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Full text of "Die Weltbühne 27-2 1931"

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Die 

MUbiihne 

Der  ^chatibtihneXllZ£L3ahr 

Ubchensdirifl  foft)litik  Rimsi-Wiriwhafl 

Bedrondetvmi  Siegfried  Jacateofm 

Vnier  Miiarbeii  vonKuriTucholfiky 
geleiiei  wm  Cad  v.Qssieizky 


ZZJahrgang 
Zweites  Halbjahr 

19    3   1 


VotagderWetibahne 

Charlotfenbiirjg'KairfsfrAsse  152 


Register  der  jWeltbiihne* 

XXVII.  Jahrgang  (1931),  2.  Band 


Autorenregister 


Anonyme  Beit  rage. 

-    Was  sich  auf  der  Erde 

AblaBhandel    1931      .     . 

27 

39 

begibt,        wenn        die 

Liebe  Weltbiihne!  27  39 

28 

77 

Ernte   gut   ist     .     .     . 

34 

313 

32  236  33  276  34  314 

37 

423 

Der  Heilige  der  Notver- 

38  460  40  538  43  653 

44 

689 

ordnung      

34 

313 

45  727  48  836  49  873 

50 

907 

Uberfall  auf  die  Reichs- 

51  943 

bank       ,,»... 

34 

314 

Antworten     27  40  28  78 

29 

117 

Autarkic        ..... 

35 

351 

30  158  31  198  32  237 

33 

277 

Herrn     Ktilz     zur     Be- 

34  315  35  352  36  385 

37 

424 

achtung      

35 

351 

38  461  39  499  40  539 

41 

576 

Alles   Schicksal     .     .     . 

35 

351 

42  614  43  654  44  690 

45 

728 

Segen    der    Erde   .     .     . 

35 

351 

46  766  47  801  48  838 

49 

874 

Maskuline  Begierden     . 

36 

384 

50  908  51  945  52  984 

Pietat         

37 

423 

Unsern    amerikanischen 

No   violence       .     . 

37 

423 

Gasten   gewidmet   ,     , 

28 

76 

Spate    Reue       .... 

38 

458 

Hausse     im     Bett     der 

Seine     Heben     Dendro- 

Zeugin        

28 

76 

logen      .     

38 

459 

Moblierte   Wirtin    emp- 

Jom   Kippur      .... 

39 

498 

pfiehlt    sich        .     ,     , 

28 

77 

Also  — ?       

40 

537 

Wohlerworbenes    Eigen- 

Theaterkultur         ... 

40 

537 

tum        

29 

116 

Germanisch        .... 

40 

538 

Glatt    erledigt        .     .     . 

29 

116 

Ein   kesser   Nacbkomme 

40 

538 

Begreiflich 

29 

116 

Physik 

40 

538 

Ein  Ziel,    aufs   Innigste 

Wer  — ?        

41 

574 

zu  wiinschen      .     .     , 

29 

116 

Gut  aufgehoben     .     .     . 

41 

574 

Monogame           Sprach- 

Reklame-Lyrik       .     .     * 

41 

574 

kunde          

30 

157 

Ludendorf!      und      das 

Die   Notverordnung 

30 

157 

Goethe-Jahr       .     .     , 

41 

574 

Mildernde  Umstande     . 

30 

157 

Lehm 

41 

574 

Rechtwinklige          Buste 

Der   Macen        .... 

41 

575 

erwiinscht       .     .     ,     , 

31 

197 

Der    Trachtengedanke    . 

41 

575 

Verweye   doch,   dti   bist 

Motto:      Ich    habe    seit 

so    schon        .     ,     .     , 

31 

197 

meiner      Kadettenzeit 

Was  ware  wenn  . , , 

31 

197 

kein   Buck    mehr   ge- 

Lange    Leitung       ,     ,     . 

32 

235 

lesen      ...... 

41 

575 

Leutnant       warst        du 

Zwischenstufen       .     *     . 

43 

652 

einst 

32 

235 

Trotzdem      .     *     43  653 

44 

689 

Die  SelbstbewuBte     ,     . 

32 

236 

Kurzsichtig 

44 

689 

Neues  vom  Tage       ,     , 

32 

236 

Wer   soil   sich   da   mel- 

Zur   Dbung        .    ,    .    , 

33 

275 

den? 

44 

689 

Volksentscheid       .    '.     . 

33 

276 

Was     geschieht,     wenn 

Das    Verbot    des    tAn- 

einer    die  Verantwor- 

griffs' 

34 

311 

tung  tragt?     .... 

45 

726 

Ideale        45  726 

Mit  Ahoi       .....  45  726 

Die  Wochenschau      .    .  45  726 

Natur  und  Kunst      .     .  45  727 

Ja,  warum  denn?     .    .  46  765 

Allgemeinbildung       .     .  47  800 

Fragen   und   Meinungen  48  811 

Das  Wort  der  Stunde  .  48  $36 

Prima    Zeugnisse       .     .  48  836 

Adaptierung     fur   heute  48  837 
Ornament             Redslob 

DRP 49  873 

Entwelscht 49  873 

Die   moralische   Anstalt  49  873 
Weltecho    des    leipziger 

Prozesses        .     .     .     .  50  884 

Tekla   auf   der  Tour     .  50  906 

Christen  unter  sich  .     .  50  907 
Ein    bis     zwei    Stunden 

nach    dem    Tode     .     .  50  907 

Schmock  definiert     .     .  51  942 
Ein   Liebling    der    deut- 

schen   Musen      ...  51  943 

Sachsisches         ....  51  944 

Schaukel-Redslob       .     .  51  944 
Haben         wir          einen 

Reichstag?   Wir  haben 

einen  Reichstag!     .     .  52  980 
Sigilla  Veri,  ein  Juden- 

lexikon       .....  52  982 
Angel,    Ernst;     Filme    im 

Zeichen  der  Krise      .  34  304 
Apfel,         Alfred:         Der 

schtltzende     Paravent  32  232 
Der    Fall     des    Doktor 

Engel  44  662 

Alsberg     < 46  798 

und    Halle,    Felix:    Eine 

Beschwerde         ...  35  323 
Arnheim,    Rudolf:      Lehr- 

stiick      vom      Richter 

Lindsey 30  142 

Bressart  31  184 

Tabu  35  346 

Hans   Albers     ....  36  383 

Geschaft  und  trotzdemi  37  408 

Der  okonomische  Tee  .  38  449 

Die  Russen  spielen  .     .  39  485 

Kurz    und   unfreundlich  40  526 
Charakterdeutung       als 

Wissenschaft     41  556  42  599 

43      639 

Zwei    Filme       ....  41  572 

Marokko        42  612 

Teils   teuer,   teils  gut    .  44  674 
Psychologie     des    Kon- 

fektiousfilms       .     .     .  45  711 

Moralische   Prosa      .     .  47  787 

Eloessers  zweiter  Band  48  834 


Babys,       Jungen       und 

Madchen         ....  49  655 

Anmerkung        ....  49  869 

Mixed  Grill  ....  50  892 
Stil   und   Stumpfsinnim 

Film       .    .    .  ■    .     .    .  51  932 

Zwolf  Uhr  nachts  .  .  52  969 
Asiaticus:      Kanton      und 

Nanking 37  395 

Manabendra    Nath   Roy  49  .  850 

Bargenhusen,      Jan:      Die 

Deutsche  Planung  .  30  150 
Schatzwechsel    —     und 

was  dann?  ....  32  228 
Die  schwarze  Front  .  ,  34  286 
Wir    hoffen    auf    Wirt- 

schaftswunder  ...  46  731 
Einer  muO   geschlachtet 

werden! 48    827 

Bauer,   Hans:    Der  Olym- 

pier        ......     27      35 

Der   Expeditionsfilm      .     39    498 
Behne,  Adolf:   Die  Kunst 

als   Waffe      ....    34    301 

Die       Akademie        am 

Scheidewege  .  .  .  35  344 
Feihinger  .  -  ...  40  535 
Die    Welt     von     unten 

oder   Zweierlei  01      .-46     754 
Benedikt  XV.:   Der  Krieg 
ist    eine    grauenhafte 
SchlachtereiJ       ...     31     171 
Bennr  Gottfried:  Dieneue 

literarische  Saison  .  37  402 
Blei,  Franz:  Parabel  .  .  45  708 
Bleier,     August:      Nathan 

Soderblom 29     112 

Brentano,  Bernard  v.:  Der 

Philosoph   der 

Schwerindustrie      .     . 

Breuer,  Robert:  Ober  den 

Schutzverband    .     .     . 

Brod,    Max :    Kampf    mit 

einem    Prominenten    . 

Buckler,     Johannes:     Die 

Meerengen     .... 

Zehn   Millionen 

Deutsche  vorbestraft! 
Der  rote  Handel  lockt  . 
Werkspionage  .  ,  . 
Potentiel  de  guerre  .  . 
Esperanto 

Citron,  *  Bernhard:     Geld- 

geber  der  Nazis  .  . 
Reichsaufsichtsamt  .  . 
Wirtschaft  bringt  Not  . 
Alte  und  neue  Banken 
Flucht  aus  der  Soziali- 

sierung       .     .     .     .     .    36    376 


36 

369 

48 

818 

39 

494 

27 

13 

43 

628 

45 

700 

47 

.777 

49 

868 

52 

961 

28 

72 

29 

110 

31 

186 

33 

268 

m 


38    437 


40 

512 

42 

606 

43 

643 

44 

680 

45 

718 

47 

792 

49 

664 

50 

898 

52 

974 

35    340 


28 

67 

30 

148 

40 

527 

48 

837 

29 

83 

Subventionen  .... 
Die  Krise  des  Kapitalis- 

mus 

Die  Plane  der  Industrie 
Verschlossenes  Gold  . 
Risse  im  Stahlkonzern 
Brechung      der      Zins- 

knechtschaft  .  .  , 
Dezentralisation  .  .  . 
Banken  der  Zukunft  . 
Das  Vierte  Reich  .  , 
Morgan  und  Borsig  .  . 
Cohen-Portheim,         Paul: 

Anglikana  .... 
Connor,       Herbert:        Die 

Schlagerindustrie     im 

Rundfunk  .... 
Die  Schlagerclique    de- 

mentiert  ..... 
Corbusier,     Le:     Drohung 

iiber   Paris      .... 

Dehmel,  Richard;  Der  Ar- 
beitsmann       .... 

Droste,  Thomas:  Was 
wird  werden?    .    .    . 


Ebermayer,    Erich:     Wer- 

thers  Leiden  1931  .  47  785 
Eckhardt,  Ferdinand:  Epi- 
log    zur    Bauausstel- 

lung       ......    31     194 

Eggebrecht,      Axel:      Die 

heiligsten  Guter  .  .  29  100 
Das     wirkliche      Ruhr- 

gebiet         33    271 

Der  GroBe  Plan  ...  41  560 
Unsre     fidelen    Gefang- 

nisse 46    761 

Ekert-Rothholz,         Alice: 

Welt  fur  Manner  .  .  28  66 
Alle  spielen  Blindekuh  34  310 
Die  Neuerscheinung  .  35  343 
Tonende  Wochenschau  37  417 
Zeittheater!  Zeittheater!  40  532 
London  in  rot  und  grau  44  669 
Legende  von  den  Him- 

melsplagen  ....  46  755 
Jeden  Tag:  Auktion!  .  49  855 
Ezzelino :      Vorsicht :     Ge- 

schichtsromanf  .  ,  30  155 
Die  Begrufiung      ...    38    458 

Falkenfeld,  Hellmuth: 

Hegel         43    634 

Feldmann,  Siegmund: 

Paul  Doumer  ...  27  5 
Finck,  Werner:  Wenn  das 

so  weiter  geht  .     .     .    46    765 


Fischer,        Ernst:        Otto 

Bauer      und      James 

Maxton 32    208 

Der  Pfrimer-Putsch  .  38  437 
Flake,  Minna:  Gegen  die 

Bonzen  des  Aeskulap  43  647 
Flesch,    Intendant    Hans: 

„Schlager    im    Rund- 
funk"    ......     31     182 

Floch,       Richard:       Dem 

VDA  gewidmet  .  .  52  979 
Franck,   Sebastian:    Wirt- 

schaft    am    Tage   vor 

der  Diktatur  ...  28  69 
Frank,  F.:  Der  Zuhalter  .  35  325 
Franke,       W.:        Polizei- 

berichte  .....  50  889 
Frei,      Bruno:      Gesprach 

mit  Patel  ....  41  547 
Futo,  Evelyn:   Spruche     .    43    651 

Gantner ,      Anton :      Pater 

Muckermann  .  .  .  .  33  257 
Gattamelata ;      Habt      ihr 

schon  bemerkt        .     .    29    115 
Der  M-Stil        ....    49    872 
Gehrke,    M.    M.:     Mitro- 

paisches  .....  28  75 
Es      pafit      nicht      ins 

Schema 44    685 

Das  Andre  Polen  .  .  52  978 
Gerlach,    Hellmutv,:   Nun 

mufl   sich   alles,   alles 

wenden! 37    421 

Friedrich  Leopold  .  .  38  456 
Hitlers  Vorlaufer  .  .  48  814 
Paul-Boncour  hat 

Recht!        51    914 

Gerstorff,     K.     L.:      Wir 

haben      noch       keine 

Reparationen  gezahlt!  28  41 
Bruch     in     der     natio- 

nalen  Front  .  .  ,32  201 
Von  Bruning  bis  Seyde- 

witz 34    289 

Frankreichs  Gold  .  .  -37  389 
Welt-Inflation  ...  39  470 
SPD  gespalten!  ...  40  504 
Am    runden    Tisch    bei 

Hindenburg  ...  43  625 
Kalter  Abbau  ...  45  696 
Rufiland    in    der    Wirt- 

schaftskrise  ...  47  771 
Zentrum     und     Fascis- 

mus        49    844 

Illusionen  fiber  Hitler  .  52  950 
Glenk,  Hans :    Wer  kampf t 

fur  uns?  ....  39  492 
Wer    ist   beleidigt  wot- 

den? 47    7% 


IV 


35 

335 

41 

569 

31 
36 

179 
378 

37 
38 

393 

444 

Goldschmidt,  Alfons; 

Union       der       festen 

Hand 27      20 

Der  Optimist     .     ...    29     107 
Mussolinito        ....     31     175 
Zehn   Jahre   I.A.H.   .     .    41     550 
Goncourt,      Edmond     de: 

Zur    Goldkrisc        .     .     39    491 
Goering,  Max:   Wie  emp- 
fangen       wir       unsre 
Krieger?         ....     31     190 
Grauli:    Unser   Adolf   .     .     51    944 

Halle,    Felix    und    Apfel, 

Alfred  (siehe  Apfel) 
Harris,    Frank :    Amerika- 

nisches   Mittelalter 
Hasenclever,  Walter:  Pre- 
miere in  Moabit     .     . 
Hauser,      Kaspar:      Deut- 
sches    Chaos       .     .     . 
Kleine  Nachrichten   .     . 
Kurzer  AbriB    der    Na- 
tionalokonomie        .     . 
Der     kartellierte    Zeisig 
Haufig,       Ernst       Moritz: 
Staatenreigen  vor 

dem  Weihnachtsbaum    51    943 
Heine,    Heinrich:    Zu   die- 

sem  Devaheim        .     .    37    422 
Zu   dieser   Zensur      .     .     40    515 
Hill,  Oktavius:   Die  Wah- 

rung  tanzt      ....     47     798 
Hiller,        Kurt:        Scheier 

spukt 27       17 

Sozialistenbund      ...    28      47 
Freiwilliger         Arbeits- 

dienst  30     154 

Die    Schuldigen    strafen     31     165 
Einen       Schritt       noch, 

Einstein!         ....     33    250 
Nationaler  Philoso- 

phatsch 38    441 

Lenin    und    der    Mate- 
rialisms 44      670    45     704 
Imaginare      Schonheits- 

konkurrenz    ....     48    832 
Ohnmachtiger      Pazifis- 

mus         50    882 

Hirsch,    Leo:     Das    Dum- 
ping  der  Seelen     .     .    27      35 
Das   Zimmer  im   Innen- 

ministerium         ...     36    374 
Holitscher,  Arthur:  Bruno 
Weils  Boulanger- 

Buch 41    570 

Horney,   Rolf:   SchultheiB- 

Kulissen  ....     51     936 


Hudes,  T.  N.:  Leben  der 
Autos  und  polnische 
Diploma  ten    ,     ,     ,     , 

Hyan,  Hans:  Die  Mord- 
kurve      .     .    37     396 

Isolani,  Gertrud:  In  mei- 
ner  Eigenschaft 
als 

Kalenter,     Ossip:     Reise- 

freuden 

„Sein     Liedchen     blast 

der   Postilion ..." 
Moblierte  Zimmer      ,     . 
Kdllai,    Ernst :    Tanzkunst 

durch  Eilboten  ,  . 
Religiose  Kunst?  ,  . 
Lyonel  Feininger:  Zwan- 

zigtausend  .... 
Das     Dritte    Reich     im 

Bild       ...... 

Kaminski,       Harms-Erich: 

Briining  in  Rom  .  , 
Der  deutsche  Sumpf  , 
Das    Laster    der    Spar- 

samkeit 

An  einem  Sterbebett    , 
Internationale  Ge- 

sprache       

Der      Troubadour      der 

groBen  Dame     .    .    . 

Kunde  von  1936  .    .    . 

Karsch,  Walther:    Zuruck 

zur  Barbarei!  ,  .  . 
Nachwort  zu  einer  Ex- 

hortatio  BenediktsXV. 
Ein  Volk  klagt  an!  .  , 
Courths-Mahler  rot  .  . 
Interview       mit       Max 

Seydewitz  .... 
Lex  Weinert  .... 
Wahn-Europa  1934  .  * 
Spielzeug  Mensch  ,  . 
Werfel  theoretisiert 
Kastner,  Erich:  Auf  einer 

kleinen      Bank      vor 

einer  groBen  Bank  . 
Dummheit  zu  Pferde  . 
Poesie  rer.  pol.  .  .  . 
GroBe    Zeiten    (neueste 

Ausgabe)  .... 
Hunger  ist  heilbar  .  . 
Gesprach   mit   dem  Mi- 

nisterium  .... 
Fabian   und  die  Sitten- 

richter        

Herbstnacht  in  Berlin  , 


46  760 

38  439 

27  3a 

27  37 


33 

38 

274 
460 

30 
32 

145 
22S 

46 

763 

49 

852 

32 
36 

2Q6 
366 

40 
42 

516 

587 

44 

659 

47 
51 

7®t 
923 

30 

132 

31 
36 
39 

173 
382 
495 

40 
42 

45 
47 
51 

508 
582 
723 
774 
926 

29 
30 
31 

104 
138 
189 

32 
39 

236 
489 

40 

523 

43 

44 

642 
683 

Die  Dame    schreibt  der 

Dame 45    717 

Das  Riesenspielzeug      .    47    791 
Heiliger  Abend     .    .    . 
Keilpflug,   Erich  R.:    Wie 
macht    man     Sudsee- 

filme?         

Renter,     Heinz     Dietrich: 
Notverordnung         als 
Preisausschreiben 
Kersten,   Kurt:     Schlacht- 

feld  und  Lohntiite 
Kessel,  Martin:   In  Wirk- 

lichkeit  aber 

Kesser,       Hermann:       Zu 
dieser  Zensur     .     .     . 
Der  Flieger  komrat! 
Klaffke,  Helmut:  Die  Fa- 

milie 40    530 

Kurzer      Hinweis       auf 
Zehnsassa       ....     51    935 
Klein,    Wol  demar :     Mon- 
tagu Norman     .     .     .     36    3S0 
Koffler,     Dosio:     Kaiser- 
Film       ,.,,-,,    45    702 
Kolmar,   Alfred:    Selbsthilfe 

oder  Auslandshilfe?  .    29     105 
Aufspaltung     der    deut- 

schen     Zolleinheit 

Konzern-Schwachsinn    . 

Kraszna-Krausz,  A.:  Film- 

wirtschaft       ,     ,     t     . 

Kunkel,    Johann:    Synthe- 

tische  Politik     .     .     . 


51     939 


29     114 


31  196 

41  568 

28  64 

33  261 

48  820 


34    294 
45     722 

52    965 


Langer,  Felix:  Das  ewige 
Butterbrot      .     .     .     . 

Lehmann-Rufibiildt,    Otto: 
Potentiel    de    Guerre 
30    130 
Der  osterreichische  Re- 


Der 


marque      .    . 
Leonhard,     Rudolf 

Revolver         .     .     . 
Unfug  mit  Jimmy  Wal 

ker 

Filmoptimisten       .     . 
Lernet-Holenia,      Alexan 

der:  Beilis      .     .     . 
Lichtenberg:   Gelehrte 
Lind,  Emil:  Buhnengenos- 
senschaft    und  Oppo- 
sition      

Links,     Jakob:     Die     ge 
tafnte  Schupo    .     . 
Tarnow  oder  R.G.O.? 
Lo  wen  thai,    Fritz :      Meu- 
ternde  Matrosen    .     . 
Luschnat,   David:   Schrift- 
steller-Schutzverband 


41  545 

37  420 
29  91 

51  940 

31  177 

38  454 
46  752 

46  745 

46  757 

27  26 

28  53 
36  357 

46  740 

42  584 


Magnus,    Max:    Ufa-Dra- 

maturgie    ..... 

Ufa  und  Autoren     .    » 

Marcuse,  Julian:  .Aposto- 

lische  Gynakologen  . 
Matthias,  Lisa:   Die  Frau 

und  die  Behorde  .  . 
Mayer,  Otto:  Neue  Arbei- 

terchore     

Mehring,  Walter:  Harden 
Kleiner  Seitenhieb  .  . 
Die      Operette      riistet 

auf 

Menczer,    Bela:     Bethlens 

Gliick  und  Ende  .  . 
Mtihlen,  Arno:  Der  Ober- 

landjager  .... 
Mtihsam,   Erich:    Gewerk- 

schaft      der     Schrift- 

steller 

Aktive  Abwehr     .     .     . 

Neergaard,  Ebbe:  Ameri- 
kas  Filmherrschaft     . 

Nek:  Wenigstens  die 
Schreibmaschine     .     . 

Olden,  Rudolf:   f,Geplante 

Vorschriften"      .     .     . 

Zu  Schnitzlers  Tod  .     . 

Ossietzky ,    Carl    v. :    Rei- 

tende  Bettler  .  .  . 
Es  ist  erreicht!  .  .  . 
Stillhalten      und      mit- 

singen         

Brtining  und  sein  Ruhm 
Volksentscheid  .  .  . 
Btilowplatz  .... 
Zu  spat!  .  .  .  .  . 
Am  runden  Tisch  .  . 
Pilsudski-Regime  .  . 
Armer  Curtius!  .  .  . 
Pogrom  und  Polizei 
Volker  ohne  Signale     . 

Dieser   Winter 

Rechts  ist  Trumpf!  .    . 

50  zu  50 

Die  beiden  Groener  . 
Biilow  und  Schleicher  , 
Braun  und  schwarz  ,  . 
Groener       funkt       da- 

zwischen  .... 
Wer  gegen  wen?  .  . 
Der  Weltbuhnen-ProzeB 
Of fener  Brief  an  Reichs- 

wehrminister  Groener 
Kommt  Hitler  doch?  . 
Trotzki       spricht       aus 

Prinkipo  .... 

Tabula  rasa      -     - 


32  233 

37  411 

27  33 

45  709 

43  651 

42  956 

51  929 

52  971 
35  320 

43  631 


28   57 
50  880 


32  219 
49  867 


39  474 
43  648 


27 
29 


1 
79 


30  119 

31  159 

32  199 

33  239 

34  279 

35  317 

36  355 

37  387 

38  453 

39  463 

40  501 

41  541 

42  579 

43  617 

44  .655 

45  693 

46  729 

47  767 

48  803 

49  839 

50  875 

51  911 

52  947 


VI 


Pallenberg,  Max:  Antwort 

an  Max  Brod     ...    40    533 
Panter,  Peter:  So  verschie- 

den   ist  es  im  mensch- 

lichen  Lcben  — !  .  .  29  103 
Europaische         Kinder- 

stube      ......     33    266 

Lehar  am  Klayier  .  .  34  307 
Zwei  Sprachbucher  .  .  35  341 
Der  musikalische  Infini- 

tiv 36    361 

Schnipsel   .   37  416  44  673 

51   934 
Einer,  der  es  genau  weiB  41  554 

f 43  650 

Kritik      als      Berufssto- 

rung       46    749 

Auf   dem   Nachttisch      .     49     857 
Pol,  Heinz:    Ullstein   und 

Ufa         ......    39    477 

Zum  Sterben  zuviel . . ,?     40    519 
Rapprochement      ...    43    635 
Polgar,  Alfred:  Die  schone 

Helena        27       30 

Theater 38    451 

Kabale  und  Liebe  .  .  39  490 
„Ruckkehr"  ....  40  535 
Der  Theaterdichter 

Schnitzler  ....  44  679 
Geschichten     aus     dem 

Wiener  Wald  ...  46  756 
Hoffmanns  Erzahlungen  49  862 
Wunder     der    Wochen- 

schau 50    902 

Billingers     „Rauhnacht"     52    972 
Prigge,   Richard:    Medizin 

und    Publikum  ...     30     138 


Quidde,  Ludwig:  Korrup- 
tion  auf  Filzpan- 
toffeln        


Raff,      Friedrich:      Mifito- 

nende  Wpchenschau  . 

Die      neueste      (lMiflto- 

nende    Wochenschau' ' 

Die    Attrappe    .... 

Ray,     Marcel :     Laval     in 

Washington         .     .     . 

Reimann,  Hans:  Zeddies  . 

Der   Fall    M 

Klavier  auf  Platten 

Marathon-Tanz      .     .     . 

Der  wahre  Grund     .     . 

Reiner,    K.    L.:     Gombos, 

der  letzte  Ritter   .     . 

fteiser,    Hans:  .Deutscher 

Winter       "*■    „     .     .     . 

Ringelnatz,    Joachim:    Im 

Aquarium  in  Berlin  . 


35     332 


38    4158 


39 

497 

51 

941 

43 

621 

37 

422 

44 

668 

45 

715 

48 

822 

50 

906 

42 

610 

52 

983 

33 

276 

Abglanz         

Herbst  im  FluB     ,    .    . 

Roda,  Roda:  Der  Schwei- 

zerische  Mazen      .     . 

Der   Menschenfreund     . 

Der  Hofliche     .... 

Sand,     Georges :     Stimme 

des  Besiegten  .  .  . 
Shaw,     George     Bernard: 

Das      miBverstandene 

Ruflland 

Simplex:  Vernunftige 

Zauberer  .... 
Lied       des      Deutschen 

von  1931  .... 
Solten,     Robert:     Studen- 

tenkrawalle  .  .  . 
Spender,      S. :      Philologi- 

sches      ...... 

Swift,      Jonathan:      Poli- 

tische  Prozesse  .  . 
Justiz        

Scner ,  Peter :  Edle  f ar- 
bentragende  Jugend  . 

MacDonald  in  Deger* 
loch        

Das  Lied  vom  Dingel- 
dey         

Casar  auf  Reisen      .     . 

Fascistenparade     .     .     . 

Anarchie  in  Bayern  . 
Schiller,  Norbert;  Salz- 
burger  neues  Welt- 
theater  ..... 
Schiicking,  Julius  Lothar: 
Protest  gegen  „posi- 
tiv"         

Stalin:  Eine  Rede     .     .     . 
Stein,    A:     Die     Ehre    in 

Giatz 

Sternberg,      Fritz:     Linke 

Sozialdemokraten 

und  SowjetruBland     . 

Stossinger,      Felix:      Der 

englische  Dolchstofi    . 

Pax  britannica       .     .     . 

Autarkic        .     .     .     .     . 

Zur    Amerikalegende     . 

Revolutionsmusik       .     . 

Coudenhove        blamiert 

Europa 

Passionsmusik        .     .     . 
Generate     und      Demo- 

kratie 

Sturmann,  Manfred:  Rent- 
nerinnen 


35  351 

45  727 

35  349 

37  422 

40  537 


50  891 


36 

360 

33 

272 

41 

574 

28 

73 

35 

350 

47 

48 

795 
836 

29  113 

31  192 

34  314 

36  384 

42  608 

45  725 


42  605 

37  418 

28  45 

35  348 

31  167 


30 

125 

34 

281 

42 

610 

45 

121 

47 

797 

49 

847 

50 

904 

52  955 
41  575 


VII 


Tarn,         Thomas;         Die 

nachste        Notverord- 

nung 33  247 

„Lange  Wellen"  ...  38  432 
Deflation  oder  In- 
flation?        41  564 

Nachkriegs-Kapitalismus  46  736 
Der     Irrtum     der     Ge- 

werkschaften  ...  51  920 
Tiger,   Theobald:   An   das 

Publikum  .....  27  32 

Der  Mitesser     .     .     .     .  *  30  147 

Autarkie        .....  32  231 

Die  Losung  .  ,  .  .34  293 
Also  wat  nu  —  ja  oder 

ja? 35  347 

Der  Priem    .     .     ...  36  373 

Goethe-Jahr   1932      .     .  38  452 

Theobald  Tiger     ...  38  457 

Imma  mit  die  Ruhe!     .  40  525 

Beit   Friehstick      ...  41  567 

An  das  Baby  ....  43  646 

Betriebsunfatl         ...  47  795 

Sie,  zu  ihm       ....  48  826 

Media  in  vita        .     .     .  50  901 

Die  Seriosen  ....  52  977 
Timpe,       Theodor:       Ein 

Ketzer  wird  gemacht  46  742 
Toller,    Ernst:    Giftmord- 

prozefi  Riedel-Guala  41  552 
Traven,        B.:        Banken- 

Krach         31  185 

Tucholsky,    Kurt:     Erkla- 

rung       33  276 

Im    Gefangnis     begreift 

man       50  902 

Valles,  Jules:  Volkskunst  33  273 
Victor,      Walther:       Gott 

in  Montreux  ...  30  156 
Villard,  Oswald  Garrison: 

Hoovers  Tragodie  .  29  87 
Vola,     Heinrich:      Schau- 

bude  anno  2000  .  .  37  423 
Voss,  Margarete:  Arbeits- 

lose  Jugend  19(31  .  .  38  458 
Der  Konflikt     ....     43    653 

Wallenstein,       G.:       Deut- 

scher  Winter  1931/32    40    538 

Walter,      Arnold:       „Die 

schalkhafte   Witwe"  .    44    687 


Das   Unaufhorliche    .     . 

49 

870 

Mahagonny        .     .     ,    . 

52 

981 

Walter,     Hilde:     Frauen- 

dammerung?       .     .     . 

27 

24 

Die          Stehkragenfront 

wankt         

46 

739 

Wehner,      Carl :      Persien 

und  PreuBen      .     *     - 

44 

684 

Wieland,     Hans:      Hitlers 

Fliegerei         .... 

51 

918 

Wild,       Jonathan:       Und 

nochmals:   Schafft  die 

Todesstrafe  ab       .     . 

27 

34 

Tonkin     .     .       32     213 

33 

262 

Winder,     Ludwig:     Stefan 

Rott       

46 

762 

Wolfenstein,  Alfred;  Han- 

noverscher   Roman 

50 

903 

Wrobel,   Ignaz:    Der  Ver- 

dachtsfreispruch      ,     , 

27 

33 

Der  Predigttext .... 

28 

72 

Zuzutrauen         .     ...     . 

29 

111 

Der     bewachte    Kriegs- 

schauplatz       .     .     . 

31 

191 

Die  Augen  der  Welt    . 

32 

216 

Die  Herren  Wirtschafts- 

ftihrer         ..... 

33 

254 

Herr  Wichtig     .... 

34 

312 

Reparationsfibel         .     . 

35 

328 

Am  Telephon        .     .     . 

37 

418 

Eines  aber     

38 

454 

Sigilla  Veri       .... 

39 

■483 

Parteiwirtschaft     .     .     . 

40 

533 

Die  Kriegsschuldfrage  . 

42 

609 

Die  Verrater      .... 

45 

720 

Ein  kleiner  Volksschul- 

lehrer         

48 

831 

Hegesippe  Simon       .     , 

50 

895 

Basel         ...... 

51 

940 

Rote  Signale     .... 

52 

959 

Zeun,  Curt:  Doktor  Gen- 
ter  in  Lubeck    .    .     , 

Ziegelmiiller,  Franz: 
Schiele,  Baade  und 
Andre         

Zucker,     Wolf:     Wieder- 

sehen     mit     England 

29     98 

Reisen        mit       Doktor 

Oberall        


42  590 

27  9 

28  62 

49  869 


vm 


Sachregister 


Abbau,   Kalter  —    ... 

Abglanz        

AblaBhandel  1931  .  .  . 
Absatznot  —  Arbeitsnot 
Abwehr,  Aktive  —  .  . 
Adaptierung  fur  heute  . 
Adolf,  Unser  —  .  .  . 
Ahlwardt 

Ahoi,  Mit  —  ..... 
Akademie,  Die  —  am 
Scheidewege  .... 
Albers,  Hans  —  ... 
AUegorie,  Eine  deutsche — 
Allgemeinbildung      . 

Alsberg  

Also  — ?      ...... 

—  wat    nu     —     ja     oder 

ia? 

Amerikalegende,  Zur  —  , 
Amerikanischen      Gasten, 

Unsern gewidmet 

Amerikanisches   Mittel- 

alter         

Amerikas  Film-Herrschaft 
Anarchie   in  Bayern     .     . 

Anglikana 

fAngriffs\       Das      Verbot 

dcs  —  .  .  . ':  .  ,  . 
Anmerkung  .  /  .  .  , 
Apostolische   Gyna- 

kologen  .  .  .  .  . 
Aquarium,  Im  —  in  Berlin 
Arbeiterchore,  Neue  —  . 
Arbeitsdienst,   Freiwilli- 

ger   — 

Arbeitslose  Jugend  1931  . 
Arbeitsmann,  Der  —  ,  . 
Arbeitsnot,    Absatznot    — 

Attrappe,  Die  —  .     .     .     . 

nAufmarsch" 

Auktion,  Jeden  Tag:  — ! 
Auslandshilfe,    Selbsthilfe 

oder  — ?      

Ausreise- Verbot,  Das  —  . 
Autarkic  32  231  35  351 
— ,  Pressechef      verkiindet 

die   —     ...... 

Autoren,  Ufa  und  —  .  . 
Autos,   Leben  der  —  und 

polnische  Diplomaten  . 
„AvantgardeM  .... 
Aeskulap,  Gegen  die  Bon- 

zen  des  —  .... 


45  696 

35  351 

27  39 
40  512 

50  860 
48  837 

51  944 

48  814 

45  726 

35  344 

36  383 

39  4S9 

47  800 

46  758 

40  537 

35  347 

45  721 

28  76 

35  335 

32  219 

45  725 
35  340 

34  311 

49  869 

27  33 

33  276 
43  651 

30  154 

38  458 

48  837 

40  512 

51  941 

43  651 

49  855 

29  105 

30  121 

42  610 

31  163 

37  411 

46  760 

39  485 

43  647 


Baade,    Schiele,    —    und 

Andre 

Baby,  An  das  —  ... 
— s,  Jungen  und  Madchen 
Bademunde,  „Die  Schlacht 

von  * — "  .  ... 
Balasz,  Bela  —  .  .  .  . 
Ball,  „Der  — "  .  .  .  . 
Bank,    Auf   einer   kleinen 

—  vor  einer  groBen  — 
— en,  Alte  und  neue  —  . 
— en  der  Zukunft  .  .  . 
— en-Krach  .  .  *  .  . 
Barbarei,   Zurtick  zur  — ! 

Basel        

Bauausstellung,         Epilog 

zur  —     ...... 

Bauer,   Ludwig  —    ... 

— ,Otto   — 

— ,  Otto    —     und    James 

Maxton        

Bayern,  Anarchie  in  —  . 
Becher,  Johannes  R.  —  . 
Beer,  Rtidiger  Robert  —  . 
Begierden,    Maskuline  — 

Begreiflich        

Begruftung,  Die  —  ... 
Behorde,    Die    Frau    und 

die  — 

Beilis        

Benedikt  XV 

Benn,  Gottfried  —  ... 
Berlin,  Herbstnacht  in  — 
— ,  Im  Aquarium  in  —  . 
„ — Alexanderplatz"  .  . 
Beschwerde,  Eine  —  .  . 
Besiegten,  Stimme  des  — 
Bethlens  Gluck  und  Ende 
Betriebsunfall  .... 
Bett,    Hausse    im   —   der 

Zeugin  .     ,     .     .     . 

Bettler,  Reitende  —  .  . 
Bild,     Das     Dritte     Reich 


27  9 

43  646 

49  855 

37  408 

50  894 

37  408 

29  104 
33  268 
49  864 
31  185 

30  132 

51  940 

31  194 
49  860 

31  167 

32  208 
45  725 
41  560 
31  159 
36  304 
29  116 

38  458 

45  709 

46  745 
31  173 

49  870 

44  683 

33  276 
41  572 
35  323 

50  891 
35  320 

47  795 


28 
27 


76 

1 


Billingers  f1Rauhnacht"  . 
Blank,  Herbert  —  .  .  . 
Blech,  Leo  —  .... 
Blindekuh,     Alle    spielen 


MBomben  auf  Monte 
Carlo" 

Bonzen,  Gegen  die  —  des 
Aeskulap 

Borsig,   Morgan   und  —  . 


49  852 

52  972 

30  132 

49  862 

34  310 

36  383 

43  647 

52  974 


IX 


Boulanger-Buch,        Bruno 

Weils  — 

Braun  und  schwarz  .  . 
Brecht,  Bert  —  .  .  .  . 
Bredel,   Willi  —      .    .    . 

Bremer,  P.  H 

Bressart        

Britannica,  Pax  —  ... 
Brod,   Max   —  .     .     . 

— ( Antwort  an  Max  —  . 
Briining  in  Rom  .     .     .     . 

—  und  Hugenberg        ,    . 

—  und  sein  Ruhm  .  .  . 
— ( Von     —     bis     Seyde- 

witz        ....... 

Buchner,  Eberhard  —  ,     . 
Buchrucker,  Major  — 
Butterbrot,  Das   ewige  — 
Buhnengenossenschaft  und 

Opposition       .... 
Bulow  und  Schleicher 

— Platz 

Buste,     Rechtwinklige    — 

erwiinscht         .     .     ,     . 

Carlowitz,  Doktor  von  — 
Casar  auf  Reisen  .  ,  . 
Chaos,  Deutsches  —  .  . 
Chaplin,  Charlie  —  .  . 
Charakterdeutung   als 

Wissenschaft      41     556 

43     639 
Charell,  Erik  —     44   674 
Christen  unter    sich     . 
Christiansen,  Broder  — 
„City-Lights"    .... 
Connor,   Herbert  —     . 
Coudenhove  blamiert 

Europa        .... 
Courths-Mahler  rot 
Crozier,   General  —     . 
Curtius,    Armer   — f     . 

Dame,     Der     Troubadour 
der  groBen  —  ... 

— f  Die  —  schreibt  der  — 

Deflation  oder   Inflation? 

Degerloch,  MacDonald 
in   — 

Demokratie,   Generale 
und  — 

Dendrologen,     Seine     lie- 
ben   —    ...... 

Deri,  Max  — 

Deutsche  Planung,  Die  — 


—  Sumpf,  Der 

— en,    Lied    des    — 
1931         .... 
— r   Winter      .     .    . 
— r  Winter  1931/1932 


41  570 

45  693 
52  981 

39  495 

46  742 

31  184 
34  281 
46  762 

40  533 

32  206 
39  467 
31  159 

34  289 

49  859 

30  132 
37  420 

27  26 

44  655 

33  239 

31  197 

39  474 

36  384 
31  179 

34  304 

42  599 

46  752 

50  907 
49  872 
34  304 
31  182 

49  847 

39  495 
49  858 

37  387 

47  781 

45  717 

41  564 

31  193 

52  955 

38  459 

40  535 

30  150 

36  366 

41  574 
52  983 
40  538 


Deutsches  Chaos   ...  31  179 

Devaheim,  Zu  diesem  —  37  422 

Dezentralisation    ...  47  792 

Diel,  Louise  —  ....  49  857 
Diktatur,  Wirtschaft  am 

Tage  vor  der  —  .  .  28  69 
Dingeldey,   Das   Lied 

vom  —   34  314 

Dominicus 34  312 

Doumer,  Paul  —  ...  27  5 
Dritte   Reich,   Das   —  — 

im  Bild       49  852 

Dummheit  zu  Pferde  .  .  30  138 
Dumping,     Das     —     der 

Seelen     ......  27  35 

Dupont,  E.   A.   —  ...  37  408 

Dyke,  W.  S.  van  —    .    .  44  674 

Ehre,   Die  —  in   Glatz   .  35  348 

Ehrenburg,  II j a.—  .     .    .  29  100 

Eigenschaft,  In  meiner  — 

als 27  38 

Eigentum,     Wohlerworbe- 

nes  — 29  116 

Einer,  der  es  genau  weiB  41  554 

—  mufi  geschlachtet  wer- 

den!         48  827 

Eines    aber 38  454 

Einstein,      Einen     Schritt 

noch,    — !         ....  33  250 

Eisenmann        .....  27  13 

Ekk,  Nikolai  —  ....  39  485 

Eloessers   zweiter  Band   .  48  834 

„Emil  und  die  Detektive"  49  855 

Engel,  Der, Fall  des  Dok- 
tor —     44  662 

—.Erich  —      .....  41  572 

England,  Wiedersehen 

mit   —        .     .    28    62  29  98 

Englische  DolchstoG 

Der ....  30  125 

„Enthousiasmus"        ...  39  485 

Entwelscht        49  873 

Erde,  Segen   der  —     .     .  35  351 

— ,  Was  sich  auf  der  — 
begibt,  wenn  die  Ernte 

gut  ist 34  313 

Erklarung          .....  33  276 

Ernst,  Franz  —  ....  46  742 

Ernte,  Was  sich  auf  der 
Erde  begibt,  wenn  die 

—  gut  ist 34  313 

Es   ist   erreicht!    ....  29  79 

Esperanto 52  961 

Europa,  Coudenhove  bla- 
miert — 49  847 

Europaische     Kinderstube  33  266 

Expeditionsfilm,  Der  —  .  39  498 

Exportkampf,      Vom      — 

zum  Kriege     .    ...  28  69 


Fabian     und    die    Sitten- 

richter          43  642 

Familie,  Die  —  ....  40  530 
Farhentragende      Jugend, 

Edle ....  29  113 

Fascismus,    Zentrum    und 

—  .     . 49  844 

Fascistenparade    .    .     .    .  42  608 

Fehling,  Jiirgen  —  .     .     .  52  972 

Feininger 40  535 

— ,  Lyonel    — :     Zwanzig- 

tausend  .....  46  763 
Film,  Stil  und  Stumpfsinn 

im    — 51  932 

— e,  Zwei  —  .....  41  572 
■ — e       im       Zeichen      der 

Krise  .....  34  304 
— Herrschaft,      Amerikas 

—        32  219 

— optimisten     .....  46  752 

— wirtschaft 52  965 

Flieger,  Der  —  kommt!  .  48  820 

— ei,   Hitlers   —   ....  51  918 

FluB,   Herbst   im  —     .     .  45  727 

Foch .  52  955 

Forst    de   Battaglia,    Otto 

.....  41  554 

Fragen  und  Meinungen    .48  811 

Frankreichs  Gold  ...  37  389 
Frau,  Die  —  und  die  Be- 

horde .  45  709 

— endammerung  ?       ...  27  24 

Friedell,  Egon  —     ...  27  30 

Friedrich    Leopold   ...  38  456 

Friehstick,  Beit  —  ...  41  567 

50  zu  50 42  579 

Furstenberg,    Von    —    zu 

Jakob  Goldschmidt      .  33  268 

Gallone,   Carmine  —  .     .  44  674 

Garvens,  O.  —  ....  35  328 
Gefangnis,   Im  —  begreift 

man 50  902 

— se,  Unsre  fidelen  —      .  46  761 

Gefecht,  „Das  letzte  — "  .  39  469 

Geld,  Politik  ohne  —  .     ,  31  161 

— geber    der    Nazis       .     .  28  72 

Gelehrte 46  757 

Generate  und  Demokratie  52  955 
Genter,  Doktor  —  in  Lu- 

beck        ......  42  990 

..Geplante  Vorschriften"  .  39  474 

Germanisch 40  538 

Gescbaft  und  trotzdem!  .  37  408 
Geschichtsroman,         Vor- 

sicht:    — ! 30  155 

Gewerkschaften,  Der    Irr- 

tum  der  —     ....  51  920 

Glatt    erledigt      ....  29  116 

Glatz,   Die   Ehre   in  —   .  35  348 


Glaeser,  Ernst  —    49  869  50  894 

Gobsch,  Hanns  —  .  - .    .  45.  723 

Gold,   Verschlossenes     —  43  643 

—krise,  Zur  —  .     .    .    .  39  491 

Goldschmidt,  Jakob  —  .  29  107 
— ,  Von    Fiirstenberg     zu 

Jakob  — 33  268- 

Gott   in  Montreux   ....  30  156 

Gombos,  der  letzte  Ritter  42  610 

Goethe- Jahr    1932  .     .     .  38  452 

— :,  Ludendorff  und  das  —  41  574 

Grill,  Mixed  — .     .  50  892 

Grimm,   Hans  —      ...  52  947 

Grofie  Plan,   Der .  41  560 

—  Zeiten     (neueste   Aus- 

gabe)        .32  236 

Grocner,  Die  beiden  —  .  43  617 
— ,  Offener        Brief        an 

Reichswehrminister    : —  49  839 

—  funkt  dazwischen  .  .46  729 
Grund,  Der  wahre  —  .  50  906 
Guala,        Giftmordprozefi 

Riedel—     .    ,    .    .    .  41  552 
Guerre,    Potentiel   de    — 

29  91       30    130  49  868 

Gulbransson,  O.  —      .    .35  32& 

Gut,  Teils  teuer,  teils  —  44  674 

—  aufgehoben  ,  .  .  .  41  574 
Giiter,  Die  heiligsten  —  .  29  100 
Gynakologen,          Aposto- 

Hsche  — 27  33 

Habt  ihr    schon    bemerkt  29  115 

Hannoverscher  Roman      ,  50  903 

Harden 42  596 

„Harold,  halt  dich  fest"  .  34  304 

Hausse  im  Bett  der  Zeugin  28  76 

Hegel        .......  43  634 

Heilige,  Der  —  der  Not- 

verordnung       ....  34  313 

— r    Abend       51  939 

— sten  Giiter,  Die .  29  100 

Heine,  Th.  Th.  —  .    .     .  35  326 

Helena,  Die  schone  —     .  27  30 

Hemingway,  Ernest  —     .  38  451 

Herbst  im  Flufl  ....  45  727 

— nacht   in   Berlin   .     .    .  44  683 

Heute,   Adaptierungfur—  48  837 

Hielscher,   Friedrich  ■—   .  38  441 

Hiipert,  Heinz  —  38  451  46  756 
Himmelsplagen,     Legende 

von  den  —     ....  46  755 

Hindemith,  Paul  —  .  .  49  870 
HindenbuVg,    Am1  runden 

Tisch   bei  —      ...  43  625 

Hirsch,  Karl  Jakob  —     .50  903 

Hitler,  Illusionen  iiber  —  52  950 

— ,  Kommt    —    doch?       .  50  875 

— s  Fliegerei    .....  51  918 

— s    Vorlaufer       ....  48  814 


XI 


Hofbauer,    Josef   — 
Hoffmanns   Erzahlungen   . 
Hoovers   Tragodie   .     .     . 
Horvath,    Odon    — 
Hoflich,   Sergeant  —  . 
Hofliche,   Der  —      .     .    . 
Hugenberg,     Bnining  und 


51 

940 

49 

862 

29 

87 

46 

756 

49 

859 

40 

537 

39 

467 

39 

467 

39 

489 

Humor  der  Woche  , 
Hunger    ist    heilbar 


I.  A.  H.f  Zehn  Jahre  —  .  41  550 

Ibaiiez,    Carlos  —    ...  31  175 

Ideale .     .  45  726 

Industrie,    Die    Plane    der 

— 42  606 

Infinitiv,       Der      musika- 

lische  — 36  381 

Inflation,    Deflation    oder 

— ? 41  564 

— ,  Welt —        39  470 

Innenministerium,  Das 

.  Zimmer  im  —      ...  36  374 

Internationale    Gesprache  44  659 

Italiaander,    Rolf    —    .     .  34  312 

Ja,  warum  denn?      ...  46  765 

Jom  Kippur 39  498 

Joseph,  Doktor  —  ...  47  774 
Jugend,      Arbeitslose      —  * 

1931 38  458 

— f  Edle  farbentragende  —  29  113 

Junge  Liebe 38  452 

Jungen,    Babys,     —     und 

Madchen 49  855 

Justiz       48  836 

Kabale  und  Liebe         ,     .  39  490 

Kaiser-Film 45  702 

Kalter   Abbau       ....  45  696 

Kanton  und  Nanking  .  37  395 
Kapitalismus,    Die     Krise 

des  —......  40  512 

Kartellierte  Zeisig,  Der  —  38  444 

Kat 38  451 

Katajew.  Valentin  —  .     .  39  485 

Kastner,  Erich  —  ...  47  787 
Ketzer,    Ein   —   wird    ge- 

macht      ......  46  742 

Kind,    „Das   —    und    die 

Welt" 49  855 

— erstube,  Europaische  —  33  266 

Kircher,  Rudolf  —  ...  31  159 

Kisch,  Egon  Erwin  —     .  49  861 

Klavier   auf  Platten      .     .  45  715 

Kleine  Nachrichten  .  .  36  378 
Knickerbocker,         Hubert 

H.   —      ." 45  700 

,       43  650 


Kommunisten  und  Volks- 

entscheid 30  119 

Konfektionsfilms,  Psycho- 
logic des  —    ....  45  711 
Konflikt,  Der  —      ...  43  653 
KongreB,    „Der   —  tanzt"  44  674 
Konzern-Gefahren     ...  31  187 

Schwachsinn     ,     .     .     ,  45  72S2 

Korruption    auf    Filzpan- 

toffeln 35  332 

Kortner,    Fritz    —        .     .  44  674 

Kraus,  Karl  —     ....  51  929 

Kredit  und  Kreditinstitute  40  514 

Krey,    Franz   —       ...  39  495 
Krieg,    Der    —    ist    eine 

grauenhafte      Schlach- 

terei! 31  171 

— e,     Vom     Exportkampf 

zum  —  ......  28  69 

— er,   Wie  empfangen   wir 

unsre    — ?        ....  31  190 
— sscbauplatz,      Der     be- 

wachte  — 31  191 

— sschuldfrage,  Die  —     .  42  609 

Kritik    als    Berufsstorung  46  749 

Kunst,   Natur   und   —      .  45  727 

— .Religiose   — ?       ...  32  225 

—.Die   —   als    Waffe      .  34  301 

Kurz  und  unfreundlich     .  40  526 

— sichtig ,  44  689 

Kiilz,  Herrn  —  zur  Beach- 

tung 35  351 

Lahusen        28  72 

Lamprecht,   Gerhard   —   .  49  S56 

Lange  Leitung      ....  32  235 

„Lange  Wellen"  ....  38  432 

Lapradelle         27  13 

Laval   in  Washington   .     .  43  621 

Leben,  „Der  Weg  ins  — "  39  485 
— ,  So   verschieden    ist   es 

im   menschlichen 1  29  103 

Legende        ......  31  159 

* —  von       den       Himmels- 

plagen          .....  46  755 

Lehar  am  Klavier     ...  34  307 

Lehm        41  574 

Lehmann-RuBbuldt, 

Otto  — 49  868 

Leipziger    ProzeB,     Welt- 
echo  des .     .     .  50  884 

Leitung,  Lange  —   ...  32  235 
Lenin  und  der  Materialis- 

mus      ...    44      670  45  704 

Leutnant  warst  du  einst ...  32  235 

Lewin,   Kurt  —   ....  49  855 
Lichtbild,    „Das   Deutsche 

— " 50  892 


xn 


Licbc,  Junge  —  .     *     .    .  38  452 

— ,  Kabale  und  —  ;    .    .  39  490 

— ,  „Nic  wicdcr  — "  *  .  31  184 
— ,  „Wer     nimmt    die    — 

ernst..."          ....  41  572 
Lindsey,     Lehrstuck     vom 

Richter  —     ....  30  142 
Linke      Sozialdemokraten 

und  SowjetruBland      .  31  167 
Literarische    Saison,     Die 

ncue ....  37  402 

Lloyd,  Harold  —  ...  34  304 
Lohntiite,          Schlachtfeld 

und   — - 41  568 

London    in   rot  und  grau  44  669 

Losung,   Die  —    ....  34  293 

Lubitsch,  Ernst  —  ...  34  304 
Ludendorf  i        und         das 

Goethe-Jahr         ...  41  574 
Liibeck,     Doktor     Genter 

in   — 42  590 

Lutkens,    Charlotte  —      .  45  721 

M,  Der  Fall  — 44  688 

MacDonald      in       Deger- 

loch          31  192 

Mahagonny       52  981 

Mann,  Thomas  —    ...  33  266 

Marathon-Tanz     ....  48  822 

Marokko 42  612 

Martin,  Karl  Heinz  —  .  41  572 
Marx,   Der  gerechtfertigte 

—       40  512 

Maskuline  Begierden  .  36  384 
Materialismus,  Lenin  und 

der  —  ...    44    670  45  704 

Matrosen,  Meuternde  —  46  740 
Maxton,   Otto  Bauer   und 

James    — 32  208 

Macen,  Der  —  ....  41  575 
Madchen,    Babys,    Jungen 

und  — 49  855 

,  —   in   Uniform"      ...  49  855 

Manner,  Welt  fur  —  .     .  28  66 

Media    in    vita    ....  50  901 

Medizin   und    Publikum    .  30  138 

Meerengen,  Die  —  ...  27  13 

Meinungen,  Fragen  und  —  48  81 1 

Mensch,  Spielzeug  —  .     .  47  774 

— enfreund,  Der  —  .  .  .  37  422 
— lichen    Leben,    So    ver- 

schieden  ist   es   im  — 


Mildernde  Umstande   .     / 
Ministerium,  Gesprach 

mit  dem  —  .... 
Mirkin-Getzewitsch  .  . 
Mitesser,  Der  —  ... 
Mitropaisches  .... 
Moabit,   Premiere   in  —  . 


29  103 

30  157 

40  523 

27  13 
30  147 

28  75 

41  569 


Monogame      Sprachkunde 
„Monte  Carlo"      .... 

,    „Bomben  auf " 

Montreux,  Gott  in  —  .    . 
Moralische    Anstalt,    Die 


—  Prosa 

Mordkurve,  Die  —37  398 
Moratorium,  Das  stille  — 
Morgan  und  Borsig  .  . 
Motto:  Ich  habe  seit  mei- 

ner   Kadettenzeit   kein 

Buch    mehr    gelesen    . 

Moblierte      Wirtin     emp- 

fiehlt  sich 

—  Zimmer  .  .  .  .  . 
M-Stil,  Der  —  .... 
Muckermann,  Pater  —  . 
Murnau,  F.  W.  —  .  .  . 
Musen,    Ein   Liebling    der 

deutschen  —  .  .  .  . 
Mussolinito       

Nachkomme,  Einkesser  — 
Nachkriegs-Kapitalismus 
Nachrichten,    Kleine  —    . 
Nachttisch,    Auf    dem  — 
Nachwort      ...... 

Nanking,  Kanton  und  — 
Nationalen    Front,    Bruch 

in  der .     .     .     . 

Nationaler  Pmlosophatsch 
Nationalokonomie,  Kurzer 

AbriB  der  —  .  ... 
Natur  und  Kunst  .  .  . 
Naumann,  Friedrich  —  . 
Nazis,  Geldgeber  der  — 
Neuerscheinung,  Die  —  . 
Neues  vom  Tage  .  .  . 
1936,  Kunde  von  —  .  . 
No  violence  .  .... 
Norman,  Montagu  —  .  . 
Not,  Wirtschaft  bringt  — 
Notverordnung,   Der   Hei- 

lige   der  —      .... 

— ,Die   — 

— ,  Die   nachste   —  ... 

—  als  Preisausschreiben . 
Nun  muB  sich  alles,  alles 

wenden!       

Nurnberg,   Rolf  —  .     .     . 

Oberlandjager,  Der  —  . 
Offenbach,   Jaques  — 

27  30 
Olympier,  Der  —  ... 
Operette,    Die    —    riistet 

auf 

Optimist,  Der  —  ... 
Oederlin,  Max  —    ... 


30 

157 

34 

304 

36 

383 

30 

156 

49 

873 

47 

787 

38 

439 

31 

186 

52 

974 

41  575 

28  77 

38  460 

49  872 

33  257 

35  346 

51  943 

31  175 

40  538 

46  736 

36  378 
49  857 

31  173 

37  395 

32  201 

38  441 

37  393 

45  727 

48  814 

28  72 

35  343 

32  236 
51  923 
37  423 

36  380 
31  186 

34  313 

30  157 

33  247 

31  196 

37  421 

51  929 

43  631 

49  862 
27  35 

52  971 

29  107 
49  859 


XIII 


Oekonomische    Tee,     Der 

38    449 

Oel,  Die  Welt  von  unten 

oder  Zweierlei  —  .     .    46    754 


Pallenberg,  Max  —     .     . 

Parabel 

Paravent,       Der       schut- 

zende  —     ...... 

Paris,  Drohung  uber  —  . 
Parteiwirtschaft    ..     .     .     . 

Passionsmusik       .... 

Patel,  Gesprach  mit  —   . 
Paul-Boncour    hat   Recht! 
Pax  britannica     .... 

Pazifismus,        Ohnmachti- 

ger  — 

Persien    und    Preufien 
Pfrimer-Putsch,  Der   —   . 
Philologisches        .... 
Philosoph,     Der     —     der 

Schwerindustrie        .     . 
— atsch,    Nationaler    —    , 

Physik      . 

Pietat       .     .     

Pilsudski-Regime  .  .  . 
Plan,  Der  GroBe  —  .  , 
— ung,  Die  Deutsche  —  . 
Platten,  Klavier  auf  —  . 
Poesie  rer.  pol,  .  .  . , 
Pogrom  und  Polizei  .  , 
Polen,  Das  Andre  — 
Polgar,  Alfred  .... 
Politik,  Synthetische  — 
—  ohne  Geld  .... 
Politische  Prozesse  —  . 
Polizei,    Pogrom    und    —> 

— berichte  

Polnische  Diplomaten,  Le- 

ben  der  Autos  und  — 


„Positiv'\     Protest    gegen 

Postilion,    „Sein  Liedchen 

blast  der  —  .  .  ."  .     . 
Potentiel  de  Guerre  29  91 

49    868 
Predigttext,  Der  —  ... 
Premiere   in  Moabit 
Pressechef   verkiindet   die 

Autarkie      .... 
PreuBen,   Persien  und 
Priem,   Der   —     ... 
Prima  Zeugnisse       .     . 
Prominenten,    Kampf  mit 

einem  — '  .  .  .  . 
Prozesse,  Politische  — 
Psychologie      des      Kon- 

fektionsfilms    .    .    . 


39  494 
45  708 

32  232 

40  S27 

40  533 

50  904 

41  547 

51  914 

34  281 

50  882 

44  684 
38  427 

35  $50 

36  369 
38  441 

40  538 

37  423 
36  355 

41  560 

30  150 

45  715 

31  189 

38  453 

52  978 
44  674 
41  545 
31  161 
47  795 
38  453 
50  889 


46  760 
37  418 

33  274 

30  130 

28  72 

41  569 

31  163 

44  684 
36  373 
48  836 

39  494 

47  795 

45  711 


Publikum,  An  das  —  ..  27  32 

— .Medizin  und  —  ...  30  138 

Rapprochement     ....  43  636 
Rationalisierung,    Soziali- 

sierung  und  —   .    .     ,  31  187 

„Rauhnacht'\  Billingers  —  52  972 

Rechts   ist  Trumpf!      .     .  41  541 
Rechtwinklige    Biiste     er- 

wunscht       31  197 

Redslob,   Schaukel-—  .    ,  51  944 

—.Ornament  —  DRP.      .  49  873 

Reger,  Erik  —     .     ,    .    ,  27  20 

Reibnitz,  Kurt  v.  —     .     .  47  781 

Reichsaufsichtsamt         .     .  29.  110 
Reichsbank,    Oberfall    auf 

die   — 34  314 

Reichstag,       Haben      wir 

einen  — ?     Wir  haben 

einen    — ! 52  980 

Reimann,  Hans  —  .    .     .  35  341 

Reinhardt,  Max  —    27  30  39  490 

49  862 

Reisefreuden 27  37 

Reklame-Lyrik      ....  41  574 

Religi6se    Kunst?      ...  32  225 
Remarque,       Der  _  oster- 

reichische  —  ....  51  940 

Renouvin      ......  27  13 

Rentnerinnen         ....  41  575 

Reparationen,  Wir    haben 

noch  keine  —  gezahltf  28  41 

Reparationsfibel    ....  35  328 

Reue,  Spate  —    ....  38  458 

Revolutionsmusik      ...  47  797 

Revolver,  Der  —     ...  31  177 

R.G.O.,  Tarnow  oder  — ?  36  357 
Riedel-Guala,      Giftmord- 

prozefi   — 41  552 

Riesenspielzeug,  Das  —  .  47  791 

Rom,  Bruning  in  —     .     .  32  206 

Rote  Handel,    Der 

lockt        ......  45  700 

—  Signale         .....  52  959 

Rott,   Stefan  —  ....  46  762 

Roy,  Manabendra  Nath  —  49  850 

Ruhe,  Imma  mit  die  — !  .  40  525 
Ruhrgebiet,  Das  wirkliche 

—        .......  33  271 

Runden  Tisch,  Am 35  317 

,  Am bei  Hin- 

denburg 43  625 

Rundfunk,    Die    Schlager- 

industrie  im  —  ...  28  67 

— ,  „Schlager   im  — "    .     ,  31  182 

Russen,  Die  —  spielen     .  39  485 
RuBland,      Das      miBver- 

standene  —     .     ...  36  360 

—  in  der  Wirtscbaftskrise  47  771 

,(Ruckkehr" 40  535 


XIV 


Sagan,   Leontine   —    '  .     .  49  855 
*,Salto  Mortale"   ....  37  408 
Salzburger     neues     Welt- 
theater        42  605 

Samson,   R.  —     -     ,     .    ..  38  452 

Sassmann,  Hanns  —    .     .  27  30 

Sachsisches        51  944 

Seeleh,  Das  Dumping  der 

—        27  35 

Segen  der  Erde        ...  35  351 

Seitenhieb,  Kleiner  —  .     .  51  929 

SelbstbewuBte,  Die  —  .  .  32  236 
Selbsthilfe  oder  Auslands- 

Wfe? 29  105 

Semi-Kurschner         ...  39  483 

Seridsen,  Die  —  ...  52  977 
Seydewitz,    Interview   mit 

Max  — 40  508 

—.Urn  — 39  464 

—  Von  Briining  bis  —    .  34  289 

Sie,  zu  ihm 48  826 

Siegfried,   Andre  —     .     .  39  463 

Sigilla   Veri 39  483 

,     ein     Judenlexikon  52  982 

Signale,     Volker    ohne   —  39  463 

Simon,  HegSsippe  —  .  .  50  895 
Sittenrichter,    Fabian  und 

die  —,.....,  43  642 

„Soir  de  Raffle'       ...  44  674 

„Solidaritat" 43  651 

SowjetruBland,  Linke  So- 

zialdemokraten  und  —  31  167 
Sozialdemokraten,      Linke 

—  und  SowjetruBland  31  167 
Sozialisierung,   Fluent  aus 

der  — 36  376 

Sozialisierung  und   Ratio- 

nalisierung        ....  31  187 

Sozialistenbund     -     ...  28  47 

Soderblom,  Nathan  —  .  29  113 
Sparsamkeit,    Das    Laster 

der  — 40  516 

Spat,  Zu  —  I 34  2179 

SPD    gespaltenf        ...  40  504 

Spengler,  Oswald  —    ..  36  369 

Spielzeug    Mensch    ...  47  774 

Sprachbucher,  Zwei  —  .  35  341 
Sprachkunde,     Monogame 

—  .......  30  157 

Spruche         43  651 

Subventionen         ....  38  437 

Sumpf,  Der  deutsche  —  36  366 
Sudseefilme,     Wie    macht 

man  — ? 29  114 

Sunder,     „Der    brave   — "  44  674 

Synthetische  Politik      .     .  41  545 


Schatzwechsel  —  und  was 

dann? .  32  228 

Schaubude  anno  2000  .     .  37  423 

Schaukel-Redslob      ...  51  944 

Scheffler,  Karl  —    ...  49  858 

Scheler  spukt  ...  .  27  17 
Schema,     Es    pafit     ntcht 

ins  — 44  685 

Schicksal,  Alles  —  ...  35  351 

Schiele,  Baade  und  Andre  29  9 

Schiller,  Friedrich  v.  —  .  39  490 

Schilling,   E.  —  ....  35  328 

Schlachtfeld  und  Lohntute  41  568 

f,Schlager  im  Rundfunk"  31  182 
— clique,    Die   —    demen- 

tiert 30  148 

— Industrie,     Die    —     im 

Rundfunk 28  67 

Schleicher,  Bulow  und  —  44  655 

Schmock  definiert     ,     .     .  51  942 

Schnipsel  37  416  44  673  51  934 
Schnitzler,    Der    Theater- 

dichter   —        .     ,     .     .  44  679 

— s,  Zu  —  Tode  ....  43  648 
Schonheitskonkurrenz, 

Imaginare  —  ....  48  832 
Schreibmaschine,     Wenig- 

stens  die  —  .  .  .  .49  867 
Schrifts  teller,         Gewerk- 

schaft   der   —      ...  28  57 

— Schutzverband  ...  42  584 
Schuldigen,    Die  —    stra- 

fen .31  165 

SchultheiB-Kulissen  .  .  51  936 
Schultze-Pfaelzer,  Ger- 
hard — 30  132 

Schulz,   W.   —     ....  35  328 

Schupo,  Die  getarnte  —  .28  53 
Schutzverband,        Schrift- 

steller-^- 42  584 

-^-,Ober  den  —    .    .     .     .48  818 

Schwarz,  Braun  und  —  .  45  693 

Schwarz,  Georg  —  .     ,     .  33  271 

— ,  Hanns   —    .     .     .     .     .  36  383 

Schwarze  Front,  Die 34  286 

Schweizerische         Mazen, 

Der 35  349 

Schwerindustrie,  Der  Phi- 

losoph   der  —     ...  36  369 

Staatenreigen      vor      dem 

Weihnachtsbaum    .     .  51  943 
Stahl-Konzern,     Risse    im 

— 44  680 

Stalin   spricht       .    .     /   .  28  45 

Stauf,  Ph.  — 39  463 

StauB,  Hans  —  ....  47  774 
Stehkragenfront,     Die    — 

wankt      .....;  46  739 


XV 


Steinberg,  Paul  —  -  .  •     • 

50 

889 

Sterbebett,  An  cincm  —  . 

42 

587 

Sterben,      Zum     —      zu- 

viel..,?       

40 

519 

Sternberg,    Josef    v.    —    - 

42 

612 

Stewart,  Donald  —      .     . 

40 

535 

Stillhalten        und        mit- 

singen 

30 

119 

StraBer,   Otto  —      .     .    . 

30 

132 

Stocker,   Adolf   —   ... 

48 

814 

Studentenkrawalle    .     .     . 

28 

73 

Tabu    ...     

35 

346 

Tabula  rasa 

52 

947 

Tanzkunst  dutch  Eilboten 

30 

145 

Tarnow  od^r  R.G.O.?. 

36 

357 

Tekla  auf  der  Tour     ,     . 

50 

906 

Telephon,   Am  —    ... 

37 

418 

Temeraire,  „Fighting    — " 

39 

463 

Teuer,     Teils     — ,      teils 

gut 

44 

674 

Theater 

38 

451 

— kultur        

40 

537 

Thiel,  Rudolf  —  .     .     .     . 

50 

892 

Thiele,   Wilhelm   —     .     . 

37 

408 

Thony,   Ed.  —     .... 

35 

328 

Tiessen         

43 

651 

Tiger,  Theobald  —  ... 

38 

457 

Tode,  Ein  bis  zwei  Stun- 

50 

907 

— sstrafe,    Und  nochmals: 

Schafft   die  — -  ab  .    . 

27 

34 

Tonkin      ...    32      213 

33 

262 

Trachtengedanke,  Der    — 

41 

575 

„Trader   Horn'*     .... 

44 

674 

Tretjakow,  Sergej   —  .     . 

37 

402 

Trotzdem      .     .     43      653 

44 

689 

Trotzki   spricht  aus   Prin- 

kipo          

51 

911 

Troubadour,    Der  —    der 

groBen  Dame       .     .     . 

47 

781 

Ufa,   Ullstein  und  —  .     .  39  477 

—  und  Autoren   ....  37  411 

— Dramaturgic     ....  32  233 

Ullstein  und  Ufa     .     .     .  39  477 

Unaufhorliche,  Das  —  .     .  49  870 
Unfreundlich,    Kurz    und 

—        40  526 

Uniform,   „Madchen  in — "  49  855 

Union  der  festen  Hand    .  27  20 
Uberall,  Reisen  mit  Dok- 

tor  —        49  869 

Uberfall    auf    die   Reichs- 

bank        34  314 

Ubung,   Zur  —     .     .    .    .  33  275 


VDA,  Dem  —  gewl^et  .  52  979 
Verantwortung,    Was    ge- 

schieht,      wenn      einer 

die  —  tragt    ....  45  726 

Verdachtsfreisprucb,     Der 

—      .......  27  33 

Verrater,  Die  —  ....  45  720 

Verschieden,   So  —  ist  es 

im     menschlicben    Le- 

ben  —  I        29  103 

Verweye  doch,  du  bist  so 

schon       31  197 

Vierte   Reich,   Das 50  898 

Vinna,   Clyde  de  —     .     .  44  674 

Violence,  No  —  ....  37  423 

Volk,   Ein  —  klagt  an!   .  36  382 

— sentscheid  .  32  199  33  276 
— sentscheid,          Kommu- 

nisten   und   —     ...  30  119 

— skunst       ......  33  273 

— sschullehrer,    Ein    klei- 

ner    —         48  831 

Vorbestraft,      Zehn      Mil- 

lionen  Deutsche   — !    .  43  628 

Volker   ohne   Signale   .     -  39  463 

Wagemann,   Ernst  —   .     .  38  432 

Wahn-Europa  1934  .  .  45  723 
Walker,          Unfug         mit 

Jimmy  —        ....  38  454 

Was   ware  wenn 31  197 

—  wird  werden?  ...  29  83 
Washington,  Laval  in  —  43  621 
Wahrung,  Die  —  tanzt  .  47  799 
Weill,  Kurt  —  ....  52  981 
Weils,  Bruno  —  Boulan- 

ger-Buch 41  570 

Weinert,   Lex  —      ...  42  582 

Weiskopf,  F.   C.  —     .     .  50  894 

Wellen,   „Lange  — '     .     .  38  432 

Welt,  Die  Augen  der  —  32  216 
— ,  Die  •—  von  unten  oder 

Zweierlei    01        ...  46  754 

— buhnen-Prozefi,  Der  —  48  803 
— echo        des        leipziger 

Prozesses 50  884 

— Inflation  .....  39  470 
Wenn      das      so      weiter 

geht         46  765 

Wer  — ? 41  574 

—  gegen   wen?     ....  47  767 

—  ist  beleidigt  worden?  .47  796 

—  kampft   fur   uns?     .     .  39  492 

—  soil  sich  da  melden?  44  689 
Werfel  theoretisiert  .  .  51  926 
Werkspionage  ....  47  777 
Werthers  Leiden  1931  .  47  785 
Wertoff,  Dsiga  —  ...  39  485 
Wichtig,  Herr   —     ...  34  312 


XVI 


Wiener    Wald,    Geschich- 

ten  aus  dem  —  —     . 
Winter,    Deutscher  — 
-—.Deutscher  —    1931/32 

— ,Dieser  — 

Wirklichkeit,  In  —  aber  . , . 
Wirtin,       Moblierte       — 

empfiehlt  sich  ,  .  , 
Wirtschaft    am   Tage  vor 

der  Diktatur  .  .  . 
—  bringt  Not  .... 
— sbeirat,  Der  —  ... 
— sftihrer,  Die  Herren  — 
— swunder,      Wir      hoffen 

auf  —         

Witwe,     „Die    schalkhafte 


Wochenschau,   Die  — 
— ,  Die       neueste      „MiB 

tonende  — "  . 
— (  MiBtonende  — 
— ,  Tonende  — 
— ,  Wunder  der  — 
—Kino  .  .  . 
Wolf-Ferrari 
Wort,  Das  —  der  Stunde 


46  756 

52  983 

40  538 

40  501 

28  64 

28  77 

28  69 

31  186 

43  625 
33  254 

46  731 

44  687 

45  726 

39  497 

38  458 

37  417 

50  902 

37  408 

44  687 

48  836 


Zauberer,   Vernunftige   —  33  272 

Zeddies         37  422 

Zehn   Millionen   Deutsche 

vorbestraftf  ....  43  628 
Zehnsassa,     Kurzer    Hin- 

weis  auf  —  ....  51  935 
Zeisig,     Der     kartellierte 

—        38  444 

Zeittheater!      Zeittheater!  40  532 

Zensur 30  122 

— ,  Zu  dieser  —     33     261  40  515 

Zentrum  und  Fascismus  49  844 
Zeugin,    Hausse   im    Bett 

der  — 28  76 

Ziel,  Ein  — f  aufs  Innigste 

zu  wunschen  ...  29  116 
Zinsknechtschaft, 

Brechung  der  —  ,  .  45  718 
Zolleinheit,      Aufspaltung 

der  deutschen  —     ,     .  34  294 

Zuckmayer,  Carl  —     .     .  38  451 

Zuhalter,  Der  —     .    ,     .  35  325 

Zuzutrauen 29  111 

Z wischenstuf en      ...»  43  662 

Zwolf  Uhr  nachts         ,    .  52  969 


XXV4I.  Jalftf$ft&g  *.  Jnli  1931  Hammer  27 

Reitende  Bettler  voncanv.ossietzky 

In  Siidamerika  gibt  es  Bettler  zu  Pferde.  Sie  reiten  auf  ihrem 
*  diirren  Klepper  von  einer  Hazienda  zur  anderm  und  halten 
den  Caballeros  mit  groBer  Gebarde  die  hohle  Hand  unter  die 
Nase.  Wer  gibt,  dem  danken  sie  so  erhaben,  als  ware  er  der 
Beschenkte.  Wer  nicht  gibt,  dem  wtinschen  sie  alk'Nattern 
des  Urwaldes  an  den  Hals, 


Mag  der  Hoover-Plan  auch  fur  die  kranke  Weltwirtschaft 
keine  Heilung  sondern  nur  eine  Morphiumspritze  bedeuten,  so 
eroffnet  er  in  der  Politik  der  Vereinigten  Staaten  doch  eine 
neue  Epocbe,  Denn  Amerika  hat  bisher  weder  iiber  die  Kriegs- 
schuldennochuberdie  Reparationen  mit  sich  reden  lassen*  DaB 
Europa  blechen  mufi,  schisn.  ein  von  dem  amerikanischen  lieben 
Gott  ganz  besonders  verhangtes  Fatum  zu  sein.  An  dieser  Doktrin 
lieBen  die  amerikanischen  Regierungen  nicht  riitteln,  und  die 
Offentlichkeit  war  hinter  ihnen,  Der  bedeutende  englische 
Publizist  Wickham  Steed  scbreibt  in  der  ,Prager  Presse':  „Was 
President  Hoover  heute  vorschlagt,  hatte  mit  groBerer  Aus- 
wirkung  vor  zehn  Jahren  geschehen  konnen,  wenn  President 
Harding,  der  Nachfolger  des  Prasidenten  Wilson,  kuhn  und 
weise  genug  g  ewe  sen  ware,  die  Ratschlage  zu  befolgen,  die 
ihm  die  meisten  seiner  kompetenten  Berater  gab  en,  Er  hatte 
fur  die  Vereinigten  Staaten  die  moralische  und  politische, 
ebenso  wie  die  finanzielle  Fiihrerschaft  der  Welt  behalten 
konnen.  Die  meisten  Krisen,  die  seither  die  finanzielle  Lage 
betroffen  haben,  hatten  vermieden  werden  konnen  und  nicht 
minder  der  Krach  der  amerikanischen  Prosperitat  im  Oktober 
1929,  der  dann  nie  eingetreten  ware," 

Amerika  ist  das  zugestromte  Geld  nicht  gut  bekommen, 
und  auch  fiir  den  deutschen  Schuldner  muBte  etwas  geschehen, 
um  seine  weitere  Zahlungsfahigkeit  zu  sichern.  So  warf 
denn  Herbert  Hoover  mit  der  groBartigen  EntschluB- 
fahigkeit  amerikanischer  Politiker,  die  im  Gegensatze  zu 
ihren  europaischen  Kollegen  ganz  undoktrinar  sein  konnen,  von 
einem  Tag  zum  andern  das  Steuer  herum  und  verkiindete  das 
Moratorium,  Es  ist  nicht  ganz  so  weitbegliickend,  wie  es  in 
Europa  gemacht  wird.  Aber  es  ist  doch  ein  erster  Akt  von 
kapitalistischem  Solidarismus,  anzeigend,  dafi  das  Finanzkapi- 
tal  sich  auf  gewalfige  Kampfe  riistet  und  deshalb  vor  neuen, 
uberraschenden  Methoden  nicht  zuriickschreckt.  Natiirlich 
spielten  auch  die  innenpolitischeni  Verlegenheiten  der  Republi- 
kanischen  Partei  Amerikas  mit.  Denn  in  ganz  kurzer  Zeit 
wiirde  Deutschland  selbst  das  ihm  nach  dem  Young-Plan  zu- 
stehende  Recht  auf  ein  Moratorium'  geltend1  gemacht  haben, 
und  das  ware  drub  en  als  eine  grolje  Niederlage  des  Regimes 
Hoover  gedeutet  word  en.  Man  hatte  den  Prasidenten  fiir  das 
Versagen  des  Zahlungsplans  verantwortlich  gemacht.     So  aber 

1  i 


spielte  Hoover  das  Pravenire,  £r  kam  nicht  nur  Deutschland 
vorausi  er  entwarf  auch  das  Zauberbild  einer  abcbbcndcn  Welt- 
krise,  einer  neuen  Welle  von  Prosperitat, 


Der  Hoover-Plan  isi  also  kein  Kind  hotter  Idealitat,  wohl 
aber  ein  Ergebnis  begriiBenswerter  Einsicht.  Das  Ungliick  ist 
nur,  daB  er  auch  Fragen  von  erheblichem  politischen  Gewicht 
mit  sick  fiihrt,  und  daB  der  amerikanische  Wohltater  diese 
Last  einstweilen  auf  dem  dtinnen  Plafond  der  deutsch-franzosi- 
schen  Beziehungen  niedergelegt  hat  Die  Vereinigten  Staaten 
konnen  gut  generos  sein.  Um.  ihre  Inter essen  handelt  es  sich 
ja  zunachst,  wenn  sie  ihren  Schuldnern  Stundung  gewahren, 
Aber  es  wird  auch  von  den  andern  Staaten  GroBmut  gefordert, 
und  hier  muB  die,  Antwort  naturgemaB  anders  ausfailen.  Der 
Hauptwiderstand  aber  muB  von  Frankreich  kommen,  dessen 
Budget  zwar  ganz  gewiB  nicht  auf  den  deutschen  Zahlungen 
aufgebaut  ist,  das  aber  keine  Lust  hat,  sich  seine  edelmutigen 
Waliungen  von  Amerika  vorschreiben  zu  lassen,  Nicht  mit 
Unrecht  folgert  Frankreich,  daB  nach  dem  von  Amerika  ge- 
wiinschten  Feierjahr,  der  Young-Plan  in  seiner  alten  Gestalt 
niemals  wieder  effektiv  werden  wird.  Niemand  weiB,  wer  in 
einem  Jahr  in  Deutschland  regieren  wird,  so  sagt  man  in  Paris, 
vielleicht  Herr  Schachtf  der  schon  lange  die  Einstellung  aller 
Zahlungen  f  ordert.  Aber  vielleicht,  wahrscheinlich,  wird  auch 
die  jetzige  Regierung,  falls  sie  alsdann  noch  am  Leben  ist,  ahn- 
lich  argumentieren  oder  neue  Ausfliichte  fur  neuen  Aufschub 
f inden  oder  gleich  eine  allgemeine  Vertragsrevision  verlangen 
und  nur  gegen  Konzessionen  militarischer  oder  territorialer 
Art  weiterzahlen.  Und  das  Land,  das  am  meisten  unter  dem 
Kriege  gelitten  hat,  dessen  Norden  und  Westen  unter  der  Ra- 
serei  der  Materialschlachten  in  Aschenhaufen  zerfallen  ist, 
wird  dann  um  seine  Entschadigung  geprellt  sein.  Das  ist  die 
Auffassung  in  Paris. 

