situation der Ttirkei ein mehr oder weni-
ger schnelles Auseinanderfallen dieses Landes zur Folge haben konnte,
ist es schon jetzt sehr wichtig, die Frage der Meerengen zu er or tern,
Wir prazisieren daher unsern Standpunkt, wie folgt;
1 . Unsre Streitkraf te im Schwarzen-Meer-Gebiet, besonders die
zur See, mussen unverzuglich verstarkt werden/ damit im Augenblick
einer Krise die Frage der Meerengen* in unserm Sinn gelost wird.
Da es unmoglich ist, den vielleicht nahen Zeitpunkt genau vorauszu-
sehn, mussen unsre Schwarz-Meer-Streitkrafte so schnell wie mog-
lich verstarkt werden ...
Der Berichterstatter setzt dann auseinander, daB die rus-
sische Herrschaft sich iiber beide Meerengen, Dardanellen und
Bosporus, erstrecken muB, und daB dieser Plan „sehr wahr-
scheinlich" nur auf dem Weg iiber einen europaischen
Krieg gelingen kann. „Die Moglichkeit, sich der Meerengen
zu bemachtigen, hangt von einer giinstigen Konjunktur ab. Sie
zu schaffen, ist das Ziel des (russischen) AuBenministeriums."
Diese Konferenz fand am 8. Februar 1914 statt. In einem
„Geheimbericht" vom 1./14. Dezember 1914 bestatigt der Fre-
gattenkapitan Nemitz, Chef der Schwarzen-Meer-Flotte, diese
Abmachungen und schreibt:
Die Entscheidung iiber die russische Herrschaft in Konstantinopel,
am Bosporus und an den Dardanellen, trug in bemerkenswertem MaBe
dazu bei, dafi RuBland in dem Konflikt, der dem Krieg voranging,
fest blieb. Die russische Politik war sich in der Tat dariiber klar,
daB ein Triumph Oesterreichs und Deutschlands in der serbischen
Angelegenheit fast uniiberwindliche Hindernisse in den Weg legen
wiirde, der RuBland an die Meerengen fiihrt, und seine Rolle als
Beschiitzerin der slavxschen Volker durchkreuzen wiirde. Darum hat
RuBland den Krieg angenommen.
Nemitz spricht von den Kompromissen, die verschiedene
europaische Nationen finden wollten, um Serbien auf der einen,
Oesterreich auf der andern Seite zu befriedigen. Mit keinem
dieser Kompromisse konnte RuBland einverstanden sein, dem
nur ein Krieg die Moglichkeit zur Eroberung der Meer-
engen gab.
14
Nachdcm nun aber der Krieg in erreichbare Nahe geriickt
war, gait es fur die russischen Kriegshetzer, unbcdingt dafiir
zu sorgen, daB die Turkei, gottbehtite, nicht mit der Entente
gehe. Oder auch nur neutral bleibe. Dann hatte man ja keine
Chance gehabt, die Meerengen zu erobern! Und; da die Ge-
fahr der tiirkischen Neutralitat tatsachlich bestand, muBte
von russischer Seite alles geschehn, um die Turkei an die
Seite der Mittelmachte zu bringen. Nafiirlich zum Schaden
der eignen Verbiindeten. Der russische Militarattach£ in Kon-
stantinopel, General Leontjew, wurde angewiesen, die gun-
stigen Angebote Enver Paschas dilatorisch zu behandeln, um
Zeit zu gewinnen. Als Leontjew am 10. August 1914 um neue
Instruktionen bittet, da die Angebote Enver Paschas immer
praziser werden, erhalt er von Sasonow den Auftrag, die Ver-
handlungen immer weiter hinauszuzogern, bis sich Bulgarien
entschieden hat. ,,Denken Sie daran, daB es uns keineswegs
unangenehm ist, die Turkei auf der Gegenseite zu sehen."
So gelingt. entgegen den Bestrebungen der Alliiertcn, der
otfiziose Plan1 RuBlands, die Turkei auf die Gegenseite zu trei-
ben. Im weitern Verlauf des Krieges, als sich die Verbiindeten
den russischen Wtinschen gegeniiber nicht bindend verpflichten
wollen, schreibt Fiirst Trubetzkoi, damals russischer Gesandter
in Serbien, am 9. Marz 1915 an seinen AuBenminister: „Wenn
wir die Meerengen mit Frankreich und England, gegen Deutsch-
land, haben konnen, um so besser. Wenn das nicht geht, dann
mit Deutschland gegen die Entente/' Auch auf eine gemein-
same Kontrolle der Meerengen mit Frankreich und England
wollte sich RuBland auf keinen Fall einlassen.
Die Turkei muBte „zerschmettert" werden, und darum wur-
den auch alle vorzeitigen Separatfriedenswiinsche, auf die
Frankreich und England vielleicht eingegangen waren, von RuB-
land energisch abgelehnt. Am 20. Januar 1915 weist Sasonow
einen VorstoB der Jungturken mit den Worten zuriick: ,fDie
Frage der Meerengen ist eine Lebensfrage fiir uns, daher haben
alle sich in andrer Richtung tewegenden Unterhandlungen kei-
nen Zweck." Am 14. Februar 1915 lehnt er mit der gleichen
Begriindung einen Vorschlag Sir Edward Greys ab, mit der
Liberalen Partei in Verbindung zu tret en. Einige Tage spater
freut er sich, daB „die Bedingungen fiir einen Waffenstillstand
so hart sind, daB die Tiirkei sie nicht annehmen kann".
1916 ist die Situation die gleiche. Am 20. Marz meldet
Diamandi, der rumanische Gesandte in Petersburg, seiner Re-
gierung, daB „die Entente kaum fiir einen Separatfrieden mit
der Turkei zu haben sei", Und am 26. August setzt NikolausIL
auf ein Telegramm, das die Moglichkeit einer Revolution in
der Turkei meldet, die echt wilhelminische Randbemerkung:
„Mit der Tiirkei muB aufgeraumt werden. Auf jeden Fall ist
kern Platz mehr fiir sie in Europa. Es ist deshalb besser, mit
der Opposition gar nicht in Verbindung zu treten."
Da Sasonow die Kontrolle iiber Konstantinopel und die
Meerengen unter keinen Umstanden mit irgend jemand teilen
wollte, tat er auch alles, um den Wiinschen Frankreichs und
Englands entgegenzutreten, die darauf hinarbeiteten, mit
15
Griechenland an der Siidostfront zusammenzugehn* Er wunscht
auf keinen Fall, daB 1fdic griechischc Fahne in Konstantinopel
vor der russischen auftauche". So laBt er Sir Edward Grey
wissen. Am 7, Marz erklart er sich endlich doch dazu bereit,
stellt aber vier Bedingungen, die den Eintritt Griechenlands in
die Ententefront unwahrscheinlich machen.
Wenn er auch im Anfang vorsichtig mit seinen groBen
Alliierten umgehen mufite, so konnte er 1915 im Marz doch
wagen, offen zu reden.
Der Lauf der letzten Ereignisse fuhrt Seine Majestat, den Zaren
zu der Erwagung, daB die Losung der Frage: Konstantinopel und
die Meerengen, endgultig mit den hundert j ahrigen Zielen Rufilands
in Einklang gebracht wird. Ungeniigend und unvollkommen ware jede
Losung, die nicht folgende Gebiete in das russische Reich einverleibt:
die Stadt Konstantinopel, das westliche Ufer des Bosporus, das Mar-
marameer und die Dardanelles sowie Siidthrazien bis zur Linie von
Enos-Midia. Ferner aus strategischen Grunden: einen Teil des asiati-
schen Ufers zwischen Bosporus, dem FluB Sakaria und einem noch
naher zu bestimmenden Punkt an der Kuste der Ismidbai; die Inseln
des Marmarameeres, die Inseln Imbros und Tenedos mussen ebenfalls
inner ha lb der russischen Grenzen liegen.
So ungefahr verfiigten unsre Alldeutschen iiber das Erz-
becken von Briey*
Mit diesen Kriegszielen erklarten sich damals sowohl der
franzosische wie auch der englische Gesandte in Petrograd im
Namen ihrer Regierungen einverstanden, und Georg V. tele-
graphierte im August 1916 an Nikolaus IL, daB die Emnahme
von Konstantinopel eins der Hauptziele des Krieges sei.
Aus Trotzkis grandiosem Werk ,,Geschichte der Februar-
revolution" geht mit aller Deutlichkeit hervor, daB die erste
Revolutionsregierung, die aus Kad'etten und Sozialrevolutio-
naren bestand, unter dem Vorwand, die Revolution zu vertei-
digen, die gleiche imperialistische AuBenpolitik machte wie
die gestiirzte zaristische. Die Herren Miljukow und Kerenski,
die sich Demokraten und Sozialisten nannten, wollten ebenfalls
auf Konstantinopel nicht verzichten und wiesen einen Sonder-
frieden mit der Tiirkei energisch zuriick. Miljukow erhielt am
25, April 1917 ein beruhigendes Telegramm Iswolskis aus Paris:
Die Tiirkei wiinscht offensichtlich gliihend den Frieden. Aber die
Zusagen, die RuBland Konstantinopel betreffend gemacht worden sind,
bilden hierfur ein Hindernis: Rufiland hat noch kiirzlich seinen for-
mellen Wunsch, Konstantinopel zu annektieren, bestatigt, und Frank-
reich bleibt ohne Diskussion seinem Versprechen treu.
Erst das bolschewistische RuBland bekannte sich nach der
Oktoberrevolution zu dem wahren demokratischen Grundsatz:
„Friede ohne Annektionen und Entschadigungen", und Frank-
reich beeilte sich zu verkiinden, es hatte nie andres beabsichtigt.
Die russische Angst, die Tiirkei konnte neutral blerben,
anstatt auf die Seite des Gegners zu gehen, und damit den im-
perialistischen Geliisten einen Strich durch die Rechnung
machen, erinnert an eine Episode aus dem deutsch-osterreichi-
schen Bruderkrieg von 1866. Frankfurt, das sich damals gegen
PreuBen stellte, wurde zur Strafe von diesem verschluckt. Bis-
marck hat es immer bedauert, daB Hamburg sich in diesem
Konflikt neutral yerhielt. Hatte es sich auf Oesterreichs Seite
gestellt, so wurde er es ebenfalls annektiert haben.
16
Scheler SpUkt von Kurt Hiller
C o ist das in Deutschland (und in Frankreich und in England
•^ — ^Jer Fall liegt europaisch; ich glaube, sogar in Indien
ist es .nicht anders): Taucht irgendwo gcgcn die Tragheit der
Tradition cine Idee, ein Zielbild, ein Ismus auf, sofort zer-
fallt sie, zerfallt es, zerfallt er in Varianten, Spielarten,
Richtungen; und diese Differenzierung fiihrt zu Gegensatzen,
die mitunter scharfer werden als der ursprungliche Gegensatz
des Ismus zu jenem Contra, gegen das er sich gebar. Die
Sache ist nicht neu; man denke an die klassischen innerchrist-
lichen Streitigkeiten, man denke an die Selbstzerfleischung
der groBen franzosischen Revolution, man denke an die Frtih-
zeit des Sozialismus mit der Fialle seiner Sekten (und, ver-
dammt noch einmal, nicht nur an seine Friihzeit), man denke
an die Friedensbewegung, seit der Weltkrieg sie ins Reale hob.
Keine Kriege mehr — so einfach ist dieser Gedanke; Alle,
die ihn denken, miiBten sie nicht briiderlich zusammenarbei-
ten? Ja Kuchen; denn das mit der Einfachheit scheint
nur so. Taucht man etwas tiefer in dies en Teich, dann ver-
iangt man sich in graBlichen Problem-Schlinggewachsen, und
die Gefahr des Ertrinkens droht. Abwehrkriege? Ja oder
nein? Sanktionskriege gegen' Friedensstorer? Ja oder nein?
Revolutionare Kriege unterdriickter Rassen, unterdriickter
Klassen zu ihrer Befreiung? Ja oder nein? Hat Kriege auch
solchen Charakters nie mehr zu wollen, wer „den Krieg'* nie
mehr will? Ist Pazif ismus eine Sache der Methode oder eine
Sache des Ziels? MuB er absolut sein? Oder wiirde absolute
Gewaltlosigkeit gegen die Gewalthaber die Herrschaft der Ge-
walt verewigen? Was ist von Paradoxien, von Antinomien zu
halten? Welche Beziehungen bestehn zwischen dem Teufel
und Beelzebub? Und will man .keinen Krieg mehr — wie ver-
wirklicht man dieses Wollen? Ethico-padagogisch? Juridisch-
organisativ? Durch Ungehorsam, passiven Widerstand gegen
die kriegfuhrende Staatsgewalt? Durch aktiven Widerstand
gegen die kriegfuhrende Staatsgewalt, durch Zersetzung, Auf-
stand ? Vielleicht durch Kombination dieser Mittel ? —
Schlinggewachse uber Schlinggewachse; grauenhafte Ver-
wickeltheiteri. Und sie bleiben nicht akademisch; sie fiihren
zu Zwist. Triumphator, lachender Dritter: der Krieg.
Es ware zwecklos, diese tragische Entzweiurig eines im
Keim einigen Wollens von irgendeinem stratospharischen
Denkpunkt her zu bejammern; sie muB sein; wir miissen so
sein, wie wir sind; wir hausen nicht in der Hohe, sondern auf
der Kruste des Sterns; wir sind mit Notwendigkeit selber Tra-
ger und Akteure solcher Differenzierungsprozesse, so sehr
immer wieder wir der Integration zustreben mogen. Nein,
Jammern ware zwecklos. Sinnvoll wars, das Begriffsgestriipp
zu entwirren; die Vielfalt der Fraglichkeiten auseinanderzu-
breiten; eif erfrei alles darzulegen, klarzulegen; ein Ding wie den
Pazifismus nicht etwa genetisch, nicht etwa historisch, viel-
mehr in seiner komplexen Systematik zu zeigen. Aufgabe,
eines Philosophen wohl wiirdig.
17
Max Scheler hat in einer posthumen Schrift: „Die Idee
des Friedens und der Pazifismus" (Berlin 1931, Der Neue Geist
Verlag), ein wenig von Dem' getan. Das Opus, eigentlich ein
Vortrag, zuerst im Reichswehrministerium gehalten, Januar
1927, dann in der Hochschule fur Politik, enthalt etliche sehr
kluge Analysen, beispieLsweise iiber die Alter-Argumente des
Hegelpacks gegen die These, daB der Ewige Friede ein un-
bedingter positiver Wert ist (der Krieg sei das MStahlbad der
Volker": diese Wendung stammt — von wem denn auch
sonst? — von Hegel); oder iiber die Stellung des Marxismus
(genauer: der Marxismen) zum Friedensideal; oder iiber die
Unzulanglichkeit des Volkerbundes als Instrument des prakti-
schen Pazifismus — aber die Kristallenheit, die man vom
Philosophen verlangen darf, laBt dieses Buch vermissen. Es ist
ein Hin und Her zwischen Ja und Nein, ein milchiges Gemisch
aus konservativem und mutativem Pathos; die Kompliziertheit
des Gegenstands wird mitnichten aufgehoben in der schopfe-
rischen Einfalt eines Wollens. Dieses bei aller Klugheit un-
helle, unleuchtende, unerleuchtende Buch verstimmt; der Autor
ist nicht durchsichtig. Wer ist er?
Das Gespenst eines Verraters. Wahrend des Krieges war
Max Scheler Prototyp jenes Intellektuellen, der sein Wissen
und seine ihn vor dem Durchschnitt auszeichnenden analyti-
schen Gab en klug der Macht, die herrscht, zur Verfiigung stellt
Man dtirfte, wahrend des Krieges, iiber die Schuld oder den
Schuldanteil der deutschen Machthaber un-unterrichtet sein
(wie ich selber bis zur Lektiire von „J'accuse", Sommer 1916,
es war); man durfte moglicherweise, wie Kerr, denken: nach-
dem einmal die Tragodie hereingebrochen ist iiber die Volker
und der Geist einstweilen nicht helf en kann, will ich, daB wenig-
stens meines siegt und nicht die andern (eine ehrliche, aberge-
fahrliche Gesinnung, weil sie den Widerstand gegen das Ver-
hangnis lahmte; schlieBlich konnte der Geist ja helf en); selbst
der Standpunkt der Mehrheitssozialdemokratie enthielt ein von
der Realitat gewiB unendlich entferntes, aber doch theoretisch-
prinzipielles Nein zum Kriege als Auseinandersetzungsform;
Scheler indes beging Verrat am Geiste, Verrat an den ewigen
Ideen der Humanitat; er verherrlichte das Grauenvolle, pries
das Verbrechen, er schrieb das Buch vom , .Genius des Krieges",
ein zynisches Buch gegen die ohnmachtige Giite.
Ich sehe den Mann noch vor mir: seinen iibergroBen
uberscharien, bleich-brutalen, bosen, menschenfresserischen
Kopf, welcher eher an einen sehr intelligenten Borsianer als an
einen Philosophen erinnerte; ich leugne weder, noch schame
ich mich, diesen Verrater mit dem Herzen meines Hirns stiir-
misch gehaBt zu haben, nie im Leben einen Mann von Format
sturmischer als ihn, und von tiefster Genugtuung erfiillt ge-
wesen zu sein, als ich im Mai 1928 von seinem friihen Tode
las (er starb im vierundfiinfzigsten Jahre).
Eineni Toten zu hassen ist schwer; selbst wenn er spukt.
Es ist im Falle, der vorliegt, uraso schwerer, als er auf eine
leidlich versohnende Weise spukt. In den Jahren vor dem Tode
mufi Schelern sein Gewissen bedriickt haben, Er verteufelt
18 '
zwar nicht eindeutig, was er vergottet hatte; aber er sagt zu-
mindest auf unklare Art Nein, wo er vordem klar Ja gesagt
hatte. Er bekennt: Der Ewige Friede soil sein. Zwar setzt
er „soir in GansefiiBchen und fiigt „idealiter" ein — als ob
der Ewige Friede nicht auch realiter sein solle; immerhin, im-
merhin. Er unterscheidet „Gesinnungsmilitarismus" und ,Jn-
strumentalmilitarismus" und lehnt den Gesinnungsmilitarismus
ah. Wir wollen den Krieg aus der Welt schaffcn, aber bis auf
weiteres miissen wir noch Kriege fuhren. Innereuropaische
schon jetzt nicht mehr; interkontinentale, insonderheit solche
zum Schutz der alten *Ordnung gegen den Bolschewismus blei-
ben unvermeidlich. Den Endzielpazifismus aller revolutionaren
Sozialisfen {den Scheler, statt ihn den biirgerlichen Relativis-
men sowohl wie dem absoluten Pazifismus Tolstois und der
Quaker izu kontrastieren, vergebens in die schiefe Alter-
native zwischen ,,Gesinnungs-M und „Instrumentalpazifismus"
zu pferchen sucht) verwirft er, aber argumentarm. ,,Der
Ewige Friede, der errichtet werden soil auf einem Meer von
Blut der Weltrevolution, ist wohl eine der fragwiirdigsten
Formen, die diese wandlungsreiche Idee angenommen hat.
Nicht nur auf einem Meer von Blut, sondern auf einer Ver-
nichtung der Kultur des ganzen bisherigen Abendlandes!"
Eine dem Auditorium gewiB genehme, hofliche, coudenhovliche
Doktrin. Mit dem Unterschied, daB Katergi sich die Sache
etwas schwerer macht.
Dabei spricht Scheler einige Zeilen spater m ok ant von
der nTodesangst des westlichen und amerikanischen GroB-
btirgertums vor dem Bolschewismus" — auch sonst bltihn auf
der Wiese dieses Buchs nicht uniippig die Widerspriiche. Am
Anfang wird rechtens gegen Herrn Spengler vorgebracht, daB
die Friedensidee „von strahlender Helligkeit, sein" musse,
„wcnn sie von den groBten und reinsten Genien der Menseh-
heit als Panier der Menschheit selbst immer wieder empor-
gehoben ward aus dem Schutte der Erfahrung", und am SchluB
wird der zeitgenossische Typus, der in der Nachfolge jener
Genien sich abmiiht, eisig angespritzt als Typtis „der .Geistigen
(in moderner Literatensprache)". Dies vor Offizieren! Es
juckt einen, dem Gespenst hier etwas ganz Personliches zu
verabreichen,
Der Erste ubrigens, der das Adjektiv ,geistig* substanti-
viert und einen neuen charakterologischen Begriff damit ge-
schaffen hat, einen Begriff, den die Klassen- oder Branchen-
vokabel Jntellektuelle' nicht im mindesten deckt, ist der
Philosoph Constantin Brunner gewesen. Seinen Terminus iiber-
nahmen spater wir Logokraten (um 1915), freilich mit Prazi-
sierungen und InhaltswandeL
Andre Widerspriiche: Erst versichert Scheler, er musse
^vollig bestreiten", daB nder Staat ein sittliches Recht" habe,
„Menschen zum Kriegsdienst zu zwingen gegen ihr Gewissen";
1fder Mensch als geistig personliches Wesen steht iiber dem
Staat, nicht unter ihm" — wobei die uniformierte Horerschaft
im RWM wahrscheinlich auf ihren Stuhlen herumrutschte.
Aber nur ein paar Sekunden lang; denn dann labte sie das
19
Bekenntnis: HIst der Standpunkt" (namlich des Kriegsdienst-
verweigerers) ,,objektiv ethisch und metaphysisch rcspcktivc
religios rich tig? Nach meiner philosophischen Ansicht ist er
es nicht!" Man hort die Offiziere aufatmen; Hcrr Professor
hatten abcr die Frage lieber nicht ^metaphysisch respektive
religios", sondern philosophisch respektive politisch unter-
suchen sollen. Andre tatens.
,,Die erste Forderung der Stunde ist heute, Europa vor
einem neuen Krieg zu bewahren" (mit welchen Mitteln, wird
verschwiegen); einige Zeilen spater: Herumtrampeln auf „uto-
pischen Theorien d«s Pazifismus, die vor der kritischen Ver-
nunft nicht standhalten", GewiB, es gibt solche; aber grade
an dieser Stelle unterscheidet er nicht. Alle Methoden, alle
Pazirismen skeptifiziert er der Reihe nach; von eignen Vor-
schlagen nicht der Hauch einer Spur* Er beschrankt sich
darauf, ,,Gesinnungspazifismus und Instrumentalmilitarismus"
zu fordern; das ist ja ungefahr die Realitat unsrer Epochc
Dieser Gestorbne hat sich der schwarzrotgoldnen Gegen-
wart so trefflich angepaBt wie der Lebende einst der schwarz-
weiBroten; nur diirfte die unklare, die unwahre Fried ens-
predigt im Frieden noch schadlicher wirken als die Vergottung
des Krieges im Krieg, Max Scheler hat nie aufgehort, ein
Opportunist zu sein; er ist sich im Grunde immer gleich ge-
blieben, (Parallelfall: Thomas Mann, Vor 1918 lfpreuBische"
und romantische Haltung, .gegen Demokratie, gegen den „ west-
lichen" „Zivilisationsliteraten"; nach 1918. republikanischer
Rationalist und Kosmopolitt ,,westlich" bis dorthinaus — auch
hier im Grunde keine Wandlung, sondern Beharrung: im Zeit-
g em a Ben, Das ZeitgemaBe: die Tug end aller ordinaren Geister.)
Was war dieser kluge Scheler? Ein Phanomenolog, kein
Wertsetzer; ein Interpret kein Prophet. Ein Mann, der nicht
f iihrte, der stets mit seiner Zeit mitging — wenn auch leicht
abseits und mit barocken, schwierigen Schritten; ein (kompli-
zierter) Gleiter auf dem Boden der Tatsachen; ein (gewiB
aparter) Schwimmer mit dem Strom. Im Kern kein Philosoph,
sondern ein sehr gewiegter Philosophaster; aus der Halbwelt
des Geistes; ein Intellektueller, der die Macht sttitzt. Fiirchten
wir uns nicht vor Toten, die spuken; es gibt gewisse, die ver-
dienen, totgeschlagen zu werden, wie Ratten — so gespenstisch
das ist.
Union der festen Hand von Mfons ooidschmidt
Prik Reger widmet seinen groBen Roman , .Union der festen
Hand" (Ernst Rowohlt Verlag, Berlin) dem deutschen
Volke. Ich weiB nicht, ob er dieses Werk dem deutschen
Proletariat widmen konnte. Es ist kein Kampfroman, kein
Roman, der die Revolution fordert, es ist ein Spiegelroman.
Eine grandiose Photographic Allerdings eine verscharfte Pho-
tographic aus der die Runzeln, die Gemeinheiten, die Leiden,
die Selbstbetorungen und die Brutalitaten deutlich hervortre-
ten. Das Werk eines auBerordentlich kenntnisreichen Mannes,
20
der Techniker, Ruchhalter, Plancntwerfcr, Verwalter, Bilanz-
kritiker, Kenncr der Schliche und Verflechtungen in der GroB-
und Kleinwirtschaft, also ein Fachmann ersten Grades ist. So
konnte er den besten deutschen Industrieroman schreiben, den
Kriegs- und Nachkriegsproduktionsroman, auf den wir seit
langem gewartet haben,
Essen ist das Zentrum dieses Romans und in Essen die
Risch-Zander-Werke, das sind die Krupp-Werke, Die Hand-
lung beginnt in der ,,Waffenschmiede des Reiches" gegen
Kriegsende und schliefit mit einer Analyse der Scheinrentabi-
litat, das heifit des nationalistischen Versuchs, die Arbeiter-
schaft von neuem zu disziplinieren, wahrend drauBen die Er-
werbslosigkeit ins Ungeheuerliche steigt. Ober das Zentfal-
werk hinaus, dessen Bedeutung nach dem Kriege sinkt, wird
die Innen- und AuBenpolitik der ganzen Schwerindustrie des
Ruhrreviers und der chemischen Industrie dargelegt. Die
Union der festen Hand, das ist wohl der Langnam-Verein, um-
faBt die Interessen der Ruhr-Schwerindustrie. Er ist die
Festung dieser Industrie, in der und mit deren Hilfe die Kampfe
der Industriellen unter sich, ihre Kampfe gegen die Regierung
und gegen die Arbeiter und Angestellten sich abspielen.
Zwischen schon maroder Kriegsproduktionsbegeisterung
und Festigkeit auf hohlem Grund wird das ganze riesenhafte
Tableau des Kapitalismus aufgerollt. Seine Kalkulationsmetho-
den, seine Verscljachtelungs- und Bestechungsmanover, die
offenen und heimlfchen Schlachten gegen den ,,Kulturbolsche-
wismus", seine Wirkungen bis in die Seele des verhutzelten
ArbeitergrpBpapas. Des oftern mit mehr Kritik als Entschie-
denheit, aber mit einer Durchdringungskraft, die bis heute keio
deutscher Romanschreiber aufgewiesen hat. Auch der Romar
,, Petroleum" von Upton Sinclair, dessen Handlung straffer unc
vielleicht spannender istT hat nicht cliese Detaiikunst, diese
Mannigfaltigkeit und doch Geschlossenheit der kapitalistischen
Einzelheiten, ,, Union der festen Hand" ist ein Lehrbuch der
Produktion, der Finanz und der sogenannten Wirtschaftsseelet
eindringlicher und klarer als die meisten beriihmten wirt-
schaftswissenschaftlichen Werke.
Unter Decknamen treten alle bekannten ,,Kapitane'* der
deutschen GroBindustrie auff ihre Charaktere, ihre Kniffe,
Klugheiten, Oberheblichkeiten, ihre lachelnden Grausamkeiten,
die riicksichtslose Verwertung der Schwachen des Gegners,
das Talent, die Menschen einzuwickeln, die Benutzungsethik,
es ist eine Charakterologie des Schwerkapitalismus.
Die deutsche Industrietradition verblaBt, weil sie unren-
tabel . wird, die alten Embleme: Schwarz-weiB-rot, Treue,
Schopferkraft, Biederkeit, miissen nach dem Kriege noch her-
halten zum Zweck der Gewinnsicherung und der Unterwer-
fung, aber sie sind nun neugermanisch geworden. Die Liebe
zum Herrscherhaus, die Kruppliebe, auf der die Rechnungs-
sicherheit mit Hilfe fester Waffen- und Munitionsauftrage und
Eisenbahnbestellungen beruhte* wird zum Biindnis mit den
Nationalsozialisten. Die Werksgemeinschaft, das heiBt der
patriarchalische Betrug an der Arbeitskraft, bjeibt, doch ist sie
21
nicht mehr die selbstverstandliche „Familie'\ die der Idee des
Kaiserismus entsprach, sie ist zu einer nach bezahlten Grund-
satzen schlau und zynisch angewandten Parteiinstitution ge-
worden.
,, Union der festen Hand" ist kein Dokumentenroman, und
doch ist dieses Werk bis in die letzten Verastelungen doku-
mentarisch. Wie der Kaiser, um die Waffenherstellung zu be-
schwingen, ins Kruppwerk fahrt, wo die Arbeiter ihn abblitzen
lassen, wie die alte Frau Krupp jedes Gefuhl und jede nWohl-
fahrt" auf Dividendenformeln bringt, wie handfeste Sexuali-
tat in den GeschoBdrehereien zur Milderung revolutionarer
Explosivitat benutzt wird, bei Sffentlicher Ausposaunung der
Geschlechtsmoral, wie dieBilanz zurechtgestutzt, dermaBvolle
Arbeiter gegen den bockigen Proleten ausgespielt, Kleinbiir-
gersehnsuchte angetrieben und miBbraucht werden, wie die
Verteilung von Nahrungsmitteln, Hausrat, Wohnungen und
Pramien sachkundig und systematisch von oben vorgenommen
wird, die tausend Mittel und Mittelchen, rebellische Produktiv-
kraft zu ziigeln, zu bestrafen und umzubiegen in HGefolg-
schafistreue'^ das alles ist meisterhaft in diesem Werk geschil-
dert und untersucht.
Die alten Generale, einst geachtete Auftragsbeschaffer,
werden nun Propagandisten der Industrie, opponierende Staats-
sekretare fiigen sich in Instrumentenstellungen, Gewerkschafts-
fuhrer5 lassen sich einseilen, Betriebsrate werden korrumpiert
Sozialdemokratische Minister fangt man mit Gefiihlsduseleien
oder bedroht sie mit Arbeiterentlassungen und erzielt so rie-
senhafte SubventionenN Das ungeheure Geschaft der Ruhr-
industrie nach der Besetzung wird bis auf die Eingeweide
bloBgelegt, Indessen geht die Konzentration weiter, dieElek-
troindustrie wird der Eisen- und Kohlenindustrie dienstbar ge-
macht, der Staat gibt den Segen und das Geld zur Zusam-
menballung und Gewinnsicherung, jede MaBnahme wird im
intimen Kreis mit dem Nutzen motiviert, wahrend in den Mee-
tings der Union und in den vaterlichen Festen fur die Arbei-
terschaft Produktion und Arbeit in bekannter Weise idealisiert
werden.
Man hat den Sozialisierungsschrecken iiberwunden, nach-
dem man einen Augenblick versucht hatte, auch diese Gefahr
zum Aktivum zu machen. Immer wieder, in Einigkeit gegen
den gemeinsamen Feind, Proletariat und Regierungen, und in
den Kampfen der Kapitane untereinander, triumphiert die
„Schopferkraft", die in diesem Roman so genannt wird, wie
sie wirklich ist. Sie ist namlich gar keine Schopferkraft sori-
dern nur gerissene Riicksichtslosigkeit, die alles einstellt in die
Bilanz: Ehre, Freiheit, Vaterland, Gemeinschaft, Arbeitersehn-
sucht, Erleichterungen und Schwierigkeiten, die Franzosen oder
die Amcrikaner, je nach dem Nutzwert, bedenkenlos, nur um
die Erhaltung der Macht und der Rente bemiiht In diesem
Getriebe spielt auch der Generaldirektor, das ist. Hugenbe*:g,
eine wesentliche Rolle, aber der Posten des Propagandisten der
Reaktion, den er heute innehat, ist sozusagen nur ein Diplo-
matenposten. Man hat ihn abgeschoben aus der Industrie,
weil er kein ,,Schopfer'\ sondern nur ein Pressechef ist. Wir
22
wissen, daB er auch diese Funktion nicht grade als Erneuerer
des deutschen Geistes ausiibt.
In dem Roman sind Stcllen von auBerordentlicher dichte-
rischer Kiihnheit und portrathafter Kunst. Ich nehmc die
knappe Schilderung der Tragodie einer Arbeitskameradschaft.
„Kaum wieder an seine Arbeit zuriickgekehrt, begann
der GieBer zu taumeln, rang nach Luft, brach zusammen, Ein
Kamerad, der den Ohnmachtigen aufzurichten versuchte, wurde
mit Schrecken gewahr, daB seine Arme einen Sterbenden
hielten.
In seiner Bestiirzung wuBte er nicht, was er anfangen
sollte, er war nicht sehr kraftig und wurde von dem zunehmen-
den Gewicht des Leblosen iiberwaltigt. Er wollte um Hilfe
rufen, als eine GieBlokomotive mit fltissigem Feuer, durch die
nahe Gleiskreuzung rollte — und sei es nun, daB der Fuhrer
zu scharf bremste, sei es, daB das Gleis nicht in Ordnung war,
der Kiibel kippte und goB die Glut uber Kopf, Riicken und
Brust des Arbeiters, der bei dem alten, rochelnden GieBer
kniete.
Kleider und Haut Helen ab wie Zunder, rauchende Fetzen
rohen Fleischs schalten sich aus dem Korper, die verstiimmel-
ten Augenhohlen wimmerten leise. Er verschied nach wenigen
Augenblicken in groBer Stille/'
Reger hat auch die mod erne Produktionslandschaft ent-
deckt, Geschmolzenes Eisen, die Tonung des Sandes fur den
GuB, die Gestange, Krane, Dampf und Feuer, die ganze Werk-
statt und dazu die Menschen an den Produktionsinstrumenten
und in ihren „Kolonien", ja die fressenden Raupen unter den
Kohlblattern als Symbol des Rentabilitatsprozesses, hier hat
ein wirklicher Poet geschrieben. Konzerne und Trusts iiber-
ragen wie lebende Kraken diese Landschaft, in der keine
Menschenart, kein Tier und kein Ding fehlt. „In den Vor-
garten der Villen, wo sonst Nelken und Gladiolen bliihten,
fraBen die Haumigen, schwarz und gelb gescheckten Raupen
den Wirsingkohl, und die schwarzen Lause saugten das Mark
der Bohnen aus. Die Raupen klebten an den Randern und Ein-
kerbungen des Wirsings, dessen Blatter von vielen Adern,
Warzen und dunklen Runzeln zerspalten waren; unten mit den
BauchftiBen festgeklammert, den Kopf nach oben herumge-
bogen, staken sie wie Krampen fest. Mit den bartigen Ober-
lippen bissen sie an und zermalmten zwischen einer Unzahl
von Kiefern und Kauladen das wasserige, fade riechende
Griin. Dabei quollen die Augen zu dicken, spahenden Punk-
ten auff und die Fiihler streckten sich miBtrauisch und wach-
sam nach den Seiten hin , . ."
Professoren mit fascistisehen Thesen, Psychotechniker mit
Exaktheitsfimmel, bezahlte Gutachter aus wissenschaftlichen
Laboratories eigne Zeitungeii, Rundfunk, nichts fehlt in diesem
Gemalde eiues Industrie-Breughels. Zeigte dieser Roman noch
den Auftrieb der Arbeitskraft, ihre Unwiderstehlichkeit, ihren
Drang zur Umformung, ihren Rebellencharakter bei allem
Elendf ware er also auch noch ein Roman in die sozialistische
Zukunft der Welt, so hielte ich ihn fiir vollkommen.
23
Frauendammerung? von mide waiter
r\ic Frauen sind unbclicbt gcwordcn. Das hort man nicht
*"^ gern , weil es an Dinge riihr t, die mit Vernunf t allcin
nicht mehr zu erklaren sind. Eine Atmosphare von MiB-
behagcn sammelt sich urn die Gesamthcit dcr arbeitenden
Frauen, Eine zwar unorganisierte, aber sehr starkc Abwehr-
bewegung richtet sich gegen alle; ihre Auswirkungen werden
die Einzelnen friiher oder spater zu spiiren haben.
Von rechts bis links wird auf einmal wieder mehr oder
weniger deutlich Sinn und Berechtigung der Frauenberufsarbeit
in Frage gestellt. Dabei, steht im Augenblick noch nicht ein-
mal die alte Diskussion iiber die sogenannte ,,Gleichberechti-
gung", iiber den „gleichen Lohn fur gleiche Leistung" im Vor-
dergrund. Wir miissen uns auf einmal wieder mit den primi-
tivsten Argumenten gegen die weibliche Erwerbstatigkeit aus-
einandersetzen.
Diese neue Aggression ist leider nicht ganz ohne unsre
eigne Schuld so groB geworden: die Erscheinung der arbeiten-
den Frauen wird zu <len verschiedenartigsten Propagandazwek-
ken generell umgelogen, Ausgenommen von dem allgemeinen
Falschungs- und Vergoldungswahn ist vielleicht nur die schwer
arbeitende Proletarierfrau, deren Lebensform keinerlei An-
haltspunkte fin* optimistische Darstellungen in Wort und Bild
zu bieten vermag. Wenn von ,,Frauenarbeit" die Rede ist,
wird meist nicht an die Gestalten der Kathe-Kollwitz-Bilder
gedacht. Vielmehr wird seit Jahren jede Frauenarbeit als MEr-
rungenschaft'* proklamiertf photographiert, verniedlicht und mit
einer Himbeersauce ewig fortschreitender Prosperity iiber-
gossen. Das Siegesgeschrei von den unbegrenzten Moglich-
keiten weiblicher Ttichtigkeitt von den standig neu eroberten
Positionen stammt zum Teil von den Vertreterinnen der neu-
erschlossenen Frauenberufe. Angst und Schrecken ergrilf die
mannlichen Kollegen, die den Glanz der Neuheit und Apart-
heit, womoglich durch weibliche Reize verstarkt, als unlautern
Wettbewerb empfinden mufiten.
Sehr bald haben noch dazu samtliche auf Frauenkund-
schaft angefwiesene Konsumindustrien die Zugkraftigkeit
solcher Schlagworte erkannt und * fiir Reklamezwecke aus-
gewertet. Selbst die schlechtest bezahlte Verkauferin oder
St eno typist in gibt noch ein wirksames Plakat ab, in necki-
scher Aufmachung Sinnbild dauernden Wochenendvergniigens
und ewiger Jugiendfrische. MittelmaBige weibliche Berufs-
erfolge mit vielleicht sehr mangelhafter Barvergiitung werden
in Jahrbiichern und Wandkalendern glorifiziert, wenn moglich
unter Ahwendung1 der Spitzmarke MFrauen fiir Frauen". Wer
hatte je einen Maschinenbauer in Gehaltsklasse 10 der Mit-
welt vorgestellt, wie er grade fiir seine lieben Geschlechts-
genossen eine Lokomotive baut?
Das muBte den Mannern mit der Zeit auf die Nerven
gehen. Nur auf solcher Basis konnte sich der Aberglaube
entwicke.ln, daB Ausschaltung von Frauenarbeit gegen Massen-
arbeitslosigkeit hilft. Sachliche Argumente sind in den Wind
gesprochen. Vergeblich hat fast jede Zeitung links von der
24
fD.A.Z/ in den letztcn Monaten zwecks Aufklarung und Be-
lehrung die bekannten Zahlcn aus der Berufszahlung gebracht,
die einwandfrei beweisen, daB eine Entfernung etwa der ver-
heirafeten Frauen vom Arbeitsmarkt nichts niitzen wiirde.
Umsonst erklaren die freien Gewerkschaften immer wieder,
daB die iiberwiegende Mehrzahl der elfeinhalb Millionen be-
rufstatiger Frauen mit der Massenfabrikation jener Konsum-
giiter beschaftigt wird, die friiher ebenfalls von der Frau im
Hause selbst hergestellt worden sind; daB zweieinhalb Millio-
nen verheiratete Frauen in landwirtschaftlichen und gewerb-
lichen Eigenbetrieben des Familienoberhauptes arbeiten und
zwei Millionen Frauen in heiratsfahigem Alter uberhaupt ganz-
lich unversorgt bleiben werden.
Mit so verniinftigen, so niichternen Mitteln wird man eine
Massenpsychose nicht bannen, die beinahe mystische Vorstel-
lung von der okonomischen Schadlichkeit der arbeitenden
Frau jetzt nicht mehr ausrotten konnen. Fiir die Entdeckung
der Quellent aus denen sich dieser mannliche Affekt standig
erneuert, sind die Psychologen zustandig. Sie konnten viel-
leicht untersuchen, wie weit noch heute eine dunkle Ge-
schlechtsangst die Mehrzahl der Manner hindert, okonomische
Gegebenheiten sachlich und klar zu erkennen. Eine Aufkla-
rung der umgelogenen sozialen Tatbestande kann allerdings
nur von den Frauen selbst geleistet werden, wenn sie sich im
allgemeinen entschliefien, iiber ihr Berufsschicksal ebenso offen
zu sprechen wie iiber ihr Liebesleben.
Da ist die erfolgreiche Oberschicht unsrer vielgefeierten
Pionierinnen, die in vorgeriickten Jahren als Abgeordnete und
hohere Beamte, als Fiihrerinnen groBer Berufsgruppen auf ein
wirtschaftlich gesichertes Alter rechnen konnen. Sie mogen
einmal berichten, in welchem Lebensalter sie in den wirfcschaft-
lichen Wettbewerb eingetreten sind, wieviel Geld in den Auf-
stieg gesteckt werden muBte, bis sie in den kritischen Jahren
nicht mehr von Vorgesetzten und Mitarbeitern abhangig waren,
die jede alternde Frau als Arbeitskraft ablehnen. Da sind die
jurigen Akademikerinnen, die ihre Anstellung als ,,wissen-
schaftliche Mitarbeiterin" nur bekamen, weil sie nebenbei als
perfekte Stenotypistinnen zu brauchen sind. Das Heer der
weiblichen Angestellten, die zur Behauptung einer Stellung mit
hundertfiinfzig Mark Monatsgehalt einen Lebensstandard aui-
rechterhalten mussen, der einem Einkommen von zweihundert-
fiinfzig Mark entspricht. ,,Zusatzliche Leistung" in irgend-
einer Form wird meist stillschweigend aufgebracht.
Ganz nebenbei werden die arbeitenden Frauen als Ge-
samtheit auch noch gern fiir gewisse Betriebsunfalle veraat-
wortlich gemacht. Wenn der tagliche Arbeitsrhythmus durch
zeitraubende Auswirkungen zarter Beziehungen innerhalb des
Betriebes einmal durchbrochen wird, schreit alles nach der Be-
seitigung des storenden weiblichen Elements. Als ob nicht be-
triebsfremde Verwirrungen der Gefiihle die mannliche Arbeits-
fahigkeit ebenso stark lahmlegen konnten. Leider hat die Be-
triebswissenschaft bisher noch nicht ergriindet, wieviel pro-
duktive Leistungssteigerung durch die arbeitenden Frauen in
der Verbindung von Beruf und Liebe erreicht werden kann.
25
Die Wahrheit iiber Lebens- und Arbeitsbedingungen der
heutigen Frau ist zum Teil in den Veroffentlicbungen der Be-
ruisverbande zu finden. In einer neuen Erhebung des Aia-
Bundes iiber 1fDas Arbeiten an Schreibmaschinen'* muBte fest-
gestellt werden, da($ die meisten Stenotypistinnen und Maschi-
nenschreiberinnen nach zehn- bis fiinfzehnjahrelanger Berufs-
arbeit vollig ausgepumpt sind. Aber die besten Enqueten und
wertvollsten Monographien erlangen nicht die gleiche Publi-
zitat wie der ewige Optimismus, der im Namen des gesamten
Geschlechts an sichtbarer Stelle verzapft wird. Wenn zum
Beispiel die Rede-Elevinnen der Frau von Kardorff als neue
weibliche Jugend auftreten, um die „hohe politische Aufgabe
der Frau" erneut zu entdecken, kann man sich iiber die ent-
sprechende mannliche Reaktion nicht wundern,
Es ist hochste Zeit, mit der Fiktion von der Einheitsfront
aller arbeitenden Frauen aufzuraumen. Die laute Propaganda
fur den vagen Begriif Frauenarbeit schlechthin mischt sich
peinlich mit dem Triumphgeschrei iiber langst errungene
, .Siege" und zerstort nur den guten Willen der Gegenseite.
Wenn dieselben Intensitaten von den Frauen in aller Stille
inner ha lb der einzelnen Berufsgruppen zur Aktivierung ihrer
Kollegen beiderlei Geschlechts aufgebracht wiirden, lieBen
sich wahrscheinlich bessere Resultate fur die Arbeitsbedingun-
gen aller Beteiligten erzielen.
Buhnengenossenschaft und Opposition
von Emil Lind
P*s gibt keinen naturlichern Rebellen als den Schauspieler. Die
" psychologischen Ursachen dafiir liegen auf der Hand. In Zeiten
des primitivsten Kampfes mit den Theaterleitern richtete sich der
Strom der Unzufriedenheit gegen diese. Seitdem die Existenz des
Schauspielers — des in Stellung befindlichen! — durch die Arbeit
der Gewerkschaft sicherer geworden ist, besonders seit 1919 durch
den Tarifvertragi werden die Gewerkschaftsfiihrer zu Siindenbocken
erkoren, ' So kamen die bekannten Verschworungen gegen Nissen,
gegen Rickelt zustande, so die Aktion gegen die jetzigen Leiter der
Genossenschaft, die in der letzten Delegierten-Versammlung damit
ihren AbschluB fand, daB der gesamte Verwaltungsrat mit mehr als
Zweidrittelmajoritat wiedergewahlt wurde, und so flattert auch wieder
neuerdings da und dort Unzufriedenheit gegen dieselbe Leitung auf,
genahrt durch die allgemeine wirtschaftliche Lage und besonders durch
die Stille des propagandistisch undankharen Verteidigungskampfes,
den die Genossenschaft seit Bestehen des Tarifvertrages um dessen
Existenz fuhrt.
Auf die von personlichem Ehrgeiz und Oberbetulichkeit genahrte
Aktion der Frau de Neuf. die schliefilich auf das alte ote toi, que je
my mette hinauslauft, braucht man wohl in einer sachlichen Erorte-
rung nicht einzugehen. Anders verhalt es sich mit den Ausfuhrungen
Fritz Erpenbecks in der ,Weltbuhne'( der im groBen und ganzen die
heutige Situation des Schauspielers auch nach unsrer Kenntnis richtig
zeichnet. Nur, daB Erpenbeck die Schuld an dieser Lage unsrer
Taktik zuschiebt statt der zwangslaufigen Entwicklung. Die RGO.f in
deren Namen Erpenbeck spricht, lehnt die wirtschaftspolitische Ten-
denz ab, weil sie der Meinung ist, daB auch in wirtschaftspolitischer
Hinsicht nur etwas erreicht werden kann durch Aufgehen im allge-
26
meinen Klassenkampf. Ein wiinderschones Prinzip, das auch gut in
den Ohren des zum Elend Verurteilten klingt, nur dafi sich leider das
praktische Leben nicht danach richtet, Fiir die Genossenschaft ist
dieser Weg nicht gangbar, aus innern und aufiern Griinden> Die
innern: die iiberwaltigende Majocitat der Genossenschafter wiirde ihr
nicht Gefolgschaft leisten, denn die schonsten Theorien fiber das vierte
Reich — das dritte ist bekanntlich schon von andrer Seite gepachtet
— bieten ihnen keinen Ersatz fiir das Stuckchen Brot und fiir die
kleinste Rolle, die ihnen die praktische Gewerkschaftsarbeit in der
Gegenwart verschafft, Radikale Politik der Genossenschaft wurde
iiberdies zu einer Streichung aller Zuschiisse, somit zu einer ka-
tastrophalen Vermehrung der Erwerbslosen fiihren. Die SuBern: die
Kunst war und ist bis zu einem gewissen Grade an ein Mazenaten-
tum gebunden. Dieses ist, und zwar unter lebhafter Mitwirkung der
Genossenschaft, zum groBen Teil auf die Regierungen iibergegangen.
(Diese seinerzeit von alien Seiten angefochtene Politik der Genossen-
schaft bewahrt sich jetzt als segensvolle Prophylaxis. Bestiinden heute
weniger gemeinniitzige und mehr private Theater in Deutschland, ware
wohl das deutsche Theater gewesen.) Kulturgewissen und Kunst-
freudigkeit sind bekanntlich nicht sehr haufige Eigenschaften offi-
zieller Instanzen. Die Vertreter der kunstlerischen Interessen stehen
noch immer im Antichambre, und wollten sie in die gute Stube mit
Gewalt eindringen, dann flog en sie iiber die Treppe hinab, und ihre
Sache mit ihnen. Das Beste, was die Genossenschaft in der jetzigen
Situation tun kann, ist, in einzelnen Fallen das Moglichste fiir ihre
Mitglieder und fiir die Theater erreichen, Sie ist genotigt, das Feld
ihrer Wirksamkeit abzustecken.
Diese Begrenzung hieB in den Ietzten Jahren Erhaltung und
Rettung der gefahrdeten Theater. Darauf konzentrierte sich die Ar-
beit mit dem Erfolg, daB in der Tat in der nachsten Spielzeit, wenn
auch unter Opfern einzelner Personen, samtliche Theater (bis auf
eines, das erst seit einigen Jahren besteht und wieder geschlossen
werden soil) gesichert sind, ebenso wie ihre gemeinniitzige Form. Die
Arbeit, die hierauf verwendet werden muBte, die zahllosen Besprechun-
gen, Sitzungen, Verhandlungen, Eingaben, konnen nur dem begreiflich
gemacht werden, der weiB, wie schwer es ist, eine fast verlorene Sache
bei parlamentarischen, parteipolitisch zerkliifteten Korperschaften zu
retten. Nicht einmaliges Reisen geniigte da in die betreffenden Orte,
sondern drei-, sechs-, achtmal muBte auf Grund von dringenden Tele-
grammen, Telephongesprachen etcetera seitens der Ortsverbande die
personliche Arbeit des Prasidiums eingreifen. (Siehe Waither Karsch
in der Nummer 24 der ,Weltbiihne*: „. . . ihr seid ein biBchen viel ge-
reist . , /') Und die Genossenschaft fiihrte diesen Riesenkampf zuerst
allein, nachher teilweise mit Unterstutzung der andern Angestellten-
verbande durch. Der Buhnenverein ruhrte sich nicht. Der Erfolg der
Gewerkschaft zeigt sich in der starken Resonanz, die heute ihr Wort
bei den Behorden und bei ihren Mitgliedern im Reiche erzielt Die
Angriffe gegen die Leitung kommen fast alle aus Berlin, wo ganz be-
sondere Verhaltnisse herrschen, deren Ursachen nachzugehen hier zu
weit fiihren wurde.
Neben dieser Arbeit lief naturlich die andre organisatorische
weiter, ferner die genossenschaftliche Tatigkeit in charitativer Be-
ziehung, die fur ihre Gastspielunternehmungen (ein Sonderfall: eine
Gewerkschaft als Unternehmerf), ihre sonstige Art der Erwerbslosen-
ftirsorge, ihr Kampf urn Erhaltung des Tarifvertrages, der seit seinem
Bestehen notwendig ist und inner ha lb dessen fast jeder einzelne Para-
graph gegen den Ansturm der Reaktion vor den Schiedsgerichteh ver-
teidigt werden muBte, etcetera. Es gehorte zahe Energie und ein Ein-
satz von groBer Vitalitat dazu, um dies alles durchzu fiihren, ohne in
Momenten der Hoffnungslosigkeit die Nervenkraft zu verlieren und
27
sich durch Verkennung und Intrigue nicht hindern zu lassen. (Walther
Karsch: HDie Leitung der Genossenschaft sei verkalkt")
Eine offene Feldschlacht ist immcr popularer als ein stiller Ver-
teidigungskrieg. Die ganze Wucht dieser Binsenweiskeit lastet heute
auf der Arbeit der gesamten Arbeiter- und Angestelltenverbande.
Auch auf der Arbeit der Genossenschaft. Man mifit die Erfolge nicht
an den Moglichkeiten, sondern an den eignen Wunschen und an der
Vergangenheit, und kommt zu dem falschen Schlufi der Untatigkeit
und der Untiichtigkeit der Fiihrer. Dies mufi nicht immer richtig sein, ist
aber popular, und so wird eben die Genossenschaftsleitung mitein-
geschlossen, um so leichter, als ihr Kampf um Details die Meinung
erweckt, sie habe die grofie Linie, das grofie Ziel verloren, wahrend
diese in der Tat doch nur zunachst zuriickgestellt werden miissen.
Dies kann erst in der Zukunft bewiesen werden, und so braucht die
Fuhrung heute mehr denn je das Vertrauen der Gefolgschaft. Jede
unberechtigte und demagogische Schwachung dieses Vertrauens
ist ein Vergehen gegen die Gesamtheit und mufi im Keime
erstickt werden. Die holde Verantwortungslosigkeit des Kaffee-
hausklatsches und eine Meinungsbildung, die aus einem Da-
hin- und Dorthin-Horen hervorgeht, konnen bei der leichten
Entzundlichkeit der Schauspieler grofies Unheil anrichten. Da-
her das scharfe Eingreifen der Genossenschaft und die Polemik
gegen publizistische Auflerungen, die sonst unbeachtet blieben. Die
tWeltbuhne' selbst bekampft mit Recht den Spaltungswahnsinn, der
die Arbeiter- und Angestelltenbewegung ruiniert. Gegen den Spal-
tungswahnsinn in den Reihen der Genossenschaf ter mufi in deren
eignem Interesse mit alien organisatorischen Mitteln gekampft werden-
Jede unberechtigte Ausstreuung von Mifitrauen aber fuhrt Spaltungs-
bazillen in Scharen mit sich.
Wenn je, miissen grade gegenwartig alle Meinungsnuancen in be-
zug auf Taktik zuriicktreten. Vollige Geschlossenheit der Organi-
sation ist jetzt unerlafilich ftir die Existenz der Buhnenangehorigen.
In einer Zeit, wo von oben herab auf kaltem Wege die Zerstorung
der Gewerkschaften betrieben wird, miissen alle gleichartigen Ten-
denzen von innen heraus energisch bekampft werden. Besonders aber
von der Genossenschaft Deutscher Buhnenangehorigen, die jetzt vor
der schwersten Belastungsprobe der letzten zwanzig Jahre steht: vor
der Absicht des Biihnenvereins, Xnderungen im Tarifvertrag zu seinen
Gunsten zu erzwingen oder diesen zu kundigen. Und auch alle die
aufierhalb der Genossenschaft Stehenden, die in dem gewerkschaft-
lichen Zusammenschlufi der Kiinstler zur Verteidigung ihrer sozialen
und wirtscha ft lichen Rechte kein Verbrechen gegen den heiligen Geist
des Individualismus erblicken, miissen jetzt an ihrer Seite stehen.
Obwohl es nicht zu den Obliegenheiten der Gewerkschaften ge-
hort, in den Produktionsprozefi einzugreifen, hat dies die Genossen-
schaft im letzten Jahrzehnt oft getan. Besonders haufig wurde von
ihr vor der Entwicklung der berliner Theaterverhaltnisse zum Ameri-
kanismus gewarnt und das skrupellose Managertum rucksichtslos be-
kampft, soweit es in ihrer Macht stand. Auch hier kampfte die Ge-
nossenschaft dauernd um Rettung des Ensemble-Gedankens, wenig-
stens fur einige Theater, deren Leiter mit ihr in diesem Gedanken
konf brm gingen. Aufierdem sUcht die Genossenschaft uberall in neu-
zeitlichem Sinne in die Fiihrerfrage einzugreifen. Sie sttitzt vor alien
Dingen diejenigen unter den Theaterdirektoren, deren Gesamtarbeit
ein kunstlerisches Geprage hat.
Geben nun alle die stillen und lauten Opponenten irgend einen
Rat, j a auch nur einen Wink, wie die von ihnen verlangten Verbesse-
rungen der Lage zu erreichen sind? Nichts dergleichen. Ja im Gegen-
teill Die Gesinnungsgenossen der RGO. in den verschiedenen Ge-
meindevertretungen, im Reichstag und in den Landtagen lehnen in den
meisten Fallen die Theateretats ab. Wenn es nach ihnen ginge, wiir-
28
den noch einige tausend Biihnenmitglieder mehr auf der Strafie liegej,
dann konnte man noch mehr gegen die Genossenschaft wegen ihrer
angeblichen Untatigkeit losgehen. Ein wunderschbner Z irk el, Erst
einen Zustand schaffen und ihn dann als Waffe gegen die eignen
Klassengenossen benutzen.
Es wurde hier versucht, der vollig unsubstanzierten Kritik einen
sachlichen Bericht entgegenzustellen. Gestiitzt wird er durch die Tat-
sache, dafi die Ftihrer der Genossenschaft noch dieselben sind, die
an den grofien Erfolgen in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend
mitgewirkt haben. Eine Anderung ist weder in ihrer Arbeitskraft
noch in ihrer Gesinnung eingetreten.
*
Nachdem nun auch noch ein Vertreter der Genossenschaft
hier gesprochen hat, wollen wir die Debatte vorlaufig schliefien.
Wenn Emil Lind Frau de Neuf „personlichen Ehrgeiz und Ober-
betulichkeit" vorwirft, so ist dem entgegenzuhalten, dafi Frau de
Neufs Ehrgeiz allein darin bestand, ihren erwerbslosen Kollegen
zu helfen, Dafi HedwigWangel sich fiir sie in einem offenen Brief
eingesetzt hat, sollte die Leitung veranlassen, etwas vorsichtiger
zu sein. Auch die meisten Pressekommentare liefien jede
Begeisterung vermissen, selbst wenn sie das Presidium ver-
teidigten. Das lafit sich . nicht mit Unterstellungen aus der
Welt schaffen, wie die von Emil Lind hier vorsichtiger Weise
franzosisch verkleidete, Frau de Neuf habe sich an die Stelle der
Genossenschaftsleitung setzen wollen. Solche Vorwtirfe erhebt
man immer gern gegen die Opposition, sie haben deshalb aber
nicht grade an Eindruckskraft gewonnen. Der Fall de Neuf ist
nur eine Seite aus dem Beschwerdebuch gegen die Genossenschaft
und gehort wie alle andern zur Sache, Sachen werden namlich
von Personen gefuhrt, das Stigma „pers6nlich" ist eine allzu-
bequeme Ausrede. Was Emil Lind hier uber die Arbeit und die
Stellung der Genossenschaft vorgebracht hat, vermag uns nicht
von unsrer Ansicht abzubringen, dafi die Genossenschaftsleitung
nach Prinzipien arbeitet, die in einer Zeit Geltung hatten, als
sich die Situation no'ch nicht derart verscharft hatte. Dies war
gemeint, als hier geschrieben wurde: ,,Die Leitung der Genossen-
schaft sei verkalkt." Es ist uns niemals eingef alien, den Herren
die personliche Unantastbarkeit abzusprechen. Aber was niitzt
die, wenn man den Kontakt mit den tatsachlichen Verhaltnissen
verloren hat. Der Brustton der Oberzeugung klingt dann etwas
hohl. Auch wir halten eine Spaltung fiir ein Ungliick, aber eine
Opposition ist noch keine Spaltung, Zu wtinschen ist nur, dafi
die mannigfachen Oppositionsstromungen vereinigt werden. Wie
stark in den Reihen der Oppositionellen dieser Wunsch nach ge-
meinsamem Vorgehen ist, ging mit Deutlichkeit aus der am letz-
ten Mittwoch veranstalteten berliner Kundgebung hervor. Diese
Versammlung forderte iibrigens vom Presidium, und zwar einstim-
mig, die Einstellung der Ausschlufiverfahren gegen Frau de Neuf
und ihren Kollegen Rodenberg, Dem Presidium sollte diese Sym-
pathiekundgebung fiir die aus „personlichem Ehrgeiz" handelnde
Frau de Neuf zu denken geben. Und nicht nur dies, die Stim-
.mung unter der zahlreich versammelten Schauspielerschaft bewies
deutlich, dafi man sich das Regime Wallauer nicht mehr lange
wird gefallen lassen. Woher man dann im Presidium den Mut
nimmt, das alles zu bagatellisieren, bleibt unerfindlich. Wenn
das Direktorium Wallauer sich nicht endlich zur innern Demo-
kratie entschliefit, dann wird der Abflufi von Mifivergntigten an-
dauern, die Organisation wird zerspalten, die Schauspielerschaft
ohnmachtig werden. Nach einer friihern Lesart hiefi es immer, die
Kritik an der Genossenschaft und die Unterstutzung der Frau de
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Neuf beschranke sich auf ein paar Skandalblatter, in dcren Nahe
zli riicken der .Weltbuhne' eigentlich nicht angenehm sein musse.
Emil Lind hat dies unserm Vertreter auch in der Pressekonferenz
vorgeworfen. Dafiir gilt erst einmal, daB man fiir seine Nachbarn
nicht verantwortlich gemacht we r den kann. Dann aber sollte das
Prasidium das Echo der letzten berliner Oppositionsversammlung
in fast der gesamten Presse nachdenklich stimmen, Man wird
doch nicht behaupten wollen, daB die ,D.A.Z.\ dafi das tBerliner
Tageblatt' zur Skandalpresse gehoren. Fred Hildenbrandt kom-
mentiert die Versammlung im ,Berliner Tageblatt' mit Worten, die
dem Prasidium sicher nicht angenehm im Ohr klingen werden: „Die
kommende Delegiertenversammlung wird endgultig Klarheit dar-
iiber schaffen, ob Wallauer und Otto sich in den Zeiten der Krise
bewahrt oder nicht bewahrt haben. Wenn zu den Klagen der
gestrigen, illegalen Versammlung, sich Klagen eirier legalen Ver-
sammlung gesellen, diirfte der Fall erledigt und das jetzige Presi-
dium gestiirzt sain."
Die schone Helena von Alfred poigar
T*Tber das Musikalische dieser veranderten „sch6nen Helena"
*~* staunte, bewundernd, der Fachmann. Der Laie wuaderte
sich iiber die Bewunderung. Denn es ist ein getriibter Offen-
bach, an dem die Besucher des Kurfiirstendamm-Theaters
sitzen, und der Himmel, der sich in ihm spiegelt, lacht nicht
iiber Griechenland. Er hat auch wenig Grund dazu. Durch
die Zusatze, selbst durch jene aus anderen Werken des Mei-
sters, geschah dem ganz besonderen Charakter der „Helena"-
Musik AbbrucL Behandelt, wie 'sic behandelt wurde, verlor
sie vieles von ihrem parodistischen Witz, ihrer lockeren Gra-
zie und Laune, ihrer Fahigkeit, die Geister zur Freude zu
verfiihren und die Korper von der Schwerkraft zu erlosen,
ihrem sinnlichen Pathos, das von der Sonne der Ironie zu
heiterstem Funkeln und Glitzern gebracht, aber durchaus
nicht zerstort wird. Alles klang, dem Laien, um Grade lust-
und schwungloser, als es in der Erinnerung und wahrscheinlich
auch in Offenbachs Partitur lebt.
Die dramaturgische und textliche Erneuerung besorgten
Egon SaBmann und Hans FriedelL Mancher holde Schwach-
sinn, etwa die Ratselszene, wurde da beseitigt und durch
mehr intellektuelle Anziiglictikeiten ersetzt Mit Riicksicht
aui das vornehme Institut, dem ihre Arbeit gait, hielten sich
die Text-Anderer von der Erzeugung wilder Frohlichkeit maB-
voll zuriick, trugen hingegen durch manchen gebildeten Scherz
dem Niveau-BewuBtsein ihrer Horerschaft Rechnung. Es ist
reizend, wenn Menelaus, bei einem Disput iiber seine Be-
ziehung zu den Olympischen in die Enge getrieben, sich als
Freidenker erklart. Und sucht er seine Chlamys,' so freut das
jeden, der an den Briisten der humanistischen Mitt els chule
gesogen oder zumindest gelegen hat. Auch schlichter
Humor kommt zur Geltung. Der lachende Jubel, mit
dem Merkurs Bemerkung, er sei „der Gott der Diebe
und der andern Kaufleute" von den Berlinern auf-
genommen wird, nimmt von dieser Menschengattung das
Odium der geistigen Hoffartigkeit und Anspruchsfulle, das auf
ihr lastet. Schopferisch wurden die Bearbeiter dadurch, daB
30
sic die Gotter, die Meilhac und Halevy aus dem Spiel gelassen
hatten, in dieses einbezogen. So schuf Friedell sich die Charge
des Merkurs, des Gottes der KauEleute und der andern Libret-
tisten, der als iiberlegener Dialektiker fein-humorige Satze
redet und dem Partner iiberdies AnlaB zu einem listig vor-
bereiteten, auf Friedells MKulturgeschichte" gemiinzten Ex-
tempore gibt. Ich, sowie ein Herr in der 17, Reihe rechts,
haben die Anspielung sofort verstanden und iiber sie intensiv
geschmunzelt. Gotter, beziehungsweise Gottinnen erscheinen
ferner in der Apfel-Konkurrenz, von der nicht mehr Paris
dem Kalchas erzahlt, sondern deren Augen- und Ohrenzeuge
der Zuschauer wird. Ein EinfalL Nur hatte die Szene
ctlichen gesprochenen Text verlangt und wenn ' schon
nicht diesen, so doch Anpassung des gesungenen. Als Bericht-
erstatter konnte Paris, reflektierend, sagen: ,,Um zu gefallen
einem hiibschen jungen Mann, wenden die Himmlischen oft
seltsarae Mittel an", teilt er aber diese seine Erkenntnis den
Gottinnen mit, noch dazu mit der ganzen Hartnackigkeit, die
ein Refrain in sich hat, so wirkt das tendrhaft-eingebildet und
taktlos. So etwas sagt man einer Dame und gar einer olym-
pischen nicht ins Gesicht. Immerhin, es ist, in des Wortes
zwiefachem Sinn, ein schoner Augenblick, wenn Fraulein La
Jana, um zu gefallen einem hiibschen jungen Mann, sich (bis
auf ein griinseidenes Existenzminimum an Zugedecktheit) eine
in jeder Beziehung vollkommene BloBe gibt-
Von der neuen Regiearbeit Reinhardts an der „Schonen
Helena" gilt, mit alien schuldigen Adjektiven, was von der
Musik gesagt wurde. Es ist grofie Bewegung auf der Biihne,
Hiipfen und Springen, es wird auch, auf der Buhne, viel ge-
lacht, alles freut sich dort, kurz: ein Rausch. Den aber der
Zuschauer als aufgehetzte Niichternheit empfindet. Von der
kostbaren Spottlaune und -Malice, die fur den Geist grade
dieses Offenbach- Werks so bezeichnend sind, fangt die Insze-
nierung keinen Hauch. Die Substanzen zur Herstellung
der Offenbach-Stimmung sind\ da; sie werden mit An-
strengung umgeriihrt, ohne daB die Mischung recht ins
Schaumen kame. Aufziige, Springchore, Solotanze, orien-
talische Tanze. Reinhardt hat von Charell gelernt. Viel
Ballett, sehr viel Ballett. Im Bacchanale, einer Szene, die
sonst meist gestrichen wird, kann es sich austoben. Ein Baccha-
nale von seltner Trockenheit. Auch hypochondrisch Angst-
liche konnen sich der Fidelitat, die hier herrscht, ruhig nahern;
sie ist nicht ansteckend, Obschon der „bouillant Achille"
des oftern iiber Haarweh klagt. Selbst wie er es zum
vierten Mai sagt, lacht noch immer keiner dariiber. Vielleicht
wenn er es noch zwei-, dreimal wiederholte?
Von den griechischen Konigen tun mir die beiden Ajaxe
besonders leid. Was fur krampflustige Kampflustige! Zwei
so humorvolle Schauspieler wie Meyerinck und Lingen zap-
peln und zucken da wie vom galvanischen Strom gerissen,
schutteln sich mit auBerster rhythmischer Heftigkeit, und es
fallt doch kein Tropfen Komik heraus, Viel erheiternder
wirkt Agamemnon, Herr Schiitzendorf, mit der Selbstparodie
seines machtigen Baritons. Lieb und rxihrend der Menelaus
i ■ 31
Hans Moscrs, bezwingend in scinem hintergriindig schlauen,
durch Wolken dcr Verraunztheit und Griesgramigkeit justa-
mentig s^trahlenden Humor. Die Regie) drangt ihn leider an den
Rand des Spiels* er wird verschluckt von Ballett und anderm
Getiimmel. Es hat, nicht nur innerhalb der Spielhandlung,
sein Sinnbildhaftes, wenn dieser Menelaus an viele Tiiren
des Palastes klopft, ohne daB ihm aufgetan wird und stets wie-
der arm und bescheiden in die Kulisse verschwinden muB.
Eine schon singende und schone schone Helena ist Frau Jar-
mila Novotna, nobel in Bild und Ton. Das Irritierende, der
Helena-appeal fehlt. Den Merkur macht Friedell personlich,
Seltsam; auBerhalb der Biihne legt er so groBen Wert darauff
als richtiger Schauspieler, als Mann vom Metier, angesehn zu
werden, auf der Biihne hingegen, wie jetzt als Merkur, ent-
wickelt er ein Uber-ObermaB an Nonchalance, um nur ja nicht
den Verdacht, er spiele Komodie, auf sich sitzen zu lassen.
Uber alles trostet Fraulein Friedel Schuster, reizend
hiibsch, grazios rundherum, musikalisch bis in die FuBspitzen
(was bei ihr, von der Taille an gerechnet, ein bezaubernd
langer Weg ist), voll anmutigster Freiheit der Bewegunjf, und
ohne Strapaze ubermiitig. Ein echtestes Biihnentempera-
ment, von Blutes Gnaden. In ihrem Lager, wenn man so sagen
darf, 1st Offenbach.
An daS PublikUtn von Theobald Tiger
LJochverehrtes Publikum,
*■ A sag mal; bist du wirklich so dumm,
wie uns das an alien Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor sitzt auf dem Popo
und spricht: „Das Publikum. will es so!"
Jeder Filmfritze sagt: „Was soil ich machen?
Das Publikum wunscht diese zuckrigen Sachen !"
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bticher gehn eben nicht . . ."
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm — ?
So dumm, daB in Zeitungen, fruh und spat,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du konntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soil niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Mtiller und Cohn
konnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es kame am Ende
einer der zahllosen Reichsverbande
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . ,
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm — ?
Ja, dann . . . Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der MittelmaBigkeit,
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein GrieBbrei-Fresser — ?
Ja, dann . . .
Ja dann verdienst dus nicht besser.
32
Bemerkungen
Apostolische Gynakologen
T\ as Plenum des Gynakologen-
*** tages — Ende Mai trat er in
Frankfurt zusammen — crlebte
ein Schauspiel, die wissenschaft-
liche Tagung artete in ein natio-
nalistisch-muckerisches Tribunal
aus. Und das kam so: Horribile
dictu, man hatte den Leiter der
breslauer Frauenklinik, Professor
L, Frankel, aufgefordert, dem
diesjahrigen Kongrefi einen Be-
richt iiber die Verhtitung der
Schwangerschaft, ihre Methodik
und Technik vorzulegen, und er
tat dies, indem er professional
Scheuklappen ablegte, sich zur
Notwendigkeit einer Geburteiy-
regelung bekannte und in seinen
SchluBworten die verantwort-
lichen Leiter der Kliniken und
Entbindungsanstalten zur aktiven
Mitarbeit aufforderte. Die er-
offnende Ansprache des KongreB-
vorsitzenden hatte in der . pro-
grammatischen Betonung, daB die
alte Individualgynakologie sich
zur Sozialgynakologie umgestalten
miisse, den leitenden Gedanken
des Frankelschen Referates be-
reits vorgezeichnet, allein wen die
Gotter mit Blindheit geschlagen
haben, der lernt nie sehen! Es
marschierten auf die Ordinarii
von Bonn, Wiirzburg und Tubin-
gen, im Hintergrund erschien
auch der Leijter der berliner
Frauenklinik, und uberschutteten
die verdutzt dreinschauenden
Gynakologen zweiter Garnitur
mit einem Hagel pathetischer
Tiraden und Sittlichkeitsrezepte,
die in ihrer krassen und lebens-
fremden Argumentation anmute-
ten, als stammten sie aus der Re-
gistrator eines Moraltheologen.
Derartige Stilbliiten waren; „In
Zeiten der Wirtschaftsnot miisse
sich der ethische Hochstand eines
Volkes durch Beherrschung des
Trieblebens offenbaren" — wie
sagt doch Peachum in der Drei-
groschen-Oper: „erst kommt das
Fressen und dann die Moral" —
und weiter t,Enthaltsamkeit sei
die Parole, sie sei das Ideal, das
auch durch den Arzt gefordert
werden miisse", „die Arzte muB-
ten, wenn sie nicht zu Totengra-
bern unsrer Zukunft werden
wollen, der auf Konzeptionsver-
hutung gerichteten Zeitstromung
entgegentreten" und dergleichen
Quacksalbereien mehr. Der Tief-
stand dieser Entriistungsheerde
aber spiegelte sich in einer jm
Lichtbild vorgefiihrten Schau
erotisch-sexueller Film- und
Theaterstiicktitel wieder, deren
Begleittext der Ordinarius der
wiirzburger Universitat ubernom-
men und dabei den Katheder mit
der Kanzel vertauscht hatte.
Geifielhiebe eines von seinen eig-
nen Worten berauschten Bufi-
predigers klatschen durch den
Saal, verlegenes Lacheln auf der
einen, kritiklose Emphase auf der
andern Seite teilte die Korenden
in zwei Halften. Eine nichts-
sagende verschwommene Reso-
lution beendete das Schauspiel
dieser wissenschaftlichen „Dis-
putation"! Und stellt man gegen-
iiber derartigen hohlen und le-
bensunwahren Geschrei die heikle
Frage: „Und was ist mit Ihnen,
Herr Professor, wie steht es mit
Ihrer Potenz und Ihrer Kinder-
zahl", dann zeigt sich folgendes
Bild: Der da Beherrschung des
Trieblebens und Enthaltsamkeit
predigte, ist ein Mummelgreis, die
andern Rufer gegen das Siinden-
babel und fur Gebarmaschinerie
sind: ein Junggeselle und ein
kinderloser Ehemann.
Julian Marcuse
Der Verdachtsfreispruch
7U den unangenehmsten Eigen-
^^ schaften der Unabsetzbaren
gehoren samtliche ihrer Eigen-
schaften. Der Justizminister
pflegt gern ^ von einer „Ver-
trauens-Krise" zu sprechen; er
irrt. Der Patient ist langst tot
— kein verstandiger Mensch hat
zu dieser Rechtsprechung mehr
Vertrauen als sie verdient. Und
sie verdient keins. Nun mochte
ich aber nicht horen, dafi die
deutschen Richter nicht bestech-
lich seien. Wir sind es auch
nicht — und niemand macht da-
von viel Wesens.
33
Blattern wir im Siindenregister
der Talare, so finden wir unter
dcm Buchstaben V den „Ver-
dachtsfreispruch". Der ist so:
Es wird einer angeklagt. Die
Voruntersuchung ergibt ein sehr
zweifelhaftes Bild. Die Kriminal-
kommissare bembern in den
Mann hinein ; er gesteht nicht.
Die Staatsanwaltschaft zogert,
stellt aber nicht ein, Sicher ist
sicher. Die Beschlufikammer er-
offnet; das geht fix, hopp, hopp,
hopp; sicher ist sicher, Haupt-
verfahren.
Der Angeklagte gesteht auch
da nicht. Die Zeugen wackeln,
Der Vorsitzende ergeufit eine
scheme Rede iiber den Mann in
dem Holzkastchen: er solle doch
gestehen und Reue zeigen, das
werde das Strafmafi herabsetzen.
Das sagt er, bevor das Urteil
tiberhaupt feststeht. Der An-
geklagte geht auf den Han-
del nicht ein, bereut nicht,
gesteht nicht und ist tiberhaupt
ein boses Luder, Beratung.
Es ergibt sich, dafi man bei
bestem schlechten Willen nicht
verurteilen kann. Freispruch.
Was, Freispruch?
Zahneknirschender Freispruch.
Und statt nun zu sagen: „Wir
haben alle Verdachtsmomente ge-
priift — in dubio pro reo — die
Schuld des Angeklagten steht
nicht fest", denn das und nur das
haben die Richter festzustellen:
statt dessen befassen sie sich in
der Begriindung ihres freisprechen-
den Urteils mit der moralischen
Unschuld des Angeklagten,
nach der sie kein Mensch ge-
fragt hat, und nun bekommt er es
aber zu horen:
Er solle sich ja nicht einbil-
den, dafi er nun unschuldig sei.
Nur den wackligen Zeugenaus-
sagen habe er es zu verdanken,
daB man ihn nicht verknacke; "er
sei ein ganz ubler Luxnpenhund;
ein schuldiger Unschuldiger; man
habe ihn — Himmelparagraph-
undzwirn! — zwar freisprechen
mussen, aber es solle gewifi nie
wieder vorkommen, und das
nachste Mai ,, A Und er konne
zwar gehen, aber moralisch sei
er gerichtet.
Was ist denn das alles — ! Ist
der Mann im strafrechtlichen
34
Sinne schuldig oder ist er es
nicht? Sind die Richter, diese
Richter mit dieser Vorbildung und
mit dieser politischen Denkungs-
art, legitimiert, iiber irgendjemand
ein moralisches Urteil abzugeben?
Sie sind es nicht.
• Der Hund hat beiBen wollen.
Es hat nicht gegangen, Knurrend
zieht er sich zuruck, Und hinter-
laBt einen Verdachtsfreispruch,
fiir den er jedesmal eine kraftige
Ziichtigung verdiente.
l&naz Wrobel
Und nochtnals: Schafft die
Todesstrafe ab
C s handelt sich im folgenden
" durchaus urn keine „senti-
mentale Reportage" und auch
nicht um j enes beliebte „Herr
Schmock berichtet iiber eine Hin-
richtung". Es ist leider so, daB
Themen, die in Wirklichkeit
keine Themen sind, sondern
Menschheitsfragen, nach einer ge-
wissen Zeit ganz einfach fallen
gelassen werden aus dem herr-
lichen Grund: „weil schon genii-
gend dariiber geschrieben
wurde".
Das geht nicht an. Es muB
niedergeschrieben werden, daB
ein Staat, in dem Dinge moglich
sind, wie sie sich am 19. Juni
im szolnoker Gefangnishof ab-
gespielt haben, nicht den An-
spruch darauf zu erheben hat,
zur zivilisierten Menschheit ge-
rechnet zu werden. Wenn er aber
diesen Anspruch noch nicht ganz
verwirkt hat, dann muB die Hin-
richtung der beiden Frauen Szabo
und Csordas eine Kampagne von
solcher Kraft der Emporung nach
sich ziehen, daB die Zukunft von
ahnlichen beschamenden und be-
stiirzenden Geschehnissen ver-
schont bleibt.
Die beiden verurteilten Frauen
hatten am Nachmittag durch das
Radio, das im Hauptgang des
Gefangnisses von Szolnok so in-
stalliert ist, daB alle Gefangenen
es horen konnen, erfahren, daB
ihre Begnadigungsbitte vom
Reichsverweser Horthy abgelehnt
worden war. An Stelle der me-
lancholischen PuBtalieder, die
sonst dem freundlichen Instru-
ment entstromten, folgte sodann
die Mitteilung, dafi die Hinrich-
tung der beiden Giftmischerinnen
liir den nachsten Morgen an-
beraumt sei, Der Gefangnisdirek-
tion war die Mitteilung so neu
wie den Haitlingen, wenn auch
weniger entsetzlich,
Stelle sich, wer kann, diese
Nacht der beiden Frauen vor.
Stelle er sich vor: vierzehn Stun-
den nichts andres wissen konnen,
als dafi man sterben mufi. Ich
kann es mir nicht vorstellen, mir
bleibt, so oft ich es versuche, der
Atem weg.
Die eine der beiden Frauen hat
im Gefangnis ein Kind geboren.
Sie hangte sich an das Kind, Bei
Nacht band sie es an ihren Kor-
per, schwur, dafi sie es in den
Tod mitnehmen werde, falls sie
wirklich sterben mufite. Aber sie
haben ihr das Kind doch entfiihrt
wie einer Kuh. Diese Frau schrie
die ganze letzte Nacht nach ihrem
Kind,
Die zweite war eine Matrone,
Ende der fiinfzig, ein hoses Weib
wahrscheinlich, herzlos, vielleicht
verruckt. Sie putzte sich fiir den
Galgen auf, zog viele weifie Rocke
an und neue Bauernstiefel.
Beide, die Mutter und die Ma-
trone, wurden bewufitlos in die
Schlinge gelegt. Beide hatten
sich in eine tiefe Ohnmacht ge-
tobt.
„Der Scharfrichter Anton Ko-
zarek," so meldet ein Abendblatt,
„war durch die entsetzlichen Sze-
nen so ergriffen, dafi er laut
weinte."
Das * ist nichts als ein Zeichen
elender Nerven.
Anton Kozarek, nicht weinen
hatten Sie sollen, sondern die
Galgen leerlassen! Was Sie ge-
tan haben, . ist eines Henkers un-
wiirdig,
Jonathan Wild
Der Olympier
Um Deutscfalands Herrlichkeit zu preisen,
Hat er ins Mikrophon g-esprochen.
Er hatte seine Auslandsreisen
Zu dem Behufe unterfarochen.
Er sagte, ieder Zoll ein Goethe,
Wenn auch des Tages Not uns schande:
Die dichterische Warte bote
Bed eutungs voile Trostmonente.
Er Hefi das Hoffnungsbanner fliegen:
Was. schadeten die Nasenstuber!
Dem stun den in den Reitersiegen
Doch auch Aktiva gegenuber.
Er wufite guten Rat zu geben:
Wir durften uns nicht so zerkluften,
Wir muflten vielmehr unser Leben
Mit etwas Sonnenschein durchluften.
Die Worte liefien gut sich senden.
Er nahm, als sie beendet waren,
Das Honorar des Prominenten
Und Hefi sich Aug* ins Adlon fahren.
Hans Bauer
Das Dumping der Seelen
C eit den Septemberwahlen wird
^ in Deutschland fiir die Gott-
losengefahr Reklame gemacht,
Bei den Rechten und im Zen-
trum hat man die Gefahr schon
vorher erkannt, in den burger-
lichen Blattern tischt man sie
erst neuerdings auf und zieht
zum Schutze der Religion immer
dann gegen die Besboschniki zu
Felde, wenn man eigentlich sich
mit der Arbeitslosenfrage, der
Wirtschaftskrise, der Hungers-
not beschaftigen mtifite. Gegen
die Gottlosen zu schreiben,
kostet nichts und macht guten
Eindruck.
Die erste Alarmnachricht hiefi:
die Zentrale der Gottlosen-
Organisation soil von Moskau
nach Berlin verlegt werden. Der
Tenor neuerer SOS-Ruf e heiBt :
Der Antichrist im Herzen
Deutschlands. Die ersten Nach-
richten waren leidenschaftlich
wortreich und inhaltlos. Dann
verstandigten sich die patrioti-
schen Faktoren mit den kirch-
lichen Faktoren, und man ver-
suchte, das Bollwerk gegen die
W. L. COMFORT
BESTIEN UND HEILIGE
Roman — Leinen RM 4.80
Abenteuer im Dschungel mit Tleren und MSdchen. Der ganze farbige Zauber
dieser Welt wird hier lebendig — wie vorher nur In Kiplings DschungelbQchern.
TRANSMAR1 VERLAO BERLIN W 10 ■■■■i^
35
„atheistische Sturmflut" durch
Sachlichkeit zu stiitzen, Man
versuchte, Angaben zu machen,
mit Zahlen und Beispielen.
Danach waren die Gottlosen
in Deutschland nicht nur in den
Freidenker- und Feuerbe-
stattungsvereinen organisiert,
sondern auch in Turn- und Ke-
gelklubs, und das ware die Ge-
fahr. Ich stelhe mir vorf wie
Miiller sich von Muttern verab-
schiedet: Ich geh jetzt kegeln!
sagt er, und dann sitzen die
Kegelbriider auf alien Neunen
und treiben gottlose Scherze.
Sie sind Gottlose, also lesen sie
wohl heimlich gottlose Schriften,
Spinoza, Voltaire, am Ende gar
den Konig der Gottlosen, Fride-
ricus Rex?
Oder wie sollte man sonst
seine Gottlosigkeit, die doch eine
negative Beschaftigung ist, also
gar keine, betatigen? Das Ver-
unzieren j udischer Gotteshauser,
das Umwerfen von Grabsteinen
haben sich ja die hochst gottes-
fiirchtigen Freunde des Vater-
landes vorbehalten. Also ist die
ganze Gottlosengefahr fauler
Zauber, um abzulenken? Ein Be-
trugsmanover derer, die vom
Volksbetrug leben? Nein, end-
lich kommt man jetzt mit Zah-
len, mit Angaben:
Der Bund der Gottlosen ist
1925 in Moskau gegriindet wor-
den. 1926 hatte er schon. 120 000
Mitglieder, 1928 waren es 500 000,
a, d. 1930 iiber zwei Millionen,
und fur 1933 rechnet man mit
siebzehn Millionen. Jetzt schon
soil es 40 000 Gottlosenzellen
geben. Kinder von acht Jahren
diirfen gottlose Jungpioniere,
von vierzehn Jahren wirkliche
Mitglieder sein. In vierzig
Museen wird die Religion dis-
kreditiert. Man arbeitet an einer
Enzyklopadie des Atheismus.
Das hat die deutsche Presse also
festgestellt; es sind Angaben
iiber RuBland.
Und worin besteht die Gefahr
f iir Deutschland ? f , Am meisten
gefahrdet sind die Arbeitslosen."
Warum eigentlich? Man muB
ihnen den Gott erhalten, weil
man ihnen das Brot genommen
hat. Aber was wird uns denn,
36
zum Teufel, genommen, wenn
uns der Gott genommen wird?
Die Kultur, sagen die Gottlichen,
die ganze Kultur des Abend-
landes, die auf Gott gebaut ist.
Schon, aber was muB das fiir ein
Glaube sein, der so schnell ver-
schwinden kann? Und was fiir
eine Kultur? Die Kultur des
Mordens der Kreuzztige, die
Kultur der Scheiterhaufen fur
Hexen, die Kultur der Folter,
die Kultur des Judenhasses, die
Kultur der Unterdruckung jeder
Wissenschaft von Galilei und
Spinoza bis . . . Die Kultur der
Unkultur.
Es gibt Kreaturen, die, ohne
ein hoheres Wesen iiber sich zu
glauben, nicht existieren konnen.
Sie sind vielleicht glucklich, viel-
leicht bedauernswert, man lasse
sie ungeschoren, genau wie man
auch j eden ungeschoren lasse,
der ohne Beten arbeiten kann
und fiir den die ganze Woche
Sonntag sein mufi, Wir halten es
mit dem alten Fritzen und lassen
jeden nach seiner Facon ^— bloB
andre belastigen soil man nicht.
Wen haben die Gottlosen bisher
in Deutschland belastigt ? Ist
etwa der Kaplan Fahsel gehin-
dert worden, in die Kirche oder
in ein Privathaus am Kurfiirsten-
damm zu gehen? Aber die Kir-
chen belastigen, heut mit der
Steuer, morgen mit einem Gottes-
lasterungsprozeB, iibermorgen
gibts wieder Foltern.
Das Bedauerlichste ist, daB die
Gottlosenbewegung in Deutsch-
land kulturell wesentliche Aus-
sichten nicht einmal hat. Wer
die Geschichte der geistigen Re-
volutionen kennt, der weiB, daB
die Religionskritik noch der An-
fang jedes Sozialismus war, ge-
nau wie das „.£crasez rinfame!"
Voltaires die Ouverture der
GroBen Revolution. Aber die
heutigen Sozialisten haben, KPD,
SPD, alle darin gleich, die Ur-
sachen ihrer Bewegung langst
verschwitzt und nur die ober-
flachigen Anlasse behalten. Es
fragt sich, ob sie uberhaupt noch
innere Macht genug haben ohne
den fanatischen Glauben gegen
Gott.
Die Demagogen auf der andern
Seite haben vom heiligen Geist
nicht viel, abcr den Fanatismus,
den haben sie wieder. Neuer-
dings raft sogar ein Dichter auf,
einen Verband gegen die Gott-
losen zu griinden, al!e Glaubigen
zu sammeln und sie, und zwar
,,Seele und Geist dieser Glaubi-
gen jenem Heer" der Unglaubi-
gen entgegenzuwerfen. Ein
Kreuzzug? Gemacbt, aber was
darfs denn kosten?
Der deutsche Dichter, Herr
Albert von Trentini, sagt in sei-
nem flammenden Aufruf: alle
Glaubigen, gleich welcher Kon-
fession — das ist schon verdach-
tig. Ferner, wo Rutland doch
Atheismus exportiert, ware das
gradezu ein Dumping der Seelen.
Womit er auf das richtige Dum-
ping kommt und meint, mit den
jfottlosen Russen darf man keine
Geschafte machen — wenn man
nichts zu fressen hat.
Ein Dichter. Wirklich ein Dich-
ter, der durch seinen Goethe-
Roman . . . nicht bekannt ge-
worden ist. Anscheinend hat die
Darstellung des groBen Heiden
Goethe auf seinen Verarbeiter
sehr religionsfordernd gewirkt.
Anscheinend ist das dem groBten
Teil von Deutschland so ge-
*an*cn' Leo Hirsch
Reisefreuden
^Jrundlegender Unterschied zwi-
^-* schen deutscher und bei-
spielsweise italienischer Reise-
freude (Abgiiinde aufdeckend,
uniiberbruckbare, und alle Pan-
europa-Propaganda desavouie-
rend): in Italien freut sich jeder,
wenn alles klappt; in Deutsch-
land ist jeder gliicklich, stolz
und hochgestimmt, wenn er sich
beschweren kann.
Einmal — um von etwas an-
derm zu reden — , nach gradezu
sentimentalstimmend langer Zeit
iiber Basel einfahrend, wartete
ich gespannt, was wohl das erste
Wort sei, das mir entgegenklange.
Wir hatten die Grenze noch
keine hundert Meter hinter uns,
als ein Schaffner die Trennungs-
tur im Gange aufriB und don-
nerte: „Es ist verboten, im Gange
zu . . ." Eine Schweizerim hob den
Kopf, sah ihnf sah mich an und
stellte beruhigt f est : „Ich war
sieben Jahre nicht in Deutsch-
land, aber es scheint sich nichts
verandert zu haben."
Ein andermal, als ich tiber Kuf-
stein einfuhr, war es der PaB-
kontrolleur. Die Italiener hatten
zwei elegante Carabinieri ge-
schickt, die mit korrektem GruB
hoflich um die Passe baten.
Oesterreich lieB sich durch einen
leutseligen altern Herrn mit et-
was schiefsitzender Krawattever-
treten, der beilaufig die Herr-
schaften gern amal um die Passe
gebeten hatt*. Der deutsche Be-
amte schnarrte: „Passe vorzei-
gen!" Das Wort Mbitte" stand
vermutlich nicht in der Dienst-
vorschrift . . . , .Germany wants to
see you!" heifit es im Ausland
auf muntern Plakaten. Die Hol-
lander, die mit mir reisten, hat-
ten bei diesem Empfang nicht
grade den Eindruck, daB GerJ
many sie zu sehen wiinschte.
♦ . ♦ ♦ unb jut Quttn 2UifeleFtfire bit gute ^Ibbulla-Cisarettel
Btanbatb o/8t. u. <Solfc . . @tfid! 5 J>fs.
&0tomt m.<5ol6u.etro^/m. ©tucf 6 j>fs*
Pirginta IX*. 7 . . . o/tft Qtutf 8 pi*.
Ubbxtlla* <£ia>atctt<itt getttcfecn TOctitufl
Ubbull* U €o> • "Halt* / Centon / Berlin
37
DaB die Volker Deutschlands
untereinander kaum minder ver-
schiedener Gemutsart, Denk-
weise, Intelligenz sind denn die
VSlker Europens, lernt der Rei-
sende nicht ohne bittere Schmer-
zen. Was fur einen preuBischen
Schaffner eine Zumutung sein
kann, kann einem bayrischen als
Selbstverstandlichkeit erscbeinen.
Und umgekehrt. Wer ahnte, daB
zum Beispiel die Munchner ihren
Babnhof nachts zuschlieBen wie
der Bauer den Huhnerstall und
das ibnen arglos anvertraute
Handgepack unter gar keinen er-
denklichen Umstanden vor Mor-
gengrauen herausgeben, indes im
freundlichen Leipzig, das seinen
Bahnhof ebenfalls sperrt, der Ge-
packschein magisch als „Sesam,
offne dich!" wirkt? Die Welt-
ratsel werden zum guten Teil von
lokalen EisenbabndiVektionsver-
fugungen bestritten.
Aber es gibt auch wirkliche
Reisefreuden. Auch in Deutsch-
land. So erlebte ich einst in
Dresden nachfolgenden Dialog.
„Bitte eine Platzkarte!" —
„Warum denn?M — „Weil ich
mir einen Platz sichern mochte."
— „Brauchense heide nich mehr.
Da fahrd gee Luhdr midd." Und
nach tiefem Seufzer: „Da Eisn-
bahn is heidzedaacbe a schlecb-
des Geschafd !"... Sie brauchte
es nicht zu sein, wenn alle Be-
amten abnlich wie dieser Dienst
am Kunden libten, freundlich be-
lehrend und dem Reisenden un-
ntitze Ausgaben ersparend.
Ossip Kalenter
In meitier Elgenschaft als ...
Cehen Sie, gnadige Frau,
*>**-* meine verdammte Pflicht
und Schuldigkeii als Mensch
ware es, unserm armen kranken
Freund schneller hinuber zu hel-
fen, statt ihn so nutzlos zu qua-
len, wo doch der Tod unabwend-
bar ist. Aber in meiner Elgen-
schaft als Arzt bin ich leider ge-
notigt, Ihrem Gatten bis zun
letzten Augenblick - . ."
„Das ist ja Alles ganz schon,
meine Liebe, und ich will gern
glauben, daB Ihr Junge von den
lautersten Motiven und von der
reinsten Wahrheitsliebe beseelt
war, als er die schwere Anklage
gegen seinen Klassenlehrer er-t
hob, ich werde diese Sache auch
gewissenhaft nachprtifen — ganz
privatim naturlich — aber Sie
werden mir zugeben, meine Gna-
digste, daB ich in meiner Eigen-
schaft als Schuldirektor so etwas
unmoglich dulden kann und gegen
Ihren Sohn selbstverstandlich ein-
schreiten muB." . . .
,fH6ren Sie mal, ich spreche
hier ganz als Mensch zu Ihnen,
unter vier Augen, nicht etwa als
Untersuchungsrichter, Mir kon-
nen Sie es doch sagen: Haben
Sie den Mord begangen — ?
So ists recht. Leugnen hatte
Ihnen doch nichts geholfen, Jetzt
nur noch eine kleine Formalitat.
In meiner amtlichen Eigenschaft
muB ich Sie bitten, dieses Proto-
koll zu unterschreiben . * ."
Wie ich es hasse, dieses echt
tnannliche: In meiner Eigenschaft
als . . . Wie kiihl und sachlich
und wie verachtlich es die Di-
stanz wahrt zu allem Geffihls-
maBigen und Personlichen, Nur
ja nicht sich ubermannen lassen
von „weibischen*' Empfindungen,
nur immer „obiektivM und ,;,kon-
B6 Yin Ra
lehrt freudige Lebensbejahun^. Er zeigt, wie toricht jeglicher Pessimismus
ist. Alles Wissenswerte Tiber den Mann und sein Werk sagt Ibnen die
Einftihrungsschrift von Dr. jur. Alfred Kober-Staehelin, die Sie kostenlos
in jeder besseren Buchhandlung erhalten, sowie durch die Kober'sche
Verlagsbuchhandlnng (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
38
sequent" sein. Der naive Instinkt,
das unverfalschte Gefuhl konnte
einem Gott behute das richtige
Wort oder die rechte Handlungs-
weise diktieren. Da gilt es,
rasch eine ernste Beruf smiene
aufzusetzen und Abstand zuwah-
ren. Mit Hilfe mathematischer
Logik werden alle „gefuhIsmaBi-
gen" Einwande mitleidlos knock
out geboxt. Die echt mannliche
Mentalitat hat wieder mal tiber
die sentimentale, unsacljliche und
zu private weibliche Haltung den
Si eg davongetragen. Die offent-
liche Moral muB doch schliefilich
erhalten bleiben, mag der Ein-
zelne ruhig dabei kaputtgehn.
Von Mensch zu Mensch ge-
sprochen, verstehen wir uns na-
tiirlich ganz ausgezeichnet, aber
in meiner Eigenschaft als Beruls-
Bonze kann ich gar nicht genug
von Ihnen abriicken . , .
Gertrud Isolani
Ablaflhandel 1931
Glaspalast-Hilhwerk
An weitern Spenden sind bei
^* uns eingegangen;
Damit Reb ibr Franz in
Davos wieder gesund wird
Gluckliche Heimkehr
Wenig, aber von Herzen
Doch die Elemente hassen
das Gebild von Men-
schenhand
Zu Ehren des sel, Bruder
Konrad
ZumAndenken an denver-
storbenen Herrn Profes-
sor Otto Maria Porsche 10 M
2 M
1 M
1 M
2 M
1 M
5 M
1 M
5 M
1 M
Ein Opfer fur meino liebea
Eltern von einem Kunst-
lerkind
Fritzi, die so gerne beim
Glaspalast spielte
Use verzichtet auf ihr Ge-
burtstagsgeschenk zu-
gunsten der Kunstler
Gott, segne es
iMiinchner
Neueste Nachrichteri
Liebe WeltbOhne!
p* in brasilianischer Dichter von
" spanischer Nationality und
strenger katholischer Erziehung
nahm lebhaften Anteil an einem
Montmartrefest seiner Kollegen.
Spat abends verschwindet er nacb
manchen „extra-drys'* mit einer
jungen Dame, mit schmalem, el-
fenbeinfarbigem Profil und dunk"
. len sehnsuchtsvpllen Augen.
Am andern Tage trifft ihn einer
seiner Freunde, der auch dem
Fest beiwohnte, grade in dem
Augenblick, wie unser Dichter
die Schwelle einer Kirche uber-
scbreiten will,
tfWas machen denn Sie hier?"
f,Ich will beichten", antwbrtete
der Brasilianer.
Dann nach einer Pause mit lei-
ser Stimme:
flSie war eine Jtidin ..."
Wieder Pause, dann noch lei-
ser:
„Und autierdem, ich babe es
gewufit."
Und er verschwindet in der
Kirche.
Hinweise der Redaktion
Hamburg
Weltbuhnenleser. Freitajf 20.0a Bei Timpe, Grindelallee 10~12. Der Leipaiaer Parteitaff,
Welthm (A.D.G.B.).
Bucher
II ja Ehrenburg*. Die hei Hasten Guter. Malik-Verla;. Berlin.
Rundfunk
Diensta?. Muh lacker: 22.45: Aus: Die acht Gesichter am Biwasee von Max Dauthendey. —
Mittwoch. Berlin 18.20: Ueber «atirigche Zeichnunjr. Th. Th. Heine. — Langenberg. 1930:
Der Bauer im Altertum, Alfons Goldschmidt. — Munchen 20.00: Cot ley© Crampton you
Gerhart Hauptmann. — Donnerstajr. Mutilacker: 20.40: Deutsche* Rokoko. ~ Freltajr.
Breslau 17.15: Die Zeit in der jungen Dichtun?. — 20.00: Die geistigen Stromungen in
So wjetru Bland, Herbert Ihering und Rudolf Mirbt. — Leipzig 20,80: Kaukasische Ballade
von Otto Rombach und Leben eines Zeitgenossen neben dir und mir von Walter Bauer. —
Berlin 21.15: Querschnitt durch Mark Twain von Rudolf Arnheim. — Sonnabend.
Berlin 18.00: Die Erzahlung der Woche, Hermann Kasack.
39
Antworten
Vcrlag Georg Mersebnrger. [Leipzig. Sie inserieren ini .Buck-
handler-Borsenblatt' vom 10. Juni: „Notverordnung zum Schutze
der bedrohten deutschen Geisteskultur! Es wird hiermit notver-
ordnet,- daB alle, die sich heute keine Klassiker-Bibliothek mehr lei-
sten konnen, sich sofort Casar Flaischlen Das Buch unsrer deut-
schen Dichtung, eine ganze Bibliothek fur 7 Reichsmark, anzuschaffen
haben. Die Diktatur zur Erhaltung der deutschen Geisteskultur.
i. A.: M, Georg." Es liefie sich dariiber streiten, ob es geschmack-
voll ist, mit dem Wort „Notverordnung" Reklame fiir alte Laden-
hiiter zu machen. Aber anscheinend hat Ihnen hier ganz was andres
vorgeschwebt. Sie sind sicher der Meinung, daB die Deutschen unter
der letzten Notverordnung noch nic^it genug zu leiden haben. Darum
erfanden Sie die Ihre. Denn gezwungen zu werden, als Ersatz fiir
den hoher gehangten Fleischkorb Flaischlen zu sich nehmen zu mus-
sen, ist unbedingt eine Verscharf ung der Krisensteuer.
Kinobesucher. In den Ankundigungen des Films „Menschen
hinter Gittern" wurden als Dialogverfasser Walter Hasenclever und
Ernst Toller genannt, Hierzu erklaren beide Autoren, daB sie von
der Metro-Goldwyn-Meyer aufgefordert wurden, nacheinander den
amerikanischen Text ins Deutsche zu ttbertragen. Da die endgultige
Fassung des Dialoges weder mit der Obersetzung von Hasenclever
noch mit der von Toller ubereinstimmt, weigerten sich beide Auto-
ren, dafur verantwortlich zu zeichnen. Auf Grund dieses Protestes
mufite die Filmgesellschaft auf alien weitern Ankundigungen die
irrefuhrende Behauptung, daB Hasenclever und Toller die Verfasser
des Dialoges seien, fallen lassen.
Internationale Arbeiter-Hilfe. Ihr veranstaltet in diesem Jahr
euer Kinderferienlager fur den Bezirk Berlin-Brandenburg-Lausitz in
Schwansee bei Lieberose, und zwar in der Zeit vom 17. Juli bis zum
2, August, Die Kosten betragen pro Kind dreiBig Mark. Wer sich
an der Durchfuhrung eures Planes beteiligen will und kann, ubermittle
Geldspenden, Lebensmittel, Kinderbiicher und Kinderspiele an das Se-
kretariat der LA.H., Berlin SW 48, FriedrichstraBe 235 (Postscheck
Berlin 708 04, Erich Lange, Konto Ferienlager) .
Internationale Frauenliga. Sie veranstalten vom 22. August bis
zum 5. September im Boberhaus, Lowenberg (Schlesien) Ihre dies-
jahrige Internationale Sommerschule. Das Thema der Tagung lautet;
„Deutsch-polnische Probleme und der Weltfriede." Alles Nahere ist
durch die Ortsgruppe Breslau, Kurfiirstenstr. 29 I, zu erfahren.
Freund der Filmzensur. Sie wollen gern den verbotenen Re-
marque-Film „Im Westen nichts Neues" sehn? Wir sind, um Ihnen
das zu ermoglichen, der Gesellschaft der Sturmfreunde kollektiv bei-
getreten. Wenden Sie sich bitte an deren Geschaftsstelle Berlin W 62,
Bayreuther Str. 39, Cornelius 3773, Dort konnen Sie alles Nahere
erfahren.
Dieser Nummer liegt ein Prospeki des Malik-Verlags fiir seine
Propaganda- Ausgaben bei, den wir der besonderen Aufmerksamkeit
unsrer Leser empfehlen. Die Propaganda- Ausgaben umfassen Werke
von Babel, Ehreriburg, Sejtullina, Sinclair und die Sammlung: Neue
Erzdhler des Neuen Ruffland.
Manuskripte sind nut an die Redaction der Weitbuhne, Chartottenburg. Kantatr. 152, n>
ricnten; as wird gebeten. ihnen Rudcporto beizulegen, da sonst keine Rficksendung erfoigeo kann.
Das AuffUhrane srecht, die Verwertung von Tttelnn. Text im Rahmen des Film*, die musik-
mechanische Wiedervabe aller Art und die Verwertunp; im Rahmen Ton Radlorortrlgen
bleiben fttr alle in der Weltbtthne erschelnenden Beitr&ge aosdrttckllch vorbehalten.
Die WeltbOhne wurde begrundet von Siegfried jaeobsoho und wird von Carl v. Ossietxky
note* Mitwirkung von Kurt Tudiobky geleitet. — Ver.ntwortlich : Carl v. Osstefadcy, Berlin;
VerLag der WeitbQhne, Siegfried jacobsobo & Cow Chariottenburg*
Telephon: CI, Stemplats 7757. - Postsehedckonto: Berlin 119 5&
Bankkont©; Darmstadtet u. Nationalbank, Dapositenkaaae Charlottaafan* Kaatafa. 112
XXVIL Jahrgaitg 14. Juli IdSl Nnmmer 28
Wir haben noch keineReparationengezahlt!
von K. L. Gerstorff
V\ ie Aktion des Prasidenten Hoover zeigt wieder einmal
dcutlich, daB der niedergehende Kapitalismus in kei-
nem Punkte zu einer Losung seiner Widersprttche mehr
kommen kann.. Was sollten zunachst die Reparationen? Sie
sollten die gesamten Lasten, die durch den Krieg entstanden
waren, auf Deutschland abwalzen. Den franzosischen Mittel-
standlern wurde erzahlt: Ihr braucht fiir den Krieg keinen
Pfennig zu bezahlen, die Boches werden alles tragen; dann
wird der franzosische Frank, werden die franzosischen Staats-
anleihen wieder soviei wert sein wie in der Zeit, da ihr sie ge-
zeichnet habt. Aber man sah allmahlich ein, daB die Abwalzung
aller Kriegskosten auf Deutschland bei der heutigen weltwirt-
schaftlichen Lage eine Unmoglichkeit war. Der Dawesplan
wurde Gesetz, Der deutsche Kapitalismus sollte jahrlich etwa
2H Milliarden zahlen. Das erschien als keine unmogliche
Summe. In der Vorkriegszeit hatte allein der englische Kapi-
talismus etwa 80 Milliarden Mark im Ausland angelegt und
bezog jahrlich 3 bis 4 Milliarden Zinsen von dieser Summe.
Wenn man in der Vorkriegszeit jahrlich eine solche Summe
aLs Zinsen einziehen konnte, warum sollte der deutsche Kapi-
talismus nicht eine kleinere Summe zahlen konnen? Und wenn
man durch die Reparationen eine Verstarkung der eignen Ka-
pitalbildung und eine Verringerung der Kapitalbildung des
scharfsten Konkurrenten erreichte, so hatten die Reparationen,
von der Entente aus gesehft, einen guten Sinn.
Man vergaB hier nur zwei Dinge. Erstens: Die Lander,
in denen England in der Vorkriegszeit Kapital investiert hatte,
waren in ihrer Entwicklung zum Kapitalismus weit hinter Eng-
land zuriickgeblieben. Das gait nicht nur von den Kolonien
und Dominions, sondern in gleicher Weise von Siidamerika und
auch von den Vereinigten Staaten, die damals noch im We-
sentlichen Getreide, Baumwolle und 01 exportierten. Das
hatte zur Folge, daB man die Zinsen des Kapitals durch for-
cierte Ausfuhr von Waren abdecken konnte, aber von Waren,
mit denen man den Englandern keine Konkurrenz machte,
im Gegenteil, die sie selbst bezogen. In einer vollig an-
dern Situation als alledie Lander, wo der englische Kapi-
talismus Geld investierte, ist der deutsche Kapitalismus, der
unter seiner europaischen Konkurrenz die hochste industrielle
* Entwicklung zeigt. Er fiihrt in immer groBerm Umfange Fer-
tigfabrikate aus, und zwar Produkte, die England selbst aus-
fiihrt, so daB nachher auf den Weltmarkten scharfste Kon-
kurrenzkampfe erfolgen.
Insoweit war also schon die historische Parailele falsch.
Dazu kam aber noch: Die Epoche, in der England durch sein
Kapital die Welt beherrschte, war die des kapitalistischen
Siegeszuges liber die ganze Erde. Die weltwirtschaftlichen
Beziehungen verdichteten sich standig, der WeltauBenhandel
wies in scharfstem Tempo nach oben. Wenn damals die Ex-
l 41
portc gewisser Lander besonders stark stiegen, so konnte dies
begleitet sein von einem, wenn auch nicht so starken Export
der andern Lander.
Die Schopfer des Dawes^Plans haben geglaubt, daB die
Weltwirtschaft noch einmal eine ahnliche Entwicklung erleben
wiirde. Der Krieg war liquidiert, die Kriegsfolgen, unmittel-
bare und mittelbare, sollten es auch bald sein; die Inflation
war in Deutschland beseitigt. Solange man sich an den Ge-
danken klammerte, daB an der gesamten Misere der Nach-
kriegszeit vor allem der Krieg schuld sei, konnte man glauben,
mit der zunehmenden Entfernung vom Kriege wiirde sich auch
die Wirtschaft bessern. Hatte diese Voraussetzung sich als
wahr erwiesen, dann hatte man sich vorstellen konnen, daB
Deutschland irgendwann einmal Reparationen gezahlt hatte.
Dann hatte es seinen Warenexport besonders energisch for-
cieren konnen, ohne daB die Glaubigerlander allzusehr be-
riihrt worden waren, weil sich bei einer stark steigenden Kurve
ihr AuBenhandel, wenn auch langsam, hatte erhohen konnen.
Nun, wir wissen heute, daB diese Voraussetzung falsch
war. Der Weltkapitalismus steht im Niedergang. Der Welt-
auBenhandel wird besonders schwer davon betroffen, Er steht
heute bereits unter dem Friedensniveau. Wie aber soil man
bei einem Riickgang des gesamten WeltauBenhandels Repa-
rationen von einem Land bekommen, das vor allem Fertig-
fabrikate ausfiihrt, das also bei einer besonders starken For-
cierung seiner Exporte die eignen Industrien aufs schwerste
schadigt? So lautet heute die Frage.
So lautet sie, aber nicht erst heute. Man spricht von
einem Reparationsfeierjahr. Aber das wiirde ja bedeuten, daB
der deutsche Kapitalismus bisher kein Reparationsfeierjahr ge-
habt hatte, bisher also Reparationen gezahlt hatte. Er hat
gar nicht daran gedacht, Auf dem Papier wurden natiirlich
in der Zeit vom Dawes-Plan bis zum Young-Plan Reparationen
gezahlt; aber nur auf dem Papier.
Wie zanlt man in Wirklichkeit Reparationen? Sie konnen
im Wesentlichen von Deutschland nur durch einen OberschuB
der Ausiuhr iiber die Einfuhr gezahlt werden. Der Ausfuhr-
iiberschuB bringt die Devisen, die man dem Reparationsagenten
iibergibt. Wie sah nun die deutsche Handelsbilanz zwischen
Dawes- und Young-Plan aus? Das vom Statistischen Reichs-
amt hexausgegebene Bnch ..Deutsche Wirtschaftskunde" (eines
der wenigen Biicher, in dem statistische Zahlen gut geordnet
und verstandlich H*rtfestellt sind) enthalt folgende Statistik:
1925 1926 1927 1928 *
in Millionen Reichsmark
Einfuhr im reinen Warenverkehr 11744 9 701 13 801 13 650
Ausfuhr im reinen Warenverkehr 8 930 9 930 10 376 11783
(ohne Reparations-Sachlieferungen)
Reparations-Sachlieferungen 492 631 579 663
Einfuhr- (— ) bzw. Ausiuhr-
iiberschuB (+) mit Reparations -
Sachlieferungen —2 322 +860 —2 847 —1204
Unter Einrechnung der Reparationssachlieferungen hatte
der deutsche AuBenhandel in den vier Jahren eine Passivitat
42
von ungefahr 5H Milliardcn gehabt. Die Reparationcn wur-
den also nicht durch Exportiiberschusse gezahlt, im Gegenteil,
man hat fiir viele Milliarden mehr eingefiihrt als ausgefiihrt.
Man hat in der glcichcn Zeit den Gold- und Devisenbestand
der Reichsbank stark vergroBert — und wie hat man das
Kunststiick fertiggebracht? Man hat in dieser Zeit vom Aus-
land mehr als das Doppelte dessen geborgt, was man an Re-
Barationen gezahlt hat. Unter dieser Voraussetzung klappten
'awes-Plan und Reparationszahlungen, klappte der Transfer-
mechanismus glanzend. Warum auch nicht? Der deutsche
Kapitalismus hatte in der Vorkriegszcit eine. passive Handels-
bilanzt ebenso wie zwischen Dawes- und Young-Plan. Der
Unterschied' bcstand nur darin, dafi friiher der Ausgleich durch
die Zinsen des von Deutschland im Ausland angelegten Kapi-
tals geschaffen wurde, diesmal aber durch auslandische Kapi-
talimporte. Die Konsequenz war naturlich, daB auf dem Pa-
pier die jahrlichen Lasten des deutschen Kapitalismus immer
groBer wurden, denn zu den Reparationszahlungen traten die
Zinsen fur das im Ausland privat aufgenommene Kapital, die
naturlich von Jahr zu Jahr wuchsen. Wann der Krach
kommen wtirde, war mathematisch vorauszusagen. Er kam,
als die auslandischen Glaubiger nicht mehr bereit waren,
in Deutschland die Summen neu zu investieren, die es zur Be-
zahlung von Reparationen und privat en Zinsen brauchte. Der
Krach kam daher bereits wenige Monate nach dem Einbruch
der Weltwirtschaftskrise. Der gesamte Internationale Kapital-
export ging damals rapide zuriick und damit auch die Sum-
men, die man in Deutschland anlegte. Die Konsequenz war, daB
der deutsche Kapitalismus > zum ersten Male Reparationen
zahleh sollte. Zum ersten Mai sollte er sich durch wirkliche
Exportiiberschiisse die Devisen verschafien, die er dem Re-
parationsagenten zur Verfiigung zu stellen hatte. Deutsche
Exportiiberschiisse wurden erzielt, wurden groteskerweise
grade in der Zeit der Weltwirtschaftskrise erzielt,. und zwar
durch so niedrige Preise, daB der englischen und amerika-
nischen Konkurrenz das Geschaft noch mehr verdorben
wurde. Sie wurden erzielt, ohne dafi die deutsche Zahlungs-
bilanz dadurch ins Gleichgewicht kam.
Denn in der Weltwirtschaftskrise ist der deutsche Kapi-
talismus das schwachste Glied. Das wissen nicht nur die Ar-
beiter, das wissen auch die Kapitalisten. Und so hat auch
grade in der Krise eine starke deutsche Kapitalflucht einge-
setzt. Als dazu die Kiindigung auslandischer, kurzfristig an-
gelegter Gelder erfolgte, verlor die Reichsbank in wenigen
Wochen das gesamte Gold, das sie iiber der gesetzlichen
Deckung besafi. In diesem Zeitpunkt verlangte Hoover ein
Reparationsfeierjahr. Dieses Reparationsfeierjahr aber wird
ebensowenig nur ein Jahr dauern, wie die neue Nbtverord-
nung Brunings die letzte ist. Der deutsche Kapitalismus, der
niemals Reparationen gezahlt hat, wird auch in Zukunft keine
Reparationen zahlen, karin keine zahlen, weil Reparationen
nur bei einem starken Anstieg des gesamten WeltauBenhandels
gezahlt werden konnen. Der wird sich aber in absehbarer Zeit
nicht einstellen.
43
Die Hooversche Botschalt ist so nur die politische Bestati-
dung dessen, was sich aus dcr Okonomie schon vor Jahren er-
geben hatte. DaB diese politische Bestatigung so spat erfolgt,
ist nur ein Beweis mehr, daB die Widerspriiche der kapitalisti-
schen Produktionsweise sich immer schwerer politisch meistern
lassen. Wenn der Hoover-Plan weltwirtschaftlich kaum
grundlegende Veranderungen bringen wird, so konnen seine
innerpolitischen Konsequenzen sehr wesentlich sein. Zunachst
einmal: der Reichskanzler Briining betont sehr deutlich, daB
auch nach dem Wegfali der Reparationszahiungen in Hohe von
1500 Millionen Mark die neue Notverofdnung grundsatzlich
nicht geandert werden darf, Er gibt ohne jede Verschnorke-
lung zu, daB durch die letzte Notverordnung der Etat nicht
saniert worden ist, daB auch nach der letzten Notverordnung
groBe ungedeckte Defizitposten vorhanden waren. Gleichzeitig
betont Briining, dafi das wirklich schwere Jahr nicht das Jahr
1931 ist sondern das Jahr 1932. Das heiBt, Briining rechnet
mit einer weitern wirtschaftlichen und damit politischen Zu-
spitzung. Fraglos ist deren Tempo durch den Hoover-Plan
etwas gebremst worden, aber eben nur das Tempo.
Monate einer gewissen Atempause stehen bevor. Die
nationalsozialistische Agitation hat die Younglasten und nur
die Younglasten fur die deutsche Krise verantwortlich ge-
macht. Die kommenden Monate werden den Beweis bringen,
daB die Nationalsozialisten in dies^m Punkte die Massen vollig
getauscht haben. Die Arbeitslosenzahlen werden weiter zu-
nehmen, sie werden im Winter sechs Millionen iibersteigen.
Die Lohne werden weiter abgebaut werden, das Elend der Ar-
beitermassen wird groBer werden, ebenso das Elend des prole-
tarisierten Mitt els tandes. Das Elend wird groBer werden —
im Reparationsleierjahr.
Schon heute gilt esf dies der Arbeiterschaft klar zu
machen, schon heute aber gilt esf daruber hinaus in die Schich-
ten des im Wesentlichen proietarisierten Mittelstandes vorzu-
stoBen, die heute noch, wenn auch bereits vielfach miBtrauisch,
Hitler folgen. Grade das Reparationsfeierjahr gibt Gelegen-
heit, diese irregeleiteten Massen daruber aufzuklaren, daB nicht
die Younglasten und nicht die Reparationen an ihrem Elend
schuld sind sondern die Politik des Monopolkapitals.
Der Hoover-Plan ist die Antwort der amerikanischen
Bourgeoisie auf die Verscharfung der politischen und okonomi-
schen Situation in Deutschland, Man will einen Schuldner,
der zahlungsfahig bleibt, denn man hat dort mehr investiert als
die Summen des Reparationsfeierjahres. Der Hoover-Plan
sollte dem Schuldner eine Atempause schatten.
Aufgabe der Arbeiterklasse ist es, diese Atempause aus-
zunutzen zum Kampf um die mittelstandischen Massen, die
heute noch Knechte des Monopolkapitals sind. Gelingt es, sie
in elne gemeinsame Front mit der Arbeiterschaft zu bringen,
gelingty dies in dem Jahre, wo der Wegfali der Reparationen
die Schuld des Monopolkapitals an der heutigen Situation
plastisch demonstriert, dann wird das Reparationsfeierjahr
seine, guten Fruchte tragen, allerdings nicht so, wie es Herr
Hoover geplant hat.
44
Stalin spricht
MStalin schwort den Kommunismus ab", „Rede Stalins: Ab-
kfchr vom Kommunismus", „Vollstandige Absage an den
Kommunismus", „Eingriff in den Dogmengehalt der kommu-
nistischen Lehre" — dies war das erste Echo, das die neueste
Rede Stalins in den deutschen Blattern gefunden hat. Was hat
aber Stalin wirklich gesagt? Der Originaltext der Rede enthalt
neben den inzwischen beruhmt gewordenen sechs Forderungen
— Organisation der Arbeiterwerbung und Mechanisierung der
Arbeit; neues Tarif system; personliche Verantwortung des Ar-
beiters; Heranbildung der Intellektuellen aus der Arbeiterklasse;
Schonung der burgerlichen Intellektuellen; Wirtschaftlichkeit
der Betriebe — auch deren Begrtindung.
Hier einige Beispiele, die beliebig vermehrt werden konnen.
Die Kommentatoren braucben nur zuzugreifen.
Nikolaus Feinberg
Arbeitslohn. „Marx und Lenin sagen, daB der Unterschied
zwischen der qualifizierten und der ungelernten Arbeit selbst
unter dem Sozialismus existieren wird, selbst nach Vernichtung
<ier Klassen; nur unter dem Kommunismus wird dieser Unter-
schied vexschwinden, so daB der Arbeitslohn sich sogar unter
dem Sozialismus nach Arbeitsleistung und nicht nach (person-
Jichem) Bedarf (des Arbeit ers) richten muB. Aber unsre
.Lohnausgleicher' aus dem Kreise der Sowjetwirtschaftler und
der GewerkschaHler sind damit nicht einverstanden; sie sind
der Meinung, daB dieser Unterschied (zwischen der qualifi-
zierten und der ungelernten Arbeit) schon unter unserm Sow-
jetregime, verschwunden sei. Wer hat nun recht, Marx und
Lenin oder die Lohnausgleicher? Man muB annehmen, daB
hier Marx und Lenin recht haben. Daraus folgt aber: wer
heute das Tarifsystem auf den Prinzipien der Urawnilowka
(das heiBt des Systems des gleichen Lohns) ohne Beriicksichti-
gung des Unterschieds zwischen der qualifizierten und nicht
qualifizierten Arbeit aufbaut, der bricht mit dem Marxismus,
bricht mit dem Leninismus."
Arbeiterleben. nEs kann nicht bestritten werden, daB auf
dem Gebiet des Wohnungsbaus und der Arbeiterversorgung
im Laufe der letzten Jahre viel erreicht worden ist. Aber das,
was erreicht wurde, gentigt nicht, um die schnell wachsen-
den Bediirfnisse der Arbeiter zu befriedigen. Man darf sich
nicht darauf berufen, daB e& friiher nicht so viel Wohnungen
gegeben habe wie jetzt und daB die Arbeiterversorgung friiher
viel schlechter gewesen sei als heute... Die Lebensbedingun-
gen des Arbeiters haben sich von Grund aus geandert. Der
Arbeiter von heute, unser Sowjetarbeiter, will seine mate-
riellen und kulturellen Bediirfnisse befriedigt wissen. Er hat
ein Recht darauf, und wir miissen ihm die entsprechenden Vor-
bedingungen sichern. Freilich, er leidet bei uns nicht unter
Arbeitslosigkeit, er ist frei vom kapitalistischen Joch, er ist
kein Sklave mehr sondern sein eignerHerr. Aber dies geniigt
nicht. Er fordert die Sicherung aller seiner materiellen und
kulturellen Bediirfnisse, und wir miissen diese Forderung er-
fiillen. VergeBt nicht, daB wir unsrerseits gewisse Forde-
rungen an den Arbeiter stellen, vergeBt nicht, daB die iiber-
2 45
wiegende, Mehrheit der Arbeiter diese Forderungen mit Be-
geistcrung aufgenommen hat und sie heroisch erfiillt. Wundert
Euch deshalb nicht, wenn die Arbeiter ihrerseits von der Sow-
jetregierung die Einlosung der von ihr ubernommenen Ver-
pflichtungen verlangen."
Funftagewoche. (flObeslitschka" nennt Stalin ein System,,
das die Bindung zwischen Arbeiter und Arbeitsstatte gefahrdet;
infolge der Funftagewoche wechselt die Belegschaft: eine Loko-
motive wird nicht immer vom selben Fiihrer bedient. Die
Folge: Ziichtung von Verantwortungslosigkeit, die zu wirt-
schaftlichen Schaden fiihrt.) ,,Manche von unsern Genossen
haben sich hie und da mit der Einfuhrung der Funftagewoche
allzu sehr beeilt und sie in die ,Obeslitschka' verwandelt. Die
Liquidierung dieser Situation und die Vernichtung der ,Obes-
litschka' kann auf zwei Wegen erfolgen. Entweder muB die
Durchfiihrung der Funftagewoche so umgeandert werden, daB
keine .Obeslitschka' aus ihr wird, wie dies im Transportwesen
erreicht wurde, oder aber, falls Vorbedingungen fur entspre-
chende MaBnahmen fehlen, muB die papierne Funftagewoche
fortgeworfen und vorubergehend durch die (,unterbrochene')
Sechstagewoche ersetzt werden, wie dies kiirzlich im Stalin-
grader Traktorenwerk geschehen ist; unterdessen miissen Vor-
bedingungen geschaffen werden, damit man dann zur wirk-
lichen, nichtpapiernen Funftagewoche zuriickkehren kann, zur
Funftagewoche ohne ,Obeslitschka\ Andre Wege gibt es,
nicht."
Die Parteilosen und der Arbeiteraufstieg. „Die Anreger des
sozialistischen Wettbewerbs, die Fiihrer der StoBbrigaden,.
die Organisatoren der Arbeit — das ist die neue Schicht der
Arbeiterklasse, die den Kern der Arbeiterintelligenz, den Kern
des Kommandokorps unserer Industrie bilden muB. Die Auf-
gabe besteht darin, solchen Genossen mit Initiative Kommando-
gcwalt zu geben und die Moglichkeit, ihre organisatorischen
Fahigkeiten zu bewetsen; ihre Kenntnisse zu bereichern und
ihnen giinstige Lebensbedingungen zu schaffen, ohne mit dem
Geld zu sparen. Unter diesen Genossen gibt es viele Partei-
lose. Das kann aber kein Hindernis sein. Im Gegenteil: grade
diese parteilosen Genossen miissen mit besonderer Riicksicht
behandelt werden, damit sie sich davon iiberzeugen konnen,
daB die Partei tiichtige und begabte Leute zu schatzen weiB..
Manche Genossen glauben, daB auf fiihrende Stellungen in Be-
trieben nur Parteigenossen berufen werden sollen. Aus diesem
Grunde schenken sie den begabten parteilosen Genossen mit
Initiative keine Beachtung und ziehen die Parteigenossen vor,
selbst wenn diese weniger begabt und ohne Initiative sind. Es
braucht nicht gesagt zu werden, daB nichts diimmer und re-
aktionarer sein kann als solche ,Politik\ Es ist klar, daB auf
diese Weise die Partei nur diskreditiert wird und die partei-
losen Arbeiter von der Partei abgestoBen werden. Unsre
Politik besteht gar nicht darin, die Partei in eine geschlossene
Kaste umzuwandeln. Unsre Politik besteht darin, zwischen
den Parteiangehorigen und den Parteilosen den Geist des
,gegenseitigen Vertrauens' und der .gegenseitigen Kontrolle' zu
schaffen. (Lenin.)"
46
Die alien InteRektuellen. „Wenn in der Bliitezeit der
Schadlingstatigkeit unsrc Beziehungen zu den Intcllektuellen
alter Schule ihren Ausdruck in der Politik der Zertriimmerung
fand, so ist es heute, in der Zeit, wo die Intellektuellen zu der
Sowjetregierung kommen, unsre Aufgabe, sie znr Arbeit heran-
zuziehen und sie mit Sorgfalt zu behandeln, Es ware falsch
und undialektisch, die alte Politik unter neuen Bedingungen
fortzusetzen. Es ware unklug, jeden zweiten Fachmann und
Ingenieur der alten Schule als einen noch nicht iiberfiihrten
Verbrecher und Schadling zu betrachten, Die Fachmanner-
Fresserei war und bleibt eine schadliche und schandliche Er-
scheinung/1
SoziallStenbund von Kurt Hiller
Verwirklichen Wir! Schopfung beginnt,
Ludwig Rubiner: ,Die Anderung der Welt4, 1916
T\ a stent eine riesige uralte Mietskaserne, von zahllosen
armen Leuten bewohnt. Sie ist baufallig, morsch, muffig,
verwanzt; kein Licht, keine Luft dringt in die Mehrzahi der
Stuben; natiirlich fehlt der bescheidenste technische Komfort.
Nur Geriiche sind da, Miasmen, Bakterien; ein Siechtumshaus,
ein Haus des langsamen Sterbens. (Dabei wimmelts drinnen
von Jugend.) Die Bewohner wollen das Haus abgerissen und
ein modernes, helles, luftiges, hygienisches an seine Stelle ge-
setzt sehn. Der Wirt weigert sich; er zieht aus der Bazillen-
baracke prachtvollen Profit. Sie beschlieBen nun, den Abbruch
auf eigne Faust zu bewerkstelligen . . . Aber schon bilden sich
unter den Parteien zwei Parteien; die eine sagt: „Wir mxissen,
urn unsertwillen, die wankenden Mauern zunachstmal stiitzen,
bevor wie sie sturzen"; die andre, genau gegenteiliger Meinung,
riickt mit Trompeten, Hornern, Posaunen, Megaphonen an und
tutet, tutet, tutet. Ihr Zorn formt sich zu einem einzigen un-
geheuren Schalltrichter, Alles Tuten niitzt aber nichts; die
Mauern benehmen sich anders als die von Jericho. Auch dafi
Tuterhaufe und Stiitzerhaufe iibereinander herfallen, erschiit-
tert sie nicht. Die Mauern stehen; die Bewohner haben sich
geschwacht; der Wirt lacht sich ins Faustchen und steigert die
Mieten;, nichts hat sich gebessert, einiges noch verschlechtert;
von Abbruch und Neubau kein Schatten einer Spur.
Mogen unsre kapitalistischen Herren es mir nicht verubeln,
wenn ich ihr System mit jenem schandlichen alten Wohnkasten
vergleiche, und unsre beiden Proletarparteien nicht, wenn sie
mir erscheinen wie die beiden erfolglos tatigen Mietergrup-
pen da.
Im iibrigen erachte ich fiir notig, daB der Kasten endlich
abgerissen wird.
Und nun fort mit dem Vergleich; denn wir wollen hier
keine schone Literatur machen.
*
These: Die soziale Revolution wird morgen moglich sein,
wenn das Proletariat morgen einig ist. — .Proletariat': Inbegriff
47
aller Derer, die yon ihrer Arbeit leben, ihrer Hande und Hirne
Arbeit, statt von den Friichten tremder Arbeit; eingeschlossen
Jene, denen mangels Arbeit Alles zum Leben fehlt. Der Be-
griff , Proletariat* 1st also weiter als der Begriff ,Arbeiterschaft';
er umfafit Millionen von Angestellten und Beamten, von Bauern
und Gewerbetreibenden mit Zwergbetrieb, von Leuten aus den
Intellektbranchen. Diese Kategorien waren anno Marx und
noch anno Bebel durchschnittlich Kleinbesitzer, also Mit-Aus-
beuter; Krieg, Inflation, die neue Krise enteigneten sie. Selbst-
verstandlich bildet die Arbeiterschaft nach wie vor den groBen
Kern des Proletariats, und alle Ehre den Arbeitern! Aber es
gibt keinen Grund, eine revolutionare Politik ausschliefilich
den Interessen dieses einen Standes zu widmen. Das wollen
seine Verantwortungsvollsten und Kliigsten auch selber nicht.
Wie toricht handeln demnach Wortfiihrer des Antikapitalis-
mus, des Klassenkampfs, namlich des Kampfs liir die Befreiung
der gesamten proletarischeh Klasse, wenn sie dem Besitzbtirger
dauernd ,,den Arbeiter" entgegenstellen, einzig ihn, wenn sie
von ,,Arbeiterparteien", ,,Arbeiterklasse"f f,Arbeiterstaat"
sprechen — wodurch kein andrer Effekt erzielt wird als der,
daB unzahlige Arbeitende, die nicht Arbeiter sind und doch
Proleten, sich befremdet, ja vor den Kopf gestoBen und vom
Mittun abgeschreckt fiihlen, Ganz schwerer, zu spat erkannter,
noch langst nicht ausgerotteter Fehler! Zu schweigen von dem
Widerwillen, der in jedem Saubergesinnten, zumal in jedem
saubergesinnten Arbeiter, entstehen muB, wenn exzentrische
Borsenmakler-Eleven oder akademisch gebildete Tendenz-
lyriker oder verungliickte Gerichtsvollzieher oder Journalisten,
die es wurden, nachdem das Staatsexamen sie zweimal aus-
gespien hat, sich in revolutionaren Versammlungsreden als ,,wir
Arbeiter" empfehlen — womit ich aber nicht etwa behaupten
will, daB dieses Heuchelgesocks der Wahrheit in alien Fallen
dann naherkommt, wenn, es sich als „wir Proletarier" anpreist.
Zweite These: Einigung des Proletariats erfolgt sicherlich
nicht so, daB zwischen sozialdemokratischer und kommunisti-
scher Parteibureaukratie ein Verstandigungsfriede geschlossen
wird. Eher flieBt die Spree in die Oder- — Obrigens ist keine
Erkenntnis in Deutschland verbreiteter als die Erkenntnis die-
ser Unmoglichkeit. (Die Moglichkeit ware nichtmal eine
Wiinschbarkeit; Verstandigung mit gewerbsmaBigen Preis-
gebern eines Gedankens ware Preisgabe des Gedankens.) Sol-
len wir uns aber bei dieser Erkenntnis beruhigen?
Sollen wir neben den Ereignissen stehn, ihnen tatlos zu-
sehen? Tatlos zusehen, wie die herrschende Klasse aus dem
Lachen nicht herauskommt, weil die beherrschte ohne Ende
gegen sich selber wiitet? Wie der Gutsherr die ineinander
krampfig verbissenen beiden Knechte nicht trennt, sondern
trelbt? Wie er einem dritten Listig Geld gibt und ein Haken-
kreuz und ihn noch dazuhetzt? Wie von den kleinen Errun-
genschaften der arbeitenden Klasse, den sozialen und selbst
den demokratischen, eine nach der andern vor die Hunde geht?
Welcher Proletarier, welcher Sozialist in Deutschland hatte
die Stirn, hinzutreten und zu sagen: „Ja, das isi gut so; so
soil es bleiben"? Aber der fromme Wunsch andert nichts.
48
Brauchen wir — These 1 — die Einigung des Proletariats
und kommt sie — These 2 — durch Verhandlungen zwischen
SPD und KPD niemals zustande, dann muB von einem andern
Punkt her ein VorstoB gewagt, dann muB eine neue Quelle
politisch-schopferischer Kraft erschlossen werden: alien Grin-
sern, alien „Utopie!"-Meckerern zum Trotz.
Ein Moses zwar, der an den Fels schliige und die Quelle
springt, lebt uns nicht; die Zeiten der Legende sind dahin.
Vorsichtig zu Werke gehende Vernunft kann die rasche Magie
ersetzen,
Es gibt eine Reihe kleiner revolutionar-sozialistischer
oder, was begrifflich dasselbe ist, kommunistischer Gruppen,
die teils durch Abspaltung von den beiden GroBparteien, teils
durch Urzeugung entstanden sind und trotz mannigfacher
Unterschiede einander programmatisch so nahe stehen, daB nur
ein ganz unfruchtbarer Eigenbrodler- und Kantonligeist, ein
wahrhaft konterrevolutionarer Geist sie hindern konnte* ihre
Krafte zu verbinden und dadurch zu vervielfachen. Ich habe
Grund zu der Annahme, daB in den Mitgliederschaften jener
Gruppen grade die besten Kopfe und Herzen diese Auffassung
teilen, Wunschvorstellungen aber geniigen nicht; es muB end-
lich gehandelt werden. Nicht, als wollte ich mit aufgekrem-
pelten Armeln Aktion gegen Diskussion ausspielen; erst nach-
dem man grundlich diskutiert hat, kann man agieren. Aber
mir scheint, es ist hinreichend diskutiert worden; jahrelang;
die Beteiligten wissen, was sie trennt, was sie eint, Ist das
Einende starker, dann in drei Teufels Namen endlich ran an
die Aktion!
Was ist das Trennende? Was das Einende? Wie miifite
sie aussehn, die Aktion?
Ein paar Beispiele des Trennenden: Der Leninbund steht
sehr kritisch zur Stalinschen Sowjetunion; die Mehrzahl der
ubrigen Gruppen, voran die KPD-Opposition, sieht in der Sow-
jetunion'den verheiBungsvollen Anfang, das Fundament, auf
dem weiterzubauen ist. Die Industrieverbande leiten ihr Da-
sein her von einem Ausmarsch aus den Gewerkschaften; die
Mehrzahl der ubrigen Gruppen halt oppositionelle, revolutio-
nierende Arbeit in den Gewerkschaften fiir unerlaBlich. Der
Jungproletarische Bund neigt zu anarchoi'den Losungen; der
Mehrzahl der ubrigen Gruppen ist klar, daB man durch die
Diktatur des Proletariats hindurchmuB, um zum klassenlosen
Staat, und durch den klassenlosen Staat hindurchmuB, um zur
herrschaftslosen Gesellschaft zu gelangen. Der Bund freier so-
zialistischer Jugend scheut ein biBchen vor Programmatik, vor
dogmatischen Festlegungen zuriick; die Mehrzahl der ubrigen
Gruppen wunscht prinzipielle Klarungen. Die Gruppe Revolu-
tionarer Pazifisten pflegt eine bestimmte Ideologic und Metho-
d(oIogie der Kriegsverhinderung; die Mehrzahl der ubrigen
Gruppen lehnt gewisse Teile dieser Doktrin (Ausbau des. Kel-
loggpakts; Dienstverweigerung) ab. Zu den Gruppen, die ohne
ein der Mehrzahl der ubrigen unangenehmes Steckenpferd
49
auskommen, gehort meines Wissens der Sozialistische Bund.
Aus diesem Grunde und wegen der unbcstrittencn Autoritat
seines greisen, jugendfrischen Fuhrers Georg Ledebour scheint
mir dieser Bund, mag er auch zahlenmaBig nicht der starkste
sein, zur Fiihrung der Gruppen berufen.
Was aber eint sie?
Viererlei.
Erstens die sozialistische Zielsetzung,
Zweitens die Erkenntnis, daB nicht die Formaldemokratie,
nicht der Stimmzettel den Weg zum Sozialismus bahnt; daB
die Expropriateure sich nicht freiwillig, sich nicht widerstands-
los expropriieren lassen; daB der Sieg der Unterdriickten iiber
die Unterdriicker demnach erkampft sein will. Zur sozialisti-
schen Zielsetzung tritt die revolutionare Weglehre.
Drittens eint sie das Wissen um die Fundamentalist des
Okonomischen und die Einsicht, daB Kulturpolitik atiBerhalb
des Sozialismus keine Chance hat. Eine Hauptquelle der Kriege,
zum Beispiel, erblicken sie in der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung, und sie sehen jeden Kampf fur den Frieden als illuso-
risch an, der nicht zugleich Arbeit fur die soziale Revolution
ist. Erst auf einer sozialistischen Erde wird ewiger Volker-
friede moglich sein.
Viertens eint alle diese Gruppen die Oberzeugung, daB
fur das gemeinsame Ziel im Rahmen der heutigen KPD sq
wenig wie im Rahmen der SPD ersprieBlich gearbeitet werden
kann. Nicht, daB diese Parteien oder auch nur ihre Fiihrer-
gremien aus lauter Trotteln und Schuften bestiinden. Das
glaubt niemand; und es ware lacherlich, sich so zu stellen, als
glaubte mans. Aber beurteilt werden mussen die Parteien nach
ihren Taten, das heiBt nach ihren tonangebenden Cliquen. Die
Kommunistische Partei, deren groBe strategische Linie zu be-
jahen bleibt (und deren Verfolgung durch diesen Staat uns
beriihrt, als trafe sie uns selbst), gefallt tsich in einer wilden,
psychologielosen, sturen, dem Effekt nach gegenrevolutionaren
Taktik. Parteimitglieder, die diese Taktik zu kritisieren wa-
gent werden achtkantig hinausgeworfen, Gegen sie und gegen
andre in Einzelheiten abweichende Kampfnachbarn und Ziel-
genossen ist kein Mittel zu schlecht, keine Luge zu gemein,
keine Falschung zu plump, keine Ehrabschneiderei zu dreckig,
keine Verleumdung zu dumm. Das schmierigste Journalisten-
gesindel des Kontinents wird gegen sie eingesetzt. Die Sozial-
demokratische Partei hat ihre Metamorphose aus einer sozia-
listischen in eine republikanisch-konservative, will sagen die
gegenwartige ,,Ordnung" stiitzende Partei so gut wie vollendet.
Rebellen gegen diesen UmwandlungsprozeB sind da; aber sie
rebellieren nur literarisch. Rebellieren sie einmal in der Tat,
durch die Tat, durch einen Disziplinbruch etwa im Reichstag
— auf dem nachsten Parteitag kuschen sie wieder. Obrigens
soil man den Mannern um Seydewitz Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Zur Kommunistischen Partei konnen sie sehr be-
greiflicherweise nicht iibertreten; und in die Luft treten wollen
sie nicht. Mithin bleibt ihnen nur iibrig, zu bleiben und Bitt-
res zu schlucken, wahrend ihnen das Herz viel mehr danach
50
stiinde, den Ajidern Satires zu geben, Moglicherweise wiirde
sich ihr Verfahren andern, wenn statt der tuft, in die sie tra-
ien, Etwas daware, worauf sie trcten konnten . . .
*
Das also trennt, das also eint die Gruppen, von denen ich
spreche. Wiegt nicht das Einende zehnfach schwerer als das
Trennende? Ich glaube, man muB zu diesem Ergebnis gelan-
gen, wenn man die Dinge unter einer andern Perspektive sieht
als unter der des Sektiererwinkels. Zumal das Trennende in
manchem Punkte nicht so sehr Gruppe von Gruppe wie Person
von Person scheidet und durch die Systematik der Zusammen-
arbeit vielleicht langsam an Kontur verlore, ja verschwande.
In gemeinsamer Aktivitat zielgenossisch Verbundener schleifen
sich kleine Gegensatze ab. (Ich hore den Einwand: „Ja oder
Nein zur Sowjetunion, das ist doch kein .kleiner Gegensatz'!"
Stimmt, Aber es ware da sehr wohl €in Ausgleich denkbar,
der an der Solidaritat mit der Sowjetunion so wenig Zjw^eifel
laBt wie an der Erforderlichkeit internationalen proletarischen
Zusammenhalts iiberhaupt, einschlieBlich der Notwendigkeit
einer zentralen Verwaltung der klassenlosen Gesellschaft der
Zukunft, aber fiir die revolutionare Verwirklichungspolitik in
vorrevolutionaren Landern internationalen Zentralismus — Dik-
tat, nicht Rat etwa — ablehnt.)
Immerhin: das Trennende bedeutet wohl einstweilen zu-
viel, um eine Verschmelzung der Biinde zu Einem Bund zu ge-
statten; schon die Entriistungsrufe der Orthodoxen: „Misch-
masch! Einheitsbrei! Wirrwarr!" verdurben den Plan. Aber
es bedeutet bestimmt zu wenig, um einen ZusammenschluB zu
verbieten, der den einzelnen Biinden ihre programmatische und
organisatorische Selbstandigkeit lieBe.
Fur einen ZusammenschluB dieserart pladiere ich. Fiir ein
KARTELL REVOLUTION AR-SOZIALISTISCHER GRUPPEN.
Dessen Organisationsform sich freilich vom Typus des Kartells
in einem wesentlichen Punkte unterschiede.
Kartell — das ist ein Bund von Biinden. Dieses hier
jniiBte seine Tore auch Einzelpersonen offenhalten. Warum?
Weil unter Hunderttausenden sozialistisch gesinnter Proleta-
Tier in Deutschland, die . politisch heimatios sind, ein Hunger
nach Heimat herrscht, den zu befriedigen suchen der Verwirk-
lichung des Sozialismus dienen heiBt, Von den 13165 522
Reichstagswahlern, die bei den letzten Wahlen fiir die sozial-
demokratische und fiir die kommunistische Liste stimmten,
waren fast zwolf Millionen weder dieser noch jener Partei
als Mitglieder angeschlossen. GewiB sind unter den zwolf
Millionen eine Unmenge gedankentrager, indiffcrenter, ego-
zentrischer, opferunlustiger Leute; gleichfalls eine Unzahl ver-
schwommener Gefiihlssozialisten; wer aber wolite bezweifeln,
daB auch Millionen darunter sind, denen es an dem guten Wil-
len, in einer groBen Gemeinschaft fiir den Sozialismus zu ar-
beiten und zu kampfen, nicht fehlt und die aus bestimmten,
klarent horenswerten, gradezu richtigen Griinden diese Ge-
51
meinschaft wedcr in der SPD noch in der KPD schn? Sic
wahlen am Wahltag nach dem Prinzip des klcinsten Obels;
man sollte ihnen den Anschlufi an eine politische Organisation
ermoglichen, die sie nicht als Ubel zu deuten brauchten. Man
sollte ein Becken schaffen, das keineswegs nur die ,,Stromun-
gen" aufnimmt, die revolutionar-sozialistischen jenseits SPD
und KPD, keineswegs nur die Kollektive, sondern auch alien
atomisierten Sozialismus, alle Einzelnen, alle Tropfen. Sam-
melnf Darauf kommt es an.
Die Einzelmitglieder miiBten sich innerhalb des Kartells zu
einer Gruppe vereinigen durfen, die im AktionsausschuB neben
den Vertretern der Biinde ihre Vertretung hatte.
Das Ganze:, eine MischiQrm, gleich w«it entfernt vom fest-
gefiigten Bund wie vom lockern Zweckverband; kein Parti-
kularismus der Gruppen, aber auch kein Unitarismus. Was
sich spater aus dem Gebilde entwickeln wird, ist eine Fragef
die im An fang ruhig offen bleiben darf. Hatte ich nicht die
Hoffnung, daB die Gruppen allmahlich ineinanderwachsen, daft
von rechts und von links her viel Masse ankristallisiert, daB-
dies Kartell .schlieBHch zur Briicke wird zwischen Dem, was
hochwertig, kraftvoll, zukunitstrachtig ist in der Kommu-
nistischen Partei, und den ehrlichen aber ohnmachtigen Sozia-
listen in der Sozialdemokratie — dann schliig ich nicht vorr
was ich vorschlage, Es ware verfehlt, eine neue Partei mor-
gen griinden zu wollen; es ware ebenso verfehlt, Moglichkeiten
zu drosseln, die entstehn, wenn aus Starrem Bewegung wird*
und die endlich, endlich zu groBer Verwirklichung fiihren kon-
nen. Jawohl, A, Sch. in der .Arbeiterpolitik' hat recht, wenn
er sich scharf gegen die Propagierung eines Parteigebilds wen-
det, das nur t,ein neuer Damm gegen den Kommunismus sein
wxirde". Heute ist die Kommunistische Partei selber ein sol-
cher Damm; und es konnte die Zeit kommen, wo man ihn
durchstoBt. Jahr um Jahr von auBen an der „Gesundung" die-
ser Partei arbeiten — prachtiger Arzt-Idealismus! Ich fiirchte
bloB: vergeudete Kraft.
*
Ein BiLndnis der freien revolutionaren Sozialisten ist wenigr
ist nur ein Anfang, ist ein winziger erster Schritt zur Roten
Einheit. O tut ihn! So geringfiigig er ware — er ware Tat,
er wiirde hinausfuhren aus der Ode, aus der HoHnungslosigkeit,
Erfolggarantien sind hier nicht gegeben; aber es gibt Manches,
was Mancher in den Fingerspitzen hat. Eine Sehnsucht liegt
in der Luft, die erfiillt sein will. Wie billig, hier zu spotten;
iiber das Sammelsurium von Zwerggruppchen, oder ahnlich. (Was
haben denn die deutschen Mammutparteien an sozialistischer
Wirklichkeit zuwege gebracht?) Weit kostspieliger: die Krafte
zu erkennen, die grade in diesen unabhangigen kleinen Biinden
wirken, und die Parallelitat ihres wesentlichen Wollens. Da
sind erprobte Praktiker des Klassenkampfs; da ist beste linke
Jugend; da sind in bedeutender Zahl Theoretiker und Publi-
zisten — sie reden Alle ein klein wenig eine andre Sprache,
sie mussen zueinander. Als eingefleischter Theoretiker sag, ich:
Theoretisieren wir nicht zuviel! Zwar keine Verwaschenheiten
(also ohne, Demokraten; ohne Syndikalisten; ohne umgekippte
52
Nationalisten) ; doch auch, bitte, nicht allzu, allzu dogmen-
streng! Anerkennt, zum Beispiel, den Inhaltswandcl des Be-
griffs .Proletarische Klasse1; anerkennt die Umstrittenheit des
Historischen Materialismus! Wir miissen zueinander. Um ge-
meinsam in Flufl zu bringen, was stockt. Seien wir jung, un-
starr, bewegt, bewegend! Vielleicht hilft gar nichts; aber hilft
Etwas, dann Das.
Groupons-nous, et demain . . . /
Die getarilte SchUpO von Jakob Links
VV/ enn man sich die Auff a&sung leitender Beamter im berliner
Polizeiprasidium und im PreuBischen Innenministerium
tiber die augenblickliche innerpolitische" Lage zu eigen macht,
so muB man mit ihnen den unmittelbar bevorstehenden Biirger-
krieg erwarten. Wiederum, wie in den Tagen vor dem un-
gliickseligen Mai 1929, vertreten unsre beamteten Hiiter der
Ruhe und Ordnung die These, daB nur auBerste Strenge und
riicksichtsloses Vorgehen die unruhige Masse im Zaum halten
konne. Wiederum zucken sie hohnisch die Achseln iiber den
Laien, der ihnen etwa auseinandersetzt, daB es im Mai 1929
nur deshalb zu Unruhen in Berlin kam, weil der damalige
Polizeiprasident die Demonstrationen verboten hatte; {iberall
sonst im Reiche war es vollig ruhig geblieben, aus dem ein-
fachen Grunde, weil man dort die iiblichen Aufmarsche ge-
stattet hatte. Druck von oben erzeugt allemal Gegendruck von
unten — eine Formel, die von jeher in der Geschichte gilt.
Die deutsche Sozialdemokratie insbesondere ist eine Nutz-
nieBerin dieser Formel gewesen: sie verzehnfachte sich unter
dem Sozialistengesetz, das erlassen worden war, um die Be-
wegung zu erledigen.
Herr Severing denkt heute anders, denn er ist ein Staats-
mann geworden. Freilich ein Staatsmann, dem beide Hande
gebunden sind. Nur einen einzigen Finger hat man ihm frei-
gegeben. Und mit diesem Finger regiert er, regiert er gegen
die Kommunisten. Freilich auch nicht nach eigner Willkiir,
sondern je nach den Bediirfnissen und im Auftrage der preuBi-
schen Regierungskoalition und der noch weiter nach rechts
orientierten Reichsregierung. Das wahre Wesen eines Staats-
mannes zeigt sich darin, ob und wieweit er versteht, es alien
denen recht zu machen, die mit ihm und hinter ihm den Staat
beherrschen. Karl Severing, durch langjahrige Ministerschaft
im Reich und in PreuBen von den letzten Staubkornchen der
blauen Metallarbeiterbluse befreit und in alien KompromiB-
sattein gerecht, ist in den letzten Wochen doch mit all seiner
Kunst erheblich in Verlegenheit gekommen. Es gibt eben
Situationen, in denen man nicht alien Herren zugleich dienen
kann,
Nehmen wir die Geschichte der Spartakiade. Es ist all-
gemein bekannt, daB dieses Arbeitersportfest erst erlaubt und
dann verboten, dann noch einmal erlaubt und schlieBlich end-
giiltig verboten wurde. Auch die Grunde wurden jedesmal be-
kanntgegeben. Sie klangen so wenig plausibel, daB wohi auch
der naivste Zeitungsleser ahnte, es seien nicht die wahren.
3 53
Und manch einer hattc wohl auch das instinktive Gefiihl, daB
in den Zimmern des gelbgetiinchten Palastes Unter den Linden
der groBe Severing, von Gewissenskonflikten geplagt, Gegen-
order auf Order gab und schlieOlich selbst nicht mehr wuBte,
was er zuletzt angeordnet, noch gar, wen er mit seinem end-
giiltigen Verbot vor den Kopf gestoBen und wem er geniitzt
hatte. Er wollte es alien recht machen und am rechtesten na-
tiirlich seiner Sozialdemokratie — aber die Koalition im Reich
war starker, und so fiigte er sich ins Unvermeidliche.
Es ist namlich falsch zu glauben, daB Severing froh war,
die Spartakiade endgiiltig unterdriicken zu konnen. Viel, viel
lieber hatte er sie zugelassen, denn von kommunistischer Seite
hatte man ihm vorher deutlich ztl verstehen gegeben, daB
der Volksentscheid des Stahlhelms vor der Tiir stehe. Was
hat der Volksentscheid mit der Spartakiade zu tun? Oh, sehr
viel! Und Genosse Severing begriff es sofort: der Stahlhelm-
Volksentscheid kann nur dann einen Erfolg haben, wenn auBer
der Rechtsopposition mindestens auch ein Teil der Kommu-
nisten seine Stimme abgibt. Moglich, daB der Volksentscheid
auch so gelingt — mit den kommunistischen Stimmen ist das
Ergebnis bombensicher. Ein ganz einfaches Rechenexempel,
das Severing und Braun schon wiederholt ganz heimlich still
und leise fiir sich ausgerechnet haben.
Das erste Verbot der Spartakiade muBte erlolgen, da man
tleichzeitig den Propagandafeldzug von Goebbels, der mit dem
tadion-Sportfest seinen Hohepunkt erreichen sollte, erfolg-
reich stoppte. Aber wahrend Goebbels darau! verzichtete, mit
Severing in Unterhandlungen zu treten, kam mit dem Sparta-
kiade-AusschuB eine Vereinbarung zustande, die es dem
preuBischen Innenminister durchaus moglich machte, das Ver-
bot wieder aufzuheben. Tatsachlich lieB sich ja auch der Cha-
rakter dieses Arbeitersportfestes, an dem ubrigens auch zahl-
reiche sozialdemokratisch orientierte Sportverbande teilneh-
men sollten, in keiner Weise mit dem S,A,-Aufmarsch im
Stadion vergleichen, der Goebbels die ersehnten Gelder fiir die
Weiterfiihrung seines vollig verwahrlosten Zeitungsbetri'ebes
einbringen sollte.
Die preuBische Regierungskoalition war oder schien mit
dem zuriickgezogenen Spartakiadeverbot stillschweigend ein-
verstanden, Nicht so die Reichsregierung; Es begannen er-
regte Rede-Duelle zwischen dem Haus Unter den Linden und
dem Haus am Platz der Republik. Immer wenn Wirth den Re-
publikaner markiert, gleicht er einem lendenlahmen Kriippel,
dagegen strotzt er von Kraft, Energie und Gradlinigkeit, wenn
es sich darum handelt, eine reaktionare Tat zu begehen, Wie
er beim Remarque-Film-Skandal im Dezember uber Severing
siegte, so auch diesmal mit seiner Forderung, die Spartakiade
diirfe nicht stattfinden* Severing unterwarf sich — man suchte
nur noch nach einer Formel, die seine Niederlage nach auBen
hin etwas verdecken sollte. Zweifellos hatte man sie gefun-
den, da kam der Gliickszufall: die kommunistischen Kra-
walle in der Frankfurter Allee, Ein Gliickszufall mehr fiir
Wirth als fiir Severing und die Sozialdemokratie: denn hatte
man vorher vielleicht, als KompromiB, das Arbeiter-Sportfest
54
nicht vollkommen verboten sondern nur erheblich einge-
schrankt, so muBte man nunmehr jede Riicksicht auf den
kommenden Volksentscheid fallen lassen. Ein Polizist er-
schbssen — darauf gibts seit Olims Zeiten nur eine Antwort.
Severing, Braun und Grzesinski sind sich vollig im Klaren
iiber die wahrscheinlichen Folgen ihres mit dem Spartakiade-
Verbot begonnenen Feldzugs gegen die Kommunisten. Sie
haben ihix diesmal wahrlich nicht gern begonnen, aber nach-
dem der erste Schritt auf Befehl des Zentrums getan werden
muBte, gibt es keinen Stillstand und erst recht keinen Schritt
zuriick mehr. Den politischen MaBnahmen, auch den verhang-
nisvollsten und widersinnigsten, wohnt eine politische Logik
inne, der sich niemand entziehen kann, Auf das Verbot des
Sportfestes folgt jetzt das Verbot der ,Roten Fahne\ Und
schon erwagt man ein Verbot der ganzen kommunistischen
Partei in PreuBen, Man muB es erwagen, denn der Terror von
oben hat die Massen derart radikalisiert, daB man immer nur
mit noch groBerm Terror antworten kann. Ein blutiger Trep-
penwitz der Weltgeschichte, daB die Sozialdemokraten heute
mit eben deriselben brutalen Zarenpolizeimitteln das Land be-
herrschen miissen, gegen die sie fiinizig Jahre lang das Ge-
wissen der ganzen Welt aufgerufen haben.
Der Fall des Schupowachtmeisters Nietz, um dessentwillen
die ,Rote Fahne' verboten wurdet ist mehr als in einer Hin-
sicht charakteristisch. Unter dem Druck der sensationellen
Aussage dieses Beamten vor Gericht hat das Polizeiprasidium
in einer offentlichen Erklarung jetzt zugeben muss en, daB es
iiblich seit Schutzpolizeibeamte in Zivil unter die Menge zu
verteilen. Diese Erklarung wurde in der Presse veroffentlicht
und von einem groBen Teil biirgerlicher Zeitungen in gebuhren-
der Form gewiirdigt. In der Tat muBte es aufs Hochste be-
fremden, gelegentlich zu erfahren, daB PreuBens Polizei mit
Tscheka-Methoden arbeitet. Die Kriminalpolizei hat die
Pflicht, sich zu tarnen, um Verbrechen besser auf die Spur zu
kommen. Die Schutzpolizei aber ist die uniformierte Schiitze-
rin des Staates und tritt als solche off en und mit alien erdenk-
lichen Hilfsmitteln versehen dem Gegner entgegen. Nun also
horten wir plotzlich, daB seit Jahr und Tag Schutzpolizisten als
Arbeiter verkleidet sich unter die Menge mischen, um dann,
wenn eine strafbare Handlung begangen werden soli, flugs den
Revolver aus der Tasche zu ziehen.
Nach dem letzten SchieBerlaB von Severing soil der Poli-
zist nicht mehr wie bisher zunachst nur Schreckschiisse in die
Luft abgeben sondern moglichst sofort scharf schieBen. (Auch
dieser Erlafi beweist wiederum, wie man sich im Innenministe-
rium praktisch auf den Biirgerkrieg vorbereitet). Also auch
der getarnte Schutzpolizist, der mitten in der Menge steckt,
soil schieBen. Vielen von uns wird ein Licht aufgehen: hat
man nicht schon hundertmal gehort, daB bei irgendwelchen
Demonstrationen „plotzlich ein SchuB aus der Menge fiel" und
daB darauf hin die Schutzpolizei entweder ebenfalls schoB oder
wenigstens mit Gewalt vorging. Man darf also nach dem Ein-
gestandnis des Polizeiprasidiums von jetzt an leise Zweif el. dar-
iiber hegen, ob plotzlich aus der Men^e fallende Schiisse von
55
einem Demonstranten selbst stammen oder abcr von einem ge-
tarnten Schutzpolizisten, Der braucht seinen Revolver durch-
aus nicht etwa in provokatorischer Absicht gezogen zu haben,
er glaubte sich vielleicht in Bedrangnis oder hielt es fur notig,
seinen Kollegen in Uniform ein Zeichen zu geben. Aber kann
irgend jemand in solchen Situationen unterscheiden, wer ge-
schossen hat? Eine hollischc Situation iibrigens fur den ein-
zelnen Beamten. Er muB sich auftragsgemafi unter die Massen
mischen und unter Umstanden sofort Verhaftungen vornehmen.
Das kann ihm iibel bekommen: -das mindeste, was ihm passiert,
ist die gewaltsame Entwendung seines Dienstrevolvers durch
die mit Recht emporte Menge.
Nun hatte die ,Rote Fahne* behauptet, aus der Aussage
des Schupowachtmeistexs Nietz ginge hervor, daB die getarn-
ten Beamten durchaus nicht etwa nur die Aufgabe hatten, be-
drohliche Situationen im Keim zu ersticken, sondern daB sie
solange mitzumachen hatten, bis die uniformierte Polizei in
Aktaon tritt. Es ist in den letzten Jahrzehnten kein schwere-
rer Vorwuri gegen die Polizei erhoben worden als dieser. Das
Polizeiprasidium hat sich denn auch beeilt, in seiner Erklarung
mit Entrustung die Behauptung einer provokatorischen Tatig-
keit seiner Beamten zuruckzuweisen. Aber diese Erklarung
selb«t hat eine eigentumliche Geschichte; sie existiert in zwei
Fassungen. Die erste Fassung, die der Presse zunachst mitge-
teilt wurde, hinterlieB einen derartig ungiinstigen Eindruck
bei den Journalisten, daB man im Polizeiprasidium mit hochster
Hast einen sehr wichtigen Satz nachtraglich herausstrich. In
diesem Satz hieB es etwa, daB sich der getarnte Beamte, in
diesem Falle also der Schupowachtmeister Nietz, auftragsge-.
mafi dem Vorgehen der Menge ,,eingefugt" habe, als diese
daran ging, sich mit Pflastersteinen zu bewaffnen. Ein hochst
aufischluBreiches Bekenntnis! Denn wenn es wirklich stimmt,
daB der getarnte Beamte lediglich die Aufgabe hat, sich sofort
zu erkennen zu geben, so wie die Situation bedrohlich zu wer-
den beginnt, so hatte er doch auf keinen Fall die Bewaffnung
mit Steinen dulden diirfen! Er hat es aber nicht nur geduldet
sondern hat feste mitgemacht, ganz so als sei er selbst ein
Kommunist. Und auch das, gerade das, war seine Aufgabe. Er
ist dafur noch belobigt worden.
An diesem Tatbestand ist nicht zu riitteln, er entstammt
einer amtlichen Erklarung des Polizeiprasidiumsf Freilich
wurde sie nachher f,uberarbeitet", Ein deutlicheres Schuldbe-
kenntnis laBt sich nicht denken. ■ Wie lange glauben Severing
und Grzesinski mit diesen Methoden Ruhe und Ordnung wah-
ren zu konnen? Offener Terror ist schlimm, viel verhangnis-
voller aber ist ein getarnter Terror, der sich vor der Offent-
lichkeit den Anschein gibt, nur eine moralisch berechtigte Ab-
wehrmaBnahme zu sein. Mit als Arbeiter verkleideten
Schupos, die Steine werfen, ist kein Staat zu machen und erst
recht kein Staat zu verteidigen.
Naheres dariiber und iiber die Folgen mogen Innenminister
und Polizeipraisident in- den Vorkriegsbanden des ,Vorwarts'
nachlesen, tails diese nicht auf Grund der Notverordnungen
langst eingestampft sind.
56
Gewerkschaft der Schriftsteller Erkh musm
A Is vor einigen Wochcn Fran Kate de Neuf ihren tapferen,
^^ selbstlosen Kampf gegen die Bureaukratie der Schauspie-
lerorganisation, die sich mit Unrecht Buhnengenossenschaft
nennt, an dieser Stelle in die Offentlichkeit hinaustrug, moch-
ten die von ihr mitgeteilten Tatsachen den in benachbarten
Bezirken Heimischen zwar in Einzelheiten liberraschen, — an
ihrer Schilderung der allgemeinen organisatorischen Verha.lt-
nisse aber verbliiffte nur die zwillinghafte Ahnlichkeit mit den
inneren Zustanden in verwandten Verbanden frei. schaffender
Erwerbstatiger. Sollte ich durch meinen Vergleich des Regimes
Wallauer mit der Leitung der groBten deutschen Schriftsteller-
organisation Geheimnisse des Schutzverbandes Deutscher
Schriftsteller profaner Zeugenschaft preisgeben, so sind es nur
solche, deren peinliche Diifte langst den Weg ins Freie gefun-
den haben und den Eingeweihten ohnehin oft genug der Frage
AuBenstehender aussetzen: Was geht eigentlich im SDS vor?
Ich darf es mir ersparen, die zahllosen Vorwiirfe aufzuzah-
len, die von einer in der berliner Ortsgruppe des Verbandes
schon zur Mehrheit angewachsenen Opposition gegen den Vor-
stand erhoben werden, und aul Angriffe gegen bestimmte
Personen will ich grundsatzlich verzichten, weil sie, berechtigt
oder nichtt vom notwendigen Kampf gegen die im System be-
griindeten MiBstande abfiihren. Auf den SDS trifft genau das
zu, was Walther Karsch (in Nurnmer 24) mit Bezug auf die
Buhnengenossenschaft als den ,,Tenor aller Klagen" so for-
muliert hat; „, . . die Leitung . . , sei verkalkt, sie laufe in vollig
ausgetretenen Bahnen, es wiirden keine neuen Wege zur Ober-
windung der katastrophalen Zustande gesucht". Auch daB
diese Behauptung sich bei der Lektiire des Verbandsorgans nur
bestatigt, kann im .Schriftsteller' so gut wie im ,Neuen Weg'
nachgepriift werden. Frau de Neuf stellt fiir^ die Buhnenge-
nossenschaft mit tiberzeugenden Angaben fest, daB das Pra-
sidiumf verborgen hinter einem jeder Kontrolle entr(icktent
selbstherrlichen Wirtschaftsgebaren, den Verwaltungsetat der
Organisation ungebuhrlich aufblaht und dariiber die berechtig-
ten Anspriiche der Mitgliedschaft auf Wahrung und Forderung
aller ihrer sozialen und beruflichen Interessen^ zumal auch im
Falle der Erwerbsunfahigkeit und Erwerbslosigkeit zu kurz
kommen laBt. Die Beanstandungen der Geschaftsfiihrung im
SDS laufen in derselben Richtung. Frau de Neuf beschwert
sich, daB Anfragen an die Fiihrung, die KJarheit schaffen
sollen, nicht oder unsachlich beantwortet werden. Di^selben
Beschwerden auch bei uns. Frau de Neuf berichtet, daB ihre
Kritik, ihre Zweifel, ob rationell gewirtschaftet wiirde, AnlaB
wurden zu Entriistungsstiirmen gegen die Anklagerin undi denn
auch ein AusschluBverfahren herbeiwehten, da sie ,,das An-
sehen der Genossenschaft in groblicher Weise geschadigt
habe." Genau unser Fall. Zwei oppositionelle Mitglieder des
Schriftstellerverbandes — beide iibrigens keine politisch Radi-
kalen — haben es sich im besonderen MaBe angelegen sein
lassen, das Verhalten des Hauptvorstandes zu uberwachen.
Ihre ganz auf die Wahrung der Mitgliederinteressen gerichtete
57
Wachsamkeit veraniaBte sic zu dcutlicher Kennzeichnung der
ihnen unhaltbar scheinenden Vorgange. Der Vorstand suchtc
aus der Fulle ihrer prinzipiellen Beans tandungen die wenigen
Punkte heraus, die aus vollig ungeklarten, unkontrollierbaren
Absonderlichkeiten irrige Vermutungen ableiteten, konstiruierte
hieraus Beleidigungen, Verleumdungen und das erforderliche
verb andsschadig end e Verhalten — und schmierte die Aus-
schluBguillotine. Es handelt sich um ein berliner Mitglied und
um den Vertreter eines groBen Gaues. Beide haben in der
Delegiertenversammlung im Auftrage derer gesprochen, deren
Vertrauen sie hatten; beide wurden daraufhin personlich her-
genommen. Man versuchte, ein Exempel zu statuieren, das die
Opposition insgesamt treffen und abschrecken sollte.
In einer Hinsicht ist die Schrif tsteller-Opposition wesent-
lich giinstiger gestellt als die Opposition der Biihnengenossen-
schaft. Die Kommunisten sind von Frau de Neuf abgeriickt,
well ihre Aktion nicht mit der Taktik der ganz schematisch
und in Kunstdingen ahnungslos und unpsychologisch vorg eh en-
den RGO-Zentrale iibereinstimmte. Das ware im SDS un-
moglich gewesen. Hier hat die Opposition die gute Haltung
gehabt, Herrn David Luschnat, obwohl er in vielem ganz selb-
standig vorgegangen war, fiir die Wahl in den Vorstand der
berliner Ortsgruppe vorzuschlagen, und das unmittelbar nachdem
•der Hauptvorstand — unter Teilnahme von Scherbenrichtern, ge-
gen die selbst AusschluBantrage von oppositionellen Mitgliedern
eingebracht sind — seinen AusschluB verhangt hatte. Die
letzte, Mitgliederversammlung, die sehr stark besucht war,
hat zum Zeichen, daB sie den AusschluB nicht anerkennt,
Luschnat die meisten Stimmen gegeben, die uberhaupt
auf einen der Beisitzer-Kandidaten entfielen. Gegen ein Re-
giment von oben, das seiner diktatorischen Machtanspriiche
wegen beseitigt werden soil, kann nur in einiger Kameradschaft
der Unzufriedenen gekampft werden. Kameradschaftliche
Einigkeit aber kann da nicht erreicht werden, wo eine Gruppe
ihrerseits wiederum autoritare Ansprtiche stellt und die Kraft,
die sich als Sturmbock exponiert^ mitten im Kampf allein.lafit.
Um den Kampf igegen eine unbeaufsichtigt schaltende
Klungeldespotie im Hauptvorstand geht es, nicht etwa, wie be-
hauptet wird, um Verdachtigung einzelner Herren. Ich selber
lehne es ausdriicklich ab, mir irgend einen ehrenriihrigen Vor-
wurf gegen Vorstandsmitglieder zu eigen zu machen. Ich unter-
s telle als selbst verstandlich, daB niemand sein personliches
materielles Interesse iiber Verbandsinteressen gestellt hat. Je
weniger die grundsatzlichen Anklagen mit Moraluntersuchun-
gen belastet werden, um so schwerer wiegen sie.
Aus dem Tatsachlichen nur eine kleine Auswahl: Seit
Jahren wurde in der berliner Ortsgruppe um die Anerkennung
als selbstandiger Gau im Verbande gekampft. Diese weitaus
grofite aller Gruppen unterstand namlich in beschamender Ab-
hangigkeit der Vormundschaft des Haupt vorstand es. Sie hatte,
im Gegensatz zu viel kleinern Gruppen in der Provinz, keine
eigne Kassenfuhrung und konnte sogar neue Mitglieder nicht
nach eigner Entscheidung aufnehmen. Es erfolgten Ableh-
nungen durch den Hauptvorstand unter fadenscheinigen Be-
58
griindungen, und 2 war nur in Fallen, die eine Starkung der
Opposition erwarten lieBen. Der Kampf gegen diese Entrech-
tung fiihrte zu so scharfen AuseLnandersetzungen, daB Herr
Robert Breuer of fen mit dem AusschluB der ganzen Opposition
drohte. In der Generalversammlung der berliner Ortsgruppe
am zweiten Marz gelang es endlich, die Mehrheit dafiir zu ge-
winnen, daB Berlin -zum Gau des Verbandes erklart wurde.
Die Vorstandspartei schien es hinzunehmen, Jedoch; Bis zum
heutigen Tage hat das Verbandsorgan von einer so folgen-
reichen Entscheidung iiberhaupt keine Notiz genommen; der
Berichterstatter der Delegiertentagung, der friihere berliner
Vorsitzende Doktor Bohner uberging den Fall mit Stillschwei-
gen, irgendeine MaBnahme, urn den EntschluB praktisch wirk-
sam zu machen, ist nicht erfolgt, Weiter: Bind end e Beschliisse,
die den Vorstand verpflichteten, gegen reaktionare Regierungs-
maBnahmen (Unterdriickung der Meinungsfreiheit und also
Beeintrachtigung der Arbeit vieler Schriftsteller) offentliche
Kundgebungen zu veranstalten, blieben unausgefiihrt, ebenso
ein schon in der vorjahrigen Delegiertenversammlung be-
schlossener Auftrag an den Vorstand, bestimmte Schritte zu-
gunsten solcher Kollegen zu tun, die durch die Ausiibung ihres
Berufs in die Hande der politischen Justiz geraten sind. Die
diesjahrige Delegiertenversammlung war nicht nur hochst
leichtfertig vorbereitet; sie wurde auch von denen, die sie ein-
berufen hatten, durch unzulassige, einseitige und vor den Ber-
linern geheim gehaltene Beeinflussung der Gaudelegierten im
Sinne der Vorstandsinteressen arbeitsunfahig gemacht Durch
hochst bedenkliche Machenschaften wurden die Mehrheits-
beschliisse nach dem Willen der regierenden Gruppe gelenkt,
mit der Wirkung, daB die Opposition, darunter fast samtliche
berliner Delegierte undt alle Fachgruppen-Vertreter, den Saal
verliefien und die weitere Mitarbeit verweigerten. Danach erst
lenkte man ein und nahm in Abwesenheit der Antragsteller
einige ihrer Antrage an. Die groBe Mehrzahl der Antrage je-
doch kam iiberhaupt nicht zur Verhandlung, und wenn die an
diesem Ergebnis Schuldigen immer wieder in den Zeitungen er-
klaren, im SDS sei alles in Ordnung, nur ein Haufen links-
radikaler Stankerer in Berlin erschwere die Arbeit, so ist fest-
zustellen, daB nach dem Verlauf der Hauptversammlung zwei
Gaue beschlossen haben, dem derzeitigen Vorstand die Bei-
trage zu sperren. Endlich: in der allerletzten Zeit hat der
Hauptvorstand in Gemeinschaft mit dem nicht beauftragten
Vorstand der Fachgruppe der Presse-Mitarbeiter statuts-
widrig und hinter dem Riicken der Mitglieder ein Ubereinkom-
men getroffen, wonach die Fachgruppe mit ihren hundertneun-
zig Mitgliedern gegen Zusicherung bestimmter Vergunstigungen
durch ein Kartellreglement aus dem SDS ausscheiden soil. Bei
einer derart kraB verbandsschadigenden Abmachung der Ver-
bandsleituhg kann nur der Gesichtspunkt entschieden haben,
die Opposition so empfindlich wie moglich zu schwachen. Die
Angelegenheit ist naturlich noch nicht erledigt.
Hat man bei solchem Belastungsmaterial noch notig, die
vollig unklare Kassenlage im Verbande verwunderlich zu fin-
den oder gar kriminell zu deuten? Nein, und hier liegt des gan-
59
zen Ratsels Losung. Der Verband lebt nicht von seinen Bei-
tragen und gelegentlichen Spenden privater Gonner sondern
in ho hem Mafic von Subventionen aus alien moglichen Mini-
stcricn und behordlichen Kanzleien. Handclte cs sich nur um
einen gesetzlich festgelegten Fonds aus dem Kultusministe-
rium, so ware das einfach der Unterstiitzung ctwa der Volks-
btihne aus offentlichen Mitteln gleichzuerachten, wennschon
immer noch Griinde genug da waren, lieber auch darauf zu
verzichten. Der SDS abcr erhalt Zuwendungen aus derReichs-
kanzlei, aus dem preufiischen Inhenministerium, aus wer weiB
was fur Kassen sonst noch. Niemand weiB, wie hoch diese
Zuwendungen sind, niemand erfahrt, in welcher Form sie er-
beten und gewahrt werden. Wenn immer wieder dunkle Po-
sten im Etat des SDS auftauchen, die zu allem moglichen Ge-
munkel AnlaO geben, so kann man nicht einmal wissen, ob
nicht vielleicht die Beschaffung von Subventionen selbst Aus-
gaben, natiirlich finanziell durchaus lohnende, erfordert. (Ich
will nicht sagen, daB ich das vermute; es soil blofi gezeigt
werden, was fiir Vermutungen bei der finanziellen Geheim-
politik des SDS moglich werden.) Die Herren des Vorstands
versichern glaubhaft, daB die Hergabe von Geld an den Ver-
band noch niemals von irgend einer offentlichen Stelle an ir-
gend welche Bedingung gekniipft worden sei. Aber das ist
auch gar nicht notig. Trotzdem ist man berechtigt zu denken,
daB der Polizeiminister den Schriftstellern zuliebe seinen Etat
nicht belasten wird, wenn er nicht mit der Wurst nach der
Speckseite werfen wilL Ich halte es fiir zweifelhaft, ob alle
Zuwendungen in voller Hohe weiter bezahlt worden warent
wenn der Schutzverband nach dem Willen der Opposition
dauernd Alarm geschlagen hatte gegen die Kulturreaktion, ge-
gen das klerikale Regiment im Staate, gegen alle die Dinge,
die die Freiheit des Geistes beschranken; wenn er die sozia-
len Ungerechtigkeiten der Briiningschen Gesamtpolitik im
Bunde mit den iibrigen armen Bevolkerungsschichten durch
Beteiligung an und Veranlassung von Massenprotesten laut
beim Namen genannt hatte. Es braucht kein Wort weiter dar-
iib«r verloren zu werden, daB die Erbittung und Annahme von
Subventionen fiir eine wirtschaftliche Vereinigung verpflich-
tend und damit entwiirdigend ist. Kein Mensch wird aber
auch daran zweifeln, daB der Hauptvorstand, der so zah auf
seinem Posten sitzt und der so rigoros mit der Opposition ver-
fahrt, das in dem guten Glauben tut, nur so den Verband le-
bensfahig erhalten zu konnen. Denn nur er fiihlt sich — und
wahrscheinlich mit Recht — in der Lage, dank bester Be-
ziehungen aus den verschiedenen Staatskassen soviel heraus-
zulocken, daB der SDS halbwegs leben kann,
„Wie wollt Ihr die Organisation vor der Pleite schutzen,
wenn ihr aus lauter Charakter keine staatHchen Zuwendun-
gen haben wollt?" ' Bei jeder Auseinandersetzung fragen uns
die Herren das. Der § 1 der Verbandssatzungen bezeichnet
den SDS in Klammern als „Gewerkschaft Deutscher Schrift-
steller", Gibt es eine Arbeitergewerkschaft, die sich vom
Staat aushalten laBt, um den Kampf gegen die Ausbeutung zu
fiihren, die zu schiitzen die wirkliche Aufgabe des Staates
60
ist? Die Mittcl, die den Arbeitern zu Gebote stehn, urn die
gemeinsamen Interessen zu wahren, solltan vielleicht auch fiir
mehrere tausend Angehorige eines freien Beruies anwendbar
sein. Die Schriftsteller wiirden die notwendigen Beitrage nicht
zahlen konnen und wollen? So wie der Verband jetzt ist,
konnte er allerdings auf freudige Opfer seiner Mitglieder
schwer hoff en, Ein Verband Ausgebeuteter — und wie driickend
die Ausbeutung der Autoren und der Journalisten durch
die Buch- und Zeitungsverleger ist, davon macht sich der
Fernstehende schwerlich einen Begriff — muB Wirkung sehn
in der Arbeit seiner Interessenorganisation, um ihre Erhaltung
nicht als Opfer zu empfinden. Solche Wirkung wird nicht er-
setzt durch eine gelegentliche Rechtsberatung und allerlei ge-
lenkige Diplomatie. Am wenigsten wird Opferfreudigkeit da-
durch erzielt, daB die Leitung des Verbandes Methoden an-
wendet, die denen zum Verwechseln ahneln, denen der Aus-
gebeutete die Hauptschuld an seinem Elend beimifit. Um
deutlich zu sein: das Verfahren der Breuer-Clique im Schutz-
verband, ebenso wie das der Wallauer-CIique in der Biihnen-
genossenschaft (in den Verbanden der Musiker und der bilden-
den Kiinstler soil es ganz ahnlich sein, nur daB sich dort an-
scheinend noch keine starke Opposition hervorwagt) ent-
spricht der allgemein bemerkbaren Tendenz zur Fascisierung
des politischen und wirtschaftlichen Lebens: alles Gute durch
Zwang von oben; was gut, was schlecht ist, wird oben ent-
schieden; wer etwas dagegen hat, wird — hier bildlich, dort
tatsachlich — totgeschlagen.
Die berliner Ortsgruppe des SDS hat dieser Tage auf
Vorschlag der verexnigten Opposition Herrn Jakob Schaffner
zu ihrem Vorsitzenden gewahlt Das ist geschehen, weil sich
Herr Schaffner auf der Hauptversammlung im Mai zu einer
grundlegenden Erneuerung der geistigen Prinzipien des Ver-
bandes bekannt hat Er will, daB die Schriftsteller ihre In-
teressen, ihre geistige Haltung und ihre kulturelle und kiinst-
lerische Mission einheitlich und in gemeinsamem Kampfe pfle-
gen. DaB er das auf dem Boden einer auf sich selbst gestell-
ten Gewerkschaft erreichen will, sicherte ihm das Vertrauen
der Mehrheit. Worauf wir aber — dies ist meine Ansicht —
hinstreben miissen, ist, iiber die Gewerkschaft hinauszugelan-
gen undunsrer geistigen Solidaritat die Form der sozialen Ge-
nossenschaft zu geben. Eine Autoren- Verlagsgenossenschaft,
die unsre Abhangigkeit vom kapitalistischen Verleger zerreiBt,
ist keine Utopie, sondern eine Aufgabe iiberzeugten Willens.
Genossenschaftliche Verbindung der Dramatiker. mit. den Biih-
nenkiinstlern, der Biicherschreiber mit den Illustratoren, der
Maler, Musiker, Bildhauer, Tanzer, aller Art Kiinstler zur ge-
meinsamen Aufnahme ineinanderfliefiender Arbeit — das ware
ein Ziel, das jedes Mitglied der Schriftsteller- oder der Schau-
spielerorganisation gern bereit machen wiirde, von seinen spar-
lichen Einnahmen die hungernden Kollegen iiber Wasser hal-
ten zu helfen und einer Zukunft Steuern zu zahlen, die den
Geist der Freiheit und des Sozialismus in den Aufgabenkreis
des Schrifttums und der Kiinste riickt.
61
Wiedersehen mit England von won zucker
T\ as PaBbuch hatte einige neue Stempcl bekommen, nachdcm
man zahllose uberflussige Fragen des ncugierigen Immi-
gration. Officers beantwortet hatte, durch den Zoll war man
ohne Aufenthalt gekommen, und damit waren die Barrieren ge-
offnet, die dem Fremden den Eintritt auf ndas griine Eiland in
der Silbersee" erschweren. Da .war nun wieder England, wol-
keniiberhangen und dunstig in der Kiihle des friihen Morgens.
Wie auf geolten Schienen gleitet der Zug dahin, voriiber an
Schafherden, die wohl im Freien iibernachten, an Hopfengarten
und erwachenden kleinen Fabrikstadten, iiber denen weiBe
Rauchwolken gegen den grauen Himmel stehen. Die Land-
straBenj Ziehen sich glatt und schwarz neben der Eisenbahn
nach Westen, London entgegen. Und da war sie wieder, diese
einzigartige Stadt unter dem diffusen Licht einer weiBen Sonne,
die Bahnhofe, die wie Kathedralen gebaut sind, die StraBen mit
kilometerweit gleichen Hausern, die roten Omnibusse, die klap-
pernden Pferdefuhrwerke am friihen Morgen und die Ausrufer
fur Zeitungen, Kohle und Milch, Die mitteleuropaische Zeit
hatte ihre Qultigkeit verloren, sie war der Uhr des Big Ben um
einige Jahrzehnte voraus, und vom Kontinent hatte man keine
nahere Vorstellung als von Japan oder der Tiirkei,
Hatte sich viel in London verandert gegen fruher? Man
kam nicht dazu, sich solche Frage zu stellen, denn all diese
Hauser, alte und neue, standen da so fest und iiberzeugend,
daB es keinen Zweifel an ihrer Notwendigkeit von eh und je
geben konnte. Jawohl, die Bank hat eine neue Fassade be-
kommen, aber von der alt en ist sie kaum zu unterscheiden; ge-
wiB, viele Gebaude werden aufgerichtet, in Fleetstreet sind sie
noch immer nicht fertig mit den Neubauten der Zeitungs-
palaste, am Themse-Ufer baut sich der Englische Rundfunk, die
BBC, ein RenaissanceschloB, in alien Stadtteilen arbeiten rie-
sige Krane an neuen Geschaftshausern. Aber noch wahrend
des Bauens bekommt der neue Stein die weiBgraue Farbe der
altern Hauser, und wenn das Gebaude fertig ist, so sieht es
in seinem zeitlosen Mischmasch-Stil von Renaissance, nor-
mannischer Gotik und Eisenbeton so aus, als habe es immer da-
gestanden* Eine Katze wandert vom breiten Gesims des Nach-
barhauses auf den Neubau hinuber, halt Mittagsruhe in der
diinnschattenden Sonne, und damit ist der neue Bureaupalast
aufgenommen in die Gemeinschaft Londons.
Ja, es ist diese Fahigkeit, dias Neue sofort und reibungs-
los aufzunehmen in das gewohnte Alte, die Fahigkeit zu den
fruchtbaren Kompromissen, die das Leben in England so an-
genehm macht. Natiirlich gibt es Neuerungen, angefangen vom
Familienbaden im Serpentine bis zum gitterlosen Naturzoo in
Wipsnade, vom Dorchester Hotel, der teuersten Wohngelegen-
heit der Welt, bis zu den groBartigen Rolltreppenanlagen im
Untergrundbahnhof Piccadilly Circus- Aber das alles ordnet
sich sogleich ohne Schwierigkeit ein in die Gesamtheit Lon-
dons mit seinen alt en Ho fen im Queen Anne-Stil und seinen
fiinfzig Barockkirchen. Da gibt es jetzt in ganz England pracht-
62
voile Autobusverbindungen durch das Land, taglich verkchrcn
von London aus fahrplanmaBig dirckte Wagcn nach Schottland
und nach Wales, nach dem Industrierevier und nach Cornwall,
die, kaum teurer als die Eisenbahn, auf den wunderbar ge-
pflegten Chausseen das schonste und modernste Verkehrsmittei
darstellen. Aber diese Errungenschaft der modernen Technik
verbindet sich sofort mit dem alten Stil der Oberlandfahrt:
Alle paar Stunden halten diese Luxusomnibusse in dem Hof
eines alten, elisabethanisch anmutenden Gasthofs, um den Rei-
senden Zeit fur eine Mahlzeit am braunen Holztisch zu geben,
genau so wie friiher die Postkutschen in den Inns haltmachten,
um die Pferde zu wechseln. Noch heute tritt der behabige Wirt
des f,Red Bull Inn" oder des „Golden Lion" vor die Tiir, gleich-
sam um die ankommenden Reisenden freundlich aufzufordern,
an seinem Tisch mit dem einfachen Mittagsmahl des Landes
vorliebzunehmen.
So konnte man also jahrelang von England abwesend sein
und bei der Riickkehr kaum etwas verandert finden. Es ware
leicht und gradezu eine Versuchung, sich stets aufs Neue in
die Weite der Parks, in die stillen StraBen von Westminster,
in den Menschen- und Autostrom von Oxfordstreet zu verlie-
ren, man konnte wieder Wochen zubringen, ohne mehr zu
sprechen, als notig ist, um im Restaurant oder in der Teestube
seine Mahlzeiten zu bestellen; als stets unbeachteter Fremder
wiirde man in der Riesenstadt untertauchen und von den Fort-
schritten der Kultur, von Hakenkreuzpartei und Schienen-
zeppelin, von Ozeanfliigen und Hoover-Plan nicht mehr bemer-
ken als die ,fstunts" der Zeitungshandler.
Und doch gibt es ja eine Weltwirtschaftskrise, von der
England nach den Zahlenangaben der Handels- und Arbeits-
marktstatistik nicht weniger hart betroffen wird als wir. Man
hort Mitglieder der obern Mittelklasse — sie wiirden bei uns
als reiche Leute gelten — sich bitter beklagen, daB sie ihre
Treibhauser nicht mehr aufrechterhalten konnen, man hort von
den Zeitungsleuten, welche miserablen Honorare die Blatter
jetzt anzubieten wagen, man sieht, wie die Geschafte fiir jeden
Preis ihre vollen Lager, Kleidung, Schuhe, Lebensmittelkon-
serven, loszuwerden versuchen, aber dies alles ist ja noch ein
Anfang. Was Not heiBt, die taglichen Hungerkrawalle, drei-
fache Polizeiposten, die verzweifelten Massen vor den Arbeits-
nachweisen, das kennt man in England noch nicht, Aus den
unerschopften Reserven dieses Landes, in dem sich schlieBlich
einmal der Reichtum der ganzen Welt konzentrierte, flieBen
vorlaufig noch genug Mittel, um durch die gegenwartige Krise
hindurchzuhelien. Die Kaufleute, die Wirtschaftstheoretiker
allerdings sehen schwarz, ihr Pessimismus gilt nicht diesem
Jahr oder dem nachsten sondern der ganzen Zukunft Englands.
Sie sehen die Tage herannahen, wo die Vorrate der viktoriani-
schen Zeit an Lebenskraft, an Behauptungswillen und auch an
Reichtum aufgebraucht sein werden und wo man auch an den
vielleicht neu einsetzenden Weltkonjunkturaufschwung keinen
AnschluB mehr finden wird. Aber das ist Theorie, zwar un-
widerleglich in den Argumenten aber fiir den Augenblick noch
nicht unmittelbar beangstigend. Die allgemeine Parole ist
63
augenblicklich von der Vokabel MprewarM beherrscht. Kon-
sumartikel werden zu Vorkriegspreiscn angeboten, vorkriegs-
maBig sollen die Qualitaten von Stoffen, Lederwaren, Tabaken
und sogar Lebensmitteln sein, und den Darbietungen einer
Music Hall, eines Zirkus oder eines Varietes kann kein besse-
res Lob- gezollt werden, als daB sie T,prewarlike" seien,
Diese Idealisierung der Zeit vor 1914 kennzeichnet das
Wesen der englischen Krise recht deutlich. Man mochte die
siebzehn Jahre, die auf den dritten August folgten, am liebsten
ausstreichen, und man hat doch wohl noch nich-t die Moglich-
keit zu andern Zielsetzungen als historischen, Man steht in
England den Ereignissen dieser Tage beinah noch ratloser
gegeniiber als bei uns, man weiB nur, Mvor dem Kriege" war
alles besser, und man sieht auch noch nicht ein, dafi those good
old days wohl fur immer vorbei sind. Bei andern Volkern
wiirde auf solche Ermudungszustande als Reaktion der Fascis-
mus folgen. Den gibt es in England zwar auch, aber er ist eine
Angelegenheit der Intellektuellen, der „highbrows". Die Blau-
hemden des alten Reaktionars Locker Lampson, die jetzt wie
eine Art Heilsarmee mit viel Tamtam und Jazzkapellen von
sich: reden zu machen versuchen, rekrutieren sich aus der in-
tellektuellen Jugend Englands, die zwanzig Jahre spater als
der Kontinent die gefahrlichen Schriften Nietzsches kennen zu
lernen beginnt. Huxley hat in seinem Roman „Point counter
Point'* diese aufgedonnerten „Herrennaturen", ihre Phraseo-
logie von der Herrschaft der Besten, von der Sicherung des
Eigentums urid vom ,,richtigen Mann am richtigen Platz" so
exakt gezeichnet, daB alles das, was sich da heute bei den
highbrows tut an Antiparlamentarismus und kindlicher Uni-
formfreude wie nach dem Vorbild dieses kritischen Romans ge-
arbeitet wirkt. ScbiuO fol^t
In Wirklichkeit aber ... von Martin Kessei
rjumm wie eine Tatsache, Diesen Satz, den durch die Jahrhunderte
*^ zu erhalten sich lohnt, fand ich, bestiirzt wie uber eine unfrei-
willige Entdeckung, in einer Erzahlung von Gorki, und dieser hat ihn
aus Balzacs „peau de chagrin". Er ist fur Zeiten, wo jeder Unfug
Gelt iing gewinnt, sofern er Tatsache geworden ist, aber auch im Hin-
blick auf die partielle Unwiderlegbarkeit einer Idee, auBerordentlich
gesund. Dumm wie eine Tatsache.
*
Meist ist die Tatsache nur der Spitzel einer Idee.
*
Mut haben heiBt: einer Gefahr ins Auge sehn, meinetwegen, mit
ihr rivalisieren; nicht aber, an Hand der Gefahr sich mutig auf-
spielen; oder gar, die Gefahr als Schnaps benutzen, urn Mut zu er-
zeugen. Diese letztern Dinge sehen einer theatralisch-soldatesken
Zuflucht sehr ahnlich; sie fallen unter die Rubrik: bornierter
Heroismus.
Wenn Hitler verurteilt wird, sehen wir uns nicht wieder! Er
wurde verurteilt, und sie sahen sich wieder. Das nenne ich promptes
Heldentum,
64
Als in meiner Geburtsstadt, urn die Helden der Technik zu feiern,
bei einer Flugveranstaltung auch ein Zwischenflug fur die Vertreter
der Presse arrangiert wurde — sag, was ereignete sich da? Kaum
dafi er hoch war — entsetzlich! — stellte sich dem Berichterstatter
das Geftihl des Erhabenen ein.
*
Das ist neuf dafi sich der Mensch in unserera Jahrhundert auch
an Stroh den Schadel einrennen kann. 0 wunderbare Erkenntnis :
ehern wie Stroh. ^
*
Seit in Deutschland „Charakter haben" identisch ist mit dem
trottelhaften Bewufltsein: Ich verstehe die Welt nicht mehr! — sind
der finsteren Elastizitat, moralisch gesprochen: der Korruption, alle
Turen geoffnet. Nichts wird nicht mehr verstanden. Man halte die
Hand hin, und es wird eine Taube sich finden, die sie bekleckert.
Eine Hand deckt die andre — ein Vorgang, der als Photographie
in heldenhaftem Deutsch die Unterschrift truge: Begriifiung und Treue-
gelobnis zweier Manner, der Retter des Vaterlandes.
*
Gewifi, eine Null ist eine Null — da gibts keine Hilfe. Aber dafi
tausend Nullen, die aufierstande sind, eine positive Zahl zu gebaren,
nichts anderes als nichts seien — das glaube, wer mag. Eine multi-
plizierte Dummbeit wird allmahlich borniert, und die multiplizierte
Borniertheit blaht sich, platzt und wird katastrophal. Nicht immer ist
das Ergebnis dieser Katastrophe gleich Null; und darin eben zeigt
sich die Philosophie der Null.
Es scheint mir so — und wer verbietet mir, es zu glauben? —
als sei das Alter ein Zustand, der sich nicht allmahlich ergibt wie
etwa die Verwesung sondern im Gegenteil einer, der von Geburt an
sich festgesetzt hat im Menschen, sich im Kind schon vollendet — ein
Zustand also, den das Leben mit Hilfe der Jahre lediglich sichtbar
werden lafit, pragt, wie man sagt, und der am Ende iibrig bleibt als
der zaheste. Spricht nicht der Atavismus kindlicher Spiel e und das
kindische Gekritzel der Greise fur diese Deutung?
Alter haben oder nicht, ware demnach ein Charakterzug. Folg-
lich stiirben auch manche Menschen, fruhvollendete zumal, deshalb so
jung, trotz der Bliite ihrer Fahigkeiten, weil es ihnen an Alter man-
gelt. Andererseits: ist nicht, als warnendes Beispiel, der steckenge-
bliebene ewige Jungling ein phantastischer Verrat am Alter?
Paradigma:
Alt war er dreiundzwanzig; seine Melancholie indessen war acht-
zig; seine Skepsis, in ihren besten Momenten, schatzte er auf funfzig;
seine Erotik schwankte jeweils von zwei iiber fiinfzehn zu dreifiig.
Und seltsam, diese Jahre blieben konstant.
*
Die Menschen leiden an den Vorstellungen, die sie sich vom
Leben gemacht haben, und sie sind in den seltensten Fallen zu Korrek-
turen geneigt, Lieber sagen sie, in die' Enge getrieben: „Es mag ja
falsch sein, aber mein Gefiihl gibt mir recht." Auf diese glanzende
Weise gelingt es, selbst die Irrtumer als kostbaren Besitz zu hiiten
und jederzeit rettungslos verliebt in Vorurteile zu sein. Kaum ist
es glaublich, jedoch es ist unterhaltsam, dafi der Mensch nur
ungern nach Erkenntnissen lebt und dafi er selbst die Dummbeit ent-
schuldigt, einer vorgefafiten Meinung zuliebe. Diese ist das Primare,
sie ist sofort da; und erst allmahlich beginnt er an ihr seine Ab-
striche zu machen, seine Erfahrungen, wie er das nennt.
65
Ach wie komisch ist doch ein Menseh, der sich auf seine Er-
fahrungen beruft! Sieht nicht ein jeder ihm an, dafi ers nur darauf
angelegt hat, eine vorgefafite Meinung durch allerlei Tatsachen zu er-
harten?
Ja und so kommts, dafi im gewohnlichen Leben die Wirklichkeit
tiberhaupt problematisch sein kann, weshalb sich auch — pst,„ unter
uns gesagt — die Formel herausgebildet hat: in Wirklichkeit aber . . .
Welt ffir Manner von Alice Ekert-Rothholz
p s gibt eine Welt, die die Manner sich bauen.
Urn die Ecke beginnt dann die Welt mit den Frauen , . .
In der Welt fur Manner herrscht herzliche Kiihle.
Keine Vernebelung der Gefiihle!
Man kann sich von Mann zu Mann aufrichtig trauen,
Ohne die albernen und ermiidenden und verlogenen Schwure —
Schwure gehoren zur Welt mit den Frauen ...
Die Welt fur Manner kann Deutsch vertragen.
Da kann man fur Scheibe Scheibe sagen,
Man darf gahnen, sich vollsaufen, brullen, auch hauen.
Ohne sich hinterher verschiedentlich deswegen zu entschuldigen
Sich entschuldigen gehort zur Welt mit den Frauen . . .
Welt fur Manner heifit: Welt ohne seidenen Zauber.
Die Dinge sind hart, michtern, salzig und sauber.
Man ist einzeln. Man will die Gedanken ausbauen.
Statt ein festes Heim mit weichem Doppelbett zu griinden —
Feste Heime gehoren zur Welt mit den Frauen ...
Welt fur Manner heifit: nicht iiber Liebe reden.
Man ist fur geschlossene Fensterladen.
Man mag nicht das Beste in Worte zerkauen.
Man kann beispielsweise rauchen und gemeinsam davon schweigen .
Edler Schmus gehort zur Welt mit den Frauen.
Welt fur Manner ist: Kampf urns Ziel. Mit Gefahren!
Und man ist sich sogar iiber Beides im Klaren. v
Man kann Gegner zertrummern, Systeme zerhauen,
Ohne es hinterher mit dem Ausdruck des Bedauerns zu bedauern
Es bedauern gehort zur Welt mit den Frauen . . .
Welt fur Manner!
Man kann sie nicht „Mannerwelt" nennen.
Denn ein Teil der Manner lernt sie nie kennen,
Ein Teil der Manner wtird sich nicht trauen . . .
Denn ein Teil der Manner sind keine Manner!
Sondern:
Sehr mannlich verkleidete Frauen.
66
Die Schlagerindustrie itn Rundfunk
von Herbert Connor
LJier handelt es sich nicht urn die Klassifizierung in crnste
und leichtc Musik, nicht urn Probleme des ,,Zeitge-
schmacks", des ,,erh6hten Musikkonsums" und ahnliche as-
thetisch-soziologische Dinge — hier handelt es sich einfach dar-
umr daB eine Industrie, die auf gewisse kulturfeindliche Stre-
bungen unsrer nervenzerstorenden Zeit spekuliert und die
leichte Schlagermusik dazu benutzt, um sich. in einer Zeit all-
gemeinen wirtschaftlichen Niederganges eine ungeheure Macht
iiber das Gebiet der gesamten Weltmusik zu schaffen, daB
diese Industrie eine so offentliche Institution wie den Rundfunk
ihren Sonderinteressen vorspannt, Wenn man bedenkt, daB
jahrlich etwa fiinftausend Schlager in Deutschland erzeugt wer-
den und daB diese Schlager in Hunderttausenden von Exem-
plaren nach einem sorgsam ausgearbeiteten System an Ka-
pellen, Sanger* gastronomische Betriebe, Schallplattenfirmen,
Tonfilmgesellschaften und Rundfunkstationen verschickt wer-
den, so begreift man, was iiir eine Gefahr fiir den Geschmack
der breiten Masse eine solche systematische Oberflutung mit
minderwertiger Unterhaltungsware bedeutet. DaB dieser Ge-
schmack von Natur aus schlecht ist, ist eine Luge der Produ-
zenten. Verfolgt man die Emsigkeit, mit der diese Kreise
ihren Schund propagieren, dann wundert man sich nicht mehr
iiber die sich immer mehr vergrobernde Geschmacksrichtung.
Einer der wichtigsten Faktoren in der Wahrscheinlich-
keitsrechnun^ des Schlagerverlegers ist die Propagierung
seiner Erzeugnisse ddrch den Rundfunk. Verbindungen mit
den dort maBgebenden Beam ten und regelmaBig beschaftigten
Kapellen und Sangern zu scKaffen, gehort zu den Hauptauf-
gaben der Schlagerpropaganda.
Als vor Jahren die Belagerung des Rundfunks durch die
Schlagerindustrie begann, lagen die Verhaltnisse noch wesent-
lich schwieriger als heute. Geiang es beispielsweise einem
Verlag unter groBen Anstrengungen, einen Refrainsanger
abends in den Senderaum hineinzulancieren, so kostete ihn das
etwa fiinfzig Mark pro Nummer, Inzwischen ist der Kurs fiir
Refrainsanger dank gesteigerten Angebpts wesentlich gef alien:
fiinfr Mark sind heute der durchschnittliche Tarif.
Prominente Schlagersanger allerdings entlohnt man auf
andre Art und Weise. Damit sie recht HeiBige Propaganda
treiben, iiberlaBt man ihnen einen Anteil an den Auffuhrungs-
rechten. So erscheint nachstens ein Schlager, der zwar von
Richard Rillo textiert ist, dessen Schlagzeile „Wenn meine Olle
verreist ist" aber vom Rundfunksanger Leo Monosson stammt.
Man sieht, es ist heute nicht so schwer, zum Dichter zu avan-
cieren. Wenn man Gliick hat, kommt man dabei sogar in eine
Schatzungskommission der GEMA.
Was am Rundfunk friiher nur inoffiziell unter Benutzung
verschiedenster Hintertiiren moglich war, ist heute zu einer
Art Selbstverstandlichkeit geworden. Der Siiddeutsche Rund-
funk in Stuttgart und Frankfurt hat beispielsweise seine festen
67
Saize fur sogenannte Schlagerstunden, die jeder Verlag sich
kaufen kann. Der Preis schwankt zwischen drcihundcrt und
fiinfhundert Mark. Skandalos ist dabei, daB cine solche
Schlagerstunde nicht etwa als Werbesendung gekennzeichnet
wird sondern das offizielle Programm fullen hilft. Dcr Rund-
funk schlagt so zwei Fliegen mit einer Klappe. Dcr Leid-
tragende ist dcr Horer, dcr das zweifelhafte Vergnugen hat,
sich die ganze Produktion des Schlagerfabrikanten in Bausch
und Bogen anhoren zu miissen.
Ohne Obertreibunig kann man sagcn, daB ncunzig Prozent
dcr Schlagermusik, die am Rundfunk gespielt wird, von Ver-
legern bczahlt und zusammengestellt ist. Wenn nicht direkt,
so indirckt. Es gibt Mittel genug, sich die Kapellmeister zu
verpflichten. Das beliebteste ist, von ihnen Schlagernummern
zu erwcrben, fur die man, auch wenn das Stuck niemals cr-
scheint, hohe Vorschiisse zahlt. Der Meisel-Nachmittag bei-
spiclsweise, dcr kiirzlich vom breslauer Rundfunk gesendet
wurde, war die Quittung f lir einen solchen GeschaftsabschluB.
Von den Schlagerverlegcrn ist es bcsondcrs zweien ge-
lung«n, sich den Rundfunk fur ihrc privaten Spekulationen zu
sichern. Es sind dies der Schlagcrkonzern Alberti und die
Firma Meisel, deren Inhaber auch beide als Komponisten und
Textdichter verantwortlich zeichnen. (Eine nahere Erklarung
dariiber stand in Nummer 21 der .Weltbuhne'.) Dcr Verlag
Meisel hat als einer der ersten die ungeheure Bedeutung des
Rundfunks fiir die Schlagcrindustrie erkannt. Nicht umsonst
nennt man in einjgeweihten Kreisen die Rundfunkkapelle Kerm-
bach die ^Meiselsche Hauskapelle". Auch seine enge Liierung
mit dem berliner Ansager, die in verschiedenen Widmungen
ihren Ausdruck gefunden hat, ist sprichwortlich geworden.
Noch cinfluBreicher ist das Haus Alberti. Kein Wunder, wenn
man bedenkt, daB diese Firma, vertreten durch die Person des
Herrn Robinson, einen regelrechten Schlagertrust darstellt.
Nicht weniger als sechs Verlage sind ihm angegliedcrt: Alrobi,
Semia, Monopolliedervcrlag, Charivari, Ufaton und Drei-Mas-
ken- Verlag. Der EinfluB dieses Trusts geht so wcit, daB ein
Angestellter der Firma, ein Verwandter des ebenfalls im Rund-
funk beschaftigten Herrn Scheibenhofer (lies: Schlagerkompo-
nist Germann) gleichzeitig im Rundfunk beschaftigt ist und dort
die Platten auswahlt, die am Vormittag zur Sendung gelangen.
Man sieht, fiir Propaganda ist genugend gesorgt. Wer
sich daraufhin einmal die Schlagerprogramme des Rundfunks
nach vorheriger Orientierung, wo die. verschiedenen Stiicke
verlegt sind, anhort, wird sein blaues Wunder erleben.
All diese Dinge waren natiirlich nicht moglich, wenn nicht
an leitender Stelle ein Mann saBe, der selbst das groBte Inter-
esse an der Forderung der Schlagerindustrie hat. Dieser
Mann ist der Textdichter Karl Wilczynski, durch dessen Hande
samtliche Schlagerprogramme der deutschen Rundfunk-
stationen gehen. Herr Wilczynski benutzt seinen Posten in
erster Linie dazu, um fiir sich selbst moglichst hohe Auffiih-
rungsziffern herauszuschinden. In jeder Schlagerveranstaltung
wird man vier bis fiinf seiner Nummern eingelegt finden. Ins-
68
bcsondcre die bunten Sonnabendabende sind reine Propaganda-
veranstaltungen des Herrn Wilczynski und seines Mitarbeiters
Scheibenhofer, der inzwischen von der Funkstunde wegen allzu
offensichtlicher Bestechung entlassen worden ist-
Auch sonst steht Herr Wilczynski entschieden auf dem
Standpunkt, daB Beschejdenheit, zumal im Rundfunk, eine
falsche Zier sei und daB Gott einem ein Amt gegeben habe,
damit man fur sich moglichst viel Kapital daraus schlage. Jede
Woche wird man irgendwo im Reich eine Sendung entdecken,
die ausschlieBIich der Produktion von Wilczynski gewidmet
ist- Meist laufen diese Veranstaltungen unter dem Titel eines
seiner Schlager. Am Pfingstsonnabend um acht Uhr abends,
also zur Hauptzeit, wurde in Berlin ein „Vortrag" gesendet;
„Haben Schlager kiinstlerischen Wert?" Dieser Vortrag be-
stand aus etwa zwolf Schlagern, davon die Halfte Wilczynski-
nummern, und einem unglaublichen und albernen Geschwatz*
mit dem Herr Wilczynski sein Kunstgewerbe zu verteidigen
sich bemiiBigt fuhlte.
Man begreift, wie sehr es unter solchen Umstanden den
Kreisen, die an der urheberrechtlichen Ausbeutung von Schla-
gern interessiert sind, um einen Mann wie Wilczynski zu tun
ist, einen Mann, von dem es im Rundfunk heiBt, daB alles
zittere, wenn er hustet. Ungesehen druckt man seine Num-
mern, die Tonfilmindustrie reiBt sich die Beine nach ihm ausf
denn: ,,Wer Wilczynski hat, hat auch die Rundfunkpropa-
ganda". Was fiir ein dickes Aktienpaket muB hinter einem
Mann stehen, der bei so eklatantem MiBbrauch seiner Stellung
im Rundfunk zu personlichen Zwecken bisher nicht zu sturzen.
gewesen ist.
Sehr verehrter Herr Intendant Resch, wir alle wissen
Ihren kiinstlerischen Idealisinus zu schatzen und sind uns der
Schwierigkeiten einer Programmgestaltung wohl bewuBt, die,
ohne ihre hoheren Aufgaben aus den Augen zu verlieren, ihr
Hauptaugenmerk auf Unterhaltung legenmuB. WederSie, Herr
Intendant, noch ich, werden den Schlager aus der, Welt schaf-
fen. Aber grade deswegen miissen Veranstaltungen dieses
Genres auf ein normales MaB und ein einigermaBen ertrag-
liches Niveau zuriickgeftihrt werden- Es darf nicht sein, daB
sich der Rundfunk zum aus-gesprochenen Handlanger der
Schlagerindustrie erniedrigt,
Wirtschaft am Tage vor der Diktatur
von Sebastian Franck
II
Vom Exportkampi zum Kriege
F^ie Zerschlagung des inlandischen Marktes, der inlandischen
Kaufkraft, ist in vollem Gange. Und wenn man den festen
Angriffswillen der Unternehmerschaft hoher einschatzt als die
muden Abwehrphrasen der Gewerkschaften und der Sozial-
demokratie, so erkennt man, daB der groBe Abbau der Lohne
und Gehalter erst beginnt.
69
Das heifit: von Tag zu Tag — ttnd so fort in alle absehbare
Zukunlt — kann das deutsche Volk immcr wcnigcr Waren kau-
fcn, kann cs sich sclbst immer wcnigcr Beschaitigung verschaf-
i en. Damit gehen doch aber die Umsatze sowie die Profite der
Unternchmer immcr weitcr zuruck, so daB cs auf den erstcn
Blick nicht ganz verstandlich erscheint, warum die Hcrren In-
dustriellen sich ihr eignes Grab graben! Keine Angst, sie tun
cs nicht, zum mindestens beabsichtigen sie etwas ganz andres
als die Verminderung ihres Absatzes und Profites, wenn sie
die Lohne und Gehalier ihrcr deutschen Kaufer verringern: sic
beabsichtigen namlich, ihre Waren in ricsigen Mengen im Aus-
lande abzusctzen; sic beabsichtigen, durch die Scnkung der
heimischen Produktionskosten — lies: Lohne und ,,Sozial-
lasten" — ihren auslandischen Konkurrenten die Markte ab-
zujagen, die der Gott, der Eisen wachsen HeB, ja ohnchin in
semen urspriinglichen Planen fur die deutschen Herren reser-
viert hatte. Auf diese Weise lassen sich erstens die Verdienstc
allmahlich noch weit liber das hinaus steigern, was man aus
einem „normalen" Verbrauch einigermaBcn gut cntlohnter hei-
mischcr Arbeiter und Angestellter heransholen konnte, Zwei-
tens aber ist jeder groBc Lieferungsvertrag mit dem Auslande,
jeder Konkurrenzerfolg gegen die Fabrikanten andrcr Staaten
ein t1nationaler Erfolg"; ein VorstoB aus dem )tzu engen deut-
schen Raum" heraus.
Ein wirklich guter Deutscher aus dem Lager der Unter-
nehmerschaft — und wo anders gibt es ja keine guten Deut-
schen — stellt eben nationalc Geltung und nationale Macht,
stellt die Arbeit fur die Genesung der Welt am deutschen We-
sen und damit die Steigerung des deutschen Exportes viel
hoher als die materialistische Forderung, zuerst den Inlands-
markt zu kraftigen, zuerst den eignen Arbeitern und Angestell-
icn cine menschenwiirdige Warenversorgung zu ermoglichen.
Der gercchte deutschc Gott sorgt schon dafiir, daB ein solcher
patriotischcr Unternehmer nicht durch niedrigere Profite fur
seinen Idcalismus bestrait wird, sondcrn daB auf zweierlei Art
ihm reiche Belohnung fur seine Tugend wird: daB namlich er-
stens seine Knechte, fiir deren Seelenheil er verantwortlich ist,
nicht in die Versuchungen der Oppigkeit und der Schwclgerei
geratcn, sondern daB sie in gottgefalhger Beschcidenheit dahin-
leben diirfen; und daB zweitens reicher Gewinn aus den frem-
den Landern mit ihrer unbegrenztcn Kauferschaft in die Hande
der Mehrer deutschen Ansehens zuriickflieBt.
Nun gibt es aber bose Menschen, die diese patriotischen
Handlungen des deutschen Unternehmers durchkreuzen wollen.
Da sind erstens die bereits erwahnten heimischen Arbciter und
Angestellten, die mittels hoherer Lohne, besserer Soziaileistun-
gen und niedrigerer Warenpreise ihren Verbrauchsanteil am
selbsterzeugten Produkt zu vergroBcrn trachtcn. Diese Geliiste
sind jetzt so grundlich unterdriicktj Lohnabbau, Sozialabbau
und Hochhaltung der Preise sind jetzt so einwandfrei gewahr-
leistet, daB von hicr keine Gefahren mehr drohen. Aber da
sind zweitens die auslandischen Konkurrenten, die dem heiligen
kapitalistischen Unternehmertum deutscher Nation den Rang
70
vor Gottcs Thron streitig machen, die fur sich sclbst die
gleiche Weltmission in Anspruch nehmen, die sich darauf eben-
Ealls mittels Einschrankung ihres heimischen Massenverbrauchs
vprbereitet haben. Sie riisten zu ebensolchen imperialistischen
Kreuzziigen wie die deutschen Unternehmer; unter dem glei-
chen Druck -der Weltkrise des Kapitalismus; mit den gleichen
Mitteln der Lohnsenkung und der Hochhaltung ihrer Inlands-
preise; hinter ebensolchen Zollmauern wie die deutschen Un-
ternehmer sie sich erbaut haben.
So entsteht ein erbitterter Kampf, Scheinbar nur ein iso-
lierter Kampf von Mann zu Mann, zwischen deutschem und
englischem Kohlenbergwerk, zwischen deutschem und fran-
zosischem Wollfabrikanten, zwischen deutschem und a'merika-
nischem Maschinenhersteller und so vereinzelt und zersplittert
zwischen alien erdenklichen Paaren und Gruppen. In Wirklich-
keit aber ein Kampf zwischen viel groBern, zwischen nationa-
len Einheiten, ein Kampf, der Jahre hindurch nur selten ein-
mal in diplomatischen Aktionen, handelspolitischen Verhand-
lungen, internationalen Konferenzen der groBen Masse fur
einen Augenblick erkennbar wird, ein Kampf, der offenbar mit
den militarischen Rtistungen, den Biindnissen, Vertragen und
all den Dingen der „groBen Politik" nichts zu tun hat — bis er
dann eines Tages als der einzige Antrieb hinter all den
Machenschaften der internationalen hohen Politik und der Rii-
stungen erscheint, bis er sich auswachst zu einem Weltkrieg.
Auch das Stahlbad von 1914 bis 1918 war — hinter all den
,fweltanschaulichen"f f)idealen" und ,,kulturellen" Verteidigungs-
phrasen, urn die kein einziges Land verlegen war — nichts
andres als ein imperialistischer Krieg urn die Absatzmarkte.
Wir gehen einem neuen derartigen Kriege entgegen. Die
Weltkrise des Kapitalismus treibt uns in beschleunigtem Tempo
auf ihn zu. Jeder Lohnabbau laBt ihn naher heranriicken. Jede
Vervollstandigung der Diktatuir in dem einen oder andern Lande,
vor allem aber jede Vervollstandigung der deutschen Diktatur,
ist ein groBer Schritt auf dem deutlich vorgezeichneten Weg
zum neuen Kriege, von dem man so viel sicherer weiB, daB er
kommen wird als wie die Parteien dieses Krieges sich gruppie-
ren werden. Denn jede Diklatur muB es als eine ihrer histo-
rischen Aufgaben betrachten, den Export zu fordern, dem In-
land bei Knapphaltung des heimischen Massenverbrauchs Be-
schaftigung und Rentabilitat durch vergroBerten Auslandsabsatz
zu verschaffen — und gleichzeitig den Import zu beschranken.
Vor allem der Import von Lebensmitteln ist den Fascisten aller
Nationalitaten ein Abscheu, da der „Nahrstand", die Landwirt-
schaft, liberall ihre zuverlassigste Basis ist. Forcierung von
Tabrikat-Exporten aber und gleichzeitig Behinderung von Le-
bensmittel-Importen: das bedeutet wachsende Konflikte mit dem
Auslande wie wachsende Klassengegensatze im Inlande. Auch
in dieser Hinsicht kann die Diktatur niemals den Frieden brin-
.gen sondern nur den Krieg. Sie findet auch darin die Arbeit,
die sie aus historischem Zwange vollenden muB, nicht nur be-
.gonnen sondern schon sehr weit gefordert, wenn sie nun end-
;giiltig ihre unbeschrankte Herrschaft antreten wird.
71
Bemerkungen
Der Predigttext
T) ei einem skandinavischen Kur-
*~* ort — „nennen wir ihn N/\
wie es in den ' alten Romancn
heifit — fahrt ein mit vier Kin-
dern, einer Frau und einem
Chauffeur besetztes Auto iiber
den gefrorenen See. Das Eis gibt
nach ; das Auto vei sinkt. Drei
Kinder und die Mutter ertrinken
— der Chauffeur rettet sich und
ein Kind.
Bei der kirchlichen Beerdi-
gungsfeier wahlte der protestan-
tische Pastor als Unterlage zu
seiner Predict diesen Bibeltext,
Psalm 69, 2,3:
„Gott hilf mir; denn das Was-
ser gehet mir bis an die Seele,
Ich versinke in tiefem Schlamm,
da kein Grund ist; ich bin im tie-
fen Wasser, und die Flut will
mich ersaufen."
Die frommen Herren wollen so
oft wissen, was wir denn eigent-
lich gegen sie und ihre Religion,
wie sie sie ausuben, vorzubringen
hatten. Eines unsrer Argumente
ist die trostlose Plattheit ihrer
religiosen Gefiihle.
Mir ist das fa gleich, ich bin
dort nicht abonniert, und wers
mag, der mags ja wohl mogen.
Aber ist es nicht armselig, dafi
einem Pastor bei so einem
schrecklichen Ungliicksfall nichts
weiter einfallt, als nach der Bibel-
konkordanz zu greifen, dort unter
„Wasser" nachzusehn und nun
etwas „Bezugliches" aufzusagen?
Ich hore ordentlich, wie er das
Gegenstandliche in das umgeredet
hat, was er das Symbolische
nennt, was aber hier nur das
Allegorische gewesen ist. Die
armen Wesen sind ins Wasser ge-
fallen und darin ertrunken.
„Also, auch, lieben Zuhorer . . ."
HeiBt das nicht die Religion her-
abwtirdigen? Fur einen wahrhaft
f romm empf indenden Menschen
muB so ein Handwerksstiick von
Predigt ein Greul und ein Scheul
sein.
Und der Grund, aus dem der
Kirche taglich mehr und mehr
Leute fortlaufen, was nur zu be-
griiBen ist, Hegt eben hierin: daB
72
viele Diener dieser Kirche nur noch
viel zu reden, aber wenig zu sa-
gen haben. Wie schlecht wird da
gesprochen! Wie oberflachlich
sind die scheinbaren Anknupfungs-
punkte an das Moderne, darauf
sind diese Manner auch noch sehr
stolz. Wie billig die Tricks, mit
einer kleinen, scheinbar dem All-
tag entnommenen Geschichte zu
beginnen, um dann . . , emporzu-
steigen? Ach nein, Es ist so etwas
Verblasenes — die Satze klappern
dahin, es rollen die Bibelzitate,
und in der ganzen Predigt steht
eigentlich nichts drin.
In diesem Fall scheint mir die
Herbeizerrung des schonen
69. Psalms eine besondere Unge-
schicklichkeit, mehr; eine grobe
Taktlosigkeit zu sein.
Auf Betreiben der katholischen
Kirche, die manche ihrer Positionen
wanken sieht — keine Angst, wir
sind in Deutschland!' — lafit sich
Rom neuerdings mit vielen Para-
graphen schutzen: eine Frommig-
keit hinter dem Stacheldraht der
Gesetze. Das Wort: Die Gott-
losen kommenl geht um.
Aber eine so gute Propaganda,
wie sie die Kirche gegen die
Kirche macht, konnen wir gar
nicht erfinden, Und ich weiB
viele, die mit mir denken: Wir
sind aus der Kirche ausgetreten,
weil wir es nicht langer mitan-
sehn konnten. Wir sind zu
fromm. 2gnag WroM
Geldgeber der Nazis
Ceit elniger Zeit hat die NSDAP
^ mit Finanzschwierigkeiten zu
kampfen. Die Spitzengehalter
muBten abgebaut werden, und
auch den Landsknechten der S,A.
konnen die Spesen nicht mehr in
vollem Umfange ersetzt werden.
Fiir eine mit grofiem Propaganda-
Apparat ausgerustete Partei bil-
det die Beschrankung des Aus-
gabenetats eine wesentliche Er-
schwerung der Aktionskraft. Nicht
zuletzt sind diese Schwierigkeiten
durch den finanziellen Zusammen-
bruch des groBten Geldgebers der
Partei, der Norddeutschen Wolle
A.-G., hervorgerufen worden.
Die Leitung dieses Konzerns,
die bisher in den Handen der
Briider Lahusen lag, hat es
musterhaft verstanden, Aufsichts-
rat und Banken jahrelang hinters
Licht zu fiihren. So konnten Ver-
luste in der schwindelhaften Hohe
von einer Viertelmilliarde ent-
stehen. Bei den Riesensummen;
die durch die verschiedenen Kon-
ten des Nordwolle-Konzerns ge-
gangen sind, spielen einige Mil-
lionen fur Parteizwecke keine
Rolle, Im November vorigen Jah-
res haben die Lahusens, als zum
ersten Mai die Verwendung von
Konzerngeldern fiir politische
Zwecke ruchbar wurde, diesen
Vorwurf energisch zuriickgewiesen.
In der gleichen Erklarung, die
jenes Dementi brachte, hieB es
auch, dafi der Geschaftsgang 1930
zufriedenstellend sei, und daB
man die Uberschiisse zu Ruck-
stellungen und Abschreibungen
benutzen werde. Dadurch sollte
der Eindruck erweckt werden, als
sei das Unternehmen gesund, ob-
wohl es in der Tat langst iiber-
schuldet und vollig ruiniert war.
Erscheint dann noch das poli-
tische Dementi glaubwurdig?
In der vorjahrigen Bilanz hatte
man die Verluste der erst vor we-
nigen Wochen ans Licht des Tages
gezogenen Ultra-Mare Gesell-
schaft, eines Tochteruiiternehmens,
bei dem die giinstigen Woll-Spe-
kulationen fur Rechnung der Brii-
der Lahusen und die schlechten
fiir den Nordwolle-Konzern ge-
tatigt wurden, unter „Sonstige
Forderungen" verbucht. Wahrend
dieser Posten jetzt auf „Forde-
rungen, an Tochtergesellschaften"
iibertragen wurde, diirfte sich ein
ungedeckter Millionen-Kredit zu-
gunsten eines nationalsozialisti-
schen Mittelsmannes noch unter
MSonstige Forderungen" befinden.
Man kann der Hitler-Partei
keinen Vorwurf daraus machen,
wenn sie sich von einem schwer-
reichen Parteigenossen Zuwendun-
gen machen lieB. Fiir die La-
husens mag neben der politischen
Gesinnung vor allem die Hoff-
nung maBgebend gewesen sein,
daB im Falle einer Nazi-Diktatur
ihrem heruntergewirtschafteten
Unternehmen wieder auf die
Beine geholfen wiirde. Vielleicht
hat ihnen sogar der Gedanke
eines Woll-Monopols . vorge-
schwebt.
Die Banken aber, die sich dar-
um gerissen habent dem Nord-
wolle-Konzern Kredite zu geben,
haben ungewollt erst die eine,
dann die andre radikale Partei
unterstiitzt. Den Nationalsozia-
1 isten f lossen auf einigen Um-
wegen die Bankenkredite zu, wah-
rend den Kommunisten — ebenso
gratis — ein wirksames Propa-
gandamittel gegen den Kapitalis-
mus geliefert wird, der hier eine
so klagliche Niederlage erlitten
hat.
Bernhard Citron
Studentenkrawalle
Schon acht Tage vor den Kra-
wallen in der berliner Uni-
versitat kursierte das Geriicht, die
nationalsozialistischen Studenten
hatten wieder eine ihrer bewahr-
ten Terror -Demonstrationen vor,
wie sie eben die wiener und
miinchner Fascisten an den Uni-
versitaten durchgefuhrt hatten.
Zwei Tage vor den Zusammen-
stoBen kiindigten die Nazis ihre
Das Buch vom Jenseits
von Bo Yin Ra bef afit sich nicht mit Hypothesen und Grlaubensmeinungen iiber
ein ^achirdisches Leben, sondern zeigt, wie waches Bewu&tsein jenseits
irdischer Sinne nur durch andere Anschauungsweise des einen, einzigen
Lebens erlangbar ist. Sie konnen
die Bucher von B6 Yin Rd
mit nichts anderem, wie es auch heiflen moge, vergleichen! In jeder gnteli
Buchhandlung sind sie zu haben. Einfuhrungsschrift von Dr. jur. Alfred
Kober-Staehelin kostenlos. Der Verlag: Kober'sche Verlagsbuchhandlung
(gegr. 1816) Basel und Leipzig.
73
Demonstration in aller Offentlich-
keit an. Die ganze Universitat
horte es, die Polizei erfuhr est nur
der Rektor stellte sich dumm. Die
Polizei bot ihm noch am selben
Vormittag ihre Hilfe an, um am
Tage der Krawalle die Ordnung
innerhalb der Universitat aufrecht
zu erhalten. Herr Rektor DeiB-
mann pochte auf sein Hausrecht
und lehnte ab. Jedem Studenten,
jedem der Professoren, jedem Pe-
dell war klar, was die angekun-
digte Demonstration bedeutete;
Tumulte, Schlagereien, MiBhand-
lungen von Juden und Kommu-
nisten, Unterbrechung des Stu-
dienbetriebes auf Tage binaus. Es
ware dem Rektor ein Leichtes ge-
wesen, dies durch ein paar MaB-
nahmen zu verhindern. Das hat
er nicht getan, im Gegenteil: er
hat den Nazis ihre Demonstration
ausdrucklich erlaubt. Herr Rektor
DeiBmann ist in vollem Umfange
fur die Universitatskrawalle am
29. Juni verantwortlich zu
machen.
Die Nazis hatten ihre Demon-
stration fiir die Elfuhr-Pause am
Montag angekundigt. Die Sozial-
demokraten, die Kommunisten
und die j tidischen Verbindungen
hatten Generalappell angesetzt.
Schon um zehn Uhr war das ganze
Universitatsgebaude und der Vor-
garten voll von uniformierten
Nazis, an den Eingangen waren
Schupos postiert, samtliche Pe-
delle waren auf den Beinen. Zwi-
schen zehn und elf Uhr stromten
immer neue Nazis in die Uni-
versitat, alle in S.-A.-Kleidung,
und auch nicht Einer von ihnen
wurde nach dem Studentenausweis
gefragt.
Um elf Uhr begann die Demon-
stration in Form eines Stehkon-
vents. Mindestens ein Drittel der
Teilnehmer waren Nichtstudenten,
Und inmitten des Stehkonvents,
umgeben von den dienernden und
hackenknallenden Fuhrern der
nationalsozialistischen Studenten,
stand Magnifizenz und blieb dort
auch, wahrend der Leiter des Stu-
dentenbundes sprach, damit nie-
mand die Legalitat dieser Kund-
gebung bezweifle. Tatsachlich
aber vollzog sich diese in Formen,
74
die auf akademischem Boden
durchaus uniiblich sind, — An-
sprachen wahrend der Stehkon-
vente sind verboten, und Teil-
nahme von Nichtstudenten an
einem Stehkonvent wird streng
bestraft,
Der Nazi-Leiter Schaefer schloB
seine Rede an die nationalsozia-
listischen Studenten mit der Auf-
forderung, in die Kollegs oder
nach Hause zu gehen und „sich
nicht provozieren zu lassen".
Diese Ermahnung war selbstver-
standlich eine Farce, Sofort nach
Auflosung des Stehkonventes sam-
melten sich die Nazis im Garten
der Universitat und begannen ihre
wtisten Schlagereien. Die linken
Studenten, die bis dahin in Grup-
pen zusammenstanden, hatten sich
auf die friedliche Parole hin teil-
weise zerstreut, Jetzt wurden sie
von den Nazis einzeln angegriffen.
Zwei Kommunisten, die zum Rek-
tor bestellt worden waren, wurden
uberfallen und von einer Uber-
macht von fiinfzehn oder zwanzig
Nazis unter den Augen des Rek-
tors und der Pedelle miBhandelt.
Ein einzelner Student, ebenfalls
Kommunist, wurde ohne jeden
AnlaB bedroht, und als er die
Flucht ergriff, eingeholt, niederge-
schlagen und solange mit Stocken
und Koppeln auf den Kopf ge-
hauen, bis er blutete. Mit dem
Ruf „Haut die Juden!" wurden
noch sechs oder sieben andre Stu-
denten uberfallen und geprugelt.
Die Ausschreitungen entwickel-
ten sich zu einem regelrechten
Pogrom. Das Brett des Kartells
judischer Verbindungen wurde ab-
gerissen, antisemitische Lieder er-
tonten, jeder jiidisch aussehende
Student wurde beschimpft oder
geschlagen.
Jetzt erst, nachdem die Kra-
walle schon eine halbe Stunde ge-
dauert hatten, fand sich der Rek-
tor bereit, die Hilfe der Polizei in
Anspruch zu nehmen, und auch
dies nur unter dem Drangen der
sozialdemokratischen und j ung-
deutschen Studenten und des Po-
lizeimajors Heinrich.
In ein paar Minuten war der
Universitatsgarten durch die Poli-
zei geraumt, die Universitat wurde
fiir zwei Tage geschlossen, Der
Rektor versprach strengste Be-
strafung der Schuldigen. Inzwi-
schen sind gegen neun kommu-
nistische Studenten Verfahren ein-
geleitet worden. Ihnen wird im
Zusammenhang mit den Krawallen
Stoning des Universitatsbetriebes
vorgeworfen. Drei sind bereits
relegiert, fiinf weitere soil das
gleiche Schicksal treffen. Von den
Nationalsozialisten hingegen hat
die Universitatsbehorde nur zwei
ausgeschlossen.
Robert Solten
Mitropaisches
Tn den letzten Jahren haben die
* Gelehrten entdeckt, daB der
Mensch sich erheblich gestinder
ernahren konne, als er das jahr-
hundertelang getan hat. Diese
Entdeckung hat, ob zu Recht
oder Unrecht, bewirkt, dafi ein
gegen friiher nicht unbetracht-
licher Teil der Bevolkerung ent-
weder rein vegetarisch oder min-
destens gemischt mit starker Be-
vorzugung von Gemusen, Obst,
Milch- und Getreideprodukten
seinen Hunger stillt. Die Gast-
statten pflegen diesem Bedurfnis
Rechnung zu tragen; kaum ein
grofierer Restaurationsbetrieb,
der nicht fiir seine Besucher
vegetarische Platten und Ahn-
Iiches bereit hielte.
Unentwegt, ein letztes Botl-
werk friiherer Ernahrungsweise
im Branden der Moderne, ver-
harrt indessen die Mitropa auf
ihren Fleischtopfen und Eierplat-
ten, zu denen sie taglich einige
tausend Reisende herbeilockt ;
man verletzt eben immer noch
lieber einmal seine Uberzeugung
und seinen Geschmack, als zwolf
Stunden lang auf dem gleichen
Sitzplatz zu kleben. An die
Speisekarte der Mitropa haben
wir uns gewohnt, wir nehmen sie
als gottgegeben; aber neuerdings
scheint nicht einmal mehr auf
das Wenige VerlaB zu sein, was
sie unsern ausgefallenen Wiin-
schen bisher bot. Etwa so:
In Hersfeld yerlangte ich zu
den „Schwedischen Gabelbisse^
mit Butter und Toast" die
„kleine Flasche gekuhlte Voll-
milch" als Getrank. In Fulda er-
fuhr ich, da6 die gekuhlte Voll-
milch ausgegangen sei. Ich ver-
langte Zitrone, Zucker und Was-
ser und wurde belehrt, daB es
keine Zitronen gebe — nur kunst-
liche Zitronade. Da ich keine
Lust verspiirte, aus meinem Ma-
gen ein Experimentierfeld fiir
unsre hochentwickelte chemische
Industrie zu machen, begniigte
ich mich mit einem Tee, zu dem
es immerhin, laut Karte, eine
Scheibe Zitrone gab — allerdings
erst nach viermaliger (buchstab-
lich!) Aufforderung an den tief-
beleidigten Kellner, der urn diese
Zeit — drei Uhr nachmittags —
sich lediglich zur Annahme von
Kaffeebestellungen verpflichtet
glaubte. Dafiir brachte er mir die
Gabelbissen, mit Butter, aber
ohne Toast. Fur das ausgesucht
fade Schwarzbrot, das stattdessen
serviert wurde, gab es kein
Wort der Entschuldigung oder
nur der Erklarung. (Erklarung: die
die genufjreicrte
EGYPTIAN Nr.16f o/M. u.Gold, Stuck 10Pf.
Abdulla-CigareHen genieffen Weliruf!
Abdulla & Co. Kairo / London / Berlin
75
Mitropa unterstutzt tatkraftigst
die Roggenaktion der Regierung.
Schon; in Italicn gibt es ahnliche
Dinge. Aber wie kommt sie dann
dazu, bewuBt falsch das Wort
Toast taglich neu auf ihre Kar-
ten zu tippen?)
Ich war naiv genug, anzuneh-
men, die Zitronen seien, gleich
der Milch, bloB „ausgegangen",
iind in Frankfurt habe man neue
an Bord genommen. Keineswegs:
auch noch bei Heidelberg gab es
,,frische Zitrone bloB zum Tee".
Die Erklarung fiir diese Sonder-
barkeit bekam ich unvermutet
einige Tage spater zwischen Rom
tind Neap el durch den neape-
ler Konsul eines mitteleuro-
paischen Staates. Er war kurz
zuvor auf Sizilien gewesen und
erzahlte mir, daB in Catania die
Zitronen ungeerntet an den Bau-
men verfaulten. Grund: Deutsch-
. land, der Hauptabnehmer, bietet
dieses Fruhjahr fiir das Tausend
verpackter Zitronen die Summe
von 10 (zehn) italienischen Lire,
das heiBt pro verpackter Zitrone
einen Centesimo — ■ 0,22 Pfennig,
Fur diesen Preis aber, erklarte
mein Gewahrsmann, sei allenfalls
die Verpackung zu liefern, und
fiir Arbeitslohn, Realwert der
Frucht, Verdienst bliebe nichts,
noch nicht der Bruchteil eines
Centesimo, Warum das so sei?
GewiB nicht, weil Deutschland
nicht kaufkraftig genug sei, fiir
die Zitronen einen angemessenen
Preis zu zahlen. Aber der Hauot-
teil des Zitronenimports sei ja
nicht fiir den privaten Verbrauch
sondern fiir die GroBfabrikation
von Limonaden bestimmt ge-
wesen. Die dazu notige Menge
yon Zitronensaure aber werde
jetzt chemisch hergestellt — da-
her dies Angebot, das einer Ein-
fuhrsperre gleichkommt.
Ich bin kein Arzt und wage
kein Urteil dariiber abzugeben,
ob zwischen Chemisierung der
Nahrung und Zunahme der Ma-
genkrankheiten ein ursachlicher
Zusammenhang besteht. Immer-
hin weifi ich, daB viele das
glauben, und daB mir und den
meisten Andern der Geschmack
kunstlicher Zitronaden und
Orangeaden widerlich ist, Auch
76
weifl ich j etzt. warum man bei
der Mitropa keine frischen Zi-
tronen mehr bekommt. Vielleicht
sind die Fabrikanten der konden-
sierten Milch daran schuld, daB die
frische gekuhlte Vollmilch blofi
auf dem Papier steht? Denn un-
erforschlich sind die Wege der
internationalen Wirtschaft, Wir
Laien diirfen uns von lhr zer-
malmen und bestenfalls dauernd
schikanieren lassen. BloB begrei-
fen werden wir sie nicht.
M. M. Gehrke
Unsern atnerikanischen Gasten
gewidmet
Mach dem amerikanischen Ein-
* ' wanderungsgesetz sind von
der Landung ausgeschlossen:
Blodsinnige, Schwachsinnige,
Irrsinnige, Fallsuchtige, Gewohn-
heitstrinker, hilf sbediirftige Arme,
Berufsbettler, Landstreicher, Per-
sonen mit ansteckenden oder
ekelerregenden Krankheiten (da-
zu zahlen: Tuberkulose in jeder
Art und in j'edem Grade, durch
Faden-Pilze verursachte Krank-
heiten, Lepra, Geschlechtskrank-
heiten, Trachoma), geistig oder
korperlich minderwertige Perso-
nen, Personen mit Gebrechen,
wodurch sie im Erwerb beein-
trachtigt werden, ledige Schwan-
gere, Bruchleidende, die nicht er-
folgreich operiert sind, Polygami-
sten, Verbrecher, Zuchthausler,
Anarchisten (Umsturzler) , Dir-
neri und Zuhalter, Personen, die
vor ihrer Abreise ein Abkommen
abgeschlossen oder ein Ver-
sprechen oder Angebot fiir ir-
gendwelche Arbeitsleistung in
Amerika abgegeben haben, Per-
sonen, die dem Staat zur Last
fallen konnen, Kinder unter
sechzehn Jahren, die nicht vom
Vater oder der Mutter begleitet
und erwartet werden, des Lesens
unkundige Personen,
Hausse im Bett der Zeugln
T^ie Lichtleitung wurde auf An-
*^ ordnung des Gerichts auBer
Betrieb gesetzt. Dann legte sich
der Vorsitzende, Landgerichts-
direktor Friedmann, in das Bett,
in dem der Tater die Zeugin iiber-
rascht hatte. Ein Referendar
muBte beim Schein einer Taschen-
lampe an dem TurschloB herum-
arbeiten, urn festzustellen, ob von
dem Bett aus ein Gesicht so genau
zu sehen ist, daB ein Wieder-
erkennen moglich ist. Die Probe
wurde nicht nur von dem Vor-
sitzenden, sondern auch von den
Beisitzern, den beiden Schoffen,
dem Staatsanwalt, dem Verteidi-
ger und den beiden Sachverstan-
digen mit Sanitatsrat Leppmann
und Medizinalrat Dr, Ewers vor-
genommen.
MSblierte Wirt in empfiehlt sich
„. . . Auch er hat bis zur Ver-
heiratung bei mir gewohnt und
wird Ihnen bestatigen, daB es hier
absolut ruhig, harmonisch, und bei
volliger Unabhangigkeit man ganz
im feinsten Sinne zu Hause ist.
Die Hauslichkeit ist Ganz auf Be-
haglichkeit eingestellt, im Sommer
Eis und im Winter warrries Was-
ser, zum Rasieren ist ein Tauch-
sieder am groBen Waschtisch, lau-
warme und kalte Tusche im Bad.
Ich pflege zu sagen, Sie werden
ganz wie Sonne (aber im mo-
dernen Sinne) gehalten, und ich
erwarte dieselben Riicksichten,
das heiBt z. B. in Bezug auf Be-
such, daB ich, wenn es sich um
gediegene Menschenkinder han-
delt, nichts dagegen habe, weil ich
nicht daran Schuld sein will, daB
nun immer, um zusammen zu sein,
das Geld im Cafe ausgegeben
werden muB, ich habe das abso-
lute Vertrauen, daB sich das im
Rahmen halt und zu angemessener
Zeit stattfindet, deshalb wahle ich
gerne Menschen, zu denen ich das
voile Vertrauen habe, daB sie nur
einwandfreie Freunde und Freun-
dinnen ins Haus bringen und
keine zweifelhaften Elemente in
meine fast immer leere Wohnung.
Und weil ich bis jetzt immer das
hatte, und bei Ihnen das Gefuhl
unbedingtens Vertrauens auch so-
fort hatte, ligt mir daran, sonst
wurde ich nicht schreiben."
Liebe Weltbuhnet
Tag und Nacht klingelt im Funk-
haus das Telephon: die ge-
schatzten Horer aufiern sich bei-
stimmend oder abfallig zu den
Darbietungen des Sendeprogramms.
Besonders haben sies mit der
klassischen Musik.
„Was, Friihkonzert? Und dann
KleineNachtmusik? Ihr seid wohl
da noch nicht wach?"
Oder: „Habt Ihr denn nichts
Verniinftiges zu spielen? Immer
Opus! Wenn ich Opus hore, stell
ich schon ab!"
Oder: „Heute ist bei Euch wie-
der alles durcheinander, Quartett
von Haydn steht im Programm,
und spielen tun sie: Deutschland,
Deutschland uber alles!" Man gibt-
zur Antwort, xlaB diese Melodic
in Haydns Quartett vorkomme.
Darauf die Stimme des Volkes:
„Ach, ihr Juden habt fur alles ne
Ausrede!"
Hinweise der Redaktion
Bucher
Leo Trotzki: Die spanische Revolution. Fritz BUchner, Thekla b. Leipzig.
Rundfunk
Dlensta?. Mtinchen 20.45: Zwiegesprach mit Herbert Jhering. — Muhlacker-21.45; Mu-
sikalische Plagiate, Hans Re i matin. — Dormer stay. Berlin 18.20: Gibt es eine „kalte"
Sozialisierung? H. Bundschuh und L. Fischer. — Mtinchen 20.40; Friedrich Kayssler
liest aus Hamsuns Pan. — Langenberg 21.00: StraBenmann von Hermann Kesser. — ■
Freitajr. Berlin 15.20 W. O. Somin liest Kurzgeschichten. — 19.10: Zweimal StraBen-
mann, Hans Flesch und Hermann Kesser. — Leipzig 20.00: Das erste deutsche
Schauspielerparlament. — Sonnabend. Berlin 15.40: Zwei Frauen reisen im Auto
durch die Welt, M. M. Gehrke und Lisa Matthias. — 18.25: Die Erzahlung der
Woche, Gottfried Bean.
77
Antworten
Student. Ein, wie es in eurer Sprache heifit, Kommilitone von dir
gibt in dieser Nummer cinen Bericht iiber die Vorfalle an der berliner
Universitat, Du fragst mit Recht, wie denn die Herren Professoren
zu diesen Vorfallen stehn, wie sich hier die vielgeriihmte wissenschaft-
liche Objektivitat auswirkt, Geh einmal in das Kolleg des Herrn
Professor Sauerbruch, Du wirst fragen, was denn die Chirurgie, fur
die der Herr Professor unbestreitbar Fachmann ist, mit der Politik
zu tun habe. Das fragen wir uns auch. Dem Chirurgen ist ein In-
genieur begegnet, dem das Verstandnis fiir die Funktion einer Hand-
Prothese abging. Der Herr Professor erkundigte sich weiter nach dem
Mann, und da stellte es sich heraus, dafi er Pazifist ist, Messerscharf
schloB Herr Professor Sauerbruch, daB die pazifistische Gesinnung
den Mann hindre, so einen einfachen Vorgang wie die Funktion einer
Handprothese zu verstehen. „Ein ausgewachsener Mann kann den
Pazifismus nicht verstehn", ein Pazifist ist „geistig nicht vollwertig",
so urteilt der Herr Professor. Dafi er auf das Verstandnis deiner
Kommilitonen gestoBen ist, daB diese sich bemuhen, den politischen
Exkursen ihres Lehrers die Tat folgen zu lassen, ist klar, Herr Pro-
fessor Sauerbruch ist somit nicht ganz unschuldig an den Exzessen
der nationalsozialistischen Studenten. Er sagte am SchluB seiner Vor-
lesung: f,Ich hoffe nicht, daB unter Ihnen Pazifisten sind, es sollte
mir urn Sie leid tun". DaB seine Hoffnung nicht triigerisch war, haben
seine randalierenden Schiiler bewiesen. Vielleicht hats der Herr Pro-
fessor aber ganz anders gemeint. Prothesen stellt man in erster Linie
her, um Kriegskriippeln zu helfen. Wenn es mal keine Kriege mehr
gibt, dann gibts auch keine Kriegskruppel mehr, ergo sinkt der Absatz
in Prothesen. Ist das dem Herrn Professor vielleicht unangenehm?
Sollte sich hieraus vielleicht seine Gegnerschaft gegen den Pazifismus
herleiten? Da fragst du uns vergeblich, solch heikle Fragen konnen
wir nicht beantworten.
Tauchnitz Edition. Bescheiden und unauffallig, ohne die saftigen
Photomontagen eurer Kollegen, bringt ihr dieser Tage den funftausend-
sten Band eurer Kontinentalausgabe englischer und amerikanischer
Schriftsteller. Hoffen wir, daB dies Jubilaum trotzdem die Aufmerk-
samkeit findet, die es verdient. Fiir jeden, der Englisch versteht,
ohne Englander zu sein, sind die weiBen Zwei-Mark-Bandchen ganz
^unentbehrlich, denn eure Sammlung enthalt neben reiner Unterhal-
tungsliteratur eine gute Auswahl der besten Leute, von Sterne und
Dickens bis Hemingway und Joyce. Wir gratulieren euch und uns.
Kriegsschuldforscher. Die in der vorigen Nummer von Johannes
Buckler zitierten Dokumente zur Frage der Meerengen sind auch
deutsch erschienen. Die deutsche Ausgabe besorgten Kurt Kersten
und Boris Mironow, sie ist im Verlag von Carl Reifiner, Dresden,
herausgebracht worden.
Freund der Filmzensur. Es trifft nach dem Sinn der fiir den Re-
marquefilm von der Zensur getroffenen Entscheidung nicht zu, daB
unsre Leser auf Grund unsres Kollektiv-Beitritts zur Gesellschaft der
Sturmfreunde das Recht hatten, den Film f,Im Westen nichts Neues"
zu sehn. Sie mtissen schon mit dem Mitgliedsausweis einer Organi-
sation versehn sein, die Vorfiihrungen des Films veranstaltet.
Manuskripte kind qui an die Redaction der Weltbuhne, Charlottenbuig, KanUtr. 152, zu
richten; «s wird gebetea, ihnen Ruckporto beizulegen, da toast keine Ruckaenduojr erfoljfen kann.
Das Autfuhrangsrecht, die Verwertung vonTitelnu.Text imRihmen des Film*, die musik-
mechanische Wledergabe aller Art und die Verwertung im Rahmen von Radiovortr&gen
bleiben fur alle in der WeltbMine erscbeinenden Beltrage ausdruckllch vorbehalten.
Die Weltbuhne wnrde begrundet von Siegfried Jaoobsohn und wird von Carl v. Ossietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucnobky geleitet — Verantwortlich: Carl v. Ouietzky. Berlin;
Verlag der Weltbuhne, Siegfried Jacobsobn & Co^ Charlottenburg.
Telephon: CI. Steinplatz 77 57. — PosUcheckkonlo: Berlin 119 Sa
Baokkonto Darmstadlet u. NatiotMlbank, Depositenkasse Charlottenburg, rCanUti- 112
XXVN.Jatargang 21. Jull 1931 Nnmmer29
Es lSt erreicht! vonCarlv.Ossietzky
Us ist heutc eine Binsenwahrheit, daB sich der Kapitalismus
auf der ganzen Welt in einer ungeheuren Krise befindet,
Aber was sich in Deutschland in diesen letzten beiden Wochen
abgespiclt hat, das ist mehr als das funktionclle Versagen eines
Systems, das heute nirgendwo mehr gut arbeitet und iiberall
mehr Enttauschte und Verzweifelte zuriicklaBt als Zufriedene,
Hier hat politische Unzulanglichkeit die allgemeine wirtschaft-
liche Misere zu einer besonderen Katastrophe ausgeweitet.
GewiB, ein Bankkrach bedeutet noch keine Gotterdammerung,
die Tatsache, daB es auch denen heute jammerlich geht, die
sonst ihren Profit aus der Not der Andern holten, noch nicht
den Beginn der Weltvereisung. Aber es ist ein trauriges Re-
sultat, daB wir heute, Juli 1931, trotz aller schlimmen Erfah-
rungen, nicht besser dran sind als 1918 und 1923. In den
Geldzentren der Welt wird wieder disputiert, ob Deutschland
der Hilie wiirdig ist, und utnsre eignen Zahlungsmittel sind wie-
der hochst iragwurdig geworden, Hier waltet nicht nur die
Unbarmherzigkeit eines blinden Schicksals, hier liegt Schuld
vor, Schuld und nochmals Schuld.
Wir wollen in diesem Augenblick nicht auf den Reichs-
kanzler Briining Steine werfen. Wir haben ihn vom ersten Tag
seiner Amtsfuhrung an bekampft; wir haben seine vielgeprie-
senen Taten mit Kassandrarufen verfolgt und sind dabei so
griindlicli allein geblieben wie Eremiten in der Wiiste. Es be-
reitet uns keine Genugtuung, daB wir recht behalten haben.
Unter diesem Kanzler begann jenes verheerende Schlagwort
von der ,,Aktivierung" unserer AuBenpolitik seine Wirkung
auszuiiben, setzte jene neue Hausse des Nationalismus ein, der
wir es verdanken, daB Frankreich uns jetzt in unsrer hochsten
Not hartnackig und mit kiihler Rechnergebarde entgegentritt.
Unter diesem Kanzler begann auch jener riicksichtslose Aus-
powerungsprozeB des akkumulierten Kapitals gegen die rest-
lichen deutschen Biirgerschichten, die aus der Inflation noch
eben heil herausgekommen waren, Es ist eine besondere Tra-
gikomodie, daB unserm Biirgertum grade die prononziert bur-
gerlichen Regierungen so verhangnisvoll werden. Unter der
Aegide des hanseatischen Musterbiirgers Cumo vernichtete
Hugo Stinnes ungezahlte selbstandige Existenzen. Unter dem
katholischen Ordnungsretter Briining zogen Banken und Schwer-
industrie eine grauenhafte Elendstrace kreuz und quer durch
die letzten Vermogensreserven vertrauensvoller Biirgerseelen,
die wie hypnotisiert auf die ,,Soziallasten" starrten, von der
„Begehrlichkeit der Arbeiterschaft" faselten und dariiber ganz
vergaBen, wer ihnen eigentlich das Eisen an die Kehle setzte.
Es ist wie ein schlechter Witz, daB einer dieser gigantischen
l 79
Marodeure, heute selbst wankend geworden, hilfesuchend un-
ter die Fittiche des demokratischen Staates kriechen muB, dem
man so oft cxpropriatorische Tendenzen vorgeworfen und den
man wie eine Vorfrucht -des ,,Marxismus" behandelt hat. Wenn
die Regierung Briining sich heute fin* dast was sie am deutschen
Btirgertum verbrochen hat, rechtfertigen miiBte, so konnte sie nur
enT sehr zweifelhaftes Argument zu ihren Gunsten anfiihren:
sie hat die Kapitalflucht nicht gehindert. Das ist die einzige
Chance, die sie den eignen Leuten gelassen hat. Sie hat taten-
los zugesehen, wie im vergangenen Jahre Milliarden nach der
Schweiz abwanderten, und ihr famoser Finanzminister Herr
Dietrich hat sogar offentlich gesagt, daB er dies bei der hier-
zulande herrschenden UngewiBheit ganz begreiflich finde. DaB
Briining auBenpolitisch die verniinftige Linie der Ara Strese-
mann verlieB, daB er die innere soziale Krankheit ausschlieB-
lich mit Notverordnungen auf Kosten der Lohnempfanger zu
kurieren trachtete, das ist seine ungeheure Schuld, das ist der
Weg in die Katastrophe vom Juli 1931.
Das alles muB in diesem Augenblick gesagt werden, wenn
es auch nicht die Feststellutig verhindert, daB ■ Briining in die-
sen Tagen, zusammen mit dem Reichsbankprasidenten Lutherf
wahrhaftig heroisch gearbeitet hat, um die Konsequenzen sei-
ner eignen Politik abzuwenden. Dieser Kanzler ist heute durch
eine selbstgeschmiedete Kette von Irrtumern mit seinem Amt
umlosbar verbunden. Er kann nicht mehr demissionieren. Er
kann nicht mehr resignierend sagen: „Herr von Hindenburg,
ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihrige!", so wie irgend
ein parlamentarischer Premierminister, Dehn er hat, sehr zu
seinem Ungliick, alle konstitutionellen Faktoren, die ihn ent-
lasten oder ablosen konnten, erledigt Sein bizarres Schicksal
will es, daB er trotz seiner Fehler und Zweideutigkeiten der
einzige deutsche Politiker bleibt, dessen Fahigkeiten die Welt
noch vertraut, Er stent ganz allein, eine letzte papierene Wand
zwischen Deutschland und dem Chaos.
Es ist ein fieberhaftes Hinundher in diesen Tagen, die ver-
riicktesten Rezepte werden wieder zur Rettung angeboten.
Auch das Phantom der ,,wirtschaftlichen Autarkie" spukt wie-
der heftig. Deutschland soil sich „aul sich selbst stellen'\ oko-
nomisch abschlieBen, aus der Weltwirtschaft ausscheiden,
grade so, als ware die Weltwirtschaft ein Verein, dem man nach
Belieben die Mitgliedskarte zuriickschicken kann. Und doch
gibt es nur einen Weg zu einer Notlosung: das ist die Verstan-
digung mit Paris! Und grade hier widersetzt sich Deutschland
mit einer Hartnackigkeitf die ans Pathologische grenzt. Alle
Gebote der Vernunft sprechen fur die Verstandigung mit
Frankreich, fur die Aufgabe einer okonomisch nutzlosen fixen
Idee, wie es die Zollunion ist. Aber der jahrelang gehegte
Prestigefimmel drangt sich larmend dazwischen, Als ob wir
noch eine andre Wahl hatten!
80
Hcrr Doktor Luther soil schr erstaunt gewesen sein, als •
ihm die Notenbankprasidenten, mit denen er wegen Krcditcn
verhandelte, eroffneten, daB es sich hier vornehmlich urn cine
politische Frage handle, Er erklarte, seine Kompetenz reiche
zu dieser Erorterung nicht aus. Letzteres ist durchaus richtig,
aber wo bleiben denn die Herren, die dazu kompetent sind?
Wieder erlebt Deutschland die Oberraschung, dafl es eine Wirt-
schaft an sich nicht gibt, sondern daB alles Politik ist. Nir-
gendwo sitzt die Vorstellung von der angeblichen Selbstherr-
lichkeit der Wirtschaft so tie! wie bei tins. Wir. wissen, daB
die Wirtschaft, oder die Schwerindustrie, die sich mit ihr iden-
tifiziert, vom Staate Subventionen fordert, ohne irgend eine
Gegenleistung zu bieten. Aber welch eine kindskopfige Naivi-
tat ist .es, eine so dubiose deutsche Spezialitat auf ein inter-
nationales Gebiet iibertragen zu wollen. Wie kann man von
Frankreich, das man seit der Rheinland-Raumung mit Stahl-
helmfeiern und tausend nationalistischen Kinkerlitzchen pro-
voziert hat, Kredite verlangen ohne politische Gegenleistung?
Bei der Eigenart des deutsch-franzosischen Verhaltnisses setzt
sich jede noch so geschaftliche Frage sofort ins Politische urn.
Es gibt zwischen Frankreich und uns nichts Unpolitisches. Hat
man das noch immer nicht begriffen? Und da kommen die In-
dustrie-Cherusker, die sonst Frankreich als den europaischen
Beelzebub betrachten, mit einem Kreditgesuch und erklaren
dazu, das habe mit Politik nicht das Mindeste zu tun. Wo
kommt es denn im biirgerlichen Leben vorf daB man dem
Mann, den man anpumrjen will, eines auf die Nase gibt und
dazu erlauternd sagt, das sei eine ganz andre Sache und habe
mit dem vorliegenden Geschaft nichts zu tun — ? Die Deut-
schen sind nicht nur schlechte Verlierer, das haben sie seit
Versailles bewiesen, sie verstehen sich auch nicht aufs Borgen.
Frankreich wiinscht Aufgabe der Zollunion und Einstellung
des Flottenbaues. Es hat keinen Zweck, sich angesichts der
deutschen Bettelarmut in die Brust zu werfen und mit Hidalgo-
geste zu deklamieren: ,,Lieber tot als Sklave!" Wir kennen
kein Gremium in Deutschland, dem wir so weit vertrauten,
liber den Tod des deutschen Volkes zu beschlieBen. Ein Volk
kann sich nicht, wie eine Einzelperson, der Biirde eines uner-
traglichen Daseins entledigen, Ein Volk kann nicht, wie eine
Einzelperson, sterben, es kann nur noch armer, nur noch un-
gliicklicher werden. Man schreit, daB Frankreich uns Ver-
zichte auf heilige Souveranitatsrechte abpressen wolle. Wie
steht es denn damit? Mindestens 80 Prozent aller Deutschen
ist die Zollunion einfach Hekuba, mindestens 70 Prozent lehnt
die Flottenpolitik als kostspielig und schadlich ab. In keinem
. Falle handelt es sich um eine wirkliche nationale Sache, die
von einer Mehrheit entschieden vertreten wird. Und um des
torichten Prestiges willen soil das VernunftgemaBe, das Ret-
tende ungetan bleiben? Zuerst hat man aus Herbert Hoover
81
so etwas wie einen unerwarteten Bundesgenossen gegen Frank-
reich gemacht. Jctzt stellt es sich heraus, daB Amerika selbst
die Erfiillung der franzosischen Wiinsche verlangt, und die eng-
lischen Minister, die in diesen Tagen mit dem Reichskanzler
verhandeln, werden kaum einen anderen Ratschlag geben.
Deutschland hat sich mit dem Unionsprojekt in ein Dickicht
von Widerspriichen und Wirrnissen verrannt. Es muB endlich
wieder der bescheidenen Einsicht Raum gegeben werden, daB
unsere heutige Lage machtpolitische Aspirationen verbietet.
Wir sind allzu verelendet, urn Extratouren zu unternehmen,
die das ganze Volk zu bezahlen hat* Die forcierte Revisions-
politik, *die mit der Ara Briining einsetzte, muB schleunigst
in die Rumpelkammer geworfen werden. Auch wir halten die
franzosische Haltung fur herzlich unpsychologisch, aber
Deutschland *hat keine Wahl, nachdem es abermals erfahren
muBte, daB es die ganze Welt gegen sich hat, wenn es sich
auf eigne Faust machtpolitisch zu engagieren versucht. Ein
wirklicher Staatsmann respektiert Realitaten,anstatt ihnen die
Stirn zu bieten. Die deutsche AuBenpolitik hat sich festge-
fahren, sie kann nur durch griindliche Kutrsanderung und durch
die Ausbootung der Hauptverantwortlichen wieder mobil wer-
den. Dazu gehort vor allem die Entfernung der Minister Tre-
viranus und Groener aus ihren Amtern- Keine deutsche Regie-
rung ist mit diesem Ballast verhandlungsfahig. Herr Groener
hat sich seiner Zeit als Vertrauter Erzbergers die groBe Miihe
gegeben, den Offizieren kiar zu niachen, warum der Versailler
Vertrag uaterschrieben werden miisse. Er kennt also solche
Situationen zur Geniige* Ganz unmoglich geworden ist Herr
Curtius, der Vater der Zollunion. Man ersetze ihn so bald wie
moglich durch einen Diplomaten aus Stresemanns Zeit, der
internationales Vertrauen genieBt und durch seine Personlich-
keit Garantie bietet gegen selbstmorderischen MIauBenpoliti-
schen Aktivismus".
Eine verniinftige AuBenpolitik hatte in dem Streit um die
Zollunion rechtzeitig diplomatisch eingelenkt, anstatt es auf
eine Sachlage ankommen zu lassen, in der das Nachgeben
bereits den Charakter demiitigender Kapitulation annimmt-
Deutschland hat in der Welt keinen argern Feind als seinen
eignen Nationalismus. Dem ist es seit mehr als einem Jahre
gefolgt, und die Resultate sind offensichtlich. Die Wirtschaft
ist zerriittet, das letzte Vertrauen in dem Staat zerstort, der
Ausblick in die Zukunft trostlos. Herr Hugenberg hat seiner-
zeit geweissagt, wir miiBten alle eine Zeitlang Proletarier wer-
den, ehe es wieder besser wiirde. Der erste Teil dieser
Prophezeiung ist iiber die MaBen glorreich in Erfiillung ge-
gangen. Es ist erreicht, wir sind alle Proletarier. Wir haben
nichts mehr zu verlieren ajs unsre letzten Illusionen und
unsern Hitler. Das Nationalgefuhl bluht, es ist eine Freude zu
leben. Im iibrigen sind wir pleite.
82
WaS Wfrd Werden? von Thomas Droste
p\as fragt Ihr heut alle, einer den andern, das fragt Ihr heut
alle, wehn Ihr Gedrucktes kauft. Ihr fragt es, weil Ihr
Kihlt, daB es Euch an den Kragen geht, daB hinter dem freund-
lichen Wort ,,Bankfeiertag" mehr steckt, sehr viel mehr, un-
gleich mehr noch als alles, was mit Besitz von Geld oder Gel-
deswert zu tun hat. Euer Gefiihl ist richtig: es geht Euch an
den Kragen. Es wird ernst. Verflucht ernst.
,,Was wird werden?" So fangt Ihr an zu fragen. Und dann
geht es welter: ,,Kommt der Fascismus?" Antwort: Wir haben
ihn, wir haben seinen Anfang, und der ist Garantie fur sein
Anwachsen und Ausreifen. Ihr fragt weiter: ,,Kommt eine
neue Inflation?" Antwort: Vielleicht, denn es gibt viele
GroBmachtige, die sie often propagieren — wie Hugenberg und
mancher Schwerindustrielle — oder die sie im Stillen vorbe-
reiten — wie Kabinettsmitglieder, die uns wieder mit der Ren-
tenmark schrecken; aber genau so schlimm wie Inflation ist
Deflation, mit Beschlagnahme der kleinen Privatvermogen
auf Bank- und Sparkassenkonten, mit diktatorischem Abbau
der Einkommen, mit notverordnetem Hunger der groBen Masse.
Ihr denkt nach und fragt weiter, indem Ihr dies Jahr preisgebt,
diesen Sommer, den Herbst und mit einigem Frosteln auch
den Winter, Ihr fragt weiter iiber die sogenannte Zukunft:
,,Wird das Ende der Kommunismus sein?" Und wenn es Euch
nicht kiimmert, daB ich mich auf keinen Zeitpunkt festlegen
will, daB ich weder diesen Winter noch den nachsten noch
das Jahr 1935 als den bestimmt allerspatesten Zeitpunkt an-
gebe, an dem mit oder ohne unsern Willen, ja selbst trotz
unsrer starksten Gegenwehr der Kommunismus in Deutschland
das Erbe eines zusammengebrochenen Systems antreten wird,
dann sage ich auf diese Frage klipp und klar: Ja.
Doch damit ist diese Allerweltsfrage nur ftir eine unbe-
stimmte Zukunft beantwortet, und der Mensch ist nun einmal
neugierig, ist kurzlebig, ist an der Gegenwart mehr inter-
essiert als an der Zukunft und auBer an den grofien Idealen
auch noch an den kleinen Realien dieses ktimmerlichen Le-
bens. So schraubt Ihr den Radius Eures Fragens enger, Ihr
seht, mit dem einfachen MWas wird werden?" kommt ein prak-
tischer Mensch nicht viel weiter. So betrachten wir also diese
Zeitspanne, die uns interessiert, einmal vom andern Ende aus,
ganz nah am Heute. Dann heiBt die Frage: Was ist? Was ist
eigentlich plotzlich los? Bis vor kurzem war doch noch fiir
viele von uns, fiir alle eigentlich, die nicht arbeitslos und
hungrig sind, die nicht Idealisten genug sind, um das Leiden
der Massen trotz aller Ertraglichkeit des eignen Schicksals als
unertraglichen Hunger nach Gerechtigkeit, nach Harmonie und
Lebenssinn mitzuleiden — war doch fiir diese Unzahl von
Menschen, die nur grade so etwas Fiihlung, so etwas sympathi-
sierende Beriihrung mit den leidenden Objekten der groBen
Politik haben, alles einigermaBen in Ordnung. Alles Klagen und
Reden von Fascismus, Zusammenbruch und schlechten Zeiten
schien den meisten im Innern ihrer Seele so ein ganz klein
2 83
wenig theoretisch, so ein ganz klein we nig iibertrieben, so em
ganz klein wenig von dem Wollustgefiihl des Gruselns mitbe-
stimmt. Und nun plotzlich ist es so richtig ernst, so verteufelt
ernst geworden.
Der Staat verhindert, daB man schwer verdientes
Geld von der Bank, von der Sparkasse holt. Einzahlen darf
man, so sagen die Plakate, aber auszahlen, soweit es nicht urn
Lohne geht, die die Arbeitermassen von der StraBe fernhalten
sollen, auszahlen, das verhindert der Staat. Er wird noch
mehr verhindern. Noch viel mehrt was die Weimarer Ver-
fassumg als selbstverstandlich bezeichnet, was zu tun und er-
folgreich zu fordern wir gewohnt sind. Und wie er nicht nur
verhindert, daB die Gewerkschaften uber ihr Vermogen ver-
fiigen — iibrigens eines der ersten und wirksamsten Mittel, sie
stillzulegen, kaltzustellen, abzutoten, denn wie soil ten sie zum
Beispiel ohne Unterstiitzungsgelder streiken lassen? — , son-
dern wie der Staat auch gegen all die kleinen Familienmit-
glieder der herrschenden Klasse, die kleinen Unternehmer und
den Mittelstand riicksichtslos vorgeht, so werden seine wach-
senden Unterdriickungstendenzen sich auch in Zukunft nicht
nuir gegen das Proletariat richten sondern — fein sauberlich
abgestuft allerdings — gegen alle, bis auf die ganz groBen Ka-
pitalisten, bis auf die wenigen Trager, die wenigen aktiven
NutznieBer des herrschenden Systems. Sie im gleichen MaBe
wie die Volksmenge mit seinen NotmaBnahmen treffen zu
wollen, gibt der Staat zwar vor. Aber wenn er sie wirklich
damit trafe, wenn auch nur die Gefahr bestiinde, diese Herren
des Systems mit den MaBnahmen der Abwehr gegen seinen Zu-
sammenbruch zu treffen, so wiirden sie nie ergriffen werden.
Oder glaubt man, das Parlament ware ausgeschaltet, die De-
mokratie kurzerhand in die Ecke gestellt worden, wenn damit
nicht nur die Millionen Wahler der Volksmassen Mann fur
Mann ihren EinfluB auf die Staatsgeschafte verloren hattent
sondern wenn gleichzeitig auch die grofikapitalistischen Wah-
ler, Mann fur Mann, ihren EinfluB auf die Staatsmaschine ein-
gebtiBt hatten? Ebenso konnte in einem Staatssystem, das
doch auf der Heilighaltung des Privateigentums aufgebaut ist,
die Beschlagnahme und Sperrung der Bank- und Sparkassen-
konten nur erfolgen, weil die GroBen davon nicht fiihlbar be-
troffen werden. Sie haben ihr Barkapital im Ausland, das
Vielfache eines proletarischen Jahreslohns als Kleingeld in der
Weste, ihre Nahrungsmittel fiir geraume Zeit in Kellern,
Speisekammern, in Garten und auf Rittergiitern. Ihnen kann
ebensowenig die materielle Existenzgrundlage durch Notver-
ordnung g en o mm en werden wie der politische EinfluB durch
den Artikel 48. Ihnen konnen auch die KapitalfluchtmaBnah-
men der Regierung nichts anhaben, denn ihre Kapitalflucht ging
in eigne auslandische, Unternehmungen — und wenn der Staat
in seiner Not allzu energisch wird, wenn der reiche Mann mit
seinen nSicherungsmaBnahmen" zu nachlassig oder zu unvor-
sichtig war, so geht er halt seinem Gelde nach ins schutzende
Ausland. Es gibt nun einmal eine Macht des Geldes, die iiber
das Gesetz hinauswachst, wie es ganz unten auf der mensch-
lichen Stufenleiter eine Hilflosigkeit des Elends gibt, die Mil-
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Iionen Mcnschen verhindert, auch nur das mit Handen zu
fassen, was Gesetz und Rccht ihnen zubilligt. Die Schicht, die
in der Sphare der Wirksamkeit d«s Gesetzcs — im guten wic
im iiblen Sinnc — lebt, dicsc Mittelschicht erfahrt jetzt
schmerzlich, daB der Staat — zum Bcispicl mit der Sperrung
von Bank- und Sparkassenkonten — auch gegen sie vorgeht,
daB sie unter diese solide Rechtsbasis absinkt. So spricht sie
denn von dem „Sozialismus'\ der nun allmahlich auch Bruning
befalle, weil sie nicht weiB, daB dies der ernste Beginn der
fascistischen Diktatur ist, die sie selbst erstrebt. Aber getrost,
man wird dieser Mittelschicht noch mehr zumuten, man wird
ihr noch mehr Freiheiten und noch mehr Vorrechte einer herir-
schenden Klasse nehmen, man wird ihr schlieBlich auch off en
sagen, daB das nun einmal das Wesen des Fascismus sei, und
diese brave Mittelschicht, der man die Konten sperrt, der man
die Kapitalflucht verbietet, der man immer hohere Steuern ab-
fordert, diese brave Mittelschicht wird sich mit Ersatz in Form
von „vaterlandischen*\ militaristischen, gesinnungsstrammen
Phrasen und Versprechungen befriedigen lassen; nicht nur das;
sie wird mitmachen, sie wird sich auch, und grade, im Fascis-
mus als tragende und herrschende Schicht empfinden, weil es
den Massen unter ihrem Niveau — in den respektvollen Ab-
standen der militaristischen Stufenleiter von Oberherren,
Herren, Unterherren, Oberknechten, Knechten und Unter-
knechten — ja noch schlechter geht und weil sie eben nicht
durchschaut, daB sie nur das Werkzeug einer durchaus nicht
„vaterlandischenM, durchaus nicht dem Fiihrer-Ideal ent-
sprechenden Herrencliquie ist, Hier ist wieder ein Teil der
Frage, wie es wird, ein Teil der Frage, wie es schon heute ist,
fur diejenigen beantwortet, die verstehen wollen,
Dieser Eingriff in das Heiligtum des Privatbesitzes, dieses
Vorgehen gegen die staatserhaltende Mittelschicht beruht nicht
auf willkiir der Machthaber. Dazu schlieBen diese Aktionen
ein viel zu grofies Risiko in sich, das Risiko, daB diese Mittel-
schicht an „ihrem" System verzweifelt, daB die Unterschicht
Erbe eines beschleunigten Zusammenbruches wird. Die GroBe
dieser Eingriffe entspricht viclmehr der GroBe der Not, in der
das System sich befindet. Die Art des Eingriffes entspricht der
Art der Not. Bis jetzt konnte man im Verlauf der Wirtschafts-
krise den Eingriff in die finanzielle Sphare, die Beschneidung
der finanziellen Freiheit unterlassen, denn aus der Produktions-
und Absatzkrise, aus der feohn-, Arbeits- und Sozialkrise war
noch keine Finanzkrise entstanden, Jetzt ist sie da: beginnend
in Deutschland, bevorstehend fur die ganze Welt* Der Krisen-
wurm des in Selbstzersetzung befindlichen Kapitalismus ist
jetzt bis an seinen Lebensnerv, den Kredit, die Wahrung, das
Geld vorgedrungen. Verluste aus systembedingten Organi-
sationsfehlern der nationalen und der international en Pro-
duktion, verschlimmert durch die — im Grunde natiirlich eben-
falls systembedingten — „Zufalle" falscher Disposifcionen,
Spekulationen und „uberflussiger" Machtkampfe, haben sich
mit den offenbar gewordenen, allzulange durch Hin- und Her-
schieben verschleierten Kriegsverlusten schlieBlich an diesen
oder jenen schwachen Stellen des Systems — international ge-
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sehn in Qesterreieh und Deutschland, national gesehn bei der
Kreditanstalt, dem Nordwollekonzern, der Danatbank — offen-
bart, realisiert, ihrc Opfcr gefordert, Dicse Verluste fressen
wciter, riesige verschleiertc Verluste an alien moglichen andern
Stellen tendieren zum Tageslicht, lassen sich nicht mchr schie-
ben, verlagern, vertuschen, und aus all den unzahligen Fehler-
quellen des Systems flieBen die Quellen der Zusammenbruchs-
kraite. Der Staat erhebt sich gegen die Gefahren, er richtet
mit diktatorischen Mitteln Schutzdamme auf, Bilanzziffern ent-
wickeln ihn automatisch zur fascistischen Diktatur. Kein
andres ,,Wollen" kann in einer andern Richtung verlaufen, und
so ist wieder ein Teil der Frage nach dem ,,Was wird werden?"
beantwortet. So ist wieder der Spielraum fur die Betatigung
dessen, was wir mit unserm bloBen Auge als Gliick oder Pech
bezeichnen, um ein Gewaltiges eingeschrankt.
Wir sagten es schon am Anfang, es kann ein Zunehmen
der Deflation sein — eine immer grofiere Wertsteigerung des
immer knapper, trotz aller Besitzanspriiche immer knapper wer-
denden Geldes — oder eine neue Inflation — eine immer groBere
Wertverminderung des trotz zunehmender realer Verarmung
immer reichlicher werdenden Geldes: beides ist bei verschiede-
nen Auswirkungen gleich schlimm, denn beides schafft neue
Krisenherde, wirkt wieder verschlimmernd zuriick auf alles
das, was uns bisher als einziger Inhalt der Krise geniigend ge-
qualt hat: Absatzkrise, Produktionsstockung, Arbeitslosigkeitt
Senkurig des Lebensstandards und so fort. Auch hier wieder
eine Einschrankung des Spielraums fiir ,, Gliick" und MPech'\
fiir Entwicklungen, -die sich heute nicht voraussehen lassen;
eine Einschrankung irri Sinne eines leider berechtigten
Pessimismus.
Bleibt die Frage nach den Wirkungsmoglichkeiten einer
aufienpolitischen Verstandigung auf den Konferenzen in Paris
und in London, Fiir heute sei zu ihrer Beantwortung nur eins
gesagt: nur ein unbeschrankter Kredit der auslandischen Hoch-
finanz, gewissermaBen eine Blankogarantie fiir den deutschen
Staat, der ja seinerseits wieder eine Blankogarantie fiir die
deutschen Banken zu geben verpflichtet ist — nur eine solche
Riesenanleihe konnte den KrisenprozeB in Deutschland auf-
halten. Aufhalten, nicht aufheben, denn er ist kein ursach-
liches Mittel, da er nicht die Systemfehler bei Produktion und
Verteilung beseitigtt die den Kapitalismus von innen heraus
zerstoren. Aufhalten konnte ein solcher Riesenkredit — in
Deutschland. Um in der Welt, in den kreditgebenden Landern
die Krise zu beschleunigen und zu verstarken. Die Krise, die
dann spater auf Deutschland zuriickwirken miiBtc Denn —
und darin haben die Nationalsozialisten bitter recht — Deutsch-
land kann nicht fiir die alten, geschweige denn fur die neuen
Kredite Zinsen und Amortisationen zahlen, muB also Verlust-
zuschiisse nehmen, muB sich gewissermaBen einen Teil seiner
Reparationszahlungen zuriickgeben lassen, anstatt Kredite ord-
nungsmaBig garantieren zu konnen.
Ein solcher krisenaufhaltender Riesenkredit aber erfordert
politisches Entgegenkommen! Warten wir eine Woche ab.
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HoOVerS TragOdie vrn Oswald Garrison Villard
Als das erste Stuck einer Serie iiber Hoovers Politik ver-
offentlichte die ausgezeichnete new yorker Zeitschrift tNation*
in den Tagen, als der Hooverplan herauskam, den folgenden
Aufsatz:
J a, Hoovers Stellung ist nichts weniger als tragisch, Wenn er
wirklich der gefuhlvolle, stolze und edle Mensch ist, fur
den ihn seine Freunde halten, muB es ihm scheinen, als ob die
StraBe zum Ruhme nur zur Verzweiflung gefiihrt habe. Denn
jahrelang hat er Plane geschmiedet und gearbeitet und sich
gedemutigt, um das Hochste zu erlangen, was das amerika-
nische Volk zu vergeben hat, Es ist in seinen Handen zu
Asche zerfallen. In den vierunddreifiig Jahren meiner jour-
nalistischen Erfahrung hat kein President in seinem Eindruck
auf die Offentlichkeit so versagt. Er ist eine tragische Ge-
stalt, eine Gestalt, die man bemitleiden muB. Wenn er sich
nicht selbst beliigt, so muB er wissen, daB er versagt hat.
DaB die Menge seiner Mitbiirger ihm mit Gleichgiiltigkeit
gegenubersteht und daB Ungezahlte ihn mit der Wirtschafts-
katastrophe identifizieren, die die Nation uberkommen hat.
Allem voran muB man aussprechen, daB Hoover zum be-
trachtlichen Teil ein Opfer der Umstande ist. Es ist falsch
und ungerecht, ihn allein fiir die Arbeitslosigkeit und den wirt-
schaftlichen Wirrwarr verantwortlich zu machen, Beides wiirde
auch eingetreten sein, wenn der glatte und selbstgefallige Calvin
Coolidge im Amt geblieben ware. Es handelt sich um eine
uber die ganze Welt verbreitete Depression^ und die fahig-
sten Kopfe in Europa glauben, daB sich keine Nation allein
herausarbeiten kann: Nur eine gemeinsame Handlung kann
den normalen ProzeB von Produktion, Konsumtion und Handel
wiederherstellen. Aber als Republikaner kann sich Hoover
nicht dariiber beklagen, wenn das Land jetzt seine Partei fur
die fichlechten Zeiten verantwortlich macht, nachdem ihm
Generationen hindurch vorgeredet wurde, daB sein Gedeihen
unabwendlich mit den Republikanern verbunden sei. Er selbst
briistete sich wahrend seiner Wahlkampagne, daB die Nation
vom vdllen Suppentopf zur vollen Garage vorgeschritten ware,
Wie klein muB er sich jetzt vorkommen, wenn er seine Er-
nennungsrede vom August 1928 wieder durchliest, wo er er-
klart, daB wir dabei seien, eins der altesten und vielleicht edel-
sten Ziele menschlichen Strebens zu erreichen; die Abschaf-
fung der Armut. „Mit Armut", setzte er auseinander, „meine
ich das Nagen der Unterernahrung, der Kalte und der Un-
wissenheit und die Furcht vor dem AJter bei jenen, die willig
zum Arbeiten sihd/' Er fuhr fort: ,,Wir befinden uns heute in
Amerika dem endgiiltigen Triumph iiber die Armut naher als
je ein Land zuvor. Das Armenhaus ist bei uns am Versc.hwin-
den. Wir haben noch nicht das Ziel erreicht, aber wenn man
uns die Moglichkeit gibt, die Politik der letzten acht Jahre fort-
zusetzen, werden wir bald mit der Hilfe Gottes den Tag er-
blicken, wo die Armut aus unsrer Nation verbannt sein wird.**
Als ob dies nicht genug gewesen ware, iibertrumpfte er
sich noch: ,,Es gibt keine bessere Garantie gegen die Armut
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ais; jedem eine Beschaitigung! Das ist der haupisachlichste
Zweck der wirtschaftlichen Politik, die wir befiirworten/'
Kann er sich gerechterweise dariiber beklagen, wena er
jetzt, weniger als drci Jahre spater, fur die sechs odcr sieben
Millionen Arbeitslosen verantwortlich gemacht wird, die nicht
nur aul Abschaffung der Armut warten sondern auch vor
vollig leer en Suppentopfen sitzen und der Unterernahrung, der
Kalte, der Unwissenheit und der Furcht vor dem Alter ent-
gegensehen!
Aber wenn er auch nicht die Hauptverantwortlichkeit fur
die Panik tragt, so fallen ihm doch die kleinern Verantwort-
lichkeiten zu. Sein Schatzamt und die Bundesbank hatten die
Borsenspekulation schon lange vor dem Krach bremsen
konnen. Er hatte sich weigern und seinem Kabinettssekretar
verbieten konnen, diese endlosen irrefiihrenden Berichte iiber
den Charakter der Krise und die Ziffern der Arbeitslosen in
die Welt zu setzen. Wer prophezeit hatf muB den Preis dafiir
zahlenf wenn es sich herausstellt, daB seine Prophezeiungen
so beschaffen gewesen sind, als stammten sie aus einem Kin-
dergarten.
Auch in anderm Sinne ist Hoover das Opfer der Umstande-
Wir «ind Zeuge davon, daB nicht nur eine sondern mehrere
politische Weltanschauungen zusammengebrochen sind. Eben-
so erleben wir den Zusammenbruch eines ganzen sozialen
Systems. Es tut nichts zur Sache, ob es sich nochmals erhalen
und der Wohlstand sich von neuem einstellen wird. Denn
einige politische Legenden sind jetzt ganzlich zerstoben, und
wenn diese Panik zu Ende ist, wird es den Anstrengungen
aller Politiker der Welt nicht gelingenf die Sache wieder ein-
zurenken. Es ist schwer zu glauben, daB das amerikanische
Volk nochmals so dumm oder so versessen auf Gelderwerb
sein werde, daB es nicht riicksichtslos gegen einige der ange-
beteten Idole unter den Fiihrern des Geldmarktes vorgeht, die
jetzt mitten zwischenFehlschlagenentlarvtdastehen. Aber auch
hier sind die Lippen Hoovers geschlossen. Seit langem hat er
sich ruckhaltlos mit der Politik und den Systemen identifiziert,
die er so sehr bewundert.
Man muB Hoover auch bemitleiden, weil seine eigne Ver-
waltungstheorie niedergebrochen ist. Sein ausgezeichneter
Plan fiir die Reorganisation der Regierung ist nicht zustande
gekommen, zum Teil wegen der Gleichgiiltigkeit des Kon-
gresses, zum Teil wegen Hoovers eigner Unfahigkeit, das
offentliche Interesse wachzurufen und Dinge durchzudriicken.
Seine Methode, die Bedingungen eines Handelszweiges dadurch
zu verbessern, daB dieser Zweig selbst unter Fiihruiig der Re-
gierung in Aktion tritt,, hat teils Erfolg, teils aber auch nicht.
Eine Industrie nach der andern bricht unter seinen Augen zu-
sammen, die Gummi-, 01-, Zuckerindustrie, der Getreidehandel
und manches mehr. Ohne Kenntnis, wohin eine solche Politik
fuhren muB, ruft jede dieser groBen Industrien nach einem
Diktator und nach dem Recht, die Preise festzusetzen und ge-
meinsam vorzugehen, ohne die geringste Rucksicht auf die
Antitrustgesetze zu nehmen. Und doch nimmt Hoover weder
fxir noch gegen die Trustgesetze eine feste Stellung ein. Das
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Volk erwartete von ihm, dem Ingenieur, groBe Verwaltungs-
reformen. Es erwartete von ihm auBerordentliches Mitgeftihl
fur die Leidenden und Arbeitslosen. Das Volk dachte, daB er
uns zu einer klugen, auswartigen Politik, besonders in Hinsicht
aul Europa, verhelfen wiirde. Es hat mitangesehen, wie seine
genfer Abriistungskonferenz zusammenbrach und seine lon-
doner Abriistungskonferenz enttauschend endete, weil keine
starke Fiihrerschaft und kein klar umrissenes Programm vor-
handen war. Man dachte, daB er als Quaker unserm wachsen-
den Militarismus werde Halt gebieten konn^n. Aber unter
ihm, dem Quaker, hat die VergroBerung des Militaris-
mus weitere Fortschritte gemacht, bis unsre See- und
Landstreitkrafte zu einer Drohung fur Amerikas Freiheit ge-
worden sind. Zumindest hoffte man, dafi unter ihm, dem
ehemaligen Ingeriieur und Verwaltungsbeamten, es gelingen
•wiirde, Verschwendung und Untiichtigkeit aus dem Budget aus-
zumerzen. Aber auoh da leistete er eigentlich nur Kleinarbeit,
Was ist nun der Grund fiir diesen Zusammenbruch Herbert
Hoovers? .Wenn ich ihn so ruhig betrachte, wie es mir meine
Natur und mein Urteil gestatten, erscheint es mir, daB das-
jenige, was ihn hauptsachlich ruiniert, sein Mangel an Mut ist
oder, um es noch starker zu sagen, seine Feigheit. Es ist un-
verstandlich, daB Herbert Hoover, der sein Amt antrat ohne
jegliche Verpflichtunj^ gegen jemanden, trotz der groB-
ten Stimmenmehrheit in unsrer Geschichte nicht gewagt hat,
seine eignen Ansichten zu vertreten, daB er nicht gut zu heiBende
Ernennuingen vorgenommen hat, wie die, sich im Senat durch
einen Jim Watson vertreten zu lassen, daB er sich haufig mit
elenden Ratgebern, schabigen und diskreditierten Politikern um-
geben und ein Kabine'tt ernannt hat, dessen geistiger Durch-
schnitt undFahigkeit auBerordentlich niedrig sind. Keiner, den
ich kenne, hat dafiir eine Erklarung* Warum zum Bei-
spiel mufite der Prasident in eins der europaischen Lander als
Vertreter der Vereinigten Staaten einen Mann senden, der
sich bisher allein durch ' reiche Wahlgelder qualif iziert hat
Es stimmt, daB Wilson und andre Prasidenten Ahnliches ge-
tan haben. Aber warum muBte ein Ingenieur, ein Mann von
groBer geschaftlicher Tiichtigkeit, ein erprobter Administrator,
solchen schlechten Beispielen folgen.
Ja, im Grunde ist es seine Feigheit. Einer nach dem andern
erklart nach einem Besuch im WeiBen Haus vertraulich, er sei
iiberzeugt, daB Hoover als Privatmann gern RuBland an-
erkennen mochte, aber daB er es doch noch nicht zu tun
wage, weil die ofientliche Meinung dafiir noch nicht reif sei.
Aber fiir was ist ein Prasident uberhaupt da, wenh er nicht die
offentliche Meinung beeinflussen und in die Richtung fiihren
kann, in die ihn sein eignes Gewissen zieht. RuBland ist ein
Beispiel von vielen. Es ist unmoglich, nicht zu glauben, daB
Hoover dauernd seinem bessern Selbst Gewalt antut; daB er
es besser weiB als seine Handlungen es erkennen lassen, daB
ihn im Tiefsten seines Innern sein Gewissen plagt Wie fast
jeder andre Politiker auf der Welt hat er haufig seinen eignen
Glauben abgeschworen und hat oft und von Grund auf Kom-
promisse geschlossen, Aber die kleine, leise Stimme beunruhigt
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ihn oft, das wollen wir ihm wenigstens zugestehen; doch seinen
Mut in bcide Hande zu nchmen, das gelingt ihm selten. Eben-
so wcnig wie cin Watson oder cin Tilson hat er die cinfachstc
und klarste aller politischcn Wahrhciten erfaBt, dafi das Volk
bei seinen Fiihrern nichts so sehr wie die Tapferkeit ehrt,
Nein, oft ist er so schuchtern wie der Schtichternste, und das
Gespenst einer zweiten Wahlperiode verfolgt ihn ebenso be-
harrlich wie Banquos Geist Macbeth verfolgte. Was bringt
denn einen sp ungliicklichen Menschen wie ihn dazu, sich
weitere vier Jahre dieses Lebens im WeiBen Haus zu wtin-
schen? Stolz? Die Hoffnung, daB ein Erwachen der Prospe-
rity vor dem Ende seiner zweiten Regierungsperiode ihm die
Hochrufe der Menge bringen wird? Die Hoffnungf dafi man
noch einen Sieg erringen kann, wenn man an der Prohibition
festhalt? Der EntschluB, nicht hinter Washington, Lincoln,
Cleveland, Roosevelt, Wilson als nur einmal gewahlter Presi-
dent zuriickzustehn? Man miiBte eigentlich denken, daB er sich
nach der Ruhe eines privaten Lebens sehnt.
Jedermann weiB, daB keiner eine so diinne Haut hat wie
Mr. Hoover; kein andrer Bewohner des WeiBen Hawses hat je
so unter der Kritik gelitten oder war fur Tadel so empfang-
lich, nicht einmal Wilson. Die Weigerung eines Freundes,
weiter mitzumachen, ist fur ihn ein nicht endenwollender
Schmerz, der in seiner Brust immer wieder aufs Neue wiihlt.
Dazu kommt noch, daB seine Feinfuhligkeit sehr mit seiner Er-
regbarkeit zusammenhangt und seine leicht erregten Gefiihle
nahe an der Oberflache liegen. Es ist seltsarh, daB er nichts
von der schnellen Philosophie des Pioniers hat, nichts von der
Bereitschaft, heiter zu geben und zu nehmen, alles Bestandteile
des taglichen Lebens, die man mit einem vielgereisten In-
genieur u<nd Beamten in Zusammenhang zu bringen geneigt ist.
Scheinbar hat er sein Herz darauf gesetzt, seine innere Rettung
durch eine Wiederwahl zu erreichen. Er hegt d-en Wunsch
eines schwachen Mannes, als der groBeund herrische Fiihrer
zu erscheinen, der er nicht ist. Wahrenddessen lassen ihn
seine Scheu und seine Empfindlichkeit allzu oft von seiner
schlechtesten Seite erscheinen. Ich sah ihn einmal in einem
Kino einen Becher von einem hiibschen, jungen Pfadfinder ent-
gegennehmen, nachdem dieser Knabe, durch die Kalte de&
Prasidenten verangstigt, seine Ansprache schnell herunter-
gehaspelt hatte. Ais Antwort horte man von Hoover nichts
als ein „Danke schon". Keine groBziigige Geste; keine freund-
liche Hand legte sich auf die Schulter dieses Knaben, kein
Wort fur die andern Pfadfinder. Nur ein „Danke schon". Na-
turlich bemiihte sich sein ,besseres Ich wie gewohnlich umsonst,
durchzubrechen* Seine Unfahigkeit, sein Mangel an Anmutf
in Verbindung mit Schiichternheit, verhindern die offentliche
Wirkung eines Mannes, den seine intimen Freunde als einen
Menschen von Herz und Warme kennen und lieben.
Und doch kann er kampfen, manchmal so gut, daB der Zu-
schauer Lust aul mehr bekommt, so gut, daB man sich fragt^
warum er sich so selten und so langsam dazu bequemt.
Die Menge hatte geglaubt, daB bei seinem Amtsantritt
eine neue Ara beginnen wiirde, daB ein neuer Typ des hohen
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Beamten eingetfeten sei, der Tiichtigkcit und Fahigkeit und
vollige Unabhangigkeit iiber alles stellen wtirde. Statt einer
neuen Fiihrcrschaft sehen wir uns nur alter verbrauchter Tra-
dition gegeniiber. Hoover tmterscheidet sich von Coolidge und
andern Prasidenten nur dadurch, daB er ein viel schlechterer
ist. Niemand kann behaupten, daB die gute Seite seiner Tatig-
keit ihn als Mann enthiillt, der iiber alle andern befahigt ist,
das Staatsschiff in der drohenden Notlage zu steuern* Wird
er den Mut haben, den veranderten Verhaltnissen mit eiserner
Stirn entgegenzutreten, wie unsre Wirtschaftsfiihrer es von
ihm erwarten? Oder wird er verdrossen und ohne innere
Oberzeugung nachgeben? Nachgeben muB er in vielen Punk-
ten, wenn unser wirtschaftliches Ungliick weiter fortschreitet,
sonst aber laBt uns weder Ungliick prophezeien noch herauf-
beschworen. Tatsache ist aber, daB an Tagen, wo man Plane
und Programme fur den Augenblick machen und neue Kurse
auf den Karten suchen miiBte, um unveranderlichen Flauten
und Winden zu begegnen, der Kapitan nichts andres zu sagen
hat, als daB der Sturm sich bald legen und daB der Himmel
bald wieder klar sein wird.
Die Menge hatte gehofft und geharrt, und die einfachen
Leute hatten sich einen richtigen Fuhrer gewunscht,. einen
neuen Fuhrer. Sie hatten von einem Mann im WeiBen Haus ge-
traumt, von dem man niemals sagen konnte,, daB er nach-
gegeben oder Kompromisse geschlossen oder das politische
Spiel gespielt hatte. Aus diesem Grunde sagen jetzt die Leute,
daB Hoover nicht eine neue und bessre Ordnung der Dinge
und eine neue und gerechtere Welt wunsche. Die Flut der
Entwicklung schreitet rasch an ihm vorbei und laBt ihn auf
dem Trockenen zuriick. Ein zusammengedukter Mann in
dem schonsten Haus Amerikas. Mit der besten Gelegenheit,
sich nicht nur zu dem Regenerator und moralischen Fuhrer
des Staates Amerika sondern der ganzen Welt zu machen. Er
fiirchtet, die Fiihrerschaft an sich zu reiBen, die leicht seinen
Namen und seinen Ruhm in die unvergangliche Rolle der Zeit-
geschichte schreiben konnte.
Deutsch von E. L. Schiffer
Potentiel de Guerre von Otto Lehmann-RufibOldt
I
VVTahrend dcr Maitagung des Volkerbundsrats gab es bei der Er-
** orterung des von Deutschland vorgelegten sogenannten Frage-
bogens iiber den Riistungsstand der Staaten (Indications relatives
a l'6tat des armements des divers pays C 283. M. 133. 1931; IX) ein
kurzes Nachgewitter der Auseinandersetzungen auf der Vorbereiteu-
den Abriistungskonferenz, Auch hierbei trat wieder zutage, daB in
den verschiedenen Lagern des Volkerbundes das Gegenteil von der
Gesinnung herrscht, die der Absatz 6 des Artikels 8 (des Abriistungs-
artikels) der Satzung voraussetzt, Dieser Absatz 6 lautet:
Die Bundesmitglieder iibernehmen es, sich in der offensten
und erschopfendsten Weise gegenseitig jede Auskunft iiber den
Stand ihrer Rustungen, tiber ihr Heeres-, Flotten- und Luftschiff-
3 91
fahrtsprogramm und iiber die Lage ihrer auf Kriegszwecke einsteil-
baren Industrien zukommen zu lassen.
Diese gegenseitige Auskunftserteilung ist nur folgerichtig, wenn
man wirklich abrusten will. Ihre „offen$te und erschopfendste" Aus-
fuhrung wurde aber den vollendeten Selbstmord jedes militarischen
Apparats bedeuten und damit die Aufhebung der Basis der modernen
imperialistischen Staatengebilde. Denn jeder General wird dazu er-
klaren: ,,Wie, ich baue eine Streitmacht auf und dann soil ich meinen
moglichen Gegnern, wie bei einem Offenbarungseid die Zahl meiner
Strtimpfe, die Zahl meiner Patronen aufzahlen? Das widerspricht ja
dem ersten Grundsatz der Verschleierung meiner Stellung!"
Dieter unbekannte General hat natiirlich Recht. Jene Bestim-
mung ware auch nicht in das Volkerbundsstatut hineingekommen,
wenn nicht 1918/19 nach den Ausschweifungen des Weltkrieges ein
furchterlicher Katzen jammer bei den sogenannten ,,Lenkern der Vol-
kergeschicke" geherrscht hatte und wenn diese aus ihrem schlechten
Gewissen heraus nicht geglaubt hatten, damals die emporten Volker
beschwichtigen zu miissen.
So geht es denn mit dieser Einzelbestimmung und mit dem gan-
zen Artikel 8 des Statuts wie mit der Bergpredigt, von der Luther
sagte: ,fDas Wort sie sollen lassen stahn." Aber — wie legt man es
aus! So legen denn auch seit 1925, das heiBt seit der „Vorbereitung"
der Abriistungskonferenz, die riistungsfreien und die riistungsbe-
schrankten, die riistungsstarken und die riistungsschwachen Teilneh-
mer der Abriistungsverhandlungen den Artikel 8 aus! Sie tun das
nicht in ,,offenster und erschopfendster Weise", sondern so wie es
Theologen bei ihren Streitigkeiten tun.
Bei der Auskunftserteilung iiber den Riistungsstand trat das ganz
besonders hervor. Der sogenannte (1Konventionsentwurf'\ gegen den
Deutschland stimmte, sah Muster-Tabellen vor, die die stehenden
Truppen nach der Zahl, aber das Kriegsmaterial nach dem MaBstab
der Geldmittel hierfiir verzeichnete. Die Deutschen wollten auch
die Reserven an Truppen offengelegt haben, ferner verlangten sie die
Bestande des Waffenmaterials nach Stiickzahl, auch des Reserve-
materials. Diese ihnen immer wieder abgelehnte Forderung wieder-
holten sie im Mai dieses Jahres, England setzte durch, dafi es beim
ursprunglichen Vorschlag blieb. Vom Interessenstandpunkt der Vol-
ker — nicht zu verwechseln mit Volkerbund — muBten beide Vor-
schlage, die sich erganzen, durchgefiihrt werden. Wo der Hase im
Pfeffer liegt, erkennt man daran, dafi der Vertreter Jugoslawiens bei
Erorterung des deutschen Fragebogens ironisch erklarte, daB dessen
Beantwortung in einer Reihe von Landern gegen die gesetz lichen Be-
stimmungen iiber den Schutz der Landesverteidigung verstoBen wurde,
also Landesverrat bedeute.
jEs handelt sich jetzt weniger um die Klarstellung dieser Vor-
gange im einzelnen, als darum, festzustellen, daB sowohl in den
Mustertabellen des Konventionsentwurfs der Vorbereitenden Ab-
riistungskommission als auch im deutschen Fragebogen keine Rubrik
vorgesehen ist fur jenen Faktor der Riistung, der im Zukunftskrieg
viel mehr noch als im Weltkrieg der entscheidende Faktor sein wird.
Es ist das sogenannte Potentiel de guerre.
Von diesem geheimnisvollen Ding war unter anderm einmal in
historischer Stunde die Rede, am 7. September 1928, als in Genf der
Reichskanzler Hermann Miiller Anklage erhob, dafi Deutschland durch
den Versailler Vertrag hinsichtlich seiner Wehrkraft so ungleich be-
handelt sei. Da erhob Briand drei Tage spater patriarchalisch den Fin-
ger: Ei, ei! Denkt an die Kraft Eurer Industrie!
Die Industrie ist namlich auch ein Stuck des Potentiel de guerre,
sogar das Bratenstuck. Allgemein verstandlich konnte man dafiir
92
sagen Kriegsfahigkeit, Kriegspotenz. Das heifit also nicht aktive
Kriegsmacht, sondern latente, schlummernde, aber vorhandene Mog-
lichkeit, kriegerische Kraft zu entwickeln. Das ganze Problem ist nur
ein Spezialfall unsres Maschinenzeitalters iiberhaupt. Es entspringt
aus dem Verhaltnis des Menschen zu seinem Werkzeug, hier des
Kriegers zu seiner Waffe. Uralt sind zwar Werkzeuge und damit auch
, die Waffen. Uralt sind auch die ersten Ansatze modernster Waffen,
wie der Kampfwagen bei den Agyptern, Assyrern, Griechen, wie des
chemischen Krieges in mancherlei Versuchen mit erstickenden oder
verbrennenden Substanzen; uralt ist vor allem das taktische Mittel
der organisierten Massenwirkung der Krieger zusammen mit den
Waffen in der griechischen Phalanx und der romischen Schildkrote,
wodurch man den viel kampftuchtigeren Barbaren, den Kelten und
Germanen iiber war.
Nicht der Weltkrieg sondern eigentlich erst die Zeit nach dem
Weltkrieg, etwa von 1922 an, leitete eine Entwicklung der Kriegskunst
ein, die eine Wende bedeutet, die nur vergleichbar ist der Einfuhrung
der Feuerwaffen. Besonders die, die den Weltkrieg noch heute
schmerzhaft genug an ihren Wunden fiihlen, werden mit Oberraschung
sagen: „Es war doch schon grade genug, kann es denn noch dicker
kommen?" Ja, es kann und es wird sogar, wenn dieser Wende in der
Kriegskunst nicht auch eine Wende in der Kunst folgt, mit der die
Volker den Volkerbund dazu zu erziehen haben, ehrlich das durch-
zufiihren, was er jeden Tag verspricht.
Jedermann und besonders Manner der sogenannten republikani-
schen Parteien Deutschlands werden hierzu naseriimpfend erklaren:
„Aha, Angsttraume und Obertreibungen eines exaltierten Pazifisten."
Ohne der Verlockung zu folgen, Werturteile iiber das abzugeben, was
„sich" und was „man" so Pazifismus nennt, sei zum Beweis dieser Be-
hauptung, dafi die Wende zur modernsten Kriegskunst nicht mit, son-
dern ausgereift erst nach dem Weltkriege erfolgte, hingewiesen auf
die Schrift des Reichsarchivrats und Majors a. D, Georg Soldan „Der
Mensch und die Schlacht der Zukunft" (Gerhard Stalling in Olden-
burg 1925). Dieser stramm deutschnationale alte Frontkampfer und
jetzige Publizist sieht die Pazifisten an wie ein indischer Brahmin e
einen Paria, namlich wie einen Aussatzigen. Was Soldan sagt, ist
nichts andres, als was eine Reihe englischer, franzosischer und ameri-
kanischer Offiziere in Biichern und Zeitschrxften dargelegt haben.
Es laJ3t sich das ungefahr in drei Worte zusammendrangeh: der
individuelle Kampfer hort auf, der Unterschied zwischen Kampfern
und Nichtkampfern hort auf, die Kampffront besteht nicht mehr in
einer Gefechtslinie, sondern im dreidimensionalen Raum der poli-
tischen Gebilde, die miteinander kampfen und den man an jedem
Punkte mit Gift, Blut und Tod erfullen kann. Bei Soldan iiber-
stiirmt einmal menschliches Fiihlen den Militar und er ruft aus:
„Wenn Wahrheit wird, was der Phantasie vorschwebtt dann ist das
nicht mehr Krieg, dann ist das eine Vernichtungspest, ein gegenseitiges
Ausrotten der Volker/'
Der Ausdruck Phantasie ist dahin zu prazisieren, dafi sie das
Bild moderner Militarwissenschaft so wiedergibt, wie man vor dem
Weltkriege die Wirkung moderner Schnellfeuergeschiitze voraussagte,
die sich dann an zehn Millionen Toten auch bestatigte. Soldans
Prophezeiungen wird man nicht als pazifistische Angsttraume abtun
konnen.
Soldan beschaftigt sich auch mit Deutschlands Zukunft. Man
kann sagen, daB Ludendarff in seinem Buch „Weltkrieg droht", das
ebensowie das Soldansche jeder Deutsche, besonders jeder Militarist,
genau studieren sollte, die Konsequenzen solcher Betrachtungsweise
gezogen hat. Fur unsre Betrachtung handelt es sich aber urn das
93
Wohl aller Volker, also auch des deutschen Volkes, gegentiber dem
Apparat des Militarismus iiberhaupt, der eben der Feind dieser Vol-
ker ist, die ihn tragen. An diesem Apparat des modernea Militaris-
mus ist das Material, wie Soldan, wie Seeckt und alle Militarschrift-
steller der alten und neuen Welt ausfiihren, das Entscbeidende: Ma-
terial, umgeformt in Kriegsmaschinen. GewiB steht an einer S telle
der Maschinen immer wieder ein Menscb und ganz allein von seinem
Nerv hangt es ab, ob in entscheidenden Momenten die Mascbine so
oder so wirkt. Aber im Verhaltnis vom Mensch zum Werkzeug, wie
es in -f der Handhabungk des Pf luges oder speziell bier im Verhaltnis
des Kriegers zum Sdhwert in seiner Urform zu sehen ist, ist jetzt die
Wende eingetreten, dafl das Schwert als Riesenmordmaschine nicbt so
sehr vom Muskel als vom Nerv gelenkt wird und das fast immer ein
sorgfaltig eingeiibtes Kollektivum von Menschen zur Funktion der
Mascbine notig ist.
Diese Kriegsmaschinen, zwischen denen der Krieg der Zukunft
vor sich geht, bestehen nun erstens aus Material, aus Rohstoffen, und
zum zweiten: sie mtissen hergestellt werden. Diejenige politische Le-
bensgemeinscbaft, die tiber das beste und meiste Material verfiigt
und die die besten Fabrikationsmethoden zur Herstellung von Kriegs-
maschinen erfunden hat, die wird einen Krieg gewinnen. Das ist der
moderne Ausdruck dessen, was Friedrich II. mit dem Satz aussprach:
„Der Hebe Gott ist immer bei den starksten Bataillonen,"
Von hochstem Reiz ist es nun, zu beobachten, wie diese Wahrheft
bei den Abriistungsabsichten des Volkerbundes zum Durchbruch
kommt — und im entscheidenden Augenblick wieder verschwindet.
Schon aus den Erfahrungen des Weltkrieges heraus hatte man im
Absatz 6 des Artikels 8 bei der Forderung der gegenseitigen Aus-
kunftserteilung iiber den Rtistungsstand ganz richtig vorgesehen, daft
man sich auch Auskunft zukommen lassen solle: T1iiber die Lage der
auf Kriegszwecke einstellbaren Industrien".
Daraufhin ist auch im Anhang des in jedem Jahr vom Volker-
bund herausgegebenen „Militar-Jahrbuches" eine solche Nachweisung
versucht. Sie ist so liickenhaft, daB jeder aufgeweckte Student der
Volkswirtschaft sie besser machen wiirde. Eine Entschuldigung liegt
nur darin, dafi die Redakteure solcher Publikationen des Volker-
bundes sich streng an die von den Staaten gemachten Angaben halten
miissen.
Die Mustertabellen des Konventionsentwurfs und der zum Trotz
dagegen ausgespielte deutsche Fragebogen sind sich nun darin einig,
wie sie die Mangel des Militarjahrbuches in bezug auf das Potentiel
de guerre „beseitigen" — wenn man es so nennen will. Sie stellen
eine Rubrik dafur iiberhaupt nicht auf, obgleich der letzte Satz des
Absatzes 6 Artikel 8 sie ausdrticklich verlangt. Sie handeln nach der
Praxis, daB das, was iiberhaupt nicht gesagt wird, nicht falscb sein
kann, also auch nicht gefalscht sein kann.
Nicht nur das! Im „Militar-Wochenblatt" (1929 vom 4. August
Seite 163) erklart Oberstleutnant Doktor Regele in einem sonst durch-
aus gut durchdachten Aufsatz: „ tDas Potentiel de guerre* ist aus alt
diesen Erwagungen heraus von Haus aus als eine Unmoglichkeit zu
betrachten." Er beruft sich sogar auf den Volkerbund, der das alles
durchberaten habe. Man sollte sich wundern, wenn nicht doch schon ein
intelligenter deutscher Generalstabsoffizier sich an dieser Aufgabe ver-
sucht hatte, Oder sind andre Griinde als die der wirklichen Unfahig-
keit maBgebend? Aus dem Grundsatz der Verschleierung, der „Tar-
nung", dem einzigen modernen Ausdruck aus deutschem Sprachschatz
im Bereich des Militars? Es ist sehr komisch, dafl beim „Militar" vom
General bis zum Korporal, von der Artillerie bis zum Train, vom
Pour le merite bis zum Potentiel de guerre alles dem Sprachschatz
94
des „Erbfeindes" entstammt. Nur Tarnung und Schreibstube sind
deutscb.
Obrigens nimmt Salvador de Madariaga in einem 1929 von der
Oxford University PreB herausgegebenen grofieren Werk disarma-
ment" die Urbeberschaft des Wortes „War potential" fiir sich in An-
spruch. Er lafit aber nicht erkennen, ob man nicht fiir die Bemessung
der Kriegskraft ebenso einen Mafistab finden konnte wie fur die
mechanische Kraft in der Pferdekraft PS oder fiir den elektrischen
Strom in Kilowatt kW,
Warum soil das „unm6glich" sein, wie der Oberstleutnant Regele
behauptet. Es ist letzten Endes doch keine andre Aufgabe als die,
ein jetzt erst eroffnetes Gebiet modernen Lebens in die Formen mo-
dernen Wissenschaftsbetriebes einzugliedern. Wenn das mit der
menscblichen Seele durch Psychoanalyse und Psycbotechnik gelingtf
so muB das auch mit der militarischen Massenseele und ihrem Appa-
rat moglich sein. Es mag schwierig sein. Die Hauptschwierigkeit
wird zunachst darin bestehen, dafi es den Leuten vom Bau nicht
pafit, systematisch und genau hinter eine Sache zu kommen, von der
sie alle in alien Vaterlandern behaupten, daB sie die Hauptsache sei.
Aber diese zur Schau getragene Ignoranz raufi grade den Argwohn
derer scharfen, die sich als die Gegner dieser Militarkaste betrachten,
die friedenswilligen Burger aller Lander, die glauben sollen, daB der
ganze Apparat mit einigen Hunderttausend Mordmaschinen zum
Schutze ihres Lebens und ihrer „Heimat" aufgebaut sei. Grade nach
den Gesetzen der Strategie und Taktik muB der Burger alles daran
setzen, iiber die „Hauptsache" beim militarischen Gegner unter-
richtet zu sein.
So haben wir uns denn in einem kleinen Kreise an den Versuch
gemacht, das Kriegspotential zu erfassen. Nicht aus Ehrgeiz, den
Generalstablern Konkurrenz zu machen, sondern urn den Gegner ge-
nau zu kennen.
Wir haben unterschieden zwischen
KE = Kriegs-Effektiv, das heiBt bestehende aktive Armee-
macht an Menschen und Material.
Die Franzosen haben hierfiir den Ausdruck „Puissance de
choc" (StoBkraft) gepragt, Madariaga nennt es War Power.
KR =■ Kriegs -Reserve, das heiBt vorhandene ausgebildete Re-
serven an Menschen und Material in Arsenalen.
KP = Kriegs-Potential, das heiBt die in verschiedenen Graden
vorhandene Volks- und Materialkraft eines politischen Gebildes,
um diese Krafte in militarischen Formen auszumiinzen/
Es sind bei KP weiter zu unterscheiden:
a) psychologische Faktoren: kriegerische Fahigkeiten, Erfin-
derfahigkeiten, politische Begabung, zum Beispiel richtige Btind-
nisse abzuschlieBen,
b) biologische Faktoren: vorhandenes, unausgebildetes Men-
schenmaterial, Stand der Landwirtschaft, Holzvorkommen, Grad
der Viehzucht, Gespinstfasern,
c) mineralogische Faktoren: Kohle, Eisen- und Olforderung,
aber auch deren ungehobene Vorrate, Spezialmetalle desgleichen,
chemische Produkte, auch Kali, deren besondere Qualifikation und
deren ungehobene Vorrate,
d) technologische Faktoren: Verkehrswege und Verkehrsmittel,
Maschinenindustrie, Wasserkrafte und deren Vorkommen, etwaige
andre zu erschlieBende Quellen mechanischer oder elektriscber
Kraft
95
Ein weiteres notwendiges Unterscheidungsmittel mufi in den
Graden der Erschliefiung potentieller Kriegsmacht gesucht werden.
Es ist ein Unterschied, ob man zwecks Hebung der Kohlenfdrderung
eine Zeche nur starker auszubeuten braucht oder ob man erst eine
neue Schachtanlage zu bohren bat. Mindestens nach zvyei Stufen
miifite mart diese Faktoren KP in Rechnung stellen: Steigerungsfahig-
keit, Erschliefiung schon bekannter Vorkommen,
Worin ist aber der MaCstab fur KE, KR und KP zu suchen?
Man konnte das tun, was seit uralten Zeiten' jeder Staatsmann
und jeder Feldherr instinktiv tatf indem er sich iiberlegte, wie viel
Hundertscbaften oder wie viel Bataillone er auf die Beine bringen
konnte. Heute wiirde man sicb fragen: Wie viel kriegsstarke Di-
visionen? Nun stande deren Zahl fur KE (Kriegs-Effektiv) genau fest,
fur KR (Kriegs-Reserve) sollte sie fiir die Kriegsministerien auch zu-
verlassig bekannt sein. Aber fur KP? Wie kann man fur die Kriegs-
potenz von Menschen, Baumstammen, Petroleuraquellen, Erzlagern,
Wasserfallen, Baumwollfeldern, Getreidespeichern, Motoren und sogar
fiir Intelligenzen und seeliscbe Fahigkeiten einen gemeinsamen Gene-
ralnenner finden, urn darnach zu berechnen, wie viel kriegsstarke
Divisionen eine politische Gemeinschaft in einem Monat, in einem
Jahr aufstellen kann und wie lange uberhaupt.
Wir glauben, solchen Mafistab mindestens fur die biologischen,
mineralogischcn und technologischen Faktoren im GroBhandelsindex
der Produkte kombiniert mit den Produktionsmoglichkeiten und Roh-
stoffen zu seben. Selbst fiir die psychologischen Faktoren ist in der
Zahl wissenschaftlicher Werke und der Patente ein MaBstab zu er-
blicken.
Ein gelungener Versuch ist zu finden in einer Studie des ersten
Bibliothekars der Deutscben Heeresbiicherei, Oberstleutnant Doktor
Stublmann, der im ,Militar-Wochenblatt* (1929 Nummer 2 . Seite 55)
die MKriegswissenschaften in Deutscbland und im Ausland" unter-
sucht, Danacb erscbienen 1927 Werke iiber Kriegswissenschaft in
Deutschland 212, England 197 usw. Ungarn mft 52 zeigt im Verhalt-
nis zu Deutscbland eine doppelt so bobe Produktion, Stuhlmann
urteilt: „Das Gebiet der Kriegswissenschaften hat in Deutschland seit
dem Kriege eine grofiere und selbst andigere Stellung gegen friiher er-
langt, Auch erscheinen manche wichtigen Werke nicht im Buch-
handeL"
Bei diesen Untersuchungen wurden wir von Rudolf Goldscheid
auf eine Arbeit von Professor H. Staudinger aufmerksam gemacht
(Technische Hochschule Zurich), die schon im Juli 1917 in der da-
mals von A. H. Fried in der Schweiz herausgegebenen ,Friedenswarte*
verof fentlicht wurde. Es war ein grofiartiger Fund. Da hatte ein
vermaledeiter Pazifist sich herausgenommen, zwolf Jahre vor dem
Votum des Oberstleutnants Regele jene Aufgabe zu versuchen, die
dieser als „unmdglich" erklart hatte. Auf vierzehn Spalten gab Stau-
dinger schon Antworten auf die Frage nach dem sogenannten „Siege",
auf welche Frage nocb anderthalb Jahre lang an den Fronten Europas
Millionen Menschen praktisch das Exempel statuierten und dann mit
ibren Wunden und Leiden endlich dasselbe herausbekamen, was
Staudinger mit einigen kleinen Tabellen schon vorher beantwortet
hatte.
Staudinger stellt in dieser Studie „Technik und Krieg" zunachst
die Bedeutung von Kohle, Eisen und Wasserkraften fiir die Krieg-
fiihrung fest.. Er erinnert daran, wie aus der Kohle Sprengstoffe und
Arzneimittel herausgeholt werden. Er untersucht, welchen Zuwachs
an Pferdekraft (PS) die menschliche Arbeitskraft dadurch erhalt. Er
wahlt wegen der Grofie der Zahl das. Pferdekraft jahr zur Grundlage
seiner Berechnungen des „Potentiel de guerre" der beiden kampfenden
96
Gruppen, (Dieser Ausdruck findet sich aber bei ihm noch nirgendsl)
Die Verbrennungswarme von 1 kg Steinkohle rechnet er zu rand
7000 Kalorien, die von 1 kg Braunkohle zu 3500 Kalorien, 632 Ka-
lorien = 1 Pferdekraftstunde, 3000 Arbeitsstunden = 1 Pferde-
kraftjahr,
Darauf stellt er in Tabellen die Kohlenforderung in tiblicher
Weise in Millionen Tonnen dar, die Eisenforderung, die Wasserkrafte,
er berechnet nach der Zahl der Einwohner den Anteil des Pferde-
kraftjahrs pro Nase.
Als Beispiel seiner Methode fiihrt er zunachst den Ausgang des
Krieges zwischen Deutschland und Frankreich 1870/71 an.
Eisenerz
in Millionen
Roh-Eisen
Tonnen
Kohle
Pferdekraft-
jahre in Mill.
Deutschland . . .
Frankreich ....
3,8
2,6
1,4
1,2
34,0
13,2
6,7
.2,9
Uberraschend ist es, wenn er 1866 fur Preuflen eine technische
Uberlegenheit von 1,05 Millionen Tonnen Roheisenproduktion gegen
0,28 Millionen Tonnen Oesterreichs feststellt, daher PreuBens Sieg
iiber Oesterreich, aber Oesterreichs Sieg iiber Italien zur gleichen
Zeit aus dessen technischer Unterlegenheit erklart. Ferner: „Im
amerikanischen Burgerkrieg siegte der kohle- und eisenreiche Norden
iiber die technisch schwachern Siidstaaten."
Der Vorgang von 1866 wiederholte sich im Weltkrieg, wo das
technisch iiberlegene Deutschland RuBIand besiegte, aber gegeniiber
dem technisch starkern Zwilling England -Amerika unterlag.
Zu unheimlich prophetischer Hohe erheben sich Staudingers
irockene Tabellen, wenn man sie in folgender Reihenfolge betrachtet
(es sind hier nur die Pferdekraftjahre als Resultat von Kohle und
Eisen aufgefuhrt):
L Bei Ausbruch des Krieges.
Zentralmachte
Frankreich, Rutland, Belgien
II, Durch Deutschlands Besetzung von Belgien,
Nord-Frankreich und Polen erfahrt es einen
Gewinn, durch den Hinzutritt Englands eine
Einbufie seiner tlberlegenheit
Zentralmachte -
Frankreich, RuBIand, Belgien, England
III. Nach dem Hinzutritt Amerikas (1917, als
Staudinger diese Tabelle aufstellte) sah die
Rechnung so aus:
Zentralmachte
Entente und Amerika
Pferdekraftjahre in Millionen
92,2 '
35
108,5
116,3
108,5
295,3
Der Frieden Deutschlands mit RuBIand verminderte die letzte
Zahl nur auf 285,3 Millionen, so daB das Schicksal der Zentralmachte
aus dieser kletnen Tabelle Staudingers schon anderthalb Jahre vor
dem „DolchstoB" zu erkennen war.
In einer Schlufibetrachtung soil untersucht werden, wie man diese
Spur weiter zu verfolgen hat. Wohlgemerkt, nicht um die Arbeit der
General stabler zu untersttitzen, also den vollkommenen Sieg auszu-
rechnen und die Kriegskunst zu vervollkommnen, sondern um den
Krieg abzuschaffen.
97
Wiedersehen mit England von won zucker
Schlufi
Es ist ein Gluck fur England, daB sich in den breiten Mas-
sen dieses Volkes eine sehr gesunde Abneigung gegen alle
Posen erhalten hat, daB die Uniform dort stets viel zu sehr als
Maskerade, als Oberbleibsel ernes prachtigen Barock empfun-
den wird, als daB N sie wahrhaft ernst genommen werden
konnte. Die steinern unbeweglichen Horseguards, die auf ihre
Pferde gehoben werden miissen, damit ihre Stiefel keine Spur
ihres Glanzes verlieren, die Wache vor dem Buckingham Pa-
lace mit ihren Barenfellmiitzen und dem niedlichen Filzrollchen
auf dem Riicken wirken dekorativ und nicht militaristisch, und
zu einer guten Abendgesellschaft kann ein Offizier in seiner
Berufskleidung ebensowenig erscheinen wie in Golfhosen oder
in Bergsteigerausriistung. Man hatte in diesen Wochen reich-
iich Gelegenheit, das strenge Zeremoniell und zugleich die
groteske Komik von englischen Militarschauspielen zu bewun-
dern. Das Royal Tournament, das alljahrlich in der riesigen
Olympiahalle veranstaltet wird, ist eine reine Zirkusangelegen-
heit, wo sich zum Ergotzen des Publikums zwei kompagnie-
starke Parteien in der Uniform etwa des achtzehnten Jahr-
hunderts regelrechte Schlachten liefern. Unter den Bogen-
lampen der Halle drohnen die Gewehrsalven „Bum-Bum"( die
Soldaten schreien MHurra!"f und die quasi Getroffenen fallen
in edler Haltung zu Boden, wahrend weiBe Rauchwolkchen.
dem Ganzen die Atmosphare eines Wagnerfestspiels verleihen.
In, Aldershot geht es ernster zu. Dort werden die neusten Er-
rungenschaften der Kriegstechnik, Einmanntanks und riesige
Panzerwagen vorgefiihrt, damit die Steuerzahler auf einem
teuren Sitzplatz wissen, wofiir sie ihr Geld ausgeben. Aber,.
ich kann mir nicht helfen, so ernst und gefahrlich die Waffen
aussahen, so iiberzeugend die unheimlichen Raupen steile
Wande emporkrabbelten, die ganze Veranstaltung, beleuchtet
von Scheinwerfern und Signalraketen, wirkte nicht viel anders
als die Schauifbung einer freiwilligen Feuerwehr, Und wenn
man dann zu spater Nachtzeit die zufriedengestellten Zu-
schauer in den riesigen Ausflugsautobussen durch den feuchten
Nachtwind dieses hiigeligen Parklandes nach London zuriick-
fahren -sieht, so mochte man sie fast beneiden um die Tatsache,
daB ihnen ihr Militar eben nichts andres ist als eine — aller-
dings im Notfalle sehr brauchbare — freiwillige Feuerwehr.
Der Geburtstag des Konigs gibt AnlaB zu einer besonders
farbenprachtigen Parade, deren Zeremoniellf das t,Trooping
the Colour*' unabanderlich fest steht. In diesem Jahre mufite
der Konig sich allerdings eine Verschiebung seines Geburts-
tags gefallen lassen, weil dieser auf denselben Tag wie das
Epsom Derby fiel. Und nichts ist bezeichnender fur die prin-
zipiell unmilitarische Gesinnung dieses Volkes als die Tatsache,
daB das groBe Volksfest des Derby, dieser gigantische Rummel-
platz der Hunderttausende, wichtiger ist als jede noch so
schone Parade oder Konigsgeburtstagsfeier. Gewifi, man holte
diese Feier nach, am drauffolgenden Sonnabend, damit eben
dieselben Massen, die sich am Mittwoch beim Derby amiisiert:
98
hatten, nun Gelcgenheit bekamen, dieser grotesken Quadrille von
Uniformierten zu Pferd und zu FuB beizuwohnen. Es ist immer
wicdcr crstaunlich, allenthalben im englischen offentlichen Le-
ben der fast mittclalterlichcn Vorstellung zu begegnen, daB
alles zum Vefgniigen oder sagen wir ruhig zum Amusement des
Volkes zu geschehen habe: Paraden und Sportsereignisse, Auf-
fahrten zum Hofempfang und Blumenausstellungen. Der Wohl-
fahrtsminister, der alte tapfere Friedensfreund Lansbury,' darf
bei keiner Eroffnung eines neuen Freibads oder Vergniigungs-
parks fehlen, und da halt er keine feierlichen Reden, den Zy-
linder in der Hand, sondern laBt sich von ein paar jungen Mad-
chen schaukeln, solange es ihm seine alten Knocheix erlauben.
Es steckt eine unverwiistliche Kraft zum Vergniigen in
den Englandern. Alle Puritanert alle Arbeiter- und Soldaten-
rate Cramwells haben das nicht ausrotten konnen. Die groBe
Zeit Englandst das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, diese
einzigartige Verflechtung von spanischem Barockt btirgerlicher
Renaissance und angelsachsischer Volksheiterkeit, diese souve-
rane Freude am derbsten SpaB bei strengstem FormbewuBt-
sein, kurz der elisabethanische Stil ist niemals ganz gestorben.
Im siebzehnten Jahrhundert rettete man die Heiterkeit, die
Spielfreude in die Musik hiniiber, im achtzehnten bliihte der
ironische englische Stil auf, und selbst im trockensten neun-
zehnten gab es hier und da noch jene alte Punsch-Freudigkeit,
die sich zwar weniger in dem danach benannten Witzblatt als
in gewissen von Mund zu Mund iiberlieferten obszonen Lied-
chen und Epigrammen erhielt. Und jetzt hat man manchmal
das Gefiihl, den Tagen des Old Merry England naher zu sein,
als man es theoretisch in einer so sachlich rationalisierten Zeit
fur moglich halten sollte, Englands altvaterliche Isoliertheit,
die angebliche Sittenstrenge, die angeblich trockene Steifheit,
all diese Dinge beginnen sich, wohl unter kontinentalen Ein-
flussen, stark aufzulockern< Die Madchen sind gar nicht mehr
so unzuganglich und unausstehlich, wie man es uns in der
Schule gelehrt hat, die Herren wissen ganz saftige Geschichten
zu erzahlen, und in einer gewissen intellektuellen Schicht ist
es heute schon fast Sitte, sich in Kneipen an Bier und Whisky
zu besaufen.
GewiB, man kann von der GroBstadt London keine
Schliisse auf das ganze Land ziehen, aber doch scheint mir
eben eine solche Auflockerumg nicht mehr (ibersehbar zu
sein. Und sie wird sich um so starker auswirken, als sie der
unterdriickten aber niemals ausgerotteten Frohlichkeit dieses
humorvollsten Volkes Europas entgegenkommt. Man hat in
England die shakespearesche Freude am Burlesken nicht ver-
loren. Man muB beim Epsom Derby die alten dicken Frauen
sehen, die da auf dem Rasen zum Klang eines Leierkastens mit-
einander Tanze auffitihren, zur eignen Belustigung und zur
Freude der Umsitzenden. Es sah nicht schon aus und war auch
nicht immer grade anstandig, aber das wuBten diese alten
Cockney-Damen selbst sehr genau und fanden ihren grotesken
SpaB eben in jener Unmoglichkeit, die Revuestars der feinen
Varietetheater nachzuahmen. Man muB die Singfreude dieser
Leute beobachtet haben, die Begeisterung fur die epigramma-
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tischc Form und die Inhaltslosigkeit dcr Limerick- Verse* mit
denen man einander nach dem Abendbrot aufwartet. Dies alles
sind Reste einer alten Unbeschwertheit — aber vielleicht auch
Anfange einer neuen. Und die Vermutung liegt nahe, daB die
Wiederkehr des Old Merry England zeitlich — und vielleicht
auch ursachlich — verbunden sein wird mit dem Verfall des
viktorianischen Imperialismus. Vielleicht war es grade die Aus-
weitung des starken und selbstsicheren Inselkonigreichs zum
Weltimperium, in der der alte biirgerliche Frohsinn keinen
Platz mehr fand; und vielleicht bietet auch erst die erzwungene
Beschrankung auf das „grune Eiland in der Silbersee" seinen
Bewohnern wieder die Moglichkeit, ihres Lebens froh zu
werden.
Die heiligsten Giiter von Axei Eggebrecht
£Lut drei Jahrzehnte ist es her, daB unser allerhochster Pro-
pagandachef eine seiner erfolgreichsten Werbezeilen erfand:
Volker Europas, wahrt eure heiligsten Giiter! Wir entsinnen
uns des schaurig-schonen Buntdruck-Blattest das Wilhelm der
Zweite hochst eigenhandig entwarf und durch seinen getreuen
Malermeister KnackfuB fein sauberlich ausfiihren HeB- Da
drangt sich auf einem Felsvorsprung, hoch iiber friedlicher
FluBlaridschaft, eine Schar verschiichterter Frauenspersonent
die europaischen Nationen. Ober ihnen strahlt einigermaBen
blaB das christliche Kreuz. Sie waren eih wenig ratios, was sie
auf diesem Aussichtspunkt sollen, — stiinde nicht vor ihnen
ein gleiBender Erzengel mit gar gewaltigen Fliigeln, ein Flam-
menschwert in der Rechten und auBerst germanisch anzu-
schauen. Der weist ihnen mit gereckter Linken ihre PHicht
und ihr Ziel: Fern am Horizont thront inmitten einer finsteren,
blitzdurchzuckten Wetterwolke eine Buddhagestalt, die gelbe
Gefahr im Osten. Und den erschrockenen Damen ruft Michael
zu; Volker Europas, wahrt eure heiligsten Giiter!
Es ist unwahrscheinlich, dafi sich der Zeitungsleser von
damals einen ganz genauen Begriff von diesen heiligsten Gii-
tern machen, daB er sie aufzahlen und bei Namen nennen
konnte. Vom blaB-strahlenden Kreuz ist anzunehmen,
daB es damals ebensowenig Ein-druck machte wie heute. Eher
mag die stille FluBlandschaft dem Beschauer ans Herz geriihrt
haben. Von welch ungemeiner, todbringender Heiligkeit dieses
Gut war, das wurde fimfzehn Jahre spater deutlich, als die
sehr entschlossen gewordehen Damen es zwar nicht gegen den
fernen Buddhat doch mit um so verbissenerer Heftigkeit gegen-
einander verfochten.
Auch das ist nun voriiber. Langst treffen die allegorischen
Damen einander wieder zu gemeinsamen Ausfliigen. Freilich
sind sie alter geworden. Es geht nicht mehr auf heroische
Felsklippen. Eher setzt man sich zu bedachtigem Kaffeekranz-
chen in Genf oder anderswo zusammen, Und nicht mehr der
^leiBende Ritter-Engel gibt den Ton an. Eine stattlich-diirre
Gouvernante, die iiber den Ozean gekommen ist, fiihrt das
groBe Wort. Sie halt in der Rechten ein Fahnchen mit der
verlockenden Aufschrift: Prosperity. Auch sie weist nach der
100
Wetterwolke im Osten, die inzwischen crheblich naher ge-
koraracn ist. Man kann die darin thronende Gcstalt nun deut-
lich erkennen. Sic tragt die unverkennbare, spitze Kopf-
bedeckung der Roten Armee.
Wiedcr wird die westliche Menschheit aufgeruf en, ihre
heiligsten Giiter zu wahren: Gegen den dumpfen Gsten, gegen
den alles nivellierenden Kollektivismus, gegen die Gottlosen-
propaganda, gegen das bose Dumping. Die Zeitungen Rother-
meres blasen ins Horn, Sir Deterding laBt seine Fabriksirenen
schrillen, gewaltig st6Bt Rom in die Tuba, Das Bild von 1900
scheint hochst aktuell geworden. Jedermann ist beunruhigt.
Aber urn was geht es eigentlich? Welche Giiter sollen dem
Europaer von 1931 so heilig sein, daB er zu ihrer Wahrung
einen Kreuzzug unternimmt?
Da wird von der Bildung geredet und von der Tradition,
vom Glauben und von der Familie. Sentimentalitaten aller Art
werden beschworen, verlogener Scheinpazifismus liefert Argu-
mente und der Rausch des Profitmachens wird auf mancherlei
Art glorifiziert. Im Grunde aber denkt jeder sich etwas andres
dabei. Die wirklichen Giiter, um die es geht, werden nicht
aufgezahlt und nicht bei Namen genannt. Das Allerheiligste
bleibt unklar und unausgesprochenf wenn den Menschen auch
eingeredet wird, daB sie dafiir kampfen und vielleicht dafur
sterben miissen. Erhaben, stumm und todbringend ragen liber
das anarchische Durcheinander Europas die allerheiligsten
Giiter: Erz, Stahl, Kohle, Waffen, Platin, Schuhe und Streich-
holzer. Und setbst die Sardinen, diese unscheinbaren Fisch-
chen, werden als Gegenstand einer Industrie zu solch einem
heiligsten Gut.
Um diese Dinge' geht es in II ja Ehrenburgs neuem Ro-
man (erschienen im Malik- Verlag, (ibersetzt von Hans Ruoff).
Alles, was sich vertrusten laBt, kann zum heiligsten Gut avan-
cieren. Also gibt es unzahlige solcher Giiter; und deren Herren
bekampfen einander kaum weniger erbittert als den bosen
Feind in der ostlichen Wetterwolke, der sie alle mit Vernich-
tung bedroht.
Ein reichhaltiges Bilderbuch des spatkapitalistischen Wirr-
warrs, aber nicht mit billiger Ironie gemalt, sondern mit tiefer
Bemiihung, mit Einsicht in alle menschliche Unzulanglichkeit;
und nicht ohne heimliche Liebe zu denen, die verspottet wer-
den. Der Autor ist zuweilen gleichsam verstort von der Lang-
mut und Schafsgeduld, mit der die Welt ihren unruhigen Lauf
durch so zweifelhafte Geschafte bestimmen laBt- Er rettet
durch seine, die Zusammenhange unerbittlich offenbarende
Schilderung den menschlichen Verstand, iiber dessen Versagen
er so oft lacheln muB.
Jede seiner Personen und jede dargestellte Handlunrf sind
ihm Ausdruck und Auswirkung okonomischer, gesellschaft-
licher Vorgange und Notwendigkeiten. Aber wie weit ist er
entfernt von der Schablonenmethode mancher marxistischer
Autoren, bei denen menschenahnliche Schemen sich unwirklich
bewegen oder als Kleiderstander fiir eine Ideenschau herum-
stehen. Bei Ehrenburg hat alles Saft und Blut, Auch die
Herren der allerheiligsten Giiter sind arme reiche Teufel voll
101
kieiner, armseliger, schmerzensreicher Erlebnisse. Da ist etwa
der Ztindholzkonig Olson, kiihl, einsam, bang vor jedem Gefiihl,
von blassen Weltherrscheridealen getrieben. Da ist sein Geg-
ner, der internationale Riistungsschieber Wainstein, Hasscr jeg-*
licher ,,Ideen'\ cin dcrber Realist im Planen, Handeln und Ge-
nieBen. Die Abneigung dieser beiden Protagonisten gegenein-
ander zieht sich durch das ganze Buch, das im iibrigen keine
zentrale ,,Handlung" hat. Es gibt ja auch in der verzweifelt
schwimmenden, von einem Young- zum nachsten Hoover-Plan
hin improvisierenden Welt kein einheitliches Wollen, keine
eindeutige Richtung mehr. Grade diese verworrene Stimmung
kommt in Ehrenburgs Roman groBartig zum Ausdruck, dies
Zwielicht des Morgens, in dem die groBen Hasardeure dasitzen,
wie nach einer langen, durchspielten Nacht und nicht aufzu-
horen wagen. Die unendliche Miidigkeit in der scheinbar so
aufgeregten kapitalistischen Welt.
Welch ein Gewimmel erstaunlicher Figuren marschiert ne-
ben den Hauptspielern auf: der adlige deutsche Diplomat, der
aus Tradition, Zwang, Interesse an Chemie-Aktien und einem
Magenleiden so etwas wie eine milde europaische Denkungs-
art zusammenbraut; der franzosische, Minister linker, in-
dustrieller Observanz, miBtrauisch, eng, geizig und tief besorgt
um das klassische Gliick des Kleinbiirgers; internationale
Schieber jeglichen Formats; der groBe Journalist ohne Ge-
sinnung; eine Filmdiva, unter so viel Getriebenen und Gehetz-
ten die Kiihlste und Niichternste; ein Erfinder, der im Irrenhaus
endet; ein russischer Emigrant, der sich zu Sabotageakten in
RuBland anwerben laBt. Eine bunte Menagerie der Nichtig-
keiten, der sinnlosen Individualitat. Und zwischen ihnen tau-
chen zwei-, dreimal Beauftragte der Sowjets auf, Handels-
kommissare, Spezialisten, Sie vertreten inmitten all dieser
Sklaven der Beziehungen, der Geschafte etwas andres; Die
Dinge selbst und den Anspruch des Menschen, iiber die Dinge
zu herrschen, sich ihrer wirklich zu bedienen, statt mit ihnen
als mit ,,heiligsten Gutern" zu schieben, zu bluffen, Schindluder
zu treiben.
Wie es sich fur ein Kaleidoskop gehort, hat das Buch
keinen Anfang und kein Ende. Es ist die denkbar dichteste
Wiedergabe eines Zustandes, dargeboten durch ein auBer-
ordentliches schriftstellerisches Temperament. Ehrenburg be-
weist, daB der revolutionare Autor kein Sachlichkeitsfex zu
sein braucht, daB Gefiihl und Gewissen einander nicht auszu-
schlieBen brauchen; daB auf dem Untergrunde historisch-mate-
rialistischen Denkens sehr wohl Poesie, menschliche Warme, ja
sogar jene beziehungsreiche Verlorenheit an die dargestellten
Dinge moglich ist, die wir Romantik nennen. Ehrenburg ist ein
marxistischer Romantiker. Die unermudliche Dialektik seines
Stils, seine facettenartig zugeschliffenen Perioden, die bitter
schmeckende Ironie in seinen knappen Charakteristiken, das
immer durchschimmernde Bewufitsein von der letzten Nichtig-
keit aller menschlichen Konflikte, — das alles ist unleugbar ro-
mantisch. Und ist nicht schliefilich jegliche Revolution, ist der
Glaube des Menschen an seine eigne Wandlungsfahigkeit nicht
etwas ungemein Romantisches? Zwar spurt man nicht viel da-
102 '
von in Programmen und Parteierlassen. Aber die Wirklichkeit
sicht ja immcr ganz anders aus. Und als Verkunder dieser
Wirklichkeit befreit Ehrenburg uns von dcm Albdruck, als
mtisse der siegreiche Verlauf der Revolution darin bestehen,
daB die Methode, die Erkenntnis, der Plan iiber das Leben
selbst siegen.
Schon einmal hat Ehrenburg den Mut gehabt, diese grofie,
entscheidende Einsicht zu gestalten: Im ,,Julio Jurenito", sei-
nem ersten, bedeutenden Roman, der unmittelbar nach den er-
schiitternden Ereignissen der russischen Revolution deren le-
bendige Einordnung und hochst menschliche Ausdeutung unter-
nahm. Das beriihmt gewordene Gesprach, das er den Meister
Jurenito mit Lenin im nachtlichen Kreml fiihren laBt, wird als
unvergeBliches, dichterisches Dokument jener Tage bestehen
bleiben. Und nichts Besseres laBt sich iiber den neuen Roman
sagen, als daB ich durch ihn — so viel enger, so viel direkter,
so viel polemischer sein Thema unzweifelhaft gestellt 1st —
immer wieder an jenen fruhern erinnert wurde.
So verschieden ist es im menschlichen Leben — !
von Peter Panter
pin Druckfehler, „Und Faust sticg hernieder zum Ursprung aller
*-* Dinge, zum Tiefsten und zum Hochsten, darin die ganze Natur
und das menschliche Leben eingeschlossen sind: zu den Matern."
Das franzosisch-deutsche Rapprochement vollzieht sich unter einer
Handvoll Gebildeter; schieBen durfen nachher die Arbeiter. Sie tun
es auch. Denn sie kennen einander nicht und lernen einander erst
sterbend oder in der Gefangenschaft kennen. Ein sehr nahes
Rapprochement verwirklicht sich, wenn man so weiter macht, immer
nur in den Ackergraben. Schade um j eden Pfennig, den man an
diesen Unfug wendet,
Wenn man die fein abgewogenen Aufsatze Oskar A. H.
Schmitzens, Bindings und ihresgleichen liest, hat man immer das Ge-
fuhl: Es gibt wirklich nur eine Losung, Man muB reich heiraten.
*
Das Schmalz, mit dem der mittlere deutsche Parteifiihrer das
Wort „Berufsbeamtentum" ausspricht . . . wenn doch nur jeder Ar-
beitslose so viel Fett auf seinem Brot hatte!
Ein Kunstwerk sagte friiher etwas iiber die Geistesverfassung
seines Schopfers. Heute zeigt es etwas andres an: die Geistesver-
fassung des Kunstkaufmanns, der es vertreibt. Selbe ist nicht immer
sehr interessant.
„Sie war", steht einmal bei Paul Morand, nschon wie die Frau
eines andern." Ich mochte das variieren: Er war energtsch wie der
Rechtsanwalt der Gegenpartei.
Wenn ich das schon gedruckte Buch eines mit Buchweizengriitze
gefutterten Philosophen aus Amerika lese, hinter seinen Brillenglasern
blitzen frohlich jungenhafte Augen, die sich so optimistisch mit
dem Elend der andern abfinden, alles ist gut und schon, wir haben
eine gute Predigt gehabt, Breakfast auch, ja danke, auf welch unbe-
103
iieckiem Wege wohl so ein Wesen zur Welt gekommen sein mag, die
Amerikanerinnen sind doch unterhalb des Nabels alle aus Celluloid —
wenn ich so einen frohlichen Professor lese, dann weiB ich end-
lich, wie einem gebildeten Chinesen zu Mute ist, der europaische
Touristen sieht.
Der Englander hat fiir jeden Begriff ein Wort und fur jede seiner
Nuancen noch eins — da ist ein groBer Wortreichtum. Bei dem
Franzosen ist das anders. Wenn man den fragt, wie ein besonders
kniffliger Begriff auf franzosisch heifie, dann denkt er lange nach.
Und dann sagt er: „faire".
*
Friiher sagte man; Kopf- und Hand-Arbeiter. Die Schreihalse
der Nazis plakatieren: MArbeiter der Stirn und der Faust!" Die
Stirn, das ist der Kopfteil, mit dem die Ochsen ziehen, und eine
Hand, die zur Faust geschlossen ist, kann tiberhaupt nicht arbeiten.
Mochten wir wohl eine Literatur lesen, die vorher die Zensur
des Herrn Seeger und seiner Filmzensoren passiert hatte? Nein, das
mochten wir nicht. Wie sahe solch eine Literatur aus? Sie sahe
recht klaglich aus. Was mufi man also tun? Man muB jede Film-
zensur, die iiber die bestehenden Strafgesetze hinausreichen will, ab-
schaffen,
Auf einer kleinen Bank vor einer grofien Bank
von Erich KSstner
YVTorauf mag die Gabe des FleiBes,
** die der Deutsche besitzt, beruhn?
Deutsch sein heiflt, der Deutsche weiB es,
Dinge um ihrer selbst willen tun.
Wenn er spart, dann nicht deswegen,
daB er spater davon was hat,
Nein, ach nein! Geld hinterlegen
findet ohne Absicht statt.
Uns; erfreut das bloBe Sparen.
Geld personlich macht nicht froh.
RegelmaBig nach paar Jahren
klaut ihrs uns ja sowieso.
Nehmt denn hin, was wir ersparten.'
Und verluderts dann und wann!
Und erfindet noch paar Arten,
wie man pleite gehen kann!
Wieder ist es euch gelungen.
Wieder sind wir auf dem Hund.
Unser Geld hat ausgerungen,
Ihr seid hoffentlich gesund.
Heiter stehn wir vor den Banken.
Armut ist der Muhe Lohn,
Bitte, bitte, nichts zu danken!
Keine Angst, wir gehen schon.
Und empfindet keine Reue!
Leider wurdet ihr ertappt.
Doch wir halten euch die Treue.
Und dann sparen wir aufs Neue,
bis es wieder mal so klappt.
104
Selbsthilfe oder Auslandshilfe? Aifredolkoimar
ps ist kein Wunder, daB in den letzten Tagen das Sthlagwort von
" der anzustrebenden wirtschaftlichen „Selbsthilfe" Deutschlands
vernehmbar geworden ist. Allzu vielc Illusionen hat die pericht -
erstattung unsrer grofien Tagespresse in den Kreisen geweckt, die
den Begriff der international en Solidaritat auch heute noch wesent-
lich im liberal- demokratischen Sinne als erne Sumrae privater Hilfs-
aktionen aufzufassen pflegen, ohne sich dariiber klar zu werden, daB
derartige Aktionen nur urn einen bestimmten und fur gewohnlich sehr
hohen Preis zustande kommen. Die Enttauschung dieser Illusionen
hat selbstverstandlich die Folge gehabt, daB man jetzt in den an-
gedeuteten Kreisen vdllig an der Moglichkeit internationaler Hilfs-
aktionen verzweifelt und mit dem Begriff der ,, Selbsthilfe" zu ope-
rieren beginnt. Das ist nun ein Schlagwort, und es unterscbeidet sich
auch insofern nicht von andren Schlagwortent als hierunter sehr ver-
schiedne Dinge verstanden werden. Die Leser der liberal-demokra-
tischen Presse werden in der Auffassung erhalten, daB ebenf alls nur
durch eine Summe von privaten Aktionen wirtschaftlicher Natur
innerhalb Deutschlands der gegenwartige Zustand der Stillegung des
gesamten Wirtschaftsbetriebes uberwunden werden konne. Freilich
ist man sich in diesen Kreisen noch keineswegs klar dariiber, wie
diese Aktionen aussehen sollen. Man weiB nur insofern, was man
will, als die starke staatliche Aktivitat auf wirtschaftlichem Gebiet,
die in den letzten Tagen entfaltet werden muBte, wieder beseitlgt
werden soil. Urn dieses Ziel zu erreichen, wiirde man dazu bereit
sein, eine Auslandsanleihe groBen Umfanges um den Preis bestimm-
ter politischer Garantien aufzunehmen, wobei der Gedanke daran,-wie
diese Anleihe einmal zuruckgezahlt werden soil, und ob sie nicht zu
den gleichen verheerenden Folgen fuhren wird wie die groBen An-
leihen nach der Stabilisierung der Mark, in der gegenwartigen Not
anscheinend in den Hintergrund tritt, Aber man ist doch auch in
den Kreisen der GroBbourgeoisie mit liberal -demokratischer Orien-
tierung heute schon dazu geneigt, eine solche auslandische Hilfs-
aktion als ein Obel anzusehen, das nicht etwa aus dem Gedanken der
internationalen Solidaritat des Kapitals heraus verhaltnismaBig leicht
zu ertragen ware sondern das nur dazu dienen soil, die wirtschaft-
liche Selbsthilfe Deutschlands zu ermoglichen.
Nun, mit diesen reichlich verschwommenen Auffassungen von
wirtschaftlicher Selbsthilfe brauchen wir uns hier nicht mehr ausein-
anderzusetzen. Bei naherm Zusehen werden auch diejenigen Kreise,
in denen diese Auffassung Geltung hat, doch wohl erkennen mussen,
daB die wirtschaftliche Entwicklungsperiode, durch die Deutschland
etwa in den Jahren von 1924 bis 1930 hindurchgegangen ist, ein Ende
gefunden hat und durch keinen sonstwie gearteten Akt wieder her-
gestellt werden kann. Man sollte doch nicht vergessen, daB das Ver-
trauen des gesamten Volkes in die Fahigkeiten und die Zuverlassig-
keit der Fiihrerschaft dieser Periode endgiiltig verlorengegangen ist.
Auch das Prinzip der betrieblichen und technischen Konzentration
mit seiner „RationalisierungM und seiner Zusammenfassung der pri-
vatwirtschaftlichen unkontrollierbaren Macht hat in den letzten Tagen
in Deutschland sein endgultiges Fiasko erlebt. Die Wirtschafts-
erkenntnis des deutschen Volkes ist in diesen Tagen zweifellos um
Jahrzehnte reifer geworden. Der Begriff des privaten und in Wirk-
lichkeit niemandem verantwortlichen „Wirtschaftsfuhrers" ist einer
Lacherlichkeit anheim gef alien, die viel sichrer totet als alle ernst-
haften Versuche, iiber die Hohlheit dieses Begriffs aufzuklaren.
Diese grofire Reife hat aber das deutsche Volk erst noch zu be-
weisen mit seiner Haltung gegeniiber einer andern Auffassung von
105
der wirtschaftlichen Selbsthilfe, die von schwerindustriell-nationali-
stischer Seite nicht erst seit heute und Western propagiert wird; deren
Ziel es ist, die Selbsthilfe der deutschen Wirtschaft zu einer an-
nahernden Selbstgeniigsamkeit zu entwickeln. Diese Kreise denken
sich die Zukunft etwa so, dafi irgendwelche engern politischen und
wirtschaftlichen Beziehungen zu den Westmachten auf die Dauer
doch nicht aufrechtzuerhalten sein werden, so lange es nicht gelingt,
die ganze gegenwartige weltpolitische Konstellation von Grund auf
zugunsten Deutschlands zu andern. Als ein Instrument dieser Ande-
rung gilt ihnen die vollige Einkapselung der deutschen Wirtschaft in
eine zwar nicht vollstandig, aber doch wenigstens annahernd
berbeizufiihrende Selbstgeniigsamkeit, die auf der einen Seite der
deutschen Landwirtschaft wieder eine viel starkere Position inner-
halb des Gesamtrahmens der deutschen Wirtschaft verschaffen wiirde,
auf der andern Seite aber die Auslandsbeziehungen zuriickzufiihren
batte auf einen gewissen Export von Produktionsmitteln, fur welchen
zusatzliche Konsumgiiter und Rohstoffe in moglichst geringfiigigen
Mengen einzutauschen waren. Zu erreichen ware dies Ziel nur unter
der Voraussetzung, dafi das Lebenshaltungsniveau der deutschen Ar-
beitnehmerschaft in alien ihren Teilen gegeniiber dem in Westeuropa,
England und Amerika durchschnittlich gegebenen Stande noch weiter
als bisher herabgesetzt wird* Denn nur mit dieser Herabsetzung
liefie sich der minimale Export erreichen, der wiederum fur die Be-
zahlung eines minimalen zusatzlichen Importes notwendig ware. Diese
Auffassung, die (ibrigens als nicht weniger verschwommen und unklar
anzusehen ist als die oben angedeutete liberal -demokratische Theorie,
ist nur in einer Beziehung sicher und zielbewufit: in der namlich,
dafi vor allem die Schere zwischen Lohn und Preis weiterhin zu un-
gunsten des Lohnes geoffnet werden mufi. Sie hat aber fur gewisse
•Teile der deutschen Arbeitnehmerschaft deshalb einen nicht un-
gefahrlichen Reiz, weil die schwerindustriellen Kreise, die sie pro-
pagieren, gerne darauf hinweisen, dafi die Schliefiung der Tiir nach
Westen gleichbedeutend sei mit der weiten .Qffnung der Tur nach
Osten. Man denkt sich also die Dinge etwa so, dafi Deutschland
unter der Leitung einer zahlenmafiig noch kleineren wirtschaftlichen
Oligarchie als wir sie bisher hatten, auf privatkapitalistischer Basis
seine wirtschaftlichen Auslandsbeziehungen vor allem auf den Ver-
kehr mit Rufiland zu beschranken haben werde und dafi dies dazu
geniigen werde, um iiber den Zeitraum hinweg zu helfen, der bis
zur Sprengung der gegenwartigen weltpolitischen Situation noch zu
tiberwinden ware. Das ist nun alles andre als das, was man im
Interesse unsrer Arbeitnehmerschaft wirklich von einer engern Ver-
bin dung mit der russischen Wirtschaft zu erhof f en hatte. Es ist
namlich das grade Gegenteil hiervon, das heifit, die Stiitzung eines
ganz streng gesiebten wirtschaftlichen Herrentums in Deutschland mit.
Hilfe des Geschaftes, das sich auf den russischen Bedarf an Pro-
duktionsmitteln und an Erzeugnissen der deutschen Veredlungsindu-
strie aufbauen wiirde. Diese Art von wirtschaftlicher Selbsthilfe mufi
daher grade im Interesse der arbeitenden Klassen als das gekenn-
zeichnet werden, was sie wirklich ist, namlich als der letzte Versuch
des deutschen Privatkapitals, seine Herrschaft zu erhalten, und sei
es selbst mit Hilfe des Bolschewismus.
Gewifi steht die deutsche Wirtschaft heute vor ganz entscheiden-
den Entschlussen, aber man wiirde die Sachlage vollig verkennen,
wollte man grade jetzt das Problem der wirtschaftlichen (und damit
noch lange nicht politischen) Ost- oder Westorientierung wider-
spruchslos in den Vordergrund schieben lassen, damit auf diese Weise
die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Entscheidung abgelenkt
werde. Diese ist darin zu erblicken, dafi in Deutschland das Prinzip
des wirtschaftlichen Kollektivismus an Stelle des wirtschaftlichen In-
106
dividualismus zu treten^ beginnt, Ohne weitgehende Hilfe der west-
europaischen Vdlker wird cine solche Entscheidung nicht herbei-
zufuhren sein, ihre klaren Linien wiirden dann durch Erschutterangen
verwischt werden, deren AusmaB gar nicht abzusehen ist. Deshalb
brauchen wir Auslandshilfe. Wie sich einmal eine kollektivierte
deutsche Wirtschaft zu der russischen verhalten wird, das bedarf
keiner Erortertmg. Aber dieses Verhaltnis wird ein vollig andres sein
als das, was die scbwerindustriell-nationalistischen Kreise anstreben,
deren Propaganda zur Zeit der ltSelbsthilfe" der deutschen Wirt-
schaft gilt.
Der Optimist von Alfons Goldschmidt
YV/issen Sic", riihmte der Bankdirektor, „wissen Sic, dieser
" Jakob Goldschmidt, ein Kind, kann ich Ihncn sagen.
Frischc Luft weht, wcnn cr in die Bank kommt. Alles gliickt
ih'm, er hat Marchenfinger, man muB ihm folgen/' So sprach
der Direktor, den Jakob noch drin gelassen hatte in der Danat-
bank. Andre, die cr hinausgeworfen hatte, sprachen anders.
Fiir sie war Jakob allzu ahasverisch, sie prophezeiten bitter
und mit freudigem Bedawern seinen Zusammenbruch, Sie haber*
recht behalten, denn die Rausgeekelten behalten immer recht,
das scheint ein historischesGesetz zu sein.
Ende Juni 1931 wurde der Kurs der Darmstadter und Na-
tionalbank an der berliner Borse noch mit 112 Prozent no-
ticrt, erheblich hoher als der Kurs der Deutschen Bank und
Discontogesellschaft und der Presdner Bank. Ende Juni 1931t
also zu einer Zeit, als Jakob Goldschmidt schon genaui wissen
muBte, was los war in seiner Bank, beziehungsweise was, wenn
man an die Kredite denkt, angebunden und nicht loszukriegen
war. Aber immer noch wurde, wie im letzten Geschaftsbericht
der Danatbank, Optimismus geblasen. Am 5. Juni dieses Jah-
res hatte die ,Welt am Abend' mitgeteilt, daB die Bank sich
in Schwierigkeiten befande. Der Optimist, der wahrscheinlich
noch glaubtc, daB er sich gegen die Nordwolle-Pleite stemmen
konnte, hat diese Nachricht sehr diktatorisch dementiert. In
jedem bessern Bankbweau konnte man in jenen Tagen schon er-
fahren, daB die Danatbank nicht mehr zu halten war, aucb
nicht von einem Mann, der so optimistisch war, daB er ein-
hundertundzwanzig Aktiengesellschaften beraten wollte. Wie
hat er das iibrigens gemacht?
Immerhin hatten die meisten Menschen in Deutschland
noch geglaubt, daB eine GroBbank nicht zusammenbrechen
konnte, wenn nicht das Kapital zusammenbrache, Es ist aber
doch geschehen und es zeigt sich, daB die Hoffnungen auf die
Reichsbank, beziehungsweise auf den Staat, iibertrieben wa-
ren. Die Regierung hat eine Garantie iibernommen, aber jetzt
zweifeln auch Glaubige an der .Soliditat dieser Garantie, weil
sic den Garanten selbst, der sich ja oft genug zum Schuldner
der Bankcn machen muBte, nicht mehr fiir pupillarisch sicher
halten. Unter einer Garantie, das heiBt unter einer Btirg-
107
schaft fur Zahlungen, stellt man sich ctwas Mauerfestes vor.
Das Reich hat Steuer- und andre Moglichkeiten, aber die
Luther-Reisen im Flugzeug beweisen ja auch denen, die noch
"blind gewesen sind, daB das Reich nicht mehr das Reich ist.
Seine Finanzbonitat leidet, wie die einer deutschen Bank, un-
ter faulen Debitoren und unter noch andern Verhangnissen.
Herr Oskar Wassermann, der eigentliche Leiter der
Deutschen Bank und Discontogesellschaft, dem man ein mildes
Herz nachsagt, hat sich gegen die Zumutung, mit seinem In-
rstitut fur die Danatbank einzustehen, heftig und erfolgreich
gestraubt. Die Deutsche Bank hat seit ihrer Griindung des 6f-
teren vor solcher Frage gestanden, und sie hat das Problem hie
und da nach dem Zusammenbruch durch Obernahme der noch
brauchbaren Stiicke des zusammengebrochenen Objekts gelost.
Man kann nicht behaupten, daB sie dabei im ganzen schlimm
gefahren ist. Es gibt sogar Leute, die das wachstum dieser
Bank auf solche Kaufe aus Konkursen zuruckfiihren. Jeden-
lalls war die Weigerung insofern bemerkenswert, als sie den
<ilauben an die Solidarity der GroBkapitale heftig erschiittert
hat, Ich habe diesen Glauben nie gehegt und bin auch keines-
Tvegs (iberrascht von der Hartleibigkeit der internationalen
GroBfinanz gegeniiber dem deutschen Kapital. Mildtatigkeit
£ibt es da nicht, die Herren sitzen rechnend am Tisch, und
wenn sich ergibt, daB das Pfand zur Beleihung nicht mehr aus-
reicht, dann flieBt auch kein Geld, es sei denn fur die spatere
Dbernahme des geminderten Pfandes. Man konnte das eine
Art Zwangsversteigerung nennen.
Ob der Fall der Danatbank vielen Menschen die Anarchie
<ler Geld- und Kreditleitungen offenbart, das heifit, die vollige
Unfahigkeit der ,,Kapitane'\ die Schiffe sicher zu lenken, ob
«ie wissen, daB man nicht imstande ist, das Kanal-System um-
zubauen? Denn was jetzt gemacht wird, das ist Oberflachen-
arbeit und alles, was in die alten Kanale gepumpt wird, geht
naturnotwendig den alten Weg, das heiBt den Weg der Un-
praduiktivitat. Wir konnen AusmaB, Tempo und Wirkung der
Vergiftung durch Kredit nicht messen, aber ich denke, die Er-
fahrung ist nun da, auch fiir diejenigen, die das Gesetz nicht
kennen. Denn auf dieses Gesetz der Entwicklung kommt es
an und nicht auf Gesetze von oben oder Notverordnungen, die
erstens immer zu spat kommen und zweitens immer das Ge-
genteil ihrer Absicht bewirken. Mephisto sag.t das mit sehr
^infachen Worten, andre nennen das den dialektischen ProzeB
im KapitaL
Die Notverordnungen gegen Kapitalflucht, zur,,Erfassung" der
Devisen, der auslandischen Banknoten undsoweiter, und was
noch kommen mag an Verordnungen dieser Art, das alles
trifft den Kern nicht, GewiB, es ist viel Privatkapital geflohen,
und in den Hausschranken mogen noch hubsche Notenhauf-
chen liegen. Aber die eigentliche Flucht des Kapitals, die
groBe Kapitalflucht, wurde ja begangen von denselben Unter-
nehmungen, die man jetzt per Notverordnung stiitzen will Sie
werden riatmrnotwendig zu Exekutoren der Dekrete gemacht,
108
denn es gibt ja in diesem Zustand dcr Kreditorganisation keine
andrc Moglichkeit. Diese Kapitalflucht und dieser Devisen-
wahnsinn. diese Blutentziehung also gehort ja zu den Haupt-
funktionen des Kapitals, beziehungsweise seiner groBen Or-
gane. In der Geschichte der Finanz finden wir viele Beispiele,
daB derartige Dekrete nichts geniitzt haben. Man hat damit
Denunzianten, kleine Delinquenten und hie und da einenGrofi-
vergeher geziichtet, aber den ProzeB selbst hat man nicht auf-
gehalten oder redressiert,
Forcierte Kreditorenkiindigung und Anwachsen der Debi-
toren — das geht nun schon seit langer Zeit so. In den Be-
richten der Handelskammern beispielsweise wurde daruber
vor vielen Monaten schon heftig geklagt. Die Schuldner der
Banken aber wurden lahm und lahmer. Nach meiner Schatzung
war schon vor einiger Zeit die Halite der deutschen Wirt-
schaftssubstanz nicht mehr in regularer Funktion. Wie es heute
aussieht, das muB man sich vorstellen, wenn man den Mut zur
Wahrheit hat. Moratorium? Das hatten wir ja schon, denn
dieser Betrieb mit Wechseln, dieses Festgefrorensein und dar-
uber die f,Liquiditat'\ in der nur noch Spuren von Kraft sind
— was ist das anders als ein Hinziehen, eine permanente Stun-
dung, wahrend das sogehannte Biirgerliche Recht noch unent-
wegt gegen die Schuldner exekutiert wird. Gegen die kleinen
Schuldner natiirlich, denn dem Optimisten Jakob Goldschmidt
hat man ja den Offenbarungseid nicht abverlangt. Das ist ja
grade der Fehler dieser Wirtschaft, daB sie sich nicht zu offen-
baren braucht. Sie ist eine Dunkelwirtschaft, und sie wird es
bleiben, solange sie existiert.
Kriegserklarungen; Revolutionserklarungen sind sozusagen
Firmierungen eines schon bestehenden Zustandes. So ist es
auch jetztt nur wird die Firma verschwommen und reichlich
spat eingetragen, man hatte das schon sehr viel friiher tun
konnen. Denn wenn man ehrlich sein wollte und nicht opti-
mistisch wie ein Kind a la Jakob Goldschmidt, dann hatte man
eingestehen miissen, daB nicht nur in der Danatbank die Debi-
toren faul sind und daB der Fall Lahusen sozusagen nur ein
Explosionsfall ist, denn Lahusens sitzen an vielen Stellen in
der deutschen Wirtschaft. Sie sind ja fur das Kapital nur des-
halb Verbrecher, weil ihnen der Wechsel nicht mehr prolon-
giert worden i«t. Prolongation, nicht Produktivitat, das ist das
A und O des Kapitals.
DaB die Schrumpfung weitergeht, jc mehr Kredit in den
Korper gepumpt wird, das ist doch wohl klar, und daB unter
solchen Umstanden der Wechsel nicht noch oft prolongiert
werden kann, auch das ist sicher. Mit Flugzeugen lafit sich
das Disagio nicht uberbriicken. Die Substanz ist totkrank, die
Palaste der Lahusens stehen auf sehr schwankem Grund. Und
auch die unentwegtesten Optimisten, die Rundfunkredner mit
Brom und die verlogenen Halbeingesteher mit der Geste:
„Habt Geduld, es wird doch nooh besser!", sie alle sitzen in
der groBen Danatbank, unter sich faule Debitoren und hinter
sich jene Glaubiger, die den Konkurs erklaren werden.
409
Bemerkungen
Reichsaufsichtsamt
Im Herbst des Jahres 1891
* brachen in Berlin mehrere
Bankfirmen zusammen, die zum
Teil sebr einfluBreiche Kreise des
Hofes und der Beamtenschaft zu
ibren Kunden zahlten. Diese
Vorkommnisse lehrten, daB die
bisherigen Bestimmungen tiber
Aufbewahrung und Verwaltung
von Wertpapieren einen unge-
niigenden Schutz fur den Depot-
inbaber boten. Aus dieser Ober-
legung heraus entstand nach lan-
gen Vorarbeiten im Jahre 1896
das Bankdepotgesetz, das — - mit
einer Abanderung aus dem Jahre
1923 — noch heute in Kraft ist
Wenn die Falle von Depotunter-
schlagungen bei Zahlungseinstel-
lungen zu den Ausnahmen ge-
horen, so ist dies in erster Linie
dem Gesetz von 18% zu danken.
Am 13. Juli 1931 schloB die
Darmstadter und Nationalbank
ibre Schalter. Staat und Volks-
wirtschaft sind von diesem Er-
eignis aufs schwerste getroffen.
Heute gilt es nicht mehr, den Ein-
zelnen gegen Denotunterschlagun-
gen sondern Burger und Staat
allgemein gegen verschuldete oder
unverschuldete Zusammenbruche
von Kreditunternehmungen zu
sichern. Da das Reich die Aus-
fallbiirgschaft bei der Darm-
stadter und Nationalbank uber-
nommen hat, um eine Wirt-
schaftskatastrophe von unuber-
sehbaren AusmaBen zu verhin-
dern, und man annehmen darf,
daB in jedem ahnlichen Fall nach
Moglichkeit wieder ebenso ge-
handelt werden soil, hat der
Staat das Recht und die Pflicht,
im Iriteresse der Steuerzahler
eine standige Kontrolle uber alle
Kreditinstitute auszuiiben. Eine
solche Aufsicht wiirde wesentlich
zur Beseitigung der schweren
Vertrauenskrise, in der sich das
Bankgewerbe befindet, beitragen.
Daher sollte mit groBter Be-
schleunigung auf dem Wege der
Notverordnung das , .Reichsauf-
sichtsamt fur Kreditinstitute" ge-
schaffen werden, dessen Funktio-
nen im folgenden kurz dargestellt
110
seien, ohne daB diese Skizze
mehr sein will als eine zeitge-
maBe Anregung:
— Das Reichsaufsichtsamt um-
faBt Kreditinstitute in jeder han-
delsrechtlichen Form: unter an-
derm Privatbanken, Sparkassen,
Genossenschaften, unbeschadet
bereits bestehender einzelstaat-
licher Oberaufsicht.
Die Erlaubnis zur Eroffnung
eines kaufmannischen Unterneh-
mens, das sich mit der Annahme
von Depositengeldern und der
Verwaltung von Effektendepots
befaBt, ist von der Priifung der
Eroffnungsbilanz durch das
Reichsaufsichtsamt abhangig. Alle
derartigen Unternehmungen haben
erstmalig einen Status per
30, Juni 1931 und dann jeweils
per 31. Dezember einzureichen,
Notwendige Erlauterungen sind
dem Status beizufiigen oder auf
Ersuchen des Amtes nachtraglich
abzugeben.
Das Reichsaufsichtsamt ernennt
auf Vorschlag des Zentralverban-
des des Deutschen Bank- und
Bankiergewerbes beziehungsweise
des Verbandes der Sparkassen
oder der Genossenschaftsver-
bande Priifer, die im Geschafts-
lokal der betreffenden Unterneh-
mungen die Hauptbiicher einer
regelmafiigen Kontrolle unter-
ziehen. Das Reichsaufsichtsamt
nimmt ferner — mindestens ein-
mal im Zeitraum von drei Jahren —
(iberraschende Revisionen durch
seine eignen Beamten vor.
Die Reichsregierung erlaBt
Richtlinien uber die Hohe der li-
quiden Mittel und das Verhaltnis
der Kreditoren zu dem Eigen-
kapital und den Reserven. Das
Aufsichtsamt hat die Innehaltung
dieser Vorschriften zu iiber-
wachen.
In seinen geschaftlichen Ent-
schlussen ist jedes Institut — so-
weit seine Statuten nicht andre
Bestimmungen enthalten — voll-
kommen frei. Jedoch kann das
Reichsaufsichtsamt besondere
Deckungsvorschriften fur Bank-
kredite erlassen, —
Wenn dieser Vorschlag auch
nur ein Teilgebiet der gegenwar-
tig von vielen Seiten geforderten
Wirtschaftskontrolle umfaBt, so
sind die Aufgaben des „Reichs-
aufsichtsamtes fiir Kreditinstitute"
vielleicht die dringendsten. An-
ders ist eine Gesundung des
deutschen Wirtschaftslebens un-
moglich. Die Vorkampfer eines
privatwirtschaftlichen Absolutis-
mus werden natiirlich einwenden,
daB man durch eineu solchen
Plan das Verantwortungsgefiihl
des Unternehmers untergrabt,
aber denjenigen, die friiher am
lautesten von „Verantwortung"
gesprochen haben, diirfte es nicht
unangenehm sein, wenn sie sich
jetzt nicht selbst zu verantworten
haben,
Bernhard Citron
Zuzutrauen
*7u den i ammerlichsten aller Ar-
" gumente der Rechtspflege, bei
der das Recht langsam zu Tode
gepflegt wird, gehort dieser Satz:
„Dem Angeklagten ist die Tat
zuzutrauen/'
Wann — ? Allemal dann, wenn
die Unabsetzbaren aus den Akten
und den Vernehmungen, aus den
Zeugenaussagen und der hochst
dubiosen Tatigkeit der in der
Offentlichkeit viel zu wenig ge-
kannten MGerichtspflege'* die
Oberzeugung gewonnen haben, das
sittliche Niveau des Angeklagten
sei derart, daB die Ausfuhrung
der Tat bei ihm nicht mehr uber-
raschen konne. Gott segne diese
Seelenkunde.
Man erinnert sich vielleicht
noch an den furchtbaren Fall des
schlesischen Massenmorders
Denke. Der Mann, ein schwerer
Geisteskranker, pflegte wan-
dernde Handwerksburschen an-
zulocken, er gab ihnen zu essen
und zu trinken, und wenn sie
eingeschlafen waren, totete er sie;
ihr Fleisch fraB er oder pokelte
es ein, Er hat sich dann in seiner
Zelle erhangt. Nun, dieser Denke
war nach auBen hin ein braver
Mann; er war sogar, wie damals
zu lesen stand, Fahnentrager in
seinem Verein, eine Wurde, die
mancher anstrebt, ohne sie zu
erreichen, Und niemals hatte
ihm der landlaufige Richter „die
Tat zugetraut", Ich sehe ordent-
lich den Polizeibericht vor mir:
,,D. ist in der Gemeinde als or-
dentlicher und ruhiger Mann be-
kannt." Darauf dann der Rich-
ter: Also ist ihm die Tat nicht
zuzutrauen.
Diese Strafkammern haben sich
da einen Artigkeitskodex zu-
rechtgemacht, der schon manchem
Unschuldigen Jahre von Gefang-
nis gekostet hat, vom Zuchthaus
ganz zu schweigen. Das ist iiber-
all so. So hat neulich in Eng-
land ein Handlungsgehilfe sein
lockres Leben mit dem Tode ge-
biiBt; er stand im Verdacht des
Mordes, beweisen konnte man
ihm den nicht so recht, aber es
war ihm auf Grund seines Le-
benswandels zuzutrauen, und
schon hing er. Zuzutrauen...?
Aber es gibt Tausende und
Tausende von Menschen, die ein
unordentliches Leben fiihren;
solche, die saufen und die huren,
solche, die kleine Unterschlagun-
gen begehn und Kinder qualen;
solche, die sich in den Wirtshau-
sern prugeln und ihre Frau be-
triigen nach Strich und Faden - - .
und denen man, wenn man etwas
von Psychologie versteht, gar
nichts zutrauen kann: sie leben
sich aus und haben es nicht no-
tig, Morde zu begehen.
Und es gibt Monstra in Beam-
tengestalt; sauber geburstete
Staatspensionare, die innerlich
vor Bosheit und Tucke kochen,
vor unterdriickten Trieben und
vor zuriickgehaltener verbreche-
rischer Leidenschaft; solche, die
nur zu feige sind, das zu be-
gehn, wovon sie nachts fiebrig
traumen . . . und dann knallt es
doch einmal aus ihnen heraus,
und keiner hat es ihnen zuge-
traut, Diese Richter zu aller-
letzt.
Das muB nicht immer nach
solch einfachem Schema laufen.
E s gib t iiberhaupt kein Schema ,
-nach dem man einem eine Tat
zutrauen kann ; das ist nur bei
sehr seltenen und sehr einfachen
Tatbestanden moglich.
Die Unabsetzbaren aber haben
sich da so etwas wie das Modell
eines braven Untertanen zurecht-
111
tfemacht; man kann im Halbschlaf
aufzahlen, was vor einem Gericht
als belastend und was als gute
Nummer vermerkt wird, wean
dort das Vorleben aufgerollt
wird. Ach, dieses Vorleben . . .!
Mochte doch j eder Schof f e und
jeder Geschworene diesen einge-
priigelten Respekt vor den Juri-
sten zu Hause lassen und sich an
die eigne Nase packen, bevor er
an die Beurteilung eines fremden
Vorlebens geht. Es ist beinahum-
gekehrt als die ricbterliche Vul-
garpsychologie lehrt: die soge-
nannten einfachen Menschen sind
gewohnlich viel verwickelter und
die sogenannten verwickelten
Falle sind viel einfacher als es
der Staatsanwalt wahto haben
will.
Und so soil es denn vorgekom-
men sein, dafi auf diesem Wege
verbohrter Seelenkunde schreck-
liche Justizirrtiimer zustande ge-
kommen sind. Ja, machen denn
die Richter auch Fehler?
Es ist ihnen, nacb genauer Be-
urteilung ihrer Vorbildung und
des unter ihnen herrschenden
Kastengeistes, nach ihrer Ge-
schichte und nach der Beschaf-
fenheit dieses Klassenstaates, zu-
zutrauen.
Ignaz Wrobel
Nathan SOderblom
Je mehr uns, alien Dutzend-
menschen gegeniiber, alien, die
nie aus der Reihe tanzen, ewig
korrekt sind, stolz darauf, Be-
amte zu sein, eine wahre Strind-
berg-Sehnsucht packt: Ich suche
Menschen! um so gliicklicher sind
w;rf wenn wir einem begegnen.
Soderblom war einer. Stellen
wir uns vor: Ein Kirchenmann,
ein Erzbischof — international
gerichtet, Trager des Friedens-
Nobelpreises.
Die schwedische Zeitung
..Svenska Tagblat' meint, er habe
alle Gaben in sich vereinigt, die
die groften geschicht lichen Per-
sonlichkeiten auszeichneten. Schon
in seinen Studentenjahren mach-
ten sie sich bemerkbar. Er war
Anhanger und Bahnbrecher der
damals neuen liberalen Theologie
und schloB sich den Gedanken-
gangen Rit^chls und Harnacks
112
an. Eine Studienreise ftihrte ihn
nach Amerika. Das religios-
kirchliche Leben in England und
in der Schweiz lernte er kennen.
Als junger Prediger war er jahre-
lang in Frankreich, in Paris an
der schwedischen Kirche, als See-
mannspfarrer in den Hafen Nord-
frankreichs, Mehrere Jahre war
er in Leipzig als Professor fur
Religionsgeschichte tatig. Von
hier ging er als Professor nach
Upsala, wo er einst als Prediger
am Hospital begonnen hatte,
Seine Heimkehr bedeutete eine
Epoche fur die Theologie in
Schweden, Er machte Schlufi mit
der alten Isolierung, die das
schwedische Kirchenleben in Ab-
hangigkeit von dem deutschen
hielt und offnete die Fenster zur
ganzen Welt, Seine Antrittsrede
war eine Fanfare. Schon damals
begann der dauernde Strom aus-
landischer Geistlicher nach Up-
sala, der noch mehr anschwoll,
als Soderblom Erzbischof wurde.
Allen Kriegstheologen gegen-
iiber fiihlte er sich als Mann
des Friedens. - Er nahm sich in
nie ermudendert aufopfernder Ar-
beit der Kriegsgefangenen an und
suchte ihr Los zu lindern, wo
und wie er konnte. Er schlug
mitten im Krieg Briicken zwischen
den christlichen Kirchen der
feindlichen Volker, die sich eben-
so feindlich gegeniiberstanden wie
ihre Volker. Er betonte die
Pflicht der Christen, mitten im
Volkermorden barmherzige Sama-
riter zu sein. Nach dem Kriege
machte er nicht ohne Erfolg den
Versuch, die protestantischen
Landes-Nationalkirchen okume-
nisch zu einigen und stellte ihnen
als praktische Aufgabe die, fur
Weltabriistung einzutreten gegen
den Krieg der Zukunft. Er legte
sein Bekenntnis ab in den Wor-
ten: Friede ist eine sittliche An-
gelegenheit und eine sittliche
Probe, Friedensliebe wird eine
sittliche Tatf wenn sie sich nicht
von dem Wunsche leiten laBt,
Miihe und Beschwerlichkeit zu
vermeiden, sondern selbst unter
Opfern etwas Gutes zustande
bringen will. Allzusehr versaumt
wurde die Pflicht der Kirche, zum
Frieden zu reden und Stimmung
wie Zusammenleben der Volker
zu beeinflussen. Die Abriistung
muB, wie man gesagt hat, auf der
Denkweise begriindet werden.
Eigentlich ist es erstaunlich, daB
die Lehre der Kirche und die
Unterweisung der Kanzel und des
Katheders bis herab zum grund-
legenden Anfangerunterricht in
Kirche und Schule nicht als ein
Gebot so wichtig wie nur irgeud
eines die bruderliche Gesinnung
zwischen den Volkern autgenom-
men hat.
DaB Pazifisten so denken, ist
bekannt. DaB ein soziaiistischer
Pfarrer sich so ausspricht, ist
nicht neu. Man bewundert dann
seinen Mut und sagt: er ist ein
weifier Rabe. Aber daB ein evan-
gelischer Erzbischof sagt; Die
Kirche hat geirrt, die Kirche hat
Fehler gemacht, die sie wieder
gutmachen muB durch eine andre
neue Haltung, das ist so erstaun-
lich, daB es eben zeigt: Soder-
blom war ein Mensch, Soderblom
war ein Protestant. Unter aller
Amtswiirde, unter alien Ehren
und Auszeichnungen — er war
neunfacher Dr. theol., Ehrenbur-
ger der Stadt Halle und der Wart-
burg — hat er dies eine nicht
vergessen. Das ist sein Verdienst,
deshalb allein war er wurdig des
Nobelpreises, daB er unter all die
Kirchenmanner, die von natio-
nalistischen Gedankengangen und
Gebundenheiten auf Grund der
Geschichte der Kirchen, ihrer
Struktur her kamen, trat und
sagte: Wendet Euch um von der
Landeskirche zur Weltkirche I
Krieg ist nicht gottgewollt son-
dern Siinde, Die eihzige Mog-
lichkeit, dem Protestantismus
Achtung und Zukunlt zu ver*
schaffen, ist, daB er okumenisch,
Weltprotestantismus wird. DaB
er dabei manchen Hemmungen
unterworfen blieb, ist naturlich,
Aber vielleicht war es ihm nur
wegen dieser Begrehztheit mdg~
lich, so zu wirken, wie er gewirkt
hatf und sich dabei durchzu-
setzen. Dadurch daB er die Kir-
chen zusammenbrachte, hat er
dem Protestantismus eine neue
Zukunft gewiesen, die all em Fas-
cismus gegenuber in der Linie
einer Internationale des Friedens
liegt. Die letzte Krankheit packte
ihn auf dem schwedisch-eng-
lischen Theol ogenkongreB in der
Nahe Stockholms, den er noch
zusamraengebracht. Von ihm laflt
sich unsre f riedelose Gegenwart
gern sagen: Friede sei mit Euchl
August Bleier
Edle farbentragende Jugend
Wo du hinschlagst, ist die Hoffnung blau,
grun iit ohnehin die dir gemafie Farbe ;
bald ziert jeden Deutschen die von dir
verliehne Narbe
und dein Stockbiebmal die nicht tfanx
blonde rrau.
Edle Jugend, teutsche Jugend, fleglel
Flegle dich empor mit selbstbewufitem Sinn,,
wirf die Sturheit deines Hochmuts alien
Volkern hin-
und dann maste dich als Spiefi und kegleT
Deinem Sohnchen wird dann Heil geschehn
und die Feindschaft, die sein Mut braucht,
wird ihm werden;
glorreich wird er, splendid isoliert auf
Erden,
wenn die Zeit erfullt tst, vor die Hunde
gehn.
Aber Fichte, aber Kant und Goethen,
aber deutschen Geist im Maul und im Gemutf
Wenn euch farbigen Knaben Freude daraus
bluht:
LaBt mich, bitte, deutsch fur euch errotenl
Peter Scher
' . JttwxA
befindet sich In hSchster Form beim GenuB der unvergieichlichen
EGYPTIAN Nr. 16, o/M. u. Gold, Stuck 10 Pf.
Abdulla-Cigaretten genieBen Weltruff
Abdulla & Co. • Kalro - London - Berllt?
113
Wie macht man Sudseefilme?
F\ ie „WeiBen Schatten" waren
*-* an sich kein tibler Sudseefilm.
Aber: „Aufgenommen auf den
Marquesas -Inseln der Sudsee, un-
ter Mitwirkung eines der altesten
Eingebor enenstamme' ' , erzahlten
die Filmplakate und -prospekte
in Berlin. Das klingt ein wenig
merkwurdig, wenn man weiB, daB
die Marquesaner fast vollig aus-
gestorben sind. Zu den Auffuh-
rungen wurde ein Jllustrierter
Filmkurier' (Nr. 1193) verkauft,
in dem der Regisseur beispiels-
weise erzahlte, daB Sage und
Hammer „unheimliche Zauber-
dinge" fur die Eingeborenen von
Tahiti seien. Ich selber habe auf
♦einer abgelegenen Insel derselben
Gruppe, in einem Dorf, in dem
auBer dem Lehrer kein Mensch
-ein auskommliches Franzosisch
sprach, die Eingeborenen jeden
Tag diese Werkzeuge mit groBter
Selbstverstandlichkeit handhaben
sehen. Als ich, nach Wochen,
genug Tahitanisch konnte, fragten
sie mich eines Abends, wie man
in einem Flugzeug des Nachts
fliegen konne, ohne sich zu ver-
irrenl So sind die Eingeborenen
neute auf der unkultiviertesten
Insel der Gruppe, ganz zu schwei-
gen von denen von Tahiti.
Aber mehr als verblufft war ich
dann doch, als bei der Autofahrt
um die Insel Tahiti der Chauffeur
plotzlich anhielt und erklarte, dies
sei der Ort, an dem die IfWeiBen
Schatten" gedreht worden seien.
Da ich den Film zweimal gesehen
hatte, erkannte ich nun auch die
Landschaft sofort wiedert ein Irr-
tum war nicht moglich. Wo aber
liegt dieser Ort? Zwanzig Mi-
nuten mit dem Auto (Richtung
Pointe de Venus) entfernt von
Papeete, einer Stadt mit vielen
tausend Einwohnern und min-
-destens fiinf guten Hotels. Und
-was verkiindete jenes . Heftchen
des Filmkuriers iiber die Aufnah-
tncn? „Die Gefahren und Stra-
pazen des Dschungels waren
auBerordentlich."
Folgt die Fabrikation des Siid-
seezaubers. Dabei muB auf Bie-
gen und Brechen jenes urspriing-
liche Eingeborenenleben wieder
114
und wieder vorgezaubert werden,
so wie es etwa war, als die ewig
betrunkenen Sandelholzhandler in
der Sudsee randalierten und viel
Alkohol und noch mehr Gewehre
und Krankheiten einschleppten.
Das Echteste an diesem Zauber
sind die tahitanische Kocherei
und die Tanze und der Fischfang;
das Perlentauchen filme man an
Stellen, wo es gar keine Perl-
austern mehr gibt und spare sich
die Fahrt nach den weit entfern-
ten Tuamotu-Inseln.
Diese und ahnliche Ingredien-
zien mische man nach Belieben
und stelle daraus jenes Leben in
Schonheit und Sorglosigkeit her;
man achte darauf, daB der naive
Europaer von Aussatz, Elefan-
tiasis, der fiirchterlichen Mucken-
plage und all den sonstigen Heim-
tiicken des Klimas selbst auf den
gesundesten Inseln moglichst we-
nig merke; fur die prominenteren
weiblichen Mitspieler nehme man
tahitanisches Halbblut, 50 Prozent
Sudsee, 50 Prozent irgendwelches
Europa, denn das hat die drahti-
gen Beine, die Korperlinien, spar-
sam und weich zugleichf bei de-
nen die Manner im Kino Stiel-
augen kriegen und die Frauen
Anfalle von Eifersucht, wahrend
sich fur die echten tahitischen va-
hines mit ihrem weichlich tippigen
Fleisch kein Filmsaal Europas
auch nur fiinf Minuten lang inter -
essieren wurde. Zumal sie, ange-
zogen wie sie seit der Zeit der
Missionare sind, unsern Klein-
stadterinnen im Sonntagsstaat zum
Verzweifeln ahnlich sehen. Die
Hauptsache aber ist und bleibt,
daB der europaische Zuschauer
die Sudsee nach wie vor gradezu
fur ubervolkert halt mit wunder-
vollen braunen Frauen und
Mannern.
Dabei sind die WeiBen in der
Sudsee auch gar nicht so ohne,
und es sind mir im Laufe der Mo-
nate Stoffe genug begegnet, die
gradezu nach dem Film schreien.
„Echtes Eingeborenenleben" laBt
sich dabei immer noch als Hinter-
grund, als Arabeske, verwenden,
soweit man es an Ort und Stelle
vorfindet, Im tibrigen gibt es tat-
sachlich, auch heute noch, im Pa-
zifik Inseln, auf denen man von
Zivilisation fast nichts merkt, In-
seln, so weltverloren, daft dort
das Geld nichts gilt, und man nur
gegen Tauschware etwas bekommt.
Man braucht gar nicht auf die
scheuBlichen Menschenfresser-
inseln zu fahren, man findet auch
Inseln mit friedlicherer Bevolke-
rung. Und ich frage: Wenn es
wirklich nicht ohne Siidseezauber
geht, warum geht man nicht nach
solchen Inseln, warum filmt man
ein gestelltes und verlogenes
Siidseetheater „unter auBerordent-
lichen Strapazen und Gef ahren' '
zwanzig Minuten vom nachsten
Hotel entfernt?
Fiir einen armlichen Privatmann
freilich ist es fast unmoglich,
nach so abgelegenen Inseln zu ge-
langen, aber mit einem eignen
Schooner, wie ihn sich die Film-
tfesellschaften leisten konnen, ist
es wahrhaftig eine Kleinigkeit.
Und das Publikum, das schliefi-
lich alles bezahlt, hat docli ein
gewisses Recht darauf, mit der
Wahrheit uber die Siidsee bedient
zu werden. Und diese Wahrheit
ist auch heute noch bunt und
wundervoll genug,
Erich R. KeilpfluZ
Habt ihr schon bemerkt
wie gewisse Buchhandlungefl sich
verfeinern? Buchhandlung — was
sage ich — Biicherstube natiirlich!
Mit Biichern handelt man doch
nicht, das ist unkulfiviert; man
schenkt ein Buch hin, dann kneift
man die Augen zu, und wenn man
sie wieder aufmacht, hat man
Geld in der Hand. Man spricht
nicht von Kunden sondern von
Besuchern, versaumt aber nicht,
gegen Besucher, die liber den Be-
such nicht hinauskommen, hoch-
fahrend zu werden. Was haben
auch solche Burschen hier ver-
loren, in der ubersinnlichen Welt
der Biicher, zwischen Mahagoni-
schranken, Klubsesseln und matt-
getonten Vorhangen? (Manchmal
stehen auch Zigaretten da, aber
die sind nicht fiir dich sondern
fiir die Leute von zwanzig Mark
aufwarts.)
Bediehung exquisit, die Sortie
menter belacheln den Geist der
Waschzettel, indem sie mit glei-
chem Wortschatz das Gegenteil
sagen. Sie wissen was, und du
sollst wissen, daB sie was wissen.
Fiir die bessern Damen, die sich
selbst psychoanalysieren, hat der
Herr der Biicherstube einen be-
sonderen Tvo angeschafft, etwas
Rosarotes, Hochblondes, das ge-
rfebenenfalls das Verdrangte kraft-
voll zutage fordern kann. Die
ganz hohen Besucher, also etwa
Nobelpreistrager und Aufsichts-
rate, ubernimmt der Besitzer
selbst. Wenn der Nobelpreistra-
ger ein gefalliges Wort in das
Gastebuch schreibt, so steht das
nicht fiir den Iieben Gott da oder
fiir dich insolventen Burschen
sondern damit es im gegebenen
Augenblick dem Aufsichtsrat pra-
sentiert werde.
Reclamhefte fiihrt man nicht.
Auch nicht die Sammlung G6-
schen oder „Aus Natur und Gei-
steswelt". Die Inselbandchen neh-
men ja fiir ihre lumpigen neunzig
Pfennig eigentlich auch zu viel
Platz weg, aber da kann man
nichts machen, die sind schon ge-
sellschaftsfahig.
Warum so einfaltig „Bucher-
stube" ? Warum nicht „Buch-
palast" oder „Feine Buchwaren"?
Aber nein, diese Buchhandler
sehen ihrem Geschaft nur abends
nach Sieben ins Auge, tagsiiber
tragen sie Kultur.
Gattamelata
Berechtigte Sehnsucht
la6t jeden Menschen, der sich selber achten karni, iiber sein Alltagserleben
hinausverlarigen, Wie dieser Sehnsucht bleibende Erfiillung sicher wird, zeigen
die Biicher von B6 Yin Rd
dnrch ihre eigenartigfe Fuhrung. Sie sind in jeder guten Buchhandlung'
vorratig. Einfiihrun^sschrift von Dr. jur. Alfred Kober-Staehelin kostenlos.
Der Verlag: Kober'sche Verlagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel u. Leipzig.
115
Wohlerwofbenes Eigentutn
T\er Staat bleibt Eigentiimer der
*-* von ihm verschossenen Muni-
tioh, beha.lt also, wenn er das
Feld behauptct, das Recht, sie
wieder an sich zu nehmen. Das
im Korper des Verwundeten be-
findliche Geschofi ist aber (nach
allgemeiner Rechtsiiberzeugung)
als sein Eigentum anzusehen.
Martin Wolff,
Lehrbuch des Sachenrechts,
Seite 240
Glatt erledigt
In der .Medizinischen Welt' vom
20. Juni steht die folgende Buch-
besprechung von Gerhard Venzmer
iiber ein Buch von Dr. Anton
Schucker:
p ine mutige, dankenswcrte
" Schrift, die uberzeugend den
Beweis ftihrt, daB weder wirt-
schaftliche Verhaltnisse, noch der
Fraueniiberschufi, noch die „Un-
terdrtickung der Frau" die aus-
losenden Faktoren der Frauenbe-
wegung sind, Vielmehr sind die
wahren Grundlagen der Emanzi-
p at ion psychopathisch, denn ihre
Forderungen und Gedanken gehen
von zwei psychopathischen Cha-
rakterformen aus: von der mann-
lichen (athletischen) und von der
infantilen Frau. Dem entspricht
es, daB die Frauenbewegung kei-
nen Anspruch darauf erheben
kann, eine Kulturbewegung ge-
nannt zu werden; sie ist nicht
nur unproduktiv sondern auch
destruktiv, indem sie dem Verfall
des hauslichen Kulturkreises Vor-
schub leistet.
Begreiflich
P s starb am Herzschlag, mit dem
" Buche „Erl6sung von Jesu
Christo" in der Hand Generalleut-
nant H, v, R.t ein tapferer Soldat
des alten Heeres und ein bewahr-
ter Truppenfiihrer im Weltkriege,
ein begeisterter Tannenberg-
kampfer und ein tief uberzeugtes
Mitglied des Deutschvolkes, im
Alter von 72 Jahren, am 21. des
Ostermonds.
Er war mir ein treuer Freund.
Ludendorff.
tLudendorffs Volkswarte*
Ein Ziel, aufs Innigste zu
wunschen
1^ as SchieBen auf lebende Ziele
^-^ hat seinen eignen Reiz. Kein
Wunder, daB solche Obungen von
den meisten Beamten leidenschaft-
lich gern geschossen werden, Wo
der Polizist aber mit Leib und
Seele bei der Sache ist, kann der
Erfolg nicht ausbleiben.
,Deutsche$ Polizei-Archiv'
10. Jahrgang, Heft 11
Hinweise der Redaktion
Berlin
Vorbereitendes Komitee zur Bildung eines Kampfausschusses gegen Hochschulreaktion
und Kulturfascismus. Oeffentliche Kundgebung. Dienstag 20.00: Spichernsale,
SpichernstraBe. Am Komitee sind beteiligt: Alfred Apfel, Bruno Frei, Alfons Gold-
schmidt, Felix Halle und Ludwig Renn. *
Hamburg
Wdtbuhnenlescr. Freitag 20.00: Detaillisten-Kammcr, Neue RabenstraBe : Die Presse
als politischer Machtfaktor.
Bflcher
f Ferdinand Fried : Das Ende des Kapitalismus. Eugen Diederichs, Jena.
Rundfunk
Diensta?. Hamburg 16.15: Ernst Glaeser Hest. ■
Breslau 18.20: Armin T. Wegner:
Weltreisereporter erzahlen. — Leipzig 19.30: Musikalische Plagiate, Hans Reimann.
Konigsberg 21,15; Ernst Bringolf liest Joh. V.Jensen und Rudyard Kipling. —
Hamburg 21.15: Paulskirche Frankfurt a. M. von Rudolf Frank und Georg Lichey. —
Donnerstag. Hamburg 16.15: Wie entsteht ein Filmmanuskript ? Harry Kahn. — Lan-
genberg 18.20: Der WeltauBenhandel und der deutsche AuBenhandel in der Welt-
wirtschaftskrise, Fritz Sternberg. — 19.35: Der Bauer in der Feudalzeit, Alfons
Goldschmidt. — Berlin 21.10: Turandot von Carlo Gozzi, bearbeitet von Alfred
Wolfenstein. — Freitag. Berlin 18.00: Eine Spanien-Reise, Gerhart Pohl. — Munch en
20.20: Kaspar Hauser von Erich Ebermayer,
116
Antworten
Professor Paul Nicolaus Cofimann. Der Internationale Psycho-
analytische Verlag, Wien, hat Ihnen als dem Herausgeber der ,Stid-
deutschen Monatshefte* folgenden schonen Brief geschrieben: „Sehr
geehrte Herren! Bitte machen Sie sich nicht lacherlich und bombar-
dieren Sie uns nicht mit Ihren wiederholten Aufforderungen, in Ihrer
in Vorbereitung befindlichen Sondernummer (Gegen Psychoanalyse' zu
inserieren, Auch der angebotene ,Kollegenrabatt von 30 Prozent'
kann uns nicht zu der Geschmacklosigkeit verleiten, Ihr in Vorberei-
tung befindliches Pamphlet gegen die Psychoanalyse zu Werbe-
zwecken fur unsere psychoanalytischen Veroffentlichungen zu mifi-
brauchen. Auch mochten wir die ,Siiddeutschen Monatshefte' vor
einem sittlichen Konflikt bewahren. Die ,Siiddeutschen Monatshefte1
haben fur die Psychoanalyse die Bczeichnung tPanschweinismus' ge-
pragt. Da mixfiten Sie doch wirklich auf Inserateneinnahmen von sei-
ten des (International en Panschweinistischen Verlages' verzichten
konnen. Hochachtungsvoll Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
gez. A. J. Storfer." Vielleicht konnen wir Ihren Kummer iiber den
entgangenen Inseraten-Auftrag ein wenig stillen, indem wir Ihnen
schon jetzt versichern, dafl wir besonders eifrige Leser Ihrer Sonder-
nummer sein werden,
Germania.. Der Kulturbolschewismus hat dich angenagt. Wir
lesen in deinen ziichtigen Spalten diese Anekdote: ,, Josef Winckler,
der emeritierte Zahnstocher und preisgekronte Poet, der beriihmte
Verfasser des .Tollen Bomberg' und weiterer zumindest ebenso wich-
tiger Bucher, zog um, Wieder einmal. Mitsamt seiner beriickend lie-
benswiirdigen, jungen Frau, einem schonen Schatz stitvoller Mobel
und einer ungeheuern Bibliothek. Und ganz zuletzt noch mit einem
unheimlich groCen Sack . , , Dieser Sack, zentnerschwer, abscheulich,
Schmutzstarrend, zerrissen, stand, noch verlassen in einer Ecke, als
die Arbeiter, miide, zwar nicht von der Frau, doch von den Mobeln
und der Bibliothek, schon die leere Wohnung abschliefien und fort-
fahren wollten . . . ." Miide, zwar nicht von der Frau? Welch kecke
Perspektive, Germania!
Mucker. Veroffentlichungen in der ,Miinchner Post' iiber den
Hitlerschen Stabschef, Hauptmann a. D. Rohm, haben zur Folge ge-
habt, daB die Staatsanwaltschaften von Berlin und Miinchen gegen
Rohm ein Verfahren auf Grund des Paragraphen 175 eingeleitet
haben. Das nehmen leider linke Blatter zum Anlaft, die Veranlagung
des Nazifuhrers fur ihre politischen Zwecke zu miBbrauchen und auf
den MSumpf" in Miinchen mit sittenstrenger Oberheblichkeit hinzu-
weisen. Der Herr Hauptmann ist fur seine Veranlagung nicht ver-
antwortiich zu machen. Das Wissenschaftlich-humanitare Komi tee
weist in einer Erklarung mit Recht darauf hin, wie gefahrlich es ist,
die Veranlagung eines politischen Gegners als Waffe gegen ihn zu
verwenden. Sind wir Linken fiir die Aufhebung des Paragraphen 175,
dann ist es inkonsequent, ihn gegen den Feind auszuspielen, Uns
scheint wichtiger, auf die moralische Verlogenheit des Hitler-Kreises
hinzuweisen, die darin besteht, mit den iibelsten Ausdriicken gegen
eine sexuelle Variante zu hetzen, die in den eignen Reihen ihre Ver-
treter hat. Wenn die sogenannten Beschuldigungen gegen Rohm zu-
treffen sollten, dann sind sie das schlagendste Argument gegen die
sexualstrafrechtlichen Anschauungen der Partei, gegen ihre mittel-
alterliche SexualmoraL
Bruno Traut Auf Ihren Aufsatz „Der Schrei nach dem Bilde" (in
Nummer 26) schickt der Bildhauer Jacob Plessner eine Entgegnung,
aus der folgendes zitiertsei: Es bedarf keiner besonderen Erorterung,
daB jeder Einsichtige die Dekorationsgreuelf die Geschmacklosigkeiten
117
des iiberiadenen, leeren Schwuistes an Bauten verurteilt und dankbar
anerkennt, da6 moderne Arehitekten, und nicht zum wenigsten Taut,
uns davon befreit haben, Ebenso riickhaltlos freuen wir uns der emi-
nenten Leistungen der modernen Architektur, sowohl auf asthetischem
wie technischem Gebiet, konnen jedoch nicht verhehlen, daB bisweilen
auch manche Architekturgreuel, Baukastenspielereien von oder Gleich-
fdrmigkeit und schreiender Langweiligkeit als besondere Leistung hin-
gestellt wurdcn und werden. In keinem Falle aber kann man mit Taut
und seinen Mitlaufern dem absoluten Kahlbau a tout prix das Wort
reden, Als Gegenbeispiel sei nur auf Messel verwiesen, der unbe-
schadet seiner vornehmen, groBartigen, und groBziigig-konstruktiven
Architektur, etwa beim Wertheimbau, in geschmackvoller Weise zur
Belebung der Fassade und 'zur Freude der Beschauer den von Taut
so verponten plastischen „reinen Schmuck" aufs Glucklichste verwen-
det hat und auch in seinen Privatbauten bewies, dafi Architektur und
bildende Kunst sich aufs Beste vertragen und erganzen. In seiner
Villa fur Eduard Simon waren ohne Schadigung der architektonischen
Wirkung die Wande bedeckt mit gerahmten Meisterwerken — nach
Adolf Behhe „Entartungen Von Altarschreinen". Ware es Messel je-
mals eingefallen, den Bewohnern seiner Bauten die Betatigung ihrer
Kunstfreude verbieten zu wollen und das als MAnfalle moderner Ro-
mantik" zu verhohnen? Der von Taut konstruierte, in Anbetung der
nackten Wand versunkene freudlose Mensch'mit der kalten Schulter
und dem sachlichen Innenleben, das gewissermafien mir auf Hebel-
druck reagiert, existiert in Wirklichkeit nicht, auch nicht in den
trockensten Exemplaren der Gattung Mensch, die hinwiederum nicht
fiir Tautsche Architektur in Frage kame. „Der Schrei nach dem
Bilde" ist eine notwendige „Reaktion", die kein „Zuriick" sondern
Fortschritt bedeutet, Sie war vorauszusehen, sie mufite kommen als
Rettung vor innerer Erkaltung und dem „Horror vacui".
Doktor Fritz Sternberg. Sie haben an den Nummern 4, 6 und 7
der in Koln monatlich erscheinenden linkssozialdemokratischen Zeit-
schrift ,Der Rote Kampfer* entscheidend mitgearbeitet. Sie legen, um
alle Mifiverstandnisse zu vermeiden, grofien Wert darauf, festzu-
stellen, daB Sie mit der soeben erschienenen Nummer 8 dieser Zeit-
schrift nicht das Geringste zu tun haben. Sie sind fiir keinen der
dort erschienenen Artikel in irgendeiner Weise verantwortlich zu
machen. Sie werden im nachsten Heft der Weltbuhne selbst darauf
zuriickkommen.
Moskauer Rundschau, Eure neuste Nummer enthalt den voll-
standigen deutschen Wortlaut der Stalin-Rede, von der wir im vori-
gen Heft einen kleinen Auszug brachten. Die neue Adresse eurer
deutschen Auslieferung ist: Berlin W 8, Wilhelmstr. 48,
Neugieriger Saugling. Du fragst uns, was Milch ist. „Milch ist
das durch regelmaBiges, vollstandiges Ausmelken des Euters ge-
wonnene und griindlich durchgemischte Gemelk von einer oder
mehreren Kiihen aus einer oder mehreren Melkzeiten, dem nichts zu-
gefiigt und nichts entzogen ist." So belehrt dich und uns die ,Erste
Verordnung zur Ausfuhrung des Milchgesetzes* (Justiz-Ministerial-
Blatt von 1931, S. 150).
Manuskripte sind qui an die Redaktion de» Weltbuhne, Charlottenburg, Kantstr. 152, zu
richten; es wird gebeten, ihnen Ruekporto beizulegen, da sonst keine Riicksendung erfol^en kann.
Das Auf f Cihruny srecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rahmen des Films, die musik-
mechanische Wiedergabe aller Art und die Verwertungr im Rahmen von Radiovortrasen
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Stillhalten und mitsingen voncariv.ossietzky
Kommqnisten und Volksentscheid
F)ie Kommunisten haben beschlossen, sich am Volksentscheid
ttber die Auflosung des preuBischen Landtags zu beteiligen.
Das ist das wichtigste innenpolitische Ereignis der vergangenen
Woche. Der BeschluB der KPD bedeutet ganz gewiB nicht,
dafl sie nun den letzten Mann aufbieten wird, um dem Stahl-
helm zum Siege zu verhelfen; er ist vornehmlich ein agitatori-
scher. Die Partei will auf die Anhangerschaft der Rechten
einwirken, sie in ihre eignen Versammlungen bringen, Wenn
Hitler und Seldte .nicht so groBformatige L)ummkopfe waren,
wiirde ihnen diese unerwartete Bundesgenossenschaft, die
keine ist, recht lastig fallen, Ob die Kommunisten also wirk-
lich entschlossen sind, ausschlaggebend mitzuhelfen und das
Gelingen des Volksentscheids zu sichern, darf mit Fug be-
zweifelt werden. Aber ohnc Zweifel wird die kommunistische
Entscheidung fur das Referendum auf die Leute von rechts,
die beim Volksbegehren - wegen der Aussichtslosigkeit des
Unternehmens groBenteils zu Haus geblieben sind, belebend
wirken, denn die Sache sieht jetzt etwas hoffnungsvoller aus.
Selbstverstandlich ist dieser BeschluB nicht ohne heftigste
Auseinandersetzungen in der Parteizentrale zustande gekom-
men, und er wird auch in der Partei von denen, die sonst ge-
wohnt sind, zur Zentrale wie zu den Kuppeln einer Kathedrale
emporzuschauen, nicht vollig verstanden. Die Opposition er-
halt frische Nahrung, in der Feme zeichnen sich die Konturen
einer neuen Parteikrise ab. Die KPD mag wohl eine, radikale
Partei sein, die ihre Impulse von einer revolutionar bewegten
Epoche empfangt, aber eine Revolutionspartei ist sie nicht.
Sie nimmt ganz und gar die Entwicklung zu einer Massen-
partei, der bunte Scharen von alien Seiten zustromen und die
jetzt durch taktisches Manovrieren das ersetzen muBf was sie
ihnen an einheitlichem Geist nicht zu geben vermag. Eine Partei,
die Millionen erfaBt, schlagt immer in gegebenen Verhaitnissen
Wurzel, mag sie auch noch so laut die Utopie verkunden. Das
ist wie ein politisches Naturgesetz, wenn es auch niemals den
schnell Berauschten aufgehen wird, die sich in der Schlachten-
musik der Versammlutigsreden verlieren. So hatte neulich der
leitende Redakteur der ,Welt am Abend' die bewegteste
Stunde seines Lebens, als das Blatt die verfruhte Meldung vom
Zusammenbruch der Danat-Bank brachte. Munzenberg tobte
vor Wut iiber die an sich glanzende journalistische Leistung
und ware beinahe tatlich geworden. Und diese Wut ist be-
greifiich, wenn man bedenkt, daB der rote Aufbau des Miin-
zenberg-Konzerns auf Danat-Krediten ruht. Jakob Gold-
schmidt war eben kein Doktrinar, er stiitzte Hugenberg und
Munzenberg mit gleicher Objektivitat
So bedauerlich das Ja der KPD fur den Volksentscheid
der Fascisten auch ist, es kommt nicht (iberraschend und ist
auch in keiner Weise absurd. Die Zentrale hat kaum anders
i 119
handeln konnen. Die Verantwortung dafur fallt auch auf die
sozialdemokratischen Minister, deren Verstandnislosig-
k-eit es den Kommunisten unmoglich gemacht hat, eine an-
standige Neutralitatsformel zu find en. Erwariet man wirklich,
daB die KPD eine Regierung retten soil, die sie seit Jahren
unter Ausnahmerecht stellt? Erwartet man von den Kommu-
nisten wirklich die Bereitschaft, Braun und Severing zu tole-
rieren, so wie die Sozialdemokratie Bruning und Groener tole-
riert? Namlich ohne Gegenleistung! Vor zwei Wochen hat Ja-
kob Links hier erzahlt, wie die KPD bereit war, mit sich re-
den zu lassen, falls Severing dafur die Spartakiade, das Ar-
beiter-Sportfest, gestattete. Die preuBische Regierungskoalition
schien auch bereit zu sein, bis Herr Wirth namens der Reichs-
regierung intervenierte und die fur berliner Verhaltnisse ailzu
romanhatte Polizeiepisode in der Frankfurter Allee eine zwar
explosive aber nicht unerwiinschte Losung braohte.
Auch diesmal hat die KPD noch einen Versuch unter-
npmmen, Sie hat Severing durch den Abgeordneten Schwenk
vier Forderungen unterbreitet: Herstellung der Presse- und
Versammlungsfreiheit; Zurucknahme der AbbaumaBnahmen
gegen Unterstiitzungsempf anger; Sicherung der vollen Auszah-'
lung kleiner Guthaben bei den preuBischen Sparkassen; Auf-
hebung desVerbots der Roten Frontkampfer. Das sind alles
andre als erpresserische Forderungen, Auch wenn man. in Be-
tracht ziehf, daB die finanziellen Punkte an die Zustandigkeit
des Reiches gebunden sind, so bildet das Ganze doch eine
mogliche Verhandlungsbasis. Statt dessen spielte Herr Seve-
ring wieder mit seinen Muskeln, die er in den Tagen der bres-
lauer Stahlhelm-Demonstration so schamhaft verborgen gehalr
ten hatte. ,fAuf Ihr Schreiben vom 21. Juli teile ich Ihnen
mit, daB die preuBische Staatsregierung es ablehnt, MaBnah-
men zum Schutze der offentlichen Ordnung und Sicherheit zum
Gegenstand eines politischen Tauschhandels zu machen." Gut
gebrullt, Lowel Das ist bester preuBischer Puttkamerstil.
Politiker, die sich nicht so gottahnlich fiihlen wie Herr
Severing, hatten in den kommunistischen Forderungen weniger
das Ultimatum gesehen als vielmehr den Wunsch, lieber einen
halbwegs pa&sablen Akkord mit den Sozialdemokraten zu fuv
den als in eine Front mit dem Stahlhelm zu kommen. Der
,Yorwarts* versucht, die kommunistische Aktion lacherlich zu
machen. weil seine Leser schlieBlich doch nachdenklich werden
konnten. Er behauptet, der Brief der kommunistischen
Fraktion sei ohne Kopf und Stempei gewesen und hatte auBef-
dem einige Fettflecke aufgewiesen. Dann leistet sich der , Vor-
warte* eine ausgewachsene Flegelei: „Das historische Doku-
ment bleibt vorlaufig bei den Akten. Spater soil es dem
Kriminalmuseum des Polizeiprasidiums iiberwiesen werden/'
Nun, diese Fettflecke hatten eine Aussprache nicht hindern
sollen, in der hohen Politik ist man doch sonst nicht so penibel,
Als Dumouriez, in seiner Eigenschaft als Minister der Gironde
sich Ludwig XVI. vorstellen wollte, versuchten ihn die HofV
schranzen aufzuhalten, weil er nicht die vorgeschriebenen Escar-^
pins triige. Ein paar Monate spater muBte Seine Majestat mit
Leuten verhandeln, die abgeschlagene Kopfe auf Piken trugen.
120
Die Nutzanwendung, nicht nur fur Monarchien, ist einleuchtend.
In unruhigen Zeiten, wo niemand weiJJ, was morgeri sein wird,
darf man auf AuBerlichkeiten nicht allzuviel geben. Es 1st
besser, man verstandigt sich mit den Leuten, deren Papiere mit
ein paar Fettflecken geziert sind, Denn morgen konnen schon
Andre kommen, die nicht mehr mit sich reden Iassen,
Das Ausreise-Verbot
Die Konferenz von London hat mit einem vollen FehLschlag
geendet. Herr Briining bringt kein Geld mit sondern nur ein
nettes SchluB-Communique, das geeignet ist, Hoffnung auf neue
Hoffnungen zu erwecken, Ein paar Bankiers werden nach-
stens den Hungerleib Deutschlands wieder beklopfen; nicht
die Glaubiger werden stillhalten miissen sondern der Schuld-
ner. Alles in allem, wir rutschen.in die ersten Reparations-
jahre zuriick, wo Sachverstandige aller Lander bei uns ihre
tiefgriindigen Analysen vornahmen und jeder amerikanische
Bankier wie die Taube uber der Arche begriiBt wurde, Alles
interessierte sich fiir Deutschland, und wir kamen dabei sachte
auf den Hund. Nach jedem neuen Krafteverfall schlugen die
Politiker neue kraft voile Anstrengungen vor, das Vernunft-
gemaBe abzuwehren, und wer sein Nein am lautesten schmet-
terte, das war der Hauptkerl, der bekam am Potsdamer Bahn-
hof seine Hurras und seinen BIumenstrauB. Minister kommen
zum Besuch, Konferenzen werden folgen, ein neues Cannesf
ein neues Genua, und sicher ist bei alledem nur, daB die di-
rekte Verstandigung zwischen Deutschland und Frankreich bis
jetzt nicht zustande gekommen ist. Zwar wird vielfach ver-
sichert, auch Briining wiinsche nichts sehnlicher als das und
wolle keine Prestigematzchen. Aber selbst wenn das richtig
ist, so steht ihm sein eignes Kabinett im Wege. Mindestens
Treviranus, sein blauer Freundf miiBte geopfert werden, und
auch mit Schiele, dem Agrarminister, und dem erzgeschienteh
Groener laBt sich keine europaische Politik machen: Und hin-
ter dem blassen Curtius steht noch undeutlich und ohne Figur
der Staatssekretar von Biilow, der sich vor Jahren fiir sein
Amt als Volkerbundreferent mit einem Buch gegen den Vol-
kerbund qualifiziert hat-
So lebhaft Briining auch in Paris und London die deutsche
Bereitschaft zu europaischer Kooperation beteuerte, was in
Deutschland in den letzten vierzehn Tagen an wirtschaftlichen
Notverordnungen herauskam, dient nicht nur natiirlicher Selbst-
hilfe, sondern kokettiert heftig mit jener iiberspannten Auf-
fassung, daB Deutschland sich abschlieBen miisse, urn ,,aus eig-
ner Kraft" zu gesunden. Lieber die Verwesung als Verstandi-
gung mit Paris! Wenn die Welt nicht will wie wir, dann
blockieren wir uns selbst, dann schlieBen wir uhs selbst in
den Zwinger. Die alldeutsche Ideologie, die den Kampf um
die Welt verloren hat, schlagt in Ohnmacht und Ratlosigkeit
nach innen, Deutschland soil wie ein boses Tier hinter selbst-
geschmiedeten Gitterstaben sitzen und die Welt anfletscheii
und anstinken. Das ist der Sinn der „Autarkie".
Aus dieser Ideologie stammt das Ausreiseverbot, das
tibrigens in der kurzen Zeit seines Bestehens so griindlich von
121
Protesten zugedeckt worden ist wie kaum cine andrc rainiste-
rxcllc Leistung vorher. Wahrschcinlich wird es bald ctwas
umfrisiert, wenigstens sein plumper Eingriff in den geschaft-
lichen Alltag etwas besser wattiert werden, aber es ist bis zur
Stunde noch zweifelhaft, ob die Regierung dazu gebracht werden
kann, es wieder ganz verschwinden zu lassen. Denn es ware ein
Irrtum, darin einfach ein Stuck ahnungsloser bureaukratischer
Experimentierfreude zu sehen. Es ist dem erfindungsreichen
Kopf des Herrn Treviranus entsprungen, es ist eine ausge-
sprochene KriegsmaBnahme. Der erste Schritt zur Selbst-
blockade. Die Rechtspresse schreit schon jetzt, daB nachstens
das Verbot der Einfuhr auslandischer Waren folgen miisse.
Man unterschatze dieses aufgeregte Gehabe nicht. Wir leben
schon wieder ganz in Ruhrkriegsstimmung. Die Unheilsparolen,
die im vorigen Sommer mit der oratorischen Tatigkeit des
Herrn Treviranus einsetzten: die Revisionskampagne, die er-
hohte auBenpolitische Aktivitat, das alles ist heute lebendiger
als jemals. Wenn nicht in absehbarer Zeit eine fiihlbare Er-
leichterung erfolgt, dann wird manches von dem Tatsache
werden, was heute noch wie eine leere Phrase durch die
OKentlichkeit klingelt.
Es ware muBlig, hier nochmals zu wiederholen, was aus
der nichtpolitischen Praxis gegen das Ausreiseverbot gesagt
worden ist. Nachdem das Kapital in Milliard en durch unsicht-
bare KJanale abgeflossen ist, soil der Geschaftsreisende, der
mit seinem Musterkoffer in die nachsten Grenzorte fahrt, soil
der Tourist, der mit seinen zusammengesparten Sechsern ein-
mal Italien oder die Schweiz sehen will, plotzlich als der
Schadling entlarvt werden, der am Ruin des Landes schuldig
ist. Weil die GroBen viele Milliarden verschoben haben, des-
halb diirfen die Kleinen keinen FuB mehr ins Nachbarland
setzen. Weil die GroBen eine gottserbarmliche Wirtschafts-
und Finanzpolitik getrieben haben, deshalb diirfen die Kleinen
nicht mehr an ihre armlichen Sparkassen-Guthaben.
Die neue treviranische Idee hat auBerhalb Deutschlands
keine bessere Auifnahme gefunden als die fruhern. Von den-
jenigen lErwerbszweigen, die am diirektesten davon betroffen
werden, kann man bald einige Repressalien erwarten. Die
deutsche Wirtschaft wird an dieser kleinen Kostprobe spu-
ren, was fur unangenehme Konsequenzen weitere Versuche
autairkischen Oharakters mit sich bringen konnen. Aber wir
wollen ganz ruhig sein, man wird auch dafiir bald den Schuldigen
in Paris oder Warscha-u gefunden haben. Wenn Herr Trevi-
ranus auch diesmal seine Erf indung mit ein paar freundlichen
Wlorten fur ein europaisches Zusammengelhn einfuhrte, so
ruhrt sie doch ganz von jenem dumpfen Provinzialismus her,
von jenen stupid en Vaterlanderei, die in dem, was auBerhalb
der Landesgrenzen liegt, nur Aiusbeutungsphar<e sieht oder
Kriegsschauplatz.
Zensur
Warum eigentlich eine neue Presse-Notverordnung? Die
kommunistische Presse ist doch schon lange nur noch zum Ver-
bieten da. Auch die Hairpfblatter der Nation also zialis ten sind
122
fortwahrend konfisziert. Man muB also auch mit dem ordent-
lichenRecht auskommen. Von den zweiundzwanzig ausgespro-
chenen Parteiblattern der Kommunisten sind zweidrittel zur
Zeit verboten. Seit Januar sind gegen die kommunistische
Presse sechsundvierzig Verbote fur zusammen 1026 Tage aus-
gesprochen worden. Das sind Verbotszif f ern, die neben denen
der gelernten Diktaturstaaten gewiB noch nicht viel bedeuten,
aber doch einen frohen Ausblick auf mehr eroffnen.
Bis vor kurzem that man sioh vornehmlich an die Tages-
presse der radLkalen Parteien gehalten. Jetzt pirscht man sich
langsam an die Zeitschriften heran, an die unbequemen Ein-
ganger. In Stuttgart ist die pazifistische ,Sonntagszeitung' kon-
fisziert worden, und Herr Grzesinski hat vor ein paar Tagen
die Monatsschrift Erich Miihsams verboten, gleich darauf das
Wochenblatt des nationalistischen Unabhangigen Otto StraBer.
Dieses Blatt ist beschlagnahmt worden, weil es eine be-
unruhigende wirtschaftliche Nachricht gebracht hat, die nicht
den Tatsachen entsprechen soil und hoffentlich auch nicht
entspricht. Nun waren Geriichte ahnlicher Art aber schon
langere Zeit im Publikum verbreitet, und auch der Herr
Polizeiprasident diirf te davon Kenntnis gehabt haben.
Warum hat er die kompetenten Stellen nicht ermahnt, dage-
gen rechtzeitig etwas zu unternehmen? Ein Dementi in Form
eines Zeitungsverbotes ist keine Antwort, die geeignet ware,
die Angstlichen zu beschwichtigen. Herr Grzesinski ist auch
nicht gegen die Erklarung Hitlers und Hugenbergs eingeschrit-
ten, in der gesagt wurde, daB die nation ale Opposition Ab-
machungen Briinings in London nicht respektieren werde. Es
ist bekannt, daB dieses iPronunziamento einen gradezu kata-
strophalen Emdruck in London machte und ein geruttelt MaB
Schuld an dem grundlichen MiBlingen der Konferenz tragt.
Wenn diese ganze liberfltissige Presseverordnurig (iberhajpt
einen Sinn haben kann, so nur den, auBenpolitischen Schuden
zu vermeiden. Innenpolitisch — ja, da ist schon hinreichend
gesorgt.
Die Autoren von Zensurgesetzen sind nicht sefar phanta-
siebegabt. Auch Herr Ministerialdirektor Klausener, dem Vor-
gesetzten Severings und geistigen Vater dieser Notverordnung,
ist nichts neues eingetf alien. jDruckschriften, durch der en In-
halt die offentliche Sicherheit und Ordnung geiahrdet wird,
konnen polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden/*
Mager, sehr mager. Wir politischen Puiblizisten sdmtteln zu
diesen schulerhaften Bemiihungen den Kopf. WSr wissen, daB
die Zensur dem Geist unsres Berufes immer recht gut be-
kommen ist, mag sie die Bewegungsfreiheit der physischen
Person auch manchmal gehemmt haben. Die Zensur ist eine
ausgezeichnete Padagogin. Sie erzieht zur Wadhsamkeit, sie
verhindert das Ausglitschen der Feder, die schnell herunter-
diktierte Plumpheit; der Ausdruck erhalt wieder Nuance und
Schattierung, das Wort Gewicht und Wurde. Die GroBtaten
der politischen Publizistik sind im Schatten der Zensurbehor-
den geleistet worden; die meisterhaftesten Pamphlete wurden
in Kellern geschrieben, wahrend drauBen auf dem Platze die
Soldaten im Carre standen, um die Geiahrdung der offent-
2 123
lichen Siclierheit und Ordnung tax verhindern, Die amtlichen
Glossatoren der Presseverordming versichern, es komme nur
darauf an, Excesse, nicht Richtungen tax tareffen. Nun wird
bei der hoffnungslosen VerptLumpiung unsres politischen Emp-
fkidens heute jede unbequeme Richtung sehr leicht als ExceB
betrachtet, jede Kritik als ein strafwurdiges Verbrechen, das
Vorhandensein von Kritikern schon als cin Mianko der Schop-
fung, das von dein uberlegenen iMenschengeist schleunigst
korrigiert werden muB.
Aus diesem Grunde hat sich die hohe Obrigkeit auch ein
Entgegnungsrecht in den Zeitungen reserviert. Die Presse muB
kunftighin bedingungslos abdrucken, was eine crleuchtetc Regie-
rungss telle ihr zusdhickt und darf auch in der gleichen Niuxn-
mer nicht dazu Stellung nehmen. Die Meinung der Regierung
ist also der rocher de bronce, den unsre kleine UnmaB-
geblichkeit nicht mit Affichen bedecken darf, auch wenn
der GuB noch so wenig gelungen ist, Denn so gewiB es
eine Zeitungsliige gibt, so gewiB gibt es auch eine amtliche
Luge. Wie oft wird uns Journalisten nicht in Amtszimmern
die Hucke vollgelogen. Wir kennen alle die gutgeolte
Dementiertechnik von Ministerien und Magistrates Wir
haben oft und oft die heitere Sicherheit best aunt, mit
der Amtspersonen offenkundige Tatsachen ableugnen. Wir
kennen aus alien Parlamenten die Szene, wie der Ab-
geordnete den Minister fragt( warum grade diese Firma
100000 Mark Subventionen erhalten babe, und wie der Mini-
ster mit ehrlicher Entriistung antwortet, es sei kein Pfennig
an Subventionen gewahrt worden, und wie der Abgeordnete
dann fas&ungslos nach Luft schnappend seine Beweise schwingt
und der Minister dem armen Irren mit echter ttberlegenheit
vorhalt: ffJa, das sind dodh keine Subventionen, sondern
So ist diese Dementiertechnik. Sie klammert sich an Forma-
litaten, Auslegungen, sie ergeht sich in Silbenstechereien und
unterschlagt die Sache. I oh habe hier ein imaginares, ein ganz
harmloses Beispiel gewahit, ich habe — o erzieherischer Ein-
fluB der Zensur! — ■ nidht den Rieichswehretat als Exempel her-
angezogen. Nun sind die vielen kleinen amtlichen Schwinde-
leien ein parlameniarisches Gesellschaftsspiel, bei dem t)bel-
nehmen nicht gilt. Was aber ward, wenn dieses Spiel, heute
ins GroBe uibertragen, bittere Wahrfieiten entkraften, ernste
Warnungen in den Wind schlagen soil? Denn mag der Zen-
sor es sich tausendmai einbilden, Sicherheit und Ordnung zu
retten, aber Anstand und politische Moral sind nicht auf dies
erfreuliche Konto zu setzen.
Die Presseverordnung ist ein glanzendes Pendant zum
Ausreiseverbot. Der liberal schillernde Staat weicht wieder
den soliden alten Begriffen, nach denen er eine Korrektions-
anstalt ist, ein Gefangnis; nichts andres. Die Fascisierung
sdhreitet unaufhaltsam fort. Jede Zeitung ein Regierungsorgan
— das steht am Ende der iEntwicklung, die mit dieser Notver-
ordnung gegen die Pressefreiheit begonnen hat. Stillhalten und
mitsingenf Und es wird bald nur eine noch erlaubte Melodie
geben, und jeder unsrer Schritte wird sorgfaltig bemessen sein,
Wer weitergeht, wird erschossen.
124
Der engllSChe Dokhstofi von Felix Stdsslnger
T\ ie dcutschcn Delegierten sind mit leercn Taschcn und
lceren Vcrsprcchungen aus London zuriickgekehrt. Wicdcr
ist cine englische Konferenz, deren Zusammentritt von Eng-
land gradezu erpreBt worden ist, fur Dcutschland vcrnichtcnd
zu Ende gegangen. Wieder hat es sich gezeigt, daB England
nicht einmal mit amerikanischer Hilfe imstandc ist, ctwas fiir
Dcutschland zu tun. Wieder H&t England Himmel und Holle
in Bewegung gesetzt, um die deuitsch-franzosische Verstandi-
gung und die direkte Aussprache beider Lander ohne aufdring-
liche Vermittler zu verhindern. Niemals waren Deutschland
und Frankreich so nahe daran, die Einigung zu suchen. Nie-
mals noch haben eben deswegen die angelsachsischen Machte
mit einem derartigen Hochdruck gearbeitet, die Kontrahenten
auseinanderzubringen. Nichts fiirchtet der englische Im-
perialismus und das englische Ausbeutungskapital mehr als
die deutsch-franzosische Verstandigung. Bis vor einem Jahr-
zehnt (aber seit Jahrhunderten) betrachtete die englische
Politik die jeweils starkste Kontinentalmacht als ihren Feind
und als eine Gefahr fiir das englische Weltreich. Seit einem
Jahrzehnt weiB England, daB nicht Frankreich und nicht
Deutschland allein die englische Politik des europaischen
Gleichgewichts, das heifit die englische Politik der Balkani-
sierung Europas iiberwinden konnen, Nur Deutschland und
Frankreich zusammen, nur der Vereinigte Europaische Konti-
nent ist in der Lage, dieser Politik der Zerstorung ein Ende zu
machen. Deswegen richtet die englische Politik ihre ganze
Energie, die imponierend ist, gegen den deutsch-franzosischen
ZusammenschluB, der freilich den englischen Imperialisms,
nicht aber das britische Imperium bedroht. Niemand weiB so
gut wie England, was eine ehrliche, direkte deutsch-franzosische
Verstandigung bedeutet, Deutschland und Frankreich konnen gar
keine Bindungen zu einer Zusammenarbeit eingehen, die sich
nicht zwangslaufig zu einem Biindnis ausweiten miissen. Das
weiB England, deswegen verhindert es die deutsch-franzo-
sische direkte Verstandigung (eine andre gibt es nicht), und
deswegen hat es in Eile und Hast diese Konferenz zusammen-
getrommelt, die wiederum, wie alle diese englischen Konferen-
zen seit 1920, dazu bestimmt war, Deutschland und Frank-
reich vor den englischen Kadi zu schleppen, der von diesen
endlosen und aussichtslosen Prozessen allein profitiert,
t,Nach Chequers", schrieb ich in der ,Weltbuhne* vom
9. Juni, einige Tage vor der Abreise der deutschen Delegier-
ten nach England, ,,gibt es nur noch die direkte Verhandlung
mit Frankreich, ohne jeden Vermittler, oder den Marasmus1*.
Wer nach den Prinzipien der .Kontinentalpolitik die Ereignisse
beurteilt, hatte es nicht schwer, ihren Lauf vorauszusagen. Es
war seit Jahren nicht moglich, und es wird noch lange nicht
moglich sein, den deutschen Politikern zu beweisen, daB Eng-
land uns nicht helfen will. Erkennt aber die deutsche Politik
nach dieser londoner Katastrophe noch immer nicht, daB Eng-
land uns auch gar nicht helfen kann? Darf man hoffen, daB
125
die Erklarung, die Briining am 23. Juli den deutschen Presse-
vertretern in London gab, den Beginn einer richtigen Erkennl-
nis der Realitaten bedeutet? Nach Briining mache e>s die Ver-
fassung der Vereinigten Staaten ihnen unmogiich, an einer
langfristigen Anleihe teilzunehmen und die Lage des londoner
Kapitalmarktes, versichert Briining, laBt eine solche Anleihe
zur Zeit ganzlich ausgeschlossen erscheinen. Nun also! Wir
wollen mit Briining iiber dieses t)zur Zeit" nicht rechten. Ent-
scheidend ist, dafi ,fzur Zeit" Deutschland nur durch eine lang-
fristige Anleihe gerettet werden kann, daB nach Briinings Er-
klarung, weder Amerika noch England, das eine politisch, das
andre finanziell, dazu in der Lage ist und Deutschland sich
daher, ob es will oder nicht, mit dem Staat einigen muB, der
sowohl politisch als auch finanziell in der Lage ist, Deutschland
eine langfristige Anleihe zu gewahren. Die Tragodie der
deutschen Politik beruht aber seit einem Jahrzehnt darauf, daB
diese Machtrealitaten vollig verkannt wurden. Die Kontinen-
talpolitik versichert dagegen seit mehr als einem Jahrzehnt,
daB Deutschland nicht nur wirtschaftlich, politisch, schicksals-
maBig an Frankreich gebunden ist, sondern daB auch Frank -
reich allein die Macht hat, das zu geben, was Deutschland
braucht. Die Anlehnung der deutschen Politik an Eng-
land hat nicht verhindern konnen, daB Frankreich politisch,
militarisch, wirtschaHlich zur entscheidenden Weltmacht auf-
gestiegen ist. Gegen diese Uberlegenheit fxihrt Deutschland
seit Jahren einen vollig sinnlosen Kampf. Heute muB es end-
lich einsehen, daB wir nach dem verlorenen Weltkrieg keine
andre Politik betreiben konnen als die Politik Thiers nach
1871, die Politik der „gegebenen Tatsachen". Die gegebenen
flnanziellen Tatsachen hat Briining in dieser Erklarung urn-
rissen. Sie war diplomatisch vorsichtig und enthielt daher nur
einen Teil der Wahrheit.
Die voile Wahrheit ist die, daB die deutsche Wirtschafts-
krise die londoner City auf das gefahrlichste bedroht. Man
sollte glauben, daB grade deswegen England alien Grund hatte,
Deutschland durch eine Verstandigung mit Frankreich zu
retten, und sich dazu. Aber, abgesehen davon, daB Politik
nicht nach verniinftigen Grundsatzen getrieben wird, sonst
sahe ja die Welt anders aus, lebt die City zum Teil davon,
daB Frankreich sich nicht mit Deutschland verstandigt und
seine Gelder statt in Deutschland, in England anlegt oder nach
Deutschland iiber England verborgt. Es ist hochste Zeit, daB
den Franzosen in diesen tragischen Wochen die Geduld ge-
rissen ist und ihre Presse von links bis rechts die Englander
beschuldigt hat, die deutsch-franzosische Verstandigung zu ver-
hindern, weil sie von der deutsch-franzosischen Enfremdung
leben. Die londoner Bankeri, erklarte Jules Sauerwein dem
,12-Uhr-Blatt', haben jahrelang davon profitiert, daB sie in
Paris Geld zu 3 Prozent aufnahmen und zu 6, 7 und 8 Prozent
nach Deutschland weitergaben. Eine deutsch-franzosische Ver-
standigung ist nach Sauerwein fiir diese Banken eine Kata-
strophe. Die deutsche Insoivenz England gegeniiber zieht die
englische Insoivenz Frankreich gegeniiber nach sich.
126
Kein Wunder, daB die dcutsche Krise die englische Borse
mitt schweren Schlagen trifft. Als Deutschland am 16. Juli in
dcr pariser Borsenbaisse Trost und Hoffnung suchte, war die
eigentlich entschiedene Tatsache des Weltmarkts dcr Sturz des
Pfundes fast auf den Katastrophenkurs von 192^ England hat,
seitdem es Briining verhindcrt hat, in Paris elnen deutsch-
franzosischen Freundschaftspakt zu schlieBen, fiir 500 Millionen
Mark Gold an Paris abtreten miissen. Die englischen Staats-
anleihen sind gesturzt, das Plund beginnt ein Spielball der
Weltbaissiers zu werden, sein Fall bringt Unruhe bis nach
New York, das selbst franzosische Kreditkiindigungen zu
fiirchten hat. Morgan flog auf seiner schnellsten Jacht nach
Europa, nicht um das Anleihegeschaft zu machen, dessen Aus-
sichtslosigkeit er kannte, sondern weil er selbst in Paris mit
13 Milliarden Francs im Debe't steht und diese Geschafts-.
verbindung die europaische Grundlage seines Geschaftes ist.
Indes festigte sich der Franc weiter und das fran-
zosische Zentralnoteninstitut hat an Gold und Devisen
den Rekord von 82 Milliarden Francs erreicht, DaB diese
Goldhortung auch die franzosische Wirtschaft schadigt und zu
Preissteigerungen und Zinsverlusten fiihrt, ist eine Binsenwahr-
heit, die wir so glanzenden Finanzleuten wie den Franzosen
wahrhaftig nicht zu versichern brauchen. Sie wissen es selbst,
sie wissen aber auch, daB Preissteigerungen und Zinsverluste
ein kleineres Obel sind als die Abgabe von 12 Milliarden
Francs an ein Deutschland, das nicht aufhoren willt Politik
gegen Frankreich und Storungen Europas auf englisches Ge-
heiB zu betreiben. Die langfristige Anleihe, die Frankreich
Deutschland anbietet, kann selbstverstandlich nur eine poli-
tische sein, was dem Wesen eincr Staatsanleihe entspricht.
Frankreich hat Deutschland wissen lassen, daB es diese An-
leihe bekommen kann. Deutschland hat weder in Paris noch
in London diese Anleihe verlangt, es hat keine Garantien ge-
boten, um sich diese Anleihe zu sichern, und es hat nach kei-
nen Bedingungen und Garantien gefragt, die der Geldgeber
beansprucht. Wohl aber hat England, das sehr wohl weiB, daB
Frankreich eine langfristige Anleihe ohne politische Verstan-
digung mit Deutschland gar nicht anbieten kann, weil sich
sonst keine Franzosen finden, die diese Anleihe zeichnen, die
politische Verstandigung zwischen Deutschland und Frankreich
dadurch verhindert, daB es Frankreich beschuldigte, von
Deutschland erniedrigende Bedingungen zu verlangen,
Es ist bekannt — oder sollte es wenigstens sein — , dafi
die DolchstoBlegende eine englische Erhndung ist, bestimmt
dazu, die Konsolidierung der deutschen Republik zu verhindern
und Frankreich vor Deutschland herabzusetzen. Der Erfinder
der DolchstoBlegende ist der englische General Maurice, der
sie in der tDaily News' begriindete. Von dort fand sie liber
einen Bericht der ,Neuen Ziiricher Zeitung' vom 17. Dezember
1918 ihren Weg nach Deutschland. Spater hat dieser englische
General erklart, daB er f!miBverstanden" wurde. Das deutsche
Heer sei nicht von der deutschen Heimat erdolcht sondern
regelrecht besiegt worden. Die DolchstoBlegende war dadurch
dementiert, aber sie hatte ihren Dienst bereits geleistet. Sie
127
selbst war ein DolchstoB in den Riicken der deutschen Re-
publik, in den Riicken Europas.
Ebenso einen DolchstoB hat jetzt England wieder gegen
Deutschland und Europa gefuhrt. Obwohl es in vielen deut-
schen Zeitungen stand, ja, obwohl es die Presse der ganzen
Welt berichtet hat, konnte doch aus dem BewuBtsein der
deutschen Offentlichkeit die Vorstellung nicht entfernt werden,
da8 Bedingungen, die Frankreich nie und niemals gestellt hatte
und die nur von der englischen Regierungspresse an Deutsch-
land gestellt worden sind, franzosische Bedingungen waren.
Es war das Blatt der englischen Arbeiterpartei, der , Daily-
Herald', der sich iiberhaupt in diesen Wochen wie ein gemein-
gefahrliches Jingoblatt auffiihrte und die tTimes\ die beide
ubereinstimmend am 9. Juli von Deutschland forderten, den
Panzerkreuz*erbau einzustellen und die Zollunion mit Oster-
reich aufzuheben. Sowohl der ,Vorwarts' wie der hemps'
haben festgestellt, daO hier eine Anregung der englischen Re-
gierung selbst vorliege. Binnen weniger Tage verstand es
aber die angelsachsische Presse und die deutsche Presse, die
unter angelsachsischen Suggestionen stent, den Eindruck zu
erwecken, daB dies franzosische Forderungen sind. Mit Recht
hat, die deutsche Offentlichkeit das Stellen solcher Bedingun-
gen als demutigend abgelehnt. Der Austausch einer lang-
fristigen franzosischen Anleihe gegen solche Bedingungen, die
freilich Frankreich niemals gestellt hat und niemals stellen
wird, wiirde die deutsch-franzosische Gemeinschaft von vorn-
herein vergiften und vernichten. Die Franzosen treiben Politik
auf lange Sicht und haben mit Recht angedeutet, daB diese
Bedingungen teils viel zu wenig, teils viel zu viel sind. Frank-
reich verlangt von Deutschland fiir seine langfristige Anleihe
etwas ganz andres als etwa die Aufgabe des Panzerkreuzers,
dessen Bau nur die englisch-amerikanische Politik der Ent-
waffnung Europas stort: Es verlangt, daB Deutschland seine
aggressive Politik gegen Frankreich aufgibt, und dafi es auf-
h6rt, die^Rolle des englischen Degens auf dem Xontinent zu
spielen. Dieses Ziel ist weder durch einen Vertrag noch durch
Bindungen, noch durch ein politisches Moratorium oder Ga-
rantien zu erreichen. Frankreich ist in diesen zehn Jahren oft
genug von England dupiert und von Deutschland im englischen
Auftrag angegriffen worden, als daB es Lust hattet fiir neue Pa-
pierf etzen sein Gold nach Deutschland zu tragen. Es erwartet von
Deutschland nichts andres, als die Abkehr von seiner angel-
sachsischen Horigkeit. Solange Deutschland sich weigert, mit
Frankreich Vertrajge oder Abmachungen dir ekt zu tr ef f en ;
solange Deutschland jede politische Differenz mit Frankreich
dem englischen Vermittler unterbreitet; solange Deutschland
alle politischen Forderungen Englands an Frankreich zu den
seinen macht und selbst politische Forderungen stellt, die nur
den englischen Interessen dienen und die den europaischen
Kontinent beunruhigen, bekommen wir von Frankreich kein
Geld. Briining hat in London von Frankreich keine Anleihe
verlangt Fiir diesen Verzicht gibt es zwei Erklarungen: Ent-
weder wagte er nicht, mit England zu brechen, oder aber wollte
er die groBe deutsch-franzosische Aktion grade in London nicht
128
in die Wege leiten. War das letztere seine Absicht, so be*
deutet sie den Beginn einer richtigen Erkenntnis, der dann
audi die richtige Tat folgen mufi. Wiederum hat Brtining in
einer uberaus delikaten Situation staatsmannische Disziplinie-
rung bewiesen. £r hat die Deutsche Politik von der eng-
lischen nicht losgelost — das war in London unmoglich — aber
er hat die 'Faden zur franzosischen enger gezogen. Briining hat
in den letzten sechs Monaten mehr AuBenpolitik gelernt als
siclh das A. A. traumen laBt; Cave, iBiilow! — und durfte nun-
mehr wissen, daB die deutsch-franzosische Verstandi-
gung nur in Paris abgeschlossen werden kann, nur
mit bewufiter, klarer, eindeutiger Ablehnung aller englischen
Angebote zur Vermittlung und zur Hilfe. Die Zeit, da Frank-
reich sich widerwillig aber durch die Umstande gezwungen,
der englischen Fiihfung beugte, ist endgiiltig vorbei. Alles
Gebriill, das uns auch in diesen Wochen aus der deutschen
Presse entgegenschlug, daB Frankreich „isoliertM wird, daB
England auf Frankreich „driickt"f daB England und Amerika
die Franzosen von der Anleihe „ausschlieBen" wollen, ist sinn-
los und macht nur die Schreier lacherlich. Frankreich kann
die Isolierung ertragen. Deutschland nicht. Frankreich kann
sich zur Not auch von England isolieren, England nicht von
Frankreich, von dera es vielleicht liber kurz oder lang selbst
eine Anleihe erbitten wird, nicht nur, weil es sie braucht, vor
all em auch, damit Deutschland sie nicht bekommt und weiter
an der Kandare kurzfris tiger angelsachsischer Kredite gefes-
selt bleibt. Frankreich hat Deutschland gezeigt, ohne Dank
zu ernten, daB es zu Opfern bereit ist. Es hat 3 Milliarden
Francs fur die Young-Anleihe zur Verfugung gestellt, die zu
40 Prozent entwertet ist. Es hat auf 2% Milliarden unge-
schutzte Annuitaten verzichtet. Es hat 3 Milliarden fur den
Garantiefond der B.LZ, gezeichnet. Es hat 600 Millionen der
Reichsbank gepumpt. Ohne eine Umkehr der deutschen Politik
bekommen wir von Frankreich weder kurzfristige noch lang-
fristige Kredite, die Deutschland auch nach London weiter re-
serviert bleiben. Die Voraussetzungen, auf die Frankreich
wartet, muten Deutschland keinen Verzicht auf erreichbare
Werte zu. Der vorlaufige Verzicht auf unerreichbare Werte
ist nur ein gefiihlsmaBiger, kein wirklicher. Nur diese Ver-
standigung mit Frankreich bietet Deutschland die Moglichkeit,
in geraumer Zeit aber auch zu dem zu kommen, was es ohne
oder gegen Frankreich niemals erreichen wird. Noch gibt es -
keine einzige deutsche Tageszeitung, die auch nur die Diskussion
liber eine Frage zulaBt, mit der sich die franzosische Presse
freimutig, ja leidenschaftlich beschaftigt. Keine Notverordnung
verbietet der deutschen Presse, die Wahrheit iiber England
zu suchen, zu sagen, Sie selbst verbietet es sich und verhin-
dert eben dadurch die Verstandigung mit Frankreich. Die
londoner Konferenz, diese hastig zusammengetrommelte
Stiitzungsaktion fiir die City und den englischen Imperialismus
mag manchem Deutschen die Augen geoffnet haben. Wie lange
soil Deutschland weiter sein Blut tropfenweise zu Ehren des
englischen Ausbeuterimperialismus verlieren? Das ist die
Frage, auf die wir Antwort verlangen. Wer dazu schweigt, ist
schuldig am sichern Untergang.
129
Potentiel de Guerre von Otto Lehmann-RuBbiUdt
VV7ir haben in unsrer Betrachtung daruber, was Kriegspotenz ist und
" bedeutet, eincn Versuch gemacht, kriegerische Auseinandersetzun-
gen der Zukunf t in ihrem Verlauf so voraus zu berechnen, dafi ein
ausgebrochener Krieg hochstens noch Interesse wegen etwaiger Fehler-
quellen der Rechnung bieten witrde. Wir erkannten als wichtigsten
Faktor solcher Berechnung smoglichkeit das sogenannte Potentiel de
guerre, die Fahigkeit eines politischen Gebildes, seine Volks- und Ma-
terialkraft in moderne Kriegsmaschinen umzumiinzen.
Als Beweis der Moglichkeit solcher exakten Berechnung fiihrten
wir an, wie im Friihjahr 1917 Professor Staudinger auf Grund einer
Berechnung nach Pferdekraftjahren genau die Verschiebung der Krafte
der Zentralmachte zur Entente am wechselnden Besitz der Kohlen-
und Eisenvorrate feststellte. Staudinger las an seiner kleinen Tabelle
schon im Friihjahr 1917 das Schicksal der Zentralmachte vom Herbst
1918 genau ab.
Staudingers Berechnung erfolgte exakt mathematisch. Es gibt aber
einen noch verbluffenderen Beweis solcher Vorausberechnung, die
allerdings reiner Intuition entsprang.
Am 30- Juli 1914 schrieb der politische Mitarbeiter der ,Morgen-
post', Doktor Arthur Bernstein, einen kurzen Aufsatz: „Die letzte
Warming." Darin war nach einer treff lichen psychologischen Einleitung
iiber den Geisteszustand Deutschlands zu lesen:
Erstens: es gibt keinen Dreibund. Italien macht nicht mit,
jedenfalls nicht mit uns; wenn iiberhaupt, so stellt es sich auf die
Seite der Entente. Zweitens: England bleibt nicht neutral sondern
steht Frankreich bei; entweder gleich oder erst in dem Augenblickt
wo Frankreich ernstlich gefahrdet erscheint. England duldet auch
nicht, dafi deutsche Heeresteile durch Belgien marschieren, was ein
seit 1907 allgemein bekannter strategischer Plan ist. Kampft aber
England gegen uns, so tritt die ganze englische Welt, insbesondere
Amerika, gegen uns auf, Wahrscheinlich aber die ganze Welt iiber-
haupt. Drittens: Japan greift RuBland nicht an, wahrscheinlich
aber uns in freundlicher Erinnerung an unser feindseliges Da-
zwischentreten beim Frieden von Schimonoseki. Viertens: Die skan-
dinavischen Staaten (unsere „germanischenM Briider) werden uns
verkaufen, was sie entbehren konnen, aber sonst sind sie uns nicht
zugeneigt, Fiinftens: Oesterreich-Ungarn ist militarisch kaum den
Serben und Rumanen gewachsen. Wirtschaftlich kann es sich grade
drei bis ftinf Jahre selbst durchhungern. Uns kann es nichts geben,
Sechstens: Eine Revolution in RuBland kommt hochstens erst dann,
wenn die Russen unterlegen sind. Solange sie gegen Deutschland
mit Erfolg kampfen, ist an eine Revolution nicht zu denken.
Unsre Botschafter kennen die Lage ganz genau. Auch Herr
v. Bethmann muB sie kennen. Es ist nicht denkbar, daB er das
Reich durch Unverantwortliche in einen drei- bis fiinfjahrigen Krieg
hineinsteuern laSt, wahrend er aus Scheu vor den Drohungen der
Alldeutschen und Militaristen seiner Verantwortlichkeit sich ent-
ledigt. Ob wir am Ende dieses furchtbarsten Krieges, den je die
Welt gesehen haben wird, Sieger sein werden, steht dahin. Aber
selbst wenn wir den Krieg gewinnen, so werden wir nichts ge-
winnen, denn Oesterreich-Ungarn wird sich nicht dafiir ins Zeug
legen, daB das Deutsche Reich an Umfang zunimmt. Geld als;
Kriegsentschadigung wird am Ende des Gemetzels nirgends mehr zu
finden sein. Der einzige Sieger in diesem Kriege wird Eng-
land sein. Deutschland fuhrt den Krieg um nichts, wie es in den
Krieg hineingegangen ist fur nichts. — Eine Million Leichen, zwei
130
Millionen Kriippel und 50 Mil liar den Schulden werden die Bilanz
dieses „frischenf frohlichen Krieges" sein. — Weiter nichts.
Alles trat ein: die ganze Welt gegen Deutschland, auch der Bun-
desgenosse Italien, auch Amerika. Der Krieg dauerte „drei bis funf
Jahre". Nur darin irrte Bernstein, dafi es — auf deutscher Seite
all ein meinte er wohl — 1 Million Tote gabe. Es gab rund 2 Mil-
lionen und statt 50 Milliarden Schulden ebenfalls rund das Doppelte.
Man stelle sich vor, dieser kurze Aufsatz ware eine Woche vor
dem Beginn kriegerischer Handlungen jedem Einwohner nicht nur
Deutschlands sondern Europas so vor die Nase gebracht worden, dafi
er ihn innerlich aufnahm. Welche Wirkung hatte das gehabt? Solche
retrospektiven Prophezeiungen sind allerdings noch umstrittener
als Zukunftsprophezeiungen. Aber der deutsche Generalstab hatte
sicherlich eine gute Witterung, als er den schon in die Form ge-
gossenen Artikel verbot. (Wegen Bleimangels kam dann der stehende
Satz erst in der Nachkriegszeit wieder zum Vorsch'ein und wurde im
UU stein- Jubilaumsjahrbuch 1927 wiedergegeben,)
Hier ist ein Fingerzeig, was jene Front zu tun hat, die den Mili-
tars und der Rustungsindustrie aller Lander gegenubersteht, die aber
selbst noch kein Vaterland hat. Nennen wir sie die Friedensfront.
Von den rund 2000 Millionen Menschen der Erde stehen in dieser
Friedensfront fruchtbarer Arbeit fast alle — bis auf 7 Millionen Sol-
daten unter der Fahne und etwa 1 Million Arbeiter der unmittelbaren
volkswirtschaftlichunfruchtbarenRustungsindustrie — ialsol992Millionen
gegen S Millionen (249:l}f Bei diesem Zahlenverhaltnis ware der
Ausgang eines Versuchs, die Soldaten und Rtistungsarbeiter aus dem
Tempel der Menschheit hinauszujagen, von vornherein gegeben, wenn
die Menschen der Friedens- und Arbeitsfront so einheitlich zusammen-
standen, wie es beim militarischen Apparat der Fall ist. Genau so,
wie man aber mit einem Maschinengewehr Tausende Unbewaffneter
zerstreuen kann, genau so beherrscht der kleine militarische Apparat
die grofien Massen der Volker,
Der Kampf zwischen diesen beiden Fronten ware fur alle Zeiten
ganzlich aussichtslos, wenn nicht -nach der Betrachtung des Potentiel
de guerre aus einer sehr einfachen Oberlegung heraus der strategisch
schwache Punkt der vereinigten Kriegsfronten sofort zu erkennen
ware. Er liegt darin, dafi die Waffe sich nicht aus sich selbst erzeugt,
sondern dafi der Ursprung der Waffe in der Friedensfront liegt, in der
Arbeit, und nicht in ihrem eignen Schofi, namlich der Kriegsfront. Sol-
daten verbrauchen nur, namlich die Produkte der Arbeit; erzeugen
konnen sie nur Wunden. Wenn das fur die sichtbaren Kanonen, also
fur die schon geborenen Waffen gilt, so gilt das noch vlel mehr fur das
Potentiel de guerre, fur die noch nicht geborenen Waffen, die aber,
wie wir gesehen haben, beim Zukunftskrieg eine das Kriegs-Effektiv
und die Kriegs-Reserve weit iiberragende Entscheidung in sich bergen.
Fur den Kampf zwischen Kriegs- und Friedensfront gelten die Ge-
setze der Kriegskunst, wenn auch die Fronten nicht an den Grenzen
von „Vaterlandern" entlanglaufen. Die Waffe der Friedensfront ist
die Arbeit. Diese Waffe ist der militarischen Waffe von vornherein
hundertprozentig uberlegen, da die militarische Waffe zuerst und
allein aus der Arbeit hervorgeht. Diese hundertprozentige Uberlegen-
heit ist aber solange auf Null herabgedruckt, solange die Front der
Arbeit nicht wie ein magnetisches Kraftfeld einheitlich zusammenwirkt*
Solange die Friedensfront glaubt, der Kriegsfront selbst mit militari-
schen Waffen entgegentreten zu konnen, wird sie selbst bei etwaigen
Erfolgen nur urn so mehr in die Kriegsfront hineingerissen werden.
Dieser Kampf der Friedensfront erfordert alle die Fahigkeiten*
die auch in der Kriegsfront zum Erfolg fuhren. Vor allem mufi jene
Vorbedingung erfullt sein, die in der Kriegskunst „Aufklarung" heifit.
Jeder Patrouillenftihrer, jeder General weifi, dafl von der Aufklarung
3 131
alles abhangen kann. Fiir die Friedensfront handelt es sich zunachst
um die Auf kla rung iiber die Starke des Gegners und besonders iiber
dessen Hauptposition, das Potentiel de guerre. Das vermag nicht ein
Einzelner, das vermag nicht ein Buch, das vermag nur ein Antikriegs-
Generalstab von Sachkennern der Wirtschaft und der Kriegstechnik.
Diese Idee keimt jetzt in Schweden, England, Amerika. Ein solcher
Antikriegs -General stab kann nur international sein.
1st es durch eine solche wissenschaftliche und organisationstech-
nische Arbeit moglich, einen drohenden Zukunftskrieg in seinen Aus-
maBen, seinem Beginn, seinem Verlauf, seinem Ausgang so zu bestim-
men, wie wir das an den Beispielen Bernstein und Staudinger sahen,
so ware damit der Zweck der Aufklarung iiber den Gegner voll er-
fiillt. Dann ware auch eine Moglichkeit gegeben, das sonst Unmog-
liche zu erreichen, namlich diesen Krieg zu verhindern. Aber nur eine
Moglicbkeit! Derm die Volker ahnen nicht, genau wie vor 1914, in
welcher bedroblichen Weise das Kriegsgewitter iiber ihnen hangt,
dessen untriigliches Barometer die steigenden Dividenden der
Rustungsbetriebe sind,
Diesen drohenden Krieg nicht mit der militarischen Waffe sondern
mit der tiberlegenen Waffe der nach den Gesetzen der Kriegskunst
organisierten wirtschaftlichen Arbeit zu bekampfen, raufi die Aufgabe
eines solchen interna tionalen Antikriegs -Generalstabes sein. Nur er
konnte durch die Organisation der Friedensfront die Abriistung her-
beifiihren, durch organisierte Verweigerung von Geld und Arbeit fiir
die militarischen Waff en. Der Volkerbund wird dann seinen Segen
dazu geben, wenn er merkt, daB es den Volkern ernst wird mit dem,
womit er unter dem Einflufi der Riistungsindustrie nur Spiegelfechte-
reien treibt: namlich mit der tatsachlichen, sinnlich wahrnehmbaren
Abriistung. Abriistung heiBt nicht, daB die mit zwei Millionen Dollars
von Morgan, einem der unwillkurlich grofiten Kriegsforderer, dotierte
Volkerbundsbibliothek in Genf noch um einige Tausend Bande iiber
Abriistung vermehrt wird, sondern Abriistung heiBt, um es zu wieder-
holen, daB die auf der Erde jetzt vorhandenen 150 000 Riesenmord-
maschinen an Flugzeugenf Tanks, schweren Geschutzen, Maschinenge-
wehren wieder in die Hochbfen zura Einschmelzen hineingeschoben
werden, die sie ausgespieen haben. Das iibrig bleibende Potentiel de
guerre ist dann von selbst in das Potentiel de travail verwandelt.
Zuriick zur Barbarei! von waitner Karsch
f)ic Zahl ist tot — Gott geht wieder um!" Wo? In
» der Welt, ach neinf im deutschen „Kulturkreis". Denn
es hie Be „liberalistisch" denkent eine Idee, ein Gedanke konne
Weltgiltigkeit besitzen.
Diese gradezu erschutternde Kennzeichnung des Libera-
lismus lindet sich in einem Buch, betitelt t,Wir suchen Deutsch-
land" (Grethlein & Co., Leipzig/Zurich). Auf die Deutschland-
Suche begeben sich da: die Fiihrer der t,Kampfgemeinschaft
Revolutionarer Nationalsozialisten'V Otto StraBer, Herbert
Blank, Major Buchrucker, und dazu Gerhard Schultze-Pfael-
zer, der sich zur nstaatspolitischen Linie Hindenburg-Briining-
Dietrich** bekennt Sie haben iiber die ,,Zeitkrisis" disputiert,
und das Ergebnis liegt in diesemBuche vor. Man kann sagen:
Die Bibel des Revolutionaren Nationalsozialismus.
Ungefahrliche Sektierer? Auf der Linken hat man allzu-
lange geglaubt, der Nationalsozialismus sei eine Angelegenheit
von ein paar harmlos Irren, bis diese paar am 14, September
132
zu mehr als sechs Millionen wurden. Die Verheerung, die
Hitler atif politischem Gebiet bcreits angerichtet hat und noch
anrichten wird, ist gar nichts gegen die, die StraBer mit sei-
ner Ideologic auf geistigem Gebiet anzurichten im Begriffe
stent. In hundertfiinfzig Jahren Prazisionsarbeit hat sich die
Philosophie nach der Uberwindung des Mittelalters abgemiiht,
Klarheit zu schaff en, und dann kommt so ein Verachter der
Philosophie daher und tritt mit dem leicht veredelten KommiB-
stiefel, der sich als ,, Seele" drapiert, alles wieder kaputt. Je-
nes glitschige Denkfuhlen, von dem wir glaubten, es sei nur
noch in den Resten der ehemaligen Jugendbewegung behei-
matet, feiert hier frohliche Auferstehung. Da wird einmal von
der „Sinnlosigkeit des heutigen Lebens" gesprochen, um ein
paar Seiten spater festzustellen, daB alles einen Sinn habe,
daB es eine „Sinnhaftigkeit des Lebens" gebet man miisse sie
nur „ftihlen", — ergo hat doch auch das heutige Leben einen
Sinn. Denkerische Sauberkeit scheint liberalistisches Teufels-
werk zu sein. Herr Blank doziert, der Liberalismus habe von
der „Dreiheit: Geist — Seele — Materie" die beiden letzten ge-
leugnet, er „ritt unaufhorlich im Geist'*. (Wie er das wohl
gemacht haben mag?) Nur ganze sechs Seiten spater donnert
derselbe Herr Blank, „die liberalistischen Wissenschaftler"
hatten „Gott durch die Materie erschlageii", Und ich dachte
doch, der Liberalismus leugne die Materie. Aber ich soil
nicht denken, Doch ich kanns nicht lassen, und so dachte ich
auch immer, zwischen Intellekt und Ratio, zwischen Verstand
und Vernunft bestiinden gewisse Unterschiede. Diese Leute
schmeiBen alles durcheinander, und dann springen sie dir mit
der abstrusen Behauptung entgegen, wir lebten in einer „Dik-
tatur der Vernunft". 0, ware es doch so! Dabei kann man
doch noch nicht einmal behaupten, wir lebten in einer Dikta-
tur des Verstandes. Denken scheint hier wirklich verboten
zu sein. Und dabei sind alle Argumente, mit denen sie ihre
Ideologic zu sttitzcn versuchen, sofern es sich um Oberlegun-
gcn und Verwendung von Tatsachenmaterial handelt und nicht
um bloBe Schwarmcrei, und all ihre Plane kiinftiger Gesell-
schaftsordnung Ausgebtirten ihres Intellekts.
Um zu beweisen, daB alles, was heute in Deutschland Gel-
tung hat, von Hitler bis Thalmann, Mliberalistisch", daB die
kommende, die ^Deutsche Revolution" eine ,,konscrvativc*'
sci, hat sich StraBer das )tGesetz der dreieinigen Bipolaritat"
ausgeheckt. In einem Zeitraum von, ausgerechnet, hundert-
undlunfzig Jahren pendele die Geschichte zwischen zwei Po-
Ien, ,,liberal" und „konservativ", hin und her. Hin und Her.