Die  deutsch-franzosischen  Beziehungen  haben  ihre  eigne 
Tragik,  Beide  Volker  sind  mit  den  iibelsten  Nationalisten  un- 
ter Gottes  Sonne  gesegnet;  beide  brauchen  einen  Schieds- 
richter,  der  ihre  Inter  essen  zur  Angleichung  fiihrt,  anstatt  sie 
gegeneinander  auszuspielen.  *  Statt  dessen  fin  den  sie  einen 
von  ausschlieBlich  kommerziellen  Motiven  geleiteten  Wohl- 
tater, der  die  politischen  Konsequenzen  seiner  Caritas  auf 
beide  abwalzt  und  untereinander  auskegeln  laBt.  Der.Hoover- 
PLanj  hat  Frankreich  uberrumpelt  und  erheblich  isoliert.  Das 
gibt  dem  Chauvinismus  neues  Futter  und  vergiftet  das  Ver- 
haltnis  zu  Deutschland  von  neuem.  „Es  ist  wieder  Ruhrstim- 
mung  in  Frankreich,"  schreibt  Leon  Blum* 

Frankreichs  lange  gehegter  Wunsch  ist  die  Streichung  der 
gesamten  Kriegsschulden.  Das  kann  es  jedoch  nicht  allein 
durchsetzen,  dazu  braucht  es  die  Unterstiitzung  Deutschlands. 
Die  Fiihrer  der  deutschen  Politik  aber  haben  nicht  den  Mut, 
eine  Linie  zu  verfolgen,  dte  zur  grundsatzlichen  Anderung  der 
Haltung  gegeniiber  dem  sogenannten  Erbfeind  zwingt.  Ver- 
standigung  mit  Frankreich  uber  die  Kriegsschulden,  das  wiirde 
2 


wohl  ein  enges  wirtschaftliches  Zusammengehen  und  dam  it  be- 
trachtliche  Erleichterung  bedeuten,  aber  auch  Verzicht  auf  ein 
territoriales  Revisionsprogramm  und  auf  eigne  machtpolitische 
Plane.  Man  weiB  es  in  Deutschland  nicht  genugend,  daB  be- 
ztiglich  der  Kriegsschulden  ganz  Frankreich  einer  Meinung  ist, 
und  daB  die  amerikanische  Hartnackigkeit  in  dieser  Frage 
wiederholt  die  heftigsten  Demonstrationen  hervorgerufen  hat. 
Deshalb  empfmden  grade  die  linken  Parteien  in  Frankreich 
jetzt  Hoovers  unvermutete  Aktion  wie  einen  Faustschlag,  Sie 
sehen  die  Reparationen  in  Dunst  aufgehen,  Deutschland  aber 
test  an  einen  angelsachsischen  Block  gekettet,  wahrend  Frank- 
reich allein  bleibt,  ein  AuBenseiter  Europas.  Das  erklart  die 
scheinbare  Unlogik  der  sonst  verstandigungsfreundlichen  Radi- 
kalen,  die  unter  Herriots  Ftihrung  diesmal  in  die  Nachbar- 
schaft  von  Louis  Marin  $ erteten,  Das  erklart  aber  auch  die  tod- 
liche  Verlegenheit  der  Regierung  Laval,  die  Amerika  nicht  ein- 
fach  mit  einem  runden  Nein  antworten  konnte,  andrerseits  aber 
auch  die  groBten  Anstrengungen  machen  muBte,  um  die  Kon- 
tinuitat  des  Young-Plans  aufrechtzuerhalten.  So  geriet  die 
Regierung  Laval,  die  Deutschlands  Not  durchaus  nicht  verkennt 
und  deren  Kriegsminister  Maginot  erst  kurzlich  erklart  hat, 
daB  Vertrage  nicht  fur  die  Ewigkeit  bestimmt  seien,  in  den 
wenig  sympathischen  Zwang,  grade  den  fur  uns  so  wichtigen 
amerikanischen  Vorschlag  des  vollstandigen  Feierjahres  anzu- 
fechten,  Und  in  die  Ecke  tfedrangt,  stand  Frankreich  als  der 
hartnSckige,  unbelehrbare  Glaubiger  da.  der  zu  feder  Erleich- 
terung  Nein  sagt,  mag  auch  der  Schuldner  daruber  zugrunde 
gehen.  Als  der  Shylock,  dem  in  seiner  formalistischen  Be- 
seasenheit  sein  Schein  wichtiger  ist  als  selbst  das  eigne 
Interesse. 

Die  amerikanische  Denkschrift  zeigte  wie  mit  dem  aus- 
^estreckten  Finger  auf  Frankreich:  Dort  steht  der  Schuldige! 
Dabei  wollte  Laval  alles  andre,  nur  nicht  den  grundsatzlichen 
Widerstand  gegen  den  Hoover-Plan.  Aber  er  wollte  das  Pre- 
stige Frankreichs  wahren.  und  er  wollte  eine  juristisch  wasser- 
dichte  Garantie  fiir  den  Fortbestand  des  Young-Plans  heraus- 
schlagen.  Die  amerikanische  Diplomatie  aber  forderte  ein  glat- 
tes  Ja,  sie  tat  Frankreich  nicht  einmal  den  Gef alien,  auf  ein 
kleines  Scheingefecht  einzugehen.  Ihre  Meinung,  die  allerdings 
nicht  im  Memorandum  steht,  aber  von  Herrn  Mellon  sicherlich 
mundlich  vorgetragen  wurde,  ist  die:  Wenn  es  in  Deutschland 
so  weiter  gehtf  kommt  der  Fascismus,  und  dann  verfallen  unsre 
inyestierten  amerikanischen  Kapitalien,  und  auch  ihr  bekommt 
keinen  blanken  Sou  mehr  zu  sehen.  Deshalb  muB  Bruning 
unterstiitzt,  Deutschland  saniert  werden!  Den  Franzosen  aber 
ist  der  Unterschied  zwischen  Bruning  und  Hitler  nicht  klar 
und  wird  es  niemals  werden,  daher  ihr  zaher  Widerstand,  daher 
das  ganze  verknurrte,  langatmige  Palaver  zwischen  Washing- 
ton und  Paris. 

Was  in  Deutschland  geschehen  ist  und  noch  geschieht,  lie- 
fert  der  franzosischen  Starrheit  die  besten  Argumente.  Die 
Zollunion,    die   noch  immer   nicht   offiziell   beerdigt   ist,   noch 

3 


immer  in  den  Zeitungen  Iarmend  gespenstert,  die  Stahlhelm- 
paraden,  die  Exzesse  nationalistischer  Sttidenten  —  das  alles 
ist  nicht  geeignet,  den  franzosischen  Nachbarn  zu  beruhigen. 
GewiB,  man  verkennt  in  dem  sehr  stabilen,  sehr  biirgerlichen 
Frankreich  die  besondere  Psyche  eines  Krisenlandes,  Aber 
man  kann  den  Franzosen  nicht  die  Frage  verwehren,  was  denn 
in  Deutschland  von  den  besser  unterrichteten  Amtsstellen  ge- 
gen  den  Nationaiismus  geschieht.  Hat  denn  nicht  Frankreich 
grade  jetzt  vor  einem  Jahre  das  Rheinland  vor  dem  vertrags- 
maBigen  Terrain  geraumt?  Und  die  Wirkung  war  nur  ein  un- 
erhorter  Aufschwung  des  Chauvinismus.  geschurt  von  dem  Ka- 
binettsminister  Treviranus,  der  mit  seihen  provozierenden  Re- 
visionsreden  umherreiste.  Das  war  Deutschlands  Ant  wort  auf 
die  friihere  Raumung. 

Es  darf  auch  nicht  tibersehen  werden,  was  fur  ein  wahn- 
witziges  Echo  der  Hoover-Plan  in  Deutschland  gefunden  hat. 
Die  nationalistische  Presse,  also  der  weitaus  liberwiegende  Teil 
derPresse,  verkiindete  sofort  in  larmenden  Lettern,  daB  wir  zum 
letzten  Male  Reparationen  gezahlt  hatten,  Mit  Hoover  gegen 
Frankreich,  immer  feste  druff!  Das  war  der  Tenor,  Das  war 
die  Sprache  gegen  denjenigen  Vertragspartner,  aul  dessen  Cou- 
lanz  wir  vornehmlich  angewiesen  sirid.  Vergeblich  versuchte 
der  Reichskanzler  in  seiner  nachtlichen  Rundfunkrede  an 
Frankreich  dies  en  katastrophalen  Eindruck  abzuschwachen.  Er 
ist  nicht  durchgedrungen.  Das  Stahlhelmgeklirr  iibertonte 
sein  diinnes  Organ- 
Die  deutschen  Nationalisten  vereimgen  in  ungemein  gut 
gelungener  Synthese  Heldentum  und  Schnorrerei.  Was  fiir  tolle 
Widersprtiche  tanzen  in  der  nationalistischen  Agitation  heriim. 
Wir  sind  ein  armes  Volk,  aber  wir  brauchen  ein  starkes  Heer. 
Wir  leiden  unter  der  Last  der  Tribute,  aber  wir  muss  en  Kolo- 
nien  haben,  Wir  haben  fiinf  Millionen  Arbeitslose,  aber  das 
Vaterland  muB  wieder  gr6Ber  werden.  Wir  leiden  unter  Kapi- 
talmangel,  aber  ungezahlte  Milliarden  sind  nach  Holland  und 
in  die  Schweiz  verschoben.  Wir  katzbuckeln  vor  den  Machten, 
aber  wir  werden  sofort  rabiatt  wenn  es  sich  nicht  lohnt.  Wir 
tragen  unsre  Schabigkeit  auf  hohem  RoB,  und  wenn  man  uns 
nach  Chequers  zum  Friihstiick  eingeladen  hat  und  Hoover  uns 
eine  Spende  zukommen  laBtt  so  geschieht  das  nurf  weil  unsre 
Oberlegenheit  anerkannt  wird.  Was  die  Franzosen  anbelangt, 
so  werden  wir  es  ihnen  schon  zeigen.  Von  uns  Helden  will 
dieses  verachtliche  Rentnervolk  Reparationen,  wo  wir  doch 
eigentlich  gesiegt  haben  und  nur  durch  unsre  echt  ritterliche 
Gutmiitigkeit  an  der  Ausnutzung  des  Sieges  gehindert  worden 
sind! 


In  Siidamerika  gibt  es  Bettler  zu  Pferde.  Sie  reiten  auf 
ihrem  diirren  Klepper  von  einer  Hazienda  zur  andern  und  hal- 
ten  den  Caballeros  mit  groBer  Gebarde  die  hohle  Hand  unter 
die  Nase.  Wer  gibt,  dem  danken  sie  so  erhaben,  als  ware  er 
der  Beschenkte,  Wer  nicht  gibt,  dem  wunschen  sie  alle  Nat- 
tern  des  Urwaldes  an  den  Hals. 


Paul  Downer  von  Siegmund  Feldmann 

Jetzt,  wo  der  ernste,  wiirdige,  puritanische  Greis  in  das  von 
der  Pompadour  zu  ihrer  Erlustierung  erbaute  Elysee  ein- 
gezogen  ist,  wird  seine  Physiognomie  der  Betrachtung  besser 
standhalten.  Es  lohnt  sich  schon,  ihn  einmal  genauer  zu  be- 
schauen.  Unter  den  politischen  Protagonisten  der  dritten  Re- 
publik  war  er  einer  der  aktivsten  und  agilsten  und  zugleich 
einer  der  unsichtbarsten.  Nur  einmal,  bei  seiner  hartnackigen 
Campagne  fiir  die  Einkommensteuer,  dem  einzigen  unverriick- 
baren  Dogma  seines  beweglichen  Programms,  wanderte  er  die 
HeerstraBe  der  Volksversammlungen  ab.  Sonst  hielt  er  sich 
im  Schatten  der  Kulissen,  er  posaunte  keine  Leitartikel  und 
machte  auch  im  Parlament  von  seiner  maBigen  Rednergabe  nur 
Gebrauch,  wo  es  unbedingt  notig  war.  Die  Welt  kannte  ihn 
kaum,  trotzdem  er  wiederholt  und  in  schwierigen  Zeiten  an 
der  Spitze  der  Regierung  stand:  einer  der  wenigen  Ministra- 
beln  erster  Ordnung,  auf  den  man  immer  wieder  zuriickgriif. 

Aber  auch  die,  so  um  ihn  herumsaBen  und  ihn  regieren 
sahen,  wufiten  nicht  immer  Bescheid  und  waren  auf  Ober- 
raschungen  gefaBt.  Er  war  ein  Spieler  besonderer  Art.  Er 
legte  die  selbstgemischten  Karten  off  en  auf  den  Tisch  und 
mit  der  gleichen  Offenherzigkeit  mogelte  er,  vor  aller  Augen 
und  so  unerschrpcken  selbstverstandlich,  daB  den  Bemogelten 
der  Vorwurf  des  Vertrauensbruches  im  Halse  stecken  blieb. 
Schon  in  seinen  parlamentarischen  Aniangen  hatte  er  sich 
von  dem  iiblichen  Gewimmel  der  Streber  abgesondert,  die  ein 
Abfall  erledigt.  Ein  erbitterfcer  Arbeiter  und  einer  der  drei 
((geborenen"  Finanzminister  der  Republik  —  der  zweite  war 
Rouvier,  der  dritte  ist  Caillaux  —  genoB  er  fruhzeitig  eine 
Autoritat,  der  man  vieles  nachsieht,  Sein  Stolz  rechnete  aber 
nicht  mit  dieser  Nachsieht;  ihm  geniigte  sein  riesiges  Selbst- 
vertrauen,  das  von  konzentriertester  Kraft  gespeist  wurde 
und  ihn  auch  schlieBlich  auf  immer  verfehlten  Wegen 
an  das  richtige  Ziel  gebracht  hat.  Dieses  Ziel  war  die  Prasi- 
dentschaft  der  Republik. 

Selbst  seine  heftigsten  Widersacher  sahen  es  nicht  als  eine 
Vermessenheit  an,  als  er,  der  jungste  unter  den  Fiihrern  und 
seit  mehr  als  einem  Lustrum  aus  dem  GroBbetrieb  der  Politik 
(ibers  Meer  und  in  die  Verwaltung  abgeschoben,  1906,  beim 
Abgang  Emil  Loubets,  den  Anspruch  auf  die  hochste  Stellung 
im  Staat  erhob,  Er  erhob  ihn  nicht  mit  der  duckmauserischen 
Bescheidenheit,  die  dem  Ehrgeiz  das  verschlissene  Mantelchen 
des  Pflichtgefuhls  umhangt;  er  pochte  darauf  wie  auf  sein 
Recht.  Warum  auch  ein  andrer  und  nicht  er,  der  dem  Ge- 
meinwohi  statt  durch  Worte  durch  eine  Tat  gedient  hatte? 
Diese  Tat  hatte  er  jenseits  der  Meere  vollfiihrt,  indem  er  in 
einem  Zeitraum  von  nur  fiinf  Jahren  Indochina  zur  besten  Ko- 
lonie  Frankreichs  entwickelte.  (Marokko  war  erst  ein  allmah- 
lich  reifender  Wunschtraum.)  Vor  ihm  unzuganglich,  un- 
ergibig,  unbotmaBig,  ein  Chaos,  eine  ewige  Gefahr,  erfreut  sich 
dieses  weitgebreitete  Reich,  das  er  durch  ausgedehnte  Ver- 
kehrsanlagen  erschloB,  heute  aller  Segnungen  der  Ordnung  und 
zinst  seit  einem  Vierteljahrhundert  bereits  dem  Mutterlande 
2  .       .  5 


vom  OberschuB  seines  Hand  els  und  Ackerbaus,  AIs  er  hin- 
unterkam,  war  freilich  der  Boden  schon  durch  zahllose  Ge- 
metzel  fur  diese  Ernte  gediingt.  Immerhin  war  die  Befrie- 
digung,  wie  man  <jetzt  sagt,  noch  ein  hartes  Stuck  Arbeit,  und 
die  hat  Herr  Doumer  rasch  geleistet,  das  muB  man  ihm  lassen. 
Er  hat  in  seiner  Jugend  nicht  umsonst  eine  Abhandlung  iiber 
die  Flugbahn  der  Geschosse  geschrieben. 

Trotzdem  konnte  er  damals  in  Versailles  den  Preis  seiner 
Miihen  nicht  pfliicken  —  oder  vielleicht  gerade  datum,  Demo- 
kratien  —  mit  Ausnahme  der  deutschen  —  sind  ihrem  Wesen 
nach  und  zu  ihrem  Gliick  miBtrauisch,  und  wer  wie  Herr 
Doumer  ein  Draufganger  war,  mufite  ihren  Verdacht  erwecken. 
Allerdings  hat  er  vom  ersten  Tag  an  diesen  Verdacht  fast  ge- 
rechtfertigt,  zum  mindesten  herausgefordert.  Nachdem  er  1888 
von  den  Boulangisten  gewahlt  und  1889,  weil  er  sie  schwer 
enttauscht  hatte,  geworfen  worden  war,  trat  er  1895  in  das 
radikale  Kabinett  Bouigeois  ein,  urn  1896  von  dem  antiradika- 
len  Agrarierkabinett  Meline  -den  glanzenden  Posten  eines  ost- 
asiatischen  Vizekonigs  anzunehmen,  den  er  nur  aufgab,  um 
1902  auf  das  Programm  des  von  Clemenceau  zusammen- 
geschweifiten  , .Blocks"  Deputierter  der  Nationalisten  von 
Laon  zu  werden.  Diese  Auswechselbarkeit  des  Bekenntnisses, 
muBte  selbst  jene  zur  Vorsicht  stimmen,  die  so  dachten  wie  er, 

Aber  wie  dachte  er?  Diese  Frage  begleitete  ihn  auf  sei- 
ner ganzen  Laufbahn,  Er  war  in  einem  sehr  frommen  Provinz- 
nest  diirftig  beamtet,  als  er,  einundzwanzig  Jahre  alt,  ein  armes 
Madchen  heiratete,  das  er  schon  als  Knabe  geliebt  hatte;  aber 
keine  Anfechtung,  keine  Einschuchterung,  keine  .  Drohung 
konnte  seinen  EntschluB  erschiittern,  sich  mit  der  biirgerlichen 
Trauung  zu  begniigen  und  auf  die  kirchliche  zu  verzichten. 
Seiner  Ehe  entsprossen  acht  Kinder,  fiinf  Sohne  und  drei 
Tochter,  von  denen  keines  getauft  wurde,  und  als  seine  alteste 
sich  vermahlte,  stellte  er  die  Bedingung,  daB  auch  ihre  Kinder 
nicht  getauft  werden  durften,  weil  er  selbst  von  konfessionell 
registrierten  Enkeln  nichts  wissen  wollte,  Nichtsdestoweniger 
stimmten  1906  im  Versailler  KongreB  alle  Klerikalen  des  Se- 
nats  und  der  Kammer  fur  ihn,  Sie  zogen  diesen  asketisch 
hagern  Teufelsbraten,  dem  sie  ein  paar  Jahrhunderte  vorher 
mit  Wonne  einen  Scheiterhaufen  gestiftet  hatten,  dem 
gemiitlichen,  runden,  weinfrohlichen  Fallieres  vor,  dessen 
Frau  jeden  Sonntag  zur  Messe  ging  und  dessen  Toch- 
ter Altardecken  stickte.  Aber  dieser  gemiitliche  Fal- 
lieres hatte  sich  fur  Dreyfus  eingesetzt  und  war  mit 
Combes,  Briand  und  Jaures  gegen  das  Konkordat  angerannt, 
wahrend  der  Teufelsbraten,  vergebens  freilich,  seinen  ganzen 
EmfluB  im  Parlament  aufbot,  um  die  Trennung  von  Staat  und 
Kirche  zu  hintertreiben  und  dieser  ihre  ,,historische"  Stellung 
in  Frankreich  zu  retten. 

Was  war  Berechnung,  was  Uberzeugung?  Manche  ein- 
sichtigen  Leute  meinten  damals,  daB  ihm  als  Kandidaten  des 
„Blocks*'  mindestens  ebenso  viele  Stimmen  zugefallen  und 
vielleicht  sogar  seinen  Erfolg  entschieden  hatten.  Auf  diese 
Zeitdistanz  laBt  sich  das,  zumal  in  der  vollig  veranderten 
Atmosphare,     nicht    mehr    beurteilen.     War    es    doch    selbst 


mitten  in  den  Ereignissen  oft  schwer,  sich  diesen  zwiespaltigen 
Charakter  auseinanderzulegen,  der  iibrigens  nur  ira  Rahmen 
der  franzosischen  Politik  so  widerspruchsvoll  erschien.  Drii- 
ben  in  England,  wo  die  Weltpolitik  alle  innern  Probleme  zu- 
riickdrangt,  hatte  man  sich  besser  mit  ihm  abgefunden,  Denn 
iiber  Schwankungen  und  Wandlungen  hinweg  ist  Herr  Doumer 
eines  gewesen  und  geblieben:  ein  leidenschaftlicher  Imperia- 
list. Und  da  er  zugleich  ein  Mann  der  Zwecke  war,  der  die 
unfruchtbare  Arbeit  noch  starker  haBte  als  den  MiiBiggang, 
wollte  er  auch  die  Mittel.  Daher  war  er,  ohne  sich  an  die 
Beklemmungen  seiner  vielen  Freunde  auf  der  Link  en  zu 
kehren,  Militarist  und  Anti-Dreyfusard;  daher  griindete  und 
forderte  er  katholische  Missionen  und  aus  dem  gleichen 
Grunde  straubte  er  sich  gegen  den  Bruch  mit  dem  Vatikan, 
dessen  Mitarbeit  ihm  fur  den  Einflufi  Frankreichs  im  Orient 
unentbehrlich  schien,  Worin  er  sich,  beilaufig  bemerkt,  mit 
Gambetta  begegnete,  der  das  spater  von  Mussolini  auf  den 
Fascismus  umgepragte  Wort  gesprochen  hat;  „Der  Anti- 
klerikalismus  ist  kein  Ausfuhrartikel". 

Auf  diese  Vereinfachung  zuriickgefuhrt,  ware  sein  poli- 
tisches  Charakterbild  ja  leicht  zu  deuten.  Sie  konnte  auch 
sein  sturmisches  Machtbediirfnis  erklaren,  das  er  niemals  ver- 
hehlte.  Es  ihm  vorzuwerfen,  ware  unrecht;  er  handelte  nur 
dem  demokratischen  Grundsatz  gemaB:  Der  Tuchtigste  voran. 
War  er  der  Tuchtigste?  Er  selbst  hat  jedenfalls  keinen 
Augenblick  daran  gezweifelt  undl  sein  Schicksal  hat  ihn  nicht 
dementiert,  Sein  Leben  fiillt  die  Gufiform  seines  Wunsches 
liickenlos  aus,  aber  diese  Form  hat  er  sich  selber  geschmie- 
det.  Man  konnte  unter  dem  politischen  Personal  der  dritten 
Republik  kaum  eine  Natur  von  gleicher  Willenskraft  nennen. 
Doumer  ist  das  staunenswerteste  Beispiel  einer  vom  Ver- 
stande  geleiteten  Beharrlichkeit,  die  sich  Schritt  um  Schritt 
den  Aufstieg  bahnte,  ohne  vom  Zufall  auch  nur  die  geringste 
Gunst  zu  erwarten,  Er  war  der  Ingenieur  seines  Glucks,  der 
alles  seiner  Miihe,  seiner  Voraussicht  und  seiner  Entschlossen- 
heit  zu  dank  en  hat.  Maurice  Barres,  der  sich  sein  Lebelang 
nach  einem  „Professor  der  Energie"  heiser  schrie,  hatte  ihn 
seinen  Mitbiirgern  als  erzieherisches  Vorbild  hinstellen 
konnen,  Ihm  selber  nachzuahmen,  ware  er  kaum  geneigt  und 
fahig  gewesen,  Denn  diese  Energie  erwuchs  aus  einer  Niich- 
ternheit,  die  sich  keinen  Seitensprung  der  Phantasie  gestattet, 
und  keinen  Traumf  der  nicht  nutzbar  und  nicht  miinzbar  ist. 
Und  das  taugt  fur  Dichter  nichts. 

Paul  Doumer  kam  in  den  allerarmlichsten  Verhaltnissen 
als  Sohn  eines  bei  Bahnbauten  beschaftigten  Erdgrabers  zur 
Welt.  Sein  Vater  starb  kurz  nach  seiner  Geburt  und  iiber- 
lieB  der  Mutter  die  Sorge  um  das  Kind,  das  sie  nur  mit  den 
groBten  Opfern  durch  die  Volksschule  brachte.  Hierauf  gab 
sie  ihn  zu  einem  Graveur,  bei  dem  er  als  Lehrling  und  spater 
als  Geselle  ein  musterhafter  Arbeiter  wurde.  Er  blieb  es 
sechs  Jahre,  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo  er  sein  —  Abituriuni 
bestand.  Nach  seinem  Zehnstundentag  in  der  Werkstatt  hatte 
sich    der    Knabe    nachstens    Lateinisch    und    Griechisch,   Ge- 

7 


schichte,  Naturkunde  und  allc  sonstigen  Weisheiten  ange- 
eignet,  die  man  von  einem  Baccalanreus  fordert.  Aber  noch 
bevor  er  diesen  stolzen  Titcl  erwarb,  hattc  cr  der  Akadcmic 
der  Wissenschaften  die  bcrcits  erwahnte  Abhandlung  uber  die 
Flugbahn  der  Geschosse  eingereicht,  die  ihm  ohne  jedes 
weitere  Examen  zu  der  sofortigen  Bestallung  aLs  Lehrer  der 
Mathematik  und  Physik  am  Gymnasium  in  Mende  verhaif. 
Vorerst  probeweise  a  Is  Hilfslehrer,  aber  um  sein  Fortkommen 
war  ihm  nicht  bange.  In  Mende  warf  er  sich  mit  verdoppel- 
ter  Gier  aufs  Lernen,  schlief  nur  jede  zweite  Nacht  und  hielt 
sich  wach,  indem  er  Wasser  trank.  Zu  Tee  oder  Kaffee 
reichte  es  nicht,  denn  er  verwendete  von  seinem  Anfangs- 
gehalt  von  152  Franken  nur  die  52.  Die  100  sparte  er  auf, 
weil  er  sich  vorgesetzt  hatte,  nach  Jahresfrist  seine  Braut 
heimzufiihren.  Und  weil  er  es  sich  vorgesetzt  hatte,  fiihrte 
er  es  auch  aus. 

Nichts  aber  ist  bezeichnender  fur  diesen  Edelarrivisten, 
als  wie  er  in  die  Kammer  kam.  Er  war,  seiner  Schulmeisterei 
in  Mende  bald  iiberdrussig,  nach  Paris  gezogen,  um  Journalist 
zu  werden:  ein  recht  mittelmaBiger,  hauptsachlich  auf  ge- 
ringere  Provinzblatter  angewiesener  Journalist,  der  sich  einen 
Namen  nicht  machen  konnte;  und  da  er  weder  Gonner  noch 
Geld  besaB,  hatte  er  nur  sehr  wenig  Hoffnung,  die  Pforten  des 
Palais  Bourbon  je  vor  sich  auf springen  zu  sehn.  Da  geschah 
es,  dafi  der  Deputierte  von  Anxerre  eines  plotzlichen  Todes 
verblich  und  seine  Wahler  eine  Abordnung  nach  Paris  ent- 
sandten,  um  ihm  einen  wiirdigen  Nachtolger  zu  kiiren.  Es 
sollte  natiirlich  etwas  Beriihmtes  sein,  ein  donnernder  Debatter, 
ein  Volkstribun,  ein  Mann  von  Gewicht  und  Ansehen-  Sie 
nahmen  jedoch  den  jungen  schmachtigen  Doktor  der  Rechte  — 
auch  das  war  er  unterdes  gewo.rden!  —  einen  Anfanger,  der 
Dbumer,  also  so  gut  wie  gar  nichts  hieB  und  sich  in  seinem 
fadenscheinigen  Bratenrock  an  ihre  Fersen  geheftet  hatte.  Sie 
nahmen  ihn,  weil  er  die  paar  Wochen  bis  zu  ihrer  Ankunft 
benutzt  hatte,  um  sich  Tag  fiir  Tag  die  beiden  Zeitungen  von 
Anxerre  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Zeile  einzuverleiben 
und  iiber  alle  lokalen  Verhaltnisse,  Interessen,  Parteiungen 
und  Personalverhaltnisse  so  fabelhaft  genau  zu  unterrichten, 
daB  die  guten  Leute  den  Mund  aufrissen.  Sogar  daB  die  Spar- 
kasse  frisch  gestrichen  werden  miiBte,  und  wen  der  neue  Eigen- 
tiimer  des  Cafe  du  Commerce  gegeniiber  dem  Rathaus  ge- 
heiratet  hatte,  wuBte  er.  Einen  bessern  Vertreter  der  Stadt 
konnten  sie  niemals  auftreiben. 

Konnte  man  ihn  dariiber  befragen,  dann  mochte  ich  wetten, 
daB  er  sich  schon  am  Abend  seiner  Kammerwahl  zugeschwo- 
ren  hat,  President  der  Republik  zu  werden.  Nun  ist  er  es,  und  die 
Welt  wartet,  wie  er  sich  anrauchen  wird.  Voreilige  und  iiberf liis- 
sige  Neugierde,  Er  ist  ein  Republikaner  von  Geblut,  keiner,  der 
bloB  auf  dem  beriihmten  Boden  der  Tatsachen  stent,  und 
wie  er  immer  mit  alien  Moglichkeiten  gerechnet  hat,  wird  er 
auch  jetzt  mit  alien  Moglichkeiten  seines  Amtes  rechnen.  Er 
hat  nie  mit  der  Demagog! e  paktiert,  und  ohne  sie  kann  man 
sich  heute  auf  Abenteuer  nirgends  einlassen.  Auf  seine  innern 
Gesinnungen  kommt  es  nicht  so  sehr  an,  sie  mogen  die  alten  ge- 

8 


blieben  sein.  Wenn  man  als  Knabe  seine  mathematischen 
Pubertatsdrange  wirklich  durch  kein  andres  Problem  ent- 
spannen  kann,  als  ausgerechnet  durch  die  Flugbahn  der  Ge- 
schosse,  ist  man  gezeichnet.  Er  schrieb  aber  auch  als  gereif- 
ter  Mann  ein  von  hymnisch.er  Andacht  erfiilltes  Buch  iiber  die 
Heiligkeit  der  Familief  und  nachdem  er  im  Kriege  von  seinen 
ftinf  Sohnen  drei,  und  von  seinen  drei  Schwiegersohnen  einen 
verloren  hat,  diirfte  seine  Oberzeugung  von  der  Heiligkeit  der 
Kanonen  immerhin  ein  biBchen  erschiittert  worden  sein. 
Und  liberdies  finden  im  nachsten  April  Neuwahlen  statt 

Schiele,  Baade  Und  Andre  von  Franz  Ziegelmfiller 

JVAan  sagt,  der  UntersuchungsausschuB  des  Reichstags,  der 
iiber  die  Roggen-Affare  des  Ietzten  Jahres  zu  Gericht 
safi,  habe  nur  leeres  Stroh  gedroschen.  Das  ist  aber  nicht 
richtig.  Eher  kann  man  sagen:  er  hat  schlecht  gearbeitet;  er 
hat  nicht  das  aus  der  Materie  herausgeholt,  was  wohl  heraus- 
zuholen  gewesen  ware  —  wenn  nicht  die  Vertreter  der  Sozial- 
demokraten  und  der  Regierungsparteien  im  AusschuB  durch 
ihr  an  passive  Resistenz  grenzendes  Verhalten  die  Unter- 
suchung  so  ungemein  erschwert  hatten.  So  ist  manches  Korn 
in  den  Ahren  geblieben.  Aber  ein  grofier  Haufen  Spreu  ist  zu- 
tage-  gefordert  worden,  und  manches  gute  Korn  darunter.  Und 
wenn  nun  der  nachste  heftige  WindstoB  kommt  —  dann  fliegt 
die  Spreu  davon,  und  vielleicht  werden  dann  auch  nach  und 
nach  die  Korner  sichtbar. 

Das  erste  Luftchen  ist  schon  voriibergezogen,  ohne  daB  es 
in  der  (Mfentlichkeit  iiberhaupt  bemerkt  worden  ware,  und 
eine  Handvoll  Spreu  ist  mit  davongewirbelt  worden.  Wer  flog 
da?  Es  war  der  Bankier  Andrea,  ein  iiberaus  ehrenwerter 
Mann,  der  Mitinhaber  und,  nach  dem  Tode  seines  Kollegen 
Richard  Pohl,  sozusagen  der  Senior-Chef  des  hochangesehenen 
Privatbankhauses  Hardy  &  Co.  Ganz  still  ist  er  plotzlich  ver- 
schwunden.  Nachdem  er  kurz  vorher  im  Untersuchungsaus- 
schuB  aufgetreten  war,  mit  dem  Anspruch,  der  deutschen 
Landwirtschaft  durch  den  Verkauf  des  sogenannten  Scheuer- 
Konzerns  unschatzbare  Dienste  geleistet  zu  haben.  Nachdem 
er  vor  dem  AusschuB  reichlich  torichte  Reden  iiber  den  Segen 
der  Planwirtschaft  gehalten  hatte,  Nachdem  zu  erkennen  ge- 
wesen war,  daB  er  die  Materie,  iiber  die  er  vernommen  wer- 
den muBte  —  Aktieniragen,  Miillereifragen  — ,  nur  hochst  unzu- 
langlich  beherrschte.  Und  nachdem  im  Untersuchungsaus- 
schuB  der  Verdacht  immer  deutlicher  ausgesprochen  worden 
war,  daB  die  Bilanzen  des  Scheuer-Konzerns,  an  dessen  Auf- 
bau  Andrea  als  maBgebender  Bankmann  beteiligt  wart  fiir  den 
Verkauf  an  die  PreuBenkasse  irauffrisiert"  worden  seien.  Wo- 
bei  durchaus  strittig  bleiben  muB,  wo  die  Grenze  zwischen  le- 
galem  und  unzulassigem  Bilanzfrisieren  zu  ziehen  ist,  und  die 
Grenze  zwischen  Bilanzfrisieren  und  Bilanzfalschungen. 

Wenn  der  nachste  WindstoB  kommt,  wenn  erst  einmal 
richtig  hineingeblasen  wird  in  den  Spreu-  und  Kornerhaufen, 
wenn  die  Geschichte  der  Scheuer-Bilanzen  klargelegt  wird  — 
dann  wird  Herr  Andrea  noch  ein  paar  Nachfolger  finden.    Da 


ist  zunachst  der  ehemalige  Gencraldircktor  Karl  Scheuer  selbst. 
Aus  seinem  Konzern  ist  er  schon  hinausgeweht  worden;  die 
neucn  Herren,  PreuBenkasse  und  Rentenbank-Kreditanstalt, 
fanden  schon  vor  Jahresfrist  keincn  Gcfallen  mehr  an  ihm. 
Nun  hat  cr  seine  Gewinne,  und  die  als  ,,Abfindungssumme"  be- 
zeichnete  Provision  fiir  den  Verkauf  seines  Konzerns,  wieder 
in  eine  Getreidefirma  hineingesteckt,  und  diese  Gesellschaft, 
die  sich  der  besten  personlichen  Beziehungen  zur  Stiitzungs- 
stelle  —  eben  dem  alten  Scheuer-Konzern  —  erfreute,  hat  bei 
der  Roggensttitzungsaktion  »groBM  verdient.  Wahrscheinlich 
war*  das  aber  das  letzte  gute  Geschaft,  das  Herr  Scheuer 
machte.  Als  Zeuge  vor  dem  UntersuchungsausschuB  hat  er 
sich  ,,nicht  mehr  erinnern"  konnen,  wie  es  denn  mit  seinen 
Konzern-Bilanzen  eigentlich  beschaffen  war.  Bei  einer  erneu- 
ten  Untersuchung  wird  sein  Gedachtnis,  durch  Vorlage  der 
Bilanzakten,  wieder  aufgefrischt  werden  mussen.  Und  dann  — 
blast  ein  frischerer  Wind. 

Der  Nachste:  Scheuers  Freund,  Gonner  und  Ges,chafts- 
partner,  Fred  Hagedorn,  Staatssekretar  z.  D.  —  noch  immer 
z-  D.!  Auch  nicht  mehr  lange,  wie  man  annehmen  darf.  Der 
stille  Partner  an  Scheuers  Aktiengeschaften  bei  der  ,,Muhlen- 
vereinigung"  (das  ist  eine  der  Konzern-Gesellschaften),  der 
Spekulant  bei  der  Roggenstiitzung  —  er,  der  als  Reichsvertre- 
ter  im  Aufsichtsrat  der  Rentenbank-Kreditanstalt  den  Ankauf 
des  Scheuer-Konzerns  befiirwortete  und  damit  seine  eignen 
Geschafte  forderte:   er  ist  schon  beinahe  passe. 

Der  Nachste)  Jetzt  kommt  ein  besonders  schwerer  Fall. 
Der  Freund  und  Vertraute  der  f1groBen,§  deutschen  Politiker, 
der  Berater  Bninings  und  Brauns,  President  Klepper  von  der 
PreuBenkasse  —  sollte  er  wegen  dieser  lumpigen  Scheuer- 
Aifaren  sttirzen,  sollte  man  ihm  einen  Strick  daraus  drehen 
konnen,  daB  er  von  Andrea,  Scheuer  und  Hagedorn  in  einer 
gradezu  phantastischen  Weise  iiber  den  Loffel  balbiert  worden 
ist*  daB  er  27  Millionen  Mark  fiir  ein  paar  wacklige  Aktien- 
gesellschaften  bezahlt  hat,  die,  wie  man  nunmehr  weiB,  hoch- 
stens,  allerhochstens  die  Halfte  davon  wert  gewesen  sind? 
Nein,  so  schnell  sturzt  Klepper  nicht,  der  Mann  mit  den  guten 
politischen  Beziehungen  nach  alien  (fast  alien!)  Seiten.  AuBer- 
dem  hat  er  seine  Mitschuldigen:  Minister  Dietrich  im  Reich, 
Minister  Hopker-Aschoff  inPreuBen  —  beide  warenFeuer  und 
Fett  fiir  den  Scheuer-Kauf ;  wenigstens  hat  das  einer  der  Zeu- 
gen,  einer,  der  es  wissen  konnte,  unter  seinem  Eide  ausgesagt. 
Aber  wenn  auch,  infolge  einer  fast  unbegreiflichen  Laxheit  des 
Vorsitzenden  im  UntersuchungsausschuB,  des  Staatsparteilers 
Doktor  August  Weber,  diese  Frage  ebensowenig  geklart  wor- 
den ist,  wie  die  Historien  der  Vorbesprechungen  iiber  das  „Ge- 
schaft"  in  den  Konventikeln  der  Arbeiterbank,  unter  Mitwir- 
kung  von  Klepper,  Bachem,  Heilmann,  Scheuer  und  Baade  — 
soviel  ist  sicher,  daB  Kleppers  Renommee  als  Geschaftsmann 
jetzt,  seitdem  man  weiB,  wie  er  mit  den  frisierten  Bilanzen 
hereingelegt  worden  ist,  einen  schrecklichen,  einen  fast  tod- 
lichen  StoB  erhalten  hat. 

Weiter:  es  kommt  Doktor  Fritz  Baade,  der  Reichskom- 
missar   fiir  die   Roggenstiitzung,   Schieles   rechte   Hand  in  der 

10 


Getreidepolitik,  gestern  noch  der  Stolz  der  SPD.,  heute  ihr 
Sorgenkind.  Auch  sein  Ruf,  als  Fachmann  des  Getreidege- 
schafts,  ist  im  AusschuB  ganzlich  cntzwei  gegangen.  Es  ist 
festgestellt  worden,  dafi  die  Stiitzungsaktionen  mangclhaft  vor- 
bcreitet  und  dilettantisch  durchgefiihrt  worden  sindt  dafi  sie 
also  an  ihren  eigncn  Fehlcrn  scheitern  mufiten,  nicht  infolge 
irgendwelcher  geheimnisvoller  Sabotageakte.  Wie  laienhaft 
Baade  sein  Geschaft  gefiihrt  hat,  das  ist  dem  AusschuB  sozu- 
sagen  ad  oculos  demonstriert  worden,  als  dort  eine  (fV^crbilli- 
gungsaktion"  fur  Futtergetreide  angekiindigt  wurde,  von  der 
man  am  nachsten  Tag  schon  beschamt  eingestehen  mufite:  sie 
sei  ein  groBer  Fehler  gewesen.  Vier  Stunden  lang  war  die 
Aktion  im  Gange,  dann  muBte  sie  schleunigst  abgebrochen 
werden.  In  diesen  vier  Stunden  hatten  ein  paar  gewandte 
Handler,  die  in  ein  paar  Minuten  besser  rechnen  konnten,  als 
Baade  und  seine  Leute  im  Ministerium  wahrend  der  tage-  und 
wochenlangen  geheimen  Vorbereitung  der  ,, Aktion",  viele 
Hunderttausende  verdient  —  auf  Kosten  des  iibrigen  Handels, 
der  Landwirtschaft  und  der  Reichskasse. 

Aus  Riicksichtnahme  auf  die  Partei  Baades  und  auf 
,,seinen"  Minister  hatte  die  gouvernementale  Gruppe  im  Unter- 
suchungsausschuB  —  vielleicht!  —  alle  Fehler  und  Dummheiten 
des  Reichskommissars  mit  dem  Mantel  der  politischen 
Nachstenliebe  bedeckt.  Aber  man  konnte  es  ihm  nicht 
verzeihen,  daB  er  in  den  Fragen,  die  ihn  personlich  an- 
gingen,  in  den  Fragen  seiner  Beziige,  die  Geduld  und  die.Ar- 
beitskraft  des  Ausschusses  durch  ,,wissentlich  falsche  Aus- 
kiinfte",  wie  man  in  der  hoflichen  parlamentarischen  Sprache 
notorische  Unwahrheiten  eines  Regierungsvertreters  nennt,  in 
schandlichster  Weise  miBbraucht  hatte.  Wozu  noch  gesagt 
werden  darf,  daB  er  auf  sachliche  Fragen,  soweit  sie  ihm  un- 
bequem  waren,  und  das  war  zumeist  der  Fall,  in  der  gleichen 
sophistischen  Weise  zu  ,  antworten  pflegte.  Der  Politiker 
Baade  hat  im  AusschuB  einen  Knacks  wegbekommen,  von  dem 
er  sich  so  schnell  nicht  erholen  wird.  Der  Getreide-Fachmann 
Baade  ist  erledigt  —  der  nachste  WindstoB  wird  ihn  weglegen. 

Es  ist  ein  Trost  im  Ungliick,  Leidensgefahrten  zu  haben. 
Der  Nachste:  •  Staatssekretar  Heukamp,  Reichsernahrungs- 
ministerium,  Er  hat  Baade  gedeckt,  gedeckt  bis  ztim  AuBer- 
sten.  Wer  sich  einmal  die  Miihe  nimmt,  seine  erste  Aussage 
iiber  die  Bezuge  Baades  mit  seiner  letzten  zu  vergleichen,  der 
wird  finden,  daB  ihn  der  Vorwuri,  den  AusschuB  „durch  falsche 
Angaben  irregefuhrt  zu  haben",  genau  so  treffen  muB  wie 
seinen  Schutzling.  Nun,  auch  fur  ihn  wird  ein  nachster  Wind- 
stoB kommen  —  und  dann  fliegt  die  Spreu  davon. 

Aber  ist  etwa  Herr  Minister  Schiele  vie!  besser?  Er  hat 
erklart,  er  wolle  mit  den  t,Saboteuren"  der  Roggenstiitzung 
vor  dem  AusschuB  griindliche  Abrechnung  halten,  er  ^wolle  sein 
^Material"  vorlegen,  und  dann...!  Nichts  geschah.  Der  Mi- 
nister bekam  plotzlich  kalte  FiiBe.  Er  hat  schmahlich  ge- 
kniffen.  Leider  ist  cs,  wegen  gewisser  strafprozessualer  Be- 
denken,  nicht  moglich,  das  Verhalten  eines  Ministers  mit  den- 
selben  Worten  zu  charakterisieren,  wie  man  sie  im  analogen 
Fall   gegeniiber   einem  Privatmann   anwenden  kann,   der   eine 

11 


Gruppe  von  Menschen  als  „Saboteure"  verdachtigt,  ohne  dann 
vor  dem  zur  Klarung  des  Sachverhalts  eingesetzten  Gericht 
den  angekiindigten  Beweis  dafiir  zu  erbringen. 

Und  dabei  ware  es  noch  nicht  einmal  so  schwer  gewesen, 
zu  zeigen,  wo  die  ,,Saboteure"  der  Stiitzung  eigentlich  gesessen 
haben)  Da  war  zunachst  Herr  Baade  selbst,  der  durch  ver- 
fehlte  Dispositionen  sein  redliches  Teil  dazu  beigetragen  hat, 
die  Aktion  festzufahren,  Da  war  weiter  die  eine  der  beiden 
Stutzungsgesellschaften,  die  D.G.H.  (Deutsche  Getreidehandels- 
gesellschaft),  deren  Leitung  jeden  nur  moglichen  Fehler  auch 
gemacht  hat  ( —  wobei  iibrigens  die  hinter  ihr  stehende  ,,Be- 
zugsvereinigung  der  Deutschen  Landwirte"  manchen  guten 
Brocken  verdiente).  Und  schlieBlich  war  da  auch,  und  damit 
schliefit  sich  der  Ring,  die  andre  Stiitzungsgesellschaft,  bei  der 
die  eigentliche  Durchfuhrung  der  Aktion  lag:  die  Dachgesell- 
schaft  des  ehemaligen  Scheuer-Konzerns,  die  G.I.C.  (Getreide- 
Industrie-  und  Commissions-  Aktiengesellschaft).  Sie  mufite 
verdienen,  um  ihre  Existenzberechtigung  zu  erweisen,  um  eine 
Rente  fur  die  27  Millionen  der  Scheuer-Transaktion  heraus- 
wirtschaften  zu  konnen.  So  wurden  Umsatze  fabriziert,  was 
nur  das  Zeug  halten  wollte.  -Besonders  deutlich  wurde  dieser 
Drang  nach  dem  Geschaft  bei  zwei  Gelegenheiten,  namlich 
beim  AbschluB  des  Kredit-  und  Arbeitsvertrages  mit  der  G.I.C. 
im  Marz  1930,  -  und  bei  der  „groBen"  Stiitzung  im  August  und 
September  desselben  Jahres.  An  dem  genannten  Vertrag,  der 
fiir  die  G.I.C.  und  die  hinter  ihrstehenden  Banken  nur  Vorteile 
ohne  jedes  Risiko  brachte,  die  D.G.H.  aber  schwer  belastete, 
hat  Minister  Schiele  im  AusschuB  eine  gradezu  vernichtende 
Kritik  geubt.  Leider  vergaB  er  dabei  ganz,  zu  erwahnen,  dafi 
er  beim  AbschluB  des  Vertrags  —  dessen  Kenntnis  er  zu  Be- 
ginn  seiner  Ministertatigkeit  uberhaupt  ableugnete  —  sowohl 
im  Aufsichtsrat  der  G.I.C.  wie  auch  im  Verwaltungsrat  der 
D.G.H.  gesessen  hat ... 

Bei  der.  eigentlichen  Stiitzung,  im  Spatsommer  des  letzten 
Jahres,  wurde  die  ..Sabotage"  noch  deutlicher.  Herr  Sinasohn, 
der  Borsen-Direktor  der  Stutzungsiirma,  hat  die  Tendenz  der 
Stiitzungsaktion  seinen  Geschaftsfreunden  gegeniiber  ganz 
offen  als  .jSchwindel"  bezeichnet.  Man  hat  bei  der  G.I.C. 
Handler  und  Spekulanten  ermutigt,  Roggen  an  die  Stiitzungs- 
stelle  zu  yerkaufen,  hat  also  das  ungeheure  Angebot,  unter 
dem  die  Aktion  spater  zusammenbrach,  selbst  herangezogen. 
„Ich  will  ja  gar  nicht  wissen,  woher  der  Roggen  kommt . .  ,'\ 
so  sagte  Direktor  Sinasohn,  und  alle,  die  bei  Leerverkaufen 
und  Fixergeschaften  gern  ihre  Finger  drin  haben,  stiirzten 
sich  auf  den  Roggenmarkt,  Was  half  es  da,  daB  Baade  seinen 
Freunden  den  guten  geschaftlichen  Rat  gab,  doch  Roggen  zu 
kaufen  und  a  la  Hausse  zu  spekulieren!  Die  Gegenparole,  die 
von  Sinasohn  und  seinen  Hintermannern  ausging,  war  wirk- 
samer  —  nicht  etwa  deshalb,  weil  sie  eine  groBere  Resonanz 
gefunden  hatte,  sondern  deshalb,  weil  sie  die  jedem  Eingeweih- 
ten  klar  erkennbare  hoffnungslose  Lage  der  Stiitzungsaktion 
als  Argument  gebrauchen  konnte. 

Sicherlich  ist  es  ein  Verdienst,  rechtzeitig  klar  ausgesprochen 
zu  haben,  was  jeder   Kenner   der  Verhaltnisse   sehen  konnte: 

12 


daB  die  Stiitzung  dcr  Roggenpreise  in  der  Zeit  vor  den  Sep- 
tember-Wahlen  zusammenbrechen  werde.  Nur  einer  durfte 
diese  seine  Erkenntnis  nicht  klar  aussprechen,  und  das  war 
der  Treuhander  der  Stiitzungsaktion  —  also  die  G.LC.  Als  sie 
es  trotzdem  tat,  verletzte  sie  ihre  Treuhanderpflichten.  Da- 
bei  mag  unentschieden  bleiben,  ob  die  Stiitzungsmanover 
Schieles  und  Baades  von  <len  ,,jungen  Leuten"  der  G.LC.  und 
der  Preufienkasse  primar  aus  sachlichen  (also  aus  wirtschafts- 
politischen)  Motiven  bekampft  worden  sind,  oder  in  enster 
Linie  deswegen,  um  der  G.LC.  beim  erwarteten  Zusammen- 
bruch  der  Stiitzung  ein  groBes,  ein  ganz  groBes  Geschaft  zu- 
zufuhren.  Wenn  die  let zt ere  Absicht  vorgeherrscht  hat,  so 
kann  man  nur  sagen,  daB  die  Rechnung  richtig  war. 

Minister  Schiele  und  sein  Kommissar;  sie  haben  beide  ge- 
wuBt,  dafi  der  schlimmste  und  starkste  Gegner  ihrer  Stiitzung 
die  Gruppe  der  G.LC.  war, '  deren  Zusammenarbeit  mit  dem 
Presidium  der  Preufienkasse,  oder  doch  wenigstens  mit  einer 
Clique  im  Prasidium,  deutlich  zu  erkennen  war.  Schiele  und 
Baade;  sie  beide  haben  vor  dem  AusschuB  geschwiegenf  als 
es  an  die  Klarung  dieser  vielleicht  interessantesten  Frage 
heranging.  Es  war  wohl  ein  neues  Burgfriedens-Abkommen 
zwischen  ihnen  und  Herrn  Klepper  abgeschlossen  worden.  Nur 
nichts  vor  die  Offentlichkeit  bring  en!  Das  Parlament  darf 
zwar  bewilligen  —  aber  es  soil  moglichst  nichts  kontrollieren 
oder  untersuchen. 

Baade,  Schiele  und  Klepper  und  die  iibrigen  Mitwisser  der 
Geschichte  haben  also  geschwiegen.  Der  Untersuchungsaus- 
5chuB,  der  nicht  energisch  genug  zugedroschen  hat,  hat  zu  viel 
Spreu  produziert,  man  kann  die  guten  Korner  der  niitzlichen 
Erkenntnisse  in  diesem  Haufen  Kaff  nicht  so  leicht  finden. 
Deshalb  muB  man  einmal  ordentlich  pusten,  damit  die  leichten 
Bestandteile,  die  Sinasohns  und  wie  sie  alle  heiBen,  davon- 
fliegen;  so  kann  man  den  eigentlichen  Gehalt  der  Stiitzungs- 
affare  ofienlegen.  Dann  zeigt  sich  dem  Beschauer,  daB  die 
Stiitzungsaktion  mit  100  Millionen  Mark  ZubuBe  aus  offent- 
lichen  Mitteln  zu  Bruch  gehen  muBte,  weil  Baade  sein  Hand- 
werk  nicht  verstand  — ,  und  es  zeigt  sich  weiter,  daB  aus  die- 
sem Zusammenbruch  ein  gutes  Geschaft  fiir  diejenigen  wurde, 
die  aktiv  und  passiv  die  Katastrophe  mit  herbeigefiihrt  haben: 
fiir  die  G.LC,  die  ehemalige  Scheuer-Gesellschaft,  und  fiir 
ihren  Patron,  die  PreuBenkasse. 

Die  Meerengeil    von  Johannes  Buckler 

/~\stern,  Pfihgsten  oder  Weihnachten  greift  T.  W.  in  seine 
Schreibtischschublade  und  nimmt  eine  „Enthullung"  iiber 
den  Ursprung  des  Krieges  heraus,  die  die  andre  Seite,  meistens 
Iswolski  oder  Poincare,  stark  belastet,  ohne  uns  damit  —  nach 
unsrer  Oberzeugung  —  zu  entlasten.  Wir  erlauben  uns,  dies 
einmal  zu  einem  andern  Termin  zu  tun. 

Vier  franzosisch-russische  Wahrheitssucher,  die  Herren 
Lapradelle,  Eisenmann,  Renouvin  und  Mirkin-Getzewitsch,  ha- 
ben eine  Sammlung  von  Dokumenten  in  den  Editions  Interna- 
tionales herausgegeben,  die  uns  einen  Blick  in  den  Abgrund 

3  13 


tun  lassen,  der  die  offiziellen  Erklarungen  der  Regierungen  von 
den  heimlichen  Abmachungen  trennt.  Und,  getreu  den  Tradi- 
tionen  dcr  franzosischen  Liga  fur  Menschenrechte,  in  den  eig- 
nen  Reihcn  die  Feinde  der  Demokratie  und  Gerechtigkeit  an- 
zugreifen,  behandelt  Jaques  Kayser  in  den  „CahiersM  ausfuhr- 
lich  diese  Veroffentlichungen.  Er  greift  sich  dabei  den  Band 
.JConstantinopel  und  die  Meerengetir  heraus,  Aus  den  dort 
veroffentlichten  Dokumenten  Lassen  sich  klar  die  mit  der 
Entente  schon  lange  vor  Kriegsausbruch  vereinbarten  russi- 
schen  Kriegsziele  erkennen. 

Nikolaus  IL  traumte  davon,  das  Vermachtnis  Peters  des 
GroBen  zu  erfiillen  und  seinem  Reich  Konstantinopel,  die 
,,Zarenstadt'\  einzuverleiben.  Der  Balkankrieg  von  1912  und 
die  daraus  entstandenen  europaischen  Debatten  lieBen  ihm  die 
Verwirklichung  seiner  Wunsche  nahe  erscheinen.  Er  berief 
deshalb  Anfang  1914  eine  Konferenz  von  Sachverstandigen 
unter  dem  Vorsitz  von  Sasonow  nach  Petersburg,  um  die  Mog- 
lichkeiten  eines  Angriffs  auf  die  Meerengen  zu  besprechen.  Ein 
Beamter  des  AuBenministeriums,  Bazili,  fafite  das  Ergebnis  in 
einem  Memorandum   zusammen,    dem  wir  folgendes  entnehmen; 

Da  die  augenblickliche  Situation  der  Ttirkei  ein  mehr  oder  weni- 
ger  schnelles  Auseinanderfallen  dieses  Landes  zur  Folge  haben  konnte, 
ist  es  schon  jetzt  sehr  wichtig,  die  Frage  der  Meerengen  zu  er  or  tern, 
Wir  prazisieren  daher  unsern  Standpunkt,  wie  folgt; 

1 .  Unsre  Streitkraf  te  im  Schwarzen-Meer-Gebiet,  besonders  die 
zur  See,  mussen  unverzuglich  verstarkt  werden/  damit  im  Augenblick 
einer  Krise  die  Frage  der  Meerengen*  in  unserm  Sinn  gelost  wird. 
Da  es  unmoglich  ist,  den  vielleicht  nahen  Zeitpunkt  genau  vorauszu- 
sehn,  mussen  unsre  Schwarz-Meer-Streitkrafte  so  schnell  wie  mog- 
lich  verstarkt  werden ... 

Der  Berichterstatter  setzt  dann  auseinander,  daB  die  rus- 
sische  Herrschaft  sich  iiber  beide  Meerengen,  Dardanellen  und 
Bosporus,  erstrecken  muB,  und  daB  dieser  Plan  „sehr  wahr- 
scheinlich"  nur  auf  dem  Weg  iiber  einen  europaischen 
Krieg  gelingen  kann.  „Die  Moglichkeit,  sich  der  Meerengen 
zu  bemachtigen,  hangt  von  einer  giinstigen  Konjunktur  ab.  Sie 
zu  schaffen,  ist  das  Ziel  des   (russischen)  AuBenministeriums." 

Diese  Konferenz  fand  am  8.  Februar  1914  statt.  In  einem 
„Geheimbericht"  vom  1./14.  Dezember  1914  bestatigt  der  Fre- 
gattenkapitan  Nemitz,  Chef  der  Schwarzen-Meer-Flotte,  diese 
Abmachungen  und  schreibt: 

Die  Entscheidung  iiber  die  russische  Herrschaft  in  Konstantinopel, 
am  Bosporus  und  an  den  Dardanellen,  trug  in  bemerkenswertem  MaBe 
dazu  bei,  dafi  RuBland  in  dem  Konflikt,  der  dem  Krieg  voranging, 
fest  blieb.  Die  russische  Politik  war  sich  in  der  Tat  dariiber  klar, 
daB  ein  Triumph  Oesterreichs  und  Deutschlands  in  der  serbischen 
Angelegenheit  fast  uniiberwindliche  Hindernisse  in  den  Weg  legen 
wiirde,  der  RuBland  an  die  Meerengen  fiihrt,  und  seine  Rolle  als 
Beschiitzerin  der  slavxschen  Volker  durchkreuzen  wiirde.  Darum  hat 
RuBland  den  Krieg  angenommen. 

Nemitz  spricht  von  den  Kompromissen,  die  verschiedene 
europaische  Nationen  finden  wollten,  um  Serbien  auf  der  einen, 
Oesterreich  auf  der  andern  Seite  zu  befriedigen.  Mit  keinem 
dieser  Kompromisse  konnte  RuBland  einverstanden  sein,  dem 
nur  ein  Krieg  die  Moglichkeit  zur  Eroberung  der  Meer- 
engen gab. 

14 


Nachdcm  nun  aber  der  Krieg  in  erreichbare  Nahe  geriickt 
war,  gait  es  fur  die  russischen  Kriegshetzer,  unbcdingt  dafiir 
zu  sorgen,  daB  die  Turkei,  gottbehtite,  nicht  mit  der  Entente 
gehe.  Oder  auch  nur  neutral  bleibe.  Dann  hatte  man  ja  keine 
Chance  gehabt,  die  Meerengen  zu  erobern!  Und;  da  die  Ge- 
fahr  der  tiirkischen  Neutralitat  tatsachlich  bestand,  muBte 
von  russischer  Seite  alles  geschehn,  um  die  Turkei  an  die 
Seite  der  Mittelmachte  zu  bringen.  Nafiirlich  zum  Schaden 
der  eignen  Verbiindeten.  Der  russische  Militarattach£  in  Kon- 
stantinopel,  General  Leontjew,  wurde  angewiesen,  die  gun- 
stigen  Angebote  Enver  Paschas  dilatorisch  zu  behandeln,  um 
Zeit  zu  gewinnen.  Als  Leontjew  am  10.  August  1914  um  neue 
Instruktionen  bittet,  da  die  Angebote  Enver  Paschas  immer 
praziser  werden,  erhalt  er  von  Sasonow  den  Auftrag,  die  Ver- 
handlungen  immer  weiter  hinauszuzogern,  bis  sich  Bulgarien 
entschieden  hat.  ,,Denken  Sie  daran,  daB  es  uns  keineswegs 
unangenehm  ist,  die  Turkei  auf  der  Gegenseite  zu  sehen." 

So  gelingt.  entgegen  den  Bestrebungen  der  Alliiertcn,  der 
otfiziose  Plan1  RuBlands,  die  Turkei  auf  die  Gegenseite  zu  trei- 
ben.  Im  weitern  Verlauf  des  Krieges,  als  sich  die  Verbiindeten 
den  russischen  Wtinschen  gegeniiber  nicht  bindend  verpflichten 
wollen,  schreibt  Fiirst  Trubetzkoi,  damals  russischer  Gesandter 
in  Serbien,  am  9.  Marz  1915  an  seinen  AuBenminister:  „Wenn 
wir  die  Meerengen  mit  Frankreich  und  England,  gegen  Deutsch- 
land,  haben  konnen,  um  so  besser.  Wenn  das  nicht  geht,  dann 
mit  Deutschland  gegen  die  Entente/'  Auch  auf  eine  gemein- 
same  Kontrolle  der  Meerengen  mit  Frankreich  und  England 
wollte  sich  RuBland  auf  keinen  Fall  einlassen. 

Die  Turkei  muBte  „zerschmettert"  werden,  und  darum  wur- 
den  auch  alle  vorzeitigen  Separatfriedenswiinsche,  auf  die 
Frankreich  und  England  vielleicht  eingegangen  waren,  von  RuB- 
land energisch  abgelehnt.  Am  20.  Januar  1915  weist  Sasonow 
einen  VorstoB  der  Jungturken  mit  den  Worten  zuriick:  ,fDie 
Frage  der  Meerengen  ist  eine  Lebensfrage  fiir  uns,  daher  haben 
alle  sich  in  andrer  Richtung  tewegenden  Unterhandlungen  kei- 
nen Zweck."  Am  14.  Februar  1915  lehnt  er  mit  der  gleichen 
Begriindung  einen  Vorschlag  Sir  Edward  Greys  ab,  mit  der 
Liberalen  Partei  in  Verbindung  zu  tret  en.  Einige  Tage  spater 
freut  er  sich,  daB  „die  Bedingungen  fiir  einen  Waffenstillstand 
so  hart  sind,  daB  die  Tiirkei  sie  nicht  annehmen  kann". 

1916  ist  die  Situation  die  gleiche.  Am  20.  Marz  meldet 
Diamandi,  der  rumanische  Gesandte  in  Petersburg,  seiner  Re- 
gierung,  daB  „die  Entente  kaum  fiir  einen  Separatfrieden  mit 
der  Turkei  zu  haben  sei",  Und  am  26.  August  setzt  NikolausIL 
auf  ein  Telegramm,  das  die  Moglichkeit  einer  Revolution  in 
der  Turkei  meldet,  die  echt  wilhelminische  Randbemerkung: 
„Mit  der  Tiirkei  muB  aufgeraumt  werden.  Auf  jeden  Fall  ist 
kern  Platz  mehr  fiir  sie  in  Europa.  Es  ist  deshalb  besser,  mit 
der  Opposition  gar  nicht  in  Verbindung  zu  treten." 

Da  Sasonow  die  Kontrolle  iiber  Konstantinopel  und  die 
Meerengen  unter  keinen  Umstanden  mit  irgend  jemand  teilen 
wollte,  tat  er  auch  alles,  um  den  Wiinschen  Frankreichs  und 
Englands     entgegenzutreten,     die     darauf     hinarbeiteten,     mit 

15 


Griechenland  an  der  Siidostfront  zusammenzugehn*  Er  wunscht 
auf  keinen  Fall,  daB  1fdic  griechischc  Fahne  in  Konstantinopel 
vor  der  russischen  auftauche".  So  laBt  er  Sir  Edward  Grey 
wissen.  Am  7,  Marz  erklart  er  sich  endlich  doch  dazu  bereit, 
stellt  aber  vier  Bedingungen,  die  den  Eintritt  Griechenlands  in 
die  Ententefront  unwahrscheinlich  machen. 

Wenn  er  auch  im  Anfang  vorsichtig  mit  seinen  groBen 
Alliierten  umgehen  mufite,  so  konnte  er  1915  im  Marz  doch 
wagen,  offen  zu  reden. 

Der  Lauf  der  letzten  Ereignisse  fuhrt  Seine  Majestat,  den  Zaren 
zu  der  Erwagung,  daB  die  Losung  der  Frage:  Konstantinopel  und 
die  Meerengen,  endgultig  mit  den  hundert j  ahrigen  Zielen  Rufilands 
in  Einklang  gebracht  wird.  Ungeniigend  und  unvollkommen  ware  jede 
Losung,  die  nicht  folgende  Gebiete  in  das  russische  Reich  einverleibt: 
die  Stadt  Konstantinopel,  das  westliche  Ufer  des  Bosporus,  das  Mar- 
marameer  und  die  Dardanelles  sowie  Siidthrazien  bis  zur  Linie  von 
Enos-Midia.  Ferner  aus  strategischen  Grunden:  einen  Teil  des  asiati- 
schen  Ufers  zwischen  Bosporus,  dem  FluB  Sakaria  und  einem  noch 
naher  zu  bestimmenden  Punkt  an  der  Kuste  der  Ismidbai;  die  Inseln 
des  Marmarameeres,  die  Inseln  Imbros  und  Tenedos  mussen  ebenfalls 
inner  ha  lb  der  russischen  Grenzen  liegen. 

So  ungefahr  verfiigten  unsre  Alldeutschen  iiber  das  Erz- 
becken  von  Briey* 

Mit  diesen  Kriegszielen  erklarten  sich  damals  sowohl  der 
franzosische  wie  auch  der  englische  Gesandte  in  Petrograd  im 
Namen  ihrer  Regierungen  einverstanden,  und  Georg  V.  tele- 
graphierte  im  August  1916  an  Nikolaus  IL,  daB  die  Emnahme 
von  Konstantinopel  eins  der  Hauptziele  des  Krieges  sei. 

Aus  Trotzkis  grandiosem  Werk  ,,Geschichte  der  Februar- 
revolution"  geht  mit  aller  Deutlichkeit  hervor,  daB  die  erste 
Revolutionsregierung,  die  aus  Kad'etten  und  Sozialrevolutio- 
naren  bestand,  unter  dem  Vorwand,  die  Revolution  zu  vertei- 
digen,  die  gleiche  imperialistische  AuBenpolitik  machte  wie 
die  gestiirzte  zaristische.  Die  Herren  Miljukow  und  Kerenski, 
die  sich  Demokraten  und  Sozialisten  nannten,  wollten  ebenfalls 
auf  Konstantinopel  nicht  verzichten  und  wiesen  einen  Sonder- 
frieden  mit  der  Tiirkei  energisch  zuriick.  Miljukow  erhielt  am 
25,  April  1917  ein  beruhigendes  Telegramm  Iswolskis  aus  Paris: 

Die  Tiirkei  wiinscht  offensichtlich  gliihend  den  Frieden.  Aber  die 
Zusagen,  die  RuBland  Konstantinopel  betreffend  gemacht  worden  sind, 
bilden  hierfur  ein  Hindernis:  Rufiland  hat  noch  kiirzlich  seinen  for- 
mellen  Wunsch,  Konstantinopel  zu  annektieren,  bestatigt,  und  Frank- 
reich  bleibt  ohne  Diskussion  seinem  Versprechen  treu. 

Erst  das  bolschewistische  RuBland  bekannte  sich  nach  der 
Oktoberrevolution  zu  dem  wahren  demokratischen  Grundsatz: 
„Friede  ohne  Annektionen  und  Entschadigungen",  und  Frank- 
reich  beeilte  sich  zu  verkiinden,  es  hatte  nie  andres  beabsichtigt. 

Die  russische  Angst,  die  Tiirkei  konnte  neutral  blerben, 
anstatt  auf  die  Seite  des  Gegners  zu  gehen,  und  damit  den  im- 
perialistischen  Geliisten  einen  Strich  durch  die  Rechnung 
machen,  erinnert  an  eine  Episode  aus  dem  deutsch-osterreichi- 
schen  Bruderkrieg  von  1866.  Frankfurt,  das  sich  damals  gegen 
PreuBen  stellte,  wurde  zur  Strafe  von  diesem  verschluckt.  Bis- 
marck hat  es  immer  bedauert,  daB  Hamburg  sich  in  diesem 
Konflikt  neutral  yerhielt.  Hatte  es  sich  auf  Oesterreichs  Seite 
gestellt,  so  wurde  er  es  ebenfalls  annektiert  haben. 