Daher die „Bipolaritat"! Alles tforganische Leben" bestehe
aus der „Dreiheit: Korper — Seele — Geist". Und nun wird
diese biologische Feststellung1 so mir nichts dir nichts auf die
Geschichte libertragen, das Wirtschaftssys. tern vertritt da den
Korper, das Gesellschaftssystem ist der Geist, und die „Kul-
turauffassung" die Seele vom Ganzen. Und weil nun, predigt
er, alles „organisch" sein mufi, so auBere sich diese ,rDreieinig-
keit" bei „liberaler Vorherrschaft'* im „Ungebundenen"t „In-
dividuellen" (er meint Individualistischen), „Materialistischen" — f
bei ..konservativer Vorherrschaft" im ,,Gebundenen", „nach
133
der Gemeinschaft Orientierten", „Idealistischen". Historisches
Material wird herangeschleppt, urn die ,,GesetzmaBigkeit"
glaubhaft zu machen. Wie frohlich man doch in der ,,Welt
der Tatsachen" platschern kann, wenn man sie braucht. Aber
wir wissen nicht erst seit gestern, wie willfahrig historisches
Material ist, und Analogien treffen schon deshalb immer nur
halb zu, weil sich inzwischen alle Voraussetzungen erheblich
verandert haben.
Aber machen wir uns selbst diese empirische Methode
einmal zu eigen, dann weiB Herr StraBer anscheinend nicht,
dafi alle Revolutionen Mliberal", namlich destruktiv, antikon-
servativ waren: sie wollten Befrehmg von tiberlebten Formen
und Normen. Alle. Und die Konsolidierung der Revolutio-
nen hat schliefilich immer dazu gefiihrt, daB die ,,liberalen"
Inhalte allmahlich zu „konservativen" erstarrten und somit
Angriffspunkte neuer Revolutionen wurden. „Liberales"
kann also zu etwas durchaus ,,Konservativem" werden, woraus
erhellt, wie unbrauchbar StraBers Terminologie ist. Dariiber
hinaus aber konnte dieser Theoretiker, wollte er sich die
Miihe machen, die Geschichte einmal wirklich zu durchfor-
schen und ihr nicht Gewalt anzutun, finden, daB vollig ge-
schlossene historische Perioden ganz andre Mischungsverhalt-
nisse aufweisen als die beiden von ihm skizzierten. Aber wozu
die Vergangenheit bemiihn? Wenn rum Beispiel die Deutsch-
nationalen nach der Auffassung StraBers wirklich „liberali-
stisch*' waren, weil sie namlich kapitalistisch sind, dann miiBten
sie auch Materialisten sein. Sind sies? Oder sind sie viel-
leicht gegen den § 218, dessen Bekampfung StraBer fur ein
Kennzeichen des „individualistischen Liberalismus" halt? "Hit-
ler mufi sich ebenfalls in diese Kategorie einordnen lassen,
weil es internationalistischer Humbug sei, einen Staatsgedanken,
in diesem Fall den fascistischen, auf ein andres Land ubertragen
zu wollen. Herr StraBer, die Idee lafit sich schon auf andre
Lander transponieren, nur die Form sieht jeweils verschieden
aus. Besonders hart wird mit den Marxisten ins Gericht ge-
gangen. Sie seien namlich nicht nur darauf versessen, Sozia-
lismus mit Materialismus zu verkniipfen, sondern ,,individuali-
stisch" seien sie obendrein, denn si-e gestatteten dem Indivi-
duum die verschiedensten Freiheiten. Das ist nicht „orga-
nisch", also auch nicht lebensfahig. Und wenn ihr Marxisten
es bisher noch immer nicht gewuBt habt, Otto StraBer verrat
es euch: ihr seid mit eurer Hochschatzung der Maschine, der
Zahl nichts andres als Kapitalisten. Und daB ihr „Liberali-
sten" seid, das beweise die Obereinstimmung in kulturpoliti-
schen Fragen zwischenv dem ,Berliner Tageblatt' und der ,Roten
Fahne*. Beweise? Beweise!
Was aber ist denn nun der einzige, der wahre, der wirk-
liche, der ,,schicksalsgewollte" Sozialismus? Wenn der Staat
in die Wirtschaft eingreift. Wahrhaftig! Das steht zwar nicht
so da, aber wenn StraBer demonstriert, das preuBische Ko-
nigtum des achtzehnten Jahrhunderts sei sozialistisch ge-
wesen (anscheinend von wegen der Staatsmonopole), dann heiBt
das schlieBlich nichts andres als: Sozialismus haben wir dann,
wenn sich der Obrigkeits-Staat eines Teils der Wirtschaft
134
bemachtigt. Aber wie denkt sich Strafier die Formen seines
Sozialismus? Das Eigentum wird abgeschafft, jeder Bauer er-
halt ein „Erblehen'\ in der Fabrik wird ein „Kollektivlehen
aller in dem Werk Schaffenden" eingerichtet, und die Ge-
werbe und freien Berufe schliefien sich zu Zwangsinnungen
zusammen. Und das alles soil dazu iiihren, Deutschland vom
Ausland unabhangig zu machen. „Wirtschaftliche Autarkie"
heiBt dies nach dem Kreis um die ,Tat* riechende neue Ge-
heimmittel, das iibrigens. grade in diesen Tagen vielfach ernst-
haft als letzte Rettung aus der Krise emplohlen wurde. Fiir
Strafier ist es ,tmarxistischer Irrwahn", an eine inter-
nationale Verilechtung der Wirtschaft, an die Existenz einer
Weltwirtschait zu glauben. Eine einzige Tatsache widerlegt
schon diese originelle Weisheit: zur gleichen Zeit, wo in einem
Lande Lokomotiven mit iiberflussigem Getreide gefeuert wer-
den, sind in einem andern Land Tausende am Verhungern.
Aber wir sollen ja hungern, tuchtig hungern, wenns nach Herrn
Strafier geht, dessen Wirtschaftsideal anscheinend die durch
den Ietzten Krieg erzwungene Kohlriiben-Selbstgeniigsamkeit
des deutschen Volkes ist. Und trot zd em nimmt er sich dann
noch ernst, wenn er dem Marxismus nachsagt, er erstrebe die
Verproletarisierung aller Kreise. Aber auch diese Autarkie
hat ihr Loch, weil wir namlich doch manchest zum Beispiel
Rohstoffe, einfiihren mussen. Das gibt er zu. Da wird dann
eben schnell ein Handelsmonopol geschaffen, und alles lauft
glatt, Hundert Jahre Nationalokonomie sind an diesen „Natio-
nalokonomen" spurlos voriibergegangen, Nur Adam Miiller,
dessen Staatsmetaphysik sie auf neu gebiigelt haben, scheint
dort in Geltung zu stehn,
Natiirlich versteht es sich von selbst, dafl wir Krieg fiih-
ren mussen, um die Friedensvertrage zu „zerreifienM, Denn
so ziemlich alles Ungliick kommt von den „Tributen'\ Der
Krieg liegt selbstverstandlich im MSchicksal" begriindet. Und
der sonst so kluge Major Buchrucker kann sich nicht die
Spiefierwahrheit verkneifen: 1tKampf und Krieg werden blei-
ben bis an das Ende der Zeit/' Fiir die Gleichsetzung von
Kampf und Krieg verdiente er eins auf die Finger, er unter-
schiebt namlich damit den Kriegsgegnern, sie seien Gegner je-
den Kampfes, was einer iiblen Nachrede gleichkommt. Zum
Krieg braucht man Bundesgenossen und Gegner. Deshalb
konstruiert sich Strafier eine Machtekonstellation, bei der
schliefilich (wenigstens fiir den Kriegsanfang) nur noch Frank-
reich als alleiniger Gegner iibrigbleibt, England kann nicht
sofort eingreifen, Amerika wird sich kaum beteiligen, Polen,
die Tschechoslowakei, „Ser-bien" und Rumanien werden durch
eigne Gefahren, namlich: Oesterreich, Ungarn, Bulgarien und
Rufiland in Anspruch genommen. Denn Rufiland werde ent-
weder neutral bleiben oder seine MBegierde" nach den polni-
schen Industriegebieten und den Ostseekiisten befriedigen wol-
len und aktiv eingreifen. Natiirlich bleibt auch Italien aus
lauter Franzosenfeindschaft neutraL Und die ganze Welt
wird sich beeilen, es so zu machen, wie Herr Strafier sich das
zurechtphantasiert, Aber seine Phantasie wird noch aus-
schweifender; Frankreichs Kampf kraft werde innerlich ge-
135
schwacht sein, denn die franzosischen Muskoten wtirden er-
kcnnen, daB Deutschland Blur seine Revolution verteidigen
und nichts annektieren wolle. Sie wurden sich schamen, als
,,Gerichtsvc|llzieher Morgans' zu fungieren. Die schonen
Aug en des Herrn StraBer, und wenn nicht seine schonen
Augen, dann sein edler, klarer Stil werden Frankreichs
Staatsmanner und Presse sicherlich veranlassen, diese An-
sicht unter ihren Landsleuten zu verbreiten. DaB Herr Buch-
rucker die Gefahren eines kommenden Krieges bagatellisiert,
die Anschau'ungen vom Gaskrieg als „Fabeln" hinstellt, ver-
steht sich am Rande. Wir brauchen nur anzufangen und
schon haben wir gesiegt, die ganze Welt wird sich nach un-
sern Prognosen richten. Dilettantismus ? Ja, aber ein ver-
fiihrerischer und darum ein gefahrlicher.
Es entspricht dieser politischen Schwarmerei, wenn aller
Wissenschaft der Kampf angesagt wird- Die Medizin hat
natiirlich nur Scheinerfolge erzielt: „Fniher war das Volk ge-
sund und die Heilkunde schlecht. Heute ist das Volk krank
und die Heilkunde gut/* Dieser Herr Blank will nicht sehn,
daB das VoLk heute bei schlechter Heilkunde noch viel kran-
ker ware. Was geschahe denn, wenn bei dieser Massen-
arbeitslosigkeit, dieser Wohnungsnot nicht wenigstens die
Fortschritte der Medizin und Technik mildernd wirkten? Aber
solche Paradoxien sind da beliebt, wo das Denken achsel-
zuckend veraclitet wird. Dafiir propagiert man die Vor-
herrschaft der ^Seele", und die Schlage der teutonischenKeule
sausen nur so auf die Wissenschaft, besonders die Naturwis-
senschaft, hernieder, Aber die Herren treffen vorbei; sie er-
schiittern die Wissenschaft nicht durch Argumente; sie uber-
gieBen sie nur mit selbstgef alligem Hohn. Wenn Herr Blank
prophezeit, daB ,,Herr" Planck (der Physiker) ,,kein Denk-
mal mehr" ,,kriegtM, weil das Kausalitatsprinzip, an dem
Planck noch immer festhalte, in der zuktinftigen Wissenschaft
„nur noch die Hintertreppe benutzen" diirfe, — so wirkt das
nur komisch. Die Wissenschaft wird schliefilich auch noch mit
diesen organischen Quacksalbern fertig werden, die sie wieder
zur ,fMagd der Theologie" machen wollen, Doch sollte man die
Gefahrlichkeit solcher mystischen Theorien nicht unter-
schatzen.
Diese ganze Wissenschaftsfeindlichkeit ist nur AuBerungs-
form allgemeiner Geistf eindlichkeit. Und diese bestimmt auch
das Verhaltnis turn Judentum. Die Juden werden unter Frem-
denrecht gestellt, damit sie ihre „Wurde" wieder gewinnen.
Diese „Wurde" ist nur eine schone Umschreibung fur das
Ghetto, in das man die Juden wieder sperren wird. Denn
worauf anders lauft es hinaus, wenn man sie aus alien offent-
lichen Stellungen verdrangen will? Obrigens nicht ()man", die
f,konservative Revolution" will es, denn in ihr herrscht die
,,Seele*\ und das Judentum reprasentiert den Geist Und
wenn die Juden sich auf die welthistorischen Leistungen von
Glaubensgenossen berufen, so auf Spinoza, Heine und Ein-
stein, dann kommt ihnen Herr Blank mit dem lacherlichsten,
spieBigsten Argument: wieviel Deutsche kennen denn schon
die Werke dieser Geister. Herr Blank, wieviel Deutsche ken-
136
ncn denn schon Ihrcn Spengier, auf den Sic und Ihr Freund
StraBer sich standig berufen? DaB sich hier nichts andres als
«in tiefwurzelndes Minderwertigkeitsgefiihl gegeniiber allem
Geistigen Luft macht, erhellt jene Stelle, in der Herr Blank
„den letzten pommcrschen Bauernjungen" gegen „den geist-
vollstcn Juden" ausspielt, derselbe Herr Blank, der von sei-
nem Idealtyp des pommerschen Bauernjungen sowcit cntfernt
ist wic Margarete Maultasch von der Venus von Milo. Und
dann wird das ganze Feuerwerk jener Begriffe wie ,,Art",
„Nation", ,,Rasse" abgebrannt, urn darzutun, daB der Jude
mit seiner Mbl6den" Geistigkeit ein Fremdkorper im Leibe des
deutschen Volkes sei. An Stelle alles Geistigen, aller
Bildung, deren Gberschatzung auch wir nicht verkennen, wird
„Zucht'\ „Haltung" gesetzt So laufe der Ob,errealschuler
zwar Hetwas ofter in den verstaubten Physiksaal", aber ,,die
Haltung des technischen Menschen" erlerne er nie. Der Ideal-
fall der Erziehung: das Offizierkorps Friedrich des GroBen,
das „herzlich ungebildet" war. Da konnen wir uns gratulieren!
Oberhaupt spielen die Ausdrticke wie ..Zucht", „Blut",
f, Haltung", ,,Verhaltenheit" (,,Die Seele, das Geftihl kann recht
eigentlich lib erhaupt nicht sprechen", daher stehe bei den na-
tionalistischen Schriftstellern das meiste f,zwischen den Zei-
len")» ttWiirde", „die Bereitschaft" zum Handeln, wenn das
MSchicksal" ,,ruft", ,,die Zwangslaufigkeit" alien Geschehens,
also das Bekenntnis zum Fatalismus, die spartanische t,Selbst-
geniigsamkeit", ,,der Stachel der Verantwortung" und ahn-
liches eine hervorstechende Rolle. Welch verklemmtes Trieb-
leben ! Mit einem Wort : Marquis de StraBer-Masoch,
Wenn diese ,,Jakobiner der Deutschen Revolution" ((tde-
ren ,EnzykIopadisten' die feldgrauen Helden des GroBen Krie-
ges waren"), ans Ruder komraen werden, dann gehn wir herr-
lichen Zeiten entgegen. Der Bauer auf seinem ,,Erblehen"
wird der herrschende Typ sein; wir Asphalttreter werden ent-
thront; die Wissenschaft wird sich verkriechen miissen und
der Quacksalberei Platz machen; wer Geist hat, wird ver-
stofien; hofiert wird der geistige Kleinbiirger; an die Stelle
tatigen Willens tritt das „Es", das „Schicksai"; in Literatur
und Kunst, ja uberall wird sich das Mulmige, das Schwammige,
das Dumpfe, Ungeklarte, Wolkige breitmachen. Mit einem
Wort; wir werden sowohl unsrer okonomischen wie auch uns-
rer geistigen Situation nach wieder zu Primitiven, zu prahisto-
rischen Menschen, zu Barbaren werden,
Und dieser politische Dilettantismus, diese Prophetien,
diese erkenntnisferne, romantische Kriegsbegeisterung, dieser
Hochmut gegen alle Wissenschaft, dies Lob des Dumpfen, des
Barbarentums, diese metaphysische Verschwommenheit — , all
das wird seine Wirkung nicht verfehlen, wenn man sich nicht
endlich bei den Parteien der Linken aufrafft, an die Stelle
abgeleierter Parolen lebendige Ideen zu setzen.
Es tut mir leid, daB grade in dem Augenblick, wo diese
Polemik erscheint, StraBers Organ ,Die Deutsche Revolution
verboten ist. Wir bedauern auBerordentlich, daB StraBer da-
mit mundtot gemacht ist. Hoffentlich hat er bald Gelegenheit,
sich zu dem Artikel zu auBern,
137
Dutnmheit zu Pferde von Erich Kistner
In Dresden haben, Gott seis geklagt,
* die deutschen Kavalleristen getagt.
Sie haben getagt, Sie haben genachtigt,
Sie taten sehr existenzberechtigt.
Sie trabten in Horden,
sie trabten in Herden,
mit klappernden Or den,
auf klappernden Pferden.
In Anwesenheit eines Feldmarschalles
sangen sie: „Deutschland uber alles".
Die Pferde hielten vorzuglich Schritt
und sangen vor lauter Begeisterung mit,
Es gluhten, im Widerschein solcher Spafie,
die abgehartetsten ReitergesaBe.
Man sah gepanzerte Kiirassiere,
gemeine Leute, und hohe Tiere,
und blaue Ulanen
mit wehenden Fahnen,
und rote Husaren
mit langen Fanfaren,
und anlafilich dieses Maskenballes
sangen sie: lfDeutschland uber alles"
Die Esel dachten auf ihren Pferden:
Durchs Reiten wird es schon besser werden,
Sie strahlten und ritten, die Beine breit,
retour in die deutsche Vergangenheit.
Sie blahten, ganz wie die Gaule, die Niistern
und iiberhorten den Wind und sein Flfistern:
„Heute Spafi,
morgen Gas,
ubermorgen
Wurmerfrafir
Stolz zogen sie iiber Stock und Stein,
ein reitender Mannergesangverein.
Ein Nervenarzt, schon ziemlich alt,
sprach: „Marsch mit den Kerls in die Irrenanstalt!"
Medizin UDd PubHkUtn von Richard Prigge
Professor Prigge, wissenschaftliches Mitglied des Staat-
lichen Instituts fur experimentelle Therapie, versucht hier, die
notorische Vertrauenskrise zwischen Patient und Schulmedizin
von einer neuen Seite zu erklaren: Nicht Mangel an Erfolgen
macht die moderne Medizin unpopular sondern die notwendige
Unanschaulichkeit ihrer Anschauungen.
Oudolf Virchow, der beriihmte Erneucrcr der pathologischen
Anatomie, hat es fur ganzlich uberfliissig erklart, ein Ge-
setz gegen die Kurpfuscher zu machen. Er war der Meinung,
das deutsche Vplk sei intelligent genug, sich selbst gegen sie
zu schiitzen. Trotzdem hat der Kampf zwischen der arzt-
lichen Medizin und der sogenannten Naturheilkunde heute
scharfere Formen angenommen als je. Nach dem Krieg hat
sich die Kurpfuscherei in vielen Landern, vor allem in Deutsch-
land und Oesterreich, gewaltig ausgedehnt. Ein Zusammenhang
mit mystischen Bestrebungen war hier vielfach zu erkennen,
138
besaB aber durchaus nicht die ausschlaggebende Bedeutung, die
ihm oft zugeschrieben wird. Uber die Ursachen der augen-
blicklichen Entwicklung herrschen die allerverworrensten An-
sichten. Im allgemeinen gilt sie ganz einfach a Is Ausdruck der
vielberedeten „Krise in der Medizin".
Dem Unparteiischen stellt sich der Kampf zwischen der
Schulmedizin und der Naturheilkunde als Streit zweier gegen-
satzlicher Richtungen dar, von. den'en jede im ausschlieBlichen
Besitz der Wahrheit zu sein vorgibt. Bei der Entscheidung
fur die eine oder andre Richtung geben subjektive Momente
fast immer den Ausschlag. Um aber ein objektives Bild von
den Krafteverhaltnissen zu gewinnen, miiBte man sich zunachst
einmal Klarheit iiber die eigenartigen Zusammenhange ver-
schaffen, welche die beiden Schulen verbinden oder trennen.
Eine der wichtigsten Tatsachen, ja sogar die Grundtatsache,
die eine objektive Beurteilung erst moglich macht, scheint
namlich vollig unbekannt zu sein. Der gedankliche Inhalt der
Naturheilkunde deckt sich zu einem sehr groBen Teil mit
Lehren, die die Schulmedizin vor einigen Jahrzehnten oder
noch fruher selbst vertreten hat. Ohne daB hierauf ein Urteil
begriindet werden konnte, besteht also der eigentumliche
Sachverhalt, daB die Spaltung der. Heilkunde nicht auf dem
Gegensatz zweier gleichzeitig entstandener Lehrmeinung^n
beruht — wie oft in friiheren Epochen der Geschichte — son-
dern daB der MSchulmedizin" eine in viele Einzelrichtungen ge-
spaltene konservative Opposition gegenitbersteht, die die
Wand lung en nicht mitgemacht hat sondern an den Lehren
einer vergangenen Zeit festhalt.
Ein Beispiel macht das am besten verstandlich. Als man
bei der Erforschung der Stoffwechselkrankheiten zuerst den
Zusammenhang zwischen dem fur Gicht charakteristischen
libermaBigen Harnsauregehalt des Blutes und gewissen Fleisch-
speisen, vor allem Briesf Leber, Niere, Hirn feststellte, glaubte
man zunachst, die falsch zusammengesetzte Nahrung als direkte
Ursachei der Gicht ansehen zu miissen, Mit dem Fortschreiten
der Forschung erkannte man freilich, daB die wirkliche Ur-
sache der Erkrankung in einer von vornherein vorhandenen
1tkonstitutionellen" Unfahigkeit des Organismus besteht, mit
der aus der Nahrung herriihrenden Harnsaure fertig zu werden*
Durch Vermeiden der ^efahrlichen Nahrungsmittel laBt sich
nur der einzelne Gichtanfall verhiiten. Aber die Annahme, der
Grundfehler des Korpers iasse sich hierdurch beheben, ist
ebenso falsch wie die Vorstellung, er sei durch libermaBigen
GenuB der schadlichen Fleischspeisen entstanden, Ein Ge-
s under kann so viel Fleisch essen wie er mag, ohne daB er
einen Gichtanfall zu befiirchten hatte. Weil sein Korper mit
noch so groBen Harnsauremengen fertig wird, stellen sie fur
ihn keine Gefahr dar. Die Harnsaure selbst ist kein „Gift'\
das krank macht. Sondern die Krankheit besteht in dem Un-
vermogen, einen an sich nicht schadlichen Stoff zu bewaltigen.
Auch der Zucker ist kein Gift. Nur vermag der Zuckerkranke
diesen harmlosen Stoff nicht in normaler Weise zu verarbeiten.
Die Vorstellung, wonach die Harnsaure selbst als Ursache
von Krankheiten anzusehen ist, ist somit nur eine bequeme
139
Denkgewohnheit, deren Irrigkeit schon vor Jahrzehnten fest-
gestellt worden ist. Trotzdem wirkt diese Vorstellung wegen
ihrer Einfachheit so suggestiv, daB sie noch hcute die groBte
Bedeutung besitzt und daB Naturheilkundige, Kurpfuscher,
Laien und auch Arzte die verschiedensten Systeme zur Be-
handlung und Verhiitung von Krankheiten auf ihr aufbauen.
,,Harnsaure" ist ein Schlagwort, dessen Verwendbarkeit selbst
unter der Entdeckung der ^Vitamine" und der ,fHormone"
kaum gelitten hat. Einen ahnlichen Wandel der Vorstellungen
wie in dem angefiihrten Beispiel hat die medizinische For-
schung nun auf den allerverschiedensten Gebieten herbeige-
fiihrt, und grade dieser Wandel tragt Schuld an der Entfrem-
dung zwischen Schulmedizin und Publikum. Wenn der Laie den
veranderten Vorstellungen iiber den Harnsaure-Stoffwechsel
noch ohne weiteres folgen kann, so ist dies auf den meisten
Gebieten infolge der auBerordentlichen Kompliziertheit der
Forschungsergebnisse nahezu unmoglich. Die Medizin hat dem
Laien heute einfach „nichts zu sagen".
Ich glaubef man sollte deswegen noch nicht von einer
„Krise" der Medizin reden und ihr die Existenzberechtigung
ohne weiteres absprechen. Aber man darf sich auch nicht ver-
hehlen, daB es der „Schulmedizin" heute in der Tat viel
schwerer fallen mufi, das Vertrauen des Publikums zu erwer-
ben als friiher. Die Naturheilkunde und die Laienmedizin hal-
ten noch immer an den Begriffen und Anschauungen fest, die
die medizinische Forschung in einer naivern Epoche ge-
schaffen hat und mit denen auch der Laie operieren konnte.
Richtig oder falsch — sie waren einleuchtend. Und deshalb
kommt ihnen das Publikum heute noch mit Vertrauen ent-
gegen, wahrend es die allzu abstrakten Erkenntnisse der
wissenschaftlichen Medizin argwohnisch ablehnt- Dieser geisti-
gen Haltung des Laien ist es im wesent lichen zuzuschreiben,
daB die Ideen, die friiher das arztliche Denkcn beherrschten,
sich bis auf den heutigen Tag gehalten haben und jetzt noch
einmal das Lehrgebaude einer Heilschule tragen. Eine Kur,
bei der der Patient die ,,krankmachendem Stoffe auszu-
«chwitzen" oder sein f1Blut von bosen Saften zu reinigen*' ver-
meint, wird selbstverstandlich mehr Anklang finden als ein
Impfverfahren, bei dem grade Bazillen von der Art eingespritzt
werden, gegen die man sich schutzen will Der Kampf der
alten mit der neuen Generation hat in der Geschichte der Me-
dizin noch niemals solchen Umfang angenommen wie jetzt —
und dabei machen wir die verbliiffende Beobachtung, daB der
Streit zwischen f, Medizin' und f,Naturheilkunde" heute noch
gar nicht als Kampf der Generationen erkannt ist.
Wie grofi der Unterschied zwischen der modernen und der
konservativen Denkweise ist, sehen wir besonders deutlichbei
der Lehre von den ansteckenden Krankheiten. Ein erkenntnis-
freudigeres und erkenntnisglaubigeres Zeitalter konnte die In-
fektion als tlKampf ' zwischen Organismus und Bakterium auf-
fassen und sich hierunter zweifeilos etwas Handfestes vor-
stellen. Die Forschung der letzten fiinfzig Jahre hat ungeahnte
Einsichten in das Wesen der Infektionskrankheiten gebracht,
140
aber sic hat uns auch gelehrt, wie ungeheuer kompliziert die
pathologischen Vorgange sind und wie wenig wir noch immcr
unter die Oberflache der Erscheinungen vordringen konnen.
Der Versuch, mit plausiblen, ,,handfesten" Thesen, die auch
dem Laien etwas bedeuten, Krankheitsvorgange zu erklaren,
ertscheint heute als naive Unbescheidenheit. Soweit Verstand-
nis fur das arztliche Denken Vorbedingung fiir das Vertrauen
zum arztlichen Handeln ist, wird ein Wilder seinem Medizin-
mann mehr Zutrauen entgegenbringen als der Europaer des
zwanzigsten Jahrhunderts einem modernen Arzt. Und grade
der bestausgebildete, kenntnisreichste Arzt wird sich davor
htiten, dem Patienten Schlagworte an Stelle von wirklicheti
Erklarungen zu sagen.
Der Ausweg aus diesem Dilemma ist freilich nicht leicht
zu finden. Zweifellos kann auf die Dauer nur das unbeirrte
Suchen nach Wahrheit den wirklichen Fortschritt bringen.
DaB diesem Fortschritt liebgewordene Denkgewohnheiten zum
Opfer fallen, kann selbstverstandlich nicht als Argument gegen
ihn gelten. Die primitiv suggestive Wirkung, die friihern arzt-
lichen Schulen und der Naturheilkunde die enge Fuhlung mit
dem kranken Menschen so leicht machte, ist und bleibt der
modernen Medizin versagt. Dieser Verlust kann nur durch
eine Neuorientierung auf Gebieten ausgeglichen werden, die
auch dem Laien zuganglich sind. DaB' wir bereits mitten in
einer solchen Neuorientierung begriffen sind, ist schon jetzt in
voller Deutlichkeit zu erkennen. Schon die weitverbreitete
Losung, , , nicht Krankheiten sondern kranke Menschen zu be-
handeln", kennzeichnet das Suchen nach neuen Wegen. Hier
soil nur kurz auf ein eigenartiges Phanomen hingewiesen »sein.
Die Medizin friiherer Zeiten, zum Beispiel die altgriechische
Heilkunde, hatte ihr Augenmerk vorwiegend auf die Diffe-
renziertheii der Krankheitsbilder gerichtet und ihre Heilungs-
methoden auf diese Mannigfaltigkeit eingestellt Die moderne
Medizin hingegen dankt ihre Fortschritte grade der Ursachen-
forschung, die auf Vereinheitlichung und Ordnung der ver-
wirrenden Erscheinungen bedacht ist. DaB diese Besirebun-
gen auf einigeh Gebieten zur Einseitigkeit fiihren und der in-
dividualisierenden Heilkunst fiir eine Zeitlang Fesseln anlegen
konnten, ist heute allgemein bekannt. Aber grade hier zeigt
sich der Beginn des Wandels. Der Schmerz, das wichtigste
Krankheitszeichen fiir den Kranken, war lange fiir den Arzt
ein Merkmal, das er nur schwer deuten konnte. Die unend-
lich vielen Nuancen des Schmerzes konnten ihm bei der Fest-
stellung von Krankheiten nur wenig* Fingerzeige geben. Aber
seit kurzem gewinnt der Schmerz auch fiir den Arzt mehr und
mehr an Bedeutung. Besonders bezeichnend dafiir ist ein Buch
des bedeutenden wiener Klinikers Norbert von Ortner, das in
zwei umfangreichen Banden zeigt, wie sehr dem Arzt dutch die
intime Vertrautheit mit dem Schmerz und seinen mannigfal-
tigen Formen die Erkenntnis der Krankheiten erleichtert wird.
Mit diesem Werk ist eine durchaus neue Gattung medizinischer
Literatur begrundet, und es ist daher wie kein andres geeignetf
die Veranderung der geistigen Haltung der Arzte und des ge-
samten medizinischen Denkens aufzuzeigen.
141
Lehrstiick vom Richter Lindsey Radoinrnheim
^ITenn jemand hinkt, weil er schlechte Schuhe anhat, so gibt
es zwei Mittel, ihn vom Hinken abzubringen. Entweder
man verschafft ihm bessere Schuhe, oder man setzt auf da$
Hinken so schwere Strafen, daB der Mann sich dazu zwingt,
trotz schlechter Schuhe nicht zu hinken. Das zweite Mittel
wendet der Staat in der Kriminaljustiz an. Mit dem ersten
versuchte es der Richter Lindsey aus Denver in Colorado, bis
man ihn aus dem Amt jagte und ihm sein Anwaltspatent nahm;
bis der Bischof William T. Manning in offentlicher Predigt eine
Hetzrede gegen ihn hielt und die Glaubigen ihn aus der Kirche
priigelten. Die Geschichte dieses Passionsweges kann man jetzt
lesen in Ben B, Lindseys und Rube Boroughs Buch „Das ge-
fahrliche Leben'Y erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt
Stuttgart. Es gehdrt zu den allerlehrreichsten und wichtigsten
Biichern, die fur die Aufklarungsarbeit zur Verfiigung stehen.
Die Einrichtungen unsrer heutigen Staaten sind derart, daB
sie zwangslaufig Schadiinge zuchten, die sich gegen das Wohl
ihrer Mitme rise hen vergehen. Es laBt sich aber von Staats
wegen gegen diese Einrichtungen nichts tunternehmen, weil das
Wohlleben derjenigen Menschen, die iiber ihr Sein oder Nicht-
sein zu entscheiden haben, eben darauf begriindet ist, dafi sie
so bestehen bleiben, wie sie sind, Der Staat will sich nicht an
Verbesserungsbestrebungen beteiligen, die seine eignen Grund-
lagen untergraben, und so tut er Gutes nur, soweit er nicht
aus Selbsterhaltungstrieb Schlechtes tun muB. Die seltsame
Aufgabe der Rechtspflege im heutigen Staat besteht darin, die
Auswirkungen des Bosen durch KampfmaBnahmen zu unter-
driicken, weil der Herd des Obels unantastbar ist.
Man kann viel fur die Psychologie des menschlichen Den-
kens lernen, wenn man sich recht klar macht, wie bereitwillig
auch diejenige Menschenschicht, die iiber die gepflegtesten
Gehirne verfiigt, ihren Oberlegungen die derbsten Beschran-
kungen auferlegt, sobald der eigne Vorteil es erfordert. Wie
wenig zwingend also die nachstliegenden Tatsachen, die ein-
fachsten Folgerumgen sind, wenn man sich ihnen zu entziehen
wiinscht. Denn es ist ja nicht so, daB die herrschende Klasse
in bewuBter Selbstsucht (ihre Machtmittel ausnutzt — dahn
lagen die Verhaltnisse klar. Sondern eine staatliche Einrich-
tung wie die Rechtspflege wird ja gestiitzt von lauter Men-
schen, die das Gute, das Richtige, das Selbstverstandliche zu
tun glauben, Kein anstandiger, verniinf tiger Mensch wiirde
sich je fiir den richterlichen Beruf finden, wenn das einfache
Gefiihl fiir das Groteske einer solchen Beschaftigung ihm nicht
mit derselben Natiirlichkeit fehlte, wie der blinde Fleck im
Auge unser Sehvermogen beeintrachtigt, ohne daB wir jemals
etwas davon merken. Diese ratselhafte Fahigkeit uaisres Orga-
nismus, offensichtliche Locher zu iibersehen, wenn ihm nur
daran gelegen ist, bietet die eigentliche Voraussetzung dafurt
daB so schlechte Staatsformen wie die unsern moglich sind.
Die groBen Obelstande unsres gesellschaftlichen Lebens waxen
nicht moglich, wenn es den einfluBreichen Menschen nicht ver-
142
sagt ware, ihre Ursachen zu verstehen. Es ware an der Zeit,
die kantische Kategorientafel zu erganzen durch eine Schilde-
rung der biologischen Kategorien, die unsre Erkenntnis em-
engen.
Das Gewehr im Anschlag, steht der Richter an der Grenze
zwischen Gut und Bose, bereit, sofort zu schieBen, sobald einer
diese Grenze uberschreitet Zwei Eigenschaften machen ihn
tiichtig fiir seinen Beruf: er muB einen moglichst scharfen
Blick fiir den Verlauf der Grenzlinie haben, und er muB so
kurzsichtig seinf daB er diesseits und jenseits dieser Grenze
nichts wahrzunehmen vermag. Fehlte ihm die erste dieser
Eigenschaften, so fiele er durchs Referendarexamen, fehlte ihm
die zweite, so brachte er niemals die rechtliche Oberzeugtheit
auf, die er fiir seinen Beruf unbedingt braucht.
So unerschutterlich aber dieser Mechanismus der Sichtbe-
schrankung fur den Durchschnittsmenschen ist, so prompt fallt
er iiber den Haufen, wenn ein auBergewohnlich Begabter auf-
tritt. Wie die Geschichte der Wissenschaften zeigt, besteht
das Besondre der genialen Entdecker weniger darin, daB sie
neue Tatsachen auffinden, als daB sie die alten ohne die ge-
danklichen Bindungen des zeitgenossischen Geistes zu priifen
wissen. Ganz ahnlich liegt es im Politischen und im Sittlichen.
Das Verdienst des Richters Lindsey besteht nicht in Ent-
deckungen sondern einfach in der Fahigkeit, das Selbstver-
standliche und Natiirliche ohne die verfalschenden Vorurteile
der Zeitgenossen zu sehen. Daher wirkt das, was er tut und
vortragt, in einem hohen Sinne einfaltig. Es ist ein Kreuzzug
des schlichten common sense gegen die ausgekliigelten Raffine-
ments der Beschranktheit,
Zur Zeit des Paracelsus trugen die Arzte rote Rocke und
Barette als Amtstracnt. Heute tun sie ihre Arbeit nicht min-
der wirksam im gewohnlichen biirgerlichen Anzug. Friiher do-
zierte und predigte man lateinisch, heute geht es auch auf
deutsch. Es ist erstaunlich zu sehen, wie die Berufsbeschafti-
gungen, je fachlicher und fur den Laien unzuganglicher sie wer-
den, sich im AuBerlichen immcr starker verdilettantisieren. Je
weiter der menschliche Geist fortschreitet, um so mehr ver-
zichtet er auf die Zaubermittel des Medizinmannes; um so
entschiedener ersetzt er die Suggestionswirkung auBerlicher
Aufmachung durch die sachliche Wirkung der eigentlichen
Leistung. Ond es ist natiirlich kein Zufallt daB die Arzte den
roten Rock langst abgelegt haben, wahrend die Richter und
Priester und Soldaten noch heute in Robe und Ornat und Uni-
form herumlaufen. Denn wahrend der Wert der arztlichen
Arbeit, trotz aller Einschrankungen, so offensichtlich ist, daB
ihn auch der Dumme begreift, fallt der Sinn der richterlichen,
priesterlichen, militarischen Arbeit vor aller Augen in sich zu-
sammen, sobald sie sich ihrer iheatralischen Einkleidung begibt
und nur die Sache wirken laBt- Am Beispiel Lindseys kann
man sehen, wie ihn die Abkehr vom richterlichen Zeremoniell
mit Notwendigkeit nicht zu einer verbesserten Rechtspflege
sondern iiberhaupt von der Rechtspflege fort fuhrt. Zu einer
Art arztlicher oder weltlich-seelsorgerischer Betatigung. Und
zur' Revolte gegen die wichtigsten staatlichen Einrichtungen,
143
Der Fall Lindscy ist dcshalb so bemerkenswert, wcil es
sich hicr nicht urn einen anarchischen, fanatischen AuBenseiter
handelt sondern um einen sehr friedlichen Menschen, der sein
Leben mit biirgerlichen Absichten und Anspriichen begann und
dann allmahlich, durchaus gegen sein en Willen und gegen sein
Temperament, Schritt fiir Schritt aus der Bahn, in die Oppo-
sition gedrangt wurde. Seine Erlebnisse sind so iibersichtlich
und unmittelbar verstandlich, daB man sich kaum einen besse-
ren Stoff fiir ein belehrendes Volksstiick denken kann, Weil
sein Schicksal sich in einem kleinen amerikanischen Staat ab-
spielt, sind die Machte, gegen die er zu kampfen hat, sehr an-
schaulich durch Personen vertreten; Herr Evans von der
Strafienbahngesellschaft, Herr Field von der Telephongesell-
schaft, Herr Cheeseman von den Wasserwerken — darunter
kann man sich etwas vorstellen, und es ist, damit der Begriff
Fleisch werde, nicht notig, ,,den" Kapitalisten mit der Speck-
falte zu bemtihen, der als symbolische Zirkusfigur in unsrer
Tendenzdramatik spukt.
Der Durchschnittsrichter schlieBt von der Tat auf den
Tater, Lindsey schlieBt vom Tater auf die Tat. Das soil heiBen:
der Jurist teilt vom Delikt her die Menschen in zwei Klassen
ein, in straffallige und unbescholtene, Fiir ihn wird das Ver-
haltnis des Menschen zu den G^setzen zum wichtigsten Kenn-
zeichen des Menschen uberhaupt, zur differentia spezifica. Der
Typ Lindsey sieht sich den ,,Angeklagten" an, sieht einen nor-
malen, nicht unsympathischen Menschen und schlieBt daraus,
daB sich die schlimme Tat irgendwie als die Verbiegung einer
im Grunde guten Anlage miisse erklaren lassen. Fiir ihn ist die
Menschheit eine einheitlich gutartige Spezies, von der einzelne
Exemplare durch hohere Gewalt schuldig werden, Der* Jurist
hingegen schaltet — nicht immer im einzelnen praktischen Fall
aber sicherlich in der Grundanschauung — unter dem Zwang
politischer Axiome die Einflusse jener hpheren Gewalten auto-
matisch aus, und da also die exogenen Faktoren forttallen, muB
er die Verantwortlichkeit fiir das Endprodukt, eben den
Rechtsbruch, und seine Ursache in die Anlage des Obeltaters
hineinlegen. Das heiBt, fiir ihn gibt es auf der Welt zwei Sor-
ten Menschen, gute und schlechte, und wenn der Staat sich
gegen die Schlechten wehrt, so bekampft er damit nicht seine
eigne sondern des Angeklagten Schlechtigkeit!
Es ist nun sehr fesselnd zii sehen, wie iiberall in Lindseys
MaBnahmen die Bemiihung steckt, im Rechisbrecher dieselbe
Gutartigkeit zu demonstrieren, die man nur den Unbescholte-
nen zuschreibt, ihn also von seiner Tat zu trennen und seine
Verwandtschaft mit den Rechtlichen aufzuzeigen. Die Metho-
den des Juristen zeigen die Grundmeinung, daB es darum gehe,
die minderwertige Artung des Rechtsbrechers durch Macht-
mittel, die den seinen iiberlegen sind, in Schach zui halten —
ihn zu fesseln und einzusperren, damit er nicht weiter Schad-
liches tun kann, ihm Nachteile anzudrohen, die ihm die Vor-
teile aus seinen Untaten weniger verlockend machen sollen.
Es handelt sich um reine Kampfmethoden, auf dem Boden der
gegebenen Tatsache, daB der Mensch schlecht ist. Lindsey
144
schickt Hunderte von jugendlichen Krimincllen, Diebet Morder
und Einbrechcr, zum Entsetzen der Polizei ohnc allc Bedeckung
allein auf die Fahrt zmt Fiirsorgeanstalt, und aus dcr Erfahrung,
dafi nicmals cincr entwischt, beweist er, cin wie hohes MaB
von Sportsgeist — feierlichcr; Sittlichkeit — in ihnen steckt,
Seine Art, ,,Gerichtsverhandlungen" zu fiihren, zeigt dasselbe
Bestreben, den Angeklagten aus der Kampfstellung gegen das
Gesetz zu locken und ihn zum willigen, dankbaren Patienten
zu machen. Er reiBt die Barrikade nieder, er sitzt nicht hin-
term Richtertisch und der Angeklagte nicht auf der Anklage-
bank. Er treibt die Anwalte aus dem Tempel und ladt den
Staatsanwalt mit den jugendlichen Einbrechern zusammen zum
Mittagessen ein. Und sogleich stiirzt das Grundprinzip aller
Rechtspflege; die Menschen auf der Anklagebank sind anders
und zwar schlechter geartete Menschen als wir! Damit ent-
fallt alle Unbefangenheit des ,,Richtens".
Sehr einleuchtend, daB Lindsey vom Jugendgericht her zu
seinen Erkenntnissen kommt. Denn beim Jugendlichen ist es
besonders auffallig, wie stark das Delikt durch schlechte Ein-
fliisse der Umwelt bestimmt ist, Lindsey setzt sich fur ein
„MitwirkungsgesetzM ein, nach dem die verantwortlichen Er-
wachscnen mit fur das Vergehen des Jugendlichen bestraft
werden sollen, Er ist da auf einem gefahrlichen Wege, denn
wenn er sich sein Mitwirkungsgesetz genau ansieht — und er
tut es — dann fallen darunter nicht nur schlechte Eltern son-
dern vor allem der groBe schlechte Vater, der Staat. Und den
Staat darf man nicht bestrafen.
So miinden Richter Lindseys Cberlegungen und Erfahrun-
gen in einer Negierung der Rechtspflege ,iiberhaupt. Er be-
greift, daB dort, wo zugepackt werden darf, nicht zugepackt
werden darf. Er begreift auch, daB man nicht strafen sondern
heilen muB, und da es mit ambulatorischer Behandlung nicht
getan ist, geht er aus dem Gerichtssaal in die Wohnungen der
Schuldigen und also Hilfsbediirftigen, wird zum Heifer, zum
Anwalt, zum Kampfer. Geht aus dem Gerichtssaal und findet
nicht mehr zuriick.
Tanzkunst durch Eilboten von Ernst K*iiai
TNT eil das Figurenspiel des alten Balletts sich zur ausdrucka-
losen Arabeske uberlebt hatte, suchte der neue Tanz
neuen Inhaft und damit neue Formen zu gewinnen, Es ent-
stand der moderne Ausdruckstanz, der sich wie die gesamte
moderne Kunst 1(ielfach an primitive und exotische Vorbilder
oder an kultische Gebrauche des Mittelalters anlehnt, soweit
seine Anregungen nicht in Bewegungselementen der Maschine
und der rhythmischen Gymnastik zu suchen sind. Es gibt, um nur
zwei auBerste, aber in ihrer gegenseitigen Zuordnung fiir die
gesamte moderne Tanzsituation bezeichnende Gegensatze zu
nennen, ein Tanzdrama Mary Wigman und eine Tanzgymnastik
Palucca. Und es gibt zwischen diesen auBersten Zuspitzun-
gen alles Erdenkliche, bemuht, eine tanzerische Harmlosig-
145
keit, wenn nicht eine Armut an urspriinglicher Tanzsinnlich-
kcit mit abstrakten Alliiren hochzustilisieren, sehr geistig, sehr
seelisch, sehr ideenvoll zu tanzen. IndeB — man wiinschte
weniger Ideen und mehr Tanz zu sehen.
Wir sind weit entfernt von dem glticklichen Zustand ost-
licher und siidlicher Volker, bei denen der Tanz allgegen-
wartig istf zu jedcr Zeit und in jeder Situation bercit, in Be-
wcgung zu geraten. Die Deutschen haben cine Marschier-
und Sitzfleischseele, und zwar je mehr sie dem PreuBentum
verfallen, um so ausschliefllicher. Ihre Tanze brauchen be-
sondere Ab-Gelegenheit und Inszenierung, um sich in die
Glieder zu wagen. Aus diesem kargen Tanzboden versucht
man von heute auf morgen eine neue Tanzkunst herauszu-
s tamp fen, Kame es nur auf Ideologien, auf Methodik, Syste-
matik und Energie, vor allem aber auf Betriebsamkeit an, dann
miiBten wir schon langst eine erstaunliche Tanzkultur haben.
Die Quantitat reicht. Aber die Qualitat?
Es gibt zweifellos manche wichtige Leistung, wenn auch
der Begriff ffLeistung" an sich bereits etwas anruchig Be-
wuBtes, allzu BewuBtes enthalt. Das eigentlich Schopferische
aber ware unbewuBt, ware natiirliches, organisches Wachstum,
wenn auch selbstverstandlich kunstvoll gegliedert und geregelt.
Mehr ein Geschenk, das uns ein giitiger Schlaf beschert, als
eine Leistung des Willens. Wir aber ,fwollen" um jeden Preis,
mit verbissener Energie, eine Tanzkunst produzieren, AUe
Achtung vor Heroismen. Aber es gehort schon ein fur unser
tanzerisches SelbstbewuBtsein zwar sehr schmeichelhafter, je-
doch in Anbetracht des tatsachlich Erreichten geradezu unver-
frorener Enthusiasmu« dazu, wenn ein prominenter berliner
Tanzkritiker die deutsche Tanzkunst zu einer nWeltkunst"
proklamiert, die vor kurzer Zeit zwar noch gar nicht existiert
habe aber „vor etwa ein Dutzend Jahren mit einem Male da
war, als Mary Wigman die Biihne betrat". Zwolf Jahre ge-
niigten, um diese phanomenale Entwicklung zu erzielen- Eine
Weltkunst in zwolf Jahren. Enorme Leistung! Nur dem Auf-
stieg des Films vergleichbar — und ebenso maBlosf ebenso in-
stinktlos in der eignen Selbstiiberhebung wie dieser.
Eine Weltkunst in zwolf Jahren. Man muB diesen Satz
immer wieder langsam, mit Bedacht wiederholen, um das
ganze MaB von zivilisatorischem Ungeist zu erfassen, der in
dieser AuBerung ernes vom Industrialismus und Merkantilismus
her auch in Dingen der Kunst eingefleischten, hier aber aufs
iibelste unangebrachten Produktionsdiinkels liegt GewiB ist
unsre Weltkunst in Amerika gefeiert worden. Vom selben
Amerika, das uns einen kitschigen Damenliebling wie Ted
Shawn als seinen groBten Tanzer zu prasentieren beliebte- Er
genugtf um die kiinstlerische Legitimiertheit des Erfolges
„druben" ins richtige Licht zu setzen.
Nehmt alles nur in allem: Die deutsche Welttanzkunst
schielt nach alien Himmelsrichtungen der Exotik. Allerdings
ist dieser Eklektizismus von den Tanzbeflissenen und ihren
enthusiastischen Verkiindern auf bequemste Weise zu ver-
klaren als schopferische Leistung einer Kultur der Mitte.
146
Deutschland ist doch bekanntlich das Land der neucn Mitte
zwischen Ost und West. Hier wird das zur Weltvollendung
und Weltgeltutng gemixt und reif „gemacht'\ was auf Java und
in Siam, in RuBland und in Spanien, bei den Negern und In-
dianern von Amerika nur provinziell war, wenn auch ein
Wachstum etlicher Jahrhunderte oder Jahrtausende. Wir
,,schaffen" das in zwolf Jahren.
Weil wir von alien guten Geistern der Kultur verlassen,
mit unserm Gehirn und unsern Nerven, mit unserm durch und
durch bewuBt bespiegelten karglichen Seelenrest nur noch auf
Rekorde der Schnetlfertigkeit jagen — nur aus dieser Ver-
blendung bilden wir uns ein, in zwolf Jahren eine rieue
„Standardkunst herausgebracht" zu haben: die deutsche Welt-
tanzkunst. Und weil wir auf unsre einstweilen noch recht
fragwurdigen Anfange so lacherlich eingebildet sindt daB wir
es fertig bring en, alle KunstwertmaBstabe auf den Kopf zu
stellen und uns fur die Spitze zu erklaren -*- weil wir so
lacherlich eingebildet sind, muB man von den meisten Tanz-
abenden und Tanzmatineen so heillos begossen, so entsetzlich
deprimiert nach Ha use gehen.
Der MiteSSer von Theobald Tiger
Denen, die sich nicht getroffen fiihlen
Cr wohnt am Rand der reichen Leute,
■■-1 verkehrt ^mit Adcl und heiBt Schmidt.
Den Schlips von morgen tragt er heute
und fahrt in fremden Autos mit.
Er lebt in einem ihm fremden Stile —
Fauler Koppf
Fauler Snob!
Aber davon gibts viele,
Er selbst hat nur ein kleines Zimmer,
als Untermieter bei Frau Schay,
Doch gcht er aus, dann tut er immer,
als war er aufgewachsen bei.
Yon der Socke bis zum gescheitelten Haar:
es ist alles nicht wahr — es ist alles nicht wahrf
Er ist so gerne eingeladen:
er zeckt an Kaufmann und Bankier.
Er weiB: am Lido muS man baden,
er gruBt im Ritz den Herrn Portier. '
Er nassauert elegant und beflissen
vor fremden Kulisscn.
Was er auch hat, das hat er gratis.
Er lauft mit der Society.
Er kennt die feinsten Cocktail -Parties.
Nur seine Lage kennt er nie.
Bald kunstgewerblicher Friseur,
bald Redakteur . . .
so sehn wir ihn gestern, morgen und heute:
ein Affe.
Ein Affe der reichen Leute.
147
Die Schlagerclique dementiert Herbervtonconnor
T")afi der Artikel „Schlagerindustrie im Rundfunk" (Nummer 28 der
*~* .Weltbuhne') nicht ohne eine Entgegnung der angegriffenen Kreisc
bleiben wtirde, war vorauszusehen. Denn ein Blick hintcr die Ku-
lissen der Schlagerpropaganda im Rundfunk tun, hieB, die Schlager -
industrie in ihrem empfindlichsten Punkte treffen. Nicht vorauszu-
sehen allerdings war, daB die Erwiderungen derart toricht sein wur-
den, nicht vorauszusehen war, daB weder vom berliner Rundfunk,
noch von der Reichrundfunkgesellschaft auch nur der Versuch einer
Rehabilitierung gemacht werden wvirde.
Es meldeten sich zu Worte die Herren Wilczynski und Scheiben-
hofer, beide beschuldigt, ihre Stellung im Rundfunk zu personlichen
Zwecken ausgebeutet und der Schlagerindustrie Handlangerdienste
geleistet zu haben. Wilczynski „berichtigt" diese Vorwiirfe wie folgt:
„1. Es ist nicht wahr, daB ich an leitender Stelle im Rundfunk
sitze. Wahr ist dagegen, dafi ich weder direkt noch indirekt mit
dem Rundfunk zu tun habe und also auch nicht angestellt bin.
2. Es ist nicht wahr, daB samtliche Schlagerprogramme der deut-
schen Rundfunkstationen durch meine Hande gehen. Wahr ist da-
gegen, daB ich die Rundfunkprogramme vorher uberhaupt nicht kenne
und nur dann kennen lerne, wenn ich zufallig ein Programm abhore.
3. Es ist nicht wahr, daB ich meinen Posten in erster Linie dazu
benutze, um moglichst hohe Auffuhrungsziffern fur mich herauszu-
schinden. Wahr ist vielmehr, daB ich keinen Posten im Rundfunk
habe, also auch nicht diesen Posten zu genanntem Zweck ausnutzen
kann.
Wahr ist ferner, daB ich noch keine Schlager schrieb, als ich vor
etwa anderthalb Jahren dem Rundfunk angehorte.
4. Es ist nicht wahr, daB in jeder Schlager-Veranstaltung man
vier bis funf meiner Nummern eingelegt findet. Wahr ist vielmehr,
daB ich im Gegensatz zu ' anderen Autoren viel zu wenig gespielt
werde, weil ich eben einmal in ganz anderer Position dem Rundfunk
angehorte, und man bemiiht ist, jede Bevorzugung meiner Person zu
vermeiden.
5. Es ist nicht wahr, daB besonders die „Bunten Sonnabend-
Abende1' reine Propaganda- Veranstaltungen meiner Schlager sind.
Wahr ist dagegen, daB ich in grade den „Bunten Sonriabend-Abenden"
fast nie gespielt werde, woruber ich oft Klage fuhrte.
6* Es ist nicht wahr, daB Herr Scheibenhofer jemals mein Mit-
arbeiter in irgendeiner Form gewesen ist. Wahr ist dagegen, daB ich
nachweislich das Treiben des Herrn Scheibenhofer stets deutlich ge-
miflbilligt habe.
7. Es ist nicht wahr, daB man in jeder Woche irgendwo im Reich
eine Sendung entdeckt, die ausschlieBlich meiner Produktion ge-
widmet ist, Wahr ist vielmehr, daB ich hin und wieder wie jeder
andre fur eine Schlagerstunde verpflichtet werde- Wahr ist dagegen,
daB ich besonders von Berlin, abgesehen von den andern Sendern,
stets stiefmutterlich be hande It werde. Wahr ist ferner, daB ich z. B.
in Berlin in anderthalb Jahren einmal zu Worte kam, woruber ich
mit Recht Klage ftihre.
8. Es ist nicht wahr, daB man meine Nummern ungesehen druckt.
Wahr ist dagegen, daB ich im Gegensatz zu andern Schlagerautoren
wenig schreibe, und daB die Verleger selbstverstandlich nicht alles
nehmen, was ich ihnen anbiete.
9. Es ist nicht wahr, daB die Tonfilmindustrie sich die Beine
nach mir ausreiBt. Wahr ist vielmehr, daB sie dies durchaus nicht
tut, und ich nur sehr wenig Schlager fur die Tonfilmindustrie schrieb.
148
10. Es ist nicht wahr, dafi ein dickes Aktienpaket hinter mir
stent. Wahr ist dagegen, dafi ich keine Aktien besitze noch je be-
sessen habe.
11. Es ist nicht wahr, dafi ich bisher nicht zu stiirzen gewesen bin*
Wahr ist dagegen, dafi ich nicht zu stiirzen bin, weil kein Amt fur
mich vorhanden ist, aus dem ich gestiirzt werden kann. Vielmehr ist
wahr, dafi ich gegen den Willen aller mafigebenden Herren im Rund-
funk aus rein privaten Griinden vor anderthalb Jahren von meinem
Amt zunickgetreten bin."
Dieser Brief ist uberaus charakteristisch: Ein Mann ohne Talente
und Verdienste, den eine Konjunkturwelle an die Oberflache ge-
schwemmt, und der es verstanden hat, Beziehungen anzukntipfen und
auszunutzen, bekleidet jahrelang einen reprasentativen Posten in der
Funkstunde und scheidet plotzlich eines Tages offiziell aus dieser In-
stitution aus. Ein merkwiirdiger Zufall will es, dafi er in dem Mo-
ment, in dem er seinen Posten „aus privaten Griinden" aufgibt, sein
Talent fiir Schlagertexte entdeckt. Er fangt also an zu dichten, nicht
besser, hochstens schlechter als die meisten seiner Kollegen, und er-
reicht durch seine Beziehungen, dafi seine Sachen von alien Rund-
funkstationen gesendet und den wehrlosen Horern so lange eingeblaut
werden, bis die unscheinbaren Texte Schlager, echte, tantiemen-
trachtige Schlager geworden sind. Als die Verleger und Filmfabri-
kanten die Zusammenhange bemerken, fangen sie an, sich fiir den
neugebackenen Schlagertextdichter gewaltig zu interessieren. Herr
Wilczynski wird der begehrteste Textdichter in der ganzeji Branche.
Im Nebenberuf ist er nach wie vor als maitre de plaisir im Rundfunk
tatig und arrangiert Feste, heitere Abende und ahniiche Veranstaltun-
gen, auf denen Schlager popular gemacht zu werden pflegen.
Wir glauben es Herrn Wilcynski sehr gern, dafi er keine „Stel-
lung" beim Rundfunk im gebrauchlichen Sinne des Wortes hat, wir
kennen seine bescheidene Art, am liebsten im Stillen zu wirken.
Wurde doch selbst sch'on in der Pots darner Strafie auf telephonische
Anfrage hin geantwortet, dafi ein Herr Wilczynski im Hause nicht be-
schaftigt seif indessen der Herr Schlagertextdichter oben im dritten
Stock in seinem Bureau arbeitete. Aber mit solchen Dingen macht
man die Of fentlichkeit nicht dumra. Jedes Kind in Berlin weifi, dafi
Herr Wilczynski im Funkhaus ein- und ausgeht und mafigebendsten
Einflufi ausiibt, jedes Kind weifi, dafi Wilczynski diesen ganzen Ein-
flufi zur Lancierung seiner eignen Schlager aufbietet. Die Funk-
stunde hat die Wahl: Entweder sie deckt Wilczynski mit ihrem Na-
men, dann hat sie erneut bewiesen, wie versippt und vervettert ihr
Betrieb ist, oder sie gibt ihn preis — dann hat sie sich und der
offentlichen Sauberkeit einen gleich grofien Dienst erwiesen.
Interessant ist, dafi sowohl Wilczynski ostentativ von seinem
Kollegen Scheibenhofer abriickt und Wert auf die Feststellung legt,
dafi er dessen Treiben stets ..deutlich gemifibilligt1* habe, als auch
Herr Scheibenhofer selbst in einem Schreiben an die ,Weltbiihne' be-
tont, dafi er Wilczynski nur „voriibergehend" kenne und weder ge-
schaftliche noch gesellschaftliche Verbindung mit ihm habe. So zwei
Herren, die seit Jahren im selben Betrieb und im selben Ressort
arbeiten. Des weitern schreibt Herr Scheibenhofer in dem ihm ange-
borenen gepflegten Deutsch: „Erstens ist es nachweislich durch meine
Direktion festzustellen, dafi ich von der Funk Stunde AG. Be-
st echungen halber nicht entlassen wurde. Ich habe heute wieder
meinen Dienst angetreten. Dafi ich keinen Menschen in der Funk
Stunde jemals bestochen habe, werde ich einwandfrei nachweisen.
Diese Verlaumdung, die mir in jeder Weise beruflich wie geschaftlich
schaden kann, werde ich auf das scharfste verteidigen." Nun, was die
Verteidigung unsrer „Verleumdung" anlangt, sie ist gut genug fundiertf
um Herrn Scheibenhofers Verteidigung entbehren zu konnen. Wie
Herrn Scheibenhofers Entlassung zum 1. September von der Funk-
149
stunde nach aufien hin motiviert werden wird, ist fur den Tatbestand
gleichgultig, Im ubrigen verwechselt Herr Scheibenhofer passive mit
aktiver Bestechung. Passive Bestechung ist es, wenn er als Ange-
stellter des Rundfunks vom Verlag Meisel Geldcr zur Propagierung
seiner Schlager entgegennimmt.
Zum SchluB uoch eine flBerichtigung" des Siiddeutschen Rund-
funks: „In dem Artikel ,Die Schlagerindustrie im Rundfunk' . ist gesagt:
fDer Suddeutsche Rundfunk in Stuttgart und Frankfurt hat beispiels-
weise seine festen Satze fur sogenannte Schlagerstunden, die jeder
Verlag sich kaufen kann, Der Preis schwankt zwischen dreihundert
und funfhundert Mark. Skandalos ist dabei, dafi eine solche Schla-
gerstunde nicht etwa als Werbesendung gekennzeichnet wird, sondern
das offizielle Programm fiillen bilft/ Diese Darstellung ist von vom
bis binten unwahr. Richtig ist vielmehr, daB fiir die Schlager- und
Schallplattenstunden im Programm unsrer Gesellschaft — sei es
direkt — sei es indirekt — keinerlei Vergtitung bezablt oder sonstige
Leistungen gewahrt werden, sondern die Schallplattenprogramme le-
diglich nach kiinstlerischen Gesichtspunkten aufgestellt werden, Ledig-
lich in der als ,Werbekonzert' besonders gekennzeicbneten Sendung
werden Schallplatten auf Grand von geschaftlichen Abscbltissen ge-
spielt. Dies Werbekonzert ist jedoch keine Veranstaltung unsrer Ge-
sellschaft, sondern eine Veranstaltung der Deutschen Reichspost-
reklame G* m. b. H,, die hierauf ein konzessionsmaBiges Recht hat,
und hat mit Darbietungen unsrer Gesellschaft nichts zu tun/' Der
suddeutschg Rundfunk, der ja zu derselben Sendegesellschaft gehort,
schickt eine Erklarung, die mit anderen Worten dasselbe besagt.
v Hierzu bemerkt der Verfasser der von vorn bis hinten unwahren
Darstellung folgendes: Er selbst unternahm im Sommer des Jahres
1928 als Propagandaleiter eines Schlagerverlags eine Reise nach Stutt-
gart, urn sich dort an Ort und Stelle iiber die Verhaltnisse am Siid-
deutschen Rundfunk zu orientieren, Auf seine Beanstandung, daB die
regelmaBig stattfindenden , , Schlagerstunden" ausschlieBliche Pro pa -
gandaveranstaltungen des Wiener Bohemeverlags und der Firma
Alberti darstellten, wurde ihm geantwortet, daB die betreffenden Ver-
lage bestimmte pekuniare Abmachungen mit dem Siiddeutschen Rund-
funk eingegangen waren, Es wurde ihm ferner mitgeteilt, daB jeder
Verlag gegen eine entsprechende Gebuhr sich eine solche Schlager-
stunde am stuttgarter und frankfurter Sender kaufen konne, und
schlieBlich wurde ihm ein solches Abkommen selbst proponiert,
Genug der Dementis. Ein Lichtblick war ein Artikel in der
frankfurter Zeitung' vom 19. Juli, der auf die hier angeruhrten
Fragen einging, den Wunsch aussprach, daB die Radibhorer sich in
ganz anderm MaBe als bisher gegen die Geschmacksinfektion von
Seiten der Schlagerindustrie zur Wehr setzten, und den zustandigen
Kulturstellen des Reiches die ganze Angelegenheit zur Bearbeitung
empfahL Dies ist auch unsre A'nsicht: Eine von oben angeordnete
grundliche Sauberungsaktion im deutschen Rundfunk wurde zu einem
iruchtbareren Resultat fuhren als alle iiberflussigen und unleidlichen
Diskussionen zusammen, v
Die DeiltSChe Planting von Jao Bargenhosen
T^iesi ist eine Sache, fiir die mir die medizinische Terminolo-
gie zaistandig ist: wie aus jedem Ruckschlag in den Ver-
JhandliMigen um einen inter nationalen iMiilliarden-Kredit der
frahliche Glaube emporschieBt, daB „wir iDeutsche" unsern
Dreck alleine, wirklioh ganz alleine inachen konnten. Erst ein
verzagtes Warten darauf, ob denn nicht endlich ibei den An-
dern die Vernunft siegen werde, ob man Deutschland nicht
150
dooh noch bitten werde, einen grofien Kredit freundlichst an-
zunehmen — und dann, wenn das Wunder wieder einmal nicht
geschehen ist, die Euphotrie des Hektikers, oder meinetwegen
die tJberkompensation def Schwachegehlhle, ein ungeheuerer,
kranklhaft ubersteigerter Lebensmut; MJetzt nehnien wir unser
Schick sal selbst in die (Hand! Schwiengkeiten sind dazu da*
urn tiberwtunden zu warden!"
Das heiBt dann: Autarkic Oder, im Stile des Reichskabi-
netts; Nationale Selbsthilfe. Eine echt kerndeutsche Bezeich-
nung, die der Wurde der Stunde trad dem Gewidht der Sache
so recht entspraohe, fehlt leider noch. Ich fur mein Teil wtirde
vorschlagen, das Ding f)Die (Deutsche Planting" zu nennen. (Pla-
nung ist besser als Plan. Daws-Plan, Neuer Plan, Funfjahres-
plan; das hat alles zu sehr haut gout.)
Zunachst fhatte man es mit der Wahrung. Falsch verstan-
dene Analogien lieBen an eine Ruckkehr zur Rentenmark den-
ken. Im Reichslandwirtschafts-Ministerium stoberte man in
den alt en Aktenschranken nach: alte Roggenmark-Plane wur-
den netifrisiert <und dem Kabinett Hzugeledtet". Andre Leute
griifen einen Gedankensplitter Htigenbergs auf. tind propagier-
ten eine „Inlandswahrung". In der Reichskanzlei tiitftelte ein
wenig beschaftigter Minister, Gottfried Treviranus, den Plan
aus, das ganzlich unbelastete Vermogen der Reichspost als
„Unterlage" fur eine neue Geldsorte einzusetzen.
Ehe die Projekte-Mlacher noch fertig war en, hatte die
Reichsbank, nach langem Zogern freilidi, den alten, guten
Wahrungs-Mechanismus doch wieder in Bewegung gesetztj der
Disk on t wurde etwas erhoht, die Oeckungsgrenze fur den No-
tenumlauf, dieses ehrwtirdige Requisit, wurde etwas beiseite-
gesdhoben tind der Notenumlauf etwas erhSht. Seitdem war-
tet man wieder, namlich nun auf die logische Fortsetzung die-
ser Politik, die iiber eine voariibergehende Kreditatisweitung
(pltis Erhohung des Notenumlatifs, plus Kreditvertetierung) den
Zafhlungsverkehr wieder in Gang setzen kann und soil. (Das
geht freilich hart an der Inflation vorbei — da muB
also aufgepaBt werden!) Man wartet also.
Etwas anders hatte -man sich ja im Kabinett die Dinge ge-
dadht, als man, nach dem Zwist der GroBbanken, der das
Schicksal der jDanat-Bank besiegelte, angeweht vom Schauer
der historischen Stunde einer groften Pleite, den stolzen Be-
schitiB faBte: jetzt dekretieren wir den Staatssozialismus —
E* ;tzt ubernimmt das Reich, wenn die (D-Banken versagen, die
eitung der deutschen Kreditwirtschaft! Welche Perspektiven
tat en sich auf: AbschlieBung vom Ausland — AuBenhandels-
mo nopal a la SowjetruBland — Autarkic fur Lebensmittel —
Naturaltausch, Fertigwaren^Exporte gegen Rohstoff-Importe — .
wir werdens dem vertrackten westlerischen Kapitalismus da
drauBen schon zeigen, wir!
Die Plane waren so schon, ein „geschlossenes Ganzes",
sozusagen. Leider konnte man den Anfang gar nidht fin-
den . . . Und da kam der Katzenjammer. Und die Not war
groB. Und Brtining fuhr via Paris nach London. Um es noch
einmal mit dem westlerischen Kapitalismus und mit Krediten
2u versuchen. Die Ergebnisse sind bekannt.
151
Da sich immer noch kein Erzberger gefunden hat, der be-
rcit ware, in den Wald von Compiegne zu fahren, rufen die
kleinen Rathenaus von iHeute, nicht minder unklar als ihr hi-
storisches Vorbild, emeut zur levee en masse auf, zum letzten
Alufgebot des Wirtschaitskrieges. Zuerst handelt es sich dar-
um, die Kraite zu samineln. Die Deutsche Planting beginnt:
das deutsche Kapital wird aufgerufen. Es soil nicht mehr
t,£ludhtenMf es soil, soweit es gefltichtet ist, ins Vaterland zu-
riickgeholt werden: Notverordnung gegen die Kapital- und
Steuerflucht.
Soweit diese -Notverordnung dazu dient, die Devisenreser-
ven der Unternehmungen und der Privaten zu erfassen, ujn sie
den Zwecken der Wlahrungsstutzung dienstbar tax machen, laBt
sich gegen sie nicht allzuviel einwenden, Hochstens die Art
ihrer Durchluhrung, die schrecMiche M&ngel zeigt und groBe
Luck en off en laBt, ware zu kritisieren. Aber der Kampf gegen
die Kapital- und Steuerflucht — das ist schon eine komische
Sache. Nicht nua: wegen der angewandten Methoden, die leb-
haft an das Blinde-Kuh-Spiel gemahnen, sondern ziierst und
vor allem im Grundsatzlichen.
Man kann ja gewiB verschiedener iMeinung fiber diese Fra-
gen sein, und auch an dieser St elk sind sohon andre Ansich-
ten vertreten worden. Ich glaube aber, daB man die Dinge
etwa so ansehen muBte:
Wir haben ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, und in
dies em ist die Verfiigung uber das Kapital grundsatzlich frei.
Dtas Kapital stoebt nach Rente, nach Sicherheit; es geht den
groBen Risiken aus dem Wege, oder es versucht doch wenig-
stens, Geschafte mit groBen Gewinn- und Risikochancen und
soldhe, die kleinere aber sichere Gewinne versparechen, mit-
einander zu ,,mischen'\ Der ^Capitalist, der die geschaftliche
EntwickLung in Deutschland skeptisch beurteilt hat (was nur
fur eine niichterne Beurteiluftg der Sachlage spricht), handelt
also nach den Spiekegeln der kapitalistischen Wirtschaft ganz
richtig, wenn er einen Teil seiner IMSttel im Auslande angelegt
hat. Genau so folgerichtig handelt irgend ein kapitalistisches
Unternehmen, wenn es sich Verbindungen im Ausland schafft,
Filialen, Finanzierungsgesellschaften, Niederlassuhgen, Holding-
gesellschaften und dergleichen. Wo erne Profitchance ist,
wird sie mitgenommen, gleichgiiltig, wie die Grenzpfahle am
Geschaftsort angesttrdchen sind. Genau so ist ja auch das Aus-
landskapital nach Deutschland hereingekommen, urn hier seine
Zinsen zu vereinnahmen, einschlieBlidh einer nicht zu geringen
Risikopramie. Diese war nicht ganz unberechtigt, wie die Tat-
sache des d-e facto bestehenden deutschen Moratoriums zeigt
— auch die Schroeder^Bank in London konnte etwas von deut-
schen Risiken erzahlen, wenn sie wollte (sie will aber vorerst
noch nicht). Das Kapital namlich, so komisch das klingen mag
— das Kapital kennt kein Vaterland.
Nun ist es verstandlich und konsequent, wenn jemand sagt:
diese kapitalistische Wlirtschaftsgesinnung, die nur nach dem
Profit fragt. und nicht nach Vaterland und Votksgenossen, ist
eine Schweinerei. Also ist auch die Kapitalwirtschaft, aus der
152
jene Gesinnung erwachst, eine Unsittlichkeit, die wir nicht
mehr dulden wollen. Fort damit! Und ctwas Neues her!
Das ist, wie gesagt, konsequent. Aber nun stellt sich da
ein Mann hin und erklart: die deutschen Unternehmungen, die
drauBen in der Welt arbeiten, das sind die Pioniere der deut-
schen Weltgeltung, das 1st die Bliite der Nation, das ist unser
Stolz; die Hapag, dear Lloyd, (und gestern noch; die Nord-
wolle), der deutsche tJberseer, der deutsche Exporteur und
Kolonialkaufmann, die deutsche Auslandsbank, die I. G. Far-
benindustrie mit ifhren auslandischen Tochtergesellschaften,
— und so fort, tausend andre glanz voile Namen, Der einzelne
Kapitalist aber, der, okonomisch gesehen, genau dasselbe tut,
wie jene Herren von Unternehmern und Unternehmungen, in-
dem er namlich seine Reserven und seine Gewinne zu einem
guten Teil an den sogenannten sichern Punkten der Weltwirt-
schaft zinsbringend anlegt — dieser einzelne Kapitalist (es
kann auch eine Bank sein) wird dann plotzlich als Abschaum
der iMenschheit, als Verrater an seinen Volksgenossen, als
Schadling und Verbrecher gebrandmarkt! Diese Unterschei-
dung, daB das „schaffende" Kapital iiif dieseibe Sache belobt
wird, die beim „raffenden" Kapital eine Angelegenheit des
wia-tsdhaftlichen Landesverrats sein soil, mag ein Andrer ver-
stehn. WHe es ja iiberhaupt ein bischen grotesk ist, einem Ka-
pitalisten moralische Vorhaltungen machen zu wollen und ein
streng ethisches Verhalten von dhm zu fordern, Wer verlangt
denh von einem Maschinengewehr, daB es fromme Lieder
singt — ?
Nun, das beruhigende Geftihl, daB etwas gegen die Ka-
pital- und Steuerfliichtlinge getan werde, ist schlieBlich auch
etwas wert. ttber die Einzelheiten der einschlagigen Notver-
ordnung, die interessanterweise eine nette kleine Denunzian-
ten-Klausel enthalt, die zu nichts, aber zu nichts verpflichtet,
die eine Steuer-Amnestie stipuliert und, trotz Androhung drako-
nischer Stralen, wenig oder gar nichts fur die Feststellung der
Fliichtigen tut, braucht man nidht viel zu reden. Ohne die schon
fast bolschewistische iMaBnahme der Aufhebung des Bankge-
heimnisses in alien Staaten, einschliefilich Liechtenstein, ware
eg auch beinahe unmoglich, dem fliichtigen Kapital nachzuspii-
ren, Und selbst wenn man das Bankgeheimnis aufthebt und
die Grundbiicher oftenlegt, dann bleibt immer noch der
Schweizer Nbtar als Vermogenstreuhander, oder irgend ein
Strohmann wird gefunden, der gern als stiller Teilhaber an
einef Gesellschaft mit undurch&icthtigen Bilanzen fungiert. So
engmaschig ist kein Sieb, daB man damit Wasser schopfen
konnte.
So schreitet die Deutsche Planung, die Nationale Selbst-
hiMe, langsam, aber sicher voran, Weiteres wird folgen, Der
Versuch init der Autarkie, fur diese und fur jene Ware, wird
gemacht werden. Was uns fehlt, was wir solange nicht mehr
gehabt haben, seit zehn Jahren nicht mehr, das sind die Ersatz-
Stoffe, das sind die Konsumenten, die sie kaufen muss en. In
der Industrie herrscht bereits freudige Erwartung: man muB
nur die richtigen Beziefeungen zur ZentraJe haben, dann gibt
es auch Autarkie-Gewinne, Extra-Profite aus der Deutschen
Planung. Heran ans Geschaft!
153
Bemerkungen
Freiwilliger Arbeitsdienst
VV/as gegen eine Lieblingsidee
** aller Ruckwartser Deutsch-
lands: die Arbeitsdienstpflicht,
spricht, habe ich im Jahrgang
1924 der .Weitbuhne' (XX,
839/42) dargelegt, und ich mochte
mich nicht wiederholen. Unter
den ftinf Argumenten gegen das
Projekt, die dort vorgebracht wer-
den, gilt mindestens eines auch
gegen jenen „freiwilligen Arbeits-
dienst", den die Notverordnung
vom 5, Juni dieses Jabres in die
politiscbe Geschichte Deutsch-
lands, zunachst als Moglichkeit,
eingefuhrt hat. Auch er „druckt
die Lohne, schafft eine Schthutz- "
konkurrenz des Staates gegen die
freie Wirtschaft durch Sklaven-
wirtschaft, stellt ein Attentat auf
das Str eikrecht dar ; ' ' auch er
„wirkt im hochsten Grade arbei-
terf eindlich' \ Man konnte ein-
wenden, die Wendung „durch
Sklavenwirtschaft" passe nicht auf
den f reiwilligen Arbeitsdienst ;
aber dieser Einwand wtirde an der
Tatsache vorbeisehen, dafi ne-
ben der Sklaverei, in die ein
Mensch hineingezwungen wird, die
Sklaverei existiert, in die sich
einer freiwillig begibt und fur
welche gilt; ,,Im Ersten sind wir
firei, im Zweiten sind wir
Knechte,"
In welchem Grade Knechte, das
laflt jene Verordnung erahnen,
die, auf Grund der Notverordnung
vom 5. Juni, soeben ergangen ist.
Danach sind Gemeinden, auf
deren Gebiete freiwilliger Ar-
beitsdienst geleistet wird, ver-
pflichtet, „gegen angemessene Ent-
schadigung fur Unterkunft und
Verpflegung der Arbeitskrafte zu
sorgen". Fast jede Gemeinde
heute ist bettelarm; die „Entscha-
digung" wird in der Tat „ange-
messen" sein, namlich der Kassen-
Ebbe des Entschadigers; herrliche
Unterkunfte und prachtvolle Ver-
pflegung durften fur die „Arbeits-
krafte" (klingt sachlich wie
„ Pf er dekraf te* ' ) dabei heraus -
springenf
Ein ,Deutsches Komitee gegen
Wehrpflicht und militarische Aus-
154
bildung der Jugend', an dessen
Spitze der sozialdemokratische
Kulturpolitiker Doktor Otto
Reinemann steht, versendet eine
Proklamation gegen den freiwil-
ligen Arbeitsdienst, der man im
Kern nur zustimmen kann, Ich
muB sogar sagen, ich habe selten
ein so phrasenarmes, so prazis ge-
faBtes Flugblatt in die Hand be*
kommen. Man werde, heiBt es
darin, den jungen Menschen sa-
gen; Arbeitsdienst sei Dienst am
Volke; in Gemeinschaft gleichge-
sinnter Jugendlicher wurden sie
Brot Und Arbeit finden; Arbeits-
dienst fiihre sie zur heimatlichen
Scholle ; in der Einf achheit des
Lagers und in Verbundenheit mit
der Natur wurden sie sich zu
einer neuen Zukunft durchringen.
Aber die Wahrheit sei; „Arbeits-
dienst ist Dienst fur die kapi-
talistische Klasse. Nicht Gemein-
schaftsgeist, sondern Kadaverge-
horsam wird herrschen, Euer Brot
und Arbeit (hier fehlt wohl
„eure") wird Lohndruck sein. Zu
Streikbrechern sollt ihr gedrillt
werden. Fur euch gilt kein Ar-
beitsrecht! Ehrgeizige Abenteurer
werden euch im Burgerkrieg als
Truppe gegen eure Volksgenossen
mifibrauchen." Der Aufruf schlieBt
folgerichtig: „Bleibt dem Arbeits-
dienst fern! Bekampft den Ar-
beitsdienst!"
Trotzdem ist hier ein Haken.
Die Psychologie der Verfasser
dieses schonen Protestes laflt in
ihrer (landestiblichen) okonomis-
tischen Einseitigkeit ein libidinoses
Etwas fort, das auf der Wage des
Entschlusses zum freiwilligen Ar-
beitsdienst schwerer wiegen diirfte
als alle proletarpolitischen Ge-
gengrunde: namlich den Masochis-
mus. „Kadaver£ehorsam"? Famos!
..Gedrillt"? Wunderbar! „Kein
Arbeitsrecht"? Eben nach diesem
Verzicht steht uns 4as Herz, Man
wird uns %*im Burgerkrieg mifi-
brauchen"? Danach gelustet es
uns grade.
Nicht, als ob die paar Hundert-
tausend, um die es geht, diese
Wiinsch& so klar im BewuBtsein
trugen; aber unbewuBte, halbbe-
wuGte, verdrangte, unterdriickte,
verschwommene, umschattete
Wiinsche bestimmen das Handeln
oft starker als klare. DaB *jene
♦Artamanen'bewegung, welcher der
freiwillige Arbeitsdienst als Idee
und praktischer Versuch ent-
sprang, eine masochoide, das heiBt
von Leidenschaftlichen der Selbst-
erniedrigung, von passiven
Schmerzlustlingen getragene Be-
wegung sein muB, steht fur Jeden
fest, der gewohnt ist, durch
Griinde hindurch bis zu den ge-
heimen Ursachen zu schauen,
durch moralische Ideen hindurch
bis zu den Trieben, deren
Kostum sie sind, und iibrigens im
Motivenkomplex nicht bloB die
okonomische Materie zu sichten,
sondern auch die sexuelle.
Mit andern Worten: Der frei-
willige Arbeitsdienst, groBzugig
organisiert, konnte zu einer Ein-
richtung werden, die, , ich will
nicht sagen: alle iugendlichen Ma-
sochisten Deutschlands, aber einen
erheblichen Teil von ihnen, einen
bestimmten Typ unter ihnen, in
den Stand der Befriedigung
brachte. Das gilt nattirHch auch
fur die Arbeitsdiehstpflicht; mit
dem Unterschied, daB diese da-
neben Millionen Nichtmasochisten
trifft — was geniigt, dies Projekt
zu verwerfen. Aber muB der
freiwillige Arbeitsdienst gleich-
falls verworfen werden? Unbe-
dingt unter okonomischer Per-
spektive- Auch unter erotischer?
Ich meine, der Staat sollte die
erotische Perspektive nicht ver-
nachlassigen. SchlieBlich haben
unsre Masochisten ein Recht auf
offentliche Institutionen, durch die
sie zu ihrem Gluck kommen
konnen — die exklusiv hetero^
sexuellen und auch die sonstigen.
Und hier kame, wer zu seinem
Gluck kommt, wenigstens nicht
auf Kosten Andrer dazu; wahrend
beispielsweise die schon vor lan-
gem ins Leben gerufene staatliche
Institution fur Sadisten, die „Ju-
gendfursorge", nur dadurch funk-
tioniert, daB ihr eine ganze
Gruppe von Volksgenossen beden-
kenlos geopfert wird. Vielleicht
empfiehlt sichs, die „Jugendfur-
sorge'* aufzulosen und ihre sa-
distischen MErzieher"f damit sie
nicht brot- und glucklos werden,
zu Leitern des freiwill^gen Ar-
beitsdienstes zu machen, zu Vog-
ten iiber di6 Sklaven aus Passion
— - dann kamen beide Teile voll
auf ihre Kosten.
Kurt Hitler
Vorsicht: Geschichtsroman!
^WTarum werden so schrecklich
"^ viel Geschichtsromane ge-
schrieben? Die Buchladen sind
gestopft volb von diesen herm-
aphroditischen Gebilden, die vor
lauter Roman keine Geschichte
mehr sind und vor lauter Ge-
schichte noch kein Roman.
Konnen wir reine Geschichte
nicht mehr vertragen? Oder ist
uns ein Roman, der von sich
selbst lebt, nicht verburgt genug?
Aber dahinter steckt noch etwas
andres, was mit der echten Sach-
lichkeit nur insofern etwas zu tun
hat, als es ihr Gegenteil ist: die
Sucht nach Bildung. Wir wollen
uns auf der Bildungssuche keines-
W
TBUHHENLESEft
begeisternsich ebenso letdenschaftlich fur ihre
Abdulla-Cigarette.wiefurjedeNummerihrerZeitschrift
Standard o/M. u. Gold . . . Stuck 5 Pfg.
Coronet m. Gold u. Stroh/M. Stuck 6 Pfg.
Virginia Nr. 7 . . , . o/M Stuck 8 Pfg.
Egyptian Nr. 16 . . . o/M. u. Gold. . . Stuck 10 Pfg.
Abdulla-Cigaretten genieflen Weltruff!
Abdulla & Co. • Kalro // London // Bor lln
155
falls langweilen — daher Ro-
man — , abcr wir wollen bei der
Unterhaltung auch jedenfalls pro-
fitieren — daher Geschichte. Das
Resultat dieser Doppeltatigkeit
ist die gediegene Halbbildung, die
iiberall mitquatscht und im
Grunde nichts beherrscht.
Ich habe sehr oft erlebt, dafi
der geschichtliche Stoff von
einem Durchschnittsromancier
heruntergezogen wurde, habe aber
nie erlebt, dafi der grofie Stoff
den kleinen Schreiber auf seine
Ebene gehoben hatte. Hochstens
dafi er den Schreiber lautlos zer-
druckt. Aber das ist ja kein
literarischer sondern ein mehr
sadistischer GenuB.
Dieser Zeilen wegen wird nicht
ein einziger Geschichtsroman un-
gcschrieben bleiben, das ist klar,
Der gute Schriftsteller ist durch
seine Verantwortung und Ehr-
furcht geschtitzt, der schlechte
nimmt, was er bekommen kann.
Aber ich kann mir nicht denken,
dafi ein Publikum dieses ver-
waschene Zeug, das noch oft par-
teipolitisch oder konfessionell
verfleckt ist, immer wieder her-
unterfriBt, wo fur den Unterhal-
tungsdurst und den Bildungshun-
ger so viel Besseres gedruckt
wird. Die Verleger decken sich
mit der Feststellung, dafi „die
Leute sowas haben wollen";
nehmt ihnen diese Deckung, zeigt
ihnen, dafi wir mit diesen
siifisauren Geschichtsbonbons,
dieser infamen Verriihrung von
Wirklichkeit, nichts zu tun haben
wollen! Es geht ja nicht um
Kitsch oder Kunst — das sind
formale Dinge — , es geht um die
Verschmierung von Wahrheitsge-
halten zugunsten irgendeines
Portemonnaies, Und dazu mussen
uns selbst vergangene Wirklich-
keiten zu gut sein.
In der Praxis wiirde das
heifien: seid vorsichtig bei allem,
was sich Hgeschichtlicher Roman"
nennt oder im Titel danach
riecht. Fragt herum, nicht bei den
Buchkritikern der Zeitungen son*
dern bei Menschen, die ihr als
Selbstdenker kennt. Das kleinste
Tatsachenwissen ist sicherer und
gesunder als eine ganze Bibliothek
Hterarisch veredelter Geschichte.
Ezzelino
Gott in Montreux
Am Abend hatte es ein Gewitter
** gegeben.
Man feierte das Narzissenfest,
das Fest des Friihlings, aber der
Regen hatte die Masken und die
blumengeschmiickten Wagen ver-
trieben, und iibriggeblieben waren
der bedeckte Himmel, die wol-
kenverhangenen Berge und die
illuminierten Orte am Rande des
Sees. Und cben, halbwegs zwi-
schen Territet und Glion, leuch-
tete eine Kirche. Auch der Hebe
Gott hatte illuminiert: den Turm
entlang hatte er Gluhbirnen gezo-
gen zur hoheren Ehre seiner Hei-
ligkeit des Fremdenverkehrs.
Am Sonntagmorgen, als die
Sonne schien, stieg ich hinauf.
Der Berg, ein Paradies der Blu-
men, entsandte einen berauscheri-
den Duft zum Himmel. Weit war
die Sicht, die Dents du Midi
schimmerten im Morgenlichte,
azurn wie er nur noch auf Post-
karten sich darbietet, funkelte
der See.
Auf dem Turm der Eglise Na-
tionale Vaudoise jedoch lautete
ein Mann in blauen Hemdsarmeln
die Glocke: es war Kirchzeit. Mit
B6 Yin Ra
diirfte sich nicht anders nennen, als seine orientalischen Lehrer ihn
bezeichnet haben. Es gibt in westlichen Sprachen keinen Laufcakkord,
der diesen zeitverlangten Ueberzeitlichen bezeichnen kbnnte. Einfiihrungs-
schrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin kostenlos in jeder Buchhandlung
7M beziehen sowie vom Verlag: Kober'sche Yerlagsbuchhandlnn^ Basel
und Leipzig.
156
beiden Armen zog er den Strang,
auf — ab, auf — ab.
Die Kirche selbst aber war
leer.
Schmucklos innen und niich-
tern, dumpf die Luft. Gott wohnt
sehr bescheiden hier oben. Ein
Spruch an der Wand besagt, das
erste commandement sei die Lie-
be zum Herrn dieses Hauses. Et
voici le second, qui lui est sem-
blable: Tu aimeras ton prochain
comme toi-meme.
Mir war ein biBchen weh zu-
mute. Ach Gott, dachte icb, so
einsam und verlassen bist Du
hier? Mitten in diesem Paradiese
der Schonheit ein leeres, dumpfes
Mauerloch, — das ist dein Eigen?
Und Keiner, der dich besucht?
Nur Dekoration Dein Haus, Teil
jener rians paysages, deren Be-
wtinderer eine Tafel auflordert,
wenigstens einen Obolus fur die
Armen zu entrichten? Bist Du
etwa ein ewiger Bonivard, auf
Deinem Chillon gefangen, froh
wie ihn Byron bedichtet hati in
Ketten allein, aber in Schon-
heit . . ,?
So traumte ich im leeren, fah-
len Raum, Da pl&tzlich tonte
eine Stimme. Erschreckt blickte
ich mich urn. Es war die des
Landgerichtsrats Kiinzel aus
Zwickau. Ganz deutlich sagte
sie: Abgefeimter Gotteslasterer
Du!
Da ergriff ich schleunigst die
Flucht. Beinahe hatte ich jeman-
den umgerannt. Es war die stein-
alte Englanderin aus meiner Pen-
sion. Mit Regenschirm und
Schleier kam sie gegangen.
Die Sonne lachte.
Ober Gottes wahrem Tempel :
der Natur. Walther Victor
Monogame Sprachkunde
r^er Jiingling, der an seine Ge-
*^ liebte schreibt: „Meine ein-
zigste Freundin ..." will doch da-
mit nicht sagen, daB er mehrere
einzige Freundinnen habe und daB
nur diese eine von alien einzigen
die „einzigste" sei. Und selbst
wenn er das sagen wollte, selbst
wenn die Dinge sich so verhiel-
ten — sprachlich ist der Aus-
druck auf jeden Fall zu beanstan-
den, von den sittlichen Bedenken,
die gegen diesen Zustand zu er-
heben waren, ganz zu schweigen.
,Der Zeitungsverlag*
Die Notverordnung
gegen die Presse war kaum her-
aus, da erschien im Buchhandler-
borsenblatt ein Inserat folgenden
Inhalts:
Restvorrat (ca. 500 Stuck)
Verfassung
des Deutschen Reiches
Textausgabe
billig abzugeben.
Wilh. Langguth, EBlingen.
Mildernde Umstande
Cin Schiffsheizer lieB sich in
" Ruhrort mit einer Dime ein,
die ihm im Affekt funf Reichs-
mark aus der Tasche stahl. Die
Diebin ist festgenommen worden.
tEcho vom Niederrhein
Hinweise der Redaktion
Berlin
Schayspietertruppe. Freitag 23.00. Deutsche! Kiinstlertheater, Nfirnberger StraBe:
Der frohliche Reichstag von Alexander Weckerle.
Hamburg
Weltbfihnenleser. Freitag 20.00. Timpe, Grindelallee 10—12: Bankenkrach.
Rundfunk
Dienstag. Berlin 15.40: Das europaisierte Bagdad, Armin T. Wegner. — 20.30; Pygmalion
von Bernard Shaw. — Munch en 20 35: Frank Wedekind, Tilly Wedekind, Pamela
Wedekind und Kadidja Wedekind. — Langenberg 20.40: Das neue Gedicht in der
Musik. — Mittwoch. Berlin 20.00: Ein Mensch mit Schallplatten und Bttchern,
Hana Georg Brenner und Ernst Bringolf. — Breslau 21.30: Querschnitt durch
Bernard Shaw von Erich Franzen. — Berlin 22.15: England und die Ab rustling
von Actualis. — Uonnerstag. Berlin 18.10: Zu Unrecht vergessene Dichter, Kurt
Kersten. — 19.10: Das Theater stellt sich urn, Alois Munk und Martin Zickel. —
Muhlacker 19.30: Aus Slings Werk. — Freitag. Berlin 2l.t5: Dichtung und Wirk-
lichkeit, Hermann Kasack. — Muhlacker 21.45: Neue Musik der Nationen. — Sonn-
abend. Berlin 15.40: Zwei Frauen reisen durch die Welt, M. M. Gehrke und Lisa
Matthias. — 18.00: Die Erzahlung der Woche, Georg Schwarz.
157
Antworten
Riidiger Robert Beer. Sie baben soeben eine kleine Biographic des
Reichskanzlers Briining veroffentlicht, die niemand zur historischen
Belletristik zahlen wird. Es sei denn, man leitete Bclletristik nicbt von
belles lettres abf sondern von triste. Da heifit es also einmal zur
Charakterisierung der Beziehungen zwischen Hindenburg und Briining:
nDer Ehrfurcht des Jungern begegnete ein vaterliches Wohlwollen des
alten Herrn, das sich in manchera kleinen Zug auBerte, so, wenn er
spater dem Reichskanzler fiir die ' OstpreuBenreise seinen Pelz, den er
wahrend des Feldzuges getragen hatte, zuschickte, damit er sich nicht
erkalte. Ubrigens ist das nicht nur eine riihrende Anekdote, sondern
auch bezeichnend fiir den Geist preuBischer Sparsamkeit, der in den
hochsten Reichsstellen lebt/' Das walte Gott. Warum hat sich BdB
nicht an die allerhochste Stelle gewandt?
S. Fischer Verlag.. Ihr verschickt einen Prospekt iiber Bernard
Shaws „Wegweiser zum Sozialismus", in dem die Preisangabe „Ge-
heftet 12,50 RM,f in Ganzleinen 16 RM/' tiberdruckt ist durch „Neue
wohlfeile Ausgabe, ungekiirzt, geheftet 6 RM., Ganzleinen 7,50 RM.*\
Das Buch, im Herbst 1*928 erschienen, kostet also plotzlich weniger
als die Halfte! Warum gebt das auf einmal? 1st ein Werk von Shaw
ein so riskantes Objekt, dafi man erst abwarten muB, ob es einschlagt?
Sollen wir von nun ab bei jeder Neuerscheinung erst ein paar Jahre
warten, bis die Volksausgabe erscbeint? Wie sollen wir euern Kalku-
lationen trauen, wenn sie solche Preisstiirze vertragen? Die Krise im
deutschen Verlagswesen beruht auf der Preisfrage. Die Biicher mussen
so billig herauskommen wie irgend moglich, Und zwar nicht erst
nach drei Jahren.
Metro-Goldwyn-Mayer. Neulich haben wir, und nicht nur wir,
uns iiber den widerwartigen Hundedressurfilm beschwert, der im Ca-
pitol herauskam. Nun kiindigt ihr in euerra neuen Produktions-
programm weitere Filme dieser Art an. Es wird so viel von „ge-
schmacksverrohenden" Filmen gesprochen — hier ist einmal ein Fall,
wo uns Protest am Platz scheint.
Amtsgericht Dresden. Du schreibst: „Innerhalb der letzten
Wochen ist in Ihrer Zeitung eine angebliehe Verftigung des Amtsge-
richts Dresden vom 9, Juni 1927 wegen des Ziehens an der Strippe
abgedruckt worden. Ich bitte um Uberlassung eines Stuckes der be-
treffenden Nummer. Der President des Amtsgerichts. gez, (Unter-
schrift.)" Das Zugstuck ist dir inzwischen zugegangen.
Michael Andermann, Elberfeld, Briillerstr. 13. Tel. 35 322. Sie
schreiben: „Kaum ein halbes Dutzend Leser haben sich bisher bei rair
zur Grundung einer Gruppe der wuppertaler Weltbiihnenleser gemel*
det. Wo bleiben die iibrigen?"
Malik-Verlag. Ihr bringt demnachst einen Band ,,30 Erzahler des
Neuen Deutschlands" heraus. Es sollen darin nur solche jungen
Schriftsteller vertreten sein, die sich mit dem Kampf der proletari-
scben Klasse solidarisch wissen. Ihr bittet alle interessierten Autoren,
vor Einsendung von Manuskripten zunachst iiber Thema und Umfang
ihrer Arbeiten zu berichten.
Wer hat an Kurt Tucholsky einen Beitrag „Zehnsassa" ge-
schickt?
Nlanuakripte cud cur an di* Redaktioa der WeltbOhna, Charlottenbu^, Kantst*. 152, m
riditeo: ei wird gebeten. ihneo Ruckporto beixulegen, dm sonst koine Rfickwodung erfolgen kua.
Dae Auf f abrungsrecht, die Verwertung tod Tltelnu- Text tm Rahmen des Film*, die mustk-
mecbanieche Wiederrabe aller Art and die Verwertuna im Rahmen tod Radlevortrlge*;
btelben fur idle In der WeUbubne encbeinenden Beitrage atudHlckllch Torbeaatteo,
Die Weltbflhn. worde begrflndet voo Siegfried J«cob»ohn nod wird von Cart *. Oeejetek*
untat Mitwirkuor von Kurt Tudioleky geteitet — Veimntwortlidt: C«H v. Ouletaky, Berb*j
Verlag der WeUbubne, SfwrHed Jecobeotm A Co* Cbarlettenbere,
Telephon: C I Steinplata 7757 - Po»tsd»Akonto: BerHn U95fc
Baokkooto. Dann»t*dler a. Nationalbank, DepojitcnkAwe Ouuiottenburg. KaaUb. IU
XXVII. Jtbrgtng 4. August 1MI Hummer 31
Briining und sein Ruhm von cart v. ossietzky
Legende
P in Herr Riidiger Robert Beer hat eine Schrift uher den
Reichskanzler Briining herausgegeben, die wir vorige
Woche mit einem kleinen heitern Licht gestreift hatten. Wir
glaubten dabei nicht, daB es notwendig sein wurde, auf diese
ganz unwesentliche Arbeit, die sich durch nichts auszeichnet
als durch Wichtigtuerei und falsche Biederkeit, nochmals zu-
ruckzukommen. Inzwischen hat sich gez^igt, dafi auch Herr
Beer seine Bewunderer hat und daB auch ein liberal-demokra-
tisches Blatt wie die frankfurter Zeitung', urn ihrer Sympathie
fiir Briining Ausdruck zu geben, sich einer Interpretation be-
dient, die in ihrer psychologischen Hilflosigkeit und ihrer po-
litischen Verwaschenheit kaum anders als komisch genommen
werden kann. Es handelt sich nicht um Herrn Beer, einen
jungnickelnden Stilisten, sondern um den yon ihm Biographi-
sierten und seine Verehrer.
Schopenhauer hat sich einmal iiber die Kathederphiloso-
phen lustig gemacht, fiir die die Weisheit des Sokrates, die
uns doch nur in Anekdoten iiberliefert wird, ein Axiom ist,
Wir haben es augenblicklich mit einem ahnlichen Axiom zu
tun: das ist die Staatsweisheit des Herrn Doktor Briining. Herr
Beer zitiert ein Wort des Pralaten Kaas, der durch Krankheit
behindert, aber wohl auch in dem Gefuhl, daB ein katholischer
Kleriker fiir die hochsten politischen Reichsamter nicht geeig-
net ist, in den letzten Jahren immer mehr zugunsten Briinings zu-
riickgetreten ist: ,,Ich habe ihn systematisch in die vordere Reihe
geschoben, weil ich in ihm eine Synthese zwischen Denken und
Handeln entdeckte, wie man sie ahnlich vielleicht nur bei den
Staatsmannern dcr alten Griechen findet." Und Herr Rudoll
Kircher, der berliner Botschafter der (Frankfurter Zeitung',
der das kiimnierliche Dekokt des Herrn Beer ernst genug fin-
det, um sich in mehr als acht Spalten unterm Strich dariiber
zu verbreiten, meint: „In der Person Briinings hat sich das
Deutschtum wieder auf die Eig«nschaften besonnen, die uns
im offentlichen Leben unter Wilhelm, aber auch im Jahrzehnt
der Parteidemagogie, fast aus den Aug en entschwunden waren."
Und weiter: nIhm fehlen die gewohnten Interpretationismittel,
sei es wilhelminischer, sei es demokratisch-demagogischer
Art.'* Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, mit welcher Selbst-
verstandlichkeit hierin einer der letzten biirgerlich-demokra-
tischen Bastionen Demokratie gleich Demagogie gesetzt wird.
Auch wir schatzen an demKanzIer die Schlichtheit, die unper-
sonliche Art, hinter seinem Amt zu verschwinden. Aber in der
Politik kommt es schlieBlich nicht darauf an, ob ein Minister
beim Scheideh von seinem Amt nur den einen Handkoffer mit-
nimmt, den er ins Haus brachte, sondern ob er ein Staatsmann
geworden ist und was er an staatsmannischen Fakten hinterlaBt
Ginge es nach der Einfachheit der Lebensfiihrung und dem
Verzicht auf die Annehmlichkeiten des Daseins allein, so ware
i 159
der trostlos tugendhafte Robespierre der segensreichste aller
Regierer gewesen, was die Frankfurterin, deren altes Sonne-
mannsches Geruchsorgan plotzlich gegen demokratisch-dema-
gogische MiBdiifte so empfindlich geworden. ist, gewiB nicht
zulassen mochte. Es ist wohl aller Ehren wert, wenn Herr
Bruning den. nicht verbrauchten Teil seines Gehaltes an die
Reichskasse zuruckverweist, aber politisch bedeutsamer ware
es, wenn er sein Geld behielte und dafiir durch eine Notver-
ordnung weitere Auszahlungen an die abgefundenen Fiirsten
verhinderte. Das ist der alte Trick, der Dreh mit dem ,,rein
Menschlichen", vor eine hochst anfechtbare Politik die hochst
unanfechtbare Person des Verantwortlichen zu stellen. Nir-
gends hat Bruning bisher Staatsmannstum gezeigt und bewahrt.
Seine Notverordnungen sind nach den primitivsten kapitali-
stischen Rezepten hergestellt, hohe Steuern, niedrige Lohne.
Seine Innenpolitik bedeutet den Anbruch neuer Kulturreaktion,
das Ende der Versammlungs- und Pressefreiheit, Seine AuBen-
politik den Beginn des sogenannten Aktivismus, die traurige
Episode der Zollunion. Unter dies em Kanzler ist in fiinfzehn
Monaten viel gesch^hen — aber wo hatte er Initiative, wo
schopferische Kraft gezeigt? Hat er seine diktatorischen Be-
fugnisse gebrauchtf um auch nur einem einzigen MiBstand zu
Leibe zu gehen? Brunings Ruhm — das ist die Hoffnung des
politisch und wirtschaftlich lahmgepriigelten Biirgertums, der
Mann, der »es aus seinen verfassungsmaBig garantierten Freihei-
ten vertrieben, unter dessen tatenloser Anwesenheit seine oko-
nomischen Positionen in Stiicke geschlagen wurden, werde
ihm wenigstens ein bescheidenes kapitalistisches Altenteil
sichern.
„Er kam nicht ins Amt, um zu diktieren. Er kam mit einer
parteipolitischen Idee, die sich nicht verwirklicht hat/' So
Herr Kircher, ohne sich leider iiber diese Idee naher zu auBern,
Etwas deutlicher wird. schon Herr Beer, wenn er die Pro-
grammrede Stegerwalds vom essener KongreB der Christlichen
Gewerkschaften im Jahre 1920 erwahnt. In dieser Rede for-
derte Stegerwald „an die Stelle der formalen westlerischen
Demokratie die organische Demokratie der Selbstverwaltung
zu setzen", Damals war Briining der Famulus Stegerwalds,
und im ,Deutschen hat er diese.Aoschauungen spater oft ver-
treten. Das Gedachtnis der Menschen und besonders jener,
die die Zeitungen schreiben, ist schwach. Sonst wiirde doch
irgend jemand Artikel aus jener Zeit wieder ausgraben, in de-
nen zu lesen war, daB dies Programm Stegerwalds den ersten
Versuch in der Zentrumspartei darstellte, wieder in die alten
reaktionaren Bahnen ziuruckzugehen, die schroMe Absage an die
Erzbergerpolitik der ersten republikanischen Jahre. Wenn Herr
Bruning einem Programm treu gewesen ist, dann diesem. Mit
verschrankten Armen hat er von April bis September 1930
zugesehen, wie der Wahlkampf ausschlieBlich gegen Links,
gegen die Arbeiterschaft gefiihrt wurde, gegen Erfiillungspoli-
tik und Volkerbund, gegen Sozialpolitik, gegen Gedankenfrei-
heit und Menschenrechte. Auf alle Apostrophen, sich doch
endlich zu auBern, ob er das Biindnis mit Hugenberg und
Hitler wolle oder nicht, hat er geschwiegen. Damit ist er
160
zum Wegbereiter des reaktionaren Triumphes vom 14. Sep-
tember geworden, zum Mit ver ant wort lichen fiir das Unheil,
das seitdem iiber Deutschland hereingebrochen ist, Wenn etwas
in dieser Zeit gelungen ist, so die Beseitigung der t1formaleti
westlerischen Demokratie", die ubrigens schon friiher nicht
allzu iippig ins Kraut geschossen war. Hier ist an die Stelle
der verfassungsmaBig verbrieften Garantien biirgerlicher Frei-
heit die ganz unformale und gar nicht westlerische Polizei
getreten. Die „organische Demokratie der Selbstverwaltung"
wird dagegen wohl noch etwas auf sich warten lassen, Denn
einstweilen gibt es nichts zu verwalten als die Pleite.
Der Reichskanzler Briining hat wenig bewirkt, aber viel
zugelassen. Wenn sein Ruf als AuBenpolitiker trotzdem zu-
sehends wachst, wenn Beer sogar in der Lage ist, enthusia-
stische Auslandsstimmen zu zitieren, so hat das einen recht
prosaischen Grund. In Deutschland haberi sich in diesen Jah-
ren so viele larmende Hanswurste vorgedrangt, das ein ernst
aussehender Mann, der wenig spricht, schon als ein Genie an-
gestaunt werden mufi. An wen soil sich das Ausland halten?
An Schacht oder Bang? An Seeckt? Zwischen randalieren-
den und ahnungslos herumspielenden Halbwiichsigen erwacht
das Verlangen nach einem Erwachsenen. AuBerdem halt man
einen katholischen Politiker niemals fiir ganz dumm. Erst
wenn die Phantasten, die Katastrophen-Spezialisten, etwas zur
Ruhe gekommen sind, wird die Stimme des AuBenpolitikers
Briining vernehmbar werden. Aber erst dann wird sich auch
ein Urteil fallen lassen. Bis jetzt mahnen die innenpolitischen
Folgen der Kanzlerschaft Briinings zur Vorsicht. Wenigstens
uns, die wir nicht iiber das virtuose seelenkennerische Riist-
zeug von Beer und Kircher verfiigen, infolgedessen auch nicht
iiber deren unbegrenztes Vertrauen.
Politik ohne Geld
Als vor drei Wochen die Danatbank zusammenkrachte,
senkte sich auf das allgemeine Entsetzen ein merkwiirdiges
trostendes Gefiihl nieder, die Ahnung, dafl die Aera des Kapi-
talismus vorbei ist, daB es auf den Besitz des Einzelnen nicht
mehr ankommt. In den Galgenhumor mischte sich die Hoff-
nung auf ein Neues, ein Unbekanntes. Die Menschen hatten
es weniger im BewuBtsein als in den Nerven, daB dieser gigan-
titsche Klotz: die Wirtschaft, der ihnen sonst jede Minute ihrer
Existenz diktierte, plotzlich gesprungen war, daB er seinen
Schrecken verloren hatte.
.War dies Gefiihl nicht berechtigt? Flikhtete nicht die
Grofimacht iWirtschaft, die bisher bei jeder Gelegenheit ihre
Superioritat mit einer Intoleranz ohnegleichen betont hatte,
unter die abgeschabten RockschoBe des sonst immer in die
Ecke gedrangten Staates? Seitdem hat der Staat sehr viele
Findelkinder aufnehmen miissen. Die groBte sach&ische Bank
hat sich mit der Staatsbank vereinigt; Mtetm sich auch die
Schriftigelehrten im Augenblick noch nicht einig sind, welchem
Institut es am schlechtesten ging, so besagt dooh die Entschei-
dung der Privatbank, daB sic den Staat fur kein Bankrott-
161
unternehmen halt, Und wahrend diese Zcilen geschrieben wer-
den, sind die iMeldungen noch nicht dementiert, dafl das Reich
in jdie Dresdener Bank einziusteigenbeabsichtige. Wir stehen am
Anfang einer neuen Entwicklung. Erst nach Einfiihrung des
vollen Zahlungsverkehrs ward sidh ein ttberschlag iiber den
Stand der Wirtschaft mac hen lassen. Die gegenwartige Dunkel-
heit verhindert nioht nur das Seben, sondern auch den Griff in
eigne oder fremde Tasohen. Bald ward es tagen, und bei hellem
Tageslicht ward der Kapitalismus furchterlich aussehen. Ein
bleiches, ausgehohltes Gespenst, dem die Haut grau und runzlig
um die diirren Oieder schlotteirt. Ein Fresser, der plotzlich
auf Wasser und Brot gesetzt ist und zusehends verfallt. Fiir
den deutschen Kapitalismus ist der 13. Juli das geworden, was
der 14. September fiir die deutsche Demokratie gewesen ist.
AJber so wie Hitler den Tag nach dem 14. September ver-
saumte und damit eine Gelegenheit, die niemals wiederkehren
ward, so verpaBt der Staat heute die Stunde, den Kapitalismus
fiir immer unter seine Hoheit zu bringen, das generationenlange
Duell zwiscben Staat und Wirtschaft mit seinem endgiiltigen
Siege zu beenden. Alles was die Regierung unternimmt, lauft
darauf hinaus, sie zu pappeln, zu sahieren. Aber dieser
Patient ward niemals mehr gesund werden.
Was wirklich los ist, hat die offentliche Meinung viel
besser in den Fingerspitzen. Wer beachtet noch die poltern-
den Kundgebungen der Schwerindustrie? Wo liest man noch
etwas von t,freier Wfrrtschaft", „privater Initiative"? Wo noch
die altgewohnten Deklamationen gegen die offentliche Hand?
Welches Blatt zitiert eigentlich noch die ,Bergwerkszeitung\
die .Borsenzeitung1 oder die , Deutsche AUgemeirie Zeitung',
die gestern nooh so pomp 6s en Herolde des kiassenbewuBten
Unternelhmertums? Diese schwergepanzertenlndustriemoniteure
wirken vorgestrig, und auBerdem sind sie reichlich kleinlaut
geworden. Die ge stern noch wie Bliicher iibern Rheiri wollten,
wart en nun ganz! klein und haBlich auf den pariser Pump.
Was wir jetzt in Dieutschland erieben, diese Kirchhoifsruhe,
dieses hofliche Schwieigen auoh der wildest en Parteien, ist
etwas iganz Einzigartiges. Die Parteien haben kein Geld, und
damit hort auch die Politik' auf. Wenn man Sozis oder Reichs-
bannerleute fragt, warum sie nicht s gegen den Stahlhelm unter-
nehmen, so antworten sie resigniert, wir haben kein Geld.
Fragt man die Stahlhelmleute, warum die Agitation fiir den
Volksentscbeid so gemachlich betrieben werde, so heiBt es
auch hiear achselzuckend: Kein Geld! Dasselbe wird man horen,
falls das Referendum fehlschlagt. Hugenberg selbst, der alte
Gherusker, schaut sinnend auf sein Barenfell, denn auch er sitzt
bei der Danatbank fesU Hitler, der Brecher der Zinsknecht-
schaft, ist stillgeworden, seitdem Lahusens keine Wolle mehr
kammen und seitdem seine andern Mazene ihr biBchen Geld
lieber zum Einkauf von Lebensmitteln verwenden, was ent-
schieden verniinf tiger ist. Und die K.P.DM die revolutionare
Partei, die seit Jahr und Tag Bastillen stiirmt und Systeme an
der Wurzel packt? Sie denkt nicht im Traum an Revolution.
Sie beteiligt sich lieber am Volksentseheid, einer streng legalen
162
Sache, um die Energie ihrer Aktivsten zu beschaiftigen. Ein
Ablenkungsmanover; Getose ohne Kampf.
Es 1st kiein Geld da, <und deshalb stagniert auch die Poli-
tik. Wo die Herren vom Bau notgedrungen agieren, tun sies
wie Schauspieler aui der Probe: sie bleiben in der Alltags-
kleidung und schonen die Stimme; sie markieren. So wird mit
seltener Eindiringlicheit eine ungeheure Kluft siohtbar: hier die
Parteiapparate, die mangels Betriebsstoff ruhen, hier das Volk
mit seinen Sorgen, mit seiner Emporung, mit seiner Not, die
keine Pause kennt.
Aber, gesetzt, es kam>e morgen wieder Geld ins Land —
dieser Augenblick diirfte fiirchterlich werden. Wenn erst die
Kredite des Erbfeindes hereinstromen, dann fahrt neuer Le-
bensmut in die Verzagten. Dann aber: Licht ausfi Mlesser raus!
Die Parteiapparate fangen an zu gltihen und zu brodeln wie
delirierende Wurstkessel. Sie speien wieder FlugibJatter, Re-
den, Scnlagzeilen. Die Hetmannsschlacht respective Volks-
r evolution respektive Kampf fiir respektive gegen die Republik
setzt mit ungeahnter Vehemenz ein. Aber erst muB wieder
etwas Geld da sein.
Pressechef verkundet die Autarkie
Zwei englische und ein amerikaniscber Minister sind in
Berlin gewesen und wieder abgereist. Laval wird nach Berlin
kommen, BriinLng und Curtius werden nach Rom ifahren. In der
AuBenpolitik, die noch vor einiger Zeit eingefroren schien,
herrscht totale Mobilmachung, Dennoch weiB man nicht rechti
zu welchein Ende, und vor allem weiB man nicht, was die
Reichsregierung Will Welches sind ihre Plane? Niemand
kann dartiber Genaues sagen, und ziemlich sicher 1st nur, daB
starke Krafte in der Reichsregierung der Verstandigung mit
Paris widerstreben.
In dieses etwas wirre Ratselraten fallt plotzlich ein Licht
von Oben. Die Reichsregierung selbst ist es, die in. einer an
die ,B.Z, amMittag' gesandt en Entgegnung aui Grund der Not-
verordnung ,,zur Bekampfung der politischen Ausschreitungen"
ihre aufienpolitische Linie zu definieren sucht. Die politische
Ausschreitung des Blattes besteht darin, das unterstutzt zu
haben, was von wohlwollenden Beurteilern fur die Politik der
Reichsregierung gehalten wird.
Die fi.Z.' mag sich ungeheuer gewrundert haben, als ihr
so unvermittelt attestiert wurde, daB sie Sicherheit und Ord-
nung gefahrde. In Wahrheit hat sie der Regierung einen Ge-
fallen erweisen wollen, indem sie sich gegen unberufene
nationalistische Ratgeber wandte; f,Man kann sich des Ein-
drucks nicht erwehren, daB gewisse Kreise den Ausgang der
Londoner Konferenz und die Tatsache der augenblicklich nicht
bestehenden Anleihemoglichkeiteh dazu benutzen wollen, die
vom Reiohskanzler in Paris und London angebahnte deutsch-
iranzosische Annaherung als uberflussig hinzustellen und da-
mit zu sabotieren," Die Entgegnung des Berrn MinisteriaJ-
direktors Doktor Zechlin, der sich als Pressechef nun wohl als
unser aller Vorgesetzter fuhlt, schwingt sich ganz gemutlich dar-
2 163
ufber hinweg, daB die ,B.Z.' ja nur „gewdsse Kreise" beschul-
digt, solche Auffassungen zu vertreten. Er verteidigt schlank-
weg die gar nicht angegriffene Regierung: „Die Reichsregie-
rung treibt keine ,Prestigepolitik' auch nioht Frankreich gegen-
tiber." Niemand hat das foehauptet. „Die fur eine (Dteutschland-
Anleihe geforderte Staatsgarantie Frankreichs, Englands und
Amerikas ist in keiner Weise zu erhalten. Die Ausfuhrungen
der ,B.Z. am Mittag* gefahrden daher den Willen des deutschen
Volkes ziua- Selbsthilf e und schwachen das Vertrauen auf seine
eigne Kraft, durch das in diesen Zeiten allein die tfberwindung
der Wirtschaftsnote moglich ist."
Die tiberraschung uber diese Art von Zwangsentgegnung
war ungeheuer, Auffallig genug ist es, wenn ein Blatt, das der
Regierung nach Kraften zu sekundieren sucht, derartig geruifelt
wird; auch der ,B6rsencourier\ der in der -Regierung Br lining
so ziemlich das Erlesenste seit Bismarck sieht, hat wegen einer
andern Sache einen WSscher bekoramen. Handelt es sich hier
nur urn die iMlachtgeluste eines Pressechels, der sich als
Pressevogt fiihlt, oder wunscht die Regierung nicht die Unter-
stutzung von Slattern die zur Verstandigung mit Frankreich
raten? Der zweite Punkt ist ernster. Denn es ist die eigne
Sache der betroffenen Zeitungen, wenn ihre glaubige Beflissen-
heit enttauscht wird, das andre aber ist ein Politicum ersten
Ranges. Bisher wenigstens muBte man der Meinung sein, daB
die „ Selbsthilf e" die Bemuhungen um eine langfristige Anleihe
nicht ausschlieBe und nur der notwendigsten innern Balance
zu dienen habe. Der Herr Pressechef jedoch unterstreicht das
Vertrauen auf ft eigne Kraft, durch das in diesen Zeiten allein
die Oberwindung der Wirtschaftskrise moglich ist". Das ware
doch ein offenes Bekenntnis zur sogenannten Autarkie, und
man versteht nicht recht, warum danach noch Unterhandlungen
mit Laval und Mussolini no tig sein sollen. Es ist ja alles in
Ordnung, Wir ersetzen ein Mittagessen durch stramme Haltung.
Von vornherein haftete der Regierung Bruning eine fat ale
auBenpolitisohe Zweideutigkeit an, die der Kanzler erst
ijungst beseitigt hat. Soil dieses gefahrliche Spiel von neuem
beginnen? Pariser Blatter schreiben bereits, die Reichsregie-
rung verbreite die Meinung, daB sie von Frankreich selbst
gegen politische Garantien keine Kredite erhalte. Es muB
schnell und eindeutig geklart werden, ob der Herr- Reic'hs-
pressechef als Interpret offizieller Meinungen autgetreten ist
oder ob er in eignen Improvisationen geschwelgt hat. Seit
1918 stand es niemals gut um Deutschland, wenn wir naus eig-
ner Kraft" und , .allein" fertig werden wollten. Auch ohne
toridhte Experimente werden die naohsten Monate schwer ge-
nug werden. Die Autarkie fiihrt die Kohlriibe im Wappen, Das
stolze ,,Allein" heiBt: allein verkiimmern, allein verhungern.
Der Reichskanzler mag nicht so grofi sein wie sein Ruhm, aber
er wird klug genug sein, um zu wissen, daB kein Staatsmann
mehr d«m Volke das grauenhafte Opfer einer selbstgeschaffe-
nen Blockade auferlegen kann, die, wie Dreiundzwanzig, mit
einer elenden und bedingungslosen Kapitulation enden muB.
Der nachste verlorene Ruhrkrieg wird ganz Deutschland in
Brand stecken. Illusionen dariiber, Herr Pressechef, gefahr-
den Sicherheit und Ordnung.
164
Die Schuldigen strafen von Kurt inner
FJas Palladium der Demokratie ist die Pressetreiheit. Der
Revolutionar begreift, dafi Leiter cines revolutionaren
Staats sich gezwungen sehn, die Pressefreiheit voriibergehend
aufzuheben, um die werdende neue Ordnung zu schiitzen vor
Attacken der alten Machte; niemals aber kann erhaltenden
Verwaltern des Alten das Recht zugestanden werden, die
Funktion der Kritik an ihren eignen Handlungen, diese wich-
tigste Funktion des Volkskorpers, zu hemmen und zu unter-
brechen. Die Notverordnung vom 17. Juli bedeutet eine solche
Funktionshemmung. Der schwer erkrankte deutsche Volks-
korper wird mittels dieser Therapie nicht zur Gesundung ge-
bracht werden; im Gegenteil, neue Eiterherde mtissen sich
bilden, die Fieberkurve muB steigen. Wer seiae Nation liebt,
ist ihr verpflichtet, das auszusprechen — in Ruhe und auf
jede Gefahr hin.
Paragraph 1 der Verordnung enthalt Berechtigtes. Der Re-
gierung soil Redefreiheit zustehn in alien Zeitungen und Zeit-
schriften. Wozu ware eine Regierung schlieBlich Regierung,
wenn sie nicht die Moglichkeit haben sollte, sich samtlichen
Lesern des Landes zu offenbaren; wenn sie nicht die Macht
haben sollte, MiBverstandnissen und Liigen iiberall entgegen-
zutreten, wo sie auftauchen: also rechts, links und in der Mitte.
Unser offentliches Recht enthielt hier eine Liicke; die Not-
verordnung beseitigt sie. (Nicht ohne Schonheitsfehler.)
Ganz anders Paragraph 2, Hiernach konnen Druckschrif-
ten beschlagnahmt, eingezogen und, falls es periodische sind,
bis zu sechs Monaten verboten werden, ,,wenn durch ihren
Inhalt die offentliche Sicherheit und Ordnung gefahrdet wird".
War je ein Rechtssatz Kautschuk, dann dieser I Was heiBt
Sicherheit, was Ordnung, was Gefahrdung? Mag der Satz
theoretisch und nach den beschwichtigenden Erklarungen so-
zialdemokratischer Wurdentrager das Harmloseste bedeuten:
praktisch bedeutet er unzweifelhaft, daB die Regierung jede
ihr unbequeme Meinung unterdrucken, jede ihr unangenehme
Kritik verhindern kann. Die Regierung — das heiBt nicht nur
die mittelparteiliche Reichsregierung der Gegenwart, sondern
auch eine ihr etwa nachfolgende nationalistische; nicht nur die
Reichsregierung, sondern auch die Landesregierungen, unter
denen sich ja heute schon ausgesprochen reaktionare befin-
den. Triumph des ,,Ermessens"; Triumph derWillkiir; (auch
gegen Biicher). Am Boden liegt: der freie kritische Geist.
Dieser Zustand ist Vollblut-Fascismus. „Warum denn nicht ?**"
darf einer fragen. Gut. Aber wer in Verteidigung dieses Re-
gimes auch jetzt noch behaupten wollte, es sei Demokratief
der loge,
Zu den Artikeln der Reichsverfassung, die laut Artikel 48
auBer Kraft gesetzt werden konnenf gehort jener Artikel 118,
der das Recht der freien MeinungsauBerung statuiert. Er kann
dann auBer Kraft gesetzt werden, „wenn im Deutschen
Reiche die offentliche Sicherheit und Ordnung erheblich
gestort oder gefahrdet wird". Wird sie das zurzeit? Mag sein.
165
Aber wer hat sic denn gefahrdet, die offentiiche Sicherhcit und
Ordnung? Wer ist denn schuld an dieser Unruhe im Volk,
an diesem plotzlichen Schwund alien Vertrauens, an diesen
Zusammenbriichen? Man soil Schuldfragen nie uberbetonen;
man soil der Abhilfefrage immer den Vorrang lassen vor der
Schuldfrage; aber vernachlassigen darf man die Schuldfrage
auch nicht. Jene Not, mit der sich die Verordnung rechtfer-
tigt, entstand vor allem durch Zuruckziehen auslandischer Kre-
dite in beispiellosem Umfang, und dies Zuruckziehen beruhte
auf einer Nervositat, die ihrerseits erzeugt war durch den
neuen Kurs der deutschen Politik, den man als bedrohlich
empiand. Die Konzessionen an den Nationalismus; der zweite
Panzerkreuzer, in keinem realen Bediirfnis dieser verarmten
Nation begrtindet; die Zollunion, von der das Gleiche gilt; das
Dulden unverblumter Kriegshetzreden, von Stahlhelmhaupt-
lingen nicht nur, sondern auch beispielsweise des Volkspartei-
lers Seeckt — diese Taten und Unterlassungen der Reichs-
regierung Iiefien im Ausland das MiBtrauen entstehen, das
zur Zuriickziehung der Gelder fiihrte. Und wenn nicht nur
das ausland Lsche, wenn auch das Kapital deutscher Kapita-
listen milliardenweise iiber die Grenzen floh, so ist es wieder-
um die Reichsregierung, die gesetzliche Vorkehrungen da-
gegen zu treffen straflich verabsaumt hatte. Da8 Vorkehrun-
gen gegen die Kapitalflucht moglich sind, beweist die Verord-
nung, die man zu spat erlieB. (Es gabe iibrigens, freilich nur
durch Abmachungen mit einigen auslandischen Staaten, die
Moglichkeit drastischerer und wirksamerer MaBnahmen!)
Die Fehler der Regierung selbst sind es also, die ,,im
Deutschen Reiche die offentiiche Sicherheit und Ordnung er-
heblich gestort oder gefahrdet'* haben; und wenn eben jene
im eminentesten AusmaB an dem Zustandt der herrscht, schul-
dige Regierung sich fur berechtigt halt, unter Berufung auf
diesen Zustand die offentiiche Kritik an ihren Taten zu unter-
binden oder auch nur einzuschranken, so wird darauf zu ant-
worten sein, daB solche AnmaBung einiger vielleicht wohl-
gesinnter, aber nachweislich unfahiger Herren fiir die Nation in
dieser Stunde untragbar ist/ So sehr der anstandige Publizist
mit jeder Bemiihung sympathisieren wird, die offentiiche Kri-
tik zu entgiften, das bosartig-leere Schimpfen, die Falschung
und die Verleumdung aus der Presse zu rotten, so wenig kann
und darf er doch <hinnehmen, daB just unter den Schuldigen
einer Katastrophe eine Orgie des Mangels an Selbstkritik aus-
bricht und daB sie, anstatt sich personlich zu geifieln^ fiir die
eignen Siinden die Andern strafen: mit Redeverboten; mit
Exist enzvernichtungen. Eingeraumt, daB in Notzeiten Fuhrer
der Nation tabu sein sollen — so konnen doch Minister nicht
deshalb als Fuhrer gel ten, weil sie grade Minister sind; und
erweist sich, was hier erwiesen ist: daB eine Regierung, und
seis auch blofi durch ihre Unf ahigkeit, die Nation aufs schwerste
geschadigt hat, dann rechtfertigt sich vielleicht, daB die Nation
ihr, aber niemals, daB sie der Nation den Mund verbietet. Wir
vermissen in dieser Verordnung gegen die Freiheit des Schrift-
tums wenig er die Demokratie als die Scham; hier in sind wohl
rechte und linke Opposition! einig.
166
Linke Sozialdemokraten und SowjetruBland
von Fritz Sternberg
Qis zum Hcrbst des vergangenen Jahres war cine fast ein-
heitliche Stellung der deutschen Sozialdemokratie zu
SowjetruBland festzustellen: der nahende Untergang des
Systems wurde zum hundertsten Male prophezeit, die Bericht-
erstattung war vollig tendenzios, nur die Fehlschlage wurden
gemeldet, dazu vielfach iibertrieben; der sozialdemokratische
Arbeiter, der sich uber SowjetruBland informieren wollte, griff
darum haufig zur biirgerlichen Presse, da er der eignen nicht
traute. Denn — das war einheitlich in ganz Deutschland fest-
zustellen — t der grofiere Teil der Arbeiter, auch der sozial-
demokratischen und freigewerkschaftlich organisierten, stand
Ietzthin bejahend zu all dem, was sich in SowjetruBland er-
eignete. Mochte er auch im einzelnen an manchen MaBnah-
men zweifeln, insgesamt sagte er sich: die Bolschewiki haben
den Krieg beendigt, und zwar haben das die Arbeitermassen
getan, wahrend die herrschenden Klassen weiter Krieg fiihren
wollten. Sie haben sich einen eignen Staat gebaut und sind
dabei ohne fremdes auslandisches Kapital ausgekommen. Sie
sind seit fast einem halben Menschenalter am Ruder und fiih-
ren die. Wirtschaft ohne Kapitalisten, ohne Unternehmer. Das
sind Tatbestande, die keine noch so raffinierte Argumentation
dem sozialdemokratischen Arbeiter hinweginterpretieren
konnte, denen sich aber gleichzeitig linke fuhrende Kreise
der Sozialdemokratie immer schwerer entziehen konnten.
Otto Bauer, der nicht nur der Fuhrer der osterreichischen
Sozialdemokratie ist, sondern eine gewichtige Rolle in der
Zweiten Internationale spielt, hat vor kurzem den ersten Band
einer Schriftenreihe publiziert, die den Kapitalismus und So-
zialismus nach dem Weltkrieg behandeln solL Uns interessiert
in diesem Zusammenhang nur das letzte Kapitel iiber das heu-
tige RuBland, Otto Bauer beweist in diesem Buch person-
lichen Mut, er scheut sich nicht, seine friihern Ausfiihrungen
iiber RuBland vollig zu revidieren. Vor zehn Jahren bei der
Einfiihrung der sagenannten Nep-Politik hatte er geschrieben;
,,Es ist eine kapitalistische Wirtschaft, die wir so wieder-
erstehen sehen, eine kapitalistische Wirtschaft, die von der
neuen Bourgeoisie beherrscht wird, die sich auf die Millionen
Bauernwirtschaften stiitzt und der sich die Gesetzgebung und
die Verwaltung des Staates notgedrungen anpassen miissen."
Hatte er also damals angenommen, daB sich in RuBland infolge
seiner industriellen Zuriickgebliebenheit der Kapitalismus wie-
der entwickeln miiBte, so hat er in den zehn Jahren, die auf
den Nep foLgten, umgelernt Es heiBt bei ihm, um nur einige
wesentliche Stellen zu zitieren:
Aber so ungeheuer groB diese Gefahren sind — je weiter die
Period e, innerhalb derer der Fiinfjahrplan durchgefuhrt werden soil,
fortschreitet, desto eher erscheint es doch denkbar, daB die Sow jet-
union durch die Zone der groBten Gefahr unerschtittert hindurch-
kommen, dafi sie das mit dem Fiinfjahrplan gesteckte Ziel an-
nahernd erreichen wird * . . Aber wenn die Volker der Sowjetunion
die Zeit der Entbehrungen, die der Fiinfjahrplan von ihnen heischt,
', 167
noch ungefahr zwei Jahre „durchhalten'\ dann wird das Ziel des
Plans, wenigstens auf industriellem Gebiet, annahernd erreicht
werden,
Wenn abcr der Plan auf industriellem Gebiet gelingt, so
bleibt die Wirkung naturlich nicht auf die Industrie beschrankt,
und so gibt Bauer folgende Perspektive der Entwicklung:
Wird die Industrie den Bauern die Industrieprodukte liefern
konnen, die sie brauchen, werden die Bauern ftir sie Agrarprodukte
austauschen; so wird auch die Lebensmittelversorgung der Stadte all-
mahlich verbessert werden konnen. Zugleich wird auch die Waren-
ausfuhr der Sowjetunion steigen. Die sehr starke Entwicklung der
Kunstdiingerindustrie in der Sowjetunion wird es ermoglichen, die
Bodenertrage bedeutend zu erhohen; die Sowjetunion wird daher
ihren Getreideexport vergroBern konnen. Aber auch manche von den
neuerrichteten Industrien werden einen Teil ihrer Erzeugnisse im
Ausland absetzen. Je mehr die Sowjetunion ihre Ausfuhr zu ver-
groBern imstande sein wird, desto mehr Arbeitsmittel und Ver-
brauchsguter wird sie aus dem Auslande zur Versorgung ihrer Be-
volkerung einfiihren konnen* All das wird zusammenwirken, die Not
allmahlich zu tiberwinden.
In dem Mafie, als die Lebenshaltung der Volksmassen wird ge-
bessert werden konnen, wird die terroristische Diktatur liberfliissig
und abgebaut, das Sowjetregime demokratisiert werden konnen. Wenn
die Diktatur, die liber den staatlichen Produktionsapparat verfiigt,
von einer Demokratie der werktatigen Massen abgelost wird, wird aus
dem Staatskapitalismus der Diktatur eine sozialistische Organisation
der Gesellschaft.
Der letzte Abschnitt ist besonders bedeutsam, Hier wird
von einem fiihrenden Sozialdemokraten direkt gesagt, da8 die
Diktatur in SowjetruBland nur ein Obergangsstadium ist und
dafi sie beim weitern Fortschritt in der industriellen und land-
wirtschaftlichen Produktion abgebaut werden wirdv Das Buch
Otto Bauers, die positiven Ausfiihrungen des Vorsitzenden der
Zweiten Internationale Vandervelde iiber RuBland (die bezeich-
nenderweise im ,Vorwarts' nicht gedruckt wurden) sind auf die
deutschen linken Sozialdemokraten nicht ohne Wirkung ge-
blieben, zumal auch in der Ffihrerschicht, die sich um Seyde-
witzs tKla«senkampf gruppiert, eine immer positivere Haltung
zu SowjetruBland festzustellen ist. Der Reichstagsabgeordnete
Engelbert Graf, einer der Neun, die gegen den Panzerkreuzer
gestimmt haben, hat vor kurzem eine Broschiire veroffentlicht,
„Die Industrialisierung der Sowjetunion", die den Ausfiihrun-
gen Bauers durchaus zustimmt. Graf wendet sich dort aus-
driicklich gegen die „parteipolitische Verzerrung", die den so-
zialdemokratischen Arbeiter oft daran hindere, sich ein wah-
res Bild von SowjetruBland zu machen. Er betont weiter:
Es ist unter der politischen Leitung der Bolschewiki in RuBland
ein wirtschaftliches System erwachsen, das seine erste Feuerprobe be-
standen hat.
Er zieht aber auch indirekt aus dieser seiner Stellung zu
RuBland Schliisse fur Deutschland. Ich zitiere den ganzen
Abschnitt (iber den bolschewistischen Aufbau:
Nirgends war der technische und organisatorische Apparat von
Handel und Industrie so radikal zerstort wie in RuBland. Und sein
Wiederaufbau gelang ohne Zuziehung des privatkapitalistischen Unter-
nehmertums. Wie? Calt das nicht als nationalokqnomische Selbst-
168
verslandlichkeit, gradezu als wirtschaftspolitisches Dogma in Mittel-
<ind WesteUropa, daB eine zusammengebrochene Wirtschaft nur durch
die Initiative des kapitalistischen Unternehmers zu sanieren sei? Hat
man nicht damit bei uns den Ruf nach der Sozialisierung ubertont?
Aber die Bolschewiki spotteten dieser Theorie. Selbst in der Nep-
Periode blieben die „Kommandohdhen der Wirtschaft" — Industrie,
Eisenbahnen, InlandgroBhandel und der gesamte Aufienhandel — in
den Handen und in der Kontrolle des Staates, eine „offentliche Wirt-
schaft" von so riesigen Dimensionen, daB kein Staat der Welt etwas
Ahnliches an die Seite stellen konnte,
Der Hinweis auf die Sozialisierung in Deutschland steht an
dieser Stelie nicht zufallig. Denn es ist kein Zufall, daB die
veranderte Stellung gewisser linkssozialdemokratischer Kreise zu
SowjetruBland in eine politische Situation fallt, wo die
okonomische und politische Krise in Deutschland sich immer
mehr zuspitzt, in der das Monopolkapital die Demokratie
immer mehr abbaut, in der die Parole1 daB der Diktatur des
Finanzkapitals die des Proletariats gegeniibergestellt werden
miiBte, in der diese Parole bald sehr aktuellen Charakter an-
nehmen kann. Es ist weiter kein Zufall, daB die immer posi-
tivere Stellung. gewisser linkssozialdemokratischer Kreise zu
SowjetruBland vom sozialdemokratischen Parteivorstand mit
«iner noch groBern SowjetruBland-Hetze als vorher beant-
wortet wird* Otto Wels begann damit auf dem Parteitag in
Leipzig, der ,Vorwarts* setzt diese Hetze jeden Tag fort.
Die neueste Stalinrede wurde vom ,Vorwarts* und in einem
Teil der reformistisch sozialdemokratischen Presse mit dem
Kommentar begriifit, der Fiinfjahresplan sei undurchfuhrbar,
Stalin miiBte zu kapitalistischen Methoden zuriickkehren, um
oiberhaupt retten zu konnen, was noch zu retten ist* Als die
Nep-Politik seinerzeit vor zehn Jahren in SowjetruBland einge-
Hhrt wurde, haben dieselben Blatter geschrieben, daB nunmehr
das Sowjetsystera in Wirklichkeit liquidiert sei und der private
Kapitalismus in RuBland bald regieren werde. Die letzten zehn
Jahre haben bewiesen, wie wahr diese Prognosen waren. Der
,Vorwarts' selbst muBte zugeben, daB die Staatsproduktion in
RuBland bereits im vergangenen Jahr in alien ihren Zweigen
die Vorkriegsproduktion uberschritten habe. Heute spricht
man wieder von einer „Wendung" in der russischen Politik;
Und worin bestand die? Stalin hat verlangt, daB eine starkere
T>if f erenzierung in der Entlohnung der qualif izierten und un-
qualifizierten Arbeiter einsetzen miisse, Und das soil eine
Riickkehr zu „pfivatkapitalistischen" Methoden sein. Nun,
auch der qualif izierte Arbeiter kann in RuBland nicht Kapi-
ialist werden, schon weil die Produktionsmittel nicht einzelnen
^ehoren sondern dem Staate. Nein, SowjetruBland kehrt nicht
mehr zum Privatkapitalismus zurtick. SowjetruBland arbel-
tet weiter am Aufbau des Sozialismus, und daB die Reformisten
in der Sozialdemokratie heute mehr als je gegen SowjetruBland
Stellung nehmen, ist nur die Antwprt darauf, daB bei der Zu-
spitzung der politischen und okonomischen Situation in
Deutschland immer weiter e Kreise auch der sozialdemokrati-
schen Arbeiter nach der prole tarisch en Diktatur verlangen, da-
nach verlangen, daB dem kapitalistischen Ausweg aus der
Krise der proletarische gegeniibergestellt wird. Positive Stel-
169
lung zu RuBland bedeutet hcutc gleichzeitig positive Stellung
zu einer proletarisch-rrevolutionaren Losung der heutigcn Krise,
Dafiir sind bereits groBe Massen der sozialdemokratischen Ar-
beiter. Das befiirchten aber auf der andern Seite bereits:
Kreise, die ehemals das privatkapitalistische Wirtschaftssystem
fiir ewig gehalten haben. Lujo Brentano schreibt in einer Be-
sprechung der Aufsatze von Fried in der ,Tat': „Sollte im
Kampfe zwischen Profitminimum und Lohnminimum das erstere
triumphieren, so dtirfte Fried in seiner Prognose Recht behal-
ten, daB das kapitalistisehe System seinem Untergang bei uns
entgegengeht, und nach furchtbaren Hungerrevolten wird die
sowjetistische Planwirtschaft sein Ende sein."
Scharfste Kampfe aber stehen in der nachsten Zeit bevor.
Das erste Erfordernis istf keine Verwirrung in die Reihen der
Arbeiterschaft zu tragen, weder Verwirrung iiber die augen-
blickliche deutsche Situation noch Verwirrung tiber die Stellung
SowjetruBlands bei einer revolutionaren Zuspitzung der Lage
in Deutschland. Es ist klar, daB bei den augenblicklichen
chaotischen Zustanden gewisse Verwirrungsapostel voriiber-
gehend leicht EinfluB gewinnen konnen. Man kann ihnen da-
her nicht friih genug eritgegentreten. In Koln erscheint im Mo-
natsabstand eine Zeitschrift, der ,Rote Kampfer', der vor allem
der Revolutionierung der sozialdemokratischen Arbeiter ge-
widmet war. Grade weil ich selbst an der 4., 6. und 7. Num-
mer dieses Blatts in entscheidender Weise mitgearbeitet habe,
mochte ich an dieser Stelle in aller Offentlichkeit betonen, daB
ich mit der Nutmmer 8 dieses Blattes nichts zu tun habe. Dort
heiBt es iiber RuBland, daB es eine ernsthafte revolutionare
Auseinandersetzung in Europa zur Zeit nicht brauchen konne,
am wenigsten in Deutschland. Und zur Begrundung dieser Be-
hauptung wird lapidar erklart: „Eine Revolution in Deutsch-
land wiirde im Augenblick den Funfjahresplan, den gegenwar-
tigen wie den kunftigen, zum Zusammenbruch bringen, denn er
basiert ja auf der Stetigkeit und der ungestorten Entwicklung
der Lieferungsvertrage/' Welch eine; Froschperspektivef
Die deutschen Monopolkapitalisten waren sehr froht wenn die
Lieferung deutscher Maschinen Sowjetrufiland veranlassen
wiirde, jede revolutionare Aktion in Deutschland zu verhin-
dern. Was sind das fiir absurde Lacherlichkeiten! Vor kurzer
Zeit hat die englische Regierung bekanntlich die Kreditfristen
fiir Exporte nach RuBland verlangert, weil man sich davon eine
Erhohung der Exportmengen versprach. Maschinen stellt
nicht nur Deutschland her: wenn Stockumgen in der deutschen
Maschinenlieferung eintraten, so wiirden die Russen d«n aus-
fallenden Teil der Maschinen in England und den VereinigteTi
Staaten bestellen.
Nein, so einfach liegen die weltwirtschaftlichen Zusammen-
hange SowjetruBlands mit Europa nicht. Grade die letzten
deutschen Kreditverhandlungen mit RuBland haben gezeigt, daB'
Sowjetrufiland in diesem Punkte eine ziemlich feste Position:
hat, darum, weil alle Staaten an den Lieferungen nach RuBland
interessiert sind, weil sie nicht unter einen Hut zu bringen sind
und weil daher die Russen sie im'groBten Umfang gegen-
einander ausspielen konnen.
170
SowjctruBland wird den Ftinfjahresplan durchfiihren, es
wird die Maschinen dazu, solange es sie nicht selber herstellt,
von dort einfiihren, wo es die besten Bedingungen bckommt,
aber es wird den Zusammenbruch des deutschen Kapitalismus
nicht darum verhindern, weil es von ihm Maschinen bezieht.
Das deutsche Monopolkapital wird wieder versuchen, die
weitere Zuspitzung der heuitigen Krise auf die breiten Massen
abzuwalzen. Ein dreifiigprozentig«r Abbau der Lohne wird ge-
fordertt die Mittelschichten werden weiter proletarisiert, das
Reparationsfeierjahr, die Beseitigung aller Lasten aus dem
Young-Plan wird nichts niitzen. Diesem kapitalistischen Aus-
weg aus der Krise muB der prole tarische gegeniibergestellt
werden. Und die deutsche Arbeiterschaft wie die gesamten
Mittelschichten, deren Lebenslage durch das Monopolkapital
immer weiter verschlechtert wird, imiBten wissen, daB bei der
Organisation des proletarischen Auswegs aus der Krise sie in
SowjetruBland einen Freund und Bundesgenossen finden
werden.
Der Krieg 1st eine grauenhafte Schlachterei!
von Papst Benedikt XV.
An die kriegfiihrenden Volker und deren Oberhaupterl
A Is wir ohne unser Verdienst auf den Apostolischen Stuhl berufen
** wurden zur Nachfolge des friedliebenden Papstes Pius X.,, dessen
heiliges und segensreiches Leben durch den Schmerz iiber den in Eu-
ropa entbrannten Bruderzwist verkiirzt wurde, da fuhlten auch wir
mit einem schaudernden Blick auf die blutbef leek ten Kriegsschau-
platze den herzzerreiBenden Schmerz eines Vaters, dem ein rasender
Orkan das Haus verheerte und verwustete. Und wir dachten mit
unausdriickbarer Betriibnis an unsre jungen Sbhne, die der Tod zu
Tausenden dahinmahte, und unser Herz, erfullt von der Liebe Jesu
Christi, offnete sich den Martern der Mutter und der vor
der Zeit verwitweten Frauen und dem untrostlichen Wim-
mern der Kinder, die zu fruh des vaterlichen Beistands beraubt
waren. Unsre Seele nahm teil an der Herzensangst unzahliger Fami-
lien und war durchdrungen von den gebieterischen Pflichten jener er-
habenen Friedens- und Liebesmission, die ihr in diesen ungliickseli*
gen Tagen anvertraut war. So faBten wir alsbald den unerschutter-
lichen EntschluB, all unsre Wirksamkeit und Autoritat der Versoh-
nung der knegfiihrenden Volker zu weihen, und dies gelobten wir
feierlich dem gottlichen Erldser, der sein Blut vergoB, auf daB alle
Menschen Briider wurden.
Die ersten Worte, die wir an die Volker und ihre Lenker richte-
ten, waren Worte des Friedens und der Liebe. Aber unser Mahnen,
liebevoll und eindringlich wie das eines Vaters und Freundes, ver-
hallte ungehort! Darob wuchs unser Schmerz, aber unser Vorsatz
wurde nicht erschiittert. Wir lieBen nicht ab, voll Zuversicht den All-
machtigen anzurufen, in dessen Handen Geist und Herzen der Unter-
tanen und Konige liegen, und flehten ihn an, die furchterliche
Geifiel des Krieges von der Erde zu nehmen. In unser
demiitiges und inbriinstiges Gebet wollten wir alle Glaubigen
einschlieBen, und, um es wirksamer werden zu, lassen, sorgten wir
dafiir, daB es verbunden wurde mit Ubungen christlicher BuBe. Aber
heute, da sich der Tag jahrt, an dem dieser furchtbare Streit aus-
brach, ist unser Herzenswunsch noch gluhender, diesen Krieg beendigt
3 171
zu sehn; lauter erhebt sich unser vaterlicher Schrei nach
Frieden, Moge dieser Schrei das schreckliche Getose der Waffen
iibertdnen und bis zu dea kriegfiihrenden Volkern und ihren Lenkern
dringen, urn die einen wie die andern mildern und ruhigern Ent-
schliissen geneigt zu machen,
Im Namen des allmachtigen Gottes, im Namen unsres himralischen
Vaters und Herrn, bei Jesu Christi benedeitem Blute, dem Preis der
Menschheitserlosung, beschworen wir euch, euch von der gottlichen
Vorsehung an die Spitze der kriegfiihrenden Volker Gestellte, endlich
dieser grauenhaften Schlachterei ein Ende zu setzen, die nun schon
ein Jahr Europa cntehrt. Bruderblut trankt das Land und farbt das
Meer, Die schonsten Landstricbe Europas, des Gartens der Welt, sind
besat mit Leichen und Triimmern; da, wo kurz zuvor noch rege Ta-
tigkeit der Fabriken und fruchtbare Feldarbeit herrschten, hort man
jetzt den schrecklichen Donner der Geschiitze^ die in ihrer Zersto-
rungswut weder Dorfer noch Stadte verschonen, sondern iiberall Ge-
metzel und Tod saen. Ihr, die ihr vor Gott und den Men-
schen die furchtbare Verantwortung fur Krieg und Frieden tragt, er-
hort unser Gebet, hort auf die vaterliche Stimme des Stellver-
treters des ewigen und hochsten Richters, dem auch ihr iiber euer
offentliches und privates Tun Rechenschaft ablegen mufit.
Die grofien Reichtiimer, mit denen der Schopfer eure Lander ge-
segnet hat, erlauben euch, den Kampf fortzusetzen; aber um welchen
Preis ! Das sollen die Tausende der jungen Menschen beantworten, die
taglich auf den Schlachtfeldern dahinsiaken. Das sollen die Trim-
mer so vieler Flecken und Stadte beantworten, die Trummer so vie-
ler der Frommigkeit und dem Geist der Vorfahren geweihter Monu-
mente. Und wiederholen nicht die bittern, in hauslicher Verschwie-
genheit oder an den Stufen der Altare vergossenen Tranen, daB dieser
Krieg, der schon so lange dauert, viel kostet, zu viel?
Niemand sage, daB dieser grausige Streit sich nicht ohne Waffen-
gewalt schlichten lieBe, Moge doch jeder von sich aus dem Ver-
langen nach gegenseitiger Vernichtung entsagen, denn man tiberlege,
daB Volker nicht sterben konnen. Erniedrigt und unterdruckt tragen
sie schaudernd das Joch, das man ihnen auferlegte, und bereiten den
Aufstand vor. Und so ubertragt sich von Generation zu Generation
das traurige Erbe des Hasses und der Rachsucht.
Warum wollen wir nicht von nun ab mit reinem Gewissen die
Rechte und die gerechten Wiinsche der Volker abwagen? Warum wol-
len wir nicht aufrichtigen Willens einen direkten oder indirekten Mei-
nungstausch beginnen, mit dem Ziel, in den Grenzen des Moglichen
diesen Rechten und Wiinschen Rechnung zu tragen und so endlich
dieses schreckliche Ringen zu beendigen, wie das in andern Fallen
unter ahnlichen Umstanden geschah? Gesegnet sei, wer als erster den
Olzweig erhebt und dem Feind die Rechte entgegenstreckt, ihm den
Frieden unter verniinftigen Bedingiingen anbietet! Das Gleichgewicht
der Welt, die gedeihliche und gesicherte Ruhe der Volker beruht auf
dem gegenseitigen Wohlwollen und auf dem Respekt vor Recht und
Wiirde des andern, viel mehr als auf der Menge der Soldaten und
auf dem furchtbaren FestungsgiirteL
Dies ist der Schrei nach Frieden, der an diesem traurigen Tage
besonders laut aus uns herausbricht; und alle Freunde des Friedens in
der Welt laden wir ein, sich mit uns zu vereinen, um das Ende des
Krieges zu beschleunigen, der, ach, schon ein Jahr lang Europa in
ein riesiges Schlachtfeld verwandelt hat. Moge Jesus in seiner Barm-
herzigkeit durch die Vermittlung seiner schmerzensreichen Mutter be-
wirken, daB still und strahlend nach so entsetzlichem Unwetter end-
lich die Morgenrote des Friedens anbreche, das Abbild seines erhabe-
nen Antlitzes, Mogen bald Dankgebete fur die Versohnung der
kriegfiihrenden Staaten emporsteigen zum Hochsten, dem Schopfer
alles Guten; mogen die Volker, vereint in bruderlicher Liebe, den
172
friedlichen Wettstreit der Wissenschaft, der Kirnste und der Wirt-
schaft wiederaufnehmen, und mogen sie sich, nachdera die Herrschaft
des Rechts wiederhergestellt istf entschlieBen, die Losung ihrer
Meinungsverschiedenheiten kiinftig nicht mehr der Scharfe des Schwer-
tes anzuvertrauen, sondern den Argumenten der Billigkeit und Ge-
rechtigkeit, in ruhiger Erorterung und Abwagung. Das wiirde ihre
schonste und glorreichste Eroberung sein!
In dem sichern Vertrauen, daB sich diese ersehnten Friichte zur
Freude der Welt bald am Baum des Friedens zeigen werden, erteilen
wir unsern Apostolischen Segen alien Gliedern der uns anvertrauten
Herde; und auch fur die, die noch nicht der romischen Kirche an-
gehoren, beten wir zum Herrn, daB er sie mit uns vereinen moge
durch das Band seiner unendlichen Liebe,
Rom. Vatikan, 28. Juli 1915.
Nacbwort von Walther Karsch
28. Juli 1915, ein Jahr nach dem Mord in Serajewo. In
die grelle Dissonanz des Volkermordens mischt sich dieser
Ruf nach Frieden. GcwiB verfolgtc Benedikt mit seiner Bot-
schaft den Zweck, das Interesse der Kirche wahrzunehmen;
iramerhin seine Emporung war darum wohl nicht weniger echt.
In einer Situation, in der die Praponderanz des Zugehorigkeits-
gefiihls zur Kirche in den Katholiken erstickt zu werden
drohte von der Liebe zu den jeweiligen Vaterlandern, war das
Kliigste, was der Papst tun konnte, sich neutral zu verhalten
und zum Frieden zu mahnen. Anerkannt werden muB, daB
Benedikts Botschaft kein allgemeines Friedensgerede ist, son-
dern, wenn auch nur andeutende, Vorschlage zur Anderung der
Beziehungen zwischen den Staaten enthalt. Der Mahnruf
spricht an vielen Stellen gradezu in pazifistischer Terminologies
Benedikt hat s pater, in einer Note vom August 1917, seinen
Vorschlagen einen konkreteren Inhalt gegeben. 1917, ein Jahr,
in dem die Mittelmachte von dem hohen Pferd, aui dem sie
noch 1915 saBen, bereits erheblich herabgerutscht waren und
nur noch mit einem FuB im Steigbugel hingen. Fur die Mit-
telmachte in ihrer Situation, die schon langsam begann, ver-
zweifelt zu werden, war die Note von 1917 Schalmeienmusik,
woraus sich erklaren mag, daB sie allenthalben als ein Beweis
fur die Deutschireundlichkeit des Papstes ausgelegt wurde. Der
.als klug und diplomatisch bekannte Benedikt sah das Inter-
esse der Kirche allein in der Wiederherstellung des status quo
ante. Die Alliierten zeigten ihm daher die kalte Schulter,
woriiber Benedikt gar nicht erstaunt war.
1915 war die Lage noch recht anders. Die Mittelmachte
befanden sich im Siegestaumel, und da ist es denn gar nicht
verwunderlich, wenn man beim Vergleich der authentischen
deutschen Version mit dem italienischen Original auf Ab-
weichungen stoBt, die sich schlieBlich als Falschungen ent-
puppen, fabriziert mit der eindeutigen Tendenz, Deutschland
die wahre Meinung des Papstes iiber den Krieg zu verschleiern,
Diese Falschungen lieBen es reizvol\ erscheinen, das Original
noch einmal vollstandig zu tibersetzen, wobei ich entdeckte,
daB sie sich nicht nur auf das Formale erstrecken, sondern bis
173
zum Inhaltlichen gehn. Keinen der entriisteten Ausdriicke,
mit denen Benedikt seine Emporung kundtat, iibernimmt der
Obersetzer in die deutsche Version. Das eklatanteste Bei-
spiel: Benedikt nennt den Krieg eine ,,grauenhafte Schlachte-
rei" („orrenda carneficina"), und der Obersetzer biegt das in
einen t,entsetzlichen Kampf" um, 1(Karapf", das ist schlieBlich
kein anriichiges Wort, von „Schlachterei" kann man das wohl
kaum behaupten, Spricht der Papst von der „entsetzlichen
GeiBel des Krieges" („immane flagello"), so setzt der bereit-
willige Falscber statt dessen ein „ungeheures Ungluck". „Das
schreckliche Getose der Waffcen" („pauroso fragore") verwan-
delt er in das frohliche Wort ..WaHengeklirr"; der „Schrei"
(Hgrido") wird durchweg zum „Ruf" nach Frieden, Und wenn
der Papst den Schrei nach Frieden ,,an diesem Tage um so
lauter aus uns herausbrechcn" laBt (piu alto erompc), fttont"
er beim Obersetzer nur ,,um so lauter'*. Wahrend einzelnen
St ell en durch Hinzufiigungen ein ganz andrer Sinn unterschoben
wird, fallt mancher Ausdruck einfach weg, so „die Zersto-
rungswut" („furia demolitrice") der Geschiitze.
Diese kleine Auslese mag geniigen, um zu zeigen, in wel-
cher gradezu verbrecherischen Absicht hier einer tielen, fast
leidenschaftlichen Verdammung des Krieges ihre Scharfe und
Wirksamkeit genommen wurde. Die papstliche Emporung
achtete den Krieg, der Obersetzer gibt ihm liber eine Hinter-
treppe die Ehre wieder.
Wie das zustande kam, dariiber kann man sich in ver-
schiedenen Vermutungen ergehen. Moglich, daB die deutsch-
freundliche Mehrheit der Kurie diese Falschung veranlaBt hat,
um die deutschen Machthaber dem Vatikan geneigt zu erhal-
ten und ihnen die Moglichkeit zu geben, der deutschen Offent-
lichkeit die wahre Meinung des Papstes vorzuenthalten. Mog-
lich, daB die deutsche Version vor ihrer Veroffentlichung der
deutschen Regierung vorgelegen hat und diese somit selbst an
den Falschungen beteiligt ist. Wie es sich verhielt, mag
Gegenstand genauer historischer Untersuchung werden. In
jedem Fall tragt die Kurie, die die Falschung veranlaBte oder
zuliefi, die Hauptschuld daran, daB die deutsche 5ffentlichkeit
nichts von der Art und dem Grad erfuhr, wie Benedikt den
Krieg gegeiBelt, wie er ihn entehrt hat. Erkennt man Benedikt
die Ehrlichkeit seiner Friedensgesinnung zu, der katholischen
Kirche irniB man sie jedenfalls ahsprechen, Diese Falschungs-
aktion, zu der die Kirche ihre Hand bot, ist ein Beweis mehr
fur uns, daB nicht der Wille zum Frieden oberstes Gesetz des
Handelns in der katholischen Kirche ist, sondern einzig und
allein ihr machtpolitisches Tagesinteresse. Und dies verlangte,
daB man die Emporung des Papstes den deutschen Macht-
habern mundgerecht machte.
Jenes Falscherkunststiickchen stent nicht allein da. So
wurde in den Vertrag der katholischen Kirche mit PreuBen,
nach der Untefzeichnung, das Wort ,,Konkordat" hinein-
geschmuggelt, mit der letzten Ehe-Enzyklika sind auch Dinge
geschehen, die noch der Aufklarung harren. Rom hat da
Routine; fragt sich nur, wie weit sie reicht. Man wird der
Kirche von Zeit zu Zeit auf die Finger klopfen miissen.
174
MllSSOlillitO von Alton s Goldschmidt
Im Mai dieses Jahres wurde in Santiago de Chile gegen die
Regierung des chilenischen Diktators, Generals Carlos
Ibaiiez, demonstriert, Einige Zeit vorher waren in Siid-Chile
Truppen und Bevolkerung gegen die Diktatur aufgestanden.
Ibanez war der Armee nicht mehr sicher, pbwohl er den grofi-
ten Teil der Staatseinnahmen fiir sie verwendet hatte. Einer
Bevolkerung von 4t3 Millionen wurde ein Heeres- und Marine-
etat fiir 40 000 Mann, zur Halfte Soldaten, zur Halfte Gendar-
men, aufgelastet. Es ist das Schicksal aller unkonstruktiven
Diktaturen gewesen, schlieBlich auch die ausgehaltenen Garden
zu verlieren. Der Abfall beginnt, wenn die wachsenden Lasten
den Diktator auch zur Herabsetzung, der Offiziersgehalter und
der Soldatenlohnung zwingen. Das war in Chile der Fall, und
auch andre Diktaturen werden dieselbe Erfahrung machen.
Die letzten Regierungstage des einstigen Hauptmanns von
Antofagasta sind kerne Glanztage mehr gewesen. Der Nimbus
war weg, die Generalsuniform und die mussolinistische Unfehl-
barkeitsgeste zogen nicht mehr, die Tatsachen sprachen bitter
gegen Ibanez, und alle Manifeste, Ausweisungen und Einkerke-
ruagen half<en nichts. Die Gendarmensabel, Flinten und Ma-
schinengewehre blieben wirkungslos gegen die wachsende Em-
porung, die eine Volksemporung geworden war. Auch die
Frauen demonstrierten auf der Strafie gegen die Brutalitaten
der Diktatur, die Arbeiter und Studenten wollten nichts mehr
von der MiUwirtschaft, der Dicketuerei mit Personlichkeit, von
dem widerwartigen patriarchalischen Getue, nichts mehr von
diesem diktatorialen Klimbim wissen, der zur Not des Landes
paBte wie ein falscher Brillant zum knurrenden Magen.
Ibafiez versuchte, wie viele Diktatoren vor ihm, einen
Teil des Heeres gegen den andern auszuspielen, die Gendarme-
rie gegen die regularen Truppen. Er verbannte den fruhern
sozial-liberalen Prasidenten Arturo Alessandri, weil er die
Sympathie der Menge fiir diesen Mann fiirchtete. Mehr als
hundert Personen muBten nach der Maidemonstration in Sant-
iago das Land verlassen, darunter der Fuhrer der sozialisti-
schen Partei, der Senator Manuel Hidalgo. Das waren die
letzten Zuckungen eines durch Dummheit und GroBenwahn
ausgezeichneten Regiments, das langst reif zum Fall war.
Dieser kleine Mussolini in den Anden Sudamerikas, Musso-
linito,, ist ein Lehrbeispiel der Schiefheiten und Unfahigkeiten
solcher ,tHerrenmenschen'\ di<e per Putsch nach oben gelangen
und sich durch gut bezahlte Flintentrager und eine Armee
nicht schlechter bezahlter Zivilkreaturen eine Zeitlang auf dem
Sessel halten. Man wuBte in Europa nicht,- wie die Arbeits-
theorie, die Magna Charta der Arbeit dieser Diktatur ausge-
sehen hat. Es war derselbe Unsinn, durch Nachahmung nur
noch schlimmer und komischer, wie der Unsinn der Arbeits-
Charte Mussolinis. Nicht ein Fingerhut voll Produktivitat ist
durch die Anwenduntf dieser Dummheit en erzielt worden, und
mochten sie mit noch so bombastischer Dogmenfrechheit vor-
getragen werden, SchlieBlich blieb doch nichts andres iibrig,
175
als der Pump, und sa pumpte denn auch Ibanez in England,
in den Vereinigten Staaten und lib er all dort, wo er nur Geld
kriegen konnte. Das USA-Kapital hat in Chile einen heftigen
Karapf gegen das englische Pfund gefiihrt, mit dem Resultat,
daO nun das groBere Risiko bei den USA liegt. Das ist ja das
Schicksal dieser iibergescheiten Investierungspolitik, die auch
durch die gelehrtesten Sanierungskommissionen nicht vor der
Pleite gerettet werden kann.
Die Diktatur Ibanez war aus der Salpeterkrise entstanden.
Als sie, im Jahre 1927, schneidig die Ziigel ergriff, arbeiteten
von 152 Salpeterwerken noch 33, und als Ibanez attsgewirt-
schaftet hatte, waren es noch weniger. Die offizielle Statistik
gab fur September des vorigen Jahres 32 arbeitende Werke an,
und fur die ersten Monate 1931 schweigt sie sich ganz aus. Man
kann sich die Situation in der chilenischen Salpeterindustrie
vorstellen, also in der Industrie, von der das Land lange Zeit
gelebt hat. Die Zahl der Salpeterarbeiter ging entsprechend
zuriick und die Zufriedenheit des Proletariats in Chile lo-
gischerweise ebenfalls. Die Weltmarktkrise, die Konkurrenz
des kiinstlichen Stickstoffs und die wachsende Belastung durch
Schulden fiber Schulden bei sinkenden Preisen, diese Natur-
katastrophe vermochte auch der schoaste General mit den
blitzendsten Augen und den tonendsten Worten nicht aufzu-
halten. Nicht aufzuhalten vermochte er den rapiden Kursfall
der Salpeterwerte, der Kupferwerte an der Borse in Valparaiso,
in Wirklichkeit hat also diese Diktatur nichts erreicht fur das
Wohl des Volkes, zu dessen Stabilisierung und Mehrung sich
alle Diktaturen berufen fuhlen. Der MiBerfolg des Haupt-
manns von Antofagasta ist hochst lehrreich auch fiir Lander,
die uns naher liegen als Chile, besonders fiir ein uns nachst
liegendes Land, iiber dem augenblicklich eine taube Kredit-
raserei geschieht, die, mit unterschiedlichen Dimensionen und
Intensitaten, genau dieselben Widerspruche in sich birgt wie
die unproduktive Schuldenschluderei iiber Chile. Aber was
helfen, da Mahnungen, wenn die Kapitane sich berufen fiihlen,
und somit eines Tages doch der Generalkapitan die Pleite diri-
gieren wird?
Fraglo« hat die spanische Revolution den Sturz des chile-
nischen Diktators beschleunigt. Sie wirkt in vielen Landern
Lateinisch-Amerikas in derselben Richtung. In Cuba zeigt
sich schon die Revolution gegen die Diktatur Machado, in
Peru, in Argentinien und Brasilien wollen die Massen wieder
zur Verfassung zuriick, oder daruber hinaus zu einer neuen
stabilern Organisation, Zollkriege uberall, vergebliche Sehn-
sucht nach einer amerikanischen Zollunion, die allerdings bei
Fortdauer solcher Zustande auch nichts nutzen wurde, Arbeits-
losigkeit, Aufstande des Proletariats in der Ebene und auf den
Bergen, deutlich sieht man, wie das Riesengebiet in Bewegung
kommt. Tausend Plane, Schuldzuschiebungen, Vaterlandsbe-
teuerungen, fascistische Biinde, wie* die Legion Civica in Ar-
gentinien, die jetzt schon offiziell zur Lehrmeisterin der argen-
tinischen Jugend gemacht wird. Das alles wird nichts helfen,
denn die Menschen mtissen essen, das ist die Hauptsache. Kein
176.
Mussolini und kein Mussolinito wird sich haiten konnen, wenn
er den Massen nicht geniigend Brot geben kann. Das abcr kann
er nicht, und sogar dcr blutige Patriarch von Venezuela, Juan
Vicente Gomez, der jetzt zum vierten Mai zum Prasidenten
„gewahlt'^ wurde, wird dieses Problem nicht losen konnen. Das
Leben der bestehenden und noch kommenden kapitalistischen
Diktaturen ist hochst schadlich oder wird es sein, aber die Ge-
wahr hat die Menschheit: die Kurzlebigkeit dieser Art kleinen
Obermenschentums ist gewiB.
Der Revolver von Rudolf Leonhard
Am Tage nach dem hundertsiebzehnten Geburtstage des amerika-
"**■ nischen Fabrikanten Samuel Colt, dem der bose Geist die Er-
findung des Revolvers eingegeben hat, stand Abbas Mohammed AH,
ein persischer Student, vor dem Schwurgericht. Er hatte, ganz wie
der Mann in Wedekinds Gedicht, seine Tante ermordet, die aller-
dings nicht alt und schwach, sondern Jung und stark und sogar
schon war. Abbas Mohammed AH hat sie nicht etwa aus Liebe er-
mordet, auch nicht wegen des Geldes; sondern aus gar keinem deut-
lich erkennbaren Grunde. Er wohnte, ein wohlhabender Student, bei
seinem Onkel, einem reichen Perlenhandler, im Villenvororte Gar-
ches. Alle wuBten, daB er ein schwer neurasthenischer Mensch ist.
Eines Abends verlangte er von seinem Onkel, daB er den Chauffeur
entlasse, weil der schlecht iiber ihn gesprochen habe. Der Onkel
weigerte sich, zumal er wuBte, daB diese Beschuldigung unrichtig war.
Der Student wollte wutend seine Koffer packen; als sein Bruder ihm
zuredete, zu bleiben, holte er aus seinem Zimmer einen vor mehre-
ren Monaten gekauften Revolver, ging die Treppe herab, und schoB
seine Tante, die er zufallig durch eine zufallig halboffne Tiir auf
dem Sofa liegen sah, tot. Zu welchem Zweck er den Revolver ge-
kauft hatte, konnte im Prozesse nicht festgestellt werden.
Am Tage darauf begann in Nancy der ProzeB gegen Elise Alten-
hoven. Sie war von einem tschechischen Ingenieur verlassen worden,
als der in seiner Heimat heiraten wollte, Sie hatten auf dem Ost-
bahnhof einen ruhrenden und ruhigen Abschied genommen. Spater
fuhr sie ihm nach, wurde als Touristin im Elternhaus des Ingenieurs
eingef iihrt und wohnte in Leitmeritz der Trauung bei. Verzweifelt
fuhr sie nach Paris zuriick, und kaufte dort, verzweifelt, einen Re-
volver. Mit diesem reiste sie wieder nach Bohmen. Nun gelang es
ihr, nicht, ihren Freund zu treffen — in jedem Sinne des Wortes.
Aber eines Tages sah sie ihn mit seiner jungen Frau zum Bahnhof
gehen. Sie bestieg, mit dem Revolver, denselben Zug. Sie wartete
viele Stunden. Es scheint, daB sie auch viele Stunden lang ge-
sprochen hat. Hinter Nancy knallte sie den Ingenieur nieder.
Gleichzeitig begann in Versailles der ProzeB gegen Marcelle
Schneider. Die hatte ihren Mann verlassen, um, nach einigen andern
Versuchen mit Mannern, mit dem Flieger Duterriez zu leben; sie
hatte es mit den FHegern, und sie sprach auch einmal von ihrem
eignen Drange zur freien Luft, der sie hindere, ihren Beruf auszu-
liben. Vielleicht war dieser Drang gar zu stark; jedenfalls gestaltete
sich das gemeinsame Leben nicht befriedigend, und Marcelle Schnei-
der kaufte, natiirlich, einen Revolver. Sie war so unvorsichtig, ihn
ihrer Wirtin zu zeigen, die Geschichten dieser Art nicht liebte und
den Flieger von der Neuerwerbung unterrichtete. Duterriez, der zu
viel Phlegma oder zu viel Humor besaB, begniigte sich damit, den
Hahn unbrauchbar zu machen. Seine Geliebte wuBte aber, was sie
wollte. Sie kaufte, als Duterriez ihr dringend riet, zu ihrem Manne
177
zuruckzukehren, und ihr sogar in groBziigiger Wcise das dazu notige
Reisegeld anbot, eine neue Pistole, lud sie mit fiinf Kugeln, und .
entlud sie am nachsten Morgen in den Kopf des noch schlafenden
Freundes,
Diese drei Geschichten stehen, sensationeller und ausfiihrlicher
naturlich, in einer einzigen Morgenzeitung,
Vertagen wir die Ausfiihrung der interessanten Beobachtung, daB
seit Krieg und Inflation der Typus und die Provenienz des Morders
sich geandert haben; daB in der Regel nicht mehr Verbrecher mor-
den, sondern Kleinbiirger, die man bis zur Tat fur friedlich gehalten
hatte; Menschen wie Mestorino, der nur einen Wechsel nicht bezah-
len konnte, und Philipponet, der sich in einem ProzeB benachteiligt
fuhlte, brave, ruhige, murrische Menschen, in denen plotzlich die
Holle aufbricht, keine gebornen Verbrecher, sondern Leute, die sich
inRecht und Wirtschaft plotzlich nicht mehr anders zu helfen wissen
als durch eine fatale, schonungslose, barbarische Selbsthilfe. Lassen
wir das, und fragen wir: wie ist es moglich, daB Marcelle Schneider
eine Pistole nach der andern kaufen konnte? DaB Fraulein Alten-
hoven, der man, nach den ProzeBberichten, Erregung und Verzweif-
lung ansehn muBte, eine Pistole ausgehandigt bekam? DaB der Neur-
astheniker Abbas Mohammed AH zu unbekanntem Zweck eine
Pistole besaB?
Wie ist es moglich, daB in den sogenannten zivilisierten Landern
die Todesmittel genau so gehandelt, verkauft und gekauft werden wie
die Lebensmittel ? Mit mindestens genau so wenig Umstanden?
GewiB, es gibt den Waffenschein; und es gibt die Bestimmung
einer lacherlich geringen Strafe wegen unbefugten Waffentragens. Es
ist, gewifi, sogar vorgekommen, daB ein wegen der Totung Frei-
gesprochner wegen des durch den Schein nicht gedeckten Besitzes
der Waffe verurteilt wurde. DaB diese Rechtsanordnungen nicht
geniigen, beweisen die drei Geschichten, beweisen die Tausende ahn-
licher Geschichten. Die Frage muB genereller geregelt werden; auch
in der Justiz ist vorsorgende Hygiene wichtiger und wirksamer als
Medizinierung, Die Pazifisten verlangen von jeher die Verstaat-
lichung der Riistungsindustrie. Verlangen wir eine Abrustung auch
fur die kleinen und groBen Affaren des Privatlebens; verlangen wir
das Verbot jedes privaten Waffenhandels. Es diirfen an Privatleute
— auBer, unter sorgfaltigster Kontrolle, Jagdwaffen an Jager, und
uberhaupt Berufswaffen in genau zu regelnden Fallen — SchuB-
waffen nicht verkauft werden, Der Nachweis zur Besitzberechtigung
ist nicht nur der Behorde, sondern auch der Verkaufsstelle zu er-
bringen; und der vor allem, da sie im Schadensfalle haftbar sein muB*
Das soil schwer sein? Aber die Regierungen haben sich doch
daran gewohnt, in alter Eile und in groBer Not zu verordnen, was
ihnen grade paBt, Warum sollen sie nicht einmal was Gutes verord-
nen! Und auch in den Parlamenten wurde ein solches Gesetz es
nicht sehr schwer haben ; die Zahl der materiell Inter essierten ist,
anders als im Falle der groBen Riistungsindustrie, gering.
Das wurde eine bluhende Industrie vernichten? Aber sie soil
ja grade vernichtet werden! Es sind schon bessere Industrien ver-
nichtet worden, und es werden noch ganz andre vernichtet werden,
Und die drei Geschichten und tausend andre zeigen, daB jedes Pro-
dukt dieser Industrie vernichtet, Ihr geschieht also nur Recht,
Wie mufi, nach den Prozessen, das Gewissen der Herren aussehen,
die dem persischen Studenten, dem Fraulein Altenhoven und der
Marcelle Schneider die Pistolen verkauft haben! Ist es glaublich,
daB sie den Mundungen der Waff en in ihren Laden nicht entfliehen?
Helfen wir ihnen zur Flucht. Retten wir ihr Gewissen, Es gibt
bessere und wichtigere Berufe, auch diesseits der Stempelstellen.
178
Die MaBregel wird nichts niitzen? Wer nicht schieften kann,
wird eben stechen und wiirgen? Aber die Pistole selbst hat cine
Verfiihrung — wir wissen es, da wir selbst, da selbst wir sie geftihlt
haben; die Verfuhrung der Prazision, des Werks, des Spielwerks,
des Zaubers, der Leichtigkeit und der Schnelligkeit, die Suggestion
des Metalls und die der Macht. Ihr kann nicht erliegen, wer keine
Waffe hat. So einfach ist es: wer keinen Revolver hat, kann nicht
schieBen. Es ist etwas ganz andres, die Finger um einen Hals zu
pressen und zuzudrucken, es ist viel schwerer, nur wenige Menschen
bringen es fertig. Nicht der neurasthenische Abbas Mohammed Ali,
nicht die von Verzweiflung zermurbte Elise Altenhoven, nicht die
leichtsinnige Marcelle Schneider hatten gewtirgt, sie sind nicht Men-
schen, die das konnen, sie hatten nicht gemordet, wenn sie nicht so
leicht hatten morden konnen, Aber es ist ja so leicht, nur auf den
Abzug driicken, so kinderleicht, so kindisch leicht!
Leicht ist es, wenn man es will, den Mord schwer zu machen;
und damit viele Morde zu verhindern und zu verhuten. Her also mit
dem Verbot. Und: die Waffen nieder! — sogar im Privatleben.
Fur die interessanten Auseinandersetzungen mit uns behalten die
Herrn Fascisten ja immer noch ihre Totschlager und Stahlruten,
DeiltSCheS ChaOS von Kaspar Hanser
10. August
f^as fiir heute frtih 8,30 Uhr angesetzte Chaos ist durch eine
Notverordnung der Regierung auf morgen verschoben
worden.
11. August
Heute 8.30 Uhr ist das Chaos ausgebrochen (Siehe auch
Letzte Nachrichten), Das Chaos wurde durch eine Rede des
Reichskanzlers sowie.durch einen kurzen, kernigten Spruchdes
Reichsprasidenten Hindenburg eroffnet. Der preuBische Mi-
nisterprasident Braun fiihrte in seiner Chaos-Rede aus, daB
Deutschland auch fiirderhin.
Das bayrische Chaos brach erst um 9.10 Uhr aus.
Die Reichsbank nahm eine abwartende Stellung ein.
12. August
Heute hat das Reichs-Chaos-Amt seine Arbeit angetreten.
Jedes Chaos (sprich: Chaos) bedarf demnach einer besonderen
Chaos-Ausbruchs-Genehmigung durch das Reichs-Chaos-Amt,
einer Nachpriifung durch das Reichs-Chaos-Nachschau-Amt so-
wie durch die einzelnen Chaos-Landesamter. Die Reichsbank
nimmt vorlaufig eine abwartende Haltung 'ein.
13. August
Das Chaos ist nunmehr (iberall definitiv ausgebrochen.
Ein reizender Vorfall wird aus EBlin,gen (Wurttemberg) be-
kannt. Der dortige Burgermeister hatte verabsaumt, die Ver-
fiigungen des Reichs-Chaos-Amts zur Durchfiihrung zu bringen,
und so wuBten die guten EBlinger noch bis gestern abend iiber-
haupt nichts von dem Chaos und gingen ihrer Tatigkeit (Nicht-
auszahlung von Gehaltern sowie Vertrostung der Glaubiger
untereinander) mit ruhrendem Eifer auch weiterhin nach. Erst
ein Funkspruch der wurttembergischen Chaos-Regierung machte
diesem Zustand ein En<le. Das Back en von Chaos-Spatzle ist
bis auf weiteres verboten.
179
14. August
Die Sozialdemokratische Partci Deutschlands hat heute zu
den Vorgangen einen bedeutungsvollen EntschluB gefaBt. Die
Partei ermachtigt danach die Fraktion, den Altestenrat des so-
genannten ,,Reichstages" zu ersuchen, bei der Reichsregierung
dahin vorstellig zu werden, daB die Regierung mit alien zur
Verfugung stehenden Mitteln dahin wirken moge, den § 14 des
Chaos-Gesetzes abzuinildern. Die Partei wiirde sich sonst
andrerseits genotigt sehn, in die Opposition zu gehn.
Der EntschluB ist deshalb so bedeutungsvoll, weil wir aus
ihm zum ersten Mai erfahren, daB es in Deutschland eine So-
zialdemokratische Partei gibt, und daB diese Partei jemals in
der Opposition gestanden hat.
Die Reichsbank wird sich vermutlich abwartend verhalten.
15. August
(Leitartikel), . ,.festf aber entschieden gemaBigt. Was wir
nun zum Nutzen der gesamten Weltwirtschaft, deren Augen
gespannt auf Deutschland gerichtet sind, brauchen, ist Ruhe
und Ausdauer* Es muB durch das Chaos durchgehalten wer-
den! Reichskanzler Briining wird auch im Chaos die Geschafte
weiterfiihren; in den Etat-Positionen, insbesondere denen der
Reich<swehr, treten zunachst keine Anderungen ein. DaB der
Kanzler sich personlich von der ordnungsgemaBen Durchfiih-
rung des Chaos iiberzeugt, begriiBen auch wirf insbesondre,
daB er gestern in einigen berliner Kaufladen erschien, urn sich
zu informieren. In der Lebensmittelhandlung von Grote setzte
sich der Kanzler dabei versehentlich auf eine Wage/ Die
Deutsche Staatspartei wird auch weiterhm das Ziinglein an der
Wage bilden. DaB sich die Reichsbank dabei abwartend ver-
halt, bedarf keiner Erwahnung.
16. August
Es wird vielfach angenommen, daB im Chaos die Vor-
schrift, wonach Frischeier einer Genehmigung der Reichs-Eier-
Absatz-Zentrale zum Tragen einer Banderole sowie zur Be-
nutzung des Adlerstempels durch den Reichs-Milch-AusschuB
im Benehmen mit der Zentrale zur Aufzucht junger Hahne be-
diirfen, aufgehoben ist. Das ist irrig. Die Vorschrift bleibt
selbstverstandlich auch weiterhin in Kraft. Sehr aktuell wird
sie allerdings nicht sein. Es gibt keine Eier.
17. August
In den stadtischen Fursorgeanstalten wird ein besonderer
Chaos-Priigeltag eingelegt Warum? Weyl.
18. August
Nach der neusten Chaos- Verordnung ist es verbotent De-
visen-Kurszettel zu veroffentlichen. Es diirfen lediglich die
auslandischen Borsennamen mit den dazu gehorigen Barometer-
Zahlen angegeben werden.
19. August
(Zuschrift eines Lesers). . . . „denn doch zu weit mit dem
Chaos! Meine Frau und meine Schwagerin gingen gestern
Abend iiber den Wittenbergplatz, und war es ihnen nicht
moglich, in die dortige Bediirfnisanstalt fiir Damen EinlaB zu
bekommen, da die Aufsichtsfrau offenbar einmal fortgegangen
180
war, um in einer nahcn Restauration cin Glas Bier einzuneh-
men, Als Kriegsteilnehmer und Familienvater frage ich namens
aller Gleichgesinnten; 1st das noch ein Chaos?"
20. August
Zu der Verfiigung tiber die Vertilgung von Ungeziefer in
Wohnungen unter sechs Zimmern ist noch nachzutragen, dafi
Schrotschusse auf Wanzen nur von ^11 Uhr morgens bis Kl
mittags statthaft sind. Es empfiehlt sich, in den andern Tages-
stunden die Wanzen mit einem Tischmesser zu zerspalten.
Auch die Spaltung d-es rechten Fliigels der linken Oppo-
sition der Stennes-Gruppe ist nunmehr Tatsache, Hitler hat
Siidtirol sowie sich definitiv aufgegeben. Die Reichsbank ver-
halt sich abwartend.
Die Groftbanken haben beschlossen, anstatt der am 1, Sep-
tember falligen Gehaltszahlung von jedem Angestellten einen
Monatsbeitrag von 35 RM einzufordern. Die Einzahlung dieses
Arbeits-Erlaubnis-Geldes auf stadtische Sparkassen ist erlaubt.
Die Berliner Studentenschaft hatgesternanlaBlichdeszehn-
ten Chaos-Tages gegen den Westfalischen Frieden sowie gegen
alle noch kommenden Friedensschlusse protestiert. Vier Poli-
zeibeamte sowie die akademische Wurde wurden leicht ver-
letzt. Der Schnellrichter wurde Hitler vorgefuhrt.
21. August
Leichtes Chaos, bei starken sudwestiichen Winden.
Der BiidungsausschuB der SPD hat nunmehr gegen die
parteischadigenden Auswiichse der Asphalt-Literaten pro-
testiert. Die Partei als solche ist allerdings aufgeiost
Gerhart Shaw und Bernhard Hauptmann haben beschlos-
sen, zur Verminderung der Reklamespesen ihre nachsten Ge-
burtstage als 150. Geburtstag zusammen zu feiern.
23. August
Der Titel des Konfusionsrats Dr. Schacht ist in den eines
Ober-Chaos-Rats abgeandert worden.
24. August
Gestern wurde in den StraBen Schonebergs eine Reichs-
mark gesehn. Es handelt sich vermutlich um eine Irrefuhrung
des Publikums, und wir machen nochmals darauf aufmerksam,
dafi es gegen diestaatspolitischen Interessen ist, wenn sich in
Deutschland noch irgendwielches Geld befindet. Wenn auch
das Ausland nicht hinsieht; wir werden es ihm schon zeigen!
Die Reichsbank verhalt sich abwartend.
25. August
Wie wir horen, hat sich die Bridgepartie von Jakob Gold-
schmidt aufgeiost. Er kann das ewige Abheben nicht mehr
vertragen.
26. August
Die Ziffer 5 des § 67 der Wiederaufnahme- Verfiigung der
Aufhebung der Riickgangigmachung des Verbotes von Riick-
iiberweisungen alter Postscheckzahlungeri nach Haiti wird in
GemaBheit des § 10, II, 17 des Allg. Landrechts aufgehoben bzw.
wieder in Kraft gesetzt. Unsre Voraussage ist demnach ein-
getroffen: das Chaos unterscheidet sich in nichts von dem vor-
herigen Zustand — !
181
„Schlager im Rundfunk^ von Intendant HansFlesch
In Nummer 30 der .Weltbiihne' vom 28. Juli stcllt Hcrr Herbert
Connor in seinem Artikel: ,,Die Schlagerclique dementi ert"
fest, er habe nicht vorausgesehen, 1fdaB weder vom berliner
Rundfunk, noch von der Reichsrundfunkgesellschaft auch nur
der Versuch einer Rehabilitierung gemacht werden wiirde."
Rehabilitierung? Man hat also der Funkstunde schwere Ver-
gehen nachgewiesen? Denn das Wort „ Rehabilitierung" ist
ja nur angebracht, wenn ein Delikt festgestellt, eine Verurtei-
lung erfolgt ist, einwandfrei, vor einem unanfechtbaren Tri-
bunal.
Nichts von alledem ist geschehen: Ein eh^maliger Propa-
gandaleiter eines Schlagerverlages tist mit den Tanz- und
Schlagerabenden des Rundfunks nicht zufrieden. Er gibt sei-
ner Unzufriedenheit dadurch Ausdruck, da8 er die Funkstunde
angreift. Dies unter dem Titel; Schlagerindustrie im Rund-
funk in Nummer 28 der .Weltbuhne' vom 14. Juli.
Nun ist zwischen dem 14. und dem 28. Juli allerhand in
der Welt geschehen. Just am Tage des Erscheinens der Vor-
wiirfe des Herrn Connor stellte die Danatbank ihre Zahlun-
gen ein, die Krise ... — es ist nicht notigt das auszufuhren.
Fur den Rundfunk bedeutete das Konzentration auf den Ver-
such, so eng wie moglich mit den Geschchnissen in Verbin-
dung zu sein. Ob er zu. wenig tat oder nicht, steht hier nicht
zur Diskussion; die Schwierigkeiten waren sehr grofi, das Inter-
esse unvermindert bei der Politik, die Wichtigkeit der Tanz-
Abende und damit auch — so bedauerlich das ist — die Wich-
tigkeit des Herrn Connor muBte zurucktreten.
In ruhigeren Zeiten war das anders. Die Notwendigkeit
der Schlagermusik im Rundiunkprogramm, auf die hier nicht
einge^angen zu werden braucht, erfordert eine aurmerksame
Behandlung. Die Funkstunde holte sich fur die Leitung des
gesamten Unterhaltungsteils deshalb vor .nun bald zwei Jahren
einen begabten und fortschrittlichen jungen Musiker: Walter
Gronostay. Sie hatte die Freude, einen gliicklichen Griff
durch Erfolg bestatigt zu sehen. Denn Herr Gronostay wurde
nicht nur in seiner Arbeit von „Publikum und Presse aner-
kannt", er machte nicht nur gute und interessante Programme,
er machte sich auch daran, in die hochst verwickelten und
undurchsichtigen Verhaltnisse, die (Achtungt Herr Connor!) im
Umkreis des Schlagers tatsachlich vorhanden sind, Ordnung zu
bringen. Urn diese Schwierigkeiten zu verstehen, ist es notig,
sich einen Augenblick damit zu beschaftigen, wie eigentlich
ein Schlager ins Rundfunk-Programm kommt, wieso der eine
oft gespielt wird, der andre nur einmal erscheint, und warum
die Verhaltnisse da so kompliziert sind.
Fur den Schlagerfabrikanten bedeutet haufiges Spielen im
Kaffeehaus, im Tanzlokal und vor allem im Rundfunk gute
Propaganda. Komponist und Dichter werden infolgedessen
alles daransetzent dafi ihre Schlager soviel gespielt werden,
wie nur moglich* Sie setzen den Hebel bei der Kapelle an.
Die Tanzkapelle und ihre eventuelle Bereitschaft, einen Schla-
182
ger zu iibernehmen, ihn fiir ihre spezielle Besetzung zu instru-
mentieren, einzustudieren und zu spielen, bilden den wichtig-
sten Faktor in der Wahrscheinlichkeitsbilanz der Schlager-
firma. Dazu kommen die Refrain-Sanger, kommen Unterneh-
mungen, die Tanzkapellen spielen lassen etc. Sic alle sucht
der Schlagerfabrikant zu beeinflussen.
Wie sieht die Sache nun beim Rundfunk aus? Im Ge-
gensatz zu seinem sonstigen Musik-Programm, das er vollig
in der §land hat, steht dem Rundfunk die Auswahl der Stiicke
der Tanzmusik nicht vollig frei, wenn bekannte Tanzorchester
bei ihm gastieren. Er hat mit dem Repertoire der einzelnen
Kapellen zu rechnen und wahlt lediglich aus den von ihnen
einstudierten Stucken aus- Er achtet dabei darauf, daB sich
Schlager nicht zu haufig wiederholen, Erfolge nicht zu stark
ausgenutzt werden, kurzum, daB die Tanzmusik abwechslungs-
reich ist und richtig ausbalanziert. Vor allem aber greift er
ein, wenn ein Erfolg kunstlich ngemacht" werden soil, und
hier liegt die Schwierigkeit seiner Arbeit. Es ist gar nicht zu
sagen, was alles probiert wird und auf welch versteckten We-
gen der Schlager versucht, ins Fun kh a us zu gelangen. Vor
kurzem erst stellten wir fest — und das ist nur ein Beispiel — ,
dafl Refrainsanger sich von Verlegern fiir jedes Lied Geld zah- .
len HeBen; die Verleger befanden sich solchen Forderungen
gegenuber in der unangenehmsten Situation, weil sie beftirch-
ten muBten, daB ihre Erzeugnisse, wenn sie nicht zahlen, von
gewissen Kapellen oder Refrainsangern boykottiert wiirden.
Die Berliner Funkstunde rief, als sie davon erfuhr, die Schla-
gerverleger zusammen, mit dem positiven Resultat, daB der-
artige Gelder nicht mehr gezahlt werden, ja daB alle Verleger
sich verpflichteten, gegen solche und ahnliche Versuche vor-
zugehen. Es sei hier bemerkt, daB auch die guten Tanzkapel-
len den Rundfunk in diesen Bemuhungen urn Sauberkeit in
dankenswerter Weise unterstiitzen.
So liegen die Verhaltnisse- Die Funkstunde kann nur
froh dariiber seinf wenn ihr Handhaben zum Eingreifen gegeben
werden, falls ihr trotz aller Vorsicht etwas entgangen ist. Eine
solche Handhabe bedeutet aber gewiB kein voller Unrichtig-
keiten steckender Artikel wie der des Herrn Connor. Seine
1(Enthullungen" haben jene verzweifelte Ahnlichkeit, die alle
sogenannten Enthiillungen von Leuten miteinander haben, die
ehemals zu einer Branche gehorten und nun ihre angeblichen
Kenntnisse verwerten wollen. Was der friihere Propaganda-
Leiter beispiels weise iiber die Beziehungen des Herrn Wil-
czynski zur Funkstunde zu sagen weiB, ist zu berichtigen kaum
dem Ernst der Zeit entsprechend. Herr Doktor Wilczynski
steht — durchaus libereinstimmend mit seinem eignen De-
menti — in keinem Vertragsverhaltnis zur Funkstunde, hat
keinen EinfluB auf das Programm, Herr Gronostay, der die
Tanzmusik leitet, hat keine Veranlassung zu „zittern, wenn
Herr Wilczynski hustet". Die Funkstunde macht ihre Tanz-
und Schlagerprogramme. Sie mufi dabei, wie oben dargelegt,
das einstudierte Repertoire der einzelnen Kapellen bis zu
einem gewissen Grad beriicksichtigen, sie muB die echte, kurz-
183
lebige Popularitat cincs wirklichen Schlagers beachten. Jede
andrc Beeinflussung, komtne sie vom Verleger, vom Schlager-
fabrikanten, vom Schlagerdichter oder -Komponisten, spielt in
ihrer Programmgestaltung keine Rolle und wird, wo immer sic
sich einschleicht, mit alien Mitteln bekampft.
Mehr ist dariiber nicht zu sagen. Herrn Connors Schlager-
angriff war kein Schlager, ehcr cin Schlag ins Wasser, der
nichts andres erzielte, als daB das aufspritzende Wasser den
Pudel, der keinen Kern hat, begoB. ^
BreSSart von Rudolf Arnheim
Dressart iiberragt die Sachlage urn Haupteslange, und eben
deshalb paBt er nicht in sie hinein. Was die Nase in sei-
nem Gesicht, das ist er selbst im Ensemble — Sperrgut, Wohl-
geformte Liebhaber und vorschriftsmaBige Soldaten werden
vom Publikum nach Gebuhr erst dann gewurdigt, wenn Bres-
sart als lebendes Gegenbeispiel in der Nahe weilt. Aber
weilt er denn je? Es ist Weile mit Eile. Er verkorpert Ge-
schaftigkeit und die Sorgen des Alltags — diesmal, in dem
Ufa-Film „Nie wieder Liebe'1, als Kammerdiener — , wahrend
Harry Liedtke, in die weiBe Tracht der Unschuld und des
Seglers gekleidet, Schecks unterschreibt und Madchen kiiBt,
Bressart ist durch seine langen GliedmaBen dazu> pradesti-
niert, Kastanien aus dem Feuer zu holen. Zwei tiefe Sorgen-
falten in seinem Gesicht zeigen an, daB er vorher gewuBt hat,
was kommen wiirde, und daB er weiB, was kommen wird,
Bre&sart kommt vor dem Fall. Seine zwei raffenden Krebs-
augen sammeln der Nase Stoff zum Sich-Rumpfen. Die Lippen
schieben sich begehrlich vor, aber es ist nur die Begierde, zu
zweifeln und zu verneinen. Der Verstand hat im Lustspiel
keine Statte, und so wandelt er sich zum Bressart. Als das
Wappentier der Weisheit lebt Bressart unter den Filmschau-
spielern wie die Eule unter den Vogeln, Sie necken ihn, sie
hacken auf ihn los. Sie sind schon und dumm und grausam.
Er aber hat es alles gleich gewuBt. Er keckert wie ein ge-
argertes Saxophon, er stolpert liber die Wurzeln und Stamme
der Worter, er stolpert auch iiber die jungen Madchen, denn
ihm ist Hindernis, was andern verehrungswiirdig. Seine wich-
tigste Gebarde ist die des Regenschirms: die Arme vom Kor-
per abheben und sie wieder fallen lassen. Er breitet die Arme
zum Fluge, aber er weiB zugleich, daB man nicht fliegen kann,
und so laBt ers bleiben. Dieser klagende Fliigelschlag der
Resignation dient ihm als bescheidenes FortbewegungsmitteL
Er zuckt die Achseln, nein, er zuckt die Arme bis hinunter
zu den Fingerspitzen, es ist die Mimik des „Ich habe es nicht
gewolltl", des ,,Hier stehe ich, ich kann nicht anders!", des
Offenbarungseides. Er akzeptiert das Leben unter Vorbehalt
und in der stillen Absicht, es seinem Anwalt zu iibergeben.
Er schaut bekummert auf Harry Liedtke. Er sieht aus, wie
wir durchaus nicht aussehen mochten, aber er ist der einzige,
in dem wir uns erkennen.
184
Banken-Krach von b. Travea
Danksttirme beginnen. Die Sparer sind von Panik erfaBt worden.
^ Sie fiirchten, nein schlimmer, sie sind sicher, daB ihr Geld, fur
das sie gespart und gedarbt haben, verloren ist. In unendlich langen
Reihen stehen sie schon vor Mitternacht vor den Banken, urn die
ersten zu sein, wenn die Kassen offnen. Je fruher man da ist, je
groBer die Moglichkeit, noch etwas zu retten. Das geordnete Leben
der Banken wird zerrissen, Alle Krafte miissen heran, um auszuzahlen.
Niemand zahlt etwas ein. Alle K red He werden aufgekiindigt. Banken
in andern Landern werden bittend angekabelt, auszuhelfen mit fliissi-
gem Geld und mit Schecks. Alle Reserven der nationalen Bankver-
einigung werden aufgerufen. Aber die Reihen vor den Banken ver-
Iangern sich,
Und dann beginnen die Banken zu krachen, weil sie nicht zahlen
konnen. Das Geld ist ausgeliehen; denn wenn die Bank kein Geld
ausleihen kann, dann kann sie ihren kleinen Sparern keine Zinsen
zahlen. Erst krachen die kleinen Banken. Die groBen helfen sich
noch damit, daB sie die Kassenstunden auf zwei, endlich auf eine
beschranken. Dann beginnen auch groBere zu krachen.
Und hinter all diesem Wirrwarr sitzt kein plotzliches Verschwin-
den eines Erdteils, sitzt keine gigantische Naturkatastrophe, die un-
wiederbringliche Werte vernichtete. Hinter all diesem Zusammen-
brechen wirtschaftlicher Ordnung und wirtschaftlicher Sicherheit, die
bestandig bedroht wird von Aufwieglern, sitzt nichts andres als die
gestorte Einbildung derer, die etwas haben, die unsicher gewordene
Hoffnung derer, die viel besitzen, und derer, die wenig besitzen. Alles
das, was nun in der Wall Street geschieht, beruht in nichts andrem,
als daB die Gedanken plotzlich, zu plotzlich, eine andre Richtung ein-
genommen haben als die gewohnte, Massenhypnose. Massensuggestion.
Die Suggestion, die Einbildung: „Ich kann verlierenf" reiBt dieses
schone, von Gott gewollte, von Gott begnadete, von Gott beschiitzte
Wirtschaftssystem in Fetzen. Und dennoch sind alle Werte gleichge-
blieben. Die Werte haben sich nicht geandert. Es ist ebensoviel
Kohle auf Erden wie vorher. Alles Geld ist noch da, und es ist kein
Cent vom Erdball heruntergef alien in das Weltall, aus dem er nicht
mehr gefischt werden kann. Alle Hauser stehen noch da. Alle Wal-
der. Alle Wasserfalle. Alle Ozeane. Die Eisenbahnen und Schiffe
sind alle noch unversehrt. Und Hunderttausende gesunder und kraf-
tiger Menschen sind willig, zu arbeiten und zu produzieren und den
vorhandenen Reichtum der Erde zu vermehren. Kein Ingenieur hat die
Fahigkeit verloren, neue Maschinen zu konstruieren, Kein Kohlen-
schacht ist von einer Naturgewalt verschiittet worden. Die Sonne
steht leuchtend und warm am Himmel wie immer. Es regnet wie
immer. Das Getreide steht auf den Feldern und reift wie immer. Die
Baumwol If elder stehen in Pracht. Nichts hat sich am vorhandenen
Wert irdischen Reichtums geandert. Die Menschen, als Einheit ge-
sehen, sind ebenso reich wie gestern. Und nur darum, und allein
nur darum, weil sich der Besitz einzelner zu verandern und zu ver-
schieben droht, darum bricht eine Katastrophe fur die gesamte Mensch-
heit herein ...
Ein Wirtschaftssystem, eine Wirtschaftsordnung, geschaffen von
Menschen, die von sich selbst behaupten, Intelligenz zu besitzen, Men-
schen jedoch, die trotz aller ihrer so hochentwickelten Technik, die sie
schufen, noch immer nicht die Primitivitat vollig unzivilisierter Men-
schen iiberwunden haben, soweit ein durchdachtes und wohlgeregeltes
Wirtschaftssystem in Frage kommt.
Aus ,Die weiSe Rose'
185
WirtSCtiaft blingt Not von Bernhard Citron
Das stille Moratorium
p s gehort zu den groBen Wundern dieser an Merkwiirdig-
keiten iiberreichcn Zeit, daB in cinem hochkapitalistischen
Lande mitten im zwanzigsten Jahrhundert der Geldverkehr
drei Wochen lang ruhen konnte. Das merkwiirdigste aber ist,
daB den Gralshutern des herrschenden Wirtschaftssystems,
den Kapitanen der Schwerindustrie, dieser kapitallose, nach
ihrer Auffassung, eigentlich anarchische Zustand ganz annehm-
bar erscheint. In den Reden, die auf der Prasidialsitzung des
Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 29, Juli gehal-
ten wurden, vermiBt man einen deutlichen Hinweis auf die
Notwendigkeit, den normalen Zahlungsverkehr wieder aufzu-
nehmen. Die Herren Kastl, Frowein und Silverberg ftihren
doch sonst eine recht scharfe Sprache, wenn es um erne
Schicksalsfrage der Privatwirtschaft geht. Im Schatten der
Bankfeiertage entwickelte sich aber ein stilles Generalmora-
torium, auf das die Industrie kaum mehr verzichten kann.
Die Danatbank wm*de illiquide, weil sie einen Teil der ihr
zur Verfugung gestellten kurzfristigen Gelder langfristig an-
gelegt hatte; von mancher Industriegesellschaft kann man sa-
geti, daB sie so mit ihr em ganzen Fremdkapital verfuhr. Daher
hat man in den mitteldeutschen Textilfabriken ebenso wie auf
den Huttenzechen Westdeutschlands die groBte Angst vor der
restlosen Durchfuhrung eines normalen Zahlungsverkehrs. Die
Bank en, die auch ohne ausgesprochenen Run sehr hohen An-
f orderungen begegnen werden, miissen in den nachsten Wochen
einen Teil d«r Debitoren fltissig machen. Vor allem werden
sie auf eine Verstarkung der bisherigen Deckungsunterlagen
dringen. Da auf die Wiederaufnahme des Zahlungsverkehrs
bald auch die Of fnung der Borsen f olgen diirf te, wird man dann
auch ermessen konnen, welche Einschiisse auf beliehene Wert-
papiere zu leisten sind. Gewisse Anhaltspunkte bieten auch
jetzt schon die Kurse deutscher Aktien und Rent en im Aus-
lande, Sollten die Einschusse nicht gezahlt werden, dann wur-
den die Zwangsverkaufe des verpfandeten Effektenbesitzes
mit so enormen Kursverlusten verbunden sein, daB die Zahl
der insolvent en Unternehmungen bedenklich steigen mufite.
Ahnlich wie dem Effektenbesitz geht es natiirlich auch den
Warenvorraten. Schon heute kann mit groBer Wahrschein-
Hchkeit vorausgesagt werden, daB so manches Kartell aufflie-
gcn wird, und daB bald zu Preisen verkauft werden muB, die
hinter den Mauern des Zollschutzes und zwischen den Stachel-
drahten der Kar telle in Deutschland bisher unbekannt war en.
Mit aller Deutlichkeit erweist sich dann, welche gefahrlichen
Auswuchse das Kartellwesen gezeigt hat. In dem Augenblick,
wo das eine oder das andre MitgHed aus dem Preisverband
ausbricht, erkennt die Offentlichkeit erst, daB Jahre hindurch
an einem iiberhohten Preisniveau festgehalten und fur die
wachsenden Vorrate eine falsche Bewertungsgrundlage ge-
schaffen wurde. In Krisenzeiten rachen sich alle Fehler, die
in vergangenen Jahren gemacht word en sind.
186
Konzern- Gefahren
Wie iiHigesund ist auch das Schachtelsystem der Konzerne,
Einen graden Weg in dcm Labyrinth eines weitverzweigten
Industrieunternehmens zu linden, ist unmoglich. Im Falle
Norddeutsche Wollc, dessen verbrecherischer Hintergrund cine
Ausnahmeerscheinung in der deutschen Industrie darstelltr
diente die Uniibersichtlichkeit des Unternehmens dazu, die
Kreditgeber zu tauschen. Aber komien nicht auch tiichtige
Konzernleiter einer Selbstta-uschung unterliegen, indem sie das
Verhaltnis der einzelnen Konzernglieder zueinander nicht rich-
tig einschatzen?
Greifen wir einen beliebigen Industriekonzern, der durch
nationale und internationale Kartelle gegen scharfes Absinken
der Preise geschiitzt ist, heraus. Dieser Schutz erstreckt sich
allerdings nicht auf den standig geringer werdenden Absatz.
Von Jahr zu Jahrf von Monat zu Monat haufen sich die Vor-
rate, die in der Bilanz zu Kartellpreisen eingesetzt sind, nach-
dem Abschreibungen vorgenommen wurden, die fur normale,
nicht aber fur kritische Zeiten ausreichen. Die einzige Ver-
kaufsmoglichkeit fur diese Bestande wiirde sich aus Schleuder-
preisen ergeben, zu denen man im Inlande mit dem Kartell,
und im Auslande ohne dieses schreiten miiBte.
Etwa 96 Prozent des Aktienkapitals liegt in den Handen
verschiedener Holdinggesellschaften. Beherrscht wird der
Konzern von einer Gruppe, die eigentlich nur 3 Prozent des
Kapitals besitzt, der es aber gelang, in den verschiedenen an-
dern Holdinggesellschaften EinfluB zu gewinnen und auf diese
Weise nicht nur diesen Konzern zu kontrollieren, sondern zur
linken Hand noch einen zweiten aufzubauen. Die eigenartige
Verschachtelung bewirkt nicht nurt daB in den einzelnen Kon-
zerngesellschaften der groBte Teil der Aktiven aus aktienma-
Bigen Beteiligungen an den andern Gesellschaften besteht, son-
dern daB dieselben Aktien in Form verschiedener Beteiligun-
gen in mehreren Gesellschaften gleichzeitig auftauchen. Es
ist keineswegs zutrefferid, daB Aktienbesitz heute noch wie
in friihern Jahren die am leichtesten zu mobilisierende Kapi-
talanlage darstellt. Die fertige Ware ist vom Unternehmen
losgelost und hat zumeist irgend einen internationalen Markt-
preis. Die Aktie ist ein Teil des Unternehmens, ihr Kurs ist
abhangig von den gegenwartigen und kiinftigen Gewinnen der
Gesellschaft, von den vorhandenen Aktiven und von der Auf-
nahmefahigkeit der Borse. Nimmt man an, daB weder in die-
sem noch im folgenden Jahre Gewinne zu erzielen, daB Inter-
essenten fur die Aktien kaum vorhanden sind, so wird man
einen recht niedrigen Kurs erwarten. Dieser Kurs dient aber
in dem vorliegenden Falle den Gesellschaften als Bewertungs-
grundlage ihrer wichtigsten Aktiven und den Banken als
Sicherheit fur die Konzernschulden.
Sozialiskrung und Bationalisierung
Es paBt nicht ganz in den Rahmen der gegenwartigen
Burgfriedenspolitik, wirtschaftliche Gefahren aufzuzeigen und
18T
dem Leser dann wciterc Schliisse anheim zu stellen, Defaiti-
sten sind heute wieder so verpont wie vor siebzehn Jahren.
Ein Witzblatt gab nculich sehr treffend cincn zeitgemaBen
Armeebefehl aus; „Gediente Kriegsberichterstatter haben sich
in reingewaschenem Korperzustand im Bureau der Reichs-
/pressestelle einzufinden", Abcr grade angesichts der schweren
Wirtschaftskrise, die eine Staats- und Existenzkrise zugleich
ist, hat die 5ffentlichkeit das Recht, Klarheit zu verlangen.
Da das Parlament ausgeschaltet ist, mufi wenigstens der Zei-
tungsleser eine gewisse Kontrolle iiber die MaBnahmen des
Reiches ztigunsten der Privatwirtschaft ausiiben konnen, Vor
allem muB dariiber gewacht werden, dafi die Staatsaktionen
nicht miBbraucht werden, Schon jetzt darf die Regierung mit
mehr Recht als ihre Vorgangerin vom Jahre 1919 dem Volke
verkiinden: ,,Die Sozialisierung marschiert" — die Sozialisie-
rung der -Verluste, versteht sich, Aus Kreisen der Wirtschaft
vernimmt man ungefahr folgenden Einwand: „Erst hat das Reich
auf dem Wege sozialer und sieuerlicher Belastungen unsre
Gewinne sozialisiert, nun ist es recht und billig, daB man
uns einen Teil der Verluste ersetzt, die eine 'Folge falscher
Politik gewesen sind." Ist nicht die Industrie an der Arbeits-
losigkeit bewuBt mitschuldig, da die Rationalisierung Arbeit s-
krafte sparte? Man braucht kein Maschinenstiirmer zu sein,
um diese Frage zu bejahen,
Ermoglicht wurde dieser ProzeB durch lang- und kurz-
fristige Auslandskredite. Dagegen hat Schacht als Reichsbank-
prasident niemals opponiert, er beschrankte sich immer nur auf
die Kritik am Gebaren der offentlichen Hand- Die ,,Bera-
tungsstelle fxir Auslandsanleihen*' sah Jahre hindurch ihre Auf-
gabe grade darin, den internationalen Anleihemarkt fur die
Privatwirtschaft frei zu halten, Der ehemalige Reichsbankpra-
sident erblickte in dem groBen Auf wand der Kommunen einen
tibertriebenen „Luxfus", wahrend die iiberwiegende Mehrheit
des Volkes Badeanstalten, Grtinflachen und Wohnungsver-
besserungen als Kulturfortschritt betrachtet. Man mag dar-
iiber streiten, ob es sich bei diesen Ausgaben um totes oder
werbendes Kapital handelt. Aber nicht einmal der mit Recht
gescholtenen Grundstiickspolitik der Stadt Berlin kann man
nachsagen, daB sie Werte zerstort hatte. Diese Wirkungen
aber haben die mit Auslandsgeld genahrten Rationalisierungs-
Versuche der Industrie gezeitigt. Ware in Deutschland eine
gute Konjunktur von langerer Dauer eingetreten, dann hatten
die ersparten Personalausgaben vielleicht in einigen Jahren die
groBen Investitionen, die fur die Betriebsmechanisierung auf-
gewandt wurden, amortisiert. Man durfte nicht in blinder Ab-
hangigkeit von amerikanischen Wahnideen an eine ewige
, prosperity" glauben, sondern man muBte sich sagen, daB die
Betriebe im gunstigsten Falle zu einem Zeitpunkt rentabel ge-
worden waren, wo selbst unter normalen Verhaltnissen die
Konjunktur ihr Ende erreicht haben wiirde. Es waren also
noch weitere Jahre verstrichen, bis der deutschen Volkswirt-
schaft ein Nutzen erwachsen konnte. Da aber die Konjunk-
turkurve nicht diesen regelmaBigen Verlauf nahm, sondern im
188
Gegenteil jah abficl, kann die Kapazitat der MrationaIisierten"
Betricbe nicht im entferntesten ausgenutzt werden. Was blieb(
sind Schulden auf der <einenf Arbeitslosigkeit auf dcr andern
Scitc. Die Wirtschaft aber hat sich und den Staat in Not ge-
bracht. Ratio 1st Vernunft, (fVernunft wird Unsinn",
Poesie rer. pOl. von Erich Kastner
Subventionen
Subventionen sind die Summen,
ohne die wir prompt verkiimmern.
Das Geschenk kommt von den Dummen
und das Geld von noch viel Dummern,
Lohne
Unerhorte Geldbetrage
braucht man fur die Arbeitskrafte.
Lohn ist nichts als Armenpflege
und verdirbt bloB die Geschafte,
Kredite
Die Reichsbank jagt ins Ausland Brief e:
„Borgt Geld, weil sonst der Staat zerbricht!"
Das ist die Subalternative,
und etwas Drittes gibt es nicht.
Goldivdhrung
* Das Gold, das liegt im Keller,
woselbst es Noten deckt.
Ihr jammert, ohne Heller,
vor eurem leeren Teller.
Das Gold, das liegt im Keller.
Hauptsache, daC es schmeckt!
tfberproduktion
Wir fabrizieren nur ins Voile, .
und wer nichts kauft, lafits eben sein.
Der Konsument spielt keine Rolle,
Wir motten unsre Waren ein. v
Mapitalfluchi
Der Staat drapiert sich als Bezwinger
und flucht, weil unser Geld verschwand.
Die Schweiz ist weit, So lange Finger
hat keine offentliche Hand.
189
Bemerkungen
Wie empfangen wir unsre
Krieger?
C eit der Mobilmachung sind
*^ siebzehn Jahre vergangen,
ohne dafi sich an dem Wahnsinn
der kriegshetzerischen Kreise viel
geandert hatte. Zwischen den ir-
ren Tonen der Nazis von heute
und den tollsten Blilten damali-
ger Kriegsnarretei ist kein allzu
groBer Unterschied. Der Geist,
den wir damals mit Kriegs-
psy chose entschuldigten, dieser
Geist ist heute starker denn j'e,
obgleich es keine Entschuldi-
gungspsychose mehr gibt. Noch
mehr als in andern Landern fand
er von jeher in Deutschland seine
Abnehmer, Die vernich tends ten,
grimmigsten Elaborate des Im-
perialismus sind auf deutschem
80 den gewachsen. Eine Perle
dieser Art, 1915/16 entstanden,
eine der bizarrsten und groteske-
sten Gewachse aus dem Sumpf
jener Tage ist „Die Mobil-
machung der deutschen Frau.
Ein Kriegsheft von E, Schuster
fiir unsre Frauen und Tochter".
Das Wesen dieses Amazonentums,
das Herr Schuster schon 1915 so
lebhaft propagierte, fafit er in
drei Fragen zusammen; „Wie
empfangen wir unsre {heimkeh-
renden Krieger? Wie ehren wir
sie? Wie decken wir ihnen die
Tafel?" Der Gehalt dieses Hef-
tes lafit sich in seiner ganzen Er-
barmlichkeit kaum interpretieren.
Aber der Text spricht fur sich
selbst:
„Es wird die Sorge sein, wie
unser Heim zu einem glucklichen
deutschen hauslichen Herd ge-
stalten, wo echte, deutsche Sitte
und Gemiitlichkeit der Grundzug
ist, nicht Oberflachlichkeit und
eitler Tand. Darum erlaube ich
mir denWortlaut: Deutsche Frau,
zeig deutsches Wesen.
Wie dtirfen wir uns kleiden
beim Empfang? Das ist auch
ein Punkt, der streng in den
Rahmen des Ereignisses gebracht
werden muB. Es sei nur aufEin-
fachheit hingewiesen, die immer
das Zeichen einer vornehmen,
feierlichen Gesinnung ist, Viel-
190
leicht auch diirfte sich das Koni-
gin-Luise-Muster dem Ernst und.
der Wttrde, sowie auch seiner
historischen Bedeutung nach, am
besten anpassen, sofern eine ent-
sprechende deutsche Mode nicht
gefunden wird. Blumen im Haar
und im Zimmer sollten, je nach
der zu vertretenden Symbolsauf-
fassung nicht fehlen, Vielleicht.
laBt sich damit eine kleine ge-
schickt angelegte aber einfache
und sinnige Illumination verbin-
den, die natiirlich im Rahmen ge-
halten sein muB, verbunden mit
Dekoration des Kaiserbildest der
Konigsbiiste oder irgend einem
Feldherrn, unter dessen Ober-
befehl der Heimkehrende im-
Felde gekampft hat, — Beim
Eintritt ins Haus wird dem Krie-
ger ein Glas Rotwein von Dienst-
boten, oder sonst einer dem
Krieger bekannten Person ge-
reicht, eventuell von dem Haus-
besitzcr, wenn der Krieger es
nicht selbst ist, Dabei werden
ein paar warme, widmende Worte
gesprochen. Vergessen darf man
hier wieder den Takt nicht.
Der Heimgekehrte wird aller-
hand Bediirfnisse baben, die na-
tiirlich vorbereitet sein nuissen.
Ein Bad mit Unterwasche und
Kleidung sollte bereit sein, denn
das Bediirfnis ist unzweifelhaft
daf iir vorhanden, Auch f riihere
liebe Gewohnheiten des Gatten,
Sohnes oder Bruders, die uns be-
kannt sind, durfen nicht verges-
sen werden, wie zum Beispiel
Rauchwaren mit Feuerzeug nach
Tisch etcetera. SchlieBlich kann
die Gattin, Freundin, Braut oder
\ Schwester dem Heimgekehrten
eine besondere Obcrraschung da-
durch bereiten, indem sie neue
Gliicks- oder Eheringe mit ent-
sprechender Widmung besorgen
lassen, die wiederum den Tag:
kennzeichnet und die man dem
Heimgekehrten nach oder wah-
rend dem ersten Austausch an
den Finger steckt, j a vielleicht
auch sehr gut wahrend dem Zu-
tischegehen geschehen kann.
Die Tafel sollte vor Ankunft
des Kriegers gedeckt und dieGe-
rrichte so vorbereitet sein, daB
man ohne groBe Umtriebe zur Ta-
fel gehen kann, auch wenn wir
die Ankunft nicht auf die Stunde
oder den Tag hin erraten kon-
nen/* (Bei dem KohlriibenfraB
kams freilich nicht drauf an, ob
er ein paar Tage friiher oder spa-
ter gekocht war.)
„Der Heimkehrende weiB wohl
die langentbehrte Bequemlichkeit
zu schatzen, weshalb es sich
empfiehlt, jeder Stuhllehne ein
Lehnkissen mit dem darauf-
gestickten Ehrenkreuz anzuhan-
gen, das eine selbstangefertigte
Stickarbeit der Hausfrau sein
soil."
„Die Tafelbrotchen soil ten in
Form des Ehrenkreuzes beim
Backer bestellt werden. Ebenso
bricht man die Serviette in Form
des Ehrenkreuzes, das man mit
Immergrun verziert und kann als
Zierserviette noch die Palme
brechen. Auch die Speisekarte in
Form einer Gedenkkarte mit
Widmung sollte selbst auf der
einfachsten Tafel nicht fehlen.
Diese Karte sollte nicht ver-
schleudert werden, da sie auch
noch spater fiir Kinder und Kin-
deskinder als Erinnerung an die
groBe Zeit von sittlich^m Wert
ist. Das Speisezimmer sollte eine
vaterlandische Ausschmtickung
erhalten, und auf dem Speise-
tisch die deutsch-osterreichische
Siegesfahne wehen oder eine
groBere Fahne in der Ecke des
Zimmers aufgestellt sein."
Einen weitern Kommentar zu
diesen Ausfuhrungen des lob-
lichen Herrn Schuster ist iiber-
fliissig. Sie zeichnen treffender
als vieles andre den Geist jener,
die sich als die berufenen fuhl-
ten und fuhlen und auch heute
noch als wiirdige Vertreter des
Deutschtums im In- und Aus-
lande spazieren gehen. Herr
Schuster war Lehrer an der
Hauswirtschaftl. Frauenschule in
StraBburg, wo er sich vermutlich
neben den (,vaterlandischen" Auf-
gaben besonders dem Stil der
deutschen Sprache gewidmet hat.
Er sagt selbst, daB er mit seinen
Vortragen in obigem Sinn viel
Anklang in Deutschland gefunden
hat. Heute wird er wohl bei den
Nazis sein.
Max Goering
Der bewachte Kriegsschauplatz
Im nachsten letzten Krieg wird
*■ das ja anders sein . . . Aber
der vorige Kriegsschauplatz war
polizeilich abgesperrt, das ver-
gifit man so haufig. Namlich:
Hinter dem Gewirr der Acker-
graben, in denen die Arbeiter und
Angestellten sich abschossen,
wahrend ihre Chefs daran gut
verdienten, stand und ritt un-
unterbrochen, auf alien Kriegs-
schauplatzen, eine Kette von
Feldgendarmen. Sehr beliebt sind
die Herr en nicht gewesen; vorn
waren sie nicht zu sehen, und
hinten taten sie sich dicke. Der
Soldat mochte sie nicht; sie er-
innerten ihn an i enen burger-
lichen Drill, den er in falscher
Hoffnung gegen den militari-
schen eingetauscht hatte.
Die Feldgendarmen sperrten
den Kriegsschauplatz nicht nur
von hinten nach vorn ab, das
ware ja noch ver standi ich ge-
wesen; sie paBten keineswegs nur
auf, daB niemand von den Zi-
vilisten in einen Tod lief, der
nicht fiir sie bestimmt war. Der
Kriegsschauplatz war auch von
vorn nach hinten abgesperrt.
„Von welchem Truppenteil sind
Sie?" fragte der Gendarm, wenn
Das Buch vom Menschen
voa Bo Yin Ra ftihrt zum begluckenden Ziel bewuBten Selbsterlebens und
lafit dabei keines der Probleme menschlichen Gemeinschaftslebens aufier
acht. Viele Tausende danken diesem Buch ihre seeiische Befreiung!
Die Biicher von B6 Yin Rd
aind in jeder besseren Buchhandlung zu erhalten. Einftihrungsschrift von
Dr. jar. Alfred Kober-Staehelin kostenlos. Der Verlag: Kober'sche Ver-
lagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
191
er auf einen einzelnen Soldaten
stiefi, der versprengt war. nSic",
sagte er. Sonst war der Soldat
„du" und in der Menge „ihr" —
hier aber verwandelte er sich
plotzlich in ein steuerzahlendes
Subiekt, das der burger lichen
Obrigkeit untertan war. Der
Feldgendarm wachte daruber,
dafi vorn richtig gestorben wurde.
Fur viele war das gar nicht
notig. Die Hammel trappelten
mit der Herde mit, meist wufiten
sie gar keine Wege und Moglich-
keiten, urn nach hinten zu kom-
men, und was batten sie da auch
tun soil en! Sie war en* ia doch
geklappt worden, und dann: Un-
tersuchungshaf t, Kriegsgericht,
Zuchthaus, oder, das schlimmste
von allem: Strafkompagnie. In
diesen deutscben Strafkompag-
nien sind Grausamkeiten vorge-
kommen, deren Schilderung,
spielten sie in der franzdsischen
■ Fremdenlegion, gut und gern
einen ganzen Verlag ernahren
konnte. Manche Nationen jagten
ihre Zwangsabonnenten auch mit
den Maschinengewehren in die
Maschinengewehre.
So kampften sie.
Da gab es vier Jahre lang
ganze Quadratmeilen Landes, auf
denen war der Mord obligato-
risch, wahrend er eine halbe
Stunde davon entfernt ebenso
streng verboten war. Sagte ich:
Mord? Nattirlich Mord. Soldaten
sind Morder.
Es ist ungemein bezeichnend,
dafi sich neulich ein sicherlich
anstandig empfindender pro-
testantischer Geistlicher gegen
den Vorwurf gewehrt hat, die
Soldaten Morder genannt zu ha-
ben, denn in seinen Kreisen gilt
das als Vorwurf. Und die Hetze
gegen den Professor Gumbel fufit
darauf, dafi er einmal die Ab-
deckerei des Krieges „das Feld
der Unehre" genannt hat. Ich
weifi nicht, ob die randalierenden
Studenten in Heidelberg lesen
konnen. Wenn ja: vielleicht be-
muhen sie sich einmal in eine
ihrer Bibliotheken und schlagen
dort jene. Exhortatio Bene-
dicts XV. nach, der den Krieg
Mein entehrendes Gemetzel" ge-
nannt hat und das mitten im
192
Kriege! Die Exhortatio ist in
dieser Nummer nachzulesen.
Die Gendarmen aller Lander
hatten und haben Deserteure
niedergeschossen. Sie mordeten
also, weil einer sich weigerte,
weiterhin zu morden. Und sperr-
ten den Kriegsschauplatz ab,
denn Ordnung mufi sein, Ruhe,
Ordnung und die Zivilisation der
christlichen Staaten.
Ignaz Wrobel
MacDonald in Degerloch
C inmal, als ganz junger Mensch,
*-* war ich bei der beriihmten
Agitatorin Klara Zetkin ange-
stellt. Sie gab damals in Deger-
loch bei Stuttgart die sozialistische
Frauenzeitschrift ,Die Gleichheit'
heraus. Meine Aufgabe war; Die
Korrespondenzen aus den einzel-
nen Bezirken durchzuarbeitenT
druckfertig zu gestalten. Ich er-
innere mich genau, welche Not ich
mit den von Trockenheit knattern-
den, ganz unmoglichen Korre-
spondenzen eines Berichterstatters
hatte, der heute Polizeiprasident
einer der grofiten deutschen
Stadte ist. Ich hatte ihm damals
allenfalls die Karriere eines Kon-
sum-Lagerhalters prognostiziert.
So ist das Leben.
In freien Stunden machte ich
mich mit Marx vertraut. Da mir
Gotzerianbetung nicht lag, konnte
ich mich mit den Praktiken der
damaligen marxistischen Partei-
oberlehrer nicht befreunden.
(Ubrigens hat mich kiirzlich eine
Auflerung Rudolf Breitscheids in
dieser Zeitschrift unterrichtet,
dafi die Parteidoktrinare — wenn
es ihnen grade gelegen ist —
heute genau noch so stramm am
Wort festhalten konnen wie da-
mals. Das geschieht ja wohl
„zwangslaufig" immer proportio-
nal der Nichtbeachtung des In-
halts. Immer wieder hort man
Opportunisten im selben Augen-
blick pathetisch auf den Gehrock
des Propheten schworen, da
dessen Hirnleistung eliminieren
zu helfen ihnen Stolz und Vor-
Jbedingung zur Karriere ist, Doch
dies nur nebenbei.)
In jene degerlocher Zeit fiel
ein gewaltiges Internationales
Meeting auf dem Cannstatter
Waasen, und diesem Umstand
hattc ich die personliche Bekannt-
schaft mit den groflen Unter-
minierern der Zeit zu verdankeH. '
(Natiirlich {ernte ich sie kennen,
nicht sie mich, denn sie waren
Fiihrer, ich ein unbekannter jun-
ker Mensch,)
Eines Tages geschah es, daB
bei Klara Zetkin Jean Jaures,
der polnische Fiihrer Daszinsky
(der heutige Sejm-Marschall) und
MacDonald beisammen saBen,
Von Jaures ist mir eine Epi-
sode in der Erinnerung, Als er
zu einer Versammlung im Freien
sprach — es war furchtbar heifi
an diesem Tage — wurde eine
Arbeiterin ohnmachtig. Jaures —
auch einer, dem das Leben von je
naher stand als die Doktrin, wes-
halb er auch im An fang des
Krieges seins biiBen muBte im
Gegensatz zu den Doktrinaren,
die sich ihrs auf Kosten der
Menschheit erhielten — also
Jaures hielt mitten in seiner
Rede inne. Er hatte den Vorfall
sofort bemerkt. Die gauze Inter-
nationale war ihm in diesem
Augenblick nicht so wichtig wie
die kranke Arbeiterin' vor ihm.
Noch sehe ich die giitige Be-
wegung: Wie er seinen breiten
bretternen Strohhut vom Kopf rifl
und schutzend liber die Frau
hielt, die dann bald wieder zu
sich gebracht war. Nun konnte
Jaures weiter reden. (Entschuldi-
gen Heir Breitscheid — so war
Jaures, ich kann nichts dafur, bin
aber beruhigt, daB solche Form-
losigkeiten in einer Versammlung
von Parteiprominenten hente
nicht mehr vorkommen konnten.)
Aber zu MacDonald! Ich habe
den trommelnden Klang seiner
Stimme von damals heute noch
im Ohr. UnvergeBlich, wie er, in
seinen Rednergesten schon be-
herrscht, nur seine Stimme wir-
ken lieB, und sie wirkte so, da&
eine junge Arbeiterin, die ich
kannte, in ekstatische Zustande
fiel, wenn bloB der Name ge-
nannt wurde. Doch uns Jtingsten
auf dem Waasen machte noch
mehr als MacDonalds Stimme
seine groBe leuchtend rote
Plastronkrawatte Eindruck, die-
den ganzen Westenausschnitt
fiillte. Man darf nicht vergessen,
daB derartiges damals noch als
Herausforderung wirkte. Rote
Nelken im Knopfloch zu tragen,
war unter Umstanden eine krimi-
nelle Angelegenheit. Kurzum,
MacDonald leuchtete nur so in-
Rot. Im ubrigen sah er gut aus,
fast zu gut. Die Frauen konnten,
wie bemerkt, bei seinem Anblick
alles Mogliche erleben. Auch
innerhalb seiner revolutionaren
Partei ist derartiges nicht ohne
Belang.
Man stelle sich vor, wie
bescheiden sich ein j unger Re-
daktionsgehilfe am Ende eines
Tisches zu verbergen suchte, um
dem solche Manner safien. Der
breite gutmiitige Jaures schaufelte
die Speisen unter heiteren Ge-
sprachen in die Bezirke seines
viereckigen Bartes; auch der pol-
nische Fiihrer gab sich ganz leger.
Anders MacDonald, der wie an
einer illustren Tafel speiste und
sorgsam achtzugeben schien, daB'
kein Fettfleck seine pompose rote
Krawatte verunziere. Ich er-
innere mich deutlich, daB ich un-
geachtet meiner Ehrfurchtshaltung^
grade ^ dieses Moment wie eine-
historische Kuriositat registrierte.
Niemand hatte bei dem bemer-
kenswerten Essen einen froh-
lichern Heiterkeitserfolg erzielen
konnen als der, dem etwa einge-
fallen ware, MacDonald die
einstige ^ Ministerprasidentschaft
des englischen Imperiums zu
J£eine <RJIt. IOO- Jiusweise-Gebuhrl
OVine 3)ei>isen in die (fatral
20 Tage RM. 190,-
30 Tage RM.255,-
flans Godal, L-ubochna.
mit Kur und Badearzt 55,— RM. mehr,
inbIasire:Reise bin n. znriick,
erstkl.Verpflegung,Kurtaxe,Bediemiiig.
Alle Zimraer fli efi. warm. u. kait. Wasser.
Auskunft: Western! 6739.
193
prophezeien. Ich glaube, alle
flatten sich geschuttelt vor
Lachen. Ob auch er selbst?
Sucb is life. Der tapfere
Jaures ist tot; die kuhne Klara
Zetkin ist auf dem weiten Weg
iiber Moskau und zuruck in Al-
tersvergessenheit versunken und
MacDonald, der schone Mann mit
der aufreizenden Stimme, wurde
beim diesmaligen Besuch Deutsch-
lands nicht von der biedern
degerlocher Polizei, wie damals,
miBtrauisch uberwacht, sondern
ganz, ganz anders empfangen.
Die Ieuchtcnd rote Krawatte
brachte er diesmal bestimmt nicht
mit! obgleich ihre herausfordernde
Couleur von den Fettflecken des
englischen Imperiums langst so
diskret umgefarbt sein diirfte, daB
sie dieser Republik eigentlich
nicht unangenehm ins Auge
stechen konnte,
Peter Scher
Epilog zur Bauausstellung
^jJT as wir brauchen, ist die Woh-
w nung zu dreiBig, ftinfzig,
hundert, hundertfiinfzig Mark.
Keinem Geschaftsmann wurde es
heute einfallen, seine Waren ohne
Preis ins Schaufenster zu stellen.
Die Bauausstellung, das groBe,
halb offizielle Unternehmen, ver-
zlchtet darauf; sie nennt keine
Preise und lafit auch den Ge-
sichtspunkt des Preises bei alien
ihren Darbietungen auBer Acht.
Die einzige Ausnahme bilden die
Typen von Studenten-Wohnrau-
men der beiden jungen Architek-
ten Heinz Rau und Heinrich Scha-
fer, mit Schlafdivan, Arbeits- und
Zeichentisch, Bticherregal, einge-
1»autem Schrank, eingebauter
Wasch- und Duschnische und
selbstverstandlich Zentralheizung.
Hier wurde zum Ausgangspunkt
die monatliche Miete von dreiBig
Mark, mit Bettwasche, genommen,
Man mag die Verantwortung
fur die Durchfuhrbarkeit die-
ses Preises den Architekten
tiberlassen — die Tatsache, daB
man vom Preis ausging, ist lo-
benswert genug und es ware rich-
tig gewesen, wenn die fur die
Ausstellung verantwortlich zeich-
194
nenden Architekten allesamt
einen ahnlichen Weg gegangen
waren. Ware es nicht besser ge-
wesen, wenn schon nicht ftir die
gesamte Ausstellung/ so zumin-
dest fur den Teil, der sich mit
dem Bauen in der Stadt beschaf-
tigt, zehn oder zwanzig Woh-
nungstypen nach verschiedenen
Preisen und Bediirfnissen aufzu-
stellen (wie es seinerzeit auf
der stuttgarter Ausstellung ge*
schehen ist) und deren Kosten bis
aufs letzte zu berechnen, viel-
leicht eine Subskriptibn auszu-
schreiben und zu sagen: diese
Wohnung kostet soviel; wenn sich
aber zehntausend Interessenten
daftir finden, kostet sie nur so-
viel ...
Statt dessen hat man extrava-
gante Luxuswohnungen in den
Mittelpunkt desjenigen Saals ge-
stelit, dem die groBte padagogi-
sche Bedeutung zukommt, weil er
als einziger den Besucher nicht
vor nichtssagende Tabellen oder
vor unfertige und zusammenhang-
lose Waren stelit sondern vor
wirkliche Raume und Hauser.
Glaubt Mies van der Rohe, den
wir bisher doch als einen bedeu-
tenden Architekten schatzten, mit
seinem ErdgeschoBwohnhaus, das
er unmittelbar daneben von seiner
Mitarbeiterin L. Reich wieder-
holen laBt, einen Zukunftstyp ge-
schaf fen zu haben, indem er an den
brennendsten Fragen der Gegen-
wart vorubergeht? Wir brauchen
heute keine Ausstellung der Woh-
nung des Menschen, der zuviel
Geld hat. Der reiche Mann hat
sich von jeher seine Wohnung
selbst gebaut, angepaBt seinen in-
dividuellen Anforderungen und
seinem personlichen Geschmack.
Eine Ausstellung aber, die zum
groBten Teil aus offentlichen Sub-
ventionen erbaut ist, hat wichti-
gere Aufgaben zu losen, als dem
Luxus verschwindend kleiner
Schichten zu dienen. Warum laBt
man hier die Gebrtider Luck-
hardt ein angebliches Einfa-
milienhaus bauen, dessen an-
spruchsvoller, groBer Raum mit
schwarzen Lackwanden und ver-
kriippelten Stahlstuhlen praktisch
bestenfalls fur einen kuriosen
Junggesellen in Frage kommt?
Was ist Walter Gropius, der
noch vor wenigen Jahren als Let-
ter des Bauhauses ganz bestimm-
te und sehr radikale Forderun-
gen an dieArchitektur stellte, ein-
gefallen, als er einen Bibliotheks-
raum mit mehr dekorativ als
praktisch scheinenden Tezett-
Rost-Wanden und einer ebensol-
chen Galerie und Treppe aus-
stattete? Ob es beute viele
Sportsleute gibt, die sicb einen
sicherlich nicht wenig kostspieli-
gen Raum nacb dem Vorbilde
Marcel Breuer leisten konnen,
weiB ich nicht, dagegen bin ich
der festen Oberzeugung, daB es
heute keinen Musiker mehr gibt,
der sich die Wande seines Mu-
sikraums mit den farbigen Flie-
sen nach den Entwurfen Kan-
dinskys belegen Iiefie. Und wo-
zu das Wiederkauen langst be-
kannter „Lebensregeln", die durch
monumentale und dekorative Auf-
machung nicht bemerkenswerter
werden? Es ist zwar nicht zu
leugnen: das auge braucht licht
— die nase braucht luf t — das
ohr braucht ruhe — der korper
braucht bewegung — aber derlei
Dinge auf eine riesige Wand zu
projizieren und mit bizarren
Bilddarstellungen auszuschmiik-
ken, liegt kein Anlafi vor. Dem-
gegemiber treten die wenigenBei-
spiele von Wohnungstypen in
den Hintergrund, zum Teil durch
ihre Belanglosigkeit, noch mehr
aber deshalb, weil der Besucher
an ihnen keinen MaGstab fur die
Anschaffungsmoglichkeiten findet
sondern bestenfalls Gelegenheit
hat, sich hier und da auf einen
Stahlstuhl zu setzen und die
Sitzfahigkeit zu priifen,
Ein Kapitel fur sich ist die Ab-
teilung t,Bildende und Baukunst".
Hier haben sich unter der Lei-
tung von Bruno Paul, der auf
sein Werk recht stolz zu sein
scheint, eine Anzahl Ktinstler im
Ausschmucken isoliert aufgebau-
ter Wande betatigt; Damit ist das
Gegenteil von dem erreicht, was
man eigentlich zeigen wollte,
namlich die Verbindung von Bil-
dender Kunst und Architektur,
Die ohne jede architektonische
Beziehung nackt nebeneinander
stehenden Wandmalereien bewei-
sen nichts — man hatte sie doch
wohl in Architekturen stellen
miissen. Aber, ist es denn tiber-
haupt richtig, heute, wo man
eigentlich nicht das dauerhafte
sondern das bewegliche Heim be-
vorzugt, in so aufdringlicher
Weise eine Technik zu propagie-
ren, die ganz unzeitgemaB ist ;
denn fiir die moderne Wohnung
scheint das bewegliche Bild doch
den einzig brauchbaren Typ des
Wandschmuckes abzugeben!
Nur in einer einzigen- Abteilung
der grofien Ausstellung scheinen
die Besucher wirklich auf ihre
Rechnung zu kommen, in der
theoretischen, wo man sich tage-
lang wirklich Wissenswertes, ne-
ben vielem Unnotigen, vorfuhren
lassen kann. Sehr auf fall end ist
die Willkiir vieler Statistiken,
wie zum Beispiel derjenigen, die
besagt, daB man sich bei einem
Monatseinkommen von 225 Mark
und einer monatlichen Ausgabe
von 45 Mark fur die Wohnung
vier Zimmer mit Nebenraumen
leisten konne!
Die Bauausstellung hatte eine
grofie padagogische Aufgabe ge-
habt. Es ist fast erschreckend zu
warum ¥€rsagte der Zeppelinfunh
im ArMisgcMrt?
Weil die Radlowellen Lebewesen slnd, die in
dieserZone nicht gedelhen. Slehe„Lebenstiefenlt
von Hermann Eilfeld
Freis geb. 5 Mark
Westdeulsche verloasdracherel A.-O., DQsseklorf
195
sehen, wieviele Menschen taglich
dorthin kamen, urn sich beleh-
ren zu lassen, und wie sie kopf-
schtittelnd herumirrten. 1st wirk-
lich, wie wir immer geglaubt ha-
ben, die Architektur die ftihrende
Kunst unsrer Zeit? Und wo ist
die Werktreue und Sachlichkeit,
von der wir so schones in den
Biichern lesen?
Ferdinand Eckhardt
Notverordnung als Preis-
aussctirelben
T T ber Lavals letzte Worte an
*-^ Bruning berichtet anlafilich
der Riickkehr Briinings aus Lon-
don die ,B*Z. am Mittag* vom
25. Juli folgendes:
Lavals letztes Wort vor dem
Abschied von Bruning war die
erneute Yersicherung, daB er
alles zu tun bereit sei, um
eine ,tfruchtbare und praktische
Zusammenarbeit besonders auf
wirtschaf tlichem und f inanzi-
ellem Gebiet zu starken/'
,,Wenn Sie irgendeine Idee
haben/' sagte, er wortlich zu
Bruning, „z6gern Sie nicht, sie
mir so fort mitzuteilen. Ich
meinerseits werde das gleiche
tun."
Wie wir hdren, stellt sich die
Reichsregierung auf den Stand-
punkt, daB auf Grund der Wei-
marer Verfassung (vgl, ,tdie
Gleicbheit alter Deutschen") nicht
nur die Reichsregierung, sondcrn
feder Deutsche, der an der Kon-
1 solidierung der Verhaltnisse in-
teressiert ist, eine Idee zu haben
vcrpflichtet sei. Sie plant darum
eine neue Notverordnung, aber
diesmal erfreulicherweise in Form
eines Preisausschreihens.
Das Preisausschreiben soil lau-
ten: „Wer hat eine Idee und wie
rettet man mit solcher am
schnellsten unser deutsches Va-
terland?" Durch die Not verord-
net wird: „Jeder Deutsche, der
das einundzwanzigste Lebensjahr
erreicht und in den Grenzen des
erlaubt Republikanischen zu den-
ken gelernt hat, ist verpflichtet,
an diesem Preisausschreiben teil-
zunehmen."
Um auch denen, welche uber
die Grenzen des erlaubt Republi-
kanischen hinaus denken, Ge*
legenheit zu geben, in diese
Grenzen zuruckzukehren, werden
Preise verteilt, welche mit gro-
8en politischen Erleichterungen
verbunden sind.
Wie man hort, ist der
1. Preis; eine vollig kostenlose
dreitagige Reise nach Paris
zwecks Vorstellung bei Laval.
Die lOO-Mk.-Ausreisebufie ent-
fallt.
2. Preis: vollig kostenloses Drei-
tminuten-Telephongesprach mit
Laval zwecks Austauschs von
Gedanken. Der Zoll fur Ge-
danken entfallt.
3. Preis: personliches Gesprach
mit Bruning. Eine politische
Erleichterung kann hier nicht
gewahrt werden.
AuBerdem 997 Trostpreise: In-
haber dieser sind herechtigt, von
den Sparkassen, solange die
Bankfeiertage Geltung haben.
Summen in unbeschrankter Hohe
abzuheben. Uber die Verschie-
hung dieses Kapitals nach dem
Ausland sind entgegen der Not-
1/JFLTBVHHEMESEn
J^ W^ begeisternsich ebenso leidenschaftlich fOr ihre
f Abdulla-Cigarette.wiefOrjedeNummerihrerZeitschrift
Standard ... . . o/M. u. Gold . . . Stuck 5 Pfg.
Coronet ...... m. Goki u. Stroh/M. Stuck 6 Pffl.
Virginia Nr, 7 o/M Stuck 8 Pfg.
Egyptian Nr. 16 . . . o/M. u. Gold ... Stuck 10 Pfg.
Abdulla-Cigaretten genieften WeltrufI
Abdulla a Co. . Kalro // London // Berlin
1%
verordnung iiber Kapitalflucht
bedeutende Erleichterungen vor-
gesehen.
Deutsche ! Habt deutsche Ideen f
Heinz Dietrich Renter
Rechtwinklige Baste erwOnscht
Teh wiinsche ein wackres, ur-
* wiichsiges, edles deutsches
Madchen
als Lebenskameradin — von nord.
Blut u. Charakter; rechtwinklig
an Leib und Seele, von gesund.,
naturl. Empfinden, mit Schneid,
Freiheitsdrang, Weibesstolz,
Opfersinn u. Sangesfreude, mit
heiBer Hingabe zu Volk u. Sippe,
Heimat u. Herd, zu Natur, Sonne
u. Leibesubg.; ein echt weibl. u,
ebenmaB., gerades, vollk, gesun-
des u. wetter festes, unbed. wahres
u. ehrL, furchtloses und treues
Madchen m. stark, Lebensbejahg.
u. d. siegh. Willen zu einem
neuen schoneren Leben, mit Lust
u. Eignung z. Landwirtschaft soil
es sein (volk. Bauerntochter u.
aus der Artamanen- od. sonst
volk. Erneuerungs-Bewgg.), ein
Madchen, das Bestimmung in ein.
artgem. Leben auf eign. Scholle
in Natur u. Sonne, als Weib u.
Mutter, Bauerin u. Mitkampferin
in uns. volk. Kampf sieht — an
der Seite eines geraden, gesunden,
natur- u. sportl. bauerl. deut-
schen Mannes. — Ich bin Anf.
30, 170 Zentimeter groB, Bauern-
sohn, Krgsfw., Res.-Offz. (StoB-
trupp- u. Flugzeugf.), z. Z. Schul-
mstr., u. will wieder Bauer wer-
den. . — Vermogen nicht Bedin-
gung, aber Oesundheit an Leib u.
Seele. Tanz- u. Modepuppen aus-
geschlossen! — Fur uneigenn^
Vermittlg. von Gesinnungsfr. ware
ich dankbar! — Frdl. Zuschr. m.
Bild unter „Deutscher Bauer"
a. d. Vlg.
tDie Kommenderi
Verweye doch, du bist so schdn
In den „Munchner Neuaten Nachrichten"
schreibt der bonner Prof. J- M. Verwcyen :
JV4an braucht nur zu sagen, dafi
1V1 bis in den letzten Winkel
des Raumes, in dem sich der Ho-
rende befindet, die drahtlos ge-
sandten Wellen fernster Orte sich
zusammenfinden, und zwar —
diese Feststellung riihrt schon an
schwierigste physikalische Pro-
bleme — finden sie sich in einem
Punkte zusammen, an dem sie mit
entsprechenden Aufnahmeappa-
raten von menschlichen Ohren
vernommen werden konnen. So
wird also schon physikalisch das
Dort zum Hier, so daB man etwa
sagen kann: an diesem Punkte
des Raumes ist die Welle Wien
wie Berlin, London wie Paris, ja
im Prinzip jede Stelle der ganzen
Welt , , . Solches bedenken heiBt,
den Blick fur die Metaphysik des
Radios scharfen, es heiBt er-
kennen, daB alte metaphysische
Ideen wie die der gottlichen All-
wissenheit und Allgegenwart
durch die Radiotechnik eine fur
begrenzte menschliche Auffas-
sungsweise sehr lehrreiche Veran-
schaulichung finden.
Was ware wenn . . .
Wenn Deutschland Sieger blieben war
im Streite, —
!Ich sag' es, obs auch vielen nicht gefalle J)—
n Waffen starrte es ; die Volker alle,
Sie trugen allzu schwer am Eisenkleide, —
Dem Deutschen ziemts, furs Vaterland zu
gliihen
Und auch vorm Schwerte nicht zurtick-
zubeben,
Einherzugehn mit mannlichen Gebarden I —
,Der Reichsbote' Nr.'177
Hinweise der Redaktion
Rundfunk
Dienata;. Hamburg 17.15: KontinentalpoHtik seit funf Jahrhunderten, Felix Stcissinger.
Langenberg 20.00: Griechisches Weekend, Leo Matthias. — Munchen 20.50: Hans
Schweikart liest zwei Geschichten von Alexander Lernet-Holenia. — Leipzig 21.10:
Otto Bernstein liest aus Arnold Zweigs Knaben und Manner. — Mittwoch. Leipzig
18.20: Arbeitslosenschicksale von Bruno Nelissen Haken. — Langenberg 18.40: Von
der Eigenart der Weltarbeitslosigkeit, Fritz Sternberg. — Konigswusterhausen 19.20:
Literarische Gaststatten, Erich Miihsam.— Donnerstag-. Berlin 17.45: Gerhart Pohl
liest eigne Dichtungen. — Konigsberg 20.00: Leonie Pepler liest aus Leonhard
Franks Der Mensch ist gut. — Freita?. Frankfurt 18.40: Die Dichter arbeiten an
der Zeitgeschichte, Hermann Kesser und Paul Laven. — Munchen 21.50: Stunde
des Buhnenkunstlers, Frida Richard. — Sonnabend. Leipzig 18.35: Zwei Kurz-
geschtchten von Alfred Prugel. — Berlin 19.30: Die Erzahlung der Woche, Otto
Rombach.
197
Antworten
Kampfkomitee fur die Freiheit des Schrifttums. Ihr ubermittelt
uns den nachfolgenden Aufruf: Die Freiheit von Wort und Schrift
hat in Deutschland aufgehort zu bestehen! Der Schriftsteller soil ver-
hindert werden, seine Meinung frei zu auBern und Regierungsmafi-
nahmen nach seiner Uberzeugung zu kritisierenl Die Regierung han-
delt dabei nach den Wtinschen und Befehlen der groBkapitalistischen
Interessenten und der kirchlichen Kulturfeinde. Das sogenannte Re-
publikschutzgesetz hat Hunderte von linksgerichteten Schriftstellern
wegen literarischen „Hochverrats" ins Zuchthaus, Gefangnis und auf
Festung gebracht. Die Notverordnung vom 28. Marz 1931 schuf wei-
tere, der verwegensten Auslegung zugangliche Unterdriickungsmoglich-
keiten. Die Pressenotverordnung- vom Juli endlich laBt die Vorschrift
fallen, Verbote durch Tatsachen zu begriinden, und bestellt durch Ein-
fiihrung des MErmessens" die Polizeiwillkiir zum obersten Zensor. Po-
litisch unbequeme Zeitungsverlage sollen materiell ruiniert und die
Schriftsteller und Redakteure entweder zu Gesinnungslumpen oder
brotlos gemacht werden. Vor allem aber soil jeder Kampf der werk-
tatigen Massen gegen die Diktatur der Notverordnungspolitik gewalt-
sam unterdrtickt werden. Den Beweis erhielten zahlreiche Schrift-
steller Berlins, als sie am 29. Juli in einer Versammlung gegen die
Notverordnungen protestieren wo 1 Hen: Die Polizei verhinderte unter
Andrphung von Gewalt die Kundgebung. Wir fiihlen uns verpflichtet,
zu unerbittlichem Kampf gegen jede Art von Unterdrtickung der freien
Meinungsaufierung aufzuruf en, Als Journalisten, Schriftsteller, Dich-
ter, wenden wir uns an alle Gleichgesinnten im Lande ohne Unter-
schied der Parteirichtung und fordern sie auf, sich unsrem Kampf-
aufruf in aller (Mfentlichkeit anzuschliefien, , An die Presse richten
wir die Aufforderungt durch Abdruck dieses Aufrufs unsern Kampf
zu unterstiitzen. Kampfkomitee fur die Freiheit des Schrifttums, Der
ArbeitsausschuB: Carl Baade, Dr. Edith Bone, Julian Borchardt,
Bernard von Brentano, Dr. Andor Gabor, Professor Alfons
Goldschmidt, Dr. Kurt Hiller, Dr. Erich Kastner, Walther Karsch,
Dr. Johannes Karl Koenig, Alfred Kurella, Berta Lask, Dr. Kate Mar-
cus, Peter Maslowski, Erich Muhsam, Friedrich Natteroth, Ludwig
Renn, Recha Rothschild, Dr- Artur Samter, Anna Seghers, Vorlaufige
Adresse, an die Zustimmungserklarungen erbeten werden: Walther
Karsch, Berlin-Neukolln, Bohmische StraBe 16, 3 Treppen.
Rundfunkhorer, Wir werden im nachsten Heft auf die in der
heutigen Nummer veroffentlichte Entgegnung des Rundfunk-Intendan-
ten Hans Flesch zuruckkommen, und ebenso auf einen Brief, den der
Rundfunksanger Leo Monosson in dieser Angelegenheit an uns ge-
richtet hat,
Wilhelm IL( Doom, Wieviel hat man Ihnen an Ihren Beziigen ge-
sperrt?
Reichskanzler a. D. Cuno. Und Ihnen — -?
General Ludendorff. Und Ihnen — ?
Reichswehr-Etat. Und Dir — ?
Manuskriple und dux an die Redaktion der Woltb5hne, Chariottenburg, Kantstr. 152, ku
richten; ea wird gebeten. ihnen Ruckporto beizulegea, da tout keine Rucksendung erfolgen kann.
Das Auff uhrangsrecht, die Verwertong Ton Tlteln u. Text im Rahmen des Films, die maslk-
mechanische Wiedergabe aller Art and die Verwertung im Rafamen you Radlovortrlgen
bleiben fOr alle in der Weltbuhno erscheinenden Beitrage ausdracklich Torbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegfried Jacobsohn und wird von Carl v. Oasietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucholsky geieitct. — Veranrwortlich : Carl ▼. Oasietzky. Berlin;
VerUg der Weltbuhne, Siegfried facobsohn & Co, Charlottenbury.
Telephon: C I, Steinplatz 7757 - Postscheckkonto: Berlin 119 58.
Banlckonto: DarmsUdtar a. Nationalbank. Deposilenkaase Charlottenbury. Kantsb. 112
XXVn. Jafirgaig 1 1. Aognst 1931 Hammer 32
VolksentSCfieid von Carl v. Ossietzky
7 wei Drittcl aller preuBisphen Staatsbiirger begegnen sich
in dem Wtmsch, etwas zui unterlassen. Das ist der diirre Sinn
dcr Ablehnung dieses Volksentscheids. Wie ware das Resultat
gewesen, wenn die Regierung Braun mehr gefordert hatte als
ein Bleibenlassen, als eine Unterlassungstugend? Die Herren
Hugenberg und Seldte sind doch sonst keine so langstrahnigen
Theoretiker, sondern intime Kenner der deutschen Volksseele.
Hatte das Begehren schlankweg gelautet: Die preuBische
Staatsregierung ist unverziiglich aufzuhangen! — es hatten sich
zwanzig Millionen eingeschrieben. Wer intercssiert sich denn
bei uns fiir formale Demokratie?
Schon die bruchweisen Resultate, die jetzt, Montag Nacht,
vorliegen, zeigen das Steckenbleiben des Volksentscheids. In den
meisten Wahlkreisen sind nicht mehr als einige dreifiig Prozent
erreicht worden, nur die pommersche Vendee kommt, wie
nicht and'ers zu erwarten war, iiber ftinfzig Prozent hinaus.
Es ist den Rechtsparteien nebst Dingeldey nicht gelungen, einen
zweiten 14* September in Szene zu setzen. Die Wahler sind
miide geworden und glauben nicht mehr an die Heilkraft par-
lamentarisch-legaler Mittel, am allerwenigsten, daB durch ein
innenpolitisches Partialunternehmen viel gebessert werden
konnte. Das Ergebnis ist kein Vertrauensvotum fiir die preu-
Bische Regierung, sondern ein Zeugnis wachsender Passivitat,
Auf beiden Seiten^ ist die Bedeutung dieser Abstimmung
erheblich iiberschatzt worden. Der preuBische Landtag wird
sowieso im nachsten Friihjahr neu gewahlt werden. Seine Zu-
sammensetzung wird in jedem Fall eine ganz andre werden, da
die meisten biirgerlichen Parteien, die im Landtag noch in"
alter Starke sitzen, im Reiche inzwischen zusammengebrochen
sind. Der Ausgang des Volksentscheids besagt gar nichts iiber
das kiinftige Krafteverhaltnis; es liegt auch noch ein Winter
wachsender Arbeitslosigkeit und neuer Verelendung zwischen
heute und dem Wahltermin. Namentlich das allzu erregte
Ausland irrt, wenn es von einem Entscheidungskampf zwischen
Demokratie und Reaktion spricht. Die Demokratie hat ihre
Marneschlacht schon hinter sich und ist in einen Stellungs-
krieg gedrangt worden, iiber dessen Ausgang sich kein Kenner
Deutschlands im unklaren sein sollte. , Den Block Briining-
Braun, von dem schlecht unterrichtete auslandische Presse-
vertreter in Berlin phantasieren, gibt es nicht. Es gibt einen
Block Hindenburg-Bruning-Reichswehr, das ist die machtpoli-
tische Grundlage der gegenwartigen Diktaturwirtschaft. Die
Legende, daB Briining und Braun, ein katholischer und ein so-
zialistischer Demokrat, das deuische Weltgebaude gemeinsam
auf starken Schultern tragen, ist ein frommer Irrtum, der dem
Reichskanzler indessen zurzeit aus auBenpolitischen Griinden
zustatten kommt, weil er ihm in London und Paris eine libe-
rals Aura sichert. In Wahrheit wird die Regierung Otto Braun
in PreuBen nur durch die bedingungslose Kapitulation der So-
1 199
ziatcUmokratie im Reiche erkauft. Die friiher sehr tatige preii-
Bische Koalitionsregierung besitzt heutc auch nicht mehr den
Schatten ihrer einstigen Autoritat und Selbstandigkeit Die
ahnungslosen Toren, die noch immer an das Biindnis
zwischen Reichsregierung und PreuBenregierung glauben, wur-
deft rauh aus ihren Traumen gerissen, als unmittelbar vor der
Volksabstimmung vom Reichsprasidenten-Palais aus versucht
wurde, Herrn Otto Braun wegen der Zwangsveroffentlichung
der allerdings unsagbar schlechten preuBischen Regierungs-
proklamation ein Bein zu stellen. Dieser Zwischenfall zeigt
allzu deutlich, daB die engern Berater des Reichsprasidenten
mit den sozialdemokratischen Ministern in PreuBen schon jetzt
gern reinen Tisch gemacht hatten, ohne viel nach der AuBen-
wirkung zu fragen. ,,Mich wird man nicht an der Wahlurne
sehen," sagte Herr Briining in seiner Rundfunkrede. Dafiir
hat. man aber Herrn Schiele gesehen, Hindenburgs Ziehkind.
Es mutet etwas komisch an, wenn das Hugenbergsche
Montagsblatt in der ersten Bestiirzung iiber die kargen Ziffern
den Kommunisten die Schuld in die Schuhe schiebt. Erwagt
Hugenberg etwa eine Schadenersatzklage gegen Thalmann?
Ein festes Abkommen bestand doch nicht. Die Kommunisten
hatten doch ihren Kampf auf eigne Faust und unter eigner
Parole gefiihrt. Es 1st Heuchelei und Unsinn obendrein, wenn
die Sozialdemokraten behaupten, die KPD habe als Verbiin-
dete der Rechten mitgewirkt Einig waren die Parteien des
Volksentscheids nur in der Forderung nach Neuwahlen, sonst
lag weder in Programm noch Ziel eine Gemeinsamkeit vor-
Die Sozialdemokratie ist am wenigsten legitimiert, solche An-
klagen zu erheben, nachdem sie seit 1914 mit jeder Reaktion
durch Dick und Dunn gegangen ist. Erst bei der Beratung
des letzten Reichswehretats hat ihr Redner Schopflin das pro-
vozierende Wort gebraucht: t,Lieber mit Groner als mit den
Kommunisten!" was auch nicht grade von proletarischer Soli-
daritat durchtrankt ist. Der Abgeordnete Miinzenberg ist
durchaus im Recht, wenn er in einem seiner Blatter schreibt:
„. . * es gibt keine Partei in Deutschland, die soviel ihrer besten
Kampfer, Funktionare und Mitglieder im Kampfe gegen den
Fascismus verloren hat wie die KPD.'* Leider unternimmt es
der rote Zeitungslord in diesem Artikel, die Stellungder ,Welt-
biihne1 zu den Kommunisten in der Frage des Volksentscheids
in riidester Weise zu verfalschen, sehr im Gegensatz zu seinem
eignen Zentralorgan, das unsre Meinung richtig ausgelegt hat.
Trotzdem sollte die Tatsache, daB unzahlige kommunisti-
schen Wahler ferngeblieben sind, der Zentrale ernsthaft zu
denken geben. Die Partei hat im letzten Jahr allzu viel
experimentiert, allzu viel abwegige Versuche gemacht, die
Abgesplitterten von rechts aufzufangen. Dariiber hat sie die
Massen vergessen, die ihr von Links zustromen konnen. Es
wird fur die KPt) Zeit, aus den Illusionen einer Selbstzweck
gewordenen Propaganda, aus den abgriindigen Bezirken des
skrupellosen Seelenfangs in di-e wirklichen Sachwerte zuriick-
zukehren. Die deutsche Arbeiterschaft ist fur Militarisms
und Nationalismus nicht einzuspannen. - Das hat sich auch hier
wieder spontan gezeigt.
200
Die Regierungspresse ist schon daran, uns zu belehren,
daB dieser Volksentscheid in erster Linic als ein Votum fur die
Politik Brunings aufzufassen sei, als ihre Rechtfertigung nicht
durch das Parlament, das ja nach Hausc geschickt ist, sondern
durch das unendlich groBere Forum des Plebiscite. So hatten also
die sozialdemokratischen Arbeiter die Notverordnungen, den
Lohnabbau, dieReduzierung derSozialpolitik legalisieren wollen?
Das wird doch nur ein gottverlassener Narr behaupten wollen/
Und Herr Severing ist auch kein solcher Volksheld mehr, als
daB seine von der Polizei verpriigelten Untertanen ihm damit
seine selbstgeflochtenen Lorbeerkranze hatten bestatigen
wollen. Nein, dieser 9. August hat keinen Sieg ge-
bracht, dazu ist das Ergebnis zu zweischneidig, die
Wirkung zu zwitterhaft. Mogen die, die nicht alle wer-
den, Fahnen heraushangen und Freudenfeuer abbrennen.
Was gibt es da viel zu heroisieren? Dieser Sieg der De-
mokratie ist nur moglich geworden, weil die preuBische Re-
gierung. das Zuhausebleiben als hochste staatsbxirgerliche Pflicht
proklamierte. Wlas ware aber geworden, wenn sie selbst von
ihren Leuten Aktivitat gefordert hatte? Was? frage ich.
Bruch in der nationalen Front von k. l. Gerstortt
p\ er deutsche Kapitalismus ist als Imperialismus spater in
die Weltgeschichte eingetreten als der englische und
franzosische Kapitalismus. Er fand die Welt bereits verteilt
vor. Das MiBverhaltnis zv/ischen der Entwicklung der deut-
schen Industrie und den mangelnden imperialistischen Expan-
sionsmoglichkeiten ist einer von den entscheidenden Griinden
gewesen, die zum Weltkrieg gefiihrt haben. Nach 1917 hat
sich die deutsche Industrie in weit schnellerm Tempo ent-
wickelt als die Industrie der europaischen Konkurrenz-
staaten. Die Moglichkeiten einer imperialistischen Expan-
sion sind aber noch weit ungiinstiger als fruher. Dieser
Widerspruch durchzieht die gesamte deutsche AuBenpolitik
der Nachkriegszeit, vor allem die Politik der Regierung
Briining, Als die Soziaidemokratie seinerzeit aus der Regie-
rung ausschied, als mit Briining auch Treviranus und Schiele
eintraten, hielt man. die Zeit fur gekommen, um eine aktive
imperialistische AuBenpolitik zu treiben. Panzerkreuzer und
osterreichische \ZoHunion sind die deuilichsten Symptome.
Man versuchte dies in einem Zeitpunkt, wo die Internationale
Krise sich weiter verscharfte und wo immer deutlicher wurde,
daB der deutsche Kapitalismus in der Krise das schwachste
Glied der Kette sei, in dem daher jede zusatzliche Belastung
leicht zu einer Katastrophe fiihren konnte. Die Folgen haben
wir in den letzten Wochen geniigend zu spiiren bekommen.
Es ist an dieser Stelle der Nachweis gebracht worden, daB die
Reparationszahlungen zwischen Dawes- und Youngplan nicht
durch Exportiiberschusse aufgebracht wurden, sondern da-
durch, daB man sich das Doppelte dessen borgte, was roan
zahlte. Acht bis zehn Milliarden kurzfristiger Gelder sind vom
Ausland in Deutschland angelegt worden, und heute, nach den
201
starken Abziigen durch die auslandischen Glaubiger, diirften
die kurzfristig angelegten Betrage noch Hinf Milliarden iiber-
steigen. An diesem Betrag ist Frankreich nur mit einem klei-
nen Prozentsatz beteiligt; aber die internationale Verflech-
tung der Kapitalmarkte macht die franzosische Position
Deutschland gegemiber starker, als es diesem geringen Pro-
zentsatz entspricht. Der franzosische Kapitalismus hatte in
den letzten Jahren eine starke Aktivitat in seiner Zahlungs-
bilanz. Im Gegensatz zum englischen und amerikanischen
Kapitalismus hat er diese Aktivitat nicht zu langfristigen Ka-
pitalexporten ins Ausland benutzt Der langfristige Kapital-
export spielte in diesen Jahren in Frankreich nur eine geringe
Rolle. Sondern er hat auf der einen Seite die Goldbestande
der Bank von Frankreich vermehrt, die heute mehr als dop-
pelt so groB sind wie die Goldbestande der Bank von England
und der Reichsbank — er hat auf der andern Seite Milliarden
kurzfristig im Ausland angelegt, einen bescheideneh Prozent-
satz in Deutschland, einen sehr erheblichen in England, Ein
auBerordentlich schnelles Tempo der franzosischen Geldabziige
in England wurde die City in Kalamitaten bringen, oder sie
zwingen, die in Deutschland angelegten Gelder abzurufen.
Die franzosischen finanziellen Druckmittel sind also sehr
bedeutend. Als die deutsche finanzielle Lage sich trotz der
Hoover-Botschaft stark verschlechterte und der Rtm der aus-
wartigen Glaubiger einsetzte, wurde von amerikanischer und
englischer Seite ohne jede Verschnorkelung erklart, daB lang-
fristige Kredite nur nach einer Verstandigung mit Frankreich
zu haben seien,
In diesem Punkt hat sich die Situation bisher nicht ge-
andert. Beweis gibt die letzte Rundfunkrede Briinings,
die dadurch besonders charakteristisch ist, daB er sich: alle
Moglichkeiten offen laBt, Briining sagte liber die letzten Kon-
ferenzergebnisse bei aller vorsichtigen diplomatischen Forrnu-
lierung, daB nichts erreicht ist: ,,Eine durchgreifende Finanz-
hilfe grofien Stils — ich trage keine Bedenken, dieses festzu-
stellen — ist damit einstweilen nicht erreicht." Er betont
weiter, daB die politischen Voraussetzungen fur eine Anleihe
nicht gegeben seien? MIch stelle erneut fest, daB eine groBe
Auslandsanleihe augenblicklich und fiir geraume Zeit aufier-
halb der realpolitischen Moglichkeiten liegt, insbesondere in
der Tatsache, daB zu einer solchen Anleihe die Garantie meh-
rerer groBer Lander verlangt wird, deren Zusage teils aus
staatsrechtlichen, teils aus finanztechnischen Griinden zur Zeit
ausgeschlossen ist/'
Briining will sich aber mit diesen letzten Satzen durchaus
nicht etwa auf irgend eine Autarkie f estlegen, er betont im
Gegenteil: ,,Es ist ausgeschlossen, daB wir Deutschland mit
einer chinesischen Mauer umgeben konnen, innerhalb deren
das deutsche Volk unter Befriedigung seiner eignen Bediirf-
nisse ausschlieBlich eignem Handel und Wandel nachgehen
konnte. Die deutsche Wirtschaft ist und bleibt auf enge han-
delspolitische Zusammenarbeit mit dem Auslande anjje-
wiesen."
202
Also: heute kcine Auslandsanleihen, aber auch keinen
Versuch, die Bindungen des deuitschen Kapitalismus mit dem
Weltkapitalismus, die Bindungen des deutschen AuBenhandels
mit dem WeltauBenhandel zu lockern. Und spater? Dariiber
sagt Briining: „Eine groBe auslandische Finanzhilfe ist, wie ich
schon sagte, im Augenblick auBerhalb des Bereichs der Mog-
lichkeit. Was . fur die Stunde gilt, braucht aber nicht Hir die
Dauer zu gelten."
Die Moglichkeit einer Verstandigung mit Frankreich wird
also durchaus of fen gelassen. Was aber bedeutet die Verstan-
digung mit Frankreich, ohne die langfristige Kredite nicht zu
erreichen sind? Sie bedeutet, daB in nachster Zeit an der mili-
tarischen Vormachtstellung Frankreichs nicht geriittelt wird.
Wenn das Monopolkapital, wenn die Briiningregierung diese
militarische. Vormachtstellung Frankreichs fiir die nachste Zeit
anerkennt — und nichts andres bedeutet die politische Ver-
standigung -— dann wird man franzosische Gelder bekprnmen,
sonst nicht.
Wenn man sich aber mit Frankreich verstandigt, dann
wird damit ein Keil in die nationale Front getrieben, und zwar
zu einem Zeitpunkt, wo -dies sehr gefahrlich werden kann.
Der deutsche Kapitalismus ist im Niedergang. Die ungeheure
Mehrheit des deutschen Volkes wird davon betroffen, Nicht
nur die Proletaries sondern immer mehr auch die breiten
mittelstandLschen Schichten, die zwei Funitei der Bevolkerung
ausmachen. Sie hat man bisher durch die Betonung der
„nationalen Belange" aus einer gemeinsamen Front mit dem
Proletariat gegen das Monopolkapital herauszubrechen ver-
sucht. Der Nationalismus ist die Klammer, die das Monopol-
kapital und die Briiningregierung, die Reichswehrgenerale
und die Mittelschichten, Hitler und Hugenbergj den
Stahlhelm und die Jungdo, den Evangelischen Volks-
dienst und die Wirtschaftspartei zusammengefaBt hat.
In einer okonomisch ruhigern Zeit konnte man gleich-
zeitig Stahlhelmparaden in Breslau macheri und die welt-
wirtschaftlichen Beziehungen zu pflegen versuchen. In der
heutigen Situation, um dies noch einmal zu sagen, wo jede
zusatzliche Belastung zur Katastrophe werden kann, wird
dies immer schwerer mogHch sein. Daher die scharfen Worte
Briinings, daB man Deutschland nicht mit einer chinesischen
Mauer umgeben darf. Tut man das aber nicht, stellt man die
nationale Phrase zuriickf so beginnt die Klammer sich zu
losen, die bisher die revoltierenden Mittelschichten mit dem
Monopolkapital gegen das Proletariat vereinigt hat. Die
Klammer beginnt dann an Festigkeit zu verlieren, wenn man
sie am notigsten braucht, wenn die okonomische Situation sich
weiter verscharft. Man braucht kein Prophet zu sein, um vor-
aus zu sagen, daB die Lebenslage von 90 Prozent der Bevol-
kerung sich in den nachsten Monaten verschlechtern wird.
Die Arbeitslosigkeit wird starker zunehmen, als man ange-
nommen hat, die Steuern gehen weniger ein, als man an-
genommen hat; man wird sich helfen wie bisher, man wird die
Sozialpolitik abbauen, den Arbeitslosen wird es noch schlech-
ter gehen. Die Lohne werden weiter abgebaut werden, im
2 203
Rheinland hat man bereits den An fang gemacht, und die
Deutsche Allgemeine Zeitung1 fordert in riihrcnder Beschei-
denheit gleich cinen Abbau von dreiBig Prozent, Die Krise,
die zur Geld- und Kreditkrise geworden ist, trifft natiirlich vor
allem die kleinen, die Mittelbetriebe. Hier wird ein groBer
Teil auf der Streckej bleiben.
Man hat es diesmal schwerer als je zuvor, all das Elend
dem „Feindbund" in die Schuhe zu schieben, der die „Young-
lasten" einzieht, der Deutschland in ein „Kolonialland" ver-
wandelt. Denn die Verschlechterung der Lage der ungeheuren
Mehrheit in Deutschland ergibt sich im Reparationsfeierjahr.
Wenn nun noch dazu, um die franzosischen Kredite zu erhal-
ten, um den Kontakt mit dem Weltmarkt aufrecht zu erhal-
ten, der Nationalismus etwas abgestoppt wird, so droht fur
das Monopolkapital die Gefahr, daB groBe Massen, die man
bisher durch den „Nationalismus" von dem ,,internationalen"
Marxismus ferngehalten hat, ihm die Gefolgschaft verweigern
und in die Front der revolutionaren Arbeiterschaft eintreten.
Die Gefahr ist groB. Der Bruch in der nationalen Front kann
eintreten, da Hugenberg und Hitler schwer mehr zuriick-
konnen. Um dieser Gefahr zu begegnen, besitzt das Monopol-
kapital nur einen einzigen Weg, dessen Gefahren bekannt
genug sind; einen Weg, den Briining selbst An seiner letzten
Rumdfunkrede noch abgelehnt hat: man nennt ihn heute
Autarkie. In der Bruningregierung sind seine eifrigsten Ver-
treter Treviranus und Schiele- Man will die wirtschaftliche
Verflochtenheit des deutschen Kapitalismus moglichst verrin-
gern. Man will dadurch einmal die unrentablen landwirt-
schaftlichen Betriebe, die keine sonstige Zuwendung mehr zu
retten vermag, dadurch retten, daB man die Agrarzolle noch
weiter erhoht; die Parole ist, daB die deutsche Landwirtschaft
die Bevolkerung allein zu ernahren vermag, Damit will man
die Abhangigkeit des deutschen Kapitalismus vom Welt-
kapitalismus verkleinern. Denn braucht man weniger zu
importieren, dann braucht man auch weniger zu exportieren.
Und wenn das Ausland seine Gelder zuriickverlangt, und man
sie nicht hat — und woher sollen Hitler und Hugenberg sie
haben? — nun, auch die sudamerikanischen Lander und
Austr alien haben die Zahlung in fremder Wahrung abgelehnt.
Warum soil man das nicht auch in Deutschland tun? Also
eigne Wahrung mit Inflation; und wenn die deutsche Industrie
erklart, daB infolge der GegenmaBnahmen aller andern Lan-
der ihre Absatzchancen sich katastrophal verringern wiirden,
nun, dann sagt man ihr, die Lohne sollen soweit abgebaut
werden, daB sie doch noch konkurrenzfahig bleibt.
Bisher hat sich die Industrie mit diesen Planen noch sehr
wenig befreundet. Im Gegensatz zu Herrn Hitler kann sie
rechnen, Sie weiB, daB schon vor der Weltkrise etwa ein
Viertel der deutschen Produktion ins Ausland gegangen ist,
sie weiB, daB der Anteil der Ausfuhr in der Krise stark ge-
stiegen ist, weil die \gesamte industrielle Produktion weit
starker gesunken ist als die Ausfuhr, Sie weiB weiter, daB,
wenn durch die landwirtschaftlichen Zolle alle Lebensmittel
den Arbeitern verteuert werden, man schwer im gleichen Zeit-
204
punkt noch die Lohne abbauen kann, Sie weiB lctzthin, dafl
die Arbeitslosigkeit bei derartigen Experimenten ins Uferlose
anschwellen wiirde. Wir hatten im Winter fiinf Millionen Ar-
beitslose, jetzt, im Hochsommer, vier. Das Institut fur Kon-
junkturforschung schatzte sie Anfang Juni auf fiinf bis sechs
Millionen fur den kommenden Winter und dies unter der Vor-
aussetzung, daB keine weitere Verschlechterung eintreten
wiirde. Nun haben wir die Geld- und Kreditkrise, deren Wir-
kungen auf den Arbeitsmarkt sich in nachster Zeit erst deut-
licher zeigen werden. Schon d'adurch wird die Arbeitslosig-
keit im Winter weit groBer werden, als es das Institut fiir
Konjunkturforschung angenommen hatte; wir werden im Win-
ter sicher mit sechs bis sieben Millionen zu rechnen haben.
Wenn man aber noch irgend welche Schritte auf dem Wege
zur Autarkie machen will, dann wurden die sich daraus er-
gebenden wirtschaftlichen Gesamtumstellungen zunachst zur
Folge haben, daB im Winter jeder zweite Deutsche arbeitslos
ist. Das weiB die Industrie und daher verhalt sie sich gegen-
iiber alien Autarkieplanen sehr distanziert. Nicht nur die
chemische und die elektrische Industrie, die besonders stark
mit den Weltmarkten zu tun haben, sondern auch die Schwer-
industrie hat sehr ernste Bedenken,
Briining hat zwischen zwei Obeln zu wahlen. Verstandigt
er sich mit Frankreich, so ist der Bruch in der nationalen
Front unvermeidlich. Dieser Bruch bedeutet eine auBerordent-
liche Verstarkung der revolutionaren Arbeiterschaft. Wird
aber die nationale Front zusammengehalten, so kommt man
zu einer Wirtschaftspolitik, die zu einer katastrophalen Zu-
spitzung fuhrt.
Briining hat die Wahl zwischen zwei Obeln. Also muB
er lavieren, also muB er stets durch die Ereignisse wieder
uberrascht werden. Es ist an dieser Stelle schon mehrfach
gesagt worden: Es ist das Zeichen einer herrschenden Klasse,
daB sie die kommende okonomische Entwicklung richtig vor-
aussieht und sie in ihren politischen Mafinahmen vordis-
kontiert. Es ist das Zeichen des Niedergangs einer herrschen-
den Klasse, daB sie die kommende okonomische Entwicklung
nicht mehr richtig voraussehen, daher durch ihre politischen
MaBnahmen nicht vorwegnehmen kann. Die letzten Wochen
und Monate brachten die tausendfache Bestatigung fiir diesen
Satz; die kommenden werden ihn gleichfalls bringen. Es
wird Briining von kapitalistischer Seite schon vorgeworfen,
daB er alle seine MaBnahmen nur halb und zu spat trifft und
daB sie auch von kapitalistischen Gesichtspunkten aus ihre
Wirkung verfehlen. Briining sucht zu lavieren, aber die ge-
schichtfiche Situation verringert die Lavierungschancen stan-
dig. Die Widerspriiche im nationalen, im biirgerlichen Lager
nehmen zu. Wenn die Decke* zu kurz wird und immer mehr
Locher aufweist, dann soil der Nachbar die schlechte Stelle
haben. Die Widerspriiche im kapitalistischen Lager nehmen
zu — und auf der andern Seite? Der Historiker muB fest-
stellen, daB wir auf dem Wege zur Einheit der Arbeiterklasse
noch sehr wenig fortgeschritten sind. Der Politiker muB fur
die Einheit arbeiten, in dieser Stunde mehr denn je.
205
Brihling in Rom vou Hanns-Erich Kaminski
lUfanche Leute werfen dem Rcichskanzler seine Reise nach
Rom vor. In Wirkiichkeit bringt Doktor Briining damit ein
groBes Opfer, Vor wenigen Wochen erst ist die Enzyklika des
Papstes gegen den Fascismus erschienen, in der es heiBt: „Wir
wie das Episcopat wie der Klerus und alle guten Glaubigen, ja,
wie alle 'Burger, die die Ordnung und den Fried en lieben, waren
und sind in Trauer und in Sorge wegen der nur zu oft syste-
matischen Attentate gegen die heiligsten und kostbarsten Frei-
heiten der Religion und der Gewissen." Die Enzyklika schil-
dert das schergenhafte Vorgehen der Polizei gegen die Katho-
lische Aktion und selbst gegen die Oratorien der Kinder und die
frommen Kongregationen der Marientochter. „So viele Bru-
talitaten und Gewalttaten bis zu Schlagen und bis aufs Blut,
Unehrerbietigkeiten der Presse, durch Worte und durch Taten,
gegen Sachen und gegen Personen, nicht ausgenommen die
Unsrige, gingen voraus, begleiteten und folgten der polizeilichen
Exekution", erklart Pius XL feierlich ex cathedra. Sicher fallt
es dem Reichskanzler nicht leicht, eine Regierung zu besuchen,
deren Politik in Widerspruch steht t1zu den sakrosankten und
unverletzlichen Rechten der Seelen und der Kirche". Sicher
erfiilit es einen guten Katholiken wie Doktor Briining mit be-
sonderm Widerwillen, sich mit Mussolini an einen Tisch setzen
zu miissenf der die Botschaft1 des GroBen Fascistenrats verfafit
hat, jene Botschaft, von der der Papst sagt: „Die Geschichte der
Dokumente, die nicht im Dienst sondern zur Beleidigung der
Wahrheit und der Gerechtigkeit verfaBt sind, ist eine lange und
traurige Geschichte; aber mit tiefster Bitterkeit miissen Wir
sagen, daB Wir selbst in den vielen Jahren Unsres Lebens und
Unsrer Tatigkeit in Bibliotheken selten einem so tendenziosen,
einem so der Wahrheit und Gerechtigkeit widersprechenden Do-
kument begegnet sind/"
Wenn der Reichskanzler trotzdem eine Romfahrt unter-
nimmt, nicht um sein Knie vor dem Haupt der Christenheit,
dem Stellvertreter Gottes auf Erden, zu beugen, sondern um
sich mit dessen Widersacher zu treffen, so tut er es nur um
Deutschlands willen. Denn wer vermag Deutschland zu helfen,
wenn nicht der Fascismus? Hat er nicht auch Ungarn mit guten
Ratschlagen geholf enf bis Graf Bethlen wie ein marxistischer
Landesverrater die italienische Freundschaft fur eine franzo-
sische Anleihe preisgab?
So zwischen Vaterlandsliebe und Katholikentum gestellt,
mag sich Doktor Briining in Rom an das Wort erinnern, das
Jesus liber Jerusalem sprach: ,,Wenn doch auch Du erkenntest
ztfdieser Deiher Zeit, was zu Deinem Friedendient! Aber nun ists
vor Deinen Augen verborgen/r Freilicht vor den Augen des
Fascismus ist verborgen, was der Zeit und dem Frieden dient,
jedoch der Kanzler, der weiB es. Der Papst hat es nur wenige
Wochen vor seiner Enzyklika gegen den Fascismus in der
Enzyklika iiber das soziale Programm Leos XIII. gesagt, er hat
darin als allein christlich eine Politik bezeichnet, die weder
sozialistisch noch kapitalistisch ist, er hat sogar zu Koalitionen
206
mit der Sozialdemokratie geraten. Und just das ist ja die Politik
des deutschen Reichskanzlers.
In Demut, abcr doch voll Stolz darf sich Doktor Briining
in der ewigen Stadt vor Augen halten, daB DeutschJand nicht
vom Fascismus beherrscht, sondern im Sinn des Heiligen Vaters
regiert wird. Was er in Italien sehen wird, muB den Kanzler
mit Schmerz und Abscheu erfiillen, und nur das BewuBtsein,
aus einem Land zu kommen, dessen Zustande besser sind, wird
ihm die Kraft geben, die Eindriicke iiberhaupt zu ertragen, die
ihn als Republikaner und Christen nur! immer aufs neue belei-
digen konnen.
Er wird mit einer Regierung zu verhandeln haben, deren
Politik hauptsachlich bestimmt ist durch die Besorgnis um ihr
Prestige und durch die Furcht, durch Preisgabe nationalistischer
Phrasen Anhanger zu verlieren. Er wird sehen, wie diese Re-
gierung Frankreich als den bosen Feind betrachtet, mit dem sie
sich um keinen Preis verstandigen kann, selbst wenn die Fort-
setzung dieser Feindschaft das Land mit den schwersten Ge-
fahren bedroht. Er wird sehen, daB dieselbe Regierung mit
ihreiri ostlichen Nachbarn noch schlechter steht als mit dem
westlichen, und daB sie die Hetze ftir den kommenden Gstkrieg
nicht nur duldet, sondern noch fordert,
Er wird sehen, wie diese Regierung selbstherrlich regiert,
ohne Parlament, ohne sich vor der 5ffentlichkeit zu verantwor-
ten. Er wird sehen, daB es keine Pressefreiheit, keine Ver-
sammlungsfreiheit gibt und daB das Koalitionsrecht durch das
Verbot aller unliebsamen Organisationen kaum noch auf dem
Papier steht. Er wird sehen, daB sich das Haupt des Staates
dagegen mit einem militarischen Verband identifiziert, der ne-
ben dem Heer und der Polizei als dritte bewaffnete Macht eine
entscheidende Rolle spielt.
Nicht minder entsetzen wird den Kanzler die fascistische
Wirtschaftspolitik. Er wird ein Budget sehen, das die militari-
schen Ausgaben verschleiert, so daB viele den ganzen Etat als
falsch betrachten- Er wird eine Subventionspolitik sehen,
durch die <ler Staat mit dea groBen Unternehmuingen so ver-
Hlzt ist, daB niemand mehr weiB, wer Glaubiger und wer
Schuldner ist- Er wird den Prasidenten der Staatsbank und den
Prasidenten der italienischen Oberrechnungskammer erroten
sehen, wenn er sie fragt, wohin die fascistische Wirtschaftspoli-
tik gefiihrt hat, die einst die demokratische Regierung Bonomi
angriff, weil sie bankrotte Unternehmungen wie die Banco di
Sconto nicht auf Kosten der Steuerzahler mit offentlichen Mit-
teln stiitzte. Er wird sehen, wie durch hohe Zolle zum Besten
einiger Produzenten alle Preise kiinstlich hochgehalten werden.
Er wird sehen, wie die Gehalter und Lohne immer wieder
abgebaut werden und wie die staatlichen Schlichtungsstellen
immer im Sinn der Arbeitgeber entscheiden. Er wird sehen,
daB alle Kommunen bankrott sind, daB der Staat aber genii-
gend Geld fur militarische Spielereien und fur den Bau einer
Kriegsflotte hat, die andern Marinemachten doch unterlegen
bleiben muB.
207
Er wird sehen, daB alie Hochschulprofessoren und Lehrer
im Dienst des Fascismus die Jugend vergiften. Er wird sehen,
daB die Justiz langst ein Hohn auf jede Gerechtigkeit ist und
daB den Rich tern jeder Kommunist als Verbrecher gilt.
Er wird sehen, wie die gesamte fascistische Politik dabei
von einem prahlerischen Hochmut besessen ist^ der Vaterlands-
liebe gleich Verachtumg und Unterschatzung des Auslands setzt.
Er wird sehen, wie die Meinung verbreitet wird, Italien
brauche auf andre Lander iiberhaupt keine Riicksicht zu neh-
men und konne mit geniigend Begeisterung allein fertig wer-
den. Er wird sehen, wie dieser Nationalisms jedem Anders-
gesinnten das Leben verbittert und ihn oft um seine ganze
Existenz bririgt. Er wird sehen, wie dies Regime selbst in
Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten schikanos ist, etwa indem es
Reisen ins Ausland erschwert oder die Vorfuhrung pazifisti-
scher Filme verbietet,
Der Reichskanzler, dessen Land die freieste Demokratie
der Welt ist, wird es schwer haben, angesichts dieser in Ita-
lien herrschenden Verhaltnisse seine Ruhe zu bewahren, Zum
Gliick fiir sein seelisches Gleichgewicht und fur die uberaus
wichtigen Verhandlungen, die er fiihren muB, kann er auf diese
Zustande mit dem erhebenden BewuBtsein herabblicken, ein
Volk zu vertreten, ,,das einig in seinen Stammen und von dem
Willen beseelt ist, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeii
zu erneuern und zu festigen, . dem innern und dem auBern
Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu
fordern".
Otto Bauer und James Maxton von Ernst Fischer
AAs auf dem KongreB der sozialistischen Arbeiterinternationale
in Wien James Maxton, der Redner der Independent La-
bour Party, in den marmornen Prunksaal des Konzerthauses
hincinrief; ,,Mit kapitalistischen Mitteln kann die Welt nicht
mehr gerettet werden, auch wenn diese kapitalistischen Mrttel
den Segen der Arbeiterregierungen und der Arbeiterinterna-
tionale bekamen!*', als die Delegierten der deutschen Sozial-
demokratie mit zornigen Zwischenrufen gegen den Englander
protestierten, flog die Nachricht herein und wurde fliisternd
weitergegeben: Die Dresdner Bank ist zusammengebrochen!
Das Deutsche Reich hat die Garantie iibernommen! Maxton,
der nichts davon wuBte, setzte seine Rede fort: „Wenn Sie
sich dem Gedanken hingeben, daB der Kapitalismus geflickt
werden kann, wenn Sie eine Politik des Zusammengehens mit
burgerlichen Parteien befiirworten, um den Kapitalismus zu
stiitzen, dann machen Sie sich an eine unmogliche Aufgabe
heran, dann wollen Sie ein System aufrechterhalten, das nicht
aufrechterhalten werden kann!*' Das war die Situation, in der
sich dieser KongreB befand. ^
Einmal schon, im Jahre 1914, sollte der KongreB der Zwei-
ten Internationale in Wien tagen; der Krieg zerschlug die In-
ternationale, ehe sie fiir den Frieden pladieren konnte. Sieb-
zehn Jahre spater tagt er nun wirklich in Wien, der KongreB
208
der Zweiten Internationale! urn den Frieden, die Demokratie
zu ret ten; indessen ist der Wirt sch aft skrieg zwischen Deutsch-
land und Frankreich losgebrochen; indessen krtimmt sich die
Demokratie unter den Trummern des Kapitalismus. Rascher,
als eine Resolution geschrieben wird, wachst die Katastrophe.
Rascher, als man berat, welcher Weg zu gehen sei, stiirzen La-
winen der Weltgeschichte iiber die Strafle, die am gangbarsten
schien. Rascher als alle Vernunft funktioniert der Wahnwitz.
In dieser Situation befand sich der KongreB.
Aus den vielen Meinungen, aus den mannigfaltigen Wider-
spruchen, die in der Internationale zusammengebundelt sind,
wurden zwei Resolutionen geformt, eine Resolution der Mehr-
heit, von Otto Bauer dem KongreB vorgelegt, eine Resolution
der Minderheit, von James Maxton leidenschaftlich verteidigt
Es war eine Mehrheit von dreihundertvierzehn Stinimen. Es
war eine Minderheit von fiinf Stimmen. Aber das ist nicht
das Entscheidende.
Die Resolution der Mehrheit fordert eine Internationale
Kreditaktion fur Deutschland, Hilfe des internationalen Kapi-
talismus fiir den deutschen Kapitalismus. Sie fordert eine
friedliche Revision der Friedensyertrage. Sie wendet sich
schlieBlich drohend an die kapitalistische Welt.
Die Resolution der Minderheit stellt fest, daB> der Kapita-
lismus versagt hat, daB in vielen europaischen Staaten der
Fascismus herrscht!
Ist nicht fiir jeden Sozialisten die Resolution der Minder-
heit annehmbarer als die Resolution der Mehrheit, sind wir
nicht alle der Meinung, daB der Kapitalismus versagt hat, daB
es nun Zeit ist, mit alien Mitteln um die Macht, um den So-
zialismus zu kampfen? Aber es ware falsch und oberflachlich,
nur den Text der einen mit dem Text der andern Resolution
zu vergleichen, nur wie ein unbefangener Kritikus der Welt-
geschichte die Resolution der Minderheit als gut, die Resolu-
tion der Mehrheit als unbefriedigend zu klassifizieren. Die
Frage ist vielmehr: Wie weit konnte man die Internationale
fiir eine aktive sozialistische Politik gewinnen, wie konsequerit
durfte man sein, ohne sie entschluBunfahig zu machen, welche
positive Parole war moglich, ohne die Politik der deutschen
Sozialdemokratie vor der ganzen sozialistischen Welt zu des-
avouieren? Oder: wenn man dazu entschlo&sen war, wena
man diese Politik, die gewiB nicht alle fiir richtig halten, die
fiir sie gestimmt haben, wenn man diese Politik als unsozia-
listisch und verhangnisvoll, brandmarken wollte — was dann?
(MMit Ertrinkenden diskutiert man nicht, Ertrinkende muB man
retten!" sagte der Englander Latham.) Welche Konsequenzen
sollte man daraus ziehen, welche Politik der sozialdemokrati-
schen Arbeiterschaft in Deutschland anempfehlen? Diese
Fragen hat Maxton nicht beantwortet, um diese Frage hat er
herumgeredet; er hat daher eine wirkungsvolle Rede gehalten
und einen wirkungslosen VorstoB unternommen.
Otto Bauer hat gezeigt: MEs gibt zwei Wege zum Sozialis-
mus. Es ist denkbar jener Weg der Gewalt, der Diktatur, des
Terrors, zu dem das weltgeschichtliche Beispiel der russischen
209
Revolution breite Massen von Arbeitern in alien Landern ver-
lockt. Ja, wir werden nicht leugnen — denn RuBland zeigt
es — , daB auch auf diesem Wege die Produktionsmittel den
Kapitalisten entrissen werden konnen, das Besitz- und das
Bildungsmonopol der besitzenden Kiassen gebrochen werden
kann, daB der Versuch gemacht werden kann, die kapitali-
stische Anarchie durch planwirtschaftliche Organisation der
gesellschaftlicken Produktion zu ersetzen. Aber wir wissen
alle — denn auch das zeigt RuBland — , daB der Versuch auf
diesem Wege erkauft wird mit den denkbar schwersten Ent-
behrungen durch Jahrzehnte, mit dem Verzicht auf die kost-
baren Giiter der personlichen und der geistigen Freiheit . . .
Dieser Weg der Gewalt, der Diktatur, des Terrors, er ist nicht
unser Weg, Wir haben immer einen ganz andern entgegen-
gesetzten Weg zum Sozialismus gewollt und wollen ihn auch
heute/'
Maxton muBte erwidern: Der zweite Weg ist ver-
schiittet, nur der Weg der Gewalt, der Revolution ist frei. Es
gibt keine Wahl, es gibt keine Wahlen mehr, der Endkampf
hat begonnen, mit all der Schroffheit und all den Schrecken,
die Otto Bauer in dunkler Vision heraufbeschworen hat! Aber
dieser Englander, dem von den Deutschen in riider Art Un-
kenntnis, ja, sogar Leichtfertigkeit vorgeworfen wurde, hat die
mitteleuropaische Situation in der Tat nur verschwommen ge-
sehen; er hat gemeint, es gabe nicht nur die beiden Wege, die
Otto Bauer der Internationale zeigte, sondern man konne sich
zwischendurch ins griine Gelande schlagen und gewaltlos eine
revolutionare Politik machen. Man rmisse nur die Parole aus-
geben: ^Der Sozialismus in unsrer Zeit, der Sozialismus als
Aufgabe dieser Generation!" Daftir werbend, werde man den
Sozialismus vor Entehrung bewahren und die Zukunft gewin-
nen. Er hat mit dieser Utopie seiner Resolution die Durch-
schlagskraft genommen und sie zu einem edlen, aber unfrucht-
baren Bekenntnis zur reinen Idee des Sozialismus gemacht.
Die Kommunisten haben den KongreB der Zweiten Inter-
nationale hohnisch einen KongreB ,,der gewesenen und der zu-
kiinftigen Minister" genannt Man kann dieses Wort auch ohne
Hohn aussprechen. Ja, die europaische Sozialdemokratie hat
zuviel Anteil an der Staatsmacht, es ist daher fur sie nicht
leicht, alle Macht gegen die Staaten des Kapitalismus zu ent-
falten. '
Die Sozialdemokratie verwaltet grofie Trakte des alten
Gebaudes, das niederzureiBen immer unvermeidlicher wird;
sie hat gehofft, die Eigentiimer langsam verdrangen, das Ge-
baude langsam umbauen zu konnen, aber die Eigentiimer
sitzen fest und das Gebaude ist, da sie die Renovierung ver-
eitelten, so schadhaft geworden, daB es einzustiirzen beginnt.
Die Sozialdemokratie fiirchtet nun, unter den Trummern be-
graben zu werden und versucht, die Eigentiimer in letzter
Stunde zur Renovierungsarbeit zu zwingen. Um das Prole-
tariat, das in Untermiete wohnt, verteufelt schlecht und ver-
teufelt ungesund, vor niederbrechendem Stein und Gebalk zu
bewahren, ist sie bereit, das ganze Gebaude der kapitalisti-
schen Welt zu retten. Und so gerat sie immer tiefer in die
210
tragische Situation, desto ohnmachtiger zu sein, je mchr sie
Anteil nimmt an der Macht, desto unsicherer zu werden, je
mehr der Kapitalismus wankt, desto bitterer die Widerspriiche
der kapitalistischen Welt zu erleiden, je erbitternder diese
Widerspriiche sich geltend machen. In dem Augenblick, da
diese tragische Situation so deutlich fiihlbar wurde wie nie
zuvor, hat der KongreB in Wien getagt.
Heraus aus dieser Situation! hat Maxton der Internatio-
nale zugerufen. Mit einer pragnanten Formel hat er die Situa-
tion gekennzeichnet: MMan spricht von der Drohung des Fascis-
mus. Von meiner insularen Stellung aus habe ich den Ein-
druck, dafi der Fascismus in Deutschland gewachsen ist, seit-
dem die deutsche Sozialdemokratie sich auf die Koalitions-
poiitik festgelegt hat. Es hieB, die Koalition sei notwendig,
damit das Kind nicht groB werde. Nun ist es groB geworden,
nun droht es immer schrecklicher zu werden/1 Aber er hat
die Konsequenz nicht gezogen, Man fuhlte wohl die Hingege-
benheit an eine Idee, aber man hatte lieber etwas weniger
von dieser Idee und etwas mehr von konkreten Moglichkeiten
der Gegenwartspolitik vernommcn. Und man begriff: diese
„Linke" sieht zwar die Dinge richtig, aber es fehlt ein klares
Aktionsprogramm, es fehlt ihr die unerbittliche Konsequenz des
Denkens. Und eben .dies verscharft die Tragik der Situation;
die richtige Diagnose gentigt nicht, es muB auch die richtige
Heilungsmethode gezeigt werden.
Otto Bauer, der bedeutendste Mann der Zweiten Inter-
nationale, zu groB fur die osterreichische Politik und zu sehr
Politiker, um seine GroBe frei entfalten zu diirfen, hat den
ganzen KongreB in den Bann seiner Rede gezwungen; den-
noch merkten alle, die diesen groBen Redner der Logik und
der Leidenschaft ofter gehort haben, daB er diesmal gebun-
dener, unfreier sprach als sonst. Es war gewifi eine auBer-
ordentliche politische Leistung, die Internationale sozusagen
auf das Linzer Programm der ftAustromarxisten" zu vereidi-
gen, als ihr offizieller Redner von zwei Wegen zum Sozialis-
mus zu sprechen, von dem Weg der Bolschewiken und von
dem Weg der Sozialdemokraten, alle die Meinungsverschie-
denheiten und Stimmungsgegensatze in einem Brennpunkt, in
der Stellungnahme zur mitteleuropaischen Katastrophe, zu
sammeln — aber man spiirte die Dampfung, die Vorsicht, die
Konzession an andre Metnungen, andre Stimmungen. Aber
auch das war nicht das Entscheidende; vielmehr erkannte man
mit schmerzlicher Deutlichkeit die Kernfrage aller sozialisti-
schen Politik. Otto Bauer ist nicht der Typus eines „gewese-
nen oder zukiinftigen" Ministers, nicht ein Schatten von Biir-
gerlichkeit trvibt sein Wesen, nicht der leiseste Nebel von
Staatsmannerei verdunkelt seinen Blick, der Sozialismus ist
die einzige Leidenschaft dieses Mannes ohne Privatleben —
und grade deshalb verkorpert er die ganze Problematik des
demokratischen Sozialismus, reiner und tragischer als jeder
andre Mann der Zweiten Internationale. Otto Bauers Bekennt-
nis zur Demokratie ist nicht das Bekenntnis zu einer politi-
schen Form, die angenehmer und verniinf tiger ist als eine
andre — es ist ein Bekenntnis zur Freihei^ und Unverletz-
s 211
lichkeit des Menschenlebens. Das geht iiber politische Erwa-
gungen hinaus, das ist nicht ein Abschatzen taktischer Chan-
cen, das ist der innerste Zweifel eines Mannes, fur den die
Menschen nicht Material einer Idee, sondern atmende, fiih*
lende, lebende Wesen sind. Und so lautet die unausgesprochene,
die ungeheure Frage: Vielleicht ist der Weg, den die Bol-
schewiken gegangen sind, auf weite Sicht der Weg der Not-
wendigkeit — aber darf man so verschwenderisch sein wie die
Natur, fur die Millionen Lebewesen nur Vorbereitung zu einer
hohern Spezies sind, darf man um der Zukunft willen Freiheit
und Leben der Gegenwart ppfern, darf man den Weg des Blu-
tes und des Sieges wahlen, solange auch nur die winzigste
Moglichkeit besteht, dennoch den andern Weg, dennoch den
Weg der Demokratie zu gehen?
Es gibt in Europa gewiQ nicht viele Menschen, die eine
Situation so klar, so unbarmherzig klar zu sehen vermogen
wie Otto Bauer; aber durch alle Konstruktionen des Verstan-
des schlagt ein groBes Menschenherz, dem das Leben und die
Freiheit aller Arbeiter, aller Sozialisten kostbar, unerhort kost-
bar ist. Nach dem osterreichischen Ungliickstag, nach dem
15. Juli 1927, hat Otto Bauer in tiefster Erschiitterung seinem
Gegenspieler, dem kalten und hart en Seipel, zugerufen: „Ihr
wollt mit Menschenblut eure Weinberge dungen!" Und davor,
mit Menschenblut die Weinberge des Sozialismus zu diingen,
schreckt Otto Bauer zuriick, weniger kalt und weniger hart
als der Typus Seipel. Und so bricht es aus seiner Rede heiB
hervor: „Entweder gelingt es durch rechtzeitige Hilfe in
Deutschland uind Europa, die WirtschaH wiederherzustellen,
die Demokratie in Europa und damit den Frieden der Welt
zu retten; dann ist der Arbeiterklasse der beste, der giin-
stigste Weg erhalten, der Weg der Demokratie. Oder aber,
unser EinfluB ist nicht stark und wirksam genug, das durch-
zusetzen. Oder aber, diese kapitalistischen Regierungen, die
vor dem, was kommen kann, zittern und trotzdem nicht im-
stande sind, ihre irmern Widerspruche, ihre Egoism en, ihre
Prestigefragen zu iiberwinden und die rettenden MaBnahmen
anzuwenden. Oder aber die Katastrophe bricht herein —
dann moge sich niemand daruber tauschen, dann wird es nur
noch die eine Aufgabe geben; Wenn schon das Enisetzliche
geschieht, es auszuniitzen mit aller Kraft fur die Eroberung
der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, fur den Sturz
des Kapitalismus, fur die Errichtung der sozialistischen Ge-
sellschaft!"
Katon ein Mensch in Mitteleuropa glaubt, daB das
Schlimmste vermieden werden kann — aber was das ist, das
Schlimmste, weiB niemand genau. Zwei Wege sind sichtbar,
aber man sieht nur den Anfang und nur das Ende der beiden
Wege, alles andre ist vage Vision, vernebeltes Schlachtfeld des
Grauens. Zwei Wege werden gezeigt, aber in Wahrheit er-
kennt man keinenWeg, in Wahrheit tasten sowohl die Kom-
munisten wie die Sozialdemokraten von Tag zu Tag, von Un~
gewiBheit zu Ungewifiheit. In Wahrheit warten alle auf die
Entscheidung, die herbeizufiihren bisher niemand die Vermes-
senheit, niemand die Besessenheit hatte.
212
Tonkin von Jonathan Wild
On n'est jamais tout a fait Francais quand
on n'est pas completement humain.
Mre NoavcllC
Editorial, 20. VL 1930
7 wci Tage zuvor, am 18. Juni 1930, war in der pariser Presse
folgendes kleine Communique des Kolbnialministeriums er-
schienen:
Auf Grund der Entscheidung dcs Staatsoberhauptes vom...
sind die dreizehn, am 23. Marz von der IL Kriminalkommission
in Yen Bay zum Tode verurteilten Fuhrer der letzten Aufstands-
bewegung heute, den 17. Juni morgens, hingerichtet worden.
Dem reaktionaren .Intransigeant* erschien das Ereignis
groB genug, urn ihm tags darauf den liblichen Letter zu wid-
men, er schrieb: flDie franzosische Regierung hatte, ran voile
Gerechtigkeit walten zu lassen, vor der prasidentiellen Ent-
scheidung urn die Cbersendung der dreizehn Dossiers aus Yen
Bay gebeten. Nach gewissenhaf tester Priiiung jedes einzelnen
der Falle hatte sie beschlossen, der Gerechtigkeit freien Lauf zu
lassen. So sind gestern die Kopf e der dreizehn Schuldigen ge-
fallen, und zwar an der Stelle selbst, wo die abscheulichen
Verbrechen begangen worden sind .. /'
Indessen waren die Sonderberichterstatter der groBen
Blatter, die sogleich nach der Niederwerfung dcs ffAufstauds'*
nach Indochina abgereist waren, um sich an Ort umd Stelle von
der Abscheulichkeit der Verbrechen zu liberzeugen, nicht un-
tatig geblieben. Wahrend in Yen Bay die Guillotine aufmon-
tiert wurde, schauten sie sich, soweit sie nicht noch hinter
schiitzenden Moskitonetzen schliefen, in Sandalen und leichten
Shantungpyjamas den Sonnenaufgang von Tonkin an. Der Ab-
gesandte des ,Matin* schrieb im Auto, das ihn im Hundertkilo-
metertempo zur Hinrichtungsstelle transportierte, freudig:
„Dreizehn sind es« die heute aus der Schar der Elenden ent-
hauptet werden, die im vergangenen Februar mitten in der
Nacht die Unsern uberfielen und ermordeten ..." Er fuhr fort:
„ Gestern sagte mir der Mandarin Thd: ,Wenn Ihr nicht wenig-
stens zwei Annamitenleben nehmt, um ein franzdsisches zu
rachen^ dann habt Ihr Angst, oder Ihr habt den Stolz Eurer
Rasse verloren."' Folgten zwei Spalten, wie auBerordentlich
geschickt der annamitische Henker die importierte Mord-
maschine bediente und der Generalresident von Yen Bay drei-
zehnmal im Gefangnistor verschwand, um seine Schiitzlinge zu
holen, Alle, gewiB, alle diese gelben Halunken starben wie
elende Memmen, von ihrem kommunistischen Gott und den
eignen frechen Kraften verlassen. Einige muBten sogar zur
Richtstatte getragen werden. Es war kein erhebendes Bild,
nach dem Sonderberichterstatter des ,Matin\
In der Zwischenzeit sind den Dreizehn von Yen Bay gut
nochmal soviel aufs Schafott gefolgt. Still diesmal, einzeln,
ohne Beisein von pariser Gasten. Ein kurzes sachliches
Communique aus dem Kolonialministerium zeigte jedesmal nur
. 213
an, daB ,,die Gerechtigkeit ihren Lauf" genommen hatte, In
Paris krahte kein Hahn nach den Opfern dieses Amoklaufes
der Gerechtigkeit.
Und dennoch sterben auch elende, nichtswiirdige Asiaten,
die keine Arbeitstiere fiir die WeiBen sein wollen und eher das
Blutgeriist besteigen, nicht umsonst. Ein Buch unter vielen ist
nach dem Schlachtmorgen von Yen Bay in Paris erschienen:
„Viet Nam" von Louis Roubaud. Der Franzose Roubaud hat
den blutenden Siidostwinkel Asiens mit offenen Augen durch-
messen, er hat der Hinrichtung der Dreizehn beigewohnt, er hat
die Sarge gezahlt, er hat die schweigende Bevolkerung beob-
achtet, die vom nahen Hiigel dem Blutbad zusah. Angesichts
der entsetzlichen Rache, die die beleidigte weiBe Rasse fiir den
Tod von sieben der ihren an — oh allzustolzer Mandarin! —
dreimal soviel Annamiten genommen hat, war es ihm wichtig
erschienen, das Schuldteil abzuwiegen, das hiiben und driiben
der Guillotine liegt. Sein Urteil ist niederschmetternd fiir die
aus dem Abendland kommenden Kulturtrager, Justizpachter
und Volkserzieher ausgefallen.
Was sich zur Zeit in Tonkin, Annam, Laos, Cambodja,
Cochinchina abspielt, gleicht aufs Haar dem Repertoire in
Indien. Dank der franzosischen Verwaltung geht es nur ge-
schliffener zu und blutiger.
Seit 1929 schmiedet Indochina eine Kette todlicher Pro-
teste, ein MiBverstandnis ist ausgeschlossen. Am 7- Januar
1929 war der Generalgouverneur Pierre Pasquier in Hanoi
Zielpunkt eines Attentats- Am 9. Januar, zwei Tage spater,
fand der verhaBte Leiter des Landesarbeitsamts, Bazin, durch
einen wohlgezielt.en Dolchstich den Tod. Seiner Leiche war
ein eindeutiges Manifest: ,,Raus mit den Franzosen aus dem
Land!" am Riicken angeheftet. Im Marz gab es „Streik-
unruhen" zugleich in Hanoi, Haiphong und Namdinh; Juli und
August brachten den Stadten und Dorfern Annams, Ton-
kins und Cochinchinas rote Regen revolutionarer Aufrufe.
Massenverhaftungen begannen. Am 3, September ging in My-
diem ein Haus durch die Explosion von Bomben in die Luft,
die Verschworer drinnen fabrizierten. Am 6. Oktober lag im
botanischen Garten von Hanoi die Leiche eines annamitischen
Studenten, der „Geheimnisse der Partei" verraten hatte. Am
20. November entdeckte die franzosische Polizei hundertfiinfzig
Bomben im Dorf zu den „Sieben Pagoden"; am 23, Dezember
die gleiche Menge in Noivien, am 26. ein Lager von dreihun-
dert Sprerigkorpern in Thaila; am 10. Januar grub sie bei Bac-
Ninh vier Wagenladungen revolutionarer Schriften aus der
Erde; am 20, wanderten drei Schmiede ins Gefangnis, die, an-
statt am AmboB zu hammern, spitze Sabel schliffen. In der
Nacht des 11. Februar erfolgte dann der Oberfall auf das Fort
Yen Bay, der den Auftakt zur Revolution geben sollte.
Das Land ist voll geheimer Gesellschaften und Parteien,
schreibt Roubaud. Sie haben verschiedene Namen und kennen
alle doch nur ein Ziel: Befreiung des Landes von der Fran-
zosenherrschaft. Es gibt eine „Revolutionare Partei von Neu-
Annam", eine „Annamitische Nationalistenpartei", eine f1Partei
der Revolutionaren Jugend", eine ,,Annamitische Unabhan-
214
gigenpartei", und es gibt die „ Viet Nam Cong San Dang'\ die
iibersetzt ungefahr: „Gemeinschaft der patriotischen Kommu-
nisten von Annam" heiBt. Diese Partei soil die machtigste in
Indochina und via Kanton Moskau angeschlossen/sein. Sie ubt
die Disziplin der Dritten Internationale, interpretiert die mos-
kowitische Doktrin jedoch nach Belieben. Viet Nam, die bei-
den ersten Worte, die Roubaud auch zum Titel seines Buches
gemacht hat, bedeuten: Sudliches Vaterland. Viet Nam ist zu-
gleich der Name einer der hundert sagenhaften Familien, die
Annam vor Jahrtausenden begriindet haben sollen. Und Viet
Nam betont den nationalistischen Charakter der Partei, deren
Ziel durchaus nicht die Verwirklichung des Kommunismus ist,
sondern ebenfalls die Befreiung Indochinas von der Fremd-
herrschaft. Was fasziniert, vermutet Roubaud, ist die Organi-
sation, der Apparat der moskowitischen Partei, die glanzend
funktionierende Minierarbeit, die phantastische Kraft, die aus
dem stummen Gehorsam Tausender emporwachst,
Exempel: Am I. Mai 1930 marschieren 1500 Menschen von
Vinh nach Ben Thuy. In Ben Thuy gibt es eine Ziindholz-
fabrik mit siebenhundert Arbeitern. Die Fiinf zehnhundert
marschieren stumm, mit nackten FiiBen, wohlgeordnet, Keine
Fahne, kein Ruf, kein Parolenbanner. Die ,,Viet Nam Cong
San Dang" verbietet kommunistische Embleme. Der Resident
schickt dem Zug der Zerlumpten ein Detachement entgegen,
das verhandeln soil. Aber die Partei verbietet Verhandlungen.
Als die Gendarmerie auf hundert Meter ankommt, mit einem
,,tri phu" (Mandarin-Interpret) an der Spitze, wird komman-
diert: „Zerstreuen, sonst wird geschossen!" Die Fiinfzehnhun-
dert niarschieren. Nach einigen Metern erfolgt das zweite
Kommando. Die Zerlumpten marschieren. „Es ist ernst", ruft
zum dritten Mai der tri phu, ,,die Gewehre sind ge-
laden!" Die Stummen marschieren . . . Eine Minute spater
liegen fiinf Tote, sechzehn Schwerverletzte iiberm Haufen.
Am gleichen ersten Mai sind unter gleichen Urn stand en bei
Cat-Gnan sechzehn Tote und fiinfundzwanzig Verwundete ge-
blieben. Kein einziger von ihnen trug eine Waffe bei sich.
Fallen die ersten Toten, walzen sich Haufen von Ver-
letzten, dann pflegt rasender Schrecken sich der Demonstran-
ten zu bemachtigen. Sie stiirzen nach alien Windrichtungen
davon, um nach dem Gemetzel nicht verhaftet zu werden. Die
lebende Beute wird in Massenverhandlungen abgeurteilt. Louis
Roubaud beschreibt so eine Gerichtsszene, sie fand im Juhi
1930 in Phutho statt. 85 Angeklagte. Sie hocken in einem
heifien Schuppen eng aneinander. Am drapierten Tisch sitzen
vier Richter, der franzosische Kommissar fur ,,politische An-
gelegenheiten" in weiBer, goldgestickter Uniform prasidiert.
Legionare umzingeln die Fiinf undachtzig mit aufgepflanzten
Bajonetten. Aufgerufene haben vorzutreten, der Interpret be-
ginnt. (Nicht drei Prozent Franzosen vermogen sich direkt
mit den Eingeborenen zu verstandigen.) Er hort gelangweilt
zu und iibersetzt was er will. Zwei junge Anwalte sind den
Fiinfundachtzig beigegeben, sie stellen selten eine Frage und
gahnen geflissentlich. ,,Angeklagter, geben Sie zu...?" wieder-
215
holt mechanisch der Dolmetscher. „Ja, ich gebe zu,.." Von
den 85 geben 80 zu. Sie machen kcin Hehl aus ihrcm HaB, ob-
wohl sie es biiBen werden. In zwei Vormittagen ist das
Monstreverfahren beendet, das Urteil gesprochen. Je vier
rechte Arme zusammengetan, die zarten Gelenke aneinander ge-
fesselt, so sind sie verschwunden, zierliche, bewegte Sterne, in
die Nacht der Gefangnisse,
Die Augen der Welt von ignaz wrobei
T\ a ist nun Deutschland, ein Land, das sich fur alles inter-
essiert, was in der Welt vorgeht, und ist doch eine Provinz
geblieben, trotz allem: Provinz Deutschland. Woran liegt das — ?
Erst haben sie mit dem Sabel gerasselt, und wenn die an-
dern unwillig dazu gemurmelt haben, dann haben sie das fur
Furcht gehalten und diese vermeintliche Furcht fur Achtung
vor dem deutschen Wesen. Und dann, als die Friedensbedin-
gungen an den Schaufenstern klebten, haben sie Luft durch die
Nase gestoflen, recht verachtlich, und haben nicht begriffen,
was das heiBt: einen Krieg verlieren, an dem sie immerhin
ein gut Teil Schuld hatten. Und seitdem rasseln sie und wim-
mern sie, immer in schoner Abwechslung, und wenn sie drauBen
genug gewimmert habenf dann kommen sie nach Hause und
sag en; ,,So schlimm ist das alles gar nicht. Erst ens haben wir
gar nicht gewimmert. Zweitens haben wir niir im Interesse
des Vaterlandes gewimmert. Und drittens hatten die andern
doch machtige Angst vor uns,"
Weit entfernt, in dem Gedeihen eines intakten Staats-
bureaukraten-Apparates das Heil des Landes zu sehn, w oil en
wir untersuchen, wie es in der Seele des Durchschnitts-Deut-
schen aussieht, wenn er an das Ausland denkt. Seine Begriffe
sind wxist. Ein kleiner Teil von Gebildeten ist wirklich iiber
das unterrichtet, was drauBen vor sich geht — die Rechte und
die Linke, soweit es das noch gibt, haben einige sehr gute
AuBenpolitiker, auf die aber, wenns zum Klappen kommt, nie-
mand hort. Das Gros hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.
In Deutschland dominiert, was die AuBenpolitik angeht,
der innenpolitische Stammtisch, Zu dessen ehernen Grundsatzen
gehort die Phrase: ,, Die Augen der Welt sind auf uns gerich-
tet". Dieser Satz ist einfach eine Liige.
Deutschland spielt in der Welt nicht die Rolle, die es zu
spielen glaubt.
Es hat fiir den lateinischen Kulturkreis eine kleine Bedeu-
tung, wie mir scheint; eine zu kleine. Es hat fiir den angel-
sachsischen Kulturkreis eine kleine Bedeutung. Es hat fiir
seine unmittelbaren Nachbarn eine Bedeutung, die meistens im
Warenaustausch liegt und nicht so sehr auf dem Gebiet der
Kulturpolitik. Deutschland weiB nicht, wie klein sein kultur-
politisches Hinterland ist.
Hat etwas in Paris Erfolg, auf welchem Gebiet auch immer:
so hat es damit in alien franzosischen Kolonien Erfolg, die ja
immerhin recht betrachtlich sind; es hat weiterhin Erfolg in
der Levante und in Sudamerika, wo die Franzosen das er-
216
staunliche Kunststiick fertig bekommen haben, wenig Waren
und einen groBen Teil ihrer Kultur zu exportieren, und das mit
gutcr Wirkuag. Hat etwas in England Erfolg, so weiB man, was
geschieht: die halbe Welt ist, was ihre Lebensart angeht, angel-
sachsisch. Und man fragt sich, ob sich diese deutschen Radau-
patrioten denn keinen Atlas kaufen konnen, auf dem ja
immerhin zu sehen ist( wie diese Kugel heute nun einmal aus-
sieht. Folgerungen — ?
Der bestehende Zustand andert am Wert dessen, was der
Deutsche hervorbringt, zunachst gar nichts. Ich lebe jetzt seit
rund sieben Jahren im Ausland, und nichts ist mir so fatal, wie
jener Typus Deutscher, der sich an eine fremde Nation weg-
wirft, Er darf sie lieben — er soil sich nicht wegwerfen, Es gibt
da eine Nummer von Deutschen, die haben gewissermaBen
Notre-Dame gebaut, und wenn sie durch die londoner City
gehn, dann mochteri sie sich am liebsten auf dem Damm walzen;
sie protzen, und zwar mit der Macht der andern, gegen ihr Land.
Das ist dummes Zeug und verrat nur die eigne Unsicherheit.
Der Wert Deutschlands hat mit seiner Weltgelffung
gar nichts zu tun. Man muB diese Weltgeltung nur genau
kennen, sonst verrechnet man sich zum Schaden Deutsch-
lands, so wie sich die Kaiserlichen 1914 verrechnet haben, wo
sie den Islam und Indien und weiB Gott was noch alles in ihre
verfaulte Rechnung eingesetzt haben, weil sie nicht Bescheid
gewuBt haben, wieviel sie in Wahrheit drauBen wert gewesen
sind. Viel weniger als sie geglaubt haben — etwa den zehnten
Teil. Das hat sich bis heute nicht geandert.
Es gibt viele Arten, einen Staat zu machen. Mit der deut-
schen Not ist kein Staat zu machen. Es ist eine glatte und
simple Luge, zu behaupten, die Augen der Welt seien auf
Deutschland gerichtet, die Welt beschaftige sich intensiv mit
der deutschen Krise... es ist nicht wahr. DaB die beteiligten
Finanzleute alles Interesse haben, ihre in Deutschland angeleg-
ten Kapitalien zu retten, ist richtig; die breiten Massen der latei-
nischen Lander und der angelsachsischen Welt befassen sich
wenig mit uns: wir spielen in ihrem Gefiihlsleben eine ganz
untergeordnete Rolle. Etwa die, die bei uns Bulgarien spielt
oder Jugoslavien. Die Volkischen mogen ihr Geheul stoppen:
damit ist nicht gesagt, daB Deutschland diesen beiden Landern
gleichzusetzen sei. Im GegenteiL ich fiige etwas hinzu, was
keiner von den volkischen Beobachtern nachdrucken wird, die
meine Artikel zu falschen pflegen. Ich fiige namlich hinzu, daB
der wahre Wert Deutschlands nicht richtig eingeschatzt wird:
von manchen gebildeten Auslandern zu hoch, von den Massen
zu tief.
Das ist Deutschlands eigne Schuld. Was wir an Kultur-
werten exportieren, wie wir es exportieren: wenn man das
sieht, mochte man sich inGrund undBoden schamen, Und das
nimmt den nicht wunder, der etwa die Tendenzen des Vereins
fur das Deutschland im Ausland kennt. Diese Tendenzen sind
unentwegt wilhelminisch; die da haben nichts hinzugelernt und
alles vergessen. Das einzige, was sie inzwischen gelernt haben,
ist, wie man die Kinder in den Schulen zwingen kann, diesen
Trubel mitzumachen.
217
Die braven Mittelparteien, die heute vom patriotischen
Raptus befallen sind wie nur eh und je zu Beginn des Krieges,
mit derselben Terminologie, mit denselben plumpen Propa-
gandakiinsten; sie irren, wenn sie glauben, die Welt horche auf
Deutschland. Sie horcht gar nicht. Das Leben geht drauBen
seinen Gang, und nichts ist wahnwitziger und verfehlter als
diese torichte Theorie vom „Abgrund" und von der Welt-
Katastrophe, MNoch geht es England gut . . ." In diesem Mnoch"
ist der menschenfreundliche Wunsch enthalten: „Uns geht es
schlecht. Dann soil es denen aber auch schlecht gehen. Auch
sie sollen in den Abgrund, in die Katastrophe!" Diese Kata-
strophe spielen die Deutschen: aus wie einen Trumpf beim Kar-
tenspieL ,,Wenn wir schon untergehen sollen", las ich neulich
bei einem dieser wild gewordenen Patrioten, „dann sollen sie
wenigstens alle mit/' Sie denken gar nicht daran.
Man kann schon an der Verschiedenheit der Vokabeln er-
kennen, wie weit das Ausland von uns entfernt ist. Es gibt
eine international Krise des Kapitalismus, aber die andern
werden auf ihre Weise damit iertig, nicht auf die unsre. Da fah-
ren nun so viel gute und brauchbare deutsche Reiseschrift-
steller in der Welt herum, die allerhand Nutzliches von drau-
Ben nach Hause bringen — ja, lernt denn die Masse der Deut-
schen nicht endlich erkennen, daB beispielsweise Asien "immer
asiatisch reagiert und eben nicht europaisch und am allerwenig-
sten deutsch? ,,RuBland muB badisch werden!" stand zuKriegs-
beginn auf den Viehwagen, in denen man das Menschenmate-
rial transportierte. Aber ich fiirchte: eher wird Baden russisch.
Sie haben drauBen ihre eignen Sorgen, und sie brauchen
die unsern nicht. Und Deutschland ist ihnen viel gleichgiiltiger
als jene im Geist Provinziellen ahnen.
Genau so, wie die rasenden alten Weiber, die sich Wind-
jacke und Stahlhelm kaufen, damit sie sich als Manner fiih-
len, die Riickwirkung der deutschen Krise auf die Welt iiber-
schatzen — : genau so tun es leider die Kommunisten. Es war
einer der groBten und unbegreiflichsten Irrtiimer Lenins,
zu glauben, die Revolution springe fast mechanisch auf
die Welt iiber, wenn sie nur in RuBland gesiegt habe. Falsch:
die Welt ist dazu nicht reiL Es ist nichts mit jener von vielen
Deutschen so laut oder heimlich herbeigesehnten Apokalypse
— es ist der Wunsch des Schiilers, die Schule solle verbren-
nen, weil das Zeugnis nichts taugt. Die Schule aber verbrennt
nicht.
Die andern denken nicht daran unterzugehen, nur deshalb,
weil bei uns in schandlicher Weise Bankwucher betrieben wird.
Sie denken nicht daran, in das „ Chaos" zu stiirzen, und zwar
deshalb nicht, weil bei ihnen, den Lateinern, den Angelsachsen,
den Amerikanern, ganze Schichten des Biirgertums noch viel
gesiinder und kraftiger sind als das von den Theoretikern des
Umsturzes gewohnlich in Rechnung gestellt wird. Diese Rech-
nung ist falsch. Was da in Frankreich knistert, was da in
England brockelt — ihr konnt hundert Beispiele zitieren,
AuBerungen aus deren eigneri Munde, Und ihr zitiert sie alle
falsch, weil einer englischen Biirgersfrau die Wandlung der
218
Sittcn fur die Nachmittagsbesuche bereits wie Bolschewismus
erscheint. Man muB mit franzosischem MaBstab mcsscn, wenn
man Marseille verstehen will, und mit englischem, wenn man be-
greifen will, was sich in England wandelt. Mit Wiinschen ist
nichts getan. Ein anstandiger Arzt hat erst einmal vor
der Therapie eine richtige Diagnose zu stellen, und wenn wir
ehrlich sind, mussen wir klar sehn. Wir konnen die Tatsachen
beklagen, aber wir mussen sie sehn, wie sie sind. Was dadurch
die Welt schleicht, ist eine geistige Krise erster Observanz, die
also die wirtschaftliche nach sich zieht — doch geht hier nichts
unter. Es wandelt sich nur etwas, und zwar grundlegend. Wo-
mit Deutschland zunachst gar nicht geholfen ist.
Das ist unbequem, das ist hart, das ist langweilig. Also
wollen sie das nicht sehn. Sie wollen: das voile Theater,
mit einem atemlos gespannten Publikum, das ihren sentimen-
talen Arien und ihrem Panzerkreuzer-Gerassel Iauscht. Das
Land irrt. Das Theater ist halbleer, und das Stuck interessiert
nicht.
Also sollte man wohl diesem Notstand anders begegnen,
als mit jenen abgebrauchten Gesten zu einer Gaierie hin, die
gar nicht vorhanden ist. Welche Wiirdelosigkeit ist darin: im
Gerassel und im Gegrein welche Wiirdelosigkeit! Wie sie
nach jedem Zeitungsaufsatz fiebern, der von ihnen Notiz nimmt.
Welche Oberschriften! „Paris optimistisch!" MLondon ge-
spannt!" Aber es stimmt ja alles gar nicht; das da ist Ange-
legenheit eines kleinen Klubs politischer Fachleute, und da-
mit basta. Euer Einflufi auf die fremden Kulturkreise ist vor-
handen, aber er ist kleiner und ganz anders beschaffen als
ihr meint.
Exportiert eine Geistigkeit, die die Welt angeht, eine, die
in Deutschland gewachsen und die echt ist! Exportiert Qualitats-
waren, die es wirklich sind, nicht solche, die durch Dumping
und niedrige deutsche Lohne in fremde Absatzmarkte hinein-
gepumpt werden und die man den Fremden vergeblich als
Qualitat einzureden sucht! Exportiert Gutes, und ihr werdet
Gutes ernten. Was heute exportiert wird, ist Grofienwahn, der
aus einem Insuffizienzgefuhl herriihrt, und damit erobert man
keine Welt.
Amerikas Film-Herrschaft von Ebbe Neergaard
Desteht tatsachlich die Moglichkeit, dafi die gesamte Film-
industrie Europas bald von den Amerikanern beherrscht
werden wird? Man kann sich das heute kaum vorstellen, aber
wenn man die Entwicklung der Industrie in Hollywood seit
dem Tage betrachtet, an dem vor nur zwanzig Jahren Al
Christie dort das erste Studio begriindete, so ist auch da ein
beispielloser Vorgang im industriellen Leben: In ffinfzehn bis
zwanzig Jahren von einem Gauklerhandwerk zur Weltmacht!
Und grade der amerikanische Kapitalismus ist ja besonders stark
von der Zwangsvorstellung besessen, daB Produktion und Macht-
gebiet einer Industrie sich immer erweitern und steigern muB,
219
ohne Riicksicht auf den wirklichen, berechenbaren Bcdarf. Der
amerikanische Kapitalismus ist ja ein unaufhaltsames per-
pctuum mobile, und die Filmindustrie, als sein echtes Kind,
wird nicht damit zufrieden sein, daB sie in den Vereinigten
Staaten ein Monopol hat — Hollywood muB weiter, immer
weiter, wo es nur Wege gibt,
*
In der modernen Gesellschaft wird die Entwicklung der In-
dustrie gelenkt durch das Gesetz der Konzentration, Das gilt
auch fur die Filmindustrie, Amerika ist an der Spitze ge-
wesen, ist zuerst dem Gesetz gefolgt — nicht dem offiziellen
Gesetz, das die Bildung von Trusts verbietet, sondern dem
Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung. Die amerikani-
schen Filmindustriellen haben von Rockefeller gelernt — es
war nicht verboten, einen Verein zur Hebung des moralischen
und kulturellen Niveaus der Filmproduktion zu griinden, und
so entstand im Jahre 1922 The Motion Picture Producers and
Distributors of America, allgemein bekannt als The Hays Or-
ganization; unter der Leitung des ehemaligen Postministers in
Hardings Kabinett, Will. H. Hays, umfaBt diese Organisation
95 Prozent der gesamten amerikanischen Filmindustrie, offi-
ziell mit dem Ziel, den amerikanischen Film moralisch zu
machen, in Wirklichkeit, um ein inoffizielles Monopol zu bil-
den, Und das ist erreicht worden. In dieser machtigsten Or-
ganisation der amerikanischen Filmwelt sind unter andern
First National, Fox Film, Metro-Goldwyn, Paramount, RKO,
United Artists, Universal, Warner Bros,, Cecil B. de Mille und
D, W. Griffith in einer konkurrenzfreien Freundschaft unter
d«r offiziellen Fiihrung von Hays vereinigt.
Auch in Europa folgt die Filmindustrie dem Konzen-
trationsgesetz. Aber der nationale Individualismus, der noch
vorherrscht, bildet ein Hindernis fiir diese naturliche Entwick-
lung; immerhin gab es so viele Ansatze zur internationalen
Sammlung, daB man, besonders vor ein paar Jahren, schon
gern yon einem „Film-Europa" sprach. Wahrend der letzten
paar Jahre jedoch ist die Entwicklung hier nicht nennenswert
weitergegangen. Die Konzentration hat sich hauptsachlich nur
innerhalb der einzelnen Lander verstarkt. Deutschland bei-
spielsweise hatte im Jahre 1928 alles in allem 78 Produktions-
gesellschaften mit einem Gesamtkapital von 73 Millionen Mark,
1929 gab es nur noch 66 Gesellschaften, aber mit einem Kapi-
tal von 85 Millionen I Auch in Frankreich hat die Industrie
sich sehr stark konzentriert. Man scheint dort vor einem
Monopol zu stehen.
Die Umstellung vom stummen Film zum tonenden hat be-
sonders kraftig zur Konzentration beigetragen, Im Juli 1930
haben die deutschen und die amerikanischen Elektrizitatsge-
sellschaften, die die Tonfilmpatente besitzen, in Paris einen
Vertrag geschlossen, der in der Tat, praktisch gesehen, ein Welt-
monopol bedeutet, das alle notwendij^en Patente, also die Ton-
filmproduktion iiberhaupt, erfaBt. Western Electric-RCA und
Tobis-Klangfilm teilten sich in die Welt: die Deutschen sollen
Apparate herstellen und Lizenzen geben in Deutschland,
220
Oesterreich, Ungarn, der Schweiz, der Tschechoslowakei, Hol-
land mit Kolonien, Danemark, Schweden, Norwegen, Finnland,
Jugoslawien, Rumanien und Bulgarien; die Amerikaner haben
das Monopl in U.S. A,, Kanada und Neufundland, Australien,
Neu-Seeland, Straits Settlement, Indien und RuBIand und fak-
tisch auch in GroBbritannien und Irland. ,,Apparaturen fiir
alle iibrigen Lander der Welt sollen sowohl in amerikanischen
wie in deutschen Fabriken hergestellt werden."
Hinter dem Sieg des Tonfilms, in der Produktion wie im
Detailgeschaft, in Amerika wie in Europa, liegt etwas andres
und mehr als nur eine weitere Konzentration des Kapitals.
Das Vordringen des Tonfilms ist tatsachlich nur einer von
Amerikas zahlreichen Versuchen, Europa zu seiner wirtschaft-
lichen Kolonie zu machen.
Schon ein paar Jahre nach dem Weltkrieg, der durch die
Absperrung sehr stark zur Entwicklung der amerikanischen
Filmindustrie beigetragen hat, begann Hollywood sich leise
aber zahe auf den europaischen Filmmarkt einzuarbeiten.
Man muBte neue Markte finden, gesteigerten Umsatz. Die
Amerikaner richteten in Europas GroBstadten ihre eignen Ver-
mietungszentralen ein und fingen an, die kapitalschwachern
nationalen Firmen niederzukonkurrieren. SchlieBlich waren
in vielen europaischen Landern 85 bis 90 Prozent aller Filme,
die gezeigt wurden, amerikanisch. Zu diesem Resultat hat das
typisch amerikanische ,,block-fcooking"-System sehr viel bei-
getragen. Als GegenmaBnahme wurden die Kontingentgesetze
eingefiihrt. In Deutschland gibt es eine fiinfzigprozentige
Quote. In England hat man die steigende Quote: im Jahre
1928 sollten 1% Prozent der vorgefiihrten Filme britisch sein,
1938 miissen 20 Prozent im Lande selbst produziert werden.
Auch in Frankreich und I tali en hat man sich durch Kon-
tingente zu schiitzen gesucht, in Italien auf die Weise, daB
deutsche, englische und franzosische Filme durch besondre
Vereinbarungen in das nationale Kontingent mit eingerechnet
werden konnen, weil die italicnische Produktion sehr schwach
ist — eine deutlich antiamerikanische Aktion!
Nun begann das amerikanische Filmkapital und das film-
inter essierte Kapital eine neue Taktik: man finanzierte und
kaufte Theater und Gesellschaften in Europa auf, was um so
leichter moglich war, als die europaische wirtschaft in einer
Depressionskurve lag.
Trotzdem erschien die Situation den amerikanischen Film-
industriellen nicht giinstig gentug, und im Jahre 1927/28 schien
man einen toten Punkt erreicht zu haben. Das Interesse auf
dem Binnenmarkt lieB nach, und die Kurse der Filmaktien an
der new yorker Borse fielen. Besonders lieB das Interesse des
Auslandsmarktes nach: 1925 exportierten die Amerikaner fiir
8,7 Miilionen Dollars Filmet 1927 fiir 1,5 Millionen weniger,
und im folgenden Jahr fiel der Export noch um weitere 760 000
Dollar. Aber dann, von 1929 an, steigt der Export plotzlich
wieder, namlich auf 7,5 Mill. Warum?
221
■Der Tonfilm kam als das RettungsmitteL Nicht, daB er durch
einen gliicklichen Zufall grade in diesem Augenblick erfunden
worden ware' — es gab ihn schon langc, aber man hattc vor-
her kcinc Verwcndung daftir, weil der stumme Film bis dahin
guten Absatz fand, Jetzt aber, als die Filmindustrie merktet
daB die Kurve zu sinken begann, nahm sie mit Vergniigen das
Kapitalangebot der reichen Elektrokonzerne an; sie hatte frei-
lich ausreichende Reservefonds, um noch ein Weilchen allein
durchzukommen, aber der kluge Mann baut vor. Man nahm
das Angebot an und hatte nichts Besonderes gegen die Bedin-
gung der Elektroindustrie, daB von nun ab nur Tonfilme pro-
duziert werden diirften. Die amerikanischen Filmleute
schwammen im Geld, das aber natiirlich verwendet und ver-
zinst werden muBte. Ein Teil des Geldes ging in die Pro-
duction, ein andrer ging fur die gigantische Reklame drauf,
die denn auch, jedenfalls vorlaufig, das Interesse des Publi-
kums stimuliert hat. Und der letzte Teil des Kapitals wurde
iiber Europa ausgeschiittet! Erst jetzt, nut dem Tonfilm, mil
all dem schonen, frischen Geld der Elektroindustrie, erst jetzt
fangt im Ernst die Eroberung von Film-Europa an. Auch in
Europa sollen die Theater amerikanische oder amerikanisierte
Tonfilme zeigen: die Amerikaner kaufen oder finanzieren
Theater; auch in Europa sollen Tonfilme produziert werden:
die Amerikaner unterstutzen und kontrollieren Filmgesell-
schaften (unter diesen auch viele der groBten nationalen),
griinden eigne Ateliers fur die Produktion in europaischen
Sprachen, rJesonders in der Nahe von Paris (zum Beispiel Para-
mount) und fordern im ubrigen die Konzentration innerhalb der
europaischen Industrie, weil sie so leichter iibersehbar ist. Mit
Frankreich fangt es an. Die Methode sei durch eins von Hun-
derten von Beispielen beleuchtet: der franzosische Nationalist
Leon Bailby, der, wie er sagt, franzosischer als alle Franzosen
zusammen ist, kampfte lange in seiner Zeitung ,L'Intransigeant*
gegen den Tonfilm, aber eines schonen Tages horten die An-
griff e auf. Kurze Zeit darauf eroffnete Bailby im Gebaude
seiner Zeitung sein „eignes" Kino. Die Eroffnungsvorstellung
war — ein amerikanischer Tonfilm,
Europa ist zersplittert, Amerika einig — Europa ist ge-
schwacht, Amerika gespickt — der OberfiuB der amerikani-
schen Filmindustrie mufi naturnotwendig in das Vakuum der
europaischen Industrie hereinflieBen. Die Amerikaner sind
die ersten, die sich zusammengeschlossen haben, daher sind sie
die starkern, nun fordern und stiitzen sie die europaische Kon-
zentration, weil die zeitgemaB, praktisch, stark ist und sich
leicht kontrollieren laBt. Sie betrachten auf ihre Weise die
triibe europaische Situation optimistisch. Einer der unabhan-
<gigen amerikanischen Filmleute, Edw. L. Klein, hat neulich
seine freudige Auffassung der Verhaltnisse in folgenden unbe-
fangenen Worten ausgedriickt:
Die Moglichkeiten fiir den amerikanischen Produzenten und Ver-
leiher in GroBbritannien und auf dem Kontinent sind grofier als sie
jemals gewesen sind . . . Fiir amerikanische Interessen wird ein
groBes Zentralstudio errichtet werden, ohne Zweifel „irgendwo in
Frankreich" . . . das es den amerikanischen Produzenten ermoglichen
222
wird, in groBtem MaBstabe eine Massenproduktion sowohl in den
verschiedenen Sprachen des Kontinents wie auf Englisch einzuleiten,
und es wird ein veritables europaisches Hollywood entstehen. Es
werden auch Allianzen zwischen amerikanischen, deutschen, fran-
zosischen und andern Produktionsgesellschaften mit gemeinsamen
Ateliers in oder urn Paris oder Berlin entstehen, und neue Theater
werden von amerikanischen Kapitalinteressen in England und auf
dem Kontinent erworben oder gebaut werden, entweder allein oder
in Zusammenarbeit mit britischen und auslandischen Interessen,
Was wird werden, wenn Amerika die europaischen
Ateliers, Verleihe, Kinos beherrscht?
In dem Augenblick, wo die Amerikaner praktisch das
Monopol besitzen (auf das noffizielle" werden sie pfeifen
konnen), werden die Hollywood-Methoden tiberall durchge-
fuhrt werden, und zwar in einer Form, die noch einseitiger
sein wird als die jetzige. Hollywood bedeutet bereits Kon-
zentration in auBerster Konsequenz, Alle Produktionsgesell-
schaften, alle Regisseure, Manuskriptverfasser und Schau-
spieler sind an einem Ort konzentriert, haben keine Verbin-
dung mit der Wirklichkeit, weil sie nur mit Filmleuten urn-
gehen und ausschlieBIich Film denken, reden, riechen, sehen.
Das Ergebnis ist Mangel an Ideenfrische, jene kindische Angst
vor fortschrittlichem moralischen oder sozialen Denken,
Die Konzentration in Riesengesellschaften macht die
,, Organisation" notwendig: die vollig unpersonliche Pro-
duktionsmethode; weder Regisseur noch Manuskriptverfasser
oder Schauspieler konnen da frei arbeiten. Sie sind durch die
„ Organisation" gebtmden. „Der Betrieb wird rationalisiert":
das, was die natiirlichstet frischeste, vielseitigste Kunst sein
konnte, wird zu einem Fabrikprodukt, einem Serienprodukt,
zu lauter gleichartigen, farblosen Filmen. Ein danischer
Schriftsteller (der iibrigens in der kopenhagener Filiale der
Paramount angestellt ist) hat neulich in .Politiken' einen Ar-
tikel: ,,Verteidigung des amerikanischen Films" veroffent-
licht; darin heiBt es: „Es ist unmoglich, ein besonders Hte-
rarisch wertvolles oder eigenartiges Manuskript an die ameri-
kanischen Filmgesellschaften zu verkaufen, aber man vergiBt,
daB genau dasselbe fur die europaischen Filmgesellschaften
gilt" — jawohl, heute ist es so, aber es war nicht immer so.
Vor der amerikanischen Invasion, in den Jahren 1919/23, hat
vor allem die deutsche Filmindustrie eine Reihe von nicht nur
literarisch sondern filmtechnisch wertvollen Manuskripten ge-
kauft und verarbeitet. Heute ist es dagegen unmoglich, ein
wirklich gutes Manuskript zu verkaufen, und daran ist teils
direkt der amerikanische EinfluB, teils vor allem die Konkur-
renz der smartern amerikanischen Filme schuld, die noch hand-
fester den Geschmack verderben.
Die fabrikmaBige Filmherstellung bringt es mit sich, daB
individuell gepragte Filme gefahrlich werden, Jede Art Film,
die nicht fabrikmaBig, unpersonlich, innerhalb der Organisation
gemacht wird, ist gefahrlich, Chaplin, zum Beispiel, ist ge-
fahrlich, Er hebt das Niveau, er weckt den Geschmack des
223
Publikums fur etwas andres, besseres als das Serienprodukt,
Von hier aus muO man den Skandal urn seine Ehescheidung
vor ein paar Jahren sehen: ein Versuch, ihh unmoglich, un-
popular zu machen — und ich meinerseits zweifle sehr an der
Wahrheit der zahlreichen Geschichten uber Chaplins GroBen-
wahn und Snobismus hochgestellten Personlichkeiten gegen-
iiber, wie die Zeitungen sie heute dauernd bringen. Wer ein
wenig von den harten Methoden der amerikanischen Industrie
weiB, dem wird die wahrscheinlichste Erklarung sein: er ist so
sonderbar, er muB weg! Man konnte mehrere Beispiele dafiir
nennen, wie man Kiinstlern ganz einfach den Weg gesperrt
hat, weil sie zu eigenartig und zu tiichtig waren. Die
gewohnliche Methode, allzu tiichtige Filmkunstler un-
schadlich zu machen, ist ja sonst, sie zu kaufen. Das
klingt roh, ist es aber auch: man „unterstutzt" die
Avantgarde und ladt die groBen Europaer nach Holly-
wood ein (siehe Jahnings, Sjostrom, Stiller, Greta Garbo,
Marlene Dietrich „vor u«id nach dem Gebraucn"!) Und wollen
sie nicht mit hinein in die Organisation, dann hinunter mit
ihnen! Nur Chaplin hat bis jetzt seine Stellung behauptet,
weil er schon vor der groBen Konzentration okonomisch selb-
standig war und sich ein so groBes Publikum, zu dem der
Weg auch wirtschaftlich direkt geht, geschaffen hat, daB er
sich auch heute noch als Einzelner halt en kann.
Je groBer die Konzentration unter der Alleinherrschaft
der Amerikaner wird, urn so leichter wird es ihnen fallen, die
Leute auszusperren, die den Standard heben.
Das Ziel der Amerikaner ist nicht, so gute Filme wie
moglich zu schaffen, ihr Ziel ist vor allem die Organisation
selbst, eine Art Industriesport: sie fein und gutgeolt gleiten
machen. Durch das fanatische und immer eingepaukte Schlag-
wort ,, service" wird bei alien Angestellten eine Art Firma-
Patriotismus gezuchtet; besonders Paramount, eben die Or-
ganisation, die am st arks ten in Europa arbeitet, zwangt ganz
bewtuBt in all ihre Mitarbeiter die Oberzeugung hinein, daB
,(die Paramount die hervorragendste Organisation ihrer Art
auf der ganzen Welt ist." Dies wird von der Firma selbst
„der Paramountgeist" genannt. Die Organisation fur die Or-
ganisation, nicht die Organisation um des guten, belehrenden
oder kiinstlerisch hervorragenden Films willen, wie inDeutsch-
land nach dem Weltkrieg, auch nicht um einer groBen, kon-
kreten Idee willen, wie in der Sowjetunion — nur Organi-
sation, Funktionieren des Apparats, das ist das Ziell
Je mehr sich die Konzentration und das Monopol dieser
Organisation befestigt und dahin entwickelt, auch Europa zu
umfassen, um so mehr wird die Monopolstellung zum Publi-
kum dazu fiihren, daB die Reklame in noch hoherm MaB als
heute die eigentliche Kunstbetatigung der Filmindustrie wird,
die wirkliche Probe fur die Macht der Organisation. Heute
schon ist die Reklame eine Art Sport geworden, schon jetzt
amusieren sich die Produzenten damit, durch bloBe Reklame-
hypnose kiinstlich Erfolge zu schaffen. Es ist danach leicht,
sich auszumalen, wie es mit den Zukunftsaussichten fur eine
ernsthaf te Filmkunst stent,
224
ReligiOSe Klllist? von Ernst Kfillai
Es ist Zeit, das Wort Richard Muthers von dcr Denkmal-
seuche umzupragen in die Feststellung, daB wir von einer
wahren Edelkitschseuche neuer Kirchenbauten, dazugehoriger
Kultgerate, Bilder tind Bildwerke heimgesucht werden. Wo
ist das Forum, diese Machwerke nicht etwa cincr rcligiosen
Erneuerung, sondern einer iiblen Pharisaer-Konjunktur wcgen
Geisteslasterung vor Gcricht zu stellen? Auge um Auge, Zahn
um Zahn fiir die unauihorlichen und unerhorten, hanebiichenen
Gotteslasterungsprozesse gegen Ktinstler, die wciter nichts
vcrbrochen haben, als die offenkundige Tatsache der Verfil-
zung von Kirche und kapitalistischer Staatsgcwalt festzunageln,
Man kann diese kultische Edelkitschseuche auf ersten An-
hieb aus Griinden der Wirtschaftsvernunft bekampfen. Schade
um das viele Geld, das in diese Scheinkultur gestcckt wird,
wahrend aus Geldmangel dringendste Notstandsarbeiten des
sozialcn Bauwesens unterbleiben mussen. Der Staat ireilich"r
der mit seinen schwer erschwitzten Geldern an der Finanzie-
rung der neuen Pharisaertempel direkt oder indirekt beteiligt
ist, weiB sehr wohl, was er dem realpolitischen Btindnis mit
der Kirche schuldet Sind doch Kanzeln, Altar e und Beicht-
stiihle noch immer recht wirksame Stiitzen seiner gemein-
gefahrlichen MOrdnung", Und die Kirche laBt sich diese
Dienste selbstverstandlich bezahlen. Sie kann sich zudem auf
die gewaltige Zahl ihrer eingeschricbenen Mitglieder berufen,
die trotz der vielen Austritte die Zahl der Gottlosen noch
immer bei weitem iibertrifft Fiir die Seelen dieser ansehn-
lichen Herde muB doch gesorgt wcrden. Also werden Kirchen
gebaut. Keine neue Siedlung ohne Kirche, Du gehst an den
Grundmauern irgend einer solchen Siedlung vorbeL Inmitten
ausgedehnter Wohnblock'e und -zeilen, an einer stadtebaulich
besonders hervorragenden Stelle ist die Anlage eines groBern
Bauwerkes von offenbar gehobener Bedeutung zu erkennen,
Du freust dich auf ein neues Kino etwa. Weitgefehlt. Da
wird keine Vergniigungsstatte, sondern eine Kultstatte gebaut.
Eine neue Kirche. Das Theater, das hier gespielt wird, ist
nicht profan, sondern fromm.
Es ware verkehrt, wollte man dieses fromme Theater
und seine neuen Bauten, Inszenierungen und Re qui si ten als
Anwalt der Freidenker kritisieren. Man ist im Gegenteil ver-
sucht, zu behaupten, daB die Kirche ihre noch immer bedeu-
tende Anziehungskraft zum groBen Teil grade dem philistrosen
Ungeist der Freidenkerbewegung zu verdanken hat. Sie lebt
von der Beschranktheit ihrer Feinde, Allerdings hat sie ne-
ben dieser unfreiwilligen Hilfe und den VerheiBungen des Jen-
seits auch durchaus greifbare irdische Vorteile und Nachteile
zur Hand, mit denen besonders der Katholizismus auBerst ge-
schickt zu operieren weiB — wenn es gilt, Glaubige zu kodern
und zu belohnen oder Ketzer zu schneiden. Katholik und Zen-
trumsmann zu sein, ist das beste Vorzeichen fiir Beamte oder
solche, die es werden wollen. Aber auch fiir freie Berufe. Ein
katholisches Lippenbekenntnis ist ein solider geschaftlicher
Einsatz. Zumal wenn es in Formen kirchlicher Kunstiibung
225
abgelegt wircL Der Katholizismus gehort heutc zu den ergie-
bigsten Auftragsquellen fiir Architekten, Malcr, Bildhaucr und
Kunstgewerbler. Seine kiinstlerische Regsamkeit hat auch die
andern Kirchen angesteckt. Die Ausstellung von Kultgeraten,
die, vom dresdner ,,Kiunstdienst" veranstaltet, vor einiger Zeit
im ganzen Reich umherwanderte, war die Musterkollektion
einer riihrigen Kunstindustrie fiir alle Konfessionen.
Sie zeigte katholisches, evangelisches und israelitisches
Andachtszubehor friedlich vereint im Zeichen jener gespreiz-
ten, weil allzu bewufiten und betonten Einfachheit der For-
men, die sich selber mit einem modischen, aber falsch an-
gebrachten Schlagwort als „sachlichM hinzustellen beliebt.
Diese gebieterisch gradlinige, iiberlegene Haitung lieB an den
kultischen Geraten alles Symbolhafte, also grade das im Reli-
giosen eigentlich Sinnvolle und Bedeutsame mit Absicht zu-
riicktreten, zugunsten einer aufdringlichen Glanzparade mo-
derner Material- und Proportionseffekte. Die Folge war engste
Anlehnung des erstrebten sakralen Charakters an das profane
Kunsthandwerk im Bauhaus- oder auch WerkbundstiL
Allerdings brauchten die Taufbecken, Kelche und Mon-
stranzen, die Gebetpulte und Leuchter aus ihrer sowieso nur
scheinheiligen Reserve weiter gar nicht hervorzutreten, urn
diese Anlehnung zu erreichen. Der Werkbundstil kommt ihnen
auf halbem Wege entgegen. Er laBt die Einfachheit seiner
biirgerlichen Gebrauchs- und Ziergegenstande dermaBen aus-
gepragt und feierlich in Form treten, als sollte sie einen Got-
zendienst im Namen der profanen Dreifaltigkeit Rationalis-
mus — Materialismus — Utilitarismus zelebrieren. Seine
Konfektdosen etwa sind weihevoll und monumentalisch wie
Urnen. Seine Fruchtschalen sind wie geschaffen, um mit den
hochbedeutsamen Gebarden irgend einer pathetischen Tanz-
gymnastik dargeboten zu werden. Ein Kunsthandwerk, das
den profanen Gebrauchszweck seiner Gegenstande mit so viel
zeremoniellem Abstand vor jeder unmittelbaren triebhaften
Formsinnlichkeit bewahren mochte, ist eher Wahrzeichen einer
tiberspannten Idee und Monument seiner selbst, als praktisch.
Es streift schon an kultische Representation, zumal wenn diese
ihrerseits wieder bestrebt ist, nicht so sehr symboltrachtig als
vielmehr ganz ,,zeitgemaB — sachlich", das heiBt als eine ge-
schlossene Front selbstherrlicher Gegenstande dazustehen.
Zum kultisch tib erst eigerten profanen Gebrauchsgerat gesellt
sich das symbolschwache, rationalisierte Sakralgerat, Gleich
und gleich gesellt sich gern,
Es gehort zur besondern Ironie dieser pseudo-religiosen
Kunstsituation, wenn die eine oder die andre Werkstatt das
verfangliche Wort ,, sachlich" in programmatischen AuBerungen
mit gewissem Stolz auch fiir ihr kirchliches Kunstgewerbe in
Anspruch nimmt. Die Verkniipfung von sachlich und religios
ist von einer gradezu perversen Paradoxic Wenn es etwas
restlos Entgottertes und Profanes auf der Welt gibt, so ist
es diese strammdeutsche Korrektheit der kunstgewerblichen
Zweckform, dieses geometrische Exerzieren ohne Hoheit, aber
auch ohne Anmut, ohne Eros, Man braucht nur ein wenig
an der Markierung ihrer religiosen Zwecke zu retuschieren,
226
um die kaltc Pracht dieser modernistisch stilisierten Kult-
gerate in die kalte Pracht eines mondanen Wefkbund: oder
Bauhausinterieurs zu verwandeln. Andachtszubehor fiir die
Dame von Welt, fiir den Herrn der Gesellschaft, Szenische
Requisiten fiir ein Theater der Anspruchsvollen, fiir Rein-
hardtsche Kirchenfestspiele.
Wie die Altargerate, so ihre Behausung. Sieht man sich
die neuen Kirchenbauten an, mogen sie nun traditionalistisch
oder modernistisch sein, so hat man immer den Eindruck, eine
Biihne fiir Theaterauffiihrungen oder Filmaufnahmen zu be-
treten. Sehr begreiflich. Die gewaltige, tief ins wirkliche
Leben der Gesellschaft greifende mittelalterliche Kraft des
Gottesgiaubens ist dahin. Am griindlichsten grade in den so-
zialen Schichten, zu denen die Bewohner der neuen Siedlun-
gen gehoren, die man so eifrig mit Kirchenbauten versorgt.
So wenig der verlassene Seelenraum dieses Glaubens mit dem
materialistischen ABC der Freidenker auszufiillen ist, so falsch
ist es, seine Verlassenheit mit den Kulissen einer scheinheili-
gen Kirchenbaukunst zu bemanteln. Diese Architektur hat
bestenfalls ,,Stimmung". Die erd- und volkverbundene Reali-
tat der alten Kathedralen, Kirchen und Kapellen ist zum
asthetischen Destillat verdiinnt.
Es mag Landstriche mit bauerlicher Bevolkerung geben,
die ihren frommen Glauben noch einigermafien bewahrt ha-
ben. Die Masse des Burgertums, der Intellektuellen :und erst
recht des Industrieproletariats ist gottlos, Selbst dann, wenn
sie dem Gesetz der Tragheit gehorchend oder aus irgend-
welchen taktischen Erwagungen e^nstweilen noch bei den
Kirche verharrt. Soweit diese Masse irrationale Geistes- und
Gemiitsbediirfnisse hat, greift sie zu den mehr oder minder
verfeinerten oder popular en Graden einer philosophischen
oder kiinstlerischen Befriedigung. Die Kunst aber hat ihr
empfindsames, nach Licht lechzendes Antlitz schon langst von
der erloschenden Strahlenquelle abgewandt, die wir mit dem
Begriff ,,Gott" nur noch markieren, so wie man bei militari-
schen Friedensmanovern den ,,Feind" mit einer weiflen oder
roten Schleife zu markieren pflegt. Wenn gut bezahlte Aui-
trage sie nun wieder in die Versuchung bringen, auf die aus-
gebrannte dunkle Hohlung Gott zu starren und vor dieser
Hohlung Gebarden einer scheinbaren Frommigkeit zu iibenf
Kirchen zu bauen, Altarbilder zu malen, Kultgerate herzu-
stellen, so kann das kiinstlerische Ergebnis dieser frommen
Obungen nur ein Formalismus von schlimmster Verlogenheit
oder von guten, jedoch ohnmachtigen Vorsatzen sein.
GewiB gibt es Kiinstler, die von der unleugbar vorhan-
denen seelischen Not unsrer guten neuen Zeit aufs tiefste er-
schiittert sind, und betroffen vor der abgriindigen Gewifiheit
eines Grofien Unbekannten, eines ewigen X in der Gleichung
Welt und Mensch stehen. Lehmbruck! Gerhart Marcks!
Doch was sie gestalten, ist die verkorperte tragische Ratlosig-
keit und Vereinsamung, ein blindes Herumtasten, Die Kirche
aber verlangt dogmatische Bekenntnisse, und die sind von
solchen echten Begabungen nicht zu haben. Da springen die
betriebsamen Alleskonner in die Bresche. Sie bauen heute
227
«in Konf ektionshaus, einen Kinopalast, oder eine Tanzdiele,
morgen eine Kirche. Malcn mit der linken Hand cin monda-
nes Damenbildnis und mit der rechten eine Madonna. Haben
soeben eine Puderbiichse in der Arbeit und bringen im Hand-
umdrehen einen Behalter fur geweihte Hostien hervor. Ge-
wifl haben auch die alten Meister Sakrales und Profanes ge-
baut, gemalt, modclliert. Aber man braucht nur einen Blick
auf ihre Kirchen, Altare und Mefigerate zu werfen. Vor der
innern Wahrheit und Wurde dieser Arbeiten zerfallt jede
Oberlegenheits- und Sachlichkeitspose, zerfallt auch alles
krampfhafte Gottsuchen unsrer modernen Kirchenkiinstler in
ein jammerliches Nichts. Je wortgetreuer diese religiosen
Lippenbekenntnisse sind, um so peinlicher ist das MiBverhalt-
nis zwischen ihrer formalen Sicherheit und ihrer ausdrucks-
losen Leere. Je raffinierter ihre asthetische Qualitat, um so
affektierter, also kitschigert die Wirkung. Und dieser kul-
tische Edelkitsch kann sich widerspruchslos in unsern Kunst-
ausstellungen und -zeitschriften breitmachen. Am sichersten
^rade an den Stellen, die sich als besonders autorisierte Ver-
tretungen der modernen Kunst aufspielen. Eine Hand wascht
eben die andre. Die Gesinnungslosigkeit unsres ktinstlerischen
Lebens, seines Schaffens und seiner Kritik ist einfach nicht
mehr zu unterbieten.
Schatzwechsel — und was dann?jan Bargemen
J Jnser Reichsarbeitsminister, Herr Adam Stegerwald, mag
es als personlichen Erfolg fur sich buchen, daB die Kan-
didatur des Geheimrats Schmitz von der I. G. Farben fur den
Posten des Reichswirtschaf tsministers nach einem heftigen
Ausfall des ,Deutschen' ganzlich von der Bildflache verschwun-
den ist. Der ^Deutsche* namlich, das Blatt der christlichen
Gewerkschaften, wollte keinen neuen Wirtschaftsminister.
Man glaubt wohl bei den (1Christen", daB Adam Stegerwald
das wirtschaftliche Ressort im Reichskabinett am besten auch
weiterhin alleine verwalten konne.
Der Finanzdirektor bei der L G. Farben, Geheimrat
Schmitz, wird freilich nicht sehr traurig dariiber gewesen sein,
daB er gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen ist, sich
iiber seine Bereitwilligkeit, als Wirtschaftsminister dem Reiche
zu dienen, positiv oder negativ zu auBern. Er bleibt weiter
im Hintergrund als der unverantwortliche Ratgeber der Reichs-
regierung in alien wirtschaftlichen Fragen. Und diese Stellung
ist ja fiir ihn in jeder Hinsicht bequemer und angenehmer, als
die Verwalturag eines Ministerportefeuilles. ,
Westialb soil sich der Farb en-Trust exponieren, wenn die
Dinge ohnedies schon soweit in Ordnung sind, daB gegen seinen
Willen kein Sperling von den Dachern der Wilhelm-StraBe
fallt? Was soil der L G, schon passieren? Das machtigste
wirtschaftliche Reichsressort — Adam Stegerwald, der nur in
den AuBenbezirken der Wirtschaftspolitik gebieten darft ist
dort fast ohne jeden EinfluB — bleibt ja doch, besonders in
kritischen Zeiten, das Finanzministerium, Und da ist, bei der
228
wechselseitigen groBen Schatzung, die Schmitz und Dietrich
fureinander empfinden, die Sache der L G. Far ben bestens
aufgehoben. Es ist ja noch gar nicht so lange her, daB der
«,per$6nliche Referent" des Reichsfinanzministers, sein Vor*
zimmer-Mann also, ein Oberregierungsrat, das Geheimnis die-
ser Beziehungen ausgeplaudert hat: Wer die Dinge etwas
naher kenne, so schrieb er, der wisse auch, dafi die GroB-
industrie bei dem ErlaB der Wirtschafts-Notverordnungen der
Ministerialbureaukratie still mitgearbeitet habe. So sehen
diese Verordnungen derm ja auch aus.
Allmahlich hat es sich nun herumgesprochen, daB die
I. G. Farben, und mit ihr die iibrige GroBindustrie, selbst in
den Zeiten des Unglucks und der Krise eine reiche Ernte ah
wirtschaftspolitischen Errungenschaften halten konnen. Mogen
Andre Hunger leiden — ihre Krippen werden von den Wirt-
schaftsministerien immer wieder aufs neue gefullt. So schlimm
hat man es beim Reich zugunsten der Leuna-Leute getrieben,
beim Benzinzoll und bei der Einfuhrsperre fin* StickstofL daB
selbst eines der sanftesten Regierungsblatter aufbegehrte.
Welchem Faktum wir das bittere aber berechtigte Wort vom
„L G. Deutschland" verdanken.
In den letzten Wochen sind die Dinge noch weiter ge-
diehen, Es wird immer deutlicher, daB nur noch Ideologen
und Plattkopfe sich iiber die praktische Ausfiillung des
Schlagworts von der nationalen Selbsthilfe Gedanken machen.
Unsre bewahrten Realpolitiker sind iiber die Phantastereien
der „Deutschen Planung" langst hinausgediehen. Sie machen
das, was allein lohnend ist: namlich Geschafte. Geschafte in
der Personalpolitik und Subventionsgeschafte. AuBen steht
noch die Firma , Rationale Selbsthilfe" groB angeschrieben.
Von dieser Plakatierung gedeckt, verteilt man drinnen die
Postchen und die Quoten an neuen Transaktionen. Sub-
ventions wirtschaft wie noch nie!
Aus der Devisen-Zwangsbewirtschaftung macht man durch
Schaffung illegaler Einfuhrsperren den „trockenen Protek-
tionismus" — das bedeutet Preisschutz, bedeutet Subventionen
fiir die GroBlandwirtschaft, fiir den Waldbesitz, fiir die ver-
schiedensten Industriegruppen. Die Aufsicht iiber die Banken,
vielfach angekiindigt, bedeutet die Schaffung einiger hoch-
dotierter Posten fiir bisher aktive Reichsbeamte, fiir beschaf-
tigungslose Generaldirektoren und fiir besonders verdiente
Politiker- Die zusatzlichen Kredite fiir die Erntefinanzierung
werden wieder den bekannten Roggenstutzungsgesellschaften
zuigeleitet. Und die im ersten Rausch der Entschliisse als
„Staatskapitalismus" gepriesene Expansion des Reichs auf dem
Gebiet des Privatbankwesens prasentiert sich heute schon als
eine groBartige Subventionsangelegenheit. Im Faile Dresdner
Bank und im Falle Akzeptbank haben alle iibrigen Kredit-
institute den Vorteil von den HilfsmaBnahmen des Reichs; im
Falle Danat-Bank aber sind die groBindustriellen Glaubiger und
die neuen groBindustriellen Besitzer dieser Firma die fr6h-
lichen Selbsthilfegewinnler.
Natiirlich geht eine soiche Unterstiitzungspolitik zugun-
sten der groBen Kapitalmachte nicht ohne Opfer ab< Es ist
229
heute kein Geheimnis mehr, wer diese Opfcr bringen muB.
Bei den Kommimen hat es angefangen, und die Lander wer-
den bald ahnliches erleben. Die Oberbiirgermeister, die im
groBen Durchschnitt fast ebenso sinnlos mit den ihnen anver-
trauten Werten gewirtschaftet haben wie. die typischen "Ge-
neraldirektoren in der Privatwirtschaft mit den ihrer Obhut
anempfohlenen Gesellschaften, werden jetzt von ihrem Piede-
stal heruntersteigen muss en, und das ist recht und billig so.
Aber dann kommt auch die Senkung der Gehalter bei den
kleinen Kommunalbeamten, es kommt der Abbau der Unter-
stiitzungssatze bei der ..Wohlfahrt", die Entlassung von Leh-
rern, die Zusammenpferchung der Schulklassen, die Verrin-
gerung der Lohne bei den Kommunalarbeitern, und schlieBlich:
der Ausverkauf des kommunalen Betriebsvermogens an die
Privatwirtschaft. Gas-, Wassex- und Elektrizitatswerke —
adel Von der kommunalen Selbstverwaltung und, spater, von
der Autonomic der Lander wird nicht mehr viel tibrig bleiben.
Etappe zwei: Steuererhohungen beim Reich (die „letzte
Reserve" der Umsatzsteuer muB ja einmal eingesetzt werden)
und Verpfandung aller Steuerquellen, die fur eine monopol-
maBige Auswertung geeignet sind, zugunsten in- und auslan-
discher Anleihe-Vermittler. Das heifit: Tabak-, Benzin- und
Lotterie-Monopol — vielleicht auch; Verpfandung der Haus-
zinssteuer, unter Kapitalisierung der Steuerbetrage. Als Er-
ganzung; rigorose Einsparungen im Reichsetat, besonders bei
den Personalausgaben — also bei Gehaltern und Sozialrenten.
Etappe drei: Senkung aller Lasten, die eine Rentabilitat
des „schaffenden Kapjitals'* noch verhindern. Also: Lohn-
abbau, Abwertung der festverzinslichen Kredite, Reduktion
der Beitrage zu den Sozialversicherungen.
Das ist der Weg, den man gehen wird, unter giitiger Mit-
wirkung der groBen Wirtschaftsfiihrer, die sich der Reichs-
regierung gern und freudig als sachkundige Berater zur Verfit-
gung stellen — mit der Bitte, daB ihre Namen in der Offent-
lichkeit moglichst nicht genannt werden.
Ehe es soweit kommt, durchlaufen wir allerdings noch
eine Wirtschaftsphase, wo die Dinge auf des Messers Schneide
balancieren, Man macht noch einmal den Versuch, sich vor
der Verantwortung zu driicken. Die unpopularen MaBnahmen
werden hinausgeschoben . , , vielleicht laBt sich durch eine
kleine Inflation dies alles leichter und weniger schmerzvoll
regeln? Diese Oberlegungen regieren die Stunde.
Wie leicht war es doch fur das Reich, die Danat-Bank
zu stiitzen, die Dresdner Bank zu erwerben, die Akzept- und
Garantiebank zu griinden, die Rheinische Landesbank zu stiit-
zen! Man brauchte nur Schatzwechsel im Wert von ein paar
hundert Millionen auszugeben, deren Verwandlung in Bar-
geld, iiber ein paar Zwischenstationen, die Reichsbank gerne
leistete. Warum soli man nicht diesen Weg weiter verfol-
gen? Die Wahrung ist ja nicht gefahrdet, denn die Reichs-
bank erhalt nur vorschriftsmafiige Handelswechsel — und
wenn Kritikaster und uble Norgler von einer staatlich sank-
tionierten Wechsel-Reiterei sprechen, so braucht man sich
darum doch nicht im geringsten zu kximmern.
230
Die Entscheidung dariiber, ob sich das Reich die fur seine
eignen Zwecke und fiir die Untersttitzung der Kommunen
erforderlichen Mittel durch Anspannung aller Reserven und
durch rigorose Ausgabenbeschrankungen beschaffen und sichern
will,- oder ob es nach beriihmten Mustern eine inflatorische
Schatzwechsel-Politik treibt, muB sehr bald schon fallen. Die
Sicherungen, die gegen inflatorische Tendenzen bestehen, be-
sonders am Statut der Reichsbank, sind auBerordentlich stark.
Deshalb ist auch anzunehmen, daB die Finanzwirtschaft nicht
zu der bequemen Aushilfe der fortgesetzten Schatzwechsel-
Produktion greifen wird, die, um es klar auszusprechen, die
Inflation bedeuten- miiBte. Wahrscheinlich also wird man an-
dersherum vorgehen, und, da schon eine Geldentwertung nicht
moglich ist, die Abwertung der Lohne, der Soziallasten und
der Schuldenlasten auf direktem Wege erzwingen. Denn die
deutschen Unternehmer miissen leben — und sei es selbst
auf Kosten * der Arbeiter, der Konsumenten und der Rentner,
auf Kosten der Kommunen, der Lander und des Reichs.
Alltarkie von Theobald Tiger
Ira Juni hat noch keiner gewuBt,
was Autarkie bedeutet;
heut hebt sich jede deutsche Brust,
wenn das Schlagwort herunterlautet:
Autarkie !
Wir schlieBcn einfach die Grenzen zu.
Dann hat die liebe Seele Ruh.
Appelsinen, jroCe un kleene,
die machen wir uns alleene.
Kohlriiben wachsen hei uns zu Hauf.
Fiir uns ist nichts zu schade.
Wir rauchen still unser Sofa auf,
. mit Maikafer-Marmelade.
Autarkie! Autarkie!
Wir schuften fiir Zins und fiir Zinseszins,
und wir bleiben eine kleine Provinz,
Paris is ja so jemeene!
Wir machen uns aliens alleene.
Dann halten wir fest das Proletenpack:
beherrscht von Bureaukraten,
von Banken und Knuppel aus dem Sack,
von Polizei und Soldaten.
Kraht der Adler auf dem Mist;
Autarkie !
andert sichs Wetter, oder es bleibt wie es ist —
Autarkie!
Fur Pleite, Not und Kirchhofsruh —
brauchen wir etwa das Ausland dazu?
Diese Wirtschaftskapitane,
die machen det janz alleene.
231
Bemerkungen
Der schtitzende Paravent
Am vorletzten Sonntag gab es
*^ zum Morgenkaffee die be-
ruhigende Nachricht, daB die
,Rote Fahne' wiederum auf fiinf
Tage verboten worden sei, weil
sie, wie es hiefi, zu Gewalttatig-
keiten aufgefordert habe. Die
Leser haben aber nicht erfahren,
dafi dieses Verbot nach drei Ta-
gen als ganzlich unhaltbar wie-
der aufgehoben werden muBte.
Das Zentralorgan der KPD hatte
einen Leitartikel veroffentlicht,
der die politische Plattform der
Partei enthielt, auf Grund deren
die Massen zur Stimmabgabe fiir
den bevorstehenden Volksent-
scheid im Freistaat Preufien auf-
gefordert wurden. Ein Teil der
Programmpunkte war in be-
stimmten „Forderungen" formu-
liert, die sich vollinhaltlich mit
den gleichen Antragen der kom-
munistischen Reichstagsfraktion
deckten. Von der Voraussetzung
ausgehend, daB der Volksent-
scheid zur Auflosung des preu-
Bischen Landtages und zu Neu-
wahlen fiihren werde, legt der
Artikel vor den Wahlermassen
die politischen Ziele dart fur
deren Verwirklichung die KPD
k amp ft und fiir die sie in einem
kiinftigen preuBischen Landtag
mitreden will. In dem Artikel
ist iiberhaupt nicht, auch nicht
einmal andeutungsweisef zur Ge-
waltanwendung aufgefordert wor-
den: Der Ausdruck ,,Rote Selbst-
hilfe" ist ganz offensichtlich und
deutlich als Gegenparole gegen
das Schlagwort „Nationale
Selbsthilfe" gebraucht wordent
worunter nach der Auffassung
der ,Roten Fahne' eine Reihe von
Forderungen vereinigt wurden,
die gegen die Interessen des deut-
schen Volkes verstofien.
Da die in den Notverordnun-
gen vorgesehenen Beschwerde-
moglichkeiten praktisch in den
meisten Fallen bedeutungslos
sindt wandte man sich unmittel-
bar an die Innenminister des
Reiches und PreuBenst die, das
sei anerkannt, schneLl und form-
los Remedur schafften, urn mich
sanft auszudriicken. Die Erhe-
bung einer RegreBklage gegen
den zustandigen Beamten im ber-
liner Polizeiprasidium war tibri-
gens ernsthaft erwogen worden.
- Dieses Verbot ist nur dann ver-
standlich, wenn man die sehr
weitverbreitete Ansicht teilt, daB
manche Beamte im berliner Poli-
zeiprasidium, gedeckt durch den
schutzenden Paravent des Staa-
tes, im Krieg zwischen SPD und
KPD die Machtmittel dieses
Dagegen wirkt nur die unubertroffene Abdu 11a - Cigarette!
Standard .... o/M. u. Gold .... Stuck 5 Pfg.
Coronet . . . m. Gold u. Stroh/M. . . Stuck 6 Pfg.
Virginia Nr. 7 . . o/M Stuck 8 Pfg.
Egyptian Nr. 16 . o/M. o. Gold Stuck 10 Pfg.
Abdulla - Cigaretten geniefien Weltruf !
Abdulla & Co. - Kairo / London / Berlin
232
Staates in einer Weise ausnut-
zen, die viele zu einem „Ja" beim
Volksentscheid veranlassen, Wer
heute oben sitzt, kann in diesen
wirren Zeiten morgen unten lie-
gen* Alle Richtungen haben ein
gemeinsames Interesse daran,
daB bei der Einsetzung der staat-
lichen Machtmittel gewisse Tur-
nierregeln von den jeweiligen
Machthabern innegehalten wer-
den. Der eigentliche Reichspresse-
chef ist zurzeit der Pressechef
des berliner Polizeiprasidiums.
Die groBe Machtfiille, die in sei-
ner Hand vereinigt ist, verhindert
vielleicht die beschauliche Erin-
nerung an die Zeit, wo er selbst
radikaler war als die heutige
KPD ; aber er sollte doch rein
fachrhannisch seinen Chef so be-
raten, daB solche Blamagen er-
spart bleiben.
DaB die deutsche Presse die
Angelegenheit bewuBt oder weil
sie sie nicht kennt, totschweigt,
ist nicht weiter erstaunlich. Schon
beim vorletzten Verbot der ,Roten
Fahne* war es allein das (Berli-
ner Tageblatt', das sich nicht
scheute, sich auch vor ein kom-
munistisches Blatt zu stellen, wie
es auch fast als einziges biir-
gerliches Blatt die grundsatz-
liche Bedeutung des vollig un-
begreiflichen . Verbotes der
„Barrikaden am Wedding" er-
kannt hat.
DaB man alle diese Dinge
noch mit einem juristischen
Mantelchen umhangt, ist fiir
manch einen Juristen tief be-
dauerlich. Wollen sich die deut-
schen Juristen widerspruchslos
zu Biitteln der Polizei degra-
dieren lassen? Ob sich ein deut-
scher Richter finden wird, der
urteilsmafiig die fiir mich zwei-
felsfreie Verfassungswidrigkeit
der meisten Notverordnungen fest-
stellen wird?
Alfred Aphl
Ufa-Dramaturgic
Folgende Vorfalle lassen es
ratsam erscheinen, im Ver-
kehr mit der dramaturgischen
Abteilung der UFA, besonders aber
mit dem UFA-Chefdramaturgen
Podehl, aufierste Vorsicht walten
zu lassen:
Der Fihnschriftsteller Adolf
Lantz hat dem Chefdramaturgen
der UFA, Podehl, mit Bewilli-
gung des Autors und schriftlicher
Option des Verlages Felix J31och-
Erben das Theaterstuck „Dover —
Calais'* von Julius Berstl zur
Verfilmung angeboten. Lantz hat
das Buch mit dem Bemerken zu-
ruckbekommen, daB der Stoff
abgelehnt worden sei. Nach Ab-
lauf seiner Option hat die UFA
diesen Stoff direkt vom Ver-
lag erworben, ohne Lantz
auch nur in irgendeiner Form
daruber zu verstandigen. Lantz
richtete daraufhin einen Brief
an den verantwortlichen Pro-
duktionsdirektor der UFA,
Ernst Hugo Corell, legte ihm
den ganzen Sachverhalt klar und
wollte damit der UFA Gelegen-
heit geben, die Verfehlung ihres
Chefdramaturgen in irgendeiner
Weise wieder gutzumachen. Ge-
nau siebeniindvierzig Tage vergin-
gen, ehe Herr Corell antwortete.
Er begriindete diese reichlich
lange Zeit damit, daB „er sich
zunachst mit dem Studium des
vorhandehen Aktenmaterials be-
fassen muBte". Recht seltsam
sind auch seine weitern Ausfuh-
rungen. Namlich: „Herr Corell
hat sich in der von ihm vor-
genommenen Prufung die Gewifi-
Lebendige Kraftquellen
der en Eigenart sich schwer definieren lafit, weil sie durchaus singular im
heutigen Schrifttum dasteht, sind nach aller Erfahrung
die Bucher von B6 Yin Rd
zu haben in jeder guten Buchhandlung. Einftihrungsschrift von Dr. jur.
Alfred Kober-Staehelin kostenlos. Der Verlag: Kober'sche Verlagsbuch-
handlung (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
233
heit verschafft, daB auch in mo-
ralischer Hinsicht ein Vorwurf
Herrn Podehl nicht zu machen
ist." Zugegeben, daB der leitendc
Produktionsdirektor der UFA
ein vielbeschaftigter Mann ist, zu-
gegeben, daB es nicht allein in
der- dramaturgischen Abteilung
der UFA einiges aufzuraumen
"gibt, so ist es glattweg einSkan-
dal, wenn er den heikelsten
Punkt des Lantzschen Briefes
iibergeht und in seiner Antwort
auslafit, daB Lantz eine Option
auf das Stuck Berstls hatte,
Damit aber, daB Herr Corell das
recht zweideutige Verhalten sei-
nes Dramaturgen Podehl deckt,
erklart er es also fur ein Ge-
schaftsprinzip der UFA, Stoffe,
die man nach der Lektiire von
vielen Buchern findet und anbie-
tet, einfach fur sich selber zu an-
nektieren und denjenigen, der die
UFA erst auf diese Idee brachte,
zu hintergehen. Autoren und
Filmschriftsteller sollen also nach
Herrn Corells Ansicht die Tatig- v
keit der festbesoldeten UFA-Dra-
maturgen gratis und franko aus-
tiben. Ein fataler Irrtum, Herr
Corell 1 Ihre Stellungnahme wi-
derspricht nicht nur den primi-
tivsten Ehrbegriffen eincs orderit-
lichen Kaufmanns, sondern ist
auch juristisch unhaltbar. Den
Beweis werden hoffentlich bald
die prozessualen Weiterungen er-
bringen, die der „Schutzverband
der deutschen Schriftsteller" eben-
so wie der t)Verband der Tonfilm-
schriftsteller" nach dieser Ver-
offentlichung gegen Ihre Firma
anstreben wird. Das Ob jekt dieses
gerissenen Geschaftstricks heifit
jetzt „Nie wieder Liebe" und
lauft, beifallig von Publikum und
Presse aufgenommen, im berliner
Gloria-Palast. Als Autoren laBt
die UFA auf der Leinwand eine
Dame L von Cube und den Re-
gisseur Anatol Litwak zeichnen.
Der suddeutsche Filmautor
Ernst Iros schrieb auf Veranlas-
sung des damaligen UFA-Drama-
turgen, Doktor Roland Schacht,
zwei Exposes, denen der Roman
Reck-Malleczewens „Bomben
uber Monte Carlo" zugrunde lag.
Iros entnahm aus der Korrespon-
denz mit Doktor Schacht die
grundsatzliche Bereitwilligkeit
von Seiten der UFA zur Verfil-
mung des Sujets, wurde dann
aber durch die Nachricht iiber-
rascht, dafi die UFA das Ver-
filmungsrecht vom Verlag Scherl
direkt. erworben habe. Er hat bis
heute nichts mehr von der UFA
gehort.
Der Filmschriftsteller Doktor
Josef Than besorgte sich in Wien
bei dem Komponisten Eisler eine
schriftliche Option auf dessen
Operette „Der uns'terbliche
Lump" und bot sie unter Options-
Vorweisung dem damaligen Chef-
dramaturgen der UFA, Robert
Liebmann, unter der Bedingung
an, daB er auch den Auftrag zur
Herstellung des Manuskripts er-
halte. Wenige Tage nach Ablauf
der Option erwarb die UFA den
Stoff direkt vom Verlag, ohne
Than auch nur zu verstandigen
oder ihm ein Manuskript-Ange-
bot zu machen. Bis auf den heu-
tigen Tag hat man von seiten der
UFA-Dramaturgie Than mit lee-
ren Versprechungen hingehalten.
Der Filmautor Johannes Brandt
machte der UFA den Vorschiagf
einen Film „Flotenkonzert von
Sanssouci" herzustellen. Die dra-
maturgische Abteilung der UFA
bestellte bei ihm ein Treatment
und schlofi mit Brandt einen Ver-
trag, der ihn berechtigte, auch
Unser Umsatz steigt!!!
nicht trotz, sondern infolge der Krise. Denn jedermann forscht
nach Ursadte, Wesen und weiterem Verlauf dieser Krise — und
Malik-Biicher geben Antwort!
Vertangen Sie gratis unsere ausfahrlidien Itlustrlerten Prospekte
234
das endgiiltige Drehbuch auszu-
arbeiten. Brandt war verpflich-
tet, alle von der UFA gewunsch-
ten Anderungen zu machen, was
er auch tat, Sein Drehbuch wurdc
endgiiltig fiir gut befunden. Die
UFA veroffentlichte Brandt in
den Tages- und Fach-Zeitungen
als Autor dieses Films. Trotzdem
wurde Brandts Manuskript bei-
seitegelegt und der Freund des
Regisseurs Gustav Ucicky, der
Filmautor Walter Reisch, beauf-
tragt, ein neues Drehbuch anzu-
fertigen. Bei der Premiere des
Films wurde Brandts Name iiber-
haupt nicht erwahnt, und erst
Entscheidungen des Landgerichts
und spater Kammergerichts zwan-
gen die UFA, in alien Plakaten,
Inseraten und Veroffentlichungen
Brandts Namen zu nennen und
ihm eine hohe Entschadigung zu
zahlen.
Vorfalle ahnlichen inkorrekten
Geschaftsgebahrens der dramatur-
gischen Abteilung der UFA sind
noch viele. Sie ahneln sich je-
doch derart, daft es unnotig und
ermiidend ware, sie alle einzeln
aufzuzahlen. Der offentliche Hin-
weis in dieser Form wird hoffent-
lich genugen, die maBgebenden
Herren der UFA darauf hinzu-
weisen, dafi man die monopoli-
stischc Stellung, die zweifellos
ihre Firma innerhalb der deutschen
Filmindustrie innehat, wenigstens
materiell Schwachern gegentiber
nicht derart rigoros wider Treu
und Glauben ausnutzt.
Max Magnus
Lange Leltung
|7 iir Wasserklosetts mit Hoch-
*• behalterspulung hat eine
rheinische Firma einen geistreich
ausgedachten, wassersparenden
Zusatzapparat herausgebracht, den
I
ich in einem chemnitzer Hause sah
und der durch folgende fett-
gedruckte Erlauterung gekenn-
zeichnet ist:
Bei kleinem Austritt
nur Hauptkette ziehen.
Bei groBem Austritt
zuerst Auslosekette (Ring)
mit einer Hand ziehen und
festhalten, dann Hauptkette
mit der andern Hand ziehen.
Wie ist es nun bei groBem und
kleinem Austritt? Das ist leider
nicht angegeben.
Leutnant warst du efnst . . ♦
n diesen furchtbar ernsten Zeiten
Ists i edes Deutschen hochste
Pflicht,
DaB er — und selbst in Kleinig-
keiten —
Nur Deutschen hilft und Fremden
nicht!
Deshalb mufi man bei Deutschen
kaufen!
Ein Schweinehund, ders anders
machtl —
Wozu zum Juden, Fremden
laufen,
Die nur aufs eigne Wohl bedacht?
Von Fremden wird man doch be-
trogen
Und machtig iibers Ohr gehaun,
Auch oftmals bbse ausgesogen! —
Nur deutschen Firmen kann man
traun!
Drum kauf ich nur bei deutschen
Firmen,
Die stehn im ,,V. B." und „I. B.M!
So helf ich deutsche Arbeit
schirmen
Und Hndern deutsche Not und
Weh!
Hans-Joachim v. Sckulz, Leutnant
z. S. a. D. und Kaufmann,
Zoppot, SchaferstraBe 18
DAS BUCH DIESES SOMMERS
EIN EUROPAlSCHES EREIQNIS:
WAHN-EUROPA 1934 ^:,;'e^
THOMAS MANN: „Ich schulde Ihnen Dank fQr die Be-
hanntschaft mit diesem ausgezelchneten politlschen Roman."
EMIL LUDWI6: „ . . . ailes 1st ausgezelchnet gelungen."
348 Selten, Ganzleinenband 4,80 Mark
FACKELREITER*VERLAG,HAMBURG-BERGEDORF
/ 235
Grofie Zeiten (neueste- Ausgabe)
r\ie Zcit ist vfel zu grofl, so groB itt sie.
Sie wuchs zu rasch. Es wird ihr echlecht
bekommcn.
Man nimmt ihr taglich Ma0 und denkt
beklommen :
So groB wie faeute war die Zcit no ch nie.
Die Selbstbewufite
lUfein Herr", rief Emma! „was
»*" denken Sie von mir? Ich
bin ein solides Madchen/'
„Waren Sie nicht drei Jahre
verlobt mit einera Maler?"
„Gewifi. Aber die Strtimpfe
nab ich immer anbehalten."
Sie wuchs. Sie wachst, Schon geht sie
aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserkdpfen steigt die Flut.
Und Ebb e wird es im Gehirn der Klugen.
Der Optimistfink schlagt im Blatterwald.
Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
sind gHicklich, dafl sie einen Vogel haben.
Der Zukunft werden sacht die FtiBe kalt.
Wer warnen will, den straft man mit Ver-
achtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemic
So grofl wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.
Erich Kastner
Neues votn Tage
Uerr Professor Carl Schnritt-
•■* * Berlin macht mich freund-
licher Weise darauf aufmerksam,
daB die Kirche in den ersten
Jahrhunderten auctontas, aber
nicht potestas beansprucht habe."
.Deutsche s Volksiurn
August 1931
Liebe Weltbuhne !
F\ie frankfurter Zeitung' hatte
*-^ in Kopenhagen einen Korre-
spondenten, der nicht viel tat.
, Mahnungen blieben erf olglos.
SchlieBlich wurde Rudolf Geek
vom Verlag aufgefordert, dem
Manne den Text zu lesen.
Geek setzte sich hin und
schrieb f olgenden Brief :
Sehr geehrter Herr!
Etwas ist faul im Staate Da-
nemark. Und das sind Sie.
Mit Grufi
— ck
Hinweise der Redaktion
Berlin
Bund proletarisch revolutionarer Schriftsteller, Gruppe West. Schulungsabend. Diens-
tag 20.00: Lokal Kulka, Wilmersdorf, Lauenburger Ecke UhlandstraQe: Alfred
Kureila; Die Lage der Schrifts teller in der Sowjetunion. DUkussion.
Kamplkomitee fur die Freiheit dea Schriftturas. Freitag 20.00: Oeffentliche Ver-
sammlung im Schubert-Saal, BulowstraQe: Gegen die Zens ur. Es sprechen: Joh.
R. Becher ttber: „Die Schriltsteller und die Freiheit", Bernard v. Brentano Qber
..Wissenschaft und Fortschritt", Johannes K. Koenig uber „Gotteslasterung" und
Jurgen Kuczynski aber ..Statistik und Wahrheit".
Bflcher
E. J.Gumbelr „LaBt K6pfe rollen". Fascistische Morde 1924-1931. Flugftchrift. Preis
10 Pfg. Deutsche Liga fur Menschenrechte.
Felix Hollaender: Ein Mensch geht seinen Weg. Ullstein Verlag, Berlin.
Rundfunk
Montag. Berlin 21.00: .Oedipus" von Sophokles, bearbeitet von Heinz Liepmann. —
Langenberg 18.00: A. Paquet; Fahrt auf dem Oberrhein. — Dlenatag. Koniffs-
wusterhausen 18.00: F. Stossinger: Die moderne Franz 6 sin im Leben und in der
Literatur. — Wien 17.45: Norbert Schiller: Novellen und Marchen aus Arabien und
Indien. — Mittwoch. Berlin 15.40: Kurt Ruhemann: Fttrsorge far hirnverletzte
KriegsbeschEdigte. — 18.25: Albert Daudistel liest eigene Erzahlungen. — 21.10:
Heitere Bilder um und von Jerome K. Jerome, Querschnitt von Renee Christians. —
Donneratag. Breslau 20.30; Ein Mann erklart einer Fliege den Krieg, HSrspiel von
Wilb. Schmidtbonn. — Mtinchen 20.45: Lesestunde. MDer GroBe", hist No veil e
von Strindberg. (Ewald Balser). — Freitag. Berlin 17.50: Ernst Gl&ser liest eigene
Arbeiten. — Sonnabend* Muhlacker 18.40: Atte und neue Publizistik. (Hannes
Ktippers und Erik Reger).
236
Antworten
Alfred Kolmar* Sie schreibeh: ,,Herr Staatssekretar a. D, Pro-
fessor Doktor Julius Hirsch ist bekanntlich der Er finder des ameri-
kanischen Wirtschaftswunders. Nun sollte man meinen, daB die
Ent wick lung der amerikanischen Wirtschaft wahrend der letzten
Jahre, die so gar nicht wunderbar gewesen ist, Herrn Hirsch einigen
AnlaB zur Beobachtung groflter Vorsicht bei der Behandlung wirt-
schaftlicher Fragen geben sollte. Unter uns: Von einem ,Volks-
wirt', der ein so blamables Buch geschrieben hat, wiirde sich in Eng-
land und in Frankreich wahrscheinlich kein Student mehr prufen
lassen. In Deutschland ist es dagegen moglich, daB Herr Hirsch
sich in Leitartikeln immer wieder blamieren darf. Das ist ihm neu-
lich im .Berliner Tageblatt' in gradezu fabelhafter Weise gelungen,
Herr Hirsch fiihlt sich als ,Fachmann fiir Amerika* natiirlic'h dazu
berufen, zu dem amerikanischen Angebot eines Rohstoffkredites fiir
Deutschland Stellung zu nehmen. Er ,untermauert* — wie man heute
in Deutschland so schon sagt — seine selbstverstandlich positive
Stellungnahme zu diesem Angebot mit dem folgenden Zahlenmaterial :
Einfuhr Deutschlands aus U.S.A. in Millionen Reichsmark
Jahr Baumwolle Kupfer Weizen
1927 832,6 356,0 674,0
1928 795,0 376,0 571,0
1929 815,0 404,0 448,0
1930 581,0 251,0 231,0
1931 erste 6 Monate 187,0 94,5 49,6
Es ist Herrn Hirsch hierbei ein ganz groteskes Versehen passiert
Er braucht nicht zu wissen, daB die Vereinigten Staaten im ersten
Halbjahr 1931 nur 27,8 Prozent der deutschen Kupfereinfuhr gedeckt
haben; dafur ist er Professor. Aber er sollte sich wenigstens die
Kopfe der gedruckten Statistiken, die er verwertet, genauer ansehn,
Dann wiirde er namlich merken, daB Deutschland im Jahre 1930
nicht fiir 1063 Millionen Mark, sondern nur fiir 515 Millionen Mark
Baumwolle, Kupfer und Weizen aus U.S.A. gekauft hat Herr
Hirsch hat sich den Scherz geleistet ,in der ganzen Tabelle statt der
Werte des deutschen Importes aus den Vereinigten Staaten die des
deutschen Gesamtimportes an Baumwolle, Kupfer und Weizen ein-
zusetzen. Ein kleiner Unterschiedl Denn so entsteht naturlich der
Eindruck, daB die Amerikaner uns viel groBere Mengen der frag-
lichen Materialieri kreditweise zur Verfiigung stellen wtirden, als sie
uns gegen bar jemals geliefert haben, Oder will Herr Hirsch den
Amerikanern ein Lieferungsmonopol fiir Deutschland einraumen? Dann
mag er das sagen, aber nicht mit falschen Zahlen kpmmen. Er
miiOte dann aber auch darauf hinweisen, daB die Folgen eines
solchen amerikanischen Monopols fiir den deutschen Export nach
den Landern, aus denen wir sonst noch die fraglichen Materialien
beziehen, gar nicht abzusehen waren. Vielleicht wfrd sich Herr Hirsch:
auf einen Schreibfehler herausreden wollen, der passieren konnte.
Urn der Moglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit dieser Ausrede willen*
ist die ganze Glosse geschrieben worden. So etwas darf nicht pas-
Jtteine (flJtt. IO©.- JiusTeise~9e&uhvl
Ctkne £>evisen in die (Tatral
20 Tage RM. 190,— mit K" und Badearzt 66,- RM. mehr,
on Tfl«fl dm QRR _ infelnslvetReise bin u. zni'ticbt
dU I age KM. -*DO,— erstkl.Verpflegiing,Kurtaxe,Bedienungl
Alle Zimmerfliefl. warm. u. kait. Wasser.
Ham Ctodal, Lnbochna. Auskunlt: Western] 67&£,
237
sieren und am wenigsten einem Gelehrten, der es fur sich in An*
spruch nimmt, in wirtschaftlichen Fragen gehort zu werden, Es han-
delt sich hier nicht urn Herrn Hirsch allein und um seine Beweis-
fuhrung, die er einem Studenten seines Seminars hoffentlich nicht
durchgehen lassen wiirde, Aber diese Schluderei, die nicht nur in
der sogenannten schonen Literatur und ihrem scheuBlichen Betrieb
sondern auch in der angeblich wissenschaftlichen Behandlung von
Wirtschaftsfragen, also von Lebensfragen, zur iibelsten Gewohnheit
geworden ist, darf in Zukunft nicht mehr geduldet werden. Man
wird den Herren von nun an mehr auf die Finger sehen. Wir haben
gar keine Lust mehr dazu, uns widerspruchslos von irgend einem
.Volkswirt wundermild* blauen Dunst vormachen zu lassen."
Willi Miinzenberg, M. d. R. Sie schreiben unter Hinweis auf das
Pressegesetz: (,In Nummer 30 der .Weltbuhne* befindet sich fol-
gende Behauptung: ,Und diese Wut ist begreiflich, wenn man be-
denkt, daB der rote Aufbau des Miinzenberg-Konzerns auf Danat-
Krediten ruht/ Diese Behauptung ist unrtchtig. Richtig ist, daB
keiner der von mir kontrollierten Betriebe irgendwann und irgend-
welche Summen, und seien es auch die kleinsten, von Jakob Gold-
Schmidt oder von einer von ihm beeinfluBten Bank oder Gel destitu-
tion in irgendeiner Form erhalten hat."
W. K. Sie schreiben: ,, Unter zwei Bildern des prunkvollen
Hauses der Familie Lahusen in Bremen lesen wir in der ,Neuen
Badischen Landeszeitung' in Mannheim vom 11. Juli: ,Die Patri-
zierdynastie Lahusen in Bremen hatte sich in SchloB Hohehorst einen
Landsitz errichtet, der fiir einen der edelsten und schonsten Schop-
fungen der modernen deutschen Baukunst gait/ Zehn Zeilen wei-
ter, auf der gleichen Seite, hat der brave demokratische Kritiker
bereits diese Meinung: tAuBer ihren kiinstlerischen Neigungen, wenn
man das Protzenhaus in Hohehorst unter solcher Rubrik einordnen
darf, hatten die Lahusens ,, . / Eben erst ,Patrizierdynastie' und
zehn Zeilen spater schon bemitleidenswerte ,Protzen\ Und gleicher-
maBen iiberkommen den armen Kritiker bose Zweifel, ob man die
,edelste und schonste Schopfung moderner deutscher Baukunst' in
das Gebiet der Kunst rechnen durfe. Liebe Neue Badische, Dein
Kunstreferent ist nicht ganz sattelfest, Schon vor einigen Wochen
hat er die berliner Nationalgalerie Schinkel zugeschrieben. Armer
SchinkeL Wenn man schon zwei kiinstlerische Seelen in seiner
Brust wohnen hat, so empfiehlt es sich, immer nur eine auf einmal
reden zu lassen/'
Leser in Leipzig. Wenn Sie Interesse an regelmafiigen wochent-
lichen Zusammenkunften der Weltbiihnenleser Ihrer Gegend haben,
geben Sie Ihre Adresse an Herrn Kurt Lowenthal, Leipzig C, 1,
Kohlgartenstr. 18, IL, bei Wellmann.
Magdeburger. Geben Sie Ihre Adresse an „Hauptpostlagernd
Magdeburg P. S. 500", Der Empf anger beabsichtigt, regelmaBige
Zusammenkunfte der magdeburger Weltbiihnenleser in die Wege zu
leiten.
Manuskript* find am an die Redaktion der Weltbuhne, Cborlottenburg, Kantatr. 152, zu
richten; ea wird gebcten. ihneo Ruckporto beizuleyen. da toast keine Rndcsendung erfolfcn It ana.
Da. Aufftthrungtrecht, die Verwertung van Tilelnu. Text im Rahmen des FUmi. die muaik-
mechanUehe Wiedergab* aller Art and die Verwertung im Rahmen von Radiorortrtgen
falelben fttr nlU in der WeltbOhne eracheinenden Beltr&ge auadrBcklich vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begriindet von Siegfried Jaeobsoho und wird von Cail v. OsBietzky
untei Mitwirkung von Kurt Tuchotiky eeleitet — Verintwortlich: Carl v. Owtetzky, Berlin;
Veda* der Weltbuhne, Siegfried Jacob.ohn & Co* CharloHenbur*.
Telephon: CI. SteinpUts 7757. — Postachedtkonto: Berlin 119 5&
Bankkonto. Darmatadter u. Nfttiooalbank, Depositenkaaae Charlottenburg. Kantatr. 112
238
XXVII. Jahrgang 18. Angost 1931 Nommer33
BfilOW-PlatZ von Carl v. Ossietzky
Am Sonntag den 9. August, abends acht Uhr, sind am ber-
^* liner Biilow-Piatz vor dem Lichtspieltheater „Babylon"
zwei Polizeioffiziere, die eine Streife fiihrten, meuchlings er-
mordet word en; ein dritter erhielt eine schwere Verletzung.
Als die Polizei das Feuer erwiderte, blieben ein paar Leute
tot und verwundet liegen, Leute, von denen niemand weiB,
ob es Konibattanten oder Passanten waren. Wir werden auch
schwerlich Jemals die Wahrheit erfahren, derm inzwischen ist
das Bild dieser traurigen Vorgange durch eine Kommunisten-
hetze verfalscht und verzerrt worden, wie wir sie seit langem
nicht erlebt haben, Ja, alle innere Politik scheint in diesem
Augenblick nur Kommunistenhetze zu sein und nicht mehr.
Selbst bei denjenigen liberalen Blattern, die sich sonst ein ge-
wisses Maft von Objektivitat bewahren, auch wenn es sich urn
Linksradikale handelt, gelten die Behauptungen der Polizei
als sakrosankt. Es gilt als erwiesen, daB die KPD die Meuchel-
morde am Btilow-Platz gewiinscht und planmaBig durchgefiihrt
hat, Sie unterhalt Terrorgruppen, sie unterhalt eine Geheim-
abteilung fur Sprengstoff-Attentate wie das von Juterbog. Nir-
gends regt sich angesichts der Fiille von Geruchten eine re-
gulierende Skepsis* Nirgends denkt man daran, die vom
Polizeiprasidium ausgegebenen Berichte unter eine kritische
Sonde zu nehmen, Nirgends erinnert man sich der blutigen
Maitage von 1929, die bekanntlich mit wilden Aufruhrmeldun-
gen begannen und mit einer ausgewachsenen Polizeiblamage
endeten. Das SchluBergebnis bildeten dreiBig Tote und drei-
mal so viel Verletzte, aber nicht ein Quentchen Beweis konnte
erbracht werden, daB diese Opfer im StraBenkampf gefallen
waren, daB iiberhaupt so etwas wie Aufruhr stattgefunden
hatte. Und niemand erinnert sich mehr der erst kurze Zeit zu-
riickliegenden Episode, wo ein Schutzpolizist in Zivil im dienst-
lichen Auitrag zwischen larmenden Demonstranten gesteckt
hatte.
Die politischen Griinde dieser neuesten Kommunistenhetze
sind leicht zu find en. Den sogenannten Siegern vom 9. August
ist nicht ganz wohl bei ihren Lorbeeren. Statt daB jetzt mit
den Rechtsparteien endlich Fraktur geredet wird, will sich
Briining mit Hugenberg ireundlich unterhalten. Die preuBische
Regierung hat die ihr von der Reichsregierung wegen der
Zwangsveroffentlichung ihres Aufrufs erteilte Maulschelle
schweigend eingesteckt. Ein schones moralisches Beispiel, daB
auch der Sieger nicht dem Hochmut verf alien darf. Die an-
geblich in Stiicke geschlagene Rechte findet freundliche Sama-
riterhande, die ihr die Schwielen am Hintern mit Salben be-
streichen. Losung aus dem Reichsprasidenten-Palais: auf La-
zarette darf nicht geschossen werden! So blieben nur die
Kommunisten iibrig. Die Sozialdemokraten benutzen die all-
gemeine Vernebelung, um die Konkurrenz aufzureiben oder
1 239
wenigstens nach Kraften zu schadigen. Es wird ihr nicht ge-
lingen. Nur die Kluft zwischen den beiden Arbeiterparteien
wird verbreitert, hoffnungslos verbreitert werden.
Auch die neue blutige Episode am Biilow-Platz gehort in
das jammervolle Kapitel der Kampfe zwischen den beiden Ar-
beiterparteien. Nicht Staat und Staatsfeinde sind es, die hier
ringen, sondern Parteien, von denen die eine das Gliick hat, als
Staatsautoritat verkleidet waiten zu diirfen. Ich behaupte, daB
dieser jahrelange Burgerkrieg am Biilow-Platz unter einem
halbwegs verstandigen biirgerlichen Polizeiprasidenten unmog-
lich ware. Dem waren die Kommunisten Hekuba; nur Sozial-
demokraten, also Blutsverwandte, kennen diesen intimen HaB,
dieses beiBende Geliist, die Abscheulichkeit, die Gemeingefa.hr-
lichkeit der benachbarten Partei immer aufs Neue zu beweisen.
So ist der Biilow-Platz seit Jahr und Tag die klassische
berliner Arena erbitterter Parti&anenkampfe. Ein Stiick Mittel-
alter tut sich mitten in der michternen Millionenstadt auL
Alexander-Platz gegen Biilow-Platz! Polizeiprasidium gegen
kommunistische Parteizentralel So stand das Quartier
der Capulets gegen das der Montagues. So stand die
Stadtvogtei des Patriziats gegen das Ha us der Zunfte oder der
Handwerksgesellen. Ist es nicht wie eine Erscheinung aus ver-
sunkenen Jahrhunderten? Seit Jahr und Tag wiederholt sich das:
eine Polizeistreife kommt uber den Biilow-Platz; ein paar junge
Burschen, mit Parteiabzeichen versehen, gehen voriiber. Die Poli-"
zisten sehen die jungen Leute scharf und miBtrauisch an, diese
erwidern mit herausfordernden Blicken oder Grimassen. Ein
boses Wort fallt, die Gummikniippel fliegen, ein SchuB kracht,
und nachher liegt ein Polizist oder ein junger Arbeiter starr
und strack auf der Bahre.
Gibt es da noch eine Schuldfrage? Es ist heute wohl fast
unmoglich, das MaB von Schuld zu verteilen und soil auch
nicht versucht werden. Zwei Psychosen treffen hier explo-
sionsbereit zusammen und verwandeln ein Stuck dieser niich-
ternen und noch immer ruhigenStadt in ein besonderes Terri-
torium wuster Indianerinstinkte. Nicht Polizei, nicht Rotfront
soil hier bemakelt werden, das sei den Parteimenschen
iiberlassen. Es soil nur in jene tragische Verstrickung hin-
eingeleuchtet werden, die immer neue Todesopfer, immer neue
Lahmgeschossene und Krummgepriigelte fordert. Es kommt
nicht darauf an, wer den ersten SchuB abgefeuert hat, aber
die Schusse vom 9. August miissen die letzten gewesen sein.
Wenn man in diesen Tagen iiber, den Biilow-Platz kommt,
so bietet sich. ein Bild, wie man es in Berlin seit der Revo-
lution nicht gesehen hat. Das Karl-Liebknecht-Haus, das kom-
munistische Parteihaus, ist geschlossen; ein weiter Umkreis
ist gesperrt und darf iiberhaupt nicht betreten werden. Die
Schupos gehen zu zweien und herrschen jeden an, der die
Hande in der Tasche halt. „Hande raus!'*, heiBt es schon auf
viele Meter Entfernung, von drohenden Gebarden illustriert.
240
t.Auseinander", wenn ein paar Lcutchen eingehakt gehen. Die
Bauzaune im Zuge der HankcstraBe bilden cinen EngpaB, dcr
vom Publikum gern benutzt wird, weil es sich zwischen. den
hohen Planken sicherer fiihlt als auf dem weiten Platz. Es
eilt schnell und schweigend an den Posten voriiber. Nach
Dunkelwerden fahren die groBen Mannschaftsautos umher, und
das stechend weiBe Scheinwerferlicht schlagt hart in er-
schreckte Gesichter, in geblendete Augen. Bei dieser Auf-
machung fiihlt sich jeder verdachtig, jeder als Missetater.
Schneller noch wenden sich Gesichter bei Seite, husChen
Menschen gespenstisch wie kopflose Schatten voriiber. So
sieht es in einer eroberten Stadt am ersten Abend aus, Noch
fiihlt sich der Sieger von Hinterhaltschiitzen bedroht. Noch hal
die Bevolkerung nicht angefangen zu fraternisieren. Noch
haben die kleinen Madchen vor den fremd aussehenden Sol-
daten Angst und machen ein Gesicht, als sollten sie gefressen
werden. Nun, im Kriege hat sich das immer schnell gegeben.
Hier jedoch hat man das Gefiihl, daB diese Zivilisten und diese
Uniformierten niemals zusammenfinden, niemals ein freund-
liches Wort wechseln werden.
Die Schupos patrouillieren zu zweien mit ernsten, ver-
bissenen Gesichtern. Man sieht ihnen an, wie sie der Tod
ihrer Kameraden getroffen hat. Man sieht aber noch mehr;
sie fiihlen sich in einem gefahrlichen Dienst und noch immer
an Leib und Leben bedroht. Sie stehen unter einem nerven-
aufreibenden Eindruck. Sie glauben zu wissen, daB jeder der
Feind sein kann. Sie verlieren die neutral e dienstliche Hal-
tung, wo eine Hand sjch selbstvergessen in die Rocktasche
senkt, Dann schreien sie schrill und undiszipliniert und stiir-
zen drauflos, wie einer, der sich von unsichtbaren Feinden be-
droht fiihlt und erleichtert ist, daB diese geheime, diese kor-
perlose Schrecknis plotzlich ein Gesicht bekommt, Auch sie
sind die bedauernswerten Mitspieler etnes politischen Trauer-
spiels, in dem es fur sie weder MaB noch Urteil gibt, nur das
BewuBtsein, pflichtgemaB zu handeln. Sie fiihlen sich nicht
als Sicherheitspolizei, sondern als Soldaten. Sie wissen; wenn
sie eingesetzt werden, so bedeutet das Krieg. Der Soldat
fragt nichtt warum Krieg ist. Das ist nicht seine Sache, dar-
uber mogen sich die Vorgesetzten den Kopf zerbrechen.
' So patrouillieren sie paarweis uber den weiten Biilow-
Platz und an den Ausgangen der schmalen ZufahrtsstraBen.
Ihre Blicke sagen: Wir werden von hinten erschossen, das ist
kein ehrlicher Krieg! Und was habt ihr iiberhaupt in der Feuer-
zone verloren? Oder steckt ihr alle mit denen im Bunde, die
aus dem Hinterhalt schieBen? Die Manner jag en hastig wei-
ter, niemand hat Lust sich aufzuhalten, die Madchen mit ihren
Stadtkofferchen trippeln auf hohen Absatzen vorbei ohne auf-
zublicken. Niemand denkt an Resistenz. Es ist richtig,
hier sind zwei Morde geschehen. * Aber Mordtaten werden
sonst im stillen aufgeklart. Niemand denkt sonst daran, eitfen
ganzen Stadtteil deswegen fur aussatzig, fiir aufierhalb des
Gesetzes stehend zu erklaren, iiber ihn deswegen das Kriegs-
recht zu verhangen.
241
Spat abends ist der Platz so gut wie leer. Wer nicht
grade dort wohnt, wahlt lieber einen andern Weg. Dcr
Passant fahrt plotzlich erschreckt zusammen; aus einer Mauer-
nische starrt ihn ein forschendes Gesicht untcr einem schwar-
zen Tschako an. Dann wird die Erscheinung wieder von der
Finsternis gefressen. Es ist unheimlich still in die sen dicht-
bevolkerten ProletarierstraBen, Feme Schritte verhallen, und
hoch oben iiber dem Kinopalast Babylon knallt ein groBes ro-
tes Plakat, grell beleuchtet, aus dem nachtlichen Dunkel des
alien Scheunenviertels, „Opernredoute": ein zartliches Paar
mit gespitzten Lippen. Seltsam, wie obscon dieses harmlose
Plakat iiber diesem waffenstarrenden Platz wirkt. Es ist wie
die Vision eines riesenhaften Kriegsbordells.
Eine Polizeibeamten-Zeitung schrieb vor einiger Zeit kla-
gend: „Leider ist es heute so, daB der im Dienst befindliche
Polizeibeamte immer auf sich allein oder.auf seine Kollegen
angewiesen ist und nur sehr selten Hilfe und Unterstiitzung
aus dem Publikum erhalt, wenn er bedrangt wird-*'
Diese Klage steht in einem Verbandsblatt, dessen republi-
kanische Gesinnung nicht bezweifelt werden kann, wie denn
uberhaupt die preuBische Polizei noch immer starke republi-
kanische Bestandteile enthalt, Desto bedauerlicher ist auch
der unverkennbare Zwiespalt zwischen der Polizei und dem
Publikum, besonders der Arbeiterschaft. Der Grund dafiir ist
in der ungewohnlichen und1 nur selten motivierten Harte des
korperlichen Zugriffs zu suchen, den die Polizei bei Auftritten,
namentlich politischer Art, fur notig halt. Erste Phase: Rip-
penstofi von Gebriill begleitet, zweite Phase: Gummikniippel,
dritte Phase: Revolver. Das ist feststehender Ritus. wenn
ich nach eignen Beobachtungen schlieBen darf, so mufi ich
sagen, daB der einzelne Schutzpolizist bei Auskiinften der
hoflichste Mensch von der Welt ist; im iibrigen tolerant ge-
gen Besoffene, beim Erscheinen Radaubriidern bereit, nach der
andern Seite zu gucken; ein wahrer Satan jedoch, wo sich ein
kleiner politischer Krakehl anspinnt. Die preuBische Polizei hat
manche Vorziige, aber unglucklich^rweise fehlt ihr die Erkennt-
nis, daB ein Teil der Politik sich heute auf der StraBe abspielt;
eine Tatsache, die wir auch bedauern, die uns aber nicht no-
tigt, deswegen einen Totschlager zu erwerben. Die Polizei
sieht in Menschen, die Versammlungen besuchen, ihren natiir-
lichen Feind. Staatsbiirgerliche Rechte und obrigkeitiiche Auf-
fassungen von Ruhe und Ordnung werden auch in stillern Zei-
ten oft kollidieren. Heute sind Millionen unter uns verzwei-
felt, weil sie nicht wissen, wovon sie am nachsten Tage leben
sollen. Solche Stimmungen miissen sich notgedrungen in Ein-
zelexzessen Luft machen. Und diesen bis jetzt gewiB nicht
grofien Ausschreitungen steht eine militarisierte Polizeitruppe
gegeniiber, der ein schabiger Rock, ein ausgehungertes Gesicht
schon hinreichend verdachtig erscheint. Da wird gleich ge-
schrien,, da setzt es umgehend Puffe und Schlage. So entsteht
zwischen Polizei und Proletariat ein Zustand des Basses und
242
der Gewalttatigkeit; auf beiden Sciten gibt es vieles zu rachen.
Die Vendetta ist in manchen G eg end en schon zur normalen
Verkehrsform geworden.
Es ware ungerecht und unsinnig, den einzelnen Schupo-
mann verantwortlich zu machen. Er lebt kaserniert, er halt
sich an Instruktionen, und diese Instruktionen werden gewiB sehr
schroff sein. Sie mu&sen den Mannschaften das Bild einer bo-
sen, feindiichen Welt geben, in der man, wie im Kriege zuerst
schlagen muB, um nicht selbst erschlagen zu werden. Diese
nervosen, oft iibernachtigen Gesichter, diese argwohnischen
angespannten Augen unterm Tschako Jassen auf die Harte der
Instruktionen schliefieri. Entspricht dieses Bild der Wirklich-
keit? GewiB, wir haben sehr gerauschvolle radikale Parteien.
Aber hat selbst die ungeheure Verelendung dieser letzten bei-
den Jahre schpn Ausschreitungen groBern Umfanges gezeitigt?
Es hat keine nennenswerten Hungerkrawalle gegeben, wie all-
gemein erwartet wurde. Wo Scheiben eingeworfen wurden,
handelte es sich, wie schnell festgestellt wurde, um haken-
kreuzlerische, um antisemitische Zettelungen. Auslandische
Beobachter schreiben bewundernd voni der Disziplin des deut-
schen Volkes, sich nicht in unnutzen Gewalttaten zu verlie-
ren. Nur unsre Obrigkeit bringt Deutschland nicht das gleiche
Vertrauen entgegen. Sie steht standig schuBbereit, und bei
jedem Hoch auf Rotfront geht das Gewehr los; Die Obrigkeit
ist viel besser genahrt als das Gros des Volkes, aber ihre
Nerven sind bedeutend schlechter,
iEs wird auch allzu oft mit zweierlei MaB gemessen, Viele
Polizeioffiziere, die nach links ausschlagen, ertragen national-
sozialistische Ausschreitungen mit beleidigender Nachsicht.
Nicht nur Kommunisten, auch das stets so loyale Reichsbanner
hat manche Schramme davongetragen. Hat es nicht bei den
Remarque-Krawallen im vorigen Winter tagelang gedauert, ehe
die Polizei etwas gegen das StraBenregiment des kleinen
Goebbels unternahm? Ich denke auch an die denkwurdige Pre-
miere des ,,F16tenkonzerts von Sanssouci" im vorigen Dezem-
ber, wo Polizisten sich auf jeden harm] o sen Zischer und
Zwischenrufer mit der Wildheit von Amoklaufern warfen und
ihn mit sich schleppten, wahrend sie stumm wie Bildsaulen
blieben, wenn unmittelbar hinter ihnen „Deutschland erwache!"
gerufen wurde. Eine Polizei, die alle gleich hart anfaBt, mag
als ungemutlich empfunden werden. Eine Polizei <jedoch, die
ihre Energie vornehmlich gegen eine Seite richtet, verliert ihre
Autoritat und wird einfach als Partei betrachtet werden.
iDer Abend des 9, August am <Bulow-Platz war fur die
Polizei gewiB tragisch. Aber ihre Mafinahmen seitdem tragen
nicht zur Beruhigung bei, sondern sind nur geeignet, neue
Racheinstinkte zu erwecken. Die Presse deckt alles, was seit-
dem geschehen ist, rait dem Mantel der Liebe, glucklich, sich
an den kommunistischen Priigelknaben halten zu konnen. Wenn
der Rotkoller verflogen ist, wird manches wieder anders aus-
sehen. Was inzwischen unter die Rader kommt, ist ja nicht viel:
es sind nur die verfassungsmaBigen Garantien personlicher
Freiheit. Der Deutsche ist leicht geneigt, auf solche Kleinig-
keiten zu verzichten,
•it
2 243
Die Deutsche iPresse weiB sich in dem Punkte einig, daB
die Zentrale der KPD den Mocrd an den be i den Schupoleuten
bestellt hat, turn, ihre Niederlage ibeim Volksentscheid zu ver-
decken und ihren Leuten etwas zum Protestieren zu geben.
Bis'her hat sich noch keine Spur ergeben, die dahin fiihrt; die
Terrorgruppen konnten nicht nachgewiesen werden und werden
auch nicht nachgewiesen werden konnen, denn so dumm ist
keine Partei, sich auf ein so waghalsiges Abenteuer einzulassen.
Das Geheimnis konnte nicht lange verborgen bleiben, seine Ent-
'hiillung wiiirde das Verbot der Partei automatisch herbeifiihren.
Schon lange wird in g-ewissen Regierungskreisen des Reichs
und PreuBens mit diesem iGedanken gespielt, Ein Ruckzug in
die Illegalitat wiirde die Partei sum die Verbindung mit den
Massen bringen. Sie nriiBte ihre ganze Kraft auf die Erhaltung
des umfangreichen Apparates richten. Ein paar Draufganger
mogen das inter essante Halibdunkel illegaler Arbeit herb-ei-
wtinschen, die Funktionare, die den Ausschlag geben, sind da-
von weniger begeistett,
(Es ist iibrigen noch niemals gelungen, groBen Parteien
politische Morde an die RockschoBe zu hangen, aber manche
Parteien, die sich heute hochst honorig gebarden, sind schon
solchem Verdacht ausgesetzt gewesen. Die Attentate der sieb-
ziger Jahre schrieb Bismarck groBziigig und unbegrundet der
Sozialdemokratie und dem Zentrum zu und erreichte damit
sein Sozialistengesetz. Mit diesem Ausnahmegesetz hat Bis-
marck jahrelang die Sozialdemokratie unter der F.uchtel ge-
halten. Das war die heroische Zeit der Partei.
Heute wird das Sozialistengesetz von Sozialisten gegen
Sozialisten angewendet, und damit hat es eine Scharfe und
Unbarmherzigkeit erlangt, von der Bismarck nichts ahnte. Im
berliner Polizeiprasidium sieht man in der Kommunistischen
Partei den Feind schlechthin. Bier ist zuerst die Idee ent-
standen, die Roten Frontkampfer aufzulosen. Damit nimmt der
Kampf zwischen den beiden Parteien eine unerhorte Gehassig-
keit an-. Die Kommunisten weigern sich, darin einen Akt der
Staatsautoritat zu sehen, sondern nur die Willkiir einer kon-
kurrierenden Partei, die ihre Macht nicht gegen die Reaktion
zu gebrauchen wagt Zugieich bedeutet diese Auflosung des
kommunistischen Kampfbundes eine ungeheure Vergiftung des
politischen Lebens und besonders des Vefhaltnisses zwischen
den beiden Arbeiterparteien. Eine Organisation von Hundert-
tausenden laBt sich nur unterdrucken, nicht auflosen. Sie
fliichtet in hundert verschiedene iMasken und Namen. Ihre ge-
heimen Mitglieder fiihlen sich zu auBerster Aggressivitat ver-
pflichtet. Ihr Aktivismus lebt sich in gewalttatigen Formen aus.
Sie wittern (iberall Verrat, sie laufen mit bosartiger Spannung
herum. Kurzum, sie gleichen in ihrer Geistesverfassung immer
mehr ihren uniformierten Gegnern, Auch sie fiihlen sich als
Soldaten, als die Streiter eines kommenden Rechts, als die
Vorposten einer Legalitat, der einmal die ganze Welt im
Zeichen der Dritten Internationale unterworfen sein wird.
Das ist das Unheimliche an dieser Situation, daB sich die
Leute vom Biilow-Platz und vom Alexander-Platz so ahnlich
244
sehen. Wer das einmal erkannt hat, ward es aufgeberi, nach
SchukMragen zu suchen. Was hier notig ist, das ist kein neues
Hochgericht, das ist ein ehrliches Clearing-House, das ist cin
Mi t tier, Sonst bluten beide Arb cater part cicn langsam aus.
Dann wird esi weder eine demokratische Republik geben noch
ein Sowjetdeutschland, sondern nur die Reaktion, den Fascismus.
Der Vorwurf, der gegen die Kommunistische Partei zuer-
heben ist, liegt nicht in der Linie der von der biirgerlichen
und sozialdemokratischen Presse erhobenen Anklagen. Der
argste Fehler, den die Partei begeht, ist der, daB sie eine Re-
valutionsromantik nahrt, fur die kein realer Boden vorhanden
ist. Die Fiihrer leben nicht in diesem (Deutschland mit seiner
Geduld, mit seinem BeJiarrungsvermogen, sondern im vorletzten
Stadium der Revolution, in der kurzen Etappe vor dem defini-
tiven Sieg. Richtig ist ihre Diagnose, daB wir in hochst re-
volutionaren Zustanden leben, aber sie verkennen daruber, daB
die Menschen nicht revolutionar sind. Sie buchen jede gegen
einen Schutzmann erhobene Arbeiterfaust als Plus im Re-
volutionskonto. Aber es geht ihnen nicht auf, daB es sich hier
urn individuelle Akte von Desperation handelt. Sie folgern
aus einer StraBenschlagerei, daB ,,das Proletariat nicht mehr
zu halten ist", und ahnen nicht, wie schnell das leidenschaft-
liche Auflbegehren wieder in Passivitat und Stumpf heit urn-
schlagt. Sie leben in einer phantastischen Welt, halb russische,
halb chinesische Revolution, und danach richten sie ihre Taktik
ein. So fiirchten sie imm«r, „die Massen zu verlieren", so
klemmen sie sich hinter den Nationalisraus, aus Furcht, Hitler
konnte ihnen Leute wegschnappen, so Ziehen sie den blamablen
Scheringer-Rummel auf, so drangen sie sich in den Volksent-
scheid, so suchen sie sich dem Fascismus anzugleichen, anstatt
den entgegengesetzten Typus deutlich herauszubilden. So ge-
winnen sie voriibergehend versprengtes Biirgertum oder ein
paar masochistische Intellektuelle, die selig sind, wenn sie ein
kraftiger Funktionar anbriillt. Nur den gewerkschaftlich or-
ganisierten Kern der Arbeiterklassen, den gewinnen sie nicht.
Ein getreuer Abklatsch dieser Romantik ist das Karl-
Liebknecht^Haus am Biilow»-Platz. Man denke sich ein mo-
dernes vielstockiges Bureaulhaus so aufgemacht, als ware es'
eine verborgene Kellerhohle, wo sich vermummte Verschworer
um Mitternacht tref f en und in Geheimzeichen reden, Wer dieses
Hauptquartier der deutschen Revolution betritt, der begibt sich
damit in die ehrwiirdige Sphare des Detektivromans. Das ganze
Haus ist in seiner Verwinkelung ein wahres Labyrinth. Es gibt
Tiiren ohne Klinken, die mit einem Griff untern Tisch geoffnet
werden. Der Besucher fiihlt sich unter argwohnischen Blicken
wie ein ungluckMcher Wanderer, der aus Versehen in eine
belagerte Festung geraten ist und nun das schlimmste erwartet.
Aber es ist, Gott sei Dank, nicht so schlimm, Denn der junge
Mann mit der feldmarschmaBigen Lederjacke entkorkt grade
eine Thermosflasche, und in der Ecke tickt keine Hollen-
mas chine, sondern raschelt nur Stullenpapier. Aber diese ganze
245
Inszenierung a la Edgar Wallace ist grotesk. Was hat sic
schlieBlich genutzt? Die Polizei drang wie in jedes andre Haus
ein und setzte die Bewohner an die Luft IDen meisten, die im
Parteihaus arbeiteten, sieht man an, daB sie an einer Art von
Belagertenpsy chose kranken. Und das ist seit langem das
Leiden der ganzen Partei. Sie wehrt sich gegen neue Ideen,
sie bildet in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates,
in dem die Autarkie ausgeborochen ist. So kann einmal Deutsch-
land aussehen, wenn die Apostel der „eignen Kraft" sich durch-
setzen sollten.
An der Peripherie der Partei aber hat sich allerhand an-
gesetzt, was nicht in eine Arbeit erpartei gehdxt. So gewiO die
Auflosung von Rotfront daran schuld ist, daB sich ein hochst
unerwiinschtes Revolverheldentum eingenistet hat, so gewiB
ist leider auch, daB die Partei bisher offentlich nicht s get an
hat, urn sich von einer besonders fatalen Spielart eines miB-
geleiteten Aktivismus tax reinigen. Was in den Qrganisationen
selbst geschieht, entzieht sich der Kenntnis dessen, der kein
Mlitglied ist, aber offentlich ist nichts geschehen, und in der
Parteipresse ist nichts davon zu lesen. Es ist gewiB schwierig,
in dieser Zeit maBloser Verelendung den MaBstab zu finden,
aber Hooligans haben in einer Arbeiterpartei nichts zu suchen.
Und die KPDM die besonders stramm ist, wenn es gilt, intellek-
tuelle Ausschweifungen zu siihnen, die massenhaft diejenigen
hinauswiirit, die unter Kollektivismus nicht den Verzicht auf
eignesDenken verstehen, diese Partei sollte sich vor physischen
Excess en nicht schwacher zeigen als vor geistigen.
Die vornehmste Pflicht aber ware, der Arbeiterschaft ein
reales Bild von den Dingen in Deutschland z>u geben. Wer
glaubt, sich. mitten im Endkampf zu befinden, wird in der
Wfahl der Mitt el nicht sehr heikel sein, wird leicht giauben,
daB ein fester StoB genugt, die Bastille des Kapitalismus zu
werfen. Aber am Boden liegt nachher nicht der Kapitalismus,
sondern ein armer Mensch mit BauchschuB, ein armer Mensch,
der mit Schmerzen verzuckt, ob er eine Uniform tragt oder
ein Parteiabzeichen.
Es ist ein ungemutliches Schicksal, in einem Augenblick
wie diesem zwischen den Parteien zu stehen. Es ist eine schwere
Aufgabe, von Vernunft zu sprechen, wo die Trager der
Unvernunft auf beiden Seiten geehrt und geachtet dieFuhrung
fest in der Hand halten. iWer mit der weiBen Fahne auf die
StraBe geht, wo zwei Parteien streiten, braucht um Spott und
Pferdeapfel nicht verlegen zu sein. iSoll aber dieser menschen-
fressende Krieg zwischen Biilow-Platz und Polizeiprasi-
dium weitergehen? Jedes neue Opfer vergroBert nur den
Leichenhiigel zwischen den Arbeiterparteien ins Unubersteig-
bare. Es ist ein nutzloser Kampf ohne tiefere Realitat: Zwei
Psycho sen fiihren Krieg miteinander, zwei iiberspitzte Tbesen
suchen eine leider sehr korperliche Auslosung. Von beiden Par-
teien kann mir bedeutet wer den, daB das inn ere Parteiange-
legenheiten sind, die den AuBenstehenden nichts angehen. Wer
246
nicht organisiert ist, hat in Deutschland nicht mitzureden. So
konnen die beiden Parteicn sioh salvieren, Abcr in einem Ver-
bande bin ich allerdings organisiert, als d ess en Mitglied lasse
ich mir nicht den Mund verbieten, und das ist der groBe Verein
Deutsches Reich. Dem Staatsburger kann man nicht zu sagen
verwehren, daB die Politik der gegenwartrgen Inhaber des ber-
liner Polizeiprasidiums mit der verfas&ung nicht s zu tun hat,
daB sie ein schlechtes Beispiel aufstellt fiir alle, die spater
einmal diese Machtposition inne haben werden. Die Staats-
polizei ist keine Parteitruppe. Trotz der abgelehnten Land-
tagsauflosung ist noch immer recht unklar, wer im nachsten
Sommer schon im PreuBen regieren wird. Wenn der nachste
Chef der Exekutive in Berlin den Sozialdemokraten ahnliche
Gefiihle entgegenbringt, wie Herr Grzesinski den Kommunisten,
dann geht die Partei bewegten Zeiten entgegen. Das Polizei-
prasidium, das ist unmiBverstandHch zu sagen, geniefit das
Vertrauen der berliner Bevolkerung nicht, und diese Unbeliebt-
heit wird auf dem Ruck en und mit den Knochen des einzelnen
Schupomanns ausgetragen. Die letzten Ereignisse am Biilow-
Platz sollten den Herren am Alexander-Platz einigen Stoff
zum Nachdenken geben. Denn Herr Grzesinski wird doch nicht
glauben, daB seine Partei ewig dieses Haus besetzt halt en wird,
Auch fur ihn, auch fiir Herrn Severing, den obersten Chef der
preuBischen Polizei, gilt das alte Wort: „Auch Patroklus ist
gestorben, und war mehr als du". .."
Die nachste Notverordnung von Thomas Tarn
r\ie Danatbank hat mit staatlicher Untersttitzung ihre Schal-
■ ter wieder geoffnet. Der Dresdner Bank ist der Staat bei-
gesprungen. Die Bankfeiertage sind aufgehoben worden, die
Bank en zahlen wieder voll aus, die Sparkassen sollen es auch
in den nachsten Tagen. Der letzte Reichsbankausweis zeigt
eine Zunahme von Devisen, die Deckung fiir den Notenumlauf
hat sich erhoht; der Run auf die Ban ken und Sparkassen hat
aufgehort, der Reichsbankdiskont ist auf 10 Prozent herab-
gesetzt — Was will man mehr? fragt sich (nicht der Mann,
sondern) der Burger von der StraBe, fragt vor allem der
groBte Teil der Presse, die heute in Deutschland die offent-
liche Meinung produziert. Was will man mehr — nachdem
nun noch der Volksentscheid keinen Erfolg gebracht hat und
so auch politisch eine gewisse Stabilitat gewahrleistet scheint
Es ist damit heute der groteske Zustand geschaffen, daB die
vorlaufige Beseitigung der Geldkrise vielfach den Blick dafiir
getriibt hat, daB in den letzten Wochen und Monaten die oko-
nomische Situation wieder zusehends schlechter geworden ist.
Es sind zweieinhalb Monate her, da tagte in Leipzig der
sozialdemokratische Parteitag; man ist in Leipzig vor der Ver-
kiindung des offiziellen Textes der Notverordnung auseinander
gegangen, weil man befurchtete, daB deren Bekanntwerden
wahrend des Parteitags die Opposition starken konnte, die
Bruch mit der Tolerierungspolitik fordert.
247
Die Notverordnung kam mit ihrem brutalen Angriff auf
die Sozialpolitik. Man protestierte und erreichte nur eine Er-
klarung Briiisings, cr wiirdc vielleicht im August iiber einigc
Milder ungen verhandeln, vorausgesetzt, daB dadurch der
finanzielte Ertrag der Notverordnung nicht verkleinert werden
wurde. Wir schreiben jetzt August, und es gibt keinen Men-
schen mehr in Deutschiand, der so naiv ware, zu glauben, daB
heute noch an den driickenden Bestimmungen der Notverord-
nung; zugunsten der Arbeiterschaft etwas geandert werden
wurde. Im Gegenteilt seit damals hat sich die Situation
weiter verschlechtert, so dafl Brfining die Gelder aus
dem Reparationsfeierjahr zur Entlastung des Budgets in Ari-
spruch nahm und erklarte, daB auch jetzt an der Notverord-
nung nichts geandert werden diirfte; und im letzten Monat hat
sich die Situation weiter so verscharft, daB wir vor einer
neuen Notverordnung stehen,
Es ist der alte Zirkei: Die Steuern gehen nicht in dem
Umfange ein, in dem man sie auf dem Papier veranschlagt
hatte. Das erste Halbjahr 1931 hatte bereits ein erhebliches
Defizit gebracht. Im Juli sind kaum Steuern gezahlt worden.
Das Defizit der zweiten Hatfte 1931 wird sicher noch weit
groBer werden als im ersten Halbjahr. Bleibt weiter die So-
zialpolitik auch nur in dem Umfange bestehen, wie es die
letzte Notverordnung festgelegt hatte, so entsteht hier ein
neues Defizitt weil die Arbeitslosigkeit starker zunimmt, als
man angenommen hatte. In der zweiten Julihalfte war be-
reits eine Erhohung zu konstatieren und in den nachsten
Wochen und Monat en werden wir stark ansteigende Zahlen
der Arbeitslosigkeit festzustellen haben. Nach der vorlaufigen
Liquidierung der Geldkrise wirkt sich die Verschlechterung
der okonomischen Situation zunachst einmal darin aus, daB
eine Unmenge kleiner und mittlerer Unternehmungen kaputt
geht. Die Folge dieser zahllosen Zusammenbruche wird den
Arbeitsmarkt sehr stark belasten. Wenn das Institut fur
Konjunkturforschung in seinem letzten Vierteljahrsbericht die
Zahl der Arbeitslosen im Winter auf fiinf bis sechs Millionen
schatzte, so diirfte diese Zahl zu gering sein, wir werden min-
destens auf sieben Millionen kommen. Das schaf ft das zweite
Defizit im Etat. Das beschleunigt gleichzeitig das Ende der
kommunalen Selbstverwaltung. Denn da von den Arbeits-
losen relativ die Zahl derer, die in der Erwerbslosenunter-
stiitzung stehen, das heiBt vom Staat unterstutzt werden,
abnimmt, die Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen, das heiBt
derer, die von den Stadten unterstutzt werden, immer
mehr zunimmt, so gehen die Stadte bankrott, weil sie
vom Staat nicht geniigend unterstutzt werden. Bei den Gel-
dern fur die Wohlfahrtserwerbslosen zeigt sich der Staat sehr
zugeknopf t, hier wird nur zogernd und niemals ausreichend
gegeben. Bei den Banken lag es anders. Da gab man schnell
und reichlich. Da gab man 300 Millionen fur die Dresdner
Bank, da gab man etwa 140 Millionen fiir die Garantiebank,
da ubernimmt die Stadt Bremen den groBten Teil der Geider
fiir die Schroderbank, da borgt man 45 Millionen den In-
248
dustriellen, die Schuldner der Danatbank sind und sie gleich-
zeitig sttitzen sollen.
Diese Art der Bankenfinanzierung ist selbst dem ,Vor-
warts' etwas zu viel geworden. Er protesticrte und fragte
nach den Zusammenhangen, da die amtlichen Communiques
nicht sehr deutlich sind. Der fVorwarts' hat natiirlich auf
seine Frage keine Antwort bekommen. Er wunderte sich
dariiber. Der tVorwarts* hat sich auch gewundert, daB die
Notverordnung erst publiziert wurde, nachde'm der sozialdemo-
kratische Parteitag beendigt war.
Die Regierung Bruning saniert mit aller GroBziigigkeit die
Bankenpleite; aus nichts aber wird nichts. Zum Sanieren ge-
t hort Geld, und das Geld fehlt im Etat. So wird der Etat, der
durch die Notverordnung vom Juni fur absehbare Zeit saniert
sein sollte, bereits heute durch diese drei Faktorenreihen
durchlochert. So werden wir schon in der nachsten Zeit mit
der Verscharfung der okonomischen Krise die neue — die
wievielte? — Krise der Staatsfinanzen haben* Man wird sie
nach bewahrtem Muster losen, man wird die Sozialpolitik, vor
allem die Arbeitslosenversicherung, weiter abbauen und damit
die Voraussetzung dafiir schaffen, die Lohne der Beschaftig-
ten weiter abzubauen. Man findet auch hier keinen Ausweg
aus dem Zirkel. Man verscharft durch die Verringerung des
binnenlandischen Konsums die Krise weiter. Was tun die
Parteien in dieser Lage? Was tun die Parteien vor der neuen
Notverordnung? Die biirgerlichen Parteien schweigen. Sie
haben recht. Was soil man vorher viel dariiber reden. Die
Massen erfahren es Irtih genug, wenn ihnen auf den Arbeits-
amtern klargemacht 'wird, daB die Unterstutzungsbeitrage
weiter herabgesetzt werden.
Was tut die Sozialdemokratie? Was tut die Spitzenfuh-
rung der Gewerkschaften? Was schreibt der ,Vorwarts#? Er
verlangt ein Bankenamt. Und weiter? Weiter nichts. Staat-
liche Beaufsichtigung der Banken, Gut. Aber wer ist heute
der Staat? Der Staat ist das ausfiihrende Organ des Monopol-
kapitals. Hier soil also das Monopolkapital das Monopol-
kapital beaufsichtigen. Als die Geldkrise schwerer wurde,
hatte man sich eine Zeitlang mit dem Gedanken getragen,
einen Wahrungskommissar zu ernennen. Und als Anwarter
auf diesen Post en w.urde Herr Schmitz von den I. G. Farben
genannt. Warum auch nichti Die L G, Farben haben ein eig-
nes Unternehmen in Basel gegriindet, um ihre Bewegungsfrei-
heit in steuerlichen und finanziellen Fragen zu erhohen. Sie
verfiigen also iiber die Sachverstandigen, die fiir Wahrungs-
und Kapitalflucht in Frage kommen. Ein Wahrungskommissar
aus dem Kreise der I. G., das zeigt, wie ein staatliches Banken-
amt heute aussehen wtirde.
Kontrolle der Banken, gewifi. Aber es kommt darauf an,
wer die Kontrolle ausiibt. Nach der Meinung des ,Vorwarts*
die Kapitalisten untereinander. Es ist kein Zufall, daB der
„Vorwartsl von Bankenkontrolle spricht, aber nicht uber die
£konomische Situation, die zur iieuen Notverordnung fiihrt;
denn es ist leicht, zu zeigen, welche wesentlichen funktionalen
24*
Beziehungen zwischen dies-en beiden — scheinbar auf ganz
verschiedenen Ebcnen liegenden — Faktorenreihen vorhanden
sind. Die Brimingregierung wird versuchen, das neue Defizit
im Etat auf monopolkapitattstischem Wege zu losen, Sie wird
die Lasten wieder zum groOten Teil auf die breiten Massen
abwalzen. Sie wird dies tun, wcnn nicht eine breite Gegen-
. bewegung der Massen organisiert wird, Solange der , Vor-
warts als Organ der reformistischen Richtung in der Sozial-
demokratie die Tolerierungspolitik gegeniiber der Briining-
regierung fortsetzt, wird er keine Massenbewegung gegen die
neue Notverordnung organisieren. Tut er das nicht, dann ist
aber seine Forderung der Bankenkontrolle nicht das Papier
wertf auf dem sie verlangt wird. Nur dann, wean eine Mas-
senbewegung organisiert wird, deren Ziel es ist, die Lasten,
die sich aus dem neuen Defizit ergeben, auf die besitzenden
Klassen abzuwalzen, nur dann, wenn im Laufe dieser Be-
wegung die Arbeiterschaft wieder ein politisch erheblicher
Faktor wird, und sie ist es heute weniger als je, erst dann be-
kommt die Frage der Bankenkontrolle konkreten Sinn,
Herr Bruning ist aus Italien zuriickgekommen und wird
in nachster Zeit kaum wieder ins Ausland reisen. Die AuBen-
politik tritt in den nachsten Wochen zuriick, die innere tritt
wieder in den Mittelpunkt. Sie wird unter dem Zeichen der
neuen Notverordnung stehen.
EinenSchrittnoch, Einstein! von Kurt miier
Sehr verehrter Herr Professor!
Sie haben an die Internationale der Kriegsdicnstgegner,
die in Lyon jiingst KongreB machte, eine Botschaft gerichtet,
deren Mut und Schonheit bezaubert. Den Text der Botschaft
fand ich in keiner berliner Zeitung (wie sollten denn auch
Zeitungen dazu kommen, eine Manifestation des Geistes
wieder- und weiterzugeben), sondern das Bureau der War
Resisters* International sandte ihn mir aus London. „Wenn
Sie klug und mutig handeln," rufen Sie den Dienstverweige-
rern zu, Mkonnen Sie die wirksamste Gemeinschaft in der
grofiten aller menschlichen Bestrebungen werden." „Die Man-
ner und Frauen in sechsundfunfzig Landern, die Sie vertre-
ten, konnen zu einer groBern Weltmacht werden als das
Schwert/' „Bci <len Volkern wachst der Gedanke der Kriegs-
dienstverweigerung. Ihr miifit furchtlos und herausfordernd
diesen Gedanken verbreiten." (Wunderbar: ein ordentlicher
Universitatsprofessor propagiert nicht nur einen in der Biir-
gerwelt anstoBigen Gedanken, sondern er propagiert sogar
eine provokante Art der Propaganda dieses Gedankens!) ,,Ihr
miiBt die Volker dazu fiihren, die Abriistung selbst in die
Hand zu nehmen." „Ihr miiBt die Arbeiter aller Lander dazu
auffordern, sieh vereint zu weigern, zu Werkzeugen lebens-
feindlicher Interessen zu werden/' ,,Ich appelliere an meine
Kollegen, die Vertreter der Wissenschaften, ihre Mitarbeit
fttr Kriegszwecke zu verweigern." ,,Ich appelliere an die Geist-
lichkeit." „Ich appelliere an die Schriftsteller, sich offen zu
250
uns zu bekennen " „Ich f order c jede Zeitung, die fiir den
Frieden kampfen will, dazu auf, die Menschen zur Kriegs-
dienstverweigerung zu ermutigen." „Jetzt ist nicht Zeit zur
MaBigung. . Entweder ihr seid fur oder gegen den Krieg, Seid
ihr gegen den Krieg, dann ■. . ." „Ich appelliere an alle Man-
ner und Frauen, an die bedeutenden und an die Durchschnitts-
menschen, noch vor dem Zusammentreten der Weltabriistungs-
konferenz . . zu erklaren, daB sie sich weigern, in Zukunft ir-
gendwelche Kriege oder Kriegsvorbereitungen zu unterstiitzen."
„M6ge diese Generation den wichtigsten Fortschritt zuwege
bringen, den die Geschichte der Menschheit kennt. Moge sie
denen, die nach ihr kommen, die unschatzbare Gabe einer
Welt hinterlassen, aus der die Barbarei des Krieges fiir immer
verbannt ist."
Ein Kriegsgegner, der diese Worte liest — ich kann mir
nicht denken, verehrter Herr Professor, daB er sie anders als
rait Ergriffenheit, ja mit Erschutterung liest. Mich selber ha-
ben sie tief bewegt, obwohl ihr Sinn mir so vertraut ist wie
nur irgendwelcher Worte Sinn; warb ich doch vor zehn, zwolf
Jahren mit hei&em Eifer, wofiir Sie heut werben. Hatten Sie
damals, als die demokratische Gevatterschaft nach uns pazifi-
stischen Aktivisten mit Duftkugetn schmiB, als man uns als
Anarchisten verleumdete, als Dilettanten verhohnte, als Zer-
setzer bespie — o, Albert Einstein, hatten Sie damals so ge-
sprochen, wie Sie jetzt gesprochen haben, Sie, der Mann von
Ruhm, der Sie schon damals war en: unser Kampf ware weni-
ger schwer, weniger schmerzlich und er ware fruchtbarer ge-
worden. Waxen Sie 1924, aus dem berliner Internationalen
Pazifistenkongrefi, wo ein Hochprominenter Kriegsdienstver-
weigerung mit Feigheit gteichsetzte; waren Sie. auf dem
pariser KongreB, 1925, unser Sekundant gewesen gegen
die moderierte Mediokritat, die Staatsloyalen, die Pazi-
Mumien, die uns niederstimmten — : manches ware an-
ders gekommen! Denn bei der Mehrheit gilt nicht der
Grund; bei der Mehrheit gilt die Person, die ihn vor-
tragt. Wen man fiir eine Autoritat halt, der setzt nahezu
jeden Unsinn — wer obendrein .eine ist, der setzt manchmal
auch das Verniinftige durch,
Leider, leider, verehrter Herr Professor, waren Sie bei
den Gelegenheiten, von denen ich, spreche, nicht dabei, auch
nicht per Botschaft; und ich gehe wohl kaum fehl in der An-
nahme, daB die Entwicklung Ihrer philosophisch-politischen
Erkenntnis zu jener Zeit die Stufe noch nicht erreicht hatte,
die sie inzwischen erreicht hat. Zwar nennen Sie bereits 1922,
in Ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Bertrand Rus-
sell's ,Politischen Idealen', die f,konseq,uente Ausbildung zur
organisierten passiven Resistenz" gegen den Krieg eine „Lo-
sung", die f, nicht mehr utopisch erscheinen" konne; vom Im-
petuoso Ihres jiingsten Aufrufs ist dieses vorsichtige, andeu-
terische, gedampfte Bekenntnis sehr verschieden. Das soil
kein Vorwurf sein und nichtmal eine Kritik. Ich werde mit
neunzig Jahren kosmo-theoretisch nicht so weit sein, wie Sie
vermutlich mit neunzehn waren; Ihr gutes Recht ist, polito-
theoretisch etwas langsamer zu wachsen. Heutzutage kann
3 251
niemand — was anno Kant vielleicht noch ging — zugleich
in den exakten Wissenschaften und in der politischcn Philo-
sophic Weltmeister scin; Hut ab vor Dem, der es auf cincm
dieser Gcbictc wurde! Und zweimal den Hut ab vor einem
Fachgelehrten hochster . Kompetenz, der, weit davon entf ernt,
nach dem Ritus der Seriosen sich in sein Fach einzuspinnen,
vielmehr erfiillt vom Willen zur Universalitat, leidenschaftlich
in die antibarbarische Aktion eingreift, Partei ergreift, Phi-
lister angreift, voll Feuers teilnimmt an der Kampagne zur
Anderung der Welt.
Das alles hindert nicht, verehrter Herr Professor, daB Sie
in der Sache unrecht haben, Jene Sektion des Kriegsgegner-
tums, die in der Dienstverweigerung das Allheilmittel gegen
den Kriegsieht, humpelt hinter der Entwicklung her — hinter
der Entwicklung der Kriegs-Technik und der politischen Theo-
rie. Nieder die Wehrpflicht! Es lebe die Dienstverweige-
rung! So ruf ich noch heute. Aber mit dem Kampf gegen
die Wehrpflicht und mit einer selbst grandios gluckenden
Propaganda der Dienstverweigerung wird ein Krieg, der ein-
mal ausgebrochen ist, umso weniger erschwert oder gar zum
Abbruch gebracht werden, als, aller Voraussicht nach, der
Zukunftskrieg grade in seinen aggressivsten Formen durch
technische Elitetruppen gefiihrt wird, die sich aus Freiwilli-
gen zusammensetzen, Nicht etwa aus Scheinfreiwilligen, wie
es die ,tEinjahrig-Freiwilligen" des Zweiten Reichs waren (ver-
logenste seiner Voka-beln!), sondern aus wahrhaft Freiwilli-
gen, namlich Fanatikern des Kriegs oder sportlichen Enthu-
siasten des Kriegs, Der Appell zur Dienstverweigerung er-
reicht die Menschen dieses Typus wohl, aber er depoten-
ziert sie nicht. Im Gegenteil: er fordert ihren Protest her-
aus und steigert so ihren kriegerischen Willen,
Solange Kriege nur mit Riesenarmeen, auf Grund des
Wehrzwangs, gefiihrt werden konnten, gait der vom braun-
schweiger Pazifistentag (1920) verworfene Satz: t,Es gibt aber
kein so einfaches, kein so wirksames Mittel zur Verhinderung
von Kriegen, wie die Weigerung der zum Opfer Bestimmten,
sie zu fiihren. Die Welt-Friedensbewegung muB . . . sich zu
einer Weltpropaganda der Heeresdienstverweigerung und per-
sonlichen Kriegssabotage entwickeln." Seit wir aber wissen,
daB die modernste Strategic auf Riesenarmeen pfeift, daB sie
also auf Zwangstruppen verzichten kann, wissen wir auch,
daB die groBartigste international durchorganisierte, Dutzende
von Millionen Menschen umfassende Dienstverweigerungsbewe-
gung keinem Manrie, Weibe oder Kinde, dessen Stadt von f eind-
lichen Giftgeschwadern vergast wird, das Leben rettet. Es
trifft nicht zu, daB, wie Sie in Ihrer Botschaft sagen, sie ,,am
sich erst en die Abschaffung des Krieges verbiirgt", Denn. diese
Chemiker arbeiten freiwillig und diese Piloten auch.
Es ist eine Naivitat, hochverehrter Herr Professor, die
unbeschreibliche Entsetzlichkeit eines kommenden Krieges, mit
seinen Spreng-, Brand-, Bazillen- und Giftgasbomben iiber den
GroBstadten, dadurch glauben bannen zu konnen, daB man die
Menschen auf fordert, sich nicht an ihm zu beteiligen, Gesetzt,
von Denen, die sich nur unter Zwang beteiligen wiirden, ent-
252
zpgen sich dem Kriegc tatsachlich Alle — der Krieg dcr An-
dcrn tobte dochJ
. Zwingt diesc Uberlegung, den Gedankcn der Dienstver-
weigerung preiszugeben? Keineswegs. Sie behalt ihren par-
x tiellen Wert, ihre partielle Wirksamkeit; bei fast alien Militar-
machten besteht ja der Wehrzwang noch, Aber wir miissen
erkennen, daB sie nur ein Nebenmittel sein kann, Nicht,
weil — wie die biirgerlich-pazifistischen Flaumacher, Herr Hil-
ferding einbegriffen, versichem — ihre Durchfiihr,ung jillu-
sionar ware; sondern weil es eine Illusion ist, zu glauben,
durchgefiihrt konne sie den Krieg verhindern. Sie allein je-
denfalls kann es nicht. So wenig, wie Genf, der Haag und das
Volkerrecht allein es konnen.
Es gibt, verehrter Herr Professor, ein einziges wirklich
taugliches Mittel zur Verhinderung des gigantischen Ver-
brechens: die revolutionare Erhebung gegen die Verbrecher,
die Eroberung der politischen Macht.
Dieser Schritt will gut vorbereitet sein; die Methoden
sind noch umstritten. Nicht strittig ist die Identitat der Macht-
eroberung gegen den Krieg mit der Machteroberung gegen den
Kapitalismus, Erst die Herren einer sozialistischen Erde wer-
den imstande sein, die Quellen der Kriegsgefahr zu verstop-
fen.. Der Sozialismus ist allerdings nicht von selber der Friede;
aber wer den Frieden will, muB den Sozialismus wollen. Die
Verwirklichung des Sozialismus jedoch fiihrt iiber Stationen
und Situationen, denen die Maxime der Kriegsdienstgegner-
Internationale; „Gegen }ede Art bewaffneter Gewaltl" nicht
gewachsen ist, Der konsequente Humanitar wird Revolutio-
nen zum Gitten hin, zum Geiste hin, zur Gerechtigkeit hin,
zur Vernunft hin nicht daran scheitern lassen, daB der Trager
des bosen, des konservativen Prinzips iiber Waffen verfiigt,
die ihm um Gottes willen nicht aus der Hand geschlagen wer-
den diirfen. Der konsequente Humanitar wird gewiB in je-
dem geschichtlichen Augenblick fur ein Minimum an Gewalt
eintreten, als geschworener Feind der Bluthunde aller politi-
schen Farbungen; doch in der absoluten Nichtgewalt erkennt
er ein konterrevolutionaresf darum im Endeffekt auch kontra-
pazifistisches Dogma,
Der Kreis, an den Sie Ihre schone Botschaft gerichtet
haben, schwort auf dieses Dogma; wahrend er sich zum Ge-
gensatz Kapitalismus/Sozialismus neutral stellt. Er IaBt Pro-
kapitalisten zu, wofern sie nur absolute Gewaltlosigkeit be-
fiirworten; er schlieBt Kriegsgegner und Kriegsdienstgegner
aus, falls sie umsturz-aktiv sind, im Sinne etwa der Soziali-
sten Fimmen und Maxton („Biirgerkrieg gegen den Krieg").
Vom Pazifismus obrigkeitsfrommer Demokraten, die
— immer legal, immer loyal — Kriege praktisch mitmachen,
auch wenn sie den Krieg theoretisch verwerfen, zum Radikal-
pazifismus der Dienstverweigerer ist ein gewaltiger Schritt; tun
Sie noch einen, verehrter Professor! Auf diesen einen Schritt
namlich kommt es an; er ware der nicht mehr bloB symbo-
lische, nicht mehr bloB religiose, er ware der realisatorische.
Tun Sie unstarr und denkmutig den Schritt, Albert Einstein,
vom radikalen Pazifismus zum revolutionaren!
253
Die Herren Wirtschaftsf iihrer von ignaz wrobei
Q tcts hat die Menschheit ihre Helden gehabt: Priester oder
*** Ritter, Gelehrte oder Staatsmanner. Bis zum 14. Juli 1931
waren es fur Deutschland die Wirtschaftsfuhrer, also Kaufleute.
Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie
haben immer ibre Rolle gespielt, docb wohl noch nie so
erne groBe wie heute. Weil das, was sie in Handen halten,
das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise iiber-
schatzt, die lacherlich ware, wenn sie nicht so tragische Fol-
gen hatte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Gotzen,
und was fiir welche bat sie sich da ausgesucbt — !
Man sollte meinen, daB der gesunde Menschenverstand
wenigstens eincs sehen konnte: den MiBerfolg, Aber damit ist
es nicht s. Niemand von denen, die diese Wirtschaftsfiihrer be-
wundern, behielte aucb nur einen Tag lang einen Chauffeur,
der ihm die Karre mit Frau und Kind umgeworfen hatte, auch
dann nicht, wenn dem Chauffeur die Schuld nicht nachzuwei-
sen ware. Er kiindigt, denn solchen Chauffeur will er nicht.
Aber solche Wirtschaftsf iihrer, die will er,
Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten
ihre torichte G«ldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer wei-
ter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist
bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren
treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht:
Druck auf die Arbeiter und Export,
Fiir diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie
heute mit einem cuphemistischen und kostenlosen Schmeichel-
wort gern „Mitarbeiter" zu titulieren pflegen, die naturlichen
Feinde. Auf sie mit Gebriill! Driicken, driicken: die Lohne,
die Sozialversicherung, das SelbstbewuBtsein — driicken,
driicken! Und dabei merken diese Dummkopfe nicht, was sie
da zerstoren. Sie zerstoren sich den gesamten innern Absatz-
markt.
Sie scheinen ihn nicht zu wollen — dafiir haben sie dann
den Export, Was dieses Wort in den Kopfen der Kaufleute
angerichtet hat, ist gar nicht zu sagen, Ihre fixe Idee hin-
dert sie nicht, ihre Waren auch im Inland weiterhin anzu-
preisen; ihre Inserate wirken wie Hohn. Wer soil sich denn
das noch kaufen, was sie da . herstellen? Ihre Angestellten,
denen sie zumLeben z.uwenig und zum Sterben zuviel geben,
wenn sie sie nicht uberhaupt auf die StraBe setzen? Die kom-
men als Abnehmer kaum noch in Frage. Aber jene protzen
noch: daB sie deutsche Werke seien, und daB sie deutsche
Kaufleute und deutsche Ingenieure beschaftigten — und wozu
das? „Um den Weltmarkt zu erobern!"
So schlau wie die deutschen Kaufleute sind ihre Kolle-
gen jenseits der Grenzen noch alle Tage. Es setzt also uber-
all jener blodsinnige Kampf ein, der darin besteht, einen Geg-
ner niederzukmippeln, der bei verniinftigem Wirtschaftssystem
ein Bundesgenosse sein konnte. Die Englander preisen rein
englische Waren an, die Amerikaner rein amerikanische, und
das Wirtschaftsinteresse tritt als Patriotismus verkleidet auf.
Eine schabige Verkleidung, ein jammerlicher Maskenball.
254
Schuld — ? Viclleicht gehort eine groBe geistige Uber-
lcgcnhcit dazu, aus diesem traurigen Trott dcs Geschaftes her-
auszukommen und auch einmal ein biBchen weiterzublicken
als grade bis zum nachsten Ultimo. Aber das konnen sie nicht.
Sie machen weiter, wie sie es bisher getrieben haben. Also so:
Niederkniippluiig des Inlandskunden; Spekulation auJ cinen
Export, der heute nicht mehr so durchzufuhren ist wie sich die
Herren das traumen; Oberlastung der gesamten Industrie durch
ein gradezu. formidables Schreibwerk, das hinter dem Leerlauf
der Staatsbureaukratie urn nichts zuriicksteht. Was da an
Pressechefs, Syndicis, Abteilungsleitern, Bureaufritzen herum-
sitzt und Papierbpgen vollschreibt, obne auch nur das leiseste
zu produzieren, das belastet uns alle. Aufgeblasen der Ver-
waltungsapparat — man sehe sich etwa das Verwaltungs-
gebaude der L G.-Farben in Frankfurt am Main an: das Ding
sieht aus wie eine Zwingburg des Kapitalismus, weit ins Land
drauend, Fruher haben die Ritter die Pfeffersacke ausgepliin-
dert; heute hat sich das gewandelt.
Wie immer in ungesunden Zeiten ist der Kredit in einer
gradezu sinnlosen Weise iiberspannt. Das Wort .jWucher*1
ist ganz unmodern geworden, weil der Begriff niemand mehr
schreckt, er erscheint normal. Nun haben aber Kartelle und
kurzfristige Bankkredite die Unternehmungslust und die so-
genannte „freie Wirtschaft" vollig getotet — es gibt sie gar nicht
mehr. Fast jeder Unternehmer und besonders der kleinere ist
nichts als der Verwalter von Bankschulden; gehts gut, dann
tragt er den ungeheuern Zins ab, und gehts schief, dann legen
die Banken ihre schwere Hand auf ihn, und es ist wie in
Monte Carlo; die Bank verliert nicht. Und wenn sie wirklich
einmal verliert, springt der Steuerzahler ein: also in der Haupt-
sache wieder Arbeiter und Angestellte.
„Das WerkM, dieser Gotze, hat sich selbstandig gemacht,
und stohnend verrichten die Sklaven ihr Werk, nicht mehr
Sklaven eines Herrn, sondern Sklaven ihrer selbst. Auch
der Unternehmer ist langst zu einem Angestellten geworden,
nur kalkuliert er fur sich ein derartiges Gehalt heraus, daB er
wenig riskiert. Die fortgeschrittenen Kommunisten tun recht
daran, den Unternehmer nicht mehr damit zu bekampfen, daB
sie ihm Sekt und Austern vorwerfen, dergleichen verliert von
einer gewissen Vermogensgrenze ab seine Bedeutung. Aber
daB diese Kerle die Verteilung von Ware und Verdienst un-
gesund aufbauen, daB sie ihre Bilanzen vernebeln und den An-
gehorigen der wirtschaftlich herrschenden Klassen so viel
Geld zuschieben, daB den andern nicht mehr viel bleibt: das
und nur das ist Landesverrat.
Ohnmachtig sieht der Staat dem zu. Was kann er machen?
Nun, er kann zum Beispiel eine Verordnung erlassen, wonach
das zu verkaufende Brot sein Gewicht auf der Kruste ein-
gepragt erhalten muB, und das ist ein groBer Fortschritt, Seine
Gesetze beriihren die Wirtschaft gar nicht, weil sie ihm ebenbiir-.
tig an Macht, weil sie ihm uberlegen ist. Sie pariert jeden Schlag
mit den gleichen Mitteln: mit denen einer ausgekochten For-
maljurisprudenz, mit einer dem Staat iiberlegenen Bureau-
255
kratie, mit Geduld. Schiebt ihm aber alle Lastcn zu, ohnc
ihm etwa das Erbrecht zu konzedieren. Er hat zu sorgen.
Wovon? Das ist seine Sache.
Also unsre Sache. Fiir wen wird gelitten? Fur wen
gehungert? Fiir wen auf Banken gepennt, wahrend die Ban-
ken verdienen?
Fiir diese da. Es ist nicht so, daB sie sich masten, das
ist ein Wort fiir Volksversammlungen. Sie masten den Got-
zen, sie sind selber nicht sehr glucklich dabei, sie fuhren ein
Leben voller Angst, es ist ein Kapitalismus des schlechten Ge-
wissens. Sie schwindeln sich vom Heute in das Morgen hin-
ein, iiber viele Kinderleichen, iiber ausgemergelte Arbeitslose
— aber das Werk, das Werk ist gerettet.
Selbst die frankfurter Zeitung', die sich in einer gradezu
riihrenden Weise bemiiht, diesen storrischen Eseln des Kapi-
talismus gut zuzureden, wobei jene wild hinten ausschlagen,
gibt zu, daB ,,nach den Erhebungen, die das Institut fiir Kon-
junkturforschung und eine deutsche GroBbank unabhangig von-
einander durchgefiihrt haben, noch entbehrliche Lager im Werte
von mehreren Milliarden vorhanden sind" — man male sich
das angesichts dieser Not aus! Aber die Lager bleiben. Und
das Werk ist gerettet.
Wo steht geschrieben, daB es gerettet werden muB? War-
urn ist die Menschheit nicht starker als dieser Popanz? Weil
sie den Respekt in den Knochen hat. Weil sie glaubig ist.
Well man sie es so gelehrt hat. Und nun glaubt sie.
Noch ist die andre Seite starker als man glaubt. Zu war-
nen sind alle jene, die die Arbeiter sinnlos in die Maschinen-
gewehre und in die weitgeoffneten Arme der Richter hinein-
treiben. Drei Jahre Zuchthaus — zwei Jahre Gefangnis —
vier Jahre Zuchthaus . . . das prasselt nur so. Noch sind jene
starker. Die Arbeiterparteien sollten ihre Krafte nicht in
einem zunachst aussichtslosen Kleinkrieg verpulvern, solche
Opfer haben einen ideologischen Wert, ihr praktischer ist
noch recht klein. Driiben ist viel Macht.
Also muB gekampft werden. Aber so wenig ein geschulter
Prjoletarier indlividuelle Attentate auf Bankdirektoren gut-
heiBen kann, so wenig sind Verzweiflungsausbriiche kleinerer
oder groBerer Gruppen allein geeignct, ein System zu stiirzen,
das jedef aber auch jede Berechtigung verloren hat, RuBland
zu kritisieren. Wer so versagt, hat zu schweagen.
Doch schweigen sie nicht. Sie haben die Dreistigkeit,
unter diesen Verhaltnissen noch ,fVertrauen" zu fordern, die-
selben Manner, die das Ungliick verschuldet haben. Und keiner
tritt ab, nur die Gruppierung andert sich ein wenig. Das ver-
dient die scharfste Bekampfung,
Kampf, ja. Doch unterschatze man den Gegner nicht,
sondern man werte ihn als das, was er, immer noch, ist; ein
iibernotierter Wert, der die Hausse erstrebt und die, Baisse
in sich fiihlt. Sein Niedergang wird kommen. Das kann, wie
die gescheiten und weitblickenden unter den Kaufleuten wis-
senf auch anders vor sich gehen als auf dem Wege einer Re-
volution. Bleiben die Wirtschaftsfuhrer bei dieser ihrer Wirt-
schaft, dann ist ihnen die verdiente Revolution sicher,
256
Pater Muckermann von Anton Oantner
F\ er Katholizismus ist cine GroBmacht geworden; man kann
f* im Gebiet des Geistes von wunderbaren Siegen des
katholischen Gedankens sprechen." Schlagwortc wahrend der
morderischen Kriegszeit aus dcr damals noch unbedeutenden
katholischen Zeitschrift ,Der Gral', Die Nachkriegsjahre haben
die Taten folgen lassen. Es ist heute keine Oberraschung mehr,
wenn Jesuiten der scharfsten romischen Observanz in den
liberalen Zeitungen und den modernsten literarischen Zeit-
schriften zu Worte kommen. Die romischen Patres haben ihre
Aufgaben nicht nur mit Geschick durchzufuhren vermocht,
sondern sie haben uns auch mit hochster politischer Unter-
stiitzung in eine Situation versetzt, in der jede Aussprache
iiber aktuelle Kulturfragen ohne ihre Anwesenheit zum Disput
mit dem Teufel, zum fJK'ulturbolschewismusM gestempelt wird.
Jem Redaktionen, die heute an hervorragender Stelle AuBe-
rungen der Jesuiten Muckermann, Gundlach, Przywara, Pri-
bila, Fahsel und Genossen abdrucken — wiirden sicher das
Oberfallkommando anrufen, sollten es nationalsozialistische
oder deutschnationale Domprediger und Pfarrer, von den Kom-
munisten ganz zu schweigen, auch nur wagen, iiber deutsche
Kulturinteressen bei ihnen mitzureden versuchen. Die jesu-
itische Aufmachung ist heute eine Modesache geworden.
Aber steckt denn eine geistige Macht dahinter?
Wir haben an Pater Muckermann und seinen Gralsheften
ein schones Beispiel, um die katholische Kulturinvasion
mit- papstlicher Kommandozentrale auf ihren politischen und
kulturellen Wert priifen zu konnen. Die Entwicklung dieses
Mannes gibt uns gleichzeitig einen tiefen Einblick in die
katholische Machtentfaltung. Es ist notwendig, daB endlicE
einmal die Umwandlung des ,Grals' von einer katholisch-
literarischen Revue des wiener Kralik-Kreises zu einer
streng romisch-international und jesuitisch geleiteten Kultur-
kampfzeitschrift instruktiv aufgezeigt wird,
Friedrich Muckermann ist 1883 im Zentrum des katholi-
schen Westens, in Osnabriick, geboren und hat nach Beendi-
gung seiner theologischen Studien den Krieg als Feldgeist-
licher auf dem polnischen Kriegsschauplatze mitgemacht. Son-
derbar bleibt, daB der deutsche Jesuit Muckermann grade in
dem Augenblick in Wiina war, wo die russische Front nach
der bolschewistischen Revolution zusammenbrach. In diesem
Zeitpunkt tritt dann auch der bis dahin stille Pater in den Kreis
der offentlichen Betatigung. In einer antibolschewistischen
Broschiire fur junge Leute ,,Wollt ihr das auch" berichtet
Muckermann iiber diese erste geistliche Kriegstatigkeit. Man
ist im ersten Moment erstaunt, wie grade dieser Feldgeistliche,
dessen Aufgaben doch nur in der Etappe liegen, mit den Roten
in Beriihrung kommt. Da erzahlt er uns aber von seiner hel-
denmiitigen Tat, wie er im Auftrage des Papstes die Kasimir-
Kathedrale nach Ausbr.uch der roten Revolution, natiirlich
unter begeisterter Zustimmung der Polen, in Besitz genommen
hatte. Begriindung: sie sei eine alte Jesuitenkirche gewesen;
Sinn; die Polen beginnen unter dem Motto ..Riickkehr zur
257
Kirche" jene bis heute andauernde grausame Polonisierung, die
vor kurzem selbst den Papst in Wallung brachte. Und noch
ein Drittes: die romischen Unionsbestrebungen im Osten wur-
den vorbereitet; dazu warcn cben die zentral geleiteten Jesuitic
scben Exponenten an die richtigen Stellen beordert worden.
Wilna wird vortibergehend bolscbewistisch und unser Pater
der Organisator und Fiihrer der Gegenaktion, Man verhaftef
Muckermann und fiihrt ihn mit andern Geiseln einige Zeit in
bolschewistische Gefangenschaft. Pater Muckermann konnte
bestimmt damit rechnen, daB man grade ihn als Geisel auf
keiner Seite iibersehen werde. Deshalb durfte er beinahe mit
Sicherheit in dieses heldenhafte Experiment steigen. Bis
heute ist es immer wieder die Erinnerung an diese paar
Wochen einer selbstverschuldeten Gefangenschaft, die den
Herrn Pater zum fuhrenden Kampfer gegen den Bolschewismus
macht. Die Broschiire selbst ist in den Bibliotheken ver-
schwunden, da Inhalt und Sprache dieses Pamphlets seinen
heutigen kulturellen und auch politischen Auf gab en nur scha-
den konnte: ,, Bolschewismus ist eine Pest schlechthin; er ist
der inkarnierte Atheismus; Ende aller Kultur. Ein Ungeheuer,
ein Hollenwerk wider Gottes Himmel. Wehrlos war man den
Hunnen ausgelieiert, deshalb miiBt ihr euch organisieren! Und
die groBte Organisation der Welt ist eben die katholische
Kirche/' Und in den Schilderungen seiner Gefangniszeit
offenbart uns der spatere literarische Schrittmacher Roms
gleichzeitig auch sein kunstlerisches Sprachvermogen; „Im>
Gefangnis in Minsk; eine Justiz gibt es in der Raterepublik
nicht. Es gibt nur Gewalt und Totschlag; manchmal schaute
ich in die ode Gegend und wiinschte mir ein Friihlingsveilchen,
als der Lenz ins Land zog; niemand brachte es!" Dabei straft
er sich selbst Liigen. Denn er erzahlt selbst, wie Kalinin, der
President der Raterepublik, ihn im Gefangnis besucht und
mit ihm spricht. Dann fahrt Muckermann lyrisch fort: f,Hab
alles, alles hingegeben/kein Heim, kein Herz, kein Platzchen
auf der Welt/das tut oft bitter weh im Leben/wenn so der
Mensch auf sich allein gestellt/dann ftihl ich eine Hand so
weich und lind/sei ruhig, ruhig, denn du bist mein Kind."
Er kam mit andern Gefangenen nach Smolensk und wurde
bald gegen rote Gefangene ausgetauscht. Sicherlich war dieser
Zwischenfall keine angenehme Unterbrechung des gesunden und
interessanten Dienstes an der Ostfront; aber grade dieser
Unterbrechung verdankt doch Muckermann sozusagen die Vor-
zugsberechtigung, nach seiner Rtickkehr in die veranderten
deutschen Verhaltnisse den schwierigen Auftrag ubernehmen
zu diirfen: Bildung einer einheitlichen katholisch-christlichen
Kulturfront gegen den russischen Arbeiterstaat mit besonderer
Betonung des franzosisch-polnischen Vorpostens. Muckermann
hat seine Auftraggeber nicht enttauscht. Sein Kurs ist.
kulturreaktionar im Sinne einer kleinburgerlich-klerikalen Hal-
tung. Es ist notwendig, daB man an den Einzelhandlungen
Muckermanns die Zusammenhange der literarischen und kul-
turellen Interessen mit den wirtschaftlichen und politischen:
Machtpositionen der katholischen Zentrumspolitik besonders in
PreuBen eindeutig aufzeigt, Vielleicht gelingt es dann doch zu.
258
uberzeugen, daB Dezernate der Kultus- und Innenministerien
grade unter der heutigen parteipolitischen Konstellation unge-
he urc Bedeutung erlangt haben, Wir erleben das tiberalL Bei je-
der kulturellen und kiinstlerischen Entscheidung heiBt es: Das
macht der Minis terialrat vom Zentrum. Hinter dieser Kultur-
diktatur steckt eine groBe Arbeit der Reaktion und eine noch
viel groBere Schuld der freiheitlichen Elemente. Die Ftihrer-
arbeit Muckermanns miissen wir untersuchen.
Das papstliche AuBenamt hatte im Weltkrieg auch von den
gehaBten Gegnern gelernt. Keine Entwicklung ohne die ent-
sprechende Ideologic Der roten Internationale konnte our mit
einer ebenso straff organisierten katholischen Internationale
begegnet werden. Dem Jesuiten Muckermann wurde die Lite-
ratur zugewiesen. Die Suche nach einem katholischen Organ,
das schon Bedeutung und Anhangersehaft besaB, fiihrte zum
,Gral\ Dadurch brachte man den Katholiken eindeutig zum
Ausdruck, daB alles, was nun kommen sollte, als offizielle Kul-
turpolitik streng papstlicher Richtung anzusehen sei; denn der
,Gral' war ja schon von seinen Griindern als die Kampfschrift
gegen die damaligen Modernisten, besonders gegen den Kreis um
Karl Muth, den Herausgeber der Zeitschrift ,Das Hochland',
ins Leben gerufen worden. Die Absicht dabei war, auch in die-
sen Fragen dem autoritativen Kurs der Kurie zu folgen und die
beiden deutschen Literaturrichtungen auszuschalten. Der Plan
gelang hervorragend: der neue Jahrgang des ,Grals' wird im
Verlag des ,Hochlands* beiKosel erscheinen, und die alt geworde-
nen Herren Muth und Kralik geistern in ihre letzten Tage. Sie
diirfen sich manchmal sogar beteiligen, aber die katholische
Kulturinternationale wird in Deutschland nur von Mucker-
mann, als eine Art Nebenkanzlei des Herrn Pacelli, geleitet.
Die erste offentliche Betatigung Muckermanns gait auch in
Deutschland der iKonstituierung und Vorarbeit der beriichtig-
ten Anti-Russeniront zusammen mit Herrn Pacelli unter dem
Namen „Katholische Aktion". Wenn wir noch hinzurechnen,
dafi der politische Ftihrer dieser Aktion in der Person des
Herrn Klausener zugleich Leiter der Schupo istf daB die direk-
ten Verbindungen zur Funkstunde und zur Deutschen Welle
durch ebenso bekannte Regierungsrate, zum Theater und zur
Kunst durch Herrn Hatslinde garantiert werden, dann erhal-
ten wir ein geschlossenes Schema: politische Machtergreifung
— dann Kulturbeherrschung durch Diktatur — wieder zuriick
zur politischen Machtentfaltung einer katholischen Minderheit.
Ein Vorwarts-Redakteur hat mir bei einer Diskussion dar-
iiber wahrhaftig entgegengehalten: „Ich begreife Sie nicht;
Muckermann ist ein groBartiger Kerl und versteht sein Hand-
werk vortrefflich. Was ist schon dabei, wenn wir Sozialdemo-
kraten in Kulturfragen nicht aktiver sein konnen; Mucker-
mann und Fahsel sind doch, weiBGott, aktiv genug." Mucker-
mann und seine Freunde vom ,Gral' haben zuerst alle Gebiete
der. Kulturbetatigung, vor allem die Weltliteratur, in den Auf-
gabenkreis des ,Grals* einbezogen; von besonderer Bedeutung
wurde es auch, daB aus diesem Mitarbeiterkreis eine ton-
angebende jiingere Literatengeneration des Zentrums hervor-
gegangen ist. Die wichtigsten Verbindungsm aimer nach links:
259
Werner Thormann von der .Deutschen Republik', Walter
Dirks von der ,Rhein-Mainischen Volkszeitung', Rockenbach
vom kolner Sender , Otto Forst de Battaglia als pseudonymer
Schrittmacher fur Polen und Frankreich und eine umfassende
Kulturreaktion. Dringend notwendig war auch, daB der Jesuit
Muckermann seine ganze Aufmerksamkeit daran setzte, seine
Zeitschrif t erst, einmal durch. Verbreiterung des Arbeitsgebietes
auch fur Nichtkatholiken interessant zu machen.
Um die ersten Arbeiten Muckermanns von seiner Grals-
warte aus richtig verstehen zu konnen, muss en wir nochmals
an die russische Gefangenschaft ankntipfen: da beginnt jene
literarische Mischung von -Wirklichkeitsbeobachtung und
zweckhafter Routine, vermengt mit einer untiberbietbar
kitschigen Ausdrucksform. Antibolschewistische Riesenvereine
schweben ihm vor, sagt er doch selbst: „Ich habe in Wilna
einst die erste antibolschewistische Organisation geschaffen!"
Er hat eine Arbeiterliga im Kopf nach den iiberlebten Selbst-
hilfemaBnahmen Leos XIII. : Genossenschaft des Proletariats
ohne HaB und Klassenkampf; Lohnerhohungen nur mit gleich-
zeitiger Installierung katholischer Volkshochschulen.
Muckermann braucht natiirlich zugunsten seines Pro-
gramms eine Weltpresse, einen internationalen katholischen
Weltfilmverband, einen Buhnenvolksbund und dann noch einen
katholischen Weltfunk, um so endlich das Dach iiber der ka-
tholisch-amerikanischen Weltkulturliga gegen den Bolsche-
wismus fertig zu bauen. MScheidung der Geister. Wie zum
Gericht. Endlich. Es kommt doch so, daB alles zermahlen
wird, was nicht rote oder schwarze Internationale ist; letzt
gehts um die Religion." Zur Bekraftigung dieser Devisen hebt
Herr Forst de Battaglia unbekannte katholisierende polnische
Schriftsteller in den neuen Dichterhimmel, nachdem er kurzer-
hand Tolstoi, Puschkin, Gorki abgesetzt hat, Nach der ersten
Volker bunds versammlung in Paris konstatierte Muckermann
herausfordernd: ,,Ungeschwacht aus Krieg und Revolution
herausgegangen ist einzig die katholische Kirche", Er gibt die
verheerende Losung aus, die ftir die gesamte Arbeit der katho-
lischen Machtentfaltung im preuBischen Deutschland der letzten
Jahre gilt: „Wer nicht gegen uns ist, der ist fur uns!" Auch
die praktischen Aufgaben im Theaterbund, den Volkshoch-
schulen, dem Bibliothekswesen kommen nicht zu kurz. Der
,Gral' wird also zu einem Organ der katholischen Weltliteratur
im Sinne der romischen Kurie, mit festgesteckten Zielen.
Je fester sich der politische Katholizismus in der preuBi-
schen Position ausbaut, desto ignindlicher werden alle unange-
nehmen Mitstreiter beiseite gedrangt, in die verschiedensten
Zentralstellen werden treue Anhanger eingesetzt. Man biedert
sich mit alien Leuten an, von denen man wenigstens Propa-
gandawert und keine offene Gegnerschaft erwarten darf, Na-
tiirlich erobeft Muckermann auch den Film, indem er in mehre-
ren Artikeln in kritischer Beschaulichkeit an das Fricksche
Zensurprogramm heranriickt. Aoich die hanebiichenen be-
volkerungspolitischen Rezepte, die sein pseudowissenschaft-
licher Forscherbruder in Broschiiren verbreitet, setzt er in die
Reihe seiner Ratschlage zur Behandlung der Arbeitslosigkeit
260
cin. Da kommt ihm der nationalistische Roman; ,,Die Arbeits-
losen" von Richard Euringer zuhilfe, der ihm die Orders einer
eugenetischen Rassenkontrolle punktweise angibt. „Selbstwert
der Personlichkeit, mannliche Kraft bei Kinderzeugung und na-
vt(irliche Ritterlichkeit trotz aller verhaltenen Energie im Pri-
vaten und Technischen" werden gegen die ungeheure Not der
Arbeitslosen ausgespielt, die man hier durch ,,Fiirsorge-
epidemie, Krankenkassenpathologie, Versichefungsanamie"
verdorben wahnt. Pater Muckermann, der ftinf Millionen deut-
scher Volksgenossen, die ungewollt in jene christliche Sphare
der morderischen Armut gestoBen worden sind, mit solchen
Schlagworten zu verhohnen wagt, schreibt als ausgewachsener
Mensch zum Tage des Buches: ,,Gute Biicher und Trauben am
Rhein — bringen Wein. Wollen vorher gelesen sein."
Es gibt kerne kulturelle Sparte, die, zunachst von tiichti-
gen Leuten in Angriff genommen, nicht endlich Muckermann
in die geschaftigen Hande geraten ware- Er schreibt: ,,Zu
Ende war es immer mit einer Ketzerei erst dann, wenn man
die in ihr schlummernde Wahrheit entdeckt und sie fur sich
ausgenutzt hatte." Die Beziehungen gehen ebensogut zur
liberalen Pre&se und der ,Literarischen Welt* wie zum
Herrenklub des Herrn von Gleichen. Ich habe ahsichtlich die
philosophischen Fundamente dieser Seite der romischen Kultur-
politik auBer acht gelassen, weil man die jesuitische Philo-
sophLe-Propaganda eingehender behandeln muB; der ,Gral* halt
hierin ein so niedriges Niveau, daB eine objektive Debatte iiber
diesen Punkt unmoglich ist, Muckermann hat auch bei seinem
weitverzweigten Auftreten nur den einzigen Befehl auszufiih-
ren: tfNach und nach eine gewisse Klarheit in der Art zu ge-
winnen, wie man iiber weltanschauliche Gegenstande vor einem
vielfach geistig gespaltenen Zuhorerkreis vorzutragen hat!"
Das bedeutet Propaganda und Tendenz auf alien Kulturgebie-
ten. Und alle Mittel werden hier durch den einen Zweck
geheiligt: ,,Kampf gegen den Bolschewismus".
ZU dieser ZenSUr von Hermann Kesser
Cine gewaltsame tJbereinstiimmung zwischen Staatsleitung
und Zeitung hat sich niemals bewahrt. Die rucksich'ts-
lose und einseitige Bevormiundung der politischen Presse zei-
tigt eine ahnliche Scheingesundheit wie ein gefahrliches
Opiat, Sie kann vorubergehend wirken, indem eine krampf-
hafte Unempfindlichkeit oder ein kiinstliches Wohlgefiihl ent-
steht, aber ein Ertrag fur die Volkskraft bleibt aus< Das alles
ist durch die Geschichte und die Gegenwart, die Geschichte
sein wird, so klar geworden, daB weiter nichts aufzuhellen ist
Manner der Presse in Horigkeit, in einem Botendienst zu hal-
ten, dieser Wunsch wird erneut werden, so lange es Zeitun-
gen und Abhangigkeiten gibt. Nur starke journalistische Per-
sonen konnen durch Riickgrat und Leistung dieses Verhaltnis
moralisch richtigstellen und ins Gegenteil umkehren,
Erschienen November 1916 in der frankfurter Zeitung'
261
Tonkin von Jonathan Wild
II
Im tonkin esisch en Dorf Coam hatte ein Revolutionar Zuflucht
gesucht und gefunden, Der Resident wuBte es. Am 16, Fe-
bruar 1930 iiberflog ein franzosisches Flugzeuggeschwader, be-
stehend aus fiinf Einheiten, das Dorf Coam, warf 57 Bomben
a 10 Kilogramm ab und mahte sodann mittels Maschinengeweh-
ren das zu „strafende" Territorium noch einmal durch. Ein-
undzwanzig Tote, fiinf Frauen und sechs Kinder darunter, sind
das offizielle Ergebnis dieser Straf expedition. Was bei Nacht
an Toten und Verwundeten geborgen wurde, ist man an offi-
zieller Stelle nicht verpflichtet zu wissen.
Freilich wird nicht immer gleich zu dieser einleuchtenden
MaBnahme geschritten. Die beruhmte franzosische Nuance hat
Eingang auch in den Straf code fur rebellische Eingeborene ge-
funden. Dorfer, die sich der geringsten Zweideutigkeit in
ihrer Haltung schuldig machen, werden zum Beispiel des Bam-
buszauns, der ihre Gemeinschaft umschlieBt, beraubt. Der
Europaer ist schwer in der Lage, die Bedeutung dieser harm-
los erscheinenden Phantasie zu begreifen, Zwange man ihn,
in einem Haus, dem Turen und Fenster ausgerissen worden
sind, zu leben, so wurde er durch Zynismus und Schamlosigkeit
im Handumdrehen die Unwurde der Strafe gegen ihre Ur->
heber kehren. Anders der Eingeborene. Er hat noch nicht
gelernt, zynisch zu sein und verschmaht bis auf weiteres in
kult-traditioneller Gehemmtheit das freche Mittel der Scham-
losigkeit. Er zieht sich wie ein verwundetes Tier in die Erde,
in seine Hutte zuriick. Das Land ist nackt, rasiert am gan-
zen Korper, vorbereitet zur Operation*
Aus diesen Dorf ern ohne Bambuszaun ziehen sie aus, die
Manner, Madchen, Jungens, den Fabriken zu, Zehn Stunden
werden sie dort arbeiten und hungern dafiir. Was Louis Rou-
baud in d«n Fabriken gesehen hat, kann kein kommunistischer
Liigenbeutel erfind^n. Erlogen, alles erlogen, wiirde es heiBen.
Roubauds Reportage aber ist im ,Petit Parisien', dem offiziei-
len, politisch vom Quai d'Orsay genahrten biirgerlichen Nach-
richtenblatt vor der Buchausgabe erschienen. Hier einige Falle;
Thia Va
Thia Va ist ein verbliihtes Madchen von siebzehn Jahren.
Sie arbeitet seit funfzig Monaten in einer Baumwollspinnerei
zehn Stunden pro Tag. Eines Tages werden einige Spuien
Baumwoile gestohlen. Die dreizehnjahrige Hai ist verdachtig.
Sie ist an einen Pfahl gebunden und erwartet die ubliche Prii-
gelstrafe, Thi Va bleibt vor der weinenden Kleinen stehen,
um sie zu trosten, da kommt unversehens der Werkfiihrer,
Monsieur Theresaux, ins Atelier, Er sieht Thi Va, die auf
ihren Platz fiieht, geht langsam auf sie zu, das Madchen legt
schiitzend die Arme vors Gesicht, Im nachsten Augenblick
liegt Thi Va auf der Erde, die Augen offen, das Gesicht starr,
ohnmachtig. Monsieur Theresaux hatte ihr zwei Tritte in den
Unterleib gegeben. Die Siebzehnjahrige konnte nach Monaten
das Spital als Knippel verlassen.
262
Kum
Kum arbeitet mit t aus end andern Kulis in cincm Kohlen-
bergwerk ia Cochinchina. Er schiebt Kohlenkarren auf Feld-
bahnschienen -der Verlad est elle za Es pa&siert ihm, daB ein
Karren plotzlich aus dcr glitzernden Reihe springt, dcr Wcrk-
meistcr Schultz schaut zu. Drci, vicr Minuten vergehn, Kum
kriegt den Karren nicht auf die Schienen zuriick. ,,Hundesohn'\
schreit da Herr Schultz, ,,ich werde dir zeigen, wie man ar-
beitet/' Er geht auf den Karren zu, itm ihn mit seinen drei-
fachen Kraften zuriick in die Bahn zu heben. Aber er ist
ungeschickt und fallt dabei auf die Nase, Kums Seele ist nicht
kompliziert. Er vermag nicht auszurechnen, was kommen
muB, wenn er jetzt seiner Schadenfreude Ausdruck gibt. Kum
lacht. Schultz erhebt sich. Kum fliegt mit dem Schadel zu-
erst an den Karren, dann gegen die Schienenf dann in den
Graben. Als er in die Infirmerie eingeliefert wird, lacht
Kum zwar noch immer, aber er hat drei Rippen gebrochen
und- die Milz zerrissen. Der Totenschein wird ausgestellt.
Glaubt nicht, daB ein Schultz in Indochina Kulis nur so
zertreten darf, Dieser vielmehr wurde nach Hanoi' vors Ge-
richt ziti-ert. Er erhielt fiir Korperverletzung mit Todeserfolg
zwei Monate Gef angnis — mit Aufschub . . *
Le Van Tao
Aus einem der blutenden Kautschukgarten Cochinchinas
sind nachts dreiBig Kulis entflohen, Beim Appell urn funf
Uhr morgens wird ihre Flucht entdeckt. Eine Schar von
Wachtern jagt sogleich den Deserteuren nach* zwolf von ihnen
werden zuriickgefangen. Neuerlicher AppelL Als alle Kulis
versammelt sind, erscheinen die Zwolf auf dem Platz. Sie
Ziehen auf Befehl ihre Hosen herab, legen sich bauchlings zur
Erde, die Strafexekution beginnt: zwanzig Streiche fiir jeden
mit dem spanischen Rohr, das ist der Tarif fiir die erste De-
sertion. Mit Miihe erheben sich die Geziichtigten, Ziehen vor-
sichtig die Hosen uber das blutende Fleisch, gehen daran, das
vorgeschriebene Pensum zu leisten.
In der folgenden Nacht verlassen von den Gepeitschten
wieder drei die Plantage. Zuriickgefangen wird einer: Le Van
Tao. Er wird vor Monsieur Boulerst, Direktorstellvertreter,
gefuhrt. Monsieur Boulerst sucht eine der Saulen seiner Ve-
randa aus, lafit Le Van Tao die Arme um sie legen, schnappt
Schelien um seine Hande. So bleibt er die Nacht uber. Am
Morgen Appell der Kulis. In die Mitte des Sammelplatzes
wird Le Van Tao gebracht und mit Zeremonie seine Hose
ausgezogen. Zwei Wachter packen ihn, einer an den Handen,
einer an den FiiBen und halten ihn zwanzig Zentimeter uber
dem Boden. Monsieur Boulerst selbst erscheint und verab-
reicht ihm in dieser Stellung 27 Streiche mit dem Ochsen-
ziemer. Als alles fertig ist, bleibt Le Van Tao liegen,
Wieder Untersuchung. „Sie haben zur Ziichtigung keinen
Rohrstock, sondern den Ochsenziemer veTwandt?" wird Mon-
sieur Boulerst gefragt „Ganz richtig," antwortet er, „ich
habe mit dem Ochsenziemer geschlagen, weil ich ihn grade in
263
der Hand hatte. Im Obrigen, wo ist ein Unterschied zwischen
einem Ochscnzicmcr und cinem spanischen Rohr? ..."
Thi Nguyen
Dorf Dong. Gliihende Hitze. In der Fabrik ist kein
Wasser mchr in den Kiibeln, Drei Frauen gehen zum Bach,
urn zu trinken. Sic hatten nicht tun Erlaubnis gebeten. ALs
sic zuriickkehren, haben sie ihrc flCaig-uans" auszuziehen, sich
auf die Erdc zu legen. Die einundzwanzigjahrige Thi Tuong,
die dreiBigjahrige Thi N'guyen, die mit sechs Mohaten schwan-
gcr ist und die sechsunddreiBigjahrige Thi Nhon, Mutter dreier
Kinder. Jede erhalt zehn Schlage mit einem drahtumwik-
kelten Rohrstock. Die Schwangere erleidet selbstver-
standlich zwei Tage spater eine Friihgeburt Photographien
ihrer zentimetertiefen Wunden sind an den Staatsanwalt in
Sa'igon gegangen — im Dorfe Dong wird weiter geschlagen . . ,
i.
Roubaud fahrt fort, wir wollen. die Liste schlieBen. Denn
es kommt nicht auf ein Beispiel mehr oder weniger an; es
kommt auf die erschiitternde Tatsache an, daB alles wahr ist,
was je iiber Sklaverei gesagt und geschrieben wurde, Es kommt
darauf an, dafi Louis Roubaud, der Franzose und Nichtkommu-
nist, es bestatigt. Er schreibt wortlich: ,,So unangenehm das
Wort auch sein mag, es muB ausgesprochen werden, der anna-
mitische Arbeiter unterzeichnet fiir drei Jahre einen Sklaven-
vertrag/' — Eine der Hauptparolen der kommunistischen
Schule Whampoa in Canton, zu der sich alle revolutionaren
Element e Indochinas drangen, lautet denn auch; ,,Erzwingung
weltstadtischer Arbeitergesetze; V«rbot der Rekrutierung von
Kulis/'
Sie hat gut Parolen aufstellen. 15 Millionen Kulis gibt
es heute in Indochina bei einer Gesamtbevolkerung von
20 Millionen. Alle 20 Millionen drehn sich nach dem Wink
von 20 000 weiBen Kolonisten. Von den 20 000 verstehen, wie
gesagt, keine drei Prozent die Sprache des Landes. 15 Millio-
nen Kulis verdienen bei zehnstundiger Arbeitszeit im Durch-
schnitt 25 Sous pro Tag, das sind 50 franzosische Sous, heiBt;
2 Franks 50 = 25 Pfennige! 10 Stunden wohlgemerkt! Da-
bei hat die Weltwirtschaftskrise der letzten Jahre eine groBe
Zahl dieser Sklaven selbst um diesen beschamenden Verdienst
gebracht. Die Preise der Rohmaterialien begannen zu fallen,
das rasende Tempo ihrer Gewinnung lieB sie immer tiefer
sink en. Die Herren Michelin, Outrey, Homberg, diese „GroB-
martyrer der Rationalisierung", wie Ilja Ehrenburg sie nennt,
schranken die Produktion ein, um in wertlosem Reichtum nicht
zu ersticken- Sie halten heute genaue Schau im wachsenden
Heer der Arbeitslosen, sie nehmen die starksten und besten
und solche, die willig sind. Vorbei sind die Zeiten, da Kulis
mit heimtuckischen Versprechungen auf die Plantagen gelockt
werden muBten. Heute hat es sich eingebiirgert, daB der auf-
genommene Kuli dem ,,Cai", den anuamitischen Rekruteur, zum
Dank fiir die Aufnahme, 3 Sous pro Tag uberlaBt. Bleiben
ihm 22 Sous. Davon kauft er taglich zwei Schalen Reis, die
264
Schale zu 10 Sous. Dem Kuli bleiben 2 Sous. Er ist nackt.
Die Stcucrn, die er zu entrichten hat, betragen 5 Piaster pro
Jahrf das ist dcr Lohn eines Monats.
Dcr Kuli kann seine Steuer nicht bezahlen, Er stohnt
unter der Last des Fiskus. Und so la-utet die nachste der
groBen Parolen der beruhmten Schule Whampoa in Kanton:
Zahlt keine Steuern!
Die historische „Gabelle", die Gandhis Feldzug des Un-
gehorsams heraufbeschwor, driickt auch den franzosischen
Kuli. Sie hat im Jahre 1929' dem indochinesischen Budget
11 Millionen Piaster eingebracht. Das Volk verflucht die
Gabelle.
Den zweiten Hauptposten, und zwar rund ein Viertel des
Einnahmebudgets, stellt die franzosische Opiumregie. Ilja
Ehrenburg gibt in seinem Buch ,,Das Leben der Autos" ein
Rundschreiben des Generalgouverneurs an die Unterprafekten
wieder, es lautet: ,,Ich gestatte mir, Ihnen die Liste der Ort-
schaften zu senden, in denen es iiberhaupt noch keinen Alko-
hol und kein Opium gibt, und wo daher staatliche Verkauis-
stellen zu eroffnen sind , , ." Anzunehmen, daB seither die
fehlenden Verkaufsstellen errichtet wurden und Pierre Pas-
quier, Mle coupeur de tetes", wie ihn die ^umanite' nennt,
hat offenbar auch auf diesem Gebiet seine Verdienste.
Am Tage nach der pomposen Eroffnung der Internatio-
nalen Kolonialausstellung in Paris, an dem der junge Kaiser
von Annam, geblendet von der Ehre, die man ihn antat, an der
Seite des Prasidenten Doumergue saB . und der Marsailleise
lauschte, brachten » drei Linksblatter folgendes Privattele-
gramm aus Saigon:
1 Mai Annam Demonstrationsziige iiberall mit Gewehrsalven
empfangen mindestens hundert Tote stop Keine Verluste bei den
Truppen stop Menschlich denkende erheben emporten Protest
erwarten andre MaBnahmen als unniitze Massakers fordern
sofortige parlamentarische Untersuchung
Cancellieri Avocat Saigon
Der Inhalt des Telegramms, das von der ,Htimanite\ dem
sozialistischen .Populaire* und der republikanischen ,Lumiere'
wiederholte Male auf der ersten Seite gebracht worden ist,
hat bis heute seitens der Regierung weder ein Dementi noch
eine Bestatigung erfahren. Statt einer authentischen Aufle-
rung sind aber weitere Blutdepeschen aus Indochina ein-
getroffen;
,,9. Mai acht Revolutionare, Flugschriften verteilend, von
Legionaren auf offenem Feld erschossen . . /'
Paris liest fleiBig den ,Temps', Er beschuldigt Moskau
alien Unheils und verlangt nimmermude den RausschmiB der
russischen Botschaft. Im (ibrigen, nur keine Nervositat! ^Die Ma-
laise in denKolonien," schreibt er, ,,ist zurzeit allgemein. Uber-
all Wirren und Bewegungen, die, wenn man sie nicht entschlossen
unterdriickte, zur Zerstorung des groBen zivilisatorischen Wer-
kes fiihren konnten, das die okzidentalen Demokratien in ihren
iiberseeischen Besitzungen unternommen haben, Diese Demo-
kratien sind solidarisch, . ."
265
ElirOpaiSChe Kinderstube von Peter Panter
„rapprochement (raproschma) m. 1. Zusammenriicken n,
Wiederannaherung f; (reunion) Vereinigung f, 2. fig.
(reconciliation) Annaherung f, Versohnung f"
Sachs-Villatte
r\ic pariscr ,Comoedia* vom 19. Juli erithalt auf der crstcn
Seite folgenden Artikel:
Das merkwiirdige Schamgeftihl Thomas Manns
wird Paris mit einem skandalosen Buch beschenken.
Nachstens wird bei Bernard Grasset ein neues Werk Tho-
mas Manns „Sang reserve" erscheinen.
Der Inhalt ist allem Anschein nach auBerst anstoflig.
So anstofiig, dafi Thomas Mann unmittelbar nach Erschei-
nen der deutschen Ausgabe alle bereits ausgedruckten Exem-
plare aus dem Handel zuriickgezogen hat. Das Romanthema
ist: Blutschande. ^
Dieses Werk ist auch nicht in den Gesammelten Werken
Thomas Manns, die zur Zeit erscheinen, aufgenommen.
Man nimmt wohl in Deutschland an, dafi Frankreich weni-
ger Schamgeftihl hat, Herr Thomas Mann, der befiirchtet, seine
Landsleute vor den Kopf zu stofien, hat keinerlei Bedenken,
dergleichen mit Frankreich zu tun.
Ist das nun seinerseits ein Zeichen von Hochachtung fur
unsre Fahigkeit, uns von allem das beste auszuwahlen?
Oder muB man in seinem Verhalten nicht im Gegenteil eine
fiir uns sehr unfreundliche Unverfrorenheit sehen? Dies Buch
ist fiir Deutschland nicht gut, Aber ftir Frankreich, nicht
wahrt ist es noch alle Tage gut! SchlieBlich ist ja fiir ein so
verdorbenes Volk wie das franzosische nichts zu gewagt . . .
Immerhin hat aber dieses verdorbene Volk in seinen Cafes,
in seinen Restaurants, in seinen Theatern und auch nicht in der
Gesellschaf t j enen Geschlechterwechsel organisiert, wie er in
Berlin ublich ist.
Dieses verdorbene Volk hat die Lehre Freuds weder er-
funden noch hat es sie und ihre zahlreichen Abarten theore-
tisch oder praktisch angewendet.
Dieses verdorbene Volk halt keine Kongresse uber sexuelle
Seltsamkeiten ab, wie wir noch im vorigen Jahr so einen Kon-
grefi im Rheinland erlebt haben. Dieses Volk hat keine Ko-
edukation, weder solche, bei der die Kinder angezogen sind,
noch solche mit Nacktkultur, wie das in den grofien deutschen
Stadten gang und gabe ist, und so wundern wir uns fiber die
plotzliche Schamhaftigkeit eines deutschen Autors, in demsel-
ben Lande, wo man dauernd Stucke spielt, die sich auch nicht
eine Viertelstunde auf einer pariser Btihne halten konnten.
Wir wollen immerhin einem andern Deutschen, dem Fiir-
sten Biilow, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der wendet sich
im letzten Bande seiner Memoiren energisch gegen die uble
Gewohnheit seiner Landsleute, Paris das moderne Babylon zu
nennen. P. L.
Es erscheint mcrkwiirdig, daB ein grofies Blatt wie tCo-
moedia' offenbar nicht die Mittel besitzt, sich Redakteure zu
halten, die lesen und schreiben konnen und die liber Europa
soviel Bescheid wissen, wie notig istf urn sich eine Meinung
iiber fremde Lander zu bilden. Wo in aller Welt hat die Re-
daktion diesen Analphabeten aufgegabelt? Das mufi nicht
leicht gewesen sein — Frankreich hat so gute Schulen,
266
Was zunachst die Meinung angeht, Frankreich sei kein un~
moralischcs Land, so ist das der einzige Lichtblick in diesem
traurigen Artikcl. Ich habe mich seit Jahren bemiiht, diese
wirklich kindische Vorstellung aus den deutschen Kopfen her-
auszutrommeln; da aber die heimischen Schriftgelehrten immer
viel besser iiber das Ausland orientiert zu sein glauben als die
Leute, die dort leben, so ist das keine einfache Aufgabe. Der
Rest des Artikels aber . . ,
Da bemiihen sich nun auf beiden Seiten wohlmeinende
und gebildete Manner, ihre Volker iiber einander zu infor-
mieren. Die Deutschen sind iiber die Franzosen meist falsch,,
die Franzosen iiber die Deutschen meist gar nicht unterrichtet.
Da erscheinen nun Obersetzungen: da geben sich franzosische
Wochen- und Monatsschriften solche Miihe — und dann kommt
einer und trampelt imPorzellanladen herum, daB es nur so kracht.
Zunachst ist das Buch „Walsungenblut", um das es sich
hier handelt, nicht unsittlich. Thomas Mann hat das Werk
meines Wissens nicht etwa. aus sittlichen Bedenken aus dem.
Handel zuriickgezogen, sondern aus Griinden, die nur ihn allein
angehn. Diesem Schriftsteller vorzuwerfen, er schriebe unsitt-
liche Biicher, ist nicht nur eine Niedrigkeit — es ist eine
Dummheit, die einen gradezu katastrophalen Mangel an Bil-
dung enthiillt. Eine solche Blamage hatte ,Comoedia* nicht
notig gehabt.
Es ist unrichtig, zu behaupten, Thomas Mann halte Frank*
reich fur gut genug, dort Biicher abzusetzen, die man in
Deutschland aus Griinden der Moral nicht Verorfentlichen
konne. Ganz abgesehen davon, daB es von diesem Werk eine
begrenzte deutsche Ausgabe gibt: Thomas Mann spricht und
schreibt franzosisch, WeiB von Frankreich viel und hat sich
wahrend seines pariser Besuchs seiner Aufgabe mit Takt ent-
ledigt. Ich sehe die Wirkungen dieses Besuchs ganz anders an
als er, aber der Artikel der ,Comoedia* ist ein Anwurf, der zu-
riickgewiesen werden muB, Nicht der Wert der literarischen
Leistung Manns steht hier zur Diskussion — die literarische
Sauberkeit steht zur Diskussion. ,Comoedia' hat die Grund-
gesetze jeder geistigen Debatte verletzt.
Wenn die Homosexualitat sich in Deutschland mitunter in
den Vordergrund driingt, so hat das mancherlei Griinde. Ger-
manische Rassen neigen mehr zur Gleichgeschlechtlichkeit als
lateinische (briillt nicht, es ist so), und auBerdem hat der Deut-
sche die fatale Neigung, aus allem eine MWeltanschauung" zu.
machen, als welches Wort sich nicht ins franzosische iiber-
setzen laBt. Mit Moral hat dergleichen nichts zu tun.
Koedukation ist keine Spezialitat von Bordellen. Nackt-
kultur auch nicht. Der gesunde Versuch der Bevolkerung, die
entsetzliche Wohnungsnot durch sportliche Betatigung in
frischer Luft auszugleichen, hat Auswiichse; es gibt auch
torichte Vereine, wo Postsekretare vor entsprechenden Frauen-
leibern ihre sicherlich siindige Lust zu bekanjpf en vorgeben
was aber Korperpflege angeht, so fasse sich Paris an die eigne
Nase; es hat wenig brauchbare Hallenschwimmbader fur das.
Volk, und was sich an Priiderie und Albernheit in franzosischen
Seebadern begibt; reicht an das finsterste Bayern heran,
267
Auf deutschen Theatern werden Sttickc gespielt, die nicht
-etwa unanstandig sind, sondcrn die man in Paris deshalb aus-
lachte und mit Rccht auslachte, weil diese schwerfallige Art,
sich dem Bett zu nahern, in Frankrcich auf kein Verstandnis
trifft- Dort gleitet man in sanfter Kurve auf die Lagerstatt:
der Deutsche sieht erst vorher im Lexikon nach, obs auch
stimmt. Unmoral? Nein; Privatdozenten der Sunde,
Was hingegen den Angriff gegen die Lehre Freuds angeht,
so darf gefragt werden, ob der Verfasser jener Glosse auch nur
ein eiriziges Mai ein Buch Freuds in der Hand gehabt hat. Ich
mochte das bezweifeln. Er halt diese Lehre wahrscheinlich fiir
«inen Freibrief, Embryos zu vergewaltigen, was ja die Deut-
schen bekanntlich zum Friihstiick zu tun pflegen.
Kurz; Rapprochement.
* .
Auf welchem Erdteil leben wir!
Man kann sich an den Fingern abzahlen, was nun fiir ein
Spiel anhebt. . ■ '.
Die volkischen Esel werden begeistert I-A schreien, weil
der Erbfeind den Juden Thomas Mann verunschimpfiert hat.
Und sie werden hinzufiigen: ,,Da sieht man, wie diese Porno-
^raphen den Ruf des braven deutschen Volkes im Ausland
schadigen! Da hat mans wieder!" Das Spiel hat schon ange-
hoben. Die .Deutsche Zeitung' ist schwer begeistert, schaumt
vor Schadenfreude und wirft mit Bourdet zuriick, dessen leich-
tes Spiel vom t1Sexe Faible" sie fiir Hfranz6sische Selbstent-
larvung eines verendeten Zeitalters" halt. So wenig weiB sie
von Frankreich.
Und dann werden wieder die Franzosen antworten, die
Deutschen seien Heuchler und Ferkel, Wenn sie iiberhaupt
antworten — denn die meisten von ihnen konnen ja nicht
deutsch lesen, Und dann werden die volkischen Esel ihr Ge-
briill wieder aufnehmen und iiber den Rhein rufen, Paris sei
viel schlimmer als Babylon, schlimmer schon deshalb, weil es
so teuer sei, Und alle Franzosen tranken immerzu Cham-
pagnerf und woraus, das konne man nur in Herrengesellschaft
erzahlen. Und so vergniigen wir uns alle Tage.
Narren. Ein Haufe von Narren, denen das eigne Land zum
religiosen Begriff geworden ist. Und da jede Religion ihren
Teufel notig hat: der Teufel, das ist allemal der Auslander.
Wir brauchen Thomas Mann nicht in Schutz zu nehmen.
Die Sauberkeit des literarischen Betriebes gegen Schmierfm-
ken aber wollen wir doch wahren.
So zum Beispiel werden Kriege vorbereitet.
Alte und neue Banken von Bernard citron
Von Fiirstenberg zu Jacob Goldschmidt
In England hat man vor einiger Zeit eine Enquete iiber das
Bankwesen veranstaltet. Das Gutachten fiir Deutschland
gab Dr. h. c. Jacob Goldschmidt ab. Es heiBt dort, daS die
deutschen Banken im neunzehnten und beginnenden zwanzig-
sten Jahrhundert die Industrie groB gemacht haben. Wer
268
mag bestreiten, daB die A.TLG. das gemeinsame Werk des In-
dustriellen Emil Rathenau und dcs Bankiers Carl Fiirstenberg
ist? Wiirdc man diesen Vergleich fortfiihren, dann miiBte man
auch die Darmstaldter Bank; und die Norddeutsche Wjollkammerei
in einem Atemzuge nennen. So hart wollen wir nicht urteilen*
vielmehr sei das gegenwartige Verhaltnis zwischen Bank und
Industrie an dem Beispiel der Vereinigten Stahlwerke erlautert.
Die Darmstadter Bank unter Jacob Goldschmidt hatte die
Ftihrung, als aus der Stinnesmasse der wertvollste Kern, die
Rhein-Elbe-Union herausgefischt wurde. Mit dieser Tat, die
kurz nach der Inflation die deutsche Wirtschaf t vor einer schwe-
ren Katastrophe bewahrte, hatten sich Manner wie Gwinner
oder Fiirstenberg begniigt. Eben war der Vertikaltrust, der den
Namen Hugo Stinnes trug, zusammengebrochen, und schon
wurde in Horizontalform ein neues Riesengebilde aufgetiirmt:
die Vereinigten Stahlwerke. An diesem Geschopf der Danat-
bank bestatigt sich das Mephistowort: „Am Ende hangen wir
doch ab von Kreaturen, die wir machten'7 Die Industrie — an
ihrer Spitze Friedrich Flick, der Beherrscher der Vereinigten
Stahlwerke — hat die Danatbank iibernommen, urn sie vor der
„drohenden Sozialisierung" zu ret ten. Diesem gliicklichen Um-
stand darf Goldschmidt sein Verbleiben in der Leitung des In-
stituts verdanken.
Weiter als irgend einer seiner Zeitgenossen vermochte
der blinde Gerson Bleichroder zu, sehen. Hat sein gei-
stiges Auge auch das kiinftige Schicksal des Hauses S. Bleich-
roder erblickt? Den letzten Rest einstigen Glanzes ha-
ben die unerquicklichen Folgen der Prozesse zwischen Firma
und Familie getilgt. Wenigstens der Name bleibt als Aushange-
schild einer jungern und kraftigern Firma erhalten.
Ein Epigone andrer Art ist Herbert Gutmann. ALs Bank-
direktor zehrte er von dem materiellen und ideellen Kapital
des Vaters. Die geschaftlichen Fahigkeiten d«s Sohnes waren
nie iiberragend, schon zu Lebzeiten Eugen Gutmanns muBte
Herbert saniert werden. Dessen Verdienste urn die Dresdner
Bank beschrankten sich auf die Kundenwerbung. Wenn der
Leiter, einer deutschen GroBbank Kunden acquerieren will,
kann er sich nicht der Methoden eines Versicherungsagenten
oder Handelsreisenden bedienen, sondern muB reprasentieren.
Fiir Herbert Gutmann wurde die Representation schlieBlich
Selbstzweck, seine Haushaltung war schon fast eine Hofhal-
tung. Keine bekannte Personlichkeit des politischen oder
geistigen Lebens, die durch Berlin kam, w.urde nicht in der
Friedrich-Ebert-StraBe oder in . Herbertshof zum Friihstiick
empfangen. Der Prasident des Golf- und Landklubs hatte vom
,,Dienst am Kunden" anscheinend eine sehr weitgehende Vor-
stellung. Dennoch ist die Dresdner Bank gewiB nicht infolge
der Ausgaben des Chefs in Schwierigkeiten geraten, aber nach
einem Krach steht vor der Offentlichkeit ein Hasardeur besser
da als ein wirklicher oder angeblicher Verschwender,
Zugrunde gerichtet wurde die Dresdner Bank durch ihr
Genossenschaftsgeschaft. Da diese Verluste groBtenteils durch
die Landwirtschaft hervorgerufen worden sind, ist die Bank
269
auf dem „Fclde der Ahre" gefallen. Nur so erklart sich eine
Hilfsaktion, deren Umfang (dreihundert Millionen Reichsmark)
wohl jedc bisherige Staatssubvention an die Privatwirtschaft
in den Schatten stellt Da man in Deutschland nie gleich
offen mit der Sprache herausriickt, wurde erst die Akzept-
und Garantiebank gegriindet, deren anfangliche Hauptaufgabe
darin bestand, die Dresdner Bank durch Diskontierung von
eigens zu diesem Zwecke hergestellten Wechseln am Leben
zu halten. Nachdem dieses Ziel erreicht ist, herrscht in den
fur die' Zwecke des neuen Instituts in aller Eile hergerichteten
Prachtraumen groBte Ruhe. Die von den verschiedenen Ban-
ken abkommandierten Angestellten kehren allmahlich wieder
zu ihrer bisherigen Tatigkeit zuriick.
Wir sind noch nicht am Ende dieser neuartigen Griin-
dungsperiode. Da im Hint ergr und jeder Um- oder Neubildung
im Bankgewerbe das Reich mit einer Garantie stent, mufl man
immer wieder fragen: „Und wer hilft dem Reich?"
Die Ueberlebenden
Das Geheimnis der Liquiditat beruht heute auf der Erfah-
rung der letzten Zeit, daB nur der Geschafte macht, der kein
Geschaft hat. An der Borse weiB man es langst, daB die wohl-
habendsten Bankiers kein Bureau und keine Angestellten und
kerne Kunden haben. Da aber ganz gegen ihren Willen zahl-
reiche Bankgeschafte von dem Ideal volliger Geschaftslosigkeit
nicht mehr weit entfernt sind, konnten ihnen kaum noch Kre-
dite gekiindigt werden, und wahrend der Borsenruhe fraBen
die zwangslaufigen Spesen nicht das ganze Betriebsvermogen
auf. Daher brauchen die Bankiers in ihren Reihen nur ein einzi-
ges Opfer der Krise zu beklagen. Von den Kreditbanken blieben
schlieBlich Deutsche Bank, Commerzbank und Berliner Han-
dels-Gesellschaft unbeschadigt, Im Hause Carl Furstenbergs
hat man sich stets von der Massenpsychose ferngehalten. We-
der auf die Inflationskonjunktur noch auf den Kredittaumel
von 1926 hat die Berliner Handels-Gesellschaft Hauser gebaut.
Die Deutsche Bank blieb dank der geringen Hohe kurzfristiger
Auslandsverschuldungen liquide. Die Zugkraft ihres Namens
brachte der Bank einen Zulauf neuer Kunden, die den andern
Bank en und Bankgeschaften nicht mehr trauten. Die Starke
der Commerzbank aber beruht auf einer jahrelang geubten
Zuriickhaltung, die in Bankkreisen falschlicherweise als Ver-
kalkung angesehen wurde. So ist auch der leitende Mann,
Friedrich Reinhart, zur ersten Finanzkapazitat aufgeruckt,
Den personlichen Charme. Jacob Goldschmidts besitzt er nicht,
vielmehr vertritt er in der BehrenstraBe die neue Sachlichkeit,
die im Grunde ein Vermachtnis der alten Schule ist,
Wenn sich das kapitalistische Deutschland von dem
schwersten Schlag, den es je erlitten hat, noch, einmal erholen
wird, dann muB es nach neuen Formen sucheti. Was jetzt im
Bankgewerbe offenbar wurde, ist keine zufallige Erscheinung
sondern der Mangel, eines Systems, dessen Tragern der Plan
zum Vormarsch und der Mut zum Riickzug fehlte.
270
Bemerkuflgen
Das wirkliche Ruhrgebiet
sieht dock noch ein bifichen an-
ders aus, als es tins gelegentliche
Besucher, Reporter, zeitfreiwillige
Bergarbeiter geschildert haben,
selbst wenn sie sehr scharfaugig
und anstandig waren.
Dafi sich zwischen den verherr-
Hchten Wundern der industriellen
Technik schlimmste Not aller
Grade drangt und qualt, das wufi-
ten ,wir. Auch davon haben wir
gehdrt, dafi wobl der einzelne
Kumpel im Bergwerk sich als
Kamerad des andern fiihlt, dafi es
aber kaum einen . einheitlichen
proletarischen Willen des ganzen
Reviers gibt, weil Neid, Klein-
kram, Tratsch und engherziger
Diinkel ein feinabgestuftes Klas-
sensystem innerhalb der Arbeiter-
schaft aufrechterhalten.
Aber die von Oberburger-
meistern und Regierungsprasiden-
ten, in Feuilletons und Werk-
reportagen (auch in der Arbeiter-
presse) laut gepriesene Entwick-
des ganzen Gebiets, des „Gigan-
ten an der RuhrMt machte doch
einigen Eindruck auf uns. Da
kommt nun ein graugebundenes
Buch: MKohlenpott'\ von Georg
Schwarz geschrieben und in der
Biichergilde Gutenberg erschienen,
und nimmt uns auch diese letzte
Illusion. Wir erfahren, dafi es mit
dem stolzen und selbstverstand-
lichen Wachstum nicht so sehr
weit her ist Langsam, oft kum-
merlich und stockend geht es
iiberall voran. Offenbar sind in
einer Gegend, wo die Menschen
dichter aufeinanderhocken als
sonst in Deutschland, nicht nur
die sozialen sondern uberhaupt
alle Reibungsflachen vergrobert
und vergrofiert. Unverstand,
Kleinstadterei, Ressortstolz, alle
lieblichen deutschen National-
laster sind hier aufgestaut und
werden doppelt wirksam, Neben
grofizugigem Tatwillen eine
manchmal erstaunliche Kleinlich-
keit. Stadte, Bezirke, Gemeinden,
Elektrizitat, Gasf Bahn, Post, Ver-
bande aller Art fiihren Kampfe
gegeneinander, statt ineinanderzu-
greifen. Das industrielle Herz
Deutschlands ahnelt zuweilen
einem Fettherz, dessen Schlag
stockt.
Schwarz stammt aus Dortmund
und hat einen grofien Teil seines
Lebens in der Arbeiterbewegung
des Reviers verbracht Nur wer so
mit dieser einzigartigen Land-
schaft verwachsen ist, vermag zu
ermessen, wie sehr sie in ent-
scheidenden Dingen zuruckgeblie-
ben, wie bose, dumpf und dreckig
sie mit all ihren Wundern ist.
Dabei ist Schwarz durchaus nicht
blind gegen tatsachliche Leistun-
gen. Er erzahlt von Zusammen-
hangen und Kraften, die uns bis-
her recht nebelhaft waren. Zum
Beispiel beschreibt er ausgezeich-
net die Bestrebungen der macht-
oder eigentlich rekordsiichtigen
einzelnen Stadte. Unter den Pro-
leten war er nicht nur vor dem
Giefiofen und im Stollen sondern
auch bei ihren armseligen Be-
miihungen um ein kargliches
Sonntagsvergniigen. Erstaunliches
berichtet er von der Verkehrs-
misere, die fiir die Nerven des
ausgepumpten Arbeiters eine so
griindliche letzte Belastung be-
deutet, dafi man versucht ist, an
eine raffinierte Absicht zu glau-
ben. Von den echten Dichtern des
Ruhrproletariats weifi er und von
den Werkzeitungen. Er schildert,
welche besonders aufreizende
Rolle vefstandnislose Richter im
proletarischsten Lande Deutsch-
lands spielen konnen. Und immer
wieder sucht und findet er den ur-
sprtinglichen „Auftrieb der Ar-
beitskraft, den Rebellencharakter
in allem Elend, den Drang zur
Umformung", der inmi'tten aller
Unvollkommenheiten vom ein-
fachen Arbeiter ausgeht. Das war
es, was Alfons Goldschmidt, vor
einigen Wochen an dieser Stelle,
in dem sonst vortrefflichen Roman
Erik Regers „Union der starken
Hand" vermifite, Das klare, red-
liche Buch von Georg Schwarz ist
in diesem Sinne eine erschopfende
Erganzung. Gute, unverschmockt
ausgesuchte Photos verstarkpn
noch seine Bedeutung,
Axel Eggebrecht
271
Vernunftige Zauberer
VV/enn ich ein Zauberer war', ver-
** hielte ich . mich an der s als
die Prominenten des Okkultismus,
der Astrologie, der Chiromantie,
des Hellsehens und der Grapho-
logie, die in einer Sondernummer
der .Literarischen Welt' ihre vor-
sichtigen Spruche aufsagen, Diese
Herren wollen namlich keine Zau-
berer mehr sein, Prosperos Stab
verwandelt sich in ihren Handen
zum Meter maB, und der Traum
einer grofien Magie liegt in ihren
Seelen unter f akultatsreif en
Fremdworten begraben. Sie haben
nur noch einen Ehrgeiz: vor der
Wissenschaft zu bestehn, vor eben
derselben, die sie verachten miifl-
ten, wenn sie nicht so instinktver-
lassen waren. Zaubem ist nam-
lich eine Kunst, also Anti-Wis-
senschaft. Wehe der dekadenten
Zeit, die diese Binsenwahrheit
verkennt. Schmach den Pseudo-
Zauberern, die so gar nicht zau-
berhaft sind, die auf das Abra-
kadabra ihrer Zunft verzichten,
um es gegen den viel unverstand-
licheren . Jargon einer wissen-
schaftlichen Terminologie einzu-
tauschen. Arrae Epigonen, die
sich den Kriterien der Gegner
unterwerfen. Was wiirde man von
einem Reichswehrminister sagen,
der seinen Etat nach den Wiin-
schen der Pazifisten einrichtet?
Die Stimme des Volkes wiirde ihn
verriickt nennen, wahrend man von
den Vertretern des Gkkultismus
und der verwandten Kunste ge-
rade das sagen mufi, was. niemals
von ihnen' gesagt werden dtirfte,
daB sie namlich verminftig sind.
Beim grofien Cagliostro, wir ha-
ben ein Recht auf Hokuspokus
und kein Dozent der Parapsycho-
logie soil es uns rauben,
Woher kommt nur der Verfall
des Zauberns? Eine AuBerung des
Hellsehers Erik Hanussen scheint
die Erklarung zu geben. „Ich bin,"
sagt er sachlich und humorlos,
„vereidigter gerichtlicher Sacbver-
standiger und werde auch von den
Behorden meiner Heimat als Wis-
senscnaftler anerkannt." Es ist
erreicht Der Telepath ist Beam-
ter. Vielleicht ist er pensions-
berechtigt. Intuition als Bureau-
kratie mit andern Mitteln, Der
Hellseher hebt die Gesetze der
Physik auf, um den Gesetzen des
Staates Geltung zu verschaffen.
Er ist gleichzeitig illegal und le-
gal, was bisher nur dem Herrn
des Braunen Hauses in Miinchen
gelungen ist. Was soil man von
Zauberern halten, die alle bis
j etzt bekannten Weltbilder zer-
triimmern und dabei keine aus-
schweifendere Ambition haben, als
niitzliche Mitglieder der bestehen-
de Gesellschaft zu werden, Lieb-
haber der schwarzen Kunste,
wahrt eure heiligsten Giiter und
grundet einen Verein gegen die
staatliche Bewirtschaftung der
</«/•
In. Lo»d ^ *££« 100 M„v, hl„ g.M „ (.Ml und „,.„.!.- »lt ...or Abd»llo-Ct9<«H. I
C«_.danl . O'M. u. Gold S<0d< * "••
&£«. :::::: £* .. **m ** .«..
Vlrgtalo Hr. 7 .... o/M. . . |«* » JJf-
EgrFtlaii Nr. U .... o/M. u. Gold Slock •• W».
Abdulla-Cigareffen genieften Welfruff
AMiilfa * Co. Ka>r» / london / Berlin
272
ZaubereL Ware die Nekromantie
im alten Palastina Staatsmonopol
und die Hexe von Endor Beam-
tin mit Gehaltsanspruchen und
wohlerworbenen Rechten gewesen,
so hatte sie kaum den Mut ge-
habt, dem Inhaber der Staats-
gewalt unerfreuliche Wabrheiten
zu sagen. Darum: Freies Zaubern
im freien Staat*
Simplex
Volkskunst
31. August 1867
(aui ,Die Strafie'}
1UT eines Eracbtens kann die
*** Kunst die Geschicke eines
Volkes lenken. Sie gibt souve-
ran die Richtung an fur die Ge-
fuhle, von denen die verdienten
Niederlagen oder die gerechten
Siege abhangen. Jene, die sicb
mit den geistigen Dingen be-
schaftigen, haben die Pflicht und
die Macht, ein freies Volk zu
bilden, Aber die heutige Kunst
ist weit davon entfernt!
Sie ist auf ihre Weise noch
aristokratisch, Veranstalterin von
Zereraonien, Sklavin Seiner Eti-
kette, die ebenso krankend fur
die Unwissenheit der Masse wie
fur den Charakter des Kunstlers
ist. Auf alien Seiten werden
bestandig die Worte Gleicbheit
und Unabhangigkeit gefaselt, aber
sogar jenet die sie im Munde fiih-
ren, haben Jteine Ahnung von
Einfachheit oder Gerechtigkeit.
Sie wollen sich immer den An-
schein geben, von oben herab zu
sprechen und stellen sich uber
die Masse und nicht in die Masse
hinein, wenn sie das Volk beleh-
ren wollen. Wahrend doch das
arme Volk, in den Stunden der
Verwirrung, fur die Eroberung
der Freiheit alles hergegeben hat,
was es geben konnte, drei Mo-
nate- des El ends und viel Blut,
Die Herren vom Geistesadel ha*
ben aber nichts gegeben, gar
nichts, und es ist klaglich zu
sehen, wie sehr im Geist und im
Werk der Literaten und Ktinstw
lert welche die Zeitgenossen die*
ser denkwiirdigen Kampfe warent
tiefe Spuren unfruchtbarer Eitel-
keit und straflicher Schiichtern-
heit eingegraben sind!
Die einen lecken den GroBen
die FuBe, sie wollen hier eineri
Orden, dort einen Preis, zuletzt
ein Kreuz.
Die andern fiihlen wohl, daB
sie nur Schiiler oder Plagiat-
schmierer sind, aber sie wagen
nicht — aus Angst, sich lacher-
lich zu machen . . . oder weil sie
hungern! — mit den Gewohnhei-
ten der Zunft zu brechen und die
Formen zu zertrummern, um
nicht den Anschein zu erwecken,
sie werfen die Fensterscheiben
ein. Sie trauen ihrem Magen oder
auch ihrem Kopf nicht geniigend,
um ihre Kette zu zerbrechen und
als Wolfe zu leben!
Sie bleiben Schiiler, selbst dann,
wenn sie schon weiBe Barte ha-
ben. Sie haben das Mai der
klassischen Bildung und tragen
es auf ihre Weise zur Schau, sie
vergessen es nicht und wollen
auch, daB die andern es nicht
vergessen, daB sie die hohere
Schule absolviert und gelernt ha-
ben, was die andern nicht wis-
sen. Sie iiberlaufen zwar nicht
grade die Wartezimmer, aber sie
sind die Sklaven der Tradition*
Oberall ist nur Nachahmung,
geistiger Diebstahl, Plagiat, also
das Gegenteil von Freiheit. Selbst
jene, die Verdienst und Oberzeu-
gung haben, lassen der Mensch-
heit nichts davon zukommen.
HANNS GOBSCH
WAHN-EUROPA 1934
Eine Vision, ein Ruf zu Beslnnung und Umkehr. Es
geht in diesem spannenden Roman um Probleme,
die gegenwartig alle Welt in Atem halten. Nur wenn
die Gesinnung dieses Buches in alien Landem die
Oberhand gewlnnt, Konnen noch In letzter Stunde
vernichtende Katastrophen abgewendet I QA BU
werden. 348 Seiten. Ganzlelnenband V|OU nil*
FACKELREITER-VERLAG,HAMBURG-BERGEDORF
273
Wenn sie den Kopf bewegen,
90 schauen sie immer nur hinter
sich.
Sowohl Mystiker wie Mythiker
— - alle, ja, alle! Jene, die sich
Freidenker ncnnen, reden, predi-
gen und baucn Altar gegen Altar,
anstatt cinfach die menschliche
Freiheit zu bestatigen, Wenn sie
«in Dogma leugnen, so verkiindi-
gen sie daftir ein andrcs. Jeden-
falls reden sie eine Sprache, von
welcher der gewohnliche Sterb-
liche nichts versteht, und die sie
selber, glaube ich, nicht immer
verstehen! Sie sagen wohl, sie
sehen klar, aber das hat der
Truthahn in der Fabel auch ge-
sagt.
Die Litcratur, die Kunste, die
Poesie, die Malerei, die Bildhaue-
rei halten sich noch immer im
Altertum und im Mittelalter auf,
eskortiert von einer Menge von
Ungeheuern: Gottern, Wahrsa-
gern, Engeln.
Unter dem Vorwande, daB es
einen Olymp und ein Paradies
gab, zeichnet man noch immer
mit Tinte oder Ol Heiligen- und
Glorienscheine um die Stirnen,
befestigt Flxigel an den marmor-
nen Schultern, sieht nur Heilige
oder Helden, Abbilder des Glau-
bens und Spuren der Tradition.
Die Gegenwart schleppt dieVer-
gangenheit an ihre Fersen gehef-
tet mit sich wie einen Leichnam,
dessen Last sie niederdruckt.
Es handelt sich da rum, das
Leben, und nicht den Tod zu stu-
dieren, vorwarts zu schauen und
nicht zuriick oder nach oben.
Man will in den Wolken lesen
und man rollt in den Abgrund.
Ich verlange, da6 man sich den
Schauspielen der Erde zuwende
und nicht den Versuch mashe,
die Tiefe des Himmels zu erken-
nen. Ich ziehe der interpretier-
ten Geschichte oder dem Glau-
ben, der interpretiert werdensoll,
die lebendigen und wahren Ge-
mutsbewegungen der Wirklich-
keit vor.
Jutes Valtes
Deutsch ven Lina Frender
„Sein Liedchen
blast der Postillion . . ."
T:h Hebe den Postilion. Ich lie-
A be auch das Liedchen, das er
blast, Schade nur, daB er nicht
merkt, daB sein Instrument ver-
stopft ist.
Ich kam nach Miinchen (in je-
der andern deutschen Stadt ware
es mir aber, wie ich nachtraglich
erfuhr, genau so ergangen) und
wollte, alter Gewohnheit gemafi,
ein Postfach mieten* das fur mich
bei der Ausubung meines Berufs
eine bedeutende Erleichterung
und Vereinfachung, eigentlich
eine Notwendigkeit ist. Ich ver-
suchte es vergebens; und es er-
wies sich wieder einmal, daB
Dinge, die sich in andern Lan-
dern nicht schwerer vollziehen als
ein Zigaretteneinkauf oder eine
Taxifahrt, bei uns noch immer
mit dem Gewicht einer Haupt-
und Staatsaktion ablaufen.
Zwei Jahre werde ich zunachst
auf ein SchlieBfach warten miis-
sen, dann bekomme ich . . . zwar
noch immer keins aber wenigstens
ein Anrecht darauf. Und mit mir
warten alle die, die noch nicht
zwei Jahre in Miinchen ansassig
sind. Es ist eine stattliche An-
zahl, die sich da zusammenfindet,
und sie wachst taglich. Wenig-
stens versicherte es der Beamte.
Nicht so die Anzahl der Schliefi-
facher, die in Miinchen zur Ver-
fiigung steht und die klein ist.
Auf den naheliegenden Gedan-
B6 Yin Ra
bemtiht sich, alles Mysteriose von seiner Personlichkeit fernzuhalten. Um
so mehr bezeugt sich sein Leben und Wirken als Ausdruck geheimnisvoller
Krafte. EinJiihrungsschrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin kostenlos in
jeder Buchhandlung zu beziehen, sowie vom Verlag: Kober'sche Verlags-
buchhandlung, Basel und Leipzig,
274
ken, der Nachfrage entgegenzu-
komraen und neue SchlieCfacher
zu errichten (in den raumlich
nicht ausgenutzten Vorhallen, in
Korridoren, wenig benutzten Zim-
mern, wie das in andern Stadten
geschieht) , ist in diesem Ge-
schaft, dessen Kundschaft keine
Konkurrenz wegschnappen darf
(sonst wird sie bestraft), noch
niemand gekommen, Ich fragte
zweimal danach; und zweimal
blieb meine Frage unbeantwortet.
Ihrem technischen Fehler ge-
sellt die Post einen psycho-. , ,
nein, uberhaupt einen logischen.
Ich erklartc, warum ich ein Post-
fach brauche: dafl ich von Berufs
wegen nicht mit jedem moblierten
Zimmer meine Adresse andern
kann; und man wechselt als Un-
termieter die Wohnung ja ofter,
und das kaum aus Obermut.
Meine Erklarung machte meine
Aussichten vollends zu nichte.
„Ein Postfach bekommen Sie nur
hei dem fur Ihre Wohnung zu-
standigen Postamt" Ich ware
also an einen Stadtteil gebunden,
bekame kein Postfach im Zen-
trum, wenn ich im Vorort wohnte,
ginge meines Postfachs verlustig,
wenn ich in einen andern Vorort
zoge . , . Und: „Wir konnen doch
unsern Postfachmietern nicht un-
unterbrochen nachlaufen." Eine
Bemerkung, die sich auf das Be-
zahlen der Miete und die Zu-
stellung von Telegrammen und
Eilbriefen bezog. „Wir konnen
nicht", schien mir of fen gestanden .
und leider das Motto dieser Ab-
teilung der Post zu sein, Warum
solche Unterschatzung der eignen
. Fahigkeiten? Wenn es die Post-
institute andrer Lander konnen?
Auf zwei Postamtern in Italien
bekam ich ohne weiteres und
ohne jede Hemmung ein SchlieB-
fach eingeraumt. Ich bekam in
Pragf obwohl ich abseits wohnte
und bei einem andern Postamt
nzustandig" und obendrein „feind-
licher" Auslander war, ein
SchlieBfach auf der Hauptpost.
In Prag bekam ich allerdings
auch einen Stuhl angeboten, als
ich mit dem Beamten sprach. Den
hiesigen muBte ich vor leeren
Stuhlen stehend mit meinem An-
liegen behelligen und, um verste-
hen zu konnen, was er sagte, aus
einem schreibmaschinendurchtrom-
melten Gemach erst in ein stille-
res bitten, statt dafi er mich bat.
Es ist nicht wichtig, nur verstim-
mend und erscheint in der Ver-
stimmung leicht symptomatisch . . .
Ich spreche meine Erfahrung
vor allem darum offentlich aus,
weil der Beamte, mit dem ich ver-
handelte, seine Auskunft und Ab-
lehnung als definitiv und ein Ge-
such an eine vorgesetzte Stelle
als aussichtslos bezeichnete. -
Ossip Kalenter
Zur Obung
Einer schriftlichen Aufforderung
leistete die Schiederer aber
keine Folge. Es wurde deshalb
nach einigen Tagen ein Polizeibe-
amter in ihre Wohnung geschickt,
um sie vorzufiihren. Als er in
die Wohnung EinlaB gefunden
hatte und der Schiederer von
ihrer Hauswirtin der Zweck sei-
nes Kommens durch die Ture ge-
sagt worden war, versperrte diese
die Ture ihres Zimmers und off-
nete sie erst auf nochmalige Auf-
forderung. Sie stand nackt im
Zimmer und sagte spottisch zu
dem Beamten: So, Herr Wacht-
meister, jetzt konnen Sie mich
auf die Polizeiwache bringen.
tDie Bayerische Potizei', Heft 1,
* 5. Jahrgang, Vbun&sieit
und Sprachecke.
Xeine (flJK. IOO.- Jtusreisc-Gebiiftrl
Cfkne £>eri$en in die datwal
20 Tage RM. 190,-
30Tage RM.255,-
Haas Godal, Lubochna.
mit Kur und Badearzt 55,— RM. mehr,
Inklnstve: Belse hiii u. znrUck,
erstkl.Verpflegung,Kurtaxe,Bedienuiig.
All© Zimmer lliefi. warm. u. kalt. Wasser.
Auskunft: Western! 6739
275
Voiksentscheid
r\ er Ehrenprasident des Stahl-
*-^ helms, Paul von Hindenburg,
bittet uns, mitzuteilen, dafi er mit
dem Reichsprasidenten Paul von
Hindenburg nicht identisch ist.
Im Aquarium in Berlin
A us tiefster Nacht alles Grauen
** Im Funkel kindlicher Fern-
seligkeit.
Deine eigenen Augen schauen
Dich an durch tausendjahrige Zeit,
Zwischen atmendem Stein ' und
Mimose
Wandert und wundert, ohne.Schrei,
Ohne Klage, das nicht seelen-
lose
Nur seelenblinde Vorbei.
Auch dein Herz ist stehengeblieben
Und lauscht — du merkst es
nicht —
Auf etwas, was nie geschrieben
Ist und was keiner spricht.
Joachim Ringelnatz
Liebe WeltbOhne!
^"IJrete Walfisch erzahlt:
^* Die Thurgauer — ganz recht,
die in der Schweiz — haben den
Ruf, es mit dem Eigentum nicht
immer so scharf zu halten.
Ein Thurgauer fahrt mit einem
Fremden durch seine Heimat. Es
wird Dammerung, da sagt der
Thurgauer und zeigt aus dem
Fenster: nDa, sehn Sie mal —
das ist mein Heimatsort!" - —
Der andre sieht einmal, sieht
zweimal: „Ja . . , Heimatort . . -
wieso Heimatort? Da ist doch
gar nichts. Da sind doch gar
keine Hauserl" — MJa," sagt der
Thurgauer. ,, Abends nehmen
wir sie rein — !"
Erklarung
T\ er Schutzverband Deutscher
*~* Schriftsteller hat zu der Not-
verordnung (iber die Presse eine
Kundgebung erlassen, in der es
heifit:
„Der SDS. verkennt nicht, dafi
in einer Notzeit j ede Regierung
die Moglichkeit haben muB, fal-
schen und den Bestand des Vol-
kes gefahrdenden Nachrichten
selbst mit dem Mittel des Publi-
kationszwanges entgegenzutreten/*
Diese Kundgebung gibt die
Lage nicht richtig wieder,
Durch die Notverordnung iiber
die Presse werden nicht dielnter-
essen des Volkes wahrgenommen.
Es mag sein, dafi der Schutzver-
band Deutscher Schriftsteller
nicht in der Lage ist, in die Op-
position zu gehen — Opposition
gegen Geldgeber gibt es nicht.
Die Kundgebung macht dann
lendenlahm und brav die Regie-
rung darauf aufmerksam, dafi . . -
Ich bin aus dem Schutzverband
Deutscher Schriftsteller ausge-
treten.
Kurt Tucholsky
Hinweise der Redaktion
Rutidfunk
Montflg. Berlin 20.00: Goethe und Frau von Stein, Ernst Bulowa. — Hamburg 17.00:
Bucherborse, Die deutsche Autobiographic, Gesprach mit Robert Walter. — Konigs-
wusterhausen 20.10: Die neue Linie der russischen Wirtschaftspolitik. — Leipzig
18.00: Stunde der Neuerschetnungen, Dr. A. Schirokauer, Sprecherin: Marg. Anton. —
Dienstajr. Munchen 15.40: Das wnechte Geld, O.Maria Graf. — 16.00: Tristan und
Isolde v. Wagner Ltg.: W. Furtwangler. — Mittwoch. Konigswusterhausen 19.40:
Querschnitt durch deutsche Zeitschriften. — Munchen 15.40: Das unechte Geld,
O. Maria Graf (Schluu). — Donnersta?. Berlin 17.30: Fur und wider die Handlese-
kunst, Margot Naval u Axel Hggebrecht. — Konigsberg 1840: Franz Kafka, ein
prager Dichter, Erich Pfeiffer-Belli. — Konigswusterhausen 18.30: GroBe deutsche
Publizisten, Dr, A. M. Wagner. — Muhlacker 18.40: Stunde des Buches. Was nicht
im Baedeker steht, Wolf Zucker. — Freitag. Berlin 18.15: Das neue Buch; Kurt
Tucholsky : SchloB Gripsholm. — W. Schafer j Das Haus mit den drei TGren. Sprecher:
E. Wiechert. — Breslau 21.10: Herr Keinezeit, Horspiel von K. Megerle v. Mtthlfeld
und Karl Schnog. — Konigswusterhausen 21.10: Klavier, Horspiel von Franz War-
schauer u. Gertrud Vermeer. [ Aus Koln.) — Langenberg 18.20: Der WeltauBenhandel
und der deutsche AuBenhandel in der Krise, Dr. Fritz Sternberg. — Muhlacker
18.40: Das Kinderelend in RuBland, Felix Stossinger. — Munchen 18.50: Shake-
speare auf der deutschen Bflhne 1930/31, Dr. E. Stahl. — 20.40: Der Autor liest:
Annette Kolb. — Sonnabend. Breslau 19.30: Prosa und Gedichte v. Richard Dehmel,
Dora Salochin. — Langenberg 16.20: Die Mouche, L. Marcuse.
276
Antworten
Rundfunkhorer. Herr Intendant Doktor Flesch hat vor zwei
Wochen, in Nr. 31 der ,Weltbuhne* auf den Artikel Herbert Connors
iiber die Schlagerclique im Rundfunk geantwortet. .Ich finde, etwas
ironischer als die Sache verdient, „Nun ist zwischen dem 14. und
28. Juli allerhand in der Welt geschehen. Just am Tage des Er-
scheinens der Vorwiirfe des Herrn Connor stellte die Qanatbank
ihre Zahlungen ein, die Krise . , . — es ist nicht notig, das auszu-
fuhren." Es ist nicht notig. Am 14. Juli, neun Uhr zehn, ging
die Welt unter, und damit war Herr Connor desavouiert. „Fiir den
Rundfunk bedeutete das Konzentration auf den Versuch, so eng wie
moglich mil den Geschehnissen in Verbindung zu sein . . . die Schwie-
rigkeiten waren sehr grofl, das Interesse unvermindert bei der Poli-
tik . . ." Das heifit hoffentlich nicht, daft der unterhaltende Teil im
Rundfunk in Zukunft von den Ministern bestritten werden soil.
Der Herr Intendant ist nicht gut beraten, wenn er sich iiber Herrn Con-
nor lustig zu machen und uberhaupt das ganze Thema zu bagatellisieren
versucht. Es kommt auch nicht darauf an, ob Herrn Connor in Ein-
zelheiten kleine Irrtiimer unterlaufen sind, dazu ist das ganze Ge-
biet zu untibersichtlich und die Verfilzung zu weit vorgeschritten.
Es ist auch ganz belanglos, ob die Herren so viel oder etwas we-
niger verdienen. Die Herren Berichtiger, denen sich leider auch
Herr Doktor Flesch angeschlossen hat, der sich in diesem Kreis
wunderlich ausnimmt, ubersehen das. Jedenfalls nahrt dieses undis-
kutable Genre seinen Mann recht ausgiebig. Worauf es uns ankam, das
war, die Kulturschande dieser Schlagerindustrie aufzuzeigen, auf ihre
Methoden hinzuweisen, durch unterirdische Kanale in die verschiedenen
deutschen Sender einzudringen. Ein exaktes Eingehen auf diese
Dinge war nicht moglich. So gute Sauerstoff-Apparate gibt es nicht,
um eine Expedition beherzter Manner studienhalber in diese Kloake
zu schicken. Wir muBten uns auf ein paar Stichproben beschranken.
Wir haben jedenfalls erreicht, was wir wollten: die Schlagerclique
ist in Aufruhr, zahlreiche ernste und kritische Menschen sind auf
ein Gebiet aufmerksam gemacht worden, das sie bisher, teils aus
Mangel an Interesse, teils aus Widerwillen ignoriert hatten. Der
von uns hochgeschatzte Herr Intendant Doktor Flesch wird sich ein
Verdienst erwerben, wenn er der Schlagerpest zu Leibe nickt, was bei
seinen Beziehungen zur besten modernen Musik gewifl nicht unmog-
lich ist.
Hermann Scheibenhoier. Sie schreiben: „Die von Ihnen geleitete
Zeitschrift die ,Weltbuhne' brachte in ihrer Nr. 30 auf Seite 150 die
Angabe, Scheibenhofer verkenne aktive und passive Bestechung;
passive Bestechung sei es, wenn er als Angestellter des Rundfunks, von
dem Verlage Meisel Gelder zur Propagierung seiner Schlager entgegen-
nehme, Diese Angabe ist unrichtig, da ich noch niemals vom Verlage
Meisel Gelder zur Propagierung meiner Schlager erhalten oder an-
genommen habe. Ich ersuche, gema3 § 11 des Gesetzes iiber die
Presse, diese Berichtigung in der nachsten Nummer Ihrer ,Weltbuhne'
zu veroffentlichen."
Hans Koch, Koln- Sie schreiben zu dem Artikel von Professor
Richard Prigge in Nummer 30 der ,Weltbiihne: t,Wenn Herr Pro-
fessor Prigge der Ansicht ist, dafi die heutige Ausiibung der Heil-
kunde durch den approbierten Arzt eben fur den Laien eine zu kom-
plizierte und daher fiir ihn unverstandliche geworden ist, so hat er
damit wohl den Kern der Sache getroffen. Aber die Sachlage ist
doch eine ganz andre. Genau wie wir heute wissen, dafi die
Virchowsche Cellular-Pathologie in vielen Fallen briichig ist, genau
277
wie wir wissen, dafi Radium-Strahlen nicht nur die kranken, son-
dern auch die gesunden Stellen des Organismus verbrennen, wie wir
wissen, dafi nicht jede Operation gut verlaufen kann, genau so
fuhlt der Patient instinktiv, dafi dem heutigen Arzt, das Wesen
Mensch eben f remd geworden ist, dafi Prigge den grundlegenden
Fehler macht, eine Komplizierung der Menschenbehandlung als not-
wendiges Obel gutzuheifien, wogegen es sich in Wirklichkeit nicht
nur um eine Komplizierung, sondern um Technisierung der arzt-
lichen Behandlung dreht, Wahrend Vol hard, Brugsch und auf dem
letzten Internistenkongrefi wieder von Bergmann mit allem Nach-
druck betonten, dafi es keine Krise gabe, kommt grade im richtigen
Augenblick das Referat Aschners, der sich seit mehr als zehn Jah-
ren nachzuweisen bemuht, dafi es nicht die wissenschaftliche Uni-
versitatsmedizin allein ist, die Erfolge verbtirgt. Er weist nach, dafi
viele einfache und gute Heilmittel von der heutigen Medizin brach-
liegen gelassen werden, weil sie nicht in das experimentell-analytisch-
induktiv-rationale iDenken hineinpassen. Denselben Nachweis be-
muht sich auch Bier zu ftihren, der langst erkannt hat, dafi es
aufierhalb der offiziellen Schulmedizin manch gutes Heilmittel gibt,
das angewandt zu werden verdient. Wahrend Prigge den Blick nur
in die Zukunft gerichtet wissen und die Naturheilkunde als etwas
Oberlebtes angesehen haben will, oder, wie er sich ausdruckt, ein
Kampf zwischen der alten und jungen Generation, zeigt Aschner den
richtigern Weg, indem er das Alte mit dem Neuen verbinden will.
Er zeigt, dafi das neue Wissen keine Grundfesten hat und der
Wechsel des heute Guten und morgen Schlechten nie so grofi gewesen
ist wie heute. Er behauptet, dafi das wahre Handwerkszeug des Arz-
tes namlich die empirische klassische humoral-pathologische Therapie
zu neun Zehntel yerlorengegangen ist, Sieht man dies nicht ein,
so wird das Vertrauen des Publikums in die Schulmedizin immer wel-
ter verlorengehen, und das Publikum wird sich immer mehr den ihm
sympathischeren Heilmethoden zuwenden. Dies ist ja eben die Krise
der Medizin, dafi das Publikum keine Sympathie mehr fur diese Art
der Behandlung aufbringen kann. Auch hier befindet sich Prigge in
der irrigen Auffassung, dafi man jeglicher Suggestionstherapie ent-
behren konne. Grade die bedeutende und bewufit tiefe Wirkung der
Suggestionstherapie erleichtert in alien Fallen die Behandlung des
aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachten Patienten, denn dies
ist der Fehler der arztlichen Kunst, dafi sie glaubt, nicht nur zwi-
schen Korper und Seele, sondern auch noch zwischen den einzelnen
Organen unterscheiden zu konnen. Solange das Wort von der Be-
handlung des kranken Menschen nicht noch grofiere Bedeutung ge-
winnt und immer noch die Zerlegung des menschlichen Korpers in
pathologische und gesunde Teile vorgenommen wird, solange wird
auch die Krise in der Medizin nicht aufhoren. — Andrerseits aber
verlangen besondre Zeiten auch besondre Mafinahmen, Wer wollte
leugnen, dafi unsre gegenwartige Zeit mit ihrer ungeheuren Not und
der grofien Masse notleidenden Proletariats auch besondere Zu-
stande erzeuge, die in keinem offiziellen Lehrbuch beriicksichtigt sind."
Manuikripte sind oui an die Redaktion dei WeltbQhne, Cbarlottenbur?. Kanbrtr. 152, xu
rich ten; e* wird ?ebeten. ihnen RGdiporto beizulegen. da sonat keine Ruck»endung erfolyen kann.
Das Aufffihrungsrecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rah men dtm Films, die mustk-
mechanische Wiedergabe ailer Art und die Verwertung im Rahmen von Radiovortrlgen
blelben fOr alle in der Weltbahne erscheinenden BeitrUge ausdr&cktich vorbehalten.
Die Weltb&bne wurde begrundet voo Siegfried jacobsohn und wird von Carl v. Onsietzky
untet Mitwirkung von Kurt Tudiolskv eeleitet — Verantwortlich Carl v. Oisieteky. Berlin;
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278 /
XXVII. Jahrgang 25. August 1931 Natnmer 34
Zll Spat! von Carl v. Ossietzky
p ine amerikanische Nachrichtenagentur verbrcitete vor ein
paar Tagen die Meldung vom AbschluB cines franzosisch-
russischen Nichtangriffspaktes. Die Nachricht war verfriiht,
dean die Verhandlungen sind noch nicht zum Ende gediehen.
Aber der Erfolg ist kaum mehr bezweif el/bar, nachdem sich
beide Machte bei den Beratungen iiber einen Handeisvertrag
entschieden nahergekommen sind. Seit einiger Zeit findet die
moskauer Presse wieder freundlichere Worfe fur Frankreich,
und im Hint ergr und steht noch ein gleiches Abkommen zwi-
schen RuBland and Polen, von dem man bald horen wird.
Wir haben die Bedeutung solcher Pakte niemals iiber-
schatzt, Sie schaffen den Krieg nicht aus der Welt( wohl aber
legen sie niitzliche Hemmungen in das Unheilswerk der
Schwertpolitiker. Zum minde-sten sanieren sie fiir eine be-
stimmte Phase die Beziehungen zwischen zwei Machten, sie
geben den Vertragspartnern wehigstens voriibergehend Frei-
heit, sich im Guten oder Schlimmen andern Aufgaben zuzu-
wenden als der Kultivierung einer alt en Feindschaft, Der Um-
gangston zwischen Paris und Moskau war ausgesprochen
schlecht. Nirgendwo war die Bolschewikenfurcht arger als in
Frankreich. Nirgendwo benahm sich die Presse, auch die
offiziose, unhoflicher gegen die diplomatischen Vertreter der
Sowjets. Das hat die Herren im Kremi nicht daran gehindert,
erst die engere wirtschaftliche Verkniiprung, dann eine Besse-
rung des politischen Verhaltnisses zu versuchen. Daran konnte
sie nicht der Skandal um Kutjepow, nicht die Hetze. gegen den
Botschafter Dowgalewski hindern. Denn die russische AuBen-
politik zeichnet sich bei der Wahrnehmung der eignen Inter-
essen durch eine glasklare Verniinftigkeit aus. Sie gleicht darin
durchaus der franzosischen AuBenpolitik, deren logische Folge-
richtigkeit in Deutschland so oft verkannt wird. Sie beide, die
russische und die franzosische Politik, vertreten den gleichen
sublimierten Egoismus; sie drapieren sich beide ideologisch und
menschheitlich: die eine sagt ,,Europa", die andre ffdie Re-
volution".
Die deutsche Presse, die sonst das Grasv der Diplomatic
immer wachsen hort, widmet den franzosisch-russischen Ver-
handlungen keine langen Betrachtungen. Sie beschrankt sich
auf trockene Registrierung. Solche Schweigsamkeit laBt sich
leicht erklaren. Dieser Vertrag bedeutet den Totenschein
unsres „auBenpolitischen Aktivismus", die Paraphe darunter
sein Grabkreuz. Denn die Revisionskampagne, die mit der
Aera Brtining aufkam, beruhte auf der Voraussetzung, daB die
Feindschaft zwischen Paris und Moskau weder gesinnungsmafiig
noch technisch zu uberbriicken ware, daB RuBland dem
Europa versailler Konstruktion in ewiger Ablehnung gegen-
uberstehen wiirde. So iibernahm man Kiplings beriihmtes
Wort Meast is east, and west is west" kritiklos in ein ganz
1 279
andres Klima, man bautc darauf eine Politik und wie das hier
landesiiblich ist, gleich cine fertige Weltanschauung, Man hielt
es fiir selbstverstandlich, daB RuBland nicht zogern werde, sich
mit einein revanchesuchenden fascistischen Deutschland gcgen
die kapitalistischc Demokratie Frankreichs zu verbunden; zum
mind est en rechnete man auf eine schadenfrohe Neutrality der
Russen bei einer kleinen Regulierung der Ostgrenzen. Die
russisch-franzosische Feindschaft, das ist der groBe Glaubens-
satz der Nationalisten aller Farben. Davon lebt der alte Na-
tionalismus von Hugenberg und Seeckt ebenso wie der neue
Nationalisms von Jiinger und Schauwecker und der rote Na-
tionalismus des Leutnants Scheringer.
Die Herren kommen zu spat! Die beiden Staaten, die im
Laufe des Jahres 1918 ihre Erbfeindschaft entdeckten, sind
drauf und dran, eine wohltatige Erholungspause elnzulegen.
Und die franzosische AuBenpolitik erteilt der Wilhelm-StraBe
nock eine ganz besondere Lektion, indem sie die Kredit-
schwierigkeiten Ungarns benutzt, um in diese Zitadelle des Re-
visionismus Bresche zu schlagen. Das jetzt in argsten Finanz-
noten zusammengebrochene Regime des Grafen Bethien stellte
gewiB niemals eine ernste Verneinung der Vertrage dar- Aber
fiir die deutschen Nationalisten! bedeutete es mit seinem italie-
nischen Biindnis, mit seinem sturen Chauvinismus, niit seiner
permanenten GroBmauligkeit und seinen gelegentlichen Geld-
ialschungen gradezu das Musterbild einer Staatsordnung, in der
die nationale Idee das Erste und das Letzte ist Nun erweitert
Frankreich seinen EinfluB im Sudosten; AnschluB und Zoll-
union werden damit utopische Begriffe. Der deutschen AuBen-
politik wird aber jetzt, nach der Romreise des Kanzlers, sehr
handgreiflich demonstriert, daB die Freundschaft mit Mussolini
den Bankrott nicht verhindern kann. Die grofite Blamage klebt
am Auswartigen Amt, das jahrelang die Regierung Bethien als
starke Alliierte und groBe Zukunftschance betrachtet hat. Das
Auswartige Amt hat seit den Tagen, wo der Staatssekretar
Zimmermann den Weltkrieg mit Hilfe Mexikos gewinnen
wollte, eine besondere Vorliebe fiir Nieten. Hier zeigte sich
das wieder sehr deutlich.
Der Aktivismus hat also die besten Friichte getragen.
Wenn Herr Laval demnachst nach Berlin kommt, wird er
Deutschland in volliger Isolierung vorfinden. Man hat von
einer Schutzengrabengemeinschaft mit RuBland gefaselt, man
hat iiber eiriem gelegentlichen diplomatisch-militarischen Tech-
telmechtel in Moskau die Verstandigung mit Frankreich ver-
saumt und dabei nicht einmal das Vertrauen RuBlands erwor-
ben. Man hat gemeinsam mit dem russischen Kommunismus
die t(Ketten von Versailles" brechen wollen und zu diesem
Zweck zunachst einmal die deutschen, Kommunisten in Ketten
gelegt. Deutschland behalt in Moskau keinen andern Ruf als
den, das gelobte Land der Kommunistenverfolgungen, der
Zuchthausurteile zu sein. Eiri Traum ist zu Ende. Die Drohung
mit RuBland lost sich in Dunst auf, der ungarische Bluff zer-
platzt. Es ist unter diesen Umstanden kein Wunder, daB man
jetzt, wo es tagt, die kiinstliche Beleuchtung verstarkt und daB
von ailed em in der groBen, Presse kein Wort zu lesen ist,
280
PaX bHtanniCa von Felix StOssinger
T\ as deutschc Volk hat seit acht Wochcn reichlich Gelegen-
heit gehabt, die entscheidenden Fragen der deutschen und
europaischen AuBenpoIitik kcnnenzulerncn. Wenn die uber-
deutliche Sprache und die Logik der Ereignisse noch nicht
ausgereicht haben, selbst die fuhrende Schicht der Nation, die
die auBenpblitischen Geschafte leitet, endgiiltig zur Besinnung
zu bringen, so beweist dies wiederum, wie wenig Argumente
der Logik und wie viel Vorurteile und Oberzeugungen im Le-
ben austnachen. Das deprimierende Ergebnis der londoner
Konferenz hat nicht verhindert, die britischen Minister in Ber-
lin als echte Freunde Deutschlands, ja sogar als seine Heifer
zu begruBen. Die deprimierenden Ergebnisse der berliner Kon-
ferenz und des Laytonberichts haben den angelsachsischen
EinfluB in Berlin keinewegs geschwacht, im Gegenteil von
neuem gefestigt.
Diejenigen, die glauben, daB AuBenpoIitik eine Betatigung
ist, die einige Male im Jahre ausgeiibt wird, Iehnen sich noch
immer gegen die Feststellung auf, daB die englische AuBen-
poIitik ununterbrochen, mit hochster Aktivitat, die direkte
deutsch-franzosische Verstandigung unterbindet, die, wie jeder
politisch gebildete Franzose und Englander w#eifi, zu einer
deutsch-franzosischen Wirtschafts- und Schicksalsgemeinschaft
fiihren muB. Es ist daher fur eine AuBenpoIitik von der In-
tensitat und Schlagfertigkeit der englischen selbstverstandlich,.
dafi sie mit hochster Wachsamkeit die Ereignisse verhindert,
die eine fur England nicht erwunschte politische Konstellation
auf dem Kontinent herbeifuhren konnten. Kaum war es dem
Foreign Office gelungen, die deutsch-franzosischen Be-
sprechungen nach London zu bringen, um sie dort besser iiber-
wachen zu konnen, kaum hat die londoner Konferenz ihr
Ziel erreicht, Vermittler zwischen Deutschland und Frank-
reich zu sein und neue Differenzen zwischen Deutschland
und Frankreich zu schaffen, die wiederum dem englischen
Schiedsrichteramt neue Auftrage zufiihren, setzt die englische
Politik neue Bedingungen, Forderungen oder angebliche Hilfs-
aktionen fur Deutschland in die Welt, die iiberhau.pt keinen
andern Sinn haben konnen, als die direkte deutsch-franzosische
Verstandigung zu vereiteln. Die englische Politik weiB ganz
genau, daB jede deutsche Regierung es hollisch schwer hat,
das deutsche Volk von seiner aufgepeitschten Feindschaft ge-
gen Frankreich zu befreien, und daB nur eine unendlich miih-
same und diffizile Politik der deutschen Nation eine neue
auBenpolitische Idee begreiflich machen kann. Das deutsche
Volk muB verstehen, daB alle, aber auch alle Ziele der soge-
nannten revisionistischen AuBenpoIitik Bagatellen sind, gegen-
uber den groBen, fast unermeBlichen Vorteilen, die Deutsch-
land aus einer Kooperation mit Frankreich organisch erwach-
sen. Wenn uns trotzdem in diesen Wochen England und
Amerika mit Vorschlagen trosten und zu Planen verfiihren,
die eine Kampfstellung gegen Frankreich in sich schliefien,
so bedeutet da* objektiv eine Aufpeitschung Deutschlands ge-
281
gen Frankreich in dem Augenblick, in dem sich Dcutschland
mit Frankreich versohnen will und muB.
Es ist von verschiedenen Seitcn gegen diese Auffassung
dcr englischen Politik eingewendet wordcn, daB mcinc Partei-
freundc MacDonald und Henderson in Paris, in London, in
Berlin Deutschland zur Verstandigung mit Frankreich ermahnt
haben. Das ist tatsachlich der Fall. Und iiberzeugten Sozia-
listen wie MacDonald und Henderson wird niemand unter-
schieben wollen, daB sie Deutschland von einer Verstandi-
gung mit Frankreich abraten. MacDonald und Henderson ha-
ben aber nicht nur Deutschland zu dieser Verstandigung mit
Frankreich geraten, sondern auch gleichzeitig unermiidlich ver-
sichert, daB diese Verstandigung nur unter englischer Kontrolle
und durch englische Vermittlung erfolgen diirfe. Hier voll-
zieht sich eben unbewufit der Umschlag eines schemenhaften
Internationalismus in den britischen Imperialismus. Die fran-
zosische Politik weifi auf Grund Jahrhuriderte alter,
und seit 1918 grtindlich erneuerter Erfahrung, daB
England bei der deutsch-franzosischen Verstandigung da-
bei sein will, um zu verhindern, daB diese Verstan-
digung allzu groBe Dimensionen annimmt. Die , Times'
haben Mitte Juli richtig bemerkt, daB die franzosische Regie-
rung die Verstandigung mit Deutschland als Sache der beiden
Nachbarlander ansieht, die die Einmischung einer dritten Par;
tei nicht zulaBt Sehr hiibsch hat aber der .Figaro' vom
29. Juli Englands Liebe zu Deutschland charakterisiert. Eng-
land liebt Deutschland so sehr, dafi es gradezu eifersuchtig ist,
wenn Deutschland sich mit Frankreich allein unterhalt. Es kann
vor iibergroBer Liebe gradezu nicht ertragen, daB deutsche
und franzosische Minister sich fern von England und ohne
"England verstandigen.
Es ist auch klar, was die englischen Minister dazu treibt,
einer deutsch-franzosischen Verstandigung beizuwohnen. Sie
benutzen solche Anlasse, um den Franzosen deutsche Ge-
schenke anzubieten, an denen Frankreich nicht das Mindeste
Hegt, und die Deutschen vor franzosischen Bedingungen zu
schiitzen, die zu stellen Frankreich auch nicht im Traume bei-
kommt. Ich habe schon in der ,Weltbuhne* vom 28. Juli in
meinem Artikel Der englische DolchstoB nachgewiesen, daB
die angeblichen franzosischen Hauptbedingungen: Einstellung
der Kreuzerbauten und Liquidierung der Zollunion mit Oester-
reich, englische Forderungen sind, die zuerst vom ,DaiIy
Herald' und den fTimes' offentlich aufgestellt worden sind. In-
zwischen habe ich noch feststellen konnen, daB alle grofien
pariser Zeitungen bereits dreiTage vor ,Daily Herald* und ,Times',
namlich am 6. Juli, ein berliner Havas-Telegramm veroffent-
licht haben, in dem es heiBt, daB die englische Regierung die
Initiative ergriffen habe, Deutschland zur Aufgabe des
Kreuzerbaus und der Zollunion zu bestimmen. Die britische
Botschaft in Berlin hat bereits vor dem 5. Juli im Auftrage
Hendersons diese Anregungen der deutschen Regierung tiber-
mittelt. Wurde nun Deutschland diese Anregungen befolgen,
so wiirden sie Frankreich keineswegs befriedigen. Frankreich
282
stande dann wiedcr am Pranger dcr deutschen Offentlichkeit als
unersattlicher . Erpresser. Waren aber dicse englischen ..for-
derungen" wirklich so crnst gemeint, wie sic cs nicht sind,
dann wiirde Deutschland wahrhaftig nicht zogcrn, sic zu er-
fiillen, Einc cnglischc Fordcrung hat Dcutschland stets nur
dann abgelehnt, wenn es sich von England versichert glaubte,
sic nicht annehmen zu sollen. So ist es iibrigens jctzt auch
mit der angeblich von England, gewiinschten deutsch-franzosi-
schen Verstandigung. Wenn England sie ernsthaf t wollte, ware
der deutsch-franzosische Akkord in drei Wochen fertig. Das
ware denn wirklich sonst der erste englischc Wunsch, den
Deutschland nicht erfullte.
Auch das politische Fiinfjahresmoratorium, von dem seit
einigen Wochen wieder die Rede ist, erweist sich ohne weiteres
als ein englisches Projekt. Akzeptiert Deutschland das Mora-
torium, so werden eben die deutsch-franzosischen Differenzen
auf weitere fiinf Jahre konserviert, wahrend es sich allein dar-
um handcln kann, sie aufzuheben und in ciner hohern Gemein-
schaft zu kompensieren, Frankreich wiirde dadurch nicht be-
friedigt; Deutschland wiirde, zu seinem eignen Nutzen, mit
Frankreich nicht wirklich vereint werden.
Seit Monaten ist die Gefahr der deutsch-franzosischen
Verstandigung fiir England wesentlich gewachsen. Wie immer
tritt auf dem Hohepunkt ciner englischen Krise Amcrika als
Heifer Englands, als machtiger Partner der angelsachsischen
Welthcrrschaft in Funktion, Der erste Hoover-Plan hat
Deutschland zweifellos geniitzt. Wie jeder englisch-amerika-
nische Plan warer aber organisch mit einer wenigstens voriiber-
gehenden neuen Storung der deutsch-franzosischen Beziehun-
gen verbunden. Auch hier, wie so oft, war Deutschland angel-
sachsischer als die Angelsachsen, und es muBte von der eng-
lischen Presse in Ziigel gehalten werden- Die angelsachsische
Politik liebt uniibersichtliche Krafteverteilung, und nichts ist
ihr peinlicher, als wenn ' Deutschland, bar aller Finessen fiir
Intrigen groBen Stils, poltronhaft auftritt, Wenn in solchen
Augenblicken die Angelsachsen Deutschland verwarnen, ist
das durchaus ernst zu nehmen, Der zweite Hooverplan, der
uns cinen grofien Kredit bringen sollte, erwies sich schnell als
Phantasie, die nur in der deutschen Presse in groBer Druck-
aufmachung erschien, Der dritte Hooverplan wahrend dcr lon-
doner Konferenz verhinderte planmaBig die deutsch-franzo-
sische Verstandigung, die nach London hatte erfolgen konnen,
und zerfiel in Nichts. Und nun, nachdem alle englischen und
amerikanischen Plane weder Geld nach Dcutschland bringen,
noch die bedrohliche Lage des englischen Geldmarktes ver-
hiillen konnten, treten Amerika und England wieder mit Pla-
rien auf, bestimmt, die deutsch-franzosische Verstandigung zu
verhindern, Illusionen einer deutschen Provinzialpolitik zu er-
halten und Frankreich/ wie man es nennt, zu ,,isolicren' Ob-
wohl Deutschland nun wissen konnte, daB Frankreich eine
Isolicrung von England und Amerika /leichter ertragen kann
als Umgekehrt, haberi doch alle diese Plane nuralizu g.ute
Aussiehten. in Deutschland Eindruck: zu machen, Wieder isi
2 m
es die angelsachsische Presse, die in diesen Wochcn cincr
Wende der deutschen Politik cine gradezu ruchlose revisioni-
stische Kampagne gegen Frankreich betreibt. DaB eine Re-
vision des Versailler Vertrages niemals eine Revision der eng-
lischen Beute bedeutet, ist selbstverstandlich. Das ist seit
zwolf Jahren nicht anders. MacDonald hat in Berlin, Borah in
Washington liber eine Revision des Versailler Vertrags ge-
sprochen, Es gibt gewiB niemanden, der den Versailler Ver-
trag auirecht erhalten will. Es gibt aber fur Deutschland kein
andres Mittel, den Versailler Vertrag zu revidieren, als durch
seine innere Oberwindung kraft einer deutsch-franzosischen
Gemeinschaft. Die Revision, die die Englander verlangen, so
als ob sie die Macht hatten, gegen den Willen Frankreichs
auch nur einen einzigen Stein auf dem europaischen Kontinent
zu verschieben, die ist es grade, die den Versailler Vertrag
verhartet und- verewigt. Die deutsch-franzosische Koopera-
tion ist unendlich revisionistischer als alle angelsachsischen
Aktionen gegen Versailles zusammengenommen.
Wann immer eine deutsch-franzosische Verstandigung sich
anbahnt, bieten uns die Angelsachsen ihre Hilfe gegen die Re-
parationen an. Wir wis sen sehr wohl, was damit ge-
meint ist. Die Reparationen, die Frankreich empfangt, also
20 Prozent des Young-Plans, sollen abgeschafft, die restlichen
80 Prozent Kriegstribute an die amerikanischen Kriegsgewinn-
ler sollen aufrecht erhalten werden. Der amerikanische Plan,
durch Obertragung eines Teils der deutschen Industrie an
Amerika in Obligationen die Tribute an die Kriegsgewinnler
abzulosen, das heiBt ehdgiiltig zu bezahlen, enthiillt die Bedeu-
tung dieser Aktion. Amerika weiB, daB eine deutsch-franzo-
sische Kooperation uber kurz oder lang zu einer Aufhebung der
europaischen Tribute an Amerika fiihren wird, England weiB,
daB die deutsch-franzosische Kooperation sich liber die echten
Reparationen sehr schnell einigen, sie namlich in Sachliefe-
rungen verwandeln wird. Die neuen angelsachsischen An-
griffe gegen den Young-Plan laufen daraus hinaus, diese Ver-
standigung mit Frankreich und die Abschiittelung der Tribute
an Amerika zu verhindern. Eine angelsachsisch inspirierte
Diskussion daruber, ob Deutschland die wirklichen Kriegs-
schaden schon bezahlt hat oder nicht, ist prompt im besten
Ziige! Von den wahrhaft fetten Profiten der amerikanischen
Kriegsgewinnler ist naturlich nicht die Rede.
Auch der amerikanische Plan eines groBziigigen
Dumpings von Baumwolle und Getreide nach Europa,
ist absolut antieuropaisch- Die europaische Sanierung
kann nur durch Sanierung des europaischen Kontinents
erfolgen, Noch immer, und immer mehr, ist der euro-
paische Kontinent der Hauptkunde Deutschlands. Wie lacher-
tich gering ist dafleben die Bedeutung des deutschen Handels
mit Amerika. Im Jahre 1925 betrug die deutsche Ausfuhr
nach Europa ,73 Prozent, nach Amerika nur ein Zehntel da-
vonf namlich 7,4 Prozent. Im Jahre 1930 fuhrte Deutschland
nach Europa ftir 12 Milliarden aus, nach Amerika wiederum
nur etwa ein Zehntel davon, namlich 1,3 Milliarden, Aufgabe
einer europaischen Politik ist es nicht, Getreide, zu* welchem
284
Krcdit auch immer, aus Amerika zu beziehen, sondern aus
den europaischen Agrarausftihrlandern, und es mit deutschen
Industriewaren zu bezahlen. Frankreich 1st der gegebene Ban-
kier fur diese kontinentaLeuropaische Transaktion. In Deutsch-
land ist es selbstyerstandlich, daB ein solchcs Dumpirigangebot
Amerikas wohlwollend, ja sogar mit cinem gewissen Stolz auf-
genommen wird, Warum diirfte Amerika kein Dumping gegen
Europa trciben? Wcnn aber crwogen wird, die elf Millionen
Tonnen Kohlen^ die auf den Ruhrhalden liegen, zu einem her-
abgesetzien Preis abzusetzen, dann wird, man sollte es nicht
glauben, einem solchen Projekt mit Riicksicht auf England
widersprochen, Auf den deutschen Kohlenhalden liegen auBer
der Kohle Bankschulden von 1 70 Millionen, Ein limitierter
Ausverkauf ' dieser elf' Millionen Tonnen zu einem Sonderpreis
konnte wahrhaftig die Weltwirtschaft nicht erschiittern, Wenn
wir Kontinentalpolitiker behaupten, daB sich Deutschland wie-
derholt nicht zu retten wagte, um England nicht zu kranken,
so gilt das als Beweis unsrer Anglophobic Zuerst erscheinen
unsre Thesen paradox, bis sie das nachste Abendblatt bestatigt.
Zusammenfassend ist also festzustellen, daB seit Briinings
Riickkehr aus Paris die deutsch-franzosische Verstandigung um
kcinen Schritt vorwarts igekommen Lst. Die deutsche Politik
hat zwar offiziell nichts getan, um die deutsch-franzosischen
Beziehungen zu verschlechtern, aber auch nichts, um sie zu
verbessern, Deswegen kann der Aufschub des franzosisehen
Gegenbesuchs der Sache nur nutzenf Die von der Regierung
vertretene Version, daB eine franzosische Staatsanleihe
im Augenblick nicht zu bekommen ist, ist nur im
Rahmen der Beschrankungen richtig, die gleichzeitig im-
mer ausgesprochen werden, namlich einer langfristigen,
von Amerika und England mitgarantierten Anleihe. DaB
die Bank von Frankreich binnen einer Woche ohne Staats-
befragung eine Milliarde Goldmark mit New York fur England
mobilisiert hat, widerlegt zur Geniige die berliner Auffassung.
Wahr ist, daB nur in den Handen des deutschen Volkes und
seiner Regierung sein Schioksal und sein Kredit liegt. Eine
Kundgebung von Reichsprasident und Reichsregierung an das
deutsche Volk, in der die deutsch-franzosische Kooperation
als Ziel, Sinn und Schicksal der deutschen Politik erklart wird,
hatte nach einer Woche zur Folge, daB die Bank von Frank-
reich der Reichsbank einen Rediskont in jeder Hohe eroffnet.
Zu einer solchen Kundgebung fehlt der deutschen Regierung
heute noch der Mut Eine solche Kundgebung, von ganz Frank-
reich mit einem kaum vorstellbaren Enthusiasmus aufgenommen,
ware der Friede, der endgultige Friede, Schopfung eines europai-
schen Imperiums, das im Frieden neben dem britischen, amerl-
k anise hen, russischen, ostasiatischen den Neuaufbau der Welt-
wirtschaft beginnt, Nur, wer diese Politik fordert, f order t den
Frieden. Wer diese Politik, wie die Angelsachsen, verbieict
und hintertreibt, will gewiB nicht den Krieg; aber diese
Politik reserviert sich den Krieg als letztes Mittel zur Auf-
rechterhaltung der angelfiachsischen Weltherrschaft und der
Schiedsrichterstellung Londons iiber ein entwaffnetes und zer-
rissenes Europa.
265
Die SCtlWarZe Front von Jan Bargenhusen
Mun naben wirs also wiedcr einmal geschafft. Der Volks-
entscheid ist danebengegangen; Hugenberg ist nicht Vize-
kanzler geworden; die Schalter der Banken und der Spar-
kassen sind wieder geoffnet, und die ,,Nationale Selbsthilfe"
wird sorgfaltigst vorbereitet, was bedeutet, daB mail noch
eiriige Wochen Zeit hat. Inzwischen beginnen die Stadte mit
dem Lohnabbau bei ihren Arbeitern, und mit dem Gehalts-
abbau lbei ihren Angestellten, Mit berechtigtem Stolze
konnen wir also, unter Hinweis auf die Hoffnungen, die das
Ergebnis von Basel eroffnet, die beliebte Formel aussprechen;
,,Wir sind jetzt iiber den Berg!" Jawohl, wir sind jetzt iiber
den Berg — es geht schon abwarts.
Die wirtschaftlichen Note sind, auf zwei Wochen oder auf
zwei Monate, vertagt; man hat die faulen Stellen mit Schatz-
wechseln tiberklebt. Das halt so lange, bis die Oberkleiste-
rung aufplatzt. Also nicht lange, Saniert ist noch nichts, und
der muhsam zuruckgehaltene KrisenprozeB wird weitergehen:
weil man die Verluste durch ein paar Stutzungsmanover nicht
ungeschehen machen kann,
Inzwischen treiben die Dinge im politischen Sektor weiter.
Nach welcher Richtung?
*
Der Verfall der ,,Linken" ist offenbar. Die kommunistische
Bewegung ist durch den Streit der 1(Richtungen" gelahmt: die
alte Ftthrerschaft kampft gegen den Scheringer-Kurs, Bei der
Sozialdemokratie zeigen sich die Folgen der Briiningschen Zer-
murbungstaktik immer deutlicher- Bruning macht schon kein
Hehl mehr aus seinen Planen, die Partei, die er ausgequetscht
hat wie eine Zitrone, beiseite zu werfen, und Hugenberg und
Hitler zur weitern Unterstittzung seines Kabinetts heranzu-
ziehen — mit dem Ziel, nun auch die Parteien der Rechten
abzunutzen, zu demtitigen und zu diskreditieren. Zunachst ist
der Versuch, das Schwergewicht auf die Seite der Rechten
hiniiberzulegen, ailerdings miBgluckt: die Aktion ist an den
allzu weitgehenden Forderungen Hugenbergs, der gleichzeitig
fur Hitler sprach, gescheitert. Aber in ein paar Wochen wird
man wieder beisammen sitzen, und dann wird das Geschaft
wohl perfekt wefden-
Zwei Machtpositionen hat die Sozialdemokratie gehabt:
die Gewerkschaften — und PreuBen. Wie sieht es heute da-
mit aus?
Die Gewerkschaften sind nicht aktionsfahig, das heiBt sie
konnen keine Streiks mehr fiihren. Das hat verschiedene
Griiride. Arbeitslose und GemaBregelte konnen nicht streiken,
Gejbe Gewerkschaftler, . Stahlhelmer, Nazi-Manner t Unorgani-
sierte und. Dinta-Zoglinge stehen als Betriebsgarden und als
Streikbrecher alien groBern Uriternehmungen reichlich zur
Verfiigung. Das ist die erne Seite der Sache. Die andre:
das Geld der Gewerkschaften- der Streikfonds, ist bank ma Big
angeiegt, ist nicht liquide, Das ist das Verdienst der Arbeiter-
bank und ihres Direktors, des Staatsanwaltschaftsrats a. D.
Bachem — ernes Mannes, der zu den interessantesten Bliiten
am Baume der SPD gehort, Weil er, dcr Sozialistenfresser
von 1913, der Held der Kriegsstelle fiir Ole und Fette, der
Entrepreneur der HohenzoUernabfindung, der begabte Dakty-
loskpp in Sachen Bern Meyer — weil er, der argeritinische
Latifundienbesitzer, auch in der Leitung der Arbeiterbank die
Dmge so griindlich verfahren hat, deshalb soil er jetzt das
Aufsichtsamt iiber die Privatbanken erhalten. „Sieg des So-
zialismusl" — so wird man rufen, falls dieser Plan gliickt. Er
wird nicht gliicken,
*
Und nun: Preuflen! Otto Braun hat eine groflziigige
Offerte gemacht, Kennwort ,,Reichsreform". Die preuBische
Regierung fiirchtet, spatestens im Friihjahr finanziell vollig
pleite zu sein, Unter demDruck des Reichs, wohlverstanden,
das den Landern ihre wichtigste Steuerquelle, die Hauszins-
steuer, abgrabt und ihnen neue Erwerbslosenlasten aufbiirdet.
Sie fiirchtet auBerdem, bei den Landtagswahlen in offener
Feldschlacht zu fallen. Diese doppelte Furcht gebar einen
grandiosen Plan: man will PreuBen still Iiquidieren, durch einen
Staatsvertrag den groBten Teil der Staatsfunktionen aufs Reich
iibertragen, durch ein Reichsreform-Gesetz die Auflosung
PreuBens vollenden, Damit will man die Landtagswahlen im
Mai vermeiden, ebenso die Kommunalwahlen, urn, trotz der
Auflosung des Ganzen, die Machtpositionen im einzelnen, in
der zentralen Verwaltung und in den AuBenforts, das heiBt in
den Gemeinden, wenigstens noch iiber die nachsten Jahre hin-
iiberzuretten.
Das ist der preuBische Plan- Aber Briining schweigt. Er
kommt Otto Braun nicht mit offenen Armen entgegen: ,,WilI-
kommen im Reich!" 'Dieses Schweigen ist todlich. Es be-
deutet, daB der groBartige Plan der stillen Liquidation nicht
verwirklicht werden kann, daB Otto Braun im ,,eigenstaat-
lichen" PreuBen aushalten muB bis zum bittern Ende.
*
Die Parole heiBt also: Rechts heran! Wenn aber die
Rechte als Hilfstruppe des. Kabinetts Briining herangezogen
wird, so darf sie, um Briining und seine Freunde nicht allzu
sehr zu storen, nicht gar zu stark sein, Deshalb beginnt die
Zernierung und Zermurbung der Rechtsgruppen schon jetzt,
vor der Herstellung des offenen Biindnisses. Hugcnberg und
Hitler sollen ja nicht als Triumphatoren ins Reichskabinett
einziehen, sondern sich als dienende Glieder des Briining-
kurses dort willig einfiigen.
Und darum erschallt jetzt der Ruf: Freischarler heraus!
Heran, ihr nationalen Manner, die ihr es wagt, mit Hitlern
selbst anzubinden! Wir brauchen eine Truppe, die ihn standig
in Bewegung halt, ablenkt und in Scharmiitzeln beschaftigt —
wir brauchen eine „Schwarze Schar", die ihm in der offenen
Flanke sitzt, und ihn nicht zur Ruhe kommen laBt. Und wir
wollen uns das etwas kosten lassen!
Die schwarze Front tritt an: Hellmuth von Miicke, und
sein ,,Deutschlandbund". Hauptmann Stennes und die Reste
287
seiner S.-A.-Miinner. Otto Strasser und seine Schwarzblusen.
Und dazu — nein, es ist kein schlechter Scherz! — ein Mann
mit dem gut jiidischen Namen Ferdinand Fried . . . Die In-*
karnation des Mitarbeiterkreises der ,Tat\
Welch ein Gespann ! Im Hintergrund erscheint weiter
Kapitan Ehrhardt, der Kamerad des Ministers Treviranus, und
mit ihm einig in dem gliihenden Wunsch, die Verstandigung mit
Frankreich aus der Taufe z-u heben. Wobei es wichtig ist, zu
wissen, daB zwischen Ehrhardt und dem Verwalter der groB-
ten Kasse im Reich, Herrn Dietrich, die besten freund-nach-
barlichen Beziehungen von der schwarzwalder Heimat her be-
stehen, Und damit wir keinen vergessen, so sei auch noch
gesagtf daB Major Pabst bemtiht ist, die Dinge aus nachster
Nahe genau zu studieren, urn dem groBen Duce genau vermel-
den zu konnen, wie das Spiel gemischt wird, und wo die fran-
zosischen Trumpfbuben sitzen.
Die- schwarze Front — welch treffender Name! Die
schwarze Garde, die Hitler in Schach halten soil, aus schwar-
zen Fonds gespeist, und, ohne es recht zu wissen, im Dienste
der schwarzen Gewalten, Kohle und Klerus . . . das ist genau
das, was uns noch gefehlt hat.
*
Aber auch noch andre Krafte bemuhen sich darumr das
System der schwarzen Garden auszubatten. Da ist beispiels-
we,ise Herr Luther, immer noch Reichsbankprasident, und in
der Furcht Schach ts, der Hugenberg und Hitler weit genehmer
erscheint, schon deshalb, weil er nicht gar so franzosenireund-
lich ist, Wie Friedrich Hielscher, der Prophet, Theoretiker
und Taktiker der jungen Nationalisten um das .Reich* —
Schauwecker, Junger, Heinz — zu meld en weiB, hat sich Herr
Luther, dessen Beziige ihm das wohl erlauben, eine
Schutztruppe in Gestalt des ,Ring'-Kreises zugelegt. Wo-
mit die Tatsache zwanglos erklart ware, daB Adel
und GroBindustrie, die der ,Ring* vereint, neuer dings
so sehr verstandigungsbereit und frankophil geworden
sind, Hinter dieser Verstandigungsbereitschaft steht aller-
dings der fromme und frohliche Kinderglaube, daB Frank-
reich das erforderliche Geld zur Aufrustung Deutschlands her-
ausnicken werde, wenn man sich nur erst iiber ,,gewisse
Punkte", unter denen das sow/jetrussische Waren-Dumping auf
dem Weltmarkt eine gewisse Rolle spielen soil, einig geworden
sei. Wobei man also wieder bei den Gedankengangen von
Treviranus und Ehrhardt angekommen ware.
Nun, wenn die Karte Luther nicht sticht — so hat ja die
GroBindustrie noch ihren Schacht in Reserve. Und der will
den Handel, auf streng geschaftlicher Basis, mit England und
mit Amerika machen.
*
Schacht, Schleicher, Hugenberg, Strasser und Hitler, selt-
sarae Anttpoden-Parchen, die sich gegenseitig in Schach hal-
ten miissen! Im Grunde sind sie doch alle nur die schwarzen
Garden jener Machte, die als Union der festen Hand Deutsch-
land heute regieren.
288
Von Bruning bis Seydewitz von k. l. oerstortt
T\ er Reichskanzler Bruning hatte, wie die Zeittmgen melden,
cine Unterredung mit dem Chefredakteur der .Daily
Mail*. Bruning sprach dort schr offen. In dem Bericht
tiber die Unterredung heiBt es; ,,Die Griinde der gegenwartigen
Schwierigkeiten Europas faBte Doktor Bruning in folgende vier
Punkte zusammen: Erst ens: die Oberindustrialisierung der
kleinern Staaten. Zweitens: die Abnahme der Kaufkraft in
China und Indien. Drittens: die hohen Zollmauern in der
ganzen Welt* Viertens: die Richtung, in der die deutschen
Reparationszahlungen flieBen." Wenn man vom letzten Punkt
absieht, so sagt Bruning uber die entscheidenden Griinde, die
diese Krise so vertieft haben, dasselbe, was die neuere marxi-
stische Theorie uber den Imperialisms seit Jahren behauptet.
Die immer groBern Schwierigkeiten fur den Kapitahsmus, im-
perialistisch uber seine eignen Grenzen vorzustoBen, die Verrin-
gerung der Expansionsmoglichkeiten verandern den gesamten
Konjunkturzyklus, machen die Krise so tief, das Herauskommen
aus ihr so schwer, verscharfen die imperialistischen Konkur-
renzkampfe auf den Weltmarkten eberiso wie die Situation im
Innern. Bruning gibt damit gleichzeitig zu, daB die heutige
Krise nicht mit denen der Vorkriegszeit in einem Atemzuge
zu nennen ist. Denn die Ursachen ihrer Vertiefung, auf die
er vor all em hi n we ist, sind nicht in absehbarer Zeit zu andern.
Ober die Oberindustrialisierung der kleinern Staaten und die
hohen Zollmauern in der ganzen Welt wird seit vielen Jahren
Klage gefiihrt. Jedes Jahr hatten wir Konferenzen, die es
fiir vernunftig und notwendig erklarten, die Zollmauern ab-
zubauen, und jedes Jahr wurden sie erhoht, nicht nur in
den kleinern Staaten, sondern auch von den hochkapitalisti-
schen Zentren wie den Vereinigten Staaten, und in Deutschland
— durch die Briiningregierung.
Auf die Beendigung der Krise dureh Abtragung der hohen
Zollmauern werden wir daher noch lange warten. Bruning
sprach dann weiter von der Abnahme der Kaufkraft in In-
dien und China. Hier ist seine Formttlierung nicht ganz rich-
tig. Abgenommen hat die Kaufkraft in China und Indien nur
sehr wenig. Der chinesische und der indische AuBenhandel
ist nicht kleiiier als in der Vorkriegszeit. Aber er hat eben
nicht zugenommen. Und das ware fiir die Oberwindung der
Krise notwendig. In der Vorkriegszeit hatten wir einen star-
ken standigen Zuwachs in den weltwirtschaftlichen Beziehun-
gen, einen standigen VorstoB der kapitalistischen Zentren in
Gebiete, die in der Entwicklung zum Kapitalismus hinter ihnen
zuriickgeblieben waren. Und, wahrend jetzt die Zahl der
hochkapitalistischen Staaten groBer wird, die kapitalistischen
Zentren standig wachsen und fiir die kapitalistische Expan-
sion eine Peripherie notwendig ware, die weit schneller wachst,
als in der Vorkriegszeit, stagniert die Entwicklung in dieser
Peripherie, gibt es keine neuen Kolonien mehr zu verteilen,
entwickelt sich in alien Kolonien die nationale Bewegung,
erwachen die Volker in Asien und Afrika aus der Geschichts-
losigkeit. Glaubt Bruning, daB ^sich in absehbarer Zeit Ver-
28*
anderungen ergeben werden, die so stark sind, daB sie einen
Konjunkturaufschwung schaffen? Briining glaubt nicht daran.
Denn im Anfang seiner Unterredung betonte er: Der kom-
mende Winter werde der schlimmste fur Europa in den letz-
ten hundert Jahren sein. Die Deutschen wiirden am me is ten
von ihm zu spiiren bekommen. Es werde in Deutschland we-
nigstens sieben Millionen Arbeitslose geben." Der kommende
Winter wird der schlimmste seit hundert Jahren sein. Er
wird nach Briining schlimmer sein als der Winter von 1918/19r
als der von 1923/24. Kein Wunder, daB Briining in der gleichen
Rede erklarte, daB er den Kommunismus fur die groBte
innere Gefahr halte,
. Mit sieben Millionen nimmt der Chef der Regierung die
Zahl der Arbeitslosen fiir den Winter an. Er meint also, daB
die Schatzungen des Institutes fiir Konjunkturforschung noch
urn eine reichliche Million iiberschritten werden. Sieben Mil-
lionen Arbeitslose — das sollte die gesamte Arbeiterschaft
und ihre Organisation en auf den Platz rufen! Aber was ge-
schieht? Wie verhalt sich der ,Vorwarts', das Zentralorgan
der Sozialdemokratischen Partei, in dieser Situation? Der ,Vor-
warts' schreibt in seinem Kommentar zum Briining-Interview:
MWar es notwendig, schwarzestem Pessimismus Raum zu ge-
ben und die Ziffer von sieben Millionen Arbeitslosen zu nen-
nen? Es ist etwas andres, das Volk vor Illusionen bewahren
zu wollen, und einen iibertriebenen Pessimismus zur Schau
zu tragenf der wie Verzweiflung am eignen Programm und
wie fatalistische Ergebenheit wirken muB!" Der ,Vorwarts*
halt es also fiir richtigere Politik, die deutsche Arbeiterschaft
iiber die wirkliche Situation hinwegzutauschen, sie weiter in
Illusionen dariiber zu wiegen, wie tief in Wirklichkeit die
Krise ist, die heute das gesamte kapitalistische System er-
schiittert, Und das ist keine zufallige Entgleisung. Der ,Vor-
warts' setzt hier nur die traditionelle Politik fort, die der Re-
formismus in der £anzen Krise betrieben hat. Wahrend der
Reformismus der Vorkriegszeit die gesamte biirgerliche Wis-
senschaft zitierte und Tabellen aus der ganzen Welt brachter
um seine Politik zu untermauern, ist heute das tragikomische
Schauspiel zu konstatieren, daB er, um sich eine Plattform fiir
seine Politik zu schaffen, hinter den vorgeschrittensten Ver-
tretern des Biirgertums und der okonomischen Wissenschaft
zuriickbleiben muB, daB das Burgertum iiber die Tiefe der
Krise bereits Bescheid weiB, wahrend der Reformismus noch
Illusionen verbreitet. Einige Belege aus einer fortlaufenden
Kette. Einer der Vertreter der reformistischen Richtung, einer
der entscheidenden wissenschaftlichen Sachverstandigen der
Sozialdemokratischen Partei, Fritz Naphtali, schreibt in einer
Broschure, die Ende 1930 erschienen ist (,,Weltwirtschafts-
krise und Arbeitslosigkeit"): t,Die typischen Erscheinungen
des fiirchterlichen Krisenbildes haben wir also zweifellos ebenso
jetzt wie in friihern Krisen , . ." ,,Mein Eindruck nach dem
Versuch, aus diesen Einzelerscheinungen ein Bild zu gewin-
neri, geht ungefahr dahin, daB die Krisen friiherer Zeit, natiir-
lich in verschiedenem Grade, sehr ahnliche Erscheinungen
auch in der quantitativen Auswirkung gehabt haben, wie wir
290
sic gegenwartig erleben," Zur gleichen Zeit crschien der No-
vemberbericht des Institutes fiir Konjunkturforschung, Dort
heifit es: ,FDer weltwirtschaftliche Konjunkturriicksohlag hat
eine Ausdehnung und Intensitat angenommen, wie dies in der
modernen Wirtschaftsentwicklung noch niemals zuvor beob-
achtet werden konnte." Und der Letter des Institutes fiir
Konjunkturforschung, Professor Wagemann, schrieb in seinem,
vor einigen Monaten erschienenen Buch: „Struktur und Rhyth-
mus der Weltwirtschaft": ,,Die gegenwartige Krise ist die bei
weitem schwerste des ganzen Ietzten Jahrhunderts/'
Als der Februarbericht des Institutes fiir Konjunkturfor-
schung erschien, brachte das , Berliner Tageblatt' seine Ergeb-
nisse unter der Oberschrift: Die Krise hat sich weiter vertieft
Im ,Vorwarts* hiefi die Oberschrift; Das Tief der Krise ist er-
reicht. Auf dem leipziger Parteitag erklarte Tarnow; ,,Die starke
Senkung der Zinssatze und der Rohstoffpreise sind nach alien
frtihern Krisenerfahrunjgen auch schon die sichtbaren Anzeichen
dafiir, daB ein Umschwung sich vorbereitet (bei Tarnow ge-
sperrt), was natiirlich noch nichts iiber die Zeitdauer sagt."
Das gleichzeitig erschienene Juniheft des Institute fur Konjunk-
turforschung schreibt: „Die Voraussetzungen fiir einen Auf-
schwung sind jedenfalls nicht gegeben."
Die Monate nach dem Parteitag zeigen ebenso deutlich wie
die Rede Briinings, wie falsch die Prognosen Tarnows waren.
Es fuhrt so eine grade Linie von der Broschiire Naphtalis im
vergangenen Jahre bis zuni .Vorwarts'-Kommentar iiber die
Briining-Rede, Es miissen stets Iilusionen erweckt werden, um
weiter die Politik des kleinern Obels zu begriinden.
Zwei Ereignisse haben diese Vertuschung erleichtert; der
Volksentscheid und die vorlaufig liquidierte Geldkrise. Der
Volksentscheid hat die Abwanderung der sozialdemokratischen
revolutionaren Arbeiter zur Kommunistischen Partei gebremst-
Er gab dem Reformismus die erwiinschte Gelegenheit, gegen
die Kommunistische Partei zu hetzen, die hier in der gleichen
Front mit den Natkmalisten aller Schattierungen kampfte.
Und die Liquidierung der Geldkrise schuf zunachst einmal eine
Atempause. Nachdem die Banken und die Sparkassen ihre
Schalter wieder aufgemacht haben, sieht die Lage wieder ein-
mal etwas hoffnungsvoller aus als in der zweiten Julihalfte,
Die Erregung iiber den Volksentscheid wird bald verschwin-
den, die Freude iiber die Eroffnung der Bankschalter wird
schwinden — aber der Katzenjammer wird bleiben.
Sieben Millionen Arbeitslose im Winter, das heifit wieder
riesenhafte Steuerriickgange, wieder Defizit bei der Arbeits-
losenversicherung, wieder Krise der Staatsfinanzen. Die Ge-
meinden haben bereits erklart, daB sie nicht weiter konnen.
Das Defizit bei den Gemeinden belauft sich auf etw<a 800 Mil-
lionen Reichsmark. Die Gemeinde-Finanzen sind an sich in
Ordnung. Ihr Defizit kommt lediglich daher, daB der Staat
die Finanzierung der Wohlfahrtserwerbslosen auf sie abge-
walzt hat. Welch eine Riesensumme die Gemeinden dafur
aufzubringen haben, das geht wohl am besten daraus hervor,
wenn man die Zahlen mit der Summe vergleicht, die die ge-
samten freien Gewerkschaften im vergangenen Jahre zur
3 291
Unterstiitzung fur ihre Arbeitslosen aufgebracht haben. Diese
Summc betragt uugefa.hr 120 Millionen. Sie ist also nur
etwas mchr als ein Neuntel der Summc, die die Gemein-
den fur die Wohlfahrtserwerbslosen aufzubringen haben, Eine
Kiirzung des Etals fiir die Wohlfahrtserwerbslosen um reich-
lich 10 Prozent wurd« die gleiche Summe ergeben, die die
freien Gewerkschaften, die etwa fiinf Millionea Arbeiter ver-
treten, fur ihre Arbeitslosen 1930 aufgebracht haben.
Die Vertuschungspolitik des Reformismus zeigt an, wohin
die weitere Reise gent. Man wird wie bisher die Regierung
Briining tolerieren, um ihr damit die Moglichkeit zu schaffen,
auch dieses Defizit wieder auf monopolkapitalistischem Wege
zu beseitigen, Um den Preis, daB Hugenberg nicht in die Re-
gierung , geht, wird man weiter die Politik des kleinern Obels
treiben und die Arbeiterorganisationen noch weiter unter-
hohlen. Die Linie der Wels und Breitscheid ist eindeutig.
Aber was tut die Seydewitz-Gruppe in dieser Zeit? Sie hat
seinerzeit gegen den Panzerkreuzer gestimmt, aber den Etat
bewilligt. Ein Teil der Gruppe hat noch auf dem Parteitag
gehofft, daB ihre Politik einmal die Politik der Mehrheit wer-
den wiirde; keiher ihrer Vertreter wird das heute mehr glau-
ben, Sie hat dann in ihrem Organ, im tKlassenkampf\ einen
Mahnruf erlassen und um Zustimmungserklarungen aus dem
ganzen Reich gebeten. Als der Parteivorstand einschritt, wurde
die Sammlung zunachst nicht mehr fortgesetzt. Die Entwick-
lung hat seitdem weiter getrieben.
Die Hoffnungen der sozialdemokratischen Arbeiter-
massen, daB der Reformismus seine Politik noch einmal andern
wird, werden immer geringer. Zehntausende sozialdemo-
kratisch organisierte Arbeiter gibt es heute, die innerlich be-
reits mit der Sozialdemokratischen Partei gebrochen haben.
Aber sie besitzen kein Organisationszentrum, sie wissen nicht,
wohin. Zur Kommunistischen Partei wollen sie nicht, wollen
vor allem diejenigen nicht, die gewerkschaftlich organisiert
sind, die die kommunistische Gewerkschaftstaktik fiir falsch
halten, da diese Taktik die Gewerkschaften nicht revolutio-
niert, sondern nur lebensunfahige Gebilde schafft. Zur Kom-
munistischen Partei wollen sie nicht, wollen sie vor allem jetzt
nach der Parole der Kommunisten fiir den Volksentscheid
nicht. Auch innerhalb der Kommunistischen Partei ist diese
Parole nicht mit Begeisterung aufgenommen worden. Gut ge-
rechnet wird die Partei die Halfte ihrer Wahler dafiir mobil
gemacht haben. In ausgesprochenen Arbeiterbezirken ist die
Zahi der Jastimmen fiir den Volksentscheid oft geringer ge-
wesen, als die Zahl der kommunistischen Stimmen bei den
September- Wahlen 1930 allein. So gibt es heute breite Ar-
beiterschichten, die dem Reformismus innerhalb der Sozial-
demokratischen Partei ablehnend gegeniiberstehen, die bereits
revolutionar marxistisch sind, oder auf dem Wege dorthin, die
auf der andern Seite die Taktik der Kommunistischen Partei
in der heutigen Situation in wesentlichen Punkten fiir falsch
halten. Alle diese Schichten brauchen ein Organisations-
zentrum. Die Zuspitzung der okonomischen Situation schafft
starke dynamische Tendenzen auch innerhalb der Arbeiter-
292
parteien. Die Entscheidung, die man beim Panzerkreuzer und irr
Leipzig vertagt hat, diese Entscheidung laBt sich jetzt immer
schwerer umgehen. Will die Seydewitz-Gruppe auch die neue
Notverordnung schlucken? Es gibt Zeiten, wo die Politik ein
Lavieren verlangt. Je mehr die Krise sich verscharH, um so
weniger Lavierungsmoglichkeiten gibt es — fiir die Briining-
Regierung und fiir die Seydewitz-Gruppe.
Die LDSling von Theobald Tiger
Vy/enn was nicht klappt, wenn was nicht klappt,
dann wird vor allem mal nicht berappt.
Wir setzen frisch und munter
die Lohne, die Lohne herunter —
immer runter!
Wir haben bis iiber die Ohren
bei unsern Geschaften verloren
Unser Geld ist in alien Welten:
Kapital und Zinsen und Zubehor.
So lassen wir denn unser groBes Malheur
nur einen, nur einen entgelten:
Den, der sich nicht mehr wehren kann.
Den Angestellten, den Arbeitsmann;
den Hund, den Moskau verhetzte,
Dem nehmen wir nun das Letzte.
Arbeiterblut mufi man keltern.
Wir sparen an den Gehaltern —
immer runter!
Unsre Inserate sind nur noch ein Hohn,
Was braucht denn auch die deutsche Nation
sich Hemdea und Stiefel zu kaufen?
Soil sie doch barfuft laufenl
Wir haben im Schadel nur ein Wort:
Export! Export!
Was braucht ihr eignen Hausstand?
Unere Kunden wohnen im Ausland!
Fiir euch gibts keine Waren.
Fiir euch heiBts: sparen! sparen!
Nicht wahr, ein richtiger Kapitalist
hat verdient, als es gut gegangen ist.
Er hat einen guten Magen.
Wir muBten das Risiko tragen . . .
Wir geben das Risiko traurig und schlapp
inzwischen in der Garderobe ab.
Was macht man mit Arbeitermassen?
Entlassen ! Entlassen ! Entlassen !
Wir haben die Losung gefunden:
Krieg den eignen Kunden!
Dieweil der deutsche Kapitalist
Gemut hat und Exportkaufmann ist.
Wufiten Sie das nicht schon fruher — ?
Gott segne die Wirtschaftsverf uhrer !
295
Aufspaitung uer ueutschen Zolleinheit
von Alfred Kolmar
T\ie Verfassung des Deutschen Reiches sagt in ihrem Ar-
** tikei 82:
Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von
einer gemeinschaftlichen Zollgrenze, Die Zollgrenze fallt mit der
Grenze gegen das Ausland zusammen . . . Aus dcm Zollgebiete konnen
nach besonderem Erfordcrnis Teile ausgeschlossen werden - . . Zoll-
ausschlusse konnen durch Staatsvertrage oder Obereinkommen einem
fremden Zollgebiete angeschlossen werden. Alle Erzeugnisse der
Natur sowie des Gewerbe- uhd KunstfleiBes, die sich im freien Ver-
kehr des Reiches befinden, diirfen iiber die Grenze der Lander und
Gemeinden ein-, aus- und durchgefilhrt werden. Ausnahmen sind auf
Grund eines Reichsgesetzes zulassig.
Daneben wird in Artikel 6 bestimmt, dafi das Reich „die
ausschlieOlichc Gesetzgebung iiber das Zollwesen sowie die
Einheit des Zoll- und Handeisgebietes und die Freiztigigkeit
des Warenverkehrs hat."
Mit diesen Bestimmungen der Reichsverfassung ist das
Prinzip der Einheitlichkeit des deutschen Zollgebietes vom
Kaiserreich auf die Republik iibergegangen. Denn seitdem im
Jahre 1866 Bismarck die deulsche Frage im Sinne der „klein-
deutschen Losung" entschieden hatte, stellte die Einheitlich-
keit des deutschen Zollgebietes weder eine politische noch eine
wirtschaftliche Frage mehr dar. Sie ist auch unsrer Genera-
tion eine Selbstverstandlichkeit geblieben, in die wir hinein-
geboren sind und ohne die uns der Besitz des Reiches an
Hoheitsrechten nicht vollstandig zu sein scheint.
Freilich miissen wir uns , dartiber klar sein, dafi der Ge-
danke der Einheitlichkeit des ReichszoUgebietes in einer Zeit
entstanden ist, wo die Wirtschaft des Reiches einen heute
nicht mehr vorhandenen Charakter trug. Sowohl im Norden als
auch im Siiden des in den fiinfziger und sechziger Jahren er-
strebten, seit 1871 zur Tatsache gewordenen „kleindeutschen"
Reiches lag der Schwerpunkt fur diese Wirtschaft in der,
Landwirtschaft und im Handel. Er lag nicht in einer
Industrie im heutigen Sinne, konnte auch gar nicht in ihr lie-
gen, weil es diese weder zur Zeit der Schaffung 'des preuBisch-
stiddeutschen Zollvereins, noch auch des Norddeutschen Bun-
des( noch schlieBlich des Reiches selbst gegeben hat.
Die Tatsache, dafi gewisse Teile Deutschlands etwa seit
den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Indu-
strien entwickelten, deren volkswirtschaftliches Gewicht mehr
und mehr zunahm, spielte nattirlich auch in der Zollpolitik des
Kaiserreiches eine groBe Rolle. Objektiv rentabel ist auch
schon dam als die deutsche Landwirtschaft in wciten Teilen
nicht mehr gewesen. Aber der politische Schwerpunkt des
Reiches lag noch innerhalb der Bevolkerungssqhichten, deren
wirtschaftliche Interessen die deutsche Wirtschaftspolitik nach
der agrariscben Seite lenkten. Diese Schwerpunktslagerung
und ihre Ausnutzung in einer entsprechenden Handels- und
Zollpolitik konnte die objektiv schlechte Situation der Land-
294
wirtschaft in Deutschland damals noch cachieren. In der
Nachkriegszeit verlegte sich abcr der politischc Schwerpunkt
Deutschlands ziemlich plotzlich in die Stadte, das heiBt in
solche Zentren, deren Intercsse an der Landwirtschaft aus-
schlieBIich ein Konsumcntenintercssc ist. Dicscr Verlagerung
nun ist in der jiingsten Zeit wieder cin fiihlbarer Riickschlag
nach der andern Seite gefolgt. Unverkennbar hat die
deutsche Landwirtschaft den Verlust an EinfluB auf Politik
und Wirtschaftspolitik des Reiches, der in den Jahren von
1919 bis 1923 fast vollstandig zu sein schien, seither wieder
in sehr erheblichem Umfang wettgemacht, Wieder wer-
den ihr ffLiebesgaben" in reichem MaBe zuteil — jetzt aber
— im Gegensatz zur Vorkriegszeit — auf Kosten einer vollig
ausgepowerten, zu einem erheblichen Teile sogar arbeitslosen
stadtischen Konsumentenmasse und einer Industrie, die ohne
Reserven dasteht und weder leben noch sterben, kann.
Das Dilemma ist furchtbar! Macht das Reich eine am
agrarischen Interesse orientierte Wirtschaftspolitik, so fiihrt
dies zu einer Oberhohung der Lebenshaltungskosten in den
industriellen Zentren und damit zu einer starken Minderung
der industriellen Konkurrenzfahigkeit, Macht das Reich aber
eine den industriellen Interessen entsprechende Politik, so
erliegt die Landwirtschaft. Man hat seit etwa zehn Jahren
gradezu verzweifelte Anstrengungen gemacht, um einen Aus-
gieich dieser einander widerstreitenden Interessen herbeizu-
fiihren. Es ergab sich aber auch hier der beriihmte circulus
vitiosus, der schon fast zum Symbol deutscher Wirtschafts-
politik geworden ist: Gab man der Industrie Zolle, so mel-
dete auch die Landwirtschaft mit genau der gleichen Berech-
tigung entsprechende Forderungen an und setzte sie durch.
Gab man der Landwirtschaft Zolle, so kam die Industrie und
verlangte ihrerseits eine ausgleichende Berucksichtigung. Der
Erfolg war fur beide Teile negativ. Ein Ausgleich wurde
nicht gefunden. Sowohl landwirtschaftliche als auch indu-
strielle Erzeugnisse wurden kiinstlich iiberteuert, ohne eine
Rentabilitat der beiden grofien Wirtschaftsgruppen zu gewahr-
leisten.
Wo ist der Ausweg? Liegt er im radikalen Abbau bei-
der Zollgruppen, der landwirtschaftlichen und der industriel-
len? Niemand kann in der heutigen Situation der deutschen
und der Weitwirtschaft dieses Experiment wagen. Freihandel
war gut, solange die Situation der Weitwirtschaft im kapita-
listisch-individualistischen Sinne gut war. Sie ist aber nicht
mehr gut, denn allenthalben sehen wir furchtbare Stockungen.
in der okonomischen und finanziellen Zirkulation. Man mag
sogar ruhig fur die allseitige Aufhebung der Zollgrenzexi wei-
terkampfen, die aber noch lange nicht zu einem ^Freihandel"
im Sinne der alten Manchester-Schule zu fiihren brauchte: so-
lange dieses Programm nicht wirklich allseitig verwirklicht ist,
kann Deutschland nicht einseitig die Zolle aufheben. Einer muB
den Anfang machen? GewiB, aber nicht Deutschland in seiner
volligen Pleite! Ein neues Heer von fiinf Millionen Arbeits-
losen konnte sich fur die Verwirklichurig einer Doktrin be-
danken, die iibrigens ihrer ganzen Idee nach kapitalisti-
295
•sches Gewachs 1st und jeder wirtschaftliehen PlanmaBigkeit
strikte widerspricht. (Es soil Sozialisten geben, die das noch
nicht gemerkt haben.) Solange wir nicht eine wirkliche und
allseitige PlanmaBigkeit in der Weltwirtschaft haben, braucht
Dcutschland demnach gewisse Obergangsformen der Zollpolitik,
die den beiden groBen Komponenten seiner Wirtschaft, der In-
dustrie und der Landwirtschaft, Geniige leisfen.
II
Man hat bisher stets versucht, diese Formen in dem oben
angedeuteten Sinne dadurch zu Hnden, dafi man den Durch-
schnitt des beiden Gruppen an Schutz zu Gewahrenden hori-
zontal gelegt hat. Das Ergebnis dieser Versuche war hochst
unbeiriedigend. Wie ware es, wenn man einmal dem Ge-
danken nachginge, den Schnitt vertikal zu legen, die deutsche
Zolleinheit aufzuspalten und zwei groBe deutsche Zollstufen
zu schaff en, von denen die eine ihren Schwerpunkt im land?
wirtschaftliehen, die andre im industrielleri Interesse fande?
Zieht man von dem Eintritt der Elbe in das deutsche
Reichsgebiet an eine Linie, die iiber Pirna, Dresden, Riesa,
Torgau, Dessau, Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Osna-
briick, Rheine bis zur niederlandischen Grenze bei Bentheim
fiihrt, so teilt man damit das deutsche Zollgebiet in zwei Teile,
deren wirtschaftliche Basis sehr stark voneinander ver-
schieden ist, Man erhalt das Gebiet A, welches vorwiegend
landwirtschaftlich orientiert ist, und das Gebiet B, dessen wirt-
schaftlicher Schwerpunkt in der Industrie liegt.
Wie weit die Verschiedenheit der wirtschaftliehen Struk-
tur beider Gebiete geht, das mag an einigen Zahlen nachgewie-
sen werden;
296
Das Gcbict A hat (nach der letztcn Volkszahfung) auf
einer Flache von 242 188 qkm cine Einwohnerzahl von
26 506 000 Mcnschen. Das sind 109 Mcnschen pro qkm. Im
Gebiet B mit ciner Flachc von 224103 qkm und einer Ein-
wohnerzahl von 35 788 000 Menschen bewohnen im Durch-
schnitt 159 Menschen den qkm, Schon dicse groBere Bcvolke-
rungsdichte des Gebictcs B ist in sozialokonomischer Be-
ziehung iiberaus bedeutungsvoll. (Dabei liegeri im Gebiet A
die groBten deutschen Stadtc!)
Die Anzahl der Berufszugehorigen, nicht der Erwerbstati-
gen, verteilte sich in den beiden Gebieten auf die Landwirt-
schaf t einerseits, auf Industrie und Handwerk andrerseits f ol-
gendermaBen:
Gebiet A
Berufszugehorige
"cha£t Handwerk
OstpreuBen 2 256 36 991 1021 442
Berlin . . 4 0^4 883 32 1859
Brandenburg 2 592 39 033 815 898
Pommern , . . 1 878 30 209 863 442
Posen-WestpreuBen 332 7 713 156 64
Niederschlesien 3 132 26 603 888 1075
Oberschlesien „ 1 379 9 712 423 503
Teil Prov. Sachsen 1 200 9 100 282 508
Schleswig-Holstein 1 579 15 076 359 505
Teil Hannover ........ 2 190 28582 692 742
Teil Westfalen 1 100 6 200 146 624
Teil Freistaat Sachsen 1500 5 900 136 846
Teil Freistaat Anhalt 150 1500 27 71
Teil Freistaat Braunschweig ... 200 1 000 39 86
Hamburg : ... 1 152 415 21 369
Oldenburg 545 6 423 194 159
Mecklenburg (beide) 784 15 954 317 177
Bremen 338 257 7 132
Lubeck 127 297 6 51
Schaumburg-Lippe .... . . 48 340 1<) 21
Zusammen: 26 506 242 188 6434 9574
Gebiet B
Teil Provinz Sachsen 2 077
Teil Hannover 1 000
Teil Westfalen 3 684
Hessen-Nassau 2 452
Rheinprovinz .7 284
Hohenzollern 71
Teil Freistaat Sachsen ..... 3 494
Bayern , 7 379
Wurttemberg 2 580
Baden 2 312
Thiiringen 1 607
Hessen 1347
Teil Braunschweig 301
Teil Anhalt . 200
Zusammen: 35 788
16 175
488
876
10 000
316
339
14 011
489
2 092
16 671
552
963
24 505
968
3 707
1 142
38
18
9 086
317
1970
75 9%
2583
2 423
19 507
851
1032
15 069
631
916
11765
335
803
7 691
325
564
1672
59
129
813
37
95
J24 103
7989
15 927
297
Bei der Beurteilung dieser Zif f ern ist zu beachten, daB in-
f olge der leidigen Ruckstandigkeit dcr deutschen Berufs-
statistik, dcren Schema die Berufsgruppen „Industrie" und
,, Handwerk" noch immcr nicht trennt, ein falscher Eindruck
entstehen kann; der namlich, daB auch in dem Gebiet A die
Anzahl der Berufszugehorigen in der Industrie die der Land-
wirtschaft erheblich iiberwiegt. In WirkUchkeit ist jedoch in
der Zahl von 9 574 000, die sich in dem Gebiet A fiir die Be-
rufszugehorigen von Industrie und Handwerk ergibt, eine groBe
Prozentziffer solcher Handwerker enthalter^ deren Tatigkeit
allein landwirtschaftlich 'bedingt ist und die auch zum guten
Teile mit in d«r Landwirtschaft tatig sind (dorfliche Schmiede,
Stellmacher etcetera). Wenn wir diese nicht auszumerzende
Fehlerquelle in Kauf nehmen und uns fernerhin vergegen-
wartigen, daB nicht weniger als 20 Prozent der Industrie- und
Handwerksbevolkerung des Gebiets A in Berlin und Hamburg
konzentriert sand, also in gewi&sem Sinne einen Sonderfall dar-
stellen, so kommen wir immer noch zu folgenden Anteilsziffern
fiir die beiden Gebiete:
Gebiet A: Industrie und Handwerk . . 36,1 Prozent; Landwirtschaft: . . 24,2 Prozent
Gebiet B; „ „ . . 44,5 ,, „ . . 22,3
Diese Ziffern sind freilich fiir die Fortsetzung unsrer Ge-
dankenreihe nicht von entscheidender Bedeutung. Die Tat-
sache, daB im Gebiet A ein verhaltnismaBig hoher Prozentsatz
industriell Beschaftigter und im Gebiet B ein solcher an land-
wirtschaftlich Tatigen vorhanden ist, bedeutet weder eine Ober-
raschung, noch darf sie davon ablenken, daB in Deutschland in
absehbarer Zukumft das Problem der Berufsumschichtung, der
„beruflichen Wanderung" in einem sehr fiihlbaren Grade akut
werden wird, Seine Losung muB auf jeden Fall angestrebt
werden, sie ist in einem Deutschland mit zwei getrennten Zoll-
stufen wahrscheinlich sogar leichter zu bewerkstelligen als
innerhalb des heutigen Einheitszollsystems. Voraussetzung hier-
fiir ware allerdirigs eine planmaBige Leitung der Binnenwande-
rung. Landwirte und Landarbeiter miiBten konsequenterweise
nach dem Gebiet A, Industriearbeiter nach dem Gebiet B ge-
leitet werdent um auf diese Weise die Einheitlichkeit der wirt-
schaftlichen Gliederung innerhalb dieser Gebiete noch zu ver-
starken.
Wichtiger als derartige Ausbiicke scheint aber die Tat-
sache zu sein, dafl zwischen den beiden Gebieten A und B ein
wirtschaftliches Gefalle wahrnehmbar ist, welches in den fol-
genden Gegenuberstellungen sehr deutiich zum Ausdruck
kommt;
1. Landwirtschaft
Produktion an Getreide und Kartoffeln.
Gebiet A
Gebiet B
Deuticher
Durchscbnitta-
verbrauch
Ertrag anRoggen 589lOO0t; proKopf 210 kg
., Weiren 1951 000 1; „ „ 70 kg
„ Gerate 1708000 1; „ „ 60 kg
„ Kafer 4911 000 1; „ „ 140 kg
„ Kartotf. 23239000 t; * M 870 kg
298
2464000 t; pro Kopf 70 kU
1 398 000 t; „ „ 40kg
1472000 1; „ , 40kg
2471000 1; „ „ 70kg
16838000 ti „ „ 470kg
proKopfll7kg
m' « 87kg
« « 76 kg
,. 98 kg
„ ., 648kg:
Es ergibt sich demnach im Gebiet A fur Roggen cin Pro-
duktionsuberschufi von 93 Kilogramm pro Kopf, ftir Weizen
ein Produktionsminus von 17 Kilogramm pro Kopft fiir Gerste
cin Minus von 16 Kilogramm, fiir Hafer cin Plus von 42 Kilo-
gramm und fiir Kartoffeln cin Plus von 322 Kilogramm. Fiir
das Gebiet B lauten die entsprechenden Ziffern: Roggen
Minus 47 Kilogramm, Weizen Minus 47 Kilogramm, Gerste
Minus 36 Kilogramm, Hafer Minus 28 Kilogramm, Kartoffeln
Minus 78 Kilogramm. (Es sind hier stets die amtlichen An-
gaben fiir 1929 der Berechnung zugrunde gelegt worden. Das
Jahr 1930 bietet bereits ziemlich irregulare, durch das Ein-
setzen der Krise stark beeinfluBte Ergebnisse,) Was den Wei-
zenanbau anlangt, so ist ja hier eine gewisse Umstcllung bereits
im Gange, welche im Gebiet A die Erreichung des allgemeinen
deutschen Verbrauchsdurchschnittcs pro Kopf sehr bald her-
beifiihren diirfte. Jedenfalls zeigen die Zahlen, daB eine ein-
deutige agrarische Orientierung der Zollpolitik fiir das Gebiet
A dem Getreide- und Kartoffelbau in seiner Gesamtheit sehr
bald die Ausfuhr erheblicher Mengen gestatten wiirde,
Vichhaltung (Bestand vom 2. Dezembcr 1929)
Gebiet A
Gebiet
B
8760000 St.. .
10975.000 „ . .
1129000 „ . .
1344000 „ . .
1224000 „ . .
. 24 St.
30 „
3 „
3 „
3 n
Rindvich: zusammen 9272000 St. pro 100 Einwohner 34 St-
Schweine: „ 8986000 „ „ 100 „ 33 „
Schafe: „ 2350000 „ „ 100 „ 8 „
Ziehen: „ 1281000 „ „ 100 „ 4 „
Pferde; „ 2393000 . » 100 . 7 „
Das wirtschaftliche ,,Gefalle" ist also auch in der Vieh-
haltung ganz deutlich erkennbar.
Zum AbschluB der landwirtschaftlichen Angaben, die na-
tiirlich nur in ganz groben Ziigen das erforderliche Bild zu ge-
ben vermogen, seien noch die Zahlen aus der Milchwirtschaft
angefiihrt:
Milchproduktion
Gebiet A: zusammen 11 Milliarden Liter = 416 Liter pro Kopf
* B: „ 10 „ „ = 279 „ „ „
Es mogen nun einige Berechnungen iiber die wichtigsten
industriellen Produktionen in den beiden Gebieten A und B
folgen:
2. Industrie
Steinkohlenforderung
Deutscber
Verbr&uchadurcbschnitt
Gebiet A: zusammen 89861000 t; pro Kopf der BevDlkerung 1500 kg ] pro Kopf 2258 kg
„ Bi „ 128579000 t; a „ 3450 , -| « , 2258 .
Roheisenerzeugung
t ; pro Kopf der Bevolkeru
*« » » m n
Rohstahlgewinnung
BevSlkemng 69 kg
299
Gebiet A: zusammen 1444579 t; pro Kopf der Bevo Ike rung 54 kg I pro Kopf 186,4 kg
» ■ B: „ 11956188 t; , „ , „ 334 , \ „ n 186,4 .
Gebiet A: zusammen 1827 722 t; pro Kopf der BevSlkemng 69 kg
, B: 1 14418376 t; „ , . , 403 ,.
Das sind natiirlich nur einige „Standardzahlen'\ Es
wiirde viel zu weit ftihren, walltc man an dieser Stelle das ge-
samte fur die Untersuchung herangezogene Zahlenmaterial
ausbreiten, abcr sovicl ist aus den wenigen Zahlen doch wohl
ersichtlich, daO auch in der Industrie das Gefalle zwischen den
beiden Zollstufen vorhanden ist, nur daB es in entgegengesetz-
ter Richtung verlauft wie in der Landwirtschaft.
Ill
Aus diesen Verhaltnissen erwachst eben die Interessen-
divergenz, deren Uberbriickuing sich bisher noch stets als un-
moglich erwiesen hat, solange man den Versuch machte, beiden
Teilen, der Industrie und der Landwirtschaft, innerhalb des ge-
schlossenen deutschen Zollraumes gerecht zu werden. Man
teile diesen Raum und versuche die Landwirtschaft des Ge-
bietes A durch ein Schutzzollsystem, wie wir es heute schon
haben, lebensfahig zu erhalten — soweit landwirtschaftliche
Erzeugnisse in Frage kommen, Dagegen ware in diesem Ge-
biet die Einfuhr industrieller Erzeugnisse im Prinzip vollig
freizugeben. Umgekehrt ware im Gebiet B die Zollsperre fiir
landwirtschaftliche Erzeugnisse vollig aufzuheben, dagegen der
industrielle Zollschutz zu belassen. Die Folge derartiger MaB-
nahmen miiBte sein, daB die Landwirtschaft im Gebiet A ihren
Bedarf an industriellen Erzeugnissen zu Weltmarktspreisen
decken konnte, was ihre Wettbewerbsfahigkeit auch auf dem
fiir landwirtschaftliche Erzeugnisse nur die Weltmarktpreise
zahlen den Gebiet B aufierordentlich verstarken wiirde, dariiber
hinaus aber auch auf dem iibrigen Weltmarkt. Umgekehrt
wiirde das Gebiet B eine Senkung seiner Lebensmittelpreise
auf das Weltmarktniveau in einer entsprechenden Herab-
driickung des Lohnniveaus und in einer entsprechenden Stei-
gerung seiner industriellen Exportfahigkeit verspuren.
Es sei hieraus gefolgert: eine weitgehende Untersuchung
der Moglichkeiten fiir eine Auf spaltung - der deutschen Zoll-
einheit in der oben bezeichneten Weise scheint angebracht zu
sein, weil auf diesem Wege vielleicht der Ausgleich zwischen
den. einander widerstreitenden Interessen von Landwirtschaft
und Industrie gefunden werden kann. Freilich wiirde die Ver-
wirklichumg derartiger Ideen niemak eine „Patentlosung" brin-
gen, sie wiirde sogar sehr groBe Harten im Gefolge haben
miissen, namlich fiir die Landwirtschaft im Gebiet B und fiir
die Industrie im Gebiet A. Vor allem wiirde ein so kiinstliches
Gebilde wie das berliner Industrie- Zentrum hi er durch zum
Tode verurteilt werden. Das sind alles Momente, die eine
etwaige Diskussion des Gedankenganges, den ich oben zu be-
zeichnen unternahm, nicht unfruchtbar zu machen bra^uchen,
Eher diirfte das Gegenteil der Fall sein.
Politisch gabe es gegen die Aufgabe der deutschen Zoll-
einheit in dem angedeuteten Sinne ein sehr starkes Gegen-
gewicht: die Lander einteilung miiBte endlich vers6hwinden.
Ein politisch und verwaltungstechnisch wirklich geeintes Reich
brauchte fiir den Fortbestand seiner Einheit eine innerdeutsche
'Zoll-Linie nicht zu fiirchten.
300
Die Kunst als Waffe von Ad on Behne
F^ie Ktinst cine Waffe!4' ... , da ware die erste Frage: meint
** der Satz, daB Kunst eine spezifische Waffe ist, also der
Waffenwirkung wegen da wie der Revolver . , . oder meint er,
daB die Kunst zwar eine Sache fiir sich ist, aber unter Um-
standen, gelegentlich, auch als Waffe wirken kann?
Sollte das letztere gemeint sein, so ist die Antwort ein
klares zweifelloses Ja. Viele Beispiele lassen sich nennen, daB
Kunstwerke als Waffe gewirkt haben. Daumiers Zeichnungen
sind eines der groBartigsten Beispiele. Ja, wir konnen sagen,
daB ein ganzes machtiges und glorreiches Kapitel der Kunst,
die Satire, Waffencharakter tragt, und wenn es eines Beweises
fiir die Moglichkeit einer Waffenwirkung durch Kunst noch be-
diirfte, ware er eindeutig gegeben durch die Tatsache, daB zu
jeder Zeit die herrschenden Machte, wenn sie sich durch ein
Kunstwerk angegriffen fiihlten, ihre Gegenwaffen: Zensur,
Polizei, Gericht, Gefangnis und Zerstorung des Kunstwerkes in
Tatigkeit gesetzt haben. Aus ihrer politischen Reaktion dur-
fen wir auf eine vorangegangene politische Aktion schlieBen.
Wir wollen die psychologische Frage, ob die betreffenden
Kunstwerke vom Urheber selbst immer als Waffe gemeint
waren, zunachst bei Seite lassen, weil hier zunachst nichtwich-
tig. 1494 war der miBbeliebte Herzog Piero aus Florenz ver-
trieben worden. Florenz war wieder Republik. Um dea Sieg
zu feiern, wurde die Bronzegruppe der Judith, die Donatello
um 1455 fiir den Hof des Palazzo Medici gearbeitet hatte, als
Wahrzeichen der wiedererlangten Freiheit vor der Signoria
aufgestellt . . . ganz unabhangig davon, was etwa Donatello
bei der Arbeit an der Gruppe gemeint, gedacht und empfun-
den hatte. Als Delacroix 1831 „Die Freiheit fiihrt das Volk
auf die Barrikaden" ausstellte, wurde er zunachst Ritter der
Ehrenlegion, weil die Regierenden noch paktieren mufiten. Als
sie wieder f est im Sattel saBen, versteckten sie das Bild, das
erst dreiunddreiBig Jahre spater wieder gezeigt werden durfte-
Und in diesem Falle ist es unschwer nachzuweisen, daB Dela-
croix an eine Waffenwirkung bei dem Bilde me gedacht hat,
ja, daB er politisch ganz anders stand als die von dem Bilde
Begeisterten, daB ihn ein ausschlieBlich aesthetischer Impetus
getrieben hatte.
Aber wie gesagt: diese psychologischen Fragen konnen
wir zunachst zuruokstellen. Der Beweis, daB so oder so ge-
meinte Kunstwerke als gelegentliche Waffe gewirkt haben, ist
einwandfrei,
Diese ihre politische Wirkung andert aber nichts an der
Tatsache, daB wir diese Kunstwerke als sozusagen hauptamt-
lich aesthetische Gebilde ansehen und werten miissen.
Die Anerkennung des Satzes von der moglichen gelegent-
lichen Waffenwirkung des Kunstwerkes hebt nicht die An-
erkennung des Kunstwerkes als eines eignen autonomen asthe-
tischen Gebildes auf, so wenig wie der Briefbeschwerer auf-
hort, ein Briefbeschwerer zu sein, wenn ich ihn bei einer be-
stimmten? Gelegenheit, in der Notwehr, als Waffe benutze.
301
Aber bei jenen, die den Satz „Die Kunst eine Waffe" vor-
nehmlich vertreten, ist es doch anders gemeint. Sie mcinen
nicht die Moglichkeit einer nebenamtlichen Wirkung des
Kunstwerkes als Waffe, sondern me in en ganz entschieden, daB
die Kunst eine spezifische Waffe sei, im Hauptamt und der
urspriinglichen Bestimmung nach, und daB sich ihr Leben nicht
in irgend einer andern Sphare erfiille, sondern nur und aus-
schlieBlich in der kampferischen Sphare, und es ist nur vollig
iogisch, wenn sie sich mit Heftigkeit gegen die aesthetische
Aufgabe des Kunstwerkes richten, als einen Zweck auBer der
Waffenwirkung, Aesthetik ist ihnen Verrat am Wesen der
Kunst als einer Waffe- Dort, wo diese Anschauung ganz zu
Ende gefiihrt wird, muB sich konsequenterweise auch der Be-
griff der kiinstlerischen Qualitat verfliichtigen; denn ist das
Kunstwerk spezifisch eine Waife, so kann das Kriterium seiner
Qualitat nur die Starke des Kampferfolges sein, aber keinerlei
aesthetische Quantitat.
Der Kategorie des Aesthetischen gilt der ganz spezielle
Hohn und HaB der Anhanger dieser Anschauung. Nun, es
gibt Aestheten als eine ziemlich unertragliche Sorte von Zeit-
genossen, als der Welt und Wirklichkeit abgewandte Snobisten
der Form, und die Wendung gegen sie ist berechtigt und uns
natiirlich. Aber der MiBbrauch, den diese Schwachlinge mit
dem Aesthetischen treiben, kann doch nicht veranlassen, die
Existenz der aesthetischen Phanome zu leugnen, Diese aesthe-
tischen Phanome, die der Aesthet egoistisch ausbeutet,
obwohl sie ihrem Wesen nach durchaus soziale Phanomene
sind, und die der Aesthetiker wissenschaftlich objektiv er-
forscht, diese aesthetischen Phanomene sind als Naturerschei-
nungen einfach dat auch wenn ich sie hundert Mai am Tage
verbanne, streiche und negiere. DaB Rot anders auf mich wirkt
als Blau, als Schwarz; em hoher Ton anders als ein tiefer; ein
heller Raum anders als ein dunkler; ein Song anders als ein
Choral, — das kann doch nur ein Narr leugnen, und alles
Leugnen wiirde ihm nichts helfen, Es ist so.
Selbstverstand'lich: eine erneuerte befreite Wissenschaft
kann diese Phanomene vielleicht anders deuten als eine friihere
Wissenschaft; auch das andert nichts daran, daB diese Phano-
mene existieren, daB wir sie unter dem Namen „aesthetische
Phanomene" zusammenfassen, und daB eine Wissenschaft, die
sie uns vollig neu deutet, eben eine neue Aesthetik sein wird,
auch wenn sie sich vielleicht anders nennt, aber doch dem
Wesen nach Aesthetik.
Es ware wirklich nicht schwer nachzuweisen, daB der
wildeste und feindseligste Negierer des Aesthetischen immer
wieder ganz unhewuBt aesthetischen Einwirkungen unterliegt,
in der Wahl der Zigarette, in der Wahl des Ladens, in dem er
sie kauft, in der Entscheidung, ob er zu FuB geht oder mit der
Bahn fahrt, ob er auf ein Kinoplakat reagiert oder nicht — in
alle solche Entscheidungen mischen sich mehr oder minder
stark aesthetische Machte ein, ganz unabhangig davon, ob ich
die Erklarung der Zusammenhange mechanistisch, idealistisch,
psychoanalytisch oder sonst wie vornehme, genau so wie die
302
Katze auf jeden Fall existiert, gleichviel, ob ich sie aus der
Genesis oder aus einem Sternbilde, oder ttber die nattirliche
Zuchtwahl Darwins herleite.
Woher also eigentlich die Feindschaft der Kunstwaffe-
Anhanger gegen die Aesthetik, eine Feindschaft, die nicht ver-
niinftiger ist als etwa die Verleugnung der Atomgewichte oder
der Fallgesetze.
Der Kampf, die schroffe Wendung gegen jeden, der von
Aesthetik, auch im allein wissenschaftlichen Sinne, auch nur
spricht, ist eine stimmungshafte Angelegenheit: weil der aesthe-
tische Snob zumeist wohl aus der Schicht des Adels oder
des reichen Biirgertums kam, identifizierte man nicht nur das
Aesthetentum mit Biirgerlichkeit, was vielleicht noch einigen
Sinn hatte, sondern auch die Aesthetik des Wissenschaftlers,
ja iiber d ess en vielleicht auch noch burgerlich befangene Theo-
rien hinaus die aesthetischen Phanome an sich,
Weil man das Aesthetische fur eine biirgerliche Sache
halt, will man es ausloschen, das heiBt: der die Sentenz „Die
Kunst eine Waffe'* vertritt, ist der Gegner des Burgers und der
biirgerlichen Kultur.
Was also scheinbar eine allgemein gultige neue Erkennt-
nis ist, die Wendung gegen das Aesthetische, ist in Wahrheit
eine Frontaufstellung. Weil man das Aesthetische, zu Unrecht,
als Burgertum ansieht, und weil man Gegner des Burgers ist,
verwirft man hohnisch und mit Erbitterung das Aesthetische,
unter dem man sich offenbar nichts andres vorstellt, als das
Schone, Harmonische, Mollige und SiiBliche, obwohl es damit
gar nichts zu tun hat, denn das Grauen ernes Goya, der HaB
eines Daumier, die Tragik eines Zille sind AuBerungen — und
reinere AuBerungen! derselben Aesthetik,
Aber das Wichtigste ist, daB von hier aus der Satz ,, Kunst
eine Waffe" ein ganz neues Licht erhalt,
Es konnte anfangs scheinen, als sei der Satz „Kunst eine
Waffe" ein zwar aggressiver, aber doch politisch allgemein
giiltiger Gedanke, in dem Sinne, daB diese Waffe Kunst alien
um die Herrschaft kampfenden Machten zur Verfiigung stehe,
so wie in einem Gewehrladen sich alle eindecken konnen, die
ein Gewehr bezahlen konnen, und hinterher konnen sie sich
mit den Gewehren gegenseitig um die Ecke bringen, die sie
bei ein und derselben Firma gekauft haben.
Nehmen wir zunachst einmal an, der Satz „Kunst eine
Waffe" sei tatsachlich in diesem neutralen Sinne gemeint, der
die Waffe Kunst alien, die sie bezahlen konnen, gleicherweise
zur Verfiigung stellt, so ergabe sich, daB in einem nachsten
Weltkriege alle Machte gegeneinander aufler Flugzeugen, Gas-
bomben, Uriterseebooten' und Spionen auch die Kunst mobili-
sieren konnten.
Nun^ wir wissen, daB im Kriege jedes Mittel recht ist,
und sehen wir auf die Jahre von 1914 bis 1918 zuriick, so fin-
den wir gewifi Beispiele, daB die kriegfiihrenden Machte zur
Propaganda bei den Neutralen auch die „nationale Kunst" her-
angezogen haben. Mit grofiem Geschick haben die Franzosen,
als deutsche Granaten die Kathedrale in Reims traf en, die
303
alten Sympathien der zivilisierten Welt fur ihre Kunst zur
Schiirung des Hasscs und der Verachtung gegen die „Boches"
benutzt, so wie die Deutschen es mit der heidelberger Ruine
machen, die eine willkomiiiene Illustration zur Brandmarkung
der „franz6sischen Kultur unter Ludwig XIV." bietet, dessen
Truppen hier unter Melac wie die Vandalen hausten.
Selbstverstandlich, in einem neuen Kriege wiirden auch
diese Giftbomben erst ihr groBtmogliches Riesenformat an-
nehmen. Die Waffe der gegenseitigen Verleumdung wiirde
nicht verfehlen, den Gegner auch der ruchlosesten Kunstlosig-
keit und Kunstbarbarei zu bezichtigen, auch wenn den Gift-
mischern sonst alles Kunstlerische einen Pappenstiel wert ist.
Aber wir werden uns wohl einig sein, daB, wenn die Mili-
tars die Kunst als Waffe derart benutzen, das mit Kunst gar
nichts zu tun hat. Nicht irgend welche kiinstlerischen Mo-
mente verwenden sie, sondern ganz einfach eine der vielen
Arten der nationalistischen Phrase. Es ware ihnen ja ganz
recht und willkommen, wenn alle Kathedralen und Schlosser
nicht nur auf der Gegenseite, sondern auch bei ihnen selbst
in Rauch und Schutt aufgingen, weil ja ein nationales
Kunstgut zur Aufpeitschung nationalistischer Gesinnung viel
geeigneter ist im zerstorten als im unbeschadigten Zustande;
und daft sie, wenn man aus Saul en Kanonenrohre machen
konnte, wenn man aus Tiirmen schieBen konnte, keine Se-
kunde zogern wiirde, alle erhabene, herrliche, einzige, deutsche,
franzosische, italienische Kunst zu faktischen SchieB-, Hieb-
und Stechwaffen zu machen, ist doch auBer Frage.
,,Aesthetik" scheint uns noch immer die richtigere Region
fiir Kunst als der ,,Militarismus",
Filme im Zeichen der Krise von Ernst Angei
y\ nnahme: Einer von uns hatte nichts gehort von Amerikas
wachsenden Wirtscbaftssorgen, von seinen schwindenden
Absatzmarkten, von seiner steigenden Arbeitsnot. Annahme
ferner, dieser zeitfremde Zeitgenosse lieBe sich die letzten
hach Deutschland gelangten Spitzenfilme amerikanischer Her-
kunft vorfiihren: Erzahlten ihm diese Bilder nicht deutlicher
von Krampf und Krise, als es Ziffern und Kurven vermochten?
Amerikanische- Prosperitat: das war ,,GoldrauschM und
der ,, General'*, Fairbanks und „Zwei junge Herzen\ Ameri-
kanische Krise: das ist „Monte Carlo" und „Heilige Flamme'\
, .Harold, halt dich fest!" und „City-LightsM.
Man mag es bei Chaplin einen Zufall nennen, daB seine
kunstlerische Krise mit der wirtschaftlichen seines Landes zu-
sammenfallt: Auch er fuhlt sich nicht mehr wohl in seiner
zweiten Haut, ist der Figur, die er so lange war, ^ntwachsen,
entlauf t der Form, die ihn kiinstlerisch nicht ntc. ernahren
kann: jener auBerlich tumultuosen Groteske voll tieterer Be-
deutung, deren Dienst es war, Milieus fiir Chaplin, Partner fiir
Chaplin, Situationen fiir Chaplin zu liefern; deren primitive
Figuren Commedia del'arte spielten, deren Raume — sche-
304
matisch mit Licht vollgeknallt — als Kulissen wirkten. Hatte
das Genie Chaplin kein Auge fiir differenzierte Photographie,
ahnte es nichts von moderner Filmarchitektur? Man erzahlt
sich, daB ein neuengagierter ausgezeichneter Architckt, der
es unternommen hatte, einen bessern Stil in die Chaplinschen
Filmbauten zu bringen, kurzerhand gekiindigt wurde. ffIch
kann Sie nicht brauchen", habe Chaplin dem Bestiirzten er-
offnet. „Sie sind ein zu guter Architekt!" Ja, diese Unvoll-
kommenheit war bewuBter Stil, und mit ihm eng verbunden die
Begrenzung des Umf angs, die Beschrankung in der Meterzahl,
die noch nicht gehalten war, den „Abend zu Hillen \
Schon seit „The Kid" zerrt Chaplin an seiner alten Aus-
drucksform, „ City-Lights" ist ihr — in vielen Phasen noch
groBartiges — Sterbeprodukt. Die gestreckte Groteske, die
noch kein dramatischer Film ist, klafft in ihren Teilen aus-
einander. Chaplin setzt an zu moderner Aufnahmetechnik,
Chaplin spiel t in gehaltenen GroBaufnahmen; Element e von
morgen sprengen die gestrige Form. Zwei Jahre Zogern und
Zweifeln haben den Film auseinandergedacht. Die Gewichte
haben sich verschoben: was fruher, als ,,Marchen", Stil und
Balance hielt, schlagt jetzt spiirbar aus als ,, sentimental"; was
fruher sprudelnder Einfall schien, ist zum „Gag" geworden.
Die Denkmals-Pointen sind zu prapariert — der Gully sinkt
und steigt zu programmgemaB — die geschluckte Trillerpfeife
trillert zu hauiig — die Flicken dee Landstreichers Chaplin
sind zu bunt gewiirfelt — der Film ist zu abendfullend.
Nicht seine Stummheit hat das Publikum diesem letzten
Chaplinfilm iibel genommen: es hat die Krise herausgefuhlt,
den Bruch einer alten Form, die noch nicht neu geformt ist.
Man sieht nicht gern einem Sterben zu — • grade wenn das zu-
gehorige Le.ben schon und begliickend war.
Einen halben Film lang einem hingezogerten Sterben zu-
zusehen, sich iiber seine komisch gemeinten Zuckungen zu
amiisieren, — . das mutet einem der letzte Harald-Lloyd-Film
zu („Harold, halt dich fest!")t der das Prinzip.der „Rettung im
letzten Augenblick'1 auf die Spitze, auf die Spitze eines Wol-
kenkratzers treibt. An dessen grausamer Fassade fahrt Harold
auf einem lacherlichen Materialaufzug hoch und nieder, ein
Spielball ahnungsloser Hande. Ein paar Dutzend Stockwerke
tiefer krabbeln BuBchens und Bahnleins. Der Aufzug schlingert,
schlagt und splittert gegen Mauervorsprung und Fensterrah-
men — die diinnen Brettchen biegen sich bedenklich — hun-
dertmal scheint Harold zu wanken, zu kippen, zu stiirzen —
hundertmal ergaunert er sich das schon verspielte Gleichge-
wicht zuriick. Dumme Stiefel treten den Kopf des hilflos
Turnenden, fallende Fenster klemmen seine klammernden
Hande — so tief schlaft kein sadistischer Trieb, daB er da
nicht wachgekitzelt wurde! Und wenn man hundertmal weiB,
daB die Gefahr keine ist, daB nur photographischer Trick
dieses unwahrscheinlich uberzogene Risiko vortauscht — um
so schlimmer! Hier jongliert die Groteske in unfairer Absicht
mit tragischen Ballen. Vor diesem durch nichts fundierten,
kalt rechnenden Spiel mit dunklen Instinkten, vor dieser plan-
305
maBigen Inflation letztcr Augenblicke, vor diesem offentlichen
MiBbrauch des tiefsten und unbegreiflichsten Begriffs, den
Menschen kennen, trenncn sich wahrhaftig die Rassen der Zu-
schauer: Die es nicht ekelt, die ,,niedlichen" Dressurakte peit-
schenfrommer Tiere mitanzusehen — die es nicht verdrieBt,
das tagliche Tadesrisiko keuchender Artisten gegen Entree zu
kaufen — die werden auch „Haroldf halt dich festi" komisch
finden und ganz und gar nicht peinlich.
Peinlich ist es auch, und nicht etwa tragisch, wenn junge
Ehemanner durch abscheuliche Zuf&lle (Flugzeugabsturz in
,,Die Heilige Flamme", Beinbruch in ,,Die Sehnsucht jeder
Frau") kurz vor der Hochzeit ihrer korperlichen Liebesfahig-
keit beraubt, erotisch auBer Gefecht gesetzt werden. Und
es ist die gleiche unfaire Spannung, die gleiche wohlberechnete
Nervenprobe, wenn man uns in diesen beiden Filmen das sinn-
lose Leiden der ausgeschalteten Manner, das langwierige
Kampfen und schlieBliche Fallen der entbehrenden Frauen
rnitansehen laBt.
Eine Nervenprobe ist es auch, der uns, trotz leichter
Hand, Lubitsch in tfMonte Carlo*' unterzieht — eine Ge-
schlechtsnervenprobe. Wie dort das Sterben, so wird hier die
andre letzte Konsequenz; das Lieben — mit alien Mitteln
einer hochpotenten Artistik durch einen ganzen Film hindurch
hinausgeschoben. Auch hier im Anfang ein verhinderter Ehe-
mann. Doch welche Kiinste bietet Lubitsch auf, den vorent-
haltenen Akt zu rationieren!
Wenn die Balz beginnt, nimmt Rudolf, der sich als Friseur
in die Dienste der Geliebten eingeschlichen hat, nach einem
von holden Eindeutigkeiten gewiirzten Engagementsgesprach
vor allem einmal eine raffiniert aufgebaute Ersatzhandlung
vor: damit ihr hairdresser sie „iachmannisch" behandeln kann,
klagt die Comtesse liber Kopfschmerzen. Indem er mit sanf-
ten Finger spitz en ihre Kopfhaut knetend reibt, an den Nerven-
punkten angenehm verweilend, absolviert sie alle Stadien von
emporter Weigerung iiber zappelndes Widerstreben bis zum
stilleri Wonnekut der Hingabe . . . Noch eine kurze Nachbe-
handlung — zartliche Vibrationsmassage des Arms: ((. . . und
was du mir tust, ist gutl..." Mit dieser Talentprobe hat sich
der vorher schon gekiindigte Friseur wieder voilig legitimiert:
„Sie bleiben!'*
Jetzt, sollte man meinen, steht der Sache selbst nichts
Ernsthaftes mehr im Wege? Es kommt auch ziemlich schnell,
umflattert von dreihundert Tausend-Francs-Scheinen, zu
einem praludierenden KuB. Aber — man soil es sich nicht zu
leicht machen — diese Liebesnacht wird nur singenderweise
durch die vierfach verschlossene Tiir fortgesetzt, um am nach-
sten Morgen in einem kiinstlichen Riickzieher der Comtesse
zu enden: er sei in ihren Augen nur ein Friseur, kein Mann!
— versetzt sie herausfordernd dem doch offensichtlich Gelieb-
ten. Mit Recht fiihlt der sich in seinen mannlichsten Teilen
wild provoziert: Er sperrt die Tiir ab, zieht sein Sakko aus
— Wird er endlich...? Werden sie...? — aber nur, um in
hoflicher Ironie den Friseurmantel anzulegen . , . Wieder
306
nichts? Oder doch? Herrisch reiBt der Friseur die angenehmv
Erschrockene in seine Arme, ktiBt sie erst kirre, tragi dann
die sichtlich Liebesbereite zur harrenden Couch — und ver-
laBt abrupt, um nicht zu sagen: interrupt, In direkt gesund^
heitsschadigender Rticksichtslosigkeit das Schlafziramer!*
Werden sie nicht doch noch...? — Unbesorgt, sie wer*
den! So versprichts nach weitern Wendungen und Windun*
gen das happy end des Films. Hoffentlich ist ihnen inzwischen
nicht die Lust vergangen, die man uns und ihnen so genieBe-
risch aufgespart hat.
Man verstehe richtig: Nichts gegen das Motiv vom ver-
schleppten Liebesakt! Gut die Halfte aller Weltliteratur, be-
sonders der dramatischen, hat sich in diesem ewigen Rahmen
erfiillt. Da greifen Charaktere, Handlungen, Ideen hemmend,
fordernd und verstrickend in die Liebestriebe zweier Men*
schen ein . , . Diese MWiderspenstige" aber ist gar nicht wider-
spenstig! Sie ist in Wahrheit von allem Anfang an entschlos-
sen, mit diesem Rudolf baldmoglichst zu Bett zu gehen, und
wenn es Hindernisse gibt, so sind sie nur an jenen Haaren
herbeigezogen, die fiir gewohnlich nicht der Friseur zu behan-
deln pflegt . . .■ Kein Wort auch gegen den Selbstzweck, die
Spanne zwischen Wunsch und Gewahrung lustvoll zu dehnea
— doch sollen solche Umwege geschmackvoller ohne Zeugen
genossen sein.
„Harold, halt dich fest": die Groteske krepiert an der ge-
blahten Sensation. „ Monte Carlo"; die Komadie erstickt art
der erotischen Situation. Hier wie dort das fast tabellarisch
auskalkulierte Spiel mit letzten Konsequenzen, deren ar-
tistische Werte eingesetzt, deren Erlebnisinhalte ausgeraucht
sind. Liebe. und Tod errechnet als Kitzel und Spannung, ent-
leerte Formen und verlorene Zusammenhange, fruchtlose
Technik und tauber Aufwand — sind das nicht Zeichen der1
grofien Krise?
Vielleicht, daB das Genie ein Vorrecht hat, sich drei
Schritt abseits der Zeit abzuspielen, daB Chaplin sich sein
Sterben und Werden noch hochst personlich kommandiert —
den iibrigen, iiirchten wir, konnte selbst eine neue Konjunk-
tur nicht mehr helfen.
Lehar am Klavier von Peter Panter
Cs gibt in London einige Kinos, deren Programme nur aus
einer tonenden Wochenschau bestehen, das ist recht lustig;
mitanzusehn. Natiirlich ist dieses Zeug zensiert, gesiebt, ge-
priift und noch einmal gepriift — vom Hersteller bis zum Zen-
sor eine einzige Kette von: ,,Pst! Das konnen wir nicht machen!'
Aufnahmegenehmigung verweigert!", und das interessanteste an
dieser Wochenschau ist sicherlich das, was sie alles nicht und
niemals bringt.
Sie zeigt hauptsachlich Massen: Feste und Aufziige und
immer wieder Militar und Flottenrevuen in tausend verschied-
nen Aufmachungen, Der Steuerzahler hat ja' etwas von seinem
307
Militar: nicht nur, dafi er gratis totgeschossen wird, wenn die
nationale Ehre es erfordert, nein, schon im Frieden ersetzt ihm
das Militar die groBe Oper. Das bekommt man hier alles zu
sehn.
Und Renneii wcrden vorgefiihrt, die so geschickt photo-
graphiert sind, daB man auch vara besten Platz niemals so viel
und so gut beobachten konnte . . . und plotzlich, mitten in Lon-
don, was war denn jetzt dos? Da hatten wir den Herrn Lehar.
Ein Text zeigt an, daB er nun gleich erscheinen wird, und
daB er uns etwas auf dem Klavier vorspielen wird, und' daB man
auch zugucken konnte, wie er an einer neuen Operette arbei-
ten- tate. Ich sehe solche unanstandigen Sachen fur mein Le-
ben gern, und vor Aufregung kniff ich mir ins Bein, weil keiner
da war, den ich hatte kneifen konnen — und los gings. Da
war er.
Da saB also ein ziemlich dicker, gemutlicher Mann an
einem Klavier, und die Wochenschau sprach mit seiner Stimme:
„Ich Ireie mich, daB meine Melodien in der ganzen Welt
gespielt werden, und ich he ere, daB man mich nun auch mal
sehen mechte . . . und daher ..."
Und daher spielte er uns zunachst auf einem sehr maBigen
Klimperkasten je ein paar Takte aus seinen alten Operetten,
von denen ja die „Lustige Witwe" wirklich hiibsche Musik ent-
halt. Und dann spielte er dieses, und dann spielte er jenes,
und warum soil er nicht, das ware ja alles gut und schon. Nun
aber kam das mit der neuen Operette — wir sollten einen
Blick in die Werkstatt des Meisters tun.
In der Werkstatt standen zwei Libre ttisten.
Allmachtiger Vater im Himmel, der du die Kasemaden er-
schaffen hast und den Hitler, die Hundewiirstchen und
schwarze und rote Pfaiieri und die fleischliche Liebe mit Kom-
pott — lieber Gott, das hattest du nicht tun durfen! Das nicht.
Aber es war sehr lehrreich.
Die ischler Kurpromenade kenne ich nur in unbevolkertem
Zustand, aber jetzt weiB ich endlich, wie die Leute aussehen,
die in Lehars „Friederike" den Satz aufgeschrieben haben:
„Ja, hier ist alles in Poesie getaucht!" Da standen die beiden
Taucher, und es war ganz herrlich. Der eine, der Kleirie, sagte
gar nichts, er stand nur da und. war der Textdichter. Der
groBere Taucher aber, das war der, der die schonen Lieder
schreibt, und eines davon hatte er auf einem Papier in der
Hand, und sie taten so, als seien sie in der Werkstatt,, das
waren sie aber nicht, dazu wurde zu wenig gefuchtelt, es ging
alles so ruhig her, und der Taucher sagte zu Lehar: „Spiels
amal, damit wir sehn, obs auch klappt!"
Und Lehar spielte, und der Taucher sang mit . , , nein, das
ja nun nicht, denn er konnte nicht singen, und das kann ja auch
kein Mensch von ihm verlangen, Gott, es singen so yiele, die
das nicht konnen! Und er fing an:
Wenn die Liebe will,
stehn die Sterne still...
aber da unterbrach er sich und sprach: ,,Ich deute nur an"
und dann deutete er an:
308
tlUnd die ganze Erde wird ein Marchenland!" — und Lehar
paukte, und der Kleine stand dabei, und:
„Der Erfolg eincr Operctte hangt in hohem MaBe von
cinem guten Libretto ab. Die Personen des Stuckes miissen
lebenswahr gezeichnet und ihr Schicksal dem Verstandnis des
Publikums nahe gebracht werden. Ich nehme gewohnlich ein
Libretto nur dann an, wenn mich das Geschick der Heldin des
Stuckes packt tund wenn mich die Erlebnisse des Helden so ge-
fangennehmen, als handele es sich um meine eigene Person.
Die Schiirzung des Knotens und dessen.Losung muB zwanglos
und in logischem Zusammenhang erfolgen." Also sprach Lehar,
Es war sehr erhebend. Man horte ordentlich den Tenor,
wie der das aber nun hinlegen wiirde. Ein- mannlicher Kri-
tiker sollte niemals etwas uber Tenore aussagen — wir sind
da nicht kompetent. Wenn die Frauen so leise zerfliefien, weil
der Tenor im Falsett haucht: davon verstehen wir nichts, das
ist ein physiologischer Vorgang, und Manner haben ja nur ganz
selten einen Uterus. Wir miissen uns bescheiden: es ist dies
eine Art, der Liebe teilhaftig zu werden, die uns verschlos-
sen bleibt
tlWarum besitzt nun die Operette cine weit groBere An-
ziehungskraft auf das Publikum als irgend ein anderes Biihnen-
werk? Meiner Meinung nach liegt es daran, daB die Operette
dem allgemeinen Gescnmack am meisten gerecht wird. Die
Oper, das Schauspiel, die Komodie, ebenso wie Novelle. oder
Gedicht bleiben in ihrer Wirkung auf einen Teil des Publikutms
beschrankt. Die Operette dagegen wendet sich an die gesamte
Bevolkerung und findet iiberall Liebhaber. Man hat oft genug
behauptet, daB die Operette dem seichten Geschmack des
Publikums entgegenkomme. Trotzdem mochte ich behaupten,
daB eine gute Operette durchaus geschmackbildend wirken
kann. Dem kultivierten Zuschauer schafft sie Anreguing und
Vergniigen, wahrend sie andererseits den Geschmack primitiver
Naturen zu heben geeignet ist. In der Operette macht sich die
Kunst sozusagen uber sich selbst lustig. Der dramatische Sinn
lacht uber die torichten Verwicklungen des Lebens, der musi-
kalische Sinn freut sich der graziosen und spielerischen Fliissig-
keit der Melodien, das Auge ergotzt sich an den prachtigen
Kostiimen und den stilvollen Dekorationen. Alles in der Oper
rette dient nur dem einen Zweck, dem Zuschauer eine unge-
triibte Freude zu bereiten. In jedem Menschen schlummert,
wie Nietzsche sagt, das groBe Kind. Diese Bemerkung trifft
auf jeden Zuhorer der Operette, besonders aber auf die Frau
zu, die machtigste Verbundete der Operette. Sie sieht sich
selbst in der Primadonna verkorpert, von der Bewunderung,
die man der Heldin entgegenbringt, fuhlt sie sich selbst um-
schmeichelt. Fur die Frau tragen alle Operetten den Titel:
Wie gefalle ich dem Mann? Aus Musik, Text und darstelle-
rischer Leistung schopft sie neue Kenntnis der Anmut und
Kunst des allewigen Liebesspiels." Also sprach Lehar.
Dabei klingen alle seine Melodien ganz gleich, es ist ge-
wissermaBen die ewige Melodic, und man kann sie alle unter-
einander auswechseln. Puccini ist der Verdi des kleinen
Mannes, und Lehar ist dem kleinen Mann sein Puccini.
309
Und dieser Dreck ist international, und die ausiibenden
Kiinstler bilden sich gewiB ein, sie erfiillten cine ho he Kultur-
mission, wenn sie das Zeug in aller Welt sangen. „Denken Sie,
der Mut! Er singt in England und nun gar vor dem Konig
deutsch!" Die nationale Ichbezogenheit der Deutschen glaubt
ja gern, daB uberall ftetwas passiert", wenn sie auftauchen; es
geschieht aber in Wahrheit gar nichts, und in London kann
einer abessinisch, nordchaldaisch, deutsch oder hebraisch sin-
gen: wenn er nur gut singt.
Brot und Spiele , . . Mit dem Brot ist es zur Zeit etwas
diinn. Na, da spieln mir halt, Lehar, mein Lehar, wie lieb ich
dich — !
Alle spielen Blindekuh von AHce Ekert-Rottiboiz
W
enn wir alles das wuBten, was wir nicht wissen
Unser Leben ware nochmal so bescheiden . . .
Wenn wir wuBten, dafi wir am 12, Dezember 19 . , beim Mittagessen
sterben werden
Dann war dieser angesagte Tod
ein Gummiknuppel, der standig droht.
Wir werden ausbrennen,
Ganz plotzlich. Wie unser elektrisches Licht , . ,
Aber noch konnen wir: leuchten —
Denn wir wissen es nicht,
Wenn wir wiiBten, daB unsere Hebe Ehebraut uns zu Neujahr
verlassen wird
Wir wurden ihr erstens nichts mehr zu Weihnachten schenken
Und von Anfang an nur an dies Ende denken,
Sie wird uns verlassen,
Aber noch gehort uns die Stimme, der Duft, das geliebte,
kleine Gesicht . . .
Noch konnen wir kiissen
Denn wir wissen es nicht,
Wenn wir wiiBten, daB unser kleiner Angestellter uns vom Chefsessel
stoBen wird
Wir wurden ihm nicht ganz so gonnerhaft die Schulter klopfen
Sondern ihm dafiir den Zugang zum Innenbetrieb verstopfen,
Er wird uns stofien,
Aber noch tragt er sein gesichtloses Untergebenengesicht , , .,
Noch konnen wir klopfen —
Denn wir wissen es nicht,
Wenn wir wiifiten, daB unsere kleinen Sonne im August 19 , , zum
frohlichen Schlachtfest
marschieren werden
Wir wurden wie in roten Nebeln gehn
Und uns keine Militaroper im Kino besehn, j
Sie werden marschieren.
Auf zum Gasmaskenball ! Pour le credit! Fur die Pf licht!
Aber noch konnen wir scherzen —
Denn wir wissen es nicht.
Wie praktisch, daB wir nichts von Morgen wissen!
Was wiirde sonst aus unserm festen Schlaf?
So ist man bis zum Tod ein neugebornes Schaf . . .
Nichts wissen ist ein sanftes Ruhekissen,
310
Bemerkungen
Das Verbot des »Aiigrifts'
p\ er Polizeiprasident von Ber-
*^ liii hat das Blattchen des
Herrn Goebbets verboien, weil
es den hanebiichenen Schwindel
kolportiert hat, das Eisenbahn-
attentat von Juterbog ware von
Reichsbannerleuten inszeniert
worden. Die liberale Presse zollt
diesem Verbot lauten Beifall und
fordert weitere strenge MaB-
nahmen.
Wir konnen uns dieser Forde-
rung nicht anschliefien, weil sic
an die Grundlagen der -Presse-
freiheit ruhrt. Morgen konnen
schon andre Herren regieren als
heute. Die gleichen Verordnun-
gen, die heute einen unbestreit-
baren Exzefi ziichtigen, konnen
morgen schon eine unbequeme
Wahrheit unterdriicken. Es gilt
den Anfangen zu ^vidersttfeben,
mag der Widerstand auch, wie
hier, aus moralischen und ge-
schmacklichen Griinden noch so
schwer fallen.
Das Reichsbanner hat als poli-
tische Organisation auf keinen
andern Schutz Anspruch als auf
den in den Gesetzen vorgesehe-
nen. In dieser Zeit sind alle po-
litischen Gruooen, und die oppo-
sitionellen nicht zum wenigsteri,
beschimpft und verleumdet wor-
den, Es gibt keine politisch ak-
tive Gruppe, die nicht schon mit-
ten im Streukegel der Schmutz-
granaten gestanden hatte, Pazi-
fisten werden von Frankreich be-
zahlt, Kommunisten von Moskau
— nicht wahr? Der Vorwurf, ,
das Reichsbanner ware am
Attentat auf den D-Zug beteiligt,
ist nicht intelligenter als der von
der gesamten berliner Presse
gegen die KPD erhobene Vor-
wurf, sie hatte die Polizisten-
morde am Biilow-Platz veranstal-
tet. Und doch hat das Polizei-
presidium nicht daran gedacht,
im Interesse der innern Sicher-
heit und Ordnung auch nur ein
einziges Blatt deswegen zu ver-
bieten. Es hatte dann mit dem
,Vorwarts' anfangen miissen,
Grundsatz muG. bleiben: die
Presse reguliert sich selbst ! Sie
k amp ft gegen die unanstandigen
Erscheinungen in ihren Reihen,
verzichtet dabei aber, das troja-
nische Pferd der Staatsautoritat
in ihre Mauern zu hoi en. Das
ware Selbstmord in einer Zeit
der Ausnahmegesetze, wo es dem
Staat nicht so sehr darauf an-
kommt, die schlechte Presse zu
unterdriicken als vielmehr die
Meinungsfreiheit iiberhaupt zu
beschranken. Keine Silbe zu-
gunsten des kleinen Goebbels,
der mitsamt seinem Walkiiren-
chor baldigst nach Nebelheim
fahren moge, aber alles fiir jene
Presse, die heute noch den Mut
zum freien Worte findet.
lasseh sich leichter I6sen beim. Genua einer anregenden Abdulla- Cigarette!
Standard .... o/M. u. Gold ... . StOdc 5 Pfg*
Coronet ... m. Gold u. Stroh/M . . Studs 6 Pfg.
Virginia Nr. 7 . . o/M; . , -. ... Stuck - 8- Pfg.
Egyptian Niv 16 o/M. u. Gold .. . . . Stuck 10 Pfg.
Ahctulla -Cigarettes geniefien Weltruf !
Ahdvlla ct Co. Kaifo ' London / Berlin
311
Herr Wichtig
I m Verlag Orell Ftissli in Zurich
* ist ein kleines Buch von Rolf
Italiaander erschienen „So lernte
ich segelfliegen'V Der Vcrfasser,
ein Sechzehnjahriger, erzahlt dar-
in von einem Segelf liegerkurs,
den er in Rossitten besucht hat;
ein wenig zu fertig, nicht ganz so
unmittelbar, wie man sich das
wiinschte — aber im groBen gan-
zen recht sympathisch. Wir erfah-
ren aus dem Biichlein dies und
jenes, auch, dafi es bei dieser Er-
ziehung durch alte Offiziere nun
einmal nicht ohne jene milita-
rische Schroffheit abgeht, die auf
die Betroffnen wie siifie Liebko-
sung wirkt » , . also das ist ein
masochistischer Erbf ehler. Nun
aber hat das Buch ein Vorwort,
und das sieht so aus:
Lieber Rolf Italiaander!
Soeben bin ich mit dem Manu-
skript Ihres „So lernte ich segel-
fliegen" fertig. Das war mir
eine hocherfreuliche Weihnachts-
lektiire. War ich doch selbst im
August dieses Jahres zum ersten-
mal in Rossitten gewesen und
stand noch ganz unter dem Ein-
druck dieser Landschaft und die-
ser Schule!
Der Segelflug ist ein stolzes
Zeugnis fur die Leistungen deut-
schen Geistes trotz schwerster
auBerer Bedriickung,
Freut euch, ihr deutschen Jun-
gens und — Madels, an dieser
Schilderung deutscher Jugendlust
beim Segelflug I
Dominicus
Staatsminister a. D,
1. Vorsitzender des Deutschen
Luftfahrverbandes,
Man sieht den Mann: ein ehe-
maliger Kommunalbeamter, be-
hangt mit Titeln und einem ewi-
gen Gehrock, etwas Grausliches.
Frage: Warum ist der Segel-
flug ein stolzes Zeugnis deut-
schen Geistes trotz. schwerster
auBerer Bedriickung? Das ist
doch gar nicht wahr. Diese Jun-
gen da freuen sich an einem
Sport, das geschieht in jedem
Lande, und es sei ihnen gern
gegonnt, Wozu muB in diese,
wie man denken sollte, harmlose
Betatigung das Gift des Natio-
nalismus hineingetragen werden?
Weil in Deutschland keine
Verdauungsstorung vor sich geht,
ohne dafi nicht einer dazu brtillt:
„Im Felde unbesiegt ! Trotz
allem! Hurra!" Sie bekommen
es sogar fertig, ein Fliegerdenk-
mal zu errichten, auf dem diese
Unwahrheit prangt:
Wir toten Flieger
Blieben Sieger
Durch uns allem,
Volk
Fliege wieder
Und du wirst Sieger
Durch dich allein,
Schon, aber falsch. Die toten
Flieger sind j ene, die abge-
schossen, also unterlegen sind —
was ihnen gewiB nicht zur
Schande gereicht. Aber aus einem
AbschuB, den man im umge-
kehrten Fall als Glorie feiert,
einen Sieg zu konstruieren* das
geht doch wohl nicht an.
. Rossitten, Segelflug an der
Rhon. Herr Dominicus, Staats-
minister a- D. Verein fur das
Deutschtum im Ausland. Es ist
iiberall dasselbe.
Es ist ubelste Wichtigmacherei,
Nationalismus, geistige Auf-
riistung an alien Ecken und En-
den und Reklame fur den nach-
sten Krieg,
Igncn Wrobel
BdYinRa
zeigt jedem Menschen und jeder Gruppe den einzig mOglieben Weg, aul
dem Ittr jedes Zeitproblem die Losung zu finden ist. (Neue ZurcHer Zeitung.)
N&heres fiber ihn und sein Werk sagt die ^infuhnmgsschrift von Dr. Alfred
Kober*8taehelia, kostenlos zu beziehen in jeder Buchhandlung, sowie vom
Verlag : Kober'ache Verlagsbuchbandlung, Basel und Leipzig. Gegr. 1816.
312
Was sich auf der Erde begibt,
wenn die Ernte gut ist
Washington, 13. Aug. (United
PreB.) In den Baumwollstaaten
des Sudens herrscht eine vollige
Panikstimmung infolge der un-
erwartet hohen Ernteschatzung
des Landwirtschaftsamtes.
Pessimisten rechnen bereits
damit, daB die Baumwollpreise
auf den unerhorten Tiefstand
von 5 Cents pro Pfund herabsin-
ken werden. Der Vorschlag des
Landwirtschaftsamtes, gegebenen-
falls ein Drittel der Ernte zu
vernichten, wird als eine Ver-
zweiflungsmafinahme angesehen,
die schwerlich durchfuhrbar sein
wiirde, GewiB wird darauf hin-
gewiesen, daB die Ernte infolge
schlechter Witterung oder durch
Insektenschaden hinter den
Schatzungen der Regierung zu-
ruckbleiben konnte.
Washington, 13. Aug. (Wolff.)
Das Federal Farm Board hat den
Gouverneuren der 14 baumwoll-
erzeugenden Staaten telegra-
phisch anempfohlen, den Pflan-
zern nahezulegen, ein Drittel der
bevorstehenden Baumwollernte
einfach zu vernichten. Als Gegen-
dienst verpflichtet sich das Farm
Board, seinen OberschuB an
Baumwollvorraten ein Jahr lang
zuriickzuhalten. Der Vorsitzende
des Farm Board, Stone, erklarte
in einem Telegramm an die Gou-
verneure; Wenn dieser Vorschlag
voll durchgefuhrt wird, so be-
deutet er eine Verminderung der
ges'amten Baumwollernte um min-
dcstens vier Millionen Ballen
und eine Einschrankung der Be-
lieferung des diesjahrigen Mark-
tes um weitere drei Millionen
Ballen.
Washington, 13. Aug. (United
PreB.) Auf die Empfehlung, ein
Drittel der diesjahrigen Baum-
wollernte zu vernichten, die, wie
gemeldet, das Bundes-Landwirt-
schaftsamt an die Gouverneure
der 14 Baumwollstaaten drahttit,
haben einige Staaten bereits ge-
antwortet. Texas ist bereit, hier-
bei mit dem Bundes-Landwirt-
schaftsamt zusammenzuarbeiten,
ebenso der Staat Mississippi. Der
Staat Louisiana bindet sich in
seiner Antwort nach keiner Seite
hin, wahrend Nord-Carolina be-
reit ist, mit alien seinen Kraften
mitzuarbeiten. In der Antwort
des Staates Florida wird eine
Aufstapelung der Vorrate einer
Vernichtung vorgezogen. Soweit
sich iibersehen lafit, sind die
Baumwollpflanzer nicht dem Vor-
schlag geneigt, jede dritte Reihe
auf den Baumwollfeldern einzu-
pflugen, statt abzuernten. Andrer-
seits daubt man, daB die Pflan-
zer doch nicht ihre ganze Ernte
einbringen, vielmehr groBe Men-
gen Baumwolle auf den Feldern
stehen lassen werden.
Der Heiiige der Notveiordnung
. . . Ich weiB schon, wer das fer-
tigbringt. Wir werden die Not-
verordnung dem lieben hi. Franz
von Assist in die Hand geben,
Er wird sie durchs Land tragen
und sogar noch die Laute dabei
spielen. An seiner Seite sollen
gehen die hi, Elisabeth und der
hi. Antonius. Die drei kommen
aus den Anfangen des kapitalisti-
schen Zeitalters und haben die
Liebe erneuert, als die Gewinn-
sucht anfing, die Menschen har-
ter zu machen. Nichts mehr
brauche ich hier hinzuzufugen,
ist doch alles gesagt in dem einen
Gedanken; Die Notverordnung
gehort in die Hand des hi. Fran-
ziskus... Er wird es schon
schaffen.
Pater Muckermann in der
,Essener Volkszeitung*
$
Rudolf Arnheim: Sfframe von der Sulerle
25 Aufsatze: Psychoanalyse, Negersanger, Spiritismus, Er-
ziehung, Boxkampf, Oktoberwiese, absolute MalereJ, Greta
Garbo, Russenfilm, Fritz Lang, moderne Moral u. a,
Einleitung : Hans Relmann — BUder: Kail hpltz. QM 4
Zu beziehen durch Verlag der WeltbOhne Wit fct
313
Das Lied vom Dingeldey.
TO/os 1st des Deutschen Volks-
w partci?
Ich rufe es in den Wald und
lausche;
da kommt ein verworrencs Ge*
rausche;
Dingel-dey!
Dingeldey!
Die Huhner lachen in den Stallen
und lassen was fallen, aber kein
Ei;
die Hunde heben das Bein statt
zu bellen —
Dingel-dey!
Dingeldey!
Ein altes Weibchen loffelt Brei;
der letzte Zahn ist ihm ent-
schwunden;
es mummelt und hat doch etwas
gefunden:
Dingel-dey!
Dingeldey!
Die mit dem Bauch und mit dem
Schinken.
die fuhlen sich so beherzt und
frei,
wenn sie ihm: Prostchen! und:
Wohlsein! trinken —
, Dingel-dey!
Dingeldey!
Die Infantrie und Reiterei,
die ollen Grofipensionsverzehrer,
die prasentieren ihm die Ge-
wehrer:
Dingel-dey!
Dingeldey!
Gibt es ein hoheres Gltick auf
Erden
als so von all em, was vorbei
und modrig ist, geliebt zu wer-
den —
Dingel-dey!
Dingeldey!
Peter Scher
Oberfalt auf die Reichsbank
p\ie Reichsbank bittet uns mit-
*■' zuteilen, daB der Oberfall
auf ihre Filiale in der Inns-
brucker Strafie nicht von ihr zu
Reklamezwecken veranstaltet
worden ist. Wie nichtig dies Ge-
rede ist, beweist schon der Urn-
stand, dafi es sich dabei um mas-
kierte Rauber gehandelt hat. Die
Leute, die das Reich bestehlen,
tragen keine Masken.
Liebe WeltbQhne!
*7 war bin ich kein Burger der
" Universitat, aber ich komrae
doch manchmal hin. Bei so einer
Gelegenheit muBte ich mal hin-
aus. Und wie uberall die Hitler-
leute bei Bedtirfnissen das Be-
dtirfnis haben, ihre kernigen
Spruche an die Wand zu malen,
so auch hier. „Heil Hitler", „Hoch
das dritte Reich" etcetera. Am
meisten und am dicksten stand:
„Juden raus!" Und unter jedes
dieser Judenspriichlein hatte
einer druntergesetzt: „Hitler hier-
bleiben".
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutsche Liga Mr Menschenrechtc. Sonnabend 16.30: Internationales Freundschafts-
treffen anlafilich der Anwesenheit von Austauschschulern aller Nationen im Kaiser-
garten am StdBensee.
Hamburg
Weltbfihnenleser. Freitag 20.00. Timpe, Grindelallee 12: Struktur und Konjunktur-
krise, Stern uud Dr. Richter.
BOcher
Alfred Kurella; Mussolini ohne Maske. Neuer Deutscher Verlag, Berlin.
Rundfunk
Dienvtag-. Konfgswusterhausen 17.30; Die mod erne Franzosin im Leben und in der
Literatur, Felix Stossinger. — Breslau 20.30: Querschnitt durch deutsche Bauern-
dichtung von Rudolf Mirbt. — Leipzig 20.30: Otto Bernstein liest aus Wielands
Abderiteh. — Mittwoch. Berlin 17.15: Praktische Fursorge iiir Jugendliche, Kurt
Groflmann. — Munchen 21,00: Fur Ludwig Thoma. -^Leipzig 21.10: Querschnitt durch
bwiwig Thoma von Erich Fortner. — Oonnerstajr. Berlin 18.35: Qie Salzburger
Festspiele. Herbert* Iheririg. — Leipzig 19;00; Das welt- und Lebensbild , Theodore
Dreisers Ton M. Kunath. -^-20.30: Prometheus, Literatur und Musikl — Freitag.
Breslau 17.45: Theodore Dreiser, Franz Fein, — Berlin, 1835; Die neue literarische
SaUblt; Gottfried Benn. —Sonnabend. Berlin 19.30: KulturliberaHsmu$, Samuel
Saenger und Herbert Blank/
3»
Antworten
Licht Bild Biihne. In Ihrer Ausgabe vom 17. August verunzieren
Sie unsre sachlich klaren Anschuldigungen gegen die dramaturgische
Abteilung der UFA mit torichten Verdrehungen und schielen dabei
wohl auf den grofiten deutschen Filminserenten, der Ihren Verleger
bereits genugsam am eignen Leibe wie auch durch publizierte Prozefi-
berichte als )(provisionellen Zwischenverdiener" kennen gelernt hat
Abgesehen davon, dafi grade Ihnen also die moralische Berechtigung
zu solchen Bemerkungen nicht zukommt, haben Sie unsre Ausfuhrun-
gen weder richtig gelesen noch verstanden. Denn wir sind seit Be-
stehen unsrer Zeitschrift gegen jegliche verwerfliche Vermittlertatig-
keit, kennen aber die fast traditionelle Abneigung der Filmindustrie
gegen Originalstoffe und glaubten die Offentlichkeit von den unhalt-
baren Zustanden innerhalb der dramaturgischen Abteilung der UFA
unterrichten zu miissen. Eine Klage der UFA gegen uns und den
Verfasser des Artikels ist uns bisher nur aus dem von Ihnen ange-
fiihrten Artikel des ,Montag Morgen' bekannt. Einem gerichtlichen
Vorgehen der UFA sehen wir in aller Ruhe entgegen, waren aber von
vornherein davon iiberzeugt, daB durch den Mund des offiziellen
UFA-Organs .Kinematograph' bewufit falsche Melodien verbreitet
wiirden.
Kampfkomitee fiir die Freiheit des Schrifttums. Sie verbreiten
an die * Unterzeichner Ihres auch hier, in Nummer 31, abgedruckten
Aufrufs ein Rundschreiben, in dem es unter anderm heiBt: „Hin-
gegen sind aus dem Komitee ausgeschieden: Doktor Kurt Hiller,
Walther Karsch und Doktor Erich Kastner, da sie mit dem Be-
schlufl des Komitees, die Notverordnung gegen Pressefreiheit in ihrer
Gesamtheit zu bekampfen, nicht einverstanden waren. Die genann-
ten Herren wunschten, den ersten Paragraphen der Notverordnung,
der den Regierungen das Recht zu Zwangsveroffentlichungen in alien
Zeitungen einraumt, von der Bekampfung auszuschlieBen." Hierzu
erklaren Kurt Hiller, Walther Karsch und Erich Kastner: „Diese
Darstellung , ist von A bis Z unwahr. Es entspricht nicht den Tat-
sachen, daB wir mit einem BeschluB, die Notverordnung in ihrer
Gesamtheit zu bekampfen, nicht einverstanden waren. Wir haben uns
nur der Zumutung widersetzt, daB niemand seine im Einzelnen ab-
weichende Meinung kundgeben diirfe und daB alle Mitglieder ver-
pflichtet sein sollen, die Notverordnung Jn jedem Punkt zu bekampfen.
Da wir glauben, daB das Prinzip des § 1 zu billigen ist und
keinen Eingriff in das Recht der freien MeinungsauBerung be-
deutet, man nur fordern muB, daB die Redaktion auch auf Be-
richtigungen sofort antworten diirfe und daB der Umfang des un-
entgeltlich aufzunehmenden Regierungstextes begrenzt werde (was
inzwischen ja geschehen ist), so blieb uns nur der Austritt iibrig, da
wir uns dem Gewissenszwang nicht beugen wollten, ein Prinzip zu
bekampfen, das wir fiir richtig halten. Vor allem aber ist es un-
wahr, daB wir wunschten, den ersten Paragraphen von der Bekamp-
fung auszuschlieBen. Es ist uns gar nicht eingefallen, unsrerseits
auf irgendjemanden einen Gewissenszwang auszuuben. Wir wollten
niemanden in seiner Agitation gegen den ersten Paragraphen behin-
dern, nur verlangten wir fiir uns das Recht, unsre abweichende Mei-
nung kundzutun. Ware nicht bei der kommunistischen Mehrheit
der Teilnehmer jener Sitzung die Tendenz deutlich spiirbar gewesen,
uns das Mitarbeiten zu erschweren, wenn nicht uberhaupt un-
moglich zu machen, so hatte man sich einigen konnen, um so mehr,
als wir unsern Kampf in erster Linie gegen den Paragraphen 2 der
Notverordnung zu richten haben, der bestimmt, daB Druckschriften
beschlagnahmt, eingezogen und, falls es periodische sind, bis zu sechs
Monaten verboten werden konnen, ,wenn durch ihren Inhalt die 6f-
315
fentliche Sicherheit und Ordnung gefahrdet sind\ Dafl einige dcr
Mitglieder sogar der Ansicht waren, man miisse in erster Linie den
Paragraphen 1 bekampfen, zeigte uns, wiees mit dem Willen dieser
Mitglieder bestellt ist, iiber das blofie Protestgeschrei hinaus dem
AusschuB eine so breite Basis zu geben, dafi die Verwirklichung
unsrer Forderungen aussichtsvoll erscheint. Wir hatten vor, die
Tatsache unsres Austriits nicht offentlich bekanntzugeben. Die Un-
wahrheiten, die der AusschuB verbreitet hat, zwingen uns leider, sie
in aller Offentlichkeit zu berichtigen, besonders da die Zusage eines
Komiteemitgliedes, eine Gegenerklarung von uns an die Empfanger
jenes Briefes zu verbreiten, vom Komitee nicht erfullt wurde. Das
Komitee hat einen Brief Walther Karschs an dieses Mitglied und die
darin enthaltenc Erklarung in einem den Kern der Sache nicht be-
riihrenden Schreiben beantwortet und stellt in Aussicht, ,mit dieser
Angelegenheit, die zur Klarung der Frage, was eigentlich Kampf der
Fortschrittlichen gegen Reaktion bedeute, vor die Offentlichkeit zu
treten*. Wir sehen diesem Schritt mit Fassung entgegen."
Fritz Goldenring. Sie schreiben: „Unser hoher Reichsfinanzhof
hat es nicht leicht. Da klagte vor einiger Zeit ein Monchsorden
auf Steuerbefreiung. Die Monche wollten als ,Berufsverband' an-
gesehn werden. Aber der Reichsfinanzhof wies sie ab. In der Ur-
teilsbegrundung definierte der Richter den Begriff ,Beruf. Und da
liest man nun restlos entzuckt: fBeruf ist die Hingabe einer physi-
schen Person an ein Tatigkeitsfeld, das sich als eine Funktion im
Leben des Gesamtorganismus darstellt.' (Urt. IL A 490/30.) Also
zitiert in einer der letzten Nummern der ,Deutschen Juristen-Zeitung'."
Merkwiirdig, wie der hohe Reichsfinanzhof in die Diktion des Herrn
Professors Vandervelde gerat.
Leo Monosson* Sie erwidern auf die vvon Herbert Connor in
Heft 28 aufgestellte Behauptung: „Es erscheint demnachst ein Schla-
ger, der zwar von Rillo textiert ist, dessen Schlagzeile ,Wenn meine
Olle verreist ist* aber vom Rundfunksanger Leo Monosson stammt" — :
,,ein so betitelter1 Schlager erscheint gar nicht, Richard Rillo hat nie
so einen Schlager textiert, die Schlagzeile ist tatsachlich von mir,
aber auch nicht nur die Schlagzeile, sondern der ganze Schlagertext,
den ich dem Komponisten Otto Stransky neulich zur Vertonung
iiberlassen habe." Fur die Berechtigung, dafi der Schlagzeilen-Ver-
fasser an dem betreffenden Schlager beteiligt werden musse, fuhren
Sie an, dafi die Schlagzeile zumeist entscheidend fiir den Erfolg
des Schlagers ist. Es konne also keine Rede davon sein, dafi die
Schlagersanger durch Oberlassung eines Anteils an den Auffiihrungs-
rechten bestochen werden. Unsre Stellung zu der ganzen Angelegen-
heit finden Sie in einer Antwort „Rundfunkh6rer" aus der vorigen
Nummer.
Kleist-Verlag, Berlin W 62, Courbierestr. 12. Sie beabsichtigen,
einen Novellenband von Franz Hammel „Die schwarzen Gitter" heraus-
zugeben, der die Schicksalc von Fiirsorgezoglingen, Straflingen und
Zuchthauslern schildert. Franz Hammel war mehrere Jahre Fiirsorger
in Strafanstalten. Um die Herausgabe des Bandes iiberhaupt zu er-
mdglichen, rufen Sie zur Subskription auf. Der Subskriptionspreis be-
tragt 1,80 Mark.
Manuskripte sind nut an die Redaktion der Weltbuhne, Charlotlenbuix (Cantstr. 152, zu
rich tea: es wird gebeten, ihnen Ruekporto beizu'egen, da sonst keine Rucksendung erfolgeo kann.
Das Auf f Uhr unjf srecht, die Verwertung von Titelnu. Text im Rahtnen dei Films, die muitik-
mechanische Wiedergabe ailer Art and die Verwertung im Rahmen von Radio v or tragen
bleiben fttr alle in der Weltbuhne erscheinenden Beitrage ausdrttcklich vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde beg'undet von Siegfried jacobsohn und wird von Carl v. Ossietzky
untei Mitwirkung von Kurt Tucholsky geleitet — Verantwortlich. Carl v. Ossietzky. Berlin;
Verlag det Weltbuhne, Siegfried lacobsohn & Co., Char lotten burg.
Telephone CI, Steinplatz 7757 - PosUchecfckonto- Berlin 119 5a
Bankkonto Darmstadler u. Nationalbank, Depositenkasse Chariot teuburg. Kaotsb. 11?
XXVIL Jahrgang 1. September 1931 Nmnmer 35
Am rUflden TlSCh von Carl v. Ossietzky
7ur Beurteilung der letzten englischen Regierungskrise und
ihrer provisorkchen Losung reichen dcutsche MaBstabe
nicht aus. Westminster und RepubJik-Platz, Downing Street
und Wilhelm-StraBe, d'a laBt sich keine geistige Linie Ziehen,
so gern auch unsre Politiker englischen Schnitt tragen moch-
ten. Hier: langgewalzte Krisen, kiihle MiBachtung der Ver-
fassung, Diktatur der Bureaukratie. Drxiben: schnelle prak-
tische Losungen, strenge Beachtung der durch Gesetz und
Oberlieferung geheiligten Formen, Bei uns: Verschweigen von
Gefahren, Optimismus erste Biirgerpflicht. Jenseits des Kanals:
schonungslose Aufdeckung der politischen und wirtschaftlichen
Wahrheit, ja starke Obertreibung, urn materielle und geistige
Widerstandskrafte zu wecken. Der Labourpremier wendet sich
hilfesuchend an den Oppositionsfiihrer, der sich ohne strangu-
lierende Bedingungen zur Mitarbeit bereit findet. Zwar trennt
ihn dieser Schritt von seiner eignen Partei. Aber er nennt die
Genossen von gestern nicht ,,schlechte Patrioten", weil sie ihm
nicht mehr zu folgen vermogen, und sie selbst, die ihn der
ernstesten Parteigefahrdung zeihen, schelten ihn deswegen
nicht MSozialverrater" oder ,,Renegat", Eine niichterne und
saubere Abwicklung unter Beachtung oft erprobter
Spielregeln, Man gibt der Politik viel, aber nicht mehr
als ihr zukommt. Man packt ihr keine Weltanschauung,
kein zweifelhaftes Philosophem auf; kein Fanatismus lodert-
Auf Anstandigkeit der Haltung, die auBerste Anspannung aller
Energien nicht zu beeintrachtigen braucht, wird mehr Wert
gelegt als auf Prinzipien oder auf das BewuBtsein, der bessere
Mensch zu sein. So hat England den Krieg gewonnen, so tritt
es in den Kampf gegen den groBten Gegner, den seine Macht
bisher gefunden hat, gegen die Weltkrise der Wirtschaft.
Nachdem man dies mit dem Neid des Fernwohnenden und
an schlechtere politische Formen Gewohnten gern konstatiert
hat, mufi man leider zur Sache sagen, daB James Ramsay
MacDonald und Philip Snowden einen verhangnisvollen Weg
eingeschlagen haben, indem sie in der Kapitulation vor der City
und den amerikanischen Bankiers die einzige Rettung sahen.
Es ware verfehlt, ihnen personlichen Ehrgeiz zu unterschie-
ben, Festhalten an Ministersesseln, die ihnen nicht mehr ge-
horen. Beide haben nicht nur im Krieg, als sie in scharfster
Opposition standen und alle Konsequenzen trugen, ihre Makel-
losigkeit bewiesen. Aber beide teilen mit den meisten sozial-
demokratischen Fiihrern von heute den Unglauben in die Be-
deutung proletarischer Aktionen. Wo Kapitalismus und Ar-
beiterschaft im Interessenkampfe zusammenstoBen, da muB die
Arbeiterschaft der schwachere Teil sein und nachgeben, Auch.
die engiische Sanierung soil auf Kosten der Arbeiterschaft
geschehen, und dabei ist noch gar nicht sicher, ob diese Sa-
nierung mit den Mitteln eines iiberalterten und nicht mehr
schopfungskraftigen Kapitalismus auch gelingen wird. Das
1 317
Opfer der Arbeiterschaft diirfte also wahrscheinlich ganz um-
sonst dargebracht werden.
Dabei ist durchaus zu verstchcn, daB MacDonald sich von
seinem Amt nur schwer trennen mochte, denn er hatte meh-
rere gut angefangene Arbciten Hegen lassen miissen. So wenig
erfolgreich die Wirtschaftspolitik seines Kabinetts auch ge-
wesen sein mag, so tief hat er sich doch als AuBenpolitiker
in das Gedachtnis der Welt eingeschrieben. Wir haben die
AuBenpolitik des Labour-Kabinetts oft scharf kritisiert und
Deutschland vor Illusionen dariiber gewarnt. Aber unbestreit-
bar ist auch, daB MacDonald in die AuBenpolitik, wo sich ja
nicht grade frischeste Jugend zu tummeln pflegt, neues Blut
und neue Methoden gebracht hat. Er hat die AuBenpolitik
wieder aktiv gemacht, er hat die Escarpins der Diplomaten
durch solide StraBenschuhe ersetzt, er hat das geheimnisvolle
Getue der Routinierten durch direkte Aussprache abgelost. Und
selbst, wo es hart auf hart ging, wie bei dem haager Rede-
duell zwischen Snowden und Cheron, muBte man sagen, daB
es besser ist, sich Gift und Galle von der Seele zu reden, an-
statt mit hoflicher Miene einen ungelosten haBlichen Rest wei-
terzuschleppen. Das andre nicht zu Ende gefiihrte Werk ist
der Ausgleich mit Indien, der mit der Round- Table-Konferenz
begonnen hat. Bei diesem Unternehmen, das zunachst unter
schlechten Sternen stand, haf sich MacDonald am besten be-
wahrt, und er mag sich sagen, daB er zur Fortftihrung geeig-
neter ist als selbst ein so konzilianter konservativer Premier-
minister wie Stanley Baldwin. Mit Riicksicht auf die indische
Frage ist wohl auch der Lordkanzler Sankey im Kabinett ge-
blieben, der bei den Verhandlungen einen iiberlegenen Geist
bewiesen hat. Dieser unerwartet gute Ausgang der ersten
Konferenz mit den indischen Vertretern mag in MacDonald
die Vorstellung erweckt haben, daB sich alles am besten am
runden Tisch regeln lafit. Auch die Finanzkrise, auch die in-
nere Politik. So spielte er in dem Augenblick, wo nach Men-
schendenken seine Herrschaft abgelaufen schien, die Karte
des Konzentrationskabinetts aus. Und so sieht heute die ganze
Welt etwas erstaunt auf eine englische Regierung, in der samt-
liche Parteifuhrer sitzen. Diese Regierung hat ihr eignes Da-
sein nur kurz befristet. Sie will nur das Budget in Ordnung
bring en und dann Neuwahlen ausschreiben. Und dann soil
wieder eine Partei die ganze Verantwortung ubernehmen.
Fur das wirtschaftspolitische Versagen der Labourists
kommt mildernd in Betracht, daB sie im Parlament keine abso-
lute Majoritat hatten, sondern auf die Unterstiitzung der Libe-
ralen angewiesen waren. Sie konnten also keine eigne Idee ent-
wickeln, und MacDonald war nicht ganz im Unrecht, als er die
Verantwortung fur das Defizit von 120 Millionen auch auf die
Schultern der andern Parteien legte. Der Bericht der Spar-
kommission, die alles in Ordnung bringen sollte, hatte ein
arges Dilemma geschaffen. Zwei Vorschlage standen sich ge-
genuber. Der eine forderte eine Kiirzung der Arbeitslosenbei-
trage, der andre einen zehnprozentigen Zollzuschlag auf alle
eingefiihrten Waren. Gegen den ersten Punkt standen die
318
Gewerkschaften, gegen den zweiten die liberalen Freihandler.
So war also eine Einigung nicht zu erzielen, und der Premier-
minister wagte vor einem unausgeglichenen Budget, mitten in
einer internationalen Kapitalkrise keine Neuwahlen zu ver-
anstalten.
Vielleicht ware trotzdem manches anders gekommen, wenn
in diesen kritischen Wochen nicht Lloyd George, der wirklich
konstruktive Kopf, auf den Tod krank niedergelegen hatte.
Die Sozialisten MacDonald und Snowden haben sich dem Dik-
tat der City bedingungslos unterworfen, Lloyd George, der
alte Liberale mit dem echt revolutionaren Temperament, dem
England seine Sozialpolitik verdankt und der erst kiirzlich den
Citybankiers ihre Riickstandigkeit und Selbstzufriedenheit in
hartesten Worten vorgeworfen hat, ware wohl imstande ge-
wesen, eine Losurig zu finden, die weniger auf Kosten der brei-
ten Massen erfoigt ware. Denn er hat oft genug die Fahigkeit
bewiesen, seinen Willen durchzusetzen. Und grade in den letz-
ten beiden Jahren hat Lloyd George im Parlament wiederholt
den sturmischen Beifall der Labourfraktion gefunden, nicht
grade zur Freude MacDonalds.
England hat also jetzt seine ,,nationale Regierung", eine
Tatsache, deren Ausstrahlungen unbestreitbar sind. Auch Hu-
genberg und Hitler begreifen das, und die .Deutsche All-
gemeine Zeitung' dringt schon darauf, das englische Beispiel
nachzuahmen. Leon Blum wirft im .Populaire' seinem Ge-
nossen MacDonald vor. er habe die Reaktion der ganzen Welt
ermuntert und damit urinennbaren Schaden angerichtet.
Wir glauben, er hat nicht nur der politischen Reaktion
ein Zeichen gegebenf er hat vor allem die Sozialreaktion ge-
starkt. Indem die machtige englische Regierung unters Joch
der amerikanischen Bankiers ging, die fiir ihre Kredithilfe die
Herabminderung der Arbeitslosenbeitrage verlangtent hat sie
dem Dunkel des innerlich so ratios gewordenen kapitalistischen
Systems einen gewaltigen Triumph verschafft. Oberall wird
jetzt gegen die nirgends liberreich dotierte Sozialpolitik Sturm
gelaufen werden, als ob diese paar Millionen im Budget fiir die
krisenhafte Hemmung im kapitalistischen Organismus verant-
wortlich waren.
Es gibt aber noch ein andres weniger niederschlagendes
Beispiel, und das ist die f este und aff ektlose Art, in der Labour
Party und Trade Unions die Trennung von ihrem beriihmten
und schon historisch gewordenen Fiihrer vollziehen. Das ist
ein Vorgang ohne gleichen. Man vergleiche das mit
Auseinandersetzungen in deutschen Parteien. Es gibt kein
Spaltungsgeschrei und nicht mal eine nennenswerte Spal-
tung. Partei und Gewerkschaften notifizieren Herrn
MacDonald ganz einfach, daB sie ihn fiir einen Staats-
mann voll bester Eigenschaften halten, daB sie aber
nicht, imstande sind, sich mit ihm an den runden Tisch
zu setzen, wo Arbeiterinteressen verhandelt werden. Es
ware vergebliches Bemiihen, aus den scheidenden Kabinetts-
319
ministern Radikale zu machen. Clynes und Henderson sind
nicht revolutionarer als Leipart oderWels. Aber sie haben die
bescheidene Wahrheit nicht vergessen, daB Arbeitervertreter
vor a 11 em Arbeiterinteressen wahrzunehmen haben. Unsre
grofien sozialdemokratischen Ftihrer dagegen fiihlen sich immer
Mim Dienste der ganzen Nation". Die englische Arbeiterschaft
steht wahrhaftig nicht mit dem Klassenkampf auf du und ist
hoffnungslos unmarxistisch, aber sie lehnt es ab, fur hochpoli-
tische Extratouren ihrer Vertrauensmanner an ihrem Magen
gestraft zu werden. Dann spielt sie eben nicht mehr mit. Diese
besondere Seite der letzten englischen Ereignisse sei unsern
sozialdemokratischen Mitbiirgern zum eingehenden Nachdenken
uberlassen.
BethlenS GlUCk Und Ende von B6la Menczer
F^as Jubilaum seines groBten Erfolges war ihm nicht ge-
*^ gonnt. Im Oktober wird es zehn Jahre her sein, daB er durch
ein offentliches Bekenntnis zur Legitimist Karl von Habsburg
nach Ungarn gelockt und dann bei Budaoers beseitigt hat,
um die Herrschaft des schwarzgelben tfberbleibsels in Buda-
pest weiter zu sichern. Der Teufel, der nach ungarischer Auf-
fassung in Prag wohnt und den Namen Eduard Benesch tragt,
war damals eben imstande, das nach dem Sturze Bela Kuns
auf erst and ene Alt-Ungarn zu holen. Die Auslieierung Karls
an die Entente und die rasche Kodifizierung des Verlustes
habsburgischer Rechte auf Ungarns Thron hat die Gespenster-
herrschaft von K. u. K. gerettet. Ungarn ist Konigreich ohne
Konig geblieben, der Konig regierte weiter als moralische
Person, wahrend man seine physische Person nach Madeira
geschickt hat. Dies war Bethlens Werk, dies war Bethlens
Verrat von 1921. Nun ist er 1931 gestiirzt als verratener
Verrater.
Was ist denn geschehen? Die Legende macht sich breit,
Frankreichs Wille hatte gesiegt, die AnschluBgeiahr und die
Zollunion hatten Briand bewogen, die habsburgische Mon-
archic in Budapest und in Wien zu restaurieren. Das ge-
ririgste Verstandnis fiir franzosische Politik geniigt, um die Un-
moglichkeit dieser Konstruktion darzutun. Das Prinzip quieta
non movere kann man in der Politik des Siegers fragwurdig
linden. Es bleibt zweifelhaft; ob die Beibehaltung alles
Bestehenden, ob die Politik der Ruhe, wozu der gesattigte
Sieger immer neigt, auch zugleich eine Politik des Friedens
sei, und ob die aktive Forderung pazifistischer, ja sogar revo-
lutionarer Krafte nicht von grofierm politischen und vor allem
von groBerm moralischen Wert ware. Es ist Lndessen nicht
zu bezweifeln, daB Frankreich diese Politik der Ruhe treibt,
daB nichts so wenig in der Linie und in der Tradition fran-
zosischer Politik liegt, wie die Unterstiitzung innerer Umwal-
zungen und Abenteuer in fremden Landern. Solche Kombi-
nation wiirde der italienischen oder der russischen, auch der
vorfascistischen und vorrevolutionaren Diplomatie ent-
sprechen, keineswegs aber der franzosischen. Die Wahrheit
320
liegt anders. Frankreich hat der ungarischen Regierung nur
vorgeschlagen, ihre Beziehungen zu den Nachbarn endlich
zu normalisieren und zu diesem Zweck Handelsvertrage und
einen Pakt abzuschlieBen. Das aus Griindcn dcr innern Sa-
nierung stark aufcs franzosische Geld angcwiesene Ungam
war zum Nachgeben bereit. Bethlen, dessen machtpolitische
Gerissenheit ebenso groB ist, wie sein Mangel an Gedanken
und seibstandigen Konzeptionen, faBte den EntschluB, den un-
angenehmen Gef ahrten von Budaoers, den Kriegsmmister Gom-
bos, endlich loszuwerden. Dies scheiterte jedoch an dem
zahen Widerstand Horthys.
Die Clique der Militars, zu welcher der Reichsverweser
auch gehort, stand schon seit langer Zeit im Gegensatz zu
Bethlen. Die erstere vertritt die gegenrevolutionare, volks-
tumliche Demagogie von 1919, den Patriotismus der durch
den DolchstoB beschaftigungslos gewordenen Unbesiegten, wah-
rend der letztere die altungarische Reaktion vertritt, jene
feudale Reaktion, die noch Juni 1918 nichts von der Einfuh-
rung des allgemeinen Wahlrechtes horen wollte und sich fur
die Annektierung rumanischer Gebiete aussprach. Diese Re-
aktion, deren Wortfuhrer seit etwa fiinfzehn Jahren Graf
Stephan Bethlen war, will die Beibehaltung der Macht mit
alien Mitteln, also auch rait friedlichen. Es ist ihr also
lastig, daB die Freunde des Herrn Gombos etwa Franken
falschen, wenn Bethlen sich grade franzosisch orientiert, oder
daB Herr Gombos in seiner Villa die Morder Erzbergers
beherbergt, wenn Bethlen sich wieder deutsch orientieren will.
Diese Reaktion vereinigt die alte Feudalitat und die Banko-
kratie, das historische Ungarn also, und die ,,neuern Schich-
ten der ungarischen Gesellschaft" in ihrem Lager, die beiden
Faktoren, deren verschiedene wertvolle Eigenschaften, wie
Tisza einst sagte, sich zu einer harmonischen Einheit ergan-
zen. Worunter zu verstehen ist, daB die Grafen schon lange
im Geschaftsleben bewandert sind, wahrend die jiidischen
Bankiersohne schon seit langer Zeit Duelle schlagen und Kar-
ten spielen konnen. In der Geschaftstiichtigkeit treffen sich
Magnaten und judisch-liberale GroBbankiers, und dort gesellt
sich auch die unzufriedene, umsturzlerische Militarclique zu
ihnen, Niemals gab es vielleicht in der Geschichte eine en-
gere Kette von Korruptionen als in der Regierungszeit Stephan
Bethlens. Mit den Ausfuhrbewilligungen von 1921, die man
im Ministerium nur gegen Erlegung einer Summe fur patrio-
tische Zwecke gewahrte, hat es angefangen, mit den fal-
schen Tausendfrankscheinen vo?i 1926 ging es weiter, um (vori
kleinern Fallen ganz zu schweigen) mit dem ungarischen See-
schiff zu enden, das kurz vor dem hi. Stephanstag, an dem
der unheilige Stephan abdankte, an der schwedischen Kiiste
beim Alkoholschmuggel ertappt wurde. Endlich weiB man,
wozu das Land des Admirals Horthy auch eine Handelsflotte
besitzt. Man hat betrogen, gefalscht, geschmuggelt, man hat
verdient — ein historischer Kriminalfilm, das war die Regie-
rung Stephan Bethlens.
Wer ist der Mann, der an ihrer Spitze stand? Ein sieben-
biirgischer Magnat, Kalvinist und GroBgrundbesitzer. Es ist
2 321
notig, dies zu betonen, denn daraus erklart sich seine Politik,
Als Siebenbiirger und Kalvinist gait er dem katholischen Hoch-
adel, der meistens in Transdanubien begiitert ist und in der
Nahe Wiens seine Traditionen hat, nie als vollwertiger Ari-
stokrat. Seine Stellung ware in einer habsburgischen Mon-
archic, niemals die eines Esterhazy, Andrassy oder Karolyi ge-
wesen, Als siebenbiirgischer Grundbesitzer, hat er durch die
rumanische Bodenreform alles verloren. Er war zuerst dem
Plan einer rumanisch-ungarischen Personalunion nicht ganz
abgeneigt, nachdem aber auch dies keine Moglichkeit bot, die
verlorenen Giiter der magyarischen Oligarchie in Siebenbiir-
gen wieder zu bekommen, warf er die unter dem Namen
,(Optantenproblem" in der internationalen Politik bekannte
Frage auf, snamlich die Bescnwerden des siebenbiirgischen
GroBgrundbesitzers Grafen Stephan Bethlen gegen die sie-
benbiirgische Landreform, vorgetragen als nationale Be-
schwerde von dem ungarischen Ministerprasidenten Grafen
Stephan Bethlen. Volkerbundkommissionen und Konferenzen
suchten lange die Losung dieser schwierigen Frage, Endlich
fand Bethlen selbst die ideale Losungi indem er im Haag frei-
willig im Namen Ungarns Reparationsverpflichtungen iiber-
nahra, unter der Bedingungt daB die ungarischen Grundbesitzer
Siebenbiirgens (das heifit Bethlen und seine Verwandtschaft)
aus der Reparationskasse entschadigt wiirden. Dies war
seine groBte staatsmannische Leistung, sein Werk, das nicht
so leicht aus der Geschichte verschwindet wie ein Tropfen
Schmuggelspiritus im schwedischen Meer. Dafiir wird Un-
garn noch Jahre hindurch Reparationen zahlen.
Nun ist er abgesagt, und Ungarn orientiert sich vom italie-
nischen Biindnis zum franzosischen um. Es stellt seine Be-
dingungen. Es will den Habsburger nur wiederherstellen,
wenn Frankreich ihm dafiir neue Grenzen gewahrt. Ja, lachen
Sie nicht, dies stand in alien wohlinformierten Korresponden-
zen des Auslandes. Die franzosische Umorientierung soil das
Werk des Grafen Julius Karolyi sein, einer aristokratischen
NulL Der neue Herr verdankt seinen Eintritt in die Politik
dem Umstand, daB man ihn wahrend der Proletarierdiktatur
an die Spitze der weiBen Gegenregierung gestellt hat. Denn
die Bauern sollten ihn mit seinem Vetter, dem roten Grafen
Michael Karolyi, verwechseln. Er hat im Faubourg St. Germain
ein paar franzosische Vettern, Namen des ancien regime, deren
Geld, falls sie Bankierstochter geheiratet haben, eben aus-
reicht, einige Hauslehrer mit literarischen Ambitionen zur
Abfassung riihrender Reisebiicher iiber die ritterliche unga-
rische Nation zu veranlassen. Der protestantische und philo-
fascistische Bethlen ist durch einen katholischen Legitimist en
ersetzt, dies mag einige Bischofsherzen freuen und einige
Damenherzen im Faubourg St. Germain erwarmen, Frankreich
wird darum noch keine Restauration unterstiitzen. Bischofe
und fromme, vornehme Damen freuen sich und weiterverdie-
nende Patrioten Ungarns offerieren sich als Frankreichs
Freunde.
Dieu protege la France.
322
Eine BeSChwerde von Alfred Apfel and Felix Halle
I
Anordnung
Am 9. August 1931 ist es in deu Abendstunden auf dem Biilow-
** platz wiederum zu gewalttatigen Ansammlungen gekommen. Zwei
Polizeioffiziere wurden erschossen, ein Poiizeioberwachtmeister schwer
verletzt. Auf Grund der Verordnung dcs Reichsprasidenten zur Be-
kampfung politischer Ausschreitungen vom 28. Marz 1931 verbicte ich
bis auf weiteres alle Ansammlungen, Versammlungen und Aufzuge
unter freiem Himmel auf dem Bulowplatz und auf alien zu diesem
Platz fuhrenden Strafien in einer Entfernung von 200 Meter von der
Einmiindung.
Zuwiderhandlungen werden nach §- 2 der oben erwahnten Ver-
ordnung mit Gefangnis nicbt Unter drei Monaten geahndet,
Zur Durcbfiihrung ordne ich weiter unter Hinweis auf § 16 jener
Verordnung an, daB das sogen. Karl-Liebknecht-Haus zunachst bis
einscbliefilich 20. August geschlossen wird und alle Raume und Ein-
gange polizeilich besetzt werden.
Berlin, den 10. August 1931.
Der Polizeiprasident Der Polizeiprasident.
Abteilung I A gez. Grzesinski.
Tgb. Nr. IA. 3. 6033/6 LS fur ricbtige Abscbrift
Bischof,
Kanzleisekretar,
Berlin, den 10. VIII. 31.
I/E Berlin, den 24. August 1931.
II
Beschwerde
In Vollmacbt des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei
Deutschlands erheben wir
Beschwerde
gegen die Anordnung vom 10, d. M, (Aktenzeichen Abt. I A Tgb.
Nr. I A 3. 6033/6).
Wir beantragen:
die angefochtene Anordnung fur unzulassig
zu erklaren.
Wir beantragen:
diese Beschwerde, die' wir beim Herrn Polizei-
prasidenten zu Berlin als derjenigen Stelle ein-
reichen, von der die Anordnung ausgegangen ist,
weiter zu leiten an die Stellen, die auf Grund der
Verordnung des Reichsprasidenten vom 28. Marz
1931, § 13 und der zu dieser Verordnung ergan-
genen Ausfuhrungsbestimmungen und Erganzungs-
verordnungen zur Entscheidung iiber die Be-
schwerde zustandig sind.
Begrundung
Die Mafinahmen der Polizei beruhen auf einem fehlerhaften
Staatsakt, insofern die Voraussetzungen fur die Anwendung der Dik-
tatur nicht gegeben waren.
Selbst wenn aber die Beschwerdestelle die formelle Gultigkeit
der Verordnung vom 26. Marz 1931 annehmen sollte, so liegt in der
Anordnung des Polizeiprasidenten eine tlberschreitung der durch
diese Verordnung gegebenen Vollmachten vor,
323
Die Verordnung beschaftigt sich in § 1 mit offentlichen poli-
tischen Versammlungen und Aufziigen, Es wird unter Beweis ge-
stellt, dafi weder auf dem Bulowplatz, noch in der Umgebung am
9* d. M. eine von der Kommunistischen Partei einberufene oder an-
gesagte Versammlung stattgefunden hat. Ebensowenig haben an die-
sem Tag Aufziige von Angehorigen der Kommunistischen Partei statt-
gefunden.
Die in dem ersten Satz der Anordnung vom 10, d. M, angefuhr-
ten Tatbestande der Ansammlung sind im § 1 der Verordnung nicht
genannt, sondern es handelt sich nach der Darstellung der Poiizei
in der Anordnung vom 10, d, M. urn Tatbestande, die nicht in der
Verordnung vom 28. Marz 1931, sondern ausschliefilich im siebenten
Abschnitt des Strafgesetzbuches geregelt sind.
Es wird unter Beweis gestellt, dafi die Vorgange, die der Polizei-
prasident als Grundlage seiner Anordnung nimmt, sich anders ab-
gespielt haben, als in der einseitigen Darstellung der Behorden, wie
sie nicht nur in der Anordnung, sondern auch in dem Polizeibericht
zum Aus druck koramt
Die Benennung der Zeugen bleibt vorbehalten, ebenso die Bei-
bringung von urkundlichem Beweismaterial.
Der tatsachliche Hergang der Zusammenstofie war folgender:
Bereits am 8, d. M. hat die Poiizei auf unbewaffnete, wehrlose Pas-
santen geschossen, Durch diese mifibrauchliche Anwendung der
Schufiwaffen ist der Arbeiter Auge getotet und ein andrer Arbeiter
verletzt worden.
Am Tage des Volksentscheides ging die Poiizei gegen die Be-
volkerung des proletarischen Viertels gegen Abend wiederum mit
kaum zu iiberbietender Scharfe vor, ohne dafi hierzu seitens der Be-
volkerung ein Anlafl gegeben war. Wie verfehlt die polizeilichen An-
ordnungen waren, wird durch folgenden Umstand gekennzeichnet.
Obwohl bereits ein grofies Polizeiaufgebot gegen die sich fur die
Wahlresultate interessierende Bevolkerung aufgeboten war, kam es
zu einem derart iibersturzten Gebrauch der Schufiwaffen, dafi trotz
des Vorhandenseins einer so grofien Anzahl von Polizeibeamten auf
einem verhaltnismafiig begrenzten Raum, die fiihrenden Offiziere und
ein Wachtmeister erschossen werden konnten, ohne dafi die Poiizei
in der Lage war, mit Sicherheit die ausschliefiliche Feststellung zu
treffen, dafi diese Beamten nicht Opfer des Schufiwaffengebrauchs
von Angehorigen der eingesetzten Truppen waren, oder auf der Stelle
die angenommenen Tater zu verfolgen und zu stellen.
Als weiteres Beispiel des uberstiirzten und fehlerhaften Handelns
der Poiizei kann die Auflosung einer friedlichen, erlaubten, ge-
schlossenen Versammlung in den Musikerfestsalen gelten, die unter
brutalster Anwendung des Gummikntippels auseinander gehauen
wurde.
In ahnlicher unmotivierter Weise ging die Poiizei an demselben
Abend gegen das Karl-Liebknecht-Haus vor, Obwohl durch die
Mafinahmen der Poiizei der Verkehr zwischen dem Karl-Liebknecht-
Haus und dem Hauserblock, in dem das Kino Babylon liegt, unter-
bunden war, und jeder Verkehr fur Passanten wegen der Anwen-
dung der SchuBwaffen Lebensgefahr bedeutete, wurde seitens der
Poiizei Angrif f e gegen das Karl -Liebknecht-Haus unternommen, in
ahnlicher Art, wie die Truppen in feindlichem Land bei in der auf-
geregten Phantasie vermuteten Franktireurangriffen gehandelt haben.
Es wird auf Grund des vorgefundenen Tatsachenmaterials unter
Beweis gestellt, dafi das Karl-Liebknecht-Haus beschossen worden
ist. Die Einschusse waren noch nach der Besetzung sichtbar. Auch
Geschosse sind gefunden worden und konnen unter eidlicher Angabe
ihres Vor fin dens vorgelegt werden.
324
Es ist in keiner Weise in der Begriindung der Anordnung auch
nur der Versuch gemacht worden, einen tatsachlichen Zusammenhang
zwischen den Vorgangen am Kino Babylon und auf der Strafie und
dem Verhalten der im Karl-Liebknecht-Haus anwesenden Personen
zu geben,
Es wird unter Beweis gestellt, daB die im Karl-Liebknecht-Haus
befindlichen Personen ausnahmslos mit ihren beruflichen Aufgaben
beschaftigt waren und erst durch Idas Vorgehen der Polizei in ihrer
beruflichen Tatigkeit gestort worden sind.
Die Ausnutzung der Vorgange am 9, d. M, zur SchlieBung des
Karl-Liebknecht-Hauses ist ein rechtlich in keiner Weise begrundeter
Akt. Nach der Verordnung konnen Versammlungen und Aufzuge
verboten werden. Unerfindlich aber bleibt es, dafi zur Durchfuhrung
von Versammlungs- und Aufzugsverboten die tagelange Besetzung
und SchlieBung samtlicher Wirtschaftsbetriebe dieses Hauses notwen-
dig sein soil.
Es ist fur denjenigen, der sich bemuht, die Vorgange objektiv
zu wiirdigen, der hinreichende Verdacht gegeben, daB die durch das
Vorgehen der Polizei mit hervorgerufenen Vorgange des 9. d. M.
den Vorwand gegeben haben, die Reichsleitung einer groBen Partei
in • einer gespannten politischen Situation durch SchlieBung ihres
Hauses zu behindern, den einseitigen und gehassigen Darstellungen
entgegen zu treten, die in den nachfolgenden Tagen vom berliner
Polizeiprasidenten und der ihm parteipolitisch nahestehenden Presse
veroffentlicht worden sind*
Sodann muB darauf hingewiesen werden, daB diese Besetzung
des Hauses auf Grund einer extensiven Ausdehnung der Diktatur-
gewalt alle strafprozessualen Sicherheiten fiir den Inhaber der be-
setzten Raume ausgeschaltet hat, BekanntHch waren bereits vorher
Haussuchungen mit negativem Ergebnis vorgenommen worden. Es
hat dann eine Haussuchung am neunten Tage der Besetzung unter
Hinzuziehung der Abgeordneten stattgefunden, nachdem acht Tage
Iang die Verfugungsgewalt auf den Polizeiprasidenten ubergegangen
war, Es darf darauf hingewiesen werden, daB die deutsche Straf-
prozeBordnung die Vorschriften uber Beschlagnahme und Durch-
suchung gegeben hat aus dem begriindeten MiBtrauen des Gesetz-
gebers gegen die Dbergriffe der Polizei, ferner aber auch zur Ab-
wendung der Gefahr von konstruierten Schuldbeweisen.
Der Zuhalter von f. Frank
rjer Zuhalter, von dem ich reden will, ist ein Paragraph, der
*^ Paragraph 184 Ziff, 3 des Strafgesetzbuchs namlich. Die
Abtreibung ware selbstverstandlich keine Frage, die Millio-
nen Deutscher auf das tiefste bewegt, wenn die offentliche
Anpreisung von Empfangnisverhutungsmitteln erlaubt ware.
Es ist eben nicht allgemein bekannt, daB bei richtiger Anwen-
dung gewisser Mittel mit etwa 98 Prozent Sicherheit eine
Empfangnis, also das Verhangnis, verhiitet werden kann. Eine
Aufklarung des Volkes ist unmoglich, denn die offentliche An-
preisung, Ankiindigung oder Ausstellung dieser Mittel wird mit
Gefangnis bis zu einem Jahre und Geldstrafe bis zu tausend
Reichsmark oder mit ' einer dieser Strafen bedroht. Rechnet
doch die Rechtsprechung des Reichsgerichts die Empfangnis-
verhiitungsmittel zu den zum unziichtigen Gebrauch bestimm-
ten Gegenstanden mit der Begriindung, daB „sie auch beim
auBerehelichen Geschlechtsverkehr angewendet werden
325
konuexi und Anwendung finden, und der auBerchcliche Ge-
schlechtsverkehr ganz allgemein der Unzucht gleichzu-
setzen sei"
Die Gerichte durcndenken ja bekanntlich ihre Theorien
selten bis zur letzten logischen Konsequenz, Nach dieser
Theorie miiBte man alle Mobelhandler einsperren, denn Bett
und Chaiselongue . , . ? Merkwurdig, daB der liebe Gott diese
Judikatur nicht geahnt hat. Graser und Ahren, Moos und
Laub hatte er sonst nur mit vielen und langen Dornen wachsen
lassen; e<s sei denn, daB er hier andrer Meinung als das Reichs-
gericht ist.
Aber im Ernst, diese Rechtsprechung ist unmoglich; sie
ireibt mittelbar die Frauen der Abtreibung zuf ja ermoglicht
sie erst, und deshalb wird der Paragraph 184 Ziffer 3 zum Zu-
halter des Paragraphen 218. Diese Rechtsprechung ziichtet
Rechtsbrecher.
Im Jahre 1930 hatte sich eine groBe Strafkammer des
Landgerichts Chemnitz unter Vorsitz des ,Prasidenten Doktor
Ziel endlich ihres richterlichen Rechtes erinnert, auf alle ober-
gerichtliche Judikatur zu pi^ifen und das zu sagen, was sie
selbst liber die offentliche Anpreisung von Empfangnisver-
hutungsmitteln r denkt. Das Ergebnis war ein freisprechendes
Urteil, das moderner Auffassung entsprach. Sorgfaltig und
ausf iihrlich erorterte dieses Gericht das Fur und Wider, wies
auf die jetzt ernsthaft diskutierte Frage der Kameradschafts-
ehe hin und urteilte:
Der auBereheliche Geschlechtsverkehr sei keineswegs schlecht-
hin der Unzucht gleichzusetzen, sei mindestens dann nicht sitten-
widrig, wenn er auf gegenseitiger Zuneigung beruhe, und auch die
Empfangnisverhtitung als solche entbehre jeden unztichtigen Mo-
mentes.
DaB iiber das Urteil die reaktionare Presse das Radschla-
gen bekam, ist klar; ebenso klar, daB in Richterkreisen Ent-
setzen dariiber herrschte, weil ein Gericht in sexuellen Din-
gen nicht an der verstaubten Phraseologie der Obergerichte
klebtef sondern das aussprach, was wirklich ist. Und bald
kam der GegenstoB der reaktionaren Richter. Monate spater
stand einer, der dasselbe getan hatte, wie der Freigesprochene,
dessen Name aber mit einem andern Buchstaben begann, des-
halb vor der Vierten kleinen Strafkammer desselben Gerichts.
Er wurde verurteilt. Diese Tatsache ist an sich noch kein
Grund zur Erregung. Wir wissen alle, daB das andre Urteil
nur ein weiBer Rabe war, der uns keineswegs iiber die ge-
wohnliche Farbe dieser Vogel tauscht. Wohl aber gibt die
BegrtLndung des neuen Urteils AnlaB zur Erregung; sie kenn-
zeichnet den Geist und die Ideologic der Mehrzahi der Unab-
setzbaren so treff end, daB es sich lohnt, den Wortlaut wieder-
zugeben:
Mag auch durch den letzten, vierjahrigen Weltkrieg und den
nachfolgenden staatlichen Umsturz in weiten Volksschichten eine sitt-
liche Verwilderung eingerissen und der Sinn fur Zucht und Sitte un-
tergraben sein, der weitaus uberwiegende Teil der Bevolkerung steht
doch auf dem Boden der christlich-religiosen Weltanschauung und
huldigt einer Sittenlehre, die die Hurerei in jeder Form verpont, das
326
tingehemmte Sichausleben verdammt, Zuriickhaltung und Enthaltsam-
keit in geschlechtlichen Dingen ganz besonders von der Jugend ver-
langt und Keuschheit als Tugend preist. Wir leben nicht im Zeit-
alter der , .Kameradschaftsehe", welchen Locktitel man als Deckmantei
fiir ein ill eg i times Verhaltnis namentlich zwischen Jugendlichen ge-
wahlt hat, und sind weit entfernt davon.
Nachdem weiter ausgefiihrt wird, daB die Eltern, die sich
dieser Kameradschaftsehe nicht auf das Entschiedenste wider-
setzen, eines zuchthauswiirdigen Verbrechens, namlich der
schweren Kuppelei, schuldig seien, fahrt das Urteil fort:
Die sogenannte Kameradschaftsehe ist eine Utopie und wird sich
in keinem zivilisierten Lande verwirklichen lassen; eine solche Ein-
richtung wtirde die Abkehr von der Kultur und den Riickfall in den
animalischen Urzustand bedeuten und nur auf dem Sumpfboden des
Bolschewismus kann etwas derartiges emporwachsen, Wilde Ehen
und freie Liebe unterliegen noch immer der gesellschaftlichen Ach-
tung. Nach der vorherrschenden christlichen Auffassung ist ferner
aber auch in der ordentlichen Ehe die Verwendung von empfangnis-
verhiitenden Mitteln unerlaubt und unsittlich. Eugenetik liegt auf
anderem Gebiete. Das Schlagwort vom HVolk ohne Raum", das zu
einer Zeit gepragt wurde, als nach Kriegsende durch die Heimkehr
der deutschen Krieger aus Feindesland und die Rtickkehr der deut-
schen Beamten und die sonstiger zahlreicher deutscher Reichsangeho-
xiger aus den uns vom Feindesbund entrissenen weiten deutschen Lan-
desteilen und Kolonien in das verkleinerte Deutschland in seinen en-
geren Grenzen voriibergehend eine Uberbevolkerung eintrat, hat heute
keine Bedeutung mehr zu einer Zeit und fur ein Land, wo nach den
neusten statistischen Erhebungen — sehr im Gegensatze insbeson-
dere zu den von Osten vordringenden Volkern — nicht nur ein Still -
stand in der Volksvermehrung eingetreten, sondern die Geburtenzahl
bereits unter die Sterblichkeitsziffer gesunken, das Volk im Abstieg
und Niedergang begriffen ist und Reich, Staat und sonstige politische
Gemeinden seit dem Geburtenausfalle wahrend des Krieges nach wie
vor an ihre Beamten und Angestellten in Form sozialer Beihilfen
Kinderpramien zahlen.
Dieses Urteil ist symptomatisch fur die Unabsetzbaren.
Sie wissen, daB sich der Angeklagte ihrer Beschimpfungen
nicht erwehren kann und darf. Sie kennen keinen sachlichen
Streit um Weltanschauungen; geschtitzt von der Kruste ihrer
Robe beschimpfen sie Andersdenkende, pathetisch im Tone,
liberheblich und unsachlich in der Form. Diese Vertreter der
angeblich christlich-religiosen Sittenlehre, welchen Locktitel
sie frtiher als Deckmantei imperialistischer Machtbestrebun-
gen gewahlt hatten, werfen den Gegnern ihrer Anschauungen
„sittliche Verwilderung", „Abkehr von der Kultur' und
„Ruckiall in den animalischen Urzustand1' vor. DaB sie dabei
nicht einmal verstandesgemaB erkennen, daB ihre Ideologic
auf dem Sumpfboden des Imperialisms gewachsen ist, ist die
eine Ursache dieser Rechtsprechung.
Was vom Inhalt dieses Urteils als sachliche Auseinander^
setzung aufgefaBt werden konnte, ist ausnahmslos unrichtig.
Die Idee der Kameradschaftsehe entsprang biirgerlichen
Gedankengangen (Richter Lindsey). Mit dem sogenannten
Sumpfboden des Bolschewismus hat sie nichts zu tun. Was
auBerhalb der Fassungskraft oder des Verstandigungswillens
der SpieBer liegt, das tun sie ab mit der Zauberformel „Kul-
iurbolschewismus",
327
Jed em, der sich darum bermiht, zeigt ein Blick in das
statistische Jahrbuch, daB der GeburteniiberschuB in den
Jahren 1923 bis 1928 zwischen jahrlich 547 800 und 404 700
schwankte. .
Die Behauptung im Urteile, t1Eugenetik" liege auf anderm
Gebiete, mangelt jeder Begrundung, Eugenik fordert beim
Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Geburtenregelung
durch Empfangnisverhutung,,
Wesen und Motiv der Kinderbeihilfen werden in ihr Ge-
genteil gekehrt. Naiv zu glauben, daB diese geringen Betrage
jemanden anregen konnten, sich mehr Kinder zuzulegen. Die
1tKinderpramieM ist doch nichts als ein jammerlicher Ausgleich
fur die soziale Schlechterstellung der kinderreichen Familien,
So griindlich ist der Mangel an Kenntnissen! Er diktiert
den sachlichen Inhalt der richterlichen Argumentation! Und
das ist also — neben der gefuhlsmaBigen Haltung — die andre
Ursache dieser Rechtsprechung, denn man kann doch wohl
nicht annehmen, dafi die Wahrheit bewuBt verletzt wurde.
So wird aus dem Paragraph 184 Ziffer 3 der Zuhalter der
Abtreibung, Rechnete man die Empfangnisverhtitungsmittel
nicht unter diese Strafvorschrift, das Tor der Abtreibung
wiirde zugehalten.
Reparationsfibel von ignaz wrobei
Warum ist doch der Deutsche nach dem fiir ihn ver-
derblichen und schimpflichen Frieden, da man ihn wie
eine Heerde theilt, aufgebrachter auf die Franzosen, als
selbst auf die Englander und einen ihrer grofiten Bundes-
genossen wahrend des Krieges? Weil der Mensch immer
mehr auf die Wirkung, durch die er leidet, als auf die
Ursache sieht, die das Leiden veranlafit hat.
F. M. Klinger, Betrachtungen und Gedanken iiber
verschiedene Gegenstdnde der Welt und der
Literatur. 1802
F)er gegenwartige Rechtszustand ist der, daB die west-
" falischen Schienenwalzwerke mit den lothringisch-fran-
zosischen Werken zusammen beschlieBen konnen, auf dem
Wege hoherer Schienenpreise der deutschen und der franzo-
sischen Republik eine neue Steuer aufzuerlegen, daB aber die
beiden Regierungen nicht daruber verhandeln diirfen, ob sie
gemeinschaftlich gegen ihre Ausbeuter vorgehen wollen." In
der gar nicht genug zu empfehlenden Broschiire Rudolf Kellers
lfDeutschland und Frankreich" (erschienen bei R. Piper & Co.
in Miinchen) findet sich dieser Satz, benebst vielen andern
Satzen, die in keiner grofien deutschen Tageszeitung zu finden
sind — aus begreif lichen Griinden. ,, Nicht die Verzweiflung
des ganz kleinen Mannes ist das Charakteristische des heutigen
Deutschland, sondern die Desertion des Kapitalisten. Der
oberste Grundsatz des Kapitalismus ist, daB der Unternehmer
ein Risiko tragt und dafiir einen verhaltnismaBig groBern An-
teil am Gesamtgewinn in Anspruch nimmt Der reichsdeutschet
328
Kapitalist jedoch will kein Risiko mehr tragen, wie zuerst
Professor Bonn mit Nachdruck gezeigt hat. Er hat sich der
kommunistischen Grundanschauung angeschlossen, daB alles
von der Gesamtheit oder vom Staate erhalten werden muB, er
will am liebsten in der toeutigen Lage Deutschlands keine In-
vestitionen mehr wagen , . ." Keller zeigt zweierlei: daB zwei
Drittel der Young-Plan-Raten an die amerikanische Regierung
gezahlt werden, und zwar indirekt — und dafi viel groBer
als diese Zahlungen, verlogen lfTribute" genannt, jener Ober-
preis ist, den das deutsche Volk an seine Ausbeuter: an die
Landwirtschaft, die Stahl- und Kohle-Herren, an die Kartelle
und Trusts bezahlt. Das kann kein Volk auf die Dauer tragen.
Was tut es also — ?, Es laBt sich anliigen. Und glaubt
diesen Dreck auch noch, den einige ftinfzig kapitalistische
Dynastien durch Presse, Kino, Kirche und Schulen herunter-
regnen lassen. Die kleine Oberschicht regiert unumschrankter
als es jemals ein asiatischer Fiirst getan haben diirfte: sie er-
ganzt sich, nicht etwa nach den Grundsatzen des freien Wett-
bewerbes, sondern durch Kooptation, durch Heirat, durch Erb-
schaft, und sie nimmt Unfehlbarkeit fiir sich in Anspruch.
Wenn diese Krise jetzt einen positiven Erfol^ aufweist, so ist
es, hoffen wir, der des erschiitterten Vertrauens in jene Ge-
sellschaft.
Die Verblodung dieses Biirgertums ist vollstandig.
Sie sehen nichts, sie horen nichts, und der himmlische
Vater ernahrt ihre Ausbeuter dennoch. Und wo bleiben deren
Gewinne?
Wofiir kein Geld da ist, wissen wir. Fiir Lohne zum Bei-
spieL Diese schlechten Karikaturen eines epigonalen Kapi-
talismus suchen ihre Absatzmarkte lieber in* der Mandschurei
als zwischen der Elbe und der Oder. Da wohnt ein geduldiger
Stamm, der wie die angespannten Biiffel fiir die gesamte iibrige
Welt arbeiten soil und auch arbeitet, und niemals fiir sich, Alle
stellen etwas her, was sie selber nicht kaufen konnen; ihre
Hungerlohne reichen nicht. Und die Weisheit ihrer Antreiber
kennt bei alien Krisen nur ein einziges Mittel, nur eines: die
Lohne der Sklaven noch mehr herabzusetzen, immer wieder
herabzusetzen. Wenn nur der Export garantiert ist.
Und wo bleiben die Uberschiisse? Wofiir ist Geld da?
Fiir die Unterstiitzung Hitlers, in dem diese Wirtschafts-
fiihrer mit Recht einen Hort.und einen Schutz gegen ihre Ar-.
beiter sehn. Und wofiir ist noch Geld da? Fiir die dtimmste,
aber auch schon die allerdiimmste Propaganda, eine von der
Sorte, wie sie bereits im Kriege das vergniigte Lacheln der
Gegner Deutschlands hervorgerufen hat.
..Reparationsfibel", Bilder von O, Garvens, O. Gulbransson
{leider), Th. Th. Heine (leider, leider), E. Schilling, W. Schulz
und Ed. Thony. (Erschienen bei der Verlagsbuchhandlung Bro-
schek & Co., Hamburg.)
Es ist ein groBes Heft, mit bunten Bildern; es herzustellen
war gewiB nicht billig. Doch wir habens ja. Es ist viersprachig**
die Deutschen, die Englander, die Franzosen und die Spanier
dtirfen von dieser Weisheit profitieren. Das Spanische kann
a 329
ich nicht kontrollieren — die andern Sprachcn sind einwandfret
benutzt, die fremdsprachigen Bildunterschriften sind sehr gut,
Aber welcher Unfug!
Da wird neben manchem richtigen einem Ausland, das zum
Gltick nieht hinhort, eingeblaut, wer oder was an der deutschen
Krise schuld sei Die verbrecherische Auspowerung deutscher
Arbeitskrafte durch die eignen Landsleute? Ach, keine Spur,
Es Hegt alles, alles am Frieden von Versailles.
. Erste Luge: der WaffenstiUstand sei im Vertrauen auf
Amerika abgeschlossen worden, Falsch. Der WaffenstiUstand
ist abgeschlossen worden, weil die Deutschen nicht mehr
weiter konnten. Es war aus.
Zweite Luge (eine Verschweigung); die Deutschen haben.
mit ihren Gegnern, mit den Rumanen und den Russen, genau
dasselbe gemacht, was Versailles mit den Deutschen gemacht
hat. Woru fiihrt man auch sonst Krieg? Um den Gegner
moglichst zu schw^chen. Die Deutschen haben mit den Fran-
zosen und den England-em genau dasselbe machen wollen, was
die spater mit ihnen gemacht haben; das zeigen die zahlreichen
Forderungen der Wirtschaftsfuhrer und besonders der Schwer-
Industrie wahrend des Krieges.
Dritte Liige: Der deutsche Michel und der WareniiberfluB
der Welt. Dadurch, daB Deutschland als Kaufer ausfallt, gerat
der Weltmarkt an einigen Stellen in Unordnung; weitere Folgen
hat das zunachst nicht.
. Vierte Liige: Die Weltarmee der Arbeitslosen hat wenig
mit dem Frieden von Versailles zu tun, dagegen alles mit jenem
groBen Krieg, den' die Kapitalisten in ihrer abgrundtiefen
Dummheit gegen die Arbeit er aller Lander fuhren.
Fiinfte Liige: ;,Wehe euch, wenn ich abstiirze", sagt der mit
dem Versailler Rucksack beschwerte deutsche Bergsteiger zu
dem hinter ihm kletternden Franzosen, Englander, Italiener,
Pol en. Faisch; England und Frankreich und Italien sind keines-
wegs auf Deutschland allein angewiesen, das ist eine sinnlose
Oberschatzung der deutschen Position.
Sechste Lxige: MKanada kann mit Weizen heizen, aber die
Deutschen konnen ihre Kohlen nicht essen." Dann sollen sie
den kanadischen Weizen hereinlassen. Das tun sie aber nicht.
Die deutsche Landwirtschaft verhindert vielmehr seit dreiBig
Jahren mit alien Mittelnt dal^ die hohen Lebensmittelzolle fort-
fallen; sie will ihren veralteten und unzureichenden Betrieb
gegen die auslandische Konkurrenz schiitzen, auf Kosten der
Deutschen, die teures und schlechtes Brot essen miissen. Aber
Kanada heizt mit Weizen.
Siebente Liige: „Nehmt diese Last — Versailles — von der
Welt, und sie ist geheilt." Falsch: es gibt allerdings eine Last:
wenn man die von der Welt nimmt, dann ginge es ihr besser,
und das ist der Kapitalismus, der wohl Geld hat, einen solchen
Schund wie dieses Heft zu bezahieii, aber gar kern Geld, seine
Gewinne anstandig zu verteilen.
Es ist, wie wenn Gott sie mit Blindheit geschlagen hat, um
sie desto sicherer zu verderben, DaB um sie herum alles ver-
dorrt; dafi diese Angestellten, denen sie kleine Brotbrocken
330
hinwerfen, damit sie nicht auf den Kuchcn schielen, immcr
lustloser arbeiten, wcil cs ja keinch Sinn mehr hat, diese Arbeit
zu verrichten --das sehen sie nicht. Sie machen Propaganda.
Daftir haben sie Zeit, und dafiir haben sie Geld.
DaB diese Propaganda nun auch noch ganzlich nutz- und
sinnlos vertan ist, sei nur nebenbei erwahnt. Welcher gran-
diosen Tauschung gibt sich doch Deutschland iiber seine eigne
Stellung in der Welt hin! Dasselbe haben sie in den Kriegs-
jahren getan, sie sind damit elend hereingefallen — sie haben
nichts dazu gelernt.
Diese Reparationsfibel hat viele schone Empfehlungen auf
den Weg mitbekommeh. Die Mittel, deren sich diese Propa-
ganda bedient, sind so kindlich, so dumm, so weltenweit von
der Denkungsart der Volker entfernt, an die sie sich wendet .
aber das macht nichts.
Doktor Schieck, sachsischer Ministerprasident: „Ich bin der
Oberzeugung, daB die anschauliche Darstellung dazu beitragen
wird, den Widersinn der Reparationszahlungen auch dem Aus-
lande vor Augen zu fiihren." Seeckt: ganz auBerordent-
lich wirkungsvolL" Geheimrat Kummel, ein Arzt: . . . ein zwei-
fellos groBes Verdienst . . ," (MuB heiBen: ,fein zweifellos
groBer Verdienst"). Westarp: „. . . fiir besonders wirksam . . ,".
Reichsbankprasident Doktor Luther; „. ... in eindringlicher und
klarer Weise die die ganze Welt schadigende Wirkung der Re-
parationen , .7' Generaldirektor Amsinck, Hamburg-Sudameri-
kanische Dampfschiffahrts-Gesellschaft: „Ich kann nur hoffen . /'
Uhd, damit auch dies nicht fehlt, Walter von Molo: „Die Ver-
breitung dieser Fibel ist Menschenpflicht und drum auch echt
deutsche Pflicht . . ." JJa gewiB doch.
Und man fragt sich: Wo leben eigentlich alle diese? Auf
dem Mond- Aber sie gleichen einer ProzeBpartei, die sich an
den Schriftsatzen des eignen Anwalts delektiert, Der Richter
durchfliegt sie vielleicht, und Wirkung haben sie gar keine.
Gelogen, daB Versailles an allem schuld sei. Gelogen, daB
die ubrige Welt andre als egoistische und kapitalistische ■ In-
teressen an Deutschland habe — und diese Interessen sind
noch nicht ein Zehntel so groB wie Deutschland glaubt. Ge-
logen, daB diese faule Kriegspropaganda . irgend etwas fiir
Deutschland bewirkt.
Und das fuhrt. Und das gibt ^den Ton an. Und das ent-
scheidet iiber die Gewirinverteilung, Begeistert umbrullt von
den Biirgersohnen, die ihren Kohlriibentatendrang an Juden
auslassen oder an Arbeitern und in den StraBen der Univer-
sitatsstadte einen Krieg fiihren, den zu fiihren ihnen drauBen
verwehrt ist.
Reparationsfibel ist ein gutes Wort. Das Zeug ist gut genug
fiir kleine Kinder. Das Ausland aber liest es nicht, und
Deutschland ist keine Klippschule.
Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist die auf eine opposition
iielle, radikale und politisch klar denkende Jugend. Die Alten
aber werden noch im Sarg murmeln:
Entlassungen, Herabsetzung der Lohne. Zu hohe Sozial-
lasten, Versailles.
331
Korruption auf Filzpantoffeln von udwig Quidde
Uor kurzem sind die umfangreichen Protokollc des sogenann-
ten Sklarek-Untersuchungsausschusses veroffentlicht wor-
den, Aus ihnen -ergibt ■ sich die authentische Begriindung fur
das Urteil, -das der AusschuB iiber die Personlichkeit des
Oberbtirgermeisters BoB gefallt hat. Dieses sehr vorsichtig
formulierte Urteil kam zu der Feststellung; „Vor allem war
der damalige Oberbiirgermeister BoB seinen Amtsaufgaben
nicht gewachsen. Dariiber hinaus bewahrte er nicht diejenige
personliche Zuriickhaltung, die seine besonders exponierte
aratliche Stellung als Oberhaupt der Reichshauptstadt erfor-
dert hatte." Diese Konstatierung ist schmerzlich, Aber Herr
BoB wird damit zugleich von viel weitergehenden Beschuldi-
gungen, deren Opfer er war, entlastet.
Widerwartig war es, wie skandalierende Horden den
aus Amerika zuruckkehrenden Oberburgermeister empfingen,
und das Disziplinarurteil erster Instanz, das ihn ,,der Achtung
unwurdig" etcetera erklarte, werden mit mir viele als eine
unverdiente, brutale Harte empiunden haben. Andrerseits aber
rriuB ich sagen: als in der ungliicklichen Pelzaffare das BoBsche
Telegramm aus Amerika veroffentlicht wurde, also die eigne,
zur Rechtfertigung gegen verleumderische Angriffe bestimmte
Darstellung des Angegriffenen, war mein Urteil, daB BoB in
seiner Stellung nicht bleiben konne, fertig.
Dieselbe Meinung habe ich freilich schon einmal in einem
andern einigermaBen ahnlichen Fall gehabt, und bin durch die
Entwicklung Liigen gestraft worden. Das war damals, als in
den Jahren nach Beendigung des Krieges die Zuckervorrate in
Deutschland noch so knapp waren, daB deren Verteilung der
offentlichen Kontrolle unterstellt war, der deutsche Weinbau
aber einen starken Bedarf an Zucker hatte, dessen Zuweisung
dem Ministerium fiir Ernahrung und Landwirtschaft zustand.
Damals machte eine Winzergenossenschaft dem zustandigen
Minister Hermes eine Kiste ausgesucht schoner Weine zum
Selbstkostenpreis — man darf wohl sagen — zum Prasent. Der
Minister aber nahm die Kiste dankend an, anstatt sie entrtistet
zuriickzuweisen. Ich nahm als selbstverstandlich an, daB
ein Minister, der so inkorrekt gehandelt hatte, aus seinem
Amt scheiden miisse. Aber, weit gefehlt, er blieb ruhig Mi-
nister und wurde spater in andre sehr einfluBreiche Stellungen
berufen, stand an der Spitze der Delegation, die iiber den
Handelsvertrag mit Polen zu verhandeln hatte, ist heute einer
der Prasidenten der ,,Griinen Front" und wird zu wichtigen
amtlichen Auftragen verwandt.
Da handelte ein alter Freund von mir, ein einfacher Land-
biir germeister, anders, Wahrend ja: die Landbevolkerung in
der Kriegszeit im allgemeinen keinen Mangel an Nahrungs-
mitteln litt, hungerte er mit seiner Familie wie ein GroB-
stadter; denn er hatte sein Gut verpachtet und der Pachter
belieferte ihn nicht, — aus Griinden, die nicht hierher gehoren,
In seinen Handen lag natiirlich, wie iiberall bei den Gemeinde-
behorden, die Zuteilung der verschiedenen Bezugskarten. Nun
332
kam es 6fter vor, daB Bauern seines Dorfes ihrem unterernahr-
ten Biirgermeister Butter bringen wollten. Er setzte sie an
die Luft mitsamt der Butter. Er hatte eben das richige Ge-
fiihl fur das, was sich fur den Vertreter einer Behorde schickt,
und hatte die rechte Witterung fiir die so harmlos, gleichsain
auf Filzpantoffeln heranschleichende Korruption,
Niemand wird ja annehmen, daB sich Herr B6B oder Herr
Hermes durch den Pelz oder die schonen Weine zu einer
pflichtwidrigen Handlung hatten bestimmen lassen oder daB es
auch nur die Absicht der Herren Sklarek oder der Winzer-
genossenschaft oder der Butter bringenden Bauern gewesen
ware, die Vertreter der Behorde zu „bestechen'\ Aber ebenso
wenig handelten sie doch aus ganz uneigenniitziger Freund-
schaft. Am ehesten ware das noch bei den ihrem Burger-
meister aufrichtig zugetanen Bauern anzunehmen. Ihr Gedanke
war doch der, eine freundliche Beziehung zu einer in wichtigen
Fragen entscheidenden Personlichkeit herzustellen, um . . . ja
urn: man kann ja nicht wissen, wie solch ein freundliches
Verhaltnis sich mal rentiert, ohne daB grade eine pflicht-
widrige Begunstigung in Frage zu kommen braucht,
Es miiBte deshalb selbstverstandlich sein, daB jeder Ver-
treter einer Behorde die strengste personliche Zuriickhaltung
bewahrt imx Verkehr mit Personen, die mit seiner Amtsstetie
amtlich, besonders geschaftlich, etwas zu tun haben, und daB
er sich von ihnen auch nicht die geringsten Gefalligkeiten er-
weisen laBt, besonders aber kerne offenen oder versteckten
Geschenke annimmt.
Nicht genugdamit: wenn einem Beamten, der an der Spitze
einer Behorde steht, jemand in dieser Weise naht, so muB er sich
doch selbstverstandlich die Frage vorlegen, welchen Ver-
suchungen wohl die Untergebenen ausgesetzt sind, wenn man
schon wagt, ihm, dem Chef, die Annahme solcher Freundlich-
keiten von materiellem Wert zuzumuten. Oberbiirgermeister
BoB hatte sich sagen mtissen, daB, wenn ein Sklarek sich her-
ausnimmt, ihm oder seiner Frau einen wertvollen Pelz zu ver-
ehren, wahrschemlich in den untern Spharen der Stadtverwal-
tung schon eine heillose Korruption eingerissen sein wird. So
war es ja in der Tat, Das Pelzgeschenk hatte eine scharfe
Untersuchung iiber die Beziehungen nachgeordneter Beamten
zu den Sklareks zur Folge haben mussen, - Und auch Mi-
nister Hermes hatte gut getan, aus der Kiste Wein (die ja ge-
wiB erheblich harmloser als der Pelz des Herrn Sklarek war)
ahnliche Folgerungen zu ziehen, Dafi in seinem Ministerium
schwere Korruption eingezogen war, hat ja der Fall Augustin
bewiesen, der am 6. Dezember 1920 im Reichstag zur Sprache
kam, Ein hoher Ministerialbeamter hatte erst tausend, dann
sechstausend Mark vora Geschaftsfuhrer der Ackerbaugesell-
schaft erhalten. Dabei handelte es sich nicht um die Bewirt-
schaftung des Zuckers sondern der Dungemittel,
Klagen iiber Korruption in unserm offentlichen Leben,
iiber eine Korruption, die nicht auf Filzpantoffeln daher-
schleicht, sondern die schon mit Wasserstiefeln im Schlamm
herumtrampelt, so dafi der Schmutz hoch aufspritzt, reiBen
nicht ab, Sie wird in reaktionaren Kreisen der Republik aufs
333
Schuldkonto geschrieben. Es liegt ja det Verdacht nahe, daB
das Eindringen von Pcrsonen in die Verwaltung, die nicht in
der strengen Schule eines ehrenfesten Beamtentums aufge-
wachsen sind, die Schuld an der Locker ung der Ehrbegriffe
und an der -Korruption trage. Ich weiB nicht, ob man versucht
hat, den Anteil der alt en und der neiien Beamtenschaf t an der
Korruption statistisch zu erfas$en. Mir ist nur aufgef alien, wie
haufig Personen, die dem alten Beamtenstande oder den Ge-
sellschaftsschichten der alten Bourgeoisie entstammen, also
nicht zu den „NutznieBern der Revolution" zu zahlen sind, zu
den Schuldigen gehoren.
Die ganze Diagnose ist aber falsch. Die Korruption, unter
der wir leidcn, geht nicht auf die politische Umwalzung, son-
derri auf den Krieg zuruck. Darin hatte der preuBische Mi-
nisterprasident Braun in jener Reichstagssitzurig vom De-
zember 1920 ganz recht Wahrend des Krieges beherrschten
Unehrlichkeit und Betrug das politische und wirtschaftliche
Leben, Angefangen von der gewissenlosen Ausbeutung der
patriotischen Aufopf erung - einer fur die Verteidigung des
Vaterlandes zu den Fahnen eilenden Jugend fiir die Erobe-
rungsziele der Schwerindustrie, angefangen von der Verlogen-
heit der Heere&berichte, angefangen von der schamlosen Be-
wucherung des Reiches durch die groBen Kriegsgewinnler bis
herab zu den Geschaftspraktiken der kleinen Schieber und bis
zu den unzahligen Verordnungen, die schliefilich auch von den
rechtlichsten Burgern ohne Gewissensbisse ubertreten wurden,
iiberall die Gewohnung an eine Unehrlichkeit, die das Ver-
harren bei den Grundsatzen alter Ehrbarkeit vielmals als eine
altfrankische, etwas lacherliche Weltfremdheit erscheinen lieB.
Es ist ja auch gar nicht wahr, daB es in dem kaiserlichen
Deutschland keine Korruption gegeben hatte. Nur trat sie in
vorwiegend andern Formen auf* Was war denn die ganz offen
bei Besetzung der Amter getriebene Protektionswirtschaft auf
Grund von Familienbeziehungen und Korpsstudententuni
anders als Korruption? Auch die Ausnutzung von Beamten-
stellung und allerhand andern Beziehungen zu wirtschaftlichen
Vorteilen fehlte nicht* Ich erinnere nur an den Fall Podbielski
und Tippelskirch oder an die Versuche, die Konkurrenz
andrer fabriken zugunsten der Firma Krupp auszuschaiten.
Bei gewissen Gelegenheiten trat die Korruption des offent-
lichen Lebens sogar viel ungenierter, man darf wohl sagen:
schamloser, auf. Bismarck erzahlte im Reichstag vor ver-
sammeltem Kriegsvolk: da er sich durch den Landrat des
Kreises, zu dem sein Gut Varzin gehorte, schlecht behandelt
fuhlte, habe er „die Klinke der Gesetzgebungf\ die in seiner
Hand gewesen sei, benutzt, um die Kreisgrenzen zu verlegen!
Darauf erhob sich kein Sturm der Entnistuag. Dieser unglaub-
liche MiBbrauch der offentlichen Gewalt fiir die Privatinter-
essen des leitenden Ministers wurde wie eine Selbstverstand-
lichkeit oder doch Harmlosigkeit hingenommen, Wenn die
offentliche Moral so tief gesuriken war, sollten die Vertreter
des „alten PreuBen ( sich eisige Zuriickhaltung auferlegen in
GeiBelung der Korruption, die heute herrscht und die zu be-
kampfen die Republik heroische Anstrengungen machen muB.
334
Amerikanisches Mittelalter von Frank Harris
Cin deutscher Verleger brachte mich anlaBlich des Falles
Chaplin auf den Gedanken, iiber die moralische Hcuchelci
in den Vereinigten Staaten zu schreiben. Ich tat dies urn so
lieber, weil ich auch im Ausland einmal dieser Heuchelei, die
so grofi ist wie die Staaten selbst, entgegentreten wollte.
Die in Amerika maBgebenden Schichten sind eine Art
schlechter demokratischer Variation Englands, und ein jiingst
vorgekommener Gerichtsfall hat wiederum klar und deutlich
Englands moralische Heuchelei in geschlechtlichen Dingen ge-
zeigt: Der fruhere Offizier Peter Wright hatte von dem ver-
storbenen Premierminister Gladstone behauptet, daB dieser in
sexueller Beziehung notorisch unsittlich gewesen sei. Er
wurde hierauf von Lord Herbert Gladstone, dem Sohn, offent-
lich „Liigner und Feigling" genannt. Der Fall kam yor Ge-
richt, und zwar vor den Richter Avory. .Wright bewies, daB
schon Lord Milner gesagt hatte, Gladstone halte sich ein
,, seraglio*'; aber der gebildete Richter versicherte der Jury,
daB nach seiner Kenntnis des Italienischen das Wort ,, seraglio"
etwas ganz Unschuldiges bedeute. Der arme Richter wuBte
eben nicht, daB MseragJio'* nicht nur im Italienischen vor-
kommt, denn hatte er in Johnsons Dictionary nachgeschlagen,
so hatte er gesehen, daB der groBe Lexikograph durchaus
nicht seiner Meinung war. ,, Seraglio", sagt namlich Johnson,
„is a house of women kept for debauchery", Aber jene eng-
lische Jury akzeptierte Richter Avorys anmaBende Ignoranz.
Die Moralheuchelei Amerikas ist die direkte Fortsetzung
der englischen, und ich werde dies sorgfaltig beweisen: aber ich
mochte vorerst feststellen, daB die amerikanische Heuchelei
auf einem weit niedrigeren und sumpfigeren Niveau wuchert
als die englische.
Seit vielen Jahren briistet sich England mit seiner Kultur
der individuellen Freiheit, und auch Amerika nennt sich „the
land of the Free", spreizt also die gleichen Federn. Gewissen-
hafte Beobachter haben jedoch aufgezeigt, daB diese angel-
sachsische Freiheit nur eine politische ist, keine soziale, ge-
schweige denn eine kiinstlerische. Der Despotismus def Prii-
derie ist und war in England iiberall anerkannt; eine Zeit lang
schien es, als ob die Vereinigten Staaten in bezug auf Priiderie
und politische Freiheit England durchaus kopieren wollten. In
Wirklichkeit gingen sie aber ein Halbjahrhundert lang iiber
das englische Muster weit hinaus. Washington und Jefferson,
die Begrtinder der ^Constitution, waren leidenschaftliche Ver-
' ehrer der individuellen Freiheit. Diese Liebe zur Freiheit des
Individuums ist verkorpert im ersten Zusatz zur Konstitution,
in dem gesagt wird, daB weder der President noch der KongreB
jemals das Recht . haben sollten, die Freiheit der Rede, der
Presse oder der offentlichen Versammlung einzuschranken.
Prasident Wilson wurde unter dem Schlagwort: „er hielt
uns vom Krieg fern" zum zweitenmal gewahlt. Als er dann
doch in den Krieg zog, geschah dies, wie bekannt, gegen den
Willen des Volkes. So konnte er beispielsweise im ganzen
Staate New York kaum zehntausend Kriegsfreiwillige auftrei-
335
ben, Abcr die ausgehaltene Presse hattc nach dem Krieg ge-
schrien, Wall Street und die Morgans waren alle gierig nach
dem Krieg, der sie bereichern sollte, und so kam der Krieg.
Mit der Kriegserklarung offenbarte sich plotzlich ein neuer
Geist in Amerika, ein Geist, wie er sich niemals vorher im
Lande gezeigt hatte. Herbert Spencer- hatte gelehrt, daB die
individuelle Freiheit in England immer gedeihen miisse, da die
Insel von der (ibrigen Welt total abgeschlossen sei und daher
frei von jeglichem Druck von auBeri. Und ein erstarktes
Amerika miisse immer fur das Recht der individuellen Freiheit
eintreten, denn die Vereinigten Staaten seien frei von irgend-
welchem auBern Druck. Aber Spencer zog niemals die Zen-
tripetalkraft der sozialen Gravitation im Lande selbst in seine
Rechnung, die im Verhaltnis zur Volksmasse wachst und wirk-
sam wird. Diese Kraft kam in Amerika in Form des wahn-
sinnigsten Herdeninstinkts zur Erscheinung, weit lurchtbarer als
jemals in Europa sich Untertanengeist gezeigt hatte.
Zuerst wollte Wilson vom KongreB die Befugnis erhalten,
die Freiheit der Rede und der Presse zu beschranken. Er
wurde abgewiesen. Einige Monate spater gelang es ihm, den
infamen Espionage Act durchzubringen, auf Grund dessen zwar
spater niemals ein Spion entdeckt wurde, der aber dem Pra-
sidenten die Machtmittel in die Hande gab, die Freiheit der
Rede und der Presse zu unterdrticken.
Kriegsgegner aus Gewissensgrunden wurden in England
eine Zeit lang mit Milde behandelt und niemals mit mehr als
zwei Jahren Gefangnis bestraft; in den U.S. verurteilte man
sie oftmals zu zwanzig und selbst zu vierzig Jahren Gefangnis.
Soldaten, die schon genug vom Kriege hatten, wurden in den
Gefangnissen oft und oft von hierzu eigens beorderten Offi-
zieren blutig geschlagen; in vielen Fallen starben die Opfer in-
folge der unmenschlichen Behandlung.
Der Fall der Molly Steimer ist typisch, Als Russin pro-
testierte sie gegen den illegalen Krieg, den Wilson gegen ihr
Vaterland fiihrte; sie wurde in Untersuchungshaft genommen
und zu einer funfzehnjahrigen Gefangnisstrafe verurteilt, ob-
gleich sie erst achtzehn Jahre alt war.
Radikale und selbst sozialistische englische Blatter setz-
ten in nahezu vollkommener Freiheit ihre Antikriegspropa-
ganda fort. In Amerika wurde vierzig von zweiundvierzig
Blattern der Maulkorb umgehangt, sie wurden unter irgend-
einem Vorwand systematisch ruiniert. Die Kerdenpsychose
aber gebardete sich von Tag zu Tag tollwiitiger, dank den An-
strengungen der ausgehaltenen Presse, die nicht erlahmte, den
liblen Brei immer wieder aufzukochen.
Selbst ernstzunehmende Richter lieferten sich der allge-
meinen Stimmung aus und entblodeten sich nicht, beispiels-
weise einen Mann ins Gefangnis zu werfen, weil er Satze aus
der Bergpredigt veroffentlicht hatte, oder einen Zeitungsher-
ausgeber, weil er eine Stelle aus Washingtons ,,Last Address.
to the American People" zitiert hatte.
Kurz, Amerika, das niemals einen Feind gehabt hatte,
Amerika, dessen Herzen und Heimstatten von dem Weltmord
hatten unversehrt bleiben konnen, erlangte die traurige Be*
336
ruhmtheit einer Intoleranz, die man sich in England, Frank-
reich. odcr Deutschland nic hatte traumen lasscn.
Und als der Krieg zu Ende war und wieder Friede, als
England und Frankreich einc allgemeine Amnestic erlieBea
und sich uberall die Gefangnistore den ehrlichen Kriegsgegnern
offneten, da hielten die U.S.A. in einem Anfall von kindischenx
HaB die Zellen verschlossen, Noch zwei Jahre nach Friedens-
schluB fiihrte der Versuch, deutsche Musik nach New York zu;
bringen, zu einem Skandal; ehemalige Frontsoldaten wollten.
es einfach nicht gestatten, daB man in Amerika Musik von.
Mozart, Beethoven oder Wagner hore. Auch die deutsche
Sprache war lange in den Schulen als Lehrgegenstand ver-
boten, und deutsche Wiirste konnten nur unter italienischea
Namen in den Handel gebracht werden,
Nirgends in der traurigen und weglosen Geschichte der
Menschheit gibt es irgendein Beispiel fur einen so kindischen,
und zugleich viehischen Terror, wie er in Amerika uberall zu~
tage trat, von New York bis San Franzisco,
Dieses Wilson-Regime war der Wellenberg; aber schon.
lange bevor er kam, hatte sich der Despotismus der, Dollar-
aristokratie vollkommen etabliert. Er hatte praktisch das;
heiligste der individuellen Rechte abgeschafft, das Recht nam-
lich, daB jeder, dessen Schuld vor einem offenttichen Gericht
in einem ordentlichen Gerichtsverfahren nicht erwiesen wor-
den war, als unschuldig zu gelten habe.
E^s sind jetzt ungefahr zwanzig Jahre her, seitdem die-
amerikanische Polizei mit Methoden begann, die einstmals
durch die heilige Inquisition in Spanien eingefiihrt worden
waren. Man fing namlich mit jener Methode an, die sich
euphemistisch der ,,dritte Grad" nennt und die naher zu be-
leuchten notwendig ist; Es ist jetzt die Gewohnheit der ameri-
kanischen Polizei, einen Verdachtigen solange einer unmensch-
lichen Folterung zu unterwerfen, bis er gesteht. Das ungliick-
liche Opfer wird in einen Raum gebracht und dort be-
fragt: wenn der Delinquent die Ant wort verweigert, wird er
geschlagen und bekommt FuBtritte; jede Art von korperlicher
Ziichtigung wird ihm dort zuteil. Menschen wurden Tage und
Nachte lang wach gehalten und in grausamster Weise gemar-
tert und haben haufig Verbrechen gestanden, von denen sie
nichts wuBten. Es ist auch vorgekommen, daB vollkommen
unschuldige Menschen Selbstmord begingen, nur um der Fol-
terung zu entgehen.
Arger noch; amerikanische Richter wissen darum und ak-
zeptieren die Resultate dieser Methode; sie akzeptiereh an-
dauernd Gestandnisse, von denen sie wissen, daB sie durch die
Folter erpreBt worden sind, Und am argsten ist wohl, daB:
die amerikanische Of fentlichkeit diese nichtswiirdigste aller
Ungesetzlichkeiten durch eine Gleichgultigkeit sanktioniert, die
ohne Beispiel ist- Nichts konnte dem Durchschnittsburger
druben klarmachen, daB sein Mitmensch Rechte inne hat,
die er in seinem eignen Interesse und im Interesse der ganzen
Menschheit verteidigen sollte. Von Zeit zu Zeit wird dann
ein Fall ruchbar, der vermutlich anderswo der AnlaB zu mehr
33T
;als zu Zeitungsartikeln ware. Polizeibeamte folterten eincn
jungen Italiener, der, wie sich hernach herausstellte, voll-
kommen unschuldig war, urn ein Gestandnis zu erpressen; in
seiner wahnsinnigen Angst sprang er aus dem Fenster eines
Zimmers im vierzehnten Stockwerk und wurde zerschmettert
weggetragen, Keinem Menschen fiel es damals ein, die fur diese
Tortur Verantwortlichen anzuklagen; keine einzige Zeitung
brachte Scham oder Trauer zum Ausdruck. Die Republik, ge-
griindet von Washington und JeHerson, gibt es nicht mehr;. der
Dollardespotismus von heute wird 'durch gerichtliche Ver-
brechen gestiitzt, die iiberall in der zivilisierten Welt AnlaB
zu einer spontanen Revolution waren.
Sieben Jahre lang schrieb und sprach ich in New York mit
ganzer Leidenschaft gegen diese Kulturschande; mit dem Er-
folg, daB die Zeitschrift, die mir gehorte und die ich heraus-
gab, immer wieder durch Anordnung des Generalpostmeisters
auf den Postamtern beschlagnahmt und aufgehalten wurde, so
daB ein eingefiihrtes, bliihendes Unternehmen in kurzer Zeit
ruiniert war; ohne Billigkeit und in direkter Umgehung der
Gesetze durch den Postminister A. S. Burleson.
Und als man mich schlieBlich vor das Post Office Gericht
in Washington brachte und ich von Gouverneur Dockery for-
mal freigesprochen wurde, da wurde mir gleichzeitig erklart,
daB meine Spesen nicht vergutet werden konnten. Das reichste
Land der Welt hat, wenn es einen seiner Burger verfolgt hat
und den ProzeB verliert, kein Geld, um dessen Gerichtskosten
zu bezahlen.
Was Amerikas Geschlechtsheuchelei angeht, so ist sie
ebenso schimpflich wie seine Heuchelei in Dingen politischer
Freiheit, Es gibt keine richtige Geschmackszensur in Lite-
ratur und Kunst, und so kann es passieren, daB man den einen
Autor verfolgt, wahrend ein andrer wegen der gleichen Unge-
niertheit von der Offentlichkeit verhatschelt wird. Das Ge-
schlechtsgesetz ist dem Alkoholgesetz ganz ahnlich: beide Pro-
hibitionen wurden von den Frauen durchgesetzt. Ich erinnere
mich, wie vor nun schon fiinfzig Jahren in Lawrence (Kansas)
und in Columbia (Ohio) Frauen die Saloons zu schlieBen be-
gannen, ind'em sie sich vor ihnen aufstellten und beteten. In
kiirzester Zeit hatten sie es jedem achtbaren Menschen un-
moglich gemacht, einen Saloon zu betreten; er wurde verwarnt
und, wenn er f ortf uhr, Bars zu besuchen, schlieBlich von den
Damen der Stadt in Acht und Bann getan, Und ganz in der
gleichen Weise verurteilen die Frauen jedes freimiitige Buch,
Theaterstiick oder BikL Sie ignorieren die Weltliteratur des
letzten Halbjahrhunderts und ihre Arbeit fur die Freiheit,
Einige von uns tun alles. um die Literatur und die drama-
tische Kunst und die Kunst iiberhaupt von dem lahmenden
EinfluB angelsachsischer Priiderie zu befreien — aber was
niitzt es? Es ist beispielsweise noch heute in England verpont,
das Wort „Bauch" anzuwenden, und in Amerika gilt selbst
nMagen" als unstatthaft; man lehrt uns, schamhaft von ,,unsrer
kleinen Mary" zu sprechen.
-338
Voltaire hat gesagt, daB die Anstandigkeit in die Sprache
*ingeht, wenn sie aus dem Leben verschwindet.
Aber all diese Scheinheiligkeit und Verbotsraserei,
diese ganze furchtbare Tyrannis, durch die Folter des dritten
Grades uber den Burger verhangt, ist nur ein Symbol der
auBerordentlichen Verirrttng des Landes, ein Resultat der all-
gemeinen Stupiditat. In raehreren Staaten ist gegenwartig das
Rauchen gesetzlich verboten, und in den durchfahrenden Zii-
gen werden die Reisenden angehalten, bei Passieren der
Grenze das Rauchen einzustellen. Dies im „Lande der Freiheit"!
Alles in den Vereinigten Staaten ist der Gier nach Geld
untertan; es ist so leicht, Geld zu machen, daB alle Menschen
von Talent, ja selbst von Genie, in diesen verhangnisvollen
Strudel gerissen werden, Alle fahigen Leute werden druben
reich, Aber was niitzt es dem Menschen, wenn er die ganze
Welt gewinnt und seine Seele dabei verliert. Amerika hat seine
Seeie verloren; der Geist Franklins, Jeffersons und Washing-
tons ist tot, und es gibt keine Seele, kein. WertmaB mehr jen-
seits des Materiellen.
Ich entsinne mich, daB einmal eine gemeinsame Bekannte
Tor Warren Harding anerkennend auf mich hinwies, und Har-
ding, der damals fur die Prasidentschaft kandidierte, mich
schriftlich bat, ihn in seinem Heim in Marion, Ohio, zu be-
suchen. Ich fuhr hin und wir hatten ein langes Gesprach. Als
ich ihm sagte, daB in alien Stadten mit mehr als fiinfzigtausend
Einwohnern Hochschulen fiir Musik und Literatur und Lehr-
anstalten fiir Chemie und Physik errichtet werden sollten, ent-
;gegnete er: ,,Ich glaube, daB unser Volk das gebildetste der
Welt ist", und fiigte, iriein Lacheln bemerkend, hinzu: ,,Ihre
Reformen wiirden ungeheuer viel kosten, woher sollten wir das
Geld nehmen?"
Ich antwortete einfach: „Sie verwenden dpch auch jahr-
lich viele Millionen Dollar fiir Armee und Kriegsmarine, ob-
gleich die Vereinigten Staaten unbestreitbar die starkste Macht
der Welt sind und durch ihr Kapital jedem Angriff trotzen
konnen, Warum nicht Armee und Kriegsmarine abschaffen
und das Geld fiir die Volksbildung verwenden? Kommt noch
hinzu, daB Ihre Armee und Marine nichts andres ist, als ein
falsches * GebiB, mit dem Sie im Ernstfalle nicht zu beiBen
wagen diirften, Warum also nicht ein groBartig.es Beispiel
geben und dies alles mit einem Schlag abschaffen?"
„Unsre Armee und Marine", antwortete Harding, in hef-
tiger Erregung aufspringend, ,,halten wir fiir die besten Macht-
mittel der Welt, und Sie sagen, sie seien ein falsches GebiB- . .!
Ich schatze mich ghicklich, nicht Ihrer Meinung zu sein. Ameri-
kas Platz und EinfluB in der Welt werden durch sie bestimmt!"
Und Harding war keineswegs der unintelligenteste unter
den amerikanischen Prasidenten. Aber auch seine Nachfolger
sind darauf erpicht, die amerikanische Marine zu verstarken
und Wail Street allerhochste Macht zu verleihen.
Ubersetzt von Otto Basil
339
Anglikana von Paul Cohen-Portheim
Tm Jahre 1931:
Gab es in England einige Millionen Arbeitslose. / Lie&
Douglas Fairbanks fiir scinen londoncr Schneider eine lebens-
groBe Wachsfigur anfertigen, auf der seine Anziige angeprobt
werden. / SaB Lady Wimborne, Fiihrerin der exklusivsten lon-
doner Gesellschaft, ohne Hut in ihrem Auto und rauchte eine
dicke Zigarre. / Wurde ein Angestellter der groBen Lloyds-
Versicherungsgesellschaft von seinen Kollegen herausgeschmis-
sen, weil er das Bureaugebaude in Plus-fours betreten hatte. /
Stundete GroBbritannien den Dominions die Schuldenzahlun-
gen, was aber Sudafrika ablehnte: es zahlte lieber weiter. /
Wurde der Rekord der Herstellung eines Herrenanzugs ge-
brochen, indem in Huddersfield zwei Stunden, neun Minuten,
sechsundvierzig Sekunden, nachdem zwolf Schafe geschoren
worden waren, der Anzug fertig war. Hundert Minuten dauerte
die Anfertigung des Materials, woran vierundneunzig Mann
arbeiteten, wahrend vierzig Mann den Anzug anfertigten. Die
Kosten betrugen 100 Pfund Sterling. Der amerikanische Re-
kord war sechs Stunden, / War die Kindersterblichkeit seit;
1900 um 50 Prozent gesunken. / Wurden achtzehn alte Gefang-
nisse ,abgerissen. / Wurde in einem londoner Vorort (Dagen-
Kam) das fiinfundzwanzigtausendste Haus innerhalb der Zeit
von zehn Jahren erbaut. / Baute sich auch Mrs. Wilfrid Ashley
ein neues Haus mit einem Bett aus Glas und Spiegeln, und
Glaswanden (undurchsichtigen). / Wurden von offentlichen
Behorden 108 104179 Pfund Sterling fiir Gesundheitsdienste
ausgegeben, gegen 23 457 109 Pfund Sterling im Jahre ,1900/1. /
Eiitstand der neue Frauenberuf der l(Airhostess'\ die wahrend
des Flugs Bridgepartien arrangiert, Beltanntschaften vermit-
telt und auf Sehenswurdigkeiten aufmerksam macht. / Kam
im Juni der Muff wieder in Mode: aus frischen Blumen oder
TiilL / Wurde das Dorchester Hotel in Park Lane eroffnet: das
billigste Zimmer kostet 35 Shilling; das Hotel hat tiirkische
Badert ein Institut de beaute, eine Sherry-bar; wird alle zehn
Minuten mit frischer Luft versehen, hat Kprkbelag zwischen
alien Wanden, so daB es fast gerauschlos ist, und gepreBten
Seetang als Deckenbelag. Es hat keine Hofe und alle Fenster
gehen auf# die StraBen; es ist feuerfest, bombenfest und erd-
bebenfest. Es hat gegen zwei Millionen Pfund Sterling ge-
kostet. Das neue Hotel der Canadian Pacific soil drei Mil-
lionen Pfund kosten; der Neubau von Regent Street hat 100^
Millionen Pfund gekostet. / Stiirzte Mrs. Gallien ab und kam
um. Es war ihr zweiter Absturz, bei dem ersten hatte sie
sich die Beine gebrochen. Sie hatte eine Expedition nach
dem Tanganyika-Gebiet bezahlt und geleitet, und war allein
im Auto wahrend der dortigen Aufstande in Arabien herum-
gefahren. / Stiirzte auch die Honourable Mrs. Edwin. Montagu
irgendwo in Asien ab, wurde aber gerettet, weil ein Bekann-
ter von ihr zufallig auch in Asien herumflog. Sie bedauerte
sehr, ihr Flugzeug nicht versichert zu haben, da sie glaubter
sich im Falle eines Absturzes keine Geldsorgen mehr machen
zu brauchen. / Wanderten hunderttausende von Arbeitern aus,
340
Nordengland und Wales nach Sudengland, wo neue Industrie-
werke entstehen, wahrend die Kohlen- und Stahlindustrie zu-
fuckgeht. / HinterlieB Mr, Otway Robinson sein Vermogen
(7000 Pfund Sterling) der deutschen Regierung zugunsten der
Kriegsinvaliden, da ,,England in der Lage ist, gut fur seine In-
validen zu sorgen", / Stieg eine junge Dame im Badeanzug in
das Springbrunnenbassin in Trafalgarsquare, wodurch sie eine
Wette gewann. / Konnte man in /The Times1 folgende Annon-
cen lesen: Herr mit viel iiberfliissiger Zeit umd in guten Ver-
haltnissen wiinscht Bekanntschaft eines gleichsituierten Her-
ren. — Weiter: Antiquitaten. Psychische Vortrage im
Buddhazimmer. Amerikanische Gerichte in einem orientali-
schen Salon. 25. B,. .street. — Comtesse de la Calle zeigt
an, daB Mile. Le Dieu, zwolf Jahre (bis zur Revolution) Er-
zieherin der spanischen Konigsfamilie von jetzt ab mit ihr zu-
sammen eine Schule fur junge Damen in Paris leiten wird. /
SaB der Ex-Konig von Spanien beim Tennisturnier in Wimble-
don dem Ex-Konig von Portugal gegeniiber. / Riefen viele hun-
derte von Londonern die Polizei telephonisch an, weil die
Erde bebte. / Bekam Lady Blackwoods Penkingese zum Lunch
im Ritz Hotel taglich das Herz einer Wachtel, das ihm der
Oberkellner personlich servierte. / Wurden die Touristen, die
die Isle of Skye (Schottlandj besuchtcn, gezwungen, dem Som>
tags-Gottesdienst beizuwohnen, der mindestens zwei Stunden
dauert, wenn sie Unterkunft auf der Insel linden wollten.
Zwei SprachbUCher von Peter Panter
Deide sind von Hans Reimann: ,,Vergnugliches Handbuch der
deutschen Sprache" (erschienen bei Gustav Kiepenheuer
in Berlin) und ,,Sachsisch" (erschienen bei R. Piper & Co. in
Munchen). Beides Kollegs von lehrreicher Lustigkeit.
Das Vergniigliche Handbuch der deutschen Sprache ist
ganz und gar unsystematisch — Reimann hat das so gewollt,
und er hat auch gewuBt, warum: die Leute haiten es sonst fiir
eine Grammatik, und dann lesen sie es nicht. Schade ist es
doch. Denn in diesem kleinQri Buch ist mit scharfster Sprach-
sorgfalt eine Fiille von Wissen untergebracht, und weil aber
alles mit viel Klamauk erzahlt ist, von Anekdoien unter-
brochen, von Witzen und allerlei Erinnerungen, so wird der
Brillenleser es nicht ernst nehmen, wenigstens nicht jene
Sorte, die da angesichts eines dicken Walzers meint: ,,Wenn
einem dies Buch auf den FuB fallt, ist man lahm — also ist
es ein schweres Buch". Reimanns Sprachbuch ist ein leichtes
Buch, und doch kann man viel daraus lernen.
Das Sprachgefuhl Reimanns ist so lebendig und so fein,
daB ich ihm und uns nur eines wiinschte: er sollte einmal das
herrliche Buch des alten Wustmann „AlIerhand Sprachdumm-
heiten" neu bearbeiten. Die Neuauilage dieser Sprachbibel
ist gekiirzt und lange nicht mehr so gut wie zu Lebzeiten
Wustmannst und manches ist veraltet darin. Es ist aber keine
Kenntnis der deutschen Sprache ohne systematische Arbeit
moglich. Warum konnen Frauen meist nicht interpungieren?
341
Weil sie oft nicht wissen, was ein Nebensatz und was ein er-
weiterter Infinitiv ist, und! ohne das gents nun einmal nicht.
Doch hat Reimann sein Moglichstes get an, um das Buch.
nicht zu MAllerlei Misccllcn aus der Sprachlehre" werden zu
las sen, und so viel ich auch darin umhergepickt habe: da ist
kaum eine Stelle, zu der ich nicht aus vollem Herzen Ja sagte^
Schade nur, daB er seinen Lesern, die diese Freiheit nicht
yerdienen, in vielen Fallen die Tur zur Anarchie of fen lafit,
indem er etwa sagt: man schreibe, wie es einem um den
Federhalter ist, Willkiir in der Sprachbehandlung ist meist
vom Obel, und ohne testes Geriist kann man nicht springen,
AuBerordentlich sein eigner Sprachreichtum, auBerordentlick
sein innerer KompaB fiir die Sprache, fiir ihre Komik, fur ihre
Unzulanglichkeit, fiir die Unzulanglichkeit unsrer Gehirne.
Ganz besonders schon und ein herrliches Museum der ScheuB-
lichkeiten ist das. kleine Schlagworter-Lexikon, in dem er alle
diese fiirchterlichen Unarten der Epoche von „Abbau" bis
f,zyklothym" aufbewahrt hat. Mochten doch alle Redakteure
ihren Mitarbeitern den ernsthaften Gebrauch dieser widerwar-
tigen Klischeeworter verbieten!
Reimann, aber zwei Dinge habe ich nicht verstanden, ein
kleines und ein grofies. Das kleine ist: ,,Ein was steht nur in
zwei Fallen, Erstens nach alles und zweitens, wenn auf den
Inhalt des vorangegangenen Satzes oder aui mehrere Worter
Bezug genommen wird." Und wie ist es mit: „Das Erhabenste,
was Beethoven geschaffen hat"? Das ist namlich richtig, weil
— nach Wustmann — hier ,,von allem" zu erganzen ist, also: „Das
Erhabenste von allem, was Beethoven geschaffen hat," Hinter
dem Superlativ von substantivierten Eigenschaftswortern, sagt
Wustmann, ist in den meisten Fallen ,,was" das richtige,
Doch ist dies eine Kleinigkeit gegeniiber einer Schreib-
weise, Reimann, die ich gar nicht begreifen kann. Sie schrei-
ben: Bettvorleger. Affenpintscher. Doktorwiirde, Aber:
SaueregurkenZeit. GerichtsberichtErstatter, TeerDestillat. Spie-
gelScheiben, Und einmal sogar; ,,Im WarteSaal des Haupt-
bahnhofs", Nanu — ? Haben wir noch nicht genug Durchein-
ander mit den groBen und kleinen Buchstaben? Miissen wir
jetzt diese Saulen des Unsinns au^h noch innerhalb der Worter
auf richten ? Das verstehe, wer kann. Ich habs nicht ver-
standen.
Im Lehrbuch des Sachsischen aber habe ich alles verstan-
den, ,,Der Sachse denkt wie die Katze um den heifien Brei."
Und, von der sachsischen Kuche: „Das Brotchen ist physio-
gnomielos und unterscheidet sich in aufgeweichtem Zustand
kaum von einem ertrunkenem Bieruntersetzer aus Pappe" — '
da weifi man doch!
Das Buch ist vor allem deshalb so vorziiglich, weil es sich
nicht gnadig herbeilaBt, den sachsischen Dialekt zu belacheln,
wie das unertraglicherweise oft bei Dialekten geschieht, son-
dern es nimmt ihn* als Ausdrucksweise einer Gemtitsverfassung
ganz und gar ernst, und nun wird er erst komisch! So ein
gutes Buch liber den berlinischen Dialekt kenne ich nicht —
da kommen sich die Herren Sprachforscher immer so iiber-
legen vor, wenn sie den berliner Dialekt beschreiben . . .!
342
Reimann, der Qualitatsgefiihl hat, weiB, daB zum Beispief
Roda Roda einc der saubersten Schreibarten sein eigen
nennt, die wir kennen, klipp und klar, aber es ist ja nur ein.
Humorist. Wenn es einen Roda Roda-Ring gabe — : Hans Rei-
mann hat ihn allemal verdient.
Die NeUerSCheinUflg von Alice Ekert-Rothholz
Us gibt eine ganz bestimmte Frau
*-* ^Wenn sie ins Zimmer tritt, wird Dir flau . , .
Du weiBt, daB der Deinige glatt auf sie fliegt.
Sie tut fast gar nichts —
Aber sie siegt,
Sie ist ein Prinzip, sie ist Deine Verneinung,
Sie ist fremd
Sie ist bunt ...
Kurz*. die Neuerscheinung!
Es ist fast gleich, um wen sichs da handelt.
Plotzlich ist Deiner wie umgewandelt.
Willst Du einen Tanz, einen Blick — dann pennt er.
Sie will dauernd was Andres —
Plotzlich rennt er.
Sonst stort ihn doch jedes blode Gesicht.
Die Neue hat eins —
Es stort ihn nicht,
Gegen Dich ist die Neue ein Ungeheuerf
Das sowieso.
Doch ein stumraer Funk . , . und Deiner fangt Feuer.
Wo hat son Mann seine Augen?
Wo?
Du fragst ins Leere, Weil Du vergiBt
daB er die Neue nicht an Dir miBt.
Du hast Gemiit. Sie hat dicke Beine
Wozu sagst Du ihm das?
Das sieht er alleine.
Sie ist vielleicht gar nichts . . . aber sie ist
. Alles
was Du fur ihn nicht mehr bist.
Du bist sein Brot. Die Neue ist Kuchen.
Mit faulen Rosinen —
Egal I — Er kann suchen . . ,
Sie nimmt ihn leicht. Du nimmst ihn so schwer.
Sie gibt ihm weniger, Und darum mehr . . ,
Du bist ihm lieb, verbunden, teuer,
Alles richtig!
Aber die Neue ist neuer.
Du nennst sie stets „Tierchen". Du verachtest sie sehr,
Man stiehlt keine Manner.
Das ist nicht fair.
Das ist gemein , . . gedankenlos , . . schlecht . . ,
Du verstehst die Person nicht —
Du hast ja sooo rechtf ,.,,
Nur ein Fall Hegt anders. Ganz anders,
Der ist:
Wenn Du selber die Neuerscheinung bist!
343
Die Akademie am Scheidewege von Adoit Bebne
7um Verfassungstage teilte uns der tAmtliche PreuBische
Pressedienst' mit, daB die Maler Noldc, Schmidt-Rottluff,
Dix und Kirchner, die Bildhauer Gies, Schcrff, Sintenis und
Belling und die Architekten Mies van der Rohe, Mebes, Men-
delsohn, Bruno Taut und Martin Wagner in die Akademie der
Kiinste beruien seien. Wir tiberschatzen die Wichtigkeit des
Vorganges nicht: eine gewisse Erfrischung und Verjiingung der
Akademie, aber keine besondere Oberraschung, Eine Ober-
raschung ist nur die Berufung Emil Noldes, vollzogen unter
der Prasidentschaft Max Liebermanns. Sollte die Institution
der Akademie einen Sinn haben, so muBte Nolde, heute iiber
die Sechzig hinaus, dieser Akademie angehoren seit dem ersten
Tage nach ihrem Bruch mit der Hoflieferanten-Tradition. Aber
in zwolf Jahren Prasidentschaft Max Liebermann blieben Emil
Nolde die Tore der Akademie verschlossen. Liebermanns
Paladin Karl Scheffler erfand extra fur Emil Nolde einen sonst
in tKunst und Kiinstler' nicht iiblichen Kasernenhofton. Wird
er ihn fortfiihren? Jene Zeitungen aber, die fur Liebermann
^in spezlelles Ruhmeskonto fiihren, erwahnten die Berufung
Noldes nur so im allerbeilaufigsten Ton des ,,. . . i erner lie-
ien". Man muBte annehmen, daB sie mit naherm Verweilen
bei diesem fiir die Offentlichkeit doch sehr bemerkenswerten
JEreignis — jedenfalls sehr viel bemerkenswerter als die Affare
Heckendorf, iiber die sie tage- und spaltenlang berichteten —
ihren Monopolheros zu kranken fiirchteten, Aber tun sie
nicht grade Max Liebermann Unrecht? Wir wenigstens moch-
ten glauben, dafi Liebermann von sich aus bereit war und ist,
«in historisches Unrecht sachlich zu korrigieren, auch wenn es
ihm aus personlichen Griinden bestimmt sehr schwer fallt,
und wir konnen uns iiber seinen EntschluB nur ehrlich freuen,
Eine Akademie, der seit Jahren Willy Jackel angehort, aber
nicht Nolde, war eine Absurditat.
Wenn jetzt mit Nolde, Mies van der Rohe, Bruno Taut,
Wagner, Schmidt-Rottluff, Otto Dix in die Akademie ein-
^iehen, so konnte die Akademie eine Bedeutung gewinnen. Ja
«s ist unsre Oberzeugung, daB der Akademie, wenn sie jetzt
jnutig, vorurteilslos und zielbewuBt handelt, die geistige Fuh-
xung ganz von selbst zufallen muB. Immer mehr scheiden die
privaten Kunstsalons fiir eine aktive Teilnahme am kiinstleri-
schen Geschehen aus, Sie konnen sich keine Experimente
mehr leisten , . . obwohl allein der Mut zum konsequenten Ex-
periment sie noch retten konnte. Die Vereins-Ausstellungen
werden nie Niveau halten. Und die paar Museen, die moderne
Kunst sammeln? Gustav Pauli hat es fertig bekommen, den
Kollegen vom Erwerb zeitgenossischer Kunst iiberhaupt abzu-
xaten. Das sei Sache der privaten Sammler. Also niemandes
Sache, denn es gibt keine Sammler moderner Kunst mehr. Im
reichen Essen wurde in der Ausstellung des Deutschen Kiinst-
lerbundes nicht ein Stiick verkauft! Pauli meint, der Direktor
konne ja doch nie wissen, was wirklich gut sei und die\Depots
wiirden mit schnell ungenieBbar gewordener Moderne uber-
344
fiillt. Das mag in Hamburg wohl so sein. Aber ist es in ir-
gend eincm Museum alter klassischer Kunst denn anders?
WeiB man doch bei einem Gang durch das Kaiser-Friedrich-
Museum oft wirklich nicht, ob man im Depot oder in der Ga-
lerie ist. Das Kronprinzenpalais aber ist ewig unentschie-
den, Es kiindigt eine Lesser-Ury-Ausstellung an, die vor
dreiBig Jahren eine Tat gewesen ware, und eine Gedachtnis-
Ausstellung Maria Slavona. Es wird aus seiner Diplomatik nie
herauskommen. Die Gedachtnis-Ausstellung Theo van Does-
burg, die der tapfere Dorner in Hannover macht, wird Justr
nicht nach Berlin holen.
In dieser ganzen tristen Atmosphare konnte die Akademie;
vorstoBen, Ihre letzten Ausstellungen waren miide und wirk-
lich akademisch. Aber nach deni neuen Statut hat sie ja das:
Recht, auch Arbeiten von Mitgliedern auszujurieren. Wenn sie
von diesem Recht guten Gebrauch macht und vorurteilslos
alles heranholt, was heute durch die Sperre des Betriebes und
Geschaftes, der festgefahrenen Kritik und der mutlos gewor-
denen Redaktionen nicht durchdringt, dann konnte von ihr ein
Strom der Ermutigung ausgehn, der unendlich viel wichtiger
ist, als die eingemottete Wiirde des Instituts. Ja ware es nicht
iiberhaupt denkbar, daB die Akademie einige Raume — viel-
leicht jene gelegentlich fur kleinere Ausstellungen benutzten
Sale, die wohl den groBten Teil des Jahres leerstehen — als*
eine Art Studio fortlaufend jungen Kiinstlern zur Verfiigung;
stellte? Die Salons konnen darin heute absolut keine Schadi-
gung ihres Geschaftes mehr sehen. Und wenn sie etwas der-
artiges murmeln, so soil man sie auslachen. Die Ausstellungen
des Studio der Akademie brauchten durchaus nicht juryfrei
zu sein. Ein kleiner Beirat, etwa Philipp Franck, Karl Hofer
und Schmidt-Rottlufl, konnte iiber die Hergabe entscheiden-
Ich konnte ihm a tempo ein halbes Dutzend junger Kiinstler
nennen, die von jeder Ausstellungsmoglichkeit abgeschnitten
sind und <leren Forderung der Akademie sehr zur Ehre ge-
reichen wiirde. Und ware es an solcher Stelle einmal mog-
lich, diese Generation in ganzer Front zu zeigen, so wiirde
man mit Erstaunen sehen, dafi es wieder eine Malerei bei uns
gibt, die alle angeht und vor deren Kraft, Freiheit und Wahr-
heit fast alles diinn und blutlos ist, was heute die offiziellen*
Stellen — soweit sie fortschrittlich sind — als moderne Kunst
pflegen.
Die Akademie hat eine Reihe von Leuten berufen, zu de-
nen jeder Vertrauen hat. Die Berufung Noldes kann ein Sym-
bol sein. Nun sollte Max Liebermann, den seine Presse zu
ehren glaubt, wenn sie ihn in Watte wickelt, zeigen, daB er
ein Fiihrer groBen Stiles ist: er stelle die Akademie in das;
Leben und gebe ihr die Bestimmung zu helfen. Eine Ausstel-
lung, von ihm inauguriert, die die neuen Leute nicht vorsich-
tig und tropfenweise zulaBt, sondern sie heranholt und klar
und eindeutig herausstellt — und diese ganze Stickluft von
sauer gewordenen Urteilen, stagnierenden Phrasen und lavie-
renden Taktiken ist durchstoBen.
34S
Tabu von Rudolf Arnheim
Cs ist sicher nicht wahr, daB sich Siidsee-Insulaner so be-
nehmen, wie sich vor zchn Jahren europaische und ameri-
kanische Filmschattspiclcr zu bcnehmcn pflegten. Man muB
-es deshalb Flaherty-Murnaus Siidseefilm ,-,Tabu" veriibeln,
wenn cine Insulanerin, urn Schrcck zu markieren, effektvoll die
Augen aufreiBt, die Armc ausbreitet und mit langsamen Ballett-
schritten zuriickweicht, oder wenn ein Jiingling im Schmerz
.zu einer raffaelischen Drcicckskomposition erstarrt. Hcnny
Porten-Mimik kleidet ein nacktcs Noa Noa-Madchen ebcnso
schlecht wie einen nackten Papua Zylinder und Stehkragen.
Zumal an einzelnen Stellen dieses Films die natiirlichen Aus-
drucksbewegungen der Siidseeleute sehr lebendig festgehalten
sind: wenn der Liebhaber sein Madchen trostet, indem er ihr
streichelnd die Knie, Arme, Augen mit Quellwasser befeuchtet;
wenn die jungenLeute mit obszonem Vibrieren der Oberschen-
kel einen Liebestanz auffiihren; wenn der Jager auf der Klippe,
am ganzen Leibe schwingend vor Ungeduld und Jagdlust, den
Speer zum Fischstechen hebt.
Die Filmleute, Missionare des Maltheserkreuzes, zeigen
den Insulanern, wie es auL einer romantischen Sudseeinsel aus-
zusehen hat. Die schonen Berge am Horizont, die schlanken
Bogen der Palmenstamme wirken fast wie im Atelier nach-
3*ebaut, wenn in diesem echten Milieu die echten Siidseeleute
•ein Hollywood-Tahiti auffiihren, Es herrscht ein Oberangebot
an Blutenzweigen und Kranzen im Haar, so als ob im Para-
dies zwecks Raumung des Lagers ein Saisonausverkauf von
Schonheit stattfindet
Sehr lehrreich, wie sich auch in einen soichen, am andern
Ende der Welt spielenden Film die Ideologic der biirgerlichen
Filmproduktion einschmuggelt; wie der nackte Wilde den
Abendlandern ihre Staatsmoral schmackhaft machen muB. Die
Insulaner leben sorgenlos gliicklich wie die Frackbarone in
-unsern Gesellschaftsfilmen. Ebenso wie der Generaldirek-
4or im Film gelegentlich einmal stirnrunzelnd ins Tele-
phon spricht, damit der Zuschauer ein Bild vom Geschaftlichen
bekomme, so wirft der Insulaner ab und zu malerisch einen
-Speer, zwecks Lebensunterhalt, und liegt im ubrigen mit
Blumen im Haar seiner Geliebten ob. Das Wirtschaftliche er-
«cheint nur als damonisches Motiv: wenn der schleichende
chinesische Schankwirt seinen Schuldschein ziickt. Die Liebe
lehnt sich, damit dramatische Spannung ins Manuskript komme,
•gegen die Gesetze auf, sei es nun das Tabu der Siidseereligion
oder das Sakrament der christlichen Ehe, aber hier wie dort
siegt in volksbildender Weise das Gesetz, und den Missetater
beiBen die Haie.
Als Spielfilm gewertet ist „TabuM eine einfallsarme, ge-
dehnte Liebesgeschichte. Als Kulturfilm bietet er weniger,
•vor allem weniger ungestellt Wahres, als wir heute
^rerlangen. Flahertys „Moana" war erhebiich besser, Man
'«rfahrt nicht viel vom Leben der Sudseeleute, und manches
wirkt verdachtig opernhaft: das Rheintochteridyli der baden-
den jungen Madchen oder das feierliche Zusammentreffen der
346
beiden Hauptlinge, wo ein Pergament entrollt und eine Bot-
schaft im Karl May-Stil verlesen wird.
Es handclt sich urn einen stumm aufgenommenen, nach-
synchronisierten Film. Und dazu ist noch cins zu sagen. Seit
man beliebige Ton- und Bildstreifen ubereinanderkopieren
kann, steht es mit der Wahrheitsliebe des Films noch miBlicher
als friiher- Zur Zcit dcs stummcn Films konnte man nur durch
die Auswahi dessen, was man zeigte, liigen. Heutc kann man
Ton und BiLd tauschend zusammenfugen, die gar nicht zusammen-
gehoren. Rene Clair hat neulich, in cinem Aufsatz fur die
Zeitschrift ..Plans", erzahlt: MIch habe cincn Operateur erlebt,
der in seinen Tonstreifen von der Ankunft eines Staatsmannes
zuviel Beifallklatschen und zu wenig Protestgeschrei hinein-
bekommen hatte und deshalb zwanzig Meter mit einem
Kollegen austauschte, der reich an beleidigenden Akkla-
mationen aber arm an Hochrufen war." So steht es mit der
Authentizitat des Tonfilms. In MTabu" hat man die Bilder
vom Musizieren und Singen der Sudseeleute mit einer Musik
unterlegt, die teils an Schuhplattler, teils an evangelische
Chorale erinnert und mit bayrischen Jodlern untermischt ist.
Dies Verfahren, dokumentarische Filme nachtraglich mit Totf-
zusatzen auszustatten, die jedes unbefangene Publikum fur echt
nimmt, ist ganz auBerordentlich gefahrlich. Es bringt Ver-
wirrung und Irrefiihrung, wenn wahre Bilder durch falsche
Tone unmerklich zu Liigen werden.
AlSO Wat Ml — ja Oder ja? von Theobald Tiger
W7ie ick noch a kleena Junge wah,
^* da hattn wa aufe Schule
een Lehra, den nannten wa blofi: Papa,
een, iewissn Dokter Kuhle.
Und frachte der wat.und der Schieler war dumm,
un der quatschte und klohnte blofi so ruin,
denn sachte Kuhle feierlich:
f,Also — du weeflt et nichf
So nachn Essen, da rooch ick jern
in Stillen meine Ssijarre.
Da denk ick so, inwieso und wiefern,
und wie se so Iooft, die Karre.
Wer weefi det . . . Heute wahln wa noch rot,
un morjen sind wa valleicht alle tot.
Also ick ja nich, denkt jeda. Immahin...
man denkt sich so manchet in seinen Sinn.
Ick bin, ick werde, ick bin jewesen , . .
Da haak nu so ville Biecher jelesen.
Und da steht die Wissenschaft uff de Kommode , , .
Wie wird det mit uns so nachn Tode?
Die Kiirche kommt jleich eilich jeloofn,
da jibt et n Waschkorb voll Phillesophn . . ,
Det lies man. Un haste det hinta dir,
dreihundert Pfund bedrucktet Papier,
denn leechste die Weisen
beit alte Eisen
un sachst dir wie Kuhle, innalich:
Sie wissen et nich. Sie wissen et nich.
347
Bemerkungen
Die Eh re in Glatz
P\ic Ehre in Glatz ist eine sehr
*** differenzierte Sache: Ist sie
zum Beispiel die ernes jiidischen
Kaufmanns, so ist sie den berech-
tigten Interessen der national-
sozialistischen Propaganda ausge-
liefert. Solches hat die II, kleine
Strafkammer des glatzer Landge-
richts zum Aktenzeichen 3. P.
14/31 durch Urteil vom 8. Mai
dieses Jahres festgestellt, Der
Vorfall war folgender: Die Nazis
hielten in einem glatzer Hotel
eine Wahlversammlung ab, Vor
dem Hotel hatten sich gegnerische
Demonstranten versammelt. Die
Naziversammlung leitete einer
ihrer Stadtrate, der plotzlich Fol-
gendes erklarte: ,,Ich habe gehort,
dafi Herr £. dem Mob da drauBen
zweihundert Mark gegeben ' hat,
um unsre Versammlung zu spren-
gen. Ich gebe das unter Vorbehalt
wieder, da ich das zur Zeit nicht
nachpriifen kann." Die Wirkung
war die gewiinschte.
Herr E,t der natiirlich keinen
Pfennig an den „Mob" gegeben
hatte („Die Leute war en zu einem
groBen Teil Kommunisten, teil-
weise waren sie auch angetrun-
ken'\ koordiniert das Gericht), er-
hob gegen den Stadtrat Privat-
klage wegen offentlicher ubler
Nachrede. Der Angeklagte ver-
suchte den Wahrheitsbcweis, der
sogar nach der Feststellung des
Landgerichts „ganzlich mifl-
gliickte". Der Amtsrichter ver-
urteilte ihn daher zu siebzig Mark
Geldstrafe oder einer Woche Ge-
fangnis, Doch die zweite Instanz,
mit einem Hotelbesitzer und
einem Brennereidirektor als-
Schoffen, hob das Urteil auf. Be-
grundung?
„Als Leiter der Ortsgruppe
Glatz der NSDAP. war der An-
geklagte berechtigt, die Interessen
seiner Partei wahrzunehmen.
Diese steht im offenen Kampf
gegen alles Jiidische. Diesera
Kampf lieferte der Angeklagte
eine neue Waffe, indem er uber
einen Juden ein Geriicht ver-
breitete, wonach dieser sich einer
schimpflichen und strafbaren
Handlung schuldig gemacht habe.
Freilich schadigte er durch diese
AuBerung einen angesehenen jii-
dischen Kaufmann moralisch und
geschaftlich. Letzteres war aber
nicht der Allein-Zweck seiner
AuBerung. Es kann daher dahin-
gestellt bleiben, ob der Ange-
klagte insoweit berechtigte Inter-
essen wahrnahm, und nicht der
Wahrnehmung dieser Interessen
die guten Sitten entgegenstanden.
Die guten Sitten standen dem An-
geklagten insoweit nicht entgegenr
als er im Wahlkampf, es war die
letzte Woche vor derWahl, seiner
Partei neue Anhanger fur die be-
vorstehende Wahl zufiihren sollte,
indem er durch die AuBerung
den Versammlungsteilnehmern vor
Augen fiihrte, wie berechtigt und
*■/&
-Of
■nvinor N«rv*n wird beim ersfen Zug au« einer Abdul ! a -Cigarette b«s6nftigt.
/ Stamper* ...... o/M. u. Gold Sittck 5 M«.
Coroncf m. Gold u. Stroh/M Stack • Mf-
Vlrglala Mr. 1 .... o/M. Stuck • Wg.
fffrpflaii Mr. to ... . o/M. u. Gold StUcfc tO Mf.
Abduffa - Cigareffen genie/jen Wclfruff
Abdulla * Co. • Kalro / London / Berlin
348
fcegriindet der von seiner Partei
gegen das Judentum gefuhrte
Kampf sei. Die Kundgabe des Ge-
rtichts, an das er glaubte, ent-
sprach daher den berechtigten
Interessen der Partei des Ange-
klagten, zu deren Wahrnehmung
er als ihr Ortsgruppenleiter befugt
war."
Da die Sache so ist, mochte ich
der IL Strafkammer des Landge-
richts Glatz folgende Rechtsfrage
geziemend unterbreiten:
Es wird augenblicklich hier in
Berlin eine Partei fur absetzbares
Volksrichtertum gegriindet, ■ als
deren glatzer Ortsgruppenleiter
der Unterzeichnete vorgesehen ist-
Der einzige Paragraph des Partei-
programms lautet; „Abschaffung
aller Richterprivilegien, insbe-
sondere der Unabsetzbarkeit; Ein-
fiihrung absetzbarer Volksb-ichter."
Diese Partei steht im offenen
Kampf gegen das Berufsrichter-
tum. Wenn ich nun in einer
glatzer Werbeversammiung dieser
Partei die Erklarung abgeben
sollte: „Ich habe gehort, dafi Herr
Landgerichtsrat X, von den Nazis
zweihundert Mark monatlich er-
halt, urn zugunsten der NSDAP,
Fehlurteile zu erlassen. Ich gebe
das unter Vorbehalt wieder, da
ich das zur Zeit nicht nachprufen
kann" , — was erwartet mich
dann? Ich mufi annehmen, spate-
stens in der zweiten Instanz der
Freispruch. Habe ich nicht dem
Kampf meiner Partei gegen alles
Berufsrichtertum eine neue Waffe
geliefert, indem ich iiber einen
Berufsrichter ein Geriicht ver-
breitete, wonach dieser sich einer
schimpflichen und strafbaren
Handlung schtddig gemacht habe?
Freilich schadigte ich dadurch
einen angesehenen Richter mo-
ralisch und beruHich. Aber war
f,Letzteres" Alleinzweck meiner
Aufierung? Nein. Es kann „da-
her dahingestellt bleiben," inwie-
weit ich gegen die guten Sitten
verstieB. Denn die guten Sitten
von Glatz standen mir insofern
nicht entgegen, als ich in der
Werbung fur meine Partei ihr
neue Anhanger zufiihren sollte,
indem ich ja durch die erlogene
Aufierung den Versammlungsteil-
nehmern vor Augen fiihrte, wie —
wie — berechtigt und begrundet
der von meiner Partei gegen die
Berufsrichter gefuhrte Kampf sei*
Die Kundgabe des Geriichts ent-
sprach daher den berechtigten
Interessen meiner Partei, zu deren
Wahrnehmung ich als ihr Orts-
gruppenleiter befugt war.
Fiat justitia, pereat mundus?
Den zweiten Teil des Satzes wer-
det Ihr mit dieser Sorte von Ge-
rechtigkeit, die zugleich miserable
Jurisprudenz ist, bald realisiert
haben. Von Rechts wegen.
A. Stein
Der Schweizerische Maezen
YV7eifi Gott, welcher alte Klas-
" siker uns den Scherz iiberlie-
fert hat:
Man fragte einen Mann aus
Kreta: „Ist es wahr, daB alleKre-
ter liigen?" — ,(Jaf" antwortete
er, „alle."
Seine Antwort ist iibergegangen
in unsre Lehrbiicher der Logik
— als Urbeispiel des Dilemmas.
Denn es ist klar: Hat der Mann
aus Kreta recht, dieser eine, dann
liigen doch nicht alle Kreter.
Also hat er selbst Falsches be-
hauptet, und die Ausnahme ist
Die Weisheit des Johannes
lieiBt ein Buch, das schon vielen wieder den Weg zum Glauben der Vater
gangbar werden liefl. Die gegebenen Aufschliisse iiber das nach Johannes
fcenannte Evangelium erscheinen wold zuerst als Niederschlage subjektiven
Hrlebens, erweisen jedoch ihreWahrheit gerade dadurch, dafi sie wieder
zum Glaubenkonnen rtthren. Das Buch z&hlt unter
die Biicher von B6 Yin Rd
die heute in jeder guten Buchhandlung zu haben sind. Ueber den Aufcor
und sein Werk findet man Naheres in der kostenlos erhaltlichen Ein-
fuhrungsschrift von Dr. jur. Alfred Kober - Staehelin, Der Verlag:
Kober'sche Verlagsbuchhandlang (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
349
wieder hinfallig: heillose Wirrnis
der Folgerungen.
Die Unwahrheit steckt eben
verborgen im Vordersatz: „Die
Kreter ltigen"; sie steckt in je-
dem verallgemeinernden Urteil
iiber em Volk : weder sind alle
Sachsen helle, noch alle Schotten
geizig — und die Schweizer sind
keineswegs durchaus habsiichtige
Gastwirte. Wer da aber meint,
die folgende Geschichte wolle
das Gegenteil beweisen — er
miBversteht mich von Grund.
*
Die ziircher Polizei schlagt um
elf Uhr Zapfenstreich: du darfst
noch bis Mitternacht in derWirt-
schaft sitzenbleiben — Getranke
kredenzt man dir von elf an
nicht.
Nun dachten wir, bester Laune,
noch nicht ans Schlafengehen, wir
Sieben — sechs j unge Leute
namlich und ich, den man diesen
Abend fiir jung gelten HeB, weil
ich mit den andern f rohlich war.
„WiBt ihr was?" schlug Frau-
lein Hemberger vor, Mizzi Hem-
berger, die reizende Soubrette —
„wir setzen den Abend fort in
meiner Wohnung."
Herrlich — prachtvoll — glan-
zender Einfall. Herr Nierli,
Seidenfabrikant, erbot sich, fiir
Sekt und Brotchen zu sorgen.
Bravo, Herr Millionar! Mit zahl-
losen Packen beladen, fuhren wir,
gezwangt in zwei Autos, ab.
Bei der Soubrette, gegen halb
eins, fand ich es nicht gar so
amusant, Weil sich namlich die
Besitzverhaltnisse betrtiblich ge-
klart hatten: die kleine Blonde
erwies sich als mit dem Doktor
verbandelt; die Schwarze mit
Nierli; und der Rechtsanwalt be-
tonte deutlich Anspriiche auf die
Soubrette.
Also fuhlte ich mich iiberfliis-
sig und beschloB, schlafrig zu
sein.
Ich kiiBte heimlich eine eben
unbeschaftigte Hand der reizen-
den Soubrette und fliisterte ihr
in ein zufallig freies Ohr:
„Dank, Dank, Hebe Hausfraul
Gute Nacht! Um die Gesellschaft
nicht zu storen, will ich mich
hollandisch empfehlen."
Schlich hinaus, legte den Man-
tel an, druckte die Klinke , . .
da . . .
... da trat er mir entgegen, der
cdle Sektspender, ziircher Mil-
lionar.
„Herr Roda," sprach er, „auf
Ihr Teil entf alien 4 Frank 80."
Ich . . . ich . . . druckte ihm ein
Fiinf f r ankenstuck in die Hand :
„So. Den Rest konnen Sie be-
halten."
„Danke," sagte er — und 6ff-
nete mir mit einer Verbeugung
die Tiir.
*
Nochmals: Ich wollte mit die-
ser Geschichte beileibe kein ver-
allgemeinerndes Urteil gefallt
haben: dafi etwa die Schweizer
Gastwirte seien von Geburt.
Roda Roda
Philologlsches
T\ as Worterbuch „V Argot du
■^ Milieu" von Dr. Lacassagne
gibt fiir das Wort MNazi" die
tJbersetzung „Syphilis" und fiir
350
„etre nazi", „etre syphilitique".
Sollte dies eine neue Perfidie
des Erbfeinds sein? Der Aus-
druck wird 1896 zum ersten Mai
zitiert. Tant pis!
S. Spender
Autarkie
Herrn Robert Villwock,
Berlin W 30
Teile Ihnen hierdurch mit, daB
Sie vora 1, 8, 31 an meine Schau-
fenster usw, nicht mehr reinigen
brauchen, da von diesem Zeitpunkt
die Reinigung ein deutsch denken-
der Putzer ubernimmt.
Hochachtungsvoll
Arthur Poetkke,
Berlin W 50, Prager Str. 12
Herrn Ktifz zur Beachtung
A us Kaiserslautern wird gemel-
■**■ det: Am 15. und 16. August
findet hier die Tagung des Reichs-
verbandes der praktischen Ka-
strierer Deutscblands statt.
Alles Schicksal
T n tiefer Demut und mit dank-
* barem Herzen zu Gott blicke
ich heute am 1. 8. 31 auf meinen
80jahrigen Lebensweg zuruck.
Sorgen, Krankheit und Tod in
der Familie waren meirie Beglei-
ter, 12 Kinder im Alter von
1 — 20 Jahren und deren 3 Mutter
sind tot. 7 Jahre war ichtyitwer
und zirka 15 Jahre bin ich zum
4ten Mai verheiratet. — Alles
Schicksal. — Denn wer hatte,
oder nimmt einen alten, nerven-
kranken Mann mit kleiner Pen-
sion in Pflege, dazu exakte Auf-
wartung?? NiemandU Eigener
Herd ist Goldes wert. Carl Brunn*
Zugfiihrer i. R. in Streng.
,Deutsch- Kroner Zeitung*
1. 8. 3L
Segen der Erde
Longview (Texas), 18. August..
(United Prefi.) Nicht weniger als:
zwolftausend Mann Staatsmilizr
fiberwachen in Ost-Texas die
Schliefiung der Olquellen. Seit-
dem gestern das Standrecht ver-
hangt worden ist, ist es bisher nir-
gends zu Unruhen gekommen, Die-
Mafinahmen der Staatsregierung
sind ahnlich wie in Oklahoma
darauf gerichtet, den Petroleum-
preis, der bis auf fimfzig Cents;
pro FaB gefallen war, wieder auf
einen Dollar pro FaB zu bringen.-
Abglanz
fjaben zwei sich einen Ab-
^-* schiedskuB,
Anscheinend zwei Freundinnen.
Stieg die eine in den Omnibus.
Und der Omnibus fuhr von hinnenv
Die im Omnibus saB mir zu-
gewandt.
Und ich sah, dafi in ihrem Ge-
sichte
Noch lange ein liebes Lacheln
stand;
Das erzahlte eine kleine Ge-
schichte.
Joachim Ringelnatz
Hinweise der Redaktion
Bucher
Mai Adler, Alexander Gerschenkron, Theodor Hartwig, Fritz Lewy und EduardWolfr
Unsere Stellung zu SowjetruOland; eingeleitet von Max Seydewitz. Marxistische-
Verlagsgesellachaft, Berlin-Tempelhof.
Franz Werfel: Realismus und Innerlichkeit Paul Zsolnay, Wien.
Rutidfunk
Dienatae. Berlin 20.30: Vor Sonnenaufgang von Gerfaart Hauptmann. — Mittwoch^
Berlin 19.45: Ein Mensch mit Buchern und Schallplatten, Gerhart Pohl. — Mtthl-
acker 21.00 : Arbeiterdichtung, Emil Hess und Ernst Stockinger (Johannes R. Becherr
Maxim Gorki, Katajew, Heinrich Lersch, Hans Lorbeer, John Dos Passos, Walter
Bauer). — Donnerstay. Muhlacker 18.40: Carl Ebert liest Kleine Geschichten von
Max Barth. — Hamburg 20.00: Kundgebung fur das deutsche Schrifttum, Selma-
Lagerlaf, Barbara Ring und Johannes V. Jensen. — Kdnigsberg 20.15: Balzacs Pa-
noptikum, Ein Querschnitt von Hans Georg Brenner und Ernst Bringolf, Ernst WF
Freifller. — Freitag-. Hamburg 17.25 : Architektur und Lebensgestaltung, Theodor
Lessing. — Langenberg 18.15: Zum Drama und Theater der Zeit, Erik Reger. —
Hamburg 21.00: Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist. — Sonnabend. Bres-
lau 17.20: Berlin im Roman, Hellmuth Falkenfeld. — Langenberg 18.40: Arbeiter und
Film, Lu Marten. — Berlin 19.20: Gibt es politikfreie Wissenschaf t ? Studenten-
diskussion.
351
Antworten
Jungdo. la deinem Organ ,Der Orden ist zu lesen: „Das Or-
■densamt will . . . einen aus Ordenskreisen stammcnden Vor-
schlag den Meistern und Bnidern zur Erwagung geben, im Kiein-
kaliber-SchieBsport untcr Umstanden eine SchieBauszeichnung ein-
.zufuhren. Der Wunsch ist ofter zur Sprache gebracht. Da das iDr-
densamt auf den Kleinkaliber-Schiefisport, als Volkssport betrieberi,
den allergrofiten Wert legt, soil obiger Vorschlag nicht ganz zuruck-
^ewiesen werden. Zurzeit beschaftigt sich das Ordensamt mit der
Feststellung der zu erfiillenden SchieBleistungen, welche gegebenen-
falls die Verleihung einer vom Orden einzufiihrenden SchieB-Aus-
zeichnung zur Folge haben sollen. Die Grofiballeien werden gebeten,
^ich nach Anhorung ihrer Balleiwander- und Jugendwarte, iiber obige
Anregung zu aufiern. Ordenswanderamt." Wir erfahren zu dieser
einschneidenden MaBnahme, dafi den Herren Dietrich, Koch-Weser
und Lemmer die ersten Exemplare dieser Schnur zum Gedenken an
gemeinsame schone Stunden iiberreicht werden sollen. Man ist
grade dabei, die SchieBleistung der ehemaligen Bundesgenossen zu be-
rechnen. Wir befiirchten nur, daB die erforderliche Zahl nicht zu-
sammenkommen wird, — die Herren haben doch schon so oft da-
nebengetroffen.
A Here Amerikanerin- Sie schleudern so viel moralisch entriistete
Proteste in die Welt hinaus; gegen Alkoholismus und gegen die Un-
sittlichkeit;. Sie iiberwachen das Leben der Filmstars und die Dar-
winsche Lehre in den Schulen , . , vielleicht haben Sie die Giite, sich
einmal mit denTorturen zu befassen, die in Ihren, in den amerikani-
schen Gefangnissen an Gefangenen vollstreckt werden. Mag von dem,
was die amerikanische Presse daruber berichtet, auch nur ein Zehntel
wahr sein: wenn von diesem Zehntel ein Zehntel die Russen taten,
was erhobe sich da fur ein Gebriill aller amerikanischen Altweiber-
Organisationen! Ein merkwiirdiges Land, das sich von solchen
Frauen gangeln lafit,
Hiddenseen Unter der Uberschrift „Auf der Insel der Promi-
nenten, Gesellschaftliche Sensationen auf Hiddensee" steht im
iNeuen Wiener Journal' vom 9, August zu lesen: „Unzahlige Be-
sucher des Hauses Hauptmann Iockt die zweite Villa, die er sich
dieses Jahr erst neben der ersten hat erbauen lassen. Die Villa hat
insgesamt zwei Raume. Ein . Monsteratelier in feenhafter Beleuch-
tung und mit Kunstschatzen, Das ist die neue Bibliothek. Dann
einen Fayence-Weinkeller, alle auf der Welt vorkommenden Weine
in einem Exemplar bergend. Hauptmann arbeitet augenblicklich an
einem neuen Biihnenwerk, das er zu seinem in Kiirze stattfindenden
70. Gebiirtstag vollenden wird. Der Meister ist sehr deprimiert. Von
seiner Gattin gar nicht zu reden, Sie lebt von Zeitung zu Zeitung
und verfolgt alle Phasen der politischen Lage. Beide sind aufierst
besorgt um Deutschlands Zukunft." Bei der dritten Villa bricht er
bestimmt zusammen.
Georg Herzberg, Berlin. Sie schreiben zu dem Artikel von Ebbe
Neergaard „Amerikas Filmherrschaft" (Nr. 32): „Die Einfuhrung des
Tonfilms hat den amerikanischen EinfluB in Europa nicht nur nicht
verstarkt, sondern imGegenteil ganz erheblich gemindert. Das Ende
dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. In den Zeiten des stummen
Films amortisierten sich die amerikanischen Filme im Herstellungs-
land, die Erlose aus dem Auslandsverkauf waren Reingewinne, die
Filme kdnnten zu jedem Preis abgegeben werden, ohne dafi Verluste
entstanden. Heute miissen fur Europa die Versionen extra gedreht
werden. Das europaische Kinopublikum hat sich generell geweigert,
Tonfilme in fremden Sprachen zu horen. Ausnahmen, wie die guten
Erfolge von ,Liebesparade* und ,Sous les toits' in Deutschland (zu-
352
meist nur in den grbuern Madten), konnen hieran nichts andern.
Die Ausnutzungs-Chancen fur fremdsprachige Tonfilme sind in den
wichtigsten europaischen Absatzgebieten sehr gering. Amerika hat
dieser Notwendigkeit Rechnung getragen, durch Herstellung fremd-
sprachiger Versionen in Hollywood oder in Europa (Paramount-
Joinville), Mit deutschsprachigen Filmen wurden etn paar Achtungs-
erfolge erzielt, verdient hat Amerika an diesem ganzen Versionen-
geschaft bisher nichts, weil die meisten Filme bisher zu geringen
Anklang finden. Dagegen ist der Gedanke fFilm-Europa' seit Auf-
kommen des Tonfilms in frtiher nie geahntem MaBe verwirklicht
worden. Noch nie waren die Produktionsverbindungen zwischen Pa-
ris-London-Rom und Berlin so eng wie j etzt. Deutschsprachige
Filme, in London oder Paris hergestellt, hatten in Deutschland gute
Erfolge, Die franzosischen Versionen deutscher Filme umgekehrt ha-
ben beispielsweise in Paris begeisterte Aufnahme gefunden. Amerikas
EinfluB auf dem deutschen Markt war seit Wiedereroffnung der
Handelsbeziehungen noch nie so gering wie im Augenblickf Im tibri-
gen Europa, besonders in den deutschen und franzosischen Sprach-
gebieten, nimmt die Entwicklung einen ahnlichen Verlauf. In den
Zeiten des stummen Films war Amerika der wichtigste Auslandsliefe-
raht fur den deutschen Markt, in der letzten Saison ist Amerika von
dem auflerdeutschen Europa weit uberfliigelt worden. Ein paar Zah-
len laut ,Film-Kurier*: Im Jahre 1930 waren von alien Spieltagen der
berliner Premieren-Theater 69, Prozent mit deutschen Filmen belegt,
gegen nur 50 Prozent im Jahre 1929! Dabei hat sich unter den frem-
den Filmen das Angebot zugunsten der europaischen Produktions-
lander und zuungunsten Amerikas verschoben. In der vergangenen
Saison kamen in Deutschland 179 hundertprozentige deutschsprachige
Tonfilme heraus, von denen Deutschland 124, Europa 39 und Amerika
16 lieferte! (Unter den europaischen Filmen sind allerdings einige,
die von der Paramount-Joinville hergestellt wurden.) Zu Zeiten des
stummen Films sahen die Zahlen anders aus. Beispielsweise fur das
Kalenderjahr 1928: Gesamtangebot: 520 Filme. Davon deutsch: 221,
amerikanisch 205, europa\sch 94, Ob Amerika jemals das Terrain, das
es durch den Tonfilm in Europa verloren hat, aufholen wird, ist mehr
als zweifelhaft. Die Behauptung, Amerika habe durch den Tonfilm
in Europa Boden gewonnen, ist jedenfalls durch die tatsachlichen
Verhaltnisse entkraftet."
Junger Buchhandler. Es regt sich. Also gibt es doch noch andre
Buchhandler als die vermufften Reaktionare des Borsenvereins. Da
hat der Deutsche Buchhandler-Verband eine Zeitschrift ,Der Buch-
handel* ins Leben gerufen, die, anstandig und sachlich geleitet, auch
einmal andre Stimmen zu Gehor bringt, als wir sie aus Leipzig zu
horen gewohnt sind. Der fortschrittliche Buchhandel sollte sich aufier-
halb aller Parteien zusammentun und dem Terror der verkalkten
„feinen Leute" ein Ende machen* Nicht nur die Autoren und das
Publikum, die abendliche Kassenausweise werden es ihm danken,
Buchdrucker. In der ,Zeitschrift fur Deutschlands Buchdrucker' regt
sich ein Arbeitgeber aus Osnabriick iiber den ,Jungbuchdrucker'' auf,
eine Lehrlingszeitschrift, die auch pazifistische Beitrage abdruckt.
„Diese Gemeinheiten brauchen wir uns nicht bieten zu lassen. Mit
unsern Lehrlingen darf so ein Schindluder nicht getrieben werden,
Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ..." Ihr habt gar
nichts. Ihr habt vor allem nicht mit unehrlichen Mitteln dafiir zu
sorgen, daB die nachste Lehrlingsgeneration wiederum kriegsbesofffen
zugrunde geht. Eure politisch aufgeklarten Lehrlinge werden euch
schon heute was husten, DaB der Mann aus Osnabriick auch gegen
die „fiirstlichen Gehalter" der Lehrlinge wettert, versteht sich von
selbst. Der pazifistische „Schund und Schmutz" aber, den der arme,
353
alte Mann zu lesen bekommt , . . „Einem anstandigen Menschen kann
beim Lcsen mancher Nummern dcr Verstand stehen bleiben." Er ist
ihm stehen geblieben.
Michael Andermann. Als alter Verehrer Bayreuths beklagen Sie
das Uberwiegen der reichen Auslander, besonders der Amerikaner,
unter den diesjahrigen Besuchern der Festspiele: „Dage£en mussen
wir Idealisten, wir Daheimgebliebenen, wir deutschen Wagnerianer
uns damit begniigen, dafi Bayreuth existiert Die deutschen Vor-
kriegs- Wagnerianer sind jetzt wohl zu 99 Prozent verarmt und stel-
len daher nur einen verschwindend geringen Teil der diesjahrigen
Besucher. Im Jahre 1921 waren es aber die deutschen Wagner-
verehrer, die dem Aufruf Bayreuths Folge leisteten und soviet sie
konnten, Patronatsscheine zeichneten, und sie zeichneten viel, denn
Bayreuth ist 1924 nach zehnjahrigem Schlaf (kraft der deutschen
Patronatszeichnungen) wiedererwacht. Diese Patronatsstiftung hat
laut Bericht des Vorjahres der Festspielleitung zu existieren auf-
gehort, und den Patronatsspendern ist heute, wie aus den Prospekten
der Fest-Spielleitung ersichtlich, nicht einmal eine PreisermaBigung
auf die sehr hohen Eintrittspreise angeboten worden. Wie gesagt,
wohl nur ein kleiner Bruchteil der fruhern Spender ist heute tiber-
haupt noch in der Lage, nach Bayreuth zu fahren. Vielleicht bringt
es der Idealismus Bayreuths doch einmal zuwege, dafi den jetzt ver-
armten, fruhern Patronatsscheinzeichnern Freikarten fiir wenigstens
eine Auffuhrung als Abfindung zur Verfugung gestellt wurden. Viel-
leicht wtirde sich die Reichsbahn in Verbindung mit dieser Idee zu
einer funfzigprozentigen Fahrpreisermafiigung aufschwingen." Lieber
Herr, Sie werden sich tauschen. Die Bayreuther feiern zwar die
Toten, aber sie' nehmen es von den Lebendigen.
Schriftsteller, Sie sind mit Ihrer Organisation, dem Schutz-
verband Deutscher Schriftsteller unzufrieden? Die Opposition im SDS
veranstaltet am Mittwoch, 19.30 Uhr, im Cafe Wittelsbach am Bayri-
schen Platz, eine Oppositionsberatung mit- der folgenden Tagesord-
nung: nl, Arbeitsprogramm der Opposition. — 2, Die St el lung Jakob
Schaffners zur Opposition. — 3. Aktionen zur Vorbereitung der
aufierordentlichen Generalversammlung der Ortsgruppe Berlin. — ■
4. Sind die Pressemitarbeiter noch Mitglieder der SDS?" Zutritt
haben nur Angehorige des SDS.
Weltbuhnenleser in Koln. treffen sich im politisch-literarischen
Kabarett Kolibri, alter Posthof, Kreuz-, Ecke Glockengasse.
Goebbels. Die Weisen von Zion haben in das neue englische
Kabinett zwei von ihren Leuten beordert, Lord Reading und Sir Her-
bert Samuel. AufgepaBt, was fiir ein Teufelswerk dabei heraus-
kommtf
F\ieser Nummer liegt eine Zahlkarte ftir die Abonnenten bei, auf der
*-^ wir bitten,
den Abonnementsbetrag fur das IV. Vierteljahr .1931
einzuzahlen, da am 10. Oktober die Einziehung durch Nachnahme be-
ginnt und unnotige Kosten verursacht,
Manuskripte sind nut an die Redaktion der Weltbubne, Charlottenburg, ICanUtr. 152, zu
riditen: as wild ^ebeten. ihnen Ruckporto beizulegen. da sonst keine Ruduendung erfolyeo kann.
Das Auffilhrungarccht, die Verwertung von Tltelnu. Text im Rahmen des Films, die mnsik-
mechanische wiedergabe aller Art und die Verwertung im Rahmen tou Radiovortrftgen
bleiben ftir alle In aer Weltbtthne erscheinenden Beitrage ausdrucklicb rorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegfried Jacobsohn und wird von Carl v. Oasietxky
unlet Mitwirkung von Kurt Tucholsky ?e!ettet — Verantwortlich: Carl v. Oasietxky. Berlin;
Verlag der WellbQhne, Siegfried lacobsoho & Co., Charlottenburg.
Telephon: C 1, Steinplati 7757 - PosUcheckkonto: Berlin 1195%
Bankkonto. Darmstadtei u. Nationalbank, Depositenkas** Charlottenburg. (Cantab. 11?
354
XXVII. Jafergng & September mi Mamaer 38
PilSUdski-Regime von Carl v. Ossietzky
I^urch einen amtlichen Ukas yom 21. August ist ia den pol-
nischen Gefangnissen der Unterschied. zwischen politischen
und kriminellen Gefangenen aufgehoben worden. Das ist ge-
schehen unter der Herrschaft Josef Pilsudskis, der zu drei Vier-
teln seines Lebens als politischer Verbrecher verfolgt wurde, der
dreiBig Jahre lang Putschist, Rebell und Verschworer war,
nachdem er sich als Terrorist und Sprengstoffattentater in die
Politik eingefiihrt hatte. Noch heute ist Pilsudski von Aben-
teurerromantik umwehtf er wirkt wie eine Gestalt aus der vor-
marzlichen Charbonnerie. Dieser alte Freiheitskampfer mit
dem von Krankheit und wohl auch von Gewissensskrupeln zer-
furchten Nietzschekopf , den das Schicksal bestimmt hat,»der erste
Fiihrer des wiedererstandenen polnischen Staates zu werden, be-
zeichnet heute dessen Krise und schweres inneres Siechtum. Er
stand am Taufbecken der polnischen Freiheit, heute ist er ihr
Unterdriicker, morgen wird er ihren Sargdeckel zuschlagen.
Es kann und soil nicht untersucht werden, ob Pilsudski von
den Schandlichkeiten weiB, die G end a r men und Kerkermeister
in seinem Namen veriiben. Er hat die Demokratie durch den
personlichen Despotismus abgelost; er haftet vor der Ge-
schichte. Und er haftet auch vor der Gegenwart. Die Ver-
irrungen des zweiten Pilsudski-Regimes, das im Sommer 1926
begann, sind um so beklagenswerter, als es zunachst mit einem
gewissen moralischen Elan einsetzte. Pilsudski stand, nicht hin-
ter dem damaligen Militarputsch. Regimenter meuternder Sol-
daten zogen vor sein Landhaus und fiihrten den widerwillig
Mitgehenden im Triumph nach Warschau; der spontane Volks-
wille trug ihn zum zweitenmal nach oben. Pilsudskis Programm
war die f, Sanation \ die Reinigung der Politikerschaft und
Bureaukratie von Bestechlichen und Schmarotzern. In diesem
Kampf verrannte er sich. Er wollte Korruption treffenf die sich
in Institutionen des Staates und der Parteien verbarrikadierte,
und schlug gegen die Volksrechte schlechthin. Er wollte die Reini-
gung durchsetzen und hat nur den Sumpf vergroBert, nur den
Gestank von Blut und Kot vermehrt. Es gibt in der Politik
keine schlimmere Figur als den enttauschten Idealisten, der
die Machtmittel des Staates schrankenlos in der Hand hat,
der in seiner Verbitterung und Menschenfeindlichkeit Richter
und Henker auf die Fragen loslaBt, vor denen seine Begabung
versagte. In vielen Stticken erinnert das jetzige Regiment Pil-
sudskis an die letzte traufige, Epoche des Prasidenten Wilson.
Seit Jahren haufen sich die Klagen aus Polen. Es liegt
herzzerreiBendes Material vor iiber Willktir vonPolizei und Ju-
sliz, iiber Folterungen in Gefangnissen, iiber grausame Exekutio-
nen, iiber die sogenannten Pazifizierungsaktionen in der west-
1 355
lichen Ukraine, wo die batierliche Bevolkerung schrecklich unter
der Agrarkrise leidet und die Not vornehmlich mit dem Bajonett
be hand el t wird* In gewissen Abstanden geht ein© Terrorwelle
durch das Land;* wenn dann allzuviele Schilderungen nach
auBen dringen, wird wieder gebremst und die Fassade des
zivilisierten Staates wenigstens notdurftig wieder hergestellt.
Die Anklagen gegen die Exzesse des Pilsudski-Regimes
sind nicht parteimaBig begrenzt, sie kommen nicht von der
auBersten Linken allein, und das macht sie besonders gewichtig,
Sozialdemokraten, Liberate, Biirgerliche vom rechten Fliigel,
alle die in Opposition stehen, verfallen den gleichen barbari-
schen Behandlungsmethoden. Sie werden in Kerker gesteckt,
die nicht menschenwiirdig sind, sie werden geschlagen und Hun-
gerqualen ausgesetzt. Untersuchurigsrichter schrecken nicht
vor Anvyendung der Tortur zuriick, Frauen werden in Polizei-
kammern bis aufs Blut gepeitscht. Die Vorkommnisse in der
Zitadelle von Brest-Litowsk sind noch bekannt genug. Wenn
ein Politiker von internationaler Beriihnitheit wie Korfanty
nicht einmal vor korperlichen MiBhandlungen sicher war, so
k arm man sich leicht vorstellenf was fiir ein Los dem unbe-
kannten FuBsoldaten der Opposition zuteil wird, dem kleinen
Agitator, dem Flugblattverteiler, dem Zettelkieber, wenn *er
das Ungliick hat, in die Klauen der Ordnungsbestie zu geraten.
Der RegierungserlaB, daB die politischen Haftlinge gemeinen
Verbrechern gleichzusetzen sind, bedeutet nur die konsequente
Fortfuhrung des bisherigen Zustandes, bedeutet nur die Sank-
tionierung des administrativen Sadismus, zeigt aBer auch den
unbeugsam schlechten Willen der Regierenden, DaB aber eine
solche MaBnahme im Namen eines alten Revolutionars durch-
gefuhrt wird, das ist eine besondere Schande und muB Gefiihle
von Emporung und Scham jenseits von aller Politik erwecken,
Ein besonders abscheuliches Kapitel in der neuen pol-
nischen Geschichte nimmt die Blutherrschaft in der West-
ukraine ein. Denn dort ist der Zusammenprall am argsten,
dort wird der Terror am^brutalsten angewendet. Denn dort
steht nicht nur eine groBenteils kommunistische Landbevolke-
rung gegen die war»schauer Machthaber, sondern auch eine
biirgerlich-nationalistische Bewegung, die fascistisch gefarbt
ist und Schrecken mit Schrecken beantwortet. Grenzerkampfe
zeichnen sich immer durch besondere Schonungslosigkeit aus;
in der polnischen Ukraine mischen sich soziale und nationale
Motive aufs verhangnisvollste. Die Ermordung des Abgeord-
neten Holowko, die jetzt groBe Erregung verursacht, ist auf die
Unterdriickung der ukrainischen Minoritat zuruckzufiihren.
Holowko, der eine Saule der parlamentarischen Mehrheit Pil-
sudskis war, wurde ak Renegat gehaBt. Er war iriiher So-
zialist und hatte sich erst 1926 dem Marschall angeschlossen,
als dessen treuer Diener er eine besonders herausfordernde
356
Sprachc gegen alle Opponenten fuhrte. Vor wenigen Monaten
erst hat Holowko die Ukrainer aufs AuBerste verhohnt, indem
cr ihnen von der Tribune des Sejm zurief, sie kfinnten sich
ruhig in Genf beschweren, in Polen werde sich doch nichts
andern. Diesen Zynismus beantworteten die Ukrainer mit der
Vendetta, und es ist jetzt zu befurchten, daB die Regierung
wieder mit einer neuen „PazifizierungM antworten wird, mit ver-
starkten Greueln, die wieder Unschuldige treilen werden. Wenn
die europaische Offentlichkeit nicht durch das Studium der sin-
kenden Borsenpapiere hinreichend abgelenkt ware, so wiirde
sie sich schon langst etwas mehr um die Zustande in Polen ge-
kiimmert haben. Auch die Herren Diktatoren berrschen nur
im eignen Hause, und die Meinung der Welt kann ihnen nicht
gleichgultig sein. Der polnische Staat leidet ohnehin nicht
unter einer allzu groBen Beliebtheit, seine haufigen Nerven-
anfalle werden auch von den Freunden in Paris nicht mehr so
harmlos wie fruher beurteilt Den paar deutschen Politikern
und Pubiizistent die sich im Kreuzfeuer ihrer eignen Nationa-
listen um eine deutsch-polnische Verstandigung bemiihen, wird
der Mut genommen, fur die Versohnung mit einem Staat zu
plaidieren, dessen Gewalthaber die Menschenrechte auBer Kurs
gesetzt haben.
TarilOW Oder R.G.O.? von Jakob Links
U s wiederholt sich nichts: gemessen am Elend, das der kom-
mende Winter urrs bringen wird, werden uns die Note des
vergangenen, die uns schon unertraglich schienen, wie ein ver-
lorenes Paradies erscheinen. Und wer glaubte, daB die turbu-
lenten Massenversammlungen, die StraBenunruhen, Ladenpliin-
derungen, Morde und Selbstmorde des letzten Jahres bereits
die latente Revolution darstellten, der wird in den nachsten
Monaten erkennen, daB die Wirren der Vergangenheit nur ein
zahmer AuJtakt zu dem waren, was uns bevorsteht. Es wieder-
holt sich nichts: die innenpolitischen Kampfe, die nach der
Scheinruhe der Sommermonate von neuem einsetzen, werden
nicht nur einen viel scharfern Charakter sondern auch ein
andres Gesicht tragen.
Wie wird dies Gesicht aussehen? In den Kampf auf der
StraBe und^in den Massenversammlungen wird der Kampf in
den Betrieben selbst hineingezogen. Und die Schlacht, die hier
geschlagen wird, die wird fur die groBe Frage des Winters
^Revolution oder Lethargie?" entscheidend sein. In diesem
Winter haben die Gewerkschaften das Wort — bisher standen
sie a la suite der Entwicklung, erlieBen Resolutionen, nahmen
theoretisch Stellung, debattierten und versuchten mit den fein-
sten Kniffen der auf alien KompromiB-Satteln gerechten Bonzo-
kratie, die Massen bei der Stange zu halten. Das „W under"
des vergangenen Winters war in Wirklichkeit ein Sieg der Ge-
werkschaftsbureaukratie, die bereits im Oktober 1930 mit
dem vorzeitig abgeblasenen berliner. Metallarbeiterstreik der
357
Kampffreudigkeit der' Massen das Riickgrat gebrochen hatte.
In ICrisenzeiten be4eutet ein verlorener Strcik eine ungieich
groBere — da auch psychologisch tiefwirkende — Niederlage,
als in ciner Konjunkturepoche.
Die „Thcorie vom kleinern Obel" hat sich als die Tatsache
dcr groBern Katastrophc erwiesen. Knapp vier Jahrc ist cs
erst her, daB Tarnow, dicsc festeste Saule im Tempel des
A,D.G.BM seine Broschiire veroffentlichte: 1(Warum arm sein?"
In ihr bewies der Arbeiterf iihrer, daB der Sozialismus nicht
mehr vonnoten sei, denn der durch die Rationalisierung hervor-
gerufene Aufschwung der Wirtechaft ermogliche auch dem Pro-
letarier einen marchenhaften Aufstieg. Als es sich nach zwei
Jahren zeigte, daB die Rationalisierungsmaschine das Heer der
standigen Arbeitslosen in Deutschland um anderthalb bis zwei
Millionen hungernder Miinder vermehrt hatte, wurde die Theo-
rie ein wenig umgebaut. Ganz iiber Bord werfen konnte man
sie nicht, ohne den eignen Bankrott zii offenbaren, Und so
handelte auch der Reformismus durchaus folgerichtig, wenn er
alsbald seinen Anhangern verkundete, man miisse mit den
Wolfen heulen, wenn man wenigstens die abgenagten Knochen
reiten wolle, die die Wolfe gelegentlich iibrig lieBen, Ganz ab-
gesehen davon ergab sich die Riickzugslinie des Stillhaltens
in der Gewerkschaftspolitik aus der innenpolitischen Haltung
der Sozialdemokratischen Partei selbst. Da die Sozialdemo-
kratie seit 1918 gezwurigen ist, die Fiktion der Demokratie zu
verteidigen, so schwenkte auch die Gewerkschaftsbureaukratie
gehorsam in das seichte, aber sehr gefahrliche Wasser einer auf
arbeitgeberfreundlichen Schiedsspriichen aufgerichteten Wirt-
schaftsdiktatur ein. Sie wird jetzt in diesem Wasser elend er-
trinken.
Dcnn in diesem Winter wird man sich nicht mehr mit
Schiedsspriichen aufhalten. Die Wirtschaftsdemokratie und
mit* ihr die famose Arbeitsgemeinschaft existieren nicht
mehr, nicht einmal mehr auf dem Papier. Wir stehen vor bru-
tal durchgefuhrten Massenentlassungen von einigen Millionen
Arbeitern, und diese sind der Kern der noch auf die sozial-
demokratische Fahne /schworenden Gewerkschaftsmitglieder.
Das Spiel ist aus, das anmutige Spiel, das sich Fabrikherr und
sozialdemokratischer Betriebsrat bisher leisten konnten: nam-
lich bei notwendig werdenden Entlassungen in erster Linie
Unorgankierte und Kommunisten zu entfernen. Bisher nahm
man noch groBtmogliche Riicksicht auf die Klagen der Gewerk-
schaften, man moge doch nicht durch Entlassungen „besonde-
rer Arbeiterschichten" der politischen Radikalisierung Vor-
schub leisten.
Auch diese Periode der Schonung ist nun beendet, so gern
sie auch ein Teil der Arbeitgeberschaft noch ferner (iben
mochte. Die ganze Hilflosigkeit der Gewerkschaftsfiihrer vor
den Ereignissen des kommenden Winters zeigt sich in haBlich-
ster Bliite auf dem KongreB in Frankfurt am Main. Sie geben
zwar der allgem einen Stimmung folgend den Kapitalismus preisf
mit dessen Hilf e sie eben noch dem Arbeiter die Fleischtopf e
Aegyptens versprachen. Und was versprechen sie stattdessen?
Wie hoffnungslos lang und diirr sind diese Reden, wie nichts-
358
sag end und kokett die Formulierungen, mit dcncn die groBen
Theoretikcr, wie etwa Lederer, das Gewitter, das sie mit gro-
Bem Geschick heraufbeschworen haben, an der Entladung zu
hindern vcrsuchen. Nur Tarnow ist tapsig genug, den Schleier
zu zerreiBen, mit dem man geglaubt hat, dem Arbeiter den
freien Blick auf die wahre Lage der Dinge vernebeln zu kon-
nen. Tarnow tritt off en fur die Autarkic ein: er fordert Staats-
sanierung und Staatsaufsicht fiir alle wackelnden Betriebe. Nur
so konnten Massenaussperrungen verhindert werden. Furwahr,
ein vornehmer Vorschlag, freilich stammt er nicht von Tar-
now, sondern ist bereits von Mussolini langst in die Praxis
umgesetzt worden. In der ,Carta del Lavoro' wird den italie-
nischen Gewerkschaften lediglich das Recht zugebilligt, an der
Aufrechterhaltung der Produktion unter Staatsaufsicht mitzu-
arbeiten. Die Staatsaufsicht, so wie Tarnow sie herbeisehnt,
wiirde bei dem Grad unsrer Krise und der Macht der Ar-
beitgeber noch ein wenig scharfer aussehen.
Die Treue des deutschen Arbeiters zu seinen Fiihrern ist
ein einmaliges Phanomen. Wird sie auch noch halten, wenn
die letzte Stutze ihres Glaubens im kommenden Winter zer-
bricht? Man soil sich vor Prophezeiungen huten. Aber in
diesem Falle ist es unschwer vorauszusagen, daB Hunderttau-
sende von arbeitslos gewordenen Sozialdemokraten den Weg
zur kommunistischen Gewerkschaftsopposition finden werden,
Und dieses Ereignis wird fiir Deutschland einschneidender sein
als hundert Massenversammlungen, ein halbes Dutzend neuer
Bankkrache und andre Ereignisse der vergangenen Monate,
die ja nur zeigten, daB es auch im Gebalk der feinsten Etagen
zu knistern beginnt.
Die Theorie der R.G.O. ist ebenso klar und richtig, wie
die Praxis ihres Erfolges bisher gering war. In der Theorie
erkannten die Kommunisten, daB jede Streikbewegung in dei
heutigen Situation nur dann zu einem Erfolg fiihren kann
wenn die Masse der Gewerkschaftsmitglieder sich der Bewe-
gung anschlieBt, SchlieBt sie sich an, so entwickelt sich jede
groBere Streikbewegung zu einer politischen Aktion. Nun,
die beste Theorie niitzt nichts, wenn man im taglichen Leben
falsche Wege einschlagt. Die R.G.O, hat in ihren Werbefeld-
ziigen zahllose taktische Ungeschicklichkeiten begangen. Statt
die Anhanger der reformistischen Gewerkschaftslinie zu iiber-
zeugen, schlug man sie vor den Kopf und nannte sie Verrater.
So wirbt man keine Freunde. Seit drei Monaten allerdings ist
dieser linke Kurs liquidiert — auf einen Wink von Moskau
hin, und schon zeigen sich die Friichte: die verschiedensten
Betriebswahlen der letzten Wochen ergaben, daB die Stimmen-
zahl fiir die Vertreter der freien Gewerkschaften in mathe-
matisch fast genau demselben Verhaltnis sinkt, wie die Stim-
menzahl fiir den Vertreter der Kommunisten steigt.
Aber das ist erst der Anfang einer Entwicklung, die ganz
zwangslaufig weitergehen wird, Es wird aber alles davon ab-
hangen, ob es der R.G.O. gelingt, das Auffangebecken fiir die
Hunderttausende und Millionen entlassener Arbeiter zu sein,
die, um die geringste Frucht ihrer fast unmenschlichen Diszi-
plin betrogen, ihren Gewerkschaftsfiihrern die Mitgliedsbiicher
359
endlich vor die Fu8e werfeii; Versagt die praktische Arbeit
der RG,(X in den nachsten Monaten, so steigt freilich die
fascistische Gefahr. J Denn maa darf hicHt vergessen, daB auf
der. andern Seite nicht mix die gelben Gewerkschaften, son-
dern in erster Linie die Nationalsozialisteh mit offenen Armen
und den groteskesten Versprechungen stehen^
Aber der EinfluB Hitlers sinkt doch im groBen und gan-
zen innerhalb der Arbeit erschaft --- um freilich in den Reihen
der mittlerii und hohern Angestellten, der Beamtenschaft, der
Schupo und Reichswehr immer noch zu wachsen. Hier zieht
der legale Kurs, Es ist also nicht anzunehmen, da'B wirklich
gfroBere Massen des arbeitslosen Millionenheeres Hitler in
die Lage. versetzen wer den, noch einpaar Dutzend neuer brau-
ner Hauser in den deutschen GroBstadten zu errichten.
Nicht dort, nicht in der Wilhelm-StraBe, und schon ganz
und gar nicht im Schattenparlament, sondern in den sich lee-
renden Betrieben und in den uberfiillten Raumen der Stempel-
stellen wird die Schlacht des Winters geschlagen werden.
Das mifiverstandene Rufiland
von George Bernard Shaw
Cin sentimentaler franzosischer Autor hat das Wort ,, alles
verstehen, heifit alles verzeihen" gepragt. Seine Auffassung
ist vollkommen irrig. Wenn zwei einander gefahrliche Parteien
gegenseitig zu gut ihre Motive verstehen, so ist die natiirliche
Folge, daB sie alles tun, um sich gegenseitig umzubringen. Sie
mogen insoweit mit dem Franzosen ubereinstimmen, als sie we-
der Zeit noch sittliche Entriistung verschwenden, um sich ge-
genseitig Gardinenpredigten iiber ihre unniogliche Unmoral zu
halten. Dasmacht aber ihrenKampf riur sachlicher und unerbitt>
licher. Ich bin keineswegs tiberzeugt, daB ich durch Aufkla-
rung der lacherlichen MiBverstandnisse zwischen dem kommu-
nistischen RuBland und der kapitalistischen Zivilisation in an-
dern Landern die Feindschaft zwischen den beiden Parteien
aus der Welt schaffe. Vielleicht rufen die kapitalistischen
Zeitungen und imperialistischen Politiker sogar umso lauter
nach der Verriichtung des russischen Kommunismus, je mehr
Aufklarungen ich dariiber gebe. Wenn sie aber unbedingt nach
Blut schreien miissen, so soil en sie es lieber in intellig enter als
in unsinniger Weise tun. Die ubliche antirussische Propaganda
besteht lediglich in einer Herabsetzung RuBlands, die dazu
fuhrt, daB der Kapitalismus seinen Gegner unterschatzt und
sich selbst in sehr gef ahrlicher Weise iiber schatzt, dies umso
mehr, als das MiBverstandnis nicht auf Gegenseitigkeit beruht.
Die kommunistischen Fuhrer verstehen sowohl den Kommunis-
mus als auch d^n Kapitalismus. Die Wortfuhrer des Kapitalis-
musVerstehen weder den Kapitalismus noch den Kommunis-
mus./ Stalin konnte mit dem Erzbischof Whately und Palmer-
ston-sagen: HDie: t^richtenLeute verstehen nicht ihr eignes to-
richtes Geschait/'
Er konnte hinzufiigen, daB selbst verstandige Leute die
Verhaltnisse in ihrem eignen I,,ande so wenig kennen, daB sie
360
entsetzt sind, wenn sie Beschreibungen fiber Zustande in RuB-
land lesen, die in zchn Minuten Entfernung von ihrem eignen
Hausc genau so existieren, Diese Leute erinncrn mich an jene
begeisterten Fiirsprecher der schwarzen Sklaven, die vor einem
Jahrhundert fur die Abschaffung des Sklavenhandels eintraten
und nichi wuBten, daB in Fabriken, deren Rauch ihre Fenster
verdunkelte, weiBe Kinder grausamer ausgenutzt und geschla-
gen wurden als die erwachsenen Neger in Afrika, von deren
Leben sie so herzzerreiBend Geschichten erzahlten.
In RuBland werden gegenwartig die Verbrecher nachgiebi-
ger und vernunftiger behandelt als in irgendeinem andern Land,
das ich kenne. In England verubte kiirzlich ein des Raubes
Oberfiihrter im Gefangnis Selbstmord, nachdem er unmensch-
licherweise zu zehn Jahren Zwangsarbeit und einer Prtigel-
strafe verurteilt worden war. Die Schrecken von Cayenne
und der Teufelsinsel bei den Franzosen, die entsetzlich lange
Ausdehnung der Einzelhaft, sowie die gegen Frauen zur An-
wendung kommende Priigelstrafe in Delaware bei den Ameri-
kanern scheinen mehr teuflischen als menschlichen Sitten zu ent-
sprechen. Die Zeitungen der westlichen Welt sind voll von
Berichten iiber die Schrecken des amerikanischen Verbrecher-
tunis und von Bildern der Unterwelthelden. Verbrecher, die
nicht einmal klug genug sind, sich mit der amerikanischen Bun-
desregierung durch Zahlung ihrer Einkommenssteuer gut zu
verhalten, haben entdeckt, wie leicht es ist, Geschworene ein-
zuschiichtern und die Polizei, ja sogar die Richter, zu be-
stechen. Unter diesen Verhaltnissen ware der Alkohol-
schmuggel Geldverschwendung, da es viel bequemer und ebenso
ungefahrlich ist, in einen Laden zu gehen und dem Ladeninha-
ber zu eroffnen, daB er auf der Stelle erschossen wird( wenn
er nicht sofort einige Dollars herausruckt.
In SowjetruBland hatte ein Verbrecher genau so viel Le-
benschancen wie eine Ratte in einem Hofe voller Terriers. In
Amerika hungern Millionen von Familien oder verkaufen ihre
letzten Mobel, um sich Nahrungsmittel dafiir zu beschaiien.
Sie bekommen nicht einmal die Unterstutzung, die in England
die Arbeitslosen vor dem Verhungern rettet. In beiden Lan^
dern tut die regierende Klasse nichts, um durch soziale oder
industrielle MaBnahmen die Lage zu bessern/ Sie kauft sich
von einem Verzweiflungsauf stand der Hungernden durch pri-
vate Wohltatigkeit ios, die in Amerika freiwillig, in England
zum Teil obligatorisch, in beiden Landern aber nur ein Trop-
fen auf den heiBen Stein ist* In RuBland gibt es keine Ar-
beitslosen. Das Volk ist gesund, lebt sdrgenfrei und voller
Vertrauen auf die Zukunft Es muB sich etwas einschranken
und ziemlich schwer arbeiten, hat aber die Oberzeugung, daB
der Gewinn ihm selbst zugute kommt und nicht von MiiBig-
gangern in Luxushotels zwischen Palm Beach und dem Adria-
tischen Meer vertan wird. In RuBland warten nicht schon
vor ihrer Geburt Millionenvermogen auf sokhe MuBigganger.
Und obgleich die Todesstrafe dort abgeschafft ist, miissen sie
entweder arbeiten, oder sie werden kurzerhand erschossen,
weil sie nicht wert sind, daB die Gesellschaft sie durchfiittert.
361
Ich konnte noch zahlreiche derartige Gegensatze anfiihren.
Aber die bisherigen Beispiele geniigen wohl, urn selbst die arg-
sten Pharisaer untef den. Antikommunisten, die in Versuchung
kommen konnten, RuBland Vorwiirfe uber seine sozialen und
politischen Einrichtungen oder die Lebensbedingungen seines
Volkes zu machen, daran zu erinnern, daB, wer im Glashaus
sitzt, nicht mit Steinen werfen soil.
Die erste Frage, die ein Reisender urn seiner personlichen
Sicherheit willen und zu seiner Information stellen muB, wenn
er sich in einem fremden Lande auf halt, lautet; ,,Worauf steht
hier Todesstrafe?" Die zweite: ,,Was gilt hier als ehrenwert?"
In kapitalistischen Landern ist die Antwort sehr einfach. To-
desstrafe steht auf Mord, und geehrt werden Leute, die viel
Geld verdienen. In RuBland werden Todesstrafen wegen Mor-
des nicht mehr verhangt, und an ihre Stelle treten vier oder
fiinf Jahre Gefangnis. Dagegen wird jeder erbarmungslos er-
schossen, der zu viel Geld verdient. Das Bankwesen ist in
RuBland verstaatlicht, und dies sollte in jedem verniinftigen
Lande der Fall «ein. Wenn jemand bei der Staatsbank eine
Sum me Geldes einzahlt, bekommt er darauf acht Prozent Zin-
sen, Lassen aber die Betrage, die er zur Bank bringt, denVer-
dacht aufkommen, daB er mehr als angemessen verdient, so
priifen die Einkommenssteuerbeamten die Sache, und wenn sie
feststellen, daB der Betreffende spekuliert oder die Arbeit
andrer ausgenutzt hat, wird er plotzlich von s ein en Angehori-
gen vermiBt werden und nicht wieder zum Vorschein kommen.
Er ist „liquidiert" worden. Liquidation bedeutet Entfernung
eines Schadlings aus dem Wirtschaftsleben. Es gibt keine
sichtbaren Geschworenen, die eingeschiichtert, keine sicht-
baren Polizisten, die bestochen, keine sichtbaren Beamten oder
Richter, die an der Beute beteiligt werden konnen. Die ein-
zige Garantie, daB das unsichtbare Gericht sich nicht heim-
tiickisch, gegen einen selbst wendet, ist, daB es ein Interesse
daran hat, einen am Leben, an der Arbeit und in Freiheit zu
lassen, weil man seinen Mitmenschen irgendweichen Nutzen
bringt. Erst wenn man zum Dieb oder zum Bettler wird oder
zu werden versucht, nimmt sich jemand die Zeit und macht
sich die Miihe, einen zu liquidieren. Der beriihmte und hoch-
ehrenwerte englische ^Capitalist John Ruskin wies darauf hin,
daB es nur drei Arten von Individuen in der mcnschlichen Ge-
sellschaft gibt: Arbeiterf Bettler und Diebe. Ein Russe wiirde
das Verfahren vielleicht noch mehr abkiirzen und nur zwei
Arten unterscheiden; Produktive Arbeiter und Parasiten. Nun
beruht der Kapitalismus unter anderm auf der Theorie, daB
niemand ohne den Anreiz arbeiten wiirde, spater selbst Kapi-
talist (lies: Parasit) werden zu konnen, und daB infolgedessen
das Parasitentum zu den unvermeidlichen Produktionskosten
gehort. Eine Fabrik, erklart der Kapitalismus, ist underikbar
ohne einen Grundbesitzer, der das Land, auf der sie steht, zu
dem hochsten Zins verpachtet, den er bekommen kann, ohne
einen Kapitalisten, der aus seinem iiberschussigen Geld die
hochsten Zinsen herausschlagt, die gezahlt werden, ohne einen
Fabrikherrn, der entschlossen ist, einen Vertrag herauszuwirt-
schaften, der nicht nur die Pacht und die Zinsen deckt, son-
362
dern noch einen moglichst hohcn UberschuB fiir ihn selbst abr
wirft. Das kann er nur erreichen, wcnn er die Arbeitslohne so
niedrig wie moglich halt. Die Arbeiter, welche gezwungen sind,
entweder zu arbeiten oder zu verhungern, verkaufen ihm auch
ihre Arbeitskraft zu stark gednickten Preisen. RuBland wider-
legt diese kapitalistische Theorie durch die Praxis. Es besitzt
zahlreiche Fabriken mit moderns ten amcrikanischen Maschi-
nen, in denen amerikanische Ingenieure und Techniker arbei-
ten, die das Leben in RuBland dem Leben der Vereinigten
Staaten vorziehen. Diese Fabriken sind in vollem Betrieb,
ohne daB ein .einziger Parasit darin zu finden ware. Miete
und Pacht flieBen in die Staatskassen, desgleichen die Zinsen
von dem investierten Kapital sowie der Reingewinn. Der da-
durch gebildete offentliche Fonds wird zum Bau neuer Fabri-
kenf zur Errichtung neuer Kollektivfarmen, zur Erzeugung von
Nahrungsmitteln in groBtem MaBstabe und zur Erhaltung einer
Riesenarmee verwandt, die Mr. Churchill und Mr. Babbitt li-
quidieren wird, sobald sie von den antirevolutionaren Wort^
gefechten zu antirussischen militarischen MaBnahmen iiber-
gehen. Der Rest wird zum Wohle der Arbeiter verwandt wer-
den. In dem ganzen Wirtschaftskorper ist mit. einer Aus^
nahme kein Platz fiir Faulenzer, Parasiten oder Ausbeuter,
und diese Ausnahme ist das hungrige russische Baby, das sich
noch nicht einmal durch das Zimmer bewegt, wcnn es nicht
getragen wird. Und selbst das Baby muB Heller und Pfennig
zuriickzahlen, wenn es alt genug zum Arbeiten ist.
Es hat keinen Zweck, noch weiterhin die Behauptung aut-
recht zu erhalten, daB all diese Theorien nicht durchfuhrbar
sind, weil Habgier und Selbstsucht der Menschen es unmog-
lich machen. Sie werden durcHgefuhrt, es rentiert sich, und
selbst die Habgierigen und Selbstsiichtigen mochten nicht mehr
in einem kapitalistischen Staate leben.
Parteipolitik, allgemeines Wahlrecht und alle iibrigen Lii-
gen und Torheiten, durch die angeblich die Ziele der Demo-
kratie verwirklicht werden, die aber tatsachlich mit groBter
Sicherheit die Erreichung dieser Ziele vereiteln, existieren nicht
in RuBland. Wenn die Russen einem Mann eine nationale Auf-
gabe ubertragen, setzen sie nicht einen andern Mann ein, der
ihn daran hindert, sie durchzufuhren, und amiisieren sich dann
iiber den Kampf der beiden. Sie lassen nicht zu, daB Acker-
bauer sich in Fragen des wissenschaftlichen Unterrichts mi-
schen, und bitten auch nicht Dorffuhrleute um ihre Meinung
iiber finanzielle MaBnahmen und auswartige Politik. Trotzdem
hat der Verzicht auf diese pseudodemokratischen Vorsichts-
maBnahmen weder die Tyrannei der Zaren, der Kirch enfiirst en
und des Adels wiederhergestellt noch das Volk aufs neue in
Leibeigenschaft gebracht.
„Merkwiirdig!'\ sagt Mr. Babbitt, „wie machen sie es
nur?"
Einfach genug. Die Urheber der kommunistischen Verfas-
sung SowjetruBlands hatten in den Tagen ihrer Verfolgung und
Verbannung sehr viel Zeit zum Nachdenken, und zwar zum
groBen Teil in Sibirien. In Detroit, Pittsburgh, New York und
ahnlichen Stadten hat man keine Zeit dazu. Sie griibelten iiber
2 363
die Naturgeschichte der Menschheit nach. Sie sahen an sich
selbst, dafi der merkwiirdigc Faktor in dcr Natur, den wir
Vorsehung nennen, immer dafiir sorgt, daB jede menschliche
Gemeinschaft soviel sozial gewissenhafte und geistig interes-
sierte Menscheri hervorbringt, wie notwendig sind, um sie
zu regieren, vorausgesetzt, daB jeder die gleichen kulturellen
Moglichkeiten hat* Diese besondern Individuen sind leicht
zu erkennen an ihrem dauernden Ruf nach Weltverbesserung,
ihrer Gesellschaftskritik, ihrem eifrigen Lesen und ihrem daraus
folgenden geschichtlichen und wirtschaftlichen Wissen, ihrer
Verachtung habgierigen Ehrgeizes, ihrer Geringschatzung von
Reichtum und Rang, und, wenn sie arm sind, ihrer haufigen Ver-
urteilung zu Freiheitsstrafen, Diese Art von Menschen leitete
die russische Revolution in die Wege und baute den Sowjet-
staat auf. Sie wurden nicht in einer offiziellen Wahl gewahlt,
sie hatten nicht die geringste Aussicht gehabt, daB Hinz und
Kunz sie geniigend anerkannten, um sie zu Dienern der Allge-
meinheit zu ernennen. Die meisten von ihnen waren bei ihren
werten Nachbarn griindlich unbeliebt und gefiirchtet. Sie er-
schienen, ohne gewahlt worden zu sein, denn die Natur hatte
sie auserwahlt. Die Natur setzt ihr Werk fort. Im Westen
werden ihre Auserwahlten verhohnt, lacherlich gemacht, ein-
gekerkert und sogar auf dem elektrischen Stuhl ins Jenseits
befordert. In RuBland werden sie der Kommunistischen Par- ,
tei eingegliedert, und niemand anders als die Kommunistische
Partei regiert RuBland. Sie wahlt und bestellt die Verwaltungs-
behorden, die Komitees, ihre Prasidenten und Sekretare, welche
die Politik des obersten Wirtschaftsrats durchfiihren. Das ist
RuBlands Beitrag zur Wissenschaft und zur sozialen Organisa-
tion. Unbeliebte Propheten im Westen haben schon vor langer
Zeit auf Durchfuhrung von Versuchen gedrungen, an denen die
Russen jetzt arbeiten. Aber die russische Losung der Demo-
kratie, die in der Naturgeschichte der Menschheit begriindet
ist und auf dem geheimnisvollen Willen der Vorsehung be-
ruht, bewirkt, daB die iibrige Welt RuBland um ein Jahrhun-
dert nachhinkt.
Erst wenn durch Hebung des allgemeinen kulturellen Ni-
veaus kein fahiger Mensch mehr, infolge Unwissenheit, Armut
oder mangelnder Gelegenheit, aufier Wettbewerb stent, die
Auslese also aus einem grofien Kreis von Individuen erfolgen
kann, werden die hochsten Erfolge erzielt werden. Aber selbst
jetzt, wo die Zahl der vollkommen qualifizierten Personen
sehr gering bleibt, ist die russische Regierung die fahigste
und aufgeklarteste in der zivilisierten Welt; Das konnte sie
auch ohne besondere Tiichtigkeit sein, denn je schlechter im
Westen regiert wird, desto mehr Grund hat der Osten, fur die
geringste kluge Tat seiner Regierung dankbar zu sein.
Das kommunistische System ist ein Ratsel fur den durch-
schnittlichen Westeuropaer, der an die Moglichkeit der Regel
glaubt: „Wer hat, dem soil gegeben werden, und wer nicht hat,
dem soil auch das Wenige genommen werden, das er hat." Es
kommt ihm vor, als wenn er in einem Tollhaus saBe, dessen
Bewohner darauf bestehen, daB schwarz weiB ist und daB zwei
plus zwei fiinf ergibt. Doch die Tollheit hat Methode. Es gibt
364
keine Millionaire, keine Damen und Herren und so wenig Geist-
liche, daB man sic nicht bemerkt, wenn man in eine Kirche geht.
Es gibt ferner keine StraBen mil Luxusgeschaften und keine
Reklameplakate. Niemand scheint es darum fiir fiinf Pfennig
schlechter zu gehen. Der Anreiz personlichen Gewinns, ohne
den nach den Behauptungen der Kapitalisten keine Fabrik exi-
stieren oder produzieren konnte, fehlt in den russischen Fabri-
ken vollstandig. Trotzdem existieren die russischen Fabriken
und produzieren genau wie die kapitalistischen, nur viel rei-
bungsloser, da in ihnen alie Krafte zusammenwirken, um einen
so grofien Nutzen wie moglich zu erzielen, wahrend in den
Fabriken auf kapitalistischer Grundlage die Interessen geteilt
sind. Es gibt im Privatleben keine Rangunterschiede. Der Sol-
dat verkehrt auBerhalb des Dienstes mit seinem Offizier auf
vollkommen gleichem FuBe. Trotzdem ist die Disziplin in der
russischen Armee streng. Ein Kind, das geschlagen worden
ist, verklagt seine Eltern wegen Korperverletzung und geniefit
Biirgerrechte wie ein Erwachsener. Ehen werden auf den
Wunsch einer der Parteien leicht geschieden; aber das Fami-
lienleben spielt sich trotzdem ganz ahnlich ab wie bei verniinfti-
gen und netten Leuten in andern Landern. Privateigentum exi-
stiert nicht, und trotzdem ist personlicher Besitz viel sicherer
als in London oder Chicago. Wenn jemand Kapitalist, selb-
standiger Kaufmann oder Gutsbesitzer ist, mufi er jeden Augen-
blick gewartig sein, auf die StraBe gesetzt zu werden, zu leben
wie jeder beliebige Proletarier oder sogar vor einen geheimen
Gerichtshof zu kommen, der eine Untersuchung gegen ihn an-
stellt, welche mit einem Todesurteil endet. Trotzdem bestehen
privater Handel und freie Bauernwirtschaften in dem vol-
len Umfang weiter fort, der erforderlich ist, um die Arbeit auf
den von der Flut des Kommunismus noch nicht erfaBten Gebie-
ten zu gewahrleisten- Die fiihrenden Staatsmanner haben kei-
nen Privatbesitz und beziehen Gehalter, liber die in West-
europa der Leiter einer Bankfiliale in einer Provinzstadt die
Nase riimpfen wurde. Trotzdem konnen alle kapitalistischen
Prasidenten, Reichskanzlen und Ministerprasidenten sie um
ihre Stellung beneiden. Wer daran zweifelt, moge Stalin ir-
gend einen ihrer Posten anbieten, und warten, was er darauf
sagt. Die Freiheit wird als Aberglaube der Bourgeoisie ver-
lacht; aber in Moskau kann jeder tragen, was er will, und das
kann kein Mann und keine Frau in irgend einer andern Kapi-
tale Europas.
Kurz und gut, die von RuBland erzielten Ergebnisse ent-
sprechen den Erwartungen seiner ehrenwerten Nachbarn. Wenn
diese ehrenwerten Nachbarn Narren sind, versuchen sie, die
Tatsachen zu leugnen und darauf zu bestehen, daB die Ver-
haltnisse in RuBland ihrer biirgerlichen Logik entsprechen miis-
sen. Bei einiger Vernunft geben sie zu, daB sie falsch unter-
richtet sind, selbst auf die Gefahr hin, der erstaunlichen Mog-
lichkeit gegemiber zu stehen, daU ihr hochehrenwertes Land
etwas von Moskau lernen kann.
Deutsch von Lucie Hirsdt
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Nadidrudi, audi auszngsweise, verboten.
365
Der deUtSChe Sumpf von Hanns-Erich Kaminski
PJas Lcben hat seinen Sinn verloren. Man arbeitet nicht
mchr, urn vorwarts zu kommen oder etwas fur die alien
Tage zuriickzulegen, man lernt nicht mehr was, urn es anzu-
wenden, man heiratet nicht mehr, urn Kinder in die Welt zu
setzen, man sat nicht mehr, um zu ernten, man produziert nicht
mehr, um Giiter zu erzeugen; selbst der Diebstahl von Waren
ist nicht mehr rent ab el.
Jede Zeit hat ihr Schlagwort. Das der Gegenwart heiBt
Abbau. Es zieht das Fazit der Stunde, indem es den Wahn-
sinn zum Programm erhebt: „Da von allem zu viel da ist, ver-
braucht weniger, schrankt Euch ein, spart!" Der Weizen wird
verbrannt, der Kaffee ins Meer geschiittet, die Baumwolle
nicht mehr geerntet. Und was proklamieren die Herren der
Welt als Ideal in dem allgemeinen OberfluB? Den Hungertod!
Abbau der Erzeugung, der Arbeit, der Kultur! Abbau aller
Wertei
Wo die Verzweiflung sich ausbreitet, erscheint der
stumpfste Fatalismus schon als Heldentum. Auf stand der
Massen? Die Gefahr ist, daB Endemien des Wahnsinns aus-
brechen. Denn da der Abbau der Zivilisation uns ins Mittel-
alter zuriickwirft, mufl auch die Psyche der Menschen wie im
Mittelalter reagieren. Die Erdbebenwarten meldenf wir stiin-
den am Beginn einer Epoche tellurischer Katastrophen; in
Barcelona wiitet die Beulenpest. Bald werden vielleicht auch
Ziige von Flagellanten die StraBen durchziehen und verhun-
gerte; Kinder auf alien Platzen „Tut BuBe!" schreien.
Die Welt, die nach dem groBen Krieg noch stand, beruhte
auf der Kultur und der Moral der Bourgeoisie. Jetzt wird mit
der Kultur auch die Moral abgebaut. Die geistigen und sitt-
lichen Giiter des Zeitalters sind zu ein paar Millionaren ent-
flohen, die sich noch etwas leisten konnen, und zu den en, die
von jeher durch die Lage ihrer Klasse oder den Zwang ihres
Geistes abseits standen. Die burgerliche Mittelklasse hat kein
Geld mehr, und mit der gesicherten Existenz hat sie auch ihre
Weltanschauung verloren.
In den Bibliotheken stehen die Werke der nKlassiker'\ Es
ist nur bedrucktes Papier, sie haben die Nation nicht geformt,
ihr Idealismus, ihr Glaube, ihr Wille, ihre Mahnungen und ihre
Warnungen sind kein Wall gewesen gegen die Verlumpung
derer, die sie einst lasen* Der Burger pflegt sich nicht an die
eigne Brust zu schlagen, aber er mag sich umsehen unter sei-
nen Bekannten und zahlen, wie viele Schieber, Zuhalter, Hu-
ren und Kupplerinnen darunter sind, — alle aus „guter
Familie".
Wie friiher der Gebrauch obszoner Worte gilt heute
schon als unpassend, Schuiden zu bezahlen, treu zu sein und
Scham und Ehrfurcht zu empfinden. Diese Bourgeoisie hat
nur noch eine Uberzeugung: namlich daB Vertrage inter-
pretiert, Wechsel prolongiert, Raten gestundet und Vertrauens-
selige hereingelegt werden konnen. Ihr Gott ist nicht mehr
366
der Profit. Das war immerhin ein ehrlicher Gott, der Arbeit
und Einsatz verlangte. Ihrc Gottin ist die Provision, die
nichts verlangt als dabei zu sein und sich eine Scheibe abzu-
schneiden,
Wer wundert sich noch, daB im offentlichen Leben, in
dem schon immer Moral fur das Kennzeichen politischef
Idioten gehalten wurde, die gleichen Grundsatze triumphieren,
die heute die Weltanschauung der herrschenden Klasse bil-
den? Wem erscheint es noch als schlechthin unanstandig, daB
Generalspensionen nicht angetastet werden, wahrend die
Kriegskriippel in den Rinnsteinen des dankbaren Vaterlandes
krepieren; daB reiche Leute dem Staat ihre Zuchthausstrafen
zu maBigen Preisen abkaufen konnen, wahrend die Kranken-
hauser der Armen geschlossen werden; daB groBe Ban-
krotteure mit Steuerertragnissen saniert werden, wahrend bei
kleinern Subhastationen das Finanzamt allemal der wichtigste
Glaubiger ist; daB inlandische und auslandische Fiirsten weiter
Millionenrenten bekommen und Aufwertungsprozesse ftihren,
wahrend Lehrer in Massen entlassen werden? Wer gerat noch
in Erstaunen, wenn Interessenten als Sachverstandige berufen
werden, nicht fur die Arbeitslosigkeit, versteht sich, sondern
fiir die Industrie, die Banken, die Landwirtschaft, — Inter-
essenten, die acht Tage spater Direktoren und Aufsichtsrate
der Firmen werden, die sie kontrollieren sollten.
Der Privatmann, der sich einschranken muB, setzt heutzu-
tage zuerst das Gehalt seines Dienstmadchens herab, dann be-
antragt er ErmaBigung der Hauszinssteuer, dann erst verzichtet
er auf das Auto, noch .spater auf die Sommerreise, und erst
ganz zuletzt verzichtet die Frau Gemahlin auf das Abend-
kleid fiir den Winter. Warum soil der Staat anders handeln?
Wir sind nicht mehr auf einem sinkenden Schiff, nein, das
Schiff ist langst gesunken, und die Sieger, die einen Platz im
Boot erobert haben, schlagen mit den Rudern auf die Ertrin-
kenden ein, die sich mit ihrer letzten Kraft ans Rettungsboot
klammern.
Allzu bequem ist der Einwand, die Bourgeoisie sei eine
sterbende Klasse, mage sie zugrunde gehn, was stiirze solle
man stoBen. Nach der Bourgeoisie, ihrem Geschmack, ihren
Neigungen, bildet sich ja das Proletariat. Und wonach sollte
es sich sonst bilden, da fast alles, was Ideen und Kenntnisse
vermittelt, in den Handen der Bourgeoisie ist? Das Proletariat
ist und mufi darum weitgehend ihr Abbild sein. Freilich, seine
Tugenden wie seine Laster sind nicht die gleichen. Aber wer
wollte leugnen, daB die Katastrophe der Wirtschaft, der Kul-
tur, der Moral auch das Proletariat in seinen Grundanschau-
ungen aufwiihlt? Man braucht dabei nicht einmal an die Un-
gliicklichsten der Ungliicklichen zu denken, die die Gesell-
schaft ins Lumpenproletariat, ins Vagabundentum, auf den
Strich, in die Verbrecherwelt mit erbarmungsloser Gewalt hin-
abstoBt. Es geniigt, an die Erscheinungen zu denken, die die
hochste Tugend der Arbeiterklasse, die Solidaritat, unter dem
Druck der Verhaltnisse mehr und mehr verdrangen. Was fiir
367
die Bourgeoisie die kaufmannische Unmoral, das ist fur das
Proletariat Streikbruch, Schwarzarbeit, Werkspionage.
. In Wahrheit, diese Krise ist erst in zweiter Linie eine po-
litische und wirtschaftliche. In erster Linie ist sie eine mo-
ralische! Wir brauchen, angesichts eines Wahnsinns, den keine
Spitzfindigkeit rechtfertigen kann, gesunden Menschenver-
stand, Ja, auch die angeblichen Geheimnisse des Wirfcschafts-
lebens vermag der gesunde Menschenverstand zu durchdrin-
gen, wenn er sich nur mit dem Mut paart, die Dinge zu Ende
zu denken. Vor allem aber brauchen wir Anstandigkeit! Man
kann sie kaufmannische Ehrlichkeit, Ktdturgewissen, prole-
tarisches BewuBtsein, Fairness oder Sportsgeist oder sonstwie
nennen — es ist immer wieder die gute alte, einfache An-
standigkeit.
Taglich lesen die Menschen die Zeitung. Fragen sie sich
dabei, was werden soil? Vielleicht, Aber instinktiv ahnen sie,
daB nichts werden wird, daB auch diese Krise dort enden wird,
wo alle deutschen Krisen enden — im SumpL
Seit die Staufer mit den Welfen rangen, seit die Kaiser
mit der Kirche stritten, immer haben die groBen Bewegungen
Deutschlands in den Sumpf fauler Kompromisse und ungeloster
Fragen gefiihrt. Der Bauernkrie<g, die Reformation, der dreiBig-
jahrige Krieg, die Auseinandersetzung zwischen der kaiser-
lichen Zentralmacht und den Territorialfiirsten, die achtund-
vierziger Revolution, die Hinausdrangung Oesterreichs aus
Deutschland — was ist daraus geworden? Und so sehr sich
im Lauf der Jahrhunderte auch die Blutmischung der Nation
geandert hat, ihr Rhythmus ist der gleiche geblieben. Der
Weltkrieg, die Revolution, die Inflation, der Ruhrkrieg, Morde,
Korruptionsfalle, Justizskandale und jetzt die Gegenwart —
und immer sind dieselben Manner da, immer herrscht dieselbe
dumpfe Luft, immer regiert dieselbe phrasenhafte Romantik,
dieselbe weltfremde Engstirnigkeit und derselbe banale Egois-
mus, der in seiner hochmiitigen Kleinlichkeit nicht einmal ab-
warten kann, bis er sich dem Meistbietenden verkauit hat.
In diesem Land wir ken die Gewitter nicht reinigend; wenn
Dornroschen endlich wachgekufit ist, geht alles wieder seinen
alten, seinen „normalen" Gang, und der Koch gibt dem
Kiichenjungen die Ohrfeige, zu der er die Hand erhoben hatte,
bevor er einschlief, Wir haben weder nuchterne Sachlichkeit
noch rebellische Spontanitat noch den Fanatismus, der vor
dem AuBersten — nicht in Worten sondern in Taten — nicht
zuriickschreckt. Wir warten stets auf das Wunder und auf
den Messias, der es brin,gen soil, unser seelisches Klima ist
eine Mischung aus alien vier Jahreszeitent das Licht unsr«s
Geistes ist ein Zwielicht.
In Deutschland gibt es nur einen wirklich wirkenden Poli-
tiker: die Zeit. Ohne es zu wissen und ohne es zu wollen
werden die kommenden Geschlechter die Zukunft bauen.
Aber wir werden sterben wie unsre Vater und GroBvater und
nichts getan haben.
368
Der Philosoph der Schwerindustrie
von Bernard von Brentano
Ohilosophierend iiber Mensch und Technik hat Herr Speng-
ler, der sich in der Rolle einer Cassandra des Abendlandes
gefallt, ein neues Buch geschrieben. (Der Mensch und die Tech-
nik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens.) Es wird ihm nicht
angenehm sein, zu erfahren, da6 es, alien Hymnen der Rechts-
presse zum Trotz, ein antikapitalistisches Buch geworden ist.
Die Sache ist zu Ende, rufter aus, „Nur Traumer glauben an
Auswege. Optimismus ist Feigheit. Auf dem verlorenen
Posten ausharren, ohne Hoffnuirg, ohne Rettung, das ist Pflicht."
Welche Sache ist denn zu Ende? Herr Spengler meint, die
Menschheit hatte genug von der. Technik, und die Revolte
gegen das organisierte Leben begiinne. Damit sagt er nur
schlecht, was Marx im Vorwort zur Politischen Oekonomie gut
gesagt hat: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung ge-
raten die materiellen Produktivkrafte in der Gesellschaft in
Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhaltnissen
oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafiir ist, mit den
Eigentumsverhaltnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt
hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkrafte schla-
gen diese Verhaltnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann
eine Epoche sozialer Revolutionen ein." In dieser Epoche
leben wir, und Herr Spengler ist nur ein Schiiler von Marx.
Allerdings ein schlechter Schiiler. Anstatt namlich die
Ursache der heutigen Krise in den gesellschaftlichen Zustanden
zu sehen, konstruiert er sich einen idealistischen Begriff Tech-
nik, mit dem er nun operiert. Dabei geht er wie ein Mann
vor, der, ein Operationsmesser in der Hand eines Metzgers er-
blickend, gegen das Op^rieren wettert. Ohne weiteres ver-
wirit er ein brauchbares Werkzeug, weil es ein Mann nicht an-
zuwenden weiB. Das kommt von seiner Unkenntnis der Ge-
schichte. „Die Technik", sagt er namlich, „ist nichts historisch
Besonderes, sondern etwas ungeheuer Allgemeines. Sie reicht
weit iiber den Menschen zuriick in das Leben der Tiere, und
zwar aller Tiere." Das ist falsch. Die Technik ist eine histo-
rische Kategorie. Sie ist angewandte Wissenschaft und in
ihrer heutigen Form wird sie mit der Bourgeoisie untergehn,
mit der sie heraufgekommen ist. Das Proletariat wird, wenn
es zur Herrschaft gekommen ist, eine andre Technik ent-
wick ein, weil es unter andern gesellschaftlichen Bedingungen
leben wird. Denn die gesellschaftlichen Bedingungen sind die
Ursachen der heutigen Technik. Man darf sich gegen diese Be-
hauptung auch nicht durch einen Hinweis auf Sowjetrufiland
stellen. Die Russen holen heute in ihrem Funfjahresplan nach,
was sie unter der Diktatur des Zarismus versaumen mufiten.
RuBland braucht zuvor einen Produktionsapparat, ehe es einen
sozialistischen organisieren kann.
Das Mittelalter kannte keine Technik der Art, die Herr
Spengler meint, und infolge davon naturlich auch keine Revolte
gegen die Technik. Marx schreibt, daB man den Unterschied
zwischen Werkzeug und Maschine darin sucht, daB beim Werk-
zeug der Mensch die Bewegungskraft sei, bei der Maschine
369
cine von der menschlicben vcrschicdene Naturkraft, wie
Tiere, Wasser, Wind etcetera. „Danach", spottet er, „ware ein
mit Ochsen bespannter Pflug eine Maschine, Claussens Rund-
webstuhl aber, der — von der Hand eines einzigen Arbeit ers
bewegt — 96 000 Maschen in der Minute verfertigt, ein bloBes
Werkzeug."
Die heutige Technik ist ein kapftalistisches Arbeitsmittel.
MAls Maschinerie", schreibt Marx, „erhalt dieses Arbeitsmittel
eine materielle Existenzweise, welche Ersetzung der Men-
schenkraft durch Naturkrafte und erfahrungsmaBiger Routine
durch bewuBte Anwendung der Naturwissenschaft bedingt. In
der Manufaktur ist die Gliederung des gesellschaftlichen Ar-
beitsprozesses rein subjektiv, Kombination von Teilarbeitern;
im Maschinensystem besitzt die groBe Industrie einen ganz ob-
jektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter (und heute
auch der Angestellte, d. Verf.) als fertige materielle Pro-
duktionsbedingungen vorfindet. Die Maschinerie funktioniert
nur in der Hand unmittelbar vergesellschafteter oder gemein-
samer Arbeit."
Damit sind wir wieder am Anfang, und Herr Spengler und
seine Leser werden nun hoffentlich den Satz von Marx be-
greifen, daB auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung die
materiellen Produktivkrafte in der Gesellschaft in Widerspruch
mit den vorhandenen Produktionsverhaltnissen geraten — was
die Ursache der heutigen Krise bildet. Aber wir haben gelesenf
daB die Technik die Kraft des einzelnen Menschen durch be-
wuBte Anwendung der Naturwissenschaft bedingt und von hier
aus ist der Beweis dafiir anzutreten, daB die heutige Technik
eine historische Kategorie ist. In seinem Buch: ,,Der Aufstand
der Massen" schreibt Ortega Y Gasset: ,,Streng genommen sind
liberale Demokratie und Technik so eng verflochtent daB die
eine nicht ohne die andre denkbar ist und daher ein dritter all-
gemeiner Ausdruck erwiinscht ware, der beide umfaBte."
„Das Problem der Technik und ihres Verhaltnisses zu Kul-
tur und Geschichte tauchte erst im -neunzehnten Jahrhundert
auf/1 Mit diesem Satz beginnt Herr Sprengler seine Abhand;
lung und die Reihe seiner Fehler. Denn Herr Spengler ver-
wechselt sofort — Kapitalismus und Technik; oder, urn es
noch deutlicher zu sagen: kapitalistische Technik mif einer
Technik ,,an sich", die es nicht gibt, ,,Das achtzehnte Jahr-
hundert", fahrt er dann fort, „hatte mit der grundlichen Skep-
sis, dem Zweifel, welcher der Vefzweiflung gleichkommt, die
Frage nach Sinn und Wert der Kultur gestellt — eine Frage,
die zu. weitern immer zersetzenderen Fragen fiihrte und damit
die Grundlagen der Moglichkeit schuf, im zwanzigsten Jahr-
hundert, heute, die Weltgeschichte uberhaupt als Problem zu
sehen." Hier muB festgestellt werden, daB Herr Spengler,
wenn er ,,wir" sagt oder ,,die Menschheit'* schreibt, immer die
Bourgeoisie meint. Daruber hinaus ist auch dieser zweite Satz
seines Buches falsch. Denn der Zweifel taucht nicht erst im
achtzehnten Jahrhundert auf, sondern weit fruher. Und er
steht nicht am Grab e der Bourgeoisie {Herr Spengler sagt:
der weiBen Herrenrasse!), sondern an ihrer Wiege, Erst heute,
wo die Bourgeoisie, vom Proletariat attackiert, nicht mehr
370
zweifeln und das heifit forschen kann, wo sie, in die Defensive
gedrangt, das Bestehende verteidigen muB, um es zu erhalten,
was gegen die Gesetze der Natur ist, erst heute also ist sie
starr geworden und ihre Wissenschaft zerfallt Denn den
Idolen und Vorurteilen gegeniiber, sie mogen kommen woher
sie wollen, beginnt die burgerliche Wissenschaft mit dem Zwei-
fel und der volligen UngewiBheit. Der Zweifel bildet den Aus-
gangspunkt der Wissenschaft, nicht deren Ziel; das Ziel ist die
sichere und wohlbegrundete Erkenntnis. Als sich die Mensch-
heit anschickte, in ihre burgerliche Epoche einzutreten, wurde
sie von Mannern wie Bacon gefiihrt, ,,Das Ziel, welches ich
im Sinn habe", schrieb Bacon 1620, „ist nicht der Zweifel, son-
dern die richtige Erkenntnis, denn ich will die menschlichen
Sinne nicht verwerfen, sondern leiten und unterstiitzen, ich
will den menschlichen Verstand nicht gering schatzen, sondern
regieren. Zu diesem Zweck aber miissen die Idole jeglicher
Art, alle, durch einen beharrlichen und feierlichen BeschluB
fiir immer vernichtet und abgeschafft werden. Der mensch-
liche Verstand muB sich davon ganzlich befreien und reinigen,
auf daB in das Reich der menschlichen Herrschaft, welches in
den Wissenschaften besteht, der Eingang, wie in das Himmek
reich, nur den Kindern offen sei/'
Der Baconsche Zweifel war also die Gebiirt der angewand-
ten Wissenschaft; und das ist der Technik. Bacon war der
erste, der die Herrschaft des Menschen iiber die Dinge als
Forderung aufstellte. Aber wir wollen hier keinen Idealismus
einschmuggeln und so tun, als sei es Bacon gewesen, der diese
Herrschaft faktisch begriindet habe. Im Gegenteil; er forderte
wie alle grofien Manner nur, was schon im Gange war. Die
entscheidenden Erfindungen waren zu seiner Zeit schon gemacht
worden. Aber Bacon erkannte, daB die Erfindung die Macht
der Menschheit zu fordern imstande sei, und von diesen Er-
findungen schrieb er, daB keine Herrschaft und keine Sekte je
groBere Wirkung und groBern EinfluB auf die menschlichen
Verhaltnisse ausgeiibt habe als diese technischen Dinge. Ziu
seiner Zeit hatte bereits Kopernikus die Vorstellung zertriim-
mert, es sei die Erde der Mittelpunkt der Welt. War aber die
Erde nicht mehr der Mittelpunkt, so war es auch der Mensch,
ihr erster Bewohner, nicht mehr; die moralisch-scholastische
Betrachtungsweise des Mittelalters half nicht mehr weiter; es
gait nicht mehr, den Dingen zu befehlen, wie das die Religion
getan hatte, sondern ihnen zu gehorchen, wie die Erde der
Sonne gehorchen muB; die Verhaltungsweise des Mittelalters
brach zusammen, aber der Mensch, bis dahin auch gesellschaft-
lich und wissenschaftlich dem religiosen Aberglauben unter-
worfen, richtete sich auf. Die Bourgeoisie erschien und ihr gab
Bacon die Parole: t,Macht des Menschen und Wissenschaft
fallen zusammen. Denn die Unkenntnis der Ursache vereitelt
die Wirkung. Die Natur laBt sich nur besiegen, indem man ihr
gehorcht."
Die gesamte Wissenschaft, also die denkende und nan-
delnde Menschheit folgte diesem Befehl, Das Experiment, die
wahre Erforschung der Natur wurde ihre Methode, und die
Technik, die wir angewandte Wissenschaft genannt hatten, ist
371
nichts andres als angewandtes Experiment. Nun aber hatte
zwar Bacon die Herrschaft iiber die Dinge gefordert, die wir
heute so miihelos ausiiben, indem wiT die Luft durchfliegen, das
Wasser durchfahren und durch einen kleinen Hebeldruck die
unbekannte Macht Elektrizitat zwingen, unsre Stuben zu er-
leuchten, aber die heraufsteigende Bourgeoisie bemachtigte sich
der Herrschaft iiber die Dinge, indem sie durch die gleich-
zeitige Entstehung des freien Lohnarbeiters einen Teil der Ge-
sellschaft zwingen konnte, ihr zu diesem Zweck und ihrem
Nutzen zu dienen. Die Freiheit der Wissenschaft erzeugte den
Kapitalismus, der Kapitalismus das Proletariat, das ihn ver-
nichten wird. Die Technik ist eine historische Kategorie und
ihre heutige Krise, welche Herrn Spengler & Co. so arg be-
angstigt, ist nur das Ende Spenglers, aber nicht der Spengler.
Inwiefern ist aber nun Spengler der Philosoph der Schwer-
industrie? Man kann antworten, weil er noch vor Kopernikus
lebt. Also nur vierhundert Jahre zuriick ist, was heute noch
keinen Rekord darstellt. Wie dessen Vorlaufer nun glaubten,
alle Welt drehe sich urn die Welt, so scheint sich Spenglern
alles um die Industrie und ganz besonders natiirlich um deren
Fiihrer zu drehen. „Die Flucht der geborenen Fiihrer vor der
Technik beginnt!" klagt er und begnindet damit den Anfang
vom Ende. Aber ich habe noch keinen Industriellen davon-
laufen sehen; bis jetzt lauft nur das Kapital. Jedoch, die Wirt-
schaft als Schicksal, der Industrielle als Fiihrer der Nation,
und wie dergleichen Satze soiiist noch lauten, diese Haltung ist
heute die offizielle. Herr Spengler nun doziert besonders in
dieser Hochofenmetaphysik. Dabei ist aber iolgendes zu be-
achten. Die Industrie verbreitet zwar solche Ansichten, weil
sie ihr nutzen,' aber sie teilt sie nicht. Das Volk soil glauben,
es ginge alles zugrunde, damit es aus Angst gefiigig wird. Der-
weil aber nun die Bourgeoisie jammert und auf die Marxisten
schlagt, versucht die Industrie die Leute, auf die es ankommt,
die Arbeiter, mit der Technik und der Maschine zu versohnen.
t)ber diese Methode, die weit kliiger, moderner und niitzlicher
als die Spenglersche ist, soil spater einmal gesprochen werden.
Wir haben die Arbeit Spenglers nicht in der ublichen
Weise besprochen, weil das die Miihe nicht gelohnt hatte.
Wichtig erschien uns, die irrige Vorstellung von der*absoluten
Technik richtig zu stellen, die leider weit verbreitet ist und
viel zur politischen Verwirrung beitragt. Zur Charakteristik
Spenglers aber sei das folgende mitgeteilt: auf Seite 85 seines
Biichleins schreibt Spengler iiber den Unterschied in den Loh-
nen der weiBen und der farbigen Arbeiter, macht aber nun
hinter farbigen ein Sternchen und sagt in einer FuBnote: ,,Ich
verstehe unter Farbigen auch die Bewohner RuBlands und
eines Teils von Siidt- und Sudosteuropa." Das ist doch eine
schone Behauptung fiir einen Philosophen. Die Russen sind
Neger! Fertig. Aber die Russen sind keine Neger und da
nicht anzunehmen ist, daB sie sich iiber Spengler griin und
gelb argern, werden sie so weiB bleiben wie — Herr Spengler.
Vielleicht wird der dann rot vor Zorn — womit er allerdings
abermals die gleiche Farbe triige wie die Russen! Wie ist dem
Mann bloB zu helfen?
372
Der Priem von Theobald Tiger
Alle Rechte vorbehalten
Unter vielem S puck en zu singen
ps haben die Matrosen
" wohl auf dem blauen Meer
nicht nur die weiten Hosen — -
sie haben noch viel mehr.
Denn gibt es nichts zu rauchen,
weifit du, was sie da brauchen
bei Nacht und auch bei Tag?
Den Kautabak — den Kautabak —
ein kleines Stiickchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus Kiel.
Es heulen die Sirenen,
Die Braut in Tranen schwimmt.
Es schwimmt die Braut in Tranen,
wenn der Seemann Abschied nimmt.
Sie drucken sich die Hande; '
dann gibt sie ihm am Ende
verschamt ein kleines Pack
mit Kautabak — mit Kautabak —
mit nem halben Pfiindchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus Kiel.
Da hinten liegt sein Kutter,
da hinten liegt sein Kahn.
Sie sagt, sie fuhlt sich Mutter,
er sieht sie blode an.
Er lafit sich von ihr kosen,
die Hande in den Hosen,
dann nimmt er einen Schlag
vom Kautabak — vom Kautabak —
ein kleines Stiickchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus Kiel.
Das Schiff fahrt in den Hafen
wohl in Batavia.
Mit den Madchen muB man schlafen,
wozu sind sie sonst daf
Die er geliebkost hatte,
liegt nackt auf einer Matte;
er holt aus seinem Pack
den Kautabak — den Kautabak —
ein kleines Stiickchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus KieL
Das Schiff tat nicht versaufen,
in Hamburg legt es an.
Marie muBt sich verkaufen
nachts auf der Reeperbahn,
Nun spiirt der arme Junge
grad unter seiner Zunge
den bitteren Geschmack
vom Kautabak — vom Kautabak —
vom kl einen Stiickchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus KieL
373
Wie dem Seemann mit den Frauen,
uns gehts genau wie ihm.
Das Leben muB man kauen,
das Dasein ist ein Priem.
Es schmeckt dem Knecht und Ritter
mal siifi und auch mal bitter
Spuck ihn aus, wer ihn nicbt mag!
Den Kautabak — den Kautabak —
das kleine Stiickchen Kautabak
von der Firma Eckenbrecht
aus Kiel!
D
Das Zimtner im Innenministerium
von Leo Hirsch
icse Gcschichtc ist jahrelang geheim gehalten worden, und
die Priiderie und die Humorlosigkeit haben sie auch noch
unterdriickt, als sic langst cin brauchbares Argument gewor-
den war. Ware sie erf und en, so ware «ie doch so gut erfun-
den, daB sie bekannt zu werden verdiente wie eine von Gogol,
aber das Wort des alten Herrn, der sie erzahlt hat, die Wtirde
seiner Erscheinung, sein weiBes Haar und der beinahe schiich-
terne Ernst seiner Stimme, biirgen ftir die Wahrheit.
Also, der alte Herr war knapp nach der Oktoberrevolu-
tion im russischen Innenministerium beschaftigt. Man hatte
das alte Gebaude beibehalten, und die neuen Herren wuBten
noch nicht recht Bescheid darin. Der alte Herr entdeckte da
mit einem andern Beamten ein verschlossenes Zammer, das
umso geheimnisvoller wurde, als der Schlussel dazu fehlte-
Man brach die Tur auf und — ,,Es war das merkwiirdigste
Zimmer, das ich je gesehen habe." Aber vielleicht war es gar
nicht so merkwurdig, denn es stand nichts darin als eine Ar-
mee von Regalen.
Man weiB, wie Regale in Bureaus von Behorden auszu-
sehen pflegen; auch in diesem war die Ordnung peinlich. Je-
des Fach war mit Aktenbogen gefiillt, und jeder von den
Hunderten oder Tausenden Aktenbogen war mit Buchstaben
gefiillt. „Und nun kommt das Merkwiirdiget1* sagte der alte
Herr, ,,auf jedem, abet auch auf jedem Blatte stand, immer
wieder und auf jedem Bogen von einer andern Handschrift
geschrieben, der gleiche Satz . . ."
Hier kam der schiichterne Ernst des wiirdigen Erzahlers
zum Ausdruck, und der Zuhorer, davon nur neugieriger, fragte:
welcher Satz? Der alte Herr stockte. Er schien sich zu ge-
nieren oder nicht die rechten Worte zu linden. „Wissen Sie
— verstehen Sie russisch? Also . , /' Er sagte schlieBHch das
Unaussprechliche: „Vaterchen soil mich am A../' Entschul-
digung. Also dieser Satz stand unzahlige Male auf unzahligen
Aktenbogen in den Regalen.
,,Sie miissen wissen, daB mit Vaterchen der Zar gemeint
war." Nun, die neuen Herren interessierten sxch fur die Ge-
schichte dieser seltsamen Handschriften-Sammlung, und es ge-
lang ihrer Findigkeit, Einiges davon in Erfahrung zu bringen..
374
Bcvor er dariiber berichtete, gab der alte Herr aber noch
AufschluB iiber die friihern Bauverhaltnisse in den russischen
GroBstadten, iiber die enormen Mietskasernen-Blocks, die
f,Prospekte"( die groBe Hofe und darauf einen Gemeinschafts-
(Entschuldigung, sagte der alte Herr) Abort hatten.
Was nun die Geschichte jener Aktenbogen betrifft, so
hatte sie sich grade noch gewissermaBen auf dem Vulkan der
stillen Friedenszeit abgespielt. Ein Polizist war auf demHeim-
weg in einem Hof eingekehrt und hatte innen an der Tiir des
besagten — Entschuldigung, sagte der alte Herr — in groBen
Buchstaben angekreidet gefunden jenen majestatsbeleidigenden
Satz: ./Vaterchen soil mich am
Der Pflichtfreudigkeit des Polizisten war kein Vorwurf zu
machen. Er hatte sich stracks erhoben und war zu seinem
Vorgesetzten geeilt Der Vorgesetzte hielt die Angabe fur
einen Scherz, bis er sich selbst von der Wahrheit iiberzeugt
hatte. Die Sache ging den Instanzenweg, und ein hohererBe-
amter des Innenministeriums iibernahm es, vielieicht aus Ehr-
furcht vor dem Herrscher vielieicht auch nur aus Ehrgeiz, die
schmutzige Affare ins Reine zu bringen.
Dieser Herr, so etwas wie ein forscher Ministerialdirigent,
bildete ein Rollkommando oder einen StoBtrupp, lieB den Pro-
spekt umstellen und abriegeln. Nach seiner Meinung handelte
es sich darum, festzustellen, wer jenen majestatsschandenden
Satz an die -Tiir geschrieben hatte. Und der hohe Beamte
zweifelte in seiner kriminalistischen Weisheit nicht daran, daB
ein Einwohner des Blocks der Schuldige sein muBte, und sei-
nem Scharfsinn blieb lediglich uberlassen herauszufinden,
welcher.
Das geschah dann in der Formf daB alle Einwohner ge-
zwungen wurden, den so frechen wie nonchalant en Satz an
/ der majestatsbeleidigenden Tiir des unmajestatischen Ortes
viele Male auf Aktenbogen nachzuschreiben. Wie eng es in
diesem groBem Block gewesen und wie wenige Analphabeten
es da gegeben haben muBte, konnte man an der Fiille der be-
schriebenen Bogen erkennen.
Welche padagogische Wirkung mit dieser erzwungenen
Schreibiibung beabsichtigt und ob iiberhaupt eine vorgesehen
war, ist nicht mehr zu erfahren. Ebensowenig war es festzu-
stellen, ob der Eifer des hohern Beamten durch einen Orden
und durch welchen oder nur durch Erfolg belohnt wurde, ob
man den Schuldigen gefunden oder nur einen Siindenbock,
vielieicht den AUerarmsten herausgegriffen hat, welche Strafe
ihn ereilt, ob er nach Sibirien geschickt und dann vielieicht
gar zum Soldaten begnadigt worden ist.
„Es scheint," meinte der alte Herr, f,daB die Sache Ende
Juli 1914 passiert ist. Jed enf alls kam der Krieg dazwischen.
Vaterchen hat also den Krieg begonnen mit einem Innenmini-
sterium, das zur guten Vorbedeutung ein Zimmer hatte, ganz
erfiillt von dem &atz: .Vaterchen soil mich . . .' Ich glaubte,
Ihnen diese Geschichte erzahlen zu diirfen, weil sie mir mit ihrer
— erlauben Sie einem Materialisten diesen Ausdruck — ge-
spenstigen Kuriositat einen Hinweis auf die damaligen Verhalt-
nisse bei uns zu geben scheint. Entschuldigung."
375
Flucht aus der Sozialisierang BemhaVd citron
A uf der Regierung Bruning lastct der schwere Verdacht,
"^ Banken sozialisiert zu haben. Zwar hat sic, s.chon beteuert,
daB ihr nichts ferner liegt, als den privatwirtschaftlichen Cha-
rakter der Banken aazutasten, aber jetzt muB sie. mit Tat en
beweisen, da8 ihr nur eine andre Form der Sozialisierung vor-
geschwebt hat: die Sozialisierung derVerluste. Das Reich hat
durch drei MaOnahmen Subventionen fiir die Banken bereit-
gestellt: durch die Garantie zugunsten der Danat-Bank, durch
die Zeichnung von 300 Millionen Dresdner Bank-Vorzugsaktien
und durch die Griindung der Akzept- und Garantiebank, de-
ren Aufgabe es ist, den Banken in ihrer Gesamtheit Wechsel-
kredit zur Verfiigung zu stellen,
Niemand in Deutschland hat je bezweifelt, daB der Staat
am 14. Juli eingreifen muBte, um eine Katastrophe zu ver-
hindern. Die Verfechter des absoluten Kapitalismus, die
Macchiavells unsrer Wirtschaft, erklaren, daB der Bankkrach
ein Naturereignis darstellt und der Staat zu bedingungsloser
Hilfe verpflichtet war. Man konnte hier als Prazedenzfall
die Ruhrentschadigung der rheinisch-westfalischen Industrie
anfiihren. Danials erhob sich nach Bekanntwerden dieser
Subventionen ein Sturm der Entrustung, der Reichstag setzte
einen UntersuchungsausschuB ein, und die Zusammenhange
wurden restlos geklart. Im Gegensatz zu den Ruhrschaden
steht hier unzweifelhaft fest, daB die Banken selbst zum gfoB-
ten Teil die Schuld an ihrem Ungltick tragen; was ihnen dar-
iiber hinaus noch zugestoBen ist, muB als unvermeidliches
Risiko angesehen werden, dessen Anerkennung einer der
Grundpfeiler des kapitalistischen Systems ist. Wenn also die
Danat-Bank und die Dresdner Bank saniert wurden, so ge-
schah dies nicht pour les beaux yeux der Herren Goldschmidt
und Gutmann, sondern zum Schutze der Einleger, der deut-
schen Wirtschaft und des ganzen deutschen Volkes. So ver-
stand es sich von selbst, daB die Majoritatsbesitzer der Danat-
Bank, Goldschmidt und seine Freunde, die Hilfe des Reiches
mit ihrem Aktienbesitz bezahlen muBten. Das Reich war
plotzlich Hauptaktionar einer deutschen GroBbank geworden.
Aber *da sich die Regierung um jeden Preis von der ungewoll-
ten Sozialisierung freimachen wollte, hatte sie nichts Eiligeres
zu tun, als die Beteiligung abzustofien. Der erzielte Kauf-
preis (125 Prozent) war nicht niedrig, also scheinbar ein gutes
Geschaft fiir den Fiskus. Leider hat die Rechnung ein Loch,
da der Verkauf dieses Pakets an die Industrie nicht in bar,
sondern auf Stottern erfolgt ist. So wurde reinlich geschie-
den zwischen der Sozialisierung der Verluste, die in Form der
Reichsgarantie aufrecht erhalten bleibt, und der Sozialisie-
rung der Gewinne, die durch Ubertragung an die Industrie
aufgehoben wurde, Wiederholt ist von der Industrie erklart
worden, daB sie nicht Schuldner, sondern Glaubiger der Danat-
Bank sei. Selbst wenn man dieser Behauptung Glauben schen-
ken soil, bleibt noch so viel zu klaren, daB nach einem parla-
mentarischen UntersuchtingsausschuB gerufen werden muB,
376
Aber Verzeihung, wir habcn ja kcin Parlament, also miis-
sen wir uns mit jenen Auskiinften bescheiden, die der General-
versammlung, dem Parlament der Aktionare, erteilt werden. Es
ware nur zu wunschen, dafl von Anteilseignern der Danat-
Bank auf die Einberufung einer auBerordentlichen General-
versammlung . gedrangt wird. Diesem Verlangen konnte die
Tatsache zugrunde Iiegen, daB die Majoritat der Kommandit-
anteile aus dem Besitz der Bank, in dem sie sich unzweifel-
haft, wenngleich nur fur wenige Tage, befand, an die Indu-
strie verkauft worden ist. Derartige Blockverkaufe bedurfen
der Genehmigung durch die Generalversammlung. Natiirlich
fiirchtet man jede Art der Diskussion und versucht, dieser
aktienrechtlichen Forderung aus dem Wege zu gehen.
Auch die Dresdner Bank diirfte dem Reich wieder ab-
genommen werden. Der We»g aus der Sozialisierung fiihrt in
diesem Falle iiber die Commerz- und Privatbank. Die ver-
schiedensten Geriichte von einer Verschmelzung der Dresdner
Bank und der Commerzbank sind aufgetaucht, nachdem ein
Aufsichtsrat- und ein Vorstandsmitglied der Commerzbank in
den Aufsichtsrat, respektive in den Vorstand der Dresdner
Bank eingetreten ist In friihern Jahren hatte die Commerz-
bank etwas darum gegeben, eine „D"-Bank zu sein; heute ran-
giert sie nicht nur urn einen Buchstaben vor den iibrigen
GroBbanken. Die vorsichtigen, zuriickhaltenden Herren, die
sich nicht iiber den Durchschnitt tiichtiger Bankdirektoren er-
hoben haben, genieBen mit einem Male den Ruf ungeheurer
Klugheit und Weitsicht, sind die Ratgeber der Regierung und
ihre Vertrauten in flen wichtigsten Gremien geworden. Jetzt
scheint auch der Plan aufzutauchen, mindestens einen Teil der
Dresdner Bank-Vorzugsaktien gegen Stundung des Gegenwer-
tes (Vergleiche die Danat-Transaktion) an die Commerzbank zu
iibertragen. Die zweite Sozialisierung wird auf diese Weise
riickgangig .gemacht werden, ohne daB das Risiko des Reiches
erlischt,
Der dritte Eingriff des Staates, der zwar nur moralischer,
aber nicht minder schwerwiegender Natur gewesen ist, bestand
in dem Plan einer Bankenkontrolle. Zum ersten Mai in diesen
Krisentagen wurde der Gedanke des Bankenaufsichtsamtes in
Nummer 29 der ,Weltbuhne' propagiert. Berufen zur Unter-
suchung iiber die DurchHihrbarkeit der Bankenkontrolle ist
das Neuner-Komitee der Banksachverstandigen. Einer dieser
ehrwurdigen Manner, Professor Weber, schrieb vor dreifiig
Jahren in seinem Buche MKredit- und Spekulationsbanken":
„. . . andrerseits ist es jedoch eine offenkundige Tatsache, dafi
die Bankenkontrolle, wie sie zurzeit in Deutschland durch den Auf-
sichtsrat ausgeubt wird, in der groBen Mehrzahl der Falle fast alles
zu wiinschen ubrig IaBt. Die grofie Anzahl von Aufsichtsratstellen,
die haufig ein und dieselbe Person einnimmt, das Vettern- und Sip-
penwesen, welches bei der Besetzung der Posten eine grofie Rolle
spielt, die Sucht, mit glanzenden Namen zu blenden, ohne Riicksicht
darauf, ob die Trager dieser Namen auch nur soviel vom Bank-
geschafte verstehen wie der jtingste Gehilfe, das und manches andre
hat dazu gefuhrt, daB der Aufsichtsrat heute meist nur noch eine
Karikatur von dem ist, was dem Gesetzgeber vorschwebte, als er
das Institut schaffte."
377
Hoffentlich hat Weber diese Satze, mit denen er die Unf ahig-
keit des Aufsichtsrates zu tatsachlicher Aufsicht anprangerte,
im Laufe der Jahrzehnte nicht wieder vergessen; hoffentlich
aber wissen die Banksachverstandigen iiberhaupt noch, zu wel-
chem Zwecke sie zusammenberufen sind. Die Schweiz, die
von viel geringern Zusammenbriichen getroffen wurde aLs
Deutschland, hat rascher die Konsequenzen gezogen. Die
Bankkontrolle wird dort der Eidgenossischen Bank, als dem
Zentralnoteninstitut, iibertragen. Aber in Deutschland wird
man am Ende noch Mittel und Wege finden, urn auch diese
unerwiinschte Einmiscbung in die Angelegenheiten der Privat-
wirtschaft auszu&chalten. Dann bleibt dem Reiche von der
Bankensozialisierung nichts andres als die Obernahme riskanter
Biirgschaften und das stolze Gefiihl, einige Wochen in der
BehrenstraBe geherrscht zu haben. Brtining aber ist von dem
entsetzlichen Verdacht befreit, der er«te sozialistische Kanzler
gewesen zu sein.
Kleine Nachrictlten von Kaspar Hauser
r\er geschlagene Wcltmeister Sharkey hat einen Ruf als Boxtehr-
*~^ mcister fiir Kansas City angenommen.
Der Chauffeur Theodor Schultze, dem nach einem Zusammen-
stofi der Fahrschein entzogen wurde, hat eine Fahrschule eroffnet,
Doktor Rudolf Hilferding ist dem KontrollausschuB der Banken
beigetreten.
&
Die Abteilung I a des berliner Polizeiprasidiums verhaftete ge-
stern fiinf Kommunisten, die im Verdacht stehnf mit Waffenfunden
im Zusammenhang zu stehn, von denen als sicher gelten darf, da 6 sie
im Benehmen mit Personen gemacht wurden, die im Verdacht stehn,
im Verdacht zu stehn. Ein Verfahren wegen Hochverrats ist dem-
gemaB im Gange.
Wie wir horen, sind Verhandlungen im Gange, die eine Kredit-
gewahrung an die Erde seitens des Planeten Mars zum Inhalt haben,
Bisher hat der Placet als Antwort auf alle Anfragen nur seinen Na-
men gefunkt.
Ein bekannter berliner Dramatiker hat sich in einem Theater er-
hangt, weil seine Monats-Tantiemen wohl fiir einen Stehplatz aus-
reichten, nicht aber, auch noch Theaterzettel und Garderobengebiihr zu
bezahlen, Der Dichter, der als ausschweifend gait, hat sich in der
Damentoilette erhangt. Der betreffenden Toilettenfrau ist gekundigt
worden.
*
Reichstagsprasident Loebe weilte uber das Wochenende zu Be-
such bei Bekannten, in deren Hause Feuer ausbrach. Als die Feuer-
wehr anrtickte, stand Reichstagsprasident Loebe bereits auf einem
Stuhl und hieit eine feurige Ansprache, Er wurde geloscht.
*
Die Filmbranche hat beschlossen, Ehrenworter mit Gummizug in
den Handel zu bringen. Die ersten zweitausend Stuck sind bereits
vergriffen.
378
In Genf gibt es einen Volkerbund. >
*
In Reinickendorf ist eine riesige Internationale Kommunisten-
Zentrale ausgehoben worden. Ihre Faden erstreckten sich von Rei-
nickendorf bis nach Peking. Eine genaue Durchsuchung der Papier-
korbe hat ergeben, dafl in der Zentrale aufierordentlich gefahrliches
Stullenpapier
verwandt wurde. Die Polizei ist weiterem Stullenpapier auf der Spur.
Die obersten Sportbehorden alter Sportarten haben sich zu einem
Reichskartell zusammengeschlossen. Wie wir horen, beabsichtigt das
Kartell, die Ausubung von Sport bis auf weiteres ganzlich zu ver-
bieten, damit die Behorden ungehinderter arbeiten konnen.
Gegen das Deutsche Reichspatent Nummer 678 456 (Mannerhosen
mit ReifiverschluB) hat der Verband der Deutschen Lichtspieltheater-
Besitzer Protest eingelegt, weil efr eine Storung seiner Vorstel-
lungen befiirchtet.
Da das deutsche Volk seinen Reichstag so sehr entbehrt, hat
sich die Scala entschlossen, ihn zu engagieren: er tritt also allabend-
lich dort auf. Es wird gebeten, den Reichstag wahrend seiner Ar-
beit nicht zu storen, das besorgt' er selber.
Das Reichstagsgebaude ist nunmehr ganz und gar von dem Bu-
reau des Geheimrats Galle belegt worden, der sich dort selber ver-
waltet,
Reichskanzler a. D. Cuno hat sich bereiterklart, seine Pension
von 18 000 Mark in der von ihm geschaffenen Papiermark entgegen-
zunehmen.
Die Ortsgruppe der berliner Bardamen hat ein Stillhalte-Konsor-
tium gebildet,
Der Chefredakteur einer groOen siiddeutschen Zeitung hat erklart,
daB sich sein Blatt in der Beurteilung der Krise geirrt habe; doch.
hoffen die Arzte, den Kranken durchbringen zu konnen.
Lord Breitscheid ist auch von der Ufa als Edelkomparse ver-
pflichtet worden.
*
Das Reichsgericht hat den Plan, eine Studienkommission nach
Italien zum Studium der Kamorra und der Maffia zu entsenden, als
unnotig abgelehnt.
*
Wie wir horen, ist der Vorschlag, kimftighin auf Botschafter-
posten nur noch Burgerliche und in die Schutzengraben nur noch
Adlige zu schicken, wieder zuriickgezogen worden. Es bleibt bei
der alten Verteilung.
379
Bemerkungen
Montagu Norman
fa einem Aufsatz iiber die selt-
■ same Macht des Goldes macht e
Sir Norman Angell die Bemer-
kung, dafi die Rolle des Gold-
stiicks in unsrer modernen und
scheinbar prosaischen Welt eben-
so verborgen und ebenso geheim-
nisvoll vie die einer Tempel-
reliquie ist. Aber um wieviel ge-
heimnisvoller und verborgener ist
das Leben der Manner, die iiber
diese Goldstticke zu befehlen ha-
ben. Sind nicht Figuren wie Basil
Zaharof und Ivar Kreuger scbon
jetzt, wahrend sie nocb leben,
gradezu mythische Gestalten?
Und der Right Honourable Mon-
tagu Collet Norman, der all-
-machtige Gouverneur der Bank
von England? Wer kennt ihn?
Bei alien wichtigen Konferenzen,
an denen England beteiligt ist,
-stent stets im Hintergrund und
fur die meisten unsichtbar der
Herr der „01d Lady of Thread-
needle Street", wie der Volks-
mund die Staatsbank zu bezeich-
men pf legt. Betrachten wir die
vielen Photos der internationalen
Konferenzen, so werden wir eine
Unmenge bekannter und ebenso
vieler unbekannter Politiker fest-
stellen, aber die hagere Gestalt
und den intelligenten schmalen
Kopf mit den lebhaften Augen
und dem kleinen grauen Spitz -
bart werden wir nicht finden.
Montagu Norman liebt nicht die
Cffentlichkeit und auch nicht die
Photographen. Er zieht das
-Mysterium, den Schatten, Verab-
redungen in der Nacht vor. Sein
Kabinett in der Bank von Eng-
land ist unzuganglich wie eine
Festung; es ist schwerer, zum
Gouverneur der Bank als zum
Konig von England zu gelangen.
Tlnd die Macht, die er ausdbt; ist
nicht minder grofi, wie das Ge-
heimnis, das ihn umgibt. Sie ist
grofier als die der Regierungen,
deren Berater er in alien wirt-
schaftlichen Fragen ist. Und je
mehr grade diese Fragen in der
Politik in den Vordergrund
rucken, um so mehr wachst die
380
Macht und der EinfluB Montagu
Normans.
Als 1922 Baldwin nach New
York ging, um wegen der inter-
allUertenSchulden zu verhandeln,
geschah es unter dem Patronat
des ihn begleitenden Norman. Als
Snow den im Haag mit seiner un-
beugsamen Haltung den Unwillen
Frankreichs heraufbeschwor,
folgte er nur den Anweisungen
des Konigs der City. Und als
unlangst MacDonald und Hender-
son verkundeten, dafi Deutschland
geholfen werden miisse, war es
wiederum der Herr der „01d Lady
of Threadneedle Street", der da-
zu den Anstofi gab.
Ein Ministerium nach dem
andern kommt und geht, und sie
alle mussen Angriffe und Kritiken
iiber sich ergehen lassen, aber der
Gouverneur der Bank von Eng-
land bleibt und ist niemandem
verantwortlich, nur etwa formal
dem Konig, in dessen Geheimen
Rat er 1923 berufen wurde.
Diese allmachtige Personlich-
keit, dieser Nebenkonig in einem
Konigreich — eine seltsame Tat-
sache — ist fast unbekannt. Er
konnte leicht einen belebten Platz
Londons iiberqueren ohne erkannt
zu werden. Er hat auch sozu-
sagen keine Vergangenheit,
Er wurde 1871 geboren. Nach
der Schulzeit in Eton studiert er
im Kings-College in Cambridge
und wird dann Soldat im Bed-
fordshire-Regiment. Von 1900 bis
1901 macht er den Burenkrieg
mit. Plotzlich gibt er die mili-
tarische Laufbahn auf und widmet
sich ganz dem Bankwesen. Fi-
nanzfragen interessieren ihn der-
mafien, dafi er auch wahrend des
Krieges im Dienste dieser Waffe
bleibt. Seine finanziellen Fahig-
keiten, verbunden mit einer
aufierordentlichen diplomatischen
Veranlagung, werden von den
Leitern der Bank von England an-
erkannt. 1918 wird Norman zum
Vize-Gouverneur der Bank er-
nannt, ; um bereits 1920 zum
ersten Gouverneur der „01d
Lady" aufzurucken.
Auflerlich sieht Norman viel
eher einem Kunstler als einem
Geschaftsmenschen ahnlich. Ver-
starkt wird dieser Eindruck durch
den grauen Velvethut, von dem
er unzertrennlich scheint. Sein
ganzes Wesen druckt Verschlos-
senheit und Zuriickhaliung aus;
er spricht wenig, und selten in
der Offentlichkeit. Im iibrigen ist
er auch Icein guter Redner. Sei-
nen Reden mangelt es im Auf-
bau und an der folgerichtigen
Entwicklung des Themas. Da-
gegen besitzt er die seltene Gabe
der Uberredung, eine aufier-
ordentliche Gewandtheit, insbe-
sondere ist er ein Meister in der
Kunst verwickelter Verhand-
lungen.
Von hoher magerer Statur, mit
seinem intelligenten Gesichtf den
durchdringenden Augen, mit dem
forschenden und etwas spotti-
schen Blick, mit einem ewig ge-
heimnisvoll lachelnden Mund, mit
seinem kleinen grauen Spitzbart,
den leichtergrauten sorgf al tig
nach hinten gekammten Haaren,
die eine von vier Querfalten
durchzogene Stirn umrahmen, er-
weckt er den Eindruck eines Ma-
giers . . . Und er ist es wohl auch.
Woldemar Klein
Der musikalische Infinltiv
TJnter den Dingen, die S. J,
*"^ aus alien Aufsatzen heraus-
strich, wenn er sie „ins Deutsche
iibersetzte", war eines, das er in-
briinstig hafite, und das er ver-
nichtete, wo immer er es antraf.
Das 'war der substantivierte In-
finitiv. „Das Musizieren" pflegte
er immer in Satze aufzulosen
oder durch ein Substantiv zu er-
setzen — und er hatte recht.
Es gibt nun eine Gattung von
Menschen , . . also, Menschen ist
iibeftrieben, die schwimmen und
platschern in substantivierten
Infinitiven. Das sind die ge-
bildeten Kunstschriftsteller, und
zwar tun sie es allemal gern
dann, wenn sie auf die Musik zu
sprechen kommen. Da wimmelt
es nur so von diesen falschen
Hauptwortern. „Es ist ein Bluhen
und Gliihen in dieser Musik../*,
und wenn der einfache Infinitiv
nicht langt, dann backen sie sich
einen*. „Dieses Von-vorn-herein-
alles-noch-einmal-denken" — ei,
das ist schon! Von dem „Wollen"
wollen wir schon gar nicht
sprechen; es sind die national en
Politiker, die dieses dicke Wort
dauernd anwenden, als gebe es
nicht jt.Wille", nicht (,Absicht",
nicht „Trieb" — es gibt nur noch
„ das Wollen". Das klingt dann so:
,,Er darf nicht dutch Verharren
im Gewor den- Sein das Sichent-
wickeln des Volkswerdens in fal-
schem Wollen zu einem Stecken-
bleiben verfuhren wollen". Wohl
bekomms.
Auch die Tanzkritiker stelzen
gern auf diesen Infinitiven ein-
her, aber diese Menagerie hat ja
von jeher eine besondere Sprache
zur Rechtfertigung ihres So-Seins
und Do-Seins gebraucht.
Mich diinkt, als sei es schon
einmal besser mit der deutschen
Sprache gewesen als heute, wo
jeder Hitlerknabe das Wort
deutsch im Maul fiihrt. Zur Zeit
lesen wir: nachgemachtes Be-
amtendeutsch; nachgemachtes ge-
hobenes Deutsch, so, wie
ist glanzend beim GenuB der einzlgartigen
ABDULLA Nr. 16, o/M. u. Gold, Stuck 10 Pf.
Abdu-lla-Cig arette n gfcnieSen We.rt'fUfl
Abdulla & Co. • Kalro / London / Berlin
381
friiher die Oberlehrer, wenn sie
von den" alten Germanen spra-
chen, einen BaB gehen lieften;
nachgemachtes Philosophen-
deutsch solcher falscher Philo-
sopher*, die da im Gehirn Siilze
haben, und der substantivierte
Infinitiv ist eines der schlimmsten
Kennzeichen dieser vertrackten
Stile. Man kann ihn manchmal
anwenden : namlich dann, wenn
eine Tatigkeit zu einem abstrak-
ten Begriff werden soil. Eine
Untersuchung uber das Schrei-
ben im sechsten Lebensjahr, das
gibt es; das Wollen einer Partei
aber gibt esMiicht. Im ubrigen sollte
man sich bei alledem nicht auf
Vater Hegel und Onkel Schelling
beziehen, deren Deutsch keinem
zur Nachahmung dienen kann.
Ich sehe, wie ein Schuler den
Finger hochhebt , , , Nein, er will
nicht hinaus, im Gegenteil. Er
will uns klar machen, daft grade
diese zum Hauptwort erhobenen
Verbalformen wie keine andre
Form es ermoglichten, uns durch
ein Sich-mitten-Hinein-Stellen in
die dynamische Statik des Die-
. Begriff e-in-ein-Wort-Verwandelns
. . . Herr Schuler, ich mochte mal
rausgehn.