16 


Scheler  SpUkt  von  Kurt  Hiller 

C  o  ist  das  in  Deutschland  (und  in  Frankreich  und  in  England 
•^  —  ^Jer  Fall  liegt  europaisch;  ich  glaube,  sogar  in  Indien 
ist  es  .nicht  anders):  Taucht  irgendwo  gcgcn  die  Tragheit  der 
Tradition  cine  Idee,  ein  Zielbild,  ein  Ismus  auf,  sofort  zer- 
fallt sie,  zerfallt  es,  zerfallt  er  in  Varianten,  Spielarten, 
Richtungen;  und  diese  Differenzierung  fiihrt  zu  Gegensatzen, 
die  mitunter  scharfer  werden  als  der  ursprungliche  Gegensatz 
des  Ismus  zu  jenem  Contra,  gegen  das  er  sich  gebar.  Die 
Sache  ist  nicht  neu;  man  denke  an  die  klassischen  innerchrist- 
lichen  Streitigkeiten,  man  denke  an  die  Selbstzerfleischung 
der  groBen  franzosischen  Revolution,  man  denke  an  die  Frtih- 
zeit  des  Sozialismus  mit  der  Fialle  seiner  Sekten  (und,  ver- 
dammt  noch  einmal,  nicht  nur  an  seine  Friihzeit),  man  denke 
an  die  Friedensbewegung,  seit  der  Weltkrieg  sie  ins  Reale  hob. 

Keine  Kriege  mehr  — so  einfach  ist  dieser  Gedanke;  Alle, 
die  ihn  denken,  miiBten  sie  nicht  briiderlich  zusammenarbei- 
ten?  Ja  Kuchen;  denn  das  mit  der  Einfachheit  scheint 
nur  so.  Taucht  man  etwas  tiefer  in  dies  en  Teich,  dann  ver- 
iangt  man  sich  in  graBlichen  Problem-Schlinggewachsen,  und 
die  Gefahr  des  Ertrinkens  droht.  Abwehrkriege?  Ja  oder 
nein?  Sanktionskriege  gegen'  Friedensstorer?  Ja  oder  nein? 
Revolutionare  Kriege  unterdriickter  Rassen,  unterdriickter 
Klassen  zu  ihrer  Befreiung?  Ja  oder  nein?  Hat  Kriege  auch 
solchen  Charakters  nie  mehr  zu  wollen,  wer  „den  Krieg'*  nie 
mehr  will?  Ist  Pazif ismus  eine  Sache  der  Methode  oder  eine 
Sache  des  Ziels?  MuB  er  absolut  sein?  Oder  wiirde  absolute 
Gewaltlosigkeit  gegen  die  Gewalthaber  die  Herrschaft  der  Ge- 
walt  verewigen?  Was  ist  von  Paradoxien,  von  Antinomien  zu 
halten?  Welche  Beziehungen  bestehn  zwischen  dem  Teufel 
und  Beelzebub?  Und  will  man  .keinen  Krieg  mehr  —  wie  ver- 
wirklicht  man  dieses  Wollen?  Ethico-padagogisch?  Juridisch- 
organisativ?  Durch  Ungehorsam,  passiven  Widerstand  gegen 
die  kriegfuhrende  Staatsgewalt?  Durch  aktiven  Widerstand 
gegen  die  kriegfuhrende  Staatsgewalt,  durch  Zersetzung,  Auf- 
stand  ?  Vielleicht  durch  Kombination  dieser  Mittel  ?  — 
Schlinggewachse  uber  Schlinggewachse;  grauenhafte  Ver- 
wickeltheiteri.  Und  sie  bleiben  nicht  akademisch;  sie  fiihren 
zu  Zwist.     Triumphator,  lachender  Dritter:    der   Krieg. 

Es  ware  zwecklos,  diese  tragische  Entzweiurig  eines  im 
Keim  einigen  Wollens  von  irgendeinem  stratospharischen 
Denkpunkt  her  zu  bejammern;  sie  muB  sein;  wir  miissen  so 
sein,  wie  wir  sind;  wir  hausen  nicht  in  der  Hohe,  sondern  auf 
der  Kruste  des  Sterns;  wir  sind  mit  Notwendigkeit  selber  Tra- 
ger  und  Akteure  solcher  Differenzierungsprozesse,  so  sehr 
immer  wieder  wir  der  Integration  zustreben  mogen.  Nein, 
Jammern  ware  zwecklos.  Sinnvoll  wars,  das  Begriffsgestriipp 
zu  entwirren;  die  Vielfalt  der  Fraglichkeiten  auseinanderzu- 
breiten;  eif erfrei  alles  darzulegen,  klarzulegen;  ein  Ding  wie  den 
Pazifismus  nicht  etwa  genetisch,  nicht  etwa  historisch,  viel- 
mehr  in  seiner  komplexen  Systematik  zu  zeigen.  Aufgabe, 
eines  Philosophen  wohl  wiirdig. 

17 


Max  Scheler  hat  in  einer  posthumen  Schrift:  „Die  Idee 
des  Friedens  und  der  Pazifismus"  (Berlin  1931,  Der  Neue  Geist 
Verlag),  ein  wenig  von  Dem'  getan.  Das  Opus,  eigentlich  ein 
Vortrag,  zuerst  im  Reichswehrministerium  gehalten,  Januar 
1927,  dann  in  der  Hochschule  fur  Politik,  enthalt  etliche  sehr 
kluge  Analysen,  beispieLsweise  iiber  die  Alter-Argumente  des 
Hegelpacks  gegen  die  These,  daB  der  Ewige  Friede  ein  un- 
bedingter  positiver  Wert  ist  (der  Krieg  sei  das  MStahlbad  der 
Volker":  diese  Wendung  stammt  —  von  wem  denn  auch 
sonst?  —  von  Hegel);  oder  iiber  die  Stellung  des  Marxismus 
(genauer:  der  Marxismen)  zum  Friedensideal;  oder  iiber  die 
Unzulanglichkeit  des  Volkerbundes  als  Instrument  des  prakti- 
schen  Pazifismus  —  aber  die  Kristallenheit,  die  man  vom 
Philosophen  verlangen  darf,  laBt  dieses  Buch  vermissen.  Es  ist 
ein  Hin  und  Her  zwischen  Ja  und  Nein,  ein  milchiges  Gemisch 
aus  konservativem  und  mutativem  Pathos;  die  Kompliziertheit 
des  Gegenstands  wird  mitnichten  aufgehoben  in  der  schopfe- 
rischen  Einfalt  eines  Wollens.  Dieses  bei  aller  Klugheit  un- 
helle,  unleuchtende,  unerleuchtende  Buch  verstimmt;  der  Autor 
ist  nicht  durchsichtig.     Wer  ist  er? 

Das  Gespenst  eines  Verraters.  Wahrend  des  Krieges  war 
Max  Scheler  Prototyp  jenes  Intellektuellen,  der  sein  Wissen 
und  seine  ihn  vor  dem  Durchschnitt  auszeichnenden  analyti- 
schen  Gab  en  klug  der  Macht,  die  herrscht,  zur  Verfiigung  stellt 
Man  dtirfte,  wahrend  des  Krieges,  iiber  die  Schuld  oder  den 
Schuldanteil  der  deutschen  Machthaber  un-unterrichtet  sein 
(wie  ich  selber  bis  zur  Lektiire  von  „J'accuse",  Sommer  1916, 
es  war);  man  durfte  moglicherweise,  wie  Kerr,  denken:  nach- 
dem  einmal  die  Tragodie  hereingebrochen  ist  iiber  die  Volker 
und  der  Geist  einstweilen  nicht  helf en  kann,  will  ich,  daB  wenig- 
stens  meines  siegt  und  nicht  die  andern  (eine  ehrliche,  aberge- 
fahrliche  Gesinnung,  weil  sie  den  Widerstand  gegen  das  Ver- 
hangnis  lahmte;  schlieBlich  konnte  der  Geist  ja  helf  en);  selbst 
der  Standpunkt  der  Mehrheitssozialdemokratie  enthielt  ein  von 
der  Realitat  gewiB  unendlich  entferntes,  aber  doch  theoretisch- 
prinzipielles  Nein  zum  Kriege  als  Auseinandersetzungsform; 
Scheler  indes  beging  Verrat  am  Geiste,  Verrat  an  den  ewigen 
Ideen  der  Humanitat;  er  verherrlichte  das  Grauenvolle,  pries 
das  Verbrechen,  er  schrieb  das  Buch  vom  , .Genius  des  Krieges", 
ein  zynisches  Buch  gegen  die  ohnmachtige  Giite. 

Ich  sehe  den  Mann  noch  vor  mir:  seinen  iibergroBen 
uberscharien,  bleich-brutalen,  bosen,  menschenfresserischen 
Kopf,  welcher  eher  an  einen  sehr  intelligenten  Borsianer  als  an 
einen  Philosophen  erinnerte;  ich  leugne  weder,  noch  schame 
ich  mich,  diesen  Verrater  mit  dem  Herzen  meines  Hirns  stiir- 
misch  gehaBt  zu  haben,  nie  im  Leben  einen  Mann  von  Format 
sturmischer  als  ihn,  und  von  tiefster  Genugtuung  erfiillt  ge- 
wesen  zu  sein,  als  ich  im  Mai  1928  von  seinem  friihen  Tode 
las  (er  starb  im  vierundfiinfzigsten  Jahre). 

Eineni  Toten  zu  hassen  ist  schwer;  selbst  wenn  er  spukt. 
Es  ist  im  Falle,  der  vorliegt,  uraso  schwerer,  als  er  auf  eine 
leidlich  versohnende  Weise  spukt.  In  den  Jahren  vor  dem  Tode 
mufi   Schelern  sein  Gewissen  bedriickt   haben,     Er   verteufelt 

18      ' 


zwar  nicht  eindeutig,  was  er  vergottet  hatte;  aber  er  sagt  zu- 
mindest  auf  unklare  Art  Nein,  wo  er  vordem  klar  Ja  gesagt 
hatte.  Er  bekennt:  Der  Ewige  Friede  soil  sein.  Zwar  setzt 
er  „soir  in  GansefiiBchen  und  fiigt  „idealiter"  ein  —  als  ob 
der  Ewige  Friede  nicht  auch  realiter  sein  solle;  immerhin,  im- 
merhin.  Er  unterscheidet  „Gesinnungsmilitarismus"  und  ,Jn- 
strumentalmilitarismus"  und  lehnt  den  Gesinnungsmilitarismus 
ah.  Wir  wollen  den  Krieg  aus  der  Welt  schaffcn,  aber  bis  auf 
weiteres  miissen  wir  noch  Kriege  fuhren.  Innereuropaische 
schon  jetzt  nicht  mehr;  interkontinentale,  insonderheit  solche 
zum  Schutz  der  alten  *Ordnung  gegen  den  Bolschewismus  blei- 
ben  unvermeidlich.  Den  Endzielpazifismus  aller  revolutionaren 
Sozialisfen  {den  Scheler,  statt  ihn  den  biirgerlichen  Relativis- 
men  sowohl  wie  dem  absoluten  Pazifismus  Tolstois  und  der 
Quaker  izu  kontrastieren,  vergebens  in  die  schiefe  Alter- 
native zwischen  ,,Gesinnungs-M  und  „Instrumentalpazifismus" 
zu  pferchen  sucht)  verwirft  er,  aber  argumentarm.  ,,Der 
Ewige  Friede,  der  errichtet  werden  soil  auf  einem  Meer  von 
Blut  der  Weltrevolution,  ist  wohl  eine  der  fragwiirdigsten 
Formen,  die  diese  wandlungsreiche  Idee  angenommen  hat. 
Nicht  nur  auf  einem  Meer  von  Blut,  sondern  auf  einer  Ver- 
nichtung  der  Kultur  des  ganzen  bisherigen  Abendlandes!" 
Eine  dem  Auditorium  gewiB  genehme,  hofliche,  coudenhovliche 
Doktrin.  Mit  dem  Unterschied,  daB  Katergi  sich  die  Sache 
etwas  schwerer  macht. 

Dabei  spricht  Scheler  einige  Zeilen  spater  m  ok  ant  von 
der  nTodesangst  des  westlichen  und  amerikanischen  GroB- 
btirgertums  vor  dem  Bolschewismus"  —  auch  sonst  bltihn  auf 
der  Wiese  dieses  Buchs  nicht  uniippig  die  Widerspriiche.  Am 
Anfang  wird  rechtens  gegen  Herrn  Spengler  vorgebracht,  daB 
die  Friedensidee  „von  strahlender  Helligkeit,  sein"  musse, 
„wcnn  sie  von  den  groBten  und  reinsten  Genien  der  Menseh- 
heit  als  Panier  der  Menschheit  selbst  immer  wieder  empor- 
gehoben  ward  aus  dem  Schutte  der  Erfahrung",  und  am  SchluB 
wird  der  zeitgenossische  Typus,  der  in  der  Nachfolge  jener 
Genien  sich  abmiiht,  eisig  angespritzt  als  Typtis  „der  .Geistigen 
(in  moderner  Literatensprache)".  Dies  vor  Offizieren!  Es 
juckt  einen,  dem  Gespenst  hier  etwas  ganz  Personliches  zu 
verabreichen, 

Der  Erste  ubrigens,  der  das  Adjektiv  ,geistig*  substanti- 
viert  und  einen  neuen  charakterologischen  Begriff  damit  ge- 
schaffen  hat,  einen  Begriff,  den  die  Klassen-  oder  Branchen- 
vokabel  Jntellektuelle'  nicht  im  mindesten  deckt,  ist  der 
Philosoph  Constantin  Brunner  gewesen.  Seinen  Terminus  iiber- 
nahmen  spater  wir  Logokraten  (um  1915),  freilich  mit  Prazi- 
sierungen  und  InhaltswandeL 

Andre  Widerspriiche:  Erst  versichert  Scheler,  er  musse 
^vollig  bestreiten",  daB  nder  Staat  ein  sittliches  Recht"  habe, 
„Menschen  zum  Kriegsdienst  zu  zwingen  gegen  ihr  Gewissen"; 
1fder  Mensch  als  geistig  personliches  Wesen  steht  iiber  dem 
Staat,  nicht  unter  ihm"  —  wobei  die  uniformierte  Horerschaft 
im  RWM  wahrscheinlich  auf  ihren  Stuhlen  herumrutschte. 
Aber  nur  ein  paar  Sekunden  lang;   denn  dann  labte  sie  das 

19 


Bekenntnis:  HIst  der  Standpunkt"  (namlich  des  Kriegsdienst- 
verweigerers)  ,,objektiv  ethisch  und  metaphysisch  rcspcktivc 
religios  rich  tig?  Nach  meiner  philosophischen  Ansicht  ist  er 
es  nicht!"  Man  hort  die  Offiziere  aufatmen;  Hcrr  Professor 
hatten  abcr  die  Frage  lieber  nicht  ^metaphysisch  respektive 
religios",  sondern  philosophisch  respektive  politisch  unter- 
suchen  sollen.     Andre  tatens. 

,,Die  erste  Forderung  der  Stunde  ist  heute,  Europa  vor 
einem  neuen  Krieg  zu  bewahren"  (mit  welchen  Mitteln,  wird 
verschwiegen);  einige  Zeilen  spater:  Herumtrampeln  auf  „uto- 
pischen  Theorien  d«s  Pazifismus,  die  vor  der  kritischen  Ver- 
nunft  nicht  standhalten",  GewiB,  es  gibt  solche;  aber  grade 
an  dieser  Stelle  unterscheidet  er  nicht.  Alle  Methoden,  alle 
Pazirismen  skeptifiziert  er  der  Reihe  nach;  von  eignen  Vor- 
schlagen  nicht  der  Hauch  einer  Spur*  Er  beschrankt  sich 
darauf,  ,,Gesinnungspazifismus  und  Instrumentalmilitarismus" 
zu  fordern;  das  ist  ja  ungefahr  die  Realitat  unsrer  Epochc 
Dieser  Gestorbne  hat  sich  der  schwarzrotgoldnen  Gegen- 
wart  so  trefflich  angepaBt  wie  der  Lebende  einst  der  schwarz- 
weiBroten;  nur  diirfte  die  unklare,  die  unwahre  Fried ens- 
predigt  im  Frieden  noch  schadlicher  wirken  als  die  Vergottung 
des  Krieges  im  Krieg,  Max  Scheler  hat  nie  aufgehort,  ein 
Opportunist  zu  sein;  er  ist  sich  im  Grunde  immer  gleich  ge- 
blieben,  (Parallelfall:  Thomas  Mann,  Vor  1918  lfpreuBische" 
und  romantische  Haltung,  .gegen  Demokratie,  gegen  den  „ west- 
lichen"  „Zivilisationsliteraten";  nach  1918.  republikanischer 
Rationalist  und  Kosmopolitt  ,,westlich"  bis  dorthinaus  —  auch 
hier  im  Grunde  keine  Wandlung,  sondern  Beharrung:  im  Zeit- 
g  em  a  Ben,  Das  ZeitgemaBe:  die  Tug  end  aller  ordinaren  Geister.) 

Was  war  dieser  kluge  Scheler?  Ein  Phanomenolog,  kein 
Wertsetzer;  ein  Interpret  kein  Prophet.  Ein  Mann,  der  nicht 
f iihrte,  der  stets  mit  seiner  Zeit  mitging  —  wenn  auch  leicht 
abseits  und  mit  barocken,  schwierigen  Schritten;  ein  (kompli- 
zierter)  Gleiter  auf  dem  Boden  der  Tatsachen;  ein  (gewiB 
aparter)  Schwimmer  mit  dem  Strom.  Im  Kern  kein  Philosoph, 
sondern  ein  sehr  gewiegter  Philosophaster;  aus  der  Halbwelt 
des  Geistes;  ein  Intellektueller,  der  die  Macht  sttitzt.  Fiirchten 
wir  uns  nicht  vor  Toten,  die  spuken;  es  gibt  gewisse,  die  ver- 
dienen,  totgeschlagen  zu  werden,  wie  Ratten  —  so  gespenstisch 
das  ist. 


Union  der  festen  Hand  von  Mfons  ooidschmidt 

Prik  Reger  widmet  seinen  groBen  Roman  , .Union  der  festen 
Hand"  (Ernst  Rowohlt  Verlag,  Berlin)  dem  deutschen 
Volke.  Ich  weiB  nicht,  ob  er  dieses  Werk  dem  deutschen 
Proletariat  widmen  konnte.  Es  ist  kein  Kampfroman,  kein 
Roman,  der  die  Revolution  fordert,  es  ist  ein  Spiegelroman. 
Eine  grandiose  Photographic  Allerdings  eine  verscharfte  Pho- 
tographic aus  der  die  Runzeln,  die  Gemeinheiten,  die  Leiden, 
die  Selbstbetorungen  und  die  Brutalitaten  deutlich  hervortre- 
ten.  Das  Werk  eines  auBerordentlich  kenntnisreichen  Mannes, 
20 


der  Techniker,  Ruchhalter,  Plancntwerfcr,  Verwalter,  Bilanz- 
kritiker,  Kenncr  der  Schliche  und  Verflechtungen  in  der  GroB- 
und  Kleinwirtschaft,  also  ein  Fachmann  ersten  Grades  ist.  So 
konnte  er  den  besten  deutschen  Industrieroman  schreiben,  den 
Kriegs-  und  Nachkriegsproduktionsroman,  auf  den  wir  seit 
langem  gewartet  haben, 

Essen  ist  das  Zentrum  dieses  Romans  und  in  Essen  die 
Risch-Zander-Werke,  das  sind  die  Krupp-Werke,  Die  Hand- 
lung  beginnt  in  der  ,,Waffenschmiede  des  Reiches"  gegen 
Kriegsende  und  schliefit  mit  einer  Analyse  der  Scheinrentabi- 
litat,  das  heifit  des  nationalistischen  Versuchs,  die  Arbeiter- 
schaft  von  neuem  zu  disziplinieren,  wahrend  drauBen  die  Er- 
werbslosigkeit  ins  Ungeheuerliche  steigt.  Ober  das  Zentfal- 
werk  hinaus,  dessen  Bedeutung  nach  dem  Kriege  sinkt,  wird 
die  Innen-  und  AuBenpolitik  der  ganzen  Schwerindustrie  des 
Ruhrreviers  und  der  chemischen  Industrie  dargelegt.  Die 
Union  der  festen  Hand,  das  ist  wohl  der  Langnam-Verein,  um- 
faBt  die  Interessen  der  Ruhr-Schwerindustrie.  Er  ist  die 
Festung  dieser  Industrie,  in  der  und  mit  deren  Hilfe  die  Kampfe 
der  Industriellen  unter  sich,  ihre  Kampfe  gegen  die  Regierung 
und   gegen  die  Arbeiter   und  Angestellten  sich   abspielen. 

Zwischen  schon  maroder  Kriegsproduktionsbegeisterung 
und  Festigkeit  auf  hohlem  Grund  wird  das  ganze  riesenhafte 
Tableau  des  Kapitalismus  aufgerollt.  Seine  Kalkulationsmetho- 
den,  seine  Verscljachtelungs-  und  Bestechungsmanover,  die 
offenen  und  heimlfchen  Schlachten  gegen  den  ,,Kulturbolsche- 
wismus",  seine  Wirkungen  bis  in  die  Seele  des  verhutzelten 
ArbeitergrpBpapas.  Des  oftern  mit  mehr  Kritik  als  Entschie- 
denheit,  aber  mit  einer  Durchdringungskraft,  die  bis  heute  keio 
deutscher  Romanschreiber  aufgewiesen  hat.  Auch  der  Romar 
,, Petroleum"  von  Upton  Sinclair,  dessen  Handlung  straffer  unc 
vielleicht  spannender  istT  hat  nicht  cliese  Detaiikunst,  diese 
Mannigfaltigkeit  und  doch  Geschlossenheit  der  kapitalistischen 
Einzelheiten,  ,, Union  der  festen  Hand"  ist  ein  Lehrbuch  der 
Produktion,  der  Finanz  und  der  sogenannten  Wirtschaftsseelet 
eindringlicher  und  klarer  als  die  meisten  beriihmten  wirt- 
schaftswissenschaftlichen  Werke. 

Unter  Decknamen  treten  alle  bekannten  ,,Kapitane'*  der 
deutschen  GroBindustrie  auff  ihre  Charaktere,  ihre  Kniffe, 
Klugheiten,  Oberheblichkeiten,  ihre  lachelnden  Grausamkeiten, 
die  riicksichtslose  Verwertung  der  Schwachen  des  Gegners, 
das  Talent,  die  Menschen  einzuwickeln,  die  Benutzungsethik, 
es  ist  eine  Charakterologie  des  Schwerkapitalismus. 

Die  deutsche  Industrietradition  verblaBt,  weil  sie  unren- 
tabel  .  wird,  die  alten  Embleme:  Schwarz-weiB-rot,  Treue, 
Schopferkraft,  Biederkeit,  miissen  nach  dem  Kriege  noch  her- 
halten  zum  Zweck  der  Gewinnsicherung  und  der  Unterwer- 
fung,  aber  sie  sind  nun  neugermanisch  geworden.  Die  Liebe 
zum  Herrscherhaus,  die  Kruppliebe,  auf  der  die  Rechnungs- 
sicherheit  mit  Hilfe  fester  Waffen-  und  Munitionsauftrage  und 
Eisenbahnbestellungen  beruhte*  wird  zum  Biindnis  mit  den 
Nationalsozialisten.  Die  Werksgemeinschaft,  das  heiBt  der 
patriarchalische  Betrug  an  der  Arbeitskraft,  bjeibt,  doch  ist  sie 

21 


nicht  mehr  die  selbstverstandliche  „Familie'\  die  der  Idee  des 
Kaiserismus  entsprach,  sie  ist  zu  einer  nach  bezahlten  Grund- 
satzen  schlau  und  zynisch  angewandten  Parteiinstitution  ge- 
worden. 

,,  Union  der  festen  Hand"  ist  kein  Dokumentenroman,  und 
doch  ist  dieses  Werk  bis  in  die  letzten  Verastelungen  doku- 
mentarisch.  Wie  der  Kaiser,  um  die  Waffenherstellung  zu  be- 
schwingen,  ins  Kruppwerk  fahrt,  wo  die  Arbeiter  ihn  abblitzen 
lassen,  wie  die  alte  Frau  Krupp  jedes  Gefuhl  und  jede  nWohl- 
fahrt"  auf  Dividendenformeln  bringt,  wie  handfeste  Sexuali- 
tat  in  den  GeschoBdrehereien  zur  Milderung  revolutionarer 
Explosivitat  benutzt  wird,  bei  Sffentlicher  Ausposaunung  der 
Geschlechtsmoral,  wie  dieBilanz  zurechtgestutzt,  dermaBvolle 
Arbeiter  gegen  den  bockigen  Proleten  ausgespielt,  Kleinbiir- 
gersehnsuchte  angetrieben  und  miBbraucht  werden,  wie  die 
Verteilung  von  Nahrungsmitteln,  Hausrat,  Wohnungen  und 
Pramien  sachkundig  und  systematisch  von  oben  vorgenommen 
wird,  die  tausend  Mittel  und  Mittelchen,  rebellische  Produktiv- 
kraft  zu  ziigeln,  zu  bestrafen  und  umzubiegen  in  HGefolg- 
schafistreue'^  das  alles  ist  meisterhaft  in  diesem  Werk  geschil- 
dert  und  untersucht. 

Die  alten  Generale,  einst  geachtete  Auftragsbeschaffer, 
werden  nun  Propagandisten  der  Industrie,  opponierende  Staats- 
sekretare  fiigen  sich  in  Instrumentenstellungen,  Gewerkschafts- 
fuhrer5  lassen  sich  einseilen,  Betriebsrate  werden  korrumpiert 
Sozialdemokratische  Minister  fangt  man  mit  Gefiihlsduseleien 
oder  bedroht  sie  mit  Arbeiterentlassungen  und  erzielt  so  rie- 
senhafte  SubventionenN  Das  ungeheure  Geschaft  der  Ruhr- 
industrie  nach  der  Besetzung  wird  bis  auf  die  Eingeweide 
bloBgelegt,  Indessen  geht  die  Konzentration  weiter,  dieElek- 
troindustrie  wird  der  Eisen-  und  Kohlenindustrie  dienstbar  ge- 
macht,  der  Staat  gibt  den  Segen  und  das  Geld  zur  Zusam- 
menballung  und  Gewinnsicherung,  jede  MaBnahme  wird  im 
intimen  Kreis  mit  dem  Nutzen  motiviert,  wahrend  in  den  Mee- 
tings der  Union  und  in  den  vaterlichen  Festen  fur  die  Arbei- 
terschaft  Produktion  und  Arbeit  in  bekannter  Weise  idealisiert 
werden. 

Man  hat  den  Sozialisierungsschrecken  iiberwunden,  nach- 
dem  man  einen  Augenblick  versucht  hatte,  auch  diese  Gefahr 
zum  Aktivum  zu  machen.  Immer  wieder,  in  Einigkeit  gegen 
den  gemeinsamen  Feind,  Proletariat  und  Regierungen,  und  in 
den  Kampfen  der  Kapitane  untereinander,  triumphiert  die 
„Schopferkraft",  die  in  diesem  Roman  so  genannt  wird,  wie 
sie  wirklich  ist.  Sie  ist  namlich  gar  keine  Schopferkraft  sori- 
dern  nur  gerissene  Riicksichtslosigkeit,  die  alles  einstellt  in  die 
Bilanz:  Ehre,  Freiheit,  Vaterland,  Gemeinschaft,  Arbeitersehn- 
sucht,  Erleichterungen  und  Schwierigkeiten,  die  Franzosen  oder 
die  Amcrikaner,  je  nach  dem  Nutzwert,  bedenkenlos,  nur  um 
die  Erhaltung  der  Macht  und  der  Rente  bemiiht  In  diesem 
Getriebe  spielt  auch  der  Generaldirektor,  das  ist.  Hugenbe*:g, 
eine  wesentliche  Rolle,  aber  der  Posten  des  Propagandisten  der 
Reaktion,  den  er  heute  innehat,  ist  sozusagen  nur  ein  Diplo- 
matenposten.  Man  hat  ihn  abgeschoben  aus  der  Industrie, 
weil   er   kein  ,,Schopfer'\  sondern  nur  ein  Pressechef  ist.  Wir 

22 


wissen,  daB  er  auch  diese  Funktion  nicht  grade  als  Erneuerer 
des  deutschen  Geistes  ausiibt. 

In  dem  Roman  sind  Stcllen  von  auBerordentlicher  dichte- 
rischer  Kiihnheit  und  portrathafter  Kunst.  Ich  nehmc  die 
knappe  Schilderung  der  Tragodie  einer  Arbeitskameradschaft. 

„Kaum  wieder  an  seine  Arbeit  zuriickgekehrt,  begann 
der  GieBer  zu  taumeln,  rang  nach  Luft,  brach  zusammen,  Ein 
Kamerad,  der  den  Ohnmachtigen  aufzurichten  versuchte,  wurde 
mit  Schrecken  gewahr,  daB  seine  Arme  einen  Sterbenden 
hielten. 

In  seiner  Bestiirzung  wuBte  er  nicht,  was  er  anfangen 
sollte,  er  war  nicht  sehr  kraftig  und  wurde  von  dem  zunehmen- 
den  Gewicht  des  Leblosen  iiberwaltigt.  Er  wollte  um  Hilfe 
rufen,  als  eine  GieBlokomotive  mit  fltissigem  Feuer,  durch  die 
nahe  Gleiskreuzung  rollte  —  und  sei  es  nun,  daB  der  Fuhrer 
zu  scharf  bremste,  sei  es,  daB  das  Gleis  nicht  in  Ordnung  war, 
der  Kiibel  kippte  und  goB  die  Glut  uber  Kopf,  Riicken  und 
Brust  des  Arbeiters,  der  bei  dem  alten,  rochelnden  GieBer 
kniete. 

Kleider  und  Haut  Helen  ab  wie  Zunder,  rauchende  Fetzen 
rohen  Fleischs  schalten  sich  aus  dem  Korper,  die  verstiimmel- 
ten  Augenhohlen  wimmerten  leise.  Er  verschied  nach  wenigen 
Augenblicken  in  groBer  Stille/' 

Reger  hat  auch  die  mod  erne  Produktionslandschaft  ent- 
deckt,  Geschmolzenes  Eisen,  die  Tonung  des  Sandes  fur  den 
GuB,  die  Gestange,  Krane,  Dampf  und  Feuer,  die  ganze  Werk- 
statt  und  dazu  die  Menschen  an  den  Produktionsinstrumenten 
und  in  ihren  „Kolonien",  ja  die  fressenden  Raupen  unter  den 
Kohlblattern  als  Symbol  des  Rentabilitatsprozesses,  hier  hat 
ein  wirklicher  Poet  geschrieben.  Konzerne  und  Trusts  iiber- 
ragen  wie  lebende  Kraken  diese  Landschaft,  in  der  keine 
Menschenart,  kein  Tier  und  kein  Ding  fehlt.  „In  den  Vor- 
garten  der  Villen,  wo  sonst  Nelken  und  Gladiolen  bliihten, 
fraBen  die  Haumigen,  schwarz  und  gelb  gescheckten  Raupen 
den  Wirsingkohl,  und  die  schwarzen  Lause  saugten  das  Mark 
der  Bohnen  aus.  Die  Raupen  klebten  an  den  Randern  und  Ein- 
kerbungen  des  Wirsings,  dessen  Blatter  von  vielen  Adern, 
Warzen  und  dunklen  Runzeln  zerspalten  waren;  unten  mit  den 
BauchftiBen  festgeklammert,  den  Kopf  nach  oben  herumge- 
bogen,  staken  sie  wie  Krampen  fest.  Mit  den  bartigen  Ober- 
lippen  bissen  sie  an  und  zermalmten  zwischen  einer  Unzahl 
von  Kiefern  und  Kauladen  das  wasserige,  fade  riechende 
Griin.  Dabei  quollen  die  Augen  zu  dicken,  spahenden  Punk- 
ten  auff  und  die  Fiihler  streckten  sich  miBtrauisch  und  wach- 
sam  nach  den  Seiten  hin  , . ." 

Professoren  mit  fascistisehen  Thesen,  Psychotechniker  mit 
Exaktheitsfimmel,  bezahlte  Gutachter  aus  wissenschaftlichen 
Laboratories  eigne  Zeitungeii,  Rundfunk,  nichts  fehlt  in  diesem 
Gemalde  eiues  Industrie-Breughels.  Zeigte  dieser  Roman  noch 
den  Auftrieb  der  Arbeitskraft,  ihre  Unwiderstehlichkeit,  ihren 
Drang  zur  Umformung,  ihren  Rebellencharakter  bei  allem 
Elendf  ware  er  also  auch  noch  ein  Roman  in  die  sozialistische 
Zukunft  der  Welt,  so  hielte  ich  ihn  fiir  vollkommen. 

23 


Frauendammerung?  von  mide  waiter 

r\ic  Frauen  sind  unbclicbt  gcwordcn.  Das  hort  man  nicht 
*"^  gern ,  weil  es  an  Dinge  riihr t,  die  mit  Vernunf  t  allcin 
nicht  mehr  zu  erklaren  sind.  Eine  Atmosphare  von  MiB- 
behagcn  sammelt  sich  urn  die  Gesamthcit  dcr  arbeitenden 
Frauen,  Eine  zwar  unorganisierte,  aber  sehr  starkc  Abwehr- 
bewegung  richtet  sich  gegen  alle;  ihre  Auswirkungen  werden 
die    Einzelnen   friiher   oder   spater   zu   spiiren   haben. 

Von  rechts  bis  links  wird  auf  einmal  wieder  mehr  oder 
weniger  deutlich  Sinn  und  Berechtigung  der  Frauenberufsarbeit 
in  Frage  gestellt.  Dabei,  steht  im  Augenblick  noch  nicht  ein- 
mal die  alte  Diskussion  iiber  die  sogenannte  ,,Gleichberechti- 
gung",  iiber  den  „gleichen  Lohn  fur  gleiche  Leistung"  im  Vor- 
dergrund.  Wir  miissen  uns  auf  einmal  wieder  mit  den  primi- 
tivsten  Argumenten  gegen  die  weibliche  Erwerbstatigkeit  aus- 
einandersetzen. 

Diese  neue  Aggression  ist  leider  nicht  ganz  ohne  unsre 
eigne  Schuld  so  groB  geworden:  die  Erscheinung  der  arbeiten- 
den Frauen  wird  zu  <len  verschiedenartigsten  Propagandazwek- 
ken  generell  umgelogen,  Ausgenommen  von  dem  allgemeinen 
Falschungs-  und  Vergoldungswahn  ist  vielleicht  nur  die  schwer 
arbeitende  Proletarierfrau,  deren  Lebensform  keinerlei  An- 
haltspunkte  fin*  optimistische  Darstellungen  in  Wort  und  Bild 
zu  bieten  vermag.  Wenn  von  ,,Frauenarbeit"  die  Rede  ist, 
wird  meist  nicht  an  die  Gestalten  der  Kathe-Kollwitz-Bilder 
gedacht.  Vielmehr  wird  seit  Jahren  jede  Frauenarbeit  als  MEr- 
rungenschaft'*  proklamiertf  photographiert,  verniedlicht  und  mit 
einer  Himbeersauce  ewig  fortschreitender  Prosperity  iiber- 
gossen.  Das  Siegesgeschrei  von  den  unbegrenzten  Moglich- 
keiten  weiblicher  Ttichtigkeitt  von  den  standig  neu  eroberten 
Positionen  stammt  zum  Teil  von  den  Vertreterinnen  der  neu- 
erschlossenen  Frauenberufe.  Angst  und  Schrecken  ergrilf  die 
mannlichen  Kollegen,  die  den  Glanz  der  Neuheit  und  Apart- 
heit,  womoglich  durch  weibliche  Reize  verstarkt,  als  unlautern 
Wettbewerb  empfinden  mufiten. 

Sehr  bald  haben  noch  dazu  samtliche  auf  Frauenkund- 
schaft  angefwiesene  Konsumindustrien  die  Zugkraftigkeit 
solcher  Schlagworte  erkannt  und  *  fiir  Reklamezwecke  aus- 
gewertet.  Selbst  die  schlechtest  bezahlte  Verkauferin  oder 
St  eno  typist  in  gibt  noch  ein  wirksames  Plakat  ab,  in  necki- 
scher  Aufmachung  Sinnbild  dauernden  Wochenendvergniigens 
und  ewiger  Jugiendfrische.  MittelmaBige  weibliche  Berufs- 
erfolge  mit  vielleicht  sehr  mangelhafter  Barvergiitung  werden 
in  Jahrbiichern  und  Wandkalendern  glorifiziert,  wenn  moglich 
unter  Ahwendung1  der  Spitzmarke  MFrauen  fiir  Frauen".  Wer 
hatte  je  einen  Maschinenbauer  in  Gehaltsklasse  10  der  Mit- 
welt  vorgestellt,  wie  er  grade  fiir  seine  lieben  Geschlechts- 
genossen  eine  Lokomotive  baut? 

Das  muBte  den  Mannern  mit  der  Zeit  auf  die  Nerven 
gehen.  Nur  auf  solcher  Basis  konnte  sich  der  Aberglaube 
entwicke.ln,  daB  Ausschaltung  von  Frauenarbeit  gegen  Massen- 
arbeitslosigkeit  hilft.  Sachliche  Argumente  sind  in  den  Wind 
gesprochen.     Vergeblich   hat   fast   jede  Zeitung   links  von  der 

24 


fD.A.Z/  in  den  letztcn  Monaten  zwecks  Aufklarung  und  Be- 
lehrung  die  bekannten  Zahlcn  aus  der  Berufszahlung  gebracht, 
die  einwandfrei  beweisen,  daB  eine  Entfernung  etwa  der  ver- 
heirafeten  Frauen  vom  Arbeitsmarkt  nichts  niitzen  wiirde. 
Umsonst  erklaren  die  freien  Gewerkschaften  immer  wieder, 
daB  die  iiberwiegende  Mehrzahl  der  elfeinhalb  Millionen  be- 
rufstatiger  Frauen  mit  der  Massenfabrikation  jener  Konsum- 
giiter  beschaftigt  wird,  die  friiher  ebenfalls  von  der  Frau  im 
Hause  selbst  hergestellt  worden  sind;  daB  zweieinhalb  Millio- 
nen verheiratete  Frauen  in  landwirtschaftlichen  und  gewerb- 
lichen  Eigenbetrieben  des  Familienoberhauptes  arbeiten  und 
zwei  Millionen  Frauen  in  heiratsfahigem  Alter  uberhaupt  ganz- 
lich  unversorgt  bleiben  werden. 

Mit  so  verniinftigen,  so  niichternen  Mitteln  wird  man  eine 
Massenpsychose  nicht  bannen,  die  beinahe  mystische  Vorstel- 
lung  von  der  okonomischen  Schadlichkeit  der  arbeitenden 
Frau  jetzt  nicht  mehr  ausrotten  konnen.  Fiir  die  Entdeckung 
der  Quellent  aus  denen  sich  dieser  mannliche  Affekt  standig 
erneuert,  sind  die  Psychologen  zustandig.  Sie  konnten  viel- 
leicht  untersuchen,  wie  weit  noch  heute  eine  dunkle  Ge- 
schlechtsangst  die  Mehrzahl  der  Manner  hindert,  okonomische 
Gegebenheiten  sachlich  und  klar  zu  erkennen.  Eine  Aufkla- 
rung der  umgelogenen  sozialen  Tatbestande  kann  allerdings 
nur  von  den  Frauen  selbst  geleistet  werden,  wenn  sie  sich  im 
allgemeinen  entschliefien,  iiber  ihr  Berufsschicksal  ebenso  offen 
zu  sprechen    wie  iiber  ihr  Liebesleben. 

Da  ist  die  erfolgreiche  Oberschicht  unsrer  vielgefeierten 
Pionierinnen,  die  in  vorgeriickten  Jahren  als  Abgeordnete  und 
hohere  Beamte,  als  Fiihrerinnen  groBer  Berufsgruppen  auf  ein 
wirtschaftlich  gesichertes  Alter  rechnen  konnen.  Sie  mogen 
einmal  berichten,  in  welchem  Lebensalter  sie  in  den  wirfcschaft- 
lichen  Wettbewerb  eingetreten  sind,  wieviel  Geld  in  den  Auf- 
stieg  gesteckt  werden  muBte,  bis  sie  in  den  kritischen  Jahren 
nicht  mehr  von  Vorgesetzten  und  Mitarbeitern  abhangig  waren, 
die  jede  alternde  Frau  als  Arbeitskraft  ablehnen.  Da  sind  die 
jurigen  Akademikerinnen,  die  ihre  Anstellung  als  ,,wissen- 
schaftliche  Mitarbeiterin"  nur  bekamen,  weil  sie  nebenbei  als 
perfekte  Stenotypistinnen  zu  brauchen  sind.  Das  Heer  der 
weiblichen  Angestellten,  die  zur  Behauptung  einer  Stellung  mit 
hundertfiinfzig  Mark  Monatsgehalt  einen  Lebensstandard  aui- 
rechterhalten  mussen,  der  einem  Einkommen  von  zweihundert- 
fiinfzig  Mark  entspricht.  ,,Zusatzliche  Leistung"  in  irgend- 
einer  Form  wird  meist  stillschweigend  aufgebracht. 

Ganz  nebenbei  werden  die  arbeitenden  Frauen  als  Ge- 
samtheit  auch  noch  gern  fiir  gewisse  Betriebsunfalle  veraat- 
wortlich  gemacht.  Wenn  der  tagliche  Arbeitsrhythmus  durch 
zeitraubende  Auswirkungen  zarter  Beziehungen  innerhalb  des 
Betriebes  einmal  durchbrochen  wird,  schreit  alles  nach  der  Be- 
seitigung  des  storenden  weiblichen  Elements.  Als  ob  nicht  be- 
triebsfremde  Verwirrungen  der  Gefiihle  die  mannliche  Arbeits- 
fahigkeit  ebenso  stark  lahmlegen  konnten.  Leider  hat  die  Be- 
triebswissenschaft  bisher  noch  nicht  ergriindet,  wieviel  pro- 
duktive  Leistungssteigerung  durch  die  arbeitenden  Frauen  in 
der  Verbindung  von  Beruf  und  Liebe  erreicht  werden  kann. 

25 


Die  Wahrheit  iiber  Lebens-  und  Arbeitsbedingungen  der 
heutigen  Frau  ist  zum  Teil  in  den  Veroffentlicbungen  der  Be- 
ruisverbande  zu  finden.  In  einer  neuen  Erhebung  des  Aia- 
Bundes  iiber  1fDas  Arbeiten  an  Schreibmaschinen'*  muBte  fest- 
gestellt  werden,  da($  die  meisten  Stenotypistinnen  und  Maschi- 
nenschreiberinnen  nach  zehn-  bis  fiinfzehnjahrelanger  Berufs- 
arbeit  vollig  ausgepumpt  sind.  Aber  die  besten  Enqueten  und 
wertvollsten  Monographien  erlangen  nicht  die  gleiche  Publi- 
zitat  wie  der  ewige  Optimismus,  der  im  Namen  des  gesamten 
Geschlechts  an  sichtbarer  Stelle  verzapft  wird.  Wenn  zum 
Beispiel  die  Rede-Elevinnen  der  Frau  von  Kardorff  als  neue 
weibliche  Jugend  auftreten,  um  die  „hohe  politische  Aufgabe 
der  Frau"  erneut  zu  entdecken,  kann  man  sich  iiber  die  ent- 
sprechende  mannliche  Reaktion  nicht  wundern, 

Es  ist  hochste  Zeit,  mit  der  Fiktion  von  der  Einheitsfront 
aller  arbeitenden  Frauen  aufzuraumen.  Die  laute  Propaganda 
fur  den  vagen  Begriif  Frauenarbeit  schlechthin  mischt  sich 
peinlich  mit  dem  Triumphgeschrei  iiber  langst  errungene 
, .Siege"  und  zerstort  nur  den  guten  Willen  der  Gegenseite. 
Wenn  dieselben  Intensitaten  von  den  Frauen  in  aller  Stille 
inner  ha  lb  der  einzelnen  Berufsgruppen  zur  Aktivierung  ihrer 
Kollegen  beiderlei  Geschlechts  aufgebracht  wiirden,  lieBen 
sich  wahrscheinlich  bessere  Resultate  fur  die  Arbeitsbedingun- 
gen aller  Beteiligten  erzielen. 

Buhnengenossenschaft  und  Opposition 

von  Emil  Lind 

P*s  gibt  keinen  naturlichern  Rebellen  als  den  Schauspieler.  Die 
"  psychologischen  Ursachen  dafiir  liegen  auf  der  Hand.  In  Zeiten 
des  primitivsten  Kampfes  mit  den  Theaterleitern  richtete  sich  der 
Strom  der  Unzufriedenheit  gegen  diese.  Seitdem  die  Existenz  des 
Schauspielers  —  des  in  Stellung  befindlichen!  —  durch  die  Arbeit 
der  Gewerkschaft  sicherer  geworden  ist,  besonders  seit  1919  durch 
den  Tarifvertragi  werden  die  Gewerkschaftsfiihrer  zu  Siindenbocken 
erkoren, '  So  kamen  die  bekannten  Verschworungen  gegen  Nissen, 
gegen  Rickelt  zustande,  so  die  Aktion  gegen  die  jetzigen  Leiter  der 
Genossenschaft,  die  in  der  letzten  Delegierten-Versammlung  damit 
ihren  AbschluB  fand,  daB  der  gesamte  Verwaltungsrat  mit  mehr  als 
Zweidrittelmajoritat  wiedergewahlt  wurde,  und  so  flattert  auch  wieder 
neuerdings  da  und  dort  Unzufriedenheit  gegen  dieselbe  Leitung  auf, 
genahrt  durch  die  allgemeine  wirtschaftliche  Lage  und  besonders  durch 
die  Stille  des  propagandistisch  undankharen  Verteidigungskampfes, 
den  die  Genossenschaft  seit  Bestehen  des  Tarifvertrages  um  dessen 
Existenz  fuhrt. 

Auf  die  von  personlichem  Ehrgeiz  und  Oberbetulichkeit  genahrte 
Aktion  der  Frau  de  Neuf.  die  schliefilich  auf  das  alte  ote  toi,  que  je 
my  mette  hinauslauft,  braucht  man  wohl  in  einer  sachlichen  Erorte- 
rung  nicht  einzugehen.  Anders  verhalt  es  sich  mit  den  Ausfuhrungen 
Fritz  Erpenbecks  in  der  ,Weltbuhne'(  der  im  groBen  und  ganzen  die 
heutige  Situation  des  Schauspielers  auch  nach  unsrer  Kenntnis  richtig 
zeichnet.  Nur,  daB  Erpenbeck  die  Schuld  an  dieser  Lage  unsrer 
Taktik  zuschiebt  statt  der  zwangslaufigen  Entwicklung.  Die  RGO.f  in 
deren  Namen  Erpenbeck  spricht,  lehnt  die  wirtschaftspolitische  Ten- 
denz  ab,  weil  sie  der  Meinung  ist,  daB  auch  in  wirtschaftspolitischer 
Hinsicht   nur   etwas   erreicht  werden  kann  durch  Aufgehen  im  allge- 

26 


meinen  Klassenkampf.  Ein  wiinderschones  Prinzip,  das  auch  gut  in 
den  Ohren  des  zum  Elend  Verurteilten  klingt,  nur  dafi  sich  leider  das 
praktische  Leben  nicht  danach  richtet,  Fiir  die  Genossenschaft  ist 
dieser  Weg  nicht  gangbar,  aus  innern  und  aufiern  Griinden>  Die 
innern:  die  iiberwaltigende  Majocitat  der  Genossenschafter  wiirde  ihr 
nicht  Gefolgschaft  leisten,  denn  die  schonsten  Theorien  fiber  das  vierte 
Reich  —  das  dritte  ist  bekanntlich  schon  von  andrer  Seite  gepachtet 
—  bieten  ihnen  keinen  Ersatz  fiir  das  Stuckchen  Brot  und  fiir  die 
kleinste  Rolle,  die  ihnen  die  praktische  Gewerkschaftsarbeit  in  der 
Gegenwart  verschafft,  Radikale  Politik  der  Genossenschaft  wurde 
iiberdies  zu  einer  Streichung  aller  Zuschiisse,  somit  zu  einer  ka- 
tastrophalen  Vermehrung  der  Erwerbslosen  fiihren.  Die  SuBern:  die 
Kunst  war  und  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  ein  Mazenaten- 
tum  gebunden.  Dieses  ist,  und  zwar  unter  lebhafter  Mitwirkung  der 
Genossenschaft,  zum  groBen  Teil  auf  die  Regierungen  iibergegangen. 
(Diese  seinerzeit  von  alien  Seiten  angefochtene  Politik  der  Genossen- 
schaft bewahrt  sich  jetzt  als  segensvolle  Prophylaxis.  Bestiinden  heute 
weniger  gemeinniitzige  und  mehr  private  Theater  in  Deutschland,  ware 
wohl  das  deutsche  Theater  gewesen.)  Kulturgewissen  und  Kunst- 
freudigkeit  sind  bekanntlich  nicht  sehr  haufige  Eigenschaften  offi- 
zieller  Instanzen.  Die  Vertreter  der  kunstlerischen  Interessen  stehen 
noch  immer  im  Antichambre,  und  wollten  sie  in  die  gute  Stube  mit 
Gewalt  eindringen,  dann  flog  en  sie  iiber  die  Treppe  hinab,  und  ihre 
Sache  mit  ihnen.  Das  Beste,  was  die  Genossenschaft  in  der  jetzigen 
Situation  tun  kann,  ist,  in  einzelnen  Fallen  das  Moglichste  fiir  ihre 
Mitglieder  und  fiir  die  Theater  erreichen,  Sie  ist  genotigt,  das  Feld 
ihrer  Wirksamkeit  abzustecken. 

Diese  Begrenzung  hieB  in  den  Ietzten  Jahren  Erhaltung  und 
Rettung  der  gefahrdeten  Theater.  Darauf  konzentrierte  sich  die  Ar- 
beit mit  dem  Erfolg,  daB  in  der  Tat  in  der  nachsten  Spielzeit,  wenn 
auch  unter  Opfern  einzelner  Personen,  samtliche  Theater  (bis  auf 
eines,  das  erst  seit  einigen  Jahren  besteht  und  wieder  geschlossen 
werden  soil)  gesichert  sind,  ebenso  wie  ihre  gemeinniitzige  Form.  Die 
Arbeit,  die  hierauf  verwendet  werden  muBte,  die  zahllosen  Besprechun- 
gen,  Sitzungen,  Verhandlungen,  Eingaben,  konnen  nur  dem  begreiflich 
gemacht  werden,  der  weiB,  wie  schwer  es  ist,  eine  fast  verlorene  Sache 
bei  parlamentarischen,  parteipolitisch  zerkliifteten  Korperschaften  zu 
retten.  Nicht  einmaliges  Reisen  geniigte  da  in  die  betreffenden  Orte, 
sondern  drei-,  sechs-,  achtmal  muBte  auf  Grund  von  dringenden  Tele- 
grammen,  Telephongesprachen  etcetera  seitens  der  Ortsverbande  die 
personliche  Arbeit  des  Prasidiums  eingreifen.  (Siehe  Waither  Karsch 
in  der  Nummer  24  der  ,Weltbiihne*:  „. . .  ihr  seid  ein  biBchen  viel  ge- 
reist . ,  /')  Und  die  Genossenschaft  fiihrte  diesen  Riesenkampf  zuerst 
allein,  nachher  teilweise  mit  Unterstutzung  der  andern  Angestellten- 
verbande  durch.  Der  Buhnenverein  ruhrte  sich  nicht.  Der  Erfolg  der 
Gewerkschaft  zeigt  sich  in  der  starken  Resonanz,  die  heute  ihr  Wort 
bei  den  Behorden  und  bei  ihren  Mitgliedern  im  Reiche  erzielt  Die 
Angriffe  gegen  die  Leitung  kommen  fast  alle  aus  Berlin,  wo  ganz  be- 
sondere  Verhaltnisse  herrschen,  deren  Ursachen  nachzugehen  hier  zu 
weit  fiihren  wurde. 

Neben  dieser  Arbeit  lief  naturlich  die  andre  organisatorische 
weiter,  ferner  die  genossenschaftliche  Tatigkeit  in  charitativer  Be- 
ziehung,  die  fur  ihre  Gastspielunternehmungen  (ein  Sonderfall:  eine 
Gewerkschaft  als  Unternehmerf),  ihre  sonstige  Art  der  Erwerbslosen- 
ftirsorge,  ihr  Kampf  urn  Erhaltung  des  Tarifvertrages,  der  seit  seinem 
Bestehen  notwendig  ist  und  inner  ha  lb  dessen  fast  jeder  einzelne  Para- 
graph gegen  den  Ansturm  der  Reaktion  vor  den  Schiedsgerichteh  ver- 
teidigt  werden  muBte,  etcetera.  Es  gehorte  zahe  Energie  und  ein  Ein- 
satz  von  groBer  Vitalitat  dazu,  um  dies  alles  durchzu fiihren,  ohne  in 
Momenten   der   Hoffnungslosigkeit   die   Nervenkraft   zu   verlieren  und 

27 


sich  durch  Verkennung  und  Intrigue  nicht  hindern  zu  lassen.  (Walther 
Karsch:   HDie  Leitung  der  Genossenschaft  sei  verkalkt") 

Eine  offene  Feldschlacht  ist  immcr  popularer  als  ein  stiller  Ver- 
teidigungskrieg.  Die  ganze  Wucht  dieser  Binsenweiskeit  lastet  heute 
auf  der  Arbeit  der  gesamten  Arbeiter-  und  Angestelltenverbande. 
Auch  auf  der  Arbeit  der  Genossenschaft.  Man  mifit  die  Erfolge  nicht 
an  den  Moglichkeiten,  sondern  an  den  eignen  Wunschen  und  an  der 
Vergangenheit,  und  kommt  zu  dem  falschen  Schlufi  der  Untatigkeit 
und  der  Untiichtigkeit  der  Fiihrer.  Dies  mufi  nicht  immer  richtig  sein,  ist 
aber  popular,  und  so  wird  eben  die  Genossenschaftsleitung  mitein- 
geschlossen,  um  so  leichter,  als  ihr  Kampf  um  Details  die  Meinung 
erweckt,  sie  habe  die  grofie  Linie,  das  grofie  Ziel  verloren,  wahrend 
diese  in  der  Tat  doch  nur  zunachst  zuriickgestellt  werden  miissen. 
Dies  kann  erst  in  der  Zukunft  bewiesen  werden,  und  so  braucht  die 
Fuhrung  heute  mehr  denn  je  das  Vertrauen  der  Gefolgschaft.  Jede 
unberechtigte  und  demagogische  Schwachung  dieses  Vertrauens 
ist  ein  Vergehen  gegen  die  Gesamtheit  und  mufi  im  Keime 
erstickt  werden.  Die  holde  Verantwortungslosigkeit  des  Kaffee- 
hausklatsches  und  eine  Meinungsbildung,  die  aus  einem  Da- 
hin-  und  Dorthin-Horen  hervorgeht,  konnen  bei  der  leichten 
Entzundlichkeit  der  Schauspieler  grofies  Unheil  anrichten.  Da- 
her  das  scharfe  Eingreifen  der  Genossenschaft  und  die  Polemik 
gegen  publizistische  Auflerungen,  die  sonst  unbeachtet  blieben.  Die 
tWeltbuhne'  selbst  bekampft  mit  Recht  den  Spaltungswahnsinn,  der 
die  Arbeiter-  und  Angestelltenbewegung  ruiniert.  Gegen  den  Spal- 
tungswahnsinn  in  den  Reihen  der  Genossenschaf ter  mufi  in  deren 
eignem  Interesse  mit  alien  organisatorischen  Mitteln  gekampft  werden- 
Jede  unberechtigte  Ausstreuung  von  Mifitrauen  aber  fuhrt  Spaltungs- 
bazillen  in  Scharen  mit  sich. 

Wenn  je,  miissen  grade  gegenwartig  alle  Meinungsnuancen  in  be- 
zug  auf  Taktik  zuriicktreten.  Vollige  Geschlossenheit  der  Organi- 
sation ist  jetzt  unerlafilich  ftir  die  Existenz  der  Buhnenangehorigen. 
In  einer  Zeit,  wo  von  oben  herab  auf  kaltem  Wege  die  Zerstorung 
der  Gewerkschaften  betrieben  wird,  miissen  alle  gleichartigen  Ten- 
denzen  von  innen  heraus  energisch  bekampft  werden.  Besonders  aber 
von  der  Genossenschaft  Deutscher  Buhnenangehorigen,  die  jetzt  vor 
der  schwersten  Belastungsprobe  der  letzten  zwanzig  Jahre  steht:  vor 
der  Absicht  des  Biihnenvereins,  Xnderungen  im  Tarifvertrag  zu  seinen 
Gunsten  zu  erzwingen  oder  diesen  zu  kundigen.  Und  auch  alle  die 
aufierhalb  der  Genossenschaft  Stehenden,  die  in  dem  gewerkschaft- 
lichen  Zusammenschlufi  der  Kiinstler  zur  Verteidigung  ihrer  sozialen 
und  wirtscha  ft  lichen  Rechte  kein  Verbrechen  gegen  den  heiligen  Geist 
des   Individualismus   erblicken,   miissen    jetzt    an    ihrer   Seite    stehen. 

Obwohl  es  nicht  zu  den  Obliegenheiten  der  Gewerkschaften  ge- 
hort,  in  den  Produktionsprozefi  einzugreifen,  hat  dies  die  Genossen- 
schaft im  letzten  Jahrzehnt  oft  getan.  Besonders  haufig  wurde  von 
ihr  vor  der  Entwicklung  der  berliner  Theaterverhaltnisse  zum  Ameri- 
kanismus  gewarnt  und  das  skrupellose  Managertum  rucksichtslos  be- 
kampft, soweit  es  in  ihrer  Macht  stand.  Auch  hier  kampfte  die  Ge- 
nossenschaft dauernd  um  Rettung  des  Ensemble-Gedankens,  wenig- 
stens  fur  einige  Theater,  deren  Leiter  mit  ihr  in  diesem  Gedanken 
konf brm  gingen.  Aufierdem  sUcht  die  Genossenschaft  uberall  in  neu- 
zeitlichem  Sinne  in  die  Fiihrerfrage  einzugreifen.  Sie  sttitzt  vor  alien 
Dingen  diejenigen  unter  den  Theaterdirektoren,  deren  Gesamtarbeit 
ein  kunstlerisches  Geprage  hat. 

Geben  nun  alle  die  stillen  und  lauten  Opponenten  irgend  einen 
Rat,  j  a  auch  nur  einen  Wink,  wie  die  von  ihnen  verlangten  Verbesse- 
rungen  der  Lage  zu  erreichen  sind?  Nichts  dergleichen.  Ja  im  Gegen- 
teill  Die  Gesinnungsgenossen  der  RGO.  in  den  verschiedenen  Ge- 
meindevertretungen,  im  Reichstag  und  in  den  Landtagen  lehnen  in  den 
meisten  Fallen  die  Theateretats  ab.    Wenn  es  nach  ihnen  ginge,  wiir- 

28 


den  noch  einige  tausend  Biihnenmitglieder  mehr  auf  der  Strafie  liegej, 
dann  konnte  man  noch  mehr  gegen  die  Genossenschaft  wegen  ihrer 
angeblichen  Untatigkeit  losgehen.  Ein  wunderschbner  Z  irk  el,  Erst 
einen  Zustand  schaffen  und  ihn  dann  als  Waffe  gegen  die  eignen 
Klassengenossen  benutzen. 

Es  wurde  hier  versucht,  der  vollig  unsubstanzierten  Kritik  einen 
sachlichen  Bericht  entgegenzustellen.  Gestiitzt  wird  er  durch  die  Tat- 
sache,  dafi  die  Ftihrer  der  Genossenschaft  noch  dieselben  sind,  die 
an  den  grofien  Erfolgen  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  entscheidend 
mitgewirkt  haben.  Eine  Anderung  ist  weder  in  ihrer  Arbeitskraft 
noch  in  ihrer  Gesinnung  eingetreten. 

* 

Nachdem  nun  auch  noch  ein  Vertreter  der  Genossenschaft 
hier  gesprochen  hat,  wollen  wir  die  Debatte  vorlaufig  schliefien. 
Wenn  Emil  Lind  Frau  de  Neuf  „personlichen  Ehrgeiz  und  Ober- 
betulichkeit"  vorwirft,  so  ist  dem  entgegenzuhalten,  dafi  Frau  de 
Neufs  Ehrgeiz  allein  darin  bestand,  ihren  erwerbslosen  Kollegen 
zu  helfen,  Dafi  HedwigWangel  sich  fiir  sie  in  einem  offenen  Brief 
eingesetzt  hat,  sollte  die  Leitung  veranlassen,  etwas  vorsichtiger 
zu  sein.  Auch  die  meisten  Pressekommentare  liefien  jede 
Begeisterung  vermissen,  selbst  wenn  sie  das  Presidium  ver- 
teidigten.  Das  lafit  sich .  nicht  mit  Unterstellungen  aus  der 
Welt  schaffen,  wie  die  von  Emil  Lind  hier  vorsichtiger  Weise 
franzosisch  verkleidete,  Frau  de  Neuf  habe  sich  an  die  Stelle  der 
Genossenschaftsleitung  setzen  wollen.  Solche  Vorwtirfe  erhebt 
man  immer  gern  gegen  die  Opposition,  sie  haben  deshalb  aber 
nicht  grade  an  Eindruckskraft  gewonnen.  Der  Fall  de  Neuf  ist 
nur  eine  Seite  aus  dem  Beschwerdebuch  gegen  die  Genossenschaft 
und  gehort  wie  alle  andern  zur  Sache,  Sachen  werden  namlich 
von  Personen  gefuhrt,  das  Stigma  „pers6nlich"  ist  eine  allzu- 
bequeme  Ausrede.  Was  Emil  Lind  hier  uber  die  Arbeit  und  die 
Stellung  der  Genossenschaft  vorgebracht  hat,  vermag  uns  nicht 
von  unsrer  Ansicht  abzubringen,  dafi  die  Genossenschaftsleitung 
nach  Prinzipien  arbeitet,  die  in  einer  Zeit  Geltung  hatten,  als 
sich  die  Situation  no'ch  nicht  derart  verscharft  hatte.  Dies  war 
gemeint,  als  hier  geschrieben  wurde:  ,,Die  Leitung  der  Genossen- 
schaft sei  verkalkt."  Es  ist  uns  niemals  eingef alien,  den  Herren 
die  personliche  Unantastbarkeit  abzusprechen.  Aber  was  niitzt 
die,  wenn  man  den  Kontakt  mit  den  tatsachlichen  Verhaltnissen 
verloren  hat.  Der  Brustton  der  Oberzeugung  klingt  dann  etwas 
hohl.  Auch  wir  halten  eine  Spaltung  fiir  ein  Ungliick,  aber  eine 
Opposition  ist  noch  keine  Spaltung,  Zu  wtinschen  ist  nur,  dafi 
die  mannigfachen  Oppositionsstromungen  vereinigt  werden.  Wie 
stark  in  den  Reihen  der  Oppositionellen  dieser  Wunsch  nach  ge- 
meinsamem  Vorgehen  ist,  ging  mit  Deutlichkeit  aus  der  am  letz- 
ten Mittwoch  veranstalteten  berliner  Kundgebung  hervor.  Diese 
Versammlung  forderte  iibrigens  vom  Presidium,  und  zwar  einstim- 
mig,  die  Einstellung  der  Ausschlufiverfahren  gegen  Frau  de  Neuf 
und  ihren  Kollegen  Rodenberg,  Dem  Presidium  sollte  diese  Sym- 
pathiekundgebung  fiir  die  aus  „personlichem  Ehrgeiz"  handelnde 
Frau  de  Neuf  zu  denken  geben.  Und  nicht  nur  dies,  die  Stim- 
.mung  unter  der  zahlreich  versammelten  Schauspielerschaft  bewies 
deutlich,  dafi  man  sich  das  Regime  Wallauer  nicht  mehr  lange 
wird  gefallen  lassen.  Woher  man  dann  im  Presidium  den  Mut 
nimmt,  das  alles  zu  bagatellisieren,  bleibt  unerfindlich.  Wenn 
das  Direktorium  Wallauer  sich  nicht  endlich  zur  innern  Demo- 
kratie  entschliefit,  dann  wird  der  Abflufi  von  Mifivergntigten  an- 
dauern,  die  Organisation  wird  zerspalten,  die  Schauspielerschaft 
ohnmachtig  werden.  Nach  einer  friihern  Lesart  hiefi  es  immer,  die 
Kritik  an  der  Genossenschaft  und  die  Unterstutzung  der  Frau  de 

29 


Neuf  beschranke  sich  auf  ein  paar  Skandalblatter,  in  dcren  Nahe 
zli  riicken  der  .Weltbuhne'  eigentlich  nicht  angenehm  sein  musse. 
Emil  Lind  hat  dies  unserm  Vertreter  auch  in  der  Pressekonferenz 
vorgeworfen.  Dafiir  gilt  erst  einmal,  daB  man  fiir  seine  Nachbarn 
nicht  verantwortlich  gemacht  we r den  kann.  Dann  aber  sollte  das 
Prasidium  das  Echo  der  letzten  berliner  Oppositionsversammlung 
in  fast  der  gesamten  Presse  nachdenklich  stimmen,  Man  wird 
doch  nicht  behaupten  wollen,  daB  die  ,D.A.Z.\  dafi  das  tBerliner 
Tageblatt'  zur  Skandalpresse  gehoren.  Fred  Hildenbrandt  kom- 
mentiert  die  Versammlung  im  ,Berliner  Tageblatt'  mit  Worten,  die 
dem  Prasidium  sicher  nicht  angenehm  im  Ohr  klingen  werden:  „Die 
kommende  Delegiertenversammlung  wird  endgultig  Klarheit  dar- 
iiber  schaffen,  ob  Wallauer  und  Otto  sich  in  den  Zeiten  der  Krise 
bewahrt  oder  nicht  bewahrt  haben.  Wenn  zu  den  Klagen  der 
gestrigen,  illegalen  Versammlung,  sich  Klagen  eirier  legalen  Ver- 
sammlung gesellen,  diirfte  der  Fall  erledigt  und  das  jetzige  Presi- 
dium  gestiirzt   sain." 

Die  schone  Helena  von  Alfred  poigar 

T*Tber  das  Musikalische  dieser  veranderten  „sch6nen  Helena" 
*~*  staunte,  bewundernd,  der  Fachmann.  Der  Laie  wuaderte 
sich  iiber  die  Bewunderung.  Denn  es  ist  ein  getriibter  Offen- 
bach, an  dem  die  Besucher  des  Kurfiirstendamm-Theaters 
sitzen,  und  der  Himmel,  der  sich  in  ihm  spiegelt,  lacht  nicht 
iiber  Griechenland.  Er  hat  auch  wenig  Grund  dazu.  Durch 
die  Zusatze,  selbst  durch  jene  aus  anderen  Werken  des  Mei- 
sters,  geschah  dem  ganz  besonderen  Charakter  der  „Helena"- 
Musik  AbbrucL  Behandelt,  wie  'sic  behandelt  wurde,  verlor 
sie  vieles  von  ihrem  parodistischen  Witz,  ihrer  lockeren  Gra- 
zie  und  Laune,  ihrer  Fahigkeit,  die  Geister  zur  Freude  zu 
verfiihren  und  die  Korper  von  der  Schwerkraft  zu  erlosen, 
ihrem  sinnlichen  Pathos,  das  von  der  Sonne  der  Ironie  zu 
heiterstem  Funkeln  und  Glitzern  gebracht,  aber  durchaus 
nicht  zerstort  wird.  Alles  klang,  dem  Laien,  um  Grade  lust- 
und  schwungloser,  als  es  in  der  Erinnerung  und  wahrscheinlich 
auch  in  Offenbachs  Partitur  lebt. 

Die  dramaturgische  und  textliche  Erneuerung  besorgten 
Egon  SaBmann  und  Hans  FriedelL  Mancher  holde  Schwach- 
sinn,  etwa  die  Ratselszene,  wurde  da  beseitigt  und  durch 
mehr  intellektuelle  Anziiglictikeiten  ersetzt  Mit  Riicksicht 
aui  das  vornehme  Institut,  dem  ihre  Arbeit  gait,  hielten  sich 
die  Text-Anderer  von  der  Erzeugung  wilder  Frohlichkeit  maB- 
voll  zuriick,  trugen  hingegen  durch  manchen  gebildeten  Scherz 
dem  Niveau-BewuBtsein  ihrer  Horerschaft  Rechnung.  Es  ist 
reizend,  wenn  Menelaus,  bei  einem  Disput  iiber  seine  Be- 
ziehung  zu  den  Olympischen  in  die  Enge  getrieben,  sich  als 
Freidenker  erklart.  Und  sucht  er  seine  Chlamys,'  so  freut  das 
jeden,  der  an  den  Briisten  der  humanistischen  Mitt  els  chule 
gesogen  oder  zumindest  gelegen  hat.  Auch  schlichter 
Humor  kommt  zur  Geltung.  Der  lachende  Jubel,  mit 
dem  Merkurs  Bemerkung,  er  sei  „der  Gott  der  Diebe 
und  der  andern  Kaufleute"  von  den  Berlinern  auf- 
genommen  wird,  nimmt  von  dieser  Menschengattung  das 
Odium  der  geistigen  Hoffartigkeit  und  Anspruchsfulle,  das  auf 
ihr  lastet.     Schopferisch  wurden  die  Bearbeiter  dadurch,  daB 

30 


sic  die  Gotter,  die  Meilhac  und  Halevy  aus  dem  Spiel  gelassen 
hatten,  in  dieses  einbezogen.  So  schuf  Friedell  sich  die  Charge 
des  Merkurs,  des  Gottes  der  KauEleute  und  der  andern  Libret- 
tisten,  der  als  iiberlegener  Dialektiker  fein-humorige  Satze 
redet  und  dem  Partner  iiberdies  AnlaB  zu  einem  listig  vor- 
bereiteten,  auf  Friedells  MKulturgeschichte"  gemiinzten  Ex- 
tempore gibt.  Ich,  sowie  ein  Herr  in  der  17,  Reihe  rechts, 
haben  die  Anspielung  sofort  verstanden  und  iiber  sie  intensiv 
geschmunzelt.  Gotter,  beziehungsweise  Gottinnen  erscheinen 
ferner  in  der  Apfel-Konkurrenz,  von  der  nicht  mehr  Paris 
dem  Kalchas  erzahlt,  sondern  deren  Augen-  und  Ohrenzeuge 
der  Zuschauer  wird.  Ein  EinfalL  Nur  hatte  die  Szene 
ctlichen  gesprochenen  Text  verlangt  und  wenn '  schon 
nicht  diesen,  so  doch  Anpassung  des  gesungenen.  Als  Bericht- 
erstatter  konnte  Paris,  reflektierend,  sagen:  ,,Um  zu  gefallen 
einem  hiibschen  jungen  Mann,  wenden  die  Himmlischen  oft 
seltsarae  Mittel  an",  teilt  er  aber  diese  seine  Erkenntnis  den 
Gottinnen  mit,  noch  dazu  mit  der  ganzen  Hartnackigkeit,  die 
ein  Refrain  in  sich  hat,  so  wirkt  das  tendrhaft-eingebildet  und 
taktlos.  So  etwas  sagt  man  einer  Dame  und  gar  einer  olym- 
pischen  nicht  ins  Gesicht.  Immerhin,  es  ist,  in  des  Wortes 
zwiefachem  Sinn,  ein  schoner  Augenblick,  wenn  Fraulein  La 
Jana,  um  zu  gefallen  einem  hiibschen  jungen  Mann,  sich  (bis 
auf  ein  griinseidenes  Existenzminimum  an  Zugedecktheit)  eine 
in  jeder  Beziehung  vollkommene  BloBe  gibt- 

Von  der  neuen  Regiearbeit  Reinhardts  an  der  „Schonen 
Helena"  gilt,  mit  alien  schuldigen  Adjektiven,  was  von  der 
Musik  gesagt  wurde.  Es  ist  grofie  Bewegung  auf  der  Biihne, 
Hiipfen  und  Springen,  es  wird  auch,  auf  der  Buhne,  viel  ge- 
lacht,  alles  freut  sich  dort,  kurz:  ein  Rausch.  Den  aber  der 
Zuschauer  als  aufgehetzte  Niichternheit  empfindet.  Von  der 
kostbaren  Spottlaune  und  -Malice,  die  fur  den  Geist  grade 
dieses  Offenbach- Werks  so  bezeichnend  sind,  fangt  die  Insze- 
nierung  keinen  Hauch.  Die  Substanzen  zur  Herstellung 
der  Offenbach-Stimmung  sind\  da;  sie  werden  mit  An- 
strengung  umgeriihrt,  ohne  daB  die  Mischung  recht  ins 
Schaumen  kame.  Aufziige,  Springchore,  Solotanze,  orien- 
talische  Tanze.  Reinhardt  hat  von  Charell  gelernt.  Viel 
Ballett,  sehr  viel  Ballett.  Im  Bacchanale,  einer  Szene,  die 
sonst  meist  gestrichen  wird,  kann  es  sich  austoben.  Ein  Baccha- 
nale von  seltner  Trockenheit.  Auch  hypochondrisch  Angst- 
liche  konnen  sich  der  Fidelitat,  die  hier  herrscht,  ruhig  nahern; 
sie  ist  nicht  ansteckend,  Obschon  der  „bouillant  Achille" 
des  oftern  iiber  Haarweh  klagt.  Selbst  wie  er  es  zum 
vierten  Mai  sagt,  lacht  noch  immer  keiner  dariiber.  Vielleicht 
wenn  er  es  noch  zwei-,  dreimal  wiederholte? 

Von  den  griechischen  Konigen  tun  mir  die  beiden  Ajaxe 
besonders  leid.  Was  fur  krampflustige  Kampflustige!  Zwei 
so  humorvolle  Schauspieler  wie  Meyerinck  und  Lingen  zap- 
peln  und  zucken  da  wie  vom  galvanischen  Strom  gerissen, 
schutteln  sich  mit  auBerster  rhythmischer  Heftigkeit,  und  es 
fallt  doch  kein  Tropfen  Komik  heraus,  Viel  erheiternder 
wirkt  Agamemnon,  Herr  Schiitzendorf,  mit  der  Selbstparodie 
seines   machtigen  Baritons.     Lieb   und  rxihrend   der   Menelaus 

i  ■  31 


Hans  Moscrs,  bezwingend  in  scinem  hintergriindig  schlauen, 
durch  Wolken  dcr  Verraunztheit  und  Griesgramigkeit  justa- 
mentig  s^trahlenden  Humor.  Die  Regie)  drangt  ihn  leider  an  den 
Rand  des  Spiels*  er  wird  verschluckt  von  Ballett  und  anderm 
Getiimmel.  Es  hat,  nicht  nur  innerhalb  der  Spielhandlung, 
sein  Sinnbildhaftes,  wenn  dieser  Menelaus  an  viele  Tiiren 
des  Palastes  klopft,  ohne  daB  ihm  aufgetan  wird  und  stets  wie- 
der  arm  und  bescheiden  in  die  Kulisse  verschwinden  muB. 
Eine  schon  singende  und  schone  schone  Helena  ist  Frau  Jar- 
mila  Novotna,  nobel  in  Bild  und  Ton.  Das  Irritierende,  der 
Helena-appeal  fehlt.  Den  Merkur  macht  Friedell  personlich, 
Seltsam;  auBerhalb  der  Biihne  legt  er  so  groBen  Wert  darauff 
als  richtiger  Schauspieler,  als  Mann  vom  Metier,  angesehn  zu 
werden,  auf  der  Biihne  hingegen,  wie  jetzt  als  Merkur,  ent- 
wickelt  er  ein  Uber-ObermaB  an  Nonchalance,  um  nur  ja  nicht 
den  Verdacht,  er  spiele  Komodie,  auf  sich  sitzen  zu  lassen. 