Peter Panter
Ein Volk klagt anl
I7unfzig Briefe iiber den Kriegf
* erschienen bei Heft & Co.,
Wien, ein diinnes Bandchen von
einigen sechzig Seiten, und darin
das ganze Elend eines Volkes,
das durch den Krieg ging. Man
spurt, wie schwer es manchem
dieser Arbeiter, Handwerker,
Kaufleute, Beamten und Haus-
frauen geworden ist, zu Papier zu
bringen, was sie da drauften oder
im heimatlichen Schiitzengraben
erlebt haben. Es sind dokumen-
tarische Erganzungen zu den
besten Kriegsbuchern. Alles wird
durch diese Briefe bestatigt: die
schlotternde Angst der angeb-
lichen Helden vor dem Tode, die
Sinnlosigkeit, auf verlorenem
Posten ausharren zu mussen, die
Lust von Vorgesetzten am Qua-
len, die vielfaltigen Grau-
samkeiten des Krieges, der
Gasangriff, der Erstickungstod in
zerstorten und verschtitteten Un-
terstanden. Und in der Heimat?
Da mussen Frauen, die in den
Munitionsfabriken arbeiten, den
Aufsehern zu Willen sein,
damit ihr Leben und ihre Ar-
beit wenigstens einigermaften
ertraglich ist. Nicht anders erging
es jenen, die als weibliche Hilfs-
krafte in die Etappe gingen: „Je
hotter der Rang des Offiziers,
desto grofier der Saukerl**, Ge-
schlechtskrankheiten und Kinder,
das war die Belohnung fur die
Erfiillung vaterlandischer Pflicht.
Diese funfzig Briefe sind nur
ein kleiner Ausschnitt; er liefte
sich beliebig erweitern, Und hin-
ter diesen Worten steckt der
Wille, nicht mehr mitzumachen,
wenn es wieder losgeht. Wir
wissen, wie wenig fiir den Ernst-
fall ein solches Bekenntnis be-
deutet; wir wissen, daft es dar-
auf ankommt, die Abwehr plan-
mafiig zu organisieren; wir wissen
auch, und einer der Briefe be-
statigt es, wie wenig die Jugend
durch solche Erlebnisschilderun^
gen zu bekehren ist, — trotzdem
sollte man diese Stimmen , und
Stimmungen nicht unterschatzen.
Die Sammlung hat schon dadurch
ihre Berechtigung erwiesen, daft
sie uns Material an die Hand
gibt, mit dem man jene wider-
B6 Yin R*
stent Beit 1913 in der Oeffentlichkeit. Seine Schrif ten. haben recht auf-
merksame Leser gefunden, die eine Namensnennung fttr iibernussig halten,
wenn sie die Formulierungen Bo Yin R&'s ihren eigenen zufiigen. Wer
hier klar sehen lernen will, lese die Originalschriften, die so anregend zu
wirken verm5chten Einfuhnmgsschrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin
kostenlos in jeder Buchhandlung zu beziehen sowie vom Verlag: Kober'sche
Verlagsbucbhandlung, Basel und Leipzig. Gegrundet 1816.
382
legen kann, die den Kricjjsbucher-
autoren vorwerfen, sie hatten ein
Zerrbild vom Soldaten entworfen.
Hier sind Dokumente, die den
nationalistischen Kriegsverherr-
lichern den Phrasenmund stopfen
konnen. Diese Menschen hier
haben „gemordet( nur urn nicht
selbst gemordet zu werden",
denn nicht Begeisterung fur
„Gott, Kaiser, Vaterland" fuhrte
ihnen die Waffe, sondern nur die
nackte Existenzangst.
Walther Karsch
Hans Albers
W/er weifi, ob ein Volksent-
" scheid iiber den Bau von
Panzerkreuzern fur Filmzwecke
nicht positiv ausgehen wiirde. Je-
denfalls bewilligt die Ufa, die
doch des Volkes Stimme mittels
Verstarkeranlagen abhort, Rate
auf Rate. Kaum haben Harry
Liedtke und Lilian Harvey ab-
gemustert, da treten Hans Albers
und Anna Sten in Marineuniform
auf die Planken, die neuerdings
die Welt bedeuten. Die Militar-
operette bekennt sich zu dem
Grundsatz : Unsre Zukunf t liegt
auf dem Wasser. Denn was den
Landkrieg anlangt, so hat es sich
herumgesprochen, dafi Tanks,
ferngesteuerte Bombenttugzeuge
und Flammenwerfer keine pas-
sende Dekoration fur ein Vergnu-
gen mit Damen abgeben und dafi
sich Gasmasken als neckische Ko-
stiimierung fur hochbezahlte Blon-
dinen nicht eignen. Hingegen die
Marineschirmmutze harmoniert in
glucklicher Weise, mit den neu-
sten Intentionen der Putzmache-
rinnen, und so sind es die zumeist
im doppelten Sinne des Wortes
blauen Jungen, fur die heute das
Herz der Filmkaufleute schlagt.
Immer wieder verzeichnet man
mit Schrecken, dafi wir ins Leere
fliehen miissen, wenn wir uns
amtisieren wollen, diesmal in K6-
nigin Yolas Miniaturmonarchie
Pontenero, die doch wohl fur die
Spitzehproduktion der Ufa ein
etwas diirftiges Invasionsobjekt
abgibt, Sieht man davon ab,
so ist der Film „Bomben aufi
Monte Carlo" (Hanns Schwarz,
Hans Muller, Franz Schulz) recht
lustig. Produktionsleitung: Rabbi
Ben Akiba — aber es prasen-
tiert sich eine Serie vergnugter
Schauspieler, und einige Szenen
erinnern an gute amerikanische
Grotesken. Wenn man nur die
wundervolle Anna Sten nicht so
mifihandelt hatte. Auf der ober-
sten Kommandobrucke, ein bifi-
chen hoch iiber dem Regisseur:
Hans Albers.
Das Gesicht dieses Hans Al-
bers ist den Berlinern seit lan-
gem bekannt, wenn auch erst seit
kurzer Zeit lieb, denn viele Jahre
lang hat man auf dem Theater
diesen kraftvollen, burschikosen
Volksschauspieler den siifi lichen
Liebhaber machen lassen. Sein
Gesicht ist von einem Sieges-
allee-Konditor im spathelleni-
stischen Stil entworfen, aber es
wird aufregend durch ein paar
Raubvogelaugen, die in solchet
Weifiglut brennen, dafi man sich
wundert, wie die Feuerpolizei das
in Lichtspieltheatern zulafit Ge-
wifi, dies Feuer stammt nicht von
Prometheus, es ist mehr inner-
sekretorischer Natur, aber es
warmt dennoch bescheidene wie
anspruchsvolle Seelen. Das macht,
in diesem blendend scharfsich-
ttgen Blick liegt zugleich eine Art
verruckter Angst vor dem eignen
Temperament, eine Art Schwache
gegeniiber der eignen Starke, und
das versohnt mit so viel Musk ein.
Denn wahrend wir vom Gesicht
des Hans Albers reden, sind die
Blicke der Damen auf seinen,
Oberkorper gerichtet. Er nimmt
sie alle an seine Brust, und siehe,
es entsteht kein Platzmangel. Er
Opel 12 LfK - der ? orDUdllche Wafien
PREISE AB WERK VON RM 2350 AN.
383
ist Schwergewicht, mag er auch
zu leicht befunden wcrden. Er
bewegt sich nicht zierlich, er lauft
gewichtig vom Stapel, es ist, als
mu£te imtner erst eine Sekt-
flasche an seinem Bug zerschel-
len, bevor er einen Ortswechsel
vornimmt, Mit vorgebeugten
Schultern schiebt er die leichte
Luft wie einen Felsen beiseite,
er betritt den Tanzsaal wie der
Gladiator die Arena und schaut
den Kokotten mutig wie dem
Tode ins Aiige. GewiB, er be-
handelt die Madchen als minder-
jahrige Kaninchen, putzt ihnen
die Nase und stopft sie obne
Umstande ins Bett, aber man
fiihlt, daB er das leichte Leben
schwer nimmt. Und er hat, als
ein unbefangener, frecher Kerl,
die Tonfilmsprache erfunden.
Viele Filmschauspieler sprechen
bis zum heutigen Tage ein feier-
liches Biihnendeutsch, wahrend
Albers schon in einem der aller-
ersten Tonfilme, in f,Die Nacht
gehort tins", etwas^ganz Neues
und sehr Passendes machte: da
sa6 er iiber ein ohnmachtiges
Madchen gebeugt und sprach ihr
gut zu. Aber er sprach keinen
reinen Text, er murmelte Trost-
gerausche, er streute unverstand-
liches Zeug zwischen die Zeilen,
allerlei akustischen Kehricht,
halbe Worter, kleine Seufzer, be-
friedigtes Gebrumm. Denn er
fuhlte, daB es zu den Aufgaben
des Tonfilms gehort, die Sprache
in die ubrige Welt der Laute ein-
zuordnen.
Rudolf Arnheim
Maskuline Begierden
Sie horte die Ausrufe des Ent-
ziickens, sie fuhlte die Blicke
der Bewunderung beinahe korper-
lich durch den dttnnen Stoff ihres
Kleides. Die Sensation des Ge-
sehenwerdens ging ihr auf, Sie
wurde sich bewufit, daB masku-
line Begierden hinter ihr herkni-
sterten,
Ernst Klein,
.Deutsche lllustrierte' t
11. 8. 31.
Casar auf Reisen
Der Duce reist im Lande, das ihn Hebt;
an jedem still verschwiegnen Bruckenbogen
sind — nicht Girlanden, aber Wachen
auf gezogen ;
wie viel Begeisterte es aoui hier gibt!
Ich habe ihn gesehn — in weifier Hose;
die Casarmaske wird nun ziemlich fett —
der Sorgenspeck ! — vor morgens nie zu Bett ! —
wirf du mal Tag und Nacht die SchicksaUlote I
Zwar immerhin : Wenn man an jenen denkt,
der diestra nachzueifern sich bemufiigt:
Vom Hemdenmatzchen bis zum romiscben
GruBigt —
dann bleibt ein Grofiformat, von Gott geschenkt.
Ich habe ihn gesehn — mir war nicht heilig,
doch andern umso mehr, als sie ihn sahn.
Ein Volk von Kindern kann so hubsch hurrahn.
Er hob die Hand — und Wolken
schwanden eilig.
Warum nur so viel Wachen an der Bahn?
Peter Scher
Hinweise der Redaktion
Berlin
Jugendliga fur Menschenrechte. Dienstag 20,00. Monbijouplatz 10: Dr. Kurt Beck spricht.
Weltbuhnenleser. Mittwoch 20.00. Cafe Adler am Donhoffplatz: Das russische Dorf.
Karl Grfinberg.
Hamburg
Weltbuhnenleser. Freitag 20.00.. Timpe, Grindelallee 10— 12: Die L age der Angestellten-
Rundfunk
Dienstag. Konigswusterhausen 18.00: Gegenwartsfragen der Kunst, Paul Westheim. —
K5nigsberg 20.20: Balzacs Panoptikum, Querschnitt von Hans Georg Brenner und
Ernst Bringolf, Ernst W. Freifller. — Donncrstag. Berlin 22.15: Ungarns Aufien- und
Innenpolitik vor dem Rucktritt Bethlens. — Freitag. Leipzig 14.30: Versuche mit
neuen Horspielformen. — 17.30 : Dichtung als politischer Spiegel, Arno Schirokauer. —
Breslau 17.45: Otto Zarek Hest. — Betlin 20.00: Kirche und Abrustung, K.Bohme. —
Langenberg 20.30: Mississippi von Georg Kaiser. — MuMacker 21.00: Segen der
Erde. — Breslau 21.20: Die Stimme der Erde von Gerhard Menzel. — Sonnabend.
Berlin 18.00: Die Erzfchlung der Woche, Axel Eggebrecht. — K6nigsberg 18.55:
Kaukasische Balladen von Otto Rombacb
384
Antworten
Maxchen Jungnickel. Ihneh ist ein 'peinliches Malheur unter-
laufen. Sie ergeuBen in der .Deutschen Zeitung' den Seim Ihres
schlechten Stils und etwa dreiundzwanzig Tranen iiber die bose Welt,
die bei guten Ernten lieber Vorrate vernichtet als sie billig abgibt,
„Und das soil wirklich eine Wirtschaftsordnung sein! Wo liegt das
Ethos in dieser Wirtschaftsordnung?" Auf der Riickseite des Blattes,
Maxchen. Sie brauchten die .Deutsche Zeitung' nur herumzudrehen,
und Sie hatten gefunden: ..Landwirte, weiter Disziplin halten! In
bezug auf die allgemeine Wirtschaftslage wurde der deutschen Land-
wirtschaft dringend empfohlen, ihre bisherige Zuruckhaltung beizu-
behalten und sich durch die jetzige kiinsilich erzeugte offenbar nur
vorubergehende Entspannung der Wirtschaftslage nicht von der klaren
Erkenntnis abbringen zu lassen, daB es um ihretwillen und um
Deutschlands willen notwendig ist, daB die Landwirtschaft auch im
kommenden Friihjahr noch ausreichende Erntevorrate an den Ver-
braucher abzugeben in der Lage ist" Das heiBt auf deutsch: Verkauft
jetzt noch nicht, die Preise sind niedrig, die verfluchten Stadter
konnten zu billigem Brot kommen — wartet lieber bis zum Fruhling,
wenn die Not groB sein wird, dann bekommt ihr mehr! Solln sie
betteln gehn, wenn sie hungrig sind! „Die Wirtschaftsordnung", sagt
Maxchen, „wird von den MachlernN und Kr&mern wie ein gluhender
Wiirfel in das verzweifelte Volk geschuttet" Das gibts zwar nicht,
aber was Sie meinen, ist dennoch klar; nieder mit den deutschen Ju-
den in der Landwirtschaft! v
Prenzlauen Manchmal erhellt ein Satzchen blitzartig die wirk-
liche politische Lage auf dem Lande. In deiner Heimatstadt Prenz-
lau haben sie gegen 2wei Strafgefangene verhandelt, die ausgebrochen
sind und einen Gefangnisaufseher ermordet haben. Der eine, so be-
richtet der .Berliner Lokal-Anzeiger', wurde von einemLandjager, der
andre von Stahlhelmern festgenommen. Von Stahlhelmern? Seit wann
haben die Stahlhelmen polizeiliche Rechte? Wie ist das vor sich ge-
gangen? Haben die Stahlhelmer eine Patrouille ausgesandt, diesen
gesuchten Mann zu fangen? Mit wessen Genehmigung? Haben sie
ihn, der ja kein Schild auf dem Bauch trugt angehaiten und um Vor-
zeigung seiner Papiere ersucht? Ist es schon soweit . . .? Hier war
der Zweck nun zufallig gut und schon — aber sicherlich werden diese
Stahlhelmer doch au'ch auf streikende Arbeiter losgelassen, auf
Kommunisten ... Ist es schon soweit? Es ist schon soweit. Eine
Unternehmergarde, die fur ein Paar Breeches und die Moglichkeit,
befehlen und gehorchen zu konnen, alles, aber auch alles fur die
Stahlmagnaten und die Kartoffelbarone tut. Prozentheil!
R. A. Sie schreiben: „Nichts gegen den Freiherrn von Stein, aber
es argert mich, dafi aus Pietat gegen ihn die Postkarten fur acht
Pfennig ein Drittel weniger Schreibflache bieten als bisher. Und
wenn schon Pietat, dann zeigt doch das naheliegende Beispiel der
Briefmarke, daB man auch auf zehnfach so kleinem Raum noch gut
Ebert von Hindenburg unterscheiden kann. Es ist zu wvinschen, daB
sich dieser Typus von Zwangsansichtskarten nicht einbiirgert und wir
nicht etwa im nachsten Jahr die ganze Breitseite mit Goethe besetzt
finden."
Historiker. Ja, das gibt es. Das Ding heiBt „Zentralstelle fiir
Erforschung der Kriegsursachen", und eine Zeitschrift ist auch da, die
im Quader-Verlag erscheint Auf welchen Quadern der ruht, ist nicht
recht ersichtlich. Die Zeitschrift gibt in ihrem Untertitel an, sie diene
der international en Aufklarung. Und so ist sie denn auch. Wer die-
sen Unfug lesen oder gar glauben soil, ist vollig unerfindlich. Da
wird jeder kleine Zettel aus den Juli-Tagen 1914 gepriift, da werden
Minuten gezahlt, da werden die Mobilmachungsorders miteinander
385
^verglichen * . . und das alles, urn zu beweisen, dafi das arme, gute,
liebe, friedliche Deutschland keineswegs angefangen habc, sondern
vielmehr die Karnickel - und die Radfahrer, Die These von der
Alleinschuld Deutschlands wird von keinem verstandigen Menschen
geglaubt; die schwere Schuld Oesterreichs und die schwere Mitschuld
Deutschlands sind nicht aus der Welt zu schaffen. Dafi die kapi-
talistischcn Entente-Staaten den Krieg vorbereitet haben wie alle
andern auch, wissen wir, Diese Art Aufklarung da ist blanker Un-
fug. Sie sieht etwa so aus: „Unrichtig ist die abermalige Behauptung,
dafi der (deutsche) Generalstabschef dem Kanzler nicht untergeordnet
gewesen sei. (IL 198,) Anmerkung 15: Siehe dazu die Ausfiihrungen
im Juliheft S. 668/' Aber man braucht sie gar nicht einzusehn; denn
es kommt bei der Beurteilung der deutschen Kriegsschuld nicht auf
die papierne Unterstellung des Generalstabes ant sondern darauf, dafi
kein deutscher Reichskanzler jemals eine Politik hat machen konnen,
die den Militars nicht genehm gewesen ist, Genau wie heute. Das
aber weifi die Welt, und der Vorfall ist fur sie erledigt. Die Zentral-
stelle packe ein. Wissenschaftlicher Wert kommt diesen Benuihun-
gen nicht zu.
Ernst Friedrich. Vom 1. Februar bis zum 15. Juli sind fiir die
Antikriegsanleihe folgende Beitrage eingegangen: A. B. Brunn 20, — ;
P. F. Brunn 50, — ; M. F. Berlin 20, — ; Deutsche Friedensges., Orts-
gruppe Solingen 8t — ; H. E. Berlin 5, — ; H. G. Dortmund 30, — ; , A.
H. Mahlsdorf 6,—; Dr. W. L. Konigsberg 10,—; O. R. Prag 12,42; J.
M. Berlin W 10, — ; Lehrer D. Adlershof 3, — ; H. L. Lodoholm, Schwe-
den 25,—; Dr. K. R. Steglitz 20,—; A. H. Neunkirchen 50,—; E. K.
Muhlenbeck 1,—; Frau M. R. Berlin 20,—; Dr. med, J. L. Kiel 10,—;
Dr. med. M. Oberaula 20,—; G. G. Steglitz 20,—; A. J. St. Andree-
berg 2,—; K. K. Johannisthal 6,—; Dr. H. E. Berlin 5,—; P. W- Sch.
Friedenau 50, — ; W. M. Braunschweig 2, — ; G. M. Zwickau 20, — ;
M. St. Sounthexm 4, — ; Frau Prof. M. Grunewald 20, — ; Niedcrland.
Bureau der Jungen Friedens Action Griiningen 200, — ; J. A. Kopen-
hagen 5, — ; M. E. Lichterfelde 10, — ; Dr. med. Sch. Bad Pyrmont
10, — ; E. L. Nordhausen 3, — ; L. W. Leipzig 25, — ; A. H. Neunkirchen
150,—; E. K. Bremen 5,—; J. S. Berlin 3,—; Fr. T, Berlin 100,—;
E. H. Potsdam 30,—; M. F. S. Berlin 0,50; Frau A. D. Herford 50,—;
Frau K. Breslau 10, — ; Bund soz. Freidenker, Leipzig 50, — ; Neue
Feuerbestattungskasse org. Freidenker, Leipzig 100, — ; H. P. Neukolln
50,—; P. H. StraBbourgSO,— ; Frau K. Breslau 5,—; Nationale Vredes
Actie, Ammerstol (Holland) 100,— und 130,—; O. B. Rotterdam
10, — . Bisheriges Gesamtergebnis: 1. Liste: 1289,42 RM.; 2. Liste:
1392,50 RM.; 3. Liste: 1594,43 RM.; insgesamt 4276,34 RM. Auch das
gemigt leider noch nicht. Die Gesellschaft der Freunde des 1. Inter-
nationalen Antikriegs-Museums bittet weiter, sich an der Rettung des
Antikriegs-Museums zu beteiligen.
FVeser Nummer liegt eine Zahlkarte fur die Abonnenten bei, auf der
*-** wir bitten,
den Abonnementsbetrag fur das IV. Vierteljahr 1931
einzuzahlen, da am 10. Oktober die Einziehung durch Nachnahme be-
ginnt und unnotige Kosten verursacht.
Manuskripte tind nor an die Redaction der Weltbuhne. Charlotteaburg, Kantstr. 152, zu
riditea; ea wird yebetea, ihoen Rflckporto beixulegcn. da soost It eine RftckMadiing erfotijeo kann.
Das AaffOhrungirecht, die Verwertuny von Tttelnu. Text im Rahmen dtm Films, die musik-
mechantsene wleder?abe alter Art und die Verwertwny im Rahmen too Radiorortraffen
blelben fttr all* in der Weltbfttme aracheinenden Beitrage ausdrOckllcH Torbebalten.
Die Weltbuhne wurde befrrundet von Siegfried Jacobsoho uod wird von Carl v. Owietxky
vote? Mitwtrkung von Kurt Tuchotskv ffeltitsL — Vorantwortficfa: Carl v. Ossistxky, Berlin;
Verla* dei Woltbuhne, . Siegfried Jacobsoho & Co, Charlottenburff.
Telethon: Ct Steioplats 7757. — PosUchedkkonto: Berlin 119 5&
Beakkonto: DannsUdter u. Nationalbank* Depoetteakaate Chartottenbur^ Kantatr. 112
I
XXVIL Jihrgug 15. Septenber 1031 Hammer 37
Armer ClirtiUS! von Carl v. Ossietzky
n kaum zwei Wochen sollen Briand und Laval nach Berlin
kommen. Noch sind nicht allc Formalitaten erledigi und
selbst wenn sich jetzt alles schnell abwickelt, so mochten wir
doch an diesen Besuch erst dann glauben, wenn die franzosi-
schen Gaste am Bahnhof FriedrichstraBe aussteigen. Es sind
noch vierzchn Tage bis dahin, und was kann in dieser Zeit
nicht alles passieren!
Es ist auch keine besonders gliickliche Geste gegen die .
franzosischen Minister, daB man grade jetzt Herrn Doktor
Curtius in die Wiiste schickt. weil er in Genf davon abgesehen
hat, den Verzicht auf die Zo 11 union mit einem iiberflussigen
Protest, mit einem bombastischen Appell an die Rechte, die
unverauBerlich dort droben hangen, zu begleiten. Ein solcher
Auftritt als knalliger AbschluB einer ohnehin unvermeidlichen
Niederlage wiirde die franzosische Regierung nur unniitz ge-
reizt haben. Mit etwas Krach in Genf, mit einer franzosischen
Absage in der Tasche hatte Herr Curtius auf Ovationen am
Potsdamer Bahnhof rechnen konnen, und er ware wiederein
gemachter Mann gewesen. Wenn man b«i uns popular sein
will, muB man Unheil angerichtet haben. Weil sich Curtius nach
dem traurigen Effekt der Zollunion zu keiner neuen Provo-
kation entschlieBen konnte, deshalb hack en jetzt alle deut schen
Adler nach seinem schwachen Fl'eisch; die Treviranen, die
eigne Partei, die .Germania*, das Organ des Reichskanzlers,
sie alle schnappen nach ihm, und sogar die Staatspartei, der
lacherliche alte Pleitegeier, wagt ein miBgunstiges Gekrachze.
Zwischen zwei ausgezeichneten demokratischen Publizisten,
die von Anfang an Gegner der Zollunion waren, ist ein Streit
entbrannt, ob Curtius zu verteidigen sei oder nicht. Seltsamer
Zwist, denn wie kann man verteidigen, was es gar nicht gibt?
Dieser AuBenminister ist in seiner fast zweijahrigen Amtszeit
niemals vorhanden gewesen. Schattenhaft saB er im Reichs-
kabinett, gewichtios thronte er in seinem Amtszimmer. Seine
eignen Bureaukraten handelten iiber seinen Kopf hinweg, stell-
ten ihn immer vor fertige Tatsachen, und auch die fatale Zoll-
union mit Herrn Schober soil ihn ebenso iiberrascht haben
wie etwa die franzosische Regierung. Auch der freundlichste
Beurteiler muB feststellen, daB die Protestrede, die er in Genf
nicht gehalten hat, eine Unterlassung also, die ihm nun den
Hals kostet, seine einzige staatsmannische Leistung war. Dieser
Nachfolger Stresemanns wird jetzt zum ersten Mai sichtbar, wo
er hoflich und diskret, den Zylinder auf dem Kopf, durch die
Gasse der johlenden Patrioten zum tarpejischen Fels schreitet.
Wie kann man fur jemanden die Hand ins Feuer legen, von
dessen Personalitat man nicht tiberzeugt ist? Herr Curtius
war als Amtsperson wirklich nur ein Nichts, oder, wie ein
witziger Beobachter sagte, eine Mappe auf zwei Beinen.
Die Gerechtigkeit gebietet hinzuzufiigen, daB im gegen-
wartigen Kabinett noch ein paar andre Nullen sitzen, die sich
durch nichts auszeichnen als durch ihre Geduld, das Elend
1 387
des deutschen Volkes zu ertragen. Und wozu braucht man
heute auch Politikcr von Format und Talent? Die Staats-
geschafte werden durch Notverordnungen geregelt, konstitu-
tionelle Faktoren, deren Behandlung besonderes Geschick er-
forderte, gibt es nicht mehr. Der gegenwartige Zustand be-
ruht auf einem Biindnis zwischen Reichsprasident, Reichswehr
und Schwerindustrie, das Voik hat nicht mitzureden, dafiir ist
die Polizei da, die Presse hat nicht zu mucksen, dafiir ist die
Zensur da. Die wirklichen Trager der Macht bleiben im Dun-
keln, es ist ziemlich igleichgultig, wer im Vordergrund agiert.
Dasselbe gilt auch fur die AuBenpolitik. Sie ist ebenso
unpersonlich geworden wie die andern Ressorts. Deshalb ist
es auch nicht sehr aufregend, ob Herr Curtius einen nominel-
len Nachiolger erhalt oder ob der Reichskanzler selbst einstwei-
len ins AuBenamt geht, Denn auch die AuBenpolitik kann in
dieser Zeit nicht mehr zu den hohen politischenKiinstengerech-
net werden, in denen Geist, Menschenkenntnis und Weltlaufig-
keit oft genug Resultate iiber den Tag hinaus errangen. Wenn
Talleyrand und Bismarck heute wiederkamen, wiirden sie sich
sehr wunidern, was aus ihrem Metier geworden ist. Fiir
Deutschland und viele andre Lander auch bedeutet AuBen-
politik nur noch Geld pumpen. Wer den groBen Pump nach
Hause bringt oder wenigstens eine Fristverlangerung erreicht,
der ist das Staats genie, der Vater des Vat er lands.
Unter diesen Umstanden verliert der Besuch der franzo-
"sischen Staatsmanner die epochal e Bedeutung, die er hatte
haben konnen. Es werden Komplimente gewechselt werden,
und im ganzen diirfte sich die Unterhaltung darauf beschran-
ken, das Thema der nachsten Unterhaltung festzulegen.
Deutschland, vom Nationalismus durch und durch vergiftet,
sieht in Frankreich den Urheber aller seiner Note., und in
Frankreich selbst gesellt sich zu dem vorhandenen politischen
MiBtrauen die argv/ohnische Vorsicht des reichen Besitzers,
der sein Geld nicht gern riskiert. Wie schnell sind die scho-
hen Beschworungen des gemeinsamen europaischen Geistes
verraucht! Frankreichs neuer Mann in Berlin, Herr Francois-
Poncet, bringt das Programm einer inidustriellen Allianz mit,
also einer Allianz der beiden Schwerindustrien gegen ihre Vol-
ker. Wird ein solches Projekt Wirklichkeit, so erhalt der
deutsche Nationalismus noch ein gefahrliches soziales Motiv,
auf alle Falle eine Verstarkung. Die pariser Friedensboten
kamen sonst von der Linken. Herr Francois-Poncet, ein ent-
schlossener Karrierist, macht aus seiner Verachtung von De-
mokratie und Sozialismus kein Hehl, er entspricht in seiner
Denkungsart etwa den Industriesyndici, die sich in der ,Deut-
schen Allgemeinen Zeitung' auslassen. Das ist die einzige zur
Zeit mogliche Verstandigung mit Frankreich. Welch ein trau-
riger Ausblick! Aristide Briand, heute alt und krank, macht
den Eindruck des Mannest der weiB, daB seine Zeit vor iiber
ist. Die Zollunion hat ja auch die Nebenwirkung gehabt,
Briands Stellung in Frankreich zu demolieren. „Wie konnten
Sie mir das antun?" soli er verzweifelt gerufen haben, als ihm
Herr v. Hoesch die angenehme Neuigkeit notifizierte. Mit was
fur Gefuhlen mag der alte Mann nach Deutschland kommen,
388
dcssen Tapsigkeit seine Europaplane und seine Aussichten
auf die Prasidentschaft zerstort hat?
Einstweilen gehen die Paktverhandlungen zwischen Paris
und Moskau weiter. Dam it off net sich fiir die franzosLschia
Politik eine neue Aufgabe, hinter der Deutschland zuriicktritt
Frankreich hat einige Einfuhrverbote erlassen, was in der deut-
schen Wirtschaft grade jetzt vor dem Ministerbesuch als be-
sondere Unfreundlichkeit empfunden wird, was aber nur be-
deutet, daB man sich in Paris die. Hande fiir das Russengeschaft
freihalten will. Der rote Handel lockt eben mehr als die Plan-
kelein mit einem Nachbarn, der standig sagt: Ich brauche
Geld, Du muBt mich retten!, der aber trotzdem nicht auf De-
monstrationen, nicht auf Feindseligkeiten verzichten will. Wenn
man eine Diagnose der deutsch-franzosischen Beziehungen in
diesem Augenblick geben will, so kann sie nur lauten: Hoflich
aber hoffnungslos.
Frankreichs Gold von k. l oerstorff
Wierhundert Millionen Dollar fiir England; jawohl fiir Eng-
land. Das ist kein Druckfehler. Diesmal ist das Geld fiir
England bestimmt und wird nicht von England gegeben. Was
ist los? fragt der gute Burger. Haben wir nicht in 4er Schule
gelernt, daB die City der Weltbankier ist, daB die englischen
Kapitalanlagen im Ausland hundert Milliarden Mark betragen?
Und jetzt muB sich die City Geld trorgen — muB sich Geld
borgen, wahrend wir in Deutschland es so dringend brauchen?
England befindet sich augenblicklich in der Situation
Deutschlands etwa beim Beginn der Weltkrise. Der englische
Etat weist ein starkes Defizit auf. Erst schatzte man es auf
einige hundert Millionen, » dann auf eine Milliarde, zuletzt auf
zirka zweieinhalb. Wenn der Winter da ist, werden noeh
einige hinzukommen. Wir kennen das aus eigner Erfahrung.
Woher kommt das englische Defizit? Auch das wissen wir.
Die Geschafte stehen schlecht, also gehen die Steuern nicht
mehr in dem Umfange ein, wie sie veranschlagt waren, Die
Arbeitslosigkeit wachst, also kostet die Arbeitslosenversiche-
rung mehr, wenn die Arbeitslosen den gleichen Satz bekom-
men. Das Defizit im englischen Etat muB gedeckt werden.
Also bricht MacDonald mit der Arbeiterpartei und vertritt
das ausschlieBlich kapitalistische Programm, das Defizit im
wesentlichen durch den Abbau der Sozialpolitik zu beseitigen.
Es ist hier dieselbe Entwicklung wie bei uns. Es ist hier
gleichfalls festzustellen, daB die Krise der Staatsfinanzen ja
nur die auBerordentliche Tiefe der okonomischen demon-
striert. GewiB hat die englische Krise gegenirber der
deutschen ihre starken Besonderheiten; gewiB ist der riesen-
hafte Kolonial- und Kapitalbesitz ein auBerordentlich wichtiger
Puffer gegen starke StoBe. Auf der andern Seite aber ist die
so starke Verknuphi-ng des englischen Kapitalismus mit der ge-
samten Weltwirtschaft in dieser Krise ein besonders schweres
Gefahrenmoment. Im Gegensatz zu Deutschland, dessen Aus-
fuhr zum iiberwiegenden Teil in Europa bleibt, setzt Eng-
land den groBten Prozentsatz in auBereuropaischen Lan-
389
dcrn ab. Hicr abcr hat sich die Weltwirtschaftskrise bercits
katastrophal ausgewirkt. In Siidamerika handelt es sich nicht
mehr um eine Krisc der Staatsfinanzen, sondcrn bercits urn
einen verschleierten Bankrott. In einigen uberseeischen Lan-
dern ist es nicht viel besser. Hier racht sich die Monopol-
politik der hochkapitalistischen Zentren. Man hat lange Zeit
Mgeregelte" Preise zu halten gesucht, aber mit dem Erfolgs daB
die Preise der Produkte, die die uberseeischen Lander ex-
portieren, ins Unwahrscheinliche gef alien sind. Wenn aber
diese Lander immer schlechtere Preise fiir ihre Ausfuhr be-
kommen, dann konnen sie immer weniger einfiihren, dann geht
ihre Wahrung kaputt, und die Zinsen fiir die ihnen geborgten
Kapitalien kann man sich suchen, Der katastrophale Ruck-
gang im englischen und amerikanischen Aufienhandel beruht
zum groBten Teil darauf, und in absehbarer Zeit ist hier keine
Besserung zu erwarten. Die Situation ist aber fiir England
darum so schlecht, weil die Stellung der City als Weltbankier
unter anderm auf einer starken Liquiditat beruhte, die> ihre Vor-
aussetzung in den riesenhaften englischen Kapitalreserven hatte.
Auf dem Papier sind die heute noch da. Aber sie sind nicht
mehr liquid zu machen. Wenn Australien oder Chile keine
Zinsen fiir ihre Anleihen mehr zahlen konnen, so vermogen sie
noch weniger die Anleihen selbst zuriickzahlen.
England erhalt einen Kredit von vierhundert Millionen
Dollar. Ob es ihn voll ausnutzen wird, steht noch dahin. In
der Presse werden die heutigen Kredite an England in
Analogie gestellt mit den Krediten, die England seinerzeit von
den Vereinigten Staaten bekam, als das Pfund Sterling auf
Goldbasis stabilUiert wurde. Aber die Analogic stimmt nicht.
Sie beriicksichtigt nicht, daB sich die gesamte Lage des inter-
nationalen wie des englischen Kapitalismus seitdem erheblich
verschlechtert hat; die englische biirgerliche Presse schreibt
bereits klagend, daB man vom eignen Kapital lebe.
England ist in der gleichen Lage, in der sich Deutschland beim
Krisenbeginn befand. In den Vereinigten Staaten geht es noch
etwas besser; aber dort machen sich immer starker Tendenzen
zur «,Europaisierung" des amerikanischen Kapitalismus geltend.
Unsre Vulgarokonomen haben uns lange Zeit erklart, daB
sich die europaische Wirtschaft „amerikanisieren" miisse, daB
sie nur die amerikanischen Rationalisierungsmethoden zu
iibernehmen brauche, damit alles gut laufe. Wahrend sie diese
Abgeschmacktheiten verzapften, hat der amerikanische Kapi-
talismus immer mehr seinen Sondercharakter eingebuBt, durch
den er sich von dem europaischen Kapitalismus unterschied.
Er hat seine eigne Kolonialstruktur verloren; eine Abwande-
rung aufs Land findct nicht mehr statt, im Gegenteil, die land-
wirtschaftlich tatige Bevolkerung nimmt in den letzten Jahren
absolut ab. Der amerikanische Kapitalismus hat in der Stel-
lung zur Weltwirtschaft 6eine Kolonialstruktur verloren. Er
ist nicht mehr ein Kolonialland, das hauptsachlich industrielle
Rohstoffe und Agrarprodukte ausfiihrt und Fertigwaren ein-
fiihrt, er ist immer mehr zum Fertigwarenexporteur geworden.
390
~Er hat beim Wachstum seiner Bevolkerung seine Struktur
"Vollig geandert und 1st nicht mehr das Einwanderungsland
fur die europaische Reserve armee. Im Jahre 1931 ist die Ein-
wanderung so gering wie niemals zuvor in den letzten hundert
Jahren. Bis 1831 muB man zuriickgehen, um zu einer so niedri-
,gen Einwanderungsquote zu kommen, Der amerikanische Ka-
pitalismus hat semen Sondercharakter eingebuBt, derm die
JClassenkampfe, die man fur ein Charakteristikum Europas
hielt, erschiittern ihn mehr und mehr. Es kommen bereits
Nachrichten von driiben, dafi man dort eine Arbeitslosenver-
rsicherung eihfiihren wolle. Bisher haben die Arbeit si osen noch
zu einem gewissen Teil von fhren eignen Ersparnissen leben
konnen. Die lange Dauer der Krise hat diese aufgezehrt. So
muB auch Amerika die Arbeitslosenversicherung durchfuhren,
die von deutschen Schwerindustriellen als „Risikopramie"
jjegen die Revolution bezeichnet wurde. Die Vereinigten
Staaten haben sich europaisiert, die Theorie der hohen Lohne
zum alten Eisen geworfen, Nach den amtlichen Berichten sind
die Lohnsummen um mehr als ein Drittel zuriickgegangen, und
Henry Ford1 der uns friiher immer erzahlte, daB man
in der Krise die Lohne erhohen und die Preise herabsetzen
miisse, macht seine Werke in Detroit zu. Der amerikanische
Etat weist bereits jetzt ein groBes Defizit auf, und kommt
noch die Arbeitslosenversicherung hinzu, dann wird es sich
natiirlich erhohen. Auch auf den internationalen Kapitalmark-
ten hat sich die Situation des Kapitalismus der Vereinigten
Staaten betrachtlich verschlechtert. Die Exportiiberschiisse
sind stark zuriickgegangen, und die Zinsen vom Auslandskapi-
tal gehen ebenso wenig und cbenso schwer ein wie in Eng-
land. Man hat die Konjunktur fur ewig gehalten und daher
alle seine Oberschiisse langfristig angelegt, um so an der Zins-
differenz selbst zu profitieren. Daher ist auch die Liquiditat
in den Vereinigten Staaten keine allzu giinstige, wenn auch
natiirlich noch besser als in England.
Diese Situation auf den Kapitalmarkten, vor allem die
Verschlechterung in England, schuf die Voraussetzung fiir die
aufierordentlich starken Positionen, die der franzosische Kapi-
talismus heute innehat. GewiB, auch in Frankreich ver-
schlechtert sich die Konjunktur, auch Frankreich ist keine
Oase mehr in der Weltwirtschaftskrise. Aber bisher ist der
Konjunkturriickgang kein allzu groBer; in der Production er-
reicht er bisher nur ungefahr 10 Prozent gegenuber dem Rtick-
gang von zirka einem Drittel in den iibrigen hochkapitalisti-
schen Zentren, GewiB, auch in Frankreich wachsen die Ar-
beitslosenzahlen, wachst vor allem die Zahl der Kurzarbeiter.
Aber bisher bleiben diese weit hinter denen Englands, der
Vereinigten Staaten und Deutschlands zuriick, denn neb en
allem andern hat Frankreich noch einen besonder en Vorteil, da
die Arbeitslosigkeit zunachst auf die fremden Arbeiter abge-
schoben werden kannt von denen dort in der Nachkriegszeit *
mehr als eine Million Beschaftigung f and en. Die Lage auf den
internationalen Kapitalmarkten ist fiir Frankreich eine besdn-
ders giinstige. Friiher spielte der franzosische Kapitalismus
Irier keine sehr entscheidende Rolle. Wahrend man die ameri-
2 391
kanischen Oberschusse einst auf etwa sechs Milliarden
schatzte, die englischen auf drei, betrugen die franzosischen
kaum mehr als ein bis zwei Milliarden. Aber wahrend man?
in den Vereinigten Staaten und England diese Oberschusse zu
langfristigen Krediten benutzte, trieb man in Frankrcich cine
ganz andrc Politik. Der iiberwiegende Teil dieser Oberschiisse*
wurde zur Verstarkung des Goldes der Bank von Frankreich
benutzt, zur Verstarkung ihres Devisenbestandes und zu kurz-
fristigen Auslandskrediten. Die Goldbestande der Bank von
Frankreich -erreichten eine fiir europaische Verhaltnisse phan-
tastische Hohe, Sie betrugen;
in Milliarden Mark
Ende 1927 4 128,0
1f 1928 5 260,2
„ 1929 6 854,5
.„ 1930 8 811,9
30. 6. 1931 9 280,3
Am 30. Juni 1931 betrug der Goldbcstand
in Milliarden Mark
der Reichsbank in Deutschland 1 487,0
der Bank von England 3 350,4
Da im Juli die Bank von Frankreich weitere grofiere
Goldmengen aufgenommen hat, so ist heute ihr Goldbestand
wohl doppelt so groB wie der der Bank von England und der
deutschen Reichsbank zusammen. Wenn Frankreich lang-
fristig Gelder im Auslande anlegte, dann im eignen Kolonial-
reich und in Landern, die man von der franzosischen Politik
abhangig machte, zum Beispiel in Polen. Diese Finanzpolitik
hat die franzosischen Kapitalisten vor der Krise einiges Geld
gekostet, denn die Milliarden in der Bank von Frankreich
bringen keine Zinsen. Die kurzfristig im Ausland angelegten
Gelder bringen nur geringe Zinsen. Hatte der franzosische
KapitaUsmus so wie der englische und amerikanische seine
Oberschusse zu langfristigen Anlagen im Ausland verwendet,
so hatte er seine Einkimfte fraglos betrachtlich verstarken
konnen. Aber dieser Zinsenverzicht in der Zeit vor der Krise
bringt in diesen Tagen doppelte politische und okonomische
Zinsen. Der franzosische Kapitalismus ist heute dem Welt*-
kapitalismus gegeniiber in der Lage eines Bankhauses, -das vol-
lig liquid geblieben ist, und sich so aus der Konkursmasse die
besten Objekte billig erwerben kann. Wer heute Kapital
brauchtt geht nach Frankreich; in England ist gegen ein fran-
zosisches Veto keine iangfristige Anlage mehr zu bekommen.
Sollten es die Englander doch wagen, so kann der franzosische
Kapitalismus dutch einen Run auf das Pfund die englische Krise
aufs auBerste verscharfen. Die Verscharfung der okonomischen
Krise in den angelsachsischen Landern, die Verschlechterung
ihrer Positionen auf den Kapitalmarkten, der bisher verhalt-
* nismaBig geringe Konjunkturabstieg in Frankreich, verbunden
mit der Politik des franzosischen Kapitalismus, sich auBeror-
dentlich liquid zu halt en, das sind die okonomischen Vorausset-
zungen fiir die heutige franzosische Weltpolitik, fur ihre Poli-
tik in Ungarn und in RuBland, in Polen und in Deutschland.
392
Kurzer Abrifi der Nationalokonomie
von Kaspar Hauser
M ationalokonomie ist, wenn die Lcute sich wundern, warum
^ sie kcin Geld haben. Das hat mehrere Griinde, die fein-
sten sind die wissenschaftlichen Griinde, doch konnen solche
durch eine Notverordnung aufgehoben werden.
Ober die altere Nationalokonomie kann man ja nur lachen
und diirfen wir selbe daher mit Stillschweigen iibergehn. Sie
regierte von 715 vor Christo bis zum Jahre 1 nach Marx. Seit-
dem ist die Frage vollig gelost: die Leute ha/ben zwar immer
noch kein Geld, wissen aber wenigstens, warum*
Die Grundlage aller. Nationalokonomie ist das sog. „Geld".
Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel,
auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Fiir
Geld kann man War en kaufen, weil es Geld ist, und es ist
Geld, weil man dafiir Waren kaufen kann. Doch ist diese
Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld
kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw, nicht da — meist
nicht da. Das im Umlauf befindliche Papiergeld ist durch den
Staat garantiert; dieses vollzieht sich derart, daB jeder Papier-
geldbesitzer zur Reichsbank gehn und dort fiir sein Papier
Gold einfordern kann. Das kann er. Die obern Staatsbank-
beamten sind gesetzlich verpflichtet, Goldplomben zu tragen,
die fiir das Papiergeld haft en. Dieses nennt man Golddeckung*
Der Wohlstand eines Landes beruht auf seiner aktiven
und passiven Handelsbilanz, auf sein en innern und auBern An-
leihen sowie auf dem Unterschied zwischen dem Giro des
Wechselagios und dem ZinsfuB der Lombardkredite; bei Regen-
wetter ist das umgeke'hrt. Jeden Morgen wird in den Staats-
banken der sog, f,Diskont" ausgewtirfelt; es ist den Deutschen
neulich gelungen, mit drei Wiirfeln 20 zu trudeln.
Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.
Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen
hat, so ist sie nichts mehr wert, sondern ein Pofel, dafiir hat
aber der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt
wird, obgleich es immer weniger wert ist. Wenn ein Unter-
nehmer sich langweilt, dann ruft er die andern und dann buV
den sie einen Trust, das heiBt, sie verpflichten sich, keinesfalls
mehr zu produzieren, als sie produzieren konnen sowie ihre
Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. DaB der
Arbeit er fiir seine Arbeit auch einen Lohn haben muB, ist eine
Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.
Eine wichtige Rolle ini Handel spielt der Export. Export
ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen
konnen; auch ist es un patriot! sch, fremde Waren zu kaufen,
daher muB das Ausland einheimische, also deutsche Waren
konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfahig sind. Wenn
der Export andersrum geht, heiBt er Import, welches im Plural
eine Zigarre ist, Weil billiger Weizen ungesund und lange
nicht so bekommlich ist wie teurer Roggen, haben wir den
Schutzzoll, der den Zoll schutzt sowiex auch die deutsche Land-
wirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft wohnt seit fiinfund-
zwanzig Jahren am Rande des Abgrunds und fiihlt sich dort
393
ziemlich wohl. Sie ist versohuldet, weil die Schwerindustrie
ihr nichts iibrig laBt, und die Schwerindustrie ist nicht auf der
Hohe, weil die Land wirtschaft ihr zu viel fortnimmt. Dieses
n>ennt man den Ausgleich der Inter essen. Von beiden In-
stitutionen werden hoheSteuern gefordert, und muBderKon-
sument sie auch bezahlen.
Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heifit
auf der irrtumlichen Annahme, der andre werde gepumptes
Geld zuriickzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog.
„Stutzun.gsaktion", bei der alle, bis auf den Staat, gut ver-
dienen. Solche Pleite erkennt man daran, dafl die Bevolke-
rung auf gefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie
ja dann auch meist nichts mehr.
Wenn die Unternehmer alles Geld im Ausland unterge-
bracht haben, nennt man dieses den Ernst der Lage. Geordnete
Staat swesen werden mit einer solchen Lage leicht fertig; das
ist bei ihnen nicht so wi.e in den kleinen Raubstaaten, wo
Scharen von Briganten die notleidende Bevolkerung aussaugen.
Auch die Aktiengesellschaften sind ein wichtiger Bestandteil
der Nationalokonomie. Der Aktionar hat zweierlei wichtige
Rechte: er ist der, wo das Geld gibt, und er darf bei der General-
versammlung in die Opposition gehn und etwas zu Protokoll
geben, woraus sich der Vorstand einen sog, Sonnabend macht.
Die Aktiengesellschaften sind fur das Wirtschaftsleben un-
erlaBlich: stellen sie doch die Vorzugsaktien und die Aufsichts-
ratsstellen her. Denn jede Aktiengesellschaft hat einen Auf-
sichtsrat, der rat, was er eigentlich beaufsichtigen soil- Die
Aktiengesellschaft haftet dem Aufsichtsrat fiir piinktliche Zah-
lung der Tantiemen. Diejenigen Ausreden, in denen gesagt ist,
warum die A.-G. keine Steuern bezahlen kann, werden in einer
sogenannten „Bilauz" zusammengestellt.
Die Wirtschaft ware keine Wirtschaft, wenn wir die Borse
nicht hatten. Die Borse dient dazu, einer Reihe aufgeregter
Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen; die from-
mern gehn auBerdem noch in die Synagoge. Die Borse sieht je-
den Mittag die Weltlage an: dies richtet sichnach dem Weitblick
der Bankdirektoren, welche jedoch meist nur bis zu ihrer Na-
senspitze sehn, was allerdings mitunter ein weiter Weg ist.
Schreien die Leute auf der Borse auBergewohnlich viel, so
nennt man das: die Borse ist fest. In diesem Fall kommt —
am nachsten Tage — das Publikum gelaufen und engagiert
sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Borse
schwach, so ist das Publikum! allemal dabei. Dieses nennt man
Dienst am Kunden. Die Borse erfiillt einewirtschaftliche Funk-
tion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.
In der Wirtschaft gibt cs auch noch kleinere Angestellte
und Arbeit er, doch sind solche von der neuen Theorie langst
fallen gelassen worderu
Zusammenfassend kann gesagt werden: die National-
okonomie ist die Metaphysik des Pbkerspielers.
Ich hoffe, Ihnen mit dies en Angaben gedient zu haben, und
fiige noch hinzu, daB sie so gegeben sind wie alle Waren, Ver-
trage, Zahlungen, Wechselunterschriften und samtliche andern
HandelsverpflJchtungen — : also ohne jedes Obligo.
394
Kanton und Nanking von Asiatics
Mitten im „tiefsten Fried en", noch am Vor abend des Zusam-
mentritts der Nationalversammlung in Nanking, die nicht
nur den AbschJuB der militarischen Emigung Chinas demon-
strieren, sondern auch die Mkonstitutionelle Aera" durch die
Annahme einer Verfassung eroffnen sollte, ist ein neuer Biir-
gerkrieg ausgebrochen. Diesmal sind es nicht die Generale
des Nordens, die der Nanking-Regierimg trotzen. Der RiB
geht jetzt mitten durch diese Regierung selbst. Das erste An-
zeichen des unvermeidlichen Bruches war der Riicktritt Hu
Han-Mins vom Vorsitz des Gesetzgebenden Rates in Nanking;
er wurde daraufhin von Tschiang Kai-Schek „in Gewahrsam"
genommen. Kurz nach dieser Verhaftung meuterte die
kantoner Garnison gegen den Provinzgouverneur von Kwang-
tung, einen Vertrauensmann von Tschiang Kai-Schek, zwang
ihn zur Flucht nach Hongkong und erklarte die Provinz fin*
selbstandig. Daraufhin entsandte Nanking, wie es damals offi-
ziell hieB, den Verkehrsminister Sun Fo zur Vermittlung und
Wiederherstellung des Friedens, Sun Fo, der hierzu als Sohn
Sun Yat-Sens und langjahriger Biirgermeister von Kanton be-
sonders auserlesen schien, f uhr nach Hongkong, um dort an einer
Konferenz teilzunehmen, die sich aber nicht mit dem Frieden,
sondern mit der Eroffnung des Biirgerkrieges beschaftigte. An
dieser Konferenz nahmen teih Wang Tsching-Wei, Tschen
Yu-Jen (Eugen), Tang Shao-Yi von den Politikern und Pei
Tschung-Si, Tschang Fat-Kui und Tang Schen-Tschi von den
Generalen. Am Ausgang der Konferenz kiindigte Eugen Tschen
im Namen aller Teilnehmer Tschiang Kai-Schek den Krieg bis
zur Vernichtung seiner Diktatur an. In Kanton feierlich emp-
fangen, konstituierten sie dann eine Regierung des Siidens mit
Tang Shao-Yi als Prasidenten und Eugen Tschen als AuBen-
minister, drahteten nach Nanking ein Ultimatum mit der For-
derung des sof ortigen Riicktritts von Tschiang Kai-Schek unter
Drohung der Eroffnung des Biirgerkrieges, So iiberraschend
diese Ereignisse fiir alle Welt schienen, so waren sie in ihrem
letzten Ursprung und Zweck* doch der englischen und japani-
schen Diplomatie so vertraut, daB sowohl die Machthaber von
Hongkong als auch die japanische Regierung sich beeilten, die
Regierung von Kanton dei facto anzuerkennen.
Zum Verstandnis dieser neuen Spaltung ist ein geschicht-
licher Riickblick notwendig. In den Jahren 1924/26 kampften
in der Kuomintang von Kanton und ihrer Nationalregierung,
die damals noch auf den auBersten Siiden Chinas beschrankt
war, drei Cliquen um die Fiihrung, Ihre Anfuhrer waren auf
der Rechten Hu Han-Min, im Zentrum Tschiang Kai-Schek
und auf der Linken Wang Tsching-Wei. Sun Fo, Eugen
Tschen und Sung Tse-Wen, der Finanzminister der Nanking-
Regierung, hielten zum Zentrum, widerstrebten aber den dikta-
torischen Selbstandigkeitsbestrebungen Tschiang Kai-Scheks.
Kanton war damals ein brodelnder Kessel der Revolution, ein
Schrecken Hongkongs wie auch der feudal-militarischen £li-
quen. In der Kuomintang, zu der damals auch die Kommuni-
sten gehorten, rangen die verschiedenen Klassen der national-
395
reyolutionaren Front, die groBe und kleine Bourgeoisie, die Ar-
beiter und Bauern um die Macht, indes sie nach auBen noch
geschlossen das vulkanische, feuerspeiende Zentrum der Revo-
lution verkorperte. Nach dem Tode Sun Yat-Sens wurde Hu
Han-Min als der Vertreter der groBen Bourgeoisie und der
reiahen Bauernschaft auf kurze Zeit zum Vorsitzenden der Re-
gierung, umkampft vom Zentrum und vom Hnken Fliigel, vor
allem aber von der auBersten Linkeri, die mit Liao Tschung-Hai
an der Spitze die tragenden Krafte der antienglischen Boykott-
und Streikbewegung, gleichzeitig aber auch der Massenrevolu^
tion gegen die Kompradoren und Militaristen reprasentierten.
Mit der Zuspitzung des revolutionaren Kampfes wechselte die
Fiihrung von Hu Han-Min bis zu dem linksradikalen Fiihrer
des Kleinbiirgertums Wang Tsching-Wei hiniiber. Hu Han-Min
griff sodann zum Meuchelmord, und Liao Tschung-Hai, der
kluge, energische, von den Massen geliebte Fiihrer blieb auf
der Strecke. Hu Han-Min muBte auf kurze Zeit das Land ver-
lassen, er wurde als der Verantwortliche fur diese Ermordung
bezejchnet und doch nur ausgewiesen, weil er nicht der Allein-
schuldige in der Fiihrung war. Kurz darauf trat aber Tschiang
Kai-Schek auf den Plan, usurpierte im Marz 1926 die Fiihrung
der Partei und der Regierung und zwang Wang Tsching-Wei,
den link en Antipoden von Hu Han-Min, ebenfalls ins Ausland
zu gehen. Ein Jahr spater war Tschiang Kai-Schek soweit, daB
er sich offen mit Hu Han-Min bei der Bildung der konter-
revolutionaren Regierung in Nanking und zum Straff eldzug ge-
gen die Arbeit er und Bauern verbiinden konnte,
Wenn heute Wang Tsching-Wei Arm in Arm mit Sun Fo
und Eugen Tschen und in betonter Solidaritat mit dem inzwi-
schen wieder verhafteten Hu Han-Min denKrieg an Tschiang
Kai-Schek erklart, so ist das zwar noch die Fortfuhrung des alten
Cliquenkampfes — aber die Revolution ist jenseits ihres La-
gers. Die Kuomintang selbst, die friiher das revolutionare
Schild der Massenbewegung war, ist jetzt herrschende Partei
der Konterrevolution und der allgemeine Rahmen fiir alle Ge-
neralscliquen' des Nordens und Siidens. Der Tote ergriff den
Lebenden und setzte sich an seine Stelle. Der mandschurische
Despot Tschang Sue-Liang, der allchinesische Diktator Tschiang
Kai-Schek und das heterogene Sammelsurium von verkrachten
Politikanten und Generalen, das jetzt die siidchinesische Re-
gierung bildet — alle die reklamieren fiir sich die Kuomintang
und die Ideen Sunyatsens. Ein breiter Graben von Blut und
Leid trennt sie von den kampfenden Massen der Arbeiter und
Bauern und der revolutionaren Intelligenz, ein Krieg auf Tod
und Leben tobt zwischen ihnen unentwegt. War die Kuomin-
tang friiher die Partei des antiimperialistischen Kampfes, so
stehen heute hinter ihren getrennten Lagern die widerstreiten-
den Interessen der imperialistischen GroBmachte.
Die Oberlegenheit Tschiang Kai-Schek s ist die des ameri-
kanischen Imperialismus, Das amerikanische Anlagekapital in
China stellt zwar nur einen Bruchteil des englischen und japa-
nischen dar. Aber Nanking sollte grade die Bahn fiir das
kommende groBe Geschaft der „Rekonstruktion" Chinas unter
der Obhut der amerikanischen Weltbankiers freimachen. Nach
396
euier neusten Errechnung amtlicher Stcllcn betragt das eng-
lische und japanische> Kapital in China jc 1 000 000 000 GoM-
<lollar, das amerikanische 200 000 000 Golddollar. Das eng-
lische konzentriert sich in Siidchina und im Yangtsetal, das
japanische in der Mandschurei und Nordchina, das amerika-
nische hauptsachlich in Shanghai und Hankau, Die washing-
toner Diplomatic verlangt von Nanking als Voraussetzung fiir
den Einsatz der Rekonstruktionsanleihen die Beendigung des
Biirgerkrieges und die Ausdehnung ihrer Zentralgewalt auf ganz
China und die Mandschurei. Die Allianz Nankings mit Muk-
den, wie sie heute in dem Bund Tschiang Kai-Schek und
Tschang Sue-Liang bereits besteht, war ebenso ein Schritt auf
diesem Wege, wie die Posse der Nationalversammlung, ohne
Wahlen und Gewahlte, nur zusammengeschoben von den mili-
tarischen Cliquen Nankings und Mukdens. Der englische und
japanische Imperialismus sind aber im Gegenteil an selbstandi-
ijen Slid- und Nordregierungen und an einer fiktiven Zentral-
gewalt interessiert und helfen sowohl in Kanton als auch in
Mukden und Peiping in dieser Richtung kraftig nach. Weder
London noch Tokio sind in einem zentral regierten China im-
stande, die Wettjagd mit dem Dollarimperialismus zu bestehen.
Es verlohnt sich aber, zur Erhaltung der alten Positionen und
-zur Erhohung der eignen Quote bei der ,,Kooperation der
Machte", die Generals- und Kuomintang-Cliquen zu bestechen
und zu begonnern, Daher die Eile der englischen und japani-
schen de facto-Anerkennung fiir die Fronde.
Die Interessengegensatze der Machte in China konnen aber
wohl einen vorlaufigen Ausgleich finden. Die Allianz zwischen
Nanking und Mukden unter amerikanischer Patenschaft ist ein
Beispiel hierfiir. Sowohl die amerikanische als auch die japa-
nische Wirtschaitskrise sind sehr zwingende Argumente, beson-
ders zwingend fiir Japan, das arm an Rohstoffen und dessen
Handelsverluste (etwa 35 Prozent im vergangenen Jahre) die
-chronische passive Bilanz seit dem Weltkriegsende in eine kata-
strophale verwandeln und ganze Industrien zum Erliegen brin-
gen. Fur den englischen Imperialismus brachte eben dieser
Bund zwischen Nanking und Mukden eine so starke Zuriick-
drangung seiner Position in Nanking, daB es Zeit wurde, das
Spiel Washingtons zu durchkreuzen. Aber ein Biirgerkrieg zwi-
schen Kanton und Nanking mit den Kriegsf ronten in Siidchina
nnd im Yangtsetal und angesichts der aufgewuhlten Bauern-
.schaft, ihrer roten Armeen und der zahlreichen Sowjetherde
ist auch fiir den englischen Imperialismus ein sehr riskantes
Unternehmen. Schon ganz zu schweigen von den unmittelba-
ren Verlusten des englischen Handels in China, die jetzt — im
Talle eines langwierigen Biirgerkrieges — zu den Verlusten in
Indien hinzutreten wurden. Das wahrscheinlichste Ergebnis
dieser Lage wird daher sein, daB die interessierten Machte
sich auf Kosten Chinas zunachst unter sich verstandigen und
1faus allgemeiner Friedensliebe" vermitteln werden.
Die Taktik Nankings laBt auch auf diesen Ausgang schlie-
&en, Hu Han-Min ist entgegen dem iiblichen Brauch, obwohl
*er das wirkliche Haupt der Fronde ist, basher nicht hingerich-
4et worden, wie das Tschiang Kai-Schek vor zwei Jahren mit
397
seincm Gast, dem kantoner Generalissimus Li Tai-Sun ge~
macht hat. Die Presse von Nanking bestreitet in hoherm Auf-
trage die Tatsache dcr Verhaftung Hu Han-Mins: Tschiang;
Kai-Schck erlaube ihm nur deshalb nicht, Nanking zu verlas-
sen, ,weil er auf seinen erfahrenen Rat nicht verzichten konne,
DaB er keine Besuche empfangen darf, sci nur cine vorlaufige*
MaBnahme, diktiert von den Arzten und von der Sorge urn
seine Gesundheit. Tschiang Kai-Schek beruft sich darauf, daB
er selbst Sun Fo zur Vermittlung geschickt habe. Ferner hat
er die Bereitschaf t erklaxt, den neuen Gouverneur von Kanton
anzuerkennenf falls die Verhandlungen aufgenommen wiirden..
Nur die Forderung seines Riicktritts miisse er zuriickweisen,
Auf der andern Seite geht auch die neue Regiexung sehr
behutsam ans Werk. An der Spitze ihrer Anklage gegen das
Regime Tschiang Kai-Scheks setzt sie seine Unfahigkeit, die.
kommunistischen Bauernarmeen und -revolten in Slid- und
Mittelchina entsprechend seiner wiederholten Ankiindigung zu
vernichten. Ddeser Anklagepiinkt ist ein Credo der neuen Re-
gierung und ein Beweis, daB der blutige Leichnam Liao Tschung-
Hais ihr Wahrzeichen ist, daB Hu Han-Min und sein Anhang
auch hier ihrer in der Revolutionsgeschichte der letzten Jahre
so finstern Tradition treu bleiben werden.
Die Mordklirve von Hans Hyan
T\ ie Reichsstatistik fur Kriminalitat liegt abgeschlossen vor
^ bis zum Jahre 1927 inklusive. Die dariiber hinaus gesam-
melten Zahlen werden noch nicht veroffentlicht. Nun ergibt
sich aus der Reichsstatistik durchaus nicht die Zahl der vorge-
kommenen Morde- Was man aus den Statistischen Jahrbtichern
ersehen kann, sind allein die wegen Mordes angeklagten, ver-
urteilten und freige'sprochenen Personen, Vielleicht ist das
Reichsjustizministerium i'm Besitz von Zusammenstellungen
auch iiber die Anzahl der vorgekommenen Mordverbreche.i,
aber diese wurden nicht veroffentlicht; (iberhaupt ist die Kri-
minalstatistik bis jetzt sehr mangelhaft. Es scheint noch immer
nicht die Erkenntnis aufgegangen zu sein, daB die Kriminali-
tat eines Staates das wesentlichste Material zu seiner voll-
kommenen Beurteilung bietet, Und daB Kriminalitat durch-
aus nicht nur der Kampf zwischen Dieb und Diebesfangern
ist, sondern daB das gesamte Volksleben von der Kriminali-
tat, wie der Waldboden von einem unendlich verzweigten
Wurzelgeflecht, dnrchzogen wird. Wir sind heute noch nicht.
so weit, zum Beispiel die wucherische Ausbeutung eines Vol*
kes, wenn sie von Banken, GroBindustriellen etcetera betrie-
ben wird, zum Verbrechen zu erklaren und durch ein Straf-
gesetz zu bekampfen, Aber die Erkenntnis, daB solch ein
Kampf die Vorbedingung zur gliicklichen Gesundung der Na-
tion ist, setzt sich mit einer gefahrlichen Schnelligkeit durch
— gefahrlich fur die Vei iiber solcher Verbrechen, die aller-
dings bisher das, was ihnen in Zukunft droht, noch nicht er-
kannt haben. Aber der Tag wird kommen, wo das Sprich-
wort; „Die groBen Diebe laBt man laufen, die kleinen hangt
398
man", seine Giiltigkeit verliert. Die Erkenntnis der Asoziali-
tat und ihre allgemein richtige Wertung verbirgt sich auch im
Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts noch hinter den
Schleiern jener „gottgewollten Abhangigkeit", die Thron und
Altar seit Jahrtausenden als oberstes Gesetz stabilisiert haben
und fur die sie beide mit letzter Zahigkeit bis zu ihrem Unter-
gang kampfen werden.
Die Bekampfung des Verbrechens, die selbstverstandlich
international sein miiBte, steckt heute noch vollkommen in den
Anfangen, und der tiberwiegende Teil samtlicher Verbrechen
wird nicht allein nicht aufgedeckt und gesiihnt, sondern eine
unendliche Anzahl auch von Mordtaten wird nieraals bekannt.
Zum Beweise dessen sei hier nur auf die Fememorde verwie-
sen, deren Entdeckung, wo sie uberhaupt erfolgt ist, allein dem
Zufail zu dank en war. Die tatsachliche Ziffer diirfte die be-
kannt gewordene urn das Zehniache iibersteigen. Aber das
Gleiche gilt ziemlich fur alle Mordtaten, nur daB die Feme-
morde von dem groBen Kreise der Interessenten absichtlich
vertuscht, geheimgehalten und auBerdem auch von der Justiz
gelegentlich verschleiert worden sind.
Hier soil gezeigt werden, in welcher unheilvollen Schnel-
ligkeit das Mordverbrechen in Deutschland voranschreitet.
Dazu will ich tabellarisch die Anzahl der angeklagten
und verurtedlten Morder von 1914 bis 1927 geben. Fur die
Jahre 1928, 1929 und 1930 habe ich die Zahlen aus meinem
Privatarchiv zusammengestellt, Hier war es aber aus recht-
lichen und zeitlichen Grunden nicht moglich, die Angeklagten
und Verurteilten aufzuzahlen, sondern ich habe mich, wenn
auch nur mit teilweisem Erfolge bemiiht, die Mordtaten selbst
zusammenzustellen. Das Tabellarium bis 1927 darf Anspruch
auf fehlerlose Vollstandigkeit machen. Es bietet dem auf-
merksamen Beobachter des Interessanten genug und es be-
weist zur Evidenz — worauf es allein ankommt! — , daB das
Verbrechen durchaus das Endresultat des auf- und niederstei-
genden Volkswohlstandes und einer mehr oder weniger ver-
niinftigen und auf die offentliche Sicherheit bedachten Regie-
rung ist. Diese Ziffern beweisen ferner, daB die groBten Ver-
brechen, die es uberhaupt gibt: Der Krieg und die von den
Kapitalisten jeden Landes hervorgerufene und gemastete In-
flation in ihrer Kurve mit den Mordverbrechen absolut gleich-
laufen. ,
1914
1915
1916
1917
1918
1919
1920
1921
1922
1923
1924
1925
1926
1927
Wegen Mordes An-
geklagte
109
114
88
92
101
212
272
330
247
187
235
225
209
160
Verurteilte
82
68
74
71
87
164
209
243
200
139
193
185
170
124
Jugendliche
13
19
29
28
32
16
12
23
14
9
17
9
8
12
Freigesprochene
Erwachsene
27
46
14
21
18
48
63
87
47
48
42
40
39
36
FreigesprocheDe
Jugendliche
4
4
1
2
1
3
3
3
1
1
3
._
2
1
Zum Tode Vcrur-
teilte
41
18
23
28
30
86
113
149
123
76
110
92
89
64
3
'
399
Die Jahre vor 1914 zeigen ein ziemlich gleichmaBiges und dem
Wachstum des Landes und der Bevolkerung entsprechendes
Anschwcllcn der Mordziffer, Der Rahmen dieser klcinen Ar-
beit erlaubt es inicht, die wahrscheinlich sehr interessante Zu-
sammenstellung der wegen Mordes Verurteilten vom Jahre
1870 an aufzuzeichnen. Aber schon der Vergleich zwischen
1914 und 1915 zeigt ein durch den Krieg hervorgerufenes An-
steigen der Anklageziffern, wahrend die Verurteilungen im
Jahre 1915 zuriickgehen und die so sehr wichtige Ziffer der
jugendlichen Verurteilten stabil bleibt.
Die Jahre 1916, 1917 und 1918 zeigen Schwankungen, die
nicht xiberraschen. Aber im Jahre 1919, das heiBt nach Aus-
bruch der Revolution, steigt die Ziffer der Mordanklagen
von 101 plotzlich auf 212, ja sie erhebt sich 1920 auf
272, 1921 sogar auf 330, Sie fallt dann wieder im Jahre 1922
und 1923 bis auf 87, um 1924 plotzlich wieder bergan zu gehen
bis auf 235, Die Ursache des Unterschiedes zwischen 1923
und 1924 liegt auf der Hand. Im Jahre 1923 hatte die Infla-
tion mit der Habe und mit dem Lebensstandard des Prole-
tariats und des gesamten Mittelstandes reinen Tisch gemacht.
Hatte der Kapitalismus damals nicht noch eben rechtzeitig er-
kannt, daB es nunmehr die hochste Zeit sei, die Inflation ab-
zudrosseln und wieder Geld statt der Milliardenscheine aus-
zugeben, so ware mit hochster Wahrscheinlichkeit am Ende
dieses Verbrechensjahres eine neue und blutigere Revolution
ausgebrochen. So kam im letzten Augenblick die Rettung in
Gestalt der Festmark. Aber die Allerarmsten erreichte das
Bargeld nicht so schnelL Sie muBten nun, wo das Schie-
ben aufhorte, in erhohter Menge dem Gewaltverbrechen an-
heimf alien, Auch 1925 ist die Zahl der Morde noch sehr hoch,
sie fallt jedoch in den nachsten Jahren ab. 1926 sinkt sie auf 89
und 1927 sogar auf 64, was deutlich fur eine Befriedung der
Bevolkerung und fiir eine mit der zunehmenden Entfernung
von der Kriegspsychose gleichlaufende Riickkehr zu geordne-
ten Zustanden spricht.
Von nun an lain ich auf die Ergebnisse meines Archivs an-
gewiesen, Ich bemerke, daB es fiir einen Einzelnen auBerordent-
lich schwierig ist, die doch nur durch die Zeitungen ubermittel-
ten Mordnachrichten vollstandig zu erhalten. Die berliner Presse
referiert iiber die in der Provinz vorkommenden Kapitalver-
brecheri ungleichmaBig, oft gar nicht. Selten in einer der
Bedeutung solcher Falle Rechnung tragenden Weise. Schon
dieser Umstand laBt meine Zahlung auf jeden Fall hinter der
Wirklichkeit zuruckbleiben.
Ich gebe hier ebenfalls tabellarisch die Mordzahlen fur
die drei Jahre 1928, 1929 und 1930 neben der Aufstellung der
verjschiedenen Mordarten, will aber nochmals bemerken, daB
die von.mir gegebenen Zahlen wahrscheinlich t nicht an die
wirnliche Zif ier der in die sen drei Jahren gescKehenen Kapital-
yerbreebep heraiireicjieti?
40u
1928
1929
1930
Frauenniorde .
6
2
15
47
55
13
11
3
12
14
1
12
65
77
24
9
13
16
Giftmorde .........
4
Von Aerzten begangene Moide . . .
Kin derm orde
Raubmorde und and re Morde ....
Familienmorde
1
10
45
117
32
Politische Morde
27
Sexualmorde
23
157
227
275
An dieser Aufstellung frappiert vor alien Dingen der ge-
waltige Anstieg der Mordziffer im Jahre 1930, dem leider fur
die bisher abgelaufenen Monate des Jahres 1931 ein ebenso
gewaltsames Hinaufschnellen iolgt. 1928 wirkte noch die Her-
einriahme groBer Auslandsanleihen gfinstig. Die Mordziffer
sank auf 157. 1929 begann die Krise — die Mordzahi stieg
auf 227, und 1930, wo die Arbeitslosenziffer urn mehr als eine'
Million heraufrfickte, sind 275 Morde (nach meiner Rechnung)
geschehen. 1925, 1926 und 1927 betragt die Zahl der wegen
Mordes Angeklagten 594, und diese schon recht betrachtliche
Hohe wurde im letzten Triehnium noch um 64 Bluttaten iiber-
schritten, obwohl das Jahr 1928 einen ungemein gunstigen
Status aufweist. Was aber im hochsten MaBe bedrohlich er-
scheinen mufi, das sind einmal die 47 politischen Mordtaten
und zum andern die 317 Familien- und Gattenmorde, also
Bluttaten innerhalb einer Familie.
Nach meiner Anschauung sind derart grauenhafte Ereig-
nisse nur Exzesse, die im Zustande dauernder oder voriiber-
gehender Unzurechnungsfahigkeit begangen werden. Sie
sprechen aber fur eine schreckenerregende seelische Zermiir-
bung und fur einen Ernahrungszustand, der sich wiederum
jenen Kriegsjahren 1916 — 1917 nahert.
Und damit kommen wir auf den Kern der Sache: Namlich
das Gleichlaufen der Mordkurve und der Brotpreiskurve. 1914
kos'tete das Kilo Roggenbrot 28 Pfennig. Und dieser Brotpreis
hielt sich, mit geringen Schwankungen, auch durch die Infla-
tion und ihre Riesenziffern — die ja im Grunde nur ein Tau-
schungsmanover waren, um die unwissende Volksmenge, nicht
aber den Handler, zu betriigen und auszurauben — bis April
1924. Erst in der zweiten Halfte von 1924 stieg der Brot-
preis auf 33 Pfennig, ging 1925 auf 38 Pfennig, 1927 auf 43
Pfennig und 1928 auf 45 Pfennig, 1930 auf 46 Pfennig hinauf,
um im Jahre des Heils 1931 fiber die 50 hinauszuklettern. Ver-
gleicht man dieses Anscbwellen mit der Mqrdziffef, so wird
man— ihrierhalb der notwendigen Schwankungen -^- die Kon-
gruenz der Brotpreis- und Mordktirve feststellen. Diese Korr-
grnehz ist ein Ifaturgebot. SMafi foigt
40!
Die neue literarische Saison von Gottfried Benn
Gesprochen vor dem berliner Sender am 28. August 1931
T\ ie Formulierung, unter der der f olgende Vorirag angekiindigt
ist, erscheint mir etwas irrefiihrend und nicht gan<z gliick-
Hch. Ix& kann mieh iiber -die neue literarische Saison natiir-
lich gar nicht auBern, ich bin kein Prophet, ich bin auch kein
Kritiker, ich habe mit Verlagsprospekten nichts zu tun, ich
lese uberhaupt nicht viele literarische Biicher. Wenn ich aber
einmal einen von den neuen deutschen Romanen zu lesen an-
fange, finde ich, daD er sich sehr wenig von denen vor dreiBig
Jahren unterscheidet. Damals hieBen die Helden Hans und
Crete, heute. heiBen sie Evelyn und Kay, damals boten sie sich
auf Seite zweihundert hinter einer Rosenhecke das Du an und
versprachen sich furs Leben, heute bei einem Reifenwechsel
oder einem Propellerbruch nehmen sie Pupille auf ihre sport-
gebraunten Ziige, besprechen das Geschaftliche, eroffnen sich
ihre Komplexe und beschlieBen fiir die nachsten vierzehn Tage
in den Clinch der Kiisse zu gehen. Das erscheint mir kein gro-
Ber Unterschied zu sein, die Liebe ist es damals wie heute, die
•die Sedtenzahlen vermehrt und den Autor zu ausgreifender Ent-
wicklung treibt: — „Liebe denkt in siiBen Tohen und Gedanken
stehn ihr fern'4, sagt Tieck, namentlich von der zweiten Halfte
wird wieder ausgiebig Gebrauch gemacht werden, und ich bin
uberzeugt, daB auch in der neuen Saison diese Art Biicher
fiihren werden und in groBem Ansehen stehen- Daneben wer-
den wieder die zwei oder drei andern Biicher erschenren, die
die Epoche und was sie treibt, etwas kalter, entfernter, sprach-
lich schwieriger darstellen, und sie werden auch in der kom-
menden Saison genau so ungelesen bleiben, wie sie es in den
fruhern waren. Und in dies em Zusammenhang und da heute
der 28. August, namlich Goethes Geburtstag ist, worauf Sie
die Funkstund© ja schon bei andrer Gelegenheit heute hin-
gewiesen hat, mochte ich Sie, auch von der Iiterarischen Seite
aus, daran erinnern, daB der fiinfzigjahrige Goethe wahrend
des Xenienkampfes ein Literat von zweifelhafter Begabung ge-
nannt wurde, die Hauptbroschiire gegen ihn von den beiden
Sudelkochen in Weimar und Jena sprach, ein preuBischer
Stabsoffizier, der 1806 bei Goethe in Einquartierung lag, nie-
mals vorher dessen Nam en gehort hatte, und als die Gesamt-
ausgabe von Goethes Schriften unternommen wurde, der Ver-
leger in seinen Brief en bitter iiber den geringen Absatz klagte,
der von dem Werk, das von Goethes illegitimen Schwager
Vulpius verfaBt war, namlich; „Rinaldo Rinaldini" ganz be-
deutend iibertroffen wurde. Auch war es die Zeit, in der sich
die P-amen der weimarer Gesellschaf t von Goethe weg und
Kotzebue zuwandten, da dieser, wie es schon damals so herr-
lich hieB, „dem Leben naher stand" und „die Wirklichkeit"
brachte. Man muB also wohl prinzipiell und fiir alle Zeiten
eine Vordergrundsliteratur unterscheiden, die vom Feuilleton
umrankt wird und der die Damenwelt zuneigt, und eine Hinter-
grundsliteratur, ausschliefilich dazu berufen, von niemandem
als dem Gesetz der Personlichkeit dazu berufen, die wenigen
402
groBen Geister der folgenden Generation zu befrucMen und zu
erziehen,
Was die Gedichtbiicher der neuen Saison angeht, so wer-
den gewifi weiter die Sonnenuntergange von der Liineburger
Heide bis zum Oetztaler Alpenmassiv den Stoff liefern mit der
Einteilung: Liebe zur Natur* Liebe zu Gott und Liebe zu den
Menschen, Nicht weniger wird der Bahnbau in Wolhynien,
sowie die Hochofen der Ruhr mit aktivem Pathos besungen
werden, negativ oder positiv, je nachdem, ob der Sanger mehr
den arbeitgebenden oder arbeitnehmenden Schichten naher
steht. Stimmung und Gesinnung sind ja nun einmal die Eck-
pfeiler der kleinburgerlichen Poesie. Dazu der notige reale
Gehalt. Die konstruktive Glut, die Leidenschaft zur Form, die
innere Verzehrung, das ist ja kein Gehalt- Nie wird der
Deutsche erfassen, niemand wird ihm gegenstandlich machen
konnen (und es ist ja auch. gar nicht notig, daB es geschieht),
dafi zum Beispiel die Verse Holderlins substanzlos sindf nahezu
ein Nichts, um ein Geheimnis geschmiedet, das nie ausge-
sprochen wird und das sich nie enthiillt. Aber das sind Fi-
nessen, das will man nicht wissen, heutzutage, bei der Kassen-
lage, alle Mann an Bord, Ihre Sorge mochte ich habeti, mein
Herrt (iber die deutsche Dichtung!
Was unsre Biihnenkunst angeht, so durften wir eben aus
einer einzigen Zeitungsnummer crfahren, dafi eine dreiaktige
Komodie MDie Brustwarze" herauskommt und ein Schauspiel
„Schlanke Rotblondinen gesucht". Daneben aber brauchen wir
nicht unruhig zu sein, dafi auch der muntere Backfisch weiter
den alt en Onkel verwirrt und die hochbusige Vierzigerin sich
dem unverbrauchten Konfirmanden nahert, ganz wie in „So-
doms Ende", genau wie im „Schlaraffenland"( genau wie vor
vierzig Jahren. Die neue Nuance wird sich ausschliefilich im
Lokalkolorit aufiern: es gilt in der neuen Biihnenkunst als
smart, an der Bar, wahrend der Boy den Olivencocktail schiit-
telt, in drei Apercus zwischen Ratschlagen an den Mixer das
Facit von Lebensausgangen zu glossieren, und es gehort zum
Stil, die geistigen Vorwande fiir die KuJissenverschiebung so-
wie den Toilettenwechsel der Diva aus f ernen Zonen zu be-
ziehen. Steht gar in einem Blockhaus auf einem Holztisch eine
Whiskyflasche und aus der rauhen Goldsucherkehle entsteigt
der Woilustsong, steht die neue Synthese aus Biichner und
Kleist vor uns da. Ob diese Produkte auf dem Broadway, in
Paris oder innerhalb der einheimischen Industrie entstehen, ist
ohne Belang, wir haben das schone Beispiel, daB, wahrend wir
alle vergeblich nach der Internationale der Politik, des Zolls
und der Wirtschaft verlangen, die Internationale des litera-
rischen Tinnefs in hoher Bliite unter uns steht.
Hinter dieser reinen Vordergrundsliteratur, die auch in
der jetzt beginnenden Saison alien zum Trotz den Markt, das
Geschaft, die Zeitungen und die Gesellschaft beherrschen
wird, spielt sich jedoch ein echter literarischer und welt-
anschaulicher Kampf ab, steht eine Problematik, die nament-
lich die junge Literatur stark beschaftigt, die ernsthafte junge
Literatur, und sie zweifellos auch im kommenden Winter in an-
betracht der Zeitlage noch mehr beschaftigen wird. Bringen
403
wir dieses Problem auf eine kurze Formulierung, so ist sein
Inhalt der Gegensatz zwischen der kollektivistischen und der
artistischen Kunst, Die Frage, die diskutiert wird, lautet: hat
der Mensch bei unsrer heutigen sozialen und gesellschaftlichen
Lage uberhaupt noch das Recht, eigne individuelle Probleme
, zu empfinden und darzustellen oder hat es nur noch kollek-
tive Probleme zu geben? Hat der Schriltsteller noch das
Recht, seine Individualist als Ausgangspunkt zu nehmen, ihren
Ausdruck zu verleihen, darf er fur sie noch auf Gehor rechnen
oder ist er vollig zuruckgefiihrt auf seine kollektiven Schich-
ten, nur noch beachtenswert, ja interessant als Sozialwesen?
Losen sich, — haben sich zu losen — alle seine innern Schwie-
rigkeiten in dem Augenblick, wo er mitarbeitet am Aufbau
des gesellschaftlichen Kollektivs?
Dieser Problemkreis wurde in einem sehr raffinierten und
polemisch fesselnden Vortrag diskutiert, den im Friihjahr die-
ses Jahres hier bei uns der russische Schriftsteller Tretjakow
hielt und dem das ganze literarische Berlin zuhorte. Tretjakow,
auch bei uns als Dramatiker bekannt, nach seinem AuBern
und der Art seiner Schilderung ein literarischer Tschekatyp,
der alle Andersglaubigen in Rufiland verhort, vernimmt, ver-
urteilt und bestraft. Es lohnt sich, auf diese hochst aktuelle
Frage, die die jungen deutschen Schriftsteller so bewegt, einen
Augenblick einzugehen, Tretjakow schilderte, wie in RuB-
land wahrend der ersten zwei Jahre des Fiinfjahresplans im-
merhin noch einige psychologische Romane erschienen, denen
das Schriftstellerkollektiv auf folgende Weise zu Leibe ging.
Ein Roman zum Beispiel stellte dar, wie in einem Haus, das
einem Burger enteignet und fiir einen hohern Sowjetbeamten
requiriert worden war, dieser Sowjetbeamte zu trinken an-
ting, seinen Dienst vernachlassigte, herunterkam und der alte
Hauseigentumer allmahlich wieder seine Zimmer okkupierte.
Dies war in abendlandischer, psychologischer Manierf in her-
kommlicher Romanweise, etwas imaginar und ganzlich un-
politisch geschiidert, Tretjakow lieB den Autor bei sich er-
scheinen. ,,Wo hast du das erlebt, Genosse?" fragte er ihn.
ffIn welcher Stadt, in welcher StraBe?" „Ich habe es gar nicht
erlebt/' antwortete der Autor, ,,das ist doch ein Roman." ,fDas
gilt; nicht," antwortete Tretjakow, ,,du hast das irgendwo aus
der Realitat in dich aufgenommen. Warum hast du das nicht
der zustandigen Sowjetbehorde gemeldet, daB einer ihrer Be-
amten infolge Trunkes seinen Dienst unordentlich versah und
der Burger Hausbesitzer wietder seine Raume beziehen
konnte?" Wiederum antwortete der Autor: „Ich habe das ja
nicht in der Wirklichkeit gesehen, ich habe mir das zusammen
getraumt, zusammengereimt, gedichtet, eben einen Roman ge-
schrieiben." Darauf Tretjakow: t,Das sind westeuropaische
,Individualidiotismen\ Du hast verantwortungslos gehandeit,
eitel und konterrevolutionar. Dein Buch wird eingestampft
und du wanderst in die Fabrik/' Auf diese Weise, schilderte
Tretjakow, ist in RuBland jede individualpsychologische Lite-
ratur verschwunden, Jeder schongeistige Versuch als lacherlich
und bourgeois erledigt, der Schriftsteller als Beruf ist ver-
schwunden, er arbeitet mit in der Fabrik, er arbeitet mit fiir
404
den sozialen Aufbau, er arbeitet mit am Fiinfjahresplan. Und
cine ganz neue Art von Literatur ist im Entstehen, von dcr
Tretjakow einige Beispiele mitbrachte und mit groBem Stolz
vorzeigte. Es waren Bucher, mehr Hefte, jedes von einem
Dutzend Fabrikarbeitern unter Ftihrung cines frtihern Schrift-
stelLers verfaBt, ihre Titcl lauteten zum Beispiel; „Anlage einer
Obstplantage in der Nahe der Fabrik", ferner: ,,Die Durch-
luftung des EOraumes in dcr Fabrik1', ferner als -besonders
wichtig von einigen Wefkmeistern verfaBt: „Wie schaffen wir
das Material noch schneller an die Arbeitsstatten?" Das also
ist die neue russische Literatur, die neue Kollektivliteraturj
die Literatur des Fiinfjahrsplans. Die deutsche Literatur safi
zu Tretjakows FiiBen und klatschte begeistert und enthusias-
miert. Tretjakow wird sich iiber dies en Beifall sehr gefreut,
wahrscheinlich aber auch amiisiert haben, dieser kluge Russe
wuBte natiirlich ganz genau, daB er hier nur einen propagan-
dist isch en Abschnitt aus dem neuen russischen Imperialismus
entwickelte, wahrend die biedern deutschen Kollegen es als
absolute Wahrheit nahmen. Als welche Wahrheit? frage ich
mich nun. Welche Psychologies frage ich michf steht hinter
dieser russischen Theorie, die in Deutschland so viele Junger
findet?
Diese russische Kunttheorie, wenn man sie sich einmal
ganz klar macht, behauptet nicht mehr und nicht weniger,
als daB alles, was in uns, dem abendlandischen Menschen, an
Innenleben vor hand en ist, also unsre Krisen, Tragodien, unsre
Spaltung, unsre Reize und unser GenuB, das sei reine kapita-
Hstische Verfallserscheinung, kapitalistischer Trick. Und der
Kiinstler verarbeite aus Eitelkeit und Ruhmsucht, ja Tretja-
kow fiigte in wahrhaft kindlicher Unkenntnis der Verhaltnisse
hinzu: vor allem aus Geldgief diese seine ffIndividualidiotis-
men'\ wie er es immer nannte, zu Biichern und Dramen. In
dem Augenblick aber, wo der Mensch zur russischen Revo-
lution erwacht, so behauptet diese Theorie, fallt das alles
vom Menschen ab, verraucht wie Tau vor der Sonne und es
steht da das zwar armliche, aber saubere, das geglattete hei-
tere Kollektivwesen, der Normalmensch ohne Damon und
Trieb, beweglich vor Lustf endlich mitarbeiten zu dtirfen am
sozialen Aufbau, an der Fabrik, vor allem an der Festigung
der roten Armee, Jubel in der Brust: in den Staub mit alien
Feinden nicht mehr Brandenburgs, sondern Moskaus.
Ich frage nun, ist das psychologisch wahrscheinlich oder
ist das primitiv? Ist <ler Mensch in seinem Wesen, in seiner
substantiellen Anlage, im letzten GrundriB seines Ich natura-
listisch, material ist isch, also wirtschaftlich begriindet, wirt-
schaftlich gepragt, nur von Hunger und Kleidung in der Struk-
tur bestimmt oder ist er das groBe unwillkiirliche Wesen, wie
Goethe sagte, der Unsichtbare, der Unerrechenbare, der trotz
' aller sozialen und psychologischen Analyse Unauflosbare, der
auch durch diese Epoche materialistischer Geschichtsphilo-
sophie und atomisierender Biologie seinen schicksalhaften Weg:
eng angehalten an die Erde, aber doch iiber die Erde geht?
Ich las in diesen Tagen von einem der Haupter der jun-
gen deutschen Literatur, das in der vorigen Saison eine Rolle
405
spicltc und wahrscheinlich auch in der kommehdcn sich be-
merkbax zu machen versuchen wird, den Satz: flDas Ewig-
Menschliche wider t uns an." Er sprach, da er „uns" sagte,
also wohl im Namen einer Gruppe, einer Gesinnuagsschicht,
wohl der wahren neuen deutschen Literatur. Er meinte d'ann
weiter: wir sind fur Realitaten, „organisieren wir das Leben,"
rief er aus, ,,uberlassen wir," fiigte er hohnisch hinzu, „den
,tiefen Schriftstellern die tragischen Probleme; wir unsrer-
seits wollen leben!" Das ist also nun wohl die Tretjakow-
gruppe in Berlin und sie ist esf der gegeniiber ich altmodisch
und abendlandisch die These aufrecht zu er halt en habe, daB
durch Organisation seiner Wohnungs- und Nahrungsverhalt-
nisse der Mensch in seinen entscheidenden, das heiBt nicht
etwa nur kunst- umdern auch lebensproduktiven Schichten
nicht bestlmmend verandert wird. Mit „bestimmendM meine
ich: erbmaBig formandernd, anlagemaBig wesenhaft nicht ver-
andert wird. Auch wer nicht weniger radikal als die paten-
tierten Sozialliteraten das nahezu UnfaBbare, iast Vernich-
tende unsrer jetzigen Wirtschaftslage, vielleicht unsres Wirt-
schaftssy stems empfindet, muB sich meiner Meinirng nach doch
zu der Erkenntnis halten, daB der Mensch in alien Wirt-
schaftssystemen das tragische Wesen bleibt, das gespaltene
Ich, dessen Abgriinde sich nicht durch StreuBelkuchen und
Wollwesten auffxillen lassen, dessen Dissonanzen nioht sich
auflosen im Rhythmus «iner Internationale, der das Wesen
bleibt, das leidet; das Hunderttausende von Jahren ein Haar-
kleid trug und in dem nicht weniger tief und schmerzhaft urn
sein Menschentum kampfte als heute in Buckskin und Cheviot.
Und selbst wean man die ganze Epoche des Individualismus
ausloschen konnte, die ganze Geschichte der Seele von der
Antike bis zum Expressionism us: eine Erfahrung bliebe ge-
geniiber der innern Raumlosigkeit dieser Tretjakow-Vorstellung
als groBe Wahrheit durcH* alle Saisons, durch alle geschicht-
lichen Epochen bestehn: wer das Leben organisieren will,
wird nie Kunst machen, der darf sich auch nicht zu ihr rech-
nen; Kunst machen, ob es die Falken von Aegypten sind oder
die Romane von Hamsum, heiBt vom Standpunkt der Kiinstler
aus, das Leben ausschlieBen, es verengen, ja es bekampfenf
um es zu stilisieren. Und noch eins wiirde ich hinzufiigen,
etwas Historisches, da dessen Kenntnis in diesen Kreisen
offenbar so mangelhaft ist; der Kampf gegen die Kunst ent-
stand nicht in RuBland und nicht in Berlin. Er geht von Plato
bis Tolstoi, Er ging immer von den mittlern Kraften auBer-
halb, aber auch innerhalb des Kiinstlers gegen die hoheren.
Alle Kampf e, mit denen die heutige Saison beginnt, alles, was
die Tretjakowleute gegen die „tiefen Schriftsteller" sagen,
schrieb vor hundert Jahren Borne gegen Heine, Heine gegen
Goethe. (Vergleiche Ludwig Marcuse: Das Leben Ludwig Bor-
nes. List- Verlag,) Goethe: ,,Das Zeitablehnungsgenie", wie, Heine
iltn nannte. Goethe: „Der Stabilitatsnarr", wie Borne von ihm
schrieb. Goethe, der Feind des Werdens; Goethe, das trage
Herz, das nie ein armes Wortchen fiir sein Volk gesprochen;
Goethe, der am 2, August 1831 ein en Besucher fragte, was
er von dem machtigen Zeitereignis halte, alles sei in Garungi
406
der Besucher antwortete rait Ausfiihrungen iiber die Juli-
revolution, die grade alles in Atem hielt, woraufhin Goethe
sich indigniert und uninteressiert abwaadte, denn er hatte an
einen wissenschaftlichen Streit iiber die Entwicklungslehre ge-
dacht. Das war also Goethe, der Mann der Zuruckhaltung, des
MaBes, des Selbstschutzes, namlich der Mann der Kunst, dem
man es verdachte, daB er nicht der Mann des Stammtischs
war. Aber Heine ging es dann nicht anders. Heine ficht mit
Blumen, schreibt Borne, Heinen ist es einerlei, ob er schreibt,
die Monarchic oder die Republik ist die bessere Staatsform,
er wird immer das wahlen, was in dem Satz, den er eben
schreibt, grade den besten Tonfall macht. Heine, der mit
dem Asthetenkitzel, der immer nur die Frage bereit hatte:
,,Aber ist es nicht schon ausgedriickt?" Heine, der den Ta-
baksqualm der Volksversammlungen scheut und den SchweiB-
geruch der Subskriptionslisten: Heine war damals der Feind,
der „tiefe Schriftsteller" und Borne der Tretjakowjiinger, der
junge Mann, den das Ewig-Menschliche anwidert, Und nach
weitern hundert Jahren, wenn Einer an einem unwahrschein-
lich imaginaren Hertzwellen-Apparat steht und dann die Sai-
son einleitet, wird es wahrscheinlich nochmals so sein. Aber
vielleicht wird er an unsre Saison dann doch eine Frage rich-
ten, Vielleicht wird er dann doch sagen, wo war eigentlich
in der damaligen Krisenzeit innerhalb der jungen literarischen
Generation Jener, der der . nicht mit Theorien und Redens-
arten vorging, sondern mit Substanz und Werken? Wo war
eigentlich das Gehirn, das alle diese Stimmungen, Moglich-
keiten, Zuckungen, Wehen aufnahm und nicht in Geschwatz
und Feuilletons reportierte, sondern die Zeit durch seine Exi-
stenz zeugend legitimierte, der nicht tiberall mitlief, den Rum-
mel mitmachte, dabei war, sondern die Trachtigkeit zu der
Erkenntnis hatte; wer mit der Zeit mitlauft, wird von ihr tiber-
rannt, aber wer still steht, auf den kommen die Ding e zu?
Vielleicht wird er dann einen sehn, ich heute sehe inn* nicht.
Es miiBte ja auch cin riesiges Gehirn sein, schon wegen der
Wucht des Instichlassens alles dessen, was bewahrt und giltig
in unsrer OHentlichkeit steht. Nicht bloB Honorare muBte es
im St ich lassen und die Gegenseitigkeit der Literaten und das
Sich-bererUStellen fur die Saison, auch langes Schweigen
miiBte es haben und langes Warten und Hinwegse'hn iiber alle
St at ten alt en Spiels und alt en Traums, Salzburg, Wien, den
Kurfurstendamm, den ganzen Erholungs- und Amiisierimpres-
sionismus erotisiertcr Schieberschichten der letzten funfzig
Jahre miiBten vor ihm versinken, ja — so melancholisch es ist,
es auszusprechen, so sehrwdas Wort zogert es zu tun, so sehr
es furchtet,y miBverstanden zu werden; es miiBte auch Paris
verlassen. Nie zu vergessen, nie dankbar genug sich zu er-
innern: die wahrhaft groBe abendlandische Haltung der La-
tinitat, die Frankreich in jahrhundertlanger strengster dialek-
tischer Arbeit vor uns entwickelte und uns hinterlieB; der ein-
zige geschlossene geistige Raum, in den Europa seit dem Hel-
lenentum blickte, Nietzsche und die literarische Generation
um 1900 hat es uns als unvergleichlichen Besitz fur immer
gerettet, aber wir sind weiter gegangen, haben mehr erlebt,
407
mchr aus uns hervorgegraben, mehr in uns herabbeschworen,
als dafl wir uns cincn Ausdruck bei der gesicherten und tra-
ditionell gebundenen Form des klassisch-antikisierenden Gei-
stes leihen diirften. Es mtiBte welter gehn dies groBe Ge-
hirn: ganz gestimmt auf die Fuge des neuen sich ankiindigen-
den Weltgefuhls: der Mensck nicht mehr der dicke hoch-
gekampfte Affe der Darwinschen Aera, sondern urspriinglich
und primar in seinen Elementen als metaphysisches Wesen
angelegt, nicht der Zuchtstier, nicht der Sieghafte, sondern
der vom Anfang an Seiende, der tragisch Seiende, dabei im-
mer der Machtige uber den Tieren und der Bebauer der
Natur.
Aus diesem neuen Menschheitsgefiihl wird die kommende
Saison sich bilden, die vielleicht nicht in diesem Winter an-
bricht und, soweit ich sehe, noch gar nicht in der literarischen
Literatur. Aber die Forschung fuhrt uns em Blick immer
weiter zuriick auf Menschengeschlechter, die ' vor Millionen
Jahren auf der Erde wohnten, Geschlechter, die einmal mehr
Fisch waren, einmal mehr Beuteltier, einmal mehr Affe, aber
immer Menschen: Wohnraum schaffend, Handwerk schaffend,
Gotter schaffend, hunderttausendjahrige Kulturzusammenhange
schaffend, die wieder vergingen in Katastrophen unter noch
ungestirnten Himmel und in vormondalter Zeit. Von diesem
Blick aus, glaube ich, wird sich das neue Menschheitsgefiihl
entwickeln, von diesem Blick aus wird der Individualismus ab-
gebaut werden* der |>sychologische und intejllektiuali$tische
unsrer Tage, nicht durch das Gekrausel von Literaten und
nicht durch soziale Theorien.
Der uralte, der ewige Mensch! Das Menschengeschlecht!
Unsterblichkeit innerhalb eines schopferischen Systems, das
selber wieder Erweiterungen und Verwandlungen unausdenk-
bar unterworfen ist. Welch langes Epos! Luna, die Busch
und Tal ftillte, ist der vierte Mond, in den wir sehn! Nicht
Entwicklung: Unaufhorlichkeit wird das Menschheitsgefuhl des
kommenden Jahrhunderts sein, — warten Sie in Ruhe ab, daB
es sich nahert, eines Tages, wahrscheinlich auBerhalb der lite-
rarischen Saison, werden Sie es sehn.
Geschaft und trotzdem! von Rudoit Amheim
\V7 enn einmal in einem Film ein Filmkritiker aufzutreten
hatte, so wiirden ihn die Her r en von der Industrie etwa
mit Alfred Doblins Bruder Hugo besetzen: ein verhutzeltes,
zusammengekriimmtes Mannchen, die Hande vor dem Bauch
in einem unsichtbaren Muff verborgen, listige, kurzsichtige
Auglein, viel Bosheit und wenig Seife. Denn die Rotte der
Filmkritiker dient den Produzenten als lebendiger Beweis da-
fur, dafi der Menschen Trachten bose ist von Jugend an, Der
Filmkritiker waltet streng aber ungerecht, er weint, wenn er
lachen soil, und wenn er weinen soil, so lacht er. Die Frei-
karte in der Hand, zieht er aus, das Geschaft zu verderben.
In Wirklichkeit wird jeder, der es ernst mit der Filmkunst
meint, vor der Premiere eines neuen Films ein leichtes Lam-
penlieber spur en, und wahrend er unruhigen Auges liest, wer
408
die Tonkopie lieferte, wer dem Regieassistenten assistierte
und wer den Aufnahmeleiter leitete, denkt er nicht ohne Herz-
klopfen: Mochte es doch einmal etwas Gutes werdcn! Urn so
dankbarer muB man dem Regisseur E. A. Dupont sein, dafi er
mit seinem Zirkusfilm „Salto Mortale" diese Hoffnung endlich
einmai wieder erfiillt. Dieser Film steht turmhoch tiber allem,
was wir in der letzten Zeit gesehen haben. Der Zirkus, ein
Milieu, in dem sich die Manuskriptschreiber von jeher bis zum
UberdruB tummeln, leuchtet, ifunkelt, erregt von der ersten
machtvoll einsetzenden Szene an. Mit einer fast mono-
manischen Besessenheit bringt Dupont in Hunderten von iiber-
raschenden Einstellungen die- toten Dinge zum Sprechen. Git-
terwerk und Spiegel, Glaser, Geriimpel, Uniformen dekorieren
Menschenschicksale; in der Glasplatte eines Bartischs er-
scheint unter Cocktailglasern ein Frauengesicht; zwischen den
Kopfen zweier heftig erregter Menschen leuchtet riesenhaft
eine milchweiBe Ampel; die handelnden Figuren sind geborgen
in ihrer Welt, spielen nicht vor Kulissen sondern eingeschmiegt
in einen prachtvoll ausgeiiillten, mit Bedeutun-g durchsattigten
Raum, der in hundertfachem Echo mittont. Jeder Schauspieler
ist zu einer iiberraschenden Type zurechtgeknetet, die ein-
deutig wie ein Plakat ist, ohne herkommlich zu sein. Kurt
Gerron als gespenstisches Monument eines Sonderlings, halb
Schildkrote, halb Ameisenbar, hockt unbeweglich im Gestriipp
einer Erfinderwerkstatt Er braucht nicht zu f, spielen \ uncf
das ist es, was der Filmschauspieler vom Film verlangen muB.
Jede Filmszene muB so mit Episoden besetzt, so von Requi-
siten gestiitzt sein, daB der Schauspieler nur dazusein, anzu-
sehen braucht. Mimen darf man auf der Opern- und der
Sprechbiihne. Der Wirklichkeitsnahe der Photographie wider-
spricht es. Aber der Schauspieler kann, im Interesse der Ver-
standlichkeit, nur dann sparsam sein, wenn die Bild- und
Handlungsmotive nicht schweigen sondern sprechen, ihn wie
einen Schwimmer tragen. Dies gelingt Dupont begreiflicher-
weise bei den Chargenspielern besser als bei den Hauptdar-
stellern. Wo der Dialog einsetzt, gibt es leicht 'Deklamation
und falsche Tone. Es ist fiir die Leistungen der bewahrten
Regisseure im Tonfilm charakteristisch, dafi sie Ausgezeich-
netes bieten, soweit sich die Handlung durch Bild oder Ge-
rausch von der Oberflache her formen laBt, dafi sie aber beim
Wort leicht ins Schiilerhafte fallen und den Schauspieler ohne
Halt lassen. Das ist schwierig fiir Anna Sten, leichter fur eine
so stabile Figur wie Reinhold Berndt, dessen neues Gesicht
sich sogleich einpragt. Diese hohlen Proletarieraugen, zwi-
schen schiefen Backenknochen wie in einen Blumentopf ein-
gepflanzt, diese natiirliche Eckigkeit und Schwere, das scharfe
Krahen dieser Stimme — da hat Dupont einen guten Griff ge-
tan. Wie denn uberhaupt sein Film alle Aufmerksamkeit der
Kinofreunde verdient. Um zahlreiche Beweise der Teilnahme
wird gebeten . . .
. . . wie Max Adalbert in der ,,Schlacht von Bademiinde"
sagt. Bekiimmert, und durch einen goldenen Feuerwehrhelm
der Situation Rechnung tragend, kampft er gegen eine Ober-
schwemmung von Matrosen und Infanteristen, die in ihrer be- '
409
liebten rauhen Art das voa .Vandevelde vorgeschriebene Vor-
spiel zur Vergattung mit Blasmusik und Pauken auffiihren.
Selbst Adele Saradrocks diirrer Kassandra-Arm kann hier nicht
Einhalt gebieten, dcnn das selbstgebastelte Kriegsschiff der
Ufa, jener Potemkinsche Panzcrkreuzer, von dem hicr nculich
die Rede war, war offenbar durch die ,,Bomben auf Monte
Carlo" noch nicht geniigend amortisiert, und so gab es fur die
Matrosen aufs Neue Landurlaub, diesmal in einem weniger
eleganten, von Max Adalbert mit dem Artikel 48 regierten
Badeort. (Wahrend in der gleichen Woche, als ein leuchtendes
Gegenbeispiel zionistisch-nationalistischer Rassentheorien Sieg-
fried Arno mit Matrosenmiitze am Steuerrad debiitierte. Man
soil die Marine nicht an die Wand malen!) Was fur einen Ko-
modienstoff konnte so ein Badeort abgebeii! Hatte sich doch
der Produktionsleiter, Herr Ulrich, statt in die stickige Luft
der Kostiimkammer, in der die Filmtypen eingemottet liegen,
fiir vier Wochen an die deutsche Ostsee begeben!
VerpaBte Chancen innerhalb der durch den Geschmack
des Massenpublikums vorgezeichneten Grenzen, Dazu noch
zwei Beispiele; Wochenschau und Kabarett-Film. Nun haben
wir auch in Berlin ein Wochenschau-Kino, aber es bringt
nichts andres sondern nur mehr als wir aus dem Vorprogramm
gewohnt sind. Soil die Wochenschau, dieser Liebling des
Publikums, immer weiter ein zusammengewiirfelter Haufen
von Bildern bleiben, schema tisch eingeengt durch langweilige
Zwischentexte? Welch eine Aufgabe fiir geschickte, intelli-
gente Monteure solches Material durcheinander zu schneiden,
durch lebhaften Begleitspruch zu beleben, Beziehungen inhalt-
licher oder rein bildlicher Art zwischen Heterogenem herzit-
stellen, den koketten Bernard Shaw mit den hohnisch lachen-
den Vogeln von Port Elizabeth zu konirontieren und die Ein-
geborenentanze der Kolonialausstellung mit Reinhardts feier-
lichen Salzburger Choren, Und was alles lieBe sich mit dem
Filmkabarett machen! In Kurt Gerroiis Ufa-Kurzfilmen wird
die Biihne abphotographiert. Die Kamera ist gefesselt wie vor
zwanzig Jahren. Bedauernswerte Stimrhungssanger, aufge-
scheuchte Humoristen, blasse Jazzbandparaden, und alle zwei
Minuten fallt leibhaftig der Vorhang. Wahrend doch hier, wo
es keine Bindung durch ,tHandlung" gibt, Feuerwerke der
Kamerakunst abgebrannt werden konnten.
Eine Chance ausgenutzt haben Wilhelm Thiele, S. Fodor
und Kurt Siodmak in ihrer pariser Arbeit tiDer Ball". Hier
kann die beruhmte Kochin aus Treuenbrietzen fiir ihr Ein-
trittsgeld lachen, ohne dafi ihre anspruchsvollere Dienstherr-
schaft unter Protest das Kino verlassen miiBte. Dies leicht-
gefiigte Rondo gipfelt, zwischen happy beginning und happy
end, in dem eindrucksyollen Bilde eines leeren, prunkvollen
Tanzsaals, belebt durch den einsamen Galgenhumor eines
abenteuerlichen Tanzerpaars, begleitet durch den Gelachter-
chor der umsonst bestellten Dienerschaft, den Werner R. Hey-
mann sehr tongerecht in die, Melodie der Tanzmusik em-
arbeitet. Dies durchaus nicht vpllig makellose Lustspiel ist
dennoch fiir das Pufolikum ein Vergniigen und fiir alle Pro-
duktionsleiter ein kleines Lehrstiick.
410
UFA UOd Alltoren von Max Magnus
„Im Verfolg von Pressemeldungen, nach denen sich Filmschrift-
steller in ihrer Eigenschaft als Vermittler von Stoffen geschadigt ftih-
len, bitten wir Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daB die UFA das Agen-
ten- und Provisions-Unwesen aufs energischste bekampft . Die UFA
schlieBt stets nur direkte Vertrage ab, so daB wir Ihnen dankbar
waren, wenn Sie Filmbearbeitern auf die Behauptung hinf sie konnten
einen Stoff bei der UFA unterbringen, keine Optionen mehr einrau-
men wiirden/1
FVes ist der genaue Wortlaut eines Schreibens an fiihrende
•deuische Verleger und stellt die einzige greifbare Antwort
dar, zu der sich die UFA auf meine in der ,Weltbuhne* am
11. August erhobenen schweren, sachlich begriindeten Anschul-
digungen gegen ihre Dramaturgische Abteilung am 2. Septem-
ber bequemte. Dieses Rundschreiben ist eine Ablenkung
von Tatsachenf denn keiner der von mir aufgefiihrten Autoren
hat auch nur in irgend einer Form Provision fiir die Zubringung
eines Filmstoffes verlangt noch erhalten. Es ist ferner der
Versuch, sich fur weitere Aufdeckungen von Verfehlungen ihrer
Dramaturgischen Abteilung, die sich auch liber das zurzeit in
Arbeit beiindliche Produktionsprogramm der UFA erstrecken,
Deckung zu konstruieren. Dadurch will die UFA anscheinend
von sich aus Material zu einer Gegenerklarung zur Hand ha-
ben, die fiir AuBenstehende begriindet erscheint. In Wahrheit
stellt dieser Brief an die Verleger eine bedenkliche Tauschung
iiber den wirklichen Tatsachenkern meiner Anschuldigungen
dar. In fast traditioneller Abneigung der Filmindustrie gegen
Originalstoffe verlangt die UFA wie fast alle iibrigen deutschen
Filmfirmen dmmer wieder nur erfolgreiche Novellen, Romane
oder Theaterstiicke, die ein Kassengeschaft eben durch ihre
Erfolgsstatistik auch als Filmprodukt garantieren. Bei dem
Erwerb derartiger Stoffe bedient sich aber die UFA auch
nachweisbar sogenannter gewerbsmaBiger „Stoffvermittler'\
Dieser UFA-Brief an die Verleger also scheint nur darauf hin-
zuzielen, jedes Angebot eines zur Verfilmung geeigneten Stof-
fes als Versuch einer Provisionsvermittlung zu denunzieren.
Seit Jahren ist es innerhalb der Filmindustrien Amerikas,
Deutschlands, Frankreichs und Englands handelstiblicher Brauch,
daB Autoren mit dem Hinweis auf fremde Filmstoffe Anrecht
auf einen Manuskriptauftrag erwerben. Und davon miissen die
meisten Filmautoren leben, da die Filmindustrie fiir frei erfun-
dene Originalstoffe selten Verstandnis hat und haben will, die
auch bestenfalls nur von einem versierten Dramaturgen ver-
standen und richtig gewiirdigt werden. Das aber ist nicht aus-
schlaggebend, da erst die nachfolgenden Instanzen, Produk-
tionsleiter, Verleiher etcetera, iiber den Ankauf eines Stoffes
entscheiden und selten imstande sind, aus einem kurzen Film-
exposd allein seinen richtigen Wert zu erkennen. Die Schuld,
daB produktive Autoren mit kiinstlerischem Ehrgeiz nicht eigne
sondern fremde Stoffe zur Verfilmung anbieten miissen, liegt
also bei der Industrie, bei der UFA selber und nicht bei denen,
die dazu genotigt wurden. Die Aufforderung der UFA an die
Verleger, keine Optionen mehr an Filmschriftsteller zu ver-
411
geben, ist ein rticksichtsloser Eingriff in die Existenz und Ta-
tigkcit der Autoren, der andern Produzenten und Verleger.
Andrerseits hat ja die UFA durch ihr Verhalten bewiesen,
daB es ihr vollig gleichgiiltig ist, ob Autoren im Besitz von Op-
tionen sind odcr nicht. Die Dramaturgische Abteilung hat
Autoren aui die Suche nach Filmstoff en geschickt und hat dann
unter Umgehung dieser beauftragten Autoren diei Optionen
der ausgesuchten Stiicke erst nach ihrem Ablauf direkt vom
Verlag erworben. Sie hat sich Filmideen ausarbeiten und diese
spater unter Ausschaltung des eigent lichen Urhebers von an-
dern bearbeiten lassen. Sie hat Schindluder mit materiell
Schwachern getrieben und sie nach Willkiir ausgebeutet. Es
steht mir reiches Material dariiber zur Verfiigung, wie das ge-
schehen ist und in was fur Not sie die Geschadigten gebracht
hat. Denn die UFA ist nicht nur die groBte, deutsche sondern
auch die groBte europaische Filmgesellschaft und ist kraft ihrer
internationalen Beziehungen imstande, eine auf den Film ge-
griindete Existenz, wenn auch nicht vollends zu ruinieren, so
doch empfindlich zu schadigen. Gegen die Interessen der deut-
schen . Kinobesitzer ist es ihr durch Beziehungen zu ein*
fluBreichen Stellen gelungen, einen gesetzlichen Filmeinfuhr-
schutz, kurz Kontingent genannt, herbeizufiihren, der ihr ein
Monopol auf dem Gebiet der Fabrikationt des Verleihs und Ver-
triebs und auch des Theatergeschafts sichert. Gegen diese iiber-
machtige Organisation haben also Autoren offentliche Auf-
lehnung gewagt, die Gefahr des Boykotts, des Ruins ihrer Exi-
stenz dadurch heraufbeschworen. Denn wie ist im allgemeinen
die Lage der deutschen Filmautoren? Der Autor lebt fast immer
im wahrsten Sinne des Wortes von der Hand in den Mund. Hat
er keinen Auftrag, dann hat er auch kein Geld, da das vorher
verdiente Geld erst langsam in Ratenzahlungen, Wechseln etce-
tera hereinkommt, 1st er aber nach vielen fehlgeschlagenen
Arbeiten und Bemuhungen im Besitz eines Auftrags, so reicht
das Geld bestenfalls dazu, um tagliche Ausgaben und alte
Verpflichtungen zu bestreiten, da die Restzahlungen wieder
erst auf dem erbarmlichen Teilzahlungsweg hereinkommen.
Von interessierter Seite sind meine schweren Anschuldi-
gungen gegen die Dramaturgische Abteilung der UFA als Hetze
dargestellt worden. Dies war und ist nie der Sinn meiner
Ausfuhrungen gewesen, Ihr Ziel ist nur, 'die maBgebenden Per-
sonlichkeiten der UFA auf Verfehlungen und MiBstande in der
Dramaturgischen Abteilung aufmerksam zu machen.
In der Geschichte groBer und fiihrender Unternehmungen
steht das Verhalten der UFA derartigen Anschuidigungen ge-
geniiber einzigartig da. Denn es gab darauf nur eine Antworh
Klarung um jeden Preis, sei es auf Grund eines zivil- oder
strafrechtlichen Prozesses, Entweder Klage gegen mich — oder
Aufforderung zur Vorlage und Einsichtnahme meiner Unter-
lagen, die eine vollkommene Um- und Neti-Besetzung der UFA-
Dfamaturgie riach sich ziehen miissen.
Statt - dessen hat man Mittel angewandt, dereri sich ein
Uriteriiehmen wie die UFA schamen sollte. Dabei hat der
verantwortliche PToduktiorisdirektor der UFA Ernst Hugo
Cor ell, iiber mich Unwahrheiteh verbreitet. Und als mein Kol-
412
lege Paul Marcus (Pern) auf Grund ernes Interviews mit leiten-
den Personlichkeiten der UFA und nach Einsichtnahme in mein
Material im ,Montag Morgen* sich offentlich gegen das Ver-
bal ten der UFA wandte und Klarung verlangte, hat die UFA
ihren Pressechef, Heinrich Pfeiffer, in den Verlag geschickt
und versucht, Marcus um seine Existenz zu bringen.
Ich gebe nunmehr ein paar andre Falle, die wiederum ad
libitum fortzusetzen waren . . .
AnmaBender Feldwebelton und rucksichtsloser Machtdiin-
kel zeigt sich in dem Briefwechsel mit einem Autor, der die
UFA-Dramaturgie sehr hoflich darauf aufmerksam machte, dafi
sein bereits im Filmregister einer Filmfachzeitung geschiitzter
Titel „Meine Frau, der Doktor" groBe Ahnlichkeit mit dem
Titel eines UFA-Films ,,Meine Frau, die Hochstaplerin" auf-
weise. "„Wir sind uns im Zweifel, ob Ihr Schreiben vom 12.
dieses Monats auf einem Scherz oder auf Unkenntnis der deut-
schen Sprache beruht. Da wir zunachst das Letztere anneli-
men, weisen wir Sie darauf hin, daB die Worte: ,Die Hoch-
staplerin' und fder Doktor* sprachlich verschiedene Begriffe
sind. Wir sehen deshalb einer Unterlassungsklage in Ruhe
entgegen." Abgesehen davon, daB der Brief des Autofs in
auBerst hoflichem Ton gehalten war und keinerlei Klage-
androhungen enthielt, ist die Antwort der UFA hochst unsach-
lich, denn beide Titel sind in ihrer Wirkung durchaus gleich.
Nichts Neues in der Koch-StraBe. Mit der Devise: MGut
geklaut, dst halb gelungen!" wird in der UFA-Dramaturgie also
weiter gearbeitet. Im Zusammenhang damit gewinnt das Preis-
au&schreiben der UFA in der Scherlschen ,Woche* an Bedeu-
tung, Denn dieses Preisausschreiben gibt den festbesoldeiten
Handlangern der UFA-Dramaturgie Einblick in fremde Expo-
ses und Filmideen, die, wenn sie als nUnverwertbar" zu-
ruckgesandt werden sollten, auch ohne „dolus" und nachweis-
bares Plagiat in spatern Bearbeitungen andrer Manuskripte
wieder auftauchen konnen. Immer wieder wird von Seiten
der Autoren, und das nicht ohne Berechtigung, behauptet, daB
Herren aus der Dramaturgischen Abteilung aus ihren Exposes
Details, Einzel-Szenen und Ideen in ihren Manuskripten ver-
wandt haben, die natiirlich als Plagiate in den seltensten Fal-
len nachgewiesen oder beiangt werden konnen.
Mit welch rucksichtslosem Machtdiinkel die Dramaturgic
im BewuBtsein ihres Monopols arbeitet, geht eindeutig aus dem
Fall des Schriftstellers H. R. Berndorff hervor. Vor ungefahr
einem Jahr kiindigte sie einen Film unter dem Titel seines
Buches ,iSpionage" an. Die Handlung entsprach ungefahr
der Berndorffschen Artikelserie „Mademoiselle Docteur".
Man hatte also wieder einmal versucht, ohne irgend welche Ber
sitzrechte einen fremden Stofl zu annektieren, Berndorff
muBte erst gegen die UFA ProzeB fiihren, um ihr zu beweisen,
daB ihre Handlung rechtswidrig war. Er und sein Verleger
flatten namlich der UFA „MademoiselIe Docteur'' zur Verfil-
mung angeboten. Und als die UFA bereits den Film drehte,
weigerte sie sich, das Honorar zu zahlen. Sie begrundete das
mit der Erklarung, daB alles j.geschichtlich1* und der Titel des
Berndorffschen Buches f!Spionage" nicht geschiitzt ware.
413
Beunruhigend wirken auch dieVorwiirfe der Fihnschrift-
stcllerin Margarete-Maria Langen gegen den Chefdramaturgen
dcr UFA, Herrn PodehL Sic hattc mit dem Filmautor Max Jungk
im Bureau dcr Terra-Filmgesellschaft (iber ihrc Filmoperctte
„Scheidungsfieber" gesprochen. Jungk hattc scin Intcretsse fur
diesen Stoff bektuklet und wollte ihn zusammen mit Frau Lan-
gen fur die UFA schreiben. Auf seine Veranlassung hin sandte
sic ihm und Podehl ihr Expose am 18. April 1930. Podehl
schickte es ihr am 20, Mai, einen Monat spater, zurtick. Doch
ganz unerwartet bckam Frau Langen ein Jahr spater, am
13. Mai 1931, die erneute Aufforderung von Podehl, ihm das
gleiche Expose zur Verfiigung zu stellen. Noch am selben
Tagc sandte sie es an die UFA ab und crhiclt es am 9. Juli
zuriick. Kurz darauf erfuhr sie durch Zeitungsnotizen, daB
Jungk fiir die UFA ein Manuskript „Sein Scheidungsgrund"
geschrieben hattc, das im Wesentlichen dem Inhalt ihrer der
UFA eingereichten Operettc „Scheidungsfieber" entsprach.
Was ging davor? Warum tciltc Podehl Frau Langen nicht mit,
daB die UFA bercits vor dcr Einreichung ihr as Manuskripts
einen ahnlichen, wenn nicht gieichen Stoff erworben hatte?
Warum lieB sich Podehl nochmals am 13. Mai dieses Jahres
das gleiche Expose geben?
Im ubrigen erhebt Frau Langen ernsthaft Vorwiirfe gegen
die UFA wegen Verwendung von Details, Bildeinfallen und
sogar Schlagertexten. aus den Exposes, die sie der UFA ein-
reichte und als .Ainverwendbar1' zurtickerhielt,
Emporend ist das Veirhalten der UFA-Dramaturgie gegen-
iiber dem Biihnenautor Carl Gustav von Negelein. Er ist von
dcr Dramaturgen-Clique d«r UFA schwer geschadigt und aus-
genutzt worden. Er schrcibt wortlich:
„Ich fuhle roich durch die UFA, speziell durch die Herren Lieb-
mann und Podehl, sowohl pekuniar als auch rein kunstlerisch schwer
geschadigt. Das Nahere ergeben folgende Belege. Ich komme erst
jetzt dazu, die Sache aufzurollen, da ich in letzter Zeit schwer herz-
leidend gewesen bin, auch sehe ich in dem kurzlich erschienenen
Artikel gegen die UFA und in dem gemeinsamen Vorgehcn mehrerer
Schriftsteller, die sich in ahnlicher Lage wie ich befinden, gegen die
UFA erst eine Moglichkeit, meine Anspruche gegen die stets rigoros
vorgehende und wirtschaftlich so bedeutend uberlegene groBe Film-
Aktiengesellschaft mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg vertreten zu
konnen. — Der beiliegende Vertrag fur Kurzfilme hatte mir noch
1400 Mark eingebracht. — Derselbe ist aber von Herrn Podehl direkt
sabotiert worden. „Ich fahr' mit Dir nach Teheran" sollte 6000 Mark,
davon 4000 Mark fur mich bringen. Ich bin der Ansicht, dafi mich die
UFA widerrechtlich urn diese Summe gebracht hat, da ich am Nicht -
zustandekommen des Films schuldlos bin und eine erhebliche Arbeit
geleistet habe! „Herzog Lehmann" (ein von Negelein der UFA ein-
gereichtes Manuskript. Die Redaktion) wurde mir, nachdem der Stoff
allgemein gefallen und schon auf dem Atelierplan gestanden hatte,
wohl auf Herrn Liebmanns Betreiben, wieder zuruckgesandt. Dafur
kam ein Film „LiebeswalzerM von Herrn Liebmann heraus. (Ich habe
den Film nicht gesehenf) Zwei ganzlich voneinander unabhangige Film-
stellen haben erklart, die beiden Stoffe hatten starke Ahnlichkeit. —
Auch dadurch fuhle ich mich stark geschadigt. — Meines Erachtens
bin ich ledigltch durch den Brotneid des Herrn Liebmann, der Ma-
nuskriptschreiber und Chefdramaturg in einer Person ist oder de facto
414
war, aus der UFA verdrangt. Herr Podehl, durch Herrn Liebmann
in die UFA gebracht, ist lediglich als Werkzeug des Herrn Lieb-
mann anzusehn. Ich fiihle mich urn etwa 9400 Mark geschadigt. —
Um wieviel ich geschadigt wurde, indem man mich aus der UFA her-
ausdrangte, ist kiinstlerisch und pekuniar unbegrenzt, da der Autor
eines UFA-Films bestimmt weitere Filme in Auftrag bekommen hatte.
Es sei erwahnt, daB Herrn Liebmanns Tatigkeit mit 72 000 Mark im
Jahr, wie es heifit, honoriert wird, Hieraus lassen sich unschwer
Ruckschliisse Ziehen, warum Herr Liebmann, bzw. dessen Protege, einen
andern Autor, wenn angangig, nicht aufkommen laCt. Die rucksichts-
lose skandalose Behandlung, die mir zuteil wurde, ist in der UFA
ganz besonders in der Aera Liebmann-Podehl etwas Selbstverstand-
liches. Wenn ich so toricht war, mich mit einer Summe wie 400 und
500 Mark fur wochenlange Arbeit abfinden zu lassen, so hat mich
speziell Herr Liebmann, wie ich zu beeiden bereit bin, damtt gekodert,
indem er sagte: „Sie wollen doch noch weiter mit uns arbeiten". Wenn
ich das, was ich heute weiB, damals gewuBt hatte, ware ich nie auf
diesen Schmus, der nie ernst gemeint war, wie ich beweisen kann,
hereingefallen/'
Zu diesen Anschuldigungen, die wohl die schwerwiegend-
stcn sind, die der Dramaturgischen Abtedlung einer Firma von
Weltruf gemacht werden konnen und fiir die Herr von Nege-
Iein, genau so wie die andern geschadigten und hintergangenen
Autoren eintritt, habe ich nichts mehr hinzuzufiigen, Sie
sprechen fiir sich selbst.
Der Schriftsteller Ernst Wolff auBert sich in einem aus-
fiihrHchen Schreiben, dessen schwere substanziierte Vorwiirfe
gegen diese Abteilung aufzuzahlen, zu weit fuhren wiirde:
,,Lasciate ogni speranza voi che entrate!" „Ich lasse sie (die
Hoifnung) drauBen und trete nicht mehr ein, wenigstens nicht
in diese Dramaturgische Abteilung!"
Zum SchluB sei noch einmal an die Vorgeschichte des UFA-
Films „Fl6tenkonzert von Sanssouci" erinnert, Professor
M. L. Goldis wollte ursprtinglich einen kulturhistorischen Film
fiir die Kulturfilm-Abteilung der UFA machen, wurde dann
aber von Doktor Johannes Brandt, der die gleiche Idee der
UFA-Dramaturgie vorschlagen wollte, darauf gebracht, einen
abendfulleriden Film gleichen Inhalis mit ihm gemeinsam
zu machen. Professor Goldis, einer der hervorragendsten
Viola d'Amore-Spieler (eine Art Bratsche), sollte die
musikalische Leitung und auBerdem die Rolle des italieni-
schen Komponisten Toeschi erhalten. Trotzdem die UFA mit
Goldis einen Vertrag hatte, wurde er bei der Herstellung des
„Flotenkonzerts" ausgeschaltet und muBte sich erst sein Recht
in einem SchiedsgerichtsprozeB holen,
Wie ich bereits eingangs erwahnte, hat die UFA die schwe-
ren, durch Unterlagen gestiitzten Anschuldigungen in meinem
ersten Artikel zu bagatellisieren versucht, Man versucht auch
weiter, durch unwiirdige Manover von den Tatsachen abzulen-
ken. Wann wird endlich die maBgebende und verantwortliche
Personlichkeit an der Spitze der UFA, mit deren Namen der
Aufstieg der UFA aufs engste verbunden ist, wann wird end-
lich Herr Ludwig Klitzsch zu diesem moralischen Debakel sei-
nes Unternehmens offentlich Stellung nehmen? Diese Genug-
tuung ist er den geschadigten und betrogenen Autoren zum
mindesten schuldig.
415
SchnipSel von Peter Panter
VV/enn die Maschinen, die die Menschen so im Lauf der Zeit erfun-
" den haben, nun auch noch funktionierten: was ware das fur ein
angenehmes Leben — !
Langweilig ist noch nicht ernsthaft.
Er trug sein Herz in der Hand, und er ruhte nicht, bis sie ihm aus
der Hand fraB.
Die beste Ubersetzung fiir puella publica, die mir bekannt ist,
heifit: Vorfreudenmadchen.
Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben,
■ *
Es gibt Zeiten, wo es fiir den Schriftsteller, der da wirken will,
nicht gut ist zu schreiben. Wo das Geklapper der Schreibmaschine
nicht so wichtig ist wie das Tick-Tack des Maschinengewehrs, Doch
tackt dieses nur nach, was jene ihm vorgeschrieben hat,
*
Man stelle sich vor, Friedrich Nietzsche ware gestorben, ohne An-
gehorige zu hinterlassen. Und man stelle sich vor, Freunde hatten sein
Werk in Obhut genomraen. Und es kame dann eine Frau gegangen,
eine Frau Forster , Lieschen For ster, die sagte : „Ich mochte das
Nietzsche-Archiv verwalten!" — Was hatten die Freunde gesagt?
Nichts hatten sie gesagt. Man hatte die Achseln gezuckt und ge-
schwiegen; eine arme Person
Nun aber ist Lieschen die Schwester. Und nun darf sie. Sie darf
den NachlaB Nietzsches, seine Briefe, seine Zettel verwalten und
sie verwaltet sie so, wie wir wissen. Genutzt hat es ihr nichts.
Nietzsche, der wahre Nietzsche, ist, hauptsachlich durch Andler, be-
kannt geworden — trotz dieses Archivs.
Aber ist dieses Urheberrecht nicht eine Schande — ein Recht, das
geistige Werte wie einen Kaseladen vererbt? Es ist eine Schande.
*
Wenn einer einen Tintenklex auf dem Kinn hat und damit ernste
Sachen redet, dann farbt die Tinte auf das Ernste ab, und alle seine
Argumente werden lacherlich. So. kindisch sind wir Menschen.
Wenn einer nichts gelernt hat — : dann organisiert er.
Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat — : dann
macht er Propaganda.
Das wird im nachsten Krieg ein reizvolles Schauspiel sein: die
Rotarier-Clubleute der gegnerischen Lander zu sehn, wie sie als gute
Patrioten treu zu ihren Fahnen stehn, bedauernde, aber grundsatzliche
Erklarungen loslassen, und dennoch — und das trostet ungemein —
auch furderhin gute Rotarier sein und bleiben werden.
Aber machen das schlieBlich die Katholiken anders — ?
*
Wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.
*
Greift einer den Militarismusf eine groBe Zeitung oder Moskau an,
dann wird unter den Schlagen der Verteidigung ein Stohnen horbar: „Er
hat Gott gelastert!" Vorwurfsvolle Augen klappen zum Himmel auf:
Eigentlich brauchten wir uns ja gar nicht zu wehren - , . denn er hat
Gott gelastert.
416
Merk: Wer sich so mit dem Nebel des Mysteriums umgibt, wie
alle diesc, die cs mehr odcr minder begabt der katholischen Kirche
nachmachen, der zeigt, dafi seine Position bei voller Klarheit viel zu
furchten hat.
*
Der Amerikaner halt sich fur den ersten Mann der Welt, weil er
kein Farbiger ist.
Der Englander halt sich fur den ersten Mann der Welt, weil er
Englander ist.
Der Deutsche halt sich fur den ersten Mann der Welt, weil er die
Juden und die Franzosen haBt; was er selber ist, weiB er nicht genau.
So verschieden ist es im menschlichen Leben.
Tonende Wochenschau von Mice tkert-Rothhoiz
\U cnn der Mensch nichts mehr hat, hat er wenigstens S org en
und die schone, tonende Wochenschau ...
Wer wird uns diesen Winter das Kinogeld borgen?
Wir Leute, die abends ins Kino gehn
diirfen uns als Monumentalfilm besehn.
Magen flau. Zukunft grau.
Schau die schone Wochenschau*.
„Deutscher Heldenflieger kocht in Afrika unter lauter Kaffern
deutsches Apfelmus."
Wir sehn uns das an. Und bewundern es stumm.
Wir fliegen blofi raus . . . Und der fliegt noch rum!
Wir Leute, die abends ins Kino gehn
dtirfen dort f. f . Wunder der Technik besehn.
Magen flau. Zukunft grau.
Schau die schone Wochenschau:
„In Butter gebratener deutscher Erfinder erfindet den praktischen
deutschen Gasherd mit Musikvorrichtung."
Wir sehn uns das an. Und bewundern es stumm.
Wir sind so mtide . . . Und die Technik rast rum!
Wir Leute, die abends ins Kino gehn
dtirfen drei Heldenboxer pro Woche besehn.
Magen flau. Zukunft grau.
Schau die schone Wochenschau:
„Meisterboxer (Produkt der deutschen Stahlwerke) haut USA.-Gegner
mit deutscher Stofikraft."
Wir sehn uns das an. Und wundern uns stumm.
Wir sind doch knockout! — Und der boxt noch rum?
Wir Leute, die abends ins Kino gehn
dtirfen dort deutsche Kriegssport-Bilder besehn.
Herzen grau. Zukunft grau.
Schau die schone Wochenschau:
1. Modell-Panzerkreuzer. 2. Parademarsch. 3. Es kommt Hitler.
Klatsch doch mal — ! Faabelhaft!"
Wir sehn uns das an. Und nicken ganz stumm . . .
Unserer modert in Belgien! — Und die proben rumf
Wir Leute, die abends ins Kino gehn
dtirfen Deutschland in Prachtausgabe besehn.
Uns personlich sinkt der Mut in die Hose.
Doch die Wochenschau hebt uns. Ins Ufalose.
Magen flau. Zukunft grau.
Wochenschau bleibt:
Heldenschau!
417
Betnerkungen
Am Telephon
Meulich hat der franzosische Mi-
* * nisterprasident den dcutschen
Reichskanzler antelephoniert, tun
ihm mitzuteilen, daB er wegen
ciner UnpaBlichkeit Briands nicht
zum urspriinglich vorgesehenen
Datum nach Berlin kommen
konne. Warum telephonieren
eigentlich die europaischen Staats-
manner nicht viel haufiger mitein-
ander — ?
Da liegen nun die Hauptstadte
Euronas, eine von der andern
immer nur ein paar Flugstunden
entfernt. Und wie verstandigen
sich die Direktoren der Staatsver-
bande, die ja trotz alien Geschreis
nur einen groBen Klub bilden? Sie
verstandigen sich untereinander
in einer Art, gegen die die Trom-
melpost der Neger eine hochst mo-
derne und hervorragende Sache ist,
Welches Brimborium und welche
Feierlichkeit, wenn sie einander
etwas zu sagen haben! Da werden
Botschafter in Bewegung gesetzt,
diese Brieftrager der Umstandlich-
keit, da gibt es Verbalnoten und
schriftliche Noten und Konferen-
zen und ein Getue, das die braven
Zeitungen, schmatzend und diese
scheinbaren Neuigkeiten mit
Wonne schliirfend, berichten. Und
man stelle sich vor, die groBen
Konzerne, die ja an Wichtigtuerei
auch nicht grade Schlechtes leisten,
gestatteten sich diese Zeitver-
schwendung !
Das ginge zwischen den Staaten
nicht anders? Diese hochst wich-
tigen und schrecklich geheimen
Gesprache zwischen Briining und
MacDonald, zwischen MacDonald
und Laval konnten abgehort wer-
den ? Aber die Trusts, deren
Macht in Europa weit grofier ist
als die Macht dieser lacherlichen
Staaten, telephonieren ja auch,
und Gott weiB, daB auch dort der
Verrat in alien Bureauzimmern
bluht. Und es geht doch. Natiir-
lich wird kein verstandiger
Mensch erwarten, daB sich die
europaischen Staatsmanner am
Telephon alles mitteilten, obgleich
zum Beispiel eine telephonische
418
Kriegserklarung ( „Hallo, Sie ! —
Von morgen ab ist Krieg") hochst
reizvoll ware. Warum telephonie-
ren sie nicht?
Weil sie sich viel zu feterlich
nehmen, Weil sie noch immer
glauben: England, das sei eine
schier religiose Sache, und
Deutschland, das -sei ein Heilig-
tum, und Frankreich, das sei eine
Kultstatte, Macht euch doch nicht
in die Hosen! Es ginge uns alien
viel besser, wenn die Staaten ihre
wahre Rolle erkennen wollten.
Noch aber leben sie, wahrend
einer Epoche, die die Gesattigten
gern Frieden zu nennen belieben,
in einem latenten Kriegszustand.
Welches Theater, wenn einer den
andern besucht! Darunter liegen
dann Streichholz- und Petrpleum-
geschafte sowie die alien gemein-
same Angst, der Arbeiter konne
sich eines Tages mit Gewalt seinen
Lohn nehmen, den sie ihm heute
vorenthalten. GroBe Oper spielen
die Staaten, mit Helden, denen die
Strumpfbander rutschen. Leider
eine Oper mit tragischem Ausgang,
Ignaz Wrobel
Protest gegen „positiv"
r\ie .Briicke* des .Berliner Ta-
^ geblatts' brachte vor einiger
Zeit Aufierungen junger Men-
schen iiber sich, ihre Stelluug.im
Leben und zur iibergeordneten
Generation. Ich habe da eine
Wendung vermiBt, die Wendung
gegen jene, die uns immer wie-
der vorhalten, wir waren nicht
Hpositiv" genug — wir trieben
nur Opposition, Negation, an-
maBende Kritik, wir waren zy-
nisch, etcetera.
Zugegeben, Alles dies zugege-
ben. Aber weshalb sind wir denn
so? Ich spreche fur diejenigen,
die vierundzwanzig, fiinfundzwan-
zig, sechsundzwanzig Jahre sind.
Unsre schonste Jungenszeit fiel
in den Krieg ; unsre Entwick-
lungs jahre in die Nachkriegszeit.
Wir wurden in uberfullten Schul-
klassen unterrichtet, von Lehrernr
die meistens iiberaltert waren,
spater von solchen, deren Kraft
in den Feldziigen verzehrt wor-
sen. Zuhause fehlten die Vater,
manche blieben fort, manche ka-
men verwandelt zuriick, Wir hat-
ten viele entscheidende Jahre hin-
durch zu wenig zu essen. Als wir
von der Schule kamen und auf
die Universitaten gingen, waren
alle Zustande immer noch ver-
worren und nicht normaL Ein
grofler Teil von uns mufite sei-
nen Lebensunterhalt in ungewohn-
ter Nebenbeschaftigung verdienen
und konnte nur die karge Frei-
zeit zu seiner fernern Ausbildung
verwenden. Wir habens geschafft,
Wir haben unsre Examina ge-
roacht und unsre Lehrzeit been-
det, Wir stehen jetzt in dem
Augenblick, wo wir anfangen
mtifiten, zwei- bis dreihundert
Mark monatlich zu verdienen,
um uns etwas regen zu konnen.
Wir mochten jetzt einen dritten
Anzug kaufen und regelmafiig zu
Mittag essen. Wir mochten jetzt
in einem Beruf, der uns Freude
macht, etwas leisten. Deshalb
haben wir uns durch viele Jahre
so angestrengt. Aber alles war
offenbar vergeblich.
Ich spreche fiir die biirgerliche
und akademische Jugend. Wie
schlecht es der proletdrischen
geht, davon mogen andre zeugen.
Aber auch uns geht es schlecht.
Tausende von ausgelernten Kauf ->
leuten laufen ohne Anstellung
herum. Den Ingenieuren, den .
Chemikern geht es nicht anders,
Wer reagiert auf die Not der
Juristen? Was sollen eigentlich
die siebentausend Philologen an-
fangen, deren Zukunft aussichts-
los erscheint? Uberall werden
Turen zugeschlagen: Kein Platz!
Kein Platz! Kein Platz!
In einer mittlern Stadt der Pro-
vinz Hannover sind im vorigen
Herbst zwanzig junge Leute die-
ses Alters aus sogenanntem gu-
ten Hause, die alle etwas gelernt
und ordentliche Zeugnisse erhal-
ten hatten, nach Kanada ausge-
wandert, weil es unmoglich war,
fiir sie ein berufliches Unterkom-
men zu finden. Diesen Leuten
konnten die Familien noch ein
kleines Kapital fiir den Anfang
vorschieBen. Die meisten von uns
aber hocken wieder bei den El-
tern mit den jiingern Geschwistejn
zusammen, ihnen und sich selber
zur Last, ohne Beschaftigung,
ohne Bewegungsfreiheit, oft ohne
ein eignes Zimmer. Welch eine
Summe von Energie wurde auf-
gewandt und scheint jetzt vollig
sinnlos vertan ! Wieviel Fahig-
keit, Konnen, Intelligenz liegt
brach und geht langsam vor die
Hunde. Wieviel Lebenswille, Mut,
Elan wird planmafiig zerstort!
Und da wirft man nun der Ju-
gend vor, dafi sie es zum Bei*
spiel mit der Liebe nicht so ge-
nau nahme, wie es fruhere Ge-
nerationen getan. Mein Gott,
was bleibt den jungen Leuten
zwischen Zwanzig und Dreiflig
denn, welche Freude bleibt ihnen,
die liberal 1 tiberfliissig sind, die
nicht arbeiten durfen und kein
Geld verdienen, wenn nicht die
Freude am andern Geschlecht,
die allein — Gott sei Dank
haufig — noch nichts kostet.
Man wirft der Jugend vor, sie
habe zu wenig Staatsgesinnung,
sie sei radikal, sie hatte nicht die
vollasog slclv sctuiell:
ich problerfe —und rauche self dem nur noch die einzigarfige
ABDUILA Nr. 16
o/M, u. oold ; SfUcK 10 Pig.
ABDULLAH Co. - KAIRO I LONDON I BERLIN
419
richtige Achtung vor dem Leben
andrer, Aber wie soil sie denn
diesen Staat bejahen, in dem sie
so ein Dasein fiihrtl Was tut
der Staat fiir uns? Er erfindet
nur immer neue Schikanen, urn
uns von den Stellungen zuruck-
zuhalten, die wir auf Grund uns-
rer Arbeiten und Leistungen jetzt
einnebmen miiCten. Was tut er
fur eine Jugend, die mehr aus
eigner Kraft fertig bekommt, als
je eine Jugend zuvor? Erschlagt
vor jedem Beruf die Tiiren zu
und laBt uns drauBen stehen.
Was tut die Wirtschaft? Das
Gleiche! Wir mdchten wohl mit-
arbeiten. Man laBt uns aber
nicbt. Wir sollen Werte an-
erkennen, die fiir uns nicht gel-
ten und deren wir nicbt teilhaftig
werden diirfen? Wir sollen nicht
kritisieren, protestieren, wir sol-
len nicht Sturm laufen? Wir sol-
len Achtung haben vor dem Le-
ben andrer? Wer hat Achtung
vor unserm Leben? Wer hilft
uns? Wer kummert sich um uns?
Man predige uns nicht! Man
ermabne uns nicht! Man gebe
uns Platz und Arbeit! Dann wer-
den wir von selber „positiver"
werden. Wenn aber auch weiter-
hin nicbts geschieht, werden die
Zusammenrottungen nicht auf ho -
ren, wird die Verwilderung, die
doch nur VerzweiHung ist, ins
MaBlose wachsen. Wir haben Un-
sagbares ausgehalten. Aber auch
die Nerven jener Besonnenen un-
ter uns, die j etzt noch schwei-
rfend die Zabne zusammenbeiBen,
sind irrfendwann einmal zuEnde.
Julius Lothar Schiicking
Das ewige Butterbrot
T\ ie Menschheit traumt seit
*** Jahrtausenden. Ihre Sehn-
sucht hat Flugel, die den Ather
durchbrausen. Das pochendeHerz
gebar den Menschen das Wort ;
Geist und Gefuhl formten es zu
Mythen, Marcben und Legended
Schwache und Hingabeverlangen
erfanden die Gottheit, frostelnde
Unbeholfenheit dem Leben gegen-
uber den Zauber und jah ver-
lan<*ende Wtinsche das erfullende
Wunder, Es wurden die Sieben-
meilenstiefel erdacbt und das
Flutfzeug des Ikarus, das Wunsch-
hutlein, der unsichtbar machende
Ring und andres. Sie blieben
schone Phantasie. Bis schlieBlich
der Geist unsrer Zeit die in ihnen
inkarnierten Ideen auf ihre tech-
nische Verwendbarkeit priifte und
Erfindergenies den letzten Schritt
zu ihrer Verwirklichung durch
Stahl und Kupfer, Dampf und
Strom taten, Manches Marchen
ist noch immer Marchen, so das
vom Tischlein deck dich,
Da hat ein wiener Ingenieur
ein ewiges Zundholzchen erfun-
dent ein Zundholzchen, das, im
Gegensatz zu den haufig nachzu-
fiillenden, haufig versagenden Ta-
schenfeuerzeugen, ewig entzund-
bar ist, ohne sich abzuntitzen
oder zu versagen. Man streicht es
an, es brennt, man verloscht es,
streicht es wieder an und so in
alle Ewigkeit.
Wichtiger als seine Gefahrlich-'
keit fiir Kreuger ist die Frage sei-
ner sozialwitrschaftlichen Bedeu-
tung fiir anonymere Zeitgenossen.
420
Was niitzet mir das schonste
ewige Ziindholz, wenn, beispiels-
weise, die Tabaksteuergesetz-
gebung mich allmahlich daraa
hindert, mir cine Zigarre anzu-
stecken, und was niitzet das
ewige Streichholz den vielen
Andern, die infolge Arbeitslosig-
keit nicht in der Lage sind, den
Herd zu heizen und eine Suppe
zu kochen. Kurz gesagt; der Er-
findergeist hat eine unumgangliche
Stufe logischer Entwicklung
iibersprungen. Dem ewigen
Streichholz hatte unbedingt das
ewige Butterbrot als Tischlein-
deck-dich-Ersatz vorangehen mus-
sen. Man beiBt ab und, ehe hoch
der Bissen verschluckt ist, hat
sich das bestrichene Brot wiede-
rum erganzt und gerundet.
Tja ... das ewige Butterbrot,
das ware eine Sache! Man er-
wage doch den Umsturz auf
gastronomischem Gebiet, von den
sozialen Auswirkungen gar nicht
zu reden. Ob Popoer-Lynkeus die
Briicke von solcher Utopie zur
Wirklichkeit ahnte, ob die ,Sow-
j et-Russen auf dem richtigen
Wege sind — wer wollte das so
schlank weg entscheiden ! Aber,
gabe es so ein ewiges Butterbrot,
dann, ja... dann ware das ewige
Streichholz etwas ganz Herrliches,
weil der gefullte Magen Mufie und
Geld fur Warme und Genufi und'
vor allein natiirlich fur die Kosten
des ewigen Streichholzchens spa-
ren Iiefie. So aber: die wiener
Erfindung gleicht dem Fasse der
seligen Danaiden, die es ewig zu
f till en versuchten, ohne Erfolgt
weil der Boden ein Loch hatte.
Wir werden das Streichholz ewig
anstreichen, aber bald vielleicht
nicht wissen, was wir damit an-
heizen und kochen sollen. Fried-
rich Hebbel driickte sich lapidarer
aus: MBaId fehlt uns derBecher,
bald fehlt uns der Wein".
Felix Lan&er
Nun mufi sich alles, alles wend en!
Ob es logisch ist, dafi man als
Pazifist der Jagd huldigt,
dartiber werden die Ansichten
auseinander gehn. Ntitzlich ka.nn
es jedenfalls sein, weil man auf
die Weise auch Zeitschriften zu
Gesicht bekommt, die ein ge-
wohnlicher Sterblicher nicht zu
lesen pflegt.
Da hat ein Herr Gerlich eine
angeblich sensationelle Erfindung
auf dem Gebiet der Schiefitech-
nik gemacht. Er will entdeckt
haben, wie man die Anfangsge-
schwindigkeit der Geschosse fur
Infanteriegewehre und Geschiitze
sowie die fiir Torpedos bis auf
3000 sek/m steigern konne. Bis-
her ungeahnte Moglichkeiten er-
geben sich fiir die Vermehrung
des Mordradius in einem kom-
menden Kriege.
Die fDeutsche Jagerzeitung'
(Nr. 32) bemerkt zu der Gerlich-
schen Erfindung:
„Wenn die Erfindung so ist, wie
sie Herr Gerlich darstellt, konnte
man nur wiinschen, daB wenig-
stens der neue Panzerkreuzer
noch mit Gerlichschen Ultrage-
schutzen bestiickt und mit Ultra-
torpedos ausgeriistet wurde. Wir
hatten dann mit dem kleinen
Kahn, der es schon beim Taufakt
so eilig hatte, die Uberlegenheit
zur See, und die ganze Weltpolitik
bekame ein andres Gesicht."
Der alte Fritz Reuter wurde
gesagt haben: „DaB du die Nase
ins Gesicht behaltst!"
Also wenn ein deutsches Schiff
mit Ultrageschutzen und Ultra-
torpedos ausgestattet wurde, so
hatten wir die Oberlegenheit zur
See, trotz der uns verbotenen U-
Boote und Militarflugzeuge, und
die Weltpolitik bekame ein
andres Gesicht.
Im Kriege hatten wir die wei-
testtragenden Geschiitze, so daB
wir Paris aus 130 Kilometer Ent-
Rudolf Arnheim: Sffmme von der Gulerie
25 Aufsatze: Psychoanalyse, Negersanger, Spiritismus, Er-
ziehung, Boxkampf, Oktoberwiese, absolute Malerei, Greta
Garbo, Russenfilm, Fritz Lang, moderne Moral u. a.
Einleitung: Hans Reimann — Bilder: Karl Holtz. nu m
Zu beziehen durch Verlag der Weltbuhne IU1» L~
421
fernung beschieBen konnten. Es
ist uns nicht erinnerlich, dafi da-
durch der Krieg ein andres Ge-
sicht bekommen hatte-
Aber in Zukunft wird das na-
turlich anders werden, falls Herr
Gerlich und die Gelehrten der
,Deutschen Jagerzeitung' recht
haben, Unsre Staatsmanner brau-
chen ibre Kopfchen nicht mehr
anzustrengen. Mit Ultrageschiit-
zen und Ultratorpedos wird
Deutschland eine Ultra-Weltpoli-
tik machen,
Deutschland braucht nicht zu
verzweifeln, Es hat nicht bloB
Adolf Hitler, es hat auch Herrn
Gerlich mit 3000 sek/m Anfangs-
geschwindigkeit. Deutschland ist
erwacht. Die andern konnen sich
schlafen leg en, zum ewigen
Schlummer.
H. v, Gerlach
Zeddies
*7 eddies, ich duze dich nur aus
" S^afl. Zeddies, du muBt eins
auf den Hut bekommen. Zeddies,
du hast im Septemberheft der
,Koralle' einen Aufsatz ver-
of fentlicht , . , fiber den guten
Witz und seine Theorie, Sowas
lese ich leidenschaftlich gern,
Denn wenn ernste Manner der
Wissenschaft humor istische Ge-
iilde betreten, dann weht die
Luft von Sargmagazinen, und das
gibt einen prickelnden Reiz. Ach,
Zeddies, du weltfremdes Weseh,
mit Ach und Krach hast du etwas
mehr als ein Dutzend gute Witze
zusammengekratzt, iiber die
meine fiinfjahrige Nicht e keine
Miene verzieht, weil sie ihr zu
schimmlig sind, und iiber die
unsereiner schon wieder lachelt
... ob der Zumutung, daB man
dariiber lachen soil. Angenom-
men, es gibt zweitausend gute
Witze — warum, o Zeddies, zi-
tierst du vierzehn oder funfzehn
mittelmafiige und trotz Patina
unveredelt gebliebene ? Weil es
auf deinen intellektuellen
Schwatz ankommt und nicht aufs
Beispiel. Aha. Warum aber, o
Zeddies, zitierst du genau die
gleichen, wortwortlich die nam-
lichen Witze, die Siegmund
Freud in seiner Abhandlung
„Der Witz" (Franz Deuticke
1925) bereits abgedruckt und un-
barmherzig zerpfliickt hat? War-
um, o Zeddies? Das ist sowohl
armselig, o Zeddies, als auch un-
statthaft, o Zeddies. Das ist doch
einfach geklaut, o Zeddies. Und
weil ich einem ernsten Manne
der Wissenschaft keinen Dieb-
stahl zutraue, halte ich dich fur
ein Pseudonym Siegmund Freuds,
der sich auch einmal einen klei-
nen feuilletonistischen Nebenver-
dienst schaffen wollte. Herr Pro-
fessor, tun Sie das nicht wieder.
Sie haben es nicht notig.
Hans Reimann
Zu diesem Devaheim
Die Hilfsgelderkasse wurde ge-
fuhrt
Von wahren Christen und From-
men —
Erfahren hat nie die linke Hand,
Wieviel die rechte genommen.
Heinrich Heine,
Deutschland, Kaput XXI
Der Menschenfreund
r\ as war in Tschatschak, West-
^ serbien. Der Herr Protopope,
Propst, sagte mir:
„Ich lese mit Verwunderung
Eure Blatter — wie unduldsam
Ihr seid dort in Deutschland. Es
gibt Chauvinisten bei Euch, Anti-
semiten. Bei uns, siehst du, ist
Das Buch der Liebe
yon B6 Yin Ra gehort schon bei seinem ersten Erscheinen zu den bevor-
zugten Biichern dieses Lehrers praktischer Seelenkunde. Niemand, der die
erste Ausgabe kennt wird die soeben erschienene
vielfach bereicherte Neuausgabe
entbehren wollen. Wir erbitten in Ihrem persb'nlichen Interesse baldigste
Besteltang, falls Ihr Buchfcandler noch nicht die rieue endgtiltige Ausgabe
auf Lager hat. Kober'sche Verlagsbuchhandltmg (gegr. 1816) Basel a. Leipzig.
422
dergleichen unbekannt ; hier giht
es keinen HaC/'
„Und habt Ihr viele Juden
hierzulande?"
„Nein( Kindchen. Der letzte ist
vor mehr als 120 Jahren getotet
worden."
/toaa /coaa
Schaubude anno 2000
Leute, hier seht ihr in der Tat,
was man nodi nie gesehen hat!
Nur naherl Die jjroflte Attraktion!
Ihr lacht euch krank und wieder gesund —
Ihr seht den Dunkel in Potenz,
die Dummheit in Quadratessenz,
ihr seht die Blute der Nation
mit vollig" totalem Gedankenschwund — ■_
In einer Box, umzaunt von Draht,
seht ihr den deutschen Studienratt
Das ist der Mann, der die Jugend verhetzte,
mit seinem Geifer Volker benetzte,
der Gift in junge Adern spritzte,
mit heimlichem Hafi die Gemuter erhitztel
Er hat mit der sanftesten Miene der Welt
sich selber als Unschuldslamm hingestellt.
Er war der Feldwebel in Zivil.
Er hat mit Stock und Arrest gezuchtigt.
Er hat in wehr- und mannhaftem Spiel
die Kinder ium nachsten Mord ertuchtigt.
Er hat geschurt und hat gewutet,
und hat nationale Guter gehutet ....
Er war der Bazillus im Vollce. Und sacht
hat er Studienrate fur morgen gemacht.
Nun sitit er in vergtttertem Loch
und ist ungefahrlich und zahm.
Er spielt mit Soldatchen und Kinderkram,
einer kleinen Kanone mit riohtiger Lafette —
Er darf nur noch spiel en. O wenn man doch
das schon fruher veranlaflt hatte!
Heinrich Vola
Pietat
Statt Karten
Sanitatsrat
Dr. Nicolaus Hess
Liesel Hess geb. Haymann
Witwe des Kommerzienrats
Joseph Baum
Vermahlte.
frankfurter Zeitung
No violence
Vwei Juden stehen auf der
" Landstrafie vor einem Fels-
block, der den Weg versperrt.
Zaghaft und ratios* Kommt ein
blonder Hiine daher, stemmt sich
gegen das Hindernis und macht
die Bahn frei- Die Beiden stehen
einen Augenhlick sprachlos, und
dann der eine zum andern: „Ja
— mit Gewalt!"
Liebe Weltbfihne!
P in bekannter berliner Lyriker
*-"* leidet, wie das in diesem Fach
vorkommen soil, so heftig an
schmutzigen Handen, dafi er sich
kein Smokinghemd zumachen
kann, ohne es vollig zu be-
schmutzen. Aus diesem Dilemma
half ihm ein Gonner in wahrhaft
chaplinscher Weise: er liefi ihm
Hemden konstruieren, die auf dem
Riicken zuzuknopfen sind.
Hinweise der Redaktion
Weltbuhnenleser,
Nachster Abeni
Berlin
Rote Studentengruppe. Schulungskurs. Mittwoch 20.00. Braustubl Haokestr. 4, U-Bahn
Schouhauser Tor.
Hamburg
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Alle Zuschriften werden erbeten an Kurt Zornig
Altona-StelHngen, Steenwirstr. 22. H 4 Norden 5640.
Leipzig
Jeden 2. Montag Diskussionsabend im Lehrervereinshaus. Karmerstr.
d am 21.
Bucher
Andre Siegfried : Die englisehe Krise. S. Fischer, Berlin.
Carl Steuermann; Weltkrise — Weltwende. S.Fischer, Berlin.
Rundfunk
Dienatasr. Konigswusterhausen 18.00: Gegenwartsfragen der Kunst, Paul Westheim. —
Berlin 18.10; Alfred Wolienstein liest eigne Kurzgeschichten. — Leipzig 18.50:
Pol von Reinhold Goering. — Donnerstag. Berlin und andre Sender (aus Genf):
Fidelio von Beethoven, Dir. Weingartner. — Freitag. Berlin 18.00: Berliner Bankel-
sang, Hans v. Zwehl, — Breslau 18.05 *. Die Zeit in der jungen Dichtung. — Langenberg
20.00: Gnadenbrot und Die Kleinstadterin von Turgenjew. — Sonnabend. Berlin
16.05: Seltsame Reiseerlebnisse, M. M. Gchrke und E. Lubranyi. — 18.30; Die Er-
zahlung der Woche, Friedrich Burschelt. — Sonntag* Berlin: Stunde mit Buchern
und Schallplatten, Hans Reimann.
423
Antworten
Deutsche Zeitung. Von dir kann man allerhand lernen. Zum Bei-
spiel, wie man den^Gegner moglichst infam verunglimpft. In deiner
Ausgabe vom .1. September teilst du mit, dafi durch die Calmette-
Erkrankungen Ltibeck bis jetzt 331 000 Mark Unkosten erwachsen
seien. Schon und gut, es ist Ja auch nicht mehr als riehtig, daB Lu-
beck fxir die Opfer dieses Ungliicks aufkommt: es war ein stadtisches
Krankenhaus und es waren stadtische Arzte, Wie aber heifit die
Oberschrift dieser Meldung? „Lubeck zahlte 331000 Mark fur Cal-
mette"! Das soil also heifien, Herr Calmette ist schuld an der lii-
becker ^Catastrophe. Woher weiBt du das denn? Dir wird doch nicht
unbekannt sein, dafi in vielen andern Fallen das Praparat ohne Scha-
digung angewandt worden ist. Diese Notiz kann nun nicht etwa so
ausgelegt werden, als seiest du gegen den Impfzwang, und da Herr
Calmette furs Impfen sei, konne man ruhig behaupten, er habe dem
Senat so viel gekostet, — das stimmt ja nicht, du bist ja Anhanger des
Impfzwangs, Was bleibt also iibrig? Der iibelriechende Versuch, einen
Forsqher zu beschimpfen, nur weil er zufallig Franzose ist. Ware das
mit einem deutschen Praparat passiert, du wiirdest die Schuld bei
den Arzten suchen. Aber warum sich um Untersuchungsergebnisse
kummern: wenn ein Franzose da ist, dann haben wir ja den Siinden-
bock und alles andre ist egal. Wir mdchten nur sehn, wie du
schaumtest, tate das im umgekehrten Fall eine franzosische Zeitung.
Wie mu6 es doch um deine Leser bestellt sein, daB sie dir den Dreck
deiner Rotationsmaschinen noch nicht vor die FiiBe geworfen haben.
Aber sie sind ja allerhand gewohnt. Wenn man die Kommunisten
ordentlich durchpriigele, dann wiirde in kurzer Zeit der ganze bol-
schewistische Spuk verflogen sein, das konntest du neulich verkiin-
den, ohne daB die Druckmaschinen sich geweigert hatten, diesen haar-
straubenden Unsinn durchzulassen. Das muB eine Sorte von Dick-
schadeln mit ganz besonders gutem Magen sein, die solche politi-
schen Dilettantismen und solche Verleumdungen schluckt, ohne
Brechreiz zu verspiiren,
Schriftsteller, Der von der Opposition im Schutzverband Deut-
scher Schriftsteller gewahlte Arbeitsausschufi hat an Jacob Schaffner
das nachstehende Schreiben gerichtet: „Sehr geehrter Herr Schaffner!
Im Auftrag des Arbeitsausschusses der Opposition im Schutzverband
deutscher Schriftsteller (Ortsgruppe Berlin) teile ich Ihnen mit, daB
die am 2. September 1931 im Cafe Wittelsbach abgehaltene Versamm-
lung der Opposition, zu der auch Sie eingeladen wurden, nach dem
Referat des Kollegen Erich Muhsam (,Unsre Stellung zu Jacob
Schaffner') mit vierzig Stimmen, bei vier Stimmenthaltungen, folgende
EntschlieBung angenommen hat: ,Der erste Vorsitzende des SDS, Orts- .
gruppe Berlin, Jacob Schaffner, hat dasVertrauen der Mitglieder, als
deren Kandidat er gewahlt wurde, getauscht, Er ist infolgedessen
nicht mehr Vertrauensmann der Opposition.' Indem ich Ihnen die
EntschlieBung mitteile, ersuche ich Sie, die entsprechende Erklarung,
die Sie, wie die Opposition dies bestimmt erwartet, abgeben werden,
nicht nur dem Hauptvorstand des SDS, sondern auch der Opposition,
die urspriinglich Ihnen das Mandat eines Vorsitzenden anvertraute,
schriftlich einsenden zu wollen. Um Ihnen die entsprechende Erkla-
rung zu erleichtern, teile ich Ihnen des weiteren mit, daB die Oppo-
sition die Stelle des ersten Vorsitzenden bereits als vakant betrachtet
und fur die kommende aufierordentliche General versammlung eine
andre Kandidatur vorgenommen hat. Mit Hochachtung. I. A.: Olga
Halpern."
Hamburg^rJ In deinem Hagenbeck-Zoo sind „Kanaken, die letzten
Kannibalen der Sudsee" zu sehen. Man hat sie von der pariser Ko-
424
lonial-Ausstellung hierher „engagiert". Und dies Engagement kam so
zustande: Die Kanaken sind nach Europa gelockt worden und sollten
auf der Kolonialausstellung als Delegierte ihres Landes fungieren,
Aber bereits in Marseille nahm man ihnen ihre europaische Kleidung
ab, die sie in ihrer Heimat aufier bei der Arbeit standig tragen, und
steckte sie in Phantasielappen: schwarze zerlumpte Turntrikots und
weifie rotbedruckte Chiffontiicher wurden ihnen um Kopf und Htiften
gehangt, und so muBten sie, fast alle barfuB, Postkarten verkaufen,
schnitzen, tanzen, um die Wette laufen, Speere werfen und sich von
all und jedem besehen und befublen lassen. Von Paris aus wurden
sie auf Grund eines „Vertrages", den niemand von ihnen je gesehen
hat, in drei Gruppen nach Deutschland gebracht, und eine Gruppe hilft
nun in Hamburg Herrn Hagenbeck, die Kassen zu fullen. Auch dort
mtissen sie sich so benehmen, als seien sie ,,Kannibalen", dabei sind
die meisten von ihnen getauft, und alle sprechen franzosisch. Ab-
gesehn also davon, dafi hier das Publikum betrogen wird: es wird da
mit Menschen Schindluder getrieben, die an ein warmeres Klima ge-
wohnt, sich als halbnackte Wilde auffiihren mtissen. Kein Wunder,
dafi alle husten, einer liegt im altonaer Krankenhaus und spuckt Blut.
Der Sklavenhandel ist zwar abgeschafft, aber was ist das hier andres?
Man lockt die Menschen aus ihrer Heimat unter falschen Versprechun-
gen nach Europa, schleppt sie mir nichts dir nichts von einem Ort zum
andern und stellt sie den weifien Gaffern zur Schau. Wann endlich
wird das Publikum von diesen geschmacklosen Schaustellungen, die
noch dazu ein vollig verlogenes Abbild der Wahrheit geben, genug
haben? Uns scheint, die Herren Hagenbeck und Konsorten kennen
ihre Leute. Und um diesen moglichst oft und moglichst billig solche
Sensationen bieten zu konnen, schrecken sie nicht einmal vor Mitteln
zurtick, die man auch dann als Freiheitsberaubung und Korper-
verletzung bezeichnen muBf wenn zwischen den Veranstaltern und
irgendeiner MSocieUM, von der nichts Naheres zu erfahren ist, ein Ver-
trag iiber das Auftreten der Kanaken geschlossen worden ist. Men-
schen sind keine Ware, und den Herren Hagenbeck & Co. wurde es
wohl wenig recht sein, w,enn man sie im afrikanischen Busch den stau-
nenden Negern zur Schau stellen wurde.
Hans Henning Freiherr Grote. Sie stimmen im .Berliner Lokal-
Anzeiger' vom 30. August ein Klagelied iiber die Bevorzugung der
„Zivilisationsliteratur" durch die deutschen Verleger an und meinen,
das Publikum wolle das nicht mehr lesen. Es konne nicht von einer
Geistesnot die Rede sein, sondern nur von einer Geistesdammerung.
Und diese Geistesdammerung „wird den Dichtern und Kunstlern zu-
gute kommen, die bislang zugunsten einer blutleeren Zivilisations-
literatur noch unbeachtet blieben oder nur iiber einen geringen An*
hangerkreis verftigen". Nun, wer so schamhaft sich selbst anpreist,
dem mu6 Belohnung zuteil werden. Verleger, an die Front! LaBt
Herrn Gote auch ein biBchen mitverdienen.
Egon v. Kapherr. Ober das Buch „Renegaten" irgendeines Herrn
Waldemar Darner, das die Gebietsabtrennungen im Osten zum Thema
hat, schreiben Sie im ,Stettiner Generalanzeiger* vom 30, Mai eine
schaumende Besprechung, in der sie es dem Wilson, den Franzosen
und den Polen aber ordentlich geben. Dies Geschrei ist man ge-
wohnt und es interessiert kaum noch. Aber dort steht etwas, das
muflte eigentlich eine bestimmte amtliche Stelle interessieren. Es heifit
da: „. . . der Hauptlump lebt noch, ist nicht, wie die Rache der Ge-
rechtigkeit verlangt, von wiitenden Fausten deutscher Manner zum
Fenster hinausgefleddert, dem franzosischen tami* nach . . . lebt. Andre
anstandige deutsche Manner, die Vaterland und Ehre liebten, vertei-
digten, starben unter polnischen Schtissen, polnischen Schlagen — Es
425
kommt die Vergeltung. Noch ist nicht aller Tage Abend* Und Volks-
gericht wird keine Amnestie kennen. Verrat am Vaterlande, an der
eignen Sippe und Stadt, Renegaten, Wir verstehen den Polen,. den
Franzosen, wenn er sich vergifit, wenn er Narr wird aus Patriotismus.
Aber — wir verstehen den Renegaten nicht. Dem Narren die anstan-
dige KugeL Dem Renegaten den Strick". Uns interessiert hier nicht,
wen Sie da aus Neutomichel, denn urn diesen Ort handelt es sich^
meinen. Wir finden nurt dafi hier eine derart unverbltimte und un-
verhiillte Aufforderung zum Mord vorliegt, dafi man eigentlich er-
warten muflte, ein Staatsanwalt kummere sich darum, Aber da werden
wir wohl lange warten konnen, Aufforderung zum Mord ist bei uns
nur strafbar, wenn sie auf der Linken ausgesprochen wird. Oder aber
sollte der zustandige Staatsanwalt sich die Argumentation von Ihnen
zu eigen gemacht haben? Sie schreiben ja selber, man konne verstehn,
wenn einer lfNarr wird aus Patriotismus". Diese schone Selbsterkennt-
nis ehrt Sie, und der SchluB liegt nahe, dafi die Staatsanwaltschaft
Ihnen deshalb Straffreiheit zubilligt.
Lehrer. In dem griechischen Lese- und Ufbungsbuch fiir den An-
fangsunterricht „Palaistra", Ausgabe B, Herausgeber Oberschulrat
Doktor Weygand, findet sich auf der Seite 42 ein Satz, der in deut-
scher Ubersetzung folgendermafien lautet: „Wer zu leben begehrt, ver-
suche zu siegen, Denn es ist Sache der Sieger zu toten, der Unter-
legenen aber zu sterben. Und wenn jemand nach Reichtumern strebt,
suche er zu herrschen. Denn es steht in der Macht der Sieger, sowohl
ihre eigne Habe sich zu erhalten als auch die Besitztumer der Untcr-
legenen wegzunehmen". Ein ebenso stilistisch wie inhaltlich schoner
Satz, den du deinen Schulern da beibringen sollst. Der Herr Ober-
schulrat ist immerhin ehrlich, er umkleidet die imperial istisch en Raub-
ziige, genannt Kriege, wenigstens nicht mit dem iiblichen Phrasen-
schwall, sondern nennt das Kind beim rechten Namen. Diesen Satz
konnte, nur besser stilisiert, ein Pazifist erfunden haben, um den Sinn
des Krieges zu kennzeichnen. Die Herren Schulbuch-Verfasser schei-
nen noch niemals die Reichsverfassung gelesen zu haben. Da steht
namlich was uber „Erziehung im Sinne der Volkervers6hnung'\ Unsrer
Erinnerung nach ist dieser Artikel der Verfassung noch nicht durch
eine Notverordnung aufier Kraft gesetzt worden, Aber was kiimmert
diese Sorte Padagogen das. Es wird frohlich weiter gehetzt, und diese
sogenannten Erzieher genieren sich nicht, Schulkindern die Ansichten
von Raubern und Mordern iiber Leben und Eigentum ihrer Mit-
menschen beizubringen, und das alles im Geiste des Humanismus, dem
ja angeblich der griechische Unterricht dienen soil.
Politischer Haftling. Im Tribunal-Verlag, Berlin, ist eine
Broschure erschienen „Deine Verteidigung vor dem Schnellgericht".
Besorg sie dir fiir zehn Pfennige, sie wird dich vor manchen tJber-
raschungen bewahren.
Frankfurt a. M. Die bisher angegebene Adresse der frankfurter
Weltbuhnenleser stimmt nicht mehr, sie lautet jetzt: A, Kl, Frankfurt-
Main-Sud, Postamt 10, postlagernd.
Manuskripte eind nur an die Redaktion der WoltbSboe, Chariottenburg* Kantatr. 152, m
richten: •* wird gebeten, ihneo Ruck port o beixuleffen, da sons* ketne Rudcsendung erfolgen kann.
Die Weltbuhne wurde begrfiodet von Siegfried Jacobsohn und wird von Carl v. Oiaietsky
antei Mitwirkung von Kurt Tucholsky geteitet — Verantwortlich: Carl v. Oaaietxky, Berlin;
Verlag der Weltbuhne. Si©Vfried Jacobsohn & Co* Charlottenbnrff.
Telephon: C 1, Steinplatx 7757. — Postscheckkonto: Berlin 119 58.
Sankkonto. DarmstSdter u. Nationalbank. Depositenkaue Chariottenburg, Kaotctr 113
XXVlUahrgUg 22. September Ml NuMier!
Der Pfrimer-PutSCh von Ernst Fischer
17 s ist fur eincn Menschcn jenseits der osterreichischen Atmo-
sphere nicht leicht, diese Mischung von Dummheit und
Niedertracht, von Hirnlosigkeit und Hintergrundigkeit, von
GroBenwahn und Perfidie vollkommen zu verstehn, hinter den
plumpen Marionetten der „starken Hand" die leisen Hande
der Marionettenspieler, hinter den Tolpeln Pfrimer und Star-
hemberg die klugen Intriganten der Konterrevolution, hinter
der Posse des Putsches den Schatten des Staatsstreichs zu
sehn. Jenseits der osterreichischen Atmosphare, in der die
Schlamperei gefahrlich organisiert, die Lacherlichkeit hochst
bedrohlich, die Gemiitlichkeit hochst gewalttatig ist, in der
die Wirklichkeit stets dem Anschein ein Schnippchen schlagt
und eine Aktion erst beunruhigend wird, wenn sie bereits zu-
sammenbrach, jenseits dieser igespenstischen Biedermeierei
wird man meinen, die Staatsgewalt habe den Putsch liquidiert,
die Regierung habe die Ruhe hergestellt, ehe sie ernstlich ge-
stort worden war. Man wird sich vielleicht ein wenig wun-
dern, daB die Heimwehr auseinanderlief, ohne daB die Gen-
darmerie, die Wehrmacht einen SchuB gegen sie abgegeben
hatte, daB sie die Machtergreifung lediglich plakatierte, aber-
bereits in den Wirtshausern zechtef als die Truppen einzogen,
daB sie nirgends Widerstand leistete, sondern unter dem
Schutz der Behorden in ihre Wohnungen heimkehrte. Man
wird die Fiihrer der Heimwehr fur arme Gebirgsidioten hal-
ten und damit recht haben; nicht recht haben wird man, wenn
man der osterreichischen Formel glaubt: ,,Es war nix!" Denn
auf diese Formel kann man in Oesterreich alles bringen,
Aber man kann sich von den Ereignissen nur ein Bild
machen, wenn es ein Vexierbild ist. In veralteten Witzblat-
tern und in der osterreichischen Politik ist das Vexierbild eine
traditionelle Einrichtung. Man sieht eine Landschait und liest
den Text dazu: ,,Wo ist der Gendarm?" In den Linien fried-
licher Baume, Wiesen und Wolken wird man ihn finden, wenn
man das Bild geduldig hin- und herdreht und weiB, daB j'ede
Linie doppelt gilt. Ein solches Vexierbild war der steirische
Heimwehrputsch; und der Text dazu lautet: „Wo ist der Sinn
in diesem Unsinn?"
Um zwei Uhr morgens erfuhr man in Wien, daB <die stei-
rische Heimwehr einen Putschversuch unternommen habe.
Sollte man diese telephonische Meldung ernsthaft beachten,
sollte man sie nicht als Mystifikation abtun und zu Bett gehn?
Die Heimwehr ist langst keine Macht mehr, vielleicht ist es
irgendwo zu einem lokalen ZusammenstoB gekommen — denn
daB Pfrimer vor einiger Zeit einen Putsch angekiindigt hatte,
hielt man fur eine der landesublichen GroBsprechereien.
Aber, so komisch es ist, die Meldung wird von alien Seiten be-
statigt, um drei Uhr morgens gibt es keinen Zweifel mehr, daB in
der Steiermark, in dem Gebiet der Alpine-Montan-Gesellschaf t,
sozusagen geputscht wird. Die Regierung ist alarmiert; sie
i 427
verspricht, in wenigen Stunden den Aufstand niedergeworfen
zu haben, die Staatsgewalt zu mobilisieren und den auslan-
dischen Kreditoren zu beweisen, daB Oesterreich ein ordent-
liches Land ist. Um sechs Uhr morgens wird der Republi-
kanische Schutzbund, die Wehrorganisation der sozialdemo-
kratischen Partei, in ganz Oesterreich bereitgestellt; zu glei-
cher Zeit erklart die Regierung, Gendarmerie und Wehrmacht
seien gegen die Heimwehr autgeboten worden. Unterdessen
hat man erfahren, daB in den meisten obersteirischen Ortschaf-
ten die Biirgermeisteramter und die Gebaude der Bezirks-
hauptmannschaften besetzt, daB iiberall Maschinengewehre in
Stellung gebracht wurden. Die Telegraphenamter jedoch
funktionieren; wir sprechen telephonisch mit den Fiihrern der
obersteirischen Arbeiterschaft, mit jedem sozialdemokratischen
Arbeitersekretariat ist miihelos eine Fernverbindung herzu-
stellen. Das ist die Situation um sechs Uhr morgens; ein son-
derbarer Putsch! Eine besoffene Stammtischrunde ist aus dem
Schlagwort unversehens in die Aktion geraten. Anstatt mit
ihren Ehefrauen wollen die Hahnenschwanzmanner mit den po-
litischen Gegnern handgemein werden* '
Etwas mehr als drei Stunden fahrt man von Wien nach
Bruck; bis zur steirischen Grenze halt man den Putsch fur
eine Privatangelegenheit Pf rimers, Mein Begleiter z^yeifelt
uberhaupt an der Realitat der Ereignisse; es wird sich heraus-
stellen, meint er, daB das Ganze ein Nachtmanover der Heim-
wehr ist, eine kleine Provokation, sonst nichts, Immerhin
traut auch er dem Pirimer einen ExzeB der Dummheit zu; der
Mann ist eine tragikomische Figur. Die Politik ist fiir ihn
Flucht aus dem Privatleben; in der kleinen Stadt, wo er
Advokat ist, stehn die Ehebetten mitten auf dem Marktplatz.
Jeder weiB, daB die Ehe des Heimwehrfiihrers in keiner Weise
funktioniert, daB er von der Diktatur traumt wie ein Gym-
nasiast von kolossaler Unzucht. Vielleicht will Pfrimer end-
lich einmal seiner Gattin imponieren; fiir ihn Grund genug,
einen Putsch zu machen. Aber ist es auch Grund genug fiir
seine Gefahrten, die ja gewiB Dummkopfe, aber doch nicht so
gottverlassen sind, ohne Ruckversicherung, ohne Ziel und
Plan blindlings auszuschwarmen, Eintagsf liegen der Konter-
revolution? Freilich unterschatzt man die Dummheit dieser
alpinen Condottieri immer wieder, halt man oft fiir undurch-
sichtig, was nur vertrottelt ist, aber irgendwo endet die Dumm-
heit, beginnt die Politik.
Jenseits der Grenze. wird uns die Sache unheimlich; da
stehn bei jeder Bahnstation bis an die Zahne bewaffnete Heim-
wehrleute und halten Maulaffen feil. Teilnahmslos stehn sie
in der Landschaft herum und warten, was daraus entsteht; es
entsteht jedoch nichts daraus, in seinem beschaulichen Eigen-
leben spielt der Putsch mit sich selbst, betrachtet er, wie
NarziB, eitel und erstaunt sein Spiegelbild in den Alpen-
bachen. Da und dort wird ein Automobil aufgehalten, da und
dort ein Biirgermeister verhaftet und wieder freigelassen,
nicht ein einziges Telegraphenamt wurde besetzt, nicht ein
einziger Fiihrer der Arbeiterschaft gefangen genommen, die
Eisenbahnen fahren wie sonst, Sonntagsausflugler lassen sich
428
nicht storen, mit aufgepflanztem Bajonett wartet die Heim-
wehr auf die Fortsetzung der Aktion. Und diesc Operetten-
haftigkeit, diese Konsequenzlosigkeit, dieses kindische Nichts-
tun beunruhigt uns immer mehr; irgend etwas stimmt da nicht,
so dumm ist nicht einmal die steirische Heimwehr, dafi sie
glatubt, man miisse nur sagen: ,,Wir ergreifen die Macht!", um
dann neugierig warten zu konnen, wie das ist, wehn man die
Macht ergriffen hat, Irgend etwas stimmt da nicht; man ist
in eine bewaffnete Idylle hineingeraten und nicht in einen be-
waffneten Aufstand. Nun, in Bruck wird das anders sein,
meinen wir; aber in Bruck ist (iberhaupt nichts, Einige Gen-
darmeriepatrouillen gehen in den StraBen umher und an den
Wanden kleben Plakate: „Volk von Oesterreich! In hochster
Not hat mich das heimattreue Volk Oesterreichs zum obersten
Hiiter seiner Rechte berufen . , . Der Heimatschutz ergreift im
Sinne seiner Grundsatze die Macht im Staate. Zur Sicherung
seiner Bestrebungen rufe ich hiermit die gesamten heimat-
treuen Verbande unter die Waffen. . . . Auf Grund des rechtr
lichen Nichtbestehens des Staates und der Staatsverfassung
entbindc ich das Bundesheer, Polizei, Gendarmerie sowie alle
offentlichen Beamten und Angestellten ihres Diensteides. Ge-
zeichnet: Dr, Walter Pfrimer.1' Und ein zweites Plakat:
MProvisor. Verfassungspatent. Als Fiihrer des Staates Oester-
reich ordne ich an .. " Vor den Plakaten kleine Menschen-
gruppen — und da und dort ein Heimwehrmann, der osten-
tativ friedliebend auf und ab spaziert und sich um die Ecke
driickt, wenn er einen Vertrauensmann der Arbeiter sieht.
,,Was ist los?" ,,Die Heimwehr hat vor zwei Stunden
Bruck verlassen und ist nach Leoben marschiert." Wurde sie
von der Gendarmerie vertrieben? Keine Spur; die Gen-
darmerie ist erst eine halbe Stunde spater gekommen. Das
ist der Putsch in Bruck.
Um drei Uhr morgens ist die Heimwehr in Bruck ein-
marschiert, hat die Briicke und den SchloBberg besetzt. Am
Abhang des Schlofibergs wurden einige einzelstehende Arbei-
terhauser (iberfallen und beschossen; ein Arbeiter war daheim,
er hat sich mit seinem Gewehr gcgen zwanzig Heimwehrleute
verteidigt, hat sie davongejagt. Zwei Hauser, in denen nur
Frauen waren, wurden erobert und ,um zehn Uhr vormittags
wieder geraumt. Einige Arbeiter wurden miBhandelt, einige
interniert; im Gebaude der Bezirkshauptmannschaft ergriff die
Heimwehr die Macht, d«m Arbeiterheim wich sie in weitem
Bogen aus. Plotzlich verlieB sie die Stadt, niemand wuBte,
warum; wesentlich spater tauchte Gendarmerie auf. Der Re-
publikanische Schutzbund stand bereit, brannte daraxif, mit den
Heimwehrleuten abzurechnen; telephonisch kam zum zehn-
ten Mai die Meldung von der steirischen Landesregierung,
daB Wehrmacht unterwegs sei. Von Graz nach Bruck fahrt
man eine Stunde; um drei Uhr nachmittags kam en die erst en
Truppen in Automobilen. Sie blieben in Bruck, niemand
wuBte warum; in der Bezirkshauptmannschaft verhandelten
die Behorden mit Heimwehrleuten in Zivil. Gaffend umstan-
den die Burger von Bruck die Militarautomobile, die in Bruck
blieben, obwohl aus Leoben (funfzehn Schnellzugsminuten ent-
429
fernt) die Nachricht kam, daB dort ungefahr zweitausend
Heimwehrleute konzentricrt wurden. In Kapfenberg (fiinf
Schnellzugsminuten cntfcrnt) wurde geschossen. Die Heim-
wchr griff das Arbeiterheim an, totete zwei Arbeiter, zog sicn
zuriick, als Gendarmerie kam, wurde von der Gendarmerie
nicht verfolgt. In Bruck standen die Militarautomobile, riihr-
ten sich nicht von der Stelle. Zwei Dutzend Gendarmen ftihr-
ten gegen die Heimwehr Krieg, einen Krieg, der darin bestand,
daB einer dem andern auswich, einer dem andern Schwierig-
keiten ersparten. Nur in Pernegg, einer kleinen Ortschaft bei
Bruck, ging die Gendarmerie energisch und in Massen vor;
dort hatten zwolf Heimwehrleute die Macht ergriffen. Sie
wurden von hundert Arbeitern umstelit, in einem Gebaude
zerniert. Kurz darauf tauchten zweihundert Gendarmen auf,
verjagten die Arbeit er, ernannten die Heimwehr zur staat-
lichen Notpolizei; kein SchuB ist in Pernegg gef alien,
Aus Leoben kommen wilde Geruchte, wir fahren im Auto
nach Leoben. In Leoben ist nirgends Heimwehr zu sehn; wir
horen, daB der Putsch zu Ende ist, Wie das? Ja, die Heim-
wehr ist durch die Stadt marschiert, von den waffenlosen Ar-
beitern mit Pfuirufen empfangen, hat zuerst in den StraBen
ein Heerlager aufgeschlagen, hat sich dann in die Walder zu-
riickgezogen, ist wieder zuriickgekehrt xind in die Hotels ge-
gangen, deren Besitzer ihre Freunde sind. In dem groBten
Hotel der Stadt wird abgeriistet; die Waff en werden ver-
steckt, die Uniformen mit Zivilkleidern vertauscht und drauBen
jagt die Gendarmerie mit auEgepflanztem Bajonett die Neu-
gierigen durch die StraBen, hierhin und dorthin, bis die
Heimwehrwaffen und die Heimwehrfuhrer in Sicherheit sind.
Gegen diese Heimwehrfuhrer hat die Regierung den Haftbefehl
erlassen — die Gendarmerie scheint davon nichts zu wissen.
AuBerdem ist sie damit beschaftigt, die StraBen zu saubern,
in denen Frauen und Kinder offenbar die Ruhe und Ordnung
gefahrden. Ahnlich geht es in Kapfenberg zu; die Heimwehr-
leute sitzen in ihren Gasthofen, die Arbeiter werden von den
Bajonetten der Gendarmerie durch die StraBen gejagt — und
schlieBlich gehn die Gendarmen in eines der Heimwehrwirts-
hauser, nicht um die Waffen der Aufriihrer an sich, sondern
um eine Jause zu sich zu nehmen. Der Putsch ist zu Ende,
niemand weiB warum, die Wehrmacht ist noch immer unter-
wegs. Abends treffen viele Kompanien mit Maschinengeweh-
ren und Geschiitzen in der Obersteiermark ein; die Heimwehr
ist unterdessen schlafen gogangen. ,,Es war nix!" — nur, daB
zwei tote und eiriige verwundete Arbeiter zuruckgeblieben
sind, nur, daB die Arbeiterschaft in wilder Erregung wacht
und das Land von den Waffen der Staatsgewalt starrt, um
zwolf Stuaden zu spat. Und am nachsten Tag schreibt die
christlichsoziale ,Reichspost\ das Blatt der Regierung: „Wo
Truppen des Bundesheeres, uberall mit tadelloser Sicherheit
eingesetzt, erschienen, zerstaubte sofort jeder Widerstand.
Kein SchuB aus einem Soidatengewehr brauchte zu fallen."
Und man lobt die starke und weise Regierung Oesterreichs.
Das ist das Vexierbild. Ahnt man bereits den Sinn in dem
Unsinn?
430
Erstens: es war kein Putsch, sondern ctwas weitaus Ge-
fahrlicheres, was da gcspiclt wurde. Mit den paar hundert
HeLmwehrleuten, die jedem ernsten ZusammenstoB aits dem
Wege gingen, die iiber das ganze Land verstreut war en und
erst nachmittags zum Teil in Leoben zusammengezogen wur-
den, urn kurz darauf abzuriisten und hcimzuschleichen, mit
diesem Hauflein einer parodist ischen Kont err evolution ware
die Staatsgewalt in einer Stunde fertig geworden. Urn acht
Uhr morgens ware alles zu Ende gewesen, ehe es recht be-
gonnen hatte, wenn nicht die Staatsgewalt dbenso gewartet
hatte, wie die Heimwehr gewartet hat. Ja, die Arbeiter
hatten die Heimwehr in erstem Ansturm hinausgeohrfeigt,
ohne vieler Waffen zu bedurfen, wenn sie nicht in bitterer
Disziplin zuruckgehalten wprden waren — mit Recht zuriick-
gehalten; denn uberall, wo sie, wie in Pernegg, die Heimwehr
in die Enge trieben, griff blitzgeschwind die Staatsgewalt ein.
Zweitens: nicht alle Politiker der Bourgeoisie waren so
ahnungslos wie der Innenminister Winkler und der AuBen-
minister Schober, die von der Heimwehr nichts wissen wollen;
Winkler aus alter Gegnerschaft, Schober, weil er auBenpoli-
tisch mit ihr keinen Staat machen kann, beide, weil ihre
. Parteien, die Landbiindler und die Grofideutschen, der Heim-
wehr ablehnend gegeniiberstehn. Winkler und Schober woll-
ten energisch vorgehn, aber der Heeresminister Vaugoin und
der steirische Landeshauptmann Rintelen haben ihre Wiinsche
sabotiert, haben der Heimwehr nicht nur Zeit gelassen, sfdh
zu entfalten, sondern ihr auch, als der VorstoB miBlang, den
Riickzug leicht gemacht. Die Herren der Alpine-Montan-Ge-
sellschaft, eng mit Rintelen versippt, haben den Putsch finan-
ziert, Rintelen und Vaugoin haben gewartet, wie sich die
Dinge entwickeln — erst, als die vollige Uniahigkeit Pfrimers
offenbar wurde,, haben sie schonungsvoll das Abenteuer liqui-
diert und den Eintagsdiktator fallen gelassen, Langer durfte
das Experiment nicht hingezogen werden, sonst hatte man die
Auslandsglaubiger allzu nervos gemacht — das wurde
Rintelen unzweideutig mitgeteilt. Da Pf rimer die Zeit nicht
zu niitzen verstand, muBte er geopfert werden.
Drittens: so dumm der Walter Pf rimer ist, hat er dennoch
nicht grundlos seinen Putsch derart putschwidrig aufgezaumt.
Offenbar aber hat er in seiner Beschranktheit die Auftrag-
geber nur zum Teil verstanden, zu naiv mit der Unterstutzung
der Staatsgewalt gerechnet — denn daB er damit gerechnet
hat, und zwar nicht nur, weil Gott ihm einen Traumwink gab,
sondern auch, weil er solidere Anhaltspunkte hatte, ist jedem
Zweifel entruckt. Er hat gewuBt: wenn er allzu energisch
vorgeht, wenn aus der Putschkomodie. wirklich ein regelrech-
ter Putsch wird, kann das die Staatsgewalt in die unange-
nehme Situation bring en, um der Auslandskredite willen rasch
gegen ihn einschreiten zu miissen. Daher hat er die Heimwehr
mobilisiert, aber nirgends einen zielbewuBten Angriff unter-
nomm^n; er hat vielmehr gewartet. Ebenso hat die Staats-
gewalt, haben Rintelen und Vaugoin gewartet. Worauf aber
haben alle umsonst gewartet?
2 431
Viertens: Wcnn Pf rimer etwas begabter oder die Arbei-
terschaft etwas unbesonnener gewesen ware, hatte die Heim-
wehrprovokation ihre Wirkung nicht verfehlt. Denn die Ar-
beiter zu provozieren, sie zum Angriff herauszulocken, das
war der einzige Sinn des „Putsches". Ware es irgendwo zu
er listen ZusammenstoBen gekommen, dann hatte sich im GroBen
ereignet, was in Pernegg im Kleinen angedeutet wurde. Die,
Staatsgewalt hatte nicht so lange gebraucht, um nach Bruck
oder Leoben zu kommen, sie ware, die Heimwehr zur Nol>
polizei ernennend, gegen die Arbeiter vorgegangen — und die
Zeitungen hatten am nachsten Tag gemeldet: Ein blutiger
Aufstand der steirischen Marxisten niedergeschlagen. Die Re-
gierung beherrscht die Situation. Die Heimwehr kampft auf
, der Seite der staatlichen Ordnung. In dieser Situation ware
es den Rechtsradikalen, Seipel, Vaugoin, Rintelen gelungent die
biirgerlichen Parteien zu einer Politik der „starken Hand" zu
bringen und vor dem Elendswinter einen Ausnahmezustand
iiber Oesterreich zu verhangen- Dann hatte die Alpine-Montan-
Gesellschaft die Heimwehr nicht umsonst finanziert, dann
konnte die Regierung mit dem Bajonett gcgen die Wirtschafts-
krise regieren. Es ist anders gekommen, Pfrimer hat seine
Sache schlecht gemacht, er mufi daftir biiBen (allzuviel wird
ihm nicht geschehn). Und die Regierung hat, so sonst nichts
iibrig blieb, die Ruhe und Ordnung in Oesterreich gerettet.
n Lange Wellen" von Thomas Tarn
\l or kurzer Zeit sind die neuen Vierteljahrshefte des Insti-
tuts fiir Konjunkturforschung erschienen. Sie geben keine
systematische Analyse der heutigen Situation, sie versuchen
nicht einmal, eine Prognose fiir die nachste Zeit zu
geben, Sie referieren lediglich iiber die letzten Monate und
bestatigen, was wir langst wissen: nirgends ist ein Anzeichen,
daB die Krise in nachster Zeit liquidiert werden wird, im Ge-
genteil, sie wird sich weiter vertiefen. Wagemann, der Leiter
des Instituts fiir Konjunkturforschung, hatte bereits Mai 1931,
im Vorwort zu seinem Buch; ,,Struktur und Rhythmus der
Weltwirtschaft". geschrieben; „Am Beschaftigungsgrad, an der
Produktion, am Volkseinkommen und am Welthandel gemes-
senen ist die gegenwartige Krise die bei weitem schwerste des
ganzen letzten Jahrhunderts. Dabei wissen wir nicht einmal,
ob sich die Riickgange nicht noch weiter fortsetzen."
Wir wissen, dafi die Riickgange seitdem riesenhaft an-
gehalten haben. Wenn aber diese Krise die schwerste des
ganzen letzten Jahrhunderts ist, und wenn man sich dabei um
die Erkenntnis herumzudrucken sucht, daB sie im Niedergang
des kapitalistischen Systems stattfindet, so mufite man diese
besondere Schwere der Krise aus Faktoren ableiten, die nur
vorubergehenden Charakter haben, und die daher in irgend
einer rabsehbaren Zeit beseitigt werden wiirden. In Deutsch-
land hatte man zunachst aui den Krieg und die direkten und
indirekten Kriegsfolgen hingewiesen. Aber nachdem der ameri-
kanische Kapitalismus, der durch den Krieg nicht sehr mit-
432
genommen wurde, so auBerordentlich stark betroffen war, daB
auch driibcn in der ganzen bisherigen Krisengeschichte keine
Parallcle zu find en ist, war es immer schwerer, im Krieg den
entscheidenden Faktor zu sehen. Weiter: der Hinweis auf
den Krieg verlor international seine Bedeutung immer mehr.
In den ersten Jahren nach dem Kriege konnte man gewisse
Erscheinungen mit dessen Liquidierung in direkten Zusammen-
hang bringen. Je weiter weg wir aber von der Beendigung des
Krieges sind, um so schwerer findet die Ansicht Glauben, daB
vor allem der Krieg fvir die zugespitzten Widerspriiche des
kapitalistischen Systems verantwortlich zu machen ist. Man
brauchte daher artdre kausale Zwischenglieder und kon-
struierte sie sich. Man sagte, diese Krise sei mit irgendeiner der
letzten zwanzig Vorkriegsjahre nicht zu vergleichen, denn da-
mals gab es eine ,,lange Welle'* der Wirtschaft, in der die „Ex-
pansion" vorherrschte. Dagegen gab es nach 1870 eine „lange
Welle" der wirtschaftlichen Entwicklung, in der die ,, Stagna-
tion'* vorherrschte; <so ist es auch nach dem Weltkrieg. Da
also die heutige Krise in eine Stagnationsepoche fallt, ist ihr
AusmaB ein so groBes. Aber herauskommen wird der Kapita-
lismus auch aus dieser Stagnationsepoche, wie er aus der Stag-
nationsepoche nach dem Krieg von 1870/71 herausgekommen
ist. Wagemann teilt die einzelnen Epochen in folgender Weise
ein: 1845 bis 1873: Expansion — 1873 bis 1895: Stagnation —
1895 bis 1920: Expansion — ab 1920: Stagnation. .
Die Theorie der langen Wellen ist nicht von Wagemann
entdeckt, sie findet sich bei der gesamten burgerlichen
Vulgarokonomie. Zu welchen politischen Zwecken man sie
heute braucht, das ve^rat Naphtali, der zur Zeit einer der wich-
tigsten Wortfiihrer des Reformismus ist. In seiner Broschiire
,,Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit" schreibt er:
Eine der Besonderheiten liegt ohne Zweifel bei jeder Krise darin,
ob sie sich in einem Zeitraum abspielt, in dem die gesamtwirtschaft-
liche Bewegung, die Gesamtentfaltung der kapitalistischen Wirtschaft
sturmisch aufwarts geht, oder in einer Periode, in der die Bewegung
abebbt und ruhiger ist. Man hat, rein als Tatsachenbeobachtung, die
Feststellung gemacht, daB in den rund hundertzehn Jahren der kapi-
talistischen Entwicklung, die wir iibersehen konnen, die kurzen Zyklen
der Konjunktur, die sich etwa im Rahmen yon sieben bis zehn Jahren
abspielen und von denen bisher allein die Rede war, sich innerhalb
sogenannter langer Wellen abwickeln. Es gab in dieser Zeit Perioden
des langfristigen Tiefstandes und Perioden des langfristigen Auf-
schwungs, Perioden der Ebbe und ^er Springflut, wie es S. de Wolff
genannt hat („Der lebendige Marxismus", Festgabe zum siebzigsten
Geburtstag von Karl Kautsky. Jena 1924), und man kann mit ziem-
Iicher Sicherheit feststellen, daB in den langen Ebbeperioden . die
Baissejahre iiberwiegen, in den langen Aufschwungsperioden dagegen
die Haussejahre, An der Preisbewegung gemessen — und das ist, wie
schon erwahnt, fast der einzige statistische MaBstab, der hier anwend-
bar ist, zeigt sich, daB etwa von 1825 bis 1850 eine solche Ebbeperiode
herrschte, in der die Aufschwiinge keinen hohen Grad erreichten, dafi
dann von 1851 bis 1873 eine langfristige Springflutperiode folgte, eine
Periode der auBerordentlich schnellen Entwicklung des Kapitalismus.
Von 1874 bis 1895 haben wir wieder eine Ebbeperiode, also eine
Periode der ruhigen Preisbewegung, und von 1896 bis 1913 eine neue
Zeit der Springflut, die mit den besondern Einiliissen des Welt-
krieges wohl bis 1920 fortgewirkt hat.
433
Wir mtissen uns nun die Frage vorlegen: Wo stehen wir, in welch
langfristiger Periode spielt sich der gegenwartige Konjunkturzyklus,
spielt sich die gegenwartige Krise vermutlich ab. Da spricht nun
auBerordentlich viel fur die Annahme, daB wir uns seit etwa 1921,
also seitdem die Hausseperiode, die okonomisch fur die meisten Lan-
der auch in der Kriegszeit herrschte, abgebrochen ist, seitdem wir die
ersten internationalcn Nachkriegskrisen vom Jahre 1921 ab gehabt
haben, weltwirtschaftlich gesehen in einer Ebbeperiode befinden.
Die Theorie der Langen Wellen wird also hier dazu ver-
wendet, die politischen Konsequenzen zu ziehenf die der Re-
formismus braucht. Die Krise ist tiefer als jede andre, das muB
man zugeben. Also gehort sie einer Ebbeperiode an, einer
Periode der Stagnation, Auch das hat der Kapitalismus schon
gekannt; auch die Ebbe, auch die Stagnationsperiode hat er
schon iiberwunden, also wird er. sie auch dieses Mai uberwin-
den und wieder zu einer ,,Hausse", zu einer ,,Expansionsperi-
ode" kommen. Einige Zeit kann das naturlichnochdauern. Und
so schreibt Wagemann bereits, daB diese Depressionswelle bis
zum Jahre 1940 anhalten wird/ Es ist hier nicht der Platz,
nachzuweisen, welches Gemisch von Plattheiten und voreili-
gen Verallgemeinerungen diese Theorie der Langen Wellen
iiberhaupt ist. Fiir uns ist es nur notwendig, daB die „Tat-
sachenbeobachtung", wonach in der Zeit von 1874 bis 1894 eine
Ebbeperiode herrschte, vollig falsch ist, daB die Tatsachen in
Wahrheit das genaue Gegenteil beweisen und daB es kein Zu-
fall ist, wenn Naphtali an der bereits zitierten Stelle allein von
der Preisbewegung spricht. Er weiB warum, er weiB, daB die
gesamte iibrige Statistik seine Ausftihrungen ganz und gar
Liigen straft. Wie entwickelte sich die Produktion von
1870 bis zti den neunziger Jahren? Wir besitzen, wie
bekannt, fiir diese Epoche keine exakte Produktionsstati-
stik, aber die Daten, die wir bringen, diirften doch vollig aus-
reichend sein. (Damit uns nicht der Einwand gemacht werden
kannf daB sie willkurlich zusammengestellt sind, benutzen wir
in der Hauptsache die Bucher von Wagemann und Sombart, das
heiBt die Bucher von Autoren, die selbst die Theorie der Lan-
gen Wellen vertreten.)
Wagemann bringt Zahlen iiber die Entwicklung der indu-
striellen Produktion in den drei entscheidenden hochkapitalisti-
schen Staaten.
Entwicklung der Industrieproduktion wichtiger Lander:
1913 = 100
Jahr
GroB-
britannicn
Dcutschland
Vereinigte
Staaten
1870
43,8
17,5
7,7
1880
52,7
24,6
17,4
1890
61,9
40,3
38,5
1900
78,8
64,7
54,2
1910
85,1
88,6
89,0
1913
100,0
100,0
100,0
Was besagen die Zahlen? Von 1870 bis 90 hat sich die indu-
strielle Produktion in den Vereinigten Staaten verfunffacht, die
deutsche mehr als verdoppelt, die englische ist um zirka die
Halfte gestiegen. Von einer Stagnation war also in der Welt-
produktion in keiner Weise die Rede, wohl aber von einem
434
voiiig ungleichmaBigen Tempo in der Entwicklung der einzel-
nen hochkapitalistischen Lander. Wie stand es mit der Schwer-
industrie in Deutschland? Nach Sombart hat sich in diesem
Zeitraum die Bergbauproduktion mehr als verdoppelt. Und
wie steht es mit der deutschen Roheisen- und Hiitten-
produktion?
Hvittenindustrie
Produktion in 1000 Tonnen
Roheisen Summe aller Huttenerzeugnisse
1871/75 1945,7 1871/75 2157,3
1876/80 2176,5 1876/80 2497,8
1881/85 3410,5 1881/85 3969,5
1886/90 4214,6 1886/90 4901,9
1891/95 5081,8 1891/95 5952,7
Hier ist also im gleichen Zeitraum eine Steigerung um
mehr als 150 Prozent eingetreten. Die Steigerung in Deutsch-
land war grade damals besonders bedeutend, weil sich die
groBkapitalistische Produktionsweise vielfach erst in diesen
Jahrzehnten entwickelte, Sombart schreibt daruber:
Hier nur die Feststellung, daB in den genannten beiden Jahrzehn-
ten das kapitalistische Wirtschaftssystem zu allgemeinster Verbreitung
in Deutschland gelangt und namentlich auch Gebiete erobert, die bis
in die 1870er J ah re der hahdwerksmaBigen Organisation so gut wie
ausschlieBlich verblieben waren. Es ist die Zeit, in der sich auch auf
dem Gebiete der Produktion ein grofikapitalistisches Unternehmertum
entwickelt, das vordem iiberwiegend nur im Handel und als Hoch-
finanz existiert hatte.
Und wie steht es mit der internationalen Entwicklung?
In den Jahren der Stagnation hatte sich allein von 1880 bis
1890 die Roheisenproduktion der Welt um 50 Prozent erhoht,
die Stahlproduktion von 1880 bis 1895 mehr als verdoppelt.
Diese riesenhafte Ausdehnung der gesamten Schwerindustrie
in der Epoche der „Ebbe" erklart sich daher, daB zu dieser
Zeit der Eisenbahnbau in der ganzen Welt so auBerordent-
liche Fortschritte machte.
Die Jahreszunahme der Eisenbahnen betrug in runden Zif-
fern (die Zahlen nach Sombart):
Jahr Erdc:
1841—1850 3 000
1851—1860 7 000
1861—1870 10 000
1871—1880 16 000
1881—1890 24 000
1891—1900 17 000
seit 1900 24 000
Diese riesenhafte Zunahme des Eisenbahnfcaus in den Jah-
ren der Stagnation wurde selbst in der Zeit der Expansion, seit
1900, nicht mehr (ibertroffen. Also in der Epoche der Stag-
nation und der Ebbe eine auBerordentlich groBe Steigerung in
der Produktion der gesamten Schwerindustrie und im Welt-
Eisenbahnbau, dazu aber auch eine starke Steigerung im Welt-
auBenhandeL Grade hier ist das Gebiet, an dem immer wieder
die Stagnation in dieser Zeit demonstriert werden soil, Aber
nur dann ist eine verhaltnismaBig langsame Entwicklung zu
konstatieren, wenn man lediglich die Preise beriicksichtigt und
435
in
auflerhalb
Europa
Europas
2 000
1000
2 800
4 200
5 300
4 700
6 400
9 600
5 500
19 500
6 000
11000
5 000
19 000
nicht die ausgetauschten Warenmengen. In der Epochc scit
den siebziger Jahren sind, wie bekannt, die Preise der Agrar-
produkte ani dem Weltmarkt stark gefallen, da damals jungfrau-
liche Boden Amerikas mit ihrer Produktion auf den Weltmark-
ten erschienen; und weiter sind damals die Preise Mr Industrie-
produkte stark gefallen. Wenn man aber nur die Preise bei
der Entwicklung des Welthandels berucksichtigt, so kommt
man zu einem vollig falschen Rild.
Nach Wagemann hatte der
WeltauBenhandel in dieser
Epoche folgende Entwicklung
genommen:
Welthandel
Jahr
In den gleichen Jahren ent-
wickelte sich der GroBhan-
delsindex in folgender Weise:
Milliarden M. bzw. RM.
Einfuhr Ausfuhr
1870'
1880
1881
1885
1890
1894
1895
20,0
27,1
27,4
27,4
33,2
30,8
31,8
17,2
23,6
24,8
24,3
29,4
27,1
28,2
Deutsches
Reich
Stat.
Reichsamt
91,7
94,0
90,2
73,6
89,1
72,2
70,5
GroB-
britannien
Statist
112,9
103,5
100,0
84,7
84,7
74,1
72,9
Ver. Staaten
vonAmerika
Bureau of
Labour Stat
103,4
94,2
93,1
81,9
80,5
68,6
69,9
Nach diesen Zahlen ist also selbst dem Preise nach von
1870 bis 1894 erne Steigerung um fast 50 Prozent eingetreten.
Der Menge nach war aber die Steigerung eine ungleich groBere,
denn im gleichen Zeitraum ist der GroBhandelsindex um zirka
cin Drittel zuriickgegangen. Wenn man das beriicksichtigtt und
es ist charakteristisch fur Naphtali, daB er nur von Preisen
sprichtt aber nicht von Produktions- und Umsatzmengen, dann
ist auch der WeltauBenhandel damals sehr kraftig gestiegen.
In dieser Epoche hat aber auch die Zahl der beschaHig-
ten Industriearbeiter um viele Millionen zugenommen. In
Deutschland wuchs die IndustriearbeiterschaH zu der Zeit nicht
nur parallel mit der Bevolkerungsvermehrung, sondern dar-
iiber hinaus durch die auBerordentlich starke Abwanderung
vom Land. Wachstum der Arbeiterschaft, damals ver-
bunden mit Erhohung der Reallohne, das bedeutet natiir-
lich Steigerung der binnenlandischen Konsumtion, die, wie wir
gezeigt haben, mit einem betrachtlichen mengenmaBigen Wach-
sen des AuBenhandels zusammenfieL Kein Wunder, da ja da-
mals eine Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise
iiber die ganze Welt stattfand. Von einer Ebbeperiode, von
einer Stagnation nach den siebziger Jahren kann also in keiner
Weise die Rede sein, Nur das Tempo war aui manchen Ge-
bieten, durchaus nicht auf alien, kein so schnelles wie von den
neunziger Jahren bis zum Krieg, Es zeigt sich hier deutlich,
wie abgeschmackt es ist, Formulierungen, die aus einer andern
Epoche stammen, heute einfach zu libernehmen. Wenn die Ka-
pitalisten durch langere Zeitraume 25 Prozent Profit machen und
dann Jahre kommen, in denen sie „nur" 15 Prozent verdienen, so
sind dies Jahre der Ebbe, Jahre der Stagnation. Wenn die
Produktion in solchem riesenhaften Tempo gestiegen ist, wie
von den neunziger Jahren bis zum Krieg, dann gelten die Jahre
vorher leicht als Jahre der Ebbe, der Stagnation.
436
Die Kapitalisten waren aufterordentlich Iron, wenn die
nachsten Jahre ebenso verliefen, wie die Jahre nach
4870, wenn in den nachsten Jahren die Production, der AuBen-
handel, die Zahl der beschaftigten Arbeiter, die Profite, die
Lohne so zunahmen.
Sie werden diese Freude nicht erleben.
SllbventlOnen von Bernhard Citron
A Is durch die Notveirordnung vom 9. Juni 1931 ein Betrag
von 140 Millionen Reichsmark (Differ enz zwischen Bedarf
der Krisenfiirsorge und Ertrag -der Krisensteuer) fur Sur>
ventionszwecke bereitgestellt wurde, schrieb ein bekanntes
Linksblatt: „Diese Subvention ist die groBte seit der Hilfe fiir
die Ruhrindustrie". Professor Bonn errechnete damals im (Ber-
liner Borsen-Courier' aus dem Etat 1931/32 offene Subventionen
in Hohe von 370 Millionen Reichsmark. Wie bescheiden neh-
men sich diese Betrage gegen die Zuschiisse und Garantien
aus, die seit dem 13. Juli gewahrt worden sind. 300 Millionen
an die Dresdner Bank in Form siebenprozentiger Vorzugsaktien,
deren Verzinsung alles andre als sicher ist, 43 Millionen beab-
sichtigter Kredit an die Industrie zur Obernahme der Danat-
bank-Majoritat, 10 Millionen an die Schroder-Bank in Bre-
men und 140 Millionen an die Garantie- und Akzept-
bank. als Beteiligung des Reiches, dann neuerdings der Redis-
kontkredit der Reichsbank in Hohe von 150 Millionen fiir die
Russenauftrage der Industrie als Erganzung einer bereits iiber-
nommenen Ausfallburgschaft von 300 Millionen, Das alles sind
noch algebraische GroBen. Aber die zahlenmaBig nicht zu er-
fassenden Garantien fiir die Danatbank und fiir -die Schro-
der-Bank, die Erleichterung des Wechselverkehrs fiir die
Gesamtheit der Kreditbanken, das sind inkommensurable
Werte. In der auBerordentlichen Generalversammlung der
Dresdner Bank wurde liber den Status des Instituts
nichts bekannt. Die Monatsbilanzen der Kreditbanken
geben in dieser Beziehung keine hinreichende Auskunft, da
die Gewinn- und Verlustrechnung fehlt. In Nummer 36 der
,Weltbuhne' wtirde die aktienrechtliche Unumganglichkeit einer
Danatbank-Generalversammlung begrtindet. Die Umwandlung der
Rechtsform dieses Instituts von einer Kommanditgesellschaft
auf Aktien in eine Aktiengesellschaft, die inzwischen er-
, wogen worden ist, lafit an der Einberufung keinen Zweifel
mehr. Hoffentlich wird wenigstens iiber das AusmaB der vom
Reich bei der Danatbank ubernommenen Verpflichtungen Klar-
heit geschaffen.
Aber alles bisher Erwahnte wird in denSchatten gestellt
durch die Garantie, die demAuslande gegentiber teilweise von
der reichseignen Golddiskontbank und die — moralisch wenig-
stens— vom Reich fur die Gesamtheit der 5 — 7-Milliarden-
Stillhaltung zugunsten der deutschen Banken iibernommen wor-
den ist. Bei uns erfreuen sich Banken, Werften, Reedereien,
Rittergiiter, Bergwerke, Lokomotivfabriken, Textilgesellschaf-
iten und zahlreiche andre wirtschaftliche Unternehmungen niit-
437
telbarer oder iinmittelbarer Subventionen. Auch in andern Lan-
dern hilft dcr Staat einem notleidenden Industriezweig. Dort
weiB man aber wenigstens, wie hoch diese Unterstiitzungen sind.
Bei uns hcrrscht hieriiber volliges Dunkel, Vor acht Jahren,
im Ruhrkrieg, lebte ein ganzer Landesteil auf Kosten des Reichs>
heute leibt die gauze Wirtschaft vom „ Deutschen Arm**.
Der stellvertretende Reichswirtschaftsminister, Staats-
sekretar Trendelenburg, erklarte bei der Beratung seines Etats
im Februar 1931 vor dem Reichstag: „Man darf iiber dem na-
tuTlicheai Mitgefiihl mit denjenigen, welche von den Auswir-
kungen der Wirtschaftskrise betroffen werden, doch niemals
vergessen, dafi die Unterstiitzung eilies Betriebes oder eines
Wirtschaftszweiges durch kiinstliche Mittel allzu leicht nur die
Folge zeitigt, dafi die an dieser Stelle entstandenen Schwierig-
keiten auf andre Betxiebe oder Wirtschaftszweige verlagert
werden, dafi mit andern Wort en durch das Zustopfen eines
Loches an einer Stelle entsprechende Lpcher an andern Stellen
auigerissen werden/*
Doktor Trendelenburg hat diese Worte gewifi nicht ver-
gessen, auch andre Regierungsmitglieder diirften heute noch
ahnlicher Ansicht sein, aber die Verhaltnisse waren starker als
die Vorsatze. Wenn am 12. Juli dem Reichskanzler von den
Banken erklart wurde, falls die Danatbank nicht unter Ga-
rantie des Reichs fiir die Einleger die Schalter schlieBt, dann
miifiten sie samtlich ihre Zahlungen einstellen, so blieb kaum
etwas andres iibrig als zu helfen. Ais die Reichsbank in
Basel iiber die Stillhaltung mit den auslandischen Bankenglau-
bigern verhandelte, war es em zweiter Wald von Compiegne,
in den die Schuldigen einen Vertreter der Regierung entsand-
ten. Wie 1918 sind huben und driiben die Generale — damals
mit dem Marschallstab, heute mit dem Fiillfederhalter in der
Hand — die Verantwortlichen. Der .Matin* hat beide Parteien
dieses Kreditkrieges treffend gekennzeichnet, wenn er bei Ab-
schlufi der baseler Verhandlungen schrieb: „Die Hauptverant-
wortlichen an der Krise sind die deutschen Bankiers, die Geld
um jeden Preis geborgt haben, und die auslandischen Banken,
die es ihnen geliehen haben*.
Gewifi konnte man nicht die Banken auffliegen lassen, das
Reich mufite helfen, aber es mufi auch wissen, wofur und in
welcher Hohe Mittel aufgewandt werden, von denen man noch
nicht weiB, aus welcher Quelle sie fliefien sollen. Von ver-
schiedenen Seiten ist der Regierung die gefahrliche Anregung
gegeben worden, die Krise der Deflation durch ihr Gegenteil
zu beseitigen. Wieder wagen es die Verantwortlichen am
deutschen Ungliick, Katastrophenpolitik zu empfehlen. Eine
neue Inflation soil ihre Schuld verstecken und ihre Schulden
beseitigen. Wir wissen, daB man im Reichskabinett nicht ge-
nedgt ist, diesen Einfliisterungen Gehor zu schenken. Aber
warum deckt man die Karten nicht auf, warum wird nicht Aus-
kunft iiber die voile Hohe der gewahrten Subventionen und
ubernommenen Garantien erteilt? Wo bleibt die Denkschrift
iiber den 13. Juli? Wir haben einen Anspruch darauf zu er-
fahren, womit der Bankrott der Wirtschaft bezahlt werden soil*
438
Die Mordklirve von Hans Hyan SMttfi
Yfji* besitzen in PreuBen ein Kriminalbeamten-Korps mit
einem Regierungsdirektor, 5 Regierungs- und Oberregie-
rungsraten, 17 Kriminaldirektoren, 90 Kriminalpolizeiraten,
471 Kommissaren, 395 Bezirkssekretaren, 1646 Kriminalsekre-
taren, 4306 Kriminalassistenten und 170 Kriminalanwartern.
An weiblichen Kriminalbeamten: einen Kriminalrat, zwolf
Kriminalkommissare, 64 Bezirkssekretarinnen und 32 Kriminal-
sekretarinnen. In Berlin haben wir 30 Kommissare, 126 Sekre-
tare und 2125 Kriminalassistenten, Die Zahl der Kriminal-
beamten in ganz Deutschland zu nennen, bin ich nicht im-
slande, da hieriiber keine bestimmten Angaben vorhanden sind,
Es findet in den Landern eine fortwahrende Verschiebung
zwischen den stadtischen Beamten und den Staatsbeamten
statt, und es besteht dort auch noch vielfach der alte Modus,
daB der uniformierte Polizeibeamte sich Zivil anzieht und da-
durch zum Kriminalbeamten wird. Ich kann nicht einmal die
Entwicklung der Kriminalpolizci hier darstellen, da auch dort
bis vor etlichen Jahren die staatlichen und kommunalen Poli-
zeien nicht scharf voneinander zu trennen waren.
Mit dieser Summe von 7000 Kriminalbeamten in PreuBen
konnte man auch eines heftig anwachsenden Verbrechertums
Herr werden. Dafi dies, selbst bei freundlichster Beurteilung,
nicht ganz geschieht, hat verschiedene Ursachen. Die Krimi-
nalpolizei hat in dem neuen Aufbau, den sie zweifellos nach
der Revolution vorgenommen hat, etwa 3000 sogenannte „alte
Blaue", das sind die fruhern Schutzleute, in sich auinehmen
miissen; meist schon recht verbrauchte, durch den Krieg ge-
gangene Beamte, die grade fur den auBerordentlich schwieri-
gen und anstrengenden Kriminaldienst wenig geeignet waren.
Diese Leute sind durch Pensionierung und natiirliche Aus-
schaltung zu einem Teil abgegangen, ein andrer Teil i*st nicht
zum Nutzen der Kriminalpolizei noch vorhanden. Aber das 1st
nicht das Wichtigste. Es ist eine Systemanderunig auf ver-
schiedenen Gebieten erforderlich.
Ein Beamter, der einmal fest angestellt ist, kann nur
wegen grober Ungehorigkeit oder Unehrlichkeit entlassen wer-
den. Untiichtigkeit kann ihm niemals das Genick brechen.
Untiichtigkeit ist aber in keinem Beamtenkorper so gefahrlich
fur das ganze Korps wie grade bei der Kriminalpolizei. Ich
will das an einem Beispiel demonstrieren: Der Lustmorder
Bottcher war am Teltow-Kanal als Arbeiter tatig; er nahm
einen\ Tag Urlaub und totete — wahrscheinlich in den Nach-
wehen eines Alkoholrausches — die kleine Senta Eckert. Die
Beamten forschten landauf landab und so auch bei den Ar-
beiterkolonnen am Teltow-Kanal nach einem Menschen, der
fur den Mord in Frage kam. Eine griindlichere Durchdrin-
gung hatte erweisen miissen, daB Bottcher sich fur den Mord-
tag Urlaub genommen hatte. Diese Feststellung wurde aber
nicht getroffen, und Bottcher kam dadurch in die Lage, noch
eine groBe Anzahl von Unzuchtverbrechen und den schweren
Sexualmord an der Grafin Lambsdorf zu begehen.
Das sind die Fehler dieses ,,Siebsystems", die um so verhang-
3 439
nisvollcr werden, wenn man der „siebenden" Beamten nicht
absolut sicher ist. Zum Kriminalbeamten gehort ein starker
Impetus, der Jagdinstinkt des geborenen Fangers, eine eiserne
Natur, anspruchslos genug, um trotz der geringen Bezahlung
den schweren Dienst jahraus jahrein zu leisten. Diescn hoch-
geschraubten Anspriichen werden und konnen viele der Be-
amten nicht gerecht werden, Sie werden dazu aucb zu
schlecht bezahlt. Es ist nicht richtig, wenn man sie nur ebenso,
oder womoglich geringer stellt als den Schupo. Ober die
angstliche Bemessung der Spesen ist oft genug geschrieben
worden. Man muO diese Fehlerquelle des Systems immer
wieder hervorheben, man muB aber gerechterweise auch an-
erkennen, daB grade die Beamten der Mordkommissionen hin-
reichende pekuniare Moglichkeiten haben. Von ihnen wird
nur verlangt, daB sie in der Aufrechnung ihrer Auslagen eini-
germafien Ordnung halten.
Auf Grund meiner Erfahrungen sehe ich die Entwicklung
der deutschen Kriminalitat sebr schwarz. Es miiBten denn
Wunder geschehen. Bleibt aber die erhoflte Besserung der
deutschen Wirtschaftslage aus, so wird und mufi da«s Des-
peradotum bei uns zunehmen. Und diese Zunahme der Krimi-
nalitat wird eine Anderung des kriminalistischen Systems not-
wendig machen. Vor alien Dingen in der Richtung einer stren-
gen Zentralisierung, was von unsern Oberbehorden noch durch-
aus nicht begriffen ist.
Es darf nicht jeder Polizeiprasident tun, was er will. Die
groBen Kapitalverbrechen miissen von einer berliner Zentral-
stelle bearbeitet werden. AuBerdem aber muB sich im Geiste
der Kriminalpolizei seibst eine Anderung vollziehen. Der Be-
amte darf nicht wie bisher „den Fall" aLs seine Privatdomane
betrachten, bis nachher alles versiebt ist und das Verbrechen
unentdeckt bleibt. Die Veroflentlichung der groBen Mordfalle
mufi ohne alle Geheimniskramerei, soweit nicht das absolute
Untersuchungsinteresse dagegeri spricht, ohne Zeitverlust ge-
schehen. Und zwar muB dies auBer in den Zeitungen durch
immer wiederholte Maueranschlage geschehen, die reich mit
Bildern zu versehen sind.
Aber seibst unter der Voraussetzung, daB all das geandert
und gebessert wird, die preuBische und deutsche Kriminal-
polizei wird auch night darum kommen, das Privatbeamtentum
in ihre Arbeiten einzubeziehen. Den Privatdetektiv, der bei
uns noch immer eine mit Spott und MiBtrauen betrachtete
Figur ist, wird man auch bei uns auf die Dauer im offentlichen
Dienst nicht entbehren konnen. Man wird ihm wie in Amerika
eine Zwischenstellung einraumen und ihm die entsprechenden
Vollmachten geben miissen. Dazu ist selbstverstandlich notig,
daB die in Frage kommenden Personen mit aller Vorsicht aus-
gesucht und einer dauernden Kontrolle unter stellt werden,
Wer meine mehr als dreiBigjahrige Arbeit auf diesem Ge-
biete kennt, weiB* mit welcher dauernden Liebe und Ftirsorge
ich grade dem Institut der Kriminalpolizei diene. Deshalb
wird man mir, im Gegensatz zu den Ausfuhrungen des Leiters
einer bekannten Polizei-Zeitschrift, auch das Recht zur Kritik
und zu Reorganisationsvorschlagen nicht bestreiten diirfen.
440
Nationaler Philosophatsch von Kurt miier
ps gibt Philosophic und Philosophatsch. (Definitionen wird
cine intelligent e Leserschaft mir erlassen,) Der Philo-
sophatsch hat die Philosophic in Verruf gebracht; cr hat Leu-
ten, denen es an. Tiefe. oder an Willen zur Methodik im Den-
ken fehlt oder an Beidem, Griinde geliefert fur abgeschmackte
Hochnasigkeiten gegeniiber einer Disziplin, der sie sich nicht
gewachsen wissen. Wenn Antiphilosophen uater Philosophie
substanzlos-lebensferne Spintisiererei, etwas Wichtigtuend-
Vages, Wirr-Unverbindliches, Unkontrollierbares, Unsolides,
Schleimiges, Leimiges, Molluskenhaites, einen pathetischen
Begriffsglibber verstehen, vielmehr Solches unter Philosophie
zu verstehen vorgeben diirfen — : der Philosophatsch, der
Denk-Kitsch ist schuld daran,
Solange er seine Stoffe in der Sphare des rein Theoreti-
schen sucht, bleibt er verhaltnismaBig harmlos; gefahrlich wird
er, wenn er zur Lebenspraxis, gar zur Politik hinuberwechselt,
Heute ist der „neue Nationalismus" die Gegend, wo der Philo-
sophatsch am iippigsten gedeiht; und, so sehr ich die Verall-
gemeinerungen sogenannter Volkerpsychologie hasse; nirgends
gedeiht er so gut wie in DeutschJand, weil doch wohl keine
Nation so sehr wie die deutsche (gewiB nicht „die" ganze
Nation, aber groBe, wichtige, representative Tcile und Typen)
. ... weil keine Nation so sehr wie die deutsche in alles Ver-
schwommene, Wolkig-Konturlose, Vieldeutige, Dunkle, Dumpfe
verliebt ist, in die mystische Form, in jene Unklarheit, die fiir
Tiefe gilt, wenn sie sich halb im psalmodierenden Ton des
Priesters, halb im kommandierenden des Offiziers vortragt. Von
Haman und Hegel iiber Lagarde und Langbehn bis Spengler und
Pannwitz: immer wieder Stilkreuzungen aus Magus und Major!
Ein Stil, der, statt triibe und streng, luzide und urban ist und,
wo nicht urban, doch noch im Zorn heiter, weil funkelnd —
erscheint unserios, Voltaire, Lichtenberg, Schopenhauer, Borne,
Anatole France, Nietzsche, Wilde (auch Zeitgenossen waren
nennbar): lauter Luftikussel Keine Seite an Goethe wird in
Deutschland so vernachlassigt wie jene, die sich in den Xenien
oder den Spr lichen in Prosa zeigt und die fr agios eine seiner
herrlichsten ist und seiner wahrhaft ewigen,
Ich wittre scit je den Philosophatsch hundert Meter gegen
den Wind. Aber noch nie stank er mich so durchdringend
an wie unlangst, als mein Weg mich in ,Das Reich' des Natio-
naldenkers Fricdrich Hielscher fiihrte. Dieses , Reich': ein ein-
ziger Matsch und Modder; in der Mittc eine Tafel: „Geheilig-
ter Bezirk!"
Es ist aber ein Buch; von dreihundertundachtzig Seiten;
als Grundlehre, PrinzipienabriB, Leitfaden, Bibel fur deutsche
Nationalisten gedacht (,,gedacht" ist gut); im Verlage .Das
Reich', Berlin, erschienen. Wens gelustet nachzupriifen, ob ich
den Aggregatzustand richtig beschrieben habe, der priiie! Ich
will von d*n drcihundertachtzig Seiten die letzten zehn zum
Beweise heranholen.
441
,,Das kriegerische Herz vcrwcchsclt die zcitlichc Erhal-
tung nicht mit der gottlichen Unsterblichkeit, Es ist unsterb-
lich uiiid frcut sich der zeitlichen Vernichtung als der Biirg-
schaft seiner uniiberwindlichen Gewalt." Wir wollen diesen
Satz einmal scherzeshalber ernstnehmen und ein biBchen
sezieren,
f,Das kriegerische Herz verwechselt nicht** — in der Tat
ausgeschlossen! Denkvorgange namlich spielen sich im MHer-
zen" iiberhaupt nicht ab; es fuhlt nur. Selbst das unkriege-
rische Herz! Und auch das unkriegerische Herz, vielmehr Hirn
^verwechselt" nicht ,,Erhaltung" mit ^Unsterblichkeit"; an der
Unsterblichkeit zweifelt es hochstens. Gar ,,zeitlich" und
ftg6ttlich" verwechselt es schon deshalb nicht, weil es mit so
schiefen Gegensatzen nicht operiert. F. Hielschers kriege-
risches Herz ergreift die Gegensatzpaare Zeitlich/Ewig,
Menschlich/Gottlich und vermanscht sie zu der Stief-Antithese
„Zeitlich/Gottlich'\ DaB es sich ,,der zeitlichen Vernichtung
freut", sei ihm geglaubt (obwohl es sich diese Freude, welche
billig istt bemerkenswerterweise bis heute nicht verschafft
hat); aber inwiefern grade sie, die Vernichtung, ,,Burgsehaft"
fiir Uniiberwindlichkeit und Unsterblichkeit sein soil, weiB der
Kuckuck. Es mag Griinde fiir die Unsterblichkeitshoffnung
geben; der physische Tod ist bestimmt keiner.
,,Der Untergang, dem sich , . . die Menschen des Reiches . . .
aussetzen, fuhrt die Freiheit herauf, um die seit der ersten
Schlacht des Ersten Weltkrieges gekampft .wird, die Freiheit,
welcher als erwiinschtes Werkzeug der Westen selber dient,
d ess en Griff iiber die Erde das Zeitalter der igroBen Kriege
des Reiches ermoglicht." Hielscher schreibt den „Ersten Welt-
krieg" groB, etwa wie unsereins die Soziale Revolution groB-
schreibt, die Rote Einheit oder den Heiligen Geist. Wahr-
haftig, dem verhaBten „Westen" wird dafiir gedankt, daB er
Kriege „erm6glicht". Der Krieg, der Giftkrieg der Zukunft,
als absolute Wunschbarkeit!
Nun sollte man annehmen: wenn ,fdas Reich" durch ,,groBe
Kriege" die Erde vom ,, Griff" des „Westens" befreit hat, daB
dann endlich fiir eine Weile Friede sich herniedersenkt Das
kriegerische Herz will es anders! ,,Die Freiheit vom Westen
ermoglicht die Ordnung, mit der die Menschen des Reiches
dem Zeitalter der Erdkriege gewachsen sind." Also die Knech-
tung durch den Westen ermoglicht Kriege, und die Befreiung
vom Westen ermoglicht Kriege abermals. Es gibt offenbar nur
ein einziges wirkliches Ungliick: den Fried en. Und zwar:
,,Weil in d«n vergangenen zweitausend Jahren die Men-
schen des Reiches bewuBt geworden sind, wird in der neuen
Ordnung das Inbild des Reiches zeitlich greifbar," Das sieht
fiirwahr ein Blinder.
„Denn der Mensch ist Mittel und gehort mit allem Hab
und Gut dem in der neuen Ordnung sichtbar gewordenen
Reich.*' Wem aber gehort „das Reich?" Sich? Ein „Inbild",
selbst falls es „greifbar" wird, kann sich schliefilich nicht selbst
verwalten. Gesetzt, es ist iiberhaupt verwaltbar: so wird es
am Ende von Personen verwaltet werden. Doch wohl von
Personen 3. la Hielscher? Also Hielscher und Konsorten sind
442
Zweck, und der Mensch ist MitteL Der Mensch „mit allem
Hab und Gut" „gehort" Hielscher und Konsorten.
Immerhin: „das sichtbare Reich hat das Obereigentum
nicht nur an Grund und Bod en, sondern an samt lichen Giitern
fiber ha up t" — klingt das nicht wie Kommunismus ? ,,Recht zur
jederzeitigen entschadigunigslosen Enteignung des Untereigen-
tums ': Dunnerkiel! Sofort freilich folgt die Versicherung, daB
„dieses Untereigentum auf dem Lande anders zu gestalten ist
als in der Stadt, weil der Bauer die Erde als Erbteil emp-
Hndet"; daB Mdie Forstwirtschaft gesondert zu ordnen ist" —
kurz, der Feld-, Wald- und Stahlhelmdeutsche wird von der
Sozialisierung ausgenommen. Die Frage taucht auf: ,,wie Zwi-
schenhandel und Handwerk in solche Wirtschaft einzubauen
sind"; Antwort; „ist nicht zu. erortern." MWer Ratschlage er-
teiltf die heute handgreiflich ausgefiihrt werden konnen, hilft
der Geigenwart, die wir zerstoren wollen," Diese Heroischen
machen sichs bequem. Desertieren vor der Ratio.
„In der neuen Ordnung benotigt PreuBen das westelbische
Gebiet nicht mehr, weil es in Bohmen und an der Weichsel
seinem Amte, Menschen aller Stamme anzusiedeln, nachkom-
men kann." Menschen aller Stamme siedeln. sich demnach
keineswegs an, sondern werden angesiedelt. Von wem? Vor
PreuBen. Tschechen und Polen werden von PreuBen angesie
delt. Oder rangieren Tschechen und Polen nicht unter MMen
schen aller Stamme"? Werden sie am Ende ausgesiedelt?
,,Das Oberhau-pt, das diesen Bundesstaat lenkt, regiert un-
eingeschrankt." „Damit wirklich PreuBen sein Amt als stam-
mesfreies Gefiige, als Ausgleichsort der Lander erfiillen kann,
gebiihren die Krone PreuBen und die Reichskrone demselben
Haupt." f,Der Konjg des Reiches ist zugleich Herrscher und
Pries ter/' ,,Es sei denn, der Glaube des Reiches steigt aus den
Herzen in die Hirne, wird die Freiheit nicht kommen; Dieser
Glaube weiB urn das sichtbare Reich als um den lebendig spiir-
baren Herzschlag des Ewigen; er weifi, daB in dieser neuen
Ordnung die Herrschaft Gottes ihr Sinnbild findet, die Macht,
durch die er die Fiille seines Wesens wirkt/' Er weiB; jaf
er weiB,
MDas priesterliche Amt der Verkiindigung wachst aus dem
Bekenntnis; das Bekenntnis wachst aus dem Glauben." Und
dieser Denkstil wachst aus dem Halse — mir wenigstens.
„Die Bruderschait der Schopferischen, der Opfernden,
der Begnadeten ist das Reich, welches die Fiille der Welt in
sich tragi" „Die Herzen, die ihm gehoren, bindet kein Raum
und keine Grenze. Aus den Grenzen ihres inwendigen We-
sens entbindet sich das Grenzenlose, die unaufhorliche Wir-
kung, der die Welt gehorcht," Mordprcfpaganda, religios for-
muliert; Imperialismus, magisch-mystisch ins Kosmische gestei-
gert, (,, Kosmische", Setzer, nicht „KomischeM!)
„Alle gehorchen. Sie haben es immer getan" (wirklich?)
„und werden es immer tun/' Ich fiirchte fast, er hat recht;
aber ein Rest von Hoffnung bleibt; wir werden uns anstren-
gen; 1789 und 1917 waren auch Jahre,
„Die Einheit ist verborgen; aber das Werk offenbart sich
im Wandel des Raums und der Zeit, und der Schlag des wir-
443
ken den Herzens im Umkreis der Geschehnisse um die bren-
nende Mittc dcr Erde." Minimax her! Diese ,,brennende
Mitte" scheint Deutschland zu sein.
,,Unser Werk schmiedet uns; und es ist dcr Willc unserer
Kinder, der Wille des Menschentums, welches der Sinn der
Erde ist/' Den Willen unserer Kinder kennt diese Propheten-
natur genau, Praziser laBt er sich schwerlich beschreibenf Man
fragt hochstens, wie MMenschentum" einen „Willen" haben
konne, da doch schon auBerst fraglich ist, ob die Menschheit
einen hat; und worin er denn nun eigentlich besteht. .yder Sinn
der Erde"?
Ganz einfach; darin: ,,Die Seelenttimer, die das Wesen der
Seelen, welche ihre Glieder sind, in dauerndem Geschick wir-
ken, trachten alte nach der Mitte des Schicksals, in dem sie
handeln."
Ja, so verfahren sie; das setzt dem Mulm die Gallerten-
krone auf; und ernsthaft an der Sache bleibt nur, daB in
einer Nation, die Kant, Lessing, Goethe, Schopenhauer,
Nietzsche hervorgebracht hat, solch Schauerschund als Geist
ausgeboten werden, solch Schwafelaugust als Fiihrer gelt en
kann. Dazu generationenlang Humanismus! Die das Hohe
nicht verstehen, fallen auf hochtrabenden Quark hinein; wer
Massenmord in metaphysischer Tunke serviert, der wiirde ein
specknackiger Philister mit Bierschmissen sein diirfen — Hor-
den junger und alter Knaben feierten ihn doch als Helden-
gestalt. So lustig unter Briidern dies Buch ist — ; wie traurig,
wie traurig, daB, wo Philosophie vergebens an verschlossene
Turen pocht, Philosophatsch wie ein Heiland empfangen wird.
Der kartellierte Zeisig von Kaspar Hauser
Z>escheiden trippelnd ndhert sich unser Herr Zeisig , , , wie? also
0 gut, mein Herr Zeisig . . . nein, ndhert sich unser Herr Zeisig
dem Bureaudiener der Andullje- Aktien-Gesellschaft mit beschrankter
Haft auf Aktien. Dem Bureaudiener geht der Hintem mit Grundeis;
er weip nicht, ob die Andullje ihm nicht Bum n&chsten Termin kun-
digen wird, ein Termingeschaft, das kein tuchtiger Arbeitspender zu
verabsaumen pflegt. Doch tragi er den Zeisig grundeisig nach dessen
Begehr und tut dann das, was jeder gut geschulte Bureaudiener ilber-
all zu tun hat: er l&fit ihn warten.
Der Zeisig sitzt im Wartezimmerchen und zimmert und wartet
Auf dem Hof schnaiiern die Schreibmaschinen; man hdrt, auch wenn
man nicht hinhort, wie sie sagen: ,,Zuun$ermgr6{&enleidwesendiese-
zahlungjetztnichtleisten. a Der Zeisig nickt — er kennt diese Melodic.
Andullje — denkt er. Was ist das uberhaupt fur ein Name? Er
ist hierhergekommen, um etwas zu tun, was Zeisige sonst gar nicht
machen: er mil einen Fuhler ausstrecken. Er moehte horen, ob man
nicht willens sei, die Kartell- Satzun gen zu mildern — die Preise sind
zu hochf Die Andullje Mnnte, wenn sie wollte . * . Wer ist die
Andullje? Das weifi man nicht. Es ist eine Art Gotiheit, mit einigen
irdischen Vertretern, die sich aber meistens vertreten lassen, zum Schluji
bleibt dann blofi noch der Bureaudiener ubrig, und der kann nichts
444
dafur. Man nennt das tine Interessen-Gemeinschaft. Die Prei&e sind
vielzu. . . — „Sic mochtenreinkommen", sagt der Grundeisdiener,
und der Zeisig tut es.
Hinter seiner Schreibburg residiert Generaldirektor Klempners-
kirch, ein eleganter Wirtschaftsfiihrer von circa 46 Jahren, heute ist
es ein birchen fester, sagen wir: 47. Er hebt seine Augenbraue,
das bedeutet: nAh, der Kerr Zeisig /" — er lafit sie wieder sinken,
das heiftt: nBittet nehmen Sie einen Stuhl, aber ohne unser Obligol"
Der Zeisig sitzt.
Generaldirektor Klempnerskirch: Zu unserm groBten Leid-
wesen, mein lieber Herr Zeisig, miissen wir Sie zum nachsten
Ersten entlassen,
Der Zeisig: Iche . . .
Generaldirektor Klempnerskirch: Entlassen. Die allge-
meine Wirtschaftssituation ist fiir Deutschland derart gelagert,
verstehn Sie mich, daB wir wesentliche RationalisierungsmaB-
nahmen vorzunehmen uns in die Lage versetzt sehn. Die Lage
dauert noch an. Sie werden begreifen, dafl es unter diesen
Umstanden auch fiir Sie das Beste ist . , .
Der Zeisig: Ihr . . .
Generaldirektor Klempnerskirch: Unterbrechen Sie mich
nicht Das Unternehmen kann nur gedeihn, wenn alle unsre
Mitarbeiter entlassen sind und daher auch ihrerseits Verstand-
nis fiir die augenblickliche Situation aufbringen. Unsre Ein-
stellung . . .
Der Zeisig: Aber ...
Generaldirektor Klempnerskirch: Unterbrechen Sie mich
nicht. Die Bereinigung der durch die augenblickliche Krise
hervorgerufenen Krise zwingt uns, grade von unsern leitenden
Angestellten das Vorletzte zu fordern. Das Letzte fordern wir
von unsern Arbeitern. Wie lange waren Sie bei uns im Hause?
Der Zeisig: Zehn Minuten,
Generaldirektor Klempnerskirch; Was soil das heiBen?
Wie lange Sie bei uns angestellt sind . . .!
Der Zeisig: Gar nicht. Ich bin hierher gekommen, urn mit
Ihnen wegen der Kartell-Satzungen zu sprechen. Ich bin gar
nicht bei Ihnen angestellt, Herr Generaldirektor!
Generaldirektor Klempnerskirch; Entschuldigen Sie mich,
mein lieber Herr Zeisig! Wenn ich einen Menschen seh, ent-
lasse ich ihn — *- ich bin schon derartig in der Obung . . J Ent-
schuldigen Sie mich, Sie verstehn: die Krise ist gelagert,
Der Zeisig; Piep. Ich bin also hierhergekommen . . . es
handelt sich urn die Satzungen. Der Zeisig gluckst, nimmt alien
Mid zmammeri, dann heraus: Die Preise sind zu hoch, Herr
Generaldirektor!
Bern Generaldirektor Klempnerskirch fallen die Augen aus
dem Kopf\ er hebt sie auf und seUt sie wieder ein. Die
Preise sind zu hoch? Ja, was fallt Ihnen denn eigentlich ein?
Haben Sie schon mal ein Kartell gesehn, das seine Preise her-
absetzt? Immer hoch den Preis — !
Der Zeisig: Herr Generaldirektor — die Kundschaft kauft
nicht mehr. Alle meine Abnehmer sagen mir das. Die Leute
445
sind arbcitslos und konnen nicht kaufen. Das heiBt: kaufen
konnen sie schon, abcr sie konnen nicht bezahlcn.
Generaldirektor Klempnerskirch; Sollen sie lieber bezah-
len; zu kaufen brauchen sie nicht. Da entlassen wir nun und
entlassen, und die Leute wollen immer noch nicht kaufen! Das
kann nur borsentechnische Griinde haben.
Der Zeisig; Steuertechnische vielleicht . . .?
Generaldirektor Klempnerskirch; Alles in Deutschland hat
steuertechnische Griinde. Lieber Freund, wenn es nach mir
ginge, wiirde ich noch hundert Leute engagieren, damit ich
sie am nachsten Ersten entlassen kann. Das ware gesunde
Wirtschaftspolitik! Was wir zum Attfbau brauchen, ist der Ab-
bau — daran ist kein Zweifel. Und da kommen Sie mir mit zu
hohen Preisen. Ein Kopf stecltt sich zur Tiir herein. Der 'Ge-
neraldirektor wird seiner ansichtig und briillt: Sie sind entlassen!
Der entlassene Kopf verschwindet. Kurz und gut, me in lieber
Zeisjg: es ist nicht daran zu denken. Es sei denn . . ,
Der Zeisig: Es sei denn . . . ? ,
Generaldirektor Klempnerskirch; Es sei denn, die Regie-
rung entschlosse sich, die Lohne abzuschaffen. Dann konnte
man eventuell daran denken, von eioier Heraufsetzung der Kar-
tellpreise abzusehn. Aber solange das nicht geschieht, bleiben
wir fest, wir und unsre Preise. Merken Sie sich: es kommt
nicht darauf an, daB unsre Waren gekauft werden, es kommt
darauf an, daB sie hergestellt werden!
Der Zeisig: Sehr wohl.
Generaldirektor Klempnerskirch; Sie kennen die Grund-
satze unsres Kartells: man muB vor allem die Unkosten ver-
mindern. Lohne sind Unkosten. Also. Traurig genug, daB wir
iiberhaupt Arbeiter brauchen! Wissen Sie, was Deutschland
werden muB?
Der Zeisig: Bitte?
Generaldirektor Klempnerskirch; Exportfahig muB es wer-
den. Am besten, man exportierte das ganze Land — das Ge-
schaft mochte ich machen. Was meinen Sie dazu?
Der Zeisig: Piep.
Generaldirektor Klempnerskirch : War um sagen Si e in
einemfort Piep, Menschenskind ?
Der Zeisig; Ich war fruher ein Vogel, Herr Generaldirektor.
Generaldirektor Klempnerskirch: Sie haben einen — ! Kom-
men Sie mir nicht mit Phantastik, Herr — wenn ich das will,
lese ich unsre Geschaftsberichte. Was ist — ? Das bezieht sich
auf Fraulein Wagenmitte, die Privatsekret&rin des GeneraldireMors.
Draufien hat sie soeben einen 1'eil ihres Mrglichen Gehalts, nicht
immer geschlossenen Mundes, verzehrt, und dann hat sie sich die
IAppen nachgezogen, weil sie etwas Bessres istt nein, sie ist etwas
JBessres, weil sie sich die Lippen nachzieht, und dann ist sie herein-
gegangen, ein bifichen storen, Sie tuschelt, das hat der General-
direktor gem.
Die Wagenmitte: Puschpusch — huschelhuschel — tuschel-
tuschel
Der Zeisig denkt mit dem Solarplexus: Ob man mal mit
der , , .? Wenn man mal mit der . , .?
446
Generaldirektor Klempnerskirch; Schdn. Tschuldigen einen
Moment, Hcrr . . . Hcrr Zeisig. Bittc schrciben Sief Frollein.
Aehm — an die Zeudag, Magdeburg und so weiter . . . Inna . . .
Inbeantwortungihreswertenschreibensvomneulichen . . . Ihnen
mit, daB wir eventuell geneigt sind — mm — Ihnen dxei Waggon
gegen prima . . . aeh . . . Zeisig, kennen Sie die Liechtensteiner
Holding-Gesellschaf t ?
Der Zeisig, dessert Gedanken grade der Wagenmitte ganz leise
das Hemd hochgehoben haben: Holding-Gesellschaf t?
Generaldirektor Klempnerskirch: Frtiher cine Dachgesell-
schaft, jetzt im Keller. Gute Leute; in Deutschland total pleite,
also vertrauenswiirdig. Kennen Sie nicht? Schreiben Sie, Frau-
lein Wagenmitte: wir geben nicht. Ich ziehe alles zuriick. Nein.
Doch nicht. Ja. Doch. Nein. Schreiben Sie: die Andullje
liefert, und zwar prompt, und zwar die gewiinschten Rohseiden
. . . ich diktiere Ihnen das nachher.
Wie der Generaldirektor „Bohseidena sagt, fiihlt die Wagenmitte,
daft sie im rechten Strumpf ein Loch hat, der Fufi klebt an einer
Stelle. Merkwiirdig, denkt sie, wer wohl heate Bohseide kaufen
kann ... Sie entschwindet
Generaldirektor Klempnerskirch; sieht ihr nach und sagt:
MiiBte man auch entlassen. Also, lieber Zeisig — der langen
Rede kurzer Sinn: die Preise sind unantastbar. Erst die Regie-
rung — dann wir. Vorleistungen gibt es hier nicht! Wir konnen
nicht. Wir muBten Steuern bezahlen; wir hatten unsre Lohne
voll ausbezahlen spllen; wir sollten unsre Glaubiger befriedi-
gen ---: also haben wir kein Geld. Und Hitler will auch leben.
Waren Sie beim Volksentscheid?
Der Zeisig: Ehiim. Nein*
Generaldirektor Klempnerskirch: Sehr unrecht. Das haben
wir finanziert, und Sie gehn nicht hin! Hitler... der ist aus
dem Stroh, aus dem die groBen Leute gedroschen werden! Wir
haben ihn finanziert — das lenkt ab und ist mal auf alleFalle
gut. Hie Rnodus — hie Domino! Sonst finanzieren wir gar nichts.
Denn das erste, was ein tiichtiger Geschaftsmann in jeder Krise
zu tun hat, ist: Geld anhalten. Nicht auszahlen* Das ist das
einzig wahre. Ich habe mein Geld nicht gestohlen. Meine Ar-
beiter haben es ehrlich verdient. Preise herabsetzen! Bei
dem Diskont?
Der Zeisig: SchlieBlich haben die Banken ja vorher ver-
dient. Der Absatz ...
Generaldirektor Klempnerskirch: Lieber Freund, wir
haben von den guten Zeiten profitiert, jetzt sollen die andern
auch von den schlechten profitieren. Absatz! Absatz! Die In-
dustrie hat Dreck am Absatz. Verstehn Sie mich! Die Preise
bleiben. Ein. Mann — ein Wort. Zwei Manner — vier Worter,
n Augenblick mal! n Augenblick mal ist eine magische Formel:
der Generaldirektor sagt es nicht etwa /sum Telephon, das ge-
schnarrt hat, weil e$ zu heiser ist, zu Hingeln; er sagt es zum Be-
sucher, der ja nicht Hingeln kann, Und telephoniert ausgiebig. Der
Zeisig freut sich, wie schdn rechteckig der Plafond gebaut ist. Als
er sich genug gefreut hat, f&ngt Generaldirektor Klempnerskirch
das Gesprach erst richtig an. Dem Zeisig wird der Plafond langsam
447
oval. Auch schmerzen ihn beim Sitzen seine Hamorrhoiden, die so
Itistig sind, weil sit kein Mensck richtig schretben kann. Nun isi der
Kirchenklempner so weit.
Generaldirektor Klempnerskirch: Sie kommen mir grade
so vor wie der Mann, der da vorhin auf Ihrem Stuhl gesessen
hat. Sagf der Mann, einer von der Plava£, zu mir, ob ich jnicht
mein Geld in seine Fabrik stecken will! Ich? Mein Geld? Ich
bin dochkein Spieler! Ich trage die Verantwortung, . da brauch
ich doch nicht noch mein Geld zu riskier en! Der Zeisig flattert
schwach, doch der Generaldirektor macht Husch und fahrt
fort: Wir brauchen hohere Preise, damit wir billiger herstellen
konnen! Das begreiit doch ein Kind! Wir brauchen teure In-
landspreise, weil wir billige Exportpreise haben miissen! Und
hohe Zolle, natiirlich — damit das Land nicht von fremden
Waren iiberschwemmt wird!
Der Zeisig: Ich bin ruiniertJ
Generaldirektor Klempnerskirch s Da kann man nur
gratulieren!
Der Zeisig; Was soil ich tun?
Generaldirektor Klempnerskirch; Verschaffen Sie sich eine
Geschaitsaufsicht und markieren Sie da den starken Mann, das
kann der schwachste! Der Zeisig will etwas piepen, aber der
Generaldirektor la@t ihn kein Ei legen. Und ich sage Ihnen —
ich gehe von dem Standpunkt aus: wer nicht iBt, braucht auch
nicht zu arbeiten! Wir haben hier, verstehn Sie mich, das Ri-
siko getragen, verstehn Sie mich; wir haben das Risiko ge-
tragen, ich habe das Risiko getragen, bis nach der Schweiz hab
ich es getragen, und die Amktankte-Staaten sind verpflichtet,
verstehn Sie mich, Deutschland Geld zu geben, sonst geht es
unter, und jene mit uns! Bruiting wirds schaffen, da gibts an
der Borse nur eine Stimme, und wenn die Borse was sagt, dann
konnen Sie Gift drauf nehmen; es ist sowieso das einzige, was
Ihnen dann noch ubrig bleibt.
Der Zeisig; Ist das Ihr letztes Wort?
Generaldirektor Klempnerskirch hat sich aufgerichtet, ein
wenig schr&g, die Unterarme sind auf die Sessellehne gestutzt,
die Faust ist schwach geballt: Wenn Sie vielleicht glauben, daB
sich jemals ein deutscher Industrieller so albern benimmt, wie
mich der Herr Hauser hier schildert, da irren Sie sich! Lesen
Sie unsre Syndikatsbeschlusse nach! Wir sind das Mark, was!
wir sind die Ruckenmarker der deutschen Wirtschaft! Herr
Zeisig, ich habe Ihnen nur noch das eine zu sagen, was ich seit
Monaten alien Leuten sage: Herr Zeisig, Sie sind entlassen — !
Der Zeisig riskiert eine zahme Verbeugung, die unbeachiet bleibt%
und entflattert. Braufien fallt er beinah iiber die Wagenmitte,
die ihn enlriistet von sich abstaubt
Auf der Strafe vor der riesigen Zmngburg der Andullje steht
der Zeisig und will uber den Bamm hupfen. Was mftffte man mit
diesen Kerlen machent denkt er. Da naM ein Wagen und fahrt ihn
beinah urn und urn. Es ist ein griiner Wagen. Der Zeisig sieht
ihm gedankenvoll nach. Wenn Sie sich beeileni k&nnen Sie ihn noch
stehn sehn — : Tauben- und Jftgerstrafien-Ecke.
448
Der Okonomische Tee von Rudoit Arnheim
f^afi heute noch irgend jemand den EinfluB der Wirtschaft
in der Welt unterschatzt, ist unwahrscheinlich. Auch die-
jenigen Kreise, die, weil sie Geld hatten, der Meinung waren,
das wirtschaftliche verstehe sich von selbst, haben in der Zeit
von der Inflation bis zu den in- und auslandischen Bankzu-
sammenbriichen der letzten Monate am eignen Leibe erfahren,
daB Not mehr ist als ein f ess eludes Zeitungsthema. Und dar-
uber hinaus haben Proletarier und Intellektuelle begriffen,
daB solche Not nicht mit dem Pariatura des vierten Standes
oder mit geistiger Beschaftigung durch gottliche oder natur-
gesetzliche Fiigung fur ewig verkniipft sei, sondern daB eine
groteske, unnaturliche Verteilung der Giiter durch eine zu
diesem Zweck geschaffene Staatsordnung aufrechterhalten
werde.
Sicherlich ist diese Einsicht ein groBer, notwendiger Fort-
schritt Aber kaum ist sie da, so heiBt es schon wieder vor
einer solchen panokonomischen Weltbetrachtung warnenf
Eine groBe Zahl unsrer Geistigen hat leider den Hang, sich
uberall; wo Macht oder Lebenskraft zu spiiren ist, sogleich
hinzugeben und aufzugeben. So ging es ihnen mit dem Sport,
Wt dem Temporummel der modernen Technik, mit der „Sach-
lichkeit" — so geht es ihnen jetzt wieder mit der Wirtschaft.
Friiher befleiBigten sich die Bankherren, in den Salons von
Hauptmann, Liebermann und Reinhardt zu sprechen. Heute
plaudern, mit noch geringerer Sachkenntnis, die Dichter und
die Maler bei ihren *geselligen Zusammenkiinften vom Reichs-
bankdiskont und vom Getreideimport. Nicht mehr der asthe-
tische Tee, der okonomische Tee ist das Leib- und Seelen-
getrank. Dagegen ware nun nichts zu sagen, wenn nicht zu-
gunsten solcher smarten Gesprachsstoffe alles Geistige immer
mehr mit hohnischem Achselzucken abgetan wiirde. Es ist
wieder jene kokette Selbstmordgebarde, die fiir viele In-
tellektuelle der Nachkriegszeit so widerwartig bezeichnend
ist. Dieselben Leute sind es, die sich lieber in Boxhand-
schuhen als am Schreibtisch photographieren lassen, die
Amerikasiichtigen, die enthirnten Reporter. Es scheint fast,
als sei ihnen die Beschaftigung mit Geistigem mehr Sache des
Prestiges als einer angebornen Besessenheit und als suchten
sie immer wieder ein neues Loch, um durch die lastige Hiirde
zu brechen. Unsympathisch waren gewiB auch jene alt-
modischen, oberflachlichen Idealisten, die sich unsre Welt
gern als eine Dame ohne Unterleib vorstellten und beim An-
blick von Banknoten err6te,ten, Aber wieviel schlimmer sind
ihre Nachfolger, denen die aufgeblasene Wirtschaft als eine
Circe erscheint, von der sie sich willig in Schweine verzau-
bern lassen. Man glaubt, sich auf zeitgemaBe Weise mit
Kunst zu befassen, wenn man iibex Kunsthandel liest und
schreibt, man bewehrt die Arbeitsstube des Schriftstellers
stolz mit Karteien, Haustelephonen und Sekretarinnen, man
sucht die blaue Blume in der Bureauausstellung.
Nichts ist naturlicher, als daB Menschen, die, auch wenn
449
sie nicht Kaufleute, Nationalokonomen oder Bankicrs sind,
doch als Glieder eines Wirtschaftsorganismus dauernd unter
seinen heftigsten Einwirkungen zu leiden haben, daB solchc
Menschen iiber Wirtschaftliches sprechen und sich dariiber zu
unterrichten suchen — es ist ja fast Notwehr, was sie dazu
^wingt; abcr nichts ist unnaturlicher, als daB sich untcr dem
EinfluB dicscr Macht bei den Gelstigen eine Umgruppief ung
der Werte vollzieht, Heroisierung der Borse, Verrat an der
eignen Aufgabe.
Ober der guten Einsicht in wirtschaftliche Zusammen-
hangs vergiBt man die Grundtatsache, daB hier ein Feind
stent, gegen den es eine Festung zu halten gilt. Nicht das
Wirtschaftliche schlechthin ist der Feind des Geistigen, wohl
aber diese unsre Wirtschaft, die am Kultusetat abstreichtf was
in den Aufsichtsraten verdient wird, und die alle Freiheit des
Lehrens, Lernens und Forschens durch ihre Schreckensherr-
schaft austilgt. Wie minderwertig und diirftig ist es, sich vom
Klugen und Schonen abzuwenden, nur weil es unter den heu-
tigen Machtverhaltnissen keine Rolle spielt. Man scheut sich
nicht, vom Kommunismtts zu sprechen, obwohl fur ihn unter
uns doch heute wenig Platz ist, aber es gilt fur lacherlich,
sich beispielsweise fur Filmkunst zu interessieren, weil doch
die Filmproduktion heute von den Geldinteressen der In-
dustrie gelenkt werde! Man vergiBt, daB eben grade weil es
so ist, die Geistigen die Pflicht haben, mit jener rohen Un-
erbittlichkeit, die sie an Rayonchefs uind Boxmanagern so be-
wundern, ihre Interessen, ihre Werte zu propagieren. GewiB
sollen sie alles tun, diesen Wirtschaftsterror zu verstehen, um
ihn zu entlarven, aber wozu, bitte, entlarvt man, wenn man
auf der andern Seite immer nlehr die eignen Arbeitsgebiete
mit den MaBstaben der Gegner miBt, sie verachtet, weil sie
schwach und einfluBlos sind! Man entzieht unsrer Kultur
auBer dem materielien Nahrboden nun auch noch den geisti-
gen, indem innerhalb der Intellektuellen die Achtung und die
Aufmerksamkeit fiir die eignen Bestrebungen immer geringer
wird. Die geistige Stiitze, die grade in solcher Zeit einer am
andern unbedingt haben muB, wankt bedenklich.
Thomas Mann hat dieser Tage in seiner schonen hibecker
Rede an die Jugend davon gesprochen, daB es an der Zeit sei,
„dem Begriff der El^te zu neuen Ehren und zu neuer Geltung
zu verhelf^n gegen den weltbedrohenden Geist oder Ungeist
der Masse, welcher mit Demokratie in des Wortes respek-
tablem Verstande langst nicht mehr das Geringste zu tun" habe.
Fiir diese Elite zu kampfen, ware, wie mir scheint, nicht nur
zum Vorteil des Geistes sondern der Kampfer selbst. Denn
es konnte leicht sein, daB unter den Intellektuellen sehr schnell
eine neue Generation heraufkame, fiir die das Wirtschaftliche
nicht mehr jenen verfiihrerischen Charme hatte sondern ein-
fach das bekampfenswerte Prinzip des Bosen und Hinder-
lichen ware und vor deren Augen unsre feingeistigen Adoran-
ten des Handelsteils, die ihre Erstgeburt fiir ein Linsengericht
verkaufen, dastanden als ungebildet, unkultiviert, beschafti-
gungslos und ohne rechten Nutzen fiir diese Welt.
450
Theater von Alfred Polgar
Kat
F\er Amerikaner Ernest Hemingway hat ein paar zaube-
riscbe Erzahlungen geschrieben. Nicht einmal der Bei-
fall der Feinschmecker, den sie find en, kann die Freude an
ihnen verekeln, Es sind Erzahlungen von beinerner Trocken-
heit der Diktion bei Hochstgehalt der Luft an alkoholischer
Feuchtigkeit. Mannsgeschichten, hart ohne StiBe. Doch der
At em der Frau ist es, der in ihnen den Sturm, ihr Schatten,
der die Finsternis macht. GroBe Empfindung, zumindest deren
groBen Ausdruck verwehrt sich Hemingway: als ob er seinen
Ehrgeiz darein setzte, Brennendes mit nackter Hand zu fassen,
ohne eine Miene zu verziehen. Er erzahlt tolle Geschichten,
aber er macht keine mit ihnen. Psychologie fehlt. Beschrie-
ben wird nicht, die Figuren beschreiben sich selbst durch ihre
Rede und Schweige, Handlung und Haltung. Das Pathetische
wie das Zarte wird verheimlicht, vergraben, zugedeckt von
unscheinbarem Wort, damit der Leser den Schatz nicht so
leicht finde. Strenge Prohibition des Gefuhls. Hemingways
Menschen verbeiBen den Schmerz, auch den hartesten. Was
fur Zahn-Athleten!
MFare well to the arms", die Vorlage fiir „Kat", spielt im
Kriege, Henry, der Amerikaner, macht ihn mit, an der italie-
nischen Front. Er verliebt sich in Kat, die Krankenschwester,
Er brennt mit ihr durch, nach der Schweiz, einer friedevollen
Insel im Meer der GreueL Sie sind gliicklich, holen an Lust
aus ihrer Zweisamkeit, was Leib und Seele hergeben. Dann
stirbt Kat im Wochenbett. Henry? Henry beiBt die Zahne
zusammen. Den Marterpfahl gibt es nicht, an dem ein Heming-
wayscher Mann wimmerte*
Dieser einiach bezwingende, bezwingend einf ache Roman,
in dem die Liebe elementarisch rauscht wie der See, der so-
wohl zum Bade Iadt als auch sein Opfer haben will, wurde,
von Zuckmayer und Hilpert, fiir die Drehbuhne geschnitten
und geklebt. Das Dramatische der erzahlenden Fassung ver-
fliichtigte sich in der dramatischen, leibhaftig verkorpert er-
schienen die Figuren flacher als im Buch, das Sentimentalische,
dort gedrosselt, bekam aui der Szene Luft, und von dem gan-
zen stark en Gebilde aus Wort, Handlung, Passion ging, mit
den Wassern des Theaters gewaschen, die charakteristische
Farbe herunter.
Verdienst der Drama tisierung bleibt, daB sie AnlaB gibt,
wieder von dem Roman Hemingways zu sprechen (der deutsch
bei Ernst Rowohlt, Berlin, erschienen ist). Ferner fand, im
Deutschen Theater, Herr Gustav Frohlich Gelegenheit, sich
auf der Sprechbiihne, trotz aller Liebenswiirdigkeit, hochst
mannlich zu bewahren; wie Frau Dorsch hochst weiblich als
Naturvirtuosin auf der Herz-Saite. Die schauspielerischen
Hohepunkte bringt Paul Horfoiger. Sehr fein die Mischung
von Grimm, Trauer und Galgenhumor, mit der er, krieg-
geschlagener Mensch, ein Schicksal tragt, das zu meistern er
nicht die Kraft, dem glatt sich zu ergeben, er nicht die hilf-
reiche Dumpfheit hat.
45t
Junge Liebe
Im Lessing-Theater ist „Junge Liebe'* zu sehen, ein Lust-
spiel von R. Samsont das durch den Fallschirm des sogenann-
tcn Esprits alle Stiirze aus dern Lustigen ins Lacherliche ohne
Schaden iibersteht. Es handelt sich in diescm Spiel urn das
physiologische Problem der -geschlechtlichen Anziehungskraft
beziehungsweise darum, daB ein Privileg, solche auf ihn aus-
zuiiben, der Mensch leider nicht an ein einziges Wesen, auch
nicht an das grade von ihm geliebte, vergeben kann. Ein
Thema, so sehr ernster Behaiidlung wiirdig, daB, wird ihm
diese nicht zuteil, nur eine ganz heitere tauglich erscheint.
Samsons Lastspiel sucht, mit Schwierigkeiten, eine mittlere
Linie einzuhalten. Das groBe Fragezeichen, hinter Liebe und
Treue gesetzt, dient hier als Gerat fur Turniibungen im Ex-
zentrik-Stil. Da aber muntre Reden sie begleiten (gesprochen
von Frau Mosheim und Frau Haack, von den Herren Homolka
und Brausewetter), hat der Zuschauer seinen SpaB daran, be-
sonders an Homolkas gelassenem, unbeirrbar naturlichem Spiel
Frau Mosheim ist Personlichkeit genug, urn sich erlauben zu
diirfen, geziert zu sein. Aber die Schatzer ihrer Kunst hatten
doch lieber, sie wiirde es sich nicht erlauben, und es ginge be-
sonders auf ihrem Mienenspielplatz weniger affektiert zu.
Goethe- Jahr 1932 von Theobald Tiger
^achstes Jahr, da werden wir was erleben!
*^ So im Marz, April und Mai:
Goethe hundert Jahre tot! Das wird was geben!
War es schon vorbei — !
Richtig, Joethe!
Hundert Philologen walzen
Briefe, Werke, Bilder im Archiv.
Und schon seh ich Wolfgang Goetzen stelzen
durch die Folljetoner lang und tief.
Richtig, Joethe!
Spitzen der Behorden ->
weihen olig quasselnd etwas ein,
Und die Spitzen der Behorden worden
alle voll von Faust-Zitaten sein —
richtig, Joethe!
Und es wimmelt von Beziiglichkeiten:
„Goethe und ..." so tont es immerzu,
Auf den bunten Marken mufi er schreiten,
Und dann sagen alle zu ihm Du!
Bote, Krote, Note, Rote, Fltite . . .
wochenlang reimt alles sich auf Goethe.
Dann verstummen Prosa und Sonett.
Von den deutschen Angestellten-Massen
hat man keinen weniger entlassen.
Klassiker sind nur furs Bucherbrett.
Nachstes Jahr, da kannst du was erleben!
So im Marz, April und Mai . , .
Lieben Freunde, das wird etwas geben!
War es schon vorbei — !
452
Bemerkungen
Pogrom und Polizei
A m 12. September, dem jti-
*** dischenNeujahrstag, ist es in
den Abendstunden auf dem Kur-
iurstendamm zu einem regelrech-
ten Pogrom gekommen. Die Na-
tionalsozialisten hatten den Uber-
fall ausgezeichnet organisiert; auf
ein gegebenes Signal sperrten sie
den Kurfiirstendamm von der Ge-
dachtnis-Kirche bis zur Leibniz-
Strafle ab. Eine- Rotte von ein
paar hundert Mann tyrannisierte
eine halbe Stunde lang die StraBe
und mifihandelte FuBganger, die
sie fur Juden hielten.
Die liberale Presse hat zunachst
ihre Berichterstatterpflicht nicht
erfiillt. Sie versuchte, die skan-
dalosen Vorgange zu bagatellisie-
ren. Denn diese Presse fiihlt bei
unpassendstem AnlaB immer eine
hohere Verantwortung,. die sie
notigt, nicht mit der vollen Wahr-
heit herauszuriicken. In diesem
Falle gait es, auf das MAnsehen
Berlins" Riicksicht zu nehmen.
Sie hat also die Tatsache, dafi
die Krawalle am jiidischen Neu-
jahrstage vor sich gingen, so be-
scheiden wie moglich oder iiber-
haupt nicht gebracht. Ahnungs-
lose Gemiiter, die nur ihr Blatt-
chen lesen und sonst nichts, bat-
ten bei diesen Schilderungen sehr
leicht auf den Gedanken kommen
konnen, es habe sich dabei urn
eine etwas rabiate Kundgebung
der geprellten Devaheimsparer
gegen ihren Vorstand gehandelt.
Erst als die Zeitungen von ihren
Lesern mit Zuschriften bombar-
diert wurden, bequemten sie sich,
Beschwerden gegen die Polizei zu
erheben. Denn jetzt stellte es sich
heraus, dafi auch die Polizei zu-
nachst zu gut davongekommen
war. Jetzt war nicht mehr daran
zu zweifeln, dafi die Polizei we-
der die ihr zugegangenen War-
nungen beachtet hatte noch recht-
^eitig zur Stelle gewesen war,
Jedenfalls war das Versagen der
Polizei bald wieder offenkundig,
und ihre Haupter ergingen sich in
lahmen Ausreden.
Man vergleiche die Laschheit
der Polizei am Kurfiirstendamm
mit der Scharfe und Punktlichkeit
bei Zusammenstofien mit Links-
radikalen. Die traurige Affare
Biilow-Platz, ein Kind der Presse-
stelle des Polizeiprasidiums, ist
von der gesamten Presse zunachst
glaubig hingenommen und noch uln
einiges Beiwerk vermehrt worden.
Jetzt aber regt sich der Zweifel,
und es werden Fragen an die
Polizei laut, was es mit der vor
einigen Wochen schon „unmittel-
bar bevorstehenden" Aufklarung
auf sich habe. Die als verdachtig
Verhafteten sind inzwischen wie-
der entlassen worden.
Am 12. September ist die Polizei
weit weniger radikal vorgegangen.
Sie kam zu spat und war, im Ge-
gensatz zu den Rowdygruppen, un-
einheitlich' gefiihrt, Wahrend sie
an der Gedachtnis-Kirche noch
aufraumte, trieben einige hundert
Meter weiter die National-Hooli-
gans noch ihr Wesen. Dazu ka-
men noch einzelne taktische Feh-
ler, die verheerend wirkten. So
blieben die beiden Schupos, die
standig vor der chinesischen Ge-
sandtschaft postiert sind, ruhig
stehen. Gewifi konnten sie gegen
die Ubermacht nichts ausrichten,
aber es ware kliiger gewesen, wenn
sie ins Haus hineingegangen oder
sonstwie von der Bildflache ver-
schwunden waren. Statt dessen
verharrten sie in kerzengrader
Diensthaltung, und es sah aus,
als hatten sie die Oberaufsicht
iiber den Tumult rundum.
Es ging gegen Rechts, also hat
die Polizei versagt, Der glatte
Ablauf dieses Pogroms kann die
S.A.-Sturme nur zu baldiger
Fortsetzung ermutigen. Es war
nicht anders als im vorigen Herbst
bei den StraBenkrawallen um den
Remarque-Film. Damals durfte
Goebbels ein paar Abende lang
die StraBe beherrschen, ohne dafi
ihn die Polizei gestort hatte. Die
Linkspresse mufite sich erheblich
riihren, um die Kommandohohen
am Alexander-PIatz aus der Le-
thargie zu riitteln. Unsre preu-
Bische Polizei gilt als republi-
kanisch, als sozialistisch durch-
setzt. Wenn es gegen Rechts geht,
453
merken wir nichts davon, nur
gegen die Kommunisten funktio-
niert das scharfc Schwert. Wir
haben das erst vor wenigen Tagen
gesehen, bei der wahnwitzigen
Versammlung im Sport-Palast,
wo die bcrittene Polizei auf der
dichtgef till ten Strafie vor dem
Versammlungslokal immer wieder
uber den Gehsteig setzte, ins
Publikum hinein. Was mogen sich
die altgedienten Sozialdemokra-
ten bei diesem wilhelminischen
Kavalleriemanover ihres Genos-
sen Polizeiprasidenten gedacht
haben? Als Polizeiaktion sind
solche Reiterkunststiicke wir-
kungslos, aber die politische Un-
zulanglichkeit wirkt hoch zu RoB
nicht schoner, nur ist sie noch
besser zu sehen.
Carl v. Ossietzky
Eines aber
mochten wir in absehbarer Zeit
gewiB nicht horen; das jammer-
voile Geachz der aus der Regie-
rung herausgeworfenen Sozial-
demokraten, weil man sie dann
grade so behandeln wird, wie sie
heute den Reaktionaren helfen,
die Arbeiter zu behandeln.
Eines Tages "wird es soweit
sein. Die furchtbare Drohung,
sich nunmehr bald an die frische
Luft zu verfugen, wird von der
Partei wahrgemacht werden,
wahrscheinlich eine halbe Minute,
bevor man .sie auch in aller Form-
lichkeit bitten wird, den Tempel
zu raumen, Und dann wird sich
die Fiihrung besinnen: Jetzt sind
wir in der Opposition. Mit einem
groBen O. Wie macht man doch
das gleich. . .?
Da werden sie dann die
Mottenkisten aufmachen, in de-
nen — ach, ist das lange her! —
die guten, alten Revolutions j acken
modern, so lange nicht getragen,
so lange nicht gebraucht! Werden
ihnen zu eng geworden sein. Und
dann frisch als Sansculotten
maskiert, vor auf die Szene, „Die
Partei protestiert auf das nach-
drucklichste gegen die Gewalt-
mafinahmen , , ," Herunter! Ab-.
treten! Faule Apfel! SchluBJ
Schlufi!
454
Die werden sich wundern, Und
sie werden keinen schohen An-
blick bieten. Denn nichts ist
schrecklicher als eine zu jedem
KompromiB bereite Partei, die
plotzlich Unnachgiebigkeit mar-
kieren soil* Millionen ihrer An-
hanger sind das gar nicht mehr
gewohnt; die Gewerkschafts-
bureaukratie auch nicht, fur die
uns a Her dings nicht bange ist;
es findet sich da immer noch ein
Unterkommen. Waren die Stahl-
helm-Industriellen nicht so maB-
los unintelligent — sie konnten
sich das Leben mit denen da
schon heute wesentlich leichter
mac hen, Sie werden es sich
leicht machen.
Alles gut und schon. Aber er-
zahlt uns ja nichts von: Recht auf
die Strafie; Polizeiwillkfir ; Ver-
fassung; Freiheit . . . erzahlt sonst
alles, was ihr lustig seid. Aber
dieses eine j em als wieder zu sa-
gen — : das habt ihr verscherzt.
Ignaz Wrobel
Unfug mit Jimmy Walker
*7 weimal habe ich das groBe
" elegante Hotel an einer Haupt-
straBe Berlins, das sich selbst. fur
besonders vornehm halt, in ganz
plebejischer Aufregung gesehn:
das eine Mai am Tage des Kapp-
Putsches, als Admirale und
GroBgrundhesitzer in der Halle
herumstanden und nicht ahnten,
daB im zweiten Stock — heute
kann mans ja wohl erzahlen —
im Zimmer eines auslandischea
Pressephotographen eins der
Zentren der proletarischen
Gegenbewegung war; und das
zweite Mai, als ein bild-
hiibscher blonder Judenj unge
aus Amerika, der Jackie Coogan.
hiefi, aus einem Auto sprang und
die Treppe hinaufrannte. Damals.
dachte ich: es ist gewiB besser,
daB sie dem grofien Kiinstler, der
der kleine Jackie war, zujubelten,
als daB sie fur den Kronprinzen
Parade stehn; aber — konnen sie-
denn die Formen nicht anpassen,
mussen sie denn immer fur irgend
einen Hurra schrein?
Gegenwartig reist — vielmehr
jagt — James Walker, kurz
und intim von den Zeitungeiv
„Jimmy" genannt, in Europa her-
um, Er war in Berlin, Prag,
Wien, ist in Cannes, wird nach
Paris, London und Bremen gehn,
und es ist eine Schande, was sie
tiberall mit ihm anstellen.
Sie wissen hof f entlich . nicht,
wer Jimmy Walker ist? Er ist
namlich der Biirgermeister von
New York. Also von einer Stadt,
die uns Europaern alien leider
ungeheuer imponiert und die das
eirigestandne oder uneingestandne
Entwicklungsideal unsrer besten,
durch dieses Ideal scheuBlich ver-
falschten eignen Stadte ist. Von
einer Stadt, deren Bedeutung und
Interessantheit, deren Vitalitat
und Phantastik ganz gewiB nicht
bestritten werden soil, in der aber
auch, wie alles massenhafter —
und eben nur massenhafter — ist,
das umiberwindbare Elend grofier
und druckender, die Herzlosigkeit
der Epoche naher und deutlicher
ist; und die taglich die Zeitungen
auch deshalb beherrscht, weil die
dffentliche Sicherheit in ihr auf
einer so primitiven Stufe steht
wie in Bamberg und Poitiers, in
Drontheim und Graz seit dem
Mittelalter nicht.
Biirgermeister Walker reigt nun
nicht etwa durch Europa, urn
unsre schwacheren Versuche von
Unterweltsgemeinschaften und Kri-
minalkorruption mitleidig zu be-
trachten, auch nicht urn die in
Europa fraglos besser als in
Amerika entwickelten StraBen-
kampfmethoden der Polizeien zu
studieren; er reist inkognito, um
sich feiern zu lassen.
Er reist wie ein Amerikaner,
In Wien beispielshalber, wo er
eine Nacht und einen halben Tag
weilte, verbrachte er den ganzen
Abend beim „Heurigen" und auf
dem Kobenzl, um dann — nachtsl
— einige Stellen der Stadt zu be-
sichtigen; im Vorbeifahren. Nach
langem Schlaf amVormittag, des-
sen einzelne Phasen die Zeitungen
ganz genau registrierten, machte
er eine Rundfahrt, vom Hotel
bis zum Rathaus. Dagegen ware
gar nichts zu sagen, jeder kann so
unergiebig reisen wie er will, und
ein nasser Biirgermeister ist viel
sympathischer als ein trockner,
und ein Herumtreiber angenehmer
als ein Puritaner; dagegen ware
gar nichts zu sagen, wenn . nicht
Herr Walker, Jimmy, als Ergeb-
nis seiner tiefgnindigen For-
schungen in das natiirlich anwe-
sende Tonfilm-Mikrophon die
Feststellung von der „Herrlichkeit
Wiens" trompetet hatte. Und auch
das ginge noch als eine belang-
lose Albernheit hin, wenn nicht
die Wiener, die Burger der (sehn
wir einen Augenblick von aller
Politik ab) am besten verwalteten
Kommune des nichtrussischen Eu-
ropas, dariiber so begluckt ge-
wesen waren.
Auch die sentimentale Note
„kam zu ihrem Recht". Wal-
ker — was fur eine wunder-
bare Herablassung von einem so
groBen Manne! — hatte sich auf
der Reise die dritte Schiffsklasse
angesehn und dabei ein kleines
Madchen gefunden, das bitterlich
weinte. Leutselig, wie so reiche
T0RI5CH
dikTA
fordert der Kenner seine Abdulla-Cigarette
Standard o/M. u Gold StUck 5 Pfg.
Coronet m. Gold u. Stroh/M. . . . Stuck 6 Pfg.
Virginia Nr* 7 . . . . o/M StOck 3 Pig.
Egyptian Mr. 15 . . . o/M u. Gold ...... Stack 10 Pfg.
Abdul la-Cigaretten genieBen Weltruf!
Abdulla & Co. - Kalro / London / Berlin
435
Biirgermeister sind, liefi er sich
sagen, dafi die kleine Waise we-
gen einer Krankheit von Verwand-
ten in New York zu Verwandten
nach Wien geschickt wtirde. Der
he rr lie he Biirgermeister konnte
sein Herz nicht halten. Er nahm
das Kind aus der dritten Klasse
in die erste, er zahlte — man
denke! — die Preisdifferenz, Und
schon wahrend des Empfangs im
Rathause liefi er, der nichts ver-
gifit, in sein Hotel telephonieren,
ob das Madchen, das ihn besuchen
sollte, schon angekommen sei;
und im Hotel versprach er dem
Kinde, er werde, wenn es sich in
Wien trotz der eben so geruhmten
Herrlichkeit der Stadt nicht wohl
ftihle, fur seine Riickreise nach
New York sorgen.
Keiner von den erschutterten
Wienern kam angesichts dessen,
wie hier ein goldenes Herz xiber-
flofi, darauf, dafi dieses ganze
Verhalten die blodeste, gedanken-
loseste, unniitze oder schadliche
Handhabung biirgerlicher, prot-
zender, reklamesuchtiger Wohl -
tatigkeit sei. Sie erinnerten sich
>der Lesebuchtaten ihrer Kaiser
und jubelten,
Keiner von den jubelnden Eu-
ropaern erinnerte sich, dafi die-
ser nicht einmal ein kleines Kind
vergessende „lustigste Biirgermei-
ster der Welt", dessen Lustigkeit
freilich von Hunderttausenden
seiner Schutzbefohlenen langst
nicht mehr geteilt wird, im vorigen
Jahr eine Deputation Arbeitslo-
ser, die sich mit ihm ruhig iiber
die Frage unterhalten wollten, wie
sie sich davor schiitzen konnten,
zu verhungern, die Rathaustreppe
hat hinunterpriigeln iassen.
Aber ist denn dieses armselige
Europa, das durchaus nicht dazu
kommen kann, ein politischer
Verband zu werden, ganz und gar
zu einem Fremdenverkehrsver-
bande geworden? Sind die Euro-
paer schon ganz und gar verkell-
nert, verhausknechtet, verknech-
tet? Besteht die einzige Gunst,
die Gott uns noch erweisen will,
in Reisenden in und mit Dollars?
Die vielleicht notige Entprivati-
sierung Europas vollzieht sich auf
eine greuliche Art.
Stadtbeherrscher, die mit Ar-
beitslosen ebenso gut und schnell
fertig werden wie sie es mit Ver-
brechern nicht werden, haben wir
doch wohl selbst genug. Wir ha-
ben genug, (ibergenug von alien
Jimmys und von diesen Enthusi-
asmen!
Rudolf Leonhard
Friedrich Leopold
Der soeben verstorbene Prinz
Friedrich Leopold von Preu-
fien hat in einem Teil der re-
publikanischen Presse ziemlich
wohlwollende Nachrufe erhalten.
Man hob zu seinen Gunsten her-
vor, dafi Wilhelm II. ihm unhold
gewesen sei.
Das scheint in der Tat fur ihn
zu sprechen. Aber in diesem
Fall trugt der Schein.
Friedrich Leopold war der
Typus einer furstlichen Drohne.
Trotz eines selbst fur einen
Prinzen aufiergewohnlichen Ver-
mogens hat er nie etwas Niitz-
liches getan. Er hat iiberhaupt
nichts getan. Allerdings hat er
am 11. November 1918 auf seinem
Schlofi die rote Fahne aufziehen
lassen. Aber das war nur eine
Geste, die er fur eine schlaue
Vermogensversicherung hielt, nicht
etwa der Ausflufi irgendeiner Ge-
sinnung.
Auf Gesinnung hat Friedrich
Leopold nie Wert gelegt, immer
nur auf Kleidung und Bequem-
lichkeit.
Als er noch junger Offizier
war, sollte er. einmal beim Ma-
WALTHER RODE
KNOPFE UND VOGEL
Lesebuch far Angeklagle / 70 KapKel, Lelnen M 4,80
Eine originelle Abrechnung mit dem tebenden und totenln-
ventar der Rechtspflege, zornig und voll voltaire'schem Witz.
TRANSMARE VERLAG, BERLIN W 10
456
nover zu einer meiner Grofi-
tanten in Hinterpommern ins
Quartier kommen. Die alte Dame
war nattirlich sehr geriihrt von
der Ehre, einen leibhaftigen
Hohenzollernprinzen in ihrem
Schlofi beherbergen zu diirfen.
Weitestgehende Vorbereitungen
wurden getroffen. Am Tage vor
dem Einpassieren des Prinzen
erschien der quartiermachende
Offizier. Mit Stolz zeigte ihm
meine Tante das fur den hohen
Gast wundervoll hergerichtete
Schlafzimmer. Der Offizier er-
klarte j edoch kurz : t,Die Betten
miissen heraus. Konigliche Ho-
heit ist gewohnt, nur in seinen
eignen Betten zu schlafen."
In der Tat erschien am nach-
sten Morgen ein hochbepackter
Kriimperwagen mit den Betten,
die allein die zarten Glieder
Seiner Koniglichen Hoheit urn-
fangen durften. Das Manover
sollte ) a Vorbereitung fur den
Krieg sein.
Die wichtigsten Personen fur
den Prinzen waren Schuster und
Schneider/ Sein eiserner Bestand
an Lackschuhen und Lackstiefeln
schwankte zwischen 34 und
36 Paar, Der Leibschneider war
besonders geeicht auf den Unter-
schied zwischen Stehhosen und
Sitzhoseril Der Prinz legte nam-
lich hochsten Wert darauf, dafi
seine Uniformhosen — er war
Husar — so eng wie moglich an-
lagen. Deswegen wurde die
Halfte der Hosen so angefertigt,
dafi der Prinz darin nur stehen
konnte, wahrend die andre ihm
auch das Sitzen erlaubte.
Bei einem Hofball stand Fried-
rich Leopold in seinen Steh-
hosen in Unterhaltung mit einer
ehrwiirdigen Furstin. Ihr entfiel
das Taschentuch. Steif wie ein
Stock blieb der Prinz stehen.
Jedes Beugen des Korpers ware
gleichbedeutend gewesen mit
einer Katastrophe fur die aller-
hochsten Hosen in dem aller-
wertesten Teile. Also mufite er
alien Kavalierspf lichten zum Hohn
das Taschentuchlein liegen lassen.
Der Vorfall kam zur Kenntnis
des Kaisers und rief seinen Ieb-
haften Unwillen hervor. Die
Stehhosen Friedrich Leopolds
waren der erste AnlaB zu der
Ungnade, mit der ihn sein kaiser-
licher Vetter fortan bedachte.
Hellmut v, Gerlach
Theobald Tiger
freut sich, dafi ein Nazi-Papier
einmal ordentlich hereingefallen
ist.
Die Nr. 159 des 2. Jahrganges
der dusseldorfer .Volksparole*
vora 27, August enthalt ein Ge-
dicht „Die Ortskrankenkasse".
Dieses Gedicht ist gestohlen: es
stand hier in der ,Weltbtihne' am
3. Juni 1930. Der neue Verfasser
nennt sich mit Recht „SchIochM.
Wahrscheinlich heifit er mit Vor-
namen auch Adolf.
Oder hat sich jemand mit den
Schriftgelehrten einen Scherz er-
laubt? Dazu gehort freilich nicht
viel, mit denen etwas zu tun, was
sie gewohnt sind; sie anzufiihren,
Jetzt wollen wir einmal sehn,
ob diese deutschen Mannen so
viel Ehrlichkeit und Anstandig-
keit bcsitzen, zuzugeben, dafi sie
geklaut haben. Und noch dazu
bei dem freundlich feixenden
Theobald Tiger
B6 Yin Ra
hat kein einziges Buch geschrieben, das nicht bei wiederholtem Lesen
gewinnen wiirde. Wer eines seiner Bucher auch zweidutzendmal gelesen
hat, glaubt bei erneutem Lesen ein neues Buch vor sich zu haben. Das
wurde bereits von Tausenden best'atigt. Naheres fiber ihn und sein Werk
sagt die Einfiihrungsschrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin, kostenlos bei
jeder Buchhandlung zu beziehen, sowie beim Ver^ag: Kober'sche Verlags-
buchhandlung, Basel und Leipzig.
457
Arbeitslose Jugetid 1931
YV7cnn sich erwiesen hat,
w daB in einem Staat
ein junger Mensch
von 23 Jahren,
unprobiert,
zuni alten Eisen
geworfen wird,
dafi er iiberfliissig ist,
einfach zuviel,
dieser Staat
der Schmarotzer
und Protektion,
dieser Staat
braucht Sauberung,
Revolution,
Es soil jeder ehrlich
urn sich kampfen,
es braucht kein Mensch
der Welt sich zu dampfen,
er soil sich entfalten,
aber nicht stillhalten,
jahrelang sich ausschalten,
nicht in der Jugend
schon vergreisen,
er hat das Recht,
sich zu beweisen!
Hinter den
zugeknallten Turen
sitzen die, die ftihren,
die die Arbeit verweigern,
die Menschen versteigern,
wie Tiere!
Wer nicht ein Judas ist,
goldgescheit,
kommt nicht weit!
Junger Mensch wehre dich
gegen das Land,
das Dich zeugte
und keinen
Platz fiir Dich fand,
wehre Dich
gegen dieses Deutschlandl
Margarete VoB
Mifitdnende Wochenschau
p\ er tausendste Betroffene der
*-' hundertsten Notverordnung
erhalt vom Reichskanzler Bru-
ning personlich ein Photographie-
album. mit Bildern von seiner
pariser und londoner Reise iiber-
reicht.
458
Zu den Sparmafinahmen in
PreuBen; Hindenburg schreitet
gleichzeitig die Ehrenkompanie
der Verfassungsfeier und die
Ehrenprotektoratsfront des Stahl-
helms ab.
*
Max Pallenberg, der Racher
der kleinen Millionensparer, kiin-
digt zum Zeichen des Protests
sein Rundfunkabonnement, weil
der berliner Sender noch immer
das „Niederlandische Dankgebet"
spielt.
Gandhi schweigt.
*
Die notleidenden Aktionare des
berliner Zoo werden zweimal
wochentlich im Bassin des Riesen-
see-Elefanten gefiittert.
*
Heiteres aus aller Welt:
Briand spricht fiir die Ab-
rtistung,
Reichsbankprasident Luther geht
zu FuB,
Der neue Naziminister in
Braunschweig schwort auf die
Verfassung.
Die Amstelbank wird taglich
nach Geschaf tsschluB gereinigt —
Interview mit der Scheuerfrau.
Friedrich Raff
Spate Reue
T\ er Hausvater:
*^ „Nun hat mir meine Tochter
die Hausschuhe schon wieder so
tief unter das Bett getan . . .
Ach, hatten wir das bose Kind
seinerzeit doch abgetrieben!"
Die Begrfifiung
| m Stidwestdeutschen Rundfunk
* liest Ricarda Huch. Der
Sprecher — entweder weil er
seine Belesenheit zeigen will oder
weil die Reklameworte ihm schon
unversehens kommen — schickt
voraus, daB Thomas Mann ir-
gendwo sagt, Ricarda Huch sei
die bedeutendste Frau Deutsch-
lands, vielleicht der Welt, Die
Geschmacklosigkeit, Ricarda
Huch so ein faustdickes Kompli-
ment uber den Kopf weg ins
Mikrophon zu sprechen, fallt
schon nicht mehr auf. Beachtlich
ist, dafi nicht die Persdnlichkeit
der Huch in der vordersten Linie
zu stehen scheint, sondern die
Tatsache, daB Thomas Mann das
auch sagt.
Es gibt so etwas wic eine
Kaste der BegrtiBer, Wenn heute
in Deutschland irgendein gewich-
tiges Buch erscneint, dann lauft
sich der Verlag und womoglich
auch noch der Autor die Hacken
ab, um eine BegriiBung von Tho-
mas Mann zu erlangen. Fur
Frankreich begriiBt Romain Rol->
land, fur England wurde es Shaw
sein mussen, aber der hat sich
durch seine fortgesetzte gute
Laune fur den Posten eines
Olympiers disqualifiziert. Natiir-
lich gibt es auch noch Spezial-
begriiBer fiir Spezialgebiete. So
begruBt Frank ThieB etwa die
Romane, Klaus Mann schlechthin
die Jugend. Aber die letzte
Autoritat strahlt doch Thomas
Mann aus, so wie sie vormals
Gerhart Hauptmann, wie sie ehe-
dem Goethe ausstrahlte.
Sind wichtige Manner dieser
Art, die Tag fiir Tag fast aus-
schlieBlich mit sich selbst, ihrem
eignen Wesen und Schaffen be-
schaftigt sind, wirklich die ide-
alen BegriiBer, an deren kriti-
schem Schalter man Kette stehen
mtifite? Goethe hat Kleist durch -
aus nicht begruBt, auch Holder-
lin nicht, weil sie keine „natur-
gemaBen", das heiBt: seiner Na-
tur gemaBen Begabungen waren. ,
Zelter war sein Leib- und Magen-
komponist, aber fiir Schuberts
Vertonungen seiner Gedichte hat
er nicht mal einen Dankesbrief
iibrig gehabt. Es scheint also
mit der Kompetenz der Begrii-
Bungen nicht weit her zu sein,
und die Unsterblichkeit eines
Unsterblichen ist immer noch
nicht ausreichend, auch fiir andre
Unsterblichkeit zu dekretieren,
beziehungsweise zu verbieten.
Denn wer den Besten seiner
Zeit genug getan . . . einverstan-
den. Aber wir drangeln uns ja
nicht an die Besten, sondern an
die Obersten, und wir wollen
ihnen nicht geniigen, sondern uns
durch ihr offentliches Lob ge-
wissermaBen verchromen lassen,
da mit uns der Rost nicht so
schnell friBt. Daher: seid skep-
tisch! Wenn ihr merkt, daB euch
vor der BegriiBung eines notori-
schen Begriifiers ein Schauer der
Zustimmung iiberrieseln will, sagt
kraftig und laut: „Ach, gibt der
auch wieder seinen Senf dazu !"
Und dann schlagt die erste Seite
auf und lest,
Ezzelino
Seine lieben Dendrologen
Ich bitte ergebenst, nachfolgenden
* Artikel in Ihrer Zeitung auf-
n eh men zu wollen:
Am . . . begeht der lang-
jahrige Prasident der Deut-
schen Dendrologischen Gesell-
schaft, Dr. Fritz Graf vonSchwe-
rin auf Wendisch-Wilmersdorf
bei Thyrow, Kr. Teltow, seinen
75. Geburtstag. Seine erstaun-
liche Frische sowie seine unge-
lahmte Arbeitskraft ermoglicht
ihm nicht nur seine hervorragen-
den Dahlien- und Staudenkultu-
ren, welche weit uber Deutsch-
lands Grenzen beriihmt sind, zu
leiten, sondern er fuhrt die Ge-
schicke der Dendrologischen Ge-
sellschaft mit einer Bewunderung,
die von alien riihmlichst aner-
kannt wird.
Ein Buch von den AbgrOnden der menschllchen Seeles
HEILIGE UND HEXER
Glaube und Aberglaube im Lande des Lamaismus.
Dargestetlt nach eigenen Erlebnissen in Tibet von
ALEXANDRA DAVID-NEEL
Mit 22 Abbildungen nach Aufnahmen
der Verfasserin und einer Karte.
Geheftet M 8.70, Leinen M 10.50
F. A. BROCKHAUS / LEIPZIG
459
Graf Schwerin hat den Vor- M&blierte Zimmer
Sltz scit 1902. Die Mitglieder- TVr Selbstmord wohnt in diesen Hohlen.
zahl ist unter seiner Leitung von ^ Kein Feuer, keine Kohle kann . . .
icn * i£.nn * *.• * c i_ wenn nebenan die Kinder nohlen,
350 auf 7600 gestiegen. Schon Was f&ngst du dann mit Bergson an 7
hieraus ersieht man, was fiir ein Der, Selbstmord hockt in diesen Zimmern
glanzender Organisator Graf Auf dem verschoBnen Kanapee.
Schwerin ist. Ailjahrlich unter- J?ic ^tin, deinen Gr am zu schlimmern,
_• . . -. . i- « r\ Bereitet Bitterms statt Tee.
nimmt er mit semen heben Den- _. „„.. ,. , , . , ,. ,Vf tl
J_~1 ^ - •- T_ i a* _ * E|n Hollenhund heult in die Weite.
drologen eme Inspektionsreise, Zwci Grammophone kreischen grell.
welche abwechselnd nach dem In- Des Lebens unvermischte Pleite
und Auslande fiihrt. Auch hier- Zermtirbt dich langsam, aber schnell.
bei ist er unermiidlich in Vor- Der Selbstmord haust in diesen Kammern,
tragen und Besichtigunfien Wobei £ g*^ S%S2S£S.' \ \ .
lhn sein Humor me verlaiit. Im Nebel ein verwaistes Herz . . .
Moge es Graf von Schwerin Ossip Kalenter
noch recht lange beschieden sein, Liebe Weltbuhne!
seine ungebeugte Arbeitskraft sei- _ .. ^ . , „ . . „ ,
nen Dendrologen, seinem Hause Rhf ^^ Sahm SfmC?u i !?*"
und unserm lieben Vaterlande zu m .Berhn .fntrat uberlegte
widmen, man< W1C man inn und in W€sscn
Gesellschaft am giinstigsten pho-
Mit vorzuglicher Hochahtung tographiere.
ergebenst Und ein Schlaumeier net:
„Knipst ihn zusammen mit Ein-
Heinrich Nitschke stein und der Betty Stern!"
Hinweise der Redaktion
Berlin
Rote Studentengruppe. Dienstag 20.00. Braustfibl, Hankestr. 4, U-Bahn Schonhauser Tor ;
Biindische Jugend, Karl O. Paetel.
Kampfkomitee fiir die Freiheit des Schrif ttums, Opposition des Schutzverbands Deutscher
Schriftsteller, Bund revolutionarer bildender Ktinstler, Gruppe der Abstrakten,
Opposition der Buhnengenossenschaft, Liga fur unabhangigen Film, Verband pro-
letarischer Freidenker, Bund proletarisch-revolutionarer Schriftsteller. Dienstag. den
29., Johann-Georg-Sale, Johann-Georg-Strafle 19, Halensee, 19.30: Notverordnung
und Notlage der geistig Schaffenden, Karl August Wittfogel und Vertreter der ge-
nannten Organisationen.
Mannheim
Kunsthalle. Ausstellung: Scb6pferische Kopien. ErSffnung Sonntag.
Bucher
Ludwig Bauer: Morgen wieder Krieg. Ernst Rowohlt, Berlin.
H. R. Knickerbocker: Der rote Handel lockt. Ernst Rowohlt, Berlin.
Robert Neumann: Das Schiff „Esperance". Paul Zsolnay, Wien.
Richard Oehring; Sowjethandel und Dumpingfrage. Ernst Rowohlt. Berlin.
Rundfunk
Dienatag. Leipzig 16.00 < Warum wandern die Volker? Alfons Goldschmidt. — Breslau
18.00; Lebt der Expressionismus noch? Herwarth Walden. — KonigswusterhauBen
18.00: Gegenwartsfragen der Kunst, Paul Westheim. — Berlin 18.30: Heinrich Eduard
Jacob liest. — Langenberg 20.00: Das neue Gedicht in der Musik. — Breslau 20.00:
Die moderne Plastik als Ausdruck eines neuen Lebensgefuhls, Herbert Bahlinger
und Joachim Karsch. — KSnigswusterhausen 20:30: Don Juan von Mozart. — Leipzig
21.10: Dialoge der Weltliteratur. — Mublacker 22.15; Englands nationale Regierung
vor dem Parlament von Actualis. — Mtttwoch. Hamburg 17.30: Btibnenformen als
Zeitspiegel von Ibsen bis Piscator, Erich Raventos. — Langenberg 18.30: Ausser
Dienst von Hermann Kesaer. — Berlin 19.20: Darf 6ffentliche Kritik Privatinteressen
verletzen? Justizrat Julius Magnus und Herbert Ihering. — Leipzig 21.00: Zweierlei
MaB von Shakespeare. — Konigaberg 21.35: Mexiko von Traven. — Donnerstag,
KSnigswusterhausen 18.00: Haben Sie schon Stellung? Bruno Nelissen-Haken. —
Konigaberg 20.00: Cosi fan tutte von Mozart. — Langenberg 20.30: Strafienmann
von Hermann Kesser. — Leipzig 20.30: Der zeitgendasische Roman gibt Auskunft
auf Liebes- und Ehefragen. — Muhlacker 20.30: The Beggar's Opera. — Munchen
20.30: A. M. Frey liest. — Freitag. Breslau 17.20: Anton Schnack liest. — Berlin
17.55: Cuba und die Weltwirtschaftskrise, Alfons Goldschmidt. — Breslau 18.10:
Die Architektur als Spiegel der Zeit. Heinrich Knipping und K. Langer. — 22.10:
Ein Leben in Versen von Anton Schnack. — Sonnabend. Berlin 19.30: Zweimal
Strafienmann, Alfred Braun und Hermann Kesser. — Sonntag. Langenberg: Tiere
reden dich an, Hans Reimann.
460
Antworten
„Intellektueller". Von Kommunisten und den Hitler-Analphabeten
gleichmaBig beschimpft, wunderst du dich, diese torichte Terminologie
nun auch bei den braven Demozeitungen zu finden. Die (Frankfurter
Zeitung' kreidet es den „Intellektuellen" sehr an, dafi sie die Wirt-
schaftslage nicht so milde beurteilten wie es- die halbgebildeten Ge-
werkschaftsfunktionare tun, die ja auf ihrem letzten KongreB einen
fur sie sicherlich erfreulichen Optimismus zur Schau getragen haben.
Soweit gut. Wer aber schreibt da eigentlich das Scheltwort MIn-
tellektueller"? Ein Redakteur. Also doch hoffentlich auch ein In-
tellektucller- Abgesehn davon, daB ein Anstellungsvertrag mit einer
Zeitung noch keine geistige Superiority begriindet, sollte sich ein
Literat soicher Matzchen schamen. Wie stolz wird da dem „Nur-In-
tellektuellen" der Mann der Tat gegeniibergestellt! Und dann muB
man diese Manner der Tat sehn. Drollig, wie sich die geolte Wiirde
mancher Journalisten darin gefallt, mit den Kaufleuten gemeinsame
Sache gegen jene Schicht zu machen, aus der der Journalist stammen
sollte. Spengler hat in diesen Kopfen, falls dies noch moglich war,
viel Unheil angerichtet.
Sozialdemokrat. AIs Teilnehmer an der unerhorten Radauver-
s a mm lung im Sport-Palast richten Sie an die Bezirksleitung der SPD
das folgende Schreiben: „Sie haben am H.September eine Versamm-
lung im Sport-Palast einberufen, urn, wie Sie mit schonem Selbstver-
trauen versprachen, ,mit den Kommunisten abzurechnen'. Ihre
Situation war, wenn man die Lage innerhalb Ihrer Partei bedenkt,
prekar genug. Seit etwa einem halben Jahre ziehen Ihre jungen und
durchaus nicht besonders radikalen Parteigehossen bei Demonstrationen
mit Fahnen herum, auf denen, sehr zum MiBvergnugen des Partei-
vorstandes, die Parole geschrieben steht: „Republik, das ist nicht
viel — Sozialismus heifit das Ziel." Ihre Partei ist heute nicht im-
stande, den Mitgliedern mehr zu bieten als Lohnabbau, Arbeitslosig-
keit und ein,e ziemlich auegefranste Republik. Unter diesen Umstan-
den hatten Sie alle Veranlassung, einer Auseinandersetzung mit dem
radikalern Teil der Arbeiterschaft aus dem Wege zu gehen. Sie
haben die schwierige Aufgabe, diese Versammlung zu inszenieren, mit
einer Geschicklichkeit gelost, die Sie als echte Nachfolge des ehemals
von Ihnen bekampften preuBischen Feldwebels legitimiert. Sie haben
die Kommunisten in den Sport-Palast eingeladen, und als die Er-
werbslosen zu FuB und in zerrissenen Schuhen von Neukoiln und aus
dem Friedrichshain gekommen waren, haben Sie sie von der Polizei
Ihres Parteigenossen Grzesinski mit Gummiknuppeln ausetnander-
priigeln lassen. Trotzdem haben es einige KPD-Leute fertigbekommen,
Ihrer Einladung zu folgen. Als die Versammlung begann, leitete Ge-
nosse Lidtke die Auseinandersetzung mit der Bemerkung ein, die
SPD ware nicht nach der Hasenheide gekommen, sondern in den
Sport-Palast, weil sie gehort hatte, das die KPD bereits die Sale in
der Neuen Welt bestellt, und ,man den Kommunisten das Vergmigen
bereiten wollte, Sale zu bezahlen, ohne sie zu benutzen.' Finden Sie
nicht, daB diese Erklarung etwas kindisch ist? Der Ton der andern
Ausfuhrungen des Genossen Lidtke veranlaBte im ubrigen einige
sozialdemokratische Arbeiter zu der treffenden Bemerkung: Genau
wie Willi Lehmann! Die Rede des Referenten Franz Ktinstler bestand,
von einem an sich berechtigten, aber ungeschickt vorgetragenen Ver-
rifi des tRoten Volksentscheids' abgesehen, aus einer einzigen Schimpf-
kanonade gegen die KPD und den Korreferenten Heinz Neumann. ,Mor-
der\ fVolksbetruger' ,Tscheka-Agenten', ,Abschaum der Arbeiter-
schaft', ,Mob* (eine besonders taktvolle Bezeichnung, die sich eine
.Arbeiterpartei wirklich verkneifen sollte), ,Spitzel der G.P.U/, und
zum SchluB die maBlos arrogante Bemerkung, die sich besonders im
461
Munde des von alien guten Geistern der Politik verlassenen Kiinstler
so schon ausnimmt: ,Zur Politik, Herr Neumann, gehort Begabung,
Verstand und Fingerspitzengefuhl. Dazu muO man geboren sein!1
Dieser ist dazu geboren. Welch ein Kiinstler! Als dann Heinz Neu-
mann das Wort ergriff, haben Sie ihn von Ihrem Reichsbanner-Roll-
kommando bei jedem Satz auspfeifen und niederbrullen lassen. In
den ersten Reihen haben Ihre Leute gesessen und von einem vorher
vorbereiteten Programmzettel die Zwischenrufe abgelesen, Diese Be-
obachtung haben biirgerliche Journalisten am Pressetisch gemacht. Da-
bei ist Ihnen ein kleiner Irrtum unterlaufen. Als Heinz Neumann auf die
Anschuldigung Kunstlers, die KPD hatte — obwohl, man denke, ob-
wohl es verboten war ■ — Demonstrationen einberufen, mit einem
Zitat antwortete, setzten Sie Ihr Pfeiforchester in Bewegung. Worauf-
hin Neumann kuhl entgegnete, dieses Zitat stamme von Ihrem Alt-
meister August Bebel. Als Neumann fertig war, begannen die
Kommunisten, die sich bisher musterhaft ruhig verhalten hatten, die
Internationale zu singen. Daraufhin wurde vom Vorstandstisch ,Auf-
horen' gebriillt. Als die Kommunisten diesem echt preufiischen Kom-
mandoton nicht Folge leisteten, stiirmte Ihr Reichsbanner den Saal
und verpriigelte jeden, der es wagte, den Mund zu offnen. Mit be-
sonderm Eifer hielt man sich hierbei an Frauen und Madchen. Eine
Frau, die gesungen hatte, wurde mit dem KoppelschloB ins Gesicht
geschlagen, eine Parteigenossin, die gegen diese Mifihandlung pro-
testierte, bekam ebenfalls den Gummiknuppelersatz Ihrer ,Schufo' zu
spuren, Ein Mann wurde vom ersten Rang ins Parkett .herunter-
gereicht', viele andre muBten blutiiberstromt weggebracht werden.
Ware dieser Pogrom nicht von Reichsbannerleuten, sondern von Nazis
oder von Kommunisten verubt worden, Ihre Partei hatte unisono und
mit vol 1 em Recht nach dem Richter geschrieen. DaB das Reichs-
banner an diesem Abend im Sportpalast nicht eine Neuauflage des
1. Mai 1929 veranstaltete, lag gewiB nicht an seinem guten Willen —
hochstens an dem Mangel geeigneter Schufiwaffen. Fur die Partei-
genossen wird die Erfahrung, dafi das Singen der Internationale in
den Augen des Parteivorstandes ein Verbrechen sei und. mit Koppel-
schloBhieben bestraft werden musse, zweifellos neu und reizvoll sein.
Die Quittung fur diesen Abend wird bald iiberreichf werden. Wenn
die Kommunisten in ihrer Einheitsfronttaktik fortfahren und sie auch
auf die Gewerkschaften ausdehnen, dann wird von der deutschen
Sektion der volkerbefreienden Sozialdemokratie bald nicht mehr viel
iibrig sein. Die Bureaustiihle in der Linden-StraBe wackeln schon."
Nobelpreis-Kandidaten. Nur nicht drangeln, es kommt jeder
ran! Der nachste Friedenspreis wird unter diejenigen Staatsmanner
aufgeteilt,.. die im vergangenen Jahr keinen Krieg angefangen haben.
I""Veser Nummer liegt eine Zahlkarte fiir die Abonnenten bei, auf der
*** wir bitten,
den Abonnementsbetrag fur das IV. Vie rtel jahr 1931
einzuzahlen, da am 10. Oktober die Einziehung durch Nachnahme be-
ginnt und unnotige Kosten verursacht.
Mammkripte aind nur an die Redaktion der Weltbuhne, Chartottenburg, Kantftr. 152, xu
richten; es wird gebeten, ihnen Ruckporto beizulegen, da sonst keine Rucktendung erfolgen kann.
Da* Auff Uhninyarecht, die Verwertung vonTitelnu. Text imRahmen des Films, die musik-
mechaniache Wiedergabe aller Art und die Verwertung im Rafcmen von RadiovortrSgen
bleibeu fur alle in der Weltbuhne erscheinenden Beitr&ge ausdrticklich Torbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Sieg-tried Jacobsoun und wird von Carl v. Oisietxky
untet Mitwirkung von Kurt Tucbolsky geleitet — Verantwortlich: Carl v. Ossietzky. Berlin;
Veriag der Weltbuhne, Siegfried jacobsohn & Co., Cbarlottenburg.
Telephon: CI, Steinplatz 7757. — Poitscheckkonto: Berlin 119 58.
Bankkonto Darmstadter u. NationsBank, Depositenkasse Charlottenburg, Kaatstr. 112
XXVILJahrgwg 20. September 1931 Hummer 39
Volker ohne Signale von can v. ossietzky
nFighting T6meraire"
{"Ve Meuterei der britischen Hochseeflotte hat weder in Eng-
*^ land noch anderswo viele Federn in Bewegung gesetzfc
Das is't nicht verwunderlich, denn niemand, der an alten Autori-
taten hangt, kann in diesem Ereignis etwas andres als ein
furchtbares Menetekel erbiicken, Diese Blaujacken streikten
nicht mit dem fegenden Furor der Leute vom „Potemkin", sonr
dern eher mit der saubernPrazisionder bengalischenWoilwebef,
Gandhis waffenlosen Streitscharen. Der Witz darah war, d&B
die Matrosen selbst nicht ahnten, wie uberaus revolutions* sie
handelten. Sie kampften weder fur ein- Ideal noch fur erne
groBartige Realitat, sie protestierten nur gegen eitte Soldkur-
zung, und sie fiihrten das mit den guten Nerven voh Arbeiter^
juhgen durch, die ihre Schulung von der gediegensten Gewerk-
schafts-Bureaukratie der ganzen Welt erhalten haben. Auch
den jtingern Offizieren schien die Sache Spafl zu machenr sie
hieiten grofienteils mit Die Regierung gab bleich; und still
nach. Die sejbe Regierung, der en Schatzkanzler noch ein paaf
Tage vorher seine patriotische Budge trede mit der „Stiriime
Nelsons" geschlossen hatte- Durch den Mund Horatio Nelsons,
lieB Swinburne, vor dreiBig Jahren der poeta laureatus, ver-
kiinden, daB „England stehen wird" Nun, in der AdnriTalitat,
wo Austen Chamberlain regiert, war von Nelsons Stimnte
nichts zu horen, und England' stand nicht, sondern gab kleih bei.
In diesen Tagen ist in deutscher Sprache das ungewohnlich
aufschluBreiche Such des beriihmten franzosischen Soziologen
Andre Siegfried iiber das heutige England erschienen, :) (Die
englische Krise, S. Fischer Verlag.) Das ist eine erschutternde
Untersuchung iiber GroBe und Verfall eines Reiches unij einer
Wirtschaft, ihr Wert liegt in den Zustandsschilderungeii; die
turmhoch iiber den engen manchester-liberalen SchluiSfolgerun':
gen des Verfassers stehen. Andre Siegfried behandelt ein-
gehend den von Gewerkschaften und Unternehmern gefuhrien
Streit urn das Lohnniveau. Dazu schreibt er <cu:e sefyr bev
zeichnenden Satze: „Doch in dies em Streit ist, wir tauschen uns
hierin nicht, die offentliche Meinung auf Seiten des .Arb&iters;
was ubrigens in einem Lande von Arbeitern nicht weiter er-
staunlich ist. Kein Politiker, selbst ein konservativer, wurcle
es wagen, diese etwas unklare, doch nicht zu erschutternde
Anschauung direkt anzugreifen. Dem Refrain vom standard oi
living begegnet man unfehlbar in den Reden der Konservativen
ebenso wie in den Reden der Arbeiterparteiler. Es gehi hier
urn die englische Wiirde, heiBt es."
„In einem Lande von Arbeitern . .,."! Man beachte das! Denn
hier sagt der franzosische Liberale klipp und klar, daB die Arbeit
terschaft die Mehrheit bildet Dieses Wissen hat er der englischen
Arbeiterschaft voraus, die wie jede andre, iiber dem Ringen
um die parlamentarische Majorilat ihr zahtenmaBiges Ober*
* 463
gewicht als Klasse vergiBt. Der Kampf urn Parlamcntssitze
spaltet in Parteien, der Kampf urn die Sammlung der Klasse
mufi beinahe automatisch zur Eroberung der Macht ftihren
and den Zwiespalt zwischen Gesellschaft und Staat beenden.
Die meuternden Matrosen wissen selbst nicht, iiber was fur
furchtbare Waff en sie verfug«n, Sie giaubten, nur eine Lohnbe-
wegung zu fiihren, und der ganze Staat kam dabei ins Wackeln.
Die Matrosen von Invergordon, die ihre Lohnbewegung
mit einem aus rauhen, ehrlichen Kehlen stromenden ,,God save
the King!" beendigten, waren um nichts rebellischer als die
Filmmatrosen der „Schlacht von Bademiinde", die einer Schiirze
halber einen Privatkrieg gegen die Landstreitkrafte eroffnen,
Der britische Matrose hat wie ein junger, tappischer Riese
gespielt, der den kleinen Staat da unten mal in die Hand
nimmt, um sich das komische Gewimmel naher anzusehen.
Wie sie nervos durcheinanderlaufen, die wiirdigen alien Her-
ren, wie die Zopfe wackeln! Aber Gulliver macht das SpaD,
er denkt gar nicht daran, die Regierung von Liliput zu laidie-
ren, er setzt sie behutsam wieder auf den Boden. Jedoch ge-
setzt, es stache ihn in diesem Augenblick eine Miicke, so lieBe
er das Ding fallen und es ware in tausend Stticke zerbrochen.
Gegen eine organisierte Masse gibt es keine Macht; wo ein
organisierter Volkskorper sich erhebt, da klappt die bestens
organisierte staatliche Autoritat z us a mm en wie tein Gebilde aus
Pappmache.
So weit ist es noch nicht, noch kampft England, und weil
es redlich und ohne GroBsprecherei in einen Kampf trat, der
die Dammerstunde der alten britischen GroBe einleitet, so
hat es Sympathie und guten Wunsch auf seiner Seite. Es
wirkt jetzt ein wenig wie der ..Fighting Temeraire" auf dem
beriihmten Bilde von Turner in Tate-Gallery, Da wird der
„Temeraire", das alte Admiralschiff aus der Nelsonzeit, zum
letzten Male durch den Hafen gezogen. Durch den grauen und
braunen Nebel fallt ein Abschiedsschimmer von Purpur und
Gold auf ein riihrendes holzernes Gespenst im verschlissenen
Paraderock. Ein letztes Mal reckt es die morschen Masten,
ein letztes Mal greift der Wind an die imiden (Rahen. Doch
vor ihmf in schwarzem Rauch, schneidet ein klein«r Schlepp-
dampfer scharfe, sichere Furchen, Er hat den tapferen alten
Invaliden fest an der Kette und holt ihn ins Dock, wo er fur
immer abgewrackt wird.
Der ..Fighting Temeraire" im Abendrot, das ist Britannia,
das ist die ganze kapitalistische Welt. Aber wo ist die Ab-
losung? Wo ist der Bote der neuen Zeit?
Um Seydewltz
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei hat sich
jetzt endgiiltig entschlossen, mit der Opposition aufzuraumen.
Die acht Abgeordneten: Max Seydewitz, Kurt Rosenfeld, Hein-
rich Strobel, August Siemsen, Walter Oettinghaus, Paul Berg-
mann, Andreas Fortune und Hans Ziegler sind in diesem Au-
genblick so gut wie vor die Tiir gesetzt. Eine Unterwerfung
wiirde nur ihr politisches Ansehen zerstoren, aber kaum die
Bewegung beenden, die hinter ihnen steht. Ihre Anhanger-
464
schaft ist schwer zu iibersehen. Dafl sie, wic in der sozialisti-
schcn Parteiprcssc behauptet wird, die Organisationen in ihren
eignen Wahlkreisen nicht hinter sich haben, besagt wenig.
Opposition riihrt sich in der ganzen Sozialdemokratischen Par-
tei; keinc Scktion ist frci da von. Es kommt nicht darauf an,
in welchcr Kopfstarke die Revolteure heute abziehen, son-
dern was die Partei morgen und libermorgen tun wird, um
ihren Bestand zu erhalten. Eines aber ist sicher: wenn Seyde-
witz und sein Anhang auch diesmal nicht zur Tat kommen, so
i lutet die Unzufriedenheit der Arbeitermassen auch uber sie
hinweg, und die Kommunisten werden die einzigeri Erben sein.
Herr Rudolf Hilferding soil seit einiger Zeit die Meinung
vertreten, eine zweitet um einige Tongrade scharfere soziali-
stische Partei ware notwendig, um nicht alle Genossen, die
fiir Aufgabe der Tolerierungspolitik sind, an die Kommuni-
stische Partei abzutreten. Man brauche eine Zwischenpartei,
mit der man sich spater wieder vertragen konne. Herr Hilfer-
ding, vor zwanzig Jahren ein riistiger Kritiker des Finanz-
kapitals, hat sich in diesen le'tzten Jahren als einer der groB-
ten Dummkopfe erwiesen,, die in der ohnehin nicht gut bera-
tenen Sozialdemokratie ihr Wesen treiben. Was fiir eine Al-
bernheit anzunehmen, man konnte eine Spaltung arrangieren
und sich die Opposition, die man in der Partei nicht dulden
will, auGerhalb des Hauses gleichsam a la suite halten! WeiB
dieser austro-marxistische Abfall, der iibrigens in Deutschland
sehr weich gefallen ist, nicht, daB die Dinge ihre eigne Logik
haben und namentlich in dieser Zeit einer rapiden Entwick-
lung die Sezession nicht bald in ganz andre Richtung getrieben
werden kann? Otto Wels ist der richtige Hausknecht, sein
strammer Zugriff kann imponieren, Unertraglich ist nur der
diplomatisch gebildete Hausknecht, der sein Opfer iibers Ge-
lander wirft und ihm dabei noch ins Ohr flustert, warum dies
Verfahreri das Beste fiir ihn sei. Eine neue Partei, die von
vornherein im Verdacht stent, Partnerin in einem Spiel mit
verteilten Rollen zu sein, wird natiirlich niemals wirksam wer-
den, wird auch den bescheidenen Zweck verfehlent den ihr Hil-
fer dings akkumulierte geislige Unziulanglichkeit zugesteht.
Eine Opposition, auBerhalb der Tore kiinstlich gehalten,
das ist die Idee eines Macchiavells von der Hintertreppe. Was
der Sozialdemokratie not tut, das ist eine tunktionierende und
id^ologisch gut fundierte Opposition inn«rhalb des Parteiha-uses.
Diese Moglichkeit hat der Parteivorstand nicht ausreifen las-
sen. Man hat Seydewitz und die andern Wortfiihrer der Lin-
ken stets wie eine Ansammlung lastiger Krakehler behandelt,
man hat sie auf den Parteitagen schikaniert und verhohnt, man
ist ihnen wie Schulbuben ins Wort gefahren. Auf dem leipzi-
ger Parteitag vor einigen Monaten war das Auftreten der Op-
position in nichts mehr von einem ganz ordinaren SpieBruten-
lauien unterschieden. Dieselben Leute, die in ihren Volksver-
sammlungen die Demokratie als Universalmittel empfehlen,
haben zu Haus die einfachsten Rechte von Meinungsfreiheit
suspendiert, Sie fanden dafiir die seltsame Form, sogenannte
Gruppenbildungen zu verbieten, das Zusammentun von Gleich-
gesinnten von vornherein als Sonderbiindelei zu brandmarken,
465
Es ist wohl selbstverstandlich, daB keinc Millionenpartei
ohne Fliigelgruppen existieren kann. Wir wollcn ganz von den
besondern englischen VerhlLltnissen absehen, wo die starksten
Impulse immer von Korpbrationen Gleichgesinnter ausgingen,
die ganz off en erklarten, sie wollten Einf luB auf die Labour Party
gewinnen; /A propos, kann sich jemand die Entwicklung dieser
Partei vom Handwerkerverein zur akkreditierten Regierungs-
partei ohne die geistige Formung durch die Manner der Fabian
Society vorstejlen? In Deutschlaiid ware es ohne Zweifel ver-
ponty sich mit zweifelhaften Intellektuellen wie Shaw und
Wells zusammenzusetzen. Die ffanzosische Sozialistenpartei
kennt die beiden Flugelmanner Zieromski und Paul-Boncour
und stent sich gut dabei. Die deutsche Sozialdemokratie aber
verkiindet die Diktatur der Striohkopfe, und das in einer Zeit,
wp alle Dinge in FluB sind, wie seit langem nicht, und eine
yerstandig geleitete Partei alle ihre Nuancen liebevoll pflegen
imiBte; dertn niemand weiB, welche sie morgeri schon einzu-
setzen hat. ,
* Die alte Sozialdemokratie der Vorkriegszeit ist groB ge-
worden im Kampfe von zwei leidenschaftlich um die Macht
streit end-en Gruppen. Radikale und Reformisten haben erbittert
um die Herrschaft gerungen, es hat der Partei nichts geschadet.
Sie Mieb schlagkraftig, Ohne Eduard Bernstein und Georg
von Vollmar rechts und Rosa Luxemburg und Georg Le deb our
tinks laBt sich das historische Rild der Partei nicht mehr vor-
stelleh. Ja, wenn wir von der alten Sozialdemokratie sprechen,
so denken wir vornehmlich an diese Extreme, am wenigsten
an die brave Mitte, an die Scheidemanner, die den radikalen
Zungenschlag tibrigens auch gut weghatten. Noch heute exi-
stiert aois dieser Zeit das Organ der Revisionisten, die ,So-
zialistischen Monatshefte*, und wenn dies einst von Eduard Bern-
stein ins Leben gerufene Blatt auch schon lange tiber seine
Vergangeriheit hinausgewachsen ist, so erftillt es doch mit sei-
nem seharf abgegrenzten Mitarbeiterkreis, mit seiner von der
Partei. sonst nicht goutierten Kontinentalpolitik und mit seinem
alljahrlichen iSozialisteniball, zu dem selbst Kommunisten Zutritt
haben, ialls, sie die Examination durch Frau Bloch lebendig
uberstehen; oifensichtlich die juristischenMerkmale einer Grup-
pe. Ich mochte beileibe keine weitern Tschekainstinkte auf-
kitzeln, aber die Lihke um Seydewitz bildet nicht die einzige
„Gruppe" in der Partei. Weiter hat der hochmogende Vorstand
die iMitgliedschalt in der Deutschen Frdedensgesellschaft ver-
boten, Selbst die Kommunisten, denen doch niemand iiber-
stromende Duldsamkeit nachsagen kann, suchen in den von
Miunzenberg- geschaffenen .Organisationen sogenannte Sym-
pathisiereriide zu sammeln. Und wenn die dort Zugelassenen
auch oft genug iiber eine wechselvolle Behandlung zu klagen
haben, wenn ihnen der Eine noch gonnerhaft den Kopf kraut,
wahr end sie der Andre schon in den Hintern tritt, so liegt doch
in dieser Heranziehung von Biirgerlichen die deutiiche An-
erkenriung der Tatsache, daB es eine AuBenwelt gibt, daB der
Parteikral nicht alles ist. Wenn aber die Sozialdemokratie
sich schon zur Autarkic bekennen will, warum pfeift sie dann
nicht die Genossen zuruck, die noch immer in betont nicht-
466
sozialistischen Vereinigungen sitzen, zum Beispiel, in den
Schuldliigeverbanden? Und wenn es Sozialdemokraten ver-
wehit sein soil, bei Kommunisten und Pazifisten zu hospitieren,
warum verbietet sie nicht den organisierten Paxteigenossen
redaktionelle Tatigkeit in burgerlicihen Blattern? Man braucht
doch nur irgend ein Schartfmacherorgan auszuklopfen und es
fallt ein sozialdemokratischer Schriftleiter heraus, Und selbst in
der politischen iRedaktion des ehemals liberalen und heute
schwerindustriell infizierten ,Berliner Borsen-Couriers', wo
standig die Herabsetzung der Lohne als Allheilmittel verktin-
det wird, wirkt ein Mitglied der Sozialdemokratie mit, die
Gattin des Roggenorganisators Baade, Die Partei denkt aber
gar nicht daran, alle diese — sagen wir — weit vorgeschobenen
AuBenposten einzuziehen, sie wendet sich nur gegen links.
Die Sozialdemokratie kann es sich heute nicht mehr er-
lauben, Meinungsverschiedenheiten nach dem Hausknechts-
komment zu regeln. Nachdem eine zum Teil durchaus gefiihls-
maBige Unzufriedenheit sich bis in die Fundament e der Partei
hineingefressen hat, kann jetzt sehr Jeicht alles ins Rutschen
komraen. GewiB sind die Aussichten einer Sezession' heute un-
bestimint, die Gefahr fiir die Gesamtpartei liegt darin, daB die
Genossen, die bisher hilflos mit den Fausten gegen die Wande
gehammert haben, plotzlich einen Ausgang sehen und hinaus-
stromen. Im Variete kann man gelegentlch den Mann bewun-
dern, der sich selbst hinauswirft. Das heiBt, es nimmt sich einer
selbst am Kragen und zieht sich aus Leibeskraften durch einen
engen Tiirspalt. Die Sozialdemokratie ist auf dem besten
Wege, sich selbst hinauszuschmeiBen, Vielleicht wird Herr Brii-
ning in einem Anfall von GroBmut den um Braun und Seve-
ring verfeleibenden Rest durch eine Notverordnung zum Natur-
schutzpark erklaren, damit die beranwachsende Generation
sieht, wie zwtischen 1920 und 1930 regiert wiurde.
Humor der Wodie
„Brauchen wir noch eine Lehre aus dieser neuen Erfah-
rung zu ziehen? Die kapitalistische Weltordnung ist wirklich
reif zum Abbruch geworden! Die groBe historische Aufgabe uns-
rer Zeit ist, die Krafte der Arbeiterschaft zu sammeln, um
durch den siegreichen Vormarsch der geeinten Arbeiterklasse
die neue Weltordnung durchzusetzen, Proletarier aller Lander
und eines jeden Landes vereinigt euch — in diesem Zeichen
mufi oind wird der Sozialismus siegen!" (,Votrwarts\ 22, Sep-
tember 1931.)
Briining und Hugenberg
Ratselhaft bleibt, warum der Sozialdemokratische Partei-
vorstand grade jetzt die Gegner der Tolerierungspolitik zu ex-
mittieren beginnt, wo nach raenschlichem Ermessen diese selbst
in ihre letzte Stunde tritt. Warum die Einheit der Partei durch
einen Putsch von oben gefahrden, wo die Ereignisse selbst doch
morgen schon eine Situation schaifen konnen, in der nicht s
mehr da von zur Debatte stent, was die Flugelbildung innerhalb
der Partei in* diesen letzten Jahren veranlaBte? Danach muB
die Frage erlaubt sein, ob die Sozialdemokratie bereit ist,
Briinings Winterpragramm, mag es ausfallen, wie es wolle, zu
2 467
stiitzen — Lohnabbau und Sondergerichte, alles, alles. Und es
muB weiter gefragt werden, ob sie sich also dazu entschlossen
hat, nicht nusr Bruning, sondern auch ein Kabinett Hugenberg -
Briining zu tolerieren, und ob die Hinauswurfzeremonie bereits
als Vorbereitung dazu zu betrachten ist.
Auf dein deutschnationalen Partcitag in Stettin hat der alte
Geheimrat Hugenberg mit einer verbliirfenden Sicherheit ge-
sprochen, Danach schien alles in Ordnung zu sein, und das
national konzentrierte Kabinett Hugenberg unmittelbar bevor-
zustehen, Sogar fur den welschen Erbfeind fiel ein freundliches
Wort afo. Die teutoburger iMoraste sollen ihn nicht mehr ver-
schlingen, er soil in Frieden leben, Diese unerwartete Friedfer-
tigkeit des alten Hammer gottes hat einiges Erstaunen hervor-
gerufen. In der Tat gehen schon seit einiger Zeit Geriichte, wo-
nach die franzosische Regierung nur gegen Garantien fiir das
Wohlverhalten der nationalistischen Opposition zur Hilfe fiir
Deutschland bereit sei. Das hiefie also, dafi Frankreich eine
offene Rechtsregierung einer fragilen demokratischen Regierung
vorzieht, deren Bereich an Macht und Wirkung doch durch die
rechte Opposition eng begrenzt wird. Solche Tendenzen mogen
in Kreisen der franzosischen Schwerindustrie verbreitet sein,
auch Herr Francois-Poncet mag ahnliches vorhabien. Hat doch
auch Adolphus Rex, der Herr der braunen Heerscharen, seinen
Mannen Demonstrationen gegen Laval und (Briand untersagt.
GewiB, er kleidet das in Verachtung, aber dafi er sich uber-
haupt zu ein em solcheri Verbot aufschwingt, laBt doch bei ihm
zum erstenmal Ansatze von Politik ahnen.
Nun hat es mit dieser. deutsch-franzosischen Verstandigung
aus dem Geiste der beiden Scrrwerindustrien seine eigne Be-
wandtnis, I>ie Beiden haben jahrelang nicht an Kosten gespart,
den nationalistischen Hetzapparat auszubauen. Soil Hugenberg
seinen Hussong anweisen, jetzt Liebesgestandnisse an Frank-
reich zu dichten? Industrie und Finanz mochten selbstverstand-
lich lieber heute als morgen ihren Separatfrieden mit Paris
■ inachen, Aber der von ihnen gestaltete und genahrte Na-
tionalismus kann nicht so leicht ummontiert werden, er hat ein
Eigenleben gewonnen, er hat die Volksseele durch und durch
vergiftet. Die Herrschatften ersticken unter dem Gewichte der
Hetzpresse und der Pamphlete, die sie selbst ibezahlt haben.
So siegesgewiB Hugenberg auch in Stettin gesprocheri hat,
so unfreundlich war das Echo in der Zentrumspresse. Nament-
lich die ,Germania\ das Blatt des Kanzlers, reagierte mit einer
fast forciext wirkenden Scharfe, So riickt die Verbruderung
wieder einmal in die Feme, und Briining behauptet noch weiter
als AHeinherrscher seinen Platz. Dort wird, ihn weder die Ber
triebsamkeit Dingeldeys stqren, noch die komische Anstnengung
der biirgerlichen Parteikadaver, eine Einheitspartei der Matte
^u schaffen. Diese Parteien sind erledigt, sie sind schon
nicht mehr als Etiketten, Die einzige gefahrliche Be-
•drohung Briinings kann nur durch neue Verschlechterung
der wirtschaltlichen Verhaltnisse kommen. ;Wenn eine
neue Katastrophenwelle durchs Land rast, wenn Hunger-
revolten ausbrechen und -die Drohung der Massen sich nicht
mehr gegen den franzosischen Erbfeind richtet sondern direkt
468
gegen die Regierung, dann kann der Zentrumspartei die Allein-
vetantwortung zu gefahrlich werden, dann kann sie es doeh
vor ziehen, die Verantwortung mit der Rechten zu teilen oder
sie ganz an diese abzutreten. Das Gleiche kann eintreten, wenn
die Sozialdemokratie zerbrockelt, die Gewerkschaften ihre
Leute nicht mehr ibei der Stange halten kohnen.
Was die Diktatur Briining von der tDdktatur Hugenberg un-
terscheidet, ist lediglich die schwachereSpraclie. Mindestens be-
reft et der gegenwartige Diktator die Formen, in die der rabia-
tere JSTachfolger miihelos einsteigen kann. Die Notverordnungen
sind zunachst einmal da — was Iafit sich nicht alles mit) ihnen an-
fangen? Die meisten Grundrechte der Verfassung sind auf-
gehoben. Die Sondergerichte, die jetzt eingetfciihrt werden sollen,
konnen, sobald die Zustande es erfordern, Standgerichte war-
den. Jedenfalls ist fur Herrn Hugenbergs Regime grundlich
vorgearbeitet worden, Er braucht sich nicht mehr mit groben
Arbeit en die Finger schmutzig zu machen, er braucht nur noch
zu unterschreiben.
„Das letzte Gefecht*
Eine Zitadelle des Kapitalismus nach der andern bricht zu-
sammen. Machtpositionen und Ooktrine wanken, Niemand
sturmt von aufien; alte Konstruktionsfehler rachen sich, und
der Bau fallt in sich zusammen. Das englische Pfund, durch
ein Jahrhundert ein venerabler Begriff, gibt sich seibst preis
und sinkt in die monetarische Halibwelt. Andre Wahrungen
konneni morgen folgen, gewaltige Bank en und Trusts wie Zun-
der auseinanderfallen, strotzende nationale Wirtschaftskorper
plotzlich bresthaft werden.
Wie lange der Kapitalismus noch leben wird, mag Herr Fer-
dinand Fried ausrechnen, der ja audi1 herausgerechnet hat, daB
wir uns jetzt im achtzehnten Jahr der Revolution befinden, wo-
bei er wahrscheiniich mit 1913 beginnt, denn 1918 zahlt als Re-
volutions jahr kaum mit. Und trotzdem scheint ein solches
Rechenkunst stuck noch realer zu sein als das in den groBen
Handelsredaktionen 'betriebene Gesellschaftsspdel, eine Wirt-
schaft zu analysieren, die es nicht mehr gibt, sich uiber Papier e zu
verbreiten, die morgen kaum ihren Materialwert haben werden,
und sich iiber ein en Markt eingehend zu auBern, der mangels
Beteiligung aufgehort hat, einer zu sein und in tiefstem
Frieden daliegt. Alles hat sich grotesk ins Gegenteil verkehrt.
Der Kapitalismus hat aufgehort, seinen bisherigen Favoriten
SfpaB zu machen. Er ist zu einer schweren Last fur seine
Trager geworden, Und wenn die reichen Leute fruher in gele-
gent lichen Anwandlungen von moralischem Snabismus gern be-
hauptet haben, daB sie unter dem Kapitalismus eigentlich
furchtbar litten, so hat auch das heute seine Wahrheit erhalten.
Allerdings ist auch gar nichts mehr da. Unternehmer ver-
fluchen ihre Seibst an digkeit, Bankiers wart en auf die Soziali-
sierung wie fruher auf die Diividenden. Diese Generation von
Kapitalisten ist wirklich eine Lazarusschicht, sie biiBt fur die
Siinden der Vorangegangenen.
Die ganz Schlauen h of fen auf eine kleine Inflation. Sie
werden sich tauschen, - Dbr Glaube ans Geld ist erscbtittert,
469
die Freude daran verlorengegangen, der Arger an der Wirt-
schaft ist geblieben, Geleugnet werden kann natiirlich nicht,
dafi Deutschland fur cine neaie Inflation seelisch aufs tref f-
lichste vorbereitet ist. Die Korruptionsskandale wachsen, die
letzten Begriffe von Scham und AJnstand gehen vor die Hunde,
tind die deuische Frau, die eben noch in nationaler Politik
dem iMann gleichtat oind allem welschen Wesen mit der Feuer-
zange zu Leifoe ging, hat die Fahne verlassen und sich definitiv
auf spanischen Unterricht zuruckgezogen.
Eine Zeit ist urn, aber wo sinddie Erben? Niemand meldet
sich, SowjetruBland selibst, der Hort der Revolution, muB
fiirchten, seine Kunden zu verlieren, und hat alles Interesse,
seine kommerziellen Verbindungen von dem zweifelhaften Aben-
teuer eines antikapitalistischen Aufruhrs fernzuhalten. Die
Menschen torkeln zwischen Triimmern eines Systems, ratios,
kopflos. Ein paar Generationen haben die Hymne gesungen von
den ^Signalen", auf die die Vdlker horen sollen, und dann den'
Vers vom „letzten Gefecht". Es ist wohl kein Zweifel, daB wir
heute mitten in diesem letzten Gefecht stehen, Aber die Sig-
nal e sind vershimmt. Fast scheint es, als 6b der Weltbankrott
die Teilhaber der einzelnen Nationalpleiten eher beruhigt als
revolutioniert, Aber vielleicht ist das nur die Ermudung des
Ahigenblicks, und morgen kann der Menschheit schon die
ScMachtmusik der Zukunft in die Ohren drohnen.
Welt-InflatlOn von K. L. Gerstorff
T\ ie Kredite, die England noch in letzter Zeit von New York
und Paris erhielt, haben den Run auf *das Pfund nicht zu
stoppen vermocht. Zunachst sah es so aus, als ob die Gold-
und Devisenabgaben der Bank von England etwas abgenom-
men hatten, Ganz sicher fiihlten sich die amerikanischen und
franzosischen Glaubiger nie wahrend der ganzen Aktion, denn
sie hatten, hochst charakteristisch, dieses Mai die Kredite nicht
mehr in Pfund gegeben sondern in Francs und Dollars. Aber
das MiBtrauen wuchs von Woche zu Woche. Der englische
Schatzkanzler erklarte, daB man im nachsten Jahr ein Budget-
defizit von etwa dreieinhalb Milliard en haben werde. Und
wenn das Budge tdefizit bereits jetzt so hoch veranschlagt
wurde, so glaubte das Ausland, dies Defizit werde in Wirklich-
keit nochweit groBersein. Man hatte ja in diesem Punkte ein-
gehende Erfahrungen in Deutschland gesammelt, Auch hier ist
das Defizit stets niedriger eingeschatzt worden, als es inWirk-
lichkeit war. Warum? Weil man mit einer gewissen Stabili-
sierung in der Weiterentwicklung der Krise gerechnet hatte,
wahrend sie sich in Wirklichkeit immer weiter vertiefte, Genau
dasselbe nahm das Ausland von England an. Nirgends in der
Welt ist ein Silberstreifen zu entdecken, der fur absehbare
Zeit einen Aufstieg ankiindigte. Wenn also das Defizit
fur das nachste Jahr in England auf dreieinhalb Milliarden ge-
schatzt wurde, so war es besser, man kalkulierte gleich einige
Milliarden hinzu, vor allem auch darum, weil die MaBnahmen
zur Beseitigung des Defizits nicht grade eine stark e Ankurbe-
lung der Wirtschaft erwarten lieBen. Denn warum hatte
470
MacDonald die Arbeiterpartei vcrlassen? Warum hatte er
mit Baldwin und den Liberalen ein Kabinett der nationalen
Konzentration gebildet? Er tat dies, um das Defizit auf dem
gleichen Wege aus der Welt zu schaffen, der uns seit mehr als
einem Jahr bekannt und auchdem Ausland nicht mehr fremd ist.
Wenn man die einzelnen Etappen der englischen Krise,
betrachtet, so wird man zuweilen von der Ahnlichkeit mit der
deutschen Entwickhmg frappiert. Krise der Wirtschaft, die
sich immer verscharft, standige Steigerung der Arbeitslosen-
zif fern, Krise der Wirtschaft, die zur Krise der Staatsfinanzen
und des Budgets fiihrt. Krise des Budgets, die man in Eng-
land, grade wie bei uns, dadurch zu beseitigen sucht, dafi man
die Sozialpolitik, vor allem die Arbeitslosenversicherung, ab-
bairt, wahrend der Heeresetat und die groBen Vermogen nicht
stark herangezogen werden; wobei man sich dariiber klar ist,
daB der Abbau der Sozialpolitik und der Arbeitslosenversiche-
rung die Basis fur weitern groBen Lohnabbau schafft,
Krise, der Staatsfinanzen, rigoroser Abbau der Sozialpoli-
tik — damit verlor das Ausland seinerzeit das Vertrauen zur
deutschen Wirtschaft, damit begann das sprunghafte Abziehen
der kurzfnstig angelegten Gelder.
Krise der Staatsfinanzen, Abbau der Arbeitslosenversiche-
rung, damit wurde auch das Vertrauen der auslandischen Glau-
biger zu England immer geringer, und in der letzten Zeit hat
die Bank von England nicht weniger als vier Milliarden Mark
an das Ausland ausgezahlt. Verstarkt wurde das MiBtrauen
noch durch die Matrosenmeuterei. Die Matrosen meuterten,
als ihnen der Sold herabgesetzt wurde- Sie haben dabei nicht
die Internationale gesungen sondern ,,God save the King".
Aber: negative englische Zahlungsbilanz, riesenhaftes Defizit
im englischen Etat und Matrosenmeuterei — da wurde das Aus-
land angstlich, die Geldabziige iiberstiirzten sich. Und als
die Bank von England in New York und Paris anfragte, ob sie
einen neuen groBen Kredit bekommen konne, da lehnte man
hoflich ab, (Nach der letzten Version ist die Verhandlung
daran gescheitert, daB Paris zugesagt, New York aber abge-
lehnt habe.) Die Bank von England konnte nicht mehr lange
die auslandischen Gelder zuriickzahlen, die man von ihr
verlangte. Also beugte sie vor und hob die Einlosungspflicht
fur englische Noten auf.
Die Folge ist schon jetzt deutlich zu erkennen. Sie heiBt:
Inflation.
Das Pfund hat sich stark entwertet, gegeniiber dem
Goldstandard hat es 10 bis 20 Prozent eingebiiBt. Es wird in
absehbarer Zeit nicht wieder die Goldparitat erreichen. Der
englische Kapitalismus liquidiert damit die Politik, die er 1925
eingeleitet hat. Bis dahin war das Pfund entwertet und da-
mit Englands Stellung als Weltbankier gefahrdet gewesen. Der
Dollar gewann immer mehr an Boden. England hat dann im
starksten Gegensatz zu den Wiinschen vieler seiner Industriel-
len, die eine Inflation sehr gern gesehen hatten, das Pfund auf
der Goldbasis stabilisiert. Die Stellung der City als Welt-
bankier war ihm damals wichtiger als die Klagen der Indu-
striellen, Man hoffte gleichzeitig, wenn die gesamte Welt-
471
wirtschaf t eine starke Aufwartsentwicklung zeigte, dann
wiirde es auch der englischen GroBindustrie besser gehn. Es
waren ja die Konjunkturjahre der Vcreinigtcn Staaten, die
Jahre, in denen die Vulgarokonomen der ganzen Welt zu be-
weisen versuchten, daB eine Stabilisierung der Konjunktur, eine
Konjunktur auf Dauer moglick sei, wenn man nur amerikanische
Methoden durchitihrte. Aber die Aufwartsentwicklung der
Weltwirtschaft trat nicht ein, und der englischen Industrie, die
keine Inflationsgewinne machte, ging es immer schlechter, so
daB die englische Handelsbilanz katastrophal aussah. Die
Stellung der City als Weltbankier hat aber dem Mutterland in
der Krise nicht viel geniitzt, da es den Schuldnern zum groB-
ten Teil noch weit schlechter geht als ihm. Kurzfristige Kre-
dite, die man yon den Vereinigten Staaten, Frankreich und
den kleinern europaischen Kapitalexporteuren, wie der Schweiz
und Holland, hineinnahm, um seinerseits langfristige Kredite zu
geben und -an der Zinsdifferenz zu verdienen: diese Finanz-
politik Englands hat sich in der Krise schwer geracht, sie ist
einer der wesentlichsten Faktoren gewesen, der dieses Land
mit seinem riesenhaf ten Kapitalreichtum so illiquid gemacht hat.
Inflation in England, das bedeutet, wenn sie gelingt, eine
auBerordentliche Verscharfung der Konkurrenzkampfe auf den
Weltmarkten; Wenn sie gelingt. Denn zur Inflation gehort
immer, daB sie auf einen bestimmten Sektor beschrankt bleibt
— national und international; das heiBt, es diirfen nicht alle
in Gold rechnen, vor allem die Arbeiterschaf t nicht. Denn
sonst niitzt die ganze Inflation nicht s. Eine Entwertung des
Pfundes mit einer Verbilligung der Produktionskosten erhoht
die englischen Exporte und verringert die Importe nur dann,
wenn die Lohne nicht im gleichen Umfange steigen wie
die Preise; das heiBt, wenn die englischen Arbeiter ihre Lohne
nicht in Gold umrechnen. Ob dem englischen Kapitalismus
eine Inflation mit Herabsetzung der Reallohne gltickt, ist
noch zweifelhaft. Die englische Arbeiterbewegung verfiigt
iiber starke Positionen. England ist bisher das Land gewesen,
das trotz riesenhafter Arbeitslosigkeit die Tariflohne der be-
schaftigten Arbeiter noch am wenigsten gesenkt hatte, und es
war ja bezeichnend, daB MacDonald die Gefolgschaft der ge-
samten Arbeiterschaf t verlor, als er die Arbeitslosenversiche-
rung abbaute. Die englischen Unternehmer haben immer wie-
der erklart, die hohen englischen Lohne verringerten stark
ihre Konkurrenzfahigkeit auf den Weltmarkten. DaB die eng-
lische Arbeiterschaft, die einen direkten Lohnabbau zu iiber-
wiegendem Teil zu verhindern mochte, sich durch die Inflation
einen indirekten aber ebenso wirksamen kampflos gef alien
las sen wird, ist kaum anzunehmen.
Inflation, so sagten wir, kann nur dann gelingen, wenn sie
auf einen bestimmten Sektor beschrankt bleibt. International
also, wenn sie auf England beschrankt bleibt und nicht allge-
meine Erscheinung wird. Ist dies aber der Fall, kommt eine eng-
472
lische Pfundentwertung bci faktisch herabgesetzten Realloh-
nen der englischen Arbeiterschaft, dann werden sich schwerc
Riickwirkungen fur die Weltwirtschaft ergeben. England stand
einmal in der Ausfuhr an der Spitze der Welt. Es ist in sei-
ncn Exporten von den Vereinigten Staaten und Deutschland
Ciberfliigelt worden. Entwertung der englischen Valuta, das be-
deutet einen wahrscheinlich sehr hartnackigen Versuch der
englischen Industrie, ihre Ruckschrittlichkeit im Rationalisie-
rungstempo aufzuholen und das verlorene Terrain auf den
Weltmarkten wieder zu erobern. Aber dieser englische Vor-
stoB erf olgt dann nicht mehr in der Zeit einer aufsteigenden
Konjunktur, sondern in einer weitern Zuspitzung der Weltwirt-
schaftskrise, wo der WeltauBenhandel nicht steigt, auch nicht
stabil bleibt, sondern zusammenschrumpf t. Der WeltauBenhandel
steht heute bereits unter dem Niveau von 1913. Englische In-
flation und verstarkter englischer Exportdmck, das bedeutet
also fiir alle iibrigen hochkapitalistischen Zentren eine Ver-
starkung ihrer okonomischen Schwierigkeiten. Denn neben
den direkten Wirkungen des englischen Exportdruckes ist fest-
zustellen, daB ein sehr groBer Teil des WeltauBenhandels bis-
her durch Pfundkredite finanziert wurde. Es ist weiter zu
bedenken, daB der londoner Kapitalmarkt bei aller Verringerung
seiner Liquiditat doch noch eine zentrale Stellung hat.
Aber es ist durchaus noch nicht sicher, daB die Entwer-
tung des Pfundes sich allein in verstarkten Konkurrenzkamp-
fen auf den Weltmarkten auswirken wird. Wir sagten: Damit
eine Inflation gelingt, muB sie einen bestimmten Sektor haben,
auch internationalf das * heiBt, die Inflation muB auf England
beschrankt bleiben. Wie steht es damit? Zunachst ist zu kon-
statieren, daB die Kolonien und Dominions schwer allein blei-
ben konnen, wenn das Mutterland seine Wahrung entwertet.
Indien und Irland haben die Goldwahrung faktisch aufgehoben.
In Kanada hat sich der kanadische Dollar bereits stark entwer-
tet. Auch in Australien und Neuseeland besteht faktisch1 die
Goldwahrung nicht mehr. Im gesamten Empire herrscht also be-
reits Inflation. In Siidamerika sieht es nicht viel besser aus. Man
erklart dort zwar, dafi man sich vom englischen Pfund unab-
Mngig machen wolle, aber nachdem die groBten siidamerika-
nischen Lander keine Auslandszinsen mehr zahlen kon-
nen, ist es sehr fraglich, ob man sich dort vor der Inflation
retten kann, retten will. Wenn aber im gesamten englischen
Weltreich die Inflation Wirklichkeit wird, wenn Siidamerika
bankrottiert, wenn in Mitteleuropa die Krise sich weiter ver-
scharft, dann ist es auBerordentlich fraglich, wie sich die Ver-
einigten Staaten und Frankreich in dieser Situation verhalten
werden, dann besteht die Moglichkeit, daB auch sie starker als
bisher in die Weltkrise hineingerissen werden.
Die Bank von England hat die Goldwahrung aufgehoben.
Ein Beben geht durch die Weltwirtschaft; ein neuer StoB hat
eingesetzt.
Was ist noch sicher, wenn die Bank von England nicht
mehr zahlt!
473
„Geplante Vorschriften" von Rudolf omen
Oazifismus und Landesverrat" heiBt ein Artikel, den ein
w Angestellter des Reichswehrministeriums, Doktor von
Carlowitz, in dcr Militar-Zeitschrift fWisscn und Wehr' ver-
offcniliclit. Er verweist auf den Satz, den der im Reichswehr-
ministerium diensttuende Major Thayssen als Sachverstandi-
ger im leipziger HochverratsprozeB gegen die drei ulmer
Reichswehrleutnants gesprochen hat: ,,Wenn der Reichswehr-
minister sich einmal im Reichstag zu einem gesunden Pazifis-
raus bekannt hat, so heiBt das gleichzeitig, daB wir den Pazi-
fismus im landlaufigen Sinne, der im allgemeinen mit ideellem
Landesverrat verbunden ist, entschieden ablehnen."
Herr von Carlowitz schreibt, er wolle zugunsten der pazi-
fistischen Organisationen annehmen, „daB sie sich in ihrem
Wirken allein von politischen, ideellen Motiven leiten lassen,
und deshalb — trotz der eingestandenen Geldzahlungen aus-
landischer ,Gesinnungsfreunde* — von den Landesverratern
unterschieden werden sollen, die nur tun materieller Vorteile
willen ihr Vaterland verraten/'
Man sieht nicht: ist der Artikelverfasser ein ungeschickter
oder ein zu geschickter Stilist? Denn er sagt zweierlei in
einem Satz, Meint er, die Pazifisten lie 13 en sich Mallein von
ideellen Motiven leiten"? Oder meint er, sie verrieten ihr Va-
terland auoh um materieller Vorteile willen? Ich fiirchte, man
muB hier pessimistisch sein und den Ton auf das „nur" legem
Ist das so, so lautet, ins Positive gewendet, die Behauptung des
Herrn von Carlowitz; Erstens, die deutschen Pazifisten ver-
raten ihr Vaterland. Zweitens: sie tun es aus politischen, ide-
ellen Motiven und weil sie aus dem Landesverrat materielle
Vorteile ziehen,
Seither ist in Moabit der PazffistenprozeB durchgefuhrt
worden. Doktor Kurt Hiller, der die finanziellen Verbindungen
der pazifistischen Vereine wohl besser kennt. als Herr von
Carlowitz, hat seine purifikatorische Anklage mit Erfolg
durchgefochten. Er hat aber nicht behauptet, und es ist auch
nicht etwa liber seine Behauptung hinausgehend bewiesen oder
wahrscheinlich gemacht worden, daB Pazifisten personlich ma-
terielle Vorteile aus ihrer Propaganda gezogen hatten. Der
Streit ging ausschlieBlich darum, ob die Propaganda auch aus
Mitteln auslandischer Regierungen gespeist worden sei. Was
Herr von Carlowitz an den Anfang seiner Untersuchung stellt
und ihr zugrunde legt, ist also unbewiesen. Er fiigt hinzu:
,,Die Schwere des Vorwurfs verpflichtet jeden, der ihn erhebt,
sich freizumachen von der Atmosphare der politischen Schlag-
worte " Diese Verpflichtung hat er vorher schon gebrochen.
Ich mochte nicht fur pazifistische Vereine sprechen, von
denen ich keinem angehore oder angehort habe. Wenn Herr
von Carlowitz fortfahrt: „Am deutlichsten tritt die gegenwar-
tig herrschende Tendenz des deutschen Pazifismus in der Ab-
riistungsfrage hervor," so bezeichnet er damit das Thema, das
ihn eigentlich beschaftigt. Zugleich vermengt er zwei Dinge,
die ich trennen mochte. Die Front zieht sich in der Ab-
rustungsfrage meiner Beobachtung nach nicht zwischen Pazi-
474
fist en un$ Bellizisten sondem zwischen Politikern und Trau-
mern. Gegen Herrn von Carlowitz mochte ich ein Wort fur
Politik sprechen,
Der Artikel geht weiter mit dem Beweis, daB Carl Mer-
tens, Professor Friedrich Wilhelm Foerster, Fritz Rottcher, Fritz
Kiistcr, General von Schonaich, Otto Lehmann-RuBbiildt, Bert-
hold Jacob-Salomon, Hellmut von Gerlach, Professor Quidde,
Senatsprasident Freymtith, Doktor Carl Misch, Professor Georg
Bernhard, Doktor Ernst Feder im Grunde >ein und dasselbe
seien, und stellt zwischen ihnen und dem Dokumentenfalscher
Schreck die Verbindung her, Eine gewisse Ungenauigkeit in
der Abgrenzung ist, wie wir schon oben sahen, eigentiimlich
fiir den interessanten Aufsatz. Von der Propaganda, die die
genannten Politiker, wie Herr von Carlowitz lehrt, gemeinsam
betreiben, sagt er „aus einem natiirlichen Ernpfinden fiir die
Schicksalsgemeinsqhaft einer ganzen Nation heraus und mit
dem gesunden Menschenverstand," sie sei ,,glatter Landes-
verrat".
Ein wenig zwiespaltig ist es auch, wenn der Artikel weiter
deduziert: Erstens, in Genf stehen sich heute nur noch ,,macht-
politische Interessen" gegemiber; zweitens, die Mverleumderi-
schen Enthiillungen iiber Geheimrtistungen Deutschlands" ha-
T?en unsern Vertragsgegnern „die jeweils erforderlichen Argu-
ments geliefert, die sie brauchten, urn sich der Durchfuhrung
des Abriistungsversprechens zu entziehen". Denn wenn die
reine Machtpolitik herrschte, so waren Arguments unniitz.
Aber diese Zwiespaltigkeit ist notwendig, sonst konnte nicht,
was hier geschehen soil, begrimdet werden, daB die Pazifisten
eingesperrt werden miissen. Urn zu dieser SchluBfolgerung
zu gelangen, pragt Herr von Carlowitz, in strengem Gegensatz
zu der Machttheorie, die er vertritt, den Satzf daB Deutsch-
lands ^Position nicht wie die der aadern Staaten in erster
Linie auf Macht, sondern fast ausschlieBlich auf Vertrauen
beruht". Das Vertrauen zu Deutschland werde von den Pazi-
fisten zerstort. Darum konnen „die geltenden und geplanten
Vorschrifteri iiber Landesverrat zur Beurteilung der pazifisti-
schen Propaganda" herangezogen werden.
Geplante Vorschriften? Man erinnere sich daran, daB
kiirzlich die Nachricht durch die Presse ging, ein Gesetz-
entwurf des Reichswehrministeriums iiber Erweiterung der
Landesverratsbestimmungen werde seit langerer Zeit, bisher
vergeblich, im Reichsministerium des Innern und im Aus-
wartigen Amt empfohlen; seine Einfiigung in eine Notverord-
nung sei, ebenfalls bisher erfolglos, verlangt worden.
Das Vertrauen zu Deutschland werde, so lehrt also Herr
Doktor von Carlowitz, durch die Propaganda der genannten
Pazifisten geschadigt und also das Wohl des Reiches durch sie
gefahrdet. Ob eine bestimmte Handlung „im Enderfolg fiir das
Reich giinstige oder nachteilige Folgen" haben werde, konne
„der einzelne" ■ itberhaupt nicht iibersehen. MVerniinftiger-
weise wird man daher . .. das BewuBtsein der Gef ahrdung be-
reits dann.als gegeben ansehen miissen, wenn der later wuBte,
daB seine Tat irgend eine Schadigung der Reichsinteressen zur
Folge haben konne, ohne gleichzeitig und mit demselben Grad
3 475
von Sicherheit eine gegenteilige, kompensierende Wirkung aus-
zulosen/' Ob er diese Sicherheit besafi, hatte da$ Reichs-
gericht mit seinen Sachverstandigen zu beurteilen. Die De-
duktion ist natiirlich nicht neu. Die Folge, wiirde sie Gesetz,
ware .etwa so; Wer vor, der Schwarzen Reichswehr warntet
wcr die militarische^Dienstleistuiig^les Kaiserenkels meldetet_
wer die Phobus-Afiare publizierte, aber auch wer rechtzeitig
ein Etats-Defizit ankun^ligt, gegen Vbrbereitung en einer in-
flation auftritt, oder einen Bankkonkurs voraussieht, wiirde als
Landesverrater bestraft werden.
Herr von Carlowitz ist sich in seinem Artikel nicht immer
klar dariiber, ob Pazifisten schlechthin schon nach dem gel-
tenden Gesetz strafbar sind. Er entscheidet sich zum SchluB
fur die Notwendigkeit neuer Bestimmungen: „Die auBenpqli-
tische Wirkung der Propaganda hat das Strafgesetz noch nicht
beriicksichtigt ... Die landesverraterische Propaganda der
Pazifisten weist deshalb auf einie neue Etappe in der Entwick-
lung des Schutzes der auBenpolitischen Interessen des Staates
hin.1* Auch der anfangliche Zwiespalt, ob die Pazifisten ideali-
stische Politiker oder gewohnliche Plusmacher sei'en, lost sich
am Ende. Der Artikel schlieBt mit dem Bedauern dariiber,
daB die pazifistische Propaganda nicht iiberall die Verachtung
gefunden habe, die ihr gebiihre,
Zur Kritik des Vorschlages, den der Artikel bringt, sei
verwiesen auf die Artikel der friihern. berliner franzosischen
Militarattaches in ,L'Echo de Paris1 iiber die Reichswehr, auf
diet Kritik des Refchswehretats in der , Revue des Deux Mon-
des' vom 15. August, auf den Brief Austen Chamberlains an
den Redakteur der .Times* in der Angelegenheit der Aus-
spahung der breslauer Stahlhelmparade, auf die Veroffent-
lichung der ,Haag'sche Post' iiber eine angeblich mit deutschen
Mitteln unterhaltene hollandische Riistungsfabrik. Die Dis-
kussion iiber solche deutschen Themen spielt sich schon heute
fast ausschUeBlich im Ausland ab. Wenn ein Politiker, wie
der Pralat Kaas, g'egen Aufrustungsplane spricht, so wird er
in der nationalistischen Presse des Landesverrats beschuldigt
und1 von der ,Germania' mit groBer , Vorsicht kqmmentiert Das
Schweigen in der deutschen Offentlichkeit wiirde durch die
Verwirklichung des Carlowitzschen Yorschlags endgiiltig
wer den, Es ist zu fragen, wodurch das Internationale Vertrauen,
Deutschlands wichtigstes auflenpolitisches Aktivum, gestarkt
und vermehrt werden k6nnte, durch eine intensive demokra-
tische Kontrolle oder durch ihre liickenlpse Unterdrtickung,
erzwungen mit Zuchthausdrohungen.
Aber nur Traumer konnen die Frage falsch beantworten.
Die Traumer nennen sich Realpolitiker. Sie haben den
sehr realen Vorteil fur sich, die Achtung alter respektablen
Leute zu genieBen, unabhangig davon, ob ihre realistischen
Traume das Wohl des Reiches gefahrden oder; nicht. Die Ra-
dikalen unter ihnen erstrecken den Vorwurf des Landesverrats
bis zu Lobe und Kaas. Die Verteidigung wird nur matt ge-
fiihrt. An ein Gesetz gegen Kriegshetzer denkt niemand in
Deutschland. Das Ailes gehort zur Vorbereiifung der Ab-
riistungskonferenz.
476
Ullsteill Und Ufa von Heinz Pol
7 wolf Jahre war ich im Verlag Ullstein als Journalist tatig.
Am 10, September dieses Jahres sah ich mich gezwungen,
meine Arbeit niederzulegen, um mit sofortiger Wirkung auszu-
scheiden, Diese Tatsache an sich ist ohne jedes Interesse fur
die Offentlichkeit, Anders steht es um die Ursachen meines
plotzlichen Ausscheidens, weil es sich hier namlich um den
versuchten Eingriff in die Gewissensfreiheit und Unabhangig-
keit des Journalistenberufes handelt.
Anfang November 1930: Heinz Ullstein laBt den >ersten
Filmkritiker des .Tempos', Harms G, Lustig, zu sich kommen und
setzt ihm auseinander, er gehe bei seinen Kritiken von der
vollig falschen Voraussetzung aus, daB so etwas wie eine Film-
kunst existiere, Vielmehr sei der Film ein Geschaft und nichts
weiter, Deshalb werde Herr Lustig nicht mehr weiter Film-
kritiken schreiben.
Auszug aus dem Schriftsatz der Verleger Doktor Franz und
Hermann Ullstein vom 17. Marz 1931 an das Schiedsgericht im
Ullsteinschen Familienstreit: t,Bereits vorher hatte die MaB-
regelung des begabten Filmkritikers des .Tempo' Hanns G. Lu-
stig weit iiber die Grenzen des Ha uses Befremden erregt. Ihm
wurde von einem Tag zum andern das Film-Ressort von Heinz
Ullstein auf Beschwerden der Inseraten-Abteilung entzogen.
Grade dieser Vorfall erweckte in journalistischen Kreisen den
Eindruck, daB die geistige Freiheit der Journalisten im Ullstein-
Hause, in dem sie Iruher ihren sichersten Ort hatte. nunmehr
eine standige Bedrohung durch Eingriff e des Verlages erfahre."
Ende Marz 1931; Heinz Ullstein erklart mir bei AbschluB
meines neuen Vertrages: ..Selbstverstandlich steht in Ihrem
neuen Vertrag, daB Sie der erste Filmkritiker der .Vossischen
Zeitung' sind, tatsachlich waren Sie das ja auch schon bisher
seit vielen Jahren. Und ich mochte ausdriicklich hinzufugen,
daB der Verlag mit der Art Ihrer Filmkritik ganz besonders zu-
fried>en ist. Hier konnen Sie, nein: hier sollen Sie kulturpoli-
tisch mindestens so aggressiv sein wie bisher, schreiben Sie
meinetwegen kommuriistisch. Jedenfalls haben Sie hier vollig
freie Hand/'
12, August: Ich schreibe die Kritik iiber den franzosischen
Film „Der Konig der Nassauer", Am SchluB erklare ich die
deutsche Rahmenhandlung der Ufa fiir uberfliissig.
14. August: Ein Vertreter der Inseraten-Abteilung der
,Vossischen Zeitung' sagt mir, daB, wie auch fruher schon ge-
legentlich, die Ufa die Filminserate fiir die ,Vossische Zeitung'
auf die Dauer von einer Woche gesperrt habe, mit der Erkla-
rung, meine letzte Kritik babe ihr nicht gefallen.
15, August; Ich wemte mich an den jungen Kyser von der
Presse-Abteilung der Ufa, der in der konziliantesten und ange-
nehmsten Form den personlichen Verkehr mit den Filmkriti-
kern aufrecht erhalt. Kyser meint, er halte es fiir ausgeschlos-
sen, dafl die betreffende Ufa-Abteilung dem Inseratenvertreter
der Voss einen solchen Beschekf gegeben habe. Er erkundigt
sich auch und sagt mir, die Inserate seien zwar nicht gegeben
worden, aber ohne jede Begrundung.
477
16. August: Ich wende mich tioch einmal an den Inseraten-
vertreter. Dieser blcibt bei seiner Darstellung: Die Ufa habe
ausdrucklich auf meine Kritik hingewiesen, und zwar als Ur-
sache des Inseraten-Entzuges.
1. September: Ich schreibe die Kritik iiber den Ufa-Film
,, Bomb en auf Monte Carlo M. Den Korrekturabzug lege ich dem
Leiter des unpolitischen Teils vor, der die Kritik sehr scharf
findet,,aber dann" meint, ich triige ja dafiir die Verantwortung.
Daraufhin lege ich die Kritik dem verantwortlichen Redakteur
der ,Vossischen Zeitung' vor, der mir eitiige Formanderungen
vorschlagt, die ich sofort vornehme.
2. September: Verschiedene Kollegen im Ullsteinhaus sagen
mir, daB der Leiter des lokalen Teils, Herr Goetz,* irgendweiche
geharnischten Beschwerden der Ufa iiber meine letzte Film-
kritik erhalten habe. Die Beschwerden sollen telephonisch und
brieflich erfolgt seiri. Goetz selbst sagt mir lediglich, es habe
ihn jemand1 von der Ufa angerufen. Auf naheres Befragen gibt
er an, daB Major Grau, der Leiter der TheaterrAbteilung der
Ufa, sick an ihn gewandt habe. Als ich ihn bitte, mir mitzu-
teilen, was Grau gesagt hat, zuckt er die Achseln. Einige
andfe Redaktionskollegen, die von der ganzen Angelegenheit
etwas. mehr zu wissen scheinen, erklaren, sie diirften leider
nichts sagen, wenn Goetz nichts sage, aber die Sache sei dies-
mal ziemlich ernst.
Ich erfahre von ,der Inseraten-Abteilung, daB die Ufa die
Filminserate fur die Voss . wieder gesperrt habe.
3. September: Gesprach mit Kyser, wobei ich versuche
herauszubekommeh, wer alles von der Ufa sich beschwert hat.
Kyser ist ein w.enig bose und meint,. auf ihn ergieBe sich im
Ufa-Hause die ganze Schale des Zorns, weil er uberhaupt noch
mit mir rede und verkehne. Die Stimmung gegen mich sei sehr
bedrohlich, so sei sein Chef, Herr Pfeiffer, der Ansicht, ich
hatte deshalb eine so mifilaunige Kritik iiber „Bomben atif
Monte Carlo" geschrieben, weil ich eine Viertelstunde im Ufa-
Theater hatte stehen miissen, bevor ich meinen Platz angewie-
sen bekommen hatte. Ich antworte, daB ich diesmal noch
sehr schonend verfahren sei und nicht einmal in mei-
ner Kritik hervorgehoben habe, daB das schmucke
Kriegsschiff, auf dem Albers kommandiere, pikanterweise von
Herrn Schneider-Creuzot, dem franzosischen Krupp, der Ufa
ztir Verf iigung gestellt worden sei, Auf die Frage, ob auch
Herr Pfeiffer sich bei Ullstein beschwert habe, erhalte ich ria-
turgemaB ein Achselzucken als Antwort.
4. September: Alle Bemiihungen in der Redaktion Naheres
iiber die Beschwerden der U£a iiber mich zu erfahren, scheitern
daran, daB Goetz schweigt, Ich mache Goetz darauf aufmerk-
sam, daB er doch, wenn kiinftig wieder jemand von der Ufa
anriefe, darauf hinweisen konnte, fur alle diese Beschwerden,
sei nach einem Abkommen mit dem Verb and der Berliner Film-
kritiker allein die Spitzenorgariisation der Deutsdien Filmin-
dustrie (Spio) zustandig, die sich dann mit dem betreffenden
Kritiker direkt in V'erbindung' setzt. Diese Tatsache sei ihm,
Goetz, doch seit langem foekannt. Keine Antwort.
47S
5, September: Gesprach mit Kyser. Als ich mich uber die
Kampfesweise cter Ufa besohwere, meint er: MWas wollen Sie!
Die Leute bei uns gehen indie Luft, wenn sie nur Ihren Nam en
horen. Die Kritik der fVossischen Zeitung' ist die erste, die von
Hand zu Hand geht Augenbhcklich herrscht eine absolute Pd-
gromstimmung gegen $ie; Ich wurde Ihnen nicht raten, mom en-
tan zu uns zu kommen,"
Im weitern Verlauf dieser Unterhaltung kommt es zu fol-
gendem Dialog:
Kyser: „Es gab und gibt lediglich zwei Kritik er in der
berliner Tagespresse, gegen die sich der Kainpf der. Ufa richtet.
Alle iibrigen ha ben aUmahlich einen Ton angenommen, mit dem
wii* uns abfinden. Vielleicht macht noch IherinjT eine Aus-
nahme, aber der schreibt ja gliicklicherweise im jBorsen^Cou-
rier', der fur uns geschaftlich nicht wichtig ist. Es bleiben im
Augenblick also nur zwei. Der eine ist Hanns G. Lustig vom
.Tempo', der zweite Heinz Pol/'
„Lustig schreibt doch gar keine Kritiken mehr!"
„Na ja, d'er ist ja im vorigen Jahr auf Verlangen der Ufa
abgesetzt worden!"
„Soviel ich weiB, war doch das eine Mafinahme des Ver-
lages Ullstein?"
„Ja, aber auf Verlangen der Ufa. Das ist doch gar kein
Geheimnis. Nut noch Sie sind jetzt also da!"
„Was hat denn die Ufa gegen Lustig und mich?"
,,Lustig war zu iiberspitzt in seinen asthetischen Forderun-
en. Dafiir sind! Sie zu wenig asthetisch und zu viel politisch,
ie Ufa ist doch voilkommen unpolitisch."
„Das ist leider nicht der Fall. Herr Hugenberg, der Besitzer
der Ufa, ist gleichzeitig em sehr exponierter Parteipolitiker, der
seiner Zeit die Ufa mit der ausdrueklichen Erklarung ubernahm,
ihn wtirden beira Fibngeschaft .nicht nUr geschaftliche sondern
auch politische Gesichtspunkte leiten. Natiirlich ist nicht jeder
Ufafilm politisch, aber wie steht es zum Beispiel mit dem Fri-
dericusfihn, dem Zapfenstreichfilm, dem Rosenmontagfilm, ganz
zu schweigen von den immer kriegerischer werdenden Wochen-
schauen? Der Kritiker hat nicht nur das Recht sondern die
Pflicht, von Fall zu Fall auf den nationalistischen Charakter der
Ufa hinzuweisen. Ich sehe also der Kampfansage mit Ruhe ent-
gegen, um so mehr, da' ich ebenso sehr das Vertrauen meines
Verlages wie der Redaktion genieBe."
Kyser lachelt: „Ich! wiirde mich nicht so sehr darauf ver-
lassen, Wir haben ganz gute Verbindungen mit gewissen Stel-
len im Ullstein-Hause angekniipft. Ich kann ja nichts Naheres
sagen* Aber passen Sie auf, wir kriegen Sie vielleicht auch
noch her a us, wer w«iB, vielleicht sehr bald -.-./'"
8. September: Amer{ka verbietet die deutsche Military
Humoreske „Drei Tage Mittel-Arrest" mit der Begriindung, das
Schicksal einer unehelichen Mutter werde hier entwiirdigt,
Uber diese Tatsache schreibe ich fur den politischen Teil der
jVassischen Zeitung' eine Qlosse, in der ich darauf hinweise,
daB tatsachlich derartige Filme geeignet seien, das deutsche
Ansehen im Ausland herabzusetzen, nicht so sehr wegen der
479
Glorifizierting des Militars, als der LacherUchmachung der Zivi-
listen.
An diesem Abend Hndet die Urauffiihrung der ersten Mi-
litar-Groteske der Ufa statt, betitelt „Die Schlacht von Bade-
mundV\
9/ September: Um der Ufa keine Handhabe zu geberi, wei-
terhin gegen mich vorzugehen, schreibe ich eine besonders ab-
gewogene Kritik, die sich in ihrem Hauptteil darauf beschrankt,
den Inhalt der „Schlacht von Bademunde'* wiederzugeben, ohne
darin die Ufa zu erwahnen, Der SchluBabsatz lautete wortlich:
f,Man konnte vielleicht glauben, ein Film mit dies em Inhalt sei
von irgendeiner auslandischen Firma hergestellt, mit dem
Zwecke, das deutscke Ansehen im Ausland zu schadigen, Der
Name der Produktionsfirma lautet jedoch: Ufa/* Darunter
mein Signum, SchluB.
Einem Kollegen in der Redaktion, der sich privat die Ur-
auffiihrung „Die Schlacht von Bademiinde" angesehen hat, zeige
ich den Abzug meiner Kritik. Er meint, meine Kritik sei in
diesem Falle zu maBvoll, dieses Machwerk sei ein unglaublicher
Skandal, und es sei Auigabe des Filmkritikers ernes nicht
rechts gerichteten Blattes wie der ,Vossischen Zeitung', diesen
Skandal auch einen Skandal zu nennen.
An diesem Tage hatte ich auf der Redaktion Nachtdienst,
der um zwolf Uhr beginnt und um zwei Uhr endet. Von einer
bosen Vorahnung beunruhigt, fahre ich bereits tun elf Uhr ins
Bureau, um den Umbruch der Morgenzeitung noch mitzu-
machen. Der Umbruchredakteur des lokalen Teils will grade
meine Kritik umbrechen lassen. Ich sehe sie mir an und stelle
fest, daB der letzte Absatz; vollig weggestrichen 1st, die Kritik
also lediglich die bloBe Inhaltsangabe enthalt, ohne daB man
daraus auch nur erfahrt, daB es sich um einen Ufafilm han-
delt. Mein Signum war geblieben, Auf meinen Protest erklart
sich der Umbruchredakteur bereit, die vollig verstummelte Kri-
tik zuriickzustellen. Ich verspreche ihm, am nachsten Vormit-
tag sofort mit der Chefredaktion dariiber zusprechen.
Um es noch einmal festzuhalten: Ware ich nicht vorzeitig
in die Setzerei gekommen, so hatte in der Morgenausgabe vom
10. September meine Kritik liber die ,tSchlacht von Bade-
munde" gestanden, aus der der Leser lediglich den Inhalt, nicht
aber die Herkunft des Films und die kritische Stellung des hier-
iiir verantwortlich Zeichnenden erfahren hatte.
10. September: Dreistiindige, sehr stiirmische Auseinander-
setzung in der Redaktion mit Herrn Goetz, dem Leiter des un-
politischen Teils, und Herrn Elbau, dem stellvertretenden Chef-
redakteur der ,Vossischen Zeitung*. Hier der Extrakt:
Zunachst erklart Herr Goetz, er habe den letzten Absatz
der Kritik gestrichen, weil er Beleidigungen gegen die Ufa ent-
halte, Herr Elbau schlieBt sich nach Priifung dieser Ansicht an
und bleibt auch dabei, nachdem der verantwortliche Redakteur
erklart, daB er die beanstandete Stelle fiir zulassig und nicht
zu weit gehend halte und sie verantworten wiirde. Als ich
erklare, daB ich unverziiglich alle Konsequenzen Ziehen wiirde,
falls die verstummelte Kritik in ihrer vollig sinnentstellenden
Weise ins Blatt kame, nennt mich der stellvertretende Chef-
480
redakteur zunachst einen: unverschamten Erpre&scr, der sofort
«ein Zimmer und das Ullstein-Haus zu verlasscn habe, urn
dann, als ich fest bleibe, mir cine Anderung des letzten Ab-
satzes vorzusehlagen. Um in dieser fur mich entscheidenden
Angeiegenbeit bis zum auBersten korrekt zu bleiben, erklare
ich mich zu einer Anderutog in der Form bereit, die aber die
scharf ablehnende Stcllung gegen das Machwerk deutlich dem
Leser vor Augen ruhrt, :
Dariiit ist die Angelegenheit aber nicht aus der Welt ge-
schafft. Ich frage Herrn Goetz, warum er mich nicht, wie es
seine Pflicht gewesen ware, vorher von seinen Bedenken be-
nachrichtigt habe. Herr Goetz gibl zu, noch nicht einmal den
Versuch gemacht zu haben, mich zu benachrichtigen, obwohl
ich nur zwei Zimmer von ihm entfernt den ganzen Nachmittag
im Bureau und dann zu Haus zu erreichen war, Er erklart dann
weiter wortlich:
„Es ist mir ganz gleichgiiltig, ob Sie nach Ihrem Vertrag
erster Filmkritiker sind oder nicht. Ich bin jedenfalls als Leiter
des unpblitischen Teils auch Leiter des Filmteils und kann und
wcrde auch kunftig so verfahf en wie in diesem Falle, das heiBt
Kritiken andern, so wie ich es fur richtig halte, wobei ich nicht
notig habe, mich iiberhaupt mit Ihnen in Verbindung zu setzen.
Es kommt nur das ins Blatt, was ich will. Der Verlag steht
hihter mir."
Ich frage den Chefredakteur Elbau, ob er diese Meinung
teile. Nach den verschiedensten Ablenkungsversuchen, in
d'enen er mich beschimpft, dafl ich die Autoritat der Chef-
redaktion untergrabe, stellt er sich auf den Standpunkt des Lei-
ters des unpolitischen Teils.
Ich antworte, daB ich keinerlei Autoritat untergrabe, son-
dern mich nur gegen die Ufa zur Wehr setze. Da der Leiter
des lokalen Teils grade in einem Augenblick meine Ufakriti-
ken ohne mein Wissen und Willen zensiere, wo die Ufa gegen
mich Sturm laufe, so hatte ich die Berechtigung, miBtrauisch zu
werden. Wenn ich im politischen Teil der Zeitung erklaren
diirfe, daB Amerika mit Recht in deutschen Militar-Lustspielen
eine Schadigung des deutschen Ansehens sehe, so sei es doch
unfaBbar, dafi ich bei dem Ulafilm, der mindestens so schlecht
sei wie MDrei Tage Mittelarrest", diese Feststellung nicht treffen
diirf e. Ich bitte Herrn' Elbau mir zu sagen, ob auch auf ihn, den
Chefredakteur des Blattes, von der Ufa ein Druck ausgeiibt
worden sei. Nach langem Zogern erklart Herr Elbau, daB ihm
der von friiher her gut bekannte Leiter der Pressestelle der
Ufa, Herr Pfeiffer, vor einigen Wochen einen Beschw erdebrief
iiber mich geschickt habe. Er! kann sich jedoch nicht mehr er-
innern, ob er diesen Brief dem Verlag Ullstein gezeigt habe,
und was er Herrn Pfeiffer geantwortet habe. Das sei doch aber
alles ganz unwichtig.
„Es handelt sich doch nicht allein um den Wortlaut dieser
einen Kritik'*, antworte ich, „es handelt sich auch gar nicht um
die politische Richtung der ,Vossischen Zeitung', sondern es
geht allein darum: die Ufa versucht mit den infamsten Mitteln
des Inseratenentzuges und unkontrollierbarer Beschwertien die
481
verschiedensten Inst an z en des Verlages und der Redaktion ge-
gcri den Filmkritiker aufzuhetzen. Statt daB sich die Chefredak-
tion hinter den bedrohten Kollegen stellt, erklart sie alle Be-
einflussungen durch die Ufa fur lacherlich, zufallig oder uber-
triehen. Und warum sperrt denn immer nur die Ufa Inserate
und warum haben bisher immer nur meine Ufakritiken der
Chefredaktion zu Korrektureri und Bedenken AnI'aB gegeben?
Das sind doch alles keine Ztifalligkeiten."
,«Ach reden Sie doch nicht so viel, Ihr polemischer Ton
verargert die Ufa und auch den Verlag, man kann doch auch
verbindlicher sein. Sie miissen der allgemeinen politischen und
wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen, wie es die Voss
tut, Es ist eben untragbar, daB Sie immer noch gewisse Tenden-
zen in Ihren Kritiken bekampfen, mit denen wir heute rechnen
miissen."
,,Ich stelle also fest: man darf im Hause Ullstein nur so
lange ,freie* Kritiken schreiben, wie es der Ufa gefallt, Oben
in der Politik darf Herr Hugenberg als politischer Gegner bei
jeder; Gelegenheit angegriffen werden — fur den Filmteil aber
ist er der gute Geschaitsfreund des Hauses, also tabu* Unter
diesen emporendenUmstanden sehe ich mich gezwungen, meine
Arbeit sofort niederzulegen, vorausgesetzt, daB auch der Ver-
lag, den ich sofort fragen werde, den Standpunkt der Chef-
redaktion teilt."
Der Vertreter des Verlages kundigt mir meinen Vertrag,
der bis zum 31.Dezember Giiltigkeit hat. Ich antworte, dafi
diese Kiindigung ihren Sinn verloren hat, da ich bereits meine
Arbeit niedergelegt habe. Und ich wiirde sie auch nicht wieder
auf nehmen , sondern sofort ausscheiden, falls der Verlag die An-
sicht der Chefredaktion uber die Unfreiheit der Kritik billige.
Der Vertreter des Verlages stellt sich hinter die Ausfiihrungen
des Leiters des unpolitischen Teils und des Chefredakteurs.
Daraufhin scheide ich am 10. September mittags zwei Uhr aus
diem Verlag Ullstein aus.
Am 12. September berichtet die ,Welt am Abend' unter
der Uberschrift „Skandal bei Ullstein" von meinem Ausschei-
den und erhebt den Vorwurf, daB „das demokratische Haus
Ullstein mit der Hugenbergschen Ufa in einem geschaitlichen
Liebesverhaltnis stent". Diese Behauptung ist bis heute weder
vom Verlag Ullstein noch von der Ufa berichtigt oder demen-
tiert worden, Dafiir war am Mittwoch, dem 16. September, in
der dem Ullsteinverlag gehorenden ,B.-Z. am Mittag' Folgendes
zu lesen:
Ludwig Klitzsch, der Generaldirektor der Ufa, feiert heute seinen
50. Geburtstag. Als Hugenberg 1927 die Ufa tibernahm, setzte er
seinen Verlagsdirektor in die Leitung des groftten deutschen Film-
unternehmens, das unter der Aegide des gewiegten Zeitungsfachmanns
zu dem bestfundierten und bestorganisierten Filmunternehmen Euro-
pas wurde. Klitzsch gelang es auch, dem Ufa-Film Eingang in die
Kinds der Vereinigten Staaten zu verschaf f en.
Und in der Sonnta^sausgabe der .Vossischen Zeitung' vom
20. September war nach drei Wochen zum ersten Mai wieder
ein Inserat der Ufa zu seheri, das den Film „Bomben auf Monte
Carlo" pries.
482
Sigilla Veil von Ignaz Wrobel
Aus dem Antisemitismus kann erst etwas richtiges
werden, wenn ihn ein Jude in die Hand nimmt.
Roda Rod a
Co um'die zchnte Abendstunde, wenn die Luft in den Knei-
pen schon etwas dick geworden ist tind der Alkohol die
Gehirntatigkeit verlangsamt hat; urn die zehnte Abendstunde*
wenn die Stammtischrunden der alten Majore, der Tierarzte,
Studienrate und Bergassessoren in mystischer Gelahmtheit
dumpf hinter ihren Glasern hocken — ; da bririgt der deutsche
Mann das Gesprach gern auf die Juden,
Schwer setzt der aufrechte Tfinker sein Glas vor sich hin,
wischt sich den Bart, putzt den Kneifer und spricht: ,,Daran
sind meines Erachtens nach nur die Juden schuld!" — „Wahr(
wahr . . " murmelt es um den Jisch, und audi Frieda, die
Kellnerin, und Heinrich, der Herr Ober, nicken, Und der Ober-
bergrat fahrt fort: „Meine Herren, schon im Jahre 1677*..'*
Woher weiB er das — ?
Es gibt erne Stammtisch-Wissenschaft,- die gilt nur von
abends um hafb neun bis um dreiviertel zwolf. Am Tage haben
die Leute alles vergessen: Daten, Namen, Biichertitel und den
Rest. Aber eines ist ihnen geblieben: das BewuBtsein, daB die
Juden schuld sind.
Nun aber ist, um diesen Wissensliicken abzuhelfen, gegen
die Radfahrer endlich das grofie und schone Werk erschienen,
dessen wir so lange entraten haben:
Sigilla Veri
(Ph, Staufs Semi-Kiirschner)
Lexikon der Juden, -Genossen und -Gegner aller Zeiten und
Zonen, insbesondere Deutschlands, der Lehren, Ge-
brauche, Kunstgriffe und Statistikeh der Juden sowie
ihrer Gaunersprache, Trugnamen, Geheimbunde etcetera.
Unter Mitwirkung gelehrter Manner und Frauen aller in Be-
tracht kommenden Lander im Auftrage der „Weltliga
gegen die Luge" in Verbindung mit der ..Alliance chre-
tienne arienne"
U. Bodung-Verlag.
Das hat mir schon lange gefehlt. Denken Sie doch nur — !
Was die Kunstgriffe der Juden angeht, so benotige ich
deren Kenntnis wie das Hebe Brot — das wilde Volk der Ver-
leger und der Filmleute macht unsereinem das Leben nicht
leicht. Und die Gaunersprache? ..Requisition ' statt Dieb-
stahl? — Und die Trugnamen? „Lindstr6mM? — Und die
Geheimbunde? Es muB sehr interessant sein
Doch ist es nicht ganz leicht, das Buch zu erhaiten. Ich
habe bisher nur den Prospekt mit den Probeseiten bekommen.
Bedingungen, gleichzeitig Bestellschein:
2. Ich bin nicht jiidischer Herkunft und mit Juden weder
versippt noch verschwagert.
483
4. Ich erklare ehrenwortlich, daB ich nicht von dritter Seite
aus als Kaufer-Strohmann vorgeschoben bin*
5. Ich vcrpflichte mich
c) alle Stellen, in denen eine Beleidigung gefunden oder
gesucht werden konnte, demVerlage zwecks Ausmer-
zung mitzuteilen. Dcr Verlag lcgtWcrt darauf, sach-
lichc wissenschaftliche Auf klarung zu bringen ...
Die sieht so aus:
Carbe, geb. Cohn, Dr., Gerichtsassessor, Neffe dcs Dr.
h. c, Ru. Mosse, Erbe dcs ,B. 17 Berlin- Ihm wurde das
populare Gedicht „Haben Sie nicht den kleinen Cohn ge-
sehn?" auf den Leib geschrieben, er erhielt dann 1917
vom preufi. Min. des Innern durch den guten Freurid des
Hauses Mosse, Ministerialdirektor Freund, den neuen
Namen; Carbe.
Wenn ich den Verlag darauf aufmerksam machen darf: in
diesera Abschnitt sind zwei Unrichtigkeiten enthalten, aber die
mufi er sich schon allein heraussuchen. Gegen ein Freiexem-
plar des Werkes bin ich bereit, ihm zu sagen, wer in Wahrheit
der kleine Cohn gewesen ist. Herr Carbe war es nicht. Goeb^
be is auch nicht.
Ein Frei-Exemplar? Der Verlag wird sich hiiten; so hoch
bemiBt er den Wert dieser Mitteilung nicht. Denn sein Werk
ist teuer, so teuer, als ware es echt jiidisches Produkt. Das
sechsbandige Lexikon kostet im Buchhandel pro Band 70 RM.;
der Subskriptionspreis ist, je nach der Zahlungsweise, 50 RM.
pro Band, oder 46 RM., bis herunter zu 35 RM., heiBt ein Ge-
schaft
Die Probeseiten des Prospekts haben es in sich.
Einstein zum Beispiel, dem ein eignes Kapitel gewidmet
ist,. hat ebenso wie Soldner den Faktor 2 vergessen; da
staunen Sie. Was das heiBt? Ich habe keine Ahnung, der Le-
ser aber auch nicht; es ist die typische Stammtischwissenschaft,
aus Zeitungsausschnitten zusammengesetzt, aus Biichern hervor-
gekramte Details, und auf alle Falle — Ober, noch ein Halbes!
— hat der Einstein mal Unrecht.
Ober Magnus Hirschfeld: „Wenn man nun erwagt, dafi das
Laster in dem stark mischrassigen, von Abkommlingen spa-
nischer Juden formlich wimmelnden Holland von jeher ver-
breitet war, und daB dort Personen jeden Standes und Alters
gewohnheitsmaBig die gemeinsten Ausdriicke im Munde fiihren,
so ist dem Hollander durch die Propaganda des Wissenschaft-
lich-Humanitaren Comites die Moglichkeit gegeben, das
orientalische Laster in seinem Lande ,wissenschaitlich gestiitzt'
auf tdeutsche' Einfliisse zur Schadigung des deutschen An-
sehens zuriickzufiihren, urn dadurch zngleich die Juden und
Mischlinge, die es doch in den arischen Landern verbreitet
haben, zu entlasten."
Uber Knigge, der gesagt hat, dafi es weder fiir den Denker
noch fiir den Menschenfreund einen Unterschied zwischen Ju-
den und Christen gibt, welches Diktum offenbar aus dem Zu-
sammenhang gerissen ist: ,, Dieser Satz ist vollig frei aus dem
Handgelenk geschuttelt".
484
Zwei voile Probeseiten iiber den „Kulturbolschewismus"
— das ist bekanntlich alles, was einem nicht pafit, wie ja denn
der Antisemitismus dcr Sozialismus der Dummen ist.
Schone Probcseitc uber Kutisker, Iwan — die liber den
Pastor Craemer und den Devaheim-Skandal ist offenbar noch
nicht fertig. i
Kurz: Stammtisch.
Antisemitismus . . . Herrschaften, warum engagiert ihr nicht
mich! Fur 67,50 Mark monatlich und freie Pension mit zwei-
maligem sonntaglichem Ausgang liefere ich euch uber die Ju-
den «in Material, das wenigstens echt ist — ihr kennt sie nicht
einmaL
Immer wieder erschiitternd ist die partielle Gehirnlahmung
bei den Deutschen: iiberall da eine Verschworung zu wittern,
wo sie mit ihr em Wesen auf irgendeinen Widerstand stoBen,
Willy Haas hat ftir den Fall Ludendorff das stark theologische
Moment dieses Hergangs aufgezeigt; man lese das in seinen
„GestaIten der Zeit" nach. Sie stellen sich wirklich die Welt
vor, wie sie in den Kinderfibeln gemalt wurde: unten im Keller
sitzen spitzmiitzige Juden und kochen, finstere Gebete mur-
melnd, eine herrliche Dynamitsuppe gegen die Gojim. Ihr ah-
nungslosen Esel!
Warum packt ihr den Juden nicht da, wo er wirklich zu
fassen ist! In seiner engen Ichbezogenheit; in seiner ewigen
Empfindlichkeit, die ihn aufschreien laBt, wenn ihm einmal
einer die Wahrheit sagt; in seinem Aberglauben, welcher an-
nimmt, der, der schneller denke, sei kliiger als der, der Lang-
sam denke; in seiner wahnwitzigen Eitelkeit, die besonders fur
Deutfichlands Fluren 'die jiidische Klugheit nur aus einem
Grunde hat statuieren konnen: weil die andern meist noch
dummer sind. An der Levante oder gegeniiber den Schotten
hat der Jude nichts zu melden — die stecken ihn alle Tage
in den Sack des Handels. Ach, ihr ahnungslosen Esel! Welch
ein jammervoller Antisemitismus ist das! Es gibt bei euch
noch eine andre Sorte; das sind die Mischtiker aus den Be-
zirken urn Hielscher, die im Neb el ihr en Pfad suchen, ihn
aber bis heute noch nicht gefunden haben. Denen kann man
freilich nicht beikommen — sie uberschtitten dich mit Vo-
kabeln, die sie zu diesem Behuf erfunden haben, und mit dem
Judentum hat auch dies nichts zu tun. Die meisten Anti-
semiten sag en viel mehr iiber sich selber aus als liber ihren
Gegner, den sie nicht kennen.
Ware ich Antisemit — ; ich schamte mich soldier Bundes-
genossen.
Die RUSSen Spielen von Rudolf Arnheim
JVflan hat das dilettantische Zeittheater, diese Inflation des
Ungeistes, ohne Geprange zu Grabe befordert. Aus Lam-
pels prugelnden-Schupos und Fiirsorgezoglingen sind teils wohl-
bezahlte Liebhaber, teils hochherrschaftiiche Livreekomparsen,
teils Stammkunden der Stellennachweise geworden, Wilhelm
der Zweite hat nun auch seine Biihnenlaufbahn beendet und
ist endgiiltig abgeschminkt, der Dormer explodierender Grana-
485
ten, der die Kehlen der TonfiLmlautsprecher aufrauhte, ist dent
zierlichcn Gesumm der Comedian Harmonists und den haus-
gemachten Liebeswalzern der Schlagerkomponisten gewichen,
aus rauhem Feldlarm wurden muntre Feste, aus furchtbarn
Marschen holde Tanzmusiken. Der grimme Krieg hat seine
Stirn entrunzelt, und statt geharnischte Rosse zu besteigen,
um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken, hiipft er behend
in einer Dame Zimmer nach iippigem Gefailen einer Laute. In
den teuren Theaterchen des berliner Westens verwechseln
unbeschaftigte Eheleute das Baumelein und tummeln sich ver-
liebte Landmadchen, und selbst in den Chansontexten der lite-
rarischen Revuen hat das Chasseurhutchen den Pazif ismus ver-
drangt. Welche Stiicke fiillen die Herzen mit Jubel, die Kas-
sen mit Geld? Die groBe unzeitgemafie, iiberzeitliche Kunst,
Schillers „Kabale und Liebe*', die klassische Operette, Offen-
bachs „Schone Helena", und im Kino Lubitschs ,tLachelnder
Leutnant", ein Kapitel wiener Rokoko, grazios und obszon wie
franzosische Kupferstiche, die fast geniale Spitzenleistung einer
bezaubernden, tandelnden Luxuskunst. Mit nachsichtiger Hei-
terkeit belacht das Publikum Schiebungen, Schwindel und
Luftgeschafte in Kurt Gerrons „Meine Frau — die Hochstap-
lerin'1; die Luft ist mit borsianischen Epigrammen geschwan-
gert, Pleite mit Refraingesang, Hochstapelei als charmante
Handarbeit fiir schone Frauenhande, zehntausend Paar Wiirst-
chen und die eheliche Treue werden in derselben Valuta ge-
handelt- Hier lockt der Geist der Zeit. Wahrend die Gruppe
junger Schauspieler ihre AuHiihrungen des Sowjetstiicks
,,Avantgarde" von Kataje^v nach acht Tagen abbrechen muBf
weil dabei die Pachtsumme fiir das Theater nicht zu verdie-
nen ist,
Sehr seltsam wirken die frisch eingefuhrten Filme und
Theaterstiicke der Sowjet-Union in einer Stadt, in der der
Ernst des Lebens von den Biihnen abgetreten ist und nur noch
in Kassenabrechnungen und Gagenverhandlungen seine tristen
Rollen spielt. Den Luxus, Not auf dem Theater zu sehen, will
man sich hierzuland'e nicht mehr gestatten. Und so bringen die
russischen Stiicke, die von den Kampfen der Wirklichkeit be-
richten, einen MiBklang in den Frohsinn unsrer tragen Konkurs-
massen.
Dsiga Wertoff arbeitet in seinem Tonfilm MEnthusias-
mus" nach denselben Prinzipien fort, die wir aus seinen stum-
men Filmen kennen, Wieder verzichtet er auf gestellte Auf-
nahmen und damit auf Spielhandlung. Mit Montage allein soli
die Gestaltung bestritten werden, und durch diese ziemlich
kunstliche, theoretisch ausgedachte Beschrankung entsteht eine
Oberlastung des Schnitts, ein nur locker zusammengehaltenes
Bildgeflimmertkdas die Nerven der Zuschauer stark beansprucht*
Nicht ohne Gegengabe beansprucht, denn dieser anstrengende
Hymnus auf die Arbeitsfreude vermittelt uns mit urigewohn-
licher Kraft das Lebensgefiihl des Sowjetmenschen, Zum ersten
Mai empfindet man, daB das deutliche Manko einer solchen
Filmvorfiihrung nicht auf der Leinwand, sohdern im Zuschauer-
raum zu suchen ist, in diesem Parkett fremder, bestenfalls
sympathisierend'er Menschen, die gekommen sind, ein Kunst-
486
werk zu sehen. So wie die Monotonie eines Arbeitsliedcs fiir
die Arbeitenden selbst sinnvoll und hilfreich, fiir den zuhoren-
den Musikfreund aber auf die Dauer qualend und langweilig
ist, so braucht die besessene, gleichformige Raserei eines sol-
chen Films die Resonanz von Zuschauern, die ihre eigne Ta-
gesarbeit, ihre realsten Plane und Sehnsiichte hier zu einer
Symphonie gestaitet finden. Wertoff sagte mir neulich im Ge-
sprach,' daB ihm als Ideal eine Art plastischer Film vorschwebe«
der nicht mehr in der flachen Projektionswand lokalisiert sei,
sondern dessen Figuren ins Publikum hineinzulaufen schienen
oder leibhaftig hineinliefen, Ein solcher Film wiirde uns. noch
schlechter vorbereitet finden, denn dieser Enthusiasmus hat
als Voraussetzung den tatigen Enthusiasmus der Zuschauer!
Wertoff besingt den Gedanken der Aufbauarbeit, aber er
versagt es sich, ihn in eine Geschichte zu kleiden, und so ist
er unvermeidlich auf eine begrenzte Zahl von Bildsymbolen an-
gewiesen, die allzu schnell erstarren: die stillstehende, die, lau-
fende, die rasende Maschine; die marschierenden, die ham-
mernden, die singenden Arbeiterbrigaden. Dralle Madchen-
gesichter im Kopftuch lacheln dem Gelingen des Fiinfjahres-
plans entgegen, und byzantinische Zwiebeltiirme versinnbild-
lichen den christlichen Zarismus. Photographisch sind diese
Bilder immer wieder neu, selten hat man so schone Aufnah-
men aus Bergwerken und Walzwerken gesehen, aber Sinn
und Gehalt sind, trotz .aller FKissigkeit der Kamerakunst, schon
jetzt erstarrt.
Sehr eindrucksvoll ist jedoch der anschauliche Beweis,
Vie sich in der Bewertung der Arbeit das Vorzeichen andert,
sobald nicht mehr in die Tasche der Unternehmer sondern fiir
den kommunistischen Staat gearbeitet wird. Dieselben Bilder,
mit denen man friiher das Elend der Ausgesaugten malte, be-
zeichnen nun den begeisterten Kampf um die Erde. Die Mo-
notonie des Arbeitsrhythmus ist nicht mehr entnervender
Stumpfsinn sondern Kraft; plotzlich entdeckt man, wie ahnlich
sie dem Marschtakt der revol-utionaren Kaihpflieder ist, und
so tauscht Wertoff die Motive aus, begleitet die schreitenden
Kolonnen durch das Stampf en der Maschinen und verkoppelt
mit dem optischen Schwungtanz der Raderund Kolben den Ge-
sang der Revolutionare. Bei Fritz Lang (MMetropolis") ver-
wandelte sich die Maschine in einen Moloch mit gliihendem
Rachen, bei den Russen wird sie Kamerad und Turngerat/ Und
wahrend Fritz Lang („Nibelungen") das stimmungsvolle Spiel
der einf allenden Sonnenstrahlen im Fabelwald der Siegfried-
sage zeigte, streichen bei Wertoff diese selben Sonnenstrahlen
zartlich durch die Fabrikraume, machen den Arbeitsplatz feier-
lich -und' schon wie eine Kirche. Der SchweiB in den Gesich-
tern der Fabrikarbeiter leuchtet plotzlich als Glanz, und die
weiBgliihenden Eisenstangen schmiicken das Walzwerk wie
Lichtgirlanden einen FestsaaL
Die Russen suchen nach einer dem Kollektivismus ad-
Squaten Kunstform, und in diesem Bemiihen beladen sie ihre
Werke mit einem etwas groflsprecherischen Wust theoretischer
Formulierungen. Sie sind Amateurbastler der Philosophic und
487
fur ihrcn naiven Stolz, ihrc prahlerische Umstandlichkeit wiiBte
ich kein besseres Bild als die hochst russischc Episode jenes
schrulligen Erfinders in ,,Avantgarde'\ der, um eine simple
Klingelleitung zu legen, eine Konstruktion rait Sprungfedern
und Gewichten ersinnt, Sehen wir nicht auf die Programme,
sondern auf die praktischen JLosungen, so zeigt sich, daB sich
der Kollektivismus bisher der Darstellung entzieht. Wertoff
verzichtet sehr radikal auf alles Individuelle, auch auf das
menschliche Individuum. Immer neue Schauplatze und Figu-
ren huschen in Momentaufnahmen voriiber, aber was sich aus
diesen Splittern, und seien sie noch so leuchtend, zusammen-
setzen lafit, bleibt ein in seiner Abstraktheit ziemlich unab-
wandelbares Gebilde.
Im Gegensatz dazu versuchen Valentin Katajew, in dem
Theaterstiick „Avantgarde'\ und Nikolai Ekk, in dem Film
„Der Weg ins Leben", den neuen Inhalt in den alt en drama-
tischen For men darzustellen. In Spielhandlungen wollen sie
die Schicksale von Gruppen schildern: eine landwirtschaftliche
Kommune, eine Horde verwahrloster Jungen, Aber die Hand-
lung kann nicht anders beginnen, als indem Sprecher, Fiihrer
sich aus der Gruppe losen. Und deren Drama, nicht das der
Gruppe, wird nun verhandelt. Grade weil die Masse, wah-
rend die Solisten ihr Spiel auffuhren, als rhabarbernder Chor
den Hintergrund fiillt, grade deshalb wirken diese Solisten
nicht als herausgegriffene Einzelmenschen sondern als Konige
klassischer Schlachtendramen, Man schenke sich diese Staf-
fage. Man glaube nicht, da8 im Drama Individuelles schon
notwendig Individualistisches sei. Der Konflikt des Einzelnen
mit der Gesellschaft, dieser natiirliche Stoff des Sowjetdramas,
laBt sich in einem Kammerspiel mit zwei Personen behandeln.
Katajew macht uns mit den Freuden und den Schmerzen
seiner Helden nicht sehr eindringlich vertraut — aber es fragt
sich, ob er das unterlaBt, weil er ein guter Bolschewist oder
weil er ein maBiger Dichter ist, Der Grundsatz, daB der echte
Mann nicht redet sondern handelt, hat fur das Drama keine
Gultigkeit. Bei Schiller spricht Tell minutenlang, ehe er den
Pfeil auf GeBler abschieBt. Bei Katajew schlagt ein MiBver-
gniigter dem Anfiihrer wortlos einen Ziegelstein auf den Kopf.
Bezeichnend auch, wie ungliicklich die Frauenrolle in das
Stuck eingerenkt ist. Dabei zeigen einige wirksam ans-
gedachte Einzelszenen, daB Katajew Theaterblut hat, Moge er
es sich nicht durch die Doktrinen der roten Professoren ver-
wassern lassen.
In MAvantgardeM wie im „Weg zum LebenM findet sich
das identische Motiv: der Fiihrer fallt, aber seine Aktion
triumphiert. Auf diese Weise soil offensichtlich gezeigt wer-
den, wie das Leben des Einzelnen sich im Leben der Gemein-
schaft auf lost, aber wiederum ubersehen die Verfasser, daB
ja hier nicht irgend ein Stuck Masse stirbt sondern die Fiihrer-
figur, ein Ausnahmemensch, ftir den man mit dramatischen Mit-
teln Anteil geweckt hat, Bei Ekk gibt der Tod des kleinen
Tatarenjungen Mustafa zugleich einen befriedigenden AbschluB
dieses Einzelschicksals, denn eine dramatische Wandlung vom
verbrecherischen Zerstorer zum Aufbaufanatiker hat sich voll-
488
zogen. Katajews ltGenos£e Vorsteher" hingegen ist ein Mann,
der infolge bedauerlicher Verzogerung einer Traktorenlieferung
einen Stein an den Kopf bekommt — eine Lokalnotiz, kein
Biihnenstoff.
Ekks „Weg zum Leben" fiihrt die Linie der groBen Rus-
senfilme weiter. Im erst en Teil zwar stort eine seltsame Un-
freiheit der Einstellungstechnik. Man sieht portrathafte GroB-
aufnahmen, die einen Katalog der Darst ell er aber k einen Bild-
ablauf ergeben, Der Kopf einer Tot en wird wie ein Obst-
stilleben dekorativ dargeboten. Und den ganzen Film hin-
durch stehen Zwischentitel als storende Eselsbriicken zwischen
Bild und Bild. Aber wie kraftvoli und eigenartig sind alle
diese Bilder. Mit welcher Unbefangenheit ist die Schonheit
im HaBlichen gesehen. Undwenn fur den still beobachtenden
Westeuropaer diese allzu tugendliche Erzahlung yon der Zivili-
sierung der verwahrlosten Kinder ein wenig an die erbaulichen
Bekehrungsgeschichten des .Kriegsrufs1 erinnern mag, so ver-
gesse man nicht, welcher schone Unterschied besteht zwischen
den verlogenen, gerissenen, narkotisierenden happy ends unsrer
Liebesgeschichten und der kindlichen Glaubigkeit, dem Will en
zum Guten, in den Bilderfibeln der Russen.
Hunger ist heilbar
Eine dentscbe Allegorie von Erich KSstner
P s kam ein Mann ins Krankenhaus
*-* und erklarte, ihm sei nicht wohl.
Da schnitten sie ihm den Blinddarm heraus
und wuschen den Mann mit Karbol.
Befragt, ob ihm besser sei, rief er; „Nein,"
Sie machten ihm aber Mut
und amputierten sein linkes Bein
und sagten: ,,Nun gehts Ihnen gut."
Der arme Mann hingegen litt
und fullte das Haus mit Geschrei.
Da machten sie ihm den Kaiserschnitt,
um nachzusehen, was denn sei.
Sie waren Meister in ihrem Fach
und schnitten ein ernstes Gesicht.
Er schwieg. Er war zum Schreien zu schwach,
Doch sterben tat er noch nicht.
Sein Blut wurde freilich langsam knapp.
Auch litt er an Atemnot.
Sie sagten ihm noch drei Rippen ab.
Dann war er endlich tot.
Der Chefarzt sah die Leiche an.
Da fragte ein Andrer, ein junger:
uWas fehlte denn dem armen Mann?"
Der Chefarzt schluchzte und murmelte dann:
.ilch glaube, er hatte nur Hunger."
489
Kabale und Liebe von Alfred poigar
C chillers Jugendstuck Hbt noch heute starkste Wirkung,
Das ist nicht seinem Inhalt zu dank en, sondern der Kraft,
mit der dieser geformt ist, nicht den Dingen, die im Drama
zur Sprache kommen, sondern der VeJiemenz dieser Sprache.
Die Personen des unverganglichen Spiels sind bis zum AuBer-
sten, was sie sind, das Gegensatzliche ihrer Art so gesteigert,
daB hier schon bloBes Nebeneinander Spannung ist, Funken
gibt. Was fur Blitze dann erst das Gegeneinander! SiiBes,
Bittres, Hochtracht oder Niedertracht fullen das Herz Schille-
rischer Menschen bis an den Rand: bei der leisesten Erschtit-
terung geht es liber, Und der Dichter, Meister im dramatischen
Schwergewicht, stoBt nicht leise. Von solcher Kunst radikaler
Gestaltung und Bewegung, vom grofien Gefiihl, das im groBen
Wort sich spiegelt, von der Verwurzelung des Werks im saf-
tigsten Erdreich der Buhne riihrt das Bleibende seiner Wir-
kung her. Kurz also davon, daB die Dichtung ein herrliches
Theaterstiick ist. Die revolutionise Flamme in ihm? Was
diese nahrte, ist langst aufgezehrt.
Wie dem auch sei: ,, Kabale und Liebe'* ist von keiner
Neuinszenierung umzubringen. Es widersteht jetzt, bei Rein-
hardt, brillant besetzt {man konnte auch sagen: mit Brillan-
ten besetzt), dem stilloscn Zusammenwirken schauspielerischer
Prominenzen und einer Regie, die manchen Darsteller so
lockert, daB er aus demLeim geht. Man spielt durcheinander
pathetisch, natiirlich, klassisch, modern, einfach, iiberlebens-
groB, auf verschiedenen Ebenen gewissermaBen, Dramatur-
gisches: die Szene Ferdinand-Kaib ist gestrichen. Dadurch
wird, abgesehen von der Zerstorung an den MaBen des Dra-
mas, die Figur des Hofmarschalls durchaus episodisch, und
Ferdinands Sturz in die Limonade qualend-plotzlich. Den
Brief gelesen * . . und schon? Das Gold, das Ferdinand,
letzter Akt, dem Musikus gibt und dessen Freudenrausch
dariiber (ein genialischer Einfall Schillers, in die Gloriole des
Biedermannes solchen Farbf ieck zu setzen) : gestrichen. Es
ist etwa so, als ob man dem Prinzen von'Homburg die To-
desfurcht striche.
Die Regieeinfalle sind als Regieeinfalie deutlichst erkenn-
bar. Sie zieren das Spiel wie kunstlich aufgesetztes Orna-
ment. So etwa, wenn der alte Miller wiederholt die Diago-
nale des Zimmers entlang tobt (das furiose Wandern ist die-
ses Millers Lust), die Millerin beharrlich parallel ihm nach,
wenn Wurm beim Briefdiktat die Stirne trocknet, dreimal*
(soil heiBen: auch der Bosewicht transpiriert bei so hohem
Grad der Bosheit), wenn er die Stuhllehne streichelt, wenn
Ferdinand das Zimmer durchmiBt, in gehauest abgestufter Ge-
schwindigkeit, sempre piu allegro, und so weiter. Oft wird dem
Zuschauer, als ob den vortref f lichen Schauspielern, die hier
am Werk waren, weniger Hilfe mehr geholfen hatte, Klopfer
als Vater Miller zum Beispiel, in der Anlage groBartig, nach
auBerem und innerem Format fiir die Rolie geschaffen, wie
wachst er in Reinhardis Zucht zum kochenden, schaumenden
490
Choleriker aus, d ess en Gliederwurf die ganze Biihnc fiillt.
Oder Frau Hoflich, Millerin, die in grotesk iiberhohter Ton-
lage die Worte versprudeln muB, unverstandlich wird, hiex-
durch so sehr neben das Spiel gerat, dafi man iiberhaupt
kaum bemerkt, sie sei da. Und ofogleich Klopfer sich in eine
richtige Priigelei mit den Gerichtsdienern einlafit, obgleich
einen von diesen Ferdinands Degen der Lange nach auf die
Bretter streckt, welche die Welt bedeuten: die SchluB-Szene
des zweiten Aktes (,,halten zu Gnaden") geriet wohl selten so
zerfahren, ungegliedert, ungesteigert, wie in dieser vielgeruhm-
te,n Neuinszenierung.
Die originellste Leistung des Abends: Herrn Grundgens'
Hofmarschall. Nicht der meckernde, zittrige Hanswurst, als
der er meist gespielt wird, sondern ein auBerst vifer Hofling,
der mit strahlendem Temperament albern ist. Umso bedauer-
licher, daB seine Szene mit Ferdinand fiel. Dieser ist Paul
Hartmann, nach wie vor den Adel von Schillers Gnaden wie
angebornen tragend, als konservierter Jungling dem Aug und
Ohr noch so wohlschmeckend, wie seinerzeit als frischer. An
diesem Mann von starker schauspielerischer ^Constitution ist
das Burgtheater, das ihn hat, spurlos vorxibergegangen. Prii-
sident Forster hochst seigneural, Wort und Geste kantig ge-
schliffen. Schurkerei und Wiirde sind bei ihm zweieinig, nicht
zu trennen, Er atntiert in einem herrlichen Prasidial-Salon
mit Ausblick auf mehrere Iautlose Diener. Lady Milford; ist
Frau Darvas, Fiinf Jahre spielte sie, immerzu, in Mondani-
tat und Schonheit eingefrorne Damen. Jetzt endlich darf
sie einmal auftauen, die natiirliche, warme Farbe ihres Ta-
lents bekennen, sich als die Schauspielerin von hohen Graden
zeigen, die sie ist. Ein paar gequalte Posen der Lady konn-
ten professoraler Herkunft sein. Die Begabung der jungen
Ursula Hoflich (Luise) kam zum Vorschein wie Teilcfien eines
Bildes auf halb entwickelter photographischer Platte. Der
Zuschauer war geriihrt, wobei er nicht sicher unterscheiden
konnte, ob mehr iiber das dargestellte oder mehr iiber da« dar-
stellende Madchen.
Zlir Gojdkrise von Edmond de Goncourt
4. Oktober 1890
D in Entwurf fur >eine phantastische Erzahlung a la Poe. Man
hat ausgerechnet, daB seit der Verwendung von Gold-
plomben fiir die Zahne, die in den Vereinigten Staaten gang und
gabe ist, fur 750 Millionen Gold in den Kirchhofen steckt. Neh-
men wir einmal an, daB nach vielen Jahren, wenn die Millionen
sich in Milliarden werden verwandelt haben, eine finanzielle
Krise eintritt; welche pietatlose Nachforschung nach diesem
Golde kann da die Ruhe der Toten storen.
Aus den Tagebuchern der Goncourts von Meinhart Maur
ausgegraben
491
Bemerkungen
Wer kampft fur uns?
\Y/ir wissen es ja nun allmah-
" lich, daB kcin Geld da ist,
urn Waren zu kaufen, und daB
deswegen weniger produziert
wird. Und well weniger produ-
zicrt wird, miissen Arbeiter ent-
lassen, Beamte abgebaut, Lohne
und Gehalter reduziert, Arbeits-
zeiten verkiirzt werden.
Gut, oder vielmehr schlecht:
Arbeiter und Angestellte werden
entlassen, bekommen Erwerbs-
losenunterstiitzung, werden Wohl-
fahrtserwerbslose, erhalten Kri-
sengelder, Viel ist es nicht, aber
man gibt es ihnen doch wenig-
stens eine Zeit lang. Wenn Ta-
rifvertrage gekundigt, Stunden-
lohne heruntetrgesetzt werden,
dann tun -sich die Arbeitgeber
mit den Vertretern der Arbeit-
nehmer zusammen und beraten;
Handelskammern, Ministerien,
Arbeitsgerichte, Gewerkschaften,
Schlichter — ein ganzes Heer
staatlicher und privater Instan-
zen wird bermiht, um eine Ent-
lassung zu verhindern, ein An-
gebot durchzudriicken, einen
Stieik zu vermeiden. Eingeweihte
behaupten zwar, das alles sei
eine Farce, in Wirklichkeit „dik-
tiere das Kapital" oder Mder Un-
ternehmer", Ich bin kein Na-
tionalokonom, ich kann daruber
nicht urteilen. Das aber sehe
ich : daB wenigstens noch der
Schein gewahrt und dadurchhier
und da Zeit gewonnen und doch
dies oder jenes Faktisch-Prak-
tische erreicht wird.
Und nun ist wieder einmal der
Augenblick da, in dem gesagt
werden muB, daB der sogenannte
freie Geistesarbeiter keines der
Rechte besitzt, die fur den Hand-
arbeiter selbstverstandlich sind,
mogen sie nun Schein oderWirkr
lichkeit bedeuten. Der freie, das
heiBt der nichtbeamtete und
nichtangestellte. Ich nehme Arzte
undAnwalte aus, dieersten, weil
sie doch meist irgend einen festen
Punkt — Krankenhaus, Kassen-
praxis — haben, und beide zu-
sammen, weil ihre Standes-
vertretungen immerhin eine ge-
492
wisse offiziose Macht darstel-
len. Ich begniige mich da-
mit, meam rem zu agieren, die .
des Schriftstellers, dessen Frei-
heit zur starksten aller wirt-
schaftlichen Knebelungen gefiihrt
hat. (Die Lage der Maler und
Illustrator en diirfte entsprechend
sein.)
Wenn heute der freie Schrift-
steller einen flammenden Artikel
tiber das Elend des Proletariats
und die Ungerechtigkeit der Ta-
. rifvertrage geschrieben hat und
drei Tage nach Erscheinen sein
Honorar abholt, so wird er
plotzlich mit Erstaunen bemer-
ken, daB dies sein Honorar um
20 Prozent gekurzt ist, und wenn
er noch so naiv ist, nach Grun-
den zu fragen, so wird er die
stereotype Antwort erhalten: der
Verlag hat so verfugt. Wohl ihm,
wenn die Kurzung nur 20 Pro-
zent betragt und wenn es bei
diesen 20 Prozent bleibt; es gibt
hauptstadtische erste Zeitungen,
bei denen sie bereits bis zu
50 Prozent gestiegen ist. Der
Schriftsteller macht noch ancfre
Erfahrungen: er hat ein Feuille-
ton geschrieben, es ist angenom-
men worden, es ist nicht erschie-
nen. Nach drei Monaten erfahrt
er, daB „der Verlag alle Extra-
zuschlage gestrichen" habe, und
daB er froh sein muB, seine Ar-
beit uberhaupt abgenommen zu
kriegen, zum neuen, reduzierten
Zeilenpreis. Sehr froh; denn es
gibt fiihrende deutsche Zeitungs-
verleger, die tiber ihre Blatter
Manuskriptsperre verhangen; von
heute an ad calendas graecas wer-
den nur die vorhandenen Vor-
rate aufgearbeitet. An und ftir
sich konnte das ein Segen sein;
aber es geschieht nicht um der
wartenden Mitarbeiter willen,
sondern ftir die Kasse, und der
Zusatz lautet: was fehlt, witrd
„im Hause gemacht".
Im Hause gemacht. Das be-
deutet, daB der geplagte Redak-
teur, der wirtschaftlich iiber-
haupt nichts mehr mitzureden
hat und nicht einmal mehr Ho-
norare anweisen darf, sich hin-
setzt und sich die Artikcl aller
Ressorts aus dem Hirn zieht.
Meist stcht in seinem Vertrag
eine Verpflichtung auf so und so
viele Beitrage im Monat und eine
Garantie auf so und so viele
Extrazeilen, die niedriger hono-
riert werden als die Beitrage der
freien Mitarbeiter, vor denen der
Redakteur j a den grofien Vor-
teil des f esten Monatsgehaltes
voraushat, Jetzt wird peinlich
darauf geachtet, dafi seine Extra -
zeilenzahl auch eingehalten wird,
und es werden Drehs gefunden,
die Spalien mit Beitragen zu fiil-
len, die man noch vom Redak-
teur heraus- und in seinen Ver-
trag hineinpressen kann. Gleich-
zeitig reduziert man das Zeilen-
honorar der freien Mitarbeiter
parallel mit der ganzen Moglich-
keit ihrer Mitarbeiterschaft; es
ist bezeichnend, dafi man bei
ihnen mit der Reduktion ange-
fangen hat — vermutlich zum
freundlichen Ausgleich dafur,
dafi sie ohnehin kein Monats-
fixum haben, keine Sicherheit,
A propos Honorarkiirzung: auch
der Rundfunk stofit da ins gleiche
mifitdnende Mikrophon, ohne dafi
auch das scharfste ' Okular in
diesem Fall irgend einen Grund
dafur zu finden vermochte.
Um diese Dinge aber kummert
sich niemahd. will sich niemand
ktimmern. Es gibt den Schutz-
verband Deutscher Schriftsteller
und den Reichsverband derDeut-
schen Presse, zwei Institutionen,
die sich als Gewerkschaften be-
trachten, als Arbeitnehmerorga-
nisationen. Wenn also beispiels-
weise Verlag X das Zeilenhono-
rar fiir freie Mitarbeiter von
dreifiig auf zwanzig Pfennige
heruntersetzt, mufi er doch wohl
vorher mit den genannten Organi-
sationen Fuhlung nehmen? Es ist
das Naturlichste von - der Welt,
aber hat das schon mal einer ge-
hort ? Das grenzenlose Staunen,
dem ein solcher Vorschlag begeg-
net, ist das beste Zeichen fiir die
Verfahrenheit der ganzen Si-
tuation.
Weitere Frage: wieso gibt es
keine Arbeitslosenunterstiitzung
fiir Schriftsteller? Eine illustrierte
Zeitung berichtete dieser Tage
von einem Rollkutscher, der ein-
mal in einem Film als Edelkom-
parse fiir eine spezielle Type ge-
braucht wurde und seitdem als
stellungsloser Schauspieler Un-
terstiitzung bezieht. Aber ein
Schriftsteller, der seit Jahren
vom Schreiben lebt und jetzt nur
noch ein Viertel seiner Produk-
tion absetzen kann, da seine Blat-
ter eingegangen sind oder alles
„im Hause machen" — dieser Ge-
legenheitsarbeiter hat kein An-
recht auf Untersttitzung* Zuge-
geben, dafi unsre Arbeit schwer
zu definieren und zu kartell ie-
ren ist; aber die vorstehend an-
gedeuteten Selbstverstandlich-
keiten miifiten sich durchfuhren
lassen, um mindestens doch den
Anschein des Rechtes zu wah-
ren. Recht hangt eng zusammen
mit Berechtigung, und freilich
bleibt immer wieder die Frage,
ob der Luxus der Kunst noch da-
herrscht Einstimmigkeit: iiber eine Abdulla-Cigarette geh* nichts!
— ...... o/M. u. Gold ...... StOdt $ Mg.
CoroMf m. Gold u. Stroh/M StDdc 4 Mg.
Nrg/ila Mr. 7 . ... o/M. ... ' Stadc • Wg.
Egyptian «r. f* . . , . «/M. tt. Gold . . ... Stadc f« Wg.
Abdulla - Cigoreffen geniefyen Weffruf t
Abdulta 4 Co. Kafre / London / Berlin
493
seinsberechtigt sei, Aber solange
stellungslose Schauspieler und
Musiker unterstutzt werden, so-
lange man aus unsern Einfallen
mit oder ohne Umgehung des
Rechtsweges Filme und Horspiele
macht und damit Geld verdient,
solange also noch irgend ein
Kiinstler, irgend einc Art Geistes-
arbeiter als dem Handarbeiter
gleichberechtigt anerkannt wird
-1- so lange gilt diese Gleich-
berechtigung auch fur uns, und
so lange fordern wir das Recht,
das sich daraus ergibt.
Hans Glenk
Kampf mit einem Prominenten
lUfan mochte nicht glauben, wie
"* schwer das ist.
Die nichttschechischc Offent-
lichkeit erfuhr zum ersten Mai
durch mich von der grandiosen
Figur Hascheks und seines
Schwej k, Mein Artikel erschien
in einigen Zeitungen, dann 1923
in me in em Essay buch „Steraen-
himmel", (Rasch mal eine Liste
meiner MEntdeckungenM anlegen:
Franz Kafka, Werfel, Janacek,
Torberg, Weinbergers „Schwanda,
der Dudelsackpfeifer" und jetzt
wieder die wundervoll phantasie-
reiche Humoroper Krickas MSpuk
im SchloB'\) Mit Hans Reimann
zusammen schrieb ich das Stuck,
Es wurde von Piscator entschei-
dend umgebaut, j edoch unter
meiner Teilnahme; in Berlin kam
kein Wort auf die Szene, das ich
nicht mitgeformt hatte, Dariiber
habe ich in der .Weltbuhne' sei-
nerzeit ausftihrlich berichtet Ge-
ruchte dringen zu mir, daB Pal-
lenberg in der Provinz das Stuck
ganz anders spielt, Vollig un-
revolutionar, albern, eine Anek-
dotenreihe, die nichts als den
Lacherfolg will. Eine lange Kor-
respondenz beginnt. Pallenbergs
Hauptinteresse; er wiinscht meine
halbe Tantieme zu schlucken, Ob-
wohl er Abend fur Abend 1000
Mark und mehr erhalt, mein An-
teil sich in der Grofienordnung
von 20 bis 50 Mark bewegt, ver-
langt ihn sehr heftigt zu seinen
1000 Mark noch 10 bis 25 Mark
allabendlich von mir hinzuzuero-
bern. WeiB man, daB die mei-
494
sten Stars solche und ahnliche
Anforderungen an die Autoren
stellen? Es sei hiermit der Of-
fentlichkeit bekanntgegeben. Als
ich diese Zumutung ablehnte, be-
gann Pallenbergs edler Zbrn ge-
gen mich.
Da wir schon von Honoraren
sprechen — : es besteht ein wei-
terer MiBstand darin, daB der
Star seine Gage jeden Abend aus
der Kasse erhalt, Meist zwischen
dem ersten und zweiten Akt, in
seiner Garderobe, sonst spielt er
nicht weiter. Mit dem Autor
dagegen (und in meinem Falle
auch mit den Erben Hascheks,
die ich an meiner Tantieme bis
zu zwei Dritteln beteiligt habe)
wird erst nach Wochen und Mo-
naten abgerechnet. Und dann -ist
oft infolge Pleite des Unterneh-
mers langst nichts mehr da. So
ging es mir meist mit Pallen-
berg,
Doch das alles kommt gegen-
(iber den nicht materiellen Scha-
digungen gar nicht in Betracht
Als ich ein Biihnenexempiar ver-
langte, nach dem Pallenberg
spielt, wurde mir prazise die Fas-
suntf Reimann-Brod gesandt, Nur
drei oder vier Satze waren ver-
andert. Da verstummte ich na-
turlich, lieB den Dingen ihren
Lauf. Und erfuhr spater, daB
Pallenberg einen ganz andern
Text, seinen, den verbal Ihornt en
Schwej'k spricht Mit solchen
Waffen zu kampfen, ist mir nicht
gegeben.
Durch ein Wunder, nein, durch
eine Ungeschicklichkeit der Tau-
schungsregie, kam Mitte August
1931, kurz vor dem prager Gast-
spiel, ein Exemplar des Pallen-
berg-Textes in meine Hand. Jetzt
verbot ich die Auffuhrung, Das
Geheul, das nun losbrach! Wie
man mit alien Mitteln mich um-
zustimmen suchte, unter anderm
durch den Hinweis auf die sozia-
Ien Schaden, die ich in dieser
schweren Zeit dem wiener En-
semble zufiigte, das in Prag ga-
stieren sollte. Und dariiber hin-
aus noch einem zweiten En-
semble, das zu derselben Zeit
das verlassene wiener Theater
beziehen sollte. Ich gab nach.
Es wurde schriftlich fixiert, dafi
in Prag nur mein Text ge-
sprochen werden sollte, (Die feh-
lenden Szenen sollten fiir Wien
nachstudiert werden.) Wurde
man nun nicht glauben, daB die-
selben sozialen Riicksichten, die
mich zum Einlenken bewogen,
auch fur den wackern (inzwi-
schen allerdings verstummten)
Bekampfer der Amstelbank Gel-
tung hatten? Keine Spur! Pal-
lenberg erklarte sofort, dafi er
sich an die Vereinbarung nicht
halten, daB er sprechen werde,
was er wolle. Fiir Berlin revo-
lutionare Tendenz — fiir die
Provinz harmloser Militar-
schwank — so wollte es der Pro-
minente und geschah es auch. In
dem, was er spielt, ist selbstver-
standlich immer noch zu vier
Fiinfteln das geistige Eigentum
von Reimann und mir enthalten.
Trotzdem behauptet Pallenberg,
es sei eigentlich alles von ihm.
Dies trifft aber nur fiir das funfte
Fiinftel zu, das die Figur leider
vollig verzeichnet und in dem
Scherze vorkommen wie der, dafi
Schwejk auf die Frage „Was
willst du in Budweis?" die don-
nerride Ant wort gibt: (,Die Stadt
vom Tyrannen befrein!" Der
tschechische Infanterist zitiert
Schiller; eine runde Gestalt. Im-
provisationen, sagt man begiiti-
gend, Ich wurde jede Improvi-
sation, die aus genialisch frohem
Obermut kommt, begriifien. Dum-
men Spafien, die sich jeden Abend
wiederholen, kann ich den Eh-
rentitel „ImprovisationV nicht zu-
erkennen.
Zum Zeichen des Protestes, dafi
sich ein Schauspieler derartige
Willkiirlichkeiten an der unsterb-
lichen Gestalt eines der grofiten
Humoristen aller Zeiten erlaubt,
wies ich fiir meine Person (Rei-
mann ist nicht mehr mit mir so-
lidarisch) die Tantiemen zuriick
und bestimmte sie fur die Arbeits-
losen. Die Wut, die sich nun
iiber mich ergofi, ist unbeschreib-
lich! Pallenberg „bestrafte" mich
mit vierzehn Tage Prefihetze. Und
dies der eigentliche Grund die-
ser Zeilen: es soil gesagt wer-
den, daB bei der Liebedienerei,
mit der immer ncch ein Teil der
Presse den Prominenten umwe-
delt, der gerechteste Kampf des
Autors ein arges Risiko bleibt.
Dabei sind die linksgerichteten
Blatter nicht um ein Haar bes-
ser als die Rechtspresse. Zu den
komischsten Beschuldigungen, die
Pallenberg gegen mich in Umlauf
setzte, gehort auch die, dafi der
Mifierfolg des prager Gastspiels
mit dem Arger zusammenhangt,
den ihm meine Proteste ver-
ursacht hatten. Aber warum
nicht die einfache Wahrheit ein-
gestehen: der tschechischen Of-
fentlichkeit gefiel Pallenbergs
Schwejk nicht, well er einen
Clown statt eines Menschen mit
den tiefen Weisheitsinstinkten der
friedfertigen Volksseele auf die
Szene stellt.
Max Brod
Courths-Mahfer rot
I m Internationalen Arbeiter-Verla^
* erscheint eine Reihe „Der Rote
1 Mark-Roman"; zwei davon:
Willi Bredels „RosenhofstraBe"
und Franz Kreys „Mana und der
Paragraph" demonstrieren wohl
am krassesten, was es mit dieser
DER SCHWARZE NAPOLEON
Toussaint Louverture und der Neger auf stand auf San Domingo
Von Karl Otten.
Broschiert RM 4-50, in Leinen peb. RM 6.50. ATLANTIS VERLAG, Berlin.
,Man kann dieses Buch lesen wie einen der glanzvo listen, hinreifiendsten,
Uaterhaltungsromane, aber es hat daruber hinaus eine hddist ernsthafte,
sehr aktuelle Wichtigkeit. Denn die Befreiung der scfawarzen Rasse von
der Vormundschaft Europas, dieser grofie Traum des ,sdiwarzen Napoleons*,
ist vielleidit schon bald ein brennendes Problem unserer Zeit."
Franz Sdioenberner.
495
Art ,,proletarischer Literatur"
auf sich hat. Die Verfas-
ser sind Arbeiter, so sagt es we-
nigstens in beiden Fallen, dasVor-
wort; von Franz Krey erzahlt
man sich all er dings, daB er j e-
ner Sorte von Intel lektuellen an-
gehore, die ihre Herkunft gern
verleugnen, urn moglichst Mprole-
tarisch" zu erscheinen, als sei
Proletariertum mit geistiger Pri-
mitivitat gleichzusetzen. So fa-
tal dieser Anschmeifier - Typ
auch ist, die These von Kreys
Herkunft Ware uninteressant,
sprache nicht der ganze soge-
nannte Roman fur sie. Krey
scheint wirklich der Ansicht zu
sein, man musse sich auf das Ni-
veau sentimentaler Schmocker
herablassen, urn vom Arbeiter ver-
standen zu werden, von dem
gleichen Arbeiter, der seinen ge-
wiB nicht leichten Karl Marx
sehr gut versteht. Dabei findet
sich hier und da ein Gedanke,
eine Formulierung, die verra-
tenf dafi der Autor mehr
kann, als er gibt. Das
andre, und das ist allerdings bei-
nahe alles, ist scheuBlich ver-
krampft, gewollt, unecht, blutleer.
Bredel will ein Bild von dem
Leben eines groBen hamburgischen
Mietskaseraenblocks geben, Krey
zeigt einen MassenprozeB um den
Paragraphen 218, auf dessen Hin-
tergrund sich das Eihzelschicksal
eines Proletariermadels abhebt,
gleichsam Verkorperung des Lei-
dens ihrer Mitschwestern. Aber
wie ist das gemacht! Die
beruchtigte Schwarz-WeiBmanier
schmuggelt sich, mit dem Etikett
,tproletarische Kunst" versehn,
iiber eine Hintertreppe wieder
einmal in die Literatur; Es steht
fur die Verfasser ganz auBerhalb
jeder Diskussion, daB alle Kom-
munisten anstandige Menschen,
alle Sozialdemokraten schwach-
liche Arbeiterverrater( alle Klein-
burger Spiefler und Klatsch-
mauler, alle Nationalsozialisten
gekauftes Lumpenpack sind.
Auf dieser Grundlage wird nun
drauflos erzahlt, mit den guten
alten Mitteln spannender* Gar-
tenlaube-Lektiire, von der sich
diese Romane wirklich nur durch
ihre anstandige Tendenz unter-
scheiden.
Was soil da bewiesen werden?
Die Ungerechtigkeit unsres Ge-
sellschaftssystems, aufgezeigt an
einzelnen Geschehnissen, in denen
es sich manifestiert. Dazu ware
notwendig, dieses System in all
seiner Kompliziertheit darzustel-
len, eine Kompliziertheit, die zu
adaquaten Methoden der Be-
kampfung zwingt. Statt dessen
steht da ein gefraBiges Ungeheuer,
eine konturlose Masse, gegen die
mit Leitartikelphrasen angegan-
gen wird. Die simpelste Tech-
nik und Psychologie tobt
sich da aus, alles ist schief
gesehn, keine Zeichnung stimmt,
jeder Versuch, ein Gesicht, eine
Gestalt zu beschreiben, geht da-
neben, keine Situation wird
plastisch, diese Menschen le-
ben ja gar nicht, diese Gescheh-
nisse haben sich ja nie so ab-
gespielt: alles ist Papier,
Und wie der innere Gehalt so
die auBere Form. Zahes Zeitungs-
deutsch, schludriger Stil: „Grup-
penweise wurden Kampflieder ge-
su^gen und diskutiert", — ,,Die
Stenotypistinnen wurden sofort
fur eine Operation fertig gemacht,
ihr Unterleib mit Lysol gewa-
schen, dann auf eine Bahre ge-
legt und fortgefahren." Die In-
Das Buck der Stunde!
OTTO GRAUTOFF:
Franzosen sehen Deutschland
Begegnungen • GesprSche • Bekenntnisse * Kart. 3.80 RM.
Jeder Deutsche muB wissen, wo die Franzosen
bel uns Positives und wo sie Negatives sehen I
W. R. LINDNER VERLAO LEIPZIO
496
terpunktion sieht so aus, als
hatten die Verfasser, beson-
ders Bredel, in die Schub-
lade gegriffen, wo sich die
Ausrufezeichen und Gedanken-
striche befinden, und hatten wahl-
los einen ganzen Schwung tiber
ihren Text geworfen. Da stehn
sie nun und wissen nicht warum.
Ich auch nicht.
Es gehort heute dazu, dafi
einem Buch, so es etwas auf sich
halt, das Vorwort von einem be-
kannten Manne geschrieben. wird,
und deshalb sprechen dich hier
Klaber und Friedrich Wolf an.
Wolf hat einen guten Namen zu
verlieren. Es wiirde ihm doch
nie einfallen, etwa „Ich lasse
Dich nicht" als Lekture zu emp-
fehlen. Warum dann aber so un-
kritisch, nur weil die Tendetiz
zusagt? Wo es doch ein Leich-
tes ware, unter ihrem Lack eben-
falls ein „Ich lasse dich nicht"
zu entdecken.
Vielleicht erfiillt diese Schrei-
berei den geplanten Zweck, auf-
zuriitteln und zur Abwehr zu
mahnen, ich glaube es nicht.
Uber eins aber gibt es nichts zu
diskutieren: das da hat ganz und
gar nichts mit Literatur zu tun,
geschweige mit Kunst. Das ist
die rohe und aufierliche Plaka-
tierung einer Tendenz, die nie-
mals erlebt wurde, die dem Ro-
man nicht entwachst, sondern
ihm aufgeklebt ist, und zwar so
schlecht, dafl der Kolportage-
charakter immer wieder durch-
bricht. Es kommt namlich nicht
nur auf das Was, es kommt eben-
so sehr auf das Wie an. Warum
lernt man nicht auch hier von
SowjetruBland?
Walther Karsch
Die neueste „Miflt8nende
Wochenschau"
7 urn franzosischen Minister-
" besuch in Berlin: Bniningbk-
tet Laval gegen Ruckgabe von
Deutsch-Ost-Afrika die ungarische
Kolonie in Berlin an.
Die ersten Aufnahmen der gro-
Ben Baukatastrophe: Einsturz der
Golddecke in London.
Reichsminister Treviranus zahlt
beim Grenzubertritt hundert Mark
fur den durch die Aufhebung der
Ausreisegebiihr noch immer
schwer geschadigten Deutsch-
Oesterreichischen-Alpenverein.
Zu den Kampfen in Palastina;
Die national gesinnten Araber
ubertragen das Oberkommando
Pg. Goebbels, dem Sieger vom
Kurfurstendamm.
*
Die Versammlung gekiirzter
Rentenempfanger im berliner
Sportpalast nahm einen stiirmi-
schen Verlauf. Rechts in derHof-
loge Wilhelm von Doom, zu sei-
nen Fiifien der Stehkragenprole-
tarier Hjalmar Schacht.
*
Der Hohepunkt der englischen
Flottenmanover: Konzentriertes
loyales Ergebenheitsfeuer der bri-
tischen Schlachtflotte auf die
britische Admiralitat.
it
Zu den Wirren in China und
Oesterreich : Feierliche Putsch-
konzessionserteilung an den Fiir-
sten Starhemberg. Bundesprasi-
dent Miklas wegen Verhutung
der Unruhen und Ubertretung des
Achtstundentags unter der An-
Alte Firmen
lassen sich auf keine Experimente ein. Unser Verlag besteht tiber hundert
Jahre und wir wissen, was wir tun, wenn wir uns fur
die Biicher von B6 Yin Rd
einsetzen. Alle guten Buchhandlongen halten sie jetzt auf Lager. Ein-
fttbrungsschrift von Dr jur Alfred Kober-Staehelin kostenlos. Der Verlag:
Kober'sche Verlagsbuchhandlung (gegn 1816) Basel und Leipzig.
497
klage des Hochverats, Nanking
errichtet eine Gesandtschaft in
Graz.
. #
Aus unsrer Kulturecke: Wun-
der dcs Weltalls : Ausschiittung
eincr Dividende.
Friedrich Raff
Jom Kippur
Am 21, September, am vergan-
** genen Montag also, erfahren
wir friih morgens von der Krise
der Bank von England und
von dem Ungliick des englischen
Pfunds. Und dann tuten wir uns
durchs Telephon die Schreckens-
nachricht durch und sind, wie cs
sich gehort, wie aus den Wolken
gefallen.
Nur meine Schwagerin ist gar
nlcht tiberrascht.
„Das weifi ich schon," sagt sie
ganz erhaben, „Onkel Jacob hat
doch gestern Abend Georg Bern-
hard in der Synagoge getroffen,
der hat es ihm erzahlt."
Der Expedltionsfilm
|m Urwald filmt man heute ton.
* Die Sonne brennt. Die Weifieri schmoren.
Den Schwarzen rat das Megaphon:
Benehmen Sie sich eingeboren !
Die Wilden spielen mit Bravour
Als ein Ensemble gut Gedrillter.
Und fehlt ea mal an Spielkultur,
Dann brullt der Weifle wie ein Wilder.
Was dann den Tierpark anbelangt,
So sind nur Krafte zugelassen,
Die es vor jedem Luftzug* bangt
Und die wie Gift die Fleischkost hassen.
Der Lowe aus dem Heldenfach
Hats. auBer Dienst, mit Sitzbeschwerden.
Der Tiger ist schon altersschwach
Und mufi ins Bild getragen werdcn.
Ein blinder Schufi aus dem Gewehr:
Schon flieht der Elefant ins Weite.
Im Kino heifit das hinterher,
Da8 er zu einem Angriff schreite.
Das Wichtigste ist die Gefahr,
In die die Weifien ofter kommen.
Doch das hat Zeit und wird aogar
In Hollywood erst aufgenommen.
Hans Bauer
Hinweise der Redaktion
Berlin
Kampfkomitee fur die Freiheit des Schrifttums, Opposition des Schutzverbands Deutscher
Schriftsteller, Bund revolutionarer bildender Kiinstler, Gruppe der Abstrakten,
Opposition der Btihnengenossenschaft, Liga ftir unabhangigen Film, Verband pro-
letarischerFreidenker, Bund proletarisch-revolutionarer Schriftsteller. Dienstag 19.30.
Johann-Georg-Sale, Johann-Georg-Str. 19, Halensee t Notverordnung und Notlage der
geistig Schaffenden. £s sprechen: Bert Brecht, Erich Kastner, Hans Ottwald,
Heinz Pol, Hans Rodenberg, Helly Weigl, Karl August Wittfogel. (Zur Finanzierung
der Aktion baben eigenhandig signierte Bucher zum Verkauf zur Verfiigung gestellt :
Bert Brecht, Bernard v. Brentano, Leonhard Frank, Ernst Glaser, Otto Heller, Kurt
Kersten, Erich Muhsam, Ludwig Renn, Anna Seghers, Erich Weinert u. a.)
Weltbuhnenleser. Mittwoch 20.00. Cafe Adler am Donhoffplatz: Die Lage in China,
Hans Jager.
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Freitag 20.00. Cafe Adler am Donhoffplatz : Offent-
liche Diskussion: Friedenskampf und Nation (Zum Pazifisten-ProzefJ). Es sprechen:
Eugen Brehm, Kurt Hiller und Rechtsanwalt Heinz Kahn.
Liga fQr Menschenrechte. Freitag 20.30. Reichswirtschaftsrat, Bellevuestr. 15 (Plenar-
saal): Ist Deutschland noch ein Rechtsstaat? Es sprechen: Willi Braubach, Prof.
M. I. Jastrow, Kurt Rosenfeld und Erich Zeigner.
BQcher
Ernst WeiB: Georg Letham, Arzt und Morder. Paul Zsolnay, Wien.
Rundfunk
Dienstag. Konigswusterhausen 18.00: Gegenwartsfragen der Kunst, Paul Westheim. —
Kdnigsberg 20.10: Gertrud Gerlach-Jacoby iiest Guy de Maupassant. — Muhlacker
20.30: Theodor Brandt liest Jean Paul. — Mittwoch. Laugenberg 16.20: Ungedruckte
Dichter. — Berlin 17.30: Ernst Toller liest. — 18.30: Das Wiederaufnahme-Verfahren,
Rechtsanwalt Erich Frey und Regierungsrat Robert Kempner. — Muhlacker 20.15:
Leonce und Lena von Buchner. — Munchen: Gesprach mit Philipp Snowden von
Chronikus.— Donnerstag. Berlin 19.00: Der Bastiltesturm auf Europa, Valeriu Marcu. —
Hamburg 19.30: Der Lyriker Friedrich Nietzsche. — Leipzig 20.30: Dichter fiber
Getellschaftskritik. — Freltagf. Breslau 20.05: tlber dkonomische Geschichts-
auffassung, Prof. Siegfried Marck und Roman ReiOe. — Sonnabend. Breslau 17.15;
Die Zeit in der jungen Dichtung. — Berlin 19.20: Die Erzahlirag der Woche, Paul Zech.
498
Antworten
Bibliothekar* Im Katalog der Neuerscheinungen aus den Jahren
1929—31 fur die Volksbibliotheken der Stadt Berlin ist zu lesen:
„Heinrich Mann: Der Untertan, Die Armen. 2 Romane. Ein kari-
kierendes und in seiner SchwarzweiB-Manier verzerrtes Zeitbild der
Vorkriegszeit vom Klassenkampf des Kapitalismus mit dem Prole-
tariat." Was soil das? Seid ihr dazu daf eure Meinung, die keinen
Menschen interessiert, alien Besuchern eurer Bibliotheken aufzudran-
gen, oder dazu, euren Abonnenten eine Aufstellung der bei euch zu
entleibenden Bucher zu geben? Wenn euch Heinrich Manns Romane
nicht passen, dann schafft sie euch nicht an, aber Zensuren zu ver-'
teilen, dazu seid ihr nicht angestellt und auch gar nicht berecbtigt.
Kummert euch darura, euern Lesern moglichst viel Bucher zu ver-
schaffen, aber bevormundet sie nicht, das ist eine AnmaBung, die euch
nicht zukommt, Dafur werdet ihr nicht bezahlt.
Dr, med. Alfred Doblin, Wenn in Ihre nervenarztliche Sprech-
stunde ein Herr kame und im Lauf der Konsultation den Satz von
sich gabe, den neulich Ernst Robert Curtius in der .Neuen Rund-
schau' als Beweis fur den Verfall der Bildung zitiert hat: „Nicht
Balzac zu lesen gehort fur mich ebenso zu den Selbstverstandlich-
keiten wie in einer groBen Stadt nicht die Sehenswurdigkeiten be-
suchen" und wenn dieser Herr aufierdem mitteilte, er sei ein repre-
sentatives Mitglied der deutschen Dichterakademie — was fur eine
Diagnose wiirden Sie eigentlich stellen?
Jungling* Der Christliche Verein Junger Manner verbreitet ein
Traktatchen, in dem gegen die Kameradschaftsehe zu Felde gezogen
wird. Der wahrhaft christliche Verfasser bezeichnet sie als Krokodil,
das die armen Jiinglinge und Jungfrauen verschlingen will. Aber hore
selbst: „Die Kameradschaftsehe zerstort jede zarte und heilige Jugend-
liebe, die harren und warten kann und im Harren und Warten. er-
starkt. Aus zarter Jugendliebe macht die Kameradschaftsehe einen
hiindischen Trieb, der auf hiindische Weise befriedigt werden soil . . .
Was die Kameradschaftsehe zerstort, ist die Wiirde des Weibes so-
wohl wie die des Mannes. Das Weib, das nach Gottes Willen Gehilfin
des Mannes sein soil, wird zum Spielball der mannlichen Geliiste ent-
wiirdigt, Dem Mann, der nach gottlicher und menschlicher Ordnung
erst etwas werden und gewini&n soil, ehe er die Hand nach der Ehe
ausstreckt, wird die Ehe gewissermafien vor die FuBe geworfen. Miihe-
los kann er sie aufnehmen und wieder fortwerfen. So wird ihm der
hochste Antrieb zur Stahlung seines Charakters genommen, indem er
ein Ehemann wird, ehe er ein Mann geworden ist. Darum auf der
Hut vor dem amerikanischen Ungeheuer, welches Kameradschaftsehe
heiBt! Krokodil bleibt Krokodil, auch wenn es Krokodilstranen liter-
weise vergieBt. Was Gott zusammengefugt hat, soil der Mensch nicht
scheiden, sagt die Bibel, und sie wird recht behalten. Sie sagt ferner:
Kinder sind eine Gabe Gottes, Wohl dem, der seinen Kocher derselben
vol! hat!1' Uns scheint, dem armen Mann lauft der Kochef iiber.
Max Jungk, Sie schreiben: „Das Niveau Ihrer sehr geschatzten
Zeitschrift verpflichtet f Ich bin daher auch fest iiberzeugt, daB Sie
Ihre Artikel nicht um der bloflen Sensation willen veroffentlichen,
sondern im guten Glauben." Sie senden uns folgende Berichtigung:
„Das Manuskript zu dem Tonfilni ,Sein Scheidungsgrund' von Franz
Arnold und Max Jungk wurde auf Grund eines ausfiihrlichen Treat-
ments vom 2. April 1930 von der UFA in Auftrag gegeben. Erst
dreizehn Tage spater hat Frau Margarete Maria Langen einen Ent-
wurf tScheidungsfieber' dem damaligen Dramaturgen der Terra-
Film-Gesellschaft, Max Jungk, eingereicht. Der Film ,Sein Schei-
dungsgrund' von Franz Arnold und Max Jungk konnte daher, ent-
gegen der Behauptung von Frau Langen, keineswegs in seinem In-
499
halt dem Expose* zu einer Filmoperette ,Scheidungsfieber' ent-
sprechen und weist selbstverstandlich nicht die geringste Ahnlichkcit
mit . der Arbeit von Frau Langen auf . Ftir die Richtigkeit liegt ein
umfangreiches, einwandfreies Beweismaterial vor.'* Wir beabsichtigten
nicht, uns in eine personliche Differenz zwischen Frau Margarete
Maria Langen und Ihnen hineinzumengen. Wir verlangten nur durch
die Frage: „Was ging da vor?" eine Klarstellung des in Ihrera Fall
undurchsichtigen und zweideutigen Verhaltens des Herrn PodehL Im
iibrigen erklart Frau Langen auf unsre Anfrage, da8 Sie am 7. oder 8. Juli
dieses Jahres am Telephon wortlich antworteten: „Ich gebe ja zu, dafi
eine gewisse Ahnlichkeit in beiden Fallen vorhanden ist; denn in
beiden Manuskripten verliebt sich der Hauptdarsteller in seinen
Scheidungsgrund," Frau Langen ist auBerdem der Ansicht, dafi Sie
ihr bei ihrem ersten Besuch im dramaturgischen Bureau der Terra,
am 16. oder 17. April 1930, unbedingt hatten mitteilen mussen, dafi
Sie einen ahnlichen Stoff der UFA eingereicht hatten. Und warum
haben Sie Frau Langen auf ihren Brief vom 18. April vorigen Jahres
keine Antwort gegeben?
H. R, BerndorxL Wir bestatigen Ihnen gem, dafi die Erwahnung
Ihres Streitfalls mit der ]LJfa in dem Artikel von Max Magnus in
Nummer 37 der ,Weltbuhne' ohne Ihr Wissen und Ihren Willen ge-
schehen ist. Seien Sie nicht so ungliicklich dartiber.
Aufmerksamer Leser. In dem Artikel von Bernhard Citron
„Flucht aus der Sozialisierung" (Nr. 36) ist durch ein Versehen ein
Irrtum entstanden. Die Bankenkontrolle iiber die schweizer Banken
ubt nicht die Eidgenossische Bank aus sondern die Schweizerisch*
Nationalbank.
Neuer deutscher Verlag. Der Schlufitermin fur die Einsendungen
zu euerm Roman-Preisausschreiben „Das wahre Gesicht des Fascis-
mus" ist auf den 15. Oktober verlegt worden. Mindestumfang 12 Bo-
gen zu je 40 000 Druckzeilen, Hochstumfang 20 Druckbogen zu je
40 000 Druckzeilen.
Wiener. Geben Sie bitte Ihre Adresse an Herrn Doktor Rudolf
Kukula, Wien III, Dapontegasse 1 (Telephon U 16 — 7 — 49), damit
die regelmafiigen Zusammenkunfte der wiener Weltbuhnenleser wie-
der, wie im vorigen Winter, zustandekommen konnen.
rBraunschweiger. Wenn Sie Interesse an regelmafiigen Zusammen-
kunften der braunschweiger Weltbuhnenleser haben, so geben Sie Ihre
Adresse an Herrn Adolf Grupe, Braunschweig, Weststr. 39.
Dieser Nummer liegt eine Subskriptionseinladung zu der von
Magnus Hirsckfeld herausgegebenen und von Andreas Gaspar bear-
beiteten „Sittengeschichte den Nachkriegszeit" bei. Der berliner Auf-
lage ist auSerdem ein Prqspekt der Kamera, Unter den Linden, bei'
gefiigt. Wir empfehlen die Beilagen der besonderen Aufmerksamkeit
unsrer Leser.
FVeser Nummer liegt eine Zahlkarte fur die Abonnenten bei, auf der
*-^ wir bitten,
den Abonnementsbetrag far das IV. Vierteljahr 1931
einzuzahlen, da am 10. Oktober die Einziehung durch Nachnahme be-
ginnt und unnotige Kosten verursacht.
Manuiumpte una aui mo die Kedaktioo der Weltbuhne, Chariottenburg, Kantsti. 152, xu
ricfaten; et wild gebeten, ihnen Ruckporto beizulegen, da sonst keine Rucksendung erfolgen kann.
Dm AuffOhrangsrecht, die Verwertung vonTiteln u. Text im Rahmen des Films, die muaik-
mechanlache Wiedergabe aller Art und die Verwertun? im Rahmen von Radiovortrlgen
bleiben for alle in der Weltbtihne erscheinenden Beitrage ansdracklieh Torbehalten.
Die WeltbOhne wurde begrundet von Siegfried Jaeobsohn und wrird von Catl v. Osaietxky
untet MHwfrkung von Kurt Tucfcolsky ^eleltet — Verant wortlich: Carl v. Oisietzlcy, Berlin;
Verlag der Weltbuhne, Siegfried Jaeobsohn & Co* Cnarlottenburg.
Telephon: CI, Steinplatz 7757 — Postschedtkonto: Berlin 119 58.
Bankkonto DarmstSdtet u, Nationalbank. Depositenkasse Qharlottenburg, Kantatr. 112
XXVII. Jahrgang 6. Oktober 1931 Nmnrner 40
Dieser Winter ... von Carl v. Ossietzky
In diesen Winter geht Deutschland nur noch mit zwei organi-
sierten Machten: mit dem Militarisms und mit der katho-
Iischen Kirche. Ailes andrc ist entweder in Auflosung be-
griffen oder sucht durch groBe Gestikulation iiber die innere
Hilflosigkeit hinwegzutauschen. Die Sozialdemokratie hat keine
runde Gestalt mehr, der Erdrutsch an ihren Grenzen hat be-
gonnen. Die Gewerkschaften leiden mehr und mehr unter der
wachsenden Arbeitslosigkeit; die widerstandslose Hinnahme
arbeiterfeindiicher Schiedsspriiche raubt ihnen das Vertrauen
auch ihrer alten Mitglieder, Die Banken, bis vor wenigen Mo-
naten noch Kultstatten des Kapitalismus, werden vom Publi-
kum mit hochstem Argwohn betrachtet. Die Schwerindustrie,
vor kurzem noch eine uneinnehmbare Stellung aus Eisenbeton,
erweist sich bei zunehmender Krise als ein ganz gewohnliches
deutsches Klublokal, in dem ein Rudel von Bierphilistern sich
als Union der starken Hand fuhlt. Und wie steht es um die ex-
treme Opposition? Die Kommunisten haben zwar ungeheuer ge-
wonnen, wie jetzt wieder die Wahl en in Hamburg zeigen, aber
sie schleppen deixWiderspruch zwischen einer fremdenDoktrin
und den ganz anders gearteten deutschen Verhaltnissen mit
sich, und die dialektische Losung dieses Widerspruchs ist bis
jetzt noch nicht gelungen. Auch die Nationalsozialisten sind
noch immer im Wachstum begriffen, aber ohne Ideen, ohne
Fiihrung — ein gewaltiger, unbehilflicher KloB, der sinnlos in
der Landschaft herumliegt und sich seines Umfangs freut, Alle
alten Autoritaten haben abgewirtschaftet. Der Reichstag ist
nur noch eine klappernde Jasagemaschine, die bei Funktions-
storungen der Verschrottung anheimfallt, die biirgerlichen Par-
teien von Hugenberg bis Dietrich sind nur noch ein einziger
Komposthaufen, auf dem der maftgebliche Dingeldey mit komi-
schem Ernst seinen Fiihrerpart herunterkraht,
Zwei kompakte Machte gibt es also nur noch: davon stelit
die eine den Kanzler, die andre die erforderlichen Nahkampf-
mittel, um dessen Herrschaft zu sichern.
Wir wissen nicht, wie lange der Katholizismus einem so-
zialen Sturm standhalten kann. Die Stellung Briinings beruht
ja nicht auf einem Kontrakt zwischen ihm und Deutschland
sondern auf einem stillenPakt mit den biirgerlichen und so-
zialistischen Fraktibnsfuhrern, weil ihnen ein konfessionell ge-
bundener Politiker, der notfalls die Religion als letzte ideolo-
gische Etappe beziehen kann, geeigneter erscheint als ein Mann
der konkreten Partei- und Klasseninteressen.
Und wir wissen noch viel weniger, wie sich die Wehr-
macht bei einem von rechts kommenden StoB verhalten
wiirde. Vielmehr, wir wissen es ziemlich genau, aber wir
wollen lieber nicht dariiber reden.
Die Gefahr dieses Winters liegt also nicht in den bewuBten
und geplanten Umsturzversuchen von rechts und links. Hier
sind die innern Explosivkrafte noch stark gefesselt. Noch
i 501
immer ist der Umsturz bei der Reichsregierung monopolisiert,
die auf dem Verordnungswcge mit den Verfassungspara-
graphen alle Neune wirft, wahrend die ungliicklichen Sozial-
demokraten wie nervose Kegeljungen, von alien Seitcn ange-
schnauzt, iiber die Bahn stolpern. Die wirkliche Gefahr liegt
in spontanen Volksaufstanden, die von niemandem angezettelt
und begiinstigt, plotzlich losbrennen konnen. Entwickein sich
erst hier und dort Hungerrevolten, von politischen Parolen um-
i lackert, dann muss en sich die radikalen Parteien wohl oder
ubel entscheiden. Dann miissen sie die Ftihrung iibernehmen,
wenn die Bewegting nicht iiber sie hinweggehen soil.
Von diesem Risiko weiB der Reichskanzler gewifi mehr
als die meisten Mitglieder seines Kabinetts. Er furchtet den
Ansturm der Unternehmer gegen das Lohnniveau und gegen die
Sozialversicherung; hier ist die Stelle, wo zwei Klassen zu-
sammenpr alien miissen und aus unterdriickten Arbeiterinter-
essen unmittelbar revolutionare Politik fiammen kann. Aber
wie will Briining dem vorbeugen? Er will den Staat heraus-
ziehen und die Auseinandersetzung den Beteiligten selbst iiber-
lassen. Soeben wird offizios verlautbart, daB die nachsten Not-
verordnungen nur ndie dringenden finanzpolitischen Fragen
regeln*\ aber nicht an das heiBe Eisen der Lohne riihren wollen.
Es soil eine Art Arbeitsgemeinschaft aufgebaut werden,
„die die Lohn- und Tarifstreitigkeiten durch direkte Verein-
barungen ohne Eingreifen der staatlichen Instanzen" ordnet.
Das hort sich recht groBartig an und heiBt im Grunde doch
nur, daB der Staat sich vor der brennendsten sozialen Frage
druckt und daB er nicht in die Verlegenheit kommen mochte,
etwas Autoritat gegen die Unternehmerschaft anwenden zu
miissen. Der Staat will seine Hande in Unschuld waschen, Ar-
beitervertreter sollen selbst der Herabsetzung der Lohne zu-
stimmen. Heute beugen sich noch Gewerkschaftsfiihrer ratios
und zahneknirschend vor Schiedsspriichen, die sie nachher vor
ihren Leuten vertreten miissen. Aber sie konnen sich noch
immer damit salvieren, daB man sich, so bitter es sein mag, den
Gesetzen beugen muB und daB Tarifbruch katastrophale Folgen
nach sich zieht. Aber daB Gewerkschaftsmanner in gemisch-
ten KorperschaHen, die zunachst auf nichts anderm beruhen
als auf der Empfehlung des Staates, unter eigner Verantwor-
tung die Schadigung der von ihnen Vertretenen beschlieBen,
das ist ganz unmoglich. Solche Funktionare kann man selbst
unter den heutigen zahmen sozialistischen und christlichen Ge-
werkschaften mit der Laterne suchen. Sie wiirden von ihren
eignen Leuten in Stiicke gerissen werden.
Ein derartiges System wiirde also nicht idem sozialen
Frieden, nicht dem verniinftigen Ausgleich der Interessen
dienen sondern zur Schwachung und, im Endeffekt, zur Zer-
storung der Gewerkschaften fiihren. Kommen die Gewerk-
schaiten aber ins Rutschen und stellen sie keine festen Gebilde
mehr dar, so ist bis zur Zwangssyndizierung nach italienischem
Muster kein langer Schritt mehr. Dann wiirden in Kartellen,
wo Arbeiter und Unternehmer angeblich eintrachtig miteinan-
der verhandeln, die Arbeiter faktisch als Gefangene sitzen, und
die Tarife wiirden einlachdiktiert werden. Selbst wenn wir dem
502
Reichskanzler keine bewuBten Fascisierungstendenzen unter-
stellen wollen, so muB doch, gesagt werden, daB es ein Unding
1st, den Staat hcute dort herauszunehmen, wo seine wichtigste
Aufgabe Hegt. Das Verhaltnis von Arbeiterschaft und Unter-
nehmertum in Deutschland ist wie mit Dynamit geladen. An-
slatt schleunigst die Zundschnur durchzuschneiden, empfiehlt
dcr Staat den beiden Gegnern, es sich einstweilen auf dem
PuIverfaB bequem zu machen, und zieht sich, zufrieden mit
seincm Versohnungswerk, aus der Rauheit des sozialen Klimas
in die bekommliche Luft seiner Kanzleien zuriick.
Wic es mit dem Geist der Arbeitgeberschaft steht, beweist
das in diesen Tagen veroffentlichte Programm der Spitzenver-
bande des Unternehmertums. Da wird, wie in den BHitezeiten
des Liberalismus, gegen die offentliche Hand gewettert, grade
so, als hatte man sich niemals uber sie gebeugtf um ihr Sud-
ventionen zu entnehmen. Da wird „in kraftvoller Entschlos-
senheit" von der Regierung gcfordert, sofort an das Rettungs-
werk zu gehen. Natiirlich sollen die Lohne und Gehalter den
,,gegebenen Wettbewerbsverhaltnissen" angepaBt werden; des-
halb Mindividuellere Lohngestaltung", deren Voraussctzung
wieder eine Reform des Tarif- und Schlichtungswesens sein
soil; deshalb Generalattacke auf die Sozialversicherungt damit
sie ,,unverzuglich mit den wirtschaftlichen Kraften unsres Vol-
kes in Einklang gebracht wird", Kurzum, es ist der gleiche
Inhalt und die gleiche Melodie wie seit Jahren, nur daB die
Hcrren von der Schwerindustrie, inzwischen durch einen Felil-
schlag nach dem andern bloBgestellt, von ihrer Schrecklich-
keit einiges eingebuflt haben. Ihre Betriebe stehen still, ihre
Gehirne auch. Die ,*Wirtschaft", die sich jahrelang in sakraler
Oberheblichkeit darstellte, steht heute vor dem ganzen Volk
als ein Haufe renommierender Tartarins, die mit den Armen
herumf uchteln und von ihren GroBtaten erzahlen. Dicse Miitzen-
jager von Rhein und Ruhr, die der ganzen Welt Krieg angesagt
haben, beanspruchen heute noch den Staat als das ihnen von
Gott zugesprochene Instrument, sie tun es dreister als es je-
mals der alte Feudaladel getan hat.
Der Reichskanzler soil (iber den Unverstand der Industrie-
h err en verzweifelt den Kopf geschuttelt haben. In den Weg
gestellt hat er sich ihnen jedoch nicht. Er machte nur den
Sozialdemokraten die kleine Konzession, die Arbeiterlohne
einstweilen nicht zum Freiwild zu erklaren. Diese brenzlichtste
Frage soil also auf die Arbeitsgemeinschaft abgeleitet, der
Staat in wirtschaftlichen Kampfen neutralisiert werden. Das
nennt man ein Programm fur die harteste Winternot seit hun-
dert Jahren! Der privaten Charitas bleibt es (iberlassen, die
Goulaschkanone in Bewegung zu setzen, die Sammelbuchse
zu schwingen.
Es ist merkwiirdig, wie gering dieser Staat, von kleinen
Ordnungsrettern geleitet, seine eignen Krafte einschatzt. Und
doch hat es sich immer wieder, und zuletzt noch mit zwingen-
der Gewalt in den Tagen des groBen Julikrachs gezeigt, daB
er das einzige Stabile bleibt, wo rundherum alles sttirzt. Da-
rn als hatte der Staat muhelos einige der starksten Festungen des
503
Kapitalismus besetzen konnen, und sic sind heute noch zu
haben, denn der Verteidigungswille ist schwach, der Glaube
gebrochen, Man vergesse doch nicht, daB der Sozialismus
schon lange keine mchr aus den letzten sozialen Tiefen auf-
steigende Forderung mchr ist. Der Sozialismus ist keine Sache
rebellierender Einzelganger mchr, die sich an den glasernen
Wanden ciner festen Gesellschaftsordnung die Stirne blutig
stoBen, sondern eine Fragc der Umorganisierung, der besscrn
Distribution, Der objektive Befund der gegenwartigen Situation
stellt sich als hochgradig revolutionar dar, abcr die Menschen
sind es nicht. Viele davon sind sehr miide, gewiB, abcr die
Meisten sind geduldig, und die Sorge urn sich und die nachsten
Angehorigen lahmt ihren Blick furs Ganze. Wie lange dicser
ungeklarte Zustand' anhalten kann, das ist die schwere Frage
am Rande dieses Winters. Abcr das Einc ist sicher; so auf-
gelockert waren die sozialen Verhaltnisse niemalsf und nie-
mals trieb da« kapitalistische System so mutlos, so abdankungs-
reif dahin. Ncbcn dieser Tatsachc wirkt der PosaunenstoB
dcr Schwerindustrie, die eine von ihren Trustherren selbst de-
molierte Individualwirtschaft fordert, cinfach komisch. Vicles
wiirdc sich jetzt mit einem Fcderzug erreichen lassen, was in
geandcrter Situation jahrelange revolutionare Kampf e erfordert.
SPD gespalten! von k. l. Gerstont
FJic Krise schreitet weiter fort. Wenn an dieser Stelle in
der vcrgangenen Woche ausgeliihrt wurde, daB die Ent-
wertung der Valuta voraussichtlich nicht auf England be-
schrankt blcibcn wiirdc, so haben die Ereignissc dieser Woche
die Voraussagc bestatigt. Schweden, Nprwegen und Dane-
mark haben sich von ihrer Goldwahrung gelost. Spaniens
Wahrung ist vollig deroutiert. In Italien kann Mussolini nur
mit starkster Anstrengung die Lira auf dem seincrzeit stabili-
sierten Stand halten. Die europaischen Wahrungen sind in
Bewegung. An welcher Stelle die Entwertung des Pfundes
gestoppt wird, stcht dahin. Noch schwankt der Kurs standig.
Die Wirkungen der Pfundentwertung sind bcreits in Deutsch-
land sehr deutlich zu spur en. Die cnglische Kohlenindustrie ist
ebenso wic die Textilindustrie dabei, verlorcnes Terrain zu
gewinncn. Die Folgen wird der deutsche AuBenhandel zu tra-
gen haben, der wachsende Oberschiissc zeigtc und dessen Ent-
wicklung in letzter Zeit dcr einzige Lichtpunkt in dcr Krise
war. Denken wir weiter daran, daB in dcr gesamten Welt-
wirtschaft kein Silberstreifen zu entdecken ist, daB die ameri-
kanische Eisen- und Stahlproduktion auf 30 Prozent dcr Pro-
duktion von 1929 zurtickgegangen ist, daB weiter die englische
Krise die Kapitalmarkte der ganzen Welt in Verwirrung bringt,
was auch Frankreich bcreits zu spiiren beginnt, so haben wir
die weltwirtschaftlichen Hintergrunde fiir die deutsche Situa-
tion im Winter. Bruning hatte schon vor einiger Zeit gesagt,
daB dieser Winter der schwerste scit hundert Jahrcn sein
wurde, also schwerer als die Winter von 1918 und 1923. Brur
ning hatte diese AuBerung getan, bevor sich der weltwirtschaft-
504
liche Horizont so verdunkelte. Er wird nach den letzten
Ergebnissen von seinen AuBerungen nichts zuruckzunehmen
haben, auch wenn er das Rcsultat der Vereinbarungen mit
Frankreich einkalkuliert, Denn das eine ist nach den Verhand-
lungen sicher, namlich das, was sie nicht gebracht haben.
Nicht gebracht haben sie eine grofie langfristige franzosische
Anleihe. Wenn aber mitten in diesem Winter, in dem Briining
mit sieben Millionen Arbeit slosen rechnet, die Prolongation der
kurzfristigen Kredite ablauft, dann werden diese kaum zu-
riickbezahlt werden konnen, dann werden die Glaubiger
zwangslaufig weiter prolongieren mtissen. Das bedeutet aber,
daB die an sich schon auBerordentlich schwere langwirkende
Krise durch die Schuldnerstellung Deutschlands auf den inter-
nationalen Kapitalmarkten noch weiter vertieft wird. Der ge-
samte deutsche Kapitalisraus hat in dieser Situation nur das
alte Rezept: Lohnabbau, Lohnabbau, Lohnabbau! In aller
Sturheit wird es immer betont Wenn die bestehenden Tarif-
vertrage daran hindern, dann muB das Tarifsystem zertriim-
mert werden. Und das Monopolkapital erwartet von der
Briiningregierung, daB sie die erforderlichen Notverordnungen
erlaBt, urn die Zertrummerung des Tarif systems juristisch zu
begriinden. Wie das Monopolkapital die nachsten Schritte
sieht, ist also eindeutig.
*
Die auBerordentliche Verscharfung der wirtschaftlichen
Krisef das ist der Hintergrund fiir die neueste Entwicklung in
der Arbeiterbewegung, fiir die Entwicklung in der SPD und in
der KPD. Beim ersten Zusehen ist die Entwicklung ganz ein-
deutig. Die KPD gewinnt. Die SPD verliert. Die hamburger
Wahlen zeigen nur, was sich bei allgemeinen Wahlen in ganz
Deutschland zeigen wurde. Die SPD wiirde eine reichliche
Million, das sind mehr als 10 Prozent ihrer Wahler von 1930,
verlieren, die KPD wiirde eine Million, das sind mehr als
20 Prozent ihrer Wahler von 1930, gewinnen. Aber das sind ja
nur die nackten Zahlen, was steckt dahinter? Wachsen wirk-
lich proportional mit der Vertiefung der okonomischen Krfse
die Krafte des revolutionaren Proletariats? 1st, wenn die ob-
jektiven Bedingungen die -Frage der Eroberung des Sozialis-
mus auf die Tagesordnung setzen, ist dann der subjektive Fak-
tor, das revolutionar-marxistische KlassenbewuBtsein.da?
Diese Frage muB bisher strikt verneint werden. Es hat
in der Geschichte der Arbeiterbewegung wohl selten eine
Epoche gegeben, in der em solches Auseinanderklaffen zwi-
schen den objektiven Faktoren und dem subjektiven Faktor
zu konstatieren war. Es hat selten eine Epoche gegeben, in
der die Schlagkraft der Arbeiterschaft so gering war. Die
entscheidende Schuld daran trifft den Reformismus innerhalb
der SPD. Auf der andern Seite soil das zahlenmaBige
Wachsen der KPD nicht dariiber hinwegtauschen, daB sie an
der fiir die spatern Kampfe schlechthin entscheidenden Stelle,
in den Betrieben, nur wenig weiter gekommen ist. Das Karl-
Liebknecht-Haus war vierzehn Tage besetzt; die ,Rote Fahne'
ist auf vier Wochen verboten. Aber es gibt kaum einen Be-
trieb in Berlin, der dag eg en protestiert hatte. Die Betriebe
2 505
schwiegen. Wenn abcr die Bctriebc schweigen, wenn die
Kommunisten in den Betrieben nicht die Massen an sich reiBen
konnen, dann ist dies das deutlichste Zeichen, da8 in den Be-
trieben bei der Majoritat der Arbeiterschaft der Wille l zum
Kampf fehlt. Warum fehlt dieser Wille? Warum ist heute
ein so schweres Mifiverhaltnis festzustellen zwischen dem
standigen wachsenden Eindringen der kommunistischen Ge-
dankenwelt bei denArbeitern und der so geringen organisato-
rischen Verwurzelung auf der andernSeite? Weil die Kommu-
nistische Partei grade in der Epoche, wo die Klassenkampf e sich
immer mehr zuspitzen, wo der Bankrott des kapitalistischen
Systems immer deutlicherwurde, wo aucb die Massen der gewerk-
schaftlich organisierten Arbeiter auizuwachen begannen, ^weil
die Kommunistische Partei grade in dieser Epoche die Taktik
iiir richtig hielt, bei den Betriebsratswahlen gegen die gewerk-
schaftliche Liste ihre eigne rote Betriebsratsliste aufzustellen
und so allmahlich zur RGO (Revolutionare Gewerkschafts-
Opposition), zu eignen Gewerkschaftsladen kam. Damit wurde
und wird die revolutionare Elite in der Arbeiterbewegung von
den breiten Massen getrennt, grade in der Zeit, wo diesen Mas-
sen die Historie drauBen Dialektik einhammert. Damit wird
nicht nur die revolutionare Elite von den Massen getrennt,
sondern gleichzeitig wird den Unternehmern die bequemste
Gelegenheit gegeben, die Betriebe kommunistenrein zu
machen; denn wenn die roten Betriebsrate gemaBregelt wer-
den, so stehen keine Gewerkschaften, keine Masseneinfltisse
hinter ihnen. Nichts hat bbjektiv den Unternehmern und den
reiormistischen Gewerkschaftsbureaukraten mehr geniitzt als
die kommunistische Gewerkschaftspolitik, In der KPD hat
man bereits vielfach das Falsche dieser Politik eingesehen und
von Moskau aus wird immer wieder geschrieben, daB man die
Arbeit im Betriebe, die Arbeit in den Massenorganisatio-
nen, vor allem" in den Gewerkschaften, vernachlassigt habe.
Aber man ist hier der Gefangene der einmal outrierten Poli-
tik, man kann schwer wieder zuriick. Und so ist heute fest-
zustellen, daB an der fur die proletarische Losung der Krise
entscheidenden S telle, in der Eroberung der Betriebe fur den
Kommunismus, bisher nur sehr wenig geschehen ist, und zwar
infolge -einer Taktik, die bereits ein sehr wesentlicher Teil der
kommunistischen Funktionare fiir falsch halt, die man aber als
Sklave der bisherigen Politik nicht radikal zu andern wagt.
Nur im Hintergrunde dieser Situation sind die letzten Er-
eignisse in der SPD vollig zu verstehen. Die SPD bekommt
die Folgen ihrer Tolerierungspolitik jeden Tag deutlicher zu
spiiren. Der .Vorwarts' weiB beim Ausgang der hamburger
Wahlen nichts andres zu sagen, als daB sie die Antwort auf
die Verscharfung der wirtschaftlichen Krise sind. Ein wesent-
licheres Zeichen fiir die Verburgerlichung der heutigen So-
zialdemokratie lafit sich nicht erbringen. Es gab einmal eine
Sozialdemokratie, die grade in der Krise zunahm — lang ist
es her.
Die Emporung der sozialdemokratischen Arbeiter gegen
die Tolerierungspolitik des Parteivorstandes wird immer groBer.
Der Parteivorstand hat bisher nur eine Antwort daraui: Aus-
506
schluB. AusschluB zunachst der Jug end, so weit noch wclchc
da ist. Es ist bekannt, dafi der Prozcntsatz der Jugend in
der SPD geringer ist als der Prozentsatz der Jugend in
Beutschland uberhaupt, Durch die AusschluBoffensive des
Parteivorstandes in letzter Zeit ist das Verhaltnis noch schlech-
ter geworden. Aber der AusschluB der Jugend geniigt nicnt
mehr. Denn neben der Jugend rebellierte der Kreis um Seyde-
witz immer starker, Wenn dieser organisatorisch innerhalb
der SPD noch nicht in die hunderttausende geht, so lag und
liegt das an der falschen Gewerkschafts- und damit Betriebs-
politik der KPD. Denn wenn von dem Kreis um Seydewitz die
Tolerierungspolitik gegeniiber Briining immer starker kriti-
siert wurde, so fragten ihn die Arbeiter: „Wo willst du hin?
Willst du in die KPD, die sich durch ihre RGO des Einflusses
in den Betrieben so beraubt hat?" Die falsche kommunistische
Taktik war ein nicht unwesentlicher Grund fur die vielfach
schwankende Haltung, die die Seydewitzgruppe in ihrer Oppo-
sition gegen den Parteivorstand zeigte. Aber selbst diese
Opposition war dem Parteivorstand in der immer kritischeren
Situation zu gefahrlich* Seydewitz und Rosenfeld sind aus
der Partei ausgeschlossen. Eine groBe Anzahl weiterer Aus-
schliisse steht bevor und ist inzwischen schon eingetreten. Was
wird weiter geschehen? Einer aus dem Kreise, der Reichs-
tagsabgeordnete Walter Oettinghaus, der Bevollmachtigter des
Deutschen Metall-Arbeiter-Verbandes in Hagen ist, tritt in
die KPD ein, und er hat zur Begnindung dieses seines
Schrittes gesagt, es sei ihm vom kommunistischen Zentral-
Komitee zugesichertt worden, daB er seine Tatigkeit im Ver-
band fortsetzen konne, denn die Kommunistische Partei ge-
denke, ihre RGO zu liquidieren. Man muB aufs scharfste be-
zweifeln, ob die Kommunistische Partei ihr Versprechen an
Oettinghaus halten wird, Wenn die Partei diese Politik wirk-
lich liquidieren wollte, so wurde sie es nicht auf die Weise
tun, dafl sie einem sozialdemokratischen Abgeordneten, der zu
ihr iibertritt, ein Versprechen gibt, sondern sie wird es tun,
wenn die objektiven Verhaitnisse sie dazu zwingen, wenn nicht
ein Einzelner mit ihr verhandelt, sondern wenn die Verhandlun-
gen von Macht zu Macht erfolgen. Dazu aber geniigt in keiner
Weise, was Seydewitz und Rosenfeld bisher getan haben, die
ihren Kampf gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand
lediglich unter der Devise der Meinungsfreiheit gefiihrt haben.
Dazu ist der scharfste dokumentarische Bruch mit dem Refor-
mismus notwendig. Dazu ist die Aufstellung eines kommuni-
stischen Programms notwendig, eines Programms, dafi der re-
formistischen Wirtschaftsdemokratie die Diktatur des Prole-
tariats gegenuberstellt, das weiterhin Gegenwartsforderun-
gen aufstellt und dem kapitalistischen Ausweg aus der Krise
den proletarischen gegenuberstellt. Eine neue zentristische
Partei zwischen KPD und SPD ist in Deutschland auf die Dauer
unmoglich. Der Gegner des Reformismus innerhalb der Arbei-
terbewegung kann nur der Kommunismus sein. Dagegen ist es
bei der heutigen Taktik der Kommunistischen Partei notwen-
dig, eine Auffangorganisation, ein Sammelbecken zu schaffen.
Wenn die Gruppe um Seydewitz und Rosenfeld heute eine
507
Aufgabe innerhalb der Arbeiterbewegung hat, dann ist cs
diese, Massen urn sich zu sammeln, Masscn, die im Reformis-
mus den Feind der Einhcit der Arbeiterklasse sehen, die die
Tolerierungspolitik ablehnen, die bereit sind, den proletari-
schen Ausweg axis der Krise zu organisieren und die heutige
Gewerkschaftspolitik der Kommunisten ablehnen, weil sie wis-
sen, daB dadurch die kommunistische* Eroberung der Betriebe
gefahrdet, wenn nicht gar verhindert wird Diese Massen sind
da, Diese Massen sind nicht nur innerhalb der linken sozial-
demokratischen Arbeiter da, die mit Seydewitz und Rosen-
feld ihr Parteimitgliedsbuch wegwerfen, sondern dariiber hin-
aus gibt es Hunderttausende, ja Millionen, die Kommunisten
sind, die den Reformismus ablehnen, aber auch die kommuni-
stische Taktik der RG-O. Sie gilt es zu organisieren Sie
gilt es zu sammeln Gelingt dies, gelingt die Organisation,
dann ist ein objektiver Faktor geschaffen, der die KPD zu
einer taktischen Wendung veranlassen konnte, zu einer tak-
tischen Wendung, die ihre besten Funktionare bereits heute
fiir notwendig halten. Dann ist der entscheidende Faktor ge-
s chaff en fiir die Eroberung des Sozialismus: die Einheit der
klassenbewuBten Arbeiterschaft.
Interview mit Max Seydewitz waitueTkarsch
Frage
LJaben Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor, eine neue Partei zu
griinden?
Antwort
Ja, denn es bleibt uns kein andrer Weg tibrig, wollen wir nicht
in dre vollige Isolierung geraten. Zur Kommunistischen Partei konnen
wir nicht gehn, weil uns wichtige Fragen der Taktik und der Organi-
sation von ihr trennen. Fur die Durchfiihrung des Klassenkampfes
hat es sich, zum Beispiel, als eine Gefahr erwiesen, dafi eine zentrale
Stelle, also Moskau, dekretiert, was in den einzelnen Landern zu ge-
schehen hat. Aber die Bedingungen sind in jedem Land anders, und
es gibt kein allgemeingtiltiges Rezept. Meinungsverschiedenheiten
politischer Natur fiihrten zu unserm Ausschlufi aus der SPD, weil
wir uns der Apparatdiktatur nicht fugen wollten. In der KPD aber
ist diese Apparatdiktatur noch viel starker ausgebildet. Wir wurden
sicherlich sofort wieder ausgeschlossen werden, wenn wir unsrer ab-
weichenden Meinung Geltung verschaffen wollten. Wir wollen inner-
halb der Partei die Freiheit der Meinungsaufierung gewahrt wissen.
Da aber die Kommunisten jeden beschimpfen, der auch nur in den
geringfiigigsten taktischen Fragen andrer Meinung ist, so war auch
aus diesem Grunde fur uns der Weg zur KPD verschlossen,
Frage
Ist es denn zu einer Parteineugrundung nicht bereits zu spat?
Hat es die SPD nicht ausgezeichnet verstanden, Sie und Ihre
508
Freunde in die Isolierung zu lawieren? Und geht nicht auf der
andern Seite beute die Massenbewegung der Arbeiter von der SPD
direkt zur KPD?
Antwort
Da wir keine Parteispaltung wollten, lag es auch nicbt in unsrer
Macht, den Zeitpunkt zu einer Parteineugrundung zu bestimmen; wir
haben gar nicbt daran gedacbt, eine neue Partei auizumachen, so lange
wir nocb Mitglieder der SPD waren. Erst beute, wo wir ausgeschlossen
sind, wird diese Frage akut. Ob es zu spat ist oder nicht, das wird
die Entwicklung lehren. Wir wollen nicht, daB unsre Genossen, die
mit uns kommen, der politischen Indifferenz anheimfallen, denn fiir
sie gibt es keinen Weg zur KPD. Auch zwischen den oppositionellen
SPD-Arbeitern und. den Kommunisten besteht eine HaBatmosphare, in
der ein Zusammengehen nicbt gedeihen kann. Unsre Genossen
wollen nicbt, sie lehnen den Kurs der KPD ab, Diejenigen,
die binter uns stehn, verlangen von uns ' die Schaffung einer
organisatorischen Bindung, Ein Grund mehr fiir uns, unser Partei-
projekt in Angriff zu nehmen; ungeachtet aller Hemmungen, die sicb
entgegenstellen konnen und entgegenstellen werden, Wenn Oetting-
haus zur KPD ubergetreten ist, so erklart sich das aits der besonderen
Situation im Westen Deutschlands, Hier haben sich die Klassen-
gegensatze weitaus mehr verscharft als anderswo in Deutschland, Die
Arbeiterschaft war demgemaB noch viel weniger mit der Tolerierungs-
taktik der SPD einverstanden. Auf diese unzufriedenen Massen kon-
zentrierte sich nun der Druck der Parteidiktatur so sehr, daB tiberall
Ausschliisse erfolgten. Da die Ausgeschlossenen nicht zur politischen
Inaktivitat verdammt sein wollten und wiederum noch kein andres
Becken da war, sie aufzunehmen, so vollzogen sie den Ubertritt zur
KPD, und Oettinghaus hat scblieBlich nichts andres getan als aus
dem Obertritt der groBen Anzahl von Mitgliedern seines Bezirks die
Konsequenzen zu ziehen. Das alles aber gilt nur fur den Westen
Deutschlands, und auch da nur bedingt.
Frage
Wie stehen Sie zu den Gewerkschaften? Tragen Sie Ihren Kampf
auch in diese, und wie werden Sie sich mit der Revolutionaren Ge-
werkschafts-Opposition auseinandersetzen?
Antwort
Wir sind selbstverstandlich nach wie vor gegen jegliche Spaltung
in den Gewerkschaften. Mag der politische Standort der Arbeiter
auch verschieden sein, in wirtschaftlichen. Fragen kann es nur ein ge-
meinsames Vorgehen, und zwar innerhalb der freien Gewerkschaften
geben, Man hat uns oft entgegengehalten, warum sich unsre Genos-
sen in den Gewerkschaften so zuriickhielten. Das kam einfach daher,
daB jedem Kritiker aus den Reihen der oppositionellen Arbeiter von
der Gewerkschaftsbureaukratie bedeutet wurde, er betreibe das Ge-
schaft der kommunistischen Spalter. Die oppositionellen SPD-Arbeiter
sind scblieBlich einfach den Versammlungen ferngeblieben, weil sie
um der Fraktionsdisziplin willen still sein und ibre Meinung unter-
driicken muBten. Diese Hemmung fallt jetzt fort. Es wird sich dann
zeigen, daB wir grade in den Gewerkschaften liber eine erbeblicbe
509
Zahl von Anhangern verfiigen. Wie ja iiberhaupt die Ansicht, wir
seien isoliert, weil doch zunachst so wenig bcsoldcte Funktionare mit-
gegangen sind, total verkehrt ist. Die von der Partei abhangigen
Funktionare warten, ob wir vorwarts kommen oder aber auf der
Strecke bleiben; und ich babe alles Verstandnis daftir, Diese im
Apparat arbeitenden Genossen haben zwar EinfluB auf viele Arbeiter,
sie sind aber nicht die Massen. Und von denen wird ein erheblicher
Teil mitmachen, wenn wir zur Aktion schreiten. Unsre Genossen
sind mit Recht der Ansicht, dafi die Grtindung der RGO
ebenso wie alle andern Spaltungen, so zum Beispiel auf kulturpoli-
tischem Gebiet und im Sport, der Arbeiterschaft nur geschadet ha-
ben, Auch aus diesen Grtinden erklart sich die Abneigung unsrer
Anhanger gegen den Eintritt in die KPD. Ich will Ihnen noch ein
ganz typisches Beispiel fur die Stimmung in unsrer Arbeiterschaft
geben. Die Sportorgamsationen haben sich im Laufe der Jahre zum
groBten Teil uberall eigne Hallen und Platze erworben. Heute sitzen
nun die von der Spaltung Ubriggebliebenen in den groBen Raumen,
ihre Hauser sind in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, — und die
Schuld wird naturlich den Kommunisten zugeschrieben. So grotesk
es erscheinen mag, aber grade solche scheinbaren Kleinigkeiten tragen
dazu bei, die Atmosphare im Kampf der Arbeiter aus den ver-
schiedenen Parteien zu vergiften. Wir wollen innerhalb all dieser
Organisationen fur unsre Ziele kampfen und glauben, daB grade die
Gewerkschaften fur uns ein groBes Wirkungsfeld darstellen. Die RGO
werden wir bekampfen, weil sie der Sache der Arbeiterschaft im
Kampf um die wirtschaftlichen Forderungen nur schadet, indem sie
deren Krafte zersplittert.
Frage
Wird man die neu zu grundende Partei als eine radikalisierte
SPD anzusprechen haben, oder denken Sie an die Schaffung einer
neuen, auf ganz andern geistigen Grundlagen ruhenden Partei, die
sich nicht mehr allein parlamentarisch-demokratischer Mittel bedient
sonderh den aktuellen revolutionaren Kampf um die Machtergreifung
durch die Arbeiterschaft in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt?
Antwort
Wir werden uns selbstverstandlich nicht damit begniigen, das
Programm der SPD zu radikalisieren. Vorerst aber ist es einmal
notwendig, ein provisorisches Aktionsprogramm aufzustellen, ehe
wir uns in weitgehende programmatische Diskussionen einlassen kon-
nen, Aber soviel laBt sich schon jetzt sagen: Im Sinne von Karl
Marx sind auch wir fur die Diktatur des Proletariats, „die Diktatur
der ungeheuren Mehrheit im Interesse der ungeheuren Mehrheit."
AuBerdem halten wir im Gegensatz zu der alten SPD die
gegenwartige Krise nicht fur voriibergehend. Sie geht tiefer,
und wir miissen sie ausnutzen zum Sturze des kapitali-
stischen Gesellschaftssystems. Das ist ubrigens ganz im Sinne des-
sen, was die Zweite Internationale auf ihrem KongreB in Wien be-
schlossen hat. Dieser BeschluB blieb, wie manches andre, Papier.
In den organisatorischen Fragen haben wir an eine weitestgehende
510
interne Demokratie gedacht. Wir wollen, dafi die Funktionare von
der Masse getragen und nicht von oben her bestimmt werden, wie
das in der SPD der Fall ist. Unsre Funktionare sollen Beauftragte -
der sie wahlenden Massen sein, standi ger Ausdruck fur den Willen
dieser Massen, Die Stimmung der SPD-Mitglieder ist verfalscht
worden durch die Allmacht der Bureaudiktatur. Dieser Gefahr miis-
sen wir von vornherein begegnen. Das ist es ja auch, was wir unter
anderm an den Kommunisten auszusetzen haben, diese Unterdruckung
der Parteidemokratie. Disziplin muB gehalten werden, aber diese ist
nicht gleichbedeutend mit bedingungslosem Kuschen. Wer iibrigens
Naheres iiber „Unsere Stcllung zu Sowjetrufiland" wissen will, den
verweisen wir auf den Band gleichen Titels aus der Reihe „Die roten
Bucher". Wir gehen da iiber den auch nie beachteten Beschlufi
des marsailler Kongresses: Hande weg von Sowjetrufiland! — hinaus.
Wir wollen uns schiitzend vor die Sowjetunion stellen.
Frage
Gefahrdet eine neue Partei die Rote Einheitsfront nicht mehr
als sie ihr niitzt?
Antwort
Im Gegenteil. Wir sehen heute zwei Arbeiterlager, die durch
einen tiefen Spalt voneinander getrennt sind. Keines dieses Lager
wird die Rote Einheitsfront schaffen, weil keiner den Spalt iiber-
briicken sondern den andern zu sich heriiberziehen will. Wir wol-
len diese Brticke bauen, und deshalb ist unsre Partei nicht Selbst-
zweck, sie ist Mittel zu diesem Zweck. Wir sind der Oberzeugung,
daB doch noch einmal eine groBe eihheitliche Arbeiterpartei ent-
stehen wird, Natiirlich wird sie nur existieren konnen, wenn sie sich
ihres rechten Fliigels, des kleinbiirgerlich gewbrdenen Teils der
SPD, entledigt haben wird. Bis diese einheitliche Partei zustande-
kommt, wird noch einige Zeit vergehen. Wir wollen die Vorarbei-
ten dazu leisten. Und da ist uns ein jeder willkommen. Wir
werden ftir grofite Toleranz in der Partei sein und daftir sorgen,
daB in den Parteileitungen alle Stromungen vertreten sind;
denn nur so haben wir die Garantie, tatsachlich den Willen der
Mehrheit unsrer Mitglieder auszufiihren, Wir sind dabei der Uber-
zeugung, daB es uns gelingen wird, so ziemlich alle Gruppen zwi-
schen SPD und KPD in einer gemeinsamen Front zu einigen, eben
wegen der von uns angewandten weitgehenden Toleranz. Wir haben
diese Hoffnung, alle Gruppen zwischen SPD und KPD fiir
uns gewinnen, denn wir wollen uns mit alien einigen, die mit uns
kampfen wollen und die vor allem aus iKrer todlichen Isolierung her-
auswollen. Am starksten aber macht sich unser Einflufi auf die Ju-
gend geltend. Es steht schon heute fest, dafi sich der grofite Teil der
sozialistischen Arbeiterjugend zu uns , bekennt, und andre Jugerid-
organisationen haben uns bereits ihre Mitarbeit angeboten. Wir wer-
den die Formel finden, auf der wir sie einigen konnen. Helfen wird
uns da unser Wille zur Toleranz und zur Demokratie innerhalb der
Organisation. Die Rote Einheitsfront wird durch uns nicht gefahr-
det. Wir werden sie vor allem mit denen zu schaffen versuchen, die
bisher vergeblich an ihrem Zustandekommen gearbeitet haben.
511
Die Krise des Kapitalismus yon Bernard citron
Der gerechtfertigte Marx
\/or einem halben Jahrhundert hat Karl Marx die Welt mit
seiner Mehrwerttheorie, die den Kern der marxistischen
Lehre bildet, vertraut gemacht/ Im letzten Jahrzehnt hatte
man bis tie! in die Reihen der Arbeiterschaft hinein diese Be-
griffe bereits fiir iiberlebt gehalten. Das gedankenlose Ge-
schrei, das von Industriefuhrern und nationalsozialistischen
Demagogen wider den Marxismus erhoben wurde, rettete ihn
wenigstens vor der Vergessenheit. Plotzlich aber hat Karl
Marx uber alle seine Gegner von Walt her Rathenau bis Gott-
fried Feder triumphiert/ Die Gesetze vom Mehrwert und von
der Akkumulation bedrohen die Existenz des Kapitalismus,
Der Mehrwert ist jener Teil der durch Arbeitskraft erzeugten
Leistung, der den Konsum der Arbeit enden ubersteigt. Aus
diesem Mehrwert entsteht die Anhaufung des Kapitals, Grade
in der Akkumulation sah ein so geistvoller Kritiker des
Marxismus wie Rathenau die Lebensberechtigung des Kapi-
talismus, da nach Abzug des Unternehmerverbrauchs der
Mehrwert wieder dem ProduktionsprozeB zugefiihrt wird. Er
iibersah aber — mit ihm die meisten Gegner der marxistischen
Lehre — , daB der Fortschritt des Produktionsprozesses nur
dann einen okonomischen Sinn behalt, wenn die Konsumkraft
der Bevolkerung in gleichem MaBe steigt wie die Erzeugungs-
kapazitat des Landes. Da aber die Spanne zwischen Pro-
duktion und Verbrauch von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt groBer wurde, hat der nicht konsumierte Mehrwert
schlieBlioh zu der von Marx vorausgesehenen Krise des Kapi-
talismus gefuhrt. Das gegenwartige System der Weltwirt-
schalt oHenbart seine Sinnlosigkeit, indem die Existenz der
SchaHenden durch Mangel, die der Unternehmer durch Ober-
fluB an Konsumgutern bedroht ist.
Absatznot — Arbeitsnot
In jener schon halbvergessenen Zeit, als noch taglich
Wertpapierborsen abgehalten wurden, war die Tendenz regel-
maBig flau, wenn ein Bericht des Instituts fiir Konjunktur-
forschung veroffentlicht wurde, Man machte dafiir natiirlich
nicht die Konjunktur, sondern das Forschungsinstitut verant-
wortlich, Ein Erdbeben laBt sich nicht vermeiden, auch wenn .
man den Seismographen zerstort. Im letzten Vierteljahrs-
bericht des Konjunkturforschungsinstituts hieB es, daB sich die
riicklaufige Entwicklung in alien kapitalistischen Volkswirt-
schaften fortsetzt. Die weitere Einschrankung der Wirtschafts-
tatigkeit durch Verringerung des Kreditvolumens wurde mit
dem Steigen der Geldsatze in den meisten mittel-f ost- und
sudeuropaischen Landern und in GroB-Britannien erklart. Die
Geld vers teifung hat nun auch auf Nordeuropa iibergegriffen,
Eine neue, ungeahnte Erscheinung ist hinzugetreten: die Geld-
abwertung in England, den skandinavischen Staaten und , , .
(Fortsetzung folgt), Also grade die Staaten, die bisher zu den
kapitalkraftigsten gezahlt wurden, sirid als Kreditgeber aus-
512
geschaltet, der Export nach diesen Wirtschaftsterritorien ist
fur die andern Lander — vor allem fiir Deutschland — sehr
erschwert worden. In den Vereinigten Staaten machen sich
unter dem Eindruck der eignen ungeheuren Absatzkrise neue
Schutzzolltendenzen bemerkbar. Da es trotz der hoffnungs-
vollen Verhandlungen zwischen den deutschen und den fran-
zosischen Ministern nicht gelingen diirfte, bei Frankreich einen
genii^enden Ersatz fiir den Exportausfali nach andern Landern
zu finden, muB mit einem Sinken des deutschen Ausfuhriiber-
schusses gerechnet werden. Diese Tatsache ist um so nieder-
schmetternder, als die seit einem Jahre fast ununterbrochen
gestiegene Aktivitat der Handelsbilanz nur die Folge einer bis
zum auBersten verminderten Einfuhr gewesen ist. So miissen
wir befurchtenj dafi die Produktion in Deutschland, die in der
ersten Halfte des Jahres um 5 Milliarden Reichsmark zuriick-
gegangen ist, noch eine weitere Einschrankung erfahren wird.
Gleichzeitig wird sich auch das im selben Zeitraum um 3 Milli-
arden Mark gesunkene Arbeitseinkommen weiter verringern,
Im Kreislauf der Volkswirtschaft erzeugt das verminderte Ar-
beitseinkommen verminderte Kaufkraft und neue Drosselung
der Produktion. So kommt es taglich zu Entlassungen und
Betriebsstillegungen. Die vermehrte Arbeitslosigkeit und das
Sinken der Unterstiitzungssatze «chwacht wiederum die Kon-
sumkraft und fiihrt zu immer neuen Absatzkrisen. Ein furcht-
barer circulus vitiosus, dessen Radius — nach den Schatzun-
gen des Reichskanzlers — Arbeitslosigkeit fiir 7 Millionen
Menschen bedeutet,
Angesichts dieser verzweifelten Lage sind gewisse Pro-
jekte aufgetaucht, um die Arbeitslosenbataillone wieder in die
Armee der Arbeit einzureihen. Arbeitslosensiedlung, Natural-
unterstiitzung und freiwilliger Arbeitsdienst gehen ihrer Ver-
wirklichung entgegen, Eines haben diese drei Projekte gemein-
sam, sie beweisen die Absurditat eines iibersteigerten kapi-
talistischen Systems und fiihren zur primitiven Form der vor-
kapitalistischen Wirtschaft , zuriick, Der Siedlungsgedanke,
der in einigen Gegenden bereits durchgefiihrt ist, soil die aus
dem ProduktionsprozeB Ausgeschalteten zu Selbstversorgern
machen. Die Beschaffung der Kleidung und des fehlenden
Teiles der Nahrung soil durch Verkauf eigner Erzeugnisse oder
durch beschrankte Dienstleistung ermoglicht werden. Die Na-
turalversorgung soil dazu dienen, die Bediirfnisse der Arbeits-
losen aus dem ProduktionsuberschuB zu befriedigen. Der Ver-
brauch wird nach der Produktion reguliert, weil die Produ-
zenten es unterlassen haben, die Erzeugung im Preis und Urn-
fang dem Verbrauch anzupassen.
Ersparnis an Arbeitskraften durch technische Vervoll-
kommnung und Vermehrung der Produktionsmittei war das
Prinzip der Rationalisierungsmethoden* die Millionen von Ar-
beitern mittelbar oder unmittelbar brotlos gemacht haberi.
-FluBregulierung, Urbarmachung von Odland, Wegebau etc. —
die Aufgaben des Arbeitsdienstes — sollen Arbeitskraft bei
sparsamster Verwendung von Produktionsmitteln der All-
.gemeinheit nutzbar machen. Bezeichnend ist es, daB man bei
3 513
jedem Projekt zur Bekampfung der Arbeit slosigkeit auf Ver^
suche stoBt, die Schaden durch Umkehrung des bisheriger*
Systems zu heilen,
Kredit- und Kreditihstitute
Eine moderne Volkswirtschaf t ohne heimischen und inter-
nationalen Kreditverkehr ist niclit denkbar. Daher bringt die
plotzliche Abschniirung vom Kredit mark t schwere Erschiitte-
rungen mit sich, unabhangig von der gesunden oder ungesun-
den Basis der friihern Kreditpolitik. Wie ungesund sie bei
uns und in den meisten andern Staaten gewesen ist, hat der
franzosische Finanzminister Flandin vor dem Volkerbund dar~
gelegt. Da Frankreich vorlaufig recht behalten hat, miissen
die andern Nationen die Belehrungen des Herrn Flandin wohl
oder ubel hinnehmen. ,,Ein Land, England, hat seine Arbeits-
losigkeit ruhig um sich fressen lassen, ein andres, Deutsche
land, bat sich an der Rationalisierung ruiniert, andre, ameri-
kanische Staaten, haben ihre Warenlager zu valorisieren ver-
sucht und dadurch die Kapitalzirkulation gehe.mmt." Man hort
ferner den wohlgemeinten Rat, an Stelle neuer Kredite die
alten aufrechtzuerhalten. Den gleichen Gedankengangen ist
die Stillhaltung entsprungen, die auf Grund der Vereinbarun-
gen zwischen Deutschland und den auslandischen Bankglaubi-
gern zustande kam. Die vollige Absperrung von neuen Kre-
diten ist ohne Schwierigkeit nur denkbar, wenn ein normaler
Kreditstandard aufrechterhalten wird. Als aber die Stillhal-
tung in Kraft trat, war bereits ein sehr grofler Teil auslan-
discher Guthaben aus Deutschland abgezogen worden. Die
Verhinderung jeder neuen Kreditzufuhr wirkt sich als indirelt-
ter Kreditabzug aus. So ist die Kapitaldecke in Deutschland
vollstandig eingeschrumpft, Der deutsche Realkredit, dessen
Gesamtvolumen rund 12 Milliarden betragt, ist ins Stocken ge-
raten. Die Sparkassen lassen erklaren, daB die Liquiditats-
politik vor der Kreditpolitik gehe. Die Kreditbanken haben
das einzige Streben, ihre Debitoren moglichst abzubauen.
Ahnlich wie nach dem Zusammenbruch der Oesterreichi-
<schen Credit-Anstalt erfahrt man erst jetzt allmahlich von dem
AusmaB der Schwierigkeiten bei der Danatbank. Vor zwei-
einhalb Monaten schloB dieses Institut seine Schalter. Ein
Treuhander wurde eingesetzt, der den Status mit moglichster
Beschleunigung vorlegen sollte. Bis heute herrscht iiber die
Hohe der Aktiven und Passiven volliges Dunkel. Die Industrie
war angeblich bereit, die Aktienmajoritat dieser Bank zu er-
werben, Auch dies ist schon anderthalb Monate her, ohne
dafi man etwas Positives gehort hatte, Nur die bisherige Lei-
tung bemiihte sich, die Offentlichkeit durch tendenziose Mel-
dungen von einem bevorstehenden AbschluB bei Stimmung zu
halten. Nach dem bisherigen Verlauf gewinnt man den be-
stimmten Eindruck, daB auf die Reichsgarantie bereits zuriick-
gegriffen worden ist. Be vor der Treuhander ^ nicht kiipp und
klar das Gegenteil beweisen kann, miissen wir an dieser An-
nahme festhalten. Auch das Schicksal der Dresdher Bank ist
noch ungewiB. Bald nach dem Eintritt der Vertreter des
Reichs in den Aufsichtsrat tauchte der Gedanke auf, die Bank
514
in ein norddeutsches, ein siiddeatsches und ein westdeutsches
Institut aufzuteilen. Man hat diescn Plan wieder fallen lassen,
ohne daB an eine Fortftihrung im altcn Stil gedacht werden
kann. Die Pfundverluste, die andre sehr groBe Bankinstitute
in den letzten Wochen erlitten haben, riefen bereits neue Ge-
fahren hervor, die anscheinend nur mit Hilfe des Reiches vor-
laufig gebannt werden konnten. Eine Zeitlang dtirfte man so-
gar an die Wiederholung der MaBnahmen vom 13. und 14. Juli
gedacht haben.
Wer zahlt?
Banken, Sparkassen und Hypothekenbanken scheiden fiir
die Kreditversorgung der Wirtschaft vorlaufig aus. Es bleibt
also als letztc ZufLucht das Reich. Das Reich hat die Banken
und die Kommunen sanieren mussen, ihm fallt die Unter-
sttitzung der Arbeitslosen in erster und letzter Linie zur Last,
Mit einem Defizit von anderthalb Milliarden trat das Reich in
die Jtdi-Krise ein. Die Aufwendungen, die durch Subventionen
und Garantien zugunsten privater und offentlicher Stellen ent-
stehen, lassen sich schwer abschatzen; somit ist es auch un-
moglich, eine bestimmte Zahl fiir den Fehlbetrag im Reichs-
haushalt zu nennen, der sich nicht nur durch vermehrte Aus-
gaben sondern auch durch Verringerung des Steueraufkom-
mens vergrofiert hat. Selbst bei einem vollen Erfolg der
Reichsbahnanleihe, der wohl kaum zu erwarten ist, wird nur
ein sehr bescheidener Teil des Defizits konsolidiert werden
konnen. Also bleibt anscheinend nur die Schafiung zusatzlicher
Zahlungsmittel, die nicht vorne herum durch vermehrten No-
tendruck, sondern iiber die. Hintertreppe in Form weitherziger
Wechseldiskontierungen bereits stattgefunden hat. In den fol-
genden schweren Monaten wird es sich zeigen, ob es noch
moglich ist, durch Wahrungsexperimente — Inflation oder De-
flation — das System zu retten oder ob wir dem Ende der
deutschen und vielleicht auch der europaischen Wirtschaft
entgegengehen.
Zu dieser Zensur
FYas ist ja eben der Segen der PreBfreiheit, sie raubt der kuhnen
^ Sprache des Demagogen alien Zauber der Neuheit, das leiden-
schaftliche Wort neutralisiert sie durch ebenso leidenschaftliche Ge-
genrede, und sie erstickt in der Geburt schon die Ltigengeruchte, die
— von Zufall oder Bosheit gesat, so totlich frech emporwuchern
im verborgenen, gleich jenen Giftpflanzen, die nur in dunklen Wald-
sumpfen und im Schatten alter Burg- und Kirchentriimmer gedeihen,
im hellen Sonnenlichte aber elendig und jammerlich verdorren. Frei-
Hch, das helle Sonnenlicht der PreBfreiheit ist fiir den Sklaven, der
lieber im Dunkeln die allerhochsten FuBtritte hinnimmt, ebenso fatal
wie fur den Despoten, der eine einsame Ohnmacht nicht gern be-
leuchtet sieht. Es ist wahr, daB die Zensur solchen Leuten sehr
angenehm ist. Aber es ist nicht weniger wahr, daB die Zensur, in-
dem sie einige Zeit dem Despotismus Vorschub leistet, ihn am Ende
mitsamt dem Despoten zugrunde richtet, daB dort, wo die Ideen-
guillotine gewirtschaftet, auch bald die Menschenzensur eingefiihrt
wird, daB derselbe Sklave, der) die Gedanken hinrichtet, spaterhin
mit derselben Gelassenheit seinen eigenen Herrn ausstreicht aus dem
Buche des Lebens, Heinrick Heine
515
Das Laster der Sparsamkeit
von Hanns-Erich Karainski
Dereits vor cinem Jahr gab der italienische Fascismus die
Parole aus: ^Nieder mit -der fordistischen Politik der
hohen Lohne! Zuriick zur Sparsamkeit der Vater!" Und wie
die meisten Errungenschaften des Fascismus hat sich die in
Deutschland herrschende Klasse auch diese Parole zu eigen
gemacht.
Nun ist eine Ford er wig gewiB noch nicht darum schlecht,
weil sie zuerst von Fascisten erhoben worden ist, Aber kann
ein Regime s einen Will en zur Zukunft starker verneinen, als
indem es nur zuriick in die Vergangenheit weist? Gibt es einen
deutlicheren Beweis fur die Unfahigkeit und Unfruchtbarkeit
eines Systems als die Tatsache, d&B es genotigt ist, seine Zu-
flucht zu Banalitaten von vorgestern zu nehmen?
Die Zeit ist aus den Fugen, Kaiser und Konige und selbst
das englische Pfund sind von ihren Thronen gestiirzt, keine
Autoritat steht noch fest. . Aber die herrschenden Klassen
spielen patriarchalische Regierungsform und proklamieren als
Ideal den guten Burger, der unter alien Umstanden Optimist
bleibt, an amtliche Verlautbarungen glaubt, die Polizei fur den
besten Schutz gegen alles Oble halt, sich nicht zum Gebrauch
empfangnisverhiitender oder gar abtreibender Mittel verleiten
laBt, niemals aufmuckt, niemals widerspricht, niemals einen
eignen Gedanken hat und vor allem unentwegt spart.
Ist Sparsamkeit iiberhaupt eine Tugend? Neinf denn Tu-
genden sind Funktionen der- Moral, Sparsamkeit dagegen ist
eine okonomische Funktion, Okonomische fiir moralische Funk-
tionen auszugeben, ist nun freilich einer der interessantesten
Tricks der menschlichen Gesellschaft.
In dem wunderbaren System, in dem wir leben, ist es
zum Beispiel viel schlimmer, Wechsel zu falschen als etwa den
lieben Nachsten mit einer Geschlechtskrankheit anzustecken.
Von Rechts wegen: Wechselfalscher sind fiir die herrschende
Ordnung gefahrlicher als Geschlechtskranke. Der Wert der
Verbrechen wie der Tugenden richtet sich eben nach den je-
weiligen Bediirfnissen. DemgemaB ware es auch gerechtfertigt,
die Sparsamkeit als eine <ler Tugenden herauszustaffieren, die,
wenn nicht auf Erden, so doch im Himmel ihren, leider nicht
diskontfahigen, Lohn finden — vorausgesetzt, daB die Spar-
samkeit wirklich im Interesse unsres Systems Hegt.
Das aber tut sie nicht. In Wirklichkeit ist sie langst ein
sinnloser Begriff geworden, so wie der Begriff der Feloniesinn-
Los geworden ist, weil es keine Lehnsherrschaft mehr gibt.
Die Sparsamkeit wurde namlich in einer Zeit zur Tugend
erklart, in der die Menschheit im Zustand der Hauswirtschaft
lebte, Jeder produzierte selbstf was er notig hatte, und wenn
er es verbrauchte, bevor er neu produziert hatte, geriet er in
Verlegenheit. „Spare in der Zeit, so hast Du in der Not" heifit
einfach: IB Deine gute Ernte nicht ganz auf, die nachste kann
schlecht sein.
Was jedoch fiir die Hauswirtschaft paBte, gilt noch lange
nicht fiir das kapitalistische System, das auf dem Austausch
516
von Gutern beruht. In der Hauswirtschaft schadeite es nichts,
wenn jemand alles, was er hatte^, in seiner Scheuer auf-
bewahrte. Im kapitalistischen System miissen die Waren, muB
vor all em die Ware Geld standig zirkulieren. Die ganze Exi-
stenz des Kapitalismus fuBt darauf, daB nicht gespart, sondern
ausgegeben wird, moglichst viel ausgegeben wird. Es ist grade-
zu das Kennzeichen dieses Systems, daB es immer mehr Dinge,
die zunachst uberfliissig erschienen, zu unabweislichen Bediirf-
nissen gemacht hat.
Nun sollen wir ja auch gar nicht sparen — wir sollen andre
fiir uns sparen lassen! Denn so verzwickt ist die Moral des
Zeitalters, daB Sparsamkeit in ihm erst zur wahren Tugend
wird, wenn der Hausvater sein Geld nicht in den Strumpf tut,
sondern auf eine Bank bringt. Wenn die Bank zahlungsfahig
bleibt und das Geld nicht seinen Wert verliert, wird diese
Tugend sogar mit Zinsen belohnt.
Man stelle sich nun vor, alle Menschen wiirden wirklich
nur kaufen, was sie unbedingt brauchen, um nicht zu verhun-
gern und" zu erfrieren, und alles, was sie mehr verdienen,
wiirden sie als Spargelder anlegen. Was sollte dann mit diesen
Spargeldern geschehen?
Angeblich sollen sie zur Kapitalbildung dienen. Aber Spar-
geld ist noch kein KapitaL Damit es zum Kapital wird, muB
es etwas einbringen, also produktiv angelegt werden, Je mehr
jedoch gespart, je weniger verbraucht wird, desto weniger
kann produziert, desto weniger Kapital angelegt werden.
Kapital statt Absatz wollen natiirlich auch nicht die ge-
schickten Equilibristen, die die Okonomie mit der Moral ver-
wechseln. Fur sie ist Sparsamkeit auch durchaus keine all-
gemeine Tugend, sondern lediglich eine Vorschrift des nationa-
len Gottes, ,tWir", sagen diese patriotischen Religionsstifter,
„brauchen Kapital, das deutsche (englische, italienische etce-
tera) Volk muB sich daher mit niedrigen Lohnen begniigen
und wenig einkaufen, es muB sparen und uns sein Geld geben,
damit wir produzieren und unsre Produkte moglichst billig an-
dern Volkern verkaufen konnen." Die andern Volker diirfen
also nicht sparen, im Gegenteil, sie konnen nicht verschwende-
risch genug sein. Wie aber, wenn die andern Volker von der
deutschen (englischen, italienischen etcetera) Religion an-
gesteckt werden und ebenfalls sparen?
Die Idee der nationalen Selbstversorgung oder mit andern
Worteii: die Idee, die Einfuhr abzuschaffen, ist gliicklicherweise
absurd. Der Geisteszustand, dem sie entspringt, ist darum nicht
minder reaktionar. Diese Idee negiert die Weltwirtschaft, die
tatsachlich aufhoren muBte, wenn alle Lander nur noch aus-
fiihren und nichts mehr einfiihren wiirden, wobei man sich vor
Augen halten muB, daB es im Effekt vollkommen gleichgiiltig
ist, ob ein Land Kapital oder Waren ausfiihrt, respektive ein-
fiihrt. Auf diesem internationaien Austausch von Waren und
Kapital beruht unsre Zivilisation. „Fuhrt wenig ein und nichts
aus!"-das heiBt deshalb: Selbstmord unsrer Zivilisation.
Der einzelne muB allerdings mit dem, was er hat, auszu-
kommen versuchen. Die Witwe, die ihr Scherflein gab, han-
delte sehr riskant, denn sie verzichtete damit auf ihr Existenz-
517
minimum. Fraglicher ist es dagegen schon, ob die torichten
Jungfrauen, die ihr 01 verbrauchten und nachher im Dunk ein
sa Be nt wirklieh so toricht waren; denn es ist sehr zweifelhaft,
ob eia Gewinn darin liegt, einen GenuB, den man doch nur
einmal haben kann, in die Zukunft zu verschieben. Immerhin,
man kann den Sparsamen sympathisch und den Verschwender
wider war tig finden, besonders in einer Zeit, in der jeder zur
Schau getragene Aufwand eine Herausforderung der notleiden-
den Massen ist,
Aber es hand e It sich gar nicht darum, ob der Mensch als
Einzelwesen mehr oder weniger ausgeben soil, ohgleich der
Verschwender im kapitalistischen System em niitzlicheres Mit-
glied der Gesellschaft ist als der Sparsame. Die Frage lautet
vielmehr: Niitzt Sparsamkeit der Volkswirtschaft als Ganzes
gesehen? Wenn also das Gesamteinkommen des deutschen
Volkes jahriich 50 Milliarden Mark betragt: Ist es richtiger,
daB das. deutsche Volk einen moglichst groBen Teil dieses Be-
trags auf die Banken und Sparkassen bringt, oder ist es rich-
tiger, daB es ihn in War«n anlegt? Und weiter: Niitzt es der
Volkswirtschaft, wenn das Gesamteinkommen gesenkt wird?
Eine ganz andre Frage ist es, wie das Nationaleinkommen
sich verteilt, Gesetzt den Fall, die groBen Einkomm«n wiirden
kleiner und die kleinen grofier werden, so wiirde das ja an
der Gesamtkaufkraft Deutschlands nichts andern; es wiirden
dann vielleicht weniger Pelze aber dafiir mehr Wintermantel
gekauft werden. Werden aber alle Einkommen oder werden
auch nur die Lohne der Arbeiter gesenkt, so verringert sich
die Kaufkraft insgesamt. Und wenn das deutsche Volk alles
in allem nur noch ein Einkommen von 25 Milliarden Mark
hatte, dann konnte es eben nur noch fiir diesen Betrag kaufen.
Und wenn es von diesen 25 Milliarden noch einen erheblichen
Teil sparen und den Kapitalisten als Kapital zur Verfiigung
stellen wiirde, so ware sein Bedarf noch geringer, es konnte
also noch weniger produziert werden.
Gegenwartig werden die Kapitalisten mit ihrem eignen
System nicht mehr iertig, Sie versuchen es einzuschranken,
indem sie die Kaufkraft der Massen mit alien Mitteln herunter-
driicken und nach dem Prinzip: Kleiner Umsatz, grofier Nutzen
wirtschaften, — und hinterher wundern *ie sich, daB die Nation
immer armer wird. Sie wolleti sparen, sie bauen ab, — und
sie merken gar nicht, daB sie Kaufer abbauen!
Alle Welt spricht jetzt davon, daB die Wirtschaft ,,ange-
kurbelt" werden miiBte. Innerhalb des kapitalistischen Systems
gibt es dazu nur ein Mittel: die VergroBerung der Kaufkraft,
sei es durch Erhohung der Lohne und Gehalter, sei es durch
Herabsetzung der Preise. Je grofier die Kaufkraft, desto mehr
Waren finden Absatz, desto mehr konnen erzeugt werden,
desto rascher lauft das Geld um, desto mehr wachst der Wert
des angelegten Kapitals. Denn nicht in demt was sie besitzen,
allein in demt was sie fortlaufend schaffen und umsetzeh, liegt
der Reichtum der Nationen! Vorlaufig leben wir noch im Ka-
pitalismus, und im kapitalistischen System heiBt Sparsamkeit
Verarmung der Volkswirtschaft, ist Sparsamkeit folglich keine
Tugend sondern ein Laster.
518
Zum Sterben zuviel . . .? von Heinz poi
p\as ist jetzt ziemlich genau em Jahr her. Da raffte sich
das durch die September- Wahlen in jeder Beziehung ge-
schwachte Kabinett Briining zu einer kuhnen Tat auf: Es ge-
ruhte najnlich, zum ersten Male festzustellen, daB in Deutsch-
land so etwas wie eine wirtschaftliche und soziale Not herrsche,
und daB dagegen etwas zu geschehen habe. Wenn sich in
Deutschland etwas umsturzend Neues oder Wichtiges er-
eignet, so gibt es einen Aufruf, In jenem beruhmten Aufruf
nun, den das Kabinett Briining im Oktober vorigen Jahres er-
lieB, hieB es, daB die Reichsregierung mit alien Mitteln eine
allgemeine Preissenkungsaktion durchfuhren werde, und daB
sie — damit auch ja keiner etwa lachle — mit dieser Aktion
stehe pder falle. Es war ein historischer Moment, wir hielten
alle den Atem an und sperrten die Augen auff um die Preisc
purzeln zu sehen. Tatsachlich war eine Woche hindurch das
Schweinefleisch in einigen uberangstlichen Laden der Reichs-
hauptstadt um fiinf Pfennige fur das Pfund billiger geworden.
,,Hosian — " riefen wir alle, aber die letzte Silbe blieb uns
im Halse stecken, denn schon war das Schweinefleisch wieder-
um um zehn Pfennige in die Hohe geklettert, und mit ihm alle
andern Lebensmittel. Dafiir senkte sich etwas andres, nam-
lich das Lohnniveau; Mit dem berliner Metallarbeiterstreik
im Oktober 1930 begann diese von der Regierung allerdings
nicht so feierlich angekiindigte Aktion. Sie wurde begonnen,
und sie wurde in ebenso atemberaubendem Tempo wie eiser-
ner Konsequenz und Entschlossenheit durchgefuhrt. Von der
andern Aktion dagegen, von dem Versprechen, zum mindesten
einen Preisausgleich herbeizufuhren, war schon im Dezember
1930 nichts mehr in den groBen biirgerlichen Gazetten zu
lesen. Die groBen Kartelle hatten namlich ihr Veto eingelegt,
und da die Kartelle herrschen, und niemand anders sonst in
Deutschland, so wurde lautlos zum Riickzug geblasen. Und
die Bruningregierung fiel nicht, vielmehr stand sie mit dem
Riicken an die Kartelle fest angelehnt und schob mit dem FuB
das kleine unbequeme Steinchen der Preissenkungsaktion ko-
kett beiseite. Hoppla, man hatte ja womoglich stolpern konnen!
Nun sind wir wieder ein Jahr weiter, und wenn sich auch
vieles inzwischen verandert hat — das Kabinett Briining steht
immer noch und beehrt sich, mit Herbstanfang uns die neueste
Attraktion darzubieten: „die it garantiert echte Preissenkungs-
aktion, Produktionsjahr 1931/32/' Ich weiB nicht, ob die Not-
verordnungen es uns gestatten, iiber diese neueste Ankiindi-
gung der Reichsregierung noch ebenso zu lacheln, wie wirs ehe-
mals durften, Bestimmt aber diirften wir, ga.be es keinen von
einem Teil der demokratischen Freiheitshelden so sehnlich her-
beigewiinschten Pressemaulkorb, der Meinung Ausdruck geben,
daG die Preissenkungsaktion diesmal ein noch viel klaglicheres
Schicksal erleiden wird als im vorigen Jahr. Und wir diirften
hinzufugen, — und zwar auf Grund der neuesten Schieds-
spruche im Ruhrgebiet, der Massenentlassungen in der Metall-
Industrie, der Kurzarbeit, der Feierschichten — , dafi die im
519
Oktober 1930 so tapfer begonnene Lohnsenkungsaktion in die-
seiri Winter kraftige Urstand feiern wird. Im vorigen Jahr
konnte man noch prophczcien, daB alles so kommen werder
beutc aber habcn wir nur noch notig, die Tatsachen zu uber-
blicken und zusammenzustellen, die jeder Zeitungsleser kennt.
Als im vorigen Herbst die grofie Preissenkungswelle, die in-
zwischen zur Sturmflut geworden ist, erst im Entstehen be-
griffen war, da gab es noch die technische Moglichkeit, die
\ Pr eise zum mindesten fiir Lebensmittel, Heizung und Kleidung,
wenn auch nicht absolut, so doch wenigstens relativ, das heifit
auf das Niveau der herabgedruckten Lohndecke zu bringen.
Damals handelte es sich nur um wenige Prozent, fiinf bis zehn
etwa. Diese Differenz ware noch ausgleichbar gewesen. Heute
jedoch liegen die Verhaltnisse so, daB das Lohnniveau, abso-
lut genommen, gegeniiber dem Herbst 1930 um nicht weniger
als 25 bis 30 Prozent tiefer liegt. Die Preise fur die Waren sind
aber fast dieselben geblieben — wenn man einen sehr guten
Durchschnitt annimmt, bleibt allerhochstens ein Absinken von
5 bis 8 Prozent zu konstatieren. Die Differenz zum Lohn-
niveau betragt also 20 bis 25 Prozent. Die Regierung Briining
miifite schon ihren eignen Notverordnungen zum Trotz eine
platterdings revolutionise Tat begehen und also mindestens
sofort alle Preiskartelle zerschlagen, wenn es ihr in diesem
Winter gelingen sollte, die Differenz auch nur einigermaften
auszugleichen. Diese Differenz wird von Woche zu Woche
groBer. Sie muB es werden. Und wenn man die letzten
Befehlsausgaben der groBen Industrieverbande gelesen hat,
in denen Briining barsch aufgefordert wird, nun endlich
einmal die Lohne zu senken, so ersieht man daraus, daB die
Beherrscher Deutschlands entschlossen sind, eher Selbstmord
zu begehen, als auch nur eine Spur egoistischer Klugheit oder
gar altruistischer Menschlichkeit zu zeigen. Die politische
Macht der Gewerkschaften haben sie im vorigen Jahre end-
gultig zerbrochen. In diesem Jahre gehen sie mit frischem
Mut daran, die physische und psychische Widerstandskraft
der Massen zu zerwiirgen. Ist alles zu Ende, dann kann der
nationale Wiederaufbau in Sturmangriff genommen werden,
Aber wer diirfte leugnenf daB die Reichsregierung diesmal
auch noch andre Wege zur Rettung vorschlagt? Ist die ge-
plante Ansiedelung von hunderttausend Erwerbslosen auf dem
Lande etwa kein Silberstreifen am Horizont? Nun, dieser
Silberstreifen tauchte vor etwa drei Wochen auf, er ver-
schwand aber gleich wieder am Horizont, man hat bis heute
nichts Konkretes mehr iiber diese Plane gehort. So daB sich
vielleicht erubrigt, festzustellen, daB wir nicht hunderttausend,
sondern im Augenblick* bereits viereinhalb Millionen Arbeits-
lose im Reich haben. Und dafi sich weiter erubrigt, festzustel-
len, wie grotesk der Gedanke ist, hunderttausend Menschen
plotzlich keine Arbeit slosenunterstiitzung, dafur aber ein Stuck
Land zu geben, von dessen Ertragnissen sie leben sollen. Wer
soil ihnen die notige Kleidung, wer soil ihnen die Maschinen
und Werkzeuge zur sachgemaBen Bearbeitung des Bodens lie-
fern? Und wie sollen diese Hunderttausend das Kunststiick
520
fertig bringen, aus ihrem Stuck Land vor der nachstjahrigem
Herbsternte — also in rund einem Jahr — auch nur einen
Pfennig Erlos zu ziehen? Wer ernahrt sie in der Zwischen-
zeit? Wer baut ihnen die Wohnungen? Natiirlich alles die
Reichsregierung: also brauchte sie, wenn sie ihren Plan in die
Tat umsetzt (was wir freilich nicht glauben), ungefahr zehnmal
soviel Geld, wie wenn sie die Unterstutzung&gelder weiter zahlt.
Inzwischen hat die Stadt Berlin im allerkleinsten MaB-
stabe einen Versuch gemacht, den Plan der Reichsregierung;
in die Tat umzusetzen. Ein sehr merkwiirdiger Versuch. Bel
dem Ort Gussen, unmittelbar an der schlesischen Grenze, be-
sitzt der berliner Magistrat etwa vierzig Morgen Land. Er
hat dort ein paar Erwerbslosenfamilien angesiedelt, die das
Land zu bestellen haben. Aber der Erlos der Ernte gehort.
nicht etwa ihnen, sondern der Stadt Berlin, die ihn, wie sie
stolz verkundet, zur ^Amortisation der Siedelungsstelle" ver-
wendet. Der Familienvater bekommt fur seine Arbeit pro
Tag fiinf Mark, wovon ihm eine Mark als Kostgeld wieder
abgezogen wird. Frauen diirfen nicht mitarbeiten, sie sollen
sich durch ,,hausindustrielle Spinnarbeit" den dringend not-
wendigen Nebenverdienst fur den Lebensunterhalt der ganzen
Familie beschaffen. Und wenn ihnen nun keiner diese Arbeit
abnimmt? Der einzige Besitz, der diesen angesiedelten Er-
werbslosenfamilien bleibt, sind pro Familie zwei Ziegen und
fiinf Huhnert die ihnen die Stadt Berlin „vorlaufig" zur Ver-
fiigung gestellt hat.
Und da wir grade bei den Reformen und Unterstiitzungen.
halten, so diirfen wir auch nicht die ,,Winterhilfe" vergessen,
die ebenso wie die Preissenkungsaktion im Herbst^ vorigen
Jahres ins Leben gerufen wurde. Jawohl: ins Leben wurde sie
gerufen, aber es reichte nicht zum Leben, es war ein vorzei-
tiges Sterben in Durftigkeit. Die groBen kirchlich-charitativen
\vohlfahrtsorganisationen und die sozialdemokratische Arbeiter-
Wohlfahrt isammelten damals ,in Berlin einige zehntausend
Mark, verteilten auch die Essenmarken des Magistrats — aber
in Wirklichkeit gab es nur ein paar armselige Bettelsuppen
und einen Haufen alter Kleider, Dies Ergebnis war nicht die
Schuld der Spender: wo nichts ist, hat selbst Severing sein
Recht verloren. Und im vorigen Jahr war noch viel, viel mehr
da als jetzt. Damals schloB sich noch der berliner Einzelhan-
del, schlossen sich die groBen Geschafte und Warenhauser der
Aktion der Winterhilfe an. Inzwischen hat gut die Halfte von
ihnen Konkurs angemeldet, sie. sind nicht mehr Subjekte einer
Winterhilfe — sie *sind Objekte geworden.
Ganz abgesehen davon hat man es diesmal mit pupillari-
scher Sicherheit verstanden, die soziale Aktion der Winter-
hilfe — die als solche ja eine anerkennenswerte Geste dar-
stellt — aufs politische Gebiet hinuberzuspielen. Nur die vom
Staate anerkannten, das heiBt politisch einwandfreien Wohl-
fahrtsverbande diirfen Sammlungen veranstalten. Die Kom-
munisten haben gefalligst vor der Tiir zu bleiben. Es ware
ja noch schoner, wenn diese Bruder, die sich bekanntlich an
der Not des deutschen Volkes ihr parteipolitisches Siippchen
52t
kochen, einen wirklichen Teller warmer Suppe erhalten soil-
ten! Denen gehts ja noch viel zu gut!
Ganz anders liegen natiirlich die Dinge, wenn es sich urn
die „Vaterlandische Winterhilfe" handelt, die von den Deutsch-
nationalen ins Leben gerufen wurde. Zwar traf auch sie das
Sever ingsche Verbot, aber das bleibt mehr Theorie. In dcr
Praxis hat die hauptsachlich vom Stahlhelm organisierte „Va-
terlandische Winterhilfe" am 26. September eine interne Ver-
sammlung abgehalten, in der, laut T.U., folgendes mitgeteilt
-wurde: Major von Stephani und Major von Sodenstern wiesen
darauf hin, daB die ,,Vaterlandische Winterhilfe*' nicht als
Konkurrenz der berliner Winterhilfe geschaffen wurdet son-
dern als vorbeugende MaBnahme. Trotz des Verbotes hoffe
man, daB die internen Sammlungen in den Verbanden und
Organisationen geniigende Mittel erbrachten (Bankhaus Spon-
holz & Co.). An Lebensmitteln wiirde es nicht fehlen. Schon
jetzt seien 180 Waggons mit je 320 Zentnern Kartoffeln sowie
Gemiise zur Verfiigung gestellt worden, Um moglichst alle
Bediirftigen der nationalen Kreise zu erfassen, sollen Karten an
die der vaterlandischen Winterhilfe angcschlossenen Parteien,
Verbande und Organisationen abgegeben werden, die sie wie-
derum an die Bediirftigen weiterleiten sollen . . .
Jat Bauer, das ist ganz etwas andres. Und daB es an
grofien Spenden gut nationaler Rittergutsbesitzer nicht fehlen
vvird, das glauben wir gern. Kein Mensch wird etwas da-
gegen einzuwenden haben, daB auch die Hugenbergianer. fiir
ihre Leute sammeln. Aber was wiirde wohl geschehen, wenn
die Kommunisten fiir ihre hungernden Massen ahnliche Or-
ganisationen, trotz dem Verbot, ins Leben riefen? Herr
Severing weiB die Antwort besser als wir. Und deshalb
fiirchten wir, daB auch die von der Reichswehr der Winter-
hilfe giitigst zur Verfiigung gestellten Lastautos und Blas-
orchester nicht geniigen werden, um auch nur einen Bruchteil
-aller in Berlin Notleidenden mit einer Wollweste oder einer
taglichen warmen Mahlzeit wenigstens am Leben zu erhalten.
Denn die charitativen Verbande geben den hungernden Kom-
munisten nichts, weil sie unerhorterweiser ngottlos" sind, und
fiir die Arbeiterwohlfahrt sind Genossen nur diejenigen, die
das Mitgliedsbuch des Herrn Kiinstler in der Tasche tragen.
Aber wir wollen nicht zu bitter werden. Ein Hoffnungs-
strahl bricht doch durch das diistere Gewolk, Und zwar in
Person von Frau Clara Mende, die jiingst in einem Vor-
trag fiir die „Reichsarbeitsgemeinschaft zur Forderung der
Volksernahrung" (auch das gibts schon) praktische Anweisun-
gen zur Linderung der Not gab- Die Reichsarbeitsgemeinschaft
plane, so verkiindete die riistige Dame, erstens die Heraus-
gabe von billigsten Kochrezepten, zweitens aufklarende Vor-
trage, drittens Umwandlung von Gaststatten in Wohlfahrts-
einrichtungen, viertens sorgfaltige Oberwachung der hygieni-
schen Zubereitung bei den Volksspeisungen, schlieBlich sollc
jeder, der dazu in der Lage sei, ein afmes Kind als Mittags-
gast aufnehmen.
Und da wollten wir schon die Kopfe hangen lassen!
522
Gesprach mit demMinisterium von Erich Kastner
J-Jans Wilhelm und ich iuhren zum Reichsministerium des In-
nern. Eine Stundc spater saBen wir jenem Referenten
gegeniiber, den wir sprechen wollten. Er erzahlte, es kamen
Tag fin* Tag StoBe von Besuchern, Brief en und Exposes. Das
sei einerseits erfreulich,. denn es beweise den im deutschen
Volk verbreiteten, wenn nicht gar zunehmenden Drang, mit-
zuhelfen. Andrerseits mache es verstandlich, daB er bitten
miisse, wir mochten uns kxirz fassen. Herr Wilhelm babe ihn
ja schon telephonisch ein w«nig informiert. Also.
,fAlso," sagte ich, „der Reichsprasident und das Kabinett
haben einen Aufruf zur Winterhilfe erlassen, der zum Teil
das, was wir, schon ehe dieser Aufruf erschien, besprachen
und was auBer uns sicher Tausende besprochen haben. Wir
finden aber die Formulierung und die Gesinnung des Aufrufs
und die Art seiner Bekanntgabe unzureichend."
„Mein Minister hat auBerdem vor einigen Tagen am Rund-
funk ausfiihrlich iiber das Thema gesprochen," warf der Mini-
sterialrat ein.
MUnser Plan/* sagte ich, ,,handelt von einer Aktion, die,
wie auch immer, unternommen werden muB, aber er hat hin-
sichtlich andrer Projekte, die vorliegen mogen, bedeutende Vor-
ziige, Er 1st erstens befahigt, alle Bevolkerungskreise, von Hin-
denburg angefangen bis zum kleinen Backermeister, in den
Dienst der notleidenden Bevolkerung zu stellen, und das wird
im kommenden Winter, wenn die Zahl der Arbeitslosen wei-
ter gewachsen und die Kassen der Behorden noch leerer ge-
worden sein werden, unvermeidlich. AuBerdem wiirde der
Plan, gelange seine Durchfiihrung, eine Folge haben, die eben-
so wichtig ware wie die Aktion selber: die verschiedenen
Volksschichten konnten sich wieder einmal als zusammengeho- *
rig empfinden, die gemeinsame und die gemeinsam bekampfte
Not konnte eine Notgemeinschaft herbeifuhren, deren sittlicher
und nationaler Wert einleuchtet."
Jetzt griff Hans Wilhelm ein. ,,Wie war das zum Beispiel
im Krieg?" fragte er. „Gab damals nicht jeder das Letzte her?
Sammelten da nicht Tausende von Schiilern alles, was in den
Haushalten einigermaBen entbehrlich war? Wurde da nicht
am liebsten jedes Madchen Krankenschwester? Strickte da-
mals nicht jede Tante Striimpfe und Pulswarmer fur die, die
froren? Sparte sich da nicht noch der Armste vom Munde
ab, um den andern zu helfen? Sollten die Deutschen solcher
Opfer nur fahig sein, wenn es eine hirnverbrannte Sache gilt?
Halten Sie die Situation, die der Winter herbeifuhren wird,
fiir harmloser? 1st es denn nur moglich, ein Vblk aufzuriitteln,
solange Granaten platzen? Was damals ging, muB doch auch
heute moglich sein!"
Der Herr Ministerialrat schiittelte die Fragen ab, als wa-
xen es Regentropfen auf einem Hut. „Der Aufruf zur Winter-
hilfe war der erste Schritt, nicht der einzige," beruhigte er.
„Wir planen, im Laufe der Zeit, mehrere VorstoBe dieser Art.
Sie glauben nicht, wie schwierig es ist, die verschiedenen cha-
ritativen Organisationen unter einen Hut zu bring en."
523
„Wir glauben es," entgegnete ich. nWir glauben aber audi,
daB es jetzt nicht darum geht, Organisationen unter Hiitc, son-
dern eine wirksame Aktion ins Rollcn zu bringen; cine Bewe-
gung, die nichts mit Parteien, Kirchcn, Standpunkten, neuen
Verwaltungsapparaten und andern organisatorischen Dingcn zu
tun hat; eine Bewegung, die, etwa von einem offncn aufriit-
telnden Aufruf Hindenburgs angeregt, zwischen den Privat-
menschen anwachst und, mitreiBend, Nutzcn stiftct. Wenn
der Aufruf, meinetwegen als Maueranschlag, eindrucksvoll for-
muliert und angcbracht und wenn in seinem Wortlaut die wirk-
liche Schwere und Tragweitc der heraufziehenden Not geschil-
dert wird, miiBte es mit dem Teufel zugehen..."
,,Es ist natiirlich ausgeschlossen, in einem solchen Aufrufe
den von Ihnen befiirchteten Umfang der Not zu charakterisie-
ren oder gar zu betonen," sagte der Ministerialrat. ,,Wir miis-
sen politisch denken."
Wilhelm wurde aufgeregt. MNcin!" erklarte er. „Das ist
das Einziget was Sie nicht tun diirfen! Warum wollen Sie
denn diese Not nicht of fen zugeben? Glauben Sie vielleicht,
die Bevolkerung weiB noch nichts davon? Was hat denn der
Plan, das gesamte deutsche Volk iiber den Winter zu bringen,
mit Politik zu tun? Von Politik konnte, durch die Zwischen-
zeit der Notgemeinschaft gtinstig beeinfluBt,, vielleicht im Friih-
jahr wieder gesprochen werden, Bis dahin ginge es doch, aber
vor allem darum, dieses Friihjahr tiberhaupt noch zu erlebenl
Bei Hindenburg miiBten bunder t Arbeitslose essen, beim Reichs-
kanzler gleichfalls; Fleischermeister Miiller konnte fiinf Per-
sonen durchfiittern; Eisenbahninspektor Schulz einen; ich
konnte, solange ich verdiene, pro Tag drei Mann in meiner
Wohnung bekostigen."
,,Ich esse auBer Haus," sagte ich, ,,Aber ich wurde in
meinem Stammlokal auf meine Kosten ebenfalls drei Leute als
Tischgaste unterbringen."
Der Ministerialrat wurde langsam ungeduldig. „Es wird.
Vieles geschehn, darauf konnen Sie sich verlassen. Die Volks-
kiichen werden beispielsweise verstarkt in Betrieb genommen
werden."
,,Aber das ist ja doch nicht dasselbe," sagte ich. „Wir be-
miihen uns doch die ganze Zeit, Ihnen vor Augen zu fiihren,
wie wichtig es sein wird, die ganze Aktion nicht anonym zu
betreiben, sondern auf Grund wirklicher menschlicher Be-
ziehungen iiber ganz Deutschland zu verbreiten,"
„Ich weiB, ich weiB," bemerkte der Beamte. „Sie denken
an Nachbarhilfe, das ist ein alter charitativer Begriff. Na ja.
Ich bin schon sehr lange in der Wohlfahrtspflege. Ich kenne
mich begreiflicherweise auf dem Gebiete besser aus als Sie,,
das werden Sie mir glauben miissen." Da klingelte das Tele-
phon. Der Herr, der die Wohlfahrtspflege professionell er-
lernt hatte, entschuldigte sich bei uns und erledigte das Tele-
phongesprach. Er legte, anscheinend mit einem Kollegen von
einem andern Ministerium, einen Besprechungstermin fest. Er
bat den Herrn Kollegen, die Herren vomRundfunk zu bestel-
len, er ubernehme es, Herrn Pastor X und dessen „Stab" za
benachrichtigen.
524
„Sie horten es grade," sagte er, als er sich wiedcr ge-
setzt hattc, „wir stehen dauernd mit dem Rundfunk in Ver-
bindung, urn unsre MaBnahmen den breitesten Kreisen zugang-
lich zu machen."
„Und wenn Ihre MaBnahmen jener Not, die wir erwar-
ien, nicht gewachsen sein sollte?" fragte Wilhelm.
„Dann," meinte der Ministerialrat, „dann miiBte man aller-
dings die privaten Krafte in Bewegung setzen, und zwar auf
dem Wege einer Notverordnung."
,,Aber in diesem Fall ware doch alles, was wir von dem
Elan und dem Sinn der privaten Aktion erwarten, kaputt!"
rief Wilhelm.
„Ja," sagte der Ministerialrat und stand auf, „Icfi muB
Sie jetzt bitten, mich zu entschuldigen. Meine Zeit ist knapp
bemessen, Sie diirfen versichert sein, daB alles geschehen
wird, was moglich ist. Wir haben unsre Erfahrung, und wir
tun, was wir konnen, Es ist erfreulich, daB die Bevolkerung
so regen Anteil nimmt. Das lafit uns hoffen, daB unsre MaB-
nahmen weitgehende Unterstiitzung finden werden. Im (ibri-
^en, meine Herren, Sie sind ja Schriftsteller. Suchen Sie
doch in der Presse zu wirken, Schreiben Sie doch!"
Er gab uns die Hand, Wir verabschiedeten uns verlegen
und verlieBen das Reichsinnenministerium. Dann standen wir
xioch eine Weile auf der StraBe, und uns war, als kamen wir
vom Sprachunterricht und hatten die erste Stunde Chinesisch
hinter uns. Schreiben Sie doch! hatte er gesagt.
Gesagt, get an.
Imma mit die Ruhe! von Theobald Tiger
^jT^enn ick det sehe, wat se so machn,
"^ wie se bei de jeringsten Sachn
sich uffpustn, det man denkt, se platzen —
wie se rot anlaufn, bis an die Jlatzen,
ahms spat tin morjens uiii achte — :
sachte! sachtel
Warum denn so furchtbar uffjerecht?
Wir wern mal alle inn Kasten gelecht.
Wissen Sef ick wah mal dabei — -
da hattn se uff de Polessei
eenen Selbstmorda, janzlich nackt,
in eenen murksijen Sarch jepackt
Die hatten det eilich! Un ick dachte:
Sachte! Sachte!
Un der Anblick hat sich mir injeprecht:
Wir wern mal alle inn Kasten jelecht.
Janich rellejohs.
Wie soil ick det sahrn . . »?
Ick kann det Jefuchtel nich vatrahrn,
Wir komm bei Muttan raus mit Jeschrei,
un manche bleihm denn auch dabei,
Wenn ick mir det so aliens betrachte:
Imma sachte!
Mal liechste still. Denn wird ausjefecht, '
Un wir wern alle inn Kasten jelecht.
525
Kurz und unfreundlich von Rndoif Amheim
J7 s gibt welche, die zahlen mit Papier, als ob sic Gold im
" Keller hatten. Das sind die Schlimmsten, Und es gibt
andre, die zahlen mit Papier, obwohl sie Gold im Keller haben.
Um die ist es schade, Und es gibt welche, die zahlen, wenn
sie zahlen, mit Gold. ^
Der Satz, daB iiberall mit Wasser gekocht wird, sollte au£
Gemiise keine Anwendung finden.
*
Gott ist groB. Man verirrt sich leicht in ihm.
*
Sprichworter: Sage mir, was sie an dir lobt, und ich werde
dir sagen, was sie an sich liebt. — Frisch gewagt, ist halb ver-
patzt. — Wo ein Weg ist, da spare man den Willen. — Nacb
unten zu gibts keine Grenzen.
Protestversammltingen sind Kirchgange der machtlosen In-
tellektuellen. Auf der Kanzel steht ein atheistischer Pope im
Schillerkragen und predigt: „Lasset uns eine Resolution fas-
sen!" Und wahrenddem gehen die himmlischen und die irdi-
schen Gotter taubstumm ihren Geschaften nach.
*
In ihrem Antlitz stand mit unsichtbaren Lettern geschrie-
ben: ,,Alle Packungen in diesem Fenster sind nur Attrappe",
* ■ *
Es gibt zwei Erkenntnismittel: sehen und riechen. Riechen
ist genialer. A
Es gibt zwei Dinge, die ein Schriftsteller sich nur sehr
schwer vorstellen kann: daB jemand seine Sachen liest, und
daB jemand seine Sachen nicht liest.
Unter Kollektivismus stellt man sich gem etwas wie einen
uberftillten Untergrundbahnwagen vor. Damit tun ihm seine
Gegner wie seine Anhanger unrecht.
Man soil lieben, und man mag dichten. Aber man soil
nicht mit der Feder lieben.
An der belebten Hafenpromenade von Lugano hatte sich
ein italienischer Herr auf einer Bank einen Schuh ausgezogen,
weil ein Stein hineingeraten war. Als er den Schuh aber
wieder anziehen wollte, griff er, weil er gleichzeitig ein leb-
haftes politisches Gesprach mit einem vor ihm stehenden
Landsmann fuhrte, unversehens seinen Hut, der neben ihm auf
der Bank gelegen hatte, und bemiihte sich nun mit hertigem
Zerren, den Hut iiber den bestrumpften FuB zu ziehen. Als
der andre Italiener dies bemerkte, entwand er — wie seltsam
ist die menschliche Natur! — ohne die leiseste Verwunderung,
ohne das leiseste Lacheln dem Freunde den Hut, legte ihn
zuriick auf die Bank und fuhr ohne Pause fort, mit beiden
Handen iiber die politische Lage zu reden.
526
Drohllllg fiber Paris von Le Corbnsier
Aus einer von Alfred Wolfenstein herausgegebenen
Sammlung ,,Hier schreibt Paris", die demnachst im Ver-
lag der Internationalen Bibliothek, Berlin, erscheint.
Cin recht theatralischer Titel: Drohung iiber Paris! Wcnn ich
nur zeigen konnte, daB es der Ausdruck einer pathetischen
Lage ist. Meine Gedanken umkreisen bange diese Stadt, die
verkiimmern, absterben, ausloschen kann, wenn . , . wenn man
nicht handelt, wenn man den Glauben an das Leben aufgibt,
wenn man Dammerung sich iiber Europa breiten laBt, wenn
man die Oberlieferung der Stadt verleug.net und kapituliert!
Welche andre Stadt konnte sich noch so herrlich auf-
richten wie diese auf ihrem tausendjahrigen Grund und vor der
ganzen Welt das frohliche und kraftvolle Wort finden, das die
Welt von ihr erwartet!
Paris — Sitz des cartesianischen Geistes, Schauplatz der
groBen Waffengange der Kunst; Paris — ungeheure Kultur-
macht; Paris, das stets zu urteilen wuBte und mit seinem Urteil
stets auf der Hohe der Zeit stand: nein, diese Stadt wird nicht
in Schlaf fallen und aufhoren, zu sein!
Ich mochte meine Liebe zu Paris in Worte kleiden: ein
Ort, zitternd von Leben und doch mit der Atmosphare einer
groBen Leere, in der die Krafte wie im Wettkampf um Rein-
heit aufeinanderprallen. Die reine Idee allein ist Siegerin: wie-
viel Leichen ringsumher, wieviel Halbheiten, die unterliegen.
So heiB ist der Kampf, so ubermachtig die Masse sekularer
Wahrheiten, mit denen man die neue Idee erdriicken kann, daB
nur diejenigen Kampfer widerstehen, die lachen, die trotz allem
singen, die mit dem klaren Wissen um ihre vollige Uneigen-
niitzigkeit werken. Das sind die in die Welt und in die Kunst
Vernarrten, in diese letzte Wirksamkeit, die Tragerin des.
Gliickes ist.
Man sat Samen aus, die Knospe zeigt sich: sofort ist sie
zertreten. Man steckt eine Wurzel mehr ins Erdreich, man
arbeitet in die Tiefe, neues Aufgehen der Stecklinge; neuer-
liches Zerstampfen. Allzu viele wollen unsre Idee vortragenr
ein einfaches geistvolles Wort, kostliche Frucht alter Kulturen,
bedeckt euch mit Schutt, Diese Erfahrung wiederholt sich
seit langem; junge Generationen reiben sich damit auf und
auch altere Jahrgange. Man muB einen Kampf von zwanzig
Jahren bestehen, um durchzudringen. Der nzwanzigjahrige
Krieg" und ein einziger Krieger (man selber) gegen ein Heer
vollendeter Tatsachen. Ich kenne keine andre Stadt, die so
hart ware. O geliebte Rabenmutter, man setzt Wurzeln in
deinen Boden, tiefe, langsame, und man kann den Wettkampf
der Reinheit gewinnen.
So ist der kostbare Boden von Paris. Ist diese Spannung
nichts andres als die letzte Auswirkung des Aufruhrs der
Maschinen? War en die Dinge einfacher vor Stevenson? Ich
weiB es nicht, wir waren nicht dabei; und der Mensch, der das
Ufer erreicht, hat schnell sein dramatisch bewegtes FloB auf
dem rasenden Meere vergessen. Vorwarts blickend beeilt er
sich, festes Land zu gewinnen, und baut. Wir haben keine
527
Historiker der schlechten Tage, darum gibi e* kcine Denkmaler
:fiir die unbekannten Toten des groBen Wettkampfes,
Cartesianisches Paris, das keine Verwirrung kennt. Klares
Paris,
Es gibt im Golf von Lion cine tote Stadt: Aigues-Mortes,
eine versandete Bucht, eine Stadt, die vor dem Schilf der
Lagunen und hinter den Siimpfen der Salinen liegt. Sie wurde
im Ganzen vom heiligen Ludwig erbaut fiir die Einschiffung
*der Kreuzfahrerheere. Die Walle sind noch unbeschadigt mit
ihren Schutzvorrichtungen fiir den KriegsfalL Das ist eine bis
ins kleinste sorgfaltige, genaue, gutgefiigte, scharfsinnige
Schutzanlage. . Die Steine sind klar umrissen, die Kanten aus-
drucksvoll, es entstromt ihnen eine geistige Helle. Aigues-
Mortes ist pariserisch, von einem Pariser fiir Pariser erbaut.
Die Vernunft ist dort allmachtig und doch von einem Lacheln
beglanzt Das ist es, was sich uberall in dieser Geschichte
wiederfinden laBt: Hellsichtigkeit und Spiel des Geistes, das
heiBt eine harte Aufgabe, aber ein Sieg ohne Brutalitat, un-
gezwungene Anmut gemischt mit Strenge, und diese Strenge
erscheint in der Weltgeschichte der Kiinste als eine gewisse
Steifheit. Sie ist der adlige Ausdruck fiir Exaktheit. Ist sie
etwa zu trocken, zu kleinlich, ohne Kraft? Keine Spurt sie
betigt sich weder nach rechts noch nach links, sie hat die Ge-
schmeidigkeit des Seiles, gespannt fiir einen Seiltanzer: mathe-
matischer Ausdruck, reines Profil, Linie.
Das Innere von Notre-Dame, die Gemalde von Fouquet,
der Turm von Vincennes, die Zeichnungen von Clouet, der
Pont Neuf, die Place des- Vosges, der Pont Royal, Nicolas
Poussin, die Invalides, die Concorde, l'Arc de l'Etoile, die
Passerelle des Arts, Ingres, die Bibliothek Ste. -Genevieve, der
Eiffelturm, Cezanne — das alles ist diese Steifheit, die Strenge
ist. Die Erbschaft der Epochen von Paris. Das Seil des Seil-
tanzers, gespannt zwischen dem Glockenturm der Kirche und
dem Dach der Mairie, ist keine Gerade, es ist ein Bo gen, in
■dem jeder Punkt im Gleichgewicht gehalten wird durch die
auBerste Spannung: eine Linie des Geistes. Reisen wir durch
die Welt, und setzen wir den Punkt.
*
Was mich an Paris, in Paris so sehr bewegt, ist seine
Vitalitat. Mehr als tausend Jahre lebt diese Stadt aus sich
heraus, immer schon, immer umschmeichelt, immer neu unfl
^stets erneuert. Das MaB des Fortschritts ist durch die Um-
friedung gegeben, in der sich der Wettkampf der Reinheit ab-
spielt. Paris lebt. Aber damit hangt meine Besorgnis zusam-
men; Dort, wo die Beschlusse, gefaBt werden, ist man nicht
darauf bedacht, die Oberlieferung von Paris zu erhalten. Die
Stadt windet sich heute in Krampfen, sie ist auf dem Wege,
gebrechlich zu werden, es brockelt iiberalL Und kein Colbert
ist da, um Heilmittel zu verordnen, kein Chirurg, um zu ope-
rieren, nicht einmal eine Diagnose!
Ist es nicht vermessen und dunkelhaft von mir, die Frage
so zu stellen? Mit welchem Recht urteiie ich? Auf was stutzt
^ich meine Uberzeugung? Darauf: die Kostlichkeit des Lebens
ist etwas, was man mit der Nase spurt, weder Oberlegung noch
528
Wille konnen daran ctwas andern. Wahrnehmungen, feincr als
der einfache Gesichts- oder Tastsinn, bestimmen die Richtung
unsres Handelns: man geht. Man geht, einem Gebote folgend,
welches das Leben selbst ist. Das Leben! Aber das ist Tun,
Bewegung, Unternehmung, Fiigung, die Minute, die verrinnt
und die erfaBt sein will, Zeichen werden sichtbar; die vor-
wartstreibende Kraft dieser Zeit stellt sich dar. Entweder wir
lassen uns von ihr tragen und werden stark oder wir werden
verschimmeln und verfaulen. Die gegenwartige Stunde ist
schleierlos; die stadtischen Ereignisse zeigen das unwider-
stehliche, unaufhaltsame Zunehmen der Mechanisierung an.
Das neue Zeitalter bestatigt sich, es tritt iiberall in Erschei-
nung, es richtet sich in all em auf, iiberschlagt sich, drangt sich
durch, erkampft sich den Weg, erobert. Es verwandelt die
Stufenleiter der durch Jahrhunderte geltenden Masse, es ge-
bietet der Zeit einen neuen Lauf. Alles bliiht auf, alles ware
eitel Freude in diesem neuen Friihling: Tatigkeit, Optimismus,
Arbeit, Werk, Stolz, GroBe, Schwung der Gemeinschaft, Er-
oberung, Gefahr, ein starkes und gesundes Abenteuer. Aber
die Machte der Reaktion ; richten sich bereits auf hinter der
Brustwehr der erworbenen Erfahrungen, des erworbenen Gel-
des, hinter den Mauern der Unbeweglichkeit, die starr sind
von den allgemeinen Leiden. Die Reaktion ruft die offentliche
Meinung an. Um uns niederzukampf en, uns, die wir hand ein
wollen, reizen die Zufriedenen die Millionen armer Teufel auf,
die beschmutzt und bedriickt sind von der schimmelnden
Stadt: ,, Armer Teufel", rufen sie, Mman will den Jahrhunderte
alten Ruf deines guten Geschmacks beflecken; armer Teufel,
Vandalen, herzlose Menschen wollen die Schonheiten deiner
Stadt zerstoren, — vernichten wollen sie die grofiartige Ge-
schichte des Ortes deiner Not!1* Man will die Meinung in Bann
schlagen in Zeitungen, Zeitschriften, Vortragen. Die Reaktion
marschiert.
In der Stunde des Alarms zum Kampf fur die groBe
Epopoe der neuen Zeit herrscht die kalte Angst. Die Stadt
verfallt immer rascher der Faulnis, die Stadt kann sinnlos wer-
den. Die wachsende Mechanisierung zerstort. Der Pariser
weiB nicht mehr, wo der Feind steht. Wenn er reich ist, schickt
er sogleich seine Kinder fort — die Stadt verliert ihre Seele
— die Frohlichkeit des Volkes. Zwanzig Jahre haben diese
Abdankung volibracht, weil die eng gewordene Sicht der
Stadt die wahren Horizonte ihres Werdens verdeckt hat. Es
ist eine Drohung iiber Paris.
Keine Ausfliichte mehr. Nicht mehr solche: wir werden
ganz allmahlich, eins nach dem andern, das Programm Lud-
wigs XIV. zu Ende fiihren (dies wurde gesagt und geschrieben
zur Feier des Durchbruchs des Boulevard Haussmann, am
15. Januar 1927). DaB man dergleichen zu sagen und zu schrei-
ben wagt! Nein, begreifen, besprechen, entscheiden, tun! So-
lange es noch Zeit ist! - Mit jedem Tage erstarrt Paris mehr
und mehr: man laBt an den gleichen Stellen in deh
gleichen StraBen die dicken Mbuildings" wieder erstehen, Sind
denn gar keine Jungen mehr da? Gibt es gar kein Programm?
529
1st der starkc Bogen der Tradition entzweigebrochen? Sind
wir besiegt, geschlagen, niedergemacht, crledigt? Die kaltc
Angst herrscht! Wessen? Nicht unsre, und unsre Zahl ist doch
Legion — sie ware Legion, wenn wir verstiinden, uns
zusammenzuschlieBen, Man miifite es konnen — sich zusam-
menschlieBen und die Aufbewahrungsstatten des akademi-
schen Geistes in die Luft sprengen!
Eine Aufgabe ist in alien ihren AusmaBen, an ihrem Ort,
mit ihren Finanzierungsmoglichkeiten durch das heutige Ge-
schehen selbst gestellt. Es sind neue Dimensionen da, darin
die neuen Organe des heutigen Leb ens ihre eignen MaBe fin-
den. Die Lage ist klar gekennzeichnet: der verzweifelte Krank-
heitszustand der Stadt; die durchaus treffende Diagnose; man
weiB, wo, wie, womit man zu handeln hat. Die mogliche Auf-
wertung des Grund und Bodens veranlaBt die Vertreter der
Finanz, nicht langer zu zogern. Berechnungen werden auf-
gestellt: nichts ist unmoglich; was getan werden muB, ist zu
machen. Das Zeitalter der Architektur hat begonnen. Archi-
tektur ist heute in den tausend kleinen Dingen, mit denen sich
die Stadt beschaftigt. Paris braucht eine Ordnung. Wer wird
sie ihm geben? Die Auserwahlten sind im Biide, sind bereit,
der Gefahr die Stirn zu bieten, sind einverstanden, die
Schmerzen oder zumindest die Miihen der Veranderung zu
tragen, Sie haben die Neugier des Neuen, sie, haben das Be-
diirfnis nach Harmonie, sie sind bereit, ihre Arbeit fur die Idee
daranzugeben.
Die niemals wiederkehrende Stunde schlagt, vielleicht
hangt das Leben der Stadt von ihr ab, Alles kann durch Nach-
lassigkeit in lauter MittelmaBigkeit untergehen. Ein Paris der
MittelmaBigkeit! Das ist doch nicht moglich. Paris, das ab-
dankt, weil es hier miide Geister gibt, festgeschraubt auf den
Sesseln ihrer Sinekuren; weil diese Leute kleine Ausbriiche
kalten SchweiBes haben, ihrer Verantwortung wegen; weil sie
bremsen — grundsatzlich! GewiB, Paris versteht zu bremsen,
wir wissen es, strenge Mutter des Gedankens; Paris hat zu
bremsen verstanden bis zur Stunde der hochsten Gefahr. Aber
da nun hochste Gefahr im Verzuge ist, tut es not, daB Paris
vorstoBt.
Die strahlende Stadt kann gebaut werden als frohliches
Unternehmen, aktiv, produktiv, mit Enthusiasmus, mit Zuver-
sicht, in Liebe zur Schonheit, in der architektonischen GroBe
des neuen Programme, das eine neue Stufenleiter liar Grofie
aufstellt! Doch es ist wirklich eine Drohung iiber Paris, und
wenn es sich nicht riihrt, wird es verkummern.
Die Familie von Helmut Klaffke
r^ie Familie gleicht einem Teich ohne Quelle. Sie ruht in
sich, und ihre Oberflache tragt goldne Entengriitze. Ihre
Tiefe riecht.
Der Familienvorsteher sucht allwochentlich vorsichtig
stachelnd nach dem lieben Gott und findet allemal, wenn neun
Monate vergangen sind, nur ein Kind. Das ist ein Fehler, man
530
hat ohncdics genug Geldausgaben. Doch sie freuen sich herz-
lich, denn der Mensch ist kcin Tier, und ein Kind ist klein. Es
bekommt cincn schonen Nam en und heiBt vielleicht Ferdinand.
Ferdinand ist den Eltern fiir sein Leben dankbar von An-
fang an. Er ehrt sie. Sein Temperament berechtigt zu scho-
nen Hoffnungen, er sagt friiher als andre Knaben seines Alters
ba, ba, das ist ein Zeichen. Er sieht dem Vater ahnlich —
nein, der Mutter; er hat wohl die Nase vom Vater und die
Augen der Mutter. Er ist die Summe der elterlichen Veranla-
gungen und wird vielleicht spater studieren, das ist ein klares
Ziel.
Der Friihling geht, der Sommer kommt, der Herbst da-
nach, der Winter ist schneeweiB. Der Vorsteher war nicht
mehr zu jung, als Ferdinand versehentlich kam, jetzt ist er
alter, Er hat sich friih ein Ziel gesteckt und es zum guten
Teil erreicht: seine Steilung ist nicht ohne Verantwortung. Er
verfiigt iiber aufgespeicherte Reserven: er stachelt weniger,
dafiir ist er voll verhaltener Kraft.
Die Gattin nickt: es geht ihnen gut, unberufen, es konnte
manches besser sein, doch sie haben im Sommer ihre Erholung,
sie haben im Winter ihre ruhigeri Abende, und sie haben
Ferdinand.
Ferdinand spielt still in der Stubenmitte mit „Fallada", dem
weiBen Holzpferd. Er ehrt seine Eltern und schlieBt sie in sein
Abendgebet ein. Seine Feuchte erfrischt den Kitt der Fami-
lienfugen — er erfrischt die Liebe. Er ist die Summe der elter-
lichen Veranlagungen.
Die Tage werden kiirzer . — die Tage werden langer; am
Himmel gehen weiBe Wolken oder auch graue. Es gibt viel
kleine Geschehnisse, die erfreuen, vielleicht ein wenig mehr,
die befremden. Nicht nur an Ferdinand spurt der Vorsteher,
daB er altert. Doch ist dafiir gesorgtt daB sein Alter nicht in-
haltsios sei.
Die Gattin leidet an periodischer Furunkulose: am Halse,
unter der Achsel, manchmal am Leibe. Da ist der Vorsteher
eine Hilfe. Er driickt und betupft sie mit Watte vor dem
Einschlafen, das ist — rein menschlich — eine schone Gemein-
schaft und ersetzt vieles. Sie haben auBerdem Ferdinand.
Ferdinand geht langst zur Schule; er ist bald soweit, daB
er damit fertig sein nuiBte. Im Lateinischen ist er etwas
schwach, dafiir in Geschichte prachtvoll, das ist gar keine
Frage. Er betet riicht mehr, doch ist er still und nachdenk-
lich. Er fiihlt das, was der Vorsteher aus innerer Oberzeugung
verneint: er mochte stacheln. Er stachelt. Er sucht nach Gott
und findet nur ein Kind.
Das hat der Vorsteher nicht gewollt: er hatte andre Ab-
sichten. Obrigens ist er kein Schwein. Die Gattin nickt: wo-
her der Knabe das haben mag; es liegt doch nicht in der Familie.
Ferdinand schiittelt mit der Hand, als habe er in Kot ge-
faBt. Er steckt sein Ziel ein wenig heran und wird selbst Vor-
steher. Hier schlieBt sich der Kreis.
Die Familie gleicht einem Teich ohne Quelle. Sie ruht in
sich, und ihre Oberflache tragt goldene Entengrutze. Ihre
Tiefe riecht.
531
Zeittheater! Zeittheater! von Mice Ekert-Rothnoiz
Zeittheater?
Mutter spielt Bridge . , . Und Vater?
Vater geht nich in son Theater.
Vater hat an der Borse Theater . , .
Sagt Vater.
Denn der Berliner von Rang und Parkett
mochte gern lachen oder ein Bett . . ,
Selbstverstandlich auf Freibillett.
Wo die Zeit ihm den ganzen Tag so mififallt
denn ooch noch Zeittheater?
Nur wenn Tauber da mitsingt:
nSchoon ist die Welt!"
Zeittheater?
„Ich bitt Sic, das gibt so leicht Skandal!
Das Publikum spuckt mir ins Personal . . .
AuBerdem schieBen se heut immerzu —
In meinem Theater will ich mei Ruh!"
Spricht der Direktor und Vater
vons Zeittheater.
Denn der Berliner von Rang und Parkett
mochte gern lachen oder ein Bett . . .
Er verlangt fur sein teures Freibillett:
Running. Brtiste, die man genau durchs Glas bewundert —
Zeittheater?
Aber gern!
Aus der Zeit urn 1900.
Zeittheater?
Wenns hochkommt, ists wie im Parteilokal . . .
Leute von heute, spielt doch mal:
,, Deutsche Wirtschaft." Ein garantiert starkes Stuck!
Leute, spielt mal, wie alles so kam
Wie man uns Glauben und Spargroschen nahm . . .
Leute! Spielt: „Zeit ohne ZuckerguB"
Spielt, wie ein ganzes Volk stillhalten mufi . . .
— „H6ren Se uff! Sie Mann da!
Das ist rote Propaganda!"
Denn der Berliner von Rang und Parkett
mochte gern lachen oder ein Bett . , .
Alles Andere nicht mal auf Freibillett!
Zeittheater?
. . . Nischt wie Larm und Radau. Zum SchluB noch mit
Toten
Und die Buhne riecht immer so nach Moskau . . .
Der Arzt hat mir Larm und Moskau verboten!"
*
Und deswegen kommt es auf Folgendes raus:
Man spielt Johann Straufi oder Vogel StrauB , , .
Das Zeittheater — merken Se wat? —
findet auBerhalb des Theaters statt.
532
Bemerkungen
Parteiwirtschaft
VV/ie ware es, wenn man nun
^* einmal einen damlichen
kleinen Trick aus unsrer Politik
entfernte, der darin besteht, je-
der grade an der Macht befind-
lichen Partei vorzuwerfen, sie
betreibe Parteiwirtschaft — ? Ja,
was soil sie denn eigentlich sonst
betreiben — ?
Das Wohl der Allgemeinheit . . .,
ich weiB schon. Aber ich mochte
nur einmal wissen, wozu denn
Wahlen und Propaganda und
Parteikampf da sein sollen, wenn
nicht zu dem alleinigen Zweck,
eine Partei an die Macht zu brin-
gen. Und wenn sie dort ange-
kommen ist, was hat sie zu tun?
Natiirlich ihre Macht zu gebrau-
chen. Das haben alle Parteien
begriffen, mit Ausnahme der SPD,
der man sehr zu Unrecht den
Vorwurf macht, sie mitfbrauche
ihre Machtstellung. Sie hat gar
keine, Es mag ja sein, daC die
Postchenverteilung fiir ihre Mit-
glieder angenehm ist — ihre
Macht hat sie nie richtig benutzt:
sie hat stets nur Kompromisse
gemacht, und die zu ihrem Scha-
den. Sind die Rechten an der
Macht, so benutzen sie ihre
Macht, und sie tun recht daran.
Und das Zentrum . . . aber das ist
ja in Deutschland immer an der
Macht. Die Zeitungen kreischen
gegen Moskau, und das Land
wird von Rom regiert.
Doch sollte man mit jener tie-
fen Unehrlichkeit aufhoren, !j e-
der Regierung vorzuwerfen,
sie sei eine Parteiregierung,
Natiirlich ist sie das, und
das soil sie auch sein. DaC aber
in Deutschland der Begriff „Par-
tei" bis auf das Rinnstein-Niveau
gesunken ist, das ist eine andre
Sache, und hier sollte man zu-
packen. . Der Rest ist Heuchelei.
Das Niveau, auf dem sich die
meisten deutschen politischen De-
batten bewegen, ist kaum
noch zu unterbieten. Sieht man
von einigen Jugendbiinden ab,
die sich, besonders sehr weit
recht s und sehr weit links, ernst-
haft urn einen gesunden Kampf
bemiihen, das heifit, die den Geg-
ner nicht bagatellisieren und ihn
nicht fortdisputieren, sondern die
wirklich ant re ten — dann bleibt
ein Meer von Liigen. Man sehe
sich etwa, wenn man die Geduld
dazu aufbringt, diese unsagliche
Hitlerpresse an: wie das der Re-
gierung vorwirft, das Land nach
Prinzipien zu regieren, also ge-
nau das zu tun, was jene tun
wollen. Es ist mehr als jammer-
lich, was da getrieben wird.
Zu bekampfen ist allein die
Parteiwirtschaft, die sich nicht
offen als solche bekennt, sondern
die vorgibt, fiir das groBe Gauze
zu arbeiten, so, wie die katho-
lische Kirche gern „die Natur"
vorschiebt, wenn sie ihr Dogma
meint, Sagt, was ihr wollt, und
sagt, was ihr tut, wenn ihr an
der Macht seid. Euch dann noch
Parteiwirtschaft vorzuwerfen, ist
die Negierung jeder Politik.
Ignaz Wrobel
Antwort an Max Brod
P\er Dichter und Kampf er Max
^ Brod fugt seinen dreihundert-
vierundachtzig Protesten, die der
Kummer iiber den textungetreuen
Schwejk ihm abn6ti|t, trotz sei-
nem am 17. September im ,Prager
Tagblatt' erschienenen Epilog
zum Schwejk — einen dreihun-
dertfiinfundachtzigsten (in der
letzten Nummer der jWeltbuhne'}
hinzu. Hier erklare ich; dafi
seine Behauptungen im dreihun-
dertfiinfundachtzigsten Protest
samt und sonders teils entstellt,
teils ganzlich erfunden sind. (Jber
die vom Dichter Max Brod mifi-
billigten Text-Improvisationen, die
ich in einer unter andern von
Piscator, Bert Brecht, Leo La-
nia und Gasbarra bearbeiteten
Schwejk-Fassung seit vier Jah-
ren spiele und von der der Dich-
ter Max Brod seit ebenso vielen
Jahren die Tantiemen bezieht,
obwohl sie mit der von ihm ge-
dichteten Offiziersdienerposse
, .Schwejk" nicht das geringste
zu tun hat, urteilt der Possen-
Mitarbeiter des Dichters, Hans
533
Reimann, in einem Brief an die-
sen so:
,,Leoni am Starnbergsee
Mein lieber Max!
Ich habe Dir heute dieses Tele-
gramm geschickt: MAuffuhrungen
miissen stattfinden, bin gegen
Deinen Protest. Hans/'
Jawohl, Max, icb bin gegen
Deinen Protest, aus etlichen
Griinden.
Erstens sei froh, daB iiberhaupt
noch Theater gespielt wird in
dieser Dreckzeit und dafi man als
Autor etwas daran verdient.
Zweitens, weil man infolge Dei-
nes offentlichen Protestes ohnehin
weiBf daB nicht die Originalfas-
sung gespielt wird und infolge-
dessen Du keinerlei Schaden in
Deiner Reputation erleidest.
Die Fassung Pallenbergs ist
(fiir Buhnenzwecke) unendlich
viel besser, als die Formulierung
des geschwatzigen Schwe j ks im
Roman.
Gott, sind die Osmanen nett
und das goldene Hornchen! Hat-
ten wir nur alles so lustig ge-
schrieben! Ich bin blindlings fiir
Pallenbergs Fassung eingenommen
und protestiere nochmals gegen
Deinen Protest,
Ich bin der Uberzeugung, daB
Pallenberg uns zuliebe eine Form
finden wird, und Du wirst es
nicht notig haben, einen Riickzug
anzutreten, weil (wie gesagt) ,
durch Deinen offentlichen Pro-
test die Ehre der Autoren nebbich
langst hergestellt ist,
Aber deshalb das ganze Gast-
spiel vermasseln? Nein, Max,
Durch Deinen Protest mufite
sich die Sache erledigt haben.
Direktor Beer wird eine mittlere
Linie finden, damit Du nicht als
der Lackierte dastehst,
Ich als '{entschuldige I) Mit-
autor habe nicht das mindeste
gegen das Gastspiel. In seinem
Interesse wird Pallenberg die
Sache so famos wie moglich
machen, verlaB Dich darauf.
Es ist der reine Hohn, daB eine
anstandige Sache durch iiber-
triebene Korrektheit ins Wasser
fallen soil. Seien wir froh, daB
der Schwe jk endlich in Prag ge-
spielt wird. Ich habe daxnals
einen Film gesehen, der war der
letzte Mist ; und niemand hat
protestiert.
Gegen Pallenberg zu protestie-
ren halte ich mich nicht fiir be-
fugt. Ich Hebe diesen genialen
Mann und entschuldige ihm alle
Zusatze und Ubertreibungen,
Hoffentlich bringt er die gegen
die Osmanen kampfenden Tiir-
ken,
Herzlichen GruB von
Hans m. p."
Bezeichnend fiir die Polemik
des Dichters Max Brod (und
noch mehr fiir den Polemiker) ist
es, daB er in dem Streit um
Schwe jk nicht vergiBt, meine An-
gelegenheit mit der Amstelbank
zu erwahnen, Wobei er, be-
ziehungsvoll zwinkernd, vermerkt,
daB ich in dieser Sache „ver-
stummt" sei.
Wie jeder anstandige Mensch
solche Art der Polemik nennen
wird, brauche ich nicht zu sagen.
WICHTIGE NEUERSCHEINUNG!
. . . unfer tausend neuen
BucKern em aufsehenerregen-
der Erlolg.
. . . unter tausend Zigaretton
etwas Einmatiges: eine Ab-
dulla-Neuerscheinungran der
ein kultivierter Raucher nicKl
vorubergehen darf.
ABDULLA & Co.
534
6 Pig. Ohne MundttOck
KAIRO . LONDON • BERLIN
Aber was tut nicht alles ein
Dichter, der fur einen Dichter
kampft!
Bis zu seinem ftinfhundertsten
(Jubilaums) Protest hort der
Dichter und Kampfer Max Brod
nichts mehr von mir!
Max Pallenberg
„Ruckkehr%
ein Gesellschaftsspiel von der
Liebe, Verfasser; Donald Ste-
wartf macht es dem Zuhorer
nicht leicht, ein solcher zu seiru
Auf der Biihne (der MKom6die")
breitet eine Gruppe miteinander
verwandter oder bekannter Per-
sonen, feiner Mittelstand, in ver-
schlungnem Dialog — sie sprechen
Achter, wie man auf der Eis-
bahn welche schleift — ihr all-
tagliches Leben aus, das stellen-
weise mit Innenleben, unuberseh-
bar durchschimmernd, gef xittert
ist, Im Stewartschen Dialog
wird manches horbar verschwie-
gen: das im Gesprach nicht Aus-
gesprochene schwebt als ein Ge-
sprach zweiten Grades zwischen
den Worten. Doch ist leider
auch, was in diesem stumm-laut
wird, um entscheidende Grade zu
uninteressant. Lahge dauert es,
bis die gegenseitigen Beziehungen
der Figuren klar gestellt sind,
bis der Horer, umsummt von
Evie, Bill, Liz, Johnny, Fleur.
Robby, beilaufig weifi, wer zu
wem, mit wem, wessentwegen.
Die Handlung ist zwirndtinn und
der in den Zwirn gekniipfte Kno-
ten kaum merkbar. Im Wesent-
lichen geht es um das Schicksal
der kapriziosen Fleur, die, weil
sie den nicht heiraten kann, den
sie liebt, den liebt, den sie hei-
ratet, In der Ehe erleidet Fleur
Kummer, — Bill flattert um
Evie — , der sie bis an den Rand
der Selbstverleugnung bringt,
aber im vorletzten Augenblick (in
den Garderoben ist schon alles
ready) fangt sie sich wieder
(„Ruckkehr"), und damit auch,
obschon niemand weifi, warum
und wieso, den halb Entflatterten.
Frau Dorsch spielt die Rolle,
oder eigentlich: sie spielt a pro-
pos der Rolle. Sie gibt Proben
aus ihrem Repertoire der Zart-
lichkeit und Herzenswarme, des
Obermuts, der leichteren und der
tieferen Schmerzen, sehr schone
Muster von verhaltenem und aus-
brechendem GefUhl, von kummer-
voller Frohlichkeit und mit
Selbstverspottung zugedecktem
Kummer, alles bezaubernd weich
in den (Jbergangen und apart in
der Mischung. Und alles, gewis-
sermaflen, an und fur sich, abso-
lut, das heiBt aufierhalb der Ord-
nung und Begrundung der
schwachen Komodie, die nicht
den Baum abgibt, an dem solche
Friichte reiften, sondern nur den
Teller, auf den sie gelegt wurden.
Alfred Polgar
Feininger
Armer Feininger, als Frick Kul-
■** tusminister geworden war im
Lande der Thiiringer, warf er
Deine Bilder aus dem Schlofi-
museum heraus. Sie hangen jetzt
in der aufierordentlichen Feinin-
ger-Ausstellung des Kronprinzen-
palais, die Justi eben eroffnet.
Der Katalog hat bei jedem die
Schande vermerkt.
B6 Yin Ra
hat sein Wissen nicht aus Hbrsalen und Biichern. Er war auch niemals
Mitglied irgendeiner sektiererischen Gruppe wie etwa die der Theosophen,
Okknltisten oder ahnlicher Gesellschaften. Naheres iiber ihn und sein
Werk sagt die Einfuhrungsschrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin, kostenfrei
bei jeder Buchhandlung zu beziehen, sowie beim .Verlag: Kober'sche
Verlagsbuchhandlung Basel und Leipzig.
535
Was braucht ein Frick von der
Malerei zu verstehn? Nichts.
Aber Frick nahm jedenfalls Deine
Bilder ernst, so crnst, daB er
sein Volk nicht weiter ihren Wir-
kungen aussetzen wollte. Wenn
er dunkel fubite, daB Deine Bil-
der keine Spielerei sind, daB sie
etwas wollen, dafi sie der eignen
Kiimmerlichkeit und Muffigkeit
schadlich werden konnten, dann
hat er Dir doch, auf seine treu-
deutsch-tapfere Art, Respekt er-
wiesen. Und in ein Hakenkreuz-
Museum gehorst Du ja wirklich
nicht.
Max Deri, Kritiker der ,BZ,
am Mittag\ berufsmaBiger, appro-
bierter Kenner der Kunst, tiber
jeden Verdacht reaktionarer Ge-
sinnung erhaben, hat Dich schlim-
mer getroffen, Er hat Dir auf-
munternd auf die Schulter ge-
klopft, Dich neckisch mahnend in
die Backe gekniffen und Dich
schlieBlich mit einem kleinen
Klaps entlassen: „Es ist nicht
viel, mein Jungelchen, was Du
kannst, aber weine nicht, versetzt
kannst Du werden."
Es ist ja eigentlich verdammt
schwer, Dich miBzuverstehn; ver-
dammt schwer, Deine Art, die
ganz rein in Deine Bilder uber-
geht, nicht zu erkennen, Aber
Doktor Deri kann es. Ich traue
meinen Augen nicht, aber da
stent es Schwarz auf WeiB: Du
bis „begabt, frisch, zupackend"
und vier Zeilen tiefer noch be-
st immter; „frech im besten
Sinne (wovon ich nicht weiB, was
das ist), unbeschwert und unbe-
kummert". Von wem ist das ge-
sagt? Wahrscheinlich von Gino
von Finetti, von Hans Meid,
Jackel oder KrauskopL Abet
nein, von Lyonel Feininger, der in
seiner ersten Periode, nach Dok-
tor Deri, gebriillt hat, ohne es
doch ernst zu meinen.
Wenn wir einen Maler in
Deutschland haben, der Vorbild
nie endender Gewissensscharfung,
immer sich prufender, nie zufrie-
dener, disziplinier tester Arbeiter
ist, dann Feininger* „Frisch?"
„Zupackend?" „Unbekummert?"
„Unbeschwert?" — Ja, er ist so
frech wie eine zitternde KompaB-
nadeL
Doktor Deri hat Feininger ge-
wogen und fur ein Genie zu
leicht be fun den. Es reicht nur zu
einem „schonen Talent". Nicht
dariiber mochte ich mich mit
Doktor Deri auseinandersetzen,
Ich verstehe, daB einem Forscher,
der so sehr auf Kunst-Psycho-
Anal/se gestellt ist wie Doktor
Deri, die „Kanten und Ecken und
Pyramiden und Wurfel" Feinin-
gers nicht sehr viel Erkenntnis-
Material hergeben. Aber ware . es
zu viel verlangt, in einem immer-
hin wichtigen Falle auch andre
Materialien vor dem Urteil heran-
zuziehn? Es liegen zum Beispiel
im achten Jahrgang des H Sturm",
im sechsten Heft, Briefe von Fei-
ninger gedruckt vor, die iiber sein
Schaffen, seine kiinstlerische Na-
tur sehr schon unterrichten, Die
kristallklare, groBe und ernste
Art Feiningers ist in diesen AuBe-
rungen! Hatte Doktor Deri, wenn
ihm schon die Bilder nichts sa-
gen, wenn ihm schon Gestalt und
Antlitz dieses Menschen, den wir
lieben, undeutbar sind — hatte er
nicht wenigstens lesen sollen, was
Feininger tiber „frech, unbe-
schwert, frisch, zupackend" (Fei-
ninger nennt es kurz „Tempera-
ment") denkt? — „Auf der
Staffelei steht vor mir ein ange-
fangenes Bild. Voller Frische,
mit kuhnem, breitem Auftrag. Seit
drei Tagen berausche ich mich
liliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiJiiiiiiiiiiiiiii
ADAM UND EVA
Roman von JOHN ERSKINE, erscheint als VOLKSAUSG ABE
Adam, ein wunderbarer tolpatschiger Bursche, steht immer wieder verblDfft vor den
Wandelbarkeiten der be id en Frauen: Lilith und Eva, der Geliebten
und der graMBIich Legltimen. Alles, was zwischen Mann und Frau
exlstiert, wird in diesem gelstreichen, wltzigen Buohe ausgesprochen.
TRANSMARE VERLAQ A.-O.
536
BERLIN W 10
Lelnen
3.75RM
daran. Und nun: ich habe zwei
drei Bilder aus diesen lefzten
schrecklichen, verqualten Winter-
monaten hervorgeholt und ver-
gleiche sie mit dera neuen Gliicks-
bild. Ja, was meinen Sie? . —
Das Gliicksbild zerfallt in Bra-
vour . . . und die Schmerzensbil-
der sind verklarte Werke . . . mit
einem Zauberschlage scheint es zu
gestehen, daB aus diesen verqual-
ten Kindern dunkler Zeiten dia-
mantharte, unvergangliche Vi-
sionen entstehen, voller verborge-
ner Schonheit. Sie sind nicht von
der heutigen Zeit. Das Gliicksbild
ist es, — Soil ich noch von mei-
nem Gliicksbild berichten? Es ist
im Modder und Schlamm un-
reiner Farben untergegangen und
besteht nicht mehr, sondern wird
iiberspachtelt als Grundflache fur
ein kiinftiges „ern$tes" Bild, Da-
gegen habe ich mit Harte und
Zorn mich gezwungen, dasselbe
Bild noch einmal anzufangen und
mir die groBte Strenge zum Ge-
setz gestellt, Es wird jetzt erst
ein Bild, das, diszipliniert und
festgefiigt, vielleicht einmal ein
.Gliicksbild' werden kann".
Wie sagte Doktor Deri? „Frech
(im allerbesten Sinne), unbekiim-
mert, unbeschwert'* — welch ein
lieber Vertreter des lustigen
Malervdlkchens, Adoli Behne
Also -?
T^as Verbot des evangelischen
))LS pfarramts Eberstadt in Hes-
sen an die politischen Verbande,
die Kirche in Uniform zu betreten,
ist vom Landeskirchenamt auf
Beschwerde der nationalen Ver-
bande aufgehoben worden."
Also aus der Kirche austreten.
Der HdfHche
Wenn man mich fragt, wer det
hoflichste Mann war, den
ich je gesehen habe: der Abbe
von Mesancy,
Die Franzosinnen sind sehr
aberglaubisch — einem Priester
auf der StraBe zu begegnen, gilt
als boses Omen; man mufi sofort
nach einem Stuck Eisen fassen —
das bringt dann die Chancen
wieder ins gleiche.
In Mesancy: eine junge Dame
erbleichte beim Anblick des
Abbes, Blieb fassungslos stehen
— dann augte sie fieberhaft nach
einem Stuck Eisen um,
Mit reizend-nachsichtigem La-
cheln griff der Abb6 in die
Tasche und reichte ihr seinen
Hausschliissel, Roda Roda
Theaterkultur
In der Provinz findet gegenwartig
*■ eine Theaterwerbewoche statt.
Di^ Schauspieler gehen von
Haus zu Haus, um Abonne-
ments oder Gutscheinhefte zu
verkaufen. Ein Kollege aus
Erfurt klingelt an einer eleganten
Villa und tragt dem offnenden
Madchen sein Anliegen von
Das Madchen verschwindet, um
mit der gnadigen Frau Riick-
sprache zu nehmen und kehrt
nach einer Weile zuriick.
Die gnadige Frau laBt fragen,
ob Sie denn nicht lesen konnten?
...?
Ob Sie nicht lesen konnten!
Wieso? —
Da deutet das Madchen stumm
auf das Schild neben der Klingel:
BETTELN UND HAUSIEREN
VERBOTEN
LYRIK-PREISAUSSCHREIBEN
Die „Kolonnea, Zeitsdbrift fur Didhtung, wiederholt das iin
vorigen Jahr veranstaltete Preisaussdbreiben fur Lyrik. — Naheres
dariiber in dem soeben ersdhienenen Heft 4 des II. Jahrgangs.
Pre is des Heftes /.— RM
VERLAG DER „KOLONNE"
Wolfgang Jess Verlag in Dresden
537
Germanisch
/"^haraktervoll selbstandig, mutig
^■^ kritisch, Belesenheit und
Scharfsinn bekundend, da und
dort gedankensprtihend und
durchhin gef iihldurchwarmt ; stel-
lenweise in schemes Sprachge-
wand gekleidet, mit konzisen
Formulierungen, die asthetischen
Genufl gewahren. Meiner Begut-
achtung ist meines Erinnerns
eine bessere Dissertation nie
unterstellt gewesen. Ich habe fur
mich selbst von ihr gelernt und
beim Lesen mit Stolz als Ger-
mane mich gefuhlt.
Prof. Dr. H. Haas
in Theol. Lit. Ztg.
Ein kesser Nachkomme
f^ie Urenkelin unsrer bedeutend-
*""^ sten klassischen Dichterin hat
einen fliissig geschriebenen
etwas erotisierten Roman im Ma-
nuskript fertig. Sie wiirde mit
ihrem hochangeseh. Namen allein
schon ihren Weg machen.
Fur Verleger, die auf Massen-
auflage eingestellt sind, ein sehr
giinstiges Angebot.
Angebote unter + 1510 d. d.
Geschaftsstelle des Borsenvereins.
,Buchhandler-Borsenblatt'
Physik
T J nd KrauB zieht ein Beispiel
^ aus der Physik heran: „Das
Licht hat ja grofiere Geschwin-
diekeit als der Schall — folglich
kann das Biihnenbild rasch kon-
zipiert werden und das mull es,
damit das Wort zur Wirkung
kommen kann. Nur keine ver-
wirrenden Dekorationen, die ab-
lenken." Film-Kurier
Liebe Weltbuhne!
Dremiere des neuen Hansi-Niese-
* Films. Auf der Pro|ektions-
wand erscheint der Titel des
Films:
HPurpur und Waschblau"
Stimme einer Kritikersgattin im
Parkett: „Ach so, ein Farben-
film!"
Deutscher Winter 1931/32
Der Winter naht, der Winter droht,
Er droht mit Kalte, Hunger, Tod,
Er droht der Stadt und droht dem Land,
Er droht — und das ist allerhand —
Nun auch dem deutschen Mittelstand,
Auch Briining kommt dahinter:
Das wird ein schwerer Winter.
Die Heilsarmee zieht durch die Stadt,
Sie macht die Arraen fett und satt;
Die hohen Tiere von der Bank
Gehn jetzt zu FuG die Linden lang,
Erkalten sich und werden krank, —
Und Briining kommt dahinter:
So kommt man durch den Winter.
In die Umgebung von Berlin
Sieht man in Scharen Siedler ziehn,
Sie san und ernten hinterher
Soviel sie wolln und noch viel mehr,
Und Unterstiitzung gibts nicht mehr — :
Es steckt schon was dahinter 1
So kommt man durch den Winter,
Die Nazis brulln: „Juda verrecke" im Chor
Und stelln zu Wohlfahrtszwecken sich vor.
Hitler, wie immer an der Spitze,
Erzahlt allabendlich jiidische Witze
Und verwertet Kommunisten zu roter
Griitze.
So wird aus den diversen Krisen
Der Weg zu herrlichen Zeiten gewiesen.
Anscheinend kommen sie dahinter,
Aber kommen sie auch durch den Winter?
G. Wallenstein
Hinweise der Redaktion
Hamburg
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Dienstag 20.00: Zusammenkunft im Volksheiin,
Eichenstrafle.
BOcher
Oskar Maria Graf: Bolwieser. Drei Masken-Verlag, Berlin.
Alexander Lernet-Holenia: Das Abenteuer eines jungen Herrn in Polen. Gustav
Kiepenheuer, Berlin.
Run d funk
Dienstag. Muhlacker 18.40: Ist Kunst eine Waffe? Adolf Behne. — Berlin 20.00: Stunde
der Unbekannten, Edlef Koppen. — Konigsberg 20.10: Lenz, Horspiel nach Buchner. —
Breslau 21.45: Fazit des Kritikers, Herbert Jhering. — Berlin 22.15: Gandhi am
runden Tisch mit England von Actual is. — Mittwoch. Berlin 19.15: Assignaten und
Inflation, Samuel Saenger. — 20.00: Musik aus der Zeit des stummen Films. —
Donnerstag-. Berlin 18.15: Else Lasker-Schuler liest. — Munchen 20.00: Die sieben
Sachen von Erich Kastner. — Freitay- Hamburg 19.30: Bruno Nelissen-Haken
liest. — Konigsberg 20.10: Szenen aus Dos Passos Manhattan Transfer. — Berlin
20.30: Die Rauber von Schiller. — Sonnabend. Berlin 19.00: Die Erzahlung der
Woche, Giinther Birkenfeld. — 19,25; Der Zweck der Kunst, Kurt Hiller und
Ludwig Meidner.
538
Antworten
Buchhandler-Borsenblatt* AIs seinerzeit das Photo-Buch von John
Heartfield und Kurt Tucholsky 1fDeutschland iiber alles!" erschien,
verweigertet ihr dem Neuen Deutschen Verlag die ersten Anzeigen,
weil die Wiedergabe des Titelbildes geeignet sei, irgend etwas zu ver-
letzen; wenn wir nicht irren, waren es die vaterlandischen Gefiihle
oder die deutsche Reichsverfassung, kurz, etwas sehr Zerbrechliches,
Nun aber . . , Nun aber ist da bei Breitkopf und Hartel ein Bilder-
buch erschienen, das die von Heartfield und Tucholsky gewiesenen
Wege geht: „Das Gesicht der Demokratie". Nehmen Sie fascistisch,
das hebt Ihnen. Und dieses, Buchhandler-Borsenblatt, ist auf einmal
ganz anders. Das verletzt keinen. Nicht die sehr bosartig ausge-
suchte Photo des verstorbenen deutschen Auflenministers Stresemann,
der bei den Hitlern aller Pragungen langsam zum zweiten Erzberger
geworden ist; es verletzt auch keinen, wenn iiber den Bildern Lieb-
knechts und von Proletariern am Maschinengewehr eine Tafel anzeigt:
,,Das deutsche Volk, einig in seinen Stammen und von dem Willen
beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern . . ." also
eine klare Verhohnepipelung der Reichsverfassung. Uns ist das ge-
wiB gleichgiiltig. Aber welches Gebriill der edeln Seelen, wenn sich
die Linke das erlaubt, was hier die Rechte mit voller Genehmigung
aller reaktionarer Buchhandler vollfiihrt. Nach wie vor: das Borsen-
blatt fur den deutschnationalen Buchhandel.
Dr. Rudolf Hilferding. Sie schreiben mir diesen Brief: „Reichstag.
Berlin NW 7, den 30. September 1931. An die Redaktion der ,Welt-
biihne'. In Nr. 39 der ,Weltbuhne' vom 29. September 1931 wird in
einem Arjtikel von Carl von Ossietzky gesagt, ich sei der Meinung,
eine zweite, urn einige Tongrade scharfere sozialistische Partei ware
notwendig, um nicht alle Genossen, die fur Aufgabe -der Tolerierungs-
politik sind, an die Kommunistische Partei abzutreten. Man brauche
eine Zwischenpartei, mit der man sich spater wieder vertragen konne.
Ich habe diese Meinung nie vertreten. Da die weitern SchluSfolgerun-
gen des Artikels auf dieser irrigen Auffassung beruhen, nehme ich an,
daB diese Schlufifolgerungen infolgedessen auch unzutreffend sind.
In vorziiglicher Hochachtung gez. Hilferding." Nein, Herr Doktor, meine
pessimistische Auffassung von Ihren Verstandeskraften beruht nicht
allein auf Ihrem Verhalten in obengenannter Angelegenheit sondern
auf vielen altern Erfahrungen.
,.Wisokii" oder auf Deutsch: Arbeitsvermittlungsstelle fur wissen-
schaftliche, soziale und kunstlerische Berufe. Ihr driickt den bei
euch Arbeit Suchenden einen Fragebogefci in die Hand, auf dem sie
allerhand zu beantworten haben. Wirklich allerhand, denn ihr ver-
langt iiber das hinaus, was sich bei der Neugier deutscher Behorden
von selbst versteht, auch noch zu wissen, ob der Arbeitslose Vor-
strafen erlitten hat, wann, wie lange und wofur. Was geht euch das
eigentlich an? Ihr habt dafiir zu sorgen, dafi die Arbeitslosen Stellung
bekommen, und zwar nach ihren Fahigkeiten; ihr Vorleben spielt da
gar keine Rblle. Was ist denn der Erfolg dieser Selbstbezichtigung?
Der Vorbestrafte wird iiberhaupt keine Stellung mehr bekommen. Und
wer kann an dieser Mafinahme allein ein Interesse haben? War es
fur den Arbeitgeber bisher nicht so einfach, prazise Auskiinfte iiber
die Vergangenheit eines Bewerbers zu erhalten, hier bekommt er sie
fein sauberlich geliefert, Das Interesse der Arbeitgeberkreise, die
nichts zu tun 'haben wollen mit diesen „Vorbestraften", ist also an-
scheinend hier ausschlaggebend gewesen, denn schliefilich werdet ihr
diese Erhebungen doch nicht zu euerm PriVatvergniigen machen.
Hoffentlich verfahren die also Befragten genau so, wie es eure WiB-
begier bei der Sparte „Religionszugeh6rigkeit" immerhin zulaBt: sie
beantfcvorten die Frage iiberhaupt nicht, denn dieser Komplex geht
539
den Arbeitgeber gar nichts an. Wer einmal im Leben daneben-
getreten ist und dann trotzdem wieder in den ArbeitsprozeB zuruck-
gefunden hat, der bietet schon eine Gewahr, dafi er nicht ruckfallig
wird. Mit euren Methoden aber verdammt ihr diese Leute zu dauernder
Arbeitslosigkeit, ihr zwingt sie gradezu, ihrem Erwerb wieder auf der
sogenannten schiefen Ebene nachzugehn.
Felix Stossinger schreibt uns: Weltbuhnenleser haben mich nach
meinen hier erschienenen Aufsatzen zur Aufienpolitik iiber meine
Stellung zu Ereignissen der letzten dreizehn Jahre gefragt, die, wie
manche glauben, die deutsch-franzosische Verstandigung erschwert
oder gar bewufit verhindert haben soilen, Ist es wirklich wahr, dafi
das, was Frankreich in den letzten Jahren getan hat oder getan haben
soil, Schuld am deutschen Widerstand gegen die Verstandigung mit
Frankreich trug? (Ein Widerstand, der bei sinkendem Pfundwert an
Hartnackigkeit verlieren wird.) Kein Zweifel, dafi auch wohlmeinende
Freunde der deutsch-franzosischen Verstandigung nicht immer wissen,
was in diesen Jahren gespielt wurde. Eine Klarstellung dieser Epoche
wird noch einmal zu schreiben sein. Zunachst liegt eine Arbeit von
mir vor, die unter dem Titel „Deutschland und Frankreich, die Ge-
schichte ihrer Entfremdung" im Septemberheft der .Sozialistischen
Monatshefte' erschienen ist. Ich habe davon einen Sonderabdruck
in dreihundert Exemplaren herstellen lassen, den ich Weltbuhnen-
lesern kostenlos zur Verfiigung stelle. Interessenten erhalten ein
Exemplar gegen Einsendung eines Freiumschlages an meine berliner
Adresse, Stresemannstr. 123.
Dr, L, F.f Berlin* Sie haben den Film „Der Weg ins Leben" ge-
sehen und mochten sich nun naher iiber die Frage der verwahrlosten
Kinder unterrichten. Empfehlenswert sind als eine mehr kritische
und theoretische Lektiire die betreffenden Kapitel in Hans Siemsens
„RuBland — ja und nein" (Verlag Rowohlt) und als erzahlende Be-
richte von Augenzeugen die im Verlag der Jugendinternationale er-
schienenen Biicher ,,Schkid, die Republik der Strolche" von Bjelych
und Eantelejew und „Die Uhr" von Pantelejew.
Max Magnus Auf Ihre Angriffe gegen die Dramaturgische Ab-
teilung der Ufa in der , Weltbuhne* hat dieses Weltunternehmen mit
den ihm eignen Mitteln reagiert. Namlich so: „Herrn Max Magnus.
Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu miissen, dafi wir auf Anordnung
des Gesamtvorstandes der Ufa Ihnen auf Grund der in Ihren Handen
befindlichen Pressekarte EinlaB in unsre Theater nicht mehr gewah-
ren konnen, Wir bitten daher urn Rucksendung Ihrer personlichen
Pressekarte Nr. 164 fur ,Variety' New York. Hochachtungsvoll Uni-
versum-Film Aktiengesellschaft vertreten durch iUfa' Theater-Betriebs-
G. m. b. H. gez. Grimmer, gez. Staab." Borowsky, Heck haben gesprochen.
Hugh. Ein Skandal ist zu einer ordentlichen Bureauangelegenheit
geworden, Es ist das einzige Ordentliche an der Geschichte.
f^ieser Nummer liegt eine Zahlkarte fur die Abonnenten bei, auf der
*** wir bitten,
den Abonnementsbetrag fur das IV. Vierteljahr 1931
einzuzahlen, da am 10. Oktober die Einziehung durch Nachnahme be-
ginnt und unnotige Kosten verursacht,
Manujuuipte und nvu ua die Kedaktion dei W-eltbuhne, Charlottenburg, Kaatstr. 152, zt.
richteo: es wird yebeten. thnen Ruckporto betzulegeo, ds -soasi keine Rticksendung erfolg-eo, Icann.
Dag Auf f Uhrunrsrecht, die Vcrwertung von Titelnu, Text im Rah to en des Films, die mtuik-
mechanische Wicdergabe aller Art und die Verwertung im Rahmen von Radiorortragen
bleiben fur alle in der Weltbuhne erschelnenden Beitrage ausdrucklich vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet vod Siegfried Jacobsobn und wird von Cail v. Ossietzky
unlet Mitwirkung von Kurt Tucboisky ^eleitet — Verantwortlich . Carl v. Ossietzky. Berlin;
Verlag de» Weltbuhne, Siegfried Jacobsobn & Co*. Charlottenburjr.
Telephon: CI, Stein pi at* 7757. — PosUcheckkonto: Berlin 119 58.
Rankkonto Darmstadtet u. NatioDulbaok. Depostteukasue CbarloHenburg. ICanUir. 112
XXVII. Jahrgang U Oktober 1931 Nammer 41
ReChtS ist TrUtnpf ! von Carl v. Ossietzky
A nderthalb Jahre hat der Reichskanzler Briining sich bemiiht,
** dcr sogenannten Nationalen Opposition Manieren beizu-
bringen. Er hat sich sein Erziehungswerk durch so viele Kon-
zessionen an die Rechte zu erleichtern versucht, daO die arme
demokratische Republik dabei in die Briiche gegangen ist.
Briinings Idee war: die Rechtsparteien soweit zu zivilisieren,
daB sie auBenpolitisch tragbar wurden und innenpolitisch we-
nigstens noch einen Schein von Legalitat wahrten. Damit
ist der Reichskanzler gescheitert. In dem braunschweigischen
Harzburg tritt aUes, was Kiiche und Keller an Fascismus, Mon-
archismus und Nationalisms zu bieten haben, geschlossen
gegen ihn auf. Die Reden der Fiihrer sind ein einziges droh-
nendes Pronunciamento. Zugleich miBlingt Briinings Versuch,
durch Aufnahme von Vertrauensmannern der Schwerindustrie
sein Kabinett umzubilden, um durch Gewinnung der wirtschaft-
lichen Reaktion auch die politische Reaktion an sich zu
kniipfen. Nach einigen Tagen qualvollster Verlegenheit kommt
nur ein maBig verandertes Kabinett zustande, das, von alien
Mittelgruppen verlassen, nicht lange leben kann, auch wenn
es das erste parlamentarische Feuergefecht iiberstehen sollte.
Das Bemerkenswerteste an den Wirren der vergangenen
Woche istf daB Briining auf den Reichsprasidenten nicht mehr
in dem MaBe wie friiher rechnen kann. Wir wollen uns nicht
in das Ratselraten yerlieren, ob Briining besondere Vollmach-
ten verlangt hat oder nicht. Die Hauptsache ist, daB er sie
nicht in der Hand hat. Infolgedessen sagten Schmitz, Siiver-
berg und Vogler ebenso ab wie Bracht, Gefiler und Neurath.
Die Herrschaften verzichteten auf das Vergniigen, nach einer
Ministerschaft von ein paar Stunden wieder in ihre Privat-
wohnungen zuriickzukehren. Nicht einmal mit den Namen GeB-
ler und Neurath als Koder ist es Briining gelungen, die Rechte
wenigstens zur Tolerierung zu verfuhren. Die anonyme Clique,
die sich hinter der ehrwiirdigen Kulisse „der Reichsprasident"
verbirgt und deren Quertreibereien schon wiederholt Unheil
angerichtet haben, will diesmal ganze Arbeit machen und die
Regierung an Hugenb erg-Hitler ausliefern, Desha lb wird die
formale Demission des Kabinetts zum AnlaB genommen, ein
wahres Fegefeuer von Intrigen anzufachen. Und deshalb er-
scheint einen Tag vor dem harzburger Treffen der braune
Hauptling des deutschen Fascismus im Palais des Reichsprasi-
denten, Ein Ereignis von unerhorter propagandistischer Wir-
kung fiir die Reaktion, auch wenn sich die beiden Herren nur
iiber das Wetter unterhalten haben, Und* als Auftakt fiir
Harzburg wird die Sprache der Nationalsozialisten so drohend
und frech wie seit einem Jahre nicht. In Dessau hat einer da-
von, der Abgeordnete Stohr, in offentlicher Versammlung aus-
gefiihrt, es miiBten nicht immer Kopfe rollen, das hochste Ge-
richt des Dritten Reichs werde eine Methode ausfindig machen,
deren Durchfiihrung ein Erzeugnis der deutschen Hanfindustrie
i 541
vorubergehend im Preise steigert. So etwas darf offentlich
gcsagt werden, und obgleich es nicht erst cincr Notverordnung
bedurfte, um da cinzuschreiten, lauft dcr Liimmel noch immer
frei herum. Die Rechte weiB, was sie riskieren darf. Sie steht
an der Szene, sie ist dran.
Die in Harzburg versammelte Nationale Opposition hat
sich ,,bereit und gewillt4' erklart, „die Verantwortung zu iiber-
nehmen." Dabei war das von den Haupthahnen des Nationalis-
mus abgelesene Zeug ohne Geist und Plan wie sonst auch. Hu-
genberg iibernahm, so ganz nebenbei, auch noch die Rettung
Amerikas, Hitler forderte die Aufhebung des Versailler Ver-
trags, und der unqualifizierbare Schacht denunzierte die
Reichsbank, daB ihre Ausweise nicht den Tatsachen ent-
sprachen. Obgleich das alles tonte und rasselte wie schlechte
Militarmusik, fehlte doch eine am AuBerlichen haftende
Aggressivitat. Die Herren waren alle auf ihre Weise bemuht,
den Realitaten Rechnung zu tragen. Kommunismus oder Na-
tionalismus! ruft Hitler, und gibt damit den ohnehin faden-
scheinigen Sozialismus der Seinen endgiiltig auf, Schacht will,
nach alten Rezepten, nur an das t,raffende Kapital" heran. Hu-
genberg wettert gegen den internationalen Kapitalismus, um da-
tiir dessen deutsche Spielart desto dicker zu unterstreichen. Er
feiert die t1nationale Volkswirtschaft*', die nicht dem geschlosse-
nen Handelsstaat gleichzusetzen ist, ,,aber eine sich selbst ge-
niigende Nahrungsgrundlage bedeutet," er fordert „selbstandige
Wahrungs- und Handelspolitik". Das sieht alles nicht sehr
nach Drittem Reich aus, das sind keine besessenen Wieder-
taufer, deren irdisches Handeln und Wollen die Idee meta-
physisch durchleuchtet. Dieser Adolf Hitler ist kein neuer
Jan Bockelson van Leyden, der eine ganze Nation in Ver-
ziickung bringt wie dieser die kleine Bischofsstadt Miinster.
Dieser Prophet ist ein gerissener Industrieagent, der weiB, was
seine Einb laser wollen. Gute Nacht, Moeller van den Bruck,
du bist gestern in Harzburg ein zweites Mai gestorbeta, Hier
geht cs nicht um den in Deutschland tax verwirklichenden
Gottesstaat sondern um hochst kommune Geschaftsinter-
essen. Die erstrebte Nationale Regierung entlarvt sich
immer mehr als ein neues Kabinett Cuno mit Inflation, Unter-
nehmerwillkiir, Abbau der Sozialpolitik und etwas nationa-
listischem Tamtam. Diesen Herren Schwerindustriellen und
GroBagrariern brennt das Feuer unter den Nageln, und weil
Briining den letzten Einbruch in die Lohntarife und die Sozial-
politik verzogert, deshalb laBt Hugenberg sein Ultimatum in
eine Staatsstreichdrohung ausklingen: MDer Bauplatz mufi zu-
vor seitens der Andern geraumt sein, oder er muB durch die
Unsern gesturmt werden."
Zu diesem Sturm wird es kaum kommen, Denn die zweite
Briiningregierung steht auf so schwachen Beinen, daB sie Herr
Hugenberg ohne jedea Aufwand durch eine Raumungsklage
beim Amtsgericht Berlin-Mitte zum Abzug notigen konnte.
Wenn die Harzburger sonst nichts fur sich haben, so doch die
Logik der Situation. Eine volkstiimliche Welle tragt sie hoch,
ihr Plus ist das katastrophale Minus heute nach anderthalb
Jahren Briining. Die nationalistische Bewegung ist sehr stark,
542
auch wcnn sic in sich nicht geschlossen ist und Nationalsozia-
listcn und Stahlhelmcr gestern, wic Kriemhild und Brunhild, urn
den Vortritt gestritten haben. Weniger aussichtsvoll sind dagegen
die nachsten Chancen einer Rechtsregierung. Sie wird sich zu-
nachst mit Frankreich zu vertragen haben, also viele ihrer An-
hanger enttauschen miissen, denn Geld kommt nur iiber Paris.
Der neue franzosische Botschafter Francois-Poncet ist zwar
der Rechten wohlgeneigt, aber das franzosische Volk ist es
nichtf und Frankreich wird noch immer nicht von betriebsamen
Industriebeamten regiert. Die antifranzosische Hetze wird
jedenfalls aufhoren miissen, Deklamationen gegen die Tribute
fallen ohnehin fort, denn die Reparationen sind inzwischen im
Weltmeer der Krise still versunken. Man vergesse nicht, daB
der deutsche Nationalismus heute noch von starken sozial-
revolutionaren Kraften getragen wird. Im Falle der Macht-
ergreifung aber hat er nichts zu bieten als Wirtschaftsreaktton,
praktisch wird er gezwungen sein, das System der Notverord-
nungen fortzusetzen, das Briining so vorbildlich eingeleitet hat.
Doch diese Betrachtung greift den Ereignissen vor. Einst-
weilen kommt das Regime des Nationalismus naher wie ein
unabwendbares Verhangnis. In seiner todlichen Verlegenheit
hat der Reichskanzler, d'em alle bequemern Sitzgelegenheiten
verloren gegangen sind, sich in verzweifelter Entschlossenheit
auf dieSpitzeder Bajonette gesetzt. An Stelle des Herra Wirth,
der sich in seinem Kampfe um die Reinheit der deutschen Seele
einen Gloriensche^n erworben und den trotzdem der Teufel
geholt hat, tritt der ' Wehrminister Groener. Militar und
Polizei in einer Hand, Wehrmacht und Exekutive in einer Per-
son vereinigt, das heiBt hochste Alarmbereitschaft, In auBer-
ster Not ernennt Briining selbst einen Primo de Rivera, um
einem Andern, der dazu Lust haben konnte, die Rolle vor der
Nase wegzuschnappen. Eine Diskussion iiber die Verfassungs-
treue Groeners eriibrigt sich unsres Erachtens, denn die Ver-
fassung, die es zu schiitzen gilt, ist von Briining selbst in un-
ermudlicher Bureauarbeit in Atome zertriimmert worden. Noch
in seinen Ietzten Notverordnungen bemiiht er sich, den Ober-
gang zu Hugenberg-Hitler moglichst unauffallig zu machen.
Die Absagen an Briining kommen heute von den wenigen
Liberalen, die es noch in Deutschland gibt. Die Sozialdemo-
kratie hat sich zu einem solchen EntschluB noch nicht durch-
gerungen, ja, Briining kann in seine Ietzten Amtsstuhden den
Trost mitnehmen, daB die Sozialdemokratie einen pietatvollen
Kranz von Immortellen auf seinem Grabe niederlegen wird.
Welch eine Komodie hat die Wirklichkeit da gedichtet! Wenn
dieser Kanzler iiberhauptein Programm hatte, so war es das,
die Sozialdemokratie in die Ecke zu drangen und in ihren Ein-
flufi auf den Staat durch konservative Elemente zu ersetzen,
So wie eine arme verschmahte Geliebte, die nach einer Zart-
lichkeit hungerte und statt dessen nur Priigel bezog, als einzige
dem Sarge des Angebeteten folgt, wahrend die viel feinern
Damen bereits die nachste Lagerstatt parfumieren, so trauert
die Sozialdemokratie heute um den teuren Verblichenen, der
ihr Seele und Unterleib fiir immer ruiniert hat, Briining hat
543
der Sozialdemokratie nichts zuliebc getan. Er schrccktc nicht
cinmal davor zuriick, ihr GeBler und Ncurath zuzumuten, Und
daB Hcrr Geheimrat Schmitz von I, G. Farben nicht Minister
wurde, scheiterte nicht nur an dcssen mangelndem Willen son-
dern auch an dcm Einspruch Stegerwalds, der vcrmeintc, die
Sozialisten wurden nicht imstande sein, Herrn Schmitz hin-
zunehmen. Welch iiberfltissiges Zartgeftihl, sie hatten noch
ganz andre Pillen geschluckt. Der christliche Arbeiterfuhrer
Imbusch ist es gewesen, der vor ein paar Tagen gegen die
Zechenherrcn mit Sozialisierung gedroht hat, sicher nicht aus
einem Oberschwang an Radikalismus, sondern in der klaren
Erkenntnis, daB man heute zu Arbeitern nicht anders sprechen
kann. Wahrend die Sozialdemokratie ihre eignen Radikalen
vor die Tur setzt, spielt ein nichtsozialistischer Arbeiterver-
treter die Karte der Sozialisierung aus.
„Gegen das zweite Kabinett Bruning kann man genau das-
selbe einwenden wie gegen das erste. Aber auch nicht viel
mehr," schreibt der .Vorwarts*. Und weiter: nEs ist ein oHen-
barer Unsinnt wenn man sagt. es sei dasselbe wie ein Kabinett
Hitler-Hugenberg.1* Gegen eine so unerbittlichc Selbstmord-
absicht laBt sich nicht mehr mit oft wiederholten Argumenten
streiten. Hier muB man sich nach einem unverdachtigen Zeu-
^en, am besten von der andern Seitc der Barrikade, umsehen.
Die .Deutsche Allgemeine Zeitung1 schreibt am 4. Oktober:
„So steuern wir immer weiter von der Demokratie ab. Brii-
nings politische Tatigkeit kann man doch nur dahin zusammen-
fassen, daB sie mit einem Wort Bismarcks, die Vorfrucht der
national en Diktatur bedeutet, das heifit, er gew5hnt das Volk
an die Diktatur und ermoglicht es seinen Nachfolgern, sich zu
behaupten unter Hinweis auf ihren Vorganger/1 Hier ist mit
musterhafter Deutlichkeit ausgesprochen, worauf es ankommt.
Dies und nichts andTes haben wir vom ersten Tage der Kanz-
lerschaft Briinings an behauptet. und die Harzburger sind herz-
lich undankbar, wenn sie den Mann, der alles so nett fur sie
eingerichtet hat, jetzt als nationalen Schadling in den tiefsten
Tartaros sturzen mochten, Auch fiir diesen Katastrophen-
spezialisten sollte in dem Katastrophenkabinett Hitler-Hugen-
berg ein Platz frei sein. Der Politiker Bruning hat den Ruck
nach rechts gewollt und statt dessen den Fascismus heraufbe-
schworen. Nun sind ihm die Dinge iibern Kopf gewachsen,
und der Zauberstab, mit dem er so munter hantierte, tanzt ihm
grob auf dem Rucken herum. Die papiernen Wande der Kon-
stitution sind durchstoBen, keine „f ormale Demokratie" wird
in Zukunft mehr hindernd und mildernd zwischen Kapitalismus
unci Arbeiterschaft stehen. Der Weg der Evolution ist ver-
rammelt, der Kanzler, der die Autoritat starken wollte, hat
die Anarchie durch tausend Locher ins Haus gelassen. Der
Mann, dem es gelungen ist, die Republik auf dem Verordnungs-
wege zu erledigen, muB sich heute hinter Groeners Bajonette
verkriechen. Der Mann, der das Volk an die Diktatur gewohnt
hat, verlaBt er die Szene, und ihm wird zum Abschied genau
das, was er verdient hat: — ein Steinwurf und ein Fluch.
544
SyilthetiSChe Polltik von Jobann Kunkel
Im Leuna-Werk, unweit Halle und Merseburg, stellt dei
Deutsche Farbentrust auf synthetischem Wege aus Luft,
Wasserdampf und Braunkohle die schonsten Gebrauchs-
Chemikalien her: Ammoniak, Methanol und Benzin* Fiir der-
artige Synthesen braucht man einen Katalysator, ein
kupplerisches Ingredienz, oder, wie die Leute vom Bau
sagen, einen „Kontakt'\ Der technische und wirtschaft-
liche Erfolg der Kohlenverflussigungs-Verfahren, wie man
unprazise, aber puristisch, den Hydrier-ProzeB bezeichnet,
beruht auf der Wahl der richtigen Katalysatoren, deren Zu-
sammensetzung das groBe Betriebsgeheimnis ist,
Der LG, Farben-Konzern macht aber nicht nur chemische
Synthesen. Ef wendet seine Verfahren auch in der Politik an.
Das sieht dann folgendermaBen aus;
Westarp, Treviranus, Schiff erer, Bredt und August Weber
werden unter gelindem Druck zusammengeleitet und iiber einen
Kontakt gefiihrt. Das Ergebnis ist dann, falls das Experiment
gelingt, die Schaffung einer erst losen, spater aber nach An-
sicht der Fachleute immer fester werdenden Biirgerblock-Ver-
bindung — zunajchst Interessengemeinschaft, spater Partei.
Das Geheimnis des Erfolges liegt in <ler Wahl des richtigen
Katalysators. Sollte sich -das Verfahren nicht bewahren, so
wird der Versuch unter Anwendung hohern Drucks wiederholt.
Der Sinn dieser Aktion ist die Schaffung einer politischen
Gruppierungf die dazu verwandt werden kann, durch zoll- und
handelspolitische MaBnahmen die Preise fiir die von der I.G.
Farben hergestellten Gebrauchs-Chemikalien moglichst hoch-
zuhalten. Mit der gradezu erpresserischen Drphung, daB man
sonst das Leuna-Werk stillegen werdet hat die I.G. Farben das
verflossene Kabinett Briining zum ErlaB einer Notverordnung
veranlaBt, die den Inlandsabsatz von Stickstoff zu einem Preis,
der 66 Prozent iiber Weltmarktstand liegt, sicherstellt. Gleich-
zeitig wurde eine Zollerhohung fiir Benzin durchgesetzt, die
dem Leuna-Benzin einen wesentlichen Preisvorsprung auf dem
Inlandsmarkt sichert und der I.G. Farben eine zusatzliche
Rente von acht oder neun Millionen Mark jahrlich beschert-
Wird die Produktion von Benzin in Leuna, wie angekiindigt,
nunmehr verdreifacht, so bedeutet das einen jahrlich en Netto-
Plusgewinn von mindestens 30 Millionen Mark, entsprechend
den bei bcsserer Ausnutzung der Anlagen sink end en Erzeu-
gungskosten je Hektoliter.
Die Willfahrigkeit des alten Kabinetts Briining und der
hinter ihm stehenden Parlamentarier gegeniiber den Wiinschen
der I.G. Farben bedingt eine gewisse Anhanglichkeit der
Schmitz, Warmbold, Duisberg und so weiter an den Briining-
kurs. Wer so groBe Geschenke empfangt, der muB sich auch
die" Freundschaft etwas kosten lassen. Unsicher bleibt, ob
eine Partei-Gruppierung Hugenberg-Hitler die gleiche Bereit-
schaft zeigen wird, den „Monop6lkapitalismus" der I.G. Farben
zu subventionieren, dem Landwirt weiter den Stickstoff zu ver-
teuern und der alten Schwerindustrie an Ruhr und Rhein, ein-
schlieBlich des Benzolverbandes, die unliebsame Konkurrenz
2 545
der I. G.-Emporkommlinge und ihrcs Leuna-Benzins vorzu-
ziehen. Mit Br lining ist man gut gefahren, Er verdient eine
Unterstiitzung. Personell kann man sich freilich nicht allzu-
schr engagieren, Zwei LG.-Leute im Bruningkabinett
— Schmitz und Warmbold — das wars eine rechte Kateridee,
das konnte zu leicht zu einer unerwiinschten Festlegung, ja
zu einer Diskreditierung des Konzerns in der offentlichen Mei-
niing fiihren. Eine finanzielle Unterstiitzung des Briiningkurses,
durch Subventionierung der ihm ergebenen Parteigruppierung,
ware schon eher ertraglich. Natiirlich muB der Aufwand einen
gewissen Nutzeff ekt versprechen. Dieser ist solange nicht ge-
geben, als eine ganze Anzahl kaum lebensfahiger Splitterpar-
teien mit hochst eigenwilligen Fiihrern vorhanden sind. Des-
halb hat der LG.-Farben-Trust ein Interesse daran, daB eine
groBe btirgerliche Partei, neben und parallel dem Zentrum,
entsteht: wenn moglich, mit einem Unternehmer- und einem
GewerkschaftsfliigeL In einer Gruppierung halt man auch die
Massen der Angestellten und der Arbeiter hiibsch bei der
Stange. Auch die Einbeziehung agrarischer Gruppen, ahnlich
wie beim Zentrum, ware erwiinscht, damit die Stickstoff-Ver-
braucher nicht zuviel Klamauk wegen der hohen Preise fur
Leuna-Salpeter machen konnen.
Der geeignete Katalysator ist also gefunden: L G.-Subven-
tionen an die neue Partei. Fragt sich nur, ob der Druck aus-
reichen wird, urn die widerstrebenden Elemente zur Synthese
zu zwingen.
Aber auch hier findet sich Rat Wenn man, beUpielsweise^
mit der Einfuhrung der Wahlreform durch Notverordnung
drohen konnte — ? Unter diesem Druck miiBte die Selbst-
herrlichkeit der Splitterparteien und ihrer Fiihrer verschwinden.
Die Wahlreform ist, was man mittlerweile in den Auf-
regungen des letzten halben Jahres fast vollig vergessen hat,
bereits halb fertig. Der Reichsrat hat der Regierungsvorlage,
gegen die Stimmen von ein paar unbeachtlichen Landern schon
zugestimmt. Im Reichstag erhob sich Widerspruch; die Bera-
tung blieb liegen. Die Kronjuristen haben aber festgestellt,
daB das Gesetz nicht verlassungsandernd sei. Und Hermann
Dietrichs Freund, der badische Gendarmerie-Obrist Kuenzer,
bekannt als Reichskommissar fur die offentliche Ordnung, hat
als geschickter und vielseitiger Mann in der ,Deutschen Juri-
stenzeitung' auch schon sein Rechtsgutachten dahin abgege-
ben, daB, „wenn das Parlament sich versagt, zur Rettung des
Staates nur Artikel 48 helfen kann" — auch zur Oktroyierung
des Wahlgesetzes. Denn er meint, daB eine weitere Reichs-
tagswahl unter dem alten Wahlrecht „unmoglichM sei,
Folgt man diesem Rat, setzt man die Wirthsche Wahl-
reform durch Notverordnung in Kraft, so sind die burgerlichen
Parteien unter alien Umstanden zum ZusammenschluB gezwun-
gen. Denn unter dem neuen Wahlgesetz wiirden sie, selbst
wenn es ihnen gelange, dieselbe Stimmenzahl wie am 14. Sep-
tember 1930 zu erhalten, gradezu gevierteilt werden. Sie
konnten nur noch 32 Mandate heimbringen, anstatt der 116
aus der Septemberwahl: Die Wirtschaftspartei wurde auf drei
Sitze heruntergeworf en werden, die Staatspartei und die Volks-
546
partei auf je sieben Mandate, die Christlich-Sozialen auf zwei.
Und die Koiiservativen, die rechtens schon in diesen Reichstag
nicht hineingehorten, wiirden ganz verschwinden. So stark
ware die „selektorische Wirkung" der Reform, die aus dem
Fortfall der Reststimmen in den Wahlkreisen resultiert.
Selbst die Deutschnationalen wurden unter dem neuen Ge-
setz eine ernstliche EinbtiBe erfahren. Eine solche Entwick-
lung wurden viele Leute, die rechts stehen, ohne auf Hitler
eingeschworen zu sein, gar nicht ungerne sehen, Denn Hugen-
berg wird bei den Kraften der Reaktion, die ihre hochst eigen-
niitzigen Zwecke verfolgen, gar nicht allzusehr geschatzt. Die
grofte Wirtschaftsmacht der L G. Farben wiinscht, ebenso wie
die Generalsclique in der BendlerstraBe, keine Bevormundung
durch den starrkopfigen und selbstherrlichen Parteidiktator.
Zuviel Politik stort eben die Geschafte,
Selbst in der Ruhrindustrie, deren Freundschaft zu Hugen-
berg etwas alter und dank personlicher Beziehungen auch
sicherer ist, herrscht nicht allzuviel Neigung, sich der geheim-
ratlichen Fiihrung anzuvertrauen- Aber die Mont anindus trie
hat gegenwartig nicht sehr viel zu sagen. Die starkern Batail-
lone der Reaktion stehen heute anderswo: in den Kreisen, die
selbst Politik machen, selbst fuhren wollen, und die nicht be-
reit sind, dem eben erst hinausgeworfenen Partei-Parlamenta-
rismus in einer andern Form. ihrGeschick in die Hand zugeben.
Deshalb also: synthetische Politik — der Techniker bestimmt
und kontrolliert den Ablauf des Prozesses in den Retorten.
GeSprach mit Patel von Bruno Frei
Dieses GeSprach fand vor Beginn der Round-table-Konfe-
renz statt. Der bisherige Verlauf der Verhandlungen hat den
pessimistischen Erwartungen Patels durchaus recht gegeben,
\7ithalba J. Patel sitzt in dem kleinen Hotelzimmer, in die Ecke
* eines Diwans gedrtickt, und seine grofien Augen, die weiche Braune
seiner Haut, der weifie Bart, der das voile Gesicht umrahmt, stromen
Ruhe und Abgeklartheit aus. Man schamt sich ein wenig seiner her-
linischen Unrast und Hast. Der fruhere President des Indischen Na-
tionalkongresses spricht ohne Nachdruck, ja ohne Betonung, flieBend.
als waren es Lehrsatze eines Rituals.
Wir sprechen von einem gemeinsamen wiener Freund, von der
Vortrefflichkeit der wiener Arztc, von Berlin, das Patel trotz seiner
sechsten Europareise zum erstenmal kennen lernt. Hoflichkeiten.
..Haben Sie hier auch offizielle Personlichkeiten gesprochen?" „Ja»
Es handelt sich bei meiner jetzigen Rundreise urn die Vorbereitung der
zweiten Round-table-Konferenz, die im September in London zusam-
mentreten soil, Der Watfenstillstand, zwischen Gandhi und Lord
Irwin geschlossen, geht seinexn Ende entgegen,"
„Billigen Sie diesen Waffenstillstand?"
„Wir waren in einen Kampf auf Lehen und Tod verwickelt.
Unsre Waffe, die Gewaltlosigkeit, war neu und ohne Vorbild. Die
Lage der Regierung wurde von Tag zu Tag schwerer. Siebzig- bis
fiinfundsiebzigtausend unsrer Freunde waren verhaftet. Es gab zu
wenig Kerker, urn die Millionen einzusperren," die unserm Rufe fol-
gend die Gesetze, die wir nicht anerkennen, brachen. Dann kam eine
Periode brutaler Gewalt. Tausende unbewaffnete Manner, Frauen
und Kinder wurden im ganzen Lande niedergeschlagen und nieder-
geschossen. In Peshawar allein sind Hunderte im Maschinengewehr-
547
feuer gef alien. Niemals in der Geschichte Indiens hat es einc derartige
unmenschliche Unter driickungsgewalt gegeben, wic hicr unter einem
christlichen Vizekonig und unter einer ,sozialistischen' Regierung".
„Und jetzt?"
„Sie mcinen, warum Gandhi diesen Kampf abgebrochen hat? Vor
allem will ich feststellen, daB Lord Irwin es war, der Gandhi be-
dingungslos aus dem Gefangnis entlieB. Aller dings: Mahatma Gandhi,
der bis dahin ein extremer Anhanger der Gewaltlosigkeit, der Nicht-
zusammenarbeit mit England gewesen ist, wurde plotzlich ein ex-
tremer Anhanger der Zusammenarbeit, der das Land bereist, urn das
Volk aufzufordern, Steuern zu zahlen und den antienglischen Waren-
boykott aufzugeben. Das ist fur mich ein Wunder. Ich verstehe, daB
Lord Irwin diesen Effekt als einen groBen Erfolg bucht, Der All-
indische NationalkongreB in Karachi hat Gandhi zugestimmt. Das ist
fur mich ein noch groBeres Wunder, das nur Ghandi vollbringen
konnte. Aber, vergessen Sie nicht, es gibt in Indien eine kleine, aber
wohl organisierte Gruppe, die an den Erfolg der Gewaltlosigkeit
nicht glaubt, Wenn diese Gruppe bis jetzt im GroBen und Ganzen
schwieg, so deshalb, um Gandhis Versuch der Organisierung des
.zivilen Widerstandes* eine voile Chance zu geben."
,,Was ist das Ziel dieser Bewegung?"
„Das Ziel steht schon fest seit dem Lahore -Kongre 3 im De-
zember 1929, Es heiBt: vollstandige, bedingungs- und vorbehaltlose
Unabhangigkeit Indiens. Nicht , Swaraj', wie wir friiher sagten, son-
dertt tPurna Swaraj*. Wenn man heute eine Volksabstimmung in In-
dien machte, wurde die tiberwiegende Mehrheit fur vollkommenen
Bruch mit England stimmen. Wenn Gandhi von der londoner Konfe-
renz mit einer vollen Dominion -Verfassung nach Hause kame — es
wiirde ihm kaum gelingen, das Land zur Annahme zu iiberreden."
„Was halten Sie vom Sozialismus?"
So bestimmt Patels AuBerungen liber die Stellung England gegen-
iiber sind, so unbestimmt und ausweichend sind seine Worte, wenn er
von der innern Verfassung des unabhangigen Indien spricht:
„Sie meien den Kommunismus. Ich sehe im Kommunismus eine
Frage der innern Ordnung unsrer Verhaltnisse. Vielleicht ist er
richtig, vielleicht nicht, Ich glaube jedenfalls, daB die Diskussion
dieser Frage im gegenwartigen Stadium des Kampfes die unmittelbar
vor uns stehende Aufgabe nur erschwert. Was wir heute brauchen,
ist die absolute Unabhangigkeit zur Ordnung unsrer Angelegenheiten.
Erst mufi Indien frei sein von jeder Fremdherrschaft; dann erst wird
die Zeit kommen, diesen Fragen der innern Ordnung ins Gesicht zu
sehn, Dann konnen wir die guten Seiten jedes sozialen Systems an-
nehmen, woher immer es kommt. Deshalb bin ich fiir den Augen-
blick nur fur Nationalismus und fiir sonst keinen andern Ismus. Das
indische Volk muB gemeinsam die Fremdherrschaft abwerfen. Die
britischen Bajonette und die britischen Maschinengewehre machen
keinerlei Unterschied zwischen Kasten und Klassen, zwischen Bauern
und Besitzern, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Religionen und
Rassen. Alle drei englischen Parteien stehen geschlossen gegen unsT
deshalb konnen wir uns den Luxus von Trennungen nicht leisten.
Vielleicht werden wir einmal in ferner Zukunft diesen engstirnigen
Nationalismus zugunsten internationaler Ideen aufgeben konnen —
heute ist das unmoglich,"
In diesem Augenblick wird mir klar: hier spricht ein Liberaler mit
achtundvierziger Illusionen. Auch Indien muB seine Volksgemeinschafts-
Seifenblasen platzen sehn* Sprach nicht genau so der chinesische
General Tschiang-Kaitschek im Namen der Kuomintang, bevor er
seinen Soldaten Befehl gab, die Gewehre umzudrehen, um diejenigen
niederzuschieBen, die ihm half en, die Fremdherrschaft zu vertreiben?
Nein, Mr. Patel, die Arbeiter und Bauern Indiens haben mit den Ar-
beitern und Bauern Nichtindiens mehr Gemeinschaft als mit den Fa-
548
brikanten und Fiirsten, die heute im Namen Indiens sprechen. Der
Kommunismus ist nicht cine Frage der „innern Ordnung", die man
nach errungener Freiheit in Angriff nimmt, sondern die Voraussetzung
dieser Freiheit,
Aber Patel spricht weiter. Ober die Realitaten des Tages. Die
nachste Aufgabe ist die Septemberkonferenz. Der Waffenstillstand
war nach seiner Ansicht verfrtiht. Aber nun, da er abgeschlossen ist,
muB er gehalten werden, obwohl England inn nicht halt. Die poli-
tischeh Gefangenen sind nach immer nicht frei. Entscheidend ist
nicht der Waffenstillstand — der geht voruber; entscheidend ist, ob es
Frieden geben kann zwischen Indien und England. Das soil jetzt
entschieden werden.
Patel faBt seine Meinung iiber die Voraussetzungen einer fried-
lichen Losung zusammen. Er kommt aus England und sein Eindruck
ist pessimistisch. England hat offenbar noch immer nicht begriffen,
was auf dem Spiele steht. Die Gefahr eines Zusammenbruchs der
kommenden Konferenz ist fur England groBer als fur Indien. .Die
indischen Massen sind bereit, den Kampf mit verscharften Mitteln
aufzunehmen und alle Opfer auf sich zu nehmen, die ein Entschei-
dungskampf mit sich bringt, An Indien wird England zugrunde
gehn, wenn es nicht vorher einlenkt. „Aber was ich jetzt in London
sah, macht mich in bezug auf die Moglichkeit einer friedlichen Ver-
standigung skeptisch."
Patel faBt seine Meinung tiber die indischen Fordefungen auf der
Septemberkonferenz zusammen: Vollkommene Unabhangigkeit ein-
schlieBlich des Rechts der Separation, vollkommene Kontrolle tiber
die Militar- und Polizeigewalt, vollkommene Selbstandigkeit der aus-
wartigen Beziehungen, vollkommene Selbstandigkeit der Finanz- und
Wirtschaftspolitik, Priifung der offentlichen Schuld Indiens mit Be-
riicksichtigung der Gegenforderungen, Nichtanerkennung von Vorbe-
halten iiber die rechtliche Stellung der Auslander, Die Dif ferenzen zwi-
schen den zwei Volksgruppen, den Mohammedanern und Hindus, sof ern
man ernsthaft von solchen sprechen kann, werden in dem MaBe ver-
schwiriden, als ein einheitliches Nationalgefiihl, wie es bei der Jugend
schon vorhanden ist, Allgemeingut wird. Im iibrigen sehe man schon
jetzt, daB die Interessengruppierungen im Lande starker sind als die
religiosen; die Hindu- und Moslemarheiter stehen zusammen, ebenso
wie die Hindu- und Moslemfabrikanten, Es wird den Feinden Indiens
nicht mehr gelingen, den religiosen Gegensatz auszuniitzen und auf
ihn den Fortbestand der Fremdherrschaft aufzubaun.
„Wird Gandhi nicht wieder zuruckweichen?"
„Die Frage heiBt jetzt: Krieg oder Frieden? Indien ist ent-
schlossen, die Freiheit zu erkampfen, ohne Riicksicht auf Kosten, Lei-
den, Opfer. Gewalt und Unterdruckung sind unfruchtbar gegeniiber
einem erwachenden Indien. Ein Scheitern der Konferenz bedeutet
Vernichtung des britischen Handel s in Indien fur alle Zeiten. Die
Zukunft wird zeigen, daB das keine leere Drohung ist. Aber die
Frage Krieg oder Frieden ist eine Frage, die alle Volker angeht, nicht
nur die beteiligten. Von dem Ergebnis der Round-table-Konferenz
wird der Frieden und die Zufriedenheit von einem Fiinftel der
menschlichen Rasse abhangen. Die Zeit ist vorbei, da die zivilisierte
Welt diesem Kampf mit mehr oder minder interessierter Neugier zu-
sehen konnte.'*
Patel hat recht: Von Indien hangt fur Europa viel, sehr viel ab.
Aber wenn er meint, das Ziel des indischen Unabhangigkeitskampfes
sei erreicht, wenn der Volkerbund ein neues Mitglied . auf nimmt,
diirfte er sich sehr irren. Die Zeiten sind vorbei, da aus dem Feuer
von Revolutionen burgerliche Staaten entstanden. Das selbstandige
Indien wird konimen, aber ob dann noch Zeit sein wird zu iiberlegen,
ob es ein kapitalistisches oder ein sozialistisches Indien werden soil,
darf man fiiglich bezweifeln.
549
Zehtl Jahre I.A.H. von Alfons Goldschmidt
Qpiirt Ihr in dcr Erinnerung noch das Grauen vor dem Hun-
ger an dcr Wolga? Seht Ihr noch die Bilder: verdorrende
Menschen auf verdorrtem Boden? Die Sonne von sengender
Unbarmherzigkeit, der Acker geborsten, kein Trqpfen, kein
Korn ringsum? Krieg nach dem Kriege mit der entsetzlichsten
Waffe, dem unabwendbaren Feuer von oben? Und dann
krochen Hunderttausende iiber den Hollenrand hinaus, Manner,
Frauen, Kinder, eine ganze Welt schien nur noch stumm
schreiender Magen zu sein. Urentsetzlichkeitea, nur die Kreatur
war geblieben, Hunger, Durst, Menschentiere!
Wir sind noch immer Nachbarschaftsethiker. Das Mitleid
nimrat ab mit den Kilometern, Aber ehe Ihr nicht bebt und
aufspringt, wenn Eure Briider brotlos werden in Indien, wenn
sie verkauft werden in Afrika, wenn sie gekocht werden auf
dem elektrischen Stuhl, wenn man sie in Anam erschiefit und
in China kopft, wenn Ihr nicht Jeden haBt, der irgendwo lei-
dende Menschen knutet, so mogt Ihr tausendmal iiber Wunden
und Leichen in Eurem Haus weinen, Biester seid Ihr doch.
Als der erste Hilferuf gegen den Hunger an der Wolga
aufgellte, vor zehn Jahren, im August 1921t da kamen die Hei-
fer aus vielen Lagern. Es war im ersten Augenblick keine po-
litische Hilf sbereitschaftt es war drangende Giite aus den guten
Tiefen des Menschen. In jenen Tagen hatte ich die Sicherheit:
Es wird einen Menschenglobus gebenf einen Globus ohne
Metzeleien, ohne kleinpolitische Verkniestheiten, ohne den Sa-
dismus, unberiihrt zu bleiben, einen Globus mk allgemeiner
aktiver Hilfe drauft einen solidarischen Globus.
Am 12. August 1931 wurde das Auslandskomitee zur Or-
ganisierung d»es Kampfcs gegen den Hunger in Sowjet-RuBland
gegrundet Die Idee von Lenin, in die Welt getromraelt und
mit groBem Enthusiasm us und Talent von Willi Miinzenberg
aktiviert. Ich gehore zu den Griindern dieser Organisation,
zehn Jahre meines Lebens habe ich mitgearbeitet an ihrem
Ausbau, ich bin ihr Vorsitzender in Deutschland, aber was war
und ist das alles gegen diese tatkraftige Vielfaltigkeit, die
realisierbare Phantasie, die auffeuernde Rastlosigkeit dieses
Menschen, fiir den jede Kampagne die Jugendbewegung zu
sein scheint, aus der er sich seine ersten proletarischen Me-
riten geholt hat? Dagegen bedeuten auch Nebenleistungen,
steckengebliebene Versuche, kleine Fehlblicke nur sehr wenig
oder gar nichts.
Aus dem Kampf gegen den Hunger in RuBland wurde der
Kampf gegen den Hunger der arbeitenden Menschen in aller
Welt. Denn, das war der einfache Gedanke, iiberall hungern
die Produzenten des Reichtums. Wer kann gegen diesen Hun-
ger kampfen? Nicht die Kapitalisten und ihre Heifer, nicht
Trusts und Monopole, nicht die schabigen Internationalen des
Geldes und der Rohstoffe, die gar keine Internationalen sind,
kampfen konnen nur die werktatigen Massen dagegen, nur aus
sich selbst, aus ihrer eignen Not und ihrer eignen Kraft konnen
sie sich helfen. Diesen sozialistischen Grundgedanken sucht
die Internationale Arbeiter-Hilfe zu verwirklichen.
550
Mit Erfolg, das muB man sagen. Noch lange nicht mit dcm
ganzen Erfolg, den wir wiinschen, wohl aber mit sichtbaren
und fiihlbaren Resultaten. Die Internationale Arbeiter-Hilfe
ruft alle Proletarier auf, die Proletarier aller Parteien, die Ar-
beit er mit der Hand und mit dem Kopf aus alien Lager n, sie
ist eine Saminelorganisation fur aktive Solidaritat in der gan-
zen Welt. Dieser Gedanke ist Iogisch, gesund, selbstverstand-
lich. Ich konnte seine Wirkung sehen, nioht nur in Deutsch-
land und in den andern europaischen Landern, auch in Mexiko,
in Argentinieri, in den U.S.A. Ob Naturgewalt oder Menschen-
gewalt, wo Elend stohnt aus Werktatigen, da ist auch Hilfs-
notwendigkeit und Hilfswille* Im Kinder dor f der LA.H, bei
Mexikostadt, im Gewerkschaftsbureau in Buenos-Aires, in den
Baracken der streikenden IBergarbeiter bei Pittsburgh, in tau-
send I.A.H.-Versammlungen, in Speisungsraumen, in Kinder-
heimen, auf der kampfenden Leinwand, in Zeitungen und Zeit-
schriften, in Biichern und Flugblattern, Tag fiir Tag habe ich
die ungeheure Saugekraft d-er Hilfsidee erlebt.
GroBe Vefbande sind Mitglieder der International Ar-
beiter-Hilfe, Tausende und Hunderttausende von Einzelmitglie-
dern hat sie in vielen Landern, achtzehn Millionen Mitglieder
bis heute insgesamt. Sie wirkt nicht nur gegen den Augen-
blickshunger, sie wirkt fur Dauersattigung in der Zukunft. So
ist sie eine proletarische Starkungsorganisation, eine wirkliche
revolutionare Organisation, denn Revolution, das ist Solidaritat,
das ist aktive Gegenseitigkeit, das ist Blick auf eine sozia-
listische Welt, das ist Verbundenheit aller schaffenden Men-
schen, AusgegHchenheit aller Krafte der Hande, der Hirne,
in der Luft, in der Krume, im Stein und im Wasser.
Ein solch umfassendes Werk kommt nicht ohne Gegensatze
zustande, nicht ohne Innenkampfe, nicht ohne Programmdis-
kussionen und Programmanderungen. Aber geblieben ist in
den ganzen zehn Jahren die groBe Linie, die Aufnahmebereit-
schaft fiir alle, der dringende Ruf: „Wo Ihr auch steht, Ihr
konnt mit uns sein, weil Ihr ja doch alle dieselben Note habt!"
Die Hiifssummen, das Hilfsgeld, die Hilfsnahrung und die
Hilfskleidung, darauf kommt es an. Das druckt sich aus in
einer „GroBenordnung" von hundert Millionen Mark oder
mehr. Aber mehr noch kommt es an auf die Solidarisierung,
auf das Entstehen einer wirklichen Internationale der werk-
tatigen Massen. Da die Internationale Arbeiter-Hilfe das will
und da sie diesen Willen mit unleugbarem Erfolg verwirklicht,
wird sie auch bespien und verfolgt. Deshalb muBten Menschen
fiir sie sterben, wurden Kampfer fiir sie ins Gefangnis gesteckt.
Keinen Begriff macht man sich von diesen schabigen Wiite-
reien, diesen dummen Kleinbiirgereien und dieser muffigen
Rachsucht. Aber wir haben ein Plus, das man nicht beseitigen
kann: Was man auch tut gegen die Internationale Arbeiter-
Hilfe in einem Lande, es bleiben immer noch alle die andern
Lander. Diese Organisation, weil sie eine aktive Gegenseitig-
keit bedeutet, ist nicht wegzuradieren, Was ihr Obles ge-
schieht an einer Stellef-starkt sie an hundert andern, und wer
sie toten will hier, ist dort und dort verachtet von den
Millionen.
551
Giftmordprozefi Riedel — Guala von Emst Toiler
F^ar vierundzwanzigjahrige Student der Medizin, Max Riedel, lernt
*"^ im Jahre 1916 in Zurich die Schneiderin Ida Schnewlin kennen
und heiratet sie. Nach seinem Examen praktiziert er mit gutem
Erfolg in OberburjJ und Langnau.
Es gibt ein schweizer Advokaten-Wort: „Zum Nachweis der
Ehezerriittung geniigt es, den Trauschein vorzuweisen."
Die Ehe ist ungliicklich vom ersten Tage an. Auch die Geburt
eines Kindes im Jahre 1923 fiihrt die Gatten nicht zusammen. Streit
un4 Zank herrschen im Haus. Die Verhaltnisse sind so unerquick-
lich, daB beide Ehegatten im Jahre 1924 die Scheidung beantragen.
Zu dieser Zeit nimmt Doktor Riedel Fraulein Antonia Guala als
Wirtschafterin ins Haus.
Die Ehe wird geschieden, das Kind der Mutter zugesprochen und
Doktor Riedel als dem Hvorwiegend schuldigen Teil" ein einjahriges
Eheverbot auferlegt. Solche Eheverbote sind nach schweizer Gesetz
bis zu drei Jahren moglich, auch wenn kein „EhebruchM zur Zerriit-
tung gefuhrt hat.
Doktor Riedel verliebt sich in Fraulein Guala, verlobt sich mit
ihr, verspricht, nach Ablauf der Verbotsfrist, sie zu heiraten. Da
die geschiedene Frau bei der Scheidung Mobel und Wasche mitgenom-
men hat, schafft Fraulein Guala aus ihren Ersparnissen eine neue
Einrichtung an.
Um seine kleine Tochter zu sehen, besucht Doktor Riedel von
Zeit zu Zeit seine geschiedene Frau, die in Zurich wohnt,
Als Frau Riedel erfahrt, dafi ihr Mann Fraulein Guala die Ehe
versprochen hat, gelingt es ihr, zehn Tage vor Ablauf des Ehever-
bots, Doktor Riedel zu iiberreden, sie wiederzuheiraten, um, so be-
teuert sie, dem Kinde das Elternhaus zu erhalten, Sie veranlafit ihnf
Fraulein Guala, die nichts von der neuen Wendung weifi, zur Erho-
lung nach Saignelegier zu schicken, heiratet Doktor Riedel binnen
wenigen Tagen und zieht zu ihm nach Langnau. Ein Anwalt wird
beauftragt, Fraulein Guala von den Geschehnissen zu unterrichten und
ihr die Riickkehr in das Doktorhaus zu verbieten, Aber der Anwalt
lafit den Brief einige Tage liegen, als er in Saignelegier eintrifft, ist
Fraulein Guala unterwegs nach Langnau. Die Ture offnet ihr die
neuvermahlte Frau Riedel, Fraulein Guala bricht zusammen. Sie
wird spater im Haus des Doktor Riedel auigenommen.
Auch die zweite Ehe ist nicht gliicklicher als die erste. Am 14. De-
zember 1925 kommt es, als Riedel zu spat zum Essen heimkehrt, zu
einem leidenschaftlichen Auftritt. Die herrschsiichtige Frau wirft ihm
sein „LumpenlebenM vor, Riedel antwortet, sie moge, wenn es ihr nicht
passe, die Sachen packen und das Haus verlassen. Das Kind, das
dem Auftritt beiwohnt, klammert sich an Fraulein Guala, nicht an die
Mutter. Nachmittags erkrankt Frau Riedel. Vier Tage spater, am Frei-
tag, den 19. Dezember 1925, stirbt sie. Einige Stunden vor dem Tode
zieht Riedel zwei andre Arzte hinzu, die spater die Obduktion der
Leiche veranlassen. Man findet im Korper starke Mengen von Arsenik.
Am 22. Dezember werden Doktor Riedel und Fraulein Guala
wegen Giftmordverdachts verhaftet. Am 28. Juli 1926 werden beide
auf Grund eines Indizienbeweises von den Geschworenen in Burgdorf
fiir schuldig befunden und zu je zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt.
Verdachtig erscheinen den bauerlichen Geschworenen die „unsittlichen"
Beziehungen Antonia Gualas zu Riedel, der schon als Neunzehnj ahri-
ger, wie Zeugen bekunden, mit der Frau seines Schulrektors nach
Paris durchgebrannt war. Kein tatsachlicher Beweis zeugt fiir den
Vorsatz der Angeklagten, Frau Riedel aus dem Weg zu raumen.
Die Entscheidung im Prozefi bringt das Gutachten des Toxykolo-
gen der Universitat Basel, Professor Schonberg, der erklart, daE
552
nach der Verteilung des Arsenik im Korper die Frau in der Zeit
von Montag bis Freitag, von der Erkrankung bis zum Tod, mehrere
Male, zum mindesten zweimal, Arsenik genommen haben musse., Da-
mit wird die Anriahrae der Verteidigung, daB Selbstmord vorliege,
unwahrscheinlich, denn eine Selbstmorderin wiirde, nach Annahme
der Geschworenen, nur einmal Gift zu sich genommen haben.
Das Urteil trifft zwei fassungslose Menschen, die ihre Unschuld
beteuern. Fraulein Guala kommt in die „Weiberstrafanstalt" Hindel-
bank, Riedel ins Zuchthaus fiir Schwerverbrecher nach Thorberg.
Jahre vergehen. Die beiden Verurteilten kampfen unaufhorlich
urn die Wiederaufnahme des Prozesses. Der bekannte berner Anwalt
Fritz Roth nimmt sich ihrer an und reicht am 9. Marz 1931 einen
umfangreichen, lesenswerten Revisionsantrag beim Kassationshof des
Kantons Bern ein, den er gleichzeitig in Buchform bei Orell-FiiBli
publiziert, Das entscheidende Argument des Professors Schonberg, Frau
Riedel habe angeblich mehrraals Gift genommen, das Hauptindizium,
wird im Revisionsverfahren erschiittert, da Professor Schonberg auf
Grund neuer Forschungen es fiir moglich halt, sich geirrt zu haben.
AuBerdem gewinnen die durch das Tagebuch der Frau Riedel be-
kanntgewordenen Selbstmordneigungen an Wahrscheinlichkeit.
Am 9. Juli 1931 beschliefit der Kassationshof das Wiederauf-
nahmeverfahren, die beiden Verurteilten werden aber trotz fiinfjahri-
ger Haft nicht in Freiheit gesetzt, sondern wegen Verdunkelungs-
gefahr ins Untersuchungsgefangnis nach Burgdorf iibergefuhrt.
Man bedenke; nach fast sechsjahriger Durchforschung des Tat-
bestandes halt das Gericht t,VerdunkelungsgefahrM fiir gegeben! Selbst
der Staatsanwalt hatte Freilassung beantragt.
Gleichzeitig mit diesem BeschluB verhangt das Gericht eine Ord-
nungsstrafe von 100 Franken uber Rechtsanwalt Roth, der in seiner
Revisionsschrift den damaligen Untersuchungsrichter Gerber „un~
gebuhrlich" angegriffen habe, Dieser Herr Gerber hatte den An-
geschuldigten, entgegen der ProzeBordnun^, keine der Rechte zugebrl-
ligt, die sie im Untersuchungsgefangnis beanspruchen konnen. So ver-
bot er ihnen anfangs den Gebrauch von Seife und Zahnpasta, ver-
weigerte ihnen Kostzulagen, Lektiire von Zeitungen und Biichern,
nicht einmal medizinische Fachwerke durfte Riedel lesen. Rechts-
anwalt Roth wird zu einer Ordnungsstrafe verurteilt, obschon sich
aus- Verwaltungsakten ergibt, daB die vorgesetzten Behorden das Ver-
halten des Herrn Gerber als „gelinde seelische Folter" gekennzeichnet
haben. Auch die Anwaltskammer in Bern geht gegen Roth vor; es ver-
trage sich nicht mit der Wurde des Anwaltsstands, daB ein Anwalt,
durch Veroffentlichung eines Buches, Reklame mache, und sie ver-
urteilt ihn gleichfalls zu einer Strafe von 100 Franken.
Zuzusehen, wie Unschuldige im Zuchthaus verkiimmern, scheint
sich mit der Wiirde der berner Anwaltskammer zu vertragen.
Fast zweieinhalb Jahre dauerte es, bis der Kassationshof iiber
den Revisionsantrag des Verteidigers entschied, und, wenn die Offent-
lichkeit sich des Falles nicht annimmt, werden wieder Monate und
Monate vergehen, bis es zur neuen Verhandlung kommt. -
Am 9. Juli 1931 erfolgte die Revisionsbewilligung. Den Verted
digern, Rechtsanwalt Roth und Rechtsanwalt Rosenbaum-Duccommun
Zurich, der Antonia Guala verteidigt, wird versprochen, daB die Ver-
handlung im Herbst stattfindet. Jetzt sieht es so aus, als ob der
ProzeB erst im Jahre 1932 durchgefuhrt werde.
Immer, wenn der Staat sich irrt, verschanzen sich seine Funktio-
nare hinter dem gefahrdeten Staatsprestige, und die Einfaltigen glau-
)ben es und merken nicht, daB jene nur ihr eignes Prestige retten
wollen.
Fraulein Guala) an deren geistiger Gesundheit im ersten Pro-
zeB niemand zweifelte, am wenigsten das Gericht, das ihr zwanzig
Jahre Zuchthaus zudiktierte, soil jetzt psychiatrisch untersucht wer-
8 553
den. Was will man feststellen? DaB die Nerven der Frau durch
fiinfjahrige zermtirbende Zuchthaushaft zerriittet sind? Das kann
jeder Laie sagen, auch ohne monatelange Begutachtung, durch die die
Verhandlung unnotig verzogert wird.
Die schweizer Justiz soil wissen, daB dieser Fall kein privater
ist, daB die Offentlichkeit am Schicksal der Beiden teilnimmt, weil
hier das beleidigte Rechtsempfinden jedes Menschen Stihne forderL
Ich habe Doktor Riedel trad Fraulein Guala im Untersuchungs-
gefangnis Burgdorf gesehen. Gewifi gibt es keine gefahrlicheren Satze
als diese: MSo sieht ein Morder aus" oder „So sieht kein Morder
aus", Aber von diesen beiden Menschen, die ohne jede Lamentation
und ungebeugt um ihr Recht kampfen, bin ich doch versucht zu sa~
gen: So kampfen nur Unschuldige.
Bevor ich Riedel besuchte, sah ich das Zuchthaus Thorberg, in
dem er ftinf Jahre lebte, Dort lernte ich eine der furchterlichsten
Strafen kennen, die Europa kennt: „Das Gatter\ Wenn sich ein
Haftling gegen die Hausordnung vergeht, kann er in eine lichtlose,
unheizbare, eiskalte, unterirdische Zelle bis auf die Dauer von drei
Wochen eingesperrt werden. Zur Verscharfung dieser Strafe darf ge-
gen ihn ,,das Gatter" angewandt werden, Der Haftling wird in einen
Winkel der dunklen Zelle gestellt, der durch ein Eisengitter ab-
getrennt ist. Der Winkel ist grade so groft, daB ein Mensch darin
stehen kann. Bis zu vierundzwanzig Stunden dauert diese Folter!
Die Schweiz hat das Institut der Volksinitiative. Wann wird der
Gesetzesantrag eingebracht, der diese Barbarei beseitigt?
Einer, der es genau weifi von peter Panter
A Is ich in den erst en Monaten nach Siegfried Jacobsohns
Tode die Redaktion der fWeltbiihne* innehatte, meldete
sich unter andern Otto Forst de, Battaglia mit dem Angebot
von Beitragen, Ich wies ihn ab — das Zeug, das ich von ihm
gelesen hatte, ermunterte mich nicht, ihn unsern Lesern vor-
zusetzen. Dann vergaB ich. den Mann und den Namen.
y Heute liegt nun vor: „Der Kampf mit dem Drachen" von
Otto Forst de Battaglia, „Zehn Kapitel von der Gegenwart des
deutschen Schrifttums und von der Krise des deutschen Gei-
steslebens". Darin bekommen wir es alle miteinander nicht
schlecht zu horen.
Es ist die alte Leier: die wahren deutschen Kiinstler wer-
den niedergehaiten und unterdruckt; alles, was heute Gel-
tung hat, hat keine Geltung zu haben; die SpieBbiirger der
Recht en werden weit liber die SpieBbiirger der Link en gestellt,
und das Ganze soil eine wilde Attacke sein, geritten zugunsten
der volkischen Belange.
Die Rechten haben mit ihren literarischen Vertretern
durchaus Pech, Dies Buch zum Beispiel ist kaum fiir uns Leute
vom Bau inter essant; es ist die typische interne Abrechnung,
ein Atelierscherz, mit seinen kleinen Gehassigkeiten und fa-
den Austriacismen nur den Beteiligten verstandlich; was das
Publikum damit anfangen soil, kann ich mir nicht vorstellen.
Vermutlioh wird es keiner lesen. Ich mochte aber einmal einen
kleinen Begriff davon geben, wie diese iiberheblichen Mann-
chen arbeiten, die heute, mit der Nase fiir die Konjunktur, auf
der Rechten statt auf der Linken herumschleichen,
Forst de Battaglia schreibt tiber den MJahrgang 1902" von
Ernst Glaeser:
554
„An einem Wort haben die Franzosen wahrend des Krie-
ges einen im ubrigcn ausgezeiqhnet gefalschten Aufruf erkannt,
mit -dem die deutsche Gegenpropaganda revolutionare Stim-
mung in Frankreich entfe&seln wollte. Es hieB da von einer
,joie sadistique' und' die drei uBerfliissigen Buchstaben, der un-
scheinbare Germanismus ,sadistique' anstelle des richtigen ,sa-
dique' hat geniigt, den eingeschmuggelten Feind zu entlarven.
Jetzt haben wir bei Glaeser etwas Ahnliches: Sein Motto, das
Grundmotiv seines Roches laute.t im franzosischen Mund: ,La
guerre, ce sont nos parents'. Das ein-e ,ce sont' statt des rich-
tigen ,c'est\ der eine Germanismus, den sicher alle deutschen
Leser iibersahen, entlarvt dieses Wort als Konstruktion Glae-
sers und driickt so das Siegel auf die vorgebliche Echtheit
dieser Kriegserinnerungen.1'
Er weiB es ganz genau, Aber abgesehn von dem gramma-
tischen Fehler, den der Herr Lehrer macht („Es hieB da von
einer joie sadistique" ist Unsinn; entweder: Es ist da von
einer joie sadistique die Rede, oder: es heiBt da joie sadistique)
— abgesehn von diesem Fehler ist das, was er iiber das fran-
zosische Motto erzahlt, grundfalsch.
Man kann in der franzosischen Sprache des Alltags sag en:
„C'est nos parents." Die korrekte Form aber ist die von Glae-
ser gewahlte; „Ce sont nos parents/' Das unbetonte ,,ce"
kann nur Attribut sein, aber nicht Subjekt; Subjekt ist , .pa-
rents". Soil das Pronomen Subjekt sein, so muB die betonte
Form genommen werden, und die heiBt „cela'\ Man sagt;
„Cest un homme", wobei „homrae" Subjekt ist; man sagt aber:
,,Cela est beau", wobei cela Subjekt ist.
Das ist die starre RegeL Nun hat der Alltagsgebrauch
diese Unterschiede leicht verwischt; man kann also sagen:
„La guerre, e'est nos parents", aber man muB es nicht sagen.
Der Satz, der ja ein Paradox ist, wird wahrscheinlich besser
,,c'est nos parents" lauten; von einem Fehler ist keine Rede.
„Les voyez-vous, les hussards, les dragons, la garde?
Les voila — ce sont eux!"
heiBt es in einem franzosischen Liede.
Otto Forst de Battaglia stecke seine Nase in die Gram-
matiken: Grammaire Maquet et Flot, 3ieme degre (bei
Hachette erschienen); Seite 91, §§ 331 bis 334. Oder: Gram-
maire Crouzet (bei Didier erschienen); Seite 71, §§ 170, 171.
Jeder haut einmal daneben, Aber diese fatale Besser-
wisserei, dieses peinliche Bildungsgeprotz, das am Kaffeehaus-
tisch ganze Wissenschaften erledigt . . . und wenn du nachher zu
Hause nachblatterst, dann ist es alles falsch. Hoffentlich steht
das, was dieser Drachentoter sonst iiber die Literatur aussagt,
auf einer besser fundierten Basis. Aber so gefahrlich ist das
ja alles gar nicht. Obgleich er mich, nicht einmal sehr un-
sanft, auch beim Wickel hat, muB ich doch sagen: die meisten
seiner Drachen sind gar keine Drachen, sondern Regenwiir-
mer, dieser Siegfried ist kein Siegfried, sondern ein miscJbT
bliitiger Pole, der Sehnsucht nach einer reinen Rasse hat, die
es nicht gibt, und wir gehen zur Tagesordnung iiber, Neu-
gierig bin ich nurt wann er uns den nachsten Artikel einsen-
den wird'.
555
Charakterdeutung als Wissenschaft
von Rudolf Arnheim
I
fj[it der ehrenden Bezeichnung t)Streng wissenschaftlich"
■ . wird heute ein unerfreulicher MiBbrauch getrieben, Vom
Brief kastengraphologen bis zum gottlichen Meistcr Joseph
WeiBenkas, vom Augendiagnostiker bis zu den metaphysischen
Atemiibungen der Mazdaznan-Leute nennt sich alles so. Das
ist umso argerlicher, als die neueste Entwicklung der soge-
nannten exakten Wissenschaften es iramer schwieriger macht,
nach sicheren Kriterien zu entscheiden, was wissenschaftlich
sei und was nicht.
Den Graphologen, Chirologen, Astrologen wird immer wie
der vorgeworfen, sie arbeiteten nicht mit exakten Mitteln
Ihre Beschaftigung sei bestenfalls Kunst, jedenfalls nicht Wis-
senschaft, beruhe auf Intuition, Blick und Begabung, nicht auf
Beweisen, Schltissen, Experimented Dies ist nun sicherlich
richtig. Zwar bestehen die Vorarbeiten zu einem Horoskop
oder einer graphologischen Analyse darin, gewisse Tatbestande
festzulegen, von denen man nachpriifbar und mit aller wiin-
schenswerten Scharfe sagen kann, sie seien richtig oder falsch,
aber das Wesentliche einer solchen Arbeit, der eigentliche
„Deutungsvorgang" besteht durchaus darin, Gebilde zu erken-
nen und zu beschreiben, die sich jeder scharfen Bezeichnung,
jeder brauchbaren Einordnung unter Oberbegriffe entziehen. Die
Geburtskonstellatiori ernes Menschen laBt sich mit astronomi-
scher Sicherheit festlegen; es laBt sich sagen, ob eine Hand-
schrift Arkaden- oder Girlandenbindungen, einen spitzen oder
einen stumpfen Winkel zut Schreiblinie aufweist, und man
mu£ herausbekommen, ob die Schriftprobe in einer normalen
Schreibsituation, auf guter, fester Untetlage entstanden ist
oder etwa, wie wir es von jenem Liebhaber bei Chaderlos de
Laclos wissen, auf dem nackten Riicken der Geliebten. Alle
diese Recherchen aber schaffen hur das. Material herbei fur
die eigentliche Untersuchung, die darin besteht, das individu-
elle, undefinierbare Zueinander bestimmter an sich gut defi-
nierbarer Faktoren zii erfassen. Es handelt sich dabei nicht
darum, eine Reihe von Relationen aufzuzeigen und aus ihnen
schlieBlich die Summe zu ziehen — das ware eine systema-
tische, begrifflich festlegbare, aus Lehrbiichern restlos erlern-
bare Arbeit, Sondern die konstitutionellen Faktoren eines
solchen Gebildes stehen nicht summativ, nur durch ein Phis-
zeichen verbunden, tiebeneinander, sie sind vielmehr ein-
geschmolzen in eine Ganzheit, in deren Zusammenhang erst
der nicht isolierbare Sinn des Einzelnen verstanden werden
kann. Dies widerstreitet durchaus der uralten, klassischen Er-
kenntnismethode aller Wissenschaften; denri die erfaBt die in
der Wirklichkeit vorkommenden Einzetdinge — oder glaubte
sie zu erfassen — , iridem sie sie restlos in ihre Bestandteile
zerlegt, diese Bestandteile in die betreffenden Kategorien ein-
ordnet und auf diese Weise jedem Gegenstand den Schnitt-
punkt der fur ihn gultigen Relationen als nur ihm zugehorigen
Platz im Begriffsnetz des wissenschaftlichen Weltbildes ari-*
556
weist. LaBt sich aber ein Ding nicht mehr als die Summe sei-
ner Tcile charakterisieren, so fallt jede exakte Moglichkeit
der Eiriordnung tind damit der Beschreibung fort. Eine Ganz-
heit ist eine Spezies fur sich, ein Begriff, unter den nur ein
Fall ftllt.
Doktor Rolf ReiBmann spricht in einer Sondernummer der
,Literarischen Welt' von den astrologischen Elementent den
Tierkreiszeichen, Planeten, t,Hausern"( Aspekten als vonOber-
symbolen, Formprinzipien, der en Verflechtung und Oberschnei-
dung in synthetischer Zusammenschau erkannt werden miisse.
Von dies en Element en ist jedes fiir sich mit wissensohaftlicher
Sauberkeit konstatierbar. An welchem Punkt des Himmels
der Mars zu einer bestimmten Minute gestanden hat, laBt sich
mit jeder gewunschten Prazision errechnen, Aber damit ist
eben no ch nichts getan. Der Chirologe Julius Spier sagt, daB
von jeher die Handlesekunst gewisse gesicherte Regeln be-
sessen habe, „nicht allzu viele, denn man war sich wohl be-
wuBt, daB die Deutung einer organischen Gestalt letztlich ein
intuitiver Vorgang ist, nicht anders als die Erfassung eines
Kunstwerkes", Und: „Jedes einzelne Merkmal, das sich in der
Handflache befindet, bedeutet als einzelnes nichts, sondern
kann — wie bei jeder physiogriomjschen Methode — nur in
Bezug auf das Gesamtbild verstanden werden." Hieruber macht
sich Werner Hegemann in wenig einsichtiger Werse lustig,
weil er annimmt, die Vieldeutigkeit des Merkmals bedeute das
Eingestandnis volliger Willktir, Er iibersieht (nicht nur, daB
hier das tiefernste Grundproblem aller heutigen Wissenschaft
liegt, sondern auch), wohl werl er es nicht aus eigner An-
schauung weiB, daB innerhalb einer bestimmten Ganzheit jedem
Merkmal eine vollkommen feste Bedeutung zukommt, die fiir
die Anschauung eindeutig, begrifflich aber nicht erfaBbar is$.
Denn streng erfaBbar sind eben nur Tatbestande, die sich
auf einfache MaBbegriffe, etwa aui Zahlen, zuriickfiihren las-
sen, Eine Tonhohe beispielsweise kann ich durch die Fre-
quenzzahl physikalisch eindeutig bestimmen, und setze ich
eine Serie soldier Frequenzzahlen nebeneinander, so kann ich
die Reihenfolge einer Melodie angeben. Das Eigentliche einer
Melodie aber, die dynamischen Charaktere des Auf und Ab,
das Verhaltnis der Intervalle kann ich nicht definieren, obwohl
es sich tun ein durchaus offenliegendes, klares Phanomen der
Wirklichkeit handelt, urn etwas durchaus Unmystisches, Gehort
Intuition, gehort Kunst dazu, eine Melodie aufzufassen? Nein,
nicht unsre Anschauung, sondern unsre Begriffe lassen uns hier
im Stich! Fast genau so steht es mit den ganzheitlichen Ge-
bilden, die in einer Handschrtft, einer Handflache, einer Ge-
stirnkonstellation eriaBt werden sollen. Sie sind mit wissen-
sohaftlicher Scharfe nicht beschreibbare, dabei aber ebenso
deutliche, von jedermann unmittelbar aufiaBbare Gegebenhei-
ten wie etwa die Umrifiform einer Wolke am Himmel.
Es ist irrefuhrend, fur diese Dinge immer wieder den
Gegensatz von kiinstlerischcr und wissenschaftlicher, von intui-
tiver und exakt forschender Betatigung anzufiihren. Diese
Terminologie ist nicht neu, sie findet sich schon bei Lavater
und bei Carus, der in seiner „Symbolik der menschlichen Ge-
557
stalt" (Verlag Nick Campmann, Celle) etwa sagh (,Hief ist
nur zweierlei zum Ziele fiihrend: entweder dem leisen aber
aufmerksamen Gange der Wissenschaft zti folgen, und aus ihren
Handen Teil fur Teil die Bedeutung der Gestaltung in ihrer
ungeheuern moglichen Mannigtaltigkeit sich erklaren und
reichen zu lassenf; oder seibst, durch ein besonderes Geschick
begabt zu sein mit jenem SeherbBcke, welcher, ohne~^daB er
der einzelnen Grtinde bedarf, das Ratsei durch den Genius
lost/' Nun haben aber Experimente gezeigt, daB normalerweise
jeder Mensch graphologische und physiognomische Tatbestande
sehr eindringlich sieht, und daB nur eine spezielle, durch
SchuLe, Wissenschaft und Leben unsrer Zeit geschaffene Dres-
sur auf „atomisti$ches" Sehen diese Fahigkeit bis zu einem
gewissen Grade verschiittet Auch bedient sich jedermann im
alltaglichen Verkehr mit Menschen physiognomischer Eradnicke
so selbstverstandlich, wie er Farben, Formen, Tone als etwas
Seiendes behandelt Naturlich laBt sich durch Schulung die
Leistung auBerordentlich verbessern, naturlich auch gibt es
iibernormale Begabung fur diese Dinge, aber das andert nichts
an dem Grundfaktum, daB es sich hier nicht urn hellseherische,
dem Boden des ErfaBbaren entzogene Einzelleistungen son*
dern urn allgemein zugangliche Erscheimingen unsrer Sinnen-
welt handelt. Ein Phanomen wie Raphael Schermann ist eben
nicht charakteristisch fur die graphologische Methode sondern
ein Ausnahmewesen.
Riicken schon dadurch diese Hilfsmethoden der Charakter-
und Schicksalsforschung stark in die Nahe der exakten Wis-
senschaften, so wird die Frage der Abgrenzung umso pein-
licher, wenn man daran denkt, daB auch alle die exakten
Wissenschaften heute vor der Aufgabe stehen, ganzheitliche
Tatbestande methodtsch zu erfassen. Die Meinung, daB man
mit den klassischen Mitteln der Analyse der Welt nicht ge-
recht werde, spiegelt sich in den mannigfachen Remuhungen
urn Begriffe wie Ganzheit und Synthese — B'emuhungen, die
sich in Hunderten von wissenschaftlichen Publikationen, vom
seichtesten, terminologisch aufgeputzten Geplauder bis zum
naturwissenschaftlichen Experiment, manifestieren. Am deut-
lichsten vielleicht in den Arbeiten der „Gestalttheoretiker* ', die
allerdings charakteristischerweise in der eleganten Widerlegung
ihrer Gegner mehr leisten als in der Aufzeigung positiver Me-
thoden, zum Erfassen von Ganzheiten,
In der Biologie hat sich gezeigt, daB man den Organismus
nicht, wie es fniher geschah, als eine Maschine erklaren kaiin,
als eine Summe von Teilapparaten, die isolierte Funktionen
haben und ab ovo gesetzmaBig vorgebildet sind. In der Psy-
chologie kommt man von der Spezialuntersuchung der Sinnes-
empfindungen, vom Reiz-Reflex-Schema, von der Herauspra-
parierung von Triebmechanismen dazu, daslebende Wesen von
seinen Zieien und Bestrebungen her als eine Ganzheit zu ver-
stehen und den unabtrenhbaren Zusammenhang mit der Um-
welt zu berucksichtigen. In der Medizin weicht die Lokal-
behandlung des einzelnen Organs, die zahlenmaBige Vermes-
sung und Abwagung der Korperteile einer auf das Funktionie-
ren des gesamten, zum Beispiel nicht in Korper und Seele auf-
558
geteilten Menschen und auf die HK<mstitution" gerichteten, Be-
trachtung. In der Physik bemiiht man sich wn die Formulie-
rung von. ganzheitlichen „Feldgesetzen'\
In alien diesen Wissenschaften stand man friiher auf dem
methodisch gesicherten Boden analytischer Einzelforschung, in
alien diesen wissenschaf ten sieht man die Unzulanglichkeit der
bisherigen Verfahren ein. Es ist bemerkenswert, wie man ver-
sucht hat, das alte Prinzip zu ret ten, indem man die Ganzheit-
lichkeit einfach als einen neuen Teil den ubrigen Teilen hin*
•zufiigte. Von Ehrenfels zum Beispiel, der sich wohl als erst er
mit dieser Frage beschaftigt hat, sagte, eine Melodie bestehe
aus der Summe ihref Tone plus einer „Gestaltqualitat'7 der
eben der oben erwahnte eigentlich melodiehafte Zusammen-
hang zu danken seL Und die Driesch-Vitalisten nennen das,
was den Organismus von der Maschine unterscheidet, die ,,En-
telechie'V die in ihrer Theoriebildung ebenfallsals ein bloBer
Zusatz auftritt.
In der Graphologie, Physiognomik, Chirologie, Astrologie
zeigt sich durchaus dieselbe Entwicklung. In der Graphologie
arbeitete noch die klassische franzosische Schule des vorigen
Jahrhunderts ausschlieBlich so, daB man durch induktive Sta-
tlstik zu erfahren suchte, welche einzelnen Charaktereigen-
schaften der einzelnen Schrifteigenschaft zugeordnet seien. Das
war eine streng exakte wissenschaftliche Methode, nur leider
eine falsche. Aber selbst in dem Lehrbuch von Ludwig Klages
noch, der im Prinzip die Sachlage durchaus erfafit hat, kommt
das praktische Verfahren darauf heraus, daB man auf Grund
des obersten Einzelmerkmals „F6rmniveau" fur die ubrigen
Merkmale positiv oder negativ gefarbte Einzeldeutungen sche-
matisch ableitet. Was die Physiognomik anlangt, so sagt etwa
Carus iiber die beriihmte Gallsche Schadellehre: „Daher ist
es auch jedenfalls gekommen, daB das in Quadrate und Kreise
auf dem menschlichen Haupte abgeteilte Siinden- und Tugend-
register Galls eine solche Popularitat bei der Menge alsbald
«rhalten konnte, denn es war den Menschen, denen die Wis-
senschaf t gewohnlich das Fernste, der Nutzen aber dasNachste
ist, nicht zu verdenken, wenn sie es sehr bequem fanden, als
man ihnen sagte, man brauche zum Beispiel nur gewisse Scha-
del-Erhohungen hinter den Ohren zu untersuchen, urn sogleich
die GewiBheit zu erlangen, ob von der fraglichen Personlichkeit
weder Diebssinn noch Mordsinn angenommen werden diirfe,
und also weder fur unsre Borse noch fur unser Leben von
ihnen einige Gefahr drohen mochte," Aber dies falsche Ver-
fahren war eben nicht nur das bequemste, es war das Ver-
fahren der Wissenschaft uberhaupt, das einzige exakte bis zum
heutigen Tage! Betrachtet man die Untetsuchungen Ernst
Kretschmers, die sich auf den konstitutionellen Gesamthabitus
des menschlichen Korpers beziehen, so sieht man, daB hier die
eigentliche Entscheidung uber die Rubrizierung dem „intuiti-
ven" Blick des Beobachters anheimgegeben ist und daB exakte
Angaben, genati wie etwa in der Graphologie, nur als Hilfsmit-
tel dienen. Von der alten Chirologie sagt Julius Spier in der
^iterarischen Welt': „ Wenn man las, daB bestimmte Kreuz-
-chen, Gabeln, Sternchen, Hakchen und Inselchen bald Pech in
559
der Liebc, bald Erbschaft, bald Sturz vom Pferde, bald eineni
bosen Schwiegervater bed«uteri, so eriibrigte sich jedcs Ein-
gehen auf cin solches System, Dieser ganze Kehricht von to-
richten Regeln muftte zunachst iiber Bord geworfcn werden,'*
In dcr ganzen Wissenschaft ist man heute dabei, alte Re-
geln fiber Bord zvl wetf en. Aber niemand kann dartiber Aus-
kunft geben, wie es mit exaktcn Methoden moglich sein. soil,
Ganzheiten zu erfassen. In die Wissenschaft ist eine schone
Lebendigkeit eingezogen, ein freier, anschaulich beschreibender
StiL Aber wenn man bosartig ist,. kann man dies auch den
Anbruch der Anarchie nennen.
Was also den bcliebtcn Haupteinwand gegen jene Metho-
den der Charakterforscbung abgibt, das sollte man eher als
ein Zeichen ihrer Wissenschaftlichkeit ansehen. Akademisch
legitime und illegitime Forschungsgebiete werden hier zu Brti-
dern in der Not. Fortsetzung foigt
Der Grofie Plan von Axei Eggebrecht
p*pos des sozialistischen Aufbaus" nennt Johannes R. Becher
99 dieses Gedicht in vier Teilen, hunderten von Einzelnum-
mcrn, erschienen im Agis-Verlag zu Berlin.
Im Vorspruch zum vierten Teil fiihrt er ein paar seiner
Vorganger an, proletarische Dichter RuBlands, die sich „mit
der Waffe der Sprache hartnackig in die Probleme verbohrt'*
hatten. Und schlieBt dann:
Gewaltiges haben
Vor uns gesungen
Die Dichter aller Zeiten.
Das Gewaltigste aber
Bleibt uns zu singen:
WIR SINGEN
DEN funfjahresplan;.
Wir wollen fiber das ein wenig naive SelbstbewuBtseim
nicht lacheln. Es ist echt, Becher spurt, daB dem Kommunismus,
dieser starken, zukunftsglaubigen, aufsteigenden Bewegung, ein,
gesundes Selbstgefiihl zukommt. Er ahnt, daB es nach so vie-
len Aufrufen, Programmen, Diskussionen und Parteibefehleni
schon und angemessen ware, etwas Enthusiasmus zu zeigen,
Er hat in RuBland einen naturlichen und hochst eindrucksvollen?
Enthusiasmus erlebt Den mochte er gern riach Deutschland
transponieren. Er sehnt sich danach, iir die kuhlern, ordent-
lichen und bedrfickten Seelen deutscher revolutionarer Arbei-
ter den Funken reiner, dichterischer Begeisterung zu werfen_
Ein groties Ziel, ein hohes Wollen. Freilich muB er sich
gef alien lassen, daB auch die hochsten MaBstabe daran gelegt
werden.
Man muB mit diesem Buche genau sein. Es geniigt nicht,
eihen allgemeinen, verwaschenen Eindruck zu umschreibenv
Man mufi diese 190 Seiten wiederholf lesen und auf sich wir-
ken lassen, ehe man sich zu einem endgultigen Urteil ent-
schlieBt Sie lordern zum Nachdenken und zur iiberlegten Stel-
lungnahme heraus. GewiB ein Plus in dieser Zeit, deren Buchec-
bei aller Zeitbeflissenheit fast stets? unvedbindlich: bleiben.
560
Das Epos ist ein Stuck Literatur und will cs sein. Der
Dichtcr beruft sich wiederholt auf die Wirkung des reincu
Wortes. TJnd besondcrs die ganze Aufmachung, iiber die spa
ter noch gesprochen werden wird, rechnet sehr bewuBt mit for-
malen Effekten. Dcshalb diirfen sich Kommunistcn cine Wer-
tung nach literarischen Maftstaben diesmal nicht verbitten.
Dennoch muB gerechterweise von vornherein zugegeben wer-
den, daB fiir die Beurteilung das Aesthetische selbstverstand-
lich nicht allein ausschlaggebend sein darf.
Becher ist immer noch ein Dichter. Ganz bestimmt war er
es, als er vor zehn und fiinfzehn Jahren unsre ganze Genera-
tion durch seine hymnischen Verse aufrief und mitriB. Spater
trieb ihn sein dichterisches Temperament in schwere Zweifel*,
es riB ihn zwischen rebellischem Elan und unbestimmter Re-
ligiositat hin und her; endlich schien es mehr und mehr zu:
versiegen, seit er zum offiziellen Sanger einer Partei wurde,,
die eigentlich nur den Gesang der Massen auf den StraBen er-
laubte. Becher durfte sich als eine Art Funktionar fiihlen,
richtig eingebrdriet und durchaus an einem historisch wichtigcn
und richtigen Platze. DaB ihm auch in diesen Jahren gelegent-
lich immer wieder einmal starke und ursprungliche Verse ge-
lungen sind, konnen nur blinde Gegner leugnen.
. Nun also will er ,,das Gewaltigste singen".
Das Buch bietet sich im auBerst wirkungsvollen LJmschlag
eines Genossen Keilson dar, der von John Heartfield abgeguckt
hat. Innen im Umschlag ein anpreisender Waschzettel, ganz
wie bei Biichern biirgerlicher Herkunft Darin wird das Ganze
als „dialektische Montage" bezeicfmet. Montage — gut. Aber
warum dialektisch? 'Ober den Inhalt heiBt es: MMit einzigarti-
ger Darstellungskraft leuchtet der Dichter unter die Oberflacne
der Erscheinungen". Halt. Ist das so?
Ich habe das Buch vier-, fiinfmai gelesen. Ich blattere wie-
der darin und suche. Es gibt nur ganz wenige Stellen, wie
etwa die besch wing ten und im best en Sinne hymnischen Kapi-
tel vom Bau der neuen Stadte, auf die man die Lobpreisung
des Verlages rechtens beziehen mag. Sonst aber gibt Becher
Darstellung von Zustanden, nein, weniger: Meldungen von Zu*
standen, Vorgangen, Fortschritten. Nein, weniger: Reporta-
ges Nein, noch weniger: Oberschriften zu Reportagen; Schlag-
zeilen, Bruchstiicke von Statistiken; Aufschriften fiir Versamm-
lungstransparente.
„. . .leuchtet unter die Oberflache der Erscheinungen?" Im
GegenteiL Er f ahrt mit hastigem Scheinwerf er druber hin.
Handelt es sich also urn einen summarischen, gewxsser-
maBen eiligen Naturalismus? Auch nicht. Dem widerspricht
der getragene Ton, die Emphase, die Betontheit jedes Satzes.
Und die Aufmachung.
Immer wieder stoBe ich mich daran. Ich gebe es zu, mag;
es auch kleinlich erscheinen. Diese Teile, Kapitel, Schlagzei-
len, Nummern. Diese schmachtigen Zeilchen, oft beinahe ver-
loren auf weiten, weiBen Seiten. Kernstellen und Leitsatze>
in Versalieh gesetzt, erinnern an die Pratentionen eines Stefan*
George-Bandes.
561
Und dann ist dcr mit soviel Anspruch und Miihe auf-
gemachte Text in ncun von zehn Fallen nichts als trockenei
«ehr niichterne, bewuBt ntichterne, manchmal aber auch pein-
lich armliche Prosa.
GewiB, in dem einen Fall, alle zehn oder zwanzig Seiten,
bricht Bechers ursprungliche Sprachkraft durch. Da gelingt
ihm ein klares, lebhaftes Deutsch, er riihrt uns an. Etwa gleich
zu Aniang; „Du kannst die Zeit dir nicht aussuchen, in der du ge-
boren wirst, Das 20. Jahrhundert hat dich ausgesucht, die Zahl
19 . . begleitet deine Jahre. Du bist geboren in der Zeit der Vol-
Iterwanderung; Die Volker wandern von unten nach obcn. Die
Frage ist an dich gerichtet: ,Wie heiBt du?1 Wenn du deinen
Namen nennst, wird dir geantwortet: Du bist nicht nach dei-
nem Namen gefragt. Das ist nicht die Frage. Sage, wer du
bist, wovon lebst du, bekenne dich zu deiner Klasse!"
Gedruckt sieht das aber leider so aus:
Erstens
Du kannst die Zeit
Dir nicht aussuchen,
In der Du
Geboren wirst.
Das 20. Jahrhundert
Hat Dich ausgesucht,
Die Zahl 19..
Begleitet Deine Jahre.
Du bist geboren
In der Zeit der
Volkerwanderung.
Die Volker wandern
Von unten nach oben.
Zweitens
Die Frage ist an D^h
Gerichtet . . .
Und so weiter. Spater, in den Berichten eines deutschen
Werkmeisters aus RuBland, in den Beschliissen von Sowjet-
behorden, in den Reden der Gegner und der Freunde, in Ge-
richtsverhandlungen und in den verhaltenen Worten vom
nMann der in der Reihe geht'\ wirkt diese Aufmachung noch
viel gequalter.
Was soil das? Liebt das etwa der Arbeiter? Soil er zu
«inem Snobismus erzogen werden, den wir gliicklich uberwun-
<len haben? Soil er eine hohle, falsche Romantik, einen hochst
nichtigen Begriff von Literatur vermittelt bekommen? Becher
ist heute fur kommunistische Proletarier eine Autoritat. Er
hat eine verdammte Verantwortung ihnen gegeniiber.
Aber das AuBerliche ist es nicht ailein* Schlimmer ist,
daB uberall in dies em Buch der Einfall weit starker ist als
die Ausfuhrung. Die Gliederung ist sicher geschickt und wirk-
sam. Aber das Organisatorische erweist sich als das einzig
Kraf tige. Das Leben darin, der Gedanke, das GefuhL und oft
beinahe jedes einzelne Wort sind tot. Erwiirgt. Im Netz der
562
MaBnahmen gefangen, erstickt. Will dieses Epos in seiner
Anlage ein Symbol fur gewisse politische Realitaten sein?
Der Vergleich mit den groflen Romanen SowjetruBlands
oder auch mit Epen wie Alexander Blocks „Zw6lf" oder Ma-
jakowskis ,,150 Millionen" fallt nicht gut aus fiir Becher, mag
er selber auch andrer Meinung sein und das unbefangen an-
deuten. Warum gruppiert er den groBten Teil dieses Ge*
dichts, wenn es denn so heiBen soil, das doch den sozialisti-
schen Aufbau besingen will, um den RamsinprozeB, also urn
eine kleine, wenig reprasentable AbwehrmaBnahme? Hatte
er lieber mehr solche Stiicke geschrieben, wie die schon er-
wahnten, wahrhaft dichterischen Gesange vom Aufbau der
neuen Stadte. Da liberwaltigen ihn Bilder, da lost sich die
Starrheit der Sprache, da glauben wir ihm die dichten, gliick-
lich gefundenen Worte, die sonst nur tote, aufgereihte Worter
sind. Vielleicht begeht Becher den groBen Irrtum, Einfachheit
und Trockenheit zu verwechseln. Der Prolet aber ist nicht
trocken, er hat seine hochst bunte und vielfaltige Phantasie.
Und der Russe hat sie erst recht. Wieviel mehr bliihende
Einfalle stecken in Jeder russischen Zeitung, ja, leuchten von
jedem moskauer Plakat als aus den Zeilen dieses Buches.
Statt dessen bietet Becher uns Pathos. Wir sind weit
entfernt, Pathos an sich zu verachten. Wie pathetisch geht
es bei Pilnjak oder Ehrenburg manchmal her. Bei Becher aber
wirkt das allzuoft krampfhaft und kiinstlich gemacht. Seine
Pathetik streift fortwahrend die Grenze des Banalen. Und
;grade da, wo er schlicht und deutlich spricht, besonders in
dem schonen Stuck vom Werden der Stadt Traktorostroj, wo
er jede Verkrampfung vergiBt, — da wirkt er unmittelbar.
Kommunisten nannten die Hymnik dieses Buches biblisch.
"Sie ist aber bestenfalls Brecht . nachempfunden. Bechers Ge-
sinmmg ist echt. Aber solche Literatur am laufenden Bande
ware raschestens fiir jede Gesinnung lieferbar. Sie erweist
nichts. Und die pompose, innerlich armliche Aufmachung
steht in gar keiner Beziehung zu den Inhalten, auf die es doch
auch Becher grade ankommt. Schade, — auch dieses Buch
ist unverbindlich.
Der Partei kann man keinen Vorwurf daraus machen. Sie
ist grade gegen ihre Intellektuellen letzthin weitherziger ge-
Tvorden als lange Jahre zuvor. Und in der Zeit bitterer Ver-
folgungen und Verleumdungen hat sie gewiB andres zu tun als
^ich um eine offizielle Literatur zu kummern. Aber jene Kreise,
die sich als berufene Kiinder des Kommunismus literarisch be-
merkbar machen, haben grade jetzt eine um so groBere Verant-
wortung. Mehr denn je miiBten sie sich vor Enge, Zwang,
TConstruktion htiten und vor dem Anschein, kommandierte
Dichtung beflissen zu Iiefern. Statt dessen vertun sie ihre
Kraft e in unwirksamen und angstlichen Bemuhungen um eine
Orthodoxie, deren schlussigster Beweis doch erst in unbefan-
gener Produktion bestehen wiirde. Und Kritik von auBen her
lehnen sie, als nur der Partei verantwortlich, grundsatzlich ab.
Immer noch wird die Literatur des deutschen Kommunis-
mus von Unteroffizieren gemacht. Oder von Fahnenjunkern,
die sich bemiihen, recht kommissig zu, erscheinen.
563
Deflation oder Inflation? von Thomas Tarn
Allmahlich schcut man sich, den Satz niederzuschreiben, daft
die Krise sich weiter vertieft hat; denn man muBte ihn
seit zwei Jahren schon zu oft niederschreiben. Aber nun muft
man doch feststellen: die Krise hat sich grade in den letzten.
Wochen weiter vertieft, und sic erreicht auch in den kapitali-
stischen Staaten, _ in denen ein Umschlag der okonomischen,
Krise in die politische noch nicht droht, bereits ejne Ausdeh-
nungt eine Vertiefung, daB sie sich eigentlich von selbst wei~
ter ernahrt. Sehr deutlich ist der ProzeD in den Vereinigten
Staaten zu beobachten. Die Krise begann dort mit einera
Borsenkrach, Aber der Borsenkrach war ja nur der Ausdruck
dafiir, daB sich fur eine ungeheure Oberproduktion kein Absatz:
finden lieB. Die Oberproduktion hatte zur Folge, daB:
die Preise sanken. Man hoffte jedoch, daB die Krise nur so>
lange dauern wurde wie die von 1921 und daB bei einer neuen
Konjunktur auch die Preise wieder anziehen wiirden. Aber
die Krise wurde nicht liquidiert, die Oberproduktion blieb, die
riesenhaften Rohstoffvorrate lagen da, die Arbeitslosigkeit
nahm standig zu, und die Preise Helen weiter, fielen in den Ver~
einigten Staaten und international. Die Folge des Preisfalls;
aller Waren ist, daB das Geld an Wert gewinnt. Denn mit
100 Dollar in LLS.A. kann man im Herbst 1931 mehr kaufen
als im Herbst 1930 und noch mehr als im Herbst 1920. Die
Deflation hat eingesetzt. Das ist eine f,normale'* Erscheinung,
aus der Geschichte der Krisen wohlbekannt. Deflation hat
es in Krisenzeiten immer gegeben. Niemals aber gab es bis*
her edne Krise von der Dauer und der Tiefe und niemals da*
her auch eine Deflation in diesem Umfange, Die Deflation
hat jetzt in U.S.A, eine Vertiefung erreicht, daB sie die
Krise weiter verscharft, und zwar vor allem dadurch, daft
sie das gesamte Finanz- und Banksystem zu deroutieren be-
ginnt, Der normale Burger, der sein Geld zur Bank bringt, er-
wartet, daB sie ihm dafiir Zinsen zahlt. Viel mehr weiB er
nicht. Wenn er weiter denkt, so weiB er grade noch, daB die
Banken mehr zahlen, wenn er ihnen das Geld nur nach einer
bestimmten Frist kundigen kann. Aber woher nehmen die
Banken die Zinsen? Bisher hat es das Geld noch nicht fer-
tig gebracht, sich von selbst zu vermehren, und der Silber-
dollar bekommt keine Kupferkinder. Wenn die Banken alsa
ihren Glaubigern Zinsen zahlen sollen,. dann miissen sie wieder-
urn selber ihre Gelder yerleihen, ihre Gelder anlegen, und sie
miissen diese zu Satzen anlegen, die hoher sind als jene, die sie
an ihre Glaubiger zahlen, damit sie ihre Geschaftsunkosten dek-
ken konnen und dariiber hinaus ihr eignes Kapital verzinsen*
Wenn alles „normar* verlauft, klappt es auch bei den Banken;
sie ziehen von ihren Schuldnern die Zinsen ein und bezahlen dam-
mit ihre Glaubiger. Wenn es friiher zu Krisen kam, so stieg
im allgemeinen die Macht der Banken. Denn solange die
Schuldner zahlungsfahig blieben, gewannen die Banken als
Glaubiger, gewannen sie an der Deflation, an der Hoherbewer-
rung des Geldes, Die Krise ist jedoch heute so tie! gewor-
den, daB die Banken nicht mehr an ihr verdienen, daB sie viel*
564
mehr selbst immer mehr von ihr bedroht werden. Die
Ban ken haben ihr Geld in der Industrie angelegt. Zum Teil
haben sie ihr langfristige Kredite gegeben, zum Teil haben
sie, grade um sich ihre Liquiditat in der heutigen Zeit zu
^rhalten, Aktienpakete erworben. Aber wie stehen heute
die Aktienkurse zum Beispiel im reichsten kapitalistischen
Land, in den Vereinigten Staaten? Im vergangenen Jahr hatte
-die Krise dort bereits eine so groBe Vertiefung erreicht* daB
gegenuber dem Hochststand von 1929 die Aktienkurse stark
befallen waren. Seitdem hat sich das Kursniveau wieder-
um auBerordentlich tief gesenkt. Das , Berliner Tageblatt'
bringt eine Statistik iiber die Kursentwicklung der reprasen-
tativsten Werke seit Dezember 1930. Die Zahlen sehen fol-
gendermaBen aus:
. Gesellschaft
16. 12.
2.1.
1.9.
19.9.
1.10.
19301)
1931
1931
1931
1931
Baltimore & Ohio
55,25
71 —
46,12
33,25
35,-
New York Central
108,—
117,37
70,—
59,50
63,50
Pennsylvania
53,50
58,—
39,75
31,75
32,50
Bethlehem Steel
49,75
52,75
39,87
33,75
28,50
U.S. Steel
135,50
141,87
88,—
75t25
71,50
Chrysler
14,75
17,87
22,25
15,62
12,37
General Motors
32,37
37,25
36,25
29,12
22,87
General Electric
42,75
45,37
40,87
31,25
27,—
Radio Corporation
12,37
13,37
20,25
13,50
12,50
Anaconda Copper
26,12
31,87
24,25
17,25
15,—
American Smelting
39,87
42,25
31,12
22,25
23,—
American Can
105,50
113,75
93,-
80,37
70,75
International Harvester
46,75
50,37
37,87
28,75
25,50
Standard Oil
45,12
48,87
40,37
33,12
29,12
Aliied Chemical
174-
176,25
111,50
92,—
79t-
Du Pont de Nemours
81-
89,75
85,25
69,50
59,25
Wool worth
52,25
57,—
69,75
53,75
47,—
x) Tiefster Jahreskurs.
Die Entwicklung springt in die Augen. Allein im Ver-
laufe des September 1931 hat sich das Kursniveau um nicht
weniger als 60 Prozent gesenkt. Wurde also eine wirkliche
Bilanz zum heutigen Wert aufgestellt, die amerikanischen Ban-
ken waren zum groBten Teil pleite. Denn sie imissen ihren
Glaubigern, die ihnen Dollars geborgt haben, wiederum Dol-
lars zuriickzahlen. Sie haben sich aber Papiere gekauft, deren
Wert riesenhaft gesunken ist, sie haben sich an Unternehmun-
gen beteiligt, deren Wert gleichfalls riesenhaft gesunken
ist, und sie konnen diesen nicht einmal die Kredite a tempo
kiindigen, selbst wenn sie es wollten. Wenn die amerikani-
schen Banken heute eine genaue Bilanz aufmachten, dann
waren diev.Verluste bei einem groBen Teil weit hoher als das
eigne Aktienkapital. Es ist heute schon nicht mehr so, daB
nur kleine Provinzbanken bankrott gehen, heute sind bereits
groBe Bankinstitute bedroht. Und es ist nur ein Zeichen
fur die Schwere der Situation, wenn das .Berliner
Tageblatt' unter dem Tit-el:. „Gegenseitige Hilfe bei
dea amerikanischen Banken" berichtet: „Die Mitglieder
der Clearinghouse-Association in New York, in der die mei-
steri groBern Banken vertreten sind, haben einander Stiitzung
565
zugesichert, wic sic schon einige Male ohiie Kenntnis der
Offentlichkeit erfolgte. Die Sparbanken in Philadelphia er-
klarten angesichts der Massenabhebungen und SchlieOungea
von kleinern Sparbanken, daB sie von dem Recht Gebrauch
machen wollen, Abhebungen nur in Monatsfrist etcetera zuzu-
lassen." Die-Jfoision der Bank of America New York mit der
National City Bank ist auch nicht ganz freiwillig erfolgtT ^
Die Verluste der amerikanischen Banken, die sie bei der
Industrie erlitten habent sind an andrer Stelle nicht aus-
geglichen worsen, im Gegenteil sie wurden noch verstarkt. Denn
die Preise auf den internationalen Rohstoffmarkten sind ganz
katastrophal gesunken, und grade der Handel in diesen Wa-
ren ist von den Banken in groBem Umfange kreditiert worden*
Nun ist selbstverstandlich, dafl diese schwere Erschutte-
rung des gesamten Bank- und Finanzwesens sehr ernsthafte
Riickwirkungen auf die Produktion haben mufi, Denn grade
wegen ihrer riesenhaf ten Verluste miissen die Banken bestrebt
sein, mit dem Rest ihrer Gelder moglichst liquide zu bleiben.
Den faulen Schuldnern die Kredite zu kiindigen, hat wenig
Sinn, denn von diesen bekommt man sowieso nichts heraus.
Mit Erfolg kann man die Gelder also nur den guten Schuld-
nern kiindigen, und so wirkt sich die Finanzkrise in starken
Kreditkiindigungen aus, die natiirlich das Massensterben in
-der Industrie verstarken und so die Krise weiter vertiefen.
Die Zusammenhange zwischen Produktionsriickgang, De-
flation, Finanz- und Bankenkrise geiten natiirlich nicht nur
fur die Vereinigten Staaten, sie geiten international, beson-
ders stark aber fur Deutschland, Wie schwer das deutsche
Bankenwesen betroffen ist, haben ja die Vorgange bei der
Danat-Bank und bei der Dresdner Bank deutlich demonstriert;
grade bei den deutschen Banken ist der Prozentsatz der
fremden Gelder im Vergleich zum eignen Aktienkapital an sich
sehr grofl, grade bei den deutschen Banken konnen daher
grofiere Verluste bald einen sehr erheblichen Prozentsatz des
Aktienkapitals ausmachen. Die Stiitzungsaktion, mit der man
sich heute in den Vereinigten Staaten beschaftigt, ist in
Deutschland langst durchgefuhrt, ist durchgefiihrt im Verhaltnis
der Regierung zu den GroBbanken, ebenf alls aber im Verhalt-
nis der Banken zur Schwerindustrie, Wir erleben in Deutsch-
land seit 1929 ra einem kontinuierlichen ProzeB eine standige
Verringerung der industriellen Produktion und damit eine
standige Verringerung des Handelsumsatzes. Aber der Wech-
selumlauf ist heute ungefahr so hoch wie damals. Das heifit
der Wechselumlauf hat sich nicht proportional mit der Verrin-
gerung der Handelsumsatze verringert, sondern er ist ein Mat-
tel geworden, urn schwache Betriebe zu erhalten. Damit sind
gewisse inflationistische Momente in die deutsche Wirtschaft ge-
tragen worden, inflationistische Momente, von denen der Mann
auf der StraBe darum noch nicht viel bemerkt, weil sie zur-
zeit noch durch entgegengesetzte Faktoren kompensiert, iiber-
566
kompensiert wurden. Die Deflation hat zur Folge, daB die
Preise fallen. Sie fallen in der garizen Welt; sie fallen aber
nicht liberall gleichmaBig. Sie fallen in Deutschland im ge~
bremsten Tempo, weil durch den im Vergleich zur Prodtik-
tion liberhohten Wechselumlauf inflationistische Ziige in die
deutsche Wirtschaft getragen wurden und daher der Preisfall
durch die Deflation sich langsamer gestaltete,
Wenn wir die Sachlage mit einem Satz umschreiben wol-
len, so haben wir zurzeit eine durch iiberhohte Kredite ver-
langsamte Deflation. Es braucht nicht naher ausgefiihrt zit
werden, daB dies nur ein Durchgangsstadium sein kann. Man
wird sich bald entscheiden tmussen, ob man wirklich ab-
schreibt, oder nicht. Bleibt die Deflation ungehemmt, dann
werden zahlreiche Kapitalisten daran glauben muss en.
Bisher hatte die Sozialdemokratie zwischen zwei Obeln
zu wahlen, Sie glaubte, mit der Tolerierung der Regierung
Briming das kleinere zu wahlen, es ergab sich aber das grfiBere,
Jede deutsche Regierung stent in den nachsten Wochen eben-
falls zwischen zwei Obeln: Deflation oder ...
Beit FrietlStick von Theobald Tiger
IV^enn ick in meine Stulln beifle,
** denn kuck ick in de Sseitung rin.
Die liejn namlich inne Sseitung,
da wickelt se mir Mutta in.
Ick streiche det Papier scheen jlatt
und, seh, wats so jejehm hat.
Ick lese von drei Zwillingsschwestern .
und vonne Feiersbrunst in Wald . . .
Mai is die Sseitung noch von jestern,
mal isse ftfchzehn Tahre alt.
Wat mir det Friehstick nich vamiest.
Et is ja bloB, det man wat liest.
Da ha ick nu so rausjefunden:
Erscht kommt die Sseitung in Vakehr,
un schon nach vierunzwanssich Stunden,
da stimmt det aliens jahnich mehrf
Denn sind se reine wie blamiert.
Ick ha dadrieba simmeliert ...
Ick sach ma so:
Wat die so sahrn
un wat die aliens proffezein,
det stimmt schon nich mehr nach acht Tahrn —
det kann nie wahr jewesn sein!
Nu ham die Brieda machtjet Jlick:
et blattert ja keen Mensch zerrickf
Man schmeifit et wech. Und kooft sich brav un
bieda
n neuet Blatt un jloobt et imma wieda.
Un willste wissen wat det is jewesen,
denn muBte alte Sseitungsnumman lesen.
Un siehste denn, wie die vakehrt sind — :
denn weeBte, wat die neien wert sind,
567
Bemerkungen
Schtachtfeld und LohntOte
VV/cr untcr uns wiinschte nicht
" die aufrichtigste Verstandi-
gung mit den Bewohnern Frank -
reichs? Wer ersehnte nicht die
Aufhebung jener tausendjahrigen
Grenze zwischen zwei Landern,
<lie in jedem Jahrhundert soviel
Blut ihrer besten Bewohner da-
hinstromen sehen mufiten! Wie
Viele erinnern sich nicht noch
heute mit tiefster Erschiitterung,
wie im imperialistischen Krieg
in den besetzten Departements
Frankreichs die ungliicklichen,
entrechteten, vollig wehrlosen
Bewohner freiwillig freundlich zu
den deutschen Soldaten waren,
oft ihr letztes Stftckchen Brot
mit ihnen teilten und so eine
Brticke mitten in einer grauen-
vollen, von Hafi erfiillten Welt
schlugen. Es war der Ausdruck
einer Solidaritat im Ungliick, das
gemeinsam ertragen werden
mufite ; und Mancher hat sich
grade seit jenen Tagen fur immer
die Hoffnung erhalten, daB der
Gedanke der Solidaritat aller
Unterdriickten niemals auszutil-
gen sein wird.
Wenn die offiziellen Vertreter
-der herrschenden Klasse beider
Lander in der letzten Zeit Hande-
driicke, Telegramme wechselten,
dachte man oft an jene Begeg-
nungen im imperialistischen
Kriege ; man wufite, dafi der
Bund zwischen den Ausgebeute-
ten beider Lander langst ge-
rschlossen war.
Aber es wirkte wie unfreiwil-
liger Zynismus, wenn schwache
Kopfe, die keine Vorstellung von
den realen Verhaltnissen haben,
immer von Verstandigung redent
weil sich Herr Briining und Herr
Laval zu geschaftlichen Be-
sprechungen zusammensetzen. Es
ist auch plotzlich wieder sehr
still um diesen Geschaftsakkord
geworden, nicht weil man jene
Verhandlungen abgebrochen hatte
oder weil sie eingeschlafen wa-
ren, sondern weil der franzo-
sische Partner mit schwer ver-
borgener Unruhe die deutsche
Krise verfolgt. In den letzten
568
Tagen war die Lektiire der biir-
gerlichen franzosischen Presse
besonders interessant. Vielleicht
hat man auch von den Veranstal-
tungen in Paris und Berlin gele-
sen, die von einer Reihe demo-
kratischer Geschaftsleute ausgin-
gen. Hier wurden Reden auf die
deutsch-franzosische Geschafts-
verbindung gehalten, und natur-
lich mufite Heinrich Mann diese
Veranstaltung mit feucht gewor-
denem Salz wiirzen, Es gab eine
etwas breiige Speise, die nicht
grade den Appetit anregt. Man
kann auch sagen, daB es eine
schlechte Musik sein mufi, die
sich bemuht, die Grundmotive
Eisen, Kohle und Kali durch
schrille, unnaturlich klingende
Flotentone zu iibertonen. Man
sollte sich doch nicht einbilden,
dafi man der Hauptakteur in die-
sem Schauspiel ware. Auch die
Trusts des Monopolkapitalismus
halten sich ihre Narren.
Studiert man die Leitartikel
des .Journal', so liest man bit-
tere Wahrheiten. Da enthiillt sich
in knappen Satzen das Grund-
wesen des deutsch-franzosischen
Akkordes. Hier war zu lesen,
dafi der franzosische Imperialis-
mus sehr interessiert an der
Briiningregierung ist, die ihr al-
lein den Fortgang der Verhand-
lungen garantiert. Nicht einmal
in einer deutschen regierungs-
freundlichen Zeitung werden in
so dustern Farben die Folgen
eines Sturzes der Briiningregie-
rung gemalt. Ausdriicklich wird
erklart, dafi nach Briining die
Anarchie komme, und es sei not-
wendig, dafi sich die Sozialdemo-
kraten dazu verstanden, die Re-
gierung zu stiitzen, Man brauchte
ihnen wohl kaum von Paris her
diese Aufforderung zu schicken.
Aber ebenso deutlich wird auch
erklart, dafi im Interesse der
deutsch-franzosischen Beziehun-
gen ein Akkord zwischen Arbeit-
geberri und Arbeitnehmern not-
wendig ware, und der durch den
Pfundsturz gefahrdete deutsche
Export durch eine allgemeine
Unkostensenkung, vor allem aber
durch einen radikalen Lohnabbau,
saniert werden mtifite.
Vielleicht gibt diese Erkenntnis
auch manchen Nationalisten zu
denken, die in jedem Falle den
Kiirzeren Ziehen und sich doch
nicht einbilden sollten, es ware
ihr freier Wille, in die Schlacht
zu gehen. Ob sie mit ihremBlut
zahlen oder mit Lohnabziigen —
die Dummen sind sie in jedem
Falle, Sie sollten sich endlich klar-
machen, dafi sie ihre Front an
einer andern Stelle suchen soll-
ten. Lohntute oder Schlacht f eld
— das sind nur zwei Begriffe fur
eine Sache — aber ganz gewifi
nur eine Sache, die sehr Wenige
angeht,
Kurt Kersten
Premiere in Moabit
C in politisches Vorspiel und
*-J eine burgerliche Tragddie.
Oder: ein Glas Bier und die Fol-
gen. Der grofie Schwurgerichts-
saal, oft kopiert und nie erreicht,
wirkt in Moabit nuchterner als
auf dem Theater. Ein Strahl Sonne
ist der einzige Beleuchtungseffekt.
Die Regisseure konnen etwas ler-
nen.
Auch vom Text. Wir erleben
Dialoge ohne Matzchen. Der Vor-
sitzende spricht wie ein Vorsit-
zender. Der Staatsanwalt ist ganz
unpathetisch. Sogar die Gerichts-
diener sind echt. Dann und wann
geht jemand von rechts nach
links. Wenn er mufi. Nicht als
Regieeinfall.
Auf der Bank sitzen zwei Man-
ner in Zivil, Ein Polizeiober-
wachtmeister und ein Wachtmei-
ster, Angeklagt wegen Meineids.
Es soil vorkommen, dafi Poli-
zisten falsch schiefien; dafi sie
auch falsch schworen, ist seltener.
Sie sitzen da in ihren burgerlichen
Anzugen, der eine hat einen grii-
nen Lodenmantel an. Unwillkiir-
lich denkt man: wenn alle Beam-
ten Zivil triigen, wenn es sich her-
umsprache, dafi Polizisten auch
Menschen sind , . . Nein. Nicht
auszudenken. Ordnung mufi sein.
Wir befinden uns an einem
Juliabend in Weifiensee. Nachts
urn Zwolf. Die Beamten sind auf
einer Streife. Es ist nichts los
und sie haben keine Zigaretten.
Also gehen sie in eine Kneipe.
Eine Vorschrift, deren Sinn dun-
kel ist, verbietet den Schankwir-
ten, nach sieben Uhr abends Ta-
bak ohne Getranke abzugeben.
Die Polizisten bestellen ein Glas
Bier. Das wiederum verbietet den
Polizisten die Vorschrift. Incipit
tragoedia.
Auf der Strafie gibt es plotz-
lich KrawalL Kommunisten contra
Nazis. Ein Schufi fallt. Die Be-
amten stiirzen aus der Kneipe.
Tumult, Verhaftungen. ProzeB
wegen Landfriedensbruch. V7er
hat geschossen?
Die Polizisten sagen sich: wenn
das mit der Kneipe herauskommt,
•fliegen wir. Wenn wir aber be-
haupten, wir haben gesehn, wie
geschossen wurde, kann uns
nichts passieren. Also sind es
die Kommunisten gewesen.
Das Gericht bemiiht sich, am
Tatort mit Scheinwerfern und
Sachverstandigen die Richtigkeit
dieser Aussage nachzuprufen. Den
Angeschuldigten droht Zuchthaus.
Die Beamten schworen Stein und
Bein. Aber sie haben die Rech-
Me toauti* Front
ber 'Ranker fjaf cine Senfafion bes
(Betiufjes: bte neue 2(bbulla-(Eigarctte
2ibbuUa & <£o.
dairo
Con&on
eq>fg.
o&ne IRunbfHlct
•' Berlin
569
nung ohne den Wirt gemacht
Der erscheint als Zeuge, Dcm
Staatsanwalt kommt die Sache
verdachtig vor, und er telepho-
niert mit dem Reviervorsteher.
Das ist ' der Vorgesetzte der bei-
den und trotzdem ein anstandiger
Mensch. Er redet ihnen ins Ge-
wissen, Gestandnis. Widerruf.
Jetzt sitzen sie in demselben
Saal, und die Rotten sind ver-
tauscht. Sonderbare Ironie: wenn
der Staatsanwalt nicht eingegrif-
fen hatte, waren damals Unschul-
dige verurteilt worden. Das Tele-
phongesprach rettete die Beamten
vor dem Zuchthaus, weil durcb
den rechtzeitigen Widerruf ein
Ungltick verhtttet wurde.
Der grofie Menschenfreund
Sling hat sein Leben lang gegen
die Gefahr des Eides gekampft,
Er ahnte nicht! dafi ihm die Po-
lizei eines Tages den Wahrheits-
beweis liefern wtirde. Als die An-
geklagten zu einem Jahr Gefang-
nis verurteilt wurden, weinten
sie. Ob sie auch geweint haben,
wenn andre Menschen, die sie
verhafteten, verurteilt wurden?
Der letzte Akt des Dramas
schlieBt mit einem Fragezeichen.
Das Publikum verlieB schweigend
den Saal.
Walter Hasenclever
Bruno Weils Boulanger-Buch
Ich erinnere mich — als ich, sebr
* jung noch, zum erstenmal nach
Paris kamt da schwebten die
Schatten der „Boulange", sicht-
bar, jedocb schon entmateriali-
siert, iiber den Dachern, und der
Gassenhauer des beliebten Volks-
sangers Paulus, „en revenant de
la revue . . .", vor kurzem noch
die Marseillaise des Boulangis-
mus, klang in der Atmosphare
der Stadt mit unverminderter
Frische. Die Popularitat dieses
Liedes fiigte zu dem franzosischen
Sprichwort, dafi in Frankreich
alles mit einem Chanson ende,
noch eine SchluBpointe: denn
siehe da, es hatte den General
Boulanger und seine Idee iiber-
lebt, obzwar es im Vergleich zu
den Gesangen B6rangers ein elen-
des Machwerk genannt werden
570
darf. Die groBe Severine, jetzt
kann man das staunend in ihrer
Biographie nachlesen, die mein
Freund Bernard Lecache, Gatte
ihrer Enkelin, vor kurzem bei
Grasset publiziert hat, die grofie
revolutionare Sozialistin und Pa-
zifistin Severine hat einst eine
absonderliche Eskapade in den
Boulangismus vollftihrt, — man
raufi diese Verirrung wohl mit
dem offenkundigen Sex-appeal
des blondspitzbartigen, eleganten
und manikurten Brav* General
auf seinem Rappen Tunis erkla-
ren oder rechtfertigen — die
prachtvolle Severine hat eine Art
Grabschrift auf ihr vorubergehen-
des Idol verfertigt: es lautet —
Begonnen wie Casar — Gelebt
wie Catilina — Gestorben wie
Romeo. Doktor Weil setzt es als
Motto seinem Buche iiber die
pittoreske Figur des Beinahe-
Kaisers von Frankreich voran,
dieses Kleinbtirgersohnes, der,
ohne die siegreichen Stationen
jener andern Karriere des eben-
falls B. zu durchlaufen, so gut wie
dieser sein Elba und Waterloo er-
lebt hat Severines Resume wirft
auf dieses erstaunliche Schicksal,
das fast das Schicksal der dritten
Republik geworden ware, ein
gutes Schlaglicht, Weil hat sich
vorgenommen, die grofie und
grofiartige Chronique Scandaleuse
der dritten Republik zu schreiben,
und er hat dieses Buch, das bei
Doktor Walther Rothschild in Ber-
lin-Grunewald erschienen ist, seiner
Darstellung des Dreyfus -Prozes-
ses folgen lassen, Wahrend die-
ser Fall hauptsachlich den Juden
und den Antimilitaristen Weil
interessiert hat, wandte dem Bou-
langerbuch der Republikaner
Weil sein Inter esse zu; der letzte
angekundigte Band dieser selt-
samen Trilogie aber, der Band
iiber den Panamaskandal, wird
den Juristen Weil zum Verfasser
haben. Das vorliegende Buch
zeigt bemerkenswerten Sinn fur
Parallelitaten in der Geschichte,
und ohne dafi auf diese Parallelen
allzu eifrig hingedeutet wtirde,
weiB der Leser doch genau Be-
scheid, Ich las das Buch mit be-
sonderm Vergniigen, weil mir bei
der Lektiire alte zartlich gehegte
Erinnerungen emporstiegen, unter
anderm jene bezaubernden
Abende bei einer aus dem ElsaB
stammenden, von einem hollan-
dischen Graf en ausgehaltenen,
scharmanten und geistvollen Frau,
die in dem historischen Apparte-
ment der Geliebten Boulangers,
der schonen Grafin Bonnemains
in der Rue de Berri hauste, dem
beruhmten Liebesnest, in dem der
Brav' General seine Ekstasen und
Niederlagen erlebte — er hat sich
ja spater, wie bekannt, als er-
ledigter und bis fast aufs Skelett
kompromittierter Mann an dem
briisseler Grabe der Grafin er-
schossen. Zuweilen kamen in die
historischen Salons, in denen
hauptsachlich Dichter und Maler
aus dem Kreise des Sar Peladan
verkehrten, aber auch Grbfien des
pariser Theaters und der Jour-
nalistik, verspatete Pilger, fromme
Uberreste des Boulangismus — in
einer Ecke safi dann Caran
d'Ache, der Zeichner des .Figaro',
und zeichnete diese Gestalten
heimlich in sein Notizbuch, In
Weils Buch finde ich also die
Atmosphare jener erregten Tage
der dritten Republik wieder, die
wohl von Revanchelarm erfullt
waren, was aber nicht verhinderte,
dafi der Rhythmus des pariser
Lebens seine noch immer bffen-
bachsche Anmut beibehielt. Sieg-
reich uberwand die ewige Stadt
— die schon andre Stiirme ge-
sehen hatte — die kleine Alte-
ration, und die Republik be-
festigte sich sogar, trotz den Mil-
lionen der Herzogin von Uzes, die
sie vergeblich in den Boulangis-
mus gesteckt hatte. Jedenfalls —
dieser elegante Heros der Fran-
zosen war keine abstofiende Fi-
gur. Sein Magnetismus stammte
nicht aus jenem augenscheinlich
stark radioaktiven Schlamm, aus
dem wir heutigen Tages staunend
so manche diktatorische Grofie
emporsteigen sehn. Er war ein
wirklicher „Held"f das heiBt, er
war in den franzosischen Kolo-
nien wiederholt schwer verwun-
det worden, ein gar nicht iibler
Redner — obzwar sein erstes
Auftreten in der Kammer mit
einem Fiasko endete — und die
sentimentale Seite seiner Lebens-
schicksale entbehrten der Klebrig-
keit wie der SpieBigkeit, die bei
Gestalten, die sich in ahnlicher
Richtung vorwarts oder im Zick-
zack bewegen, als unangenehxne
Attribute in die Erscheinung tre-
ten. G^n^ral Revanche, General
TEsp^rance stieg und fiel mit der
Uberreizung des Nationalismus
seines Landes; sein Fall begrub,
wie es sich erwiesen hat, keines-
wegs die Revancheidee unter sich,
aber seine Partisanen waren auch
keineswegs Desperados, um mich
schonungsvoll auszudrticken, son-
dern geistreiche Manner, kluge
und witzige Politiker, ausgezeich-
nete Publizisten und hingebungs-
vollste Schwarmer, namlich der
Graf Dillon, Naquet, Chincholle,
dann, wie gesagt, S^verine und
Pierre Denis. Wenn er auch vor
Prozessen Reifiaus nahm, die auf
seinem Generalsgewand etliche
schwer abwaschbare Kotspritzer
hinterliefien, so ereigneten sich
doch zum VerdruB aller guten
Republikaner um dieselbe Zeit
weitaus argere Skandale, wie jener
beruhmte des Ordensschacherers
Wilson, Schwiegersohnes des Pra-
sidenten der Republik Gr6vy. Sa-
lomon Reinachj der Geschichts-
schreiber jener Epoche schrieb,
und Weil zitiert diese AuBerung
DAS PRIVATLEBEN
DER SCHGNEN HELENA
Roman von JOHN ERSKINE, erscheint als VOLKSAUSGABE
Helena vertritt die Frau von Troja bis heute, hinreiBend und gefShrlich In SchSn-
heit, Intuition und Dberzeugungskraft. Der Lebensphllosoph Erskine
gibt in dem he iter en Rahmen dieses Buches seine Anslcht Uber
gii .
Liebe und Ehe, Konvention und Sitte wieder.
TRANSMARE VERLAG A.-G.v BERLIN W 10
Lelnen
3.75RM
571
Reinachs, zur Erklarung: was
denn eigentlich der Boulangismus
bedeutet: die Idee des Boulangis-
mus (besser gesagt, die Vorbe-
reitetheit auf jede Diktatur!) ent-
springe dem Geist der Unzufrie-
denheit mit alien Parteien, sie
zeige sich in der Stimmung aller
Miidegewordenen, Entmutigten,
aller Dummkopfe auch, die die
Republik verantwortlich machten
fur jede schlechte Ernte, der
Hohlkopfe, die die Liebe zum
Federbusch (oder farbigen Hem-
den) in sich groBgezogen haben,
der Kranken, die ohne rechten
Grund, weil sie auf der linken
Seite eine Weile unbequem lagen,
sich nun auf die rechte walzen
wollen — es ist der Geist der
simplen Kopfe, .die da glauben,
ein Unteroffizier werde in fiinf
Minuten die Versprechen realisie-
ren, die achthundert Senatoren
und Deputierte in sovielen Jahren
nicht durchfiihren konnten. Dem
ist nichts hinzuzuftigen. Es steht
indes nirgends geschrieben, dafi
vor Angst vor dem Boulangismus,
oder aber auch, um ihm Vorschub
zu leisten, die Bewohner Frank -
reichs mit Umgehung der Verfas-
sung durch drakonische MaB-
regeln bedrangt und kopfscheu
gemacht worden waren, Der Zau-
ber des pariser Daseins verleug-
nete sich nicht in jenen Tagen der
Irritation, und wenn ich das Buch
Weils aus der Hand lege, iiber-
kommt mich wieder das Ent-
ziicken im Gedenken jener Stadt,
die leuchtend geblieben ist, heute
leuchtender denn je — man sehe
bloB an, wie Paris jetzt bei Nacht
aussieht: Scheinwerfer zaubern
tausendundeine Nacht auf j enen
Platz, wo einst eine tuchtige,
fleiBige Guillotine stand und der
deshalb: Platz der Eintracht ge-
nannt zu werden verdient,
Arthur Holitscher
Zwei Filme
LJermann Kosterlitz und der
* * Theaterregisseur Erich Engel
watscheln angeseilt hinter Charlie
Chaplin her, und der ist ein gu-
ter Fiihrer auf die Berge der
Filmkunst. Bis zum Gipfel sind
sie mit ihrem Film „Wer nimmt
die Liebe ernst . . ," (Terra) nicht
gelangt, aber ihre Arbeit ist gut,
Es ist schwer, so leicht zu sein,
so ohne Verschrobenheit an-
spruchsvoll, so ohne Geschmack-
losigkeiten derb und volkstum-
lich, Dieser Film ist nicht tief
wie Chaplin, aber seine lustige
Oberflachlichkeit hat auch nicht
das Peinliche jener „K6m6dien",
in denen der Pleitegeier als loser
Vogel auftritt. Es herrscht ein
Andrang bezwingender Possen-
einfalle, wenn unter ihnen auch
viele alte Bekannte aus Amerika
sind: der Schutzmann als verstei-
nerte Rachefurie hinter dem
Missetater auf gepf lanzt ; die
plotzlich abflauende Freundschaft
des dicken Reichen; die Krimi-
naljagd durch den Luriapark. Jat
fast hatte sogar der dicke Wall-
burg zum Geld auch noch die Braut
bekommen und der kleine Mann
mit dem Melonenhut ware ent-
sagend ohne Dame ins Bett ge-
gangen — wie ein Versehen des
Inspizienten erscheint es, dafi zu-
guterletzt dennoch unter der Bett-
decke etwas quietscht. Leider ist
der Film im Stil uneinheitlich.
Eine Groteske im StraBenanzug.
Das Stilisierte, oft fast Tanze-
rische der Chaplinschen Panto-
mimik paBt nicht zur Wochen-
schauprosa dieser Masken, dieser
Dekorationen, dieser Sprache
noch gar zu schmachtenden Lie-
besliedern. Und Max Hansens
Gesicht, dies verschmitzte BlaB-
gesichtchen eines zu friih aufge-
klarten Gymnasiasten, verdient
den koniglichen Kopfschmuck des
Alle Angst verschwindet
fur jeden, der einmal fest verwurzelt ist in dem sicheren Boden, den ihm
die Biicher von B6 Yin Rd
zugiinglich werden lassen ! Yerlangen Sie die kostenlose Einfiihrungsschrift
von Dr. jar. Alfred Kober-Staehelin, in jeder guten Buchhandlung erhaltlich,
sowie bei der Kober'schen Verlagsbuchhandlung (gegr.1816) Basel u. Leipzig.
57?
Chaplinhiitchens keineswegs.
Einen kleinen BlumenstrauB fur
Jenny Jugo. So vergniigt, so
lustig, so naturlich hatte sie
schon oft sein konnen, wenn die
Filmregisseure es auch im Atelier
verstanden, mit Frauen umzu-
gehen. Der Theatermann Erich
Engel hat hier ein wichtiges Bei-
spiel gegeben. Einzelszenen, so
das Hexentrio der Zimmerver-
mieterinnen zeigen, wieviel Regie-
kultur sich der Sprechfilm vom
Sprechtheater holen kann.
Sein Kollege Karl Heinz Mar-
tin hat in Doblins „Berlin-AIexan-
derplatz" mit weniger Gltick de-
biitiert. Er hat noch nicht das
Gefiihl dafiir, wie dicht das Kino-
publikum dem Filmschauspieler
auf dem Pelz sitzt, wie aufdring-
lich jeder Theaterton, jede The-
atergebarde in diesem intiraen
Beisammensein wirkt. Aber er
allein ist nicht schuld daran, dafi
las Epos von Franz Biberkopfs
.<ampf um die Anstandigkeit
nicht recht ehrlich wirkt. Je
mehr der Anschauungsunterricht
des Films unser Gefiihl fur das
Echte, Natiirliche scharft, um so
fiihlbarer wird an den sogenann-
ten sozialen Filmen, daJ3 die
Filmleute vom Proletarier
sprechen wie der Blinde von der
Farbe. Es sind Ausfliige in
fremde Reiche, unternommen von
Biirgern, die in den Bouillon-
kellern nicht heimischer sind als
bei den Nibelungen oder den
Marsbewohnern. Sie kennen sich
bestenfalls mit den Augen, be-
stimmt nicht mit dem Herzen aus.
Diese Schauspieler und Regis-
seure sind am Alexanderplatz nur
dann zuhause, wenn man sie ver-
traglich fiir vier Wochen dorthin
engagiert. Die gesellschaftliche
Klassengrenze verlauft hier sto-
rend zwischen dem Kunstler und
seinem Gegenstand. Auch der
begabte Piel Jutzi bringt wieder,
neben manchem sehr Gelungenem,
die uns bis zum OberdruB gelau-
figen Kneipenszenen, in denen
vier Mann konspiratorisch um
einen Kneipentisch hocken, rauhe
Burschen an der Theke einen
kleinen Korn herunterspiilen und
verwegen bemalte Damen als
Mannequins des Lasters quer
durchs Lokal wippen. Ich kenne
mich in Huren nicht aus, aber
ich kann mir nicht denken, daB
sie Maria Bard als ihresgleichen
anerkennen werden. Dieser Schau-
spielerin wird die" Beweglichkeit
ihres Korpers zur Untugend. Sie
hat eine Art, mit der Hintertiir
ins Haus zu fallen, die einen auf
die Dauer verdrieBt. Heinrich
George ist Kunstler genug, um
den Franz Biberkopf lebendig zu
machen; er ist nicht sehr an-
regend, weil der eine Typus, den
er immer wieder so iiberzeugend
und mit so viel Volumen gestal-
tet, nicht sehr anregend ist, aber
wenn er mit stumpfer Gutmiitig-
keit, mit erstauntem Stammeln
auf seine Gedanken wie auf eine
triibe Lache blidkt, wenn er sich.
zu sammeln sucht, wo so wenig
zu sammeln ist, dann riihrt er un-
f ehlbar. Ganz hervorragend ist
wiederum Gerhard Bienert, der
nun schon so oft aus kleinen Rol-
len groBe Figuren geformt hat.
Er ist einer der besten Filmschau-
spieler Deutschlands. Die Bilder
vom Alexanderplatz beginnen
nach Markthalle und Keller zu
riechen, wenn er den Mund off-
net. Er hat die proletarische
Noblesse, die mannliche Verhal-
tenheit des anstandigen Kerls, er
ist auch als Verbrecher ehrlich,
unheimlich ohne Damonie und auf
Wunsch in einem kurzen Geknurr
so berlinisch-schnoddrig, daB ihm
das goldne GebiB des Achtuhr-
abendblattes gebiihrte. GroBe
Rollen fiir Bienert!
Rudolf Arnheim
Rudolf Arnheim: Stimme von der Gnlerie
25 Aufsatze: Psychoanalyse, Negers3nger, Spiritismus, Er-
ziehung, Boxkampf, Oktoberwiese, absolute Malerei, Greta
Garbo, Russenfilm, Fritz Lang, moderne Moral u. a.
Einleitung; HansReimann — Bilder: Karl Holtz. pu n
Zu beziehen durch Verlag der WeltbUhne Rllt *t
573
Wer-?
VJ^ aschzettel:
„Gegenuber diesem Unfug ist
es eine patriotische Pflicht, den
Mann genauer zu pr&fen, im
Sinne Nietzsche* cinmal wieder
mit dem Hammer zu philosophies
ren und, wie es der Verfasser
tut, auf Grund einer sorgfaltigen
geschichtlichen Untersuchung die-
ses moderne Gotzenbild mit mar-
kigen Streichen in tausend Stticke
zu zerschlagen. Was bleibt da
von seiner gottahnlichen Grofie
ubrig?
Ein gewissenloser
Phrasenheld,
ein selbstsuchtiger, nur auf den
eigenen Vorteil bedachter Kar-
rieremacher, der seine rhetorische
Gabe ausnutzt, urn der Welt Sand
in die Augen zu streuen, der die
Menschen mit seinem Sing-Sang
einlullt wie der
alte Rattenfanger,
dafl sie ihm folgen, wohin er sie
fiihren will, und ware es in ihr
eigenes Verderben,"
Hitler — ?
Nein, Briand,
Gut aufgehoben
Ein Angestellter der warschauer
Strafienbahnwerkstatten na-
mens Bielski hat einen Marsch
unter dem Titel „Bruderlichkeit
der Volker" komponiert und dem
Sekretariat des Volkerbundes ein-
gereicht. Der Komponist erhielt
dieser Tage aus Genf ein Dank-
schreiben des Sekretariats mit der
Mitteilung, daB die „Bniderlich-
keit der Volker" im Museum des
Sekretariats aufbewahrt werden
wird.
tKonigsberger Hariun&sche Ztg*
26. 9. 31
Reklame-Lyrik
WTas hab ich da bloB unter-
** nommen:
Jetzt werden keine Gaste
kommenl
Die "Briefe warf ich in die Seine
Ich glaub, das Beste ist, ich
weine.
Film-Plakat
574
Lied des Deutschen von 1931
Zu singen nadi der Melodie:
mGotd und Silber lieb ich sehr*.
Gebt mir einen Erbfeind her I
Erbfeind mufi ich haben.
Volk, das keinen Erbfeind hat.
Lasse sich begraben.
Meistens war es der Franzos,
Manchmal auch der Brite,
Alle sind bedeutungslos,
Wir sind stets die Mitte.
Oesterreicher, Bayer, PreuB :
Immer Kain und Abel.
Lippe-Detmold, Anhalt, Reufi:
Wir, der Menschheit Nabcl.
Gebt mir einen Erbfeind her*
Dafl ich mich dran labe.
Ode ist die Welt und leer,
Wenn ich keinen habe.
Erbfeind her und Erbfeind bin.
Erbfeind in der Wiege.
Das ist meines Lebens Sinn:
DaB ich einen kriege.
Friiher war es der Franzos*
Pole ist es heute.
Morgen sinds die Eskimos
Mit der Renntiermeute.
Erbfeind, ja ftir Dich, fGr Dich,
Kauf ich Panzerplatten.
Erbfeind, laB mich nicht im Stich
Bei den Hdchstrabatten.
Du bist ich und ich bin Du.
Zwillingsbruder, trauter.
Jeder stSrt des andern Ruh,
Trommel t immer lauter.
Gebt mir einen Erbfeind her,
Denn das ist mein Wesen.
Wenn ich keinen Erbfeind hab,
Kann ich nicht genesen.
Simplex
Ludendorff und das Goethe-Jahr
C Rost: Goethes Faust, eine
"• Freimaurertragodie. Munchen:
Ludendorffs Volkswarte-Verlag.
,Buchhandler'B6r$enbtatt4
Lehm
Tm Jungbornzeichen stemmen die
A Urelemente Licht Luft Lehm
(Erde) Wasser drehend den Kreis,
das ewig schwingende Rad des
Lebens In diesem Symbol der
Besinnung auf das Wesentliche
der Hinkehr zu naturlicher Ein-
fachheit im Denken und Leben
und Erkenntnis der Leben bewe-
genden Urkrafte steht die Jung-
born- Arbeit tief gewurzelt
Briefkopf
Der M&ceen
In Kassel bezog einst ein alter
* Pauker, der damals noch kur-
fiirstlichen Hofkapelle das hochste
Gehalt, „weil ihm der Kurftirst
von der Loge aus gern auf die
Glatze spuckte".
tBerliner Lokal-Anzeiger
Der Trachtengedanke
To Lindau erlaubte sich kurzlich
1 ein freches Judenschicksel in
der ,,Kurzen" durch die Stadt zu
spazieren. Es fanden sich aber
bald Leute, die dieser unver-
schamten Verhohnung des Trach-
tengedankens ein Ende setzten.
Ein Hitler-Blatt
Motto: Ich babe seit meiner
Kadettenzeit kein Buch mehr
gelesen
Reich sprasident Hindenburg hat
das Ehrenprotektorat fur die
frankfurter Goethehaus-National-
spende 1932 ubernommen.
Zeitungsnotiz
Rentnerinnen
rn langer Reihe barren tie
Und in den Morten starren tie
Wie von der Not verateint
Und jedes regennasse Kleid
Verrat das totgeschwiegne Leid,
Das tie! in ihnen weint.
Wie eine Maucr stehen sie,
Wie steife Puppen gehen sie
Zu dem Era ah re r Staat.
Die Mtinze klingt mit dfinnem Ton,
Das ist der Helden Hungerlohn
Aus ihrer Wunden Saat.
Der bockt vom Kriege irr zu Haus,
Dem schossen sie die Augen aus —
Die Frauen zagen nicht.
Der wurde totgeprellt im Werk,
Der liegt von Nacht erstickt im Berg —
Die Witwen klagen nicht.
Sie murren nicht, sie stdhnen nicht,
Sie fluchen nicht, sie hShnen nicht,
Wenn sie die Not rerstoflt.
Sie harren nur auf einen Tag,.
Auf ihrer Stunde Flagelschlag,
Der sie vom Leid erldst.
Manfred Sturman'n
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutsche Liga fur Menschenrechte. Mittwoch Kammersale, Tel tower Str. 20.00: Fttrsten-
abfindung, GroBpensionen und Erwerbslose. Es sprechen: Karl Conrad, Karl
Emonts, Arthur Holitscher, Polizeioberst a. D. Lange, Dr. Voelter M. d. R.
Verband Sozialistischer Arzte. Montag (19.). 20.15. Arztchans Genthiner Strafie 34.
Arzteversammlung t Wirtschaftskrise und Arztekammerwahl. Es sprechen: Frau
Biber, Bruno Cohn. Minna Flake, Haase, Max Hodann, Leo Klauber, Prof. Kronfeld,
Paul Levy und Simmel.
Hamburg-Altona.
Gruppe Re vol u Hon are r Pazifisten. Dienstag (20.) Volksheim Efchenstrafie, Musikzimmer
20.00. Unter anderm: Zum PazifistenprozeB.
Bflcher
Heinrich Hauser: Feldwege nach Chikago. S. Fischer, Berlin.
Rnndfunk
Dienstag. Berlin 20.00: Goethe und Schiller, Friedrich Burschell und Edltef K6ppen. —
Mittwoch. Hamburg 19.30: Georg W. Pi jet liest. — Berlin 22.15: Der Mandachurei-
Konflikt von Actualis. — Domteratag. Berlin 16.05: Theater und Wirtschaftskrise,
S. Nestriepke. — 17.50: Der Kunstmarkt gestern, heuteund morgen, Lothar Brieger
und Paul Graupe, — Langenberg 18.20: Kunst und Unkunst im dffentlichen BewuBt-
sein, C. O. Jatho. — Kfinigsberg 18.55: Gesprache urn Cesare Borgia aus Gobineaus
Renaissance. — Frcitag. Breslau 18.05 : Die Zeit in der jungen Dichtung. — Hamburg
18 JO: Oscar Wilde. — Frankfurt 19.05: Der Dfiblin-Film Berlin- Alexanderplatz, Carl
Dreyfus. — Berlin 19.15: Aus den Entstehungsjahren von Ueberbrettl und Kabarett,
Erich Mfihsam. — Leipzig 19.30: Die Rose und die Nacbtigall von Oscar Wilde. —
Mflhiacker 19.45: Oscar Wilde 75 Jahre alt. — Breslau 20.t5: Welt von gestern —
Jugend von heute, Erich Franzen und Ernst Glaeser. — Mflhiacker 21.00: Ge-
spenstersonate von August Strindberg. — Leipzig 2130; Max Brod liest aus Stefan
Root oder das Jahr der Entscheidung. — Berlin 22.15: Salome von Oscar Wilde. —
Sonnab«nd. Berlin 16.30: Die Erzahlung der Woche, Martin Raschke. — Kdnigsberg
19.15: Der Dichter Friedrich Nietzsche. — SonnUff. Berlin: Die sch5nsten Schall-
platten, Hans Reimann.
575
Antworten
Besserer Hern Es geht Ihnen heute schlecht. Die Kredite sind
gekiindigt. Auch Sie werden sich bald nach einer billigen Unter-
kunft in einer kleinen Pension umsehen, wo der normale Duft nach
Bratensauce sich wenigstens am Freitag mit einem penetranten Schell-
fischgeruch in pikanter Weise vermischt. Und dennoch haben Sie,
selbst im Stiirzen noch, einen Triumph errungen. In der Entschei-
dung zwischen Ihnen und der Politik hat jemand fur Sie optiert.
Das ist erstaunlich, nicht wahr? Ihr Klubmitglied Professor Waen-
tig, friiher preufiischer Innenminister, hat sich fur den Klub entschie-
den. Herr Waentig, dem man nachsagt, der eleganteste sozialistische
Minister gewesen zu sein, hat die Sozialdemokraiie mit einer unwir-
schen Erklarung verlassen. Herr Waentig war als Minister weder
besser noch schlechter als die weniger gut angezogenen Genossen,
aber man argerte sich uber seinen Lebensstil. Man schikanierte ihn,
weil seine naturliche Eleganz nicht recht in die Lagerbieratmosphare
der heutigen Politikerschaft hineinpaBte. Das ist Geschmackssache.
Andre werden den gehobenen Bonzen mit der dicken Importe auch
nicht grade als ein Edelprodukt volkstumlicher Fiihrerauslese bestau-
nen. Karl. Marx, der nie Geld hatte, kampfte doch ewig urn die
Moglichkeit groBbiirgerlicher Lebensfiihrung, und Ferdinand Lassalle
hat in einer Gesellschaft verkehrt, neben der die Herrschaften vom
Golf- und Landklub wie aufgetakelte Plebejer wirken. Herr Pro-
fessor Waentig mag, mit einigem Recht, die Sozialdemokratie heute
nur noch fiir eine Fiktion halten, aber ist die berliner Society eine
geringere? Diese Gesellschaft war wichtig durch ihr Scheckbuch und
schon durch Elida. Aus eignem gab sie nichts, sie lebte von Remi-
niscenzen an andre Metropolen. Heute lassen sich ihre Baronessen
fiir Zeitungsreklame photographieren, ihre Haut, ihre Haare, ihre
Biiste demonstrieren die Wirksamkeit entsprechender kosmetischer
Praparate. Morgen werden die Herren dieser Gesellschaft ihr kiihnes
Energieprofil mit dem glatt zuriickgelegten Haar fiir Okasaplakate
verkaufen. Ihr Klubmitglied, Herr Professor Waentig, hat sich ge-
wifl mit vornehmer Geste aus der Politik zuriickgezogen, und abends,
wenn man genug von londoner Hutmachern und pariser Schneidern
gesprochen hat, wird er von seinen merkwiirdigen Abstechern in die
Welt der Parteien erzahlen und wie man Minister wird, respektive
aufhort, es zu sein, Aber das alles kommt funf Minuten zu spat.
Die Matthaikirch-Strafie wird kein Faubourg-Saint-Germain mehr
werden, kein aristokratisches Refugium. Der Nachrichter dieser Zeit
ist nicht der Revolutionar, sondern der Gerichtsvollzieher. Alles wan-
dert in einen groBen Korb. Der letzte Schrei ist lange in einem
unbeachteten Rocheln verklungen, Zwischen Kleidern und Mantel
liegt ein bunter Picasso, der einmal viele kommentierende Federn
in Bewegung gesetzt hat, und ein Golfschlager ragt melancholisch
heraus wie ein rostiger Degen aus altem Museumsplunder.
Stadtschulrat von Berlin. Wir dtirfen doch wohl annehmen, daB
Sie sich alle jene Biicher sehr genau ansehn, die fiir den Unter-
richt in den Ihnen unterstehenden Schulen gebracht werden. Viel-
leicht ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, was in Diesterwegs
Rechenbuch fiir Grofi -Berlin, Ausgabe B fiir Madchen, Heft 5, dritte
Auflage 1929, Seite 32, zu finden ist. Da stehen zwei Tabellen, auf
denen Deutschlands GroBe vor und nach dem Weltkrieg miteinander
verglichen wird, und da heifit es unter anderm: „Geraubt wurden
ferner samtliche von Deutschland gegrtindeten Kolonien mit
2 907 804 qkm und 11951000 Einwohnern (davon 22 396 Deutsche).
Rechne, vergleiche, urteile!" Geraubt? Haben wir den Vertrag von
Versailles unterschrieben oder haben wir ihn nicht unter schrieben?
576
Wenn ja, und eine andre Antwort gibt es nicht, dann kann von
„geraubt" keine Rede sein. Was ist also der alleinige Zweck, zu
der diese offenkundige Unwahrheit den etwa zehnjahrigen Madchen
vorgesetzt wird? Man will sie aufhetzen gegen den „Schmachfrie-
den". Und dann diese Maske der Biederkeit: „Urteile!M Wie wer-
den denn diese Zehnjahrigen urteilen? So wie es Denen gefallt,
die da glauben, Rechenbucher mit chauvinistischen Schnorkeln ver-
zieren zu miissen. Was wurden die Herren wohl sagen, wenn sie
in einem franzosischen Mathematikbuch aus der Vorkriegszeit das
gleiche iiber ElsaB-Lothringen fanden? Das Geschrei mochten wir
horen. Wenn ihr scbon etwas erreichen wollt, gewohnt euch eine
andre Sprache an. ,fRauber" werden kaum gutwillig ihren „Raub"
herausgeben. Da ihr aber sicher sehr gut in der Geschichte Bescheid
wiBt, so wifit ihr vielleicht auch noch, wie diese Kolonien einst zu
Deutschland gekommen sind. Vielleicht wird sich dann eher f est-
stellen lassen, was Raub ist. Ihnen aber, Herr Stadtschulrat, emp-
fehlen wir, das Buch aus dem Unterricht entfernen zu lassen. Wir
haben immer wieder betont, daB jener Paragraph der Verfassung,
der von der Erziehung zur Volkerversohnung spricht, noch keiner
Notverordnung gewichen ist. Er laBt sich schlecht mit solchen Ent-
gleisungen in Einklang bringen.
Doktor Weynand, Magdeburg. In Nummer 37 veroffentlichten
wir ein Stiick aus Ihrem griechischen Lese- und Ubungsbuch „Pa-
Iaistra", und deuteten es als eines der heute in unsern Schulbuchern
iiblichen Monumente der militaristischen Verhetzung. Wir freuen
uns feststellen zu konnen, daB der Verfasser des Eingesandts sich im
Irrtum befunden hat. Es handelt sich, wie Sie betonen, ura eine S telle
aus Xenophon, die Sie aus bestimmten sprachlichen Grunden auf-
genommen haben. Sie wollten den Krieg nicht verherrlichen, im Ge-
genteil: „DaB der Schiiler aus diesen Worten, wenn sein Lehrer ihm
vom Zusammenhang bei Xenophon nichts sagen sollte, eine Ahnung
bekommt von der grafilichen Grausamkeit des antiken Krieges — und
in vieler Beziehung hat sich bis heute noch nichts daran geandert —
halte ich fur gut." Wir geben das gern zur Kenntnis.
Stuttgarter. Sie teilen uns einen Vorfall mit, der sich in der
Schuhfabrik Salamander abgespielt hat und der so recht zeigt, mit
welchen Mitteln das Unternehmertum heute gegen die Arbeiter
kampft. In der Fabrik hatte die RGO zu den Betriebsratswahlen
eine eigne Liste aufgestellt, und noch wahrend des Wahlkampfes
wurden die samtlichen Kandidaten dieser Liste wegen „Arbeitsman-
gels" entlassen, und zwar im Einverstandnis mit dem sozialdemo-
kratischen Betriebsrat. Die also GeschaBten klagten vor dem Ar-
beitsgericht und bekamen auch recht, ebenfalls wurde die Revision
der Firma beim Landesarbeitsgericht verworfen. Zur Zeit schwebt
die Angelegenheit beim Reichsarbeitsgericht. Anscheinend erhofft sich
die Firma durch die Verschleppung doch noch einen Erfolg, denn es
kann ja bald eine ausgesprochene Rechtsregierung geben; und da
kann man nicht wissen, vielleicht bat dann das Gericht mehr Ver-
standnis fur die offenbar notleidende Firma. Unter den Entlassenen
befand sich auch der Schwerkriegsbeschadigte Bossert, der wegen
Arbeitsmangel ' uberhaupt nur mit Zustimmung der Landesf tirsorge
entlassen werden durfte. Der Vertreter der Firma, von Busekist, gat
auch zu, daB die Entlassung nicht gerechtfertigt sei, aber der Mann
habe keinen Anspruch auf Arbeit sondern nur auf Lohn, und den
wolle die, ach so grofizugige, Firma ihm auch zahlen, Herr v. Buse-
kist hoffte namlich, doch noch das Einverstandnis der Landesfursorge
zu erlangen. SchlieBlich gab diese auch ihre Zustimmung zur Ent-
lassung per 1. August, weil, wie der Vorsitzende zu Bossert sagte, es
577
der Behdrde lieber sei, dcr Arbeiter crhcbe Einspruch gegen diese
MaCnahme der Fiirsorge als daB diese sich mit der Firma herum-
streite. Bossert wird nun diese , Entscheidung anfechten. Wenn er
aber gehofft hat, von der Firma wenigstens den ihm fur die Monate
Mai bis Juli zustehenden Lohn zu erhalten, dessen Bezahlung
Herr von Busekist ja vor dem Gericht zugesichert hatte, so befand er
sich im Irrtum, er muBte klagen und bekam recht, Busekist wollte
beantragen, daB das Urteil nicht vollstreckbar sei, muOte sich aber
belehren lassen, daB ein solcher Antrag vor der Urteilsfallung ge-
stellt werden muB. Jetzt glauben Sie, hatte dieses feine Unterneh-
men endlich gezahlt? Irrtum, sie lieB sich den Gerichtsvollzieher
schicken, und der zog unverrichteter Sache wieder ab. Fruchtlos ge-
pfandetl Und das bei einer Bilanz, die einen Gewinn von vier Mil-
lionen aufweist. Wiirde dasselbe heute einer Bank passieren, die
eine Forderung an das Unternehmen hat, dann mtiBte man dieses als
pleite bezeichnen. Aber davon kann wohl keine Rede sein. Es han-
delt sich hier nur um ein geschicktes Manover, das man dem Ge-
richtsvollzieher vorgemacht hat, einzig zu dem Zweck, den Schwer-
kriegsbeschadigten um die ihm zustehenden paar Mark zu bringen.
Hat sich denn dieser Staat schon so stark an die Wirtschaft ver-
kauft, daB die Herren Wirtschaftsfiihrer auch die primitivsten Ge-
setze so glatt und zynisch umgehen konnen? Der Staat hat keine
Zeit, sich um das Schicksal eines einzelnen Menschen zu kiimmern?
Uns scheint, dies Einzelschicksal zeigt doch nur, wie herrlich sich die
Unternehmerwillkur in Deutschland entwickelt hat. Man macht noch
nicht einmal vor Menschen halt, die ihre Knochen fur das gleiche
Unternehmertum geopfert haben.
Schutzverband Deutscher Schriftsteller. Seit ein paar Tagen wird
erzahlt, dein Vorstand beabsichtige, die von Erich Muhsam und Lud-
wig Renn gefiihrte Opposition kurzerhand hinauszuwerfen. Macht
der sozialdemokratische Parteivorstand Schule? Wir erwarten von
deinem gegenwartigen Vorstand keine Heldentaten, aber es sitzen
doch ein paar vernunftige Menschen darin, denen solch ein selbst-
morderischer Wahnsinn kaum zuzutrauen ist, Inzwischen ist uns aller-
dings der Beweis erbracht worden, daB gegen einzelne an der Oppo-
sition beteiligte Mitglieder des S.D.S. ein AusschluBverfahren einge-
leitet worden ist,
Internationale Frauenliga fur Frieden und Freiheit. Sie hatten
vor einiger Zeit unserm Blatt eine Auf forderung zur Beteiligung an
Ihrer internationalen Kundgebung ftir die Weltabriistung beigelegt,
Es sind inzwischen eine groBe Anzahl von Unterschriften eingegangen,
Sie bitten unsre Leser, die Listen iibernommen haben, diese mog-
lichst rasch ausfullen zu lassen. Ihre Geschaftsstelle, die weitere
Unterschriften entgegennimmt, befindet sich in Berlin-Steglitz, Her-
furthstr. 6,
Ktnobesucher. In dem Doblin-Film „Berlin-Alexanderplatz"
spielt, wie erzahlt wird, kein einziger Schauspieler mit, dessen Wiege
an der Spree gestanden hat. Man hat deshalb vorgeschlagen, den
Film umzutaufen und ihn „Rund um den Stephansdom" zu nennen.
Manuskript* sind nur an die Redaktion der WeltbGhoe, Charlotteaburjj, KanUtr. 152, zu
richten: as wird ^ebeten, ihoco Ruckporto beizulegen. da sons* keine Rucksendung eWolyen keno.
Da* Auff Qbrung«recht, die Verwertun? von Ttteln u. Text im Rahmen des Films, die mutik-
ntechanische Wiederjrabe alter Art und die Verwertung im Rahmen von RadioYortrSyen
blelben fur all* in der Weltbttnno erscheinenden BeitrJjje ausdrticklicli vorbebalten.
Die Weltbflhne wurde begrundet voa Siegfried lacobsoho und wird von Cat I v. Ossietzky
oatet Mitwtrkung von Kuri TuchoUky ^eleitet — Verantwortlich: Carl v. Ossietrky. Berlin;
Verleg der Weltbuhne, Siegfried |ecobsoho & Co*. Charlottenburg.
Telephon: CI, Steinplatz 7757 - Postscheckkonto: Berlin 119 5&
Baakkonto: Darmstfidter a. Naiionalbank. Depositenkasse ChaHottenburg, Kaotstr. 112
XXVII. Jahfgaug 20. Oktober 1931 Nmnrner 42
50 ZU 50 von Carl v. Ossietzky
TV/fit vierundzwanzig Stimmen Mehrhcit ist der Reichskanzler
*** dem Ansturm seiner Gegner entronnen. Den Ausschlag
gaben nicht die biedern Agrarier, denen Briining mehr ge-
wahrt hat als irgend ein deutscher Minister seit Jahrzehn-
ten, sonderri die Hicketiere von der Wirtschaftspartei. Es ist
noch nicht bekannt, womit diese kleine Gefalligkeit der Bu-
dikerpartei erkauft ist, wahrscheinlich wird die Reichsregie-
rung einen anstandigen Obolus in die Ladenkasse tun miissen.
Wer indessen glaubt, daB der Reichskanzler nunmehr von
seiner Vorliebe fur die Rechte kuriert ist, der sollte die Rede,
die er am Freitag vor der SchluBabstimmung gehalten hat,
nochmals genau nachlesen. In dieser sogenannten Abrechnung,
die sich vornehmlich gegen einige allzu plumpe Cbergriffe der
Schwerindustrie richtete, warb er gradezu um die Gunst der
Hitlerpartei. Er dankte nicht nur den Fuhrern der National-
sozialisten ,,fiir die Vornehmheit, wie sie sich. meiner Person
gegenuber bei aller Kritik eingestellt haben," sondern beklagte
auch am Ende seiner Ausfiihrungen ausdriicklich, daB Hitler
nicht vertrauensvoll einige Monate mit ihm gehe. MVornehm-
heit?1* Entfernte sich nicht das braune Politikantenpack mit
knarrenden Stiefeln aus dem Plenarsaal, als der Reichs-
kanzler das Wort nahm? GewiB, das Gros davon, ist dort, wo
es aufs freie Wort ankdmmt und nicht auf den Kniippei, zu
f eige oder zu dumm, aber die Geste gegen Briining, mag sie
auch der Verlegenheit entsprungen sein, bedeutete doch
offentlich: Ablehnung und Verachtung. Aber selbst in der
Entscheidung noch beschwort der also Behandelte die Idee der
nationalen Konzentration, ladet er Hitler ein, sich neben ihn
zu setzen. Was mogen wohl die Sozialdemokraten fiir Gesich-
ter dazu gemacht haben? Der Zeitungsbericht verzeichriet:
stiifmischer Beifall in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.
Wird die Nationale Opposition den Mann, der selbst, wenn
er sie zuchtigt, nur leicht mit dem Olzweig streicht, nicht bald
etwas freundlicher betrachten? Sie traut ihm nicht, gewiB.
Sie fiirchtet sein stereotypes Klerikerlacheln und wittert da-
hinter romische Txicke. Sie fiihlt sich ihm unterlegen. Brii-
ning ist nicht der groBe Staatslenker, fiir den ihn seine Be-
wunderer halten. Aber Briining verglichen mit deii Matadoren
des Nationalismus wirkt er haben und gewaltig — ein Ringel-
wurm unter Kasemaden. Und dennoch hatte er sich diesmal
nicht loseisen konnen, wenn ihm nicht das harzburger Gast-
spiel des Herrn Hjalmar Schacht eine kaum erwartete Entlastung
verschafft hatte. Ohne diesen unfreiwilligen Partisan ware
Briining verloren gewesen. Die Harzburger haben allzu vor-
schnell nach der Inflation geschrien, und grade die Angst vor
der Inflation steckt den meisten Deutschen, die Herren von
der Schwerindustrie naturlich ausgenommen, allzu tief in den
Knochen. So warfen Hugenberg und Hitler der Regierung
1 579
selbst die Gegenparole zu, und das Auftreten des Psycho-
pathen Schacht, dessen traditionellcr hohcr Stehkragen jetzt
endlich gegen die Zwangsjacke ausgewechselt werden solltc,
machte die rechtea Splitterparteien wieder wankend.
Br lining hat also diesmal noch gesiegt, aber nunmehr, nach
beendigter Schlacht, lautet die Frage nicht mehr; gegen wen?
sondern; zu was? Der Reichskanzler hat weder Ideen ge-
geben, die sich entwickeln lieBen, noch ein Programm, an das
man sich halten konnte. Er hat kraftige Worte fiir die feste
Wahrung gefunden, jedoch nichts genannt, was sie vor dem
Abgleiten bewahren konnte. Er hat unter dem Druck der christ-
lichen Gewerkschaften die dreistesten schwerindustriellen An-
grif f e gegen den Tarif gedanken zuriickgewiesen, aber sich durch-
aus nicht wie ein rocher de bronce vor die sozialen Rechte der
Arbeit erschaft gestellt. ,,Die Sozialpolitik muB allerdings der-
artig gestaltet tmd gehandhabt werden, daB sie sich den finan-
ziellen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten einfiigt . . . Vor
allem gilt dies auch fiir den Tarifgedanken, der als solcher ge-
surrd ist und erhalten werden muB, aber groBere Elastizitat in
der ficindhabung bedarf. Die Tarife mussen veranderten Ver-
haltnissen schneller angepaBt werden konnen/* Wo ist da der
Unterschied zwischen Briining und Doktor Oberfohren, der als
Sprecher Hugenbergs gegen die Unabdingbarkeit der Tarif-
vertrage und gegen das Schlichtungswesen grobes Geschiitz
auf f uhr ? Die Deutschnationalen wollen die Gewerkschaften
niedertrampeln, Briining will sie in eine Arbeitgemeinschaft
mit den Unternehmern zwangen, in der sie, kraf tig unter Druck
gesetzt, ihre Rechte selbst stuckweis aufgeben. Diese Arbeits-
gemeinschaft, die unter dem segenskraftigen Vorsitz Hinden-
burgs tag en soil, ist iiberhaupt der Lowengedanke Briinings.
Wie das (Berliner Tageblatt' mitteilt, diirften die Gewerk-
schaften bei diesen Verhandlungen von Herrn Geheimrat
Bachem, dem ruhmlichst bekannten Arbeiterbankier, ver-
treten werden. Herr Bachem hat noch von seiner
fruhern Tatigkeit als koniglich preuBischer Staatsanwalt
her eine hochgradige Abneigung gegen den Sozialis-
mus, die er auch als Mitglied der Sozialdemokratie nicht
vollig hat xiberwinden konnen, Dieser altbewahrte Labour-
leader wird neben Vogler und Schmitz ganz gewiB nicht allzu
oft mit der schwieligen Faust auf den runden Tisch schlagen,
er wird schon einsehen, daB der an sich gesunde Tarif-
gedanke in der Handhabung groBerer Elastizitat bedarf.
Herr Briining ist von seiner gottlichen Mission tief durch-
drungen, und dieses Gefiihl mag gut und niitzlich sein fur ein
Ami, das die bosesten Nervenproben mit sich bringt. Aber
was berechtigt ihn zu dem naiven Optimismus, dem er in seiner
Rede Ausdruck verlieh? Vor kurzem habe er noch das Be-
wuBtsein gehabt, daB die Situation zu 90 Prozent verloren sei,
HHetite jedoch", fuhr der Reichskanzler fort, Mist sie so, daB
ich sagen kann, das Verhaltnis von Gliick oder Ungluck steht
schon 50 zu 50/' Was hat sich inzwischen denn so griindlich
gebessert? Ist die Lage der Reichskassen um so viel hoff-
nungsvoller? Hat der Reichskanzler nicht selbst fiir den Win-
580
ter siebcn Millionen Arbcitslosc prophezcit? Hat dcnn in der
Geschaftswelt die Plcite zu wiiten aufgehort? Nichts hat in
diesen Ietztcn Wochen das Verhaltnis von Gltick und Ungltick
verschoben. DaB die Weltkrise inzwischen auch das eng-
lische Pfund erschtittert hat, wird doch der Reichskanzler
kaum zu den Ereignissen rechnen, die auf der Gliicksseite zu
verbuchen sind.
Einmal war der Kanzler der Wahrheit sehr nahe, als er
auf das wachsende MiBtrauen gegen das privatwirtschaftliche
System hinwies, allerdings nur, urn sick sofort schiitzend da-
vorzustellen und selbst fiir die Banken ein verteidigendes
Wort zu finden. Nichts berechtigt zu der Annahme, dafi die
gegenwartige Regierung etwas gegen GroBagrariertum und
Schwerindustrie unternehmen wird. „Es ist kein Grand, etwa
zu glauben, daB das System unsrer deutschen Banken an sich
von Grund aus irgendwie verkehrt sei. Das muB icfi auch
ausdehnen auf den weitaus groBten Teil unsrer deutschen
Wirtschaft." Das sagt der Kanzler, wo sich immer mehr offen-
bart, daB eine unverniinftige Kreditpolitik ebenso wie eine
blindwutige Rationalisierung dazu beigetragen hat, der
international rasenden Wirtschaftskrise in Deutschland ein
besonders bosartiges Gesicht zu geben. Ohne Plan, ohne Pro-
gramm, aufrechterhalten nur von der Hoffnung, daB in ein paar
Monaten von auBen her Hilfe kommt, so geht die Regierung
in den schwersten Winter seit hundert Jahren, und ihr ver-
antwortlicher Fiihrer nennt das ein Verhaltnis von 50 zu 50.
Die hohlgewordenen Gehause des Kapitalismus sinken in sich
zusammen, und der Staat verteidigt die Fiktion einer Privat-
wirtschaft, die doch vornehmlich von seinen Subventionen, also
auf Kosten des ganzen' Volkes, lebt, anstatt das in Besitz zu
nehmen, was von den bisherigen Inhabern kaum mehr vertei-
digt wird. Sozialisierung von oben oder Kommunismus vonunten!
Das ist heute die Alternative. Das Volk, noch immer ruhig
und geduldig, scheut den russischen Weg und wartet noch
immer, daB selbst von dieser Regierung ein Zeichen komme.
Hier stehen in der Tat die Dinge noch 50 zu 50, aber die
nachste Erschiitterung schon kann das Verhaltnis andern.
So iiberaus dramatisch diese vier Tage Reichstag auch
verliefen, ihre Bedeutung liegt nicht in dem Gesagten sondern
in dem Ausweichen aller Beteiligten vor dem wirklich Wich-
tigen. Als der Antrag der Kommunisten, die Youngzahlungen
aufzuheben, zur Abstimmung kam, verlieBen die National-
sozialisten den SaaL Und unmittelbar nachdem mit einer
sozialistisch-kommunistischen Mehrheit die Einstellung des
Panzerkreuzerbaues beschlossen wurde, laBt die Regierung
als ihre Meinung zirkulieren, daB sie dkse Formulierung als
eine EntschlieBung interpretiere, zu deren Innehaltung sie
nicht unter alien Umstanden verpflichtet sei. Das ist die erste
Quittung fiir die Verlangerung der Tolerkrungspolitik. Hitler
wird mit Liebenswiirdigkeit traktiert, die. Sozialdemokratie
wird nach getaner Arbeit kalt abgeschiittelt. Sie wird es nicht
iibelnehmen, sondern das alte Versteckspiel fortsetzen. Chaos
oder Ordnung! rufen die republikanischen KannegieBer. Es
gibt noch ein drittes: den Marasmus.
581
LeX Weiliert von Walther Karsch
r\ic Oberprasidien und Polizeiamter, hauptsachlich PreuBens*
geben sich seit kurzcr Zeit die groBte Miihe, Erich Weinert
mundtot zu machen, ihm die Verbindung mit den Massen ab-
zusehneiden, Dieser Dichter propagandistisch wirkungsvoller
Verse, die — seltener Fall — meist auch noch kiinstlerische
Qualitat vorzuweisen haben, hat sich anscheinend den ganz
besondern HaB eines einfluBreichen Beamten zugezogen, der
nun unter der Vorspiegelung, Weinerts Auftreten gefahrde die
offentliche Sicherheit, seine Macht ausnutzt, ihn wo es geht zu
schikanieren. Eine MaBnahme folgt der andern, und das alles
in der kleinen Spanne vom 27. September bis zum 8. Oktober.
Versammlungen, in denen Weinert sprechen soil, werden
verboten. Er selbst wird, von einer Vortragsreise zuriickge-
kehrt, morgens um sechs Uhr aus dem Bett geholt und vor den
Untersuchungsrichter gebracht, weil er einen Vernehmungs-
termin versaumt habe. Aber Weinert hatte sich doch vor sei-
ner Abreise entschuldigt, ein Blick in die Akten hatte den
Herrn das sagen konnen, — tut nichts, Weinert wird heran-
geholt. Nur ein Versehen der Behorde? Merkwiirdig, daB die-
ses „Versehen" mit andern Ereignissen zusammenfallt, die
deutlich zeigen, was hier gespielt wird.
In Leipzig verlangt der Polizeiprasident, Weinert solle vor
einer beabsichtigten Versammlung seine Gedichte zur Prii-
fung vorlegen. Da bisher durch keine Notverordnung eine Vor-
zensur eingefiihrt ist (was nicht ist, kann noch werden), so
weigerten sich die Veranstalter mit Recht, die Neugierde des
leipziger Polizeihauptlings zu befriedigen. Er gibt dann auch
nach und damit zu, daB sein Verlangen das Tempo unsrer Not-
verordnungsmaschinerie uberschatzt hat.
In Oberschlesien dasselbe Bild. Hier bemiiht sich sogar
der Herr Oberprasident Lukaszek selber und untersagt kur-
zerhand alle fiinf angesetzten Abende, mit der interessanten
Begriindung: fiir Weinert bestehe in PreuBen ein Redeverbot.
Dem Abgeordneten Wojtkowski gelingt es nach energischer
Intervention, erst einmal zu erreichen, daB wenigstens die Ver-
sammlungen stattfinden konnen, doch Weinert diirfe weder
auftreten noch reden. Schliefilich gestattet der Provinzall-
machtige, daB Weinert seine Gedichte rezitiert, aber er solle
sich ja nicht erlauben, auch nur ein Wort dariiber hinaus an
die Anwesenden zu richten. Der also Schikanierte und Wojt-
kowski bearbeiten tiunmehr den Polizeivizeprasidenten von
Gleiwitz. Und nachdem auch dessen Wunsch, die Gedichte
vorher kennenzulernen, an der guten Gesetzeskenntnis der
Beiden gescheitert ist und Weinert ihm plausibel gemacht hat,
daB die Kommentare zu seinen Gedichten ebenfalls unter die
Rubrik f,Kunstlerische Produktion" fielen und nicht einfach
weggelassen werden konnten, darf er endlich reden, — und
zwar vor einem ganz erlesenen Publikum: neben dem heute
ia unvermeidlichen Polizeiaufgebot erschienen auch noch die
Herren vom Prasidium und bekamen endlich einmal gute revo-
lutionare Verse zu horen, was ihnen nichts geschadet haben
kann. Das ganze Theater muB ihnen aber sicher allmahlich
582
selber iacherlich vorgekommen sein, dean auf Grund des Be-
richtes vom Verlauf der gleiwitzer Vcranstaltung hcbt dcr
Oberprasident das Verbot fin* ganz Oberschlesicn auf, und
Wcincrt darf ungehindert reden.
In Magdeburg aber half allcs Intervenieren nichts, Auch
hier, wo Weinert iiber seine RuBland-Reise sprechen soil, ver-
hindert die Polizei sein Auftreten, wieder mit der Begriin-
dung: Redeverbot fiir PreuBen. Die Versammlung entfallt
Wie steht es denn nun mit dem sagenhaften Redeverbot?
Weinert weiB bisher noch nichts davon; ihm diese Individual-
notverordnung zuzustellen, kann nicht schwer sein, seine
Adresse diirfte man kennen. Und da die Verbotsmaschine in
den einzelnen Stadten, wo er auftreten. soil; ausgezeichnet
funktioniert, scheint man doch iiber seine Reiseroute sehr gut
unterrichtet zu sein. Also her mit dem Stuck Papier, wenn es
tatsachlich existieren sollte! Wir mochten uns gern mit eignen
Augen davon iiberzeugen, wie hier mit alien moglichen, beson-
ders aber moglichst ungesetzlichen Mitteln versucht wird,
einen Propagator und Agitator um seine EinfluBmoglichkeiten
zu bringen, der — zugegeben — hochst unbequem ist, gehort
er doch zu den wenigen Tendenzdichtern, deren Strdphen tat-
sachlich mitreifien und nicht versifizierte Versammlungsparo-
len sind, oft gepredigt und daher ziemlich abgenutzt. Da es
bisher noch nicht gelungen ist und wohl auch schwerlich gelin-
gen wird, Weinert in die Gesellschaft seiner politischen
Freunde nach Gollnow zu verfrachten, versucht man es eben
andersherum, den bei der Masse mit Recht Beliebten dieser
Masse zu entziehen, Aber wo ist die gesetzliche Handhabe?
Die politischen Gedichte Weinerts und sein personliches Auf-
treten gefahrdeten durch die satirische Note gegenwartig die
offentliche Sicherheit — wie es im gleiwitzer Verbot heiBt?
Wie unsicher miissen sich doch diese Huter offentlicher Sicher-
heit fiihlen, wenn sie sich die Ohren sogar vor der Satire ver-
schlieBen, iiber deren Attacken souverane Geister selber zu
lachen pflegen, werden sie auch noch so hart getroffen. Wer
zum Kadi lauft, weil ihm der Satiriker ein biBchen heftig zu-
setzt, ist eine etwas klagliche Figur. Vergleiche mit dem preu-
Bischen Staat und seiner Aktion gegen Weinert zu ziehn, ver-
bietet die Hoflichkeit.
Aber SpaB beiseite, die preuBischen Polizeiamter scheinen
keinen zu verstehn: soil hier wirklich ein Prazedenzfall ge-
schaffen werden, an Hand dessen man jedem unbequemen
Redner den Mund schlieBen kann, eine Art lex Weinert? Es
liegt ja hier, gemessen an der Fiiile von Zeitungs- und Ver-
sammlungsverboten, nur ein Einzelfall vor, Aber dieser Ein-
zelfall hat insofern besondre Bedeutung, als es sich um die
systematische Unterbindung der Redefreiheit ein«r bestinim-
ten Person hand el t. Das kann aber morgen genau so jedem
andern passieren. Ich bin so optimistisch, anzunehmen, daB
sich hier selbst jene Presse. riihren wird, die bisher alle Be-
schneidungen des Rechts der freien MeinungsauBeriing, wehen
Herzens zwar aber mannhaft, iiber sich hat ergehen lassen,
Wir wollen uns doch nicht auch noch der letzten klSglichen
Cberbleibsel unsrer Rechte berauben lassen. Nicht wahr?
2 ' 583
Schrif tsteller - Schutzverband David Yuschnat
l^agt an dir ein Gedanke, denke ihn weg!M Dicscn Aus-
" spruch Stirners berichtet Panizza in seinem Friihwerk
,,Der Illusionismus und die Rettung der PersonHchkeit." Robert
Bfeuer, der ungekrqnte Konig des Schutzverbandes deut-
scher Schriftsteller, praktiziert folgende Variation; ,,Nagt an
dir cine Opposition, senmeifie sie raus."
Panizza starb im Irrenhaus. Er war ein Genie. breuer
wird das Schicksal Panizzas nicht teilen. Sein gesunder Men-
schenverstand hindert ihn daran. Breuers gesunder Menscheri-
verstand rat ihm, alle Schriftsteller aus dem SDS auszuschlie-
Ben, welche sich tatkraftig fiir Freiheit des Schrifttums ein-
setzen,
tlweil, so schliefit er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf,"
Denn diese armen irregeleiteten Oppositionkollegen, welche
die Stirn haben, fiir Wanrheit, Gerechtigkeit und Freiheit ein-
zutreten, konnten ja (Gott behiite) gegen die Notverordnung
verstoBen, So etwas tut man doch nicht, Erstens steht in der
Bibel „seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt iiber euch hat",
zweitens: was wird aus der Not des deutschen Volkes ohne
Notverordnung?, drittens wirkt nach Ansicht des SDS-Haupt-
vorstandes die offentliche Kritik an der Notverordnung ver-
bandsschadigend. Denn die Geldmittel, die aus Regierungs-
kassen jahraus jahrein dem SDS zuflieflen, konnten ja plotz-
lich aufhoren zu flieBen, wenn die grofite deutsche Schrift-
stellerorganisation sich erdreistet, fiir Freiheit des Schrifttums
einzutreten. Diese Moglichkeit hat Breuers gesunder Men-
schenverstand messerscharf berechnet, Deshalb wurden vor
einigen Tagen alle Schriftsteller, die solchen unzeitgemaBen
Ideologien nachjagten, durch SDS-Notverordnung notwendiger-
weise aus dem Verband ausgeschlossen, Erich Miihsam er-
wahnte bereits in der ,Weltbuhne* vom 14. Juli 1931 Breuers
offene Drokung, die Opposition auszuschlieBen. Jetzt hat Herr
Breuer seine T)rohung wahr gemacht. Allerdings, nicht alle
Mitglieder des Hauptvorstandes sind geschworene Breuerianer.
Aber Herr Breuer versteht es trefflich, die zogernden im ge-
eigneten Moment durch seine fascinierende Persdnlichkeit zu
bezaubern. Heil!
Folgende Kollegen stehen auf der AusschluBliste; Ber-
nard von Brentano, Bert Brecht, Dr. Hermann Budzisiawski,
Dr. Willi Wolfradt, Dr. Max Goering, Werner Turk, Walter
Zadek, Walther Karsch, Otto Corbach, Friedrich Natterbth,
Heinz Ludwig, Sylvia v. Harden, Oscar Ludwig Brandt, Anna
Seghers, Erich Miihsam, David Luschnat, Dr. Bruno Adler, Eva
Melinger, Siegfried Jacoby, Dr. Edith Bone, Siegmund Reis,
Karl Feller, Rudolf Oehring, Maria Leitner, Johannes R.Becher,
Erich Weinert, Olga Halpern, Berta Lask, Karl Griinberg, Paul
Baudisch, Alfred Kurella, Klaus Neukrantz, Lu Marten, Georg
N. Felke, Dr. Felix Pincus-Flattow, Erich Baron, Regina Ruben,
Kurt Klaber, Recha Rotschild, Otto Muller-Glosa, Andor Ga-
bor, Julian Borchardt, Dr. Kate Marcus, Prof. Dr. Alfons Gold-
584 '
schmidt, Ludwig Rennt Wicland Herzfelde, Johannes K,
Koenig.
Wie kam diese hef tige Angelegenheit zustande, wird der
geneigte Lcscr fragen. Das kam so; Von jeher war die Tatig-
keit einer kleinen Gruppe im Hauptvorstand darauf gerichtet,
die Aktionskraft des SDS nach auBen zu lahmen. Die Oppo-
sition forderte; Umwandlung des SDS in eine Gewerkschaft,
damit der Kampf gegen das Unternehmertum zweckvoll gefiihrt
werden kann. Der Vorstand weigerte sich. Er wollte die Sub-
ventionen nicht verlieren. SchlieBIich wurde der Name ,,Ge-
werkschaft deutscher Schriftsteller" in Klammern beigefiigt.
Weiter geschah nichts, Mehrheitsbeschliisse der Mitglieder-
versammlung, die dem Vorstand nicht paBten, wurden einfach
nicht ausgefuhrt.
Die jah ansteigende Not unter den Schriftstellern erweckte
anfangs 1931 neue Oppositionsstromungen unter den Fachgrup-
pen. Man wollte sich die freche Bevormundung durch' die
kleine Gruppe im Hauptvorstand nicht langer gefallen lassen.
In der Jahres-Hauptversammlung am 29. Marz 1931 kommt
es zum off enen Bruch, Am Abend vorher feiert der Haupt-
vorstand mit den auswartigen Delegierten den sechzigsten Ge-
burtstag von Heinrich Mann. Der Prasident der Dichterakade-
mie wird zum Ehrenmitglied des SDS ernannt. In seiner Fest-
rede auf diesem Bankett wiinscht Heinrich Mann: ,,durch die
enge Gemeinschaft der deutschen Schriftsteller eine politische
Macht in dem besondern Sinne erstehen zu sehen, daB wir, wie
immer sonst auch gefarbtt gemeinsam Front machen gegen je-
den Einbruch in die Geistesfreiheit, gegen die Verfinsterung,
die von der Zensur her droht, auch gegen jede Beeintrachti-
gung der wirtschaftlichen Rechte des Schriftstellers." {BT. vom
30. Marz 1931.) Dies alles wiinscht Heinrich Mann in seiner
Geburtstagsfestrede. Zur Verwirklichung seiner Wiinsche hat
er bisher nichts getan.
Gegen Ende der Hauptversammlung vereinigt Herr Doktor
Friedrich aus Bayern in seiner Hand 32 Stimmen, das heiBt die
Vertretung von achthundert Mitgliedern. Er hat sich die Stint
men der inzwischen abgereisten Delegierten iibertragen lassen,
Auch Herr Breuer mit seinen Paladinen hat kraftige Aktien-
pakete von abgereisten Delegierten in Empfang genommen. Die
Herren Breuer und Friedrich sind in der bequemen Lage,
samtliche Antrage, die ihnen nicht passen, niederzustimmen.
Die berliner Delegierten verlassen unter Protest den Saal.
Zahlreiche auswartige Delegationen schlieBen sich den Ber-
linern an. Der SDS scheint sich in Einzelteile aufiosen zu wol-
len. Mit Miihe wird der Bruch zusammengeleimt,
Der Kampf geht weiter. Mittelpunkt des Kampfes wird in
zunehmendem MaBe Berlin. Der Hauptvorstand vermutet die
tatkraftigsten Mitglieder der biirgerlichen Opposition in der
Fachgruppe der freien Pressemitarbeiter. Diese Fachgruppe
wird ausgeschaltet. Durch einen statutenwidrigen Willkiirakt
wird erreicht, daB zahlreiche Mitglieder angeblich ihr Stimm-
recht im SDS eingebuflt haben. Berlin hat inzwischen am
11, Mai seinem Vorstand einstimmig das MiBtrauen ausgespro-
585
chen. Scchs Wochcn spater konnen die Herren cndlich zum
Rticktritt gezwungen werden.
Neuwahl des bcrlincr Vorstandes ist nunmchr in
Sicht: Jakob Schaffner auBert sich zustimmend, schreibt
der Opposition mehrere Briefe, fordert sofortige Einberufung
eixier aufierordentlichen Hauptyersammlung, fordert Abberu-
fung des Hauptvorstandes und des geschaftsfiihrenden Direktors
Werner Schendell. Auf dieser Grundlage wird Jakob Schaff-
ner durch die Opposition im SDS zur Wahl gestellt und von
der Mitgliederversammlung am 29. Juni zum ersten Vorsitzen-
den von Berlin gewahlt. Die Wahl der Beisitzer wird spater
aus formellen Griinden angefochten, so da8 Jakob Schaffner
allein wirken kann, Wie wirkt Jakob Schaffner? Es offen-
bart sich schnelL Als die Pressenotverordnung der Bruning-
regierung erscheint, unterstiitzt der Hauptvorstand nachdriick-
lich den § 1 der Presse-Notverordnung iiber Zwangsveroffent-
lichung. Um den Hauptvorstand fur sein verbandsschadigen-
des Vorgehen zur Rechenschaft zu ziehen, verlangt die Oppo-
sition von ihrem neugewahlten ersten Vorsitzenden die Ein-
berufung einer berliner Gauversammlung. Jakob Schaffner
beruft die Versammlung nicht ein. Jakob Schaffner geht offen
ins Lager des Hauptvorstandes iiber. Die berliner Gauver-
sammlung wird vom Hauptvorstand verhindert, von der Polizei
auseinandergetrieben.
Neues Bild; Im Verbandsorgan ,Der Schriftsteller' erklart
sich Schaffner fur Auflosung der berliner Gaugruppe,
Durch Aufteilung in kleine Griippchen hdfft er, die
,,tatenhungrige und auf Leistung erpichte Menschenart" kalt-
zustellen. Sie sollen ihre Beschaftigung haben, diese unruhigen
Leute, die es sich immer noch nicht abgewohnt haben, fiir Frei-
heit des Schrifttums einzutreten. In kleinen Sondersparten
soil sie sich totlaufen, diese auf Gerechtigkeit und Wahrheit
, .erpichte Menschenart". Jakob Schaffner als Befiirworter der
Zensur hat jetzt seine Wahler geschlossen gegen sich. Nie-
mand erhebt sich zu seiner Verteidigung. Herr Schaffner je-
doch legt nicht etwa sein Amt nieder, sondern beantragt Aus-
schlieBung seiner Wahler aus dem SDS.
Der Hauptvorstand gewahrt ihm die Bitte, obwohl nach
§ 7 der Satzung nur der berliner Gauvorstand iiber den Aus*
schlufi von Mitgliedern BeschluB fasseri kannf erst nach An-
horung des Gauvorstandes der Hauptvorstand. Ober diese Be-
stimmung setzt sich der Hauptvorstand hinweg, er ist Richter
in eigner Sache, ist Angeklagterf Staatsanwalt und Richter zu-
gleich. So vollzieht sich der groteske Unsinn, daB die Ange-
klagten ihre Anklager aburteilen.
Die Opposition im SDS gibt sich ein wirtschaftliches und
berufsflolitisches Programm. Nicht etwa Sowjet-Deutschlahd
ist geplant — denn dreiviertel der Oppositian ist burgerlich —
sondern Sicherung der materiellen und geistigen Unabhangig-
keit aller Schriftsteller. Das schmeckt nicht nach Bolschewis-
mus. Wenn die Herren Breuer und Schendell verbreiten^ fetzt
sei die bblschewistische Zelle aus dem SDS eliminiert, so kon-
nen wir uns mit dieser Lesart nicht einverstanden erklaren.
586
Verbandstechnische Einzelheiten sind unwichtig. Die Sym-
ptome der Zersetzung bewegen die Opposition im Augenblick
nicht, da der Kampl in cin Stadium getreten ist, das* prinzi-
pielle Stellungnahme erfordert. Zum Beispiel wtirde wahrend
der monatelangen Kampfe kcin Gewicht gelegt auf die phan-
tastische Tatsache, dafi der Vcrband 26 800 Mark jahrlich an
Mitgliedsbeitragen einnimmt, wahrend der Geschaftsfiihrer fur
seine Person ein Gehalt von 10 400 Mark jahrlich bezieht. Dies
alles interessiert jetzt nicht mehr.
Die Opposition im SDS — zu dreiviertel aus 'biirgerlichen
Schriftstellern bestehend — wird sich nicht einschiichtern
lassen. Sie bleibt im SDS und kampft ftir die, Grundrechte des
Berufes: Freiheit der MeinungsauBerung, Gerechtigkeit des so-
zialen Urteils, Wahrheit des Wortes. Die Opposition im SDS
hat zu Montag, dem 26, Oktober, die gesamte Presse und die
Offentlichkeit in die Johann-Georg-Sale, Halensee, eingeladen,
damit Vertreter aller Parteien und Richtungen Gelegenheit
haben, die Ziele und die bisher geleistete Arbeit der Oppo-
sition kennenzulernen.
Absicht des Hauptvorstandes ist Spaltung. Unweigerlich
stirbt der SDS , falls es den Herren gelingen sollte, diesen
MassenausschluB zu bewerkstelligen, Sechzig Personen auszu-
stoBen, die kein andres Verbrechen begangen haben, als fiir
Freiheit des Schrifttums einzutreten, das kann sich selbst der
SDS nicht leisten. Ohne die Opposition kann der Verband
nicht leben., Ohne die Herren Breuer und Schendell ganz gewiB,
An einetn Sterbebett von Hanns-Erich Kaminski
Us gibt haBliche Menschen, die im Sterben schon werden. Von
1-1 der Klasse, die gegenwartig in Agonie liegt, kann man das
nicht behaupten. Die Bourgeoisie stirbt tioch schlechter als sie
gelebt hat, Sollte ein kiinf tiger Historiker sie gleich andern
Toten I(verklart'* nennen wollen, wird er viel Phantasie haben
mussen.
Auch die Bourgeoisie hat ihre Pubertatsjahre gehabtt in
denen alle Madchen schon und alle Jiinglinge begabt sind. Da-
mals glaubte sie an den f)Fortschritt'\ und die Voraussetzung
dazu sollte die .jFreiheit'1 sein. Die junge Bourgeoisie war
ganz durchdrungen von der Cberzeugung, man brauche nur
das Spiel der freien Krafte wirken zu lassen, damit alle Gegen-
satze sich von selbst ausglichen und der Tiichtigste sich durch-
setze. In diesem System des idealisierten Egoismus war es
fiir das Gedeihen der Gesamtheit nur notig, der naturlichen
Auslese durch die freie Konkurrenz die juristische Basis zu
geben> So entstand die groBe Errungenschaft der Bourgeoisie:
der Rechtsstaat, in dem vor dem Gesetz alle gleich sind.
Schon sieht er aus, unser Rechtsstaat! Wo sind sie hinf
die heiligen Grundsatze des Liberalismus? Die Bourgeoisie hat
ihr naiv-optimistisches Selbstgeftihl langst verloren, und nun
tritt ihre starkste Eigenschaft hefvor: die Feigheit.
587
Diesc Klasse hat das Lcben kommerzialisiert, sic hat
jeden Mythos, jedcn Heroismus, jedes Opfer aus der Welt ent-
fernt, abcr sic hat nie den Mut gehabt, sich zu sich sclbst zu
bekennen. Sic hat sich stets an glanzenden Liigen und roman-
tischen Bildcrn berauscht, ttFreiheit" gerufen, wenn sic ihr Ge-
schaft, ^Gerechtigkeit", wenn sie ihre Ruhe meinte. Sie hat die
Metapher an die Stelle dcr Realitat, die Phrase an die Stelle
der Tat, das Zitat an die Stelle des Gedankens gesetzt. Immer
gait es ihr als gefahrlich, cine Katze eine Katze zu nennen. All
ihre Liebe gehorte darum auch dem Professional des schonen
Scheins, dem Schauspieler.
Die Wahrheit aber, die sie am wenigsten vcrtragen
konnte, war die, daB am Ende des Lebcns der Tod steht.
Nichts erscheint der Bourgeoisie taktloser und grausamer als
einem Menschen zu sagen, er imisse sterben. Und dabei hat
sic stets eine besondre Vorliebe fur die Euthanasie gchabt!
Wic haben unsre Lehrer uns das Ende des Sokrates einge-
paukt, die Verse der Odyssee, in denen dcr Schattcn Achills
erklart, er mochte licber als Tagelohner leben als die ganze
Schar vermoderter Toten behcrrschen, iibcrschlugen wir dafiir,
selbst den Prinzen von Homburg, der sich yor dem Tod furchtet,
lernten wir verachten, obglcich er doch brand enburgischer
General war.
Die unhcroischste Klasse der Weltgeschichte hat auch den
Tod, grade den Tod, verfalscht und umgelogen. Ihr Ideal hatte
es scin imissen, am Schreibtisch zu sterben, den herabgesunkc-
nen Kopf auf dem Kontobuch, in dem das Haben groficr ist als
das Soil, Statt dessen begcisterten sie sich fur das Ende des
Cyrano von Bergerac t,mit einem guten Wort fur eine gute
Sache'*. Wilhelm II., diese Spitzenlcistung der dcutschen
Bourgeoisie, schrieb an Bismarck^ cr sei bereit, „fechtend auf
den Stufen seines Thrones zu fallen". Vielleicht sah er sich
sogar wirklich schon in der schimmerndeh Uniform dcr Garde
du Corps vor einem mit rotem Samt bezogenen Scsscl den
Sabel schwingen. Spater wolltc eine ganze Generation von
Dam en gleich Hedda Gabler ,,mit Weinlaub im Haar" sterben.
Und wo gibt es einen Stammtisch, an dem jetzt nicht min-
destens einmal wochentlich erklart wird, das deutsche
Volk miissc sich schlimmstcnfalls unter den Trummern
des Reichs begraben? Vermutlich haben wir uns das
so vorzustellen, daB, wenn alles schicf gcgangen ist,
Adolf Hitler sich in die Reichspulverkammer begibt und
einen Feuerbrand hineinschleudcrt, indes in der Wagen-
burg Frauen und Kinder patriotische Lieder singen. Die
Bourgeoisie kennt keinc Ehrfurcht, iiberall findet sie nur Vor-
wande fiir Phrasen und Metaphern. Sclbst die fiirchterlichste
Todcsart des 20. Jahrhunderts, den Tod durch Gas, kilpmeter-
weit vom Feind entfernt, hat diesc Klasse ,,Heldentod" ge-
nannt.
Und nun ist es so weit. Nun muB die Bourgeoisie dem
Tod ins Auge blicken, nun sieht sie, daB cr kalt und hart und
grausam ist und durchaus nicht schon, sondern daB cr meuchle-
risch heranschleicht und daB hintcr ihm das grausige Nichts
588
steht. Der Tod? Ach, dem Einzelnen droht nicht einmal das
physische Ende, nuf die Klasse stirbt. Dem Einzelncn droht
schlimmstenf alls Armut, das Schicksal von Millionen also.
Doch mit einem Schlag sind die heroischen Bilder ver-
schwunden.
Jetzt heifit es: Rette sich wer kann!, urid das einzige Ge-
fuhl, das die Bourgeoisie sich in ihrer Todesangst noch ge-
stattet, ist Mitleid. Mitleid mit wem? Etwa mit den Arbeits-
losen, die vor unsern Augen verhungern? Oder mit den vierzig
Millionen Chinesen, die ertrinken ? Nein, die Bourgeoisie
braucht den groSten Teil ihres Mitleids fur sich selber und
den Rest fur die unehrliche Sentimentalitat, die den Schmuck
ihres Daseins bildete und die sie auch jetzt nicht lassen kann.
In Wien hat einer Schwalben, die nicht rechtzeitig nach dem
Siiden geflogen waren, per FJugzeug an die Adria gebracht.
Wie edelmutig! Es ist fast wie friiher auf Wohltatigkeits-
festen. Schwalben haben keine Fauste, die sie ballen konnten,
sie stehen auch nicht mit anklagenden Blicken voir den
Theatern und Restaurants, uin das Vorgefuhl des Vergniigens
zu beeintrachtigen. Schwalben kann man noch Wohltaten er-
weisen — von Bettlern kann man sich hochstens loskaufen.
Die Bourgeoisie ist kein reiner Tor, der durch Mitleid
wissend wird. Sie zittert vor der Armut, aber selbst die Ar-
mut gilt ihr nicht als absoluter Schrecken. Er ist relativ, je
nach dem, was der Arme friiher bessesen hat. Viel schlimmer
als der Hunger des Wohlfahrtsempfangers ist in ihren Augen
die Notlage des ehemals Reichen, der einen Teil seiner Villa
vermieten, sein Reitpferd verkaufen und sein Hausmadchen
entlassen muB. Millionen Menschen fehlt es am Notdurftig-
sten? Traurig. Aber dafl dieser oder jener die Halfte seiner
Aufsichtsratsposten verloren hat, das ist nicht auszudenken!
Die Jugend Eurbpas ist langst aufgebrochen, urn sich ehr-
lichere, mannlichere Ideale als die ererbten zu suchen. Die
Bourgeoisie jedoch furchtet sich noch auf dem Sterbebett vor
der Wahrheit und noch ihre letzten Worte sind lauter Liigen.
Sie sagt „die Wirtschaft'7 wenn sie die Millionare, sie sagt
^Abbau", wenn sie das Elend der Massen, sie sagt „Komfort'\
wenn sie ihren Luxus, sie sagt „Notverordnung", wehn sie Ge-
walt meint, so wie sie immer Recht statt Macht, Moral statt
Profit gesagt hat. Aus ihrem Rechtsstaat ist langst ihr Beute-
stiick rfeworden, aber sie halt inimer noch f est ah ihrem libe-
ralen Firmenschild. Haben wir eine Diktatur? Beileibe nicht!
Wir haben die Volkssouveranitat, das parlamentafische System
und die Ministerverantwortlichkeit, die Grundrechte der
Staatsbtirger sind gewahrleistet, und der Reichsprasident ist
nur die representative Spitze des Staates.
Wen tauscht die herrschende Klasse eigentlich noch?
Sich selbst! Immer hat sie sich selbst noch mehr als andre be-
logeri, sie beltigt sich auch auf dem Totenbett noch, wah-
rend die Erben schon im Sterbezimmer warten, Aber viel-
leieht hort sie eine Stimme, die ihr wie Richard III. zuruft:
„Traum weiter, traum vofl Tod und Verderben: Du sollst ver^
.zweifeln und verzweifelnd st erben."
589
Doktor Genter in Liibeck von curt zetm
Curt Zeun sendet tins als Mitarbeiter Doktor Genters und
Beauftragter der lubecker Eltern den folgenden Artikel:
In Liibeck soil auf dem Wege des Prozesses die Wahrheit
iiber die Gefahrdung von 254 gefiitterten Kindern, von
denen befeits 76 verstorben sind, offenkundig werden. Die
Welt, 254 Eltern warten auf die Siihne einer Tat, die ihnen
eine Zeit furchtbarer Aufregung und mafilosen Leides war, Sie
kampfen unerbittlich den harten, zweifelhaften Kampf um
Recht und Gerechtigkeit, Es wird sich entscheiden, wieweit
Professor Jastrow der Wahrheit nahe gekommen ist mit seinem
Ausspruch: ^Ich hajte das Reich noch nicht ganz verloren im
Sinne von Recht und Gesetz; der Bogen aber ist zum Zersprin-
gen gespannt." Das Recht, die Medizin, — Arm in Arm! Wer-
den beide sich stiitzen, werden beide, die jetzt vereint am
Abgrunde wandeln, stiirzen?.
Zwischenakt der Geschehnisse in Liibeck bleibt die Hilfe,
die den Kindern und den Eltern wurde und von der der Staat
Liibeck behauptet, er habe alles getan, sie zu gewahren. Dpr
ProzeB soil Klarheit schaff en, Wahrheit bringen. Zum Zwiscnen-
akt gehort die Arbeit des praktischen Arztes Doktor Genter
aus Berlin, der nach Liibeck gerufen wurde. Er iibernahm von
dem Mitangeklagten Professor Doktor Klotz den Toten-
saal des Kinderhospitals, besetzt mit elf Kindern. Den To-
tensaal, den bisher, so sagte Professor Klotz, niemals ein Kind
lebend verlassen hatte. Unter diesen fand Genter drei Kin-
der und legte sich auf sie namentlich festt weil sie nach
seiner Ansicht gerettet werden konnten. Er rettete sie alle
drei,
Eltern brachten ihre Kinder, insgesamt vierzig, die Genter
alle, ohne Ausnahme und ohne sie sich ausziisuchen, behan-
delte, obwohl eine Reihe dieser Kinder ebenfalls als aufgege-
ben bezeichnet war. Er rettete von ihnen 29. Sieben Kinder
wurden spater seiner Behandlung entzogen, vier starben.
Und doch blieb die Wahrheit iiber diese Hilfeleistung
Genters bis heute verborgen. Wird der ProzeB diese Wahrheit
enthiillen? Werden die eingeleiteten Disziplinarverfahren ge-
gen die Verantwortlichen, gegen die Genter und seiner Be-
handlungsart feindlichen Beamten, Klarheit bringen?
Recht, Wahrheit, Objektivitat, sollen alle diese Begriffe
nur Begriffe sein? Es mochte so scheinen, wenn man den nach-
stehenden Briefwechsel aufmerksam verfolgt.
*
Berlin- Wilmersdorf, den 13. Juni 1931
■ An den Prasidenten des Reichsgesundheitsrates
Herrn Reichsminister des Innern Dr. Wirth
Herr President, Herr Reichsminister!
Unter Stiitzung auf Artikel 126 und Artikel 118 der Verfassung
des Deutschen Reiches- ersuche ich Sie, in Ihrer Eigenschaft als Pra-
sident der angeschriebenen Korperschaft und als Gesundheitsminister,
den unzweifelhaft unrichtigen BeschluB in Sachen Dr. Genter und
Liibeck, wie er in der Sitzung des Reichsgesundheitsrates vom De~
zember 1930 gefallt worden ist, einer Nachprufung zu unterziehen,
590
Das Unterlagenmaterial fur diesen BeschluB ist dem Reichsge-
sundheitsrat durch das Gcsundheitsamt in Lubeck geliefert worden.
Als Beweis dafur dient mir das fotgende Schreiben:
Der President d. Reichsges.Amtes Berlin, den 16, 12. 1930
Nr. IV. 1188/30
An das Gesundheitsamt der freien und Hansestadt
Lubeck
Die mit dem gefl. Schreiben vom 29. November 1930, Tgb.-Nr. 1641,
dem Reichsgesundheitsamt iibersandten Schriftstiicke sind von mir im
AnschluB an die Reichsgesundheitsratsitzung am 12. Dezember 1930
den bei der vorerwahnten Sitzung anwesenden, fiir die Beurteilung der
Frage in Betracht kommenden Sachverstandigen des Reichsgesund-
heitsrates zur Stellungnahme vorgelegt werden. Nach einer sehr ein-
gehenden Aussprache ist von diesen Sachverstandigen des Reichs-
gesundheitsrates einstimmig folgende EntschlieBung gefaBt worden:
„Auf Grund der Berichte iiber die klmischen und pathologisch-anato-
mischen Befunde bei Kindern, die mit Antiphthisin behandelt wordea
sind, konnen die angehorten Sachverstandigen des Reichsgesundheits-
rates dem Staate Lubeck eine weitere Forderung der Tatigkeit des
Herrn Dr. Genter nicht empfehlen." Die Sachverstandigen des
Reichsgesundheitsrates haben mich ermachtigt, dem Gesundheitsamte
der freien und Hansestadt Lubeck von dieser EntschlieBung Kenntnis
zu geben.
In Vertretung: gez. Haendel.
DaB aber eine Korperschaft, wie der Reichsgesundheitsrat, unter
Ihrem Presidium auf Grund des Materials des Gesundheitsamtes in
Lubeck, einer Stelle, die an der Katastrophe die unzweifelhafte Mit-
schuld, wenn nicht die Alleinschuld, tragt, einen solchen BeschluB
fassen konnte, ist mir genugender Beweis, dafi die Behauptungen des
Abgeordneten Dr. Solmitz, die unwidersprochen blieben, in Lubeck,
Biirgerschaftsprotokoll .vom 18. 7. 30, Seite 468, sich vermeintlich auf
Wahrheiten stiitzen.
Dr. Solmitz sagt: n Nicht nur ich allein, sondern auch viele
Kollegen, mit denen ich daruber gesprochen habe, stehen unter dem
zwingenden Eindruck, dafi dieser Geist arztlicher Standessolidaritat
sich bis ins Reichsgesundheitsamt, das die Untersuchung zu ftihren
hat, hinein ausgedehnt hat."
Bisher war es in der Rechtspflege D cuts chl and s tiblich, dafi sich
der ()Angeklagte" zur Anklage auBerte. Niemals ist meines Wissens
dem Angeklagten diese Moglichkeit bisher versagt worden.
Das Reichsministerium des Innern, das Reichsgesundheitsamt und
der Reichsgesundheitsrat scheinen aber vollig neue Wege zu gehen,
und zwar Wege, die einer berechtigten Kritik bediirf en . . .
1, Das Reichsgesundheitsamt pruft 1924/25 das Genter-Mittel im
Reihenversuch an Tieren.
2. Das Reichsgesundheitsamt findet am Genter-Mittel etwas Posi-
tives, wie Professor Ludwig Lange in seinem Schreiben vom 12. 5. 30
an Herrn Professor U. Friedmann feststellt, indem er sagt: „Sehr ver-
ehrter Herr Kollege! Sehr gerne erfulle ich Ihre Bitte vom 9. d. M.
Das Praparat Antiphthisin wurde vor einigen Jahren von mir zur
Orientierung des Reichsgesundheitsamtes an Meerschweinchen gepruft.
Die Versuche haben ergeben, daB 1. das Praparat fur die Tiere auch
in Dosen, die, auf das Korpergewicht berechnet, ein Vielfaches der
beim Menschen zur Verwendung kommenden Menge betrugen, gut ver-
tragen wurde, — 2. eine spezifische Schutz- und Heilwirkung gegen die
Tuberkulose zwar nicht festgestellt werden konnte, — 3. jedoch eine
deutliche Resistenzerhohung bei den behandelten Tieren auftrat, die
sich in einer Lebensverlangerung um 4 bis 6 Wochen gegenuber den
8 591
Kontrollen sowie in einer auffallend starken Gewichtszunahme
auBerte. — Das Mittel hatte nach .meinen Erfahrungen somit zwar
keine spezifische Wirkung aufgewiesen, aber zu einer unverkennbaren
giinstigen Beeinflussung des Allgemeinzustandes der Tiere geftihrt, die
beachtlich erscheint. Wenn ich auch tiber seine Wirksamkeit beim
Menschen kein Urteil abgeben kann, so wiirde sich m. £. nach den
Ergebnissen der Txerversuche eine klinische Uberpriifung des Mittels
wegen der ihm zukommenden giinstigen Wirkungcn auf den Allgemein-
zustand wohl verlohnen."
Dem Reichsgesundheitsamt aber war es vorbehalten, das positiv
Gefundene zu verschweigen, denn die zugesagte Veroffentlichung
wurde wegen eines angeblichen, bisher nicht nachgewiesenen Wort-
bruches des Dr. Genter unterlassen,
3. Das Reichsgesundheitsamt bemuhte sich, nachdem die Sache
von mir erneut aufgegrif fen wurde, fur die klinische Oberprtifung.
4. Das Reichsgesundheitsamt gibt nach Lubeck, auf Grund der
Anfrage des Gesundheitsamtes in Ltibeck Auskunft, die fur Lubeck
und die Eltern die Berufung Genters angezeigt erscheinen laBt,
5. Das Reichsgesundheitsamt erhalt von Lubeck, und zwar vom
Gesundheitsamt, mit Schreiben vom 29. 11, 30, Tgb.-Nr. 1641, Unter-
lagen uber die Behandlung des Dr. Genter in Lubeck geliefert.
Die Lieferung dieser zu 5. genannten Unterlagen erfolgt von der
Behorde, die in leichtfertiger Weise Reklame fur das Verfahren Cal-
mette machte, falsche Behauptungen zur Erreichung dieses Zieles auf-
stellte und damit die Eltern, die urn jeden Preis gewonnen werden
muBten, tauschte und irrefiihrte, um eigne Ziele, ohne vorsichtige
Wahl der Mittel in ausgesprochener Schadigung der Gesamtheit zu
erreichen.
Die gelieferten Unterlagen wurden widerspruchslos als allein
richtig und seligmachend anerkannt, obwohl dem Reichsgesundheits-
amt bekannt war, mit welchem HaB Genter von den Arzten und der
Behorde in Lubeck verfolgt wurde. Er wurde gehaBt und verfolgt
und uber Gebiihr verleumdet, grade weil er Erfolge hatte, denn vor-
her hatte sich ja die Gesamtwissenschaft in Deutschland zu der Er-
klarung genotigt gesehen: „Es gibt kein Mittelf um diesem furchtbaren
Kindersterben in Lubeck Einhalt zu gebieten."
Man versagte dem „Angeklagten" Genter, obwohl man vorher
durch die Presse hatte erklaren lassen, Dr, Genter wird vor ein wis-
senschaftliches Forum beim Reichsrfesundheitsamt geladen, bewuBt und
anscheinend absichtlich jede Moglichkeit der Aufierung zu den ge-
lieferten Unterlagen. Und selbst wenn diese Unterlagen Falschungen
dargestellt hatten, so wurden sie, beim Gauge der Sache und der
Untersuchung mit nachfolgender Gerichtssitzung durch den Reichs-
gesundheitsrat, menials als Falschungen erkannt worden sein.
Das Reichsgesundheitsamt, der Reichsgesundheitsrat und das
Reichsministerium des Innern saBen also in Abwesenheit des „An-
geklagten", ohne diesen zu benachrichtigen, zu Gericht und be-
dienten sich dabei Beweisunterlagen gegen den MAngeklagten"
und fur seine angebliche Unfahigkeit, die der Mitschuldige
am Tode von 76 Kindern lief erte, der, weil befangen, eigentlich hatte
abgelehnt werden miissen^ Der Vertreter, der diese Unterlagen lie-
fernden Behorde gibt selbst uber diese Gerichtssitzung folgende zy-
, nische AuBerung: „Dort brachten wir es endlich so weit, dafi wir die-
sen Mann loswurden."
Der Reichsgesundheitsrat lieB sich diese Unterlagen sogar noch
vortragen durch den Direktor des Reichsgesundheitsamtes, Prof,
Dr, Haendel, der im Falle Genter vollig befangen ist und unbedingt
hatte abgelehnt werden miissen. Zum Beweis der Befangenheit des
Prof. Haendel, der das Schreiben vom 16, 12, 30 auch noch unter-
zeichnete, verweise ich auf meinen f,Offenen Brief" an Herrn Professor
592
Dr, Haendel, Direktor des Reichsgesundheitsamtes in Berlin, abge-
druckt in der .Medizinalpolitischen Rundschau', Oktoberheft 1930, der
auch Ihnen, Herr Minister zugesandt worden ist und worin ich be-
weise, daB Professor Haendel, entsprechend Artikel 131 der Verf as-
sung des Deutschen Reicbes seine Rechte als Beamter groblich und
fahrlassig miBbraucht hat.
Professor Dr. Haendel hat, wie die Presse meldete, in einer
Pressekonferenz vom 5, 7. 30, namens und im Auftrage des Herrn
Reichsministers Dr, Wirth erklart: „Dr Center ist in Liibeck aufge-
taucht, von Niemanden gerufen, sein Mittel Antiphthisin ist leider
nicht sehr ernst zu nehmen. Erfolge sind leider nicht vorhanden."
Ich habe dazu mit Schreiben vom 6. 1. 30 an das Reichsgesund-
heitsamt, das auch Ihnen Herr Minister zugegangen ist, bewiesen, daB
die Erklarung vollig unrichtig ist und habe die Richtigstellung ge-
fordert. Die Eltern in Liibeck haben gegen diese Haendelsche Er-
klarung in aller Offentlichkeit, namlich in der liibecker Gesamtpresse,
in scharfster Weise Stellung genommen ...
Herr Minister! Dr. Genter ist Erfinder eines Heilmittets, Forscher
auf dem Gebiete der Tuberkulosebekampfung, Wenngleich er die
alten ausgetretehen Wege der Forschung verlassen hat, fand er doch
ein Mittel, mit dem er seit siebzehn Jahren sehr viele groBe Erfolge
erzielte, Auch Ihnen durften diese Erfolge nicht verschlossen ge-
blieben sein; sie hatten Ihnen aber augenfallig werden miissen in
Liibeck, denn Ihr Ministerium ist ja zugleich Gesundheitsministerium,
und sie hatten Ihnen scharfste und sachlichste Prufung zur Pflicht
raachen miissen, wenn Sie, wie die Verfassung es Ihnen zur Pflicht
macht, dem Erfinder Schutz gewahren wollen,
Oder glauben Sie, Herr Minister, daB die Eltern in Liibeck nur
Genter zu Liebe sich gegen Ihren Beamten, den Professor Haendel,
in der Offentlichkeit wenden. Glauben Sie, dafl es den Eltern Freude
macht, sich mit besonderen Schreiben an Sie zu» wenden und Hilfe zu-
gunsten des Dr, Genter zii erbitten, wie dies geschehen ist unterm
9, 11, 30 in Form einer zweiten Vertrauenskundgebung fur Genter und
unterm 28, 11, 30 in Form einer begriindeten Beschwerde an Sie,
Was tat denn Genter eigentlich so Furchtbares, daB man heute
seitens der Behorde und der Medizin mit Steinen nach ihm wirft? . . .
Er tat, gestiitzt auf Artikel 163 der Verfassung, seine Pflicht . . .
zur Wiederherstellung der Gesundheit vergifteter Kinder in Liibeck,
die infolge eines unerkannten Versehens der hohen Wissenschaft als
Opferlammer fiir den Tod bereitstanden.
Dr, Genter half also in Liibeck, eine groBe Anzahl Kinder den
Armen des Todes entreiBen, weil diese von andern Arzten bereits als
restlos verloren auf gegeben waren. War das die Schuld Genters, daB
er die Kinder nicht sterben lieB, daB er sie durch sein Mittel rettete;
daB er damit MiBachtung der Kathederwissenschaft der Medizin, aber
groBte Achtung dem Leben bezeigte?
Herr Minister, alle diese Tatsachen konnen Ihnen nicht unbe-
kannt sein, Es kann Ihnen auch nicht unbekannt sein, daB Ihr Herr
Ministerkollege in Liibeck, der Senator Mehrlein, auf eine Anfrage
des Abgeordneten Bannemann (Nat,-Soz.) in Liibeck, 2. Sitzung vom
9. 3, 31, wie folgt geantwortet hat: „Ich habe vorhin vergessen, diese
Summe zu erwahnen, und ich will gleich dariiber Auskunft geben,
weil sie sehr schmerzlich ist, Dr, Genter ist seinerzeit auf Wunsch
der Eltern von Berlin hierhergeholt worden, Er hatte in Berlin eine
kleine Praxis -und hat, wie wir nachtraglich festgestellt haben, das
Mittel Antiphthisin erfunden, ein Mittel, das vom Reichsgesundheits-
amt als unschadlich, vielleicht auch lebensverlangernd bezeichnet
wurde. Besser ware es gewesen, es ware vollig abgelehnt worden.
Von den Eltern haben sich leider eine groBe Anzahl auf diesen
Mann furchtbar verbissen und ihn fiir einen Wundertater gehalten.
593
Seine Behandlung war cine solche, die man als Laie fiberhaupt nicht
verstehen kann. Das Kind wurde taglich im GesaB geimpft, und zwar
erhielt jedes Kind mindestens 100 Sprit zen, wodurch die Heilung ein-
treten sollte. Wir haben uns dagegen gewandt, indem wir das lfibeck-
hamburger Konsilium der Arzte gegen Genter und sein Verfahren an-
gingen. Das sagte aber, wenn das Reichsgesundheitsamt das Mittel so
bezeichnet, wie es gesehehen war, konnte man nichts dagegen machen.
Wir sind dann weiter gegangen. Als Genter erklarte, er musse min-
destens nocb 40 Sprit zen den armen Sauglingen geben, im ganzen also
140 Spritzen, haben wir uns an das Reichsgesundheitsamt gewandt.
Dieses aber wartete erst die Sitzung des Reichsgesundheitsrates am
17. Dezember v. J, ab. Dort brachten wir es endlich so weit, daB wir
den Mann los wurden, indem wir ein Gutachten gegen das Verfahren
Genters erzielten. So ist er im Januar von uns gegangen. Dr. Gen-
ter hat insgesamt 48 850 RM. bekommen. Es ist ein direkter Skandal,
daB dieser Mann, gestfitzt auf viele Eltern, die heute noch teilweise
auf ihn schworen, mit diesem Betrage fiber den Harz gegangen ist/'
Das aber erklarte derselbe Minister, dem die Eltern in einer Be-
sprechung am 8. 12. 30 im Gesundheitsamt in Lubeck die Erfolge
Genters und die MiBgunst und gehassigen von Neid erfullten AuBe-
rungen einzelner lubecker Arzte berichteten. Derselbe Minister, der
dem Vernehmen nach zum Ausdruck gebracbt hat, daB er, falls er
selbst ein Calmette-Kind hatte, es wahrscheinlich bei den Erfolgen
Genters auch von diesem wurde behandeln lassen. Derselbe Minister,
der, sobald sich Anklagen gegen ihn selbst richten, sich als blutiger
Laie bezeichnete, spielt sich in seiner Erklarung plotzlich als Sach-
verstandiger gegen Genter auf.
Und weiter, kann Ihnen, Herr Minister, nicht unbekannt geblie-
ben sein, daB die Eltern in Lubeck Dr. Genter am 13. 4. 1931 erneut
nach Lubeck berufen haben und das Gesundheitsamt darum angingen,
daB es die Kosten 4er Behandlung durch Dr. Genter ubernehmen
sollte... Das Gesundheitsamt in Lubeck hat die Kostentibernahme
abgelehnt und soil damit dem Vernehmen nach erneut erhebliche Un-
ruhe in die beteiligten Kreise getragen haben.
In der Ablehnung aber vom 19. 5. 31, Tgb.-Nr. 1077, beruft sich
das Gesundheitsamt in Lubeck auf das Werturteil des Reichsgesund-
heitsamtes und -rates, niedergelegt im Schreiben vom 16. 12. 30, IV
1188/30, das, wie ich bewiesen habe und in einem Straf- oder Zivil-
prozeB gegen mtch beweisen werde, vdllig falsch ist, da Genters Mit-
tel einwandfrei, auch das stelle ich unter Beweis, Tuberkulose aus-
heilt und sogar in den Vergiftungsfallen m Lubeck ausgeheilt hat.
Meines Wissens hat sich selbst einer der riihrigsten Sachverstan-
digen des Reichsgesundheitsrates im lubecker Ungliick als vollig ohne
Sachkenntnis bezeichnet und diese Erklarung beim Untersuchungs-
richter zu den Akten gegeben. Da dieser Sachverstandige der Ab-
geordnete Dr. Moses sein soil, frage ich, ob dieser Sachverstandige,
den die Eltern in einer Versammlung in Lubeck fiber die Unglucks-
ursachen nicht zum SchluBwort kommen liefien und ihn ablehnten,
beim Beschlusse gegen Genter ebenfalls mitgewirkt hat . . .
Die Hauptschuld trifft aber unstreitig die Sachverstandigen des
Reichsgesundheitsrates, die an der Beseitigung der entstandenen
Schaden mitarbeiten soil ten und die in einer Sitzung auf Grund zwei-
felhaften Materials, geliefert vom Mitschuldigen an der Katastrophe,
der obendrein noch erheblich gegen Genter eingestellt war, ein leicht-
fertiges Urteil fiber ein Verfahren fallten und damit die Todeskurve
in Lubeck vergrofierten ...
Herr Prasident, Herr Minister, ich zitiere zum Fall Genter und
zum Verhalten der arztlichen Kollegen Genter gegeniiber, Herrn Pro-
fessor Dn His, der sagte; „Von alien dunklen Ehrenmannern wird
dem Arztestand auch nicht einer geschenkt, denn sie alle, und wehn
594
sie auch noch so unfahig waren, werden Arzte, denn mit der Moglich-
keit, dafl sie in der Staatsprufung durchfallen konnten, ist nicht zu
rechnen" , , ,
Ich erwarte Ihre Stellungnahme als President der angeschriebe-
ncn Korperschaft, als Gcsundheits- und Verfassungsminister, und er-
bitte diese Stellungnahme mdglichst umgehend, Zur personlichen Be-
sprechung und zur Beweisfufarung mit dem im Laufe von zwolf Mo-
nateri in Liibeck gesammelten Material stehe ich zur Verfiigung, wie
ich mich auch zur gerichtlichen Verfolgung und Beweisfiihrung be-
reit halte . . , gez. Curt Zeun
*
Au! diesen Brief antwortete das Reichsministerium des Innern
nach einer Mahnung, datiert vom 28. Juli, am 7. August mit dem fol-
genden Schreiben:
An Herrn Curt Zeun in Berlin- Wilmersdorf
Auf das gefallige Schreiben vom 28, Juli
1931, betrelfend Heilverfahren des Dr. Center,
Im Hinblick auf Form und Inhalt Hires Schreibens vom
13, Juni 1931 mufi ich leider davon absehen, in eine Ausein-
andersetzung mit den darin enthaltenen Darlegungen einzu-
treten,
Im Auftrag
gez. Dr. Dammann.
Beglaubigt
StempeL gez. Unterschrift.
Ministerialkanzleisekretar,
*
Acht Monate schwerster Arbeit und taglichen Ringens
brachten Genter bei seiner Riickkehr nach Berlin:
Sperrung seiner durch einen Vertreter in Berlin verdienten
und angeforderten Kassenbeziige, Kampf des Ortskranken-
kassenverbandes,
Kampf der Standesorganisation der Arzte in Berlin, weil er
entgegen den Ergebnissen der offiziellen Wissenschaft ein
Mittel zu haben glaubte, das diesem furchtbaren Kinder-
sterben in Liibeck Einhalt gebieten konnte und das sich
im Laufe von etwa zwanzig Jahren in seiner Praxis be-
wahrt hatte,
Zahlungsverzogerung der ihm zustehenden Gebuhren,
Verweigerung der Bezahlung seines eignen in Liibeck ange-
wandten Mittels,
Prozesse uber Prozesse, die durch das Armenrecht und die
Notverordnungen ins Endlose' verzogert werden,
Ruin seiner Praxis in Berlin infolge seiner acht Monate wiih-
renden Abwesenheit,
Wirtschaftlichen Ruin, weil Glaubiger drangen und nicht
verstehen wollen, daB er genau so arm von Liibeck zu-
ruckgekehrt ist, wie er nach Liibeck ging.
Sieht Recht und Gerechtigkeit so aus? Wir wollen war-
ten, denn schliefllich wurden andre Menschenhelfer und groBe
Wissenschaftler ebenso begeifert, und doch wurde ihnen spa-
ter Genugtuung,
595
Harden von Walter Metering
In einer langen Reihe von Jahren hat er wieder
und wieder seine groBen Fahigkeiten, seine ehrgeizige
Willenskraft eingesetzt, um der Wahrheit zu dienen; daB
er in gleich langer Zeit Unrecht und Obermut verfolgt
hat — und das nicht immer unter gefahrlosen Umstanden
— das kann nur vollige Parteilichkeit verneinen, Der-
selbe Knabe, der mit dreizehn Jahren entwich, um seinen
I deal en nachzulaufen, hat sich als Mann aus Liebe zu
seinen Idealen ins Gefangnis, in Verkennung und HaB
von Hunderten geschrieben. Er hat das Zeug zu einem
Helden. Seiner t)berzeugung wegen konnte er den Schei-
terhaufen besteigen. Moge er vielleicht auch dabei sich
selbst neben sich sehen, er bestiege ihnl
Bjornstjerne Bjbrnson iiber Maximilian Harden
Oberall richteten sich solche Attentate, fast immer,
gegen solche, die man fur schadlich in Ausubung der
Macht hielt. Ich hatte keine Macht als die, die mir
raein biBchen Verstand und FleiC gab. Ich HeB ein
kleines braunes Heft erscheinen, fiir das keine Reklame
gemacht wurde ♦ . , Und trotzdem mufite ich niederge-
schlagen werden in der barbarischsten Weise,
Harden im ProzeB gegen seine Attentater
pjcn siebzigsten Geburtstag, den hundertsten Todestag ihrcr
Helden und Heiligen zu feiern, gehorte zum festeri Kult-
programm des biirgerlichen Rituals. Zum ersten Mai, vor dem
nahenden Goethejahr, zeigt man auch hier Unsicherheit, scheut
man es, allzulaut den Namen des groBten Geistes zu nennen,
den man immer anrief, wenn Riistungsindustrie, Kasernentum
und das nJuda-verrecke*'-Gebriill das Deutschtum in MiBkre-
dit brachten, Wie man den Luxus cachiert, so tarnt man die
Individuality! Geld und Individuum glauben sie, weil bei-
des ihnen stets untrennbar schten, zugleich zum Untergang
verurteilt. Und tatsachlich wird beides entwertet, nicht aber
wie man getraumt hatte: durch Oberwindung, sondern durch
Inflation. Der tausendmal in Ton und Bild vervielfaltigte
Mahatma verliert ah Raritatsschatzung. Nicht rasch genug kann
die Prominentenpresse neue GroBen nachdrucken. Kein Goethe
laBt sich augenblicklich stabilisieren. Wirft man den Namen
Harden in der Debatte, es werden nur wenige hinhoren —
und von den Wenigen die Mehrzahl peinlich beriihrt.
In Frankreich wiirde eine ganze Literatur iiber ihn er-
scheinen, in RuBland wiirde man vielleicht eine Gesamtaus-
gabe seiner Schriften verbieten, dpch haufig daraus zitieren,
Zu untersucheh, ob Einer rechtmafiig oder zu Unrecht in Ver-
gessenheit geriet, ist nur dialektische Spieler ei. Harden aber
ist gar nicht vergessen, sondern einstimmig zum Totgeschwie-
gensein verurteilt worden,
Denn der HaB gegen ihh, scheint noch selir lebendig, so
lebendig wie in der Nekrologpolemik zu seinem Exiltod,
Fragt nach dem Grund! Jeder wird die Argumente aus
dem Gedachtnis aufsagen: Harden, dieser getaufte Jude und
Antisemit! Der wildeste Expansionspolitiker bis in denKrieg
und Inspirator der Wilsonpunkte spater! Denunziant des Hof-
klatsches! Bismarckianer, Antidreyfusard und Leninverehrer!
5%
Fur jeden, der im Schlagwortkampf dieser Epochc stand,
muB ja Harden das Plakatbild des Vercins zur Bekampfung
von Charakterlosigkeiten scin!
Aber scit wann diese Feinfiihligkeit?
Es soil Weseri geben, Objcktc fast totemistischcr Ver-
ehrung, die den Eid auf die Republik und das Treugelobnis
zum Monarchen zugleich ablegten! Chauvinisten, die An-
naherungsbanketten prasidieren! WeiBgardisten, die im Sow-
jetdienst den in Ungnade gefallenen Bolschewisten verhaften!
Prasidenten der Republik, die acht Wochen nach der Macht-
ergreifung, ihre Heifer als Landesverrater einkerkern!
Viel dreisterer Gesinnungsumschwung ist Andern verziehen,
ja zur Ehre angerechnet worden! Wie Harden ihn vollzog.
war es stets die unpopularste Taktik, mit dem einzigen Ziele:
zu entlarven. Priift man den AnlaB seiner Wandlungen histo-
risch nach, das ergibt sich klar: nie hat er um auBerer Vor-
teile willen, nie aus Bequemlichkeit seine Oberzeugung ge-
wechselt! Zu seinen Ausbriichen oft maBIosen Zornes trieb
ihn die stets gleiche Feindschaft, Von alien Seiten berannte
er das wilhelminische Unheil-System, aus alien Gedankengan-
gen: den feudalistischen wie sozialistischen heraus enthiillte
er die Briichigkeit. Wie muBte er im Parvenudeutschland
des Griinderpliisches, dem jede satirische Regung und' noch
mehr das Pamphlet wesensfremd war, miBverstanden werden.
DaB man ihn miBverstand, hat sich am AbschluB seiner Kar-
riere herausgestellt. Erst als man das begriff, hat man ihn
verfemt.
Und doch hat dieser Abkommling aus einer guten Biir-
^ersfamilie sich eine Machtposition erschrieben wie sonst kein
deutscher Publizist vor oder nach ihm, mit solchem Furor, so
sturmender Besessenheit gegen das Regime, daB er zur Ver-
folgung ihm nachsprang, als es zusammenkrachte:
Im Deutschen Reich gehen jetzt seltsamc Gespenstcr um. Dieses
kunstvoll und kiinstlich gefugte Reich hat eine nach neuestem Stil
modisch verputzte Fassade, die der Geschmacksrichtung der meisten
Mieter entspricht, der demokratischen Massen, die alle Gelasse und
Keller des neuen Gebaudes mit wirrem Gewimmel erftillen; im ersten
Stock aber wohnen feudale Herren, die, weil sie ihrer Herrlichkeit die
Gotterdammerung heraufziehen sehen, mit ^erloschender Kraft noch
gewalttatig sich bemtihen, die Sitten und Brauche des Feudalismus
auch in veranderter Zeit zu bewahren.
So sah er es im Beginn der Zukunft, als jeder Zweifel an
der Haltbarkeit der Wacht am Rhein das Hirngespinst eines
Verriickten schien.
Und so im letzten Jahrgang dieser Zukunft, als jeder
Zweifler am Bestand der Republik von den „Sozis" zum poli-
tischen Kindskopf gestempelt wurde:
Paraden, Proteste, Unschuldsbeteuerung, Steuerbirsch, Streit um
die Ziffer der Reparierpflicht, Schnorrerei, Schimpferet; kein Halm
erwachst daraus dem Acker der Deutschen Republik. Die hat sich,
weil ihre Phantasie, Geist, Schwung, Mut fehlt, weil sie schlecht ver-
walteti schleimig grau, zum Spielen verlogen und zum Heulen lang-
weilig ist, rurgends das Empfinden des Volkes, gar seiner Jugend zu
*robern vermocht.
597
Die Herren Fachleute fur Republikwesen und Verwandtes
waren weit erhaben iiber solchem Geschwatz eines altcn Nar-
ren aus dem Gruriewald, dcr schon von jeher gestankert hatte,
nie an eincm Kommers von Parteifiihrern tcilgenommen hatte.
Zwolf Jahre blieben sic erhabcn, protestierend, Unschuld-
beteuernd. schnorrend und schimpfend; dcr Acker ist zur
Dauerbranche versandet; in den Septemberwahleri ging zum
zweiten Mai die prophezcitc Herrlichkeit zuschanden. Glaubt
Ihr, sie gaben heute Harden Rccht? Im Gegentcil! Schuld
an dem Untergang tragt dcr, der diese Unschuldslammer Ham-
mel nannte,
In Friedrichsruh, bcim Altrcichskanzlcr, der so das Ver-
sohnungsgeschenk des jungen Kaisers verhohnte, hatte der
Dreiunddreifiigjahrige die historische Flasche Wcin mitgetrun-
ken und sich damit furs Lebcn bcrauscht. Fast drci Jahre
vorher, am 1. Oktober 1892, war die Zukunft erschienen; ein
Gedicht von Liliencron, ein Brief von Strindbergt zwei Bei-
trage des jungen Herausgebers. Ein Interview des Erzbischofs-
von Stablewski iiber die Polenpolitik, die sich spater in Ver-
sailles so bitter geracht hat. Ein Angriff auf das Ronacher-
theater und eine kurze Erklarung in eigner Sachc: er wehrt
sich gegen die erste Verleumdung, ein bezahltes Subjekt Bis-
marcks zu sein.
Wenn die Presse sonst kein Unheil anrichtete, wenn sie nur mich
verleumdete, mich totzuschweigen und totzuheulen abwechselnd ver-
suchte, nicht einen Federstrich setzte ich deshalb an, Weil sie aher
in Berlin ihr grofies Farbemagazin, ihren Falscherstempel errichtet
hat, weil sie ein Millionenvolk verderbt und verdummt, deshalb nur
bestreite ich hier diesen neuen Bel und ktinde ihm Fehde, ohne Er-
barmen, und rufe, so laut, wie der Falscherchor zwingt; Glaubt
ihnen nicht
Von hier nimmt cr seinen Anlauf zu einer einzigen Attacke
sein ganzes Leben durch gegen die Hohenzollernburg, dies
antiquierte, modrigc Symbol des Feudalismus, wo man sich
mit Eulenburg-Gstanzln und Ballett-tanzenden Kriegsministern
iiber die Weltkriegsvorbereitungen der Schwerindustrie hin-
wegamusiert. Harden, nihilistischer Publizist aus der Schule
Nietzsches, den cr oft widerlegt, ist so von ahnungsvollem
Grauen angefullt, so aflgewidert von dem falschcn Glanz und
Wohlstand, daB er nur eins kennt: um jeden Prcis allein stehen.
Er bekampft die deutschen Dreyfusards, nur um nicht in Ein-
heitsfront mit ihncn zu geraten. Er gibt sich judenfeindUch,
um den Beifall des Geheimratsviertels abzudrosseln, Er iiber-
lastet seinen Stil mit Da ten, Flo skein, Andeutungen, nur um
es seinen Lesern schwer zu machen. Im Mai 1914, vor alien,
blast er die Kriegs fanfare und warnt:
Grunzet nicht, wahrend Italiens Jugend wider Oesterreich tobt,
die Tripleentente' gleiche der korperlos schillernden Scifenblase, der
Dreibund dreifach gehartetem. Erz. Zaumet die Zunge! In diesem
Sommer wird Schicksall
Im Februar 1916 schlagt er um:
England droht die Revolution und der Verlust Indiens.,, Off net,
Franzosen und Deutsche, die Augen und lasset Euch nicht von Eng*
lands Reptilien tauschen; nur die Selbstsucht der Briten wunscht^
598
daB Ihr immcr tiefcr Euch in Hafi und Feindschaft widereinander
einbohret , . , den Europaerblocfc kann nur das Bundnis Frankreichs
mit Deutschland schaffen
Die liebenberger Kamarilla, die hofisch-dekadente, konnte
er sprengen, einzig durch die Scharfe seines Intellekts. Beim
ersten Ansturm lieB Wilhelm seinen heiBgeliebten Phili fallen.
Der andern, der Feme des Nachkriegs, fiel er selbst zum
Opfer — in den Monaten vorher immer wieder gewarnt —
Feigheit, auch nur Vorsicht ist nie seine Art gewesen! Zum
Opfer dem bar bezahlten Idealismus zweier Deutschlandretter,
die nie eine Zjeile von ihm gelesen hatten. Die Zukunft war
hin. Denn die nun sein Gegner war en, lasen nicht mehr! Nur
das Ausland: Amerika und Holland horte noch seine Zeitkriti-
ken. In Holland, am Strande von Nordwyk, begegnet er dem
Erlauchten Ex-Landesvater, Mfltichtig dem Gefltichteten" und
bricht in schallendes Gelachter aus. In der Schweiz, in volli-
ger Einsamkeit, trifft ihn der fast von ihm provozierte Tod.
ft
Ein Schauspieler. Als das begann er; das Theater hat
er mehr geliebt, inbrunstiger studiert als Alles andre; Theater
im Leben wurde ihm vorgeworfen; und war doch nur Verken-
nung seines auBerordentlichen Lebensstils, seiner fjru*.~n-
endeten Beherrschtheit. Deutsch sprach er mit der Gef f1 ;.
heit eines Lateiners; durchsetzt von ironischen Berlini^^
es klang wie Franzosisc^ weil uns Diktion ungewohnl ist.
Welch ein Redner! Nie hat es in Deutschland eine cratorische
Begabung dieser Art gegeben; er schien, wenn er in math^-
matisch exakten Satzen begann, sich nur fur seine Glace-
handschuhe zu interessieren, um plotzlich die Versammlung
hochzureiBen bis in* die fernsten WinkeL Seine herrlichste
erschutterndste Rede, im ProzeB gegen seine Mordert der ein
ProzeB gegen ihn war, hat niemand vom Gerichtshof mehr
kapiert. Nur eins begriffen sie in ihrer Stumpfheit: der Jude
Harden spricht! Das war nicht seine Waffengattung! Die
Welt seiner Feinde hatte er vernichtet; und sich mit ihr!
Charakterdeutung als Wissenschaft
von Rudolf Arnheim
H
T\ och soil nun keineswegs die Wissenschaftlichkeit jener
*^ illegitimen Grenzgebiete schon als bewiesen gelten, Viel-
mehr heiBt es dazu noch ganz andre Gesichtspunkte priifen,
Es gehort zu den groflten Schwierigkeiten unsres Lebens,
daB ein so wichtiger Teil unsrer Welt wie der menschliche
Charakter ein so vollig unanschauliches und daher unmittelbar
uberhaupt nicht erkennbares Ding ist. So ziemlich alle folgen*
reichen Ereignissef so ziemlich alle Bewegtheit und Tatigkeit
hat ihren Motor in diesem durchaus unvorstellbaren, aber auf
alle Falle hochst verzwickt konstruierten Gebilde. Man kennt
die bescheidenen Versuche, die von der altesten bis in die
neuste Zeit gemacht worden sind, eine Art Topologie der Seele
aufzustellen. Man sprach und spricht von Geist und Seele,
5$?
von Verstand, Gefuhl und Wille — bloBe statische Einteilun-
gen, in die allenfalls durch Wertunterscheidungen einige Ord-
nung und Beziehung kam; und wenn nicht nur vom GrundriB
sondern vom Funktionieren der Psyche die Rede sein soil,
spricht man vom nervosen Zentralorgan, das die Sinnesempfin-
dungen verarbeite ader etwa, wie die Psychoanalytiker, von
Kellern des UnbewuBten, vorgelagerten Zensurstellen, storen-
<len Oberbleibseln einschneidender Erlebnisse, Man muB sich
das Wolkige, Begrenzte aller dieser Theoriebildungen recht
klar inachen, das verzweifelte Suchen nach irgend welcher
anschaulichen Vorstellung darin spuren! Dies fast unentwirr-
bare Netz, in dem Wille, Trieb, Verstand, Wahrnehmung, Er-
innerung, Temperament, Angeborenes und Angenommenes,
Wandelbares und Bleibendes, sich jedes mit jedem zu hundert
unaufhorlich wechselnden Beziehung en verkniipf en — grade an
diesem seltsamen Stiick Schopfung sind wir aus bitterster Not-
wendigkeit innig interessiert. Und grade hier versagen un-
£liicklicherweise unsre Sinnesorgane , als Vermittler der Er-
kenntnis vollig, weil es sich um etwas Unkorperliches handelt!
Fur den Graphologen, Chirologen, Physiognomiker, Astrologen
ergibt sich also, noch ehe er uberhaupt sein Handwerkszeug
auspackt, als eine grundlegende Schwierigkeit, daB es bis heute
nicht moglich ist, psychische Einrichtnngen und Vorgange eini-
jJermaBen treffend und sicher zu beschreiben, Man denke
daran, wie sehr die Meinungen iiber den Charakter irgend eines
Menschen auseinand'ergehen und wie schwer es ist, in popu-
larer und gar in wissenschaftlicher Rede das Besondre eines
Charakters, auch wenn man es sehr deutlich zu spuren glaubt,
«inigermaBen zu formulieren. Das Dilemma beginnt also schon
in der Charakterologie selbst. Und darf man es tdem Deuter
aufs Schuldkonto schreiben, daB das zu Deutende ratselhaft
und quallig sei!
Wenn ein Ding unanschaulich ist, so pflegt man sich auf
zweierlei Weise zu helfen. Man symbolisiert es durch an-
schauliche Vergleiche, und man beschreiBt es durch seine an-
schaulichen Auswirkungen. DaB wir beispielsweise der elek-
trischen Kraft nicht bei ihrer Arbeit zusehen konnen, verur-
sacht uns wenig Kopfschmerzen; denn wir veranschaulichen
uns ihre Tatigkeit einigermaBen durch das . Gleichnis des
fliefienden Wassers und lesen im ubrigen vom Volt- und
Amperemeter alles Notwendige ab. Beim Charakter aber ist
so ziemlich jede tatliche Auswirkung die Resultante eines so
vielstimmig mstrumentierten Prozesses, daB sie die Eindeutig-
keit eines Zeigerausschlags auf der MeB-Skala haben konnte
-■ - v/elche sie kaum je hat — und uns doch nicht viel weiter-
helien wiirde. Fiir gewisse Falle kann man die Bedingungen
im Experiment kiinstlich verscharf en, und im Dichtwerk finden
wir die AuBerungen und Handlungen der Menschen ztir Klar-
lieit hin stilisiert, aber sobald wir den psychischen Mechanis-
mus eines wirklich im Leben herumiauienden Menschen be-
greifen wollen, geben uns seine handgreiflichen Manifestieriin-
gert nur einen sparlichen, vieldeutigen Anhalt.
Wie gut begreift man hiernach die leidensehaftiiche Auf-
icrksamkeit, mit der die Menschen yon ieher alien sinnlichen
xjOO
Spiegelbildern des Charakters nachgespiirt haben. Was man
tmbedihgt sehen wollte und doch nicht sehen konnte, schien
sich in Gesichts- und Schriftziigen, in den Bahnen der Hand-
linien und der Gestirne getreu abzuzeichnen, Es ist bezeich-
nend, daB man nicht alien Ausdrucksformen des Charakters
gleich sorgfaltig nachgeforscht hat. Klang und Melodie der
menschlichen Stimme zum Beispiel und ebenso Gebarden und
Gang hat man kaum verweriden konnen, weil sie sich fast so
schwer fixieren und analysieren lassen wie der Charakter
selbst. Dafiir aber hat man groBe Sorgfalt auf die Handschrift
verwandt, weil man in ihr einen Niederschlag von Bewegungs-
formen besitzt.
Fiir die wissenschaftliche Verwertbarkeit dieser charakte-
rologischen Hilfsmethoden hangt nun alles davon ab, zu wis-
sen, ob die Beziehung zwischen Abbild und Urbild eine wirk-
liche oder ob sie nur hineingedeutet ist, Auf zweierlei Weise
kann man sich hieriiber zu yergewissern suchen: mail kann an
moglichst groBem Material rein empirisch untersuchen, ob sich
Entsprechungen finden lassen und bis zu welchem Grade der
GesetzmaBigkeit. Aber bei der bloBen Aufzeigung solcher Be-
ziehungen beruhigt sich der Wissenschaftler nicht auf die
Dauer, sondern nur dann wird er mit gutem Gewissen von
einem Gesetz sprechen, wenn er einsehen gelernt hat, worauf
denn diese Beziehung beruhe.
Reine Tatsachenlorschung ist als ein Anfang nirgendwo
^erboten sondern begrtiBenswert, So wird man sich zum Bei-
spiel zu den.Experimenten der Okkultisten zu stellen haben.
Versuche uber Hellseherei, Telekinese, Spiritismus sind auf
alle Falle gut, seibst wenn man glaubt, daB sich diese Erschei-
. nungen einmal weniger romantisch erklaren werden, als die
Beteiligten heute noch gern annehmen. Und sicher ist es nicht
angebracht, uber die diirftigen Leistungen der „Geister" zu
spotten, die nicht mehr konnen als einen Tisch zum Schweben,
eine Giocke zum Kiingeln bringen, Denn wenn sich diese
Dinge bewahrheiten, so ist damit bewiesen, daB eine fiir uns
vollig neue Klasse von Naturerscheinungen existiert. SchlieB-
lich war jenes Zuoken von Froschschenkeln, mit dem man zum
erstenmal die Wirkung galvanischer Strome demqnstrierte, an
sich auch kein Vorgang von kosmischer GroBartigkeit.
Hingegen ist es nirgends angangig, sich endgiiltig mit der
Aufzeichnung unerklarter Tatsachen begniigen zu wollen.
Wenn die Astrologen — wie es etwa Doktor ReiBmann in
dem erwahnten Sonderheft der ,Literarischen Welt1 tut —
behaupten, die Beziehung zwischen Gestirn und Menschen-
schicksal sei nicht kausaler sondern rein symbolischer Natur,
so ist das nicht weiser Verzicht auf kurpfuscherische Phan-
tasterei sondern einfach eine Verkennung dessenf was man von
ihrer Arbeit billig verlangen muB. Denn fur Sytnbole ist in
unserm Weltbild kein Platz, und kein Fortschritt urisrer Er-
Icenntnis wlfd daran jemals etwas andern. Was ist ein Sym-
bol? Die Leitmotive in Wagners Opern, die Gleichnisse
Christi sind Symbols Wenn auf Michelangelos Schopfungs-
bild der Lebensfunke von Gottvaters Finger zu Adams Finger
luberspfingt, so ist das ein Symbol Ein Symbol ist eine ari-
601
schauliche Darstellung eincs unanschaulichen Tatbestandes.
Nun kennen wir abcr keine Naturkraft, die fahig oder willens
ware, die Gestirne auf eine fur unsre Geschicke charakte-
ristische Weise zu lenken, und die Wahrscheinlichkeit, daB aus
reinem Zufall eine solche liickenlose Entsprechung zwischen
jedem Menschenschicksal und der ihm zeitlich zugeordneten
astronomischen Konstellation bestehen solle, ist natiirlich gleich
null, Eine solche Entsprechung ware aber moglich und ver-
standlich, wenn sich irgend ein physikalischer Zusammenhang
aufzeigen HeBe, sei es ein EinfluB der Sterne auf die Menschen,
sei es daB beide gemeinsamen Gesetzen untertan waren, und
somit ware dies das unumgangliche Grundaxiom fur alle astro-
logische Forschung. DaB ein so gewaltiges Phanomen wie die
Wetterlage eines Landes sich von einem so unscheinbaren In-
strument wie dem Barometer ablesen laBt, wundert uns nicht,
weil wir den physikalischen Zusammenhang kennen, und' nie~
mandem wiirde es einf alien, das Barometer .ein Symbol des
Wetters zu nennen. Erst weil es mehr als ein Symbol ist, diir-
fen wir es fiir verlaBlich halten.
Wir lassen uns also mit dem Wort Symbol nicht abspeisen
sondern fragen nach der Realbeziehung zwischen Urbild und
\bbild, und da zeigt sich fiir unsre vier Gebiete nicht die
|leiche Sachlage: Astrologen und Chirologen wissen keine
solche Beziehung anzugeben, hingegen fiir die Graphologie und
die Physiognomik versteht sie sich fast von selbst,
DaB die Handlinien eher eine Beziehung zu der psychi-
schen Konstitution eines Menschen haben konnten als die fer-
nen Gestirne, wird einem einleuchten, aber dennoch geniigt
iiese bloBe Nachbarschaft nicht im mindesten als Beweis fiir
lie Moglichkeit einer Chirologie. Sicherlich wird die Hand,
vie andre Korperteile auch, gewisse allgemeine Eigenschaften
ier korperlich-seelischen Konstitution zeigen; Gespanntheit
oder Gelostheit, edle ader gewohnliche Form, Harmonie oder
Disharmonie, Kraft oder Schwache. Und sicher wird die Hand
als ein besonders fein ausgebildetes, an Nervenendigungen
reiches Organ diese Eigenschaften besonders ausdrucksvoll und
ausgepragt haben. Aber es ist in keiner Weise einzusehen,
warum grade aus der durch die Bewegungen des Daumen-
ballens entstehenden Falte der Verlauf der Lebenskurve abzu>
lesen sein soil und warum, ein paar Zentimeter weiter, andre,
physiologisch durchaus gleichartige Linien iiber die Verstandes-
und Gemiitsart, iiber Begabting und Liebesfahigkeit berichten
sollen. Carus, doch sicherlich ein begeisterter Symbolikerf hat
die Chirologie als Aberglauben abgelehnt und ihr nur allge-
meinen Ausdruckswert wie etwa den Stirnrunzeln eingeraumt.
Der Sinn solcher Einwande gegen die Handlesekunst wird
besonders deutlich, wenn man dagegen halt, auf welchen
Grundlagen die Physiognomiker ihre Oberzeugungen aufbauen
konnen. DaB in Korper und Seele der gleiche Formtypus, das
gleiche Formniveau, die gleichen Spanmmgsverhaltnisse herr-
schen mussen, wird besonders demjenigen natiirlich sein, der
sich von der heute iiblichen Vorstellung frei macht, daB der
Korper eine Art Gehause der Seele sei, das nun erstaunlicher-
weise wie ein Firmenschild ihre Ziige trage, Vielmehr sind ja
602
entwicklungsgeschichtlich Korper und Seele nicht zwei tir-
sprunglich getrenntc Dinge, die wie zwei Ehegatten zueinander
gefunden haben und nun nur durch Zufall odcr gutc Auswahl
einander ahneln und zueinander passen konnen, sondern der
Korper ist ja phylogenetisch durchaus primar und hat aus sich
heraus allmahlich alles Psychische als ein Zusatzgerat geschaf-
f en. Korper und Seele verhalten sich zueinander nicht wie
Mann und Frau sondern wie Mutter und Kind, und da ist es
<lenn wohl wahrscheinlicher, daB sie ahnlich, als daB sie ver-
schieden sind.
Aber die Beziehung zwischen Korper und Seele geht iiber
solche allgemeinen Entsprechungen, wie wir sie oben fur die
Hand erwahnten, hinaus. Wir begniigen uns mit einem ganz
primitiven Beispiel. Wenn beim Tier und beim Kinde die Ge-
sichtspartie im Verhaltnis zum Schadel mehr Raum einnimmt
als beim Erwachsenen und wenn diesem Verhaltnis das Uber-
wiegen der Sinneseindriicke fiber den Verstand entspricht, so
ist das nicht eine vom Himmel geschneite ,,symbolischeM Be-
ziehung, die allenfalls durch Statistik verifiziert werden konnte.
Denn das Gesicht ist ja die korperliche Lokalitat der Sinnes-
funktionen und die Schadelkapsel die der geistigen Ope-
rationen, und so ist der Realgrund fur jene Entsprechung durch-
aus einzusehen. DaB einer Verkrampftheit der Muskeln
psychische Verkrampftheit entspricht, daB jemand, der einem
nicht offen in die Augen sieht, auch kein offener Charakter
sein konne — das ist nicht dichterische, symbolische Veran-
schaulichung von Unsichtbarem sondern leistet zwar eben
diese Dienste, aber aus dem handgreiflich-naturwissenschaft-
lichen Grunde, daB da eins zum andern gehort wie das Baro-
meter zum Luftdruck! Was aber die Chirologie anlangt, so
kann uns kein Physiologe irgend einen Anhalt dafiir geben,
daB die Generallinie unsrer Leberiskraft ausgerechnet mit dem
Daumenballen etwas zu tun habe und daB Verstand und Gemiit
im Handteller kleine Filialorgane unterhalten, deren Wirksam-
keit sich aufien im Faltennetz der Haut sichtbar abspiegeln
konnte!
In derselben Art wie etwa die Spannungsverhaltnisse der
Muskeln ist auch die Gebarde, die „Melodie" der Bewegung,
mit dem psychischen Charakter verwandt. Denn unsre Be-
wegungen sind ja Produkte der Nerven und Muskeln- Und ein
Produkt dieser Bewegungen wiederum ist die Handschrift.
Aber sie ist nicht bloBer Niederschlag von Bewegungen. Es
gilt namlich jetzt zu erklarenf weshalb es dem Graphologen
erlaubt sein soil, von dem Handprodukt „Handschrift" aus iiber
den gesamten Charakter des Schreibenden zu sprechen, wah-
rend dies dem Chirologen fur das Handprodukt „Handlinien"
versagt wurde*
Die Handschrift ist, wie gesagt, kein bloBer Niederschlag
von Ausdrucksbewegungen, wie er etwa entsteht, wenn man
einem Menschen im dunklen Zimmer eine Gliihbirne an FuB
oder Hand anbringt, deren Bewegungsbahn dann auf einer
photographischen Platte festgehalten wird. Auch solche Be-
wegungskurven lieBen sich fur die Charakter-nDeutung" ver-
wenden, aber eben nur in jenem allgemeinen Sinne, wie wir
603
es von den Handlinien glauben, Die Handschrift hingegen ist
mehr, Sie zeigt nicht nur den dynamischen Charakter der Be-
wegung, Entschlossenheit, Kraft, Lebhaftigkeit, Groflziigigkeit,
Geschwindigkeit — sondern sie zeigt einen Menschen bei der
Losung einer Aufgabe, Die Schreibbewegungen sind nicht freif
sie sind zielgebunden, Sie zeigen, wie der Schreiber sich da-
mit abfindet, Buchstaben, deren Normform ja dera Graphologen
bekannt ist — bekannt sein mufl! — , auf seine Art zu bilden.
Hierbei ist nicht nur die Hand, hierbei ist der ganze Mensch
beteiligt, Ob einer die Buchstaben regelrecht oder eigenwillig,
sorgfaltig oder schludrig, verstellt oder ehrlich, in stetigem
FluB oder in immer neuen Einsatzen, zierlich oder grob, saftig
oder diinn, groBziigig oder kleinlich, eigenartig oder nur
originell, fest oder verschwimmend formt — das zeigt ihn ganz!
Eine besondre Rolle spielt hier das Verhaltnis des Schreiben-
den zur Schriftrichtung. Die Aufgabe lautet, sich von links
nach rechts, vorwarts zu bewegen, Es ist hochst charakte-
ristisch, ob jemand diesen Zeilenweg willig oder storrisch zu-
rechtlegt, ob er sich seinem Ziel hingibt, in bequemen, losen,
nach vorwarts gerichteten Schwiingen dahineiltf oder ob er
sich stemmt, sich immer wieder am Ziigel zuriickhalt, sich
Schwierigkeiten macht. Alle diese Dinge sind, zumal wenn
man einmal auf sie aufmerksam gemacht worden ist, unmittel-
bar und leicht aus der Handschrift zu entnehmen. Dabei ist
nichts Ubernaturliches und nichts Symbolisches, Denn wie ein
Mensch sich bei einer (so neutralen) Sache betragt, so betragt
er sich auch bei den ubrigen, Und wie er sich betragt, so ist
er. (Denn beim Schreiben kann man nicht Maske machen:
nichts zeigt sich hier so einfach wie Verstellung!) Die Hand-
schrift verwirklicht durch einen Gliickszuf all die Bedingungen
eines guten Experiments* Sie erprobt den Menschen an einer
einfachen, eindeutigen, Hir alle Schreibgewandten gleichen
Aufgabe, deren Normlosung durch die Schulvorschrift festge-
legt ist; und sie halt sein Verhalten unmittelbar getreu fest,
ohn daB ein zwischengeschalteter Beobachter oder Bericht-
erstatter etwas verfalschen kdnnte. Das direkte Produkt liegt
schwarz auf weiB vor. Offen bleibt hierbei die Frage, wie voll-
standig die Handschrift den Charakter wiedergibt, Ebenso wie
bei der Physiognomik, zumal wenn diese sich notgedrungen
darauf beschrankt, nur das Gesicht oder nur die auBere Ober-
flache desKorpers, nicht auch die der inneren Organe, zu be-
trachten.
Jedenfalls wird man die Forschungsarbeit der Physiogno-
miker und Graphologen, zumal sie immer enger mit dem Phy-
siologen und dem Mediziner zusammengehen, mit Zuversicht
verfolgen diirfen. Die Hauptschwierigkeit fur ein planmaBiges
Vorgehen liegt, wie gesagt, darin, zwei Landkarten des Cha-
rakters miteinander zu vergleichen, von denen die eine bis
heute nicht viel mehr als ein weiBer Fleck ist. Erst wenn es
den Psychologen gelungen sein wird, vom Aufbau und dem
Verhalten der Seele eine brauchbare Beschreibung zu geben,
erst dann kann fiir den Wert der graphologischen und physio-
gnomischen Arbeit der Wahrheitsbeweis angetreten werden.
SchluB folgt
604
Salzburger neues Welttheater Norbertvoschnier
Der bekannte salzburger Schauspieler Alexander M, soil
als Dr. Alexander rait- geklebtem Vollbart, angeblich zu Stu-
dienzwecken, in einer Klinik einer Geburt beigewohnt haben,
Er fiel aber den Anwesenden bald durch sein extatisches Ge-
habe auf. ■
Gewisse volkische Kreise wollen ihm nun das Auftreten ■ in
Wien und der tibrigen osterreichischen Provinz verbieten,
Kleines wiener Revolverblatt
Die Stimme des Gyndkologen
Dr. Alexander
Ein schlafender Student
Eine alte Assistentin
Chor der Sduglinge
Galerie des gyndkologischen Horsaals.
Stimme des Gyndkologen: Die Wehen steigern sich und erreichen
den Hohepunkt —
Dr. Alexander: Wehe, wehe, manche Strecke —
Stimme des Gyndkologen: Alles vorbereitett Schwester? — Watte-
bauschchen, bitte —
Dr. Alexander: Oh, diese hollischen Lattwerge — ■
Stimme des Gyndkologen: Meine Damen und Herren, wir beginnen
mit unsrer Entbindung, Leider .alles ganz normal. Was vorne
liegt, ist der Kopf.
Dr. Alexander: Wunder! Oh Wunder! Zwei Zauberstabe halte
ich in meinen Fingern: die Schauspielkunst. und die Phantasei, Oh
Wunder! (Er weckt den schlafenden Studenten): Bruder, wach auf,
Mein Bonapartedrama ist schon gedruckt und gelangt nun zum Ver-
sand an die Buhnen. Es ist besser als man es von mir crwartet.
Wach auff Bruder, und neige dich, hier wird ein Kindlein geboren,
GegriiBt seist du Kindlein. Oh Mahado, oh Mahado, do, do, du Herr
der Erde. (Der Student schldft wieder ein. Dr. Alexander wendet
sich an die alte Assistentin): Schwester, wes Geschlechtes ist dies
Kindlein?
Die alte Assistentin: — Soweit ich mich*erinnern kann, ist es ein
Knablein.
Dr. Alexander: Dank, Schwester. Oh, kluge Knableins werden
selten alt. Ich merke das an mir.
Stimme des Gyndkologen: Ich binde zu — ich schneide ab —
Dr. Alexander: Armer Jorik,
Stimme des Gyndkologen: Hollenstein. Man wasche ihm die
Augen aus.
Stimme des Kindes: Bah, bah.
Dr. Alexander (kniet): Talatta, talatta! Es spricht. Unerhorter
Wohlklang in der Stimme des Geborenen. Ich mochte weinen. Wie
ein Wurm krieche ich am Boden. Der Geringsten Einer setze den
Fufi auf mich. Ich bin nicht wert, eine Geburtszange zu reichen.
tJbrigens schade, ewig schade, dafl hier kein Photo in der Nahe ist.
Wie sehr freuten sich die illustren Blatter, mich bei Geburten so
voller Demut zu sehen. (Weckt den schlafenden Studenten): Eine
Mutter ja hat uns geboren. Lafit uns bebriidern, laBt uns be-
schwestern, laBt uns vergatten. (Der Student schldft wieder ein.) Aus-
ziehen mochte ich mich, nackelig wie ein Splitter und mich beugen
vor dem Geborenen als briiderliches Symbol,
Die alte Assistentin: Nicht weiter! Der Rock geniigt.
Stimme des Sduglings: Oh bah. Oh bah — ah — ah.
Dr. Alexander: Es schreit. Es klagt an. Wen klagt es an?
J'accuse. Wer tat dir was, unschuldig Menschenkind? (Zieht ein
605
Opernglas heraus und betrachtet das Kind. Plotzlich in ganz anderm
Ton): ooh! Was seh ich? Dieser frtihverderbte Ausdruck im Ge-
sicht dcs Geborcnen! Wie er voller Gier urn sich blickt. Sooo jung
und sooo gemein. Ja, gnadige Frau, es ist gemein. Die Schlange hat
ihn beleckt; er ist in Siinden gebadet. (Weckt wieder den schlafenden
Studenten): Wach auf, Bruder, hier ist einer von der Schlange ge-
hissen
Der Student: Lafi mich schlafen, verdammter Radfahrer.
Dr. Alexander: Du irrst, Bruder, eine italienische Ammc hat
mich gesaugt.
Stimmen der Sduglinge: Wo sind hier Radfahrer?
Der Gynakotoge: In die Badewanne, Das nachste Embryo, bitte.
Der Saugling fwdhrend er weggetragen wird, mit vorwurfsvollem
Blick auf Dr. Alexander); Radfahrer hinaus!
Die Plane der Industrie von Bernard citron
Cine Fahrt durch das Industriegebiet offenbart die Not dcs
Bergbaues- Man sieht ausgeblasene Hochofen, Schorn-
steine, die nicht rauchen, dazwischen die Neubauten sinnlos
gewordener Verwaltungspalaste, Schutthaufen, in denen Leute
nach Kohlen- und andern Abfallen suchen, und begreift die
Verzweiflung der Arbeitslosen und aller jener, die fiirchten
miissen, demnachst ihre Arbeit zu verlieren. Man begreift
aber vielleicht auch die Verzweiflung, die heute die Mehrzahi
der Industriellen erfafit hat. Der Generaldirektor einer groBen
Steinkohlengewerkschaft, die einst als eine der besten des
ganzen Reviers gait, meinte, daB das Schicksal des ganzen
Steinkohienbergbaus noch in di'esem Jahre besiegelt sein wird,
wenn nicht ein plotzlicher Umschwung eintritt.
Wie dieser denken auch andre Kohlenindustrielle. Viele
fiirchten, daB ein natiirlicher Umschwung — etwa auf dem
Wege der Exportbelebung oder neuer Auslandskredite — doch
nicht mehr zu erwarten sei; daher hofft man auf das groBe
Wunder. Die wirtschaftliche und politische Revolution, die
das unterste zu oberst kehrtt erscheint hier als letzte Hoff-
nung. Kame die HNationale Opposition" ans Ruder, dann
meint die Wirtschaft, leichtes Spiel zu haben, Hugenberg hat
die gleichen Interessen wie Thyssen oder Klockner, die Na-
tionalsozialisten aber verstehen so wenig von Volkswirtschaft,
daB sie der Industrie das Konzept nicht verderben konnten.
Die Nazis glauben wahrscheinlich ganz ehrlich, daB sie in
keiner Weise an Inflation denken, die doch von ihrem national-
okonomischen Sachverstandigen, Gottfried Feder, in den Er-
lauterungen zum Parteiprogramm gefordert wird, Man ist in
dieser Beziehung e ben so gutglaubig wie Herr Schacht, der in
Harzburg vielleicht gar nicht erfafit hat, daB er von gewissen
industriellen Kreisen zum Vorspann benutzt wurde.
Eine Inflation, wie. sie sich der kleine Moritz — oder
richtiger gesagt der kleine Baldur — vorstellt, ware ungefahr
so: Hindenburg befiehlt dent Reichsbankprasidenten: „Nun
druck er Noten'\ Darauf regnet es Tausendmarkscheine, Mil-
lionen und Milliarden, und bei einer Billion fangt die Ge-
606
schichte wieder von vorne an. Aber es kommt ganz anders.
Der deutschnationale Fraktionsvorsitzende Oberfohren besta-
tigte ausdriicklich cine friihere AuBerung Hugenbergs, in dcr
er gegen den Wiirgeengel Deflation Siellung nahm, angeblich
ohne dabei im geringsten an Inflation gedacht zu haben. Ein
Spiel mit Worten, da eine verhinderte Deflation nichts andres
als eine besondere Form der Inflation darstellt. Als Mitt el zu
jenem Zweck empfahl Hugenberg die Bihnenwahrung. Diese
Wiinsche sind eigentlich bereits in Erfiillung gegangen. Die
Reichsmark ist eine Binnenwahrung par excellence, da ihre in-
ternationale Kaufkraft der inlandischen keineswegs entspricht.
Die Markkurse im Ausland sind nur nominell und konnen
nicht als tatsachliche Anhaltspunkte fiir die Bewertung gel-
ten. Die Deflation wird seit Monaten rait Erfolg bekampft.
Wenn es nach dem gegenwartigen Umfang unsrer Wirtschaft
ginge, danri miifite der Notenumlauf mindestens funfzig Prozent
niedriger sein als er heute ist. Da aber die Reichsbank als
Deckungsmaterial nicht nur erstklassige Handelswechsel son-
dern auch drittklassige Finanzwechsel verwendet, ist der not-
wendige Umlaufriickgang vermieden worden, da mit befinden
wir uns bereits mitten in einer unsichtbaren Inflation, die als
verhinderte Deflation getarnt ist, Man hat in der Linkspresse
einen Fehler begangen, die Angriffe gegen die Industrie auf
die Forderung weiterer Inflationsbestrebungen zu konzentrie-
ren. Eine olle, ehrliche Inflation wie anno 1923 wurde heute
nur eine geringe Entlastung fur die iiberschuldete Industrie
bedeuten. Man wurde sich der Tilgung der Bankschulden
noch nicht einmal freuen konnen, well die Banken bei dem
gleichzeitig einsetzenden Run ihrer Einleger mit Stumpf und
- Stiel bankrott machen muBten, Daher haben die Industriel-
len vielleicht ganz recht, wenn sie erklaren: , inflation wollen
wir gar nicht", sie wollen namlich bloB ihre Schulden nicht
bezahlen.
In mancheh industriellen Kreisen spricht man von der
Schaffung einer „Abwertungskommission", die den Weg zu
einer allgemeinen oder partiellen Schuldenreduzierung wei-
sen soil. Wahrend die Reichsmark unangetastet bleibt, will
man eine Herabsetzung der Verpfiichtungen vornehmen, wo-
bei Gold- oder Devisenklauseln keine Rblle spielen. Wenn
man so verfahrt, ist eine Inflation tatsachlich nicht von Noten,
vielmehr wiirden von der Abwertung auch die Auslandsglaubi-
ger betroffen werden, so daB der Erfolg fiir die verschuldeten
Teile der Wirtschaft viel groBer ware als im Falle einer Mark-
entwertung. Auf die Frage, wer dann iiberhaupt noch Kredite
nach Deutschland zu geben bereit ist, hat man im industriellen
Lager schon die Ahtwort bereit: Frankreich, In den letzten
Wochen scheinen von industrieller Seite — ohne Wissen und
gegen Willen der Reichsregierung — Verhandlungen in dieser
Richtung gefiihrt worden zu sein,
Um etwaigen Entgegnungen im voraus zu begegnen, sei
hiermit erklart, daB weder Herr Vogler, noch Herr Silyerberg,
noch irgend ein andres Mitglied des Langnamvereins bei Herrn
Laval Besuch gemacht hat. Aber zu solchen Zwecken kon-
nen sich auch einfluBreiche Industriekreise eines Mittelsman-
60T
ncs bedient haben, der in Paris seine Fuhler ausgestreckt hat.
Vielleicht hat man sogar schon einige Aussicht auf Erfolg.
Frankreich ist an dem auslandischen Lcihkapital, das in
Deutschland Uegt, nicht beteiligt. Da franzosische Interessen
durch eine Schuldenabwertung nicht getroffen werden, und
man sich in Paris mii den gef ahrdeten Privatglaubigern des
Deutschen Reiches in keiner Weise solidarisch erklart, liegt
die Verrautung nahe, daB fiir politische Zugestandnisse franzo-
sisches Kapital zu erhalten ware. Nun meint man in jenen
Kreisen, die diese Gedanken fordern, daB den Franzosen an
neuen Zusicherungen der Regierung Briining gar nichts ge-
legen ist, da man von ihr nichts zu befiirchten hat. Viel
teurer wiirden die Franzosen politische Konzessionen der
,,Nationalen Opposition" bezahlen. Auffallend ist es, wie maB-
voll sich die Nationalsozialisten seit kurzem gegeniiber Frank-
reich benehmen. Mit welchen Mitteln diese Zahmung der
Nationalisten ermoglicht wurde, ist ein Geschaftsgeheimnis.
Man glaubt zwischen Rhein und Ruhr, daB nun der Augenblick
gekommen sei, das System zu andern. Von den kommen-
den Mannern hofft man, daB sie der Industrie die Wirtschafts-
und Sozialpolitik zur freien Verfiigung iiberlassen und in
auBenpolitischen Dingen Zuruckhaltung iiben. Was die Nazis
dann mit Republikanern, Juden und andern verdachtigen In-
dividuen machen, ist den schwerindustriellen Bundesgenossen
hochst gleichgiiltig.
Fastistenparade von Peter Scher
/~*ewifl, die Augen blitzen hell
^* wie man das hat bei ungerupften Gockeln;
doch wie sie mahlich nun vortiberzockeln,
wirken die meisten etwas kriminell.
Ein Hauptling, stelzend, mit Korsett,
ganz Operette, macht sich furchtbar wichtig;
ein PreBlakei, schief, blaBgesichtig,
mochte urn vieles lieber gleich zu Bett.
Ach Gott, so ist des Schicksals Lauf,
der ganze A£ist ist ihm im Grand zuwider,
jedoch er HeB sich unterm blauen Himmel nieder —
also muB Schmus sein, denn die passen auf.
Noch bringen Autos Last auf Last;
an einem kann man weithin; Schlachthaus lesen;
das ist noch gestern Viehtransport gewesen —
Kinder, der Zeitgeist trif ft es, wenn er spafit!
Geschrei und chorisches Gelall;
die Burger tragen ihren Maulkorb schweigend;
sich rasch noch vor dem GeBlerhut verneigend,
wackeln sie eilig heimwarts in den Stall.
Ein Land hat mir noch ein Gesicht,
ein Volk ist nur noch ein Bambino.
Komm — libera Hugenberg — mein Hitlerino —
dulde das Vorrecht dieser Welschen nicht!
^608
Bemerkungen
Die Kriegsschuldfrage
ist gar keine — fur die Welt ist
sie langst keine Frage mehr. Je-
der deutsche Spezialist konnte
zweihundert Artikel fremder
Spezialisten zitieren, aber die
Massen im Ausland bewegt diese
langst erledigte Materie keines-
wegs. Die Kriegsschuldfrage ist
eine lediglich innerdeutsche
Sache, erfunden zu Propaganda-
zwecken, erfunden, um vom We-
sentlichen abzulenken, namlich
von der Grundfrage alles deut-
schen Lebens: wer beutet
Deutschland aus? Die fremden
Machte nur zum geringen TeiL
Es ist ein bescharaender An-
blick, das Geheul und Getobe der
Studenten zu beobacHten, wie
sie ununterbrochen auf dieser er-
ledigten und langst entschiednen
Frage herumreiten. Es ist, wie
wenn man einen Verdauungsvor-
gang ungeschehen machen wollte.
Was wollen sie — ? Die Welt-
geschichte riickwarts drehen ?
Aber die antideutsche, zum Teil
berechtigte, zum Teil vollig un-
sinnige Propaganda der Kriegs-
jahre hat ihre durchgreifende Wir-
kung getan, und die verstandigen
und friedliebenden Auslander
schamen sich heute dieses Wahn-
sinnzustandes und wollen, voller
Scham, nicht mehr an ihn erin-
nert werden. Jede Propaganda
auf diesem Gebiet ist wirkungs-
los und wird es bleiben.
Was Deutschland erreichen
kann, liegt auf einem ganz an-
dern Feld, Freilich ist der Ver-
trag von Versailles, wie jeder
Friedensvertrag Diktat des Sie-
gers an den Besiegten, nicht
ewig. Doch hat, ein recht alltag-
licher Vorgang, dieses Unrecht
einen Kechtszustand ^eschaffen,
den man nur mit Gewalt oder
durch einen neuen Vertrag ab-
andern kann. Hat Deutschland
heute oder morgen diese Gewalt,
ihn abzuandern, zur Verf ugung ?
Kein Student will sich das tiber-
legen; noch die lautesten Schreier
denken nicht daran, Krieg mit
Frankreich zu fiihren, Sie bil-
den sich ein, durch Resistenz et-
was erreichen zu konnen, und
das ist unrichtig.
Was diesen eingesperrten und
sich nur nach Oesterreich orien-
tierenden Randalmachern immer
wieder gesagt wer den muB, ist;
dafi man allein nicht wettlaufen
kann. Die andern laufen nam-
lich nicht mit. Sie verstehen das
Geschrei gar nicht; sie werten es
vielleicht als das, was es unter
anderm auch ist: als ein Zeichen
des alten wilhelminischen Un-
geistes. Und sie schutteln die
Kopfe und leben ihr Leben
weiter,
Diese Protestaktionen haben
weite deutsche Kreise ergnffen:
man kann sich doch von Hitler
nicht im Nationalismus schlagen
lassen! Man kann. Man muB nur
den Mut aufbringen, es zu tun.
Die Schlachten, die in den
kleinen Universitatsstadten und
in den groBen gleichmaBig gc-
schlagen werden, sind von vorn-
herein verloren, soweit das Aus-
land in Betracht kommt. Es sind
Schlachten und Siege gegen ei-
nen, der jenen viel verhaBter ist
als alle fruheren Entente-Staa-
ten zusammen, Gegen einen
Deutschen. Gegen den deutschen
Arbeiter und Angestellten, der
niedergekmippelt werden soil.
Ignaz Wrobel
Soeben erschienen! In alien Buchhandlungen erhaitlicKI
STALIN & CO.
von R. N. Coudenhove-Kalergi
Ein Blltzstraht am Rande des Abg^Undes ist diese
neueste Schrlft Coudenhoves. Sie beleuchtet
RuBlands MacKtstellung und Europas Macht-
zerrUttung. Ein Weckruf in zwolfter Stunde
84 Seiten — oo Pfennig
PANEUROPA VERLAQ, LEIPZIG-WIEN
609
Autarkie
I n der spanischen Nationalver-
*■ sammlung stand die Trennung
von Kirche und Staat zur Debatte.
Sic ist inzwischen Gesetz gewor-
dcn. Der Justizminister trat fur
vollige Trennung ein, lehnte aber
die Ausweisung der Jesuiten ab.
Aus den bisher bekannt gewor-
denen Gesetzen ist die Auflosung
aber nicht Ausweisung der Jesu-
itenorden zu ersehn. Zur. Begriin-
dung seiner Gegnerschaft einer
Vertreibung von tausenden Men-
schen erinnerte Los Rios an den
Scbaden, den Spanien jdurch die
Ausweisung der Juden erlitten
habe. Wilde Volker, wie nun ein-
mal die Spanier sind, machte auf
sie grade dieses Motiv besondern
Eindruck, Aber nicht genug da-
mit, benutate Los Rios die Gele-
genheit, um auszusprechen, wel-
che Gefuhle der Bewunderung er
fur das judische Volk habe, Nach
dem Sitzungsbericht des .Temps'
trug diese Bemerkung dem Mini-
ster den sturraischen Beifall der
ganzen Kammer ein.
In der nationalen Regierung,
die England bis zu den Neuwah-
len vom 27. Oktober leitet, ist der
Innenminister Herbert Samuel
Jude,der AuBenminister und f riihe-
re Vizekdnig von Indien Lord
Reading Jude und, was weniger
bekannt ist, der Gouverneur der
Bank von England, Montague
Norman, Jude. Trotzdem ist es
nicht bekannt geworden, daft das
englische Volk den Zusammen-
bruch der Goldwahrung als einen
jiidischen DolchstoB bezeichnete.
Ira Gegenteil, die Ludendorff, Fe-
der und sonstigen Deutschgeldler,
die die Loslosung der Mark von
dem jiidischen Golde fordern, ver-
langen, daB Deutschland zusam-
men mit England und Amerika
sich von der Jahwegoldwahrung
loslose. Offenbar wissen sie noch
nicht, daB sie sich auch da wie-
der in judischer Gesellschaft be-
f inden. Nimmt man noch hinzu, daB
Mussolini den Antisemitismus in
einer beriihmten Rede als Bar-
barei bezeichnete und einen
Trennungsstrich zwischen Anti-
semiten und Fascisten zogt so
bleibt nur festzustellen, daB der
Antisemitismus der deutschen
Rechten, der . freilich, wie die
Reichstag ssitzung en von 1930 ge-
zeigt haben, sehr weit nach links
reicht, ein Reinprodukt der deut-
schen Autarkie ist, nicht export-
fahig und auf den innern, — wie
sagt man heute? — „Verzehr" an-
gewiesen.
Felix Stossinger
Gombos, der letzte Ritter
Ceit Monaten liegt iiber Ungarn
^ eine nervose Spannung wie sie
das Land seit den Wochen vor
dem Ausbruch der Kommune
nicht kannte. Jedermann fuhlt,
daB es so nicht mehr lange wei-
tergeht . . . Mit dem Sturze Beth-
, len begann es. Wie aus einem
schweren Rausch erwacht, sah
Ungarn mit einem Schlage, daB
der „Retter'* das Land in einer
katastrophalen Finanzlage zuriick-
gelassen hat. Dann kam die
Eisenbahnkatastrophe von Bia
Torbagy. Unfall oder Attentat?
Noch heute — nach den sonder-
baren Gestandnissen des Herrn
Matuschka — ist die Frage nicht
geklart. Allerdings: die Per-
son dieses Helden bildet fur
die Reaktion eine peinliche Ange-
legenheit Matuschka ist namlich
BdYinRa
ist unser Autor. Wir sind sein Yerlag. Auch wenn Ihr Lebensgltick
von dem abhangt, was in den Bo Yin Ra-Buchem stent, kann Sie der
Autor doch nicht erreichen. Es ist unsere Fflicht, Ihnen seinen Namen
zu nennen. Einfuhrungsschrift von Dr. Alfred Kober-Staehelin, kostenfrei
in jeder Buchhandlung erhaltlich, sowie heim Yerlag: Kober'sche Yerlags-
buchhandlung Basel und Leipzig.
610 .
kcin „umstiirzlerisches Element"
sondern ein frommer, wenn auch
vielleicht psychopathischer Katho-
!ik, also ein etwas Ungeeigneter
Beweis fur die „Blutschuld
Molkaus" oder des t,Inter-
nationalen Judentutns", von
der die wiener Hakenkreuz-
Studenten in einem Anschlag auf
dem Schwarzen Brett sprechen
durften. Sei nun aber Matuschka
der Tater oder blofi ein Narr oder
ein Werkzeug der budapester
Polizei: die Tat von Bia Torbagy
kam der ungarischen Reaktion
iiberaus gelegen. Tags darauf
waren die Standgerichte fiir das
ganze Land wieder eingefiihrt,
war die Tatigkeit der gesamten
Opposition praktisch lahmgelegt,
war eine Kommunistenhetze nach
alien Regeln fascistischer Regie-
rungskunst eingeleitet. Und dam it
hat Bia Torbagy seine Pflicht ge-
gemiber dem Regime erfiillt . . .
Sollte sich aber auch das als
nicht ausreichend erweisen, dann
steht noch immer hinter dem
schwachen Ministerprasidenten
Karolyi der eigentliche Herr des
Landes, Honvedminister Gombos.
Unumschrankter Gebieter iiber
Heer, Gendarmerie und Polizei
mit ihrem Riesenbudget von 250
Millionen Pengo, iiber die gewal-
tigen illegalen Stofltrutfpen der
Reaktion, die ^Levente", hat er
den ganzen Machtapparat des
Landes in der Hand. Da er sich
iiberdies der uneingeschrankten
Gunst Horthys erfreut, ist er der
eigentliche Chef der Regierung.
Auf Gombos richten sich die
Hoffnungen der Reaktion, wenn
es zum AuCersten kommen sollte.
Er ist berufen, im Notfalle die
Regierung aus den Handen des
integren aber schwachen Karolyi
zu iibernehmen und ein „Kabinett
der starken Hand'* zu bilden, das
hinter einer diinnen parlamen-
tarischen Fassade — denn Horthy
ist nicht fiir offene Diktatur —
das Land diktatorisch niederhal-
ten wiirde.
Gombos ist der Mann, der die
eigentliche Nachfolge Bethlens
iibernehmen solL Dieser hat sich
bei der groflenwahnsinnigen Wirt-
schaftspolitik aufgebraucht. Ein
Jahresdefizit von 420 Millionen
Pengo hat er hinterlassen, eine
Gesamtverschuldung von dreiMilli-
arden Pengo an das Ausland, da-
von eine Milliarde in kurzfristi-
gen Krediten, die zum Teil be-
reits fallig sind. Das durch die
Landwirtschaftskrise * furchtbar
betroffene Ungarn ist am Ende
seiner Krafte,
Bethlen, murbe gemacht durch
die Krise, hat seine Allmachts-
stellung dem j tingern Gombos
abgetreten. Gombos ist die letzte
Hoffnung der ungarischen Re-
aktion.
Denn man weiB, dafi ein Re-
gime Gombos den finanziellen Zu-
sammenbruch des Landes rapid
beschleunigen wiirde. Ein Gom-
bos wiirde wahrscheinlich yom
Ausland keinen Pfennig bekom-
men, oder doch nur unter sehr
schweren Bedingungen. In der
judischen Hochfinanz des Lan-
des wiirde eine Kapitalflucht
einsetzen, wie sie Ungarn noch
nicht erlebt hat,
Ein Zusammenbruch von Gombos
— der voraussichtlich nicht un-
auch dieWeltcigarette in der
neuen Abdulla - Spezialit&t
Abdulla <£ Co.
o/iae DZunctst&ck
Kalro I Condon / Berlin
611
WILLI MONZENSERG
solidaritAt
10 J ah re Internationale Winterhilfe
lm Herbst 1931 besteht die Internationale
Arboiterhilfe 10 Jahre. Auf dlrekte Anregung
von Lenin gegrtlndet, entstand diese Orga-
nisation durch die Zusammenfassung der
Krfifte In alter Welt, die sich begeistert an
dom beispielfosen Hitfswerk betelllgten fUr
die Opfer der russischen Hungersnot, fUr
dlejapanischen Opfer der groSen Erdbeben-
katastrophe. fUr die deutschen Werktatigen
wfihrend des Hungerwinters 1923/24, fUr die
vom . Hungertod verfolgten chinesischen
Kulia und fUr die UnterstUtzung der Streiks
und Wirtschaftskampfe, die weit Qber lokale
Grenzen hinaus Bedeutung fUr die Werk-
tStigen alter Lender besaBen. So 1st die
Internationale Arbeiterhilfe heute zu einer
Organisation geworden, in derviele Millionen
Einzel- und Kollektlvmitglieder zusammen-
geschlossen sind. Die bedeutehdsten KGpfe
der Kunst und des Geistestebens haben
etch in ihr mlt d&n Massen der Hand- und
Kopfarbeiter verbunden, um Werke elnzlg-
artiger und gr&Bter Menschlichkeit und
brUderflcher Hilfe zu vollbringen. An d&r
Schweile des 2. Jahrzehnts ihrer Organisa-
tion ist es an derZeit, einen RUokblick auf
das Geleistete zu werfen und Pl&ne fUr die
neuen zu bewaltigenden Aufgaben zu ent-
werfen. Der Verlag ist davon Uberzeugt,
daB an diesem Bericht die b re i teste Off en t-
iichkeit interesstert Ist; der Verlag 1st sich
ferner bewu8t, daS Aufkl&rung Uber TStlg-
keit und Ziele der Internatlonalen Arbeiter-
hilfe in unserer Zeit, die SuBerste Anspan-
nung und Einsetzung alter hilfsbereiten
Krfifte erfordert, heute ganz besonders not
tut. Aus den vielen hundert Selten und
Dokumenten dieses umfassenden Berichts,
der nlchts gemeln hat mit der gewohnten
Etnttinlgkett und Langatmtgkeit Shnlicher
Berichte, strOmt die unbegrenzte und auf-
opferungsf&hige Lie be des werktatigen Vol-
kes zu jedem einzelnen Unterdrllckten und
Ausgebeuteten. So 1st dieses Werk im
be s ten Sinne des Wortes das Hohelied der
brUderlichen Hilfe aller Werktfitlgen.
Das Buch urnfaBt alle Geblete und alls
Aktlonen. Den Text, fUr den der General-
sekretaYder Organisation, Willi MUnzenberg,
verantwortlich zeichnet, 1st zusammengestellt
worden von einem Stab der verantwortlich-
sten FunktlonaVe und FUhrer dleser wett-
umspannenden Organisation.
Lexfkonformat 1931. 528 Seiten. 48 Kunst-
drucktafeln. Mlt einem zweifarbigen Schutz-
umschlag von Fritz Stammberger, Berlin.
In Buckramleinen gebunden .... RM 6,80
NEUER DEUTSCHE R VERLAG
BERLIN W 8
612
blutig, verlaufenwtirde — ware aber
nicht nur das Ende dieses Aben-
teurers sondern gleichzeitig das
Ende des gegenwartigen feudalen
Regimes in Ungarn, Der Pen del -
schlag wurde dann aber wahr-
scheinlich nicht bei einem ge-
mafiigten Koalitiohsregime halt-
machen sondern weit hintiber-
schwingen nach links. Wie weit
laBt sich nicht voraussagen. Je-
denfalls haben die zehn Jahre
Bethlen-Horthy-Regime in Ungarn
so viel Ziindstoff angehauft,
daB es gefahrlich waret sich uber
den Umfang dieser Gegenreak-
tion gegen die Reaktion Illusio-
pen hinzugeben. Wenn es einmal
zu einer Abrechnung in Ungarn
kommt, wird sie griindlich sein.
Das weifi man auf der Link en, das
weifi man aber auch auf der
Rechten. Und das ist es, was
die Lage dieses Landes so be-
sonders verscharft und was zur
Entscheidung drangt.
K. L. Reiner
Marokko
Vor Josef von Sternbergs Film
ftMarokko" (bei uns stim-
mungsvoll „Herzen in Flammen"
geheifien) hat sich das bessere
Berlin heftig blamiert. Was ein
gelernter Premiere ntiger ist, der
braucht nur einen schnellen BHck
auf tanzende Araberinnen, den
singenden Muezzin, die marschie-
renden Fremdenlegionare zu wer-
fen, und schon weifi er; „Das ist
eiri Kitschfilml", schon fahrt- er
mit Gebrtill aus der Haut und
aus dem Kino. Marlene Dietrichs
schone Beine vollends legen ihm
den Verdacht nahe, daB sie keine
schone Seele haben konne — er
schenkt es sich, das nachzuprti-
fen.
Dabei spielt dieser Film eben-
so wenig in Marokko wie Othello
in Venedig oder Tasso in Belri-
guardo. Gewifi, die Pappgeogra-
phie, die beim Theater Vorteil
bringt, wirkt beim Film immer
als ein Manko, und so schadigt
es Sternbergs Filme, daB in ihnen
Leben immer nur in einem Me-
ter Umkreis um den Menschen
herrscht. Aber dieser enge Kreis
wird zum Zauberkreis: Sternberg
hext Seele in drei FUmschauspie-
ler, drei herrliche, schlanke
Zuchttiere, die* man mit dem lei-
sesteri Zugeldruck lenken, aber
grade deshalb ebenso leicht den
richtigen wie den falschen Weg
schicken kann.
Sternberg weifi, was wenige
wissen: dafi die Kunst mit der
Schonheit, nicht mit der Natur-
lichkeit anfangt. Man besehe sich
Marlene Dietrich, Gary Cooper,
Adolphe Menjou auf ihre tanze-
rische Schonheit hin, und dann
prufe man unsre hiesigen Promi-
nenten — man wird manches ein-
sehen. Schauspieler und Tanzer
sind naher verwandt, als man bei
uns wahr haben mochte.
Wobei gar nicht bestritten
werden soil, daB Sternbergs
Schonheit etwas sufi, etwas par-
fiimiert ist. Aber was schadet
das, wenn er trotzdem und trotz
Marokko mit seinen Schauspie-
lern ein Trio von unglaublich mo*
derner Klangfarbe aiiffuhrt! Was
wir immer fordern und vermissen:
die Liebe ohne Arien, ohne Getral-
ler, ohneTaubefei — hier ist sie;
jeder, der Augen hat, konnte sie
sehen, aber Marokko ist wohl
etwas weit weg, und die allzu
dekorativen maurischen Fenster
versperren wohl die Aussicht.
Die Liebe als schicksalhafter Zwi-
schenfall fiir Menschen, die still
und ernst werden, wenn es ihnen
geschieht; die keine groBen Worte
machen, die manchmal leise
lacheln iiber den Schrecken, de-
nen ihnen ihr Gluck einjagt, Mar-
lene Dietrich sieht den Geliebten
fast feindlich an, und wie die
Nachricht von einem Trauerfall
klingt ihr , J begin to like you".
Schweigen — Amor geht wie ein
Engel durchs Zimmer. Der Kufi
verbirgt sich hinter dem Facner,
der eingeschnitzte Name der Ge-
liebten unter einem Haufen von
Zigarettenstummeln, GewiB ist
diese Verhaltenheit der Grund
fiir das MiBlingen der (kurz nach
der berliner Premiere amputier-
ten) SchluBzene, die nur als Tern*
peramentsausbruch verstandlich
ware, nicht als stiller EntschluB
einer klugen, wenn auch verlieb-
ten Frau — aber wer in diesem
Film, den Anstand, die unpathe-
tische Delikatesse nicht sieht, dem
sitzen die Augen hinter dem Ge-
hirn statt davor.
Die militarische Ehrenbezeu-
gung des Legionars wird zu einer
zierTichen, ironischen Arabeske
umgedichtet, wird zum Verstan-
digungsmittel zwischen Frau und
Mann, dient statt Umarmung und
Schmachten als optische Chiffre
der Liebe. So ist MMarokko" vol-
ler raffinierter Bildsymbole. An
Gary Coopers Soloszene konnte
man die ganze Filmkunst exem-
plifizieren. Es ist einer der be-
sten optischen Monologe, die wir
kennen: das Gluck der Gelieb-
ten — das Armband des reichen.
Freiers liegt auf dem Tisch; soil
er desertieren? — spielerisch
nimmt er sein Kappi ab und pro-
biert Marlenes Zylinder; und
dann schreibt er mit einem
Schminkstift auf den Spiegel:
,,Ich habs mir iiberlegt — leb
wohl I'* Er hat sichs iiberlegt, und
wir konnten es sehen,
Sternberg ist kein Revolutionar.
Er emport sich nicht gegen die
Schmalztopfe Kaliforniens. Man
mag daruber denken, wie man will
— die Leistungen dieses Regis-
seurs darf man nicht ubersehen.
Rudolf Arnheim
Hinweise der Redaktion
Rundfunk
Dienstag. Berlin 17.40: Oskar Wilde und sein Kreis, Arthur Holttscher. — Frankfurt
18.40: Warum wandern die Menschen? Alfons Goldschmidt — Hamburg 19.30;
Martin Andersen-Nexfl West. — Berlin 20.00 1 Dichter far und getfen die Franz5sische
Revolution. — Hamburg 21.00: Freiheitshelden der Bfihne. — Mittwocfa. Berlin 18.10:
Ein Mensch mit Buchcrn und SchallpUtten, Rudolf Arnheim. — 20.30: Shakes pc arcs
Richardm — Leipzitf 20.40: Der Geizige von Moliere. - Muochen 20.40: Aua Knut
Hamsuns Victoria. — Langenberg 2<'.50: Arbeiterdichtuntfen, Ernst Hardt. —
ponnerrta*. Berlin 1605: Werner Turk liest. — MG blacker 18.40: Oskar Ludwitf
Brandt liest Jack London. — FreiUg. Berlin 15.40; Paul Cezan»e. Paul Westheim. —
Kdnitfaberg 20.00: Hdrspiel nach Biichners Lenz. ■— Leipzig 20.40: Das Aschenseil
von Walter Bauer, — Sonnabend. Berlin 17.45: Die Erzahluntf der Woche, Hermann
Sinzheimer.
613
Antworten
Nationaler Mann. Sie haben Ihrem Bundesgenossen Herrn
Doktor Schacht jene Gunst zuteil werden lassen, die er einigen hun-
derttausend unsrer Landsleute verweigert hat: sie haben ihn aufge-
weriet, Der Finanzsiar von Harzburg war vor sieben, acht Jahren
ein Mann, von dem kein nationaler Werwolf den fettesten Knochen
nahm. Es liegt eine Art ausgleichende Gerechtigkeit darin, daB Herr
Schacht, der Renegat, der sich der Nationalen Opposition mit alien
Mitteln aufgenotigt hat, ihr jetzt das Konzept verdorben hat, Er hat
die Inflationsplane der versammelten Patrioten entlarvt Herr Hjal-
mar Schacht ist ein tuchtiger Hasser, ' Es gibt einen groBen, einen
produktiven Haft, der stark genug ist, altes Gerumpel niederzuwerfen
und Wege frei zu machen. Das ist der Hafi des Menschen, der nicht
aus kleinem personlichen Ehrgeiz, sondern aus einer. Idee heraus ha fit
und fur diese Idee haBt. Der HaB des Herrn Schacht kommt aus
einer kleinen verstankerten Seele, es ist der Arger des von den Er-
eignissen ubersprungenen Ehrgeizes, Herr Schacht mochte allzu
gern wieder an die Spitze, und sein Schicksal wird es weiterhin
bleiben, immer hinterher zu laufen, sich uberall anzukoppeln und da-
zwischen zu schieben, bis einmal die Rader iiber ihn weggehen. So
ist er denn jetzt in Harzburg gelandet und attackiert dort die von
ihm mitgeschaffene deutsche Wahrung im Interesse der gleichen
Schwerindustrie, die 1923 gegen ihn aufgetreten ist, weil sie in ihm
den Exponenten der Linken und des sozialen Fortschritts sah. In
der (Weltbuhne' vom 27. November 1928 (XXIV. Jahrgang Nr, 48)
gaben wir ein Dokument des Reichsbankdirektoriums vom 17. De-
zember 1923 wieder, worin die Reichsbankdirektoren von Glasenapp
und von Grimm eine dringende Warming an den Staatssekretar der
Reichskanzlei richteten, den Wahrungskommissar Schacht nicht zum
Reichsbankprasidenten zu machen. Die Herren waren in ihrer Argu-
mentation nicht sehr fein. Sie bezweifelten kurzer Hand die person-
liche Lauterkeit des Bankiers Schacht. Vor alien Dingen kramten sie
einen Vorgang heraus, der sich 1915 in Brussel abgespielt hat: ,tDie
Akten ergeben zunachst, daD Herr Dr. Schacht, welcher der Dresdner
Bank als (stellvertretender) Direktor angehorte, . aber in die Bank-
abteilung beim Generalgouvernement berufen war, im Interesse der
Dresdner Bank Antrage auf Oberweisung belgischer Noten bei der
Armeeintendantur gestellt hat. Damit verstiefi er gegen die Pflich-
ten, die ihm seine amtliche Stellung auferlegte. Wir mochten indessen
diesen VerstoB nicht streng beurteilen, denn Herr Dr. Schacht ge-
hdrte eben seiner ganzen Ausbildung und bisherigen' Tatigkeit nach
nicht der Beamtenwelt, sondern der Geschaftswelt an, und es ist an
sich denkbar, daB ein Geschaftsmann in solchem Falle sich fur be-
rechtigt halten mochte, so zu handeln, wie Herr Dr. Schacht tat.
Viel bedenklicher und fur uns entscheidend ist, daB er in der Refe-
ELIZABETH RUSSELL / HOCHZEIT, FLUCHT
UND EHESTAND DER SCHONEN SALVATIA
Roman.
Diese Geschichte von elnem weibllchen Parsifal ist so lustlg, wie man es sich nur
wUnschen kann. Man facht beim Lesen oft laut auf. Es 1st einer jener nicht h»u-
ftgen, wirklich unterhaltenden Romane, fflr den man dem Ver-
fassor ebenso dankbar sein muQ wie Freunden. die uns einen
helteren, sorgenlosen Abend bereitet haben. Llterarische Welt.
TRANSHARE V1RLAO A..Q.f BERLIN W 10
614
Leinen
4.80RM
rentenbesprechung vom 3. Juli 1915, {iber den Sachverhalt befragt, die
dieserhalb an ihn gerichteten Fragen unaufrichtig beantwortet und am
5, Juli 1915, als die Unaufrichtigkeit seiner Angaben erwiesen war,
sich durch eine ,spitzfindige Auslegung* seiner AuBerungen zu recht-
fertigen suchte." Die Herren Reichsbankdirektoren sprechen - dann
weiter von einer MVerfehlung" Schachts und kommen zu dem
SchluB: „Der ganze Vorgang ist in weitem Kreise bekannt. Er
schliefit unsres Erachtens die Berufung des Herrn Dr. Schacht an die
Spitze des Reichsbankdirektoriums aus, mag er ihn auch fur andre
Stellungen nicht disqualifizieren. Denn der Reichsbankprasident
muB unter alien Umstanden eine absolut makellose Vergangenheit
haben; seine unbedingte Uneigenniitzigkeit, Lauterkeit und Zuver-
lassigkeit darf nicht der leisesten Anzweiflung unterliegen, an ihm
darf nicht das kleinste Staubchen haften; andernfalls verliert er das
Vertrauen in der Bevolkerung und die Autoritat in der Geschafts-,
insbesondere in der Bankwelt. Weiterhin aber verliert er auch die
Autoritat gegeniiber der ihm unterstejlten Beamtenschaft, deren un-
bedingt erforderliche Intregitat Schaden leiden muB, wenn sie den
an ihrer Spitze stehenden Mann selber nicht fur unbedingt integer
halt." In der Sitzung des Zentralausschusses der Reichsbank war am
17, Dezember 1923 (iber die Ernennung Schachts verhandelt worden.
Dabei trat eine fast einhellige Abneigung gegen Schacht zutage. Wir
zitieren aus dem Protokoll: „Herr von Schwabach stellte schlieBlich
den Antrag, durch BeschluB auszusprechen, daB der ZentralausschuB
erstens den Herrn Dr. Schacht fur die Stellung des Reichsbankprasi-
denten nicht fur geeignet halte; zweitens nach wie vor der Meinung
sei, daB Herr Dr. Helfferich der weitaus geeignetste Kandidat fiir
dieses Amt sei. Bei der Abstimmung wurde der Antrag zu eins mit
alien gegen die Stimmen der Herren von Mendelssohn, Kube und Ko-
petzky, der Antrag zu zwei mit alien gegen die Stimme des Herrn
Kube angenommen." Seitdem hat Herr Schacht seine Eignung vielfach
bewiesen. Er hat sich in allem den Leuten angepaBt, die ihn 1923
ablehnten und nicht einmal davor zuriickschreckteh, auf Grund eines
belanglosen und vergessenen Zwischenfalls seinen Namen zu be-
schmutzen. In Harzburg hat er versucht, auch seine Eignung als Fi-
nanzdiktator des Dritten Reichs neu zu belegen, Dabei hat er des
Guten etwas zuviel getan, der offene Appell an das Ausland, die
Kredite aus Deutschland zuriickzuziehen, hat keinen weitern Effekt
gehabt, als daB Herr Schacht sich selbst ruinierte. Es gibt nichts
schrecklicheres als den rasend gewordenen Fachmann, den Mann mit
den anerkannten Spezialfahigkeiten, aber ohne Blick fiir Gesamtheit.
Herr Schacht hat gesagt, daB der Wiederaufbau Deutschlands nicht
so sehr eine Frage der Intel ligenz als vielmehr eine des Charakters
sei. DaB Herr Schacht die Intelligenz ausschlieBt, mag nicht nur aus
gibt fronzbsischen
Unterricht
Eden-Verlag, Berlin W 62
615
einem Anfall von Selbsterkenntnis herriihren sondern auch eine Kon-
zession an seine harzburger Zuhorerschaft sein. Was aber den Cha-
rakter anbelangt, so wissen wir, aus welchem Grunde Hjalmar
Schacht in Deutschland fiirderhin keine Rolle mehr spielen wird. Es
ist allerdings moglich, dafi Schacht, der heute wieder fur Industrie-
profite kampft, zur Rechtfertigung seiner harzburger Excesse das an-
luhri, was ihm da ma Is die beiden Reichsbankdirektoren bescheinigten:
„Wir mochten indessen diesen VerstoB nicht streng beurteflen, denn
Herr Dr. Schacht gehorte eben seiner ganzen Ausbilduhg und bishe-
rigen Tatigkeit nach nicht der Beamtenwelt, sondern der Geschafts-
welt an, und es ist an sich denkbar, dafi ein Geschaftsmann in sol-
chem Falle sich fiir berechtigt halten mochte, so zu handeln, wie Herr
Dr. Schacht tat"
Weltbuhnenleser in Zurich treffen sich jeden Montag abend im
Cafe Eckstein 1. Stock, Sonnenquai,
Verein „Berltner Presse", Du schreibst am 15, Oktober 1931 an
deine Mitglieder: „Sehr geehrter Herr Kollege! Am 23. Oktober,
abends 8.30 Uhr, findet im Ufa-Palast am Zoo die Erstauffuhrung des
neuen Charell-Films ,Der Kongrefi tanzt' zugunsten der Wohlfahrts-
kassen des Vereins .Berliner Presse' statt, Der FestausschuB des
Vereins .Berliner Presse*. gez, Falk." Und wie heifit der Autor des
Charell-Films? Falk!
SchrHtsteller. Zu dem geplanten Ausschlufi der in dem Artikel
von David Luschnat genannten Schriftsteller aus dem SDS, iiber-
mitteln Sie uns die nachfolgende Solidaritatserklarung: „Die Unter-
zeichneten verurteilen die Absicht des SDS-Vorstandesf die Oppo-
sition im Verband durch Massenausschlufi zu beseitigen, Sie sind der
Uberzeugung, dafi diese Opposition mit ihrer Kritik und Aktivitat den
SDS neu zu beleben versuchte und dafi ihre Ziele geeignet sind, die
geistige und wirtschaftliche Stellung der Schriftsteller zu heben. In
dieser Uberzeugung erklaren sich die Unterzeichneten mit den vom
Ausschlufi bedrohten Kollegen solidarisch." Bisher unterschrieben
von; Ernst Toller, Walter Mehring, Ernst Ottwalt, Theodor Plivier,
Ernst Blass, Ernst Glaeser, Steenbock-Fermor, Axel Eggebrecht, Ber-
nard Guillemin, Lisa Tetzner, Anselm Ruest, F. C, Weiskopf, Georg
Lukacz, Erich Franzen, Heinz Pol, August Wittfogel, Carl v. Ossietzky,
Alfred Polgar, Herbert Ihering, Alfred Kerr, Arthur Holitscher, Erich
Kastner, Frank Warschauer, Gerhart Pohl, Hellmuth Walter Brann,
Werner Ackermann, Kurt Hiller, Rudolf Arnheim, E. I. Gumbel, Hans
Fallada, Heinrich Vogeler, Richard Huelsenbeck, George Grosz, Kurt
Kersten, B6la Balasz, Leonhard Frank, Bruno Frei, Stefan Grofi-
mann, Ludwig Marcuse, Margarete Liebmann, Heinz Liepmann, Albert
Hotopp, Kurt Pinthus.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Universum-Bucherei fiir
Alle bei, den wir der besonderen Aufmerksamkeit unsrer Leser emp-
fehlen. Der Prospekt gibt AuskunH iiber die in der Universum-
Bucherei erschienene „Marxistische Reihe*',
Manuskripte sind nur an die Redaktton der Weltbuhne, Charlottenburg, Kantstr. 152, zu
richten; m wird gebeten, ihnen R&ckporto beizulegen, da tout keine Rucksendun? erfbljfen kann.
Das Auffunningsrecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rahmen des Films, die muslk-
mechanlsche wiedergabe aller Art and die Verwertung im Rahmen von Radlovortragen
blelben for alle in der Weltbuhne erscheinenden Beitr&ge ausdrucklicb vorbehalten-
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegfried Jacobsohn und wird von Cart v. Ossietzky .
outer Mitwirkung von Kurt TucholsWv geleiteL — Verantwortlich: Carl v. Ossietzky, Berlin;
Verlag der Weltbuhne, Siegfried Jacobsohn & Co* Charlottenburv.
Telephon: C 1, Steinplatz 7757. — Postscheddconto: Berlin 119 58.
Bankkonto; DarmstSdter u, Nationalbank, Depositenkaase Charlottenbur*. Kantstr. 112
XXVII. Jahrgang 27. Oktobcr 1931 Nuramer 43
Die beiden Groener von cari v. ossietzky
Dei dem braunschweiger Hitlertag vom 18. Oktober sind von
1-1 den Nationalsozialisten drei Personen getotet, iiber achtzig
schwer verletzt worden. Einen ganzen Tag lang wiitete Schrek-
kensherrschaft in den Arbeiterquartieren. Konrektor Klagges,
der Polizeiminister, rief triufnphierend, daB der „marxistische
Mob" sich nicht aus seinen Schlupfwinkeln traue. Es ist gleich-
gultig, ob Herr Klagges seinen Freunden das Stichwort gab
oder selbst der Gefangene ihrer Raserei war. Von Belang ist
nur, wie sich das Reich zu diesem Polizeiminister stellt, welche
MaBnahmen der neue Reichsinnenminister ergreift, urn den
braunschweiger Brand nicht weiter greifen zu lassen.
Die bange Frage, wie wir ohne blutige Gewalt durch die
nachsten Monate koramen sollen, hat ein Mann von rechts,
Herr Doktor Fritz Klein, der Chefredakteur der .Deutschen
Allgemeinen Zeitung', in einer Broschiire zu beantworten ver-
sucht, die sich „Auf die Barrikaden — ?" betitelt. Diese paar
Druckbogen sind auBerst lesenswert, weil darin ein paar Er-
kenntnisse zu finden sind, gegen die sich namentlich die so-
zialdemokratische Presse mit Entschiedenheit straubt, Warum
eigentlich Revolution? fragt der Verfasser. So ein Kraftauf-
wand ist doch ganz uberHiissig geworden. Die Kommunisten?
„Sie werden sich, wenn sie es wiinschen, sehr schnell nochmals
blutige Kopfe holen. Es ist, auBer fiir die Polizei, uninter-
essant, was sie planen, und der deutsche Staat wird ihnen nie-
mals gehoren.1* Und dann wendet sich Herr Klein, der den
Block Briining-Hitler-Hugenberg lebhaft befiirwortet, an die
Freunde von rechts, die dem „System'J mit aller Gewalt den
Garaus machen wollen. Was ist denn von dem verschrienen
System noch ubrig? „Niemals mehr werden wir uns an dem
Gift parlamentarischer Konjunkturen berauschen . . . Wir leben
in einer halb fascistischen Regierungsform, die bessere Mog^-
lichkeiten fiir die Staatsfuhrung eroffnet als die westlandische
Formaldemokratie, von der sich die denkenden Deutschen in
Scharen abwenden. In das offentliche Wesen finden heute
auf diktatorialem Wege Eingriffe statt, die noch vor kurzem als
Verraterei und Utopie verschrien worden waren." Das f,Sy-
stem" lebt nur noch auf Abruf: „Das Provisorium der halb^
fascistischen Diktatur der Bureaukratie wird nicht mehr lange
vorhalten konnen. Dann ist der Augenblick da, um die neue
Form der Staatsfuhrung zu schaffen, unblutig, ohne Nahkampf
auf der StraBe, aber des Erfolges trotzdem gewiB/' Hier spricht
nicht der versagende, der absackende Teil des Biirgertums, der
sich in seinem Elend in sozialrevoiutionare Phraseologie stiirzt,
hier spricht der nervenstarke, der gesund gebliebene GroB-
biifger aus der Welt der Industrie und Banken, der die Macht
will und sich seiner Mittel sicher weifi. Und wenn er auch
mit etwas zweifelhafter Generositat auf den Nahkampf ver-
zichtet, so doch nur, weil er gewiB ist, daB die Stellung des
* 617
Gegners, schon unter dem Trommelfeuer erschiittert, in-
zwischcn von selbst geraumt wird.
Auch General Groener, obgleich seit fiinfzehn Jahren von
dem Ludergeruch des Demokratismus umwittert, hat sich in
entscheidenden Augenblicken immer als ein handfester Ver-
fechter burgerlicher Interessen bewahrt. ,,Welcher Hundsfott
wagt zu streiken, wenn Hindenburg befiehlt?" so rief er im Ja-
nuar 1918 den streikenden Munitionsarbeitern zu, ZuBeginndes
Novembersturms schloB er als frischgebackener Republikaner
das historische Biindnis mit Ebert, das jeden revolutionaren
Impetus zertreten hat und als tiefste Ursache dafur anzusehen
ist, daB aus der Republik nichts andres werden konnte als
ein neumodisch angestrichenes Kaiserreich, Der Unnachgiebig-
keit des spatern Verkehrsministers Groener gelang es, einen
allgemeinen Eisenbahnerstreik hervorzurufen, und der Reichs-
wehrminister im Kabinett Hermann Muller, gleichfalls Grpener
init Namen, zwang den sozialdemokratischen Kollegen den
Panzerkreuzer auft womit die Krise in der Partei, die jetzt zur
Spaltung gefiihrt hat, zuerst akut wurde. Wie entsetzlich un-
sicher muS die Partei sick fiihlen, wenn sie einer Regierung ihr
Vertrauen ausdriickt, in dem dieser Mann, der so eng und so un-
heilvbll mit ihrem Schicksal verbunden ist, alle wichtigen
Machtmittel des Reiches in der Hand halt! Militar und Poli-
zei, Verfassuagsschutz, Beamtenpolitik, Schutz oder Knebelung
der Geistesfreiheit, das alles Hegt bei General Groener, durch
Personalunion Inhaber der Ressorts Inneres und Krieg.
Natiirlich ware es unsinnig, aus Groener einen besondern
Freund des Rechtsradikalismus zu machen. Das ist er nicht,
und er wird von der Rechten ehrlich gehaBt. Dieser General
hat in seiner wechselvollen Karriere immer nur eine Farbe
getragen: die des liberparteilichen Fachmanns, der sich den
einmal gegebenen Verhaltnissen anpafit und eine eigne scharfe
Note nur dann betont, wenn die kapitalistische Ordnung in Ge-
fahr kommt, Damit hat er sich frischer gehalten als Herr von
Seeckt, der heute, gemeinsam mit Hjalmar Schacht, endgiiltig
auf die Ludendorff-Tour gerat.
Wie Herr Groener sein neues Amt aulfaBt, hat er vor
wenigen Tagen in einem Interview dargelegt. Es ist selbst-
verstandlich, daB bei einem schwierigen Debut die beiden
Rollen noch gelegentlich ineinander verflieBen und der Kriegs-
groener den innern Groener riicksichtslos in die Ecke schiebt,
Der Reichsinnenminister verspricht, daB die personelle Verbin-
dung mit der Reichswehr deren uberparteiliche Linie nicht ver-
andern soil. Das wirkt sehr beruhigend, denn wir sahen in der
Tat schon die Gefahr nahe, daB die Ministerialrate vom Platz
der Republik in der Bendler-Strafie herumwirtschaften konnten,
Dafur ist aber bereits von einem liberalen Blatt'gejammert wor-
den, daB sich Herr General von Schleicher, die rechte Hand
des Kriegsgroener, allzu lebhaft um das Ressort des innern
Groener bekiimmere. Ausschliefilich der Militarminister- ist
es jedoch, der diese Satze formtaliert; „Unsre Ehre erfordert die
Bekampfung von Versuchen, die durch Denunziationen und bos-
willige Diffamierung das Ansehen des Deutschen Reiches herab-
618
setzen.'1 Das Reichwehrministerium fordcrt, wie hicr nculich
dargelegt wurde, schon lange ein Ausnahmegesetz gegen un*
bequeme Militarkritiker, das bisher an Ressortstreitigkeiten
scheiterte. Wird der Zivilgroener nun cndlich dem Kriegs-
groencr das lang crschnte Geschenk machen?
Voran geht eine kleine Elegie iiber die lcidige politische
Uneinigkeit, iiber „die Spaltung des Volkcs in zwei Lager".
Leider wird nicht verraten, urn welche Lager es sich handelt
Es gibt gewiB viele Parteifahnen in Deutschland aber nur zwei
wirklich groBe Lager: das kapitalistische und das antikapitali-
stische. Die Regierung, der Herr Groener angehort, hat sich
durch den Mund des Reichskanzlers unumwunden fur die Er-
haltung der Privatwirtschaft ausgesprochen. Wenn Groener
weiter meint, es komme darauf an, ,,alle aufbauwilligen Krafte
zu positiver Mitarbeit heranzuziehen", so ist das, mit Verlaub
gesagt, eine Rede aus dem hohlen FaB. Denn wo gibt es noch
eine Moglichkeit zur Mitarbeit, seit Deutschland durch Not-
verordnungen regiert und die Meinungsfreiheit immer mehr ein-
geengt wird? 1st das alles bisher noch etwas allgemein gehal-
ten, so wird endlich doch der bose Feind sichtbar, der be-
zwungen werden mufl: ,(der Bolschewismus". Zwar ist die Kom-
munistische Partei eine betrachtliche und noch immer wach-
sende Macht, aber sie kann und will nicht marschieren, ehe
sie nicht die Mehrzahl der Arbeiterschaft hinter sich hat; Der
Fascismus dagegen ist eine aktuelle Gefahr, bereit zur Ubernahme
der Gewalt, und seiner wird in Groeners Erklarungen nicht
Erwahnung getan. Bolschewismus, das ist ein leicht zu hand-
habender, ein hochst Hexibler Begriff. Bolschewismus kann
morgen ein spontaner Hungeratifruhr sein, dessen Teilnehmer
sich dann als christlich' organisierte Arbeiter oder als stellungs-
lose deutschnationale Handlungsgehilfen erweisen. Als Bolsche-
wismus gilt im Unternehmertum schon lange die Verteidi^
gung von Gewerkschaftsrechten, die Abwehr des schwer-
industriellen Einbruchs in den Lohntarif.
Aber Groener verheiBt auch scharfste MaBnahmen gegen
Terrorakte, er will da selbst vor drakonischen Ausnahme-
bestimmungen nicht zuriickschrecken. Die erste Gelegenheit
dazu ware jetzt in Braunschweig gegeben gewesen. Unter dem
Eindruck der alarmierenden Nachrichten forderte Groener zu-
nachst Bericht von dem Garnisonaltesten, Oberst Geyer, der
denn auch den Nationalsozialisten sofort ein giinstiges Fiih-
rungszeugnis ausstellte und sich groBartig iiber die Bagatelle
hinwegsetzte, daB drei Menschen zu Tode gekommen sind, die
nicht zur Nationalsozialistischen Partei zahlten. Wir kennen
diese militarischen Berichte iiber ZusammenstoBe zwischen
rechts und links zur Geniige. Der Schuldige steht links! das
ist der Refrain. Der Reichswehrminister aber sollte von dem
Reichsinnenminister die Belehrung entgegennehmen, daB der
Herr Garnisonalteste keine in der Verfassung vorgesehene In-
formationsquclle ist, denn noch haben wir nicht den militari-
schen Ausnahniezustand, wo die alleinige Vollzugsgewalt bei
den Gruppenkommandeuren der Reichswehr liegt. Und wir
wenden uns aufs entschiedenste gegen alle Versuche, diesen
619
Zustand ohne offiziclle Bekanntmachung durch cine Hintertiir
einzuiuhren. Der vorschriftsmaBige Weg ware gewesen, einen
Beamten des Reichsinnenministeriums zur Untersuchung nach
Braunschweig zu entsenden oder von dem zustandigen Mini-
ster Klagges Bericht zu verlangen. Drako Groener fangt es
zum mind es ten etwas umstandlich an, den Nationalsozialisten
seine voile SchrecklicHkeit zu beweisen.
Nach einer Zeitungsmeldung beabsichtigt die Regierung,
ein allgemeines Verbot offentiicher Demonstrationen fur den
ganzen Winter zu erlassen, Ebenso soil durch eine besondere
Notverordnung ein generelles Verbot des Tragens von Unifor-
men aller Art ausgesprochen werden, Diese Verbote wiirden
sich demnach auch auf das Reichsbanner und etwaige andre
republikanische Organisationen erstrecken. Armes Reichsban-
ner! Die Regierung dankt freundlichst fiir deine jahrelangen
Vorbereitungen, die Republik zu retten, sie lehnt dies Monopol
ab. Ihr ist es nicht urn die Republik zu tun sondern um die
brave biirgerliche Ordnung. Von welcher Seite sie im Notfall
Sukkurs einfordert, von Hitler oder von Horsing, das hangt
ganz von der jeweiligen politischen Konstellation ab. Es hat
eine Zeit gegebent wo republikanische Verbande mit dem
Reichsinnenministerium engstens verbiindet waren. Joseph
Wirth, der inzwischen still von der Saule gefallene Heilige der
schwarzrotgoldenen Demokratie, hat da schon kraftig abgebaut,
und dem heutigen Reichswehrminister des Innern fallt es zu, die
kummerlichen Reste schmerzlos zu liquidieren. Wenn der
Wunsch nach einem allgemeinen Demonstrationsverbot, wie be-
hauptet wird, von der preuUischen Regierung ausgeht, so kann
das an der Beurteilung nichts andern. Das wiirde nur beweisen,
dafl Braun und Severing die Starke ihrer Position uberschatzen.
Ware es der Regierung Briining mit der Abwehr des Fas-
cismus ernst, so wiirde sie oeherzigen, daB in seinem Existenz-
kampf gegen eine Umsturzwelle der Staat nicht als Abstrak-
tum uber den Wolken schweben kann, sondern sich auf organi-
sierte Volksmassen stiitzen muB. Aber grade das wird von
dem heutigen Regime mindestens ebenso verabscheut, wie der
leibhaftige Bolschewismus. Wenn sozialistische Arbeiter sich
gegen Obergriffe des Nationalsozialismus zur Wehr setzen, des-
sen Fiihrer unentwegt ihre Legalitat beteuern, so sind sie Frie-
densstorert gegen die der Staat seine Machtmittel einsetzt.
Und inzwischen vollendet sich in aller Ruhe der ProzeB, den
der Chefredakteur der ,D. A. Z.' viel besser durchschaut und
schildert, als es der Chefredakteur des .Vorwarts* jemals getan
hat, Aus dem ,,Provisorium der halb fascistischen Diktatur"
wird ein Definitivum. Der Umsturz von rechts wird iiber-
fliissig, weil andre Leute das viel ruhiger und systematischer ge-
tan haben. Man kann dieser Konzeption nicht die Gediegenheit
absprechen, aber die soziale Wirklichkeit steht ihr dennoch
entgegen. Der politische Kalkxil ist kein Allheilmittel gegen
hungernde Magen, der Begriff der biirgerlichen Ordnung kein
Sanktissimum, vor dem sich alle beugen, wahrend iiberall die
okonomischen Grundfesten zusammenkrachen. Nachdem Brii-
ning seine Sache auf die Notverordnungen gestellt hatte, war
es nur folgerichtig, einen Mann mit diktatorischen Vollmachten
620
zvl ernennen, der das Fluten der Massea gegen die immer
schwacher werdenden Damme der GesetzmaBigkeit zu hemmen
hat, Aber Briining hat sich nicht nur in der Person, sondern
auch iin Ressort vergriften. Was not tut, ist nicht ein drako-
nischer Ordnungskommissar sondern ein Sozialminister mit
umfassenden Vollmachten, die selbst das heilige Privateigentum
nicht schonen, wenn das Leben des ganzen Volkes es erfordert.
DaB die Regierung die soziale Initiative zu ergreifen versteht,
hat sie bisher noch nicht bewiesen, Statt dessen prasentiert
sie uns die Personalunion von Gendarm und Soldat; Groener
in doppelter Ausfertigung. Den Matin, der durch weise Wirt-
schaftsmaBnahmen die Ursache jeglichen Aufruhrs beseitigt,
bleibt sie uns schuldig. An seine Stelle tritt ein energischer
General, der in einem aufgewuhlten Volk nur eine disziplinlose
Rotte sehen kann, die zum Parieren gebracht werden muB; Die
Praponderanz der Militars wird neu gestarkt, die innere Politik
zicht endgiiltig nach der Bendler-StraBe. Die Vereinigung aller
Macht in Groeners Hand ist ein Irrtum, der sich bitter rachen
wird.
Laval in Washington von Marcei Ray
F\ie Amerikareise des Ministerprasidenten Laval — dreizehn
Tage Hin- und Riickfahrt, fiinf kurze Tage Aufenthalt in
Amerika — beansprucht zurzeit mit vollem Recht das Inter-
esse der Regierungen, der Presse und der breiten Offentlich-
keit aller Lander. Denn man kann in der kritischen Lage, in
der wir uns befinden, von alien Landern das sagen, was
La Fontaine von den pestkranken Tieren sagte: „Es starben nicht
alle, aber alle wurden heimgesucht." Ein Bekannter, der von
einer Reise aus China zuriickkam, erzahlte mir, daB alle grofien
Hafen, die er auf seiner Reise beruhrte, — Hongkong, Saigon,
Singapore, Colombo — , Hafen, die ich selbst noch vor zwei
Jahren von Schiffen und Waren erfullt gesehen habe, leer
und ausgestorben gewesen seieri. Australien, Japan,
die Staaten Siidamerikast sie alle stehen im Zeichen
eines Verfalls, ganz ahnlich dem in Europa. Es ist h6chste
Zeit, daB unsre Vorstellung die Grenzen Europas verlaBt, und
daB wif endlich aufhoren, unsern Kontinent und vor allem
unser eignes Land in den Mittelpunkt der Krise zu stellen. Die
Krise ist eine Angelegenheit der Welt, so wie es der Krieg war,
in dem sie letzten Endes ihren Ursprung hat. Alle Nationen
sind zwar nicht in gleicher Weise, aber zugleich davon erfaBt,
ob sie wollen oder nicht. Oberall gerat die Sicherheit ins Wan*-
ken, angesammelte Vermogen losen sich auf, Tausenden fehlt
es an Arbeit und Brot. Regierende und Regierte merken, dafl
der Kredit anfangt auszusterben, daB man heute nicht mehr
mit vollen Handen ausgeben kann, was man erst spater
zu zahlen gedenkt. Fiir alle schlagt die Stunde der Abrech-
nung, der Bilanz und die schwerste und schmerzlichste: die
der Liquidation.
Dies sind die Griinde, aus denen Laval es fiir unerlafilich
angesehen hat, die Einladung des Prasidenten Hoover anzuneh-
2 621
men, so sehr auch die Angelegenheiten seines eignen Landes
drangten, mit deren Erledigung er betraut ist. Amerika be-
ginnt endlich einzusehen, daB es mit Europa untrennbar
verbunden ist, eine Tatsache, die es lange verkannt hat, Der
franzosische Regierungschef wiederum hat erkannt, daB eine
Reise nach Washington die logische Folge seiner Besuche in
London und Berlin sei. Er reist ins WeiBe Haus mit derselben
Entschlossenheit und Klugheit, die ihn auch bei MacDonald und
Briining geleitet haben. Die abenteuerlich Gestimmten, beson-
ders im Ausland, erwarten von dieser Zusammenkunft ein
Wunder, wahrend die angstlichen Gemiiter, vor allem in Frank-
reich, den Abreisenden beschworen, nichts zu riskieren, nie-
manden bloBzustellen, ja am besten iiberhaupt nichts zu
machen. Laval hat sie alle reden lassen, er selbst hat ge-
schwiegen. Er ist nicht, um zu verhandeln, hiniibergefahren,
denn er ist weder vom AuBenminister noch vom Finanzmini-
ster begleitet, sondern um sich zu informieren, um anzuhoren,
was man ihm zu sagen hat und vor allem — wie auf seinen
vorhergehenden Reisen — um zu versuchen, sich klar dariiber
zu werden, was moglich und was unmoglich ist. Diese zu-
gleich bereitwillige und zuriickhaltende Stellungnahme ist sehr
ahnlich. der des aeutschen Reichskanzlers, der in seiner ersten
Rede im Reichstag sagte: ,,Ich verwahre mich gegen jede
Augenblickslosung, die unter dem Druck materieller Not im-
provisiert worden ist." Man kann sicher sein, daB der franzo-
sische Ministerprasident nicht improvisieren wird.