Uber  alles  trostet  Fraulein  Friedel  Schuster,  reizend 
hiibsch,  grazios  rundherum,  musikalisch  bis  in  die  FuBspitzen 
(was  bei  ihr,  von  der  Taille  an  gerechnet,  ein  bezaubernd 
langer  Weg  ist),  voll  anmutigster  Freiheit  der  Bewegunjf,  und 
ohne  Strapaze  ubermiitig.  Ein  echtestes  Biihnentempera- 
ment,  von  Blutes  Gnaden.  In  ihrem  Lager,  wenn  man  so  sagen 
darf,  1st  Offenbach. 

An  daS  PublikUtn  von  Theobald  Tiger 

LJochverehrtes  Publikum, 

*■  A  sag  mal;  bist  du  wirklich  so  dumm, 

wie  uns  das  an  alien  Tagen 

alle    Unternehmer   sagen? 

Jeder  Direktor  sitzt  auf  dem  Popo 
und  spricht:   „Das  Publikum.  will  es  so!" 
Jeder  Filmfritze  sagt:    „Was  soil  ich  machen? 
Das   Publikum   wunscht   diese   zuckrigen    Sachen !" 
Jeder  Verleger  zuckt  die  Achseln  und  spricht: 
„Gute  Bticher   gehn   eben   nicht . . ." 

Sag   mal,   verehrtes   Publikum: 

bist  du  wirklich  so  dumm  — ? 

So   dumm,  daB  in  Zeitungen,  fruh  und  spat, 

immer   weniger   zu   lesen   steht? 

Aus   lauter   Furcht,    du   konntest   verletzt   sein; 

aus    lauter   Angst,    es    soil   niemand   verhetzt    sein; 

aus  lauter  Besorgnis,   Mtiller  und  Cohn 

konnten   mit   Abbestellung   drohn? 

Aus  Bangigkeit,  es  kame  am  Ende 

einer   der   zahllosen   Reichsverbande 

und   protestierte   und   denunzierte 

und   demonstrierte  und  prozessierte  . . , 

Sag   mal,   verehrtes   Publikum: 

bist  du  wirklich  so  dumm  — ? 

Ja,  dann . . .  Es  lastet  auf     dieser  Zeit 
der  Fluch  der  MittelmaBigkeit, 
Hast   du  so   einen   schwachen  Magen? 
Kannst  du   keine  Wahrheit  vertragen? 
Bist  also   nur   ein  GrieBbrei-Fresser  — ? 
Ja,   dann  . . . 

Ja    dann  verdienst  dus  nicht  besser. 

32 


Bemerkungen 


Apostolische  Gynakologen 

T\  as  Plenum  des  Gynakologen- 
***  tages  —  Ende  Mai  trat  er  in 
Frankfurt  zusammen  —  crlebte 
ein  Schauspiel,  die  wissenschaft- 
liche  Tagung  artete  in  ein  natio- 
nalistisch-muckerisches  Tribunal 
aus.  Und  das  kam  so:  Horribile 
dictu,  man  hatte  den  Leiter  der 
breslauer  Frauenklinik,  Professor 
L,  Frankel,  aufgefordert,  dem 
diesjahrigen  Kongrefi  einen  Be- 
richt  iiber  die  Verhtitung  der 
Schwangerschaft,  ihre  Methodik 
und  Technik  vorzulegen,  und  er 
tat  dies,  indem  er  professional 
Scheuklappen  ablegte,  sich  zur 
Notwendigkeit  einer  Geburteiy- 
regelung  bekannte  und  in  seinen 
SchluBworten  die  verantwort- 
lichen  Leiter  der  Kliniken  und 
Entbindungsanstalten  zur  aktiven 
Mitarbeit  aufforderte.  Die  er- 
offnende  Ansprache  des  KongreB- 
vorsitzenden  hatte  in  der  .  pro- 
grammatischen  Betonung,  daB  die 
alte  Individualgynakologie  sich 
zur  Sozialgynakologie  umgestalten 
miisse,  den  leitenden  Gedanken 
des  Frankelschen  Referates  be- 
reits  vorgezeichnet,  allein  wen  die 
Gotter  mit  Blindheit  geschlagen 
haben,  der  lernt  nie  sehen!  Es 
marschierten  auf  die  Ordinarii 
von  Bonn,  Wiirzburg  und  Tubin- 
gen, im  Hintergrund  erschien 
auch  der  Leijter  der  berliner 
Frauenklinik,  und  uberschutteten 
die  verdutzt  dreinschauenden 
Gynakologen  zweiter  Garnitur 
mit  einem  Hagel  pathetischer 
Tiraden  und  Sittlichkeitsrezepte, 
die  in  ihrer  krassen  und  lebens- 
fremden  Argumentation  anmute- 
ten,  als  stammten  sie  aus  der  Re- 
gistrator eines  Moraltheologen. 
Derartige  Stilbliiten  waren;  „In 
Zeiten  der  Wirtschaftsnot  miisse 
sich  der  ethische  Hochstand  eines 
Volkes  durch  Beherrschung  des 
Trieblebens  offenbaren"  —  wie 
sagt  doch  Peachum  in  der  Drei- 
groschen-Oper:  „erst  kommt  das 
Fressen  und  dann  die  Moral"  — 
und  weiter  t,Enthaltsamkeit  sei 
die  Parole,  sie  sei  das  Ideal,  das 
auch  durch  den  Arzt  gefordert 
werden  miisse",   „die  Arzte  muB- 


ten,  wenn  sie  nicht  zu  Totengra- 
bern  unsrer  Zukunft  werden 
wollen,  der  auf  Konzeptionsver- 
hutung  gerichteten  Zeitstromung 
entgegentreten"  und  dergleichen 
Quacksalbereien  mehr.  Der  Tief- 
stand  dieser  Entriistungsheerde 
aber  spiegelte  sich  in  einer  jm 
Lichtbild  vorgefiihrten  Schau 
erotisch-sexueller  Film-  und 
Theaterstiicktitel  wieder,  deren 
Begleittext  der  Ordinarius  der 
wiirzburger  Universitat  ubernom- 
men  und  dabei  den  Katheder  mit 
der  Kanzel  vertauscht  hatte. 
Geifielhiebe  eines  von  seinen  eig- 
nen  Worten  berauschten  Bufi- 
predigers  klatschen  durch  den 
Saal,  verlegenes  Lacheln  auf  der 
einen,  kritiklose  Emphase  auf  der 
andern  Seite  teilte  die  Korenden 
in  zwei  Halften.  Eine  nichts- 
sagende  verschwommene  Reso- 
lution beendete  das  Schauspiel 
dieser  wissenschaftlichen  „Dis- 
putation"!  Und  stellt  man  gegen- 
iiber  derartigen  hohlen  und  le- 
bensunwahren  Geschrei  die  heikle 
Frage:  „Und  was  ist  mit  Ihnen, 
Herr  Professor,  wie  steht  es  mit 
Ihrer  Potenz  und  Ihrer  Kinder- 
zahl",  dann  zeigt  sich  folgendes 
Bild:  Der  da  Beherrschung  des 
Trieblebens  und  Enthaltsamkeit 
predigte,  ist  ein  Mummelgreis,  die 
andern  Rufer  gegen  das  Siinden- 
babel  und  fur  Gebarmaschinerie 
sind:  ein  Junggeselle  und  ein 
kinderloser  Ehemann. 

Julian  Marcuse 
Der  Verdachtsfreispruch 

7U  den  unangenehmsten  Eigen- 
^^  schaften  der  Unabsetzbaren 
gehoren  samtliche  ihrer  Eigen- 
schaften.  Der  Justizminister 
pflegt  gern  ^  von  einer  „Ver- 
trauens-Krise"  zu  sprechen;  er 
irrt.  Der  Patient  ist  langst  tot 
—  kein  verstandiger  Mensch  hat 
zu  dieser  Rechtsprechung  mehr 
Vertrauen  als  sie  verdient.  Und 
sie  verdient  keins.  Nun  mochte 
ich  aber  nicht  horen,  dafi  die 
deutschen  Richter  nicht  bestech- 
lich  seien.  Wir  sind  es  auch 
nicht  —  und  niemand  macht  da- 
von  viel   Wesens. 

33 


Blattern  wir  im  Siindenregister 
der  Talare,  so  finden  wir  unter 
dcm  Buchstaben  V  den  „Ver- 
dachtsfreispruch".     Der  ist  so: 

Es  wird  einer  angeklagt.  Die 
Voruntersuchung  ergibt  ein  sehr 
zweifelhaftes  Bild.  Die  Kriminal- 
kommissare  bembern  in  den 
Mann  hinein ;  er  gesteht  nicht. 
Die  Staatsanwaltschaft  zogert, 
stellt  aber  nicht  ein,  Sicher  ist 
sicher.  Die  Beschlufikammer  er- 
offnet;  das  geht  fix,  hopp,  hopp, 
hopp;  sicher  ist  sicher,  Haupt- 
verfahren. 

Der  Angeklagte  gesteht  auch 
da  nicht.  Die  Zeugen  wackeln, 
Der  Vorsitzende  ergeufit  eine 
scheme  Rede  iiber  den  Mann  in 
dem  Holzkastchen:  er  solle  doch 
gestehen  und  Reue  zeigen,  das 
werde  das  Strafmafi  herabsetzen. 
Das  sagt  er,  bevor  das  Urteil 
tiberhaupt  feststeht.  Der  An- 
geklagte geht  auf  den  Han- 
del nicht  ein,  bereut  nicht, 
gesteht  nicht  und  ist  tiberhaupt 
ein   boses   Luder,     Beratung. 

Es  ergibt  sich,  dafi  man  bei 
bestem  schlechten  Willen  nicht 
verurteilen  kann.  Freispruch. 
Was,   Freispruch? 

Zahneknirschender  Freispruch. 
Und  statt  nun  zu  sagen:  „Wir 
haben  alle  Verdachtsmomente  ge- 
priift  —  in  dubio  pro  reo  —  die 
Schuld  des  Angeklagten  steht 
nicht  fest",  denn  das  und  nur  das 
haben  die  Richter  festzustellen: 
statt  dessen  befassen  sie  sich  in 
der  Begriindung  ihres  freisprechen- 
den  Urteils  mit  der  moralischen 
Unschuld  des  Angeklagten, 
nach  der  sie  kein  Mensch  ge- 
fragt  hat,  und  nun  bekommt  er  es 
aber  zu  horen: 

Er  solle  sich  ja  nicht  einbil- 
den,  dafi  er  nun  unschuldig  sei. 
Nur  den  wackligen  Zeugenaus- 
sagen  habe  er  es  zu  verdanken, 
daB  man  ihn  nicht  verknacke;  "er 
sei  ein  ganz  ubler  Luxnpenhund; 
ein  schuldiger  Unschuldiger;  man 
habe  ihn  —  Himmelparagraph- 
undzwirn!  —  zwar  freisprechen 
mussen,  aber  es  solle  gewifi  nie 
wieder  vorkommen,  und  das 
nachste  Mai ,,  A  Und  er  konne 
zwar  gehen,  aber  moralisch  sei 
er   gerichtet. 

Was  ist  denn  das  alles  — !  Ist 
der      Mann     im     strafrechtlichen 

34 


Sinne  schuldig  oder  ist  er  es 
nicht?  Sind  die  Richter,  diese 
Richter  mit  dieser  Vorbildung  und 
mit  dieser  politischen  Denkungs- 
art,  legitimiert,  iiber  irgendjemand 
ein  moralisches  Urteil  abzugeben? 
Sie  sind  es  nicht. 

•  Der  Hund  hat  beiBen  wollen. 
Es  hat  nicht  gegangen,  Knurrend 
zieht  er  sich  zuruck,  Und  hinter- 
laBt  einen  Verdachtsfreispruch, 
fiir  den  er  jedesmal  eine  kraftige 
Ziichtigung  verdiente. 

l&naz  Wrobel 

Und  nochtnals:  Schafft  die 
Todesstrafe  ab 

C  s  handelt  sich  im  folgenden 
"  durchaus  urn  keine  „senti- 
mentale  Reportage"  und  auch 
nicht  um  j  enes  beliebte  „Herr 
Schmock  berichtet  iiber  eine  Hin- 
richtung".  Es  ist  leider  so,  daB 
Themen,  die  in  Wirklichkeit 
keine  Themen  sind,  sondern 
Menschheitsfragen,  nach  einer  ge- 
wissen  Zeit  ganz  einfach  fallen 
gelassen  werden  aus  dem  herr- 
lichen  Grund:  „weil  schon  genii- 
gend  dariiber  geschrieben 

wurde". 

Das  geht  nicht  an.  Es  muB 
niedergeschrieben  werden,  daB 
ein  Staat,  in  dem  Dinge  moglich 
sind,  wie  sie  sich  am  19.  Juni 
im  szolnoker  Gefangnishof  ab- 
gespielt  haben,  nicht  den  An- 
spruch  darauf  zu  erheben  hat, 
zur  zivilisierten  Menschheit  ge- 
rechnet  zu  werden.  Wenn  er  aber 
diesen  Anspruch  noch  nicht  ganz 
verwirkt  hat,  dann  muB  die  Hin- 
richtung  der  beiden  Frauen  Szabo 
und  Csordas  eine  Kampagne  von 
solcher  Kraft  der  Emporung  nach 
sich  ziehen,  daB  die  Zukunft  von 
ahnlichen  beschamenden  und  be- 
stiirzenden  Geschehnissen  ver- 
schont  bleibt. 

Die  beiden  verurteilten  Frauen 
hatten  am  Nachmittag  durch  das 
Radio,  das  im  Hauptgang  des 
Gefangnisses  von  Szolnok  so  in- 
stalliert  ist,  daB  alle  Gefangenen 
es  horen  konnen,  erfahren,  daB 
ihre  Begnadigungsbitte  vom 
Reichsverweser  Horthy  abgelehnt 
worden  war.  An  Stelle  der  me- 
lancholischen  PuBtalieder,  die 
sonst    dem    freundlichen    Instru- 


ment  entstromten,  folgte  sodann 
die  Mitteilung,  dafi  die  Hinrich- 
tung  der  beiden  Giftmischerinnen 
liir  den  nachsten  Morgen  an- 
beraumt  sei,  Der  Gefangnisdirek- 
tion  war  die  Mitteilung  so  neu 
wie  den  Haitlingen,  wenn  auch 
weniger  entsetzlich, 

Stelle  sich,  wer  kann,  diese 
Nacht  der  beiden  Frauen  vor. 
Stelle  er  sich  vor:  vierzehn  Stun- 
den  nichts  andres  wissen  konnen, 
als  dafi  man  sterben  mufi.  Ich 
kann  es  mir  nicht  vorstellen,  mir 
bleibt,  so  oft  ich  es  versuche,  der 
Atem   weg. 

Die  eine  der  beiden  Frauen  hat 
im  Gefangnis  ein  Kind  geboren. 
Sie  hangte  sich  an  das  Kind,  Bei 
Nacht  band  sie  es  an  ihren  Kor- 
per,  schwur,  dafi  sie  es  in  den 
Tod  mitnehmen  werde,  falls  sie 
wirklich  sterben  mufite.  Aber  sie 
haben  ihr  das  Kind  doch  entfiihrt 
wie  einer  Kuh.  Diese  Frau  schrie 
die  ganze  letzte  Nacht  nach  ihrem 
Kind, 

Die  zweite  war  eine  Matrone, 
Ende  der  fiinfzig,  ein  hoses  Weib 
wahrscheinlich,  herzlos,  vielleicht 
verruckt.  Sie  putzte  sich  fiir  den 
Galgen  auf,  zog  viele  weifie  Rocke 
an  und  neue  Bauernstiefel. 

Beide,  die  Mutter  und  die  Ma- 
trone, wurden  bewufitlos  in  die 
Schlinge  gelegt.  Beide  hatten 
sich  in  eine  tiefe  Ohnmacht  ge- 
tobt. 

„Der  Scharfrichter  Anton  Ko- 
zarek,"  so  meldet  ein  Abendblatt, 
„war  durch  die  entsetzlichen  Sze- 
nen  so  ergriffen,  dafi  er  laut 
weinte." 

Das  *  ist  nichts  als  ein  Zeichen 
elender   Nerven. 

Anton  Kozarek,  nicht  weinen 
hatten  Sie  sollen,  sondern  die 
Galgen  leerlassen!  Was  Sie  ge- 
tan  haben, .  ist  eines  Henkers  un- 
wiirdig, 

Jonathan  Wild 


Der  Olympier 

Um  Deutscfalands  Herrlichkeit  zu  preisen, 
Hat  er  ins  Mikrophon  g-esprochen. 
Er  hatte  seine  Auslandsreisen 
Zu  dem  Behufe  unterfarochen. 

Er  sagte,  ieder  Zoll  ein  Goethe, 
Wenn  auch  des  Tages  Not  uns  schande: 
Die  dichterische  Warte  bote 
Bed  eutungs voile  Trostmonente. 

Er  Hefi  das  Hoffnungsbanner  fliegen: 
Was.  schadeten  die  Nasenstuber! 
Dem  stun  den  in  den  Reitersiegen 
Doch  auch  Aktiva  gegenuber. 

Er  wufite  guten  Rat  zu  geben: 
Wir  durften  uns  nicht  so  zerkluften, 
Wir  muflten  vielmehr  unser  Leben 
Mit  etwas  Sonnenschein  durchluften. 

Die  Worte  liefien  gut  sich  senden. 
Er  nahm,  als  sie  beendet  waren, 
Das  Honorar  des  Prominenten 
Und  Hefi  sich  Aug*  ins  Adlon  fahren. 

Hans  Bauer 

Das  Dumping  der  Seelen 

C  eit  den  Septemberwahlen  wird 
^  in  Deutschland  fiir  die  Gott- 
losengefahr  Reklame  gemacht, 
Bei  den  Rechten  und  im  Zen- 
trum  hat  man  die  Gefahr  schon 
vorher  erkannt,  in  den  burger- 
lichen  Blattern  tischt  man  sie 
erst  neuerdings  auf  und  zieht 
zum  Schutze  der  Religion  immer 
dann  gegen  die  Besboschniki  zu 
Felde,  wenn  man  eigentlich  sich 
mit  der  Arbeitslosenfrage,  der 
Wirtschaftskrise,  der  Hungers- 
not  beschaftigen  mtifite.  Gegen 
die  Gottlosen  zu  schreiben, 
kostet  nichts  und  macht  guten 
Eindruck. 

Die  erste  Alarmnachricht  hiefi: 
die  Zentrale  der  Gottlosen- 
Organisation  soil  von  Moskau 
nach  Berlin  verlegt  werden.  Der 
Tenor  neuerer  SOS-Ruf e  heiBt : 
Der  Antichrist  im  Herzen 
Deutschlands.  Die  ersten  Nach- 
richten  waren  leidenschaftlich 
wortreich  und  inhaltlos.  Dann 
verstandigten  sich  die  patrioti- 
schen  Faktoren  mit  den  kirch- 
lichen  Faktoren,  und  man  ver- 
suchte,     das   Bollwerk  gegen    die 


W.  L.  COMFORT 


BESTIEN  UND  HEILIGE 

Roman  —    Leinen  RM  4.80 

Abenteuer   im    Dschungel    mit   Tleren    und    MSdchen.     Der   ganze   farbige   Zauber 
dieser  Welt  wird  hier  lebendig  —   wie  vorher  nur  In   Kiplings   DschungelbQchern. 

TRANSMAR1  VERLAO  BERLIN  W  10  ■■■■i^ 

35 


„atheistische  Sturmflut"  durch 
Sachlichkeit  zu  stiitzen,  Man 
versuchte,  Angaben  zu  machen, 
mit  Zahlen  und  Beispielen. 

Danach  waren  die  Gottlosen 
in  Deutschland  nicht  nur  in  den 
Freidenker-  und  Feuerbe- 

stattungsvereinen  organisiert, 

sondern  auch  in  Turn-  und  Ke- 
gelklubs,  und  das  ware  die  Ge- 
fahr.  Ich  stelhe  mir  vorf  wie 
Miiller  sich  von  Muttern  verab- 
schiedet:  Ich  geh  jetzt  kegeln! 
sagt  er,  und  dann  sitzen  die 
Kegelbriider  auf  alien  Neunen 
und  treiben  gottlose  Scherze. 
Sie  sind  Gottlose,  also  lesen  sie 
wohl  heimlich  gottlose  Schriften, 
Spinoza,  Voltaire,  am  Ende  gar 
den  Konig  der  Gottlosen,  Fride- 
ricus   Rex? 

Oder  wie  sollte  man  sonst 
seine  Gottlosigkeit,  die  doch  eine 
negative  Beschaftigung  ist,  also 
gar  keine,  betatigen?  Das  Ver- 
unzieren  j  udischer  Gotteshauser, 
das  Umwerfen  von  Grabsteinen 
haben  sich  ja  die  hochst  gottes- 
fiirchtigen  Freunde  des  Vater- 
landes  vorbehalten.  Also  ist  die 
ganze  Gottlosengefahr  fauler 
Zauber,  um  abzulenken?  Ein  Be- 
trugsmanover  derer,  die  vom 
Volksbetrug  leben?  Nein,  end- 
lich  kommt  man  jetzt  mit  Zah- 
len,   mit    Angaben: 

Der  Bund  der  Gottlosen  ist 
1925  in  Moskau  gegriindet  wor- 
den.  1926  hatte  er  schon.  120  000 
Mitglieder,  1928  waren  es  500  000, 
a,  d.  1930  iiber  zwei  Millionen, 
und  fur  1933  rechnet  man  mit 
siebzehn  Millionen.  Jetzt  schon 
soil  es  40  000  Gottlosenzellen 
geben.  Kinder  von  acht  Jahren 
diirfen  gottlose  Jungpioniere, 
von  vierzehn  Jahren  wirkliche 
Mitglieder      sein.  In      vierzig 

Museen  wird  die  Religion  dis- 
kreditiert.  Man  arbeitet  an  einer 
Enzyklopadie  des  Atheismus. 
Das  hat  die  deutsche  Presse  also 
festgestellt;  es  sind  Angaben 
iiber   RuBland. 

Und  worin  besteht  die  Gefahr 
f iir  Deutschland  ?  f ,  Am  meisten 
gefahrdet  sind  die  Arbeitslosen." 
Warum  eigentlich?  Man  muB 
ihnen  den  Gott  erhalten,  weil 
man  ihnen  das  Brot  genommen 
hat.     Aber   was    wird    uns    denn, 

36 


zum  Teufel,  genommen,  wenn 
uns  der  Gott  genommen  wird? 
Die  Kultur,  sagen  die  Gottlichen, 
die  ganze  Kultur  des  Abend- 
landes,  die  auf  Gott  gebaut  ist. 
Schon,  aber  was  muB  das  fiir  ein 
Glaube  sein,  der  so  schnell  ver- 
schwinden  kann?  Und  was  fiir 
eine  Kultur?  Die  Kultur  des 
Mordens  der  Kreuzztige,  die 
Kultur  der  Scheiterhaufen  fur 
Hexen,  die  Kultur  der  Folter, 
die  Kultur  des  Judenhasses,  die 
Kultur  der  Unterdruckung  jeder 
Wissenschaft  von  Galilei  und 
Spinoza  bis  . . .  Die  Kultur  der 
Unkultur. 

Es  gibt  Kreaturen,  die,  ohne 
ein  hoheres  Wesen  iiber  sich  zu 
glauben,  nicht  existieren  konnen. 
Sie  sind  vielleicht  glucklich,  viel- 
leicht  bedauernswert,  man  lasse 
sie  ungeschoren,  genau  wie  man 
auch  j  eden  ungeschoren  lasse, 
der  ohne  Beten  arbeiten  kann 
und  fiir  den  die  ganze  Woche 
Sonntag  sein  mufi,  Wir  halten  es 
mit  dem  alten  Fritzen  und  lassen 
jeden  nach  seiner  Facon  ^—  bloB 
andre  belastigen  soil  man  nicht. 
Wen  haben  die  Gottlosen  bisher 
in  Deutschland  belastigt  ?  Ist 
etwa  der  Kaplan  Fahsel  gehin- 
dert  worden,  in  die  Kirche  oder 
in  ein  Privathaus  am  Kurfiirsten- 
damm  zu  gehen?  Aber  die  Kir- 
chen  belastigen,  heut  mit  der 
Steuer,  morgen  mit  einem  Gottes- 
lasterungsprozeB,  iibermorgen 

gibts   wieder   Foltern. 

Das  Bedauerlichste  ist,  daB  die 
Gottlosenbewegung  in  Deutsch- 
land kulturell  wesentliche  Aus- 
sichten  nicht  einmal  hat.  Wer 
die  Geschichte  der  geistigen  Re- 
volutionen  kennt,  der  weiB,  daB 
die  Religionskritik  noch  der  An- 
fang  jedes  Sozialismus  war,  ge- 
nau wie  das  „.£crasez  rinfame!" 
Voltaires  die  Ouverture  der 
GroBen  Revolution.  Aber  die 
heutigen  Sozialisten  haben,  KPD, 
SPD,  alle  darin  gleich,  die  Ur- 
sachen  ihrer  Bewegung  langst 
verschwitzt  und  nur  die  ober- 
flachigen  Anlasse  behalten.  Es 
fragt  sich,  ob  sie  uberhaupt  noch 
innere  Macht  genug  haben  ohne 
den  fanatischen  Glauben  gegen 
Gott. 


Die  Demagogen  auf  der  andern 
Seite  haben  vom  heiligen  Geist 
nicht  viel,  abcr  den  Fanatismus, 
den  haben  sie  wieder.  Neuer- 
dings  raft  sogar  ein  Dichter  auf, 
einen  Verband  gegen  die  Gott- 
losen  zu  griinden,  al!e  Glaubigen 
zu  sammeln  und  sie,  und  zwar 
,,Seele  und  Geist  dieser  Glaubi- 
gen jenem  Heer"  der  Unglaubi- 
gen         entgegenzuwerfen.  Ein 

Kreuzzug?  Gemacbt,  aber  was 
darfs   denn  kosten? 

Der  deutsche  Dichter,  Herr 
Albert  von  Trentini,  sagt  in  sei- 
nem  flammenden  Aufruf:  alle 
Glaubigen,  gleich  welcher  Kon- 
fession  —  das  ist  schon  verdach- 
tig.  Ferner,  wo  Rutland  doch 
Atheismus  exportiert,  ware  das 
gradezu  ein  Dumping  der  Seelen. 
Womit  er  auf  das  richtige  Dum- 
ping kommt  und  meint,  mit  den 
jfottlosen  Russen  darf  man  keine 
Geschafte  machen  —  wenn  man 
nichts  zu  fressen  hat. 

Ein  Dichter.  Wirklich  ein  Dich- 
ter, der  durch  seinen  Goethe- 
Roman  .  .  .  nicht  bekannt  ge- 
worden  ist.  Anscheinend  hat  die 
Darstellung  des  groBen  Heiden 
Goethe  auf  seinen  Verarbeiter 
sehr  religionsfordernd  gewirkt. 
Anscheinend  ist  das  dem  groBten 
Teil     von     Deutschland     so     ge- 

*an*cn'  Leo  Hirsch 

Reisefreuden 

^Jrundlegender  Unterschied  zwi- 
^-*  schen  deutscher  und  bei- 
spielsweise  italienischer  Reise- 
freude  (Abgiiinde  aufdeckend, 
uniiberbruckbare,  und  alle  Pan- 
europa-Propaganda        desavouie- 


rend):  in  Italien  freut  sich  jeder, 
wenn  alles  klappt;  in  Deutsch- 
land ist  jeder  gliicklich,  stolz 
und  hochgestimmt,  wenn  er  sich 
beschweren  kann. 

Einmal  —  um  von  etwas  an- 
derm  zu  reden — ,  nach  gradezu 
sentimentalstimmend  langer  Zeit 
iiber  Basel  einfahrend,  wartete 
ich  gespannt,  was  wohl  das  erste 
Wort  sei,  das  mir  entgegenklange. 
Wir  hatten  die  Grenze  noch 
keine  hundert  Meter  hinter  uns, 
als  ein  Schaffner  die  Trennungs- 
tur  im  Gange  aufriB  und  don- 
nerte:  „Es  ist  verboten,  im  Gange 
zu  . . ."  Eine  Schweizerim  hob  den 
Kopf,  sah  ihnf  sah  mich  an  und 
stellte  beruhigt  f est :  „Ich  war 
sieben  Jahre  nicht  in  Deutsch- 
land, aber  es  scheint  sich  nichts 
verandert  zu  haben." 

Ein  andermal,  als  ich  tiber  Kuf- 
stein  einfuhr,  war  es  der  PaB- 
kontrolleur.  Die  Italiener  hatten 
zwei  elegante  Carabinieri  ge- 
schickt,  die  mit  korrektem  GruB 
hoflich  um  die  Passe  baten. 
Oesterreich  lieB  sich  durch  einen 
leutseligen  altern  Herrn  mit  et- 
was schiefsitzender  Krawattever- 
treten,  der  beilaufig  die  Herr- 
schaften  gern  amal  um  die  Passe 
gebeten  hatt*.  Der  deutsche  Be- 
amte  schnarrte:  „Passe  vorzei- 
gen!"  Das  Wort  Mbitte"  stand 
vermutlich  nicht  in  der  Dienst- 
vorschrift . . .  , .Germany  wants  to 
see  you!"  heifit  es  im  Ausland 
auf  muntern  Plakaten.  Die  Hol- 
lander, die  mit  mir  reisten,  hat- 
ten bei  diesem  Empfang  nicht 
grade  den  Eindruck,  daB  GerJ 
many  sie  zu  sehen  wiinschte. 


♦  .  ♦  ♦  unb  jut  Quttn  2UifeleFtfire  bit  gute  ^Ibbulla-Cisarettel 

Btanbatb o/8t.  u.  <Solfc  .    .    @tfid!    5  J>fs. 

&0tomt m.<5ol6u.etro^/m.  ©tucf    6  j>fs* 

Pirginta  IX*.  7 .    .    .    o/tft Qtutf    8  pi*. 

Ubbxtlla*  <£ia>atctt<itt    getttcfecn   TOctitufl 

Ubbull*  U  €o>      •      "Halt*      /      Centon      /      Berlin 

37 


DaB  die  Volker  Deutschlands 
untereinander  kaum  minder  ver- 
schiedener  Gemutsart,  Denk- 
weise,  Intelligenz  sind  denn  die 
VSlker  Europens,  lernt  der  Rei- 
sende  nicht  ohne  bittere  Schmer- 
zen.  Was  fur  einen  preuBischen 
Schaffner  eine  Zumutung  sein 
kann,  kann  einem  bayrischen  als 
Selbstverstandlichkeit  erscbeinen. 
Und  umgekehrt.  Wer  ahnte,  daB 
zum  Beispiel  die  Munchner  ihren 
Babnhof  nachts  zuschlieBen  wie 
der  Bauer  den  Huhnerstall  und 
das  ibnen  arglos  anvertraute 
Handgepack  unter  gar  keinen  er- 
denklichen  Umstanden  vor  Mor- 
gengrauen  herausgeben,  indes  im 
freundlichen  Leipzig,  das  seinen 
Bahnhof  ebenfalls  sperrt,  der  Ge- 
packschein  magisch  als  „Sesam, 
offne  dich!"  wirkt?  Die  Welt- 
ratsel  werden  zum  guten  Teil  von 
lokalen  EisenbabndiVektionsver- 
fugungen   bestritten. 

Aber  es  gibt  auch  wirkliche 
Reisefreuden.  Auch  in  Deutsch- 
land.  So  erlebte  ich  einst  in 
Dresden  nachfolgenden  Dialog. 
„Bitte  eine  Platzkarte!"  — 
„Warum  denn?M  —  „Weil  ich 
mir  einen  Platz  sichern  mochte." 
—  „Brauchense  heide  nich  mehr. 
Da  fahrd  gee  Luhdr  midd."  Und 
nach  tiefem  Seufzer:  „Da  Eisn- 
bahn  is  heidzedaacbe  a  schlecb- 
des  Geschafd !"...  Sie  brauchte 
es  nicht  zu  sein,  wenn  alle  Be- 
amten  abnlich  wie  dieser  Dienst 
am  Kunden  libten,  freundlich  be- 
lehrend  und  dem  Reisenden  un- 
ntitze    Ausgaben   ersparend. 

Ossip  Kalenter 

In  meitier  Elgenschaft  als  ... 

Cehen  Sie,  gnadige  Frau, 
*>**-*  meine  verdammte  Pflicht 
und  Schuldigkeii  als  Mensch 
ware   es,   unserm   armen  kranken 


Freund  schneller  hinuber  zu  hel- 
fen,  statt  ihn  so  nutzlos  zu  qua- 
len,  wo  doch  der  Tod  unabwend- 
bar  ist.  Aber  in  meiner  Elgen- 
schaft als  Arzt  bin  ich  leider  ge- 
notigt,  Ihrem  Gatten  bis  zun 
letzten  Augenblick  - . ." 

„Das  ist  ja  Alles  ganz  schon, 
meine  Liebe,  und  ich  will  gern 
glauben,  daB  Ihr  Junge  von  den 
lautersten  Motiven  und  von  der 
reinsten  Wahrheitsliebe  beseelt 
war,  als  er  die  schwere  Anklage 
gegen  seinen  Klassenlehrer  er-t 
hob,  ich  werde  diese  Sache  auch 
gewissenhaft  nachprtifen  —  ganz 
privatim  naturlich  —  aber  Sie 
werden  mir  zugeben,  meine  Gna- 
digste,  daB  ich  in  meiner  Eigen- 
schaft  als  Schuldirektor  so  etwas 
unmoglich  dulden  kann  und  gegen 
Ihren  Sohn  selbstverstandlich  ein- 
schreiten  muB."  . . . 


,fH6ren  Sie  mal,  ich  spreche 
hier  ganz  als  Mensch  zu  Ihnen, 
unter  vier  Augen,  nicht  etwa  als 
Untersuchungsrichter,  Mir  kon- 
nen  Sie  es  doch  sagen:  Haben 
Sie  den  Mord  begangen  — ? 
So  ists  recht.  Leugnen  hatte 
Ihnen  doch  nichts  geholfen,  Jetzt 
nur  noch  eine  kleine  Formalitat. 
In  meiner  amtlichen  Eigenschaft 
muB  ich  Sie  bitten,  dieses  Proto- 
koll  zu  unterschreiben  .  * ." 


Wie  ich  es  hasse,  dieses  echt 
tnannliche:  In  meiner  Eigenschaft 
als  . . .  Wie  kiihl  und  sachlich 
und  wie  verachtlich  es  die  Di- 
stanz  wahrt  zu  allem  Geffihls- 
maBigen  und  Personlichen,  Nur 
ja  nicht  sich  ubermannen  lassen 
von  „weibischen*'  Empfindungen, 
nur  immer   „obiektivM   und  ,;,kon- 


B6  Yin  Ra 

lehrt  freudige  Lebensbejahun^.  Er  zeigt,  wie  toricht  jeglicher  Pessimismus 
ist.  Alles  Wissenswerte  Tiber  den  Mann  und  sein  Werk  sagt  Ibnen  die 
Einftihrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin,  die  Sie  kostenlos 
in  jeder  besseren  Buchhandlung  erhalten,  sowie  durch  die  Kober'sche 
Verlagsbuchhandlnng  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

38 


sequent"  sein.  Der  naive  Instinkt, 
das  unverfalschte  Gefuhl  konnte 
einem  Gott  behute  das  richtige 
Wort  oder  die  rechte  Handlungs- 
weise  diktieren.  Da  gilt  es, 
rasch  eine  ernste  Beruf  smiene 
aufzusetzen  und  Abstand  zuwah- 
ren.  Mit  Hilfe  mathematischer 
Logik  werden  alle  „gefuhIsmaBi- 
gen"  Einwande  mitleidlos  knock 
out  geboxt.  Die  echt  mannliche 
Mentalitat  hat  wieder  mal  tiber 
die  sentimentale,  unsacljliche  und 
zu  private  weibliche  Haltung  den 
Si  eg  davongetragen.  Die  offent- 
liche  Moral  muB  doch  schliefilich 
erhalten  bleiben,  mag  der  Ein- 
zelne  ruhig   dabei  kaputtgehn. 

Von  Mensch  zu  Mensch  ge- 
sprochen,  verstehen  wir  uns  na- 
tiirlich  ganz  ausgezeichnet,  aber 
in  meiner  Eigenschaft  als  Beruls- 
Bonze  kann  ich  gar  nicht  genug 
von  Ihnen  abriicken . , . 

Gertrud  Isolani 

Ablaflhandel  1931 

Glaspalast-Hilhwerk 

An    weitern   Spenden    sind    bei 

^*  uns  eingegangen; 

Damit  Reb  ibr  Franz  in 
Davos  wieder  gesund  wird 

Gluckliche    Heimkehr 

Wenig,   aber   von   Herzen 

Doch  die  Elemente  hassen 
das  Gebild  von  Men- 
schenhand 

Zu  Ehren  des  sel,  Bruder 
Konrad 

ZumAndenken  an  denver- 
storbenen  Herrn  Profes- 
sor Otto  Maria  Porsche     10  M 


2  M 
1  M 
1  M 


2  M 
1  M 


5  M 
1  M 


5  M 
1  M 


Ein  Opfer  fur  meino  liebea 

Eltern  von  einem  Kunst- 

lerkind 
Fritzi,    die  so  gerne    beim 

Glaspalast  spielte 
Use  verzichtet  auf  ihr  Ge- 

burtstagsgeschenk         zu- 

gunsten   der  Kunstler 
Gott,  segne  es 

iMiinchner 
Neueste    Nachrichteri 

Liebe  WeltbOhne! 
p*  in  brasilianischer  Dichter  von 
"  spanischer  Nationality  und 
strenger  katholischer  Erziehung 
nahm  lebhaften  Anteil  an  einem 
Montmartrefest  seiner  Kollegen. 
Spat  abends  verschwindet  er  nacb 
manchen  „extra-drys'*  mit  einer 
jungen  Dame,  mit  schmalem,  el- 
fenbeinfarbigem  Profil  und  dunk" 
.  len    sehnsuchtsvpllen   Augen. 

Am  andern  Tage  trifft  ihn  einer 
seiner  Freunde,  der  auch  dem 
Fest  beiwohnte,  grade  in  dem 
Augenblick,  wie  unser  Dichter 
die  Schwelle  einer  Kirche  uber- 
scbreiten  will, 

tfWas  machen  denn  Sie  hier?" 

f,Ich  will  beichten",  antwbrtete 
der   Brasilianer. 

Dann  nach  einer  Pause  mit  lei- 
ser  Stimme: 

flSie  war  eine  Jtidin ..." 

Wieder  Pause,  dann  noch  lei- 
ser: 

„Und  autierdem,  ich  babe  es 
gewufit." 

Und  er  verschwindet  in  der 
Kirche. 


Hinweise  der  Redaktion 

Hamburg 

Weltbuhnenleser.  Freitajf  20.0a  Bei  Timpe,  Grindelallee  10~12.  Der  Leipaiaer  Parteitaff, 
Welthm  (A.D.G.B.). 

Bucher 

II ja  Ehrenburg*.  Die  hei Hasten  Guter.    Malik-Verla;.  Berlin. 

Rundfunk 

Diensta?.  Muh lacker:  22.45:  Aus:  Die  acht  Gesichter  am  Biwasee  von  Max  Dauthendey.  — 
Mittwoch.  Berlin  18.20:  Ueber  «atirigche  Zeichnunjr.  Th.  Th.  Heine.  —  Langenberg.  1930: 
Der  Bauer  im  Altertum,  Alfons  Goldschmidt.  —  Munchen  20.00:  Cot  ley©  Crampton  you 
Gerhart  Hauptmann.  —  Donnerstajr.  Mutilacker:  20.40:  Deutsche*  Rokoko.  ~  Freltajr. 
Breslau  17.15:  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtun?.  —  20.00:  Die  geistigen  Stromungen  in 
So  wjetru  Bland,  Herbert  Ihering  und  Rudolf  Mirbt.  —  Leipzig  20,80:  Kaukasische  Ballade 
von  Otto  Rombach  und  Leben  eines  Zeitgenossen  neben  dir  und  mir  von  Walter  Bauer.  — 
Berlin  21.15:  Querschnitt  durch  Mark  Twain  von  Rudolf  Arnheim.  —  Sonnabend. 
Berlin  18.00:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Hermann  Kasack. 

39 


Antworten 


Vcrlag  Georg  Mersebnrger.  [Leipzig.  Sie  inserieren  ini  .Buck- 
handler-Borsenblatt'  vom  10.  Juni:  „Notverordnung  zum  Schutze 
der  bedrohten  deutschen  Geisteskultur!  Es  wird  hiermit  notver- 
ordnet,-  daB  alle,  die  sich  heute  keine  Klassiker-Bibliothek  mehr  lei- 
sten  konnen,  sich  sofort  Casar  Flaischlen  Das  Buch  unsrer  deut- 
schen Dichtung,  eine  ganze  Bibliothek  fur  7  Reichsmark,  anzuschaffen 
haben.  Die  Diktatur  zur  Erhaltung  der  deutschen  Geisteskultur. 
i.  A.:  M,  Georg."  Es  liefie  sich  dariiber  streiten,  ob  es  geschmack- 
voll  ist,  mit  dem  Wort  „Notverordnung"  Reklame  fiir  alte  Laden- 
hiiter  zu  machen.  Aber  anscheinend  hat  Ihnen  hier  ganz  was  andres 
vorgeschwebt.  Sie  sind  sicher  der  Meinung,  daB  die  Deutschen  unter 
der  letzten  Notverordnung  noch  nic^it  genug  zu  leiden  haben.  Darum 
erfanden  Sie  die  Ihre.  Denn  gezwungen  zu  werden,  als  Ersatz  fiir 
den  hoher  gehangten  Fleischkorb  Flaischlen  zu  sich  nehmen  zu  mus- 
sen,   ist   unbedingt  eine  Verscharf ung  der  Krisensteuer. 

Kinobesucher.  In  den  Ankundigungen  des  Films  „Menschen 
hinter  Gittern"  wurden  als  Dialogverfasser  Walter  Hasenclever  und 
Ernst  Toller  genannt,  Hierzu  erklaren  beide  Autoren,  daB  sie  von 
der  Metro-Goldwyn-Meyer  aufgefordert  wurden,  nacheinander  den 
amerikanischen  Text  ins  Deutsche  zu  ttbertragen.  Da  die  endgultige 
Fassung  des  Dialoges  weder  mit  der  Obersetzung  von  Hasenclever 
noch  mit  der  von  Toller  ubereinstimmt,  weigerten  sich  beide  Auto- 
ren,  dafur  verantwortlich  zu  zeichnen.  Auf  Grund  dieses  Protestes 
mufite  die  Filmgesellschaft  auf  alien  weitern  Ankundigungen  die 
irrefuhrende  Behauptung,  daB  Hasenclever  und  Toller  die  Verfasser 
des   Dialoges   seien,    fallen   lassen. 

Internationale  Arbeiter-Hilfe.  Ihr  veranstaltet  in  diesem  Jahr 
euer  Kinderferienlager  fur  den  Bezirk  Berlin-Brandenburg-Lausitz  in 
Schwansee  bei  Lieberose,  und  zwar  in  der  Zeit  vom  17.  Juli  bis  zum 
2,  August,  Die  Kosten  betragen  pro  Kind  dreiBig  Mark.  Wer  sich 
an  der  Durchfuhrung  eures  Planes  beteiligen  will  und  kann,  ubermittle 
Geldspenden,  Lebensmittel,  Kinderbiicher  und  Kinderspiele  an  das  Se- 
kretariat  der  LA.H.,  Berlin  SW  48,  FriedrichstraBe  235  (Postscheck 
Berlin  708  04,  Erich  Lange,  Konto  Ferienlager) . 

Internationale  Frauenliga.  Sie  veranstalten  vom  22.  August  bis 
zum  5.  September  im  Boberhaus,  Lowenberg  (Schlesien)  Ihre  dies- 
jahrige  Internationale  Sommerschule.  Das  Thema  der  Tagung  lautet; 
„Deutsch-polnische  Probleme  und  der  Weltfriede."  Alles  Nahere  ist 
durch  die  Ortsgruppe  Breslau,  Kurfiirstenstr.  29  I,  zu  erfahren. 

Freund  der  Filmzensur.  Sie  wollen  gern  den  verbotenen  Re- 
marque-Film „Im  Westen  nichts  Neues"  sehn?  Wir  sind,  um  Ihnen 
das  zu  ermoglichen,  der  Gesellschaft  der  Sturmfreunde  kollektiv  bei- 
getreten.  Wenden  Sie  sich  bitte  an  deren  Geschaftsstelle  Berlin  W  62, 
Bayreuther  Str.  39,  Cornelius  3773,  Dort  konnen  Sie  alles  Nahere 
erfahren. 

Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospeki  des  Malik-Verlags  fiir  seine 
Propaganda- Ausgaben  bei,  den  wir  der  besonderen  Aufmerksamkeit 
unsrer  Leser  empfehlen.  Die  Propaganda- Ausgaben  umfassen  Werke 
von  Babel,  Ehreriburg,  Sejtullina,  Sinclair  und  die  Sammlung:  Neue 
Erzdhler  des  Neuen  Ruffland. 

Manuskripte  sind  nut  an  die  Redaction  der  Weitbuhne,  Chartottenburg.  Kantatr.  152,  n> 
ricnten;  as  wird  gebeten.  ihnen  Rudcporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rficksendung  erfoigeo  kann. 
Das  AuffUhrane srecht,  die  Verwertung  von  Tttelnn.  Text  im  Rahmen  des  Film*,  die  musik- 
mechanische  Wiedervabe  aller  Art  und  die  Verwertunp;  im  Rahmen  Ton  Radlorortrlgen 
bleiben  fttr  alle  in  der  Weltbtthne  erschelnenden  Beitr&ge  aosdrttckllch  vorbehalten. 

Die  WeltbOhne  wurde  begrundet   von  Siegfried    jaeobsoho   und   wird   von   Carl  v.  Ossietxky 

note*  Mitwirkung    von  Kurt  Tudiobky  geleitet.  —  Ver.ntwortlich :    Carl  v.  Osstefadcy,    Berlin; 

VerLag  der  WeitbQhne,  Siegfried  jacobsobo  &  Cow  Chariottenburg* 

Telephon:    CI,  Stemplats  7757.  -  Postsehedckonto:  Berlin  119  5& 

Bankkont©;     Darmstadtet   u.   Nationalbank,      Dapositenkaaae    Charlottaafan*    Kaatafa.    112 


XXVIL  Jahrgaitg  14.  Juli  IdSl  Nnmmer  28 

Wir  haben  noch  keineReparationengezahlt! 

von  K.  L.  Gerstorff 

V\  ie  Aktion  des  Prasidenten  Hoover  zeigt  wieder  einmal 
dcutlich,  daB  der  niedergehende  Kapitalismus  in  kei- 
nem  Punkte  zu  einer  Losung  seiner  Widersprttche  mehr 
kommen  kann..  Was  sollten  zunachst  die  Reparationen?  Sie 
sollten  die  gesamten  Lasten,  die  durch  den  Krieg  entstanden 
waren,  auf  Deutschland  abwalzen.  Den  franzosischen  Mittel- 
standlern  wurde  erzahlt:  Ihr  braucht  fiir  den  Krieg  keinen 
Pfennig  zu  bezahlen,  die  Boches  werden  alles  tragen;  dann 
wird  der  franzosische  Frank,  werden  die  franzosischen  Staats- 
anleihen  wieder  soviei  wert  sein  wie  in  der  Zeit,  da  ihr  sie  ge- 
zeichnet  habt.  Aber  man  sah  allmahlich  ein,  daB  die  Abwalzung 
aller  Kriegskosten  auf  Deutschland  bei  der  heutigen  weltwirt- 
schaftlichen  Lage  eine  Unmoglichkeit  war.  Der  Dawesplan 
wurde  Gesetz,  Der  deutsche  Kapitalismus  sollte  jahrlich  etwa 
2H  Milliarden  zahlen.  Das  erschien  als  keine  unmogliche 
Summe.  In  der  Vorkriegszeit  hatte  allein  der  englische  Kapi- 
talismus etwa  80  Milliarden  Mark  im  Ausland  angelegt  und 
bezog  jahrlich  3  bis  4  Milliarden  Zinsen  von  dieser  Summe. 
Wenn  man  in  der  Vorkriegszeit  jahrlich  eine  solche  Summe 
aLs  Zinsen  einziehen  konnte,  warum  sollte  der  deutsche  Kapi- 
talismus nicht  eine  kleinere  Summe  zahlen  konnen?  Und  wenn 
man  durch  die  Reparationen  eine  Verstarkung  der  eignen  Ka- 
pitalbildung  und  eine  Verringerung  der  Kapitalbildung  des 
scharfsten  Konkurrenten  erreichte,  so  hatten  die  Reparationen, 
von  der  Entente  aus  gesehft,  einen  guten  Sinn. 

Man  vergaB  hier  nur  zwei  Dinge.  Erstens:  Die  Lander, 
in  denen  England  in  der  Vorkriegszeit  Kapital  investiert  hatte, 
waren  in  ihrer  Entwicklung  zum  Kapitalismus  weit  hinter  Eng- 
land zuriickgeblieben.  Das  gait  nicht  nur  von  den  Kolonien 
und  Dominions,  sondern  in  gleicher  Weise  von  Siidamerika  und 
auch  von  den  Vereinigten  Staaten,  die  damals  noch  im  We- 
sentlichen  Getreide,  Baumwolle  und  01  exportierten.  Das 
hatte  zur  Folge,  daB  man  die  Zinsen  des  Kapitals  durch  for- 
cierte  Ausfuhr  von  Waren  abdecken  konnte,  aber  von  Waren, 
mit  denen  man  den  Englandern  keine  Konkurrenz  machte, 
im  Gegenteil,  die  sie  selbst  bezogen.  In  einer  vollig  an- 
dern  Situation  als  alledie  Lander,  wo  der  englische  Kapi- 
talismus Geld  investierte,  ist  der  deutsche  Kapitalismus,  der 
unter  seiner  europaischen  Konkurrenz  die  hochste  industrielle 
*  Entwicklung  zeigt.  Er  fiihrt  in  immer  groBerm  Umfange  Fer- 
tigfabrikate  aus,  und  zwar  Produkte,  die  England  selbst  aus- 
fiihrt,  so  daB  nachher  auf  den  Weltmarkten  scharfste  Kon- 
kurrenzkampfe  erfolgen. 

Insoweit  war  also  schon  die  historische  Parailele  falsch. 
Dazu  kam  aber  noch:  Die  Epoche,  in  der  England  durch  sein 
Kapital  die  Welt  beherrschte,  war  die  des  kapitalistischen 
Siegeszuges  liber  die  ganze  Erde.  Die  weltwirtschaftlichen 
Beziehungen  verdichteten  sich  standig,  der  WeltauBenhandel 
wies  in  scharfstem  Tempo  nach  oben.     Wenn  damals  die  Ex- 

l  41 


portc  gewisser  Lander  besonders  stark  stiegen,  so  konnte  dies 
begleitet  sein  von  einem,  wenn  auch  nicht  so  starken  Export 
der  andern  Lander. 

Die  Schopfer  des  Dawes^Plans  haben  geglaubt,  daB  die 
Weltwirtschaft  noch  einmal  eine  ahnliche  Entwicklung  erleben 
wiirde.  Der  Krieg  war  liquidiert,  die  Kriegsfolgen,  unmittel- 
bare  und  mittelbare,  sollten  es  auch  bald  sein;  die  Inflation 
war  in  Deutschland  beseitigt.  Solange  man  sich  an  den  Ge- 
danken  klammerte,  daB  an  der  gesamten  Misere  der  Nach- 
kriegszeit  vor  allem  der  Krieg  schuld  sei,  konnte  man  glauben, 
mit  der  zunehmenden  Entfernung  vom  Kriege  wiirde  sich  auch 
die  Wirtschaft  bessern.  Hatte  diese  Voraussetzung  sich  als 
wahr  erwiesen,  dann  hatte  man  sich  vorstellen  konnen,  daB 
Deutschland  irgendwann  einmal  Reparationen  gezahlt  hatte. 
Dann  hatte  es  seinen  Warenexport  besonders  energisch  for- 
cieren  konnen,  ohne  daB  die  Glaubigerlander  allzusehr  be- 
riihrt  worden  waren,  weil  sich  bei  einer  stark  steigenden  Kurve 
ihr  AuBenhandel,  wenn  auch  langsam,  hatte  erhohen  konnen. 

Nun,  wir  wissen  heute,  daB  diese  Voraussetzung  falsch 
war.  Der  Weltkapitalismus  steht  im  Niedergang.  Der  Welt- 
auBenhandel  wird  besonders  schwer  davon  betroffen,  Er  steht 
heute  bereits  unter  dem  Friedensniveau.  Wie  aber  soil  man 
bei  einem  Riickgang  des  gesamten  WeltauBenhandels  Repa- 
rationen von  einem  Land  bekommen,  das  vor  allem  Fertig- 
fabrikate  ausfiihrt,  das  also  bei  einer  besonders  starken  For- 
cierung  seiner  Exporte  die  eignen  Industrien  aufs  schwerste 
schadigt?    So  lautet  heute  die  Frage. 

So  lautet  sie,  aber  nicht  erst  heute.  Man  spricht  von 
einem  Reparationsfeierjahr.  Aber  das  wiirde  ja  bedeuten,  daB 
der  deutsche  Kapitalismus  bisher  kein  Reparationsfeierjahr  ge- 
habt  hatte,  bisher  also  Reparationen  gezahlt  hatte.  Er  hat 
gar  nicht  daran  gedacht,  Auf  dem  Papier  wurden  natiirlich 
in  der  Zeit  vom  Dawes-Plan  bis  zum  Young-Plan  Reparationen 
gezahlt;  aber  nur  auf  dem  Papier. 

Wie  zanlt  man  in  Wirklichkeit  Reparationen?  Sie  konnen 
im  Wesentlichen  von  Deutschland  nur  durch  einen  OberschuB 
der  Ausiuhr  iiber  die  Einfuhr  gezahlt  werden.  Der  Ausfuhr- 
iiberschuB  bringt  die  Devisen,  die  man  dem  Reparationsagenten 
iibergibt.  Wie  sah  nun  die  deutsche  Handelsbilanz  zwischen 
Dawes-  und  Young-Plan  aus?  Das  vom  Statistischen  Reichs- 
amt  hexausgegebene  Bnch  ..Deutsche  Wirtschaftskunde"  (eines 
der  wenigen  Biicher,  in  dem  statistische  Zahlen  gut  geordnet 
und   verstandlich  H*rtfestellt   sind)    enthalt  folgende   Statistik: 

1925        1926        1927         1928    * 
in  Millionen  Reichsmark 

Einfuhr  im  reinen  Warenverkehr  11744  9  701  13  801  13  650 
Ausfuhr  im  reinen  Warenverkehr  8  930      9  930      10  376      11783 

(ohne   Reparations-Sachlieferungen) 
Reparations-Sachlieferungen  492         631  579  663 

Einfuhr-    (— )    bzw.  Ausiuhr- 

iiberschuB   (+)  mit  Reparations - 

Sachlieferungen  —2  322    +860   —2  847   —1204 

Unter   Einrechnung  der   Reparationssachlieferungen    hatte 

der  deutsche  AuBenhandel  in  den  vier  Jahren  eine  Passivitat 

42 


von  ungefahr  5H  Milliardcn  gehabt.  Die  Reparationcn  wur- 
den  also  nicht  durch  Exportiiberschusse  gezahlt,  im  Gegenteil, 
man  hat  fiir  viele  Milliarden  mehr  eingefiihrt  als  ausgefiihrt. 
Man  hat  in  der  glcichcn  Zeit  den  Gold-  und  Devisenbestand 
der  Reichsbank  stark  vergroBert  —  und  wie  hat  man  das 
Kunststiick  fertiggebracht?  Man  hat  in  dieser  Zeit  vom  Aus- 
land  mehr  als  das  Doppelte  dessen  geborgt,  was  man  an  Re- 

Barationen  gezahlt  hat.  Unter  dieser  Voraussetzung  klappten 
'awes-Plan  und  Reparationszahlungen,  klappte  der  Transfer- 
mechanismus  glanzend.  Warum  auch  nicht?  Der  deutsche 
Kapitalismus  hatte  in  der  Vorkriegszcit  eine.  passive  Handels- 
bilanzt  ebenso  wie  zwischen  Dawes-  und  Young-Plan.  Der 
Unterschied'  bcstand  nur  darin,  dafi  friiher  der  Ausgleich  durch 
die  Zinsen  des  von  Deutschland  im  Ausland  angelegten  Kapi- 
tals  geschaffen  wurde,  diesmal  aber  durch  auslandische  Kapi- 
talimporte.  Die  Konsequenz  war  naturlich,  daB  auf  dem  Pa- 
pier die  jahrlichen  Lasten  des  deutschen  Kapitalismus  immer 
groBer  wurden,  denn  zu  den  Reparationszahlungen  traten  die 
Zinsen  fur  das  im  Ausland  privat  aufgenommene  Kapital,  die 
naturlich  von  Jahr  zu  Jahr  wuchsen.  Wann  der  Krach 
kommen  wtirde,  war  mathematisch  vorauszusagen.  Er  kam, 
als  die  auslandischen  Glaubiger  nicht  mehr  bereit  waren, 
in  Deutschland  die  Summen  neu  zu  investieren,  die  es  zur  Be- 
zahlung  von  Reparationen  und  privat  en  Zinsen  brauchte.  Der 
Krach  kam  daher  bereits  wenige  Monate  nach  dem  Einbruch 
der  Weltwirtschaftskrise.  Der  gesamte  Internationale  Kapital- 
export  ging  damals  rapide  zuriick  und  damit  auch  die  Sum- 
men,  die  man  in  Deutschland  anlegte.  Die  Konsequenz  war,  daB 
der  deutsche  Kapitalismus  >  zum  ersten  Male  Reparationen 
zahleh  sollte.  Zum  ersten  Mai  sollte  er  sich  durch  wirkliche 
Exportiiberschiisse  die  Devisen  verschafien,  die  er  dem  Re- 
parationsagenten  zur  Verfiigung  zu  stellen  hatte.  Deutsche 
Exportiiberschiisse  wurden  erzielt,  wurden  groteskerweise 
grade  in  der  Zeit  der  Weltwirtschaftskrise  erzielt,. und  zwar 
durch  so  niedrige  Preise,  daB  der  englischen  und  amerika- 
nischen  Konkurrenz  das  Geschaft  noch  mehr  verdorben 
wurde.  Sie  wurden  erzielt,  ohne  dafi  die  deutsche  Zahlungs- 
bilanz  dadurch  ins   Gleichgewicht  kam. 

Denn  in  der  Weltwirtschaftskrise  ist  der  deutsche  Kapi- 
talismus das  schwachste  Glied.  Das  wissen  nicht  nur  die  Ar- 
beiter,  das  wissen  auch  die  Kapitalisten.  Und  so  hat  auch 
grade  in  der  Krise  eine  starke  deutsche  Kapitalflucht  einge- 
setzt.  Als  dazu  die  Kiindigung  auslandischer,  kurzfristig  an- 
gelegter  Gelder  erfolgte,  verlor  die  Reichsbank  in  wenigen 
Wochen  das  gesamte  Gold,  das  sie  iiber  der  gesetzlichen 
Deckung  besafi.  In  diesem  Zeitpunkt  verlangte  Hoover  ein 
Reparationsfeierjahr.  Dieses  Reparationsfeierjahr  aber  wird 
ebensowenig  nur  ein  Jahr  dauern,  wie  die  neue  Nbtverord- 
nung  Brunings  die  letzte  ist.  Der  deutsche  Kapitalismus,  der 
niemals  Reparationen  gezahlt  hat,  wird  auch  in  Zukunft  keine 
Reparationen  zahlen,  karin  keine  zahlen,  weil  Reparationen 
nur  bei  einem  starken  Anstieg  des  gesamten  WeltauBenhandels 
gezahlt  werden  konnen.  Der  wird  sich  aber  in  absehbarer  Zeit 
nicht  einstellen. 

43 


Die  Hooversche  Botschalt  ist  so  nur  die  politische  Bestati- 
dung  dessen,  was  sich  aus  dcr  Okonomie  schon  vor  Jahren  er- 
geben  hatte.  DaB  diese  politische  Bestatigung  so  spat  erfolgt, 
ist  nur  ein  Beweis  mehr,  daB  die  Widerspriiche  der  kapitalisti- 
schen  Produktionsweise  sich  immer  schwerer  politisch  meistern 
lassen.  Wenn  der  Hoover-Plan  weltwirtschaftlich  kaum 
grundlegende  Veranderungen  bringen  wird,  so  konnen  seine 
innerpolitischen  Konsequenzen  sehr  wesentlich  sein.  Zunachst 
einmal:  der  Reichskanzler  Briining  betont  sehr  deutlich,  daB 
auch  nach  dem  Wegfali  der  Reparationszahiungen  in  Hohe  von 
1500  Millionen  Mark  die  neue  Notverofdnung  grundsatzlich 
nicht  geandert  werden  darf,  Er  gibt  ohne  jede  Verschnorke- 
lung  zu,  daB  durch  die  letzte  Notverordnung  der  Etat  nicht 
saniert  worden  ist,  daB  auch  nach  der  letzten  Notverordnung 
groBe  ungedeckte  Defizitposten  vorhanden  waren.  Gleichzeitig 
betont  Briining,  dafi  das  wirklich  schwere  Jahr  nicht  das  Jahr 
1931  ist  sondern  das  Jahr  1932.  Das  heiBt,  Briining  rechnet 
mit  einer  weitern  wirtschaftlichen  und  damit  politischen  Zu- 
spitzung.  Fraglos  ist  deren  Tempo  durch  den  Hoover-Plan 
etwas  gebremst  worden,  aber  eben  nur  das  Tempo. 

Monate  einer  gewissen  Atempause  stehen  bevor.  Die 
nationalsozialistische  Agitation  hat  die  Younglasten  und  nur 
die  Younglasten  fur  die  deutsche  Krise  verantwortlich  ge- 
macht.  Die  kommenden  Monate  werden  den  Beweis  bringen, 
daB  die  Nationalsozialisten  in  dies^m  Punkte  die  Massen  vollig 
getauscht  haben.  Die  Arbeitslosenzahlen  werden  weiter  zu- 
nehmen,  sie  werden  im  Winter  sechs  Millionen  iibersteigen. 
Die  Lohne  werden  weiter  abgebaut  werden,  das  Elend  der  Ar- 
beitermassen  wird  groBer  werden,  ebenso  das  Elend  des  prole- 
tarisierten  Mitt  els  tandes.  Das  Elend  wird  groBer  werden  — 
im  Reparationsleierjahr. 

Schon  heute  gilt  esf  dies  der  Arbeiterschaft  klar  zu 
machen,  schon  heute  aber  gilt  esf  daruber  hinaus  in  die  Schich- 
ten  des  im  Wesentlichen  proietarisierten  Mittelstandes  vorzu- 
stoBen,  die  heute  noch,  wenn  auch  bereits  vielfach  miBtrauisch, 
Hitler  folgen.  Grade  das  Reparationsfeierjahr  gibt  Gelegen- 
heit,  diese  irregeleiteten  Massen  daruber  aufzuklaren,  daB  nicht 
die  Younglasten  und  nicht  die  Reparationen  an  ihrem  Elend 
schuld  sind    sondern  die  Politik  des  Monopolkapitals. 

Der  Hoover-Plan  ist  die  Antwort  der  amerikanischen 
Bourgeoisie  auf  die  Verscharfung  der  politischen  und  okonomi- 
schen  Situation  in  Deutschland,  Man  will  einen  Schuldner, 
der  zahlungsfahig  bleibt,  denn  man  hat  dort  mehr  investiert  als 
die  Summen  des  Reparationsfeierjahres.  Der  Hoover-Plan 
sollte   dem  Schuldner   eine   Atempause  schatten. 

Aufgabe  der  Arbeiterklasse  ist  es,  diese  Atempause  aus- 
zunutzen  zum  Kampf  um  die  mittelstandischen  Massen,  die 
heute  noch  Knechte  des  Monopolkapitals  sind.  Gelingt  es,  sie 
in  elne  gemeinsame  Front  mit  der  Arbeiterschaft  zu  bringen, 
gelingty  dies  in  dem  Jahre,  wo  der  Wegfali  der  Reparationen 
die  Schuld  des  Monopolkapitals  an  der  heutigen  Situation 
plastisch  demonstriert,  dann  wird  das  Reparationsfeierjahr 
seine,  guten  Fruchte  tragen,  allerdings  nicht  so,  wie  es  Herr 
Hoover  geplant  hat. 
44 


Stalin  spricht 


MStalin  schwort  den  Kommunismus  ab",  „Rede  Stalins:  Ab- 
kfchr  vom  Kommunismus",  „Vollstandige  Absage  an  den 
Kommunismus",  „Eingriff  in  den  Dogmengehalt  der  kommu- 
nistischen  Lehre"  —  dies  war  das  erste  Echo,  das  die  neueste 
Rede  Stalins  in  den  deutschen  Blattern  gefunden  hat.  Was  hat 
aber  Stalin  wirklich  gesagt?  Der  Originaltext  der  Rede  enthalt 
neben  den  inzwischen  beruhmt  gewordenen  sechs  Forderungen 
—  Organisation  der  Arbeiterwerbung  und  Mechanisierung  der 
Arbeit;  neues  Tarif system;  personliche  Verantwortung  des  Ar- 
beiters;  Heranbildung  der  Intellektuellen  aus  der  Arbeiterklasse; 
Schonung  der  burgerlichen  Intellektuellen;  Wirtschaftlichkeit 
der  Betriebe  —  auch  deren  Begrtindung. 

Hier  einige  Beispiele,  die  beliebig  vermehrt  werden  konnen. 
Die  Kommentatoren  braucben  nur  zuzugreifen. 

Nikolaus  Feinberg 
Arbeitslohn.  „Marx  und  Lenin  sagen,  daB  der  Unterschied 
zwischen  der  qualifizierten  und  der  ungelernten  Arbeit  selbst 
unter  dem  Sozialismus  existieren  wird,  selbst  nach  Vernichtung 
<ier  Klassen;  nur  unter  dem  Kommunismus  wird  dieser  Unter- 
schied vexschwinden,  so  daB  der  Arbeitslohn  sich  sogar  unter 
dem  Sozialismus  nach  Arbeitsleistung  und  nicht  nach  (person- 
Jichem)  Bedarf  (des  Arbeit ers)  richten  muB.  Aber  unsre 
.Lohnausgleicher'  aus  dem  Kreise  der  Sowjetwirtschaftler  und 
der  GewerkschaHler  sind  damit  nicht  einverstanden;  sie  sind 
der  Meinung,  daB  dieser  Unterschied  (zwischen  der  qualifi- 
zierten und  der  ungelernten  Arbeit)  schon  unter  unserm  Sow- 
jetregime,  verschwunden  sei.  Wer  hat  nun  recht,  Marx  und 
Lenin  oder  die  Lohnausgleicher?  Man  muB  annehmen,  daB 
hier  Marx  und  Lenin  recht  haben.  Daraus  folgt  aber:  wer 
heute  das  Tarifsystem  auf  den  Prinzipien  der  Urawnilowka 
(das  heiBt  des  Systems  des  gleichen  Lohns)  ohne  Beriicksichti- 
gung  des  Unterschieds  zwischen  der  qualifizierten  und  nicht 
qualifizierten  Arbeit  aufbaut,  der  bricht  mit  dem  Marxismus, 
bricht  mit  dem  Leninismus." 

Arbeiterleben.  nEs  kann  nicht  bestritten  werden,  daB  auf 
dem  Gebiet  des  Wohnungsbaus  und  der  Arbeiterversorgung 
im  Laufe  der  letzten  Jahre  viel  erreicht  worden  ist.  Aber  das, 
was  erreicht  wurde,  gentigt  nicht,  um  die  schnell  wachsen- 
den  Bediirfnisse  der  Arbeiter  zu  befriedigen.  Man  darf  sich 
nicht  darauf  berufen,  daB  e&  friiher  nicht  so  viel  Wohnungen 
gegeben  habe  wie  jetzt  und  daB  die  Arbeiterversorgung  friiher 
viel  schlechter  gewesen  sei  als  heute...  Die  Lebensbedingun- 
gen  des  Arbeiters  haben  sich  von  Grund  aus  geandert.  Der 
Arbeiter  von  heute,  unser  Sowjetarbeiter,  will  seine  mate- 
riellen  und  kulturellen  Bediirfnisse  befriedigt  wissen.  Er  hat 
ein  Recht  darauf,  und  wir  miissen  ihm  die  entsprechenden  Vor- 
bedingungen  sichern.  Freilich,  er  leidet  bei  uns  nicht  unter 
Arbeitslosigkeit,  er  ist  frei  vom  kapitalistischen  Joch,  er  ist 
kein  Sklave  mehr  sondern  sein  eignerHerr.  Aber  dies  geniigt 
nicht.  Er  fordert  die  Sicherung  aller  seiner  materiellen  und 
kulturellen  Bediirfnisse,  und  wir  miissen  diese  Forderung  er- 
fiillen.  VergeBt  nicht,  daB  wir  unsrerseits  gewisse  Forde- 
rungen an  den  Arbeiter  stellen,  vergeBt  nicht,  daB  die  iiber- 

2  45 


wiegende,  Mehrheit  der  Arbeiter  diese  Forderungen  mit  Be- 
geistcrung  aufgenommen  hat  und  sie  heroisch  erfiillt.  Wundert 
Euch  deshalb  nicht,  wenn  die  Arbeiter  ihrerseits  von  der  Sow- 
jetregierung  die  Einlosung  der  von  ihr  ubernommenen  Ver- 
pflichtungen  verlangen." 

Funftagewoche.  (flObeslitschka"  nennt  Stalin  ein  System,, 
das  die  Bindung  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitsstatte  gefahrdet; 
infolge  der  Funftagewoche  wechselt  die  Belegschaft:  eine  Loko- 
motive  wird  nicht  immer  vom  selben  Fiihrer  bedient.  Die 
Folge:  Ziichtung  von  Verantwortungslosigkeit,  die  zu  wirt- 
schaftlichen  Schaden  fiihrt.)  ,,Manche  von  unsern  Genossen 
haben  sich  hie  und  da  mit  der  Einfuhrung  der  Funftagewoche 
allzu  sehr  beeilt  und  sie  in  die  ,Obeslitschka'  verwandelt.  Die 
Liquidierung  dieser  Situation  und  die  Vernichtung  der  ,Obes- 
litschka'  kann  auf  zwei  Wegen  erfolgen.  Entweder  muB  die 
Durchfiihrung  der  Funftagewoche  so  umgeandert  werden,  daB 
keine  .Obeslitschka'  aus  ihr  wird,  wie  dies  im  Transportwesen 
erreicht  wurde,  oder  aber,  falls  Vorbedingungen  fur  entspre- 
chende  MaBnahmen  fehlen,  muB  die  papierne  Funftagewoche 
fortgeworfen  und  vorubergehend  durch  die  (,unterbrochene') 
Sechstagewoche  ersetzt  werden,  wie  dies  kiirzlich  im  Stalin- 
grader  Traktorenwerk  geschehen  ist;  unterdessen  miissen  Vor- 
bedingungen geschaffen  werden,  damit  man  dann  zur  wirk- 
lichen,  nichtpapiernen  Funftagewoche  zuriickkehren  kann,  zur 
Funftagewoche  ohne  ,Obeslitschka\  Andre  Wege  gibt  es, 
nicht." 

Die  Parteilosen  und  der  Arbeiteraufstieg.  „Die  Anreger  des 
sozialistischen  Wettbewerbs,  die  Fiihrer  der  StoBbrigaden,. 
die  Organisatoren  der  Arbeit  —  das  ist  die  neue  Schicht  der 
Arbeiterklasse,  die  den  Kern  der  Arbeiterintelligenz,  den  Kern 
des  Kommandokorps  unserer  Industrie  bilden  muB.  Die  Auf- 
gabe  besteht  darin,  solchen  Genossen  mit  Initiative  Kommando- 
gcwalt  zu  geben  und  die  Moglichkeit,  ihre  organisatorischen 
Fahigkeiten  zu  bewetsen;  ihre  Kenntnisse  zu  bereichern  und 
ihnen  giinstige  Lebensbedingungen  zu  schaffen,  ohne  mit  dem 
Geld  zu  sparen.  Unter  diesen  Genossen  gibt  es  viele  Partei- 
lose.  Das  kann  aber  kein  Hindernis  sein.  Im  Gegenteil:  grade 
diese  parteilosen  Genossen  miissen  mit  besonderer  Riicksicht 
behandelt  werden,  damit  sie  sich  davon  iiberzeugen  konnen, 
daB  die  Partei  tiichtige  und  begabte  Leute  zu  schatzen  weiB.. 
Manche  Genossen  glauben,  daB  auf  fiihrende  Stellungen  in  Be- 
trieben  nur  Parteigenossen  berufen  werden  sollen.  Aus  diesem 
Grunde  schenken  sie  den  begabten  parteilosen  Genossen  mit 
Initiative  keine  Beachtung  und  ziehen  die  Parteigenossen  vor, 
selbst  wenn  diese  weniger  begabt  und  ohne  Initiative  sind.  Es 
braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  daB  nichts  diimmer  und  re- 
aktionarer  sein  kann  als  solche  ,Politik\  Es  ist  klar,  daB  auf 
diese  Weise  die  Partei  nur  diskreditiert  wird  und  die  partei- 
losen Arbeiter  von  der  Partei  abgestoBen  werden.  Unsre 
Politik  besteht  gar  nicht  darin,  die  Partei  in  eine  geschlossene 
Kaste  umzuwandeln.  Unsre  Politik  besteht  darin,  zwischen 
den  Parteiangehorigen  und  den  Parteilosen  den  Geist  des 
,gegenseitigen  Vertrauens'  und  der  .gegenseitigen  Kontrolle'  zu 
schaffen.    (Lenin.)" 