Es fehlt nicht an Gesprachsstoff zwischen Frankreich und
Amerika. Die erste Frage, die einem einfallt, ist die der
Schulden und Reparationen. Sie steht noch offen seit dem
Vorschlag eines einjahrigen Moratoriums, den Hoover selbst
der Welt unterbreitet hat- Die Folgen dieses Vorschlages hat
der President der Vereinigten Staaten keineswegs voraus-
gesehn. Alle Welt ist sich dariiber klar, daB trotz seinen
besten Absichten er derjenige war der den Bankenzusammen-
bruch in Deutschland und die Wahrungskatastrophe in Eng-
land mit alien ihren Folgeerscheinungen ausgelost hat. Ich
weiB, daB man in Deutschland uns Franzosen die Verantwor-
tung fur diese Katastrophen unterschieben will, weil wir nicht
schnell genug dem Plan Hoovers zugestimmt hatten. Ich bin
iiberzeugt, daB dieselben Folgen eingetreten waxen — viel-
leicht nur ein oder zwei Wochen spater — wenn Frankreich
den amerikanischen Vorschlag mit geschlossenen Augen hatte
annehmen konnen. Beireit man diese These von dem politi-
schen Giftstoff, so ist sie gleichbedeutend der Erkenntnis, daB
der Irrtum Hoovers dariri bestand, allein, mit katastrophaler
Plotzlichkeit und ohne vorherige Beratung mit den europai-
schen Regierungen gehandelt zu haben; woraus folgt, daB er
sich zu plotzlich und zu spat unter dem Druck jener „materiel-
len Not'* entschlossen hat, von der Briining spricht,
Man erwagt anscheinend in den Vereinigten Staaten die
Moglichkeit, das Moratorium um fiinf Jahre zu verlangern,
woraus zu ersehen ist, dafi Amerika sich noch nicht zu der Auf-
f assung durch^gerungen hat, nach der von jetzt an die Kriegs-
schulden prakttsch gestrichen sind. Es ist sehr verstandlich,
622
daB die Regierung von Washington am Vorabcnd der Prasi-
dentenwahl zogert, sich die logischen und unvermeidlichen
Folgcn ihres eignen Vorgehens einzugestchen, und nach Mitteln
sucht, dicse theoretischen Rechte (oder bcsser Illusionen}
scheinbar aufrechtzuerhalten. Franzosischerseits ist man aber
sicher nicht bereit, den ungeschiitzten Teil des Young-Plans zu
opf ern ; man ist nicht einmal von der Notvy endigkeit eines
solchen Opfers iiberzeugt, besonders nach der Hypothese
einer Verlangerung des Moratoriums, was die Fiktion von
Kriegsschulden zu neuem Leben erwecken wiirde. Von heut
auf morgen konnen Ereignisse eintreten, die cine definitive
Regelung dieser Frage notig machen wiirden, Ein Ergebnis
der Reise Lavals konnte eine zwischen denbeidenRegierungen
getroffehe Vereinbaruhg sein, miteinander zu verhandeln, ehe
irgend eine neue Entscheidung iibcr die Kriegsschulden herbei-
gefiihrt werden soil So wiirden in Zukunft gefahrliche Ober-
raschungen — ahnlich dcnen im Juni — vermieden werden,
Viel heikler und wichtiger ist die Frage des Goldstandards
— die Frage, wie sich Frankreich und Amerika gegeniiber dem
Sinken des englischen Pfundes verhalten sollen und ob ein ge-
meinsames Vorgehen der Notenbanken von Paris und New
York moglich ist. Bis in die ersten Oktobertage konnte man
die franzosische und amerikanische Valuta fur gleich gesund
halten, woraus sich die Moglichkeit ergab, daB die gesunden
Valuten ihre Anstrengungen vereinigen, um den kranken und
bedrohten zu Hilfe zu eilen, auf alle Falle aber, um sich selbst
so iveit wie moglich gegen Ansteckung zii schiitzen.
Schon unter diesen Voraussetzungen war die Sache von nicht
geringer Schwierigkeit, denn es schien, als ob sie nur unter
den Perspektiven der Politik behandelt werden konnte. Man
stieB sich zunachst an der Frage der Beziehungen Amerikas
zu Europa und an dem Grundprinzip: No entanglements — kei-
nerlei Einmischung von Seiten Amerikas in die Angelegenheit
der andern Kontinente,
In den letzten Wochen tauchte aber eine neue Schwierig-
keit auf: das sind die Goldabziige in Europa von Seiten
Amerikas in taglichen Raten von 40 bis 50 Millionen Dollar.
Sollte der Dollar nicht mehr als gesunde Valuta anzusehen
sein? Wiirde sich an die Pfundfrage eine Dollarfrage anschlie-
Ben? Und damit eine neue Gefahr fur die Weltwirtschaft?
Wenn das trotz den beruhigenden Erklarungen, die die
offiziellen Stimmen von Washington und Wall-Street verbrei-
tent eintrafe und wenn der Dollar nicht nur den Kapitalabzug
Amerikas in Europa sondern auch durch* starken Ver-
kauf amerikanischer Werte ins Wanken geraten ware, so
konnte man keinen Grund mehr fur eine Zusammenarbeit auf
dem Geldmarkt zwischen Paris und New York sehen. Die
Wirtschaftskrise ist keine Geldfrage, sie ist eine politische
(eine Vertrauens-) Frage und eine Frage der Technik der in-
ternationalen Organisation. Die „Goldkonferenzen", mit de-
nen man uns in den Ohren liegt, hatten zur Aufgabe, das Gold
in Behalter ohne Boden zu leiten und den Landern, die schon
jetzt an /Kreditiiberschwemmung leiden, neue Kredite zuzu-
fiihren.
623
Die Vereinigten Staaten konnen an der Wiederhersteilung
dcs Vcrtrauens in dem MaBe mitarbeiten, in dem sie aus
ihrer politischen Isolierung heraustreten. An der internatio-
nalen Organisation der Produktion mitzuhelfen, ist fur sie
noch eine schwierige Sache: sie miiBten ihre Zollmauern sen-
ken, in die sie sich eingeschlossen haben, und daran denken
sie nicht. Nur die Regierungen und die Volker Europas kon-
ncn Europa der Gesundung zufuhren.
Bleibt unter alien Fragen, die in Washington aufgeworfen
werden, eine einzige ubrig, und ich glaube, es ist weder niitz-
lich noch moglich, sie im Augenblick im Einzelnen zu behan-
deln; es ist die Frage der Abriistung, Man kann sie in ihrem
ganzen Umfange nicht anschneiden, erstens weil sie der Genfer
Abriistungskonferenz vorbehalten ist, und zweitens weil sie zum
groBen Teil von der bisher noch ungeklarten politischen Situa-
tion Deutschlands abhangt. Aus diesen Grtinden kann man
auch keineswegs an einen Erfolg jenes Vorschlages glauben(
der eine 20- bis 25prozentige Herabsetzung des Riistungsbud-
gets in alien Staaten vorsieht.
Die amerikanische Regierung hat ein sehr wirksames Mit-
tel in Handen, die Erfolgschancen der Abriistungskonferenz zu
verbessern; namlich, den Pakt von Paris durch eine Erkla-
rung zu erganzen, dahingehend, daB die Vereinigten Staaten
bereit sind, im Falle einer Kriegsgefahr zusammen mit den
Unterzeichnern des Paktes iiber die MaBnahmen zu beraten,
die im Hinblick auf einen eventuellen Angreif er zu tref f en sind.
Eine solche Erklarung wiirde die Stellung Englands in der
Frage der Freiheit der Meere modifizieren und die allgemeine
Sicherheit in ungeahnter Weise vergroBern — das heiBt, auf
eine definitive Formel gebracht: sie wiirde die Atmosphare des
Vertrauens in der Welt wiederherstellen. Es ist schwer zu
sagen, ^ bis zu welchem Grade Hoover im Augenblick bereit
ist, eine derartige Initiative zu ergreifen. Wir sehen uns
immer wieder demselben Hindernis gegeniiber: Will Amerika,
das die Wiederaufrichtung des Vertrauens wiinscht, auch die
Mittel dazu ergreifen? Hat die Krise, die sie erleidet, sie iiber
die Notwendigkeit belehrt, mit ihrem Willen zu friedlicher Zu-
sammenarbeit bis zum Ende zu gehn und die Folgen auf sich
zu nehmen, wenn sie auch mit ihren Gewohnheiten und tradi-
tionellen Grundsatzen im Widerspruch stehn?
Die Besprechungen in Washington konnen die internatio-
nale Lage, die voll von Gefahren ist, nur verbessern. Sie wer-
den nur dann Friichte tragen, wenn sie von beiden Seiten mit
Mut und Aufrichtigkeit gefiihrt werden. Mogen sie nicht zu
spat kommen wie viele Verhandlungen der letzten Jahre.
Wenn sie vor sechs Monaten stattgefunden hatten, so ware
durch ein franzosisch-amerikanisches Obereinkommen der Welt
eine Reihe von Katastrophen erspart geblieben. Unter einer
Bedingung: daB die amerikanische Politik aufhort, eine Speku-
lation zu sein und der Wirklichkeit Rechnung tragi Die Welt
wird weder durch Geldtransaktionen gesunden noch durch
aufsehenerregende Beschlusse, die fur Tage die Borse lahmen.
Sie ist nur durch strenge Enthaltsamkeit zu heilen und nicht
durch Boom,
624
Am runden Tisch bei HindenburgK.L.Ge°rastorff
Jn seiner groBen Reichstagsrede hatte Bnining erklart: „Nicht
Kampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern
der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft muB im Vordergrund
stehen. Wir hoffen, durch Gestaltung des Wirtschaftsbeirats
der Reichsregierung eine Form zu Hnden, wo durch vertrauens-
volle Aussprache beider Teile Losungen gefunden werden, die
notwendig und beiden Teilen niitzlich sind."
Was ist der Wirtschaftsbeirat? Er hat im wesentlichen
eine einzigeL Funktion. Er soil den Lohn kraftig herabsetzen,
aber er soil ihn in einer Form herabsetzen, zu der die Gewerk-
schaftsvertreter ja sagen konnen. Das ist die Aufgabe des
Wirtschaftsbeirates, Alles andre ist Schnorkel, Was war
vorausgegangen? Die Schwerindustrie hatte zum Sturm ge-
blasen. Sie hatte erklart, dafi nicht im gleichen Schritt mit
der Vertiefung der Krise die Lohne abgebaut worden seien,
daB der Lohnabbau vielmehr nur in langsamem Tempo erfolgt
ware, Und den Grund fur die Verzogerung des Lohnabbaus
sah sie vor allem im Tarifrecht So wie bisher gehe es nicht
weiter* Wenn das Tarifrecht eine „elastischere" Lohngestal-
tung verhindere, dann mtisse eben das Tarifrecht zerschlagen
werden* Die Schwerindustrie hatte aber bei diesem ihrem
plumpen Angriff einen ungeahnten Erfolg. Sie fand auf der
Seite ihrer Gegner nicht nur die Freien Gewerkschalten, son-
dern auch die Christlichen, die Hirsch-Dunckerschen, ja sogar
den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband. Der Vor-
sitzende der Christlichen Gewerkschaften, der Abgeordnete
Imbusch, erklarte bei einer AusschuBtagung der Gewerkschaf-
ten: „Die Unternehmer sind nicht zu befriedigen, auch wenn
man ihnen noch so weit entgegenkommt, Sie wollen uns in
einen Zustand zuruckwerfen, den sich die Arbciterschaft nicht
gefallen laBt, Gegeniiber den radikaien Unternehmerforderun-
gen gibt es nur ein einziges wirksames Mittel: Kein Entgegen-
kommen."
Fiir die Schwerindustrie, fiir das Monopolkapital, entstand
eine etwas heikle Situation; Die Regierung sturzen, mit dem
Programm gegen die Gewerkschaftent fur Zerschlagung des
Tarifrechts, das hatte auch in der „ national en" Front zu star-
ken Spannungen gefiihrt. Das hatte sogar die Nationalsozia-
listen, die den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband
fast vollig geschluckt haben, in eine bedenkliche Situation ge-
bracht. Also bremste man in der Folge etwas. Also heiBt es
heute nicht mehr f,Zerschlagung" des Tarifrechts, also muB so-
gar ein solches Scharfmacherorgan wie die ,Deutsche All-
gemeine Zeitung1 in ihren Formulierungen vorsichtig sein. Sie
schreibt: „Sicher ist es, dafi der uns aufgezwungene Defiations-
prozeB zu einer starken Senkung von Preisen und Lohnen fiih-
ren muB. Wird diese Aufgabe rechtzeitig erfullt und lassen
sich Wege finden, auf denen eine elastische Anpassung der
Lohne an die Wirtschaf tslage erreicht werden kann, so wird
niemand den Tarifgrundsatz selbst und die kollektive Verein-
barung der Arbeitsbedingungen bekampfen wollen." Der
PferdefuB kommt allerdings gleich hinterher, denn unmittelbar
625
dahinter heifit es: ,,Diese Anerkennung grundsatzlicher Ar-
beiterwunsche erfordert aber auf der andern Scite auch den
ehrlichen Willen, die Lebensbediirfnisse des kapitalistischen
Wirtschaftssystems, mit dem nun auch einmal seine theoreti-
schen Gegner zu rechnen haben, zu respektieren und zu er-
fullen,"
Das Programm ist also klar. Lohnabbau in auBerordent-
lich schnellem Tempo, aber mit Einverstandnis der Gewerk-
schaftsvertreter, so daB formal das Tarifrecht gewahrt bleibt. .
Es ist kein Zufall, daB y sich die L G, Farben an diesen Ver-
handlungen intensiv beteiligt, daB sie auf die Schwerindustrie
mildernd einzuwirken versucht und daB sie im Parlament den
Reichskanzler off en unterstiitzt hat. Die chemische Indu-
strie ist eine junge Industrie, die von vornherein auf hoher
Stuf e der Konzentration begriindet wurde. Sie ist eine Industrie,
wo die menschliche Arbeit nicht so ins Gewicht fallt wie bei
der Schwerindustrie, wo der Lohnfaktor keine so gewichtige
Rolle spielt. Daher ist die chemische Industrie nicht in dem
MaBe an der Herabdriickung der Lohne interessiert wie Kohle
und Eisen, denn die Produktionsverbilligung, die eine sehr
schwer durchfiihrbare 20prozentige Lohnherabsetzung gegen-
uber einer weit leichter durchfuhrbaren lOprozentigen Lohn-
herabsetzung mit sich bringt, ist fur sie nicht sehr bedeutend.
Daher ist sie auch nicht in dem MaBe wie die Schwerindustrie
an dem Abbau der Sozialpolitik interessiert, denn im Verhalt-
nis zu dan gesamten Produktionskosten spielen in der chemi-
schen Industrie die Beitrage fiir die Sozialpolitik nicht eine
solch entscheidende Rolle, In der L'G. hat Briining bei seinen
Versuchen, die Unternehmer und die Arbeitnehmer an einen
Tisch zu bringen, fraglos einen sehr wichtigen Bundesgenos-
sen, Auf der andern Seite aber wird die Position der Sozial-
demokratie und ihrer Gewerkschaftsvertreter immer schwie-
riger, Sie hat nicht nur in ihrer Politik gegeniiber der Regie-
rung Briining sondern auch in ihrer Lohnpolitik seit einem
Jahr nach dem Prinzip des kleinern ttbels gehandelt. Sie hat
als einen Erfolg gebucht, wenn zum Beispiel statt eines von
den Unternehmern verlangten 12prozentigen Lohnabbaus nur
ein 6prozentiger erfolgte. Sie hat vor einem Jahr den berliner
Metallarbeiterstreik deshalb nicht als aktiven Offensivkampf
gefuhrt, urn den politischen Stand der Bruningregierung nicht
zu gefahrden. Sie hat seit einem Jahr alles auf die eine Karte
gesetzt: Die Bruningregierung ist zwar schlimm, aber Hitler
und Hugenberg sind noch schlimmer, Sie hat in diesem Jahr
die Erfahrung machen mussen, daB der Fascismus keine yor-
ubergehende Fiebererscheinung ist, daB sein EinfluB weiter
wachst, daB aber die Arbeiter, die ihr bisher folgten, passiv,
mutlos werden oder zu den Kommunisten gehen. Was ihr aber
bei den Verhandlungen des Wirtschaftsbeirates jetzt zugemutet
werden soil, ist mehr als alles bisher, ist die Zumutung, daB
sie sich selbst die Schlinge urn den Hals legt,
Der verlangte Lohnabbau wird so groB sein, daB ihn die
Sozialdemokratische Partei eigentlich nicht schlucken konnte.
Werden ihn jedoch die Gewerkschaftsvertreter schlucken und
werden sie ihre Zustimmung drauBen vor den breiten Massen
626
verteidigen konnen? Dcnn nur dann, wenn sic sich in den Ge-
wcrkschaften dafiir einsetzen, flatten ihre Verhandlungen fur
die Unternehmer einen Sinn,
Man will ihnen das erleichtern. Man will den Wirtschafts-
beirat unter Vorsitz des Reichsprasidenten tagen lassen, man
will ihn eine Proklamation fassen lassen, die an das gesamte
deutsche Volk gerichtet ist, Man will also einen Burgfrieden
schaffen zwischen Unternehmern tmd Arbeitern, einen neuen
4, August, Und Hitler ist der Feind.
Werden die Gewerkschaftsvertreter darauf hineinf alien ?
Stromungen daf lir sind fraglos vorhariden, Es hat einen 4. August
gegeben, an dem die Sozialdemokratie erklarte; In der Stunde
der Gefahr lassen wir das Vaterland nicht im Stich! Es gibt
auch Tieute bei den Gewerkschaftsinstanzen viele, die erklaV
ren: In der Stunde der Gefahr lassen wir den deutschen Kapi-
talismus nicht im Stich! Aber die Situation fiir die Gewerk-
schaften wird immer schwieriger, denn unter den Arbeiter-
massen werden die Stromungen immer deutlichdr, die der Mei-
nung sind, daB der Burgfrieden mit den Unternehmern, um den
Preis scharfster Lohnherabsetzung, die Gefahr Hitler nicht be-
seitige sondern nur kurz vertage, und zwar auf einen Zeit-
punkt, wo die Waff en Hitlers scharfer, die eignen aber weiter
abgestumpft sein werden, Wie stark diese Stromungen sind,
das hat die Spaltung der Sozialdemokratie bewiesen. Es
ist lacherlich, wenn von der Sozialdemokratischen Partei ver-
sucht wird, diese Spaltung zu bagatellisieren, denn die Wir-
kung, die die SAP im ganzen Reich schon jetzt hat, beweist
mit aller Deutlichkeit, dafi es sich bei dieser Spaltung um
Massenstromungen handelt, daB die Unzufriedenheit mit der
Politik des kleinern Obels wachst, Wenn die Gewerkschafts-
vertreter im Wirtschaftsbeirat sich mit den Unternehmern zu-
sammensetzen und sich aus Angst vor Hitler freiwillig mit
einem groBen Lohnabbau einverstanden crklaren, dann kann
die Unzufriedenheit der breiten Massen liber diese Politik sehr
verhangnisvolle Folgen zeitigen, Einer der sechs Reichstags-
abgebrdneten der SAP, Zaegler, der Bevollmachtigte des bres-
lauer Metallarbeiterverbandes, hat bei der Reichstagung der
SAP eine EntschlieBung durchgesetzt, in der mit Recht darauf
hingewiesen wird, daB im Niedergang des kapitalistischen Sy-
stems auch von den Gewerkschaften neue taktische Grund-
linien herausgearbeitet werden miissen fiir die Fiihrung der
gewerkschaftlichen Kampfe, daB man also auch hier radikal
umlernen muB, Es ergibt sich aus der ganzen Haltung der
SAP, daB sie den Wirtschaftsbeirat aufs scharfste bekampfen
wird, Aber es hat sich bisher sehr deutlich gezeigt, daB Zei-
tungspolemiken hier nichts helfen. Die Bekampfung dieses
Wirtschaftsbeirates muB in die Organisationen hineingetragen
werden, die seine Beschliisse durchfiihren sollen: in die Ge-
werkschaften. Es wird fiir die weitere Entwicklung der SAP
von entscheidender Bedeutung sein, ob und in welchem MaB-
stabe ihr das gelingt. Die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft
mit ihren Lebensbedingungen, mit der Partei und den Gewerk-
schaften ist es ja grade, die der SAP breite Massen zufiihrt.
Aber sie wird diese Massen nur halt en konnen, wenn sie eine
627
Politik treibt, <lie aktiviert. Es ist von entscheidender Wich-
tigkeit, daB sie ihre scharfc Ablehnung gegen den Wirt-
schaftsbeirat iiberall in die Gewerkschaften hineintragt.
Es ist noch nicht zu spat dazu. Die Masscn mtissen nur wieder
Zutrauen zu sich, zu ihrer eignen Macht bekommen. Sic mus-
sen von ihrer eignen Macht ebenso iiberzeugt sein wie ihre
Gegner von der ihren uberzeugt sind. Bruning hat im Reichs-
tag erklart, daB er eine Regierung gegen die Arbeiter fur
unmdglich halte. Dieser Satz sollte in alle Gewerkschafts-
versammlungen getragen werden. Eine Regierung gegen die
Arbeiterklasse ist unmoglich. Wenn aber die Arbeiterklasse
so stark ist, daB man gegen sie nicht regieren kann, dann soil
sie sich fur die Politik der heutigen Gewerkschaftsfiihrung be-
danken, die sie bisher durch ihr standiges Ausweichen zum
Objekt der Krise gemacht hat, die durch ihre Politik des klei-
nern Obels einen moglichst reibungslosen Lohnabbau garan-
tieren soil.
Dann soil sie ihre Starke einsetzen, dann soil sie kampfen.
Dann soil sie den Kapitalisten beweisen, daB Briinings Worte
richtig sind, Der Kampf gegen den Wirtschaftsbeirat und seine
Plane, iiber die bisher von den Kapitalisten bewuflt ein dich-
ter Schleier gehalten wird, ist ein konkretes Kampffeld.
Zehn Millionen Deutsche vorbestraft!
von Johannes Buckler
V\ ie Justizpressestellen veroffentlichen von Zeit zu Zeit
*** Durchschnittszahlen der Tagesbelegung in den preuBischen
Strafanstalteh. Da erscheint die Zahl: 35 000. Die setzt sich
fest im Kopf des Zeitungslesers und laBt alle Fragen gegen-
iiber einer Einwohnerzahl von 65 Millionen geringfiigig er-
scheinen.
Wie aber sehen diese Zahlen aus, wenn man sie in rich-
tige Beziehungen bringt?
Im Jahresdurchschnitt kommen in Deutschland rund
750 000 Straf verf ahren zur Durchfuhrung. AUjahrlich, Ein-
geleitet werden viel mehr. Von diesen 750 000 Verfahiren
enden allein jeweils 100 000 mit Freisprechung, Bestraft wer-
den rund 650 000 Deutsche. Das macht genau 1 Prozent der
Bevolkerung aus. Im lauf enden Jahr ist die Kriminalitat,
parallel mit der Wirtschaftsnot, wieder erheblich gestiegen.
In Berlin allein wurden im Rechnungsjahr 1930/31 uber mehr
als 40000 Menschen Freiheitsstrafen verhangt. Es wird also
kaum eine Fehlrechnung sein( wenn man annimmt, daB im
letzten Jahr 600 000 Deutsche in Gefangnissen waren.
Die Gesamtzahl der Vorbestraften laBt sich mit Sicherheit
nicht angeben. Da aber alljahrlich 1 Prozent der BevSlke-
rung bestraft wird, so ist diese Zahl bei Berucksichtigung der
mehrfach Bestraft en mit 10 Millionen bestimmt nicht zu hoch
geschatzt. Rechnet man die durch die Bestrafung des Ein-
zelnen immer mitbetroffenen Familienangehorigen hinzu, so
sieht man, daB etwa ein Drittel der Gesamtbevolkerung des
Reiches am Strafvollzug und der Entlassenenfiirsorge ganz per-
sonlich interessiert ist.
628
10 Millionen Vorbestrafte, 20 Millionen B'etroffene: dicsc
Zahlen wirken anders als die 35 000 der amtlichen Verlaut-
barungen. Dicse erschreckend hohen Zahlen sind viel hoher
als die entsprechenden Zahlen andrer Kulturlander. Sie zei-
gen aber natiirlich nicht eine mehr zum Verbrechen neigende
Natur des Deutschen sondern nur die Harte des deutschen
Gesetzes.
Herabsetzung der Kriminalitat ist grade in der heutigen
Notzeit nicht nur aus ethischen, sondern auch aus staatsfinan-
ziellen Grunden sehr erstrebenswert. Jeder Gefangene bedeutet
fur den Staat eine Summe, die fur produktive Zwecke weit bes-
ser angelegt wiirde. Im Jahr kostet ein Gefangener mindestens
2000 Mark; in einzelnen deutschen Landern sogar erheblich
mehr. Die Justizetats der Lander erfordern jahrlich einen Zu-
schuB von 700 Millionen Mark. Davon entfallt ein groBer
Teii auf die Kosten der Kriminalfalle. Hinzu kommt noch der
Teil der Polizeikosten, der zur Bekampfung von Verbrechen
gebraucht wird. Weiter der Schaden, der dem Staat und
seinen Burgern durch Eigentumsdelikte erwachst, die Unter-
stiitzung der Angehorigen der Gefangenen . . . Bei der Gesamt-
addierung werden wahrscheinlich Milliardenbetrage heraus-
kommen.
Die Statistik zeigt, daB die kostspieligen Vergehen oder
Verbrechen von Riickfalligen veriibt werden. Das ist einer
der Griinde, wahrend der Haft mit der Erziehung zum so-
ziaien Leben zu beginnen. Und das Resultat dieser Er-
ziehungsversuche ist das MStufensystem". In der Offentlichkeit
haben die Erorterungen iiber dies System einen breiten
Raum eingenommen. Es muB aber vor groBen Hoffnungen auf
Erfolg gewarnt werden. Denn in den Stufenanstalten befihden
sich insgesamt hochstens 8 Prozent aller Gefangenen. Davon
7 Prozent in Stufe II und 1 Prozent in Stufe III. Von 10 000
Gefangenen kommen also jeweils nur 100 nach Durchlaufen
des gesamten Stufensystems wieder in die Freiheit
92 Prozent aller Gefangenen kommen iiberhaupt mit dem
Sttifensystem nicht in Beriihrung. Es ware ein Irrtum, die
Stufe I, in die alle Gefangenen eingereiht werden, als Teil des
Stufensystems zu betrachten. Die Stufe I ist so, daB irgend-
eine Beeinflussung der Gefangenen ausscheidet. Hier muB
auch gesagt werden, daB es 92 Prozent aller Gefangenen seit
Einfuhrung des Stufensystems weit schwerer haben als vorher,
weil die Erleichterungen, die friiher jedem Gefangenen zugang-
lich waren, heute nur den Eingestuften vorbehalten sind.
Es gibt — nach Kriminalkommissar v. Liebermann — etwa
8000 Berufsverbrecher in Deutschland. Es gibt aber etwa
10 Millionen Vorbestrafte. Bei ErlaB der Verordnungen iiber
den Stufenstrafvollzug hat man den Fehler begangen, alle Be-
straften mit dem MaBe der Berufsverbrecher zu messen. Alle
Vorschriften sind psychologisch auf den Berufsverbrecher, der
etwa ein zehntel Prozent ausmacht, zugeschnitten; dabei ist
aber vielleicht grade der Berufsverbrecher der wirklich Un-
erziehbare.
Der preuBische Justizminister hat wiederholt erklart, daB
das Aufsichtspersonal in den Anstalten der Stufen ,.noch
3 629
nicht" geniigend ausgehildet sei. In der Tat ist es heute prak-
tisch so, daB eine Auswirkung der Vorschriften uberhaup.t
nicht festzustellen ist. Den Wachtmeistern, mit denen allein
der Gefangene zu tun hat, sind zwei Dinge ausschlaggebend
fiir die Beurteilung: Zelle blitzblank geputzt und niemals
M auf fall en". Jede Regung des. eignen Willens ist hochvcr-
dachtig. Und diese Wachtmeistcr werden allein gefragt, wenn
es sich urn eine Begutachtung des (1EingestuftenM handelt.
Die mittlern und Oberbeamten kennen die Gefangenen nicht,
sie haben mit der Bearbeitung der Akten vollauf zu tun, Es
vergehen Wochen, ehe ein Eingestufter seinen Direktor zu
Gesicht bekommt; mit ihm sprechen kann er nie, es sei denn
aus AnlaB einer Beschwerde — und wer sich beschwert, ist
fiir das Stufensystem nicht geeignet. Jede Einwirkung von
Lehrer oder Pfarrer ist an personliche Vormeldung gebunden.
Es ist nichts AuBergewohnliches, daB ein Eingestufter nach
monatelangem Aufenthalt den Lehrer noch nicht einmal von
Ansehn kennt,
Wie ein Stufensystem, wenn es wirksam sein sollte, aus-
sehen miiBte? Es miiBte auf grundsatzlich alle Gefangenen
Anwendung finden, die eine langere Strafe als drei Monate
zu verbiiBen haben, Es miiBte dem Gefangenen den Willen
und das Verfiigungsrecht iiber sich selbst wiedergeben. Jetzt
ist er von friih bis spat von Geboten und Verboten eingeengt,
Jede Willensregung wird systematisch unterdriickt. Der Mi-
nister legt das Schwergewicht nicht auf Erleichterungen son-
dern aqf das Recht des Gefangenen zur Mitarbeit in der An-
stalt. Nicht einmal der Versuch zur Realisierung des ministe-
riellen Wollens wird gemacht. Sehr wirksam ware es, wenn
man eine weitgehende Selbstverwaltung einfiihren wollte. Und
dann: Fort mit der Briefzensur. Sie lastet wie ein Alb auf
den Gefangenen und erzieht zur Heuchelei. Sie verhindert
die Pflege wirklicher Familienbeziehungen, die fiir den Ent-
lassenen auBerst wichtig sind. In Wirklichkeit bestehen un-
gezahlte Moglichkeiten des unbeatifsichtigten Verkehrs mit
der AuBenwelt, die nur durch das Bestehen der Briefzensur
florieren.
Grundsatzlich besser als das heutige System, bei dem sich
der Gefangene die Einstufung durch sein Verhalten verdienen
— besser gesagt erschleichen — muB, ware, es umgekehrt zu
machen: alle Gefangenen werden eingestuft, sie verlieren die
Vergiinstigung, wenn sie sich etwas zuschulden kommen
lassen.
In Wirklichkeit stehen aber die 92 Prozent der Nicht-
eingestuften und die 8 Prozent der Eingestuften nach ihrer
Entlassung gleich mittellos auf der StraBe. Die ganze Er-
ziehung wird dadurch illusorisch. Bei der Lage der Staats-
und Gemeindefinanzen ist an durchgreifende Hilfe, die die
Entlassenen vor Riickfall schiitzt, nicht zu denken. Soil man
deshalb fatalistisch den Dingen ihren Lauf lassen?
Ein mehrfach Vorbestrafter macht seinen Leidensgenossen
folgenden Vorschlag: „Jeder Entlassene, auch der vielfach
Vorbestrafte, hat den dringenden Wunsch: niemals wieder
630
dor thin zuruck! Jeder mochte arbeiten, aber er will keinc
,inUdeii Gaben*. Er will auch keinc Bevormundung, die sein
bitteres Los im Gefafignis war; Arbeitsbeschaffung durch die
Afbeitsamter ist sehr schwierig. Es bleibt nur der Weg der
Selbsthilfe. Der Verdienst, den der Gefangene im Jahr er-
arbeitet, betragt im Mittel 300 bis 400 Mark. Davon behlilt
der Staat dreiviertel fur sich ein. Fur das letzte Viertel kann
sich der Inhaftierte Seife, Tabak, Fett kaufen. Verzichtete
der Staat im Interesse der Herabsetzung der Kriminalitat auf
ein weiteres Viertel des Arbeitsverdienstes, so kame damit
eine Summe zustande, mit der sich schon eine Moglichkeit
bote, dem Entlassenen produktiv zu helfen. Daftir ist aber be-
sonders wichtig, daB der Gefangene sich schon in der Straf-
zeit durch eigne Arbeit auf em neues Leben vorbereitet-
Wohlfahrtsamter, Versicherungsgesellschaften, Industrie- und
Einzelhandelskonzerne haben ein groBes finanzielles Interesse
an der Verminderung der Kriminalitat. Sie miiBten — urn
Geld zu sparen — zu der produktiven Beschaftigung Entlasse-
ner beitragen/'
Die Organisation der Entlassenen zu gegenseitiger Hilfe
und produktiver Arbeit ist im Entstehen. Das Vorurteil gegen
Vorbestrafte muB in dem Augenblick fallen, wo man weiB, daB
es sich um die ungeheure ZahJ von 10 Millionen handelt. Wem
die Zahl ubertrieben scheint, der lese im offiziellen Fuhrer
der Stadt Berlin nach. Da stent ein Aufsatz des verstorbenen
katholischen Sozialpolitikers Karl Sonnenschein, in dem der
Umfang der Kriminalitat eindringlich geschildert wird. Allein
fiir Berlin nannte Sonnenschein als jahrliche Zahl der Entlas-
senen aus samtlichen Strafanstalten 110 000. Taglich 300!
Wenn man diese Zahlen, Sonnenscheins auf das Reich und auf
eine Generation umrechnet und immer nur ein Drittel als Neu-
bestrafte annimmt, wie dies den Verhaltnissen von Tegel und
Plotzensee entspricht, so kommt man auf die gleiche Zahl von
10 Millionen.
Der Oberlandjager von Amo Muhien
F\er Korridor ist nicht nur ein geographischer und wirtschaftlicher
*"-/ Trennungsstrich zwischen Ostpreufien und dem Reich, er ist vor
allem die chinesische Mauer, hinter der unverbliimt und ungeschminkt
eine Reaktion gedeiht, die sich weit vom SchuB weiB, Der Grofi-
grundbesitz dominiert hier und halt die Landarbeiterschaft noch genau
so wie in friihern Zeiten in patriarchalischer Abhangigkeit, Unter
diesen Umstanden wird jede freiheitliche Anschauung terrorisiert, und
wer es wagt, sich of fen fiir die verhaBte Republik einzusetzen, erhalt
den LaufpaB. Dies ist die politische Atmosphare in Masuren. Der
Stammtisch ist der Treffpunkt fur die disputierende Clique und der
Ortt von dem aus Intriguen gegen unangenehme Gegner gesponnen
werden.
Ein derartiges Milieu ist fiir ein GroBstadtgehirn schwer faBbar.
Daher konnen gewisse Ministerialrate in Berlin und Konigsberg nur
schwer das Drum und Dran manches in einem AktenstoB verzeich-
neten Vorganges begreifen. Fiir die Bureaukratie bleibt eben dieses
Aktenbiindel nur ein Fall, mag davon auch die Entscheidung uber eine
biirgerliche Existenz oder gar ein Menschenschicksal abhangen,
631
Seit drei Jahren fuhrt der Oberlandjager Reinholz in Skottau,
Kreis Neidenburg, einen verzweifelten Kampf urn seine Rehabilitierung.
Im Hochsommer 1928 wurde seine Frau, wahrend er sich auf
einem Dienstgange be fan d, von dem ihm vorgesetzten Gendarmerie*
Oberleutnant Brandstatter, laut seiner bei der Staatsanwaltschaft Allen-
stein eingereichten Anzeige, vergewaltigt, Es hat eine eigne Bewandt-
nis damit, daB die Anzeige erst viel spater, am 1, Dezember 1929,
der Staatsanwaltschaft in Allenstein unterbreitet wurde. Reinholz
hatte namlich sofort nach Kenntnisnahme dem damaligen Landrat von
Mirbach miindliche Anzeige erstattet. Dieser Dienstvorgesetzte ver-
sicherte hoch und heilig, die Untersuchung unverziiglich vorzunehmen.
Er beschwor weiter den vollkommen zusammengebrochenen Reinholz,
daB er wie auch seine Ehefrau zu keinem Menschen uber diesen Vor-
fall sprechen diirften. Als alter Soldat, im Subordinationsgefuhl groB
geworden, vertraute der Oberlandjager seinem Landrat. Reinholz
sollte schwer enttauscht werden. Als Ende 1929 der Landrat von
Mirbach starb, da mufite Reinholz zu seinem Schrecken erfahren, daB
er das Op fer einer Illusion geworden war.
Jetzt erst reichte er schriftlich die Anzeige bei der Staatsanwalt-
schaft Allenstein eint und diese erstreckte, weil Brandstadter immer
wieder behauptete, Reinholz das letzte Mai am 27. April 1928 in Ge-
genwart des Landjagermeisters Schober revidiert zu haben, die Unter-
suchung nur auf diesen Punkt. Die Zeitangabe, ,, Hochsommer 1923",
also die Zeit „Ende Juli bis Anfang August", ist allein ausschlag-
gebend. Reinholz reichte als Beweis, daB der Oberleutnant ihn auch
nach dem 27. April 1928 revidiert hatte, seine Dienstbucher ein. Unter
dem 24. Juni 1929 hat der Untersuchungsrichter dies auch schrift-
lich zu den Akten vermerkt. Dieses Moment ist von der Staats-
anwaltschaft niemals beachtet worden. Untersuchungen gehen hin
und her, das Ende vom Liede ist: gegen den anzeigenden Oberland-
jager Reinholz wurde das formliche Disziplinarverfahren mit dem Ziel
der Dienstentlassung auf Grund von allerlei zusammengetragenem
Material anhangig gemacht. Reinholz wehrt sich bis zum heutigen
Tage mit einer bewundernswerten Kraft gegen dies Unrecht.
Die Affare Reinholz -Brandstadter ist ein ungewohnlicher Einzel-
fall in der preuBischen Gendarmerie, aber sie ist syniptomatisch dafiir,
wie man einem Beamten, der obendrein als Republikaner verabscheut
ist, an den Kragen geht. . , '
Oberleutnant Brandstadter verdankt seine Beforderung vom
Land j agermeister zum Offizier dem verstorbenen Landrat v. Mirbach,
der auch deutschnationaler Landtagsabgeordneter gewesen ist. Brand-
stadter, der fniher bei der Kavallerie gestanden hat, wird vielfach als
gewalttatiger und rechthaberischer Vorgesetzter bezeichnet. Allgemein
soil er durch sein rigoroses, zum Teil sogar brutales Vorgehen in den
Ruf eines schneidigen Beamten gekommen sein und dadurch bei seinen
Vorgesetzten Eindruck machen.
Verscharfend fallt ins Gewicht, daB Brandstadter bereits mehr-
mals in den Verdacht der Notzucht geriet, so 1920 im Falle einer
Frau Brothus und 1924 eines Fraulein Kasparik.
In beiden Fallen ergab sich zwar bei der Untersuchung die Halt-
losigkeit der Behauptungen, aber mit vollem Recht rugt der Rechts-
vertreter des Reinholz, der berliner Strafverteidiger Doktor Frey,
die Kraftlosigkeit, mit der die Untersuchung gefiihrt wurde.
In seiner Beschwerdeschrift vom 28. Januar 1931 an den preu-
Bischen Justizminister fuhrt Doktor Frey richtig aus: „Wer die
Akten 4 J 5526 der Staatsanwaltschaft Allenstein mit offenen Augen
liest, der sieht, daB es sich da nicht um eine haltlose Beschuldigung
handeln kann, sondern daB wirklich erhebliche Verdachtsgriinde gegen
den Beschuldigten vorliegen. Typisch ist, daB der Beschuldigte in
der gleichen Weise wie in der vorliegen den Sache Reinholz vor-
632
gegangen ist. Das am SchluQ der Akten befindliche Schreiben des
General staatsanwalts vom 6. Juli 1926 zeigt, daB selbst die Staats-
anwaltschaft von der Moglichkeit, daB hier ein solches Verbrechen
vorlag, ausgegangen ist/'
Eine dritte Notzuchtsanzeige, sogar von der Frau eines Unter-
gebenen eingereicht, hatte nunmehr den aufsichtfuhrenden Behorden
unbedingt das Gewissen scharfen mtissen, Wie konnte die Staats-
anwaltschaft in Allenstein und der Generalstaatsanwalt in Konigs-
berg zulassen, daB ihr hochstes Hilfsorgan im neidenburger Kreise,
soliten auch die friihern Anzeigen gegen Brandstadter in Dunst auf-
gegangen sein, den Angeschuldigten beim dritten Mai nicht wenig-
stens bis zur Klarung vom Amte suspendierte. Statt dessen
darf der Oberlandjager Reinbolz seit Februar 1929 keinen Dienst
mehr verrichten, ja viele Monate muBte er mit lumpigen 98 Mark
sein Daseife fristen und dazu noch zum Gespott aller Leute im Kreise
weiter verbleiben. Erst die sozialdemokratische Abgeordnete Wohl-
gemuth hat Reinholz wieder zu seinem vollen Gehalt verholfen.
Es ist ein unglaublicher Skandal, daB man Brandstadter seinen
Wohnsitz nicht anderweitig aufzuschlagen veranlaBt. Jedermann im
Kreise kennt die Affare. Und iiber das Weichbild des Kreises hinaus
kennt die ganze Provinz' OstpreuBen den „Fall Reinholz".
Eigentiimlich muB es beriihren, daB dreimal der Oberleutnant der
Gendarmerie der Notzucht angezeigt wird. Warum gerat ein Nacht-
wachter nicht in solchen Verdacht?
Selbst wenn alle Verdachtigungen gegen Brandstadter nur auf
Tratsch beruhen, so muB dennoch die Behorde Sorge tragen, daB eine
Personlichkeit mit so umfassender Exekutivgewalt, wie sie einem Gen-
darmerieoffizier zusteht, sich eines einwandfreien Renommees erfreut.
Zweifellos spielt in OstpreuBen der Alkohol eine groBe Rolle,
und so kam es auch dann und wann vor, daB der Oberlandjager
Reinholz als nicht sattelfester Trinker unangenehm auffiel. Dieser
Beamte, welcher vorztigliche Dienstzeugnisse vorlegen kann, wird von
seinem Oberleutnant in die fur einen Polizeibeamten ungeeignetste
Unterkunft, in einer Dorfkneipe, einquartiert, obwohl genugend andre
Zimmer vorhanden waren. Hier nimmt der Konflikt Reinholz-Brand-
stadter seinen Ausgang. Als dann Anfang 1928 die Ehefrau Rein-
holz aus Westfalen nach Skottau nachfolgte, meinte sie wahrend einer
Revision der Dienstwohnung durch den Oberleutnant, daB ihr Mann
diese Versetzung dem Minister Grzesinski verdanke. Worauf Herr
Brandstadter mehr volkstiimlicb als respektvoll entgegnete, das sei
„so ein Polack, das sehe man doch schon aus dem Namen". Kein
Staatsanwalt hat sich mit dieser Angabe von Reinholz befaBt.
Der Oberleutnant hat in der Disziplinarsache beschworen: Rein-
holz sei ein schlechter Beamter und schwer von Begriff. Auch habe
ihm der praktische Arzt Doktor Jager in Neidenburg kiirzlich ge-
sagt, daB er Frau Reinholz fur eine vollstandig unter den § 51 fal-
lende Frau halte und Reinholz mindestens zu drei Vierteln darunter
falle, Worauf stiitzt sich diese Aussage des Oberleutnants?
Der Untersuchungskommissar hat Reinholz auf seinen Geistes-
zustand bcobachten lassen. Das Gutachten des Kreisarztes lautet
klipp und klar, daB der Oberlandjager Reinholz nicht geisteskrank
ist. Reinholz besitze nur eine gewisse Minderwertigkeit, die vielleicht
durch sein sexuales Unvermogen infolge einer Kriegsverwun-
dung verursacht oder ungunstig beeinfluBt worden sei. Alles dies
muBte der Kreisleiter der Gendarmerie, Major Souffner in Allen-
stein, wissen. Trotzdem wagt er esf am 28. Marz 1931 zu Lyck vor
alien Beamten wiederum auszusprechen, daB die Ehefrau Reinholz
hundertprozentig und er mindestens sechzigprozentig verriickt sei.
Er ware schon langst pensioniert worden, wenn nicht der Kreisarzt
zu seinen Gunsten entschieden hatte.
633
Wie darf ein blutiger Dilettant das medizimsche Gutachten . des
gewifi sorgfaitig vorgegangenen Kreisarztes, nor weif es ihm nicht
pafit, vor versammelter Mannschaft derartig ins Gegenteil kehren?
Wenn der Generalstaatsanwalt in Kdnigsberg unter dem 30,* Sep-
tember 1930 anffthrt, dafi die Darstellung der Frau Reinholz itber den
Vorfall sich standig geandert hat, so 1st auch das fur den Psycholo-
gen nicht unbegreiflich.
Man bedenke; daB das Ehepaar Reinholz streng katholisch ist
und ganz in katholischen Moralauffassungen lebt, Es ist daher ein-
leuchtend, daB die Frau sich lange geschamt hat, den traurigen Vor-
fall ihm, dem Impotenten, zu schildern. Man erlebt ja bei vielen
grofien Sittlichkeitsprozessen, daB die weiblichen Zeugen sich nicht
raehr erinnern wollen. Sie ziehen es voir, den Tatef straff rei aus-
gehen zu lassen, weil sie sich vor den Augen der OffeptHchkeit scha-
raen. Was sich hier abspielt, ist eine stille Hinkemanfe^rfiiodie, Die
Frau hat gewuBt, wie schrecklich ihr Mann durch e7ntj*5childerung
des an ihr begangenen Verbrechens verletzt werden wiirde, Sie hat
deshalb bis zuletzt, also bis zur eidesstattlichen Versicherung( mit der
vollen Wahrheit zuruckgehalten.
Recht bezeichnend ist, wie man nicht nur den Oberlandjager und
seine Ehefrau zur Strecke bringen will. So hat Brandstadter auch
gegen den verantwortlichen Schriftleiter der tPreuBischen Polizei-
beamtenzeitung', die sich mit diesen Dingen beschaftigt hat, eine Be-
leidigungsklage anhangig gemacht. Wichtig genug ist die Feststellung,
daB diese Klage unter dem Drucke des preuBischen Innenministeriums
erfolgt ist, um den haBHchen Fall auf diesem Wege aus der Welt
zu schaffen. Weiterhin schwebt ein BeleidigungsprozeB Brandstadters
gegen Reinholz selbst Bereits am 13. August sollte der erste Termin
stattfinden. Aber in letzter Minute setzte ihn das neidenburger Atnts-
gericht ab. Man geht in OstpreuBen folgerichtig gegen Reinholz vor:
Hat man ihn namlich erst als Angeklagten im Beleidigungsprozesse
erledigt, kann er unmoglich spater in der eignen Anzeige mit seiner
Frau als Zeuge zum Eid zugelassen werden!
Der Polizeiminister Severing ist uber den Fall Reinholz infor-
miert. Bei ihm liegt es, fiir Abhilfe zu sorgen.
Hegel von Hellmu th Falkenf eld
Zur 100, Wieder kefir seines Todestages
Ich weiB, so ruft der Blinde, dort sind Raume.
Nur seh ich nicht in ihneii Haus und Hof. —
Ich sehe nur Vernunft, wo ihr sent: Baume.
So spricht der hochgeehrte Philosooh.
Denn die Vernunft, sie laBt die Veilchen sprieBen,
Die Walder, Staaten, Kriege und noch mehr.
Und wenn sich drauBen tot die Menschen schiefien,
Dann larmt — nach Hegel — nur der Weltgeist sehr.
Nun sind seit damals 100 Jahr yerflossen.
Das Gras, das druber wuchs, ward rot von Blut,
In Kriegen hunderttausendfach vergossen,
Und dennocb freut der Satz: Was ist, ist gut.
Dem Weltgeist ist nun mal nicht beizukommen.
Solch ein dogmatischer Begriff hats gut.
Mag uns die Katastrophe auch nicht frommen,
Er bleibt gesund! Wir opfern ihm mit Blut!
634
Rapprochement von Heinz poi
Aus einem demnachst im Adalbert Scbultz-Verlag, Berlin,
erscheinenden Roman „Patrioten", der zur Zeit der Pariser
Sachverstandigen-Konferenz spielt.
Clsdt die Deutsche Botschaft als das offizielle Vermittlungs-
^* bureau, so war Ullmanns Villa die schwarze Borse ftir die
Meinungen der Politiker und Sachverstandigen aller Lander.
Und wer jetzt wahrend der Konferenz von einflufireichen Leu-
teh, ganz gleieh welcher Art, nach Paris kam und nicht sofort
seine Karte bei Ullmann abgab, war verloren in diesem viel-
sprachigen Strudel, der schleusenlos die Stadt uberflutete.
Aji diesem Abend verteilte sich die gute Gesellschaft auf
die drei Salons des Hauses Ullmann. Wie stets, hielt sich die
Mehrzahl der Damen im letzten und hiibschesten Zimmer auf,
um hier in Ruhe ihre Bridge-Partien an den kleinen griinen
Tischen zu spielen. Die beiden andern iiberhelLerleuchteten
Salons, die im Stil der Restaurationszeit gehalten waren, wie-
sen eine imponierend groBe Zahl der verschiedensten Sitzgele-
genheiten auf, die an die Wand geruckt waren: die Mitte des
Zimmer s wurde, sowie das Diner beendet war, stets frei ge-
halten fur die Gruppen der sich meist stehend unterhaltenden
mannlichen Gaste. Ullmann sah es als eine seiner vornehm-
sten Aufgaben an, immer wieder neue Gruppen zu arrangieren.
Erst im zweiten Zimmer geWahrte Edgar in einer Herren-
gruppe den korpulenten Gastgeber, seinen Chef und den un-
scheinbaren Herrn Loser, den Vorsitzenden der Deutschen In-
dustriekammer und zweiten Fuhrer der deutschen Delegation,
Den Rest bildeten zwei franzosische Abgeordnete und einige
andre, deren Gesichter 'Edgar fremd waren . . ,
Man trat zu der Gruppe, Ullmann begruBte Edgar mit
einer Flut fetter Schmeicheleien. Er hatte aus der Praxis ge-
lernt, da0 es wichtiger sei, der Freund des Privatsekretars zu
werden als der des Chefs. Noch wahrend er Edgar beide
Hande schiittelte, setzte er das Gesprach mit einem der fran-
zosischen Gaste fort. Der Franzose war ein ehemaliger Gene-
ral, der bei FriedensschluB seinen Abschied genommen hatte
und nun den sehr eintraglichen Posten eines Ehrenmitgliedes
der nordfranzosischen WiederaufbaugeseUschaft bekleidete.
Deren Hauptsorge war es, immer wieder neue Gegenden auf-
zufinden, die wahrend des Krieges zerstort worden waren, wo-
bei sich im Laufe der Jahre herausstellte, dafi die Verwiistun-
gen von der Nordsee bis etwa Bordeaux sich erstreckten. ..
,,Wir miissen uns doch bald ein Dutzend Jahre kennen,
mein sehr verehrter Herr Ullmann", rief der General droh-
nend aus. ,,Ich trug, glaube ich, noch die Uniform, als Sie
das erste Mai Paris beehrten.'1
f,Stimmt, stimmt, damals war es noch etwas ungemiitlich
hier. Ich sprach noch schlecht franzosisch, zum Gliick hielt
mich das Hotelpersonal ftir einen Englander oder Russen. DaB
ein ,Boche* es wagen sollte, sich 1919 in Paris aufzuhalten, auf
diese Idee kam kein Mensch, Das hat sich ja grundlich ge-
andert." In der Tat war Ullmann der vielleichtallererste Deutsche,
635
der knapp nach Unterzeichnung des Versailles Vertrages nach
Paris fuhr und dort Geschafte erledigte. Allerdings handelte
es sich um ein( sehr wichtiges und, wie man sich auszudriicken
beliebte, l(halboffizielles" Geschaft. Ullmann war damalsAuf-
sichtsratsmitglied des im Kriege groB gewordcnen dcutschen
Chemietrusts. Im Juni 1919 bereits bahntc sich ein schrift-
licher Verkehr zwischen dem dcutschen Trust und der ent-
sprechenden franzosischen Chemie-Vereinigung an. Im Okto-
ber fuhr Ullmann nach Paris und schloB dort nach vierzehn-
tagiger Verhandlung einen Vertrag mit dem franzosischen
Kriegsministerium und der halbprivaten Societe d'Etude de
1* Azote, Nach diesem Vertrage uberlieB der deutsche Chemie-
Trust den Franzosen eine Reihe wichtiger Farben-Patente. In
Deutschland brauchte man Kapital, und da sich der Trust in
dem Vertrag weiter verpflichtete, in den nachsten ftinfzehn
Jahren keine Konkurrenzfabrik in Frankreich zu errichten, so
bekam er als Gegendienst eine Frankensumme, mit der man
den Ausbau des Konzerns in Mitteldeutschland sorgenlos fort-
setzen konnte. Allerdings machte die Deputiertenkammer
hinterher nationale Bedenken geltend, so daB der Vertrag no-
minell erst im Jahre 1923 in Kraft treten konnte. Dennoch
waren die Anbahnung der Beziehungen und der schlieBlich zu-
stande gebrachte Vertrag allein das Werk Ullmanns, der un-
ermiidlich Handedriicke ausgetauscht hatte. Am schwierigsten
hatten sicb die Endverhandlungen gestaltet, da sie ja zeitlich
grade mit der Ruhrbesetzung zusammenfielen. Ullmann machte
eine abenteuerliche Fahrt mit dem Flugzeug uber das schwe-
lende Gebiet des passiven Widerstandes. Der Apparat wurde
beschossen1 der Flugzeugfiihrer, ein ehemaliger Kampfflieger,
weigerte sich, wieder in die Maschine zu klettern, als er bei
der Zwischenlandung in Krefeld erfuhr, wohin die Reise gehen
sollte. Ullmann muBte ihm beteuern, daB es ich um eine na-
tionale Aktion handele. Wenn sie gelinge, werde der Flug-
zeugfiihrer hoch belohnt werden. Spater loste Ullmann sein
Versprechen ein: der Kampfflieger bekam einen hochdotierten
Ruheposten in einer siiddeutschen Farbenfabrik.
Jetzt sprach Ullmann iiber diese Erlebnisse, speckig
lachelnd und zwischendurch die Gaste zum Trinken animie-
rend. Dann wandte er.sich in bester Laune an Fahrenkamp:
„Tempi passati! Heute gibts viel wichtigere Angelegenheiten,
nicht wahr? Sie haben mir zum Beispiel immer noch nicht
auseinandergesetzt, wieso eigentlich die Verhandlungen seit
acht Tagen stocken." Als er bemerkte, daB sich die Franzo-
sen entfernten, beugte er sich mit gewichtigem Gesicht vor;
„Ich sehe sehrt sehr schwarz. Die Herren vom Comite de
Forges sind auBer sich, sie verstehen weder die erhohten An-
spriiche noch die Verschleppungstaktik der Deutscheri/'
Der Generaldirektor warf einen Blick auf die beiden Her-
ren, die zuriickgeblieben waren uiid sich den Anschein gaben,
als ob sie das Gesprach nicht im geringsten interessierte. Der
kleinere von ihnen hieB Wertheim und war der Herausgeber
einer Wirtschaftskorrespondenz in Berlin. Da er in seinen Ar-
tikeln die grade in Mode stehende Forderung nach Wirtschafts-
demokratie verfocht, erfreute er sich eines nicht unbedeuten-
636
den Einflusses auf die Borsenkreise und gewisse Regierungs-
stellcn. Als einer der zahllosen berliner Journalisten oster-
reichischer Schulc war er iibcrall dabei. Nicht ohnc tiefere
Berechtigung hiclt er die Gcselligkcit fur die beste Informa-
tionsquelle.
Fur Fahrenkamp war die Anwesenheit Wertheims in Paris
nicht von grofler Wichtigkeit. Ob er gegen ihn schrieb oder
nichti Hefi ihn kalt. Fahrenkamp war ein Wirtschaftsfiihrer
vom alten Schlage: er verachtete die Zeitungen aus tiefster
Seele. Aus den Erfahrungen seiner Jugend hatte er gelernt,
daB die Journalisten Plane und Ideen der Industrie wohl auf-
decken und angreifen, aber keineswegs verhindern konnen.
Weit bedeutungsvoller schien Fahrenkamp die Anwesen-
heit des zweiten Herrn, der neben Wertheim stand. Es war
Graf Schulenburg, friiherer Botschafter in Rom und ehemaliger
kaiserlicher Staatssekretar.
Solange Schulenburg unbeweglich dem Gesprach zuhorte,
muBte Fahrenkamp vorsichtig seine Worte wahlen, denn die
ganze Delegation wuBte bereits, daB der Graf in geheimem
Auftrag von der berliner Regierung nach Paris geschickt wor-
den war, Er war so unvorsichtig, die ersten acht Tage in der
Botschaft zu wohnen, so hatte man sofort die GewiBheit, daB
er nicht zum Vergniigen gekommen war. Schulenburg war
durch die Heirat mit der Tochter eines Kohlenmagnaten von
Mitteldeutschland zu einem wirtschaftlich interessierten Men-
schen geworden. Der Konzern seines Schwiegervaters war
einer der wenigen, dessen zahlreiche Kohlengruben und Hiit-
tenwerke noch immer in keinerlei Verbindung mit der Stahl-
und Eisentrust A. G. standen, sondern betont selbstandig wirt-
schafteten. Die geschaftlichen Interessen des Schwiegervaters
hatten sich in den letzten Jahren immer mehr RuBland zuge-
wandt, hierbei war er den Absichten des Trusts in die Quere
gekommen, der auf dem Umwege der europaischen MStahl-
gemeinschaft" RuBlands Markt zwangsweise zu erobern hoffte.
Diese natiirliche Gegnerschaft, die, wie immer im Wirtschafts-
leben, aus der Gleichheit der Interessen entsprang, stempelte
den Grafen Schulenburg in den Augen der Regierung zu einem
geeigneten Objekt, um die pariser Regierungsstellen moglichst
vorsichtig aufzuklaren. Und zwar dariiber, daB alle Wirt-
schaftskreise in Deutschland eine schnelle Losung der ganzen
Kriegslastenfrage ersehnten und deshalb gewillt seien, den
Widerstand der schwerindustriellen Gruppe zu brechen. Der
ehemalige Staatssekretar, restlos gliicklich, endlich wieder
seine diplomatischen Talente spielen zu lassen, hatte keinen
Augenblick gezogert, den heiklen, aber standesgemaBen Auf-
trag zu iibernehmen.
Vor diesem geheimen Gesandten also muBte Fahrenkamp
seine Zunge im Zaum halten. MNun/' wiederholte Doktor Ull-
mann, t,Sie wollten uns doch aufklaren! Man erfahrt ja iiber-
haupt nichts mehr in diesem Paris! Seit drei Tagen schweigt
alle Welt, lauft mit ernsten Mienen herum, zuckt die Schul-
tern und weigert sich, mehr als ein Glas Champagner zu trin-
ken. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, daB Sie
sich geeinigt haben."
637
„Machen Sic keine Witze!" sagte Fahrenkamp und legte
mit Betonung seine Stirn in Falten.
■«Ioh ttiache gar keine Witze!" Ullmann spielte den ehr-
lich Emporten. „Aber ich habe leider Gottes raehr Konfe-
renzen mitmachen miissen als Sie. Ich war in Genua und in
Lausanne und in London, und dreimal bin ich jedes Jahr in
Genf. Ich kenne den Rummel. Eine Einigung kommt immer
nur dann, wenn es kurz vorher eine Krise gab und jeder schon
den bertihmten Koffer gepackt hat, den er gar nicht mit-
gehommen hat, Es ist immer dasselbe Theater. Hier sieht
es ja nun auch wieder so aus, als ob die Schlafwagenplatze
bereits vorbestellt sind.*1
Ullmann war in der Tat aufs starkste interessiert, zu er-
fahren, inwieweit die Geriichte auf der pariser Borse stimtn-
ten, die eine ihm sehr peinliche Baisse hervorgerufen hatten,
Fahrenkamp zuckte die Achseln. ,,Vorhin meinten Sie,
die deutsche Delegation treibe fVerschleppungstaktik\ Kein
Vorwurf ist ungereohter als dieser." Fahrenkamp gewahrte
rait Vergnugen, wie Graf Schulenburg die Ohren spitzte. (1Sie
miissen diese Konferenz nicht mit irgendeiner der politischen
Konlerenzen vergleichenf die Sie ja so ausgezeichnet zu ken-
nen scheinen. Die Verantwortung, die wir hier als Nicht-
politrker zu tragen haben, ist ungleich schwerer, am schwer-
sten ist sie fur die deutsche Delegation selbst. Wean wir
wirklich jetzt zogern — tatsachlich aber verhandeln wir unter-
irdisch weiter, so zogern wir nur aus einem einzigen Grunde,
namlich urn im Interesse Deutschlands zu bessern Bedingun-
gen zu kommen/'
MAlles gut und schon." Ullmann wiegte sich in den Huf-
ten. „Aber haben Sie vielleicht auch gelesen, wie Berlin rea-
giert? Auf der pariser Borse sind die Baissiers obenauf, in
Berlin feiern sie Triumphe. Gestern war dort em schwarzer
Tag wie seit Jahren nicht melir. Grund: die Sachverstandigen-
Verhandlungen. Vielleicht ist man in Berlin besser unterrich-
tet als in Paris?" Ullmann gab sich so schnell nicht geschla-
gein, er muBte sich noch an diesem Abend entscheiden, ob er
seine Engagements an der pariser Borse losen sollte oder
nicht
Edgar blieb bei Ullmann stehen, man zog ihn ins Gesprach,
vermied aber jetzt Andeutungen tiber die Konferenz, da man
ja wuflte, daB dieser Sekretar doch nie etwas andres sagen
wiirde als sein Chef. Ullmann sprach unaufhorlich weiter, er
erzahlte von den grofien Hauserkaufen Deutscher in Paris. Im
selben Atem klagte er iiber die schlechten Geschafte; „Die
Inflation in Frankreich ist zu Ende, iiberall in Europa haben
sich die Wahrungen stabilisiert, es lohnt sich nicht mehr,
an die Borse zu gehen. Wenn diese Depressionen anhalteh,
haben wir in fiipf Jahren den nachsten Krieg. Keine Konfe-
renz wird ihn aufhalten,"
Alles laohte, keiner nahm Ullmann ernster als er es ver-
langte. Wenn er trotzdem Wahrheiten aussprach, an die je-
der insgeheim glaubte, war es angenehmer, sie wie einen faulen
Witz aufzunehmen.
638
Charakterdeutung als Wissenschaft
von Rudolf Arnheira
III
CchlieBlich ist darauf hinzuweisen, daB es gegen die
^ Astrologie und die Chirologie noch andre Eihwande gibt
als jcnen rein negativen, daB sich bisher noch keine reale Be-
ziehurig zwischen Gestirn und Mensch, zwischcn Handlinien
und Charakter habe aufzeigen Iassen. Denn es konnte ja, auch
wenn es unwahrscheinlich ist, sein, daB ^eine solche Beziehung
noch gefunden wtirde, und gegen eine rein empirische Erfor-
schung dieser Gebiete ware damit noch nicht vielgesagt, LaBt
sich aber zeigen, daB der Glaube, es bestanden solche Be-
ziehungen, nicht so sehr auf Naturtatsachen gesttitzt ist als
sich aus Eigenschaf ten unsres Erkenntnisapparats und Bediirf-
nissen unsres Gemutslebens erklart, so ware dieser Glaube da-
mit recht verdachtig gemacht und die Lust, seine Berechtigung
nachzupruf en, stark vermindert.
Bekanntlich besteht der starkste Beweis gegen das Dasein
Gottes darin, daB man sagt: Die Menschen haben ein heftiges
Bedtirfnis, beschiitzt und gerecht behandelt zu werden. Die
Projektion dieses Wunsches in eine Gegend der Wirklichkeit,
die sich unsern Blicken eiitzieht, namlich in den ,,Himmer*
bzw. in die Sphare der Unsichtbarkeit, ergibt Gott, Und die
Eigenart des primitiven Erkenntnisapparats, alle Dingc und Er-
eignisse der Welt nach Analogic des Menschenlebens zu er-
klaren, ergibt die Theorie vor einem ins Erhabene vergroBer-
ten Menschen als Weltschopfer, der die Welt auf dieselbe
Weise konstruiert hat, wie Menschen Hauser bauen, Lehm-
gefafle formen (Erschaffung des Menschen: „ErdenkloB"!),
Acker bestellen. Durch solche Einsicht wird die Wahrschein-
lichkeit, daB es. einen Gott wirklich gebe, auBerst gering, Und
ahnliqh spricht es gegen den okkultistischen Geisterglauben,
daB wir in ihm die uralte menschliche Besonderheit wieder-
treffen, sich nicht mit dem Tode, dem Nichtmehrsein, abfinden
zu k6nnen- Der aus starken Wunschbedurfnissen und der Un-
vollkommenheit friiher Erkenntnisse stammende Glaube an das
Leben nach dem Tode, bisher ein religioses Dogma, soil nun
„wissenschaftlich" bewiesen werden. Kommt hinzu, daB man
gla'ubt, sich mit etwas Geistigem zu beschaf tigeri, wenn man
sich mit Oeistern befaBt. Dieser Irrtum beruht auf der Dop-
pelbedeutung des Wortes „Geist" und ist ein Beitrag zu der
Verwechslung des Begriffspaars „materiell — psychischM mit
dem durchaus andern „materialistisch — idealistisch'1 einem
besonders in Deutschland beliebten Gesellschaftsspiel,
Daher scheint es so plausibel, die okkultistischen Pha-
riomene als durchaus nicht metaphysische Auswirkurig noch
unentdeckter menschlicher Krafte zu erklaren. Denn so wird
das, was gegen die Geistertheorie spricht, nun positiv zur Er-
klarung herangezogen: daB die Menschen daztt neigen, Psychi-
sches, vor allem Erwiinschtes, nach auBett zu projizieren, zu
nmaterialisieren*1!
Ahnliche Argumente nun sprecnen gegen Astrologie und
Chirologie. DaB beide Betatigungen so alt sind, braucht nicht
639
zu bedeuten, in der Dingwelt seien dringliche Hinweise auf sic
vorhanden. Sondcrn es braucht nur zu bedeutent daB sic aus
ewigen Bediirfnissen des Gemiits bzw. aus Eigenarten der pri-
mitivcn Erkenntnis stammen,
Der allumfassende Egozentrismus, durch den das primitive
Wcltbild (des Kindes wic des Naturmenschen) charakterisiert
ist, fiihrt dazu, daB der Mensch sich nicht vorstellen kann,
irgendwo in der Welt konne von anderm gehandelt werden
als eben von ihm und' seinen Bediirfnissen. Er glaubt, daB die
Tiere, die Pflanzen, die Elemente nur ihm zuliebe oder ihm
zuleide handeln, und es gehort zu den schmerzhaftesten und
wichtigsten Erfahrungen der phylogenetischen wie der onto-
genetischen Entwicklung, daB es Gesetze und Aktionen in der
Welt gibt, die nicht auf den Menschen (resp.: diesen Men-
schen) zielen, auch wenn sie auf ihn wirken! Aus demselben
Grunde glaubt der primitive Mensch sich und sein Schicksal
iiberall dort abgebildet, wo den Erscheinungen nicht strikt ein
leicht einsehbarer Zweck zukommt- So wie er der Bahn des
Vogelfluges Nachrichten iiber die Zukunft entnimmt, so hangt
sich sein Wissensdrang an die Bahnen der Gestirne und der
Handlinien, die fur ihn nicht anderweitig an irgend einen Sinn
gebunden sind. Es kann auch der Kaffeegrund sein oder das
Eingeweide eines geschlachteten Opfertiers — iiberall wo selt-
same Form ohne Sinn sich anbietett ergreift er die Gelegenheit,
sich selbst zu ergrunden. Diese Beziehungen, die er da zwi-
schen sich und den Dingen herstellt, stammen nicht aus seiner
physikalischen Einsicht sondern aus seiner psychischen Kon-
stitution, Und das hindert uns, sie fiir verifizierbar zui halten.
Bezeichnend fiir den Weg der Erkenntnis ist weiter, daB
sie vom Sinneseindruck zum Wesen der Dinge vordringt. Das
ptolemaische System ist das geschichtlich fnihere, weil es be-
ruht auf der naiven Gesichtsvorstellung, gegen die dann Ko-
pernikus ankampfen muB. Die Astrologie nun, deren Grund-
begriffe ja aus sehr alter Zeit stammen, ist voll von Dingen, die
nur im subjektiven, nicht mehr im objektiven Weltbild Geltung
haben konnen. Ober dasf was auf Erden eben geboren wird,
entscheidet, wie Robert Henseling in der .Literarischen Welt*
sagt, das, was am Himmel grade „geboren ' wird, indem es
fiir den gegebenen Horizont aufgeht. Nun ist aber der
Horizont zwar eine sehr wichtige Markierung fiir den
Augenschein, jedoch diese rein perspektivische Verdek-
kung eines Gestirns ist zweifellos kein Faktor von realer,
physikalischer Wirksamkeit. Ebenso steht es mit der per-
spektivischen Projektion der Planeten auf den Himmelshinter-
grund, die Himmelsrichtungen der Tierkreiszeichen, Die Bahn
eines Planeten am subjektiven Himmel ist eine vollig schiefe,
uncharakteristische Abbildung seiner wirklichen Bewegung im
Sonnensystem, die allein doch von Bedeutung fiir jenen hypo-
thetischen EinfluB der Planetenbahnen auf den Menschen sein
konnte, und ebenso ist die gesamte Gestirnkonstellation, nach
der das Horoskop gestellt wird, ein subjektiv-sinnliches, ptole-
maisches Zerrbild. Was wir hier meinen, wird besonders deut-
lich, wenn man hort, dafi der mit der groBten Beweglichkeit
am Himmel wandernde Planet (Merkur) die beweglichsten Gei-
640
ster machen soil — wie ebenfalls Henseling raitteilt — , wah-
rend der scheinbar iangsamste, sonnenfernste (Saturn) die be-
dachtigsten macht. Es wird also nicht die objektive Geschwin-
digkeit der Planeten sondern die durch den irdischen Beob-
achter subjektiv modifizierte verwendet. DaB es verschwen-
dete Miihe ware, auf solcher Grundlage nach realen Beziehun-
gen zwischen Mensch und Gestirn zu suchen, Iiegt wohl auf
der Hand. Was soil man dazu sagen, daB im Horoskop Vater
und Mutter durch Sonne und Mond vertreten werden, zwei
Gestirne also, die nur fur den rohesten Augenschein ein
MPaar" sind, in Wirklichkeit aber allerverschiedenste Funktion
im System haben!
So wie der primitive Mensch sich verleiten laBt, per-
spektivisch verzerrte Verhaltnisse fiir echte zu nehmen, so halt
er auch die auBere Ahnlichkeit von Dingen fiir eine reale Be-
ziehung. Dies ist wahrscheinlich die uberhaupt friiheste Form
begrifflicher Gruppierung, und erst mit dem Fortschreiten der
Erkenntnis wird sie ersetzt durch Einteilungsprinzipien, die
sich auf das Wesen, nicht auf das Aussehen der Dinge zu griin-
den versuchen. Doktor ReiBmann sagt: ,,DaB die Rohmasse
unsrer Erfahrungen nicht nur nach kausalen Ablaufen sondern
auch nach symbolischen Gleichsetzungen sich ordnen laBt, ist
heute kein Geheimnis mehr. Alle alten Volker haben sym-
bolisch gedacht, die Naturvolker und die Traumenden tun es
noch heute. Heterogene Begriffe wie Eisen, Feuer, Leiden-
schaft, rote Farbe, die Zahl 1iinf, Fieber, Trennung und so fort,
die bei uns ganz verschiedenen Ordnungsbereichen angehoren,
gehoren im symbolischen Denken zusammen und subsumieren
sich etwa unter dem Symbol des Planeten Mars* Auf solchen
— fiir den Kausaldenkenden wirklich nicht einsichtigen — Be-
ziehungsketten griindet sich das astrologische Denken." Nun
besteht aber doch eigentlich kein Grund, Naturvolker und
Traumende als Vorbilder fiir den rechten Weg zur Natur-
erkenntnis zu nehmen. Wenn einer im Traum Zigarre, Zeppe-
lin und Phallus koordiniert, so verstehen wir die psycho-
logische Bedingtheit dieser Beziehung, aber werden wir sie als
einen Faktor realer Verwandtschaft in unser Weltbild aufneh-
men ? Die symbolische Beziehung zwischen Leidenschaf t,
Feuer und roter Farbe ist bei den Dichtern gut aufgehoben;
als Erkenntnisprinzip kann sie uns nicht wohl mehr gelten, und
sie wird durch ihr Alter nicht richtiger. Denn daB diese
Augenscheins-Symbolik fiir jedes primitive Weltbild charakte-
ristisch ist und sich auch in heutigen Gehirnen auBerhalb der
Verstandesregionen noch findet, hat einen rein psychologischen
Grund und ist fiir die Wirklichkeit nicht verbindlich. Wer sich
trotzdem einer solchen Methode bedient, zum Beispiel fiir die
Zwecke der Astrologie, kann nicht yerlangen, ernstgenommen
zu werden.
Gegen Astrologie und Chirologie spricht also,* daB sie ge-
wisse Fehlerquellen enthalten, die auf Beschranktheiten des
subjektiven Erkenntnisapparats zuriickgehen. Solange diese
Atavismen nicht aus dem Grundansatz entfernt sind, wird man
auch von der reinen Tatsachenforschung auf diesen Gebieten
nicht viel erhoffen konnen.
641
Fabian und die Sittenrichter von Erich Kastner
Die folgenden Ausfuhrtmgen waren urspriinglich als
. Nachwort zu dem soeben in der Deutschen Veflags-Anstalt,
Stuttgart, erscfaienenen Roman von Erich Kastner „Fabian, Die
Gescbichte eines Moralisten" gedacht, Bei der Drucklegung des
Bucbes mufite dieses Nachwort und ebenso ein zweites „An die
Kunstrichter" wegfallen.
F\ieses Buch ist nichts fur Konfirmanden, ganz gleich, wie
^ alt sie sind. Der Autor weist wicdcrholt auf die anato-
mische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er laBt in ver-
se hiedenen Kapitem vollig unbekleidete Damen und andre
Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an,
den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er tragt
nicht einmal Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechts-
lebens zu erwahnen. Er unterlaBt nichts, was die Sittenrich-
ter zu der Bemerkung veranlassen konnte: Dieser Mensch ist
ein SchweinigeL
' Der Autor erwidert hierauf; Ich bin ein Moralist!
Durch Erfahrungen am eignen Leibe und 'durch sonstige
Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daB die Erotik in
seinem Buch betrachtlichen Raum beanspruchen muBte. Nicht,
weil er das Leben photographieren wollte, denn das wollte
und tat er nicht, Aber ihm lag auBerordentlich daran, die
Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein
Respekt vor dieser Aufgabe war moglicherweise ausgepragter
als sein Zartgefiihl. Er findet das in Ordnung. Die Sitten-
richter, die mannlichen, weiblichen, sachlichen, sind wieder
einmal sehr betriebsam geworden. §ie rennen, zahllos wie
die Gerichtsvollzieher, durch die Gegend und kleben, psycho-
analytisch geschult, wie sie sind, ihre Feigenblatter iiber jedes
Schliisselloch und auf jeden Spazierstock. Doch sie stolpern
nicht nur lib er die sekundaren Geschlechtsmerkmale. Sie wer-
den dem Autor nicht nur vorwerfen, er sei ein Pornograph.
Sie werden auch behaupten, er sei ein Pessimist, und das gilt
bei den Sittenrichtern samtlicher Parteien und Reichsver-
bande fur das Argste, was man einem Menschen nachsagen
kann.
Sie wollen, daB jeder Burger seine Hoffnungen im Topf
hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, um so mehr
suchen sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr
einfallt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon
gibt, und weil ihnen das, was ihnen friiher einfiel, von der
Mehrheit langst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen
wurde, fragen sich die Sittenrichter; Wozu haben wir die An-
gestellten der Phantasie, die Schriftsteller?
Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!
Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er, Er sieht,
daB die Zeitgenossen, storrisch wie die Esel, riickwarts latifen,
einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz fur samt-
liche Volker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe
Andrer vor ihm und auBer ihm: Achtung! Beim Absturz
lmke Hand am linken Griff!
642
Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar
jeder hochstselber, nicht immer nur der Andre) und wenn sie
es nicht vorziehen, endlich vorwarts zu marschieren, vom Ab-
grund fort, der Vernunft entgegen, wo, urn alles in der Welt ist
dann noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der
ein anstandiger Kerl ebenso aufrichtig schworen kann wie
beim Haupt seiner Mutter?
Der Autor Iiebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit,
Er hat mir der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand ge-
schildert und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahr-
heit, eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sitten-
richter, ehe sie sein Buch im Primareffekt erdolchen, dessen
erinnern, was er hier wiederholt versicherte.
Er sagte, er sei ein Moralist,
VerSCfllOSSeneS Gold von Bernhard Citron
Ceitdem die Bank von England von ihrem Piedestal herab-
gestiegen ist, seitdem der Ehrfurcht gebietende Wahr-
spruch „Safe like the Bank of England" fast zum Witzwort er-
niedrigt wurde, entgehen auch die groBten Zentralnotenbanken
nicht mehr ubelwollendeni Geriichten. Das Schicksal der
deutschen Kreditbanken lockt zum Vergleich. Wer hatte vor
einem Jahr gewagt, Zweifel an einer der groBen Vier in der
BehrenstraBe laut werden zu lassen? Die SchalterschlieBung
der Danatbank nahm diese Scheu. Teils mit Recht, teils mit
Unrecht sind seitdem noch andre Institute ins Gerede gekom-
men. Ahnlich geht ^s heute den Zentralnoteninstituten. Man
spricht von den Schwierigkeiten der Federal Reserve Bank wie
fruher von denen der Staatsbank in Angora. Der Glaube an
das Hochste, was dem Kapitalismus heilig war, an den Dollar,
ist erschiittert worden. Wie soil unter solchen Umstanden das
Vertrauen zur Reichsbank erhalten bleiben? Bei der Betrach-
tung der Lage in den verschiedenen Notenbanken darf nicht iiber-
sehen werden, daB die Motive, die zur Aufhebung des Gold-
standards in England und Skandinavien gefuhrt Haben, ganz
andre sind als die Befiirchtungen, die fiir die Sicherheit der
Mark oder des Dollars gehegt werden. Die Aufhebung der
Goldeinlosung durch die Bank von England war eine vorwie-
gend wahrungspolitische MaBnahme, wahrend der Kampf urn
die Stabilitat der amerikanischen und der deutschen Wahrung
auf dem Schlachtfelde der Kreditpolitik ausgetragen wird. Die
Federal Reserve Bank hatte Gold genug, um Frankreich voll
auszuzahlen, aber die GroBbanken konnten den StoB, der ihnen
durch einen derartigen Kreditorenschwund versetzt wurde,
kaum mehr ertragen.
Eine maBgebende Personlichkeit der Reichsbank meinte
zu dieser amerikanischen Tragodie, daB man in den U.S.A.
nieht genug Erfahrung in Stiitzungsaktionen hatte, sonst wurde
man sich iiber solche Vorgange wie die gegenwartigen weniger
643
Sorge machen. Die Rcichsbank besitzt dicse Erfahrung aller-
dings in ausreichendem Mafic, bei ihr ist nur die Frage, ob die
Stutzungen durchgehalten werden konnen. Dahinter tritt die
wahrungstechnische zuriick. Nicht jedes Devisenloch ist ver-
stopft, aber der groBe Strom, der das Gold aus Deutschland
hinaustrug, ist zum Stillstand gekommen. Die Abzugsmoglich-
keiten, die das Stillhalteabkommen noch offengelassen hat,
sind zwar nicht restlos ausgeschopft, der Ausfall von Export-
devisen infolge der Aktivitat der Handelsbilanz kann aber
schlieBlich auf die Dauer nicht ausbleiben, Die Reichsbank
halt trotz alien entgegengesetzten Vermutungen und Behaup-
tungen an der Ansicht fest, daB die Stabilitat der Wahrung atif-
recht erhalten werden kann und muB. Urn die Richtigkeit die-
ser Stellung zu priifen, muB die Deckung der Noten nicht nur
durch Gold und Devisen, sondern auch durch Inlandswechsel
Benicksichtigung finden. Die Gold- und Devisendeckung hat
ihren bisher niedrigsten Stand erreicht, ist aber anscheinend
im Augenblick nicht weiter bedroht, Interessanter ist die Be-
antwortung der Frage, wie es urn die zusatzlichen Deckungs-
mittel der Reichsbank in Form von Inlandswechseln bestellt
ist. Schacht behauptete auf der Harzburger Tagung, daB die
groBere Halfte des Wechselportefeuilles der Reichsbank aus
Finanzwechseln bestehe; nach Angaben, die uns von durchaus
verlaBlicher Seite gemacht wurden, betragen die Finanzwech-
sel etwa ein Drittel des Wechselbestandes, Auch dieser Betrag
— ungefahr 700 Millionen — ist noch aufiergewohnlich hoch,
zumal auch die von der Reichsbank weiterbegebenen Wechsel,
die das Giro der Akzept- und Garantiebank tragen, noch kein Ri-
siko fur das deutsche Zentralnoteninstitut darstellen< Dennoch
darf man annehmen, daB die Reichsbank den Anforderungen, die
aus der Wirtschaft bisher an sie gestellt wurden, vorlaufig ge-
wachsen bleibt. Zweifelhaft ist nur, ob etwa neu hinzukom-
mende Subventionen noch den Weg iiber das Wechselporte-
feuille der Reichsbank nehmen konnen. Man kennt nicht die
genaue Hohe der bereits gewahrten, geschweige denn das Aus-
maB der kiinftigen Unterstiitzungen. Grundsatzlich steht man
in der Wilhelm- und der JagerstraBe auf dem Standpunkt, daB
der Wirtschaft geholfen werden muB, soweit nur irgend ge-
holfen werden kann. Die gegenwartige Krise ist nach Ansicht
der Reichsbank kein Reinigungs- sondern ein Vernichtungs-
prozeB, der Gerechte und Ungerechte, Gesunde und Kranke
gleichmaBig trifft. Das ist gewiB richtig, denn jeder Geschafts-
mann, jede Firma, die selbst in solidem Rahmen unternehmend
gewesen istT kann von der Krise erf afit werden, die anscheinend
nur die verkalkten und ruckschrittlichen Unternehmer schont,
Unter diesen Umstanden glaubt auch die Reichsbank, ihre
liberale Kreditpolitik fortf iihren zu miissen. Das mag zu recht-
f ertigen sein, obwohl die 5f f entlichkeit durch Geheimhaltung
eines Teiles der bisherigen Subventionen kein klares Urteil
gewinnen kann. Der Vorwurf, der gegen Reichsregierung und
Reichsbank erhoben werden muB, bezieht sich indessen auf
die Zeit vor dem 13. Juli. Als der Hooverplan verkiindet
wurde, glatibte auch Doktor Luther, der. Gipfel der Krise sei
(iberwunden, und die am Tage zuvor angekiindigten scharfen
644
RestriktionsmaBnanmen wurden plotzlich wicdcr zuriickgenom-
men. Es ist allgemein bekannt, daB an dcr Borse in jenen Ta-
gen einc „HooverhausseM zum Ausbruch kam, der die GroB-
banken — vor allem auch die damals bereits ruinierte Danat-
bank — schmunzelnd zusahen, ohne die nie wiederkehrende
giinstige Verkaufsgelegenheit zu ergreifen. Die Reichsbank
hatte in dem Augenblick durch RestriktionsmaBnahmen — so
paradox das auch klingen mag — die Liquiditat der Banken
erhoht.
In einer Volksversammlung der Vorkriegszeit wurde dem
Redner, der sich um die Kandidatur zum Reichstag bewarb,
zugerufen: (,Sie Bimetallistl" Der Zwischenruf verfehlte seine
Wirkung nicht, denn die meisten der " Anwesenden glaubten,
daB Bimetallisi etwas Ahnliches wie Bigamist sei. Trotz aller
Erfahrungen der Nachkriegsjahre ist die Wahrungstechnik
heute erne Geheimkunst wie ehedem, GroBe Sachverstandige
von internationalem Ruf legten in wissenschaftlich fundierten
Artikeln die Griinde dar, die dem Golde den Weg nach den
Vereinigten Staaten wiesen; Europa miisse — so hieB es vor
noch nicht langer Zeit — in immer starkerm MaBe von den
ILS.A. abhangig werden. Das erklarte man, bis eines schonen
Tages das Gold seine Richtung anderte und wieder aus Ame-
rika nach Europa zuriickfloB. Die hervorragenden Experten
lief erten auch den biindigen Beweis fur die Tatsache, daB Sil-
ber aufgehort habef Wahrungsmetall zu sein, und heute wird
wiederum von groBen Kapazitaten erklart, die Wahrung der
Zukunft werde aus Gold und Silber zusammengesetzt sein*
Werden nicht alle diese wahrungstechnischen Momente iiber-
schatzt? VergiBt man nicht in der ganzen kapitalistischen
Welt vollkommen, daB es nicht darauf ankommt, ob eine Zen-
tralnotenbank Gold, Silber oder Kaurimuscheln, die bei den
Polynesiern die Miinzen ersetzen, in ihren Kellern verstaut
hat, und daB allem wichtig ist, ob das Kreditsystem eines Lan-
des auf festen FtiBen steht?
Ein europaischer * Staat besaB nach den Ausweisen seiner
Notenbank einen ho hen Goldvorrat. Dieses Gold wurde
krampfhaft zuriickgehalten, Gesetze und Bestimmungen verbo-
ten die Ausfuhr. Da sank die Wahrung dieses Landes immer
tiefer, weil das Gold statt der Stutzung des Wechselkurses zu
dienen, nutzlos in den Kellern der Bank ruhte, Allmahiich aber
bildete sich eine Legende, die das Geheimnis dieser Wahrung
zu entschleiern suchte. Geheimnisvoll fliisterte man sich zu,
daB die Bank von . < . gar nicht das Gold besitze, das nach
ihren Ausweisen vorhanden sein miiBte. Heute kann die Un-
wahrheit dieses Geriichtes als erwiesen angesehen werden,
ebenso erwiesen allerdings ist auch die Unfahigkeit der damals
leitenden Manner des Finanzministeriums und der Staatsbank,
die glaubten, daB der Besitz des Goldes die Wahrungsstabilitat
unter alien Umstanden garantieren mufite. Das Gold hinter
SchloB und Riegel hat den gleichen Wert wie das Scheckbuch
von Morgan auf einer einsamen InseL Frankreich, das durch
Sparsamkeit und Vorsicht, durch Poincar6s Energie und die
645
"ZurCickhaltung — nicht Riickstandigkeit — seiner Wirtschafts-
organe zum Fels inmitten allgemeinen Wahrungsverfalls ge-
worden ist, steht vor einer verantwortungsvollen Aufgabe. Von
den Amerikanern heute hohere Zinsen zu verlangen, ist sein
gates Recht, selbst wenn es sich dabei in den Augen derWelt
in eine Shylockrolle hineinspielen sollte, die man in Paris
^vor fiinf Jahren den ILS.A, zugedacht hatte. Viel schlimmer
ware es, wenn die franzosische Regierung und der President
der Vereinigten Staaten iiber Wahrungstechnik und Goldver-
schiffungen die Gesundung der Weltwirtschaft und die Wieder-
lierstellung des internationalen Kredites, das Fundament der
Geldstabilitat, vergessen sollten. Die gegenwartige Krise, die
vor keinem noch so groBen und noch so gut gepanzerten Tresor
Halt macht, ist kein ausschlieBliches Wahrungsproblem, son-
dern wurde erzeugt dutch den Zusammenbruch des internatio-
nalen Kreditsystems.
An das Baby von Theobald Tiger
A He stehn um dich herum:
Photograph und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti ...
Sie wackeln mit dem Schliisselbund,
frdhlich quiet scht ein Gummihund.
„Baby, lach mall" ruft Mama,
„Guck", ruft Tante, „eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an . . »
Na, und dann — was meinste?
Weinste.
Spater stehn um dich herum
Vaterland unci Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsehe und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kraht auf seinem Mist,
weifi genau, was Wahrheit ist,
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an . . .
Na, und dann — was machste?
Lachste,
Dies ist das Einleitungsgedicht zu dem Sammelband Kurt Tucholskys
t,Lerne lachen ohne zu weinen", der soeben im Verlag Ernst Rowohlt,
Berlin, erschienen ist.
•646
Bemerkungen
Gegen die Bonzen des Aeskulap
Llaben in dem allgemeinen Zu-
■'■ * sammenbruch von Wirtschaft,
Demokratie und Kultur MStan-
desfragen" iiberhaupt noch einc
Berechtigung?
Antworten sollen geben: abge-
baute Junglehrer, die im Kohlen-
pott schuften, Philologen, die sich
den Unterhalt als Aufwascher ver-
dienen, Architekten, die als An-
streicher gehen, das Heer der
Studenten, das Karren schiebt
und Zeitungen verkauft, Schrift-
steller, die sich vom Wiirstchen-
handel ernahren, kurz alle die
sollen antworten, die infolge der
kapitalistischen Krise fvir immer
ihren „StandM verloren haben.
Hierunter gehoren nicht zuletzt
auch die Jungarzte, denen die ein-
zig mogliche Existenzgrundlage,
die Kassenpraxis, vorenthalten
wird, Sie alle pfeifen auf die
Standesehre, die ihnen nicht ein-
mal das Salz zum Brot gibt. So
unglaublich es allerdings klingt,
so wahr ist es leider, Inmitten
einer Welt zusammenkrachender
Vorurteile und Standesprivilegien
beweisen uns die Bonzen des Aes-
kulap, daB es in unsrer garenden
Zeit immer noch Leute gibt, die
unberiihrt und unbeschwert von
der Not ringsum von ihren golde-
nen Sesseln herab das hohe Lied
der Standesehre floten, Es sind
dies jene papstlichen Wtirden-
trager der Arzteorganisation, die
anlafilich der Anfang November
stattfindenden berliner Arztekam-
merwahl das Dogma vom „freien"
■a
Arztberuf als Patentlosung pre-
digen, Zu diesen Standesaposteln
gesellen sich neuerdings die Ha-
kenkreuzarzte, die zum Standes-
diinkel noch den Antisemitismus
zulegen. Erfreulicherweise gibt es
aber wie in jedem andern Berufe
unter den Arzten eine fortschritt-
liche Bewegung, die auf radikaler
weltanschaulicher und politischer
Grundlage nicht nur die Standes-
fragen negiert. sondern positiv
durch ihren Anschlufi an die
freien Gewerkschaften die Ge-
meinsamkeit der okonomischen
und politischen Interessen aller
Hand- und Kopfarbeiter praktisch
betatigt. Dieses Bundnis beseitigt
nicht nur Standesvorurteile son-
dern hebt auch den. verhangnis-
vollen Gegensatz zwischen Arzt
und Kassenmitgliedern auf. Die
freigewerkschaftlich organisierten
Arzte kampfen nicht auf dem
Boden historisch uberholter An-
schauungen fiir die Erhaltung des
freien Arztberufes. Sie treten mit
der groCen Oberzeugungskraft, die
ihnen ihre sozialistische Welt-
anschauung verleiht, fur die So-
zialisierung des gesamten Heil-
wesens ein. Das heiBt die Losung
der arztlichen Berufs- und Wirt-
schaftsfragen vom Standpunkt der
Allgemeinheit aus. Wenn Bernard
Shaw in seiner Vorrede zum
„Arzt am Scheidewege*' bereits
vor einem Menschenalter forderte,
daB Harveystreet (Sitz der arzt-
lichen Autoritaten) in ein stadti-
sches Amt verwandelt werde und
dafi die Nation fiir die arztliche
Betreuung der Schulkinder und
Professor Mathilde Vaerting
Wahrheit und Irrfum in der
Geschlechterpsychologie
Steif kartoniert 5,80 RM.
In diesem Werk, werden die Irrtumer der bisherigen
Geschlechterpsychologie aufgewiesen, sodaB das ge-
samte Fundament der geltenden Anschauungen uber
Mann und Weib ins Wanken kommt. „ , „ .
Vossische Zeitung
ERICH LICHTENSTEIN VERLAG WEIMAR
647
der Erwachsenen aufkommen
milsse, so kann man hieran er-
mcssen, wie unendlich trage die
Entwicklung in dieser Richtung
verlauft, Nicht die arztliche Ein-
sicht, nur der revolutionare
Kampf der arbeitenden Klasse hat
seit 1918 die Frage der Soziali-
sierung des Heilwesens auf die
Tagesordnung gestellt. Die Ver-
gangenheit beweist, dafi jeder
Fortschritt auf dem Gebiet der
Kommunalisierung auch im Heil-
wesen nur gleichzeitig im Zu-
sammenbang mit den politischen
Errungenscbaften der Arbeiter-
klasse erreicht werden kann. Die
Vertreibung der Arbeiter aus den
in der Revolution eroberten
Schiitzengraben durch die Offen-
sive der Konterrevolution trifft
grade das Gesundbeitswesen be-
sonders hart.. Die Entkommunali-
sierung auf diesem Gebiete
scbreitet liber die elementarsten
Lebensinteressen der nichtbe-
sitzenden Bevolkerungsschichten
binweg. Die Arztekammer, deren
Bedeutung als Standesparlament
angesicbts des Artikel 48-Regimes
noch fragwurdiger ist als ehedera,
wird von der fortscbrittlichen
Arztescbaft trotz alledem benfitzt
zum Kampf gegen den Abbau der
sozialen Fursorgeeinrichtungen,
der Entkommunalisierung des
Heilwesens, gegen die reaktionare
Strafrechtsreform, insbesondere
fur die Aufbebung des § 218,
andrer unhaltbarer Sexualpara-
graphen, der Todesstrafe etcetera.
Die freigewerkscbaftliche Arzte-
liste, die uberparteilicbe Liste der
sozialistischen Arzteschaft, ver-
tritt in diesem Wablkampf gegen-
iiber den reaktionaren Standes-
listen die Interessen der Volks-
gesundheit, das heifit die Inter-
essen der Allgemeinheit.
Minna Flake
Zu Schniizters Tod
Vurtickdenkend an Arthur
" Schnitzler und an die Freu-
denf die er uns ein Menscbenalter
hindurch erleben liefl, uberfallt
mich die Trauer: was wird mit
Osterreich? Es ist nicht die ge-
peinigte kleine Zwangsrepublik,
nicht die Doppelmonarchie, die,
es ist "eine allgemeine Weisheit,
auch fur die meisten Bewohner
ein Zwangsstaat war, was ich
meine, fur das zu fiirchten, urn
das zu trauern ware, — es ist der
Geist Osterreichs. „Das ist kein
Staat, das ist ein Zustand", hat
ein Osterreicher gesagt, naturlich
voll Bitterkeit hat er es gesagt,
als eine Verurteilung des Staats
wie des Zustands. Da der eine
vergangen, der andre im Verge-
hen ist, versteht man nicht mehr
die bittere Selbstverurteilung.
Denn was bleibt, auch bei den
Osterreichern? Heimatliebe ohne
Gleichen und die schmerzende
Sehnsucht nach der Vergangen-
heit.
Immer haben Nicht-Osterrei-
cher, „gelernte Osterreicher" ge-
reenter geurteilt und sich offener
zu jenem Geist bekannt, — wenn
sie ihn nicht schlechthin verwar-
fen und verdammten. Die das
taten, waren meist Preufien, die
mit ihrem Ideal Bismarck den
Bayern „den Ubergang vom Men-
schen zum Osterreicher" nannten.
Fur das Nicht- Verstehen Andrer
sind sie nicht ohne Grund be'
ruhmt,
Vom Anatol und dem siiBen
Madel, dem Leutnant Gustl, dem
Fabrikanten Reithofer und dem
Professor Bernhardi die unuber-
sehbare Reihe von Frauen und
Mannern, Bankiers, Dichter,
Schauspieler, Aristokraten, Arzte,
Beamte, Offiziere — alle Oster-
ZWANZIG JAHRE WELTGESCHICHTE
in 700 Bildern. 1910— 1930. Einleitung von' FrtedrichSieburg. Gr.8.
Dieses Bilderbuch soil dem Betrachter nfcht die gelstlge MUhe ersparen, die im
Lesen Hegt Die zueammenfassende Betrachtung derletzten 17 oder
20 Jahre, ohne daB die Tatsachen durch eine Deutung verhQIlt oder
gef&rbt wtlrden, mag elnen neuen Weg welsen odererkennen laseen.
TRANSHARE_VERLAG A.-0., BERilN W 10
648
Lelnen
5.80 RM
reicher, Osterreicher, nur gedacht,
nur denkbar in dem seltsamen
Staatsgebilde, das zusammener-
obert und -geheiratet, inhomogen
im Nationalen wie im Kulturel-
len, endlich doch eine Mittel-
schicht erzeugt hatte, die nur hier
und so sein konnte und die, wie
sie war, weit mehr gute, liebens-
wurdige, treffliche Eigenschaften
hatte, als Fehler. Spanisches Hof-
zeremoniell und ostliche Juden-
scbaft hatten, sie zu bilden ge-
holfen, alpines Deutschtum, ma-
gyarisches Talent, siid- und west-
slawische Bauernschlichtheit, Ge-
nerate und Abenteurer aus Irland
und Frankreich, siiddeutsche und
italienische Einfliisse, Rumanen,
Albanier, Tiirken, Katholizismus
und Freigeisterei, Absolutismus
und Sozialdemokratie, Gelehrtheit
und Anal phabe ten turn, — zum
Schlufi aber grade ehe ihr Nahr-
boden zerrissen ward, stand sie
fest, zwar undefinierbar aber fur
das Gefiihl, fremdes wie eignes,
unverkennbar. Und wenn nicbts
ihre Existenz und Eigenheit be-
wiese, so ware sie, als abgegrenzte
Erscbeinung, dargetan dadurch,
daB sie ihre Dichter fand, daB
sie Stoff ward fiir Kunstwerke.
Ob sie aber die Dichtung, die sie
hervorbrachte, uberleben >wird?
Arthur Schnitzler betrauerte
einmal eine Tote. Zu einem, der,
verzweifelt wegen desselben Ver-
lustes, zu ihm kam, sagte er tro-
stend: „Nun, da ihr Korper nicht
mehr lebt, wird ihr Geist immer
lebendiger werden". Aber das
Band zwischen den beiden Trau-
ernden, das die Freundschaft fur
eine Frau kniipfte, war zerrissen.
Daran muflte ich denken, als ich
jetzt las, wie sehr Schnitzler auf
die Zukunft gerechnet hat. Der
zeitlebens nie ohne Todesfurcht
war, hat unter andern hinter-
lassenen Manuskripten eines zur
Veroffentlichung „in funfzig Jah-
ren" bestimmt. Er glaubte an das
Weiterleben im Geist, er wollte
mit aller Geistesmacht daran
glauben.
Der ich wehmiitig zuruckdenke
an die Welt, in der Arthur
Schnitzler wuchs, die er innig ran-
fafite, die er neu erschuf, ich
zweifle. Ich' habe mich nicht ge-
wundert, daB des Dichters letzte
Stiicke an einem Theater und
dann nicht mehr gegeben wurden,
daB seine friihern viel bewahrten
keine Reprisen mehr fanden, Wer
weiB noch von dem alten Oster-
reich, wer kennt es noch? Ver-
standen haben es auch friiher we-
nige, aber es war ihnen als Reali-
tat bewuBt, sie nahmen es, oft
widerwillig, hin. Da es als Staat
zerschlagen ist, wird es auch als
Zustand hinfallig,
Wie stark es war, wie fesselnd,
wie vielfaltig, wie bind end, zwin-
gend, das zeigt das Epos, das ein
Jungerer, Robert Musil, mit ibm
erfullte: „Der Mann ohne Eigen-
schaften", von dem ein Band mit
tausend Seiten vor einem Jahr er-
schien, ein zweiter starkerer be-
yorsteht. Hier schillert, glitzert,
spiegelt sich, hier verdunkelt sich,
sinkt ab und fallt dahin; Oster-
reich, ein groBesf machtiges und
schwaches, elastisch - zahes und
zerf allendes, vielgespalten - ein-
heitliches Gebilde, feindlich in
sich zerrissen und doch von einem
Geist* Ich kann die alten Ge-
nerate und Grafen gut verstehen,
die den Narren-Putsch des Pfri-
mer mitmachten, weil sie meinen,
man miisse nur wollen, so werde
das Alte neu erstehen, Und ich
kenne deutschnationale Sozialde-
mokraten, die mitmarschieren
FRIEDEN UND FRIEDENSLEUTE
Genfereien v. Walther Rode. Schutzumschi. v. GULBRANSSON
Das Elend kommt von dertragischen Befllssenheit, den Bock derZeiten zu melkentob
er Milch geben kann Oder nicht. Niemand weiS, wohin die Mensch-
heit steuertj ob sie leben oder sterben will; gewiS ist nur, daB sie
das nicht will, was Ihr die Obertehrer der QIQokseligkeit zudenken.
TRANSMARE VERIjAa A.-0.v BERLIN W 10
Kartoniert
3.— RM
649
wiirden, verbote ihnen Erkennt-
nis nicht dieselbe Meinung.
Abcr ich glaube: Osterreich
geht dem Ende zu. Es hat sich
gelohnt, fur den Anschlufi zu
kampfen, weil zu hoffen war,
Osterreichs . Gcist werde eine
gliickliche Synthese eingehen mit
dem andern Deutschtum, werde
sich crhalten im groBern Deutsch-
land, werde es mildern und sich
an ihm starken, werde PreuBen
Europa naher bringen. Nun ist
der Anschlufi, vorher schon un-
wahrscheinlich genug, durch die
frivole Leichtfertigkeit der Zoll-
unionserklarung auf unabsehbare
Zeit vertagt. Und die Franzosen
wollen nicht verstehen, was
Osterreichs Geist an Pazifizierung
des Preufientums bringen konnte.
Ihre Generale rechnen mit dem
Rechenstift Rekrutenzahlen nach.
Die Gedanken bei Arthur
Schnitzlers Tod sindf iiber den
Todesfall hinaus, tnibe. Es gab
eine Spielart europaischen Den-
kens in deutscher Sprache, die
melancholisch-heiter war, resig-
niert-frohherzig, bescheiden, lei-
se, melodisch, Von Harmonie be-
wegt, ein Zustand, dem Geist der-
preuBischen Armee kontrar: Oster-
reich,
Aber kann Geist allein leben?
Der stete Zustrom aus den Win-
keln des Reichs versiegt, die Kre-
ditanstalt ist sozialisiert, Roth-
schild bankrott, die Universitat
vernazit, das Burgtheater vor der
Schliefiung, Arthur Schnitzler
ward begraben.
Rudolf Olden
Das da ist ein Komma. So
wenig man es als t)ber-
schrift verwerten kann, so wenig
kann man es, wie wir gleich sehn
werden, an einer andern Stelle
gebrauchen. Kommen Sie mit auf
die Kommajagd — ?
Deutsche Interpunktion ist,
wenn jeder macht, was er will.
Zum Beispiel bei einem der besten
Obersetzer aus dem franzosischen,
bei Ferdinand Hardekopf, so:
„Der Alkohol verheert schlei-
chend das Land, und zwar in
weit hoherem Mafie, als die, nur
den Konsum der offentlichen
Schankstatten erfassenden Sta-
tistiken es erkennen HeBen."
Falls es eine Gottheit gibt, die
sich mit der Interpunktion be-
fafit, so wird sie gebeten, ihr
Antlitz zu verhullen. Man lese
sich den Satz mit dem Komma
vor, und man wird die Spitze
hinter „die" fuhlen. Und' der
von mir hochverehrte Hardekopf
steht mit diesem Komma nicht
allein da. Irgend eine Akademie-
groBe interpungiert auch so — es
ist herzzerreifiend.
„Meine, neben diesen aufier-
lich robusten Bauerngestalten
fast schmachtige Figur . . /' aber
warum muB denn noch dem Auge
und dem Atem ausdriicklich kund
und zu wissen getan werden, dafi
dieses dem Substantiv gehorige
Adjektiv noch einen Zusatz hat!
Es geht doch bei solchen in der
deutschen Sprache nicht immer
vermeidbaren Langen sehr gut
auch ohne Komma, wie diese
d& •
Qjin& *ti£&(/^
bat jeder Kenner zu seiner
ABDULLA Nr. 1 6
o\M. und Gold Stuck 10 Pfg.
Abdulla & Co. • Kairo / London / Berlin
650
Beispiele hier zeigen! 1st unser
Satzbau noch nicht verzwickt ge-
nug? Bei Doblin haben die
Kommata die Masern, sie bleiben
daher alle zu Hause, Bei Harde-
kopf wieder hat einer, Hm das
Polgarsche Bild zu gebrauchen,
den Text mit der Komma-Buchse
bestreut, und jetzt stocken Auge
und Atem. Dabei wird das
nicht einmal konsequent gehand-
habt. Hardekopf schreibt zum
Beispiel richtig: ,,die meiner Ver-
waltung anvertratite Bewohner-
schaft", wobei denn offenbar der
bestimmte Artikel nicht durch
ein Komma vom Zusatz abge-
trennt wird, wohl aber das besitz-
anzeigende Fiirwort. Nein, es ist
wirklich nicht schon. Ich warne
nur deshalb dav&r, weil es keine
Sprachdummheit gibt, die sich
nicht sofort, einer Grippe gleich,
ansteckend verbreitet. So hat
Doblin etwas Schones angerich-
tet*. weite Strecken mancher Lite-
ratur haben den Kommata -FraJ3
und die Interpunktionsraude.
Mit allem schuldigen Verlaub.
In diesen bewegten Zeiten. Weil
wir sonst keine Sorgen haben.
Peter Panter
Spruche
YV7irklich kriegerische Naturen
w tun gut daran, sich offent-
lich zum Pazifismus zu bekennen.
Mit keiner andern Weltanschau-
ung gelingt die Provokation der
ganzen Welt so griindlich. Wer
also seiner Natur nach Kampfe
braucht, findet unter Pazifisten
den geeigneten Platz,
Gott ist tot, es leben die
Cotter! Nietzsche hatte sich das
Jubilieren liber Gottes Tod uber-
legt, hatte er seine Nachf olger
und Erben vorausgeahnt.
Vielleicht ist es eine Art boses
Gewissen, das die Menschen ver-
anlafit, besonders gut iiber die-
j enigen Eigenschaf ten zu reden,
die man in der Praxis am selten-
sten zu Wort kommen laflt. So
geht es mit der Vernunft! Sie ist
in aller Munde, wird aber von
jedem angstlich aus dem Bereich
des taglichen Lebens verwiesen.
Niemals kommt ein Mensch durch
unverniinftige Taten so leicht in
den Ruf unzurechnungsfahiger
Uberspanntheit als wenn er ver-
sucht, im Namen der Vernunft
schadliche oder schandliche Ge-
wohnheiten der Welt abzuschaf-
fen, Denn Vernunft ist ein
schones Wort, aber niemals ein
Argument, Sie ist ein ^Schmucke
Dein Heim, aber Gott bewahre
kein Gebrauchsgegenstand, Man
mufi schon arg exaltiert sein, um
Gebote der Vernunft realisieren zii
wollen.
*
Nichts reizt so zur Nachahmung
wie abschreckende Beispiele,
Evelyn Futo
Neue Arbeiterchflre
r\ ie Arbeitersangerbewegung, ur-
*-* sprunglich entstanden aus Ge-
selligkeitsbediirfnis und Bildungs-
streben, ist heute zu dem wichtig-
sten Kampfplatz geworden, auf
dem die soziologischen und asthe-
tischen Musikfragen unsrer Zeit,
endlich befreit aus der papierneh
Enge j ournalistischer Diskussio-
nen, ausgetragen und entschieden
werden. Die grofie Musik-
revolution, die wir in den Nach-
kriegs j ahren erlebt haben, hat
sich zumindest vorlaufig in einer
klaren Schichtung unsres Musik-
lebens ausgewirkt. Die immer
noch grofie Zahl der traditions-
yerbundenen Horermasse mag
in den reprasentativen Orchester-
Soeben erschienenl in alien Buchhandlungen erhaltlichl
STALIN & CO.
von R. N. Coudenhove-Kalergl
Ein Blitzstrahl am Rande des Abgrundes ist diese
neueste Schritt Coudenhoves. Sie beleuchtet
Rufilands Machtstellung und Europas Macht-
zerrUttung. Ein Weckruf in zwfilfter Stunde
S4 Seiten — 90 Pfennig
PANEUROPA VERLAG, LEIPZIG-WIEN
651
konzerten, in der Staatsoper, vor
allem jcdoch wieder in der (hof-
fentlich endgultig!) von dilettan-
tischem Schlendrian gereinigten
Stadtischen Oper bei ihrer altbe-
kannten, bestens bewahrten Mu-
sik den Genufi finden, den sie
sucht. Der Rundfunk kann gegen-
wartig infolge der Oberempfind-
lichkeit seines technischen Ober-
tragungsapparates lediglich An-
r.egungen fiir eine grundlegende
Revision unsrer kiinstlerischen
Aufftihrungspraxis vermitteln —
als Pionier neuer musikalischer
Formen bleibt er vorlaufig auf
den von der Zensur gesteckten
Rahmen beschrankt (und ver-
schreibt sich inzwiscben fiir seine
musikalischen Horspiel-Versuche
den substanzlosen Reimeschmied
Robert Seitz),
Was die Arbeitersanger zu sa-
gen und zu singen haben, das
zeigten sie kiirzlich bei zwei Ver-
anstaltungen, in denen j e ein
neues Chorwerk zur Auffuhrung
gelangte; Tiessens flAufmarschM
bei dem Jubilaumsfest des sozial-
demokratiscben Kulturbundes in
der Volksbiibne und das Kollek-
tivwerk lfSolidaritat" bei der
Feier des zebnjahrigen Bestebens
der LA.H. im Sportpalast. Soli-
daritat — das ist fiir den kommu-
nistischen Arbeiter kein leerer
Begriff, keine hohle Phrase, kein
blofies agitatorisches Schlagwort,
binter dem keine Realitat steckt
— Solidarity das ist das hun-
gernde Volk in RuBland zu den
Zeiten nach der Macbtergreifung,
das sind die streikenden Britder
im Ruhrrevier, das ist der chi-
nesische Kuli in den iiber-
scbwemmten Gebieten, fiir die er
seinen letzten Groschen herge-
geben hat, Der Mythos von der
proletariscben Solidaritat wirkte
hier zusammen mit . dem Mythos
RuBland, urn ein von denr San-
gern selbst durch verbindende
Worte zusammengestelltes Chor-
werk entsteben zu lassen, dessen
mitreittender Eindruck nicht zu-
letzt auf der Scblagkraft der ein-
zelnen Chore beruhte (neben
Vollmers ,,Drei-Millionen-Meer"
und Eislers IAH-Lied vor allem
„Der heimliche Aufmarsch gegen
die Sowjetunion" von Wladimir
Vogel).
Dagegen wirkte der „Auf-
marsch" von Tiessen, nocb dazu
eingeleitet durch schulmeisterlich
selbstgefallige Worte eines Bil-
dungsfunktionars der SPD, aka-
demisch, blutleer, unwirklieh.
Tiessens kompositionelles Konnen
zerschellt an dem liberalistischen
Phrasenschwall eines wertlosen
Textes:
DaB die Welt vollkommen sei,
stehen wir zusammen . , .
Und in der Wfiste der Zeit
nabrte uns alle
das Brot der Hoffnung
Sind dies die letzten geistigen
Reserven der SPD fiir ihre offi-
ziellen Parteiveranstaltungen?
. Otto Mayer
Zwlschenstufen
GroBe Naziveranstaltung. An
der Kasse ein biederer Pg.
Alles, was zu der „herrlichen Be-
wegung" gehort, erhalt verbilligte
Eintrittskarten, Kommen da drei
Jungfrauen, zwei mit dem Ab-
zeichen des Luisenbundes ge-
schmuckt, Der rauhe Krieger
grunzt: ,,Zwei Luisenbund und
einmal normal'*.
Wollen Sie welter schuften
nur urn zur Not am SchluB zu einem besseren Begrabnis zu kommen,
oder wollen Sie hier auf Erden schon Ihr Kraftekapital in f estverzinslichen
Werten der Ewigkeit anlegen? Sie glauben nicht an diese Ewigkeit? Wie
aber, wenn Hunderttausende in aller Welt heute schon langst zur Gewifi-
beit kamen, daS sie bereits mitten im ewigen Leben stehen? Der im
Yerborgenen lebende Mann, dessen Schiller diese Hunderttausende sind,
ist Bd Yin Ea, dessen Originalbiicher in deutscher Sprache wir verlegen.
l>ie Broschiire: „Weshalb B6 Yin Ra?a von Dr. jur. Alfred Kober-Staehelin,
die Sie kostenfrei von uns erhalten, wird Ihnen Naheres sagen. Kober'sche
Yerlagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
652
Der Konflikt Liebe WelibObtie
rs hatte cinmal ein Konflikt A^s das berliner Lessing-Theater
sich selber in sich selbst verstrickt ^^ vor kurzem ,.Junge Liebe"
^ VM1 spielte, ein Lustspiel unter zwei
„Es bleibt mir ke,ne andrc Wahl", Ehepaaren, die den Partner wech-
8o dacht cr in Erstickuntfsqual. sel„( allerdings nur voriiber-
„Ich fliege zum Planetcn Erde, gehend, wurde eines Tages der
auE dafi mir striktc Heilung werde." Direktor Klein am Telephon ver-
Iangt.
Auf seinem Herzcn diese Bitte, TT. _ . -. , , v it
u * u -v. i. d a mi* ,.riier Bankdirektor A, rierr
begab cr sich nach Preuflen-Mitte. ,-. ', . T,, . « * i
Doktor Klein? Ja alsof wir waren
Und so ist der Konflikt im frommen, gestern in ,Junge Liebe', ein Ge-
tnsbesondere unter die Deutschen schaftsfreund und ich. Reizendes
gekommen. Stiick. Blofi eins war uns nicht
Margarete Voss "ar. Und da haben wir ganz ein-
fach gewettet. Und letzt sagen
Trotzdem ^ie uns *"ttc: nat die Mosheim
M_, f . , . , , mit dem Homolka oder hat sie
it Riicksicht auf das hart- nicht r '
nackige Leugnen und die p u D D k RJ in.
A rJl°Sdet A £ZaI l -Wie hoch haben Sie denn ge-
Angeklagten, der, trotzdem er " ,, ,-„ &
verheiratet war, ein Sittlichkeits- we
verbrechen beging, muflte uber „Tausend Mark.
die Mindeststrafe hinausgegangen Doktor Klein; t) Wenn Sie mich
werden. mit fiinfzi'g Prozent beteili&en,
Aus einer Urteilsbegriindung sage ich es Ihnen."
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutscher Lyceumsclub, Liitzowpfotz 15. Freitag, 20. 10; Das Verhaltnis der Geschlechter
in seiner Bedeutung fiir das politiscbe Gleichgewicht, Mathilde Vaerting.
Internationale Ausstellung Frauen in Not. Plalz der Republik 4. Sonnabend 19.00:
Autorenabend. Es sprechen: Maria Leitner und Anna Seghers.
Hamburg-Altona
Gruppe Revolutionarer Pazifistcn. Dienstag (.'.11.) Volksheim, EichenstraOe. 30.00: Die
Parteien und der Kampf gegen den Krieg.
Bficher
Max Brod: Stefan Rott oder Das J&hr der Entscheidung. Paul Zsolnay, Wien.
Josef Conrad: Die Rettung. S. Fischer, Berlin.
Karl Jakob Hirsch : Katserwetter. S. Fischer, Berlin.
Joseph Kastein: Eine Geschichte der Juden. Ernst Rowohlt, Berlin
Erich Kastner; Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart.
Will: Munzenberg: Solidaritat. Neuer Deutscber Verlag, Berlin.
Liam CTFlaherty: Verdammtes Gold. S. Fischer, Berlin.
Franz Werfel : Die Geschwister von Neapel. Paul Zsolnay, Wien.
Hier schreibt Paris. Herausgeber: Alfred Wolfenstein Internationale Bibliothek, Berlin.
Rundfunk
Dienstag. Langenberg 18.00: G W. Pijet liest. — Leipzig 19.00: Forum der jungen
Generation. — Berlin 19.10: Schauspieler in Not, H. Nerking und Herbert Jhering. —
Breslau 21.40: Hermann Kesser liest. — Mittwoch. MOhlacker 19.05: T. G Masaryk,
Hermann Wendel — Berlin 19.45: Ganz alltagliche Ballade von Alice Ekert-Roth-
holz. — Donnerataff. Berlin 17.30: Leo Lama liest — 19.35: Die FranzSsische Re-
volution und das alte Europa, Prof. Fritz Hartung. — Langenberg 20,00i Figaros
Hochzeit von Mozart. — Mfinchen 20.30*. Dantons Tod von Btichner. — Frcitstjr.
Leipzig 17.30: Die Wahrhett ttber Nietzsche, Ludwig Marcuse. — Berlin 17.40: Prof.
Otto Hoetsch spricht uber ..Der rote Handel lockt" von Knickerbocker. — Sonn-
abend. Berlin 16.30: Die Erzahlung der Woche, Franz Blei. —Frankfurt 18.40: Die
heutige Lage des Schriftstellers, Hermynia zur Muhlen, Alfons Paquet, Otto Schwa-
nn und Ernst Schoen. — Leipzig 20.00: Egmont von Goethe. — Breslau 21.10:
Claire Waldoff singt Chansons. — Sonniag: Leipzig 18.C0: Der Unbekannte von
Collegnd (der Fall Bruneri-Canella), Horspiel von Walther Franke-Ruta.
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Antworten
Peter Lennis- Sie schreiben: „In einer k&tholischen Kirche in
Schoneberg stcht gleich nebcn dem Weihbecken ein Tisch mil frisch
gebackener katholischer Literatur. Da ist eine Broschiire mit dem
klagenden Titel: pollen die Wiegen leer bleiben?' Mit sanftem
Pathos setzt sich hier der Georg Plohowich fur den vielumstrittenen
Paragraphen 218 ein. ,Du sollst nicht toten! Horst du es, Frau und
werdende Mutter?!'... ,Sotl der Fluch der Stinde, der taglichen Ver-
brechen in Erfiillung gehen und ein Volk, eine ganze Rasse vernichtet
werden?1 steht am Ende des ersten Kapitels. An alien gegebenen
Tatsachen gehen diese Frommen voriiber. ,Wie gleichgiiltig, ja aus ihren
geschminkten, vom Laster gezeichneten oder von Gier gebrandmarkten
Gesichtern grinsend, lassen diese Mutter furchtbaren Mord gesche-
heh.' MuB man dem frommen Mann wirklich erst erklaren: Die Ge-
sichter dieser Tausenden von Arbeiter- und Biirgerfrauen, die keinen
Platz mehr im Zimmer und kein Brot im Hause haben, um noch ein
Kind zu ernahren, sind nicht vom , Laster' gezetchnet, wie sich der
kleine Pater Moritz das vorstellt, sondern vom Hunger! Wichtiger als
daB ,die Wiegen- leer sind' ist heute, daB der Brotkorb leer ist. Aber
auch dafiir hat der Autor einen Trost: Er ruft uns einen weisen Satz
aus dem Volksmund zu: ,Schickt der Herr das Haserl, gibt er auch
das Graserl!' Aber Hochwiirden wiirden wohl seinen Volks-Mund und
Nase aufsperren, wenn man ihn bate, all die satt zu machen, die kein
,Graseii' haben. Als letzten Ausweg fiir die, die schon sechs oder sieben
Kinder haben und ,ein achtes wirklich nicht mehr ernahren konnen', rat
er Enthaltsamkeit. (Unbegreiflich ist es nur, warum der, in dessen
Naracn dieser Ei frige zu sprechen glaubt, nicht gleich die Halfte aller
Menschen als Eunuchen geschaffen hat.) In einem andern Buch am
gleichen Platze ,Die scheme Zeit der jungen Liebe, Fur Jungmannen!'
fin den wir weitere Anleitungen zu diesem Thema, ,Von der Stirne
heiB rinnen muB der SchweiB, soil das Werk den ^leister loben. —
Aber ganze Arbeit gemacht! Dem Geschlechtstrieb nichts nachgeben!
Gebandigt muB er werden wie ein feuriges Rofi!' Sicher ware es dem
StH.des Autors dienlicher gewesen, er hatte sich mehr der Bandigung
seines allzu feurigen Pegasus gewidmet als dem des Geschlechtstrie-
bes. Doch das ist seine Sache. Aber: ,Da sind Manner — wenn ich
sie so nennen darf — die der Menschheit vorheulen: Es geht nicht,
der Trieb ist zu machtig. Fauler Zauber. So denken Sklaven, so reden
Wichte, so quaken solche, denen es zu gut im Sumpf gefallt. Wenn
die auf wahres Menschentum verzichten wollen, mogen sie es verant-
worten. Aber eins verbitten wir uns, daB sie der Jugend vorlugen,
alle waren so wie sie, es gabe keine Manner mehr, die vor dem Gotzen
Geschlechtstrieb aufrechtstanden', so schreibt Stephan Berghoff, der
es den Jungmannen wahrscheinlich vorgeraacht hat, das feurige RoB
zu bandigen. Das ist die Literatur am Weihbecken. Schwarzeste Re-
aktion. Die Krafte der Jugend sollen von den lebendigen Fragen
ihrer Daseins abgelenkt und im Kampfe mit dem eignen Organismus
verzehrt werden, Herr Berghoff ist ein stumperhafter Skribent, des-
halb enthiillt er offen die Absichten: .Mochtest du,1 so fragt er den,
der nicht bis zur Ehe gewartet hat, .mochtest du dann als gemeiner
Revolutionar, als ehrloser Verfiihrer dastehen?' "
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XXVII. Jahrgang 3. November 1031 Namner 44
Billow und Schleicher von cari v. ossietzky
MaoDonalds trauriger Sieg iiber seine eigne Partei sollte
"* trotz seinem unerhorten Umfang den Blick fiir die wirk-
liche Bedeutung der Geschehnisse nicht verdunkeln. Der Eng-
lander beschwert sich in der Politik nicht mit Prinzipien, er
verheiratet sich nicht mit einer Partei, er erwartet von ihr
keine Stillung metaphysischer Sehnsucht sondern nur die Lo-
sung einiger besonders dringlicher Fragen. Obrigens sind die
englischen Tories nicht unsrer deutschen Reaktion gleichzu-
stellen. Neben unsern staatsparteilichen Nachtlichtern nimmt
sich der bornierteste Ulsterjunker noch immer wie ein rot-
leuchtendes Fanal der Demokratie aus. So diirfte die innere
Wandlung, die England jetzt erfahren wird, kaum erheblich
sein. Desto lebendiger aber wird seine AuBenpolitik werden,
desto intensiver seine Wirtschaftspolitik in Form von Zollen
und Kampf gegen den Export -andrer Industrielander.
Es eriibrigt sich, die Frage aufzuwerfen, wie wir dagegen
geriistet sind. Unsre Wirtschaft ist nicht viel mehr als eine
redselige Desorganisation, die den Sackel des Staates fiir sich
beansprucht und ihre Pleiten auf die Gesamtheit abwalzt. Und
unsre AuBenpolitik? Zur Zeit ruht sie bei dem Reichskanzler
hochstselbst, der sich hier plotzlich auf ein Terrain versetzt
sieht, wo es keine Notverordnungen gibt,
Der Ausgang der washingtoner Besprechungen zwischen
Hoover und Laval hat selbst unsern argsten Schwarmern fiir
auBenpolitische Aktivitat fiir einen Moment den Atem stocken
lassen. Frankreich hat nicht weniger umfassend gesiegt als die
englischen Tories. Es wiirde Herbert Hoover gewiB nicht miB-
iallen, so schrieb Jules Sauerwein beim Beginn der Be-
sprechungen, „von seinem Sinai des WeiBen Hauses ein neues
Evangelium der Abriistung oder der Reparationen zu offen-
baren." Hatte Hoover solches vor, so sind die Tafeln noch
vor der Verkiindung zerbrochen. Frankreich hat von seinem
Verlangen nach Sicherheit nichts preisgegeben. Frankreich hat
durchgesetzt, daB vor Februar nachsten Jahres nicht iiber die
Abriistung diskutiert wird. Und Frankreich, das iiber das
starke Druckmittel der kurzfristigen Kredite verfiigt, wird auf
diese Weise sogar der ausschlaggebende Drahtzieher der
amerikanischen Finanzpolitik.
Deutschland steht mit Frankreich allein, das ist die Moral
von der Geschichte. Das ist die diirre Realitat, die jetzt bald
auch die Diimmsten begreif en sollten. Das finanzielle und macht-
politische Obergewicht Frankreichs kann nicht mehr bezweifelt
werden. Aber. auch Frankreich betrachtet seine neue Prapon-
deranz nicht ohne Nachdenklichkeit. Sauerwein, noch immer
der zuverlassigste Offiziosus, schreibt in dem obenerwahnten
Artikel: „Da aber Frankreich stark ist, muB es auch vernunftig
sein. Es weiB nicht, was nach einigen Monaten gesche'hen
kann. Was ist die moralische, militarische und finanzielle
Macht, wenn man sie in der heutigen Epoche dahinschmelzen
i 655
sieht, wie man in den letztcn Tagen den Abstieg dcs Sterlings
oder die Lahmlegung der englischen Flotte durch ekie Meuterei
gesehen hat. Das sind Ereignisse, die zur Lehre dienen
konnen/'
Da aber Deutschland schwach ist, hat es noch mehr Grund,
verniinftig zu sein. Vernunft heiBMn diesem Falle: freiwilliger
Verzicht auf das, was auch nicht mit Gewalt wiedergeholt
werden kann. Der Reichskanzler Briining hat zweimal in
diesem Jahre dem franzosischen Ministerprasidenten gegenuber
erklart, daB eine Garantie fur Deutschlands Haltung in den
nachsten Jahren nicht iibernommen werden konnte. Ob Frank-
reich nicht in absehbarer Zeit einmal in direkter Aussprache
iiber die Revision der Friedensvertrage mit sich reden lassen
wirdt steht dahin. Aber eines ist gewiB: niemals wird Frank-
reich das unter dem Druck des deutschen Nationalismus tun,
niemals unter der Vormundschaft eines Dritten.
Die deutschen Nationalisten haben es als einen Erfolg be-
jubelt, daB der bissige alte Borah dem franzosischen Gast ein
paar Unliebenswiirdigkeiten ins Gesicht sagte und fur eine Re-
vision der deutschen Ostgrenzen eintrat. Der Senator von
Idaho ist ein erprobter alter Faustkampfer, doch diesmal hat
er nicht den Gegner getroffen sondern nur das eigne Porzellan.
Ohne das Intermezzo mit Borah waren die Besprechungen
wahrscheinlich ergebnisvoller ausgefallen. Der amerikanische
Kapi talis mus, an der franzosischen Leine vergeblich zerrend,
versucht, die territorialen Streitigkeiten Europas auf seine
Weise auszunutzen. Wir sollten es in den zwolf Jahren seit
1919 endlich erfahren haben, daB die schonen Worte fur das
deutsche Recht, von den jeweiligen Gegnern Frankreichs ge-
braucht, nicht mehr bedeuten alsSpekulation auf deutsche Lands-
knechtsdienste, Auch Mussolini schreit wieder nach Revision
derVertrage, Warum beginnt er nicht in Sudtirol zu revidieren?
Warum hat Italien vor alien andern und am heftigsten der Zoll-
union widersprochen? Borah gibt den polnischen Korridor zu-
riick, englische Politiker versprechen Kolonien als Belohnung
fur deutsche Gefaliigkeiten. Timeo danaos et dona ferentes!
In dieser Schicksalsstunde ist Herr Staatssekretar v. Biilow
der Leiter des Auswartigen Amtes. Herr v, Biilow hat es
durchgesetzt, daB Herr Ministerialdirektor Ritter, der Vater
der Zollunion, zum Generalsekretar der deutsch-franzosischen
Wirtschaftsverhandlungen ernannt worden ist, durch diese Per-
sonenwahl schon seine Sympathie fiir die Vertreter von akti-
vistischen Improvisationen unterstreichend. Herr v. Biilow
hat als Dirigent der Volkerbundsabteilung im Auswarti-
gen Amt vor neun Jahren ein dickes, kompilatorisches
Buch iiber den Volkerbund geschrieben, das in seinen
hauptsachlichen Pointen sich als ein einziges Pamphlet
gegen den Volkerbund darstellt (B. W. v. Biilow: Der
Versailler Volkerbund. W. Kohlhammer, Stuttgart 1923.)
Dieser Betreuer unsrer genfer Angelegenheiten von damals
konstatierte, daB es keinen groBern Widersinn gabe, „als wenn
das ungliickliche, betrogene undr vergewaltigte Deutschland
seine Haltung zum Volkerbund von Traumgesichten und ver-
656
schwommenen Ideal-en bestimmen liefle," deshalb warnt er
audi vor der Mitgliedschaft in einem so suspekten Verein:
Der Versailler Volkerbund hat vielleicht eine groBe Zukunft.
Moglicherweise steht er aber auch an der Schwelle seines letzten Le-
bensjahres. Solange er lebt, sieht sich Deutschland dauernd vor der
Frage, ob und wann es eintreten soli. 1st es Mitglied geworden, so
steht es wieder vor. der Frage, ob es dies bleiben oder austreten soil.
Standig muB man sich deshalb daruber klar sein, was der Volker-
bund wirklich ist und was er zu leisten vermag. Wir mussen bereit
sein, bei unserm Eintritt dieselben Opfer an Unabhangigkeit und
Souveranitat zu bringen, wie die andern Staaten auch — aber nicht
mehr. Niemals durfen wir als Preis der Aufnahme auf irgend eine
Moglichkeit verzichten, unsre Freiheit wieder zu erlangen und den
Versailler Vertrag mit friedlichen Mitteln zu revidieren. Wir mussen
unser Eintrittsgeld so bemessen, daB wir seinen Verlust — r wenn der
Erfolg ausbleibt — verschmerzen konnen. Denn schlieBlich ist dieser
Volkerbund nur ein Versuch,
Man mochte auch fragen, ob der heutige Staatssekretar,
in dessen Handen das kiinftige Schicksal der deutsch-franzo-
sischen Beziehungen liegt, seine damalige Meinung iiberFrank-
reich noch immer auf reenter halt:
Die Lehren der Geschichte scheinen ganz vergessen. Auch die
Versammlung in Genf wuBte nicht mehr, welches die Traditionen
Frankreichs von jeher gewesen sind. Sie hat noch nicht erkannt, daB
wir jetzt eine Wiederkehr der Zeiten Ludwigs XIV. und der beiden
Napoleon erleben. Jahrelang ist der Welt der Popanz des deut-
schen Militarismus vorgehalten worden, so daB sie ihn noch heute
fiirchtet. GewiB war die Politik Bismarcks hart, und die Wilhelms II.
unbestandig und larmend. Deutschland hat aber, solange es stark
war, den franzosischen Imperialisms niedergehalten. In dem Men-
schenalter nach dem Frankfurter Frieden lebtc es sich in Europa ganz
gut und friedlich. Seitdem die Welt vom „deutschen Drucke" befreit
wurde, ist sie dem Terror des franzosischen Militarismus ausgesetzt.
Der Tag ist nicht mehr allzu fern, an dem Europa einsehen wird, daB
es einen schlimmen Tausch gemacht hat. Ein der Deutschfreundlich-
keit ganz unverdachtiger berliner Diplomat faBte 1922 diese Erkennt-
nis in die Worte zusammen: Les Francais, ce sont Ies boches de
demain.
Gut, nehmen wir an, das waren alles vergangene Dinge, und
Herr v. Biilow hatte am Tag von Locarno oder am Tag der
Rheinlandraumung mit sich gerungen, ob es nicht besser
sei, dies iiberholte Buch einstampfen zu lassen, und er hatte sich
damals entschlossen, es nur als Beleg dafiir zu erhalten, was f iir
Verwiistung zeitliche Wirren in einem sonst gut aufgeraumten
Kopfe anrichten konnen, nehmen wir das zugunsten des Herrn
Verfassers an — ein Grundstoff bleibt doch, der den Wandel
der Zeitlaufte iiberdauert und aus dem jede neue Meinung sich
bildet. Das ist in diese m Fall die erhabene Anschauung, die
Herr v. Biilow von dem diplomatischen Beruf bekundet:
Sollte iibrigens einmal Deutschland in dieser Versammlung ver-
treten sein, so wird es gut tun, einen Vertreter zu entsenden, der ein
Kenner der Feindbundpsychologie und tiichtiger Phrasenschmied ist.
Sonst wiirde er unliebsam auf fallen. Seit der Glanzzeit der Kriegs-
propaganda gehort der Heiligenschein zu den Requisiten der auswar-
tigen Politik. Der Diplomat wiirde in Genf ebensowenig daran denken,
ihn abzulegen, wie seinen Kragen oder seine Beinkleider auszuziehen.
Herr v. Biilow mag ruhig die Beinkleider anbehalten, man kann
mit dem Gesicht ahnliche Wirkungen erzielen. Aber begreift
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man vor diesem Bekenntnis eines deutschen Diplomatcn nicht
endlich, warum unsre AuBenpolitik, selbst wenn sic, mit Feind-
bundpsychologie und Phrasen rcichlick ausgestattet, hinaus-
gezogen ist, urn moralische Eroberungen zu machen, jcdcsmal
zerbeult und zerschunden zuriickgcschleppt werden muBte?
Ob die auBenpolitische Verstandigung bei Hcrrn v. Biilow
in besten Handen ist, bleibe dahingestellt, abcr die innenpoli-
tische Verstandigung macht rapide Fortschritte. Es gibt jetzt
ein Chequers nach dem andern. Am Tage vor Harzburg er-
halt Adolf Hitler Audienz beim Reichsprasidenten, und nun
stellt es sich heraus, daB der nationalsozialistische Fiihrer in-
zwischen auch den General von Schleicher zweimal besucht
hat. Herr von Schleicher ist der groBmachtige Mann im Reichs-
wehrministerium, wahrscheinlich auch bald im Reichsinnen-
ministerium, falls Herr Groner auch weiterhin dessen Ressort-
politik auf die Standortaltesten stiitzen sollte. Das Reichs-
wehrministerium erklart mit der ihm eignen militarischen
Gradheit, es habe sich bei der Zusammenkunft nur urn dienst-
liche Gesprache gehandelt. Hitler sei gefragt worden, ob seit
dem ulmer ProzeB noch irgendwelche Versuche zur politischen
Beeinflussung der Reichswehr gemacht worden sind. Das habe
Hitler verneint und zugleich betont, er wiirde niemanden in
seiner Organisation und Partei dulden, der sich irgendwie
illegal betatige. Es war, wie gesagt, nur eine angenchme
Unterhaltung beim Fruhstiick, deshaib verbot Herrn von
Schleicher, dem Gastgeber, die Hofiichkeit, starker pointiert
zu fragen oder etwa das Gesprach auf die bewufiten Kopfe zu
bringen, die doch gewiB etwas aiis der Legalitat rollen. Ein so
erfahrener Politikus wie der Herr General weiB auch, daB Hit-
ler keine giiltigen Legalitatsbeteuerungen abgeben kann, denn
Hitler selbst ist doch die verkorpertc Iliegalitat, namlich ein
Auslander, der sich politisch betatigt. Was ist sonst ein Nicht-
naturalisierter, der sich aktiv und gerauschvoll in die Ge-
schicke des Landes mengt, das ihm Gastfreundschaft gewahrt?
Ein Objekt der Fremdenpolizei, mehr nicht. Herr von Schlei-
cher ist ein viel zu liebenswiirdiger Wirt, um den notablen
Auslander, der bei ihm speiste, darauf aufmerksam zu machen,
und man kann ihn nicht einmal tad ein, denn andre haben es
auch nicht getan. Sollten aber die Besuche Hitlers bei Herrn von
Schleicher nur die bessere Urteilsbildung durch personliche
Bekanntschaft ermoglichen, denn, wie behauptet wird, hat auch
Severing da von gewuBt, wobei allerdings verschwiegen wird,
ob durch direkte Mitteilung oder durch die Politische Polizei,
dann muB auch gefragt werden, wann endlich der Besuch
von Heinz Neumann fallig wird. Denn auch Herr Neumann hat
noch von seiner chinesischen Tatigkeit her die beste Ubung
im Umgang mit politisierenden Generalen, und auBerdem ist
er, im Gegensatz zu Hitler, einwandfreier Reichsdeutscher.
Bei Go ebb els im , An griff macht man sich natiirlich iiber
harmlose Deutungsversuche der Besprechungen zwischen Hit-
ler und Schleicher lustig. „0berall muB man sich mit der
unumstoBlichen Tatsache nahe bevjorstehenden Veranderun-
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gen vertraut machen/' Die ,Deutsche Allgemeine Zeitung* ist
davon weniger entziickt, sie wittert eine Intrige zur Zerset-
zung des Bundnisses Hugenberg-Hitler, aber auch sie meint,
daft beim Zentrum Starke Bediirfnisse mitwirken, den „real-
politischen Tatsachen der Rechtsentwicklung im Volke in
einer noch zu bestimmenden Form Rechnung zu tragen." Da£
Brtining das Zusammengehen mit Hitler wiinscht, hat er im
Reichstag off en zugestanden. DaB er aber die diplomatische Vor-
bereitung des kommenden Bundnisses den Reichswehrgenera-
len iiberlaBt, ist eine selbstzerstorerische Torheit, die tins
kal't lieBe, wenn es sich dabei nur urn Bnining handelte.
So nimmt das Geschick seinen Lauf, so frtihstiicken sich
die bisher feindlichen Parteien immer naher heran, Bald wird
ganz Deutschland, zum Tranchieren fertig, vor ihnen liegen.
Die armen Sozialdemokraten, deren Zentralorgan der unerbitt-
Iiche Groner jetzt gerichtlich verfolgen laBt, sehen der Ent-
wicklung beunruhigt aber tolerant zu. Der gebildete Doktor
Breitscheid konnte jetzt Shakespeare zitieren: „Juckend sagt
mein Daumen mir, etwas Boses naht sich hier . . ."
Internationale Gesprache Hanns-Erkh Kaminski
p^as Ergebnis der Aussprache zwischen Hoover und Laval
hat die Welt urn eine Enttauschung reicher gemacht. Jetzt
wird noch Grandi nach Washington fahren. Und damit wird
die Period e der internationalen Gesprache hoffentlich zu Ende
sein, und die Regierungen werden anfangen, ernsthaft zu ver-
handeln.
DaB die Besuche, die sich die Minister der verschiedenen
Lander in den letzten Monaten gemacht haben, erfolgreich ge-
wesen waren, wird niemand behaupten konnen/ Nirgends isf
ein Programm oder auch nur eine Idee sichtbar geworden. Die
Communiques wiederholten nur mit wichtigtuerischer Eintonig-
keit: die Staatsmanner hatten eingesehen, daB die Krise eine
Weltkrise sei und daB sie allein durch eine gemeinsame An-
strengung der ganzen Welt behoben werden konne, Eine Fest-
stellung, urn derentwillen ja nun eigentlich kein Mensch mehr
von einer Hauptstadt in die andre zu fahren braucht.
Zum Trost wtirde den Volkern jedes Mai mitgeteilt, die
Minister hatten sich in freundschaftlichem Geist unterhalten
und als unsichtbarer Schutzengel sei das Vertrauen dabei-
gewesen, das die Voraussetzung kiinftiger Zusammenarbeit
bilde. Leider ist es schon ein biBchen spat, um Voraussetzun-
gen zu schaffen.
Diese Besuche, die einen fahlen Festglanz iiber verelen-
dcte Lander warfen, waren gut gewesen fur ruhige Zeiten. Es
ist gewiB ein Vorieil, wenn sich die Minister und erst recht
die Staatssekretare, die bleiben, wahrend ihre Chefs wechseln,
kennen lernen. Gute Bekannte verhandeln leichter miteinan-
der als Fremde, die die Furcht, jedes Wort des Partners konnte
eine Falle sein, zu vorsichtiger Zuruckhaltung notigi Aber
solche wertvollen Freundschaften konnten schon Iruher in
Genf geschlossen werden. Sagten uns nicht alle Offiziosen,
2 659
diese personliche Fiihlungnahme sei die beste und sogar die
einzige Rechtfertigung des Volkerbundes? In jedem Fall ist
jetzt keinc Zeit mehr fur die Schaffung ciner besondern Atmo-
sphare. Ob die Atmosphare nun gut odcr schlccht ist, die
Krise erfordert konkrete MaBnahmen. Und tatsachlich woll-
ten ja auch die reisenden Minister mehr als Hoflichkeiten mit
ihren Kollegen austauschen.
Wenn all ihre Zusammenkunrte ohne positive Ergebnisse
geblieben sind, so liegt das auch keineswegs daran, daB es
ihnen an gutem Willen fehlte, Nicht der Wille, die Methode
der neuen Wochenenddiplomatie hat versagt.
Es wirkt freilich sympathised wenn Minister glauben, sie
brauchten sich mit dem Nachbarn nur einmal auszusprechen,
damit alle Streitigkeiten ein Ende hatten. Nur fiihrt dieser
naive Optimismus meist zu unnotigem Zeitverlust und bereitet
den Volkern Enttauschungen, die schmerzlich sind, doppelt
schmerzlich in einer Zeit wie dieser, in der die Hof fnung sich
an jeden Strohhalm klammert.
Entstanden ist die neue Diplomatic aus dem berechtigten
MiBtrauen gegen die Berufsdiplomaten, die nicht imstande wa-
ren, den Krieg zu verhindern, und der Erfinder der neuen Me-
thode diirfte wo'hl Lloyd George sein, der allerdings in einem
Land, wo die Improvisation ein natidnales Talent ist, eine Art
Genius der Improvisation darstellt. Die Politik der KonEeren-
zen hat jedoch eine Niederlage nach der andern erlitten, Schon
bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk, wo sich die
Vertreter des deutschen Kaisers bemiihten, die AlKiren der
Demokratie zu kopieren, muBte die Otfentlichkeit der Ver-
handlungen bald zugunsten „privater Zusammenkunfte1' preis-
gegeben werden, weil offentliche Verhandlungen eben wechsel-
seitige Deklamationen tmd nicht Verhandlungen sind. In Ver-
sailles erlebte dann Wilson, der ein Dilettant und ein Doktri-
nar dazu war, sein Fiasko, und auf der Konferenz von Genua
muBte Lloyd George selbst die Unzulanglichkeit seiner Methode
erkennen, Auch der Volkerbund, der urspriinglich als eine
sich periodisch wiederholende interna tionale Konferenz ge-
dacht war, hat sich sehr rasch. zu einer altmodischen Botschaf-
terkonferenz entwickelt, auf der die Regierungschefs und so-
gar die AuBenminister nur die Paradereden fiir die Offentlich-
keit halten.
Nachdem jahrelang die Berufsdiplomatie wieder obenauf
war, haben wir nun eine Neuauflage der Amateurdiplomatie
erlebt, und das Resultat ist noch klaglicher als in den Jahren,
in denen die Minister der Entente unter Fiihrung Lloyd Geor-
ges alle paar Monate in einem andern Badeort zusammen-
kamen. Jetzt besuchten sich die Mitglieder der verschiede-
nen Regierungen in ihren Hauptstadten, und wenn man sieht,
mit welcher Ignoranz und welchem Dilettantismus da i,Ver-
handlungen" gefiihrt wurden, bekommt man beinahe Sehnsucht
nach der alten Geheimdiplomatie,
Bezeichnend war schon die Ankiindigung „Wir werden
iiber alles sprechen'*, die all diesen Besuchen vorausging. In
der Tat, man hatte nicht einmal ein genaues Programm iiber
die Gegenstande der Unterhaltung aufgestellt. So kam es, daB
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Briining nach Rom und Grandi nach Berlin rciste, ohne daB
ein Mensch wuBte, zu welchem Zweck. So kam es, daB Laval
vierzehn Tage unterwegs war, urn schlieBlich gemeinsam mit
Hoover festzustellen, daB Amerika zu einem SchuldennachfaB
nur tim den Preis der Abriistung bereit ist, und daB Frankreich
nur abrtisten will, wcnn es durch die Zusage amerikanischer
Kriegshilfe seine Sicherheit erhohen kann, was seit zwolf
Jahren bekannt ist.
Und dann der Verlauf dieser Besuche; feierlicher Empfang,
Kartenabgabe, Friihstuck, Besichtigung der lokalen Sehenswiir-
digkeiten, Ausflug ins Griine, groBes Bankett mit Toasten „auf
das Gedeihen Ihres schonen Landes und der hervorragenden
Manner, die es regieren". Fiir die Verhandlungen war grade
von elf bis zwolf und von vier bis sieben Zeit, denn die
Herren muBten .sich ja rechtzeitig zum Essen umziehen. Zwi-
schendurch aber muBten auch noch Gruppenaufnahmen ge-
macht und Interviews gegeben werden. So verliefen friiher
die Staatsbesuche der Monarchen, mit dem Unterschied jedoch,
daB die begleitenden Minister dabei MuBe fanden, sich unge-
stort auszuspre'chen, wahrend die Konige reprasentierten.
Heutz^utage ziehen sich die Minister zu intimen Unterhal-
tungen zuriick, an denen nur noch die Dolmetscher und even-
tuell der Vorsitzende des feudalen Klubs, der sein Heim zur
Verfugung gestellt hat, teilnehmen, Wenn es hoch kommt,
wird dabei erwahnt, welche Gegensatze nun eigentlich zu
uberbriicken sind, und dann muB noch das Communique auf-
gesetzt werden, wozu mehr Zeit gebraucht wird als fiir die
ganzen sogenannten Verhandlungen.
Ich bin — da ich an dieser Stelle schreibe, brauche ich
es vielleicht nicht erst zu sag en — kein Verteidiger der Vor-
kriegsdiplomatie. Die Routine der Berufsdiplomaten, die, nach
einem Wort von Bismarck, nicht mehr als „intelligente Brief-
trager" sein sollen, reicht in groBen Krisen nicht aus, und es
ist schon richtig, daB sich die Minister dann selbst an den Ver-
handlungstisch setzen. Aber bei derartigen, notwendigerweise
kurzen Zusammenkiinften konnen Verhandlungen lediglich ab-
geschlossen werden. Zunachst mussen sie vorberettet werden.
Es ist eben nicht so, daB die Gegensatze zwischen den
Staaten nur auf MiBverstandnissen beruhen, die dtirch wohl-
meinende Leute jeden Augenblick aus der Welt geschafft wer-
den konnen. Leider sind die feindlichen Interessen und die
feindlichen Ressentiments, die ebenfalls eine Realitat sind, in
der Welt so groB, daB an eine allgemeine Losung samtlicher
Fragen auch nicht im entferntesten zu denken ist. Die wich-
tigste Voraussetzung fiir internationale Verhandlungen ist
darum, unter Vermeidung alles Prinzipiellen, eine Verstandi-
gung auf konkreten, eng umgrenzten Gebieten zu suchen.
Besonders fiir Deutschland ist die Situation sehr eindeu-
tig. Wir brauchen Geld, und Geld kann uns nur Frankreich
geben. Folglich mufi die d^utsche Regierung die franzosische
fragen, unter welchen Bedingungen sie dazu bereit ist. Ober
diese Bedingungen kann man dann verhandeln, Alles iibrige
ist Zeitverltist und Leerlauf.
661
Der Fall des Doktor Engel von Alfred a Pfei
Anno 1920 lieB sich Doktor Leo Engel als praktischer Arzt
^^ in. dem Stadtchen Neustadt bei Coburg nieder. Bei der
Landbevolkerung war cr sehr beliebt; die Sprechstunde war
bald iiberfiillt. Die Kollegen waren ihm nicht gewogen. Eines
Tages brach das Verhangnis uber ihn herein.
Fiinf Jahre ist es her, daB die Bauernmagd Maria W. ihre
Stellung kiindigte, weil der Dienstherr ein Verhaltnis mit ihr
ankntipfen wollte. Als sie die Ktindigung aussprach, erhielt
sie Priigel. Sie kam in eine neue Stellung bei einem verheira-
teten Landwirt, von dem sie schwanger wurde. Als dieser
Zustand ihr heftige Schmerzen verursachte, suchte sie zu-
nachst einen Arzt in Monchrode und spater einen Sanitatsrat
in Oeslau auf, die ihr Arzheimittel verordneten. Die Schmer-
zen lieBen nicht nach. Sie ging mit ihrer Schwester zu Doktor
Engel nach Neustadt, Etwa vierzehn Tage spater hatte sie,
wie es in der dortigen Amtssprache heiflt, einen Abgang und
wurde in das Krankenhaus Neustadt gebracht. Im Fruhjahr
1931 erstattete sie Strafanzeige gegen ihren neuen Dienstherrn,
der sie geschlagen hatte. Der fuchtelte auf der Gendarmerie-
station wild herum und rief: Die W. solle die Gosche halten,
die hat zwei Flaschen ausgesoffen und ihre Frucht abtreiben
lassen. Darauf laBt sie der Station mitteilen, daB sie die An-
zeige zuriicknehme. Deswegen miisse sie zur Polizei kommen,
sagt man dem *Boten. An einem Sonntag erscheint sie. Sie
gibt die Rucknahme der Anzeige zu Protokoll und wendet sich
zum Gehen. Halt! wie steht es mit der Abtreibung? Nichts
ist abgetriebenf war die Antwort, Auch nicht von Doktor
Engel? Nein! Man sperrt sie ein. (Nachher in der Hauptver-
handlung entschuldigt sich der Hauptwachtmeister, daB er doch
Mittag habe essen miissen und was habe er inzwischen mit der
Magd anfangen sollen?) Sie gesteht nicht. Sie wird wieder ein-
gesperrt. Herein, heraus, herein, heraus. SchlieBlich legt sie
ein Gestandnis ab, daB der Doktor Engel vor fiinf Jahren einen
MEingriff" bei ihr gemacht habe. Aber das Gestandnis niitzt
nichts, sie wird in Haft behalten.
Bericht der Gendarmeriestation an den Coburger Staats-
anwalt:
Doktor Engel steht diesseits schon langere Zeit im Verdacht der
gewerbsmaBigen Abtreibung. Zurzeit wird auch hier ein Fall behan-
delt, bei welchem aber noch nicht einwandfrei feststeht, ob Engel in
Anspruch genommen wurde, da die Polizei schon vor dem Eingriff
Kenntnis erhielt und sofort vorbeugend eingriff.
Im Falle W. ware angezeigt, wenn die Beschuldigte in Haft ge-
nommen wurde, weil Verdunklungsgefahr gegeben ist und die Staats-
anwaltschaft entscheiden diirfte, ob nicht auch Engel sofort in Haft
zu nehmen sei. Zur Aufklarung weiterer Falle diirfte unter Beiziehung
eines Arztes, eventuell des Landgerichtsarztes, eine Durchsuchung nach
Beweismaterialien zuriickliegender Falle von Erfolg sein, da doch die
Polizei in den facharztlichen Ausdriicken und Aufzeichnungen nicht
bewandert ist.
Doktor Engel wird zur Polizei zitiert, Er bestreitet ent-
schieden, eine Abtreibung vorgenommen zu haben. Er habe
662
lediglich das Madchen im Krankenhaus Neustadt behandelt
und die angewachsene Nachgeburt dort entfernt. Vorher sei
er in die Wohnung ihrcr Schwester gcrufen worden und habc
von dort die Oberfuhrung ins Krankenhaus angeordnet. Friiher
habe er einmal Maria W. und lange Zeit ihre Schwester wegen
schwerer Geschlechtskrankheiten behandelt.
Man halt ihn fest und transportiert ihn nach Coburg ins
Landgerichtsgefangnis. Vollig verzweifelt sieht er seine
Existenz vernichtet Er hatte kurz vorher bei einem Bank-
zusammenbruch sein ganzes Vermogen verloren. Auf dem
Transport faselt er wirres Zeug durcheinander, zum Beispiel,
ob man ihn wohl in ein dunkles Loch sperren werde. Hilfe-
suchend klammert er sich an den Kriminalwachtmeister, der
ihn vernommen und der ihm in den letzten Wochen wiederholt
freundlich erzahlt hatte, daB der § 218 sicherlich bald fallen
werde. Der Wachtmeister hatte schon der W. beim Transport
nach Coburg dringend eingescharft, daB sie, was auch kommen
moge, immer bei dem Gestandnis bleiben solle, das sie vor ihm
abgelegt habe* Und ebenso riet er Doktor Engelt er moge doch
seine Aussage vor dem Richter in Obereinstimmung mit der-
jenigen der W. machen; dann liege doch keine Verdunkelungs-
gefahr mehr vor und man miisse ihn laufen lassen. Nach einer
grausigen Nacht wird Doktor Engel vom Amtsrichter vernom-
men und erklart sofort, daB er vor fiinf Jahren bei Maria W.
abgetrieben habe. Das Gestandnis hatte nicht den erhofften
Erfolg; es wird Haftbefehl verkundet. Er laBt sich wieder vor-
fiihren, widerruft sein Gestandnis und erklart, warum er ge-
standen habe. Nutzlos. Die Voruntersuchung wird eroffnet.
Die Wohnung wird durchsucht; die Papiere werden beschlag-
nahmt. Der Gerichtsarzt erklart im Handumdrehen, ohne
irgendwelche Untersuchung, ohne Riicksprache mit dem ver-
hafteten Kollegen, daB in achtundzwanzig Fallen der Verdacht
des VerstoBes gegen den § 218 vorliege. Doktor Engel verfallt
in eine schlimme Haftpsychose, Er tobt, er klagt an, dann
jammert und winselt er, kurz, er verliert jegliche Contenance.
Es folgt die typische Voruntersuchung des modernen deutschen
Abtreibungsprozesses, Der Fall Wolf-Kienle en miniature. Das
Geschlechtsleben der Patientinnen wird durchstobert. Die
Gendarmen werden in Bewegung gesetzt und vernehmen
sporenklirrend die armen Frauen, die zitternd und bebend vor
ihnen sitzen. Und Doktor Engel tut einen Schritt, den nur be-
greifen kann, wer weiB, was Untersuchungshaft bedeutet. Er
bittet den Untersuchungsrichter, ihm Zellengenossen zu geben,
da er die Einsamkeit einiach nicht mehr ertragen konne. Seine
Bitte wird erfiillt. Man legt zwei Gefangene mit langen Vor-
strafenregistern zu ihm, und die berichten dauernd tiber angeb-
liche Gestandnisse, die Engel vor ihnen abgelegt habe, tiber
seine angeblichen Versuche, Kassiber durch sie hinauszu-
schmuggeln. Sie nahmen Rache fur alles, was die Justiz ihnen
je angetan hatte, und jagten mit ihren Denunziationen den Unter-
suchungsrichter und die Gendarmen durch den Bezirk. Im Haft-
prufungstermin, der nicht, wie es das Gesetz vorschreibt, vor
dem Untersuchungsrichter stattfand, sondern gleich vor der
vollbesetzten Strafkammer, wird der Haftentlassungsantrag mit
663
kalter Schultcr abgelehnt, wobei die Aussage der bciden
Zellengenossen cine entscheidende Rollc spielt.
In diesem Stadium iibernahm ich die Verteidigung Engels.
Ich fand einen Mandanten vor, der nur ein Wrack seiner selbst
war, Ich fand eine einheitlich geschlossene Stimmung gegen
ihn vor, Ich iand ferner eine nationalsozialistische Presse vor,
die mit Enthiillungen iiber das Vorleben des Mandanten
drohte. Ein wenig Trost schopfte ich nur beim Studium der
Akten, die mich in die typische Atmosphare des Abtreibungs-
prozesses versetzten mit seinem Gemisch von Klatsch, Denun-
ziantentum, Kollegenneid, mit den graBlichen Vernehmungen
durch ungeschulte Gendarmen, mit Gestandnissen und Wider-
rufen. Es war aber sofort zu erkennen, da8 das Gutachten
des Gerichtsarztes unhaltbar war, und die Anklage schrumpfte
schlieBlich auf fiinf Falle zusammen. Da driickten nun im
Spatsommer dieses Jahres fiinf bedauernswerte Frauen, eine
Bauernmagdf eine Fabrikarbeiterin, eine Stutze, eine Korb-
warenfabrikantentochter und eine Stanzersehefrau wegen Ver-
gehens der Abtreibung, weiter ein Gast- und Landwirt wegen
Anstiftung, und eine Giefiersehefrau wegen Beihilfe das Arm-
siinderbankchen des coburger Schwurgerichtssaales, An der
Spitze saB Doktor Engel^ dem die Anklage vorwarf, durch-
schnittlich Honorare von achtzig bis hundert Mark genommen
zu haben. Die Geschworenenbank bestand neben den drei
Berufsrichtern aus einem feekannten nationalsozialistischen
Fiihrer, General a. D,, aus drei katholischen Biirgermeistern,
aus einem Schreiner- und aus einem Backermeister. Mit un-
durchdringlichen Mienen saBen sie drei Tage lang da; kein
Laut kam wahrend der ganzen Verhandlung iiber ihre Lippen.
Ebenso schweigend verhielten sich die juristischen Beisitzer,
die nur eine einzige nebensachliche Frage stellten.
Die 5ffentHchkeit wurde ausgeschlossen, was vollig sinn-
los war, da man tags zuvor die Namen der angeklagten Mad-
chen mit genauer Adresse den Zeitungen bekanntgegeben
hatte. Vor AusschluB der OHentlichkeit fand man aber noch
Zeit, hervorzuheben, daB mein Mandant, ehe er, naturalisiert
worden war, auf den Vornamen Chaim gehort habe. Das deckte
sich mit den drohenden Andeutungen der Nazipresse. Man
muB sich vorstellen, was es heiBt, in einer Stadt, in der die
Fiihrer der Linken nur unter VorsichtsmaBregeln abends aus-
zugehen wagen, als geborener Ostjude angeprangert zu werden.
Am ersten Vormittag der Verhandlung beschaf tigte man
sich mit den Ablehnungsantragen, die die Verteidigung gegen
diejenigen Richter vorgebracht hattef die bereits bei dem
Haitpriifungstermin wichtige untersuchungsrichterliche Funk-
tionen ausgeiibt hatten und daher kraft Gesetzes von der
Mitwirkung bei der Schwurgerichts verhandlung ausgeschlbssen
waren. Bei der winzigen Richterzahl des coburger Land-
gerichts, wo es nur eine Strafkammer gibt, und bei der da-
durch hervorgerufenen besonders engen Milieuverbundenheit
der Justizfunktionare ist der einmal wahrend der Vorunter-
suchuntf und zumal nach personlicher Vernehmung begriindete
Verdacht der Schuld des Angeklagten, zumal bei einem fur die
dortigen Verhaltnisse sensationellen Fall, nicht vor der Ge-
664
fahr sicher, am laufenden Band weitergeleitet zu werden. Die
Antrage wurden abgelehnt, Der Verkehrston zwischen dem
Vorsitzenden und der Verteidigung war rauh aber herzlich.
Der Vorsitzende, ein alter, sehr knorriger bajuvarischer Herr,
machte aus seinem Herzen keine Mordergrube. Bei der Ur-
teilsverkiindung sagte er, daB es sich bei diesem ProzeB darum
gehandelt habe, alle moralischen Krafte im Volke zu heben
und nicht darumf den niedrigen Instinkten recht zu geben.
Jedenfalls sei die Rechtsprechung nicht geneigt, hierzu eine
Handhabe zu bieten. Typisch war sein Verhalten bei der Ver-
nehmung verschiedener Gendarmen, die die Angeklagte W.
zum Gestandnis gebracht hatten. Der zuerst vernommene
Gendarm wollte vor Gericht den Eindruck erwecken, als ob
sie ihr Gestandnis freiwillig gemacht habe. Die Angeklagte
springt erregt auf und ruft; ^Das ist nicht wahrf Sie haben
mich zu den AuBerungen gedrangt und mich wiederholt in die
Haftzelle eingesperrt." Der Zeuge gibt zogernd zu, dafi er sie
eingeschlossen habe. Hier ist selbst der Vorsitzende verwun-
dert und bezeichnet das als eine ganz ungewohnliche Hand-
habung. Daraui erklart der Gendarm, daB er doch die W. aus-
driioklich darauf aufmerksam gemacht habe, sie solle die Ein-
sperrung nicht als eine Haft betrachten. Ich bat, die Aussage
zu protokollieren. Der Vorsitzende lehnt den Antrag ab. Eine
strafbare Handlurg komme nicht in Frage. ,,Bei uns wird halt
derber zugefaBt als bei Ihnen," meinte er jovial. Noch nied-
licher wird es bei der Vernehmung des zweiten Kriminalwacht-
meisters, vori dem Doktor Engel behauptet, daB er sich will-
fahrig- zum Agenten der Vernichtungswunsche seiner Kon-
kurrenz gemacht habe. Er muB zugeben, daB er schon vpr dem
Verhor Engels die Anregung gegeben habe, ihn zu verhalten.
Er mtiB zugeben, daB er total sinnlos und an den Haaren her-
beigezogen eine Anzeige wegen widernatiirlicher Unzucht
gegen Doktor Engel erstattet habe. Er muB zugeben, dafi er
ihm zum Gestandnis vor dem Richter geraten habe. Er muB
aber auch die Frage uber sich ergehen lassen, ob gegen ihn
selbsl ein Disziplinarverfahren schwebt, in dem ihm der Vor-
wurf gemacht wird, in andern Fallen unrichtige Protokolle an-
gefertigt zu haben, und in dem auch die Behauptung aufgestellt
worden ist, daB er selbst als verheirateter Mann nachts heim-
lich in die Wohnting eines unbescholtenen Madchens einge-
drungen sei. Die Herbeiziehung der Akten wird abgelehnt.
Der Zeuge wird fur glaubwiirdig erklart und vereidigt, Ich be-
komme noch obendrein den Riiffel, daB ich nicht den notigen
Respekt vor einem bayrischen Gendarm fiihlte und die Grenzen
der Verteidigung unangemessen uberschritten hatte. Nun wird mir
die Sache zu bunt. Ich erklare, daB ich, falls dieser Vorwurf
nicht zuriickgenommen werde, die Verteidigung niederlegen
mtisse. Tableau. Ich mache den Vermittlungsvorschlag, daB
ich ebenso offen dem Vorsitzenden meine Meinung iiber seine
Verhandlungsfuhrung sagen diirfe. Ich erklare, daB ich noch sel-
ten eine solche Voreingenommenheit eines Vorsitzenden vom
ersten Moment der Verhandlung an erlebt habe wie in diesem
Fall „Nun haben Sie sich aber revanchiert," war die
Antwort des Vorsitzenden. Man fiihlte wahrend der
665
ganzen Verhandlung nur allzu dcutlich die Stammtisch-
atmosphare, in dcr der Fall scit Wochcn durchgehechelt
war. Nicht der leiseste Versuch wurde gemacht, die
Griinde fur den Zusammenbruch meines Mandanten, fiir sein
ganzes Verhalten auch ntir oberflachlich zu durchforschen. Als
ich schlieBlich, nachdem allenfalls der Verdacht (wohlgemerkt
nur der Verdacht!) eines einzigen Abtreibungsfalles tibrig ge-
blieben war, durch Benennung von dreiBig wohlhabenden
Frauen den Beweis erbringen wollte, daB Doktor Engel diesen
zur Austragung der Leibesfrucht dringend zugeraten habe, daB
also die Forme! von seiner schnoden Geldgier nicht ziehe, wird
das als unbeachtlich abgetan, oder, wie wir Juristen sagen, „als
wahr unterstellt/1 Die Abtreibungsanklage brach fast restlos
zusammen, Der Privatdozent Doktor Dyroff, der in letzter
Stunde von Amts wegen geladen war, iibrigens ein iiberzeugter
Anhanger des § 218, erklarte die Vornahme einer Abtreibung
in vier von den ftinf zur Aburteilung stehenden Fallen fiir nicht
diskutabel. Lediglich in dem einen Fall der MagdW, bleibe
die Moglichkeit, aber nicht die GewiBheit offen, daB eine Ab-
treibung vorgenommen worden sei. Der Sachverstandige gab
weiter seiner Oberzeugung Ausdruck, daB die Gestandnisse
einiger Angeklagten bei der Vernehmung durch die ortlichen
Gendarmen dadurch zu erklaren seien, daB sie aneinander vor-
beigeredet hatten. So sei es eine bekannte Tatsache, daB die
untersuchungfiihrenden Personen unter dem Wort t,Eingriff"
den Tatbestand des § 218 begriffen, daB aber unerfahrene
Madchen unter diesem Wort lediglich eine einfache iibliche
gynakologische Untersuchung verstanden. In fast alien Ab-
treibungsprozessen erweist sich die Vernehmung durch Polizei-
beamte und Gendarmen, die hierfur nicht besonders vorgebildet
sind, als ein Grundiibel.
Fiir mich war der Clou der Verhandlung das Gutachten des
beamteten Gerichtsarztes. DaB er den Typus jenes Sachver-
standigen darstelltf der sich als verlangerter Arm des Staats-
anwalts auffiihrt, w'uBte man aus seinem libera us diirftigen
schriftlichen Gutachten. Was er aber in der Verhandlung dar-
bot, iibertraf die kiihnsten Erwartungen. Nach einem Lobes-
hymnus auf den § 218 erklarte er kategorisch, wenn einige der
Madchen im Vorverfahren Gestandnisse abgelegt hatten, miisse
man ohne weiteres das Vorliegen eines Abtreibungsversuchs
annehmen. Dann geht es weiter: Er sei leider durch das arzt-
liche Berufsgeheimnis gegenuber meinem Mandanten gebun-
den, so daB er nicht frei reden konne; wenn er aber reden
konnte . . . Unterbrechung durch die Verteidigung: Doktor
Engel erinnert sich nicht, Sie jemals arztlich konsuitiert zu
haben. Verlegenes Schweigen. Doktor Engel entbindet ihn
vom Berufsgeheimnis. SchlieBlich erzahlt er, Doktor Engel habe
sich ihm nach seiner Einlieferung im Gefangnis anvertraut und
sich an ihn geklammert. Ich wollte die Dinge nicht iiber-
spitzen und zog aus der unwahren Berufung auf das arztliche
Geheimnis keine andern Konsequenzen, als daB ich ihm ledig-
lich vorhielt: Sie sind nie Arzt meines Mandanten gewesen,
also war Ihre Berufung auf das arztliche Berufsgeheimnis un-
erhort. Wenn Sie sich aber als Arzt betrachtet haben, dann
666
war Ihre Andeutung, daB Doktor Engel Ihnen belastende Mit-
teilungen gemacht habe, wohl eines der starksten Stiicke, das
sich je ein deutscher Arzt vor Gcricht gelcistet hat. Selbst-
verstandlich wurde nunmehr der Antrag auf Ablehnung des
Sachverstandigen wegen Befangenheit eingebracht, Der Vor-
sitzende hielt mir vor, ich sci zu scharf gcgen den Obermedi-
zinalrat. SchlicBlich kam das Gcricht mit folgendem BeschluB
heraus, zu dessen Verstandnis man noch wissen muB, daB mein
Mandant immer und immer bchauptet hat, daB der Sachver-
standige eines Tages zu ihm ins Gefangnis gekommen sei und
ihm dringend geraten habe, doch ein bis zwei Falle zuzugeben,
damit man den ganzen Fall in einer kleinen Verhandlung still
erledigen konne:
Die Wiirdigung der Gestandnisse der Angeklagten B, und E.
durch den Sachverstandigen geht iiber die Grenzen des zu erstattenden
Gutachtens. Eine Befangenheit des Sachverstandigen ist dadurch
nicht begrtindet.
Es erscheint die Angabe der Verteidigung, daB Doktor B. zu dem
Angeklagten Doktor E. gesagt hatte : „Ich muB zugeben, daB man
Ihnen nicht s nachweisen kann", als widerlegt.
Die Angabe des Sachverstandigen, daB auch Abtreibungen mit
dem Finger vorkommen, ist eine gutachtliche AuBerung, auf welche
eine Ablehnung nicht gesttitzt werden kann*
Die Andeutung des Landgerichtsarztes in seinem Gutachten, daB
er private Mitteilungen des Angeklagten auf Grund seines Berufs*
geheimnisses als Arzt nicht verwenden durfe, ging iiber die Grenzen
des Gutachtens, begrtindet aber nicht den Verdacht der Befangenheit*
Das Verhalten des Landgerichtsarztes gegeniiber dem Angeklagten
Engel wahrend des ganzen Strafverfahrens lafit auch eine etwaige sub-
jektive Meinung des Angeklagten Engel iiber die Befangenheit des
Landgerichtsarztes nicht fur berechtigt erscheinen.
Es bedarf kaum noch der Erwahnung, daB im Urteil die be-
lastenden Aussagen des gerichtlichen Sachverstandigen ver-
wertet, daB hingegen die entlastenden Aussagen des erlanger
Privatdozenten iiberhaupt nicht erwahnt wurden,
Der Leser wird eine Steigerung nicht mehr fur moglich
halten. Ein falscher Glaubel Die Gipfelleistung erklomm ein
Mitverteidiger, der wahrend seines Plaidoyers plotziich mit der
Behauptung herausplatzte, daB er bezweifle, ob Doktor Engel
iiberhaupt Arzt sei. Warum, weshalb, wieso? Er habe doch so
merkwiirdig unsichere medizinische Antworten auf 4ie Fragen
der Sachverstandigen gegeben. Doktor Engel erwacht endlich
aus seiner Lethargie und schleudert dem Herrn Anwalt ins Ge-
sicht: Warum sind Sie dann mein Patient gewesen? Warum
haben Sie denn bisher mit mir freundschaftlich verkehrt und
meine Eigenschaft als Arzt nicht bezweifelt, solange ich Ihnen
Prozesse iibergab?
Ich muBte mich wahrend der Gerichtsverhandlung oft
fragen: Ist dies ein Traum? Ist dies Wirklichkeit? Bin ich Zu-
schauer bei einem iibertreibenden Theaterstiick? Die armen
Frauen wanden sich in furchtbarsten Qualen auf der Anklage-
bank. Kein menschliches Wort, nur unerbittliche niichterne Fra-
gen drangen an ihr Ohr. Sie widersprachen sich in einem fort und
fanden sich schlieBlich selber nicht mehr heraus aus dem, was
sie gesagt hatten. Zweien gelang es noch schnell, wahrend der
Gerichtsverhandlung einen Privatarzt zu finden, der ihnen be-
3 667
scheinigte, daB sie wahrschcinlich nie schwanger gewesen seien,
Kurz, es war ein groBes Durcheinander. Die Hauptsache aber
war; Von den achtundzwanzig Fallen des Gerichtsarztes blieb
nur einer als eventuell verdachtig iibrig.
Am letzten Verhandlungstage hielt der Staatsanwalt, der
sich iibrigens durchaus korrekt verhalten hatte, seine Anklage-
rede, Er beantragte nur Verurteilung wegen eines Abtrei-
bungsfalles. In einem Falle beantragte er Freispruch. In
einem dritten Falie stellte er die Entscheidung dem Gericht
anheim und, nachdem er erklart hatte, daB die Verhandlung
ein fur die Anklagebehorde nicht erfreuliches Ergebnis gehabt
habe, erhob er plotzlich wegen der beiden iibrigbleibenden
Falle Betrugsanklage, indem er argumentierte, daB allerdings
keine Schwangerschaft vorgelegen habe, daB man dann aber
annehmen miisse, der Angeklagte habe den Madchen eine
solche vorgetauscht, um entsprechende Honorare zu nehmen.
Ich bat um Aussetzung der Verhandlung, zum mindesten
um Vertagung auf kurze Frist, da die Verteidigung nur auf
einen Abtreibungs- und nicht auf einen BetrugsprozeB einge-
richtet sei. Vergebens, Der Antrag wurde abgelehnt mit dem
wohl mysteriosesten BeschluB, mit dem je iiber einen Beweis-
antrag von einem deutschen Gericht entschieden worden ist.
Man dekretierte wortlich wie folgt: f,Der Antrag wird abge-
wiesen, da infolge der Veranderung der Sachlage eine weitere
Vorbereitung der Verteidigung nicht erforderlich erscheint."
' Ich glaube iibrigens nicht, daB das Reichsgericht schon oft eine
Revisionsschrift entgegennehmen muBte, in der solch zahlreiche
VerstoBe gegen die StrafprozeBordnung festgestellt worden sind,
Mein Mandant fand nicht mehr die Kraft, am SchluB der
Verhandlung zu dem Gericht zu sprechen. Er stammelte nur
noch, daB ihm an seinem Schicksal nichts mehr liege und daB
er mit dem Rest seiner Kraft bitte, seine Patientinnen zu
schonen. Er war vollig erledigt. Die lange Haft, die Vernich-
tung seiner materiellen Existenz, die Verhandlungsmethoden,
der Andrang zum Gerichtsgebaude, die polizeilichen Eskorten,
die Hervorkehrung seiner Abstammung in diesem Milieu- —
Grund genug, die Nerven zu verlieren, Man verurteilte ihn
wegen eines einzigen Abtreibungsfalles zu einem Jahr drei Mo-
naten Gefangnis, Fiir die angeblichen Betrugsfalle erhielt er
noch weitere drei Monate. Die Madchen bekamen samt und
sonders Freiheitsstrafen von drei bis sechs Wochen.
Die Verurteilung wegen Betruges ist ein Justizirrtum, um
mich milde auszudnicken. Ich bin fest davon uberzeugt, daB
mein Mandant nach der \Aufhebung des Urteils durch das
Reichsgericht, woran kaum zu zweifeln sein diirfte, sehr
schnell diese Feststellung des Urteils widerlegen kann,
allerdings nur unter der Voraussetzung, daB er die neue
Verhandlung noch erlebt. Es ist unbegreiflich, daB man diesen
Mann nicht aus der Haft herauslaBt Fluchtverdacht sei ge-
geben, so sagt man, weil er sich ja in seine friihere Heimat, zu
der er nicht mehr die entfernteste Beziehung hat, begeben
konne. Es ware begruBenswert, wenn ein paar Arztekollegen
und mitleidige Menschen sich dieser gebrochenen Existenz an-
nehmen wollten.
668
London in rot und gran von Mice Ekert-Rothboiz
Hafendirne spricht zu Musik:
T ondon , ist eine Stadt mit tausend Stadten.
Und die Farben sind rot und sind grau.
In Piccadilly sind rote Moneten
Und die Nebel von Poplar sind grau.
Die Hummer bei Sweetings sind wieder rot . . ,
Und in Poplar gibts graue Steine statt Brot.
Singt:
Wir sind die Hafenmause!
Der ganze Dock mit Mann und Maus geht untern Unterrock.
Wir haben nur Sehnsucht und Lause.
Und schlaft man im Schiffsgehause
mit Johnny oder Billie
Ist man zu zwein und doch allein
Denn die Liebe reicht immer soweit wie das. Bein , . .
Und ihr Kopfkissen ist aus grauem Stein
mit Johnny oder Billie.
Wenn die Tur aber kracht und das Herz aber kracht
sind die Docks schwarz wie Teer ohne Billie . . .
Und zur gleichen Stunde stromt Licht durch die Nacht
In London Piccadilly f
Marschrhythmus:
In Piccadilly marschieren die Herrn, die Herrn mit grauem
Zylinder
In Piccadilly marschieren die Herrn, die Herrh mit rotem Gesicht.
In Piccadilly rauscht abends das Licht
Und die Herren mit Zylinder und rotem Gesicht
verursachen Liebe und Kinder . . .
Ein Gentleman tragt auch im Bett den Zylinder I
Er treibts nicht wie John oder Billie , . .
Und seine Kinder sind seidene Kinder
Achtung! „Made in Piccadilly!"
Spricht wie oben zur Musik:
London ist eine Stadt mit tausend Stadten.
Und die Farben sind rot und sind grau.
In Piccadilly wehn rote Moneten
und die Nebel in Poplar wehn grau.
In Piccadilly rauscht abends das Licht
Da tritt man auf Roastbeef und merkt es nicht . , .
Drei Haus weiter wirst Du getreten!
Mensch, deck nen Zylinder tibers Gesicht
Da sieht man die grauen Falten nicht
Kauf Dir die roten Moneten f
Mach einen Bogen urns Armengericht!
Mach lieber den Gentleman abends im Licht!
Sonst krepierst Du in grofien Stadten I
Aus einem unveroffentlichten Buknenituck „Kominche Legended
669
Lenin und der Materialismus von Kurt inner
Wie man die materialistische Theorie auch deuten mag:
fiir den wirklichen Klassenkampf fehlt in ihr jeder logische Ort.
Leonard Nelson (,Die bessere Sicker heit', 1927, Seite 17).
Won Dcm, was ich als Jiingling gelernt, werde ich selbst als
Grcis Eines nicht vergessen: daB dcr abgestempelten
Autoritat nicht blind geglaubt zu werden braucht; daB ihrc
Thesen und Lehren, sogar ihre, auf ihren Wahrheitsgehalt zu
priif en einem freicn Geist, einem unabhangigen Gewissen er-
laubt sein muB, ja Pflicht sein muB; daB kein Lebendiger (auch
kcin Gestorbner) Gott ist, keiner die Verkorperung der Er-
kenntnis, keiner die Allweisheit; und daB man einem GroBen
die GroBe nicht abstreitet, wenn man ihm, wo er irrt, wider-
spricht — wo er irrt, will sagen: wo die eigne, auBer an ihm
noch an andern, ihm partiell iiberlegnen Autoritaten geschulte
Oberzeugung ohne Schwanken Irrtum feststellt. Wir lacheln,
wenn Menschen der konservativen Hemisphere uns versichern,
ihr Glaubensfiihrer, so er ex cathedra spreche, sei unfehlbar;
da konnen wir, ohne selbst belachelnswert " zu werden, den
GroBmeister der Revolution nicht zum Papst machen. Und
mogen wir uns dem Lacheln eines Klerikers gerne aussetzen
— unertraglich ware unsres geistigen Gewissens BiB, der Vor-
wurf, selber pfaffisch geworden zu sein; als un-uberpriifende
Qbernehmer von „Wahrheiten" eines Heiligen, eines vor jeder
Kritik gefeiten Offenbarers. Diktatur, Disziplin, intellektueller
Gehorsam; eine gute Sache, die wir gegen allerhand Liberti-
nismen verteidigen werden; aber eine Pflicht hier entsteht
erst durch Gleichheit des Standpunkts; Pflicht zur Gleichheit
des Standpunkts — fiir dieses Dogma danken wir, Fiihrer-
tum, Gefolgschaft: ja! Aber die Kritizitat des Achtzehnten
Jahrhunderts erst recht! Wir sind Sozialistenj schlossen So-
zialismus und Selbstdenken einander aus, dann pfiffen wir auf
den Sozialismus. HeiBt Selbstdenken f,IndividualismusM, wie
ihr zischt, Ottern der Unterordnung, so wollen wir in des
Teufels Namen „ Individualist en'1 sein. Amicus Marx, magis
arnica veritafc. Tatsachlich sind sozialistische Zielsetzung und
der Individualismus geistiger Gewissenhaftigkeit durchaus ver-
einbar; Vergesellschaftung der Produktionsmittel, globale Plan-
produktion und -verteilung, klassenloser Staat, Erdstaat der
Arbeitenden — dies alles schliefit den Fortgang der Philo-
sophic nicht aus; es verbiirgt ihn eher. Quelle aller Philoso-
phic blcibt aber fiir cwige Zeiten das personliche Gewissen;
mag auch der Inhalt des Philosophierens so unprivat wie mog-
lich sein. Das Selbstdenken und die sich aus ihm ergebenden
Anspriiche ,,liberalistisch'' *zu schelten, sei das Vorrecht na-
tionaler Gallertenkoche, reaktionaren Kollektiefsinns; revolu-
tionarer Kollektivismus sollte das Denken nicht verbieten,
Schon deshalb nicht, weil es in einer durch-kollektivisierten
Gesellschaft das einzige Gegengift ware gegen bureaukratische
Erstarrung, gegen geheime Despotie und Tamerlanerei. Wir
sind, theoretisch, iiber den Liberalismus hinaus; aber bisweilen
hat es den Anschein, als ob wir praktisch im Begriff sind, ganz
gehorig hinter ihn zuruckzurutschen. „Autoritat, nicht Majori-
670
tat!" — ja; aber in einem Neo-Sinn (auf hoherer Windung
der Spirale): die Autoritat darf nicht oktroyiert, sie muB er-
lebt sein, Es gibt Autoritaten fur mich; ich erlebe in mir
Ehrfurcht; der Subalternen-Zweifel an der stark en Personlich-
keit widert mich an; das alles zwingt mich aber nicht, kritik-
los hinzunehmen, was Einer lehrt, und mag er heiBen wie auch
immer.
Betrachtungen dieserart, welche in kritizistischeren, pro-
testantischeren, meinethalben 1tindividualistischeren" Zeiten
(wo es zum gut en Ton gehort, auf keines Meisters Worte zu
schworen) etwas Selbstverstandliches hatten, wollen heute
vorausgeschiokt seinf wenn Einer das Wagnis vorhat, Lenin
anzugreifen, Genauer: wenn Einer, der Zielgenosse Lenins
und, was den Weg anlangt, in Vielem sein Schiiler ist, gleich-
wohl dies wagt.
*
Sooft ein sozialistischer Dualist den Historischen Materia-
lismus ritzt, gibt es auBer dem Gebriill der orthodoxen Gro-
biane ein satirisches Gezirp neunmalweiser Grillen und Bril-
len, das besagt; ffDu triffst nicht den echten Materialismus,
sondern den falschen. Du triffst eine Karikatur von Materia-
lismus, einen Kaffernmaterialismus, wie er freilich bei . . .,
bei . . ,, bei . . . vorkommt; aber diese Autoren sind langst iiber-
wunden. Man steht heute woanders; du teilst Lufthiebe aus/'
Nun muB ich zugeben, bei der Ergriindung Dessen, was Histo-
rischer Materialismus sei, mich bisher nur auf Marx, Engels,
Franz Mehring, Kautsky, Max Adler, Radek gestiitzt zu ha-
ben, wozu zwar noch ein Schock marxistischer Leitartikler
kam, wahrend immerhin ein Haufe Theoretiker fehlte mit viel-
leicht neunhundert neuen Nuancen. Es gibt eb en in streng-
stem Sinne uberhaupt nicht den Materialismus, sondern die
Materialismen. Und hat man wirklich einmal einen Aal ge-
packt und ruft: „Hurra, jetzt hab ich den Aal!", dann ent-
windet er sich dialektisch unter Oberreichung der Note: „Ich
bin nicht Der Aal; ich bin einer." Trotzdem ist alien Aalen
Etwas gemein; sollte sich herausstellen, daB jene Typik des
Materialismus, wie unsereins sie stets sah, sich just bei Lenin
findet, dann sprache diese Tatsache ja wohl dafur, daB unser
Blick nicht getriibt war-
Unter dieser Optik erscheint es besonders verdienstvoll,
daB der „Verlag fur Literatur und Politik", Wien, unlangst
ein monographisches Bandchen (in sehr anstandiger Uber-
setzung und sehr anstandiger Ausstattung, fiir nur neunzig
Pfennige) herausgebracht hat: W. L Lenin „Ober den Histori-
schen Materialismus", Das Biichlein enthalt zwei Essays, die
Lenin als Vierundzwanzigjahriger verfaBt hat (1894); der ano-
nyme Einleiter versichert, es seien „die beiden ausfiihrlichsten
und wichtigsten Arbeiten Lenins iiber den historischen Ma-
terialismus". Da hatten wir also zu dieser fundamentalen
Frage kanonische Worte der hochsten marxistischen Autori-
tat seit Marx. Es sind Streitschriften, mit Wut und Wissen
geladene, unvolkstiimliche, giftig-verwickelte, gegen die Po-
lito-Theoretiker N. K, Michailowski und Peter Struve. Lenin
expliziert, was er zu lehren hat, nicht didaktisch, sondern
671
sarkastisch: am Objckt seines Opfers; ist diese Methode jiing-
lingisch, dann blieb Lenin Jiingling bis zum Tode. Michai-
lowski (1842 bis 1904), welchen er in jenem Tone anfahrt, der
fur die Leninuleinchen der deutschen Kommunistenblatter so
vorbildlich geworden ist, muB — nach den Zitaten zu urtei-
len — ein simmelhafter Prazisionsdenker, eigensinnig-gutig,
ein ganzer Prachtkerl gewesen seinj selten hab ich durch ein
Pamphlet das Angriffsziel des Pamphlets so lieben lernen.
(Er war Narodnik ? Wie unerheblich !) Ubrigens erwahnt
Lenin hier Simmel einmal; bekennend, daB er ihn nicht kenne.
Ob er ihn spater gelesen hat? Ich furchte, nein. Schade!
Welche Thesenrosinen diirfen wir uns nun aus diesem
polemischen Kuchen klauben? Ich werde die ansehnlichsten
der Reihe nach auf den Teller legen.
Lenin applaudiert dem Ausspruch imVorwort zum fKapi-
tal\ wonach Marx f!die Entwicklung der okonomischen Ge-
sellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen ProzeB auf-
fafit'*. Das nBewegungsgesetz der Gesellschaft'* sei „ein Na-
turgesetz'\ Nun kann man die Phanomene des Geistes, des
Vernunftwillens, des bewuBten Willens iiberhaupt, der ,Kul-
tur' in den Begriff der ,Natur* hineinnehmen; dann verliert
die Behauptung, das Bewegungsgesetz der Gesellschaft sei
ein Naturgesetz, jeden Sinn: weil es andre Bewegungsgesetze
als Naturgesetze dann nicht geben kann. Alle Gesetze des
Geschehens, einschlieBlich des Kulturgeschehens, sind ja dann
^Naturgesetze"; sie stehen gegeniiber einzig den Gesetzen des
Seinsollenden. LaBt man aber den menschlichen Willen aus
dem ,Natur'-Begriff heraus, dann bedeutet die Deutung der
Gesellschaftsentwicklung als eines naturgeschichtlichen Pro-
zesses, ihres Bewegungsgesetzes als, eines Naturgesetzes, nichts
andres als den Lehrsatz, daB bewuBter Wille, Vernunft, Geist
an der Gestaltung der Gesellschaft unbeteiligt seien; daB sich
das dynamische Prinzip der Menschengeschichte in nichts
unterscheide von dem dynamischen Prinzip der Tiergeschichte,
der Pflanzengeschichte, der Steingeschichte. Mensch = Materie.
Lenin lehrt „die Abhangigkeit der Entwicklung der Ge-
danken von der Entwicklung der DingeM; diese These ((allem"
stehe ^im Einklang mit der wissenschaftlichen Psychdlogie'\
Ist Psychologie die Instanz, vor die solche Frage gehort? Die
Priifung der -Richtigkeit eines Gedankens ist etwas vollig
andres und nach andrer Methode zu Vollziehendes als die
Erforschung der Herkunft eines Gedankens; Ursache ist nicht
Grund; denkt man aber ursachlich, so erweisen sich iiberdies
„die Dinge" in ihrer Entwicklung als von 1tden Gedanken"
ebenso abhangig^ wie „die Gedanken" in ihrer Entwicklung
von „den Dingen", (Der junge Marx — Thesen iiber Feuer-
bach, besonders These 3 — hatte um diese Wechselwirkung
gewufit.)
Lenin unterschreibt den Lehrsatz, daB die Entwicklung
einer gegebenen gesellschaftlichen Formation ^ausschlieBlich"
aus den Produktionsverhaltnissen heraus erklart werden
konne; alles andre sei nur „Uberbau'\ Er verengt das Welt-
geheimnis des menschlichen Handelns; zugleich laBt er die
Frage of fen, wie denn die Produktionsverhaltnisse zu erklaren
672
seien; wie ihr Wandel. Er erklart ein X durch ein Y, als be-
diirfte dieses nicht auch der Erklarung. Alles, was fiber den
Materialismus hinausgeht, zahlt er zur „ausweglosen Meta-
physik". Nur ,tdas Studium der Tatsachen" laBt er gelten. Und
die Expropriation der Expropriateure, die Diktatur des Pro-
letariats? Sind das, zumindest bis 1917, t,Tatsachen" oder
nicht vielmehr ,,aprioristische, dogmatische, abstrakte Kon-
struktionen", namlich Sollsatze, Ideen, Forderungen, Ziele?
Hiervon will Lenin nichts wissen. Die materialistische
,tTheorie erhebt denAnspruch, einzig und allein die kapitali-
stische Gesellschaftsorganisation, keine andre, erklart zu haben".
Namlich nicht „die ganze Vergangenheit der Menschheit".
Schon. Aber die jungste doch nur ,, erklart'1 zu haben; nichts
als, ,, erklart"! Ursachenforschung, keine Zielsetzung. Kon-
templation, kein Kampf. Welch schriller Widerspruch zur
kommunistischen Praxis!
Schfass fotgt
SchnipSel von Peter Panter
Chaw. So ernst, wie der heiter tut, ist er gar nicht.
*** t*
Der englische Schriftsteller William Gerhardi sprach einst: „Wenn
eine Frau sagte, sie sei genau wie alle Frauen — die ware anders/'
*
Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und
einem Autor, der wurde von der Gesellschaft anstandig und sauber
erfiillt. Das war kurz vor Erfindung der Photographic
*
Nichts kommt dem Gerechtigkeitsgefiihl gleich, das einen deut-
schen Republikaner befall tt wenn er gegen einen Stahlhelmer vor-
gehn soil. Wie peinlich genau er dann die Paragraphen abwagt . . A
Aber es ist gar kein Gerechtigkeitsgefiihl: es ist Feigheit und zutiefst
eine innere Sympathie.
Da gab es einen englischen General, der war so unmusikalisch,
daB er nur zwei Musikstiicke erkennen konnte, Eins davon war God
save the King.
*
Golf, sagte einmal jemand, ist ein verdorbener Spaziergang.
*
Segen des Rundfunks, Die alte Frau Runkelstein pflegte sich
abends im Lehnstuhl die Kopfhorer anzuschnallen, die Musik ertonte,
und dann schlief sie ein. Wenn das Programm aber zu Ende war,
dann wachte sie vor Schreck auf. Und dann ging sie schlafen. Siehe
die Uberschrift.
*
„Wenn ich so viel Geld hatte", sagte Joachim Ringelnatz, „und
so viel Macht, dafi ich alles auf der Welt andern konnte, dann liefie
ich alles so, wie es ist."
*
Wenn ein Franzose einen Vertrag unterschrieben hat, dann halt
er ihn. Doch bevor er ihn unterschreibt, macht er unendliche Ge-
schichten, in Veilauf derer man junge Hunde kriegen kann, Und
dann unterschreibt er ihn nicht, Es sind kleine Leute, wie?
Wenn ein Deutscher einen Vertrag unterschrieben hat, ist der
673
Vorfall fur ihn erledigt, und er ist hochst erstaunt, wenn er ihn nua
aucb noch erfiillen soil. Dann gibt es ein grofies Lamento und vicl
Geschrei der Rechtsanwalte, Aber er unterschrcibt jeden Vertrag.
Es sind gro&ziigige Leute.
*
Es gibt so wenig brauchbare Buch-Kritiken, weil jeder Schrift-
stcllcr falschlich annimmt, er konne, weil er Schriftsteller ist, aucb
Kritiken schreiben.
Bei den grofien Scbneidern liegen manchmal Empfeblungen von
Schustern und Hemdenmachern herum. So sehn unsre Buchkritiken
Wenn die geliebte Frau mit einem andern Mann flirtet, erscheint
sie uns leise lacherlich. Die Steine des Kaleidoskops, das wir so gut
kennen, geben ein neues Bild; wir sebn sie zum ersten Mai gewisser-
mafien von der Seite, Eifersucht macbt kritisch. Wenn Manner mit
einer fur sie neuen Frau beschaftigt sind, gilt das naturlicb alles
nicht.
*
Nahme man den Zeitungen den Fettdruck — : um wieviel stiller
ware es in der Welt — !
*
Es gibt eine Frage, die stellt nur ein Deutscher. Wenn dich die
Leute besuchen, dann nimmt dicb jener unter den Arm, raucht einraal
an seiner Zigarre und sagt: „Sagen Sie mal — was zablen Sie bier
eigentlich Miete?"
Ist doch aucb interessant.
*
Die Presse ware viel weniger unaussteblich, wenn sie sicb nicbt
so grauslich wichtig nahme.
*
Wenn ein Kommunist arm ist, dann sagen die Leute, er sei nei-
disch. Gebort er dem mittleren Biirgertum an, dann sagen die Leute,
er sei ein Idiot, denn er handele gegen seine eignen Interessen, 1st
er aber reich, dann sagen sie, seine Lebensfuhrung stehe nicht mit
seinen Prinzipien im Einklang.
Worauf denn zu fragen ware: Wann darf man eigentlich Kommu-
nist sein — ?
TeilS teller, teilS gUt von Rudolf Anmeim
r\er Ufapalast hattc, wenn man das von einem Palast sagen
*^ kann, eine Pechstrahne. Er bot einmal Afrika, einmal
Wien, beidemal Langeweile. Als der Expeditionsfilm ^Trader
Horn", von W. S. van Dyke und Clyde de Vinna mit viel Miihe
und viel Geld 'hergestellt, eine halbe Stunde gelaufen war, ging
ein freudiges Rauschen durchs Publikum, denn zum erstenmal
war ein Satz des Dialogs deutlich zu verstehen gewesen. MDer
Lowe ist namlich ein bifichen blod" — nun, das fiel in dieser
Umgebung nicht auf. Im tibrigen murmelten die Schauspieler
mit den afrikanischen Gewassern um die Wette, und als der,
Wasserfall in Funktion trat, herrschte minutenlang ein Kracb
wie auf dem tempelhofer Flughafen. Scherzhaft imitierte Tier-
stimmen tonten um das Lagerfeuer, zwei Herren in Tropen-
hiiten wanderten rastlos wie das jiidische Volk durch die
Steppe, alle paar Sekunden blieb der eine stehen, packte den
andern an der Schulter und rief: ..Ha, was ist dies?", und dann
674
murmclte der andrc Brehmzitate in das verschnupfte Mikro-
phon: „Dies ist dcr sogenannte Wasserhirsch, auch genannt
die Antilopengazelle; er halt sich in niedrigem Gebtisch auf
und dient dcm Tiger zur Speise." Und dann schoB er oder
war! einen Stein in die lehrreiche Tierwelt. Eine betrachtliche
Anzahl von Raubtieren und Wiederkauern, die sich freund-
licherweise zur Verfiigung gestellt hatten, zerfleischten ein-
ander, bis sie als Leichen vor der Kamera lagen, ein Nashorn
spuckte in naturalistischer Weise Blutklumpen und starb,
einem Lowen wurde ein Speer ins Auge geworfen, und unter
den Kannibalen tauchte als verschlepptes weiBes Weib ein
verschminktes nacktes Girl mit reichondulierter Wasserstoff-
mahne auf. „Jat siehst du, das ist Afrika'Y stieB der Trader
Horn miihselig unter s ein em Helm hervor. Er irrte. Es war
bestenfalls Hollywood.
Kaum war die BildHache von den miBhandelten Tieren
und Negern gesaubert, da bevolkerte sie sich mit vielen hun-
dert wienerisch bekleideten Statisten, die mit einer Ausfiihr-
lichkeit Walzer zu tanzen begannenf als handle es sich um die
Propagierung einer neuen Kunstform. Angetrunkene Personen
beiderlei Geschlechts wiegten zur Musik viertelstundenlang den
Oberkorper hin und her, und dieser einformige Pendelverkehr
schlug immer neue Breschen in den guten Willen des Zu-
schauers, der mit Vergniigen gekommen war, um Erik Charells
erste Filmarbeit zu betrachten. Zweieinhalb bis vier Millionen
soil dieser Film der Pommer-Produktion, ,,Der KongreB tanzt",
gekostet haben — die Angaben schwanken; jedenfalls ist er der
teuerste deutsche Film seit Jahren. Und einer der diirftigsten.
Zu Charells Ungliick hatte einen Tag vorher ein andrer Thea-
termann sein Filmdebut gefeiert, Fritz Kortner. Welcher Un-
terschiedl Bei Kortner ein iiberwaltigender Reichtum an Ein-
fallen, die den Film so unter Druck setzten, daB er zu zersprin-
gen drohte, der schone Eifer eines temperamentvollen Anfan-
gersf eine jahrelang aufgestaute Regiekraft, der plotzlich das
Schleusentor aufgezogen wurde und die wie eine Springflut
auf Max Pallenbergs Regenschirm und auf den atemlosen Zu-
schauer niederging. Erik Charells erster Film wirkt wie sein
fiinfzigster: nichts von Frische, nichts von Eigenwilligkeit. Die-
ser neue Regisseur ist durch den Wolf der Industriebelange ge-
dreht, noch ehe man ihn recht hineingeworfen hat. Der Pro-
duktionsleiter darf fur ihn Gefiihle hegen wie der Klassenleh-
rer fur den Primus. Welch sanfter Most.
Schweigen wir davon, daB der Film einen historisch-poli-
tischen Stoff behandelt. Er ist seinem Gegenstand so meilen-
fernf daB sich der Vergleich nur mit Gewalt herbeiziehen laBt.
Dieser Zarf dieser Metternich sind nicht schlechtgetroffene
Masken geschichtlicher Figuren, sie haben vielmehr nicht das
leiseste mit ihnen zu tun. Und der KongreB, der da tanztf ist
noch nicht einmal ein TanzerkongreB. Denn das ist das Auf-
falligste an diesem Film: er ist noch nicht einmal leicht, be-
schwingt, choreographisch reizvoll. Man besehe sich die Lieb-
lingsszene der Hersteller: Lilian Harvey fahrt, endlose Minuten
lang, an einer tonenden Wandeldekoration voriiber — ein Ein-
fall, der von Lubitsch ausgeliehen und dann gehorig aus-
675
gepumpt worden ist, .auf daB der Film nicht zu billig werde.
Man sehe, wie die Schauspielerin in dieser Szene in stofihaften
Zappelbewegungen mit den Sprungfedern der Kutsche wett-
eifert. Dazu ein Tanzregisseur? Man sehe die eintonige Lohe-
land-Gymnastik, mit der sie eine mehrstockige Villa im Tanz-
schritt besichtigt. Selten habe ich die Gliedmafien eines Men-
schen in so heftiger, anhaltender Bewegung gesehen wie bei
dieser bedauernswerten Schauspielerin, von der wir doch wis-
sen, dafi sie reizend und begabt ist- Jener Folterknecht mit
dem Acht-Millimeter-Rohrstock, dessen Bekanntschaft wir
einem geschmacklosen Einfall d«r Autoren Falk und Liebmann
verdanken, scheint dauernd hinter ihr her gewesen zu sein, auf
daB sie Grazie zeige. (Programmheft: ,,Christel kommt ins
Kittchen und soil 25 Schlage bekommen auf den sanft gerun-
deten Korperteil, auf dem sie zur Freude aller Handschuh-
kaufer immer so zierlich und kokett gesessen hat.") Und die
Komparsenregimenter, die immer wieder in den StraBen Wiens
fur Charell demonstrieren? Sie schwenken freundlich die
Arme, Dazu ein Tanzregisseur?
Man hat den Charme auf Lastwagen nach Babelsberg
transportiert. Man laBt Spitzenhoschen zappeln. Man hat das
Organ des Schauspielers Paul Horbiger auf eine penetrante
Blechstimmung gebracht. Willy Fritsch, der doch lebendige
Menschen spielen kann, versagt. Die Sandrock versagt. Lil
Dagover weiB vor Raffinement nicht aus noch ein. Conrad
Veidt kaut Geback und steht ohne Text in der Dekoration her-
um, Ein Schaden fiir die Schauspieler, ein Jammer urns Geld.
Und da bricht man denn unwillkurlich in die Worte aus, die
der Kritiker der ,Lichtbildbuhne' fiir diesen Film gefunden hat:
1fSo ist eine Konfiture entstanden, die den unbekannten Million
nen, denen dieser Film gewidmet ist, munden wird wie himm-
lisches Manna,"
Die Konfiture ist ein Gummibonbon. Jedes Motiv ist un-
ertragiich zerdehnt. Da ist der Doppelganger-Einfall: Zar
Alexander laBt sich in gefahrlichen und langweiligen Situatio-
nen von einem Double, einem stumpfsinnigen Herrn Uralskyt
vertreten. Das Motiv wird zu Tode gehetzt und ist zugleich
filmisch ganz unausgenutzt. Ein Vogel stoBt einen Sirenen-
pfiff aus, wahrend Lilian Harvey ihren Strumpf anzieht — aber
er tuts gleich viermal. Wenn Conrad Veidt sich ein Glas
Wasser eingieBt, so kann man Wetten abschlieBen, daB er im
nachsten Augenblick das Wasser vor Oberraschung uber den
Rand flieBen lassen wird- Und zum SchluB, ich liige nicht,
schiebt sich ein Pappschiff wie Lohengrins Schwan vor den
Vollmond, und drauf steht Napoleons Silhouette mit ver-
schrankten Armen.
Dieser Film verdient, daB wir ihn so wichtig nehmen, Er
geht, mit den neuesten, teuersten Hilfsmitteln hergestellt, in
franzosischer und englischer Version ins Ausland. Aus den
Zeitungen sprudeln die Kritiken wie Champagner empor. Und
das Publikum? Es ist schade, daB es fiir Kinobesucher keine
Doubles gibt. Ich kann mir Leiite den ken, die in diesen Film
gem. den dussligen Uralsky geschickt hatten, Dem hatte er
gemundet wie himmlisches Manna.
676
Charells Film ist nicht gedreht sondern geieiert, Man ver-
gleiche ihn mit dem durchaus nicht groBartigen, mit vicl weni-
ger Ambition herausgebrachten „Soir de Rafle" (,,Eine Razzia
in Paris"). Es ist fast dilettantisch, wie in der ersten Szene
die Atelier-Apachen zwanglos durcheinanderspazieren, aber
es ist fast genial, wie der Boxtrainer sich von seinem trottligen
Schiiler knock out schlagen lafit, um ihm einen Scheck abzu-
listen. Der Regisseur Carmine Gallone fiihrt einen gefahr-
Hch langen Boxkampf mit ungewohnlichem Geschick durch, er
gibt seinem Schauspieler Albert Prejean alle notige Sicherheit;
und durch die unansehnlich photographierten Bilder leuchtet
das Gesicht der wunderschonen Annabella wie die Sonne an
einem miBgelaunten Novembertag.
Der „Brave Sunder" aber, Fritz Kortners erster Film,
Alfred Polgars erster Film, Max Pallenbergs erster Film, gehort
zum Besten, was in deutschen Ateliers seit vielen Jahren
geschaffen worden ist. Soviel Humor, soviel Klugheit, soviel
konzentrierter FleiB und soviel Talent sind lange nicht an einen
Film gewendet worden. Er hat die liebenswurdigsten, begluk-
kendsten Fehler, die ein Erstlingswerk haben kann: alles Sarin
schaumt iiber, und vor der Fiille der Moglichkeiten entschlieBt
man sich fiir keine ganz. Dieser Film ist gestopft wie eine
Mastgans; gestopft wie ein Strumpf; die Faden sind immer
wieder kreuz und quer, dicht durcheinander gezogen, bis ein
festes, etwas undurchsichtiges Gespinst entstand — erst wenn
man diesen betaubenden, verwirrenden Film zum zweiten Mai
gesehen hat, wiirdigt man recht, wie fanatisch durchgearbeitet
er ist, wie das kleinste Motiv vorbereitet, gestiitzt, begriindet
wird. Bewundernswert, wie die Zusammenarbeit eines so ei-
genwilligen Regisseurs und eines so eigenwilligen Schauspie-
lers gegliickt ist. (Der Manuskriptautor, der ja nach den Ge-
wohnheiten des heutigen Filmbetriebs im Atelier zu schweigen
hat wie das Weib in der Kirche, diirfte von den Beiden ein
wenig an die Wand gedriickt worden sein.)
Kortners Phantasie ist malerisch und iibersprudelnd, Pol-
gars Epigramme iibersteigen durchaus den Gesichtskreis oster-
reichischer Oberkassierer, und Pallenberg ist Clown im schon-
sten Sinne des Wortes. Deshalb wirken Bureau und Aktien-
gesellschaft als peinlicher Erdenrest. Ein durchaus iiberirdi-
sches Spiel entsteht. Der Kassierer redet mit Zungen, mit wie
vielen Zungen, die Wirtshausszene mit dem vermeintlichen
Raubmorder wird zu einem hinreiBenden Zirkus, biedre Ge-
haltsempfanger toben durchs Lokal, kriechen untern Tisch, be-
lecken einander in etfrigem Tuscheln, die Kamera tanzt iiber
ihren Kopfen wie der Kniippel aus dem Sack. Ein Hut saust
durch eine Regenlandschaft, ein Telephondraht fesselt wie Lao-
koons Schlange den Bureaulowen, und wenn nach gliicklicher
Losung des Knotens die Glocken lauten und der Unterkassie-
rer spricht: „Man konnte fromm werdenl", dann antwortet ihm
Pallenberg: „Wittek, warum gleich ins Extreme stiirzen?" Das
ist hinreifiend, das ist bestes Oesterreich, und von dieser Me-
lodie aus hatte der ganze Film gemacht werden miissen. Statt
dessen ist der Grundstoff des Manuskripts adalbertisch: trok-
677
ken, alltaglioh, unpoetisch, „Bureau> ist ein innerer Zustand"
aber nicht der dieser drei Filmkiinstler.
Die Bar- und Traumszcncn gehoren zum Hiibschesten,
was je auf einer Leinwand zu sehen war. Wie da schon Traum
ist, wo noch Wirklichkeit ist; wic noch Wirklichkeit, wo schon
Traum, Wic sich im Scheinwerferlicht ein irdischer Raum auf-
lost in ein gespenstisches Flackern, wie ein durchaus glaubwiir-
diges Tanzlokal zur Holle wird, wo die kleinbiirgerlichen Sym-
bole des Lasters und des Verbrechens Korper gewinnen —
,,eine sinnliche Tauschung, eine Sinnes tauschung", wie Pallen-
berg stammelt. Die nackte Negerin tanzt, Messer sausen in
die heilige Aktentasche, und ganz sachte verschwimmt, in ge-
schickten Spiegel- und Zeitlupenaufnahmen, die Welt, ganz
sachte wird sie Traum, der schonste Traum, den die Filmkunst
hervorgebracht hat, Weder in den ^Geheimnissen einer Seele"
noch in „Narkose" ist annahernd solches erreicht worden. Hier
herrscht nicht Phantasterei und nicht Kunstgewerbe; die
exakte Unlogik des echten Traums holt jedes Motiv aus der
Wirklichkeit, verquickt Unzusammengehoriges, weicht die re-
alen Relationen auf, Als Orgelchoral ertont das Leitmotiv der
Defraudation, das Lieblingslied des betrugerischen Direktors,
und leichenhafte Stuckengel blasen Posaune. Die spielerischen
Einfalle der franzosischen Avantgardisten sind hier zum ersten-
mal in einen strengen Sinn eingespannt, Dieser Traum, Fritz
Kortner, bedeutet Gliick!
Der Film ist nicht leicht, er ist schwer, Er hat einen un-
heimlichen, bosen Humor. Manchmal erklingt stroheimisches
Gelachter. Er ist sehr deutsch. Wer eine zierliche Kost er-
wartet, wird sich den Magen verderben. Gegen diese Schwere
des Gehalts ist nichts zu sagen, wohl aber gegen die Schwere
der Form. Kortner wird in seinen nachsten Filmen ganz von
selbst eine losere Hand bekommen, seinen Einfallen mehr
Platz, mehr Nahrboden verschaffen, so daB.sie einander nicht
tiberwuchern. Und er wird ihnen jene gewisse Schlamperei
und Lassigkeit des Wirklichen geben, damit sie um so starker
wirken: diesmal steht der Boy der Engelbar noch eine Nuance
zu deutlich vorm Spiegel, der Regen failt zu plotzlich, der
Familienkrach setzt wie ein Leierkasten ein, das Gruppenpor-
trat iiberm Sofa erscheint auf Kommando, und der Direktor
trallert mit zu absichtlicher Unabsichtlichkeit seine Melodie.
Noch wirkt das Gewollte nicht wie Zufall, noch lauern die
Pointen auf ihr Stichwort. Und Pallenberg wird, vielleicht,
einsehen, daB er nicht dann am besten ist, wenn er Schlager-
Einlagen bringt, Text und Musik von Pallenberg, wenn er
Phonomontagen zertriimmerter Satze ausspuckt, wenn er in
Monologen Gehortes und Gelesenes schubweise laut verdaut
(„wieso irrsinnig — wieso irrsinnig?"), sondern dann, wenn er
gar nic?hts sagt, wenn er traurig die Augen rollt, wenn er
nichts ist als ein verschlamptes, stilles Stuck Mensch, den
Kneifer als bombastische Bastion auf der Nase, und Schnurr-
bart, Lippe und Kinn unordentlich herunterhangend wie ein
schlechtgebundner Schlips. Er braucht keinen schiefen Zylin-
der und keine rutschenden Unterhosen, keine Auftritte und
keine Abgange — es geniigt, daB er da ist.
678
Der Theaterdichter Schnitzler von Alfred p0igar
17 r hatte als Dramatiker eine so sichere wie wcichc Hand*
" Die voile Plastik gelang ihm weniger gut, als das formen-
zarte Relief.
Er war ein romantischer Skeptiker. In seinen Dramen
w end en die Versuche, des eignen Schicksals Schmied zu sein,
als ohnmachtig, die schrullenhafte Ordnungt in der das irdische
Geschehen abrollt, als undurchschaubar erkannt, und iiber Tod
und Leben, GroBe un<l Kleinheit, Wollen und Konnen das
Zeichen eines wehmiitig fatalistischen Lachelns gesetzt,
*
Auch das Bittere und Bose in seinen Stiicken ist unroh
dargestellt. Auoh wo Anklage erhobcn wird, geschieht dies
mit dem merkbaren Vorbehalt, daB der Kreatur, schon weil sie
dies ist, mildernde Umstande zuzubilligen sind, Selbst das
Tragische bei Schnitzler hat eine Art von Sanftheit, Langsam
offnet sich die Hand der Nacht und laBt das Finstre frei. Das
Unheil kommt auf Zehenspitzen.
In den Dramen dieses Wieners scheint das Schwarze noch
wie konzentriertestes Blau.
*
Schnitzlers Theaterfiguren haben Neigung, in sich selbst
zu schauen, aus Kellern ihres BewuBtseins Versenktes ans
Tageslicht zu fordern. (Ich schrieb einmal respektlos, er fiihre
seine Figuren „innerln'\) Es sind geistgepflegte Menschen, fein
und verhalten, die auf gepflegten Lebenspfaden lust- oder
trauerwandeln, Ihr Vethangnis ist, daB sie, was sie tun, zu spat
oder zu friih tun. So ist iiberhaupt das Leben im Schnitzler-
schen Spiegel: nichts kommt rechtzeitig, aber gewiB kommt
der Tod. Und vor ihm die groBe Einsamkeit.
*
Zwischen den Lebenden flieBt ein Dunkles, sie reichen
daruber hin die Hand, aber kaum ihre Fingerspitzen beriihren
einander. Wie ein Kunstlaufer zieht das Schicksal gewagte
Kurven, die sich schon und sinnvoll ineinander schlingen, Be-
ziehungen verschwinden spurlos, wirken unterirdisch weiter,
tauchen iiberraschend wieder ans Tageslicht, Parallelen gehen
lange nebeneinander, bis sie erkennen, daB sie sich erst in der
Unendlichkeit schneiden, Sieger werden besiegt, festeste Bin-
dungen reiBen, zarte erweisen sich stark wie Eisenketten.
In Schnitzlers dichterischem Charakter verschmeizen Hei-
terkeit des Herzens und Melancholie des Geistes. Er war
mifitrauisch gegen diesen. Den Boden seines Werks decken
welke Blatter vom Baum der Erkenntnis. Er verwertete ihr
Rascheln musikalisch,
*
In der wienerisch weichen Luft seiner Biihnenspiele hat
noch die Satire Genuit, die Langeweile Anmut, die Gleich-
giiltigkeit Kultur; und alle Oberflache eine Opalfarbe, die ver-
hehlt, ob die Stelle. seicht ist oder tief.
679
Auffallend, wie haufig in seinen Theaterstticken das Pra-
sens vom Perfcktum crschlagcn wird, ein gcwescncs Drama
ins Gegenwartige hineinspielt, wie oft Gespenster erscheinen,
— ,,revenants" sagt praziser die franzosische Sprachc — , um
die Lebenden zu verwirren. Ibsen in Wienerwaldes Luft.
Immer scheint Schnitzler bemiiht, die eherne Folgerichtigkeit
alles Geschehens, als weltanschaulichen Grundgedanken, zur
Geltung zu bringen. „Man muB die Zusammenhange begreifen"
meint, im ,,Ruf des Lebens", Leutnant Max.
Fast jede seiner dramatischen (und auch epischen) Arbei-
ten riihrt an das Problem des Todes, Das ist, unter anderm,
auch ein Kunstmittel: im Licht der untergehenden Sonne
werfen selbst kleine Dinge grofie Schatten.
*
Schnitzlers beruhmte Verszeile ,fWir spielen alle, wer es
weiB, ist klug'* gibt den Extrakt seines Weltgefuhls. Auch
was Wahrheit heiBt, gait ihm nur als fragwurdiger Sinn, sol-
chem Spiel — einem Vernunft-Bediirfnis folgend — unter-
legt, ohne dafi es dadurch andres wiirde als Spiel; ein
Spiel, in dem der Masken mehr sind als der Gesichter, der
leidenschaftlichen Gebarden mehr als der Leidenschaften, und
in dem die Spieler mehr Blut und Geist fatieren, als sie haben.
Er blickte auf das Leben heiter, weil es immerzu wieder
aus dem Tod entspringt, und mit Resignation, weil es immerzu
wieder in den Tod miindet, Er betrachtete die Welt liebevoll
und gestaltete liebevoll, was er sah. Aber als sie ins Wariken
kam, kamen schlechte Zeiten fur geruh- und empfindsame Be-
trachter, und im Angst- und Wutgeschrei einer von Panik er-
griffenen Welt verhallte das Wort des Dichters, der, trotzdem
die Konjunktur so dringend dazu riet, nicht aufhoren mochte,
einer zu sein.
RiSSe im Sfahl-Konzem von Bernbard Citron
Cs war einmal ein Haus, ganz aus Stahl, ausgestattet mit
" allem Luxus der Gegenwart, gewaltig wie kein zweites im
Lande. Die ehernen Wande waren undurchdringlioh, jeder Pfei-
ler stiitzte sich auf einen andern von gleicher Gediegenheit. Die
Besitzer riihmten ihr Haus als das festeste, das sich denken
lieBe. Da eines Tages wankte der Koloss, denn er stand auf
tonernen FuBen.1* Diese Fabel, die kein Marchen ist, spielt
im Jahre 1931, in ihrem Mittelpunkt stehen die Vereinigten
Stahlwerke, der groBte Montantrust Europas.
Als sich im Jahre 1926 die aus den Triimmern des Stinnes-
krachs gerettete Rhein-Elbe-Union (heute Gelsenkirchen Berg-
werks A,-G.)( der Phonix, die Rheinischen Stahlwerke und die
Thyssen-Werke vereinigten, da war ihr Ziel Kostenersparnis
durch Zusammenlegung gleichartiger Betriebe sowie durch Zu-
sammenarbeit bisher getrennter Steinkohlenzechen und Koke-
reien, Eiseri- und Stahlwerke, Hiitten und Erzf elder. Die fol-
680
gende Periode stand im Zeichen der Rationalisierung. Wiedcr
sollte gespart werden, abcr die Abwicklung dieses „Sparpro-
gramms" hat im Laufe der letzten ftinf Jahre fast 400 Millio-
nen Mark verschlungen. Indessen ist im gleichen Zeitraum dei"
Gesamtumsatz um etwa 40 Prozent gesunken. Nachdem 1928
und 1929 der Hohepunkt mit fast IK Milliarden erreicht war,
begann ein rasches Abgleiten bis auf 840 Millionen in dem am
30, September 1931 beendeten Geschaftsjahr. Wie Iassen sich
bei einer derartigen Geschaftsschrumpfung die Rationalisie-
rungsunkosten herauswirtschaften, wie kann das zu derartigen
Zwecken aufgenommene Kapital amortisiert werden? Im Ge-
schaftsbericht fur das Jahr 1928/29 hiefi es: ,,Unterbleibt diese
grundsatzliche Umstellung (des Finanz- und Steuersystems mit
dem Ziel verstarkter Neubildung von Eigenkapital. Der Verfas-
ser), so wird die mit groBen Mitteln durchgefiihrte mehrjahrige
Rationalisierungsaktion der deutschen Industrie statt der er-
warteten Hebung der Wettbewerbsfahigkeit im Ergebnis nur
eine erhohte Verschuldung der Betriebe der deutschen Wirt-
schaft und vermehrte Arbeitslosigkeit bedeuten." Da es sich
bei der geforderten ^Umstellung" doch nur um eine rhetorische
Floskel handelte, denn auch der Stahlverein konnte nicht er-
warten, daB irgend eine deutsche Regierung auf Steuern und
Sozialmafinahmen verzichten wird, sah man fiir die Gesamt-
wirtschaft bereits sehr schwarz. In diesem und in erhohtem
MaBe in dem Geschaftsberichte 1929/30 finden wir einen auf-
fallenden Gegensatz zwischen dem Pessimismus, mit dem die
allgemeine Lage, und dem Optimismus, mit dem die Situation
bei den Vereinigten Stahlwerken geschildert wird, Wenn von
kostspieliger Rationalisierung und Verschuldung der Wirtschaft
die Rede ist, dann 4en^t man im stillen an sich selbst, ohne
es nach auBen hin zuzugeben. Die deutsche Industrie hat in
den Nachkriegsjahren die Sitte angenommen, vor den Geld-
gebern im Pelz und vor dem Fiskus in Lumpen zu erscheinen.
Rascher, als sie es selbst geglaubt haben, behielten die Indu-
striellen mit ihren pessimistischen Darstellungen, die vermutlich
gar nicht immer so ernst gemeint waren, recht, Wie die Ver-
waltung der Vereinigten Stahlwerke vor zwei Jahren in dem
angefuhrten Geschaftsbericht selbst erklarte, ist die Rationali-
sierung mit Krediten durchgefiihrt worden. Ztizugeben ist aller-
dings, daB andre nicht zum Stahltrust zahlende Industrieunter-
nehmungen in dieser Beziehung noch viel weitherziger gewesen
sind. Die Kohlengewerkschaft Ewald hat zum Beispiel ihre
Stickstoffabrik ausschlieBlich mit Bankkrediten finanziert. Die
Vereinigten Stahlwerke haben iiberwiegend langfristige Ver-
pflichtungen, aber allein das Anleinekonto von einer halben
Milliarde ist nicht leicht in einem Jahre zu verzinsen, in dem
eine Rentabilitat der Betriebe nicht zu erzielen war. Die Still-
legungen nahmen in den letzten Monaten einen derartigen Urn-
fang an, daB man anscheinend auf jede Kapazitatsausnutzung
langst verzichtet hat und sich auch gar nicht mehr um die Ren-
tabilitat bemiiht, sondern das einzige Bestreben hat, die Reser-
ven nach Moglichkeit zu schonen. Das Vorgehen der Vereinig-
ten Stahlwerke gleicht dem Befehl an eine verzweifelt kamp-
fende Truppe, trotz feindlicher Angriffe Patronen zu sparen,
681
Den groBten Teil ihrer Anlagen haben die Holdinggesell-
schaften des Stahlvereins am Tage des Zusammenschlusses ein-
gebracht. Sie selbst sind mehr oder weniger nur noch Finanz-
gesellschaften, Ihr Hauptaktivum stellt der Besitz an Vereinig-
ten Stahlwerke-Aktien dar. Wer die Holdinggesellschaften be-
herrscht, beherrscht den Stahlverein, Einem Mann gelang es,
allmahlich auf dem Wege iiber die Holdings die Macht im Stahl-
verein an sich zu reiBen. Dieser Mann heiBt Friedrich Flick-
Da er als Majoritatsbesitzer der mit 20 Millionen Aktienkapi-
tal ausgestatteten Charlottenhutte und als erfolgreicher Paket-
handler in mittel- und ostdeutschen Werten ein ansehnliches
Vermogen zusammen zu bringen vermochte, gelang es ihm, in
den groBten Stahlvereins-Holding einzudringen, das Gelsen-
kirchen Bergwerk. Dabei half inm die Bereitschaft Voglers,
den Wiinschen des neuen Mannes willfahrig zu sein, und die
Unterstutzung der Banken, die das fehlende Kapital vorstreck-
ten, Gelsenkirchen wiederum erwarb die Phonix-Majoritat
Dieser beherrscht seinerseits die Stahlwerke Zypen & Wissen.
Auch hierbei leisteten die Banken — vor allem die Danat-
bank — Helferdienste. Die Verpflichtungen der Flick-Gruppe
festztistellen, ist nur schwer moglich. Als das Projekt einer ,
Obernahme der Darmstadter Bank durch die Industrie auf-
tauchte, hieB es allgemein, dafi es sich urn eine Rettungsaktion
fur den Schuldner Flick handele. Diese Behauptung wurde
damals energisch dementiert. Tatsachlich diirfte der groBte Teil
seiner Schulden bei einem andern Institut liegen, bei dem auch
Otto Wolff seine Stahlvereinsaktien lombardiert hat. Von einer
dem Beherrscher des Stahlvereins nahestehenden Seite erfuhr
ich bereits vor einigen Mjonaten, daBes zwar ganz selbstverstand-
lich sei, dafi ein Mann wie Flick, der von Hause aus verhaltnis-
maBig wenig besaB, seine Position nur mit Hilfe von Bankkredi-
ten erobern konnte, daB aber diese Kredite langfristig seien,
Der Begriff langfristig hat sich in dieser kurzlebigen Zeit auBer-
ordentlich gewandelt, man hat auch die 63 Millionen Mark aus
der Dollaranleihe der Gelsenkirchen Bergwerks A.-GM die 1934
fallig werden, als langfristigen Kredit bezeichnet. Es ist kaum
anzunehmen, daB die unmittelbaren Verpflichtungen Flicks eine
langere Laufzeit haben, eher eine kurzere.
Betrachten wir nur die Flickschen Interessen, miissen wir
eine merkwurdige Feststellung treffen. Sowohl Gelsenkirchen als
auch Phonix haben noch in der Bilanz vom 31. Marz 1931 den
Besitz an Stahlvereins-Aktien mit 100 Prozent ausgewiesen,
obwohl der Kurs zur Zeit der Bilanzveroffentlichung etwa 50
Prozent betrug. Der letzte bekanntgegebene Kurs war 20 Pro-
zent, und es sei verraten, daB der gegenwartige nicht unwesent-
lich niedriger ist. Unter den 364 Millionen Beteiligungen und
Wertpapieren in der letzten Gelsenkirchen-Bilanz befanden sich
330 Millionen Stahlvereins-Aktien, die heute fast 85 Prozent
niedriger sind als ihr Bilanzwert. Nehmen wir an, daB sich
34 Millionen sonstige Beteiligungen auf 20 Millionen ermaBigt
haben und stellen wir bei dem Stahlvereins-Besitz einen Riick-
gang auf rund 50 Millionen fest, so wurde bei ehrlicher Bilan-
zierung das Konto Effekten und Beteiligungen bei Gelsenkir-
chen von 364 auf 70 Millionen gesunken sein. Die Entschuldi-
682
gung, daB es sich bei dem Stahlvereinsbesitz urn cine dauernde
Anlage handelt, die nicht verauBert werden soil, hat unter den
heutigen Verhaltnissen keine Giiltigkeit* mehr. Ahnlich verhalt
es sich beim Phonix, der statt 228,5 jetzt nur noch 45 Millio-
nen Effekten und Beteiligungen ausweisen diirfte. Fehlende
Rentabilitat, hohe Schulden und entwertete Aktiven zeigen
deutlich, daB sowohl die Vereinigten Stahlwerke als auch die
Holdinggesellschaften im hochstem Grade illiquide, sind. Diese
Feststellung .mtiB schon vor der Bilanzpublikation des Stahl-
vereins getroffen werden. Verhangnisvoll fur unser ganzes
Wirtschaf tsleben, besonders aber fiir die schwer betrof f ene
Arbeiterschaft, ist es, daB die durch Finanztransaktionen erlit-
tenen Verluste zu Stillegungen gefuhrt haben und noch weiter
fiihren sollen. Es fehlt einfaoh das Geld zur regularen. Fort-
fiihrung der Betriebe. In dieser Situation hat das Reich das
Recht und die Pflicht, einzugreifen und nicht erst abzuwartent
bis es um finanzielle Hilfe angegangen wird. Wenn die gegen-
wartigen Machthaber des Stahlvereins nicht mehr in der Lage
sein sollten, die Kapazitat bis zu den produktions- und absatz-
technisch bedingten Grenzen durchzufiihren, dann muB noch
vor einer etwaigen MSozialisierung der Verluste" das Reich
iiber jene fiir Deutschlands Wirtschaft unentbehrlichen Betriebe
selbst die Kontrolle ausiiben.
Herbstnacht in Berlin von Erich Kastner
^"achts sind die StraBen so leer.
Nur ganz mitunter
markiert ein Auto Verkehr.
Ein Rudel bunter
raschelnder Blatter j[agt hinterher.
Die Blatter jagen und hetzen,
Und doch weht kein Wind.
Sie rascheln wie Fetzen und hetzen
und folgen geheimen Gesetzen,
obwohl sie gestorben sind.
Nachts sind die StraBen so leer.
Die Lampen brennen nicht mehr.
Man geht und mochte nicht storen.
Man konnte das Gras wachsen horen,
wenn Gras auf den StraBen war.
Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der MilchstraBe hats geschneit,
Man hort seine Schritte wandern,
als waxen es Schritte von andern
und geht mit sich selber zu zweit.
Nachts sind die StraBen so leer.
Die Menschen legten sich nieder.
Nun schlafen sie, treu und bieder.
Und morgen fallen sie wieder
tibereinander her.
683
Bemerkungen
Persien und Preufien
Die Tatsache der literarischen
Betatigung einer Gruppe von
oppositionellen Persern gegen
ihren Feind, den Schah Risa
Khan, und gegen sein Regierungs-
system hat zu einem Konflikt
Persiens mit dem Reich gefiihrt,
der fast die unabsehbare Folge
eines Abbruchs der diplomati-
schen und wirtschaftlichen Be-
ziehungen gehabt hatte. Das
Reich hat nachgegeben. Persiens
Gesandter, Mohamed Ali Khan
Farzine, wird ebensowenig ab-
reisen wie sein deutscher Kollege
in Teheran, von Blucher. Alle,
nur Persien nichtf haben nachge-
geben. Auch die sozialdemo-
kratische PreuBenregierung hat
nachgegeben. Auf der Strecke
blieb eines der vornehmsten in-
ternationalen Gebote: das poli-
tische Asylrecht. Man verweigerte
es dem Studenten Alawi, indem
man ihn aus PreuBen auswies.
Als der Unterzeichnete vor acht
Monaten die Verantwortung fur
die Herausgabe der persischen
Oppositionszeitung fPeykar* iiber-
nahm, geschah dies unter voller
Verantwortung und in der fest-
stehenden Gewifiheit, dafi, wie es
1928 beinahe schon einmal ge-
schehen, die preufiische Regierung
der persischen Opposition das
Asylrecht verweigern werde, falls
die Herausgabe von dieser Seite
aus preBverantwortlich geschehe.
Aber dieses Meisterstiicks hielt er
die preufiischen Behorden denn
doch nicht fur fahig, dafi sie mit
einer Ausweisung gegen einen
Auslander vorgehen werde, der
preBgesetzlich weder als verant-
wortlicher Redakteur noch als
Herausgeber fungierte. Man brach
dem Studenten Alawi gegenuber
das Asylrecht mit keiner bessern
Handhabe als einer Denunziation
aus den Kreisen der persischen
Gesandtschaft, und man brach
fernerhin deutsches geltendes
Presserecht. Hiermit sind wir
schon nicht mehr in Preufien, son-
dern bereits in Persien angelangt,
Die deutsche Selbsterniedrigung
vor einem auslandischen Poten-
taten hat damit keineswegs ihr
Ende gefunden. Leute, die sich
mit Verfassungsfragen abgeben,
behaupten, dafi Deutschland und
Persien eins gemeinsam haben :
beide wiirden konstitutionell re-
giert, Deutschland unter einem
Reichsprasidenten, Persien von
einem Schah.
Die Zeitschrift, in der Leo
Matthias seinen Aufsatz ,,Der
Kaiser ohne Herkunft" schrieb,
soil unter dem Druck der per-
sischen Wirtschaftskriegserkla-
rung eine Berichtigung bringen,
in der sie de- und wehmiitig von
thremAutor abruckt. Persien for-
derte mehr. Persien forderte ein
Verbot der Zeitschrift! Herr Le-
gationsrat Grobba vom Auswarti-
gen Amt sah leider noch keine
Moglichkeit, auf das bayrische In-
nenministerium einzuwirken, die
ungeschriebenen Teheran^r Ge-
setze auf die fMunchner Illustrierte
Presse* anzuwenden. Wir wollen
aus einer deutschen Veroffent-
lichunrf (Mitteilung der Deutsch-
^ •^^ f J&^P ^ unbestedilidhen
r-Aj^ / ) ^f *-$*./* ^s S&B^^ Rauchers kommt immer
^^X "^*%*^ vm^T^ zu dem gleichen Urteil:
„llbep eine ibdulla geht nichts!"
Standard . . o/M. a. Gold Stock 5 Pfg.
Herrenformat . . o/M. ........ StoA 6 Pfg.
Virginia Wr. 7 . . o/M. Stock 8 Pfe.
Egyptian Nr. 16 . o/M. o. Gold ..... StOck 10 Pfg.
Abdulla~Cigareitengeniefien Weltrni!
Abdnlla & Co. • Kairo J London / Berlin
684
Persischen Gesellschaft, 1. Okto-
ber 1929) und nicht atis einer
,,truben" persischen Quelle einen
Parallelfall dazu von Dutzenden
herausgreifen. Am 25. August
1929 verwahrte sich ein Herr von
Vassenhove im ,Messager de Te-
heran' dagegen, in einem Artikel
vom 1. August 1929 im .Temps'
beleidigende Ausdrticke ^ f. gegen
Persien gebraucht zu haben. Dies
wurde ihm namlich von Teheran
vorgeworfen. Hatte sich Persien
.mit einem Ersuchen an die fran-
zosische Regierung gewandt, den
♦Temps* zu verbieten, es hatte
liochstwahrscheinlich dieselbe Ant-
wort erhalten wie kiirzlich, als
es von Frankreich vergeblich die
Ausweisung eines Oppositionel-
len verlangte, Nicht einmal Per-
siens in Italien bestellten Kano-
nenboote und sein mit dem deut-
schen konkurrierender Militar-
etat hatten Laval und Briand zur
Nachgiebigkeit gereizt!
Grzesinski hat die Halbmonats-
schrift ,Peykar' auf sechs Monate
verboten. Nach anfanglichen Be-
schlagnahmen wegen „beleidigen-
der AuCerungen gegen den Schah"
und nach einer Praventiv-
beschlagnahme (so hellhorig war
die preuBische Politische Polizei !■)
bot die Schrift fiinf Monate lang
keine Handhabe zu irgend-
welchen Zwangsverfiigungen, da
die Schriftleitung eine gemaBigte
Linie einzuhalten bestrebt war.
In der endgtiltigen Verbots-
begrundung vom 23. Oktober 1931
steht dagegen die Ungeheuerlich-
keit, daB fortgesetzte Beleidigun-
gen dazu gefiihrt hatten, die wirt-
schaftlichen Beziehungen zwi-
schen dem Persischen Staat und
dem Deutschen Reich wesentlich
zu beeintrachtigen. „Damit ist
und wird zugleich die offentliche
Sicherheit und Ordnung ge-
fahrdet/'
Nicht auszudenken, wenn die
undisziplinierten persischen Op-
positionellen sich auf dem Alex-
anderplatz verkehrsstorend zu-
sammenrotten sollten, urn, im
Angesicht des Polizeiprasidiums,
im Sprechchor in Schmahungen
gegen ihren Schah auszubrechen !
Damit diirfte der letzte Beweis
daftir erbracht sein, dafi wir in
der Tat in Persien leben!
Carl Wehner
Es pafit nicht ins Schema
XVT enn groBe Verbrechen ge-
" schehen und groBe Beloh-
nungen fur ihre Aufklarung aus-
gesetzt werden, so erstickt die
Polizei bekanntlich in einer Fulle
von Mitteilungen, Beobachtungen,
Denunziationen. 95 Prozent da-
von sind unbrauchbar; der Krimi-
nalbeamte sondert den wichtigen
Rest aus und verfolgt die Spuren,
die zum Ziele fiihren konnten.
Selbstverstandlich passiert es
auch dem Geschultesten, daB er
einer vollig falschen Spur nach-
jagt oder die richtige unbeachtet
lafit. Der letztgenannte Fall hat
sich auch bei den Eisenbahnatten-
taten von Jiiterbog und Bia Tor-
bagy ereignet, und zwar — : das
ist immerhin bemerkenswert — er
hat sich gleich zweimal ereignet:
in Ungarn hat eine Frau eine An-
zeige gegen Matuschka ' gemacht,
weil seine Sprengstoffeinkaufe ihr
verdachtig waren, und in Jiiter-
bog hat der Besitzer des Hotels
zur Eisenbahn Verdachtsmomente
gegen einen Gast zu Protokoll
gegeben, die unter anderm den
ersten Hinweis auf die wirkliche
Nationality des Attentaters ent-
DAS PRIVATLEBEN
DER SCH3NEN HELENA
Roman von JOHN ERSKINE, erscheint als VOLKSAUSGABE
Helena vertritt die Frau von Troja bis heute, hinraiBend und geffihrlich !n SchCn-
heit, Intuition und Oberzeugungskraft Der Lebensphllosoph Erskine
£Ibt in dem heiteren Rahmen dieses Buches seine Anslcht Uber
iebe und Ehe, Konvention und Sitte wieder. %
TRANSMARE VERLAQ A.-G., BERLIN W 10
Lelnen
3.75 RM
685
hielten; dcr Gast war mit Ma-
tuschka identisch. Aber jene An-
zeige ist nicht weitergeleitet und
dieser Hinweis nicht beachtet
worden, Warum nicht?
Offensichtlich, weil sie nicht
ins Schema gepaflt haben. Der
ungarische Gendarmeriewacht-
meister hielt es fur ausgeschlos-
sen, dafi ein angesehener Herr,
cin Gutsbesitzer, mit einem sol-
chcn Verbrechen in Zusammen-
hang stehe; er befiirchtete Unan-
nehmlichkeiten iibclster Art,
wenn er sich iiberhaupt mit der
Geschichte befasse, also lieB er
die Anzeige lieber ganz unter den
Tisch fallen; das steht fest. Man
sieht die vermutlich schnauzbar-
tige Zierde der magyarischen
Obrigkeit jetzt formlich, das
Schwert des Disziplinarverf ahrens
,, iiber dem Nacken", in seiner
dorflichen Polizeistation hocken
und die Verzweiflungstone Fa-
ninals skandieren: Soo — ei — nen
Herrn — Soo — ei — nen Herrn
...! Wodurch hingegen die Pas-
sivitat der Untersuchungskom-
mission von Kloster Zinna ver-
schuldet wurde, dartiber liegen
auch heute noch keine endgiilti-
gen Angaben vor; es ist lediglich
ngenaueste Untersuchung" zuge-
sagt, Vielleicht darf man den
Herrn durch ein kleines Pri-
vatissimum in Untertanenpsvcho-
logie ihre Arbeit etwas erleich-
tern?
Die Schlusse drangen sich
namlich ganz von selbst aus den
Aussagen des j iiterboger Eisen-
bahnwirts auf. Er wurde damals
gefragt, ob er seinen Gast der
"Teilnahme an einer kommunisti-
schen Versammlung verdachtig —
Verzeihung; fahig — balte und
bekundete entschieden das Gegen-
teil: der Gast habe den Eindruck
eines friihern Offizers gemacht.
Mit dieser Bemerkung, so muB
befiirchtet werden, war die Aus-
ssage wertlos geworden, die Spur
brauchte nicht weiter verfolgt zu
werden. Es soil durchaus nicht
gradezu behauptet werden, die
preuOische Kriminalpolizei sehe
einen Mann, der wie ein friiherer
Offizier wirkt, ein fur alle Mai
als iiber den Verdacht eines je-
den Verbrechens erhaben an,
Aber: wie war doch das Schema,
meinetwegen die Theorie, die
man sich damals iiber das Atten-
tat von Jiiterbog gebildet hatte?
HieB sie nicht in den Anfangen
der Untersuchung „Kommunisti-
sche Terroraktion und plumper
Ablenkungsversuch nach der Ge-
genseite durch Hinlegen des
,Angriffs"'? Denn Kommunisten
sprengen Ziige in die Luft,
oder auch Nationalsozialisten,
oder Reichsbannerleute; auf je-
den Fall Manner, die poli-
tisch aktiv und somit verdach-
tig sind. Leiferde? Das hatten
wir fast vergessen. Arbeitslose
tun so was auch gelegentlich,
Aber Gutsbesitzer und friihere
Offiziere? Das ist ausgeschlos-
sen. Da miiCten sie ja wahnsinni^
sein. Das ist Matuschka auch?
Schade; das hatten wir ganz ver-
gessen, dafi es das wirklich gibt.
Daran ist auch blofi Siegmund
Freud schuld.
Aber selbst die Theorie „nur
ein Wahnsinniger kann die Tat
vollbracht haben" ware falsch ge-
wesen, sobald man ihr zuliebe alle
andern Moglichkeiten a priori
ausgeschaltet hatte. Jede Theorie
ist namlich falsch, die ins Schema
entartetj das zeigt sich immer
wieder. Jeder verniinftige Mensch
bemerkt es, die Kriminalistik hin-
gegen scheint eine unausrottbare
Anhanglichkeit an ihre Scheu-
klappen zu haben, Sie sollte aus
!ltllllH!!li!i!llilllli!ltlHill!lillllflll!!ll
ADAM UND EVA
Roman von JOHN ERSKINE, erscheint als VOLKSAUSGABE
Adam, ein wunderbarer tolpatschiger Burscho, steht immer wieder verblQfft vor den
Wandelbarkeiten der beiden Frauen: Lilith und Eva, der Geliebten
und der graBlich Legitimen. Alles, was zwischen Mann und Frau
existiert, wird in diesem gelstreichen, wltzigen Buche ausgesprochen.
TRANSMARB VERLAG A.-Q., BERLIN W 10
6.86
Leinen ,
3.75 RM
ihren Fehlern lernen und sich
ohne Vorurteil, ohne andre als
technische Traditon, ohne tiber-
kommene Begriffe, ohne irgend
ein ,tso etwas gibt es nicht", ohne
Schema also, ihrer Aufklarungs-
arbeit widmen,
M. M. Gehrke
„Die schalkhafte Witwe"
I"Ve Lindenoper ist wahrhaftig
*** ein beneidenswertes Institut.
Wahrend wir andern alle vor der
keineswegs leichten Aufgabe
stehn, uns mit dem Jahre 1931
auseinanderzusetzen, werden dort
Fragen der Jahrhundertwende
elegant und spielend gelost,
herrscht dort die gute, alte Zeit
und der chronische Anachronis-
mus. Ihre jiingste Novitat ist eine
komische Oper von Wolf-Ferrari,
die wir ein Danaergeschenk
nennen wiirden, ware es nicht all-
zu unhoflich, eine schone Vene-
zianerin,, eine , .schalkhafte
Wit we" gar, als trojanisches
Pferd anzusprechen. Wir konnen
es nicht leugnen: wir stehen eini-
germafien verbliifft vor dieser
grande dame des ancien regime
und wissen uns nicht so recht zu
benehmen.
Der Text ist achtzehntes Jahr-
hundert, Carlo Goldoni, von
Ghisalberti zugestutzt; spielt in
Venedig, Personen:' Pantalon und
Colombine, die hier Arlecchino,
Marionette heifien, als Diener und
als Zofe, uraltes Erbgut der corn-
media dell' arte; verliebte Ka-
valiere, gnmniert um eine schone
Frau, die jeder haben will: der
Lord, der Spanier, der lusterne
Pariser und der Italiener, dieser
selbstredend Sieger im Wettstreit.
Die Handlung? Sie machen Lie-
besgestandnisse, schreiben Briefe,
erhalten Antworten, werden von
der verkleideten Schonen geprellt
— und alles, aber auch alles ist
so sehr vervierfacht, dafi es einen
schon fast wieder stort, wenn es
nur drei Duelle gibt . . Ghisalberti
hatte es wissen, Wolf Ferrari hatte
es bedenken miissen: aus einem
guten Lustspiel wird nicht not-
wendig eine gute opera buffa, das
durch die Musik verlangsamte
Tempo bri'ngt vieles urn, Der
harmlose Stoff hatte in andrer
Gruppierung und Uberschneidung
der Szenen, die uns in schlichten
Viererreihen langweilenf wir-
kungsvoller und zundender ge-
staltet werden konnen.
Und die Musik? „La vedova
scaltra" schrieb ein Poet des acht-
zehnten Jahrhunderts im Stil sei-
ner Zeit; die Musik nun hat ein
Komponist des zwanzigsten in der
Haltung des achtzehnten verfafit.
£r lafit nicht etwa die Stilidee
jener Zeit in s einem personlichen
Stil sich spiegeln, um sie ent-
sprechend gebrochen zu reflektie-
ren — nein, er verwendet auch
die Mittel jener Zeit, nicht ach-
tend spaterer Entwicklung. Das
kann auf Nachahmung beruhen,
ohne dafi wir solchem Verfahren
prinzipielle Verachtung ange-
deihen lassen wo lien, denn jeder
schreibt, wie er mufi und kann;
aller dings sehen wir die objektive
Niitzlichkeit solchen Kopierens
nicht ein, — oder aber: der Kom-
ponist bejaht als schopferischer
Mensch nur jene Mittel, derer er
sich hier bedient; in unserm viel-
leicht zu sehr entwicklungsbeton-
ten und fortschrittstolzen Sinn
ein ziemlich unverstandlicher
Atavismus, So entsteht fur nicht
allzu harmlose Zuhorer ein selt-
sam verworrener und verwirren-
BoYinRa
tritt nicht als Redner auf. Er lehrt nur durc^i das fest gepragte Wort
gedruckter Schrift;. Christen aller Schattierung schlieBt er ebensowenig
aus seinem Schtilerkreis, wie Juden, Moslim und Buddhist en. Naberes
iiber den Mann und sein Weik finden Sie in der Einliihrungsschrift von
Dr. Alfred Kober-Staehelm, kostenfrei in jeder Buchhandlung erhaltlich
und bei: Kober'sche Verlagsbuchhandlung Basel und Leipzig.
687
der Eindruck: Komische Oper,
Spiel urn des Spieles, auch Musik
urn des Spieles willen, Musik als
charakterisierendes, parodieren-
des und ironisierendes Element,
in Haltung und Mitteln in die
Sphare des achtzehnten Jahrhun-
derts geruckt und doch wieder
nicht etwa stilreines achtzehntes
Jahrhundert, nicht nachgeahmt
und doch nicht echt, nicht geborgt
und doch nicht eigen: ein in der
Faktur meisterliches Werk zwi-
schen den Stilen und Zeiten und
ohne die undefinierbare Kraft,
einen einheitlichen Gesamtein-
druck zu erzwingen.
Man fragt sich unwillkurlich:
Wozu ftihrt die Staatsoper ein
Werk auf, das, ware es neunzehn-
hundert geschrieben worden und
herausgekommen, berechtigtes
Interesse erweckt hatte; und das
uns heute so wenig zu sageh hat?
Mufi man immer wieder zusehen,
wie der herrliche Apparat dieses
Instituts in Bewegung gesetzt
wird, damit schliefilich kreiCende
Berge ein Mauslein gebaren? 1st
es nicht seltsam, daB sich Berlins
reprasentativste Oper — nach
dem wiederum vor dreifiig Jahren
interessanten und heute uns alien
weltenfernen „Pfeifertag"; nach
dem schlecht vorbereiteten und
qualvoll zwiespaltigeri f,Oberon'\
fiir den ein Bruno Walter verant-
wortlich zeichnen muBte; und
nach diesem Opus Wolf-Ferraris
Weills f,Biirgschaft" entgehn lafit,
weil man sich, so liest man es
offiziell, iiber den Premieren-
termin nicht einigen konnte? Da-
mit soil das Urteil iiber jenes
Werk durchaus nicht vorwegge-
nommen, es soil nur die merk-
wiirdig gegenwartsfremde Haltung
der Lindenoper charakterisiert
werden. In Charlottenburg wird
man die Burgschaft auffuhren und
wir wtinschen dem Intendanten
Ebert Gliick dazu, wie wir ihn zu
Verdis „Macbeth" nur begliick-
wiinschen konnten, Gelegentlicb
der f,Boheme"-Inszenierung Cur-
jels begannen sich angstliche Ge-
muter vor den Krollgespenstern in
der Stadtischen Oper zu ftirchten;
wir hoffen, Ebert wird ihnen ein
gastlicher Hausherr sein ! Ach,
wenn doch einige dieser Gespen-
ster die Linden langlaufen woll-
ten, statt die Charlottenburger
Chausee! . , . wir- konntens brau-
chen , , . Aber sie sind klug, die
Gespenster, und fiirchten sich vor
der Lindenoper: dort brachte
man sie zum zweiten Male um,
wenn es ginge,
Arnold Walter
Der Fall M.
1UT ., Buchhalter eines Verlages
*•**• und streng national, hatte
ein ebenso schones wie rei-
ches Madchen kennen gelernt
und alsbald geheiratet, des-
sen Stiefvater in 'Paris eine Fa-
brik besafi und ein guter Fran-
zose war, was den alten Herrn
nicht davon abhielt, eines Tages
in die ewigen Jagdgrunde iiberzu-
siedeln. Damit das der Tochter
vererbte Unternehmen nicht in
fremde Hande , falle, erwarb M,
die franzosische Staatsangehorig-
keit, ohne deshalb auf die
deutsche zu verzichten. Das ging
eine Weile ganz gut, Dann aber
brach zwischen beiden Landern
der obligate Krieg aus, und
unser armer M. wuBte nicht, was
er tun sollte. Schliefilich jagte er
sich eine neutrale Kugel durch
den Kopf und ersparte sich so-
mit eine Beantwortung der nach-
traglich auftauchenden Frage, ob
der Deutsche in ihm den Fran-
zosen oder der Franzose den
Deutschen erschossen habe, Die
einen war fiir das andre, und die
andern fiir das eine, Gott fiir
Hans Reimann
Rudolf Arnnelm: Sflmme von der Golerie
25 AufsStze: Psychoanalyse, Negersilnger, Spiritismus, Er-
ziehung, Boxkampf, Oktoberwiese, absolute Malerei, Greta
Garbo, Russeniilm, Fritz !.ang, moderne Moral u. a.
Einleitung: Hans Reimann — Bilder: KarlHoltz. QU n
Zu bezlehen durch Verlag der WeltbOhne
688
Kurzsichtig
P\ie Zeichnung auf die neue
*-^ . Reichsbahn-Anleihe, soweit
sie mit der Steueramnestie-Ver-
ordnung im Zusammenhang stand,
ist gestern abgeschlossen worden.
Bei der Zusammenstellung der
Zeichnungsergebmsse am heutigen
Vormittag stellte sich bereits her-
aus, dafl bisher mehr als 100 Mil-
lionen Mark gezeichnet worden
sind.
Dieser Betrag iibersteigt zwei-
fellos die Erwartungen, denn
selbst in optischen Kreisen hatte
man nach dem Zeichnungsverlauf
zunachst nur mit einem Ergebnis
von etwa 50 bis 60 Millionen
Mark gerechnet,
,B. Z. am Mittag
16. 10. 31
Wer soil sich da melden?
/7J ebildete, solide, aufrichtige,
^* alleinsteh. Witwe, Anfang 50,
sucht freundschaftlichen Verkehr
mit ihresgleichen. Briefe u, Li.
1820 NLZ-FiL Merseburger Strafie
Nr. 80 b,
Trotzdem
T^ie Polizei mufite unter Anwen-
*^dung der Gummikniippel und
der Seitenwaffen eingreifen,
Trotzdem erlitten zahlreiche Per-
sonen Verletzungen,
Badische Presse 12, 10. 31
Llebe WeKbfihne!
p ine junge Schauspielerin be-
kam allabendlich feurige Lie-
besbriefe von einem unbekannten
Herrn. Er flehte, sie einmal sehen
zu dtirfen, Erfolglos, bis sie
schliefilich mtirbe wurde und
eines Abends rief: „Also her mit
Herrn Klingemann!" Herr Klinge-
mann erschien in der Garderobe
und erwies sich als Naturmensch
mit goldenen Locken und haari-
gen Waden. Verziickten Gesichts
trat er auf die Angebetete zu,
dann aber verfinsterte sich sein
Blick und er sprach: „Sie sind
sehr schon, aber ich sehe Harn-
saure in Ihren Augen!"
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutsche Liga fiir Menschenrechte. Dienstag Reichswirtschaftsrat, Belle vuestraBe 15.
20 JO* Vor einem Krieg zwischen China und Japan? Ea sprechen: Hsti Dau-Lin,
Tachun Hsu, Richard Huelsenbeck und Lothar Persius.
Gcnsinschaft freiheitlicher Sozialisten. Dienstag 20.00. Haverlands Festsale, Neue
FriedrichstraBe 35. Die gegenwartige Krise und der sozialistische Ausweg, Angelica
Balabanoff.
Gesellschaft der Freunde des neuen RuBland. Dienstag 20.00, Singakademie : 14 Jahre
Kulturaufbau in der Sowjetunion, A. W. Lunatscharski.
Verein sozialistischer Aerzte. Dienstag 20.15. Zahnarzte-Haus, BulowstraSe 104: Soziale
Not und Soziale Psychotherapie, Prof. Arthur Kronf eld ; Zur Lage in der Aerzteschaf t,
Ernst Haase, Bruno Cohn, Annemarie Bieber und Leo Klauber.
Bflcher
Joseph Hergesheimer: Die drei achwarzen Ponnys. Ernst Rowohlt, Berlin,
Bruno Nelissen Haken : Arbeitslosen Litanei. Ein Totentanz der Lebendigen. Chr. Kaiser,
Mtinchen.
Arthur Schnitzler: Buch der Spriiche und Bedenken. Phaidon-Verlag, Wien.
Rundfunk
Dienstag. Berlin 14.00: JazzeinfluB in der Kunstmusik (Schallplatten). — 15.40: Der
Aphorism us als Kunstwerk, Gerhart Pol. — Muhlacker 19.05: Die Geneiation von
1859, Axel Eggebrecht. — Hamburg 19.30 : Hermann Kesser liest. — Konigsberg
19.30: Zukunft des Hdrspiels, Ernst W.Freissler und Markus Timmler. — Berlin 19.35:
Franz Werfel liest. - Breslau 20.15: Paul Hindemith geigt. — Berlin 20 30. Welt
von unten — Welt von oben, Rob. Ad. Stemmle. — Leipzig 21.40: Der Berg von
Arno Schirokauer. — Mittwoch. Berlin 17.50: Annette Kolb liest. — Muhlacker 19 05:
Eulogius Schneider, ein Schicksal aus dei-Franzdsischen Revolution ; Hermann Wendel. —
K6nigsberg 19.25: Edith Hermstadt-Oettingen liest Dauthenday, — Hamburg 19.30:
Marieluise Fleisser liest. — Leipzig 21.10: Klabund. — Donnerstav. Hamburg 19,30:
Ungedruckte Dichtungen. — Freitay. Langenberg 18.20: Die Bedeutung des fran-
zSsischen Kapitalmarktes in der Weltwirtschaftskrise, Fritz Sternberg. — Hamburg
20.00: Was ihr wollt von Shakespeare. — Berlin 20.10: Friedrich Huchs Pitt und
Fox* Friedrich Burschell. — Sonnabend. Kfinigsberg 19.35: Kurzgeschichten von
Anton Tschechow.
689
Antworten
Schriftsteller. Jakob Schaffner sendet uns zu dem Artikel von
David Luschnat „Schriftsteller-Schutzverband" (Nr. 42) unter Be-
rufung auf das Pressegesetz die folgende Berichtigung: „1, Ich habe
nie an Luschnat geschrieben, daB Schendell uad Breuer aus dem
Hauptvorstand des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller unbedingt
sollten abberufen werden, wozu fur mich kein zwingender Grund
sicbtbar war. Ich habe diese Forderung der Opposition aber als ge-
recht angesehn fur den Fall, dafi sich die Anklagen gegen die
Kollegen bestatigen sollten. Im iibrigen grtindet sich diese Erklarung
Luschnats auf einen Vertrauensbruch, denn die Briefe waren person-
lich und zudem von ihm veranlafit. 2. Ich habe mich niemals fur die
Zensur erklart, sondern ich war verfassungsmafiig gezwungen, eine
von der Ortsgruppe gewiinschte Versammlung gegen die Notverord-
nung aufzuhalten, weil die Ortsgruppe nicht selbstandig politisch
vorgehen kann. Die Behauptung, dafi der Hauptvorstand dem neu-
gebildeten Kampfausschufi den Saal entzogen und die Polizei gerufen
habe, ist eine Unwahrheit. Ich bin und bleibe ein Feind der Zensur.
3. Ich bin nicht zum Hauptvorstand ,ubergegangen', sondern die
Opposition ist zur Obstruktion ubergegangen. Ich stehe noch auf
alien Forderungen der Opposition ohne jeden Abstrich und habe sie
bereits genugend offentlich vertreten, dafi mir niemand eine Meinungs-
anderung oder einen Verrat vorwerfen kann. 4, Ich habe niemals die
Auflosung der Ortsgruppe verlangt, sondern wer die Fahigkeit be-
sitzt, richtig zu lesen, ersieht aus dem betreffenden Aufsatz im
.Schriftsteller*, dafi ich die Mannschaften der Ortsgruppe mittels der
Durchorganisierung des SDS in Fachgruppen zur gewerkschaftlichen
Spitzengruppe machen will." Wir haben dieser Berichtigung unge-
kiirzt Raum gegeben, obwohl sie im Wesentlichen nicht Tatsachen
richtigstellt sondern einer hier geaufierten Ansicht eine andre ent-
gegensetzt. Wir haben David Luschnat um seine Meinung zu den vier
Punkten befragt. Luschnat legte uns einen mit Schaffners Namens-
zug unterschriebenen Antrag auf Einberufung einer aufierordentlichen
Hauptversammlung vor, deren Zweck unter anderm ftAbberufung des
Hauptvorstandes und des geschaftsfuhrenden Direktors" war, Dar-
iiber hinaus besagen Stellen aus Schaffners Briefen sehr deutlich, dafi
ihm „der ■ Riicktritt des gesamten Vorstandes unausweichlich" er-
schienen ist. Einen Vertrauensbruch hat Luschnat insofern nicht be-
gangen, als die betreffenden Briefstellen gegen seinen Willen zur
Verlesung gebracht wurden. Auch stammt das erste personliche
Schreiben aus dem Briefwechsel von Schaffner, worin er ein von
Luschnat an viele Mitglieder des SDS versandtes unpersonliches
Rundschreiben beantwortete. Als die Mitglieder der berliner Orts-
gruppe des SDS die Kammersale betreten wollten, in denen die Pro-
testkundgebung gegen die Pressenotverordnung stattfinden sollte,
wurde ^ihnen eroffnet, dafi die Geschaftsleitung, also wohl Werner
Schendell, den Saal abbestellt habe, aufierdem war ein nicht kleines
Polizeiaufgebot erschienen, das jede Ansammlung auf der Strafie so-
fort zerstreute und den Eingang zum Saal besetzt hielt. Dafi Schen-
dell die Polizei gerufen habe, hat Luschnat nicht behauptet. Damals
wurde erklart, dafi Schaffner die Abhaltung der Versammlung des-
halb fur uberfliissig halte, weil durch die vom Hauptvorstand er-
lassene Erklarung zur Notverordnung alles Notige geschehen sei. Die
Opposition ist nach wid vor der Ansicht: wer mit dieser lauen Er-
klarung einverstanden ist, die nirgends anzustofien sich bemtiht und
die keinerlei Protest gegen den wichtigsten Paragraphen enthalt, der
Verbote bis zu einem halben Jahr vorsieht, — den dtirfe man als
Freund der Zensur ansprechen. Das Kampfkomitee fur die Freiheit
des Schrifttums hat sich iibrigens erst konstituiert, als die berliner
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SDS-Mitglieder nicht in den Saal konnten und iiber diese MaBnahme
emport waren. Die Geschaftsleitung konnte also gar nicht dem Kampf-
ausschuB den Saal entziehen, sie hat ihn den Mitgliedern der Orts-
gruppe entzogen, und zwar auf Wunsch des ersten Vorsitzenden, der,
ohne seine iibrigen Vorstandskollegen zu fragen, die Versammlung
abgeblasen hat. In einer Erklarung, die Jakob Schaffner der Offent-
lichkeit unter dem Titel „Der AusschluS der Achtzehn" ubergeben
hat, verschanzt er sich hinter die angebliche Statutenwidrigkeit einer
solchen Ktmdgebung und dahinter, daB die Rednerliste . entgegen der
Vereinbarung „rein kommunistisch" gewesen sei. Nutf ist von den
fiinf damals vorgesehenen Referenten — Bernard v. Brentano, Alfons
Goldschmidt, Walther Karsch, Johannes K. Koenig und Erich Muh-
sam — ein einziger, namlich Koenig, Kommunist, Herr Schaffner ist
also zumindest schlecht orientiert. Ob Schaffner zum Hauptyorstand
„ubergegangen" ist oder die Oppostion zur Obstruktion, das sind An-
sichtssachen, die man unter Berufung auf den Paragraphen^ 11 des
Pressegesetzes wirklich nicht richtigstellen kann. Die Opposition ist
der Ansicht, daB Schaffner von vornherein nach seiner durch sie er-
folgten Wahl, vorsichtig ausgedriickt, nichts getan hat, sich das Ver-
trauen seiner Wahler zu erhalten, Er verkehrte zum Beispiel mit der
zweiten Vorsitzenden nur iiber die Geschaftsstelle, war ftir die Oppo-
sition nicht zu sprechen, um so mehr aber fur den Hauptvorstand.
DaB sich die Opposition von Schaffner verraten fiihlt, sollte ihm
nach seinem Verhalten nicht merkwiirdig vorkommen, Wenn Schaff-
ner friiher erklart hat, er werde im Hauptvorstand die Sache der
Opposition vertreten, selber fiir Abberufung des Vorstandes einge-
treten ist und heute in demselben Hauptvorstand nach seinen eignen
Worten fordert, wir miissen die ganze Opposition hmaussetzen, dann
darf doch wohl auch der unbefangene Beobachter auf den Gedanken
kommen, Schaffner hat die Opposition verlassen, nicht sie ihn. Was
Luschnat hier aus dem ,Schriftsteller* zitiert, macht auch auf tins den
Eindruck, als wolle Schaffner damit die Opposition kaltstellen. Wenn
ers so nicht gemeint hat, dann hat er sich eben unklar ausgedruckt.
Achtzehn sind inzwischen ausgeschlossen worden, einige hat der
Vorstand dadurch entfernt, daB er sie wegen Nichtbezahlung ihrer
Beitrage gestrichen hat, eine sehr soziale MaBnahme in dieser wirt-
schaftlich so rosigen Zeit, Eigentumlich nur, daB die Gestrichenen
alle zur Opposition gehoren, von Streichungen andrer MitgHeder
haben wir bisher nichts gehort. Vier Antrage auf AusschluB wurden
abgelehnt und eine ganze Anzahl lieB man einfach ganz nach Gut-
diinken fallen. Ein etwas merkwurdiges Vorgehen, das doch die An-
sicht zu bekraftigen scheint: der Vorstand, der sich standig auf die
Satzungen beruft, regiert, ohne sich viel um das geschriebene Recht
zu kummern, abgesehn davon, daB es loyal gewesen ware, die
Angeklagten anzuhoren, bevor man sie verurteilte; der Hauptvorstand
hat die Sunder nicht vorgeladen, was das Statut ihm zwar nicht vor-
schreibt, was aber die Moral von ihm verlangt. Gliicklicherweise ist
das nicht so ganz im Stillen abgelaufen, die Offentlichkeit hat durch
die Ruhrigkeit der Opposition Kenntnis von der Angelegenheit be-
kommen. In seinem schon vorhin erwahnten Rechtfertigungsbericht
verbreitet Schaffner immer wieder die Mar, die Opposition sei kom-
munistisch. Das ist nicht wahr, maximal sind es 25 Prozent der
Opposition, die sich zur KPD bekennen, von den iibrigen hat so
Mancher seinen StrauB mit den Kommunisten gehabt, und es ist dabei
nicht immer sanft zugegangen. Jakob Schaffner weiB das entweder
nicht oder will es nicht wissen, jedenfalls suggeriert er der Offent-
lichkeit, die Opposition sei kommunistisch. Eigentumlich nur, dafi
ihm das nicht friiher bekannjt war, als er sich von ihr wahlen lieB.
Um zu beweisen, dafi sich an Veranstaltungen der Opposition Nicht-
mitglieder des SDS beteiligt haben, fiihrt Schaffner an, das Kampf-
komitee sei mit ihr identisch. Auch das ist nicht wahr, wofiir allein
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die Tatsache sprechen mag, daft aus dem Komitee wegen Meinungs-
verschiedenheiten ausgetretene Schriftsteller heute zur Opposition ge-
horen oder zumindest mit ihr sympathisieren, was sie nicht taten,
waren die beiden Gruppen identisch. Auch davon weifi Schaffner
nichts, man wird den Eindruck nicht los, daB er vollig ahnungslos
und unorientiert seinen Angriff auf die Opposition vorbereitet hat,
Schlimmeres anzunehmen, verbietet uns unser. unerschutterlicher
Glaube an das Gute im Menschen. Auch dafi er eine vom Bund pro-
letarisch-revolutionarer Schriftsteller verfaBte Resolution, die sich in
der Urheberrechtsfrage auf den russischen Standpunkt gegen die
deutsche Auffassung stellt, der Opposition in die Schuhe schiebt,
zeugt nur davon, daB Schaffner sich nicht die geringste Muhe ge-
geben hat, das zu uberprfifen, was er behauptet. Die Opposition hat
sich mit dieser Frage iiberhaupt noch nicht beschaftigt, und die Mit-
glieder des Bundes proletarisch-revolutionarer Schriftsteller gehoren
zum liberwiegenden Teil gar nicht zum SDS. So steht es urn die Tat-
sachen, die Schaffner gegen die Opponenten anzufiihren hat. Der
ArbeitsausschuB der Opposition wendet sich dieser Tage mit einer
eingehenden Beantwortung aller Schaffnerschen Behauptungen an die
Offentlichkeit. Diese hat bisher weitgehende Sympathie bekundet,
eine Sympathie, die bis zur ,Deutschen Allgemeinen Zeitung* reicht,
von der Schaffner schwerlich wird behaupten konnen, sie schwarme
fur den Kommunismus oder gar sie sei kommunistisch. Im Reich und
in Wien verurteilen die Ortsgruppen den Hinauswurf, eine groBe An-
zahl von Schriftstellern hat die hier im Heft 42 abgedruckte Sym-
pathieerklarung weiterhin unterzeichnet. Der Platz reicht nicht aus,
die mehr als 150 Namen abzudrucken. Dafiir wollen wir zitieren, wie
Herr Schaffner diese Solidaritatsaktion beurteilt; „Die Opposition
geht nun herum und schreit iiber Unrecht und Gewalt. Sie wirbt Mit-
ganger im ganzen Verband und laBt Sympathiekundgebungen unter-
schreiben, fur die sie Unterschriften von Menschen findet,. die es eilig
haben, immer iiberall dabei zu sein und keinen AnschluB zu versaumert.
Sie unterschreiben blind begeistert drauflos, weit es wieder mal gegen
.irgend etwas' geht, weil man sich wieder einmal im Licht des unent-
wegt Protestierenden zeigen kann". Die Unterzeichner der Solidaritats-
erklarung wissen nun, was ftir eigentiimliche Geister sie sind, aber
uns scheint, ihr Instinkt, der sie gegen die Hausknechtsmanieren des
SDS protestieren hieB, war richtiger als der des Herrn Schaffner, der
glaubt, durch eine solche Verachtlichmachung seinen Kollegen im
Hauptvorstand einen Dienst zu erweisen. Herr Schaffner, eine groBe
Anzahl der Sympathisierenden sind Mitglieder des SDS. Sie glauben,
den Protest lacherlich machen zu dtirfen. Sie geben damit also zu,
daB sich der Hauptvorstand einen Schmarren um die Meinung seiner
Mitglieder kiimmert, mogen sie heiBen, wie sie wollen.
Historiker. Der fAngriff vom 30. Oktober bringt unter der Ober-
schrift „General Schleicher" das Bild des Generals von Hammerstein.
Da nicht anzunehmen ist, daB „Schleicher" hier nicht als Personen-
name sondern als Gattungsbegriff gewahlt worden ist, so erhebt sich
die ernste Frage, ob Hitler nicht etwa l>ei dem falschen Herrn gefrtih-
stiickt hat. Um der Geschichte keinen Irrtum zu iibermitteln, bitten
wir um baldige Klarstellung.
Manuskripte find nui an die Redaktion d«r Weitbtihae, Chartottenburg, iCaoUtt. 152, zu
richten; w wird gebeten, thnen Rfickporto beixulegen, da sonst keine Ruduendung erfolgen kann.
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XXVU. Jahrgang 10. November 1931 Nammer45
Braun und schwarz von can v. ossietzky
TJ^ieder sind die Besprechungen zwischen Zentrum und Na-
w tionalsozialistcni ergebnislos verlaufen, Schon einmal, im
Spatherbst vorigcn Jahres, war man nahe daran, sich zu ver-
standigen, Hauptmann Goehring erschien, wie ietzt, haufig a)s
Bote in der Reichskanzlei. Dann machte sich Briining auf die
Ostreise; die Pfiffe der Hakenkreuzler begleiteten ihn von
Konigsberg bis Beuthen. So zerschlug sich das Geschaft.
Wenn auch heute keine Einigung erzielt werden konnte, so
hat doch das Zentrum bewiesen, daB es zum Verrat bereit ist,
Auf diese Bereitschaft kommt es an, nicht auf den mehr oder
weniger grofien Effekt der Biindnisverhandlungen.
Heute, wo die letzte heilgebliebene burgerliche Partei sich
gewillt zeigt, die Republik an den Fascismus auszuliefern und
nur iiber Formfragen noch nicht mit sich im reinen ist, fordere
ich Sie auf, verehrter Leser, mit mir einen fluchtigen Blick
auf jene Zeit zu tun, die uns so mythisch erscheint wie jener
Tag, da Helena in Troja einzog, Ich brauche nicht zu sagen,
daB ich vom 9, November 1918 spreche, dem Geburtstag der
deutschen Republik. Philipp Scheidemann erzahlt in seinen
Erinnerungen ausfuhrlich, wie er seinen imponierenden Wallen-
steinkopf im Speisesaal des Reichstags grade uber eine dunne
Wassersuppe geneigt hatte und wie er aufgefordert wurde, an
die Menge vor dem Haus eine Ansprache zu halten. Der alte
Fanfaron wirft sich in Positur, er spricht von der Balustrade
und schlieflt die paar kuhn geschmetterten Satze mit einem
Hoch auf die deutsche Republik, An seinen Tisch zuriick-
gekehrt, findet er bei seinen Freunden geringere Begeisterung
als drauBen. „Ebert war vor Zorn dunkelrot im Gesicht ge-
worden, als er von meinem Verhalten horte. Er schlug mit
der Faust auf den Tisch und schrie mich an: Jst das wahr?'
Als ich ihm antwortete, daB ,es* nicht nur wahr, sondern selbst-
verstandlich gewesen sei, machte er mir eine Szene, bei der
ich wie vor einem Ratsel stand. ,Du hast kein Recht, die Re-
publik auszurufen. Was aus Deutschland wird, Republik oder
was sonst, das entscheidet eine Konstituante.'" Das war die
Geburtsstunde der deutschen Republik. BeschlieBen wir damit
die rote Vision des 9. November. Die Gegenwart tragt andre
Farben. 1931 geht braun und schwarz.
Das Zentrum erklart jetzt offiziell, daB an eine Koalition
mit Hitler niemand gedacht hat. Wirklich nicht? Warum
dann das sehr intensiv gefiihrte Frage-und Antwortspiel die-
ser letzten Woche? Es ist selbstverstandlich, daB das Zen-
trum sich bei diesen Unterhaltungen den Riicken zu decken
suchte und deshalb eine sehr salbungsvolle aber auch etwas
hochmutige Sprache wahlte, die den Nationalsozialisten hart an
die Nieren ging. Es komme darauf an, die Hitlerpartei „durch
rechtzeitige Einglfederung in die deutsche Staatsfuhrung" un-
schadlich zu machen, die Partei miisse auch eine „innere Um-
kehr" erleben, so hieB es- Hatte das Zentrum diese Sprache
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mit Absicht gewahlt, urn sich beruhigen zu lassen, so hat ihm
der Verhandlungspartner diescn Gefallen nicht getan. „Eine
unverfrorene AnmaBung", so polterte es aus dem .Volkischen
Beobachter', und Herr Stohr, der neulich so bemerkenswerte
Vorschlage zur Belebung der deutschen Hanfseilindustrie ge-
macht hat, antwortete ganz unmiBverstandlich, seine Partei
werde legal bleiben „bis zum Tage des Sieges' \ Herr Pralat
Kaas, ein gebildeter und diplomatischer Kleriker, mag die
Hande gerungen haben iiber soviel Tolpelei. Aber was durfte
er denn andres erwarten? Das Zentrum behauptet, sich mit
dieser Episode nichts vergeben zu haben. „Eine Diskussion
mit einem Gegner ist nichts als eine Frage der allgemeinen
Klarung/* schreibt die ,Germania\ Ob an der N.S.D.A.P. noch
etwas zu klaren ist, bleibe dahingestellt. Aber etwas andres
ist ganz gewiB geklart worden. Ober die grundsatzliche Be-
reitwilligkeit des Zentrums, mit dem Fascismus zu paktieren,
besteht auch nicht mehr der leiseste ZweiieL Wenn die
Koalition iiicht zustande gekommen ist, so sind die Griinde
dafiir in keinem prinzipiellen Bereiche zu suchen/ Das Zen-
trum war nur um eine anstandige Drapierung verlegen. Hitlers
Inter essen entspricht eine solche Verkleidung kaum. Darum
ging der Streit, dariiber wurde man sich diesmal nicht einig,
Es ist ein gelinder Unfug, wenn von Zentrumsseite der
Versuch unternommen wird, einen Unterschied zu konstruieren
zwischen dem Scharfmacher Hugenberg und dem ,,sozial
denkenden" Hitler. Fallt wirklich jemand auf eine so schwach-
sinnige Machination herein? Hugenberg gehort direkt zur
Schwerindustrie, er ist ein Stuck von ihr. Hitler ist ihr mittel-
bares Werkzeug, Aber beide agieren fiir die gleichen Kassen-
schranke, und ein Hitler, der heute mit den GewerkschaUen
zusammen gegen seine alten Freunde und Auftraggeber Ar-
beiterpolitik machen wollte, tate am besten, sofort seia Testa-
ment aufzusetzen. Wenn auch die plastische Kraft der deut-
schen Schwerindustrie ziemlich erschopft ist, kaputt machen
kann sie noch immer, Ein von den publizisttschen Hetzhunden
der Schwerindustrie in die Waden gebissener Hitler hat aber
fur das Zentrum nicht viel Wert, das braucht fiir seine Zwecke
den groBen Tribunen in moglichst intaktem Zustand. Das
Zentrum braucht Hitler nicht als sozialen Friedensfiirsten, sen-
der n um auBenpolitische Verantwortung mit ihm zu teilen,
Deutschland ist auf franzosische Hilfe angewiesen. Dank der im
letzten Jahre entfalteten auBenpolitischen Aktivitat und dank
der ewigen nationalistischen Provokationen wird diese Hilfe
nur unter schwersten finanziellen .und politischen Garantien
gewahrt werden. Fiir diese ungeheure Last sucht das Zentrum
einen Partner, und zwar, was nicht reizlos ist, den Fiihrer der
grofimauligsten chauvinistischen Partei. Das neue Versailles
soil neb en der Unterschrift Briinings die Hitlers tragen.
Nun scheint gewiB die Frage berechtigt, ob Hitler wirk-
lich dumm genug ist, eine komfortable Oppositionshaltung mit
viel Miihsal und Risiko zu vertauschen. Wer diesen Ein-
wurf macht, vergiBt, daB eine so ungeheuer gewachsene Partei
wie die N.S.D.A.P. nicht dauernd auf der Stelle treten kann.
Sie muB ihren Leuten schlieBlich doch etwas mehr bieten als
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Skandal. Hitler muB in den Staat, schon allein deswegen, weil
die finanzielle Last auf die Dauer zu grofi wird und aus der In-
dustrie kerne wesentlichen Zuschiisse mehr kommen, Er-
oberung des Staates, das heifit die Mittel zur Subventionierung
in die Hand bekommen, das heiBt Stellen und Posten. Und
wenn auch zunachst nur ein bescheidener Prozentsatz der Ge-
treuen versorgt werden kann, so ist doch der ungeheure An-
reiz fur die andern, fur die noch Wartenden, da. Die Kapi-
tulation vor Frankreich ist natiirlich sehr bitter, aber da lafit
sich schon ein Dreh finden. Hitler wird eine auch noch so
defaitistische AuBenpolitik schlucken, wenn man ihm dafiir den
f,innern Feind" fur leichte Siege zur Verfiigung stellt. Verbot
der scharfsten Konkurrenz, der K.P.D., Treibjagd auf Sozis,
Pazifisten und Demokraten, natiirlich immer legal, straffer
volkischer Kurs in der Kulturpolitik, das waren so die Sur-
rogate fur die weiter zu vertagende Vernichtung des Erb-
feindes, Zu alledem braucht man keine GewaltmaBnahmen,
der Autor der Notverordnungen hat bestens vorgearbeitet, und
der Staat versteht auch, ein Auge zuzudriicken. Seit langem
strengt man sich doch an, der unverhtillten Rechtsdiktatur
nicht mehr viel zu tun iibrig zu lassen. Herr Groener
zum Beispiel hat seine Tatigkeit als Reichsinnenminister damit
begonnen, eine von seinem Vorganger geschaffene Amtsstelle
zur Observation der Rechtsradikalen aufzuheben. Aus Spar-
samkeit natiirlich. Es ist erfreulich, daB Groener als Reichs-
innenminister Gelegenheit bekommt, von der Tugend der
Sparsamkeit Gebrauch zu machen. Als Wehrminister muBte er
sie sich leider verklemmen. Was fiir Torturen mag der Armste
alljahrlich vor dem Militaretat ausgestanden habcn?
Es sind aber nicht nur auBenpolitische Motive fiir die Tak-
tik des Zentrums bestimmend, mindestens in gleichem MaBe
hat die Furcht der Kirche vor dem Kommunismus die Fiihlung-
nahme mit Hitler begunstigt. Diese Furcht wird begreiflich, wenn
man den Fundus der Kirche in Betracht zieht, ihren EinfluB
auf den Staat, den sie sich mit den verschi«densten, mit den
feinsten und grobsten Mitteln gesichert hat. In der ,Kolnischen
Volkszeitung' vom 31. Oktober wird eine sehr umfangreiche
Aufstellung gebracht, was die Kirche in Deutschland an Unter-
richt, Krankenpflege und Caritas leistet und in< welchem MaBe
der Staat dadurch entlastet wird, i,Was Ordensgesellschaften
und Kirche fiir diese Zwecke an Geld aufbringen, erspart der
Staat, ganz abgesehen davon, daB in den Ordensanstalten tag-
taglich Leistungen vollbracht werden, die weiterhin dem Staate
ungeheure Summen ersparen. Die Beschuhmg von rund
30 000 Schiilerinnen in hohern, von Ordensschwestern geleite-
ten Schulen bringt dem Staat und den Kommunen eine jahr-
liche Ersparnis von mindestens 8 bis 9 Millionen Mark. Jede
eine Ordensschule besuchende Schiilerin kostet den Staat im
Durchschnitt gerechnet 23,33 Mark, wahrend das staatliche
Beschulungsgeld fiir Volksschiiler zur gleichen Zeit rund
40 Mark betragt. Die Gesamtsumme, die der Staat an den
katholisclien Krankenpflegeanstalten und andern katholischen
caritativen Anstalten spart, betragt jahrlich 120 bis 150 Mil-
lionen. Im Dienste dieser Caritas stehen 70 000 Ordens-
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schwestern und 3158 Briider . ..." Audi fur Armenpflege und
Volksspeistmg werden imponierende ZiHcrn genannt, und ob-
gleich wir nicht verkennen, daB cine warme Suppe ein besseres
Argument ist als eine theologische Doktrin una obgleieh wir
nicnt den idealistischen Schwung der namenloscn Hclfcr dieser
Wcrkc unterschatzen, so muB doch gesagt werden, daB die
Kirche als Institution dcm Staat nur Arbeit und Gefahren ab-
nimmt, um sich desto wanner in ihm zu betten. Diese katho-
lische Caritas ist eine hochst edle Form von Propaganda, aber
doch eben Propaganda, die der Festigung irdischer Giiter und
irdischer Macht client. Beide werden durch einen Vormarsch
der Rot en bedroht, um diese abzuwehren, ist jedes auch noch
so verschmahte Mittel recht, und Adolf Hitler mit der
Swastika atif der heidnischen Teutonenbrust, gestern noch ein
Wechselbalg des Teufels, avanciert schnell zum Knecht Gottes
und zum Defensor der sichtbaren Kirche.
Kalter AbbaU von K. L. Gerstorff
7 ur ^eit tobt uberall der Kampf um die neue Festsetzung der
Tarifvertrage, Die Unternehmer verlangen einen weitern
Abbau der Lohne; die Vertreter der Arbeiterklasse erklaren,
daB ein solcher ganz unmoglich sei, daB der Arbeiter schon
heute kaum mehr das physiologische Existenzminimum ver-
diene. Dem wird aus Unternehmerkreisen widersprochen und
man bringt Statistiken, die zeigen sollen, daB der Tariflohn „nur"
um zirka fiinfzehn Prozent gesunken, der Lebenshaltungsindex
aber ebenfalls schon gefallen sei. Man sucht damit zu
beweisen, daB die Arbeiterschaft von der Krise bisher nicht
sehr betroffen sei und daB grade die starre Tarifpolitik eine
,,elastischere" Anpassung an die Krisensituation verhindere und
so die Krise vertiefe. Diese Argumentation des Monopolkapi-
tals wird dadurch erleichtert, daB die amtliche deutsche Lohn-
statistik noch immer sehr im Argen liegt und so die Moglich-
keiten fur zahlreiche Tauschungsmanover bietet Es heiBt mit
sehr naiven Lesern rechnen, wenn die Presse der Schwer-
industrie heute unter anderm den jetzigen Tariflohn des be-
schaftigten Arbeiters mit dem Tariflohn in der Zeif der Kon-
junktur vergleicht, um dann festzustellen, dafi eine nur geringe
Lohnsenkung eingetreten sei. In Wirklichkeit findet aber ein
sechsfacher Abbau der gesamten Lohnsummen statt, die die
Arbeiterschaft alles in allem bekommt.
Es werden 1. die Tarif lohne der beschaftigten Arbeiter gesenkt,
es werden 2. die ubertariflichen Akkordsatze abgebaut,
es wird 3. immer starker Kurzarbeit geleistet,
es werden 4. die gesamten Lohnsummen dadurch abgebaut, daB ein
immer groBerer Teil der Arbeiter unbeschaftigt ist,
cs werden 5. die Arbeitslosensatze direkt abgebaut,
es findet 6. ein ,, kalter" Abbau der Arbeitslosemintersttitzung infolge
der langen Dauer der Krise dadurch statt, daB ein immer ge-
ringerer Bruchteil der Arbeitslosen die Hochstsatze erhalt.
Wie stark neben dem direkten Abbau der Tariflohne die
andern Faktoren wirken, das zeigen besonders plastisch die
letzten Zahlen aus den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten
Staaten haben bisher keirie Arbeitslosenversicherung gehabt,
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so daB dort von einem Abbau der Sozialpolitik wahrend der
Krise nicht die Rede sein kann Es wirken in Amerika
also nur die ersten drei Faktoren, und der direkte
Lohnabbau spielte mit Ausnahme der letzten Mo^ite bisher
keine sehr groBe Rollet weil man in den ersten Ltappen der
Krise nach der Hooverschen Parole zu handeln suchte, die
Lohne der Arbeiter moglichst wenig herabzusetzen.
Die amerikanische Statistik kennt einen Faktor, den die
deutsche Statistik bisher niemals exakt berechnet hat; das
sind die gesamten an die Arbeiterschaft ausgezahlten Lohn-
sumraen, Setzt man diese gesamten Lohnsummen fur den Durch-
schnitt des Jahres 1929 mit 100,4 an, so betrugen sie in den
Sommermonaten dieses Jahres 59 Prozent, das heifit in den Ver-
einigten Staaten sind die insgesamt ausgezahlten Lohnsummen
in der Krise bisher bereits um mehr als zwei Fiinftel zuruck-
gegangen. So lagen die Dinge, bevor die letzten grofien Lohn-
senkungen eintraten, Seitdem haben die amerikanischen Stahl-
werke die Lohne ihrer gesamten Arbeiterschaft um zehn Pro-
zent gekiirzt, ihnen ist General Motors gefolgt und die andern
Industrien werden nicht lange zuriickbleiben. Heute also wer-
den die amerikanischen Lohne im Vergleich zu 1929 um fiinfzig
Prozent gefallen sein, wahrend die Preise nur um zirka fiini-
zehn Prozent gesenkt worden sind,
Der enorme Ruckgang der amerikanischen Reallohne
in der Krise zeigt ungefahr, in welcher GroBenordnung in
Deutschland die Lohne gesunken sind. Der amerikanische Ar-
beiter hat in der Krise bereits ein Drittel seines Reallohnes
verloren. Beim deutschen Arbeiter durfte der Ruckgang noch
groBer sein. Einmal hat der Abbau der Lohne in Deutschland
schon in einem weit fruhern Zeitpunkt eingesetzt. Die Welt-
wirtschaftskrise traf den amerikanischen Kapitalismus nach
einer Epoche starkster Expansion und Konjunktur, Bei uns
war das anders. Denn bereits vor der Weltkrise waren im gan-
zen Jahr 1929 die Stagnations- und Krisentendenzen nicht zu
verkennen. Im gleichen Zeitraum, wo man in den Vereinigten
Staaten noch mit einer kurzen Dauer der Krise rechnete, wo
man in der Krise nur eine kurze Konjunkturunterbrechung sah
und die Lohne kaum kiirzte, hat man in Deutschland bereits
kraftig abgebaut. Dah«r ist der Ruckgang der Lohne hier ins-
gesamt bereits groBer als in den Vereinigten Staaten.
Dazu kommt aber weiter der Abbau der gesamten Sozial-
politik, die im deutschen Kapitalismus eine weit grdBere Rolle
spielt. Und hier ist die gleiche verlogene Argumentation fest-
zustellen wie beim Abbau der Lohne. Das laBt sich am deut-
lichsten an der Arbeitslosenunterstiitzung zeigen. Wir brauchen
auf die einzelnen Etappen ihres Abbaus nicht mehr einzugehen.
Wenn in der Unternehmerpresse davon die Rede ist, dann wer-
den die Dinge so dargestellt: Der Hauptuntersttitzungsempf an-
ger bekam bisher so viel Unterstutzung, jetzt erhalt er einige
Prozente in der Woche weniger, und das gleiche gilt von dem,
der durch die Krisenunterstiitzung finanziert wird. Wenn wir
in der nachsten Zeit eine neue Herabsetzung der Unterstiit-
zungssatze bekommen, werden wir eine ahnliche Begleitmusik
horen. Damit wird aber der Hauptpunkt umgangen. Denn
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neben diesem direkten Angriff auf die gesamte Sozialpolitik
erfolgt schon seit Jahren untcrirdisch ein indirekter. Die Ar-
beitslosen mac hen bekanntlich drei Stadien durch; sie sind
zunachst in der Arbeitslosen-Versicherung, dann in der Krisen-
unterstiitzung und zuletzt Wohlfahrtserwerbslose beziehungs-
weise Nichtuntersttitzte, Infolge der langen Dauer der Krise
geht die Zahl derer, die in der Arbeitslosen-Versicherung sind,
prozentual standig zuriick und wachst prozentual die Zahl
derer, die in der Krisenunterstiitzung oder Wohlfahrtserwerbs-
lose sind, Es waren
von alien Arbeitslosen
in der in der Wohlfahrts-
Arbeitsloscn- Krisen- erwerbslose bzw.
Versicherung Unterstiitzung Nicht-Unterstutstc
Proz. Proz. Proz.
Januar 1929 81 5 14
Januar 1930 . . . , 69 8 23
Januar 1931 52 17 31
Im Januar 1931 stand also nur noch wenig mehr als die
Halfte aller Arbeitslosen in der Arbeitslosen-Versicherung.
Seitdem hat sich die Situation noch weiter verschlechtert.
Hatten wir schon von 1929 bis 1931 auBerordentlich stei-
gende Arbeitslosenziffern, so lageri die Arbeitslosenziffern
im Jahre 1931 bisher im Durchschnitt um 1,3 Millionen iiber
den Zahlen von 1930, Aber die Zahl der Hauptunterstiitzungs-
emjpfanger hat im Jahre 1931 gegeniiber den Zahlen von 1930
sogar absolut abgenommen, weil ihr Prozentsatz, der im Jahre
1929 noch reichlich vier Fiinftel betrug, jetzt auf zirka ein
Viertel zuriickgegangen ist, Auf der andern Seite wachst die
Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen und die Zahl derer, die iiber-
haupt keine Unterstiitzung mehr bekommen, auBerordentlich
stark, Sie machen heute zirka die Halfte aller registrierten
Erwerbslosen aus. Beriicksichtigt man diejenigen, die sich iiber-
haupt nicht mehr registrieren lassen, so wird ihre Zahl heute
schon drei Millionen betragen. Die Hauptunterstutzungsemp-
fanger werden vom Staat unterstiitzt; die Wohlfahrtserwerbs-
losen, deren Zahl sich standig vermehrt, von den Stadten.
Durch die Dreiteilung der Arbeitslosenversicherung hat das
Monopolkapital so nebenbei noch erreicht, dafi die demokra-
tische Selbstverwaltung der Stadte beseitigt ist, denn die
Finanzen der Stadte sind den dauernd steigenden Wohlfahrts-
ausgaben nicht mehr gewachsen. Die Dreiteilung der Erwerbs-
losen demonstriert weiter aufs deutlichste, dafi durch die lange
Dauer der Krise. im deutschen Kapitalismus sich ein fiinfter
Stand gebildet hat, Wir haben als allgemeine Erscheinung zu
konstatieren, daB die Kapitalisten nur die Arbeiter einstellen,
die vor nicht allzu langer Zeit noch Arbeit gehabt haben, Der
Prozentsatz der Wohlfahrtserwerbslosen, die wieder Arbeit
finden, ist minimal. So hat sich also das Monopolkapital in
der Krise einen iiinften Stand geschaffen, dessen Unterstut-
zungssatze so gering sind, daB sie nicht einmal das physiolo-
gische Existenzminimum decken — , der natiirlich durch seine
Daseinsbediugungen immer starker radikalisiert wird, aber so
labil ist, daB er auch von der Konterrevolution ausgespielt wer-
698
den kann. Die Statistik tiber die Zahl der Erwerbslosen bei
den SA.-Abteilungen wurde interessante Aufschltisse geben.
Da der kalte Abbau der Lohne so auBerordentlich stark
ist und der kalte Abbau der Sozialpolitik so auBerordent-
lich tief geht, ist in der Krise die Konsumtivkraft der breiten
Massen der Arbeiterschaft enorm zuriickgegangen, Der Ruck-
gang diirfte den zweifachen, den dreifachen Umfang haben, der
sich bei einem Vergleich zwischen den Tariflohnen der Be-
schaftigten in der Zeit vor der Krise und wahrend der Krise
und bei einem Vergleich zwischen den Satzen fur die Haupt-
unterstutzungsempf anger von 1929 und 1931 ergeben wiirde.
Nichts spricht dafiir, daB hier in irgendeiner absehbaren Zeit
ein Umschwung stattfindet; im Gegenteil, alle Anzeichen deu-
ten darauf hin, daB auch in nachster Zeit der Abbau der Lohne
wieder ein Abbau der Reallohne sein wird, das heiBt, daB er
umfangreicher sein wird als der Abbau der hauptsachlichen
Preise. Wir haben daher eine entscheidende Veranderung ge-
geniiber der Situation in den Krisen der Vorkriegszeit festzu-
stellen. Damals ist die Arbeitslosigkeit wahrend der Krise im
Vergleich zu heutigen Zahlen gering gewesen. Damals Helen
die Preise starker als die Lohne, so daB in der Krise die Kauf-
kraft der breiten Massen haufig nicht nur stabil blieb, sondern
stieg. Professor Hermberg schreibt dariiber in seiner Bro-
schiire: „Krisenablauf einst und jetzt'1:
In den Zeiten der Konjunkturentfaltung vor 1890, 1900, 1907 und
1913 stieg Sauerbecks Index der GroBhandelspreise urn 6, 23, 16 und
abermals 16 Prozent, Der Lohnindex der Ministry of Labour dag eg en
nur um 10, 14, 7 und 6 Prozent, demnach zeigt also nur der Auf-
schwung vor 1890 eine Ausnahme unsrer RegeL In den auf die Um-
schwungsjahre 1882, 1900 und 1907 folgenden Depressionsperioden
sanken nach den gleichen MaCstaben die Preise um 17, 15, 8 und
9 Prozent, wahrend die Lohnsatze in den ersten drei Stockungen nur
um 4 und in der letzten nur um 2 Prozent nachgaben . . , Auch ein
von dem Statistiker Bowley korrigierter Lohnindex fiigt sich gut in
das Bild ein. Er zeigt fur die erwahnten Aufschwungsperioden ein
Anwachsen yon 15, 13, 8 und 6 Prozent, fin* die Stockungen ein Zu-
ruckgehen von 3, 0, 5 und 3 Prozent,
Hermberg zeigt also hier: Bei fruhern Krisen Helen die
Preise schnefier als die Lohne, so daB der Reallohn der be-
schaftigten Arbeiter stieg. Und da die Arbeitslosigkeit ver-
haltnismaBig nicht sehr groB war, konnten die gesamten Lohn-
summen als Reallohnsummen sich erhohen, im schlimmsten
Fall stabil bleiben. In der heutigen Krise . dagegen sind die
Lohne der Beschaftigten bereits starker gefallen als die Preise,
und da die Arbeitslosigkeit so gigantische Dimensionen an-
genommen hat, gehen die insgesamt ausgezahlten Lohnsummen
und damit die Gesamtkaufkraft enorm zuriick.
Das ist der Kreislauf, in dem wir uns nun seit langer Zeit
befinden, der Kreislauf, der die Widerspriiche immer weiter
verscharft, die zur Zeit weder nach Innen noch nach AuBen
ein Ventil finden; Widerspriiche, die die konterrevolutionaren
ebenso wie die revolutionaren Stromungen steigern, und die
konterrevolutionaren augenblicklich noch schneller als die re-
volutionaren.
699
Der rote Handel lOCkt von Johannes Buckler
F\ie Titelj die der amerikanische Journalist Hubert H.
Knickerbocker seinen Biichern gibt, sind so verlockend,
daB groBe Tageszeitungen sie fur ihre Leitartikel benutzen und
, das Buch dieses interessanten Amerikaners nur ganz nebenbei
erwahnen. Schon sein im Friihjahr erschienenes Buch MDer
rote Handel droht", das hier ausf (ihrlich gewurdigt wurde, hat
groBes Aufsehn erregt. Seine damals sensationell wirkenden
Berichte iiber den glanzenden Stand des Funfjahrplans sind
vielfach angezweifelt worde'n. Heute beweist Knickerbocker
durch sein zweites Buch an Hand der sichtbaren Wirkungen
des Funfjahrplans in alien europaischen Landern, daB er da-
mals durchaus richtig gesehen hat. Und diesmal sind sich alle
seine Kritiker dariiber einig; der rote Handel lockt viel mehr
als er droht. Die schiimmsten politischen Feinde der Sowjets
reiBen sich darum, mit diesen verfl . . . Bolschewiken Geschafte
zu machen.
Die reizvollsten Kapitel in Knickerbockers Buch sind in-
folgedessen die Berichte aus England und Italien, Seine Schil-
derung der Atmosphare von London und Manchester — mit
ihrer gefiihlsmaBigen Stellung gegenf ihrer portemonnaiemaBi-
gen fur die Sowjets — konnte von G.B.S, sein, auch in ihrem
dramatischen Aufbau. Selbstverstandlich sind die Interessen
etwa der Maschinenfabrikanten von Manchester andre als die
der Textilfabrikanten. Die Maschinenfabrikanten fiihren nach
RuBland aus, und hiergegen hatten auch die Textilleute so
lange nichts einzuwenden, wie sie glaubten -1— eine bisher auch
in Deutschland verbreitete Ansicht — die Russen konnten bei
ihrer ungelernten Arbeiterschaft mit diesen Maschinen nicht
viel anfangen. Aber schon hat der englische Import an Textil-
waren aus RuBiand begonnen und droht die Arbeitslosigkeit in
Manchester zu steigern. Im allgemeinen aber liegt doch die
Sache vorlaufig so, daB die Einfuhr russischer Waren, auch in
absehbarer Zeit, den heimischen Markt in den europaischen
Landern kaum trifft, da es sich um Produkte handelt, die in
den betreffenden Landern nicht vorkommen. Getroffen wer-
den durch den russischen AuBenhandel in erster Linie auBer-
europaische Lander wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Ar-
gentinien, die bisher die gleichen Waren nach Europa ein-
fiihrten. Ein ZusammenschluB der europaischen kapitalistischen
Staaten gegen das sogenannte Sowjetdumping ist um so weni-
ger zu erwarten, als es ja dem Konsumenten durchaus gleich-
giiltig ist, woher die Ware kommt, die in seinem Land nicht
wachst oder produziert wirdt und es ihm nur angehehm sein
kann( sie billiger als bisher zu beziehen. Es kommt nbch hin-
zu, daB die Sowjets von Anfang an kein Hehl daraus gemacht
haben, daB sie, um die bestellten Waren bezahlen zu konnen,
exportieren miissen, DaB also logischerweise nur das Land die
ersehnten russischen Auftrage bekommt, das auch russiscbe
Waren einfuhrt. Knickerbocker, der ja die ganze Angelegen-
heit durchaus als Amerikaner betrachtet, ist sogar davon iiber-
zeugt, daB, wenn wider Erwarten ein europaischer Zusammen-
schluB gegen RuBland zustandekommen sollte, dieser Zu-
700
sammenschluB genau so gegen Amerika mit seinen ungeheuer-
lichen Zollschranken gerichtet sein nriisse.
Am imponierendsten sind wohl die Zahlen des russischen
Weizenexports. Der groBte Getreidesilo Europas, der Riesen-
silo von Rotterdam, der zwei Millionen Scheffel Getreide
lagern kann^ gehort ..Export Chleb", dem grofiten Getreide-
handler aul Erden. Voraussichtlich stehen der Sowjetunion in
dieser Saison 377 Millionen Scheffel Weizen zu Exportzwecken
zur Verfiigung. Dabei ist schon das Quantum in Rechnung ge-
stellt, das die russische Bevolkerung fiir den eignen Bedarf
bendtigt. Bekanntlich ist dies bei andern Artikeln nicht der
Fall: es werden sehr viele lebensnotwendige Dinge ausgefiihrt,
an den en die eigne Bevolkerung dringendste Not leidet.
Aber Brot hat jeder Russe so viel zur Verftigung, wie er essen
kann. Obwohl in RuBland mehr Roggen- als Weizenbrot ge-
gessen wird, hatte im vergangenen Jahr jeder durchschnittlich
dreihundert Pfund Weizen zur Verf iigung. Am erstaunlichsten
beruhrt wohl, daB Italien, dies klassische Land der Makkaroni,
afte Sorten von Nudeln, von fingerdicken bis zu haarfeinen
Vermicelli, aus RuBland einfiihrt. Wie ja iiberhaupt die Han-
delsfreundschaft zwischen. SowjetruBland und Fascioitalien
sehr dick ist.
Hochamusant ist die Schilderung, wie russische Wechsel
diskontiert werden. Russische Emigranten in Paris, die offiziell
Von Tag zu Tag auf den Sturz der Sowjets hoffen, leben nicht
nur, sondern werden reiche Leute an diesen bisher nicht ge-
stfirzten Sowjets- Sie zahlen fur einen von der Sowjethandels-
vertretung gezogenen Wechsel iiber 100 000 Dollar 55 000
Dollar, legen ihn in. ihren Tresor und Ziehen am Ende des Jah-
res den vollen Bet rag zuztiglich 6 Prozent Zinsen ein, , Jails
nicht inzwischen die Sowjetregierung zuruckgetreten und mit
grunen Brillenglasern maskiert nach Schweden geflohen ist".
Eine Bestatigung dieses patriotischen Gebarens erhielt ich in
diesen Tagen durch die Tatsache, daB groBe berliner Getreide-
handler, die seit Jahren vor dem Anmarsch des Bolschewismus
zittern, sich zur Zeit in Rotterdam befinden, um von dort mit
Hilfe von Sow jet getreide den zur Zeit anderweitig sehr flauen
Markt etwas zu eignem groBen Nutzen zu beleben.
Seit dem Erscheinen von Knickerbockers Buch hat sich
besonders fur Deutschland die Situation erheblich verandert.
Wahrend fast alle Lander, mit denen SowjetruBland Handel
treibt, eine staatliche Garantie fiir die Einlosung der Russen-
wechsel ubernommen haben, ist der Dreihundertmillionenkredit,
der den Russen von Deutschland eingeraumt wurde, ersohopft.
Zur Zeit ist die Lage so, dafl russische Riesenauftrage da sind,
die die Industrie nicht ausfiihren will ohne die bisherige Ga-
rantie des Reichs von 70 Prozent. Ober den Stand der der-
zeitigen Verhandlungen ist genaues nicht zu erfahren. Die
Russen sind sehr optimistisch. Die deutsche Presse setzt zum
Teil groBe Zweifel in die Zahlungsfahigkeit der Sowjets. Aber
selbst ein so konservativer Mann und ausgezeichneter Kenner
RuBlands wie Professor Otto Hoetzsch halt die Befiirchtungen
fiir gegenstandslos, GewiB werden die russischen Plane stark
durchkreuzt durch das allgemeine Sinken der Weltmarktpreise.
701
Der russische Export mufite also quantitativ stark gesteigert
werden, um die zum Gelingen dcs Fiinf jahrplans angesetzte
Summe zu erreichen. Er hat also das allergroBte Interesse an
der Aufnahmefahigkeit des Marktes der kapitalistischen Lan-
der. Also groteskerweise auch daran, daB die Weltwirtschafts-
krise sich nicht verstarkt und die theoretisch ersehnte Welt-
revolution nicht friihzeitig eintritt. Auf der andern Seite er-
gibt sich fur das Reich die Alternative, entweder einen neuen
Kredit fur RuBland, bestehend in einer siebzigprozentigen Ga-
rantie fiir die Sowjetauftrage, zu bewilligen oder an mehrere
hunderttausend neue Erwerbslose Unterstiitzungen zu zahlen.
Denn es ist kein Geheimnis, daB in bestimmten groBen Betrie-
ben, hauptsachlich der Maschinenindustrie, 50 bis 80 Prozent
aller Arbeiter fur das russische Geschaf t arbeiten, die im Falle
der Ablehnung dieser Auftrage alle arbeitslos wiirden. Es ist
anzunehmen, daB die Regierung nicht die Absicht hat, die Krise
im eignen Land durch Schaffung von neuen Arbeitslosen zu
verscharfen.
Ganz abgesehn davon, daB im Fall der Ablehnung Deutsch-
lands die Auftrage einfach in andre Lander gehen. Denn der
rote Handel lockt alle.
Kaiser-Film von Dosio Koffier
Aus einem Film 1(Wilhelm IL" von Dosio Koffier,
soeben als Buch erschienen im Lucifer-Verlag, Berlin, Ob
sich eine Filmgesellschaft, ob sich ein Regisseur dafiir
finden wird — ?
Dei dunkler Leinwand tragi eine Stimme vor:
*-* t,Wilhelm der Zweite..."
(Darauf setzt eine Schreibmaschine ein und tickt ins aufleuchtende
Bild): ,
1. SCHREIBTISCH DES AUTORS
Der Autor diktiert der Sekretarin aus dem Manuskript
weiter.
„Ein Film in drei Teilen von . . ."
(Die Schreibmaschine beendet den Satz, das Klappern hort auf.)
Sekretarin unglaubig:
„Ob das in Deutschland durchgeht , . .?"
Autor:
„Nein, ich bin davon uberzeugt, daB diese Republik einen republikani-
schen Film nicht zulassen wird; diese Republik, die fiir ihre Reprdsen-
iation nichts Geeigneteres ausfindig gemacht hat als einen Mann, des-
sen markanteste Eigenschaft seine monarchische Gesinnung ist -—
Sekretarin:
„Wozu dann die ganze Arbeit?"
Autor;
,Jn jedem Fall werde ich iiber jenes System aufklaren, das dieser
Staat nicht nur nicht beseitigt hat, sondern fortsetzt und verieidigt
und dessen Verbrechen er wegzuteugnen sucht, als identifiziere er sich
selber mit dem alien Sunder, fiir den man ihn biiBen laBt,' Bleibt dem
Film also fur die Dauer der Bevormundung die Leinwand versagt, so
702 V
wird er sich der bis auf, Widerrut noch zuldssigen Form des Buches
bedienen und selbst im Druck den Ausspruch Lenins bekrdftigen: J)ie
Filmkunst ist meiner Meinung nach von alien Kiinsten die wichtigsteV'4
Sekretarin:
„Wird nicht bei einem so heikeln Thema Ihr Radikalismus den Bogen
uberspannen, so daft grade jener Volksteil, den es erst zu gewinnen
gilt, die Gefolgschaft verweigern wird""
Alitor;
„Nur wenn er unehrlich und bbswitlig ist! Denn die hlstorischen Per-
sonen lasse ich mit ihren eignen Worten und Taten vorbeiziehn, und
in der parallel laufenden Privathandlung bekunde ich nur die Unmog-
lichkeit, die historisch verburgten Tatsachen durch meine Erfindungs-
gabe an satirischer Wirkung zu uberbieten. Meine Waffe ist Authen-
tizitat von Worten und Ereignissen. Dagegen gibt es kein Argument
— auBer: weiBe Mduse und die entsprechende Bereitschaft republi-
kanischer Minister, das Ansehn des Deutschen Kaiserreichs nicht ge-
fiihrden zu lassen. Sogar das Motto, das ich diesem Film voransetze,
entnehme ich einem Gewahrsmann, dem auch der gliihehdste Anbeter
des hier entlarvten Systems die Kompetenz in sqlchen Dingen nicht
absprechen wird. Es lautet:
Er schlagt ein Buch auf, zeigt einc Stelle vor und liest:
„. . . Vberschwemmungen, die Lander verwiisten; der Blitz, der Stddte
einaschert; die Pest, die Provinzen entvolkertt sind nicht $o schadlich
wie Motal und Leidenschatten der Konige!"
Sekretarin gespannt:
„Wer sagt das?'4
Autor:
„Einer, der sich darin auskennt: Friedrich der GroBe! Also schreiben
Sie: auf der Leinwand erscheint ..."
(Das Diktat und das Klappern verklingen wdhrend der Vberblendung
ins nachste Bild.)
Auf der Leinwand erscheint:
2. DIE ABBILDUNG EINER BUCHSEITE
Die Stelle mit erwahntem Zitat. Das Blatt wird immer durch-
sichtiger.
(Wdhrenddessen tout aus den dahinter matt aufddmmernden Umrissen
des Schauplatzes gleichsam als Ouverture monotones Picken von Aas-
geierschndbeln und Gekriichz von Raben heruber.)
Nun sieht man wie durch einen durchleuchteten Schleier in
ein visionares Bild:
3. WEITER SOLDATENFRIEDHOF
a) Die Aasgeier und Raben schwarmen
(unter Fliigelschlagen und Gekreisch)
aufgescheucht davon. Das Bild nahert sich.
(Das Geheuider Raubvogel verhallt in der Feme; tiefe Stille folgt.)
Das nahegekommene Bild blendet bis auf ein Grab zu:
b) Das Soldatengrab, von unten gegen diistern Horizont auf-
genommen,
c) PreuBische Insignien iiber dem Kreuz;
d) Kreuzinschrift: ,,1870/71".
703
e) Von oben: die Rasendecke des Grabes. Sie klappt steil
hoch, steht senkrccht vor dem Apparat, schmilzt, und man
schaul wie durch Glas ins Innere.
4. IM GRAB
Aus Staub, aus Fctzen ciner preuBischen Grenadier uniform
wimmeln Knochemiberreste, reihen sich rimdum, formen sich,
iiigen sich zur Krone; da greift eine edelsteinbesetzte Hand
hinein, packt die Krone, ein Ruck und —
(in die Stille hinein plotzlich: Kirchenglocken in Grabgeldut)
ein Trauerflor senkt sich libers Grab.
(Das Glockengelaut schwillt an,}
Die Hand mit der Krone am Trauerflor vorbei, dreht sicht
verschwindet im Hintergrund, leuchtet dort als Punkt auf.
(Die Glocken schweigen.)
Der Punkt lauft auf den Apparat zu und steht davor groB als:
5. EIN SCHADEL
Halb von hinten, halb profil aufgenommen; dariiber stulpt die
Hand die Krone, bis eine hochgewichste phantastische Schnurr-
bartspitze seitwarts an den Kronreif hinanreicht; der Kopf
wendet sich; Kronreif iiber zwei Schnurrbartspitzen.
Aufblenden; Brustbild Kaiser Wilhelms II. Er spricht:
„. , . daB wir unsre Krone nur vom Himmel nehmenl'*
Er blickt urn sich- Weiter aufblenden: urn ihn Runde gebeug-
ter Riicken.
a) Der Apparat umkreist die Riicken ringsum.
b) Kopf <les Kaisers; er spricht weiter:
„. . . von Gottes Gnaden . . . nicht von Parlamenten und Volks-
beschlussen!"
Lenin und der Materialismus von Kurt miier
Schlafi
Den deutsch-franzosischen Krieg 1870 erklart Lenin aus
den „sehr realen Interessen der Industrie- und Handelsbour-
geoisie", Es laufe „auf eine Vertuschung des Wesens der
Dinge" hinaus, „wenn man das Nationalgefuhl zum selbstan-
digen Faktor erhebt", Und der Ehrgeiz der Dynasten, der
Generate, der Politikanten? Die psychagogisch dauernd ak-
tive Nationalmystik der Lehrenden? Einer uberwertigen
Kausal-Idee , zuliebe werden die wirkenden Krafte der Ge-
schichte verschoben, verschroben,
Gegen die Irradikalitat, das hochste Heil im gerechten
Giiteraustausch zwischen den Nationen zu erblicken, geht Le-
nin mit Recht vor; aber wie? Zunachst, indem er ngerecht"
in ironische GansefiiBchen steckt (was denBegriff, nicht seine
verkehrte Verwendung treffen soil), sodann durch einen Vor-
stoB gegen das angebliche Philistertum, das Mnicht begreift,
daB der Austausch, der gerechte wie der ungerechte, stets
die Herrschaft der Bourgeoisie voraussetzt und einschlieBt,
und daB ohne die Vernichtung der auf dem Austausch beruhen-
704
den Wirtschaftsorganisation das Aufhoren der internationalen
ZusammenstoBe unmoglich ist" — als ob es nicht auch in. einer
sozialistischen Welt Austausch der Produkte von Volk zu Volk
geben wird und geben muB. Der kapitalistische Staat ist auf-
zuheben; nicht: dcr Staat, Der kapitalistische Austausch ist zu
vernichten; nicht: der Austausch. Lenin verschiittet hier, an-
archoid, das Kind mit dem Bade.
Aber in ein leeres Schimpfen gerat er, wo er sich gegen
Michailowskis Kritik an der Marxischen Lehre von der MNot-
wendigkeit" der sozialen Revolution wendet; von ihrer Unaus-
bleiblichkeit, ihrem naturgesetzlichen Kommenmussen. Was in
Deutschland seit funfunddreiBig Jahren Stammler, Landauer,
Vorlander, Radbruch, Nelson gegen diese Lehre ins Feld gefiihrt
haben — driiben scheint ihnen Michailowski vorangegangen
zu sein. Insonderheit beschrieb er den ,,Konflikt zwischen der
Idee der historischen Notwendigkeit und der Rolle der per-
sonlichen Tatigkeit", Nach der Notwendigkeitstheorie seien
die Tatigen bloBe Objekte, ,,Marionettenf die aus geheimnis-
vollem Hintergrunde durch die immanenten Gesetze der histo-
rischen Notwendigkeit in Bewegung gesetzt werden"; des-
wegen sei die Notwendigkeitstheorie ,,fruchtlos" und „ver-
schwommen". Bravo, Michailowski! Aber Lenin nennt dich
um dieser Erkenntnis willen Hanswurst, Schwatzer und Klaf-
fer; weil Du dich gegen den gewaltigen Marx versiindigt
hast (den alten; der junge wuBte es besser), zitiert er gegen
dich Krylow:
Ei, schaut doch, was das Mopschen kann:
Es bellt den Elefanten an!
Und ein Konflikt zwischen Determinismus und Ethik bestehe
iiberhaupt nicht; 1tHerr Michailowski hat ihn sich ausgedacht".
Lenin will nicht wahrhaben, daB, wenn die Umwandlung der
kapitalistischen GesellschaHsordnung in die sozialistische na-
turnotwendig, wenn sie unvermeidlich ist, kein Mensch sich
anzustrengen braucht, sie herbeizufuhren. „Die Idee des De-
terminismus, die die Notwendigkeit der menschlichen Hand-
lungen behauptet und das unsinnige Marchen von der Wil-
lensfreiheit zuruckweist, beseitigt mitnichten weder die Ver-
nunft noch das Gewissen des Menschen noch die Bewertung
seiner Handlungen, Ganz im Gegenteil, die deterministische
Auffassung allein gestattet eine strenge und richtige Bewer-
tung statt der Abwalzung aller beliebigen Dinge auf den
freien Willen. Desgleichen wird auch die Rolle der Person-
lichkeit in der Geschichte durch die Idee der historischen
Notwendigkeit in keiner Weise geschmalert." Also Vernunft
und Gewissen ohne die Willensfreiheit! Bewertung mensch-
lichen Handelns, ohne es dem Handelnden zuzurechnen! Be-
wertung unter der Perspektive der historischen Notwendig-
keit! Wie denkt Lenin sich das? So: „Die Grundfragef die
bei der Bewertung der offentlichen Tatigkeit einer. Person-
lichkeit in den Vordergrund riickt, lautet: Unter welchen Be-"
dingungen ist dieser Tatigkeit ein Erfolg gesichert? Mit andern
Worten: worin besteht die Garantie dafiir, daB diese Tatig-
keit keine vereinzelte Handlung bleibt, die von einem Meer
3 705
entgegengesetzter Handlungen verschlungen wird?'-' Nach
einem Kriterium solcherart waVc die offentliche Tatigkeit
Christi odcr Karl Licbknechts mit Minus, die offentliche Ta-
tigkeit Horthys oder Pilsudskis mit Plus zu bewerten. Ob
Hitler zu loben oder zu verurteilen ist( bleibt danach eine
offene Frage, ehe nicht feststeht, ob er zur Macht durchstieB
oder fur immer ins AuBenseiterische zuriicksank. Anbetung des
Erfolgs : — unter alien Maximen gibt es keine odere, keine
ungeistigere, keine ordinarere; mir scheint, Lenin hat sich
selber falsch gedeutet, als er, urn den Materialismus zu recht-
fertigen, bis zu den Argumenten des niedersten SpieBertums
hinabstieg,
Mit Recht hebt Michailowski hervor, daB „der okono-
mische Materialismus das Problem von Held und Masse igno-
riert oder falsch beleuchtet". (Wir wiirden heute statt ,Held*
iFiihrer1 sagen.) Lenin degradiert lhn deshalb zum t,Lieb-
haber eincr Philisterwissenscbaft" und seine Argumente zu
tiinhaltlosen Phrasen". Es liege „keinerlei Kritik vor, sondern
lediglich. leeres, anmaOendes Geschwatz", Michailowski habe
nichts gegen die Ansicht vorgebracht, „daB die Produktions-
verhaltnisse die Grundlage aller andern Verhaltnisse bilden".
Auch der Liebesverhaltnisse? Ich meine die Frage ernst.
Lenin: „Jedermann weiB, ,daB der wissenschaftliche So-
zialismus eigentliche Zukunftsaussichten nie entworfen hat; er
hatte sich auf die Analyse der modernen, burgerlichen Gesell-
schaftsordnung, auf das Studium der Entwicklungstendenzen
der kapitalistischen Gesellschaftsorganisation beschrankt —
und nichts weiter/' Also: Analyse, Beschreibung von Ten-
denzen, Kausalbetrachtung, Ontologie; nicht Synthese, nicht
Lancierung von Tendenzen, nicht Zielsetzung, nicht Utopie.
Nein zur ,Idee'; daher, vollig mit Recht, der Name .Mate-
rialismus'. „Ideale" konnen, nach Lenin, „nur als eine ge-
wisse Widerspiegelung der Wirklichkeit auftauchen"; nicht
i,die Tatsachen prufen ' sollen sie, sondern sie sollen „von den
Tatsachen gepriift werden". Fiir jeden an Kant Geschulten
grotesk! An der Theorie von der Bedingtheit des Ideals
durch die Wirklichkeit ist doch einzig die Platitude wahr, daB
der Schlaraffe schwerlich das Ideal entwickeln wird, gebratne
Tauben mochten den Menschen ins Maul fliegen, wahrend dem
ausgesteuerten Erwerbslosen die Armut kaum rilkisch als
tfein groBer Glanz von inn en'* erscheinen wird. Auch ware
ohne Kriege der Friede kein Ideal. Ja; Furwahr! Aber diese
jedem zehnjahrigen Knaben selbstverstandlichen psychologi-
schen Bedingtheiten hindern nicht, daB zwischen Dem, was
sein soil, und Dem, was ist, die prinzipielle kategoriale Be-
ziehung des Gegensatzes klafft. Ethik contra Physik —
wobei .Physik* im weitesten Sinne wissenschaftliche Erfah-
rung heiBt, also das von den Materialisten als einziges be-
glaubigte Erkenntnismittel; daB es namlich „im Marxismus
selbst von Anfang bis zu Ende kein Gramm Ethik gibt", ist
eine Behauptung Sombarts, deren Richtigkeit Lenin in die-
ser Schrift ausdrucklich anerkennt. Wladirair Iljitsch lehnt also
nicht nur, wie wir Sozialisten alle, eine inhaltlich bestimmte
706
Ethik, namlich die biirgerliche, sondern er lehnt, als echtcr
Materialist, die Ethik als Denkform, die Ethik an sich ab.
Querdurch der charmante Widerspruch, „daB ein Erfolg
der sozialistischen Lehre nur dann vorhanden" sei, „wenn
sie . . ; an die materialistische Analyse . , ., an die Aufklarung
der Unvermeidlichkeit . ,. . herantritt". ,, Erfolg der Lehre"
— was heiBt „Lehre" hier Andres als: Idee, Postulat, Ziel-
setzung? Und „Erfolg" Andres als Verwirklichung? Tatsachlich
ist der Sozialismus die groBartigste aller modernen Zielsetzun-
gen, und der Materialismus sein scharfster Widersacher ... als
Monismus, als Geistnegation, {Auch der „dialektische"? „Dia-
lektik" ist im giinstigsten Falle verkriimmter, verkrampfter
Dualismus — verschamter, der sich nicht einzugestehn wagt.
nDialektischer Materialismus", wenn wir den Begriff entnebeln:
ein schneeweiBer Rappe, eine bliihende Wiiste, ein lebendiger
Tod.)
DaB Personlichkeiten die Geschichte machen, nennt Lenin
„eine hohle Phrase"; trotzdem hat ihm, an der Kreml-Mauer,
sein Volk ein Mausoleum errichtet,
Aus einer sehr berechtigten und schonen Dankbarkeit,
die jeder ehrliche Sozialist teilen muB. Was Lenin als Staats-
zerstorer und -erbauer geleistet hat, bleibt Grund zur Freude,
Bewunderung und Verehrung auch fiir Den, der erkannt hat,
daB dieser GroBe sich hinsichtlich der philosophischen Fun-
dierung seiner Praxis in genau dem gleichen SelbstmiBver-
standnis befunden hat wie jeder andre politisch aktive
Materialist.
Dem war so; diese Schrift bestatigt restlos, was wir gegen
den Hisi(orischen Materialismus einwandten, bevor wir sie
kannten, Gegen ihn spricht zweierlei:
Erstens die Einseitigkeit seiner Motivationslehre. Der
Mensch handelt nicht bloB aus wirtschaftlichen Beweggriin-
denf sondern auch aus sexuellen, aus geltungstrieblichen und
aus ideellen (deren Unterbau keineswegs der Bauch ist). Was
fiir den Einzelnen giH, gilt fiir die Vielzahl, die Gruppe, die
Gesellschaft. Die Geschichte ist zwar, unter anderm, ndie
Geschichte von Klassenkampfen", aber sie ist noch Etwas
auBerdem. Jedes geschichtliche Ereignis ist, wie nach Freud
der Traum, ,,uberdeterminiert".
Zweitens und vornehmlich taugt die materialistische Ge-
schichtsauffassung deshalb wenig, weil sie lediglich Geschichts-
auffassung ist. Eine blofle Geschichtsauffassung liefert keine
Maximen fur das politische Verhalten. Sie ist beschreibend,
nicht auch fordernd. Der Materialismus bleibt eine rein kau-
sale Betrachtungsart; er untersucht die Ursachen von Wirkun-
gen. Es kommt aber nicht nur darauf an, das, was geschieht,
zu erklaren (der Historische Materialismus erklart zweifellos
Manches neuartig, kuhn und fruchtbar; er ist eine iiitelligente,
oft schopferische Hypo these), sondern es handelt sich auch
und vor allem datum, Ziele zu setzen und Wfege zu weisen.
nAnalysieren" allein tuts nicht; es mufi auch postuliert wer-
den. Neben der kausalen Betrachtungsart gibt es im Men-
schen eine finale; ihr, der wichtigeren, wird der Materialis-
mus nicht gerecht. Er geht vor, als lieBe das Seinsollende
707
sich aus dem Seienden ableiten. Als sei alles Sollen ohnmach-
tig vor dem Werden: in das es den Eingriff der sittlichen Ver-
nunft nicht gibt. Die Praxis des Kommunismus (Lenin! Stalin!)
steht Dem gliicklicherweise schroff entgegen; aber seine Theo-
rie, eben der Historische Materialismus, lautet so. Soll-Lehre
(Ethik) grundsatzlich ablehnend, interpretiert er die Welt nur;
es kommt aber, nach Marx selber, ,,darauf an, sie zu veran-
dern". Dies involviert eine Zielidee. Wohin denn verandern?
Eine Zielidee; die wertgetrankte Vorstellung von etwas
in der Welt der Erf ahrung noch nicht Vorhandnem ; das
Utopie-Bild. Lenin, wahrhaftig, lebte aus ihm. Gleichwohl
lehrte er tiber die denkerischen Grundlagen Falsches. Er
sprach, als Theoret, der ,,Gerechtigkeit" Hohn und handelte
doch urn der Gerechtigkeit willen ... er, der Nichtprolet, der
Schulinspektorssohn. nDie logische Kritik solcher Fehlwege
des Denkens," sagt Simmel einmal, ,,ist an und fur sich von ge-
ringem Belang; fruchtbar ist nur die Erkenntnis, wie so groBe
Denker trotz ihrer Irrigkeit an ihnen festhalten konnten und
welche Bedeutung ihnen trotz dieser zukommt." Ich glaube,
da8 Lenin zu den eminenten Erfolgen, die er als revolutionarer
Denker und Verwirklicher aufzuweisen hat, nicht kraft sondern
trotz seiner Grundlehre gelangt ist (einer (ibrigens ja nur tiber-
nommenen); und daB der Historische Materialismus, woriiber
ein ander Mai zu reden sein wird, eine der hauptsachlichsten
Ursachen der Langsamkeit ist, mit der sich — zumal in
Deutschland — der Sozialismus durchsetzt. DaB unter derart
revolutionierenden Bedingungen, wie die heutige Lage sie
liefert, nicht die Spur des Schattens einer revolutionaren
Situation sichtbar wird ^revolutionierend', ,revolutionar*: so-
zialistisch verstanden), widerlegt den Historischen Materialis-
mus in einem doppelten Sinne.
Parabel von Franz Blei
Dicse Parabel erzahlte Oscar Wilde 1900 in Paris im
Cafe Francois I. Sie ist niemals gedruckt worden.
Am Tage nach seiner Auferweckung saB Lazarus auf der
*^ Steinbank vor seinem Hause und licB sich von der Sonne
warmen. Er hatte die Augen geschlossen und so konnte er
nur an dem ku'hlenden Schatten merken, daB jemand vor ihm
stand. Er schlug die Augen auf und erkannte den Herrn. Er
wollte sich gleich erheben, aber der Herr hinderte. ihn, indem
er ihm sanft die Hand auf die Schulter legte. So riickte
Lazarus ein wenig zur Seite, um dem Herrn Platz zu machen.
Und Jesus schwieg eine lange Weile und so sprach auch
Lazarus nicht aus Ehrfurcht vor dem Schweigen des Herrn.
Der wandte sich nun nah zu Lazarus, daB er fast dessen Ohr
beriihrte. Und ganz leise kam es von seinen Lipperi:
,,Du muBt das wissen, Lazarus. Was-ist . . . jenseits?*'
Und ebenso leise sagte Lazarus darauf:
„Nichts, Herr."
Und da wurde die Stimme des Herrn zu einem Fhistern,
als sie sagte;
„Sprich es nicht weiter, o Lazarus!"
708
Die Frau und die BehSrde von Lisa Matthias
YV/enn einer, und er hat gar kein Geld und wohnt in einer Miets-
" kaserne im aufiersten Norden von Berlin, sein Kind halbtot prii-
gelt, es einsperrt und nahezu verhungern laJ3tf dann begeben sich
vielleicht endlich einmal mitleidige Nachbarn auf die Polizei, machen
Anzeige und werden ans Jugendamt verwiesen. Nehmen wir an, dafi
dieses Amt dann sehr bald eine Vertrauensperson in die Proletarier-
wohnung schickt, so kann es doch sehr gut vorkommen, dafi dieser
Vertrauensperson das Kind noch nicht geniigend gefahrdet erscheint,
dafi diese Vertrauensperson erst einmal langatmige Erkundigungen
einzieht und dafi die mitleidigen Nachbarn ihr Mitleid bald bereuen,
da das Kind nicht abtransportiert wird. Die mitleidigen Nachbarn
werden sogar von den wiirdigen Eltern oder dem wiirdigen Vater gut
und reichlich ob ihrer Einmischung beschimpf t. Solche Ereignisse
Hest jeder von uns taglich in der Zeitung. Manchmal greift im aller-
vorletzten Moment das Jugendamt ein und entreifit das gefahrdete
Kind seinen Peinigern. Ich mochte aber nicht nachforschen, wieviel
ungliickliche Proletarierkinder durch Vernachlassigung und Miflhand-
lung ungeschiitzt hinsiechen miissen.
Wenn einer aber im Westen wohnt und gar nicht arfoeitet, son-
dern seine Frau und seinen Schwieger vater fur sich arbeiten lafit und,
weil er alle paar Tage Angriffe auf das Leben seiner Frau macht, die
Frau dazu treibt, dafi sie ihr glanzend versorgtes Baby einen Tag
dem rabiaten Mann und dem netten Dienstmadchen iiberlafit, tun sich
nach einer kleinen Spur von Recht und Hilfe umzusehn, wenn die ge-
plagte »Frau, die monatelang ein Martyrium an Mifihandlung erleidet,
nur um dem Kind nahe zu bleiben, zwei Tage der Wohnung fern-
bleibt, die ihr Vater bezahlt, dem Haushalt fernbleibt, den wiederum
ihr Vater und sie selbst bestreitet, dann geschieht folgendes; Dem
Ehemann, einem haltlosen, hysterischen Menschen, der nach j edem
Wutanfall, nach jedem Mordversuch an seiner Frau weinend und
fahneklappernd zusammenbricht, sagen mysteriose gute Freunde:
tfRuf doch einfach das Jugendamt an, lafi das Kind abholen, unter der
Motivierung, die Frau vernachlassige dein Kind/' Dann ruft der
ehrenwerte Burger, der sich inzwischen auf gleichfalls mysteriose
Art in den Besitz von Geld gebracht hat, beim Jugendamt Wilmers-
dorf an. Weinerlich bittet er dort nicht etwa — wie es allgemein
iiblich ist — um die Adresse eines geeigneten Kinderheimes — und
moglichst billig soil es auch sein — sondern er ersucht, man moge
sein ,fgefahrdetes und verwahrlostes" Kind umgehend abholen, Aus
„seiner" Wohnung, wo ihm kein Tisch und Stuhl gehort, wo er nichts
bezahlt und wo er der Frau, der er ein Greuel geworden ist, standig
nach dem Leben trachtet, so dafi das Uberfallkommando bereits ein-
greifen mufite. Was tut das Jugendamt, das vortreffliche wilmers-
dorfer Jugendamt? Es sendet zu dem gefahrdeten Burgerskind
zween Damen: Fraulein von Dittfurt und eine Art von Steno-
typistin oder Helferin, Fraulein Obst. Diese beiden Damen erschei-
nen in der hiibschen Neubauwohnung des ungliicklichen Vaters,
tranenuberstromt zeigt er ihnen einen dicken gesunden Jungen von
fiinfzehn Monaten. Jammernd und schluchzend ftihrt er die beiden
Damen ins Kinderzimmer, in dem es tadellos sauber und adrett aus-
sieht, schickt den dicken Saugling mit dem zuverlassigen Madchen
in die Kiiche, fliistert und kramt mit den edlen, hilfreichen Damen
und liefert sein strampelndes, rosiges, „verwahrlostesM Kind den
beiden Tanten aus, wahrend er das Dienstmadchen in der Wohnung
einschliefit. Die beiden Damen von Dittfurt und Obst schieben samt
Kind und vollgepacktem Koffer voll sauberer Kindersachen ab, ob-
wohl in dem Kinderheim Schaperstrafie ausdriicklich „keinerlei mit-
709
gebrachte Garderobe der Kinder verlangt und getragen wirdl Und
wo Kinder unter achtzehn Monaten keine Aufnahme finden."
Der schwergepriifte Vater zahlt gleich fur vierzehn Tage a drei
Mark Pension im voraus, daher war man wohl so edel, hilfreich und
gut zu ihm, dann bricht er erst einmal wieder in seinem Heim, das er
nicht zahlt, zusammen.
Die Frau, die inzwischen erfahren hat, daB ihr Kind heimlich
weggeschafft wurde, die aber keine Ahnung hat, wo sich das Kind
befindet, die Frau, die zwei Tage vorher beinah erwiirgt worden ist
und vom Uberfallkommando grade noch gerettet wurde, erbittet poli-
zeilichen Schutz, um wenigstens Eintritt in ihre Wohnung zu erhalten:
Sie hat nichts, als das, was sie auf dem Leibe hat und ein paar alte
Pelzmantel, die sie . im letzten Moment aus dem Hause geschaf ft hatte.
Die Polizei verweigert jeden Schutz und verweist auf den Klageweg.
Die Polizei, die sich um keinen Preis der Welt in „Privatange-
legenheiten einmischt", sagt der Frau: „Ihr Mann wird schon seine
Griinde haben, daB er das Kind weggeschafft hat, wer weiB, was Sie
fur Schuld haben." Erst als die hochloblichen Beamten darauf hinge -
wiesen werden, daB der ehrenwerte Ehemann schon zwei allerdings
miBgluckte Selbstmordversuche gemacht hat und nach jedem Kollaps
die Gefahr besteht, daB er diese Versuche wiederholt, bequemt sich
einer der Herren, die Frau zu begleiten. Der Ehemann, der im Dun-
keln auf dem Balkon gestanden hat, offnet dem Polizeibeamten. Es
erhebt sich ein Gebriill in dem feinen Neubauhaus, daB die dunnen
Wande wackeln. Der ehrenwerte Ehemann schwort dem Polizisten,
daB er nicht nur Hausvorstand sei, daB er auch die Miete und die
gesamten Haushaltskosten bestreite, daB ihm die Mobel und alles
sonstige Inventar gehoren, und daB er, obwohl er selbst beschnitten
sei, „sein Kind einem erstklassigen evangelischen Heim" uber-
geben habe.
Tags darauf. Das Kind bleibt verschwunden, der ehrenwerte
Ehemann bricht vor seiner Frau zusammen und gelobt, das Kind zu-
ruckzuholen, wenn die Frau die ,,gestohlenen Pelze" zuruckbringt.
Die Frau holt die Pelze nicht, bleibt aber in der Wohnung, um da-
durch zu erreichen, daB der ehrenwerte Vater das Kind zurtickbringt.
Heimlich verschwindet der Vater am andern Tag, heimlich wird er
beobachtet, und es stellt sich heraus, daB das gut gepflegte Kind in
einem Jugendheim drei Tage untergebracht war und keinerlei Recher-
chen nach der Mutter unternommen wurden! Die Mutter bekommt
ein rabiates, wild um sich schlagendes Kind zuriick, das keine Nacht
schlaft, im Schlaf aufbrullt, schlecht iBt und jedem ins Gesicht haul,
der sich ihm nahert, Heimlich geht sie in das Kinderheim, stellt fest,
daB das Kind fur drei Mark taglich, vierzehn Tage Vorauszahlung,
mit sieben schreienden Kindern zusammengelegen hat; daB das Per-
sonal muffig und besonders unfreundlich ist und ihr jede Auskunft
verweigert. Die Mutter geht zum Stadtrat Kruger, nachdem die
Damen Dittfurt und Obst naserumpfend erklart haben; „Wer weiB,
was Sie getan haben!" Der Stadtrat Kruger erklart: „Jeder Vater
habe das alleinige und ausschlieBliche Bestimmungsrecht iiber sein
Kind und laut § XYZ habe das Jugendamt das Recht und sogar die
Pflicht, ein gefahr detes Kind stantepede unterzubringen/*
Wir leben in einem Rechtsstaat, Die Mutter, die jeden Groschen
fur ihr Kind verwendet, die sich von ihrem nicht snutzigen Gatten
halbtot schlagen laBt, hat naturlich auch Rechte. Vor der Verfassung
sind die Geschlechter gleich. Sie sind es nicht vor einem Polizei-
bureau oder vor einer JugendMrsorgerin. Die Frau im deutschen
Rechtsstaat — das ist ein dusteres Kapitel, das tagtaglich neu auf-
gerollt wird. Wissen die hohen Lenker unsrer Geschicke, was der
Staat durch die Gleichgultigkeit und Herzenskalte seiner Behorden an
Ansehen einbiiBt — ?
710
Psychologie des Konfektionsfilms
von Rudolf Arnheim
Aus: Rudolf Arnheim „Film als Kunst", das dieser
Tage im Ernst Rowohlt Verlag, Berlin, erscheint,
F\ as Publikum erzwingt sich die Filme, die es haben will,
Der Industrielle arbeitet nach dem Diktat der Massen: er
ersieht aus den Abrechnungen, welche Filme ,,groB gegangen"
sind und welche nicht, und danach richtet er se.ine Produk-
tion ein. Was fiir Filme will nun. die Masse?
Wir sprechen hier nicht vom kiinstlerischen Niveau son-
dern allein vom Stoff. Welche Stoffe wiinscht die Masse?
Fast alle diese Filme enthalten in ihrer story bewuBt oder
unbewuBt eine bestimmte Tendenz. Nicht daB etwa gepre-
digt wiirde — nein, das Gefahrliche dieser Tendenz besteht
darin, daB nichts theoretisch formuliert, nichts gefordert wird,
sondern daB nur der Standpunkt, von dem aus man die Dinge
dieser Welt betrachtet, die Auswahl der Geschichten und
ihre stillschweigende SchluBmoral einseitig sind.
Diese Filme bieten, um das Publikum zu erfreuen, zweier-
lei: sie zaubern das Angenehme und Gute, was alle Menschen
sich wiinschen, herbei, und sie zeigen die Bestrahing des
Schlechten. Sie operieren dabeit wie sich zeigen wird, mit
sehr spieBburgerlichen WertmaBstajben, DaB sie trotzdem
eine so weltumspannende Zustimmung linden, zeigt, wie ver-
breitet insgeheim der Geschmack am SpieBburgerlichen und
Riickstandigen ist. Es gibt viele Menschen, die theoretisch,
prinzipiell, sehr modern und sehr revolutionar sind, im prak-
tischen Fall aber versagen: die es theoretisch billigen, daB
ein Madchen sich seinem Geliebten hingibt, die aber die Nach-
barschaf t wachbriillen un4 sich einen Schlaganf all zuziehen,
wenn die eigne Tochter ein uneheliches Kind gebiert; die es
theoretisch miBbilligen, daB bewaffnete Soldaten mit freien
Staatsbiirgern nach Belieben umspringen diirfen, die aber im
praktischen Fall ihr Vergniigen an Keilerei nicht verhalten
konnen, wenn im Film muskelstarke Soldaten oder Polizisten
ihr rauhes Wesen treiben. Denn das Schlechte ist dem Men-
schen Heb, und das Dumme ist ihm eingeboren, und so muB
einer, der den Willen hat, die Welt zu bessern, diesen Willen
durchsetzen nicht nur gegen auBere Widersacher sondern vor
allem gegen sich selbst. Dies Dumme und Schlechte im Men-
schen streichelt der Konfektionsfilm; er sorgt dafur, daB die
Unzufriedenheit sich nicht in revolutionare Tat entlade son-
dern in Traumen von einer bessern Welt abklinge,
Und dies eben nicht nur deshalb, weil die Filmproduktion
zu neunzig Prozent in den Handen von Leuten ist, die ein
Interesse an der Stabilisierung einer Gesellschaftsordnung
haben, in der es ihnen gut geht; die ein Interesse daran haben,
revolutionare Energien abzubiegen und auf Puffer laufen zu
lassen. Es ware unmoglich, eine solohe Filmproduktion bei
Millionen von Abnehmern durchzusetzen, wenn nicht deren
eigner Geschmack ihr- entgegenkame. Der Konfektionsfilm
hatschelt das trage Gewohnheitstier im Menschen. Er wirkt
kulturfeindlich und fortschrittfeindlich, indem er das, was in
711
jedem Menschen an Kultur- und Fortschrittsfeindschaft steckt,
mit fetter Nahrung futtert,
Man braucht sich nur ein paar solcher Filmgeschichten
herauszugreifen und sie. zu analysieren, und sofort zeigt sich,
wieviel geheimes Gift in scheinbar so harmloser Unterhal-
tungsware steckt. (Wir zitieren im folgenden Filmgeschich-
ten wortlich aus Fachblattern,)
„Franz Rauchs Manuskript hat keine einheitliche Linie, die
Fulle der Motive ist dramaturgisch nicht immer bewaltigt. Es
wird von der Liebe des plotzlich verarmten Grafen zum Biirgers-
tochterchen erzahlt. Er lernt sie kennen, als er noch bei Ver-
mogen ist, spater lafit ihn ein Filmzufall Hauslehrer bei dem Bru-
der des Madchens, das sich immer uber seine Von-oben-herab-
Alliiren geargert hat, werden. Uber manche Hindernisse hinweg
wendet sich dann alles zum guten und frohlichen Ende."
GewiB, das ist eine lustige, spannende und vielseitige Ge-
schichte, aber es ist mehr. Ein solcher Franz Rauch vernebelt
die Gehirne.
So wie sich dem Psychologen aus einer belanglosen Traum-
geschichte die SeeUnkonstruktion seines" Patientejr enthulleh
kann, so bieten diese albernen Filmgeschichten Material • zu
einer Psychologie - des- Durchschntttsmensehen. Da ist der
Arger gegen den Hochmut des Reichen und Vornehmen. Die-
ser Hochmut ist ja in Wirklichkeit unberechtigt, der Adels-
schild ist ein bunter Unfug, der Reichtum ist erkauft mit dem
Hunger vieler Tausender — also sollte der Arger dariiber
zum Antrieb werden, den Reichtum und den Adel zu sturzen,
damit es besser werde auf dieser Welt. Aber neben dem
revolutionaren Arger schlummert die Bequemlichkeit, die die
Unlust atif einem angenehmeren Wege befriedigen mochte.
Das Kino ist da kein ungeeignetes Mittel. Es leitet den Arger
uber einen allgemeinen Obelstand ab, indem es ihn in einem
Spezialfall auf unverbindliche und untypische Weise abstellt.
Indem es' dem Reichen sein Geld nimmt und dem Adligen
seinen Hochmut brichtt befriedigt es sein Publikum durch
einen Taschenspielertrick. Dem reichen Grafen ist mit seinem
Sturz recht geschehen, es gibt noch Gerechtigkeit auf dieser
Welt — und das macht die artnen MiBvergniigten, die da fur
eine Mark ins Kino gegangen sind, vergniigt Dies Vergniigen
ist ihnen die Mark wert, und drauBen sind die Reichen und
die Adligen genau so hochmiitig wie vorher!
,,Joe Dallmann hat ein leichtes Manuskript geschrieben mit
richtiger Einschatzung - des Geschmacks der breiten Masse. Ein
alter General ist in schlechter finanzieller Lage, daher steht er
der Werbung eines reichen Juwelenhandlers urn die Hand seiner
Tochter sympathisch gegentiber. Einen Tag vor der Vermahlung
kommt der Juwelenhandler darauf, dafi seine Braut einen andern
liebt. Diesen schickt er am Hochzeitstag zurTrauung, er selbst fiigt
sich ins Unvermeidliche, verzichtet auf die Braut und reist ab."
Man darf annehmen, daB der Juwelenhandler vor seiner Ab-
reise aus Liebe zu dem Madchen noch schnell einen groBern
Scheck unterschrieben hat. Der reiche Mann ist hier ein
sympathischer Mensch1 und das verborgene Ressentiment der
Fabel richtet sich nicht gegen ihn sondern gegen seinen Reich-
tum. Der Reiche bekommt das Madchen nicht, das heiBt:
Dir ist mit deinem Geld, um das wir dich beneiden, nicht
712
etwa alles errcichbar! Und das paralysiert den Neid der Be-
sitzlosen. Die Ungerechtigkeit, daB es arme und reiche Men-
schen auf der Welt gibt, wird ausgeglichen in .einem indivi-
duellen Fall, der dem Reichen ein begehrtes Gut vorenthalt
und es dem Armen schenkt. Der Trick liegt wieder darin,
daB einem typischen Obelstand durch eine untypische Spezial-
losung abgeholfen, daB falschlich pars pro toto gesetzt wird,
Und der Arme — das ist das Kurioseste an der Geschichte —
erhalt nicht nur das Madchen sondern auch Geld. Denn Geld
ist nicht nur verabscheuungswiirdig, wenn andre Leute es
haben, es ist auch angenehm, wenn man selbst es hat. So ein
Film nahrt eben nicht die revolutionary sondern die ego-
istische Komponente des Ressentiments gegen den Reichtum.
SchlieBlich braucht man nur noch auf den pikanten Zug hinzu-
weisen, daB der Vater des armen Madchens ein General ist,
weil namlich Armut schandet, weil aber die Heldin des Films
durchaus nicht geschandet werden soil und weil die Offiziers-
achselstiicke hier einen Ausgleich schaffen. Nun haben wir
alles schon beieinander: den Arger uber den Reichtum des
Mannes mit den Juwelen, den Akt ausgleichender Gerechtig-
keit, der ihm trotz seines Geldes das verwehrt, was er am
dringendsten zu besitzen wiinscht, womit also der. Unwert des
Geldes demonstriert ist, gleichzeitig aber die Befriedigung desr
eignen Hungers nach Wphlstand und die Scham und Selbst-
verachtung wegen der eignen Armut. _ Man kann nicht sagen,
daB es sehr schone Triebregungen siriJ, die der Film da bk>B-
legt und nahrt.
Ein charakteristisches Beispiel ftir die Losung allgemeiner
Probleme auf dem Personalwege hat die Herzenspolitikerin
Thea von Harbou in ,, Metropolis" gegeben: hier wird der blu-
tige Kampf zwischen der Unterwelt der Arbeitnehmer und der
Oberwelt der Arbeitgeber dadurch gelost, daB der Sohn des
Industriekonigs mit den Arbeit ern gut Freund wird' und nun,
wahrend die Glocken lauten, die Hande des Betriebsrats und
des Chefs ineinanderlegt. So wird, unter Umgehung von Ta-
rifverhandlungen, die soziale Frage aus der Welt geschafft.
Sehr lehrreich ist auch die amerikanische Geschichte vom
,,Gottlosen Madchen": Da ist in einem Fursorgeheim unter
den Zoglingen ein Streit ausgebrochen, ob es einen Gott gebe
oder nicht. Beim ZusammenstoB der beiden Parteien entsteht
ein Tumult, ein Treppengelander bricht ein, ein kleines Mad-
chen stiirzt herunter, liegt unten im Sterben und fragt in To-
desangst, ob es nun in den Himmel komme oder ob es wirk-
lich keinen lieben Gott gabe. Dilemma bei den Atheisten!
Die Spezialnote eines Kindes werden hier also geschickt als
Advokaten fur die trostspendende Kirche angeheuert.
Der? Konfektionsfilm starkt nicht nur die angestammte
Gewohnung an Kirche und Kapitalismus, er wirbt auch fiir das
Sakrament der Ehe und fur die Heiligkeit der Familie.
„Ein junger Graf geht seiner Mutter durch, weil er seinen
Stiefvater haSt, dem er im Wege ist. Beim Zirkus wird er eine
allererste Nummer. Nach vielen Jahren kehrt er, den man tot
glaubte, nach Europa zuriick. Hier findet er das Madchen wie-
der, das mit ihm beim Zirkus aufgewachsen war, er liebt es und
heiratet es. Die Ehe seiner Mutter ist sehr unglucklich, ihr Mann
713
will eine Begegnung mit dem Sohne vermciden. Aber dcr Mutter-
Hebe laBt sich nicht gebieten, Mutter und Sohn finden sich. Da
versucht der Stiefvater, den Sohn zu beseitigen, er fallt aber in
die Falle, die er dem Sohn stellt, selbst, er sturzt vom Schnur-
boden der Zirkuskuppel ab."
Man bemerke, daB es kcin richtiger Vater sondern nur
cin Stiefvater istf <ler den Sohn verfolgt, so daB also das Axiom
von der Liebe der Eltern fur ihre Kinder unangetastet bleibt.
DaB eine solche ,,unmoralische" Bosartigkeit (iberhaupt gezeigt
wird, liegt daran, daB, grob gesprochen, eine dramatische
Handlung immer darin besteht, daB etwas, was in Unordnung
geraten ist, wieder ins Geleise gebracht wird. Das Familien-
leben wird gestort, damit der Zerstorer bestraft werden kann.
Der MiBton ist also notig, damit der SchluBakkord eine Har-
monie geben kann, die befriedigt. Die ungliickliche Ehe, die
der Sunder mit seiner Frau fiihrt und die einen VerstoB gegen
die Forderungen des Standesamts darstellt, wird ini Schnur-
boden der Zirkuskuppel geracht, zugleich mit dem unartigen
Verhalten gegen den Sohn, dem er ein Vater sein sollte. Mut-
ter und Sohn, die Vertreter des Prinzips der Ruhe und Ord-
nung, hingegen ernten wohlverdientes Gliick.
„Der Film ist vorziiglich aufgebaut, und es tut ihm keinen
Abbruch, daB die Romanhandlung nicht neu ist. Es ist die Ge-
schichte, daB ein Mann seinen besten Freund mit dessen Frau
betrugt, unschuldigerweise, da er die Frau nicht kannte. Erst spa-
ter erkennt der Ehemann, daB der Schuft in diesem Ehebruch nicht
der Freund sondern die Frau war. Es ist auch nicht neu, daB
infolge dieser Ehetragodie der betrogene Mann sich nicht ent-
schlieBen kann, die Kameraden im gesunkenen Unterseeboot zu ret-
ten, weil der Freund unter ihnen ist, an dem er Rache uben will."
Am Ende entschlieBt er sich naturlich doch. Was oben das
Fehlen von Blutsverwandtschaft war, ist hier die Unkennt-
nis des ehebrechenden Freundes: das Verwerfliche der be-
notigten Freveltat wird hier dadurch abgeschwacht, daB sie
unabsichtlich geschieht. Immerhin hat der schuldige Freund
sein Delikt mit stundenlangen Qualen im gesunkenen Unter-
seeboot zu biiBen — vergleichbar den Martern, die, nach Mei-
nung der Geistlichkeit, Ehebrecher in der Holle erwarten.
Wirklich, dies Unterseeboot ist nichts als eine naive Anleihe
bei der HollenvorstelLung der Glaubigen. Die schuldige Frau,
an der librigens der Film kein gutes Haar laBt sondern die
einzig von dem Geliist nach Zigaretten, Tanzmusik und Kus-
sen erfiillt scheint, bekommt ihre Strafe; sie bleibt allein,
wahrend die Freunde umschlungen abziehen.
Im Leben behandeln viele Vater ihre Sohne schlecht, ohne
daB Gott sie deshalb aus der Zirkuskuppel in die Manege
sturzt, und viele Ehebruche finden statt, die nicht im Unter-
seeboot gesuhnt werden. Der Konfektionsfilm aber kennt
keine Bewahrungsfrist. Das happy end bringt auf diese Weise
nicht nur eine asthetische sondern vor allem eine moralische
Katharsis. Er ist niemals nur psychologisch-kausal sondern
immer zugleich ethisch wertend. Es geniigt ihm nicht, die
Entwicklung und Losnng eines Kohflikts zu zeigen, sondern
er muB Partei nehmen und darauf halten, daB die Entschei-
dung nicht sinnlos und wahllos falle wie unter dem Regime der
Mutter Natur sondern weise wie unter Konig Salomo.
714
Klavier auf Platten von Hans Reimann
Im Allgemeinen sind wir in den letzten drei Jahren nicht vorwarts
* gekommen. Viele Orchester-Aufnahmen von heute klingen, als
seien sie alt. Chore wirken schauderhaft. In puncto Klavier haben wir
einen gewissen Fortschritt zu verzeichnen. Es war das Schmerzens-
kind. Der von Knappertsbusch fiir Lindstrom dirigierte Walzer aus
dem , .Intermezzo" unterscheidet sich nicht erheblich von der ehrwiir-
digen, unelektrischen Aufnahme — aber Whiteman und, Hyltbn rich-
tetea sich nach dem Mikrophon und ttiftelten eine besondere Technik
aus. So sind seltsamerweise die jenigen Aufnahmen zumeist die besse-
ren, die es nicht verdienten, wohingegen die klassischen oder wert-
vollen modernen Orchester-Stiicke von jedem Schlager in den Schat-
ten gestellt werden; was die Reproduktion betrifft. Mit Klavierplatten
verhielt sichs ahnlich. Leichtes Geklimper, anmutige Bagatellen, nek-
kische Eintagsfliegen wurden aufs Anmutigste kredenzt, und Klavier
bei Lee Sims oder Billy Mayerl oder der Raie da Costa klang wirk-
lich wie Klavier. Und etwa zur selben Zeit, da Stokowski mit seinen
ersten, bis in den (angeblich nach der Methode Th6remine verstarkten)
tiefsten BaB klangsatten und opulenten Orchesterplatten auftauchtef
uberraschte die Deutsche Grammophon mit Klavierplatten Brailows-
kys und Rehbergs, die sich vom Original-Klang nur wenig unterschie-
den. Allerdirigs hatte sich das Ohr inzwischen eingehort, und der my-
sterios entstellte Ton eines Fliigels schmeckte dem Kenner weniger als
der naturgetreuef den man als Gegenbeispiel daneben zu halten ab-
sichtlich verschmahte, Hier hat sich allerhand entwickelt. Das Kla-
vier besteht nicht mehr aus einem Magazin mehr oder minder rein
abgestimmter Tontopfe, sondern ahnelt, ohne Pedal gebraucht, dem
Instrument mit den vertrackt schwingenden Saiten. Wenn ich im Fol-
genden rucksichtslos mit Klavierplatten der letzten Monate verfahre,
so bin ich mir dessen wohl bewuBt. Leider gibt nicht die lobliche Tat-
sache den Ausschlag, daB gute Musik auf Platten gepreBt wird, son-
dern die betrtibliche, daB unser Geldbeutel zu wichtigeren Dingen her-
halten muB als zum Ankauf von Platten. Ich empfehle also lediglich
solche Aufnahmen, die den hochsten Anforderungen standhalten.
Beethoven gehort schmerzlicherweise nicht zu ihnen. Harold Bauer
spielt die (1804 in Dobling entstandene) Appassionata mit verwisch-
ten Quinten, in der Mittellage karikiert, Anfang und Ende des An-
dante topfig und allenfalls das Allegro genieBbar (Electrola DB 1293/
1294), der Schotte Lamond die D-Moll-Sonate, das Adagio wie wat-
tierte Horner, Bouillon aus Maggi-Wiirfeln, kummerliches Reiterge-
trappel im Finale (Electrola EJ. 524/526), Paderewski den ersten Satz
der von Rellstab mit dem unpassenden Namen „MondscheinM-Sonate
versehenen Cis-Moll maBig trotz gut gemeinten Akzenten (Electrola
DB 1090) und Backhaus die Path^tique aus wetter Ferae oder wie in
einem PUisch-Salon (Electrola DB 1031/1032). Auf Electrola EJ. 507
horen wir eine Tarantella (Liszt), von Lamond offenbar auf zwei,
manchmal sogar drei verschiedenen Instrumenten gespieltf eine harte
Sache, deren Gewurl in der Tiefe trotz nicht zu leugnender Einheit-
lichkeit wenig ergStzt. Michael von Zadora (Grammophon 22 120) ist
sozusagen fibers Pedal gestolpert: die beiden Chopin- Walzer schauen
aus dem Aquarium her aus; man erlebt, wie die Noten einzeln da von-
schwimmen, und nur die Laufe halten zusammen. Andre Chopin-Auf-
nahmen. Levitzki auf Electrola EJ 553 riickt der Losung naher: das
Scherzo in Cis-Moll, laBt sichs von oben klar dazwischen rieseln*
Drei Etuden werden von Claudio Arrau bravouros hingelegt (Elec-
trola EH 386), Das groBe Konzert in E-Moll lost sich in seine Be-
standteile auf. Der zweite Satz erscheint mager, der dritte langweilig*
Urn so trefflicher geriet der erste Satz, drei kleine Platten (Par-
lophon B 12 451/3) in idealer Zusammenarbeit von Moriz Rosenthal
715
und dem Orchester unter Doktor WeiBmann. Auf Ultraphon F 469
tont das Klavier unter Rosenthals Handen zuweilen wie Klavicr, doch
alle gehaltenen Noten sinken in Luftlocher, absackend. Von feinhori-
gen Ohren wird das als leierkastenartig empfunden. Den Wiener Kar-
neval spielt Rosenthal auf Parlophon P 9542 schlechthin brillant. Die
Platten Brailowskys sind meist ebenso untadelig wie die Gesangsplat-
ten des Heinrich Schlusnus, Ob er Mendelssohn (Scherzo E-Moll) und
Schumann (Traumeswirren F-Dur) auf Grammophon 90 173 oder Liszt
(Gnomenreigen, Fis-Moll) und das* von Liszt kompliziert gemachte
Morgenstandchen Schuberts auf 90 175 oder die Ungarische Rhapsodie
Nr, 2 auf 95 424 wiedergibt: der Steinway verstellt sich selten. Brai-
lowskys Starke ist Chopin, und den bekommen wir auf 95 325 (Ballade
G-Moll) und auf 66 753/6 (Klavier-Konzert E-Moll) geliefert. Die
,fTannhauser"-Ouverture (95 419/20) ist mehr kurios als schon, und die
Maskerade fur Klavier wird auch durch das wie von einem vielhandi-
gen Buddha bewerkstelligte Abrackern des Pianisten nicht ertrag-
licher. Holzgeschnitzt und erquickend saubcr serviert Karol Szreter
auf Odeon 0-6819 den waidwunden „Hochzeitstag auf Troldhaugen"
und, ebenfalls von Grieg, den voruberziehenden norwegischen Hoch-
zeitsmarsch. Sehr zierlich und nobel spielt Rachmaninoff die „Schlit-
tenfahrt" aus Tschaikowskys „Jahreszeiten" und eine dem eignen Hu-
mus entsprossene, verzwickte Polka auf Electrola DB 1279. Doch
von wirklichem Klavier ist alles dies noch weit entfernt. Vier kleine
Columbia-Platten (DW 4010, 4011, 4015, 4016) enthalten neun Lieder
ohne Worte, und Ignaz Friedmann hat Kabinettstiickchen draus ge-
schaffen. Zwei kleine Electrola-Platten (EG 1579 und 1787) enthal-
ten drei Schubert-Lieder und Liszts „Gnomenreigen" ; Egon Petri ist
dran schuld, da 6 man nach Beendigung der einzelnen Seiten bedauernd
„SchadeI" sagt, was man eigentlich stets nach einer Plattenseite sagen
muBte, so gut sollte sie geraten sein, Auf Grammophon 21 886 spielt
Lilly Dymont die Malaguenja und von Albeniz und Liadows „Spiel-
uhr"t auf 23 576 das Fruhlingslied Mendelssohns und das Gis-Moll-
Prelude Rachmaninoffs, teils zart und voller Schmelz, teils rassig und
draufgangerisch, aber Klavier ist anders, und auch was Michael von
Zadora auf Electrola EG 1656 (zwei Zierstucke von Delibes), Alfred
Cortot auf Electrola DA 1121 (Albeniz) und Friderike Bucher auf
Homocord 4 — 3549 (Impromptu B-Dur von Schubert) leisten, ist char-
mant, anerkennenswert, gekonnt oder sonst was, aber nicht das Kla-
vier personlich, sondern Klavierophon. Mischa Levitzki (Electrola
EJ 532) erhebt sich iiber den Durchschnitt und befreit Schuberts Mi-
litarmarsch und das G-Moll -Prelude Rachmaninoffs von entstellenden
Schwingungen. Walter Rehberg war von Anfang an dem Klavier auf
der Spur und spielte so, da 6 man ihn im Nebenzimmer personlich iiber
die Tasten jagen wahnte. Seine jungsten Platten, die Paraphrase der
ffFruhlingsstrmmen" (Grammophon 23 737) und die „Soiree de Vienne"
(23 745) bestatigen das, Die Ultraphon, die angeblich ihre Wellen
durch einen Nachhall-Raum schickt und unheimlich hautnahe Effekte
erzielt, hat zwei Klavierduette veroffentlicht, das eine mit Doktor
Grosz und Walter Kauffmann (A 803), das andre mit Mackeben und
Haenizschel, gewohniiche Foxtrotts, freilich mit Biigelfalte und in
spritziger Eleganz. Der bei Electrola (auf EG 1754) erschienene Ne-
gertanz Cyril 1 Scotts besitzt auf Ultraphon A 438 mehr Unmittelbar-
keit und Warme, Drei wundervolle, hauchzarte, konigliche Debussy-
Platten der Grammophon (Franz Josef Hirt auf 95 134 und 95 205 und
Godowsky auf 73 031) leiden unter dem verdammten, zuweilen das
Spiel ertotenden Nadelgeschleif, Und jetzt endlich sind wir bei den-
jenigen Platten angelangt, deren Besitz das Herz erfreut. Zunachst
vier grofie Platten der (einen Bltithner bevorzugenden) Lucie Caffaret:
Grammophon 66 641 (Mozart, Rondo D-Dur und F-Dur) , 66 642 (Bach-
Liszt, Fuge A-Moll), 95 050 (Impromptu B-Moll, Schubert) und das
von Mai zu Mai sich verschonende Menuett Maurice Ravels: 95 051.
716
Alsdann bedeutcn einen Gewinn fiir jede gut geleitete Plattothek die
Aufnahme zweier Satze aus Mozarts F-Dur-Sonate, von Alice Ehlers
ideal auf dem Cembalo gespielt und ebenso von der Homocord repro-
duziert (4 — 9053) sowie ein Haydn-Menuett und ein Schubert-Walzer,
von Charlotte Kaufmann meisterinnenhaft auf einem Hammerklavier
des Jahres 1790 fur Grammophon (19 872) geschlagen. Drei Electrola-
Platten (DB 1413/15) bergen Schumanns Karneval-Suite, eine Glanz-
leistung Rachmaninoffs, der im Bunde mit Fritz Kreisler die C-Moll-
Sonate Edvard Griegs auf Electrola DB 1259/61 umibertrefflich klang-
voll und wohllautend zu Gehor bringt. Wem die Serie zu teuer istt
begmige sich mit dem schonsten Satz, dem ersten. Kein Wort des
Lobes ist zu hoch fur das von der Electrola (EJ 424/6) aufgenommene
und von Arthur de Greef gespielte Konzert in G-Moll des Saint-Saens.
Und zuguterletzt die drei besten Klavierplatten, die man blindlings er-
werben darf, Eine Toccata Deb ussy s, von Brailowsky gespielt auf
Grammophon 90 174; die Toccata und Fuge D-Moll Johann Sebastian
Bachs, von Winifred Christie gespielt auf Electrola EH 661; und die
unwahrscheinliche, originalgetreueste, zur Zeit einzige vollkommen
gegliickte Klavier-Aufnahme, ein Wunder der Electrola (DA 1160);
die von Vladimir Horowitz gespielte Paganini-Etude in Es-Dur.
Die Dame schreibt der Dame von Erich Kastner
T^u hast es gut. Du steckst in Cannes.
^ Hier in Berlin siehts bose aus,
Wir mtissen sparen, sagt mein Mann,
und essen abends meist zu Haus.
- Mir scheint, es ist nicht ganz geheuer.
Erst gestern sprach er sorgenvoll,
das Auto wtirde ihm zu teuer.
Da wurde mirs denn doch zu toll I
Ich hab geweint, Ich hab geschrien.
Max sprach in einem fort von Geld.
Im Bett hab ich ihm dann verziehn.
Er schwur, daB er den Horch behalt.
Du steckst in Cannes. Du hast es gut,
Hier ist nun Herbst. Das Laub wird welk.
Max sagt bei Allem, was sich tut:
HMein Gold, es knistert im Gebalk."
Es steht zum Beispiel nicht mal festt
ob das Programm der Winterballe
sich regular abwickeln lafit!
(Ich habe das aus sichrer Quelle.)
Ein Kleid brauch ich auf jeden Fall,
ob Max nun Geld hat oder nicht.
Wir gehn ja doch zum Presseball,
wenn nicht Revolution ausbricht.
Ich denk an Grun. Und zwar Chiffon,
Es ware wirklich unerhort,
wenn man uns diesmal die Saison
durch Streiks und StraCenkampfe stortl
Vielleicht fangts erst im Friihjahr an?
Es steht sehr schlecht. Doch was weiBt du!
Du hast es gut. Du steckst in Cannes.
Ich nehme, trotz der Sorgen, zu . , ,
717
Brechung der Zinsknechtschaft Bemharl citron
,P\ic Nationalsozialisten drangen zur Macht. Auch im Lager
**^ der Linken beginnt man, sich mil dieser Tatsache vertraut
zu machen. Man trostet sich mit der Hoffnung, daB die Nazis
als Regierungspartci an der Unerftillbarkeit ihrer Versprechun-
gcn zugrtmde gehen werden. Aber die Kampfziele der Nazis
sind kautschukartig; an ihnen kann leichter gedeutelt wcrden
als am Erfurter Programm. Gestern noch forderte die NSDAP.
«,Brechung der Zinsknechtschaft", und heute scheint dies Ziel
bereits der Verwirklichung nahe zu sein allerdings ganz
anders als von Gottfried Feder uspriinglich angenommen.
Das Verlangen nach einem stabilen Hochstzins ist heute
mehr als die romantische Forderung einer radikalen Gruppe,
die volkswirtschaftliche Oberlegungen nicht anzustellen ver-
mag- EinfluBreiche Kreise der Wirtschaft wiinschen Zinsherab-
setzung, die Gegenstand ernsthafter Erwagungen im vorlaufig
noch nazireinen Kabinett bildet. Grundsatzlich ist es gleich-
giiltig, ob als Hochstzins 4 Prozent (programmatische Forde-
rung der NSDAP) oder 6 Prozent (Verlangen der Wirtschaft)
ins Auge gefaBt sind, Ober die Bedenken, die vor einem Jahre
jedem einigermaBen niichternen Menschen von selbst kamen,
setzt man sich heute hinweg. Die Stimmen der Wissenschaft-
ler, die im Winter 1930 die „Brechung der Zinsknechtschaft"
ad absurdum fiihrten, indem sie auf die Gefahr sofortiger Kiin-
digung aller Auslandskredite im Falle einer Zinskonvertierung
hinwiesen, wiirden heute fast ungehort verhallen. Da die deut-
schen Schuldner das vom Ausland geliehene Kapital sowieso
nicht zuriickzahlen, diirfte jene Drohung keinen Eindruck mehr
machen. DaB wir nicht ewig vom internationalen Geldverkehr
abgeschnitten bleiben konnen, wird geflissentlich ubersehen.
Die agrarischen und industriellen Schuldner bemuhen sich
seit Monaten um die Abwertung ihrer Verpflichtungen. Die In-
flations- und Devalvationsplane sind zu friih ans Lichtder Offent-
lichkeit gelangt, als daB man sie im Stillen weiter verfolgen
konnte. Also ist die Zinskonvertierung letzter Trumpf , Die Re-
gierung versucht vorlaufig einen t,freiwilligen Zinsverzicht" der
Glaubiger zu erreichen. Dabei ist zuerst an die variablen
Zinsen, die sich nach der Hohe des Reichsbankdiskonts richten,
gedacht worden. Auf eine kiirzlich im preuBischen Landtag
von einem deutschnationalen Abgeordneten eingebrachte An-
frage erwiderte der Handelsminister: „Die Begrenzung der
Zinshohe bei Krediten mit variablem ZinsfuB ist mit der Reichs-
regierung erortert worden. Die Reichsregierung hat die be-
teiligten Glaubigerverbande, deren Mitglieder nach ihrer
Kenntnis Kapitalbetrage mit variablem ZinsfuB ausgeliehen
haben, dringend ersucht, darauf hinzuwirken, daB die Zinssatze
fiir die Datier der ungewohnlichen Verhaltnisse am Geldmarkt
angemessen begrenzt werden". Es wird sehr schwierig sein,
die Konditionen der zahlreichen GroBhandelsverbande, die
einen variablen Zinssatz haben, der in bestimmter Relation zum
Reichsbankdiskont steht, zu andern. Ganz uriwahrscheinlich
aber ist ein freiwilliger Verzicht auf feste Zinsen, sofern der
Glaubiger nicht durch die Gefahrdung seines Schuldners dazu
718
gezwungen ist Derartige Zinsnachlasse sind von den Bankcn
in cinzelnen Fallen wie Karstadt, Toga und Wicking Cement
gewahrt worden, Hier aber hat es sich eigentlich um nichts
andres als einen auBergerichtlichen Vergleich gehandelt, der
sachlich dem Verzicht auf einen Teil des ausgeliehenen Kapi-
tals infolge einer Zahlungseinstellung gleichkommt. Wenn man
nun einige Schritte weitergeht und die Zinsen fiir alle Bank-
schulden,* Hypothekendarlehen, Anleihen und Pfandbriefe auf
einen bestimmten Satz ermafiigt, dann stellt ein solcher Vorgang
die Erklarung der teilweisen Zahlungsunfahigkeit des betreffen-
den Schuldners dar. Es ist wohl moglich, daB man auf eine
solche MaBiiahme verfallen wird, aber mit Sozialismus hat dies
nichts zu tun. Solange der Begriff des Geldes existiert, kann
das Kapital nicht seiner zinstragenden Eigenschaft entkleidet
werden. Die kapitalistischen Freunde der Nationalsozialisten
wissen das ganz genau; ihnen kommt aber aus materiellen
Griinden die^JBrechung der Zinsknechtschaft" sehr gelegen.
Ernsthafter Widerstand gegen die Konvertierungsplane
wird nur von der Reichsbank geleistet, die auf die bewegliche
Diskontschraube als eigentliches Mittel zur Regulierung der
Gold- und Devisenbewegung nicht verzichten mochte. In der
Situation, in der sich das Deutsche Reich augenblicklich be-
findet, erfiillt der Diskont allerdings auch nicht mehr seine ur-
sprunglichen wahrungspolitischen Aufgaben. In zunehmendem
MaBe sind die Valutaschwankungen von der Hohe des Diskont-
satzes unabhangig geworden. Daher ist es zweifelhaf t, ob die
Reichsbank, deren EinfluB bei der Zuriickweisung der In-
flationsplane groB genug war, auch die Zinskonvertierung ver-
hindern kann.
Die Nationalsozialisten verstehen allerdings unter'
,,Brechung der Zinsknechtschaft" noch etwas ganz andres als
nur die Herabsetzung des LandeszinsfuBes. Das hohere Ziel ist
der Kampf gegen das „raffende" an der Seite des „schaffen-
den" Kapitals, Auch hier ist Vorarbeit geleistet worden. Die
MEnteignung der Bank- und Borsenfiirsten" hat auch ohne ein
entsprechendes Gesetz rasche Fortschritte gemacht. Auch die
Bankinstitute selbst sind bereits zum Teil den Weg gegangen,
den die Nazis vorgeschrieben haben. Die Dresdner Bank wird
vom Reich beherrscht, und die Danatbank, gleichfalls vom
Reich iibernommen, soil dem „schaffenden Kapital", der In-
dustrie, uberlassen werden. Natiirlich hat die Regierung bisher
nicht die Verstaatlichung als Zweck sondern nur als Mittel zur
Sicherung der Einlagen gedacht. Wenn die Nazis die Ziigel in
die Hand nehmefi und die Kreditinstitute das letzte Vertrauen
einMBen, dann wird vielleicht auch der Rest der Banken den
gleichen Weg wie Danat und Dresdner Bank gehen.
So hat sich niemand die Erfiillung der nationalsozialisti-
schen Forderungen vorgestellt Da aber die Fiihrer der Be-
wegung von Propaganda erheblich mehr als von National-
okonomie verstehen, muB man befiirchten, daB von einem kunf-
tigen nationalsozialistischen Minister unter allgemeiner Zustim-
mung verkiindet werden konnte: „Wir haben die Zinsknecht-
schaft am Tage unsrer Machtergreifung gebrochen".
719
Bemerkungen
Die Vcrrater
M af Verrater eigentlich nicht.
*^ Ein Verrater, das ist doch
ein Mann, der hingeht und seine
Freunde dem Gegner auslief ert, sei
es, in dem er dort Geheimnisse aus-
plaudert, Verstecke aufzeigt, Lo-
sungsworte preisgibt . . . und das
alles bewufit... nein, Verrater
sind diese da nicht. Die Wirkung
aber ist so, als seien sie welche,
doch sind sie anders, ganz
anders.
Da wird man vom Vertrauen
der Parteigenossen ausgesandt,
mit dem bosen Feind zu unter-
handeln, sozusagen die Arbeiter
zu vertreten, die ja inzwischen
weiterarbeiten mtissen. Und die
erste Zeit geht das auch ganz gut.
Geld . . . ach, Geld . , . wenn die
Welt so einfach ware. Geld ist
zunachst gar nicht zu holen.
Der Arbeiterfuhrer bleibt Arbei-
terfuhrer; leicht gemieden yon
den Arbeitgebern, merkwiirdiges
Wort, ubrigens. Nein, nein, man
bleibt ein aufrechter Mann.
Aber im Laufe der Jahre, nicht
wahr, da sind so die langen Stun-
den der gemeinschaftlichen Ver-
handlungen an den langen
Tischen: man kennt einander, die
Gemeinsamkeit des Klatsches
eint, und es wird ja uberall so
viel geklatscht. Nun, und da stellt
sich so eine Art vertraulicher
Feindschait heraus.
Kitt ist eine Sache, die bindet
nicht nur ; sie halt auch die
Steine auseinander. Zehn Jahre
Gewerkschaftsfuhrer; zehn Jahre
Reichstagsabgeor dneter ; zehn
Jahre Betriebsratsvorsitzender —
das wird dann fast ein Beruf.
Man bewirkt etwas, Man erreicht
dies und jenes. Man bildet sich
ein, noch mehr zu verhuten. Und
man kommt mit den Herren Fein-
den ganz gut aus, und eines Tages
sind es eigentlich gar keine
Feinde mehr. Nein. Ganz leise
geht das, unmerklich. Bis jener
Satz fallt, der ganze Reihen
voller Arbeiterfuhrer dahingemaht
hat, dieser infame, kleine Satz:
„Ich wende mich an Sie, lieber
Brennecke, weil Sie der einzige
720
sind, mit dem man zusammen-
arbeiten kann. Wir stehen in ver-
schie denen Lager n — aber Sie
sind und bleiben ein objektiver
Mann . . ." Da steckt die kleine
gelbe Blume des Verrats ihr
Kopfchen aus dem Gras — hier,
an dieser Stelle und in dieser
Stunde. Da beginnt es.
Der kleine Finger ist schon
druben; der Rest lafit nicht mehr
lange auf sich warten. „Genos-
sen", sagt der Geschmeichelter
„man mufi die Lage von zwei Sei-
ten ansehn . . ." Aber die Genos-
sen verstehen nicht recht und
murren: sie sehn die Lage nur
von einer Seite an, namlich von
der Hungerseite. Und was alles
Geld der Welt nicht bewirkt
hatte, das bewirkt jene perfide,
kleine Spekulation auf die Eitel-
keit des Menschen; er kann doch
die vertrauensvollen Erwartungen
des Feindes nicht enttauschen.
Wie? Plotzlich hingehn und sa-
gen: Ja, die Kollegen billigen das
nicht, Krieg mufi zwischen uns
sein, Krieg und Kampf der Klas-
sen, weil wir uns ausgebeutet
fuhlen...? Unmoglich. Man kann
das unmoglich sagen. Es ist zu
spat.
Und dann geht es ganz schnell
hergab. Dann konnen es Ein-
ladungen sein oder Posten, aber
sie mussen es nicht sein — die
schlimmsten Verraterein auf die-
ser Welt werden gratis begangen.
Dann wird man Oberprasident,
Minister, Vizekonig oder Polizei-
prafekt — das geht dann ganz
schnell. Und nun ist man auch
den grollenden Zuriickgebliebe-
nen, die man einmal vertreten
hat und nun blofi noch tritt, so
entfremdet — sie verstehen nichts
von Realpolitik, die Armen. Nun
sitzt er oben, gehort beinah ganz
zu jenen, und nur dieses kleine
Restchen, daB sie ihn eben doch
nicht so ganz zu den Ihren zah-
len wollen, das schmerzt ihn.
Aber sonst ist er gesund und
munter, danke der Nachfrage.
Und ist hochst erstaunt, wenn
man ihnen einen Verrater schilt. •
Verrater? Er hat doch nichts
verraten! Nichts — nur sich
selbst und eine Klasse, die zahne-
knirschend dieselben Erfahrungen
mit einem neuen beginnt.
Ignaz Wrobel
Zur Amerikalegende
Ceit drei Jahren werde ich nicht
*** miide, jedem, dcr mit mir tiber
Amerika spricht, als vollendetstes
Buch fiber die Vereinigten Staa-
ten das von Andr£ Siegfried zu
empfehlen. So klar und kurzwei-
lig geschrieben, wie es nur ein
Franzose schreiben kann, dabei
mit dem natiirlichen Instinkt die-
ser Rasse fur das Wesentliche, ist
es eines der erstaunlichsten sozio-
logischen Biicher iiberhaupt, das
nur noch von Siegfrieds neuem
Buch fiber die englische Krisis
erreicht wird. Jetzt hat dieses
Amerikabuch seinen Welterfolg,
dem Verfasser blieb kein Ruhm
erspart, nicht einmal der, dati
der Kuklux-Klan sein Buch sta-
pelweise verbrennt.
Immerhin — von dem Buch,
das Charlotte Ltitkens unter dem
Titel Staat und Gesellschaft
in Amerika geschrieben hat
(Verlag Mohr, Tubingen) , weiB
ich nichts Besseres zu sagen, als
dafi es auch nach der Lekture
Siegfrieds fesselnd und aufklarend
ist Wem noch von dem Speichel-
leckerton ubel ist, der, mit weni-
gen Ausnahmen, ziemlich die ganze
deutsche Literatur fiber Amerika
beherrscht, wird die freimutige
und kluge, den Dingen auf den
Grund gehende Kritik Lfitkens als
Erlosung von einer hoffentlich
fiber wundenen Vergangenheit be-
grtiSen,
Wie bei einer guten Sozialistin
selbstverstandlich, hat Lfitkens
nicht ein Buch gegen ein Land
oder gegen ein Volk, sondern
gegen Zustande geschrieben. Ihre
Analyse weist nach, was sie im
Vorwort verspricht, daB Hoffnung
wie Furcht vor'dem Amerikanis-
mus auf einem Mifiverstandnis be-
ruhen. Der amerikanische Kapi-
talismus verftigt zwar zu einem
Teil, aber nur zu einem
Teil fiber eine technisch hervor-
ragende Apparatus Von einer Ra-
tionalisierung der Wirtschaft, die
einer Rationalisierung der Her-
stellung entsprechen miifite, war
niemals die Rede. Technisch ist
der • amerikanische Kapitalismits
zwanzigstes Jahrhundert, ideolo-
gisch zum groBen Teil achtzehn-
tes. Er ist ein falscher, ein
Pseudo-Spatkapitalismus, der sich
furchtbar liberal-demokratisch
vorkommt, aber ein Gefangener
seiner liberalistischen Grund-
satze ist. Seine prosperity
war eine typische Ausbeuter-
konjunktur auf Kosten der
Arbeiter, der Farmer und der
Fremden. Es gehort, sagt Char-
lotte Lfitkens, der ganze opti-
mistische und mechanistisch libe-
rate Fortschrittsglaube euro-
paischer Betrachter dazu, auf die
Stabilitat und Vollendung dieses
Gesellschaftsbaues noch zu ver-
trauen, nachdem man einen Blick
auf die tatsachliche Lage der
Landwirtschaft und der Arbeiter-
schaft geworfen hat. Trotzdem hat
die amerikanische Wirtschaft noch
o^i^€^
3i
Standard . . .
Harrenformat .
Virginia Nr. 7 .
Egyptian Nr. II
■ ■ . . zwei Falctoren, die zur
Vollendung hSchster Qualifa*
unerlafjlich sind. Dadurch
zoic h net sich auch die Voll-
kommenheif jeder Abdulla-
Cigarette aut.
o/M. u. Gold StDok 5 Pfg.
o/M Stack 6 Pfg.
o/M Stack • Pfg.
o/M u. Gold ...... Stflok 10 Pfg.
Abdulla'Cigaretfen geniefjen Weltruf!
Abdulla & Co. • Kalro / London / BorHn
72!
nicht den typisch hochkapitalisti-
schen Gegensatz zwischen Kapital
und Arbeit hervorgehracht; die
Wirtschaft wird noch durch den
Gegensatz Stadt und Land und
gleichzeitig durcb eine Ideologic
hinterwaldlich vorsintflutlicben
Cbarakters beberrscht, Ein kor-
ruptiver Foderalismus verhindert
jede wirtscbaftliche soziale MaB-
nahme. Jeder Handler, jeder Ge-
schaftsmann kann durcb Klage
beim Obersten Bundesgericht, dem
wahren Herrn der Union, Auf-
hebung von sozialen Gesetzen, die
seinen Profit beeintrachtigen, als
verfassungswidrig beantragen und
durchsetzen, Judikatur und Le-
gislative durchkreuzen sich und
heben einander auf. Die Ober-
macht des Bundesgerichts in
U.S.A. hatte uns auch in Deutsch-
land vor den Gefahren warnen
konnen, mit denen Reichsgericht
und Staatsgerichtshof den Primat
des Parlaments schon vor Jahren
bedrohten.
Die Angst vor Amerika ist vor-
bei, seitdem der Yankee nicht
rnehr verheimlichen kann, daB es
auch bei ihm Pleiten, Arbeitslose
und Uberproduktion gibt, Aber
nicht darum handelt es sich zu-
letzt, die dubiose Stellung der bis-
her fur unerschiittert gehaltenen
Vormacht Amerikas nachzuweisen.
Alles dies kann nur den Zweck
haben, die europaischen Konti-
nentalstaaten davon zu tiberzeu-
gen, dafi ihre Befreiung von der
angelsachsischen Schiedsrichter-
vormacht nur das Werk der Kon-
tinentalstaaten selbst sein kann.
Der Glaube, daB die Welt in ein
amerikanisches Zeitalter eintritt,
wie es einst ein babylonisches,
agyptisches oder romisches gab,
ist erledigt. Daran halten nur
noch zwei fest: Babbitt und Graf
Keyserling. Frankreich lieB sich
vom Amerikanismus keinen Augen-
blick bluffen und ist von ihm
innerlich frei geblieben. Fiir
Deutschland ist diese innere Be-
freiung erst zu vollziehen.
Felix Stossinger
Konzern-Schwachsinn
Wir haben es bisher unter-
lassen, zu den auch uber
die A.E.G. umgehenden Geruch-
ten Stellung zu nehmen, weil die
Richtigstellung unserioser Mittei-
lungen uns in der gegenwartigen
Zeit zwecklos erscheint. Nach-
dem jedoch auch seitens des
ernst zu nehmenden Teiles der
deutschen Presse Anfragen an
uns gerichtet werden, teilen wir
mit . .-.
, , , daB die Gesellschaft von
den Scnwierigkeiten der berliner
A.E.G. nicht beriihrt wird. Da
die danische Gesellschaft ganz
selbstandig ist, wird ihre Stel-
lung selbst durch den etwaigen
Zusammenbruch der deutschen
Gesellschaft nicht beeinfluBt wer-
den."
Was ist das? Das ist erstens
die Einleitung zu einer am 27. Ok-
tober von der A.E.G. abgegebe-
nen offiziellen Erklarung tiber
ihre Lage, zweitens der Wortlaut
einer Erklarung, die von der ko-
penhagener A.E.G. drei Tage spa-
ter der danischen Presse uber-
geben wurde; drittens aber ist es
eine Schwachsinnshandlung, die
selbst in unsrer, an derartigen
Erzeugnissen der Wirtschaft nicht
grade armen Zeit durch ihren
ungewohnlichen Grad . von Be-
nommenheit auffallt.
Es interessiert hier nicht so
sehr, wie es der A.E.G. wirklich
geht. Es geht ihr wahrscheinlich
ebenso gut wie alien GroBkon-
zernen der deutschen Wirtschaft,
lllIllllllillllllllilillllEIIH
ZWANZIG JAHRE WELTGESCH1CHTE
in 700 Bildern. 1910—1930. Einleitung von Friedrich Sieburg. Gr.8.
Dieses Bilderbuch soil dem Betrachter nicht die gelstige MOhe ersparen, die im
Lesen liegt Die zusammenfassende Betrachtung der letzten 17 Oder
20 Jahre, ohne daB die Tatsachen durch eine Deutung verhUllt Oder
gef&rbt wUrden, mag einen neuen Weg weisen Oder erkennen lessen.
TRANSMARE VERLAG A.-C, BERLIN W 10
722
Leinen
S.80 RM
also schlecht, Aber wenn es noch
eines Beweises daftir bedurft
hatte, wie vollig desorganisiert so
ein wirtschaftliches Gebilde ge-
genwartig ist, und wie kopflos
seine Leitung, so wird dieser ne-
ben der klassischen Katzenellen-
bogen-Erklarung der Commerz-
und Privatbank biindig geliefert
durch die oben zitierte Erklarung
der danischen A.E.G. Die Mut-
tergesellschaft bemiiht sich seit
Monaten darum, den wenig er-
freulichen GerCichten iiber ihren
Stand entgegenzutreten. Ob mit
Erfolg oder nicht, ob mit Recht
oder nicht, ist gleichgiiltig, jeden-
falls kann man es ihr nicht ver-
iibeln, wenn sie sich gegen ihr
nachteilige Geriichte zu wehren
sucht. Die danische Tochter-
gesellschaft sagt all das, was von
der Muttergesellschaft als ,,un-
serios" bezeichnet wird, einige
Tage spater mit einer Deutlich-
keit, derer sich bisher auch das
,,unserioseste" deutsche Blatt
nicht schuldig gemacht hat.
Die Internationale Solidaritat
des Kapitales ist heute offenbar
nicht einmal mehr innerhalb der
Konzerne selbst vorhanden. Die
Panikstimmung, die fliese So-
lidaritat mehr und mehr auflost,
macht auch vor solchen Bindun-
gen nicht mehr halt, die friiher
als besonders test gefiigt erschie-
nen, DaB derartiges passieren
kann, mitfite eigentlich fur die
Arbeiterschaft eine Hoffnung
darstellen. Wenn ihr Feind im
Klassenkampf derartigen Blod-
sinn macht, und zwar aus purer
Kopflosigkeit, so zeigt das doch
wohl, dafi er sich seiner Positio-
nen nicht mehr sicher fiihlen
kann, Auf jeden Fall beginnt er
die Nerven zu verlieren. Das ist
immerhin schon etwas.
Alfred Kolmar
Wahn-Europa 1934
T rgendwo an der Grenze zwi-
* schen Albanien' und Siidslawien
schiefit ein stidslawischer Posten
hinter einem Albanier her, der
sich iiber die Grenze schmuggeln
will. Auf heimischen Boden ver-
endet der todlich Getroffene.
Fiinf Tage spater: Frankreich und
Italien sind ein einziger Triim-
merhaufen, vom Osten her kommen
die Russen, um die Friichte die-
ses letzten groflen Volkermordens
einzuheimsen. Was in diesen we-
nigen Tagen geschieht, wie aus
dem unscheinbaren Zwischenfall
ein Gewebe wird, in dessen Fa-
den und Fadchen sich ganz Eu-
ropa verstrickt, wie die lang-
gestaute Rivalitat zwischen Rom
und Paris an diesem winzigen
Punkt durch die allzuleichte
Decke eines sogenannten Frie-
dens bricht, wie Prestigefragen,
imperialistische Eroberungssucht,
Interessenverkettung und ver-
derbliche Biindnispolitik, Eitel-
keit und Ehrgeiz, Zufall und
boser Wille, Obereifer und Zag-
haftigkeit die Ereignisse mit
grausiger Folgerichtigkeit auf das
von alien gefiirchtete Ende, den
vernichtenden Krieg, zusteuern,
und wie dazwischen Einer, Frank-
reichs AuBenminister Leon Brandt,
mit der Kraft seiner Personlich-
keit und der Macht seiner Or-
ganisation, der internationalen
Gewerkschaftsunion, vergeblich
alles daransetzt, das Unheil zu
verhindern, das Unheil, das die
ganze zivilisierte Welt zu ver-
nichten droht, — davon erzahlt
Hanns Gobsch in seinem „Wahn-
Europa 1934" (Fackelreiter-Ver-
lag, Berlin).
Prall von Ereignissen und Sen-
sationen, durchsetzt mit klugen
Bemerkungen, rollt dieses Buch
Faden um Faden des Gewebes
FRIEDEN UND FRIEDENSLEUTE
Genfereien v. Walther Rode. Schutzumschi. v. GULBRANSSON,
Das Elend kommt von dertragischen Beflissenheit, den Bock derZeiten zu me1ken,ob
er Milch geben kann oder nicht. Niemand weiB. wohin die Mensch-
heit steuert, ob sie leben oder sterben will; gewiB is' nur, da8 sie
dae nicht will, was ihr die Oberlehrer der GlUckseligkeit zudenken.
TRANSMARE VERLAG A.-G., BERLIN W 10
Kartoniert
3.— RM
723
auf, bis sich entsetzlich „logisch"
die letzie Konsequenz ergibt: der
Krieg. Diese furchtbare *„LogikM
zu zerstoren, hat Brandt sich zur
Aufgabe gesetzt, Einst Kampf -
flieger, der sein Damaskus erlebt,
dann Pionier des Flugverkehrs,
mit 29 Jahren in die Politik ver-
schlagen, Sozialist ohne Marxist
zu sein, Anti-Diktaturist aber
kein Anbeter der Masse, ist Ziel
seiner Tatigkeit als Aufienmini-
ster: jeder Konflikt zwischen den
einzelnen Landern soil friedlich
gelost, unsre gesamte AuBenpoli-
tik einem Umbau unterworfen
werden. Er stiitzt sich dabei auf
das in der „Union" geeinigte
„europaische Volk", das im
Ernstfall den Regierungen
Brandts Willen aufzwingen soil.
V6m ersten Augenblick an, da
ihn auf dem Flug nach Amerika
zwischen Ozean und Himmel die
Nachricht von dem aufflackern-
den Brand am Balkan erreicht,
sturzt er sich in diesen Entschei-
dungskampf, der beweisen soil,
ob es den Massen moglich ist,
kriegerische Losungen durch eine
straffe Internationale Organisie-
rung fernerhin auszuschalten,
Funksprttche fliegen an die Regie-
rungen Albaniens und Italiens
(das seine albanischen Interessen
bedroht sieht) , Sudlawiens und
Frankreichs (das sich seinem
Bundesgenossen in Belgrad zur
Seite stellt) ; seine ganze Kraft
konzentriert sich darauf, das
Kabinett von der Prestigepolitik
abzubringen, Vergebens, er mu6
zuriicktreten, und nun beginnt
der gigantische Kampf der fran-
zosischen Unionisten, Frank-
reich wird durch den General-
streik lahmgelegt. Italien be-
kommt naturgemaB Oberwasser,
man verhandelt mit Brandt, ein
ungltickseliger Zwischenfall be-
raubt ihn eines seiner engsten
Mitarbeiter, schon beginnt in
Italien der Aufmarsch, als Sud-
slawiens Konig zuriickzuckt, Ita-
liens Herr, Capponi, triumphiert,
aber wie ganz Europa so atmet
auch er befreit auf, — da hetzt
Rhee Landrux, der Teufel der
franzosischen Sozialistcn, wah-
nend, man habe Brandt gefangen
gesetzt, die Massen auf den Stra-
Ben von Paris zum Kampfe, er-
stiirmt den Eifelturm und funkt
ein bluttriefendes Manifest in die
Welt hinaus, unter Mifibrauch
von Brandts Namen Italien den
Kampf des Proletariats der gan-
zen Welt ankiindigend. Italien
greift an, der einzige Mensch, der
j etzt noch Frankreichs Massen
in der Gewalt hat, Brandt, muB
die Regierung tibernehmen, die
Tragik beginnt: grade er, der den
Volkern den Frieden bringen
wollte, muB seine eignen Volks-
genossen zum Kriege ftihren, wenn
auch nur zu einem Verteidigungs-
krieg. Unter den Trummern von
Italien und Frankreich liegen er
und seine Mit- und Gegenspieler
begraben, die Flieger haben ganze
Arbeit geleistet
Eine grofie Idee hat ihr Fiasko
erlitten. Nur, weil kleine Men-
schen sie mifibrauchten ? Hier
scheint mir der entscheidende
Fehler dieses nicht genug zu lo-
benden, formal und inhaltlich
gleich guten Buches zu liegen,
Durch eine Massenkriegsdienst-
verweigerung und einen Massen-
generalstreik den Regierungen
ihre gefahrlichste Waffe, die
Kriegsbereitschaft, aus den Han-
den zu schlagen — , dieser groB-
artige Plan scheitert, wie der
Gang der Ereignisse nachweist,
an zwei Punkten: an der Moglich-
keit, mit ein paar tausend bis ins
Letzte ausgeriisteten Flugzeugen
Keine Reklame
wolleu unsere Ankundigaiigen sein, Eondern nur zeitgerechte Form der
Bekanntgabe, daB
die Bttcher von B6 Yin Ra
bei una erschienen sind. Jede gute Buchhandlung halt sie vorr&tig.
Binfilhrungsschrift von Dr. jur. Alfred Kober-Staehelin kostenlos. Der
Verlag: Kober'sche Verlagsbuchhandlang (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
724
ein ganzes Land innerhalb weniger
Stunden zu vernichten, also an
dem Fehlen einer totalen Ab-
riistung, und daran, daft sich der
Apparat der Staatsmacht in den
Handen von Personen befindet,
fur die der letzte Ausweg, die
letzte Losung noch immer der .
Krieg ist. Der Fehler in Brandts
Rechenexempel ist der, dafl er
glaubte, seine Idee lasse sich
durchfiihren, bevor die von ihm
gefiihrten Massen die Macht er-
obert haben, Diese Frage, die
von selbst auftaucht, beantwortet
Gobsch nicht; was nicht hindert,
sein Buch zu begriiBen als einen
mutigen Warnungsruf an die Re-
gierungen und Volker Europas,
nicht erst unsern Erdteil zu
einem Triimmerhaufen werden
zu lassen, bevor sich die Vernunft
durchsetzt.
Walther Karsch
Anarch ie in Bayern
T^er friihere Kronprinz Rupp-
*~* recht, von ganz rabiatenAlt-
bayern kurz entschlossen der
Konig genannt, besuchte eine ent-
legene Kreisstadt. Als der Zug
die Station Oberdimpflharting
passierte, standen die Honoratio-
ren und Veteranen zwecks Be-
grCiBung am Bahnhof. WeiBblaue
Fahnen wehten, Boiler verursach-
ten kraftbayrisches Festgetose,
das weiiJgekleidete Tochterchen
des Bezirksamtmanns iiber'reichte
einen KornblumenstrauB. Der
blaue Himmel demonstrierte
gleichfalls unter Vorfuhrung einer
leuchtend weiBen Wolke, die vor-
schriftsmaflig uberm Bahnhof
stand, die angestammten Landes-
farben.
Alles ging gut. Das Toch-
terchen des Bezirksamtmanns
sagte seine Verschen ohne Stok-
kung auf und nahm, vom Exkron-
prinz, respektive Pratendenten
beziehungsweise Konig auf die
Wange getatschelt, einen Ein-
druck fiirs Leben mit.
Der hohe Herr zog den bar-
tigsten Veteranen von Siebzig ins
Gesprach. Dafi inzwischen auch
im Weltkrieg unter der militari-
schen Oberleitung Seiner HoheU
ein hiibsch paar Landeskinder
ehrenvoll demoliert worde.i
waren, schien nicht in Betracht
gezogen — vielleicht weil di^.
wehenden Greisenbarte im Ge-
gensatz zu den neumodisch glat-
ten Gesichtern dekorativer wirk-
ten.
Alles erledigte sich ohne Rei-
bung und der erhebende Tag ware
alien Beteiligten wie ein ein-
geweckter Sonnenstrahl im Gemiit
bewahrt geblieben, wenn nicht . . .
Wenn nicht im letzten Augen-
blick, als der Konig beziehungs-
weise Pratendent respektive Ex-
kronprinz bereits wieder Plats
genommen hatte und das don-
nernde Hurra zum drittenmal in
der klaren Luft verklungen war,
irgend ein Subjekt mit miBtonen-
der Stimme gebnillt hatte: „Hoch
die Republik!"
Unter- allgemeiner Verwirrung
achzte der Zug davon.
Die sofort eingeleitete Unter-
suchung fiihrte lei der zu keinem
befriedigenden Resultat.
Wahrscheinlich so ein Jud aus
PreuBen — !
Peter Scher
Zum 9. November — Sensationelle Neuerscheinung:
WILHELM II.
^ von Dosio Koffler
Hier fICichtet ein Film vor dem Zensor in die Buchform.
Prels 2 Mark
Lucifer-Verlag, Berlin W 30, Landshuter Str. 36
Telephon: B © Cornelius 1569
725
Was geschieht, wenn einer
die Verantwortung tr>?
A Is Western das britische U-Boot
**■ L 53 bei Ubungen in der Nahe
der Insel Wight untergetaucht
war, stellte es sich heraus, daft
ein Mann der Besatzung ver-
sehentlich auf dem Deck zuriick-
gelassen worden war, Der Kom-
mandant liefi das U-Boot sofort
wieder an die Oberflache gelan-
gen und mehrere Stunden an der
betreffenden Stelle kreuzen, ohne
von dem VermiBten eine Spur zu
entdecken, Nach Abhaltung eines
Gottesdienstes kehrte das U-Boot
in seinen Hafen Portsmouth
zuriick.
Zeitungsnotiz
ALBERT DAMM
*
ZENTRALE Ft)R
BUCHHERSTELLUNG
UND BUCHVERTRIEB
BERHN-WILMERSDORF
KAISERALLEE 32
H 2 * UHLAND 8886
Obernahme aller Verlagsarbeiten.
Herstellung und Vertrieb von Werken,
Katalogen, Zeltsxhrlften, Prospekten
etc. In zeitgemafier Ausstattung far
elgene oder fremde Recbnung zu
billlgsten Prelsen. Entwttrfe far In-
serate und Werbesdireiben. Beauf-
sichtigung der Drudclegung. Korrek-
turlesen. Engl is die und franzdsisdie
Cbersetzungen. Budifuhrung. Steuer-
beratung. Einriditung und Neu-
organisatlon von Verlagsbetrieben.
Verlagsauslieferungen.
Erste Referenzen.
Mafiiges Honorar! 1
I deal e
In unsrer Nummer 36 veroffent-
* lichten wir ein Bild des japa-
nischen Generals Nagaoka mit
der Unterschrift: MDer Mann mit
dem langsten Schnurrbart der
Welt". Wie uns ein Leser, Herr
Wilhelm Roleff, mitteilt, scheint
hier ein bedauerlicher Irrtumvor-
zuliegen. „Es diirfte Ihnen nicht
bekannt sein", heiBt es in der Zu-
schrift, „dafi es in Koln einen
noch langern und schonern
Schnurrbart gibt. Wie Sie aus
dem beigefugten Photo ersehen,
besitze ich den langsten Schnurr-
bart der Welt. Derselbe ist
fiinfundfunfzig Zentimeter lang
(fiinf Zentimeter langer als der
des Generals), gut gepflegt, und
ich bin heute noch stolz darauf,
denselben als alter Soldat und
spaterer Polizeihauptwachtmei -
ster zu tragen. Aus meinem jetzi-
gen Schnurrbart konnte man
zehn jungen Leuten ein jetzt mo-
dernes Schnurrbartchen machen.
Ich bitte in einer Ihrer nachsten
Ausgaben um gefallige Richtig-
stellung."
,Kolnische lllusirierte Zeitung
Mit Ahoi
Wikinger Jungenschaft
J7s liegt Veranlassung vor, be-
*-* kannt zu geben, dafi ich mich
genotigt sah, vier Fiihrer aus der
W.J. wegen Treubruchs auszu-
schlieBen. Die Fiihrung bleibt
weiter in meinen Handen.
Mit Ahoi!
Heinz Hoffmann
,Die Kommenden'
Die Wochenschau
I m ersten Jahrgang der tonenden
* Fox-Wochenschau waren, wie
der ,FiIm-Kurier' berichtet, fol-
gende Themen verwendet:
Sportszenen 74mal. Volksfeste
und Volksgebrauche 50mal. Feier-
lichkeiten 43mal. Armee- und
Marineszenen 34mal. Flugzeug-
aufnahmen 25maL Katastrophen
und Ungliicksfalle 21mal. Tech-
nische Szenen 20mal. Viehzucht,
Dressur 19mal. Personlichkeiten
15mal. Kunst, Musik, Tanz 11-
mal. Religion 10 mal. Schule,
726
Padagogik 9mal. Forschungsreisen
7mal etcetera.
Das ist, wie man zugeben wird,
brennend interessant. Es fehlt .
nun nur noch die Statistik uber
diejenigen Themen, die grund-
satzlich nullmal in der Wochen-
schau behandelt werden,
Natur und Kunst
T Jnter den Hunderten von Tiro-
^ iern, die in Luis Trenkers
„Berge in Flammen" die Kaiser-
jager spieltent waren ein GroB-
teil Manner, die im Weltkrieg
selbst an der Front gestanden
waren, heute also das spielten,
was sie vor Jahren selbst erlebt
hatten. So unerhort echt waren
die Filmszenen gestellt, daB
viele der Leute, besonders bei'
den Nachtaufnahmen, vergaBen,
daB das alles heute ja nur Spiel
war und bei den Nahkampf-
Szenen so auf den „Feind" los-
gingen, daB die bereitstehenden
Sanitater alle Hande voll zu tun
hatten, urn die verschiedenen
Verletzungen zu verbinden. Und
was den Leuten die groBte
Freude machte, war das Schie-
Ben, besonders mit den Maschi-
nengewehren, Jeder1 wollte mog-
lichst viel der kostbaren, nur un-
ter groBen Schwierigkeiten be-
schafften scharfen Munition
— eine andre kam wegen der
Echtheit des Tons nicht in
Fratfe — verschieBen und der
biedere Tiroler, der am Abend
nach der „Schlacht" mit blitzen-
den Augen und kampfgerotetem
Gesicht atemlos in der Wohn-
Baracke ankam und seinen Ka-
meraden zurief: M900 SchuB hab'
i heut* aussabollert (hinaus-
geschossen) , sakra, sakra, denen
Walschen (Italienern) hab* i's
heut' 'zagt (gezeigt) !" wurde wie
ein Held bestaunt und beneidet.
,RheinHlm-Magazin
Liebe Weltbuhne!
Jeden Tag, den Gott werden
laBt, sendet der Bankier Zacha-
rias ein StoBgebet zum Himmel:
MLieber Herrgott, wenn Du nach
Deinem unerforschlichen Rat-
schluB schon alle Banken vernich-
ten willst, dann tu es wenigstens
nach dem Alphabet."
Herbst im Flufi
l^er Strom trug das ins Wasser
*^ gestreute
Laub der Baume fort. —
Ich dachte an alte Leute,
Die auswandern ohne ein Klage-
wort.
Die Blatter treiben und trudeln,
Gewendet von Winden und Stru-
deln
Geriigig, und sinken dann still. —
Wie jeder, der Grofies erlebte,
Als er an Groflerem bebte,
SchlieBlich tief ausruhen will.
Joachim Ringelnatz
Hinweise der Redaktion
Berlin
Gruppe kevolutionarer Hazifisten. Freitag 20.00. Cafe Adler am Donhoffplatz. Oeffent-
liche Diskussion: Die Bedeutung der Sozialistischen Arbeiter-Partei. Es sprechen :
Karl Frank (KPO), Walther Karsch und Kurt Werth. Vorsitz: Kurt Hiller.
Hamburg-Altona
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Dienstag (17.) Volksheim EichenstraBe. 20.00:
Die Parteien und der Friede, Kurt Zornig.
Bficher
Maurice Baring: Daphne Adeane. Ernst Rowohlt, Berlin.
Otto Corbach : Offene Welt. Ernst Rowohlt, Berlin.
Otto Lehmann-RuBbQldt: Die Revolution des Friedens. E. Laubsche Verlagsbuchhand-
lung, Berlin.
Arnold Zweig: Madchen und Frauen. Gustav Kiepenheuer, Berlin.
Rundfunk
Dienstag. Berlin 18.20: Erik Reger spricht — Frankfurt 19.05: Dicbter, Zeit und Rund-
funk, Alfred Wolf enstein. — Donnerstag. Berlin 1 9.15 : Walther von Hollander
Hest. — 21.10 ! Querschnitt durch Heinricb v. Kleist von Ernst Bulowa, Edlef
Koppen. — Freitag. Breslau 17.15: Die Zeit in der jungen Dichtung, W. E. Siiskind.
— Sonnabend. Langenberg 18 20: 1st eine Weltsprache moglich ? Johannes Buckler.
727
Antworten
Nationaler Mann, Ihre .Deutsche Zeitung* entriistet sich iiber die
,WeltbUhne' und faselt von „judischer Unverschamtheit", weil wir in
unserm vorigen Heft wiedgr einmal die Frage aufgeworfen haben, wie
es moglich ist, daB der noch immer nicht naturalisierte Adolf Hitler
in Deutschland Politik machen kann, Aufruhr und Biirgerkrieg predi-
gent ohne dafi die hohe Obrigkeit das unerwiinschte Element endlich
abschiebt. Die .Deutsche Zeitung* erhebt darob gereizt ihre Biiffel-
horner. Wir brauchen nicht besonders hervorzuheben, dafi wir nicht
daran denken, die Sache der Fremdenpolizei, die ungezahlte arme
T euf el schikaniert, zu f uhren, aber Hitler gehort nicht zu den Un-
seligen, mit denen die Polizei so lange Schlitten zu fahren pflegt, bis
sie sie endlich bei der Grenzwache des Herrn Nachbarstaates abgibt.
Warum wir im Falle Hitler aufierste Strenge fordern, ist wohl ganz klar:
diejenigen, die immer Zucht und Disziplin und Unterwerfung auch
unter die rigorosesten Gesetze fordern, sollen selbst einmal das vom
Staate spuren, was sie gegen andre verlangen. Die .Deutsche Zeitung',
die in jeder Nummer zehnmal den Geist des Gehorsams beschwort,
hat kein Recht aufzumucken, wenn bestehende Gesetze angewendet
werden. Dafi man sich auf der Rechten nicht immer so tolerant ver-
halt wie im Falle Hitler, beweist ein hafierfiillter Ausfall, den Herr
Paul Fechter in der ,E)eutschen Allgemeinen Zeitung' jetzt gegen den
Kleistpreistrager Gdon von Horvath unternommen hat, denn Horvath
ist geborener Ungar, deshalb hat er sich nicht um deutsche Dinge zu
kummern, Der tapf ere Fechter hatte seinen deutschen Zorn an eine ihm
naher stehende Stelle verschwenden konnen, namlich an seinen Chef-
redakteur, Herrn Doktor Klein, der in Siebenburgen geboren ist und
trotzdem nicht fur Ungarn oder Rumanien sondern fur Deutschland
optiert hat. Herr Fechter hat das bei seinem wiitenden Ausfall tiber-
sehen, aber Herr Doktor Klein durfte wahrscheinlich ohne Vergniigen
in seinem eignen Blatt gelesen haben, daB ein geborener Ungar kein
Recht hat, sich aktiv am deutschen Schrifttum zu beteiligen.
Marxistische Arbeiterschule. Der Magistrat Berlin hat euch auf
Anweisung des Provinzialschulkollegiums samtliche Schulraume ent-
zogen, um so eure Schulungs- und Aufklarungsarbeit zu sabotieren.
Das hat euch nicht gehindert, eure Anstrengungen zu verdoppeln. und
ihr habt euch ein eignes Schulhaus in der Schicklerstrafie 6, am
Alexanderplatz, eingerichtet. Wer Auskunft iiber eure vielseitigen
Kurse haben will, wende sich an das Bureau, das taglich aufier Sonn-
abend von 10 bis 12 Uhr und von 17 bis 19 Uhr geoffnet ist,
Dusseldorfer. Im Gegensatz zu den berliner' Kritikern, die den
Film ..Der KongreB tanzt" leicht beschwingt und tanzerisch finden,
hat einer eurer Kinobesitzer als Vorreklame fur diesen Film zehn —
Elefanten, gefiihrt von Husaren in zeitgenSssiscber Uniform, durch
die StraBen trampeln lassen. Dies zeigt, dafl der gesunde Sinn fur
Humor und Satire im deutschen Volke noch nicht ausgestorben ist.
Karlsruher. Geben Sie Ihre Adresse an Herrn Theodor Clement,
EbertstraBe 6, Telephon 120, der regelmafiige Zusammenkiinfte der
karlsruher Weltbuhnenleser in die Wege leiten will.
Manuskripte sind our an die Redaktion der Weltbuhne, Chartottenburg, Kantstr, 152, zu
richten: es wird ?ebeten, ihnen Ruckporto beizule^en, da sonst kerne Rfifksendung erfol^eo kann.
Das Auff tihrungsrecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rahmen des Films, die musik-
mechaniscbe wiedereabe aller Art and die Verwertung im Rabmen von Radiovortr&gen
bleiben fUr alle in der Weltbttbne sracheinenden Beitr&ge ausdracklicb vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrijndet von Siegfried Jacobsobn und wird von Carl v. Ocsietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucholsky jjeteitet — Veranrwortlich : Cart v. Ossietzky, Berlin;
Verlaif der Weltbuhne, Siegfried Jacobsohn & Co.. Char lotten burjr.
Telephon: C 1, Steinplatz 7757. — Postachedckonto Berlin 119 58.
Bankkooto Darmstadler u. Nationalbank, Depositee kasse Charlottenburg, KaoLstr. 112
XXVII. Jahrgang 17. November 1931 Nummer46
Groener funkt dazwischen von can v. ossietzky
D eichsminister Groener hat sich iiber eine Rundfunkrede des
Reichsbannerfunktionars Holtermann zum 9. November ge-
argert und eine andre Zusammensetzung des Oberwachungs-
ausschusses der Funkstundc verlangt. Groener bevorzugt als
Reichsinnenminister einen wehrhaften Ton, so war denn Preu-
Ben schnell auf dem Plan- Es hatte wohl einen Konflikt ge-
geben, wenn nicht der Reichskanzler schlichtend dazwischen-
getreten ware, Aber es ist nur ein Waffenstillstand, der hier
geschlossen wurde.
Ministerialrat Scholz, der Vertreter des Reichs im Uber-
wachungsausschuB, ein deutschnational infizierter Bureaukrat,
hatte in dem Vortrag Holtermanns ,,parteipolitischen Charak-
ter" entdeckt, eine Meinung, die sein Minister eifrigst auf-
nahm und verfocht. Da das ,Berliner Tageblatt' in seiner
Abendausgabe vom 11. November die inkriminierte Rundfunk-
rede in der Form, wie sie gehalten wurde, abgedruckt hat,
sind wir in der Lage, zu prtifen, was Herrn Groeners iiberpar-
teiliches Gefiihlsleben so arg verletzt hat. Wir finden auch
bei aufierster Anstrengung in diesem Vortrag weder viel Poli-
tik noch Charakter und schon gar keine Parteipolitik, dafiir
aber viel von jener seLbstzufriedenen Pathetik, die immer mehr
zum alleinigen Ausdruck des amtlichen Republikanertums ge-
worden ist und ihr geruttelt MaB Schuld tragt, daB den jungen
Leuten von heute, um mit Herrn Sklarek zu reden, der Kaffee
hochkommt, wenn ein OHiziosus die Republik zu besingen be-
ginnt. Aber das sagen wir berufsmafiigen Norgler, fur die in
Holtermanns schwarzrotgoldener Staatskonzeption gewiB nicht
viel Raum ist, was aber Herr Groener dagegen einzuwenden
hat, bleibt unerfindlich, denn er selbst hat sich dieser Sprache
oft und reichlich bedient, wenigstens bis zu dem Zeitpunkt, wo
die Fruhstucksunterhaltungen zwischen Hitler und General von
Schleicher begannen. Ob uns die Rede Holtermanns gefallt
oder nicht, es bleibt erstaunlich, warum der Staat gegen einen
Redner einschreitet, der das bisher allein als staatserhaltend
anerkannte Idiom so gut beherrscht. Ware unter der Monarchie
die Riiffelung eines Barden moglich gewesen, der sich allzu
breit in dynastischen Hochgefiihlen ergangen hatte? Heute,
unter dem halbfascistischen Regime, empfindet ein Minister
der Republik es als anstoBig, wenn ein Festredner sich zu
einer republikanischen Ideologie bekennt, und sei sie selbst
so gezahmt wie die des Reichsbanners, dessen Aufgabe es ja
nicht ist, Parteipolitik zu machen, sondern davon abzulenken.
Schadenfreude ist keine politische Regung. Ware Scha-
denfreude unter Verhaltnissen wie augenblicklich erlaubt, so
miiBte man sich allerdings vor Lachen ausschiitten iiber das,
was die Sozialdemokratie und das ihr attachierte biirgerliche
Republikanertum als Dank fiir die Tolerierung erntet. Gegen
Herrn Klagges in Braunschweig hat der Herr Reichswehrmini-
ster des Innern nichts untemommen, nichts ist zur Siihnung des
1 729
braunschweiger Mordsonntags geschehen. Statt dessen be-
ginnt der Herr Minister aus nichtigstem AnlaB Streit mit der
preuBischen Regierung, dcren Lcbcn ohnehin nur noch kurz
befristct ist. Milde dem braunschweiger Naziminister, Uner-
bittlichkeit gegen den preuBischen Braun. Hat das Reichs-
innenministerium den Ehrgeiz, das zu vollbringen, was dem
Volksentscheid der Rechtsparteien nicht gelang?
Die Sozialdemokratie tut jetzt sehr uberrascht, daB Groe-
ner ihren Erwartungen nicht entspricht und sich a la GeBler
auftut, Aber wie konnte sie nach der Entwicklung, die die-
ser Minister seit dem Panzerkreuzerkonflikt genommen hat,
auf besseres hoffen? Es ware die Pflicht der Partei gewesen,
ihren Einspruch zu erheben, als Briining vor wenigen Wochen
dem Reichswehrminister das Portefeuille des Innern auslie-
ferte. Damals nihrte sich die Partei nicht, und manche ihrer
Organe bekundeten bei dieser Gelegenheit Groener sogar ihr
besonderes Vertrauen, denn der Minister werde von den Na-
tionalsozialisten aufs bitterste gehaBt Was es mit diesem
HaB auf sich hat, wissen wir( seit der General-Bureauvor-
steher von Schleicher als Mittelsmann zwischen Zentrum und
Hitler fungiert. Die Sozialdemokratie hatte die Fortsetzung
ihrer Tolerierurig auch von einer sachgemaBen Besetzung des
Innenministeriums abhangig machen miissen, Aber die Sozial-
demokratie hatte sich damals schon so viel vergeben, dafi sie
an Bedeutung hinter der Wirtschaftspartei rangierte, Es wird
von manchen Seiten darauf verwiesen, daB Herr Groener im
Grunde seiner Seele noch immer ein guter Demokrat sei, daB
er aber aus seiner militaristischen Haut nicht herauskonne. Der
psychologische Tatbestand Groener interessiert uns wenig, je-
denfalls hat dieser General zurzeit zuviel Macht in den Han-
den, als daB es die vornehmste Aufgabe der Entmachteten
ware, fur ihn Plaidoyers auszusinnen, mildernde Umstande ins
Treffen zu fuhren. Die Abtretung der gesamten Exekutive an
einen Militar bedeutet immer seibstgewollte Abdankung des
Verfassungsstaates. Weil die deutsche Linke von dem Geist
eines konstitutionellen Staates keine Ahnung hat, deshalb
konnte sie den Einzug Groeners ins Reichsinnenministerium
widerspruchslos hinnehmen. Wie Groener sein Amt auffaBt,
hat er durch seine Nachsicht gegeniiber Klagges, durch seine
Gereiztheit bei dem Rundfunk-Zwischenfall bewiesen, falls
noch etwas zu beweisen war.
Diesmal ist der Konflikt noch abgeblasen, diesmal ist noch
eine verbindliche Formel gefunden worden. Dennoch wird
das Gras, das iiiber dieser Affare gepflanzt wurde, nicht hoch
wachsen. Dennoch laBt sich an den Fingern abzahlen, daB
wir. einer hochst dramatischen innenpolitischen Aera entgeg^n-
gehen. Die Rechte wiinscht nach wie vor sehniichst die Er-
oberung Preufiens, vielleicht sehnlicher als die des Reiches-
Eine Reihe langer Wintermonate trennt uns noch von den
preuBischen Wahlen, uber deren Resultat kein Zweifel be-
steht. Ein Konflikt zwischen dem Reich und PreuBen kann
die Wartefrist verkiirzen. Meinungsverschiedenheiten sind in
Fiille vorhanden. Seit' Jahr und Tag schreit die Rechtspresse
zum Beispiel, daB die berliner Funkstunde in Handen der Ro-
730
ten sei und der Marxismus dort namenlose Greucl veriibe. Das
ist eine gehorige Ubertreibung, denn das einzige Rote am Rund-
funk ist das leuchtende Haupthaar des Herrn Heilmann, der im
politischen OberwachungsauschuB nicht grade den Radikalis-
mus fordert. DaB Groener aber gegen diese Zensurkommis-
sion vorging und neue Zusammensetzung und andre Direktiven
verlangte, beweist doch, daB die Klagen der beleidigten Patrio-
ten auf ihn Eindruck gemacht haben. Neuerdings wird von
der Rechten mit verdachtiger Systematik Material gesammelt,
aus dem sich ergeben soil, daB die preufiische Regierung die
Kommunisten allzu Hebenswiirdig anfasse, LaBt sich das Reichs-
innenministerium auch von solchen Stimmen beeinflussen, so
wird bald der schonste Krach da sein. Wenn sich Groeners
Probeblitz zunachst auch als kalter Schlag , erwiesen hat, so
kann doch beim nachsten Mai schon die Gewittermaschine ge-
schickter gehandhabt werden. Wahrend der Rechtsradikalis-
mus immer mehr in die Breite wachst, seine Sprache immer
larmender wird, seine hochverraterischen Absichten immer
unverhiillter in die Welt hinausgeschrien werd en, empf indet
der Minister das harmlose Elaborat des Herrn Holtermann als
Bedrohung des innern Friedens. Wenn der Staat die Verkiin-
dung seiner eignen Ideologic als ,,parteipolitisch" unterdriicken
will, so haben es seine Gegner leicht, so braticht der Fascis-
mus sich nicht selbst anzustrengen. Der reibungslose Ubergang
ist garantiert.
Wir hoffen auf Wirtschaftswunder
von Jan Bargenhusen
Die Frage, ob wir durch den Winter kommen, glaubt Diet-
rich mit Ja beantworten zu konnen ...
Bericht der ,Vossischen Zeitung4 iiber eine Rede des
ReichsHnanzministers
In den bessern berliner Salons, also dort, wo man kaum noch
einen jiidischen Bankier trifft, sondern Industrieleute, Diplo-
maten, fortschrittliche Reichsbeamte, Militars und andre zu-
verlassig nationalgesinnte Herren, in diesen Salons kursiert
eine neue trostliche Formulierung. Sie lautet: ,,Wir gehen eben
mit RuBIand und mit den Donaustaaten zusammen, wenn es
mit Frankreich und den U.S.A. nicht klappt. Die wirtschaft-
liche Seite der Sache ist bereits geregelt."
Und Jeder, der es hort, freut sich, glaubt es, weil es ihn
freut, und geht hin, und erzahlt es weiter. Der Gedanke ist
fur einen Durchschnitts-Burger ja auch allzu verlockend. Es
gibt da welche, so hort er voll Beruhigung, die haben fiir uns vor-
gesorgt; die haben nicht nur eine neue Idee sondern auch gleich
fertig ausgearbeitete Plane fur eine neue Organisation. „ Or-
ganisation" — das ist ja bekanntlich ein Zauberwort — ein
Schlussel zum deutschen Herzen. Den Franzosen und den
Amerikanern, denen werden wirs also schon zeigen, so heiBt
es; wenn sie nicht nett zu uns sind, dann machen wir einfach
auf dem Absatz linksherum kehrt, Gesicht nach dem Osten,
und jene, wenn sie uns dann noch was wollen, dann konnen-
731
sieunsmal . . . Und schlieBlich: wcnn wir auf ciner ncucn
„staatskapitalistischen" Basis mit dem Ostcn und dem Siid-
osten zusammenarbeitcn, dann wird das anch fiir unsre Kom-
munisten cine hcilsame Ablenkung von ihrcn antikapitalisti-
schen Ideen sein, dann ist ihnen ein ordentlicher Knochen zum
Knabbern hingeworfen. Also auch die soziale Frage, soweit
sie eine sozial-radikale Frage ist, lost sich dann spielend.
Denn die deutschen Kommunisten konnen unmoglich einem
Staat, der mit der Sowjetunion verbiindet ist, innenpolitische
Schwierigkeiten machen. Oder — ?
Lohnt es sich, uber jene Ideen zu diskutieren? Nein, es
lohnt sich nicht. Dieser Plan ist kein Plan. Wir konnen
unsre Wirtschaft nicht so von heut auf morgen von der west-
europaisch-amerikanischen Welt t,abhangen'\ Wir konnen
nicht die Hafen von Hamburg und Duisburg-Miilheim ,,eben* '
mal zumachen und dafiir Konigsberg und Passau groB auf neu
etablieren. Und die wirtschaftliche Seite der Sache mit den
Ost- und Siidost-Staaten ist weder bereits geregelt, noch ist
sie iiberhaupt in einer fiir Deutschland halbwegs befriedigen-
den Weise zu regeln.
Also, es lohnt sich nicht, daruber zu reden. Immerhin
ist das Faktum festzuhalten, daB derartige Ost-Sudost-Plane
jetzt ernstlich, wenn auch nur in denkbar vager Form, von Leu-
ten diskutiert v/erden, die eigentlich, ihrer Vorbildung und
ihrer Stellung im praktischen Leben nach, ernsthaft uber diese
Dinge urteilen konnten — wahrend bisher nur die all-round-
Politiker der ,Tat* mit der von ihnen eigens in AuBenhandels-
statistiken liberaler Aufmachung eingewickelten ,,Sudost-
Losung*1 zu hausieren pflegten.
*
In der offiziellen Wirtschaftspolitik spielt der Ost-Siidost-
Gedanke vorlaufig noch keine besondere Rolle. Als ultima
ratio hochstens werden dort solche Phantasien erwogen. Die
offizielle Wirtschaftspolitik namlich hat iiberhaupt keinen
Plan. Man laBt den Wirtschaftsbeirat tagen, und hofft darauf,
daB ein Wunder geschehen soil. Alles muB darauf angelegt wer-
den, so lautet die Maxime der WilhelmstraBe, uber die nachsten
Wochen und Monate hinwegzukommen. Dann wird sich schon
irgend eine Losung finden. Bis dahin heiBt es: beide Augen
fest zu, nur nicht viel in der Offentlichkeit reden, dem Volke
muB ein Gefuhl der Sicherheit gegeben werden. Durchhalten
und stilihalten buten und binnen!
Es ist ein Zeichen fiir das auBerordentliche Beharrungs-
vermogen, das der kapitalistischen Wirtschaft trotz alien
Schlappen noch innewohnt, daB bei einer solch phantasti-
schen Plan- und Ideenlosigkeit der sogenannten Fuhrung die
Dinge noch weiterlauf en, ja, daB sogar so etwas wie ein klei-
ner Ansatz zur Konsolidierung der Verhaltnisse zu bemerken
ist. Die Gold- und Devisenabziehungen bei der Reichsbank
haben nachgelassen und sind zeitweilig zum Stillstand ge-
kommen. Die besonders gefahrliche Situation bei den Spar-
kassen, die monatelang unter dauernden Abhebungen gelitten
732
haben bis zur fast volligen Erschopfung ihrer mit Reichsbank-
hilfc mehrfach aufgebesserten Liquiditat, hat sich gebcssert.
Einc Ideologic oder gar ein Plan, fur die radikale Umgestaltung
der deutschen Wirtschaftsverhaltnisse fehlt bei den Kommuni-
sten ebenso wie bei den Extremen auf der Rechten, ,,Kein
Mensch ist wieder mal fertig", so hort man die ehrlich bekiim-
merten verhinderten Revolutionare von links und rechts ge-
legentlich sagen. So kann sich das Beharrungsvermogen des
kapitalistischen Apparates auswirken, trotz den defaitistischen
Neigungen, von denen die Vollblutkapitalisten, wie sie Sombart
nannte, fast ausnahmslos erfiillt sind.
Nun hofft man also auf das Wunder. Vielleicht kann die
deutsch-franzosische Verstandigung, die ja schlieBlich doch ein-
mal kommen muB( alles zum Guten Wenden — ? Andre mei-
nen wieder, daB die neue Rohstoff-Konjunktur, die in Amerika
angebrochen ist, und die sich, trotz manchen Ruckschlagen, bei
Getreide, Metallen, Olsaaten und Textilien zu behaupten
scheint, zu einem Umschwung fiihren konne. Ja, wenn nun
doch noch ein kleiner handlicher Krieg in der Mandschurei
entstehen mochte, mit alien Segnungen der Kriegskonjunktur
fiir Japan, das ware natiirlich eine fast ideale Losung!
*
Die Frage ist nur, ob die psychologische Ermutigung, die
aus einer deutsch-franzosischen Verstandigung erwachsen
konnte, zu ausreichend starken Auftriebstendenzen fiihren
kann, urn auch der deutschen Wirtschaft einc Oberwindung des
krampfartigen Krisenzustandes zu ermoglichen. Und ebenso
ist es fraglich, ob der Preisanstieg anf den Rohstoffmarkten,
der fiir die westeuropaischen Lander und die beiden amerika-
nischen Kontinente tatsachlich eine Erlosung aus der Depres-
sion bringen kann, fiir Deutschland mit seiner potenzierten
Krise noch etwa Hilfe bringen wird. Je mehr der unsubstan-
tiierte Optimismus der deutschen Wirtschaftslenker ins Kraut
schieBt, jener kaum ertra\gliche Optimismus a la Hermann
Dietrich, um so skeptischer muB man werden.
Immer noch drohen fiir den Bestand der Wahrung die
groBten Gefahren, Es ist fraglich, ob man, trotz dem Teil-
moratorium im Stillhalte-Abkommen, den Kurs der Mark auf
die Dauer erfolgreich verteidigen kann, wenn die Exportmog-
lichkeiten durch Antidumping- und SchutzzollmaBnahmen des
Ausiandes geringer werden, wenn die Konkurrenz der Lander
mit „goldfreier" Wahrung starker wirksam wird, und .wenn
die billig erworbenen deutschen Rohstoffvorratc sich einmal
erschopfen. Mit den bisher angewandten Methoden zur Preis-
senkung werden auch die deutschen Exportpreise nicht in
dem fiir die Devisenbeschaffung erforderlichen MaBe weiter-
hin herabgepreBt werden konnen, Gibt man aber dem Dran-
gen der Landwirtschaft nach und reglementiert man, um De-
visen zu „sparen", die Einfuhr, dann kbmmt es automatisch zu
Preissteigerungen im Inland, damit also zur Verringerung der
Exportmoglichkeiten.
SchlieBlich bleibt trotz alien Devisen-Verordnungen die
,fErfassung" der deutschen Exporterlose hochst unvollkommen*
Ein scharferes Zufassen der Regierung gegeniiber dieser neu-
2 733
sten Art von Kapitalfhicht unterblcibt aber, Warum, das weiB
eigentlich niemand. Es ist zwar richtig, daB der Kampf ge-
gen die Kapitalfhicht neuen und alten Stils eine verfluchte
Ahnlichkeit mit dem Versuch hat, Wasser in einem Sieb fort-
tragen zu wollen. Aber trotzdem muB die Regierung, wenn
sie schon einmal den Kampf um die Repatriierung des Flucht-
kapitals axifgenommen hat, dabei lest zufassen, schon um das
Gesicht zu wahren, um sich im Inland einen psychologischen
Effekt zu sichern. Zum Beispiel: warum werden nur die noch
in Deutschland wohnenden Besitzer auslandischer Guthaben
zur Anmeldung und Liquidierung jener Fluchtkapitalien
gezwungen, warum nicht atich die ins Ausland iiber-
gesiedelten Kapitalfluchtlinge? Kein hollandischer oder
schweizer Bankmann versteht diese verschiedenartige Be-
handlung seiner deutschen Kundschaft. Wollte man den
Auswanderern, die sich in der Nahe ihrer Bankkonten und
fern von den deutschen Finanzamtern irgendwo an freundlichen
Gestaden angesiedelt haben, mit dem Verlust der deutschen
Staatsangehorigkeit und mit der Anprangerung ihrer Namen
drohen, so konnte man immerhin einige hundert Millionen
Mark in Devisenform zuruckerhalten. Wenn natiirlich auch
hier wieder die ganz GroBen, mit ihren gut verschachtelten
Konzernen, nahezu unangreifbar waren. Und fiir die schwei-
zerischen und hollandischen Banken ware eine solche Drainage
ihrer uberfullten Depots noch nicht einmal so unangeriehm.
Die groBere Gefahr fiir die Erhaltung der Wahrung droht
freilich nicht vom Ausland, von der Devisenbilanz her, sondern
von der inlandischen Entwicklung. Projekte der ,,Ankurbe-
iung*' und ,,Kreditausweitung" werden heute noch in den Mi-
nisterien von denselben Sachverstandigen ausgearbeitet, die
friiher die Beschaffung von Auslandskrediten fiir die offent-
liche Hand gar nicht genug empfehlen konnten; der Erfolg
ihrer Tatigkeit, Fehlinvestitionen und unsolide Finanzgebarung
in vielen Kommunen, hat sie noch nicht belehrt. Aber vielleicht
ist diese Projektemacherei noch nicht einmal das schlimmste,
Akuter ist wohl noch die Gefahr, daB in immer neuen
Stiitzungsaktionen fiir notleidende Teile der Wirtschaft solange
weitere Garantien und Schatzwechselkredite des Reichs und
der Lander gegeben werden, bis schlieBlich einmal bei der Be-
anspruchung der Biirgschaften und bei dem Liquidemachen der
Schatzscheine die beriihmte MAusweitung des Notenumlaufs'*
eintritt. Und, in ihrem Gefolge, die inflationistische Preis-
steigerung, die Flucht in die Waren und die sonstigen nSach-
werte". Dann ade, Diskontpolitik und Deflationsdruck, adef
Reichsmark!
Will man diese Gefahr vermeiden, so muB die Preissenkung
ernstlich betrieben werden. - Die Hemmungen, die einem Preis-
abbau entgegenstehen, sind aber aufierordentlich stark, vor
allem deshalb, weil jede weitere Senkung der Erlose fiir immer
mehr Unternehmungen, die von den Gestehungskosten und den
„fixen" Vorbelastungen, unter denen die Zinsen fiir alte Kre-
dite nachgerade eine betrachtliche Rolle spielen, nicht so schnell
herunterkommen, das Ende bedeuten muB. Eine Zinssenkung
734
Jaflt sich aber nicht dekrctiercn; dariiber bestehtnun fast
tiberall Klarheit. In dieser Lage gewinnt bei sehr verniinftigen
und ruhigdenkcnden Leutcn die Meinung mehr und mehr Bo-
den, daB, um der Scylla „Preissteigerung" und der Charybdis
„Wirtschaftsschrumpfung" zu entgehen, der vermmftigste Aus-
weg doch noch eine Verkleinerung der Mark ware, eine De-
valvation also, etwa nach englischem Muster um rund zwanzig
oder funfundzwanzig Prozent. Die neue Reichsmark, vier
Fiinftel oder drei Viertel des alten Goldwertes betragend, und
wieder gleichwertig dem engiischen Schilling, konnte freilich
erst nach der Stabilisierung der britischen Wahrung dekretiert
werden. Das miiBte dann auch mit einem Schlage geschehen.
Anders in England, wo man den Pfundkurs, nach der Abhan-
gung vom Goldstandard, sich erst auf einem neuen Gleichge-
wicht einpendeln lieB, weil bei freier Kursbildung die Gefahr
eines weitern Abgleitens der Mark fiir das inflationskundige
Deutschland zu groB ware.
Natiirlich bedeutet eine solche Losung eine Verringerung
der Zinsertrage fiir langfristig angelegtes Kapital. Aber diese
partielle „Enteignung" des Kapitalisten und des Sparers wiirde
20 oder 25 Prozent nur dann ausmachen, wenn, was unwahr-
scheinlich ist, die Inlandspreise schnell auf den alten Goldstand
ansteigen wiirden. Die allmahliche Anpassung der Preise (und
Lohne!) an den fruhern Goldstand, die sich auf den verschiede-
nen wirtschaftsgebieten mit verschiedenem Tempo vollzieht,
auf manchen Gebieten auch fast ganz ausbleiben wird, schafft
ja eben erst die erwiinschte Atempause.
*
Einwand Nummer eins: Die auf Goldwahrung lautenden
Auslandsschulden werden, nach der Verkleinerung des Reichs-
markwertes, um so schwerer und driickender.
Einwand Nummer zwei: Die notwendig werdende Auf-
hebung der Goldklauseln bei langfristigen Inlandsschulden, wo-
bei an die Hypotheken auf Feingoldbasis zu denken ist, zer-
stort Treu und Glauben, bedeutet. einen Vertragsbruch.
Einwand Nummer drei: Die Sparer werden demoralisiert;
die Kreditwirtschaft in Deutschland stockt vollig.
Es gibt noch mehr Einwande. Aber wie schwer ist ihr Ge-
wicht in einer Situation, wo man sich sagen muB, daB in abseh-
barer Zeit ganze Kategorien von festverzinslichen Papieren
notleidend werden, weil die Zinsschuldner nicht mehr zahlen
konnen und die Volistreckung gegen si'e ergebnislos bleibt, daB
also die partielle Enteignung der Sparer und der Kapitalisten
und der Stillstand in groBen Teilgebieten der Kreditwirtschaft
ohnedies droht? Es bleibt nur die Wahl des-kleinern Obels.
Ob die Devalvation dies Projekt, iiber das heute trotz alien
offiziosen Dementis sehr ernstlich gesprochen wird, tatsachlich
das kieinere Obel ist, laBt sich schwer sagen. Aber schlieBlich
ist es vielleicht doch besser, daB iiberhaupt etwas geschieht,
auch eine gefahrliche Operation, als daB man die Dinge von
Regierungs wegen unter ewigen Erorterungen treiben laBt,
hoffend, daB noch rechtzeitig ein Wunder geschehe. Man ver-
Jangt, daB Opfer gebracht werden? Opfer kann nur bringen,
wer noch etwas hat.
735
NachkriegS-KapltalismUS von Thomas Tarn
^achkriegs-Kapitalismus, das ist die Epoche, in der der Nie-
dergang des gesamten kapitalistischen Systems — wenn
auch in den einzelnen Landern nicht gleichmaBig — immer
deutlicher wird. Nachkriegs-Kapitalismus ist die Epoche, in
der die imperialistischen Expansionsmoglichkeiten immer star-
ker beschnitten und die kapitalistischen Widerspriiche immer
scharfer werden. Die Epoche, in der von einer Kohjunktur im
Vorkriegssinne nicht mehr die Rede ist, in der daher die
Krise nicht eine vorubergehende Unterbrechung einer
selbstverstandlichen Aufwartsentwicklung darstellt, sondern in
der sie der plastischste Ausdruck dafiir ist, daB die Wider-
spriiche immer schwerer zu iiberwinden sind, in der sie immer
mehr das gesamte System erfaBt und damit zu einer politischen
wird, Kaum jemals zuvor ist der Funktionszusammenhang zwi-
schen Politik und Wirtschaft so stark hervorgetreten.
DaB die Krise die schwerste ist, die den Kapitalismus seit
hundert Jahren betroffen hat, muB allmahlich auch von der
biirgerlichen Wissenschaft zugegeben werden. Da man den Ver-
fall des ganzen Systems natiirlich nicht zugeben darf, so muB
man die Erklarung in Erscheinungen suchen, fiir die nicht der
Kapitalismus selbst verantwortlich ist sondern eine Reihe
andrer Faktoren. Unzahlige Versuche sind in dieser Richtung
unternommen worden. Einer der letzten ist eine Untersuchung
der Handels-Redaktion der (Frankfurter Zeitung*: ,,Nachkriegs-
Kapitalismus'*. Es soil zu dieser Untersuchung hier prinzipiell
Stellung genommen werden. Daher muB schon am Eingang
betont werden, was diese. Untersuchung nicht enthalt: eine
Analyse des Imperialismus wird nicht vorgenommen, das Wort
Imperialismus kommt nicht einmal vor; und das ist kein Zu-
fall. Da die ganze Untersuchung dem Nachweis gewidmet ist,
daB der Kapitalismus als freie Marktwirtschaft gut funktionie-
ren wiirde, und daB nur „auBer6konomische" MaBnahmen, Zoll-
politik, Subvention und Intervention etcetera an der schauri-
gen Lage heute schuld sind, daB man daher diese ihm wesens-
fremden Bestandteile beseitigen rmisse, damit alles gut funk-
tioniert, so laBt man den Imperialismus einfach unter den Tisch
fallen, da ja jede Analyse des Imperialismus die fiir die hetitige
Epoche des Kapitalismus notwendige funktionale Verkettung
zwischen Okonomie und Politik aufweisen wiirde.
Vom Imperialismus ist daher nicht die Rede. Aber es gab
ja einen imperialistischen Krieg, von dem auch die frankfurter
Zeitung* behauptet, daB er sehr entscheidende Konsequenzen
fiir den Kapitalismus habe. Was hat man dariiber zu sagen?
Um cine Krise des Systems konnte es sich also beim Zusammen-
bruch von alledem hochstens handeln, wenn man das Wettrusten und
den Weltkrieg, die Kriegsschulden und die Inflation, die K^jegswirt-
schaft und ihre Nachwirkungen, die Friedensvertrage und den ganzen
protektonistischen, monopolistischen und interventionistischen Wider-
sinn dieser Nachkriegs epoche ebenfalls dem Kapitalismus in die Schuhe
schieben wollte — era zwar modernes, aber ungewohnlich torichtes
Verfahren, denn hat es nicht in friihern Perioden, in denen vom Kapi-
talismus noch nicht die Rede war, ebenfalls schwere und lange Kriege
• • - gegeben?
736
Weil es vor dem Kapitalismus Kriege gegeben hat, darum
hat der Kapitalismus als Imperialismus nichts Entscheidendes
mit dem Krieg zu tun! Und das ist keine zufallige Entgleisung,
denn am Ende der Untersuchung heiBt es:
DaB aber der Weltkrieg, diese Quelle der meisten Ubel, seinerseits
wieder nur eine logische Folge der freien Marktwirtschaft gewesen
seif daB die Konkurrenz am Weltmarkt ihre wirtschaftlichen Gegen-
satze schliefilich mit Waffen hatte austragen miissen, ist und bleibt —
trotz des politischen Einflusses, den gewisse Rustungsindustrielle in
mancben Landern ausgetibt haben mogen — ein Ammenmarchen, das
durch die wirtschaftlichen Note auch der Sieger zur Gentige widerlegt
ist, wenn es nicht scbon durch den Hinweis auf die groBen Kriege vor-
kapitalistischer Zeit hinreichend gekennzeichnet ware.
Die Naivitat dieser Art von Beweisfuhrung kann wirklich
schwer iibertroffen werden. Erst wird der Vorkriegskapitalis-
mus identisch mit freier Marktwirtschaft gesetzt, Er war aber
keine freie Marktwirtschaft sondern ein imperialistischer Kapi-
talismus, um dessen besondere Merkmale sich diese Unter-
suchung herumdruckt. Die imperialistischen Konkurrenz-
kampfe waren der entscheidende Faktor fur den Weltkrieg,
der den Niedergang des gesamten imperialistischen Systems
einleitete, Und wenn es im unmittelbaren AnschluB an dieser
Stelle heiBt: MFur kein Wirtschaftssystem sind — ganz im Ge-
genteil — friedliche Beziehungen zwischen den Nationen von
so vitaler Bedeutung wie fiir die freie Marktwirtschaft", so
sind die Kapitalisten bisher andrer Meinung gewesen. Das zeigt
die Aufriistungspolitik in alien kapitalistischen Staaten, das
zeigt die vollige Bedeutungslosigkeit des Volkerbundes, die sich
erst jetzt wieder beim Konflikt zwischen Japan und China so
deutlich demonstrierte.
Wenn der Imperialismus uberhaupt nicht einmal erwahnt
wird, da die Beziehungen zwischen Okonomie und Politik vol-
lig im Dunkeln bleiben, so versperrt sich diese Untersuchung
auch die Moglichkeit, etwas zum Krisenproblem zu sagen. Man
kann nicht verlangen, daB die Marxsche Krisentheorie und
ihre Weiterbildung den Verfassern der Untersuchung bekannt
ist; aber dann sollten sie daruber wenigstens den Mund halten.
Nur in Volksversammlungen kann man erklaren, daB Marx
eine „Zusammenbruchstheorie'* aufgestellt hat. In Wirklichkeit
hat grade er in alien seinen Schriften den entscheidenden Nach-
druck darauf gelegt, daB die okonomische Krise nur durch die
politische Tat der Arbeiterklasse zum Sturz des kapitalisti-
schen Systems fuhren kann. Zur Krise heiBt es weiter:
Er (der aufkommende Sozialismus) hat sich mit viel Scharfsinn
um den Nachweis bemuht, daB periodische Krisen im Kapitalismus un-
ausbleiblich seien und daB es sich gewissermaBen um einen organischen
Konstruktionsfehler handle, der nicht anders als durch Ersetzung des
ganzen Systems geheilt werden konne, Diese Kritik ist spater in dem
Grade verstummt, in dem die Krisen sich abschwachten, und als
schlieBlich, wie in den Depressionen von 1902 und 1907, die Er-
mattungsperioden lediglich dadurch fuhlbar wurden, daB die Pro-
duktion zeitweise weniger sturmisch ausgedehnt wufde als in Auf-
schwungszeiten, da wurde diese Kritik stiller, und man sah die Krisen
nicht weiter als eine dem System .immanente* Erscheinung an, zumal
da die fruhere Beweisfuhrung fur diese These sich als wissenschaftlich
unhaltbar erwiesen hatte.
737
Man erstaunt uber die Leichtfertigkeit, mit der solche Be-
hauptungen in die Welt gesetzt werden. Die marxistische Kri-
tik am Kapitalismus ist nicht stiller geworden, als in der Epoch e
der imperialistischen Expansion iiber die ganze Welt der Kri-
senzykkis an Hefiigkeii abnahm, Sondern die marxistische Kri-
tik hat bewiesen, daB und warum auf dem Wege der imperia-
listischen Expansion voriibergehend die Krisen an Heftigkeit
abnehmen konnten, und sie hat sich grade durch diesen Nach-
weis die Voraussetzung geschaffen, um die heutige Krisen-
situation zu begreifen, die eine Krise eben nicht mehr im Auf-
stieg sondern im Niedergang des Systems ist. Wenn es in der
Untersuchung der .Frankfurter Zeitung' heiBt: ,,Ob die jetzige
groBe Krise eine zulallige historische Einmaligkeit darstellt
oder ob sie eine aus dem System folgende naturnotwendige
Storung istf deren Wiederholurig nicht nur moglich, sondern
auch wahrscheinlich ist, das ist eine Frage fiir sich," so ist das
nicht eine Frage fiir sich, sondern es ist die Grundfrage, die
zunachst einmal zu behandeln ist, bevor man zu irgend einer
konkreten Frage Stellung nehmen kann.
Wir konnten uns mit diesen prinzipiellen Einwanden be-
gniigen, wenn nicht in dieser Untersuchung mit <ler Vertretung
xiberlebter liberaler Lehrsatze sehr deutlich eine Vertretung
der brutalsten Unternehmerinteressen verbunden ware, Fiir
die besondere Sohwere der deutschen Krise werden die „uber-
hohten" Lohne verantwortlich gemacht, die sich nicht aus dem
freien Spiel der Krafte ergeben hatten sondern durch die staat-
liche Schlichtungspraxis. Die frankfurter Zeitung' ist so gii-
tig zu schreiben: ,,Naturlich ist nicht unsre gesamte Arbeits-
losigkeit auf Lohnubersteigung zuriickzufiihren'* — das heifit
also: ein groBer Teil der Arbeitslosigkeit kommt von der Lohn-
steigerung, Und das wagt man in der gleichen Zeit zu schrei-
ben, in der es in den Vereinigten Staaten acht bis zehn Millio-
nen Arbeitslose gibt, ohne dafi dort jemals ein staatlicber
Schlichter eingegriffen hatte.
Mit der Vertiefung der Krise, mit der riesenhaften indu-
striellen Reservearmee schlagt die okonomische Krise in die
politische um, werden die Reste der Demokratie zu Grabe ge-
tragen. Was hat die Untersuchung der ,Frankfurter Zeitung'
dazu zu sagen? Sie zitiert zustimmend ein en Satz von Mises
aus „Ursachen der Wirtschaftskrise*': MDie kapitalistische
Marktwirtschaft ist eine Demokratie, in der jeder Groschen
eine Wahlstimme gibt. Der Reichtum erfolgreicher Geschafts-
leute ist das Ergebnis eines Plebiszits der Konsumenten. Und
nur der kann einmal erworbenen Reichtum bewahren, der ihn
immer wieder aufs neue durch Befriedigung der Wiinsche der
Konsumenten erwirbt Die kapitalistische Gesellschaftsord-
nung ist mithin im strengsten Sinne des Wortes Wirtschafts-
demokratie." Hier hilft keine Polemik mehr. Gegen die
.Deutsche Allgemeine Zeitung* kann man polemisieren. Sie
weiB, daB heute Klasse gegen Klasse stent. Gegen diese Art
des Hberalen Biirgertums jedoch, das nicht sehen will, wie es
mehr und mehr den Bo den unter den FiiBen verliert, ist eine
Polemik nicht mehr moglich.
738
Die Stehkragenfront wankt von Hiide waiter
Als vor drci Jahren an dieser Stellc von der Proletarisie-
" rung der dreieinhalb Millionen Angestellten gesprochen
wurde, wuBte man noch nicht, welche politische Heimat sich
die Mehrzahl der unorganisierten, in burgerlicher Mittelstands-
ideologie befangenen „Stehkragenproletarier" aussuchen wiir-
den. Seitdem sind es vier Millionen Angestellte geworden,
von denen schon Ende August dieses Jahres funfhunderttau-
send arbeitslos waren. Die politisch Heimatlosen unter ihnen
haben offenbar inzwischen unter der Hakenkreuzfahne fur be-
vorzugte Biirgerschaft im Dritten Reich optiert,
Im gleichen MaBe, wie Lohn und Arbeitsbedingungen
dieser Schicht ins Bodenlose absanken, verfeinerten sich die
Kampfmethoden aller Parteien und Interessentengruppen um
ihre Seele und ihre StimmzetteL Eine stattliche Angestell-
tenliteratur ist in kiirzester Zeit entstanden. Ernsthafte so-
ziologisohe Untersuchungen, gute Romane und lacherliche
Schmarren beschaftigen sich mit den sozialen Tatbestanden
im Leben der Angestellten, Enqueteni der Berufsverbande
bringen das schwer erfaBbare statistische Material. Beson-
ders das Lebensschicksal der weiblichen Angestellten ist un-
gemein literatur- und filmfahig geworden, weil es wenigstens
in der Theorie Moglichkeiten fur ein happy end- bietet, die
allerdings nach bewahrtem Courths-Mahler-Rez^pt weniger
durch giinstige Arbeitsvertrage als durch lukrative Verwen-
dung weiblichen Charmes erreicht werden.
Das heftige Liebeswerben der Rechtsparteien und der
Unternehmer um die politische Gefolgschaft der Angestellten
hat aber keineswegs zu einer bevorzugten Behandlung bei den
Abbauaktionen gefiihrt. Man hat sogar die wichtigsten Privi-
legien der Angestellten, die ihnen geringe wirtschaftliche Vor-
teile im Vergleich mit der Arbeiterschaft brachten, sehr rigo-
ros beseitigt. Zuerst kamen die Gehaltsabziige bei Kurzarbeit
ohne Innehaltung der Kiindigungsfristen. Der erste Schritt
auf dem Weg zur Abschaffung der Monatsgehalter und zur Ein-
fiihrung der Stundenbezahlung. Das Reichsarbeitsgericht hat
die Methode gebilligt. Dann kam die Bestimmung der Not-
verordnung, daft kein Krankengeld mehr gezahlt werden darf,
wenn der Angestellte wahrend seiner Krankheit Gehalt be-
zieht. Wer das Risiko der Monatsgehalter iiberhaupt nicht
mehr tragen wollte, entliefi seine Angestellten und beschaftigte
Aushilfen im Stunden- oder Tagelohn. Der stille, irregulare
Gehaltsabbau durch ungiinstige Eingruppierung im Rahmen der
Tarifvertrage ist gar nicht zu erfassen. Jedenfalls wird der
Verlust an der Kaufkraft der Angestellten durch Erwerbslosig-
keit und Gehaltsabbau mit drei Milliard en im Jahr bewertet.
-Mehr als ein Viertel aller Angestellten verdiente schon Ende
vorigen Jahres weniger als hundert Mark monatlich, fast ein
Drittel zwischen hundert und zweihundert.
Trotzdem haben die Angestellten aiis ihrer wirtschaft-
lichen Situation noch immer nicht die politischen und gewerk-
^chaftlichen Konsequenzen gezogen. Nur 1,337 Millionen sind
iiberhaupt gewerkschaftlich organisiertf da von 477 000 in den
739
freigewerkschaftlichen Afa-Verbanden. Einc halbe Million
folgt den deutschnationalen Parolcn des Gesamtvcrbandes der
deutschen Angestelltengewerkschaften, 360 000 den burgerlich-
dcmokratischen des G.DA, Eine echte politische Radikali-
sierung parallel der Entwicklung unter der Arbeiterschaft ist
trotz dem unertraglichen wirtschaftlichen Druck nicht aui-
gekommen, denn ein ultralinker Fliigel im Sinn der R.G.O.
existiert nur in schwachen Ansatzen, Der Nationalismus jeder
Schattierung ist fur die verhinderten Burger viel reizvoller als
die Klassenkarnpftheorien aller sozialistischen Parteien. Trotz-
dem haben die freigewerkschaftlichen Afa-Verbande in der
Krise ihre Position behauptet und ihre Mitglieder an radikale
wirtschaftspolitische Stellungnahme gewohnt. Sie haben so-
gar eine erstklassige Avantgarde herangebildet, die noch viel
starker sein konnte, wenn es ihre politischen Verwandten in
der Nachkriegszeit besser verstanden und sich intensiver be-
miiht hatten, diese wirtschaftlioh proletarisierten Schichten mit
sozialistischer Ideologic vertraut zu machen.
Meuternde Matrosen von Fritz Ldwenthai
Pjas holtenauer Lotsenhaus an der Einmiindung des Nord-Ostsee-
*-* kanals in die Kieler Bucht war in den letzten Oktobertagen der
Schauplatz des Schnellgerichts gegen die Besatzungen deutscher
Schiffe, die im Hafen von Leningrad gestreikt haben.
Im Verlaufe des dritten Gesamtangriffs der Unternehmerschaft
auf Lohne und Lebenshaltung der deutschen Arbeiter und Angestell-
ten hielt der Verband deutscher Reeder in der zweiten September-
halfte den Augenblick fiir geeignet, aufierordentlich weitgehende Ab-
bauforderungen aufzustellen. Die Heuersatze der Seeleute sollten bis
zu ftinfzig Prozent, die der Seeoffiziere bis zu sechzig Prozent gesenkt,
die tagliche Arbeitszeit auf zehn bis vierzehn Stunden erhoht, der Ur-
laub beseitigt, die bisherige Uberstundenvergiitung durch Freizeit auf
Sec ersetzt, das Verpflegungsgeld wesentlich verringert werden. Im
Gegensatz zur Haltung der „freien" Gewerkschaft, deren wirtschafts-
friedliche Bureaukratie dem Klassenkampf von oben nicht mit gleichen
Mitteln begegnen wollte, gab der den Kommunisten nahestehende Ein-
heitsverband die Losung aus: Kampf gegen jeden Lohnabbau, gegen
jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Als ein am 2, Oktober
gefallter Schiedsspruch eine Lohnsenkung von 13 % Prozent brachte,
rief der Einheitsverband den Streik aus, Auf zahlreichen Schiffen in
den deutschen Hafen wurden die Maschinen gestoppt, die Feuer her-
ausgerissen. In Danzig wurden die Seeleute durch einen Streik der
Hafenarbeiter unterstiitzt. Auch nach verschiedenen auslandischen
Hafen warf die Bewegung ihre Wellen, besonders nach dem Hafen
von Leningrad.
Hier lagen.am 5, Oktober 33 deutsche Schiffe mit Maschinen und
andern Waren vor Anker. Als die Besatzungen, rund fiinfhundert
Mann, ho r ten, dafi ihnen durch Schiedsspruch unertragliche Ver-
schlechterungen aufgezwungeh werden sollten, beschlossen sie in einer
Versammlung im International en Seemanns-Klub einmtitig den Streik.
Die gewahlte Streikleitung fuhr am nachsten Morgen auf einer Bar-
kasse im ganzen Hafen herum und forderte zur Arbeitsniederlegung
auf; dieser Vorgang wurde dann durch die Presse in GewaltmaBnah-
men eines „Rollkommandos" umgefalscht. Die Mannschaften gingen
an Land und kehrten nur zur Ubernachtung auf die Fahrzeuge zurtick.
Nach Abbruch des Streiks in Deutschland wurde die Arbeit auch im
Hafen von Leningrad in groBter Disziplin wieder aufgenommen, die
Schiffe nahmen Kurs in die Heimat.
740
Jetzt war der Zeitpunkt fur eine Glanzleistung der deutschen
Justiz gekommen. Seeflugzeuge suchten die Ostsee ab, urn die heim-
kehrenden Schiffe moglichst fruhzeitig zu sichten. Vor der Einfahrt
in die Kieler Bucht wurden sie von einer Halbflottille von Kriegsfahr-
zeugen umkreist und zur Reede von Holtenau geleitet. Noch ehe die
Anker niedergingen, kam ein Staatsanwalt mit Schutzpolizei an Bord,
eilig wurden Protokolle aufgenommen, die Mannschaften mit Sack und
Pack an Land geholt und ein halbes Stiindchen spater standen die
Schwerverbrecher bereits vor dem Schnellrichter im Lotsenhaus,
Wahrend Streik an Land wenigstens tbeoretisch noch ein erlaub-
tes Mittel im Wirtschaftskampf ist, wird er nach der von mittelalter-
lichem Untertanengeist erfiillten Seemannsordnung von 1902 zur See
als „Meuterei" mit schweren Gefangnisstrafen bedroht. „Meuterei",
das gibt es sonst nur beim Heer und im Gefangnis. DaB Gehorsams-
verweigerung von Seeleuten ' mit dem gleichen Ausdruck gekenn-
zeichnet wird, ist mehr als ein ZufalL
Um den Aufenthalt der Schiffe vor Holtenau moglichst abzukiir-
zen und den Reedern jeden Zeitverlust zu ersparen, arbeitete das
Schnellgericht ununterbrochen: Tag und Nacht, Werktag und Sonntag,
In drei Schichten lost en sich Richter und Staatsanwalte ab. SchlieB-
lich sollten sogar zwei Schnellgerichtsgarnituren nebeneinander wir-
ken, zu gleicher Zeit im holtenauer Lotsenhaus und im Strafgericht
am Schutzenwall zu Kiel. DaB dieser Hochbetrieb nach 2K Tagen
vollig abebbte, lag nicht am Diensteifer der Justiz sondern daran, da6
kein „Material" mehr vorhanden war. Sturm auf der Ostsee verzogerte
die Ruckkehr vieler Schiffe auBerordentlich.
Die Angeklagten fiihlten sich gar nicht schuldbewufit, sie konnten
nicht verstehn, dafi ein Streik zur Abwehr eines unerhorten Angriffes
auf ihre Lebenshaltung strafbar sein sollte. Mit Stolz bekannten sie
sich zu ihrem Verhalten und erklarten, sie wurden im gleichen Falle
wieder genau so handeln, Ein Schiffsoffizier, der sich am Streik be-
teiligt hatte, sagte dem Gericht, er habe einsehn gelernt, da8 er vom
Reedereikapital nicht minder ausgebeutet werde als die Mannschaft;
ihr Kampf sei daher auch sein Kampf. Eine ganze Anzahl von Kapi-
tanen sympathisierte offenkundig mit den Streikendenj sie schiitzten
sie vor Strafe, indem sie aussagten, die Leute hatten nur gezwungen
am Streik teilgenommen, dafiir konne man sie nicht zur Verant-
wortung ziehen.
Wahrend die Mannschaft eines Dampfers, der im Hafen von K6-
nigsberg anlegte, mit Geldstrafen von vierzig Mark wegkam, verhangte
das kieler Gericht Strafen von vierzehn Tagen bis zu vier Monaten
Gefangnis, insgesamt bei etwa 85 Angeklagten rund zehn Jahre Ge-
fangnis. Berufung einzulegen, verbot sich, weil in alien Fallen sofort
Haftbefehl erlassen wurde; bis zur Verhandlung zweiter Instanz hatte
die Untersuchungshaft vermutlich langer gedauert als die angefochte-
nen Strafen. In dieser Hinsicht und namentlich auch durch die iiber-
fallartige Fixigkeit des Verfahrens bildete das Schnellgericht gegen
die Seeleute schon den Obergang zu den nach jeder Richtung von der
Willkfir der Reichsregierung abhangigen Sonder gericht en, deren Bil-
dung in der Notverordnung vom 6. Oktober 1931 vorgesehen ist. Hatte
nicht die Rote Hilfe sofort drei Verteidiger gestellt, so waren die See-
leute vollig unvorbereitet von dem Schnellgerichtsverfahren ereilt
worden. Gegen Bankdirektoren und andre Wirtschaftsverbrecher auf
der Unternehmerseite, die durch Prospektfalschungen und sonstige
Schiebungen das Volksvermogen um Dutzende von Millionen ge-
schadigt haben, greift die Staatsanwaltschaft viel behutsamer ein, wenn
sie sich uberhaupt zu einem Vorgehen entschliefit,
Im Falle der streikenden Seeleute wollte man offenbar ein Exem-
pel statuieren. Jene GroBziigigkeit, mit der man in England vor we-
nigen Wochen die meuternden Matrosen ungeschoren lieB, obwohl man
3 741
nachtraglich das Versprechen der Straffreiheit als erpreBt hatte wider-
rufen konnen, fand bci deutscben Behorden keine Nachahmung. Wenn
in Kiel, dort, wo im November 1918 zum ersten Male die rote Flagge
auf deutschen Kriegsfahrzeugen wehte, harte Urteile gefallt wurden,
so konnte darin eine spate Raphe der damals verjagten und mit
Noskes Hilfe wieder zur Macht gelangten Schichten erbiicki werden.
In unsern Tagen des kapitalistiscben Zusammenbruchs ist das ein ge-
fahrliches Experiment,
Ein Ketzer wird gemacht von iheodor Timpe
F\ ie Savonarolas werden selten, seit den auf fremden Pfrunden
sitzenden Seelenhirten unter wackrer Hilfe der Republik
die Lenden schwellen. Ein voller Bauch. rebelliert nicht gern.
Und was hinter dicken Klostermauern an groBen und kleinen
Lutherepigonen den Oberri das Leben sauer macht, wird auf
dem dunklen Weg der Anstaltsinstanzen verhackstiickt und
abgewiirgt. Was dagegen in die Offentlichkeit kommt, ist
mager genug und im Szenenwechsel der Aktualitat schnell zu
den verstaubten Requisiten seliger Kulturkampfzeiten geworfen.
Dem ist rechtens so, denn wir haben wichtigere Dinge zu tun.
Auflerdem hat die Kirche einen guten Magen.
An „Macht und Geheimnis der Jesuit en" hat sich schon
iriancher die Zahne ladiert. Man weiB um ihre Organisation,
ahnt ihren Herrschaftsbereich, wenn man ihre Vertreter in den
maBgebenden vatikanischen Amtern trifft. Man kann den Er-
folg ihrer kirchenpolitischen Rankiine zuweilen an den Baro-
metern der staatlichen Beziehungen ablesen. Ihre selten er-
freuliche Wirksamkeit ist iiberall mit Handen zu greifen. Aber
die tiefern Einblicke in ihr Organisationsgetriebe sind doch
recht selten. Und man begruBt es, wenn hin und wieder ein
Versprengter anklopft und mit dem Biedermannseifer des Ver-
argerten die Betriebsgeheimnisse auspackt.
ALs kurz vor dem KonkordatsabschluB im vorigen Jahre
die liberale ,K6lnische Zeitung' mit einem aufsehenmachenden
Artikel: ,,Ein Justizskandal in Rom" herauskam, wo in
Dialogform gar Niedliches und Erbauliches aus dem ProzeB
eines Jesuitenprofessors mit seiner Gesellschaft ausgeplauscht
wTurde, da konnte die Meute der Zentrumspresse die fKolnische
Zeitung* nicht laut genug als Storenfried der Konkordatsver-
handlungen verbellen. Sicherlich kam dem vertragsgegne-
rischen Blatt der Beitrag nicht ungelegen. Aber iiber den
TagesanlaB hinaus erwartete man doch von dem ungliicklichen
ProzeBopfer eine eingehende Darstellung seiner Sache. Und
die liegt jetzt vor. (Papst und Jesuitengeneral, ein unerhorter
Justizskandal und seine geistigen Grundlagen. Dargestellt von
Doktor Franz Ernst, A. Falkenroth-Verlag, Bonn.)
Gleich der erste Satz der Broschiire erklart, daB sich
die Kritik nicht gegen Amt, Lehre, Recht und Gesetz der
Kirche wende, sondern nur eine BloBstellung, der gegenwarti-
gen Machtverhaltniss der Jesuiten und der Kirche sein wolle,
Uns interessiert hier nicht, was der Herauisgeber erreichen
will, sondern was er zu berichten weiB. Und das ist allerhand.