46 


Die  alien  InteRektuellen.  „Wenn  in  der  Bliitezeit  der 
Schadlingstatigkeit  unsrc  Beziehungen  zu  den  Intcllektuellen 
alter  Schule  ihren  Ausdruck  in  der  Politik  der  Zertriimmerung 
fand,  so  ist  es  heute,  in  der  Zeit,  wo  die  Intellektuellen  zu  der 
Sowjetregierung  kommen,  unsre  Aufgabe,  sie  znr  Arbeit  heran- 
zuziehen  und  sie  mit  Sorgfalt  zu  behandeln,  Es  ware  falsch 
und  undialektisch,  die  alte  Politik  unter  neuen  Bedingungen 
fortzusetzen.  Es  ware  unklug,  jeden  zweiten  Fachmann  und 
Ingenieur  der  alten  Schule  als  einen  noch  nicht  iiberfiihrten 
Verbrecher  und  Schadling  zu  betrachten,  Die  Fachmanner- 
Fresserei  war  und  bleibt  eine  schadliche  und  schandliche  Er- 
scheinung/1 

SoziallStenbund  von  Kurt  Hiller 

Verwirklichen  Wir!     Schopfung  beginnt, 
Ludwig  Rubiner:  ,Die  Anderung  der  Welt4,  1916 

T\  a    stent    eine    riesige    uralte  Mietskaserne,    von    zahllosen 

armen  Leuten  bewohnt.  Sie  ist  baufallig,  morsch,  muffig, 
verwanzt;  kein  Licht,  keine  Luft  dringt  in  die  Mehrzahi  der 
Stuben;  natiirlich  fehlt  der  bescheidenste  technische  Komfort. 
Nur  Geriiche  sind  da,  Miasmen,  Bakterien;  ein  Siechtumshaus, 
ein  Haus  des  langsamen  Sterbens.  (Dabei  wimmelts  drinnen 
von  Jugend.)  Die  Bewohner  wollen  das  Haus  abgerissen  und 
ein  modernes,  helles,  luftiges,  hygienisches  an  seine  Stelle  ge- 
setzt  sehn.  Der  Wirt  weigert  sich;  er  zieht  aus  der  Bazillen- 
baracke  prachtvollen  Profit.  Sie  beschlieBen  nun,  den  Abbruch 
auf  eigne  Faust  zu  bewerkstelligen . . .  Aber  schon  bilden  sich 
unter  den  Parteien  zwei  Parteien;  die  eine  sagt:  „Wir  mxissen, 
urn  unsertwillen,  die  wankenden  Mauern  zunachstmal  stiitzen, 
bevor  wie  sie  sturzen";  die  andre,  genau  gegenteiliger  Meinung, 
riickt  mit  Trompeten,  Hornern,  Posaunen,  Megaphonen  an  und 
tutet,  tutet,  tutet.  Ihr  Zorn  formt  sich  zu  einem  einzigen  un- 
geheuren  Schalltrichter,  Alles  Tuten  niitzt  aber  nichts;  die 
Mauern  benehmen  sich  anders  als  die  von  Jericho.  Auch  dafi 
Tuterhaufe  und  Stiitzerhaufe  iibereinander  herfallen,  erschiit- 
tert  sie  nicht.  Die  Mauern  stehen;  die  Bewohner  haben  sich 
geschwacht;  der  Wirt  lacht  sich  ins  Faustchen  und  steigert  die 
Mieten;,  nichts  hat  sich  gebessert,  einiges  noch  verschlechtert; 
von  Abbruch  und  Neubau  kein  Schatten  einer  Spur. 

Mogen  unsre  kapitalistischen  Herren  es  mir  nicht  verubeln, 
wenn  ich  ihr  System  mit  jenem  schandlichen  alten  Wohnkasten 
vergleiche,  und  unsre  beiden  Proletarparteien  nicht,  wenn  sie 
mir  erscheinen  wie  die  beiden  erfolglos  tatigen  Mietergrup- 
pen  da. 

Im  iibrigen  erachte  ich  fiir  notig,  daB  der  Kasten  endlich 
abgerissen  wird. 

Und  nun  fort  mit  dem  Vergleich;  denn  wir  wollen  hier 
keine  schone  Literatur  machen. 

* 
These:  Die  soziale  Revolution  wird  morgen  moglich  sein, 
wenn  das  Proletariat  morgen  einig  ist.  —  .Proletariat':  Inbegriff 

47 


aller  Derer,  die  yon  ihrer  Arbeit  leben,  ihrer  Hande  und  Hirne 
Arbeit,  statt  von  den  Friichten  tremder  Arbeit;  eingeschlossen 
Jene,  denen  mangels  Arbeit  Alles  zum  Leben  fehlt.  Der  Be- 
griff  , Proletariat*  1st  also  weiter  als  der  Begriff  ,Arbeiterschaft'; 
er  umfafit  Millionen  von  Angestellten  und  Beamten,  von  Bauern 
und  Gewerbetreibenden  mit  Zwergbetrieb,  von  Leuten  aus  den 
Intellektbranchen.  Diese  Kategorien  waren  anno  Marx  und 
noch  anno  Bebel  durchschnittlich  Kleinbesitzer,  also  Mit-Aus- 
beuter;  Krieg,  Inflation,  die  neue  Krise  enteigneten  sie.  Selbst- 
verstandlich  bildet  die  Arbeiterschaft  nach  wie  vor  den  groBen 
Kern  des  Proletariats,  und  alle  Ehre  den  Arbeitern!  Aber  es 
gibt  keinen  Grund,  eine  revolutionare  Politik  ausschliefilich 
den  Interessen  dieses  einen  Standes  zu  widmen.  Das  wollen 
seine  Verantwortungsvollsten  und  Kliigsten  auch  selber  nicht. 
Wie  toricht  handeln  demnach  Wortfiihrer  des  Antikapitalis- 
mus,  des  Klassenkampfs,  namlich  des  Kampfs  liir  die  Befreiung 
der  gesamten  proletarischeh  Klasse,  wenn  sie  dem  Besitzbtirger 
dauernd  ,,den  Arbeiter"  entgegenstellen,  einzig  ihn,  wenn  sie 
von  ,,Arbeiterparteien",  ,,Arbeiterklasse"f  f,Arbeiterstaat" 
sprechen  —  wodurch  kein  andrer  Effekt  erzielt  wird  als  der, 
daB  unzahlige  Arbeitende,  die  nicht  Arbeiter  sind  und  doch 
Proleten,  sich  befremdet,  ja  vor  den  Kopf  gestoBen  und  vom 
Mittun  abgeschreckt  fiihlen,  Ganz  schwerer,  zu  spat  erkannter, 
noch  langst  nicht  ausgerotteter  Fehler!  Zu  schweigen  von  dem 
Widerwillen,  der  in  jedem  Saubergesinnten,  zumal  in  jedem 
saubergesinnten  Arbeiter,  entstehen  muB,  wenn  exzentrische 
Borsenmakler-Eleven  oder  akademisch  gebildete  Tendenz- 
lyriker  oder  verungliickte  Gerichtsvollzieher  oder  Journalisten, 
die  es  wurden,  nachdem  das  Staatsexamen  sie  zweimal  aus- 
gespien  hat,  sich  in  revolutionaren  Versammlungsreden  als  ,,wir 
Arbeiter"  empfehlen  —  womit  ich  aber  nicht  etwa  behaupten 
will,  daB  dieses  Heuchelgesocks  der  Wahrheit  in  alien  Fallen 
dann  naherkommt,  wenn,  es  sich  als  „wir  Proletarier"  anpreist. 

Zweite  These:  Einigung  des  Proletariats  erfolgt  sicherlich 
nicht  so,  daB  zwischen  sozialdemokratischer  und  kommunisti- 
scher  Parteibureaukratie  ein  Verstandigungsfriede  geschlossen 
wird.  Eher  flieBt  die  Spree  in  die  Oder-  —  Obrigens  ist  keine 
Erkenntnis  in  Deutschland  verbreiteter  als  die  Erkenntnis  die- 
ser  Unmoglichkeit.  (Die  Moglichkeit  ware  nichtmal  eine 
Wiinschbarkeit;  Verstandigung  mit  gewerbsmaBigen  Preis- 
gebern  eines  Gedankens  ware  Preisgabe  des  Gedankens.)  Sol- 
len  wir  uns  aber  bei  dieser  Erkenntnis  beruhigen? 

Sollen  wir  neben  den  Ereignissen  stehn,  ihnen  tatlos  zu- 
sehen?  Tatlos  zusehen,  wie  die  herrschende  Klasse  aus  dem 
Lachen  nicht  herauskommt,  weil  die  beherrschte  ohne  Ende 
gegen  sich  selber  wiitet?  Wie  der  Gutsherr  die  ineinander 
krampfig  verbissenen  beiden  Knechte  nicht  trennt,  sondern 
trelbt?  Wie  er  einem  dritten  Listig  Geld  gibt  und  ein  Haken- 
kreuz  und  ihn  noch  dazuhetzt?  Wie  von  den  kleinen  Errun- 
genschaften  der  arbeitenden  Klasse,  den  sozialen  und  selbst 
den  demokratischen,  eine  nach  der  andern  vor  die  Hunde  geht? 
Welcher  Proletarier,  welcher  Sozialist  in  Deutschland  hatte 
die  Stirn,  hinzutreten  und  zu  sagen:  „Ja,  das  isi  gut  so;  so 
soil  es  bleiben"?     Aber  der  fromme  Wunsch  andert  nichts. 

48 


Brauchen  wir  —  These  1  —  die  Einigung  des  Proletariats 
und  kommt  sie  —  These  2  —  durch  Verhandlungen  zwischen 
SPD  und  KPD  niemals  zustande,  dann  muB  von  einem  andern 
Punkt  her  ein  VorstoB  gewagt,  dann  muB  eine  neue  Quelle 
politisch-schopferischer  Kraft  erschlossen  werden:  alien  Grin- 
sern,  alien  „Utopie!"-Meckerern  zum  Trotz. 

Ein  Moses  zwar,  der  an  den  Fels  schliige  und  die  Quelle 
springt,  lebt  uns  nicht;  die  Zeiten  der  Legende  sind  dahin. 
Vorsichtig  zu  Werke  gehende  Vernunft  kann  die  rasche  Magie 
ersetzen, 

Es  gibt  eine  Reihe  kleiner  revolutionar-sozialistischer 
oder,  was  begrifflich  dasselbe  ist,  kommunistischer  Gruppen, 
die  teils  durch  Abspaltung  von  den  beiden  GroBparteien,  teils 
durch  Urzeugung  entstanden  sind  und  trotz  mannigfacher 
Unterschiede  einander  programmatisch  so  nahe  stehen,  daB  nur 
ein  ganz  unfruchtbarer  Eigenbrodler-  und  Kantonligeist,  ein 
wahrhaft  konterrevolutionarer  Geist  sie  hindern  konnte*  ihre 
Krafte  zu  verbinden  und  dadurch  zu  vervielfachen.  Ich  habe 
Grund  zu  der  Annahme,  daB  in  den  Mitgliederschaften  jener 
Gruppen  grade  die  besten  Kopfe  und  Herzen  diese  Auffassung 
teilen,  Wunschvorstellungen  aber  geniigen  nicht;  es  muB  end- 
lich  gehandelt  werden.  Nicht,  als  wollte  ich  mit  aufgekrem- 
pelten  Armeln  Aktion  gegen  Diskussion  ausspielen;  erst  nach- 
dem  man  grundlich  diskutiert  hat,  kann  man  agieren.  Aber 
mir  scheint,  es  ist  hinreichend  diskutiert  worden;  jahrelang; 
die  Beteiligten  wissen,  was  sie  trennt,  was  sie  eint,  Ist  das 
Einende  starker,  dann  in  drei  Teufels  Namen  endlich  ran  an 
die  Aktion! 

Was  ist  das  Trennende?  Was  das  Einende?  Wie  miifite 
sie  aussehn,  die  Aktion? 

Ein  paar  Beispiele  des  Trennenden:  Der  Leninbund  steht 
sehr  kritisch  zur  Stalinschen  Sowjetunion;  die  Mehrzahl  der 
ubrigen  Gruppen,  voran  die  KPD-Opposition,  sieht  in  der  Sow- 
jetunion'den  verheiBungsvollen  Anfang,  das  Fundament,  auf 
dem  weiterzubauen  ist.  Die  Industrieverbande  leiten  ihr  Da- 
sein  her  von  einem  Ausmarsch  aus  den  Gewerkschaften;  die 
Mehrzahl  der  ubrigen  Gruppen  halt  oppositionelle,  revolutio- 
nierende  Arbeit  in  den  Gewerkschaften  fiir  unerlaBlich.  Der 
Jungproletarische  Bund  neigt  zu  anarchoi'den  Losungen;  der 
Mehrzahl  der  ubrigen  Gruppen  ist  klar,  daB  man  durch  die 
Diktatur  des  Proletariats  hindurchmuB,  um  zum  klassenlosen 
Staat,  und  durch  den  klassenlosen  Staat  hindurchmuB,  um  zur 
herrschaftslosen  Gesellschaft  zu  gelangen.  Der  Bund  freier  so- 
zialistischer  Jugend  scheut  ein  biBchen  vor  Programmatik,  vor 
dogmatischen  Festlegungen  zuriick;  die  Mehrzahl  der  ubrigen 
Gruppen  wunscht  prinzipielle  Klarungen.  Die  Gruppe  Revolu- 
tionarer  Pazifisten  pflegt  eine  bestimmte  Ideologic  und  Metho- 
d(oIogie  der  Kriegsverhinderung;  die  Mehrzahl  der  ubrigen 
Gruppen  lehnt  gewisse  Teile  dieser  Doktrin  (Ausbau  des.  Kel- 
loggpakts;  Dienstverweigerung)  ab.  Zu  den  Gruppen,  die  ohne 
ein    der    Mehrzahl    der    ubrigen    unangenehmes    Steckenpferd 

49 


auskommen,  gehort  meines  Wissens  der  Sozialistische  Bund. 
Aus  diesem  Grunde  und  wegen  der  unbcstrittencn  Autoritat 
seines  greisen,  jugendfrischen  Fuhrers  Georg  Ledebour  scheint 
mir  dieser  Bund,  mag  er  auch  zahlenmaBig  nicht  der  starkste 
sein,  zur  Fiihrung  der  Gruppen  berufen. 

Was  aber  eint  sie? 

Viererlei. 

Erstens  die   sozialistische  Zielsetzung, 

Zweitens  die  Erkenntnis,  daB  nicht  die  Formaldemokratie, 
nicht  der  Stimmzettel  den  Weg  zum  Sozialismus  bahnt;  daB 
die  Expropriateure  sich  nicht  freiwillig,  sich  nicht  widerstands- 
los  expropriieren  lassen;  daB  der  Sieg  der  Unterdriickten  iiber 
die  Unterdriicker  demnach  erkampft  sein  will.  Zur  sozialisti- 
schen  Zielsetzung  tritt  die  revolutionare  Weglehre. 

Drittens  eint  sie  das  Wissen  um  die  Fundamentalist  des 
Okonomischen  und  die  Einsicht,  daB  Kulturpolitik  atiBerhalb 
des  Sozialismus  keine  Chance  hat.  Eine  Hauptquelle  der  Kriege, 
zum  Beispiel,  erblicken  sie  in  der  kapitalistischen  Gesellschafts- 
ordnung,  und  sie  sehen  jeden  Kampf  fur  den  Frieden  als  illuso- 
risch  an,  der  nicht  zugleich  Arbeit  fur  die  soziale  Revolution 
ist.  Erst  auf  einer  sozialistischen  Erde  wird  ewiger  Volker- 
friede  moglich  sein. 

Viertens  eint  alle  diese  Gruppen  die  Oberzeugung,  daB 
fur  das  gemeinsame  Ziel  im  Rahmen  der  heutigen  KPD  sq 
wenig  wie  im  Rahmen  der  SPD  ersprieBlich  gearbeitet  werden 
kann.  Nicht,  daB  diese  Parteien  oder  auch  nur  ihre  Fiihrer- 
gremien  aus  lauter  Trotteln  und  Schuften  bestiinden.  Das 
glaubt  niemand;  und  es  ware  lacherlich,  sich  so  zu  stellen,  als 
glaubte  mans.  Aber  beurteilt  werden  mussen  die  Parteien  nach 
ihren  Taten,  das  heiBt  nach  ihren  tonangebenden  Cliquen.  Die 
Kommunistische  Partei,  deren  groBe  strategische  Linie  zu  be- 
jahen  bleibt  (und  deren  Verfolgung  durch  diesen  Staat  uns 
beriihrt,  als  trafe  sie  uns  selbst),  gefallt  tsich  in  einer  wilden, 
psychologielosen,  sturen,  dem  Effekt  nach  gegenrevolutionaren 
Taktik.  Parteimitglieder,  die  diese  Taktik  zu  kritisieren  wa- 
gent  werden  achtkantig  hinausgeworfen,  Gegen  sie  und  gegen 
andre  in  Einzelheiten  abweichende  Kampfnachbarn  und  Ziel- 
genossen  ist  kein  Mittel  zu  schlecht,  keine  Luge  zu  gemein, 
keine  Falschung  zu  plump,  keine  Ehrabschneiderei  zu  dreckig, 
keine  Verleumdung  zu  dumm.  Das  schmierigste  Journalisten- 
gesindel  des  Kontinents  wird  gegen  sie  eingesetzt.  Die  Sozial- 
demokratische  Partei  hat  ihre  Metamorphose  aus  einer  sozia- 
listischen in  eine  republikanisch-konservative,  will  sagen  die 
gegenwartige  ,,Ordnung"  stiitzende  Partei  so  gut  wie  vollendet. 
Rebellen  gegen  diesen  UmwandlungsprozeB  sind  da;  aber  sie 
rebellieren  nur  literarisch.  Rebellieren  sie  einmal  in  der  Tat, 
durch  die  Tat,  durch  einen  Disziplinbruch  etwa  im  Reichstag 
—  auf  dem  nachsten  Parteitag  kuschen  sie  wieder.  Obrigens 
soil  man  den  Mannern  um  Seydewitz  Gerechtigkeit  widerfahren 
lassen.  Zur  Kommunistischen  Partei  konnen  sie  sehr  be- 
greiflicherweise  nicht  iibertreten;  und  in  die  Luft  treten  wollen 
sie  nicht.  Mithin  bleibt  ihnen  nur  iibrig,  zu  bleiben  und  Bitt- 
res  zu  schlucken,  wahrend  ihnen  das  Herz  viel  mehr  danach 

50 


stiinde,  den  Ajidern  Satires  zu  geben,  Moglicherweise  wiirde 
sich  ihr  Verfahren  andern,  wenn  statt  der  tuft,  in  die  sie  tra- 
ien,  Etwas  daware,  worauf  sie  trcten  konnten . . . 

* 

Das  also  trennt,  das  also  eint  die  Gruppen,  von  denen  ich 
spreche.  Wiegt  nicht  das  Einende  zehnfach  schwerer  als  das 
Trennende?  Ich  glaube,  man  muB  zu  diesem  Ergebnis  gelan- 
gen,  wenn  man  die  Dinge  unter  einer  andern  Perspektive  sieht 
als  unter  der  des  Sektiererwinkels.  Zumal  das  Trennende  in 
manchem  Punkte  nicht  so  sehr  Gruppe  von  Gruppe  wie  Person 
von  Person  scheidet  und  durch  die  Systematik  der  Zusammen- 
arbeit  vielleicht  langsam  an  Kontur  verlore,  ja  verschwande. 
In  gemeinsamer  Aktivitat  zielgenossisch  Verbundener  schleifen 
sich  kleine  Gegensatze  ab.  (Ich  hore  den  Einwand:  „Ja  oder 
Nein  zur  Sowjetunion,  das  ist  doch  kein  .kleiner  Gegensatz'!" 
Stimmt,  Aber  es  ware  da  sehr  wohl  €in  Ausgleich  denkbar, 
der  an  der  Solidaritat  mit  der  Sowjetunion  so  wenig  Zjw^eifel 
laBt  wie  an  der  Erforderlichkeit  internationalen  proletarischen 
Zusammenhalts  iiberhaupt,  einschlieBlich  der  Notwendigkeit 
einer  zentralen  Verwaltung  der  klassenlosen  Gesellschaft  der 
Zukunft,  aber  fiir  die  revolutionare  Verwirklichungspolitik  in 
vorrevolutionaren  Landern  internationalen  Zentralismus  —  Dik- 
tat, nicht  Rat  etwa  —  ablehnt.) 

Immerhin:  das  Trennende  bedeutet  wohl  einstweilen  zu- 
viel,  um  eine  Verschmelzung  der  Biinde  zu  Einem  Bund  zu  ge- 
statten;  schon  die  Entriistungsrufe  der  Orthodoxen:  „Misch- 
masch!  Einheitsbrei!  Wirrwarr!"  verdurben  den  Plan.  Aber 
es  bedeutet  bestimmt  zu  wenig,  um  einen  ZusammenschluB  zu 
verbieten,  der  den  einzelnen  Biinden  ihre  programmatische  und 
organisatorische  Selbstandigkeit  lieBe. 


Fur  einen  ZusammenschluB  dieserart  pladiere  ich.  Fiir  ein 
KARTELL  REVOLUTION AR-SOZIALISTISCHER  GRUPPEN. 
Dessen  Organisationsform  sich  freilich  vom  Typus  des  Kartells 
in  einem  wesentlichen  Punkte  unterschiede. 

Kartell  —  das  ist  ein  Bund  von  Biinden.  Dieses  hier 
jniiBte  seine  Tore  auch  Einzelpersonen  offenhalten.  Warum? 
Weil  unter  Hunderttausenden  sozialistisch  gesinnter  Proleta- 
Tier  in  Deutschland,  die .  politisch  heimatios  sind,  ein  Hunger 
nach  Heimat  herrscht,  den  zu  befriedigen  suchen  der  Verwirk- 
lichung  des  Sozialismus  dienen  heiBt,  Von  den  13165  522 
Reichstagswahlern,  die  bei  den  letzten  Wahlen  fiir  die  sozial- 
demokratische  und  fiir  die  kommunistische  Liste  stimmten, 
waren  fast  zwolf  Millionen  weder  dieser  noch  jener  Partei 
als  Mitglieder  angeschlossen.  GewiB  sind  unter  den  zwolf 
Millionen  eine  Unmenge  gedankentrager,  indiffcrenter,  ego- 
zentrischer,  opferunlustiger  Leute;  gleichfalls  eine  Unzahl  ver- 
schwommener  Gefiihlssozialisten;  wer  aber  wolite  bezweifeln, 
daB  auch  Millionen  darunter  sind,  denen  es  an  dem  guten  Wil- 
len,  in  einer  groBen  Gemeinschaft  fiir  den  Sozialismus  zu  ar- 
beiten  und  zu  kampfen,  nicht  fehlt  und  die  aus  bestimmten, 
klarent    horenswerten,    gradezu    richtigen    Griinden   diese    Ge- 

51 


meinschaft  wedcr  in  der  SPD  noch  in  der  KPD  schn?  Sic 
wahlen  am  Wahltag  nach  dem  Prinzip  des  klcinsten  Obels; 
man  sollte  ihnen  den  Anschlufi  an  eine  politische  Organisation 
ermoglichen,  die  sie  nicht  als  Ubel  zu  deuten  brauchten.  Man 
sollte  ein  Becken  schaffen,  das  keineswegs  nur  die  ,,Stromun- 
gen"  aufnimmt,  die  revolutionar-sozialistischen  jenseits  SPD 
und  KPD,  keineswegs  nur  die  Kollektive,  sondern  auch  alien 
atomisierten  Sozialismus,  alle  Einzelnen,  alle  Tropfen.  Sam- 
melnf     Darauf  kommt  es  an. 

Die  Einzelmitglieder  miiBten  sich  innerhalb  des  Kartells  zu 
einer  Gruppe  vereinigen  durfen,  die  im  AktionsausschuB  neben 
den  Vertretern  der  Biinde  ihre  Vertretung  hatte. 

Das  Ganze:,  eine  MischiQrm,  gleich  w«it  entfernt  vom  fest- 

gefiigten   Bund   wie   vom   lockern   Zweckverband;    kein   Parti- 

kularismus   der   Gruppen,   aber  auch   kein  Unitarismus.      Was 

sich  spater  aus  dem  Gebilde  entwickeln  wird,  ist  eine  Fragef 

die  im  An  fang  ruhig  offen  bleiben  darf.     Hatte  ich  nicht  die 

Hoffnung,  daB  die  Gruppen  allmahlich  ineinanderwachsen,  daft 

von  rechts  und  von  links  her  viel  Masse  ankristallisiert,   daB- 

dies  Kartell  .schlieBHch  zur  Briicke  wird  zwischen  Dem,   was 

hochwertig,    kraftvoll,     zukunitstrachtig    ist    in    der    Kommu- 

nistischen  Partei,  und  den  ehrlichen   aber  ohnmachtigen  Sozia- 

listen  in  der  Sozialdemokratie  —  dann  schliig  ich  nicht  vorr 

was  ich  vorschlage,     Es  ware  verfehlt,  eine  neue  Partei  mor- 

gen  griinden  zu  wollen;  es  ware  ebenso  verfehlt,  Moglichkeiten 

zu  drosseln,  die   entstehn,  wenn  aus  Starrem  Bewegung  wird* 

und  die  endlich,  endlich  zu  groBer  Verwirklichung  fiihren  kon- 

nen.     Jawohl,  A,  Sch.  in  der  .Arbeiterpolitik'  hat  recht,  wenn 

er  sich  scharf  gegen  die  Propagierung  eines  Parteigebilds  wen- 

det,  das  nur  t,ein  neuer  Damm  gegen  den  Kommunismus    sein 

wxirde".     Heute  ist  die  Kommunistische  Partei  selber  ein  sol- 

cher   Damm;   und   es   konnte  die  Zeit  kommen,      wo  man   ihn 

durchstoBt.    Jahr  um  Jahr  von  auBen  an  der  „Gesundung"  die- 

ser  Partei  arbeiten  —  prachtiger  Arzt-Idealismus!    Ich  fiirchte 

bloB:  vergeudete  Kraft. 

* 

Ein  BiLndnis  der  freien  revolutionaren  Sozialisten  ist  wenigr 
ist  nur  ein  Anfang,  ist  ein  winziger  erster  Schritt  zur  Roten 
Einheit.  O  tut  ihn!  So  geringfiigig  er  ware  —  er  ware  Tat, 
er  wiirde  hinausfuhren  aus  der  Ode,  aus  der  HoHnungslosigkeit, 
Erfolggarantien  sind  hier  nicht  gegeben;  aber  es  gibt  Manches, 
was  Mancher  in  den  Fingerspitzen  hat.  Eine  Sehnsucht  liegt 
in  der  Luft,  die  erfiillt  sein  will.  Wie  billig,  hier  zu  spotten; 
iiber  das  Sammelsurium  von  Zwerggruppchen,  oder  ahnlich.  (Was 
haben  denn  die  deutschen  Mammutparteien  an  sozialistischer 
Wirklichkeit  zuwege  gebracht?)  Weit  kostspieliger:  die  Krafte 
zu  erkennen,  die  grade  in  diesen  unabhangigen  kleinen  Biinden 
wirken,  und  die  Parallelitat  ihres  wesentlichen  Wollens.  Da 
sind  erprobte  Praktiker  des  Klassenkampfs;  da  ist  beste  linke 
Jugend;  da  sind  in  bedeutender  Zahl  Theoretiker  und  Publi- 
zisten  —  sie  reden  Alle  ein  klein  wenig  eine  andre  Sprache, 
sie  mussen  zueinander.  Als  eingefleischter  Theoretiker  sag,  ich: 
Theoretisieren  wir  nicht  zuviel!  Zwar  keine  Verwaschenheiten 
(also  ohne,  Demokraten;  ohne  Syndikalisten;  ohne  umgekippte 

52 


Nationalisten) ;  doch  auch,  bitte,  nicht  allzu,  allzu  dogmen- 
streng!  Anerkennt,  zum  Beispiel,  den  Inhaltswandcl  des  Be- 
griffs  .Proletarische  Klasse1;  anerkennt  die  Umstrittenheit  des 
Historischen  Materialismus!  Wir  miissen  zueinander.  Um  ge- 
meinsam  in  Flufl  zu  bringen,  was  stockt.  Seien  wir  jung,  un- 
starr,  bewegt,  bewegend!  Vielleicht  hilft  gar  nichts;  aber  hilft 
Etwas,  dann  Das. 

Groupons-nous,  et  demain .  . .  / 

Die  getarilte  SchUpO   von  Jakob  Links 

VV/  enn  man  sich  die  Auff a&sung  leitender  Beamter  im  berliner 
Polizeiprasidium  und  im  PreuBischen  Innenministerium 
tiber  die  augenblickliche  innerpolitische"  Lage  zu  eigen  macht, 
so  muB  man  mit  ihnen  den  unmittelbar  bevorstehenden  Biirger- 
krieg  erwarten.  Wiederum,  wie  in  den  Tagen  vor  dem  un- 
gliickseligen  Mai  1929,  vertreten  unsre  beamteten  Hiiter  der 
Ruhe  und  Ordnung  die  These,  daB  nur  auBerste  Strenge  und 
riicksichtsloses  Vorgehen  die  unruhige  Masse  im  Zaum  halten 
konne.  Wiederum  zucken  sie  hohnisch  die  Achseln  iiber  den 
Laien,  der  ihnen  etwa  auseinandersetzt,  daB  es  im  Mai  1929 
nur  deshalb  zu  Unruhen  in  Berlin  kam,  weil  der  damalige 
Polizeiprasident  die  Demonstrationen  verboten  hatte;  {iberall 
sonst  im  Reiche  war  es  vollig  ruhig  geblieben,  aus  dem  ein- 
fachen  Grunde,  weil  man  dort  die  iiblichen  Aufmarsche  ge- 
stattet  hatte.  Druck  von  oben  erzeugt  allemal  Gegendruck  von 
unten  —  eine  Formel,  die  von  jeher  in  der  Geschichte  gilt. 
Die  deutsche  Sozialdemokratie  insbesondere  ist  eine  Nutz- 
nieBerin  dieser  Formel  gewesen:  sie  verzehnfachte  sich  unter 
dem  Sozialistengesetz,  das  erlassen  worden  war,  um  die  Be- 
wegung  zu  erledigen. 

Herr  Severing  denkt  heute  anders,  denn  er  ist  ein  Staats- 
mann  geworden.  Freilich  ein  Staatsmann,  dem  beide  Hande 
gebunden  sind.  Nur  einen  einzigen  Finger  hat  man  ihm  frei- 
gegeben.  Und  mit  diesem  Finger  regiert  er,  regiert  er  gegen 
die  Kommunisten.  Freilich  auch  nicht  nach  eigner  Willkiir, 
sondern  je  nach  den  Bediirfnissen  und  im  Auftrage  der  preuBi- 
schen  Regierungskoalition  und  der  noch  weiter  nach  rechts 
orientierten  Reichsregierung.  Das  wahre  Wesen  eines  Staats- 
mannes  zeigt  sich  darin,  ob  und  wieweit  er  versteht,  es  alien 
denen  recht  zu  machen,  die  mit  ihm  und  hinter  ihm  den  Staat 
beherrschen.  Karl  Severing,  durch  langjahrige  Ministerschaft 
im  Reich  und  in  PreuBen  von  den  letzten  Staubkornchen  der 
blauen  Metallarbeiterbluse  befreit  und  in  alien  KompromiB- 
sattein  gerecht,  ist  in  den  letzten  Wochen  doch  mit  all  seiner 
Kunst  erheblich  in  Verlegenheit  gekommen.  Es  gibt  eben 
Situationen,  in  denen  man  nicht  alien  Herren  zugleich  dienen 
kann, 

Nehmen  wir  die  Geschichte  der  Spartakiade.  Es  ist  all- 
gemein  bekannt,  daB  dieses  Arbeitersportfest  erst  erlaubt  und 
dann  verboten,  dann  noch  einmal  erlaubt  und  schlieBlich  end- 
giiltig  verboten  wurde.  Auch  die  Grunde  wurden  jedesmal  be- 
kanntgegeben.  Sie  klangen  so  wenig  plausibel,  daB  wohi  auch 
der  naivste  Zeitungsleser  ahnte,    es  seien    nicht  die    wahren. 

3  53 


Und  manch  einer  hattc  wohl  auch  das  instinktive  Gefiihl,  daB 
in  den  Zimmern  des  gelbgetiinchten  Palastes  Unter  den  Linden 
der  groBe  Severing,  von  Gewissenskonflikten  geplagt,  Gegen- 
order  auf  Order  gab  und  schlieOlich  selbst  nicht  mehr  wuBte, 
was  er  zuletzt  angeordnet,  noch  gar,  wen  er  mit  seinem  end- 
giiltigen  Verbot  vor  den  Kopf  gestoBen  und  wem  er  geniitzt 
hatte.  Er  wollte  es  alien  recht  machen  und  am  rechtesten  na- 
tiirlich  seiner  Sozialdemokratie  —  aber  die  Koalition  im  Reich 
war  starker,  und  so  fiigte  er  sich  ins  Unvermeidliche. 

Es  ist  namlich  falsch  zu  glauben,  daB  Severing  froh  war, 
die  Spartakiade  endgiiltig  unterdriicken  zu  konnen.  Viel,  viel 
lieber  hatte  er  sie  zugelassen,  denn  von  kommunistischer  Seite 
hatte  man  ihm  vorher  deutlich  ztl  verstehen  gegeben,  daB 
der  Volksentscheid  des  Stahlhelms  vor  der  Tiir  stehe.  Was 
hat  der  Volksentscheid  mit  der  Spartakiade  zu  tun?  Oh,  sehr 
viel!  Und  Genosse  Severing  begriff  es  sofort:  der  Stahlhelm- 
Volksentscheid  kann  nur  dann  einen  Erfolg  haben,  wenn  auBer 
der  Rechtsopposition  mindestens  auch  ein  Teil  der  Kommu- 
nisten  seine  Stimme  abgibt.  Moglich,  daB  der  Volksentscheid 
auch  so  gelingt  —  mit  den  kommunistischen  Stimmen  ist  das 
Ergebnis  bombensicher.  Ein  ganz  einfaches  Rechenexempel, 
das  Severing  und  Braun  schon  wiederholt  ganz  heimlich  still 
und  leise  fiir  sich  ausgerechnet  haben. 

Das  erste  Verbot  der  Spartakiade  muBte  erlolgen,  da  man 

tleichzeitig  den  Propagandafeldzug  von  Goebbels,  der  mit  dem 
tadion-Sportfest  seinen  Hohepunkt  erreichen  sollte,  erfolg- 
reich  stoppte.  Aber  wahrend  Goebbels  darau!  verzichtete,  mit 
Severing  in  Unterhandlungen  zu  treten,  kam  mit  dem  Sparta- 
kiade-AusschuB  eine  Vereinbarung  zustande,  die  es  dem 
preuBischen  Innenminister  durchaus  moglich  machte,  das  Ver- 
bot wieder  aufzuheben.  Tatsachlich  lieB  sich  ja  auch  der  Cha- 
rakter  dieses  Arbeitersportfestes,  an  dem  ubrigens  auch  zahl- 
reiche  sozialdemokratisch  orientierte  Sportverbande  teilneh- 
men  sollten,  in  keiner  Weise  mit  dem  S,A,-Aufmarsch  im 
Stadion  vergleichen,  der  Goebbels  die  ersehnten  Gelder  fiir  die 
Weiterfiihrung  seines  vollig  verwahrlosten  Zeitungsbetri'ebes 
einbringen  sollte. 

Die  preuBische  Regierungskoalition  war  oder  schien  mit 
dem  zuriickgezogenen  Spartakiadeverbot  stillschweigend  ein- 
verstanden,  Nicht  so  die  Reichsregierung;  Es  begannen  er- 
regte  Rede-Duelle  zwischen  dem  Haus  Unter  den  Linden  und 
dem  Haus  am  Platz  der  Republik.  Immer  wenn  Wirth  den  Re- 
publikaner  markiert,  gleicht  er  einem  lendenlahmen  Kriippel, 
dagegen  strotzt  er  von  Kraft,  Energie  und  Gradlinigkeit,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  eine  reaktionare  Tat  zu  begehen,  Wie 
er  beim  Remarque-Film-Skandal  im  Dezember  uber  Severing 
siegte,  so  auch  diesmal  mit  seiner  Forderung,  die  Spartakiade 
diirfe  nicht  stattfinden*  Severing  unterwarf  sich  —  man  suchte 
nur  noch  nach  einer  Formel,  die  seine  Niederlage  nach  auBen 
hin  etwas  verdecken  sollte.  Zweifellos  hatte  man  sie  gefun- 
den,  da  kam  der  Gliickszufall:  die  kommunistischen  Kra- 
walle  in  der  Frankfurter  Allee,  Ein  Gliickszufall  mehr  fiir 
Wirth  als  fiir  Severing  und  die  Sozialdemokratie:  denn  hatte 
man  vorher  vielleicht,  als  KompromiB,  das  Arbeiter-Sportfest 

54 


nicht  vollkommen  verboten  sondern  nur  erheblich  einge- 
schrankt,  so  muBte  man  nunmehr  jede  Riicksicht  auf  den 
kommenden  Volksentscheid  fallen  lassen.  Ein  Polizist  er- 
schbssen  —  darauf  gibts  seit  Olims  Zeiten  nur  eine  Antwort. 

Severing,  Braun  und  Grzesinski  sind  sich  vollig  im  Klaren 
iiber  die  wahrscheinlichen  Folgen  ihres  mit  dem  Spartakiade- 
Verbot  begonnenen  Feldzugs  gegen  die  Kommunisten.  Sie 
haben  ihix  diesmal  wahrlich  nicht  gern  begonnen,  aber  nach- 
dem  der  erste  Schritt  auf  Befehl  des  Zentrums  getan  werden 
muBte,  gibt  es  keinen  Stillstand  und  erst  recht  keinen  Schritt 
zuriick  mehr.  Den  politischen  MaBnahmen,  auch  den  verhang- 
nisvollsten  und  widersinnigsten,  wohnt  eine  politische  Logik 
inne,  der  sich  niemand  entziehen  kann,  Auf  das  Verbot  des 
Sportfestes  folgt  jetzt  das  Verbot  der  ,Roten  Fahne\  Und 
schon  erwagt  man  ein  Verbot  der  ganzen  kommunistischen 
Partei  in  PreuBen,  Man  muB  es  erwagen,  denn  der  Terror  von 
oben  hat  die  Massen  derart  radikalisiert,  daB  man  immer  nur 
mit  noch  groBerm  Terror  antworten  kann.  Ein  blutiger  Trep- 
penwitz  der  Weltgeschichte,  daB  die  Sozialdemokraten  heute 
mit  eben  deriselben  brutalen  Zarenpolizeimitteln  das  Land  be- 
herrschen  miissen,  gegen  die  sie  fiinizig  Jahre  lang  das  Ge- 
wissen  der  ganzen  Welt  aufgerufen  haben. 

Der  Fall  des  Schupowachtmeisters  Nietz,  um  dessentwillen 
die  ,Rote  Fahne'  verboten  wurdet  ist  mehr  als  in  einer  Hin- 
sicht  charakteristisch.  Unter  dem  Druck  der  sensationellen 
Aussage  dieses  Beamten  vor  Gericht  hat  das  Polizeiprasidium 
in  einer  offentlichen  Erklarung  jetzt  zugeben  muss  en,  daB  es 
iiblich  seit  Schutzpolizeibeamte  in  Zivil  unter  die  Menge  zu 
verteilen.  Diese  Erklarung  wurde  in  der  Presse  veroffentlicht 
und  von  einem  groBen  Teil  biirgerlicher  Zeitungen  in  gebuhren- 
der  Form  gewiirdigt.  In  der  Tat  muBte  es  aufs  Hochste  be- 
fremden,  gelegentlich  zu  erfahren,  daB  PreuBens  Polizei  mit 
Tscheka-Methoden  arbeitet.  Die  Kriminalpolizei  hat  die 
Pflicht,  sich  zu  tarnen,  um  Verbrechen  besser  auf  die  Spur  zu 
kommen.  Die  Schutzpolizei  aber  ist  die  uniformierte  Schiitze- 
rin  des  Staates  und  tritt  als  solche  off  en  und  mit  alien  erdenk- 
lichen  Hilfsmitteln  versehen  dem  Gegner  entgegen.  Nun  also 
horten  wir  plotzlich,  daB  seit  Jahr  und  Tag  Schutzpolizisten  als 
Arbeiter  verkleidet  sich  unter  die  Menge  mischen,  um  dann, 
wenn  eine  strafbare  Handlung  begangen  werden  soli,  flugs  den 
Revolver  aus  der  Tasche  zu  ziehen. 

Nach  dem  letzten  SchieBerlaB  von  Severing  soil  der  Poli- 
zist nicht  mehr  wie  bisher  zunachst  nur  Schreckschiisse  in  die 
Luft  abgeben  sondern  moglichst  sofort  scharf  schieBen.  (Auch 
dieser  Erlafi  beweist  wiederum,  wie  man  sich  im  Innenministe- 
rium  praktisch  auf  den  Biirgerkrieg  vorbereitet).  Also  auch 
der  getarnte  Schutzpolizist,  der  mitten  in  der  Menge  steckt, 
soil  schieBen.  Vielen  von  uns  wird  ein  Licht  aufgehen:  hat 
man  nicht  schon  hundertmal  gehort,  daB  bei  irgendwelchen 
Demonstrationen  „plotzlich  ein  SchuB  aus  der  Menge  fiel"  und 
daB  darauf hin  die  Schutzpolizei  entweder  ebenfalls  schoB  oder 
wenigstens  mit  Gewalt  vorging.  Man  darf  also  nach  dem  Ein- 
gestandnis  des  Polizeiprasidiums  von  jetzt  an  leise  Zweif  el.  dar- 
iiber  hegen,  ob  plotzlich  aus  der  Men^e  fallende  Schiisse  von 

55 


einem  Demonstranten  selbst  stammen  oder  abcr  von  einem  ge- 
tarnten  Schutzpolizisten,  Der  braucht  seinen  Revolver  durch- 
aus  nicht  etwa  in  provokatorischer  Absicht  gezogen  zu  haben, 
er  glaubte  sich  vielleicht  in  Bedrangnis  oder  hielt  es  fur  notig, 
seinen  Kollegen  in  Uniform  ein  Zeichen  zu  geben.  Aber  kann 
irgend  jemand  in  solchen  Situationen  unterscheiden,  wer  ge- 
schossen  hat?  Eine  hollischc  Situation  iibrigens  fur  den  ein- 
zelnen  Beamten.  Er  muB  sich  auftragsgemafi  unter  die  Massen 
mischen  und  unter  Umstanden  sofort  Verhaftungen  vornehmen. 
Das  kann  ihm  iibel  bekommen:  -das  mindeste,  was  ihm  passiert, 
ist  die  gewaltsame  Entwendung  seines  Dienstrevolvers  durch 
die  mit  Recht  emporte  Menge. 

Nun  hatte  die  ,Rote  Fahne*  behauptet,  aus  der  Aussage 
des  Schupowachtmeistexs  Nietz  ginge  hervor,  daB  die  getarn- 
ten  Beamten  durchaus  nicht  etwa  nur  die  Aufgabe  hatten,  be- 
drohliche  Situationen  im  Keim  zu  ersticken,  sondern  daB  sie 
solange  mitzumachen  hatten,  bis  die  uniformierte  Polizei  in 
Aktaon  tritt.  Es  ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  kein  schwere- 
rer  Vorwuri  gegen  die  Polizei  erhoben  worden  als  dieser.  Das 
Polizeiprasidium  hat  sich  denn  auch  beeilt,  in  seiner  Erklarung 
mit  Entrustung  die  Behauptung  einer  provokatorischen  Tatig- 
keit  seiner  Beamten  zuruckzuweisen.  Aber  diese  Erklarung 
selb«t  hat  eine  eigentumliche  Geschichte;  sie  existiert  in  zwei 
Fassungen.  Die  erste  Fassung,  die  der  Presse  zunachst  mitge- 
teilt  wurde,  hinterlieB  einen  derartig  ungiinstigen  Eindruck 
bei  den  Journalisten,  daB  man  im  Polizeiprasidium  mit  hochster 
Hast  einen  sehr  wichtigen  Satz  nachtraglich  herausstrich.  In 
diesem  Satz  hieB  es  etwa,  daB  sich  der  getarnte  Beamte,  in 
diesem  Falle  also  der  Schupowachtmeister  Nietz,  auftragsge-. 
mafi  dem  Vorgehen  der  Menge  ,,eingefugt"  habe,  als  diese 
daran  ging,  sich  mit  Pflastersteinen  zu  bewaffnen.  Ein  hochst 
aufischluBreiches  Bekenntnis!  Denn  wenn  es  wirklich  stimmt, 
daB  der  getarnte  Beamte  lediglich  die  Aufgabe  hat,  sich  sofort 
zu  erkennen  zu  geben,  so  wie  die  Situation  bedrohlich  zu  wer- 
den  beginnt,  so  hatte  er  doch  auf  keinen  Fall  die  Bewaffnung 
mit  Steinen  dulden  diirfen!  Er  hat  es  aber  nicht  nur  geduldet 
sondern  hat  feste  mitgemacht,  ganz  so  als  sei  er  selbst  ein 
Kommunist.  Und  auch  das,  gerade  das,  war  seine  Aufgabe.  Er 
ist  dafur  noch  belobigt  worden. 

An  diesem  Tatbestand  ist  nicht  zu  riitteln,  er  entstammt 
einer  amtlichen  Erklarung  des  Polizeiprasidiumsf  Freilich 
wurde  sie  nachher  f,uberarbeitet",  Ein  deutlicheres  Schuldbe- 
kenntnis  laBt  sich  nicht  denken.  ■  Wie  lange  glauben  Severing 
und  Grzesinski  mit  diesen  Methoden  Ruhe  und  Ordnung  wah- 
ren  zu  konnen?  Offener  Terror  ist  schlimm,  viel  verhangnis- 
voller  aber  ist  ein  getarnter  Terror,  der  sich  vor  der  Offent- 
lichkeit  den  Anschein  gibt,  nur  eine  moralisch  berechtigte  Ab- 
wehrmaBnahme  zu  sein.  Mit  als  Arbeiter  verkleideten 
Schupos,  die  Steine  werfen,  ist  kein  Staat  zu  machen  und  erst 
recht  kein  Staat  zu  verteidigen. 

Naheres  dariiber  und  iiber  die  Folgen  mogen  Innenminister 
und   Polizeipraisident    in-    den  Vorkriegsbanden    des   ,Vorwarts' 
nachlesen,   tails  diese   nicht   auf   Grund  der   Notverordnungen 
langst  eingestampft  sind. 
56 


Gewerkschaft  der  Schriftsteller  Erkh  musm 

A  Is  vor  einigen  Wochcn  Fran  Kate  de  Neuf  ihren  tapferen, 
^^  selbstlosen  Kampf  gegen  die  Bureaukratie  der  Schauspie- 
lerorganisation,  die  sich  mit  Unrecht  Buhnengenossenschaft 
nennt,  an  dieser  Stelle  in  die  Offentlichkeit  hinaustrug,  moch- 
ten  die  von  ihr  mitgeteilten  Tatsachen  den  in  benachbarten 
Bezirken  Heimischen  zwar  in  Einzelheiten  liberraschen,  —  an 
ihrer  Schilderung  der  allgemeinen  organisatorischen  Verha.lt- 
nisse  aber  verbliiffte  nur  die  zwillinghafte  Ahnlichkeit  mit  den 
inneren  Zustanden  in  verwandten  Verbanden  frei.  schaffender 
Erwerbstatiger.  Sollte  ich  durch  meinen  Vergleich  des  Regimes 
Wallauer  mit  der  Leitung  der  groBten  deutschen  Schriftsteller- 
organisation  Geheimnisse  des  Schutzverbandes  Deutscher 
Schriftsteller  profaner  Zeugenschaft  preisgeben,  so  sind  es  nur 
solche,  deren  peinliche  Diifte  langst  den  Weg  ins  Freie  gefun- 
den  haben  und  den  Eingeweihten  ohnehin  oft  genug  der  Frage 
AuBenstehender  aussetzen:  Was  geht  eigentlich  im  SDS  vor? 
Ich  darf  es  mir  ersparen,  die  zahllosen  Vorwiirfe  aufzuzah- 
len,  die  von  einer  in  der  berliner  Ortsgruppe  des  Verbandes 
schon  zur  Mehrheit  angewachsenen  Opposition  gegen  den  Vor- 
stand  erhoben  werden,  und  aul  Angriffe  gegen  bestimmte 
Personen  will  ich  grundsatzlich  verzichten,  weil  sie,  berechtigt 
oder  nichtt  vom  notwendigen  Kampf  gegen  die  im  System  be- 
griindeten  MiBstande  abfiihren.  Auf  den  SDS  trifft  genau  das 
zu,  was  Walther  Karsch  (in  Nurnmer  24)  mit  Bezug  auf  die 
Buhnengenossenschaft  als  den  ,,Tenor  aller  Klagen"  so  for- 
muliert  hat;  „, . .  die  Leitung  . .  ,  sei  verkalkt,  sie  laufe  in  vollig 
ausgetretenen  Bahnen,  es  wiirden  keine  neuen  Wege  zur  Ober- 
windung  der  katastrophalen  Zustande  gesucht".  Auch  daB 
diese  Behauptung  sich  bei  der  Lektiire  des  Verbandsorgans  nur 
bestatigt,  kann  im  .Schriftsteller'  so  gut  wie  im  ,Neuen  Weg' 
nachgepriift  werden.  Frau  de  Neuf  stellt  fiir^  die  Buhnenge- 
nossenschaft mit  tiberzeugenden  Angaben  fest,  daB  das  Pra- 
sidiumf  verborgen  hinter  einem  jeder  Kontrolle  entr(icktent 
selbstherrlichen  Wirtschaftsgebaren,  den  Verwaltungsetat  der 
Organisation  ungebuhrlich  aufblaht  und  dariiber  die  berechtig- 
ten  Anspriiche  der  Mitgliedschaft  auf  Wahrung  und  Forderung 
aller  ihrer  sozialen  und  beruflichen  Interessen^  zumal  auch  im 
Falle  der  Erwerbsunfahigkeit  und  Erwerbslosigkeit  zu  kurz 
kommen  laBt.  Die  Beanstandungen  der  Geschaftsfiihrung  im 
SDS  laufen  in  derselben  Richtung.  Frau  de  Neuf  beschwert 
sich,  daB  Anfragen  an  die  Fiihrung,  die  KJarheit  schaffen 
sollen,  nicht  oder  unsachlich  beantwortet  werden.  Di^selben 
Beschwerden  auch  bei  uns.  Frau  de  Neuf  berichtet,  daB  ihre 
Kritik,  ihre  Zweifel,  ob  rationell  gewirtschaftet  wiirde,  AnlaB 
wurden  zu  Entriistungsstiirmen  gegen  die  Anklagerin  undi  denn 
auch  ein  AusschluBverfahren  herbeiwehten,  da  sie  ,,das  An- 
sehen  der  Genossenschaft  in  groblicher  Weise  geschadigt 
habe."  Genau  unser  Fall.  Zwei  oppositionelle  Mitglieder  des 
Schriftstellerverbandes  —  beide  iibrigens  keine  politisch  Radi- 
kalen  —  haben  es  sich  im  besonderen  MaBe  angelegen  sein 
lassen,  das  Verhalten  des  Hauptvorstandes  zu  uberwachen. 
Ihre  ganz  auf  die  Wahrung  der  Mitgliederinteressen  gerichtete 

57 


Wachsamkeit  veraniaBte  sic  zu  dcutlicher  Kennzeichnung  der 
ihnen  unhaltbar  scheinenden  Vorgange.  Der  Vorstand  suchtc 
aus  der  Fulle  ihrer  prinzipiellen  Beans tandungen  die  wenigen 
Punkte  heraus,  die  aus  vollig  ungeklarten,  unkontrollierbaren 
Absonderlichkeiten  irrige  Vermutungen  ableiteten,  konstiruierte 
hieraus  Beleidigungen,  Verleumdungen  und  das  erforderliche 
verb  andsschadig  end  e  Verhalten  —  und  schmierte  die  Aus- 
schluBguillotine.  Es  handelt  sich  um  ein  berliner  Mitglied  und 
um  den  Vertreter  eines  groBen  Gaues.  Beide  haben  in  der 
Delegiertenversammlung  im  Auftrage  derer  gesprochen,  deren 
Vertrauen  sie  hatten;  beide  wurden  daraufhin  personlich  her- 
genommen.  Man  versuchte,  ein  Exempel  zu  statuieren,  das  die 
Opposition  insgesamt  treffen  und  abschrecken  sollte. 

In  einer  Hinsicht  ist  die  Schrif tsteller-Opposition  wesent- 
lich  giinstiger  gestellt  als  die  Opposition  der  Biihnengenossen- 
schaft.  Die  Kommunisten  sind  von  Frau  de  Neuf  abgeriickt, 
well  ihre  Aktion  nicht  mit  der  Taktik  der  ganz  schematisch 
und  in  Kunstdingen  ahnungslos  und  unpsychologisch  vorg  eh  en- 
den  RGO-Zentrale  iibereinstimmte.  Das  ware  im  SDS  un- 
moglich  gewesen.  Hier  hat  die  Opposition  die  gute  Haltung 
gehabt,  Herrn  David  Luschnat,  obwohl  er  in  vielem  ganz  selb- 
standig  vorgegangen  war,  fiir  die  Wahl  in  den  Vorstand  der 
berliner  Ortsgruppe  vorzuschlagen,  und  das  unmittelbar  nachdem 
•der  Hauptvorstand  —  unter  Teilnahme  von  Scherbenrichtern,  ge- 
gen  die  selbst  AusschluBantrage  von  oppositionellen  Mitgliedern 
eingebracht  sind  —  seinen  AusschluB  verhangt  hatte.  Die 
letzte,  Mitgliederversammlung,  die  sehr  stark  besucht  war, 
hat  zum  Zeichen,  daB  sie  den  AusschluB  nicht  anerkennt, 
Luschnat  die  meisten  Stimmen  gegeben,  die  uberhaupt 
auf  einen  der  Beisitzer-Kandidaten  entfielen.  Gegen  ein  Re- 
giment von  oben,  das  seiner  diktatorischen  Machtanspriiche 
wegen  beseitigt  werden  soil,  kann  nur  in  einiger  Kameradschaft 
der  Unzufriedenen  gekampft  werden.  Kameradschaftliche 
Einigkeit  aber  kann  da  nicht  erreicht  werden,  wo  eine  Gruppe 
ihrerseits  wiederum  autoritare  Ansprtiche  stellt  und  die  Kraft, 
die  sich  als  Sturmbock  exponiert^  mitten  im  Kampf  allein.lafit. 

Um  den  Kampf  igegen  eine  unbeaufsichtigt  schaltende 
Klungeldespotie  im  Hauptvorstand  geht  es,  nicht  etwa,  wie  be- 
hauptet  wird,  um  Verdachtigung  einzelner  Herren.  Ich  selber 
lehne  es  ausdriicklich  ab,  mir  irgend  einen  ehrenriihrigen  Vor- 
wurf  gegen  Vorstandsmitglieder  zu  eigen  zu  machen.  Ich  unter- 
s telle  als  selbst  verstandlich,  daB  niemand  sein  personliches 
materielles  Interesse  iiber  Verbandsinteressen  gestellt  hat.  Je 
weniger  die  grundsatzlichen  Anklagen  mit  Moraluntersuchun- 
gen  belastet  werden,  um  so  schwerer  wiegen  sie. 

Aus  dem  Tatsachlichen  nur  eine  kleine  Auswahl:  Seit 
Jahren  wurde  in  der  berliner  Ortsgruppe  um  die  Anerkennung 
als  selbstandiger  Gau  im  Verbande  gekampft.  Diese  weitaus 
grofite  aller  Gruppen  unterstand  namlich  in  beschamender  Ab- 
hangigkeit  der  Vormundschaft  des  Haupt  vorstand  es.  Sie  hatte, 
im  Gegensatz  zu  viel  kleinern  Gruppen  in  der  Provinz,  keine 
eigne  Kassenfuhrung  und  konnte  sogar  neue  Mitglieder  nicht 
nach  eigner  Entscheidung  aufnehmen.  Es  erfolgten  Ableh- 
nungen    durch    den   Hauptvorstand  unter   fadenscheinigen   Be- 

58 


griindungen,  und  2 war  nur  in  Fallen,  die  eine  Starkung  der 
Opposition  erwarten  lieBen.  Der  Kampf  gegen  diese  Entrech- 
tung  fiihrte  zu  so  scharfen  AuseLnandersetzungen,  daB  Herr 
Robert  Breuer  of  fen  mit  dem  AusschluB  der  ganzen  Opposition 
drohte.  In  der  Generalversammlung  der  berliner  Ortsgruppe 
am  zweiten  Marz  gelang  es  endlich,  die  Mehrheit  dafiir  zu  ge- 
winnen,  daB  Berlin  -zum  Gau  des  Verbandes  erklart  wurde. 
Die  Vorstandspartei  schien  es  hinzunehmen,  Jedoch;  Bis  zum 
heutigen  Tage  hat  das  Verbandsorgan  von  einer  so  folgen- 
reichen  Entscheidung  iiberhaupt  keine  Notiz  genommen;  der 
Berichterstatter  der  Delegiertentagung,  der  friihere  berliner 
Vorsitzende  Doktor  Bohner  uberging  den  Fall  mit  Stillschwei- 
gen,  irgendeine  MaBnahme,  urn  den  EntschluB  praktisch  wirk- 
sam  zu  machen,  ist  nicht  erfolgt,  Weiter:  Bind  end  e  Beschliisse, 
die  den  Vorstand  verpflichteten,  gegen  reaktionare  Regierungs- 
maBnahmen  (Unterdriickung  der  Meinungsfreiheit  und  also 
Beeintrachtigung  der  Arbeit  vieler  Schriftsteller)  offentliche 
Kundgebungen  zu  veranstalten,  blieben  unausgefiihrt,  ebenso 
ein  schon  in  der  vorjahrigen  Delegiertenversammlung  be- 
schlossener  Auftrag  an  den  Vorstand,  bestimmte  Schritte  zu- 
gunsten  solcher  Kollegen  zu  tun,  die  durch  die  Ausiibung  ihres 
Berufs  in  die  Hande  der  politischen  Justiz  geraten  sind.  Die 
diesjahrige  Delegiertenversammlung  war  nicht  nur  hochst 
leichtfertig  vorbereitet;  sie  wurde  auch  von  denen,  die  sie  ein- 
berufen  hatten,  durch  unzulassige,  einseitige  und  vor  den  Ber- 
linern  geheim  gehaltene  Beeinflussung  der  Gaudelegierten  im 
Sinne  der  Vorstandsinteressen  arbeitsunfahig  gemacht  Durch 
hochst  bedenkliche  Machenschaften  wurden  die  Mehrheits- 
beschliisse  nach  dem  Willen  der  regierenden  Gruppe  gelenkt, 
mit  der  Wirkung,  daB  die  Opposition,  darunter  fast  samtliche 
berliner  Delegierte  undt  alle  Fachgruppen-Vertreter,  den  Saal 
verliefien  und  die  weitere  Mitarbeit  verweigerten.  Danach  erst 
lenkte  man  ein  und  nahm  in  Abwesenheit  der  Antragsteller 
einige  ihrer  Antrage  an.  Die  groBe  Mehrzahl  der  Antrage  je- 
doch kam  iiberhaupt  nicht  zur  Verhandlung,  und  wenn  die  an 
diesem  Ergebnis  Schuldigen  immer  wieder  in  den  Zeitungen  er- 
klaren,  im  SDS  sei  alles  in  Ordnung,  nur  ein  Haufen  links- 
radikaler  Stankerer  in  Berlin  erschwere  die  Arbeit,  so  ist  fest- 
zustellen,  daB  nach  dem  Verlauf  der  Hauptversammlung  zwei 
Gaue  beschlossen  haben,  dem  derzeitigen  Vorstand  die  Bei- 
trage  zu  sperren.  Endlich:  in  der  allerletzten  Zeit  hat  der 
Hauptvorstand  in  Gemeinschaft  mit  dem  nicht  beauftragten 
Vorstand  der  Fachgruppe  der  Presse-Mitarbeiter  statuts- 
widrig  und  hinter  dem  Riicken  der  Mitglieder  ein  Ubereinkom- 
men  getroffen,  wonach  die  Fachgruppe  mit  ihren  hundertneun- 
zig  Mitgliedern  gegen  Zusicherung  bestimmter  Vergunstigungen 
durch  ein  Kartellreglement  aus  dem  SDS  ausscheiden  soil.  Bei 
einer  derart  kraB  verbandsschadigenden  Abmachung  der  Ver- 
bandsleituhg  kann  nur  der  Gesichtspunkt  entschieden  haben, 
die  Opposition  so  empfindlich  wie  moglich  zu  schwachen.  Die 
Angelegenheit  ist  naturlich  noch  nicht  erledigt. 

Hat  man  bei  solchem  Belastungsmaterial  noch  notig,  die 
vollig  unklare  Kassenlage  im  Verbande  verwunderlich  zu  fin- 
den  oder  gar  kriminell  zu  deuten?  Nein,  und  hier  liegt  des  gan- 

59 


zen  Ratsels  Losung.  Der  Verband  lebt  nicht  von  seinen  Bei- 
tragen  und  gelegentlichen  Spenden  privater  Gonner  sondern 
in  ho  hem  Mafic  von  Subventionen  aus  alien  moglichen  Mini- 
stcricn  und  behordlichen  Kanzleien.  Handclte  cs  sich  nur  um 
einen  gesetzlich  festgelegten  Fonds  aus  dem  Kultusministe- 
rium,  so  ware  das  einfach  der  Unterstiitzung  ctwa  der  Volks- 
btihne  aus  offentlichen  Mitteln  gleichzuerachten,  wennschon 
immer  noch  Griinde  genug  da  waren,  lieber  auch  darauf  zu 
verzichten.  Der  SDS  abcr  erhalt  Zuwendungen  aus  derReichs- 
kanzlei,  aus  dem  preufiischen  Inhenministerium,  aus  wer  weiB 
was  fur  Kassen  sonst  noch.  Niemand  weiB,  wie  hoch  diese 
Zuwendungen  sind,  niemand  erfahrt,  in  welcher  Form  sie  er- 
beten  und  gewahrt  werden.  Wenn  immer  wieder  dunkle  Po- 
sten  im  Etat  des  SDS  auftauchen,  die  zu  allem  moglichen  Ge- 
munkel  AnlaO  geben,  so  kann  man  nicht  einmal  wissen,  ob 
nicht  vielleicht  die  Beschaffung  von  Subventionen  selbst  Aus- 
gaben,  natiirlich  finanziell  durchaus  lohnende,  erfordert.  (Ich 
will  nicht  sagen,  daB  ich  das  vermute;  es  soil  blofi  gezeigt 
werden,  was  fiir  Vermutungen  bei  der  finanziellen  Geheim- 
politik  des  SDS  moglich  werden.)  Die  Herren  des  Vorstands 
versichern  glaubhaft,  daB  die  Hergabe  von  Geld  an  den  Ver- 
band noch  niemals  von  irgend  einer  offentlichen  Stelle  an  ir- 
gend  welche  Bedingung  gekniipft  worden  sei.  Aber  das  ist 
auch  gar  nicht  notig.  Trotzdem  ist  man  berechtigt  zu  denken, 
daB  der  Polizeiminister  den  Schriftstellern  zuliebe  seinen  Etat 
nicht  belasten  wird,  wenn  er  nicht  mit  der  Wurst  nach  der 
Speckseite  werfen  wilL  Ich  halte  es  fiir  zweifelhaft,  ob  alle 
Zuwendungen  in  voller  Hohe  weiter  bezahlt  worden  warent 
wenn  der  Schutzverband  nach  dem  Willen  der  Opposition 
dauernd  Alarm  geschlagen  hatte  gegen  die  Kulturreaktion,  ge- 
gen  das  klerikale  Regiment  im  Staate,  gegen  alle  die  Dinge, 
die  die  Freiheit  des  Geistes  beschranken;  wenn  er  die  sozia- 
len  Ungerechtigkeiten  der  Briiningschen  Gesamtpolitik  im 
Bunde  mit  den  iibrigen  armen  Bevolkerungsschichten  durch 
Beteiligung  an  und  Veranlassung  von  Massenprotesten  laut 
beim  Namen  genannt  hatte.  Es  braucht  kein  Wort  weiter  dar- 
iib«r  verloren  zu  werden,  daB  die  Erbittung  und  Annahme  von 
Subventionen  fiir  eine  wirtschaftliche  Vereinigung  verpflich- 
tend  und  damit  entwiirdigend  ist.  Kein  Mensch  wird  aber 
auch  daran  zweifeln,  daB  der  Hauptvorstand,  der  so  zah  auf 
seinem  Posten  sitzt  und  der  so  rigoros  mit  der  Opposition  ver- 
fahrt,  das  in  dem  guten  Glauben  tut,  nur  so  den  Verband  le- 
bensfahig  erhalten  zu  konnen.  Denn  nur  er  fiihlt  sich  —  und 
wahrscheinlich  mit  Recht  —  in  der  Lage,  dank  bester  Be- 
ziehungen  aus  den  verschiedenen  Staatskassen  soviel  heraus- 
zulocken,   daB  der  SDS  halbwegs  leben  kann, 

„Wie  wollt  Ihr  die  Organisation  vor  der  Pleite  schutzen, 
wenn  ihr  aus  lauter  Charakter  keine  staatHchen  Zuwendun- 
gen haben  wollt?"  '  Bei  jeder  Auseinandersetzung  fragen  uns 
die  Herren  das.  Der  §  1  der  Verbandssatzungen  bezeichnet 
den  SDS  in  Klammern  als  „Gewerkschaft  Deutscher  Schrift- 
steller",  Gibt  es  eine  Arbeitergewerkschaft,  die  sich  vom 
Staat  aushalten  laBt,  um  den  Kampf  gegen  die  Ausbeutung  zu 
fiihren,  die  zu  schiitzen  die  wirkliche  Aufgabe  des  Staates 
60 


ist?  Die  Mittcl,  die  den  Arbeitern  zu  Gebote  stehn,  urn  die 
gemeinsamen  Interessen  zu  wahren,  solltan  vielleicht  auch  fiir 
mehrere  tausend  Angehorige  eines  freien  Beruies  anwendbar 
sein.  Die  Schriftsteller  wiirden  die  notwendigen  Beitrage  nicht 
zahlen  konnen  und  wollen?  So  wie  der  Verband  jetzt  ist, 
konnte  er  allerdings  auf  freudige  Opfer  seiner  Mitglieder 
schwer  hoff en,  Ein  Verband  Ausgebeuteter  —  und  wie  driickend 
die  Ausbeutung  der  Autoren  und  der  Journalisten  durch 
die  Buch-  und  Zeitungsverleger  ist,  davon  macht  sich  der 
Fernstehende  schwerlich  einen  Begriff  —  muB  Wirkung  sehn 
in  der  Arbeit  seiner  Interessenorganisation,  um  ihre  Erhaltung 
nicht  als  Opfer  zu  empfinden.  Solche  Wirkung  wird  nicht  er- 
setzt  durch  eine  gelegentliche  Rechtsberatung  und  allerlei  ge- 
lenkige  Diplomatie.  Am  wenigsten  wird  Opferfreudigkeit  da- 
durch  erzielt,  daB  die  Leitung  des  Verbandes  Methoden  an- 
wendet,  die  denen  zum  Verwechseln  ahneln,  denen  der  Aus- 
gebeutete  die  Hauptschuld  an  seinem  Elend  beimifit.  Um 
deutlich  zu  sein:  das  Verfahren  der  Breuer-Clique  im  Schutz- 
verband,  ebenso  wie  das  der  Wallauer-CIique  in  der  Biihnen- 
genossenschaft  (in  den  Verbanden  der  Musiker  und  der  bilden- 
den  Kiinstler  soil  es  ganz  ahnlich  sein,  nur  daB  sich  dort  an- 
scheinend  noch  keine  starke  Opposition  hervorwagt)  ent- 
spricht  der  allgemein  bemerkbaren  Tendenz  zur  Fascisierung 
des  politischen  und  wirtschaftlichen  Lebens:  alles  Gute  durch 
Zwang  von  oben;  was  gut,  was  schlecht  ist,  wird  oben  ent- 
schieden;  wer  etwas  dagegen  hat,  wird  —  hier  bildlich,  dort 
tatsachlich  —  totgeschlagen. 

Die  berliner  Ortsgruppe  des  SDS  hat  dieser  Tage  auf 
Vorschlag  der  verexnigten  Opposition  Herrn  Jakob  Schaffner 
zu  ihrem  Vorsitzenden  gewahlt  Das  ist  geschehen,  weil  sich 
Herr  Schaffner  auf  der  Hauptversammlung  im  Mai  zu  einer 
grundlegenden  Erneuerung  der  geistigen  Prinzipien  des  Ver- 
bandes bekannt  hat  Er  will,  daB  die  Schriftsteller  ihre  In- 
teressen, ihre  geistige  Haltung  und  ihre  kulturelle  und  kiinst- 
lerische  Mission  einheitlich  und  in  gemeinsamem  Kampfe  pfle- 
gen.  DaB  er  das  auf  dem  Boden  einer  auf  sich  selbst  gestell- 
ten  Gewerkschaft  erreichen  will,  sicherte  ihm  das  Vertrauen 
der  Mehrheit.  Worauf  wir  aber  —  dies  ist  meine  Ansicht  — 
hinstreben  miissen,  ist,  iiber  die  Gewerkschaft  hinauszugelan- 
gen  undunsrer  geistigen  Solidaritat  die  Form  der  sozialen  Ge- 
nossenschaft  zu  geben.  Eine  Autoren- Verlagsgenossenschaft, 
die  unsre  Abhangigkeit  vom  kapitalistischen  Verleger  zerreiBt, 
ist  keine  Utopie,  sondern  eine  Aufgabe  iiberzeugten  Willens. 
Genossenschaftliche  Verbindung  der  Dramatiker.  mit.  den  Biih- 
nenkiinstlern,  der  Biicherschreiber  mit  den  Illustratoren,  der 
Maler,  Musiker,  Bildhauer,  Tanzer,  aller  Art  Kiinstler  zur  ge- 
meinsamen  Aufnahme  ineinanderfliefiender  Arbeit  —  das  ware 
ein  Ziel,  das  jedes  Mitglied  der  Schriftsteller-  oder  der  Schau- 
spielerorganisation  gern  bereit  machen  wiirde,  von  seinen  spar- 
lichen  Einnahmen  die  hungernden  Kollegen  iiber  Wasser  hal- 
ten  zu  helfen  und  einer  Zukunft  Steuern  zu  zahlen,  die  den 
Geist  der  Freiheit  und  des  Sozialismus  in  den  Aufgabenkreis 
des  Schrifttums  und  der  Kiinste  riickt. 

61 


Wiedersehen  mit  England  von  won  zucker 

T\  as  PaBbuch  hatte  einige  neue  Stempcl  bekommen,  nachdcm 
man  zahllose  uberflussige  Fragen  des  ncugierigen  Immi- 
gration. Officers  beantwortet  hatte,  durch  den  Zoll  war  man 
ohne  Aufenthalt  gekommen,  und  damit  waren  die  Barrieren  ge- 
offnet,  die  dem  Fremden  den  Eintritt  auf  ndas  griine  Eiland  in 
der  Silbersee"  erschweren.  Da  .war  nun  wieder  England,  wol- 
keniiberhangen  und  dunstig  in  der  Kiihle  des  friihen  Morgens. 
Wie  auf  geolten  Schienen  gleitet  der  Zug  dahin,  voriiber  an 
Schafherden,  die  wohl  im  Freien  iibernachten,  an  Hopfengarten 
und  erwachenden  kleinen  Fabrikstadten,  iiber  denen  weiBe 
Rauchwolken  gegen  den  grauen  Himmel  stehen.  Die  Land- 
straBenj  Ziehen  sich  glatt  und  schwarz  neben  der  Eisenbahn 
nach  Westen,  London  entgegen.  Und  da  war  sie  wieder,  diese 
einzigartige  Stadt  unter  dem  diffusen  Licht  einer  weiBen  Sonne, 
die  Bahnhofe,  die  wie  Kathedralen  gebaut  sind,  die  StraBen  mit 
kilometerweit  gleichen  Hausern,  die  roten  Omnibusse,  die  klap- 
pernden  Pferdefuhrwerke  am  friihen  Morgen  und  die  Ausrufer 
fur  Zeitungen,  Kohle  und  Milch,  Die  mitteleuropaische  Zeit 
hatte  ihre  Qultigkeit  verloren,  sie  war  der  Uhr  des  Big  Ben  um 
einige  Jahrzehnte  voraus,  und  vom  Kontinent  hatte  man  keine 
nahere  Vorstellung  als  von  Japan  oder  der  Tiirkei, 

Hatte  sich  viel  in  London  verandert  gegen  fruher?  Man 
kam  nicht  dazu,  sich  solche  Frage  zu  stellen,  denn  all  diese 
Hauser,  alte  und  neue,  standen  da  so  fest  und  iiberzeugend, 
daB  es  keinen  Zweifel  an  ihrer  Notwendigkeit  von  eh  und  je 
geben  konnte.  Jawohl,  die  Bank  hat  eine  neue  Fassade  be- 
kommen, aber  von  der  alt  en  ist  sie  kaum  zu  unterscheiden;  ge- 
wiB,  viele  Gebaude  werden  aufgerichtet,  in  Fleetstreet  sind  sie 
noch  immer  nicht  fertig  mit  den  Neubauten  der  Zeitungs- 
palaste,  am  Themse-Ufer  baut  sich  der  Englische  Rundfunk,  die 
BBC,  ein  RenaissanceschloB,  in  alien  Stadtteilen  arbeiten  rie- 
sige  Krane  an  neuen  Geschaftshausern.  Aber  noch  wahrend 
des  Bauens  bekommt  der  neue  Stein  die  weiBgraue  Farbe  der 
altern  Hauser,  und  wenn  das  Gebaude  fertig  ist,  so  sieht  es 
in  seinem  zeitlosen  Mischmasch-Stil  von  Renaissance,  nor- 
mannischer  Gotik  und  Eisenbeton  so  aus,  als  habe  es  immer  da- 
gestanden*  Eine  Katze  wandert  vom  breiten  Gesims  des  Nach- 
barhauses  auf  den  Neubau  hinuber,  halt  Mittagsruhe  in  der 
diinnschattenden  Sonne,  und  damit  ist  der  neue  Bureaupalast 
aufgenommen  in  die  Gemeinschaft  Londons. 

Ja,  es  ist  diese  Fahigkeit,  dias  Neue  sofort  und  reibungs- 
los  aufzunehmen  in  das  gewohnte  Alte,  die  Fahigkeit  zu  den 
fruchtbaren  Kompromissen,  die  das  Leben  in  England  so  an- 
genehm  macht.  Natiirlich  gibt  es  Neuerungen,  angefangen  vom 
Familienbaden  im  Serpentine  bis  zum  gitterlosen  Naturzoo  in 
Wipsnade,  vom  Dorchester  Hotel,  der  teuersten  Wohngelegen- 
heit  der  Welt,  bis  zu  den  groBartigen  Rolltreppenanlagen  im 
Untergrundbahnhof  Piccadilly  Circus-  Aber  das  alles  ordnet 
sich  sogleich  ohne  Schwierigkeit  ein  in  die  Gesamtheit  Lon- 
dons mit  seinen  alt  en  Ho  fen  im  Queen  Anne-Stil  und  seinen 
fiinfzig  Barockkirchen.  Da  gibt  es  jetzt  in  ganz  England  pracht- 

62 


voile  Autobusverbindungen  durch  das  Land,  taglich  verkchrcn 
von  London  aus  fahrplanmaBig  dirckte  Wagcn  nach  Schottland 
und  nach  Wales,  nach  dem  Industrierevier  und  nach  Cornwall, 
die,  kaum  teurer  als  die  Eisenbahn,  auf  den  wunderbar  ge- 
pflegten  Chausseen  das  schonste  und  modernste  Verkehrsmittei 
darstellen.  Aber  diese  Errungenschaft  der  modernen  Technik 
verbindet  sich  sofort  mit  dem  alten  Stil  der  Oberlandfahrt: 
Alle  paar  Stunden  halten  diese  Luxusomnibusse  in  dem  Hof 
eines  alten,  elisabethanisch  anmutenden  Gasthofs,  um  den  Rei- 
senden  Zeit  fur  eine  Mahlzeit  am  braunen  Holztisch  zu  geben, 
genau  so  wie  friiher  die  Postkutschen  in  den  Inns  haltmachten, 
um  die  Pferde  zu  wechseln.  Noch  heute  tritt  der  behabige  Wirt 
des  f,Red  Bull  Inn"  oder  des  „Golden  Lion"  vor  die  Tiir,  gleich- 
sam  um  die  ankommenden  Reisenden  freundlich  aufzufordern, 
an  seinem  Tisch  mit  dem  einfachen  Mittagsmahl  des  Landes 
vorliebzunehmen. 