Der Kirchenskandal des jetzt sechzigjahrigen Jesuitenpaters
Professor P. H. Bremer, der 1902 in die Gesellschaft Jesu ein-
742
trat, 1908 bis 1912 Professor des Kirchenrechts und der Moral
am Regionalmuseum in Lecce (Unteritalicn) war und dann
wahrend und nach dem Kriege im Jesuitenkolleg der hollan-
dischen Grenzstadt Valkenburg beschaftigt wurde, begann, wie
das haufig vorkommt, mit Zensurstreitigkeiten.
Bei aller Einigkeit in Dogmenfragen befehden sich die
kirchlichen Schriftgelehrten in dem, was sie ,,abweichende
Lehrmeinung" nennen, mit derselben philosophischen Akribie
und dem gleichen tierischen Ernst, die den Auseinandersetzun-
gen ihrer profanen Kollegen einen oft so erheiternden Beige-
schmack geben. Ober die Zwirnsfaden erfinderischer Kon-
kurrenzlist stolperte auch der Pater Bremer. Eine Abhandlung
tiber den viel diskutierten „Probabilismus", das ist die Lehre
von der Freiheit des menschilchen Willens, wie sie die Je-
suiten verstanden haben wollen, in der er sich in deutlichen
Wendungen gegen die „herrschende Lehrmeinung" des Ordens
erging, wurde durch die Einheitsfront seiner wissenschaftlichen
Gegner von der Zensur verworfen, nachdem die erste Auflage
des gleichen Werkes vergriffen war und new aufgelegt werden
sollte. Die Berufung an den. Ordensgeneral endete damit, daB
dieser entgegen den kanonischen Vorschriften die Appellation
auf das gesamte Werk ausdehnte und seinen Inhalt als gegen
die allgemeingultige Kirchenlehre verstoBend erklarte. Ein
Appell an das romische Offizium, in dem der Papst den Vor-
sitz fiihrt, fand iiberhaupt keine Erledigung, auf weitere Schrei-
ben in den Jahren 1922 bis 1929 sowie auf* drei personliche
Brief e an den Papst blieb gleichfalls die Antwort aus. Was Wun-
der, daB der Beschwerdefiihrer langsam ungemiitlich wurde.
Mittlerweile setzte im valkenburger Kolleg das Geplankel
gegen den unbequemen Pater ein. Um ihn abzulenken, ver-
suchte man ihm die v^rschiedensten Posten anzudrehen. Er
lehnte ab. Ober den Halsstarrigen wurde verscharfte Zensur
verhangt. Gelegenheitsarbeiten fiir theologische Z«itschriften
HeB er darauf in einem fremden Kolleg mit Erfolg zensieren.
Kaum war das bekannt, als man zur Beschlagnahme von Auf-
satzen iiberging. Beschwerden an den Ordensgeneral nutzten
nichts, Der Pater HeB seine Arbeiten schlieBlich ohne Ge-
nehmigung drucken. Darauf wurden in einer trierer Zeitschrif-
tenredaktion die Arbeiten beschlagnahmt. Der valkenburger
Hausobere hatte gute Griinde fiir diesen „Diebstahl von Ma-
nuskripten". Denn er hatte seine Kasse durch die Zuriickbehal-
tung eines Teils von MeBstipendien, die fiir deutsche Priester-
seminare bestimmt waren, aufgefrischt. Und das hatte der
Pater durch die Veroffentlichung seiner Arbeit wenigstens fiir
die Zukunft verhindern wollen. Eine gerichtliche Klage gegen
den Schriftleiter verlief im Sande, die Beschwerde beim Pro-
vinzial endete mit der „fauilen Ausrede", die Manuskripte seien
vermutlich verlorengegangen.
Inzwischen sind die Gemiiter eingeheizt und in die Ausein-
andersetzungen flieBen polemische Tone ein. Bremer wirft dem
valkenburger Rektor und Provinzial Liige, Diebstahl, Verleum-
dung, Dummheit und Beschranktheit vor. Die Antwort ist:
,,Sie sind nicht normal . , . Wenn Sie nicht parieren, holen wir
den Irrenarzt." „Haben Sie noch alle fiinf Sinne zusammen",
743
schreibt ihm der Ordensgeneral, und dcr Pater antwortct prompt
und schlagend mit Zitatcn aus dem Johannesevangelium, die
seiner Quellenkenntnis alleEhre maclien. Selbst derPapst spricht
von Bremer in seiner Umgebung nur als von dem ,,Matto",
dem Verriickten, Dem Armen werden neue Verbote einge-
peitscht, Dann wieder geht ein hornberger SchieBen mit gegen-
seitigem Briefbombardement los, wobei Bremer ernsthaft zum
-Gegenangriff iibergeht, Au£ die scharfsten personlichen An-
griffe gegen die Behorde gibt es fur ihn Ruhe, Zwei Jahre
lang. Dann wird er durch Unterbindung schrifts teller ischer
Arbeit en aufs neue schikaniert, Er antwortet durch Klage-
erhebung gegen den General beim Vatikan. Er reitet sich
aber immer tiefer in die Tinte, Die vollige Brie£zensur wird
verlangt Der Pater umgeht sie. Die Post wird abgefangen,
Empfangsbescheinigungen werden getalscht, selbst einge-
schriebene Briefe an ihn bekommt er nie zu Gesicht. Da trifft
der Entscheid der Ordenskongregation ein, der die Eroffnung
des Prozesses mitteilt, Es kommt die Zeit, wo das romische
Intermezzo losgeht, Bei Nacht und Nebel fahrt der Pater mit
gepumptem Geld und verschabten Kleidern nach Rom, urn
• seine Sache zu vertreten. Vom Germanikum aus, wo man ihn
widerwillig wohnen laBt, geht der Kampf urn die Audienz beim
Papst los. Er antichambriert bei einem halben Dutzend hoher
Wurdentrager. Noch bevor sich die vatikanischen Revisions-
instanzen der Reihe nach fiir inkompetent erklart haben, hat
der verdutzte Romfahrer das Entlassungsurteil in der Tasche.
Er k-ehrt nach Valkenburg zuriick. Er riskiert sogar den
Herauswurf durch die hollandische Polizei. Obdach- und brot-
los gehts von Kloster zu Kloster, Nirgends bleibt er lange, da
seine Gesellschaft alles tut, um ihn unmoglich zu machen. Das
maastrichter Landgericht erkennt schlieBlich in einer fiinfzigsei-
tigen Urteilstschrif t die Rechte des Klagers an, erklart den Ein-
tritt in die Gesellschaf t als zweiseitig bindenden Vertrag, bestrei-
tet nach uimfangreichen Kommentierungen des einschlagigen Kir-
chenrechts irgendein Vergehen des Klagers und verurteilt den
Orden als leistungspflichtig. Es ergibt sich also der sicherlich
einzig dastehende Fall, daB ein Ordensgeistlicher von alien
kirchlichen Instanzen ausgeschlossen ist, der Orden aber gleich-
wohl fur ihn aufkommen muB.
Die Kirche praktiziert an ihren Haretikern nicht mehr
Folter und Scheiterhaufen. Ihre Mittel sind auBerlich humani-
siert worden und doch von gleicher Wirkung geblieben: Kalt-
stellung um jeden Preis. Diese moderne SpieLart der Inqui-
sition wird durch den Fall Bremer aus dem Katakomben-
dunkel ins Licht geriickt.
GewiB, die Kirche hat sich immer durch einen starken
autoritaren Zentralismus gegen ihre politischen, kulturellen,
ethischen und vor allem dogmatischen Kritiker aus ihren eig-,
nen Reihen zu schiitzen verstanden. Das ist ja grade die
Starke ihrer festgefiigten Organisation. Nicht jeder hat wie
der Pater Bremer die Zivilkourage, gegen diese lautlos, aber
exakt kopfende Apparatur, deren Schalthebel von einigen We-
nigen bedient werden, vorzuprellen. Die meisten wissen, daB
sie sich nur die Stirn wundstoBen, und lassens bleiben,
744
BeillS von Alexander Lernet-Holenia
p awel, Timofej, Stepan, Arkadij, Iwan, Wasil, Sergej, Dimitrij,
Fedor, Pjotr, Boris und Wlaaimir hieBen die Geschworenen,
die in dem 1912 verhandelten Beilis-ProzeB daruber zu ent-
scheiden batten, ob dieser B<eilis eines Ritualmordes schuldig
zu sprechen ware oder nicht.
Die .Geschworenen waren lauter Bauern. Intellektuelle
' jeder Art hatte man, vor der Auslosung, aus der Geschworenen-
liste aus prinzipielkn Griinden gestrichen. Man rechnete nam-
lich damit, dafi die Bauern den Beilis, eher als Intellektuelle
es tun wiirden, zu verurteilen sich entschlieBen konnten, Die
russische Regierung wiinschte die Verurteilung des Beilis, ob-
wohl sie wuBte, daB der Knabe Juschtschinskij gar nicht von
Beilis sondern von einer Diebesbande, der auch die Mutter des
Kindes angehorte, war ermordet worden. Das wuBten vor allem
die Minister Schtscheglowitow und Maklakow, ja sogar der Zar
selbst wuBte es.
Dennoch ward der ProzeB nicht gegen die Diebe sondern
gegen den Beilis angestrengt, weil man einen Beweis dafiir er-
bringen wollte, daB die Juden bei der Herstellung ihrer Oster-
brote Christenblut verwenden, und weil man die unzufriedene
Bevolkerung Rufilands von den innern Schwierigkeiten ab-
lenken und dazu verleiten wollte, ihrer Emporung in Juden-
progrome Luft zu machen,
Im Beilis-ProzeB also handelte es sich letzten Endes nicht
um die Schuld oder Nichtschuld des ganz irrelevant en Beilis
selbst sondern ,um «in Duell zwischen der russischen Regierung
und dem Judentum uberhaupt, Der Staatsanwalt hieB Wipper.
Ein Priester naraens Pronajtis war beauftragt, vor Gericht die
Existenz von Ritualmorden nachzuweisen. Dieser Pronajtis
eignete sich insofern dazu, als seine sehr obskure Vergangen-
heit ihn fur die Rolle, die er spielen sollte, kauflich gemacht
hatte, er eignete sich aber insofern nicht dazu, als er viel zu
wenig gebildet war, um die jiidischen Texte so lang herumzu-
drehen, bis daraus ein Beweis fur das Vorhandensein von Ri-
tualmorden hatte abgeleitet werden konnen,
Auch der Staatsanwalt machte seine Sache nicht gut. Be-
letzkij, der Generaldirektor des Polizeideparfements, erhielt
daher iiber den Gang des Prozesses Berichte, die ihn nicht be-
friedigten.
„Wenn der Staatsanwalt eine Verurteilung des Beilis nicht
erzieten kann", befahl er infolgedessen, ,,dann muB er trachten,
daB die Geschworenen den BeschluB in eine solche Form klei-
den, daB das Bestehen von Ritualmorden als erwiesen ange-
nommen wird, wahrend die Teilnahme des Beilis an derartigen
Morden nicht schlussig dargetan ist. Einen solchen Freispruch
wird man unmoglich kassieren konnen und die Legende von der
Verwendung des B lutes durch die Juden wird auf diese Weise
die oifizielle Sanktion erlangt haben."
Die Geschworenen waren standig von Leuten, die sie aus-
spionieren wollten, ^umgeben, yon Polizeidienern, verkleideten
Beamten und ahnlichen Individuen, die die Stimmung der
Bauern erforschen soil ten, jedoch horte man aus den Ge-
745
sprachen, die die zwolf miteinander fuhrten, nichts, was dcr
Regierung sonderlich hatte angenehm scin konnen. SchlieBlich
machten die Geschworcncn, in ihrer Bauernschlaue, sich, seit
sie merkten, welchcn Wert man hohern Orts auf ihre Meinun-
gen legte, sogar den SpaB, vor Leuten, die sie ftir Spione hiel-
ten, stets so unverstandliches und befremdliches Zeug daherzu-
reden, daB Beletzki und die andern unmoglich daraus klug wer-
den konnten. Man ahnte nicht mehr, was die Bauern von dem
ProzeB hielten und was sie im Sinne haben mochten, Man be-
fiirchtete sehr, Beilis konnte freigesprochen werden,
Timofej und Pawel waren die aufgewecktesten unter den
Geschworenen, und es war anzunehmen, daB die andern keine
separate Meinung haben sondern sich ebenso entschlieBen wiir-
den wie diese beiden.
Diese, Pawel also und Timofej, saBen an einem der letzten
Tage des Prozesses, und nachdem wieder endlos lang war ver-
handelt worden, gegen Abend in einem Teepavillon und tranken
Tee. Alsbald trat auch ein Infanteriemajor in einer weiBen
Leinenbluse (denn es war sehr heifi gewesen) in den Pavilion
ein, warf einen Blick auf die beiden Bauern und setzte sich an
den Nebentisch.
Die zwei blinzten einand-er zu,
Der Major war von hoher Gestalt, hatte em schmales Ge-
sicht mit einem kleinen Bart und auffallig lange und schone
Hande, an denen er zwei oder drei offenbar kostbare Ringe
trug.
Die Beine inf wie es schien, auBerordentlich gut gearbeite-
ten Stiefeln hatte er ubereinandergeschlagen und sah zu den
Bauern hinuber, bis der Kellner, bei dem er eine Bestellung ge-
macht, zuriickkam und eine Flasche Schnaps und ein Glas, das
er sogleich anfiillte, vor ihm hinstellte,
Der Major trank das Glas aus. Dann ziindete er eine Zi-
garette an, die er aus einer besonders groBen Dose. (denn die
Zigarette hatte ein sehr langes Mundstiick) genommen.
Die Bauern waren uberzeugt, in dem Major wiederum
einen jener Spione vor sich zu haben, die sie aushorchen soil-
ten, sie wagten es aber, da er eine eigentiimliche und ehrfurcht-
gebietende Art hatte, sie anzusehen, nicht, die gewohnten
SpaBe zu machen, mit denen sie sonst solche Leute zu foppen
pflegten.
Der Major entschloB sich nach einiger Zeit, die Bauern an-
zusprechen.
,,Nun", sagte er, ,«ihr beiden!*'
Die Bauern, als sie angeredet wurden, nahmen eine re-
spektvolle Haltung ein,
,,Seid ihr", fuhr der Major fort, „auch einmal in der Stadt?"
Timofej nickte, und Pawel sagte: „Jawohl".
,,Jawohl, Euer Wohlgeboren", sagte nun auch Timofej,
„Nun", meinte der Major, ,,und wie stehts mit dem Winter-
anbau? Seid ihr damit schon fertig?'1
,fNein," erwiderte Pawel.
„Nicht?" fragte der Major.
, Das heiBt", setzte Timofej hinzu, »,wir konnten in diesen?
Jahr liberhaupt nicht anbauen/'
746
,,Wieso nicht?" fragte der Major.
„Weil wir", sagte Timofej, „in die Stadt muBten."
„So?" meintc der Major. „Warum? Zu welchem Zweck?"
„Wir sind ja doch", sagte Pawel, der damit andeiiten
wollte, daB der Major es ohnedies schon wuBte, „Geschworene."
„Ach!" rief der Major, ,,sieh an! Geschworene! Offenbar
im Beilis-ProzeB! Da seid ihr ja was! Da konnt ihr freilicrji
nicht anbauen! — Nun", fuhr er fort, ,,wenn ihr so importante
Personlichkeiten seid, da muB man ja den Hut vor euch ziehen.
Kommt her und trinkt em Glas Schnaps mit mir!"
Damit gab er dem Kellner einen Wink. Die Bauern sahen
einander an.
,tNa, kommt nurM, befahl der Major.
Die Bauern erhoben sich und traten, sich verbeugend, an
den Tisch des Majors, und der Kellner brachte zwei weitere
Glaser.
,,Wollt ihr vielleicht", fragte der Major, „Brotchen haben
oder Ikra?" Ikra ist eine Art billigen Kaviars. Die Bauern je-
doch dankten, und der Kellner stellte einen Teller mit Sonnen-
blumenkernen auf den Tisch. Sich zu bedienen vom Major auf-
gefordert, sagten die Bauern: ,,Auf Ihr Wohl, Herr Major!" und
tranken, und dann begannen sie, wie sie sichs wahrend der Ge-
richtsverhandlung angewohnt, die Sonnenblumenkerne zu kauen,
wie es in SiidruBland Brauch ist; Timofej aber, der immer noch
an den Anbau dachte und die Sache erklaren wollte, sagte:
,,Angebaut wird bei uns inzwischen von den Husaren."
,,Von wem?" iragte der Major.
,,Er meint", sagte Pawel, ,,es sind Husaren zu uns auf das
Dorf kommandiert worden, die Feldarbeit zu leisten, weil wir
selbst sie doch nicht besorgen konnen."
,,Meine Frau11, sagte Timofej, ,,war gestern herinnen in der
Stadt und hats uns erzahlt.4'
„Auf alle Felder von Bauern, die Geschworene sind*', sagte
Pawel, ,,ist namlich Kavallerie kommandiert, zu einem jeden
von uns drei oder vier Reiter."
,,Und auch Saatgut", sagte Timofej, „haben sie mitgebracht,
wo es gefehlt hat. Denn wir waren damit schon knapp dran.
Und auch sonst, sagt meine Frau, bauen sie gut an, die Hu-
saren, weil wir doch jetzt nicht selbst anbauen konnen."
, ,,Na, seht ihr", rief der Major, ,,dafiir seid ihr aber auch
verpflichtet, als Geschworene eure Pflicht zu tun, wenn fur
euch schon so gesorgt wird! Oder nicht?"
„Freilich"( sagte Timofej. „Freilich.l§
„Ganz RuBland", fuhr der Major fort, „blickt ja jetzt auf
euch und rechnet damit, daB ihr diesen Kerl schuldig sprechen
werdet!" Und damit sah er sie befehlend an.
Es entstand sogleich eine Pause, dann aber sagte Timofej:
(1Ja'f das ist nicht so einfach."
„Was ist nicht so einfach?" rief der Major,
„Nun ja, Herr", sagte Pawel, „wie konnen wir denn iiber
Beilis urteilen, wenn sie im Gericht gar nicht iiber ihn
sprechen?'1
„Wieso nicht fiber ihn sprechen?"
„Sehen Sie, Herr", sagte Pawel, „wir Bauern, Timofej und
747
ich und die andern, wir sitzen nun schon fast zehn Tage als Ge-
schworenc im Gericht, aber iiber den Bcilis haben wir im gan-
zen kaum zehn Worte zu horen bekommen, immer nur iiber
andre Juden ist geredet worden, von denen einer in Astrachan
ein Kind umgebracht haben soil, und ein andrer eines in Pskow,
und ein drittei* eines in Lublin, sagt der Staatsanwalt. Aber
Zeugen sind keine da. Und auch gegen den Beilis sind keine
Zeugen da. Wie solleri wir nun, wo gegen die andern keine
Zeugen da sind, den Beilis schuldig sprechen, gegen den iiber-
haupt keine Zeugen da sind?"
„Ah, glaubt ihr vielleicht", rief der Major, ,fdaB er un-
schuldig ist!"
,, Wir wissen es eben nicht," meinte Timofej.
„Es sind keine wirklichen Beweise gegen ihn da," sagte
Pawel.
„Dann muBt ihr eben", rief der Major, „besser auf das acht-
geben, was der Priester vorbringt, und euch dahin auBern, daB
zwar dem Beilis personlich, weil er ein so schlauer Hund ist,
der Mord nicht nachgewiesen werden kannt daB aber andre
Falle von solchen Morden bewiesen worden sind!"
,,Die sind eben nicht bewiesen worden," sagte Pawel,
,,Das glaubt ihr aber nur", schnauzte der Major ihn an,
„weil ihr die Beweise nicht kapieren konnt!"
„Dann hatte man eben", meinte Pawel, „andre Leute zu
Geschworenen machen sollen, die kliiger sind als wir Bauern.
Denn die Schuld des Beilis zu erkennen, sind wir jedenfalls zu
dumm."
„Zu dtimm wohl nicht", schrie der Major, „wahrscheinlich
aber verschlagen genug, mit den Juden zu sympathisieren, wah-
rend sie doch alien andern Leuten zuwider sind!"
„Sehen Sie", meinte Pawel, ,,warum sollten sie uns Bauern
so zuwider sein wie den vornehmen Leuten, den OHizieren und
den Gutsbesitzernf die an sie verschuldet sind! Wir Bauern
sind ja nicht an sie verschuldet, denn wir besitzen zu wenig,
um Schulden zu machen, und ein Bauer ist nicht geachteter als
ein Jude, und ein Jude nicht geachteter als ein Bauer, warum
sollten wir also die Juden verachten und was sollten wir gegen
sie haben?"
,,Pas, was auch", fuhr der Major ihn an, „die andern, die
eure Obrigkeit sind, gegen sie haben, zum Beispiel sogar Seine
Majestat der Zar selber, der, wie ich selbst es gesehen habe,
einem Juden nicht die Hand gabe, und wenn er hundert Mil-
lionen Rubel besaOe! Es ist im Interesse der Majestat und des
Landes, daB ihr den Beilis schuldig sprecht, Ihr s-eid jetzt die
Vertreter RuBlands und des ganzen russischen Volkes, und ihr
habt zu tun, was der v Zar von euch wiinscht! Denn der Zar ist
sehr machtig. Er tragt nicht nur die Krone von Moskau, son-
dern auch die Kronen von Wladimir, Nowgorod, Kasan und
Astrachan, von Polen und Sibirien, er befiehlt iiber tausend Ba-
taillone, seine Flotte bedeckt das Meer von Kronstadt bis
Sankt Petersburg, ihm gehorchen die Kubankosaken und die
Orenburger Kosaken, die vom Don und vom Ural, er gebietet
iiber die Volker, die im Norden im Eise leben, und er ist der
oberste Herr der siidlichen Cirkassier, der Gebirgsfursten, der
748
Georgier und der Emire der Turkmenen, die seidene Banner
haben und alle im Btigelschtth stehn!"
\,Ach Gottf ach Gott", meinte Timofej bewundernd, Pawel
aber sagte; „Wenn der Zar so machtig ist, warum braucht er
dann uns arme Bauern, urn einen Juden aus dem Weg zu
schaffen?"
„Wie, ihr Schweine", schrie der Major, ganz im Gegensatz
zu seiner fruhern, poetischen Ausdrucksweise, „ihr wollt Seine
Majestat kritisieren! Morgen schon werdet ihr tun, was er euch
befiehlt, und jenen Menschen schuldig sprechen!"
„Wir konnen es nicht," sagte Pawel
,,Nein, es ware eine Siinde," sagte Timofej.
„Was, Siinde!" schrie der Major, ,,Glaubt ihr, es kame
noch auf eure Siinde an, wenn es sich um das Wohl und Wehe
des Staates handelt? Ihr miiBt den Beilis schuldig sprechen!
Ihr begreift es nicht, aber ich sage euch: es geht um das Gliick
von RuBland!"
Timofej aber zitierte;
„Was hiilfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt ge-
wonne, und nahme doch Schaden an seiner Seele!"
Der Major, mit einem Fluch, stand auf, warf ein Geldstiick
auf den Tisch und verlieB, ohne die Bauern auch aur noch ein-
mal anzusehnt den Pavilion, indem er die Glastiir zuschlug, daB
es klirrte. Die Bauern aber waren nicht so dumm, wie sie es von
sich selber zusein behauptet hatten,$ie stand en ebenialls sogleich
auf und gingen heimlich hinter dem Major drein, Der bog nur
um die nachste Ecke, da stand schon ein fur die damalige Zeit
schwerer Wagen und vier Kosaken warteten abgesessen da-
ncben, Aus dem Wagen sprang sogleich ein Adjutant, riB den
Schlag auf und der angebliche Major stieg ein.
Die Kosaken warfen fich auf die Pferde, das Automobil
fuhr davon und die Kosaken jagten im Galopp nach.
Die beiden Bauern sahen einander an,
MDas war", sagte Pawel, „moglicherweise ein GroBfiirst."
Trotzdem sprachen sie und die andern den Beilis am nach-
sten Tage frei;
KHtik alS BerufSStorilllg von Peter Panter
A tif meinem Nachttisch lag einmal ein Buch von O, Henryr
"' das hatte Paul Baudisch iibersetzt. Mir gefiel die Ober-
setzung nicht, ich tadelte sie, und Baudisch erwiderte. Von
zwei Seiten kam ihm Rekurs, beide Male von Schriftstellern,
deren fachliche Kenntnis sie dazu berechtigten. Stephan
Ehrenzweig erwiderte im (Tagebuch*, mein Rat an die Ver-
leger, sich hinfiirder einen andern Cbersetzer auszusuchen,
ginge etwas weit, f,weil dieser Rat sozusagen aus der jeder
Erorterung zuganglichen beruf lichen in die keiner Erorterung
zugangliche geschaftliche Sphare" vorstieBe; zum andern pro-
testierte brief lich ein von mir sehr geschatzter Dichter, Hans
Reisiger aus Miinchen, der schrieb, es ginge doch nicht an,
einem hochbegabten und gewissenhaften Obersetzer mit ein
paar allgemeinen Worten so von oben her das Geschaft zu
verderben.
749
Ober Paul Baudisch laBt sich diskutieren: ich glaube, da-
mals an Beispielen gezeigt zu haben, da8 cr seine Sache nicht
gut gemacht hat, doch la&se ich mich da gern eines Bessern
belehren; auch weiB ich, daB es wesentlich schlechtere Ober-
setzer als Baudisch gibt. Woriiber sich aber gar nicht streiten
laBt, das ist die Auffassung, Kritik diirfe keine Berufsschadi-
gung hervorrufen. Das ist ein ernstes Kapitel.
*
Die Industrialisierung der Literatur ist wie die aller
Kiinste nahezu vollkommen — AuBenseiter haben es sehr, sehr
schwer. Was die deutsche Buchkritik anlangt, so ist sie auf
einem Tiefstand angelangt, der kaum unterboten werden kann.
Das Lobgehudel, das sich iiber die meisten der angekiindigten
Biicher ergeuBt, hat denn auch zur Folge gehabt, daB die Buch-
kritik kaum noch irgend eine Wirkung hervorruft: das Publi-
kum liest diese diirftig verhiillten Waschzettel uberha-upt nicht
mehr, und wenn es sie liest, so orientiert es sich nicht an
ihnen. Die einzige sichtbare Wirkung, die wir noch ausuben,
ist die Wirkung auf den Kommissionar: auf den Verleger. Der
wiederum beachtet die Kritik, von der er doch weiB, wie sie
in den meisten Fallen zustande kommt, viel zu sehr, er lauh
den gelobten Autoren nach und den getadelten aus dem Wege,
Die unmittelbare Wirkung dieser Kritiken auf den Absatz der
Biicher veranschlage ich nach meinen Erfahrungen als sehr ge-
ring: ein Reisebuch von mir hat eine sehr gute Aufnahme bei
den Kritikern gefunden und geht nicht, und das Buch, iiber das
die meisten meiner Kritiker wie die Wilden hergefallen sind,
ist einer meiner groBten Erfolge.
Ich glaube aber, daB, wenn sich Absatzwirkungen zeigen,
sie dann eben Wirkungen der Kritik sind, die mit der Be-
sprechung auf das innigste zusammenhangen und von leiden-
schaftlichen Kritikern mit vollem Recht beabsichtigt werden,
Der Kritiker will eine bestimmte Literaturgattung fordern, also
bearbeitet er Publikum und Verleger; er will eine andre Gat-
tung schadigen, dann tadelt er sie. Warum also soil es einem
Kritiker verwehrt sein, sich auch unmittelbar an denjenigen zu
wenden, der erfahrungsgemaB seine Kritiken am meisten zu
beachten pflegt? Ich kann darin nichts Unerlaubtes sehn.
Doch sind wir leider soweit gediehn, daB Kritik nur noch
als Berufsforderung oder Berufsstorung angesehn wird, und so
wird denn auch' der Kritiker gewertet Lobt er, ist er fur den
Belobten ein groBer und bedeutender Kritiker; tadelt er, so ist
er fur den Getadelten ein Ignorant und taugt nichts. Besonders
die Schauspieler haben es in dieser Kritik der Kritik zu einer
groBen Virtuositat gebracht: derselbe Kritiker gilt ihnen heute
als allererster Meister und morgen, weil er getadelt hat, als
letzter Murks,
Die Verfilzung in der Literatur ist schon groB genug; wir
wollen wenigstens ein paar Inseln beibehalten. Die Literatur-
kritik ist sehr oft korrupt, bestechlich ist sie nicht< Sie gibt
das billiger.
Die Herren Tadler sirnd noch Lichtblicke im literarischen
Leben. Aber die Hudler des Lobes . . . Ich habe mich oft ge-
750
Iragt, was denn diese Leute bewegen mag, jcden Quark mit
dem Pradikat Mbestes Bitch der letzten siebenundfiinfzig Jahre"
auszuzeichnen, Ich glaube, einige Griinde gefunden zu haben.
Es ist bei den meisten eine Art Geltungstrieb, der sich da
bemerkbar macht. Fast jeder Kritiker halt sich in der Viertel-
stunde, wo er seine Kritik aufpinselt, fur einen kleinen Herr-
gott. ELn besonders iibles Exemplar dieser Gattung hat e initial
gesagt: ,,Ich wollte ja die Buchkritik langst aufgeben. Aber — "
er sprach Dialekt ,,aber man gibt doch nicht gern rs Peitscherl
aus der Hand!'* Es ist der Machttrieb. Ich habe ihni nie be-
griffen. Was ist denn das ftir ein Caesarentum, das sich darin
sonnt, wie hundert junger Autoreh gelaufen kommen und um
eine Besprechung bitten; wie sie den groBen Meister, dessen
Werke man so bewundere, anflehen . . . und die ganze tiirkische
Musik. Und dann also setzt sich jener hin und verleiht kleine
Nobelpreise, «sehr von oben herunter — er nennt das: fordern.
Der Geltungstrieb hat auch gesellschaftliche Ursachen.
Es gibt eine Menge von Literatur-Kritikern, die mit
<ien in Frage kommenden Autoren gesellschaftlich verkehren;
es ist ja so schwer, jemand zu verreiBen, mit dem man ofter zu
Abend gegessen hat. Man trifft ihn doch wieder . . . Und diese
Kritiker wollen sich durch einen VerriB ihre Salonkarriere
nicht verderben — sie mochten nun einmai dazu gehoren, sie
wollen dabei sein, eingeladen, umschmeichelt werden . . . und
so lob en sie denn den gewaltigsten Quark, wenn ihn. eine wohl-
habende Frau geschrieben hat; wenn der Autor ein Auto hat;
und vor allem: wenn er Beziehungen hat. Und hier sitzt das
Grundiibel der literarischen Verfilzung,
Neulich hat sich in der frankfurter Zeitung' ein Verleger
uber den Typus des Mittelsmanns beklagt, der durch seine
Hin- und Hertragerei zwischen Autor und Verlag Geld
schlucke, die Autoren verdreht mache und tiberhaupt viei Un-
heil anrichte- Tatsachlich ist die industrialisierte Literatur ein
grofier Klub, und es Hegt im Geschaftsinteresse fast jedes
Autors, dazu zu gehoren, dabei zu sein, mitgezahlt zu werden,
Dem kann man sich nur sehr, sehr schwer entziehen, dazu ge-
hort viel Unabhangigkeitssinn. Die meisten haben ihn nicht.
Ich will gar nicht einmai von den Wanzen des literarischen
Hotels sprechen; von den Leuten, die eine Idee haben („Ich
sage bloB: Lindbergh"), und die nachher furchtbar kreischen,
wenn irgendwo irgendwann von irgendwem ein Buch iiber Lind-
bergh erscheint* An dieser Borse will keiner fehlen. Und um
sich zu legitimieren, lobt er — wahllos, unterschiedslos, alles
durcheinander, und es ist ein Jammer, wie selbst tuchtige
Schriftsteller dieser Seuche zum Opfer fallen. Wobei der
freundliche, kleine Trick erwahnt sein mag, die Freunde der
nahern literarischen Umgebung oder den Autor des sonst zu
lobenden Buchs als bereits anerkannte und wichtige GroBen
so zu zitieren, daB sich der geangstigte Leser denken muB:
Und diesen offenbar doch weit bekannten 2^iann kenne ich
noch nicht? Eine unmittelbare Korruption ist in solchen Fallen
niemals nachzuweisen; beweisen Sie einmai, daB der Kritiker
anders geurteilt hatte, wenn er auf seine Beziehungen nicht
solchen Wert legte. Das kann man nicht beweisen.
751
Und da meine ich: wenn getadelt wird, dann mag jcdes
Argument gegen den Tadler gelten: du hast den Autor nicht
verstanden; du hast den Ubersetzer unterschatzt; du bist nicht
legitimiert, zu tadeln — alles, alles. Aber ein einziges Argu-
ment gilt nun mal bestimmt nicht: deine Kritik kann dem Ge-
tadelt en wirtschaf tlich schaden, ja, du hast gradezu seine Auf-
traggeber aufgefordert, ihn nicht mehr zu* beschaftigen — er
hat aber Frau und Kind , , . Also das geht nicht. Ich will dem
Mann schaden, wenn ich ihn tadele. Ich will die Leser vor ihm
warnen und die Verleger auch — ich will aus politischen, aus
asthetischen, aus andern often anzugebenden Grunden diese
Sorte Literatur mit den Mitteln unterdriicken, die einem Kri-
tik er angemessen sind. Das heiBt: ich habe die Leistung zu
kritisieren und weiter nichts, Aber die mit aller Scharfe,
Hatte mein Lob unmittelbare wirtschaitlich erireuliche
Folgen fur den Gelobten: es ware mir gleichgiiltig. Das ist
eine fur jenen angenehme Folgeerscheinung. Aber schlieBlioh
ist ja der Kritiker nicht dazu da, der Frau des Romanverfas-
sers Piepenbringk die Anschaffung neuer Schlafzimmervor-
hange zu ermoglichen, Lasset uns denn weiterhin unbeeinfluBt
voni der Kliingelei kleiner Gruppen, die den Salon reicher
Borseaner fiir einen Salon halten, und auBerhalb jener Lobes-
versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit das sagen, was
wir uber die Biicher zu sagen haben.
FilmOptimisten von Rudolf Leonhard
Vj^enn die Kunst wirklich Spiegel und konzentriertes Abbild ihrer
w Zeit istf und wenn der Film eine Kunstform ist, dann leben wir
in einer iiberaus lustigen Zeit. So was von tierischer Heiterkeit wie in
den letzten Gipfelwerken der europaischen Filmkunst ist noch nicht
dagewesen, Wie iiberaus belustigend ist es, zum Beispiel, wenn in
einem eben herausgekommnen Film, in dem uberhaupt das Leben der
Matrosen gemafi der allgemein bekannten Wirklichkeit als eitel Gesang
dargezeigt wird — wenn in diesem Film auf die Ankiindigung, daB
eine Stadt bombardiert werden soil, alle Leute nicht bombardiert zu
werden wunschen und aus der Stadt fliehn, wie hochkomisch, wie
zwerchfellerschutternd! An dieser — als der einzigen — Stelle lach-
ten einige Zuschauer; obschon doch das vorgebliche und vorgegebne
Publikum sogar immer desto mehr und desto alberner lacht, je weni-
ger es zu lachen hat.
Ich habe selbst wirklich sehr herzlich liber einen Film gelacht, den
ich nicht gesehn habe und nun wohl auch nie sehn werde; denn so er-
heitern kann mich der Film doch nicht, wie mich ein vor der Urauf-
fiihrung gegebnes Interview seines Regisseurs erheitert hat. Der Film
heiBt iibrigens „Der KongreB tanzt", und der Regisseur Erik GharelL
Charell, von dem mir Freunde versichert haben, daB er ein ge-
schmackvoller Mann sei, hat, laut Zeitungstext, gesagt: „So wie mich
am ,WeiBen RoBl* nicht das Stuck so sehr wie die Idee: zuruck zur
Natur! besonders gereizt hat..." Das hat er gesagt, und die ganze
Literaturgeschichte kriegt mit einem Male ein ganz andres Aussehn,
Ich habe das ,WeiBe Rofil* vor vielen Jahren in irgend einer Provinz
gesehn, und erinnere mich nur noch, daB ich mich entsetzlich gelang-
weilt habe. Aber das muB, sehe ich nun, an mir gelegen haben; ich
muB zu dumm, zu unreif, zu ungebildet oder infolge Verbildung zu
naturfern gewesen sein, urn zu bemerken, daB in diesem bedeutenden
Drama eine kongruente Darstellung Rousseauscher Ideen vorlag. Die
752
ganze Kunstgeschichte sieht anders aus; t,Doktor Klaus" ist eine Ver-
nerrlichung des Familiengefuhls, das „Dreimaderlhaus" bringt einern
erschfttterten Publikum die Damonie der Kunst nahe, die MDollar-
prinzessin" offenbart geheime wirtschaftliche Zusammenhange, und in
den f,Memoiren einer Sangerin" iiberwaltigt den Leser die Idee der
Liebe.
Spafi beiseite — meinen und den des Herrn Charell beiseite: nie-
mand verargt ihm, daB er Geld verdienen will, und niemand ist ihm
bose, wenn er sogar viel Geld verdienen will. Um so besser, wenn er
es wirklich mit Geschmack zu verdienen versteht. Seine Sache, wenn
er sich dann mit dem „Weifien Rofil" abfinden kann. Aber uns er-
zahlen, daB er das aus ideelichem Drange getan hat — ist das noch
seinem Geschmack ertraglich? Unserm nicht,
Ich hatte gedacht, das f,Weifie Rofil" und das grofie Schauspiel-
haus vereinigten sich nicht in geistiger Ehe, sondern nach den Regeln
des Handelsrechts; und siehe da, es handelt sich nicht niir um die
Kunst, sondern sogar um zentrale Ideen.
Der konigliche Kaufmann sagt, in seinem Film habe ihn die Idee
gepackt (er sagt wirklich „Idee" und „gepackt"(), „Glauben an das
Gluck" ins Publikum zu tragen. Da sehn wir wieder, wie problematisch
das mit den Ideen ist. Wir hatten gedacht, sie seien Sprengstoff; und
es zeigt sich, daB sie eine Sachertorte sind. „Wenn ich die Fahrt eines
kleinen glucklichen wiener Madchens zeigen konnte", sagt der von der
Idee getriebne Kunstler, „so glaube ich, dafi dies wieder so und so
viele Menschen begliicken kann". Ach, Herr Kunstler — Sie brauchen
gar nicht den Wiener Kongrefi zu bemuhn. Den Leuten fehlt nicht
das Gliick sondern die Voraussetzung zum Gliick. Im Augenblick liegt
ihnen an einer Scheibe Kalbsbraten oder sogar einer Schnitte Brot
mehr als an den Tanzen andrer, und grade von diesen Voraussetzun-
gen wollen Sie sie ablenken! Der kunstlerische Kaufmann ist vor lau-
ter Ideenbesessenheit zum Historiker geworden. Hat er, als er bei der
Vorbereitung des Films doch wohl einiges las, nichts davon erfahren,
dafi, wahrend der Kongrefi tanzte, Europa von grafilichem Elend —
das doch nur eine schwache Ahnung des heutigen Elends war — er-
fiillt war? Dafi der Kongrefi grade auf Kosten der gar nicht gliick-
lichen kleinen Handschuhmacherinnen tanzte? Man karin auf dem
Standpunkt stehn, dafi ein sinnloser Rausch wie der des Wiener
Kongresses, dessen tanzende Fiifie wunderbare Hoffnungen zertraten,
schon und bose war; man kann, von einer bosen Philosophie aus, glau-
ben, dafi er schon und gut war; und wenn man schon das blutige
Schicksal der hungernden Handschuhmacher weglafit, soli man wenig-
stens nicht von ihrem Gliick faseln.
Metternich und Gentz wufiten, dafi auf dem Kongrefi, der fur mehr
als fiinfzig Jahre Europa in Eisen legte, nicht das Tanzen das Wich-
tige war. Ich glaube gern, dafi Charell, so klug er sein soil, nicht
weifi, wessen kaufmannische Geschafte er kunstlerisch fiihrt, und dafi
ihm der bedeutende Satz „man kann durch den Tonfilm unzahlige
Menschen beeinflussen" entschliipft ist, ohne dafi er seine Tragweite
ermafi.
Auch seine Richtung, seine Tendenz erkannte er wohl selbst dann
nicht, als er sagte; „man kann sie zum Optimismus erziehn". Indem
man ihnen zeigt, wie die andern tanzen! Da haben wir den Grundsinn,
da haben wir die Funktion des heutigen Films.
Und hier sehn wir wieder die wissenschaftlich festgestellte tiefe
Zeitverbundenheit der Kunst. Hier beriihrt sich Charell mit Briining —
der in einem Atem sagte, wir wurden im Winter sieben Millionen Ar-
beitslose haben, und er sei optimistisch.
.Was mufi wohl geschehn, damit Herr Briining und Herr Charell
den Optimismus verlieren, zu dem sie uns erziehn wollen?
Man kann durch den Tonfilm dazu erziehn, Herr Charell; man
kann, aber soil nicht.
753
Die Welt von unten oder Zweierlei Oel
von Adolf Behne
1UT agdeburger StraBe 5, im Hoi, im Keller, hat Nierendorf eine
* Ausstellung aufgemacht. ,,Die Welt von unten" steht auf
einem Bogen Packpapier geschrieben. Bilder und Zeichnungen
von Dix, Grosz, Ringelnatz, Masereel, Scholtz-Grotzingen,
Werner Scholz; Bettler, Zuhalter, Dirnen, Kriippel, Selbst-
morder. Es sind starke erschiitternde Sachen dabei, und wer
mit seinen Nerven so weit in Ordnung ist, sollte unbedingt
hingehen. Die Stimmung ist ein biBchen romantisch, Auf-
machung sozusagen nicht in Perserteppichen, sondern in Mau-
sen. ,tB*ingen Sie Hirer Familie einBlatt von Dix mit" lesen
wir an der Wand. Diese Blatter von Dix sind meist Leichen
im Schiitzengraben und Huren. Ich muBte an den Apachen-
keller „La Bolle" in Paris denken , . , bekannt als eine Sache
zum Gruseln fur ein zahlungskraftiges Publikum,
Zille, Kollwitz, Nagel f ehlen . .' . ich sage das nicht aus
NorgeleL Aber ich hatte sie gern hier gesehen, weil ihre An-
wesenheit in dieser etwas dumpfen Kellerluft sozusagen ein
Fenster aufgerissen hatte* '
Es ist namlich so; ich bin gegen Kellerwohnungen, Es ist
ein Jammer um jedes Proletarierkind, das in so einem Keller-
loch aufwachsen muB, *und eine Schande, daB es solche Wohn-
locher unter Tage noch bei uns gibt. Aber auch fiir die Kunst
halte ich Kellerlocher nicht fiir wiinschenswert, Wenn diese
herrliche Gegenwart einen Kunsthandler zwingt, in einen Kel-
ler zu fliichten, dann sollte er es mit Protest tun. Nierendorf
aber — und das gefallt mir eben nicht ganz . . , paBt sich dem
„ Milieu" an, mit dem Erfolge, daB die biirgerliche Presse die
Abwechslung mal ganz reizend findet. Ich zitiere das ,B- T/:
„Die Dixschen SpaBe verderben uns nicht den Appetit, die
Ausgelassenheit eines George Grosz ergotzt . - . Sonst aber (bis
auf Werner Scholz namlich) hat ;der Nierendorf-Keller einen
so heitern Anstrich, daB man sich in solchem Kreis von ge-
malten Zuhaltern und Matrosendirnen, Lustmordern und Kupple-
rinnen schon ein Stiindchen vergonnen darf". La Bolle, la
Bolle! Apachenkunst fiir Solche, ,,die mit ihrer Zeit nichts
anzufangen wissen". Mitternachts konnte ein Chorus steigen;
„Liegt eine Leiche im Landwehrkanal, reich sie mir mal her ..."
Aber es liegen jetzt ziemlich oft richtige Leichen drin. Er
flieflt tibrigens wirklich hier vorbei.
* Vor zwei Jahren noch war Nierendorf kein Keller, son-
dern ein Salon. Am Magdeburger Platz hochparterre sehr
nett vom Bauhaus eingerichtet. Nierendorf hat dort manche
couragierte Ausstellung gemacht. Aber er muBte umsiedeln
in einen kleinen, doch sehr hiibschen Laden zu ebener Erde —
und jetzt in den Keller dicht beim Kauai.
Gegeniiber, am andern Ufer des Kanals, steigt ein heller
Wolkenkratzer in dieHohe: „Ossag-Rhenania" — Palast eines
01-Trusts.
01 ist seit fiinfhundert Jahren das Farben-Bindemittel der
Malersleute. Mit seiner Einfiihrung war eine kiinstlerische
754
Revolution verbunden; der Durchbruch des Naturalismus in der
europaischen Malerei. Die Besten waren nach dieser Re-
volution dieselben armcn Teufel wie vorher.
01 hat in zwanzig Jahren die Technik revolutioniert und
einige Bankicrs ungeheuerlich bereichert, 01 mit Kunst wird
tief in den Keller gedriickt. 01 mit Aktie turmt helle Wolken-
kratzer. (Nebenbei: -dieser Ossag-Mammut ist kiinstlerisch von
erschreckender Diirftigkeit und stadtebaulich ein Malheur..
Was hat ausgerechnet hier ein Wolkenkratzer zu suchen?)
Wir denken gar nicht daran, die Kunst in Lochern unter
Tage vegetieren, sie zu einer Kellerpflanze verkiimmern zu
lassen. Die in Kellern wohnen, sind immer wieder, immer
mehr, immer leidenschaftlicher Gegenstand der Kunst, Aber
diese Bilder, wenn sie revolutionar wirken sollen, miissen aus
den Kellerlochern heraus genau so wie die Menschen, Es gibt
hier keine Anpassung, nur Protest.
Legende von den Himmelsplagen
von Alice Ekert-Rothholz
f*l ott der Herr bekam manchmal die ganz grofie Wut
^"* in den friihen Regierungstagen
Und gefiel ihm ein Konig nicht so gut
sandte Gott dementsprechende Plagen.
Konig Pharao saB auf gepolstertem Thron
und aB grad belegtes Brot . . .
Da meinte er plotzlich, er sahe nicht gut
wo er hinsah, war alles rot in rot!
Doch das war nicht etwa die Revolution —
Das war die Verwandlung des Wassers in Blut.
Gott der Herr sandte Strafe urn Strafe.
Er entwarf eine Anzahl Biester
die sandte er iiber Kinder und Schafe
sowie iiber die Minister.
Gott strafte die Landwirtschaft hinten und vorn
Er behagelte Feld und Wiese.
Und Agypten hatte an Stelle von Korn
eine wachsende Wirtschaftskrise.
Doch die Regierung wollt nicht verstehn . . ,
Sie f orderte das Gericht raus . „ .
Plotzlich konnten die Herrn von der Steuer nichts sehn
In Agypten ging das Licht aus!
Kurz: der technische Teil des Sundengerichts
war I a in den alten Tagen.
Doch geandert hat sich dadurch fast nichts
Was sich andert, sind hochstens die Plagen!
Gott verwandelte damals das Wasser in Blut . . ,
Doch unsere Herrn Staatsverfasser
Die meinen es mit dem Volke so gut:
Sie verwandeln den Armen das blutarnae Blut
in schones, klares Wasser,
755
Geschichten aus dem Wiener Wald
von Alfred Polgar
p in Volksstiick und die Parodie dazu, Aber es kann bei der
Herstellung auch umgekehrt zugegangen sein, namlich so,
daB zuerst der Ulk war, und daB der Dichter, 6don Horvath,
ihn erst spater, im Zug der Arbeit, verernstete. WeiB man
denn, wohin die Feder rennt, wean sie einmal im Laufen ist?
Und in was fur geistige Abenteuer man beim Dichten, das eine
hazardeuse Beschaftigung ist und bleibt, verstrickt werden
kann? Horvath (denke ich) ging im Wienerwald so fur sich
hin. Auf diesem Spaziergangt nichts Tragisches zu suchen
war sein Sinn, fand er allerlei Lustiges; dann aber auch, daB
es gut oder erforderlich oder aus literarischen Prestigegriinden
angezeigt ware, sich uber das Lustige ernst zu machen.
Wie dem auch gewesen sei: es entstand eine bedeutsam
umdunkelte Groteske, deren Schatten iiber das Oester-
reichische hinaus in das sogenannte allgemein Menschliche
fallen.
Wienerisch an den ,, Geschichten aus dem Wienerwald"
ist auBer dem Dialekt, den die Figuren sprechen, die viele Zeit,
welche sie haben, und daB sie bei ihrem Tun und Lassen mehr
lassen als tun. Deshalb kann haufiger Schauplatz der Vor-
gange die StraBe sein, wo die dort angesiedelten Geschafts-
leute, zum Zweck d-es Dialogs, ofter drauBen vor, als drinnen
hinter ihrem Laden stehen. Viennophobe mogen auch die Ver-
manschung von Roheit und Gutmiitigkeit im Inwendigen des
vom Dichter beschaftigten komodischen Personals als echt
lokalfarben ansehen. Zweifellos wienerisch an den Menschen
des Spiels ist ihr, so bose wie gut gesehenes, Gegeneinander-
Miteinander, ihre Eintracht auf Basis boshafter Gering-
schatzung, ihre enge, liebe voile Verbundenheit durch den Kitt
wechselseitiger MiBachtung, Was sich sonst im Stiick begibt,
konnte audh anderswo als im osterreichischen Seelen-Klima
vorkommen, Geschlechts- und Geldgier sprechen in jeder
Mundart ziemlich denselben Text, daB der Mensch aus Ge-
meinem gemacht ist, ist keine Besonderheit der wienerischen
Kiiche, und im skurrilen Affentanz dreht sioh das Leben nicht
nur nach der Musik von Johann StrauB-
Horvaths mit satirischem Speck dick durchwachsenes
Volksstiick zeriallt in eine lange Reihe von Bildern. Er hatte
sie nach Belieben vermehren konnen. Es sind Querschnitte
durch die Wechselbeziehungen der von ihm auf die Beine ge-
stellten Menschengruppe, und solche Schnitte lassen sich in
jeder Zahl und Richtung nach Gutdunken legen. Es geht, wie
im Kabarett, ernst tind heiter gemischt zu, manche Szene hat
reinen Sketch-Charakter, manche tut (zu tragen peinlich)
dichterisch, manche ist es; wie etwa die Szene zwischen der
bosen GroBmutter und dem Strolch von Enkel, dem sie ans
Leben mochte wie er ihr, und dem sie zwischen aller HaB-
Eruption doch, es ist starker als sie, den abgerissenen Knopf
an den Rock naht. Die Altet von Frida Richard groBartig, im
saftigsten Marchenhexen-Stil, verkorpert, ist damonisch. Er-
756
staunlich fur Kenner der Landschaft, daB in dcr Wachau, an
Burgen und Besoffenen reich, so gruselige GroBmiitterchen
wachscn. Dcr Strolch von Enkel (Peter Lorre) hat eine faule,
weichliche Brutalitat, mit der man, wie das Stiick zeigt, in Wien
arglose Vorstadtmadchen und reif ere Tabakfabrikantinnen
fesselt.
Das ganze, bizarre Spiel ist von einer eiskalten Witzigkeit,
in der auch das biBchen warmer Atem, das gelegentlich eine
oder die andre Figur von sich gibt, sofort als frostiger Dampf
niederschlagt. Die dramatische Begabung 6don Horvaths er-
weisen seine ,,Gesohichten aus dem Wienerwald" zwingend.
Er sieht scharf und gestaltet mit knappster Okonomie der Mit-
tel. Seine Figuren losen sich deutlich ab von ihrem mensch-
lichen, sozialen Hintergrund, ohne dafi dieser jemals aus dem
Spiel verschwande. Jeder ist Spiegel fur die Art des andern,
Wechsel der Belichtung erzeugt drollige und spukhafte Schat-
tenspiele. DaB in solchert aus Bildern locker gefiigten, hinter
vielerlei Ironien verschanzten Theaterarbeit groBes kiinstle-
risches Bemuhen stecke, ist kaum anzunehmen, Vieles hat die
Leichtigkeit der Improvisation, und manchmal ist es so, als
ware erst von den Einfallen das dramatische Ziel bestimmt
worden, das noch nicht gesetzt war, als der Dichter jene hatte.
Eine bezaubernd bunte, von Heinz Hilpert mit sic hers tern
Dreiviertel-Taktgefuhl geformte, in vielen Angeln hochst be-
wegliche Auffiihrung. Hans Moser, Paul Horbigerf Lucie Hof-
lich in erster Reihe. Und Carola Neher, die Leidtragende des
Spiels,, die von Niedrigen Erniedrigte, iiber die das lacherliche
Getiimmel hinweggeht, und mit der ihr Dichter, soweit er das
iiber sich bringt, ruhrende Geschichten aus dem Wienerwald
macht. Wunderschon das feine Pathos der Einfachheit, die
strenge, stille Selbstverstandlichkeit, mit der die Neher, ohne
jeden theatralischen Aufwand, Gefiihl bekennt. Ein Heiligen-
schein aus ^zartestem Messing — anderes Material kam bei
solchem, nie das Parodistische verleugnenden Spiel nicht in
Frage — schimmert um das Haupt dieser Madonna aus dem
achten wiener Bezirk.
Gelehrte
pin grofics Licht war der Mann freilich nicht, wohl aber ein groBer
Leuchter fur andrer Leute Meinungen.
Er hing noch auf der dortigen Universitat wie ein schoner Kron-
leuchter, auf dem aber seit zwanzig Jahren kein Licht mehr ge-
brannt hatte.
Diese ganze Lehre taugt zu nichts, als dariiber zu disputieren,
Er sagte, der Teufel hole alle Gelehrsamkeit, und dachte und
lernte und studierte bestandig und war vermutlich ein groBerer Ge-
lehrter als viele von den Leuten, die er und die ganze Welt so nannte,
Mit groBerer Majoritat hat noch nie ein Verstand stillgestanden.
Lichtenberg
757
B°
Bemerkungen
Alsberg
>onn 1902. Wir scharen uns um
Zitelmann, den beriihmten
Rechtslehrer. Der Andrang der
Studenten ist so grofi, daB er
nicht alle unsre Arbciten selbst
korrigieren kann. Er bedient sich
, eincs jungen Assistenten, den wir
mit staunender Ehrfurcht betrach-
ten. Das war der Referendarius
Max Alsberg, von dem man sich
Wunderdinge erzahlte. Er sei ein
Polyhistor, hieB es, bewandert in
alien Geisteswissenschaften, gleich-
bedeutend als Theoretiker und
Praktiker des Rechts. Der alte
Eccius, der Priifungsleiter der
Assessorenkommission, publizierte
sogar Alsbergs wissenschaftliche
Examenarbeit wegen ihrer beson-
dem Qualitaten. Bonn bot ihm
einen Lehrstuhl an, er zog es aber
vor, Anwalt in Berlin zu werden.
Er hatte sogleich eine gutgehende
Zivilpraxis, lugte aber immer nach
der kriminalistischen Seite, da
seine Kunstlernatur die psycholo-
gischen Fragen, vor allem . die
Rhetorik des Strafprozesses, reiz-
ten, Er brillierte bald im gottin-
ger BankprozeB, im kolner Korfu-
Fall und in einigen grofienMord-
verfahren. Wahrend des Krieges
baute er das Preistreiberei-Straf-
recht aus, wie er wohl recht eigent-
lich als der Schopfer des Wirt-
schaftsstrafrechts betrachtet wer-
den kann, dessen Systematik und
Ideen hauptsachlich auf seinen
Schriften beruben. Die Kronung
seiner wissenschaftlichen Leistun-
gen ist das Standardwerk ,,Der
Beweisantrag im StrafprozeB", das
ihm die berliner Professur ein-
trug.
Unter seltsamen Umstanden
feiert dieser Mann sein funfund-
zwanzigjahriges Anwaltsjubilaum.
Auf der Hohe seines Ruhmes
wiirde er iiber Nacht in das skan-
dalose Nachspiel des Stinnes-
prozesses hineingezogen. Ich bin
der festen Uberzeugung, daB die
Untersuchung mit einer glanzen-
den Rehabilitierung Alsbergs
enden wird. Es ist damit zu rech-
nen, dafi binnen kurzester Frist
erwiesen sein wird, daB Alsberg
das Opfer eines Erpressungs-
manovers werden sollte. Es wird
ein toller Kriminalroman sein, den
man demnachst darbieten kann.
Man wird daraus ersehen, daB
Behorden, Presse und selbst
Wohlmeinende wochenlang von
ein paar skrupellosen Menschen
dupiert worden sind. Ich selbst^
und hochangesehene jour-
nalistische Freunde gehorten auch
dazu. Um so mehr fiihle ich mich
verpflichtet, nunmehr fur Alsberg
zu zeugen und befinde mich hier-
bei in der Gesellschaft wohl aller
Kenner der Tatbestande.
Das Groteske aber ist, daB Als-
berg am eignen Leibe erfahren
muBte, wie alles, was er eindring-
lich in Wort und Schrift gelehrt,
bei der Behandlung seines eignen
Falles auBer Acht gelassen wurde.
Denn grade Alsberg ist es ge-
wesen, der stets die Notwendig-
keit betont hat, die kriminalisti-
schen Methoden, nach denen bei
uns verfahren wird, von Grund
auf zu andern. Immer wieder wies
er darauf hin, daB es abwegig sei,
das Ubel unsrer kriminalistischen
Tatbestandsfeststellung in einem
Mangel an wissenschaftlicb-
psychologischer Vorbildung unsrer
Richter, Staatsanwalte und Ver-
teidiger zu erblicken, daB im Ge-
genteil das, was von der wissen-
B6 Yin Ra
hat ein Gesamtwerk geschaffen, das als Verkundigung altester Weisheit
in neuer Form wahrhaftig Respekt abnOtigt. Aber auch als Meister seiner
Muttersprache ist er nicht mehr aus dem deutschen Schrifttum wegzu-
denken. Kaheres fiber ihn und sein Werk sagt die Einfuhrungsschrift von
Dr. Alfred Staehelin, kostenlos bei jeder Buchhandlung zu beziehen, sowie
beim Verlag: Kober'sche Verlagsbuchhandlung Basel und Leipzig.
758
schaftlichen Psychologie fur den
Kriminalisten von praktischem
Wert sein konne, eine Kleinigkeit
sei neben einem andern, vernach-
lassigten Grundelement juristi-
scher Arbeit. Juristen miissen, so
meint er, nach Methoden arbeiten,
die man nicht erst zu erfinden
braucht, sondern die jedem jungen
Historiker bekannt sind. Sie miis-
sen sich daran gewohnen, nicht
nur mit der Intuition, nicht nur
mit vorhandener oder eingebilde-
ter Genialitat an die Falle heran-
zugehen, sondern zunachst einmal
die Quellen zu sichten, zu ver-
gleichen, die Zusammenhange zu
durchdenken und sich von den oft
falschen Umrissen und leuchten-
den Nebensachlichkeiten eines
Tatbestandes freizumachen,
Alsberg ist, und meiner Ansicht
nach mit vollem Recht, davon
tiberzcugt, daB bei Anwendung
seiner Methoden sich binnen weni-
ger Tage die gegen ihn erhobenen
Vorwiirfe als unbegriindet heraus-
gestellt hatten. Gewifi wird man
bald nach AbschluB des Verfah-
rens den „FaIl Alsberg", von ihm
selbst geschildert, lesen und diese
These haarscharf nachgewiesen
bekommen. Aus AnlalJ des magde-
burger Falles Haas rief Alsberg
aus; „Das ist das Schreckliche*
DaB ein jeder, um den ein echter
oder falscher Sherlock-Holmes
seine Netze spannt, von einer
Stunde zur andern aus einem Sub-
jekt des Lebens zu einem Objekt
der Strafrechtspflege wird. DaB
es keine Konstruktion einer Ta-
terschaft gibt, die weltenfern und
geistesverblodet genug waref um
nicht darauf einen ' .sichern
Schuldbeweis' aufzubauen, DaB
die Manner, die eine solche Un-
tersuchung leiten, von einem
Phantom, dem sie nachgehen, oft
so geblendet sind, daB alles und
jedes, was sie auf die richtige
Fahrte bringen konnte, ihrem
Blick verschlossen bleibt."
Alsberg wird hoffentlich durch
das Erlebnis der letzten Wochen
darin bestarkt werden, seinen
Kampf gegen die Institution der
Voruntersuchung mit noch grofie-
rer Leidenschaft fortzufuhren.
Niemand hat wuchtiger als er be-
tont, daB der Angeklagte ein hilf-
loses Objekt der Strafrechtspflege
bleiben wird, solange man ihm
nicht die Moglichkeit gibt, kontra-
diktorisch auch schon im Vorver-
fahren zu verhandeln.
Nach meiner Uberzeugung
konnte in wenigstens der Halfte
aller politischen Prozesse ein
Freispruch erf ol gen, wenn die
Verteidigung juristisch exakter ge-
fiihrt wiirde. Die Zahl der Richter
und Staatsanwalte, die nach ju-
ristischen Brucken zum Freispruch
in ihnen widerwartigen politischen
Prozessen Ausschau halten, ist
groBer als man gemeinhin an-
nimmt. Wenn die kleine Phalanx
der durchgebildeten Verteidiger,
die unermtidlich gegen die Hoch-
verratsjudikatur des Reichsge-
richts und gegen die miBbrauch-
liche Benutzung der Strafgesetze
zur Unterdriickung miBliebiger
Gedanken durch die Kapazitat
eines Alsberg erweitert werden
wiirde, konnten viele Niederlagen
. mutiger Politiker vermieden wer-
den. Es steht fest, daB sich in den
meisten Landern die groBen Ver-
teidiger vom politischen ProzeB,
zumal wenn er gegen links ge-
Soeben erschien
der III. Roman
der Trilogie
„Das Erbe
am Rhein":
DER WOLF in der HURDE
KarL 6.50, LeinenSKM • S.FISCHER VERLAG • BERLIN
759
RENE
SCHICKELE
richtet ist, angstlich fernhalten.
Das wird den dci minorum gen-
tium uberlassen. Wenn sich Als-
berg mit dem Glanz seines inter-
nationalen Ansehens in die Pha-
lanx der politischen Verteidiger
einreihte, so wtirde dies beispiel-
gebend wirken.
Alfred Apfel
Leben der Autos und polnische
Diplomaten
In letzter Zeit wird die polnische
* Offentlichkeit durch Nachrich-
ten iiber eigenartige Automobil-
unfalle gradezu elektrisiert, Hohe
Beamte des gegenwartigen und
vormaligen Regimes werden
Opfer solcher Autokatastrophen.
So verungliickte vor einigen
Wochen der ehemalige polnische
Aufienminister, Graf Skrzinski,
ein in Polen sehr popularer Di-
plomat, Das Auto, von der Hand
des polnischen Militarattaches in
Berlin gelenkt, wurde zertrum-
mert aufgefunden, Graf Skrzinski
ist seinen todlichen Verletzungen
erlerfen, noch bevor er ins Kran-
kenhaus eingeliefert wurde; der
Herr Mili tar attache dagegen blieb
vollig unverletzt und hat ktirzlich
die Absicht geaufiert, sich in ein
Kloster zurckzuziehen. So sehr
hat ihn dieser furchtbare Auto-
unf all erschuttert, daB er nur
noch zwischen Klostermauern
sein seelisches Gleichgewicht wie-
dererlangen kann. Das war der
Sinn der Erklarung, die er der
polnischen Presse ubergab.
Es ist kaum ein Jahr her, dafl
der Hauptmann Zacwilichowski,
der Adjutant und Sekretar des
friihern polnischen Ministerprasi-
denten Bartel, ebenfalls das
Opfer eines Autounfalls wurde.
Der Lenker des Ungluckwagens
war Oberst Tatara, das Mitglied
einer Sekte der fanatischen An-
han£er Pilsudskis. Jede Funktion
hat ihre Bedeutung.
Anno 1926 gliicktc der Militar-
putsch Pilsudskis. Zwei Monate
skater ist General Zagurski spur-
los verschwunden. Unmittelbar
vor seinem Verschwinden wurde
er verhaftet und in dem Auto
des Hauptmanns Zacwilichowski
ins Belvedere, den Wohnsitz von
Pilsudski, transportiert. Er traf
dort ein und wurde seitdem nicht
mehr gesehen. Hauptmann Zacwi-
lichowski aber ist, wie schon er-
wahnt, vor einem Jahr das Opfer
eines ebenso seltsamen wie be-
dauerlichen Autounglucks gewor-
den.
In Belvedere, in dem eine eben-
so strenge Kontrolle herrscht wie
einst in dem Winterpalais des
Zaren, in demselben Belvedere,
in dem jede Tur und jede Treppe
von schwerbewaffneten Soldaten
bewacht wird, konnte ein Haftling
von der Bedeutung eines General
Zagurski spurlos verschwinden.
Of f enbar bef and sich zu j ener
Zeit Aladins Wunderteppich im
Belvedere, und der General be-
nutzte ihn, um zu fliehen. In die-
ser Residenz Pilsudskis wurde
fiinf Tage nach der „Flucht" des
Generals der Gendarmerie-
Wachtmeister Korysma erschos-
sen aufgefunden. Ein Zufall
wollte es, daB er grade an dem-
selben Tage im Palais Dienst tat,
an dem der General verschwand.
Die later, die den Mord an dem
Wachtmeister auf dem Gewissen
haben, sind bis jetzt noch nicht
ermittelt worden.
Nun setzte gradezu eine Hausse
in Automobilunfallen ein. Der
Chauffeur des Hauptmann Zac-
ELIZABETH RUSSELL / HOCHZEIT, FLUCHT
UND EHESTAND DER SCHONEN SALVATIA
Roman.
Diese Geschichte von ein em weibllcheri Parsifal Ist so lustig, wie man es sich nur
wUnschen kann. Man lacht beim tesen oft taut auf. Es Ist einer jener nicht hSu-
figen, wirkllcrt unterhaltenden Romane, fUr den man dem Ver-
fasser ebenso dankbar sein muB wie Freunden. die uns einen
helteren, sorgenlosen Abend bereitet haben. Literarlsche Welt.
TRANSMARE VIRLAO A.-G., BERLIN W 10
760
Lei n en
4.80 RM
wilichowski erlitt das gleiche
Schicksal wie sein Herr. Er war
auch der Lenker jcnes Autos ge-
wesen, das den General Zagurski
ins Belvedere beforderte. Die
Bremsen des Autos, das dieser
Chauffeur an seinem Ungliicks-
tage steuerte, waren von un-
bekannten Tatern zerstort wor-
den. Die Untersuchung verlief
negative
Ein gewisser Siectzko, Mitglied
des Regierungsblocks, Zeuge der
Einlieferung des Generals Za-
gurski ins Belvedere, wurde in
seinem Auto erschossen aufgeftm-
den. Leute, die in irgendeiner
Weise in die Vorgange von Bel-
vedere eingeweiht waren, ver-
ungliickten. Doch die Zahl der
lastigen Mitwisser schien ins Un-
endliche zu gehen. Der namhafte
fascistische Dichter Or-Ot wurde
in der Tatra das Opf er eines
Autoungliicks. Er hatte eine grofie
Zukunft vor sich, sein Pech war
nur, daB er „etwas" wuBte, Die
Arztin Doktor Lewicka, eine hohe
Beamtin des polnischen Innen-
ministeriums, wurde leblos auf-
gefunden. Aber diesmal nicht im
Auto sondern in der eignen Woh-
nung, Todesursache: Herzschlag.
Bei den Beisetzungsfeierlichkei-
ten aller dieser Ungliicklichen hat
sich die Regierung nicht lumpen
lassen, Zur Beerdigung stiftete
sie wahre Berge von Kranzen,
Regierungsvertreter sprachen vor
dem offenen Grabe, mit militari-
schen Ehren wurden diese Opfer
seltsamer Unglucksfalle beerdigt,
Eins mochte ich zum Schlufi
nicht unerwahnt lassen. Das
Opfer des letzten Autoungliicks,
Graf Skrzinski, war nicht nur ein
Freund des verschwundenen Ge-
nerals Zagurski sondern auch ein
geschworener Feind • von Pil-
sudski.
Man kann es nunmehr ver-
stehen, daB heute selbst beherzte
polnische Diplomaten beim An-
blick eines Autos die Flucht er-
greifen.
T. N. Hudes
Deutsch von Norbert Reich
Unsre fidelen Gefangnlsse
P in veritabler Ministerialdirek-
^-* tor hat uns, am Mikrophon,
neulich mit munterer Bonhomie
erzahlt, Festungshaft sei gar
keine richtige Strafe sondern eine
Art billiger Sommerfrische. Aus
diesem Grunde wurden in Zu-
kunft literarische Hochverrater
und ahnliche Elemente in richtige
Gefangnisse gesteckt werden.
Dariiber erhob sich gedampftes
Murren bei den geistigen Arbei-
tern. Warum eigentlich? Es ist
doch durch zahlreiche Veroffent-
lichungen bekannt, daB es auch
in unsern Gefangnissen tiberaus
neuzeitlich und b%quem hergeht.
Kein gequalter Alltagsmensch
kann sich in diesem unseligen
Herbst so viel Radio, Bucher,
Unterhaltungsstunden, kurzum:
Heitern MiiBiggang gestatten,
wie er dort offenbar gang und
gabe ist. Hinein in diese erhol-
samen Hauserl
DaB unsre geschlossenen An-
stalten allesamt dem aus der
Fledermaus bekannten fidelen
Kafig ahneln, das ist nicht etwa
bbsartiger Hohn verstockter re-
aktionarer BosnickeL Grade in
den groBen Blattern der Linken
f indet man seit einiger Zeit in auf-
falliger Menge • Artikel und
saubre Bildberichte iiber das
sonnige Dasein der Gefangenen.
Wie trefflich ist das Essen dort,
wie hygienisch die Pflege, wie
prompt sogar, man denke, die
Zahnbehandlung .
IMMlllllllllllin
ANTOON THIRY
DAS SCHONE JAHR DES CAROLUS
Roman aus dem Holiandischen. Leinen 5,50 RM
Dieser Roman des Jugendfreundes Felix Tlmmermanns gibt, elnzigartig in Plastik
und Farbigkeit der Schilderung, das Bitd einer kleinen hollSndischen Stadt, das
Schicksal Ihrer Bewoh ner und ihres stOrmischen Helden.
RANSMARE VERLAG A.-G., BERLIN W 10
761
Wenn das alles stimmt, — um
so besser. Und das Propaganda-
geschrei iibcr diese, eigentlich
selbstverstandlichen, Dinge ware
dann ganz unnotig.
Aber stimmt es, immer und
uberall?
Es ist doch immerhin sehr
merkwiirdig, daB alle Diejenigen
andrer Meinung sind, die es wis-
sen miissen: Die ehemaligen In-
sassen der Gefangnisse und Zucht-
hauser. Der Kommunist Holz,
der Nationalist von Salomon, der
biedere alte Professor Fuchs
(MWir Zuchthausler"), — das
sind doch wohl unverdachtige,
weil grundverschiedene Zeugen.
Und sie alle erzahlen so ganz,
ganz andre Dinge : Von Unge-
ziefer, schlechtem Essen, von
Kellerzellen, von seelischen und
leiblichen Torturen, von den tau-
sendfachen Formen, in denen
arme, kleine Teufel von Beamten
ihren kummerlichen Machtdunkel
ausleben,
Ist das nun alles Schwindel ?
Oder haben grade Diese alle zu-
fallig das Pech gehabt, nicht in
einer der gern besichtigten und
oft photographierten Anstalten zu
sitzen?
Iedenfalls macht sich der nach-
denkliche Laie so seine Gedan-
ken. Vielleicht, so vermutet er,
ist der Fortschritt unsres Ge-
f angniswesens ein' so aufierordent-
licher, daB man bereits dazu
ubergegangen ist^ die Straflinge
auf Dorfern anzusiedeln, die den
Namen eines popularen alten
russischen Organisators tragen.
Axel Eggebrecht
Stefan Rott
Ctefan Rott oder Das Jahr der
„*** Entscheidung", Max Brods
soeben bei Zsolnay erschienener
Roman spielt in Prag in den
letzten Monaten vor Kriegsbeginn.
Ein siebzehn j ahriger Gymnasiast
ist der Held des Romans. Ein
komisches Wort iibrigens; „Ro-
manheld \ In den meisten deut-
schen Romanen steht entweder
ein Unheld oder ein Unhold im
Mittelpunkt; trotzdem heifien alle
bedingungslos: Romanheld. Brods
Gymnasiast ist ausnahmsweise
wirklich ein Held. Er schlagt sich
tapfer und fanatisch mit Gott und
der Welt herum, er ringt erbittert
mit den Machten des Himmels
und der Unterwelt, beziehungs-
weise des Unterleibs, und der Le-
ser, in atemloser Spannung, fragt
sich unaufhorlich: Wer wird star-
ker sein? Es ist wichtig, daB
dieser Roman vor dem Krieg in
Prag spielt, denn die heute schon
ausgeraucherte Damonie . dieser
Stadt, in der seit 1918 statt der
Damonen elegante franzosische
Militarattaches und dicke ameri-
kanische Geschaftemacher den
Ton angeben, erklart die Ab-
sonderlichkeit der Menschen, die
Brods Buch bevolkern. Absonder-
lich sind sie alle; der siebzehn-
jahrige Stefan Rott, der im ver-
fruhten Kampf um eine Welt-
anschauung auf dem Umweg iiber
Thomas von Aquino zu Platons
letzten Weisheiten gelangt; der
Religionsprofessor Werder, der
seinen Lieblingsschuler allem Ir-
dischen abspenstig zu machen
vom guten Buch ist diegute
Abdulla-Cigarette - sie gtbt
volkndeten Genuftl
Sfo«d«rd o/M. u. Gold Stack % Wg.
Hcrrcaformaf m. Gold u. Stroh/M StDoV « Wg.
Virginia Hr. 7 .... o/M Stikk % Nf.
tqypllan Nr. 16 . . . . o/M. u. Gold SiOdc 10 Wig.
Abdiilfa-Cigareffen geniefjen Welfruff
Abdulla £ Co. Kairo / London / Berlin
762
trachtet, em finsterer Mensch aus
dem Mittelalter, dessen strenge
und eingeengte Weisheit mehr als
einen Ausweg aus dem selbstge-
mauerten Kerker des Ver-
neinungsgeistes kennt und ver-
wirft; die schone Frau Phyllis, die
dem jungen Stefan den ersten
Unterricht in den Kiinsten der
Liebe erteilt; Stefans Vater, der
sich bei einem im Salon aufge-
stellten Fernrohr von den An-
strengungen des Bankgeschafts
und der Ehe erholt; der ver-
kriippelte Advokat Doktor Urban,
der Stefans Geliebten Phyllis
horig ist und den Siebzehnjahri-
gen auf den Knien urn Mitleid an-
fleht; der Gymnasiast Anton,
Stefans Freund und Sohn der
schonen Frau Phyllis, der mit
Leib und Seele Anarchist ist.
Nicht nur Stefan Rott — alle
diese Menschen erleben Ungeheu-
res. Zwei, drei, vier Monate vor
dem Krieg. Obwohl damals T,tie-
fer Friede" war, eine Zeit der
angenehmen Langeweile, der faden
Sorglosigkeit, der ahnungslosen
Wurstigkeit in alien Bezirken des
Lebens und Denkens.
Es ist eben doch alles anders
gewesen als man sichs heute vor-
stellt, Wenigstens in Prag, dessen
Mysterien keinem tschechischen
Dichter, sondern Max Brod auf-
gegangen sind. Was er schildert,
ist die merkwiirdigste Vorahnung
der Ereignisse, die den von thm
dargestellten Spannungen folgen
muCten. Traumhaft, spukhaft
bricht der Krieg in die bewegte
Stille der heimlich langst aufge-
wuhlten Stadt ein. Grofiartig
schildert Brod das Unwirkliche,
Unglaubhafte des brutalen Ein-
bruchs der realen Machte, die
den Krieg zutage fordern. Ohne
Signal, ohne Voranmeldung
brechen sie ein. Die Ermordung
des osterreichischen Thronfolgers
wird unbesorgt, beinahe gleichgiil-
tig, mit leiser Schadenfreude, zur
Kenntnis genommen; niemand
ahnt, daB nach diesem Attentat
die Erde ins Wanken geraten soli.
Und eines Tags ist der Krieg da
und zerschneidet alle Entwicklun-
gen, bricht alle Kampfe des
Geistes mit einem Schlag .ab.
Die Kampfe des Geistes, die
der Romanheld besteht, sind Brod
das Wichtigste. Ihretwegen hat er
diesen Roman geschrieben. Die
groBen bedeutenden Kapitel, die
er ihnen widmet, sind ebenso
spannend wie tief, sie zeigen den
Dichter auf der Hphe seiner Ge-
staltungskraft. Es darf freilich
nicht verschwiegen werden, dafi
es manchen Leserinnen der „Frauf
nach der man sich sehnt" nicht
ganz leicht fallen wird, sich mit
den schwierigen Gedankengangen
der philosophischen Duelle zwi-
schen Werder und Stefan zu be-
freunden, Diese Leserinnen
konnen sich aber an die sehr un-
gewohnliche Liebesgeschichte hal-
ten, die von Zeit zu Zeit die
„schweren" Kapitel unterbricht;
sie werden auf ihre Rechnung
kommen.
Ludwig Winder
Lyonel Feininger; f
Zwanzigtausend
T\ ie Zahl diirfte bis zum Er-
*-^ scheinen dieser Zeilen be-
reits erheblich uberschritten sein.
Mlhtfm WvtftmntUv miigtett Me $dx\U
itbcr ben f o^f mrammcttrriilagiett/*
S i e werden nicht so besttirzt sein, derm S i e verstehen die junge Frauengene-
ration, deren Lebensautfassung ihren Ausdruck findet in dem Erstlingswerk von
IRMGARD KEUN / Gilgi, eine von uns
In biegsamem Pappband M 3,80; in Leinen M 4,80
UNIVERSITAS-VERLAG / BERLIN W 50
(Ift
763
So viele Menschen haben die
Ausstellung Lyonel Feiningers im
Kronprinzenpalais in den ersten
paar Wochen besucht. An Sonn-
tagen sind die Raume drangvoll
von einem Publikum, das zu den
verschiedensten Klassen, Berufs-
und Einkommensschichten ge-
hort Man sieht Arbeiter, klein-
burgerliche Typen, Intellektuelle
und Mondane mit der gleichen
Konzentration in die Betrachtung
dieser Landschafts- und Archi-
tekturvisionen vertieft. Ein Publi-
kum von der guten Mischung
„Volk*\ die man sonst nur in
Kinos, bei Sportereignissen und
allenfalls in der Volksbtihne an-
trifft, ist ein Herz und eine
Seele vor Bildern, die zu den
reinsten geistigen Erscheinungen
der deutschen Kunst gezahlt wer-
den mussen. GewiB hat die ro-
mantische Stimmung dieser Male-
rei viel Bestechendes an sich.
Ihre monumentalen Lichtraume
sind von der ewig deutschen
Sehnsucht nach dem Unendlichen
erf iil It, Feininger malt eine zau-
berhafte Verklarung der Wirk-
lichkeit, ein idealistisches Labsal
fur empfindsame Gemiiter, die
von der Wirklichkeit der Notver-
ordnungen nichts weniger als
sanft angefafit werden. Real-
kunstpolitiker mogen fiber' diese
Empfindsamkeit erhaben sein
oder sie vor andern und sogar
vor sich selbst als unzeitgemaDe
Schwache verleugnen. Die Ge-
wiBheit einer hohern geistigen
Ordnung im Dasein, die in den
Bildern von Feininger ihren ge-
steigerten Wiederhall erlebtf die-
ser von Rationalisten, Mate-
rialisten und Militaristen so her-
abgewiirdigte menschliche, wenn
Ihr wollt: allzumenschliche Trieb
ist auch aus dem Helden und
Opfer unsrer guten neuen Zeit
nicht wegzuoperieren, Er mag
heute halb und halb verschuttet,
er mag seines Gottesglaubens
verlustig, an Substanz armer und
diinner geworden sein. Eben:
stimmungshaft und romantisch.
Aber Feininger kommt dieser Ro-
mantik keineswegs auf der Linie
des geringsten geistigen Wider-
standes entgegen, Beweis : Nicht
allein das grobe MiBverstandnis,
mit dem seine Kunst von der na-
tionalsozialistischen Kunstpolitik
behandelt wird. Die kristallklare
Baugesetzlichkeit seiner Bilder
ist fur die impressionistische Kri-
tik noch heute ein Buch mit sie-
ben Siegeln. Auch ware sie von
dem gleichen Publikum, das dem
Sechzigj ahrigen heute huldigt,
vor zehn Jahren noch zumindest
ratios angestarrt worden.
Der Erfolg der Ausstellung von
Feininger ist die glanzende Recht-
fertigung eines Kunstlers, der zu
den viel gelasterten „Ismen" ge-
hort. Expressionismus — Kubis-
mus: Was vor zehn und funfzehn
Jahren Burger- und Impressio-
nistenschreck war, wird heute mit
Liebe und Bewunderung ange-
nommen. Wie so oft schon, hat
wieder einmal das vielumstrittene
Neue in der Kunst recht behal-
ten. Wieder einmal ein Auflen-
seiter, ein „asozialer Formalist'4
etcetera, der Auge und Herz des
grofien Publikums fur sich be-
lt ehrt hat. Trostlich fur j ene
jungen Maler und Bildhauer, die
den ewigen Phantasievorsprung
der Kunst vor neuem zu wahren
wissen und dafiir schief angesehn
werden — gewiB auch von Augen,
Die Neagestaltung der gesellschaftlichen Ordnung!
GERHART POHL:
VORMARSCH INS XX. JAHRHUNDERT
Zerfall und Neubau der europ^ischen
Gesellschaft im Spiegel der Literatur
Kartoniert nur RM. 3.80.
Erstmalig wird hier entschlossen und konsequent
SOzlologische Literaturkritik geirleben statt der
bisher Ublichen fisthetischen.
W. R. LINDNER VERLAQ, LEIPZIG ■m^hmm
764
die heute Feininger folgen, nach-
dem sie gestern bis Cezanne und
keinen Schritt welter reichten.
Daruber hinaus aber darf die un-
gewohnliche Anziehungskraft der
Ausstellung im Kronprinzen-
palais vielleicht als Symptom gel-
ten fur eine neue geistige Selbst-
besinnung, die vielfach auch dort
einkehren mag, wo die grellen
Sensationseffekte von Technik,
Sport, Film und Reportage alles
andre uberblendet haben. Auf
jeden Fall ist das stumpfsinnige
und boswillige Schlagwort von
der Kunst, „die unsre Zeit nichts
mehr angehe", durch die stille
Demonstration der zwanzigtau-
send und mehr Besucher Feinin-
gers aufs griindlichste widerlegt,
Und hinter diesen zwanzigtau-
send stehen bestimmt noch Hun-
derttausende, denen die ganze
zeitgemaBe Betriebsamkeit unsrer
tiichtigen Zivilisationspraktiker
und Weltkonfusionsrate langst
zum Halse heraushangt, Hundert-
tausende, die jenseits von der
Kirche aber auch vom Freiden-
kertum, jenseits von mondsuchti-
ger Lebensuntauglichkeit, aber
auch von verkrampften Aktivis-
men zu einer tiefern Lebens-
orientierung drangen. Die Men-
schen brauchen Kunst. Man mufl
es nur verstehen, die Kunst an
sie heranzubringen. Man darf
sich nur nicht einschuchtern und
entmutigen lassen von dem geist-
feindlichen Geschrei jener, die
sich als einzig autorisierte Ver-
treter von — je nach dem —
f,Massen-" oder ,,Volksinteressen"
aufspielen. Ernst Kdllai
Ja» warum denn?
\/orsitzender: Warum haben Sie
v aber zum Beispiel Gelder fur
politische Zwecke gegeben?
Leo Sklarek; Das haben alle ge-
macht. Warum gibt zum Beispiel
die Behala mit ihrem sozialdemo-
kratischen Direktor Schiining Gel-
der an die Deutschnationalen?
Vorsitzender: Ja, warum denn?
Leo Sklarek: Weil es ein einge-
fiihrtes System war, das unter
Oberburgermeister BoC entstan-
den ist,
Aus dem SklarekprozeB
Wenn das so weiter geht
rVie Stadt Berlin neigt meht und mehr
*~* Zu provinziellen Sitten,
Nun wird uns schon der Nahverkehr
Ab 1 2 Uhr nachts beschnitten :
Wenn das so weiter geht,
O jeh, O jeh,
Kann uns die B.V.G. am Po—
(Nicht an der Spree 1)
Den vroflen Brudern Safl gelang
Der Druck von Zehnmarkscheinen.
Und man versteht das, denn die Bank
Vcrsagt schon bei uns Kleinen.
Wenn das so weiter geht,
O jeh, O jeh,
Dann bin ich auch fur das
Import-monney.
An Halle kann man wieder sehn
Wie Adolf Rex sein Heer lenkt.
Dort rebelliert man gegen dehn,
Der etwas mehr als der denkt.
Wenn das so weiter geht,
O jeh, O jeh,
Dann wird die Wissenschaft
Zum Kabarett
Werner Finch
Hlnweise der Redaktion
Bucher
Lion Feuchtwanger: Erfolg. (Sonderausgabe) Gustav Kiepenheuer, Berlin.
Jean Giono : Ernte. S. Fischer, Berlin.
Arthur Holitscher: Ein Mensch ganz frei. S.Fischer, Berlin.
Anton Kuh: Physiognomik. R. Piper & Co., Mtinchen.
Albert Londres: Jude wohin? Phaidon-Verlag, Wien.
Adam Muller: Vom Geiste der Gemeinschaft Alfred Kroner, Leipzig.
Demokratie und Partei. Herausgeber P. R. Rohden. L. W. Seidel & Sohn, Wien.
Rundfunk
Diensta?. Berlin 19.40: Spuk in der Villa Stern von Friedrich Hollander — Mittwoch.
Langenberg 11.00: Franz Werfel liest. — Berlin 14.00; Totengespr&che von Fritz
Mauthner. — Konigsberg 14.00: Verse und Prosa von Walter Bauer. — Konigswuster-
hausen 14.00: Pablo Picasso, Adolf Behne. — Breslau 1930: Ernst Glaeser liest. —
Mtthlacker 21.15: Werden — Sein — Vergehen. — Donnersta?. Breslau 18.30: Kann
eine moderne Kunsbetrachtung die Hegelschen Grundbegriffe entbehren? Herbert
Bahlinger und Werner Milch. - Freitay. Berlin 18.10: Robert Musilliest. — Leipzig
20.40: Der Weiberkrieg, nach Aristophanes. — Berlin 21.10: Gottfried Benn liest. —
Sonnabend. Berlin 18.00: Die Err ah lung der Woche, Arthur Eloesser.
765
Antworten
Arbeitsloser Auslander. Die Stadtverwaltung von Gladbeck hat
* deinen dort ansassigen Leidensgenossen einen blauen Brief geschickt,
in dem sic ihnen mitteilt, dafi sie leider gezwungen ist, die Zahlung
der Erwerbslosenunterstiitzung an sie ab 1 . November einzustellen.
Dreihundert liegen so ohne jegliche Mittel auf der Strafle, die Stadt-
vater (,ersuchen" sie in ihrem „eignen Interesse", sich in ihre Heimat
zu verfiigen. Diese freundliche Aufforderung kommt einer Ausweisung
gleich, die durch nichts berechtigt ist. Und davon abgesehn haben
die Betrof fenen doch Jahre hindurch aus ihrer Tasche Beitrage zur
Erwerbslosenunterstiitzung gezahlt, und nicht nur diese, denn sie sind
wie alle andern Arbeitenden der Steuerpflicht unterworfen etcetera.
Hier gibt es doch nur zwei Moglichkeiten, entweder befreit man alle
Auslander von jeglicher Zahlungspflicht, dann ist man ihnen gegen-
(iber auch zu nichts verpflichtet; oder man steckt das Geld ein und
laJBt ihnen die durch das Geld erworbenen Rechte, Eine andre Mog-
lichkeit gibt es nicht, und kein Hinweis auf die druckende Nptlage ver-
fangt. Es verstofit einfach gegen die primitivsten Gesetze der offent-
Iichen Moral, einem Menschen jahrelang Beitrage zur Arbeitslosenver-
sicherung abzuknopfen und ihm dann, wenn er selber in die traurige
Lage versetzt ist, Erwerbslosenunterstiitzung beziehen zu miissen, . zum
Teufel zu schicken mit dem Hinweis, wir haben nicht mal Geld fur
unsre deutschen Erwerbslosen.
Neugieriger. Der LandesverratsprozeB gegen die ,Weitbuhne'
(Rubrum: Kreiser und Ossietzky) findet am 17. November vor dem
, IV, Strafsenat des Reichsgerichts statt.
Walther Victor- Sie haben sich nun bereits das vierte Mal vpr
den Gerichten wegen einer angeblichen Gotteslasterung zu ver ant-
worten gehabt. Wir referierten bereits mehrmals daruber. Die jetzigen
Richter waren so gnadig, Ihnen statt der zuletzt zudiktierten vier Mo-
nate Gefangnis nur noch zwei Wochen aufzubrummen. Sie haben Re-
vision eingelegt, Wann wird sich endlich auch fur Sie das Gericht*
finden, das so weise ist wie die Siegert-Kammer im Grosz-Prozefi?
WirtschaHskorrespondenz fiir Polen. Ihre Beilage „Buch- und
Kunstrevue" feierte in diesen Tagen ihr funfjahriges Bestehen. Von
Kattowitz aus Verstandigungspolitik zwischen Polen und Deutschland
zu propagieren, durfte keine leichte Arbeit sein, und wir gratulieren
Ihnen, daB Sie mit Erfolg versucht . haben, Polen mit den geistigen
Produkten Deutschlands bekannt zu machen. Wir wunschen Ihnen
weiterhin viel Gltick,
Danziger. Wenn Sie Interesse an regelmafiigen Zusammenkunften
der dortigen Weltbuhnenleser haben, so geben Sie Ihre Adresse an
unter: Danzig 1, Schliefifach 150.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt des Axia-Verlages, Berlin, bei,
der Uber das Schaffen von Salomon Dembitzer unterrichtet. Wir emp-
fehlen den Prospekt der besonderen Aufmerksamkeit unsrer Leser.
Manu&kripte sind nur on die Redaktion dor Weltbiihne, Charlottenburg, Kantatr. 152, zu
rich tea: es wird gebeten, ihnen Ruckporto beizulegen, da sonst keine Ruck send unj erfolgen kann.
Das Aufftihrungarecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rahmen des Films, die musik-
mechanische Wiederjrabe alter Art und die Verwertiing im Rahmen von RadiovortrSgen
bleiben ftlr alle in der Weltbtttme erscheinenden Beitrage ausdrUcklicS vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begriindet von Siegfried Jacob sohn und wird von Carl v. Ovsietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucholsky geleitet — Verantwortlich: Carl v. Ossietzky, Berlin;
Verlag der Weltbuhne, Siegfried Jacobsoho & Co., Charlottenburjr.
Telephon: CI, Steiriplatz 7757 - PosUcheAkonto: Berlin 119 58.
Bankkonto. D arms tad ter u. Nationalbank, Depositenkasse Charlottenburg, Kantstr. 11?
Nach RedaktionsschluB diescr Nummer ist das nach-
folgende
Urteil
des Reichsgerichts gegen den Herausgeber der .Weltbiihne*,
Carl von Ossietzky, und den Schrif tsteller Walter Kreiser er-
gangen:
Die Angeklagten werden wegen Verbrechen gegen § 1 Ab-
satz 2 des Gesetzes izber Verrat militarischer Gekeimnisse vom
3. Jttni 1914 ein jeder zu 1 Jahr und 6 Monaten Gefdngnis und
zur Tragung der. Kosten des Verfahrens verurteilt. Die Nr. 11
der tWeItbiihne4, Jahr gang 1929, ebenso wie die zu ihrer Her-
steltung notwendigen Flatten und Formen sind unbrauchbar zu
machen.
Fiir die Verkiindung der Urteilsbegrundung hat der Senat
des Reichsgerichts die Oftentlichkeit ausgeschlossen, ,,da die
tatsachliche und rechtliche Wiirdigung des inkriminierten Ar-
tikels durch das Gericht naturgemafi nicht erfolgen konnte,
ohne die in Rede stehenden geheimen Nachrichten zu erwagen
und zu beleuchten".
Dazu haben wir im Augenblick nur zu sagen: Die
Arbeit der .Weltbuhne' wird fortgesetzt.
Anlafllich dieses Urteils veranstaltet die Deutsche Liga furMen-
schenrechte am Freitag, dem 27. November, um 8 Uhr abends, im
Langenbeck-Virchow-Haus, Luisenstr. 58, eine Protestkundgebung,
XXVII. Jahrgang 24. November 1 93 1 Nararaer 47
Wer gegetl Wen? von Carl v. Ossietzky
r\ ie Nationalsozialisten haben nun audi in Hessen die biirger-
^ lichen Parteien iiberrannt und die Sozialdemokratie stark
ins Hintertreffen gebracht. Die Kommunisten haben viel er-
obert, und die neue Sozialistische Arbeilerparlei hat trotz un-
guns tigs ten Verhaltnissen ein M and at gewinnen konnen. Von
den alten Biirgerparteien hat sich nur das Zentrum mit bestem
Anstand behauptet. Die Gruppen Hugenberg, Dingeldey, Diet-
rich und einige andre liegen zerschlagen da. Die Massen der
enteigneten Burger fluchten hinter die Palisaden der National-
sozialistischen Partei. Angesichts des ungeheuren Anwachsens
dieser Partei, die noch vor ein paar Jahren erne etwas zweifel-
hafte Sekte war, verliert die Frage fast an Bedeutung, ob und
wann sie regieren wird. Schon lange kommt die Regierung
Bruning ihr auf alien Wegen entgegen. Die Notverordnungen,
die Militarisierung des Innenministeriums, alles das sind Mafi-
nahmen, die den Zustand von morgen oder tibermorgen vor-
wegnehmen. Hitler regiert nicht, aber er herrscht.
Das deutsche Biirgertum schwindet politisch in dem
MaBe, wie es sozial an Boden verliert. Es begreift nicht das
uber seine Klasse hereingebrochene wirtschaftliche Schicksal.
Es steht einer Revolution gegeniiber, die es mit unbarmherzi-
ger Schnelle aus seinen Vorrechten jagt, und die doch weder
Gestalt noch Gesicht tragt. Die franzosischen Adligen sahen
doch die rote Miitze ihrer Gegner, die Spottverse der Ohne-
hosen heulten ihnen in die Ohren, Qa iraf ca ira, les
aristocrats on les pendra. Die deutsche Besitzerschicht hat
es nicht mit Burger Samson zu tun, ihr Nachrichter ist der
hochst korrekte Gerichtsvollzieher. Was Generationen er-
worben haben, wandert eines Morgens auf den kleinen klapp-
rigen Wagen vor der Tiir, der nachher so melancholisch. durch
die StraBen rumpelt wie Wilhelm Raabes Schtidderump. Qa
ira, ca ira, celui qui s'eleve, on l'abaissera.
Dieses Millionenheer, das sich dem Fascismus in die Arme
wirft, fragt nicht, weil ihm nichts mehr zu fragen iibrig ge-
blieben ist. Desperat und kritiklos folgt es einer bunten und
larmenden Jahrmarktsgaukelei, weil nichts schlimmer werden
kann als es bereits ist, so wie ein von den besten Arzten auf-
gegebener Patient schlieBlich den Weg zum Kurpfuscher findet,
der dem Krebskranken empfiehlt, eine WalnuB in der Tasche
zu tragen. Jeder hofft, niemand fragt. Darin Hegt das Gliick
des Nationalsozialismus, das Geheimnis seiner Siege, darin
liegt aber auch seine Ohnmacht. Seine verschiedenartigen Be-
standteile wachsen nicht zusammen, die Partei bleibt und
bleibt eine kolossale Anschwemmung gebrochener Existenzen,
leidlich gebunden nur durch den Glauben, daB der Heilige aus
Braunau im Ernstfalle doch funktionieren wird. Aber der
i • 767
Heilige denkt nicht ans Funktionieren, dieser Prophet der Ger-
man Science — man muB seinen Mumpitz so nennen — macht
sich im Braunen Haus wichtig; kein Gestalter, jeder Zoll ein
Dekorateur, heute Wilhelm IL, morgen vielleicht schon Lud-
wig IL Zweimal hatte die Partei marschieren konnen. Am
14. September 1930 und am Abend von Harzburg war Deutsch-
land sturmreif, Aber Hitler marschiert nicht; denn wenn er
auch nicht viel weiB, so doch eines: daO er nur ein paar seiner
Mobilgarden ausschwarmen lassen kann, daB aber das Gros
keine Bewegung vertragt. Und im Grunde kalkuliert er nicht
so unrichtig. Denn was Bruning und Groener fiir ihn tun,
braucht er selbst nicht zu leisten. Nochmals: er regiert nicht,
aber er herrscht. Er tut nichts, aber andre laufen fiir ihn.
Auf die Dauer kann es sich aber eine noch immer wach-
sende Partei nicht so bequem machen. An dieser Partei ist
nichts originell, nichts schopferisch, es ist alles entlehnt. Sie
hat kein eignes geistiges Inventar, keine Idee; ihr Programm
ist in aller Welt zusammengestoppelter Unsinn. Ihr auBerer
Habitus und ihr Wortschatz stammt teils von den Linksradi-
kalen, teils von Mussolini, teils von den Erwachenden Ungarn.
Nur die Vereinsparole ,,Juda verrecke!" ist wohl in eignerKul-
tur gezogen. Diese Millionenpartei mit den fetten Industrie-
geldern hat bei ihren Ausfliigen in den Geist immer nur die
argsten und altesten Klamotten aufgekault. Was ihre Theore-
tiker Feder und Rosenberg angeht, so ist jede Unterhaltung
mit ihnen unmoglich, wahrend man mit einem vifen Praktiker
wie Goebbels immerhin noch mit den Stiefelspitzen diskutieren
kann. Alles an dieser Partei ist Nachahmung, alles was sie
unternimmt schlechtes Plagiat. Selbst ihre Zeitungen sind im
Format und in der graphischen Aufmachung aufs engste an ein-
gefiihrte Blatter angelehnt, ihnen zum Verwechseln ahnlich ge-
macht. Alles in und an der Nationalsozialistischen Partei ist
zusammengeklaut, alles Diebesgut, alles Sore; Material fiir
stupide Kopfe aber fertige Finger. Dennoch waltet auch hier
so etwas wie eine metaphysische Gerechtigkeit: die Herren
Fiihrer haben sich ein Stiick zu viel gelangt. Sie haben sich
von ganz links her auch die soziale Revolution geholt und
unter ihre Leiite geworfen. Damit hantieren sie nun wie der
Affe mit dem Rasiermesser, und damit werden sie sich am
Ende selbst die Gurgel abschneiden.
Hugenberg hat bekanntlich gesagt, wir miiBten alle Prole-
tarier werdenf ehe es wieder besser wird, und im Grunde
hat auch Karl Marx dasselbe gesagt. Heute ist dieser Tat-
bestand so ziemlich erreicht, es kommt nur darauf an, was fiir
Schltisse man daraus zieht. Die soziale Differenzierung wird
schwacher und schwacher, man kann es sich beinahe ausrech-
nen, warm Deutschland von . einer einzigen verelendeten
Masse bewohnt wird. Bald wird es nur noch eine einzige pro-
letarische Klasse geben, und selbst wer heute noch arbeitet,
sich heute noch mit Vermogensresten in etwas Wohlhabigkeit
sonnt, tut es mit schlechtem Gewissen, fiihlt sich im Innern
doch nur als einstweilen zuriickgestellte Reserve der groBen
Armee unter der einen grauen Fahne. Damit werden aber
768
auch die innern Fraktionszwiste schattenhaft, die historischen
Parteien selbst gespenstisch, weil sie nicht der wirklichen
Sachlage entsprechen, weil dahinter nicht mehr die natiirlichen
Gruppeninteressen stehen, weil Deutschland anfangt, eine ein-
zige Klasse zu werden. Die Parteien raufen sich wie sonst,
Warum? Sie sind leer gewordene Hiilsen. Die verschiedenen
Kokarden fallen auf der StraBe iibereinander her und zerschla-
gen sich die dahinter befindlichen Stirnen. Warum? Wer steht
gegen wen? Prolet gegen Prolet. Habenichts gegen Habe-
nichts. Deutschland gegen Deutschland.
Es ist also eine Situation zum Handeln wie geschaffen.
Selten stellt das Schicksal der Volker das Bild einer Nation
so einheitlich. Die biirgerlichen Mittelparteien sind erledigt,
das zwar immer noch intakte Zentrum ist nur eine Partei der
taktischen Defensive, die vor jedem Entscheidungskampf ein-
schwenkt und sich mit dem wahrscheinlichen Sieger zu ver-
tragen sucht. Seine Leute gehn nur in die Wahlzelle, nicht auf
die StraBe. Die Entscheidung kann nur von den Fascisten
komraen oder von den Sozialisten.
Unter diesen Umstanden liegt der Gedanke der sozialisti-
schen Einigung wieder in der Luft. Die Gewerkschaften
schrumpfen in der allgemeinen Pauperisierung. Die Sozial-
demokratie verliert iiberall, wo gewahlt wird. Die Kommu-
nisten gewinnen zwar, aber zugleich geraten sie mehr und
mehr in Isolierung; ihre Radikalitat geht auf zu viel und mufi
im tiefsten Defaitismus enden. Ihr Wachstum zwingt ihnen
Aufgaben und Entschliisse auf, die ihnen nicht nur aus innern
Griinden gefahrlich werden konnen, Eine so groBe Partei, die
standig unter dem Schwerte des Verbots lebt, kann leicht un-
sicher werden. AuBerdem ist die KPD durch Programm und
Doktrin an eine starre Linientreue gefesselt, die sie an der Ent-
faltung ihrer wahren Kraft hindert; sie kann davon nicht ab-
weichen, ohne in schweren innern Zwiespalt zu kommen. Es
ist mir einmal bei der Partei bitter vermerkt worden, daB ich
mich iiber Heinz Neumanns chinesische Vergangenheit mo-
kierte. Heute will ich mich gern rektifizieren. Es ware ein
namenloser Segen fiir die ganze KPD, wenn der moskauer
GroBherr, der fiir Herrn Neumann viel ubrig haben soil, ihm
mpglichst bald eine neue ehrenvolle Mission in China iiber-
tragen mochte, Auch unter den deutschen Kommunisten gibt
es zahllose, die die Auffassung vertreten, daB Herrn Neumanns
nicht unbetrachtliche Begabung fiir chinesische Verhaltnisse
wie geschaffen ist.
Der Biirgerkrieg der deutschen Sozialisten untereinander
wird immer naturwidriger. Der Fundus, um den sie sich schla-
gen, wird immer kleiner. Dieser Fundus ist die deutsche Re-
publik. Hat der Fascismus eirnnal gesiegt, so werden die So-
zialdemokraten ebenso wenig zu melden haben wie die Kom-
munisten. Auch hier lautet die Frage: Wer gegen wen? Pro-
769
Ictarier gegen Proletarier. Arbeiter gegen Arbeiter. Dabei
werden die Anhanger beider Parteien immcr ahnlicher im
Denken. Die kommunistischen Arbeiter verlieren die Geduld,
auf eine Weltrevolution zu warten, die nicht kommt, obgleich
die okonomischen Zustande daftir reif zu sein scheinen. Die
sozialdemokratischen Arbeiter dagegen verlieren den Glauben
an den Opportunismus ihrer Fiihrer.
Die Sozialdemokratie hat durch Rudolf Breitscheid die
Moglichkeit opera tiven Zusammengehens mit den Kommunisten
zur Erorterung gestellt. Das war verniinftig, aber das schlechte
Echo bei der ,Roten Fahne' diirfte sich wohl auch durch die
Wahl dieses Friedensbotens etwas erklaren lassen, Es gibt
noch genug Sozialdemokraten, die dafiir besser geeignet sind.
Herr Breitscheid ist eine Bettschonheit, er verliert, wenn er
aufsteht. Es heiBt auch, eine Diskussion schon im Anfang ab-
drosseln, wenn der ^Vorwarts' schreibt, die Kommunisten nuiB-
ten es sich abgewohnen, Briining — Groener gleich Hugenberg—
Hitler zu setzen. Es kommt nicht auf die besondere politisch-
moralische Einschatzung dieser Herren an, nicht auf ihre Ab-
sichten sondern auf ihre Wirkung. Und hier muB man die
Unterschiede schon mit dem Mikroskop suchen,
Es ware eine Utopie und wiirde der Sache nur schaden,
heute bereits die gemeinsame revolutionare Front aller sozia-
listischen Parteien und ihrer Sezessionen zu f ordern. Das ist ein
Wunschbild, das augenblicklich an den sachlichen und perso-
nalen Differenzen zerbricht< Wenn zunachst nur ein taktisches
Notprogramm fruchtbar gemacht werden konnte, so ware das
schon ungeheuer viel. Ein Programm der produktiven Abwehr;
Verteidigung der sozialen Arbeit errechte und der politischen
Biirgerrechte gegen das System der Notverordnungen und den
Fascismus, gegen Briining und Groener, Hugenberg und Hitler,
Was aber Kir alle Falle verhindert werden muB, das ist die
gleiche abscheuliche Gruppierung wie beim preuBischen Volks-
entscheid. Dieses traurige Schauspiel darf sich nicht wieder-
holen, sonst erhalten wir im nachsten Friihjahr mit linksradi-
kaler Hilfe einen Reichsprasidenten Hitler. Es ist ein Ungluck,
daB den sozialistischen Parteien wirkliche Mittler fehlen, daB
die Bureaugenerale der Zentralen selbst Tuchfiihlung suchen
mtissen und daB sie dabei leicht an Widerstanden
scheitern konnen, die sie selbst geschaffen haben. Wie viele
Minuten oder Sekunden vor zwolf es schon ist, laBt sich nicht
sag«n. Periculum in mora. Die Herrschaften miissen sich be-
eilen,
Bei alledem ist es dennoch ein Fortschritt, daB heute wie-
der tiber Derartiges laut gesprochen werden kann, ohne daB
die Ketzerrichter solche Stimmen gleich mit dicken Woll-
kneb^ln zu ersticken trachten. Moglich, dafi wenig dabei her-
auskommt, aber die Zuversicht wird doch wieder rege, dafi der
Fascismus den letzten Gang verlieren wird. Er mag Deutsch-
land iiberrumpeln, er wird es niemals besitzen, Er wird viel-
leicht noch hoher steigen, aber zu keinem andern Zweck, als
um so tiefer zu fallen.
770
Rufiland in der Wirtschaftskrise K.L.oTrstorff
PJie Produktion in den entscheidenden Industriestaaten ist in
*^ der Weltwirtschaftskrise um ungefahr ein Drittel zuriick-
gegangen; und auch der WeitauBenhandel hat sich in seinem
Volumen auBerordentlich verringert. Im erst en Halbjahr 1931
ist er gegeniiber dem ersten Halbjahr 1930 wertmaBig um etwa
28 Prozent zuriickgegangen. Diese Abnahme ist doppelt so
hoch wie die im ersten Halbjahr 1930 gegeniiber dem ersten
Halbjahr 1929. Zur Halfte ungefahr fallt die Abnahme im
WeitauBenhandel auf den Riickgang der Umsatzmengen, zur
Halfte auf den Riickgang -der Preise. Wenn man den Welt^
auBenhandel im ersten Halbjahr 1928 mit 100 ansetzt, so stand
er im ersten Halbjahr 1931 auf 69,2, MengenmaBig ist der
Riickgang geringer; betrug der WeitauBenhandel in der ersten
Halfte 1928 100, so 1931: 85,4. Der WeitauBenhandel steht
daher, wenn man berucksichtigt, daB durch die vielen neuen
Grenzen vielfach als AuBenhandel erscheint, was fruher Bin-
nenhandel war, nicht mehr iiber dem Friedensniveau.
Es ist selbstverstandiich, daB dieser gigantische Riickgang
von sehr wichtigen Konsequenzen fiir die Verbundenheit'
der Wirtschaft SowjetruBlands mit der Weltwirtschaft sein
muBte. Wir stehen im dritten Jahr des Funfjahrplans, und es
ist schon heute festzustellen, daB grade durch die Weltkrise
auch der groBe Plan stark in Mitleidenschaft gezogen wird.
Als die Russen den Plan aufstellten, und in diesen Plan natiir-
lich die Entwicklung ihres AuBenhandels einfiigten, da hatten
sie mit einer verhaltnismaBigen Stabilitat der Weltwirtschaft
gerechnet und damit auch mit einer Stabilitat der Preise der
entscheidenden Produkte. Es ist auBerordentlich bezeichnend,
daB in demselben Jahre 1929, in dem die Russen das Zentral-
Komitee der deutschen kommunistischen Partei beschlieBen
lieBen, daB eine revolutionare Situation unmittelbar bevorstehe,
die Russen in ihrem Plan die herannahende Weltwirtschafts-
krise nicht beriicksichtigten. Kein Wunder, daB die Entwick-
lung ihres AuBenhandels vollig von den Voranschlagen ab-
wich. Fiir das Jahr 1930 hatte man mit einer weitern Export-
steigerung von etwa 40 Prozent gerechnet und hatte auch
dementsprechend einen Importplan angesetzt. Das Jahr 1930
brachte aber nicht eine Exportsteigerung von 40 Prozent son-
dern nur von 14 Prozent. Es war das an sich noch eine er-
;staunliche Leistung. Denn verkennen wir nicht, daB im selben
Jahr 1930, in dem die Russen ihren Export auch wertmaBig
noch um ein Siebentel steigerten, der WeitauBenhandel einen
wertmaBigen Riickgang um mehr als 15 Prozent hatte. Die
-wertmaBige Steigerung der russischen Ausfuhr um etwa ein
Siebentel war begleitet von einer viel groBern Steigerung der
russischen Ausfuhrmengen. Aber es zeigte sich in der Welt-
wirtschaftskrise, daB die Preisgestaltung auf den Weltmarkten
;sich sehr zuungwisten SowjetruBlands auswirkte. Warum?
SowjetruBIand fiihrt im wesentlichen industrielle Rohstoffe
Hind Agrarprodukte aus: Holzf 01, Getreide, Lebensmittel, Felle
etcetera. In manchen Jahren dominierten in der russischen
3 771
Ausfuhr die industriellen Rohstoffe starker, in manchen Jahren
die Agrarprodukte. Die Fertigwarenausfuhr dagegeii bildet
innerhalb der gesamten russischen Ausfuhr nur einen minimal ea
Prozentsatz, Nun ist in dieser Weltwirtschaftskrise ein Preis-
fall eingetreten, der insgesamt bereits groBer ist als der Preis-
fall in friihern Krisen. Aber die Kartell- und Monppolpolitik
wirkt sich darin aus, daB der Preisfall der kartellierten Pro-
dukte und damit eines groBen Teiles der Fertigfabrikate ver-
haltnismafiig geringfiigig war, wahrend umgekehrt der Preis-
fall der nichtkartellierten Produkte, der Preisfall der in-
dustriellen Rohstoffe und Agrarprodukte vielfach ein gradezu
katastrophaler war. Selbst im Jahre 1930 also, in dem Sowjet-
ruBland in seiner Ausfuhr mengenmaBig den Voranschlag des
Plans erreichte, war der Erlos durch diese Ausfuhr weit
geringer, als man angenommen hatte, so daB der Importplan
nicht vollig innegehalten werden konnte. 1931 aber ist noch
weit ungiinstiger verlaufen. Der Exporterlos, der von 1929 auf
1930 noch gestiegen war, ist von 1930 auf 1931 gefallen. Auch
dieses Mai ist zwar wieder festzustellen, daB in der Weltkrise
die Entwicklung des russischen AuBenhandels weit giinstiger
verlauft als die Entwicklung des AuBenhandels in den hoch-
kapitalistischen Staaten, aber SowjetruBland ist von der Krise
doch so stark in seinem AuBenhandel betroffen, daB wertmaBig
die Ausfuhr gegeniiber 1930 zuriickgegangen ist, so daB in den
ersten acht Monaten dieses Jahres ein ImportiiberschuB fest-
zustellen ist, der die fur die Russen verhaltnismafiig hohe
Summe von etwa 100 Millionen Dollar ausmacht. Ein Import-
iiberschuB in dieser Hohe hat aber fur die Wirtschaft Sowjet-
ruBlands sehr bedeutsame Konsequenzen. Das beruht darauf,
daB RuBland iiber keine Posten der sogenannten unsichtbaren
Zahlungsbilanz verfiigt, daB es vom Ausland keine Zinsen zu
erhalten hat, daB die Bilanz des Frachtenverkehrs eher nega-
tiv als positiv ist, daB der Touristenverkehr bisher keine er-
heblichen Gelder ins Land bringt. RuBland kann daher nur
soviel importieren wie es exportiert, und wenn die Importe
groBer sind als die Exporte,-so geht dies nur auf dem Kredit-
wege. Bisher sind aber langfristige Kapitalanlagen in bkono-
misch relevantem Umfange in RuBland nicht investiert worden,
so daB die Importuberscbiisse im wesentlichen durch verhalt-
nismafiig kurzfristige Warenkredite ermoglicht wurden. Und
zwar ist, wie bekannt, an diesen Warenkrediten vor allem der
deutsche Kapitalismus beteiligt. Wie prekar die Situation
Deutschlands auf den internationalen Kapitalmarkten ist, dar-
iiber braucht kein Wort verloren zu werden. Die Kredite an
RuBland wurden nicht durch eine aktive Bilanz Deutschlands
auf den internationalen Kapitalmarkten ermoglicht sondern
rtur dadurch, daB der deutsche Kapitalismus einen Teil des
vom Ausland aufgenommenen Kapitals seinerseits fur Export-
kredite nach RuBland verwandte. Es ist hier ein analoger Vor-
gang zu konstatieren wie im Verhaltnis Japans zu China und
der Mandschurei, Die Kapitalien, die Japan dort investierte,
stammten zu einem sehr erheblichen Bruchteil aus Amerika,
an das Japan nicht unbetrachtlich verschuldet ist. Die Ex*
portkredite, die von Deutschland an RuBland gegeben wurdent
772
haben sich fur die deutsche Ausfuhr sehr gtinstig ausgewirkt.
Im Gegensatz zu dcr gesamten dcutschen Exportentwicklung
zeigt die Ausfuhr nach RuBland 1931 eine, stark nach oben
gehende Kurve. Ob aber von deutscher Seite in absehbarer
Zeit iiber das bishcrige Kreditvolumen hinaus noch weitere
Kredite an RuBland gegeben werden konnen, ist sehr fraglich.
Bei den vielen Fragent die zwischen Laval und Briining er-
ortert wurden, scheint die Fragc der deutschen Kredite nach
RuBland eine nicht unerhebliche Rolle gespielt zu haben. Eine
Einigung ist bisher nicht erfolgt. Den Fall gesetzt, daB Sow-
jetruBland keine weitern groBern Kredite mehr erhalt, imiBten
die russischen Importe stark eingeschrankt werden, und es ist
selbstverstandlich, daB diese Einschrankung erhebliche Konse-
quenzen fur die weitere Durchfiihrung des Funfjahrplans haben
wird. Es soil ausdrucklich bctont werden; Der Plan wird da-
durch nicht vereitelt, aber seine Durchfiihrung wird sicher ver-
langsamt werden, Daraus ergebenj sich sehr wichtige Konse-
quenzen fiir die Politik RuBlands,
Man hatte sich driiben bei der Aufstellung des Plans die
Dinge etwas zu einfach vorgestellt, Man hatte ungef ahr fol-
gendermaBen argumentiert: ,,Wir bauen in amerikanischem
Tempo in ftinf Jahren die russische Industrie auf, wir ent-
wickeln dabei nicht nur die Produktion sondern auch den
Konsum. Wir werden in den fiinf Jahren den Lebensstandard
der Arbeitermassen in RuBland um 75 Prozent steigern. Da-
rait wird der russische Arbeiter nicht nur weit besser leben, als
er im Frieden gelebt hat, damit wird er so gut leben wie der
westeuropaische Arbeiter, und wir werden am Ende der fiinf
Jahre den westeuropaischen Arbeitern sagen konnen: Wir
haben in einem zuriickgebliebenen Lande, ohne Kapitalisten
und Unteraehmer die Industrie neu aufgebaut oind. weit iiber
den Friedensstandard gebracht. Wir haben einen standig
steigenden Lebensstandard der Arbeiterschaft, wir haben da-
zu keine Arbeitslosenziffern. Man hatte gehofft, daB Sowjet-
ruBland einfach durch seinen realen Bestand ein ^solch de-
monstrativer Agitationsfaktor auch fiir die gesamte west-
europaische Arbeiterschaft sein wiirde, daB man um die Ent-
wicklung zum Sozialismus dort nicht mehr besorgt zu sein
brauchte, Auf dieser Gedankenbasis wurde alles dem Aufbau-
werk untergeordnet, und die taktischen Diff erenzen, die Stalin
iiber die Methoden des Aufbaus in der russischen Partei hatte,
wurden auf die iibrigen kommunistischen Parteien iibertragen.
Was schadete es schliefilich, wenn beim Gelingen des Aufbau-
werks. die kommunistischen Parteien kein selbstandiges Leben
mehr hatten sondern bureaukratisch von Moskau her geleitet
wurden? Nun hat diese ganze Rechnung, wie wir heute deut-
lich sehen, ein betrachtliches LocL Die Krise hat nicht gewar-
tet, bis Moskau den Plan beendet hatte, sondern sie ist
vorher gekommen. Auf die weltwirtschaftlichen Konsequen-
zen, die sie fur RuBland hat, sind wir bereits eingegangen,
Binnenwirtschaftlich aber hat sie die Folgen, daB von steigen-
den Reallohnen in RuBland in letzter Zeit nicht mehr die Rede
ecin kann, daB also der Abstand zwischen dem Standard des
russischen und des westeuropaischen Arbeiters nicht mehr viei
773
geringer wurde, Der kommunistische Funktionar begreift
diese Schwierigkeiteti fur den russischen Aufbau, begreift, daB
sie nichts gegen den sozialistischen Aufbau an sich besagen.
Fur die Millionenmassen der westeuropaischen Arbeit erschaft
aber ist der einfache reale Tatbestand mafigebend, daB der
russische Arbeiter heute noch schlechter lebt als sie.
Pa so der sozialistische Atifbau RuBiands durch die Welt-
wirtschaftskrise verlangsamt wurde und infolgedessen seine
Wirkungen auf die westeuropaischen Arbeitermasseu grade in
der Krise nicht so, stark sind wie seinerzeit beim Beginn des
Plans von den Russen angenommen wurde, so ist die bureau-
kratische Entartung der komtmjnistischen Partei in Deutsch-
land auf der andern Seite eine viel schwerere Belastung. In
RuBland konnte man 1929 oft genug . horen; ein gelungener
sozialistischer Aufbau in RuBland bei einer schlecht gefiihrten
KPD ist noch weit besser als ein miBlungener Aufbau in RuB-
land bei einer gut gefiihrten Partei in Deutschland. Der Auf-
bau RuBiands ist durch die Krise schwer in Mitleidenschaft
gezogen worden, und dazu hat man eine bureaukratisch ent-
artete, auBerordentlich schlecht geftihrteKPD, die durch ihre
Taktik keinen grofiern EinfluB mehr in den Betriebeh besitzt.
Der Leitartikler des ,Berliner Tageblatts* tiber russische Fragen,
Herr ZM hat jungst geschrieben, daB die russische AuBenpolitik
iramer auf zwei Gleisen gefahren sei, auf dem Funfjahrplan
und auf der Komintern. Wenri dutch die Krise, so meinte erf
der Plan stark gefahrdet sei, dann konnte es leicht kommen,
daB die russische Politik starker auf dem andern Gleise fahre.
Das ist denn doch etwas zu mechanisch gesehen. Eine
kommunistische Partei, die so bureaukratisch entartet ist wie
die deutsche, kann nicht all-in durch eine Wendung in der
Exekutive wieder aktiviert werden, und es ist durchaus be-
zeichnend, daB Russen, die die deutschen Verhaltnisse kennen,
wie zum Beispiel Karl Radek in der ,Prawda\ die Kampfkraft
der deutschen Arbeiter zur Zeit nicht sehr hoch einschatzen,
Auf der andern Seite wachst in unsrer deutschen Arbei-
terklasse die Erkenntnis, daB ihr keine Macht der Welt die
historische Aufgabe abnehmen kann, den Ausweg aus der
Krise in Deutschland selbst zu organisieren.
SpielzeUg MenSCh von Walther Karsch
VV7as einem Mediziner in Deutschland passiert, wenn er nicht
W am gleichen Strange zieht wie die EinfluBreichen unter
seinen Kollegen sondern diesen ein paar unangenehme Wahr-
heiten sagt, das bekam vor kurzem der Nervenarzt Doktor
Joseph aus Bochum recht drastisch zu spuren.
Im ,Korrespondent\ dem Funktionarorgan des Reichsbun-
des der Kriegsbeschadigten, Kriegsteilnehmer und Kriegs-
hinterbliebenen, hatte Joseph die Kriegsbeschadigten davor
gewarnt, sich „zu wissenschaftlichen Forschungen, die haufig
zu sadistischen Spielereien ausarten", miBbrauchen zu lassen.
Er belegt seine nicht grade schmetchelhaften Worte tiber die
Experimentierwut gewisser Arzte mit authentischem Material:
774
In der .Berliner klinischen Wochenschrift' des Jahres 1927 berichtet
ein Dr, Z,, daB er, troizdem ihm die Gefahrlichkeit eines Mittels be-
kannt war, dennoch ohne jeden Grand das Mittel anwandte und da-
durch das Leben seiner Patienten in Gefahr brachte. In Nr. 33 des-
selben Jahrgangs berichtet ein Arzt, daB er die Ruckenmarkflussigkeit
von schwangeren und nichtschwangeren Frauen nahm, um sie bei Rat-
ten einzuspritzen, Ganz abgeaehen davon, daB dieses Verfahren ohne
Erlaubnis verboten istt fragt man sicht zu welchem wissenschaftlichen
Zweck diese Spielerei diente, Ein andrer Arzt veroffentlicht in der
.Medizinischen Wochenschrift' vom 10, Dezember 1927 seine angeblich
wissenschaftlichen Heldentaten, Er nahm das Rachen-Waschwasser
frisch erkrankter Kinder, filtrierte es durch Filter und pinselte es
anderen Personen aui. In der .Deutschen medizinischen Wochen-
scnrift' von 1927 berichtet ein andrer, daB er Tuberkulosebazillen in
die Haut von Patienten eingeimpft und dabei Todesfalle gehabt hatte.
Er gab an, daB er nicht heilen sondern nur experimentieren wollte,
la den wissenschaftlichen Streit um die Richtigkeit
einer bestimmten Heilmethode wollen wir Laien uns
gewifi nicht mischen, aber im Fall Joseph geht es
ja um den berechtigten Vorwurf, daB Patienten* be-
sonders wenn sie kriegsbeschadigt und mittellos sind,
gewisserniafien zu Experiinentierkunststucken gepreBt ,wer-
den, deren Ausgang mehr als zweifelhaft ist, Lubeck bietet
ein grausiges Exempel dafiir, Wenn dort die Mediziner
wirklich einem ,,wissenschaftlichen Irrtum" zum Opfer ge-
fallen sind, dann wird man ihnen noch immer zum Vorwurf
machen mtissen, daB sie ihre Versuche mit Calmette gleich
auf eine so groBe Zahl von Ktndern ausdehnten. Und als Einer
die Kiihnheit besaB, dorthin zu fahren, um mit seinem Mittel
meist schon aufgegebene Kinder zu retten, da muBte er erfah-
ren, was es heiBt, andrer Meinung zu sein als seine Zunft-
genossen, die keine Rettung mehr fur moglich hielten. Wie
ihm die Clique die Arbeit erschwerte, daruber hat der Bericht
von Doktor Genters Tatigkeit in Lubeck {,Weltbiihne' Nr, 42)
Aufschlufl gegeben. Und nun wieder das Scharmutzel zwi-
schen Doktor Joseph und seiner bochumer Konkurrenz — : zu
den vielen Fallen em neuer Beweis, daB die Majoritat der
Arzteschaft von einem unertr&glichen und gefahrlichen Kasten-
geist beherrscht ist, der eifersfichtig daruber wacht, daB keiner
die ausgetretenen Bahnen verlaBt und vielleicht auf eigne
Faust Neuland sucht und gar findet oder auch nur wagt, die
Methoden seiner Kollegen ein wenig zu kritisieren.
Schon erhebt sich. einmutig die ganze Gesellschaft, und
der Apparat beginnt zu spielen; Rausschmifl aus dem bochumer
Arzteverein, aus dem Hartmaim-Bund, dem Verband der Arzte
Deutschlands, was den Verlust seiner Kassenpraxis und da-
mit eine schwere Beeintrachtigung seiner wirtschaftlichen
Existenz zur Folge hat. Die rasenden Medizinmanner appellie-
ren an das „Ehrengericht", dieses ebenso ehrwiirdige
wie unntitze Fossil aus der" Zeit langst illusorisch gewordenen
Standesbewufitseins: dem Sfinder wird , ein Verweis und eine
Geldstrafe von 1500 Mark zudiktiert. Joseph habe den Arzte-
stand verachtlich machen und herabsetzen wollen und seine
Kollegen „in ihren berufMchen und wirtschaftlichen Interessen
schwer gesch&digt". Und das, obwohl er sich nur gegen Aus-
wiichse gewandt und atisdriicklich betont hat, das Experiment
775
an sich sei natiirlich notwendig. Das kiimmert die Meute der
Gekrankten aber nicht im geringsten, ihr klettenhaftes Zusam-
menhaltcn versteigt sich sogar dazu, die Motive des Anklagers
zu verdachtigen, Es heiBt da in dem Urteil des uEhren-
gerichts":
Wenn es dem Angeschuldigteti wirklich darum zu , tun war,, be-
stehende MiCstande zu riigen und auf deren Abstellung hinzuwirken,
so hatte er die Moglichkeit, sich zu diesem Zwecke der Fachpresse
zu bedienen. Statt dessen wendet er sich aber an eine Leserschaft,
die in ihrer Mehrzahl j edenf alls von minderer Urteilskraft und ge-
ringerer Auffassung istf an eine leichtglSubige und leicht zu beein-
flussende Menge. Der Angeschuldigte hat gar nicht den Versuch ge-
macht, die Fachblatter fur seine Veroffentlichungen zu gewinnen. Der
Angeschuldigte hat deshalb verdachtigt und beleidigt, um im Bereiche
des Bundes der Kriegsbeschadigteh seinen Patientenkreis zu er-
weitern.
Doktor Joseph wird gewufit haben, daB ihm die Fach-
presse einen solchen Beitrag nie abnehmen wtirde. Und des
weitern dokumentiert dieser ErguB ein erkleckliches MaB von
Standeshochmut, der um alles in der Welt dem Laien keinen
Einblick in die Geheimnisse seiner Wissenschaft gewahren
mochte. Was aber den ublen Vorwurf angeht, Doktor Joseph
habe sich bereichern wollen, so erscheint mir die Ansicht des
Korrespondenzblattes, der gaivze Feldzug gegen ihn sei nur
aus Konkurrenzneid gefuhrt worden, durchaus berechtigt:
dem zu Unrecht Angegriffehen Motive zu unterschieberi, die
den Angreifer selbst leiten, ist eine beliebte Methode, das
schlechte Gewissen zu beruhigeh.
Wie zur Bestatigung seiner Warnung an die Versuchs-
kaninchen erscheinen grade in diesem Augenblick die amt-
lichen f,Richtlinien fur neuartige Heilbehandlung und fur die
Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen'V Sic
reden eine deutliche Sprachef der Redaktor des. Entwurfs
wird1 gewuBt haben, warum, Vielleicht ist ihm gar bekannt ge-
wesen, was mir just vor eiti paar Tagen ein besonders giinsti-
ger Umstand zugetragen hat. Da erscheint bei Barth in Leip-
zig ein .Journal fur Psychologie und Neurologie', in dessen
39, Band, Heft 3f ein Hans StauB aus Frankfurt am Main einen
Aufsatz veroffentlicht hat, der den gewichtigen Titel fuhrt:
„Das Zusammenschrecken. Experimental-kinematographische
Studie zur Physiologie und Pathophysiologic der Reaktiv-
bewegungen", Seite 113 schildert StauB seine Methodik:
Als Versuchspersonen dienten auBer Normalen Kranke mit Be-
wegungsstorungen, Kranke mit verschiedenen psycho-pathqlogischen
Symptomen, Schlafende und endlich SaiigUnge,
Als Reiz diente stets das Abfeuerri eines Schusses mit Hilfe eines
SchreckschuB-Trommelrevolvers. Die Versuchspersonen* waren durch-
weg Patienten der KHnikf deren yerschiedenartige Krankheit' und so-
matopsychische Konstitution natutHch bei : Auswertung der Ergebnisse
beriicksichtigt werden muBte. Bei ; alien Versuqhen, die in der Arbeit
verwertet sind, wurde fur den ersten SchuB die Bedingung eingehal^
ten, daB die Vp. vor dem Schufi nichts davon wufite, daB ein solcher
iiberhaupt erfolgen wurde. Wir uberzeugten tins stets nach dem Ver-
such da von, daB dies auch zutraf.
Praktisch wurde so yerfahren, daB die Vp. in das Filmzimmer
der Klinik gebracht wurde, Sie wurde, nur mit Badehose bzw; Bade-
776
anzug bekleidct, in das Aufnahmefeld des Apparates gestellt, das
durch zwei zweipaarige Jupiter-Bogenlampen erhellt war, Es wurde
der Vp. dann gesagt, man wolle eine Filmaufnahme von ihr machen,
sie moge die ihr erteilte Ausgangsstellung so lange beibehalten, bis sie
eine Auf f or.de.rung, zu den Bewegungen bekomme, die wir f ilmen woll-
ten. Dann wurde dem Aufnahmeoperateur ein Zeichen gegeben, dafl
er mit dem Kurbeln beginnen solle und anschliefiend, wahrend die
Vp, noch auf die Aufforderung zu der Bewegung wartete, der SchuB
fur sie unsichtbar gelost. Dabei muBte stets noch so vorgegangen
werden, dafi der Revolver selbst mit aufgenommen wurde, damit spa-
ter mit Hilfe des auf dem Film sichtbaren, aus dem Revolver aus-
tretenden Lichtblitzes eine zeitliche Fixierung des Augenblicks des
Schusses moglich wurde.
Entfernt man die ganze Wichtigtuerei, dann bleibt als ein-
ziges eine sinnlose, vollig unverstandliche Spielerei mit wehr-
losen Objekten iibrig, mit Kranken, die man dreist und zynisch
beschwindelt. Redet uns doch nicht ein, dieser ganze Hum-
bug sei notwendig, wir Laien verstiinden nur nichts davon.
Hinter den hochtrabenden Worten steht doch wirklich kein so
erschiitterndes Ergebnls. Ich wette, es ist sicher schon an die
tausendmal erreicht worden. Diese Arzte, die sich nicht
scheuen, schwer kranke Menschen und Sauglinge einem durch-
dringenden Schreck auszusetzen, nur urn ein tausendmal be-
statigtes Resultat noch einmal bestatigen zu konnen, kommen
mir vor wie die kleinen Kinder, die erst selber am Schalter
drahen miissen, ehe sie glauben, daB er Licht spendet. Das
Ganze sieht verdammt nach den beriichtigten Simulanten-Un-
tersuchungen der Kriegszeit aus, die haufig genug sadistischen
Qualereien glichen.
Macht endiich SchluB damit! Es ware wirklich mutiger,
man ktimmerte sich in -den Gremien der Mediziner etwas um
die Anklagen, die von Joseph, von andern Arzten und von
vielen Opfern oft ganzlick zweckloser Experimentiererei er-
hoben werden, statt das Richtschwert zu ziehen und den An-
greifer hochst unfair wirtschaftlich und moralisch zu schadi-
gen. Die Clique hat wieder einmal gesiegt. Ob zu ihrem Vor-
teil, scheint zweifelhaft. Die Kluft zwischen ,,Medizin und
Publikum", die schon tief genug ist, wird der Fall Joseph ge-
wi8 nicht verkleinern.
WerkSpiOnage von Johannes Buckler
C ines der wichtigsten Themen des 36. Deutschen Juristentags,
*"* der im September dieses Jahres in Liibeck stattgefunden
hat, war der sogenannten Werkspionage gewidmet. Den Be-
ratungen und Vorschlagen lag der „Regierungsentwurf eines
Gesetzes zum Schutz von Geschafts- und Betriebsgeheim-
nissen" zugrunde. Dieser Entwurf sieht im wesentlichen eine
Verscharfung der bisher geltenden Gesetge vor und sagt in
seiner Begrundung ausdriicklich: ,,Die Erfahrungen, nament-
lich des letzten Jahrzehnts, haben gezeigt, dafl -die bisherigen
Strafvorschriften. , . nicht geniigen. Die bisher vorgesehene
Hohe der Strafdrohungen reicht daher nicht aus, um der Wirt-
777
schaftsspionage wirksam entgegenzuwirken. Namentlich dcr
Verrat von Geschaftsgeheimnissen an das Ausland ..."
Zu diesem Gcsetzcsvorschlag lagen dcm Juristcntag zahl-
reiche Gutachtcn und Gcgen- rcspcktive Erganzungsvorschlage
namhaftester dcutschcr Juristen (Isay, Kohlrausch, Eberhard
Schmidt etcetera) vor, die sich alle darin einig sind, dafi eine
Verscharfung dringend notwendig ist. Nur iiber das AusmaB
dieser Verscharfung schwanken die verschiedenen Ansichten.
Und auch dariiber, ob und wie lange ein Betriebsgeheimnis*
auch nach dem Ausscheiden eines Angestellten aus einem Be-
trieb noch zu schiitzen und seine Verletzung strafbar sein soil.
SchlieBlich hat man sich dann zu dieser Frage auf ein Kom-
promiB geeinigt, das immerhin iiber das geltende Recht weit
hinausgehende Erschwerungen vorsieht.
Es ist ganz selbstverstandlich, daB dem in Wahrheil
schutzwiirdigen Betriebsgeheimnis durch das Gesetz der Schutz
gegeben werden muB, den es haben soil. Wie aber dieser
Schutz schon nach den jetzt geltenden Bestimmungen, die von
fachmannischer Seite ja als ungeniigend angeseheh werden, in.
der Praxis der Gericjite aussieht und nach welcher Richtung
sie ausgelegt und gehandhabt werden, dafiir sollen hier einige
Beispiele gegeben werden. Wir sehen davon abt den Fall
Norma/Riebe anzufiihren, bei dem die Angestellten bestraft
wurden, die beiden Firmen sich jedoch schmunzelnd einigten.
Die hier aufgefiihrten Urteile entnehmen wir im wesent-
lichen den Veroffentlichungen des berliner Rechtsanwalts
Doktor Arno Blum, der zu den wenigen deutschen Juristen zu
gehoren scheint, die sich aktiv mit der Bekampfung der t)ber-
spannung des Geheimnisschutzes befassen, und der mit seinen
Ausfiihrungen in Fachzeitschriften und auf Tagungen — zu-
letzt bei der Hauptversammlung deutscher Cheriiiker in Wien
im Mai dieses Jahres — hervorgetreten ist.
Das Gesetz kennt eine Definition des Begriffes „Geschafts-
oder Betriebsgeheimnis" nicht. Die Auslegung und Abgren-
zung des Begriffs ist daher vollig der Rechtsprechung iiber-
lassen. Man sollte meinen, daB das ziemlich einfach ist, Es
muB ein Geschaftsbetrieb da sein und ein damit unmittelbar-
zusammenhangendes Geheimnis. 0 nein! Es braucht sich
weder um geschaftliche Tatsachen zu handeln, noch miissen
sie wirklich geheim sein. Ist zum Beispiel Krankheit des Ge-
schaftsinhabers oder die Vorstrafe eines leitenden Angestell-
ten eine geschaftliche Tatsache? Die Gerichte sehen so etwas
als Geschaftsgeheimnis an.
Ebenso ist es mit dem Schutz des Betriebsgeheimnisses^
Man sollte meinen, daB das Gesetz in erster Linie dazu da
ist, eine Firma davor zu schiitzen, daB ihre Geschaftsgeheim-
nisse von der Konkurrenz ausgenutzt werden. Aber da sind
zwei noch nicht alte Entscheidungen des Reichsgerichts, die
folgendes besagen:
Fall 1: Ein Unternehmer, der die Betriebsgeheimnisse
einer Konkurrenzfabrik herausbekommen wollte, hatte sich an
eineri fruhern Angestellten dieser Firma gewandt und ihm fiir
778
vieles Geld ein Geheimnis abgekauft. Als man gegen diesen
Unternehmer vorging, mit der Begrundung, sein Vcrhaltcn ver-
stieBe doch gegen die guten Sitten und die Grundsatze des
lautern Geschaftsverkehrs, da verneinte das Reichsgericht die
Sittenwidrigkeit.
Dieser krasse Fall von Werkspionage genieGt also nicht
den Schutz des Gesetzes.
WohingegenFall2: Ein Optiker, der siebenunddreiBig Jahre
bei einer Firma gearbeitet hat, macht sich selbstandig und
benutzt nun in seinem Geschaft die Erfahrungen und Auf-
zeichnungen, die er sich in den langen Jahren angeeignet hat.
Obwohl hier von einer Werkspionage nicht die Rede sein
kann, verurteilte ihn das Reichsgericht wegen Verletzung des
Betriebsgeheimnisses,
Der Schutz richtet sich also gar nicht gegen die unlautere
Konkurrenz sondern gegen die eignen Angestellten.
Was betrachtet die Rechtsprechung bisher als schutz-
wiirdiges Betriebsgeheimnis? Hier die Liste:
« Warenabsatz; Einkaufsquellen; Lieferanten-, Kunden-, Agenten-
verzeichnisse; Falligkeiten von Versicherungen; Rabatte, Verfahrens-
vorschriften; Rezeptbiicher; Modelle; Muster; Kataloge; Methoden und
Systeme; Bilanzen; geschaftliche Vorverhandlungen; dafi zur Herstel-
lung einer Ware nur bekannte und nicht wie vermutet auch wertvolle
Stoffe benutzt werden; dafi ein Medikament ekelerregende Bestand-
teile enthalt; Geld- und Freiheitsstrafen des Geschaftsinhabers oder
leitender Angestellter; Vorbereitung von Reklamefeldziigen; Krankheit
des Geschaftsinhabers; technische Versuche; Brandungluck; Zahlungs-
schwierigkeit ; Vorbereitungen zu saisonmafiiger Oberraschung ; eine
Liste der Handelsbezeichnungen, welcher die Patentnummern gegen-
iibergestellt sind; Patentanmeldungen vor ihrer Auslegung; Skizzen-
hefte mit besondern MaBen und technischen Einzelheiten; Akkord-
lohne und ihre Berechnungsgrundlage; Musterkarten; Anzahl der her-
gestellten Maschinen und die dabei gezogenen Reingewinne.
In dieser bunten Liste sind sehr viele Dinge, die zweifel-
los wichtige Geschaftsgeheimnisse darstellen und die auf
Schutz Anspruch haben. Aber wozu die laxe Handhabung des
Begriffes fiihrt, sei noch an einem besonders eklatanten Bei-
spiel der letzten Zeit demonstriert. Es handelt sich um das
Geschaftsgeheimnis eines Milchhandlers, dessen ProzeB vor
dem Reichsarbeitsgericht entschieden wurde:
Der Angestellte eines Milchhandlers erstattete Anzeige
bei der Gesundheitspolizei. Daran schloB sich ein ProzeB, in
welchem nun in drei Instanzen alien Ernstes behauptet und
schlieBlich mit scharfsinnigen Argumenten im Urteii widerlegt
wurde, daB dieser Angestellte sich mit der Anzeige eines straf-
baren Geheimverrats schuldig gemacht habe. Das fragliche
Geheimnis bestand aber — und das setzt wohl allem die Krone
auf — in der Beimengung von Wasser.
Die Frechheit des Milchpanschers wird hier bei weitem
ubertroffen von der hanebuchenen Wirklichkeitsfremdheit und
dem vollkommenen Fehlen gesunden Menschenverstandes bei
einem weisen Gericht.
3 779
Man sieht also, wie notig es ist, die Begriffsbestimmung
dcs Betriebsgcheimnisses gcnau festzulegen. Nach der bis-
hcrigcn Praxis ist tatsachlich jede Auslegung moglich. Wenn
zum Beispiel, wie oben zitiert, Kundenlisten Geschaftsgeheim-
nissc sind, so kann kein ,,gut eingefiihrtcr Rcisender" sich um
cine neue Siellung bewerben. Denn die neue Firma nimmt
ihn nur auf Grund seiner Geschaftsverbindung mit einem festen
Kundenkreis,
Mit Recht verlangt daher Professor Eberhard Schmidt,
daB ,,das Gesetz das Unternehmen nur mit einer strafrecht-
lich geschiitzten Geheimnissphare umgeben darf, ohne dadurch
den Angestellten des Unternehmens die fiir ihr Fortkommen
und ihre Weiterbildung notwendige Benutzung der in dem Un-
ternehmen erlangten beruflichen Kenntnisse, Fertigkeiten und
Erfahrungen zu beeintrachtigen". Er verlangt, daB Mdie An-
gestellten nicht der Willkiir der Unternehmer preisgegeben" sind.
Er stellt fest, daB ,,Betriebsgeheimnisse" und ,,Brauchenkennt-
nisse" verschiedene Dinge sind, die sich von einander unter-
scheiden wie „fremde Sachen" und ,, eigne Sachen",
Auf dem lubecker Juristentag hat auch eine besondere
Rolle die Offentlichkeit des VerTahrens gespielt. Man hat
sich vom juristischen Standpunkt logischerweise fiir Ausschlie-
Bung der Offentlichkeit bei Werkspionageprozessen aus-
gesprochen. Denn: wenn es sich in der Tat um ein schutz-
bediirftiges Betriebsgeheimnis handelt, so wiirde dies bei der
Offentlichkeit der Verhandlungen ja der gesamten interessier-
ten Konkurrenz preisgegeben, Dieser Standpunkt ist durchaus
zu verstehen. Und es ware hiergegen nichts einzuwendent
wenn man nicht wiiBte, wie schon jetzt versucht wird, sofern
es sich namlich um den Verrat eines Betriebsgeheimnisses
an eine auslandische Firma handelt, das Delikt als ,,wirtschaft-
lichen Landesverrat" zu frisieren. Wie ein solcher ProzeB
hinter verschlossenen Reichsgerichtsturen. aussehen wiirde, das
konnen wir uns ganz gut ausmalen, wenn wir an den Verlauf
politischer Landesverratsprozesse denken. Natiirlich immer
nur, so lange es sich um einen Angestellten handelt. Betrifft
die Angelegenheit den Unternehmer, sieht die Sache so aus:
In dem soeben erschienenen Buch „Charakter eines neuen
Krieges" (Verlag Orell Fiissli, Zurich) fiihrt der englische
Major Victor Lefebure folgendes aus;
Wenn wir die Geschichte des Hauses Krupp oder andrer groBer
Rustungsfirmen studieren, stoBen wir auch da wieder auf dasselbe
allgemeine Bestreben, Neuerungen international zu verbreiten, statt
sic fiir das eigne Land geheimzuhalten. Eine einzige merkwiirdige
Tatsache aus der Geschichte der Firma Krupp genugt zur Erlauterung
der ganzen Angelegenheit, Ein kritischer, wenn nicht der kritischste
Zeitpunkt in der Entstehungsgeschichte eines neuen Geschiitzes oder
schweren Kampfmittels ist seine Priifung auf ungeheuren Versuchs-
gelanden. In Ermangelung von Versuchen im Kriege miissen sich
die Generalstabe an solche Versuche halten. Vom dringenden Wunsche
getrieben, die verschiedenen Arten seines Spezialstahls auf demWege
der Herstellung von Kriegsmaterial geschaftlich auszuniitzen, brachte
Krupp die deutsche Regierung dazu, ihm das gewaltige Versuchs-
780
gelande von Meppen zu tiberlassen. Waren die Versuche in Meppen
ausschlieCIich auf preuftische oder deutsche Kampfmittel beschrankt
worden, so hatte Deutschland artilleristisch bald ausschlaggebende
Vorteile besessen und sich damit die ttberlegenheit als Angreifer so
gut wie sichern konnen. Aber in Wirklichkeit war es anders. Krupp
lud die Generalstabe und die Artilleriefachleute der ganzen Welt
nach Meppen ein, fubrte dort seine Geschutze zum Verkauf vor
und machte sich sogar erbotig, besondere Fabriken zu errichten
und auf diese Weise seine teuersten Geheimnisse gegebenenfalls aucb
einem kunftigen Gegner preiszugeben, Um uns anders auszudrucken,
sagen wir, da£ bei dieser Art privatgeschaft lichen Gebarens und
kaufmannischer Ausnutzuhg alle Lander beziiglich des Besitzes und
der Erwerbung neuer Kriegsmittel einander gleichgestellt waren. —
(Zitiert aus Otto Lehmann-RuBbuldt „Die Revolution des Friedens",
Laubsche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1931.)
Dies Verhalten von Krupp ist naturlich kein ,,wirtschaft-
licher Landesverrat", Und Richter und Staatsanwalte wer-
den sich hierfiir viel weniger intcrcssicrcn als fur das ver-
ratene Betriebsgchcimnis eines Milchpanschers.
Der Troubadour der grofien Dame
von Hanns-Erich Kaminski
In Mccklcnburg-Strelitz residiert als Staatsminister der So-
* zialdemokrat Freiherr Kurt von Reibnitz. Der ist nicht nur
ein aktiver Staatsmann, cr ist auch Schriftsteller. Ganz wie
Thiers, Disraeli und Trotzki.
Woriiber schreibt wohl ein sozialdemokratischer Minister
in1 den Stunden, in denen er nicht am Regierungstisch oder auf
der Tribune fur die Befreiung des. Proletariats kampft? Ver-
teidigt er, Handelnder und Schilderer zugleich, seine politische
Leistung? AuBert er sich mit den Kenntnissen, die ihm sein
Amt vermittelt, und mit der Menschlichkeit, die ihn zweifellos
zum Sozialisten gemacht hat, iiber die Zustande in Mecklen-
burg-Strelitz, Zustande, bei denen die Zeitgenossen auto-
matisch an Jakubowsky denken? Nimmt er Stellung zu den
Problemen der Gegenwart, zu der Krise, die wir um uns und
in uns als RiB zwischen zwei Welten empfinden? Oder ist er
vielleicht ein Dichter, der, jenseits der Tagesfragen, Tiefen
enthullt, die wir andern nicht sehen? . . . Der Freiherr von
Reibnitz schreibt iiber Frauen.
Aha, denkt der Leser, der immer noch unbefangen genug
ist, an die Bedeutung jedes Staatsministers und den Sozialis-
mus jedes Sozialdemokraten zu glauben, also ein Buch iiber
Frauen, die fur die Emanzipation ihres Geschlechts und aller
Unterdriickten stritten, Ja, es ware verdienstvoll und lohnend,
die Verleumdeten und Verspotteten von Minna Cauer bis Rosa
Luxemburg von dem Schmutz zu reinigen, mit <lem ihr An-
denken noch befleckt ist* Aber der Herr Baron — oder hort
er die Anrede „Herr Staatsminister" lieber? — interessiert
781
sich nicht fiir Frauen aus dem Volkc. Seine Heldinnen gehen
nicht zu Zahlabenden und gar ins Geiangnis.
Dieser Sozialdemokrat interessiert sich riur fiir Damen.
Nicht fiir Damen der guten oder der besten Gesellschaft, denn
es gibt nur eine, die, zu der ein Freiherr durch Geburt gehort,
auch wenn er einen Ausfkg in die SPD gemacht hat. Das Buch
dieses Genossen — wessen? — heiBt denn auch „Die groBe
Dame", mit dem reizvollen Untertitel „Von Rahel bis Ka-
thinka". Um Einwanden vorzubeugen: es ist im Jahr 1931
(bei ReiBner) erschienen. Den Waschzettel konnen alle Geg-
ner der Sozialdemokratie in Mecklenburg-Strelitz fiir ihre
Wahlplakate verwenden, M. . . ein Kenner, der in der Gesell-
schaft vor dem Krieg eine bedeutsame Rolle nicht minder
spielte als heute . . , Vergangene Jahrzehnte erstehen hier . . -
als die groBen Damen Hofwelt und Biirgertum gesellschaftlich
beherrschten . . . alles, was Frauen feingeistiger Kultur erleb-
ten und fuhlten . , . Ein Baedeker durch die berliner Gesell-
schaft
Der Verfasser zitiert Bismarck, der das Salonleben ,, einen
Zeitvertreib fiir ein Zeitalter ohne Handlung" nannte, aber der
Staatsminister von Mecklenburg-Strelitz ist andrer Meinung
als sein Kollege. Er weint bittere Tranen vor den Photo-
graphien der groBen Damen, die aussterben. ,,Beschwingt-
heit, Anmut, Lacheln sind fiir die groBe Dame unerlaBlich, Im
neuen Deutschland ist kein Platz fiir sie", klagt er.
„Untrennbar von der groBen Dame war ihr Salon, die
Basis ihrer gesellschaftlichen Macht.'* Der Freiherr von Reib-
nitz sieht sich mit dem Blick eines Mannes, der wehmutig Ab-
schied nimmt, noch einmal um in diesen Salons. Und sein
Blick, der die Wande entlang gleitet, bleibt an einer Tiir haf-
ten, Es ist die Tiir zum Schlafzimmer. Der freiherrliche
Riicken kriimmt sich, der Baron verbeugt sich vor seinen
Gottinnen, die alle adlig sind oder wenigstens adlige Manner
geheiratet haben, und gleichzeitig sieht er durchs Schlusselloch.
Wir erfahren, wie die Liebhaber der Fiirstin Billow hieBen
und daB ihre Mutter die Jungfraulichkeit der Neunzehn-
jahrigen mit einem Meineid beschwor. ,,Sie war in Deutsch-
land groBe Dame, zwolf Jahre lang des Reiches erste Frau,
deutsch, Deutsche ist "sie nie gewesen", riigt das Mitglied der
zweiten Internationale. Wir erfahren, an wen Frau von Hey-
king ihre „Briefe, die ihn nicht erreichten" richtete, mit wem
die Fiirstin Lichnowsky ihren Mann betrog und daB die
Fiirstin Metternich sagte: ,,Mein Mann wird mir nicht davon-
fliegen, ich breche ihm jeden Abend und jeden Morgen den
Fliigel". Auch das Telegramm, das Wilhelm II. der Greisin
zum Geburtstag schickte, diirien wir im Wortlaut lesen.
Weiter. Man hore und staune! Die Kaiserin Friedrich konnte
nicht Cercle halten. ,,Die Leichtigkeit, jedem etwas Liebens-
wiirdiges zu- sagen, — die Schwiegermutter Kaiserin Augusta
besaB die Eigenschaft in hohem Grade — war ihr nicht ge-
geben. Eine unuberwindliche Schiichternheit lahmte sie und
machte sie, die konigliche, unkoniglich — verlegen." Be-
wunderung verdient dagegen die Grafin Brockdorff, die als
Oberhofmeisterin der Kaiserin Auguste Viktoria auf Hofballen
782
kontrollierte, ob jede Dame auch richtig dekolletiert war und
die Kaiserin veranlaBte, geschiedene Frauen nicht zu emp-
fangen. Fiir sie hatte der Hof nur die Bedeutung „eines Rin-
gzs edler Treue'\
Frau von Lebbin, die Freundin Holsteins, verehrt der
Freiherr von Reibnitz besonders. Von der Homosexualitat
Holsteins soil sie nichts gewuBt haben. Dafiir war sie iiber
die Borsenspekulationen, rait denen sich seine Politik verwobt
unterrichtet, behauptet ihr Verehrer. Wir horen dann, wie sie,
krank und arm, auf ihrem Totenbett Besuche empfing. „Ge-
wiB, es kamen manche wohl aus Furcht. Sie wuBten, dafl Hol-
steins NachlaB, den Helene aufbewahrte, Briefe enthielt, deren
Veroffentlichung schaden konnte." So ein Freund ist der
Freiherr von Reibnitz! Aber man nennt das ja wohl ,,medi-
sance" unter groBen Damen. Und fast hatte ich es vergessen:
Auch die Paiva begleiten wir „von Moskaus Ghetto bis zum
FtirstenschloB in Neudeck, welch weiter, steiler Weg! . . . Ihr
erster Mann war Francois Villoing, ein, Schneider, ihr letzter
Guido Graf Henckel, Fiirst von Donnersmarck, PreuBens
reichster Magnat, der Freund des groBen Kanzlers und des
letzten deutschen Kaisers".
Einmal trifft Reibnitz die Fiirstin Mechthilde Lichnowsky
in der Eisenbahn. t,Tapfer und treu verteidigte sie heftig des
Fiirsten Taktik in London in den letzten Friedensjahren/' Sie
verteidigte sie, der sozialdemokratische Staatsminister griff sie
also an! Kein Wun<Jer, daB ihm von alien groBen Damen am
schlechtesten Lilly Braun gefallt. Ihre f,Memoiren einer So-
zialistin" nennt der harte Kritiker MKitsch'\ Und von ihren
Kriegsvortragen sagt er: nWundervoll angezogenf entziindete
Lilly durch Leidenschaftlichkeit und Feuer alle Herzen. Sie
konnte wirken, sich plakatieren, war restlos gliicklich." Wei*
schimpft nun hier? Der Sozialdemokrat iiber die Eleganz oder
der Aristokrat iiber das Gliick, sich plakatieren zu konnen?
Der sozialdemokratische Freiherr bleibt miBtrauisch gegen
alle groBen Damen, die sich schon der Linken anschlossen, als
Sozialdemokraten noch nicht Minister werden konnten. Keine
von ihnen vermochte seiner Meinung nach, die Sehnsucht
nach der Gesellschaft vollig zu iiberwinden. Freilich, die
Verschmelzung von Gesellschaft und proletarischem Klassen-
kampf, die der Freiherr von Reibnitz darstellt, gibt es noch
nicht lange. Zum Gliick braucht er sich jedoch nicht ganz dem
Klassenkampf zu widmen, auch in der Republik hat die Ge-
sellschaft noch eine Saule; „die groBe Dame der Republik",
Katharina von Kardorff, die bis vor einigen Jahren von
Oheimb hieB, kurz „Kathinka" genannt.
In ihrem Salon werden Minister gemacht, Etwa so:
t,Auch Stresemann hat diesen feinen klugen Graf en gem,
dazu ein Kanitz, Reichsminister in seinem Kabinett, Blitz-
schnell durchrast sein Hirn das Fiir und Wider. Dann sagt er
ruhig zu Kathinka: „Sehr einiach, Frau von Oheimb, Grai Ka-
nitz legt sein Reichstagsmandat nieder und tritt aus der
Deutschnationalen Partei aus. Dann wird er Fachminister — -\
Kathinka: „Fachminister, wird die SPD das tun?" Die Antwort
Stresemanns; „Wenn Ebert will, nattirlich, er hat die Autoritat,
783
es in seiner Fraktion durchzusetzen." Kathinka wendet sich
zum Graf en. ,tWtirden Sie das tun, was Stresemann tins vor-
schlagt, lieber Graf, dann telephoniere ich mit Ebert." Der
Graf nickt, Kathinka hebt den Horer vom Telephon, das auf
einem kleinen Tischchen vor ihr stent,
Ein Hin und Her mit Ebert, dann ist er einverstanden.
Bald danach sagt Stresemann Adieu, nur Siegfried Kardorff
und Gerti Kanitz bleiben. Kathinka laBt Champagner bringen
und trinkt mit Kardorff auf das Wohl des neuen Reichs-
ministers.
Die beiden gehen, Kathinka, vom Erfolg berauscht, tod-
rnude, legt sich nieder und iiberfliegt noch schnell die Abend-
zeitung. Die Tochter huscht ins Zimmer, setzt sich aufs Bett,
umarmt die Mutter, flustert; ,,Ist Gerti nun Minister?'* —
t,Morgen, mein Kind,"
Per junge hiibsche Graf hatte auch sie bezaubert."
Und das ist nun wohi wirklich ein Kulturdokument.
Genug! Auch das .Kleine Journal' findet seine Leser.
Wenn es sich nur darum handelte, daB einer ein Buch iiber
groBe Damen und ihren Unterleib geschrieben hatte, es lohnte
sich nicht, ein Wort dariiber zu verlieren, auch dann nicht,
Wenn der Verfasser die Weltmacht Mecklenburg-Strelitz re-
gierte. Aber daB dieser Mann Sozialdemokrat ist — das
macht sein Buch zu einem Fall.
Nicht zu einem Fall des Freiherrn von Reibnitz. Dessen
Seele haben wir kennen gelernt, und wenn er nicht an den
Nordlandreisen des Kaisers teilnahm, so vernrutlich nur, weil
er nicht eingeladen war, Er hatte gut in den Kreis hinein-
gepafit, der sich alljahrlich auf der „Hohenzollern" zusammen-
fand. Aber wie kommt er zur Sozialdemokratie, und welche
groBe Dame hat ihn als Vertreter der Partei zum Staats-
minister gemacht?
Hier wird der Fall erst ernst. Denn der Freiherr von
Reibnitz ist kein Einzelganger. In dem November, der den
Boden neuer Tatsachen schuf, kamen viele Mitglieder der Ge-
sellschaft zu den Gewinnern. Die Griitzner, Soiling, Waentig,
der ebenfalls Minister war, haben sich inzwischen schon
wieder auf den Boden neuerer Tatsachen begeben, und andre
werden ihnen f olgen, Nach diesen leuchtenden Vorbildern
aber richteten sich die weniger Arrivierten, Wenn die ganz
oben fur Salons schwarmten, wollten die Kieineren wenigstens
aus Freundschaftspokalen trinken und gute Zigarren rauchen.
Es ist nicht die Zeit, eine Partei anzugreifen, die im Kon-
kurs der Republik der letzte Aktivposten ist. Aber wenn es
so weit gekommen ist, so liegt die Schuld nicht nur an den
Verhaltnissenf sie liegt auch an den Menschen! Die Salon-
spzialisten und ihre Nachahmer haben viele Niederlagen, viele
Verluste, viele Enttauschungen verursacht. Es ist kein Hel-
denstiick, das heute auszusprechen, doch es mufi gesagt wer-
den. Konnen denn Leute wie der Freiherr von Reibnitz das
deutsche Proletariat uberhaupt gegen den Fascismus fiihren?
Sicher, sie konnen es nicht. Das ist die Tragik der Sozial-
demokratie, an deren Wiege Manner standen, die sich ,,Sol
daten der Revolution* nannten und es auch waren,
784
WertherS Leiden, 1931 von Erich Ebermayer
Mie wird es eine Zeit geben, wie auch die Welt sich wandeln
mag, die ohne Liebe auskommen kann. Nie vor allem
wird Jugend leben, die nicht irgendwann zum ersten Male
das W under, zu lieben und geliebt zu werden, erfahrt und die
nicht davon besessen ware, dieses Wunder im Wort zu ge-
stalten, das Verschwommene zu bannen, das Dunkle ans Lichfc
zu holen, durch Aussprechen, durch den Versuch also, zu
f,schreiben". Mogen Jahrzehnte des Chaos noch vor uns lie-
gen, ehe Neues ungeahnt sich entfalten wird — Lieben und
Geliebtwerden junger Menschen wird bleiben trotz Hunger
und Angst, Not, Verwirrung und Verhetzung. Und ebenso
wird bleiben das Liebesgedicht des Jiinglings, die erste Beichte
einer ersten Liebe, also das Ruhrende, Komische, Gewaltige,
das wir spater zu belacheln und zu verleugnen pflegen, wah-
rend es uns in der Stunde der Entstehung zum Mittelpunkt
der Schopfung macht, urn den der Kosmos strahlend kreist.
Mit diesem schonen, sicheren Gefiihl, daB es immer Be-
zirke geben wird, wohin die Politik nicht dringt, wo die
Phrase kerne Geltung hat, beendete ich gestern das Telepho-
nat mit dem Gymnasiasten X. Der jutige X, mir fliichtig be-
kannt als Jiingling mit offenem Blick und guten Manieren,
hatte mich ans Telephon gebeten, um mir, stockend, zu sagen,
er habe eine Novelle geschrieben, eine Liebesgeschichte,
sicher kein Meisterwerk, aber — ob er sie mir schicken durfe,
ob ich sie vielleicht lesen und ihm sagen konne, was ich da-
von halte ...
Warum nicht? Ich wuBte, es handelt sich um keinen
Schwatzer und Ignoranten sondern um einen sympathischen
Jungen, der im Leben seinen Mann stehen wird. Also gut...
Wie er sprach und stockte, hatte er verraten, wessen Liebes-
geschichte es sei, die er da erzahlt hatte. Heute kam das
Manuskript. Sauber geschrieben, mit der Hand, zehn Seiten.
Wie vorauszusehen: Die Geschichte seiner ersten groBen Liebe.
Die Lektiire hat mich erschuttert. Ich bin uberzeugt, daB last
alle, die diese Novelle des jungen sympathischen Mannes lesen
wiirden, erschiittert davon waren gleich mir. Und ich trage
keine Bedenken, ja ich halte es fur meine Pflicht, obwohl es
indiskret scheinen mag, von dieser Novelle zu berichten, aus
ihr zu zitieren, freilich unter Veranderung der Namen.
Der Stil is-t nicht bemerkenswert, Ein klarer, sauberer
* Primanerstil, man spurt die ,,gute" Familie, das humanistische
Gymnasium, die geordnete Lektiire. Kleine Plumpheiten fal-
len eher angenehm auf, als daB sie storen. Was also dann?
Der Inhalt? Lassen Sie mich erzahlen:
„Carlos, ein groBer schlanker Mensch voa noch nicht
achtzehn Jahren" — wer wohl? — ist iiber die Ferien zu
Freunden seiner Eltern in die Nachbarstadt eingeladen, zu
reichen Leuten, die ein Haus in der Vorstadt bewohnen, mit
Park und Wagen: Vater, Mutter, Tochter. Der junge Mann
nahert sich im Zuge der Stadt, damit setzt die Novelle ein.
785
Er weiB, Mutter und Tochtcr wcrden ihn am Bahnhof erwar-
ten. Wie wird er sie vorfinden, von der ihm sovicl erzahlt
wurde, Rebekka, diese Tochtcr? Sie soil sehr schon und
klug sein (er keiint nur die Matter bisher) — wird sie ihm
gef alien? Er freut sich, er ist in gespannter Erwartung, in
natiirlicher, selbstverstandlicher Bereitschaft zum ,,groBen" Er-
lebnis. Der Zug fahrt in die Halle em, Und da steht schon
der erste Satz, den ich, aus wohlwollend-Huchtiger Lekture
gerissen, mehrmals las, ohne daB er sich verandert hStte:
„Um keinen Preis ihr freundschaftlich irgendwie nahertreten!
Ein Christ und eine Jtidin! Ware ja vollig undenkbar."
Es kommt, wie es kommen mufi. Den Jungen packt eine
sturmische Liebe, die erste seines Lebens, zu dem schonen
MadeL Er ringt mit dieser Liebe, ernst, leidenschaftlich, ja
groBartig. Das ist der Inhalt der Novelle. Er qualt sich un-
sagbar ab. Er rennt nachts allein durch den Park, sinkt
schlieBlich verzweifelt auf eine Bank: „Ich bin ein Christ,
sie ist eine Judin. Die semitische Rasse ist verpont, infolge-
dessen ware keine Liebe zwischen uns moglich, Aber ist die
Liebe nicht etwas Cbermenschliches, Volkerfeindschaft Ober-
briickendes? ... Meine Zuneigung zu ihr ist energisch ab-
zulehnen uiid die Liebe zu unterbinden ..." (Die Liebe ist
abzulehnen und zu unterbinden...! Das konnen die! So alt
sind wir schon, daB wir uns daniber aufregen, daB die Sieb-
zehnjahrigen von heute das konnen . . .)
Der junge Mann qualt sich noch eine Weile. Er traumt
nachts von seiner kleinen Rebekka: „Plotzlich aber sah er
seine Vorfahren an sich vorbeiziehen, in feierlicher Prozession,
mit allem Traditionsschmuck, Ord'en und Ehrenbezeugungen
verse hen, drohend schwangen die Ahnen ihre Schwerter,
naher und naher kamen sie, machtig, wie eine ungeheure
Meerflut, begannen sie ihn zu stechen und zu stofien ..."
An einem schwiilen Sommer abend, in der Hangematte,
kommt es zur Katastrophe. Sie, hat ein Buch unterm Arm;
Was liest Du? Sie gesteht, daB sie Feuchtwanger liest; er
wendet sich angeekelt ab und ist eine Weile nicht iahigt zu
sprechen. Dann muB er aufs Neue in das geliebte Gesicht
blicken. „Als er seinen Mund mit dem ihren vereinen wollte,
erfaBt ihm noch einmal ein gewisser Rasseabscheu." Dann
tut ers doch. „Der erste innige, wolliistige KuB seines Le-
bens." Aber nur einmal und nur das. Gleich darauf flieht
er bei Nacht und Nebel von der Gezeichneten hinweg, fort
aus dem verruchten Haus, in dem er wochenlang gliicklich
gewesen. Als Landstreicher schlagt er sich durch bis nach
Haus. Er hat sein Schlcksal gemeistert. Ein deutscher Mann.
51Meine Zuneigung zu ihr ist energisch abzulehnen und die
Liebe zu unterbinden,"
So erlebt und geschrieben von deutscher Jugend im
Weinmond des Jahres 1931. Sollen wir lachen oder weinen?
SoUen wir stolz sein oder — uns schamen? (Wir „Christen",
meine ich. . .)
786
Moralische Prosa von Rudolf Amhcim
prich Kastners Begabung ist nicht an Verse gebunden, Ja
" sein Gefiihl fiir" Wirksamkeit und Klang der Sprache zeigt
sich fast deutlicher in der schwereren Kunst der Prosa, wo
kem Reimkorsett ihn zur Form zwingt. Er IaBt sich nicht
gehen. Mit derselben Disziplin wie in seinen Gedichten macht
er die Satze durchsichtig, damit sie das Skelett des Gedan-
kens zeigen. Und ohne die Naivitat des Erzahlens zu ver-
letzen, streut er Hunderte seiner antithetischen, ironischen
Formulierungen ein, mit denen er sich gegen die Dummheit
der Welt wie mit einem Schlagring verteidigt In seinem Ro-
man MFabian, die Geschichte eines Moralisten" (Deutsche Ver-
lagsanstalt Stuttgart) herrscht eine ausgezeichnete Einheit zwi-
schen den abstrakten Thesen und dem rein Anekdotischen
der Handlung. Denn alle diese Handlungsmotive sind so ge-
klart, es haftet ihnen so wenig der zeitgemaBe Juchtengemich
des bloB Wirklichen an, daB sie sich wie Fabeln lesen — an-
schauliche Beispiele fiir die wohlklingenden Sprichworter, die
wir aus dem Munde des Autors und seiner Figuren zu horen
bekommen.
Und doch hat das, was er erzahlt, nirgends die Armlich-
keit konstruierter Schulbeispiele. Vielmehr sind die Situatio-
nen, die er zeichnet, mit einem erstaunlichen Blick fiir die
Tiefenwirkung des Oberflachlichen erfunden; oft chaplinhaft,
so in der Episode des Blinden im Cafe, dessen Frau zugleich
mit ihm und dem Mann am Nebentisch kokettiert DaB sich
alle die Einzelgeschichten, aus denen der Roman zusammen-
gesetzt ist, dem Leser so zwanglos als Symbole enthiillen, liegt
nicht nur am Gegenstandlichen. Sondern auch daran, daB alle
Figuren nicht sprechen wie auf der StraBe sondern wie der
Autor. Man glaube nicht, daB Kastner nur unfahig sei, unsem
Alltagsjargon festzuhalten. Vielmehr ist die stilisierte, gleich-
formige Sprechweise, in der sich hier Nutte xind Justizrat,
Kellner und Kastner zusammenfinden, grade das, was wir Stil
nennen und was wir bei den meisten zeitgenossischen Schrift^
stellern so heitig vermissen. In keinem Werk der groBen Lite-
ratur haben die Menschen jemals so gesprochen ,,wie im Le-
ben", und ,,Papierdeutscht* entsteht nicht da, wo einer unnatu-
ralistisch ist, sondern da, wo der Sprachschatz aus der Zeitung
stammt, statt aus einem originellen Kopf. Die nirgends aus-
setzende, strenge Besonderheit von Kastners Sprache ist ge-
rade das sicher'ste Zeichen fiir seine Begabung.
Es ist schwer, sich selbst ins Gesicht zu sehen, und so ist
denn auch Fabian, der Zentralheld des Romans, nicht recht
Fleisch geworden. Dies liegt vor allem daran, daB ihm keine
Funktion zuteil wird- Er sitzt neben dem Leser im Publikum.
Er client dazu, die Teilgeschichten des Buches durch das lose
Band der Personalunion miteinander zu verkniipfen. * Fabian,
hilfsbereit und jung, sieht mit Erstaunen eine Welt, die er
fticht versteht und in der er also nicht arbeiten kann. Eine
Welt, in der die Irrsinriigen in stattlichen Wohnungen hausen,
wahrend man die Klugeh ins Irrenhaus sperrt. Eine Welt der
787
Betrunkenen und der Traume, Eine Welt, in der das Unzu-
sammengehorige ineinanderflieBt: aus Mann und Weib formen
sich groteske Zwittergestalten, Vater und Tochtcr treffen sich
unversehcns im Abstcigcquartier, die Greisin schminkt sich in
die Jugend zurtick. Eine Welt, in der das Zusammengehorige
durch Ozeane getrennt ist: das Getreide, das in Amerika ver-
brannt wird, wahrend in Europa die Leute hungern; Fabians
Freundin Cornelia, die sich an ein en Filmdirektor „wie an die
Anatomie" verkauft, weil der Freund abgebaut worden ist und
kein Geld hat. Mit enzyklopadiscjher Vollstandigkeit be-
schreibt Kastner alle Stationen des Unsinns: Stempelstellen,
moblierte Zimmer, Mannerbordelle, Bars, Ateliers, Familien,
Kabaretts, Schulen, Sprechzimmer. Das alles tragt er zu-
s a mm en, Zu einem Scheiterhaufen — aber das muB nicht
jeder Leser merken. Denn Kastner schwenkt weder eine rote
Fahne noch tragt er das Kreuz der Bahnhofsmission sichtbar
an der Brust.
Es ist daher nicht sicher, ob etwa die Sittenwachter, die
ja Erich Kastner fur eine Art Volkskommissar des Kultur-
bolschewismus halten, merken werden, mit welcher Strenge
cr gegen die ScheuBlichkeiten kampft, die er schildert. Indem
er sie schildert; denn er ist von temperamentswegen kein Urn-
stiirzler, aber Erklaren und Aufzeigen bringen ja den wich-
tigen Auftakt zum Umsturz. Die Sittenwachter mogen, schon
weil er ihrem „Intelligenzalter" — wie die Kinderpsychologen
sagen — besser entspricht, als Erganzung zum nFabian'1 Kast-
ners neuen Kinderroman zuziehen. „Punktchen und Anton",
erschienen im Verlag Williams & Co., Berlin-Grunewald, diirhe
selbst den organisierten Erynnien der Keuschheit ein Lacheln
auf die fleischlosen Lippen zaubern, Denn hier hat Kastner
mit seiner ganzen liebenswiirdigen Verspieltheit, Narrheit und
Warme eine schlichte Geschichte fur die Acht- bis Zehnjahri-
gen erzahlt, die nach „Emil und die Detektive" schon auf
das neue Buch warteten. Wieder macht er Berlin zum Mar-
chenland. Den Teufel gibt ein Einbrecher, die bose Fee ein
bosartiges Kinderfraulein, und wieder bringen zwei mutige
kleine Kinder die unartige Welt zur Raison. Das Buch funkelt
von Lustigkeiten, die nicht nur fur das Kind sondern vom Kinde
aus erdacht sind, und so ist „Punktchen und Anton" nicht nur
ein Buch fur Kinder sondern iiber Kinder. Aber nicht des-
halb empfehlen wir es den nationalen Frauenvereinen.
Sondern weil dies Buch handgreiflicher als der „Fabian"
das Moralische in Erich Kastner zeigt. In kleinen Zwischen-
betrachtungen, mit denen er die spannende Raubergeschichte
geschickt durchsetzt, spricht er (iber Pflicht, gegenseitige Hiife,
echten und unechten Mut, Mitleid, Riicksicht und Ehrlichkeit
Ohne das anarchische Lacheln des Zynikers setzt er sich fur
diese einfachen Forderungen ein; es ist derselbe Ton, in dem
Fabian zu der Freundin sagt: „Ich glaube, ich warte nur auf
die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern,
ich ware dafiir verdorben." Wenn er das Biirgertum so bitter
verspottet, so eigentlich nur als Anwalt dieser Forderungen,
die gerade dort in den Staub des moblierten Zimmers gezogen,
788
verdorben und sinnlos gemacht werden, wo man sie gepach-
tet zu haben glaubt. Aber er bringt gegen das Schlechte
nicht die malerische Beschworergeste dcr Lcute auf, fur die
das Laster zugleich das Objekt lusterner Wunschtraume ist.
Er braucht nicht zu traumen, er hat alles gesehen und es, ohne
viel Larm zu machen, als zu leicht befunden. Bei ihm tritt
nicht die babylonische Hure auf, mit prachtvollem Busen und
heiBem Mund, sondern die korpulente Rechtsanwaltsgattin,
die sich fremden Mannern im Hechtsprung an den Hals wirft.
Er lehnt das Unmoralische nur deshalb ab, weil es diirftig und
verbogen ist und niemandeh gliicklich macht. ,,Sein Sinn fiir
Moral war erne Konsequenz der Ordnungsliebe", und: ,, Moral
war die beste Korperpflege". Ein Kosmetikum, ohne Vibrato
angeboten, aber unentbehrlich.
„Punktchen und Anton", das Kinderbuch, hat eine kraf-
tige Handlung. Denn hier greift Kastner aus dem groBen Chaos
einen kleinen Kosmos heraus: den Schicksalskreis von ein paar
Einzelmenschen, in dem trotz aller Wirtschafts- und Vernunft-
krise der Gute und Tapfere sich ntitzlich betatigen und das
Bose besiegen kann. Das Fabian-Buch hingegen hat keine
Handlung, weil sein Held zu klarsichtig oder — wie man
will — zu temperamentlos ist, um gegen die machtigen In-
stanzen der Dummheit anzurennen, ,,Wir sitzen im Warte-
saal", sagt er -und: „Ich mochte helfen, die Menschen anstandig
und verniinftig zu machen, Vorlaufig bin ich damit beschaf-
tigt, sie auf ihre diesbeziigliche Eignung hin anzuschauen."
Dies ist eine kluge, sympathische Haltung, nur leider kein
Romanthema. ,,Wissen Sie was, kommen Sie mit! Sehen
Sie sich mal unsern Zirkus an!" sagte der Redakteur zu Fa-
bian, und er geht mit, und das gibt AnlaB zu einer pracht-
vollen, konzentrierten JSchilderung des Zeitungsbetriebes. Und
so geht Fabian von Zirkus zu Zirkus und sieht sich alles an.
Mit blanken Augen; nur eben: ein Roman ist kein Rundfahrt-
auto. Fabian schwingt sich, auf der letzten Seite seines Ro-
mans, in plotzlichem EntschluB, obwohl er nicht schwimmen
kann, uber ein Briickengelander, um einen kleinen Jungen zu
retten; die auf dreihundert Druckseiten zerdehnte Zeitlupen-
aufnahme dieses Entschlusses ware ein Romanstoff.
DaB man im Film den Kameramann, der gedreht hat, nicht
zu sehen bekommt, ist in Ordnung, denn er spielt nicht mit,
Und aus diesem Grunde ist es nicht ganz in Ordnung, daB
Kastner uns mit Fabian bekannt macht. Denn Fabian spielt
nicht mit, er steht an der Kamera. Damit hangt zusammen der
andre, noch naherliegende Einwand gegen die Form dieses
Buches: daB namlich die einzelnen Episoden nur in systema-
tischer, nicht in historischer Beziehung zueinander stehen.
Kastner selbst, der theoriekundig ist, wie sich das fiir einen
Kiinstler gehort, hat das gesehen und wie folgt verteidigt:
Dieses Buch hat keine Handlung. AuBer einer mit zweihundert-
siebzig Mark im Monat dotierten Anstellung geht nichts verloren.
Keine Brief tasche, kein Perlenkollier, kein Gedachtnis, oder was sonst
im Anfang von Geschichten verloren geht und im letzten Kapitel, zur
allgemeinen Befriedigung, wiedergefunden wird. Es wird nichts wie-
dergefunden. Der Autor halt den Roman keineswegs fiir eine amorphe
789
Kunstgatiung, und trotzdem hat er, hier und dieses Mai, die Steine
nicht zum Batten verwandt.
Man konnte beinahe vermuten, es handle sich um eine Absicht.
Es treten wichtige Personen auf und verschwinden vor der Zeit.
Es kommen unwichtige Leute daher und kehren mit einer Heftigkeit,
die ihnen gar nicht zukommt, immer wieder. Ein junger Mann er-
schiefit sich. Ein andrer junger Mann ertrinkt. Und beide Todes-
falle sind auBerlich so wenig gerechtfertigt, beide Herren kommen
derartig aus Versehen urns Leben, daB man fragen konnte: Gab es
denn keine zwingenderen Anlasse? Warum versagte der Autor ihrem
Tod die Notwendigkeit?
Man konnte beinahe vermuten, es handle sich um eine Absicht.
Die Zahl der Dachziegel, die dem Menschen aufs Barhaupt fal-
len konnen, wachst von Tag zu Tag. Die Dummheit dessen, was
geschieht, nimmt, vom zunehmenden Tempo des Geschehens an-
gercgt, imposante AusmaBe an, Der Zufall regiert, daB samtliche
verfiigbaren Balken knistern. Das Leben ist interessant, das ist das
einzige gute Haar in der Suppe, die wir auszuloffeln die Ehre haben.
Der Zustand lebt mehr denn je vom Zufall. Wovon, so fragte
sich der Autor, soil die Darstellung des Zustands leben? Jeder Tag
ist fiir den, der ihn erlebt, eine Reise im verkehrten Zug ans , falsche
Ziel. Weil es. viele Moglichkeiten gibt, und nur eine davon kann
Tatsache werden, verwirklicht sich das Unwahrscheinliche. Die Ver-
nunf t ging ins ExiL Der verworrene Zustand und der ratlose Mensch
blieben zuriick. Wie liefi sich beides am treffendsten auf den Leser
iibertragen? Wie konnte es, wenn iiberhaupt, gelingen, den Leser so
zu mobilisieren, daB er nach der Lektiire womoglich aufsprang und
auf den Tisch schlug und ausrief: Dieser Zustand mufl anders wer-
denf
Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen Auf-
bau und keine sinngemaB verteilten Akzente und keinen befriedigen-
den SchluB.
Man vermutet richtig, ob man es nun fur richtig halt oder nicht:
Es war so die Absicht!
Das klingt bcstechend, ist aber doch wohl ein TrugschluB.
Und: Absicht schiitzt vor Fehlern nicht. Kastner verwcchsclt
die Darstellung des Zufalls mit der Zufalligkeit der Darstel-
lung. Er selbst zeigt im MFabian" an hundert glanzenden Bei-
spielen, wie man den Zufall dadurch darstellt, daB man das
Zufallige mit Notwendigkeit nebeneinander montiert. Er zeigt,
wie Kausalverbindungen auftreten, wo keine hingehoren, und
wie sie fehlen, wo sie unentbehrlich- waren — und nur das
kann tragischer Zufall heiBen, Innerhalb jeder Handlungszelle
ist die Sinnlosigkeit und Zufalligkeit unsrer Welt mit vorbild-
licher Strenge geformt; aber die Zellen schlieBen sich zu kei-
nem Korper ztisammen sondern ordnen sich nur zur Tabelle.
^Es gibt nur einen einzigen in unsrer Generation, der
einen besseren Roman hatte schreiben konnen — und das ist
Erich Kastner. Er hat aufs Neue belegt, was wir schon wuB-
ten: die gliickliche Vollstandigkeit seiner Anlagen. Er ist nicht
nur scharfsinnig sondern zugleich scharf sichtig, Sachlich und
verspielt. Derb und zierlich. Ernst und lustig. Gut und bose,
Diese Mischung gelingt dem lieben Gott nicht oft.
790
DaS RieSenSpielzeUg von Erich Kfistner
Es gibt eine Million jugendliche Erwerbslose*
pins habt ihr leider nicht bedacht:
dafl Kinderhaben auch verpflichtet.
Ihr wart auf uns nicht eingerichtet,
ihr habt uns nur zur Welt' gebracht
Ihr habt uns maricherlei gelehrt,
Latein und Griechisch, bestenfalles,
nun sind wir grofi, doch das ist alles.
Und was ihr lehrtet, ist nichts wert.
Ihr habt uns in die Welt gesetzt.
Wer hatte euch dazu erraachtigt?
Wir sind nicht existenzberechtigt
und fragen euch: Und was wird jetzt?
Schon sind wir eine Million!
Wir waren fleiBig und gelehrig.
Und ihr? Ihr schickt uns, minder jahrig,
furs ganze Leben in Pension.
Wir leben wie im Krankenhaus
und lassen uns von euch verwalten.
Wir werden von euch ausgehalten
und halten das nicht langer ausf
Sind wir dehn da, um nichts zu tun?
Wir, die gebornen Arbeitslosen,
verlangen Arbeit, statt Almosen
und fragen euch: Und was wird nun?
Einst wufitet ihr noch euren Text,
als ihr uns noch fur Puppen hieltet
und wie mit Spielzetig mit uns spieltet,
Doch wir sind Spielzeug, welches wachst!
Auf eigne Rechnung und Gefahr
will jeder, was er lernte, niitzen.
Die Tage regnen in die Pftitzen,
und jede Pfiitze wird ein Jahr.
Die Zeit ist blind und blickt uns an*
Die Sterne ziehn uns an den Haaren.
Das ganze Leben ist verfahren,
noch ehe es fur uns begann.
Vernehmt den Spruch des Weltgerichts:
Ihr gabt uns seinerzeit das Leben,
jetzt sollt ihr ihm auch Inhalt gebenl
Dafi ihr uns liebt, das niitzt uns nichts.
792
DezentralisatiOH von Bernhard Citron
A Is Marx und Engels ihr Kommunistisches Manifest schrie-
ben, also vor dreiundachtzig Jahren, rechneten sie nicht
mehr mit der Feudalwirtschaft als ernsthaftern Zukunftsfaktor,
sie kampften gegen den industriellen und finanziellen Hoch-
kapitalismus. Sein Gipfel und damit auch der Abstieg zur
Ebene des Sozialismus erschien den ersien Sozialisten nicht
mehr fern. Indessen war der Feudalismus weder politisch
noch okonomisch erledigt, und der moderne Kapitalismus stak
noch in seinen Anfangen. Die alteste deutsche GroBbank im
Gegenwartssinne ist die Direktion der Discontogesellschaft,
die als Aktiengesellschaft vor fiinfundsiebzig Jahren gegriindet
wurde. In den Jahren zwischen 1850 und 1890 wurde der
Grundstein zur heutigen Montanindustrie gelegt. 1872 ent-
stand das erste gemischte Kohlen- und Erzunternehment die
Dortmunder Union, die den Kern der Deutsch-Luxemburgi-
schen Bergwerksgesellschaft und damit spater auch einen der
Grundsteine der Vereinigten Stahlwerke bildete. Vor kaum
sechzig Jahren begann die Konzentrationsbewegung in der In-
dustrie, aber erst seit den neunziger Jahren bekam sie ihren
groBen Auftrieb, der immer starker wurde, bis er seinen H6he-
punkt in der Griindung der I. G. Farben-Industrie, der Ver-
einigten Stahlwerke und der Hapag-Lloyd- Union erreichte.
Langsam stellten sich die Gegentendenzen ein. Die Kon-
zerndammerung zog nicht erst in der Krise dieses Jahres her-
auf. Hundertprozentig gelang noch der chemischen Industrie,
die im Farbentrust vereinigt ist, die Fusion. Aber schon die '
Holdinggesellschaften der Vereinigten Stahlwerke, die kaum
mehr iiber nennenswerten Eigenbesitz verfiigen, behielten —
als Mantelunternehmungen wenigstens — ein Eigenleben. Be-
strebungen, die zu einer Vollfusion fiihren sollten, waren vor-
handen; jedoch scheute man diese letzte Konsequenz. Heute
sind die fiihrenden Leute des Stahlvereins stolz darauf, daB in
ihrem Konzern eine gewisse Dezentralisation herrscht, die den
einzelnen Betrieben eine beschrankte Selbstandigkeit unter
der Verantwortung der Werkdirektoren bewahrt hat. Die kiirz-
liche Zusammenfassung der Eisen- und Stahlerzeugung bei der
Thyssenhutte in Hamborn ist als voriibergehende Sparmafi-
nahme infolge der radikalen Einschrankung der iibrigen Be-
triebe anzusehen. Die Hapag-Lloyd-Union, der letzte groBe
Wurf Jacob Goldschmidts, der auch die Entstehung des Stahl-
vereins gefordert hat, gedieh nicht bis zum tatsachlichen Zu-
sammenschluB. So wird es ganz deutlich, daB die Konzentra-
tionssucht in den letzten Jahren an Intensitat nachgelassen hat.
Die Banken haben sich die Fusionsneigung am langsten
bewahrt. Sie waren es, die in der Industrie die Konzen-
trationsbewegung forcierten und die sich selbst noch bis in die
letzte Zeit hinein zusammenschlossen. Commerz- und Privat-
bank - Mitteldeutsche Creditbank, Deutsche Bank - Disconto-
gesellschaft, Gebruder Arnhold - S. Bleichroder sind derartige
Zusammenschlusse. Aller dings war es in den letzten beiden
Fallen keine Vereinigung gleich starker Krafte, sondern
die Aufsaugung des schwacheren Teiles durch den starkeren.
792
Trotzdem ist ubrigens im Falle Deutsche Bank-Disconto-
gesellschalt der EinfluB der ehemaligen Discontbverwaltung
sehr bedeutend. ■
Der Ruf nach Dezentralisation, nach Zerschlagung der
Giganten ist laut geworden. Wenn jetzt geschieden werden
soil, dann ist manchmal eheliche Untreue der Grand oder un-
uberwindliche Abneigung, meist die Unmoglichkeit des Zusam-
menlebens. Reichsfinanzminister Dietrich soil sich in diesen
Wochen fur den Gedanken einer Dezentralisation im Bank-
gewerbe interessiert haben. Den Filialen , der Dresdner Bank
und der Darmstadter und Nationalbank wollte man ihre Selbr
standigkeit wiedergeben. Anscheinend ist dieser Gedanke
vorlaufig wieder zuriickgestellt worden. Es ist sogar moglich,
daB sich GroBbanken auch noch fusionieren. Der Block
Commerzbank-Dresdner Bank-Danatbank konnte heute aus
einer gewissen Zwangsiage her aus erwachsen. Aber hier han-
delt es sich nicht mehr um eine freiwillige Aktion der kapi-
talistischen Wirtschaft sondern um eine zweckmaBige Zusam-
menfassung von Reichsinteressen. Genau so wenig ist die
Griindung der beiden Autoblocks, des sachsischen unter Fuh-
rung der Sachsischen Staatsbank und des siiddeutschen, den
die Deutsche Bank zusammenbekommen hat, eine freiwillige
Vereinigung; das sind ,,gemachte Partien", die neuen Gebilde
sind Kinder der Not und nicht der Liebe. Die Tendenz ist
Riickkehr zu kleinen, von der Leitung ganz tibersehbaren Ge-
bilden. Noch mogen neue Interessengemeinschaften in der
Bildung begriffen sein, aber innerhalb der Konzerne wird
zweifellos bald ein AuflockerungsprozeB vor sich gehen.
Die Auflosung der Latifundien in viele kleine Bauern-
giiter ist ein nicht grade neuer Gedanke, Schon vor hundert-
zwanzig Jahren suchte der Freiherr vom Stein ahnliche Plane
zu verwirklichen. Was die Steinschen Reformen und die Re-
volutionen von 1848 und 1918 nicht vermochten, beginnt jetzt
erst in ErHillung zu gehen — die Aufteilung des GroBgrund-
besitzes. Kein demokratisches, kein sozialistisches Regime
laBt den Grund und Boden- fiir gemeinwirtschaftliche Zwecke
vermessen, Vielmehr werden durch die Oberschulduhg zahl-
reiche Gutsbesitzer gezwungen, ihr Besitztum versteigern zu
lassen- Alte Familiengtiter gehen so in die Briiche, Aber
hatte man das nicht schon vor hundert Jahren erwartet, ist es
nicht erstaunlich, daB sich die Finanzkraft des Feudalism us
noch bis vor kurzem ausgezeichnet konserviert hatte, so daB
das Durchschnittsvermogen des Industriellen und Finariz-
mannes vom Agrarkapital iibertroHen wurde? Wahrschein-
lich wird der landwirtschaftliche Besitz, der die Krise iiber-
dauert, immer noch groBer sein als das Industrie- und Banken-
kapital, das von der Katastrophe verschont bleibt. Vernichtet
ist in erster Linie die Existenz jener hochadligen Grund-
besitzer, die sich zu Industriegeschaften verleiten lieBen,
Reichsfreiherren und Erbgrafen, die seit dem Wiener KongreB
mediatisiert sind, suchten an Stelle der entschwundenen
Herrschgewalt uber ihre kleinen Territorien die wirtschaftliche
Beherrschung groBerer Gebiete, Aber das Zeitalter der Stahl-
konige und Kohlenbarone, der Linoleum- und Kunstseiden-
' 793
Monarchen ging voriibcr wie das der wirklichen Kaiser,
Konige und Grafen,
Im Interesse ciner neucn kapitalistischen odcr sozialisti-
schen Acra licgt es nicht. die Industrie- und Firianzkanzerne
aufzulosen, die Phase des Hochkapitalismus ungeschehen zu
machen. Das wird nie moglich sein. Zuriick zum ehrbaren
Handwerk, zum selbstandigen Mittelbetrieb ware eine rdman-
tische, undurchfiihrbare Forderung. Die Dezentralisation, die
erstrebt wird, muB anders aussehen. Oberlebt sind die groBen
Kartelle, die solange die Preise hielten, bis das Inland aus-
gehungert und nicht mehr zahlungskraftig war. Die Konzerne
aber, die technisch und finanziell geschlossenen GroBbezifke
der Wirtschaft, haben sich, wie an vielen Beispielen bewiesen
werden kann, technisch bewahrt, wahrend sie finanziell vollig
versagten. Im Rahmcn der Konzerne sollte die Selbstandig-
keit der Einzelbetriebe gefordert werden, Der Einkauf mag
gemeinsam vorgenommen werden, auch die technischen Erfah-
rungen diirften weiter auszutauschen sein, aber die Finanz-
gebarung muB unter eigner Verantwortung der Werkleitungen
bleiben, die Konzerngesellschaften tragen nur die gegenseitige
Haftung.
In dezentralisierten Konzernen wiirden die gesunden Teile
die kranken nicht dauernd alimentieren. Auch die Beteiligun-
gen miifiten nach den verschiedenen technischen Bediirfnissen
auf die einzelnen Betriebe des Konzerns verteilt werden. Die
reinen Finanzbeteiligungen sollten in eine besondere Holding*
gesellschaft eingebracht werden, jedoch mit der Auflage, diese
Beteiligungen moglichst bald zu liquidieren. Es lieBe sich auch
denken, dafi jedes Werk den an die Aktionare des Gesamt-
unternehmens zu verteilenden Reingewinn auf ein gemein-
sames Ertragniskonto iiberweist, aus dem eine einheitliche
Dividendenausschiittung an die Aktionare vorgenommen wird.
Besonders wertvoll ware es aber, wenn die einzelnen Kon-
zerngesellschaften wenigstens auszugsweise ihre Betriebs
bilanz veroffentlichen wiirden, da sich auf diese Weise der Be-
triebswert der einzelnen Werke am deutlichsten erkennen
laBt. Diese Form des dezentralisierten Konzerns konnte na-
tiirlich auch auf Kreditinstitute Anwendung finden. Wenn
allerdings der angebliche Plan des Reichsfinanzministers, der
auf ein Zusammengehen der GroBbankfilialen mit Provinz
banken hinzielt, in die Tat umgesetzt werden sollte, dann
miiBte nicht nur die Moglichkeit geschaff en werden, daB die
Filiale eine fremde Firma in ihre eigne Interessenphare zieht,
sondern auch das Provinzbankhaus miiBte sich seinerseits an der
GroBbankfiliale beteiligen konnen. Hier ware ein Umbau
unsres Aktienrechts, das den dezentralisierten Konzern nicht
kennt, von Noten, Vielleicht wird man einwenden, daB der
Ruf nach Dezentralisation nur aus einer voriibergehenden Ver-
argerung weiter Kreise iiber das zeitweilige Versagen der
Konzerne erhoben werde. Das Ende des zentralisierten, iiber-
kapitalisierten Industrie- und Bankentrusts ist aber nicht nur
die Forderung der kommenden sondern auch die Konsequenz;
der vergangenen Jahrzehnte,
794 *
PolitiSChe PrOZeSSe von Jonathan Swift
pin andrer Gclehrter zeigte mir ein groBcs Werk (iber.Vor-
schriftcn zur Entdeckung von Verschworungen und An-
zettelungen gegen die Regierung. Er riet bedeutenden Staats-
mannern, sich urn die Lebensweise aller verdachtigen Leute zu
kumntern; ihre Essenszeit, auf welcher Seite sie im Bette la-
gen, mit welcher Hand sie sich den Hintern wischten, ferner
ihren Auswurf ganz genau zu untersuchen und aus Farbe, Ge-
ruch, Geschmack, Festigkeit, Langsamkeit oder Beschleunigung
der Verdauung sich ein Urteil iiber ihre Gedanken und Plane
zu bilden; denn die Menschen waren nie so ernst, gedanken-
voll und aufmerksam wie beim Stuhlgang, wie er durch Er-
fahrung herausgefunden habe; denn wenn er bei solchen An-
lassen, lediglich zu Versuchszwecken, dariiber nachgedacht
habe, welches der beste Weg sei, den Konig umzubringen,
dann hatte sein Kot jedesmal eine griine Farbe angenommenf
eine ganz andre aber, wenn er nur an Erregung von Aufstan-
den oder Einascherung der Hauptstadt gedacht habe.
*
Diese Papiere werden einer Gesellschaft von Kiinstlern
iiberwiesen, die grofie Geschicklichkeit im Auffinden geheimer
Bedeutungen von Worten, Silben und Buchstaben besitzeh,
Sie sind imstande zu entdecken, daB ein Nachtstuhl einen ge-
heimen Rat bedeutet; eine Herde Ganse einen Senat; die Pest
ein stehendes Heer; die Gicht einen Hohenpriester; ein Galgen
einen Staatssekretar; ein Nachttopf einen AusschuB hoher
Wiirdentrager; ein Besen den Umsturz; eine grundlose Tiefe
einen Staatsschatz; ein gebrochenes Rohr einen Gerichtshof;
ein leeres FaB einen Feldherrn; eine schwarende Wunde die
Verwaltung Jonathan Swift: Gullivers Reisen, III, 6
BetriebSUIlfall von Theobald Tiger
Hat eine Katze Ellenbogen?
Nein.
Hat jemals ein Bankier betrogen?
Nein.
Und wenn er mal und hat er mal und fallt er schon mal rein;
dann kann das kein Bankier gewesen sein,
Liest du das gern, nachmittags aufm Sofa?
Nein.
Entschadigt einer SchultheiB-Patzenhofa?
Nein-
Und setzt auch dem der Staatsanwalt in seinen Pelz ne Laus:
dann holn ihn die Verteidiger wieder raus.
1st das nun fur die Borse sehr betriiblich?
Nein.
1st das auch bei den andern iiblich?
Ja,
Ich lese still den Handelsteil, und seh ich so den Mist:
man weiB nie, was noch Tiichtigkeit und was schon Schiebung is't.
795
Betnerkungen
Wer ist beleidigt worden?
In Schoneberg lcbt uns ein Theo-
* logiestudent, der, wie es den
Idealen der christlichen Kirche
entspricht, Mitglied der NSDAP.
ist. Der junge Mann heiBt Proch-
now und ist auf die echtnor-
dischen Namen Hans Joachim ge-
tauft. Leider hat er mehr von
dem um eine Generation alttesta-
mentarischeren und demzufolge
kriegerischeren Jojakim ab-
gekriegt als vom Geist seines
sanften Sohnes, des Propheten
Jochanaan. Weswegen er denn
am 1. Februar in Drewitz bei
Potsdam gelegentlich einer natio-
nalsozialistischen Versammlung
einem Zwischenrufer antwortete,
Herr Grzesinski sei seiner Ab-
stammung nach Jude; denn seine
, Mutter, eine Hausangestellte, sei
seinerzeit von ihrem judischen
Dienstherrn verfiihrt worden.
Man muC schon zugeben, da 13
unser berliner Polizeiprasident es
nicht leicht hat; zwischen der un-
beliebtesten Rasse der Erde und
der miCliebigsten Nation Europas
schwankt sein Charakterbild in
der Versammlung. Er hat es satt
und klagt, und das schoneberger
Schoffengericht versteht die Si-
tuation und verurteilt den Stu-
diosus der Theologie Prochnow
wegen Beleidigung und iibler
Nachrede zu 300 Reichsmark
Geldstrafe. Soweit gut. Aber:
wer ist nun eigentlich beleidigt
worden?
Es grassiert bei uns, mehr als
anderwarts, die Krankheit der
Standesehre. Aus den Zeiten
des Rittertums ist sie herabgesun-
ken in den Bezirk der Backer-
gesellen oder Gartenarchitekten
oder Scheuerfrauen, die sich bei
jeder Gelegenheit insgesamt, als
Stand und Corporation, einer fur
alle, alle fur einen beleidigt fixh-
len. Oder geschadigt, Wenn eine
Zeitung schreibtt^Herr Lustmor-
der Haarmann habe einige Jahre
in der Stadt Hannover unent-
deckt sein Handwerk treiben
konnen, so fuhlt sich nicht die
Polizei beleidigt, sondern die
Stadt Hannover geschadigt; und
wenn eine andre erwahnt, Salz-
burg habe einen grofien Prozent-
satz an Regentagen, so schreit,
zu schweigen von der Festspiel-
leitung, ganz Deutsch-Oesterreich.
Dies sei eingeschaltet, um darzu-
tun, dafl hier durchaus nicht den
ewig Gekrankten das Wort gere-
det werden soil, Denn das ein-
zige Wort, das gemeinhin an sie
gerichtet zu werden verdient, ist
der leise freundliche berliner
Zweisilber: „. . , Schnauze , , ,!"
Im vorliegenden Fall aber hatte
ein rundes Prozent der deutschen
Volksgenossenschaft, ein Inter-
essenverband von 600 000 Mitglie-
dern Grund und Ursache, sich
beleidigt zu fuhlen und zum Kadi
zu laufen; namlich die gesamte
deutsche Judenschaft. Denn wenn
die Behauptung, einer sei Jude,
als Beleidigung betrachtet und
geahndet wird; wer, so schlieBt
man messerscharf, ist dann belei-
digt, wenn nicht die Juden?
Dieb, Betruger, Morder sind
Schimpfworte, weil sie Gesetzes-
verletzung involvieren, Bei Feig-
ling, Ehrabschneider und Ahn-
Q^^sJ^
gibt eine vortreffliche
Abdulla-Cigarette die
beste Anregung,
Standard ..... o/M. u. Gold . . StOck 5 Ptg.
Herrenformat .... o/M Stack 6 Ptq.
Virginia Nr. 7 . . . . o/M Stack SPfg.
Egyptian Nr. 16 . . . o/M u. Gold i=tQck 10 Pf§.
AbduMa^Cigaretten genieffen Weltruf!
AbcluIIa & Co. • Kalro / London / Berlin
796
lichem liegt der Fall schon
schwieriger ; es muB auf das so
beliebte allgemeine Volksempfin-
den zuriickgegriffen werden, urn
die Beleidigung zu konstruieren.
Aber Jude?
Jude ist leider ein Schimpf-
wort, da das allgemeine Volks-
empfinden es dafiir halt. Damit
wird man nicht heute und nicht
morgen fertig, vielleicht laBt es
sich langsam ausrotten, vielleicht
niemals, Aber solange die Reichs-
verfassung die Burger jederRasse
und Religion als gleich betrach-
tet, solange muB auch etwas ge-
schehen, um die formalen Un-
geheuerlichkeiten solcher Urteile
auszugleichen. Kein einziges sol-
ches Urteil diirfte gefallt werden.
ohne die ausdriickliche Feststel-
lung, dafl die in Frage kommende
Behauptung keine Beleidigung
enthalte und daB nichts gestraft
werde als die Absicht der Belei-
digung und — die Volksverhet-
zung. Keine Veroffentlichung des
Urteils, kein Kommentar und
kein Auszug diirfte erscheinen
ohne diesen Zusatz.
Also noch eine Presse-Notver-
ordnung? Ach ja; wir kdnnten
schon noch einige gebrauchen.
BloB muBten es die richtigen
sein.
Hans ' Glenk
Revolutlonsmusik
P\as Funkbild des berliner Sen-
*** ders ist aus tausend reizlo-
sen und hundert reizvollen Ver-
anstaltungen zusammengesetzt, in
denen Musik noch immer das Wert-
vollste ist. Die Bach-Kantaten je-
den Sonntag machen die Schande
wett, daB ihr groBter Teil noch
nie offentlich gehort wurde, der
Bruckner-, der Haydn-Zyklus
setzen ein Werk musikalischen
Aufbaus glucklich fort, Auch der
Plan, das groBe Vierteljahrhun-
dert von 1789 bis 1815 von alien
Seiten mit dem Mikropbbn auf-
zunehmen, hatte einen Wurf —
oder schien ihn zu haben. Von
einigen geistvollen aber isolierten
Bemerkungen der Redner ab-
gesehen, bleibt zunachst nur die
Bekanntschaft mit der Musik die-
ser Zeit iibrig, die einige erstaun-
liche und eindrucksvolle Begeg-
nungen vermittelt hat, Auf die
Hoffnung, daB das auBenpolitische
Vermachtnis Napoleons: die Eini-
gung des Kontinerits, die Horer
durch den Rundfunk aufrutteln •
wurde, werden wir wohl verzich-
ten imissen,
Aber die Musik! Sie ist eine
wahrhafte Entdeckung, deswegen
so stark, well sie ganz auf der
Linie der Wiedergeburt des me-
lodischen klassischen Musikstils
liegt. Die Annahme, daB die
Musik dieser Zeit nur aus der
deutschen Klassik bestand, ist
zweifellos zu streichen. Wir wuB-
ten zwar stets, daB der franzo-
sische EinfluB auf die deutsche
Musik sehr groB ist. Daher auch
die deutsche Musik der einzige
Teil des Deutschtums ist, dem
sich Frankreich ohne Hemmung
hingibt. Weder Bach noch Mo-
zart, weder Gluck noch Wagner
sind ohne entscheidende franzo-
sische Einwirkungen ganz zu ver-
stehen. Hier liegt einmal der
Fall vor, daB die Anregung grofi,
das Angeregte grofier ist. Aber
zwischen Mozart und dem spa-
ten Beethoven liegt eine breite '
Periode, in der der klassische
Formwille die Musik des Alltags,
ja sogar die Gebrauchsmusik der
Revolution gepragt hat. Durch
die drei Konzerte dieses Rund-
lunkzyklus £ing eine ergreifend
iiiii(iiiillitili[iiii[i[i[iiiiii[iiiii(i!iiiiititfii!ii
DAS PRIVATUEBEN
DER SCHONEN HELENA
Roman von JOHN ERSKINE, erschernt als VOLKSAUSGABE
Helena vertritt dip Rau von Troja bis heute, hinreiBend und gefahrlich In SchOn
heit, Intuition und Oberzeugungskraft Der Lebensphilosoph Erskine
gibt in dem heiteren Rahmen dieses Buches seine Ansicht Ober
Liebe und Ehe, Konvention und Sitte wi der.
TRANSMARE VERLAG A. QM BERLIN W 10
Lelnen
3.75 RM
797
geschlossene Formlinie, von der
man weifi, . wie weit t sie ins
19. Jahrhundert reichcn und wie
sic schlieBlich in der Klassizitat
Strawinskys wieder auftauchen
wir<L Hier merkte man wieder,
wie franzosisch Gluck istf dessen
deutsche Musik auf seinen fran-
zosischen Urtexten so viel besser
klingt als auf den tibersetzten.
Die Klassizitat dieser getragenen
Musik ist eine Obersetzung von
Racine in Tonen und eine Vor-
wegnahme von Ingres. Namen wie
Kreutzer, Rode, Baillot, Gaveaux,
Gretry, noch mehr aber Mehul
und Cherubini (ubrigens fiir
Beethoven einer der groBten
Komponisten) miissen durch
diese Konzerte zu einer Wieder-
geburt gelangen. Die lahmende
Eintonigkeit unsrer Musikpro-
gramme vertragt solche Bereiche-
J*ung.
Wie schon das alles asthetisch
wirkte, der sonderbarste Eindruck
war dabei doch die Vorstellung,
daB diese gemessene, gebandigte
Musik die Musik der franzosi-
schen Revolution sein sollte.
Besser als durch alle Kommen-
tierungen hat sie uns den stren-1
gen, romischen Stil dieses Viertel-
fahrhunderts enthullt. Wir wuB-
ten ja, daB aus dem Jakobiner-
tum der groBe napoleonische —
Fascismus logisch hervorgegan-
gen ist. Aber wie diese Strenge
einer Zeit, deren Vermachtnis
noch lange nicht erfullt istf selbst
der Gebrauchsmusik einverleibt
ist, das war fiir mich eine Ent-
deckung, eine musikalische und
.zugleich eine geistige.
Felix Stossinger
Die Wahrung tanzt
Tm Jahre 2031 wird die Premiere
eines plastischen FarbengroB-
tonfilms stattfinden, dessen
Thema der historische Besuch
der franzosischen Minister Laval
und Briand in Berlin im Jahre
1931 ist. Unter dem Titel „Die
Wahrung tanzt" wird hier in
leichter, gefalliger Form, aber
doch unter Wahrung strengster
historischer Treue eine Operette
geboten, die dem Geschmack des
groBen Publikums weitgehend
entgegenkommt. Ein Film, unter
ungeheuren Kosten hergestellt,
mit den beriihmtesten Darstellern
besetzt und wohl geeignet, im
reizvoll geschtirzten Gewand
einer anspruchslosen Abendunter-
haltung weitesten Kreisen einen
volksbildenden Einblick in histo-
rische Zusammenhange zu ge-
wahren. Durch giitiges Entgegen-
kommen der ruhrigen . Produk-
tionsfirma, die auf dem Stand-
punkt steht, daB eine gute Vor-
reklame der halbe Erfolg ist,
sind wir schon heute in der Lage,
unsern Lesern einen Eindruck in
dies Monumentalwerk deutschen
Kunstschaffens zu gewahren:
Berlin 1931. Durch die Not-
verordnungen des listigen Kanz-
lers Briming angeregt, nimrat die
Arbeitslosigkeit rapide ab. Das
Volk erfreut sich steigenden
Wohlstandes. In den Strafien der
Reichshauptstadt ergehen sich
lachende, singende, frohliche Men-
schen. Eine Anzahl besonders
Obermiitiger umtanzt, Hand in
Hand, im Reigen die Gedachtnis-
kirche und singt in immer tolle-
rem Wirbel das reizvolle Schla-
gerlied: „Die deutsche Mark
bleibt unerschiittert, solang uns
Lieb im Herzen zittert." Aus
Autos, Untergrundbahn und
Stadtbahn, Luftschiffen undFlug-
zeugen singen und winken froh-
liche Menschen. Dennoch ein MiB-
klang : inf olge der Machenschaf -
ten des galizischen Wucherers
Karfunkel muB eine GroBbank
ihre Schalter schlieBen. In hei-
Politisch klarsehen
kbnnen Sie nur, wenn Sie fiber Ihre eigene Lebensaufgabe selbst im
Klaren sind. Wenn Sie herauswollen aus aller Unklarheit dann lesen Sie
die Bucher von B6 Yin Ra
<Jie nunmehr in jeder gaten Buchhandlnng vorliegen. Ebenso beziehbar
vom Verlag Kober'sche Verlagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel und Leipzig.
798
liger Aufwallung erstiirmt dar-
aufhin eine aufrechte Schar na-
tionalgesinnter Jtinglinge einVer-
gniigungslokal, in dem die schul-
digen Fremdstammigen ihre wu-
sten Prassereien abhalten. Die
bei dieser Gelegenheit sich ent-
wickelnden urkomischenj Priigel-
szenen versetzen gleich zu An-
fang des Films durch ihren der-
ben aber gesunden Humor das
Publikum in ausgelassene Stim-
mung,
Unterdes treffen Laval und
Briand in Berlin ein, um die
scbaukelnde Mark zu stiitzen.
Ungeheurer Empfang in Berlin.
An den Fenstern scbaren sich die
j ubelnden Menschen, auf den
Dachern wimmelt es. Musik,
Fahnen, Gesang, Handeklatschen,
Uniformen, Militarmarsche, BIu-
men und Frohlichkeit. Fiir diese
Szenen wird sich die gesamte
berliner Bevolkerung in uneigen-
ntitziger Weise zur Verfugung ,
stellen. Laval, uriter der berliner
Madchenjugend langst als gefahr-
licher Don Juan verschrien, macht
noch am selben Abend einen Bum-
mel durch die City, verkleidet als
Besucher der Griinen Woche, mit
Jagerhutchen und Gamsbart ver-
ftihrerisch geschmuckt. Nach kur-
zem Aufenthalt bei Steinmeyer
landet er auf der Rheinterrasse
des Hauses Vaterland. Wahrend
dort gerade ein kostspieliges Ge-
witter sich entladt, sieht Laval in
einer Ecke ein ebenso bildschones
wie trauriges junges Madchen sit-
zen. Er setzt sich zu ihr und auf
sein gtitiges Fragen verrat sie, daB
ihr das durch die schwankende
Wahrung so ungewisse Schicksal
ihres Vaterlandes immer starker
zu Herzen gehe. Er trostet sie,
indem er erklart, er sei durch
gute Beziehungen bestens iiber die
Lage informiert und konne ihr
gradezu versprechen, daB noch
alles gut auslaufen werde. Auf
ihre schalkhafte Frage: ltSie sind
wohl ein machtig hohes Tier ? ' '
antwortet er mit einem vielsagen-
den Rauspern: „Ei, das mag wohl
sein." Erna, die tagsuber als
schlichte Verkauferin in einem
Warenhause tatig istt wird dar-
aufhin wieder frohlich. Unter Ab-
singung von Rheinliedern vergeht
fur Laval und Erna der Abend im
Fluge. Die ubrigen Besucher fal-
len ein, ebenso die Kellner, der
Geschaftsfuhrer und schlieBlich
der ganze Potsdamer Platz.
Dem listigen Kanzler Bruning,
dessen in einem verschlieBbaren
Geheimtresor untergebrachtes
Arbeitszimmer mit zehn Laut-
sprechern ausgestattet ist, kommt
der Besuch der franzosischen Mi-
nister ungelegen, Daher arran-
giert er fiir den folgenden Nach-
mittag in einer geraumigen Zim-
merflucht des Hotels Adlon ein
zwangloses Stelldichein zwischen
dem . gefahrlichen Laval und der
verfuhrerischen Darstellerin Mar-
lene Dietrich, die alien mann-
Hchen Berlinern die Kopfe ver-
dreht, Es gelingt Marlene durch
den ihr eignen schamlosen Vor-
trag ebenso sinnlich wie sonor
dargebotener und auf Wunsch
franzosischer Lieder den Minister
derart zu bestricken, daB er ihr
verspricht, die deutsche Wahrung
ungesttitzt zu Iassen, Mit da-
monischem Lacheln beobachtet
Briining auf dem Hotelkorridor
diese Szene durch das Schlussel-
loch. Um ihn drangen sich die
Geheimrate Duisberg und Hutfen-
berg. sowie andre prominente Per-
sonlichkeiten der Industrie und
A. DEMLINQ
Die berfUimte Sdiansplelerln Rufli raorrer
Roman. 296 Seiten. Karton. 3,80, Lein. 5 M.
Ea s!nd die kleinen Szenen, die den Reiz des Buches bilden und in Erlnnerung
blelb n. Elne groteske Verg!ftungskom8die, ein knsppes Rekontre zweier Rlvalinnen,
ein witz'ger Dialog Im polltischen Salon, das BMd eines jungen franzflslschen
Kommunisten. Die Llteratur.
TOR-VERLAQ, STUTTGART
799
Finanz, und fechten einen hcitcrn
Kamp! una den besten Platz am
Schliisselloch aus.
Am gleichen Abend finden wir
Laval und Erna wieder bei Kem-
pinski. AIs der tagliche Fernseh-
Bildbericht das Portrat Lavals
sendet, erkennt Erna jah ihren
Kavalier. Nach anfanglicher
Schuchternheit weiB sie ihn so zu
nehmen, dafi er ihr trotz des Mar-
lene gegebenen Versprechens zu-
sagt, die deutsche Mark endgtiltig
zu retten, Sie eilt in das Gebaude
der Reichsbank, um den dort Tag
und Nacht tagenden Reichsbank -
prasidenten von ihrem Erfolg in
Kenntnis zu setzen. Laval folgt
ihrem Wagen atemlos auf dem
Motorrad. Auf das nunmehr iip-
pig schwellende Devisenpolster
hingestreckt, erwartet sie ihren
Laval. Wahrend Briining initeiner
schwarzen Maske vor den Augen
ins Ausland flieht und Marlene
sich mit einer leichten Migrane
zu Bett legt, erschallt auf der
Strafie allerorten das Lied:
„Wenn die Fruhlingswinde flti-
stern, dann passiert es auch Mi-
nistern ..." BeifalL
Oktavius Hill
Allgemeinblldung
Deim juristischen Staatsexamen
*-* werden auch Fragen vorge-
legt, die ein Bild von dem all-
gemeinen Bildungsniveau des
Priiflings vermitteln sollen. Der
Examinator: „Aus welchem An-
laB spricht man zur Zeit standig
von Hegel, Herr Kandidat?" Der
Kandidat: „Hegel wurde in die-
sen Tagen hundert Jahre alt."
Der Examinator: „Dann miiCte
ich ihn also noch gekannt
haben." Er wendet sich zu
einem andern Priifling, der, da-
durch gewarnt, prompt ant-
wortet: „Hegel war ein Natur-
forscher aus dem Mittelalter."
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutsche Liga fiir Menschcnrechte. Montag 20.30. Reichswirtschaftsrat, Bcllevuestr. 15:
Natlonaler Sozialismus. Es sprechen*- Kurt Caro, Hanns Erich Kaminski, Leo Lania
und Erik Reger.
Akademische Vereinigung zum Studium sowjetrussischer Probleme. Di ens tag 20.15:
Deutsche Hochschule fiir Politik. Richard Oehriog: Welt dumping und Sowjethandel.
Deutscher Republikaoischer Studcntenbund. Dienstag 20.00, Herrenhaus, Leipziger Str. 3.
Sturm fiber Deutschland. Aufbruch oder Verderben? Es sprechen; Kurt Bley,
Walter Kolb, Hans Muhle und Karl Severing.
Jugendheim Charlottenburg, Goethestr. 22. Dienstag 20.00. Hat soziale Arbeit beute
noch einen Sinn? Es sprechen: Justus Ehrhardt und Vertreter der Arbeits-
gemeinschaft marxistiscber Sozialarbeiter.
Rote Studentengruppe, MiHwoch 20. Haverlands Festsale, Neue Friedrichstr. 35 1
Wofur kampfen die Nationalsozialisten ? K. A. Wittlogel.
Gesellschaft der Freunde der Sozialistischen Monatshefte. Montag (30) 20.00. Reichs-
wirtschaftsrat. Belle vuestr. 5: Der Weg aus der Krise. Kontradiktorische Dis-
kussion zwlschen Verttetern aller Parteien.
Internationale Frauenliga fiir Fried en und Freiheit Montag (30.) 20.00. Klubhaus am
Knie, Berliner Str. 27 Geld und Gold, Annie H. Friedlander — Hamburg-- Altonat
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Dienstag (1. 12.) 20.00. Volksheim Eichenstr. 61 :
Revolutionare Kunst, Hans Romer.
GRETA QARBO A,
in Yvonne §
Gloria -Palast, Berlin
Metro - Goldwyn-Mayer
800
Antworten
Freand dcr Weltbiihne. Da in dem ProzeB, der zurzeit in Leipzig
gegen unsern Mitarbciter Kreiser und mich stattfindet, zur Stunde
eine Entscheidung noch nicht gefallen ist und ich auch sonst aus
eincm bestimmten Grundc noch nicht in der Lage bin, Ihnen etwas
Neues mitzuteilen, mufi ich Sie einstweilen mit einem Artikel ver-
trosten, der am 17, November in den ,Bremer Nachrichten' erschie-
nen ist und zu dem Fall in hdchst patriotischer Eindringlichkeit
Stellung nimmt. Leider bin ich nicht in der Lage alles abzudrucken,
was der Verfasser, Herr Rene Kraus, sagt; Was ist die Weltbiihne?
„AuBerhalb eines engen Literaturkliingels diirfte man diese Gazette,
die sich nicht genieret, kaum dem Namen nach kennen." Wenn das
Reichswehrministerium dennoch gegen die .Weltbiihne' vorgeht, t,so
hat das seinen guten Grund: die Nichtigkeit ihrer Verhetzung und
Verleumdung wird im gegnerischen Ausland mafilos aufgebauscht und
als Material gegen Deutschland verwendet!" Wer bin ich? #,Gentle-
man-Verbrecher? Ach, der kleine Herr von Ossietzky, Heraus-
geber der fWeltbuhne* — der sich iibrigens um keinen revolutiona-
ren Preis der Welt von seinem Adelstitel trennen wurde — hat so
wenig Ahnlichkeit mit den unwiderstehlichen Filmhochstaplern, die
einer an Kitsch und Fritsch geschulten Phantasie als Gentleman-Ver-
brecher erscheinen mogen! Von der Verraterromantik, mit der dieser
Typ sich gar zu gern umgeben mochte, bleibt schliefilich doch nur
das entschleierte Bild des Denunzianten, von dem die alte Spruch-
weisheit sagt: Der grofite Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt
der Denunziant , . ." Also was, in Dreiteufelsnamen, ist nun denun-
ziert worden? „Diesmal haben sie die deutsche Luftfahrt denunziert,
und das ist die ,kleine' Unachtsamkeit, die sie vor das Reichsgericht
bringt." Wer hat denunziert? „Heinz Jager nannte sich der Schwach-
ling. DaB ein ,wackerer* Mann, unerschrockener Vorkampfer des
Vaterlandsverrats, sich hinter einem Pseudonym verbirgt und erst
durch das Ergebnis polizeilicher Haussuchungen zum Bekenntnis zu
seinem eignen Werk gezwungen werden kann, ist — nebenbei be-
merkt, selbstverstandlich! Dieser angebliche Heinz Jager... heiBt,
wie die Vorermittiungen ergaben, Walter Kreiser. Er gilt in seinen
Kreisen als Flugsachverstandiger, nachdem er eine Zeitlang in Jo-
hannistal gearbeitet hat. Er selbst, der Denunziant, nennt sich: Etats-
kritiker." Was hat dieser Mensch nur getan: „Dieser Walter Kreiser
also unternimmt es, die deutsche Luftfahrt zu verzinken, um bei
der Ausdrucksweise der „Gentleman-Verbrecher" zu bleiben. Seine
Verleumdungen strotzen von Ignoranz und sachlichem Unwissen. Das
nebenbei. Von keinerlei Kenntnissen der wirklichen Vorgange und
Verhaltnisse belastet, wirft er der Deutschen Lufthansa eine Art
Prestige-Wahn und Verkehrs-Imperialismus vor, Anwiirfe, die zu gro-
tesk sind, als dafi sie iiberhaupt einer Entgegnung bedurften. Jeder
Kundige weifi, selbst wenn er nicht grade Finanzsachverstandiger und
Etatskritiker von Berufung ist, daB die Lufthansa mit ihren viel zu
knapp bemessenen Mitteln in Wahrheit auBerste Sparsamkeit zu
pflegen gezwungen ist, Wenn sie trotzdem im engen Rahmen ihrer
Moglichkeiten auBerdeutschen Luftverkehr unterhalt, so erfullt sie da-
mit nur ihre Pflicht, sich in den Dienst der deutschen Weltwirtschaft
zu stellen. Der Pamphletist wirft ihr vor, sie verzettele ihre Sub-
ventionen (also deutsche Steuergelder) im Ausland, lediglich, um
die deutsche Flagge in der Welt zeigen zu konnen. Abgesehen von
der hundertfach erwiesenen Tatsache, daB die deutsche Flagge in der
Welt — in der Luft wie auf dem Wasser — die wirksamste deutsche
Industriepropaganda bedeutet, bleibt sachlich festzuhalten, daB die
deutsche Luftflagge sich nur dort zeigt, wo sie den Bediirfnissen des
deutschen AuBenhandels praktisch dient.11 Die wirksamste deutsche
Industriepropaganda bleibt die Qualitat, Tinneff mit der Handels-
801
Gosch wird nicht begehrt; doch das nebenbei, „Solche Schmahungen,
die sich der Pamphletist leistet, stellen aber nur eine Art Einleitung
zu jenem literarischen Landesverrat dar, dessentwegen er und seine
Spietigesellen von der .Weltbuhne' sich nun vor dem Reichsgericht zu
verantworten haben. Sie behaupteten ein Zusammcnwirken zwischen
der Lufthansa und gewissen militarischen Stellen, das gegen das
Diktat von Versailles verstiefle. Man wiirde den ^Gentleman-Ver-
brechern' ruhig den Ruhm der Gralshiiter von Versailles gonnen — um
den sie mit Herrn Poincar6, wenn auch durchaus verschiedenen Cha-
rakters, konkurrieren — , ware nicht die Gesamtheit ihrer angeblichen
Enthiillungen pure Verleumdung im Dienste des Feindes. Ober diesen
Komplex soil aus begreiflichen Grxinden offentlich nicht gesprochen
werden, bevor das Reichsgericht geurteilt hat." Und da schliefilich
nicht Alldeutschland aus Lesern der .Bremer Nachrichten' besteht, so
muC vorbeugend bemerkt werden: M£ine Feststellung aber darf sich
die Offentlichkeit in diesem Zusammenhang nicht versagen: die Lan-
desverrater nehmen nicht allein ein vorgetauschtes Recht auf Etats-
kritik, sondern auch ihr Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit in
Anspruch . * . Die Zumutung, uns mit den Subjekten von Versailles,
mit unsauberen Spitzeln und .Gentleman- Verbrechern' des Vaterlands-
verrats zu solidarisieren, weisen wir mit Ekel und Entrtistung zu-
riick, Wer es ernst meint mit der Presse- und Meinungsfreiheit, kann
nur wunschen, dafi den Gesellen, die diese hohen Kulturguter kom-
promittieren, das schmutzige Handwerk endgtiltig gelegt werde , , ,"
Ich meine, da6 dieser lesenswerte Artikel eine auBerbremensische
Publizitat verdient. Zugleich benutze ich die Gelegenheit, um dem
Herrn Vertreter der Anklage zu diesem Sekundanten aufrichtig zu
gratulieren,
Weltbuhnenleser Koln. Am 27, November, um 20 Uhr, spricht in
der Biicherstube am Dom, Domhof 1 (Domhotel) t Ottwin Rabe tiber
Villon und Rimbaud.
Weitbiihnenleser in Bremen. Geben Sie Ihre Adresse an die So-
ziologische Studiengemeinschaft, WiesenstraBe 13, die regelmaBige Vor-
trags- und Diskussionsabende veranstaltet.
. Danziger. Wenn Sie Interesse an regelmafiigen Zusammenkunften
der dortigen Weltbuhnenleser haben, so geben Sie Ihre Adresse an
unter; Danzig I, Schliefifach 150,
Es set besonders darauf hingewiesen, daB dieser Nummer ein
Prospekt der ZeitschriH „Die Auslese" beiliegt, die laufend Artikel
aus den Zeitschriften der ganzen Welt bringt.
Maouskripte aind out an die Redaction dei Weltbuhne, Chariottenburg, Kantstr. 152, su
ricbten es wird ?ebeteo. ihnen Ruckporto beizuletren. da sons* keine Rudtiendunff erfolffeo kann.
Das AuFf Uhrunjprecbt, die Verwertunfr von Tfteln u. Text im Ratimen des Films, die musik-
mechanische wiedergabe aller Art and die Verwertunff Im Rahmen von RadiovortrSgan
bleiben fflr alle in der WeltbUhne erschetnenden Beitr&ge auadrBckllcS Torbebalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegtned (aeobsobn and wird von Carl v. Ossietzky
nntei Mitwirkung von Kurl Tucholskv geleiteL — Verantwortlich Carl v Ossietzky, Berlin;
Venae der Weltbfihne. Siegtrted laoobsohn St Co- CharloHenbwg.
Tetephon CI. Steinptatz 7757 — Postscheckkonto Berlin U9 5&
Bankkonto Darm»tad*e» u. NaHonalbnnk Oeoositenkflsne Chariottenburg, Kantstr. 112
ADAM UND EVA
Roman von JOHN ERSKINE, erscheint als VOLKSAUSGABE
Adam, ein wunderbarer totpatschiger Burache, steht Immerwieder verblUfft vor den
Wandelbarkeiten der beiden Frauen: Lilith und Eva, der Geliebten
und der gra'Biich Legltimen. Altes, was zwischen Mann und Frau
existiert, wird in diesem geistreichen, wltzigen Bucheausgesprochen.
TRANSMARE tf ERLAG A.-O.. BERLIN W 10
Lelnen
3.75RM
XXVII. Jahrgang I. Dezember 1931 Nnmmer 48
Der Weltbfihnen-Prozefi von cari v. ouietzky
An einem solchen Nachmittag sitzt der Lord-Oberkanzler
da mit einer Nebelglorie um das Haupt, eingehiillt und umge-
ben von Scharlachtuch ...
Charles Dickens, Bleakhouse
r\er IV. Strafscnat des Reichsgerichts hat am 23. November
*^ den Schriftsteller Walter Kreiser und mich als verantwort-
lichen Leiter der ,Weltbtihne' zu einer Gefangnisstrafe von
anderthalb Jahren verurteilt wegen Verbrechens gegen § 1
Absatz 2 des Gesetzes iiber den Verrat miiitarischer Geheim-
nisse. Gegenstand der Anklage war der Artikel Kreisers vom
12. Marz 1929 „Windiges aus der deutschea Luftfahrt", Zwi-
schen dem Verbrechen und der Suhne liegt also ein Zeitraum
von zweieinhalb Jahren. In dieser Zeit ist das Heft mit dem
landesverraterischen Artikel nicht einen Tag beschlagnahmt
gewesen. In dieser Zeit hielt sich Kreiser, gelernter Flug-
zeugtechniker und Konstrukteur, beinahe ein Jahr in Amerika
auf , um in Philadelphia fiir das Pennsylvania Airdraft Syndicate
zu arbeiten. In dieser Zeit hat Kreiser unserm Anwalt Alfred
Apfel jede Adressenanderung mitgeteilt und ist schliefilich in
dem heitern aber unangebrachten Vertrauen zuriickgekehrt,
daB vor der Sagazitat des hochsten Gerichtes die Anklage
wie eine Seifenblase zerplatzen wurde.
Diese frohe GewiBheit habe ich niemals geteilt, wenn ich
auch diesen Ausgang nicht fiir denkbar halten konnte. Ich
weiB, daB jeder Journalist, der sich kritisch mit der Reichs-
wehr beschaftigt, ein Landesverratsverfahren zu gewartigen
hat; das ist ein natiirliches Berufsrisiko, Dennoch war diesmal
fur eine reizvolle Abwechslung gesorgt; wir verlieBen den
Saal nicht als Landesverrater sondern als Spione,
Aus begreiflichen Griinden muB ich davon absehen, auf
das innere Thema des Prozesses einzugehen. Vor den Lesern
der .Weltbuhne* ist es gewiB unnotig, Kreiser und mich zu
rechtfertigen, aber vor jenem Publikum, das uns nicht kennt
und seine Meinungen aus den Reservoiren der nationalisti-
schen Presse empfangt, sind wir diffamiert, ohne uns zur
Wehr setzen zu konnen. Hinter verschlossenen Tiiren sind
wir abgeurteilt worden, militarische Geheimnisse Deutschlands
an auswartige Regierungen weitergeleitet zu haben. Mit Recht
schreibt die .Frankfurter Zeitung', daB arger als Gefangnis
ein solches Odium ist.
Ich weiB mich in bester Obereinstimmung mit Kreiser, wenn
ich hier erklare, daB Anklage und Urteil an unsern Absichten
glatt vorbeitreffen, daB wir noch heute zu ihnen stehen und
nichts zu widerrufen haben. Der Artikel Kreisers befaBte sich
mit Bedenklichem aus dem Luftfahrtetat, er behandelte Tarif-
fragen der Piloten und Facharbeiter auf den Flugplatzen, er
geiBelte die Vergeudung von Steuergeldern in einem schlecht
kontrollierten Subventionswesen, er streifte zum SchluB ganz
episodisch eine militarische Spielereif die bereits durch eine
i 803
Reichstagsdrucksache den politisch Interessierten zuganglich
war, Kreiser, damals stellvertretender Abteilungsleiter im
Deutschen Verkehrsbund, ist in diesen Fragen sehr sachver-
standig. Den Spion mochte ich seh.en, der seinen Auftrag-
gebern eine Information zu bringen wagt, die bereits seit einem
Jahr im Druck vorliegt. Er wiirde im Gleitflug vor der Tiir
landen. Aufierdem hat die ,Weltbuhne' iin Laufe der Jahre
geniigend militarpolitische Artikei gebracht und dabei aui
Tarnung verzichtet. Die .Frankfurter Zeitung' meint zwar, dafi
wir uns haufig im Tone zu vergreifen pflegten. Eh bien, aber
Hinterhaltigkeit ist uns noch niemals vorgeworfen wdrden.
Nur mit einiger Muhe bin ich von unsern Verteidigern zu-
rtickgehalten worden, einen Ablehnungsantrag zu stellen, Ich
hatte zu dies em Senat nach seiner bestens bekannten Judika-
tur gegen Pazifisten und Kommunisten nur ein herabgemin-
dertes Vertrauen. Jahrelang hatte ich geschrieben, dafi der
IV, Strafsenat nicht das Recht der Deutschen Republik spricht,
sondern durchaus die Gepflogenheiten eines Standgerichts an-
genommen hat. Sollte der Mann von der ,Weltbuhne' dort
Objektivitat erwarten? Im Herbst 1930 hatte im gleichen
Saal und vor dem gleichen Vorsitzenden, Herrn Reichsgerichts-
rat Baumgarten, Adolf Hitler das beriihmte Wort von den
„rollenden Kopfen" gesprochen, und damals hatte ich ge-
schrieben (.Weltbiihne* 1930, Nr. 40): „Man vergleiche die
trockene Abfertigung des Staatssekretars Zweigeri, des
Mannes der Reichsregierung, mit der entgegenkommenden
Geste ftir Hitler . , , Das Reichsgericht ahnt den Herrn von
morgen . . . Was Hitler mit einem spinnwebdiinnen Tuch von
Legalitat umkleidet vor dem hochsten Gericht verkundete,
hiefie bei Politikern, die nicht Koalitionsfreunde des Reichs-
justizministers sind; Vorbereitung zum Mord. Max Holz soil
neulich im Sportpalast gesagt haben, dafi man auch in Deutsch-
land eine G.P,U. brauche, und flugs war der Arm der Gerech-
tigkeit lang ausgestreckt. Wenn ein Gericht einen hochver-
raterischen Plan, wie es in Leipzig geschah, mit Achtung an-
hort, anstatt den Mann in eine Heilanstalt zu stecken oder als
Verbrecher in Eisen zu legen, so ist dies ein recht deutliches
Zeichen, dafi die Vertreter der Staatsautoritat entweder arg
erschopft sind oder dafi sie schon mit schiichternen Fufispitzen
den Boden neuer Tatsachen zu suchen beginnen/'
Ich wollte also einen Ablehnungsantrag stellen. Unsre
Anwalte jedoch rieten dringend ab. Nicht nur der formalen
Schwierigkeiten halbert neinf wir hatten reiches Material zur
Verfiigung, um den Tatbestand der Anklage zu erschiittern,
genug Rechtsgriinde, um ihren Geist niederzuzwingen. Wir
wollten argumentieren, nicht demonstrieren. So zogen wir
denn aus zur Hermannsschlacht: — zwei Angeklagte, vier Ad-
vokaten. Max Alsberg, Alfred Apfel, Rudolf Olden, Kurt Ro-
senfeld, vier Juristenkopfe, die eine schwer berechenbare
Summe ,von Qualitat verkorpern. Als wir am 23. November,
nachmittags 13 Uhr 30 aus dem Gerichtssaale kamen, da wufi-
ten wirs: der Angriff der Jurisprudenz auf den IV. Straf senat
war siegreich abgeschlagen. Und als wir etwas verdattert iiber
den scheufilichen steinernen Korridor gingen, da traien wir im
804
muntern Plaudern mit unscrm Anklager einen leicht ergrau-
tcnt frisch aussehenden Herrn von untersetzter Statur, der
sich, nach seiner frohen Miene zu schlieflen, in bestem Einklang
mit Gott und der Justiz zu befinden schien. Das war jener
Prokurator des Reichs, der das Dezernat fiir Hochverrat und
Spionage inn eh at. Das war Herr Jorns.
Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Es ist nicht so schlimm,
denn es ist mit der Freiheit in Deutschland nicht weit her.
Mahlich verblassen die Unterschiede zwischen Eingesperrten
und Nichteingesperrten. Jeder Pubiizist, der in bewegter Zeit
seinem Gewissen folgt, weiB, daB er gefahrdet lebt. Die beste
politische Publizistik wurde stets heimlich in Dunkelkammern
geschrieben. nachtlich an Mauern geklebt, wahrend Denun-
zianten durch die StraBen schlichen und auf den groBen
Platzen die Soldaten in Karrees standen. Wer, wie der
Schriftsteller, an die immaterielle Kraft des in die Welt hin-
ausgeschleuderten Wortes glaubt, der wird also nicht jammern,
wenn dieses, KSrper geworden, als Gummikniippel oder Stahl-
mantel oder Gefangnishaft wieder auf ihn zuriickprallt.
GewiB, die Zeiten sind bewegt, aber die Justiz ist es gar
nicht. Die politische Justiz namentlich trottet hinter der Zeit
her, so weit sie nicht mit kiihnem Sprung iiber die Gegenwart
sich mit den Machthabern von morgen gut zu stehen sucht.
Hoher Senat, Herr Vorsitzender — ! Wenn das vor Jahr und
Tag in Deutschland ausgegebene Schlagwort von der Justiz-
krise nicht verstummen will, so liegt die Verantwortung dafiir
vornehmlich bei Ihnen, meine Herren Reichsgerichtsrate!
Justizkrise, damit will niemand das Amtsgericht von Kuh-
schnappel ahprangern, das sich redlich mit seinen Akten-
stoBen herumqualt, auch nicht das Kammergericht zu Berlin,
von dem kaum jemarid spricht und gegen das keine Broschuren
geschrieben werden. Justizkrise, die findet ihre Verkorpe-
rung in der leipziger Reichsanwaltschaft und in dem politischen
Gerichtshof, im IV. Strafsenat. Dort ist jene unselige Staats-
raison entstanden, die alle Gefahr ausschlieBlich links sucht,
die jeden roten Funktionar mit Zuchthaus bedroht, die den
literarischen Hochverrat erfunden hat und ihn bis auf Kol-
porteure und Setzerjungen ausdehnt. Dort hat die Reaktion,
als Rechtsprechung der Republik maskiert, ihr Hauptquartier
aufgetan. Wenn heute die Kommunisten der demokratischen
Republik in so erbitterter Feindschaft gegeniiberstehen, daB
ihnen der offene Fascismus manchmal passabler scheint als der
Staat der Weimarer Verfassung, so ist das nicht allein partei-
politische Verwirrung, so ist das zu einem groBen und schlimmen
Teil Ihr Werk, meine Herren Reichsrichter! Ihr Senat ist der
Staatsgerichtshof der Republik, aber Ihre Tatigkeit hat sich im
ganzen darauf beschrankt, dem Reichswehrministerium ge-
legentliche Unannehmlichkeiten zu ersparen; was Sie sonst zur
Rettung von Sicherheit und Ordnung unternommen haben, Gott
verzeih es Ihnen 1
Vor diesem Tribunal hatten wir uns also zu verantworten.
Der Reichsanwalt ist kein Torquemada sondern ein hSflicher
jtingerer Herr, der angenehmerweise nicht emphatisch wird
und seine schwerkalibrigsten Argument e so leger vortragt wie
805
eine Einladung ins Cafe Felschc. (Ich hoffe, damit die
Schweigepflicht nicht zu verletzen.) Der Anklager bleibt tibri-
gens durchweg sehr reserviert. Seine Rolle tibernimmt, wie
so oft bei deutschen Gerichten, der Herr President. Nichts
gegen Herrn Baumgarten! Er besitzt vollendete Manieren, er
hat eine sehr cavaliere Art, die unvermeidlichen Zwischen-
falle zu behandeln. Aber sehr bald merken wir, daB wir bei
diesem so liebenswurdigen Herrn recht arg ins Hintertreffen
kommen. Er holt, zum Beispiel, zu meiner Kennzeichnung das
lange durch Amnestie getilgte Urteil des Femeprozesses von 1927
heraus. Ein politischer TendenzprozeB, der in erster Instanz
mit einer Gefangnisstrafe endete, die in der Berufung in Geld-
strafe umgewandelt wurde. jetzt erfahren wir auf Grund eines
hochstgerichtlichen Entscheides, daB auch Amnestie keinen
Strich unter Vergangenes bedeutet. Jetzt werden die Kon-
klusionen eines offensichtlich nationalistisch und militaristisch
denkenden Richters verlesen, aus denen sich ergeben muB, daB
ich mit der Ehre von Offizieren hochst leichtfertig umgehe. So
kehrt ein in einem politischen ProzeB ausgesprochenes Urteil
in ganz andrer Zeit und unter andern Voraussetzungen wieder.
Eigentlich existiert es nieht mehr, weil die Epoche, in der es
gefallt wurde, voriiber ist, weil alle politischen Strafen an be-
stimmte Zeitlaufte und Entwicklungsphasen gebunden sind. So
dachten wir bisher, aber das gilt nicht beim Reichsgericht,
Mit eihigem Schrecken denke ich darant wie es in der ge-
fahrlich hoflichen Luft dieses Gerichtshofes wohl einem un-
beholfcnen Proletarier ergehen mag, der so viel Verbindlichkeit
gegeniiber doch denHaB, der ihm auf der Zunge brennt, nicht
bandigen kann, und in dessen Herzen trotzdem eine kleine Hoff-
nung auf Gerechtigkeit zitternd atmet. ,Wir haben ihm gegen-
iiber den Vorzug der Illusionslosigkeit, Wir haben Distanz.
Wir regen tins ebenso wenig auf wie die Herren jenseits des
griinen Tuchs. Hier werden verschiedene Sprachen gesprochen,
hier hilft kein Toussaint-Langenscheidt, kein Esperanto. Hier
gilt, was Rudyard Kipling von Europa und Asien dichtete:
,,Osten ist Osten und Westen Westen, und niemals werden
sie sich trefferi/'
Neben mir sitzt mein Mitangeklagter Kreiser, Ich sehe
sein gutes gebrauntes Schwabengesicht; ein prachtvoller Kerl,
mit dem man Pferde stehlen kann, aber keine militarischen
Geheimnisse. Von dem wiirde man in jeder andern Umgebung
wissen, daB er sein innerstes Wesen in den offen blickenden
Augen tragt, wahrend er hier in grotesker Transfiguration ein
ertappter Spion, Mitglied einer hochst ehrenriihrigen Branche
wird. Wie unwirklich ist iiberhaupt dies Ganze! Der groBe
Saal mit zwei Emporen liegt leer da und verdammert langsam.
Die paar Mitspieler sitzen vorn zusammengedrangt, die
Stimmen verhallen hohl im Riesenraum. Unheimlich, so ein
Theater ohne Publikum, Durch die hohen bunten Glasschei-
ben, die mit allegorischen Damen mehr als besetzt sind, fallt
mit dem sinkenden Tag ein griinliches Licht und liegt wie Pa-
tina auf den roten Talaren. Das ist die Grundfarbe von Hoff-
manns Erzahlungen. Da dringt plotzlich lautes Kinderlachen
in den Spuk. DrauBen, nur durch etwas Stein und Glas von
806
tins getrennt, spiclen Kinder und tanzen juchzend iiber die
breite Auffahrtrampe, Es gibt also doch noch etwas andres.
Es'hat nur ein Stumper an der Zeitmaschinc hantiert und uns
in spaBhafter Anwandlung in ein Stuck aus der Aera Metter-
nich oder dem Sozialistengesetz hineingeworfen. Gleich wird
ein verstandiger Mensch kommen und die Geschichte wieder
regulieren, Denn ein paar Schritte weiter lachen Kinder,
rasseln Autos voriiber, Dort drauBen ist 1931.
Kehren wir also in dieses deutsche Jubeljahr zuriick, in
dem man zwei Schriftsteller wegen Verrates militarischer Ge-
heimnisse verurteilt, weil sie vor zweieinhalb Jahren auf ein
paar kostspielige budgetare Kunststiicke hingewiesen haben,
die zu Last en des auch damals schon genug geplagten deut-
schen Steuerzahlers gefingert worden sind. Ausspionieren
kann man nur ein Geheimnis, nur etwas Verborgenes, und hier
war hochstens etwas offentlich Unbekanntes. Hier ruhte
die Sensation, die wir verbrecherischerweise an fremde
Regierungen gelangen lieBen, schon ein Jahr in einer
Reichstagsdrucksache. Das groBe Geheimnis war auf den
Flugplatzen Deutschlands — und also auch des Auslands —
wohlbekanni Im Friihjahr 1929 lebten wir noch unter den
Nachwehen des Lohmannskandals, und bald darauf brach im
Reichstag das Unwetter iiber den Luftfahrtetat des Herrn Mi-
nisterialdirigenten Brandenburg herein, Eine ungewohnliche
Etatskiirzung war die Folge. In dieser Zeit ist der Artikel
Kreisers geschrieben worden, Er wandte sich gegen die
diistere Betriebsamkeit kommerziell begabter Offiziere, die
Millionen von Reichsmitteln in hoffnungslose Unternehmungen
gesteckt hatten. In den Zeiten der verblichenen Schwarzen
Reichswehr wurden militarische Institutionen zivil getarnt.
Daran zu tippen, war Landesverrat, bis schlieBlich. das groBe
Ungliick von Kiistrin passierte, Herr GeBler seine heimlichen
Heerscharen offentlich als ,,nationalbolschewistische Haufen '
denunzieren muBte und seine legalen Bataillone gegen seine
illegalen vorschickte. In der Aera Lohmann lagen die Dinge urn-
gekehrt. Damals wurden hochst zivile, hochst mercantile
Unternehmungen militarisch getarnt, und als vaterlandische
Heiligtiimer erklart, weil darin erwerbstiichtige Offiziere ihr
Wesen trieben.
Man darf sich von Prozessen dieser Art, so infamierend
die Anklage auch sein mag, nicht bluffen lassen. Das Ausland
ist, wie jeder Kundige weiB und jeder Unkundige durch Zei-
tungsstudium erfahren kann, bestens unterrichtet, und zwar
nicht aus der deutschen Presse, die sich musterhaft diskret
verhait, sondern durchweg aus dem Geschwatz von intim Be-
teiligten, die das Maul nicht halten konnen, Auch unsre chau-
vinistische und militarfromme Presse packt oft in re-
nommistischer Laune die tollsten Dinge aus, ohne daB es der
Reichsanwaltschaft einfiele, hier ein Wort der Ordnung zu
spreohen, Es ist uberhaupt die Frage, welchem Zweck
diese Landesverratsprozesse dienen: sollen sie dasWissendes
Auslandes oder das des Inlandes verhindern? In all den Jah-
ren, wo urn solche und ahnliche Dinge gestritten worden ist,
2 807
hat es sich gezeigt, daB bestimmte Stellen in der Reichswehr
die Neugier des deutschen Steuerzahlers mindestens in glei-
chem MaBe fiirchten wic den Geheimdienst des franzosischen
oder englischen Generalstabs. Der Feind, vor dem etwas ver-
steckt werden soil, sitzt meistens nicht in Paris oder Genf
sondern im HaushaltsauschuB des Deutschen Reichstags,
Es fehlt in Deutschland sehr an jener Budgetredlichkeit, die
das englische Regierungssystem auszeichnet. Es fehlt der Sinn
f ur demokratische Kontrolle, f iir die unbedingte Hochachtung vor
dem aus Steuergroschen zusammengeflossenen Staatsgeld. Be-
greif t man nicht heute nach dem Zusammenbruch der deut-
schen Finanzen, daB es nicht nur politisch richtig war sondern
auch von moralischer Gewissenhaftigkeit zeugte, schon im Marz
1929 auf fehlgeleitete, schlecht angewandte Subventionen zu
verweisen? Wo mit Reichsmitteln heimliche Griindungen statt-
gefunden haben, die sich der Beaufsichtigung entziehen, da muB
eine Sphare von Korruption entstehen, in die hineinzuleuch-
ten nicht Landesverrat, nicht Spionage bedeutet sondern Ver-
dierist um die Offentlichkeit,
. Es steht in unserm Falle nicht zur Debattef ob es im wohl-
verstandenen Interesse der Allgemeinheit licgt, auch wirklich
vorhandene militarische Riistungen, die den Friedensver-
tragen widersprechen, offen aulzudecken, weil eine vernunf-
tige Gesamtpolitik durch eine geldfressende und in der Praxis
nutzlose Soldatenspielerei immer wieder durchkreuztr wird. Das
steht hierf wie gcsagt, nicht zur Debatte. Hier handelt es sich
nur um die Frage, ob der Ressortpatriotismus des Reichswehr-
ministeriums zum nationalen Schibboleth werden soil Wir
haben nur ein kleines Heer aber einen groBen Militarismus. Wir
sind allzu sehr gewohnt, uns vor Generalen zu ducken, die mit
der Faust auf den Tisch schlagen. Ober die Stellung der Mili-
tars im demokratisch-republikanischen Staat hat Georges Cle-
menceau, der letzte groBe Jakobiner Frankreichs, in seiner Ver-
teidigungsrede fur Emile Zola Endgiiltiges gesagt: MDas Prin-
zip der biirgerlichen Gesellschaft ist das Recht, die Freiheit,
die Gerechtigkeit, Das Prinzip der militarischen Gesellschaft
ist die Diszipli^ der Befehl, der Gehorsam . . , Die Soldaten
haben nur Daseinsberechtigung, weil sie das Prinzip verteidi-
gen, das die biirgerliche Geseflschaft darstellt/* Diese Grund-
satze, die nach Auffassung deutscher Offiziere gewifl an Hoch-
verrat grenzen, hat Clemenceau in Frankreich zur Anwendung
gebrachtt mit ihnen hat er den Krieg gewonnen,
Immer wieder ist in diesen Tagen von deutschen und
auslandischen Blattern gefragt worden, wie es denn moglich
gewesen sei, daB die Reichsregierung diesen ProzeB tiber-
haupt stattfinden lassen konnte. Nicht der Artikel Kreisers
ist dem Wohle des Reichs abtraglich gewesen, sondern dieser
leipziger ProzeB und sein Ausgang. wenn im Dritten Reich
erst einmal nach der Plattform von Boxheim regiert werden
wird, dann werden Verrater wie Kreiser und ich ohne Auf-
hebens fiisiliert, Wir sind noch nicht ins SA.-Paradies eingegan-
gen, wir wahren noch das Dekorum des Rechtsverfahrens, wenn
auch nicht vollig seinen Geist Da man in Leipzig gegen uns
hinter verschlossenen Tiiren verhandelt hatt ware es nur kon-
808
sequent gewesen* nicht nur die Urteilsbegriindung, sondern
auch den Urteilsspruch selbst geheimzuhaiten, damit nichts
davon in die Welt dringe. So aber steht die deutsche AuBen-
politik jetzt, kurz vor der Erdffnung der Abriistungskonferenz,
vor arger Schadigung und lastigem Verdacht. Und was selbst
im Lande verhindert werden sollte, die offentliche Erorterung,
sie ist da. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat
soeben die folgende Interpellation eingebracht Sie ist in vie-
len Blattern abgedruckt worden;
„Am 23. November 1931 hat das Reichsgericht zwei
Schriftsteller wegen Verbrechens gegen § 1 Absatz 2 des Ge~
setzes iiber Verrat militarischer Geheimnisse zu je 1 Jahr
6 Monaten Gefangnis verurteilt.
Dem Verfahren, das zu dieser Verurteilung gefiihrt hat,
liegt ein Aufsatz mit der Oberschrift „Windiges aus der deut- ,
schen Luftfahrt" zugrunde, der in Nummer 11 der Zeitschrift
,Die Weltbiihne' vom 12. Marz 1929 erschienen war. In die-
sem Aufsatz sind keine Geheimnisse enthalten, sondern nur
Dinge erwahnt worden, die entweder in einer breitern 5f-
fentlichkeit bekannt oder sogar im Protokoll der 312. Sitzung
des Ausschusses fur den Reichshaushalt vom 3. Februar 1928 ,
gedruckt zu lesen waren. Nicht nur in dem ProzeB, der zu
der Verurteilung der beiden Angeklagten gefiihrt hat, son-
dern auch fur die Verkundung der Urteilsbegriindung war die
Off entlichkeit ausgeschlossen, da angeblich eine Gefahrdung
der Staatssicherheit zu besorgen war. Dariiber hinaus hat der
zustandige Senat des Reichsgerichts es fiir notwendig gehal-
ten, alien Beteiligten unbedingte Schweigepflicht iiber alle
wahrend des Prozesses zu ihrer Kenntnis gelangenden Umstande
aufzuerlegen, k
Wir fragen die Reichsregierung:
1. Ist sie bereit, iiber die nahern Umstande, die zur £in-
leitung des Verfahrens gefiihrt haben, Auskunft zu geben und
insbesondere dariiber, weshalb der ProzeB erst zweieinhalb
Jahre nach dem Erscheinen des betreffenden Artikels statt-
gefunden hat?
2. Ist es wahr, daB die Bearbeitung der Anklage in die-
sem ProzeB in demReferat des Reichsanwalts Jorns erfolgt ist?
3. Ist die Reichsregierung bereit, die Urteilsbegriindung
bekanntzugeben?
4. Halt die Reichsregierung ein Geheimverfahren, wie es
bei diesem ProzeB vom Reichsgericht geiibt wurde, fiir ge-
eignet, das Vertrauen des deutschen Volkes in die deutsche
Rechtsprechung zu. starken?
5. Ist die Reichsregierung der Meinung, daB durch die
Art, in der der ProzeB vor dem Reichsgericht gefiihrt wor-
den ist, im Ausland nicht viel falschere Auffassungen wegen
angeblicher deutscher Geheimriistungen entstehen konnen, als
sie vor der Durchfiihrung des Prozesses bestanden haben? Ist
dies vielleicht die Meinung des Auswartigen Amtes gewesen?
War die Verzogerung des Prozesses darauf zuriickzufuhren, daB
das Auswartige Amt aus auBenpolitischen Griinden die Durch-
fiihrung des Verfahrens fiir falsch hielt?
809
6. 1st die Reichsregierung bereit, alle Schritte zu tun, urn
die Vollstreckung dieses Urteils des Reichsgerichts zu ver-
hindern?"
Die sozialistische Interpellation prazisiert die Fragen
durchaus richtig. Findet das Weltbuhnen-Urteil Nachfolge, so
wird der Rest der Pressefreiheit in Deutschland der schnelleri
Vernichtung ausgesetzt sein. Wenn die Priiiung eines dunklen
Etatpostens als zuchthauswurdiges Verbrechen bewertet wer-
den kann, dann ist die akute Gefahr vorhanden* daB jede
kritische AuOerung und daB schlieBlich auch das gesamte Nach-
richtenwesen unter die Tyrannei des Spionageparagraphen ge-
rat. Diese sehr gefahrliche Moglichkeit hat unser ProzeB deut-
lich aufgezeigt.
Er bietet aber auch einen hellern Aspekt. Seit Jahren
hat sich die Judikatur des IV. Strafsenats auf die Parteigan-
ger des Linksradikalismus beschrankt, gelegentlich wurden zur
Belefrung des gleichformigen Bildes auch ein paar Pazifisten
hinzugezogen. Die Protestbewegung arbeitete ausschlieBlich
links von der Sozialdemokratie, von einigen AuBenseitern ab-
gesehen, Der Protest ist ebenso Parteisache geworden, wie
es die Pflicht jedes Kommunisten istt mutig in sein Schicksal
zu gehen, Der Weltbuhnen-ProzeB deutet aui eine hoffnungs-
volle Erweiterung der Arbeitsphare des Reichsgerichts hin.
Die OHentlichkeit ist aufgescheucht, die Blicke richten sich
wieder nach Leipzig, Es wachst die Erkenntnis fur das vom
Reichsgericht in langen Jahren angestellte Ungliick. Ich spreche
den heiBen Wunsch aus, daB die Emporung, die unser ProzeB
verursacht hat, auch den rruhera Opfern der leipziger reichs-
gerichtlichen Justiz zugute kommen moge, daB sie sich vor
allem den proletarischen Opfern zuwenden moge, die unbeachtet
in den Gefangnissen verschwunden sind, daB eine Volksbewe-
gung daraus wachse, die dieser poiitisierten Justiz, die mit
Politik noch weniger zu! tun hat als mit Justiz, endlich den
Abschied gebe. So schon und ehrenvoll die Sympathiekund-
gebungen liir Kreiser und mich sind, sie diirfen nicht in der
individuellen Sphare bleiben. Die Protestationen miissen in
den Bereich des politischen Kampfes gegen die machtvoll or-
ganisierte Konterrevolution getragen werden,
Wir stehen an einem schicksalsvollen Wendepunkt. In
absehbarer Zeit schon kann der offene Fascismus ans Ruder
kommen. Dabei ist ganz gleichgiiltig, ob er sich seinen Weg
mit sozusagen legalen Mitteln freimacht oder mit sole hen,
wie sie der Henkerphantasie eines hessischen Gerichtsasses-
sors entstiegen sind. Das Wahrscheinliche diirfte eine Zu-
sammenfassung von beiden Methoden sein; eine Regie-
rung, die beide Augen zudruckt, wahrend die StraBe der
Hooligan- und Halsabschneiderarmee der SA-Kommandeure
ausgeliefert bieibt, die jede Opposition als „Kommune" blutig
unterdriicken. Noch ist die Moglichkeit der Zusammenfassung
aller anti-fascistischen Krafte vorhanden. Noch! Republika-
ner, Sozialisten nud Kommunisten, in den groBen Parteien Or-
ganisierte und Versprengte — lange werdet ihr nicht mehr
die Chance haben, eure Entschliisse in Freiheit zu f assen und
810
nicht vor der Spitze der Bajonette! Die Zeit dcr isoliertcn
Aktionen geht zu Ernie,, der Burgerkrieg dcr Sozialisten wird
seinen eifrigsten Kombattantea plotzlich fragwtirdig. In die-
sen ganz groBen Dingen spielt der Weltbuhnen-ProzeQ nur
eine bescheide'ne Rolle, aber die Bewegung, die er im Ge-
i olge hat, gibt doch wieder eine feme Vision von der Macht
kameradschaftlichen Abwehrwillens, der sich nicht nur schiit-
zend vor einzelne Personen stellt, sondern eine Sache groB
auf die Fahne schreibt. Wir wollen mit dem starken Wort
von der Roten Einheitsfront keinen vorschnelleri, die natur-
liche Entwicklung schadigenden Unfug treiben, Es ist noch
lange nicht so weit, noch. sind die Hemmnisse zu groB. Noch
kampft die deutsche Arbeiterschaft gegen Wind und Sonne.
Aber es ist heute die begltickende Tatsache zu verzeichnen, dafl
der Sinn fur das wieder wachst, was der groBte deutsche Frei-
heitsdichter etwas zn pathetisch aber doch mit einem Feuer
ausgedriickt hat, das auch in unsrer harter und sachlicher ge-
wordenen Zeit noch brennt: „Es ist ein Feind, vor dem wir
alle zittern, und eine Freiheit macht uns alle frei!'*
Fragen and Meinungen
Der Weltbuhnen-Prozefi hat in dcr auslandischen Presse em
Echo gefunden, das den verantwortlichen Leitern unsrer Aufien-
politik zu denken geben sollte. Wir lassen hier zwei angelsachsische
Stimmen folgen, die um so bemerkenswerter sind, weil sich die
englische und amerikanische Presse in solchen Dingen oft von der
franzosischen Beurteilung distanziert.
,The Times', vom 25. November
In den letzten Tagen haben deutsche Gerichte zwei beun-
ruhigende Urteile gefallt. Am Frei tag verurteilte das Ober-
landesgericht Breslau ein en Auslander, gegen den unter Aus-
schluB der Cffentlichkeit verhandelt wurde, zu sechs Monaten
Gefangnis wegen versuchten Landesverrats. Name und Natio-
nalist des Angeklagten wurden of fentlich nicht bekanntgegeben,
aber das gut infonnierte ,Berliner Tageblatt* hat festgestellt,
daB er Pole ist und angeklagt war, seiner Regierung von den
Vorgangen bei -der groBen Stahlhelmparade berichtet zu haben,
die vor dem fruhern Kronprinzen von PreuBen in Breslau, nahe
der polnischen Greftze, am 31. Mai 1931 abgehalten wurde . . *
Die Ziele des Stahlhelms sind: Waederbelebung des kriege-
rischen Geistes in Deutschland und Aaifhebung, mehr als Re-
vision, des Versailler Vertrages, Aber der Stahlhelm ist in
keinem Sinne eine offizielle Korperschaft. Die Reichsregierung,
welche die Stahlhelmbewegung im Jahre 1922 zu unterdriicken
versuchte und gewuBt haben muB, daB die PreuBische Regie-
rung sie im Jahre 1929 zeitweise im Rhe inland und in Westfalen
unterdruckt hat, begegnete einem polnischen Protest gegen den
breslauer Au&narsch und gegen die provozierenden Reden, die
dort gehalten wurden, mit der Antwort, daB der Stahlhelm eine
private Vereinigung von ehemaligen Soldaten ohne „militarische
Ziele'* sei. Unser berliner Korrespondent weist darauf hin,
811
wenn die durch die Reichsregietung gegebene Erklarung uber
den StahLhelm korrekt ist, daB dann dieLage eines Auslanders,
der seinen Aufrnarschen zusah, derjenigen eines deutschen Be-
suchers ' in England gleich kame, der einem Aufmarsch der
Britischen Legion beiwohnte. Die breslauer Polizei . . . iind der
Gerichtshof . . . nehmen oHensichttich eine andre Stellung zu der
Wichtigkeit dieser militarischen Organisation ein, tind ihre
Handlungen starken unausbleiblich die durch die heftigen Wi-
derspriiche in der deutschen Politik hervorgeriifenen Befurch-
tungen andrer Lander.
Diese MiBstimmung wird verstarkt durch den Spruch von
achtzehn Monaten Gefangnis, den das Reichsgericht in Leipzig
gegen den Herausgeber einer deutschen radikalen Zeitschrift
und den Autor eines Artikels iiber deutsche LuftschiHahrt, den
er in dieser Zeitschrift veroHentlicht hatte, fallte. Man sprach
sie des Verrats militarischer Geheimnisse schuldig. Vor Be-
griindung des Urteils schloB das Reichsgericht die Offentlichkeit
aus, da die Bezugnahmen auf den inkriminierten Artikel und
die amtlichen Geheimnisse, die, wie man £and, in ihm
enthalten sind, offentlich nicht verlesen werden konnten,
ohne die nationale Sicherheit zu gefahrden. VCfiederum stehen
hier fremde Machte einer seltsamen Divergenz zwischen den
offiziellen deutschen Erklarungen und dem Urteil eines deut-
schen Gerichts gegenuber. Der Vertrag von Versailles ver-
bietet Deutschland, militarische Luftstreitkrafte zu unterhalten.
Der Autor des beanstandeten Artikels, der selbst Pilot war, hat
die enorme Aufwendung offentlicher Gelder <fur die Aviatik
kritisiert und darauf hingewiesen, daB ein Teil dieser Ausgaben
eher zu militarischen als zu zivilen Zwecken verwandt wiirde.
(Die demokratische Presse Deutschlands ist durch den Angriff auf
die Pressefreiheit auBerordentlich iiber rascht und bestiirzt iiber
die unausbleibliche Wirkung dieses Urteils auf die Meinung
des Auslandes. Die ,Vossische Zeitung' und andre einfluBreiche
Zeitungen meinen, daB diese schwere Verurteilung im Auslande
die Vorstellung erwecken muB, das Reich habe wichtige mili-
tarische Geheimnisse zu verbergen. Ihre Kritik ist durchaus
berechtigt. Nach dem breslauer Spruch, der den Ein d ruck aui-
kommen laBt, als sei der Stahlhelm eine Art von Hilfsarmee,
die sich der geheimen Unterstutzung durch die Regierung des
cntwaffneten Reiches erfreut, kommt nun dieses Urteil mit seiner
Andeutung, daB das deutsche ZiviHlugwesen, wenn es auch nicht
eine camouflierte ^uftttotte ist, doch wenigstens zu einer schnel-
len Umwandlung fiir militarische Zwecke bestimmt ist. Zwei-
fellos gibt der Kontrast zwischen diesen Urteilen und der stan-
digen allzu sehr aufgebauschten Klage, daB Deutschland durch
seine Treue zu dem Entwaffnungsvertrag jetzt unverteidigt
zwischen den bewaffneten Nationen stehe, viel zu denken. Aber
dieser Kontrast versieht andre Machte rait dem, was ihre
Freunde gute Griinde und ihre Kritiker gute Entschuldiguagen
fiir die Aufrechterhaltung ihrei* gegenwartigen iRtistungen nen-
nen werden.
Die Abriistungskonferenz nahert sich. Ihr Erfolg wird groB-
teriteils von dem Vertrauen abhangen, das die Nachbarn in
812
>Deutschlands guten Willen setzen. In einem von den ,Times
am 11. Juli veraffentlichten Brief Sir Austen Chamberlains
bittet dieser, die deutsche Regierung und das deutsche Volk
„damit aufzuhoren, Hindernisse in den Weg der Friedensmacher
zu werfen, und eras thaft bemiiht zu bleiben, die agents provo-
cateurs, die in Deutschlands Mitte tatig gewesen sind, zu ent-
mutigen und in Europa das Vertrauen zu ihrem guten Willen
und ihrer Treue wieder herzustellen, das Ereignisse der letzten
Zeit so sehr zerstort haben".
Die Urteile von Breslau und Leipzig konnen seine Bitte
nur verstarken,
* .
tNew York Evening Post', vom 24. November
Deutschland hat durch das heutige Reichsgerichtsurteil seine
Stellung auf der bevorstehenden Abriistungskonferenz erheb-
lich geschwacht. Denn das Urteil bestatigt, daB die Organi-
sation der Zivilfiotte eine Umgehung des Versailler Vertrages
ist und die Basis fur eine schnelle Umwandlung in eine Mili-
tarflotte bildet. Das Vergehen des Landesverrats wird in
einem Artikel der liberalen Wochenschrift fDie Welt-
buhne* vom Marz 1929 erblickt, Nichts hat sich seitdem an
den Tatsachen geandert, die ohnehin jedem auslandischen Be-
obachter in Deutschland bekannt waren. Das Gericht verur-
teilte den Herausgeber der fWeltbiihne\ Carl von Ossietzky,
und den Verfasser des Artikels, Walter Kreiser, zu achtzehn
Monaten Gefangnis wegen Landesverrats und gibt so still-
schweigend zu, daB der Artikel auf Wahrheit beruht. Denn
wenn keine Geheimnisse da waren, konnte auch keines ver-
raten werden. In zweierlei Hinsicht ist das Urteil auBeror-
dentlich bemerkenswert.
Erstens: es ist das harteste Urteil, das j em a Is iiber einen
nicht-kommunistischen Publizisten verhangt wurde, und es ist ty-
pisch fiir die rigorose Behandlung, die deutsche Gerichte jetzt
jedem zuteil werden lassen, der mit einer Riickkehr zum
Vorkriegsmilitarismus in Deutschland nicht einverstanden ist.
Zweitens sollte man annehmen, daB die Regierung oder wenig-
stens das Auswartige Amt dieses Urteil nicht billige, denn es
lenkt die Aufmerksamkeit der ftffentlichkeit auf Vorgange,
die sonst vielleicht Iangst vergessen oder iibersehen worden
waren. Deutschland, dessen Argumentation vor der Ab-
riistungskommission immer darauf hinaus ging, daB der Ver-
sailler Vertrag erfiillt sei und es ganzlich abgeriistet habe, wird
sich jetzt erneut gegen den Vorwurf verteidigen miissen, daB es
eine verbotene Lufftflotte unterhalte. Kritiker werden sich in
Zukunft weniger auf den Weltbiihnen- Artikel berufen als auf
das Reichsgericht, das dies en Artikel fur so gefahrlich hielt,
daB es ihn mit achtzehn Monaten Gefangnis bestrafte. Es
gibt keine Bertifung und Ossietzky . . . muB diese lange Strafe
antreten. Charakteristisch fur die Tendenz deutscher Ge-
richte ist, daB nationalsozialistische Verrater immer milder,
meistens mit Festung verurteilt werden, wahrend ein Iiberaier
Kritiker des Militarismus mit gemeinen Verbrechern zusam-
men eingesperrt wird.
813
Hitlers Vorlailfer von Hellmat v. Gerlacta
T^ ic uberwaltigendcn Wahlerf olgc der Nationalsozialisten fin-
den naturlich ihre Erklarung nicht nur negativ in dem Ver-
sagen andrer Parteien und in den wirtschaftlichen Verhaltnis-
sen Deutschlands. Sie mussen auch sozusagen positive Griinde
haben.
Zwei machtige, einander widerstreitende Stromungen
durchziehen die Welt: Nationalismus und Sozialismus. Adolf
Hitler hatte die je4en niichternen Menschen phantastisch an-
mutende Idee, beide in einer Synthese zusammenzufassen.
Das ist naturlich ein Versueh mit untauglichen Mitteln.
Sozialismus und Nationalismus sind eine Antinomic, Der So-
zialismus ist, wenn liberhaupt, nur international zu verwirk*
lichen. Darum ist jeder Versueh einer Realisierung des soge-
nannten Programms der Nationalsozialisten von vornherein
zum Scheitern verdammt,
Jeder logisch denkende Mensch sieht das ein, Aber die
Logiker sind nicht in der Mehrheit, Darum bekam Hitler
im September 1930 sechseinhalb Millionen Stimmen,
Die Patentlosung Adolf Hitlers ist iibrigens kein Original-
produkt seines Geistes. Auch dieser Messias hat seine Vor-
laufer gehabt.
In gewissem Sinn ikaun sogar Friedrich Naumann als
solcher bezeichnet werden. Naumann begriindete 1896 den
Nationalsozialen Verein, um die Versohnung von Demokratie
und Kaisertum anzustreben. Er glaubte, die Arbeiter fur den
bestehenden Staat gewinnen zu konnen, wenn er Wilhelm II.
fur radikale Sozialpolitik und konsequente Demokratie ge-
wonne,
Trotzdem tut man dem Andenken Naumanns UnrechtP
wenn man ihn mit Hitler in einem Atem nennt. Hitler ist
unkritischer Demagoge, Naumann war kritischer Denker und
darum gefeit gegen Demagogic Er war so wenig Demagoge,
daB er nie Massen fiir sich gewann, sondern nur eine Ober-
schicht ihm allerdings leidenschaftlich ergebener Intellektuel-
' ler. Als er 1903 den Nationalsozialen Verein zur Auflosung
brachte, hatten die Wahlen seiner Partei ein einziges Mandat
erbracht.
Der wahre Vorlaufer Adolf Hitlers war der Hofprediger
Adolf Stocker, ein Demagoge ganz groBen Formats.
Als Stocker Ende der siebziger Jahre mit seiner christlich-
sozialen Propaganda an die Of i entlichkeit trat, leitete ihn
sicher im UnterbewuBtsein ehrgeiziger Machtwille, Aber nie-
mand, der ihm nahgestanden hat, wird ihm starkste sachliche
Beweggriinde absprechen konnen,
Er war ein leidehschaftlicher Vertreter der ecclesia mili-
tans. Als protestantischen Orthodoxen schmerzte es ihn bren-
nend, daB die katholische Kirche ungeschwacht die Massen
des katholischen Volksteils beherrschte, wahrend die breiten
Schichten der evangelisch getauften Arbeiter sich vom Evan-
gelium Christi lossagten und zu dem von Karl Marx bekehr-
ten. Er war klug genug, zu wissen, daB man diese Entwick-
£14
lung 'nicht mit Predigten sondern nur mit sozialen Tatcn
bremsen konne.
^ Darum wollte er dem Marxismus die christliche Sozial-
politik entgegenstellen. Ihn berauschte der Gedanke: dem
Kaiser, dessen Hofprediger er war, ein von der Sozial-
demokratie befreites und der Kirche Christi wiedergewonne-
nes Berlin zu Fufieri legen zu konnen.
Um die Arbeiter ging es ihm, darum nannte er
seine Partei zunachst Christlich-Soziale Arbeiterpartei. Darum
behandelte er in seinen ersten Vortragen fast ausschlieBlich
Arbeiterfragen.
Aber die Arbeiter trauten ihm nicht. Sie hatten mit der
evangelischen Staatskirche, dem geistlichen Leibregiment der
Hohenzollern, zu lible Erfahrungen gemacht. Sie witterten
unter dem Staatsbrot, das Stocker zu beschaffen versprach,
einen Angelhaken. Er bekam in seine Christlich-Soziale Ar-
beiterpartei keine Arbeiter. Wenn doch ein paar kamen,
so waren es entweder verdachtige „Gelbe" oder geistig trage
Pietisten oder gar Leute so wurmstichiger Aft wie jener
Schneider Griineberg, der ein paar Monate von Stocker als
die erste Arbeiterschwalbe gefeiert wurdef bis er unter pein-
lichen Begleitumstanden von der Bildflache verschwinden
mufltc.
Was Stockers Versammlungen fullte, das waren die Mas-
sen desselben Mittelstandes, der heute zu Hitler stromt. Das
waren Studenten, die unter dem Banne der in der Tat auBer-
gewohnlichen Redegabe des Hofpredigers standen. Das waren
altere junge Madchen, zum groBen Teil adligen Gebluts, die
fur ihn als Seelenarzt schwarmten. Alle moglichen Elemente
waren vertreten. Nur die Arbeiter — vacat!
Kurz entschlossen taufte Stocker seine Christlich-Soziale
Arbeiterpartei in Christlich-Soziale Partei um/ Und paBte sich
seinem Publikum an. Wenn die Arbeiter nicht zum rropheten
kommen, dann geht der Prophet zu den Burgern.
Diese Kleinbiirger aber, die das Gros der Stockerschen
Anhangerschaft bildeten, reagierten auf nichts lebhafter als
auf antisemitische Redensarten. Die sozialen Note der breiten
Masse, die Stocker in die politische Arena getrieben hatten,
waren dem politisch ungebildeten Mittelstande ganz gleichgul-
tig. Wenn Stocker sie noch hie und da behandelte, so hflrten
die St8ckerianer respektvoll, aber gelangweilt zu. Lebendig
wurden sie erst, wenn antisemitische Witze kamen. Geistig zu
trage, um uber die wirtschaftlichen Grtinde der Notlage des
selbstandigen Mittelstandes nachzudenken, waren sie heilfroh,
einen Siindenbock gefunden zu haben, Der Jude ist schuldf
Das ist eine so bequeme Formel. Da braucht man das eigne
Kopfchen nicht weiter anzustrengen.
Stocker war durchaus kein Antisemit im volkischen Sinne.
Das verbot ihm seine Bibelglaubigkeit, Dazu war er auch zu
klug. Aber er hatte keine sittlichen Bedenken, sich die antise-
miti^chen Instinkte weiter Volkskreise nutzbar zu machen.
Wie er denn iiberhaupt sehr oft den Zweck das Mittel heili-
gen HeB. Er wollte rednerische Erfolge haben. Und weil sie
3 815
am sicherstcn bei antisemitischcn Matzchen sich einstellten,
so wurdc er immer mehr aus einem ernsthaften Sozialpolitikcr
zu einem seichten Nichts-als-Rhetoriker.
Ubrigens ging es ihm auch in einem andern Punkt ahnlich
wie Hitler; Die Rticksicht auf die Geldgeber spielte eine liber-
ragende Rolle.
Nicht etwa, daB er Geld fin* seine Person angenom-
men oder auch nur gebraucht hatte. Er stand sich pekuniar
glanzend, da seine Frau aus reicher Familie stammte. Wohl
aber brauchte er sehr viel Geld fur seine kirchliche Tatigkeit,
besonders seine Stadtmission. Die Geldgeber daftir waren
streng kirchliche Kreise mit konservativer und darum durch-
aus antisozialer Grundhaltung. Diese Kreise waren gewohnt,
Almosen geben als christlicne Pflicht anzusehen. Ihnen wider-
strebte aber jede Behandlung der Arbeiter als eines gleich-
berechtigten Faktors und darum jede Gesetzgebung, die Rechte
fur die Arbeiter statuierte.
So dampfte Stocker seine ursprunglich sozial-radikalen
Forderungen, genau wie Hitler das auch getan hat — man
braucht sich daruber nur bei s einem friihern Kampfgenossen
Otto StraBer zu erkundigen. Nur daB Stocker sich seine Geld-
geber fur die Stadtmission erhalten wollte, wahrend Hitler sich
seine Geldquellen fiir seine Partei nicht verstopfen mochte.
Die flieBen aber naturlich nicht fiir irgendeinen Sozialismus, auch
nicht fiir einen sogenannten nationalen, sondern nur fur eine
Bewegung, von der sich die Hintermanner Spaltung der Arbei-
terschaft und damit Lahmlegung der Arbeiterbewegung ver-
sprechen.
Hitler hat seit September 1930 ungeheure Wahlerfolge zu
verzeichnen gehabt. Stocker sind auch nur annahernd ahn-
liche Erfolge nie beschieden gewesen, Warum dieser auffal-
lige Unterschied, obwohl doch Stocker der weitaus bedeuten-
dere Redner war?
Weil Hitler ein organisatorisches Genie ist, wahrend Stok-
ker fur Organisationsiragen uberhaupt kein Verstandnis und
kein Interesse hatte.
Stocker hat nie begriff en, daB tausend applaudierende Ver-
sammlungsbesucher fiir eine Bewegung viel weniger bedeuten
als zehn organisierte Mitglieder. Wo er sprach, und er sprach
fast taglich, hatte er uberfiillte Versammlungen. Aber ihn
beschaftigte nur die Saat, nicht die Ernte. Ihm geniigte die
ZuStimmung. Die Mitgliederbewegung war ihm gleichgultig.
So blieb seine Christlich-Soziale Partei immer eine Un-
betrachtlichkeit, wahrend Hitler den Kern erfaBt hat: der Bei-
fall ist Nebensache, die Bildung von straff organisierten Cadres
und Zellen ist die Hauptsache.
Man tate Stocker unrecht, wenn man zum Vergleich mit
Hitler nur ihn herausgriffe. Der Gesamtkomplex der antise-
mitischen Bewegung der achtziger und neunziger Jahre mutt
mit dem Nationalsozialismus in Parallele ge<stellt werden.
In diesem Gesamtkomplex war Stocker nicht bloB der be-
gabteste sondern auch der relativ anstandigste Vertreter. Als
sein Gegenpol kann jener Rektor Ahlwardt genannt werden,
816
der es mit seiner skrupellosen Demagogic sogar fertig brachte,
bei der Reichstagswahl in Neustettin iiber Stocker als seinen
Gegenkandidaten zu siegen.
Ahlwardt war Rektor a. D„ was seine Anhanger deute-
ten: Rektor aller Deutschenf Er war nur Demagoge und des-
halb reiner Antisemit, obne jedes hemmende Beiwerk eines
positiven oder wcnigstens scheinpositiven Programms.
Als er Neustettin, so ziemlich den ruckstandigsten hinter-
pommerschen Wahlkreis, erobern wollte, hielt er abends immer
Volksversammlungen ab. Am Tage aber besuchte er mit sei-
nem Sekretar die einzelnen Bauerngehofte, Von jedem Bauern
lieB er sich die GroBe seines Besitzes und die Ziffer seines,
Viehbestandes nennen. Dann diktierte er in Gegenwart des
Bauern seinem Sekretar; „Bauer A. hat hundert Morgen, zwei
Pferde, sechs Stuck Rindvieh, acht Schweine. MuB haben:
vier Pferde, zehn Stuck Rindvieh, zwanzig Schweine/' Und
die Bauern glaubten, wenn sie Ahlwardt wahlten, wurde er
dafiir sorgen, daB ihr Viehstand durch Gesetzgebungsakt ent-
sprechend aufgefiillt werde,
Ahlwardt war beruhmt geworden durch zwei Broschiiren.
Die eine hieB f,Judenflinten" und stellte die Behauptung auf,
Isidor Lowe haben einen Teil der deutschen Armee mit un-
brauchbaren Flinten beliefert. Die andre behandelte den an-
geblichen „Meineid eines Juden". Der angegriffene Jude war
Bleichroderj der Bankier Bismarcks,
Naturlich enthielten beide Schriften nur erlogenen Unsinn.
Aber sie wirkten zunachst. Ein paar Jahre hindurch war Ahl-
wardt der zugkraftigste Volksredner Deutschlands, dem es ge-
lang, in zwei Wahlkreisen zugleich gewahlt zu werden.
Als ein gemaBigter Antisemit, der Doktor v* Dallwitz, ein-
mal Ahlwardt aufsuchte, um sich von ihm sein Material vor-
legen zu lassen, fand er dies Material durchaus unzureichend.
Er machte Ahlwardt darauf aufmerksam. Dieser entgegnete
lachelnd: „Wenn ich etwas nicht beweisen kann, behaupte ich
es eben."
Hitler ist eine Mischung von Stocker und Ahlwardt. Nur
eins kommt bet ihm und seiner Bewegtmg dem Vorkriegsanti-
semitismus gegeniiber als vollig neu hinzu: die Propaganda
der Gewalttatigkeit, Stocker kampfte gegen die angeblichen
Auswuchse des Judentums. Ahlwardt forderte Ausnahme-
gesetze gegen die Juden. Selbst der extremste Antisemit hatte
vor dem Kriege nicht die Parole auszugeben gewagt: „Kopfe
mfissen rollenl"
Das ist das schauerliche Neue an dem Antisemitismus von
heute, Der Krieg hat das Menschenleben um seinen Wert ge-
bracht. Man begniigt sich nicht mehr, den politischen Gegner
zu widerlegen. Man versucht, ihn niederzulegen. Fruher be-
schrankte sich der Demagoge auf Schimpfen und Verleumden.
Heute bereitet er planmafiig die physische Vernichtung derer
vor, die anders wollen oder anders denken als er.
flDer Mensch ist dumm," uberschrieb Charles Richet ein
denkwurdiges. Biichlein.
Durch den Krieg ist die Dummheit der Menschen nicht
kleiner, ihre Gemeinheit aber erheblich groBer geworden,
817
Ober den Schutzverband ?o« Robert Breoer
Wir geben hier aus Grunden der Loyalitat aie iuisicht
Robert Breuers fiber den Konflikt im Schutzverband wieder,
ohne uns mit seinen Ausftihrungen zu identifizieren.
P s ist Zeit, daB der Schutzverband Deutscher Schriftsteller
wieder Raum und Kraft bekommt, die Interessen der deut-
schen Schriftsteller gegeniiber den Arbeitgebern wahrzuneh-
men. Die wirtschaftliche Lage der deutschen Schriftsteller
hat sich derartig verschlechtert, dafi kein Augenblick mehr ge-
zogert werden darf( urn durch sofortiges Einsetzen aller or-
ganisatorischen Kraft des SDS einer weitern Schrumpfung des
Arbeitsmarktes, einem weitern Sturz der Honorare, nicht zu-*
letzt auch dem standig zunehmenden Verfall der Arbeitsbedin-
gungen entgegenzutreten. Die immer schlimmer werdenden
Folgen der Wirtschaftskrise mtissen dazu dienen, die
Bagatelle einer Verbandskrise zu iiberwinden. Hierbei diirfen
weder Sentiments noch Personenfragen irgendeine Rolle spie-
len. Aber ebensowenig diirfen kiinftighin abseitige Interessen,
deren sinnlose Wahrnehmung zu den Konflikten innerhalb des
Verbandes gefiihrt hat, noch geduldet werden. Wenn die un-
erfreulichen Ereignisse der letzten Monate dazu beigetragen
haben sollten, zu zeigen, daB der SDS nicht in Gruppen zer-
fallen darf( sondern geschlossen seine gewerkschaftliche Auf-
gabe zu erfiillen hat, wird auch all der Larm, der verursacht
worden ist, wird all die Verwirrung, die angerichtet wurde,
schlieBlich Klarung und Festigung bedeuten.
Zwei Legenden sind auszuraumen, eine nebensachliche und
eine beachtliche. Nebensachlich ist die Breuer-Legende; aber
es muB einmal festgestellt werden, daB die „geheime Diktatur"
dieses einen Mannes schlechthin nicht vorstellbar ist. Der
Hauptvorstand besteht aus mehr als zwei Dutzend Schrift-
stellern und Schriftstellerinnen, aus selbstandigen Kopfen, die
den verschiedensten Weltanschauungen und politischen Lagern
angehoren, die auch keineswegs gewillt sind, sich vergewalti^
gen zu lassen. Die Mehrheitsbildung innerhalb dieses Vor-
standes ist keineswegs leicht; es geschieht selbstverstandlich
nichts und es kann auch nichts geschehen, was nicht durch
MehrheitsbeschluB geschieht. Die beachtliche Legende ist die,
daB Kommunisten im SDS nicht geduldet seien. Das war nie-
mals die Meinung der Mehrheit und war im besonderen nie
die meine. Richtig ist nur, daB die Mehrheit den Standpunkt
vertritt: es sei keine kommunistische Sondergruppe, iiberhaupt
keine politisch oder weltanschaulicb gekennzeichnete Sonder-
gruppe innerhalb des SDS berechtigt, Es hat audi nie eine
andre als eben die kommunistische Gruppe gegeben.
Unbegreiflich ist, was diese kommunistische Sondergruppe
eigentlich erstrebt; man sollte meinen, dafl es ein leichtes sein
miifite, ihr klarzumachen, wie wenig es sich verlohne, den SDS
zu erobern. Das war vielleicht eine Aufgabe von vorgestern;
aber das ist doch unmoglich noch heute sinnvoll.
Tatsache bleibt, daB jene kommunistische Sondergruppe
es verstanden hat, sich zum Kern einer Opposition zu machen;
es haben sich ihr mannigfache, berechtigt oder unberechtigt un-
818
zufriedene Gruppen, Gruppchen und auch Einzelpersonen an-
geschlossen. Diese Vereinigung abcr lebt niir vom Negativen;
sie beharrt nicht im Positives Sehr viele Kollegen und
Kolleginnen, die sich zur Opposition rechnen, vcrtretcn keinc
kommunistischen Forderungen; das weifi die zahlenmaBig nur
geringe kommunistische Zelle. Und so ergibt sich die Moglich-
keit, daB die spezifisch kommunistischen Forderungen schlecht-
hin verdunsten; vollzieht sich diese Wandlung, dann haben die
Kommunisten zwar nicht das erreicht, was sie gern mochten*
a'ber sie haben sich vielleicht davon tiberzeugt, daB fur ihre
Spezialwiinsche keinerlei Mehrheit zu finden ist.
Es kann im SDS nur eine Opposition geben, namlich die,
die dem Vorstand und dem Geschaftsfuhrer zu geringe Aktivi-
tat bei der Wahrnehmung der Wirtschaftsinteressen der Mit-
glieder vorwirft. Eine solche Opposition muB und wird es
immer geben; ihr EinfluB wird um so groBer sein, je besonne-
ner ihre Forderungen sind und je klarer sie erkennt, was mog-
lich und was unmoglich ist.
Der AusschluB von achtzehn Mitgliedern sollte also nicht
Kommunisten treffen, noch sonst irgendwelche Weltanschau-
ung, • sondern allein die Unfahigkeit, sich in eine Organisation
einzngliedern, zugleich die Unfahigkeit, im Geiste der Organi-
sation fruchtbare Opposition zu sein. Man kann mit dem SDS
nicht die Notverordnungspolitik der Regierung Briining be-
kampfen; dazu reicht weder die Macht noch die Bedeutung des
Verbandes aus. Man kann selbstverstandlich protestieren,
aber man muB sich dariiber klar sein, daB es sich bei diesen
Protesten nur um dekorative Gesten handelt, Jedenfalls, alles,
was in dieses Kapitel gehort, ist verhaltnisinaBig nebensach-
lich. Entscheidend bleibt der Wirtschaftskampf, den der SDS
fur den Einzelnen und zugleich fiir die Gesamtheit ftihren muB.
Wobei die Erkenntnis nottut, , daB die beste wirtschaf tliche
Sicherung des Schriftstellers zugleich die beste Sicherung sei-
ner geistigen Freiheit ist.
Das war der Standpunkt des SDS vom Tage seiner Grtin-
dung an; auch ich habe nie einen andern Standpunkt ver-
treten, dariiber lesef wer sich dafiir interessiert, die Rede, die
ich im Jahre 1913 in der noch nicht ganz vergessenen Nacht-
versammluhg gehalten habe und die in der letzten Nummer des
,Schriftstellers' noch einmal abgedruckt ist,
Wer zwanzig Jahre lang in der gewerkschaftlichen Arbeit
steht — oder in etwas, was dem immerhin ahnlich sieht; denn
der SDS ist keine vollkommene Gewerkschaft und kann keine
sein — , hat keine besonderen Ehrgeize mehr, hat viel-
mehr langst die Grenzen, die durch die harte Welt der Tat-
sachen gesetzt sind, erkannt, auch die der personlichen Wider-
stande, Solch Zwanzigjahriger, im BewuBtsein nichts als ein
Funktionar, hat nur eine Sorge, namlich die, daB die Organi-
sation gefahrdet oder gar zerstort werden konnte. Hat er die
GewiBheit, daB die Organisation gesichert ist, wird er keinen
Augenblick zogern, den Weg fiir neue und jiingere Ideen frei-
zugeben. So denke nicht nur ich, so denken alle unsre Zwan-
zigjahrigen, und deren gibt es unter denFunktionaren undVor-
standsmitgliedern nicht wenige. Schutzverband . . . vorwarts!
819
Der FHeger kOtntnt! von Hermann Kesser
Ort: Keller- Kaschemme
Gastwirf {hinter dem Biifett; beteuernd): Der FHeger kommt an I
Euch beeden jesagt!
Chauffeur: Auch bei die schlechte Witterung?
Monieur fmiirrisch fur sich).
Gastwirt: In der internationalen - Metropol-Zeitung stehtt die
neuen Viktoria-Motoren konnen alles!
Chauffeur: Wat sagt denn der Rundfunk?
Gastwirt: Is alle. Jeht nich mehr, Haben heute direkte Be-
lieferung aus die Luft.
Monteur: Is auch jescheiter, Du besiehst Dir den Zimmt aus
der Nahel
Chauffeur: Wir haben schon vor ner halben Stunde absitzen
mussen! Nirgends keen Durchkommen nich mehr! Aile machen sie
blaul Alle wollen dabei sein I Kost ja keen Eintritt nichl
Gastwirt: Will eben jeder sein Teil fiirs Jemiit!
Chauffeur: Wenn son Luftschiff oder sone eiserne F liege am
Himmel stent, da hab ich eenfach meine Freude im Bauch!
Gastwirt: Jawolll Det streicht mir warm ubers Herz. Da is
man 'n Anderer, Da kommt mer raus ausm Keller. (Auf den
Monteur): Un da kann mir keener dagegen nischt anhaben!
Monteur (zum Wirt; hohnisch, irinkend): Auf deine Bejeistrung
und auf deinen Verstehstel
Chauffeur: Ne halbe Stunde von ^Copenhagen bis da — da is man
doch platt! Det is doch wirklich ne Sache! Da mochts eenem ordent-
lich feucht in die Oogen kommen! (Zum Gastwirt): Jehn mer noch
immer nich rauf?
Gastwirt: Die Alte is oben! Die kommt uns holenl
Monteur: Steht seit Stunden uffm Pflaster mit die Weiber vom
janzen Quartier und guckt in die Wolkenl
Chauffeur: Dreihundertzwanzig Kilometer in die Stunde machts
aus, wenn mans jenau rechnet —
Gastwirt (leise; er griff ene Stimme): Dreihundertzwanzig Kilo-
meter —
Chauffeur: Det schreibt sich mit Buchstaben aus 'm groBen
Alphabet in die Jeschichte, (Zum Monteur): Und da stehste mit fm
Rucken dazu?
Monteur: Nu sei schon endlich still du Dusell Wat meenste —
wirste dir besser stehn, wenn de nachstens dreihundertzwanzig Kilo-
meter in der Stunde fahrst?
Chauffeur: Ick? Ick — besser stehn? Wees ick nich.
Gastwirt (auf die IMZ. klopfend; vorlesend): «, ,Gala-Vorstellung*
der nationalen Flugtechnik in den Ltiften, auf die alle Volksgenossen
AnlaQ haben stolz zu sein" — steht feschrieben!
Monteur: Et steht jeschrieben: Als Jesus die Lohne derFahrer und
Beifahrer sah, jing er hinaus und weinte bitterlich! Und von seiner
Begeisterung iiber die Jeschwindigkeit steht nischt 1 Und es steht je-
schrieben: Sie fuhren auf einer Rutschbahn immer jeschwinder in Ar-
beitslosigkeit, Pleite und Hunger hinein — und wufiten es nich!
Chauffeur: Besser steh ick mir nich, seit wir immer jeschwinder
fahren. Det is wahr! Morjen stehn sie noch mit der Stoppuhr und
rechnen uns die Sekunden. Heute jehts schon nach halben Minuten,
Wenn de krumm jefahren bist, muBt dus holen! Von funf Minuten
an is Abzug an freie Zeit!
Gastwirt: Det jibt sich schon*
Monteur: Nischt jibt sichl
Gastwirt: Du bist eenfach jejen Maschinen!
820
Monteur fbrUltend): Ick bin fur Maschinen! Bin selber von die
Maschinel
Exmittierter (stiirzt die Kellertreppe hemnter; kracht ein Biindei
mit Habseligkeiten zu Boden; legt sich iiber den Tisch; verbirgt das
Gesicht).
Gasfwirt und Monteur: Magdeburgerl
Monteur ftritt zu ihm; riittelt ihn hoch): Hamse dir rausgesetzt?
Exmittierter (verkrampft; erbittert): Sone Jemeinbeit ...
Gastwirt fstellt ein Glas Bier vor ihn hin): Nimm erst mal
eenen druff!
Exmittierter: Jemeinheit! Jemeinbeit f
Chauffeur: Nu schrei doch nicb so! Wat is denn jewesen?
Monteur: Menscbf Zieh deine Schrauben zusammenf (Ironisch):
Se baben dir rausjesetzt! Det muC doch so sin. Un da wunderst
du dir?
Exmittierter: Det is nicb allesf
Alle: Nu red schon!
Exmittierter: Die Frau war schon weg. Seit drei Tagen! Is
mitm Kind zur Schwester jejangen. Ipk hab ja gewuBt, dafi es heut
sein muBte. Die Klamotten waren noch da. 'N Bett( ne Komode, drei
Sttihle und ne Wiege. Der Gerichtsvollzieher kommt mit seinem
Fetzen Papier. Ick sag, ick hab keen Geld nich ftirn Mobelwagen.
Er jebt raus. Jeht auf die StraBe. Kommt mit zwei Burschen. Sie
jrinsen mir an und tragen mir die Klamotten raus — uf'n Hof. Un
wie sie jebn sagen se: Dank ooch, Herr Kollegef Ick: Wat heefit
det? Sie sagen: Wir sind ja im gleichen Spital krank. Wir sind
ooch nur zwei Arbeitslose un rausgesetzt. Jetzt jebn mer sehn, wo
*n Gerichtsvollzieher ins Haus jeht und helfen mitraussetzen —
Chauffeur: So weit sin mer glticklich, dafi die Arbeitslosen von
die andern Arbeitslosen Arbeit kriejen miissenl
Exmittierter fwirft sich wieder iiber den Tisch und schaut nicht
mehr auf).
Chauffeur: Det verstehste nich. Det is eben die neue Ratio -
nalisierung. Det is das laufende rutscbende Band.
Gastwirt: Mit dem laufenden Band bat das nischt zu tun un
ooch nischt mit die Rationalisierung. Ihr habt nur nich jelesen,
wat der Mister Mangan aus die vereinigten Staaten von Nord-
amerika auf dem internationalen KongreB zur Untersuchung gegen
die Arbeitslosigkeit alles Scheenes jesagt hat! Ihr konnt det alles
nich begreifen.
Monteur (schlcgt ihm die Zeitung aus der Hand): Aber du hastn
Begriffl Wo du dir durcb das Zeug aus der Quasselmaschine immer-
weg anschwindeln lafitl
Gastwirt: Un du hast en Vogel mit deinem Jehetz gegen Ma-
schinen un alles, was mit die Maschinen is I
Monteur: Ick bin schon fttr die Maschinen! Aber nich fur
die Maschinen, die uns weiter ins Pech fabren! Un nich fiir neue
Maschinen zum Geldabknoppenf Un nich fur Maschinen zum Schrau-
ben und Pressen! Soil uns doch besser jehn, je mehr erfunden, je
mehr Zeit erspart und je schneller jefahren wird! Sonst pfeif ick
auf alle Maschinen!
Chauffeur: Det is wahr! Dagegen kann keiner nischt sagen!
Monteur: Die nageln uns noch 'n Rollschemel unter die Fiifle,
den wer nich mal in der Klappe abnehmen durfen! Un wers nich
aushalt, wird abjebautf
Gastwirt: Hat alles nischt mit dem Flieger zu schaffen!
Dieb ftritt ein; Stimmung; Begeisterung): Nen Helles! Man zu!
So en Augenblick, der mufl doch jefeiert wer den!
Gastwirt fschenkt ein): Det sag ick ooch!
Monteur: Jefeiert, daB de aus der Haut fahrst!
821
Dieb (schluckweise trinkend): Wenn ick bei sowat dabei bin, dann
bin ick einfach stolz darauf , jeboren zu seint Da geht mer . 'n
Feuer in' Hals I Dat darf dann wat kostenl Da kommts mer oochuff
en zweites Helles nich an I (Er reicht dem Gastwirt das Glas; laBt
sich nochmals einschenken).
Gastwirt (etnschenkend):. So hab ichs jern. Man wird sich
doch noch iiber was freuen durfen!
Gastwirtsfrau ( Papier fahnchen in der Hand; mit dem sie fort-
ivahrend winkt; auf der obersten Stufe der Kellertreppe; ohne her-
unterzukommen; schreit entziickt): Er ist da! Sie lauten die Glocken!
Sie singen! Oberali spielt die Musikel (Einfallt Lindbergh-Platte;
Grammophon-Aufnahme von Lindberghs Ankunft in New York}
Hurra! Hurra! Hurra! (Sie stiirzt wieder hinaut auf die StraBe).
Alte sehen sich an.
Gastwirt (lauft ihr zuerst nach).
Ldrm schwillt an.
Monteur (wilt den Chauffeur am Arm festhalten).
IMrm schwillt weiter an.
Chauffeur (schiittelt den Monteur ab; lauft nach oben).
Monteur (ein paar Schritte hinter ihm her, um ihn zuriickzuhal-
ten; bleibt unter der Tiire wiitend und wegwerfend stehen).
AuBen maBloser Begeisterungsldrm.
Dieb (hat inzwischen nur darauf gelauertt ob der Exmittierte den
Kopf hebt; ist am Biifett, seitlich im Schatten, stehen geblieben).
Exmittierter (hebt langsam den Kopf; hbrt auf den Ldrm).
Monteur (ist vor die Tiir getreten; schaut zu Boden; mit beiden
Armen den Beifall niederwinkend).
Exmittierter (steht auf; geht langsam zur Tiire; rasch am Mon-
teur vorbei; zieht ein schmutziges Tuch, und lauft mit dem Tuch
winkend, nach oben hinaus).
Monteur (zuerst starr; kopfschUttelnd; setzt sich geschlagen mit
dem Riicken zur Kaschemme nieder).
Dieb (stiirzt sich auf die Kasse im Biifett; leert die Kasse aus;
steckt sich die Taschen voll und verschwindet, wdhrend der Ldrm
auf der StraBe immer noch wachstt durch eine Seitentiire).
MarattlOn-TanZ von Hans Reimann
Jutta sagte, wir muBten Mantel anziehen, und Stefan fiigtc
hinzut lctzte Nacht seien unten im Garten samtliche Dah-
lien erfroren. Ich erwiderte, so arg werde es nicht sein, denn
Hagenbeck habe bestimmt geheizt. Aber es war trotzdem
ziemlich kalt im Zirkus. Nachmittagsvorstellung, beangsti-
gende Fulle. Wir groBmoglig in eine Loge ganz vorn. Aller-
dings am Eingang. Dicht neben uns ein armseliges Wesen
ohne Hande und Beine im Rollstuhl. Oberhaupt merkwiirdig
viele Kruppel auf den teueren Platzen. Offenbar Freikarten.
Sehr nett von Hagenbeck. Ausgezeichnete Dressuren, Eine
atemraubende Luftnummer. Romische Gladiatoren. Stefan
barst vor Lachen, als sie auftauchten, Stefan ist vierzehn.
Gymnasiast, Jutta und ich wurden angesteckt von seiner
Heiterkeit. Na, sowas von Gladiatoren. Bestimmt aus Plauen
Der eine Gladiator wurde bose und schoB immerzu giftige
Blicke nach uns. Unser^Gekicher steckte rundum die Zu-
schauer an. Die Nummer versandcte in einer Lachwelle. Der
Rumpf neben uus im Rollstuhl war begeistert und schrie bravo.
Applaudieren konnte er ja leider nicht, Dann eine Clown-
822
Szene. Unter den Clowns war einMifigettim; halb Kopff halb
Mensch, genau fifty zu fifty.. Ich kann bci dergleichen keine
Mienc verziehen. Aber das arme Wesen im Rollstuhl schrie
sich kaput t iibcr den verungliickten Zwerg. Andre Clowns
kamen dazu. Mit Eiern. Mit richtigen Eiern. Die klatschten
sie sich gegenseitig auf. die Schadel, und das sollte nun toll
komisch sein. Manchen schien es zti gefallen. Jutta sagte mit
sozialem Ton in ihrer elfjahrigen Kehle: „Die sind doch zum
Essen!" Natiirlich sind sie zum Essen; Eier sind immer zum
Essen. Mit Ding en, die zum Essen sind, darf man heutzutage
nicht Schindluder treiben. Na ja( die Eier verschwanden, und
das MiBgetum verschwand ebenfaJIs mit seinen Kollegen. Wir
froren wie die Schneider. Jutta bibberte in ihrem dimnen
Mantelchen. Auf einmal fragt mich Stefan: „Ob der noch auf
der Fahnenstange sitzt?" Ich frage zuriick: ,,Wer auf dcr
Fahnenstange sitzt?" Stefan und Jutta, gleichzeitig: „Der an
der Festhalle!" Ich: „Wer an der Festhalle?" Also, kurz und
gut: an der Festhalle sitzt einer auf der Fahnenstange, und
in der Festhalle ist Marathontanz.
Abends war ich dort, selbstverstandlich. Gegen neun.
Tatsachlich, da safl einer auf der Fahnenstange. Ted
Stanley nennt er sich. Es regnete, und kalt wars obendrein.
Ted saB den zehnten Tag auf der Fahnenstange gegen eine
Gage von fiinfzig Mark pro Tag. Von grellen Scheinwerfern
bestrahlt. Und durch ein Telephon mit der Welt verbunden.
Mit der Welt? Nur mit Frankfurt am Main. (Vision. Stanley
junior kommt zur Schule. Der Lehrer; ^Nun, mein Junge, was
ist denn dein Vater?" Der Kleine, schwarmerisch: ,tFabnen-
stangensitzer, Herr Lehrerl" GroCaufnahme: der Lehrer sinkt
in Ohnmacht. Abblenden.) Kein Mensch kiimmert sich um den
Marathonsitzer. Er sitzt so fiir sich dahin. Im Regengeniesel.
Vermittels einer Miniaturdrahtseilbahn wird ihm des Leibes
Notdurft hinaufgeleiert. Hornhaut umwuchert ihn. Zehnmal
fiinfzig macht funfhundert abziiglich Agenturprovision und
Steuer.
Ich lose eine Karte. Fiir den Marathontanz, veranstaltet
von der Ross Amusement Co. und betrete die Festhalle.
Totenstille. Wie im Grabeloch. Kein Laut. Ich schleiche auf
Zehenspitzen naher. Wo sonst die Rennfahrer st ramp ein,
haben sie ein Podium errichtet. Dutzende von Topfen knallen
ihr Licht auf die erhohte Tanzflache. Die liegt leer. Bis auf
vier Matratzengriifte. In den vier Matratzengriiften schnarchen
vier Menschen, zu Klumpen geballt. Ich halte Umschau. Am
Kopfende des Podiums: ein Mikrophon, eine Kapelle; weiter
unten zwei Zelte, eins fiir Herren, eins fiir Damen. Dariiber
eine riesige Uhr. Und immer noch Totenstille. Ich erwerbe
ein Programm. Und lese: ^Internationale Dauer-Marathon-
Tanz-Meisterschaft. Sieger der Meisterschaft ist das Paar, das
zuletzt auf dem Tanzparkett verbieibt. Die 24 Teilnehmer
tanzen schon iiber 250 St linden. Jeder Besucher ist erstaunt
uber die Ausgelassenheit und den Humor der Paare, die all-
abendlich durch ihre Solovortrage das Haus zu Lachstiirmen
hinreiBen . . . Wie lange werden sie noch tanzen? Es kann jetzt
823
jeden Tag endcn, da die mcisten Tanzer sehr ermudet sind.
Kommcn Sic, und spornen Sie unsre Paare zu GroBleistungen
an!" Alles schlaft, einsam wacht. Totenstille. Unheimlich.
Ich lese weiter. Die offiziellen Regeln: „1, Die Teilnehmer
miissen sich 45 Minuten in der Stunde in Tanzbewegung hal-
ten, wahrend die iibrigen 15 Minuten zum Ausruhen oder
Schlafen bestimmt sind. 2. Samtliche Teilnehmer sollen stets
ein gesellschaftlich wiirdiges Aussehen bewahren. Die Herren
miissen stets rasiert sein. 3. Die konkurrierenden Paare miis-
sen die Fiifie wahrend der ganzen Tanzdauer in Bewegung
haben, und eine Hand des einen Partners muB immer aui dem
Andern ruhen. 4. Tanzer, die wahrend der Tanzzeit die
Toiletten aufsuchen miissen, erhalten 3 Minuten Freizeit, wo-
fiir sie jedoch wahrend der Ruhepause 5 Minuten weiter zu
tanzen haben. The -Ross Amusement Co." Ich mufl mich
setzen, um mein gesellschaftlich wiirdiges Aussehen zu be-
wahren. Mit andern Worten: ich trinke einen doppelten
Kirsch, Das Fraulein, das mir den Schnaps reicht, sieht aus
wie die Tochter yon Grieneisen. Ich fuhle mich elend, so
mutterseelenallein und verlassen. Ich hocke mich hin und
sinne* Wahrenddem geht die Pause zu Ende. Eine schrille
Pfeife ertont, aus zahllosen Lautsprechern quakt eine Stimme,
um mich herum johlts und larmt es, ich hore Schreie und
gellendes Gequiek, ich starre ins Dunkel iiber mir: Tausende
hocken da, Kopf an Kopf, die Range gepflastert mit Publikum,
haibdunkel und verschwommen, ein Albdruck. Ich tappe eine
Treppe hinauf. Da hocken sie. Sie haben sich hauslich
niedergelassen und dem schabigen Leben Valet gesagt. Sie
glupschen wie wilde Tiere und grunzen vor Wollust. Meines-
gleichen, deinesgleichen. Ich schame mich. Bekannte winken.
Ich tue keB und winke fidel zuriick. Die Kapelle schmettert.
Der Conferencier quatscht. Und. auf dem Podium?
Auf dem Podium schleichen Lemuren, ineinander verhakt,
zermiirbte Gestalten — in grauenerregendem Widerspruch zur
ubermiitig aufpeitschenden Musik. Sie schieben, taumelni
glotzen apoplektisch, kleben schleimig zusammen, die Weiber
in wollenen Jumpern und mit nackten, diirren Beinen und
schwappenden Busen, die Herren wie gedemutigte Strizzis, in
der treien Hand eine Zigarette, die hin und wieder zu einem
Lungenzug herhalten muB ... so schlurfen sie, Blasen an den
FiiBen und keimenden Wahnsinn im Hirn, schlapp und mat-
schig, elend, siech, verfallen, aus dem Leim gegangene Eben-
bilder Gottes ... so wanken sie numeriert dahin und sind vor
Abgespanntheit dermaBen blod, daB sie gar nicht auf den Ein-
fall kommen, einen Tanzschritt zu tun. Was sind das fur
welche? Das Programm gibt Auskunft: „264. Stunde. Sar-
toris, Italien — Sartoris, England — beide Tanzer sind wieder
sehr miide, Farrudgia, Spanien — Moulis, Spanlen — die Form
dieses Paares ist nicht gut. Neidhart, Deutschland — Irma War- .
zelhan, Deutschland — bei Fraulein Warzelhan haben sich die
FuBbeschwerden gebessert, Rene Ray, Belgien — Loulon Rycke-
waert, Frankreich — die Tanzerin leidet an FuBbeschwerden.
Max, Ruflland — Nina, RuBland — die Form dieses Paares bleibt
gut. Kaledjian, Armenien — Erna, Deutschland — Erna war in
824
letzter Nacht sehr matt infolge der ofteren Stiitzung ihres
Tanzers. Bill Mc Daniel, Amcrika — Zette, Frankreich — die
schlechte Form des Tanzers halt an. Henri Cesar, Belgien —
Trocme\ Frankreich — das Paar bleibt eine Oberraschung in-
folge des steten Durchhaltens. Kurt Bliindauer, Deutschland —
Lydia Rosselet, Deutschland — der Tanzer ist sehr miide ge-
worden. Leon Lee, RuBland— Sainte-Marie, Frankreich — die
Tanzerin zeigt Ermudungserscheinungen. Rostaing, Frankreich —
Hamlet, Frankreich — das Paar scheint auf ein gutes End-
ergebnis hinzuarbeiten. Danille, Belgien — Keyta Piitz, Deutsch-
land — Danille isCin den fruhen Morgenstunden au 13 erst miide,
und seine Partnerin muB ihn sehr aufmuntern.'* Achtzehn
Paare sind bereits ausgeschieden, die meisten mit dem Zusatz
„Deutschland'\ Harold J. RoB fungiert als Hauptrichter,
Hans Broich als Conferencier VerheiBen werden als erster
Preis zweitausend, als zweiter tausend und als sechster hun-
dertfiinfundzwanzig Mark. Unversehens flammt ein Blitzlicht auf,
und der Conferencier verkiindet, die Firma Ickelsheimer in der
GoethestraBe habe der besten Tanzerin einen Kodak gestiftet.
Daraufhin reiBen sich zwei, drei Paare hoch und tanzen wie
verzweifelt, um sich aus ihrer Starre zu befreien. Und auch
wegen der Pramie. Eine Dame spendet ftinf Mark. Das
Sport ha us Knodelmann, Neue Mainzer LandstraBe* betei-
ligt sich mit einer Rodelausriistung. Fraulein Zette legt einen
Solotanz hin und geizt nicht mit Temperament. Die restlichen
dreiundzwanzig Marathonisten setzen der Zeitlupe die Krone
auf. Fraulein Zette wird geknipst. Es folgt ein Rumba, immer
noch vorteilhafter als Weltkrieg, aber idiot isch genug. Aus
den Lautsprechern quackert die Stimme des Conferenciers.
Elf Paare schwanken im Schneckentempo voriiber, das zwolfte
hupft he rum, als gelte es die Seligkeit, Von Rang und Galerie
hagelt der Beifall. Trillerpfeife. FiLnfzehn Minuten Pause. Der
Conferencier bittet um auBerste Ruhe. Vier vorher ausge-
wahlte Tanzerinnen durfen droben bleiben, die ubrigen ver-
schwinden in ihre Zelte wie ins Mausoleum.
Die vier jedoch sinken auf die Matratze, eine mit dem Ge-
sicht in die Kiss en, eine verquer, die dritte mit den Beinen
fibers Kopfende, die vierte halb daneben. Pflegerinnen be-
freien die sofort Eingeschlafenen von Schuhen und Sockchen,
mummen sie ein in dicke Decken und legen kalte Kompressen
auf ihre Stirn. Die Kapelle schweigt, der Conferencier
schweigt, das Publikum schweigt. Nur in der Feme schimpft
Harold J. RoB auf echt Amerikanisch, Langsam riickt der
Uhrzeiger. Niemand riihrt sich. Dreizehn Minuten. Vierzehn Mi-
nuten. Ftinfzehn Minuten. Trillerpfeife,
Und nun der Clou, die Sensation, der GipfeL Das Publi-
kum stiert mit freBliisternen Augen. Rang und Galerie kn is tern
vor GenuBsucht. Tausende halt en erwartungsgeil den At em an.
Die vier armseligen Geschopfe werden geweckt. Sie sind nicht
zu wecken. Aber sie mussen geweckt werden. Also werden
sie geweckt, geknufft, vom Lager gezerrt, auf die saueren
Beine gestellt — und schmelzen im Nu zu klaglichen Haufen
zusammen. Die Menge wiehert vor Wonne. Die Haufchen
werden aufgerichtet und wie Sacke geschiittelt. Die Menge
825
trampelt und rast vor Begeisterung, Die PHegerinnen stieben
da von. Drei von den Frauenzimmern liegen wie hingehext auf
ihren Betten. Gott mag wissen, wie sie dahin gelangt sind.
Eben noch standen sie startbereit am Rande der Tanzmanege.
Schon traumen sie wieder. Die iibrigen Herrschaften werden
hereingetrieben. Wie Vieh, das Opium genascht hat/ Rang
und Galerie johlen und grohlen. Etliche Zeitgenossen fiihlen
sich erfolgreich in ihre Militarzeit zuriickversetzt und kom-
mandieren wie Feldwebel das Aufstehn* Der Conferencier
mischt sich hinein* Von der Kapclle wird ein Foxtrott her-
untergefetzt. Lakaien der Amusement-Gesellschaft raumen die
Lagerstatten fort. Drei Weiber, miflratene Briefbeschwerer,
schlummern hingestreekt am Boden, Die Partner treten m
Tatigkeit, winden die Damen hoch und schrauben sie am eige-
nen Korper fest. Eine verliert den Halt und plumpst lange-
tang hin. Eine Orgie von Hollengelachter brandet durchs
Haus. Hutsalon Lobl schickt eine Pelzkappe als Pramie, Es
wird weiter geschlichen, geschwitzt, gefroren, gedost, getanzt.
454 Stunden dauerte die Veranstaltung. Erster Preis:
Rostaing — Hamlet; zweiter: Sartoris — Sartoris; dritter: Cesar —
Tforocme. Wunschgemafi sanken die Paare zu Boden, und dann
schritt die Polizei dazwischen. Hundertzehntausend Personen
haben dem Marathonfest beigewohnt und haben Beifall gezollt
und Pramien geopfert, haben gewiehert und gehohnt.
Denn der Mensch stammt keineswegs vom unrasierten und
dennoch gesellschaftlich wtirdigen Affen ab, sondern von der
Hyane.
Sie, ZUihm von Theobald Tiger
Ich hab dir alles hingegeben:
* mich, meine Seele, Zeit und Geld.
Du bist ein Mann — du bist mein Leben,
du meine kleine Unterwelt.
Doch habe ich mein Gliick gefunden,
seh ich dir manchmal ins Gesicht;
Ich kenn dich in so vielen Stunden —
nein, zartlich bist du nicht.
Du kufit recht gut. Auf manche Weise
zeigst du mir, was das isti Genufi.
Du horst gem Klatsch. Du sagst mir leise,
wann ich die Lippen nachziehn muB.
Du bleibst sogar vor andern Frauen
in gut gespieltem Gleichgewicht;
man kann dir manchmal sogar trauen . . .
aber zartlich bist du nicht.
O warst du zartlich!
Meinetwegen
kannst du sogar gefuhlvoll sein.
Mensch, wie ein warmer Fruhlingsregen
so hullte Zartlichkeit mich ein!
Warst du der Weiche von uns beiden,
warst du der Dumme, Bube sticht.
Denn wer mehr liebt, der mufl mehr leiden.
Nein, zartlich bist du nicht.
826
EinertnufigeschlachtetwerdenljanBargenhoseii
r\er ReSchskanzler hat eine Bataille verloren. Das ist, nach
^ dem diirftigen Ergebnis der Axbeiten dcs von hoher Hand
feierlich eingesetzten Wirtschaftsbcirats, nicht im geringsten
mehr strittig. Fraglich bleibt nur: ist auch heute wieder Riihe
die crste Biirgerpilicht — ?
Ganz so schlecht, wie es die Historie gemacht hat, ist
jenes Wort von der ersten Pflicht — der Pflicht, die Nerven
in Zucht zu halten — ja nicht. Aber es gibt Zeiten, es gibt
Augenblicke, in denen es die hohere Vcrnunft erfordert, in
Zorn und Eifer aufzubegehren und dazwischen zu schlagen; e&
gibt Konstellationen, in denen nur jener den Kopf nicht ver-
liert, der nie einen besessen hat. Gabe es in Deutschland ein
Biirgertum, das das Bild seiner Zukunft aus dem seiner Ver-
gangenheit gewinnen konnte, gabe es noch Leutej die ehrlicb
an die Dauer der privatkapitalistischen Wirtschaftsorgani-
sation glaubten, so miiBten sie heute voller Emporung gegen
das nichtssagendie und obendrein schlecht stilisierte Dokument
protestieren, das sich „Leitsatze des Beirats'' nennt.
Aber es gibt keine solchen Proteste. Es gibt nur eine
,,schlechte Presse". Das Biirgertum, der Trager und Nutz-
nieBer der siech gewordenen Wirtschaftsform, emport sich
nicht iiber die miserable Art, in der seine Beauftragten die
Geschafte ftihren. Es sieht noch nicht einmal, welch unge*
heure Chance hier gegeben war: daB in einer Stunde, in der
alle gegnerischen Krafte unschliissig und planlos den Gegen-
stoB verzogern, die hochste Autoritat der Republik zur Ver-
teidigung des bestehenden Zustandes in tatkraftiger Reform-
arbeit aufgerufen hat. Welche Krafte will man denn noch:
mobilisieren, um den Verfall, das Absinken in abenteuerliche
Experimente, Autokratie und Inflation, zu verhiiten — auf
welche Wunder wartet man dcnn noch? War es denn wirklich
so ganz unmoglich, den braven Mannern des Beirats ein paar
schlagkraftige Formulierungen in den Mund zu legen, die den
Willen zur wiederherstellung von Treu und GJauben zugleicb
dokumentierten und starkten?
Nichts davon ist geschehen. Trocken und ohne Oberzeu-
gungskraft sind diese „Leitsatze'\ Den nationalsozialistischen
Schaumschlagern iiberlaBt man das Feld. Sie konnen beides,
sie schmeicheln der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wenn
auch nur mit den vagen Konstruktionen einer neuen „Planung'Y
und sie kommen gleichzeitig den im Volke versteckten Sehn-
siichten entgegen, die eine Riickkehr zur Rechtschaffenheit, zu
gerechtern und anstandigeren Formen der Wirtschaft wunschen*.
*
Es ist wirklich schwer verstandlich, warum die Arbeiten
des Beirats nur ein solch diirftiges Ergebnis gebracht haben.
Die Vertreter der Gewerkschaften waren zu wirklichen Opfern
bereit. Sie hatten einer Rekonstruktion des „freien" kapi-
talwirtschaftlichen Mechanismus zugestimmt, einer volligeri
Ausschaltung des staatlichen Eingreifens, selbst durch Verzicht
auf den „politischen Lohn", auf die staatliche Schlichtertatig-
82T
keit bei der Festsetzung des Arbeitsverdienstes, Unter einer
Voraussetzung freilich nur: daB dann auch die politischen.
Prcisc fallen miiBten, namlich der Rechtsschutz fiir die groBen
Kartelle und der Zollschutz fiir die kartellgebundenen Preise.
Aber hier widersprach die Schwerindustrie, das Monopol-
kapital. Speziell die Herren von Kohle und Eisen. Sie wollen
das System der politisch geschutzten Preise nicht aufgeben,
auch nicht urn den Preis der freien Lohngestaltung. (Vielleicftt
mit dem Hintergedanken, daB mit der geforderten und zuge-
standenen ,fgr6Bern Elastizitat in der Tariflohnpolitik" ein
Lohnabbau bis zur Grenze des politisch uberhaupt Moglichen
auch ohne Gegenleistung erreicht werden konne,) So wird der
einzig mo g lie he und sinnvolle Preisabbau auf industriellem Ge-
biet (von den Lebensmittelpreisen wird gleich noch zu reden
sein) ein halber Kram bleiben, namlich der Abbau der kar-
tellierten Eisen- und Kohlenpreise. Fiir die tibrigen Industrie-
waren — ein paar ausgenommen: Zement, Ziegel, Glas, Kali,
Stickstoif, Phosphorsaure, Benzol Papier — lohnt sich eine
Preisabbauaktion nicht, hochstens eine Zollsenkung ist notig,
denn dort herrscht mehr oder weniger doch der freie Markt,
und nicht der Kartellpreis,
Nun wird also der Druck der wirtschaftswidrig uberhohten
Kohlen- und Eisenpreise weiter lahmend auf der gesamten
Wirtschaft lasten. Warum eigentlich? Nicht, damit die Ge-
winne des Kapitals, die Dividenden, weiter HieBen — liber
diesen Zustand sind wir lange hinaus. Sondern nur deshalb,
damit ein paar Montankonzerne, die innerlich langst kaputt
sind, in ihrer Scheinexistenz weiter bestehen — damit die
GroBbanken nicht gezwungen sind, die aus der Oberschuldung
jener Konzerne resultierenden Verluste offenzulegen — damit
die Beherrscher jener Konzerne noch eine Weile geschont
werden konnen. Vielleichtt daB sie doch noch ein paar Mil-
lionen mehr ins Ausland verschieben konnen, ehe der Bankroit
offensichtlich wird. Vielleicht, daB neben dem bereits ge-
schaftlich interessierten amerikanischen nun doch nocht in
letzter Minute, auch das politisch interessierte franzosische
Kapital herangezo^en werden kann, damit sich so ein volliges
Debakel vermeiden laBt . , , Auch in den Burgen an der Ruhr
hofft man auf Wirtschaftswunder.
*
Weil es korrupte Elemente in der deutschen Handels-
journalistik gibt, die sich nicht — was allenfalls vertretbar ist
— damit begniigen, die schlimmsten Wahrheiten vorlaufig noch
vor der groBen Offentlichkeit zu verschweigen, um so eine
Panik zu vermeiden — weil es solche Elemente gibt, die wider
besseres Wissen Schonfarberei betreiben: deshalb ist es notig,
einmal Fraktur zu reden. Es muB gesagt werden, daB Fried-
rich Flick, der Beherrscher des Stahlvereins — trotz seinem
angeblich 1(krisenfesten" Besitz im Siegerland — in einer
vollig iiberschuldeten Position siizt (was Bernhard Citron neu-
Uch nier schon im Einzelnen ausgefiihrt hat) und daB die Angst
der Banker^ bei seinem Sturze zu viel zu verlieren, heute sein
wichtigstes Aktivum ist. Es muB weiter gesagt werden, daB
828
derselbe Friedrich Flick fiir die langfristigen Erzlieferungsver-
trage vcrantwortlich ist, die von den deutschen Eisenprodu-
zenten mit der schwedischen Grangesberj-Gesellschaft abge-
schlossen worden sind — und daB diese Vertrage es sind, die,
mehr als die stets beklagten ,,hohen Lohn- und Sozialkosten",
die Eisenerzeugung zur Unrentabilitat verdammen. Diese Ver-
trage, -die den Schweden fur die Mehrzahl der Lieferungen
einen vollig ungerechtfertigten Gewinn aus der Entwertung des
englischen Pfundes und der schwedischen Krone (oder, anders
ausgedriickt, aus der relativen Oberbewertung der hoch-
valutarisch und „goldwertig" gebliebenen Mark} in den SchoB
werfen, weil sie keine verniinftige Preissenkungs- oder Valuta-
klausel enthalten, verdammen uns zur Aufrechterhaltung der
uberhohten Eisenpreise.
Will man wirklich den Preisabbau — der notwendig ist,
im bittersten, wortlichen Sinne des Wortes — tind will man
ihn nicht iiber den Ausweg der Inflation, der praktisch nicht
gangbar ist, und auch nicht mit Hilfe des riskanten Kunstgriffs
der Devalvation, dann muB man sich dariiber klar sein, daB
es ohne eine radikale Abwertung der in der Schwerindustrie
investierten Kapitalien nicht abgeht. Dieser Kapitalschnitt
wird eine Operation auf Tod und Leben sein — ein Kaiser-
schnitt, urn neue, lebensfahige Wirtschaftsgebilde aus dem von
Krisenwehen geschiittelten Korpus der Montanindustrie zu
entbinden, Und urn so besser, wenn bei dieser Operation
gleichzeitig ein paar der recht bosartig gewordenen General-
direktoren-Tumore mit herausgeschnitten werd'en!
Wie man eine Kapitalabwertung in der Praxis durchfiihrt
— namlich durch Abschreibung ertragloser Kapitalien, durch
Beseitigung nicht mehr einzutreibender Schuldforderungen —
dafiir bietet die letzte Osthilfe-Notverordnung ein ganz hiib-
sches Beispiel. Ihr Vater, der letzternannte Reichsminister
und Ostkommissar Schlange-Schoningen, ist zwar, bei aller
Fixigkeit des Handelns, ein iiberlegsamer Mann, er wird sich
aber doch schwerlich im Moment seiner Aktion bereits klar
dariiber gewesen sein, was er nun eigentlich angerichtet hat.
Der ProzeB der Abwertung fiktiver Kapitalien, einmal be-
gonnen, laBt sich weder beim Gutsbesitzer noch an der Elb-
Linie abstoppen; er muB weiterlaufen, sein Beispiel muB, ganz
von selbst, anderswo nachgeahmt werden: beim Handel, bei
den Banken, den Genossenschaften und Sparkassen, schlieB-
lich bei der Industrie. Das wird ira Osten anfangen und an
der franzosischen Grenze aufhoren — vielleicht geht es auch
iiber die deutschen Grenzen hinaus; in dem Zwang, auch die
deutschen Auslandsverpflichtungen teilweise abzuwerten, Mit
neuen Schatzanweisungen des Reichs und mit Erleichterung
der Kreditfazilitaten durch die Reichsbank laBt sich, wenn es
jetzt mit der Offenlegung der Kapitalverluste Ernst wird, die
Geschichte diesmal nicht verkleistern, die Illiquiditat nicht be-
heben. Denn wenn man damit anfangen wollte, die Verpflich-
tungen bankrotter Schuldner auf die offentliche Hand und auf
829
die Reichsbank zu tibertragen, dann wiirde man bald sehen,
was das bedeutet. Inflation namlich.
Der HaushaltsausschuB des Reichstags, der die Osthilfe-
Verdrdnung durchberaten und ein wenig korrigiert hat, ist frei-
lick nicht soweit gekommen, von den Konsequenzen zu reden.
Es wurde da zumeist leeres Stroh gedroschen; der Reichs-
finanzminister a. D. Doktor Hilferding beispielsweise hielt
eine Rede, in der er, ungemein geistreich, die ,,entschadigungs-
lose Enteignung" der Glaubiger beklagte und die Osthilfe-Rege-
lung mit sowjetrussischen Methoden verglich. Wobei er nur
dem Hansabund-Fischer das Stichwort zu einem auf den
gleichen Ton gestimmten ^Protest" gegen Schlange-Sehonin-
. gens Werk gab. DaB das Osthilfeverfahren der kapitalisti-
schen Logik entspricht, auch grade darin, daB es die bloB noch
formalen Rechtsbindungen zwischen Glaubiger und Schuldner
als quantite negligeable beiseite schiebt („germanisches Rechts-
empfinden gegen starres romisches Schuldrecht" — wer sagte
doch das noch?). Davon wissen die Troubadoure des Ka-
pitalismus kein Lied zu singen. Und sie sehen gleichfalls nicht,
daB mit der Befreiung von den „iiberhangenden" und nicht
mehr von der ,,Substanz" und der Rente gedeckten Kapital-
und Schuldverpflichtungen der Weg zur Preissenkung auch in
der Landwirtsohaft frei wird. Die Oberkapitalisierung und
Oberschuldung war das Korrelat kiinstiicher, politisch iiber-
hohter Preise. Mit der Abwertung kommt die vernunftige
Preisentwicklung, und mit dem Preiszusammenbruch kommt
die Abwertung. Das sind nur zwei Seiten einer Sache.
Der SchmelzprozeB, dem die Preise in aller Welt unter-
worfen sind, hat ebenso die Rente und die Substanz, die In-
karnatioh der Rente, erfafit. Die auf feste Nominalbetrage
lautende kapitalmaBige Bewertung der Substanz wird in die-
sen ProzeB mit hineingezogen; auch das Kapital schmilzt zu-
sammen, gleichgiiltig, ob es als Fremdkapital oder als Eigen-
kapital in den Unternehmungen steckt. Dieser ProzeB tut
schrecklich weh, und besonders schmerzlich ist er fur die
Mittelsleute der Kapitalwirtschaft, die Banken aller Art. DaB
da guter Rat teuer ist, hat auch der Wirtschaftsbeirat der
Reichsregierung zu verspuren bekommen,
Aber schliefilicii hat der Kapitalismus schon mehr solcher
Tanze durchgemacht. Was ein rechter Kapitalist ist, der weiii
sich schon zu helfen; noch immer hat sich irgendeiner gefun-
den, der den Lowenanteil der Zeche fiir ihn bezahlte. Dies-
mal geht es hart auf hart; Einer muB geschlachtet werden!
Der Arbeiter? Der ist zu mager, und auBerdem ist das ange-
sichts der Macht der Massenparteien zu riskant; schlachten
kann man ihn nicht, wenn er auch Haare lassen muB. Der
Bankier, der Sparer, der Industrielle, der Landwirt — uberall
ist es die gleiche dumme Sache; fett ist keiner mehr von
ihnen, und der Erfolg bleibt immer unsicher. Ich bin dafiirr
diesmal den Schwerindustriellen zu schlachten, Der wirtschaft-
liche Luxus, in viberdimensionierten Anlagen viel zu viel und
viel zu teuer Eisen und Stahl zu produzieren, ist noch am
ehesten entbehrlich
830
Bemerknngen
Ein kleiner Volksschullehrer
TVTenn sich die Schwache auf
" die Starke sturzt, tun von
ihr zu profitieren, also auf
deutsch: wenn sie Biographien
schreiben, dann fangt die Lebens-
beschreibung oft so an: „X. war
damals ein kleiner Volksschul-
lehrer . , ," Halt.
Warum klein — ? 1st ein
Volksschullehrer allemal klein — ?
Es gibt doch unter diesen, wie
unter den Mkleinen Angestellten",
solche und solche; so wenig etwa
jeder Volksschullehrer ein grofter
Mann ist, was ja wohl auch dieun-
erbittlichste Interessenvertretung
dieser Manner nicht wird behaupten
wollen, so wenig schmeckt uns
das Attribut klein/ Ein kleiner
Angestellter . . .? Hat Gott den
Mann auf diesen Platz geweht?
Arbeitet sich vielleicht j eder
empor, der es verdiente, oben zu
sein? Davon ist doch bei der tie-
fen Illoyalitat dieses Lebens-
kampfes keine Rede. Polgar hat
einmal so formuliert: wenn schon
das Leben ein Rennen sein soil,
dann macht wenigstens den Start
fur alle gleich. Na, und ist er
das vielleicht — ?
Er ist so ungleich wie moglich.
Der eine hat eine kleine Rente
oder die Unterstiitzung seiner Fa-
milie, um uber die entscheidenden
Jahre jedes Menschenlebens glatt
hinwegzukommen: er kann also
in Ruhe etwas fur seine Ausbil-
dung tun, ohne sie durch eine
Nebenarbeit gefahrden zu mtissen.
Solche Nebenarbeit kann fordem,
sie kann aber, je nach dem Be-
ruf( erheblich ablenken. Nichts
ist manchmal so wichtig, wie in
Ruhe aufnehmen zu konnen, ohne
dabei geben zu mtissen. Hat
diese Ruhe jeder? Die hat nicht
jeder.
Und wenn der Volksschullehrer
klein ist: ist der Ministerialrat
grofi? Ich kenne der Ministerial-
rate manche, die dumm sind wie
das Monokel Fritz Langs, und
groB sind sie gar nicht. Sie sind
nur routiniert; reifit man sie aus
ihrer Routine, so versagen sie
klaglich. Zum Beispiel allemal im
Ausland, wo man ihren Titel
kaum aussprechen kann, und wo
sie nur das gelten, was sie wert
sind.
Und die Kapitane der Wirt-
schaft — ? Das ist doch wohl
nicht euer Ernst.
Es scheint mir nun aber aller-
hochste Zeit, eine Sache nicht mit
denen zu verwechseln, die von ihr
profitieren. Sehr viel dummer als
diese Wirtschaftskapitane kann
man sich nicht gut anstellen. Seit
1914 Niederlage auf Niederlage,
Blamage auf Blamage, falsche
Voraussage auf falsche Voraus-
sage — alles dummes Zeug. Und
die sollen uns etwa als grofi hin-
gestellt werden? Ausverkaufl
Ausverkauff
Nein, es ware hfibscher, wenn
sich die Biographiker und ahn-
liche Leute dieses Ausdrucks vom
kleinen Volksschullehrer enthal-
ten wollten — es ist ein schlech-
tes Klischeewort. Denn es gibt to-
richte und innerlich verwachsene
Volksschullehrer, und es gibt
Kaufe und verschenke zu Welhnachten nur Qua>it£ttsbUcher!
Verlag
DerBQcherkreis
Q.m.b.H., Berlin SW61.
(Komm.F.Volckmar, Leipzig.)
Unsere Neuerschelnunqen.
Vollstand. V^rlagslisto steht
gern lur VerfUgung. Jeder
Band In vorzUgllther Aus-
stattung u. In Ganzl. RM.4.80.
Paul Banks:
Das geduldige
Albion
Roman. Aus dem Engtischen,
244 Seiten.
Ein hochaktuelles Buch! Es
scnildert die unmtttelbare
G eg en wart der englischen
Arbeiterbewegung in der heu-
tigen Krise und ist ausdrUckl.
f.deutsoheLeaergeschrieben
Der
Oskar WOhrle:
Jan Mus •
letzte Tag
Geschlchtlicher Roman
271 Seiten.
Dieser Roman schlldert mlt
tiberwaltigender Eindring-
lichk-lt einen Tag Mittelalter.
Eine ganze Zaitepyche wird
in den 24 Stund. dies. „letzien
Tages" greifbare Wirklichkeit
831
grofie Padagogen; es gibt weit-
schauende Verwaltungsbeamte,
und es gibt hochbesoldete Esel.
Denn man kommt ja nicht immer
von unten her zu den groBen
Stellungen — man kann auch hin-
eingesetzt werden, man kann hin-
einheiraten, man kann erben. Und
diese guten Partien und diese Er-
ben wollen uns nachher erzahlen,
sie seien bedeutend, weil alles
vor ihnen, die Stellen zu verge-
ben haben, katzbuckelt?
Sagen wir nicht mehr: er war
zu Beginn seiner Laufbahn ein —
kleiner Volksschullehrer. Sagen
wir; Volksschullehrer.
Ignaz Wrobet
Imagtnare Schdnheitskonkunerz
T Tnlangst, bei leichter Grippe,
^ tat ich was folgt:
Ich nahm mir Kiirschners
Handbuchlein .Deutscher Reichs-
tag* vor und durchblatterte es
von Seite 26 bis Seite 636; das
sind die wesentlichen, die Photo-
Seiten. Jeden Abgeordnetenkopf
betrachtete ich ohne Ansehung
der Partei, im wahrsten Sinne
des Worts Hohne Ansehung";
ich vermied namlich geflissent-
lich und mit Erfolg, die unter
dem Bild befindlichen Angaben
zu lesen. Von verschwindenden
Ausnahmen abgesehen (beruhmt
sind untei den 577 Gesichtern
ja nur wenige), wufite ich also
im Blattern Seite ftir Seite zu-
nachst nicht, wen ich vor mir
hatte — mein Gefuhls-Urteil
iiber die Physiognomien, meine
charakterologische Diagnose blieb
unbefangen, von Voreingenommen-
heiten ungetriibt, denkbar sach-
lich, Ich priifte kuhl vor je-
dem Bilde, ob Ztige besondern
Seelen- und Geistesadels sichtbar
wurden oder Zuge besondrer
Roheit, Gemeinheit, Subalterni-
tatt Duramheit, Ein zu subjek-
tives Verfahren? Wir Skeptiker
wissen, was von den Mobjektiven"
Methoden zu halten ist; in wel-
chem Grade sie Umsetzung von
Sub j ektivitaten, von Irrationali-
taten sind, Und die Irrefuhrung
durch ein mifilungnes Konterfei,
durch tible Reproduktion? Eine
Fehlerquelle, gewiB; aber sie
flieBt schmal. Ich machte mir alle
diese Einwendungen, sie hinder-
ten mich nicht, das Experiment
durchzufuhren, Hatte ich von je-
dem Bilde mein Resultat, dann
erst ergriindete ich Namen und
Partei , . , und notierte. In drei
Kolonnen : Wert-Typen, Durch-
schnitts-Typen und Unwert-Ty-
pen. Zuletzt brachte ich die Zif-
fern, die sich ergaben, in emVer-
haltnis zur Mitgliederzahl der
Fraktionen: ich rechnete alles
in Prozent um, Das Ende dieser
Schonheitskonkurrenz war nicht
vollig ohne Staunen . , ,
Heraus stellte sich, daB mit
dem dicksten Prozentsatz an
Durchschnittsgesichtern die Frak-
tion der Wirtschaftspartei gesegnet
war: mit 70 Prozent ihrer Mit-
gliedschaft; der dunnste fand sich
bei der Staatspartei: 43 Prozent;
dazwischen lagen mit 57 bis
61 Prozent die andern Parteien.
Dierelativ grofite Anzahl „Un-
wert-Typen", also intellektuell-
charakterlich minderwertige Vi-
sagen, wies die Deutschnationale
Partei auf (41 Prozent), wahrend
die Bayerische Volkspartei (37
Pirozent) , die Sozialdemokraten
(32 Prozent), die Deutsche
Volkspartei (30 Prozent) , das
Zentrum (29 Prozent), die Wirt-
schaftspartei (26 Prozent) und
die gemaBigt-nationalen Gruppen
FRIEDEN UND FRIEDENSLEUTE
Genfereien v. Walther Rode. Schutzumschi. v. GULBRANSSON
Das Elend kommt von dertragischen Befllssenheit.den Bock derZettenzu melken, ob
er Milch geben kann Oder nlrht. Niemand wei6, wohin die Mensch-
heit steuert, ob sie teben oder sterben will; gewiB is* nur, daB sie
das nicht will, was Ihr die Oberlehrer der GlUckseltgkeitzudenken.
TRANSMARE VERLAQ A.-QM BERLIN W 10
832
Kartoniert
3 — rm
(21 Prozent) ein freundlicheres
Ergebnis erzielten, das freund-
lichste: National sozialist en,
Staatspartei tind Kommunisten
(je 19 Prozent). Ich stelle das
ohne Ironie und Hintergedanken
rein sachlich-experimenttreu fest.
Am verhaltnismafiig meisten
hochwertige Kopfe zeigte die
Staatspartei (38 Prozent), es
folgten die Kommunisten (22
Prozent) , die Nationalsozialisten
(21 Prozent), die gemaBigt-natio-
nalen Gruppen (18 Prozent) ,
Zentrum und Volkspartei (je 13
Prozent) , SPD (10 Prozent) ,
Bayerische Volkspartei (5 Pro-
zent), Wrrtschaftspartei (4 Pro-
zent), zuletzt die Deutschnatio-
nalen (2 Prozent).
Am besten schnitten im Gan-
zen mithin Staatspartei, Kommu-
nisten, Nationalsozialisten ab ;
am schlechtesten: Deutschnatio-
nale, Wirtschaftspartei, Bayern
und SPD. Die Minus-Resultate
leuchten sofort ein; die Plus-
Resultate erzeugen Nachdenklich-
keit. Kommunisten und Natio-
nalsozialisten: Parteien der Un-
bedingtheit, der Jugend, des ex-
tremistiscben Pathos, des Opfer-
muts (Charakteristika, die zumin-
dest auf Einen Typ zutreffen, auf
einen in beiden Lagern stark ver-
tretenen, einen urgesunden, kern-
haften) — dafi hier die Philistro-
sitatsquote am niedrigsten, die
Qualitatsquote am hocbsten sei:
dieser Meinung, unbeschadet al*
ler programmatischen undDenk-
stildifferenzen, war ich Iangst.
Jener Scharfmacher-Stumpfsinn,
der in den Kommunisten den
,fP6berf jener ,Dialektiker4-Kre-
tinismus, der in den Hakenkreuz-
lern nicbts als „Lumpenproleta-
riat" vermutet, bat ja wohl kaum
noch Horer.
Aber die Staatspartei, die
Staatspartei! Eine Partei, die
unsereiner doch nur von der
Witzseite zu nehmen gewohnt
war — wie kommt sie zu diesem
ehrlichen Punktsieg? Seinetwe-
gen schamt man sich fast, fiber
das Experiment zu bericbten.
Docb grade! Keinem Vorurteil,
keinem publizistischen Komment
zuliebe soil hier das Walten des
Irrationalen verfalscht werden.
Schon aus Mitleid gonne ich der
Staatspartei diesen Triumph, und
ich erklare ihn mir sor Immerhin
bleibt sie, objektiv, die Vertre-
tung der verhaltnismafiig human-
sten, verhaltnismafiig freibeitlich-
sten, verhaltnismafiig intellek-
tuellsten Teile des Btirgertums,
das Asyl seiner verhaltnismafiig
kultiviertesten Kopfe; nein wirk-
lich, so ists doch; und je scharfer
die Substanz dieser Partei
schmolz, desto strenger ward na-
tiirlich in ihr die Auslese. Unser
Hohn . . . grade hier wird er sich
zwanglos als enttauschte Liebe
deuten lassen : zu einer Partei,
deren Mission war und der en
Funktion hatte sein konnen, das
heilige Feuer des Personalismus,
des ewigen revolutionaren Indi-
vidualismus, den rebellischen
Freisinn des Zeitalters zwischen
Voltaire, Borne und Ibsen hin-
iiberzuretten in eine Aera, die
Zwei Deutsche Ein Faschist
Ein Franzose Ein Bolschewist
Ein Englander Ein Katholik
schildern VorzUge und
Nachteile von
Dem<*
"**^ nantcnhlanrt — i
Soeben erschlenen:
>^^ in (TrtnlanH
in England
S. A. — Frankreich
Oeutschland — im Bolschewismus
Faschismus - Katholizismus
und ihre Wirkung auf Weltpolitik und Weltwirtschaft.
Einfach gebunden RM. 9.60, in Lefnen gebunden RM. 11.40.
Auch In Einzelheften & RM. 1.80.
VERLAG LW.SEIDEL&SOHN, WIEN I
833
nur noch sauerlichen Kollekti-
vismus kennt: den sauerlich-vol-
kischen, den sauerlich-kirchlichen
und den als Organisationsprin-
zip heilsamen, ndtigen, durchzu-
setzenden, dennoch (und wenn
ihr mich steinigt!) gleichfalls
nicht unsauerlichen proletari-
schen Kollektivismus, welcher,
zum Beispiel, aus dcm Kultus-
minister Grimme sprach, als er
unlangst den Geist als „Privat-
intellekt" verachtlich machte
und ihm jene Wirklichkeit gegen-
uberstellte, die nach Hegel ver-
niinftig ist.
Mein Experiment: ein halb-
fiebriger Grippe-Einfall; ihn aus-
zufuhren, gewifi palmstromhaft;
sein Effekt gleichwohl mir lehr-
reich — gewohnte Meinungen
teils bestatigend, teils zurecht-
riickend; deutlich weisend auf
das Morsche, deutlich auch auf
das Lebenstrachtige.
Kurt Hiller
Eloessers zweiter Band
Je bewegter eine Zeit istt um so
gewalttatiger pflegt sie mit der
Geschichte umzugehen. Der Wis-
senstrieb verkiimmert, wo der
Selbsterhaltungstrieb herrscht.
Und so benutzt man die Vergan-
genheit als Beweismaterial; sucht
sie ab nach Beispiel und Gegen-
beispiel, nach Vorbild und War-
ming,
Diese tendenziose Methode
laBt dite historischen Gestalten
sehr schnell zu Plakatfiguren ge-
rinnen. Die Jugend, stets eine
gelehrige Schulerin ihrer Zeit, be-
wertet und klassifiziert die Men-
schen und die Geschehnisse der
Vergangenheit, noch ehe sie sie
kennenlernt. Dies ist in der Li-
teraturgeschichte ebenso arg wie
in der Weltgeschichte. Und des-
halb ist es gut, dafi Arthur Eloes-
ser in seinem Werk TIDie deut-
sche Literatur vom B a rock bis
zur Gegenwart", dessen zweiter,
letzter Band soeben bei Bruno
Cassirer, Berlin, erschienen ist,
uns einmal wieder ganz unbefan-
gen vor die Originate ftihrt.
Es ist wie bei den Rontgen-
durchleuchtungen, die man neuer-
dings an klassischen Genial den
vornimmt, Alle tauschenden Ober-
malungen fallen weg. Wo jahr-
zehntelang vor aller Augen eine
malerische Figur gestanden hat,
ist plotzlich keine mehr zu se-
henf Und dafiir taucht irgendwo
im Hintergrund, von Meisterhand
gezeichnet, eine ganz neue auf.
Dabei spielt Eloesser weder den
Richter noch den Konstrukteur.
Sein Buch ist zu gut, als daB
man daraus entnehmen konnte,
ob ein beruhmter Schriftsteller
„gut" oder „schlecht" sei. Was
in . diesen sechshundert Seiten
schwarz auf weiB steht, das ent-
halt in Wirklichkeit alle Nuancen
zwischen schwarz und weiB; so-
wohl der Beschreibung wie der
Bewertung, Dies beweist sich be-
sonders an schwankenden Gestal-
ten wie Heine, Hebbel, Freytag,
Eloesser halt sich ganz an die
Erscheinung, und ohne viel Sor-
ge um den Hauptnenner zeich-
net er Charakterbilder von er-
staunlicherf manchmal verwirren-
der Lebendigkeit,
Nach Eloessers Buch kann man
also nicht pauken. Es eignet sich
nicht fur Leute, die aus gesell-
schaftlichen Grtinden im Schnell -
kurs nachholen wollen, was sie
in der Deutschstunde verschlafen
haben. Eloesser gibt keine For-
meln. Aber er gibt Formulierun-
BdYinRa
hat Tausende durch seine Bticher zu glttcklichen Menschen gemacht.
Wir halten es darum fur Pflicbt, auf diese Biicber hinzuweisen. Naheres
fiber ihn und sein Werk sagt die Einftihrungsschrift von Dr. Alfred Kober-
Staehelin, kostenfrei von jeder Buchhandlung zu beziehen sowie vom
Verlag: Kober'sche Verlagsbachbandlung, Basel und Leipzig.
834
gen. Vierzig Jahre Tagesschrift-
stellerei haben seine Hand so
leicht geraacht, dafi er einen
Walzer von Lexikonformat bis an
den Rand anfullen kann mit
zierlichen, kraftigen, weltklugen,
ironischen Satzen und mit einem
Humor, der nur ein andres Wort
ist fur Weisheit, Von Fontane
sagt er einmal: „Er machte mit
auBerordentlichem Assoziations-
vermogen von dem schonen Recht
des Theaterkritikers Gebrauch,
vom Hundertsten auf das Tau-
sendste kommend Salzkorner der
Erfahrung auszustreuen," Diese
Salzkorner der Erfahrung sind
es, diese erstaunlichen Kennt-
nisse uber die Menschenseele, die
Eloesser befahigen, auch den
seltsamsten Gesellen gerecht zu
werden, und seine schriftstelle-
rischen Fahigkeiten erlauben ihm,
das — wenn notig — in ein paar
Zeilen zu tun, Statt vollstandig
zu sein, erpickt er im Fluge das
charakteristische Kornchen, be-
leuchtet durch eine knappe Brief-
stelle, eine Aufierung von Zeit-
genossen, eine biographische Epi-
sode die ganze Figur,
" Dem Fachgelehrten vom Ham-
stertyp ist das Historische Selbst-
zweck. Bei Eloesser steckt in je-
dem , , So war dieser Mensch f "
das „So sind die Menschen!" —
„Sein Vater war der Kaufmann
Samson Heine, dem es wie vielen
Juden an der kaufmannischen
Veranlagung mangelte." Oder:
„Wedekinds Glaubige schauder-
ten, wenn er die schwarze Messe
aller Perversitaten zelebrierte,
aber Teufelsdienst ist nicht in-
teressanter als Gottesdienst, und
er war Gott gewifi naher, als sie
ihm zutrauten." Wenn unter
Weisheit zu verstehen ist, dafi
jemand die ungeschriebenen Na-
turgesetze des Lebens kennt, so
hat Eloesser ein weises Buch ge-
schrieben, Er kennt die Zusam-
menhange, er weiB, was Arzte,
Schlesier, Trilogien generaliter
fiir Eigensohaften zu haben pfle-
gen.
Eloessers Sprache ist trotz
ihres schonen Bilderreichtums
schlicht und ganz sachdienlich.
Niemals prunkt er als Stilist, Die
groBen Schriftsteller, von denen
er berichtet, sind seine Lehrer,
seine Genossen. Er spricht, in
i edem Sinne, ihre Sprache. Er
lebt mit ihnen. Er tut ihnen die
Ehre, sie fiir lebendig zu nehmen;
sie sind ihm zu gut fiir einen
Kult, bei dem der Opferrauch
das Altarbild vernebelt, Er
nennt das Kind der Muse beim
Namen. Es ist jene anschauliche,
handwerkliche, manchmal burschi-
kose Art, liber Kunst zu reden,
wie man sie in den Briefen und
Unterhaltungen von Kunstlern
findet. Oft schwer verstandlich,
denn auch ohne Fachjargon wird
hier ein ziinftiger Schatz von
Erfahrungen vorausgesetzt, iiber
den der primitive Leser nicht ver-
fiigt. Man erwarte von Eloesser,
trotz Plauderkunst und Humor,
kein leichtes Buch. Er ist nicht
aus Wien, wo dieBehendigkeit der
Hand das Hirn anzustecken
pflegt. Er hat genug Respekt und
Verstandnis, urn dem Schweren
seine Schwere zu lassen. Und
die Kunst ist ihm keine Hetz.
Eloesser wird sich die j uhgen
Menschen, die er sich vor alien
zu Lesern wunscht, durch seine
sachliche Niichternheit erobern,
Er, der Berliner, hat eine sehr
feine Nase fur falsche Pracht,
Er hebt nicht die Faust, aber er
lachelt und gibt in einem Neben-
satz zu verstehen, dafi es alles
nicht so doll sei. Weil er alles
unwahre Pathos wegiatet, bleibt
REISEM MIT DR. UBEDALL
Der durch den Run^funk wsltbekannte
Dr. O be rail erzShlt hler spannend klar
und leicht faSlich von Technik, fremden
Landern und peisen zum Mond. Mit vielen
FotosundZeichnungen UIRI A Qf\ h/\
in bester Ausstattung nDL. *f,OU I VI -
S & CO. VERL4G. BEQCIN-ORUNEWAlD
835
das wahre urn so eindringlicher
stehen. Das Urgestein. Da klopft
er an; das bringt er zum Tonen.
Zumal den jungen Schriftstel-
lern sei dies Buch empfohlen.
Nicht nur weil sie darin — als
ein Gegengewicht gegen das im-
mer gefahrlicher werdende Ge-
schwatz der Bucbkritiker — Mafi-
stabe und saubere Begriffe finden
sondern auch weil es, wie ein le-
bendiges Fachgesprach, zum
Schreiben anregt. Und das muB
nicht immer ein Scbaden sein,
Rudolf Arnheim
Das Wort der Stunde
f^ieser Sabel ist der schonste
W*--' Tag meines Lebens. Ich
nehme ihn an — und wenn ich
j emals an der Spitze eurer
Schlachtreihen stehe, so werde
ich mich desselben bedienen, um
unste Errungenschaften zu ver-
teidigen und -»- wenn notig —
sie abzuschaffen."
Henry Monnier
f Joseph Prudhomme"
Justiz
Bei den Verhandlungen gegen
Leute, die «ines Verbrechens
wider den Staat angeklagt sind,
ist das Verfahren viel kurzer und
ldblicher; der Richter schickt erst
zu denen, die im Besitz der Macht
sind, urn sie zu sondieren, und
dann kann er den Verbrecher
leicht unter strenger Beobachtung
aller gehdrigen Rechtsformen han-
gen oder retten.
Jonathan Swift
t,Gullivers Reisen"
Prima Zeugnisse
Inmitten dieses Getriebes bemer-
ken wir eine derbe, einfache Ge-
stalt, ein sozialistischer Arbeiter
und Gewerkschafter — Noske,
Von der sozialistischen Regierung
zum Landesverteidigungsminister
ernannt und von ihr mit diktatori-
scher Gewalt ausgeriistet, ent-
tauschte er das deutsche Volk
keineswegs. Eine auslandische
Ansicht tiber deutsches Helden-
tum muB notwendigerweise sehr
abstrakt bleiben und kann nur
* schuchtern vorgebracht werden:
aber in der langen Reihe von K5-
nigen, Staatsmannern und Kriegs-
helden, die sich vott Friedrich dem
GroGen bis Hindenburg erstreckt,
mag auch Noske seinen Platz fin-
den — ein Sohn des Volkes, der
inmitten allgemeiner Wirrnis
furchtlos fur die Sache seines Vol-
kes eintrat,
„Nach dem Kriege"
Churchill
Lfebe Weltbuhne!
T*\er Herrscher eines exotischen
*^ Landes weilte zur Kolonial-
ausstellung in Paris. Von den
europaischen Gepflogenheiten in-
teressierten ihn vor allem die
Methoden der Rechtspflege, be-
sonders der Strafvollzug. Da die
franzosische Regierung auf gute
Beziehungen mit ihm Wert legte,
wurden ihm die verschiedenen In-
stitutionen gezeigt, und als ein
Todesurteil vollstreckt werden
sollte, wurde Seine Maiestat ein-
geladen, der Hinrichtung beizu-
wohnen. Der Herrscheru der alle
Vorbereitungen genau beobachten
wollte, stellte sich in der N&he
des Fallbeils auf.
Als der Verurteilte erschien
und die Gehilfen des Henkers
ihn ergriffen, um seine Hande
auf den Rucken zu binden und
ihn unter das Fallbeil zu legen,
rief plotzlich der Herrscher aus:
„Nein, nein, nicht diesen. Ich
mochte den andern hingerichtet
sehen."
Der andre war Deibler, der
Hetiker von Paris.
H AUS GODAL, LUBOCHN A, TATRA
Zum Wintersport Pauschalfahrt in die Tatra Incl. Reise,
hln und zuruck, voile Pension Cerstklass, KOche, alle
Zlmmer fileSend kaltes und warmes Wasser}, Bedle-
nung, Sporttaxe, Vs taglge SchMttenausflQge, unentgelt-
llche Sklkurse.
Ab Berlin 14Tage 165.— 20 Tage 200.— .
Ab Breslau 14 Tage 132.—, 20 Tage 165,—.
Auskunft fur Berlin Pfalzburg 7657, sonst dlrekt.
836
Der Arbeitsmann Adaptierung fflr heute
VW^ir haben ein Bctt, wir habeo ein Kind, \Y/'r haben kein Geld, wir haben ein Kind,
mein Weib ! " mein Weib.
Wir haben audi Arbeit und gar zu zweit, Wir mussen feiern und gar zu zweit,
und haben die Sonne und Regen und Wind und mufiig sehn, wie der Tag verrinnt
und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, und haben nur eine Kteinigkeit,
urn so frei zu sein, wie die Vogel sind: um ao frei zu sein, wie die Vogel sind:
Nur Zeit. nur Zeit.
Wenn wir Sonntags durch die Felder gehn, Wenn wirSonn-oderWerktagsapazierengehn,
mein Kind mein Kind.
und fiber die Aehren weit und breit * (denn Arbeit gibt's keine weit und breit),
das blaue Schwalbenvolk blitzen sehn: dann wollen wir nicht nadi den Schwalben sehn:
oh, dann fehlt uns nicht das bifichen Kleid, Oh, wir haben ja nicht mal das bifichen Kleid,
um so sch5n zu sein, wie- die Vogel sind: um so schon zu sein wie die Vogel sind:
Nur Zeit. nur Zeit.
Nur Zeit I wir wittern Gewitterwind, Nur Zeit I Die haben wir ubergenug,
wir Volk. wir Volk.
Nur eine kleine Ewigkeit; Schon eine kleine Ewigkeit;
uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind, Sonst haben wir merits, mein Weib. mein Kind
ais all das, was durch uns gedeiht, und nichts, das uns vom Nichts befreit
um so kuhn zu sein, wie die Vogel sind, und uns trostet, dafi wir am Leben sind:
nur Zeit! nur Zeitl
Richard Dehmel
Hinweise der Redaktion
Berlin
Gruppe Revolutionarer Pazifisten und Gruppe Sozialrevolutionarer Nationaliiten.
Freitag 20.00. Cafe Adler am Donhof fplatz : Oeffentliche Diskussion; Friede und
Nation. Eg sprechen: Eugen Brehm und Karl O. Paetel. Vorsitz: Kurt Hiller.
Bacher
Rudolf Arnheimt Film ais Kunst. Ernst Rowohlt, Berlin.
Ernst Fischer: Krise der Jugend. HeB & Co., Wien.
Marieluise Fleisser; Mehlreisende Frieda Geier. Gustav Kiepenheuer, Berlin.
Leonhard Frank: Von drei Milliohen drei. S.Fischer, Berlin.
Andre Gide: Europ&ische Betrachtungen. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
Ernst Glaeser und F. C. Weiskopf : Der Staat ohne Arbeitslose. Gustay Kiepenheuer,
Berlin.
Walt her von Hollander: Komodie der Liebe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
Oedon Horvath: Geschichten aus dem Wiener Wald. Propyl Sen- Verlag, Berlin.
Ludwig Marcuse; Heinrich Heine. Ernst Rowoblt, Berlin.
Axel Munthe: Das Buch von San Michele. Paul List, Leipzig.
Einst Ottwalt: Deutachland erwachel HeB & Co., Wien.
Wolfgang Petzet: Verbotene Filme. Societats-Verlag, Frankfurt- Main.
Carlo Sforza: Europaische Diktaturen. S.Fischer, Berlin.
Adam Scharrer: Der groBe Betrug. Agis-Verlag, Berlin.
Lytton Strachey: Geist und Abenteuer. S.Fischer, Berlin.
Kurt Tucholsky: Rheiosberg. (Mit einem neuen Vorwort zum 100. Tausend.) Josef
Singer, Berlin.
Rundfunk
Dienstag. - Langenberg 18.20 : Gegenwartsfragen der Kunst, Paul Westheim. — Berlin
18.30. Karl Jakob Hirsch spricht fiber seinen Roman nKaiserwetteru. — MQhl-
acker 20 45: Frankreich in seiner Kunst, Querschnitt. — Berlin 21.10: Ein Mensch
mit Buchern und Schallplatten, Armin T. Wegner. — Mittwocb. Langenberg
18.20: s. Dienstag. — 20.00: Kleists Fried rich von Homburg. — Donnerstag.
Langenberg 18.20: s. Dienstag. — Freitag. Berlin 21.10: Anabasis von Ernst Glaeser
und Wolfgang Weyrauch.
837
Antworten
Das leipziger Urteil gegen Walter Kreiser und mich hat uns bei-
den und dcr (Weltbuhne* nicht weniger eine Fiillc von Sympathie und
Bercitschaft zu tatiger Hilfe gebracht, Wenn ich an dieser Stelle
Allen, die sich mit uns, solidarisch erklart haben, den Kampf fiir die
Meinungsfreiheit weiterzukampfen, unsern herzlichsten Dank ausspreche,
so bin ich mir bewufit, daB darin ein Versprechen an die Zukunft
liegt, das gehalten werden muB, Wir werden unsre Tribune, das von
Siegfried Jacobsohn ubernommene Erbe, nicht zerschlagen und noch
weniger durch Konzessionen entwerten lassen. In dieser Woche vor
funf Jahren, am 3. Dezember 1926, starb S. J, Die heutigen Heraus-
geber der ,Weltbuhne' haben die schwere Erbschaft unter Gefiihlen
des Schwankens und des Zweifels in die eigne Berufung iibernommen.
Seitdem sind fiinf Jahre dahingegangen, von denen mindestens die
letzten beiden Kriegsjahre gewesen sind. Wir haben eine Idee und
eine Linie iibernommen, und da die ,Weltbuhne' heute wieder gehaBt
und verfolgt wird, so wissen wir, daB wir ihrem Geist nicht untreu
geworden sind. Die ,Weltbuhne* steht wieder im Kampfe wie einst.
Sie lebt also.
Nationaler Mann. Sie haben in der ,Deutschen Corpszeitung' die
folgende Geburtsanzeige veroffentlicht: „Zwanzig Millionen Deutsche
zuviel" (Clemenceau). Die gliickliche Geburt ihres achten Kindes und
vierten Knaben Horst Richard zeigen stolz und bocherf reut an Dr.
phil. Richard Grun, Saxoniae Jena, und Frau Atti, geb Pasow,
Dtisseldorf. „Siegreich wolln wir Frankreich schlagen!" — Wahr-
scheinlich haben Sie gedacht, die franzosische Presse wird zerplatzen
ob Ihrer heldenhaften Ankiindigung. Sie irren. Obergeschnappte Na-
tionalisten von der Gegenseite behandelt man dort anders als man
es bei uns tut, Der ,Matin* vom 20. November bemerkt zu Ihrer
„reizenden und kriegerischen Geburtsanzeige": „Der Vorname des
Neugeborenen ist besonders anmutig und bestechend, denn Horst heiBt
,Nest der Raubvogel', Atti hinwiederum ist wohl die Abkurzung
von Attila." Da konnen unsre Nationalisten noch was lernen, Wie
wiirden die in einem solchen Fall das Maul aufreiBen und prompt
sich lacherlich machen statt dent der es verdient.
Neugieriger. Die in dieser Nummer abgedruckte Szene von Her-
mann Kesser stammt aus dem Drama ,, Rotation", Sie ist in die bei
Zsolnay in Wien erschiene Buchausgabe nicht aufgenommen.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt bei, der tiher die Neuerschei-
nungen des S. Fischer-Verlages Auskunft gibt, Wir empfehlen die
Beilage der besonderen Aufmerksamkeit unsrer Leser.
r^ieser Nummer liegt eine Zahlkarte fur die Abonnenten bei, auf der
*S wir bitten,
den Abonnementsbetrag fiir das L Viertelfahr 1932
einzuzahlen, da am 10, Januar 1932 die Einziehung durch Nachnahme
beginnt und unnotige Kosten verursacht,
Manuskripte sind nut an die Kedalrtion dec Weltbubne, Cbarlottenburg. Kantstr. 15% xu
ricfaten •* wird g-ebeten. ihoeo Rflckporto betzule^en. da 9onst Iceioc Ruckgendun; erfol?eo kann-
Das AaffUhrungirecht, die Verwertung von Titeln u. Text im Rahmen des Films, die musik-
mechanlsche wiedervabe alter Art und die Verwertung im Rahmen von Radio vortT&gen
faleiben fOr alle in der WelrbOHne erscheinenden Beitrdjje ausdrQcklich rorbehalten.
Die Weltbuhne wurde be;rundei vod Sieg-tried Jacob sobo and wird «>n Carl v. Ossietxky
unlet Mttwirkung voo Kurt luchoisley sjeieitet. — Verantwortlich Carl v. Ossietzky, Berlin;
Ven.ae dei Weltbuhnel Siegtned jacobsoho & Co.. Chariot* en bur jf.
Teiephon C I Steinplatz 77 57 - Postsche^kooto Berlin 119 58*.
Bankkonto; Darmstadt or u. Nationatbank, Dapositeokasse Charlotlenbufff, Kantstr.' 112
XXVII. Jahrgang 8. Dezember 1931 Nummer 49
Off ener Brief an ReichswehrministerGroener
von Carl v. Ossietzky
LJochverehrter Herr Minister! Sie ha'ben am 29. Novem-
* * ber unter dem Titel „Staatsverleumdung" in der ,D.A.Z/
eincn Artikcl veroffentlicht, in dem Sie Ihre alte Forderung
nach einem Sondergesetz gegen Pazifisten neu entwickeln. In
diesem Artikel erwahnen Sie* auch den Weltbuhnen-ProzeB,
und da Sie Ihr Verlangen nach einem Antipazifisten-Gesetz
vornehmlich auf unsern ProzeB stutzen, so muB ich Ihre miB-
launige und gereizte und aus diesem Qrunde nicht sehr iiber-
zeugende Publikation gradezu als Antwort auf die Proteste
empfinden, die unsre Verurteilung hervorgerufen, hat, Sie
werden es daher verstehen, wenn ich Ihnen an dieser Stelle
und im Rahmen meiner zurzeit gesetzlich beengten Moglich-
keiten entgegne.
Erlauben Sie zunachst, Herr Minister, Ihnen mein Er-
slaunen auszudriicken, daB Sie als Tribune ein Blatt gewahlt
haben, dessen vollfascistischer Charakter auch durch einige
Tupfen wirtschaftlichen Liberalismus nicht geschwacht wird,.
Kurz vorher hatte dies Ihr Publikationsorgan noch versucht,
die hessischen Terroristen weiBzuwaschen und unter der hei-
tern Oberschrift ,,t)er Oberreichsanwalt und Hitler gegea Se-
vering" gegen diejenigen scharf zu mac hen, die gegen das
Arrangement einer deutschen Bartholomausnacht einige amt-
liche Einwendungen erhoben haben. In der gleichen Num-
mer, in der Sie die Staatsverleumder infamieren, macht sich
der Hausdichter der Zeitung in Versen, deren Niedertracht
nicht durch eine scheme Form artistisch geadelt wird, iiber
die Erregung lustig, die durch die Blutphantasien der politischen
Freunde seines Chefredakteurs hervorgerufen wurde.
Wer insgchcim durch faule Zicken
versucht die Menschheit zu begliicken,
der seh' sich seinen Nachbar an,
ob er den Schnabel halten kann.
In der ,D.A.Z/ ist man nur unangenehm beruhrt, daB einer
gepetzt hat. Alles andre ist Bagatelle:
DaB sich zwei Jungens anvertrauten,
daB sie den Dritten gern verhauten,
und einer dann die Lust verlor,
das kam schon in der Sexta vor.
Ich fiirchte, Herr Reichswehrminister, Ihr Kollege, der Herr
Reichsinnenminister, der Hiiter der Verfassung und des repu-
blikanischen Zeremoniells, wird iiber Ihre falsch ausgesuchte
Plattform recht ungehalten gewesen sein.
Ich weiB nicht, ob Ihr Wunsch, eine „Lex Groener" zu
erreichen, inzwischen in Erfiillung gegangen ist, Wahrend
diese Zeilen geschrieben werden, sind im Reichsjustizmini-
sterium noch einige Widerstande vorhanden, die gesamte Mei-
nungsfreiheit in Deutschland dem diskretionaren Ermessen der
Militars zu unterstellen. Diese Widerstande haben Sie sehr
verargert, und nicht zum mindesten daraus erklart sich der
839
gereizte Ton Ihres Artikcls. Sie redenj von ^sagenannten
Pazifisten', Sic setzen ohne Versuch eincr Graduierung „Pa-
zifist" glcich nDenunziant". Sic nehmen sogar Stresemanns un-
gluckliches Wort von den ^Lumpen" wieder auf und gebrauchen
cs so, daB sich jcdcr Friedensfreund davon betroffen fuhlen
kann, Es ist, nach Ihrer Meinung, bisher noch lange nicht
oft genug, nicht hart genug bestraft worden. ,,Undwenn heute
einmal cine solche Verleumdungstat ihre Siihne gefunden hat,
so zeigt schon die Tatsachc, daB es 2% Jahre gedauert hat,
bis sie endlich zur Verhandlung kam, daB die alten Bestim-
mungen der heutigen Lage nicht mehr entsprechen." Wenn
unser ProzeB beinahe drei Jahre gedauert hat, so lag das
nicht an den Angeklagten, die Herren Ihres Ressorts konnen
Ihnen iiber die Griinde der Verzogerung biindige Auskunft
geben. Aber auch sonst scheint mir hier ein ernstes deut-
sches Manneswort am Platze zu sein, Herr Minister.
Zu meinem Bedauern kann ich nicht verhehlen, daB Ihre
Bezugnahme aul unsern ProzeB von herzlich wenig Noblesse
zeugt. Ein kampfender Skribent meiner Sorte hat ein sehr
ausgepragtes Ehrgetiihl, das dem eines alten Soldaten nicht
nachsteht. Der leipziger ProzeB hat im Dunkeln stattgefun-
den. Deshalb nicht zum geringsten die Sensation, die er uber-
all erregt hat. Die Offentlichkeit weiB nur das Faktum der
Verurteilung, die Begriindung bleibt ihr vorenthalten, von dem
Gegcnstand des Vertahrens kennt sie kaum verschwontmene
Umrisse. Und diesen in der Dunkelkammer exekutierten Pro-
zeB nehmen Sie zum besondern AnlaB, nicht nur um ein Ge-
setz zu.fordern, das die gesamte Presse unter Kuratel bringt,
sondernJauch aim die Verurteilten, die schweigen miissent die
kaum mit der linken Hand techten konnen, als hochst dubiose
Figuren hinzustellen. Sehen Sie, Herr Minister, ich bin im
Laule dieser Woche auf verschiedene Ihnen gesinnungsmaBig
Nahcstehende gestoBen, die sich beim Lesen Ihres Artikels
aufrichtig fur Sie geschamt haben. Ist schon dieser hochnot-
peinliche GeheimprozeB kein politisch wichtiges Argument,
sondern ein MiBtrauen erregendes Kunstgebilde aus Juristerei
und Politik, so wird vollends in einem unpolitischen Bezirk
kein gerecht Denkender Ihren offentlichen Fingerzeig auf die
Verurteilten, denen selbst der IV. Strafsenat nicht die Ehre
der Oberzeugungstaterschaft abzusprechen gewagt hat, als
gentlemanlike empfinden. Ich beklage es, Herr Minister, mich
hier bei solchen Selbstverstandlichkeiten aufhalten zu mus-
sen. Ich beklage es, daB man grade einen alten Offizier, also
einen traditionellen Spezialisten des point d'honneur, erst am
Portepce fassen muB, um ihn auf ein so naturliches Gebot
mcnschlichen Zusammenlebens aufmerksam zu machen.
Ihre Art der Polemik ist iiberhaupt etwas zu primitiv.
Um Ihre pazifistischen Gegner zu kennzeichnen, zitieren Sie
selbst Ihre Reichstagsrede vom 19. Marz, worin Sie behaup-
ten, daB das Ausland sein Material zum groBten Teil yon
Deutschen bezieht, „deren Triebfeder entweder fanatischcr
HaB gegen alles Militarische oder Gewinnsucht ist". Was
mich angeht, so bin ich weder fanatisch noch gewinnsxichtig
und nenne den einen schlechten Friedensfreund, der einem
840
iremden Militarismus einen Gcfallen tut. Aber, generell ge-
sprochen, ich habe noch keinen Antimilitaristen gesehn, der
dabci fet.t geworden ware. Der Krieg ist ein besseres Ge-
schaft als der Friede. Ich, habe noch niemanden gekannt, der
sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung tind Forderung
des Friedens geworfen hatte. Die beutegierige Canaille hat
von eh und je auf Krieg spekuliert.
Sie haben es sich zu einfach gemacht, Herr Minister, sie
setzen Pazifismus gleich Vaterlandsverrat. Aber etwas andres
als der Pazifismus steht hier zur Debatte, namlich die Frage,
ob die Deutsche Republik burgerlich oder militarisch regiert
werden soil. In den engen Kreis seiner beschworenen Pflich-
ten gebannt zu sein, das ist das besondere- berufliche Schick-
sal des Soldaten, der Verzicht auf bestimmte biirgerliche Be-
tatigung seine besondere Ehre. Bricht er dagegen aus diesem
Kreise, dringt er selbst Subordination heischend in das zivile
Regiment ein, erklart er seine Kasteninteressen fur die vor-
nehmsten der ganzen Nation, so sieht es allemal um einen Staat
ubel aus. Es gibt kein grofieres Ungliick fiir die Allgemein-
heit als den politisierenden Militar.
Brauche ich Sie an den Dreyfus-Prozefl zu erinnern? Oder
an Zabern? Oder an die Tragikomodie des Generals Luden-
dorff? Oder an Primo de Rivera, den Totengraber der spani-
schen Monarchic? Ich wahle ein Beispiel, das naher liegt.
Ich verweise Sie nur auf den murrisch und neidisch hinter
den Ereignissen herjagenden Greis, der noch gestern der iiber-
legene, der sphinxhaft lachelnde General von Seeckt gewesen
ist, um Ihnen nahezuriicken, wieweit Politik einen begabten
Soldaten demolieren kann. In all den Jahren, wo ich mich
mit der Reichswehr kritisch befassen muBte, hat mich nicht
nur ein pazifistisches Motiv geleitet; sondern mehr noch die
staatsbiirgerliche Eipsicht, dafi nichts verheerender fiir unser
Land ist als ein dilettantisches Militarregiment, als die Omni-
potenz der Generalitat. Sehr gemaBigte Politiker haben nicht
anders gedacht und gehandelt. Graf Bernstorff, zum Beispiel,
hat einmal im Reichstag eine bittere Rede gehalten gegen die
„unselige Soldatenspielerei,^ die den deutschen Diplomaten
die Arbeit so erschwere. Und als Stresemann in Locarno ver-
handelte, da tat sich in Berlin eine kleine militarische Neben-
regierung auf, die auf eigne Faust AuBenpolitik trieb und die
Schritte der verantwortlichen Regierung zu konterkarieren
suchte. Stresemann ist wiederholt aufs harteste der Generali-
tat iiber Plane und Mundwerk gefahren. Wie ware es mit einem
Landesverratsverfahren post mortem?
„StaatsverIeumdung!M rufen Sie, Herr Minister, und die-
ser Begriff ist so weit gefaBt, daB jede Kritik damit getroffen
werden kann, jede Bemuhung, eine Dummheit subalterner
Wichtigmacher und blindwiitiger Organisierhengste zu brem-
sen. Sogar die Wahrheit kann als „Verleumdung" verfolgt wer-
den, wenn sie militarischen Ressortgeheimnissen widerspricht,
deren Aufdeckung der auBenpolitischen Vernunft dienlicher
sein kann als ihre Vertuschung, Und was schlieBlich die all-
jahriichen Schlagereien um das Reichswehr-Budget an-
belangt L'etat c'est moi! sagen Sie und fibersetzen
841
das, vom Branch ctwas abweichend: Der Etat bin ich! Was
diese kleine Abweichung bedeutet, hat unser ProzeB gezeigt.
,(Staatsverleumdiing — "? Es HeBe sich daruber mit
Ihnen diskutieren, Hcrr Minister, wcnn nicht ungliicklicher-
weisc der Staat fur Sie und Ihre Herren identisch ware mit
den Interessen Ihres Ressorts. Sie schreiben: „Der Gesetz-
geber, der vor Jahren den strafrechtlichen Schutz des Staates
gegen Angriffe auf seine Stellung nach aufien zu schaffen
hatte, konnte noch nicht die Bedeutung kennen, die die of-
fentliche Propaganda fiir die auBenpolitische Stellung eines
Staates erlangen wiirde, i und er konnte allerdings auch nicht
glauben, daB eines Tages ein organisiertes Denunziantentum
einen so unheilvollen EinfluB auf die Entwicklung wichtiger
politischer Fragen nehmen wiirde." Und diese fiirchterliche
Charakteristik soil auf die armen versprengten Haufen der
Pazifisten zutreffen? Wie sind Sie schlecht unterrichtet, Herr
Minister! Wenn Sie eine Ahnung etwa von der Deutschen
Friedensgesellschaft hatten, so wiirden Sie wissen, daB in
Deutschland Organisation und Pazifismus diametrale Gegen-
satze sind. Nein, es gibt ein andres organisiertes Denunzian-
tentum, das nichts mit den Friedensfreunden zu tun hat. Seit
zwolf Jahren treiben die Rechtsparteien nichts andres als
Staatsverleumdung. Seit zwolf Jahren lassen sie keine Ge-
legenheit voriibergehen, ohne in der ganzen Welt die Deutsche
Republik als korrupt, als verlottert, als einen Staat, in dem
die Arbeiterschaft auf Kosten der Gesamtheit faulenzt, zu
denunzieren. Hat nicht Herr Schacht in Harzburg die deutsche
Wahrung ruinieren wollen? Hat nicht der hypernationali-
stische Industriemagnat Fritz Thyssen vor Wochen erst mit
falschenj Zahlen die iamerikanische offentlichkeit iiber den
wirklichen Stand der deutschen Sozialpolitik zu dupieren ver-
sucht? Hat nicht Herr Hugenberg einmal in Amerika einen
gewisseh Brief verbreitet, der auch von Leuten, die ihm poli-
tisch nahestehen, als landesverraterisch bezeiehnet wurde?
Und muB ich Ihnen wirklich ins Gedachtnis zuruckrufen, unter
was fiir einem Trommelfeuer von Verleumdung alle deutschen
AuBenminister, von Simons bis Curtius, zu leiden hatten, wenn
sie Deutschland drauBen zu vertreten hatten? Auch das war
Staatsverleumdung tausendfach und hat trotzdem nicht die be-
scheidenste Kanzlistenfeder bei der Reichsanwaltschaft in Be*
wegung gebracht.
Ich verstehe nicht, daB ein so erfahrener Politiker wie Sie
sich selbst zu so viel Simplizitat verurteilen kann, ganz Deutsch-
land in zwei Gruppen zu teilen: in die Guten, das sind die
nWehrfreudigen", die alles bewilligen, was der Herr Kriegs-
minister wiinscht, und die Andern, die Bosen, die zu semen
Wiinschen nein sagen. Der aktuelle Schnitt durch Deutschland
lauft anders!
Es hat eine 2^eit gegeben, Herr Minister, wo Sie bei den
Leuten, die Ihnen heute verdachtig laut zujubeln, noch nicht
so beliebt gewesen sind- Sie haben seit 1918 wiederholt in
das deutsche Schicksal entscheidend eingegriffen Nicht immer
gliicklich, aber Sie haben zweimal in tragischen Situationen die
Partei der Vernunft gegen die Partei eines sinnlosen Mili-
842
tarismus zum Siege gefuhrt. Sie haben 1918 als Nachfoiger
Ludendorffs dessen Kurs liquidiert, Sie haben das zu einer
Zeit getan, als der Pazifist Rathenau noch hoffmmgslos ver-
wirrt das verhttngerte und ausgeblutete Land zur levee en
masse aufrief. Und Sie haben ira Juni 1919, als die Nationalver-
sammlung zogerte, die Zustimmung zur Unterzeichnung des
Versailler Vertrags zu erteilen, als Offiziere des alten Heeres*
sttirmisch den letzten Verzweiflungskampf forderten, mit Auf-
gebot aller Oberzeugungskraft den Herren deutlich gemacht,
warum es ein Wahnsinn sei, zur angeblichen Rettung der Waf-
fenehre einen hoffnungslosen Gang zu wagen. Das war in jenen
Tagen, als Scheidemanns Hand verdorren wollte, als altgediente
Pazifisten Widerstand bis zum Letzten predigten. Es ist das
historische Verdienst des Generals Groener, in diesen Schick-
salsstunden „Defaitist" gewesen zu sein. Sie blieben mitten in
allgemeiner Kopflosigkeit Realist, Sie wurden damals und
spater von der militaristischen Reaktion mit Ausdriicken be-
dacht, die sich nicht viel von jenen unterscheiden, mit denen
sie heute die Pazifisten bederiken, deren Nero oder Diocle-
tian Sie leider werden mochten. Es ist keine schone Aus-
sicht, als Vater einer Zuchthausvorlage in die Geschichte ein-
zugehen, als Unterdriicker des freien Worts der Presse. Ich
bin Ihr Gegner, aber kein ungerechter, und deshalb drangt es
mich, angesichts der gefahrlichen Entscheidung, die Sie auf sich
genommen haben, ein Stuck aus Ihrer Vergangenheit lebendig
zu machen, das Ihren Namen freundlicher strahlen laBt als
Ihre neuern Taten es vermogen,
Es ist eine etwas komische Vorstellung, daB in dieser
Zeit, wo in Deutschland alles mit Messer oder Kniippel ge-
macht wird, die paar Manner, die noch eine Ehre darin sehen,
mit der Feder zu kampfen, zuerst unschadlich gemacht wer-
den sollen. ,,Epargnez la tete!", rief jener pariser Aristo-
krat, der den jungen Voltaire von seinem Lakaien verbleuen
lieB. Schont den Kopf! In Deutschland gibt es nur auf den
Kopf^ das scheint hierzulande Gesetz zu sein, und es stimmt
nicht trostlicher, daB diesmal das Gesetz von einem Manne
verhangt wird, der sich als guter Republikaner vorstellt. ,,Die
Freiheit, die wir besingen und erstreben, ist Opfer wert."
So schreiben Sie. Wir sind beide Republikaner, Herr Mini-
ster, aber ich fiirchte, wir meinen nicht die gleiche Freiheit,
und wir singen auch nicht in der gleichen Stimmlage. Wahr-
scheinlich singen wir auch alle beide nicht sehr schon, wobei
Sie allerdings den Vorzug haben, von einem Militarorchester
begleitet zu sein.
* Ich glaube nicht, daB wir uns leicht einigen werden, Herr
Reichswehrminister. Als Ioyaler Gegner mochte ich Ihnen in-
dessen anbieten, auf diesen offenen Brief ebenso of fen an die-
ser Stelle zu antworten. Da Sie die Vollblutfascisten der
tD.A. Z/ nicht gestort haben, dort Ihre Meinung zu vertreten,
glaube ich hoff en zu durfen, daB Sie auch an den liebenswiirdi-
gen Petroleuren der ,Weltbuhne' keinen AnstoB nehmen
werden.
Genehmigen Sie, Herr Minister, den Ausdruck meiner
vorztiglichsten Hochachtung . . ,
*' 843
Zentrum und Fascistnus vohk. l. Gerstorft
V\ ie Koalitionsgesprache zwischen dem Zentrum und den
Nazis werden an den verschiedensten Stellen gefiihrt; bis*
her ist noch keine endgiiltige Entscheidung getroffen worden.
Das hat nicht zum wenigsten seinen Grund in der Lage des
Zentrums selbst. Wenn wir uns die Ergebnisse der letzten
Wahlen ansehen, so ist festzustellen, daB das Zentrum bisher
die einzige biirgerliche Partei gewesen ist, die sich gegenuber
dem Ansturm der Nazis voll behauptet hat. Es hat sogar in
Hessen einige Tausend neuer Wahler gewonnen, das heiBt, es
hat seinen prozentualen Anteil an den Wahlern behaupten
konnen. Die burgerlichen Parteien rechts und links vom Zen-
trum sind durch den Nationalsozialismus fast vollig zermurbt
worden. Die Arbeiterparteien zusammengenommen behaupten
sich im Kern; ein wenig ist allerdings ihr prozentualer Anteil
gesunken, was unter anderm auch daher kommen mag, daB
einTeil der jungen Wahler, die noch nie im ProduktionsprozeB
gestanden haben, den Nazis seine Stimmen gibt. Wenn wir heute
in PreuBen Wahlen hatten, so wiirden die Ergebnisse voraus-
sichtlich denen in Hessen entsprechen. Die Nazis allein hatten
sicherlicti keine Majoritat, dagegen moglicherweise eine mit
dem Zentrum. Die Nazis allein werden nicht starker sein als
die Arbeiterparteien zusammen.
Es sind sehr entscheidende Erwagungen, die das Zentrum
bisher von einer Koalition mit Hitler abgehalten haben, ent-
scheidende Erwagungen, von denen aber ausdrucklich gesagt
werden muB, daB sie taktischer Natur sind und bereits in der
nachsten Zeit bei dem augenblicklichen Tempo der Entwick-
lung uberholt sein konnen. Die Situation auf den internatio-
nalen Kapitalmarkten hat sich in letzter Zeit nicht sehr ver-
andert; in den nachsten Monaten wird man versuchen, die Ver-
handlungen liber die Regelung der Younglasten und uber
die der kurzfristigen deutschen Verschuldung zu einem, wenn
auch nur vorlaufigen AbschluB zu bringen, Der entscheidende
Partner, mit dem der deutsche Kapitalismus dabei zu tun hat,
ist Frankreich. Und der Kanzler Briining hat im Reichstag mit
Recht betont, daB die Bedingungen des franzosischen Kapi-
talismus bei einer nationalsozialistischen Regierungsbeteili-
gung wahrscheinlich noch schwerer sein werden als sie es
ohnehin schon sind. Das Monopolkapital hat daher, was die
auBenpolitische Situation Deutschlands anbelangt, kein Inter-
esse daran, vor dem AbschluB dieser Verhandlungen den Ein-
tritt Hitlers in die Regierung zu beschleunigen. Und es ist
charakteristisch, daB bei all den Ministerlisten, die bis
heute zirkulierten, die Nationalsozialisten niemals auf
den Posten des AuBenministers Anspruch erhoben haben;
den wollen sie gern dem Zentrum uberlassen. Aber es ist na-
tiirlich, daB die Nazis sich vor der auBenpolitischen Verant-
wortung nicht werden driicken konnen; und das ist eine nicht
unbetrachtliche Sorge fur sie. Hitler fallt eine „Umstellung'*
auch in diesem Punkte nicht sehr schwer. Wie er einst die Be-
freiung Siidtirols glatt aus dem Programm gestrichen hat, als
Mussolini etwas ungnadig wurde, so werden er und sein
844
engerer Stab sich auch mit den franzosischen Natio-
nalisten verstandigen. Aber damit Hitler iiir das Monopol-
kapital ein wesentlicher Bundesgenosse werden konnte, mufite
er eine groBe Bewegung entfachen. Er hat sie entfacht. Er
hat hunderttausende von deklassierten Kleinburgern, die durch
das Monopolkapital proletarisiert wurden, politisiert, er hat sie
auf die StraBe gebracht unter der Parole: Gegen den Marxis-
mus — Fur den Nationalisms Aber grade bei diesen Massen
geniigte ein abstrakter Nationalisms nicht; er muBte vielmehr
konkretisiert werden, und der konkrete Gegner war in alien
nationalsozialistischen Reden oind Schriften immer Frankreich.
Den Hunderttausenden am Tage vor der Machtergreifung zu er-
klaren: siegreich wollen wir Frankreich schlagen, urn ihnen am
Tage danach auseinanderzusetzen: Wir miissen Kredite von
Frankreich haben — das ist eine Frage, die fur die Nationalsozia-
listen nicht ganz einfach zu losen sein wird. Und wenn Hitler bei
alien Widerstanden in der eignen Partei diese Schwenkung
vollziehen wird, so muB und wird er dafur von Briining ein
Aequivalent verlangen, ein Ventil fur seine aktivsten Anhan-
ger; und dieses Ventil kann nur der scharfste Terror im Innern
sein. Man soil sich da keinen Illusionen hingeben und nicht
etwa glaoiben, daB die Nationalsozialisten hier sehr bescheiden
sein werden; sie konnen sich doch beim Regierungseintritt
nicht mit dem Postministerium begniigen, sondern miissen
versuchen, die realen Machtpositionen zu besetzen. Sie wer-
den sich nicht mit dem Verbot der KPD und einiger linksradi-
kaler Zeitschriften bescheiden, sie werden die Zerschlagung der
Sozialdemokratie, die Zerschlagung der Gewerkschaften, die
Zerschlagung samtlicher Arbeiterorganisationen verlangen. Also
ist es eine groteske Illusion, die leider noch in vielen Arbeiter-
hirnen spukt, dal} man die Nationalsozialisten nur ans Ruder
lassen solle, sie wurden schon in kurzer Zeit abwirtschaften. Ge-
wiB werden sie abwirtschaften, wenn damit gesagt wird,
daB sie die okonomische Krise nicht liquidieren werden; aber
grade weil sie so die groBen Massen der Bauern, der Klein-
handler, Handwerker und Angestellten enttauschen werden
und enttauschen miissen, so werden sie zum scharfsten Terror
greifen, urn die wirkliche Front der Gegner, die Arbeiterschaft,
zu zermurben, ja, wenn moglich, zu zertriimmern.
Und hier stockt das Zentrum, stockt wenigstens bisher.
Das Zentrum und die Bayrische Volkspartei haben im deut-
schen Nachkriegskapitalismus bisher auBerordentiich starke
Machtpositionen gehabt. Und doch waren es nur ungefahr
16 Prozent der deutschen Wahler, die Zentrum wahlten. Die
Machtpositionen des Zentrums basierten daratif, daB es eine
Partei der Mitte war, daB es je nach Bedarf nach rechts zu
den Deulschnationalen optieren konnte und nach links zu den
Sozialdemokraten, daB es, solange die Deutschnationalen exi-
stierten, sogar gleichzeitig mit rechts im Reichstag und mit
links in PreuBen regieren konnte. Wenn das Zentrum mit den
Nationalsozialisten cine Koalition bildet und dabei duldet, daB
sie die Arbeiterorganisationen zerschlagen, dann ist das Zen-
trum eben nicht mehr eine Partei der Mitte, sondern der linke
Schwanz einer nationalsozialistischen Regierung, und das Zen-
845
trum hat in letzter Zeit Erfahrungen genug gemacht, wie die
Nazis mit ihrcn friihern Bundesgenossen iimgehen. Hatten in
Harzburg Hugenbcrg und Hitler noch gemeinsam ein Manifest
erlassen und erklart, dafi -die nationale Opposition zusammen
bis zumSieg und nacK dem Sieg kampfen werde, so war wenige
Wochen nach Harzburg die nationale Opposition zerf alien, und
Hitler hatte nicht die mindesten Bedenken, bei den Verhand-
lungen mit Briining Hugenberg zoi opfern. 1st das Zentrum also
der linke Schwanz einer nationalsozialistischen Regierung, so
befiirchtet Briining, daB es ihm in der Regierung mit Hitler bald
so ergehen konnte, wie Hugenberg vorher, und daB der Zen-
trumspartei als Ganzem das Schicksal bereitet werden wiirde,
das Mussolini den katholischen Popolari in Italien bereitet hat.
Das Zentrum ist bisher die einzige biirgerliche Partei ge-
wesen, die sich gegeniiber dem Ansturm von rechts gehalten
hat, die den biirgerlichen, den bauerlichen und den Arbeiter-
fliigel zusammengehalten hat. Das Zentrum befiirchtet grade
bei einer Koalition mit den Nazis als Partei zerschlagen zu
werden. Und es ist in diesem Zusammenhang nicht unwesent-
lich, daB der Fuhrer der Christlichen Gewerkschaften im Rhein-
lande jiingst erklarte; wenn es hart auf hart ginge, wiirden die
Christlichen Gewerkschaften gemeinsam mit den Freien Ge-
werkschaften gegen die Nazis kampfen.
Man soil die taktischen Gegensatze, die zwischen den
Nazis und dem Zentrum heute noch vorhanden sind, nicht
unterschatzen, Man soil sie aber auch nicht uberschatzen. Die
Nazis und das Zentrum agieren ja nicht im Himmel sondern auf
der platten Erde, sie sind beide letzthin ausfuhrende Organe des
Kapitals. Und die internationale Situation des Kapitalismus
hat sich in der letzten Zeit gewiB nicht verbessert. Internatio-
nal ist von einer Besserung jedenfalls nichts z,u spiiren. Alle,
die von der Erhohung der Getreidepreise in Chicago die Er-
holuntf der Rohstoffmarkte erwarteten, einen Anstieg der
amerikanischen Wirtschaftsbelebung, einen Silberstreifen auch
fiir den europaischen Kapitalismus, alle diese Illusionisten sind
wieder urn eine Hoffnung armer geworden. Die amerikanische
Produktion ist in der letzten Zeit wieder zuriickgegangen, und
kein Mensch in USA. erwartet fiir absehbare Zeit einen An-
stieg. Zugleich wird die Situation auf den internationalen Ka-
pitalmarkten immer unsicherer, die Entwertung des englischen
Pfundes schreitet fort, es zeigt sich selbst bei einem Kapitalis-
mus, der solche Reserven hat wie der englische, mit aller
Deutlichkeit, daB man den Anfang einer Inflation in der Hand
nat, aber nicht mehr das Ende. In Frankreich ist die Krise
tiefer geworden, es ist nicht mehr das Land ohne Arbeitslose,
und der Sieg der Tories mit der Verwirklichung der englischen
Schutzzollplane hat die D'eroutierung der Weltwirtschaft noch
weiter verstarkt. In der ganzen Welt steigen die Zollmauern,
und so werden auch die Schwierigkeiten fiir die deutsche Ex-
portindustrie, deren gunstige Bilanz bisher noch der einzige
Lichtpunkt war, immer groBer. Die neue Notverordnung wird
wahrscheinlich einen weitern rigorosen Abbau der Beamten-
gehalter und der , Sozialversicherung . bringen, wir stehen
vor einem neueri, riesenhaften konzentrischen Anjgriff des Mo-
846
nopolkapitals auf den Lebensstandard der deutschen Arbeiter-
schaft; vor einem Angriff, dessen Brutalitat sclbst fur die Ge-
werkschaftsvertreter so schwer zu verteidigen ist, daB der
,Freie Angestellte', das Organ des Zentraiverbandes der An-
gestellten, gezwungen ist zu schreiben: ,tDie Wirtschaftspolitik
dieses Unternehmerprogramms der Regierung Briining tole-
rieren — hieBe einen neuen Schritt zum Fascismus tun."
Zentrum und Fascismus agieren nicht im Himmel sondern
auf der platten Erde. Das Monopolkapital hat es bei der bis-
herigen Situation fiir taktisch opportun gehalten, getrennt zu
marschieren, um vereint zu schlagen und durch die Drohung
mit Hitler die sozialdemokratische Partei und die Gewerk-
schaften zu alien Konzessionen zu notigen, Wenn das Tempo
der Krise noch zunimmt, so kann es das Monopolkapital bald
fiir opportun halten, nicht mehr getrennt zu marschieren und
vereint zu schlagen, sondern bereits vereint zu marschieren.
Die gesamte Arbeiterschaft mufi das wissen, Sie muB weiter
wissen, daB man den Eintritt Hitlers in die Regierung nicht
durch parlamentarische Abstimmungen verhindert; die Atem-
pause, die die Tolerierung der Briiningregierung seiner Zeit ge-
schaffen hat, hat nicht, wie wohl heute keiner bestreiten kann,
dazu beigetragen, die Positionen der Arbeiterschaft zu star-
ken, sondern allein die Hitlers. Was heute nottut, ist also,
angesichts des Fascismus einen auBerparlamentarischen
Kampf der Arbeiterklasse an alien Frontabschnitten zu organi-
sieren, sowohl gegeniiber der direkten Kapitaloffensive und den
brutalen Lohnabbauplanen der Unternehmer, wie gegeniiber
den immer scharfer werdenden Terroraktionen der National-
sozialisten. In der Arbeiterschaft wachst spontan der Abwehr-
wille, und notwendig ist, daB dieser Abwehrwille rechtzeitig
organisiert wird, das heiflt nicht erst dann, wenn die Fasci-
sten, unabhangig vom Parteibuch, samtliche Arbeiter terrori-
sieren — sondern heute muB ihrem konzentrischen Angriff
die konzentrische Abwehrfront gegenubergestellt werden.
Coudenhove blamiert Europa Feiix stdnssinger
C in europaisches Komitee der besten Namen hat im norwegi-
L* schen Storthing den Organisator der paneuropaischen Be-
wegung, Coudenhove-Kalergi, fiir den Friedenspreis der Nobel-
stiftung vorgeschlagen, Wenn damit der Idee des Vereinig-
ten Europaischen Kontinents eine Reverenz erwiesen werden
soil, dann konnen sich uber diese Kandidatur auch die Kon-
tinentalpolitiker der ,Sozialistischen Mcnatshefte' freue^ die
die Konzeption der fiinf Weltimperien bereits gepragt und pro-
pagiert haben, als Coudenhove noch auf der Schulbank safl.
Trotzdem ist es nicht wenig erheiternd, die Namen der An-
tragsteller zu lesen. Mit Ausnahme von Benesch, der langer
als Coudenhove Kontinentalpolitik kennt und treibt, und mit
vielleicht noch zwei oder drei Ausnahmen, gehoren die mei-
sten Antragsteller zu den Gruppen, die den ZusammenschluB
Europas bisher nicht gefordert sondern sabotiert haben und
deshalb die wirklichen Kontinentalpolitiker nicht gern Unter
den Linden oder in der Wilhelm-StraBe griiBen. Auch bei
847
dieser Aktion ist es Coudenhove wieder gelungen, ohne Sinn
fur geistige oind politische Distanz ein Komitee zu bilden, ein
richtiges Abbild des Krethi und Plethi, das sich in der deut-
schen Sektion Paneuropas eingenistet hat und sic als Asyl be-
nutzt, in dem deutsche Rcvisionspolitik gcgen Frankrcich und
englische Schiedsrichtcrpolitik gegen Europa untcr jener fal-
schen Flagge geschmuggelt wird, die Coudenhovc wohl nicht
erfunden hat, um Konterbande gcgen Europa zu exportieren.
In der Praxis ist das aber leider der Fall. Und zwar nur
durch Coudenhoves eigne Schuld. Es ist deshalb im Interesse
des europaischen Zusammenschlusses nicht langer moglich,
Coudenhove ungeschoren zu lassen. Er gilt im Ausland als
deutscher Exponent der Idee Europa; der Miflbrauch, den er
mit ihr in seinem Buch Stalin & Co getrieben hat, fallt auf uns
alle zuriick.
Es gibt Ideen, deren GroBe cine klare Aussprache not-
wendig macht, und die ein diplomatisches Getuschel aus-
schlieBen. Keine Politik ist ohne Taktikt ja nicht einmal ohne
Kompromisse denkbar. Aber man muB auch wissen, welchen
Teil dcs Ganzen man dem KompromiB voriibergehend opfern
kann, ohne damit sich selbst zu opfern. Coudenhove weiB ge-
nauf daB Europa ein Imperium fair sich selbst ist und England
ein Teil des britischen. Er veroffentlicht ja selbst in jedem
Heft seiner Zeitschrift cine Landkarte, in der genau nach den
Angaben der Kontinentalpolitik der .Sozialistischen Monats-
heftc* die bcilaufigen Abgrcnzungen der fiinf Impenen einge-
zeichnet sind. Mit dieser kartographischen Deklarierung halt
Coudenhove seine Pflicht fur getan. Im taglichen Kampf die
englischen Storungen der deutsch-franzosischen Zusammen-
arbeit, die Sabotage dcs Europakomitees durch MacDonald,
die ZerreiBung dcs Genfer Pakts durch Chamberlain als
Schlage gegen Europa entlarven, — dieses Vergniigen iiberlaBt
er uns. Coudenhove glaubt namlich ganz im Ernst, die Eng-
lander werden mit der Zeit tleinsehen", daB sic nicht zu
Europa gehoren, und dann ist alles in Butter. Dieses Kindi
Als ob die Englander nicht schon langer als Coudenhove wiiB-
ten, daB sic nicht zu Europa gehoren. Deswegcn geben sie
ihre Schiedsrichter- und Ausbeuterstellung in Europa cbenso-
wenig auf wie Kapitalisten auf die Wegnahme dcs Mehrwerts
verzichten, weil sie „cinsehen ', daB er nicht ihnen gehort. Ober
Englands Stellung zum Kontinent ist cben nicht England,
sondern Deutschland aufzuklarcn. Diese Aufklarungspflicht
hat Coudenhove groblich verletzt, und alle Reaktionarc der
AuBenpolitik, die die Kontinentalpolitik fliehen, weil sie mit
Europa ernst macht und daher Front nimmt gegen die Storer
Europas, iliichtcn sich zu ihm, ohne einen Blick auf seine
Landkarte zu werfen, von der sie wissen, daB sie niemanden
stort Taktiker wie Coudenhove vcrgesscn mit der Zeit, was
sie einmal gewuBt haben, und durch eine solchc Fehlleistung
verriet sich Coudenhove, als cr einmal als zukiinftige Ver-
kehrssprachc Europas ausgerechnct cnglisch vorschlug.
Coudenhoves Schweigen iiber England, war immcr schlimm.
Sein Aufruf an Europa, sich gegen RuBland zusammenzu-
schlicBcn, ist aber der Verfall.
848
Stalin & Co. ist das erfolgreichste deutsche Buch gegen die
Bolschewistcn. Nach Angabe des Verlagjes werden taglich tausend
Excmplare vcrkauf t. Das sind taglich tausend Biicher gegen
Paneuropa, gegen Kontinentalpolitik, gegen die Reinheit der
Idee des imperialen Zusammenschlusses und fur die Ver-
hetzung der Imperien. Wenn das audi praktisch iiberhaupt
nicht moglich ist, so bedeutet es doch eine solche Kompro-
mittierung der Idee, dafl kein Wort dagegen zu schade ist.
Es war die Spezialitat der dummsten Gegner der Konti-
nentalpolitik, uns vorzuwerfen, wir f,verhinderten" die Eini-
gung der Welt (die offenbar vor der Tiir stand), indem wir
eine neue Bundnispolitik „gegen" j em and, namlich gegen Eng-
land, richteten. Das war vor all em der Vorwurf von Poli-
tikern, die eine Politik gegen Frankreich damals wie heute
selbstverstandlich finden. Inzwischen ist wohl schon bekannt
geworden, daB die Kontinentalpolitik gegen kein Volk,
kein Land, keine Staats- und keine Wirtschaftsform gerichtet
ist (deren Anderung niemals Sache der AuBenpolitik sein kann)
und dafl unsre AuBenpolitik nur imperialistische Anspniche
einer jeden Macht gegen eine andre, eines Imperiums gegen
das andre zuriickweist, das allerdings griindlich, weswegen
unsre Gegner behaupten, wir waren ,,manisch" gegen England,
wo es doch in Deutschland nur gestattet ist, manisch gegen
Versailles, Frankreich, Polen oder fur RuBland, England,
Amerika zu sein. Die Kontinentalpolitik ist eben iiberhaupt
keine Politik anti, sondern nur eine Politik pro, und begriiBt
daher in alien Landern der Welt jede Kraft, welcher Partei
auch immer, die driiben fur den eignen imperialen
Ausbau wirkt. Die Kontinentalpolitik will alien Volkern
und Landern die ungestorte Entwicklung ihrer eignen Pro-
duktionskrafte sichern und alle Hindernisse, imperialistische
und kapitalistische, beseitigen, die diese unverauBerlichen Men-
schenrechte schmalern. Deswegen ist die Kontinentalpolitik
sozialistische Politik, und deswegen ist es ihre vollige Umkeh-
rung, wenn ein Coudenhove Europa aufruft, sich zu einer de-
fensiven Intervention gegen die russische Oberproduktion zu-
sammenzuschlieBen. Coudenhove zeigt damit, daB er den
schopferischen Gedanken der Imperienbildung iiberhaupt nicht
begriffen hat, da sie nicht die Produktivkrafte der andern
unterbinden, sondern befreien wilL
Gegen diesen Antibolschewismus Coudenhoves, der die
Hysterie verkrachter europaischer Kapitalisten in Dienst stellt,
miissen vor allem wir als Vertreter eines sozialistischen inte-
gralen Antibolschewismus Stellung nehmen. Nur weil wir
uberzeugt sind, daB der Bolschewismus die wirkliche Pro-
duktionskraft unterbindet, bekampfen wir ihn.
Wie aber die verangstigteri Kapitalisten Europas bei der
Ankunft eines jeden Schiffes des roten Handels iiber den
Untergang des Kapitalismus klonen, so ist fur Coudenhove der
Stalmismus jetzt schon eine Macht, groBer als Papst plus
Hoover plus Morgan. (Der Vergleich ist iibrigens durch die
Drucklegung tiberholt, da ja auch amerikanische Firmen einen
Beigeschmack von Kreditanstalt auf der Zunge hinterlassen.)
An Stelle des Gespensts vom bolschewisiischen Elend, das
849
nach mciner Ansicht real istt setzt Coudenhovfi das Gespenst von
der bolschewistischen Prosperitat! Untcr dicser Parole Europa
zur Einigkeit aufzurufen, ist frcilich ein unfreiwillig komisches
da capo der Praambel zum Kommunistischen Manifest. Unser
Europa steht unter der Idee des Schaffens; trotzdem liegt uns
jeder Versuch fern, auBenpolitisch die Wirtschaftsform eines
andern Landes zu bekampfen, Europa aber zu mobilisieren
gegen die Schaffenskraft irgend eines Teiles der Welt — an
dessen Prosperitat man glaubt — , das heiBt die europaische
Idee in Trummer schlagen.
Coudenhove begann jung und war schon durch seinen
Enthusiasmus. Er schloB sich spontan einer Idee an, die er
fand und die ihm gefiel, Fur diese Idee hat er seitdem so
viel getan, daB er keine Zeit mehr fand, sie zu verstehn. Ober
das Formale ist er nie hinausgekommen, Alle seine Feh-
ler sind nicht boser Wille, sondern eine Wesensfremdheit der
Sache gegeniiber. Das mag ihn personlich entschuldigen aber
nicht politisch, Ein Hindernis mehr fur den Aufbau des Ver-
einigten Europaischen Kontinents — das ist sein Paneuropa.
Manabendra Nath Roy von Asiatics
Am 21, Juli um 5 Uhr morgens hat die Polizei in Bombay ein jahre-
** lang vergeblich verfolgtcs und gehetztes Wild zur Strecke ge-
bracht. Es ist Manabendra Nath Roy, nach dem Polizeibericht f,the
notorious Indian revolutionary and communist of international fame".
Am gleichen Tage sind in Bombay zehn Inder unter der Anklage
der Beherbergung M. N, Roys verhaf tet worden, Es sind dies die Fiihrer
des Allindischen Gewerkschafts-Kongresses, des linken Flugels im
National -KongreBf der revolutionaren Jugend- und Studentenorgani-
sationen. Eine Riesenversammlung, einberufen vom Allindischen Ge-
werkschafts-Kongrefi und von den Gewerkschaften der Textilarbeiter,
Eisenbahner, StraBenbahner, Lederarbeiter und der Arbeitslosen-
Assoziation, erklarte in ihrer EntschlieBung, daB die Verhaftungen
Meine groB angel eg te Offensive gegen die revolutionare Bewegung dcr
Massen Indiens fur nationale Freiheit und einen Angriff auf die Ar-
beiter- und Gewerkschaftsbewegung" darstellen. Von den genannten
Organisationen wurde auch ein Verteidigungskomitee fiir M. N. Roy
gebildetf dem sich namhafte Rechtsanwalte und Fiihrer des Indischen
National-Kongresses freiwillig anschlossen. Dies Komitee hat zu
solidarischen Protestaktionen in Indien und der Internationale auf-
gerufen. Dank seiner Initiative, die auch in Europa und Amerika
einen starken Widerhall gefunden hat, ist gegenwartig in Indien eine
stetig wachsende Massenbewegung unter der Losung „Save Roy!" im
Gange, die von der Kolonialjustiz mit dem hermetischen AbschluB
Roys von der AuBenwelt und zuletzt auch mit der Verhaftung seines
Verteidigers beantwortet wurde.
Nach den Berichten der englischen Presse lautet die Anklage
gegen M, N. Roy auf „ waging war against the King" (Kriegfuhrung
gegen den Konig), Nach dem indischen Strafgesetzbuch steht darauf
Todesstrafe oder lebenslangliche Deportation. Die Verhaftung erfolgte
indessen unter Berufung auf Artikel 121 A „wegen Verschworung und
Verbrechens gegen den Staat", begangen durch die angebliche Urheber-
schaft am Auf stand in Cawnpore 1924. Auf Grund des Steckbriefes
ist M. N. Roy nach der Verhaftung in das Gefangnis von Cawnpore
eingeliefert worden, wo seit dem 12. November sein ProzeB stattfin-
det, fur den eine einmonatliche Dauer vorgesehen ist, Schuldig in die-
850
sem Falle bedeutet die Verurteilung zu lebenslanglicher Deportation
oder zu Gefangnis nicht unter zehn Jahren. Die Untersuchung wird
aber auch noch auf andre Falle ausgedehnt. So soil nach englischen
Pressemeldungen M, N, Roy „als lei tend es Mitglied der moskauer In-
ternationale verantwortlich fiir die kommunistische Propaganda und
Agitation in Indien" sein. Ferner soil er im Auslande „Verschwdrun-
gen gegen die Integritat des Britischen Reiches" angezettelt haben.
Nach der .North China Daily News' soil er im Jahre 1927 als Ver-
treter der Kommunistischen Internationale in China „indische Sol-
daten und Polizisten zur Meuterei veranlafit und gemeinsam mit Boro-
din die Propaganda gegen die britische Regierung geleitet haben."
Das Niveau der Polizeiberichte in den kolonialen Landern ist noch
viel tiefer als in Europa. Es ist nur plumpe Polizeiabsicht oder Stu-
piditat, wenn sie M, N. Roy als Verschworer hinstellen. Sein wirk-
licher „Krieg gegen den Konig" bestand und besteht darin, dafi er
ein Vorkampfer der Unabhangigkeit Indiens und der markanteste
Ftihrer der jungen indischen Arbeiterbewegung ist. Als solcher ist er
auch zu groBerm EinfluB innerhalb der kolonial-revolutionaren und
der internationalen Arbeiterbewegung gelangt.
Das Dynamit dieses „Verschworers" gegen die britische Herrschaft
iiber Indien konnte fast ein Jahrzehnt lang nur aus seiner politischen
und literarischen Arbeit in der Emigration bestehen. Wenn nun der
britische Imperialismus M. N. Roy als den Verantwortlichen fiir „Ver-
schworungen und Aufstande" zur Richtstatte fiihren will, so muB sich
dagegen gemeinsam mit der Kampffront fur die indische Befreiung,
mit den indischen Gewerkschaften und der revolutionaren Jugend die
ganze internationale Welt der Arbeit und des wirklichen Fortschritts
erheben,
*
>In Heft 41 der ,Weltbuhne' hat Alfons Goldschmidt das zehn-
jahrige Bestehen der Internationalen Arbeiterhilfe gewurdigt und be-
sonders ihr groBes Werk der internationalen und iiberparteilichen
Solidaritat gefeiert. In engster Verbindung mit dieser Organisation
steht bekanntlich auch 'die Liga gegen Imperialismus und fiir natio-
nal Unabhangigkeit. Wie ist es zu erklaren, daB diese beiden Or-
ganisationen bisher mit keinem Wort offentlich zu der Verhaftung
Roys Slellung genommen haben? Die Internationale Rote Hilfe, die
vorzugsweise eine Organisation zum Schutze der proletarischen poli-
tischen Gefangenen und Verfolgten ist, schweigt ebenfalls und schlieBt
kurzerhand die Mitglieder aus, die nicht schweigen wollen. Noch
mehr. Die Organisationen wie auch die Presse der Kommunistischen
Internationale stehen mit in dieser Front des Schweigens, obwohl die
Anklage gegen M, N. Roy wegen „Kriegfiihrung gegen den Konig" sich
zum grofiten Teil auf sein Wirken im Auftrage derselben Kommu-
nistischen Internationale stiitzt Warum wird M. N. Roy die elemen-'
tarste proletarische Solidaritat versagt?
M. N. Roy ist vor , etwa drei Jahren wegen taktischer Streit-"
fragen, wegen seiner Kritik an den Fehlern, die von der gegenwarti-
gen kommunistischen Fiihrung wahrend der chinesischen Revolution
begangen wurden, sowie wegen der Kritik an ihrer Politik in Indien
und in der gesamten Internationale ausgeschlossen worden, Der bri-
tische Imperialismus richtet aber M, N. Roy nicht, um diese Fiihrung
von einem unbequemen Kritiker zu befreien, sondern uin den in-
dischen Freiheitskampf, um den Emanzipationskampf der Werktatigen
in den Kolonien zu treffen. Selbst wenn die Fiihrung der Kommur
nistischen Internationale in dem Streit mit M, N. Roy recht hatte,
selbst dann miiBte sie alles, was in ihrer Kraft steht, aufbieten, um
den Anschlag der britischen Reaktion zu vereiteln. Denn hier geht es
nicht allein um eine Person sondern um den Kampf des. britischen
Imperialismus gegen die indische Revolution.
3 851
Und die Internationale Arbeiterhilfe, die Anti-Imperialistische
Liga, die Internationale Rote Hilfe — beginnt fur diese Organisationen
die Pflicht zur Hilfe und Solidarity erst mit der restlosen Zustim-
mung zu den Beschlussen der Koramunistischen Internationale, mit
der Anerkennung der Unfehlbarkeit der heutigen Fiihrung? Wir
richten die offene Anfrage an Alfons Goldschmidt, den Vorsitzenden
der Internationalen Arbeiterhilfe, und an Klara Zetkin, die Vor-
sitzende der Internationalen Roten Hilfe: Soil das Schweigen Ihrer
Organisationen urn den ProzeB gegen M, N. Roy auch weiterhin ein
beschamendes Beispiel bureaukratischer Mifiachtung der unbedingt
vorliegenden Pflicht zur Solidaritat bieten? Soil der Hilfeschrei aus
Indien hier ungehort verhallen? Sollen sich Ihre Organisationen in
diesem Konflikt zwischen dem britischen Imperialismus und der in-
dischen Revolution durch Schweigen auf die Seite des ersteren stellen?
Diese Anfragen sollen nichts andres sein als ein Appell an die
wirkliche internationale proletarische Solidaritat, Wie sich einst die
Welt aufbaumte, als der Dollarimperialismus Saccos und Vanzettis
Leben forderte, so soil die Solidaritat der Ausgebeuteten und Unter-
druckten den Opfern des britischen Imperialismus in Indien, so soil
sie auch M. N. Roy beistehen. Nach den letzten Nachrichten droht
Roy die Deportation fur 10 Jahre, wenn nicht lebenslanglich nach der
Andaman-Insel im Indischen Ozean. MuB man dann noch beweisen,
daB hier taktischer Streit verstummen mufi, dafi antiimperialistische
und proletarisch-revolutionare Organisationen den Kampf um die
Rettung von M. N. Roy vor der ihm drohenden physischen Vernich-
tung ftihren miissen?
Das Dritte Reich im Bild von Ernst Kdiiai
TUI an ist keineswegs nur auf die nationalsozialistischen Dar-
bietungen in der Hedemannstrafie angewiesen, wenn man
erfahren will, wie das Konterfei des volkischen Heils aussieht.
Alle deutschen Kunstausstellungen und -zeitschriften wimmeln
von dieser nicht nur der Reichsnumerierung gemaB dritten
Sorte Kunst. Die Ideologie der Hitlerpartei hat von der Seele
der deutschen Malerei und ihrer Kritik im weiten Urhfang Be-
sitz ergriffen — schon zu einer Zeit, als die Nazi-Bewegung
sich noch in schwachen Anfangen befand.
Freilich darf man die kiinstlerischen AuBerungen der Hit-
lerei nicht etwa nur in realistischen oder allegofischen Darstel-
lungen ihres politischen Vormarsches vermuten. Kame es nur
auf diese undiskutabel kitschige direkte Tendenzmalerei an,
so brauchte von einer Nationalsozialisierung der deutschen
Kunst keine Rede zu sein. Gegen diesen Kitsch ist sie selbst-
verstandlich gefeit. Es gibt aber auch eine unpolitisch getarnte
Ansteckung durch den Hitlerbazill, eine Gemiitsinfektion, deren
malerischer Ausschlag weder Hakenkreuze noch Braunjacken
oder sonstige drohende Symptome sehen laBt. Ihre Trager
sind an alien Wirkungsstatten des kiinstlerischen Schaffens
und seiner Kritik anzutreffen. Selbst an jenen, die politisch
zur Demokratie oder zum Liiiksradikalismus gehoren. Es sind
die Maler und kunstschriftstellerischen Beisitzer der perspek-
tivischen Restauration, der Riickkehr zu altvaterlichen Ein-
grenzungen und impressionistischen Umschmeichelungen des
Gegenstandes im Bilde, mogen diese nun empfindsamen Heim-
852
und Heimatkult, Idyllen der Selbstgeniigsamkeit oder pathe-
tischc Heldenverehrung und verschwommene Gottesanbetung
bcdeuten. Sie sind vom selben kleinbiirgerlichen Weltempfin-
dcn bestimmt wie die politischen und sozialen Ideale der Hitler-
partei. DaB sie noch keine eigne kiinstlerische Front unter
dem Protektbrat dieser Partei bilden, sondern einstweilen noch
mit der (in der ,Weltbuhne* schon einmal geschilderten) groBen
Kunstkoalition aller Richtungen, Vereinigungen und Institute
verfilzt sind, hat seinen einfachen Grund. . Es geht auf die
typisch kleinburgerliche und obendrein noch sehr deutsche An-
schauung zuriick, dafi Kunst nur in die gute Seelenstube ge-
hore und mit Politik nichts zu schaffen habe. Wobei aller-
dings der politische, wie jeder andre Sinn der Kunst auch(
nur im Motiv erblickt und gewertet wird, nicht in der Gesamt-
verfassung, in der ge is tig-formal en Haltung des Kunstwerks.
Selbst Kiinstler, die sich der Inhalt-Form-Einheit ihres Schaf-
fens im iibrigen doch ohne weiteres bewuBt sind, pflegen in
der Selbstanalyse nur selten bis zu den realen Wurzeln und
Bindungen ihres Stils vorzudringen. Am seltensten grade zu
seinen politischen Ordnern; denn diese treten zumeist nur in
aufierst verfeinerten, vielfachen Umdeutungen zutage. Es gibt
nicht nur verdrangte Erotik, auch verdrangte und sublimierte
Politik im Stil. Der Stil symbolisiert die Stellung des Kiinst-
lers zu alien nackten Tatsachen der Wirklichkeit, also auch zu
ihrer Politik. Die kraftmeierische Hitlerpolitik hat die durch-
aus biedermeierlichen Ziele eines braven Kleinbiirgertums auf
eigner Scholle, mit eigner Werkstatt und eignem Laden. Und,
versteht sich, mit eignem Herd goldeswert, mit dem schmuk-
ken Heim Gliick allein. Es geniigt, die Inserate der volkischen
Zeitungen zu lesen, die allerlei parteisinnfallig geschmiickten
Gemiitskleinkram fiir Sofa und Vertiko feilbieten. Der gleiche
Gemutskleinkram, nur in andrer Form und gehobener Quali-
tat, erscheint auf den Bildern der neuen herzlichen Gegen-
standsfreunde, wie man sie als Massengut unsrer Kunstaus-
stellungen und -zeitschriften allenthalben antreffen kann,
freundlich-anheimelnd, besinnlich-beschaulich.
Dieses Massengut ist zahlenmaBig so iiberlegen, daB seine
kompakte Zusammengehorigkeit trotz der noch bestehenden
organisatorischen Verfilzung mit andern Erscheinungen der
groBen eklektischen Kunstkoalition schon heute deutlich zuer-
kennen ist. Die eigne organisatorische Zusammenfassung sei-
ner Hersteller und Propagandisten, seine Abgrenzung gegen
jeglichen f,Kunstbolschewismus" kann nur Frage kurzer Zeit
sein. Das Gemunkel von der Griindung eines neuen Kiinstler-
bundes, das vor einiger Zeit durch interessierte Kreise ging,
wird schon stichhaltig sein.
Die Griindung eines solchen hitlerisch-nationaldeutsch
,,leuchtendenM Kiinstlerbundes ware nur zu begriiBen. Sie
konnte den AnstoB zu einer klaren, weltanschaulich-geistes-
politischen Gliederung der deutschen Kunst ergeben und dem
leipziger Allerlei ihrer Veranstaltungen und ihrer Presse ein
langst uberfalliges Ende bereiten, Freilich bliebe immer noch
eine ansehnliche Menge von Eigenbrotlern und AuBenseitern
zuriick, die lieber zwischen den Stuhlen sitzen. Aber es ware
853
doch cine heilsame Ermichterung fur viclc Kiinstler und Kri-
tiker, die, den Grundsatz befolgend, daB alle Wege der Kunst
recht seien, die zur Qualitat fuhren, in ihrer Koalitionsfreudig-
keit allzu weitherzig geworden sind. Es wiirde sich da-
mit so manche reinliche Trennung vollziehen — vor allem
grade im Lager und im Geiste jener, die, obwohl mit der kiinst-
lerischen Vorhut marschierend, in den letzten Jahren sich den-
noch zu mehr oder minder tiefgehenden und offenen Sympa-
thien mit reaktionaren Erscheinungen verleiten lie Sen. Ich
weiB aus eigner Erfahrung, wie nahe solche Sympathien liegen
konnen — aus Grtinden der Entspannung, der Tragheit und
Kleinmut des Herzens, denen man so leicht verfallt, wenn
geistige Selbstpriifung und Selbstdisziplin nachlassen,
Mit dem Katzenjammer der verpfuschten deutschen Revo-
lution und der Inflation dazu, kam eine Welle beschrankter
Ordnungsgeluste hoch, eine empfindsam-pedantische Sucht nach
Geborgenheit und Sammlung im Gemiit. Die ganze kleinbtir-
gerliche Reaktion, das ganze Dritte Reich in der Kunst geht
auf diese Einkapselung zuriick. Das ist ihre gefahrliche Ver-
lockung, der auch heute noch viele erliegen, die solche An-
biederungen an das kleine Gliick Seite an Seite mit den Kiihn-
heiten und Harten der neuen Form gelten lassen, Ergebnis: ein
Durcheinander — so heillos im Geist, menschlich so leicht zu
begreifen. Denn wer unter uns ist iiber alle Versuchungen des
Opportunismus und iiber alle Irrungen des kiinstlerischen In-
stinkts erhaben, in einer Zeit wie diese, so verwickelt und zer-
spannt durch innere Gegensatze wie selten eine andre in der
Weltgeschichte. Es mag in diesem grellen Chaos zunachst so
bestechend sein, wenn Erscheinungen der Kunst mit der Ge-
barde schlichter Menschlichkeit und Natiirlichkeit auf uns zu-
kommen, wie gute alte Bekannte gleichsam, die man geistig
ungewappnet, in jovialster Gemiitsnachlassigkeit empfangen
kann, in einer seelischen Hausjacke sozusagen — frei von alien
Spannungen neuer BewuBtseins- und Formprobleme. Man ge-
niefit die natiirliche Gegenstandsnahe der reaktionaren Male-
rei mit dem leicht verdaulich-erbaulichen Wohlbehagen eines
sonntaglichen Spazierganges oder eines Ferienaufenthaltes auf
dem Lande. Es ist nichts gegen Erholung zu sagen, wenn man
ihr die notige Grenze setzt. In der deutschen Kunst- und
Kunstkritik wird sie entschieden zu weit getrieben.
In solchen Bezirken der Abgeschiedenheit, ,,fern vora Ge-
triebe der GroBstadt", der bosen, fern auch von alien schopfe-
rischen Grenzerweiterungen des Geistes, erfiillt sich das vol-
kische Ideal der Rassen- und Bodenstandigkeii Alles was
iiber diese Grenze geht, bleibt landfremder, internationalisti-
scher Unfug. Dabei ist die moderne Kunst der letzten dreiBig
Jahre in ihren wesentlichen Erscheinungen so deutschf so
franzosisch, so hollandisch und russisch, wie sie von Rassen-
und Heimatf anatikern nur irgend gewiinscht werden konnte.
Aber die beschrankte Ideologie der NS-Kleinbiirger vermag
nicht iiber eine Nasenlange hinaus zu sehen. Ihre Perspektive
ist ihre Welt. Das Dritte Reich im Bild — es hat hiibsch da-
heim zu bleiben. Klein, aber mein . . .
854
Jedeil Tag: Allktion! von Alice Ekert-Rothholz
W7er friiher sehn wollte, wie sehr groBe Leute wohnen
w miiBte sie besuchea und sich mit ihnen langweilen —
Heut besucht man ganz einfach ihre Auktionen.
Auf den groBen Auktionen versteigert man heute
(Bitte nicbt alles mit Fettfingern ansehenl)
den Glanz und die Mobel zehnzimmriger Leute.
Jeden Tag: Auktionf
Der Hausherr ganz in Mahagoni befindet sich im ersten Stock.
In der Halle: Oldruck Wilhelms und andre ScherzartikeL
Darunter feldgrauer Soldatenrock.
Und das Publikum tobt wie zivile Dragoner
durch die Wigwams der Kurftirstendamm-Bewohner.
(. . ; nMensch, sieh mal: seidenes Klosettpapier!"}
Was bier so steht zur Auktion und zur Beute
sind die Wachtraume viel zu reicher Leute . , -
Die Welt in Bronze und Goldbrokat schwimmt hier davon —
Jeden Tag; Auktion 1 — Jeden Tag: Auktionf
Ferner landen auf diesen groBen Auktionen
jene Speiseservice fur 180 Personen..,
Aus der Gastemasse werden ausgeboten: 1 General, 1 Industriebaron.
Jeden Tag: Auktion 1
Freitag: Versteigerung des auBergewohnlich schonen und wertvollen
Theaterdirektors Claus (alias Cohn)
In der Masse: ein Hausaltar und ein Grammophon.
Und das Publikum streift wie die Polizisten
durchs Revier dieser sterbenden Kapitalisten.
Jeden Tag: Auktionf
Und keiner merkt, wenn die Auktion dann beginnt,
daB hier Schlachtfelder ohne Soldaten sind.
Klubsessel, Schofihunde, Teppichlaufer —
Alles ist da. BloB keine Kaufer.
Denn die Briider, die solche Sachen erwerben,
liegen selber schief oder selber im Sterben.
Jeden Tag: Auktionf
Publikumf Hut ab zum Massengebetf
Merkt Ihr nicht, was hier vor sich geht?
Auf diesen Auktionen verkloppt die Zeit unversohnlich
Nicht die Mobel —
Sondern den Burger persdnlich.
Babys, Jungen und Madchen von Rudolf Amheim
1^ indcr sind1 bessere Schauspieler als die Erwachsenen, so-
lange sic noch unbefangen sind wie die Tiere. Sobald
sie 1fspielen", werden sie meist stocksteiL Aber zwischen dem
vollig ungehemmten Singsangmonolog des Sauglings vor der
Kamera und dem ruhrenden Pathos, mit dem eine Sextanerin
in der Schulaula die Weihnachtsgeschichte herbetet, gibt es
alle Stufen der Natxirlichkeit. Kinder als Schauspieler werden
immer und auf jedes Publikum wirken.
855
Mit einer List und Miihe, wie sie sonst nur zur Belauerung
von Raubtieren aufgewendet werden, haben Professor Kurt
Lewin und seine Mitarbeiter ungestellte Bilder aus den ersten
sechs Lebensjahren des Kindes festgehalten: „Das Kind und
die Welt*', uraufgefiihrt auf des riihrigen Doktor Eckardt Kul-
turfilmbiihne ,,Kamera Unter den Linden". Da der Wert die-
ses Films ganz im Dokumentarischen liegt, ist er dort am
besten, wo ohne viel Einstellungs- und Schnittkunst lange
Passagen vorgefiihrt werden, in denen man die Kinder ruhig
beobachten kann. Sehr lohnend, das zu tun, denn vor diesen
erstaunlichen Aufnahmen wird einem zumute, als sahe man
zum erstenmal in seinem Leben Kinder. Erschreckend, fast
schamlos wirkt beim Saugling die Hemmungslosigkeit des
Ausdrucks: Miidigkeit und Unlust, gieriges, hingegebenes, ge-
walttatiges Saugen, Rakeln, Sattheit, Milchrausch — die Seele
liegt noch auBen, der ganze Korper bis hinunter zu den gesti-
kulierenden Zehen ist noch Gesicht. Eine erstaunliche
Ahnlichkeit mit guten amerikanischen Grotesken — beileibe
nicht mit den widerwartigen Kindergrotesken: Sommerspros-
senkind, Fettkind und Negerkind — drangt sich auf. Da ist
die groBe Chaplinszene der Zweijahrigen, die auf alien Vieren
die Treppe heraufkrabbeln und zugleich den Ball festhalten
will. Dieser schlicht anschauliche Kampf mit dem Objekt,
dies Denken mit den Gliedern, dies ernsthafte HerumbeiBen
an einem Ratscl, dessen Losung ftir die iiberragende Weisheit
des Zuschauers so simpel ist — das ist ebenso lustig wie
Chaplin und ebenso unheimlich gleichnishaft. Sehr geschickt
hat man versucht, nicht nur das Kind sondern auch seine
Welt zu zeigen. Das noch ungegenstandliche Lichterzrucken,
das den Saugling aufregt, die herrlich dunkle Hohle unter den
Sprungfedern des Sofas, der Hinterhof der Mietskaserne,
voller Schmutz und Gefahr, aber auch voller Herrlichkeiten:
Katzen, Leierkasten, gluhendes Eisen in der Schmiede, Brief-
trager, Teppichstange, Kellerloch und, oh!, nasser Mortel in
einem Maurertrog. Es ist schade, daB die Produktionsfirma,
der das Zustandekommen dieses sehr sehenswerten Films zu
danken ist, es sich nicht hat verkneifen konnen, ihn Mdem Ge-
schmack des groBen Publikums naher zu bringen" durch kostii-
mierte Wiegenliedersangerinnen, einen jah durch die Zweige
brechenden Vollmond und eine salbungsvoll deklamierende
Unsichtbare, die dem Publikum unbekannterweise miBfiel.
Ahnliches durfte man befiirchten fiir die Verfilmung von
Erich Kastners Kinderroman „Emil und die Detektive". Wurde
sich der Dieb Grwndeis nicht als der ehemals im Zuchthaus
verschollene Vater Emils entpuppen und von dem Sohn auf
den Weg des Gerechten gefiihrt werden? Wiirde nicht die
GroBmutter in eine unerwiderte Leidenschaft zu dem Portier
des Hotels Biedermann verfallen? Nichts dergleichen geschah.
Die Ufa, der Produktionsleiter Stapenhorst, der Regisseur
Lamprecht und der Autor Wilder haben einen sauberen, lusti-
gen Film gemacht. Emil und Pony Hiitchen, ganz nach MaB
gearbeitet, werden keinen der jugendlichen Leser entta/uschen.
Die kleinen Detektive scheinen sich unter den Lampen des
856
Onkel Lamprecht wic zu Hause gefiihlt zu haben. Und dies
Wohlbehagen springt iiber.
Die Jungen haben hiibsch und vergniigt gespielt. Der
Madchenfilm „Madchen in Uniform", hergestellt vom Frohlich-
studio, gehort zu den groBen Ausnahmeleistungen des deut-
schen Films. Ohne ziu verniedlichen, ohne durch billige Ten-
denzeffekte zu verscharfen, hat man die heikle Geschichte aus
dem potsdamer Madchenstift verfilmt. Mit unglaublichem Ge-
schick sind die Rollen besetzt, die Figuren herausgearbeitet
(Regie; Leontine Sagan). Dorothea Wieck, eine wundervolle
Erzieherinnenmischung: warmes Herz und kalte Aussprache,
schon und leise Verkitscht, preuBisch mit einem SchuB Wy-
neken und hinreiBend in der Bewegung. Der Lehrkorper, pa-
dagogische Riesenechsen aus der Steinzeit, diirre Gespenster
und doch nicht ohne jene wichtigen Augenblicke, in denen er-
schreckend und peinlich der Gefiihlston aus der Jungfer
bricht. Aufgeweicht von Tranen und Schwarmerei und in
ihren potsdamer Treibhausgefuhlen doch keinen Augenblick
unecht — Hertha Thiele, Einen kleinen BlumenstrauB fiir das
Madchen Edelgard. Aber man muB sie alle loben. Dieser
Film heiBt nicht nur im Programm ein „Gemeinschaftsfilm".
Noch im kleinsten Detail wird die Solidaritat aller Beteiligten,
der kultivierte Geist dieser hoffnungsvollen Gruppe deutlich.
Ein Film ohne Manner. Vor allem ohne Manner aus der
FriedrichstraBe. Ein Film, in den man vermittels Notverord-
nung alle Filmgegner treiben sollte,
Drei Kinderfilme. Drei schone Abende,
Auf dem NachttiSCfl von Peter Panter
LJerr Pietsch, eines von Glasbreaners himmlischen Geschopfen, geht
** aufierordentlich besoffen Unter den Linden spazieren. Und ras-
selt mit seinem Stock eine Ladenjalousie an. „Det kann ick'*, sagt
Pietsch. ,,Dafor bin ick Mutter."
Louise Diel „Ich werde Mutter" (bei Carl Reifiner in Dresden
erschienen). Ja . . . Es hat also eine Frau die Gefuhle ihrer Mutter-
schaft beschrieben. Vierhundert Seiten; es steht alles drin, was einer
gebildeten Frau durch den Kopf geht, wenn das Kapitel „Schwanger-
schaft" angeschlagen wird, Ich habe mich bei der Lektiire immerzu
geschamt. Kennen Sie das, wenn man sich schamt, weil einer auf
dem Podium stecken bleibt? Frau Diel bleibt nicht stecken.
Das Buch ist in der Empfindung sauber, an keiner Stelle kokett.
(Die Frau ist verheiratet. Ware sie es nicht, nie hatte sie den Mut
besessen, dieses Buch zu schreiben.) Die dargestellten Gefuhle sind
wahr, genau so hat die Frau sicherlich gefiihlt. Das Buch ist durchaus
anstandig gemeint Und es ist von einer so erschutternden Durch-
schnittlichkeit, daB das Wort Strindbergs als Motto davorstehn sollte:
„Wahres Muttergefiihl kann nur ein Mann empfinden." Was wiederum
Frau Diel nicht verstehen wird, denn sie liebt doch ihren kleinen Jungen.
Wir werden uns rasch klar machen, welche Schicht hier spricht.
wenn wir das Buch da betrachten, wo es lustig sein mochte. Es ist
Geschmackssache: mir versucht dieser neckische Familienhumor, der
den Arzt durch vierhundert Seiten hindurch MDoktorchen" oder „Dok-
tor" ohne Artikel nennt, etwa jene Gefuhle, uber die Schwangere mit-
unter klagen. Ich habe immerzu nachgedacht, warum es beim Zu-
sammenklang meines Nachttisches und dieser Mama einen MiBklang
gibt. Jetzt weiB ich es.
857
Muttergeffihle mogen restlos gut sein. Die Beziehung dcr Ge-
schlechter zueinander ist es mitnichten. Der Partner, sagt ein viel
gelesener Kitschfranzose in einem Augenblick der Erleuchtung, der
Partner in der Liebe ist immer auch der Feind. Nun waren zum Bei-
spiel die Untertanen der deutschcn Landesmutter aus dem Jahre 1910
gewiB keine restlose Freude — sie bekamen ihre Kinder durch Zu-
stellung der Geburtsurkunde oder durcb Blutenstaub, jedenfalls nicbt
auf naturlichem Wege, was man, wenn man sie sah, auch gut verstehn
konnte. Dock Gott Dewahre uns vor der neuen Ausgabe, fur die das
alles frei, naturlich, erlaubt, gdttlich, menschlich und sonst noch aller-
hand istl Das ist ganz furchtbar. Ftiblen diese Frauen nicbt, wie
scbamlos sie sind? Sie ftiblen es nicht. Es stehen in diesem Buch
Dinge, wie zum Beispiel die behaglich angeschnittene Frage, ob man
auch wahrend der Scbwangerschaft Geschlechtsverkehr pflegen durfe . . .
was sagt eigentlich Herr Diel dazu? Findet er das schon, daB seine
Frau dergleichen drucken laBt? Ich weiB schon: dem Reinen ist alles
rein. Siqherlich. Und dem Flanellnen ist alles Flanell, was gewiB
nicht auf die polizeilich gemeldete Frau Louise Diel bezogen werden
soil. Eine, die nicbts ware als Hure, wenn die ein Kind bekame, das
ginge nicbt gut. Eine, die nichts ist als Mutter, wenn die liebt . . . das
geht auch nicht gut. Es ist, wie wenn jemand mit Dynamit backe,
backe Kuchen macht. Ein Amor, dem seine Mama einen Wickel um
den Hals getan hat, damit er sich nicht erkaltct,
Eines hat mir einen kleinen Schlag gegeben, das sind die Bild-
beigaben des Buches. Sie stammen von Kaethe Kollwitz. Ich kann
gar nicht verstehn, daB sie da mitgetan hat, Immerhim das Buch
wird ein beliebtes Weihnachtsgeschenk gebildeter, aber schwangerer
Mittelstandsfrauen abgeben.
Uber „Berlin, Wandlungen einer Stadt" von Karl Scheffler (er-
schienen bei Bruno Cassirer in Berlin) wollen wir rasch binweggleiten.
Sein wunderschones ,, Berlin, ein Stadtschicksal", das im Jahre 1910
erscbienen ist, bat er neu bearbeitet, aber alles, was in dem alten Buch
zu Ende formuliert und mit bester Eindringlicbkeit gesagt wurde, ist
nicht mehr da. Geblieben ist ein Buch uber die Museen der Stadt,
tiber ihre Architektur . . . nirgendwo aber. wirken diese Dinge so auf-
geklebt wie in Berlin. Ich habe nie verstanden, daB es von Wichtig-
keit sein kann, zu untersuchen, wieviel Cezannes dieses Museum hat
und wie wenig Liebermanner jenes — das Schefflersche Buch wirkt
unendlich vorgestrig, was der Autor keineswegs ist, Es geht allem,
was den Berliner von heute brennend interessiert, sorgfaltig aus dem
Wege und wandelt auf Boskettwegen, die mir auf dem Mond zu liegen
scheinen. Mit Berlin hat das Buch nicht viel zu tun.
Drei Kriegsbucher, ein ganzes und zwei halbe.
Das ganze heiBt „Im Sturm urns Niemandsland" von dem iri-
schen General Crozier (erschienen bei Paul Zsolnay in Wien). Be-
reute Rohheit, oder: Nachstes Mai machen wir es grade so,
Der Herr General macbt sich und uns wenigstens nichts vor.
„Auf dem Grunde liegen die zwei toten Deutschen im Stahlhelm,
noch immer unbegraben, wahrend zehn Yard entfernt in einem saubern
Grab mit grobem Kreuz und friscber Inscbrift die menschlichen Ober-
reste des letzten britischen Soldaten der 119. Infanteriebrigade ruhen,
der ,im Kriege gefallen ist, den Krieg zu enden'. Wir lesen die In-
schrift: Er starb fur sein Vaterland. ,Was soil mit den zwei Kerlen
in dem Loch da geschehen?' fragt Andrews leichthin, ,ich nehme an,
sie starben auch fur ihr Vaterland.' — ,Das schon r antworte ich, ,aber
ungliicklicherweise auf der falschen SeiteV* Das ist Europa, und wir
haben dem nichts hinzuzufugen.
Hocbstens, daB die britische Nation ihren friihern Welterfolg
einem schrankenlosen Nationalismus verdankt, der besonders peinlich
schmeckt.
858
Das Buch hat alle kriegerischen Eigenschaften: es ist stcllenwcise
hochmiitig, ungebildet und im Grunde ein bifichen dumm. Wo der
Verfasser Ironie gibt, ftihlt er das nicht einxnaL Wenn er Douglas
Haig beschreibt, wic er vorbeireitet, „aufrecht auf seinem Offiziers-
pferd, einen Stahlhelm und eine Gasraaske zur Vorsicht mit sich fiih-
rend", weil man ja nie wissen kann... so ahnt er nicht, daB er hier
die Karikatur dieser sogenannten Generale aufgemalt hat. Ubrigens
ist das Buch schlecht ubersetzt.
Zwei halbe Kriegsbiicher; eines von einem schweizerischen Sol-
daten, zu lesen braucht man es nicht, aber anblattern und lachen kann
man schon, „Marsch im Jura 1916/17'* von Max Oederlin (erschienen
bei Grethlein & Co, in Zurich). Das Buch ist deshalb so unwider-
stehlich komisch, weil dieser Herr Soldat gar nicht gefuhlt hat, wie
nichtig seine Manover und Biwakabenteuer neben dem Krieg gewesen
sind. Wenn er noch gute Grenzschilderungen gegeben hatte! Nichts
davon. Die harten Krieger, die naturlich im Ernstfall genau so gute
Soldaten wie die Deutschen gewesen waren, spielen hier schweiB-
gebadet Billard und trinken manches Glas Bier.
Wenn schon von der Schweiz im Kriege die Rede ist, dann halte
man sich an andre Zeitdokumente,
„Grenzwachkompagnie 58/IIL Lieber Freundl Vier Wochen lang
lag ich bei der Ruine Landskron, Es ist in der Nahe von Basel. Von
dort aus kam ich ins erste Treffen, weil Franzosen durch das Leimen-
tal nach Basel und weiter durch die Schweiz marschieren wollten. Es
kam ihnen bose zu stehn. Du kennst meine Ansicht wie ich die Deine.
Leider war ich grade auf Patrouille und war der erste, der die roten
Hosen bemerkte. Ich hatte nur vier Mann bei mir, was tun? Ich
straubte mich zu schieBen, so rief ich die Kerle an, zuruckzugehen.
Erst verstand die Bande nicht deutsch, dann kamen sie naher und
plotzlich stoBen sie auf uns. Zwei Kameraden fielen, mich selbst
wollte die Gesellschaft lebendig haben. Ich hatte aber keine Lust zum
Mitgehen und Du weiBt, ich habe manche Auszeichnung im SchieBen
geholt. Es ist allerdings ein bitteres Gefuhl, schieBen zu imissen. Ich
glaube nicht, daB es moglich ist, daB die ersten Schusse treffen
konnen, so besudelt ist man. Zudem kommt man in kalten SchweiB
und erst nach und nach uberlegt man genau."
Das ist zitiert nach den „Kriegsdokumenten", die Eberhard Buch-
ner gesammelt hat (erschienen bei Albert Langen in Munchen, zu einer
Zeit, als der Verlag noch nicht nationalistisch war), Diese Bande zu
durchblattern, das ist eine sehr nachdenkliche Lekture, Es ware mog-
lich, beinah neben jede Meldung die Wahrheit zu setzen; das Ganze
wirkt wie das mifitonende Geschrei aus einem Irrenhaus. Eine Fund-
grube fur Zeitungsleute, die ihre Sache ernst nehmen.
Das zweite halbe Kriegsbuch spielt im sogenannten Frieden und
behandelt die „Affare Zabern". Verfasser ist einer der Beteiligten:
der Sergeant Hoflich (erschienen im Verlag fur Kulturpolitik in
Berlin).
Zabern — ist das lange her! Im Jahre 1913 erlaubten sich einige
Offiziere Obergriffe gegen die elsassische Bevolkerung, und es ging
hoch her: die Presse schaumte, der Reichstag drohnte, und die Offi-
ziere machten Karriere. Dann zogen alle in den Krieg und hatten
Zabern vergessen, Nicht so die Elsasser,
Was der Sergeant in durchaus gemaBigtem Tonfall berichtet,
wohlgeschult an kaiserlichen und republikanischen oder sagen wir
besser • nachkaiserlichen Zeitungen, das zeigt, wie der Apparat immer
starker ist als alle Vernunft. Hier war nun nicht viel Vernunft: so,
wenn der Oberst von Reuter, sicherlich nicht einer der schlimmsten,
einen Verhafteten anbriillt: „Wollen Sie gefalligst die Mutze abneh-
men vor einem preuBischen Oberst I" — wie der Leutnant von Forst-
859
ner in der Instruktionsstunde sagt . . , aber das war schon schwach-
sinnig, denn grade ein patriotischer Of fizier diirfte so etwas nicht
sagen: Der Leutnant hatte gel'egentlich einer Instruktion iiber Deser-
teure geaufiert, daB solchen Leuten nichts weiter librig bleibe, als in
der Fremdenlegion Unterschlupf zu suchen. Sie haben dann keine
andre Ehre mehr als unter der franzosischen Fahne zu dienen, Dann:
„Auf diese Fahne konnt ihr scheifien." Man sollte das auf Fahnen
nicht tun.
Der Verfasser, Sergeant Hoflich, hatte die Soldaten aufgehetzt,
„im Falle der Notwehr" sofort von der Waffe Gebrauch zu machen,
als sei geschlagen zu werden fiir einen Soldaten schimpflicher als
fiir einen andern Menschen — und Forstner hatte hinzugesetzt: „Wenn
ihr dabei einen solchen Wackes iiber den Haufen stecht, schadet das
auch nichts, ich gebe euch dann noch zehn Mark Belohnungi" Und
Schersant Hoflich hinterher: „Und von mir noch drei Mark dazu!"
Soweit die kaiserliche Instruktion,
Man kann sich denken, was das im ElsaB, wo die moralischen
Eroberungen der PreuBen sowieso etwas diinn aussahen, fiir einen
Eindruck machte. „Boche" horten sie dann nicht gern, aber einen
Elsasser „Wackes" nennen — das ist ganz etwas andres. Dann gab
es den ublichen groBen politischen Klamauk, aber es war ein deut-
scher Klamauk, und so hatte er keine Folgen. Schant Hoflich driickt
das in unnachahmlicher Selbstverspottung, deren er sich bestimmt
nicht bewuBt ist, so aus: „DaB Reichskanzler und Kriegsminister —
trotz des mit iiberwaltigender Mehrheit ausgesprochenen MiBtrauens-
votums — auf ihrem Posten bleiben durf ten, ging uns nichts an und
war Sache des deutschen Volkes und des Reichstages." Und so war
es denn auch.
Was ist uns das heute noch? Der ahnungsvolle Verleger merkte
an, es seien alle Rechte vorbehalten, „auch die der Ubersetzung, der
Verfilmung und Verwendung fiir den Tonfilm . . /* Das ist es uns
heute.
Ludwig Bauer ,(Morgen wieder Krieg'* (erschienen bei Ernst Ro-
wohlt in Berlin),
Das Buch hat ein merkwiirdiges Schicksal: soweit ich das iiber-
sehen kann, ist es fast ganz totgeschwiegen worden. Warum wohl — ?
„Emir\ sagt ein altes berliner Lied, „Emil mit dem Doppelkinn, du
pafit in keene Wieje nich mehr rin!" Dieses auBerordentlich gescheite
Buch pafit in keine der heute geltenden Kategorien, es ist namlich mit
dem gesunden Menschenverstand geschrieben worden.
Der kommt nicht nur in Sachen Deutschland zu Folgerungen, die
nur in Deutschland als fiirchterliche Ketzerein gelten. Ich wunschte,
eine Hitlerregierung erfiillte wenigstens eine ihrer dreitausend Ver-
sprechungen, wenigstens diese eine. Sie rolle die Kriegsschuldfrage
noch einmal auf. Was wird sie ernten? Emporung? Grimmigen
Widerstand? Innere Einkehr der Feinde, wie diese Nazis glauben,
die von Europa nichts kennen? Sie werden auf vollige Verstandnis-
losigkeit stofien — es wird niemals zu ernsten Verhandlungen
kommen, weil es diese Frage nicht mehr gibt. Bauer sagt: „Nehmen
wir an, es geschahe ein Wunder, es wiirden heute zwei Briefe vom
Zaren und Poincare aufgefunden, Anfang Juli 1914 geschrieben, darin
stande schwarz auf weiB: wir fallen jetzt tiber Deutschland her, wir
sind gliicklich, daB endlich diese Gelegenheit gekommen ist, wir schie-
ben Deutschland die Verantwortlichkeit zu und werden so erreichen,
daB alle Welt unser Bundesgenosse wird — nun wohl, was wiirde
dann geschehn? Nichts. Es gabe eine Sensation, unendlichen Larm,
aber die Machte wiirden nicht wieder in Paris zusammenkommen, die
alten Grenzen neuerdings herstellen, die Wiedergutmachungen zuriick-
erstatten, die Vertrage zerreifien . . . Denn die Staaten sind nun so,
wie sie geschaffen wurden, sie tragen in sich das Recht des Be-
860
stehenden, Der deutsche Unschuldsbeweis ist undenkbar, weil es
eben keine deutsche Unschuld 1914 gibt; aber sogar wenn er unwider-
leglich erbracht werden konnte, wtirde er nicht mehr bewirken als
ein Achselzucken."
Die Vorschlage, die das Buch macht, urn dies en wahnwitzig ge-
wordenen Kontinent zu retten, diese Vorschlage erscheinen mir un-
zureichend. Eine Propagandastelle etwa gegen die nationale Luge * . *
das halte ich nicht fur durchfiihrbar. Es ist alles viel zu spat, und
man wird das auch niemals tun. Aber die Schilderung des Bestehen-
den, die Schilderung Europas, so, wie es nun einmal ist, die ist gut
gelungen. Esgibt einige deutsche Diplomaten, die wissen Bescheid —
sehr intelligent ist der adlige Durchschnitt nicht, aber so dumm ist er
wieder nicht, um nicht einigermaBen die deutschen Chancen zu sehn,
Sie wissen es. Es gibt ' Rererenten im Auswartigen Amt, die kennen
ihre Verhandlungspartner. Aber gestofien, geknufft und umbrullt von
den tobenden Stammtischen in Prenzlau und Sangershausen, in Greiz,
Gera und Weimar, stehn die Vertreter des Deutschen Reiches im Aus-
land da wie die Hanswurste: sie sollen etwas erreichen, was niemand
erreichen kann. Ludwig Bauer sieht, was kommen wird, erbarmungs-
Ios klar — fiir wen hat er das geschrieben?
Fiir die Majoritat der Deutschen einmal sicherlich nicht.
Fiir die haben die starkern Bat a ill one recht, so sehen sie auch
den chinesisch-japanischen Konflikt an — immer feste druff! Doch
gilt die Theorie von den starken Bataillonen dann nicht, wenn
Deutschland besiegt wird — dann ist Krieg bitterstes Unrecht, Krieg
mufi sein, aber nur, wenn Deutschland siegt. Wie die dummen Jun-
gen. Und sie freuen sich so, wenn dieser Volkerbund versagt!
Er mufi versagen, denn es gibt ihn gar nicht. Bauer setzt aus-
einander, wie gefahrlich die genfer Komodie ist: sie kompromittiert
eine gute Idee. Gibt es einen Volkerbund? Es gibt keinen. Das
glauben nur noch so brave Pazifisten wie Hans Wehberg — aber
die gibt es auch nicht, und so gleicht sich alles im Leben aus. Wir
werden uns im nachsten Krieg wiedersprechen.
Der Volkerbund existiert nicht, weil kein Staat auch nur auf ein
Partikelchen seiner absoluten Souveranitat verzichtet hat — und nur
so konnte er entstehen und bestehn. Deutschland hat am allerwenig-
sten das Recht, ihn zu kritisieren. Wer einen so barbarischen Natio-
nalismus will und bejaht, der mache seinen Krieg und schweige, wenn
von Pazifismus die Rede ist.
Ludwig Bauer aber sei alien empfohlen, die sich noch ein Rest-
chen jenes Menschenverstandes bewahrt haben, der heute als Ratio-
nalismus und Liberalismus von wild gewordenen Analphabeten ange-
prangert wird.
Wenden wir uns zum Schlufi freundlicheren Dingen zu.
Wenn einer. den Schnupfen hat und nicht ausgehn kann oder die
Grippe und nicht ausgehn will oder er ist Mutter und kann nicht aus-
gehn, dann lese er den „Prager Pitaval" von Egon Erwin Kisch (er-
schienen im Verlag Erich Reifi in Berlin). Das ist ein herrlicher
Schmokerl Aus alten Scharteken, aus dem Pitaval, aus eignen Er-
lebnissen tiit Kisch hier das, was er am besten kann; er erzahlt.
„Verzahl uns was!" sagen die Kinder, wenn sie sich langweilen. Es
ist zu schon. Pracht- und Mittelstiick die klassische Darstellung des
Falles Redl. Sehr gut, da& er das aufgenommen hat — der Band ist
einst bei der seligen t,Schmiede" erschienen, deren Inhaber fibrigens
Schule machen, denn es gibt allerhand Verleger, deren Abrechnungen
zu wiinschen iibrig Iassen. Was tut der Schutzverband? Er ist uneins
miteinander, und so vergeht alien Beteiligten auf das schonste die
Zeit. Nein, wir sind keine gefahrlichen Arbeitnehmer.
Auf. dem Nachttisch liegt noch vielerlei. Aber der Inhaber hat
sich in die Kissen zuruckgezogen und tut was — ? Er schmokert. Er
liest E. E. Kisch.
861
Hoffmanns Erzahlungen von Alfred poigar
f~\ ffenbachs phantastische Opert durch Kulissenzauber, Ballett,
^ musikalische Zutaten, wie auch durch das harte Mittel des
Dialogs zu einem pomposen Schaustiick gestreckt, Machtig
aufgebiasenes Theater (Reinhardt hat groBen Atem). Dem Zu-
schauer bangt, wie beim Straffblasen eines Luftballons, der
kritische Punkt konnte tiberschritten werden, an dem die Sache
platzen miiBte.
In den Absichten Reinhardts lag es wohl, ein Theater-
werk herzustellen, das breitestem wie auch sogenanntem bes-
seren Publikum behagen, das Massenabsatz finden und doch
hohem Anspruch geniigen solh Praktische Erwagungen, ge-
brochen durch kunstlerische. Oder umgekehrt.
Sehr schon sind die Dekorationen von Professor Strnad,
bewegliches Riesenspielzeug, an dem die Erwachsenen ihre
kindliche Freude haben. Den Weinkeller von Lutter und
Wegner, der Intimitat und Enge verlangt, in die f urchtbare Breite
der GroBen Schauspielhaus-Buhne einzupf lanzen, war nicht leicht:
links wird deshalb der Keller von einer Schankstatte flankiert,
die nur da ist, urn lastigen Leerraum zu fiillen, rechts von
einer schragen Schmal-Treppe, iiber die im bauschigen Monstre-
kostiim hinab- <und hinanzuschweben selbst der Grazie von
Fraulein Schuster Schwierigkeiten macht Nach jeder Er-
zahlung Hoffmanns taucht das Kellerlokal obstinat wie der auf.
Studenten in buntem Wichs beleben es, nach alter Operetten-
weise, mit Gesang, mit Humpen verschiedener Form, welche
gehoben werden, und tiberhaupt mit rauher Burschenherrlich-
keit. RegelmaBig erscheint im Keller die neu ausgedichtete
Figur der Stella, eben Fraulein Schuster, und spricht italisch
gebrochenen deutschen Text, der fiir den Ablauf des Opern-
geschehens ohne Bedeutung ist. Einmal tragt sie auch, be-
zaubernd liebenswiirdig, ein Liedchen von Offenbach vor (ich
glaube, aus dem „Madchen von Elizondo"), dcssen siiBe,
zwischen Wehmut und Obermut schwingende Zartheit sich ins
Herz schmeichelt. Gleichfalls hartnackig anwesend bei Lutter
und Wegner ist Peter Schlemihl, der hier auch im dramatischen
Sinn keinen Schatten wirft, und in der Kneipe immer nach
dem Schlussel verlangt, von Mai zu Mai drangender. Die de-
korativen GroBiiberraschungen des Abends bringt die Giulietta-
Szene, Hier entfaltet sich, magisch belichtet und bedunkelt,
Venedig („wie wirklich"), alles, nicht nur die Lagune, fliefit,
Hauser und Briicken wandern stumm, der Palazzo inmitten,
Architektur in LebensgroBe, kreist um seine eigne Achse, und
die Prunkgondel, umrauscht von den sanften Wellen der Bar-
carole, windet sich sachte zwischendurch, wie tags darauf die
Kritik, leis, leis, mein Gondolier, durch ihre kiinstlerischen
Einwande, um die mit unbeschadigtem Enthusiasmus herum-
zukommen wohl schwer gewesen sein mag, Ein feiner Anblick
ist Spalanzanis Haus, schimmernd im matten Dunstlicht vieler
illusionarer Kerzen, und glanzend von Strnad hinphantasiert ist
auch das letzte Bild, die Biihne der alten berliner Oper mit Aus-
blick auf bzw. Einblick in den Zuschauerraum, in dessen Logen,
vier Etagen hoch gebaut, Publikum Publikum agiert, Es ver-
862
laBt, da Hoffmann seiner geliebten Stella auf der Szene eine
solche macht, panikartig das Theater. Dieses Bild ist zur Oper
neu hinzuerfunden, ein iippiger letzter Gang des iippigen
Schmauses, zu dem im GroBen Schauspielhaus, das mit Gasten
verschiedenen, auch unersattlichen Geschmacks rechnet, ge- -
deckt wurde. Noch ein allerletzter Gang hatte, wie aus dem
Programm ersichtlich ist, folgen sollen, eine SchluB-Szene auf
dem Opernplatz. Dort spielt auch die erste Szene. Sie kam
durch den Wegfall der letzten eigentlich um ihren dramatur-
gischen Sinn, steht jetzt da wie ein; Klammer geoffnet, dem
das zugehorige: Klammer geschlossen nicht folgt. Statt jener
frappanten Mummer, Krach im Opernhaus, hatte naturlich auch
etwas andres zur szenisch-dekorativen Bereicherung des
Werkes diesem aufgesetzt werden konnen, etwa ein Erdbeben,
ein Feuerwerk, ein Empfang Hoffmanns in der Dichterakade-
mie, eventuell auch sein AusschhiB aus dieser, oder sonst
was Erregendes. Aber Theater im Theater, Theater zum
Quadrat, ist nun einmal ein Lieblingsspiel des potenzierten und
potenzierenden Theatermannes Reinhardt.
Ober Offenbachs noch im Schweren geisterhaft leichte,
hier auch dunkle Fittiche regende Hoffmann-Musik, die Lebens-
fremdc nicht verneint, aber Lebensangst bekennt, halt Leo
Blech die schutzende, abwehrende Hand. Er macht den be-
sonderen Absichten der Neuinszenierung ein MindestmaB an
Zugestandnissen; fast hat man den Eindruck, als ware manch-
mal, um der Oper zu sichern, was der Oper ist, sein Taktstock
dem viel zitiertenZauberstab Reinhardts in die Quere gekom-
men. Zur Gipfelhohe gelangt das Musikalische der Auffiihrung in
der Antonia-Szene, da, wo es auchimOeuv're selbst an dieBezirke
des Ekstatischen und Tragischen riihrt, Hier hat auch Reinhardt
seine beste halbe Stunde. Hier sind seine Sanger schauspiele-
risch gelockert, die dramatische Bewegung groB, in steter
Steigerung, und aus dem Geist der Musik vollzieht sich Geburt
der Tragodie, Schaden erleidet die Unheimlichkeit der Szene
durch das hell belichtete Portrat von Antonias verstorbener
Mutter, das sich, im Rahmen seines Rahmens, am Terzett be-
teiligt, Ein Portrat, dessen Busen im Gesange wogt, ver-
scheucht die Spukgeister, die es rufen sollte. Oberzeugende ^
Wirkung erzielt die Regie auch im Giulietta-Bild, mit dem
Gestalten-Zug, der an Hoffmann voriiber gespenstert und so
unwirklich schreitet, daB der Eindruck geweckt wird, dieser
Zug konnte wie durch Luft auch diurch Mauern gehen.