So  konnte  man  also  jahrelang  von  England  abwesend  sein 
und  bei  der  Riickkehr  kaum  etwas  verandert  finden.  Es  ware 
leicht  und  gradezu  eine  Versuchung,  sich  stets  aufs  Neue  in 
die  Weite  der  Parks,  in  die  stillen  StraBen  von  Westminster, 
in  den  Menschen-  und  Autostrom  von  Oxfordstreet  zu  verlie- 
ren,  man  konnte  wieder  Wochen  zubringen,  ohne  mehr  zu 
sprechen,  als  notig  ist,  um  im  Restaurant  oder  in  der  Teestube 
seine  Mahlzeiten  zu  bestellen;  als  stets  unbeachteter  Fremder 
wiirde  man  in  der  Riesenstadt  untertauchen  und  von  den  Fort- 
schritten  der  Kultur,  von  Hakenkreuzpartei  und  Schienen- 
zeppelin,  von  Ozeanfliigen  und  Hoover-Plan  nicht  mehr  bemer- 
ken  als  die  ,fstunts"  der  Zeitungshandler. 

Und  doch  gibt  es  ja  eine  Weltwirtschaftskrise,  von  der 
England  nach  den  Zahlenangaben  der  Handels-  und  Arbeits- 
marktstatistik  nicht  weniger  hart  betroffen  wird  als  wir.  Man 
hort  Mitglieder  der  obern  Mittelklasse  —  sie  wiirden  bei  uns 
als  reiche  Leute  gelten  —  sich  bitter  beklagen,  daB  sie  ihre 
Treibhauser  nicht  mehr  aufrechterhalten  konnen,  man  hort  von 
den  Zeitungsleuten,  welche  miserablen  Honorare  die  Blatter 
jetzt  anzubieten  wagen,  man  sieht,  wie  die  Geschafte  fiir  jeden 
Preis  ihre  vollen  Lager,  Kleidung,  Schuhe,  Lebensmittelkon- 
serven,  loszuwerden  versuchen,  aber  dies  alles  ist  ja  noch  ein 
Anfang.  Was  Not  heiBt,  die  taglichen  Hungerkrawalle,  drei- 
fache  Polizeiposten,  die  verzweifelten  Massen  vor  den  Arbeits- 
nachweisen,  das  kennt  man  in  England  noch  nicht,  Aus  den 
unerschopften  Reserven  dieses  Landes,  in  dem  sich  schlieBlich 
einmal  der  Reichtum  der  ganzen  Welt  konzentrierte,  flieBen 
vorlaufig  noch  genug  Mittel,  um  durch  die  gegenwartige  Krise 
hindurchzuhelien.  Die  Kaufleute,  die  Wirtschaftstheoretiker 
allerdings  sehen  schwarz,  ihr  Pessimismus  gilt  nicht  diesem 
Jahr  oder  dem  nachsten  sondern  der  ganzen  Zukunft  Englands. 
Sie  sehen  die  Tage  herannahen,  wo  die  Vorrate  der  viktoriani- 
schen  Zeit  an  Lebenskraft,  an  Behauptungswillen  und  auch  an 
Reichtum  aufgebraucht  sein  werden  und  wo  man  auch  an  den 
vielleicht  neu  einsetzenden  Weltkonjunkturaufschwung  keinen 
AnschluB  mehr  finden  wird.  Aber  das  ist  Theorie,  zwar  un- 
widerleglich  in  den  Argumenten  aber  fiir  den  Augenblick  noch 
nicht    unmittelbar    beangstigend.     Die    allgemeine    Parole    ist 

63 


augenblicklich  von  der  Vokabel  MprewarM  beherrscht.  Kon- 
sumartikel  werden  zu  Vorkriegspreiscn  angeboten,  vorkriegs- 
maBig  sollen  die  Qualitaten  von  Stoffen,  Lederwaren,  Tabaken 
und  sogar  Lebensmitteln  sein,  und  den  Darbietungen  einer 
Music  Hall,  eines  Zirkus  oder  eines  Varietes  kann  kein  besse- 
res  Lob-  gezollt  werden,  als  daB  sie  T,prewarlike"  seien, 

Diese  Idealisierung  der  Zeit  vor  1914  kennzeichnet  das 
Wesen  der  englischen  Krise  recht  deutlich.  Man  mochte  die 
siebzehn  Jahre,  die  auf  den  dritten  August  folgten,  am  liebsten 
ausstreichen,  und  man  hat  doch  wohl  noch  nich-t  die  Moglich- 
keit  zu  andern  Zielsetzungen  als  historischen,  Man  steht  in 
England  den  Ereignissen  dieser  Tage  beinah  noch  ratloser 
gegeniiber  als  bei  uns,  man  weiB  nur,  Mvor  dem  Kriege"  war 
alles  besser,  und  man  sieht  auch  noch  nicht  ein,  dafi  those  good 
old  days  wohl  fur  immer  vorbei  sind.  Bei  andern  Volkern 
wiirde  auf  solche  Ermudungszustande  als  Reaktion  der  Fascis- 
mus  folgen.  Den  gibt  es  in  England  zwar  auch,  aber  er  ist  eine 
Angelegenheit  der  Intellektuellen,  der  „highbrows".  Die  Blau- 
hemden  des  alten  Reaktionars  Locker  Lampson,  die  jetzt  wie 
eine  Art  Heilsarmee  mit  viel  Tamtam  und  Jazzkapellen  von 
sich:  reden  zu  machen  versuchen,  rekrutieren  sich  aus  der  in- 
tellektuellen Jugend  Englands,  die  zwanzig  Jahre  spater  als 
der  Kontinent  die  gefahrlichen  Schriften  Nietzsches  kennen  zu 
lernen  beginnt.  Huxley  hat  in  seinem  Roman  „Point  counter 
Point'*  diese  aufgedonnerten  „Herrennaturen",  ihre  Phraseo- 
logie  von  der  Herrschaft  der  Besten,  von  der  Sicherung  des 
Eigentums  urid  vom  ,,richtigen  Mann  am  richtigen  Platz"  so 
exakt  gezeichnet,  daB  alles  das,  was  sich  da  heute  bei  den 
highbrows  tut  an  Antiparlamentarismus  und  kindlicher  Uni- 
formfreude  wie  nach  dem  Vorbild  dieses  kritischen  Romans  ge- 
arbeitet  wirkt.  ScbiuO  fol^t 

In  Wirklichkeit  aber  ...  von  Martin  Kessei 

rjumm  wie  eine  Tatsache,  Diesen  Satz,  den  durch  die  Jahrhunderte 
*^  zu  erhalten  sich  lohnt,  fand  ich,  bestiirzt  wie  uber  eine  unfrei- 
willige  Entdeckung,  in  einer  Erzahlung  von  Gorki,  und  dieser  hat  ihn 
aus  Balzacs  „peau  de  chagrin".  Er  ist  fur  Zeiten,  wo  jeder  Unfug 
Gelt iing  gewinnt,  sofern  er  Tatsache  geworden  ist,  aber  auch  im  Hin- 
blick  auf  die  partielle  Unwiderlegbarkeit  einer  Idee,  auBerordentlich 
gesund.     Dumm  wie  eine  Tatsache. 

* 

Meist  ist  die  Tatsache  nur  der  Spitzel  einer  Idee. 

* 

Mut  haben  heiBt:  einer  Gefahr  ins  Auge  sehn,  meinetwegen,  mit 
ihr  rivalisieren;  nicht  aber,  an  Hand  der  Gefahr  sich  mutig  auf- 
spielen;  oder  gar,  die  Gefahr  als  Schnaps  benutzen,  urn  Mut  zu  er- 
zeugen.  Diese  letztern  Dinge  sehen  einer  theatralisch-soldatesken 
Zuflucht  sehr  ahnlich;  sie  fallen  unter  die  Rubrik:  bornierter 
Heroismus. 

Wenn  Hitler  verurteilt  wird,  sehen  wir  uns  nicht  wieder!  Er 
wurde  verurteilt,  und  sie  sahen  sich  wieder.  Das  nenne  ich  promptes 
Heldentum, 

64 


Als  in  meiner  Geburtsstadt,  urn  die  Helden  der  Technik  zu  feiern, 
bei  einer  Flugveranstaltung  auch  ein  Zwischenflug  fur  die  Vertreter 
der  Presse  arrangiert  wurde  —  sag,  was  ereignete  sich  da?  Kaum 
dafi  er  hoch  war  —  entsetzlich!  —  stellte  sich  dem  Berichterstatter 
das  Geftihl  des  Erhabenen  ein. 

* 

Das  ist  neuf  dafi  sich  der  Mensch  in  unserera  Jahrhundert  auch 
an  Stroh  den  Schadel  einrennen  kann.  0  wunderbare  Erkenntnis : 
ehern  wie  Stroh.  ^ 

* 

Seit  in  Deutschland  „Charakter  haben"  identisch  ist  mit  dem 
trottelhaften  Bewufltsein:  Ich  verstehe  die  Welt  nicht  mehr! —  sind 
der  finsteren  Elastizitat,  moralisch  gesprochen:  der  Korruption,  alle 
Turen  geoffnet.  Nichts  wird  nicht  mehr  verstanden.  Man  halte  die 
Hand  hin,  und  es  wird  eine  Taube  sich  finden,  die  sie  bekleckert. 

Eine  Hand  deckt  die  andre  —  ein  Vorgang,  der  als  Photographie 
in  heldenhaftem  Deutsch  die  Unterschrift  truge:  Begriifiung  und  Treue- 
gelobnis  zweier  Manner,  der  Retter  des  Vaterlandes. 

* 

Gewifi,  eine  Null  ist  eine  Null  —  da  gibts  keine  Hilfe.  Aber  dafi 
tausend  Nullen,  die  aufierstande  sind,  eine  positive  Zahl  zu  gebaren, 
nichts  anderes  als  nichts  seien  —  das  glaube,  wer  mag.  Eine  multi- 
plizierte  Dummbeit  wird  allmahlich  borniert,  und  die  multiplizierte 
Borniertheit  blaht  sich,  platzt  und  wird  katastrophal.  Nicht  immer  ist 
das  Ergebnis  dieser  Katastrophe  gleich  Null;  und  darin  eben  zeigt 
sich  die  Philosophie  der  Null. 

Es  scheint  mir  so  —  und  wer  verbietet  mir,  es  zu  glauben?  — 
als  sei  das  Alter  ein  Zustand,  der  sich  nicht  allmahlich  ergibt  wie 
etwa  die  Verwesung  sondern  im  Gegenteil  einer,  der  von  Geburt  an 
sich  festgesetzt  hat  im  Menschen,  sich  im  Kind  schon  vollendet  —  ein 
Zustand  also,  den  das  Leben  mit  Hilfe  der  Jahre  lediglich  sichtbar 
werden  lafit,  pragt,  wie  man  sagt,  und  der  am  Ende  iibrig  bleibt  als 
der  zaheste.  Spricht  nicht  der  Atavismus  kindlicher  Spiel e  und  das 
kindische  Gekritzel   der  Greise  fur   diese  Deutung? 

Alter  haben  oder  nicht,  ware  demnach  ein  Charakterzug.  Folg- 
lich  stiirben  auch  manche  Menschen,  fruhvollendete  zumal,  deshalb  so 
jung,  trotz  der  Bliite  ihrer  Fahigkeiten,  weil  es  ihnen  an  Alter  man- 
gelt.  Andererseits:  ist  nicht,  als  warnendes  Beispiel,  der  steckenge- 
bliebene   ewige   Jungling   ein    phantastischer    Verrat    am    Alter? 

Paradigma: 

Alt  war  er  dreiundzwanzig;  seine  Melancholie  indessen  war  acht- 
zig;  seine  Skepsis,  in  ihren  besten  Momenten,  schatzte  er  auf  funfzig; 
seine  Erotik  schwankte  jeweils  von  zwei  iiber  fiinfzehn  zu  dreifiig. 
Und  seltsam,  diese  Jahre  blieben  konstant. 

* 

Die  Menschen  leiden  an  den  Vorstellungen,  die  sie  sich  vom 
Leben  gemacht  haben,  und  sie  sind  in  den  seltensten  Fallen  zu  Korrek- 
turen  geneigt,  Lieber  sagen  sie,  in  die'  Enge  getrieben:  „Es  mag  ja 
falsch  sein,  aber  mein  Gefiihl  gibt  mir  recht."  Auf  diese  glanzende 
Weise  gelingt  es,  selbst  die  Irrtumer  als  kostbaren  Besitz  zu  hiiten 
und  jederzeit  rettungslos  verliebt  in  Vorurteile  zu  sein.  Kaum  ist 
es  glaublich,  jedoch  es  ist  unterhaltsam,  dafi  der  Mensch  nur 
ungern  nach  Erkenntnissen  lebt  und  dafi  er  selbst  die  Dummbeit  ent- 
schuldigt,  einer  vorgefafiten  Meinung  zuliebe.  Diese  ist  das  Primare, 
sie  ist  sofort  da;  und  erst  allmahlich  beginnt  er  an  ihr  seine  Ab- 
striche  zu  machen,  seine  Erfahrungen,  wie  er  das  nennt. 

65 


Ach  wie  komisch  ist  doch  ein  Menseh,  der  sich  auf  seine  Er- 
fahrungen  beruft!  Sieht  nicht  ein  jeder  ihm  an,  dafi  ers  nur  darauf 
angelegt  hat,  eine  vorgefafite  Meinung  durch  allerlei  Tatsachen  zu  er- 
harten? 

Ja  und  so  kommts,  dafi  im  gewohnlichen  Leben  die  Wirklichkeit 
tiberhaupt  problematisch  sein  kann,  weshalb  sich  auch  —  pst,„  unter 
uns  gesagt  —  die  Formel  herausgebildet  hat:  in  Wirklichkeit  aber . . . 


Welt  ffir  Manner  von  Alice  Ekert-Rothholz 

p  s  gibt  eine  Welt,  die  die  Manner  sich  bauen. 

Urn  die  Ecke  beginnt  dann  die  Welt  mit  den  Frauen , . . 

In  der  Welt  fur  Manner  herrscht  herzliche  Kiihle. 

Keine  Vernebelung  der  Gefiihle! 

Man  kann  sich  von  Mann  zu  Mann  aufrichtig  trauen, 

Ohne  die  albernen  und  ermiidenden  und  verlogenen  Schwure  — 

Schwure  gehoren  zur  Welt  mit  den  Frauen ... 

Die  Welt  fur  Manner  kann  Deutsch  vertragen. 

Da  kann  man  fur  Scheibe  Scheibe  sagen, 

Man  darf  gahnen,  sich  vollsaufen,  brullen,  auch  hauen. 

Ohne    sich    hinterher    verschiedentlich    deswegen    zu    entschuldigen 

Sich  entschuldigen  gehort  zur  Welt  mit  den  Frauen . . . 

Welt  fur  Manner  heifit:  Welt  ohne  seidenen  Zauber. 

Die  Dinge  sind  hart,  michtern,  salzig  und  sauber. 

Man  ist  einzeln.     Man  will  die  Gedanken  ausbauen. 

Statt  ein  festes  Heim  mit  weichem  Doppelbett  zu  griinden  — 

Feste  Heime  gehoren  zur  Welt  mit  den  Frauen ... 

Welt  fur  Manner  heifit:  nicht  iiber  Liebe  reden. 

Man  ist  fur  geschlossene  Fensterladen. 

Man  mag  nicht  das  Beste  in  Worte  zerkauen. 

Man  kann  beispielsweise  rauchen  und  gemeinsam  davon  schweigen . 

Edler   Schmus  gehort  zur  Welt  mit  den  Frauen. 

Welt   fur  Manner  ist:  Kampf  urns  Ziel.     Mit  Gefahren! 

Und  man  ist  sich  sogar  iiber  Beides  im  Klaren.  v 

Man  kann  Gegner  zertrummern,  Systeme  zerhauen, 

Ohne  es  hinterher  mit  dem  Ausdruck  des  Bedauerns  zu  bedauern 

Es  bedauern  gehort  zur  Welt  mit  den  Frauen . . . 

Welt   fur  Manner! 

Man  kann  sie  nicht  „Mannerwelt"  nennen. 
Denn  ein  Teil  der  Manner  lernt  sie  nie  kennen, 
Ein  Teil  der  Manner  wtird  sich  nicht  trauen . . . 
Denn  ein  Teil  der  Manner  sind  keine  Manner! 

Sondern: 
Sehr  mannlich  verkleidete  Frauen. 
66 


Die  Schlagerindustrie  itn  Rundfunk 

von  Herbert  Connor 

LJier  handelt  es  sich  nicht  urn  die  Klassifizierung  in  crnste 
und  leichtc  Musik,  nicht  urn  Probleme  des  ,,Zeitge- 
schmacks",  des  ,,erh6hten  Musikkonsums"  und  ahnliche  as- 
thetisch-soziologische  Dinge  —  hier  handelt  es  sich  einfach  dar- 
umr  daB  eine  Industrie,  die  auf  gewisse  kulturfeindliche  Stre- 
bungen  unsrer  nervenzerstorenden  Zeit  spekuliert  und  die 
leichte  Schlagermusik  dazu  benutzt,  um  sich.  in  einer  Zeit  all- 
gemeinen  wirtschaftlichen  Niederganges  eine  ungeheure  Macht 
iiber  das  Gebiet  der  gesamten  Weltmusik  zu  schaffen,  daB 
diese  Industrie  eine  so  offentliche  Institution  wie  den  Rundfunk 
ihren  Sonderinteressen  vorspannt,  Wenn  man  bedenkt,  daB 
jahrlich  etwa  fiinftausend  Schlager  in  Deutschland  erzeugt  wer- 
den  und  daB  diese  Schlager  in  Hunderttausenden  von  Exem- 
plaren  nach  einem  sorgsam  ausgearbeiteten  System  an  Ka- 
pellen,  Sanger*  gastronomische  Betriebe,  Schallplattenfirmen, 
Tonfilmgesellschaften  und  Rundfunkstationen  verschickt  wer- 
den,  so  begreift  man,  was  iiir  eine  Gefahr  fiir  den  Geschmack 
der  breiten  Masse  eine  solche  systematische  Oberflutung  mit 
minderwertiger  Unterhaltungsware  bedeutet.  DaB  dieser  Ge- 
schmack von  Natur  aus  schlecht  ist,  ist  eine  Luge  der  Produ- 
zenten.  Verfolgt  man  die  Emsigkeit,  mit  der  diese  Kreise 
ihren  Schund  propagieren,  dann  wundert  man  sich  nicht  mehr 
iiber  die  sich  immer  mehr  vergrobernde  Geschmacksrichtung. 

Einer  der  wichtigsten  Faktoren  in  der  Wahrscheinlich- 
keitsrechnun^  des  Schlagerverlegers  ist  die  Propagierung 
seiner  Erzeugnisse  ddrch  den  Rundfunk.  Verbindungen  mit 
den  dort  maBgebenden  Beam  ten  und  regelmaBig  beschaftigten 
Kapellen  und  Sangern  zu  scKaffen,  gehort  zu  den  Hauptauf- 
gaben  der  Schlagerpropaganda. 

Als  vor  Jahren  die  Belagerung  des  Rundfunks  durch  die 
Schlagerindustrie  begann,  lagen  die  Verhaltnisse  noch  wesent- 
lich  schwieriger  als  heute.  Geiang  es  beispielsweise  einem 
Verlag  unter  groBen  Anstrengungen,  einen  Refrainsanger 
abends  in  den  Senderaum  hineinzulancieren,  so  kostete  ihn  das 
etwa  fiinfzig  Mark  pro  Nummer,  Inzwischen  ist  der  Kurs  fiir 
Refrainsanger  dank  gesteigerten  Angebpts  wesentlich  gef alien: 
fiinfr  Mark  sind  heute  der  durchschnittliche  Tarif. 

Prominente  Schlagersanger  allerdings  entlohnt  man  auf 
andre  Art  und  Weise.  Damit  sie  recht  HeiBige  Propaganda 
treiben,  iiberlaBt  man  ihnen  einen  Anteil  an  den  Auffuhrungs- 
rechten.  So  erscheint  nachstens  ein  Schlager,  der  zwar  von 
Richard  Rillo  textiert  ist,  dessen  Schlagzeile  „Wenn  meine  Olle 
verreist  ist"  aber  vom  Rundfunksanger  Leo  Monosson  stammt. 
Man  sieht,  es  ist  heute  nicht  so  schwer,  zum  Dichter  zu  avan- 
cieren.  Wenn  man  Gliick  hat,  kommt  man  dabei  sogar  in  eine 
Schatzungskommission  der   GEMA. 

Was  am  Rundfunk  friiher  nur  inoffiziell  unter  Benutzung 
verschiedenster  Hintertiiren  moglich  war,  ist  heute  zu  einer 
Art  Selbstverstandlichkeit  geworden.  Der  Siiddeutsche  Rund- 
funk in  Stuttgart  und  Frankfurt  hat  beispielsweise  seine  festen 

67 


Saize  fur  sogenannte  Schlagerstunden,  die  jeder  Verlag  sich 
kaufen  kann.  Der  Preis  schwankt  zwischen  drcihundcrt  und 
fiinfhundert  Mark.  Skandalos  ist  dabei,  daB  cine  solche 
Schlagerstunde  nicht  etwa  als  Werbesendung  gekennzeichnet 
wird  sondern  das  offizielle  Programm  fullen  hilft.  Dcr  Rund- 
funk schlagt  so  zwei  Fliegen  mit  einer  Klappe.  Dcr  Leid- 
tragende  ist  dcr  Horer,  dcr  das  zweifelhafte  Vergnugen  hat, 
sich  die  ganze  Produktion  des  Schlagerfabrikanten  in  Bausch 
und  Bogen  anhoren  zu  miissen. 

Ohne  Obertreibunig  kann  man  sagcn,  daB  ncunzig  Prozent 
dcr  Schlagermusik,  die  am  Rundfunk  gespielt  wird,  von  Ver- 
legern  bczahlt  und  zusammengestellt  ist.  Wenn  nicht  direkt, 
so  indirckt.  Es  gibt  Mittel  genug,  sich  die  Kapellmeister  zu 
verpflichten.  Das  beliebteste  ist,  von  ihnen  Schlagernummern 
zu  erwcrben,  fur  die  man,  auch  wenn  das  Stuck  niemals  cr- 
scheint,  hohe  Vorschiisse  zahlt.  Der  Meisel-Nachmittag  bei- 
spiclsweise,  dcr  kiirzlich  vom  breslauer  Rundfunk  gesendet 
wurde,  war  die  Quittung  f lir  einen  solchen  GeschaftsabschluB. 

Von  den  Schlagerverlegcrn  ist  es  bcsondcrs  zweien  ge- 
lung«n,  sich  den  Rundfunk  fur  ihrc  privaten  Spekulationen  zu 
sichern.  Es  sind  dies  der  Schlagcrkonzern  Alberti  und  die 
Firma  Meisel,  deren  Inhaber  auch  beide  als  Komponisten  und 
Textdichter  verantwortlich  zeichnen.  (Eine  nahere  Erklarung 
dariiber  stand  in  Nummer  21  der  .Weltbuhne'.)  Dcr  Verlag 
Meisel  hat  als  einer  der  ersten  die  ungeheure  Bedeutung  des 
Rundfunks  fiir  die  Schlagcrindustrie  erkannt.  Nicht  umsonst 
nennt  man  in  einjgeweihten  Kreisen  die  Rundfunkkapelle  Kerm- 
bach  die  ^Meiselsche  Hauskapelle".  Auch  seine  enge  Liierung 
mit  dem  berliner  Ansager,  die  in  verschiedenen  Widmungen 
ihren  Ausdruck  gefunden  hat,  ist  sprichwortlich  geworden. 
Noch  cinfluBreicher  ist  das  Haus  Alberti.  Kein  Wunder,  wenn 
man  bedenkt,  daB  diese  Firma,  vertreten  durch  die  Person  des 
Herrn  Robinson,  einen  regelrechten  Schlagertrust  darstellt. 
Nicht  weniger  als  sechs  Verlage  sind  ihm  angegliedcrt:  Alrobi, 
Semia,  Monopolliedervcrlag,  Charivari,  Ufaton  und  Drei-Mas- 
ken- Verlag.  Der  EinfluB  dieses  Trusts  geht  so  wcit,  daB  ein 
Angestellter  der  Firma,  ein  Verwandter  des  ebenfalls  im  Rund- 
funk beschaftigten  Herrn  Scheibenhofer  (lies:  Schlagerkompo- 
nist  Germann)  gleichzeitig  im  Rundfunk  beschaftigt  ist  und  dort 
die  Platten  auswahlt,  die  am  Vormittag  zur  Sendung  gelangen. 

Man  sieht,  fiir  Propaganda  ist  genugend  gesorgt.  Wer 
sich  daraufhin  einmal  die  Schlagerprogramme  des  Rundfunks 
nach  vorheriger  Orientierung,  wo  die.  verschiedenen  Stiicke 
verlegt  sind,  anhort,  wird  sein  blaues  Wunder  erleben. 

All  diese  Dinge  waren  natiirlich  nicht  moglich,  wenn  nicht 
an  leitender  Stelle  ein  Mann  saBe,  der  selbst  das  groBte  Inter- 
esse  an  der  Forderung  der  Schlagerindustrie  hat.  Dieser 
Mann  ist  der  Textdichter  Karl  Wilczynski,  durch  dessen  Hande 
samtliche  Schlagerprogramme  der  deutschen  Rundfunk- 
stationen  gehen.  Herr  Wilczynski  benutzt  seinen  Posten  in 
erster  Linie  dazu,  um  fiir  sich  selbst  moglichst  hohe  Auffiih- 
rungsziffern  herauszuschinden.  In  jeder  Schlagerveranstaltung 
wird  man  vier  bis  fiinf  seiner  Nummern  eingelegt  finden.    Ins- 

68 


bcsondcre  die  bunten  Sonnabendabende  sind  reine  Propaganda- 
veranstaltungen  des  Herrn  Wilczynski  und  seines  Mitarbeiters 
Scheibenhofer,  der  inzwischen  von  der  Funkstunde  wegen  allzu 
offensichtlicher  Bestechung  entlassen  worden  ist- 

Auch  sonst  steht  Herr  Wilczynski  entschieden  auf  dem 
Standpunkt,  daB  Beschejdenheit,  zumal  im  Rundfunk,  eine 
falsche  Zier  sei  und  daB  Gott  einem  ein  Amt  gegeben  habe, 
damit  man  fur  sich  moglichst  viel  Kapital  daraus  schlage.  Jede 
Woche  wird  man  irgendwo  im  Reich  eine  Sendung  entdecken, 
die  ausschlieBIich  der  Produktion  von  Wilczynski  gewidmet 
ist-  Meist  laufen  diese  Veranstaltungen  unter  dem  Titel  eines 
seiner  Schlager.  Am  Pfingstsonnabend  um  acht  Uhr  abends, 
also  zur  Hauptzeit,  wurde  in  Berlin  ein  „Vortrag"  gesendet; 
„Haben  Schlager  kiinstlerischen  Wert?"  Dieser  Vortrag  be- 
stand  aus  etwa  zwolf  Schlagern,  davon  die  Halfte  Wilczynski- 
nummern,  und  einem  unglaublichen  und  albernen  Geschwatz* 
mit  dem  Herr  Wilczynski  sein  Kunstgewerbe  zu  verteidigen 
sich  bemiiBigt  fuhlte. 

Man  begreift,  wie  sehr  es  unter  solchen  Umstanden  den 
Kreisen,  die  an  der  urheberrechtlichen  Ausbeutung  von  Schla- 
gern interessiert  sind,  um  einen  Mann  wie  Wilczynski  zu  tun 
ist,  einen  Mann,  von  dem  es  im  Rundfunk  heiBt,  daB  alles 
zittere,  wenn  er  hustet.  Ungesehen  druckt  man  seine  Num- 
mern,  die  Tonfilmindustrie  reiBt  sich  die  Beine  nach  ihm  ausf 
denn:  ,,Wer  Wilczynski  hat,  hat  auch  die  Rundfunkpropa- 
ganda".  Was  fiir  ein  dickes  Aktienpaket  muB  hinter  einem 
Mann  stehen,  der  bei  so  eklatantem  MiBbrauch  seiner  Stellung 
im  Rundfunk  zu  personlichen  Zwecken  bisher  nicht  zu  sturzen. 
gewesen  ist. 

Sehr  verehrter  Herr  Intendant  Resch,  wir  alle  wissen 
Ihren  kiinstlerischen  Idealisinus  zu  schatzen  und  sind  uns  der 
Schwierigkeiten  einer  Programmgestaltung  wohl  bewuBt,  die, 
ohne  ihre  hoheren  Aufgaben  aus  den  Augen  zu  verlieren,  ihr 
Hauptaugenmerk  auf  Unterhaltung  legenmuB.  WederSie,  Herr 
Intendant,  noch  ich,  werden  den  Schlager  aus  der,  Welt  schaf- 
fen.  Aber  grade  deswegen  miissen  Veranstaltungen  dieses 
Genres  auf  ein  normales  MaB  und  ein  einigermaBen  ertrag- 
liches  Niveau  zuriickgeftihrt  werden-  Es  darf  nicht  sein,  daB 
sich  der  Rundfunk  zum  aus-gesprochenen  Handlanger  der 
Schlagerindustrie  erniedrigt, 

Wirtschaft  am  Tage  vor  der  Diktatur 

von  Sebastian  Franck 
II 
Vom  Exportkampi  zum  Kriege 

F^ie  Zerschlagung  des  inlandischen  Marktes,  der  inlandischen 
Kaufkraft,  ist  in  vollem  Gange.  Und  wenn  man  den  festen 
Angriffswillen  der  Unternehmerschaft  hoher  einschatzt  als  die 
muden  Abwehrphrasen  der  Gewerkschaften  und  der  Sozial- 
demokratie,  so  erkennt  man,  daB  der  groBe  Abbau  der  Lohne 
und  Gehalter  erst  beginnt. 

69 


Das  heifit:  von  Tag  zu  Tag  —  ttnd  so  fort  in  alle  absehbare 
Zukunlt  —  kann  das  deutsche  Volk  immcr  wcnigcr  Waren  kau- 
fcn,  kann  cs  sich  sclbst  immer  wcnigcr  Beschaitigung  verschaf- 
i en.  Damit  gehen  doch  aber  die  Umsatze  sowie  die  Profite  der 
Unternchmer  immcr  weitcr  zuruck,  so  daB  cs  auf  den  erstcn 
Blick  nicht  ganz  verstandlich  erscheint,  warum  die  Hcrren  In- 
dustriellen  sich  ihr  eignes  Grab  graben!  Keine  Angst,  sie  tun 
cs  nicht,  zum  mindestens  beabsichtigen  sie  etwas  ganz  andres 
als  die  Verminderung  ihres  Absatzes  und  Profites,  wenn  sie 
die  Lohne  und  Gehalier  ihrcr  deutschen  Kaufer  verringern:  sic 
beabsichtigen  namlich,  ihre  Waren  in  ricsigen  Mengen  im  Aus- 
lande  abzusctzen;  sic  beabsichtigen,  durch  die  Scnkung  der 
heimischen  Produktionskosten  —  lies:  Lohne  und  ,,Sozial- 
lasten"  —  ihren  auslandischen  Konkurrenten  die  Markte  ab- 
zujagen,  die  der  Gott,  der  Eisen  wachsen  HeB,  ja  ohnchin  in 
semen  urspriinglichen  Planen  fur  die  deutschen  Herren  reser- 
viert  hatte.  Auf  diese  Weise  lassen  sich  erstens  die  Verdienstc 
allmahlich  noch  weit  liber  das  hinaus  steigern,  was  man  aus 
einem  „normalen"  Verbrauch  einigermaBcn  gut  cntlohnter  hei- 
mischcr  Arbeiter  und  Angestellter  heransholen  konnte,  Zwei- 
tens  aber  ist  jeder  groBc  Lieferungsvertrag  mit  dem  Auslande, 
jeder  Konkurrenzerfolg  gegen  die  Fabrikanten  andrcr  Staaten 
ein  t1nationaler  Erfolg";  ein  VorstoB  aus  dem  )tzu  engen  deut- 
schen Raum"  heraus. 

Ein  wirklich  guter  Deutscher  aus  dem  Lager  der  Unter- 
nehmerschaft  —  und  wo  anders  gibt  es  ja  keine  guten  Deut- 
schen —  stellt  eben  nationalc  Geltung  und  nationale  Macht, 
stellt  die  Arbeit  fur  die  Genesung  der  Welt  am  deutschen  We- 
sen  und  damit  die  Steigerung  des  deutschen  Exportes  viel 
hoher  als  die  materialistische  Forderung,  zuerst  den  Inlands- 
markt  zu  kraftigen,  zuerst  den  eignen  Arbeitern  und  Angestell- 
icn  cine  menschenwiirdige  Warenversorgung  zu  ermoglichen. 
Der  gercchte  deutschc  Gott  sorgt  schon  dafiir,  daB  ein  solcher 
patriotischcr  Unternehmer  nicht  durch  niedrigere  Profite  fur 
seinen  Idcalismus  bestrait  wird,  sondcrn  daB  auf  zweierlei  Art 
ihm  reiche  Belohnung  fur  seine  Tugend  wird:  daB  namlich  er- 
stens seine  Knechte,  fiir  deren  Seelenheil  er  verantwortlich  ist, 
nicht  in  die  Versuchungen  der  Oppigkeit  und  der  Schwclgerei 
geratcn,  sondern  daB  sie  in  gottgefalhger  Beschcidenheit  dahin- 
leben  diirfen;  und  daB  zweitens  reicher  Gewinn  aus  den  frem- 
den  Landern  mit  ihrer  unbegrenztcn  Kauferschaft  in  die  Hande 
der  Mehrer  deutschen  Ansehens  zuriickflieBt. 

Nun  gibt  es  aber  bose  Menschen,  die  diese  patriotischen 
Handlungen  des  deutschen  Unternehmers  durchkreuzen  wollen. 
Da  sind  erstens  die  bereits  erwahnten  heimischen  Arbciter  und 
Angestellten,  die  mittels  hoherer  Lohne,  besserer  Soziaileistun- 
gen  und  niedrigerer  Warenpreise  ihren  Verbrauchsanteil  am 
selbsterzeugten  Produkt  zu  vergroBcrn  trachtcn.  Diese  Geliiste 
sind  jetzt  so  grundlich  unterdriicktj  Lohnabbau,  Sozialabbau 
und  Hochhaltung  der  Preise  sind  jetzt  so  einwandfrei  gewahr- 
leistet,  daB  von  hicr  keine  Gefahren  mehr  drohen.  Aber  da 
sind  zweitens  die  auslandischen  Konkurrenten,  die  dem  heiligen 
kapitalistischen  Unternehmertum   deutscher   Nation   den  Rang 

70 


vor  Gottcs  Thron  streitig  machen,  die  fur  sich  sclbst  die 
gleiche  Weltmission  in  Anspruch  nehmen,  die  sich  darauf  eben- 
Ealls  mittels  Einschrankung  ihres  heimischen  Massenverbrauchs 
vprbereitet  haben.  Sie  riisten  zu  ebensolchen  imperialistischen 
Kreuzziigen  wie  die  deutschen  Unternehmer;  unter  dem  glei- 
chen  Druck  -der  Weltkrise  des  Kapitalismus;  mit  den  gleichen 
Mitteln  der  Lohnsenkung  und  der  Hochhaltung  ihrer  Inlands- 
preise;  hinter  ebensolchen  Zollmauern  wie  die  deutschen  Un- 
ternehmer sie  sich  erbaut  haben. 

So  entsteht  ein  erbitterter  Kampf,  Scheinbar  nur  ein  iso- 
lierter  Kampf  von  Mann  zu  Mann,  zwischen  deutschem  und 
englischem  Kohlenbergwerk,  zwischen  deutschem  und  fran- 
zosischem  Wollfabrikanten,  zwischen  deutschem  und  a'merika- 
nischem  Maschinenhersteller  und  so  vereinzelt  und  zersplittert 
zwischen  alien  erdenklichen  Paaren  und  Gruppen.  In  Wirklich- 
keit  aber  ein  Kampf  zwischen  viel  groBern,  zwischen  nationa- 
len  Einheiten,  ein  Kampf,  der  Jahre  hindurch  nur  selten  ein- 
mal  in  diplomatischen  Aktionen,  handelspolitischen  Verhand- 
lungen,  internationalen  Konferenzen  der  groBen  Masse  fur 
einen  Augenblick  erkennbar  wird,  ein  Kampf,  der  offenbar  mit 
den  militarischen  Rtistungen,  den  Biindnissen,  Vertragen  und 
all  den  Dingen  der  „groBen  Politik"  nichts  zu  tun  hat  —  bis  er 
dann  eines  Tages  als  der  einzige  Antrieb  hinter  all  den 
Machenschaften  der  internationalen  hohen  Politik  und  der  Rii- 
stungen erscheint,  bis  er  sich  auswachst  zu  einem  Weltkrieg. 
Auch  das  Stahlbad  von  1914  bis  1918  war  —  hinter  all  den 
,fweltanschaulichen"f  f)idealen"  und  ,,kulturellen"  Verteidigungs- 
phrasen,  urn  die  kein  einziges  Land  verlegen  war  —  nichts 
andres  als  ein  imperialistischer  Krieg  urn  die  Absatzmarkte. 

Wir  gehen  einem  neuen  derartigen  Kriege  entgegen.  Die 
Weltkrise  des  Kapitalismus  treibt  uns  in  beschleunigtem  Tempo 
auf  ihn  zu.  Jeder  Lohnabbau  laBt  ihn  naher  heranriicken.  Jede 
Vervollstandigung  der  Diktatuir  in  dem  einen  oder  andern  Lande, 
vor  allem  aber  jede  Vervollstandigung  der  deutschen  Diktatur, 
ist  ein  groBer  Schritt  auf  dem  deutlich  vorgezeichneten  Weg 
zum  neuen  Kriege,  von  dem  man  so  viel  sicherer  weiB,  daB  er 
kommen  wird  als  wie  die  Parteien  dieses  Krieges  sich  gruppie- 
ren  werden.  Denn  jede  Diklatur  muB  es  als  eine  ihrer  histo- 
rischen  Aufgaben  betrachten,  den  Export  zu  fordern,  dem  In- 
land bei  Knapphaltung  des  heimischen  Massenverbrauchs  Be- 
schaftigung  und  Rentabilitat  durch  vergroBerten  Auslandsabsatz 
zu  verschaffen  —  und  gleichzeitig  den  Import  zu  beschranken. 
Vor  allem  der  Import  von  Lebensmitteln  ist  den  Fascisten  aller 
Nationalitaten  ein  Abscheu,  da  der  „Nahrstand",  die  Landwirt- 
schaft,  liberall  ihre  zuverlassigste  Basis  ist.  Forcierung  von 
Tabrikat-Exporten  aber  und  gleichzeitig  Behinderung  von  Le- 
bensmittel-Importen:  das  bedeutet  wachsende  Konflikte  mit  dem 
Auslande  wie  wachsende  Klassengegensatze  im  Inlande.  Auch 
in  dieser  Hinsicht  kann  die  Diktatur  niemals  den  Frieden  brin- 
.gen  sondern  nur  den  Krieg.  Sie  findet  auch  darin  die  Arbeit, 
die  sie  aus  historischem  Zwange  vollenden  muB,  nicht  nur  be- 
.gonnen  sondern  schon  sehr  weit  gefordert,  wenn  sie  nun  end- 
;giiltig  ihre  unbeschrankte  Herrschaft  antreten  wird. 

71 


Bemerkungen 

Der  Predigttext 

T)  ei  einem  skandinavischen  Kur- 
*~*  ort  —  „nennen  wir  ihn  N/\ 
wie  es  in  den  '  alten  Romancn 
heifit  —  fahrt  ein  mit  vier  Kin- 
dern,  einer  Frau  und  einem 
Chauffeur  besetztes  Auto  iiber 
den  gefrorenen  See.  Das  Eis  gibt 
nach ;  das  Auto  vei  sinkt.  Drei 
Kinder  und  die  Mutter  ertrinken 
—  der  Chauffeur  rettet  sich  und 
ein   Kind. 

Bei  der  kirchlichen  Beerdi- 
gungsfeier  wahlte  der  protestan- 
tische  Pastor  als  Unterlage  zu 
seiner  Predict  diesen  Bibeltext, 
Psalm  69,  2,3: 

„Gott  hilf  mir;  denn  das  Was- 
ser  gehet  mir  bis  an  die  Seele, 
Ich  versinke  in  tiefem  Schlamm, 
da  kein  Grund  ist;  ich  bin  im  tie- 
fen  Wasser,  und  die  Flut  will 
mich  ersaufen." 

Die  frommen  Herren  wollen  so 
oft  wissen,  was  wir  denn  eigent- 
lich  gegen  sie  und  ihre  Religion, 
wie  sie  sie  ausuben,  vorzubringen 
hatten.  Eines  unsrer  Argumente 
ist  die  trostlose  Plattheit  ihrer 
religiosen   Gefiihle. 

Mir  ist  das  fa  gleich,  ich  bin 
dort  nicht  abonniert,  und  wers 
mag,  der  mags  ja  wohl  mogen. 
Aber  ist  es  nicht  armselig,  dafi 
einem  Pastor  bei  so  einem 
schrecklichen  Ungliicksfall  nichts 
weiter  einfallt,  als  nach  der  Bibel- 
konkordanz  zu  greifen,  dort  unter 
„Wasser"  nachzusehn  und  nun 
etwas  „Bezugliches"  aufzusagen? 
Ich  hore  ordentlich,  wie  er  das 
Gegenstandliche  in  das  umgeredet 
hat,  was  er  das  Symbolische 
nennt,  was  aber  hier  nur  das 
Allegorische  gewesen  ist.  Die 
armen  Wesen  sind  ins  Wasser  ge- 
fallen  und  darin  ertrunken. 
„Also,  auch,  lieben  Zuhorer  . . ." 
HeiBt  das  nicht  die  Religion  her- 
abwtirdigen?  Fur  einen  wahrhaft 
f  romm  empf  indenden  Menschen 
muB  so  ein  Handwerksstiick  von 
Predigt  ein  Greul  und  ein  Scheul 
sein. 

Und  der  Grund,  aus  dem  der 
Kirche  taglich  mehr  und  mehr 
Leute  fortlaufen,  was  nur  zu  be- 
griiBen  ist,  Hegt  eben  hierin:  daB 

72 


viele  Diener  dieser  Kirche  nur  noch 
viel  zu  reden,  aber  wenig  zu  sa- 
gen  haben.  Wie  schlecht  wird  da 
gesprochen!  Wie  oberflachlich 
sind  die  scheinbaren  Anknupfungs- 
punkte  an  das  Moderne,  darauf 
sind  diese  Manner  auch  noch  sehr 
stolz.  Wie  billig  die  Tricks,  mit 
einer  kleinen,  scheinbar  dem  All- 
tag  entnommenen  Geschichte  zu 
beginnen,  um  dann  . . ,  emporzu- 
steigen?  Ach  nein,  Es  ist  so  etwas 
Verblasenes  —  die  Satze  klappern 
dahin,  es  rollen  die  Bibelzitate, 
und  in  der  ganzen  Predigt  steht 
eigentlich  nichts  drin. 

In  diesem  Fall  scheint  mir  die 
Herbeizerrung         des  schonen 

69.  Psalms  eine  besondere  Unge- 
schicklichkeit,  mehr;  eine  grobe 
Taktlosigkeit  zu  sein. 

Auf  Betreiben  der  katholischen 
Kirche,  die  manche  ihrer  Positionen 
wanken  sieht  —  keine  Angst,  wir 
sind  in  Deutschland!'  —  lafit  sich 
Rom  neuerdings  mit  vielen  Para- 
graphen  schutzen:  eine  Frommig- 
keit  hinter  dem  Stacheldraht  der 
Gesetze.  Das  Wort:  Die  Gott- 
losen  kommenl  geht  um. 

Aber  eine  so  gute  Propaganda, 
wie  sie  die  Kirche  gegen  die 
Kirche  macht,  konnen  wir  gar 
nicht  erfinden,  Und  ich  weiB 
viele,  die  mit  mir  denken:  Wir 
sind  aus  der  Kirche  ausgetreten, 
weil  wir  es  nicht  langer  mitan- 
sehn  konnten.  Wir  sind  zu 
fromm.  2gnag  WroM 

Geldgeber  der  Nazis 

Ceit  elniger  Zeit  hat  die  NSDAP 
^  mit  Finanzschwierigkeiten  zu 
kampfen.  Die  Spitzengehalter 
muBten  abgebaut  werden,  und 
auch  den  Landsknechten  der  S,A. 
konnen  die  Spesen  nicht  mehr  in 
vollem  Umfange  ersetzt  werden. 
Fiir  eine  mit  grofiem  Propaganda- 
Apparat  ausgerustete  Partei  bil- 
det  die  Beschrankung  des  Aus- 
gabenetats  eine  wesentliche  Er- 
schwerung  der  Aktionskraft.  Nicht 
zuletzt  sind  diese  Schwierigkeiten 
durch  den  finanziellen  Zusammen- 
bruch  des  groBten  Geldgebers  der 
Partei,  der  Norddeutschen  Wolle 
A.-G.,  hervorgerufen  worden. 


Die  Leitung  dieses  Konzerns, 
die  bisher  in  den  Handen  der 
Briider  Lahusen  lag,  hat  es 
musterhaft  verstanden,  Aufsichts- 
rat  und  Banken  jahrelang  hinters 
Licht  zu  fiihren.  So  konnten  Ver- 
luste  in  der  schwindelhaften  Hohe 
von  einer  Viertelmilliarde  ent- 
stehen.  Bei  den  Riesensummen; 
die  durch  die  verschiedenen  Kon- 
ten  des  Nordwolle-Konzerns  ge- 
gangen  sind,  spielen  einige  Mil- 
lionen  fur  Parteizwecke  keine 
Rolle,  Im  November  vorigen  Jah- 
res  haben  die  Lahusens,  als  zum 
ersten  Mai  die  Verwendung  von 
Konzerngeldern  fiir  politische 
Zwecke  ruchbar  wurde,  diesen 
Vorwurf  energisch  zuriickgewiesen. 
In  der  gleichen  Erklarung,  die 
jenes  Dementi  brachte,  hieB  es 
auch,  dafi  der  Geschaftsgang  1930 
zufriedenstellend  sei,  und  daB 
man  die  Uberschiisse  zu  Ruck- 
stellungen  und  Abschreibungen 
benutzen  werde.  Dadurch  sollte 
der  Eindruck  erweckt  werden,  als 
sei  das  Unternehmen  gesund,  ob- 
wohl  es  in  der  Tat  langst  iiber- 
schuldet  und  vollig  ruiniert  war. 
Erscheint  dann  noch  das  poli- 
tische Dementi  glaubwurdig? 

In  der  vorjahrigen  Bilanz  hatte 
man  die  Verluste  der  erst  vor  we- 
nigen  Wochen  ans  Licht  des  Tages 
gezogenen  Ultra-Mare  Gesell- 
schaft,  eines  Tochteruiiternehmens, 
bei  dem  die  giinstigen  Woll-Spe- 
kulationen  fur  Rechnung  der  Brii- 
der Lahusen  und  die  schlechten 
fiir  den  Nordwolle-Konzern  ge- 
tatigt  wurden,  unter  „Sonstige 
Forderungen"  verbucht.  Wahrend 
dieser  Posten  jetzt  auf  „Forde- 
rungen,  an  Tochtergesellschaften" 
iibertragen  wurde,  diirfte  sich  ein 
ungedeckter   Millionen-Kredit   zu- 


gunsten  eines  nationalsozialisti- 
schen  Mittelsmannes  noch  unter 
MSonstige  Forderungen"  befinden. 

Man  kann  der  Hitler-Partei 
keinen  Vorwurf  daraus  machen, 
wenn  sie  sich  von  einem  schwer- 
reichen  Parteigenossen  Zuwendun- 
gen  machen  lieB.  Fiir  die  La- 
husens  mag  neben  der  politischen 
Gesinnung  vor  allem  die  Hoff- 
nung  maBgebend  gewesen  sein, 
daB  im  Falle  einer  Nazi-Diktatur 
ihrem  heruntergewirtschafteten 
Unternehmen  wieder  auf  die 
Beine  geholfen  wiirde.  Vielleicht 
hat  ihnen  sogar  der  Gedanke 
eines  Woll-Monopols  .  vorge- 
schwebt. 

Die  Banken  aber,  die  sich  dar- 
um  gerissen  habent  dem  Nord- 
wolle-Konzern Kredite  zu  geben, 
haben  ungewollt  erst  die  eine, 
dann  die  andre  radikale  Partei 
unterstiitzt.  Den  Nationalsozia- 
1  isten  f lossen  auf  einigen  Um- 
wegen  die  Bankenkredite  zu,  wah- 
rend den  Kommunisten  —  ebenso 
gratis  —  ein  wirksames  Propa- 
gandamittel  gegen  den  Kapitalis- 
mus  geliefert  wird,  der  hier  eine 
so  klagliche  Niederlage  erlitten 
hat. 

Bernhard  Citron 

Studentenkrawalle 

Schon  acht  Tage  vor  den  Kra- 
wallen  in  der  berliner  Uni- 
versitat  kursierte  das  Geriicht,  die 
nationalsozialistischen  Studenten 
hatten  wieder  eine  ihrer  bewahr- 
ten  Terror -Demonstrationen  vor, 
wie  sie  eben  die  wiener  und 
miinchner  Fascisten  an  den  Uni- 
versitaten  durchgefuhrt  hatten. 
Zwei  Tage  vor  den  Zusammen- 
stoBen   kiindigten   die   Nazis    ihre 


Das  Buch  vom  Jenseits 

von  Bo  Yin  Ra  bef  afit  sich  nicht  mit  Hypothesen  und  Grlaubensmeinungen  iiber 

ein  ^achirdisches  Leben,  sondern  zeigt,  wie  waches  Bewu&tsein  jenseits 

irdischer  Sinne  nur  durch  andere  Anschauungsweise  des  einen,  einzigen 

Lebens  erlangbar  ist.    Sie  konnen 

die  Bucher  von  B6  Yin  Rd 

mit  nichts  anderem,  wie  es  auch  heiflen  moge,  vergleichen!    In  jeder  gnteli 

Buchhandlung  sind  sie  zu  haben.    Einfuhrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred 

Kober-Staehelin  kostenlos.    Der  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung 

(gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

73 


Demonstration  in  aller  Offentlich- 
keit  an.  Die  ganze  Universitat 
horte  es,  die  Polizei  erfuhr  est  nur 
der  Rektor  stellte  sich  dumm.  Die 
Polizei  bot  ihm  noch  am  selben 
Vormittag  ihre  Hilfe  an,  um  am 
Tage  der  Krawalle  die  Ordnung 
innerhalb  der  Universitat  aufrecht 
zu  erhalten.  Herr  Rektor  DeiB- 
mann  pochte  auf  sein  Hausrecht 
und  lehnte  ab.  Jedem  Studenten, 
jedem  der  Professoren,  jedem  Pe- 
dell  war  klar,  was  die  angekun- 
digte  Demonstration  bedeutete; 
Tumulte,  Schlagereien,  MiBhand- 
lungen  von  Juden  und  Kommu- 
nisten,  Unterbrechung  des  Stu- 
dienbetriebes  auf  Tage  binaus.  Es 
ware  dem  Rektor  ein  Leichtes  ge- 
wesen,  dies  durch  ein  paar  MaB- 
nahmen  zu  verhindern.  Das  hat 
er  nicht  getan,  im  Gegenteil:  er 
hat  den  Nazis  ihre  Demonstration 
ausdrucklich  erlaubt.  Herr  Rektor 
DeiBmann  ist  in  vollem  Umfange 
fur  die  Universitatskrawalle  am 
29.  Juni  verantwortlich  zu 
machen. 

Die  Nazis  hatten  ihre  Demon- 
stration fiir  die  Elfuhr-Pause  am 
Montag  angekundigt.  Die  Sozial- 
demokraten,  die  Kommunisten 
und  die  j  tidischen  Verbindungen 
hatten  Generalappell  angesetzt. 
Schon  um  zehn  Uhr  war  das  ganze 
Universitatsgebaude  und  der  Vor- 
garten  voll  von  uniformierten 
Nazis,  an  den  Eingangen  waren 
Schupos  postiert,  samtliche  Pe- 
delle  waren  auf  den  Beinen.  Zwi- 
schen  zehn  und  elf  Uhr  stromten 
immer  neue  Nazis  in  die  Uni- 
versitat, alle  in  S.-A.-Kleidung, 
und  auch  nicht  Einer  von  ihnen 
wurde  nach  dem  Studentenausweis 
gefragt. 

Um  elf  Uhr  begann  die  Demon- 
stration in  Form  eines  Stehkon- 
vents.  Mindestens  ein  Drittel  der 
Teilnehmer  waren  Nichtstudenten, 
Und  inmitten  des  Stehkonvents, 
umgeben  von  den  dienernden  und 
hackenknallenden  Fuhrern  der 
nationalsozialistischen  Studenten, 
stand  Magnifizenz  und  blieb  dort 
auch,  wahrend  der  Leiter  des  Stu- 
dentenbundes  sprach,  damit  nie- 
mand  die  Legalitat  dieser  Kund- 
gebung  bezweifle.  Tatsachlich 
aber  vollzog  sich  diese  in  Formen, 

74 


die  auf  akademischem  Boden 
durchaus  uniiblich  sind,  —  An- 
sprachen  wahrend  der  Stehkon- 
vente  sind  verboten,  und  Teil- 
nahme  von  Nichtstudenten  an 
einem  Stehkonvent  wird  streng 
bestraft, 

Der  Nazi-Leiter  Schaefer  schloB 
seine  Rede  an  die  nationalsozia- 
listischen Studenten  mit  der  Auf- 
forderung,  in  die  Kollegs  oder 
nach  Hause  zu  gehen  und  „sich 
nicht  provozieren  zu  lassen". 
Diese  Ermahnung  war  selbstver- 
standlich  eine  Farce,  Sofort  nach 
Auflosung  des  Stehkonventes  sam- 
melten  sich  die  Nazis  im  Garten 
der  Universitat  und  begannen  ihre 
wtisten  Schlagereien.  Die  linken 
Studenten,  die  bis  dahin  in  Grup- 
pen  zusammenstanden,  hatten  sich 
auf  die  friedliche  Parole  hin  teil- 
weise  zerstreut,  Jetzt  wurden  sie 
von  den  Nazis  einzeln  angegriffen. 
Zwei  Kommunisten,  die  zum  Rek- 
tor bestellt  worden  waren,  wurden 
uberfallen  und  von  einer  Uber- 
macht  von  fiinfzehn  oder  zwanzig 
Nazis  unter  den  Augen  des  Rek- 
tors  und  der  Pedelle  miBhandelt. 
Ein  einzelner  Student,  ebenfalls 
Kommunist,  wurde  ohne  jeden 
AnlaB  bedroht,  und  als  er  die 
Flucht  ergriff,  eingeholt,  niederge- 
schlagen  und  solange  mit  Stocken 
und  Koppeln  auf  den  Kopf  ge- 
hauen,  bis  er  blutete.  Mit  dem 
Ruf  „Haut  die  Juden!"  wurden 
noch  sechs  oder  sieben  andre  Stu- 
denten uberfallen  und  geprugelt. 

Die  Ausschreitungen  entwickel- 
ten  sich  zu  einem  regelrechten 
Pogrom.  Das  Brett  des  Kartells 
judischer  Verbindungen  wurde  ab- 
gerissen,  antisemitische  Lieder  er- 
tonten,  jeder  jiidisch  aussehende 
Student  wurde  beschimpft  oder 
geschlagen. 

Jetzt  erst,  nachdem  die  Kra- 
walle schon  eine  halbe  Stunde  ge- 
dauert  hatten,  fand  sich  der  Rek- 
tor bereit,  die  Hilfe  der  Polizei  in 
Anspruch  zu  nehmen,  und  auch 
dies  nur  unter  dem  Drangen  der 
sozialdemokratischen  und  j  ung- 
deutschen  Studenten  und  des  Po- 
lizeimajors  Heinrich. 

In  ein  paar  Minuten  war  der 
Universitatsgarten  durch  die  Poli- 
zei geraumt,  die  Universitat  wurde 


fiir  zwei  Tage  geschlossen,  Der 
Rektor  versprach  strengste  Be- 
strafung  der  Schuldigen.  Inzwi- 
schen  sind  gegen  neun  kommu- 
nistische  Studenten  Verfahren  ein- 
geleitet  worden.  Ihnen  wird  im 
Zusammenhang  mit  den  Krawallen 
Stoning  des  Universitatsbetriebes 
vorgeworfen.  Drei  sind  bereits 
relegiert,  fiinf  weitere  soil  das 
gleiche  Schicksal  treffen.  Von  den 
Nationalsozialisten  hingegen  hat 
die  Universitatsbehorde  nur  zwei 
ausgeschlossen. 

Robert  Solten 

Mitropaisches 

Tn  den  letzten  Jahren  haben  die 
*  Gelehrten  entdeckt,  daB  der 
Mensch  sich  erheblich  gestinder 
ernahren  konne,  als  er  das  jahr- 
hundertelang  getan  hat.  Diese 
Entdeckung  hat,  ob  zu  Recht 
oder  Unrecht,  bewirkt,  dafi  ein 
gegen  friiher  nicht  unbetracht- 
licher  Teil  der  Bevolkerung  ent- 
weder  rein  vegetarisch  oder  min- 
destens  gemischt  mit  starker  Be- 
vorzugung  von  Gemusen,  Obst, 
Milch-  und  Getreideprodukten 
seinen  Hunger  stillt.  Die  Gast- 
statten  pflegen  diesem  Bedurfnis 
Rechnung  zu  tragen;  kaum  ein 
grofierer  Restaurationsbetrieb, 

der  nicht  fiir  seine  Besucher 
vegetarische  Platten  und  Ahn- 
Iiches   bereit  hielte. 

Unentwegt,  ein  letztes  Botl- 
werk  friiherer  Ernahrungsweise 
im  Branden  der  Moderne,  ver- 
harrt  indessen  die  Mitropa  auf 
ihren  Fleischtopfen  und  Eierplat- 
ten,    zu    denen    sie    taglich    einige 


tausend  Reisende  herbeilockt ; 
man  verletzt  eben  immer  noch 
lieber  einmal  seine  Uberzeugung 
und  seinen  Geschmack,  als  zwolf 
Stunden  lang  auf  dem  gleichen 
Sitzplatz  zu  kleben.  An  die 
Speisekarte  der  Mitropa  haben 
wir  uns  gewohnt,  wir  nehmen  sie 
als  gottgegeben;  aber  neuerdings 
scheint  nicht  einmal  mehr  auf 
das  Wenige  VerlaB  zu  sein,  was 
sie  unsern  ausgefallenen  Wiin- 
schen   bisher    bot.    Etwa    so: 

In  Hersfeld  yerlangte  ich  zu 
den  „Schwedischen  Gabelbisse^ 
mit  Butter  und  Toast"  die 
„kleine  Flasche  gekuhlte  Voll- 
milch"  als  Getrank.  In  Fulda  er- 
fuhr  ich,  da6  die  gekuhlte  Voll- 
milch  ausgegangen  sei.  Ich  ver- 
langte  Zitrone,  Zucker  und  Was- 
ser  und  wurde  belehrt,  daB  es 
keine  Zitronen  gebe  —  nur  kunst- 
liche  Zitronade.  Da  ich  keine 
Lust  verspiirte,  aus  meinem  Ma- 
gen  ein  Experimentierfeld  fiir 
unsre  hochentwickelte  chemische 
Industrie  zu  machen,  begniigte 
ich  mich  mit  einem  Tee,  zu  dem 
es  immerhin,  laut  Karte,  eine 
Scheibe  Zitrone  gab  —  allerdings 
erst  nach  viermaliger  (buchstab- 
lich!)  Aufforderung  an  den  tief- 
beleidigten  Kellner,  der  urn  diese 
Zeit  —  drei  Uhr  nachmittags  — 
sich  lediglich  zur  Annahme  von 
Kaffeebestellungen  verpflichtet 
glaubte.  Dafiir  brachte  er  mir  die 
Gabelbissen,  mit  Butter,  aber 
ohne  Toast.  Fur  das  ausgesucht 
fade  Schwarzbrot,  das  stattdessen 
serviert  wurde,  gab  es  kein 
Wort  der  Entschuldigung  oder 
nur  der  Erklarung.    (Erklarung:  die 


die  genufjreicrte 

EGYPTIAN  Nr.16f  o/M.  u.Gold,  Stuck  10Pf. 

Abdulla-CigareHen      genieffen     Weliruf! 
Abdulla  &  Co.        Kairo    /    London    /    Berlin 

75 


Mitropa  unterstutzt  tatkraftigst 
die  Roggenaktion  der  Regierung. 
Schon;  in  Italicn  gibt  es  ahnliche 
Dinge.  Aber  wie  kommt  sie  dann 
dazu,  bewuBt  falsch  das  Wort 
Toast  taglich  neu  auf  ihre  Kar- 
ten  zu  tippen?) 

Ich  war  naiv  genug,  anzuneh- 
men,  die  Zitronen  seien,  gleich 
der  Milch,  bloB  „ausgegangen", 
iind  in  Frankfurt  habe  man  neue 
an  Bord  genommen.  Keineswegs: 
auch  noch  bei  Heidelberg  gab  es 
,,frische  Zitrone  bloB  zum  Tee". 
Die  Erklarung  fiir  diese  Sonder- 
barkeit  bekam  ich  unvermutet 
einige  Tage  spater  zwischen  Rom 
tind  Neap  el  durch  den  neape- 
ler  Konsul  eines  mitteleuro- 
paischen  Staates.  Er  war  kurz 
zuvor  auf  Sizilien  gewesen  und 
erzahlte  mir,  daB  in  Catania  die 
Zitronen  ungeerntet  an  den  Bau- 
men  verfaulten.  Grund:  Deutsch- 
.  land,  der  Hauptabnehmer,  bietet 
dieses  Fruhjahr  fiir  das  Tausend 
verpackter  Zitronen  die  Summe 
von  10  (zehn)  italienischen  Lire, 
das  heiBt  pro  verpackter  Zitrone 
einen  Centesimo  — ■  0,22  Pfennig, 
Fur  diesen  Preis  aber,  erklarte 
mein  Gewahrsmann,  sei  allenfalls 
die  Verpackung  zu  liefern,  und 
fiir  Arbeitslohn,  Realwert  der 
Frucht,  Verdienst  bliebe  nichts, 
noch  nicht  der  Bruchteil  eines 
Centesimo,  Warum  das  so  sei? 
GewiB  nicht,  weil  Deutschland 
nicht  kaufkraftig  genug  sei,  fiir 
die  Zitronen  einen  angemessenen 
Preis  zu  zahlen.  Aber  der  Hauot- 
teil  des  Zitronenimports  sei  ja 
nicht  fiir  den  privaten  Verbrauch 
sondern  fiir  die  GroBfabrikation 
von  Limonaden  bestimmt  ge- 
wesen. Die  dazu  notige  Menge 
yon  Zitronensaure  aber  werde 
jetzt  chemisch  hergestellt  —  da- 
her  dies  Angebot,  das  einer  Ein- 
fuhrsperre  gleichkommt. 

Ich  bin  kein  Arzt  und  wage 
kein  Urteil  dariiber  abzugeben, 
ob  zwischen  Chemisierung  der 
Nahrung  und  Zunahme  der  Ma- 
genkrankheiten  ein  ursachlicher 
Zusammenhang  besteht.  Immer- 
hin  weifi  ich,  daB  viele  das 
glauben,  und  daB  mir  und  den 
meisten  Andern  der  Geschmack 
kunstlicher  Zitronaden  und 
Orangeaden  widerlich  ist,      Auch 

76 


weifl  ich  j  etzt.  warum  man  bei 
der  Mitropa  keine  frischen  Zi- 
tronen mehr  bekommt.  Vielleicht 
sind  die  Fabrikanten  der  konden- 
sierten  Milch  daran  schuld,  daB  die 
frische  gekuhlte  Vollmilch  blofi 
auf  dem  Papier  steht?  Denn  un- 
erforschlich  sind  die  Wege  der 
internationalen  Wirtschaft,  Wir 
Laien  diirfen  uns  von  lhr  zer- 
malmen  und  bestenfalls  dauernd 
schikanieren  lassen.  BloB  begrei- 
fen  werden  wir  sie  nicht. 

M.  M.  Gehrke 

Unsern  atnerikanischen  Gasten 
gewidmet 

Mach  dem  amerikanischen  Ein- 
*  '  wanderungsgesetz  sind  von 
der  Landung  ausgeschlossen: 

Blodsinnige,  Schwachsinnige, 
Irrsinnige,  Fallsuchtige,  Gewohn- 
heitstrinker,  hilf sbediirftige  Arme, 
Berufsbettler,  Landstreicher,  Per- 
sonen  mit  ansteckenden  oder 
ekelerregenden  Krankheiten  (da- 
zu zahlen:  Tuberkulose  in  jeder 
Art  und  in  j'edem  Grade,  durch 
Faden-Pilze  verursachte  Krank- 
heiten, Lepra,  Geschlechtskrank- 
heiten,  Trachoma),  geistig  oder 
korperlich  minderwertige  Perso- 
nen,  Personen  mit  Gebrechen, 
wodurch  sie  im  Erwerb  beein- 
trachtigt  werden,  ledige  Schwan- 
gere,  Bruchleidende,  die  nicht  er- 
folgreich  operiert  sind,  Polygami- 
sten,  Verbrecher,  Zuchthausler, 
Anarchisten  (Umsturzler) ,  Dir- 
neri  und  Zuhalter,  Personen,  die 
vor  ihrer  Abreise  ein  Abkommen 
abgeschlossen  oder  ein  Ver- 
sprechen  oder  Angebot  fiir  ir- 
gendwelche  Arbeitsleistung  in 
Amerika  abgegeben  haben,  Per- 
sonen, die  dem  Staat  zur  Last 
fallen  konnen,  Kinder  unter 
sechzehn  Jahren,  die  nicht  vom 
Vater  oder  der  Mutter  begleitet 
und  erwartet  werden,  des  Lesens 
unkundige   Personen, 

Hausse  im  Bett  der  Zeugln 

T^ie  Lichtleitung  wurde  auf  An- 
*^  ordnung  des  Gerichts  auBer 
Betrieb  gesetzt.  Dann  legte  sich 
der  Vorsitzende,  Landgerichts- 
direktor  Friedmann,  in  das  Bett, 
in  dem  der  Tater  die  Zeugin  iiber- 
rascht      hatte.      Ein      Referendar 


muBte  beim  Schein  einer  Taschen- 
lampe  an  dem  TurschloB  herum- 
arbeiten,  urn  festzustellen,  ob  von 
dem  Bett  aus  ein  Gesicht  so  genau 
zu  sehen  ist,  daB  ein  Wieder- 
erkennen  moglich  ist.  Die  Probe 
wurde  nicht  nur  von  dem  Vor- 
sitzenden,  sondern  auch  von  den 
Beisitzern,  den  beiden  Schoffen, 
dem  Staatsanwalt,  dem  Verteidi- 
ger  und  den  beiden  Sachverstan- 
digen  mit  Sanitatsrat  Leppmann 
und  Medizinalrat  Dr,  Ewers  vor- 
genommen. 

MSblierte  Wirt  in  empfiehlt  sich 

„. . .  Auch  er  hat  bis  zur  Ver- 
heiratung  bei  mir  gewohnt  und 
wird  Ihnen  bestatigen,  daB  es  hier 
absolut  ruhig,  harmonisch,  und  bei 
volliger  Unabhangigkeit  man  ganz 
im  feinsten  Sinne  zu  Hause  ist. 
Die  Hauslichkeit  ist  Ganz  auf  Be- 
haglichkeit  eingestellt,  im  Sommer 
Eis  und  im  Winter  warrries  Was- 
ser,  zum  Rasieren  ist  ein  Tauch- 
sieder  am  groBen  Waschtisch,  lau- 
warme  und  kalte  Tusche  im  Bad. 
Ich  pflege  zu  sagen,  Sie  werden 
ganz  wie  Sonne  (aber  im  mo- 
dernen  Sinne)  gehalten,  und  ich 
erwarte  dieselben  Riicksichten, 
das  heiBt  z.  B.  in  Bezug  auf  Be- 
such,  daB  ich,  wenn  es  sich  um 
gediegene  Menschenkinder  han- 
delt,  nichts  dagegen  habe,  weil  ich 
nicht  daran  Schuld  sein  will,  daB 
nun  immer,  um  zusammen  zu  sein, 
das  Geld  im  Cafe  ausgegeben 
werden  muB,  ich  habe  das  abso- 
lute Vertrauen,  daB  sich  das  im 
Rahmen  halt  und  zu  angemessener 
Zeit  stattfindet,  deshalb  wahle  ich 
gerne  Menschen,  zu  denen  ich  das 


voile  Vertrauen  habe,  daB  sie  nur 
einwandfreie  Freunde  und  Freun- 
dinnen  ins  Haus  bringen  und 
keine  zweifelhaften  Elemente  in 
meine  fast  immer  leere  Wohnung. 
Und  weil  ich  bis  jetzt  immer  das 
hatte,  und  bei  Ihnen  das  Gefuhl 
unbedingtens  Vertrauens  auch  so- 
fort  hatte,  ligt  mir  daran,  sonst 
wurde  ich  nicht  schreiben." 


Liebe  Weltbuhnet 

Tag  und  Nacht  klingelt  im  Funk- 
haus  das  Telephon:  die  ge- 
schatzten  Horer  aufiern  sich  bei- 
stimmend  oder  abfallig  zu  den 
Darbietungen  des  Sendeprogramms. 
Besonders  haben  sies  mit  der 
klassischen  Musik. 

„Was,  Friihkonzert?  Und  dann 
KleineNachtmusik?  Ihr  seid  wohl 
da  noch  nicht  wach?" 

Oder:  „Habt  Ihr  denn  nichts 
Verniinftiges  zu  spielen?  Immer 
Opus!  Wenn  ich  Opus  hore,  stell 
ich  schon  ab!" 

Oder:  „Heute  ist  bei  Euch  wie- 
der  alles  durcheinander,  Quartett 
von  Haydn  steht  im  Programm, 
und  spielen  tun  sie:  Deutschland, 
Deutschland  uber  alles!"  Man  gibt- 
zur  Antwort,  xlaB  diese  Melodic 
in  Haydns  Quartett  vorkomme. 
Darauf  die  Stimme  des  Volkes: 
„Ach,  ihr  Juden  habt  fur  alles  ne 
Ausrede!" 


Hinweise  der  Redaktion 


Bucher 

Leo  Trotzki:  Die  spanische  Revolution.    Fritz  BUchner,  Thekla  b.  Leipzig. 

Rundfunk 

Dlensta?.  Mtinchen  20.45:  Zwiegesprach  mit  Herbert  Jhering.  —  Muhlacker-21.45;  Mu- 
sikalische  Plagiate,  Hans  Re  i  matin.  —  Dormer  stay.  Berlin  18.20:  Gibt  es  eine  „kalte" 
Sozialisierung?  H.  Bundschuh  und  L.  Fischer.  —  Mtinchen  20.40;  Friedrich  Kayssler 
liest  aus  Hamsuns  Pan.  —  Langenberg  21.00:  StraBenmann  von  Hermann  Kesser.  —  ■ 
Freitajr.  Berlin  15.20  W.  O.  Somin  liest  Kurzgeschichten.  —  19.10:  Zweimal  StraBen- 
mann, Hans  Flesch  und  Hermann  Kesser.  —  Leipzig  20.00:  Das  erste  deutsche 
Schauspielerparlament.  —  Sonnabend.  Berlin  15.40:  Zwei  Frauen  reisen  im  Auto 
durch  die  Welt,  M.  M.  Gehrke  und  Lisa  Matthias.  —  18.25:  Die  Erzahlung  der 
Woche,  Gottfried  Bean. 

77 


Antworten 


Student.  Ein,  wie  es  in  eurer  Sprache  heifit,  Kommilitone  von  dir 
gibt  in  dieser  Nummer  cinen  Bericht  iiber  die  Vorfalle  an  der  berliner 
Universitat,  Du  fragst  mit  Recht,  wie  denn  die  Herren  Professoren 
zu  diesen  Vorfallen  stehn,  wie  sich  hier  die  vielgeriihmte  wissenschaft- 
liche  Objektivitat  auswirkt,  Geh  einmal  in  das  Kolleg  des  Herrn 
Professor  Sauerbruch,  Du  wirst  fragen,  was  denn  die  Chirurgie,  fur 
die  der  Herr  Professor  unbestreitbar  Fachmann  ist,  mit  der  Politik 
zu  tun  habe.  Das  fragen  wir  uns  auch.  Dem  Chirurgen  ist  ein  In- 
genieur  begegnet,  dem  das  Verstandnis  fiir  die  Funktion  einer  Hand- 
Prothese  abging.  Der  Herr  Professor  erkundigte  sich  weiter  nach  dem 
Mann,  und  da  stellte  es  sich  heraus,  dafi  er  Pazifist  ist,  Messerscharf 
schloB  Herr  Professor  Sauerbruch,  daB  die  pazifistische  Gesinnung 
den  Mann  hindre,  so  einen  einfachen  Vorgang  wie  die  Funktion  einer 
Handprothese  zu  verstehen.  „Ein  ausgewachsener  Mann  kann  den 
Pazifismus  nicht  verstehn",  ein  Pazifist  ist  „geistig  nicht  vollwertig", 
so  urteilt  der  Herr  Professor.  Dafi  er  auf  das  Verstandnis  deiner 
Kommilitonen  gestoBen  ist,  daB  diese  sich  bemuhen,  den  politischen 
Exkursen  ihres  Lehrers  die  Tat  folgen  zu  lassen,  ist  klar,  Herr  Pro- 
fessor Sauerbruch  ist  somit  nicht  ganz  unschuldig  an  den  Exzessen 
der  nationalsozialistischen  Studenten.  Er  sagte  am  SchluB  seiner  Vor- 
lesung:  f,Ich  hoffe  nicht,  daB  unter  Ihnen  Pazifisten  sind,  es  sollte 
mir  urn  Sie  leid  tun".  DaB  seine  Hoffnung  nicht  triigerisch  war,  haben 
seine  randalierenden  Schiiler  bewiesen.  Vielleicht  hats  der  Herr  Pro- 
fessor aber  ganz  anders  gemeint.  Prothesen  stellt  man  in  erster  Linie 
her,  um  Kriegskriippeln  zu  helfen.  Wenn  es  mal  keine  Kriege  mehr 
gibt,  dann  gibts  auch  keine  Kriegskruppel  mehr,  ergo  sinkt  der  Absatz 
in  Prothesen.  Ist  das  dem  Herrn  Professor  vielleicht  unangenehm? 
Sollte  sich  hieraus  vielleicht  seine  Gegnerschaft  gegen  den  Pazifismus 
herleiten?  Da  fragst  du  uns  vergeblich,  solch  heikle  Fragen  konnen 
wir  nicht  beantworten. 

Tauchnitz  Edition.  Bescheiden  und  unauffallig,  ohne  die  saftigen 
Photomontagen  eurer  Kollegen,  bringt  ihr  dieser  Tage  den  funftausend- 
sten  Band  eurer  Kontinentalausgabe  englischer  und  amerikanischer 
Schriftsteller.  Hoffen  wir,  daB  dies  Jubilaum  trotzdem  die  Aufmerk- 
samkeit  findet,  die  es  verdient.  Fiir  jeden,  der  Englisch  versteht, 
ohne  Englander  zu  sein,  sind  die  weiBen  Zwei-Mark-Bandchen  ganz 
^unentbehrlich,  denn  eure  Sammlung  enthalt  neben  reiner  Unterhal- 
tungsliteratur  eine  gute  Auswahl  der  besten  Leute,  von  Sterne  und 
Dickens  bis  Hemingway  und  Joyce.     Wir  gratulieren  euch  und  uns. 

Kriegsschuldforscher.  Die  in  der  vorigen  Nummer  von  Johannes 
Buckler  zitierten  Dokumente  zur  Frage  der  Meerengen  sind  auch 
deutsch  erschienen.  Die  deutsche  Ausgabe  besorgten  Kurt  Kersten 
und  Boris  Mironow,  sie  ist  im  Verlag  von  Carl  Reifiner,  Dresden, 
herausgebracht  worden. 

Freund  der  Filmzensur.  Es  trifft  nach  dem  Sinn  der  fiir  den  Re- 
marquefilm  von  der  Zensur  getroffenen  Entscheidung  nicht  zu,  daB 
unsre  Leser  auf  Grund  unsres  Kollektiv-Beitritts  zur  Gesellschaft  der 
Sturmfreunde  das  Recht  hatten,  den  Film  f,Im  Westen  nichts  Neues" 
zu  sehn.  Sie  mtissen  schon  mit  dem  Mitgliedsausweis  einer  Organi- 
sation versehn  sein,  die  Vorfiihrungen  des  Films  veranstaltet. 

Manuskripte  kind  qui  an  die  Redaction  der  Weltbuhne,  Charlottenbuig,  KanUtr.  152,  zu 
richten;  «s  wird  gebetea,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  toast  keine  Ruckaenduojr  erfoljfen  kann. 
Das  Autfuhrangsrecht,  die  Verwertung  vonTitelnu.Text  imRihmen  des  Film*,  die  musik- 
mechanische  Wledergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortr&gen 
bleiben  fur   alle  in  der  WeltbMine  erscbeinenden  Beltrage  ausdruckllch  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wnrde  begrundet  von  Siegfried  Jaoobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von  Kurt  Tucnobky  geleitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ouietzky.    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried    Jacobsobn  &  Co^  Charlottenburg. 

Telephon:    CI.   Steinplatz  77  57.   —  PosUcheckkonlo:   Berlin  119  Sa 
Baokkonto       Darmstadlet    u.    NatiotMlbank,       Depositenkasse     Charlottenburg,     rCanUti-    112 


XXVN.Jatargang  21.  Jull  1931  Nnmmer29 

Es  lSt  erreicht!  vonCarlv.Ossietzky 

Us  ist  heutc  eine  Binsenwahrheit,  daB  sich  der  Kapitalismus 
auf  der  ganzen  Welt  in  einer  ungeheuren  Krise  befindet, 
Aber  was  sich  in  Deutschland  in  diesen  letzten  beiden  Wochen 
abgespiclt  hat,  das  ist  mehr  als  das  funktionclle  Versagen  eines 
Systems,  das  heute  nirgendwo  mehr  gut  arbeitet  und  iiberall 
mehr  Enttauschte  und  Verzweifelte  zuriicklaBt  als  Zufriedene, 
Hier  hat  politische  Unzulanglichkeit  die  allgemeine  wirtschaft- 
liche  Misere  zu  einer  besonderen  Katastrophe  ausgeweitet. 
GewiB,  ein  Bankkrach  bedeutet  noch  keine  Gotterdammerung, 
die  Tatsache,  daB  es  auch  denen  heute  jammerlich  geht,  die 
sonst  ihren  Profit  aus  der  Not  der  Andern  holten,  noch  nicht 
den  Beginn  der  Weltvereisung.  Aber  es  ist  ein  trauriges  Re- 
sultat,  daB  wir  heute,  Juli  1931,  trotz  aller  schlimmen  Erfah- 
rungen,  nicht  besser  dran  sind  als  1918  und  1923.  In  den 
Geldzentren  der  Welt  wird  wieder  disputiert,  ob  Deutschland 
der  Hilie  wiirdig  ist,  und  utnsre  eignen  Zahlungsmittel  sind  wie- 
der hochst  iragwurdig  geworden,  Hier  waltet  nicht  nur  die 
Unbarmherzigkeit  eines  blinden  Schicksals,  hier  liegt  Schuld 
vor,  Schuld  und  nochmals  Schuld. 

Wir  wollen  in  diesem  Augenblick  nicht  auf  den  Reichs- 
kanzler  Briining  Steine  werfen.  Wir  haben  ihn  vom  ersten  Tag 
seiner  Amtsfuhrung  an  bekampft;  wir  haben  seine  vielgeprie- 
senen  Taten  mit  Kassandrarufen  verfolgt  und  sind  dabei  so 
griindlicli  allein  geblieben  wie  Eremiten  in  der  Wiiste.  Es  be- 
reitet  uns  keine  Genugtuung,  daB  wir  recht  behalten  haben. 
Unter  diesem  Kanzler  begann  jenes  verheerende  Schlagwort 
von  der  ,,Aktivierung"  unserer  AuBenpolitik  seine  Wirkung 
auszuiiben,  setzte  jene  neue  Hausse  des  Nationalismus  ein,  der 
wir  es  verdanken,  daB  Frankreich  uns  jetzt  in  unsrer  hochsten 
Not  hartnackig  und  mit  kiihler  Rechnergebarde  entgegentritt. 
Unter  diesem  Kanzler  begann  auch  jener  riicksichtslose  Aus- 
powerungsprozeB  des  akkumulierten  Kapitals  gegen  die  rest- 
lichen  deutschen  Biirgerschichten,  die  aus  der  Inflation  noch 
eben  heil  herausgekommen  waren,  Es  ist  eine  besondere  Tra- 
gikomodie,  daB  unserm  Biirgertum  grade  die  prononziert  bur- 
gerlichen  Regierungen  so  verhangnisvoll  werden.  Unter  der 
Aegide  des  hanseatischen  Musterbiirgers  Cumo  vernichtete 
Hugo  Stinnes  ungezahlte  selbstandige  Existenzen.  Unter  dem 
katholischen  Ordnungsretter  Briining  zogen  Banken  und  Schwer- 
industrie  eine  grauenhafte  Elendstrace  kreuz  und  quer  durch 
die  letzten  Vermogensreserven  vertrauensvoller  Biirgerseelen, 
die  wie  hypnotisiert  auf  die  ,,Soziallasten"  starrten,  von  der 
„Begehrlichkeit  der  Arbeiterschaft"  faselten  und  dariiber  ganz 
vergaBen,  wer  ihnen  eigentlich  das  Eisen  an  die  Kehle  setzte. 
Es  ist  wie  ein  schlechter  Witz,  daB  einer  dieser  gigantischen 
l  79 


Marodeure,  heute  selbst  wankend  geworden,  hilfesuchend  un- 
ter  die  Fittiche  des  demokratischen  Staates  kriechen  muB,  dem 
man  so  oft  cxpropriatorische  Tendenzen  vorgeworfen  und  den 
man  wie  eine  Vorfrucht  -des  ,,Marxismus"  behandelt  hat.  Wenn 
die  Regierung  Briining  sich  heute  fin*  dast  was  sie  am  deutschen 
Btirgertum  verbrochen  hat,  rechtfertigen  miiBte,  so  konnte  sie  nur 
enT  sehr  zweifelhaftes  Argument  zu  ihren  Gunsten  anfiihren: 
sie  hat  die  Kapitalflucht  nicht  gehindert.  Das  ist  die  einzige 
Chance,  die  sie  den  eignen  Leuten  gelassen  hat.  Sie  hat  taten- 
los  zugesehen,  wie  im  vergangenen  Jahre  Milliarden  nach  der 
Schweiz  abwanderten,  und  ihr  famoser  Finanzminister  Herr 
Dietrich  hat  sogar  offentlich  gesagt,  daB  er  dies  bei  der  hier- 
zulande  herrschenden  UngewiBheit  ganz  begreiflich  finde.  DaB 
Briining  auBenpolitisch  die  verniinftige  Linie  der  Ara  Strese- 
mann  verlieB,  daB  er  die  innere  soziale  Krankheit  ausschlieB- 
lich  mit  Notverordnungen  auf  Kosten  der  Lohnempfanger  zu 
kurieren  trachtete,  das  ist  seine  ungeheure  Schuld,  das  ist  der 
Weg  in  die  Katastrophe  vom  Juli  1931. 

Das  alles  muB  in  diesem  Augenblick  gesagt  werden,  wenn 
es  auch  nicht  die  Feststellutig  verhindert,  daB  ■  Briining  in  die- 
sen  Tagen,  zusammen  mit  dem  Reichsbankprasidenten  Lutherf 
wahrhaftig  heroisch  gearbeitet  hat,  um  die  Konsequenzen  sei- 
ner eignen  Politik  abzuwenden.  Dieser  Kanzler  ist  heute  durch 
eine  selbstgeschmiedete  Kette  von  Irrtumern  mit  seinem  Amt 
umlosbar  verbunden.  Er  kann  nicht  mehr  demissionieren.  Er 
kann  nicht  mehr  resignierend  sagen:  „Herr  von  Hindenburg, 
ich  habe  das  Meinige  getan,  tun  Sie  das  Ihrige!",  so  wie  irgend 
ein  parlamentarischer  Premierminister,  Dehn  er  hat,  sehr  zu 
seinem  Ungliick,  alle  konstitutionellen  Faktoren,  die  ihn  ent- 
lasten  oder  ablosen  konnten,  erledigt  Sein  bizarres  Schicksal 
will  es,  daB  er  trotz  seiner  Fehler  und  Zweideutigkeiten  der 
einzige  deutsche  Politiker  bleibt,  dessen  Fahigkeiten  die  Welt 
noch  vertraut,  Er  stent  ganz  allein,  eine  letzte  papierene  Wand 
zwischen  Deutschland  und  dem  Chaos. 

Es  ist  ein  fieberhaftes  Hinundher  in  diesen  Tagen,  die  ver- 
riicktesten  Rezepte  werden  wieder  zur  Rettung  angeboten. 
Auch  das  Phantom  der  ,,wirtschaftlichen  Autarkie"  spukt  wie- 
der heftig.  Deutschland  soil  sich  „aul  sich  selbst  stellen'\  oko- 
nomisch  abschlieBen,  aus  der  Weltwirtschaft  ausscheiden, 
grade  so,  als  ware  die  Weltwirtschaft  ein  Verein,  dem  man  nach 
Belieben  die  Mitgliedskarte  zuriickschicken  kann.  Und  doch 
gibt  es  nur  einen  Weg  zu  einer  Notlosung:  das  ist  die  Verstan- 
digung  mit  Paris!  Und  grade  hier  widersetzt  sich  Deutschland 
mit  einer  Hartnackigkeitf  die  ans  Pathologische  grenzt.  Alle 
Gebote  der  Vernunft  sprechen  fur  die  Verstandigung  mit 
Frankreich,  fur  die  Aufgabe  einer  okonomisch  nutzlosen  fixen 
Idee,  wie  es  die  Zollunion  ist.  Aber  der  jahrelang  gehegte 
Prestigefimmel  drangt  sich  larmend  dazwischen,  Als  ob  wir 
noch  eine  andre  Wahl  hatten! 
80 


Hcrr  Doktor  Luther  soil  schr  erstaunt  gewesen  sein,  als  • 
ihm  die  Notenbankprasidenten,  mit  denen  er  wegen  Krcditcn 
verhandelte,  eroffneten,  daB  es  sich  hier  vornehmlich  urn  cine 
politische  Frage  handle,  Er  erklarte,  seine  Kompetenz  reiche 
zu  dieser  Erorterung  nicht  aus.  Letzteres  ist  durchaus  richtig, 
aber  wo  bleiben  denn  die  Herren,  die  dazu  kompetent  sind? 
Wieder  erlebt  Deutschland  die  Oberraschung,  dafl  es  eine  Wirt- 
schaft an  sich  nicht  gibt,  sondern  daB  alles  Politik  ist.  Nir- 
gendwo  sitzt  die  Vorstellung  von  der  angeblichen  Selbstherr- 
lichkeit  der  Wirtschaft  so  tie!  wie  bei  tins.  Wir.  wissen,  daB 
die  Wirtschaft,  oder  die  Schwerindustrie,  die  sich  mit  ihr  iden- 
tifiziert,  vom  Staate  Subventionen  fordert,  ohne  irgend  eine 
Gegenleistung  zu  bieten.  Aber  welch  eine  kindskopfige  Naivi- 
tat  ist  .es,  eine  so  dubiose  deutsche  Spezialitat  auf  ein  inter- 
nationales  Gebiet  iibertragen  zu  wollen.  Wie  kann  man  von 
Frankreich,  das  man  seit  der  Rheinland-Raumung  mit  Stahl- 
helmfeiern  und  tausend  nationalistischen  Kinkerlitzchen  pro- 
voziert  hat,  Kredite  verlangen  ohne  politische  Gegenleistung? 
Bei  der  Eigenart  des  deutsch-franzosischen  Verhaltnisses  setzt 
sich  jede  noch  so  geschaftliche  Frage  sofort  ins  Politische  urn. 
Es  gibt  zwischen  Frankreich  und  uns  nichts  Unpolitisches.  Hat 
man  das  noch  immer  nicht  begriffen?  Und  da  kommen  die  In- 
dustrie-Cherusker,  die  sonst  Frankreich  als  den  europaischen 
Beelzebub  betrachten,  mit  einem  Kreditgesuch  und  erklaren 
dazu,  das  habe  mit  Politik  nicht  das  Mindeste  zu  tun.  Wo 
kommt  es  denn  im  biirgerlichen  Leben  vorf  daB  man  dem 
Mann,  den  man  anpumrjen  will,  eines  auf  die  Nase  gibt  und 
dazu  erlauternd  sagt,  das  sei  eine  ganz  andre  Sache  und  habe 
mit  dem  vorliegenden  Geschaft  nichts  zu  tun  — ?  Die  Deut- 
schen  sind  nicht  nur  schlechte  Verlierer,  das  haben  sie  seit 
Versailles  bewiesen,  sie  verstehen  sich  auch  nicht  aufs  Borgen. 

Frankreich  wiinscht  Aufgabe  der  Zollunion  und  Einstellung 
des  Flottenbaues.  Es  hat  keinen  Zweck,  sich  angesichts  der 
deutschen  Bettelarmut  in  die  Brust  zu  werfen  und  mit  Hidalgo- 
geste  zu  deklamieren:  ,,Lieber  tot  als  Sklave!"  Wir  kennen 
kein  Gremium  in  Deutschland,  dem  wir  so  weit  vertrauten, 
liber  den  Tod  des  deutschen  Volkes  zu  beschlieBen.  Ein  Volk 
kann  sich  nicht,  wie  eine  Einzelperson,  der  Biirde  eines  uner- 
traglichen  Daseins  entledigen,  Ein  Volk  kann  nicht,  wie  eine 
Einzelperson,  sterben,  es  kann  nur  noch  armer,  nur  noch  un- 
gliicklicher  werden.  Man  schreit,  daB  Frankreich  uns  Ver- 
zichte  auf  heilige  Souveranitatsrechte  abpressen  wolle.  Wie 
steht  es  denn  damit?  Mindestens  80  Prozent  aller  Deutschen 
ist  die  Zollunion  einfach  Hekuba,  mindestens  70  Prozent  lehnt 
die  Flottenpolitik  als  kostspielig  und  schadlich  ab.  In  keinem 
.  Falle  handelt  es  sich  um  eine  wirkliche  nationale  Sache,  die 
von  einer  Mehrheit  entschieden  vertreten  wird.  Und  um  des 
torichten  Prestiges  willen  soil  das  VernunftgemaBe,  das  Ret- 
tende   ungetan   bleiben?    Zuerst   hat   man  aus  Herbert  Hoover 

81 


so  etwas  wie  einen  unerwarteten  Bundesgenossen  gegen  Frank- 
reich  gemacht.  Jctzt  stellt  es  sich  heraus,  daB  Amerika  selbst 
die  Erfiillung  der  franzosischen  Wiinsche  verlangt,  und  die  eng- 
lischen  Minister,  die  in  diesen  Tagen  mit  dem  Reichskanzler 
verhandeln,  werden  kaum  einen  anderen  Ratschlag  geben. 

Deutschland  hat  sich  mit  dem  Unionsprojekt  in  ein  Dickicht 
von  Widerspriichen  und  Wirrnissen  verrannt.  Es  muB  endlich 
wieder  der  bescheidenen  Einsicht  Raum  gegeben  werden,  daB 
unsere  heutige  Lage  machtpolitische  Aspirationen  verbietet. 
Wir  sind  allzu  verelendet,  urn  Extratouren  zu  unternehmen, 
die  das  ganze  Volk  zu  bezahlen  hat*  Die  forcierte  Revisions- 
politik,  *die  mit  der  Ara  Briining  einsetzte,  muB  schleunigst 
in  die  Rumpelkammer  geworfen  werden.  Auch  wir  halten  die 
franzosische  Haltung  fur  herzlich  unpsychologisch,  aber 
Deutschland  *hat  keine  Wahl,  nachdem  es  abermals  erfahren 
muBte,  daB  es  die  ganze  Welt  gegen  sich  hat,  wenn  es  sich 
auf  eigne  Faust  machtpolitisch  zu  engagieren  versucht.  Ein 
wirklicher  Staatsmann  respektiert  Realitaten,anstatt  ihnen  die 
Stirn  zu  bieten.  Die  deutsche  AuBenpolitik  hat  sich  festge- 
fahren,  sie  kann  nur  durch  griindliche  Kutrsanderung  und  durch 
die  Ausbootung  der  Hauptverantwortlichen  wieder  mobil  wer- 
den. Dazu  gehort  vor  allem  die  Entfernung  der  Minister  Tre- 
viranus  und  Groener  aus  ihren  Amtern-  Keine  deutsche  Regie- 
rung  ist  mit  diesem  Ballast  verhandlungsfahig.  Herr  Groener 
hat  sich  seiner  Zeit  als  Vertrauter  Erzbergers  die  groBe  Miihe 
gegeben,  den  Offizieren  kiar  zu  niachen,  warum  der  Versailler 
Vertrag  uaterschrieben  werden  miisse.  Er  kennt  also  solche 
Situationen  zur  Geniige*  Ganz  unmoglich  geworden  ist  Herr 
Curtius,  der  Vater  der  Zollunion.  Man  ersetze  ihn  so  bald  wie 
moglich  durch  einen  Diplomaten  aus  Stresemanns  Zeit,  der 
internationales  Vertrauen  genieBt  und  durch  seine  Personlich- 
keit  Garantie  bietet  gegen  selbstmorderischen  MIauBenpoliti- 
schen    Aktivismus". 

Eine  verniinftige  AuBenpolitik  hatte  in  dem  Streit  um  die 
Zollunion  rechtzeitig  diplomatisch  eingelenkt,  anstatt  es  auf 
eine  Sachlage  ankommen  zu  lassen,  in  der  das  Nachgeben 
bereits  den  Charakter  demiitigender  Kapitulation  annimmt- 
Deutschland  hat  in  der  Welt  keinen  argern  Feind  als  seinen 
eignen  Nationalismus.  Dem  ist  es  seit  mehr  als  einem  Jahre 
gefolgt,  und  die  Resultate  sind  offensichtlich.  Die  Wirtschaft 
ist  zerriittet,  das  letzte  Vertrauen  in  dem  Staat  zerstort,  der 
Ausblick  in  die  Zukunft  trostlos.  Herr  Hugenberg  hat  seiner- 
zeit  geweissagt,  wir  miiBten  alle  eine  Zeitlang  Proletarier  wer- 
den, ehe  es  wieder  besser  wiirde.  Der  erste  Teil  dieser 
Prophezeiung  ist  iiber  die  MaBen  glorreich  in  Erfiillung  ge- 
gangen.  Es  ist  erreicht,  wir  sind  alle  Proletarier.  Wir  haben 
nichts  mehr  zu  verlieren  ajs  unsre  letzten  Illusionen  und 
unsern  Hitler.  Das  Nationalgefuhl  bluht,  es  ist  eine  Freude  zu 
leben.  Im  iibrigen  sind  wir  pleite. 
82 


WaS  Wfrd  Werden?  von  Thomas  Droste 

p\as  fragt  Ihr  heut  alle,  einer  den  andern,  das  fragt  Ihr  heut 
alle,  wehn  Ihr  Gedrucktes  kauft.  Ihr  fragt  es,  weil  Ihr 
Kihlt,  daB  es  Euch  an  den  Kragen  geht,  daB  hinter  dem  freund- 
lichen  Wort  ,,Bankfeiertag"  mehr  steckt,  sehr  viel  mehr,  un- 
gleich  mehr  noch  als  alles,  was  mit  Besitz  von  Geld  oder  Gel- 
deswert  zu  tun  hat.  Euer  Gefiihl  ist  richtig:  es  geht  Euch  an 
den  Kragen.     Es  wird  ernst.     Verflucht  ernst. 

,,Was  wird  werden?"  So  fangt  Ihr  an  zu  fragen.  Und  dann 
geht  es  welter:  ,,Kommt  der  Fascismus?"  Antwort:  Wir  haben 
ihn,  wir  haben  seinen  Anfang,  und  der  ist  Garantie  fur  sein 
Anwachsen  und  Ausreifen.  Ihr  fragt  weiter:  ,,Kommt  eine 
neue  Inflation?"  Antwort:  Vielleicht,  denn  es  gibt  viele 
GroBmachtige,  die  sie  often  propagieren  —  wie  Hugenberg  und 
mancher  Schwerindustrielle  —  oder  die  sie  im  Stillen  vorbe- 
reiten  —  wie  Kabinettsmitglieder,  die  uns  wieder  mit  der  Ren- 
tenmark  schrecken;  aber  genau  so  schlimm  wie  Inflation  ist 
Deflation,  mit  Beschlagnahme  der  kleinen  Privatvermogen 
auf  Bank-  und  Sparkassenkonten,  mit  diktatorischem  Abbau 
der  Einkommen,  mit  notverordnetem  Hunger  der  groBen  Masse. 
Ihr  denkt  nach  und  fragt  weiter,  indem  Ihr  dies  Jahr  preisgebt, 
diesen  Sommer,  den  Herbst  und  mit  einigem  Frosteln  auch 
den  Winter,  Ihr  fragt  weiter  iiber  die  sogenannte  Zukunft: 
,,Wird  das  Ende  der  Kommunismus  sein?"  Und  wenn  es  Euch 
nicht  kiimmert,  daB  ich  mich  auf  keinen  Zeitpunkt  festlegen 
will,  daB  ich  weder  diesen  Winter  noch  den  nachsten  noch 
das  Jahr  1935  als  den  bestimmt  allerspatesten  Zeitpunkt  an- 
gebe,  an  dem  mit  oder  ohne  unsern  Willen,  ja  selbst  trotz 
unsrer  starksten  Gegenwehr  der  Kommunismus  in  Deutschland 
das  Erbe  eines  zusammengebrochenen  Systems  antreten  wird, 
dann  sage  ich  auf  diese  Frage  klipp  und  klar:  Ja. 

Doch  damit  ist  diese  Allerweltsfrage  nur  ftir  eine  unbe- 
stimmte  Zukunft  beantwortet,  und  der  Mensch  ist  nun  einmal 
neugierig,  ist  kurzlebig,  ist  an  der  Gegenwart  mehr  inter- 
essiert  als  an  der  Zukunft  und  auBer  an  den  grofien  Idealen 
auch  noch  an  den  kleinen  Realien  dieses  ktimmerlichen  Le- 
bens.  So  schraubt  Ihr  den  Radius  Eures  Fragens  enger,  Ihr 
seht,  mit  dem  einfachen  MWas  wird  werden?"  kommt  ein  prak- 
tischer  Mensch  nicht  viel  weiter.  So  betrachten  wir  also  diese 
Zeitspanne,  die  uns  interessiert,  einmal  vom  andern  Ende  aus, 
ganz  nah  am  Heute.  Dann  heiBt  die  Frage:  Was  ist?  Was  ist 
eigentlich  plotzlich  los?  Bis  vor  kurzem  war  doch  noch  fiir 
viele  von  uns,  fiir  alle  eigentlich,  die  nicht  arbeitslos  und 
hungrig  sind,  die  nicht  Idealisten  genug  sind,  um  das  Leiden 
der  Massen  trotz  aller  Ertraglichkeit  des  eignen  Schicksals  als 
unertraglichen  Hunger  nach  Gerechtigkeit,  nach  Harmonie  und 
Lebenssinn  mitzuleiden  —  war  doch  fiir  diese  Unzahl  von 
Menschen,  die  nur  grade  so  etwas  Fiihlung,  so  etwas  sympathi- 
sierende  Beriihrung  mit  den  leidenden  Objekten  der  groBen 
Politik  haben,  alles  einigermaBen  in  Ordnung.  Alles  Klagen  und 
Reden  von  Fascismus,  Zusammenbruch  und  schlechten  Zeiten 
schien  den  meisten  im  Innern  ihrer  Seele    so  ein    ganz    klein 

2  83 


wenig  theoretisch,  so  ein  ganz  klein  we  nig  iibertrieben,  so  em 
ganz  klein  wenig  von  dem  Wollustgefiihl  des  Gruselns  mitbe- 
stimmt.  Und  nun  plotzlich  ist  es  so  richtig  ernst,  so  verteufelt 
ernst  geworden. 

Der  Staat  verhindert,  daB  man  schwer  verdientes 
Geld  von  der  Bank,  von  der  Sparkasse  holt.  Einzahlen  darf 
man,  so  sagen  die  Plakate,  aber  auszahlen,  soweit  es  nicht  urn 
Lohne  geht,  die  die  Arbeitermassen  von  der  StraBe  fernhalten 
sollen,  auszahlen,  das  verhindert  der  Staat.  Er  wird  noch 
mehr  verhindern.  Noch  viel  mehrt  was  die  Weimarer  Ver- 
fassumg  als  selbstverstandlich  bezeichnet,  was  zu  tun  und  er- 
folgreich  zu  fordern  wir  gewohnt  sind.  Und  wie  er  nicht  nur 
verhindert,  daB  die  Gewerkschaften  uber  ihr  Vermogen  ver- 
fiigen  —  iibrigens  eines  der  ersten  und  wirksamsten  Mittel,  sie 
stillzulegen,  kaltzustellen,  abzutoten,  denn  wie  soil  ten  sie  zum 
Beispiel  ohne  Unterstiitzungsgelder  streiken  lassen?  — ,  son- 
dern wie  der  Staat  auch  gegen  all  die  kleinen  Familienmit- 
glieder  der  herrschenden  Klasse,  die  kleinen  Unternehmer  und 
den  Mittelstand  riicksichtslos  vorgeht,  so  werden  seine  wach- 
senden  Unterdriickungstendenzen  sich  auch  in  Zukunft  nicht 
nuir  gegen  das  Proletariat  richten  sondern  —  fein  sauberlich 
abgestuft  allerdings  —  gegen  alle,  bis  auf  die  ganz  groBen  Ka- 
pitalisten,  bis  auf  die  wenigen  Trager,  die  wenigen  aktiven 
NutznieBer  des  herrschenden  Systems.  Sie  im  gleichen  MaBe 
wie  die  Volksmenge  mit  seinen  NotmaBnahmen  treffen  zu 
wollen,  gibt  der  Staat  zwar  vor.  Aber  wenn  er  sie  wirklich 
damit  trafe,  wenn  auch  nur  die  Gefahr  bestiinde,  diese  Herren 
des  Systems  mit  den  MaBnahmen  der  Abwehr  gegen  seinen  Zu- 
sammenbruch  zu  treffen,  so  wiirden  sie  nie  ergriffen  werden. 
Oder  glaubt  man,  das  Parlament  ware  ausgeschaltet,  die  De- 
mokratie  kurzerhand  in  die  Ecke  gestellt  worden,  wenn  damit 
nicht  nur  die  Millionen  Wahler  der  Volksmassen  Mann  fur 
Mann  ihren  EinfluB  auf  die  Staatsgeschafte  verloren  hattent 
sondern  wenn  gleichzeitig  auch  die  grofikapitalistischen  Wah- 
ler, Mann  fur  Mann,  ihren  EinfluB  auf  die  Staatsmaschine  ein- 
gebtiBt  hatten?  Ebenso  konnte  in  einem  Staatssystem,  das 
doch  auf  der  Heilighaltung  des  Privateigentums  aufgebaut  ist, 
die  Beschlagnahme  und  Sperrung  der  Bank-  und  Sparkassen- 
konten  nur  erfolgen,  weil  die  GroBen  davon  nicht  fiihlbar  be- 
troffen  werden.  Sie  haben  ihr  Barkapital  im  Ausland,  das 
Vielfache  eines  proletarischen  Jahreslohns  als  Kleingeld  in  der 
Weste,  ihre  Nahrungsmittel  fiir  geraume  Zeit  in  Kellern, 
Speisekammern,  in  Garten  und  auf  Rittergiitern.  Ihnen  kann 
ebensowenig  die  materielle  Existenzgrundlage  durch  Notver- 
ordnung  g  en  o  mm  en  werden  wie  der  politische  EinfluB  durch 
den  Artikel  48.  Ihnen  konnen  auch  die  KapitalfluchtmaBnah- 
men  der  Regierung  nichts  anhaben,  denn  ihre  Kapitalflucht  ging 
in  eigne  auslandische,  Unternehmungen  —  und  wenn  der  Staat 
in  seiner  Not  allzu  energisch  wird,  wenn  der  reiche  Mann  mit 
seinen  nSicherungsmaBnahmen"  zu  nachlassig  oder  zu  unvor- 
sichtig  war,  so  geht  er  halt  seinem  Gelde  nach  ins  schutzende 
Ausland.  Es  gibt  nun  einmal  eine  Macht  des  Geldes,  die  iiber 
das  Gesetz  hinauswachst,  wie  es  ganz  unten  auf  der  mensch- 
lichen  Stufenleiter  eine  Hilflosigkeit  des  Elends  gibt,  die  Mil- 
84 


Iionen  Mcnschen  verhindert,  auch  nur  das  mit  Handen  zu 
fassen,  was  Gesetz  und  Rccht  ihnen  zubilligt.  Die  Schicht,  die 
in  der  Sphare  der  Wirksamkeit  d«s  Gesetzcs  —  im  guten  wic 
im  iiblen  Sinnc  —  lebt,  dicsc  Mittelschicht  erfahrt  jetzt 
schmerzlich,  daB  der  Staat  —  zum  Bcispicl  mit  der  Sperrung 
von  Bank-  und  Sparkassenkonten  —  auch  gegen  sie  vorgeht, 
daB  sie  unter  diese  solide  Rechtsbasis  absinkt.  So  spricht  sie 
denn  von  dem  „Sozialismus'\  der  nun  allmahlich  auch  Bruning 
befalle,  weil  sie  nicht  weiB,  daB  dies  der  ernste  Beginn  der 
fascistischen  Diktatur  ist,  die  sie  selbst  erstrebt.  Aber  getrost, 
man  wird  dieser  Mittelschicht  noch  mehr  zumuten,  man  wird 
ihr  noch  mehr  Freiheiten  und  noch  mehr  Vorrechte  einer  herir- 
schenden  Klasse  nehmen,  man  wird  ihr  schlieBlich  auch  off  en 
sagen,  daB  das  nun  einmal  das  Wesen  des  Fascismus  sei,  und 
diese  brave  Mittelschicht,  der  man  die  Konten  sperrt,  der  man 
die  Kapitalflucht  verbietet,  der  man  immer  hohere  Steuern  ab- 
fordert,  diese  brave  Mittelschicht  wird  sich  mit  Ersatz  in  Form 
von  „vaterlandischen*\  militaristischen,  gesinnungsstrammen 
Phrasen  und  Versprechungen  befriedigen  lassen;  nicht  nur  das; 
sie  wird  mitmachen,  sie  wird  sich  auch,  und  grade,  im  Fascis- 
mus als  tragende  und  herrschende  Schicht  empfinden,  weil  es 
den  Massen  unter  ihrem  Niveau  —  in  den  respektvollen  Ab- 
standen  der  militaristischen  Stufenleiter  von  Oberherren, 
Herren,  Unterherren,  Oberknechten,  Knechten  und  Unter- 
knechten  —  ja  noch  schlechter  geht  und  weil  sie  eben  nicht 
durchschaut,  daB  sie  nur  das  Werkzeug  einer  durchaus  nicht 
„vaterlandischenM,  durchaus  nicht  dem  Fiihrer-Ideal  ent- 
sprechenden  Herrencliquie  ist,  Hier  ist  wieder  ein  Teil  der 
Frage,  wie  es  wird,  ein  Teil  der  Frage,  wie  es  schon  heute  ist, 
fur  diejenigen  beantwortet,  die  verstehen  wollen, 

Dieser  Eingriff  in  das  Heiligtum  des  Privatbesitzes,  dieses 
Vorgehen  gegen  die  staatserhaltende  Mittelschicht  beruht  nicht 
auf  willkiir  der  Machthaber.  Dazu  schlieBen  diese  Aktionen 
ein  viel  zu  grofies  Risiko  in  sich,  das  Risiko,  daB  diese  Mittel- 
schicht an  „ihrem"  System  verzweifelt,  daB  die  Unterschicht 
Erbe  eines  beschleunigten  Zusammenbruches  wird.  Die  GroBe 
dieser  Eingriffe  entspricht  viclmehr  der  GroBe  der  Not,  in  der 
das  System  sich  befindet.  Die  Art  des  Eingriffes  entspricht  der 
Art  der  Not.  Bis  jetzt  konnte  man  im  Verlauf  der  Wirtschafts- 
krise  den  Eingriff  in  die  finanzielle  Sphare,  die  Beschneidung 
der  finanziellen  Freiheit  unterlassen,  denn  aus  der  Produktions- 
und  Absatzkrise,  aus  der  feohn-,  Arbeits-  und  Sozialkrise  war 
noch  keine  Finanzkrise  entstanden,  Jetzt  ist  sie  da:  beginnend 
in  Deutschland,  bevorstehend  fur  die  ganze  Welt*  Der  Krisen- 
wurm  des  in  Selbstzersetzung  befindlichen  Kapitalismus  ist 
jetzt  bis  an  seinen  Lebensnerv,  den  Kredit,  die  Wahrung,  das 
Geld  vorgedrungen.  Verluste  aus  systembedingten  Organi- 
sationsfehlern  der  nationalen  und  der  international  en  Pro- 
duktion,  verschlimmert  durch  die  —  im  Grunde  natiirlich  eben- 
falls  systembedingten  —  „Zufalle"  falscher  Disposifcionen, 
Spekulationen  und  „uberflussiger"  Machtkampfe,  haben  sich 
mit  den  offenbar  gewordenen,  allzulange  durch  Hin-  und  Her- 
schieben  verschleierten  Kriegsverlusten  schlieBlich  an  diesen 
oder  jenen  schwachen  Stellen  des  Systems  —  international  ge- 

85 


sehn  in  Qesterreieh  und  Deutschland,  national  gesehn  bei  der 
Kreditanstalt,  dem  Nordwollekonzern,  der  Danatbank  —  offen- 
bart,  realisiert,  ihrc  Opfcr  gefordert,  Dicse  Verluste  fressen 
wciter,  riesige  verschleiertc  Verluste  an  alien  moglichen  andern 
Stellen  tendieren  zum  Tageslicht,  lassen  sich  nicht  mchr  schie- 
ben,  verlagern,  vertuschen,  und  aus  all  den  unzahligen  Fehler- 
quellen  des  Systems  flieBen  die  Quellen  der  Zusammenbruchs- 
kraite.  Der  Staat  erhebt  sich  gegen  die  Gefahren,  er  richtet 
mit  diktatorischen  Mitteln  Schutzdamme  auf,  Bilanzziffern  ent- 
wickeln  ihn  automatisch  zur  fascistischen  Diktatur.  Kein 
andres  ,,Wollen"  kann  in  einer  andern  Richtung  verlaufen,  und 
so  ist  wieder  ein  Teil  der  Frage  nach  dem  ,,Was  wird  werden?" 
beantwortet.  So  ist  wieder  der  Spielraum  fur  die  Betatigung 
dessen,  was  wir  mit  unserm  bloBen  Auge  als  Gliick  oder  Pech 
bezeichnen,  um  ein  Gewaltiges  eingeschrankt. 

Wir  sagten  es  schon  am  Anfang,  es  kann  ein  Zunehmen 
der  Deflation  sein  —  eine  immer  grofiere  Wertsteigerung  des 
immer  knapper,  trotz  aller  Besitzanspriiche  immer  knapper  wer- 
denden  Geldes — oder  eine  neue  Inflation — eine  immer  groBere 
Wertverminderung  des  trotz  zunehmender  realer  Verarmung 
immer  reichlicher  werdenden  Geldes:  beides  ist  bei  verschiede- 
nen  Auswirkungen  gleich  schlimm,  denn  beides  schafft  neue 
Krisenherde,  wirkt  wieder  verschlimmernd  zuriick  auf  alles 
das,  was  uns  bisher  als  einziger  Inhalt  der  Krise  geniigend  ge- 
qualt  hat:  Absatzkrise,  Produktionsstockung,  Arbeitslosigkeitt 
Senkurig  des  Lebensstandards  und  so  fort.  Auch  hier  wieder 
eine  Einschrankung  des  Spielraums  fiir  ,, Gliick"  und  MPech'\ 
fiir  Entwicklungen,  -die  sich  heute  nicht  voraussehen  lassen; 
eine  Einschrankung  irri  Sinne  eines  leider  berechtigten 
Pessimismus. 

Bleibt  die  Frage  nach  den  Wirkungsmoglichkeiten  einer 
aufienpolitischen  Verstandigung  auf  den  Konferenzen  in  Paris 
und  in  London,  Fiir  heute  sei  zu  ihrer  Beantwortung  nur  eins 
gesagt:  nur  ein  unbeschrankter  Kredit  der  auslandischen  Hoch- 
finanz,  gewissermaBen  eine  Blankogarantie  fiir  den  deutschen 
Staat,  der  ja  seinerseits  wieder  eine  Blankogarantie  fiir  die 
deutschen  Banken  zu  geben  verpflichtet  ist  —  nur  eine  solche 
Riesenanleihe  konnte  den  KrisenprozeB  in  Deutschland  auf- 
halten.  Aufhalten,  nicht  aufheben,  denn  er  ist  kein  ursach- 
liches  Mittel,  da  er  nicht  die  Systemfehler  bei  Produktion  und 
Verteilung  beseitigtt  die  den  Kapitalismus  von  innen  heraus 
zerstoren.  Aufhalten  konnte  ein  solcher  Riesenkredit  —  in 
Deutschland.  Um  in  der  Welt,  in  den  kreditgebenden  Landern 
die  Krise  zu  beschleunigen  und  zu  verstarken.  Die  Krise,  die 
dann  spater  auf  Deutschland  zuriickwirken  miiBtc  Denn  — 
und  darin  haben  die  Nationalsozialisten  bitter  recht  —  Deutsch- 
land kann  nicht  fiir  die  alten,  geschweige  denn  fur  die  neuen 
Kredite  Zinsen  und  Amortisationen  zahlen,  muB  also  Verlust- 
zuschiisse  nehmen,  muB  sich  gewissermaBen  einen  Teil  seiner 
Reparationszahlungen  zuriickgeben  lassen,  anstatt  Kredite  ord- 
nungsmaBig  garantieren  zu  konnen. 

Ein  solcher  krisenaufhaltender  Riesenkredit  aber  erfordert 
politisches  Entgegenkommen!    Warten  wir  eine  Woche  ab. 

86 


HoOVerS  TragOdie  vrn  Oswald  Garrison  Villard 

Als  das  erste  Stuck  einer  Serie  iiber  Hoovers  Politik  ver- 
offentlichte  die  ausgezeichnete  new  yorker  Zeitschrift  tNation* 
in  den  Tagen,  als  der  Hooverplan  herauskam,  den  folgenden 
Aufsatz: 

J  a,  Hoovers  Stellung  ist  nichts  weniger  als  tragisch,  Wenn  er 
wirklich  der  gefuhlvolle,  stolze  und  edle  Mensch  ist,  fur 
den  ihn  seine  Freunde  halten,  muB  es  ihm  scheinen,  als  ob  die 
StraBe  zum  Ruhme  nur  zur  Verzweiflung  gefiihrt  habe.  Denn 
jahrelang  hat  er  Plane  geschmiedet  und  gearbeitet  und  sich 
gedemutigt,  um  das  Hochste  zu  erlangen,  was  das  amerika- 
nische  Volk  zu  vergeben  hat,  Es  ist  in  seinen  Handen  zu 
Asche  zerfallen.  In  den  vierunddreifiig  Jahren  meiner  jour- 
nalistischen  Erfahrung  hat  kein  President  in  seinem  Eindruck 
auf  die  Offentlichkeit  so  versagt.  Er  ist  eine  tragische  Ge- 
stalt,  eine  Gestalt,  die  man  bemitleiden  muB.  Wenn  er  sich 
nicht  selbst  beliigt,  so  muB  er  wissen,  daB  er  versagt  hat. 
DaB  die  Menge  seiner  Mitbiirger  ihm  mit  Gleichgiiltigkeit 
gegenubersteht  und  daB  Ungezahlte  ihn  mit  der  Wirtschafts- 
katastrophe  identifizieren,  die  die  Nation  uberkommen  hat. 

Allem  voran  muB  man  aussprechen,  daB  Hoover  zum  be- 
trachtlichen  Teil  ein  Opfer  der  Umstande  ist.  Es  ist  falsch 
und  ungerecht,  ihn  allein  fiir  die  Arbeitslosigkeit  und  den  wirt- 
schaftlichen  Wirrwarr  verantwortlich  zu  machen,  Beides  wiirde 
auch  eingetreten  sein,  wenn  der  glatte  und  selbstgefallige  Calvin 
Coolidge  im  Amt  geblieben  ware.  Es  handelt  sich  um  eine 
uber  die  ganze  Welt  verbreitete  Depression^  und  die  fahig- 
sten  Kopfe  in  Europa  glauben,  daB  sich  keine  Nation  allein 
herausarbeiten  kann:  Nur  eine  gemeinsame  Handlung  kann 
den  normalen  ProzeB  von  Produktion,  Konsumtion  und  Handel 
wiederherstellen.  Aber  als  Republikaner  kann  sich  Hoover 
nicht  dariiber  beklagen,  wenn  das  Land  jetzt  seine  Partei  fur 
die  fichlechten  Zeiten  verantwortlich  macht,  nachdem  ihm 
Generationen  hindurch  vorgeredet  wurde,  daB  sein  Gedeihen 
unabwendlich  mit  den  Republikanern  verbunden  sei.  Er  selbst 
briistete  sich  wahrend  seiner  Wahlkampagne,  daB  die  Nation 
vom  vdllen  Suppentopf  zur  vollen  Garage  vorgeschritten  ware, 
Wie  klein  muB  er  sich  jetzt  vorkommen,  wenn  er  seine  Er- 
nennungsrede  vom  August  1928  wieder  durchliest,  wo  er  er- 
klart,  daB  wir  dabei  seien,  eins  der  altesten  und  vielleicht  edel- 
sten  Ziele  menschlichen  Strebens  zu  erreichen;  die  Abschaf- 
fung  der  Armut.  „Mit  Armut",  setzte  er  auseinander,  „meine 
ich  das  Nagen  der  Unterernahrung,  der  Kalte  und  der  Un- 
wissenheit  und  die  Furcht  vor  dem  AJter  bei  jenen,  die  willig 
zum  Arbeiten  sihd/'  Er  fuhr  fort:  ,,Wir  befinden  uns  heute  in 
Amerika  dem  endgiiltigen  Triumph  iiber  die  Armut  naher  als 
je  ein  Land  zuvor.  Das  Armenhaus  ist  bei  uns  am  Versc.hwin- 
den.  Wir  haben  noch  nicht  das  Ziel  erreicht,  aber  wenn  man 
uns  die  Moglichkeit  gibt,  die  Politik  der  letzten  acht  Jahre  fort- 
zusetzen,  werden  wir  bald  mit  der  Hilfe  Gottes  den  Tag  er- 
blicken,  wo  die  Armut  aus  unsrer  Nation  verbannt  sein  wird.** 
Als  ob  dies  nicht  genug  gewesen  ware,  iibertrumpfte  er 
sich  noch:   ,,Es  gibt  keine  bessere  Garantie  gegen  die  Armut 

87 


ais;  jedem  eine  Beschaitigung!  Das  ist  der  haupisachlichste 
Zweck  der  wirtschaftlichen  Politik,  die  wir  befiirworten/' 

Kann  er  sich  gerechterweise  dariiber  beklagen,  wena  er 
jetzt,  weniger  als  drci  Jahre  spater,  fur  die  sechs  odcr  sieben 
Millionen  Arbeitslosen  verantwortlich  gemacht  wird,  die  nicht 
nur  aul  Abschaffung  der  Armut  warten  sondern  auch  vor 
vollig  leer  en  Suppentopfen  sitzen  und  der  Unterernahrung,  der 
Kalte,  der  Unwissenheit  und  der  Furcht  vor  dem  Alter  ent- 
gegensehen! 

Aber  wenn  er  auch  nicht  die  Hauptverantwortlichkeit  fur 
die  Panik  tragt,  so  fallen  ihm  doch  die  kleinern  Verantwort- 
lichkeiten  zu.  Sein  Schatzamt  und  die  Bundesbank  hatten  die 
Borsenspekulation  schon  lange  vor  dem  Krach  bremsen 
konnen.  Er  hatte  sich  weigern  und  seinem  Kabinettssekretar 
verbieten  konnen,  diese  endlosen  irrefiihrenden  Berichte  iiber 
den  Charakter  der  Krise  und  die  Ziffern  der  Arbeitslosen  in 
die  Welt  zu  setzen.  Wer  prophezeit  hatf  muB  den  Preis  dafiir 
zahlenf  wenn  es  sich  herausstellt,  daB  seine  Prophezeiungen 
so  beschaffen  gewesen  sind,  als  stammten  sie  aus  einem  Kin- 
dergarten. 

Auch  in  anderm  Sinne  ist  Hoover  das  Opfer  der  Umstande- 
Wir  «ind  Zeuge  davon,  daB  nicht  nur  eine  sondern  mehrere 
politische  Weltanschauungen  zusammengebrochen  sind.  Eben- 
so  erleben  wir  den  Zusammenbruch  eines  ganzen  sozialen 
Systems.  Es  tut  nichts  zur  Sache,  ob  es  sich  nochmals  erhalen 
und  der  Wohlstand  sich  von  neuem  einstellen  wird.  Denn 
einige  politische  Legenden  sind  jetzt  ganzlich  zerstoben,  und 
wenn  diese  Panik  zu  Ende  ist,  wird  es  den  Anstrengungen 
aller  Politiker  der  Welt  nicht  gelingenf  die  Sache  wieder  ein- 
zurenken.  Es  ist  schwer  zu  glauben,  daB  das  amerikanische 
Volk  nochmals  so  dumm  oder  so  versessen  auf  Gelderwerb 
sein  werde,  daB  es  nicht  riicksichtslos  gegen  einige  der  ange- 
beteten  Idole  unter  den  Fiihrern  des  Geldmarktes  vorgeht,  die 
jetzt  mitten  zwischenFehlschlagenentlarvtdastehen.  Aber  auch 
hier  sind  die  Lippen  Hoovers  geschlossen.  Seit  langem  hat  er 
sich  ruckhaltlos  mit  der  Politik  und  den  Systemen  identifiziert, 
die  er  so  sehr  bewundert. 

Man  muB  Hoover  auch  bemitleiden,  weil  seine  eigne  Ver- 
waltungstheorie  niedergebrochen  ist.  Sein  ausgezeichneter 
Plan  fiir  die  Reorganisation  der  Regierung  ist  nicht  zustande 
gekommen,  zum  Teil  wegen  der  Gleichgiiltigkeit  des  Kon- 
gresses,  zum  Teil  wegen  Hoovers  eigner  Unfahigkeit,  das 
offentliche  Interesse  wachzurufen  und  Dinge  durchzudriicken. 
Seine  Methode,  die  Bedingungen  eines  Handelszweiges  dadurch 
zu  verbessern,  daB  dieser  Zweig  selbst  unter  Fiihruiig  der  Re- 
gierung in  Aktion  tritt,,  hat  teils  Erfolg,  teils  aber  auch  nicht. 
Eine  Industrie  nach  der  andern  bricht  unter  seinen  Augen  zu- 
sammen,  die  Gummi-,  01-,  Zuckerindustrie,  der  Getreidehandel 
und  manches  mehr.  Ohne  Kenntnis,  wohin  eine  solche  Politik 
fuhren  muB,  ruft  jede  dieser  groBen  Industrien  nach  einem 
Diktator  und  nach  dem  Recht,  die  Preise  festzusetzen  und  ge- 
meinsam  vorzugehen,  ohne  die  geringste  Rucksicht  auf  die 
Antitrustgesetze  zu  nehmen.  Und  doch  nimmt  Hoover  weder 
fxir  noch  gegen  die  Trustgesetze  eine  feste  Stellung  ein.     Das 

88 


Volk  erwartete  von  ihm,  dem  Ingenieur,  groBe  Verwaltungs- 
reformen.  Es  erwartete  von  ihm  auBerordentliches  Mitgeftihl 
fur  die  Leidenden  und  Arbeitslosen.  Das  Volk  dachte,  daB  er 
uns  zu  einer  klugen,  auswartigen  Politik,  besonders  in  Hinsicht 
aul  Europa,  verhelfen  wiirde.  Es  hat  mitangesehen,  wie  seine 
genfer  Abriistungskonferenz  zusammenbrach  und  seine  lon- 
doner  Abriistungskonferenz  enttauschend  endete,  weil  keine 
starke  Fiihrerschaft  und  kein  klar  umrissenes  Programm  vor- 
handen  war.  Man  dachte,  daB  er  als  Quaker  unserm  wachsen- 
den  Militarismus  werde  Halt  gebieten  konn^n.  Aber  unter 
ihm,  dem  Quaker,  hat  die  VergroBerung  des  Militaris- 
mus weitere  Fortschritte  gemacht,  bis  unsre  See-  und 
Landstreitkrafte  zu  einer  Drohung  fur  Amerikas  Freiheit  ge- 
worden  sind.  Zumindest  hoffte  man,  dafi  unter  ihm,  dem 
ehemaligen  Ingeriieur  und  Verwaltungsbeamten,  es  gelingen 
•wiirde,  Verschwendung  und  Untiichtigkeit  aus  dem  Budget  aus- 
zumerzen.    Aber  auoh  da  leistete  er  eigentlich  nur  Kleinarbeit, 

Was  ist  nun  der  Grund  fiir  diesen  Zusammenbruch  Herbert 
Hoovers?  .Wenn  ich  ihn  so  ruhig  betrachte,  wie  es  mir  meine 
Natur  und  mein  Urteil  gestatten,  erscheint  es  mir,  daB  das- 
jenige,  was  ihn  hauptsachlich  ruiniert,  sein  Mangel  an  Mut  ist 
oder,  um  es  noch  starker  zu  sagen,  seine  Feigheit.  Es  ist  un- 
verstandlich,  daB  Herbert  Hoover,  der  sein  Amt  antrat  ohne 
jegliche  Verpflichtunj^  gegen  jemanden,  trotz  der  groB- 
ten  Stimmenmehrheit  in  unsrer  Geschichte  nicht  gewagt  hat, 
seine  eignen  Ansichten  zu  vertreten,  daB  er  nicht  gut  zu  heiBende 
Ernennuingen  vorgenommen  hat,  wie  die,  sich  im  Senat  durch 
einen  Jim  Watson  vertreten  zu  lassen,  daB  er  sich  haufig  mit 
elenden  Ratgebern,  schabigen  und  diskreditierten  Politikern  um- 
geben  und  ein  Kabine'tt  ernannt  hat,  dessen  geistiger  Durch- 
schnitt  undFahigkeit  auBerordentlich  niedrig  sind.  Keiner,  den 
ich  kenne,  hat  dafiir  eine  Erklarung*  Warum  zum  Bei- 
spiel  mufite  der  Prasident  in  eins  der  europaischen  Lander  als 
Vertreter  der  Vereinigten  Staaten  einen  Mann  senden,  der 
sich  bisher  allein  durch '  reiche  Wahlgelder  qualif iziert  hat 
Es  stimmt,  daB  Wilson  und  andre  Prasidenten  Ahnliches  ge- 
tan  haben.  Aber  warum  muBte  ein  Ingenieur,  ein  Mann  von 
groBer  geschaftlicher  Tiichtigkeit,  ein  erprobter  Administrator, 
solchen  schlechten  Beispielen  folgen. 

Ja,  im  Grunde  ist  es  seine  Feigheit.  Einer  nach  dem  andern 
erklart  nach  einem  Besuch  im  WeiBen  Haus  vertraulich,  er  sei 
iiberzeugt,  daB  Hoover  als  Privatmann  gern  RuBland  an- 
erkennen  mochte,  aber  daB  er  es  doch  noch  nicht  zu  tun 
wage,  weil  die  ofientliche  Meinung  dafiir  noch  nicht  reif  sei. 
Aber  fiir  was  ist  ein  Prasident  uberhaupt  da,  wenh  er  nicht  die 
offentliche  Meinung  beeinflussen  und  in  die  Richtung  fiihren 
kann,  in  die  ihn  sein  eignes  Gewissen  zieht.  RuBland  ist  ein 
Beispiel  von  vielen.  Es  ist  unmoglich,  nicht  zu  glauben,  daB 
Hoover  dauernd  seinem  bessern  Selbst  Gewalt  antut;  daB  er 
es  besser  weiB  als  seine  Handlungen  es  erkennen  lassen,  daB 
ihn  im  Tiefsten  seines  Innern  sein  Gewissen  plagt  Wie  fast 
jeder  andre  Politiker  auf  der  Welt  hat  er  haufig  seinen  eignen 
Glauben  abgeschworen  und  hat  oft  und  von  Grund  auf  Kom- 
promisse  geschlossen,  Aber  die  kleine,  leise  Stimme  beunruhigt 

89 


ihn  oft,  das  wollen  wir  ihm  wenigstens  zugestehen;  doch  seinen 
Mut  in  bcide  Hande  zu  nchmen,  das  gelingt  ihm  selten.  Eben- 
so  wcnig  wie  cin  Watson  oder  cin  Tilson  hat  er  die  cinfachstc 
und  klarste  aller  politischcn  Wahrhciten  erfaBt,  dafi  das  Volk 
bei  seinen  Fiihrern  nichts  so  sehr  wie  die  Tapferkeit  ehrt, 
Nein,  oft  ist  er  so  schuchtern  wie  der  Schtichternste,  und  das 
Gespenst  einer  zweiten  Wahlperiode  verfolgt  ihn  ebenso  be- 
harrlich  wie  Banquos  Geist  Macbeth  verfolgte.  Was  bringt 
denn  einen  sp  ungliicklichen  Menschen  wie  ihn  dazu,  sich 
weitere  vier  Jahre  dieses  Lebens  im  WeiBen  Haus  zu  wtin- 
schen?  Stolz?  Die  Hoffnung,  daB  ein  Erwachen  der  Prospe- 
rity vor  dem  Ende  seiner  zweiten  Regierungsperiode  ihm  die 
Hochrufe  der  Menge  bringen  wird?  Die  Hoffnungf  dafi  man 
noch  einen  Sieg  erringen  kann,  wenn  man  an  der  Prohibition 
festhalt?  Der  EntschluB,  nicht  hinter  Washington,  Lincoln, 
Cleveland,  Roosevelt,  Wilson  als  nur  einmal  gewahlter  Presi- 
dent zuriickzustehn?  Man  miiBte  eigentlich  denken,  daB  er  sich 
nach  der  Ruhe  eines  privaten  Lebens  sehnt. 

Jedermann  weiB,  daB  keiner  eine  so  diinne  Haut  hat  wie 
Mr.  Hoover;  kein  andrer  Bewohner  des  WeiBen  Hawses  hat  je 
so  unter  der  Kritik  gelitten  oder  war  fur  Tadel  so  empfang- 
lich,  nicht  einmal  Wilson.  Die  Weigerung  eines  Freundes, 
weiter  mitzumachen,  ist  fur  ihn  ein  nicht  endenwollender 
Schmerz,  der  in  seiner  Brust  immer  wieder  aufs  Neue  wiihlt. 
Dazu  kommt  noch,  daB  seine  Feinfuhligkeit  sehr  mit  seiner  Er- 
regbarkeit  zusammenhangt  und  seine  leicht  erregten  Gefiihle 
nahe  an  der  Oberflache  liegen.  Es  ist  seltsarh,  daB  er  nichts 
von  der  schnellen  Philosophie  des  Pioniers  hat,  nichts  von  der 
Bereitschaft,  heiter  zu  geben  und  zu  nehmen,  alles  Bestandteile 
des  taglichen  Lebens,  die  man  mit  einem  vielgereisten  In- 
genieur  u<nd  Beamten  in  Zusammenhang  zu  bringen  geneigt  ist. 
Scheinbar  hat  er  sein  Herz  darauf  gesetzt,  seine  innere  Rettung 
durch  eine  Wiederwahl  zu  erreichen.  Er  hegt  d-en  Wunsch 
eines  schwachen  Mannes,  als  der  groBeund  herrische  Fiihrer 
zu  erscheinen,  der  er  nicht  ist.  Wahrenddessen  lassen  ihn 
seine  Scheu  und  seine  Empfindlichkeit  allzu  oft  von  seiner 
schlechtesten  Seite  erscheinen.  Ich  sah  ihn  einmal  in  einem 
Kino  einen  Becher  von  einem  hiibschen,  jungen  Pfadfinder  ent- 
gegennehmen,  nachdem  dieser  Knabe,  durch  die  Kalte  de& 
Prasidenten  verangstigt,  seine  Ansprache  schnell  herunter- 
gehaspelt  hatte.  Ais  Antwort  horte  man  von  Hoover  nichts 
als  ein  „Danke  schon".  Keine  groBziigige  Geste;  keine  freund- 
liche  Hand  legte  sich  auf  die  Schulter  dieses  Knaben,  kein 
Wort  fur  die  andern  Pfadfinder.  Nur  ein  „Danke  schon".  Na- 
turlich  bemiihte  sich  sein  ,besseres  Ich  wie  gewohnlich  umsonst, 
durchzubrechen*  Seine  Unfahigkeit,  sein  Mangel  an  Anmutf 
in  Verbindung  mit  Schiichternheit,  verhindern  die  offentliche 
Wirkung  eines  Mannes,  den  seine  intimen  Freunde  als  einen 
Menschen  von  Herz  und  Warme  kennen  und  lieben. 

Und  doch  kann  er  kampfen,  manchmal  so  gut,  daB  der  Zu- 
schauer  Lust  aul  mehr  bekommt,  so  gut,  daB  man  sich  fragt^ 
warum  er  sich  so  selten  und  so  langsam  dazu  bequemt. 

Die  Menge  hatte  geglaubt,  daB  bei  seinem  Amtsantritt 
eine  neue  Ara  beginnen  wiirde,  daB  ein  neuer  Typ  des  hohen 

90 


Beamten  eingetfeten  sei,  der  Tiichtigkcit  und  Fahigkeit  und 
vollige  Unabhangigkeit  iiber  alles  stellen  wtirde.  Statt  einer 
neuen  Fiihrcrschaft  sehen  wir  uns  nur  alter  verbrauchter  Tra- 
dition gegeniiber.  Hoover  tmterscheidet  sich  von  Coolidge  und 
andern  Prasidenten  nur  dadurch,  daB  er  ein  viel  schlechterer 
ist.  Niemand  kann  behaupten,  daB  die  gute  Seite  seiner  Tatig- 
keit  ihn  als  Mann  enthiillt,  der  iiber  alle  andern  befahigt  ist, 
das  Staatsschiff  in  der  drohenden  Notlage  zu  steuern*  Wird 
er  den  Mut  haben,  den  veranderten  Verhaltnissen  mit  eiserner 
Stirn  entgegenzutreten,  wie  unsre  Wirtschaftsfiihrer  es  von 
ihm  erwarten?  Oder  wird  er  verdrossen  und  ohne  innere 
Oberzeugung  nachgeben?  Nachgeben  muB  er  in  vielen  Punk- 
ten,  wenn  unser  wirtschaftliches  Ungliick  weiter  fortschreitet, 
sonst  aber  laBt  uns  weder  Ungliick  prophezeien  noch  herauf- 
beschworen.  Tatsache  ist  aber,  daB  an  Tagen,  wo  man  Plane 
und  Programme  fur  den  Augenblick  machen  und  neue  Kurse 
auf  den  Karten  suchen  miiBte,  um  unveranderlichen  Flauten 
und  Winden  zu  begegnen,  der  Kapitan  nichts  andres  zu  sagen 
hat,  als  daB  der  Sturm  sich  bald  legen  und  daB  der  Himmel 
bald  wieder  klar  sein  wird. 

Die  Menge  hatte  gehofft  und  geharrt,  und  die  einfachen 
Leute  hatten  sich  einen  richtigen  Fuhrer  gewunscht,.  einen 
neuen  Fuhrer.  Sie  hatten  von  einem  Mann  im  WeiBen  Haus  ge- 
traumt,  von  dem  man  niemals  sagen  konnte,,  daB  er  nach- 
gegeben  oder  Kompromisse  geschlossen  oder  das  politische 
Spiel  gespielt  hatte.  Aus  diesem  Grunde  sagen  jetzt  die  Leute, 
daB  Hoover  nicht  eine  neue  und  bessre  Ordnung  der  Dinge 
und  eine  neue  und  gerechtere  Welt  wunsche.  Die  Flut  der 
Entwicklung  schreitet  rasch  an  ihm  vorbei  und  laBt  ihn  auf 
dem  Trockenen  zuriick.  Ein  zusammengedukter  Mann  in 
dem  schonsten  Haus  Amerikas.  Mit  der  besten  Gelegenheit, 
sich  nicht  nur  zu  dem  Regenerator  und  moralischen  Fuhrer 
des  Staates  Amerika  sondern  der  ganzen  Welt  zu  machen.  Er 
fiirchtet,  die  Fiihrerschaft  an  sich  zu  reiBen,  die  leicht  seinen 
Namen  und  seinen  Ruhm  in  die  unvergangliche  Rolle  der  Zeit- 
geschichte  schreiben  konnte. 

Deutsch  von  E.  L.  Schiffer 


Potentiel  de  Guerre  von  Otto  Lehmann-RufibOldt 

I 

VVTahrend  dcr  Maitagung  des  Volkerbundsrats  gab  es  bei  der  Er- 
**  orterung  des  von  Deutschland  vorgelegten  sogenannten  Frage- 
bogens  iiber  den  Riistungsstand  der  Staaten  (Indications  relatives 
a  l'6tat  des  armements  des  divers  pays  C  283.  M.  133.  1931;  IX)  ein 
kurzes  Nachgewitter  der  Auseinandersetzungen  auf  der  Vorbereiteu- 
den  Abriistungskonferenz,  Auch  hierbei  trat  wieder  zutage,  daB  in 
den  verschiedenen  Lagern  des  Volkerbundes  das  Gegenteil  von  der 
Gesinnung  herrscht,  die  der  Absatz  6  des  Artikels  8  (des  Abriistungs- 
artikels)  der  Satzung  voraussetzt,     Dieser  Absatz  6  lautet: 

Die  Bundesmitglieder  iibernehmen  es,  sich  in  der  offensten 
und  erschopfendsten  Weise  gegenseitig  jede  Auskunft  iiber  den 
Stand  ihrer  Rustungen,  tiber  ihr  Heeres-,  Flotten-  und  Luftschiff- 
3  91 


fahrtsprogramm  und  iiber  die  Lage  ihrer  auf  Kriegszwecke  einsteil- 

baren  Industrien  zukommen  zu  lassen. 
Diese  gegenseitige  Auskunftserteilung  ist  nur  folgerichtig,  wenn 
man  wirklich  abrusten  will.  Ihre  „offen$te  und  erschopfendste"  Aus- 
fuhrung  wurde  aber  den  vollendeten  Selbstmord  jedes  militarischen 
Apparats  bedeuten  und  damit  die  Aufhebung  der  Basis  der  modernen 
imperialistischen  Staatengebilde.  Denn  jeder  General  wird  dazu  er- 
klaren:  ,,Wie,  ich  baue  eine  Streitmacht  auf  und  dann  soil  ich  meinen 
moglichen  Gegnern,  wie  bei  einem  Offenbarungseid  die  Zahl  meiner 
Strtimpfe,  die  Zahl  meiner  Patronen  aufzahlen?  Das  widerspricht  ja 
dem   ersten  Grundsatz   der  Verschleierung  meiner  Stellung!" 

Dieter  unbekannte  General  hat  natiirlich  Recht.  Jene  Bestim- 
mung  ware  auch  nicht  in  das  Volkerbundsstatut  hineingekommen, 
wenn  nicht  1918/19  nach  den  Ausschweifungen  des  Weltkrieges  ein 
furchterlicher  Katzen  jammer  bei  den  sogenannten  ,,Lenkern  der  Vol- 
kergeschicke"  geherrscht  hatte  und  wenn  diese  aus  ihrem  schlechten 
Gewissen  heraus  nicht  geglaubt  hatten,  damals  die  emporten  Volker 
beschwichtigen  zu  miissen. 

So  geht  es  denn  mit  dieser  Einzelbestimmung  und  mit  dem  gan- 
zen  Artikel  8  des  Statuts  wie  mit  der  Bergpredigt,  von  der  Luther 
sagte:  ,fDas  Wort  sie  sollen  lassen  stahn."  Aber  —  wie  legt  man  es 
aus!  So  legen  denn  auch  seit  1925,  das  heiBt  seit  der  „Vorbereitung" 
der  Abriistungskonferenz,  die  riistungsfreien  und  die  riistungsbe- 
schrankten,  die  riistungsstarken  und  die  riistungsschwachen  Teilneh- 
mer  der  Abriistungsverhandlungen  den  Artikel  8  aus!  Sie  tun  das 
nicht  in  ,,offenster  und  erschopfendster  Weise",  sondern  so  wie  es 
Theologen  bei   ihren   Streitigkeiten   tun. 

Bei  der  Auskunftserteilung  iiber  den  Riistungsstand  trat  das  ganz 
besonders  hervor.  Der  sogenannte  (1Konventionsentwurf'\  gegen  den 
Deutschland  stimmte,  sah  Muster-Tabellen  vor,  die  die  stehenden 
Truppen  nach  der  Zahl,  aber  das  Kriegsmaterial  nach  dem  MaBstab 
der  Geldmittel  hierfiir  verzeichnete.  Die  Deutschen  wollten  auch 
die  Reserven  an  Truppen  offengelegt  haben,  ferner  verlangten  sie  die 
Bestande  des  Waffenmaterials  nach  Stiickzahl,  auch  des  Reserve- 
materials.  Diese  ihnen  immer  wieder  abgelehnte  Forderung  wieder- 
holten  sie  im  Mai  dieses  Jahres,  England  setzte  durch,  dafi  es  beim 
ursprunglichen  Vorschlag  blieb.  Vom  Interessenstandpunkt  der  Vol- 
ker —  nicht  zu  verwechseln  mit  Volkerbund  —  muBten  beide  Vor- 
schlage,  die  sich  erganzen,  durchgefiihrt  werden.  Wo  der  Hase  im 
Pfeffer  liegt,  erkennt  man  daran,  dafi  der  Vertreter  Jugoslawiens  bei 
Erorterung  des  deutschen  Fragebogens  ironisch  erklarte,  daB  dessen 
Beantwortung  in  einer  Reihe  von  Landern  gegen  die  gesetz lichen  Be- 
stimmungen  iiber  den  Schutz  der  Landesverteidigung  verstoBen  wurde, 
also  Landesverrat  bedeute. 

jEs  handelt  sich  jetzt  weniger  um  die  Klarstellung  dieser  Vor- 
gange  im  einzelnen,  als  darum,  festzustellen,  daB  sowohl  in  den 
Mustertabellen  des  Konventionsentwurfs  der  Vorbereitenden  Ab- 
riistungskommission  als  auch  im  deutschen  Fragebogen  keine  Rubrik 
vorgesehen  ist  fur  jenen  Faktor  der  Riistung,  der  im  Zukunftskrieg 
viel  mehr  noch  als  im  Weltkrieg  der  entscheidende  Faktor  sein  wird. 
Es  ist  das  sogenannte  Potentiel  de  guerre. 

Von  diesem  geheimnisvollen  Ding  war  unter  anderm  einmal  in 
historischer  Stunde  die  Rede,  am  7.  September  1928,  als  in  Genf  der 
Reichskanzler  Hermann  Miiller  Anklage  erhob,  dafi  Deutschland  durch 
den  Versailler  Vertrag  hinsichtlich  seiner  Wehrkraft  so  ungleich  be- 
handelt  sei.  Da  erhob  Briand  drei  Tage  spater  patriarchalisch  den  Fin- 
ger:  Ei,  ei!    Denkt  an  die  Kraft  Eurer  Industrie! 

Die  Industrie  ist  namlich  auch  ein  Stuck  des  Potentiel  de  guerre, 
sogar   das   Bratenstuck.     Allgemein  verstandlich    konnte    man    dafiir 

92 


sagen  Kriegsfahigkeit,  Kriegspotenz.  Das  heifit  also  nicht  aktive 
Kriegsmacht,  sondern  latente,  schlummernde,  aber  vorhandene  Mog- 
lichkeit,  kriegerische  Kraft  zu  entwickeln.  Das  ganze  Problem  ist  nur 
ein  Spezialfall  unsres  Maschinenzeitalters  iiberhaupt.  Es  entspringt 
aus  dem  Verhaltnis  des  Menschen  zu  seinem  Werkzeug,  hier  des 
Kriegers  zu  seiner  Waffe.  Uralt  sind  zwar  Werkzeuge  und  damit  auch 
,  die  Waffen.  Uralt  sind  auch  die  ersten  Ansatze  modernster  Waffen, 
wie  der  Kampfwagen  bei  den  Agyptern,  Assyrern,  Griechen,  wie  des 
chemischen  Krieges  in  mancherlei  Versuchen  mit  erstickenden  oder 
verbrennenden  Substanzen;  uralt  ist  vor  allem  das  taktische  Mittel 
der  organisierten  Massenwirkung  der  Krieger  zusammen  mit  den 
Waffen  in  der  griechischen  Phalanx  und  der  romischen  Schildkrote, 
wodurch  man  den  viel  kampftuchtigeren  Barbaren,  den  Kelten  und 
Germanen  iiber  war. 

Nicht  der  Weltkrieg  sondern  eigentlich  erst  die  Zeit  nach  dem 
Weltkrieg,  etwa  von  1922  an,  leitete  eine  Entwicklung  der  Kriegskunst 
ein,  die  eine  Wende  bedeutet,  die  nur  vergleichbar  ist  der  Einfuhrung 
der  Feuerwaffen.  Besonders  die,  die  den  Weltkrieg  noch  heute 
schmerzhaft  genug  an  ihren  Wunden  fiihlen,  werden  mit  Oberraschung 
sagen:  „Es  war  doch  schon  grade  genug,  kann  es  denn  noch  dicker 
kommen?"  Ja,  es  kann  und  es  wird  sogar,  wenn  dieser  Wende  in  der 
Kriegskunst  nicht  auch  eine  Wende  in  der  Kunst  folgt,  mit  der  die 
Volker  den  Volkerbund  dazu  zu  erziehen  haben,  ehrlich  das  durch- 
zufiihren,  was  er   jeden  Tag  verspricht. 

Jedermann  und  besonders  Manner  der  sogenannten  republikani- 
schen  Parteien  Deutschlands  werden  hierzu  naseriimpfend  erklaren: 
„Aha,  Angsttraume  und  Obertreibungen  eines  exaltierten  Pazifisten." 
Ohne  der  Verlockung  zu  folgen,  Werturteile  iiber  das  abzugeben,  was 
„sich"  und  was  „man"  so  Pazifismus  nennt,  sei  zum  Beweis  dieser  Be- 
hauptung,  dafi  die  Wende  zur  modernsten  Kriegskunst  nicht  mit,  son- 
dern ausgereift  erst  nach  dem  Weltkriege  erfolgte,  hingewiesen  auf 
die  Schrift  des  Reichsarchivrats  und  Majors  a.  D,  Georg  Soldan  „Der 
Mensch  und  die  Schlacht  der  Zukunft"  (Gerhard  Stalling  in  Olden- 
burg 1925).  Dieser  stramm  deutschnationale  alte  Frontkampfer  und 
jetzige  Publizist  sieht  die  Pazifisten  an  wie  ein  indischer  Brahmin e 
einen  Paria,  namlich  wie  einen  Aussatzigen.  Was  Soldan  sagt,  ist 
nichts  andres,  als  was  eine  Reihe  englischer,  franzosischer  und  ameri- 
kanischer  Offiziere  in  Biichern  und   Zeitschrxften   dargelegt  haben. 

Es  laJ3t  sich  das  ungefahr  in  drei  Worte  zusammendrangeh:  der 
individuelle  Kampfer  hort  auf,  der  Unterschied  zwischen  Kampfern 
und  Nichtkampfern  hort  auf,  die  Kampffront  besteht  nicht  mehr  in 
einer  Gefechtslinie,  sondern  im  dreidimensionalen  Raum  der  poli- 
tischen  Gebilde,  die  miteinander  kampfen  und  den  man  an  jedem 
Punkte  mit  Gift,  Blut  und  Tod  erfullen  kann.  Bei  Soldan  iiber- 
stiirmt  einmal  menschliches  Fiihlen  den  Militar  und  er  ruft  aus: 
„Wenn  Wahrheit  wird,  was  der  Phantasie  vorschwebtt  dann  ist  das 
nicht  mehr  Krieg,  dann  ist  das  eine  Vernichtungspest,  ein  gegenseitiges 
Ausrotten  der  Volker/' 

Der  Ausdruck  Phantasie  ist  dahin  zu  prazisieren,  dafi  sie  das 
Bild  moderner  Militarwissenschaft  so  wiedergibt,  wie  man  vor  dem 
Weltkriege  die  Wirkung  moderner  Schnellfeuergeschiitze  voraussagte, 
die  sich  dann  an  zehn  Millionen  Toten  auch  bestatigte.  Soldans 
Prophezeiungen  wird  man  nicht  als  pazifistische  Angsttraume  abtun 
konnen. 