Zweimal tobt sich, die Sache und der genius loci wollen
es, Ballett aus, Einmal sehr apart, im wilden Puppentanz bei
Spalanzani; das andre Mai bei Giulietta in einem gequalteri
Bacchanal, wo es, sowohl was Hiipf en als auch . was Springen
anlangt, entschieden hoch hergeht und von dem man also
rechtens sagen darf: gehupft wie gesprungen.
Hans Fidesser, mit seinem weichen, warmen Tenor, ist ein
Hoffmann, wie er in den Noten, aber nicht wie er, als von
Gesichten heimgesuchter, phantasiegequalter Dichter, im Buche
steht. Baklanoff kommt erst als Doktor Mirakel recht zu
Stimme und Teufelei. Dem Zauber von Jarmila Nowotnas
noblem, empfindungssattem, des lyrisch-zarten wie des hoch-
863-
drama Lischen Ausdrucks gleich fahigem Singen muB unter-
liegen, wer Musik hat in ihm sclbst. Ihre Erscheintung ist
Wohllaut dem Auge, wie cine zwcitc mclodische Stimme
schmiegen Bcwcgung und Gebardenspiel der Linie des Ge-
sangs sich an. Paul Graetz crscheint in mannigfacher Gestalt.
Als altbcrliner Theaterdiener gelallt er mir am besten, Sein
bittres Puppenlied sitzt gut in jeder Nuance, und als kastrier-
ter Zwerg (kaum verstandlich die Schwache Giuliettas fur die-
sen) treibt er es sehr unheimlich. Aber, wie man in judisch-Wien
sagt: ich hab* schon einen grofieren Zwerg gesehen. Niklaus,
Hoffmanns Freiund, wurde, daB die Figur sich riinde, mit Text-
Stroh ausgestopft. Niklaus hat immer wieder nur bestiirzt zu
sein uber des Freundes Mar ot ten und immer wieder ungedul-
dig zii rufen: ,,Komm schon!*' Es ist zubewundern, wie m«nsch-
Uch liebenswert, fein und humorig Hermann Thimig diese
elende Rolle durchfuhrt, mit welchem Takt er da ist, ohne doch
eigentlich da zu sein.
Das Gespenstische, Damonische, Phantastische, kurz, die
„ Hoffmanns Erzahlungen" zugehorigen Attribute kommen in
Reinhardts Auffiihrung zu kurz. Aber sie selbst hat, in Zeit-
lauften wie den heutigen, schon ihr Gespenstisches !
Formel dieses erstaunlichen Theater-Abends, dieser bis
zur Verfettung gefiillten Open Qualitat, gemindert durch
Quantitat.
Banken der Zukunft von Bernhard Citron
^[ icht die politische Absicht einer herrschenden Regierung,
sondern die okonomische Tendenz einer herrschenden
Komjunktur bestimmt im allgemeinen die Entwicklung des
Wirtschaf tssystems. Die politische Haltung der ersten Nach-
kriegsregierung war zwar keine ausgesprochen antikapita-
listische, aber doch auf eine Einschrankung der Machtstellung
der Privatwirtschaft gerichtet; dennoch eilte der Hochkapita-
lismus seinem Kulminationspunkt entgegen. Die gegenwartige
Regierung ist zweifellos uber jeden Vorwurf der Kapitalfeind-
lichkeit erhaben, aber unter Briinings Kanzlerschaft hat die
Sozialisierung der Banken begonnen. Selbst der allmachtige
Diktator Italiens hat nicht die Wirtschaf t nach seinem Plan
geformt, sondern seine Plane wurden durch die wirtschaf tliche
Entwicklung beeinfluBt. Die Grundung einer halbstaatlichen
Holding-Gesellschaft der italienischen Industrie durch die Um-
bildung der Banca Commerciale Italiana wurde unprogramm-
maBig nur durch die konjunkturelle Entwicklung diktiert.
Von den fiinf berliner GroBbanken, den „Big five" der
BehrenstraBe, verdienen heute nur noch zwei diesen Namen:
die Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft sowie die Com-
merz- und Privatbank. Darmstadter & Nationaibank und
Dresdner Bank sind Reichsinstitute, und die Berliner Handels-
Gesellschaft ist nach ihren eignen Angaben uberhaupt keine
Grofifoank, da sie wed'er Filialen noch Depositenkassen unter-
halt, sondern eine groBe Privatbank, Aber auch die beideh
auBerlich noch ganz selbstandigen GroBbanken haben ihr Ge-
864
sicht verandert. Sic besitzen keinc verbriefte, aber eine tat-
sachliche Reichsgarantief von der Gebrauch ztu machen ihnen
sichcrlich erspart bleiben wird. Aber diese auch nach Ansicht
dcs breiten Publikums vorhandene stille Garantie des Reichcs
fur samtliche GroBbanken hat bewirkt, daB der Kreditoren-
schwund nicht so rapide Fortschritte gcmacht hat wie in den
sicben Monaten vom 14. September 1930 bis zum 13. Juli 1931.
Betrachtet man die Monatsbilanzen der Banken vom 31. Ok-
tober, so wird man bei alien Instituten — mit und ohne un-
mittelbare Reichsinteressen — Parallelerscheinungen sowohl
auf der Aktiv- als auch auf der Passivseite feststellen. Das
Vertrauen der Offentlichkeit zu den Banken ist eben so groB
oder gering wie das Vertrauen zum Reich. Bei dieser engen
Verbundenheit zwischen offentlicher Hand und privaten Kre-
ditinstituten ist es ganz natiirlich, daB die Regierung auch
dort EinfluB besitzt, wo sie bisher weder als Garant noch als
Majoritatsbesitzer offiziell zur Erscheinung gekommen ist. Bei
der Commerz- und Privatbank ist dieser EinfluB noch vertieft
worden durch das personliche Vertrauen, das Direktor Fried-
rich Reinhart beim Reichskanzler genoB. Diese Sympathien
mogen d/urch die Vorgange bei SchultheiB-Patzenhofer, die
Herrn Reinhart so kompromittiert haben, daB er sein Mandat
im Wirtschaftsbeirat niederlegen muBte, etwas abgekiihlt wor-
den sein. Aber die Faden, die zwischen Wilhelm-StraBe und
Commerzbank laufen, sind bereits so engt daB man sie nicht
mehr losen kann. Der Obergang einiger Herren der Commerz-
und Privatbank in die Verwaltung der Dresdner Bank wurde
bereits vor einem Vierteljahr als Vorstufe zu einer Vereini-
gung beider Institute angesehen. Man zogerte wieder, da die/
Darmstadter Bankf deren VerauBerung an die Industrie als ge-
scheitert angesehen werden muBf in die Kombination ein-
bezogen werden sollte. Fast jeder Tag bringt einen neuen
Plan. Einmal sollen alle drei Institute miteinand'er verschmol-
zen werden, das andre Mai soil die Genossenschaftsabteilung
aus der Dresdner Bank herausgenommen und der PreuBischen
Zentralgenossenschaftskasse angegliedert werden, dann wieder
ist von einer Fusion Dresdner Bank-Commerzbank die Rede
ohne Einbeziehung der Danatbank, die ganz zerschlagen wer-
den soil. Umgekehrt verlautet plotzlich, Danat- und Com-
merzbank gehen zoisamment die Dresdner Bank bleibt in ihrer
gegenwartigen Verfassung bestehen. Dann wird weiter kom-
biniert, indem man die Reichs-Kredit-Gesellschaft in eine der
genannten Moglichkeiten einbezieht. Man weist darauf hin,
daB Samuel Ritscher, das Vorstandsmitglied der Reichs-Kredit-
Gesellschaft, sich in letzter Zeit sehr aktiv als Mitglied des
Kreditausschusses der Dresdner Bank betatigt. SchlieBlich
sprach man eine Zeitlang sogar davon, daB eine Zusammen-
legung der Filialen stattfinden sollte, an der sich auch die
Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft beteiligen wurde.
Vorlaufig liegt gerade diese Losung noch in weitester Feme,
die Deutsche Bank sieht die Bildung eines neuen Blocks neben
sich gar nicht gern, sie wird freiwillig kaum bereit sein, diese
Grundung auch noch zu fordern. Die letzte Entscheidung uber
jede Art des Zusammenschlusses oder auch nur karteliahn-
865
lichcr Bindungen liegt beim Reich. Es ist selbstverstandlich,
daB jede Regierung, auch wenn sic dcr Privatwirtschaft noch
so wohlwollend gesinnt ist, Einf hifi auf die Bank en behalten
will, die sie garantiert und subventioniert hat.
Es fragt sich nun, welche Auf gaben den Banken kiinftig
zufallen sollen. Da sie vom Reich in einer mehr oder weniger
bestimmten Form garantiert sind, miissen sie die sichersten
Geschaftszweige, die im Interesse einer normalen Verkehrs-
wirtschaft liegen, in erster Linie pflegen. Dahin gehort das
Wechsel-, Rembourse- sowie das regulare Konto-Korrent- und
Depositengeschaft. Da fur die privaten Bankgeschafte, die fur-
die Allgemeinheit keine so groBe Bedeutung wie die GroBban-
ken haben, das Reich naturgemaB niemals garantieren wtirde,
haben diese iiberhaupt kaum noch Kundenkreditoren. Solche
Firmen brauchen zwar einen Run auf ihre Schalter nicht zu
fiirchten, sie haben aber auch nicht die Moglichkeit, Geschafte,
die Kapital erfordern, zu pflegen. Ganz von selbst ist das
private Bankgeschaft von jenen Sparten, die wir als die eigent-
lichen Geschaftszweige der Banken bezeichneten, abgedrangt.
Also ergibt sich auf sehr naturliche Weise, daB den Bankiers
eine andre Aufgabe zufallen muB, die fiir die halbstaatlichen
Institute nicht mehr in Betracht kommen kann — das eigent-
liche Borsengeschaft. Die Unterschiede zwischen kleinern
Bankiers, denen wenig Kundschaft geblieben ist, und groBen
Maklerfirmen, die sich grade in der gegenwartigen borsen-
losen Zeit Privatkunden zugelegt haben, sind verwischt. Sollte
— was doch schlieBlich anzunehmen ist — die Borse wieder
einmal ihre Pforten offnen, so wird sich an diesem Zustand
wenitf andern. Es ist nicht anzunehmen, daB die Makler, die
Kundschaft haben, auf diesen Geschaftszweig wegen gewisser
bestehender Vertrage mit der Bedingungsgemeinschaft des
Bankgewerbes verzichten werden. Ebensowenig darf man er-
warten, daB die Kund'en in hellen Haufen zum Bankier zuriick-
kehren. Es entsteht aiuf diese Weise eine neue, aus Maklern
und Bankiers zusammengesetzte Schicht reiner Borsenfirmen,
die das Eigengeschaft betreiben und in beschranktem MaBe
auch Borsenkundschaft haben. Vergleichbar waren diese Fir-
men mit den englischen Brokers. Daneben wird der Makler,
der im Markt steht, Geld- und Brief kurse nennt, und
dessen eigentlicher Erwerb im Courtageverdienst besteht, er-
halten bleiben. Dieser Makler ist mit dem Jobber der eng-
lischen Borse wesensverwandt.
Welche Rolle werden nun die GroBbanken an der Borse
spielen. Bleiben wir weiter bei dem englischen Vorbild, so
miissen wir sagen — keine. Ginge es nach dem Willen man-
cher Bankiers1 dann wtirde den Banken der Eintritt in die
Borse auf ewige Zeiten verboten sein. So rasch wird die Ent-
wicklung in Deutschland nicht vor sich gehen. Die Nischen
in der BurgstraBe, in denen die GroBbanken ihre Platze haben,
werden ihnen vorlaufig bleiben. Aber man wird bald' sehen,
daB nicht mehr die erste Garni tur der Bankdirektoren zur
Borse kommt. Da die vom Reich ,kontrollierten Institute keine
gewagten Spekulationen machen diirfen, wird der Besuch der
Borse fiir die leitenden Personlichkeiten uninteressant sein.,
866
Bemerkungen
Wenigstens die Schrelbmaschine
p\er Oberreichsauwalt gab den
» guten Ratt als Beweismittcl
wenigstens die Schreibmaschine
des Doktor Best zu beschlagnah-
men, mit der das Putsch-Doku-
ment hergestellt wurde."
Es war einmal eine Schreib-
maschine. Sie stand im Herren-
zimmer eines hessischen Guts-
hofes, Gerichtsassessor Best .
machte auf ihr allerlei lustige
Schreibubungen, Einige Herren
standen her una nud sahen inter-
essiert zu. Es war ein netter
Herrenabend.
Als die Schreibubungen des
Herrn Gerichtsassessors Best be-
endet waren, verschloB man das
harmlose Schriftstiick in einem
Geheimfach. Dort lag das Papier
eine gute Weile und wartete auf
den Sieg des Dritten Reichs,
Aber statt dessen kam diebose
Polizei und nahm die unschuldi-
gen Schreibubungen mit. Die Re-
gierung untersuchte den Inhalt
und fand, dafi dieser Herren-
abend eine staatspolitische Ver-
schworung sei , eine unleugbare
Offenbarung des Schreckensregi-
ments. Das Dokument zeigt die
Chaotiker in voller Tatigkeit. Es
war die Enthiillung eines Wunsch-
bildes: So werden wir handeln,
egal ob legal oder illegal, wenn
die Stunde kommt. Wer nicht
dem Hakenkreuz pariert, wird
erschossen.
Die Regierung tragt die kleine
Schriftprobe brav zum obersten
Gericht. Der Mann im roten Ta-
lar setzt die Brille auf, besieht
die Eingabe von alien Seiten,
dreht sie um und um, die Brille
lauft an, und er sagt: Ich kann
nichts finden, aber man beschlag-
nahme sofort die Schreib-
maschine.
Dokument hin — Dokument
her; die Schreibmaschine, die
Schreibmaschine! Der Geist des
Dokuments ist egal: die Schreib-
maschine, die Schreibmaschine!
Der Verfasser ist legal, aber die
Schreibmaschine, die Schreib-
maschine ist sofort zu verhaftenf
Ein hiibsches, rundes Beweis-
mittel erfreut des Juristen Herz.
Die Schrift ist deutbar; sie unter-
Hegt den Auslegekiinsten des For-
malrechts. Aber der Mensch ist
ein Je-nachdem-Fall des Ge-
richts. An Stelle des Menschen
wird dieMaschine beschlagnahmt.
Naturlich, die sechsundzwanzig
Buchstaben ihres Alphabets sind
schuldig! O diese bose Schreib-
maschine! Was lafit sich aus
ihren sechsundzwanzig Buchsta-
ben nicht alles machen!
Die politische Linke allerdings
schreibt alles mit der Hand (zum
Beispiel so verruchte Dinge wie
eine Kritik am Heeresetat); und
in Ermangelung der Schreib-
maschine wird formal -logischer-
weise diese Hand selbst gepackt
und gefesselt ...
*
Einige Jahrzehnte spater.
Schauplatz: ein kulturhistorisch.es
Museum.
„Zur Rechten sehen Sie, meine
Damen und Herren, die spanische
Jungfrau und andre Marterwerk-
zeuge des dunklen Mittelalters.
Nunmehr kommen wir in die Ab-
teilung des Dritten Reichs. Da
sehen Sie zunachst eine Schreib-
maschine; aufierlich wenig auf-
fallend, ist sie als Leihgabe des
Seien Sie unbesorgt
denn Sie werden mehr erreichen, als Ihre kuhnsten Traume Sie erwarten
lassen kronen, wenn Sie den Anweisungen folgen, die in den Buchern
von B6 Yin R& auch Ihnen dargeboten sincfc „Das Geheimnis8, „Das Buch
vom lebendigen Gotttf, „Das Buch vom Jenseits8 irnd „Das Buch vom
Menschen8 diirften in erster Linie fiir Sie in Prage kommen, wenn Sie das
Gesamtwerk von Bo Yin Ra noch nicht kennen, das heute in alien fttnf
Weltteileh seine Verehrer und Schiiler hat. Verlangen Sie kostenfrei
unsere Broschiire von Dr. jur. Alfred Kober-Staebelin : , Weshalb B6 Yin R& ?8
Kober'sche Verlagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel-Leipzig.
867
Reichsgerichts dennoch bemer-
kenswert. Untcr dem Rost und
Aktenstaub, den sie in den letz-
ten Jahren angesetzt hat, erken-
nen Sie noch die gotische Frak-
tur der Schriftzeichen, Es ist die
bertihmte Schreibmaschine, auf
der die Diktatur des Totschlags
gehammert worden ist. Dank der
sinnigen Vorsorge des Reichs-
gerichts ist der Nachwelt dieses
Beweisstuck aus Deutschlands
dunkelster Zeit erhalten geblie-
bcn'"" Nek
Poientlel de guerre
P\er Hebe Gott ist immer bei den
*-^ starksten Bataillonen, hat
schon Friedrich der Grofle gesagt
und hat damit das gleiche ge-
meint, was der Franzose Paul-
Boncour mit dem vielumstrittenen
Begriff „Potentiel de Guerre" be-
zeichnet, Nur daB mit dem Kriegs-
potential heute nicht mehr die
Starke der vorhandenen Bataillone
sondern die Fahigkeit, einen Krieg
auszuhalten, gemeint ist. Also die
Starke eines Landes an Eisenf
Kohle, Petroleum, Gold, Chemi-
kalien, Transportmitteln, Lebens-
mitteln und andrem. Manbraucht
also nur eine genaue Aufstellung
dieser Kriegskrafte fur alle Lan-
der zu haben, um im voraus den
Ausgang jedes kriegerischen Kon-
flikts in der Welt berechnen zu
konnen.
Den sozusagen mathematischen
Beweis hierfiir finden wir in der
soeben erschienenen neuen Schrift
von Otto Lehmann-RuBbiildt: t,Die
Revolution des Friedens*' (Laub-
sche Verlagsbuchhandlung), Nach
den dort zum erstenMalveroffent-
lichten ausgezeichneten Conrad-
schen Tabellen konnen wir uns
zum Beispiel den chinesisch-japa-
nischen Konflikt zahlenmafiig
vorstellen und je nach Ausgang
die neue Konstellation der Machte
und die daraus drohenden Folgen
im voraus ausrechnen. Das Kriegs-
potential Chinas ist zur Zeit 75,5,
wahrend das Japans 38,4 betragt,
Aber grade in der Mandschurei
liegen die Bodenschatze, die das
Verhaltnis im Falle eines japani-
schen Sieges umkehren wurden.
Japan benutzt also den fur
seine Interessen gunstigsten
Augenblick der europaischen
Zerkliiftung, um seine Posi-
tion im Fernen Osten in Hin-
sicht auf eine zukiinfti^e groBe
Auseinandersetzung mit den Ver-
eini^ten Staaten zu verbessern. Da
aber das Potentiel de guerre, von
U.S.A. nach Lehmann-RuBbuldt
509,8 betragt, so wird diese krie-
gerische Auseinandersetzung erst
dann stattfinden, wenn Japan
nicht allein gegen Amerika steht.
Aber „da dammert im Rot von
Blut und Grauschwarz von Gift-
gasen aus riesengroBen Seeflug-
zeugen die Auseinandersetzung
England und Amerika herauf \
Alle drohenden Kriegsmoglich-
keiten fur Europa und die ubrige
Welt schalen sich klar und
plastisch aus dem Lehmannschen
Buch heraus. Sind wir gezwun-
gen, sie fatalistisch hinzunehmen?
Nein! Und das ist das Beste an
dem Buch, daB es den Kriegs-
machten die „Revolution des
Friedens", der Kriegsfront einen
„Dreijahresplan der Friedens-
front" gegenuberstellt.
B ei einem ger ingen Auf wand
von Verstand, Vernunft und gu-
tem Willen sollte es nach den
Lehmannschen Rezepten moglich
sein, daB die Menschheit sich
selbst vor einer grauenvollen Zer-
fleischung bewahrt. Wenn sie sich
aber dazu nicht mehr aufraffen
ZWANZIG JAHRE WELTGESCHlCHTE
in 700 Bildern. 1910—1930. Einlditung von Friedrich Sieburg. Gr.8.
Dieses Bilderbuch soil dem Betrachter nicht die gelstige MUhe ersparen, die im
Lesen liegt Die zusammenfa^sende Betrachtung der letzten 17 oder f
20 Jahre, onne daB die Tatsachen durch eine Deutung verhOllt oder
get firbt wUrden, mag einen neuen Weg wetsen oder erkennen tassen.
TRANSMARE VERLAQ A.-O., BERLIN W10k
868
1-elnen
5.80 RM
kann und will, so hatte allerdings
„die menschliche Dummheit die
Elementargewalt angenominen, die
morderischer einherschreitet als
das, was wir von Erdbeben,
Feuersbrtinsten, Seuchen, Meeres-
fluten, Wirbelstiirmen kennen."
Johannes Buckler
Antnerkung
I n der vorletzten Nummer der
* ,Neuen Montagszeitung* wendet
sich Ernst Glaeser, sicherlich mit
Recht, gegen einen Vortrag, der
in der berliner Funkstunde ge-
halten worden ist. Inhaltlich ist
alles in Ordnung. Aber seinAr-
tikel enthalt diesen Satz: „Ihre
Ideologic stammt aus den Kase-
matten langst geschleifter Forts.
Aber die Distel, die zwischen den
gesprengten Betonklotzen tugend-
geil emporwachst, hat das Gift
einer bosen tlberredungskunst in
sich und den Weihrauch einer
seelischen Verschmutzung in ihren
ausgetrockneten Kelchen," Und
dann diesen: „Wenn der Rund-
funk der unfreien Reichsstadt
weiterhin solche Stimmen zu sen-
den das Bediirfnis hat, dann mus-
sen alle Horer, soweit sie noch
Menschen von Fleisch und Blut
und von geistigem Anstand sind,
vergessen, ihre Antennen zu er-
den, damit die Blitze der empor-
ten und beleidigten Natur die tu-
gendblaue Zunge dieser nicht von
ungefahr kommenden Schwatzerin
auslosche wegen Menschenlaste-
rung." Es handelt sich hier nicht
um stilistische Kinkerlitzchen.
Es handelt sich uni eine Ver-
schlammung der Sprache, des
Geschmacks und des Denkens,
die ein geschulter Schriftsteller
und ein Mensch von Fleisch und
Blut und geistigem Anstand nicht
an sich dulden darf. Noch nie-
mals hat in der Literatur der
Zweck das Mittel geheiligt. Kei-
ner der groflen Polemiker der
Vergangenheit Hest sich wie ein
geharnischtes Wippchen. Ernst
Glaeser hat nicht nur eine Sache
sondern auch einen Namen zu ver-
teidigen, Und: wenn das Salz
dumm wird . . .
Rudolf Arnheim
Reisen mit Doktor Ueberall
P ine der erfreulichsten Tat-
" sachen im berliner Rundfunk-
programm ist die tagliche Jugend-
stunde, Und es gibt Leute — je-
den Alters — die diese Jugend-
stunden lieber horen als das
ubrige Programm, Und einmal
fast in jeder Woche ist der Radio-
apparat von der ganzen Familie
umlagert, von der Groflmutter bis
zum Enkel horen alle zu, denn
dann spricht der Doktor Uberall.
Dieser Doktor Oberall ist nun auch
wirklich ein Erzahler, wie es we-
nige gibt. Man kann ihm einen
Brief schreiben: Bitte erzahlen Sie
doch mal von Raketenautos oder
von Unterseebooten, und dann
dauert es nicht lange und Doktor
Oberall erzahlt wirklich, wie ein
Raketenauto aussieht, wie seine
Maschinen gebaut sind, ob es
praktisch ist oder unpraktisch, ob
es viel Geld kostet oder billig ist,
ob es Zukunftsaussichten hat oder
Soeben erschlenen:
pern®
'* nfiiitftnhlanH — i
t^^^ m (Trmlariri
Zwei Deutsche Ein Faschist
Ein Franzose Ein Bolschewist
Ein Englander Ein Katholik
schildern VorzUge und
Nachteile von
in England
_ S. A. — Frankreich
Deutschland— im Bolschewismus
Faschismus - Katholizismus
und ihre Wirkung auf Weltpolitik und Weltwirtschaft
EJnfach gebunden RM.9.60, in Lelnen gebunden RM. 11.40,
Auch in Einzelheften & RM. 1.80.
VERLAQ L.W.3EIDEL&SOHN, WIEN I
869
wertloser Kram ist. Und all das
wird so selbstverstandlich, so ab-
solut klar und ohne alles fach-
mannische Getue vorgebracht, dafi
man es wirklich versteht. Doktor
Oberall schildert, wie er sich
selbst hat belehren lassen. Er be-
hauptet gar nicht, so viel mehr zu
wissen als wir; aber er hat sich
eben erkundigt und hat sich alles
genau angesehen, und nachdem er
es verstanden hat, kann er es uns
jetzt erklaren. Wenn er berichtet
und erzahlt, so merkt man ihm
ein ganz junges Staunen an, was
es alles fur sonderbare Dinge in
der Welt gibt, gute und schlechte,
groBartige und bedauerliche. Und
weil dieses Staunen, diese Freude
an der Vielfaltigkeit der Welt
und ihrer Bewohner so echt ist,
iibertragt sich dieses Staunen
auch auf uns. Wie kompliziert,
wie fabelhaft durchdacht ist ein
Auto, wie duster und unheimlich
muB ein Bergwerk sein, wie appe-
titlich ein Mittagessen bei den
Samoanern und wie aufregend eine
Eskimojagd! Aber wenn man gut
zugehort hat, — und man kann
niemals aufhoren zuzuhoren, wenn
man erst angefangen hat, — dann
weiB man nachher immer wirklich
iiber ein paar Dinge Bescheid, die
man vorher nicht gewufit oder
sich wenigstens nicht richtig uber-
legt hatte. Klarzumachen, deut-
lich und einfach, das versteht der
Doktor Uberall, und doch werden
bei ihm die Dinge nie schematisch
oder gleichgultig, Sie behalten
ihre Frische und ihren Glanz und
werden nur noch interessanter,
seitdem wir sie ein biBchen besser
verstehn. Deshalb lieben die Kin-
der diesen Doktor Uberall auch so
wie keinen andern Rundfunkred-
ner, Und er besitzt die dankbar-
sten, aufmerksamsten und regel-
maBigsten Zuhorer, die nur je ein
Erzahler haben konnte. Wenn
aber die Kinder doch nicht immer
Gelegenheit hatten, dem Doktor
Uberall zuzuhoren, wenn sie fra-
gen: wie ist das mit den Autos,
warum qualmt ein Schornstein,
wie kommt ein Erdbeben zu-
stande?, dann schenke man ihnen
zu Weihnachten das Buch ,,Reisen
mit Doktor Uberall", erschienen
im Verlage Williams & Co.,
Grunewald, in dem all diese Fra-
gen und noch sehr viele mehr auf
eine ebenso einfache wie bezau-
bernde Art beantwortet sind.
Wolf Zucker
Das Unaufh&rlicne
W/enn Hindemith sein neuestes
" von Klemperer und dem
philharmonischen Chor uraufge-
fiihrtes Werk ein Oratorium
nennt, darf man das nicht allzu
wortlich nehmen oder gar Mafi-
stabe fur die Beurteilung daraus
ableiten wollen; es ist eine groB-
angelegte Komposition fur Soli,
Chor und Orchester, die diese
Bezeichnung mehr auBerlichen
Gesichtspunkten verdankt und
durchaus nach eignen Gesetzen
zu werten sein wird, mag sie nun
einen konventionellen oder apar-
ten( historisch belasteten oder
frei erfundenen Namen erhalten
haben. Gottfried Benns Text ist
voll Abwechslung im Formalen
und reich gegliedert, ein gltick-
liches Komplement fiir die Ar-
beit des Musikers; inhaltlich
Welhnachts-
BOcher
ffttr
anspruchsvolle
Leser
Die Neuer8chelnungen
des Verlages
DER8UCHERKREIS
GmbH., Berlin SW ei
CKomm.F.Volckmar,Le> pzig)
Ramon J. Sender:
IMAN - KAMPF UM MAROKKO
Roman. Aus dem Span. Obersetzt von Q. H, Neuendorff.
Mit einer Oberslchtskarte. 251 Seiten.
„Senders Buch gegen den Krieg ist im tiefsten Sinne
wahr. In ihm Schzt und stfihnt die getretene Kreatur."
Julius Deutsch, Wien.
Otto Bernhard Wend lor:
tAUSENKOLONIE ERDENGLUCK
Roman. 228 Seiten. Ein Roman aus der Peripherie der
groBen Stadt und aus den Grenzbezlrken des Proletariats.
„Wendlers Menschen sind blutwarm und lebendig, sym-
Dathi-ch in ihrer Tragik und Komik, befreiend in ihrem
frechen Humor." tlBUcherstunde"i Funkstunde, Berlin.
Jed. Band In vorzUgt. Ausstatt. u.in Ganzl. nur RM -*,SO.
870
allerdings ein eigentiimliches
Stuck. Wenn es zunacbst durch
sprunghafte Bilderfolgen ver-
bliifft, voll verwirrender Kon-
traste und philosophischen Tief-
sinns zu sein scheint, ist die la-
pi dar konzentrierte, (von Nietz-
sche beeinfluBte) Sprache viel
daran schuld; eine Sprache, die
fur Leute, denen nicht jede Par-
tikel heilig istt die nicht j ede
Copula als ihr gutes Recht zu
vindizieren gesonnen sind, immer-
hin viel Schones birgt Sieht
man etwas naher zu (hinter das
pathetische Schleiergewebe sozu- .
sagen) , verkehrt sich der erste
Eindruck allerdings fast in sein
Gegenteil: die inhaltlichen Kon-
traste scheinen zu gering, die
Bilder sehr gleichfbrmig (wenn
auch im einzelnen voll dichteri-
scher Kraft) — und die gedank-
liche Belastung ist eigentlich gar
nicht vorhanden, Ein Gefiihl ist
es, das hier gestaltet ist, das
sterbenstraurige, fast nihilistische
Gefiihl: alle Kreatur ist todge-
weiht. Uralte Ratselfragen — wie
immer ohne Antwort, „Eine sehr
groflartige Losung wird sich wohl
nicht finden lassen" ... so Benn
in seinem Vorwort. Wahrschein-
1 ich hat er Recht : hier jeden-
falls, hier findet sie sich nicht.
Das pantheistische Brimborium
der letzten Chore, das „Ringen-
de", das hier das „immer stre-
bend sich bemuhen" vertritt, es
loscht das Friihere mit keiner
Silbe aus. Das MUnaufhdrliche",
das abschiednehmende BewuBt-
sein unaufhaltsamer Verganglich-
keit, es ist keine Philosophic, und
durchaus kein „universelles Prin-
zip" (wie es der Dichter verstan-
den wissen will) — es ist das
pessimistische Weltgefiihl unter-
jJangssehnsiichtiger Kulturmensch-
heit, mtider Rassen und Klassen,
ist etwas andres, ist weniger
und mehr als das zu alien Zei-
ten lebendige Bewufitsein: alles
Fleisch sei wie Gras und des
Menschen Herrlichkeit wie des,
Grases Blume — es ist narzisti-
sche Freude an kostbarer Ver-
einzelung, dekadenter Individu-
alismus, echt romantische Resig-
nation. Fazit der Perspektiven i
Hier ist die Atmosphare von
neunzehnhundertzehn . . .
Die Musik ist sehr selbstherr-
lich und geht ihre eignen Wege;
da ihr Wert, ja ihr Sinn uber-
haupt in der heterophonen und
polyphonen Bezogenheit der
Stimmen aufeinander, im Archi-
tektonischen zu suchen ist, iiber-
baut sie den Text in musikeignen.
Formen, DaB Hindemith sich
(wie immer) der linearen Poly-
phonie bedient, dafi er die har-
monischen Verhaltnisse als Re-
sultate der Stimmfuhrung sich.
entwickeln lafit, besagt an sich
nichts, Nicht der Stil, die im
Rahmen dieses Stils gepragte
Form nur ist entscheidend. Hier
ist nun zu sagen, daft uns das
Unaufhorliche Hindemiths reif-
stes Werk zu sein scheint: er hat
Vieles in gleicher Meisterschaft
der Faktur geschrieben, nicht&
aber von solcher Kraft der Ein-
fallskomplexe (nicht etwa des
einzelnen melodischen Einfalls,
obzwar auch die hier starker sind
als sonst). Text und Musik aller-
dings laufen sozusagen parallel,
ohne jeraals anders eins werdea
zu konnen als auf dem Umwe&
iiber irgendeine Konstruktion,
ohne es eigentlich ganz zu wer-
den, da ja (wenn wir vomRhyth-
mus absehen wollen) alle un-
mittelbaren Faktoren ausgeschal-
tet und durch einen mittelbaren
Faktor ersetzt sind ; die Poly-
phonie.
Dieses Kriegsbuch wird bleiben —
Wenn man nach der Hausse in KrfegsbUchern die engste Auswahl
treffen wird. (Berliner Tageblatt).
Die Sinnloslgkeit des Krieges: hier 1st sie ausgedrUckt, in diesem
hinreiBenden und tief berUhrenden Buch. (Gottfried Benn.)
EDLEF K3PPEN, HEERESBERICHT
Geheftet ©.— , Lelnen o.— .
HOREN-VERLAG LEIPZIG
87t
Es ist machtvoll klingende,
grandiose, aber eiskalte Architek-
tur, durch die an wenigen Stel-
len nur Reflcxe des Lebens zit-
tern, Wir mtissen uns dariiber
klar sein, dafi auch Hindemith
kein Anfang ist, kcin Begninder
neuen Stils odcr gar Pfadfinder
neuer Entwicklung, wic man es
einst erhoffte: auch er. ist ein
Ende, vermag sich nur iiber den
Umweg einer Artistik mitzutei-
len, die von den naiven Kraft-
quellen seiner Kunst weltenfern
ist; und so ist die Verquickung
dieses Textes und dieser Musik
trotz interessanter Uberschnei-
dung ob j ektiven und subj ektiven
Stils nicht so unerklarlich, wie
es im ersten Augenblick scheinen
mufite; und durchaus auf einen
.gemeinsamen Nenner zu bringen.
Arnold Walter
Der M-Stil
F)er M-Stil ist die vom V-Stii
*~* her beeinfluBte Synthese von
G-Stil und H-Stil. Oder falls ihr
das nicht genau versteht: der
Morgen-Stil ist die vom Vor-
gestern-Stil her beeinfluBte Syn-
these von Gestern- und Heute-
Stil. Versteht ihr immer noch
nicht? Also das ist Aesthetik.
Broder Christiansen betreibt
diese Luftballonasthetik in dem
-Buch „Das Gesicht unsrer Zeit"
(Felsen-Verlag in Baden), Er liest
aus dem Itnpressionismus, Ex-
pressionismus und der neuen
Sachlichkeit „stiliolgelogisch" den
Stil von morgen abf den er, damit
wir das Wort fur alle Falle gleich
zur Hand haben, die 1(neue Dyna-
mik1' nennt. Ich wiirde stattdes-
sen „Dynamismus" empfehlen,
schon deshalb, weil wir so lange
nichts mehr auf -ismus gehabt ha-
ben. Dynamik kann fa auch jedes
einzelne stilbeliebige Werk haben,
erst Dynamismus ist der richtige
Anfasser, die neue Schlagwort-
fanfare; auf die alle Verleger seit
der Abnutzung der neuen Sach-
lichkeit sehnsiichtig warten
Broder Christiansen ist in den
einzelnen asthetischen Oberlegun-
gen durchaus nicht schlecht (zum
Beispiel die Wertneutralitat von
Stilen oder der Zweifrontenkampf
jedes neuen Stils gegen den vor-
hergehenden Stil und gegen das
Philistertum). Aber er gehort zu
jener Sorte von Terminologen, die
erst dann zufrieden sind, wenn je-
des Ding in seinem zugewiesenen
Schubfach liegt, wenn das Schub-
fach seine Chiffre und die Chiffre
ihren Katalog hat. Die Sorte
scheint auf den ersten Blick be-
amtenhaft und ungefahrlich; in
Wirklichkeit arbeitet sie den
Waschzettelverfertigern direkt in
die Hande, schafft sie die zweifel-
hafte Basis fur Kunstschwatze-
reien, bei denen das Ende genau
wie der Anfang aussieht. Wer sti-
listische „Verwandtschaftsglei-
chungen" und „Stildiagramme"
ausarbeitet, kommt in die Nahe
dessen, was Liliencron einen
Aesthetikax nannte, und wer
schon den Stil von morgen mit
einer Etikette beklebt, mufi sich
nicht wundern, wenn er grade de-
nen zum Evangelium wird, die in
Sachen der Kunst schnell und
billig mitreden wollen,
Nein, solange wir nicht wissen,
ob und wie wir morgen existieren,
solange kann uns Herr Christian-
sen mit seinen amtlichen Stilvor-
aussagen im Traume begegnen.
Gattamelata
UBER WEIHN ACHTEN - NEUJAHR,
zum Winter sport, Pauschalfahrt in die Tatra incl. Reise hir> und
zurilck, voile Pension (erstklass. KUche, alte Zimmer fliefiend
fcaltes und warmes Wasser). Bedienung, Sporttaxe, zwei halb-
tagige SchlittenausflUge, unentgeltliche Skikurse.
Ab Berlin 14 Tage 165.—, 20 Tage 200.-.
Ab Breslau 14 Tage 132.—, 20 Tage 165.—.
Auskunft fUr Berlin Pfalzburg 7657, sonst direkt.
HAUS GODAL, LUBOCHNA, TATRA
-872
Ornament Redslob DRP. Die moralische Anstalt
D eichskunstwart Doktor Reds- T^ heater in der KlosterstraBe
*^ lob antwortet auf unsre Um- * ,,Die Gartenlaube"
frage: ,tMit oder ohne Ornament Fur Jugendliche verboten!
— Was halten Sie von der neuen „Was nattirlich ist, ist keine
Sachlichkeit?" Schweinerei" 8-Uhr-Abendblatt.
Sachlichkeit, einN klares Wort 4 Uhn Hansel und GreteL
Lebrt: laB alien Schnickschnack Zeitangsanzeige
fort!
Jeder Bau und jedes Ding * Liebe Weltbflhne!
Ohne Schnorkel und KlingHng! p^urch den Festtrubel eines ber-
Weil die Zeit kem Zierat kennt: l^liner Balls wandelt mit einer
JEDER SELBST SEIN riesigen Aktenmappe eine hohe
ORNAMENT! Gestalt. Ein Neuling aus, der
,Kultur des Heims Provinz fragt, wer das sei, und
erfahrt, es sei der Zeichner B. F,
Entwelscht Dolbin. „Und was hat er in der
komischen Mappe?" Darauf
7ur Urauffiihrung gelangt: Der Harry Kahn; „Darin hat er das
^* Herzog von Reichstadt. Nach Skizzenbuch, in dem die samt-
^UAiglon" von Edmond Rotland. lichen berliner Prominenten ver-
Einladungskarte zeichnet stehen."
Hinweise der Redaktion
Berlin
Deutsche Liga fur Menschenrechte. Montag 20.30. Herrenhaus, Leipziger Str. 3: Die
Probleme in der Furs org eerziehung. Es sprechen; Kurt Beck, Wilhelm Ehlers,
Justus Ehrhardt, H. Jacobi, Georg Loewenthal, Karl Wilker.
Gesellschaft der Freunde der Sozialistischen Monatshefte. Montag 20.00. Deutsche
Gesellschaft, Schadowstr. 7. Kontradiktatorische Aussprache: Soztalistischer
Aktivismus, Bruno Neumann.
Sozialistische Arbeiter-Partei. Montag 19.30: Haverlands Festsale, Neue Friedrich-
strafie 35: Die Aufgaben der Gewerkschaften in der Krise, Fritz Sternberg — Die
Lehren des breslauer MetaHarbe,iterstreiks, MdR Ziegler.
Internationale Arbeiter-Hilfe. Dienstag 20.00. Nationalhof-Festsale, Bfilowstr. 37:
Kopfarbeiter, was bringt euch das Dritte Reich? Es sprechen: Alfred Apfel,
Alfons Goldschmidt, Leo Lania, Klaus Neukrantz, Hein Pol, Stadtarzt Schminke,
Manes Sperber, Stadtbaurat Wagner und Helene Weigel,
Abend junger berliner Autoren. Mittwoch 20.15: Herrenhaus, Leipziger Str. 2* Es
lesen: Hermann W. Anders, Klaus Hermann, Erich Kastner, Hermann Kesten und
Gerhart Pohl.
Internationale Verlagsanstalt. Freitag 20.00. Spichernsale: Der Untergang des Juden-
tums, Otto Heller. Karten in der Buchhandlung Weidinger Str. 9.
Rote Studentengruppe. Sonntag 11.00. Mozartsaal am Nollendorfplatz: Rote Kabarett-
matinee. Ernst Busch, Hans Deppe, Blandine Ebinger, Hans Eisler, Paul Gratz,
Trude Hesterberg, Kate Kuhl, Lotte Lenja, Agnes Straub, Kurt Weill.
Internationale Frauenliga fur Frieden und Freiheit. Montag (14.) Clubhaus am Knie .
Berliner Str.27: Frauenfrage und Arbeitslosigkeit und Bodenreform, Adolf Damaschke.
Hambu'g-Altona
Gruppe Revolutionarer Pazifisten. Dienstag (15.) 20.00. Volkeheim, EichenstraBe :
Kriegsdienstverweigerung, eine der Waffen zur Verhinderung des Krieges.
B0 cher
Carl Dietrich Carls: Ernst Barlach — das plastiscbe. graphische und dichterische Werk.
Rembrandt-Verlag, Berlin.
Gabriele Tergit: Kasebier erobert den Kurfiirstendamm. Ernst Rowohlt, Berlin.
Rundfunk
Diensta*. Muhlacker 18.40: Nationale Wirtschaft oder Weltwirtschaft, Arthur Feiler. —
Berlin 18,55: Alfred Wolfenstein liest — Leipzig 20.15: Das Lear-Motiv in der
Weltliteratur. — Mittwoch. Berlin 18.30: Von der Franzosischen Revolution bis
zum Wiener KongreB, Valeria Marcu. — Langenberg 1840: Peter Scher Hest. —
Frankfurt 19.45: Ein Interview mit dem Maschinenmenschen, Arno Schirokauer. —
Mahlacker 20.05: Zwei Szenen von Puachkin. — 21.05; Karl Rostlin spricht fiber
Roda Roda. — Fretta?. Breslau 17.15: Die Zeit in der jungen Dichtung. — 18.10:
Geschichtsschreibung in der Gegenwart, Erich Landsberg. — Berlin 21.15: Paris
um 1800, Leo Matthias und Edlef Koppen.
873
Antworten
Nobelpreiskomitee. Mangels zur Pramiierung geeigneter Pazifisten
schlagen wir Ihnen einen begabten militarischen Fachmann und
wirkungsvollen Publizisten wie den General Ludendorff vor, der nicht
nur den Krieg vorzeitig verloren und sich dadurch um denVolker-
frieden verdient gemacht hat, sondern der auch kiirzlich mit einer
ausgezeichneten Broschiire iiber die Unmoglichkeit eines deutschen
Revanchekrieges gegen Frankreich hervorgetreten ist. Nehmen Sie
. bitte diesen Vorschlag so ernst, wie er gemeint ist. Ludendorff ist
noch immer ein besserer Kandidat als Coudenhove, und welchera
Frieden der andre Anwarter, Adolf Damaschke, gedient hat, das
vermag iiberhaupt niemand zu verraten — vielleicht dem hauslichen,
aber das wird doch im . allgemeinen nicht pramiiert.
Greta Garbo, Deutsche Schauspieler, die eine Weile in Holly-
wood gearbeitet haben, machen sich das Vergmigen, unwahre Klatsch-
geschichten uber Sie zu verbreiten. Nun, Hollywood ist weit, und
Sie werden die Herrschaften, um die es sich da handelt, schneller
aus dem Gedachtnis verloren haben als uragekehrt. Aber wenn es
schon Sie nicht argert, so argert es uns, Denn so groB ist die Aus-
wahl an unantastbaren Figuren in der Filmproduktion nicht, Unsre
weitgereisten Plauderer seien also gebeten, sich, schon im eignen In-
teresse, ein biflchen vorsichtiger auszudrucken.
Rundfunkhorerin. Das Titelblatt der ,Funkstunde', das bekannt-
lich in zwangloser Folge Darstellungen aus dem intimen Privatleben
Alfred Brauns bringt, bereitet den Freunden des Meisters
eine besondre Uberraschung, die in ihrer Art nicht zu iiber -
treffen sein diirfte. Wir sehen gewissermafien eine • Apotheose
Alfred Brauns, Umgeben von Barden und Hellebarden sowie von ver-
schleierten Orientalinnen jeden Alters liegt in passendem Abstaride
vom Mikrophon auf einem gebliimten Ruhebette der gottliche Meister.
Neben ihm hat in einem verfuhrerischen Morgenkleide eine Dame
Platz genommen, die ihm, einen starken Quartband in den Handen,
aus seinen gesammelten Rundfunkreportagen vorliest. Der Meister ist
infolge dessen entschlummert. Das liebliche Bild ist wie immer in
bestem Kupf ertiefdruck ausgeftihrt und wird, geschmackvoll gerahmt, in
jedem berliner Heim zur Gemutlichkeit des Empfangs beitragen, zu-
raal es gegen Vorlage der Rundfunkquittung zum halben Preise er-
haltlich ist.
Dieser Nummer ist ein Prospekt iiber die ffeuerscheinttngen des
Carl ReiBner-Verlages, Dresden, beigefiigt. Wir empfehlen die An-
lage der besonderen Aufmerksamkeit unsrer Leser.
FVeser Nummer liegt eine Zahlkarte ftir die Abonnenten bei, auf der
*-^ wir bitten,
den Abonnementsbetrag fur das L Vierteljahr 1932
einzuzahlen, da am 10, Januar 1932 die Einziehung durch Nachnahme
beginnt und unnotige Kosten verursacht,
Manuskripte *ind nur an die Redaktion der Weltbuhne, CbarLottenburg, Kaatsbr. 152» s»
ridbten: m wird gebeten. ihnea Rfldeporto beizulejen, da aonat Veins Rildksenduttg erfolyen bn.
Das Auf fahrunvsrecht, die Verwertung von Tlteln u. Text Im Rahmen des Films, die musik-
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bleibcn ftlr alio in der Weltbuhne erscheinenden Beltrage ausdrQcklieh TorbehaJten.
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Telephone CI. Steinplabt 7757 — Postschedckonto: Berlin 119 58.
Bankkooto: Darnutadter n. Nntionalbank. Depositenkaue Cbarlottenbury, fCantstr. 11?
XXVII. JahrgaDg 15. Dezember 1931 Nnmmer 50
Kommt Hitler dOCh? von Carl v. Ossietzky
rjas waren vier Tage, die die Nerven der Welt erschiitter-
** ten. Hitler erlaflt Botschaften an Alle, apostrophiert die
auslandische Presse; sein Herold Rosenberg aus Riga unter-
nimmt vordatierte auBenpolitische Schfitte, Die Reichsregie-
rung wird nicht sichtbar, sie scheint schweigend und hastig die
Koffer zu packen. Endlich am vierten Tag abends erscheint der
schlichte Star des Kabinetts am Mikrophon, teils um ein paar
beschwichtigende Worte zu sprechen, teils um seine Vierte
Notverordnung dem Volke menschlich naher zu bringen.
Und jetzt geschieht ein wirkliches Wunder. Die allge-
meine Panik weicht kritikloser Vertrauensseligkeit, Jetzt
nimmt der staatsparteiliche Deputierte wieder aufatmend sein
Reisebesteck heraus, Kommerzienrats Rasierpinsel stent wie-
der auf dem gewohnten Platz. Was hat sich denn ereignet? Sind
die Nazis zersprengt? Wachst der Regierung ein Kornfeld auf
der flachen Hand, oder, wichtiger noch, hat sie einen Abneh-
mer dafiir gefunden? Nichts von alledem. Der Herr Reichs-
kanzler hat nur eine wenig sagende, farblose Rede gehalten,
und alles erklart sich beruhigt. Der von Oben verordnete
Weihnachtsfriede kann ausbrechen, und im iibrigen gab es in
Berlin allein in der ersten Nacht unter dem Gesetze zum
Schutze des inncrn Friedens einen To ten, vier Blessierte.
Diese neue Notverordnung hat eine viel bessere Aufnahme
gefunden als die vorangegangenen, weil sie dem allgemeinen
Wunsch nach „etwas Durchgreifendem" entgegenkommt. Die
Vierte Notverordnung, von den Vielen* die nach der befreien-
den Tat rufen, enthusiastisch begriiBt, ist in groBerm Zusam-
menhange gesehn nur ein besonderes Stiick der heutigen deut-
schen Zerstorungsspychose, Sie ist ein grobes und dilettan-
tisches Opus, das demolierend durch die noch intakt gebliebe-
nen Teile der kapitalistischen Apparatur fegt, ohne ein sozia-
listisches oder auch nur soziales Aquivalent zu bieten. Sie
verteilt nicht das Brot sondern reglementiert den Hunger;
nicht Planwirtschaft wird geschaffen sondern Zwangswirtschaft.
Was nutzt der Zwang, wo es nicht eim Oberquellen zu bandi-
gen heiBt sondern die Schrumpfung? Halt man die fressende
Energie der Auszehrung auf, indem man den Patienten in eine
eiserne Corsage steckt? Nicht ordnend und befruchtend wer-
den diese Dekrete wirken sondern keimtotend und lahmend,
und ihre einzelnen Paragraphen werden bald als Grabkreuze
auf dem nachsten Massenfriedhof der Wirtschaft ragen.
Zinssenkung, Mietsenkung, Preissenkung, Fluchtsteuer —
das hort sich alles kraftvoll und wohlbedacht an und bleibt
doch hochst problematisch. Und auch der Herr Preisdiktator
ist da — Pfiiat di Gottl — und erklart sofort mit der Anmut
der Bescheidenheit, daB er kein Wunderdoktor seL Wieviele
Diktatoren solcher Art hat es nicht seit Batocki sel schon ge-
geben? Sie bniten Begliickungsplane aus, und wenn sie aus
875
dem Amtszimmer kommfn, sind sic nirgendwo zustandig und
kehren traurig zu ihrer Sekretarin zuriick. Doch da ist noch
die Lohnsenkung, und jetzt verstarkt sich allerdings dcr Ein-
druck, daB dies das einzig Reale aa dcm ausgedehnten Kunst-
bau dcr dekretierten Wirtschaft ist. Das ist der teste Kern,
der kleine aber betonierte Keller inmitten von haushohen
Fortifikationen aus Pappe, die schnell zusammenfallen, Doch
halt, jiicht nur die Arbeiterschaft wird beriihrt, so einseitig,
so klasseneng geht die Regierung nicht vor. Durch die Um-
satzsteuer wird auch der noch mobile Teil der Produktion
angezapft, auch hier wird das Leben tropfenweis versickcrn.
Von hier droht neuer Bankrott, neuc Deroute. Was fur ein
System regiert bei uns? Kein Liber alismus, kein Sozialismus,
aber ein Fiskalismus, der ohne Plan, ohne Idee blindwiitig
drauflos verfiigt, Dcr Reichskanzler verwahrt sich ausdriicklich
dagegen, ,,Staatskapitalismus" zu treiben. Wenn crs nur tate!
Statt dessen wird cine Fiktion von freier Wirtschaft aufrechter-
halten, die unter dem nachsten Druck zerplatzen muB. Was
dann? Fascismus, Kommunismus? Fiir beides muB Masse vor-
handen sein, ein Streitobjekt, etwas, das es zu crobern gilt.
Es ist zu furchten, daB grade dies unter den Handen dcr re-
gulierendcn und registrierenden Bureaukratie hinschwinden
wird, und dann bleibt nur noch Vegcticren, langsames Hin-
sterben. Vielleicht sind wir darin schon weiter, als wir selbst
wissen, und die Begeisterung, mit der diese Verordnungen be-
griiBt werden, bezeichnet scnon, die Euphoric
So fahrt Deutschland weiter, gebannt an den Magnetberg
dcr Weltkrise. Ein Haufen armer desperater Seelen auf
morschen Planken gefangen; morgen ein Totenschiff.
Die gleichc Not, die alle schwacht, ist Hitlers Starke. Der
Nationalsozialismus bringt wenigstens die letzte Hoffnung von
Verhungernden: den Kannib alismus. Man kann sich schlieBlich
noch gegenseitig fressen. Das ist die fiirchterliche Anziehungs-
kraft dieser Heilslehre. Sic entspricht nicht nur den wachsen-
den barbarischen Instinktcn einer Verelendungszeit, sic ent-
spricht vor allem dcr Geistessturheit und politischcn Ahnungs-
losigkcit jener versackenden Kleinbiirgerklasse, die hintcr Hit-
ler marschiert. Diese Menschen haben auch in bessern Zeitlauf-
ten nie gefragt, immer nur gegafft. Fur das Schauspiel ist
gesorgt, ebenso fiir ihr Muschkotenbedurfnis, die Knochen
zusammenzureifien, vor irgend einem Obermotzen zu „meLden".
Vor einer Wochc schien es fiir Hitler keinc Hindcrnisse
mehr zu geben. „An der Schwelle der Macht'1, schricben
/Times'. Rosenberg fuhrwerkte in England als Diplomat
herum; eine StraBenaufnahme zeigt den Botschafter des Drit-
ten Reichs freundlich lachelnd im Gesprach mit einem Ion-
doner Bobby, der im Zweifcl scheint, ob sein Hebraiseh fiir die
Unterhaltung auslangt. Auf die Tories hat Rosenberg aber
ohne Zweifel mehr Eindruck gemacht. England suchte schon
nach einer Formel, sich. mit einem nationalsozialistischen
Deutschland abzufinden. Es ist schwer zu glauben, daB das
876
alles erledigt sein soli, nur weil Herr Briining wieder einmal
gesprochen hat, nur weil ein Bimdel frischcr Vcrordnungcn
herausgekommen ist.
Der neue Reichsminister Schlange-Schoningen hat kiirz-
lich in einem Rundfunkvortrag ein paar beach tliche Gedanken
geauBert: „Wer hat heute noch das Recht, die absolute Un-
antastbarkeit, die Heiligkeit des Privateigentums zu predigen?
Wer unternimmt es, dies en Begriff heute auch nur klar zu de-
finieren? Wird nicht auf alien Gebieten der Wirtschaft Tag
fur Tag am Privateigentum geriittelt?" Das ist sehr rich tig
gesehen, Enteignet wird auf alle Falle, es fragt sich nur; zu
wessen Gunsten?
Es gibt in dieser Epoche eines beinahe mechanisch
berstenden Privatbesitzes zwei Lo sun gen: eine sozialistische,
die das Privateigentum uberhaupt aufbebt, auf neuer Grund-
lage neu beginnt, ohne zu warten, bis die letzten Stiicke,
gleichfalls angekrankelt, auseinanderfallen, Und es gibt eine
zweite Losung, indem das ganze Volk einem alles aufsaugen-
den Indus triekapitalismus tribut- und arbeitspflichtig wird. Fur
die Lebenshaltung des Einzelnen mag das zu Zeiten durchaus
dasselbe sein, aber fiir das BewuBtsein ist es nicht gleichgiiltig,
wer das Opfer fordert. Man vergleiche die heroische Haltung,
die RuBland in seinen Entbehrungsjahren gezeigt hat, mit dem
deutschen Marasmus, mit diesem verzweifelten Lazzaronitum,
das sich, grotesk genug, nach auBen hin noch zu nationalisti-
schen Gebarden aufreckt.
Diese zwei Losungen gibt es nur. Die der Regierung Brii-
ning ist keine. Sie nimmt die verwegensten Operationen vor,
sie stulzt die Wirtschaft wie eine Taxushecke, aber sie halt
noch immer die Illusion hoch, als handle es sich hier um etwas
Voriibergehendes, um einen unangenehmen Riickweg in „npr-
male Zustande", worunter die friihern vollkapitalistischen zu
verstehen sind. Um die Folgen des unerhorten Drucks einer
ex cathedra diktierten Wirtschaft zu iiberwindeir, dazu ist diese
Regierung zu schwach. Und der Staat ist auch nicht kraftig, nicht
geschlossen genug, um die GegenstoBe eines allgcmeinen Auf-
losungsprozesses, der sehr rebellische Form en annehmen kann,
zu ertragen. Dann aber kommt die Stunde des Fascismus, dann
wird die Hitlerarmee endlich etwas zu tun haben. Dann wird
auch der Sieg des monopolisierten Kapitalismus vollkommen
sein. Dann wird der S. A.-Landsknecht die Manneszucht in
den Betrieben schon iibernehmen. Dann werden die Gewerk-
schaften zertriimmert werden, und der deutsche Mann wird,
befreit von dem unwiirdigen Pariageist der gewerkschaft-
lichen Koalition und ihrem judaisch-marxistischen Tarifrecht,
rank und schlank, hei, vor seinen Industrieherzog treten und
ihm hochgemut seine Dienste als Kaufmann, Techniker oder
Lampenputzer anbieten. Unter einer alten knorrigen west-
falischen Eiche wird er s einem Lehnsherrn den Eid leisten, ihm
allzeit treu, hold und gewartig zu sein, und wer dann noch
Geld sehen will, der wird erschossen.
877
Kommt Hitler also doch? Vor acht Tagen war der
Schreckensruf „Fascismus ante portas!" Brtinings Rede hat
ihn nicht verscheucht, er ist nur einstweilen stehen geblieben.
GewiB will Bruning vor Hitler weder ruhmlos abtreten noch
als minderberechtigter Partner vor ihm kuschen. Der Reichs-
kanzler mag sich seine eigne Method e ausgedacht haben, mit
dem Fascismus fertig zu werden. Aber um eine Methode, die
man nicht kennt, zu tolerieren, dazu gehort Vertrauen, und
dieses Vertrauen haben wir zu Herrn Briining nicht , wie wir
das hier vom ersten Tage seiner Kanzlerschaft an betont
haben. Bruning will nur die AnmaBung des Fascismus, seinen
Anspruch auf Alleinherrschaft brechen, nicht ihn selbst.
Neben den wirtschaftlichen Bestimmungen der Notverord-
nung sind die politischen in der offentlichen Diskussion ver-
nachlassigt worden. Und doch verdienen sie liicht mindere
Beachtung, Sie geben einen wertvollen Einblick, wie sich
die Regierenden die Abwehr des umstiirzlerischen National-
sozialismus vorstellen. Zunachst: die Herren wollen dieRepublik
retten, indem sie sich Unterstutzung durch republikanische
Krafte verbitten und diese unerwiinschte Unterstutzung unter
Strafe stellen. Das undifferenzierte Versammlungsverbot,
das Verbot, Uniformen und Abzeichen zu tragen, trifft ja nicht
nur die Nazis sondern viel arger die von links. 1st es der Re-
gierung ernst damit, den Verfassungsstaat zu verteidigen, so
kann sie auf die Mobilisation aller demokratisch-republikani-
schen Krafte nicht verzichten. Die res publica ist die offent-
liche Sache. Der Staatf den Bruning und die Andern ver-
teidigen, ein Homunculus, ein Retortengeschopf. Die vorgeb-
liche Paritat wird in der Praxis zum schreiendsten Unrecht.
Denn die Organisation des Staates selbst, Militar, Exekutive,
Beamtentum steckt voll von unzuverlassigen Elementen. So wie
die Justiz durchweg jeden Rotfrontmann bisher harter anfaBte
als einen Nationalsozialisten, so wird der Mann aus dem republi-
kanischen Verband in Zukunft schlechter dran sein als der vom
Stahlhelm oder von Hitler, Aber es ist schon grotesk genug,
daB Loyalitat ebenso bestraft werden soil wie Auflehnung.
„Es ist schlimm um einen Staat bestellt, der seinen Btit-
gern verbietet, Abzeichen in seinen Farben zu tragen," ruft
der Bundesvorstand des Reichsbanners. Richtig, richtig,
richtig, Doch dann heiBt es; ,,t)ber eip, kurzes, dann wird
auch diese Regierung einsehen miissen . . /' Neinf meine
Herren, diese Regierung wird gar nicht einsehen. Diese Hoff-
nung ist ebenso t orient wie die Parole: Staat greif zu! Wenn
dieser Staat zugreift, so nimmt er, wie er es immer getan hat,
die Republikaner zuerst. Ware die Regierung wirklich gewillt,
gegeniiber dem Nationalsozialismus Autoritat zu zeigen, so
hatte sie Hitler an dem Tage, wo er wie der Chef einer Ne-
benregierung im Kaiserhof \ Parade abhielt, als Hochverrater
verhaften lassen miissen, ebenso wie Rosenberg bei seiner
Riickkehr aus London. Dann diirf te auch Herr Gregor StraBer
nicht mehr frei herumlaufen, der soeben wieder in Stuttgart
gedonnert hat: „Und wenn wir bis an die Knochel im Blut
stehen miissen um Deutschlands willen, so haben wir es haben
878
wollen." Dann diirfte dieser Oberreichsanwalt sich nicht mehr
auf seinem Posten befinden, der — nach den Worten des (Ber-
liner Tageblatts' — fur die Verfasser der boxheimer Mordplanc
eine Entlastungsaktion vorgenommen hat. Und dieser Herr
Werner, der langste Arm des Staates, soil zupacken? Armes
Reichsbanner, er wird dich zuerst haben und dich nicht so
glimpflich behandeln wie Best und seine Bluthunde.
Eine Konzession an die Linke befindet sich allerdings in
der Notverordnung: Herrn Groeners Lieblingskind, von seinem
Carlowitz gepappelt und gewiegt, die ,fStaatsverleumdungl,
fehlt. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daB das Ka-
pitel „Verstarkung des Ehrenschutzes" den einstweiligen Er-
satz darstellt, um der lastigen Kritik den Mund zu stopfen.
In diesen fiinf Paragraphen blasen die Herren Geheimrate des
Reichsjustizministeriums die Schicksalshorner der deutschen
Pressefreiheit:
§ 1. Steht im Falle der tiblen Nachrede (§ 186 des Strafgesetz-
buchs) der Verletzte im offentlichen Leben und ist die ehrenriihrige
Tatsache offentlich behauptet oder verbreitet worden und geeignet,
den Verletzten des Vertrauens unwurdig erscheinen zu lassen, des-
sert er fur sein offentliches Wirken bedarf, so ist die Strafe Ge-
fangnis nicht unter drei Monaten, wenn der Tater sich nicht er-
weislich in entschuldbarem gutem Glauben an die Wahrheit der
AuBerung befunden hat,
§ 2, Steht im Falle der Verleumdung (§ 187 des Strafgesetz-
buchs) der Verletzte im offentlichen Leben und ist die ehrenriihrige
Tatsache offentlich behauptet oder verbreitet worden und geeignet,
den Verletzten des Vertrauens unwurdig erscheinen zu lassen, dessen
er fur sein offentliches >iJ/irken bedarf, so ist die Strafe Gefangnis
nicht unter sechs Monaten.
§ 3. In den Fallen der §§ 1, 2 kann das Gericht neben der
Strafe und unabhangig von einer nach § 188 des Strafgesetzbuchs
zu verhangenden BuBe auf eine an die Staatskasse zu entrichtende
Bufie bis zu einhunderttausend Reichsmark erkennen.
§ 4. In Strafverfahren wegen Beleidigung bestimmt das Gericht,
auch wenn die Tat auf erhobene offentliche Klage verfolgt wird, den
Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Antrage, Verzichte
oder friihere Beschliisse gebunden zu sein.
§ 5. In alien Strafverfahren wegen Beleidigung, in denen die
Staatsanwaltschaft die Verfolgung ubernimmt, ist das Schnellverfah-
ren (§ 212 der Strafprozefiordnung) auch dann zulassig, wenn der
Beschuldigte sich weder freiwillig stellt noch infolge einer vorlaufigen
Festnahme dem Gericht zugefiihrt wird.
Ist diese grobe, unnuancierte Fassung Unzulanglichkeit
oder Absicht? Auch Adolf Hitler „steht im offentlichen
Leben", auch jene seiner Granden, die zur Nacht der langen
Messer die Eisen wetzen lassen und vor fanatisierten Ver-
sammlungen zur Belebung der Hanfseilindustrie praktische
Vorschlage machen. Gelingt es dem „Verletzten", einem Rich-
ter, der durchaus kein braunschweigischer zu sein braucht,
klar zu machen, daB alles legal gemeint sei, natiirlich nur zur
Abwehr irgendeiner ..Kommune", die die streng verfassungs-
maBige Naziregierung bedroht, so ist der staatsloyale, der re-
publikanische Redakteur geklappt, Gefangnis lafit sich er-
tragen, aber eine hohe GeldbuBe ruiniert heute jedes Presse-
879
unternehmen. GroBer Manitou, was blcibt dem Publizisten
iibrig, als von der Politik zu lassen und etwa iiber die Liebc
zu schreiben, falls das nicht unter das Schund- und Schmutz-
gesetz falltf Nachdem hundert Jahre urn die Meinungsfreiheit
gekampft worden ist, geniigen ein paar Paragraphcn, um sic
still zu beseitigen. So treibt Deutschland in Dunkelheit dahin,
Verwesungsdiinste steigcn auf. Die cine Halfte der Nation
bettelt um Almosen, die andre mu6 es verweigern, weil sie
selbst nichts hat. Das ist der deutsche Status Weihnachten
1931. Ein paar Menschen wird es noch geben, die in diesem
mepnitischen Gestank verfaulender Geister nach besserer
Luft verlangen. Schlagt sie tot, das Reichsgericht fragt euch
nach den Griinden nicht!
AktJVe Abwetir von Erich Muhsara
F\ie einzige Kraft, die imstande ware, Hitlers Machtergrei-
_ fung zu verhindern, ist der verbundene Wille der vom
Nationalismus nicht verwirrten deutschen Arbeiterschaft
Dartiber sind sich alle Arbeiter, die sich iiberhaupt Gedanken
machen, einig. Sie wissen auch, daB das Mittel, tiber das sie
verfugen, der Generalstreik ist. Die Abwehr des Kapp-Putsches
durch Anwendung dieses Mittels ist nirgends vergessen.
Fragt einen Arbeiter, gleichviel welcher politischen Partei
er angehortf sei er gewerkschaftlich organisiert bei den Zen-
tralverbanden, bei den_ Christen, bei den Hirschen, bei der
RGO, bei den Syndikalisten oder gar nicht, ihr werdet immer
dieselbe Antwort bekommen: ja, wenn die Einigkeit zu er-
reichen ware! Und das Ende solcher Unterhaltungen ist immer
das( daB die Sozialdemokraten auf die kommunistische Fiih-
rerschaft, die Kommunisten auf die sozialdemokratische Fiih-
rerschaft schimpfen und ihnen die Schuld geben, daB das
Proletariat nicht zu gemeinsamen Entschliissen zu bringen ist.
Wahr ist, daB die Einigkeit der Arbeiterschaft ,tunter
Fuhrung" dieser oder jener Partei, Gewerkschaft, Programm-
verpflichtung iiberhaupt nicht erreicht werden kann. Wahr
ist leider auch, daB keine Fiihrerorganisation den Willen hat,
eine Einigung anders herbeizufiihren als unter Knebelung jeder
Meinung, die nicht dem eignen Ladenvorteil untergeordnet ist<
Wahr ist endlich, und das ist das Traurigste, daB die deutsche
Arbeiterschaft so sehr auf „Vertrauen zu den bewahrten Fiih-
rern" und auf „proletarische Disziplin" in der Bedeutung von
Drill und Gehorsam erzogen ist, daB jede selbstandige Initiative
von unten herauf gelahmt ist.
Die Frage, was denn eigentlich geschehen soil, wenn der
Tanz des Dritten Reiches losgeht, wenn die Auflosung aller
Arbeiterkoalitionen von irgend einem Hitler, Frick oder
anderm Best verhangt ,wird, wenn die standrechtlichen Er-
schieBungen, die Pogrome, Pliinderungen, Massenverhaftungen
das Recht in Deutschland darstellen, wird nirgends erortert,
es sei denn in den Kliingelverhandlungen unbeaufsichtigter
Funktionare. Die Arbeiter trosten sich damit, daB sie schon
zur rechten Zeit zum Handeln aufgerufen werden.
880
Sie werden nicht. Schlagen die Fascisten zu, damn ist
das crste, dafi nach langst fertigen Listen alle organisatorisch
und rednerisch tatigen Krafte, alle der Fiihrerschaft verdachti-
gen Personen verhaftet oder noch wirksamer beiseite geschafft
werden. Dann steht das Proletariat da, angewiesen auf eigne
Entschliisse, aber vollends verhindert, sich noch zur Abwehr
zu verstandigen.
Notwendig ist die unmittelbare Verstandigung der Werk-
tatigen an den Arbeitsstatten, die unverziigliche Schaffung von
Aktionsausschiissen innerhalb der Betriebe und deren fode-
rative Verbindung zu dauernd wachsamen und kampfbereiten
Klassenorganen. Diese Ausschusse und Foderationen diirfen
nicht „paritatisch" nach Parteizugehorigkeit zusammengesetzt
sein, sonst kame wieder Fiihrergewasch, Parolenschusterei,
Resolutionskram und Vereinsmeierei heraus, sonst ginge vor
allem die Initiative wieder an die im Dunkeln wirkenden
Zentralen zuriick, von denen die Arbeiter nicht wissen, welche
vor dem Proletariat verborgenen Hintergrundinteressen die
Beschliisse beeinflussen. Die aktiven Krafte der Belegschaf-
ten, zumal in den Mldbenswichtigen" Betrieben, sowie ihnen
von den Arbeitskollegen unter Zuriickstellung alles Organi-
sationsegoismus Umsicht, Tatkraft, Werkkenntnis, Kamerad-
schaftsgeist und das Bewufitsein der Bedeutung des Augen-
blicks zugetraut wird, miissen bestimmt werden, unter stan-
diger Kontrolle ihrer Auftraggeber alle Vorbereitungen zum
Generalstreik zu treffen.
An dem Tage, an dem die Hakenkreuzfahne iiber den
offentlichen Gebauden erscheint, lafit sich nicht das geringste
mehr organisieren oder anordnen, Jeder Arbeiter muB vor-
her wissen, was er darin zu tun und zu unterlassen hat. Soil-
ten aber wirklich die Parteien und Gewerkschaften ihreh An-
hangern vorher Weisungen zugehn lassen, so werden sie ein-
ander widersprechen und dadurch die einheitliche Abwehr der
Gefahr erst recht durchkreuzen. Nur der rechtzeitig gefaBte
und bis ins Kleinste vorbereitete EntschluB, dem Verfassungs-
bruch und Staatsstreich die Lahmlegung der gesamten Versor-
gung mit Wasser, Gas, Elektrizitat, die Drosselung des Mark-
tes und des Verkehrs entgegehzustellen, kann den Massenmord
und die vollstandige Versklavung der deutschen Arbeiterschaft
verhindern.
Die Arbeiter haben jetzt andres zu tun als sich gegen-
seitig zu beschimpfen und zu verpriigeln oder schone Reden
anzuhoren und wohlklingende Resolutionen zu fassen. Es ist
Zeit, hochste Zeit zu handeln!
Der Vorschlag des Verfassers umfaBt nur MaBnah-
men gegen die offenbar illegale Machtergreifung durch
die Nationalsozialisten. Nach dem boxheimer Dokument
bedeutet das die „Komraune", nach der heutigen Staats-
auffassung Verteidigung der verfassungsmaBigen Grund-
lage, Unterstiitzung der gesetzmafiigen Abwehr. In Uber-
einstimmung mit dem Verfasser betone ich gern, daB
diese Mobilisierung der Abwehr nicht geheim bleiben,
sondern den verantwortlichen Regierungsstellen in jedem
Einzelfalle mitgeteilt werden soil,
881
Ohnmachtiger Pazifismus von Kurt snier
r\er von Walter Dirks klug und lebendig geleitete ,Frie-
*"^ denskampf er\ das Organ jcncr Katholischen Friedens-
bcwegung, als deren interessantester Kopf der Dominikaner-
pater Franziskus M, Stratmann anzusprcchcn ist, ein oft vir-
tuoser Polemiker, von dem manchcr Heide lernen kann (Vitus
Heller steht uns als Antikapitalist wohl sachlich naher, aber
ist groberes Garn}, berichtet in seinem vorigen Monatsheft
fiber eine Friedenswoche Marc Sangniers in Baden. Der Ftih-
rer der ^Internationalen Demokratischen Friedensaktion"
hat mit Gesinnungsgenossen aus Frankreich, England, Spa-
nien, Deutschland (darunter Ludwig Quidde), herzlich unter-
stiitzt durch die Badische Regierung, auch durch die Stadt-
oberhaupter von Freiburg und Konstanz, „unter breitester An-
teilnahme der Bevolkerung" gemeetingt und KongreB gemacht
Baden, zeigt sich, ist nicht Braunschweig; der gute Ton in
Baden bleibt demokratisch . . , mit klerikalem Ttipf el aui
dem i. Marc Sangnier und die badische Offizialwelt passen vor-
ziiglich zueinander; es ist in der Ordnung, solche Harmonie
fiir die Propaganda des Friedens auszunutzen,
Blieb diese Propaganda im liblichen Lyrismus, im viel-
geliebten ,fVerstandigungs"schlamm stecken? Nein. Die Ge-
rechtigkeit gebietet anzuerkennen, daB nicht Rapprochement
geschwafelt, sondern daB ein Katalog klarer Forderungen aus-
gearbeitet wurde, klarer und guter ( — abgesehn von einer
einzigen unklaren und bosen, iiber die noch zu sprechen sein
wird).
Man forderte, als Endziel der Arbeiten. £iir die Ab-
nistungskonferenz (im Februar; oder am St, Nimmerleinstag?):
Vollstandige Abriistung, Auf dem Wege zu diesem Endziel:
Sofortiges allgemeines Verbot aller in den Friedensvertragen
verbotenen Kampfmittcl und Kriegsvorbereitungen, einschlieBlich der
militarischen Jugendausbildung;
ernsthafte Herabsetzung der Riistungen, teils direkt durch Be-
schrankung der Kontingente, der Dienstzeit und des Kriegsmaterials
aller Art, teils indirekt au! budgetarem Wege;
sofortige Unterdruckung der gesamten privaten Rustungsindu-
strien, einschlieBlich des Waffenhandels, und internationale Kontrolle
uber die dann noch gestatteten staatlichen Industrien;
dauernde Kontrolle uber die Durchfiihrung der Abriistung durch
eine mit alien Vollmachten ausgestattete standige internationale Kotn-
mission;
Ausbau des Systems der obligatorischen internationalen Frie-
denssicherung, der in Verbindung mit einem echten Geist interna-
tionaler Zusammenarbeit die entscheidende Voraussetzung fiir die
Abriistung ist.
Von der letzten abgesehn, vortreffliche Thesen! Aber
glaubt ein Mensch, auBerhalb und innerhalb der t, Internatio-
nal en Demokratischen Friedensaktion", daB die Abriistungs-
konferenz sie zum BeschluB erheben wird? DaB, tate sies,
auch nur Eine Miiitarmacht ihn redlich vollzoge? Der Pa-
zifismus fordert diese Dinge nicht seit gestern; und der Im-
perialisms beweist durch seine Haltung bis heute, daB er an
derlei MaBnahmen nicht im Traume denkt. Man kann einen
882
Tiger durch Predigen vielleicht iiberreden, auf den Gebrauch
seiner Pranken und seines Gebisses zu verzichten; das mensch-
liche Raubzeug nicht. Das menschliche Raubzeug muB aus
der Macht gestoBen werden; die menschliche Species, die das
Abschlachten der Volker ernstlich nicht will, muB sich zur
Macht aufschwingen; ohne Vernichtung des internationalen
Kapitalismus gibt es keine Vernichtung des Krieges. Darum
bedeutet, was die Marc Sangnier und die Quidde und all die
andern edlen Evolutionisten des Friedens seit Jahren trei-
ben, eine Oper der Ohnraacht. Wie alt werdet Ihr wohl wer-
den miissen, um zu begreifen, daB Ihr nicht in die geschicht-
liche Realitat eingreift, sondern neben der geschichtlichen
Realitat handelt, wenn Ihr den Raubern, denen Ihr Ethisches
zumutet, ihren Machtbesitz schiitzen helft? Ihr ruft dem
Feuer zu: Hor auf zu brennen! und giefit statt Wassers Benzin
hinein. Kirche und burgerliche Demokratie — die , stiitzen,
was ist; noch mit ihrem theoretischen Nein zu Einigem, was
ist, stiitzen sies praktisch; denn zum Prinzip Dessen, was ist,
sagen sie Ja, handeln sie Ja. Es gibt keinen innerhalb prin-
zipieller Konservativitat isolierten Kampf gegen den Krieg ;
es gibt nur den Kampf gegen das Organisationsprinzip der biir-
gerlichen Gesellschaft — er enthalt den Kampf gegen den
Krieg, Prokirchlicher, prokapitalistischer Pazifismus: Bel-
canto der Ohnmacht,
Oder Schlimmeres. Man schaue sich die letzte These an;
die, von der ich anfangs absah, Ist sie klar? Kaum. Sie
spricht von „obligatorischer Friedenssicherung", wahrend tat-
sachlich nicht die Sicherung obligatorisch sein kann, sondern
nur dieses oder jenes Mittel, durch das man den Frieden
glaubt sichern zu konnen. Welches Mittel mogen sie meinen?
Das obligatorische Schiedsgericht? GewiB, und rechtens, Aber
seine Urteilsspriiche wollen exekutiert sein. Wie macht man
das unter geriisteten Staaten? Was heiBt da „Ausbau des
Systems"? Exekutiert, exekutiert sein wollen die Spriiche.
So spukt hinter der schonen Wortkulisse von der „obligatori-
schen internationalen Friedenssicherung" der obligatorische
internationale Exekutionskrieg. Nicht mehr Krieg zwischen Staat
und Staat, sondern Krieg aller Staaten gegen den Einen —
den Friedensbrecher. Falls er Verbiindete hat: Krieg zwischen
Staatenblock und Staatenblock — wie einst im Mai. Das ist
offenbar unter dem „echten Geist internationaler Zusammen-
arbeit" verstanden; ein Geist, der diese Gattung Krieg als
genau so grauenhaft wie die andre verwurfe, ware anschei-
nend „unechtM.
Also ein volkerrechtlicher Vertragf der jedem Partner die
Teilnahme an Exekutions-, an Sanktionskriegen zur Pflicht
macht, soil „die entscheidende Voraussetzung fur die Ab-
riistung" sein. Das ist die These Paul-Boncours und aller
andern pazifisteinden Demo-Imperialisten. Sie fuhrt nicht vom
Kriege fort, sie fuhrt zu ihm hin, Sie ist die ideologische
Grundlage noch graulicherer Gemetzel, als es das 1914 begon-
nene war. Statt die alte Schande zu tilgen, gibt sie ihr einen
neuen Namen. Man wende die These auf eine aktuelle Si-
tuation an: MandschureL Weltkrieg gegen den Friedens-
883
brecher! Bleibt Japan isoliert, dann wird es die Dinge nicht
so wcit treiben lassen, WeiB es sich aber cincs odcr einiger
machtigen Bundesgcnossen sicher, dann habcn wir denWelt-
krieg II, zwischen zwci Koalitionen, als „Sanktion." etikettiert,
als Feldzug dcr Gerechtigkeit — ahnlich dem crsten! Nimmt
dies Etikctt dem Abwurf der Brandbomben, der Brisanzbom-
ben, der Giftgasbomben, der Bakterienbomben auch nur em
Quentchen seines apokalyptischen Schreckens? Haben wir
unsre Erfahrungen gemacht, unser Denken gedacht, urn in
solchem Kriege eine . . . ,,FriedenssicherungM zu sehn?
Die bose These stent nicht auf dem Papier, aber sie
stent hinter den salbungsvollen Vokabeln, die auf dem Pa-
piere stehn — diesen geflissentlich unklaren, dabei durchaus
eindeutigen Wendungen. Wer in Europa will denn heute den
Krieg -der Volker Enropas gegen Japan und seine Verbiinde-
ten? Werf so ehrlich er den japanischen Militaristen flucht,
will ihn? Den Chemiekrieg; den Krieg mit alien Schikanen
dieser Zivilisation? Wer will, daB in griiner Wolke der
Millionenmord iiber die Stadte des Gestirns rast ?
Wer diesen Krieg nicht will; wessen Phantasie ausreicht,
sich dessen Greuel halbwegs vorzustellen — der schule ge-
falligst sein Denken, daB es aufhore, ihn zu ,,Losungen*' zu
verfciihren, die nichts sind als Ohnmacht vor der Naturkraft,
die er bandigen mochte; ML6sungen'\ deren Praktizierung den
herabschauenden Bewohner eines andern Sterns zwange, unsre
Erde f iir eine Holle rhythmisch sich wiederholenden Kollektiv-
selbstmords zu halten oder fiir ein kosmisches Irrenhaus,
Nicht jenes Protokoll oder jener Pakt, der den Sanktions-
krieg stipulieren wiirde, ware ,,die entscheidende Voraus-
setzung fiir die Abriistung"; sondern die allgemeine Abriistung
ist die entscheidende Voraussetzung fiir die Sicherheit der
Nationen, weil, ist sie beendet, kein Volk mehr dem andern
den Krieg ins Land tragen kann. Ein Kind begreifts, ein
1,FriedensIreund" nicht allemal. Fiir manchen gilt: Der ge-
brannte Pazifist schiirt das Feuer.
Weltecho des leipziger Prozesses
fVolkszeitung' (Innsbruck) vom 27. November.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat eine Interpellation
wegen des Urteils des Reichsgerichts gegen die fWeltbiihne' einge-
bracht. Die Untersuchung hat kein andrer gefuhrt als der bekannte
Reichsanwalt Jorns, Dieser hatte bekanntlich den Journalisten Born^
stein verklagt, der ihm nachgesagt hatte, er habe als Untersuchungs-
fiihrer des Kriegsgerichtes die Morder von Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg begiinstigt und dadurch der gebtihrenden Strafe entzogen.
Der Angeklagte — von Paul Levi glanzend verteidigt — war wegen
erbrachten Wahrheitsbeweises freigesprochen worden. Das Reichs-
gericht, das von Jorns angerufen wurde, hat sich gegen die sonstige
Obung nicht damit begnugt, das Verfahren nachzuprufen, sondern sich
mit der Sache selbst befaBt, und bei der Ruckverweisung eine solche
Marschroute gegeben, daB der Angeklagte in der neuen Verhandlung
verurteilt werden mufite, Jetzt ist Jorns, der wahrend der langen
Dauer seiner Prozesse suspendiert worden war, wieder in Amt und
Wtirden.
884
,Der Wiener Tag" vom 24. November
Jetzt horchen sicher alle diejenigen auf die hungrig sind nach
deutschen militarischen Geheimnissen. Was Kreiser in seinem Artikel
geschrieben hatte, das haben die Mil itaratt aches der in Berlin akkre-
ditierten Machte alle gewufit. Was — so miissen sie sich angesichts
der leipziger Geheimniskramerei fragen — mochte alles hinter den
Kreiserschen Harmlosigkeiten doch stecken. Wenn jemand die deutsche
Staatssicherheit gefahrdet hatte, so ist das vielleicht das leipziger Ge-
richt . . , Vor einigen Tagen hat man in Breslau einen Menschen als
Spion abgeurteilt, weil er demAuslande Nachrichten iiber den letzten
Stahlhelmaufmarsch liefern wollte. Der fruhere englische Aufien-
minister Chamberlain hat in einem Brief an die ,Times* dartiber ge-
schrieben: Dies und andres konnte nicht besser ausgedacht werden,
wenn der ausgesprochene Zweck dabei ware, das Vertrauen zu
Deutschlands Ehrlichkeit zu zerstoren. Was wird er jetzt nach diesem
leipziger Gerichtsurteil sagen?
Das Gesetz verlangt ausdriicklich die Feststellung der Vorsatz-
lichkeit als Grundlage fur die Verurteilung. Ossietzky und Kreiser
sind die dummsten Spione, die die Erde getragen hat. In einem Zei-
tungsartikel machen sie dem Feinde ihre gefahrlichen Mitteilungen.
Kreiser spricht von 40 Flugzeugen, die von der Abteilung M unter-
halten werden. Frankreich hat 7500 Flugzeuge. Deutschlands Sicher-
heit ist gefahrdet, weil die Franzosen erfahren haben, dafi ihre 7500
nicht ohne Gegner sind , . .
,Neue Ziiricher Zeitung' vom 25. November
Es ist um so schwieriger, dieses Urteil zu verstehen, als das
Reichsgericht die Begrundung verheimlicht, Aber die Frage liegt
nahe: Wie konnen kritische Ausfiihrungen iiber Material aus dem
allgemein zuganglichen Etat eines Reichsministeriums als Nachrichten
bewertet werden, deren Geheimhaltung im Interesse der Landesver-
teidigung erforderlich ist? Inwiefern wird die Sicherheit des Reiches
durch eine derartige Abjiandlung gefahrdet? Da die Urteil sbegriin-
dung nicht veroffentlicht wurde, so kann man nur Vermutungen an-
stellen, und die Vermutung erscheint nicht abwegig, dafi das Reichs-
gericht ahnlich argumentierte wie die .Deutsche Allgemeine Zeitung',
die erklart: MDas Bedenkliche und Gefahrliche des Artikels lag darin,
dafi er eine Zusammenstellung der alten, wiederholt zuriickgewiesenen
Behauptungen in einer Form anstrebte, die im Ausland eine ent-
sprechende deutschfeindliche Propagandawirkung zu erzielen be-
absichtigte/'
Wie aus der obenerwahnten Anregung des Abgeordneten Kriiger
hervorgeht, war unter Etatskennern die Ansicht verbreitet, dafi die
Etatsposten der MAbteilung M'* militarischen Zwecken dienten. Die
Reichsanwaltschaft, das Reichsgericht, das Reichswehrministerium und
andre deutsche Behorden und Patrioten glauben also, dafi durch eine
offentliche Bekundung oder Andeutung dieser Ansicht die Sicherheit
des Reiches gefahrdet werde. Als ob die militarischen Berater frem-
der Machte auf Grund ihrer eignen Etatsstudien nicht schon lange
zu ganz konkreten Schliissen gekommen waren! Sicherlich konnen
jene Fachleute durch nichts iiberrascht oder belehrt werden, was der
verwegendste deutsche Etatskritiker herausfindet, auch wenn es sich
andeutungsweise um Militarluftfahrt handelt, die Deutschland durch
den Versailler Vertrag verwehrt ist,
Dieser Artikel enthalt eine Nachschrift, in der angebliche Interna aus der ge-
schlossenen Hauptverhandlung mitgeteilt werden.
,Votksrecht* (Zurich) vom 3. Dezember
Das Urteil gegen Ossietzky, Herausgeber der Wochenschrift ,Welt-
biihne', und seinen Mitarbeiter Kreiser ist nicht nur aus Rechts- und
Gerechtigkeitssinn heraus eine Blamage, Auch die aufienpolitische
885
Wirkung, mag sie noch so verheerend sein, steht weit zuriick hinter
dem Be we is einer bis in die hochsten Kreise hineinreichenden son-
derbaren deutschen Kultur. Wenn es fur die Gegner Deutschlands
eine Moglichkeit gab, den wahrend des Krieges so oft erhobenen und
bestrittenen Vorwurf, die Mentalitat des Deutschen sei die des
„boche", postfestum zu rechtfertigen, so hat der Oberreichsanwalt
Jorns diese Moglichkeit durch seine Stellungnahme den jungsten Er-
eignissen gegentiber geschaffen.
Friedrich Bill im tPrager Tagblatt' vom 24. November
Carl v. Ossietzky, der Leiter der (Weltbuhne\ und der Schrift-
steller Walter Kreiser wurden gestern vom Reichsgericht zu je einem
Jahr und sechs Monaten Gefangnis verurteilt, Tatbestand: Mitteilung
verhaltnismaBig harmloser und sicherlich jeder Regierung bekannter
Tatsachen iiber die deutsche Luftschiffahrt. Landesverrat ist, nach
der famosen Judikatur des leipziger Reichsgerichts, die Mitteilung
iiber internationals Vertragsverletzungen des Deutschen Reichs. Zu
den Obeln der deutschen Rechtspflege gehoren allem Anschein nach
wie bei uns und aidern zehn Landern die Militarsachverstandigen, die
vom heldischen Standpunkt der Kadettenschule zu beurteilen haben,
was dem jeweiligen Vaterland frommt und was ihm schadet. Nach
dieser Militarpfeife tanzt auch die deutsche Justiz. Es kann kein
Zweifel daruber sein, daB Ossietzky vom ersten politischen Satz, den
er schrieb, das „Wohl des Deutschen Reichs", das er geschadigt haben
soil, sinnvoller, kliiger und konsequenter beschiitzt hat als die sach-
verstandigen Vaterlandsverteidiger und leipziger Gerechtigkeits-
beamten. Die Menschen sind nicht mehr sicher vor den schutzbedurf-
tigen Vaterlandern!
tPrager Presse' vom 25. November
Es ist eine Lust, ein linksstehender Publizist in der deutschen
Republik zu sein. Wahrend ein Hitler ungestraft verkunden darf,
wenn er zur Macht gelange, wurden die „Kopfe rollen", wird ein
Maximilian Harden von zwei nationalistischen Mordbuben — die
notabene nie eine Zeile von ihm gelesen hatten — uberfallen und so
zugerichtet, daB der geschwachte Organismus in kurzer Zeit einer
Krankheit erliegt. Nun ist die Reihe an Carl v. Ossietzky, den weit
uber die Grenzen Deutschlands geschatzten, unerschrockenen Heraus-
geber der berliner .Weltbuhne*. Ossietzky hatte die Kiihnheit be-
sessen, einen Artikel izu ver of tent lichen, der einiges iiber die Reichs-
wehrsubventionen an private Luftfahrtgesellschaften enthielt. Wieso
durch die Auf deckung der Zuwendungen militarische Geheimnisse ver-
letzt worden sein sollen, bleibt dem Uneingeweihten ein Ratsel. Das
leipziger Reichsgericht hat allerdings — nach geheimer Verhandlung —
den Angeklagten schuldig befunden, Und um vorwitzigen republi-
kanischen Journalisten die Lust an derartigen Indiskretionen ein fur
allemal zu benehmen, hat es iiber Ossietzky gleich die drakonische
Strafe von 18 Monaten Kerker verhangt, Eine ganz nette Zeitspanne,
um iiber die Entwicklung der republikanischen Justiz in Deutschland
nachzudenken. Dem Ausland liegt es fern, sich in Angelegenheiten
der deutschen Rechtspflege einzumengen; jedes Land hat schlieBlich
die Justiz, die es verdient. Was das Ausland interessiert, ist die
Tatsache, daB augenscheinlich eine Kritik am Reichswehretat in
Deutschland nunmehr unter die strafbaren Handlungen fallt und daB
pazifistische Bestrebungen an Landesverrat grenzen. Das Ausland
quittiert diese Entwicklung, die in der Verurteilung Ossietzkys ein so
drastisches Symbol gefunden hat, mit aufrichtiger Besorgnis. Nicht
aus Furcht, denn man weiB, wieviel Unsicherheit und Ratlosigkeit im
Grunde hinter den Kraftphrasen Hitlers steckt, sondern aus Besorgnis
um die Gestaltung der innerdeutschen Verhaltnisse. Das Urteil uber
Ossietzky zeigt, wie nahe Deutschland vor dem Hineingleiten in den
886
Hakenkreuzsumpf steht. Fur die deutsche Linke ist es ein Alarm-
signal, das sie endlich zu geschlossener Abwehr zusammenfuhren
sollte.
.Manchester Guardian* vom 24. November
Der inkriminierte Artikel war eine Kritik der deutschcn Wehr-
ausgaben, besonders der militarischen Luftfahrt; Da der Prozefi sich
im geschlossenen Raum abspielte, weifl niemand, was fiir Geheimnisse
enthtillt wurden. Aber wieder erhebt sich die Frage — was in
Deutschland verborgen ist, besonders im Hinblick auf die militarische
Luftfahrt: was ist durch den Friedensvertrag ^verboten?
,The Times' vom 24. November "
Die Urteile, die nach deutschem Brauch ungewohnlich streng sind,
haben viel Aufmerksamkeit erregt, und der Fall ist heftig kritisiert
worden in der demokratischen Presse, weil sie das zuxtehmende Hin-
schwinden der deutschen Meinungsfreiheit in diesen Tagen zu re**
prasentieren scheinen.
tL'Echo de Paris' vom 24. November
Vom deutschen Standpunkt gesehen ist es unentschuldbar, dafi die
Akten der deutschen Rustungen, die, wie wir hoffen, in Genf in vollem
Umfang geoffnet werden, jetzt in Leipzig zur Diskussion gestellt wor-
den sind.
Monde' vom 5. Dezember
Die Proteste der Intellektuellen gegen die Verurteilung von Re-
dakteuren der ,Weltbuhne* haufen sich in Deutschland " und in
der ganzen Welt . . . Unter dem Vorwand des Verrats will man toten,
was von der Freiheit der Presse in der deutschen Republik noch
tibrig geblieben ist,
,Le Temps' vom 25. November
Nicht Interpretation sondern Vergewaltigung dieses Paragraphen
(des Gesetzes gegcn den Verrat militarischer Geheimnisse) ist es, ihn
auf einen Zeitungsartikel anzuwenden, Und kann ein in einer deut-
schen Zeitung erschienener Artikel den Verrat eines Geheimnisses an
eine fremde Regierung bedeuten?
Das Tribunal hat auch noch entschieden, dafi die Nummer 11 der
,Weltbuhne* von 1929 unschadlich zu machen ist.
Einen Artikel unschadlich zu machen, der vor zweieinhalb Jahren
erschienen ist, den alle Welt gelesen hat, und der ftbrigens unsres
Wissens vergriffen ist, das heiflt, der Bdsartigkeit die Groteske
hinzufugen.
,Le Journal' vom 24. November
Das Urteil des Reichsgerichts provoziert eine tiefgehende Be-
wegung in alien Kreisen der deutschen Linken.
L Action Francaise' vom 26. November
Die Bestrafung erscheint der Presse der Rechten naturlich ge-
rechtfertigt und der der Linken allzu hart. Wir konnen das heiselte
lassen. Aber als interessantes Faktum ist zu notieren, da£ der Ge-
richtshof vor der Verkundung seines Verdikts den AusschluS der
Offentlichkeit fiir die Urteilsbegriindung ausgesprocheh hat, die der
President nicht ohne Gefahrdung der nationalen Sicherheit verlesen
konnte.
£e Matin' vom 24. November
Der ProzeB und selbst die Verlesung des Urteil s haben hinter
verschlossenen Turen stattgefunden.
887
JLa Republique vom 24. November
Diesc brutale Verurteilung macht glauben, daB ihre (der Ver-
fasser) Enthtillungen wahr sind,
,La Gauche' vom 26. November
Gibt es cin Recht, die Reichswehr zu kritisieren — ? ... die er-
schreckende Verurteilung zu achtzehn Monaten Gefangnis . . . wegen
eines Artikels iiber die Subventionen im Etat der zivilen Luftfahrt ist
ein Beispiel der gefahrlichen Lage, in der sich das Reich befindet,
,Le Progres de Lyon
Die Art, wie der Prozefi gefiihrt wurde und die Brutalitat des
Spruchs erscheinen liberalen Kreisen als die beste Rechtfertigung der
Kampagne der beiden verurteilten Journalisten,
,Loire Republicaine' (St. Etienne) vom 26. November
Man muB bemerken, dai3 die Herren v. Ossietzky und Kreiser
nicht wegen Mversuchten Landesverrates'1 sondern wegen „vollendeten
Landesverrates" verurteilt worden sind, was darauf schlieBen lafit,
dafi die in dem inkriminierten Artikel der .Weltbuhne' enthaltenen
Tatsachen wahr sind.
tLe Petit Marseillais' (Marseille) vom 24. November
Der Gerichtshof hat absolutes Schweigen verhangt . , .
,La Metropole' (Antwerpen)
* . . und die Entscheidung des Gerichtshofs, selbst die Veroffent-
Hchung des Wichtigsten zu untersagen, lafit auf eine ernste Schadi-
gung der internationalen Beziehungen zu Deutschland schlieBen.
fNiave Rotterdamsche Courant' vom 23. November
Die Urteilsbegriindung wurde hinter verschlossenen Turen ver-
lesen.
,New York Times' vom 24. November
. . . andrerseits ist zu sagen, dafi der in Frage stehende Artikel aus-
schlieBlich die Behandlung offentlicher Mittel durch die Regierung an-
griff und sich innerhalb des Rechtes offentlicher Kritik hielt. Es ist
absurd zu denken, daB es dabei Geheimnisse gibt, die wert sind, ver-
raten zu werden, diese Tatsache erklart, was immer die Richter fur
Griinde gehabt haben mogen, die Angeklagten des Verrats schuldig zu
linden, daB dies Urteil konfus befunden wird und in der Praxis ge-
eignet, den Eindruck zu erwecken, daB die Minister der Reichswehr
und des Verkehrs etwas zu verdecken haben.
Ein Protest-Telegramm aus New York
Acht Redakteure ,New Republik' .Survey' ,Nation' heute Protest an
Briining gekabelt gegen unglaubliche Bestrafung Verletzung des
Gemeinrechtes der Presse iiberall auf Freiheit und Unabhangigkeit
stop Ausdriicke Ihnen herzlichste Sympathie.
Oswald Villard
Telegramme an die Deutsche Liga fiir Menschenrechte
Roraain Rolland als Ehrenprasident, Georges Pioch als Prasi-
dent, Victor Meric als Generalsrekretar der Internationalen Liga der
Friedenskampfer und Marcelle Capy sprechen Ossietzky ihre
Sympathie aus, protestieren scharfstens gegen unhaltbares Urteil. Es
lebe die Volkerversohnung, nieder mit der Willktir.
Oberzeugt von Einheitlichkeit alien Fortschrittstrebens und Vor-
kampfer geistiger Unabhangigkeit in alien Landern erklaren tiefe Ent-
tauschung aller wahren Freunde Deutschlands und Sympathie fiir
Ossietzky, Henri Barbusse
888
PoKzeiberichte von W. Frank e
F\er Dienststellc D 5 der bcrliner Kriminalpolizci untcr Lei-
" tung von Kriminalrat Seinemiiller gelang es gestern..."
Immer gelingt es , der Kriminalpolizei. Jede Woche dreimal
mindestens ist von ihr in den Zeitungen zu lesen, wie tiichtig.
sie ist und mit welch verbloiffender Geschicklichkeit sie wieder
den Schwerverbrecher SchieBegleich zur Strecke gebracht hat.
Mit genauer Vorgeschichte des Falles ist das zu lesen und mit
detailliertesten Angaben dariiber, wie die Beamten der Dienst-
stelle D 5 es fertig bekommen haben, SchieBegleich festzuneh-
men, nachdem er schon dreimal aus den verschiedensten Ge-
fangnissen ausgebrochen war. Ja, unsre Kriminalpolizei! Wenn
wir die nicht hatten! Und vor allem, wenn wir die eingehen-
den Berichte uber ihre Tiichtigkeit nicht hatten!
Das Merkwiirdigste an den berliner Polizeiberichten ist,
daB sie gar nicht von der Polizei stammen. Ifn Presidium gibt
es zwar eine Pressestelle, aber die ist mit der Anregung von
Zeitungsverboten derart beschaftigt, daB sie alien Kriminal-
fallen ahnungslos gegenubersteht, und ein Reporter, der sich
auf die Auskiinfte dieser Stelle verlieBe, ware langst Versiche-
rungsagent oder Inseratenakquisiteur. Woher aber stammen
die iiberaus liebenswiirdigen und gradezu verdachtig lobenden
Berichte iiber die Tatigkeit unsrer Kommissare? Sie stammen
von einem Manne, der alle Kriminalrate, Kommissare und
Assistenten kennt, der in jedem Winkel am Alexander-Platz
Bescheid weiB, an jedem Tatort weilt und trotzdem ein bei-
nahe unbekannter Privatmann ist: Paul Steinberg,
Paul Steinberg ist ein tiichtiger Mann. Niemand hat eine
Ahnung, wie er es fertig bekommen hat, sich ein fast undurch-
brechbares Monopol fur Kriminalnachrichten zu sichern. Ob
ein Mord begangen wurde, ob ein Betriiger Kautionen verlangt,
ein Klingelfahrer gefaBt wird oder Scotland Yard die berliner
Polizei urn Fahndung nach einem Bilderfalscher ersucht —
Paul Steinberg weiB es und veroffentlicht es in seiner Korre-
spondenz, die samtliche Zeitungen mit Eifer drucken oder doch
wenigstens abschreiben, Paul Steinberg steht sich nicht
schlecht dabei. Er lebt von demf was er im Polizeiprasidium
erfahrt, recht anstandig. Und eine Liebe ist naturlich der
andern wert<
Die berliner Kriminalpolizei verdankt es Paul Steinberg,
wenn sie ebenso popular ist wie die Schutzpolizei unpopular.
Obwohl ja auch bei der Kripo nicht alles Gold ist, was Paul
Steinberg glanzend reibt. Zum Beispiel sind zwei wichtige
Kriminallalle der letzten Zeit; Madchenleiche im Wasser,
Bankraub in Schoneberg — bisher nicht aufgeklart, von dem
etwas zuriickliegenden, aber noch unvergessenen Einbruch bei
der Disconto-Gesellschaft am Wittenbergplatz und von den Ge-
brudern SaB ganz zu schweigen. Aber wer denkt an derartige
MiBerfolge, wenn immer und immer wieder in den Zeitungen
aller Richtungen — denn die Kriminalpolizei gilt ja als sozusagen
unpolitisch — berichtet wird, mit welcher Umsicht Kriminal-
kommissar Wissigkeit und seine Beamten die Ermittlungen nach
dem later gefiihrt haben, „bis derselbe sich auf dem Polizei-
4 889
rcvicr 67 selber st elite und sich unter der Last des von den
Kriminalisten zusammengetragenen Beweismaterials in soviel
Widerspriiche verwickelte, daB an seiner Schuld kein Zweifel
mehr bestehen kann." Klassisches Deutsch ist es nicht, das
Steinberg liefert, aber den Berlinern wird taglich unter die
Nase gerieben, wie tiichtig ihre Kriminalpolizei ist. Zum SchluB
glauben sie es, Steinberg hat nicht umsonst gearbeitet.
Das namlich.ist sein Geheimnis: als „unabhangiger" Her-
ausgeber einer Korrespondenz Diener der Polizei zu sein,
Diener auch der Eitelkeit der Kommissare, die sich beinahe
so gern gedruckt sehen wie die Rechtsanwalte. Steinberg tut
ihnen- den Gefallen. Und wenn die Redakteure dreimal den
Namen des Kommissars streichen — aber wieso eigentlich, der
Mann ist doch so tiichtig! — das vierte Mai lassen sie ihn aus
Versehen stehn. Und so wird von Zeit zu Zeit ein groBer
Kriminalist geboren, erzeugt von Paul Steinberg, gesaugt und
aufgepappelt von Paul Steinberg, dem er zum Dank fur diese
Dienste natiirlich ab und zu ein paar nette Sachen erzahlen
muB. Selbstverstandlich streng privat, so streng, daB es
friihestens in den Abendblattern stehen kann.
Die Wirkung des Steinbergschen Nachrichtenmonopols ist,
daB die Kriminalnachridhten der Zeitungen alle gefarbt
sind. Fortgesetzt kommt es vor, daB Verhaftete als ganz
groBe Verbrecher dargestellt werden, denn je gefahrlicher der
Festgenommene, um so groBer der Ruhm der Polizei. Wehren
konnen sich die Opfer nicht, sie sitzen ja. Und bis zur Ge-
richtsverhandlung vergeht viel Zeit, dafiir sorgt schon die Vor-
untef suchung. In dem ProzeB stellt sich dann hautig heraus,
daB der Tater gar kein so groBer Obeltater sondern ein armer
Mensch ist, der unter dem Druck von seelischen oder mate-
riellen Gewalten zu seiner Tat gekommen ist. *Es stellt sich
heraus, daB die Polizeiberichte falsch oder zumindest stark
tibertrieben waren. Warum waren sie es? Weil die Nachrich-
ten aus der Steinbergschen Korrespondenz stammen und es
kaum eine Kontrolle dieser Meldungen gibt. Denn was
die Kriminalkommissare den Reportern, wenn es schon gar
nicht anders mehr geht, sagen, das ist immer viel weniger als
Steinberg von ihnen erfahren hat, und da alles, was Steinberg
tut, fur die Polizei wohlgetan ist, sind amtlich fundierte De-
mentis gegen die Steinbergschen Berichte ausgeschlossen. Nur
manchmal, wenn eine Zeitung doch irgend einen Zweifel hegt
und die Quelle angibt, aus der die Nachricht stammt — was
meist mit der Bezeichnung geschieht: „wie eine offiziose Poli-
zeikorrespondenz berichtet" — regt sichs im Polizeiprasidium
und man legt Wert darauf, zu erklaren, daB Steinberg
keineswegs otfizios sei. Nein, er ist ein Privatmann, und die
Polizei ernahrt ihn seit Jahren um seiner schonen Aug en willen*
Sie ernahrt ihn um so sicherer, als der groBe Sturm, der
iiber Paul Steinberg kiirzlich hereinzubrechen drohte, von ihm
mit Erfolg abgeschlagen wurde. Die Wolken zogen auf, als
Doktor Haubach Pressechef am Alex wurde. Haubach . stellte
mit Erstaunen fest, daB die Pressestelle der Polizei ein Amt
ohne Funktionen war. Man schlief in ihr den Schlaf des Unin-
890
formierten, wuBte aufier einigen StraBenunfallen meist von
gar nichts. Wenn ein in diesen Dingen noch unbewanderter
Reporter eine Auskunft verlangte, wurde ihm nicht selten ge-
antwortet: „Wenden Sie sich doch an Herrn Steinberg." Das
war erstens bequemer, zweitens aber auch ungefahrlicher, derm
ein ,, Privatmann" kann natiirlich sagen, was er will, es braucht
nicht zu stimmen. Diesen Zustand also fand Haubach vor und
begann, mit eisernem Besen zu kehren. Der Privatmann Stein-,
berg, der bis dahin sogar ein Zimmer im Prasidium besessen
hatte, verlor diesen Raum, und ein Kriminalkommissar sollte
eingesetzt werden, um den Reportern alle Auskiinfte zu ertei-
len. Inzwischen hat sich Haubach mehr auf die politischen An-
gelegenheiten geworfen, die er nicht immer grade gliicklich er-
ledigt. So stammt, zum Beispiel, die Nachricht, daB die fest-
genommenen Morder vom Bulow-Platz zu 99 Prozent iiber-
fiihrt seien, von ihm, Dem Untersuchungsrichter hat dann be-
kanntlich das eine fehlende Prozent zur Entlassung der Inr
haftierten ausgereicht. Jedenfalls hat der Pressechef des Pre-
sidiums keine Zeit mehr gefunden, den Fall Steinberg weiter
zu bereinigen, und so geht der Privatmann Steinberg weiter im
Prasidium umher, tritt bei den Kommissaren ein, klopft den
Assistenten auf die Schulter und studiert die Akten. Aus
ihrem schlechten Deutsch macht er dann kein gutes, aber es
steht etwas drin, und so drucken es die Zeitungen eifrigst.
Auf diese Weise kommt es, daB die berliner Kriminal-
polizei im Rufe grofiter Tiichtigkeit steht. Auf diese Weise
kommt es, daB tagtaglich liber wehrlose Verhaftete schlimme
Dinge gesagt werden, die sich nachher nicht bestatigen, Auf
diese Weise kommt es, daB es eine Kritik an den Methoden
der Kriminalpolizei in Berlin bis weit in die kommunistische
Presse hinein iiberhaupt nicht gibt. Die Kriminalkommissare
sind alle so prachtig wie Sherlock Holmes, die Zeitungen haben
eingehende Berichte daruber, und ein Mann, der Bescheid
weiB, wird reich dabei. Es ist also alles in schonster Ordnung.
Stimme des Besiegten von Georges Sand
VY/ir werden die Deutschen um ihrer Siege willen ebenso beklagen
" miissen, wie uns um unsrer Niederlage willen, denn fiir sie ist es
der Anfang ihrer moralischen Entwertung. Die Tragodie ihres Nieder-
ganges hat begonnen, und da sie mit eigner Hand daran arbeiten.
wird er schnell fortschreiten. All diese grofien, materiell gerichteten
Organisationen, in denen Recht, Gesetz und Ehrfurcht vor der Mensch-
heit verleugnet werden, sind tonerne Kolosse, wir haben diese Er-
fahrung teuer bezahlt. Aber der moralische Niedergang Deutsch-
lands bedeutet nicht das kiinftige Heil Frankreichs, und wenn wir an
der Reihe sein werden, wird uns seine Vernichtung kein neues Leben
schenken. Strome von Leben konnen noch aus der Leiche Frank-
reichs entstehen, aber die Leiche Deutschlands wird der Pestherd
Europas werden. Ein Volk, das sein Ideal verloren hat, kann sich
nicht selber erneuen. Sein Tod wirkt nicht befruchtend; alle, die
seine giftigen Ausdiinstungen atmen, werden von dem todlichen Ubel
mitbetrcffen. Armes Deutschland, Gott schuttet iiber dich wie iiber
uns die Schale seines Zornes aus, und der denkende Geist beweint
dich und bereitet deinen Grabspruch vor, wahrend du frohlockst,
Erschienen am 3. Oktober 1 871 in ,Le Temps'.
891
Mixed Gdll von Rudolf Arnheim
Ein Aertfebuch
W/er sich, in die Abenteuer des Ungeistes unfreiwillig hineingezogen,
" noch dtie Lust an den Abenteuern des Geistes bewahrt hat, lese
Rudolf Thiels Buch „Manner gegen Tod und Teufel" (Paul Neff Ver-
lag, Berlin). Es enthalt die Lebensgeschichten beriihmter Arzte, von
Vesalius bis Ernst von Bergmann. Nicht der friedliche, stille Onkel
Doktor am Krankenbett wird hier gezeigt, sondern eine Phalanx ge-
walttatiger Besessener larmt durch die Jahrhunderte, Landsknechte
der Ketzerei, die den Staub aus den Universitatsperiicken klopfen,
jeder mit einer verlacbten Schrulle behaftet, die dann nach Jahrhun-
derten ein solides Instrument der Schulmedizin wird. In keinem
Fach wirkt der Kampf um These und Antithese dramatischerf an-
schaulicher; denn hier flieBt fiir jeden Irrtum Blut, und jeder gute
Gedanke bannt den Tod. Wissenschaft auf hochster Alarmstufe: Pet-
tenkofer schluckt Cholerabazillen, um eine falsche Theorie zu bele-
gen, Bergmann kampf t mit Mackenzie um den Kehlkopfkrebs Fried-
richs IIL, Semmelweis sucht — spannendstes Kapitel! — in tragi-
scher Blindheit nach der Ursache des Kindbettfiebers, t bis er er-
kennt, dafi er durch den eignen Forschungstrieb Hunderte von Woch-
nerinnen getotet hat, indem er mit seinen Handen das Gift sezierter
Leichen ubertrug. Auenbrugger trommelt unter dem Spott der Kol-
legen auf den Patientenkorpern herum und schreibt dann das grund-
legende Werk tiber den PerkussionsschalL Und wenn Albrecht von
Haller die Pulsschlage zahlt, so erscheint das den Zeitgenossen nicht
sinnvoller, als wenn heute ein Brief trager die Treppenstufen jedes
Hauses zahlen wollte. Sehr seltsam verwischt sich fiir uns spate
Beobachter der Unterschied zwischen gelerntem und ungelerntem Arzt:
Vesalius studiert an der gelehrten Universitat Padua die falsche
Anatomie des Galenos, und es kostet ihn dann heftige Kampfe, auch
mit sich selbst, bis er sich gegen die heilige Autoritat zu dem be-
kennt, was er am Sektionstisch auf den ersten Blick gesehen hat; um-
gekehrt steckt der ungebildete Bauer PrieBnitz, unbekiimmert um die
Anfeindungen der Zunftigen, seine Patienten in kaltes Wasser, griin-
det eine Anstalt, die in. alien Einzelheiten verdachtige Ahnlichkeit
mit dem Zeileis-Institut hat, und schafft der Medizin trotzdem eine
brauchbare Heilmethode.
Rudolf Thiel erzahlt sehr lebhaft und mit einem geschickten Sinn
fur die charakteristische Anekdote. Er hatte es nicht notig, auf eine
etwas altmodische, an Studentenlieder und Studienrathumor gemah-
nende Art malerisch und forsch zu "plaudern. Wir schatzen fiir solche
Darstellungen heute eine ktihlere, mehr dokumentarische Erzahlungs-
form. Und so scheint uns besonders packend etwa die einfache und
ziemlich ausfuhrliche Schilderung der Experimente, die im Jahre 1628
William Harvey zu der tollkiihnen Oberzeugung brachten, dafi die
Arterien nicht Luftgefafie sondern Blutgefafie seien und dafi das
Blut in einem geschlossenen Kreislauf durch den Korper pulsiere.
JSin Photobuch
Siebzigtausend Photographien sind bei den Herausgebern des
Jahrbuchs „Das Deutsche Lichtbild'1 (Verlag Robert & Bruno Schulz,
Berlin W 9) diesmal eingegangen* „Etwa zweitausend photographisch
einander gleichwertige Spitzehleistungen kamen in die Endrunde, so
dafi aus r£umlichen Griinden nur knapp ein Zehntel des ausgesiebten
Materials Aufnahme finden konnte." In diese Verlegenheit ware die
Jury eines Gemaldewettbewerbs sicherlich nicht gekommen. Ein
Zeichen dafiir, dafi es in der Photographie nicht wie in den ubrigen
892
Kiinsten eine Wertpyramide rait sehr schmaler Spitze gibt sondern
ein breites Plateau untibertreffbarer Qualitatsarbeit; was nicht so sehr
fur die Photographen als gegen die Entwicklungsmoglichkeiten der
Bildphotographie spricht. Zweitausend Spitzenleistungen ergeben, im
aristokratischen Reich der Kunst, keine Spitze. Dazu paBt, daB niai*
schon jetzt von Fortschritten auf diesem Gebiet kaum noch sprechen
kann, wobei man allerdings nicht vergessen darf, daB die Photo-
graphen eben dabei sind, die Farbe zu erobern. Schon fiir den
nachsten Jahrgang kiindigt das ..Deutsche Lichtbild" Farbenphotos
an, und wir haben erst dieser Tage an einem farbigen Tierfilm der
Ufa gesehen, daB man jetzt Farben mechanisch reproduzieren kann,
ohne daB ein gif tiger Regenbogen, eine aufdringliche Aofelbackigkeit,
entsteht. Innerhalb des Schwarz-Weifi aber gibt es — in der Bild-
photographie! — wenig Oberraschungen mehr, wenn auch viel Freude.
Der Hang zu efczentrischen Bildeinstellungen und -ausschnitten hat
sich gelegt. pie Kamera ist nicht mehr so nervos, und der Gegen-
stand regiert. Vorbildlich Cami Stones Rastelli-Aufnahme, bei der
die Einstellung von oben gar nicht als solche auf f all t, weil sie eine
sehr iibersichtliche und bezeichnende Ansicht des graziosen Ballspie?
Iers bringt. So findet man auf den besten Blattern den Gegenstand
mit photographischen Mitteln gedeutet, ohne daB das Mittel un^
bescheiden als Zweck auftrate. Man vergleiche zwei Aufnahmen mit
ahnlichem Motiv: Doktor Heck photographiert eine afrikanische Land?
schaft mit Leuten, die, wie man ohne viel Anteil erkennt, Neger sindj
daneben ein Bild von Martin Munkacsi, das die Schwarze und die
federnde Schlankheit nackter. Negerjungen mit plakathafter Einfach-
heit vor den weifien Hintergrund schaumender Meereswellen stellt. Die
Photographie kann heute nicht mehr sehr stark mit dem Reiz fremd-
artiger Motive rechnen: die marchenhaftesten Morgenlander haben
wir in hundert billigen Magazinen abgebildet gesehen; und andrer-
seits sind wir abgestumpft gegen die Verbluffung, die Oberflachen all-
tagiicher Dinge tauschend reproduziert zu finden — wir kennen das
von Renger-Patzsch, der aber, wie sein schones, nicht sehr bekanntes
Werk iiber die nordische Backsteingotik (ein Tip fiir Weihnachten!}
beweist, stets mehr als die Oberflache gibt; wir kennen das von Hel-
mar Lerskis Riesenportrats („K6pfe des Alltags", Verlag Reckendorf,
Berlin), die allerdings als Haupteindruck die Erkenntnis hinterlassen,
wie schlecht doch durchschnittlich der menschliche Teint ist. Und
so gefallen diesmal im „Deutschen Lichtbild" am besten einige Blat-
ter, die nicht einen bestimmten Typus des Photographierens repra-
sentieren sondern gelungene — teils dem Photographenf teils dem Zu-
fall gelungene Einzelleistungen darstellen: verschlungene Olivenbaume
von Joachim Fufi, die k raft voile, vom Rahmen gut aufgefangene Be-
wegung von Werner Riehls Portratkopf, Paul Ungers gemordeter
Frosch, der dem Beschauer wie in symbol ischer Absicht die leichenr
haft bleiche Bauchseite weist, und Hugo Erfurths Wigman-Kopf, so
unmittelbar aufschluBreich, daB man mit einem „Pardon!" zuklappen
mochte, als sei man in ein fremdes Badezimmer getreten. Schade,
daB, wie die Herausgeber mitteilen, die Aktaufnahmen aussterben;
einmal, weil nackte Madchen das Leben verschonen, und zum andern^
weil der sehr formenreiche Menschenkorper, der in sich kaum Ton*
akzente bietet und daher rein vom Licht modelliert werden muB, fiir
den Photographen ebenso wie fiir den Maler eine hohe Schule ab-
geben kann. Es sei noch hingewiesen auf die lehrreichen technischen
Anmerkungen zu j eder Photographie, die genaue Auskunf t iiber das
Plattenmaterial, die Belichtung, den Entwickler etcetera geben, Nicht
sehr einladend hingegen ist das einleitende Zwiegesprach zwischen
Bildredakteur und Kunstkritiker, das dem zwischen Faust und Wag-
ner weniger ahnelt als der Verfasser, Hugo Sieker, anzunehmen
scheint,
893
Ein Kinderbuch
„Das richtige Himmelblau", so heiBt ein Band Kinder geschicht en,
den Bela Balazs bei Williams & Co,t Berlin-Grunewald, e,rscheinen
lafit. Das richtige Himmelblau ist gar nicht das richtige sondern
ein Farbstoff fur den Tuschkasten, aber ein wunderbarer; denn er
bewirkt, daB iiber dcr gemalten Landschaft auf dera Blatt Papier
Mond und Sonne leuchten und Wolken ziehen, Der Filmmann Balazs
sieht das Wunderbare da, wo ein Abbild Leben gewinnt und in die
Wirklichkeit eingreift: die gemalte Sonne warmt, der Mascbinenknabe
Peter kampft gegen den wirklichen Knaben Peter, der kleine Waren-
hauseinbrecher erstarrt, urn sich vor Entdeckung zu schiitzen, zur
Schaufensterpuppe, und die Schaufensterpuppe verscheucht mit erho-
benem Kniippel den Feind. Man kann nicht wissen, wie sich die Kin-
der zu diesem Einbnich des Marchens in die Wirklichkeit stellen
werden; sie staunen iiber Andersen, sie staunen auch iiber eine sehr
irdische Verbrechergeschichte, aber wenn der Schuldiener ein Feld
romantischer blauer Blum en aus der Erde stampft, aus denen das
Himmelblau destilliert wird, so konnte das den Beckmesser im Kinde
provozieren. Balazs zaubert bezaubernd, mit einem erstaunlicben Auf-
wand an bunten, blitzenden Requisiten, aber vielleicht ein bifichen
zu fingerfertig. Vielleicht werden die kleinen Leser, die ja viel Ernst
verlangen, ihn lehrerbaft ermahnen: „Eben hast du wieder gespielt.
Ich hab es wohl gemerkt. Ich sehe alles," Zweifellos werden sie es
billigen, dafi im Zylinder des Lehrers bei feierlicher Gelegenheit ein
Gewitter losbricht, so dafi ihm Regenstrome iibers Gesicht laufen.
Aber wenn sie horen, daB in der Fliegenschule das kleine Einmaleins
nicht gelehrt zu werden braucht, weil die Fliegen durch ihre Facetten-
augen jedes Ding vervielfacht sehen, so werden sie nachdenken und
sich erkundigen und dem Autor seinen wunderhubschen Einfall als
iible Nachrede ankreiden. Kinder sind streng. Wo ubrigens werden
sie sich erkundigen? Am besten bei Professor Richard Goldschmidt,
der eine „Einfiihrung in die Wissenschaft vom Leben" fur Kinder gg-
schrieben hat, erschienen 1927 bei Julius Springer — bilderreich, leb-
haft, fesselnd. Ein Buch, das geweckten Kindern heiBe Kopfe machen
muB, Denn die Natur ist der groBte Zauberer, und das richtige Him-
melblau befindet sich halt — am Himmel.
Ein Bufilandbuch
Immer wichtiger wird uns RuBland. Immer notiger brauchen wir
die trostreiche Uberzeugung, daB wenigstens in einem der Weltzentren
die Vernunft kampft. Und so schauen wir in den schonen Bilder-
atlas „Der Staat ohne Arbeitslose" (Gustav Kiepenheuer Verlag, Ber-
lin), den Ernst Glaeser und F, C. Weiskopf zusammengestellt haben,
wie in das gelobte Land, 265 gute Photographien sind zu einem
systematischen Bericht vereinigt. Es hat etwas vom Wunder der
Schopfungsgeschichte, wenn man da ein beschriebenes Blatt Papier
sieht: Lenins Entwurf eines Elektrifizierungsplans, und umblattert, und
schon rauscht das Wasser iiber die neuen Staudamme, schon drehen
sich Riesenturbinen, die Gerippe der Autofabriken und des moskauer
. Funkturms ragen in die Luft, und ein unendliches Rohr, eine Roh-
dlleitung, verbindet das Kaspische mit dem Schwarzen Meer, Auf
so vielen dieser Photographien reicht der abgebildete Ge^enstand
iiber die Bildgrenzen hinaus: Fabrikstadte ohne Ende, neue Eisen-
bahnlinien, Siedlungsblocks. Das neue Stadtbild bestimmen die Re-
prasentationsgebaude der Arbeiterschaft; in den groBfiirstlichen
Parks der Krim erholen sich Arbeiter zwischen Marmordenkmalern.
Die sportliche Freude am Wettbewerb fordert das Aufbauwerk: wie
auf dem Turfplatz notiert man auf grofien Tafeln die Leistungen der
wetteifernden Betriebe. Das anschauliche Symbol, der Personenkult,
894
die Freude an GleichmaU, Marsch und Rhythmus — bei uns fur die
kapitalistischen Zwecke der Kirchenreligion und des Militarismus miB-
braucht, dienen dort dem neuen Staat. Roter Militarismus, rote Reli-
gion — die Lebensformen sind iiberall dieselben, aber auf den Inhalt
und das Ziel kommt es an. Wenn Lenins Standbild auf der Moschee
von Samarkand stent, so hat ein Gott den andern abgelost, GewiB,
aber die Gesetzestafeln, die er bringt, sind andrel Wir wissen, dafi
es in Rufiland nicht nur das gibt, was in, diesem Atlas gezeigt wird.
Aber wir wissen, daB es auch das gibt. Und wir haben nicht den
leisesten Grund, irgendwie anspruchsvoll zu sein,
Heg^Sl'ppe Simon von Ignaz Wrobel
In alien Stadten glaubt man, die allgemeinen Laster und
Obel der Menschen und der menschlichen Gesellschaft seien
grade diesem Ort .eigentiimlich. Ich bin niemals irgendwo ge-
wesen, wo ich nicht gehbrt hatte: hier sind die Weiber eitel
und treulos, sie lesen wenig und sind schlecht unterrichtet;
hier sind die Leute neugierig auf alles, was einer tut, sie schwat-
zen und klatschen; hier vermogen Geld, Gunst und Laster alles;
hier herrscht der Neid, und die Freundschaften sind hier wenig
aufrichtig. In dieser Art geht es weiter, als ob anderswo diese
Dinge anders waren. Die Menschen sind erbarmlich aus Nol-
r wendigkeit und glauben hartnackig, sie seien nur aus Zufall so
erbarmlich, Leopardi
F^ie menschliche Dumniheit ist international
Waren die Dummen friiher konfessionslos gefarbt, so
schimmern sie heute in alien Farben der Nationalfahnen, die
den Kontinent bis zur Geistesschwachheit verdummen. Fran-
zosische Dumrnheit schmeckt anders als englische. Zum Bei-
spiel so:
Wer einen einzelnen Redakteur mit einer falschen Ein-
sendung hineinlegt, macht sich einen Spaft, liberschatzt aber
die Zeitung, weil er sie ernst nimmt. Aber eine ganze Gruppe
hineinzulegen . . . Das hat im Jahre 1913 der inzwischen ver-
storbene Journalist Paul Birault gemacht. Er schrieb an die
Abgeordneten der radikalen Partei Frankreichs folgenden
Zirkularbrief:
„Sehr geehrter Herr Abgeordneter!
Dank der Freigebigkeit eines grofiherzigen Spenders sind
die Anhanger Hegesippe Simons endlich in die Lage versetzt,
fiber die Mittel zu verfiigen, die fur die Errichtung eines Denk-
mals benfitigt werden. Das Denkmal wird diesen Mann, der
seiner Zeit vorangeeilt ist, der Vergessenheit entreiBen.
Von dem Wunsch beseelt, die Jahrhundertfeier dieses
echt demokratischen Erziehers mit allem biirgerlichen Glanz
zu begehen (Einfiigung Ignaz Wrobels; entschuldigen Sie*
„civique" gibts im Deutschen nicht), 'bitten wir Sie er-
gebenst um die Erlaubnis, Ihren Namen in die Liste der Ehren-
mitglieder des Comites einzusetzen,
Sollten Sie bei der Einweihungsfeier das Wort ergreifen
wollen, werden wir Ihnen das gesamte Material zuganglich
machen, das fur Ihre Rede vonnoten ist.
Mit den besten Empfehlungen
Ihr sehr ergebener . . ."
895
Die Antworten stromten zu Hauf.
Ehrenmitglieder? Das wollten sic sein. Eine Rede halten?
Aber mit Wonne. Ein Abgeordneter aus den Pyrenaen bat
sofort urn das Material fur einen Speech; viele andre taten
desgleichen,
Nur hatte die Sache einen kleinen Haken. Herrn Hege-
sippe Simon hat es nie gegeben,
Der Journalist hat sicherlich monatelang an diesem Namen
geknobelt, und fiir ein franzosisches Ohr ist er ihm gradezu
herrlich gekingen. Simon, das kann man leicht behalten, und
Hegesippe, das klingt etwas altmodisch, aber nicht zu alt-
modisch , . , und das ganze war recht vertrauenerweckend,
etwa: fortgeschrittner Schuler der Ecole Normale Superieure.
Und so fielen sie denn in Scharen auf diesen Scherz hinein.
Der SpaB wurde noch ein wenig fortgesetzt, Ort und Zeit der
Feier wurden bekanntgegeben, und es strichen denn auch
richtig eine ganze Menge Leute zu dieser Stunde in je-
nem Park umher . . .
Geltungsbedtirfnis, Eitelkeit und die menschliche Dumm-
heit der Abgeordneten hatten sich um diesen Kern kristalli-
siert, den Birault ihnen vorgeworlen hatte.
Dieser Hegesippe Simon ist in Frankreich sehr bekannt;
Sie konnen ihn iiberall zitieren, den verdienten Mann, Und
das lieB nun einen andern Journalist en nicht schlafen,
Man unterschatzt in Deutschland die Intelligenz der
Action -Francaise, und man uberschatzt ihren Einflufi, Die
Franzosen haben einen geistigen Nationalismus, der nicht in
Mystizismus verschwimmt, etwas bei uns ganz und gar Un-
vorstellbares. Der franzosische Nationalismus ist auch nicht
otfensiv; die deutsche Provinzpresse liigt systematisch, wenn
sie das behauptet, was ihr diesbeziiglich diktiert wird. Dieser
Nationalismus ist auch nicht so einfluBreich, wie die jungen
Franzosen, die mit von der Partie sind, gern behaupten; ware
es so, wie sie es schildern, dann miiBten wirklich die. ge-
samte Intelligenz und die Majoritat der Studenten Anhanger
dieser Gruppe sein, in der Maurras den Kopf und Daudet das
Maul reprasentieren, und dann gabe es heute in Frankreich
keine demokratischen Verwaltungsbeamten und keine links
gerichteten Lehrer und Richter mehr. Nun ist aber ein erheb-
licher Teil der Lehrer auf den hohern Schulen demokratisch
und die Majoritat der Volksschnliehrer steht einem integralen
Sozialismus nahe, der in Frankreich gern als kommunistisch
verschrien wird, .was allerdings eine sanfte Tauschung dar-
stellt. Soweit gut.
Nun hatte die Action Francaise da einen Mann sitzen,
Alain Mellet Der dachte sich im Jahre 1929 etwas aus.
Es diirfte vielleicht bekannt sein, daB der Durchschnitts-
Jranzose, den stammelnde Obersetzer gern den ,,mittlern Fran-
zosen" nennen, keine blasse Ahnung von Geographic hat, Oslo,
Koserow und Rio de Janeiro ... so genau kommt das bei ihm
nicht drauf an. Diese Schwache wohl kennend, schickte Herr
Mellet seinerseits ein Zirkular in die Welt, und zwar wandte
er sich wieder an die Abgeordneten der Linken. (Dafi ihm die
896
Rechten ebenso auf den Leim gegangen waren, ist sicher; er
hatte dann nur eine andre Leimsorte wahlen miissen.) Der
Brief lautet ein wenig gektirzt so:
„Hochverehrter Herr Abgeordneter!
Wir ruien Ihr Mitleid und Ihr Gerechtigkeitsgefiihl an,
wenn wir Sie bitten, das Folgende mit Aufmerksamkeit zu
lesen:
In diesem unserm zwanzigsten Jahrhundert, das von der
lichtvollen Idee des Rechts erfiillt ist, seufzen mehr als hun-
derttausend ungliickliche Poldevianer wie die Sklaven unter
dem Joch von ein paar Dutzend GroBgrundbesitzern.
Wahrend die Manner in den Fabriken und landwirtschaft-
lichen Betrieben des Auslands arbeiten, fiihren die Frauen,
die alten Leute und1 die unmiindigen Kinder ein Leben wie die
Tiere. Wir sehn keine Hilfe fur sie, es sei denn, das Welt-
gewissen nehme sich ihrer an, jenes Gewissen, das wir in
Ihrem Herzen, verehrter Herr Abgeordneter, anrufen.
Wir sind naturlich keine Freunde der Sowjetrepublik,
keine Freunde der Ukraine, durch die wir zu viel gelitten
haben, aber das muB doch gesagt werden: solche Greuel waren
selbst dort, heute, nach der Revolution, nicht mehr moglich.
Und darum bitten wir Sie, sehr gee'hrter Herr Abgeordne-
ter: helfen Sie uns! Wir wollen von Ihnen keinen Pfennig
Geld, sondern etwas viel Wesentlicheres: Ihre moralische
Unterstiitzung, etwa durch ein Schreiben, das wir dann im
nachsten Monat der dritten Unterkommission der General-
kommission beim Volkerbund fiir den Schutz der nationalen
Minderheiten unterbreiten konnen.
Wir danken Ihnen im voraus, sehr geehrter Herr Ab-
geordneter, fiir Ihre >Antwort, die wir gleichzeitig mit den
AuBerungen Ihrer Parlamentskollegen aus dem groBen Frank-
reich der Revolution nach Genf schicken werden!
Fur das poldevianische Comite:
Lyneczi Stantoff.1 Lamidaeff/'
Nun hatten die Herren , Abgeordneten nur die Unter-
schriften dieses Hilfschreis richtig zu lesen brauchen: die
Action Francaise wird in Frankreich kurz ,LfA.F/ genannt,
und der zweite Mann ware also nichts als ,L'ami d'A.F/, der
Freund der Action Francaise . Der erste aber heiBt, wenn
man vorsichtig boichstabiert: Herr Inexistantoff, also etwa:
Herr NichtvorhandowskL AuBerdem gibts keine Poldevianer,
Doch wuBten die Abgeordneten dieses alles mitnichten,
und es gab einen Hereinfall, iiber den sich Paris monatelang
amusierte.
Sie antworteten, und ob sie antworteten!
Ein sozialistischer Abgeordneter aus den Ardennen:
„Ich antworte auf Ihren so schmerzlich bewegten Appell,
indem ich Ihnen sage, daB ich als Sozialist auf Seiten der Opfer
der Unterdruckung stehe, MeinHerz blutet bei dem Gedanken,
daB sich Menschen, die frei und glucklich sein sollten, unter
dem Joch der Junker kriimmen und seelisch und korper-
lich leiden."
897
„Es ist cine Schande", schrieb ein andrer, „daB in unserm
Jahrhundert wiederum Verbrcchen begangen werden, die die
Idee der Menschheit besudeln." Dergleichen fiel ihnen fix
urid fertig aus dem Mund; politische Gedanken, und nun gar
erst politische Phrasen, werden ja in Serien hergestellt, und
man hat sie jederzeit zur Verfiigung, Einer fur alte, und alle
fur keinen.
Nun klingt doch das im Franzosischen so schon, es rollt
und es drohnt, da mufl man hineingetreten sein:
„Votre cri d'alarme ne peut laisser indifferent un membre
du Parlement francais, ancien combattant de la grande guerre,
descendant de ces glorieux ancetres de la Revolution qui ont
proclame a la face du monde les droits imprescriptibles de
l'homme et du citoyen."
Woriiber wieder jeder seine Witze machen darf, jeder,
nur kein deutscher Nationalist,. Weil er nicht begreiftt was
denn hier so dumm karikiert erscheint.
Ajuch ein Kommunist fehlt nicht: der Genosse Beron:
„... erlaube ich mir, Ihnen in Erinnerung zu bringen, da8
die kommunistische Partei der Kammer sich mehr als einmal
gegen die Unterdriickung der nationalen Minderheiten aus-
gesprochen hat," Gut. Aber:
„Mit allem Nachdruck unterstreiche ich die Stelle inlhrem
Brief, in der Sie sagen: So etwas ware bei den Russen nach
der Revolution nicht moglich." Wo er recht hat, hat er recht.
*
Fix und fertig. Fix und fertig liegen die Phrasen in den
Gehirnfachern, ein kl einer AnlaB, ein KurzschluB der Ge dan-
ken, und heraus flitzt der Funke der Dummheit.
Wobei noch zu bemerken ware, da6 man vor dem Kriege
fur ein Individuum mobil machen konnte, Heute muB es schon
ein ganzes Volk sein.
Die Action Francaise hat aus diesem SpaB den SchluB
gezogen: Da seht ihr es — der Parlamentarismus! Nein, sie hat
gar nicht verstanden, was sie da angerichtet hat,
Es ist wohl so, daB die Triebe im Menschen schlummern,
eine dosende Wache. Anonym sind sie, Wenn sie aber ans
Licht treten, nehmen sie einen Namen an, Sehr beliebt ist
heute; Nationalismus,
Der Nationalismus setzt sich aus Motiven zusammen, die
mit ihm nicht s zu tun haben, Er heiBt so. Er ist keiner,
DaS Vierte Reich von Bernhard Citron
l^Jrei fundamentale Widerspriiche enthalt diese Notverord-
*^ nung: Sie ist, trotz ihren unpopularen MaBnahmen in ge-
wissem Sinne popular; sie soil Schaden einer furchtbaren Defla-
tionskrise heilen und bedient sich dabei scharfster deflationisti-.
scher Mittel; sie ist der letzte Rettungsanker des kapitalisti-
schen Systems und hebt die wichtigsten privatwirtschaftlichen
Grundsatze auf.
Die ,, Vierte1' ist zum Begriff geworden wie Beethovens
,,Neunte" — von Symphonie kann hier allerdings keine Rede
898
sein. Welches Raunen und Raten ging durch das gauze Volk,
bevor die einschneidenden Bestimmungen erschienen. Hier
gab es Spannungsmomente, die ein in langwierigen Parlaments-
beratungen durchgesprochenes Gesetz nicht hervorrufen kann.
Als der Kanzler ans Mikrophon trat, die Notverordnung zu er-
lautern, da lauschte gespannt das ganze Volk, als horte man die
SchluBrunden des Sechs-Tage-Rennens.
Die Krise, unter der die Welt, vornehmlich aber die
deutsche Wirtschaft, leidet, ist Schrumpfung der Warenpreise
und Verminderung des Arbeitseinkommens. Tagiich tauchen
neue Patentlosungen auf. Industrielle Kreise wtinschen die
deutsche Inflation, andre die Internationale. Da wird eine
neue Renten- oder Binnenmark empfohlen, die angeblich nicht
inflationistisch wirken soil, die Deflation aber beseitigen will,
Ein Mann vom Rufe Felix Pinners schlagt Devalvation vor
und stoBt auf den Widerstand aller derjenigen, von denen die
Formel Mark gleich Mark zum Dogma erhoben wurde. Vor
wenigen Tagen entwickelte ein Mann von Geist, der bekannte
Rechtsanwalt Doktor Alfred Friedmann, seine Abwertungs-
theorie. Er mochte die Mark an den amerikanischen Weizen-
preis anhangen, ein Plan, der sich von der Helff erichschen Rog-
genmark nur wenig — aber noch nicht einmal vorteilhaft un-
terscheidet, Der Mensch denkt und Briining lenkt. Er ver-
sucht den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, die Deflation
mit der Deflation. Merkwurdigerweise klagt zwar der Haus-
besitzer iiber die Mitsenkung, der Rentner iiber die Zins-
konversion, der Arbeitnehmer iiber Lohnkiirzung und der Un-
ternehmer iiber Preisabbau — aber von den Millionen, denen
die Deflationskrise Quelle alles Unheils zu sein scheint, fiih-
ren die Wenigsten prinzipiell Beschwerde iibe^ die Fortsetzung
und Vollendung der Deflationspolitik. Warum erschppft sich
die Kritik zumeist in Einzelheiten, warum geht sie nicht aufs
Ganze? Man hat wohl erkannt, dafl nicht der Deflationskurs
an sich, sondern nur sein unregelmaBiger Weg die schweren
wirtschaftlichen Verheerungen angerichtet hat. Die Vierte
Notverordnung spielt die ausgleichende Gerechtigkeit, Ob sie
es ist und sel^ kann, wird vorlaufig eine offene Frage bleiben.
Das Sonderbarste aber ist, daB eine ' mit diktatorischen
Vollmachten ausgestattete Regierung, die das letzte Hauflein
des alten privatwirtschaftlich denkenden Biirgertums vertritt,
ihre Macht nicht anders zu brauchen weiB als durch Anwen-
dung eines sozialrevolutionaren Programms, das alle kapitali-
stischen Grundbegriffe iiber den Haufen wirft Oberblicken
wir kurz die ausgesprochen antikapitalistischen Teile der Not-
verordnung, Erster Teil, Kapitel 1, enthalt die Bestimmungen
iiber .Anpassung gebundener Preise an die veranderte Wirt-
schaftslage"* Die Preiskonventionen werden nicht gebrochen
aber gelockert. Die gebundenen Preise sind Erzeugnisse des
Hochkapitalismus, dessen Kartellwesen gegen die Grundsatze
des Urkapitalismus, gegen das Gesetz von Angebot und Nach-
frage verstoBt. Hier also ist nur der Versuch gemacht wor-
den, die Folgen dieses Pseudokapitalismus zu mildern, ohne
allerdings zu dem echten fruhkapitalistischen System zuriick-
899
zukchren. Kapitel 2 -soil die Bevolkerung vor Oberteuerung
schiitzen. Der Preis-Diktator, Oberbiirgermeister Doktor Gor-
deler aus Leipzig, soil am freien Markt eingrcif en, die Preis-
festsetzung lenken, und somit eine unkapitalistische Zwangs-
wirtschaf t einfiihren. Kapitel 3 behandelt die Zinssenkung. Im
ersten Abschnitt werden die Bestimmungen iiber den Kapital-
markt getroffen, die Rechtsvertrage einseitig zugunsten der
Schuldner aufheben. Am 10. November schrieb ich in der
/Weltbuhne': ,,Das Verlangen nach einem stabilen Hochstzins
ist heute mehr als die romantische Fordening einer ra-
dikalen Gruppe, die volkswirtschaftliche Oberlegungen
nicht anzustellen vermag, EinfluBreiche Kreise der Wirt-
schaft wiinschen Zinsherabsetzung, die Gegenstand ernst-
hafter Erwagungen im noch nazireinen Kabinett bildet.
Grundsatzlich ist es gleichgtiltig, ob als Hochstzins 4 Pro-
zent (programmatische Forderung der NSDAP.) oder 6 Prozent
(Verlangen der Wirtschaft) ins Auge gefafit ist/' Einen Monat
spater ist dem nur hinzuzufiigen, daB den Forderungen der Na-
zis, und den Wiinschen der Wirtschaft der BeschluB der Regie-
rung gefolgt isti die Herrschaft 'des stabilen ZinsfuBes zu
brechen, Konnte nicht kraft des gleichen Rechtes eines Tages
iiberhaupt jeder Zinsendienst abgeschafft werden oder gleich
das Kapital selbst enteignet werden? Diese durch Notver-
ordnung zum Gesetz erhobene Zinsenteignung schielt schon
iiber das „Dritte Reich" hinweg ins „VierteM hinein. Der zweite
Abschnitt des dritten Kapitels iiber den Geldmarkt stellt einen
verhaltnismaBig sanf ten Eingriff in die Privatwirtschaft dar. Das
Reich errichtet ein Zwangskartell fur Kreditinstitute, das Soll-
und Habenzinsen festsetzt, um eiherseits den Schuldner vor
Obervorteilung zu schiitzen und andrerseits die Gefahrdung der
Einleger durch tiberhohe Zinsofferten zu verhindern.
Im Zweiten Teil der Notverordnung, der von der Woh-
nungswirtschaft handelt, wird bereits im ersten Kapitel eine
wichtige privatwirtschaftliche Bindung aufgehoben. Eine zur
Ablosung der Hauszinssteuer neu aufgenommene Hypothek ran-
giert vor alien andern. GewiB bessert sich der Wert des Be-
sitzes durch die Beseitigung der Hauszinssteuer, immerhin
stellt die Bevorrechtigung einer zuletzt hinzutretenden Hypo-
thek einen sehr bedeutsamen Eingriff in das Privatrecht dar,
Mietsenkung und Mietskiindigung, die in den Kapiteln 3 und 4
vorzeitig verfiigt werden, sind nichts andres als Aufhebung giil-
tiger Rechtsvertrage. Was dem Zweiten Reich recht istf mag
dem Dritten bis Vierten billig sein. Vom Mietzins gilt das
Gleiche, was vom Kapitalzins gesagt wurde: zwischen Zins-
enteignung und Kapitalbeschlagnahme besteht kein grundsatz-
licher Unterschied. Unter Punkt 4 des Agrarprogramms der
NSDAP. vom Marz 1930 findet sich auch der Satz; „Verpfan-
dung von Grund und Boden an private Geldgeber ist verbo-
ten." Hitler will nicht , daB der „Geldwucherer" auf dem Wege
der Subhastation in den Besitz des deutschen Bodens, der
,,keinen Gegenstand fiir Finanzspekulationen bilden darf", ge-
langen kann. Die Kautelen, die auf Einschrankung und Aus-
setzung der Zwangsvollstreckung hinzielen, finden sich im Drit-
900
ten Teil der Notverordnung. Das ist also eher hitlerisch als
marxisch gedacht. Diese nicht neue Idee findet sich bercits
im 3* Buch Mose, Kapitel 25, wo von dem Jubeljahr die Rede
ist. Es wird dem Volke dort aufgegeben, sich zu unterstxitzen
bei der Auslosung verpfandeten Grundeigentums. „Wenn aber
jemand keinen Loser hat, und kann mit seiner Hand so viel
zuwege bringen, daB ers lose, so soil er rechnen von dem Jahre
da ers hat verkauft, und was noch iibrig ist, dem Kaufer wie-
der geben, und also wieder zu seiner Habe kommen," Nicht
ganz so radikal, aber ahnlich wird im Dritten Teil der Notver-
ordnung bei der „Einstweiligen Einstellung von Zwangsverstei-
gerungen'* verfahren, indem die Zwangsversteigerung eines
Grundstiicks sechs Monate ausgesetzt werden kann, wenn die
Nichterfiillung durch die wirtschaftliche Gesamtlage begriindet
ist. Es ist jetzt halt cin Jubeljahr fur den Schuldner.
Man mag durch unpopulares Zupacken popular werden,
auch lieBe sich denken, daB eine Deflationskrise durch die De-
flation selbst heilbar ist, aber die Privatwirtschaft mit anti-
kapitalistischen Methoden retten zu wollen, das ist ein Unter-
fangen, bei dem jede Homoopathie ein Ende hat. Aus dem
Untergang des kaiserlichen Deutschlands wurde jene politische
Scheinrevolution von 1918 geboren, aber aus dem Untergang
des Kapitalismus von 1931 erwachst eine soziale Umwalzung,
die sich unabhangig zu machen beginnt von bestimmten politi-
schen Tendenzen, Briinings Politik hat nicht spontan, sondern,
zwangslaufig das Privatrecht gebrochen. Der deutsche Mensch
ist der reine Tor, der auf dem Gipfel der Not den heiligen Gral
des Sozialismus erblickt, ohne zu fragen, was er bedeutet. Erst
wenn ihm diese Erkenntnis kommt, wenn er die soziale Revo-
lution, in der er lebt, zu erfassen beginnt, dann wird sich der
furchtbare Zauber des Irrtums losen, der ein Volk in Not und
HaB versinken laBt.
Media in Vita von Theobald Tiger
P\ie lauft rum, die mir die Augen zudruckt:
*^ eine Krankenpflegerin.
Ordnet noch die Flaschchen auf dem Nachttisch,
wenn ich schon hiniiber bin.
Leise kreuzt sie meine Hande iibern Bauch.
Das ist ein Beruf wie andre auch.
Jeden Morgen, wenn ich mich rasiere,
denk ich in dem Glanz des Lampenscheins,
wahrend ich mich voller Seife schmiere;
jetzt sinds nur noch x Mai minus eins,
Und da steh ich voller Schaum und Frommigkeit,
und ich tu mir auBerordentlich leid.
Da, wo sich die Parallelen
schneiden, fliege ich dann hin,
Ach, ich werde mir doch machtig fehlen,
wenn ich ein&t gestorben bin.
Andern auch — ? Wer seine Augen aufmacht, sieht:
Sterben ist, wie wenn man einen Loffel aus dem Kleister zieht.
901
Bemerknngen
J
Im Gefangnls begrelft man
a, Hebe Genossen und Ge-
nossinnen, hicr im Gefang-
nis begreift man besser als drau-
Ben, wic notwendig die Rote Hilfe
ist . . . Aber die Ihr draufien seid,
Ihr habt noch die Freiheit —
und mancher kann nicht sagen,
wie lange noch * . . Euch mochte
icb bitten , . ."
Da mochte ich mitbitten.
Die zitierten Satze stammen aus
dem ruhrenden Brief eines Arbei-
ters, Georg Keisinger; die „Rote
Hilfe" hat ihn veroffentlicht.
Ober meinem Schreibtisch hangt
ein Bild. Drei Straflinge sind
darauf zu sehn. Und darunter
steht: „Wir erwarten, daB ihr fiir
uns kampft, wie wir fiir euch ge-
k amp ft haben,"
Sechstausend sprechen heute so
— mehr als sechstausend. Ich
halte es einfach fiir eine Dankes-
schuld an diese Manner und
Frauen, daB wir helfen, so gut
wir konnen. Hier hilft vor allem
Geld.
Die Rote Hilfe stellt den Leu-
ten Anwalte, wenn es noch nicht
zu spat ist, Sie sendet ihnen Lie-
besgaben ins Gefangnis. Sie hilft
den Familien weiter, die von die-
sen juristischen VerwaltungsmaB-
nahmen am schlimmsten getrof-
fen werden. Uber manches ware
vielleicht zu streiten, Aber ich
meine, man sollte aus einer Soli-
daritat helfen, die da bekundet:
Was ein deutscher Richter an
sogenannten entehrenden Strafen
verhangt, ist fiir uns nicht einmal
eine Ehre — es ist gleichgiiltig.
Gleichgiiltig seine Meinung iiber
Landesverrat; gleichgiiltig seine
feinen Unterschiede zwischen
Oberzeugungsattentatern und ge-
meinen Verbrechern — : was hier
ausgefochten wird, ist ein Teil je-
nes groBen Kampfes, der heute
quer durch die Volker geht. Und
zum Kriegfiihren gehort Geld,
Reich sind wir alle zusammen
nicht. Aber hier zehn Mark und
da zehn Mark, es summiert sich.
Und es macht die besten Vor-
kampfer unsrer Sache stark. Die
Geber sind in Freiheit. Wie lange
noch, hat der Arbeiter gefragt.
Er hat ganz recht; wie lange
noch? Bis zur nachsten Notver-
ordnung?
Man kann fur etwas geben. Man
kann aber auch gegen etwas ge-
ben, Gebt bitte Mann fiir Mann
und Frau fiir Frau ein paar Mark
gegen diese Richter und fiir unsre
Gesinnungsf reunde !
Die Postschecknummer der Ro-
ten Hilfe ist: Berlin 109 676,
Kurt Tuckolsky
Wunder der Wochenschau
I n den alten „Fliegenden Blat-
*• tern" gab es das Bild vom Ma-
ler Pinsel, wie er den Maler Pin-
sel malt, wie er den Maler Pinsel
malt. Es war also ein Selbst-
portrat des Malers Pinsel, das ihn
zeigte, wie er sich, der eben sein
Selbstportrat malte, malte, Diesen
dreimal ineinander geschachtelten
Maler Pinsel, diesen Pinsel zur
dritten Potenz sich vorzustellen,
ist nicht einfach. Es erzeugt leich-
tes Schwindelgefuhl,
Soeben erschtenenl
Fttr den Weihnacbtstlscht
R.N. Coudenhove-Kalergi's
&tb0tt bt§ £tbtu&
enthalten in aphoristischer Form Coudenhove's Lebensphilosophie
Feinste Geschenkausstattung mit einer Portratzeichnung
von Olaf Gulbransson
Preis M. 2.60
KrMMtllch in alien
Bachbandlansen I
902
Poneuropa verlag
ieipiig/Wlen
In der letzten tonenden Wo-
chenschau gibt es die Reportage
einer Reportage. Da ist Alfred
Braun zu sehen, wie er( als Funk-
Reporter, eine Probe von „Hoff-
manns Erzahlungen" sieht. In to-
nenden Bildern wird berichtet,
wie er berichtete, wir konnen ibm
zuschaun zuschaun, werden Zeuge,
wie er Zeuge der Vorgange ist, zu
deren Zeugen er die Radiohorer
machte, und diirfen miterleben, wie
er, daB (und was) er sie da mit-
erleben Iiefi, miterlebt. Unter
anderm horen wir auch Max
Reinhardt vor dem Mikrophon
und, was eine besondre Pikanterie
ist, doch nicht durch dieses,
Es wird hier also, ahnlich wie
beim Maler Pinsel, die Spiegel ung
der Spiegelung eines Vorgangs ge-
geben.
Aber wenn schon, denn schon.
Warum macht man bei solcher
Wiedergabe der Wiedergabe eines
Ereignisses Halt und geht nicht
einen interessanten Schritt weiter,
namlich den zur Wiedergabe jener
Wiedergabe einer Wiedergabe?
Wie kommen der Tonfilmope-
r'ateur und seine Heifer, welche die
Reportage iiber die Funkreportage
fiir die Wochenschau drehten, da-
zu, unsichtbar und unhorbar zu
bleiben? Man konnte doch, da-
mit keiner zu kurz komme, die
gewiS sehenswerten Hantierungen
3es Operateurs, der den Funk-
sprecher aufnimmt, aufnehmen und
zeigen, wie erf indefi er tonfilmt,
selbst getonfilmt (oder sagt man:
tongefilmt?) wird, iiber welchen
Vorgang dann wieder eine Funk-
reportage zu vernehmen, ebenfalls
nicht schlecht ware.
Der Mensch ist unersattlich und
die Technik grofl. Da sie imstande
ist, alles, was geschieht, inbegrif-
fen seine Reproduktion, zu re-
produzieren, da sie es ermoglicht,
jedes Ereignis mitsamt alien Vor-
gangen, die zu seiner Festhaltung
in Ton und Bild dienen, wie eine
Zwiebel abzuhauten: warum nicht
bis zum innersten Kern der Zwie-
bel vordringen? DaB es, an diesem
Punkt angelangt, eine furchter-
liche Enttauschung geben konnte,
diese Moglichkeit besteht aller-
dings. Aber sie besteht schliefi-
lich bei jedem innersten Kern.
Deshalb hutet sich auch angst-
lich, wer leben, lieben, den Neben-
menschen ertragen und ins Kino
gehen will, den Dingen auf den
Grund zu kommen.
Alfred Polgar
Hannoverscher Roman
r7\ir Zeit der Romer soil man
" die Wahrheit lachend gesagt
haben. Wer hatte gedacht, diese
gute Eigenschaft heute bei einem
Hannoveraner anzutreffen? Karl
Jakob Hirsch, friiher Buhnenbild-
ner der Volksbuhne, stellt in sei-
nem ersten Roman („Kaiserwet-
ter", Verlag S. Fischer) in heiter-
ster Haltung und ernsthaftester
Meinung den Inbegriff einer wil-
helminischen Stadt vor uns hin.
Da rtihrt sich das ganze Theater
eines aufgeregten Mittelstands in
der Mitte Europas, der seine
Volkerwanderungszeiten noch
nicht vergessen hat. Nun wol-
len sie andern herrlichen Zeiten
entgegengefuhrt werden. Und der
Kaiser kommt; strahlend von
Hohenzollernwetter nimmt er die
Sie werden in ieder Branche
Verkaufern begegnen, die materialkundig sind, und solchen, die ihre Ver-
kaufsobjekte nur von aufien her kennen! So auch im Buchhandel! Klaren
Sie selbst Ihren Buchhandler auf iiber
die B6 Yin Rd-BQcher,
wenn Sie merken, daB er sie noch nicht gelesen hat.
B6 'Yin Ra, J. Schneiderfranken schreibt keine Unterhaltangslektiire,
Seine Bficher sind flir Menschen, die seelisch vorwarts wollen!
Weiteres sagt Ihnen die kostenlos erhaltliche Flugschrift von Dr. jur.
Alfred Kober-Staehelin „Weshalb Bo Yin R&?a Kober'sche Verlagebuch-
handlung (gegr. 1816) Basel-Leipzig.
903
Front der Strammen und der
Gebiickten ab. Auch ein geisti-
gcrer Burger der Stadt, jiidischer
Rechtsanwalt, wartet lange genug,
bis Ma j estat vor ihm stehen
bleibt und an den Mann die
Frage aller Fragen richtet: —
Gedient ? Hirsch gibt Szenen
von kostlicher, auch trauriger Ko-
mik. Allerhand grofier Kausal-
zusammenhang wird im Kleinen
dargestellt, Ein Ameisenhaufen
norddeutscher provinzieller
Schicksale. Liebe und HaB wech-
seln rasch, Unzucht und Betrug
flustern hinter dem welfisch
scharfen Dialekt. Dennoch wird
hier mit Interesse noch aus dem
letzten Dummkopf ein Mensch
gemacht. Die unheroischen Hel-
den sind ein alternder wollustiger
Brieftrager und sein auf eine
gleichmiitigere Generation vorbe-
reitender Sohn, ein schwermiiti-
ger Rechtsanwalt und sein von
vererbter Musikalitat unsicherer
Sohn. Dafi Hirsch den christ-
lichen wie den jiidischen, den
proletarischen wic den burger-
lichen Kreis gleich gut darstel-
len kann, beweist eine nicht ge-
wohnliche Begabung. Die Schnitt-
punkte seiner Kreise wahlt er
mit volkstiimlicher Einfachheit,
Zahllose Liebesleute erfiillen
diese Statten von der Glocksee-
straBe bis zu den Maschwiesen,
denen man schon am Namen die
sprode Wildheit anhort; Greise
fliichten aus ihrem Altersheim
ins Freudenhaus zu Kaffee und
Kuchen; ein morderisches Paar
steckt seine in ein Kabarett ver-
wandelte alte Muhle in Brand ;
das Leben eines Grundstiick-
maklers ergotzt sich zwischen
Humor und Angst an der
Schlechtigkeit einer Umwelt, in-
mitten deren er sich selbst be-
dauern kann. Die vielen ver-
gniigten oder dunklen Wellen
dieser Bewohnerschart fangen
sich schliefilich in einem grofien
Strudelloch ihrer Stadt, — das
ist Haarmann, Er bildet den ge-
heimen Anziehungspunkt einer
Sedanfeier auf demFlufi, in des-
sen Tiefe bald die Skelette sei-
ner Opfer entdeckt werden. Nicht
nur ein erlaubter sondern ein
guter Gedanke des Verfassers ist
es, daB er die Zeit des Massen-
morders schon vor dem Kriege
ansetzt. Jener gepflegte Anwalt
verteidigt den Haarmann, er er-
kennt die Schuld der Gesellschaft
an ihren Fruchten, sie geht un-
aufhaltsam ihrem Massengrabe in
Gasnebeln entgegen. Mit fast un-
merklicher Absicht wird an den
meisten der braven Burger und
Beamten ein drohendes Kains-
zeichen aufgedeckt, sie kommen
nur um Haarbreite an irgend-
einem Verbrechen in ihrem Le-
ben vorbei. Hirsch erzahlt das
Mannigfaltige, das er zu sagen
hat, in einer reizvollen Mosaik-
form. Die Kapitel, jedes ein
kleiner Stein fiir sich in wieder-
kehrenden Farben, haben manch-
mal am Ende zuviel AbschluB, in'
einer umrandenden Pointe. Je-
denfalls ist dies ein besonders
witziges, die Vorkriegszeit sicht-
bar machendes Buch.^ Es stellt
bildhaft stark das Heitere ins
Wiiste, wie in dem bezeichnenden
Bilde der hubschen Birke, die
fiber die Gefangnisraauer zu Han-
nover ragt und den Standort des
Schafotts driiben im Hofe angibt,
Alfred Wolfenstein
Passionsmusik
IWf it der Zeit kommt alles, selbst
*■** das, was man sich wiinscht.
Dazu gehort, seitdem es eine Bach-
renaissance gibtt also seit fiinf-
zehn Jahren, eine Auffiihrung der
Matthaus-Passion in der kleinen
Besetzung, die unter Bach bei der
Enge der alten Thomaskirche
NIUI
MAX ERMERS
VERLAG DR. H. EPSTEIN
VICTOR ADLER
AUFSTIEG UND GRdSSE EINER
SOZIALISTISCHEN PARTE I
380 Seiten Kart. M 5.75, Uelnen M 7.25
904
selbstverstandlich war. Wir kennen
die Zahl der Kopien fiir die
Sanger Bachs und wissen, dafi
hochstens zwolf bis sechzehn Stim-
men seine Chore gesungen haben,
die wir seit Ochs, Schumann, Men-
gelberg von zweihundert bis sechs-
hundert Stimmen zu horen ge-
wohnt sind. Welche gotische
Schonheit miifite eine Auffuhrung
der Matthauspassion enthiillen,
die mit wenigen erlesenen Stim-
men das herrliche Linienspiel der
Passionspolyphonie mit Ton er-
fiillt. Die Johannes -Passion ist
zwar bereits vom alten Stockhau-
sen mit seinem Schiilerchor in so
kleiner Besetzung aufgefiihrt wor-
den, aber grade sie empfinden wir
heute massenhafter: als das groBe
Drama eines religiosen Aufruhrs,
wie es Klemperer voriges Jahr
grofiartig, — man mufi schon sa-
gen; in Szene gesetzt hat.
Ganz anders ist dagegen die
Passion nach Matthaus. Der alte
Streit, welche der beiden Passio-
nen groBer ist, war musikalisch
niemals zu losen, denn wo gibt es
in der einen Passion ein Stuck,
fiir das es kein gleichwertiges Ge-
genstiick in der andern gabe. Da-
gegen ist es moglich, die Werke
nach ihrer Auffassung zu unter-
scheiden, und da ist allmahlich
die Johannes-Passion in den Vor-
dergrund geriickt. Sie ist das
Drama eines alttestamentarischen
Prophetensturms, wogegen die
nach Matthaus Bachs grofite Kan-
tate ist, eine protestantisch-pie-
tistische Musik lyrischer Verbun-
denheit mit dem Schicksal eines
milden Martyrers. Dagegen ist
die H-moll-Messe, wo sie am
groBsten ist, katholisch. In Bachs
Christentum war noch einmal
diese ungeheure Welt alten,
neuen und germanisierten Chri-
stentums ganz vorhanden, die
sonst nur noch geteilt moglich ist.
Von der Auffuhrung der Mat-
thaus-Passion als Kammermusik-
werk erwartete ich aufier der
Reinheit und Individualbeseelung
einer jeden Stimme eben dadurch
die Enthiillung aller jener herr-
lichen Wundmale der Harmonik,
an der grade dieses Bachwerk
uberreich ist. Warum war nun die
Auffuhrung am Totensonntag doch
eine Enttauschung? Sie in die
berliner Petrikirche gebracht zu
haben, war gewifi ein Verdienst
mehr der Gemeinnutzigen Vereini-
gung zur Pflege deutscher Kunst;
ihren zweiten Teil auf den ber-
liner Sender zu leiten, war gewiB
das eine von den beiden Ver-
diensten der Funkstunde urn den
Totensonntag. Die Enttauschung
trat aber bereits ein, als der
magdeburger Madrigal-Chor in
der Starke von achtundzwanzig
Stimmen einsetzte, statt sich mit
den sechzehn Stimmen Bachs zu
begniigen. Achtundzwanzig Stim-
men — das ist nicht entfernt das
Verhaltnis zwischen groBem Chor-
werk und Kammerchorwerk, wie
wir es erwarteten. Tm Geiste der
alten Thomaskirche war. der Ver-
zicht auf Solisten eines der Ver-
dienste der Auffuhrung. Man
hatte aber noch einen Schritt wei-
tergehen, und, wie es mit groBer
Wahrscheinlichkeit der Fall war,
einzelne Soli von zwei oder drei
Chorstimmen singen lassen kon-
nen. Auch dadurch kame noch
Groszhammer 1 Uachitta / Karl ch en Marx
nOPlSChOSSC WaffeninRot2^oM. kart,
Die BomDe ins Goethe johr!
„Voll uncrhflrterWucht derWelsheit und Explosion!
Marx, Nietzsche, Tudiolsky, Reimann, Th. Mann,
der Teufel, Hltier erkraxeln die Barrifcaden!"
Verl. BUCHERSTUBE HANAU, Main
Auslief. auch: Komm. G. Brauns, Leipzig
und Buchladen Weidmann, Frankfurt a. Ml
905
mehr zum Ausdruck, dafi die
Matthaus-Passion den Charakter
der Totenfeier eincr pietistischen
Katakombengemeinde hat,
Das schmerzlichste bei den
meisten Bachauffuhrungen ist aber
doch immer wieder, wie wenig
religioser Inbrunst diese nord-
deutschen Chore fahig sind. Das
singt vom Haupt voll Blut und
Wunden, aber weder spurt man,
dafi Blut in dem Gesange vergos-
sen wird, noch dafi die Wund-
male brennen. Niemals fiihle ich
so stark wie bei solchen Aufftih-
rungen, was doch das deutsche
Volk im Grunde fur ein ungetauf-
tes Volk geblieben ist, Wirklich
kein Wunder, dafi einmal in
Deutschland eine politische Partei
Abstimmungstriumphe erlebt, die,
wenn sie konsequent ware, am
Tage ihres Sieges am Pariser
Platz den ersten Altar fur Thor
wieder herstellen miiflte. Getauft
sein: das heifit nicht Kirchen-
christ sein, das heifit Sinn fur
Humanitat, fur das Leid der Welt,
fur dieAufopferung haben. Wahr-
lich, es wird noch viel Wasser
aus dem Jordan in die Elbe flie-
fien, bis die verfehlte Aktion
Karls des Grofien zum Abschlufi
kommt, aus magdeburger Sachsen
Christen zu machen.
Felix Stossinger
Tekla auf der Tour
J^er Glanz ihrcr Augen verriet,
dafi der Motor ihres Gehirns
auf hohen Touren war.
Tekla v. Bodo
Gepackschein No. 1983
Junkstunde*, 11. November 1931.
Der wahre Grund
Gestatten Sie einem ehemaligen
aktiven Offizier, das Wort zu
einer Unsitte zu ergreifen, welche
schon zahllose Lacherlichkeit im
Ausland in bezug auf gewisse
Deutsche der Nachkriegszeit er-
regt hat, namlich des kahlge-
schorenen Kopfes, welchen ganz
oben ein, ich mochte sagen, vollig
mannbarer Scheitel ziert, welcher
sozusagen ubergangslos und ohne
tiefere Begrundung dem milli-
meterkurzen Haar entwachst.
Diese Unsitte, soweit es sich urn
Zivilisten handelt, hatte einst
einen tieferen Sinn, und zwar war
es uns Of fizieren verboten, das
Haar anders zu tragen als nur
wenige Millimeter, was uns ein
gewisses Problem auferlegte,
denn man war ja auch nur ein
Mensch und wollte hier und da
die Freuden des Daseins im
schlichten, burgerlichen Rock ge-
niefien. Was also tun, spricht
Zeus? , Man beliefi seinen Schei-
tel in vorhandener Ftille und
sorgte daftir, dafi unterhalb der
Kopfbedeckung (Helm, Mutze)
die vorschriftsmafiige Kurze des
Haares zum Vorschein trat, eine
Frisur also, die mehr der Not
gehorchte als dem innern Triebe.
Man war j ederzeit Offizier und
dennoch, ohne Kopfbedeckung,
nicht total kahl geschoren. Dies
der wahre Sachverhalt, den ich
Sie Ihren Lesern mitzuteilen
bitte. Dafi diese unsre aktive
Haartracht heutzutage ohne
tiefere Berechtigung von Burger-
lichen nachgeafft wird, fallt
unserseits, die wir. das alte Pa-
nier nach wie vor hochhalten, auf
den Boden der Verachtung und
wird allseits abgelehnt.
Han& Reimann
Annette Kolb sdireibt; Zu den anregendsten
und inter ess antesten Badiern des Jahres gehOrt
P. A.
906
B R
HEILIGE UND HEXER
Glaube und Aberglaube im Land des Lamaismus.
Nach eigenen Erlebnissen in Tibet dargesteilt von
ALEXANDRA DAVID-NEEL
Mit 22Abbildungen. Geh. M 8.70, Lein. M 10.50.
OCKHAUS / LEIPZIG
Christen unter slch
Bekanntlich hatte fur Mittwoch
abend beim Weifibrau der Penz-
berger Redner Sommer eine Ver-
sammlung einberufen, die offen-
sichtlich den Bibelforscherbestre-
bungen gait. Im Nebenzimmer des
Gasthofes, das zugleich auch Ver-
einslokal der Fufiballabteilung des
Sportvereins ist, konnte aber die
Versammlung nicht stattfinden, da
die FuBballer mit Absicht das
Lokal fur sich in Anspruch ge-
nommen hatten. In der Gaststube
war ebenfalls die Abhaltung der
Versammlung durch die demon-
strative Anwesenheit von etwa
30 Mann, die sich aus Mitgliedern
aller katholischen Manner- und
Jungmannervereine zusammensetz-
ten, unmoglich. So entschlofi sich
der Redner, ein Fremdenzimmer
zu mieten und dort seinen „Jun-
gern" zu predigen. Er erwartete
sich ihrer etwa 60. Aber die Mit-
glieder der katholischen Vereine
ruhten nicht eher, bis die Zahl
der Wissensdurstigen auf 4 in
Tolz seit Jahren als solche be-
kannte Bibelforscher und 2 Neu-
gierige zusammengeschmolzen war.
Alle anderen Interessenten zogen
wieder ab. Es wan somit gelun-
gen, den Erfolg dieser Bibelfor-
scherattacke rundweg zu vereiteln.
Bei kiinftigen Gelegenheiten rouB
die Beteiligung der katholischen
Manner an solchen Abwehr-
aktionen noch durchschlagender
sein. Jdlzer Kurier' 20. 11. 31
Ein bis zwei Stunden
nach dem Tode
SO, S.! — Dieser internatio-
• nale Hilferuf bittet urn Ret-
tung der Seelen. Wie steht es nun
mit der Seelenhilfe bei Rettungs-
aktionen fur Verungluckte und
Hilfebediirftige? Das ,Korrespon-
denzblatt fur den kathol. Klerus'
(Wien) bemerkt richtig, dafi z. B.
bei dem furchtbaren Eisenbahn*
ungluck bei GoB alle moglichen
Retiungsbeflissenen zu Hilfe ge1
rufen wurden, Rettungswagen,
Feuerwehr, Polizei, Arzte; nur yon
einem Priester horte man nichts!
Konnten nicht auch bei uns, wie
es kiirzlich aus Amerika gemeldet
wurde, die Rettungsanstalten mit
den Pfarren und Klfistern tele-
phonisch verbunden werden, da-
mit bei Ungliicksfallen auch
Priester verstandigt wurden? Wie
mancher Sterbende k3nnte noch
die heiligen Sakramente empfan-
gen, wie mancher, der schon fur
tot gehalten wird, noch bedingt
absolviert werden, da doch nach
arztlichem Urteil bei gewaltsam
Getoteten noch nach ein bis zwei
Stunden die Anwesenheit der
Seele angenommen werden kann,
besonders bei Stromverungliickten
oft noch nach Stunden das Leben
wieder erwacht, Konnten nicht
auch — naturlich gutgesinnte —
Rettungsmannschaften angel eitet
werden, mit Sterbenden die voll-
kommene Reue zu erwecken?
Ware es nicht auch gut, ofters
iiber das Verhalten bei Ungliicks-
fallen zu predigen?
,Das Neue Reich*
Lfebe Weltbuhne!
Der ehemalige Kronprinz, von
Frau Dodo aufgeregt befragt,
wie es denn mit den Juden im
Dritten Reich werden und ob man
sie wirklich ganzlich kalt stellen
wiirde, antwortete begiitigend:
„Aber nein, in der Musik diirfen
sie bleiben!"
Hinweise der Redaktion
BOch^r
Walter Bauer: Ein Mann zog in die Stadt. Bruno Cassirer, Berlin.
Ernst Ottwalt: Denn sie wissen, was sie tun. Malik-Verlag, Berlin.
Arnold Zweig Junge Frau von 1914. Gustav Kiepenheuer, Berlin.
Rundfunk
Dienstag. Berlin 15.20: Jakob Haringer liest. — Langenberg 18.00: Der Kriminalroman*
Hans Reimann — Berlin 19.40: Heutige Dramaturgic Alfred Kerr. — 20.30: Worte
in Versen, Karl Kraus — Mittwoch. Langenberg 2000: Gestohlene Musik, Hans
Reimann. — 20.45: Zeitgendssische Dichtung. — Donnerstag. Mtthlacker 21.(^0:
Romantische Improvisationen, Willy Haas und Hanna Haas. — Munchen 15.40: Be-
gegnung mit Hamburg, Carl Zuckmayer. — Freitasr. Breslau 17.20: Die Zeit in der
jungen Dichtung. — Berlin 21.00: So spricht die Zeit. — Sonn abend. Berlin 19.35:
Ich komme soeben aus der Ttirkei, Hellmut v. Gerlach.
907
Antworten
Das leipziger Urteil hat tins ncben den viclcn personlichen Schrei-
ben einc Unzahl Protestresolutionen linker Organisationen eingebracht,
fiir die wir auch an dieser Stelle unsern Dank aussprechen. Zwei
dieser Resolutionen mogen hier folgen: „Die Ortsgruppe Breslau der
Deutschen Friedensgesellschaft spricht den Schriftstellern Carl
von Ossietzky und Walter Kreiser, die fiir die Erfiillung ihrer jour-
nalistischen Pflicht mit Gefangnisstrafe belegt worden sind, ihre Hoch-
achtung und ihr Vertrauen aus. Sie ist der Ansicht, dafi das Wohl
des deutschen Volkes am besten dadurch gefordert wird, dafi der in
Art. 148 der Reichsverfassung ausgesprochene Grundsatz der Volker-
versohnung von den maBgebenden Stellen unter alien Umstanden ver-
treten wird." — 1tDie in Haverlands Festsalen am Dienstag, dem
1. Dezember 1931, tagende offentliche Versammlung der KPD-Oppo-
sition sieht in der Verurteilung Ossietzkys und Kreisers von der ,Welt-
buhne1 einen neuen Vorstofi gegen die Meinungsfreiheit. Die Verfol-
gung <Jer kommunistischen Presse ist in Deutschland zu einer alltag-
lichen Erscheinung geworden. Die Verurteilung der Herausgeber der
♦Weltbiihne1 und das ergangene Redeverbot ist ein Beweis fiir die
Fascisierung der Justiz, Die Versammelten sprechen den Verurteilten
ihre Sympathie aus und verlangen die sofortige Zuriicknahme des
Redeverbots und Nichtvollstreckung des Urteils." Von den Reden,
die auf der berliner Protestversammlung der Deutschen Liga fiir Men-
schenrechte gehalten wurden, ist die von Alfred Apfel in der Nr. 11
der ,Menschenrechte\ des Organs der Liga, und die von Manfred
Georg in der Nr. 88 der .Chronik der Menschheit', Schweidnitz in
Schlesien, erschienen.
Ernst Toller. Die wiener Mitglieder der „ Christian Science"
haben das Burgtheater gebeten, Ihr Stiick f,Wunder in Amerika", das
sich mit Mary Baker-Eddie befaBt, nicht zur Auffiihrung zu
bringen, Ahnliche Proteste hat es in Berlin gegeben. Das
hat uns eigentlich noch gefehlt; was der^ Kirche recht ist, ist dieser
religiosen Baker-Innung billig, Jeder Mann sein eignes Himmelreich.
Das Peinliche an diesen Diktaturversuchen, von Moskau tiber das
papstliche und f ascistische Rom bis zum Nationalismus, ist die vor-
getauschte AusschlieBlichkeit eines Weltbildes, dessen Entstehung man
so erzwingen will, Jeder halt das seine fiir ()richtig", und keiner duldet
die kleinste Abweichung. Was eine richtige Ansicht ist, die wird
heute sofort zur Religion. Schade, wir werden es nicht mehr erleben:
Freiheit wird einmal sehr, sehr modern werden. Zur Zeit unterwirft
sich jede Gruppe, vor Lust stohnend, den Leitsatzen eines psycho -
pathischen Fiihrers und seiner Burcauvorsteher, Wie sieht ein
Theaterstiidc aus, das nirgends mehr aneckt? Wie die zensurierten
Filme.
UBER WEIHN ACHTEN - NEUJAHR,
zum Wintersport, Pauschalfahrt in die Tatra incl. Reise hin und
zurUck, voile Pension (erstklass. KUche, alle Zimmer flieBend
kaltes und warmes Wasser), Bedienung, Sporttaxe, zwei halb-
tagige SchlittenausflUge, unentgeltliche Skikurse.
Ab Berlin 14 Tag e 165.—, 20 Tage 200.—.
Ab Breslau 14 Tage 132.—, 20 Tage 165.—.
Auskunft fUr Berlin Pfalzburg 7657, sonst direkt.
HAUS GODAL, LUBOCHNA, TATRA
908
Verlag Tradition, Berlin. Im .Buchhandler-Borsenblatt' vom l,De-
zember veroffentlicht ihr eine Ankiindigung eures neuen Buches t,Luft-
krieg 1936'* von Major Helders, Das Buch schildere die „kommende
Auseinandersetzung zwischen den Machten England und Frankreich",
und es werde „packend und mitreiBend vorgefuhrt", „wie durch die
Tatkraft eines wirklichen Mannes — des Fuhrers der englischen Luft-
f lotte — Frankreich auf die Knie gezwungen, Paris in einen Trummer-
haufen verwandelt wird". Hier jst mal wieder der Wunsch der Vater
des Gedanken, oder besser gesagt; der Hafi gegen den bosen Erbfeind,
England siegt und damit basta. DaB unter einem Luftkampf beide
Lander gleich stark leiden, ist fur einen deutschen Major pazifistische
Phantasterei. Zu welch grotesken Formen sich dieser irre HaB ver-
stergt, davon legen die besonders fett gedruckten Zeilen Zeugnis ab:
„Jeder Deutsche aber wird dies Buch lesen, nachdenklich und er-
griffen mit dem heiBen Wunsch ,auf den Tag' **. Das also wird der
♦■Tag der Deutschen" sein, wenn England und Frankreich sich in die
Haare kriegen, dieses am Boden liegt, und der Deutsche, lachender
Dritter, dem Besiegten einen FuBtritt versetzt. Feine Helden seid
ihr doch: ihr laBt den andern die Kastanien aus dem Feuer holen, das
ihr vorher ttichtig geschiirt habt.
Braunhausler Hitler. Sie wollen nach Rom? Und auch andre
Hauptstadte Europas wollen Sie besuchen? Das kann Ihnen gar nichts
schaden. Wir furchten nur, daB Sie auch da nur unter Ihresgleichen
hocken werden . . . bleiben Sie zu Hause.
Strelitzer. Zu dem Artikel „Der Troubadour der groBen Dame*
von Hanns-Erich Kaminski in Nummer 47 der .Weltbuhne' schreiben
Sie uns eine langere Verteidigung des angegriffenen Herrn von Reib-
nitz, Sie betonen, daB sich Herr von Reibnitz in Mecklenburg groBe
Verdienste erworben habe und daB es jetzt dort ganz finster werden
wurde, nachdem ihn die Reaktion zur Strecke gebracht hat. Aus
Griinden der Gerechtigkeit nehme ich von Ihrem Einspruch gegen die
harte Kritik an Herrn von Reibnitz gern Notiz. Aber von dem, was
gegen sein Buch gesagt wurde, ist nichts zuruckzunehmen. Es handelt
sich hier nicht nur urn' eine politische Frage, sondern auch urn eine
solche des Geschmacks. Herr von Reibnitz hatte sich das Buch ver-
kneifen sollen,
Leutnant Scheringer. Ihre Mitverurteilten befinden sich langst in
Freiheit. Oberleutnant Wendt, der zur StraBer-Gruppe gestoBen ist,
hat seine ganze Haft abgesessen, wahrend der hitlertreue Ludin einige
Zeit vor Ablauf seiner Strafe vom Reichsprasidenten begnadigt worden
ist, Sie dagegen hat man von der Festung ins Untersuchungsgefangnis
gebracht und Ihnen mehrere Verfahren angehangt. Aus dem Bericht,
den Alexander Stenbock-Fermor und Eugen G, Wewes verfaBt haben,
geht eindeutig hervor, daB Sie wegen nichts anderm bestraft werden
sollen als wegen Ihres Ubertritts zur KPD, denn die Anklagepunkte
sind mehr als hinfallig. Wegen Fluchtverdachts und Verdunkelungs-
gefahr werden Sie nicht entlassen, obwohl Sie bewiesen haben, daB
ELIZABETH RUSSELL / HOCHZEIT, FLUCHT
UND EHESTAND DER SCHONEN SALVATIA
Roman.
Diese Geschichte von einem weiblichen Parsifal 1st so lustlg, wie man es sich nur
wUnschen kann. Man lacht beim Lesen oft laut auf. Es Ist elner jener nicht hSu-
ftgen, wirkllcn unterhaltenden Romane, fur den man dem Ver-
fasser ebenso dankbar sein muB wie Freunden. die uns einen
heiteren, sorgenlosen Abend bereltet haben. . Literarlsche Welt,
TRANSMARE VERLAQ A.G., BERLIN W 10
Lei n en
4.80 RM
909
Sie an Flucht nicht denken, und obwohl es gar nichts zu verdunkeln
gibt. Die lacherlichsten Kleinigkeiten werden Ihnen als Ausbruchsver-
suche angekreidet, und so sitzen Sie denn jetzt in einer halbdunklen
Zelle, bekamen sieben Tage Arrest mit „allen zulassigen Strafen",
haben Besuchssperre undsoiort. Man bestraft Sie also schon jetzt,
obwohl man Sie wegen der angeblichen Delikte noch gar nicht ab-
geurteilt hat, man bestraft Sie also allein wegen Ihrer Gesinnung.
Denn wenn Sie weiter dem Herrn des Braunen Hauses treu geblieben
waren, hatte sich kein Staatsanwalt urn Briefe gekummert, die Sie an
Freunde geschrieben haben, und sicher waren auch Sie begnadigt
worden.
Theaterfrennd. Die zur standigen Einrichtung gewordene Krise
im wiener Burgtheater ist wieder einmal „gelost". Man hat Herrn
Roebbeling, den Direktor des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg,
zum Burgtheaterdirektor gemacht. Geschaftsttichtig soil der neue
Mann ja sein, aber tiber seine kunstlerischen Qualitaten lafit sich zu-
mindest streiten. Mercutio Desbini hat in der Nr. 12 des vorigen
Jahres bei uns einige Aufklarungen dariiber gegeben, die wir Ihrer
nochmaligen Lekttire dringend empfehlen,
Palucca. Bestimmt wollten Sie in der Pauke, die zur Begleitung
Ihrer Tanze dient, Handgranaten nach Polen schmtiggeln. Oder auf-
ruhrerische Flugschriften. Oder der Beifall des moskauer Publikums,
das Sie schon bei Ihrem ersten Auftreten so verdachtig beklatscht hat,
hatte Ruhe und Ordnung gestort. Oder Pilsudski ist mehr fur Wig-
man. Oder Ihr Name floBt den polnischen Behorden Mifitrauen ein,
weil neulich auf Korsika bei dem Dorfe Palucca Banditenunruhen
stattgefunden haben, Oder warum hat man Ihnen sonst trotz wochen-
langer Verhandlungen und trotz der Bemuhungen der polnischen und
der deutschen Gesandtschaft in letzter Minute das Einreisevisum ohne
Angabe von Grunden verweigert, so daB Sie die ganze polnische
Tournee absagen mufiten? Nicht nur in den groBen Dingen regiert
der Unsinn,
Asiaticus. In der ,Woche* und in einer ebenso reaktionaren Mo-
natsschrift sind Artikel veroffentlicht worden, deren Verfasser sich
„Asiaticus" nennt, Sie gebrauchen dieses Pseudonym nun schon seit
etwa ftinf Jahren und haben auch ein Buch unter diesem Namen ver-
fafit. Da Ihnen eine andre Moglichkeit, gegen den MiBbrauch Ihres
Namens vorzugehn, nicht gegeben ist, stellen $ie hiermit fest, dafi Sie
nicht das geringste mit diesen Artikeln und dem Artikelschreiber zu
tun haben,
Karlsruher. Geben Sie Ihre Adresse an Herrn Theodor Clement,
Ebertstr. 6, Telephon 120, der regelmaBige Zusammenkiinfte der karls-
ruher Weltbuhnenleser in die Wege leiten will.
Weltbuhnenleser in New York und Umgebung, die Interesse fur
wirtschaftspolitische Fragen haben, wollen sich bitte in Verbindung
setzen mit Hans R. L. Cohrssen, 4 West 90th Street New York, N. Y.
Phone: Schuyler 4 — 8116.
Manuskripte stud nur an die Redaktion der Weltbuhne, Cbarlottenburjj, Kantstr. 162, zu
richten; es wird g-ebeten, ihnen Ruckporto beizutegen, da sonst keine Rucksendung erfolgen kann.
Das Auff tthrungsrecht, die Verwertung von Titelnu. Text im Rahtnen des Films, die musik-
mechanische Wiedergnbe aller Art und die Verwertung im Rahmen von Radiovortr&jren
bleiben fttr alle in der Weltbuhne erscheinenden Beitraye ausdrlicklich vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegfried Jacobsohn und wird von Carl v. Ossietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucholsky geleitet — Verantwortlich : Carl v. Ossietzky, Berlin ;
Verlag der Weltbuhne, Siegfried Jacobsohn & Co., Charlottenburg.
Telephon: C 1, Steinplatz 7757. — Postscheckkonto : Berlin 11958.
Baakkonto: Darmstidter u. Nationalbank. Depositenkasse Charlottenburg, Kantstr. 112.
XXVII. Jahrgaog 22. Dezember 1931 NonmerSI
Trotzki spricht aus Prinkipo can v. ossietzky
r\ cr dicke Chesterton hat eininal in bezug auf den Rundf unk
■ den herrlichen Satz geschrieben, daB Herr Soundso, wenn
er vom Nordpol her spricht, nicht weniger trivial wirkt, als
wenn man ihm aus dem Nebenzimmer hort. Da die hochst
entwickelte Technik sich vornehmlich darauf beschrankt, tins
gesprochene, gedudelte oder gesungene Idiotismen zu vermit-
teln, so ist es also nur in der Ordnung, dafi der Geist den alt en
Weg iiber das Druckpapier nehmen and ein Genie wie Leo
Trotzki sich in einer schmachtigen Groschenbroschure, fernab
von den But ten- und Halbifranz- Snobs des Weihnachtsmarkts,
verstandlich machen muB. Diese Broschure von einem Druck-
bogen ist die wichtigste und aktuellste Schrift dieser Tage.
(Leo Trotzki: MSoll der Fascismus wirklich siegen?" zu be-
ziehen durch A. Grylewicz, Berlin-Neukoiln, Brusendorfer
StraBe 23.)
Der Verbannte von Prinkipo hat auch heute, wo ihm keine
Suite von Politikern und Militars, kein Panzerzug mehr zur
Verfiigung stent, seine alte Sprungkraft nicht eingebuBt, Dieser
Stil blitzt, wettert, reifit Wolkendecken ein, fahrt zitternd
Ungeduld uber eine aufgepeitschte Welt, um mit pamphleti-*
stischem Elan irgendwo krachend niederzusausen. Trotzki
wollte eine knappe, skizzenhafte Instruktion fiir seine engern
Anhanger in aller Welt schreiben — es ist ein kleines Welt-
gericht daraus geworden.
In zwanzig kurzen thesenhaften Abschnitten mustert
Trotzki die politische Weltlage. Nirgends findet er die Ar-
beit erschait ihrer hist oris chen Auf gab e entsprechend geriistet.
Der morbide Kapitalismus rafft sich im Fascismus noch einmal
zu einer letzten blutigen Abwehr auf. Es steht nicht gut um
die Sache des Kommunismus. Da ist Spanien, das Land der
jiingsten Revolution, abet die Kommunistische Partei ist machtlos
und bezieht in alien Grundfragen falsche Position. „Die burger-
liche Revolution wird mehr, als siegegeben hat, nicht geben kon-
nen. In bezug auf die prole tarische Revolution hingegen kann
die gegenwartige innere Lage in Spanien vorrevolutionar ge-
nannt werden, aber nicht mehr als das." Dann eine glanzende
Auseinandersetzung mit England, dessen politischer Oberbau
hinter den Veranderungen der okonomischen Basis zuriickbleibt,
das bis jetzt weder eine revolutionare noch eine fascistische
Partei kennt, und mit Frankreich, dena ,,konservativsten Lande
nicht nur Europas, sondern wohl der ganzen Welt". Die ver-
haltnismaBige Bestandigkeit des franzosischen Kapitalismus
erklart Trotzki aus dessen Riickstandigkeit, aber: „Der Wi-
derspruch zwischen Frankreichs zweitrangi^er Rolle in der
Weltwirtschaft und seinen ungeheuerlichen Vorrechten und
Anspruchen in der Weltpolitik wird sich mit jedem Monat
immer deutlicher offenbaren/' Doch fiir den Kommunismus
sieht Trotzki einstweilen keine Chancen, ebensowenig wie in
den Vereinigten Staaten. China befindet sich in einem lan-
1 911
gen UmwandlungsprozeB, und nur Japan kann durch sein
mandschurisches Abenteuer in cine Revolution gerissen wer-
den. Die Ereignisse im 'Fernen Osten binden Japan, sichern
die $owjetunion vor akuten Gelahren,
Die konkreten Voraussetzungen fiir groBe Umwalzungen
findet Trotzki nur in Europa. Vor allem in Deutschland liegt
der Schliissel zur internationalen Lage, ,,Die okonomischen
und politischen Widersprtiche haben hier eine unerhorte
Scharfe erreicht. Die Losung riickt heran. Es nahert sich
der Moment, wo die vorrevolutionare Situation umschlagen
muB in die revolutionare oder — die konterrevolutionare."
Von dem Ausgang wird das Schicksal Europas, ja der ganzcn
Welt abhangen. Der Fascismus hat seinen Kulminationspunkt
noch nicht erreicht; er ist ein Produkt der sozialen Krise und
der revolutionaren Schwache des Proletariats, die sich aus
zwei Elementen zusammensetzt: „Aus der besondern histori-
schen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmachtigen kapita-
listischen Agentur in den Reihen des Proletariats und aus der
Unfahigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen
Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu ver-
einigen/' , Nun beginnt cin polemisches Ungewitter.
Aui die KPD, und die Komintern, ihre Patronin, fallen
dabei die Hiebe hageldicht. Die KPD. hat mit dem Chauvinis-
mus gespielt, den echten Fascismus zum Zwecke marktschreie-
rischer Konkurrenz nachgeahmt. „Die Kominternfiihrung hat
weder etwas vorauszusehen noch zu hindern vermocht Sic
reguliert bloB die Niederlagen. Ihre Resolutionen und iibrigen
Dokumente sind, leider, nur Photographien des Hinterteils des
geschichtlichen Prozesses." Welche Stellung gedenkt die Ko-
mintern angesichts der heranruckenden Entscheidung einzu-
nehmen? Gar keine. Sie will erst abwarten. Denn Konter-
revolution ist bekanntlich nicht das, „was den Weltimperialis-
mus befestigt, sondern das, was die Verdauung der kommunisti-
schen Beamten stort". So kommt man mit Warten und Aufschieben
allgemach der Kapitulation naher, Schon jetzt wird die Formel
vorbcreitet; ,,Rechtzeitig zuriickweichen, die revolutionaren
Truppen aus der Gefechtzone herausfuhrep, dem Fascismus
eine Falle stellen, in Form . . . der Staatsmacht." Und jetzt
fcolgen diese gewaltigen Satze, wie mit schrccklich spitzen Na-
geln in das Gewissen der russischen Diktatorcn getrieben:
,,Wiirde diese Theorie sich in der Deutschen Kommunistischen
Partei befestigen, ihren Kurs in den nachsten Monaten bej-
stimmen, so bedeutete dies seitens der Komintern einen Ver-
rat nicht geringern historischen AusmaBes als der Verrat der
Sozialdemokratie vom 4. August 1914, dabei mit schrecklichern
Folgen." Moskau ware das groBte Opfer.
Denn der Sieg des Fascismus in Deutschland bedeutet
den Krieg gegen die Sowjetunion. Die Niederringung des Pro-
letariats wird dem Fascismus auBenpolitisch die Handc bin-
den, er wird an der franzosischen Reaktion Halt suchen miis-
sen. „Hitler wird Pilsudski ebenso brauchen wie Pilsudski
Hitler." Und der deutsche Biirgerkrieg selbst? Nebcn dem
deutschen wiirde sich der italienischc Fascismus ,,wahrschein-
912
lich als blasses und humanes Experiment ausnehmen". Des-
halb darf es kein Zuriickweichen geben. „Fiihrer und Institu-
tionen konnen zuriickweichen. Einzelne Persqnen konnen sich
verbergen, Aber die Arbeiterklasse wird angesichts des Fascis-
mus nirgends zuriickweichen und nirgends sich verbergen
konnen."
Noch ist Widerstand moglich. Noch hat der Fascismus
nicht die Macht, noch hat sich ihm der Weg zur Macht nicht
geoffnet. Deshalb sind alle, die das „strategische Zuriick-
weichen" predigen, „unbewuBte Agenten des Feindes in den
Reihen des Proletariats", Was hat der Fascismus hinter sich?
„Das kleine Handwerks- und Handelsvolk der Stadt, Beamten,
Angestellte- und technisches Personal. Intelligenz und her-
untergekommene Bauern." Doch Trotzki warnt vor der Ober-
schatzung des Sthnmzettels, denn: ,,Auf der Wage des revo-
lutionaren Kampfes stellen tausend Arbeiter eines GroBunter-
nehmens eine hundertmal groBere Kraft dar als tausend Be-
amte, Kanzlisten, ihre Frauen und ,Schwiegermiitter. Die
Hauptmasse der Fascisten besteht aus menschlichem Staub."
Hitler versteht sich gewiB aufs Prahlen. MAber seine Auf-
schneiderei wird zu einem militarischen Faktor erst im Mp-
mentf wo die Kommunisten ihm Glauben schenken, Mehr als
alles ist augenblicklich eine reale Krafteberechnung notwen-
dig. Woriiber verfiigen die Nationalsozialisten in den Betrie-
ben, bei den Eisenbahnen, in der Armee, iiber wieviel organi-
sierte und bewaffnete Offiziere? Eine klare soziale Analyse
des Bestandes b eider Lager, standiges und wachsames Ober-
rechnen der Krafte — das sind die unf ehlbaren Quellen des
, revolutionaren Optim.ismus." Also auch in der innern Politik
gibt es das potentiel de guerre.
So zeichnet Trotzki mit schneidenster Scharfe die Situa-
tion vor dem Entscheidungskampf mit dem Fascismus, So
spricht er dem Proletariat und seinen Parteien Mut ein. Und
an Moskau selbst richtet er zum SchluB die starkste Beschwo-
rung, daB es bei einer Machtergreifung des Nationalsozialismus
keine Neutralist geben kann: „Fiir den prole tarischen Staat
wird es hier im direktesten und mittelbarsten Sinn urn die re-
volutionare Selbstverteidigung gehen. Deutschland ist nicht
bloB Deutschland. Es ist das Herz Europas. Hitler ist nicht
bloB Hitler . . . Aber auch die Rote Armee ist nicht bloB die
Rote Armee. Sie ist — die Waffe der prolet arisen en Welt-
revolution/'
Die Sprache Leo Trotzkis ist hart und klarf seine For-
derungen sind unerbittlich. DieserNalte Theoretiker und Tech-
niker sozialistischer Machtpolitik bringt fur nahende Entschei-
dungen gradezu den sechsten Sinn mit, Dabei ist es leicht
genug, das Bild von der Komintern und ihren Leuten, das die
HaBliebe dieses VerstoBenen ins MaBlose verzerrt, zu korri-
gieren. Es ware nicht weniger leicht, die Tatsache, daB Rufiland
heute durch seinen industriellen Aufbau weltpolitisch ge-
hemmt ist, als Gegenargument ins Treffen zu fuhren. Es soil
nicht versucht werden. Wer Leo Trotzki heiBt und diese histo-
rische Leistung hinter sich hat, der hat auch das Recht zu
hassen. Und es ware auch lacherlich, in diese brennende
913
Leidenschaft, die zur Tat aufruft, wo alles zur Waffenstrek-
kung ziemlich bercit ist, einen Fingerhut kaltcn Wassers gieBen
zu wollcn. Die deutschen Sozialisten leben in der Panik. Die
Einen haben sich im Opportunismus verrannt, die Andern in
der Radikalitat. Die Stimme aus Prinkipo weist ihnen den
Weg in die Handlungsfr eiheit. Gewifi ist dieser Prophet nicht
bequem, seine bose kritische Veranlagung bei dem politischen
Kindervergniigen, das unsre Parteihauptlinge aufftihren, nicht
erwtinscht. Seine Polemik ist schrecklich, aber sie kommt
von sehr hoch. Diese Hiebe sind die Schnabelhiebe eines
zornigen Adlers.
Paul-BOHCOUr hat ReCht! von Hellmut v. Gerlach
Am 6. Dezember 1925 erklarte in der dritten Sitzung der
*^ vorbereitenden Abrustungskommission des Voikerbundes
der Vorsitzende dieser {Commission, der franzosische Abgeord-
nete Paul-Boncour, im Namen seiner Regierung:
Man muB auch in Betracht ziehen das Potentiel de Guerre, das
heiBt die Macht, die irgend ein Staat in die Wagschale werfen kann
an dem Tage, an dem er sich des internationalen Verbrechens schul-
dig macht, das heute der Angriff darstellt. Urn dies Potentiel de
Guerre zu berechnen, muB man in Rechnung stellen gewisse geo-
graphische, wirtschaftliche und soziale Elemente,
Es ist bisher historisch noch nicht festgestellt, ob Paul-Bon-
cour der Vater oder nur der Adoptiwater des inzwischen
historisch gewordenen Wortes vom Potentiel de Guerre ist.
In Deutschland gilt er jedenfalls als sein Vater und wird des-
halb von alien deutschen Militaristen mit dem Hasse verfolgt,
mit dem sie jeden beehren, der sie zur Liiftung ihrer Tarn-
kappe notigt- Natiirlich erstreckt sich dieser HaB auch auf
jeden Deutschen, der Paul-Boncours These auch nur fur dis-
kutabel erklart.
Wer in Deutschland vom Potentiel de Guerre im positiven
Sinne zu sprechen wagt, wird wie ein kleiner Landesverrater
angesehn.
Das wird den Herren Militars und Militaristen dadurch
erleichtert, daB es sich um einen schwer iibersetzbaren fran-
zosischen Ausdruck handelt. Wer ihn anwendet, erscheint
schon um deswillen als ,,Franz6sling'\
Da das Potentiel de Guerre auf der bevorstehenden Ab-
riistungskonferenz eine hervorragende Rolle spielen wird,
ware es zweckmaBig, wenn die Deutschen sich zu ihrem natio-
nalen Gebrauch auf den gemeinverstandlichen Ausdruck
1fKriegspotenz*' einigten- Purist en konnten freilich auch diese
Verdeutschung beanstanden. Aber das Volk weifl, was es
unter Potenz zu verstehen hat. Die mannliche Potenz ist der
Inbegrifl der Manneskraft. Die Kriegspotenz ist der Inbegrif 1:
der Kraft, die ein Volk in die Wagschale des Krieges zu
werfen hat
Eine Binsenwahrheit ist es natiirlich, dafi die Kriegsent-
scheidung nicht bloB durch die bei Kriegsausbruch vorhande-
nen Truppen und Waffen herbeigefiihrt wird. Zur Kriegsmacht
914
im engern Sinne tritt die Kriegskraft des gcsamten Volkes und
Staates. Die Verbindung von Khegsmacht und Kriegskraft
ist die Kriegspotenz,
Den ungeheuren Unterschied zwischen Kriegsmacht und
Kriegspotenz haben die Deutschen 1914 bis 1918 sehr schmerz-
haft kennen lernen miissen,
Sie miBachteten das „Kramervolk" der Englarider, weii
es nur ein minimales Soldnerheer besaB. Selbst Bismarck
hatte einst auf die Frage, was er bei einer Landung der Eng-
ender in Schleswig-Holstein machen wiirde, spottisch er-
widert: MDann lasse ich sie verhaften," Im Laufe weniger
Monate stellte sich heraus, daB die Kriegspotenz Englands
groB genug war, um auch zu Lande den Deutschen recht viel
zu schaffen zu machen. Das Soldnerheer war ebeh binnen
kurzem in ein Volksheer umgewandelt worden.
Trotz dieser Erfahrung miBachteten die Deutschen sogar
die Amerikaner. AIs die Gefahr des Eingreifens der Ver-
einigten Staaten infolge der deutschen Kriegsmethoden akut
wurde, hohnte Minister Hergt; ,,Sie konnen nicht schwimmen,
sie konnen nicht fliegen, sie konimen nicht heriiber." Bald
darauf wurde das Schicksal des Krieges durch die Amerikaner
entschieden, von denen zum SchluB jeden Monat eine Viertef-
million heriiberkam. Die Kriegsmacht Amerikas in Friedens-
zeiten war lacherlich klein gewesen. Die Kriegspotenz seiner
hundertzwanzig Millionen Einwohner, seiner Industrie und
seiner Finanzen war ungeheuer.
Die deutschen Afcriistungs- und Riistungsinteressenten — was
manchmal auf dasselbe herauskommt — wurden es am lieb-
sten sehen, wenn die Genfer Abriistungskonferenz nach deni
System des kleinen Einmaleins verfiihre und den Siegerstaaten
kurzerhand eine Verminderung ihrer Heeresstarke und ihrer
Waffen auferlegte, die sie moglichst nahe an den Deutschland
in Versailles auferlegten Riistungsstand heranbrachte. Jedes
andre Ergebnis nennen so manche yon ihnen schon im vor-
aus kuhnlich einen Vertragsbruch. Und sie behaupten, daB
ein in ihrem Sinne negatives Resultat Deutschland die
Riistungsfreiheit wiedergebe.
Mit andern Worten: sie meinen, daB dann unter inten-
siver Beteiligung Deutschlands der Riistungswettkampf wieder
beginnen konne, der 1914 sich so segensvoll fur die Mensch-
heit ausgewirkt hat.
Naturlich ist das nicht etwa die „deutsche These". Aber
leider ist es die These recht vieler und recht einfluBreicher
Deulscher,
Ihr gegeniiber steht die fast von der Gesamtheit der
Franzosen geteilte These Paul-Boncours; Rustungsminderung
darf nur erf olgen unter Berucksichtigung der Kriegspotenz!
Nehmen wir den unmoglichen Fall an: Frankreich ware
bereit, sein Heer auch auf hunderttausend Mann herabzu-
setzen und auf die Deutschland verbotenen Waffenarten zu
verzichten. Konnte dann der Unparteiische, wie es bei stu-
dentischen Mensuren iiblich ist, die traditionelle Formel aus-
sprechen: die Waffen sind gut und gleich?
2 915
Nein, die Waffen waxen ungleich. Deutschland ware
Frankreich weit iiberlegen. Zu dieser Feststellung bediirfte
es gar keiner Untersuchung, Die bloBe Tatsache, daB Deutsch-
land 64, Frankreich nur 40 Millionen Einwohner hat, sprache
schon deutlich genug.
Das weiB auch der einfachste Franzose, Er ist unbedingt
friedliebend, Aber er hat Angst vor einer neuen Invasion, zu-
mal er die von vielen Deutschen anscheinend vergessene
Kleinigkeit noch nicht vergessen hat, daB Deutschland es wan
das 1914 unter einer liigerihaften Begrundung an Frankreich
den Krieg erklarte.
Darum schwarmt der Durchschnittsfranzose zwar fur die
tjEgalite'*, er erblickt sie aber nicht in der mechanischen
Gleichmacherei der Heeresprasenz und der Waffen, sondern
hochstens in dem Ausgleich der Kriegspotenzen.
Die Abriistungskonferenz kann auf keinen Fall urn die
Beriicksichtigung der Kriegspotenz herumkommen,
Technisch wird es freilich ungemein schwer sein, den Be-
griff Kriegspotenz zahlenmaBig zu erfassen. Otto Lehmann-
Russbuldt hat in seinem verdienstvollen Buche ,, Die Revolution
des Friedens" den Versuch gemacht, einen Index fur die
Kriegspotenz aufzubauen. Jeder solche Versuch ist niitzlich-
Aber vorlaufig wird man sich mit der Aufstellung dreier
grundsatzlicher Forderungen begniigen miissen;
Anerkennung der Notw«ndigkeit, die Kriegspotenz bei der
rein technischen Rxistungsmind'erung zu beriicksichtigen;
Anerkennung der Notwendigkeit, trotz der noch unge-
klarten Frage der Bemessung der Kriegspotenz schon auf der
Abriistungskonferenz zu einer wesentlichen Verminderung der
technischen Riistung (der Kriegsmacht an Mann und Material)
zu gelangen;
Anerkennung der Notwendigkeit, zunachst einen bestimm-
ten Prozentsatz fur die Minderung der Heeresbudgets fest-
zusetzen.
Die Einigung auf diese drei Grundsatze wiirde eine Syn-
thesc der deutschen und der franzosischen These bedeuten.
Die Abriistungskonferenz kann nur einen Anfang f tir die
Weltabriistung bringen. Die Fortsetzung mit dem Endziei der
Abschaffung aller nationalen Heere und ihrem Ersatz durch
eine Internationale Polizeimacht hat zur Voraussetzung, daB
inzwischen eine Internationale Verstandigung iiber Begriff und
Inhalt der Kriegspotenz erfolgt ist.
Die gewaltigen Schwierigkeiten einer solchen Verstandi-
gung werden jedem klart der die Protokolle der vorbereiten-
den Abriistungskonferenz durchmustert. Schon den Wortlaut
des Fragebogens iiber die Kriegspotenz festzulegen, machte
erhebliche Miihe. SchlieBlich einigte man sich auf folgende
Fassung:
Nach welchen Grundsatzen wird es moglich sein, einen Vergleichs-
maCstab fur die Rustungsstarke der einzelnen Lander zu finden, wenn
man Rechnung tragt:
der Einwohnerzahl;
den Hilfsmitteln;
der geographischen Lage;
916
der Lange und Art der Seeverbindungen;
der Dichtigkeit und Natur der Eisenbahnlinien;
den angreifbaren Grenzen und den lebenswichtigen Zentren in
der Nahe der Grenzen?
In den Unterkommissionen A und B sind diese Fragen griind-
lich gepriift worden. Das Ergebnis war insofern betrublich,
als sich bei jedem einzelncn Punkt die Relativitat aller ir-
dischen Dinge als das Haupthindernis fiir einen brauchbaren
VergleichsmaBstab herausst elite.
Man braucht nur eine einzige Unterfrage herauszugreifen:
bedeuten Kolonien eine Vermehrung oder Verminderung der
Kriegspoteriz?
Die Antwort hangt ganz von der weitern Frage ab, wie
die Kolonie im Augenblick des Kriegsausbruchs zum Mutter-
lande steht. Steht sie gut, so steigert sie seine Kriegspotenz,
indem sie unter andenn auch Hilfstruppen stellt. Steht sie
dagegen schlecht, so bedeutet sie eine Minderung der Kriegs-
potenz, weil sie das Mutterland zwingt, einen Teil seiner eig-
nen Truppen in der Kolonie zu Lassen,
Schon fiir die materiellen Elemente der Kriegspotenz ist
ein Index nur unter Zurechnung einer sehr groBen Summe von
Fehlerquellen zu begninden. Wie steht es erst mit den im-
materiellen, vor allem mit der Psyche der Volker? Wie will
main das Gewicht von Imponderabilien leststellen? Die
Kriegspotenz von einer Million Albaniern ist wahrscheinlich
der von zehn Millionen Chinesen noch stark iiberlegen.
Alle Schwierigkeiten der Verwirklichung der These Paul-
Boncours zugegeben — grundsatzlich ist sie mit Recht auf-
gestellt worden.
Deutschland wiirde sich vor der Welt ins Unrecht setzent
wenn es das hartnackig bestreiten wollte.
Frankreich seinerseits wiirde sich ins Unrecht setzen,
wenn es demnachst in Genf jede Riistungsminderung unter
Bezugnahme auf die noch fehlende Definition und Beriick-
sichtigung der Kriegspotenz ablehnte. DaB seine heutige
Riistung iibermaBig ist und durch ihr ObermaB der Agitation
der deutschen Nationalisten Vorschub leistet, sehen auch in
Frankreich weiteste Kreise der Linken ein.
Die erste Abriistungskonferenz mufl eine fiihlbare Her-
absetzung der Kriegsmacht und damit der Riistungskosten
bringen.
Bis zur zweiten Abriistungskonferenz muB ein Index fiir
die Kriegspotenz unter der Autoritat des Volkerbundes ver-
einbart werden. Er wird jeder mathematischen Genauigkeit
entbehren, er wird nur Annaherungswerte vergleichen kon-
nen. Aber er ist unentbehrlich.
Es gibt keine Abriistungsfrage, iiber die sich nicht ehrliche
Freunde der Abriistung einigen konnten.
Die Frage ist nur: Wer wird in Genf den Ausschlag geben,
die ehrlichen Abriistungsfreunde oder die als Abriistungs-
freunde getarnten Militaristen, Imperialisten und Interessenten
der Riistungsindustrie?
917
Hitlers Fliegerei von Hans Wieland
T\ ie alarmierende Nachricht uber die Nazi-Luf tf lottc hat bei
vielen der Luftfahrt fernstehenden Zeitungslesern zunachst
unglaubiges Staunen oder Hciterkeit hervorgerufen. Wer die
technischen Moglichkeiten der Luftfahrt priift und wer
gleichzeitig ein wcnig Bescheid wcifi, wie es um die Gesinnung
der meisten maBgeblichen deutschen Luftfahrer bestellt ist*
der wird das, was seit einiger Zeit im deutschen Luftreich be-
trieben wird, der groBteri Aufmerksamkeit fiir wert halten.
Alle ,,mit der Flugwaffe ausgebildeten" Mitglieder der
NSDAP haben Hitlers Befehl, sich fiir die ,,nationalsozialisti-
schen Fliegerkorps" bereit zu halten. Das ist auch von der
Parteileitung unbestritten und nur naohtraglich als harmlose
Spprtpropaganda bagatellisiert worden. Also Flugwaffen-
sport, der statt in Vereinen sich in Korps gliedert!
Wenn Du denkst, hier miifite doch Vorbereitung zum
Hochverrat gegeben seiri, so irrst Du. Wer hier Landesverrat
treibt, das sagt Dir zur Warnung Hugenbergs Luftkarape, Herr
Wentscher, der sich unheildrauend im ,Lokal-Anzeiger# zu der
peinlichen Enthiillung auBert:
Aber die Sache hat ihre ernstere Seite. Ist zwischen der ,Welt-
buhne' und ihrer ,,Etatskritik" und diesen Linksschlagzeilen noch ein
groBer Unterschied? Dort wie hier wer den keine „Geheimnisse" ver-
raten, aber das Herausposaunen einer nicht vorhandenen Nazi-f)Luft-
Hotte", eines in Bildung begriffenen „Fliegerkorps" ist in unsrer
heutigen Lage dicht am Landesverrat. Die Form ist mafigebend —
und daB wir alle den Schwindel in Genf bei den Abriistungsverhand-
lungen vorgesetzt bekommen werden.
Hier wird also mit zynischer Dreistigkeit gefordert, die
gegen die jWeltbuhne1 so wirksam bewahrte Reichsgerichts-
praxis zu erweitern und jeden Kritiker, der unangenehme
Wahrheiten festzustellen hat, zum Landesverrater zu stempeln.
Der alte Gaunertrick, ,,Haltet den Dieb!" zu rufen, wenn man
auf frischer Tat ertappt wird, wird uns nicht hindern, die
Frage zu stellen, was in Hitlers Fliegerlager vorgeht.
Hitlers Adjutant ist bekanntlich der fruhere Fliegerhaupt-
mann Goering, ubrigens guter Freund des oben zitierten Lan-
desverrats-Sachverstandigen Wentscher. Goering strebt bereits
seit einer Reihe von Jahren nach einer eignen hakenkreuzge-
schmiickten Fliegertruppe. Da das Volumen seines Organi-
sationstalents im umgekehrten Verhaltnis zu dem seiner wohl-
genahrten Erscheinung steht, die fiir diesen Luftadmirai ein
eignes schweres und nach MaB gemachtes Flugzeug erfordert,
so hat er bisher wenig eriolgreich herumdilettiert. In diesem
Jahr ist ihm Jedoch in Herrn Doktor Ziegler ein sehr zielbe-
wufiter Heifer entstanden. iDoktor Ziegler hat sich seine
Sporen bereits als Geschaftsfuhrer bei der vom Reich finan-
zierten Deutschen Verkehrs-Fliegerschule in Braunschweig
und friiher in Berlin verdient. Seine vormarzliche Arbeitgeber-
praxis pradestiniert ihn fiir das Dritte Reich.
Dieser Doktor Ziegler hat vor einigen Monaten den „Na-
tionalen Deutschen Luftfahrtverband" gegriindett ein aus-
schlieBlich nationalsozialistisches Parteiinstrument, Wenn mart
918
weiB, daB bcreits cin Deutscher Luftfahrtverband aus der Vor-
kriegszeit besteht, der zumindest so ..neutral" ist, daB sich
Deutschnationale und nicht allzu aktivistische Hakenkreuzler
darin noch sehr wohl fiihlen konnen, so wundert man sich nicht,
daB seitens der fliegenden heuen Volksbegliicker von ,,Flug-
waffe" und von „Fliegerkorps" geredet wird, Denn nur unter
diesem Motto hat die Neugriindung iiberhaupt einen Sinn.
Die Herren verfiigen iiber reichliche Mittel und sind in der
Lage, sich in kurzer Zeit mit modernen Motorflugzeugen zu
versorgen. Da man sich offenbar doch noch nicht so ganz
sicher vor etwaigem Behordenzugriff fuhlt, so kommen die Ma-
schinen nicht als Verbandseigentum sondern als Privatbesitz
zuverlassiger Hakenkreuzler zur Erscheinung. Aus der offent-
lich gefiihrten amtlichen Flugzeugstammrolle stellt man mit Er-
staunen die Zunahme der privaten Flugzeughalter fest, deren
Vermogenslage den Ahkauf und die Unterhaltung -eines Flug-
zeugs aus privaten Mitteln hochst unwahrscheinlich maqht.
Wenn man weiter konstatiert, daB die in Frage kommenden
Apparate iiberwiegend von einheitlichem Typ sind, was fur
Geschwaderfliige wichtig ist, daB es sogar Privatbesitzer von
drei Flugzeugen gibt, so hat man genug Anhaltspunkte,
Demgegemiber fallt das Dementi der groBen Flugzeug-
Serienbestellung bei Albatros wenig ins Gewicht, Ob Albatros
oder Focke-Wulf — was iibrigens infolge der Fusion beider
Firmen dasselbe ist — , ob BFW oder Kkmm, ob Serienbestel-
lung oder einzelne Privatauftrage — fiir die Offentlichkeit ist
allein ausschlaggebend, daB sich hier etwas vollzieht, was w.eit
iiber propagandist ische Zwecke hinausreicht. Wenn man be-
denkt, was selbst nur eiri Sportflugzeug in der Hand eines enf-
schlossenen Terrorist en bedeutet, so wird man diese bedroh-
Hchen Provokationen nicht leicht nehmen.
Liegt hier wirklich kein AnlaB zum Eingreifen vor? Das
zustandige Ministerium verlautbart:
Das Ministerium hat nicht den geringsten Anhaltspunkt dafiirt
daB die nationalsozialistischen 2usaramenschlufiplane militarischen
Zwecken dienen sollen. Die Reichsregierung wiirde gegen derartige
Plane selbstverstandlich sofort einschreiten.
Gott sei' Dank, du liebes treues Ministerium. Wir wissen,
wie sehr Du um den Schutz der Republik und ihrer Verfassung
bangst, Zwei Beispiele sollen das illustrieren.
Der republikanische Flugverband „Sturmvogel", der sich
art die werktatigen Kreise wendet und eine betont staatstreue
Linie halt, ist vom Reiehswehrminister fiir politisch erklart
worden. Er ist bekannt durch seine eindrucksvollen und
volkstiimlichen Verfassungsfeiern. Das Tragen seines Sport-
abzeichens ist deshalb nach der Notverordnung verboten,
Der Ring der Flieger, eine dem Deutschen Luf tfahrtverband
zugehorige Organisation, die von Herrn Goerings Freund Loer-
zer geleitet wird, darf mit dem Stahlhelm auf s engste zusam-
mengchen, mit Herrn Diisterberg politische Kundgebungen ver-
anstalten, bei seinen Abenden,, die von der Reichswehr be-
sucht und gefordert werdent antirepublikanische Machwerke
verkaufen, die sich iibrigens auch teilweise gegen den Reiehs-
wehrminister selbst richten. Derselbe Herr Loerzer dient auch
919
im Dcutschen Luftfahrtverband als vertrauter Verbindungs-
mann zum Hakenkreuz-Fliegerkorps, das ja die cdle Absicht
verfolgt, die nicht unbetrachtlichen fliegerischen Mittel des
Dcutschen Luftfahrtverbandes durch Majorisierung, also wie-
derum ganz legal, in eignen Besitz zu bringen. Dieser Ring
der Flieger, der keine Verfassungsfeiern veranstaltet, dafur
aber Feste zu Exkaiscrs Geburtstag, ist infolgedessen ganzlich
unpolitisch. Seine Abzeichen diirfen getragen werden.
Es lebe die Republik!
Der Irrtum der Gewerkschaften von Thomas Tarn
Im deutschen Kapitalismus, der in der Kette der hochkapitali-
stischen Staaten das schwachste Glied darstellt, ist in den
letzten Wochen nicht nur eine weitere Vertiefung der Krise
eingetreten, sondern auch das Tempo in der weitern Zuspitzung
hat sich noch verstarkt. Das Unternehmertum hat die einzige
Sorge, daB der Lohnabbau etwas zuriickbleiben konnte hinter
der weitern Vertiefung der Krise; es <begniigt sich daher nicht
mehr damit, einmal die .Lohne der Metailarbeiter, der Ge-
meindearbeiter, der Textil- und Kohlenarbeiter abzubauen,
sondern es verlangt, daB mit einera Schlag die Lohne der ge-
samten Arbeiterschaft gemindert werden sollen. Die neue Not-
verordnung sieht demgemaB einen Lohnabbau vor, der die
Lohne auf den Stand von Anfang 1927 bringen solL Da die
Lohne von Anfang 1925 bis Anfang 1927 nicht gestiegen sind<
so bedeutet das einen Ruckgang auf den Stand von An-
fang 1925. Und da zur Zeit noch eineReihe von Tarif vertragen
laufen, so bedeutet die neue Notverordnung in Wirklichkeit
einen Bruch des Tarifrechts.
Wenn aber die Lohne auf den Stand von Anfang 1925 zu-
riickgesetzt werden, so heiBt das nicht etwaf daB die gesamte
deutsche Arbeiterschaft soviel verdient wie zu diesem Zeit-
punkt, Denii damals waren Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit
minimal; es wurden iibertarifliche Akkordlohne gezahlt. Heute
aber imissen die Gewerkschaften feststelien, daB nur noch die
knappe Halfte ihrer Mitglieder voll beschaftigt ist, daB zirka
55 Prozent arbeitslos oder Kurzarbeiter sind. Das heiBt, der
Lohn der gesamten deutschen Arbeiterklasse wird nach der
neuen Notverordnung weit unter dem Niveau von 1925 stehen.
Und wenn das Institut fur Konjunkturforschung jiingst einmal
feststellte, daB die gesamte deutsche Produktion nicht mehr
groBer ist - als die Produktion um die Jahrhundertwende, so
ist nach dieser Notverordnung von den gesamten Lohnsummen,
die an die Arbeiterschaft gezahlt werden, zu sagen, daB der
deutsche Arbeiter weniger verdient als um 1900.
Angesichts dieser entsetzlichen Lage der deutschen Arbei-
terschaft hatten die Gewerkschaften scharfste Aktionen gegen
eine Methode, den Weg^aus der Krise monopolkapitalistisch
zu organisieren, einleiten miissen. Was aber taten sie in Wirk-
lichkeit? Die Freien Gewerkschaften bemiihten sich bereits
im Wirtschaftsbeirat, eine gemeinsame Erklarung der gesam-
ten Gewerkschaften gegenuber den Unternehmerforderungen
920
durchzusetzen. Das gluckte ihnen nicht. Kurz vor der Not-
verordnung aber brachten sic eine gemeinsame Erklarung der
Freien Gewerkschaften, der Christlichen und der Hirsch-
Dunckerschen fertig. Diese gemeinsame Erklarung ist ein
volliger Bankrott. Sie wagt nicht, zu den wirklichen Ur-
sachen der Krise Stellung zu nehmen, und gefallt sich in Er-
klarungen, die genau so gut in der ,D.A.Z.' stehen konnten. Das
Monopolkapital hat ein entscheidendes Interesse daran, die
Arbeitcrschaft dariiber hinwegzutauschen, daB das kapitali-
stische System der wirkliche Schuldige an der heutigen Krise
ist. Und es tauscht die Arbeiter dariiber hinweg, indem es
ihnen erklart, nicht der Kapitalismus sei an der Krise schuld
sondern der Krieg und seine direkten und indirekten Folgen,
vor allem die Reparationen. Sind erst einmal die MTribute"
beseitigtt braucht Deutschland keine Reparationen mehr zu
zahlen; wird es von der „Young-SklavereiM befreit, dann wiirde
man auch zu einem Wiederanstieg der Wirtschaft kommen
und dann wiirde es auch den Arbeitern besser gehen, DaB
der Degen des Monopolkapitalismus, die nationalsozialistische
Bewegung, so argumentiert, ist klar. Denn diese Verschleie-
rung der wirklichen Krisenursachen ist die einzige ideologische
Waffe gegen die Arbeiterklasse, wenn diese das kapitalistische
System verantwortlich macht.
Was tun aber die Gewerkschaften? Sie nehmen in ihrer
Kundgebung zu den wirklichen Ursachen der Krise iiberhaupt
nicht Stellung, sondern erwahnen nur die Reparationsfrage. Es
heiBt wortlich; „In wenigen Tagen tritt in Basel der Sonder-
ausschuB zur , Begutachtung der wirtschaftlichen Lage Deutsch-
lands zusanimen. Seine Pilicht ist, die Folgerung aus der Er-
kenntnis zu ziehen, daB die Deutschland auferlegten Repara-
tions verpflichtungen eine der wesentlichsten Ursachen fur die
weltwirtschaftlicheri Storungen der Nachkriegszeit geworden
sind. Die Wiederherstellun^ des Vertrauens und der Wieder-
aufbau des internationalen Kredits ist die zentrale wirtschaft-
liche und politische Aufgabe." Damit wird der Arbeiterschaft
Sand in die Augen gestreut und die illusion erweckt, daB nach
Erledigung dieser ,,zentralen, Aufgabe'\ das heiBt naeh Rege-
lung des Reparationsproblemst ein wiederanstieg der deut-
schen Wirtschaft erfolgen wiirde. Und diese Illusion ist urn so
gefahrlicher, als sie den Nazis Wasser auf die Miihle gibt, Denn
in der Parole MBeseitigung der Yoixftg-Sklaverei" konnen die
Gewerkschaften natiirlich nicht mit ihn^h konkurrieren.
Und was hat die Gewerkschaftserklarung sonst noch zu
sagen? Sie wendet sich gegen den volkszersetzenden Bruder-
kampf und verlangt von der Regierung, die ganze Autoritat des
Staates einzusetzen, um zu erreichen, ndaB die innenpoliti-
schen Auseinandersetzungen ausschlieBlich mit geistigen Waf-
fen gefiihrt fwerden '.
Es ist charakteristisch, daB in dieser ganzen Erklarung von
der Lohnsenkung nicht die Rede ist, und daB der Vorsitzende
der Freien Gewerkschaften, Leipart, in einem Brief an den
Reichskanzler, der unmittelbar vor Erlafi d«r Notverordnung
publiziert wurde, nichts andres zu sagen weiB, als daB die Ge-
921
werkschaften die Ve rant wort ung dafur ablehnen. Mit dieser
Redeiisart ist abcr heute nichts mchr zu machcn. Wcnn die
GewerkschaftsHihrung zu kcincr Aktion schrcitet, dann wird
das Monopolkapital durch seine MaBnahmen die Krise noch
weiter vertiefen. Es ergibt sich aus der Notverordnung ganz
cindeutig, daB sie eine Reallohnsenkung bringen wird, denn
die Kartell- wie die Landwirtschaftspreise werden nicht in
entscheidender Weise herabgesetzt werden. Wenn die Ge-
werkschaften sich nicht vollig von Innen heraus aushohlen las-
sen wollen, so werden sie gegen diese Lohnsenkung kampfen
miissen. Die Gewerkschaften haben im letzten Jahr den ge-
ringsten Teil ihrer Einnahmen fur den Kampf verwendet, den
groBten Teil fur die Unterstiitzung ihrer arbeitslosen Mitglie-
der. Aber selbst dieses Band, das bisher noch einen erheb-
lichen Teil der Gewerkschaf tsmitglieder an ihre Organisation
nen fesselte, wird immer briichiger. Die Gewerkschaften sind
die Organisation der Axbeiterschaft, die dazu bestimmt ist, die
Lohn- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitgliedschaft zu verbes-
sern und ihnen auch, wenn sie arbeitslos sind, eine gewisse
Sicherung zu garantieren. Bisher haben die Gewerkschaften
bei ihren Mitgliedern die Lohnherabsetzung damit zu rechtfer-
tigen gesucht, daB es in der Krise nun einmal schlechter ginge
und daB, wenn keine Gewerkschaften vorhanden waren, der
Lohnabbau dann noch starker ware- Wenn sich die Gewerk-
schaften aber vollig aus den Lohnverhandlungen ausschalten
lassen und auch an dieser Stelle nicht kampfen, dann sanktio-
nieren sie ihren eigneti Tod-
In immer breitern Kreisen auch der Gewerkschaftsmitglie-
der wachst die Opposition gegen diese Fiihrung, Es heiBt nurr
die Opposition in die richtigen Bahnen lenken. Es gilt nichtt
wie die Kommunisten es tun, sinnlos Einzelstreiks zu macheh,
bei denen sich nur ein verschwindender Bruchteil der Arbei-
terschaft beteiligt. Damit wird nicht die allgemeine Aktivitat
gef ordert, sondern damit wird den Unternehmern die Moglich-
keit geschaffen, die Betriebe kommunistenrein zu machen. Es
gilt vielmehr, innerhalb der Gewerkschaften in der Richtung zu
arbeiten, daB an Schlusselstellungen der Industrie, das heiBt
an den Stellen, wo der gewerkschaftliche Kampf am ehesten
in den politischen umschlagen kannf Aktionen unternommen
werden, Dann wurde das Monopolkapital spiiren, daB die Ar-
beiterschaft sich nicht mehr mit Proklamationen, mit Briefen
begniigtf sondern daB sie bereit ist, zu kampfen. Und dann gibt
es nur zwei Wege. Entweder der gewerkschaftliche Kampf
gipfelt in den politischen; und die Zeit wird kommen, wo sich
diese Konsequenz ergeben mufi. Oder das Monopolkapital
.weicht zuriick, und damit wurde die Aktivitat der Arbeiter-
klasse eine auBerordentliche Steigerung erfahren. Die Gewerk-
schaften wandten sich in ihrer Erklarung gegen den Krieg im
Innern. Sie wandten sich damit vor allem gegen den
Fascismus. Aber es muB immer wieder betont werdent daB
eine Passivitat gegen den Lohnabbau dem Fascismus weiter
die Wege ebnet. Eine wirklich durchgefiihrte Aktion gegen
den Lohnraub, das ist der beste Kampf gegen den Fascismus-
922
KUflde VOn 1936 von Banns-Erich Kaminski
f iebcr Gesinnungsfreund, nachdem die nationalc Diktatur nun
bald fiinf Jahre am Ruder ist, scheint es mir notwendig, die
Lage einer ekigehenden Priifung zu unterziehen. Das Regime
ist heute gesichert, seine Feinde sind zur Machtlosigkeit ver-
urteilt, Nunmehr erhebt sich die Frage, was geschehen soil,
damit Deutschland aus dem Terror heraus und wieder zu nor-
malen Zustandeii kommt. DaB unsre Plane nicht den Bestand
der Diktatur gefahrden diirfen, versteht sich dabei von selbst.
Wir ha ben in den Tagen der nationalen Revolution gegen
die damals vielleicht unvermeidlichen Gewaltakte protestiert
und vor der gesamten Offentlichkeit feierlich Verwahrung da-
gegen eingelegt DaB unsre Resolution nicht verbreitet wer-
den konnte, war nicht unsre Schuld; da wir alle illegalen Hand-
lungen ablehnen, waren wir nicht imstande, unsre Auffassung
auflerhalb eines kleinen Kreises zur Geltung zu bringen. Spa-
ter haben wir uns auf den Boden der Tatsachen gestellt und
uns der Mehrheit gefiigt, obgleich diese Mehrheit auf eine Art
und Weise zustande kam, die nach der damals noch giiltigen
Verfassung von Weimar gesetzwidrig war. Ich darf also sagen,
daB wir der alten Linken gegeniiber unsre Pflicht getan und
gleichzeitig als loyale Staatsbiirger gehandelt haben,
Niemand kann uns nachsagen, der nationalen Diktatur
jemals Opposition gemacht zu haben. Die Bedenken, die wir
hatten, muBten wir im Interesse von Volk und Staat zuriick-
stellen, getreu dem Wort: ,,Die Herzen der Demokratie sirid
immer dat wo die Fahnen des Landes wehen". DaB in dieser
Fahne das Hakenkreuz steht, konnte uns in unsrer Oberzeugung
nicht wank end machen.
Wir haben die Leistungen der Partei, die jetzt mit dem
Staat identisch ist, stets anerkannt, und wir blicken bewun-
dernd zu dem genialen Fiihrer auf, der Deutschlands Geschick
mit starker Hand leitet. Soweit es uns unter den obwalten-
den Umstanden moglich war, sind wir den boswilligen Ver-
leumdungen der Emigrantenpresse und des Auslandes entgegen-
getreten. Selbstverstandlich sind wir uns daruber klar, daB
die Diktatur an den auBenpolitiscben Verhaltnissen und an den
Folgen der Wirtschaftskrise nichts andern konnte. Die Frage,
ob es uns wenigstens etwas besser gehen wurde, wenn manche
Experimente vermieden worden waren, wollen wir dabei auBer
Acht lassen. Ein Verdienst des Regimes bleibt es in jedem
Fall, das NationalbewuBtsein gehoben zu haben. Der Glaube
an den alten deutschen Gott, die Verehrung des Fiihrers, der
Respekt vor der nationalen Miliz sind volkserzieherische
Werte, die die Mangel unsrer Justiz und Verwaltung reichlich
aufwiegen. In einer Zeit, in der die Ketten des Schandfriedens
von Versailles immer noch auf uns lasten, ist ja die geistige
Wehrhaftigkeit der Nation von allerhochster Bedeutuhg. In
diesem Sinn haben auch wir uns wiederholt zu der heroischen
Weltanschauung bekannt, die heute offiziell ist.
Unzweifelhaft hat der Fiihrer ein System von imponieren-
der GroBe und Geschlossenheit geschaffen. Wer sich mit offe1-
nen Augen umsieht, kann trotzdem nicht verkennen, daB
3 923
Deutschland gegenwartig schwacher ist als je zuvor. AuBen-
politisch sind wir isoliert, unsre Wirtschaft liegt darnieder. Das
Schiimmste aber ist, daB es der Diktatur nicht gelungen ist,
die Einhcit dcr Nation hefzustellen, Ein* groBer Teil dcr In-
telligenz lebt auBer Landes, und die herrschende Disziplin kann
nicht dariiber hinwegtauschen, daB Deutschland in zwei Lager
zerrissen ist. Iixsbesondre die Arbeit erschaft steht dem neuen
Staat ablehnend gcgeniibcr, wenn sie auch zum Schweigcn ver-
urtcilt ist Die Diktatur hat die Opposition unterworfen. Jctzt
kommt cs darauf an, sie zu versohnen.
So hoch ich auch die Fahigkeiten des Fuhrers schatze: daB
er dazu imstande ist, glaube ich nicht. Die Diktatur kann
kerne Zugestandnisse machen, denn dann wiirde sie sich selbst
aufgeben, und iibrigens wiirden auch ihre Gegner niemals in
die zur Versohnung ausgestreckte Hand einschlagen, Deutsch-
land muB aber wieder in ein ruhigeres Fahrwasser, gesteuert
werdenf die Gef angnisse miissen endlich geleert, die Zwangs-
maBnahmen abgebaut werdcn,
Ein offener Kampf gegen das Regime kann fur uns nicht
in Frage kommen. Da er legal nicht moglich ist, miiBten wir
illegale Mittel anwenden. Das wiirde folgerichtig auf die Vor-
bereitung einer Revolution hinauslaufen, die von neuem namen-
loses Ungltick iiber unser Land bringen und alle Errungen-
schaf ten der Diktatur zunichte machen wiirde, Auf gab e ist
also, die Diktatur auf legalem Wege zu normalisieren. Das kann
nur durch die Wiederherstellung der Monarchic geschehen.
Nur als Monarchie vermag Deutschland die Leistungen der
Diktatur zu bewahren und weiter zu entwickeln und gleich-
zeitig ihre Gegner mit dem Staat zu versohnen, Historisch ge-
sehen, ist die Diktatur und erst recht die Person des Diktators
im Leben der Volker doch immer etwas Vergangliches, die
Monarchie dagegen etwas Bleibendes, Der Monarch wird stets
an seine Dynastie denken; schon aus diesem Grunde muB er
auf Popularitat Wert leg en und MaBnahmen vermeiden, die,
wenn nicht gegen ihn selbst, so doch gegen seinen Sohn oder
seinen Enkel ausschlagen konnten, Eine Monarchie ist ohne
ein gewisses Gleichgewicht aller nationalen Krafte uberhaupt
undenkbar, und grade das ist es, was Deutschland braoicht.
Eine Agitation fiir die Wiedereinfiihrung der Monarchie
diirfte in den Kreisen, auf die es allein ankommt, verhaltnis-
maBig geringe Widerstande hervorrufen. Viele bedeutende
Mitglieder der nationalen Partei und sogar der nationalen Re-
gierung sind Monarchisten oder wenigstens keine Gegner der
monarchischen Staatsform. Andre konnte man durch die
Pfriinden und Ehren locken, die die Monarchie ihnen sichern
wiirde. Emporkommlinge atmen gern Hofluft, und auBerdem
wissen diese Leute gaiiz genau, daB sie bei einem gewaltsamen
Ende der Diktatur alles zu verlieren haben. Vielleicht konnte
man den Fiihrer selbst dazu bringen, die Rolle zu iibernehmen,
die Monk in der glorreichen englischen Revolution spielte.
Wer soil nun I^iser werden? Das Andenken der Hohen-
zollern ist unlosbar verkniipft mit der Niederlage Deutsch-
lands im Weltkrieg, sie konnten nur durch einen siegreichen
Krieg rehabilitiert werden, und einen Krieg konnen wir schon
924
a us innerpoiitischen Griinden nicht riskieren. Die Riickkehr
zu den Hohenzollern wiirde fcrner ein Bekeantnis zuin Legiti-
mitatsprinzip bedeuten, man wiirde damit die Rechte aller ehe-
maligen Bundesfiirsten anerkennen. Die : Schwierigkeiten, auf
die eine solche allgemeine Restauration stoBen miiBte, liegen
auf der Hand*
Uber das Legitimitatsprinzip konnen wir jedoch hinweg-
gehen. In den letzten Jahrzehnten ist so viel Legitimes zer-
stort worden, daB sich das deutsche Volk langst daran gewohnt
hat. Am besten ware est wenn der neue Kaiser wie ein Presi-
dent gewahlt werden wiirde. Das wiirde dem Volk schmeicheln
und die Monarchic auf eine demokratische Basis stellen. Wie
man es anstellt, damit ein Plebiszit den gewiinschten Erfolg
hat, haben wir ja unter der nationalen Diktatur gelernt.
Der geeignete Mann fur den Thron nun ist meiner Mei-
nung nach der ehemalige Kronprinz von Bayern. Er entstammt
einem Hause, dessen Angehorige schon im heiligen romischen
Reich die Kaiserkrone getragen haben, ex ist mit samtlichen
Dynastien Europas verwandt, und da er katholisch ist, besitzt
er die besten Beziehungen zum Vatikan und zu den franzosi-
schen Klerikalen. Unter einem Wittelsbacher konnte Deutsch-
land also auf die Unterstiitzung des Papstes rechnen und die
Annaherung an Frankreich erreicheo, die der nationalen Dik-
tatur trotz alien Zugestandnissen nicht gelungen ist. Die Main-
linie wurde durch diese Losung endgultig aufgehoben werden,
besonders Bayern wiirde enger als je ans Reich gebunden wer-
den, selbst die AnschluBfrage Oesterreichs wiirde ein andres
Gesicht erhalten, wenn Deutschland von einem Furs ten regiert
werden wiirde, dessen Vorfahr als Mitglied des Rheinbundes
Napoleons treuester fiundesgenosse war. Die preuBischen Pro-
test ant en wiirden freilich Widerstande erheben, aber sie wiir-
den ihre Bedenken wohl zuriickstellen, wenn ihre ftihrende
Schicht wieder die gleiche Stellung wie iin Hohenzollernreich
erhiclte. Schlimmstenfalls miiBte man eben auch die Wieder-
herstellung des Dreiklassenwahlrechts in Kauf nehmen. Was
schliefilich die bei den Wittelsbachern haufig auftretende Gei-
steskrankheit anbelangt, kann ich darin kein Hindernis fur die
(Jbernahme der Kaiserwurde sehen.
Ja, lieber Freund, wer hatte im Jahre 1931 gedacht, daB
wir heute die Monarchie herbeisehnen wurden! Damals glaub-
ten wir noch an den Bestand der Republik oder waren doch
uberzeugt, d&Q eine Diktatur rasch abwirtschaften und dann
von neuem der Demokratie oder gar dem Bolschewismus Platz
machen miiBte. Die Zeiten haben sich sehr geandert, und unsre
ehemaligen Parteifreunde, die immer noch an den alten Ideen
hangen, werden sagen: wir auch. Vielleicht haben sie nicht
ganz unrecht, Wir wollen uns trotzdem nicht von unserm
Wege abbringen lassen und mit unsrer ganzen Oberzeugungs-
kraft fiir die wittelsbachische Monarchie eintreten, die gleich-
zeitig national, demokratisch und sozial sein wiirde. In diesem
Sinne: Hie gut Wittelsbach allerwege!
In alter Treue
(Die Unter schrift mag sich jeder Leser selbst ausdenken.)
925
Werfel theoretisiert von waither Karsch
Am Biilowplatz, in der Volksbiihne, hat faei der Schnitzlerfeier dcr
^* Dichter Franz Werfel die Jugend der „Hordengesinnung" be-
schuldigt, Dieser Hordengesinnung riickt er in seiner Rede „Realis-
mus und Innerlichkeit" zu Leibe. Sie liegt, bei Zsolnay in Wien er-
schienen, vor: Werfels Beitrag zur Krise unsrer Tage; eine Verteidi-
gung der Innerlichkeit, die das wahrhaft Schopferische im Menschen
sei, gegen die verderbliche Realgesinnung, die an der Katastrophe
dieser. Zeit schuld habe.
Sich in den Werfelschen DenkprozeB einzuarbeiten, stoBt auf
Schwierigkeiten, weil dieser DenkprozeB standig durch die Aus-
schweifungen der dichterischen Phantasie gestort wird. Was seiner
Uberzeugung nach kein Fehler sein mag, da es ja der unintellektuelle
Mensch, der „musische" sein soil, der die neue Welt schaffen wird.
Darum wird Werfel auch die Methode der kritischen Durchleuch-
tung seiner Gedanken mit dem Hinweis abtun: „Der Geist ist so be-
schaffen, daB es unmoglich ist, seine Wahrheiten intellektuell-de-
duktiv zu erfassen" — aber schlieBlich handelt es sich hier nicht um
eine religiose Offenbarung, sondern um den Versuch, das Gesicht
dieser Zeit zu deuten und ihr den Weg in die Zukunft zu weisen, also
um Philosophie, um Kulturphilosophie.
Ich habe gelernt, daB Philosophie da beginnt, wo, wie Simmel
sagt, das Denken „versucht, sich jenseits von Voraussetzungen iiber-
haupt zu stellen". Wohlgemerkt: „versucht", denn „die vollkommene
Voraussetzungslosigkeit ist freilich unerreichbar". Werfel geht aber
mit dieser Einschrankung etwas sehr souveran um: „Wenn das Leben
ein uferloser Strom ist . . ." Wo steht geschrieben, daB das Leben
wirklich ein uferloser Strom ist? Man macht sich die Argumentation
etwas leicht, wenn man mit einer Behauptung beginnt, die anschei-
nend axiomatischen Charakter haben soil. Solange Werfel es also
unterlaBt, die Richtigkeit dieser Voraussetzung zu demonstrieren, muB
es erlaubt sein, die Folgerung stark in Zweifel zu ziehn, wonach „selbst
das erleuchtetste Atom dieses BewuBtseins" (des auf dem Strom
tanzenden GesamtbewuBtseins der Menschen) „sich iiber alles Mog-
liche Meinungen bilden" kann, „nur nicht iiber die Richtung seines
Weges, womit Begriffe wie Fortschritt, Evolution, Entwicklung usw.
erkenntnismaBig erledigt sind". Ein typisches Beispiel fiir die ganze
Rede Werfels. Er versagt, wo es sich nicht darum handelt, Erlebtes,
Gef unites und Visionelles umzuschmelzen zu /einem idichterischen
Gebilde, sondern darum, die Vorgange in der AuBenwelt, die Dinge
und Menschen nicht nur in ihrer innern Realitat zu erfassen, son-
dern diese Realitat auch moglichst obfektiv, ohne Einwirkung des
dichterischen Umformungsprozesses wiederzugeben. Der Dichter iiber -
windet den Philospphen. Der Vorsatz, philosophisch zu denken, schei-
tert an dem standigen Einbruch der Eigenwilligkeit und Eigengesetz-
lichkeit der uneindammbaren kunstlerischen Phantasie.
„Das unmittelbare Verhalten der Menschen zu dem Dinge des
Lebens, die vorurteilsloseste Art seiner Beziehung zur Natur, ungetrtibt
durch religiose, politische und andre Abstraktionen" — diese De-
finition vom Realismus legt er seiner Betrachtung zugrunde, um fest-
zustellen, daB wir trotz aller Realgesinnung in einer vollig irrealen
Welt leben. So sei die Wanderung Mdie realste Art, ein Stuck Welt
kennenzulernen. Die Eisenbahnfahrt entrealisiert die Strecke und
der Flug hebt die Wirklichkeit der uberflogenen Gegend vollig zu
einem filmhaften Schwarz-WeiBeindruck auf" — eine geistreiche
Assoziation, mehr nicht, denn um ein Stuck Welt wirklich kennen-
zulernen, werden wir weiterhin wandern, wahrend Eisenbahn und
Flugzeug uns doch nur schnellstens von einem Ort zum andern brin-
gen sollen, wobei uns das durchfahrene oder iiberflogene Stuck Erde
926
nur sehr wenig interessiert; jcdenfalls es kennenzulernen, ist nicht
der Zweck einer solchen Reise,
Hier wie uberall wehrt sich Werfel gegen den Vorwurf, ein Re-
aktionar zu sein, der etwa „der Postkutsche das Wort" redet. Aber
was ist es denn andres als Reaktion, wenn man den politischen, wirt-
schaftlichen und geistigen Gesamtzustand der Zeit im Vergleich zu
dem vergangener Epochen, etwa des Mittelalters, mit Minus bewertet?
Wenn man zum Beispiel das Endergebnis der in RuBland und
Amerika geplanten Ausschaltung der bauerlichen Kleinwirtschaft nur
unter der Perspektive sieht, daB damit Mder letzte Rest der Erdver-
bundenheit" verschwande und „die Pan-Nomadisierung der Mensch-
heit durchgefiihrt" sei, — der Frage aber, ob dies nicht eine Ver-
besserung der Produktion gewahrleiste, mit dem Hinweis ausweicht:
man konne das nicht tlbeurteilen"? GewiB verlangt keiner von
Werfel bis ins Einzelne gehende nationalokonomische Kenntnisse,
aber die russischen Sozialisierungsplane sind keine Mystik, und man
darf erwarten, dafi jemand, der so scharfe Worte gegen dieses Rufi-
land, gegen den Kommunismus, den „eingeborenen legitimen Sohn des
Kapitalismus", findet, sich wenigstens die Miihe macht, den Sozialis-
mus da zu ergrtinden, wo er sein eigentliches Betatigungsfeld hat:
im Wirtschaftlichen. Statt dessen fallt Werfel iiber gewisse sehr
unsympathische Begleiterscheinungen eines falsch angewandten Kol-
lektivismus her, denen er den Stempel „bolschewistische Eschato-
logie" aufdriickt, urn dann kiihn zwischen der absoluten Gefiihlsleere
des Amerikanismus und diesen Kinderkrankheiten des Bolschewismus
die Parallele zu ziehn. Er verwechselt die Gefahren des Kollektivis*
mus mit seinem wirklichen Sinn. Auch der Gegner oder Halbgegner
der materialistischen Doktrin muB sie vor falschen Deutungen in Schutz
nehmen, wenn er sich mit den Vertretern dieser Doktrin im Ziel
einig weiB, Werfel hangt dem Bolschewismus an, was dem Kapitalis-
mus in seiner letzten Entwicklungsphase eignet, . nur weil der Bol-
schewismus noch mit Schlacken aus der vorbolschewistischen Zeit be-
haftet ist. Er erschwert sich seinen berechtigten Kampf gegen die
Seelenarmlichkeit, in die uns das wirtschaftliche Chaos gefuhrt hat,
indem er Denen, die erst einmal Ordnung in dieses Chaos bringen
wollen und dabei leicht einer Uberschatzung des Wirtschaftlichen ver-
fallen, vorwirft, sie strebten ebenfalls die „Aufopferung des seelischen
Individuums" an. Aber sogar die grauenhafte Anarchie unsres Wirt-
schaftszustandes fiih.lt man sich, paradoxer Weise, veranlafit, in
Schutz zu nehmen, wenn Werfel den Aufstieg der burger lichen Ge-
sellschaft damit verunglimpft, daB er die Schaffung der allein giilti-
gen „Leistungsmorar'f der Moral, wonach nur die Arbeit einen Wert
besitzt, und die Verneinung des „heroisch-ritterIichenM und des „as-
ketisch-religiosen" Ideals als Abreagierung eines „invertierten Min-
derwertigkeitsgeftihls" bezeichnet, das die biirgerliche Gesellschaft
gegeniiber den vergangenen Epochen empfand. Die Herren dieser
Epochen arbeiteten nicht, dafiir waren sie „Kapitalisten an Innerlich-
keit", wie der „Lazzaroni, der auf dem Misthaufen Iiegt und pfeift":
aber hat Werfel nie davon gehort, daB sie von der Arbeit der Andern,
der Namenlosen lebten? Es lafit sich leicht den musischen Dingen
nachgehn, wenn der Bauch keine Sorgen hat. Solange der aber
knurrt, dtirfte dies die einzige Musik seines Besitzers sein. Der
Lazzaroni ist da kein sehr gliickliches Beispiel. Diese falsche Vaga-
bunden- und Arme-Leute-Romantik: mit dem Koder hat man schon
immer versucht, die Besitzlosen zu locken, Wir sind froh, daB diese
endlich zum BewuBtsein ihrer Lage gekommen sind und den Ratten-
fangern der Schicksalsergebenheit, gleich welcher Couleur, nicht
mehr nachlaufen, Es zeugt von bedauerlicher Kurzsichtigkeit, den
Sowjets vorzuwerfen, sie machten ihr ganzes Volk zu „Lohnsklaven*
und boten zum Ersatz ihrer „Partei (einer Art Streikbrechergarde)
927
den Fusel einer Ideologic, die sich nicht von ihrer falschen Mathe-
matik nahrt, sondern vom abgestandenen Pathos langst verrauschter
heroischer Revolutionsepochen". Dafi uns vielleicht wirklich ein „Le-
bensmilitarismus" droht, wie Werfel sagt, ist nicht ganz von der
Hand zu weisen, aber wir wollen doch nicht vergessen, welchem Ziel
dieser Fanatismus „Nur Arbeit, Arbeit um jeden Preis" dient. Auf
dieses Ziel kommt es an.
Werfel hat recht, wenn er den starren Oekonomismus angreift
und zum Beispiel dagegen wettert, dafi dieser die Entstehung des
Christentums „auf die Verelendung der Massen im spatrbmischen
Orient" zuruckfuhrt. Aber er fallt in den entgegengesetzten Fehler,
wenn er alle grofien nistorischen Bewegungen allein aus dem Impuls
der sie entfesselnden Menschen herleitet.
Was will denn nun Werfel an die Stelle des gelasterten Sach-
glaubens, der uns in die vollige Irrealitat gefiihrt habe, setzen? Eine
Frage: ebenso berechtigt wie schwer zu beantworten. Er verkundet
- die ^Revolution des Lebens", die von dem „musischen Menschen" ge-
tragen werde, Sie ist uberhaupt die einzige Revolution, weil sie
„ewig" ist, denn: „Wer sich damit zufrieden gibt, dafi seine Gruppe
zur Macht gelangt, und dann klassen- oder parteimafiig unterkriecht,
der ist ein saturierbarer Interessent, aber kein Revolutionar". Das
hort sich sehr heroisch an, aber es steckt doch etwas sehr Gefahr-
liches dahinter. Hat es doch schon manche Revolution gegeben, die
an ihrer eignen Mafilosigkeit zugrunde ging, weil sie nicht rechtzeitig
liquidiert wurde. Rufiland hat den gegebenen Zeitpunkt abgepafit,
das Frankreich von 1789 nicht, dort frafi die Revolution ihre eignen
Kinder auf. Eine Werfel gegenuber nicht angebrachte Betrachtungs-
weise? Weil seine Revolution ja nicht zu aufierer Macht strebe?
Falsch: jede Revolution will, ganz gleich von welchen Voraussetzun-
gen sie ausgeht, etwas Neues an die Stelle des Alten setzen, und da
jede Revolution alle Lebensgebiete umfafit einschliefilich des poli-
tischen, so ergibt sich notwendigerweise, dafi sie auch im politischen
Sinne die Macht erobert. Man kann deshalb Denen, die nach der
Eroberung der Macht mit dem Aufbau beginnen, nicht Saturierbarkeit
vorwerfen, und es ist Zeichen eines unertraglichen Hochmuts, diesen
Willen zum Aufbau als „Unterkriechen" zu verdachtigen. Der
„ewige" Revolutionar: welch billiges Ideal!
Was ist denn der greifbare Inhalt einer solchen Revolution des
Lebens? Werfel sagt hieriiber so gut wie nichts, wie ja uberhaupt
das Konkrete in erschreckender Weise zu kurz kommt. Nichts ist
daf woran man sich halten, an dem man sich orientieren konnte.
Horen wir seine Grundmaxime: MDas Leben ist ein Bewufitseins-
phanomen und die Dinge, sofern sie von uns wirklich erlebt werden,
sind extraprojizierte Innerlichkeiten*'. Das ist die genaue Umkeh-
rung dessen, was der Materialismus sagt. Nicht die Dinge sind das
Mafi des Menschen, sondern der Mensch ist das Mafi aller Dinge,
nichts ist ohne den Menschen. Einen schlechten Dienst erweist da
Werfel Denen, die mit aller philosophischen Leidenschaftlichkeit
gegen den Oekonomismus der gultigen sozialistischen Theorie an-
rennen, die nachzuweisen bemtiht sind, dafi zwischen Mensch und
Ding Wechselwirkungen bestehen, dafi der Mensch mit seinem Wollen
ebenso abhangig ist von den Zustanden wie die Weiterentwicklung
dieser Zustande abhangig ist von dem sie vorwartstreibenden Wollen
des Menschen, dafi die Einseitigkeit der materialistischen Theorie
schuld ist an ihrem Versagen in der Praxis. Es ist sehr einfach,
einer iiberspitzten These eine ebenso uberspitzte Antithese entgegen-
zusetzen. 1st fur den Vollblut-Materialisten Voraussetzung alien
Glucks das okonomische, so gibt es fiir Werfel „kein anderes Gluck
als das erotische, musische und geistige im weitesten Verstande4'
928
In dem Kampf dieser Extreme wird Der noch zerrieben werden, der
um die Richtigkeit der Synthese weifi.
Werfel wird es erleben, daB er durch seine eigne Schuld im re-
aktionaren Lager endet. Er verkiindet gegen Atheismus Meta-
physik, und stutzt sich dabei au! die katholische Kirche; er reitet
wilde Attacken gegen die moderne Wissenschaft, gegen den Intellekt,
zugunsten einer nur „asthetischen Grundposition" des Menschen; er
sieht als des Menschen eigentliches Lebensgebiet das „im weitesten
Sinne'* „Musikalische" an. Mit einem Wort: er will die Menschen yon
der gewifi zu bekampfenden ausschlietilichen Fixierung auf wirt-
schaftliche Fragen zu sich selbst zuruckfuhren, er vergiBt aber dabei,
daB damit die Sphare der Wirtschaft aus der Realitat nicht entfernt
ist. Sie ist da, sie will beherrscht sein. .
Franz Werfel, die Machtigen dieser Erde haben den Geistigen
immer mit Vergnugen die Welt der Innerlichkeit uberlassen; um so
besser gelang es ihnen, sich die Welt der Wirtschaft unterzuordnen,
Wir wollen in diese Welt einbrechen, sie umformen, mithelien an der
gerechten Giiterverteilung. Die aesthetische Grundposition zu be-
ziehen, heiBt sich um den wilden Kampf, der die Welt in zwei Teile
zerreiBt, driicken, Sie haben es, neulich im Rundfunk, vorgezogen,
Schreibtisch, Bucherschrank und Klavier des Hausherrn wahrend der
Zeit der Aufraumungsarbeiten im Haushalt bedeckt zu Iassen. Es
werde sich erweisen, daB die Kuche um dieser Gegenstande willen
da sei, nicht umgekehrt. Welch materialistische Denkweisef Ist
doch damit gesagt, daB diese Gegenstande nur dann funktionieren,
wenn die Umgebung in Ordnung ist. Das wollten Sie gewifi nicht
behaupten. Was hindert Sie also, vom Schreibtisch, vom Bucher-
schrank, vom Klavier aus mitzuhelfen, daB der Haushalt bald in
Ordnung gebracht werde? Die Kunst sei privat? Sie war es nie,
sie war immer Ausdruck ihrer Zeit, auch die Ihre ist es. Die Zeit
befruchtet die Kunst, und die Kunst . befruchtet die Zeit. DaB der
grdfite Teil unsrer Zeitproduktion einen erschreckenden Mangel an
kunstlerischer Gestalt aufweist, sagt dagegen gar nichts. Wer das
benutzt, um sich auf das „Private" zuruckzubegeben, entzieht sich
selbst den Bod en, auf dem er steht.
Kleiner Seitenhieb von waiter Mehring
A uch Literaten haben heute Sorgcn!
**■ Zum Beispiel solchc:
Ein junger Mann aus gutcm Hausc, der es rasch vom
Sport- zum Theaterkritiker, dann zu pekuniar einfluBreicher
Position in einer berliner Vormittagszeitung gebracht hatte,
geriet durch erne schicksalsreiche Begegnung auf einen gei-
stigen Standard, der ihn zwang, weit iiber seine kritischen
Verhaltnisse zu leben.
Karl Kraus, Schriftsteller, Nestroy- und Offenbachtext-
Bearbeiter, Herausgeber der .Fackel', orthodoxer BuBprediger
gegen die Presse, gegen jedes ihrer Erzeugnisse, gegen jeden
ihrer Vertreter, empfand eine Schwache fiir das junge Mitglied
einer Zeitung, die bis in den Annoncenteil alle von der ,Fak-
kel' so fanatisch verdammten Schonheitsfehler zeigt.
Es ist nur menschJich, daB solche Hterarischen Mesallian-
cen seltsame Kritikfriichte zeitigen miissen.
929
Nicht nur die Grundsatze dcs BuBpredigers, sich jedcr
Pressepropaganda zu enthalten, litt.en darunter, Auch der
Jiinger crlag der Versuchung.
In seinem blinden Eifcr, seinem Mcistcr zu niitzen, be-
gann er nun alles zu bekampfen, was seinem Meister nicht in
den Kram paBte — ■ mit einer Voreingenommenh«itt die der
Meister andern Presse-Sterblichen als Todsiinde angerechnet
hatte.
Das war, traun! ein pathetischer Anfang! Nun wollen wir
mal eine andre Tonart anschlagen! Die Offenbachische, wenns
geht!
Karl Kraus hat zwei Monopole: Nestroy und Offenbach!
Wehe jedem armen Schreiber ohne Jagdschein, der ihm da ins
Gehege kommt! Auf dem Nestroyboden hat sich einmal der
Anton Kuh getummelt! Da hat ihn der Krausjiinger Niirnberg
dabei betroffen und jammerlich verrissen! Das war einZufall!
Und als mich nun Karl Heinz Martin beauftragte, die t1GroB-
herzogin von Gerolstein" fur die Volksbuhne zu renovieren,
da , , . mit einem Wort; ich halte von Zuf alien nichts, und
deshalb teilte ich meine Zufallsbedenken dem ersten Kritiker
der Zwolfuhrzeitung mit! ,,Aber nein!" sagte er. ,,Der Nurnr
berg wird nicht schreiben! Der ist befangen!1' Und das fand
ich sehr loyal!
Und bei der Premiere saB auch richtig der erste Kritiker
im Parkett! Doch er schrieb nicht! Aber am zweiten Abend
saBen in der ersten Reihe nebeneinander der BuBprediger und
sein Jiinger! Dem BuBprediger gefiel meine Bearbeitung
nicht! Das war sein gutes Recht! Der BuBprediger storte
die Vorstellung durch Zurufe auf die Biihne! Das war weni-
ger fein, denn man spielte ja die Arbeit eines Konkurrenten!
Nun spielte der Zufall! Als die Schauspieler mir be-
richteten, daB dem Vor-Bearbeiter meine Bearbeitung zufallig
auffallig miBfiele, da auBerte ich gleich: Eine dumpfe Ahnung
sagt mir, daB die Vorstellung auch dem Jiinger in der Mor-
genkritik miBf alien wird! Also geschah «s!
Es geschah in einer fanatischen, ja man konnte fast mei-
nen: unsachlichen Art, die mit dieser Verleumdung anhob:
Als Bert Brecht vor langerer Zeit nachgewiesen wurde, daB er
in seiner prachtigen Bearbeitung der „Dreigroschenoper" einige Verse
der eingelegten Balladen einer Obersetzung entnommen hatte, brach
ein Sturm los, daB man annehmen mufite, die literarische Welt sei
in ihren Grundfesten erschuttert. Mehring tut doch wohl nichts
andres, wenn man in seiner Bearbeitung hier und da Verse der be-
wahrten Ubersetzung des Julius Hopp findet, Ihm diirfte weniger
geschehen, da er bei weitem nicht so unbeliebt wie Bert Brecht ist, des-
sen hinreiBendes neues Werk: Die heilige Johanna der Schlachthofe
viel eher auf die Buhne des Volkes gehorte als diese salz- und kraft-
lose Offenbachbearbeitung, Aber ein Mann wie Mehring, der doch
sicherlich den Kreisen nahesteht, die damals Brecht so scharf ver-
urteilten, sollte schleunigst daftir sorgen, daB der Name Hopp auf
dem Theaterzettel erscheint, obwohl dann die Gefahr besteht, daB
man den alten Hopp wiederum fiir einige der schlechten Verse des
jungen Mehring verantwortlich macht.
930
Was nicht auszudenken ware!
Zufaliig schloB diese Kritik mit eincr Hymne auf Karl
Kraus,
*
Nun ist dcm Junger noch ein zweiter Freundschaftsdienst
passiert, der wieder kein Freundschaftsdienst ist, namlich:
die Erwahnung Bert Brechts, dessen Fall er kurzweg einen
Fall Mehring nachkonstruiert.
Was aber nicht zugunsten Bert Brechts ausfallt!
Brecht — vom Meister lange tief verachtet, doch kurz-
lich sanktioniert — Brecht hatte die Autoren Villon, Rimbaud,'
Verlaine und ihren Obersetzer, deren Arbeiten er in die eige-
nen eingefiigt hatte, zu nennen vergessen.
Ich habe den Erst-Obersetzer der Offenbachoperette
nicht genannt. Im Klavierauszug steht kein Name! Auf dem
deutschen Libretto steht kein Name! Im Musikkatalog steht
kein Name! Henseler, der die umfangreichste Biographie
Otfenbachs schrieb , nennt keinen Namen! Der deutsche Ver-
leger Offenbachs erklarte, nach Durchsicht der Archive, der
Name des ersten Obersetzers stehe nicht fest und konne nicht
genannt werden!
Ich lieB fiinfzehn Zeilen Chor und Duett, dreieinhalb
Zeilen Rezitativ — die Halbzeilen zusammengerechnet — so,
wie ich sie im Klavierauszug fand! Ich habe keine fremden
Autoren bemuht! Fast alle Lieder schrieb ich neu — die an-
dern iibersetzte ich neu! Und formulierte auf dem Theater-
zettel: ,,Nach dem Franzosischen der Halevy und Meilhac in
freier Bearbeitung mit neuen Gesangstexten . , ." DaB ich
der Handlung eine nque Wendung gab, werden mir Meister
und Junger zugestehen mtissen! DaB ich neue Gesangstexte
schrieb, werden sie nicht leugnen konnen!
Ihre Pietat hat mich herzlich geriihrt! Sie haben zufal-
lig nebeneinander gesessen, und da ist auf mythischem Wege
der bewahrte Hopp voh dem Hirne des einen, der sich immer
sehr anfechtbarer Medien bedient, in den Kopf des andern ge-
drungen. Und dann ist in diesem Kopf der Wunsch ents tan-
den, mich Hopp zu nehmen.
Aber der bewahrte Hopp hat sich gar nicht bewahrt!
Weder als Obersetzer noch als Plagiatsvorwurf!
(Fur Literarhistoriker: Hopp ist der Autor der wiener
Bearbeitung, nicht der im Klavierauszug enthaltenen!)
Lieber Leser, sei mir nicht bose, daB ich Wichtigerem so
viel Platz wegnahm! Ich wehrte nur einen Plagiatsvorwurf
ab, der nichts ist als der Versuch einer frommen Gemein-
schaft, unliebsame Konkurrenten^ madig zu machen. Einer
ulkigen Sekte, die aileinseligmachende Stil-Traktatchen ver-
treibt und iiberali Verleiimdungen verbreitet!
Und die mich einmal in die Verlegenheit brhtgt, die langst
abgetane Affare des Dichters Brecht, dessen Arbeiten ich
aufrichtig schatze, einzubeziehen.
Wenden wir uns wieder gegen die wirklichen Feinde!
931
StH Und Stumpfsinn im Film von Rudolf Arnbeim
P*tir die Beurteilung von Filmen, viclleicht von Kunstwerken
liberkaupt, gibt es eine merkwiirdige Kegel: sckleekte
Filme werdea besser behandelt als gute. Vor dem scbleckten
Film sitzt der Besucker froklick und duldsam, mit einem
imagtnareri Zigarrenstummel im; Mundwinkel; er teilt seine
Aufmerksamkeit zwiscben der Leinwand und seiner Beglei-
terin, und, eingehakt in diese, verlaBt er nach SchluB der
Vorstellung, einen fadenscheinigen Schlager auf den Lippen,
angeregt das Kinoi um den angebrochenen Abend anderswo
zu beenden. Uber den guten Film hingegen sitzt der Be-
sucker im Parkettsessel zu Gericht. Er lackt mir, wenn es
unbedingt sein muB; er miBbilligt es, wenn die Nachbarin ins
Tasckentucb sckluckzt — er miBt mit JakrkundertmaBstaben.
Auf der Leinwand ersckeint der Angeklagtet um den Best en
seiner Zeit genug zu tun, und weke, wenn er den Weltrekord
um ein Bruckteilcken unterbietet. Es ist, als sckimpfte je-
mand vom Funkturm herunter, daB man da oben so bitter
niedrig stande — nur weil der Eiffelturm nock koker ist.
Aber dies Auf- und Absckweben der MaBstabe ist nickt
der einzige Grund fur dast wovon kier die Rede sein solL
Namlick dafiir, daB die gebildeten Leute, wenn sie aus einem
neuen Chaplinfilm, Lubitscbfilm, Russenfilm kommen, den
Mund verzieken und sagen; „Ack, das kennt man ja nun
sckon! Immer dasselbe", Sie sagen das immer dana, wenn
sick die seltene Gelegenkeit bietet, so etwas wie eineh Stil
in der jungen Filmkunst zu konstatieren.
Dies berilbrt sekr merkwiirdig, wenn man bedenkt, daB
bei der Bewertung andrer Kunstwerke vor allem auf die
Stileinkeit geacktet wird. Was man an Rubens, Beetboven,
Knut Hamsun so scbatzt, ist die kervorsteckende Eigenart,
die Gescklossenkeit des Oeuvres, die das Besondre jedes Ein-
zelwerks stark tiberdeckt. Vergleicbt man zwei Mickelan-
gelos, eine Madonna und einen Medizaer, so wird man die
Aknlickkeit der Form auffalliger finden als die Versckieden-
keit des Gegenstandes. Gekt einer ins Konzert, um eine ikm
nock unbekannte Beetboven-Sinfonie zu koren, so wird er
nickts erwarten als ein neues Beispiel einer ikm eng vertrau-
ten Musikform. Gekt er aber ins Kino zu einem neuen
Ckaplinfilm und findet er dort Ckaplin, so ist er enttausckt.
Nun darf man allerdings beim Film eine gewisse Einfor-
migkeit der Mackart, die sick einf ack aus den Materialbedin-
giingen dieser Kunsttecbnik kerleitet, nickt mit sckopferi-
sckem Stil verweckseln. In alien, auck in scbleckten Filmen
findet man eine gewisse Art, eine Szene aus Total- und GroB-
aufnakmen zusammenzusetzen, eine Liedstropke durck Bild-
wandel1 aufzulockern, einen SckoBkund oder ein Telepkon als
episodisckes Handlungsmotiv zu verwenden. Das gesckiekt,
weil es bequem und praktisck ist. Es sind gangige Dolmet-
sckermetkoden fiir die Obersetzung von Wirklickkeit in Film.
Aber diese Formmittel sind so blafi, inkonsequent und ober-
flacklick verwendet, daB sie keinen Stil ergeben. Nur ganz
wenigen Filmkiinstlern ist es bisker gelungen, die Gestaltungs-
932
mdglichkeiten, die der Film bietet, zu ciner eignen „Palette"
zu verdichten, 'Nur dort.finden wir, was der einzige Sinn
jedcs Kunstwerks ist: die Welt von einem bestimmten Ge-
sichtswinkel aus gedeutet, gesichtet, vorgestellt.
Warum mm erregt das Argernis statt Freude? Nun
eben, weil cine so stark und durchgangig formbetonte Arbeit
in der Filmkimst noch etwas sensationell Seltenes, etwas
ganz aus dem Rahmen Fallendes ist. In den iibrigen Kunsten
pflegen auch schkchte un<i mittlere Werke bestimmten Form-
gruppen anzugehoren. Man kann sie danach sortieren. „Eine
miBverstandene Kokoschka-Landschaft mit Picasso -Figuren/*
— „Ein versiiBter Chopin mit Richard-StrauB-Orchester." Die
schlechten Werke sind blasse Abziige, Promenadenmischun-
gen der gut en. Nicht so beim Film, teils weil er noch fast
ganz ohne Formtradition, teils weil er eine so naturnahe
Kunsttechnik ist, Eine Zeichnung, eine literarische Beschrei-
bung oder gar ein Musikstiick muB schon deshalb viel mehr
Form zeigen, weil die Arbeit vom Materia^ nicht vom Ge-
genstand her ihren Ausgang nimmt. Die Photographie eines
Hauses wird zumeist nicht viel mehr bieten, als eben das Ge-
genstandliche; wer aber ein Haus zeichnen will, hat ein lee-
res Papier und einen Bleistift vor sich und muB das Haus mit
Formmitteln, die er zu wahlen hat, schaffen. Deshalb sind
die meisten Durchschnittsfilme nichts als diirftig erzahlte
Geschichten, bei denen sich das Formal e auf die gelaufigen
Handwerkskniffe beschrankt. Und deshalb heben sich die
stilbetonten Filme so verdachtig, so penetrant heraus; als
etwas der Art nach, nicht nur dem Grade nach Andres, Und
man halt leicht fur manieriert, was doch eine natiirliche und
notwendige Eigenart jedes Kunstwerks ist!
Grade in letzter Zeit haben wir ubrigens auch manchmal
typische Epigonenfilme gesehen. Und diese zeigen nun deut-
lich den Unterschied zwischen Manier und Stil. Die Stil-
mittel der GroBen, die der Epigone ubernimmt, wirken in
seiner Arbeit oberflachlich und als Fremdkorper. So etwa
in „Wer nimmt die Liebe ernst?" das Chaplinhiitchen auf
dem Kopf des ganz unchaplinhaften Schauspielers Max Hansen
und einige streng stilisierte, fast choreographische Grotesk-
szenen in diesem sonst naturalistischen Film. In „Der Kon-
greB tanztM ist das Spalier der singenden Menschen von Lu-
bitsch iibernommen und derart ausgespielt, daB es seine Wir-
kung verliert. Hingegen finden wir im HBraven Sunder" ein
Motiv, das aus Feyders flNeuen Herren"und letztlich aus der
Traumszene in Chaplins ,,Kid*' stammt: die fliegenden Engel.
Jedoch steckt dieser Einfall in Kortners Film so organisch, er
folgt so naturlich und richtig aus der Situation und paBt so
in die j.Palette", daB man hier nicht von manieristischer
Nachahmung sprechen kann. Es laBt sich also auch im Film
notwendige Form von bloB entlehnter Form gut unterscheiden.
Deshalb muB gefordert werden, daB man bei den wenigen
wirklich formschaffenden Filmkiinstlern, die wir haben, nicht
fur Monotonie halte, was Stil ist, nicht fur Manier, was
Eigenart ist. Auch bei Chaplin, auch bei den Russen gibt es
933
gelegentlich leere Wiederholungen. In eincr jungen Kunst
schlaft Homer haufiger als in einer alten. Aber man halte
sich nicht an solche Ausnahmen. Man sehe die Monotonie
dort, wo sie wirklich ist: in der physiognomielos, stillos her-
untergedrehten Durchschnittsware der Vergnugungsindustrie.
StfinipSel von Peter Panter
VJ^enns gut geht, wirft sich der Unternehmer in die Brust; sein Ver-
w dienst beruht auf seinem Verdienst, und weil er das Risiko ge-
tragen hat, will er auch den Hauptanteil des Gewinnes fur sich,
Wenns schief geht, sind die Umstande daran schuld. Dann mufi
der Staat einspringen und das Defizit decken, denn Kohlengruben,
Stahlwerke und die Landwirtschaft diirfen nicht Not leiden. Und sie
leiden auch keine Not, weil sie notleidend sind.
Auf alle Falle aber kann der Unternehmer nichts dafiir, er tragt
die Verantwortung, und wir tragen ihn.
*
Um wie viel stiller ginge es in tnanchen Familien zut wenn sich
alle Frauen Manner kaufen konnten!
*
Bei einem franzosischen Zeitungsartikel mufi man sich immer
fragen: „Was will der Mann?" und: „Wcr hat ihn dafiir bezahlt?"
Bei einem deutschen Zeitungsartikel mufi man sich fragen: „Was
verschweigt er?" und: „Wer hat ihn dafiir auf die Schulter geklopft?"
*
Mit dem Tode ist alles aus. Auch der Tod — ?
Neben manchem anderm sondern die Menschen auch Gesprochnes
ab. Man mufi das nicht gar so wichtig nehmen.
*
Kleine Nachricht. Die Ausreisegebiihr aus den hamburger Zucht-
<hausern ist um 40 Mark erhoht worden.
*
Ist es ein Zufall, dafi die Vertreter der wildesten Gewaltlehren,
Nietzsche, Barres, Sorel, keine zwanzig Kniebeugen machen konnten?
Es durfte kein Zufall sein,
*
Schade, dafi es nicht im Himmel einen Schalter gibt, bei dem man
sich erkundigen kann, wie es unten nun wirklich gewesen ist,
*
„Er wufite um die Geheimnisse des Seins ..." solche Wendungen
sollte man auf Gummistempel schneiden und dann verbrennen.
*
Max Liebermann ware auch ohne Hande ein grofier Bankier ge-
worden.
Wenn ein Mann weifi, dafi die Epoche seiner starksten Potenz
nicht die ausschlaggebendste der Weltgeschichte ist — : das ist schon
sehr viel.
*
Er war hochmutig wie der Sohn einer zweiten hamburger Fa-
milie, aber etwas gebildeter.
Dieses Madchen ist hoflich-sinnlich,
*
Der Schriftsteller Fulop -Miller ist grundlich oberflachlich.
•*
Was sagte wohl ein Wirtschaftsfiihrer, wenn wir ihm s einen Be-
trieb so schilderten, wie er ihn zwei Jahre spater im Prozefi schildern
934
wird? Wean wir also sagten: nDu weifit gar nicht, was hier vorgeht,
oder du willst es nicht wissen; urn dich herum wird betrogen; du bist
geistig nicht auf der Hbhe, fast in der Nahe des Paragraphen ein-
undfunfzig; urn dich herum wird bestochen!" Das alles darf aber erst
ausgesprochen werden, wenn der Kerl tausend Unschuldige in seine
Pleite hineingezogen hat*
Es gibt skeptische Arzte und Arzte mit Bart. Oaruber darf man
aber nicht vergessen: es gibt auch skeptische Patienten und solche
mit Bart. Zeileis ist unter anderm ein Wunschbild seiner Kranken.
Bart will Bart.
Kurzer Hinweis auf Zehnsassa von Helmut Kiaffke
Vehnsassa ist ein FuBball, dessen Hauptbeschaftigung darin besteht,
"' sich auszuruhn, wenn nicht mit ihm gespielt wird. Man spielt je-
doch unausgesetzt mit ihm, Er ist, obwohl FuBball von Gebliit, nicht
ohne Zeichen verdrieBender Entartung: sobald die FuBspitzen der
Spieler in sein Leder knallen, empfindet er neben unvermitteltem
korperlichem Schmerz bescheidenes Unbehagen des Verknaultseins,
der richtunglosen Bewegung nach einem Gesetz, das sich aus dem
Gegeneinander verschiedener Willens- und Kraftstarken fiir ihn ergibt;
ja — sein Unbehagen steigert sich zu aufrichtiger Trauer, wenn er —
vielleicht bei einem 1 1-Meter-Schu8 — unverbliimt ins Tor gezielt
wird und nur — wie stets — mit plotzlich von seiner Oberflache nach
innen zusammenstiirzenden Empfindungen hart auf die Kante des
Torpfostens schmettert; er rollt dann blutleer still beiseite und fuhlt
aus ubergroBer Entfernung, wie die Spieler mit gesenkten K op fen zu-
sammentreten und sich ernsthaft fragen, ob er eigentlich fiir das Spiel
tauge, ob man nicht zuviel Hoffnung in ihn gelegt habe oder — diese
Frage jedoch wird schon, ehe man sie stellt, durch entschiedenes
Kopfschutteln verneintt — ob er gar kein FuBball sei? Soviet ist
sicher; man hat noch nie ein Tor mit ihm geschossen,
Sein Leder, urspriinglich adlig glanzend wie gelackt, ist weich
und nur von matter Farbe: er wirkt im ganzen wie ein SaffianfuB-
ball, und da alle seine Nahte, soweit man das von auBen beurteilen
kann, fest sitzen und sogar, wenn man sie gegen das rechte Licht
halt, wie frisch gewachst leuchten, gibt man alle Bedenken auf und
spielt weiter.
Zehnsassa steht still mit eingebogenen Knien, darait er nicht nach
Anpfiff unerwartet aus senkrechter Haltung gehoben werde — er ist
entartet, aber gleichermaBen wie. sein Leder weicher und empfind-
licher wird und die* Enden seines naturgemaB ungeahnten Nerven-
systems sich freilegen, erstarkt sein Wille und seine Klugheit im
Kleinen: er weiB schliefilich einen Unterschied zu machen, ob der
Stiefel, weicher ihn schiefit, frisch gewichst oder vernachlassigt ist,
und an wiederholten Beobachtungen solcher 'Art wird er, da ihm die
blankgeputzten Stiefel bisweilen in der Mehrzahl scheinen, infolge
der sich daraus ergebenden moralischen Befriedigung zu einem erfreu-
lichen Lebensbejaher.
tfbrige Anmerkung: Zehnsassas Alter und Tod betretfend
Sie halt en ihn fiir jung. Verglichen Sie aber die Entfernung
jener von ihrem Tode, welche sich alt nennen, mit seiner Entfernung
von seinem Tode, so konnte vielleicht gesagt werden: er ist der Alte-
sten einer. Es ist moglich, daB er sich einmal das Leben nehmen
wird, und ich glaube nicht, daB er dazu sehr viel uberwinden muB:
was an Lebenshoffnungen verloren scheint, kehrt als Todeshoffnung
wieder; er gleitet leise in einen Zustand hinein, aus dem heraus der
Tod sein letztes Gliick bedeutet,
935
SctlUltheifi-KuliSSen von Rolf Horney
W/enn. ein Kaufmann bunder tt a usend Mark verlorcn -hat und
seinem stillen Teilhaber (oder Glaubiger gefalscbte Bilanzen
vorlegt, so bemiiht man sich, diesen Tatbestand fcstzustellen,
der Mann verschwindet aui einige Zeit hinter SchloB und Rie-
gel, und die Sache ist erledigt. Geschieht genau dasselbe in
dcr Prcislagc von zchn Millionen Mark aufwarts, in der die
stillen Teilhaber Aktionare heiBen, so ist das eine Affare. Eine
Affare aber ist langst nicht in erster Linie juristischer Tat-
bestand, Vor allem andern ist sie Kampfobjekt. Ein Akt des
Wirt sch aft skampfes oder auch der Politik ist schon ihre Auf-
deckung, wenn es sich nicht grade um schlechterdings unver-
meidlich gewordene Riesenzusammenbriiche handelt, wie bei
der Frankfurter Allgemeinen Versicherung und beim Nord-
wolle-Konzern. In dem frankfurter ProzeB gegen die Favag-
Direktoren bemiiht man sich nun schon seit Woe hen, mit einem
Zeugenaufmarsch der Hereingefallenen und Blamierten die
Jahre zuriickliegenden Vorgange zu durchleuchten, und das ein-
zige Licht, das dem ermiideten Zeitungsleser dabei auf gehen
konnte, ist die Feststellung, daB offenbar alle Beteiligten be-
miiht sind, das Interesse in einer Wolke von Material und
Langerweile zu ersticken. Ganz anders aber liegen die Dinge
im SchultheiB-Fall.
iDie SchultheiB-Brauerei ist nicht zusammengebrochen, EHe
Glaubiger, die bei den Krachs in Frankfurt und in Bremen urn
riesige Million ensumm en geschadigt worden sind, verlieren bei
SchuIiheiB nicht einen Pfennig. EHe Aktionare behalten ihr
Unternebmen — ein Unternehmen, das um teinen imposanten
achtstelligen Betrag armer ist, als man ihnen in Bilanzen und
Prospekten gesagt hat, das aber die phantastische Kraft und
Rentabilitat besitzt, diesen AderlaB verhaltnismaBig gesund zu
uberstehen. Die f aulen Posten werden abgeschrieben, die Schul-
den langsam abgedeckt, kurz -die Dinge gehen den Weg, den
sie gehen muBten, und der im Oktober auch schon hatte be-
schritten -werden -konnen, wenn man die Bereinigung so schnell
und entschlossen in die Hand genommen hatte wie in Fallen,
die man nicht zur ,, Affare" hat werden lassen, Aiber nicht
der Zusammenbruch der Frankfurter Allgemeinen, der erste
groBe Aktienskandal in der Serie, nicht das betrugerische
Debakel des bremer Nazi-Finanziers Lahusen, der groBte und
krasseste Fall, -ward die Sensationsaffare dieser Krise sondern
ScrmltheiB, der am wenigsten folgenschwere Vorgang. Hier
hat das Gegen einander der Beteiligten fur Spannung und Auf-
ma cluing gesorgt, und hier stent im Mittelpunkt ein Mann mit
dem einpragsamen und des Natior.alsozialismus nicht verdach-
tigen Namen Katzenellenbogen, der nooh dazu mit einer Schau-
spielerin verheiratet ist und das Bolschewiken-Theater Pisca-
tors finanziert hat.
Was bei SchultheiB vor sich ging und noch vor sich geht,
ist in Wahrheit eine Sehlacht in dem groBen Kampf unter den
deutschen GroBbanken, und nach dem Wunsche der Angreifer
soil es die letzte und entscheidende Sehlacht sein. Um die
936
SchultheiB-Affare als das verstehen zu konnen, was sie ist — in
erster Lime als ein Stuck aus der Geschichte der deutschen
Hochfinanz und erst in letzter als ein Kriminalfall — muB man
etwas zuriickgreifen. Jahrelang jag ten die Deutsche Bank,
schon in der Vorkriegszeit die groBte der GroBbanken, und
die erst nach dem Kriege aus der Fusion der Darmstadter
Bank mit der Nationalbank ebenbiirtig gewordene Danatbank
einander die Geschafte ab. Manche Industrie-Kombination
dankt ihr Zustandekommen oder ihr Scheitern dem Wettlauf
der beiden Banken oder ihrer Unfahigkeit zur Zusammenarbeit,
Als die Danatbank unter der ehrgeizigen und ideenreichen
Fuhrung des verhaltnismaBig jungen Jacob Goldschmidt sich
in den Vordergrund gespielt hatte, erfolgte der groBe Schlag
der Deutschen Bank, die Fusion mit der Disconto-Gesellschaft,
die ihr die Hegemonie in der deutschen Finanz sicherte.
Mit dem 13. Juni dieses Jahres wendete sich das Kriegs-
gKick. Die Danatbank und Goldschmidt lagen am Boden, aber sie •
lebten noch und machten Versuche, sich wieder zu erheben.
Mit Hilfe eines Indus triekonsorti urns suchte der zahe Gold-
schmidt ihr eine neue Arbeitsbasis zu geben, allerdings nicht
ohne Vorfinanzierung durch das Reich. Endlich schien die
rettende Aktion vor dem AbschluB, da kam ein neuer StoB
gegen das Prestige ihres Urhebers: die SchultheiB-Affare.
*
Das schien noch einmal die groBe Gelegenheit. Es stellte
sich heraus, daB die SchultheiB-Direktion an der Borse eigne
Aktien hatte aufkaufen lassen und die Engagements in den
Bilanzen und Berichten verschwiegen hatte. So etwas war
anderwarts zwar auch schon vorgekommen, aber bei Schult-
heiB waren die Kaufe ^>esonders groB und besonders teuer ge-
wesen. Es lag ein Verlust von runden dreiBig Millionen auf
dem Geschaft, und zudem hatte man es nicht nur der Offent-
iichkeit sondern atich dem eignen Aufsichtsrat verheimlicht.
Vor allem aber waren die Kaufe durch die Danatbank und
die Commerzbank erfolgt, wahrend die Deutsche Bank un-
beteiligt war. Die Vertreter der an den Kaufen beteiligten
Banken hatten gleichfalls im Aufsichtsrat geschwiegen, in dem
anscheinend iiberhaupt nicht viel gesprochen worden istf und
nun konnte es losgehen. Die Pressestelle der Deutschen Bank,
hier einmal Presseabwehrkanone genannt, bekam Offensiv-
order. Stuckweise, iiber Tage verteilt, tauchten Informationen
iiber die Vorgange bei SchuitheiB in der Presse auf. Die
Handelspresse wurd-e zum Hilfsdienst gezwungen, Der Jour-
nalist muB bringen, was man ihm gibt, sonst hat es die Kon-
kurrenz; macht er nicht mit, so schadet er sich, ohne Jeman-
dem zu niitzen. Als der Aufsichtsrat von SchuitheiB zusam-
mentrat, waren nicht nur aus Katzenellenbogen sondern auch
aus den Vertretern der Danatbank und der Commerzbank im
Aufsichtsrat schon Angeklagte, aus dem Fall die Affare ge-
worden. Der Weg zu einer schnellen sachlichen und perso-
nellen Bereinigung war veriest, erst muBte untersucht wer-
den, und unter dem Druck der allgemeinen Stimmung konnte
Herr von StauB, der Vertreter der Deutschen Bank, einen
937
PrufungsausschuB durchsetzen, in dem unter drci Hcrren
auch der Notar der meisten bei d«r Deutschen Bank abgehal-
tenen Generalversammlungen, Justizrat Meidinger, saB. Wer-
dcn politische Wahlen auf ahnliche Wcisc gemacht, so nennt
man sie seit Biilow Hottentottenwahien. Wenn man bei
SchultheiB vom Hottentotten-Ausschufi spricht, so soil damit
also weder die Reinrassigkeit noch der Glaube der drei Her-
ren an ihre eigne Obj ektivitat angezweif elt werden.
Erst nach ihrer Wahl jedoch rundete sich das BUd der
Affare. Es st elite sich heraus, daB noch groBere Verluste als
auf den Aktiengeschaften mit <der Danat- und der Commerz-
Bank in der jahrelang falsch aufgestellten Bilanz der Ostwerke
lagen, einer erst vor kurzem mit SchultheiB fusionierten Kon-
zerngesellschaft; und im Aufsichtsrat der Ostwerke hat zwar
nicht Herr Goldschmidt gesessen, wohl aber Herr von StauB,
In diese Bilanz hatte man rund 20 Millionen, Mark Bankgut-
haben hineingefalscht, und der zweite Vorsitzende des Auf^
sichtsrates, der Bankdirektor von StauB, scheint nie gefragt
zu haben, wo diese Bankguthaben lagen, obwohl bei seiner
Bank nur einige lumpige Hunderttausend Mark standem. Hat
der Deutschen Bank an den Millionen nichts gelegen? Das
ist mehr als die Polizei wad jedenfalls mehr als eine Bank-
direktion einem ihrer Mitglieder erlauben sollte. Herrn Gold-
schmidt wurde mit Recht vorgeworfen, daB er im SchultheiB-
Aufsichtsrat nach der Fusion mit den Ostwerken nicht fest-
gestellt habe, wie weit die durch seine Bank vorgenommenen
Aktienkaufe die Gesellschaft belasten und wie weit sie auf
Rechnung angeblich andrer Konsorten, also praktisch Katzen-
eLlenbogens, gingen. Ober diese Kaufe aber wurde laufend an
der Borse gesprochen und in der Handelspresse berichtet. Be,i
der (Deutschen Bank hat man sich jedoch gleichfalls nicht da-
fur interessiert, fiir wen gekauft wurde, obwohl bei ihr Katzen-
ellenbogen schon mehrere Millionen Schulden hatte. Der Ver-
dacht, daB die Gesellschaft mit Stutzungen zu stark belastet
wercle, muBte hier also mindestens so nahe liegen wie bei der
Konkurrenz. Diese Schulden Katzenellenbogens bei der Deut-
schen Bank sind dann auf eine Tochter gesellschaft von Schult-
heiB uibertragen worden, und Herr von StauB hat das Pech, daB
die Staatsanwaltschaft grade diesen bei der Deutschen Bank
durchgefuhrten und ihm als einzigem Mitglied des Aufsichts-
rats bekannten Akt zum Hauptgegenstand der Anklage gegen
Katzenellenbogen gemacht hat. Die Danat- <und die Commerz-
bank haben versaumt, fiir die Aufnahme der von ihnen durch-
gefuhrten Aktiengeschafte in einen Barsenprospekt zu sorgen,
und werden fur diese Schluderei vielleicht zahlen miissen. von
Herrn von StauB aber liegt eine Aktennotiz vor, nach der
ein Abkommen zwischen ihm und Katzenellenbogen mit der
ausgesprochenen Absicht getroffen worden ist, eine Burgschaft
nicht in diesen Prospekt zu bringen. Es ist etwas viel Pech in
einer Sache, die man als Triumphator begonnen hat.
Inzwischen hat der „Hottentotten-AusschuBM berichtet, Er
gcht scharf zu Gericht mit Katzenellenbogen und der Direktion,
und was er iiber die Art sagt, in der hier Geschaf te gemacht
und bilanziert wurden, soil ten sich eine ganze Reihe von In-
938
dustriefiihrern hinter die Ohren schreiben. Er sagt iiber die
Danatbank dieses und jenes, darunter auch einiges Unsinnige.
So heiBt es, d'afi eine formale Umwandlung des Aktiengeschafts
zu Anfang des Jahres 1931 seiner Verheimlichung dienen sollte,
obwohl die Bilanz, in der es verheimlicht worden ist, damals
langst veroffentlicht war. Die Deutsche Bank dagegen wird
entlastet. Das geht nicht ohne eine Exculpierung Katzenellen-
bogens wegen der Obertragung seiner Schulden bei der Deut-
s'cben Bank auf die Effektenkonsortium-G.< m, b. H.f in der
Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter eine aktienrecht-
liche Untreue sehen wollen. Der ProzeB wird entscheiden, aber
der AusschuB geht auch hier bis zum offenbaren Unsinn. Bei
einem Aktienverkauf Katzenellenbogens an die Effektenkon-
sortium-G. m. b. H., der zu 200 Prozent eriolgt ist, als der Kurs
170 stand, macht man — das ist in. dem veroffentlichten Aus-
zug aus dem Bericht nicht enthalten — eine Obertragung unter
dem Tageskurs. Wie das moglich ist? Man faBt den Verkauf
einfach mit einer friiheren Obertragung im Tausch gegen
G, m. b. H,-Anteile zusammen, einen gar nicht vergleichbaren
Vorgang, und rechnet so einen angeblichen „Durchschnittskurs"
yon 150 aus. Hatte man das in den Presseauszug aufgenom-
men, so ware der Lacherfolg sicher gewesen.
Das ist heute der Stand der „Affare". Der ProzeB Katzen-
elienbogen wird der nachste Kampfschauplatz sein.
Heiliger Abend von Erich Kastner
Canft und leise
**" sinken die Preise.
Es tut kaum weh.
Es sinken die Ldhne.
Nun sinkt auch der schone
weifie Schnee.
Das Fallen der Preise und Lohne erzeugt
Gerausche, die etwas storen.
Und wer sich nachts aus dem Fenster beugt,
Kann die Miete fallen horen.
Die Schuldner schweigen.
Die Schulden steigen.
Das Geld wird alt.
Es kann kaum noch laufen.
Was soil ich dir kaufen
bei diesem Gehalt?
Kein Christbaum brennt im Hinterhaus,
Gib mir die Hand!
Mein liebes Kind, das. Geld stirbt aus.
Vater hats noch gekannt,
Schau doch mal in die Kammer hinuber.
Der Junge schreit.
O du frohliche, o du selige
schadenbringende Weihnachtszeit 1
939
Bemerkungen
Basel
C\ as empf inde ich jedesmal,
*^_ wenn ich durch Basel komme,
aber es hat noch keiner geschrie-
ben . . . keiner.
Der vollkommene Wahnwitz
des Krieges muB doch jedem auf-
gegangen sein, der da etwa im
Jahre 1917 auf diesem Bahnhof
gestanden hat. Da klirrten die
Fensterscheiben; da murrten die
Kanonen des Krieges heriiber ;
wenn du aber auf diesem Bahn-
hof einem Beamten auf den FuB
tratest, dann kamst du ins Kitt-
chen. Hier durftest du nicht.
Dort muBtest du. Und wer dieses
Murren der Kanonen horte, der
wuCte: da morden sie. Da schla-
gen sie sich tot. Ein halbes
Stundchen weiter — da tobte der
Mord. Hier nicht. Das hat kei-
ner geschrieben, merkwiirdig,
Ich weifi ja nicht, wie sie das
gemacht haben, dafi die Kugeln
der beiderseitigen Vaterlander
nicht auf schweizer Gebiet abge-
irrt sind, und manchmal sind sie
ja wohl, und wenn ich nicht irre,
hat es auch dadurch auf
schweizer Seite einen Toten ge-
geben oder zwei. Es steht da von
dem groBen englischen Grotesk-
Zeichner W. Heath Robinson in
„Some Frightful War Pictures'*
ein grandioses Blatt: (tEin
schweizer Schafer sieht einer
Schlacht an der Grenze zu," Da
sitzt also der Schafer inmitten
seiner Bahbah-Schafe und raucht
eine Friedenspfeife, hinter sich
hat er einen Topf mit schweizer
Milch stehn, und auf dem benach-
barten Berge steht eine Sennerin
mit etwas Ziege, und ein kleiner
Mann jodelt Noten in die Luft . . .
Die Grenze aber ist ein scharfer,
punktierter Strich. Und hinter
dieser Grenze, da gehn sie auf-
einander los, die Deutschen und
die Englander, immer ganz genau
an der Grenze entlang, und selbst
die heruntergefallenen Mutzen
bleiben artig im Kriegsgebiet lie-
gen und oben am Himmel ist ein
wildes Gewimmel von Zepps und
Flugzeugen, aber immer hiibsch
an der Wand lang und keinen
Millimeter druber. Und der Scha-
fer raucht.
So ahnlich wird es ja wohl ge-
wesen sein.
Schade, daB das keiner ge-
schrieben hat. Dieses Grausen,
dieses Herzklopfen auf der einen
Seite — und die strenge Absper-
rung auf der andern . . . nichts ist
ja schrecklicher, als eine Mordtat
zu horen, die man nicht sehn
kann. Und an diesen Wahnwitz
denke ich immer, wenn ich auf
dem Bahnhof zu Basel stehe.
Ignaz Wrobe!
Der dsterreichische Remarque
Tinte vergieBt das Volk
Stromweise noch immer umsonst.
Zahllos mehren sich Biicher,
Die scbon im Druck sich erdrucken,
Diesen alten Vers braucht man
nicht als Abwehr gegen die Flut
bedruckten Papiers zu zitieren,
wenn man wieder ein gutes Anti-
Kriegsbuch vor sich hat. Dieses
hier heiBt: Der Marsch ins Chaos
(bei Hans Epstein und im Pha-
donverlag, Wien). Sein Verfasser
ist Josef Hofbauer, der Heraus-
Zur Erholung und xum Wintersport in dieTatra
Pauschalfahrt incl. Reise hin und zurllck, voile Pension (erst-
klass. KUche, alle Zimmer flieflend kaltes und warmes Wasser),
Bedienung, Sporttaxe, zwei halbtagige SchlittenausflUge, unent-
geltliche Skikurse.
Ab Berlin 14 Tage 165.-, 20 Tage 200.-.
Ab Breslau 14 Tage 132.—, 20 Tage 165.—.
Auskunft fUr Berlin Pfalzburg 7657, sonst direkt.
HAUS GODAL, LUBOCHNA, TATRA
940
geber der .Tribune', Prag, des Mo-
natsorgans der deutschen Sozial-
demokraten in der Tschechoslo-
wakei. Dieser deutsch-oster-
reichische Einschlag macht sich
9chon dadurch bemerkbar, daB
der Verfasser nicht nach deutsch-
preuBischem Rezept alles , was
deutsch heiBt, uber alles in der
Welt stellt, So, wenn er lobend
beim Einbruch in ein italienisches
Dorf berichtet, daB fast in jedem
Hause eine Danteausgabe zu fin-
den .war. Die Kameraden des
Kaufmanns und Landsturmmannes
Dorniger, der im Mittelpunkt der
Geschehnisse steht, wtinderten
sich daruber, denn „Gab es ein
deutsches Dorf, in dem jedes Haus
Bucher der grofien deutschen
Dichter barg?"
Wenn man an Frontbticher den
MaOstab anlegt, daB recht oft
ein derbes Wort darin vorkommt,
so genugt dieser dsterreichische
Remarque nicht ganz alien in die-
ser Richtung verwohnten An-
spriichen. Einmal, als dem Ur-
lauber sein Turnvereins-Heimkrie-
ger die ubliche patriotische Pre-
digt halt, schreit ihn der Gequalte
an: Leckmiamarsch.
Es ist gut, daB das Buch jetzt
nicht in Deutschland erschienen
ist, denn sonst wurde der so
schwarmerisch gefeierte kulturelle
AnschluC unter der Einwirkung
der etwa tausendsten Notverord-
nung Brtinings zu dem KurzschluB
eines Verbots gefiihrt haben. So
despektierlich spricht dieser Hof-
bauer uber alles, was dem Deut-
schen Religion sein sollte: uber
den Patriotismus. Dornigers Frau
sagt das kiirzer: „Die Politik
macht die Leute blbd'\
Sonst ist alles so gediegen er-
zahlt wie in andern erlebten
Btichern gegen den Krieg. Hier
noch kompliziert durch den Na-
tionalitatensalat aus des ver-
krachten habsburger Kaisers
MLandergeschaft".
Bemerkenswert ist der Epilog,
der einen Schriftsteller mit dich-
terischen Qualitaten verrat. Man
sollte meinen, daB ein intellek-
tueller Beamter einer Partei als
sogenannten Helden eine Gestalt
zeichnen wurde, die in die Partei -
farbe echt eingefarbt ist. Das tut
Hofbauer nicht. Er zeichnet den
Normalbiirger. Sein Dorniger ist
ein einfacher Mensch. Unter dem
vielfachen Atmospharendruck des
Krieges wird er zwar wilder Anti-
militarist und beinahe knallrot,
Als er aber nach zehn Jahren
wohlsituierter Prokurist gewor-
den ist, denkt er mit steigender
Genugtuung daran zuriick, wie er
die ,,Katzelmacher" besiegt hatte.
Auf der StraBe marschiert zwar
tschechisches Militar „Grad so
wie damals, nur die Gewehre tra-
gen sie anders . . ."
DaB aber der Verfasser diesen
so lebenswahren SchluB nicht aus
seiner Seele geschrieben hat und
doch dadurch seine Seele verrat,
grade das macht ihn zum Ktinst-
ler und nicht bloB zu ein em Li-
teraten, der Schriftsteller ist, weil
er eine Schrift zusammenstellt
Otto Lekmann-RuBbiildi
Die Attrappe
Tn den Schaufenstern der Kondi-
* toreien gedeiht die unverderb-
liche Ware, Der Strohhalm steckt
tief bis zum Hals in der brau-
nen Eisschokolade, und die
Schlagsahne quillt weifi uber den
Rand. Man fiirchtet, sie muBte
am glitzernden Becher entlang
ins UntertaBchen hinabtraufeln,
aber sie steht treu und fest wie
die Wacht am Rhein in antiqua-
rischen' Schullesebiichern. Sie
stiirzt also nicht in den Abgrund.
Und die von Feuchtigkeit und
Frische strotzende Mandelcreme-
NIU!
MAX ERMERS
VICTOR ADLER
AUFSTIE6 UND GROSSE EINER
SOZIALISTISCHEN PARTEI
VERLA6 DR. H. EPSTEIN 380 Selten Kart. M 5.75, Lelnen M 7.25
941
torte, lockt schon scit vicrzehn
Tagen unter Glas in der Sonne,
aber sie schmilzt nicht. Und auch
der grofie Schokoladenberg mit
dem ewigen Schnee glanzt fett,
seine treue braune Haut lacht
uns an, in der geftillten Tasse
funkelt der Milchkaffee, er zieht
keine Haut, krauselt sich nicht,
die ewige Jugend ist im Schau-
fenster ausgebrochen. In der
Ecke fur unsre lieben Kleinen,
sofern sie sauber und aus „gu-
tem Hause" sind, glitzert das
Knusperhauschen vor lauter eitel
Marzipan und Zucker, gelbe
Creme schaumt im unverwelk-
baren Blatterteig, die Phantasi<e
zaubert Mokkaduft und Back
stubenwarme in die Nase. Wir
riechen die Attrappe nicht, der
Tragant bleibt nicht in unsren
Zahnen kleben, das Glyzerin,
mit dem diese Konditorkunst uns
prellt, traufelt echte Tranen der
Ruhrung in unsre Augen, Grobe
Tauschung mit Stearin kodert
den Gaumeri, die giftfreie Farbe,
rait der zu einem imaginaren Ge-
burtstag ein „Herzlicher Gltick-
wunsch" aufgespritztf ist, bleibt
frisch und neu auf dem Papier-
macheteig des Gebur tstags -
kuchens.
Die republikanische Hofkondi-
torei hat in sinniger Weise zur
Eroffnung der parlamentarischen
Notsaison ein in Backerkreisen
vielfach bewundertes Modell des
Reichstagsgebaudes in ihrem
Schaufenster ausgestellt. Die
Aufschrift ,,Dem deutschen
Volke" ist in der oben schon
erwahnten giftfreien Farbe ange-
bracht und macht einen durch-
aus wurdigen Eindruck. Der
Reichstag selbst ist ein mit Mar-
zipan tiberzogenes, durch Draht
zusammengehaltenes Gestell aus
Pappe mit bengalischer Fenster-
beleuchtung, und der republika-
nischen Hofkonditorei mu6
durchaus attestiert werden, dafi
ihre Imitation der Naturtreue
verbliiffend nahekommt. In- und
auslandischen Fachmannern
diirfte die Verwendung von
Blechformen auf Wunsch gerne
eingehender erlautert werden.
AuBerordentlich sinnig beriihren
auch die aus Gummi hergestell-
ten Figuren der in den Reichstag
stromenden Abgeordneten, kleine
putzige Mannchen, die ebenfalls
einen tauschend echten Eindruck
hervorrufen. Uberhaupt der gauze
Reichstag, bei dem auch noch
an Stearin und Glyzerin in kei-
ner Weise gespart wurde, bietet
in dieser erschutternd lebens-
echten Wiedergabe eine fiir alle
Zuckerbacker erstrebenswerte
Schaufensterauslage und diirfte
bestimmt unter den Attrappen
dieses Jahrhunderts eine euro-
paische Sensation werden.
Friedrich Raff
Schmock definiert
DewuBt oder unbewufit, gewollt
*-* oder ungewollt, liegt alien
reprasentativen Kampfen deut-
scher und franzosischer Teams
ein gewisses „Etwas" zugrunde,
das jeder fiihlt, ein Fluidum,
dessen Charakteristikum eben
sein Vorhandensein ist.
,12-Uhr-Blatf.
12, November 1931
Leisetreteit verbietet sich
wo kommende Generationen uns verachten muBten, wiirden wir nicht mit
aller CTeberzeugung zum Ausdruck bringen, dafl wir
die B6 Yin Rd-Biicher
fur das menschheitswichtigste literarische Dokument unserer Zeit halten,
B6 Yin R& J, Schneiderfranken lebt selbst in stillster Zuriickgezogenheit,
was aber nicht hindert, dafi seine Biicher (auch bereits in mehrere Sprachen
ubersetzt) liber die ganze Welt hin unzahlige Schiiler fanden.
Naheres sagt die kostenfrei erhaltliche SchrHt von Dr. jur. Alfred
Kober-Staehelin : „Weshalb B6 Yin Ra?" Kober'sche Verlagsbuchhandlung
(gegr. 1816) Basel-Leipzig,
942
Staatenrelgen
vor dem Weihnachtsbaum
Deutschland:
Wir aind das klassitche Land der Not.
Wir stehen auf Du und Du mit dem Tod.
Die Notverordnunff 1st unser Panier,
Denn die Not wie die Ordnun; kennt keiner
wie wir.
Deutsth-Oesterreich :
Stets beffinnt bei una der Rutsch,
Krforerisch oder friedlich.
1st der Anschlufi heut auch futsch,
Stirbt sich* doch gemutlich.
It alien:
Wir sind der Schwachea Protektoren
Und kampfen fur der Armen Wohl,
Fur die, die Geld und Land verioren t
Doch schweigt beim Thema: Sudtirol.
Spanien:
Wir haben — ohne Kriey — gelernt,
Wie man die Monarchic entfernt.
Jetzt lafit una schutzen unser Land
Vor ichlauer Jesuiten Hand.
Frankreieh:
Gewpnnener Krie?, geatapeltes Gold,
Wir' stehn doch auf tonernen Fufien.
A brushing, welche wir immer gewollt,
Lafit nach nSicherheita erst uns beschltefien.
England:
bt die Winning1 nicht normal,
Dana regiert man national.
Und du Pfund wird sich nicht rucken,
Wenn die Arbeiter wir d rucken.
Polen :
Juden, Deutsche, Korridor,
Machen viel Verdrufi.
Nehmt den Friedenstext mal vor.
Drin steht: Deutschland mufil
Rujitand: t
Die kapitaHstische Nachbarwelt
1st heute volliy zerfahren,
Ihr fehlts an allem, so?ar an Geld.
Wir schaffen es in funf Jahren.
China:
O Volkerbund, o Volkerbund,
Schick nicht blofl Teleyramme,
Wir winseln nach Dir wie ein Hund,
Wien Kind nach seiner Amme.
Japan:
Dem Volkerbunde wir restlos vertraun.
Wir sind ja mit ihm sehr liiert
Doch mussen wir erst mal China verhaun,
Eh der Volkerbund interveniert.
U.S.A.:
Machtig ist der Krise Lauf,
Und doch hort sie einmal auf.
Wenn jeder namlich, der heute rumlungert,
Im eigenen billig-en Auto verhungert.
Ernst Moritz Haufig
Llebe Weltbflhne!
Meine Freundin Grete Wal-
fisch erzahlt:
Frau Thommsen und Frau
Pomraer gehn in Hamburg bei
Karstadt einkaufen. Und wie
sie nun so drei Stunden bet Kar-
stadt eingekauft habert, da muB
Frau Thommsen miteins..,, ja,
und da muB Frau Pommer denn
naturlich auch.
Und wie sie denn auf Toilette
kommen, da ist man nur ein Sitz.
Frau Thommsen gent zuerst, und
wie sie wieder rauskommt, da
sagt die Frau mit dem Tuch:
„Soll ich nochmal uberwischen
oder sind die Damen bekannt?"
Ein Liebling der deutschen Musen
In einem Brief an den Verlag
schreibt Rudolf G. Binding
iiber Martha Saalfeld: Martha
Saalfeld — rheinisch-pfalzi-
scher Erde und Luft angehorig,
wo Acker strotzen und der Wein
gluht — ist schon von ihren An-
fangen an eine leidenschaftliche
Erfiillerin des Sonetts. Die
Spannung des Sonetts, seine
Kurve, sein Wurf, seine Ge-
drungenheit und Unerbittlichkeit
sind ihr Element, Sie erftillt die-
ses Element mit Leidenschaft, mit
ihrer Leidenschaft, SUB und herb,
weich und hart, gnadig und grau-
sam stofien sich darin, Eine
innere, groBe, bittersuBe, fast
religiose Tragik — wie die einer
Gesangesschwangeren — bricht
von jeher aus ihren Versen, die
fiir manche schwer zuganglich
nur den gleich ernst und erftillt
Empfindenden den Zugang zu
einer reichen, scheuen und sehr
starken, von dem Ruf zur Dich-
tung wahrhaft besessenen Dich-
ternatur erschlieBen.
Inserat
ANTOON THIRY
DAS SCHONE JAHR DES CAROLUS
Roman aus dem HollMndiechen. Leinen 5,50 RM
Dieser Roman des Jugendfreundes Felix Timmermannft gibt, elnzigartig in Plastik
und Farblgkeit der Schilderung, das Bild einer klelnen hollandischen Stadt, das
Schlcksal ihrer Bewohner und ihres stllrmischen Helden.
TRANSNARE ViRLAQ A. - 0., BERLIN W 10
943
Sftchsisches
In Leipzig zur Messezeit. Vater
* liegt im Sterben, es ist funf
Minuteri vor sechs, Aui cinmal
rochelt er: „Aber, dafi ihr mir
mei Bett bis um sieben ooch an
eenen Messefremden vermietet
habt!"
In Dresden wundert sich ein
Fremder, dafi es so wenig Buch-
handlungen gibt, worauf ihm ein
Eingeborener stolz entgegnet;
„Nu, ja, Biecber ham wer ja we-
nich, aber dafor sind wir ne
Kunststadt."
bruar spatcstens den Thrdn be-
steigen werde und daB ihm viel
daran liege, schon jetzt mit den
Prominenten unter seinen Unter-
tanen in Fiihlung zu kommen.
Neulich verlangte Majestat in
der Pause, einem beruhmten
Schauspieler vorgestellt zu wer-
den, Doch der Kunstler, der nicht
gut gelaunt war, lehnte das, ob-
gleich er an diesem Abend
Schiller spielte, mit einem unver-
kennbaren Goethezitat ab,
Herr Goering sah sehr ungliick-
lich aus. Es ist kein Vergnugen,
Hofmarschall zu sein. .
Eine will ein Zimmer mieten
und fragt die Wirtin nach dem
Bad, nNu, freilich, e Badezim-
mcr habch, da is es Eingemachte
drinne." ,iNa, und wann kann
man denn da baden?" „Einmal
in der Woche, da wird se frei-
gemacht" „Aber ich , mochte
doch jeden Tag baden/* „Jeden
Tag — ? An Kokotten vermiete
ich nich."
Unser Adolf
J\ dolf I. halt sich ofter in Ber-
** lin auf , um seine kiinf tige
Residenz nailer kennen zu lernen.
Sein Intimus, Herr Hauptmann
Goering, schiebt neuerdings seine
Falstaff-Figur durch die schma-
len Tapetenturen von Theater-
garderoben, um beliebten Schau-
spielerinnen zu erzahlen, daB
sein gar leutseliger Herr im Fe-
Hitler hat sich, als Kammer-
Secretarius den Dichter Hanns
Johst beigelegt, Der schreibt ihm
seine Artikel, Proklamationen
und Reden. Hitler selbst steuert
nichts bei als den Schaum vor
dem Munde,
Grauli
Schaukel-Redslob
I ch hab ein Schaukelfpierdchen.
■"- Ich wunsche mir dazu
Ein kleines Schaukelhauschen,
Eine Schaukelmukuh
Und viele Schaukelbaume.
Wie lustig ware das.
Das gibt ein Schaukelwaldchen,
Das macht mir groBen SpaB.
Bruderchens Schaukelstuhlchen.
GroBpapas Schaukelsitz
Und ein Schaukelwindmuhlchen,
Ein Schaukel-Alter-Fritz.
Reichskunstwart Redslob
Hinweise der Redaktion
Mannheim.
Stadtische Kunsthalle : Wie der Kunstlcr die Kunst sieht. v
Bficher
Henri Barbussei Die Schutzflehenden. Rascher & Co., Zurich.
Georg Kaiser: Es ist genug. Transmare-Verlag, Berlin.
Heinz Pol: Patrioten. Agis-Verlag, Berlin.
Sergej Tretjakow: Feld-Herren. Malik- Verlag, Berlin.
Rundfunk
Dienstag. Hamburg 19.30: Station 3, Ernst Johannsen und H. G. Marek. — Muhlacker
20.25: Hans Reimann, Ferry Dietrich. — Mittwoch. Muhlacker 19.05: Ludwig Mar-
cuse liest. — Freitagr. Berlin 12.15: Ernst Blafi liest — Breslau 15.30: Hermann
Gaupp liest Alexander Graf Stenbock-Fermor. — Sonnabend. Langenberg 12.15:
Der echte Radikalismue, Walther v. Hollander. — Berlin 16.00: Hans Siemsen
spricht.
944
Antworten
Mopr-Verlag, Berlin. In den letzten Wochen hat man auf Grund
der Notverordnungen eine ganze Anzahl proletarischer Biicher ver-
boten. Uber zwei dieser MaBnahmen, die den t,IHustrierten Arbeiter-
Kalender" und die Gedichtsammlung „Rote Signale" betreffen, wird
hier noch zu sprechen sein. Sie geben, als Schutzwall gegen die Ver-
seuchung der Proletarierwohnungen mit der billigen Schundliteratur,
seit einiger Zeit kleine Heftchen mit Erzahlungen aus der Arbeiter- .
bewegung heraus. Die Polizeiprasidenten von Stuttgart und Chemnitz
haben nun dieser Tage fur ihren Bereich den Vertrieb des zweiten
Heftchens mit einer Erzahlung von Kobayashi „Der 15. Marz" verbo-
ten. Besonders grotesk ist die stuttgarter Begriindung; „In der ver-
herrlichenden Schilderung eines Vorfalls aus der Geschichte der ille-
galen kommunistischen Partei Japans, wird der ungesetzliche Kampf
der japanischen Kommunisten als ein nachahmenswertes Beispiel ge-
feiert. Dadurch sollen auch die deutschen Leser und ,Klassengenos-
sen* zum Ungehorsam gegen Gesetze und rechtsgiiltige Verordnungen
angereizt werden." DaB diese, iibrigens ganz ruhig und unrevoluzzerisch
vorgetragenef Erzahlung darstellt, wie Verhaftete ungesetzlich in der
Polizeiwache festgehalten und geprtigelt werden, scheint eine Tat-
sache zu sein, deren Bekanntgabe von deutschen Polizeiprasidenten
auf jeden Fall unterdruckt werden muB. Die Internationale Solidari-
ty der Polizeiamter auf der ganzen Erde funktioniert ausgezeichnet,
Wie lacherlich das alles ist und wie wenig dies Verbot auch nur
mit einem Schein von Recht zu umgeben ist, zeigt, daC die Skizze in
Japan, also da, wo sie spielt, nicht verboten ist, Hoffentlich sind die
Herren in andern Stadten und Landern einsichtiger und machen ihren
Kollegen aus Stuttgart und Chemnitz diesen Unfug mit der Berufung
auf die hier ganz und gar unangebrachte Notverordnung nicht nach.
Redakteur. Der Kollege Franz Hollering ist seines Postens als
Chefredakteur der ,B. Z. am Mittag' Knall und Fall enthoben wor-
den. Das RWM. hat beim Verlag interveniert, weil ihm die groBe
Aufmachung der Meldung tiber Hitlers Fliegerkorps unerwunscht
war- Der Verlag hat hackenknallend nachgegeben. Die grofien Blat-
ter schweigen. Was sagen Sie dazu? Was sagt Ihre Organisation?
Soil die Presse auf diesem Wege fascisiert, militarisiert werden? Will
das RWM., das seine „StaatsverIeumdung" nicht in die Notverord-
nung hat hineinbringen kdnnen, auf dem Weg liber nachgiebige Zei-
tungsverlage sein Ziel erreichen? Periculum in mora.
Mediziner. Sie teilen uns zu den hier in Nummer 47 im Artikel
t,Spielzeug Mensch" von Walther Karsch charakterisierten Experi-
mentiermethoden an physisch oder psychisch Schwerkranken und
Sauglingen mit, daB diese Versuche in der Universitats-
klinik fiir Nerven- und Gemiitskranke zu Frankfurt am Main
ausgefiihrt worden sind, und fugen hinzu: „Und jetzt fin-
den wir frankfurter Arzte auch erneut bestatigt, daB unser
uniiberwindliches Mifitrauen gegen diese Universitatsklinik be-
rechtigt ist. Wir mochten unsre Kranken so gern gut untergebracht,
gut behandelt und, wenn moglich, geheilt wissen, statt dessen wer-
den sie als Versuchspersonen mit Schussen erschreckt, damit daraus
ein wissenschaftliches Geseiche entsteht. Solange wir irgend kdnnen,
mussen wir daher bestrebt sein, unsre Kranken vor diesem SchieB-
institut zu bewahren, trptz der Pracht des Neubaus und den ehrlichen
Bemiihungen des arztlichen Direktors, der aber offensichtlich diese
SchieBereien zum Zwecke des Zusammenschreckens der Kranken er-
laubt und wissenschaftlich gefordert hat. Dafiir also geben sich Kli-
niken und wissenschaftliche Journale her." Diese wissenschaftlichen
Joumale, deren Wert gewiB nicht unterschatzt werden soil, geben
sich noch zu ganz andern merkwurdigen Dingen her. In der ,Medizi-
945
nischen Welt' vom 10. Oktober veroffentlicht zum Beispiel cin Mini-
sterialrat Doktor Franz Hermann sogenannte „Acta Comica", das ist
eine Zusammenstellung von Bittgesuchen Strafgefangener. Diese. in
ihrer Art gewifi manchmal recht eigentiimlichen Dokumente sollten
dem Herrn Ministerial rat eher AnlaB zum Nachdenken als zur Be-
lachlung sein. Er nennt sie eine Fundgrube fiir den Psychologen und
den Psychiater, was sie zweifellos auch sind. Aber der ernsthafte
Wissenschaftler wird sicherlich andre Worte zur Kommentierung fin-
den, als der, ach, so witzige Herr Ministerialrat, dessen ganze Weis-
heit sich zum Beispiel darin erschopft, tiber einen Brief, der von
Gatten- und Vaterpflichten, unschuldigen Kindern etcetera spricht,
zu sagen, es lage nicht unmittelbar auf der Hand, dafi der Schreiber
dieser Zeilen grade wegen Blutschande mit der eignen Tochter ver-
urteilt ist. Welche^ Phantasielosigkeit, das nur komisch zu nehmen!
Selbst wenn diese Xufierungen fast alle ihren Ur sprung in einer ver-
standlichen Heuchelei haben, ist das doch nocb kein Grund, diese meist
recht unbeholfenen Gesuche den Lesern der .Medizinischen Welt* zur
„Unterhaltung*\ wie diese Sparte heifit, zu servieren. Nicht etnmal
vor aufreizenden Geschmacklosigkeiten schreckt der Spafimacher zu-
riick. Er spricht von den MiBverstandnissen, die manchem Bittstel-
ler unterlaufen. „Ein Gliick, dafi wenigstens der nachstehende Pe-
tent seinen Irrtum nbch rechtzeitig bemerkt hat: ,In meiner gestri-
gen Eingabe ist mir ein Versehen unterlaufen, Es soil nicht heifien:
Ich bitte urn Destillierung, sondern; Ich bitte urn SterilisierungV
Sehr ulkig, nicht wahr, Herr Ministerialrat? Da will sich so ein ar-
mes Luder kastrieren las sen, sicher weil er es nicht mehr aushalten
kann, und schreibt: er bittet um Destillierung. Ober einen solchen
Bildungsmangel muJ3 man ja gradezu lachen. Die Tr ago die des un-
scheinbaren Menschen wird Ihren Schlaf sicher nicht storen, Herr
Ministerialrat, Sie machen lieber „Acta Comica" daraus.
Kunstireund. Gestehen Sie, Sie waren lange nicht in einer Kunst-
ausstellung. Nun, das liegt nicht nur an Ihnen, Aber augenblicklich
sind Sie drauf und dran, etwas Seltenes und Schones zu versaumen:
die altamerikanische Ausstellung in der Akademie am Pariser Platz.
Die Graberfunde aus dem alten Peru und Mexiko haben eine ganz
groBe Kunst zutage gefordert, herrlich geformte Keramiken, bemalt
mit bunten Figuren, deren Sinn auch den Forschern kaum bekannt
ist, die aber eine wundervolle Ornamentik abgeben; ktihne Portrat-
kopfe, zierliche Goldarbeiten, Mosaiken aus bunten Vogelfedern —
alles trotz seiner Fremdartigkeit so unmittelbar ansprechend, so reine
Verkorperung hochsten handwerklichen Kunstsinns, so Mmodern", weil
so tiberzeitlich, dafi Sie eine groBe Freude haben und viel zulernen
werden.
Neugieriger. Nein, Herr Groener hat auf den Offenen Brief in
Nummer 49 nicht geantwortet. Gedulden Sie sich noch etwas.
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XXVII, Jahrgang 29. Dezember 1931 Nuraraer 52
Tabllla rasa von Carl v. Ossietzky
rjas Jahr 1931 war das Ungkicksjahr des deutschen Biirger-
turns. Wenn seine Aufienwerke schon vorher demoliert
waren, so verkrachten in diesem Jahre seine Hauptstellungen.
Hatte die Krise in ihren Anfangen nur Triebsand erfaBt, Spe-
kulationsunternehmen umgeblasen oder Altgewordenem den
Rest gegeben, so drang sie 1931 in die Zentren des Wirtschafts-
korpers und warf urn, was durch organisierte Macht oder
durch altererbte Respektabilitat auch im argsten Feuer. ge-
hartet schien,
Mit diesen okonomischen Grundiagen des Biirgertums sinkt
auch der biirgerliche Geist. Der fragwiirdiig gewordene Be-
sitzbiirger, der wenigstens noch das Gesicht zu wahren ver-
sucht, wird als Ci-devant verspottet wie vor hundert Jahren
ein entwurzelter Feudaler, der noch von der Zopfzeit
schwarmte. Losgelost von Besitz und Erbe und von. der Mog-
lichkeit neu zu erwerben, torkelt dfer burgerliche Mensch
herum, anarchisiert und proletarisiert, unfahig, seine besten
traditionellen Eigenschaften an veranderten Zeitlauften zu er-
proben. Der burgerliche Geistf der hundertfunfzig Jahre lang
Deutschland beherrscht iund einen groBartigen Kulturstandard
geschaffen hat, wenn -auch keine eigne politischeForm — die-
ser Geist wird jetzt plotzlich primitiv, reizlos, knotig. Es
ist kein Wtunder, wenn* die Ganzradikalen, die Fascisten und
Kommunisten ihr Urteil iiber die burgerliche Gesellschaft von
heute dahin zusammenfassen; Hier sieht man ihre Trummer
rauchen, d'er Rest ist nicht mehr zu gebrauchen! Auf diesen
Trummerhaufen aber gedeiht eine ganz eigne Romantik. Dort
haben die Propheten und Sibyllen Platz genommen und weis-
sagen von der Auferstehung des iBiirgertums.
Der Dichter Hans Grimm, der Verfasser des, erfolgreichen
Romans ,,Volk ohne Raum", hat kiirzlich in Berlin einen
Vortrag gehalten, der sich im Titel MVon der biirgerlichen Ehre
und biirgerlichen Notwendigkeit" eng an altere romantische
Vorbilder anlehnt, imd! den die .D.A.Z/ jetzt ihren Lesern zum
Christfest schenkt. * Hans Grimm sieht mit einigem Schrecken
Fascismus und Kommunismus dem gleichen Effekt zustreben:
der Zerstorung .aller biirgerlichen Werte und der Errichtung
eines Staates, der ausschlieBlich auf der Autoritat eines par-
teibestallten Funktionarstium ruht. Und daB grade die;
,D.A,Z/ es fiir notig halt, diesen Vortrag in acht langen Zei-
tungsspalten wiederzugeben, zeugt wohl auch davon, daB ihr
Chefredakteur, der den deutschen Fascismus erst richtig hoch-
gepappelt hat, jetzt wenigstens seiner Hypertrophic mit einer
Injektiori lauwarmer Milch entgegenwirken mochte.
Hans Grimm ist ein sauberer Schrifts teller ohne Macht
der Imagination oder des Wortes, Er wird einen Gegner im-
mer von seiner Lauterkeit uberzeugen, niemals von seinem
Intellekt. Er hat eine Lehrzeit in Afrika hinter sich und
947
wohnt heute in einem schonen alten Klosterhaus an der We-
ser, d!as er sich erschrieben hat. Ein tiichtiger Mann; dieses
Wort, das ihn ehrt, zeichnet auch seine Grenzen. Grimm
spinnt nicht einen originalen Gedankenfaden, und was er vom
Burgertum zu retten sucht, das ist nicht der Geist, sondern der
hochst sterbliche Habitus und die zeitbedingten Vorurteile.
Grimm predigt das besondere fTHerrentum" des deutschen
Volkes, Deutschland ist „adlig", ist auserlesen zu erhabenem
geschichtlichen Beruf. Die VerheiBung Fichtes oder die der eksta-
tischen alten Juden vom Jordan, wenn man will Den Sozialis-
mus verachtet Grimm als asiatisches Sklavenideal: „Der Paria
will den Sozialismus vom Sklaven aus, es ist seine Art: Weil
er sich schwach fiihlt, mochte er( daB Schwache Recht wird
vor Kraft, mit der Folge dies allgemeinen Elends und der all-
gemeinen Verlumpung/*
Hans Grimm will demgegeniiber den Individualismus, aber
nicht als Willkiir, sondern als „Recht des jeweils Besten". Als
ob jemals ein System, ob individualistisch oder kollektivistisch
auf die Steigerung der Leistung verzichtet hatte! Verlangen
denn nicht auch die alten Demokratien von ihren Mannern
das AuBerste? Und sucht nicht das kommunistische Rufiland
bei der Durchiuhrung seines Industrieplans jeden Betrieb, je-
den Arbeiter zur hochsten Einzeltat anzuspornen? Proleta-
rier ist fur Hans Grimm, wer ,,die Armut aller will, um den
eignen Lebensbankrott zu rechtfertigen." Hier redet aus dem
Seher vernehmlich und recht pharisaisch der erfolgreiche Biir-
ger, der Mann, d"er mit einem schonen Wohnhaus sein eignes
Raumproblem zufriedenstellend gelost hat. Wie liberalistisch-
manchesterlich ist es d'och, Hans Grimm, das soziale Schick-
sal leugnen zu wollen und a'lles auf die Tiichtigkeit oder das
Versagen des Einzelnen zu walzenj Wie ungeheuerlich ist
es, das Individuum allein gegen die anonymen Gewalten
der Wirtschaft zu stellen und den, der besiegt wirdl, Paria
zu schelten!
Es ist keine Entschuldigung, daB dieses ganze Vokabular
nicht von Hans Grimm selbst stammtt sondern in seiner letz-
ten Anwendung von Moeller van den Bruck, der es von Hou-
ston Stewart Chamberlain ubernommen hat, dieserwieder von
dem alten Bayreuther Kreis und dieser wieder von dem Sohn
des Farbers Simon Gobineau. Diese Entwicklungsreihe zeigt
zugleich in tragischer Weise die Etappen der innern Ver-
armung des deutschen Burgertums an, wie kummerlich und
sektiererisch dlas geworden ist, was bei Nietzsche berauschen-
des Wort, bei Wagner betorend'e Musik war. Die Kontra-
bassc und Oboen sind1 verstiummt, aus dem leeren Orchester
von Bayreuth redet ein matter Epigone, gelegentlich von
einem. gespenstischen Paukenschiag interpungiert Der Par-
sifal von heute wohnt im Braunen Haus.
Auch fur Hans Grimm ist der Nationalsozialismus ,,die
erste und bisher einzige echte demokratische Bewegung des
deutschen Volkes". Nationalsozialismus bedeutet ihm nicht
Gleichheit sondern „GemaBheit", und das heiBt, „sich zur
948
Ftihrerschaft der jeweils Besten zu bekennen", wodurch ftganze
Deutschheit" dafgetan wird. Aber auch Grimm sieht er-
sehreckt, wie der Nationalsozialismus taktische Konzessionen
an die breite Masse macht, wie er das Burgertum kaum noch
zur Verschrottung gut genug halt, wie er die herkommlichen
Begriffe vom Eigentutn als iiberlebt abtut. „t)ber das Eigen-
tum fiihrt der Weg zair Herrengesinnung", doziert Grimm;
er straubt sich dagegen, daft man1 dias Kind mit dem Bade, den
Kapitalismus mit den Juden in die Senkgrube schtittet. Marx-
istische Falscherstiicke dringen in die reine Lehre ein, Bur?
gertum wird mit Bourgeoisie zusammengeworfen, der „Gegen-
satz vom national en Haben im ibttrgerlichen und vom inter-
nationalen Haben im Borsensirine mit erfolgreichem FleiBe
verwischt." Angesichts dieser grausigen Vorstellunig reckt
sich Grimm ziur ganzen GroBe eines noch halbwegs intakten
Konteninhabers auf und ruit aus: „In eurem neuen Gemein-
schaftsgefuhle steckt eine ungeheure Gefahr, daB ihr auf einem
hur umstandlicheren andern Wege dem asiatischen Pariaideale
selibst zuschreitet." So end'et der stolze nationale Bauch-
schwiung. Einer der ersten und wirksamsten Kunder des deut-
schen Nachkriegsnationalismus klappt zusammen, weil die von
ihm mitgenahrte Bewegung in der Agitation auf ein paar so-
zialrevolutionare Grolltone nicht verzichten mag. Weil tiber-
haupt keine Bewegung, die heute wirken will, an der leiblichen
Not der alten oder neuen Proletarier voriibergehen kann.
Auch ein ,,adliges Volk" im Sinne Hans Grimms mochte sich
gelegentlich sattessen.
Es ist indessen nicht der Zweck dieser Zeilen, gegen Hans
Grimm zu polemisieren sondern ihn zu beruhigen. Hitler ist
und bleibt der Condottiere des Indus triekapitals. Nichts konnte
bisher den Verdacht starken, Hitler und seine Granden wollten
im Grunde dasselbe wie -die Roten. Das GraBlichste an Hans
Grimms herzlich magern Vision vom Dritten Reich ist doch
eben, daB es ziemlich so kommen wird, wenn Hitler wirklich
das Regiment ergreifen sollte. Da auch dieser sakulare Komo-
diant kein Zauberer ist und nicht mehr Nahrung geben kann
als vorhanden ist, so wird er eben statt Brot mit Phrasen und
Spielen aufwarten mxissen. Diese Spiele werden vielleicht
blutig sein, aber sie werden immer nur die Unfahigkeit ver-
decken miissen, daB sich im Grunde nichts geandert hat, nicht
wandeln wird. Wir gehen gjanz sicher, daB der deutsche Fas-
cismus das Eigenfcum so euergisch schiitzen wird, wie es Hans
Grimm verlangt, vorausgesetzt, daB bis dahin unter dem
schrumpfenden Hauch der Krise die Reste nicht mikroskopi-
sches Format angenommen haben werden. Hans Grimms Sor-
gen sind ganz uberfliissig, seine Nerven sind seinem hohen
Apostolat nicht gewachsenr seine Verstandeskrafte nicht dem
Augurengrinsen der Eingeweihten, wenn das Wort Sozialismus
fallt. Es ist uberhaupt etwas merkwiirdig bestellt urn diese
Literaturbarden des Nationalsozialismus. Ihnen alien schwebt,
vielleicht unbewuBt, Gabriele d'Annunzio vor, wie er seine be-
ruhmten VerheiBungen an jltalieni richtete und diamit sein Volk in
den Hollenkessel am Isonzo rift, Wenn Hans Grimm die Na-
949
tion zur Tat aufruft und ihr adiiges Vorrecht proklamiert,
wird der solchermaBen nobilisicrtc Burger nicht gleich wie
der Romer zum Schwert greifen, sondern zunachst einmal
sein Dienstmadchen anschnauzen, um sein Herrentiim zu be-
st at igcn. Die Wirkung ist also nicht so groBwie die d'Annun-
zios, dafur aber weit harmloser. Abcr auf die GroBe kommt
es Herrn Grimm doch an.
Illusionen fiber Hitler von k. l. Gerstorff
J)ie Frage dcr Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten
stent in diesen Wochen nicht unmittelbar auf der Tages-
ordnung. In manchen Kreisen wird direkt bedauert, daB es
bis her noch zu keiner Koalition Briininig-Hitler gekommen ist.
Und man argumentiert so: Hitler ist nur in der Opposition eine
standig steigende Macht geworden. Die Millionen der natio-
nalsozialistischen Wahler haben mit der Abgabe ihres Stimm-
zettels nicht ihr Einverstandnis mit dem nationalsozialistischen
Programm demonstrieren wollen sondern lediglich ihre Oppo-
sition gegen die heutigen Zustande. Der Einiritt der National-
sozialisten in die Regierung wiirde an der katastrophalen wirt-
schaltlichen Situation! nichts antdern, die Nationalsozialisten
wurden also schnell1 aibwirtschaften, und grade durch ihren Ein-
tritt in die Regierung wurden sie diese von dem unertraglichen
Druck befreien, den ste heute in der Opposition ausuben.
Diese These von der „AbwirtschaftungM der Nationalsozia-
listen ist weit verbreitet, auch bis tief in die Arbeitermassen
spielt sie eine Rolle.
Sie kann jedoch nicht scharf genug bekampft werden.
Denn sie hat zur Folge, dafi die Arbeiterschaft, die heute der
einzige antifascistische (Block ist, zu leicht passiven Stromun-
gen nachgibt und den Kampf gegen den Fascismus auf die
Zeit nach der Machtergreifung vertagt, auf die Zeit, wo die
Nazis in der Regierung „abwirtschaften". Sicherlich ist cs
danri aber bereits zu spat. Der Fascismus wird die Krise
nicht liquidieren. Denn da sie der deutlichste Ausdruck fur
die Widerspriiche des kapitalistischen Systems ist und die
Fascisten ausftihrendes Organ des kapitalistischen Systems, so
konnen sie an den entscheidienden Ursachreihen der Krise
nichts andern.
DaB dies so ist, sagt Mussolini mit alier Deutlichkeit. Als
die Nationalsozialisten in Deutsohland den Mittelschichten er-
zahlten, wenn sie ans Ruder kamen und Deutschland von den
Younglasten befreit ware, dann wiirde die Krise liquidiert
werden und alien wiirde es besser gehen, da hielt Mussolini
eine Rede, in der er erklarte, man dtirfe doch dem Fascismus
nicht die Schuld an der italienischen Krise in die Schuhe schie-
ben, denni von der Krise wurden ja auch Staaten wie England
und Amerika betroff en, die bisher nicht fascistisch regiert wur-
den. Aber Mussolini erklarte noch mehr. Er sagte weiter,
Italien wiirde viel schneller als andre kapitalistische Lander
950
aus der Krise herauskommen, weii die italienischen Arbeit er
gewohnt seien, sich nur einmal am Tage satt zu essen. Mus-
solinis Programm ist Hitlers Programm. Der Fascismus wird
den Lohnraub in verscharftestem Umfange durchfiihren, um so
die Atempause fiir das Monopolkapital zu verlangern. Die Mil-
lionenmassen der Bauern, der Handwerker und der Kleinhand-
ler, der Angestellten und Beamten, also die Millionenmassen
der Mittelschichten, werden zu spiiren bekommen, daB es ihnen
im fascistischen Monopolkapitalismus noch schlechter geht als
in dem, der noch auf eine Regierungsform mit demokratischen
Klammern Wert legt. Aber damit hat sich der Fascismus
nicht abgewirtschaftet; wer das behauptet, hat noch immer
nicht begriffen, daB der Fascismus kcine selbstandige Bewe-
gung, sondern der Degen des Monopolkapitals ist. Und grade
weil die Nationalsozialisten mit dem Regierungseintritt die
breiten Massen der Mittelschichten enttauschen werden und
enttauschen miissen, grade darum werden sie aus der Regie-
rung nicht mehr herausgehen. Legal eintreten kann Hitler in
die Regierung, legal herausgehen kann er nicht Die Antwort
des Fascismus auf die Enttauschung der Mittelschichten wird
eine immer brutalere Verstarkuhg des Terrors sein.
Geht der Fascismus nicht nur legal in die Rsgierung, son-
dern bliebe er auch in der Regierung legal, was ware die
Folge? Was ware die Folge vor allem, wenn die groBen Ar-
beit erorganis at ionen dann noch intakt war en? Samtliche Wahl-
resultate haben gezeigt, daB den Nazis der Einbruch in die
„marxistische" Front nicht gegliickt ist. Vierzig Prozent der
Wahler blieben den Axbeiterparteien treu. Vor allem ist den
Fascisten der Einbruch in die Betriebsarbeiterfront nicht ge-
gliickt. Bei den Betriebsratewahlen bekamen die Nazis nur
etwa 0,5 Prozent der 'Mandate, also eine ganz versohwindende
Minoritat. Dem d'eutschen Nationalsozialismus ist die soziolo-
gische Aufgabe zugewiesen, die verarmten Mittelschichten
vom gemeinsamen Kampf mit der Arbeiterschaft gegen das
Monopolkapital abzuhalten. Sie haben in der Opposition diese
Aufgabe gelost. Wenn nun aber wahrend einer Koalitions-
regierung mit den Nazis die Angestellten weiter abgebaut
werden, die Bauern weiter verarmen und die Zwangsvoll-
streckungen zunehmen, wenn die stadtischen Mittelschichten
proletarisiert werden, und wenn in dieser Situation die Arbei-
terorganisationen noch da sind, dann wird das Lager der Ar-
beiterschaft nicht mehr nur die vierzig Prozent der Arbeiter-
wahler umfassen, dann werden die Millionen der Mittelschich-
ten, von den Nazis enttauscht, zu ihnen stoBen, dann werden
Proletariat und Mittelschichten — und das sind zusammen
mehr als neunzig Prozent — gegen das Monopolkapital stehen.
Der Sieg der Linken w,urde unvermeidJich sein. Grade weil
die Nazis okonomisch abwirtschaften werden, abwirtsohaften
miissen, durfen sie fiir das Monopolkapital nicht politisch ab-
wirtschaften, grade weil sie dann ihren Masseneinflufi nicht
behalten werden, nicht behalten konnen, denn die Millionen
der Mittelschichten werden ihnen weglaufen, — grade darum
durfen keine gegnerischen Organisationen vorhanden sein, die
diese Millionen auffangen. Grade weil der Nationalsozialis-
2 " 951
mus der Dcgen des Monopolkapitals istt muB scin Terror nach
der Machtergreifung starker werden, muB er dahin tendieren,
die gesamten gegnerischen Organisationen, die gesamten Ar-
beit erorganisationen zu zerschlagen. Und es muB atisdriick-
lich betont werden, daB der Terror dann weit grauenvoller
sein wird als in It alien,
Aus zwei Reihen von Griinden. Wann entwickeite sich
der Fascismus in Italien? Es sind jetzt neun Jahre seit dem
Marsch auf Rom vergangen. Der Fascismus siegte in Italien
zil einer Zeit, als der Weltkapitalismus einen gewissen Auf-
schwung nahm. Oberall nahm die Produktion zu, die welt-
wirtschaftlichen Beziehungen verstarkten sich, die Zahl der
beschaftigten Arbeiter wuchs, die Lohne stiegen, und wenn
auch niemals mehr das Aufstiegstempo der Vorkriegszeit er-
reicht wurde, so war doch ein zwar etwas gebremster Auf-
stieg nicht zu verkennen. In Italien schrieb sich dam als der
Fascismus diiesen Aufstieg zu. Er hatte damit seinen Anhan-
gern etwas zu bieten. Und die mittelstandischen Massen, die
sioh hinter den Fascismus gestellt hatten, wurden somit nach
der Machtiibernahme nicht gleich enttauscht. Im deutschen
Kapitalismus liegt dies im entscheidenden Punkte anders. Die
Nationalsozialisten drangen zur Macht in einer Zeit, wo der
Weltkapitalismus im Niedergang, ist, wo der deutsche Kapita-
lismus im (besonders schnellen Tempo niedergeht. Das neueste
Heft der Institutes fur Konjunkturforschung zeigt wieder ein-
malt wie tief die Krise in Deutschland ist. Es zeigt, daB die
deutsche Produktion nicht mehr hoher ist als um die Jahrhun-
dertwende, daB der Lohnabbau bereits vor der Notverordnung
vierzig Prozent erreicht hatte, nach der Notverordnung also
bald fiinfzig, daB der Preisfall ungefahr doppelt so stark ist
wie jemals in einer Krise der letzten sechzig Jahre, und daB
in irgendeiner absehbaren Zeit kein Umschwung zu erwarten
ist, denn nicht irgendeine solidarische Handlung war die Ant-
wort der kapitalistischen Staaten auf die immer scharfere Zu-
spitzung der Situation, sondern erhohte Schutzzolle — beson-
ders nach dem Wahlsieg der Tories in England — , Forcierung
der Ausfuhr, Drosselung der Einfuhr, weitere Deroutierung der
Weltwirtschaft, so daB der WeltauBenhandel bereits unter dem
Friedensniveau liegt, Der Kapitalverkehr der kapitalistischen
Lander untereinander ist immer weiter zuriickgegangen, und
im dritten Viertel dieses Jahres sind von den entscheidenden
Auslandsmachten auslandische Anleihen nur nochj in einer
monatlichen Hohe von nicht einmal hundert Millionen aus-
gegeben worden, Im Weltkapitalismus zeigt sich kein oko-
nomischer Silberstreifen, im deutschen Kapitalismus noch we-
niger; nicht nur die Krise, auch ihr Tempo nimmt zu,
Wenn in diesem Zeitpunkt die Nationalsozialisten in die
Regierung gehen, so find en sie eine vollig andre Situation vor
als seinerzeit die italienischen Fascisten. Sie miissen die Mil-
lionenmassen ihrer Mitlaufer weit starker, weit schneller ent-
tauschen als die italienischen Fascisten, und sie werden ledig-
lich die zehn Tausende halten konnent denen sie Stellungen
verschaffen, und die Zweihunderttausend ihrer Soldnerarmee.
952
Die Millionenmassen dag e gen werden ihnen auBerordentlich
schnell davonlaufen. Schon damit verscharft sich die Situa-
tion gegeniiber der italienischen ganz auBerordentlich.
Dazu kommt noch eine zweite Faktorenreihe: -die Ver-
schiedenartigkeit der Berufszusammensetzung in It alien und in
Deutschland. In Italien fast sechzig Prozent landwirtschaftlich
tatige Bevolkerung und dazu vier Millionen Arbeiter. Nach-
dem der Fascismus gesiegt hatte und den Mittelschichten*eini-
ges bieten konnte, nachdem ein groBer Teil der italienischen
Landwirtschaft nicht sehr stark in den kapitalistischen Nexus
einbezogen war, brauchte sein Terror gegen die Arbeiter-
organisationent der schon grausam genug war, ein gewisses
MaB nicht zu iiberschreiten. Im deutschen Kapitalismus aber
umfaBt die Landwirtschaft nicht wie in Italien drei, sondern
nur ein reichliches Ftinftel der Gesamtbevolkerung, die Ar-
beiterschait nicht vier, sondern fiinfzehn Millionen; eine Ar-
beiterschaft, die etwa die Halite der Bevolkerung ausmacht,
eine Arbeit erschaft, die die bestorganisierte Europas ist, eine
Arbeiterschaft, der en Gewerkschaften und politische Organi-
sationen eine Tradition von Generationen ha ben. In Deutsch-
land stent also die Klassenschichtung auf des Messers
Schneide, Wenn der Fascismus den Kampf zur Zerschlagung
der Arbeit erorganisationen aufnimmt, dann wird der Terror
unendlich blutiger sein als in Italien, weil er diesen Kampf zu
einer ungiinstigereh Stunde beginnt und einen Gegner zu zer-
schlagen hat, der ungleich starker ist als seinerzeit die italie-
nische Arbeiterschalt.
Urn den Kampf gegen den Fascismus kommt die Arbeiter-
schaft nicht herum; denn Fascismus, das ist ja nur der vor-
geschobene Posten des Monopolkapitals, der die politischen
Voraussetzungen dafur zu schaffen hat, den Ausweg aus dieser
schrecklichsten Krise noch einmal monopolkapitalistisch zu
organisieren. Nicht einmal der ,Vorwarts* nimmt an( daB sich
die neue Notverordnung in einer Abschwachung des Krisen-
tempos auswirken wird. Denn wenn auch die Gewerkschaften
sich weiter mit dem Preiskommissar Goerdeler zusammen-
setzen werden, so geniigt dies nicht, um die Preise der land-
wirtschaft lichen Produkte zu senken. Sie spielen beim Arbei-
terhaushalt heute eine entscheidende Rolle. Je geringer mit
jedem neuen Lohnabbau das Einkommen des Arbeiters ist,
um so groBer wird der Prozentsatz d ess en, was er fur Lebens-
mittel ausgibt. An eine Senkung der Lebensmittelpreise aber
ist iiberhaupt nicht zu denken. Es war durchaus charakteri-
stisch, daB die drei Vertreter der Landwirtschaft im Wirt-
schaftsbeirat diesen nicht darum vorzeitig verlieBen, weil Brii-
ning ihnen einen Abbau der Zolle und damit einen Abbau der
landwirtschaftlichen Preise zumutete sondern weil er nicht
in ein Moratorium fur samtliche Schulden der Junker ein-
willigen wollte, Wenn aber die Preise der landwirtschaft-
lichen Produkte nicht gesenkt werden, dann bedeutet dies,
daB der neue Lohnabbau zum groBten Teil ein Abbau nicht
nur der Nominallohne sondern sogar der Reallohne ist, daB
er eine weitere Zusammenschrumpfung des Binnenmarktes be-
wirkt. Bei dem enormen Produktionsriickgang in Deutsch-
^53
land, der wcit groBer ist als in England und Frankreich, ja so-
gar groBer als in den Vereinigten Staaten, war bfsher f est-
zustellen, daB der Ruckgang in den Prodnktionsindustrien, so
in der Schwerindustrie, in Eisen und Stahl, weit starker war
als in den Konsumindustrien. Wenn durch den neuen Loha-
abbau die Kaufkraft der breiten Massen noch weiter zuruck-
gehen wird, dann wird sich auch der Absatz der Konsumindu-
strien stark verringern. Ein Ausgleich aber ist nicht da, weil
bei der ungeheuren Oberkapazitat der Produktion, die nicht
einmal in der Kortjunktux die Maschinen voll ausnutzen konnte,
bei der absoluten Unsicherheit des. deutschen Kapitalismus im
Weltkapitalismus niemand mehr groBere Investitionen zti un-
ternehmen wagt, Brxining bezeichnete die Vierte Notverord-
nung als die letzte, er sprach dann weiter davon, daB der Lohn
nun nicht noch weiter gesenkt werden durfte. Im Rahmen des
kapitalistischen Systems liberhaupt wird diese Vierte Notver-
ordnung sicher nicht die letzte sein, wohl aber solange es
noch parlamentarisch-demokratische Reste besitzt, Eine neue
Notverordnung wiirde das System sprengen. Das Monopol-
kapital weiB das, aber in die Arbeitermassen ist diese Er-
kenntnis noch wenig eingedrungen. Zwar steht im ,Vorwarts\
daB das Friihjahr den endlgultigen Kampf gegen den Fascismus
bringen miisse, und im Aufruf des ADGB zur Notverordnung
wird erklart, daB sich die Arbeiterschaft zur Fuhrung aktiver
Kampfe bereit halten mussc, die ab April 1932 einsetzen konn-
ten, weil dann der Schlichter Schiedsspriiche nicht mehr fur
verbindlich erklaren wiirde. Aber wahrend man fxir das Friih-
jahr Aktivitat proklamiert, wahrend die SPD und der ADGB
heute in Versammlungen Aktivitat gegen den Fascismus pro-
klamieren, starkt man ihn gleichzeitig durch Tolerierung der
neuen Notverordnung.
Man muB in immer breitere Arbeiterkreise die Erkenntnis
tragen, daB sie dem Kampl mit dem Fascismus nicht aus dem
Wcge gehen konnen. Immer weitere Kreise miissen mit dem
Gedanken erftillt werdien, dafi die Abwehr gegen den drohen-
den Fascismus vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten
vorbereitet werden muB. Sind1 die Fascisten einmal an der
Macht, haben sie erst einmal den Vorsprung gewonnen, so
wird die Arbeiterschaft den Kampf nur mit viel schwerern
Opfern fiihren konnen, so wird der Fascismus sich durch ein
Blutmeer an der Macht zu halten suchen, so wird die Ent-
wicklung leicht fur einen langern Zeitraum verschiittet wer-
den konnen. Der Weltkapitalismus ist im Abstieg, der
deutsche Kapitalismus ist zur Zeit sein schwachstes Glied,
die Weltgeschichte wird ihr Zentrum in nachster Zeit in
Deutschland haben. Von der Entwicklung bei uns wird es ab-
hangen, ob in der ganz^n Welt der Fascismus siegen und ob
damit in der ganzen Welt die finsterste Reaktion herrschen
wird, oder ob die Ketten des Kapitalismus an ihrem entschei-
denden Glied durchbrochen werden. Bisher marschierte der
Fascismus noch schneller als die Sammlung der Linken. Die
Arbeiterschaft miuB dafiir sorgen, daB die drohende Macht-
ergreifung des Fascismus verhindert wird. _
954
Generate and Demokratie von Feiix stossinger
C rinnerungen an den Krieg gehoren zu den Ding en, von denen
" niemand mehr in Deutschland etwas wissen will. In andern
Landern spielen sie noch immer eine groBe Rolle, besonders in
Frankreich. Das kommt nicht daher, daB sich die franzosischen
Leser bei der Lektiire an ihren Siegen sonnen wollen, sondern
von dem eminent historischen Interesse der Nation* Die Stel-
lung, die der Tradition im Aufbau der Kulttir eingeraumt wird,
hat naturgemaB eine besondere Rangstellung der Geschichte
zur Folge, und damit auch der Literatur von Erinnerungen,
Brief en und Gesprachen. Fur ein Volk, das geschichtlich
denkt, bleibt die Geschichte ein Lehrmeister der Politik und
des gesellschaftlichen Handelns. Das gilt nicht nur fur die Kon-
timiitat der AuBenpolitik und ihre allmahliche Entwicklung,
durch die sie niemals von der Vergangenheit vollig abgeschnit-
ten wird; das gilt vielmehr noch fur die innere Auseinander-
setzung der Demokratie. In Frankreich schlieBt der politische
Kampf nicht mehr Machtfragen zwischen Militar und Zivil ein.
Die Grenzlinie zwischen beiden Gewalten ist langst gezogen,
und war selbst im Weltkrieg uniiberschreitbar. DaB dabei die
Verteidigungskraft des Volkes nicht gelitten, dafi die Zivilkraft
sie vielmehr gewaltig gestarkt hat, bedarf keiner Versicherung
mehr. Das Heer braucht sich daher auch nicht in Frankreich
gegen die Kritik der Linken zu verteidigen, weil nicht nur die
Linke, sondern das gauze Land, ohne Unterschied der Parteien,
eine Kritik und Analyse der Heeresverhaltnisse als unverauBer-
liches Recht eines jeden Burgers betrachtet. Der Burger in
Uniform, mag er durch die eimjahrige Armeepflicht oder durch
Berui und Tradition Soldat sein, fiigt sich als Demokrat jeder
Kritik der parlamentarischen Kontrolle. Noch heute beschaf-
tigen sich die Erinnerungen aus der Kriegszeit mit einzelnen
Fallen, in denen Generale die Grenzlinie zwischen Militar und
Zivil respektierten oder aber zu tiberschreiten versuchten. Die
Generale betrachteten den regierenden AusschuB des Parla-
ments als ihre vorgesetzte Stelle, von der sie jeden Befehl ent-
gegenzunehmen hatten. Wie in Amerika Wilson, in England
Lloyd George, so hielt in Frankreich Clemenceau die Preroga-
tive der Demokratie iiber der Generalitat mit eiserner Kraft
fest. Jeden Versuch der Generate, der siegreichen Generale,
sich in die Politik zu mischen, schlug er nieder.
Auch in Frankreich hatten einige Generale Lust, Ptflitik
auf eigne Faust zu machen. Sie sind daran griindlich gehin-
dert worden. Wie in der Strategic, war auch in der Demo-
kratie Joffre stark durch Passivitat; Foch durch Aktivitat.
Joffre lehnte jeden Versuch, ihn in die Politik hineinztiziehen,
ab. Foch war der Versuchung nicht gewachsen und benutzte
seine Stellung, urn militarische Ansichten, die aber unzweif el-
haft ins politische Gebiet ubergriffen, durchzudriicken, Als er
sich in die Friedensverhandlungen mischte, muBte er sich Zu-
riickweisungen gefaUen lassen, die demiitigend waren. Weil
Joffre grade die Versuchungen, die an ihn herantraten, poli-
tischen EinfluB zu nahmen, ablehnte, genieBt er heute beim
franzosischen Volk eine Verehrung, durch die die Anerkennung
955
noch gehoben wird, die man ihm als dem cigcntlichen Sieger
der ersten Marneschlacht zollt, wahrend das Bild von Foch
durch die Streitigkeiten mit Clemenceau und1 dem Obersten
Rat von manchen polemischen Auseinandersetzungen beschat-
tet wird1.
Erst jetzt ist bekannt geworden, wie stark der Druck ge-
wisser Kreise wahrend der Friedensverhandlungen war, auch
Joffre fiir eine Beeinflussung des Obersten Rats und der Frie-
densbedingungen zu gewinnen. Der Divisionsgeneral und be-
kannte Miiitarschriftsteller Mordacq (iibrigens ein ungetaufter
Jude, dessen Name die franzosische Form von Mordechei ist)
erzahlt in seinen Erinnerungen an Joffre, die jetzt in der ,Re-
vue de Paris' fortlaufend erscheinen, wie viele Versuchungen
an Joffre herantraten, sich den Beschliissen des Rats der vier
zu widersetzen. Aber Joffre hatte alien Versuchern ,,avec son
bon sens habitue! et son esprit discipline'1 schlicht geantwortet,
bevor er Marschall geworden sei, sei er Soldat gewesen, und
infolgedessen wiirde er seine Meinung nur abgeben, wenn der
Ministerprasident ihn danach fragte. Es ist Sache der Gene-
rale, fiigt er hinzu, die militarischen Operationen zu leiten, aber
es obliegt den Regierungen und den Diplomaten, tiber die Frie-
densvertrage zu verhandeln.
Die revolutionare Demokratie verbietet den Generalen,
einen Krieg zu verlieren, aber sie gestattet dem Sieger nicht,
in die Politik einzugreifen. Auf dieser ideologischen Grund-
lage fanden die Auseinandersetzungen zwischen Clemenceau
und Foch statt, die mit der Demission des Marschalls hatten
endigen miissen, wenn nicht auch er die Subordination des
ersten Soldaten von Frankreich unter den Prasidenten des Mi-
nisterrates anerkannt hatte. In diesen scharfen Auseinander-
setzungen hat niemand Fochs Haltung Clemenceau gegenuber
in Schutz zu nehmen gewagt, Niemand hat dem siegreichen
Marschall das Recht eingeraumt, sich auf Grund seiner mili-
tarischen Autoritat eine politische anzumafien, Neben Cle-
menceau haben sich Wilson und Lloyd George nicht geniert,
gegen Foch Stellung zu nehmen, Auch fiir sie, Reprasentanten
einer parlamentarischen Demokratie, war die Einmischung
eines Generals in die Politik, sein Versuch, privaten politischen
Meinungen durch seine militarische Stellung Gewicht zu ver-
leihen, indiskutabeL
Die erste Differenz zwischen Foch und der zivilen Gewalt
ergab sich, als der Marschall der ,Daily Mail' ein Interview
iiberlieB, in dem er sich gegen die Absichten der Alliierten
wendete, die er von seinem militarischen Standpunkt aus un-
gemigend fand. Kaum hatte Clemenceau von diesem Interview
erfahren, als er es sofort durch die Zensur verbieten lieB. Die
Zensur war also ein Organ der franzosischen Demokratie aber
nicht des Militars. Wilson und Lloyd George machten Cle-
menceau, wie dieser in seinem Buch „GroBe und Tragik eines
Siegs" mitteilt, heftige Vorwurfe, daB seine Duldsamkeit
dem Marschall die Moglichkeit gabe, sich widerrechtlich in die
Geschafte der Zivilgewalt einzumischen. Clemenceau ver-
langte von Foch eine Aufklarung, die dieser gab, wobei er
956
offenbar wie ein auf einem Fehler Ertappter, urn sich zu recht-
fertigen, nicht ganz bei der Wahrheit blieb. Um die Situation
nicht zu verscharfen, verzichtete Clemenceau auf einc Klar-
stellung nicht ohne zu bemerken, ttda*B in England einc der-
artige Verfehlung streng bestraft worden ware", {Im gleichen
Buch, S. 91.)
Nachdem es schon in den letzten Kriegsmonaten zu Rei-
bungen zwischen Clemenceau und Foch tfekommen war, folgte
wahrend der Friedensverhandlungen ein Zwischenfall, der fast
zu einem militarischen Verfahren gegen Foch und zu seiner Ab-
setzung gefiihrt hatte. Im April 1919 erhielt der Marschall den
Auftrag, die Einladung der deutschen Delegierten nach Ver-
sailles auf die vorgesenene militarische Weise zu veranlassen.
Foch hat diesen Auftrag nicht ausgefiihrt, obwohl es ein Befehl
war, da atich der Marschall von Frankreich dem Kriegsminister
untersteht, Das war die offene Sabotage eines Befehls und zu-
gleich ein Versuch, gegen die Politik des Obersten Rates zu
protestieren. Foch wurde im Ganzen zweimal zu den Sitzun-
gen der Regierungen zugezogen, um als Sachverstandiger sein
Urteil iiber den Vertragsentwurf abzugeben. Wie man weiB,
war es ein Privatvergniigen Fochs, vom Fried ens vertrag die
verhiillte Loslosung des Rheinlands von Deutschland zu for-
dern. Man horte Foch, wie Tardieu in seinem Buch (fLa Paix"
berichtet, an, lehnle aber einmutig seine Einwande ab. Nie-
mand war ein scharferer Gegner einer Annexion deutschen
Gebietes durch Frankreich als der Jakobiner Clemenceau. Da
wagte es Foch nun, diese Ablehnung mit einer lassigen Erledi-
gung des Befehls vom Obersten Rat zu beantworten. Er
fiihrte den Auftrag zunachst nicht durch. Niemand hatte Be-
denken, die Entrusting der Friedenskonferenz demselben
Manne ztun Ausdruck zu bringen, den man als den strategi-
schen Sieger des Weltkriegs gleichzeitig feierte. Wilson er-
klarte: „Ich werde das amerikanische Heer keinem General
weiter anvertrauen, der seiner Regierung nicht gehorcht". Die
Stunde der Unruhe ob dieses Verhaltens nennt Clemenceau
Mfurchterlich". Alle wufiten, was auf dem Spiele stand: der
Vorrang der zivilen Gewalt vor der militarischen. Man durfte
in diesem Augenblick keinen Zoll nachgeben, ohne die Demo-
kratie selbst zu gefahrden. Das Verhalten des Marschalls
wurde, obwohl es nur einen formalen VerstoB darstellte, als
Versuch eines , .militarischen Aufstands" behandelt, Cle-
menceau traf nunmehr alle MaBnahmen, um zu zeigen, daB
auch fiir den Marschall von Frankreich das Gesetz militarischer
Disziplin besteht. Die zivilen Vorgesetzten Fochs waren ehe-
malige Journalisten, ein wallisischer Winkeladvokat und ein
Philosophieprofessor. Um ihren Befehlen Geniige zu tun, HeB
man zunachst einige Tage der Beruhigung eintreten, die, man
hore nur, (,der Reue bestimmt sein sollten". Hierauf wurde
im Fall einer notwendig werdenden Absetzung beschlossen,
Marschall Petain als Nachfolger Fochs bereit zu halten. Dann
HeB sich Clemenceau von den andern Mitgliedern des Obersten
Rates ermachtigen, Foch auf seinem Posten zu behalten, wenn
er, dies sollte die Siihne fur seine Eigenmachtigkeit sein, ,,auf
Ehrenwort versprache, derartige Handlungen fortan zu unter-
957
lassen", Foch ging dicse Verpflichtung ein, deren Versagung
seinen Sturz zur Folge gehabt hatte.
Die Eifersucht, mit der die Trager des demokratischen
Prinzips auch einem General gegeniiber auftraten, dem die
Welt -den Ruhm des Siegers im Weltkrieg offiziell einraumte,
(and ihre Grenzen beim Recht des Marscballs innerhalb seiner
Befugnisse, seine Entscheidungen zu treffen, auch im Gegen-
satz zu den Wunschen des Zivils. Es bleibt das historische
Verdienst Fochs, fur das ihm Deutschland Dank scbuldet, daB
er gegen die Anspruche der amerikanischen Generale und auch
des Obersten Edward Mandell House, des Vertreters von Wilson
in Europa, eine Weiterfuhrung des Krieges gegen Deutschland
im Augenblick unsres militarischen Zusammenbruchs a'blehnte.
Den Amerikanern gegeniiber, die zum Siegen zu spat gekom-
men waren und deshalb in Berlin einziehen wollten, verwehrte
Foch mit eiserner Energie jeden weitern Bhitstropfen mit dem
Wort: „Ich fiihre nicht Krieg um des Krieges willen'\ Be-
denkt man, daB eine alliierte Offensive fur den 14 November
vorbereitet war, die der deutschen Armee in einem Cannae
einen Blutverlust bereitet hatte, bei dessen Vorstellung uns
noch nachtraglich schaudert, dann haben wir wohl alien An-
laB zur Feststellung, daB Foch, wie er es auch in seiner Schrift
uber Napoleon und in seinen Kriegserinnerungen (deutsch bei
Kohler* Leipzig) verkiindet, das Recht des Besiegten auf Leben
hoher stellt als den Triumph eines nicht mehr notigen Sieges.
Auch bei den Waffenstillstandsverhandlungen wehrte Foch po-
litische Ubergriffe ab, wie er sie in den Seekriegs-Waffenstill-
standsbedingungen „gewisser Verbundeter" fand. Er verhin-
derte, daB England durch iibertriebene Flottenforderungen
Deutschland die Annahme des Waffenstillstands unmoglich
machte.
Im ubrigen hatten die Auseinandersetzungen zwischen
Clemenceau und Foch nicht immer die formale Ruhe, wie sie
in der nachtraglichen Retouche der Memoiren erscheinen.
Clemenceau hat den Marschall, wenn es notwendig war, an-
gefahren wie ein berliner Bureauvorsteher einen neuen Stift,
Als General Weygand einmal ohne Erlaubnis im Obersten Rat
reden wollte, fuhr Clemenceau Foch als den Vorgesetzten
Weygands an: „Sie haben nicht das Recht, von sich aus hier-
her zu kommen, Sie sind nur hier, um Rede zu stehen, wenn
man Sie zu Rate zieht. Sorgen Sie wenigstens dafiir, daB das
geschieht/' So Clemenceau vor den Ohren des Auslands
gleich zu zwei Generalen.
Ober die Stellung des Militars in der Demokratie entschei-
den, .wie diese Tatsachen zeigen, nicht die Krafte des Militars
sondern der Demokratie. Ein Sieger wie Foch mit politischen
Besorgnissen uber die Schlappheit des Zivils ware in einem
andern Lande dessen Diktator. Die Demokratie, und tiber-
haupt alle politischen Machte, besitzen stets so viel Gewalt,
als sie in Aispruch zu nehmen die Kraft haben. DaB die De-
mokratie die Wehrkralt des Volkes nicht schwacht sondern
starkt, hat grade der Weltkrieg bewiesen. Die Annahme, daB
es zur Wehrstarkung eines Volkes der Ersetzung der Demo-
kratie durch eine Diktatur bedarf, wird durch die Erfahrungen
958
des Krieges widerlegt. Deutschland fiihrte den Krieg nach
strategischen Planen, denen alle politischen Entscheidungen
untergeordnet werden muBten. Das war der innere Grund1 fiir
das Versagen der deutschen Strategic Sie diente keiner
Politik, sondern war Selbstzweck. Auch den entscheidenden
Personlichkeiten der deutschen Politik waren die deutschen
Aufmarschplane, deren Durchfuhrung politische Entscheidun-
gen oktroyierte, unbekannt, wahrend ganz im Gegensatz dazu
selbst das militarische Hochgeheimnis des strategischen Auf-
marschs dem HeeresausschuB der franzosischen Kammer unter-
breitet wird. Nicht die Starkung der militarischen sondern
der demokratischen Prerogative hebt den militarischen Wert
einer Nation. In der rucksichtslosen Kontrolle der Demokratie
besaBen die Heere der Entente in Wirklichkeit ihre starkste
Waffe. Das ist auch der letzte Grund <kfiir, warum in keinem
der Siegerlander aus dem Vorrang des Militarischen in der
Zeit der Kriegsfiihrung ein Umschlag in eine Militardiktatur
nach Beendigung des Krieges erfolgt ist. Die Kontrolle des
Militars durch die Demokratie ist ein Potentiel de guerre, auf
dessen Erwerb Deutschland nicht verzichten kann.
Rote Slgnale von Ignaz Wrobel
T Jnter diesem Titel ist im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin
^ ein illustriertes Heftchen Gedichte erschienen. Es sind
Beitrage aus der A.I.Z., die bei Miinzenberg herauskommt.
Die deutsche Propagandadichtung hat noch nicht ihren Stil
gefunden; sie wird ihn aber finden. Noch tastet sie. Manches
in diesem Bandchen ist zu trocken, zu abstrakt, zu sChr aus
der Photo abgeschrieben, unter der das Gedicht abgedruckt
stent, und also ohne Bild nicht recht wirksam. (Auch mein
>Freund Theobald Tiger verfallt oft in diesen Fehler. Und das
ist ein Fehler, wenn es sich um Vortragsstiicke handelt.) Ein paar
Gedichte sind glatt verhauen, Manches poltert; Erich Weinert
hat auch leise Tone, von denen man hier nicht viel hort. Pras-
selnder Versammlungsbeifall ist gut; kiinstlerische Wirksamkeit
kann besser sein.
Was absterben sollte, ist die blanke Elendsschilderung. Die
Proletarier und Angestellten wissen, daB es ihnen schlecht geht
und wie schlecht es ihnen geht. Zu zeigen sind Auswege.
Und nun wieder nicht, wie die KPD in ihrer Verranntheit oft
gemeint hat, gereimte Parteithesen, die viel, viel unwirksamer
sind als die Funktionare glauben. Gewifi muB man die Linie inne-
halten, das ist schon richtig. Doch was wollen diese Gedichte?
Den deutschen Grundfehler wiederhol en? Schon Bekehrte be-
kehren? Das ist iiberfliissig. Wer das Parteibuch bereits hat,
will zwar gestarkt werden — der Schwerpunkt aber liegt an-
derswo.
Er liegt in der politischen Beeinflussung der Schwanken-
den. Und auf deren Seelenzustand ist Riicksicht zu neh-
men. Missionare miissen indianisch lernen — mit lateinisch
bekehrt man keine Indianer.
3 959
Das Bandchen ist ein Versuch; es ist em Weg aufwarts
spiirbar. Seltsam ist nur, wie wenig Arbeit er unter den Ver-
fassern vertreten sind; jeder Redakteur dieser Richtung weiB
ja, wie kleinbiirgerlich fast alle von Proletariern eingesandten
Verse sind, wie wenig urspriingiich, wie angelesen, Schade —
hier ware ein Feld.
Hoffentlich schaffen es die Agitproptruppen. Das beste
Gedicht scheirit mir aus deren Bereich jene „Proletarische
Selbstkritik" von Willi Karsch zu sein; ein Volltreffer. Das
sitzt. Erste Strophe:
Vier Treppen links im Hinterhause
als Oberhaupt und Haustyrann
herrscbt der Familienvater Krause
und sieht sich seine Bude an:
Een Haufen Nipps, — der Schonheit wejen —
zwee Engel uberm Ehebett
mit joldbesticktem Morjensejen
und eene Venus im Klosett.
Und neben Militarandenken
mit schonem schwarzweiBrotem Band
und Hochzcits- und Vereinsjeschenken
hangt einsam Lenin an der Wand.
BloC wenn er an der Theke steht,
ist Krause Sozialist;
da schwitzt er Klassenkampfertum
und schimpft uff Burgermist.
Sonst frifit er sich ne Plauze ran,
ist iromm und gottergeben , . .
Doch kommts nicht auf die Schnauze an,
ihr miiBt auch danach lebenl
Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen, Das Bandchen wendet
sich endlich auch an sie, und' wenn ihr einem oder einer eine
kleine Weihnachtsfreude machen wollt . . .
Soweit war diese Kritik gediehen, als dem Neuea Deut-
schen Verlag ein Zettelgen ins Haus ilatterte: atif dem stan-
den gar viele Zahlen. Es war aber kein Kurszettel, sondern
ein Schreiben des berliner Polizeiprasidiums, das die „Roten
Signale" beschlagnahmt hat.
„. ..weil die Regierung nind die Justiz und die Religions-
gesellschaften und- ihre Einrichtungen beschimpft und boswillig
verachtlich gemacht werden, und weil aufler diesen Stellen
die gjanze Tendenz der Druckschrift dahin geht, die Leser der
Druckschrift aufzuhetzen und fur einen politischen Umsturz
reif zu machen." Und ich hatte geglaubt, das tate der Hunger.
Ilhistrierter Beobachter, ein Naziblatt:
,tS.A. marschiert. Sturmbann VII/5 bei der Arbeit." Da-
zu Bilder:
,fSturmbannerfuhrer R. — Besichtigung des Radtahrer-
sturms durch seinen Ftihrer. — Besichtigung durch den Stan-
dartenfiihrer in Neustadt i. Sa^ — Bild links: Vereidigung des
Sturmbannes VII/5."
960
Was ist das — ?
Das ist em harmloser Radfahrerverein, und dcr wird er-
laubt. Und Rotfront ist verboten.
Beleidige die „Breslauer Judea", du kannst es ungestraft
tun. Kritisiere „SoldatenM — du kannst es nicht tun. Sag:
Schwangere werden gequalt, Gefangene geschunden; nicht
immer sind alle schuldig, die da schuldig gesprochen werden —
du darfst es nicht sagen. Sag: „Die Reichswehr . . .", und du
bist auf alle Falle schuldig; sei es, daB du sie pazifistisch
nennst, sei es, daB du sie nicht pazifistisch nennst — du sollst
den Namen deines Gottes uberhaupt nicht nennen, und dieser
Satz ist nun wahrscheinlich eine Gotteslasterung.
Der Regierungsrat, der das hier mit zusammengekniffnen
Lippen urtd einem fiskalischen Bleistift in der bezaubernden
Hand liest, er senke den Bleistift. Unsre Arbeit ist getan.
Niemand braucht mehr aufgehetzt, niemand fiir den politischen
Umsturz reif gemacht zu werden.
— „K6nnte man da nicht . . .?"
Nein, Herr Regierungsrat, man kanrt, aber man konnte
nicht. Ich babe nichts gesagt. Haben Sie was gesagt?
Einheitsfront der Arbeit er und Anges tell ten — wo bist
du — ?
Esperanto von Johannes Stickler
Dieser am Westdeutschen Rundfunk gehaltene Vor-
trag hat einen Protest von Esperantisten erregt. Wir
bitten diese, auf den letzten Satz zu achten: Der Ver-
fasser wurde sich selbstverstandlich als ehrlicher Demo-
krat dem Abstimmungsergebnis ftigen.
Jeder, der internationalen Kongressen beigewohnt hat, weiB,
wie unangenehra zeitraubend und langweilig es ist, die
gleiche Rede dreimal hintereinander zu horen. Einmal vom
Originalredner, zweimal von verschiedenen Obersetzern, Man
hat sich deshalb schon so ztt helfen versucht, daB man in
letzter Zeit die Rede gleichzeitig durch Dolmetscher vermittels
Kopfhorer iibertragen lieB. Das kann immer nur ein unvoll-
kommener Notbehelf sein, Ganz abgesehn da von, daB es fast
unmoglich ist, einen Satz in eine andre Sprache zu iibertragen
und gleichzeitig den nachsten zu horen, Wenn man aber die
Schwierigkeiten kennt, die es manchmal schon unmoglich
machen, daB Bewohner des gleichen Landes sich verstandigen,
wie zum Beispiel die Flamen und1 Wallonen Belgiens, die
Tschechen, Deutschen und Ungarn in der Tschechoslowakei,
so muB man unbedingt dafiir sein, daB es eine allgemein an-
erkannte internationale Sprache gibt. Um so mehr als die na-
tionalen Sprachen durchaus nicht die Tendenz haben, sich zu
verringern, im Gegenteil; sie vermehren sich. Sprachen, die
schon verschwtmden schienen, leben wieder neu auf. Das
Norwegische trennt sich gewaltsam vom Danischen, das alte
961
Irisch, Katalonisch, Hebraisch, Ukrainisch wird mit einem wah-
ren Fanatismus wieder gepflegt, Estnisch, Lcttisoh und Li-
iauisch werden zu neucn Kultursprachen erhoben, Aus alle-
dcm ergibt sich die absolute Notwendigkeit, eine bestimmte
Sprache als international festgelegtes Verstandigungsmittel
fur bestimmte Zwecke anzuerkennen,
Wohl verstanden: nur fur bestimmte Zwecke, Beileibe
nicht, urn irgend eine lebende Sprache zu ersetzen oder zu
verdrangen. Wer sich wirklich fiir die Kultur und das soziale
Leben eines Volkes interessiert, mochte in Paris sein, ohne
franzosisch, in Florenz ohne italienisch zu verstehen? Aber dafi
es eine ,, internationals Hilfssprache" geben muB, daruber sind
wir uns alle einig. Die Volker werden sich dieser ,,zweiten
Sprache" ebenso bedienen, wie sich bereits alle Nationen des
Abendlandes der gleichen arabischen Ziffern und der gleichen
Notenschrift bedienen.
Ohne sich in die Streitigkeiten einzumischen, die die Ver-
fechter der verschiedenen kiinstlichen Systeme untereinander
auskampfen, muB zugegeben werden, daB das Esperanto und
sein Ableger, das Id'o, den Sieg dlavongetragen haben. Und
es muB ferner zugegeben werden, daB von diesen beiden Espe-
ranto durch die grofie Zahl seiner Anhanger, deren Aktivitat
und die Existenz esperantistischer Zeitungen und Literatur
allein ernsthaft zur Diskussion steht,
Zugegeben auch, daB Esperanto die grammatikalischen
Schwierigkeiten einer Sprache auf ein Minimum reduziert hat.
Ein Wortschatz, bei dem alle Substantive auf of alle Adjekti've
auf a, die Mehrzahl immer mit j, die Infinitive mit i enden, wo
die Zeiten der Verben sich auf vier beschranken, alle mit der
gleichen Endung, wo auBerdem Substantive, Adjektive und
Verben, die zusammengehoren, alle den gleichen Stamm ha-
ben, bietet gegenuber alien leb enden Sprachen einen riesigen
Vorteil. Ein normal begabter Mensch kann die Regeln des
Esperanto in einer Stunde kapieren. Die Grammatik ist also
leichter als die der englisohen Sprache, die schon auBerordent-
lich einfach ist.
Ich erkenne also die Vorteile des Esperanto durchaus an,
ebenso, daB die Esperantisten theoretisch die Schlacht schon
gewonnen haben, und daB sie auch tatsachlich schon eine feste
Position einnehmen. Ich glauibe nur, daB sie in ihrem beinahe
religiosen Fanatismus ihr Wirkungsgebiet weit iiberschatzen.
Das Esperanto konnte dazu dienen, ein wissenschaftliches
Werk, das in einer nur Wenigen gelaufigen' Sprache erschienen
ist, dlen Gelehrten aller Sprachen zuganglich zu machen, ohne
dafi es in zehn oder mehr Sprachen iibersetzt wird. Es konnte
bei der internationalen Geschaftskorrespondenz, in Katalogen,
die fur die ganze Welt bestimmt sind, angewandt werden. Es
konnte auch gute Dienste leisten bei internationalen Fahrpla-
nen, in durchgehenden Ziigen, auf Grenzbahnholen, in interna-
tionalen Hafenstadten, Reisefiihrern etcetera,
Aber schon bei internationalen Kongressen ist eine Rede
in Esperanto in keiner Weise mit einer solchen in lebender
962
Sprache zu vergleichen. Professor Th. Ruyssen, der seit
zehn Jahren alien Volkerbundsversammlungen beigewohnt hat,
schreibt iiber seine Eindriicke: „Die Redner beim Volkerbund
sprechen meistens franzosisch oder englisch. Jede Redef die
in einer dieser beiden Sprachen gehalten wird, muB in die
andre iibersetzt werden. Und wenn sie in einer dritten Sprache
gehalten wird, muB sie in beide Sprachen iibersetzt werden*
Es ist furchtbar, alles dfeimal zu horen! Wie oft habe ioh da
den verzweifelten Ruf gehort: Wann wird man sich endlich
zu einer allgemein verstandlichen Sprache entschlieBen? Eine
gute Reklamegelegenheit fiir Esperantisten. Aber nach
menschlicher Voraussicht hat dieses Ideal keine Chance auf
Verwirklichung. Warum? Weil die Volkerbundsversammlung
ein lebendiges Milieu ist, wo lebende Sprachen allein geeignet
sind, Gefiihle und Gedanken lebendig auszudriicken. Und
warum drticken sich die meisten Redner in Genf, die weder
Franzosen noch Englander sind, in einer der beiden Sprachen
so vollkommen aus, wie man es manchem Redner im Palais
Bourbon wunschen mochte? Weil sie den Gebrauch der frem-
den Sprachen unter wirklichen und nicht kiinstlichen Bedin-
gungen gelernt haben. Weil sie die Sprachen von Franzosen
oder Englandern auf Schulen oder Umversitaten gelernt haben
oder sogar ihre Ausbildung in Paris oder London selbst ge-
nossen haben, wo sie mit der Sprache die Kultur und die
Atmosphare des Landes in sich aufgenommen haben," , Ich
selbst erinnere mich lebhaft an einen Neger aus Haiti, der auf
einem internationalen KongreB seine Negerrepublik vertrat
und das schonste und kultivierteste Franzosisch sprach, das
— einschlieBlich der sehr vielen anwesenden Pariser — dort
gesprochen wurde. Er hatte in seinem Land die franzosische
Schule besucht.
Eine kiinstliche Sprache wird niemals die vielen Nuancen
hervorbringen konnen, die im Familien- und Volksleben sich
ge'bildet haben.
Die Esperantisten behaupten gern, die kiinstliche Sprache
trage zur Volkerverstandigung und zur Starkung des Frie-
dens bei. Das dlirfte aber nur in ganz geringem Mafi der Fall
sein. Die Geschichte zeigt, daB die gleiche Sprache Englan-
der und Amerikaner nicht gehindert hat, sich im Unabhangig-
keitskrieg zu zerfleischen, noch die Nord- und Siiddeutschen,
sich bei Koniggratz zu schlagen, wahrend das Beispiel der
Schweiz zeigt, daB man sich sehr wohl vertragen kann, auch
wenn man vier verschiedene Sprachen spricht.
Man uberschatze aber auBerdem nicht die Leichtigkeit,
mit der Esperanto erlernbar ist. Die Einfachheit der Sprache
trifft nur auf die Grammatik zu. Das Erlernen der Worter ist
nur fur die lateinsprachigen Volker leicht, also nur fiir eine
kleine Minderheit von Volkern. Selbst ein so begeisterter
Anhanger des Esperanto wie Charles Richet gibt zu, daB von
den Wortern 95 Prozent eine lateinische Wurzel haben. Es
ist daher nur natiirlich, daB zu den eifrigsten Verfechtern des
Esperanto Franzosen gehoren. Und selbst diese kann man mit
ihren eignen Beispielen widerlegen. Da nimmt zum Beispiel
963
Antonelli in einer Propagandaschrift das Wort „Engel", um zu
beweisen, wie leicht es fur die verschiedenen Nationen ist,
Esperanto zu lernen. Im Franzosischen ..angc'*, im Englischen
„ angel", im Russischen „ angel" im Esperanto ebenfalls „ angel".
Aber nun kommt der springende Punkt. Wie wird das Wort
t,richtig" esperantisch ausgesprochen? Jeder nicht Sprachen-
kundige, und fiir die andern ist ja eine kiinstliche Sprache
iiberhaupt nicht no tig, wird das nach seiner Fasson aussprechen,
und schon hat man wieder vier verschiedene Worter. Man
denke nur an Latein, das Franzosen und Englander anders aus-
sprechen als Deutsche. „Do minus ssantiis" sagt der Franzose
und behauptet — wahrscheinlich mit irgend einer wissenschaft-
lichen Begriindung — , daB die alt en Romer es so ausgesprochen
hatten,
Bleibt noch die Moglichkeit, zur internationalen Sprache
eine schon bestehende, entweder tote oder lebende Sprache
zu erheben. Denjenigen, die sich aus asthetischen Griinden fur
Latein entschieden hafoen,' muB entgegengehalten werden, daB
es im Lateinischen eine ganze Menge Worte unsres taglichen
Lebens gar nicht gibt. Man iibersetze zum Beispiel den Satz;
Ich nehme mein Taschentuch aus der Hosentasche! Die Ro-
mer hatten weder Tasdhentuch, noch^ Tasche, noch Hose.
Bleibt also nur noch die lebende Sprache.
Bei der Wahl dieser Sprache kann weder rationales Pre-
stige noch leider die Aesthetik maBgebend sein. Die Frage
kann nur von der Praxis entschieden werden. Welche Sprache
ist die am leicht est en erlernbare und gleichzeitig am weitesten
verbreitete der Erde? Die englische. Man hat ubrigens schon
in Erwagung gezogen, ob man zu diesem Zweck nicht die ein-
zige kleine Schwierigkeit im Englischen, die unregelmaBigen
Verben, zu regelmaBigen machen sollte. Die englische Sprache
ist fiir jeden, der nur seine eigne Mutter sprache spricht, leich-
ter zu, erlernen als Esperanto.
Im tibrigen mufl wiederholt werden; daB jede internatio-
nale Sprache immer nur einen engbegrenzten Zweck hat, sie
wird weder die sozialen noch die politischen Verhaltnisse an-
dern. Der Kreis der Menschen, die sich wirklich fiir inter-
national Dinge interessieren, wird immer nur sehr beschrankt
sein, und auch die zwangsweise Einfuhrung einer internationa-
len Sprache in den Lehrplan aller Schulen der Welt wird
daran leider nicht viel andern. Man denke nur zum Beispiel
an die deutschen Zwangsschulen in Oberschlesien und Posen.
Acht deutsche Schuljahre und drei Militarjahre haben nicht
geniigt, den Einwohnern jener Landstriche die deutsche Sprache
beizubringen. Man denke nur an Luxemburg und Belgien,
wo keine einzige Kultursprache richtig gesprochen wird.
Es ist sehr schwer, mit den Esperantisten zu verhandeln,
weil sie so oft wirklichkeitsfremde Fanatiker sind. Aber ent-
schieden werden sollte die Frage in den nachsten Jahren. Zur
Diskussion wird wahrscheinlich nur Esperanto und Englisch
steheri. Die Entscheidung muBte durch Weltabstimmung
fallen.
964
FilmwirtSChaft von A. Kraszna-Krausz
Dieser Artikel ist vor einigen Wochen entstanden, als der
BeschluB der Filmindustrie uber den Gagenabbau eben heraus
war, Inzwischen hat sich das Bild der Wirtschaft, auch das
der Filmwirtschaft, bekanntlich etwas yerschoben. Das andert
aber nichts am Grundsatzlichen.
Machts, nachdem sie eben das Licht geloscht haben, gestehen
sich wohl auch die Herren der FriedrichstraBe ein, dafl
ihre Umgebung einem Irrenhaus gleicht, in dem jeder die Rolle
spielen darf, die er sich anmaBt, und jeweils den Stil, den er
fur wirksam halt. An Sonn- und Feiertagen, auf internatio-
nalen Kongressen, vor den Behorden und in der Presse aller-
dings erklaren sie mit erhobener Stimme, das, was sie mac hen,
als Kulturgut, und wie sie es machen, fiir Kunst. Werktags
wieder, hinter dem Schreibtisch, wenn das Telephon nervos
Betrieb markiert und Leute, die etwas wollen, unentwegt „Herr
Direktor" sagen, fuhlt man sich diesbeztiglich als Industrieller.
Die Industrie, die unsre Industrielle betreuenf unterschei-
det sich von andern Indus trien dadtirch, daB sie Betrieb e ftir
den einzelnen Produktionsfall erst abmieten muB, auch Be-
triebsmittel nur leihweise in die Hande bekommt und Betriebs-
krafte auf Tage anstellt. Der groBte Teil dieser Industrie muB
die Ateliers, in denen er arbeitet, die Apparate, die er be-
notigt, die Leute, die seine Werkzeuge sind, von Fall zu Fall
in Anspruch nehmen, von Fall zu Fall neu kalkulieren, von
Fall zu Fall unter andern Bedingungen einsetzen.
Filme werden weder gedichtet noch fabriziert, FUme
werden Mgedreht". An Hand eines Inserates und mit Hilfe von
Provinzreisenden. F^nanziert mit Wechseln, der en Valuta
Heurigenmusik, Schlagerzeilen und! Sexappealchen sichern. Oder
eine andre Milieumode, ein andrer Titelstii und ein andrer
Starname. Die Wechsel gibt der Theaterbesitzer dem Ver-
leiher und der Verleiher dem Produzenten weiter. Der MBt
sie diskontieren mit Miihe und Not und 33 Prozent, Dann geht
es los, und man wird auch fertig — solange sich die Kalkula-
tion halt. Andernfalls finden Unterbrechungen statt. Neue Ver-
mittler jagen nun neuer Kapitalhilfe nach und stecken neue
Prozente ein. Wenn alles klappt — und nicht immer klappt
alles — ( miissen nur einige Szenenkomplexe des Manuskriptes
gestrichen und die AuBenaufnahmen statt an der Adria, am
Stolpchensee beendet werden. Statt in zehn Tagen, in drei.
Der Regisseur, ein Kameramann und vier Schauspieler diirfen
nachher ihrem Gelde bis zum Arbeitsgericht nachlaufen. Wenn
auch umsonst. Die Firma hat inzwischen zugemacht, das
Negativ des Films der Verleiher beschlagnahmt.
Man wird sagen, sowas sei ein Ausnahmefall und konne
ja vorkommen. Aber es ist nicht ein Fall, es sind manche
Falle. Viele. In ihrer Geschichte vielleicht um Nuancen ver-
schieden. Bestimmt bis aufs Haar gleich im Endeffekt. Wer
das nicht glaubt, der kann ja in den Jahrgangen der Branchen-
AdreBbiicner nachblattern. Kein halbes Dutzend von Firmen-
namen halt sich hier 1 anger als uber eine Saison oder zwei.
965
Und solange einer sich halt, muO er aus der Offenen Handels-
gesellschaft in die G. m. b. H.( aus der G. m. b- H. in die A-G.
hiniibergerettet, danach wieder das Aktienkapital vergroBert,
bci der nachsten Generalversammlung hingcgen zusammen-
gelegt werden, und im Aufsichtsrat thronen allemal neue Leutc.
Nur Jcnef die hinter den gepolsterten Tiircn sitzen, die Ge-
schafte machen und bestimmt Geschafte machen, Beziige bis
zu funfstelligen Zahlen kassieren, Auslandsreiseni auf Ver-
trauensspesen repetieren, und Prozente auch davon bekom-
men, was verlorenging, Direktoren von Produktionsgesellschaf-
tcn und Manager von Finanzkombinationen, die Herren der
Friedrichstadt, vom Bristol bis zum Eden — die bleiben. Sie
schliipfen durch komplizierte Affairent fallen samtliche Trep-
pen hinauf und dekretieren, wenn es mal mulmig schmeckt,
geschwind, da8 es so nicht weitergehen kann, man Ordnung
schaffen muB, rationalisiert werden solL Ecco.
Das geschieht diesmal ausgerechnet zu einer Zeit, wo
die deutsche Filmindustric Millionenrekorde fur Ausstattungs-
stiickcben erschwingt, alle berliner Ateliers ausverkauft sind,
die Provinz immer groBere Lichtspielpalaste eroffnet und nicht
einmal die Arbeitslosenstadte des Ruhrgebiets sich iiber
schlechten Kinolbesuch beklagen konnen.
Von solchen AuBerlichkeiten sieht aber die Organisation
der Fiknhersteller gem ab, wenn das Wackeln der iibrigen
Wirtschaft, die Abbaupsy chose in alien Branchen, die schwach-
liche Sozialpolitik des Reiches grade die giinstigste Gelegen-
heit bieten, jetzt dabei sein zu diirfen, wenn Diktatur der In-
dustrie gespielt wird: als Industrie unter den andern Industrien,
gleichberechtigt, ahnlich serios und noch kraf tiger. Also be-
schloB das Konsilium der Fabrikanten: „Die Stargagen sind
auf ein verniinftiges MaB zuriickzufiihren. Die Schauspieler-
gagen sind um mindestens 20 Prozent der zuletzt gezahlten
Gagen zu verringern. In gleicher Weise miissen abgebaut
werden die Bezuge des technischen und technisch-kiinstleri-
schen Personals, welche in keinem Verhaltnis zu dem in an-
deren Wirtschaftszweigen ublichen Entgelt stehen . . ." .
Diese Beschliisse und das ganze offizielle Komm unique, in
dessen Rahmen sie vor kurzen Wochen veroffentlicht worden
sind, umgehen absichtlich und bewuBt in drei groBen Bogen
die Wahrheit uber die Filmwirtschaft. Erstens, indem sie deri
Anschein zu erwecken suchen, als ob an der MiBwirtschaft
der Industrie einen wesentlichen Anteil der Honoraretat haben
wurde. Zweitens, indem sie die Moglichkeit vorgaukeln, an
den Stargagen andern zu konnen oder zu wollen. Drittens, in-
dem sie das eingefrorene Marchen iiber die rosigen Einkiinfte
aller Filmschaffenden wieder aufwarmen. Wahr ist dagegen;
Von dem Geld, das durch die Kassen der Lichtspielhauser
der Filmindustrie zuflieBt, nimmt vorneweg der Staat 10 Pro-
zent fur die Lustbarkeitssteuer ab. Von den iibrigbleiben-
den 90 Prozent darf der Theaterbesitzer 55 bis 60 Prozent
behalten, 30 bis 35 Prozent gibt er dem Verleiher weiter. Der
Verleiher teilt mit dem Produzenten in der Regel fifty-fifty,
auf den entf alien demnach von dem Umsatz ungefahr 15 Pro-
zent. Dreiviertel dieses Anteils wird durch Kapitalbeschaffung,
966
Verwaltungsspesen, Ateliermieten, Materialkosten, Apparat-
lizenzen und Leihgebiihren verschluckt, das letzte Viertel blcibt
fiir all esamt Jene ubrig, die den Film gemacht haiben. 3H bis 4
Prozent vom Inlandsumsatz. Wenn man mit dem Gesamt-
umsatz den Vergleich zieht, sogar nur 2 bis 2 K Prozent. 2 bis
2K Pfennige von jeder Mark, die fiir ein Kinobillett ausgege-
ben wird. An diesfen 2 bis 2 K Pfennigen soil nun rationiert,
eingeschrankt, gespart werden. Mind est ens 20 Prozent. Eine
Ersparnis von 0,4 Pfennig soil die Mark des Films retten. Das
ist gesunde Wirtschaftspolitik.
Die Stars kommen zuerst dran — erklart der Verbands-
syndikus, und seine Mitglieder nicken — , zumal die Stars iiber-
haupt nicht drankommen, Sie kommen ausschlieBIich in urn-
gekehrter Richtung dran: wenn sie eine Firma der andern vor
der Nase wegschnappt und ihre Gagen hoherhetzt. Stars,
wirkliche Stars, Namenfassaden vor einem immer hoher ge-
takelten Reklamegerust — scheinen namlich die einzigen ver-
trauenswiirdigen Kalkulationsfaktoren in den Kostenvoranschla-
gen der meisten Filmhandler zu sein, Mit ihnen kann man
rechnen, auf sie wird' gebaut,
Bequemer bleibt es, den Streit mit den andern zu begin-
nen. Die nur wie Stars aussehen und keine sind. Die Mitt-
lern und Kleinen. Dem Konig sagt man Schach, und den
Bauern schlagt man. Das war auch beim Film noch nie an-
ders. Die Stargagen werden diskutiert, und die Statisten ge-
kiirzt. Weil eben auch sie, wie uberhaupt alle, alle beim Film,
viel zu viel verdienten im „Verhaltnis zu dem in andern Wirt-
schaftszweigen iiblichen Entgelt", Wie es so schon heifit.
Das Verhaltnis zu andern Erwerbszweigen scheint aller-
dings auch etwas ungewohnlich. Im Filmatelier betragt die
eigentliche Arbeitszeit zwolf bis sechzehn Stunden — ohne
daB die Ubefarbeit honoriert wiirde. Auf einen bezahlten Ar-
beitstag entfallen in der Regel funf Tage unbezahlter Arbeits-
bereitschaft. Funfundsiebzig bis achtzig Arbeitstage im Jahr
sind das Maximum an (Beschaftigung, die Filmschaffende im
Durchschnitt erkampfen konrien. Nach zehn Jahren Filmakti-
vitat werden die meisten Leute zum alten Eisen geworfen. Sie
seien verbraucht, Infolge der Lauferei, der Brotjagd, des Anti-
chambrierens, der Atelierluft, des Lampenfiebers, der Auf-
regungen und der Kunst.
Es diirfte keinen Berufskreis von Angestellten einer „In-
dustrie" in Deutschland geben, der so unbeholfen, ausgeliefert
und ratios dastunde wie die geistige, kiinstlerische und tech-
nische Arbeiterschaft des Films. Auch von der abenteuer-
lichen Unsicherheit der ganzen Atmosphare, von der Unmog-
lichkeit, in dieser Gegend eine Lebensexistenz zu schaffen, ab-
gesehen. Normalvertrage, die aus paritatischen Verhandlungen
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstehen sollten, hat
die Filmproduktion in alien Instanzen abgelehnt. Dafiir gibt
der „Verband der Filmindustriellen" Einstellungsformulare her-
aus, deren Arbeitsbedingungen einseitiger und diktatorischer
sind als je ein Friedensvertrag es war. Diese Vertrage pfeifen
eins auf die deutschen Arbeitsgesetze und verweisen jeden
Streitfall an ein teures Schiedsgericht, dessen Vorsitzenden ein
967
fur allemal der Industriellenverband bestellt. Sie schlagen
grundsatzlich kerne cxakte Begrenzung der Vertragsdauer vor,
an die sich. der Aribeitgeber binden miiBte, und verpflichten den
Arbeitnchmer „voraussichtlichM — in Wirklichkeit unbegrenzt.
Es kiimmert sie kein Arbeitszeitgesetz, und sie zwingen ihre
Angestellten fiir jede Dauer, zu jeder Tages- oder Nachtzeit,
gleich, ob an Werk- oder an Feiertagen, zu Verfiigung zu
stehen, Sie lassen die Filmschaffenden auf elementarste Per-
sonlichkeitsrechte verzichtei^ wahrend der Fabrikant nicht
einmal die Verpflichtung ubernimmt, den Inhalt des , Vertrages
in bezug auf die Ausfuhrung einer vereinbarten Aufgabe zu
erfiillen. Der Fabrikant iibt auch samtliche Urheberrechte aus
und macht mit dem aibgeschlossenen Werk der Kiinstler, was
er will . , *
Der eine Grund da fiir, da 6 es den Filmkaufleuten moglich
bleibt, diesen Zustand aufrechtzuerhalten, liegt in der Hetero-
genitat der Elemente, in der Vielheit und Kleinheit der Grup-
pen, die am Film mitzuarbeiten ha ben. Benachbarte Sparten
xeiben sich gegenseitig wund und treffen nicht den Takt glei-
cher Marschschritte. Dazu kommt — was bei jungen Schaffens-
gebieten nicht selten ist — , daB sich. hier kaum einer in sei-
nem Berut am Ziele fiihlt, sondern unentwegt eine Stufe hoher
will und — a conto — eine Stufe hoher lebt. Jeder treibt
den Nachsten zu einem Wettbewerb an, in dem man sich be-
miiht, Posituren und Manieren vorzutauschen — wie sie Pro-
pagandaleiter der Industrie fiir illustrierte Zeitschriften aus-
denken, Diese Kulissen mit dem neuen Auto, der feudalen
Strandvilla, den groBen Auslandsreisen, die zu 99 Prozent
cachiert, gemalt, gestellt sind, urn das Publikum zu kodern,
wirft nun die Industrie dem Koder selbst vor und ruft das-
selbe Publikum zum Zeugnis dafur auf, daB dieser Koder viel
zu kostspielig zubereitet ist. Der Koder aber geniert sich und
glaubt sich zu schadigen, wenn er eingesteht, daB man ihn nur
von AuBen so hubsch glasiert hat und Innen nichts ist.
Da aber AuBen alles glanzt, leicht und beschwingt lockt,
ebbt der tolle Flug der Miicken ins Scheinwerferlicht niemals
ab. Das Oberangebot an Menschen fiir den Film war schon
phantastisch, als es in Deutschland keine MUlionen von Ar-
beitslosen gab. Aus der Inflation, einer Zeit, in der die billige
deutsche Filmproduktion und der leichte deutsche Filmexport
plotzlich die Elephantiasis abbekommen haben, blieb ein Reser-
voir an Arbeitskraften zuriick, deren Reichtum an Abwechse-
lungsmoglichkeit, Schaffensdurst und Arbeitshunger, kollegiale
und unkollegiale Konkurrenz, Drangeln und Bedrangtheit der
Industrie urn so bequemer wurden, je enger sie selbst seither
£eschrumpft ist. Ein halbes Dutzend Krisen haben den Boden
des deutschen Films inzwischen immer aufs Neue umgeschiit-
tet. Konzerne, GroBunternehmungen, Schwindelfirmen stiirz-
ien zusammen und wurden geschwacht aufgebaut. Der Ton-
film kam, hat die Arbeitstage dezimiert und die Arbeitsstun-
den verlangert. Doch nach wie vor stehen, warten, hoffen die
Leute, die gleichen Leute, die noch die Inflationsindustrie her-
anlockte, weiterschaffen, weiterverdienen, weiterleben zu diir-
fen. Ein Filmregisseur wird im Hochstfall jahrlich drei Mog-
968
lichkeiten haben, zu arbeiten. Auf den Architekten entfallen
im Jahre vielleicht sechzig Arbeitstage. Auf den Kameramann
im Durchschnitt fiinfzig. Auf einen Schauspieler im mittlern
Rollenkreis dreiBig. Wenn es gut gehk Sehr gut geht.
Klassisch bleibt aber das Beispiel der Komparserie. Die
offizielle Filmborse verzeichnet zweieinhalb Tausend Namen
berufsmaBiger Filmstatisten. Auf diese zweieinhalb Tausend
entfallen im Jahr etwa funfzehntausend Einzelengagements. Das
waren pro Kopf secbs Arbeitstage. In Wirklichkeit aber
findet nur ein Bruchteil der Leute Beschaftigung. Die Ge-
schicktern, die mit mehr Gliick und feessern Verbindungen.
Wenige ,fStars" unter den Komparsen bringen es sogar jahr-
lich bis zu hundert Arbeitstagen. Die iibrigen bis zu fiinfzig.
Den Tag — wiederum je nach Gelegenheit und Grad — mit
acht bis zwanzig Mark und elf bis fiinfzehn Arbeitsstunden
berechnet. Oberstunden-Vereinbarungen gibt es nur auf dem
Papier. Papier bleibt auch der Arbeitsgesetzparagraph, daB
auBerhalb der Borse nicht engagiert. werden darf. Es wird zu
40, 50, 60 Prozent auBerhalb der Borse engagiert. Lieblinge,*
Bekannte, Barexistenzcn, Kurfurstendammvolk, Potsdamer Ge-
sellschaft, Stahlhelmtruppen, Doch immer ausschlieBlich mit
kunstlerischer Riicksicht auf das Sujet.
Mag sein, daB alle diese Dinge halb so merkwiirdig sind,
wie Leute es meinen mochten, die von ihnen betroffen wer-
den. Mag' sein, daB es nur wenig interessant ist, ob einige
Tausend kleine Filmleute in ihrem Beruf halb verhungern oder
zu den Millionen von Erwerbslosen in Deutschland rechnen.
Mag sein, daB es keinen Menschen mehr iiberrascht, daB den
Schaffenden am Film vom Ertrag ihres Werkes nicht mehr ab-
fallt als den Arbeitern einer Fabrik von — meinetwegen —
Staubsaugern, Ganz unwichtig aber kann es doch nicht sein,
zu wissen, daB bei dieser Wirtschaft auch der Film keine Aus-
nahme ist,
Zwolf Uhr nachtS von Rudolf Arnheira
M eulich geschah es, daB in einer der belebtesten StraBen
des berliner Westens ein Zeitungshandler nachts urn Zwolf
die Mittagszeitung ausrief. Was dabei in seiner Seele vorging,
ist nicht leicht zu sagen. Man weiB, daB die Zeitungen den
Ehrgeiz haben, ihrer Zeit vorauszueilen. Die Morgenzeitun-
^en erscheinen gern schon am Abend, das Abendbiatt am
Nachmittag. Vielleicht nun fuhlte jener Hajndler, daB die
Mittagszeitung um Mitternacnt an eine aquatoriale Grenze ge-
langt; um Punkt Zwolf erreicht sie den Gipfelpunkt lacher-
lichster Unaktualitat und springt zugleich tiber zu brennend-
ster Aktualitat, erzielt einen Rekord an Promptheit der Be-
richterstattung, der sich auch bei hochster Vervollkommnung
der Verkehrsmittel nicht wird driicken lassen* Den Punkt,
an dem Spat und Friih einander ablosen wie Wachtposten,
wird auch der schnellste Zeitungsfahrer niemals iiberrunden.
Der Zeitungshandler eignet sich zum Philosophen. Die
Umstande seines Berufes bringen das mit sich. Wie der Philo-
soph steht er still, wahrend seine Mitmenschen geschaftig vor-
969
iibereilen; er schaut ihnen zu und ruft immer dasselbe, sein
Leben lang, Tag ftir Tag, und im besten. Fall geben sie ihm
fur scin Papier einen Groschen. Die Ahnlichkeit ist offen-
sichtlich. Es mag also sein, daB unser Handler aus philoso-
phischen Betrachtungen tiber Zeit und Zeitung diese seltsame
praktische Nutzanwendung gezogen hat, Moglich auch, wcnn-
schon fiir uns unergiebig, daB es sich urn bloBen Humor oder
urn bloBe Freude am Illegalen gehandelt hat. Am wahrschein-
lichsten aber istt daB das Licht der Schaufenster und' Licht-
reklamen ihn zu verfriihter Betatigung hervorgelockt hat, ahn-
lich den Fruhlingsbltimen und Insekten, die ein tiickisch ein-
geschmuggelter Sonnentag schon im Marz zum Leben erweckt.
So muB es gewesen sein; denn dazu paBte das Benehmen
der Passanten. Die merkten zuerst gar nichts. Der Ruf des
Zeitungshandlers, der dreimal des Tags die Unglaubigen zur
Andacht ruft, gehort allzusehr in die Gerauschkulisse ihres
Lebens, als daB sie ihm hatten Beachtung schenken sollen.
Plotzlich aber knackte es in ihnen, als ginge die Uhr entzwei.
Die unsichtbare Uhr, die jedermann unterhalb der Westen-
tasche im Herzen tragt. Sie horten einmal, sie horten zwei-
mal, sie blieben stehen und blickten vers tort um sich. Aber
die Orientierung stieB au£ Schwierigkeiten. Nichts deutete auf
eine bestimmte Tageszeit, etwa aui die Nacht, hin. Die StraBe
war in Licht gebadet. Die Lampen strahlten mit einer Kraft,
wie sie die Sonne nur ganz ausnahmsweise aufbringt. Hunderte
von leuchtenden Sonnen bedienten die Welt, Ob unter ihnen
auch ein Himmelskorper war, und welch er, war schwer fest-
zustellen, vor allem ; — es spielte keine Rolle, Geputzte und
beschaftigte Menschen lief en laut lachend und laut rechnend
ihren Weg, Nirgendwo sah man geschlossene Augen,- ein dunk-
les Eckchen, gar ein Bett. Selbst die blauen Brillenglaser
des bettelnden Blind'en blink ten wach. Selbst die Puppen in
den Schaufenstern spreizten unermudet die Arme. Der Him-
mel, ein subalterner, wenig auffalliger Bestandteil dieser spek-
takelnden Lichtwelt, war unansehnlich rosa gefarbt. Er war
weder blau noch schwarz, weder dunkel noch hell Vom „ge-
stirnten. Himmel liber uns", der noch Kant zur moralischen
Navigation gedient hat, keine Rede. Er war wie durchgeses-
sener Samt rosa, von irdischer Lichtrekl'amen Gnaden. Ver-
schossen. Aus der Mode.
Nein, beim Himmel war keine Hilfe. Die Menschen hat-
ten ihn abgeschafft. Sie hatten ihre eignen Gestirne, ihre
eigne Navigation,, ihre eigne Zeit, und wenn in dieser Ordnung
Anarchie ausbrach, so niitzte keine himmlische Berufungs-
instanz. Die alten Juden hatten die Sonne anhalten miissen,
als sie mit Nacht sohicht Krieg riihren wollten. Seit Edison
brauchte man k einen uberirdischen Beistand mehr. Man ging
liber die Nacht zur Tagesordniung uber.
Die Uhr schlug Zwolf. Da stand' der Zeitungshandler im
Licht und rief die Mittagszeitung aus, unbefangen, als sei alles
in Ordnung. Das wichtigste Ereignis des Mittags war piinkt-
lich zur Stelle. War nun also Mittag? Machte die Zeitung
die Zeit, oder machte die Zeit die Zeitung? Wer sollte das
so genau wissen? Wer wollte es auch nur?
970
Die Operette rfistet auf . . . von waiter mehring
(Aus der Neufassung der ..GroBherzogin von Gerolstein" —
gesungen von Kathe Dorsch)
Die GroBherzogin:
Ach! Wie
Hebe ich die Soldaten, Hebe ich
die Soldaten I Liebe ich die Soldaten!
Prall das siindige Fleisch gezugelt
Wirkt der Mensch wie neugebiigeltf
Ach! Wie
Hebe ich die Soldaten
Wahre Mannlichkeit verraten
Unif ormen allein !
Manner ! Manner ! reihenweis !
Ists der Mensch — ist es die Masse?
WeiB nur, dafi ich kalt und heifi
Bis ins Innerste erblasse!
Ist es der Mensch — die Uniform?
Ich' weiB nur eins: ich lieb enorm!
Chor: Sie liebt enorm! Sie liebt enorm I
Sie liebt enorm,
*
Die GroBherzogin:
Ach! Wie
Hebe ich die Soldaten
Wahre Mannlichkeit verraten
Unif ormen allein!
. *
Folg ich Regungen abnorm
Stindigen oder vaterlandschen?
Ists der Mensch in Uniform?
Ists die Uniform im Menschen?
Ist es die Marschmusik — der Takt?
Lieb sie in Wichs — und lieb sie nackt!
Chor; Sie liebt sie nackt!
Sie liebt sie nackt!
Sie liebt sie nackt!
Die GroBherzogin:
Ja! Ach wie liebe ich die Soldaten!
Jetzt Jiegi die Biihne in tiefem Dunkel — Scheinwerfer beleuchten
nur die Kanonenrohre, die Figar der GroBherzogin und den Hinter-
grund wehender Fahnen.
Hort her!/
Hortt wohin Ihr wollt!
Militar
Und wir
ruft zu neuen Kriegen!
zahlen seinen Sold
Aus unsrer Not mit Gold!
Wenn sie heut — weit und breit — ihre Fahnen
schwenkenf schwenken!
Steht alles stramm in Positur!
Ach, konnt Ihr alles Leid ausdenken
Das ganze Menschenleid ausdenken
wirklich denken?
Nein! , ' .
971
Sie denken nicht — sie singen nur:
Alles in Helle — Chorgirls, ah Soldaten eingepuppt, schwirren an,
singend
Chor der Girls:
Ach! Wie
Hebe ich die Soldaten 1 Liebe ich die Soldaten...
Prall das siindige Fleisch geziigelt,
Wirkt der Mensch wie neugebugelt!
Ach! Wie
liebe ich die Soldaten! Liebe ich die Soldaten...
Billingers „ Rauhnacht" von Alfred poigar
T"Vei Stunden untcr Inntalern; deren Sitten und Gebrauche.
Das Dorf, in dem Billingers dramatische Ballade sich ab-
spielt, wird von Gestalten bevolkert, die entweder innen oder
auBen oder sowohl innen wie auBen beschadigi sind. Sonder-
linge, Kriippel, Monomane, Verbogene, Aufgeschwoliene, Gro-
tesk-Wesen, Originale, Leibes- und Geistesgestorte bilden cine
unirohe Gemeinschaft, iiber der die Sonne nur zu scheinen
scheint, damit man sehe, wie finster es ist. Wer in dieser
Menschensiedlung lebt, ist gewissermaBen hierzu verdammt.
Gruppe aus dem Inntaler Tartarus. Landiliches GKick erweist
sich hier <als sehr fragwurdig, vom Herzensfrieden, zu dem,
nach Aussage der Rukoliker, Beschaftigung mit Pflug und Vieh
verhilft, ist kaum etwas zu spiiren, dier Tag geht schicksals-
schwer, Dunkles und Boses webt zwischen den Inntalern, deren
seelische Transpiration die Luft dick macht. Nichts Abgriin-
diges ist ihnen fremd. Wir GroBstadter sind doch relativ
bessre Wilde!
Die Rauhnachte, deren es, in Billingers Gegend, um die
Weihnachtszeit herum mehrere gibt, lockern das Damonische
der Einwohner. Es steigt in solcher Nacht, die mit Rausch und
Trubel, mit Inbrunst und besonders mit Brunst begangen wird,
herauf aus der acherontischen Tief e, die auch in Oberoster-
reichers Seele dumpft und dampf t, und, wie der. See zum Bade,
zur Analjyse ladet. Von diesem Hochkommen verdlrajngter Liiste
und1 Begierden, von diesem ekstatischen AuBersichgeraten
sonst so langsamer, gefiihlskarger Landleute gibt Billingejs
Rauhnacht kraitige Muster.
Es ist ein Mann im Dorf, einheimisch und doch f remd, um
den Geheimnis wittert und ein Ruch von Teufelei, Obschon
er sich sehr still benimmt, spiiren wir doch sogleich: in die-
sem Ruhigen schlummern geiahrliche Unruhen. Er war einmal
Missionar in Afrika. • Aber dort wurde mehr er zum Nege-
rischen bekehrt, als die Neger von ihm zum Katholischen. Nun
sitzt er, sinnend und spinnend, daheim, mit einer Truhe voll
afrikanischer ritueller Gerate, unter den en ur-naturgemaB die
phallischen eine groBte Rolle spielen, und mit woHig-wehen
Erinnerungen an ibarbarische Opfer- und Liebeskulte, die sei-
nem innersten Ich sehr zugesagt haben. Zwischen diesen wil-
dlen Brauchen und den hauebuchenen Rauhnacht smaskeraden
der Inntaler besteht (sagt der Mann, bzw. sagt Billinger) Ver-
wandtschaft, Auch im Oberosterreicher leibt Heidnisches, nur
ist es bei ihm ummauert vom Katholischen, Bei guter Ge-
972
legenheit, vor allem a propos der Rauhnacht, bricht es hervorr
wie die Fratzen aus der gotischen Kirchenfassade. Was aber
fur die Inntoler gilt, gilt wohl gleichermaBen fur die Bewohner
aller Erdeataler und -hohen: d'aB namlich der Mensch dem
Menschen ein Wolf ist, und unter der Taille satanisch. Wenn
er sich nicht geniert, wenn er einen Rausch hat oder wenn
Rauhnacht ist, bekennt er dieses Satanische. In solcher Nacht
enthiillen sich, sich vermummend, die Inntaler; unter der Maske
lassen sie die Maske fallen.
Wunderlich fromm-unfromm durchdringen einander inBil-
lingers Schauspiel Rauh- und Weihnacht. Rauhnacht, unhei-
Tige Nacht und; stiile Nacht, heiiige Nacht werden, mit ernstem
Witz, kontrapunktisch gegeneinander gefuhrt.
Trotzdem ware vieJleicht jener ratselhafte Heimkehrer
aus Afrika kein Lustmorder geworden, wenn nicht der Krame-
rin lebfrisches Tochterlein ihn in diese Funktion gradezu hin-
eingelistet, gelockt, genotigt hatte. Das Madchen, auf Ferien
zu Ha use, wird zwar bei den englischen Fraulein erzogen, aber
es hat, wie man zu sagen pflegt, den Teufel im Leibe. Und
dieser Teufel wirkt unwiderstehlich attraktiv auf den Teufel
im Exmissionar. So geschieht das Bose. Es bringt Jammer
iiber die Kramersfamilie, die dessen schon iibergenug hat. Die
Mutter trauert zwei Sohnen nach, die in einer Rauhnacht, auf
den dramatischen Tag genau soundsoviel Jahre her sind es
eben, vor dem Feind gefallen sind. Der iiberlebende Bruder
hat nur einen Arm und das Antlitz von Kriegswunden ent-
stellt. Er ist ein miirrischer Epileptiker, dem die Weiber mehr
zu Gesicht stehen als, weil dieses verstiimmelt ist, er ihnen.
Dennoch reift in der jungen Magd ein Kindchen von ihm, sicht-
lich reift es. Die alte Magd ist von Kopf bis FuB eine einzige
Schrulle (Frau KoppenhcTer spielt das herrlich). Der Grofi-
vater, er sieht aus und spricht wie der alte Huhn in „Pippa
tanzt", friBt alles FreBbare, das ihm in Reichweite kommt, und
ist schwachsinnig. Aber er hat lichte Augenblicke. Etwa wenn
er, zum VerdruB der Familie, auf das Klosett immer grade die
heutige Zeitung, nicht zur Lektiire, mitnimmt.
Das Tochterlein aber, beunruhigt, wie schon erwahnt, von
Lebens- und Liebeslust, tanzt in rauhnachtiger Stunde dem
Tod ins Bett. Sie verftihrt den Exmissionar, sie zu verfuhren.
Warum dieser es dabei nicht bewenden laBt, sondern die arme
Creszenz werwolfisch zerfleischt, wird nicht zwingend klar...
doch muB man schon sagen (und vielleicht wollte dies auch der
Dichter wahr haben), daB die Creszenz das heimliche Unheim-
liche in jenem, das latent Lustmorderische mit einer Zielsicher-
heit aufreizt, als wiinsche ihr UnterbewuBtsein die Schlachtung.
Noch selten d^iirfte sich ein Opfer dem Opferer so fast zudring-
lich serviert, ihm das Messer, unter dem es fallt, so unabweis-
lich in die Hand geschmeichelt haben.
Louise Uh-ich, aus Wien versteht sich, macht das mit uber-
zeugend echtem sinnlich-kindlichem Temperament. Kein fal-
scher Ton in ihrer glitzerndien Skala. Der Morder ist Werner
KrauB. Fur derart gefahrlic{i umwetterleuchtete Figuren hat
er die rechten Spielfarben und -tone; doch notigt ihn die Rolle,
seine Wirkting mehr aus dem Pantomimischen als aus dem Ge-
973
sprochenen zu holen. Lothar Miithel, Maria Mayer, das Fiink-
chcn gebende Fraulein Schwanda (ausWien), wie iibcrhaupt
die Dars teller der ,,Rauhnacht" lassen d'em Autor reichlich zu-
kommen, was des Autors ist; und machen ihrem Staatstheater
Ehre.
Billingers zeitf ernes, deshalb aber gar nicht gleichgiiltiges,
Drama ist, -dariiber sind Zweifler und Begeisterte einig: dichte-
risch. Dieses hochwertende Beiwort hangt sich an das Stuck
mit der Unmittelbarkeit einer Assoziation. Warum ist Billin-
gers Schauspiel dichterisch? Erstens, weil es sprode, zweitens,
weil es schattentief ist, drittens, weil es in einer personlichen,
wenn man so sagen darf : handgeschnitzten Sprache redet, vier-
tens, weil seine Figuren fest im dramatischen Raum steben,
diesem (wie auch utitereinander) atmospharisch verbunden,
fiinftens, weil seine Wirkung aus Quellen kommt, die zugedeckt
flieBen, sechstens, weil der Geist, den es hat, nichts von jenem
Geist hat, dlen die Zeitungsleser unter Geist verstehen, sieb en-
tens undsoweiter, weil es eben dichterisch ist (was sich fast
leichter sein, als definieren laBt).
Eine groBartige Auffiihrung. Jiirgen Fehling ist Meister
darin, Nebel zu gestalten und zu bewegen. Wenn auch in
Einzelheiten verliebt und jede, damit sie sich voll auswirke,
langsam um die eigene Achse kreisend lassend: in solchem
Zwischenreich zwischen wirklich und unwirklich, wie es Billin-
gers Schauspiel aid Ort der Handlung dient, ist er souveraner
Herr. Die fcamera, mit der Fehling solch geheimnisvoll flic-
Betide Welt aufnimmt, hat sozusagen eine besonders zwielicht-
starke Linse.
Morgan Und BorSlg von Bernhard Citron
Co selten wie endemische Krankheiten,, die in abgelegenen
*-* Gebirgsdorfern oder unter Negerstammen herrschen, sind
lokale Krisen. Die GeiBeln der Menschheit sind die groBen
Epidemien, die politischen und wirtschaftlichen Weltkatastro-
phen, Wie rasoh folgte auf den Zusammenbruch der Oester-
reichischen Creditanstalt der Ruin groBer Bank institute in der
ganzen Welt. Der Piundentwertung schlossen sich die nor-
dischen Staaten und Japan an, Jetzt kommt aus Ungarn die
Nachricht, daB ein Moratorium fur Anleihen ausgesprochen
werden muB. Man wartet in der internationalen Finanzwelt
bereits auf das nachste Land, das in gleicher Weise verfahren
wird. Natiirlich denkt man dabei an Deutschland, ohne sichere
Anhaltspunkte fur diese Vermutung zu haben. Der Kurs der
Dawes- und der Young- Anleihe weist auf den Pessimismus
des Auslandes hin. Diese beiden Reichsanleihen sind auch
die einzigen, von denen erhebliche Betrage im Auslande pla-
ziert wurdien, Aber auchr die groBen privaten Auslands-
anleihen zeigen eine riicklaufige Bewegung. Infolge der Ver-
scharfung der Devisenbestimmungen ist es fast unmoglich ge-
worden, diese sogenannten Dollarbonds von Deutschland aus zu
erwerben. Die Gesellschaften selbst aber erhalten noch nicht
einmal die Erlaubnis, iiber pflichtmaBige Amortisation hinaus
Riickkauie ihrer so ungewohnlich niedrig stehenden Obliga-
974
tionen vorzunehmen. Im Auslande hegt man Befurchtungen
in zweifacher Hinsicht. Erstens nimmt man an, daB eine
Reihc von Gescllschaften iiber kurz oder lang mit dler Bezah-
lung ihrer Verpflichtungen in Schwierigkeiten gcraten konnte,
zweitens, daB eines Tages die Regie rung aus devisenpoliti-
schen Griinden den Transfer auch zum Zwecke der Zinszah-
lung und Amortisation sperren werde. Wenn man grade von
seiten des Deutschen Reiches derartige Handlungen befurch-
tet, so liegt dies nur zu einem gewissen Teil an dem seit der
Julikrise angewachsenen MiBtrauen gegen die deutsche Wirt-
schaft, zum andern an der besondern Art unsrer Verschuldung.
Auch andre Staaten haben sich ihreni Verpflichtungen ent-
zogen, indem sie ihre Wahrung vom Goldstandard losten. Das
Deutsche Reich wiirde auf diese Weise nichts gewinnen, denn
die Auslandskredite sind fast alle in fremder Wahrung abge-
schlossen worden. Anscheinend hat man diese Moglichkeit
auBerhalb Deutschlands frliher erwogen als im Lande selbst.
Von der in der Vierten Notverordnung ausgesprochenen Zins-
senkung wurden die Auslandsanleihen mit Vorbedacht aus-
genommen> In der kurzen Zeitspanne, die seitdem verflossen
ist, scheinen sich die Ansichten geandert zu haben, Man ist
heute wohl kaum mehr unbedingt der Meinung, daB Verzicht-
leistungen, die dem Inlander zugemutet werden, vom Auslande
nicht getragen werden konnen. Die Wandlung diirfte in en-
gem Zusammenhang mit dem Verlauf der Stillhalteverhandlun-
gen stehen. Die Gegensatze sind recht groB, da sich die Glau-
biger iiber die deutsche Zahlungsfahigkeit und Deutschland
iiber die auslandische Stillhaltebereitschaft iibertriebenen II-
lusionen hingegeben haben, Schuld daran tragen vor allem
die deutschen Bankent $ie nicht gerne von ihrer eignen Zah-
lungsunfahigkeit sprechen, sondern es lieber der Reichsbank
iiberlassen, devisentechnische Griinde in den Vordergrund zu
schieben, Eine Volkerwanderung des Kapitals droht, das bis-
her regierende Weltwirtsohaftssystem aus den Angeln zu he-
ben. Die gewaltigsten Reiche im Bezirk der Hochfinanz wer-
den zerstort Der Glanz zweier Namen, die im neunzehnten
und im zwanzigsten Jahrhundert Verkorperungen der Begriffe
Reichtum und Wirtschaftsmacht gewesen sind, ist verblaBt. .
Vor Rothschild zitterten einst Konige, vor Morgans FiiBen
lagen die Demokratien der Welt. Nach dem Krach der Oester-
reichischen Creditanstalt las man in einer wiener Zeitung die
Anzeige eines kleinen Kaufmanns, der auf den Namen Rot-
schild hort, sich aber von den groBen Tragern des Namens
durch das fehlende „hM und den gleichfalls fehlenden Adels-
titel unterscheidet. Dieser brave Mann le^gte Wert auf die
Feststellung, daB er mit dem Baron Rothschild weder identisch
noch verwandt sei. Wird demnachst der Schauspieler Mor-
gan erklaren lassen, daB er nicht Pierpont sondern Paul jnit
Vornamen heiBt? Das Verhaltnis Morgan-Frankreich hat sich
im Laufe weniger Jahre von Grund auf gewandelt* Der Glau-
biger wurde zum Schuldner, und der Schuldner zum Glaubi-
ger. Wenn Frankreich das in den Vereinigten Staaten in-
vestierte Kapital zuriickforderte, dann miiBte auch Amerika
ein Stillhalteabkommen schlieBen. Da die eigne Stillhaltung
975
die U.S.A. mehr als die fremde interessiert, wird am Ende
Frankreichs Standpunkt in den iberliner und baseler Verhand-
lungen obsiegen. Eine Kontroverse mit der Banque de France
konnte die groBten Hauser in Wall Street zusammenbrechen
lassen.
Deutschland war jahrelang ein getreuer Schuler Amerikas.
Daher ahnelt die deutsche der amerikanischen Krise so sehr.
Expansion und Rationalisierung in alien Schattierungen f and en
sich diesseits und1 jenseits des pzeans. Es ist auch auf beiden
Kontinenten dlas gleiche Bild — technisches Gelingen und
f inanzieller MiBerf olg der Rationalisierung. Vor einiger Zeit
ging die Nachricht durch die Presse, daB die A. Borsig
G. m, b. H. in Tegel ihre Zahlungen eingestellt habe. Das
Werk befindet sich technisch auf der Hohe. Sogar die Kapa-
zitatsausniitzung war in diesem Jahre mit 75 Prozent weit
hoher als bei den meisten Unternehmungen derselben Branche.
Aber man hatte sich mit Finanzgeschaften behangt, die von
vornherein einen iiberfHissigen Ballast darstellten und schlieB-
lich den ganzen Konzern zu Bod'en driickten. Die Vereinigung
Deutscher Pumpenfabriken G. m. b. H., deren Leiter ein wah-
res ,,Pumpgenie" gewesen sein mufi, verfiigte zwar nur iiber
fiinfhunderttausend Mark Eigenkapital, aber die Verbindlich-
keiten und Burgschaften betrugen mehrere Millionen. An sich
ist es erstaunlich, daB man nicht diese G. m. b. H. zusammen-
brechen lieB und wenigstens A. Borsig rettete. Aber die Bin-
dungen miissen bereits so eng gewesen sein, daB Borsig mit-
gerissen wurde. Herr von Borsig gait als Scharfmacher vom
schwersten Kaliber. Er selbst wollte nicht als Sozialreaktionar
angesehen werden und meinte, wenn er den Vorsitz im Arbeit-
geberverband niederlegte, dann kame eine noch viel scharfere
Richtung ans Ruder. Unverkennbar ist die MaBigung der poli-
tischen Tendenz im Hause Borsig, als es mit der Macht und
dem Reichtum zu Ende ging. Der Eintritt des jungen Borsig
in die Deutsche Staatspartei wurde nicht nur von den Staats-
parteilern, die ihn als Renommier-industriellen betrachteten,
sondern auch von den Borsigs, die so ihre demokratische Ge-
sinnung kund taten, unterstrichen. Die Lahusenst die natiir-
lich in moralischer Beziehung keinesfalls mit den Borsigs ver-
glichen werden konnen, setzten auf ein andres PferdL Sie
warteten auf den Nationalsozialismus, der ihre Schulden annul-
lieren und ihnen das Wollmonopol bringen sollte. Aber Hitler rei-
tet nicht so schnell wie die Pleite, dlas Ende kam zu friih, Der
leicht demokratische Anstrich, den sich Borsig noch vor Tores-
schluB gab, gemigte vollauf, um ihm eine wohlwollende Presse
zu sichern. Die Rechtspresse greift Industrielle niemals an, so-
lange auch nur der Hoffnungsschimmer einer Sanierung vor-
handen ist, die biirgerliche Linkspresse war diesmal mildle ge-
stimmt. Im iibrigen machen auch zusammengebrochene In-
dustriegesellschaften und verkrachte Bankinstitute von der
Dementiermaschine gern Gebrauch.
Ober Rechte und Pflichten der Publizistik macht man sich
in Kreisen der Privatwirtschaft iiberhaupt sehr merkwiirdige
Vorstellungen. Es gibt groBe Montanunternehmungen, die
glauben, daB ein Artikel in der ,Bergwerks-Zeitung' oder in
976
*icr ,Rheinisch-Westfalischen Zeitung' die Stimme der offent-
lichen Meinung darstellt. Da£ zwischen einer derartigen
Publikation und einer Abhandlung in der Werkzeitung der be-
treffenden Gesellschaft kern wesentlicher Unterschied besteht,
iallt diesem Unternehmertyp nicht auf. Die berliner Zeitungen
— mit Ausnahme weniger Rechtsorgane wie der ,B6rsen-
Zeitung' — gelten als Skandalblatter, die man moglichst igno-
rieren mochte. Wenn den rheinischen Industriemagnaten die
Nationalsozialisten aus k«inem andern Grunde sympathisch
waren, so wiirde man sie schon wegen ihrer Kritiklosigkeit in
Wirtsohaftsfragen schatzen. Analphabeten lassen sich leicht
regieren, und in einem Lande, in dem die Wirtschaftskritik
fehlt, hat die Industrie anfangs leichtes Spiel. Dann ist das
goldne Zeitalter der Pressechefs angebrochen, die nur noch
durckfertige Communiques auszugeben haben. Aber am Ende
wiirden die Wirtschaftsfiihrer selbst die Kritik zuriicksehnen,
denn jedes wirtschaftliche Interesse geht verloren, wenn nicht
diskutiert und polemisiert wird, wenn nicht Bilanzen zerpfliickt
und Dividendenaussichten prophezeit werden. Fade Kost ohne
Pfeffer und Salz regt die Funktionen des Magens nicht an.
Eine Krankheit wiirde im deutschen Wirtschaftskorper ent-
stehen, die wahrhaftig einen endemisohen Charakter triige.
T tali en laBt sich namlich nur von einem Mussolini regieren;
die deutsche offentliche Meinung lieBe sich aber auf Thyssen
ebenso wie auf Hitler dressieren.
Die SeriOSen von Theobald Tiger
VVTenn dir ein ernster Kaufmann spricht:
" so hor ihn nicht! so hor ihn nicht 1
Er spricht dir von den schweren Zeiten,
von Wirtschaft und Notwendigkeiten . . .
Erst wird er fachlich. Und dann krotig.
Der hats notig — 1
Ja, mit gepumptem Auslandsgeld,
da war sie schon, die deutsche Welt.
Da rauchten wirbelnd alle Essen,
da hatten sie die groBen Fressen.
Das Land war ihnen sehr erbotig
Die habens notig.
Das Geld ist hin. Die Arbeit knapp.
Die Konjunktur sank tief herab . . .
Wer sich und uns derart verwirrt hat;
wer dauernd sich so oft geirrt hat;
wer sich in alien schweren Tagen
nur Pleiten holt und Niederlagen,
ein Heros der Finanz-Etappe — :
der erzahle uns nichts, sondern halte die Klappe!
1, 2, 3 —
am Zuchthaus glatt vorbeil
3, 2, 1 -
Was du dir nimxnst, ist deinsl
Von Tag zu Tag wird stets defekter
der Ruf vom Generaldirekter.
Was der uns predigt, darauf flot ich.
Der hats notig.
977
Bemerkungen
Das Andre Polen
Im Brief tcil einer groBen Tages-
* zeitung wurde kiirzlich die
Frage aufgeworfen, was wir von
Polen wtifiten, und damit eine
Frage zur Erorterung gestellt,
die brennend ist; well es an die-
ser Grenze brennt und weil es
immer noch Gutgesinnte auf bei-
den Seiten gibt, die willens wa-
ren, die schwelende Glut zu er-
sticken. Willens — ob auch
fahig?
GewiB kann man die Frage
nicht beantworten, wenn man nur
vierzehn Tage in einein Land ge-
wesen ist. Man kann nichts
tun als ein paar Tatsachen fest-
stellen. Das seA in diesem Zu-
sammenhang erlaubt.
Die Reise, um die es sich han-
delt, wurde im September 1930
von einer badiscben Studien-
gruppe des Scbutzverbandes
Deutscher Schriftsteller unter-
nommen. Die Gruppe war, das
muB betont werden, keineswegs
von der polnischen Regierung
eingeladen worden. Aber man
stellte ihr einen jungen Kolle-
gen, Attache des warscbauer
Auswartigen Amtes, zur .Verfu-
gungt der sie an der Grenze ab-
holte, begleitete und ihr sprach-
lich weiterhalf ; denn von uns
konnte keiner Polnisch. Wir fin-
gen mit Lodz an, dessen Trost-
losigkeit nicht beschrieben zu wer-
den braucht, wie es sich denn hier
tiberhaupt nicht um einen nach-
geholten Reisebericht handelt.
Erwahnt werde lediglich, daB
frtih um sieben in der Industrie-
stadt Lodz, in der man zweiTage
zuvor dem deutschen Konsulat
auf Grund einer bestimmten Mi-
nisterrede die Fenster eingewor-
fen hatte, die Vertreter der dor-
tigen Presse und der Wojwod-
schaft mit RosenstrauBen zur
Einholung der deutschen Kolle-
gen an der Bahn bereitstanden.
In Warschau hat man sich ahn-
lich verhalten; man hat uns
Quartiere in dem zum Sejm geho-
rigen, gleichzeitig mit ihm fur
die Abgeordneten erbauten, Hotel
978
gegeben, zu einem sehr maBigen
Preis — man versuche sich den
analogen Fall in Deutschland vor-
zustellen. Die Instanz, die sich
hauptsachlich um uns kUmmertef
war der polnische P.E.N.-Klub,
der in Polen die Schriftsteller zu-
sammenfaBt und reprasentiert.
(Eine dem S.D.S. genau entspre-
chende Organisation gibt es nicht,)
Dieser P.E.N.-Klub nun hat uns
einen Begriff des flandern Polen'*
vermittelt; er gab uns in Wilna
einen unvergeBlichen Musikabend,
dem Rilkes Freund und Uberset-
zer Hulewicz prasidier te ; seine
Mitglieder fuhrten uns durch die
wunderbaren Schlosser und Kir-
chen von Wilna, Warschau, Kra-
kau, den Zeugnissen einer Kultur
und Geschichte, von der wir im
Gegensatz zu unsern Ahnen vor
hundert Jahren nichts mehr ah-
nen. (Krakau; eine der Stadte,
zu der jahrlich Hunderttausende
pilgern wfirden, wenn sie in Ita-
lien lage . . .) Man hat uns auch
das moderne Polen gezeigt; die
Arbeiter-, Studenten-, Ktinstler-
siedlungen in Warschau; das gi-
gantische Experiment von Gedin-
gen, um dessen Hafen in zehn
Jahren eine Stadt von iiber vier-
zigtausend Einwohnern entstan-
den ist an Stelle eines Fischer-
dorfes von vierhundert. Man hat
uns in Fabriken und Zeitungs-
palaste gefuhrt, man hat versucht,
uns klarzumachen, wie unend-
lich schwer es das neue Polen
hat, den Schutt der russischen
und osterreichischen Vergangen-
heit wegzuraumen; wie es noch
litte unter den Folgen von hun-
dertftinfzig Jahren Fremdherr-
schaft, wahrend der jede Erinne-
rung an die einstige Selbstandig-
keit und Grofie gewaltsam unter-
drtickt wurde, Naturlich hat man
uns das gezeigt, was wir sehen
sollten, aber — niemand hinderte
uns, auf eigne Faust uns zu orien-
tieren; wir war en ja keine offi-
ziellen Gaste, trotzdem uns etwa
in Zakopane in der Tatra, wo es
keinen P.E.N.-Klub gibt, am er-
sten Tag der Woiwode seinen Be-
such machte.
Man hat uns reichlich viel Be-
suchskarten in unsre Hotels ge-
schickt, und wir haben entspre-
chend erwidert. Die einzige Be-
horde, die trotz Kartenabwurl
keine Notiz von unsrer Anwesen-
heit nahm, war — man ist ver-
sucht, zu sagen: selbstverstand-
Iichl — die Deutsche Gesandt-
schaft in Warschau. Denn wir
waren bloB Landsleute und bloB
Schriftsteller, urn die zu kummern
es sich nicht lohnte. Das be-
sorgten die Polen ja zur Genuge.
Stimmungsmacherei ? Billige
Propaganda, mit der man Ur-
teilslose fangt? Man kann es so
auffassen, Aber warum soil man
schlieBlich nicht versuchen, gei-
stige Vertreter der Nachbarnation
fur sich zu gewinnen, indem man
ihnen zeigt; es giht dies andre
Polen* Wir sind stolz auf unser
neuerstandenes Vaterland, aber
wir sind nicht insgesamt iden-
tisch mit seinen Gewaltmethoden,
mit seinem Sabelgerassel, mit
seiner nationalistischen Uberreizt-
heit. Wir Andern, die wir ar-
beiten wollen . fur Wohlstand und
die Fortentwicklung der Kultur,
haben freilich wie uberall' nicht
viel zu sagen. Aber wir sind
doch da, und ihr sollt uns ken-
nen, ihr Nachbarn, mit denen wir
verbunden sind durch fiber tau-
send Kilometer gemeinsamer
Grenze.
Nationalistische Uberreiztheit ?
Noch ein Faktum, das letzte; wir
fuhren nachts von Gedingen nach
Krakau. In Posen hielt der Zug
lange, um die Heimkehrer von der
groSen Sonntagsdemonstration ge-
gen die Reden unsres Ministers
Treviranus aufzunehmen. Der Zug
war iiberftillt, wir hat ten unsre
Abteile abgeschlossen, Aufien
hing ein polnisches Schild: Reser-
viert fur die deutsche literarische
Delegation. Die Demonstranten,
die Platzsuchten, riittelten auch
an unsren Tiiren; sie lasen das
Schild, sie schlugen nicht die Ttir
oder die Scheiben ein, sie
schimpften nicht, sie gingen ruhig
weiter und suchten sich anderswo
Platz.
Diese wenigen Eindrucke vom
Andern Polen bedurfen der Of-
fentlichkeit, so gut wie das Wis-
sen vom offiziellen Polen, Es
stellte sich aber — damals, vor
einem Jahr — heraus, da6 nie-
mand es wissen wollte, Ein kur-
zer, sachlicher Bericht liber die
Studienfahrt des S.D.S. wurde in
einer einzigen suddeutschen Zei-
tung gedruckt; die ubrige btirger-
liche Presse fand, daB Polen
nicht interessiere oder dafi ein
neutraler, gar wohlwollender Be-
richt ,, nicht opportun" sei; auch
die Kontrollinstanz des Rund-
funks war dieser Ansicht, Und
eben hier, in dieser Gleichgtiltig-
keit oder gar Tendenz liegt die
Unterlassungssiinde und die Ge-
fahn Denn so gut wie die MiB-
handlungen und die Ungerechtig-
keiten registriert werden, so gut
haben auch die Freundlichkeiten
und die RosenstrauBe ein Recht
auf Publizitat, Wie es sich denn
immer wieder zeigt, daB der
groBere Teil der Liigen nicht
durch Worte entsteht, sondern
durch Verschweigen,
M. M. Gehrke
Dem VDA gewidmet
VV7er Gelegenheit hat, deutsch-
"^ amerikanische Zeitungen zu
durchblattern, wird sich wundern,
welch seltsame Wandlungen die
deutsche Sprache erfahrt, wenn
sie den groBen Ozean iiberquert
und langere Zeit in andern Lan-
gengraden ertont.
NIUI
MAX ERMERS
VERLA6 DR. H. EPSTEIN
VICTOR ADLER
AUFSTIE6 UND 6R6SSE EINER
SOZIALISTISCHEN PARTE I
380 Selten Kart. M 5.75, Lelnen M 7.25
979
Da ladt beispielsweise in der
♦Deutschen California Staats Zei-
tung' der flFreimaurer-KlubM zu
seiner Monatsversammlung in der
Hermannssohne-Halle ein und
teilt mit: „Wichtige Sachen kom-
men zur Besprechung, auch ein
Programm ist vorgesehen. Plane
fiir das Weihnachtsfest werden
deleft/' Da lachen die Hiihner.
Auf einem deutschen „Elks-
Abend in Redondo Beach" wurde
folgendes an Speisen geboten;
Sauerbraten, Kartoffelklofie, Rot-
kohl, Leberwurst, Roggenbrot,
Salami, Limburger Kase, Pum-
pernickel, Bier und Kaffee. „Was
kann man in der Adoptivheimat
mehr verlangen ? ' ' Ftirwahr .
Kein Wunder aber auch, dafi
alles genau klappt, wo doch mit
deutscher Organisationstuchtig~
keit dafiir gesorgt wird, dafi fiir
I eden Handgr if f ein Spezialist
bereitsteht. Bei der Beamten-
wahl des „S.A. Liederkranz"
etwa wurde folgender General-
stab gewahlt; Ein President, ein
Vizeprasident, ein prot. Sekre-
tar, ein Finanzsekretar, ein
Schatzmeister, ein Bummelschatz-
meister, ein Archivar, drei Ver-
waltungsrate, vier Personen ins
Wirtschaftskomitee, vier Personen
ins Musikkomitee, ein Dirigent, ein
Vizedirigent, drei Delegaten zum
Slid Pacific Sangerbund. Auch
Mitglieder soil der Verein haben.
Was ein Funktionar ist, reibt
sich bekanntlich immer auf. Das
merkt man auch beim „Rotman-
ner-Orden", der in der ,Califor-
nia-Zeitung' ankiindigt: ,,Damit
sich alle Besucher groBartig amii-
sieren, ist die Hauptaufgabe des
Komitees, Lafit die .Sorgenhose*
zuhause , , /' Aber zuweilen wird
auch etwas furs Herz geboten :
„Am Montag Abend, acht Uhr
funfzehn, 29. Dezember, halt die
bekannte Opern-Dolmetscherin
Margarete Goetz, im Salon ihres
neuen Studios, au 902, So,
Alvarado, einen ihrer bekannten
Lichtbildervortrage iiber die herr-
liche und tiefgrundige Wagner-
Oper ,fParsival", Zusatzliche,
noch nie vorher von ihr gezeigte
Lichtbilder werden vorgefuhrt.
Bei zwei Europareisen besuchte
Margarete Goetz die Parsival-
Vorfiihrungen in Bayreuth und
sie ist eine kompetente Auslege-
rin der Wagner- und anderen
Opern. Ihre Vortrage sind stets
rege von Musik-Freunden und
Wagner-Verehrern besucht. Eben-
so horen Sie Bayreuth-Rekorde
von Choren, Solos, Orchester."
Was kann man in der Adoptiv-
heimat mehr verlangen?
Richard Flock
Haben wir einen Reichstag?
Wir haben einen Reichstag!
In der dusseldorfer ,Volksparoie*
* ist, wie neulich mitgeteilt, ein
Gedicht Theobald Tigers „Die
Ortskrankenkasse" erschienen.
Signiert war das Plagiat mit dem
bekannten Nazinamen MSchloch".
Strafantrag gegen den Verant-
wortlichen, SpaSes halber.
„Amtsgericht Abteilung 28 . , ,
wird mitgeteilt, dafi der Beschul-
digte Mitglied des Reichstages ist.
Da der Reichstag nicht geschlos-
sen, sondern lediglich vertagt ist,
ist gem. Artikel 37 Reichsverfas-
sung die Einleitung eines Straf-
verfahrens zurzeit unzulassig."
Und du hast immer geglaubt,
die Deutschen machten von ihrer
Verfassung keinen Gebrauchf
Mutig sind die Nazis. Da ist
nichts zu sagen.
innilll!llllitlll!ll!ll[||l!ll[l!ll!IIW
ZWANZIG JAHRE WELTGESCHICHTE
in700Bildern. 1910—1930. Einleitung von Friedrich Sieburg. Gr.8.
Dieses Bilderbuch soil dem Betrachter nicht die gelstige MOhe ersparen, die im
Lesen llegt Die zusammenfassende Betrachtung der letzten 17 Oder
20 Jahre, onne daB die Tatoachen durch eine Deutung verhDIIt Oder
gefttrbt wOrden, mag einen neuen Weg welsen oder erkennen lessen.
TRANSMARE VERLAO A.-0., BERLIN W 10
980
Lelnen
5.80 RM
Mahagonny
A n diesem Stuck mit dem f eier-
** lich breitspurigen Titel „Auf-
stieg und Fall der Stadt Maha-
gonny'* ist vieles unklar und ver-
worren, das Unklarste, Verwor-
rcnstc und Verwirrendste aber ist
wohl, daB die Autoren Brecht und
Weill — in begreiflicher Selbst-
iiberschatzung und unbegreiflicher
Unterschatzung historischer Be-
dingtheiten — das Ganze als
Oper angesehn wissen mochten,
obzwar sie grade der Oper den
Krieg erklart haben, obwohl sie
nichts fiir anderungs- und neue-
rungsbedurftiger halten als sie
(von der sie nichts halten), ob-
zwar sie nichts so sehr zu iiber-
winden suchen — und in gewis-
sem Sinn sogar uberwinden —
wie diese Kunstform, die sie in
einem wollen und nicht wollen,
be j ahen und verneinen, mit der
sie ringen, von der sie nicht las-
sen: ohne daft sie endlich geseg-
net wiirden . . . Wenn Brecht be-
hauptet, die Oper ware im we-
sentlichen kulinarisch, ,f Maha-
gonny" ware es auch und daher
ebenfalls eine: so ist dies nichts
als sophistische Spiegelfechterei
und unerlaubte Vereinfachung der
Sachlage ... „Kulinarisch" ist ja
uberhaupt ein Schlagwort, mit
dem sich alles und nichts bewei-
sen lafit; grade aber, wenn man
sich in den Gedankenkreisen be-
wegt, deren Exponent dieser un-
gliickselige Ausdruck ist, hat man
die Pflicht, Verwirrung der Be-
griffe wie Verwirrung der Gefiihle
nach Tunlichkeit zu vermeiden.
Grade dann darf man neuem
Wollen keine alten Namen geben,
darf man nicht Oper nennen, was
in Wahrheit keine ist.
Was ist es denn ? Um dies
auseinanderzusetzen, gibt es zwei
Moglichkeiten: sich in die Lage
eines Mannes zu versetzen, der
ohne asthetisches und soziologi-
sches Wissen das Ganze mog-
lichst haiv aufzunehmen bereit
und imstande ware (aus dem
Werk selbst also alles zu ent-
wickeln), oder es als Ausdruck
einer bestimmten Haltung zu wer-
ten, es sozusagen im Scheinwer-
ferlicht bestimmter Theorien zu
sehen, die einen gemeinsamen Ur-
sprung nicht verleugnen, die welt-
anschaulich orientiert sind.
Das von uns postulierte naive ^
Gemiit, dem daran liegt, die Ge-
setze des Werks aus ihm selbst
zu begreifen, wird vor allem ein
tlberwiegen der Handlung im ur-
spriinglichen Sinn des Wortes
feststellen; einer Handlung, die
in sich selbst sehr uneinheitlich
ist, der die Konsequenz, die Not-
wendigkeitf die MLogik der Un-
logik" fehlt. Zu Anfang ist es
die durchaus uninteressante Ge-
schichte einer von Huren und Ha-
lunken gegriindeten Neppstadt
irgendwo im wilden Westen, die
sich als schlechtes Geschaft her-
ausstellt; spater dann wird dieses
selbe Mahagonny in dem man
nach der Sturmnacht „alles diirfen
darf", solange man bezahlen
kann — und dem Tod verfallen
ist, sobald man kein Geld mehr
hat, Svmbol der kapitalistischen
Welt schlechtweg; der SchluB
endlich bringt einen im Grunde
durch nichts gerechtfertigten Auf-
ruhr, der scharfstes Tendenzge-
schiitz auffahrt und sich so mit
dem unverbindlichen und spiele-
rischen Anfang verdammt schlecht
vertragt. Es sind im Einzelnen
oft sehr begabte, im Ganzen aber
schlecht gearbeitete, schlampig
hingeworfene Szenen, in denen
Ernst und Scherz, Pathos und
FRIEDEN UND FRIEDENSLEUTE
Genfereien v. Walther Rode. Schutzumschi. v. GULBRANSSON
Das Elend kommt von dertragischen Beftiesenheit.den Bock derZetten zu mefken.ob
er Milch geben kann Oder nicht Niemand weiB, wohin die Mensch- —
heit steuert ob sie teben oder eterben will; gewifi ist nur, daB sie
das nicht will, was ihr die Oberlehrer der GlOckseligkeitzudenken.
TRANSMARE VERLAQ A.-0-, BERLIN W 10
Kartoniert
3.— RM
981
Parodie, krasseste Realitat und
sublimierte Irrealitat reichlich
widerspruchsvoll durcheinander
gewirbelt scheinen; Szenen, die
sich mit Weills Musik, die die
Linie der Dreigroschenoper inne-
halt, glanzend gearbeitet, aber
nicht so einfallsreich ist wie
diese, zu einem Songspiel ergan-
zen, das seiner Zusammensetzung
nach die gemischtesten Gefuhle
auslost: durchaus aber als etwas
Einmaliges und Neues empfunden
wird.
Die relative Hilflosigkeit der
Beurteilung hort sofort auf, wenn
man weifi, was Brecht eigentlich
wollte. Es ging darum, den „In-
halt" zu einem selbstandigen Be-
standteil zu machen, ■ den Zu-
schauer um das iibliche „Erleb-
nis" zu bringen, ihm die Illusio-
nen zu rauben, Diskutierarbeit
zuzumuten, Auseinandersetzung
aufzuzwingen und 'so die Ande-
rung der gesellschafttichen Funk-
tion des Theaters ;einzuleiten.
Es soil hier durchaus/ nicht gegen
diesen Einbruch der Theorie in
die Region der reinen Kunst ge-
wettert werden: die Oper ist ja
seinerzeit selbst als Produkt noch
dazu falscher Theorien entstan-
den; wir wissen zudem, dafi an
bestimmten Punkten <ler Entwick-
lung die soziologischen Faktoren,
die sich immer in starkem Wol-
len aufiern, starker sind als die
kunsteignen artistischen, Ein sol-
cher Punkt dtirf te in unsern Ta-
gen erreicht sein: grade deshalb
hatten wir Brecht gern mit etwas
mehr Verantwortungsgefuhl bei
der Arbeit gesehen, Wenn man
schon Neuland sucht und die Be-
gabung dazu hat — wozu die Ba-
sis der alten Oper angreifen, wo-
zu, mit Brecht selbst zu reden,
einen alten Ast ansagen, auf dem
man sitzt, statt eine neue Basis
. zu suchen und sich auf einen neuen
Ast zu setzen? Hier beifit sich
die Schlange in den Schwanz;
man kann nicht Oper wollen und
alle Voraussetzungen der Oper
negieren, es geht nicht an, die
Illusion zugunsten eines „Inhalts"
auszuschalten, der dann doch
wieder t,SpaBM und nicht nur Dis-
kussionsbasis sein soil. Oder aber:
982
vielleicht kann man das alles, es
ware nur hier beim ersten Ver-
such noch nicht gegltickt,
Es ist nicht leicht, zu einem ab-
schlieOenden und nur einiger-
maflen gerechtem Urteil zu kom-
men. Von reiner Kunst im bis-
herigen Sinn ist da nicht mehr die
Rede, das Kunstwerk ist im
Aufierkunstlerischen verankert,
der Kiinstler ist Soziologe ge-
worden, der sich bemuht, die ge-
sellschaftlichen Zusammenhange
zu durchschauen und zunachst
seine eigne Stellung zu fixieren,
um im Sinn seiner Erkenntnisse
zu wirken; theoretische Irrtumer
werden die Praxis aufs Entschei-
denste beeinflussen, Andrerseits
ist dies ein gangbarer, ein not-
wendig zu gehender Weg; darum
miissen wir alien Pionieren Dank
wissen, die ausziehen, neue Len-
der der Kunst zu erobern, wenn
sie auch manchmai in der Wuste
ihrer Theorien ein wenig stecken
bleiben, ohne ihr Ziel ganz zu er-
reichen.
Trotz den Schwierigkeiten der
Beurteilung und der Kompliziert-
heit aller damit zusammenhangen-
den Fragen sind wir iiberzeugt,
Brecht hatte da Vieles anders und
besser machen miissen und kon-
nen; auch in dieser Form . aber
ist Mahagonny wertvoll: als ein
Versuch, ein Obergang und, hof-
fentlich, ein Versprechen.
Arnold Walter
Sigilla Veri, ein Juden-Lexikon
fch lese fast taglich in den
»* Sigilla Veri. Manche Dinge
wurden mir klart die ich vorher
nicht verstand. Alle meine
Freunde kommen, um bei mir die
drei bisher erschienenen Bande
einzusehen. Am Stammtisch muB
ich mir jedesmal vier bis ftinf
Fragen notieren, um sie am nach-
sten Abend zu beantworten. Ob
es sich um Auskunft iiber einen
franzosischen, deutschen oder
amerikanischen Juden, Juden-
freund oder -gegner handelt, ob
es sich um ein Wort aus der Gau-
nersprache oder ein in den deut-
schen Sprachgebrauch ubergegan-
genes Wort handelt, stets konnte
ich Auskunft erteilen.
Nur eine einzige Beschwerde
mochte ich anbringen: Wenn ich
zum Bcispiel im 3. Bandc ctwas
nachsehe, zum Beispiel den eng-
Hschen Erzbischof Howard, Senna
Hoy, Sir Isaacs Rufus, Kerr, Else
Lasker-Schiiler mit ihren typi-
schen Gedichten, oder Landesver-
rat, oder einen der vielen Laza-
rus, Levi mit i und y, Lewi mit i
und y, oder Leroy-Beaulieu —
(ich erwahne gerade einige der
Namen, die wir in den letzten
Wochen durchsprachen) — stets
empfinde ich es als storend, dai$
die vielen Abkurzungen oder
Zeichen mir nicht gelaufig sind.
Da mufl ich immer erst wieder
aufstehn, Band 1 holen und dort
nachschlagen auf den Seiten 109
bis 111, wo die Abkurzungen
stehen,
Konnte der Verlag nicht die
Abkurzungen und Zeichen auf
einem als Lesezeichen zu benut-
zenden Bogen nochmals besonders
drucken?"
„Der Verlag dankt fur die An-
regung und f reut sich, seinen
Freunden, Gesinnungsgenossen,
Helfern und Beziehern ein sol-
ches Lesezeichen iiberreichen zu
konnen,
Auf einem Zettel finden sich
nun die Abkurzungen; darunter:
das dunkle damonische Drei-
eck mit absteigender Spitze:
Bezeichnung fur Rassejuden
jeder ,Konfession\
das helle theonische Dreieck
mit aufsteigender Spitze: Be-
zeichnung fur nicht judisch,
Hinter den Namen gestellt,
bedeutet es, daB der Betref-
fende zwar selber nicht jti-
disch, aber judisch verheiratet
. ' ist.
Bei Pseudonymen (Deck-, Lug-
und Trugnamen) wird durch =r
der Urname angegeben; zum Bei-
spiel ,Berger, Paul =j Ismar
Boas', das heifit Paul Berger
heifit oder hiefi eigentlich Ismar
Boas.
(. , .) Diese Klammern enthal-
ten Bemerkungen, Ansichten, Zu-
satze etcetera, der Herausgeber,
zum Beispiel ,Alexisf Werner
(Anklang an Willibald Alexis!)
= Carl. Ed. Klopfer', das heifit;
der Jude Klopfer hat einen Deck-
namen gewahlt, wodurch er mit
dem beriihraten nicht judischen
Dichter Willibald Alexis in Be-
ziehung gebracht oder verwech-
selt werden kann, desh? 1 h Vor-
sicht!"
Deutscher Winter
Auf den Strafien schreit der Hunger,
In den Hausern stinkt die Not,
In den Speicfaern fault die Nahrung-,
Bettler fechten ein Stuck Brot.
Keinen Sechser in der Tasche,
In den Banken Hegt das Gold,
Und sie sag-en, diese Ordnung
Sei vbm lieben Gott jjewollt.
An der Ecke hockt der Blind e,
Halt zwei Schachteln Streichholz feil,
Feile Weiber pendeln langsam,
Machen satte Bauche jje.il.
Rauchlos unter kaltem Himmel
Stehn Fabriken leer und stumm
Und mit abjjestorbnen Hand en
Stehen Arbeitslose rum.
Eine Frau halt vor dem Fenster
Voller Waren kunterbunt,
Geht nachhaus und steckt zum Nachtmahl
Sich den Gasschlauch in den Mund.
Audi der Dichter, der dort schlendert,
Wichtig, bleich und genial,
Hat nichts in der Welt verandert,
Denn das, dunkt ihm, sei banal.
Und der Wind fegt wie ein Besen
Eisig kalt die ganze Nacht,
Fegt die Welt zum alien Eisen,
Und die neue Zeit erwacht.
Hans Reiser
Wir stehen an einer Zeitwende!
Wer das nicht fiihlt, dem ist nicht zu helfen, und wenn er auch der heste
Mensch ist, wird er doch ins Hintertreffen geraten. In solchen Zeitwenden
kam immer ein Mensch, der die kosmische Verankerung alien erden-
menschlichen Daseins aufzuzeigen wufite. Fiir den heutigen europaisch-
amerikanischen Kulturkreis ist das nur B6 Vin Ra, der heute in alien
funf Weltteilen Hunderttausende von Schiilern zahlt, ohwohl er selbst in
volliger Abgeschiedenheit lebt. Was wir von ihm wissen, erfahren Sie
aus der Broschtire von Dr. jur. Alfred Kober-Staehelin: „Weshalb Bo Yin
Ra?a, die Sie kostenfrei von Ihrer Buchhandlung oder direkt von uns
erhalten! Kober'sche Verlagsbuchhandlung (gegr. 1816) Basel-Leipzig
983
Antworten
Wiener. Der junge sozialdemokratische Schriftsteller Fritz Bur-
gel hat an den Rektor Ihrer Universitat den folgenden Brief ge-
richtet: „Eure Magnifizenz! Als Kandidat der Philosophic habe ich
bei meiner Promotion das Gelobnis abgelegt, das den Doktoren meiner
Fakultat vorschreibt, in der uneigenniitzigen Bemuhung fur die Wahr-
heit nicht zu erlahmen und danach zu streben, dafi ihr Licht, in dem
das Heil des Mehschengeschlechtes beschlossen ist, nur urn so strah-
lender leuchte. Die letzten Vorgange an der Wiener Universitat ha-
ben mirt wenn ich dieses Beweises noch bedurft hatte, gezeigtt daft
die Promotionsformel jeden Sinn verloren hat; dafi sich in den An-
schlagekasten, ungehindert vom Rektorat, eine Gesinnung breitmacht,
die weder mit den Gesetzen der osterreichischen Republik, noch mit
den Doktorgelobnissen der einzelnen Fakultaten vereinbar ist. Rek-
tor und Senat mogen iiber diesen Zwiespalt hinwegkommen; ich fuhle
mich durch mein Gelobnis verpflichtet, einer Universitat, die alle
Gesetze der Humanitat zwar in ihren Promotionsformeln fiihrt, aber
in Wahrheit fur nichts achtet, mein Diplom als Doktor der Philo-
sophie zerrissen zuruckzugeben, und zu ersuchen, meinen Namen aus
der Doktorliste jener Institution, die sich Alma mater Vindobo-
nensis Rudolfina nennt, zu streichen. Ihnen, Herr Rektor, bleibt es
(iberlassen, Ihre Haltung mit dem Gelobnis, das Sie seinerzeit abge-
legt haben, fiir vereinbar zu halten." Dies Vorgehen sei zur Nach-
ahmung empfohlen. Wenn das an den Statten der Wissenschaft
so weitergeht, werden iiberhaupt bald gar keine Studenten mehr da
sein, denen an wirklicher Arbeit liegt. Dann wiirden die Her-
ren unter sich sein, und bald konnten alle Professoren
abgebaut werden, denn von den Krawallmachern, denen der Rek-
tor auch noch den „0rdnungsdienst" iibertragen hat, lafit sich ja doch
keiner in den Kollegs sehn. Das ist aber auch gar nicht notig. Im
Dritten Reich braucht man nur noch den Nachweis zu erbringen, dafi
man gut pobeln und randalieren kann. sonst darf man strohdumm sein.
Wir setzen unser Abonnement herab
statt vierteljahrlich RM, 6.—
„ 5.40
statt monatlich „ 2. —
„ 1.80
Bereits zuviel gezahlte Betrage bringen wir fur das
II. Quartal gut.
Dieser Nummer liegt eine Zahlkarte fiir die Abonnenten bei, aui
der wir bitten,
den Abonnementsbetrag fiir das I. Vierteljahr 1932
einzuzahlen, da am 10. Januar 1932 die Einziehung durch Nachnahme
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richten; es wird gebeten, ihnen Riickporto beizulegen, da sonst keine Rucksendung erfolgen kann.
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bleiben fttr alle in der Weltbuhne erscheinenden BeltrSge ausdrQcklich vorbehalten.
Die Weltbuhne wurde begrundet von Siegfried Jacobsolin und wird von Carl v. Ossietzky
unter Mitwirkung von Kurt Tucholsky geleitet. — Verant wortlich : Carl v. OssieUky, Berlin;
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