Soldan  beschaftigt  sich  auch  mit  Deutschlands  Zukunft.  Man 
kann  sagen,  daB  Ludendarff  in  seinem  Buch  „Weltkrieg  droht",  das 
ebensowie  das  Soldansche  jeder  Deutsche,  besonders  jeder  Militarist, 
genau  studieren  sollte,  die  Konsequenzen  solcher  Betrachtungsweise 
gezogen  hat.     Fur  unsre  Betrachtung    handelt  es    sich  aber  urn    das 

93 


Wohl  aller  Volker,  also  auch  des  deutschen  Volkes,  gegentiber  dem 
Apparat  des  Militarismus  iiberhaupt,  der  eben  der  Feind  dieser  Vol- 
ker ist,  die  ihn  tragen.  An  diesem  Apparat  des  modernea  Militaris- 
mus ist  das  Material,  wie  Soldan,  wie  Seeckt  und  alle  Militarschrift- 
steller  der  alten  und  neuen  Welt  ausfiihren,  das  Entscbeidende:  Ma- 
terial, umgeformt  in  Kriegsmaschinen.  GewiB  steht  an  einer  S telle 
der  Maschinen  immer  wieder  ein  Menscb  und  ganz  allein  von  seinem 
Nerv  hangt  es  ab,  ob  in  entscheidenden  Momenten  die  Mascbine  so 
oder  so  wirkt.  Aber  im  Verhaltnis  vom  Mensch  zum  Werkzeug,  wie 
es  in -f  der  Handhabungk  des  Pf luges  oder  speziell  bier  im  Verhaltnis 
des  Kriegers  zum  Sdhwert  in  seiner  Urform  zu  sehen  ist,  ist  jetzt  die 
Wende  eingetreten,  dafl  das  Schwert  als  Riesenmordmaschine  nicbt  so 
sehr  vom  Muskel  als  vom  Nerv  gelenkt  wird  und  das  fast  immer  ein 
sorgfaltig  eingeiibtes  Kollektivum  von  Menschen  zur  Funktion  der 
Mascbine  notig  ist. 

Diese  Kriegsmaschinen,  zwischen  denen  der  Krieg  der  Zukunft 
vor  sich  geht,  bestehen  nun  erstens  aus  Material,  aus  Rohstoffen,  und 
zum  zweiten:  sie  mtissen  hergestellt  werden.  Diejenige  politische  Le- 
bensgemeinscbaft,  die  tiber  das  beste  und  meiste  Material  verfiigt 
und  die  die  besten  Fabrikationsmethoden  zur  Herstellung  von  Kriegs- 
maschinen erfunden  hat,  die  wird  einen  Krieg  gewinnen.  Das  ist  der 
moderne  Ausdruck  dessen,  was  Friedrich  II.  mit  dem  Satz  aussprach: 
„Der  Hebe  Gott  ist  immer  bei  den  starksten  Bataillonen," 

Von  hochstem  Reiz  ist  es  nun,  zu  beobachten,  wie  diese  Wahrheft 
bei  den  Abriistungsabsichten  des  Volkerbundes  zum  Durchbruch 
kommt  —  und  im  entscheidenden  Augenblick  wieder  verschwindet. 
Schon  aus  den  Erfahrungen  des  Weltkrieges  heraus  hatte  man  im 
Absatz  6  des  Artikels  8  bei  der  Forderung  der  gegenseitigen  Aus- 
kunftserteilung  iiber  den  Rtistungsstand  ganz  richtig  vorgesehen,  daft 
man  sich  auch  Auskunft  zukommen  lassen  solle:  T1iiber  die  Lage  der 
auf   Kriegszwecke   einstellbaren   Industrien". 

Daraufhin  ist  auch  im  Anhang  des  in  jedem  Jahr  vom  Volker- 
bund  herausgegebenen  „Militar-Jahrbuches"  eine  solche  Nachweisung 
versucht.  Sie  ist  so  liickenhaft,  daB  jeder  aufgeweckte  Student  der 
Volkswirtschaft  sie  besser  machen  wiirde.  Eine  Entschuldigung  liegt 
nur  darin,  dafi  die  Redakteure  solcher  Publikationen  des  Volker- 
bundes sich  streng  an  die  von  den  Staaten  gemachten  Angaben  halten 
miissen. 

Die  Mustertabellen  des  Konventionsentwurfs  und  der  zum  Trotz 
dagegen  ausgespielte  deutsche  Fragebogen  sind  sich  nun  darin  einig, 
wie  sie  die  Mangel  des  Militarjahrbuches  in  bezug  auf  das  Potentiel 
de  guerre  „beseitigen"  —  wenn  man  es  so  nennen  will.  Sie  stellen 
eine  Rubrik  dafur  iiberhaupt  nicht  auf,  obgleich  der  letzte  Satz  des 
Absatzes  6  Artikel  8  sie  ausdrticklich  verlangt.  Sie  handeln  nach  der 
Praxis,  daB  das,  was  iiberhaupt  nicht  gesagt  wird,  nicht  falscb  sein 
kann,  also  auch  nicht  gefalscht  sein  kann. 

Nicht  nur  das!  Im  „Militar-Wochenblatt"  (1929  vom  4.  August 
Seite  163)  erklart  Oberstleutnant  Doktor  Regele  in  einem  sonst  durch- 
aus  gut  durchdachten  Aufsatz:  „  tDas  Potentiel  de  guerre*  ist  aus  alt 
diesen  Erwagungen  heraus  von  Haus  aus  als  eine  Unmoglichkeit  zu 
betrachten."  Er  beruft  sich  sogar  auf  den  Volkerbund,  der  das  alles 
durchberaten  habe.  Man  sollte  sich  wundern,  wenn  nicht  doch  schon  ein 
intelligenter  deutscher  Generalstabsoffizier  sich  an  dieser  Aufgabe  ver- 
sucht hatte,  Oder  sind  andre  Griinde  als  die  der  wirklichen  Unfahig- 
keit  maBgebend?  Aus  dem  Grundsatz  der  Verschleierung,  der  „Tar- 
nung",  dem  einzigen  modernen  Ausdruck  aus  deutschem  Sprachschatz 
im  Bereich  des  Militars?  Es  ist  sehr  komisch,  dafl  beim  „Militar"  vom 
General  bis  zum  Korporal,  von  der  Artillerie  bis  zum  Train,  vom 
Pour  le  merite  bis  zum  Potentiel   de  guerre  alles   dem  Sprachschatz 

94 


des   „Erbfeindes"    entstammt.     Nur   Tarnung    und   Schreibstube    sind 
deutscb. 

Obrigens  nimmt  Salvador  de  Madariaga  in  einem  1929  von  der 
Oxford  University  PreB  herausgegebenen  grofieren  Werk  disarma- 
ment" die  Urbeberschaft  des  Wortes  „War  potential"  fiir  sich  in  An- 
spruch.  Er  lafit  aber  nicht  erkennen,  ob  man  nicht  fiir  die  Bemessung 
der  Kriegskraft  ebenso  einen  Mafistab  finden  konnte  wie  fur  die 
mechanische  Kraft  in  der  Pferdekraft  PS  oder  fiir  den  elektrischen 
Strom  in  Kilowatt  kW, 

Warum  soil  das  „unm6glich"  sein,  wie  der  Oberstleutnant  Regele 
behauptet.  Es  ist  letzten  Endes  doch  keine  andre  Aufgabe  als  die, 
ein  jetzt  erst  eroffnetes  Gebiet  modernen  Lebens  in  die  Formen  mo- 
dernen  Wissenschaftsbetriebes  einzugliedern.  Wenn  das  mit  der 
menscblichen  Seele  durch  Psychoanalyse  und  Psycbotechnik  gelingtf 
so  muB  das  auch  mit  der  militarischen  Massenseele  und  ihrem  Appa- 
rat  moglich  sein.  Es  mag  schwierig  sein.  Die  Hauptschwierigkeit 
wird  zunachst  darin  bestehen,  dafi  es  den  Leuten  vom  Bau  nicht 
pafit,  systematisch  und  genau  hinter  eine  Sache  zu  kommen,  von  der 
sie  alle  in  alien  Vaterlandern  behaupten,  daB  sie  die  Hauptsache  sei. 
Aber  diese  zur  Schau  getragene  Ignoranz  raufi  grade  den  Argwohn 
derer  scharfen,  die  sich  als  die  Gegner  dieser  Militarkaste  betrachten, 
die  friedenswilligen  Burger  aller  Lander,  die  glauben  sollen,  daB  der 
ganze  Apparat  mit  einigen  Hunderttausend  Mordmaschinen  zum 
Schutze  ihres  Lebens  und  ihrer  „Heimat"  aufgebaut  sei.  Grade  nach 
den  Gesetzen  der  Strategie  und  Taktik  muB  der  Burger  alles  daran 
setzen,  iiber  die  „Hauptsache"  beim  militarischen  Gegner  unter- 
richtet  zu  sein. 

So  haben  wir  uns  denn  in  einem  kleinen  Kreise  an  den  Versuch 
gemacht,  das  Kriegspotential  zu  erfassen.  Nicht  aus  Ehrgeiz,  den 
Generalstablern  Konkurrenz  zu  machen,  sondern  urn  den  Gegner  ge- 
nau zu  kennen. 

Wir  haben  unterschieden  zwischen 

KE  =  Kriegs-Effektiv,  das  heiBt  bestehende  aktive  Armee- 
macht  an  Menschen  und  Material. 

Die  Franzosen  haben  hierfiir  den  Ausdruck  „Puissance  de 
choc"   (StoBkraft)  gepragt,  Madariaga  nennt  es  War  Power. 

KR  =■  Kriegs -Reserve,  das  heiBt  vorhandene  ausgebildete  Re- 
serven   an  Menschen  und  Material   in   Arsenalen. 

KP  =  Kriegs-Potential,  das  heiBt  die  in  verschiedenen  Graden 
vorhandene   Volks-   und   Materialkraft    eines   politischen    Gebildes, 
um  diese  Krafte  in  militarischen  Formen  auszumiinzen/ 
Es  sind  bei  KP  weiter  zu  unterscheiden: 

a)  psychologische  Faktoren:  kriegerische  Fahigkeiten,  Erfin- 
derfahigkeiten,  politische  Begabung,  zum  Beispiel  richtige  Btind- 
nisse  abzuschlieBen, 

b)  biologische  Faktoren:  vorhandenes,  unausgebildetes  Men- 
schenmaterial,  Stand  der  Landwirtschaft,  Holzvorkommen,  Grad 
der  Viehzucht,  Gespinstfasern, 

c)  mineralogische  Faktoren:  Kohle,  Eisen-  und  Olforderung, 
aber  auch  deren  ungehobene  Vorrate,  Spezialmetalle  desgleichen, 
chemische  Produkte,  auch  Kali,  deren  besondere  Qualifikation  und 
deren  ungehobene  Vorrate, 

d)  technologische  Faktoren:  Verkehrswege  und  Verkehrsmittel, 
Maschinenindustrie,  Wasserkrafte  und  deren  Vorkommen,  etwaige 
andre  zu  erschlieBende  Quellen  mechanischer  oder  elektriscber 
Kraft 

95 


Ein  weiteres  notwendiges  Unterscheidungsmittel  mufi  in  den 
Graden  der  Erschliefiung  potentieller  Kriegsmacht  gesucht  werden. 
Es  ist  ein  Unterschied,  ob  man  zwecks  Hebung  der  Kohlenfdrderung 
eine  Zeche  nur  starker  auszubeuten  braucht  oder  ob  man  erst  eine 
neue  Schachtanlage  zu  bohren  bat.  Mindestens  nach  zvyei  Stufen 
miifite  mart  diese  Faktoren  KP  in  Rechnung  stellen:  Steigerungsfahig- 
keit,   Erschliefiung   schon  bekannter   Vorkommen, 

Worin  ist  aber  der  MaCstab  fur  KE,  KR  und  KP  zu  suchen? 

Man  konnte  das  tun,  was  seit  uralten  Zeiten'  jeder  Staatsmann 
und  jeder  Feldherr  instinktiv  tatf  indem  er  sich  iiberlegte,  wie  viel 
Hundertscbaften  oder  wie  viel  Bataillone  er  auf  die  Beine  bringen 
konnte.  Heute  wiirde  man  sicb  fragen:  Wie  viel  kriegsstarke  Di- 
visionen?  Nun  stande  deren  Zahl  fur  KE  (Kriegs-Effektiv)  genau  fest, 
fur  KR  (Kriegs-Reserve)  sollte  sie  fiir  die  Kriegsministerien  auch  zu- 
verlassig  bekannt  sein.  Aber  fur  KP?  Wie  kann  man  fur  die  Kriegs- 
potenz  von  Menschen,  Baumstammen,  Petroleuraquellen,  Erzlagern, 
Wasserfallen,  Baumwollfeldern,  Getreidespeichern,  Motoren  und  sogar 
fiir  Intelligenzen  und  seeliscbe  Fahigkeiten  einen  gemeinsamen  Gene- 
ralnenner  finden,  urn  darnach  zu  berechnen,  wie  viel  kriegsstarke 
Divisionen  eine  politische  Gemeinschaft  in  einem  Monat,  in  einem 
Jahr  aufstellen  kann  und  wie  lange  uberhaupt. 

Wir  glauben,  solchen  Mafistab  mindestens  fur  die  biologischen, 
mineralogischcn  und  technologischen  Faktoren  im  GroBhandelsindex 
der  Produkte  kombiniert  mit  den  Produktionsmoglichkeiten  und  Roh- 
stoffen  zu  seben.  Selbst  fiir  die  psychologischen  Faktoren  ist  in  der 
Zahl  wissenschaftlicher  Werke  und  der  Patente  ein  MaBstab  zu  er- 
blicken. 

Ein  gelungener  Versuch  ist  zu  finden  in  einer  Studie  des  ersten 
Bibliothekars  der  Deutscben  Heeresbiicherei,  Oberstleutnant  Doktor 
Stublmann,  der  im  ,Militar-Wochenblatt*  (1929  Nummer  2 .  Seite  55) 
die  MKriegswissenschaften  in  Deutscbland  und  im  Ausland"  unter- 
sucht,  Danacb  erscbienen  1927  Werke  iiber  Kriegswissenschaft  in 
Deutschland  212,  England  197  usw.  Ungarn  mft  52  zeigt  im  Verhalt- 
nis  zu  Deutscbland  eine  doppelt  so  bobe  Produktion,  Stuhlmann 
urteilt:  „Das  Gebiet  der  Kriegswissenschaften  hat  in  Deutschland  seit 
dem  Kriege  eine  grofiere  und  selbst andigere  Stellung  gegen  friiher  er- 
langt,  Auch  erscheinen  manche  wichtigen  Werke  nicht  im  Buch- 
handeL" 

Bei  diesen  Untersuchungen  wurden  wir  von  Rudolf  Goldscheid 
auf  eine  Arbeit  von  Professor  H.  Staudinger  aufmerksam  gemacht 
(Technische  Hochschule  Zurich),  die  schon  im  Juli  1917  in  der  da- 
mals  von  A.  H.  Fried  in  der  Schweiz  herausgegebenen  ,Friedenswarte* 
verof fentlicht  wurde.  Es  war  ein  grofiartiger  Fund.  Da  hatte  ein 
vermaledeiter  Pazifist  sich  herausgenommen,  zwolf  Jahre  vor  dem 
Votum  des  Oberstleutnants  Regele  jene  Aufgabe  zu  versuchen,  die 
dieser  als  „unmdglich"  erklart  hatte.  Auf  vierzehn  Spalten  gab  Stau- 
dinger schon  Antworten  auf  die  Frage  nach  dem  sogenannten  „Siege", 
auf  welche  Frage  nocb  anderthalb  Jahre  lang  an  den  Fronten  Europas 
Millionen  Menschen  praktisch  das  Exempel  statuierten  und  dann  mit 
ibren  Wunden  und  Leiden  endlich  dasselbe  herausbekamen,  was 
Staudinger  mit  einigen  kleinen  Tabellen  schon  vorher  beantwortet 
hatte. 

Staudinger  stellt  in  dieser  Studie  „Technik  und  Krieg"  zunachst 
die  Bedeutung  von  Kohle,  Eisen  und  Wasserkraften  fiir  die  Krieg- 
fiihrung  fest..  Er  erinnert  daran,  wie  aus  der  Kohle  Sprengstoffe  und 
Arzneimittel  herausgeholt  werden.  Er  untersucht,  welchen  Zuwachs 
an  Pferdekraft  (PS)  die  menschliche  Arbeitskraft  dadurch  erhalt.  Er 
wahlt  wegen  der  Grofie  der  Zahl  das.  Pferdekraft  jahr  zur  Grundlage 
seiner  Berechnungen  des  „Potentiel  de  guerre"  der  beiden  kampfenden 

96 


Gruppen,  (Dieser  Ausdruck  findet  sich  aber  bei  ihm  noch  nirgendsl) 
Die  Verbrennungswarme  von  1  kg  Steinkohle  rechnet  er  zu  rand 
7000  Kalorien,  die  von  1  kg  Braunkohle  zu  3500  Kalorien,  632  Ka- 
lorien  =  1  Pferdekraftstunde,  3000  Arbeitsstunden  =  1  Pferde- 
kraftjahr, 

Darauf  stellt  er  in  Tabellen  die  Kohlenforderung  in  tiblicher 
Weise  in  Millionen  Tonnen  dar,  die  Eisenforderung,  die  Wasserkrafte, 
er  berechnet  nach  der  Zahl  der  Einwohner  den  Anteil  des  Pferde- 
kraftjahrs  pro  Nase. 

Als  Beispiel  seiner  Methode  fiihrt  er  zunachst  den  Ausgang  des 
Krieges  zwischen  Deutschland  und  Frankreich   1870/71   an. 


Eisenerz 
in  Millionen 

Roh-Eisen 
Tonnen 

Kohle 

Pferdekraft- 
jahre  in  Mill. 

Deutschland  .  .  . 
Frankreich  .... 

3,8 

2,6 

1,4 
1,2 

34,0 
13,2 

6,7 
.2,9 

Uberraschend  ist  es,  wenn  er  1866  fur  Preuflen  eine  technische 
Uberlegenheit  von  1,05  Millionen  Tonnen  Roheisenproduktion  gegen 
0,28  Millionen  Tonnen  Oesterreichs  feststellt,  daher  PreuBens  Sieg 
iiber  Oesterreich,  aber  Oesterreichs  Sieg  iiber  Italien  zur  gleichen 
Zeit  aus  dessen  technischer  Unterlegenheit  erklart.  Ferner:  „Im 
amerikanischen  Burgerkrieg  siegte  der  kohle-  und  eisenreiche  Norden 
iiber  die  technisch   schwachern  Siidstaaten." 

Der  Vorgang  von  1866  wiederholte  sich  im  Weltkrieg,  wo  das 
technisch  iiberlegene  Deutschland  RuBIand  besiegte,  aber  gegeniiber 
dem   technisch   starkern  Zwilling   England -Amerika   unterlag. 

Zu  unheimlich  prophetischer  Hohe  erheben  sich  Staudingers 
irockene  Tabellen,  wenn  man  sie  in  folgender  Reihenfolge  betrachtet 
(es  sind  hier  nur  die  Pferdekraftjahre  als  Resultat  von  Kohle  und 
Eisen  aufgefuhrt): 


L  Bei  Ausbruch  des  Krieges. 
Zentralmachte 
Frankreich,  Rutland,  Belgien 

II,  Durch    Deutschlands  Besetzung    von  Belgien, 
Nord-Frankreich   und  Polen  erfahrt  es   einen 
Gewinn,   durch  den   Hinzutritt   Englands   eine 
Einbufie  seiner  tlberlegenheit 
Zentralmachte  - 

Frankreich,  RuBIand,  Belgien,  England 

III.  Nach  dem  Hinzutritt  Amerikas  (1917,  als 
Staudinger  diese  Tabelle  aufstellte)  sah  die 
Rechnung  so   aus: 

Zentralmachte 
Entente  und  Amerika 


Pferdekraftjahre  in  Millionen 
92,2      ' 


35 


108,5 
116,3 


108,5 
295,3 


Der  Frieden  Deutschlands  mit  RuBIand  verminderte  die  letzte 
Zahl  nur  auf  285,3  Millionen,  so  daB  das  Schicksal  der  Zentralmachte 
aus  dieser  kletnen  Tabelle  Staudingers  schon  anderthalb  Jahre  vor 
dem  „DolchstoB"  zu  erkennen  war. 

In  einer  Schlufibetrachtung  soil  untersucht  werden,  wie  man  diese 
Spur  weiter  zu  verfolgen  hat.  Wohlgemerkt,  nicht  um  die  Arbeit  der 
General  stabler  zu  untersttitzen,  also  den  vollkommenen  Sieg  auszu- 
rechnen  und  die  Kriegskunst  zu  vervollkommnen,  sondern  um  den 
Krieg  abzuschaffen. 

97 


Wiedersehen  mit  England  von  won  zucker 

Schlufi 

Es  ist  ein  Gluck  fur  England,  daB  sich  in  den  breiten  Mas- 
sen  dieses  Volkes  eine  sehr  gesunde  Abneigung  gegen  alle 
Posen  erhalten  hat,  daB  die  Uniform  dort  stets  viel  zu  sehr  als 
Maskerade,  als  Oberbleibsel  ernes  prachtigen  Barock  empfun- 
den  wird,  als  daB  N  sie  wahrhaft  ernst  genommen  werden 
konnte.  Die  steinern  unbeweglichen  Horseguards,  die  auf  ihre 
Pferde  gehoben  werden  miissen,  damit  ihre  Stiefel  keine  Spur 
ihres  Glanzes  verlieren,  die  Wache  vor  dem  Buckingham  Pa- 
lace mit  ihren  Barenfellmiitzen  und  dem  niedlichen  Filzrollchen 
auf  dem  Riicken  wirken  dekorativ  und  nicht  militaristisch,  und 
zu  einer  guten  Abendgesellschaft  kann  ein  Offizier  in  seiner 
Berufskleidung  ebensowenig  erscheinen  wie  in  Golfhosen  oder 
in  Bergsteigerausriistung.  Man  hatte  in  diesen  Wochen  reich- 
iich  Gelegenheit,  das  strenge  Zeremoniell  und  zugleich  die 
groteske  Komik  von  englischen  Militarschauspielen  zu  bewun- 
dern.  Das  Royal  Tournament,  das  alljahrlich  in  der  riesigen 
Olympiahalle  veranstaltet  wird,  ist  eine  reine  Zirkusangelegen- 
heit,  wo  sich  zum  Ergotzen  des  Publikums  zwei  kompagnie- 
starke  Parteien  in  der  Uniform  etwa  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts  regelrechte  Schlachten  liefern.  Unter  den  Bogen- 
lampen  der  Halle  drohnen  die  Gewehrsalven  „Bum-Bum"(  die 
Soldaten  schreien  MHurra!"f  und  die  quasi  Getroffenen  fallen 
in  edler  Haltung  zu  Boden,  wahrend  weiBe  Rauchwolkchen. 
dem  Ganzen  die  Atmosphare  eines  Wagnerfestspiels  verleihen. 
In,  Aldershot  geht  es  ernster  zu.  Dort  werden  die  neusten  Er- 
rungenschaften  der  Kriegstechnik,  Einmanntanks  und  riesige 
Panzerwagen  vorgefiihrt,  damit  die  Steuerzahler  auf  einem 
teuren  Sitzplatz  wissen,  wofiir  sie  ihr  Geld  ausgeben.  Aber,. 
ich  kann  mir  nicht  helfen,  so  ernst  und  gefahrlich  die  Waffen 
aussahen,  so  iiberzeugend  die  unheimlichen  Raupen  steile 
Wande  emporkrabbelten,  die  ganze  Veranstaltung,  beleuchtet 
von  Scheinwerfern  und  Signalraketen,  wirkte  nicht  viel  anders 
als  die  Schauifbung  einer  freiwilligen  Feuerwehr,  Und  wenn 
man  dann  zu  spater  Nachtzeit  die  zufriedengestellten  Zu- 
schauer  in  den  riesigen  Ausflugsautobussen  durch  den  feuchten 
Nachtwind  dieses  hiigeligen  Parklandes  nach  London  zuriick- 
fahren  -sieht,  so  mochte  man  sie  fast  beneiden  um  die  Tatsache, 
daB  ihnen  ihr  Militar  eben  nichts  andres  ist  als  eine  —  aller- 
dings  im  Notfalle  sehr  brauchbare  —  freiwillige  Feuerwehr. 

Der  Geburtstag  des  Konigs  gibt  AnlaB  zu  einer  besonders 
farbenprachtigen  Parade,  deren  Zeremoniellf  das  t,Trooping 
the  Colour*'  unabanderlich  fest  steht.  In  diesem  Jahre  mufite 
der  Konig  sich  allerdings  eine  Verschiebung  seines  Geburts- 
tags  gefallen  lassen,  weil  dieser  auf  denselben  Tag  wie  das 
Epsom  Derby  fiel.  Und  nichts  ist  bezeichnender  fur  die  prin- 
zipiell  unmilitarische  Gesinnung  dieses  Volkes  als  die  Tatsache, 
daB  das  groBe  Volksfest  des  Derby,  dieser  gigantische  Rummel- 
platz  der  Hunderttausende,  wichtiger  ist  als  jede  noch  so 
schone  Parade  oder  Konigsgeburtstagsfeier.  Gewifi,  man  holte 
diese  Feier  nach,  am  drauffolgenden  Sonnabend,  damit  eben 
dieselben  Massen,  die  sich  am  Mittwoch  beim  Derby  amiisiert: 

98 


hatten,  nun  Gelcgenheit  bekamen,  dieser  grotesken  Quadrille  von 
Uniformierten  zu  Pferd  und  zu  FuB  beizuwohnen.  Es  ist  immer 
wicdcr  crstaunlich,  allenthalben  im  englischen  offentlichen  Le- 
ben  der  fast  mittclalterlichcn  Vorstellung  zu  begegnen,  daB 
alles  zum  Vefgniigen  oder  sagen  wir  ruhig  zum  Amusement  des 
Volkes  zu  geschehen  habe:  Paraden  und  Sportsereignisse,  Auf- 
fahrten  zum  Hofempfang  und  Blumenausstellungen.  Der  Wohl- 
fahrtsminister,  der  alte  tapfere  Friedensfreund  Lansbury,'  darf 
bei  keiner  Eroffnung  eines  neuen  Freibads  oder  Vergniigungs- 
parks  fehlen,  und  da  halt  er  keine  feierlichen  Reden,  den  Zy- 
linder  in  der  Hand,  sondern  laBt  sich  von  ein  paar  jungen  Mad- 
chen  schaukeln,  solange  es  ihm  seine  alten  Knocheix  erlauben. 

Es  steckt  eine  unverwiistliche  Kraft  zum  Vergniigen  in 
den  Englandern.  Alle  Puritanert  alle  Arbeiter-  und  Soldaten- 
rate  Cramwells  haben  das  nicht  ausrotten  konnen.  Die  groBe 
Zeit  Englandst  das  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  diese 
einzigartige  Verflechtung  von  spanischem  Barockt  btirgerlicher 
Renaissance  und  angelsachsischer  Volksheiterkeit,  diese  souve- 
rane  Freude  am  derbsten  SpaB  bei  strengstem  FormbewuBt- 
sein,  kurz  der  elisabethanische  Stil  ist  niemals  ganz  gestorben. 
Im  siebzehnten  Jahrhundert  rettete  man  die  Heiterkeit,  die 
Spielfreude  in  die  Musik  hiniiber,  im  achtzehnten  bliihte  der 
ironische  englische  Stil  auf,  und  selbst  im  trockensten  neun- 
zehnten  gab  es  hier  und  da  noch  jene  alte  Punsch-Freudigkeit, 
die  sich  zwar  weniger  in  dem  danach  benannten  Witzblatt  als 
in  gewissen  von  Mund  zu  Mund  iiberlieferten  obszonen  Lied- 
chen  und  Epigrammen  erhielt.  Und  jetzt  hat  man  manchmal 
das  Gefiihl,  den  Tagen  des  Old  Merry  England  naher  zu  sein, 
als  man  es  theoretisch  in  einer  so  sachlich  rationalisierten  Zeit 
fur  moglich  halten  sollte,  Englands  altvaterliche  Isoliertheit, 
die  angebliche  Sittenstrenge,  die  angeblich  trockene  Steifheit, 
all  diese  Dinge  beginnen  sich,  wohl  unter  kontinentalen  Ein- 
flussen,  stark  aufzulockern<  Die  Madchen  sind  gar  nicht  mehr 
so  unzuganglich  und  unausstehlich,  wie  man  es  uns  in  der 
Schule  gelehrt  hat,  die  Herren  wissen  ganz  saftige  Geschichten 
zu  erzahlen,  und  in  einer  gewissen  intellektuellen  Schicht  ist 
es  heute  schon  fast  Sitte,  sich  in  Kneipen  an  Bier  und  Whisky 
zu  besaufen. 

GewiB,  man  kann  von  der  GroBstadt  London  keine 
Schliisse  auf  das  ganze  Land  ziehen,  aber  doch  scheint  mir 
eben  eine  solche  Auflockerumg  nicht  mehr  (ibersehbar  zu 
sein.  Und  sie  wird  sich  um  so  starker  auswirken,  als  sie  der 
unterdriickten  aber  niemals  ausgerotteten  Frohlichkeit  dieses 
humorvollsten  Volkes  Europas  entgegenkommt.  Man  hat  in 
England  die  shakespearesche  Freude  am  Burlesken  nicht  ver- 
loren.  Man  muB  beim  Epsom  Derby  die  alten  dicken  Frauen 
sehen,  die  da  auf  dem  Rasen  zum  Klang  eines  Leierkastens  mit- 
einander  Tanze  auffitihren,  zur  eignen  Belustigung  und  zur 
Freude  der  Umsitzenden.  Es  sah  nicht  schon  aus  und  war  auch 
nicht  immer  grade  anstandig,  aber  das  wuBten  diese  alten 
Cockney-Damen  selbst  sehr  genau  und  fanden  ihren  grotesken 
SpaB  eben  in  jener  Unmoglichkeit,  die  Revuestars  der  feinen 
Varietetheater  nachzuahmen.  Man  muB  die  Singfreude  dieser 
Leute  beobachtet  haben,  die  Begeisterung  fur  die  epigramma- 

99 


tischc  Form  und  die  Inhaltslosigkeit  dcr  Limerick- Verse*  mit 
denen  man  einander  nach  dem  Abendbrot  aufwartet.  Dies  alles 
sind  Reste  einer  alten  Unbeschwertheit  —  aber  vielleicht  auch 
Anfange  einer  neuen.  Und  die  Vermutung  liegt  nahe,  daB  die 
Wiederkehr  des  Old  Merry  England  zeitlich  —  und  vielleicht 
auch  ursachlich  —  verbunden  sein  wird  mit  dem  Verfall  des 
viktorianischen  Imperialismus.  Vielleicht  war  es  grade  die  Aus- 
weitung  des  starken  und  selbstsicheren  Inselkonigreichs  zum 
Weltimperium,  in  der  der  alte  biirgerliche  Frohsinn  keinen 
Platz  mehr  fand;  und  vielleicht  bietet  auch  erst  die  erzwungene 
Beschrankung  auf  das  „grune  Eiland  in  der  Silbersee"  seinen 
Bewohnern  wieder  die  Moglichkeit,  ihres  Lebens  froh  zu 
werden. 

Die  heiligsten  Giiter  von  Axei  Eggebrecht 

£Lut  drei  Jahrzehnte  ist  es  her,  daB  unser  allerhochster  Pro- 
pagandachef  eine  seiner  erfolgreichsten  Werbezeilen  erfand: 
Volker  Europas,  wahrt  eure  heiligsten  Giiter!  Wir  entsinnen 
uns  des  schaurig-schonen  Buntdruck-Blattest  das  Wilhelm  der 
Zweite  hochst  eigenhandig  entwarf  und  durch  seinen  getreuen 
Malermeister  KnackfuB  fein  sauberlich  ausfiihren  HeB-  Da 
drangt  sich  auf  einem  Felsvorsprung,  hoch  iiber  friedlicher 
FluBlaridschaft,  eine  Schar  verschiichterter  Frauenspersonent 
die  europaischen  Nationen.  Ober  ihnen  strahlt  einigermaBen 
blaB  das  christliche  Kreuz.  Sie  waren  eih  wenig  ratios,  was  sie 
auf  diesem  Aussichtspunkt  sollen,  —  stiinde  nicht  vor  ihnen 
ein  gleiBender  Erzengel  mit  gar  gewaltigen  Fliigeln,  ein  Flam- 
menschwert  in  der  Rechten  und  auBerst  germanisch  anzu- 
schauen.  Der  weist  ihnen  mit  gereckter  Linken  ihre  PHicht 
und  ihr  Ziel:  Fern  am  Horizont  thront  inmitten  einer  finsteren, 
blitzdurchzuckten  Wetterwolke  eine  Buddhagestalt,  die  gelbe 
Gefahr  im  Osten.  Und  den  erschrockenen  Damen  ruft  Michael 
zu;   Volker  Europas,  wahrt  eure  heiligsten  Giiter! 

Es  ist  unwahrscheinlich,  dafi  sich  der  Zeitungsleser  von 
damals  einen  ganz  genauen  Begriff  von  diesen  heiligsten  Gii- 
tern  machen,  daB  er  sie  aufzahlen  und  bei  Namen  nennen 
konnte.  Vom  blaB-strahlenden  Kreuz  ist  anzunehmen, 
daB  es  damals  ebensowenig  Ein-druck  machte  wie  heute.  Eher 
mag  die  stille  FluBlandschaft  dem  Beschauer  ans  Herz  geriihrt 
haben.  Von  welch  ungemeiner,  todbringender  Heiligkeit  dieses 
Gut  war,  das  wurde  fimfzehn  Jahre  spater  deutlich,  als  die 
sehr  entschlossen  gewordehen  Damen  es  zwar  nicht  gegen  den 
fernen  Buddhat  doch  mit  um  so  verbissenerer  Heftigkeit  gegen- 
einander  verfochten. 

Auch  das  ist  nun  voriiber.  Langst  treffen  die  allegorischen 
Damen  einander  wieder  zu  gemeinsamen  Ausfliigen.  Freilich 
sind  sie  alter  geworden.  Es  geht  nicht  mehr  auf  heroische 
Felsklippen.  Eher  setzt  man  sich  zu  bedachtigem  Kaffeekranz- 
chen  in  Genf  oder  anderswo  zusammen,  Und  nicht  mehr  der 
^leiBende  Ritter-Engel  gibt  den  Ton  an.  Eine  stattlich-diirre 
Gouvernante,  die  iiber  den  Ozean  gekommen  ist,  fiihrt  das 
groBe  Wort.  Sie  halt  in  der  Rechten  ein  Fahnchen  mit  der 
verlockenden  Aufschrift:  Prosperity.    Auch  sie  weist  nach  der 

100 


Wetterwolke  im  Osten,  die  inzwischen  crheblich  naher  ge- 
koraracn  ist.  Man  kann  die  darin  thronende  Gcstalt  nun  deut- 
lich  erkennen.  Sic  tragt  die  unverkennbare,  spitze  Kopf- 
bedeckung  der  Roten  Armee. 

Wiedcr  wird  die  westliche  Menschheit  aufgeruf  en,  ihre 
heiligsten  Giiter  zu  wahren:  Gegen  den  dumpfen  Gsten,  gegen 
den  alles  nivellierenden  Kollektivismus,  gegen  die  Gottlosen- 
propaganda,  gegen  das  bose  Dumping.  Die  Zeitungen  Rother- 
meres  blasen  ins  Horn,  Sir  Deterding  laBt  seine  Fabriksirenen 
schrillen,  gewaltig  st6Bt  Rom  in  die  Tuba,  Das  Bild  von  1900 
scheint  hochst  aktuell  geworden.  Jedermann  ist  beunruhigt. 
Aber  urn  was  geht  es  eigentlich?  Welche  Giiter  sollen  dem 
Europaer  von  1931  so  heilig  sein,  daB  er  zu  ihrer  Wahrung 
einen  Kreuzzug  unternimmt? 

Da  wird  von  der  Bildung  geredet  und  von  der  Tradition, 
vom  Glauben  und  von  der  Familie.  Sentimentalitaten  aller  Art 
werden  beschworen,  verlogener  Scheinpazifismus  liefert  Argu- 
mente  und  der  Rausch  des  Profitmachens  wird  auf  mancherlei 
Art  glorifiziert.  Im  Grunde  aber  denkt  jeder  sich  etwas  andres 
dabei.  Die  wirklichen  Giiter,  um  die  es  geht,  werden  nicht 
aufgezahlt  und  nicht  bei  Namen  genannt.  Das  Allerheiligste 
bleibt  unklar  und  unausgesprochenf  wenn  den  Menschen  auch 
eingeredet  wird,  daB  sie  dafiir  kampfen  und  vielleicht  dafur 
sterben  miissen.  Erhaben,  stumm  und  todbringend  ragen  liber 
das  anarchische  Durcheinander  Europas  die  allerheiligsten 
Giiter:  Erz,  Stahl,  Kohle,  Waffen,  Platin,  Schuhe  und  Streich- 
holzer.  Und  setbst  die  Sardinen,  diese  unscheinbaren  Fisch- 
chen,  werden  als  Gegenstand  einer  Industrie  zu  solch  einem 
heiligsten  Gut. 

Um  diese  Dinge'  geht  es  in  II ja  Ehrenburgs  neuem  Ro- 
man (erschienen  im  Malik- Verlag,  (ibersetzt  von  Hans  Ruoff). 
Alles,  was  sich  vertrusten  laBt,  kann  zum  heiligsten  Gut  avan- 
cieren.  Also  gibt  es  unzahlige  solcher  Giiter;  und  deren  Herren 
bekampfen  einander  kaum  weniger  erbittert  als  den  bosen 
Feind  in  der  ostlichen  Wetterwolke,  der  sie  alle  mit  Vernich- 
tung  bedroht. 

Ein  reichhaltiges  Bilderbuch  des  spatkapitalistischen  Wirr- 
warrs,  aber  nicht  mit  billiger  Ironie  gemalt,  sondern  mit  tiefer 
Bemiihung,  mit  Einsicht  in  alle  menschliche  Unzulanglichkeit; 
und  nicht  ohne  heimliche  Liebe  zu  denen,  die  verspottet  wer- 
den. Der  Autor  ist  zuweilen  gleichsam  verstort  von  der  Lang- 
mut  und  Schafsgeduld,  mit  der  die  Welt  ihren  unruhigen  Lauf 
durch  so  zweifelhafte  Geschafte  bestimmen  laBt-  Er  rettet 
durch  seine,  die  Zusammenhange  unerbittlich  offenbarende 
Schilderung  den  menschlichen  Verstand,  iiber  dessen  Versagen 
er  so  oft  lacheln  muB. 

Jede  seiner  Personen  und  jede  dargestellte  Handlunrf  sind 
ihm  Ausdruck  und  Auswirkung  okonomischer,  gesellschaft- 
licher  Vorgange  und  Notwendigkeiten.  Aber  wie  weit  ist  er 
entfernt  von  der  Schablonenmethode  mancher  marxistischer 
Autoren,  bei  denen  menschenahnliche  Schemen  sich  unwirklich 
bewegen  oder  als  Kleiderstander  fiir  eine  Ideenschau  herum- 
stehen.  Bei  Ehrenburg  hat  alles  Saft  und  Blut,  Auch  die 
Herren  der  allerheiligsten  Giiter  sind  arme  reiche  Teufel  voll 

101 


kieiner,  armseliger,  schmerzensreicher  Erlebnisse.  Da  ist  etwa 
der  Ztindholzkonig  Olson,  kiihl,  einsam,  bang  vor  jedem  Gefiihl, 
von  blassen  Weltherrscheridealen  getrieben.  Da  ist  sein  Geg- 
ner,  der  internationale  Riistungsschieber  Wainstein,  Hasscr  jeg-* 
licher  ,,Ideen'\  cin  dcrber  Realist  im  Planen,  Handeln  und  Ge- 
nieBen.  Die  Abneigung  dieser  beiden  Protagonisten  gegenein- 
ander  zieht  sich  durch  das  ganze  Buch,  das  im  iibrigen  keine 
zentrale  ,,Handlung"  hat.  Es  gibt  ja  auch  in  der  verzweifelt 
schwimmenden,  von  einem  Young-  zum  nachsten  Hoover-Plan 
hin  improvisierenden  Welt  kein  einheitliches  Wollen,  keine 
eindeutige  Richtung  mehr.  Grade  diese  verworrene  Stimmung 
kommt  in  Ehrenburgs  Roman  groBartig  zum  Ausdruck,  dies 
Zwielicht  des  Morgens,  in  dem  die  groBen  Hasardeure  dasitzen, 
wie  nach  einer  langen,  durchspielten  Nacht  und  nicht  aufzu- 
horen  wagen.  Die  unendliche  Miidigkeit  in  der  scheinbar  so 
aufgeregten  kapitalistischen  Welt. 

Welch  ein  Gewimmel  erstaunlicher  Figuren  marschiert  ne- 
ben  den  Hauptspielern  auf:  der  adlige  deutsche  Diplomat,  der 
aus  Tradition,  Zwang,  Interesse  an  Chemie-Aktien  und  einem 
Magenleiden  so  etwas  wie  eine  milde  europaische  Denkungs- 
art  zusammenbraut;  der  franzosische,  Minister  linker,  in- 
dustrieller  Observanz,  miBtrauisch,  eng,  geizig  und  tief  besorgt 
um  das  klassische  Gliick  des  Kleinbiirgers;  internationale 
Schieber  jeglichen  Formats;  der  groBe  Journalist  ohne  Ge- 
sinnung;  eine  Filmdiva,  unter  so  viel  Getriebenen  und  Gehetz- 
ten  die  Kiihlste  und  Niichternste;  ein  Erfinder,  der  im  Irrenhaus 
endet;  ein  russischer  Emigrant,  der  sich  zu  Sabotageakten  in 
RuBland  anwerben  laBt.  Eine  bunte  Menagerie  der  Nichtig- 
keiten,  der  sinnlosen  Individualitat.  Und  zwischen  ihnen  tau- 
chen  zwei-,  dreimal  Beauftragte  der  Sowjets  auf,  Handels- 
kommissare,  Spezialisten,  Sie  vertreten  inmitten  all  dieser 
Sklaven  der  Beziehungen,  der  Geschafte  etwas  andres;  Die 
Dinge  selbst  und  den  Anspruch  des  Menschen,  iiber  die  Dinge 
zu  herrschen,  sich  ihrer  wirklich  zu  bedienen,  statt  mit  ihnen 
als  mit  ,,heiligsten  Gutern"  zu  schieben,  zu  bluffen,  Schindluder 
zu  treiben. 

Wie  es  sich  fur  ein  Kaleidoskop  gehort,  hat  das  Buch 
keinen  Anfang  und  kein  Ende.  Es  ist  die  denkbar  dichteste 
Wiedergabe  eines  Zustandes,  dargeboten  durch  ein  auBer- 
ordentliches  schriftstellerisches  Temperament.  Ehrenburg  be- 
weist,  daB  der  revolutionare  Autor  kein  Sachlichkeitsfex  zu 
sein  braucht,  daB  Gefiihl  und  Gewissen  einander  nicht  auszu- 
schlieBen  brauchen;  daB  auf  dem  Untergrunde  historisch-mate- 
rialistischen  Denkens  sehr  wohl  Poesie,  menschliche  Warme,  ja 
sogar  jene  beziehungsreiche  Verlorenheit  an  die  dargestellten 
Dinge  moglich  ist,  die  wir  Romantik  nennen.  Ehrenburg  ist  ein 
marxistischer  Romantiker.  Die  unermudliche  Dialektik  seines 
Stils,  seine  facettenartig  zugeschliffenen  Perioden,  die  bitter 
schmeckende  Ironie  in  seinen  knappen  Charakteristiken,  das 
immer  durchschimmernde  Bewufitsein  von  der  letzten  Nichtig- 
keit  aller  menschlichen  Konflikte,  —  das  alles  ist  unleugbar  ro- 
mantisch.  Und  ist  nicht  schliefilich  jegliche  Revolution,  ist  der 
Glaube  des  Menschen  an  seine  eigne  Wandlungsfahigkeit  nicht 
etwas  ungemein  Romantisches?   Zwar  spurt  man  nicht  viel  da- 

102  ' 


von  in  Programmen  und  Parteierlassen.  Aber  die  Wirklichkeit 
sicht  ja  immcr  ganz  anders  aus.  Und  als  Verkunder  dieser 
Wirklichkeit  befreit  Ehrenburg  uns  von  dcm  Albdruck,  als 
mtisse  der  siegreiche  Verlauf  der  Revolution  darin  bestehen, 
daB  die  Methode,  die  Erkenntnis,  der  Plan  iiber  das  Leben 
selbst  siegen. 

Schon  einmal  hat  Ehrenburg  den  Mut  gehabt,  diese  grofie, 
entscheidende  Einsicht  zu  gestalten:  Im  ,,Julio  Jurenito",  sei- 
nem  ersten,  bedeutenden  Roman,  der  unmittelbar  nach  den  er- 
schiitternden  Ereignissen  der  russischen  Revolution  deren  le- 
bendige  Einordnung  und  hochst  menschliche  Ausdeutung  unter- 
nahm.  Das  beriihmt  gewordene  Gesprach,  das  er  den  Meister 
Jurenito  mit  Lenin  im  nachtlichen  Kreml  fiihren  laBt,  wird  als 
unvergeBliches,  dichterisches  Dokument  jener  Tage  bestehen 
bleiben.  Und  nichts  Besseres  laBt  sich  iiber  den  neuen  Roman 
sagen,  als  daB  ich  durch  ihn  —  so  viel  enger,  so  viel  direkter, 
so  viel  polemischer  sein  Thema  unzweifelhaft  gestellt  1st  — 
immer  wieder  an  jenen  fruhern  erinnert  wurde. 

So  verschieden  ist  es  im  menschlichen  Leben  — ! 

von  Peter  Panter 

pin  Druckfehler,  „Und  Faust  sticg  hernieder  zum  Ursprung  aller 
*-*  Dinge,  zum  Tiefsten  und  zum  Hochsten,  darin  die  ganze  Natur 
und  das  menschliche  Leben  eingeschlossen  sind:  zu  den  Matern." 

Das  franzosisch-deutsche  Rapprochement  vollzieht  sich  unter  einer 
Handvoll  Gebildeter;  schieBen  durfen  nachher  die  Arbeiter.  Sie  tun 
es  auch.  Denn  sie  kennen  einander  nicht  und  lernen  einander  erst 
sterbend  oder  in  der  Gefangenschaft  kennen.  Ein  sehr  nahes 
Rapprochement  verwirklicht  sich,  wenn  man  so  weiter  macht,  immer 
nur  in  den  Ackergraben.  Schade  um  j  eden  Pfennig,  den  man  an 
diesen  Unfug  wendet, 

Wenn  man  die  fein  abgewogenen  Aufsatze  Oskar  A.  H. 
Schmitzens,  Bindings  und  ihresgleichen  liest,  hat  man  immer  das  Ge- 
fuhl:  Es  gibt  wirklich  nur  eine  Losung,    Man  muB  reich  heiraten. 

* 

Das  Schmalz,  mit  dem  der  mittlere  deutsche  Parteifiihrer  das 
Wort  „Berufsbeamtentum"  ausspricht . . .  wenn  doch  nur  jeder  Ar- 
beitslose  so  viel  Fett  auf  seinem  Brot  hatte! 

Ein  Kunstwerk  sagte  friiher  etwas  iiber  die  Geistesverfassung 
seines  Schopfers.  Heute  zeigt  es  etwas  andres  an:  die  Geistesver- 
fassung des  Kunstkaufmanns,  der  es  vertreibt.  Selbe  ist  nicht  immer 
sehr  interessant. 

„Sie  war",  steht  einmal  bei  Paul  Morand,  nschon  wie  die  Frau 
eines  andern."  Ich  mochte  das  variieren:  Er  war  energtsch  wie  der 
Rechtsanwalt   der   Gegenpartei. 

Wenn  ich  das  schon  gedruckte  Buch  eines  mit  Buchweizengriitze 
gefutterten  Philosophen  aus  Amerika  lese,  hinter  seinen  Brillenglasern 
blitzen  frohlich  jungenhafte  Augen,  die  sich  so  optimistisch  mit 
dem  Elend  der  andern  abfinden,  alles  ist  gut  und  schon,  wir  haben 
eine  gute  Predigt  gehabt,  Breakfast  auch,  ja  danke,  auf  welch  unbe- 

103 


iieckiem  Wege  wohl  so  ein  Wesen  zur  Welt  gekommen  sein  mag,  die 
Amerikanerinnen  sind  doch  unterhalb  des  Nabels  alle  aus  Celluloid  — 
wenn  ich  so  einen  frohlichen  Professor  lese,  dann  weiB  ich  end- 
lich,  wie  einem  gebildeten  Chinesen  zu  Mute  ist,  der  europaische 
Touristen  sieht. 

Der  Englander  hat  fiir  jeden  Begriff  ein  Wort  und  fur  jede  seiner 
Nuancen  noch  eins  —  da  ist  ein  groBer  Wortreichtum.  Bei  dem 
Franzosen  ist  das  anders.  Wenn  man  den  fragt,  wie  ein  besonders 
kniffliger  Begriff  auf  franzosisch  heifie,  dann  denkt  er  lange  nach. 
Und  dann  sagt  er:   „faire". 

* 

Friiher  sagte  man;  Kopf-  und  Hand-Arbeiter.  Die  Schreihalse 
der  Nazis  plakatieren:  MArbeiter  der  Stirn  und  der  Faust!"  Die 
Stirn,  das  ist  der  Kopfteil,  mit  dem  die  Ochsen  ziehen,  und  eine 
Hand,   die  zur  Faust  geschlossen  ist,  kann  tiberhaupt  nicht  arbeiten. 

Mochten  wir  wohl  eine  Literatur  lesen,  die  vorher  die  Zensur 
des  Herrn  Seeger  und  seiner  Filmzensoren  passiert  hatte?  Nein,  das 
mochten  wir  nicht.  Wie  sahe  solch  eine  Literatur  aus?  Sie  sahe 
recht  klaglich  aus.  Was  mufi  man  also  tun?  Man  muB  jede  Film- 
zensur,  die  iiber  die  bestehenden  Strafgesetze  hinausreichen  will,  ab- 
schaffen, 

Auf  einer  kleinen  Bank  vor  einer  grofien  Bank 

von  Erich  KSstner 

YVTorauf  mag  die  Gabe  des  FleiBes, 
**      die   der  Deutsche  besitzt,   beruhn? 
Deutsch  sein  heiflt,  der  Deutsche  weiB  es, 
Dinge  um  ihrer  selbst  willen  tun. 

Wenn   er   spart,    dann  nicht  deswegen, 
daB   er   spater   davon   was   hat, 
Nein,   ach   nein!    Geld   hinterlegen 
findet  ohne  Absicht  statt. 

Uns;  erfreut  das  bloBe  Sparen. 
Geld  personlich  macht  nicht  froh. 
RegelmaBig  nach  paar  Jahren 
klaut  ihrs  uns   ja  sowieso. 

Nehmt  denn  hin,  was  wir  ersparten.' 
Und  verluderts  dann  und  wann! 
Und  erfindet   noch   paar   Arten, 
wie  man  pleite  gehen  kann! 

Wieder   ist  es   euch  gelungen. 
Wieder   sind  wir   auf   dem  Hund. 
Unser   Geld  hat   ausgerungen, 
Ihr  seid  hoffentlich  gesund. 

Heiter   stehn   wir   vor   den  Banken. 
Armut   ist   der   Muhe   Lohn, 
Bitte,  bitte,  nichts  zu  danken! 
Keine   Angst,    wir    gehen   schon. 

Und  empfindet   keine  Reue! 
Leider  wurdet   ihr   ertappt. 
Doch  wir  halten  euch  die  Treue. 
Und  dann  sparen  wir  aufs  Neue, 
bis  es  wieder  mal  so  klappt. 
104 


Selbsthilfe  oder  Auslandshilfe?  Aifredolkoimar 

ps  ist  kein  Wunder,  daB  in  den  letzten  Tagen  das  Sthlagwort  von 
"  der  anzustrebenden  wirtschaftlichen  „Selbsthilfe"  Deutschlands 
vernehmbar  geworden  ist.  Allzu  vielc  Illusionen  hat  die  pericht  - 
erstattung  unsrer  grofien  Tagespresse  in  den  Kreisen  geweckt,  die 
den  Begriff  der  international  en  Solidaritat  auch  heute  noch  wesent- 
lich  im  liberal- demokratischen  Sinne  als  erne  Sumrae  privater  Hilfs- 
aktionen  aufzufassen  pflegen,  ohne  sich  dariiber  klar  zu  werden,  daB 
derartige  Aktionen  nur  urn  einen  bestimmten  und  fur  gewohnlich  sehr 
hohen  Preis  zustande  kommen.  Die  Enttauschung  dieser  Illusionen 
hat  selbstverstandlich  die  Folge  gehabt,  daB  man  jetzt  in  den  an- 
gedeuteten  Kreisen  vdllig  an  der  Moglichkeit  internationaler  Hilfs- 
aktionen  verzweifelt  und  mit  dem  Begriff  der  ,, Selbsthilfe"  zu  ope- 
rieren  beginnt.  Das  ist  nun  ein  Schlagwort,  und  es  unterscbeidet  sich 
auch  insofern  nicht  von  andren  Schlagwortent  als  hierunter  sehr  ver- 
schiedne  Dinge  verstanden  werden.  Die  Leser  der  liberal-demokra- 
tischen  Presse  werden  in  der  Auffassung  erhalten,  daB  ebenf alls  nur 
durch  eine  Summe  von  privaten  Aktionen  wirtschaftlicher  Natur 
innerhalb  Deutschlands  der  gegenwartige  Zustand  der  Stillegung  des 
gesamten  Wirtschaftsbetriebes  uberwunden  werden  konne.  Freilich 
ist  man  sich  in  diesen  Kreisen  noch  keineswegs  klar  dariiber,  wie 
diese  Aktionen  aussehen  sollen.  Man  weiB  nur  insofern,  was  man 
will,  als  die  starke  staatliche  Aktivitat  auf  wirtschaftlichem  Gebiet, 
die  in  den  letzten  Tagen  entfaltet  werden  muBte,  wieder  beseitlgt 
werden  soil.  Urn  dieses  Ziel  zu  erreichen,  wiirde  man  dazu  bereit 
sein,  eine  Auslandsanleihe  groBen  Umfanges  um  den  Preis  bestimm- 
ter  politischer  Garantien  aufzunehmen,  wobei  der  Gedanke  daran,-wie 
diese  Anleihe  einmal  zuruckgezahlt  werden  soil,  und  ob  sie  nicht  zu 
den  gleichen  verheerenden  Folgen  fuhren  wird  wie  die  groBen  An- 
leihen  nach  der  Stabilisierung  der  Mark,  in  der  gegenwartigen  Not 
anscheinend  in  den  Hintergrund  tritt,  Aber  man  ist  doch  auch  in 
den  Kreisen  der  GroBbourgeoisie  mit  liberal -demokratischer  Orien- 
tierung  heute  schon  dazu  geneigt,  eine  solche  auslandische  Hilfs- 
aktion  als  ein  Obel  anzusehen,  das  nicht  etwa  aus  dem  Gedanken  der 
internationalen  Solidaritat  des  Kapitals  heraus  verhaltnismaBig  leicht 
zu  ertragen  ware  sondern  das  nur  dazu  dienen  soil,  die  wirtschaft- 
liche   Selbsthilfe   Deutschlands  zu   ermoglichen. 

Nun,  mit  diesen  reichlich  verschwommenen  Auffassungen  von 
wirtschaftlicher  Selbsthilfe  brauchen  wir  uns  hier  nicht  mehr  ausein- 
anderzusetzen.  Bei  naherm  Zusehen  werden  auch  diejenigen  Kreise, 
in  denen  diese  Auffassung  Geltung  hat,  doch  wohl  erkennen  mussen, 
daB  die  wirtschaftliche  Entwicklungsperiode,  durch  die  Deutschland 
etwa  in  den  Jahren  von  1924  bis  1930  hindurchgegangen  ist,  ein  Ende 
gefunden  hat  und  durch  keinen  sonstwie  gearteten  Akt  wieder  her- 
gestellt  werden  kann.  Man  sollte  doch  nicht  vergessen,  daB  das  Ver- 
trauen  des  gesamten  Volkes  in  die  Fahigkeiten  und  die  Zuverlassig- 
keit  der  Fiihrerschaft  dieser  Periode  endgiiltig  verlorengegangen  ist. 
Auch  das  Prinzip  der  betrieblichen  und  technischen  Konzentration 
mit  seiner  „RationalisierungM  und  seiner  Zusammenfassung  der  pri- 
vatwirtschaftlichen  unkontrollierbaren  Macht  hat  in  den  letzten  Tagen 
in  Deutschland  sein  endgultiges  Fiasko  erlebt.  Die  Wirtschafts- 
erkenntnis  des  deutschen  Volkes  ist  in  diesen  Tagen  zweifellos  um 
Jahrzehnte  reifer  geworden.  Der  Begriff  des  privaten  und  in  Wirk- 
lichkeit  niemandem  verantwortlichen  „Wirtschaftsfuhrers"  ist  einer 
Lacherlichkeit  anheim  gef alien,  die  viel  sichrer  totet  als  alle  ernst- 
haften  Versuche,   iiber  die   Hohlheit   dieses  Begriffs   aufzuklaren. 

Diese  grofire  Reife  hat  aber  das  deutsche  Volk  erst  noch  zu  be- 
weisen   mit    seiner  Haltung    gegeniiber    einer    andern    Auffassung   von 

105 


der  wirtschaftlichen  Selbsthilfe,  die  von  schwerindustriell-nationali- 
stischer  Seite  nicht  erst  seit  heute  und  Western  propagiert  wird;  deren 
Ziel  es  ist,  die  Selbsthilfe  der  deutschen  Wirtschaft  zu  einer  an- 
nahernden  Selbstgeniigsamkeit  zu  entwickeln.  Diese  Kreise  denken 
sich  die  Zukunft  etwa  so,  dafi  irgendwelche  engern  politischen  und 
wirtschaftlichen  Beziehungen  zu  den  Westmachten  auf  die  Dauer 
doch  nicht  aufrechtzuerhalten  sein  werden,  so  lange  es  nicht  gelingt, 
die  ganze  gegenwartige  weltpolitische  Konstellation  von  Grund  auf 
zugunsten  Deutschlands  zu  andern.  Als  ein  Instrument  dieser  Ande- 
rung  gilt  ihnen  die  vollige  Einkapselung  der  deutschen  Wirtschaft  in 
eine  zwar  nicht  vollstandig,  aber  doch  wenigstens  annahernd 
berbeizufiihrende  Selbstgeniigsamkeit,  die  auf  der  einen  Seite  der 
deutschen  Landwirtschaft  wieder  eine  viel  starkere  Position  inner- 
halb  des  Gesamtrahmens  der  deutschen  Wirtschaft  verschaffen  wiirde, 
auf  der  andern  Seite  aber  die  Auslandsbeziehungen  zuriickzufiihren 
batte  auf  einen  gewissen  Export  von  Produktionsmitteln,  fur  welchen 
zusatzliche  Konsumgiiter  und  Rohstoffe  in  moglichst  geringfiigigen 
Mengen  einzutauschen  waren.  Zu  erreichen  ware  dies  Ziel  nur  unter 
der  Voraussetzung,  dafi  das  Lebenshaltungsniveau  der  deutschen  Ar- 
beitnehmerschaft  in  alien  ihren  Teilen  gegeniiber  dem  in  Westeuropa, 
England  und  Amerika  durchschnittlich  gegebenen  Stande  noch  weiter 
als  bisher  herabgesetzt  wird*  Denn  nur  mit  dieser  Herabsetzung 
liefie  sich  der  minimale  Export  erreichen,  der  wiederum  fur  die  Be- 
zahlung  eines  minimalen  zusatzlichen  Importes  notwendig  ware.  Diese 
Auffassung,  die  (ibrigens  als  nicht  weniger  verschwommen  und  unklar 
anzusehen  ist  als  die  oben  angedeutete  liberal -demokratische  Theorie, 
ist  nur  in  einer  Beziehung  sicher  und  zielbewufit:  in  der  namlich, 
dafi  vor  allem  die  Schere  zwischen  Lohn  und  Preis  weiterhin  zu  un- 
gunsten  des  Lohnes  geoffnet  werden  mufi.  Sie  hat  aber  fur  gewisse 
•Teile  der  deutschen  Arbeitnehmerschaft  deshalb  einen  nicht  un- 
gefahrlichen  Reiz,  weil  die  schwerindustriellen  Kreise,  die  sie  pro- 
pagieren,  gerne  darauf  hinweisen,  dafi  die  Schliefiung  der  Tiir  nach 
Westen  gleichbedeutend  sei  mit  der  weiten  .Qffnung  der  Tur  nach 
Osten.  Man  denkt  sich  also  die  Dinge  etwa  so,  dafi  Deutschland 
unter  der  Leitung  einer  zahlenmafiig  noch  kleineren  wirtschaftlichen 
Oligarchie  als  wir  sie  bisher  hatten,  auf  privatkapitalistischer  Basis 
seine  wirtschaftlichen  Auslandsbeziehungen  vor  allem  auf  den  Ver- 
kehr  mit  Rufiland  zu  beschranken  haben  werde  und  dafi  dies  dazu 
geniigen  werde,  um  iiber  den  Zeitraum  hinweg  zu  helfen,  der  bis 
zur  Sprengung  der  gegenwartigen  weltpolitischen  Situation  noch  zu 
tiberwinden  ware.  Das  ist  nun  alles  andre  als  das,  was  man  im 
Interesse  unsrer  Arbeitnehmerschaft  wirklich  von  einer  engern  Ver- 
bin  dung  mit  der  russischen  Wirtschaft  zu  erhof f en  hatte.  Es  ist 
namlich  das  grade  Gegenteil  hiervon,  das  heifit,  die  Stiitzung  eines 
ganz  streng  gesiebten  wirtschaftlichen  Herrentums  in  Deutschland  mit. 
Hilfe  des  Geschaftes,  das  sich  auf  den  russischen  Bedarf  an  Pro- 
duktionsmitteln und  an  Erzeugnissen  der  deutschen  Veredlungsindu- 
strie  aufbauen  wiirde.  Diese  Art  von  wirtschaftlicher  Selbsthilfe  mufi 
daher  grade  im  Interesse  der  arbeitenden  Klassen  als  das  gekenn- 
zeichnet  werden,  was  sie  wirklich  ist,  namlich  als  der  letzte  Versuch 
des  deutschen  Privatkapitals,  seine  Herrschaft  zu  erhalten,  und  sei 
es  selbst  mit  Hilfe  des  Bolschewismus. 

Gewifi  steht  die  deutsche  Wirtschaft  heute  vor  ganz  entscheiden- 
den  Entschlussen,  aber  man  wiirde  die  Sachlage  vollig  verkennen, 
wollte  man  grade  jetzt  das  Problem  der  wirtschaftlichen  (und  damit 
noch  lange  nicht  politischen)  Ost-  oder  Westorientierung  wider- 
spruchslos  in  den  Vordergrund  schieben  lassen,  damit  auf  diese  Weise 
die  Aufmerksamkeit  von  der  eigentlichen  Entscheidung  abgelenkt 
werde.  Diese  ist  darin  zu  erblicken,  dafi  in  Deutschland  das  Prinzip 
des  wirtschaftlichen  Kollektivismus  an  Stelle  des  wirtschaftlichen  In- 

106 


dividualismus  zu  treten^  beginnt,  Ohne  weitgehende  Hilfe  der  west- 
europaischen  Vdlker  wird  cine  solche  Entscheidung  nicht  herbei- 
zufuhren  sein,  ihre  klaren  Linien  wiirden  dann  durch  Erschutterangen 
verwischt  werden,  deren  AusmaB  gar  nicht  abzusehen  ist.  Deshalb 
brauchen  wir  Auslandshilfe.  Wie  sich  einmal  eine  kollektivierte 
deutsche  Wirtschaft  zu  der  russischen  verhalten  wird,  das  bedarf 
keiner  Erortertmg.  Aber  dieses  Verhaltnis  wird  ein  vollig  andres  sein 
als  das,  was  die  scbwerindustriell-nationalistischen  Kreise  anstreben, 
deren  Propaganda  zur  Zeit  der  ltSelbsthilfe"  der  deutschen  Wirt- 
schaft  gilt. 


Der  Optimist  von  Alfons  Goldschmidt 

YV/issen  Sic",  riihmte  der  Bankdirektor,  „wissen  Sic,  dieser 
"  Jakob   Goldschmidt,   ein  Kind,     kann    ich   Ihncn    sagen. 

Frischc  Luft  weht,  wcnn  cr  in  die  Bank  kommt.  Alles  gliickt 
ih'm,  er  hat  Marchenfinger,  man  muB  ihm  folgen/'  So  sprach 
der  Direktor,  den  Jakob  noch  drin  gelassen  hatte  in  der  Danat- 
bank.  Andre,  die  cr  hinausgeworfen  hatte,  sprachen  anders. 
Fiir  sie  war  Jakob  allzu  ahasverisch,  sie  prophezeiten  bitter 
und  mit  freudigem  Bedawern  seinen  Zusammenbruch,  Sie  haber* 
recht  behalten,  denn  die  Rausgeekelten  behalten  immer  recht, 
das  scheint  ein  historischesGesetz  zu  sein. 

Ende  Juni  1931  wurde  der  Kurs  der  Darmstadter  und  Na- 
tionalbank  an  der  berliner  Borse  noch  mit  112  Prozent  no- 
ticrt,  erheblich  hoher  als  der  Kurs  der  Deutschen  Bank  und 
Discontogesellschaft  und  der  Presdner  Bank.  Ende  Juni  1931t 
also  zu  einer  Zeit,  als  Jakob  Goldschmidt  schon  genaui  wissen 
muBte,  was  los  war  in  seiner  Bank,  beziehungsweise  was,  wenn 
man  an  die  Kredite  denkt,  angebunden  und  nicht  loszukriegen 
war.  Aber  immer  noch  wurde,  wie  im  letzten  Geschaftsbericht 
der  Danatbank,  Optimismus  geblasen.  Am  5.  Juni  dieses  Jah- 
res  hatte  die  ,Welt  am  Abend'  mitgeteilt,  daB  die  Bank  sich 
in  Schwierigkeiten  befande.  Der  Optimist,  der  wahrscheinlich 
noch  glaubtc,  daB  er  sich  gegen  die  Nordwolle-Pleite  stemmen 
konnte,  hat  diese  Nachricht  sehr  diktatorisch  dementiert.  In 
jedem  bessern  Bankbweau  konnte  man  in  jenen  Tagen  schon  er- 
fahren,  daB  die  Danatbank  nicht  mehr  zu  halten  war,  aucb 
nicht  von  einem  Mann,  der  so  optimistisch  war,  daB  er  ein- 
hundertundzwanzig  Aktiengesellschaften  beraten  wollte.  Wie 
hat  er  das  iibrigens  gemacht? 

Immerhin  hatten  die  meisten  Menschen  in  Deutschland 
noch  geglaubt,  daB  eine  GroBbank  nicht  zusammenbrechen 
konnte,  wenn  nicht  das  Kapital  zusammenbrache,  Es  ist  aber 
doch  geschehen  und  es  zeigt  sich,  daB  die  Hoffnungen  auf  die 
Reichsbank,  beziehungsweise  auf  den  Staat,  iibertrieben  wa- 
ren.  Die  Regierung  hat  eine  Garantie  iibernommen,  aber  jetzt 
zweifeln  auch  Glaubige  an  der  .Soliditat  dieser  Garantie,  weil 
sic  den  Garanten  selbst,  der  sich  ja  oft  genug  zum  Schuldner 
der  Bankcn  machen  muBte,  nicht  mehr  fiir  pupillarisch  sicher 
halten.     Unter   einer    Garantie,    das    heiBt   unter    einer   Btirg- 

107 


schaft  fur  Zahlungen,  stellt  man  sich  ctwas  Mauerfestes  vor. 
Das  Reich  hat  Steuer-  und  andre  Moglichkeiten,  aber  die 
Luther-Reisen  im  Flugzeug  beweisen  ja  auch  denen,  die  noch 
"blind  gewesen  sind,  daB  das  Reich  nicht  mehr  das  Reich  ist. 
Seine  Finanzbonitat  leidet,  wie  die  einer  deutschen  Bank,  un- 
ter  faulen  Debitoren  und  unter  noch  andern  Verhangnissen. 

Herr  Oskar  Wassermann,  der  eigentliche  Leiter  der 
Deutschen  Bank  und  Discontogesellschaft,  dem  man  ein  mildes 
Herz  nachsagt,  hat  sich  gegen  die  Zumutung,  mit  seinem  In- 
rstitut  fur  die  Danatbank  einzustehen,  heftig  und  erfolgreich 
gestraubt.  Die  Deutsche  Bank  hat  seit  ihrer  Griindung  des  6f- 
teren  vor  solcher  Frage  gestanden,  und  sie  hat  das  Problem  hie 
und  da  nach  dem  Zusammenbruch  durch  Obernahme  der  noch 
brauchbaren  Stiicke  des  zusammengebrochenen  Objekts  gelost. 
Man  kann  nicht  behaupten,  daB  sie  dabei  im  ganzen  schlimm 
gefahren  ist.  Es  gibt  sogar  Leute,  die  das  wachstum  dieser 
Bank  auf  solche  Kaufe  aus  Konkursen  zuruckfiihren.  Jeden- 
lalls  war  die  Weigerung  insofern  bemerkenswert,  als  sie  den 
<ilauben  an  die  Solidarity  der  GroBkapitale  heftig  erschiittert 
hat,  Ich  habe  diesen  Glauben  nie  gehegt  und  bin  auch  keines- 
Tvegs  (iberrascht  von  der  Hartleibigkeit  der  internationalen 
GroBfinanz  gegeniiber  dem  deutschen  Kapital.  Mildtatigkeit 
£ibt  es  da  nicht,  die  Herren  sitzen  rechnend  am  Tisch,  und 
wenn  sich  ergibt,  daB  das  Pfand  zur  Beleihung  nicht  mehr  aus- 
reicht,  dann  flieBt  auch  kein  Geld,  es  sei  denn  fur  die  spatere 
Dbernahme  des  geminderten  Pfandes.  Man  konnte  das  eine 
Art  Zwangsversteigerung  nennen. 

Ob  der  Fall  der  Danatbank  vielen  Menschen  die  Anarchie 
<ler  Geld-  und  Kreditleitungen  offenbart,  das  heifit,  die  vollige 
Unfahigkeit  der  ,,Kapitane'\  die  Schiffe  sicher  zu  lenken,  ob 
«ie  wissen,  daB  man  nicht  imstande  ist,  das  Kanal-System  um- 
zubauen?  Denn  was  jetzt  gemacht  wird,  das  ist  Oberflachen- 
arbeit  und  alles,  was  in  die  alten  Kanale  gepumpt  wird,  geht 
naturnotwendig  den  alten  Weg,  das  heiBt  den  Weg  der  Un- 
praduiktivitat.  Wir  konnen  AusmaB,  Tempo  und  Wirkung  der 
Vergiftung  durch  Kredit  nicht  messen,  aber  ich  denke,  die  Er- 
fahrung  ist  nun  da,  auch  fiir  diejenigen,  die  das  Gesetz  nicht 
kennen.  Denn  auf  dieses  Gesetz  der  Entwicklung  kommt  es 
an  und  nicht  auf  Gesetze  von  oben  oder  Notverordnungen,  die 
erstens  immer  zu  spat  kommen  und  zweitens  immer  das  Ge- 
genteil  ihrer  Absicht  bewirken.  Mephisto  sag.t  das  mit  sehr 
^infachen  Worten,  andre  nennen  das  den  dialektischen  ProzeB 
im  KapitaL 

Die  Notverordnungen  gegen  Kapitalflucht,  zur,,Erfassung"  der 
Devisen,  der  auslandischen  Banknoten  undsoweiter,  und  was 
noch  kommen  mag  an  Verordnungen  dieser  Art,  das  alles 
trifft  den  Kern  nicht,  GewiB,  es  ist  viel  Privatkapital  geflohen, 
und  in  den  Hausschranken  mogen  noch  hubsche  Notenhauf- 
chen  liegen.  Aber  die  eigentliche  Flucht  des  Kapitals,  die 
groBe  Kapitalflucht,  wurde  ja  begangen  von  denselben  Unter- 
nehmungen,  die  man  jetzt  per  Notverordnung  stiitzen  will  Sie 
werden  riatmrnotwendig  zu  Exekutoren  der  Dekrete  gemacht, 

108 


denn  es  gibt  ja  in  diesem  Zustand  dcr  Kreditorganisation  keine 
andrc  Moglichkeit.  Diese  Kapitalflucht  und  dieser  Devisen- 
wahnsinn.  diese  Blutentziehung  also  gehort  ja  zu  den  Haupt- 
funktionen  des  Kapitals,  beziehungsweise  seiner  groBen  Or- 
gane.  In  der  Geschichte  der  Finanz  finden  wir  viele  Beispiele, 
daB  derartige  Dekrete  nichts  geniitzt  haben.  Man  hat  damit 
Denunzianten,  kleine  Delinquenten  und  hie  und  da  einenGrofi- 
vergeher  geziichtet,  aber  den  ProzeB  selbst  hat  man  nicht  auf- 
gehalten  oder  redressiert, 

Forcierte  Kreditorenkiindigung  und  Anwachsen  der  Debi- 
toren  —  das  geht  nun  schon  seit  langer  Zeit  so.  In  den  Be- 
richten  der  Handelskammern  beispielsweise  wurde  daruber 
vor  vielen  Monaten  schon  heftig  geklagt.  Die  Schuldner  der 
Banken  aber  wurden  lahm  und  lahmer.  Nach  meiner  Schatzung 
war  schon  vor  einiger  Zeit  die  Halite  der  deutschen  Wirt- 
schaftssubstanz  nicht  mehr  in  regularer  Funktion.  Wie  es  heute 
aussieht,  das  muB  man  sich  vorstellen,  wenn  man  den  Mut  zur 
Wahrheit  hat.  Moratorium?  Das  hatten  wir  ja  schon,  denn 
dieser  Betrieb  mit  Wechseln,  dieses  Festgefrorensein  und  dar- 
uber die  f,Liquiditat'\  in  der  nur  noch  Spuren  von  Kraft  sind 
—  was  ist  das  anders  als  ein  Hinziehen,  eine  permanente  Stun- 
dung,  wahrend  das  sogehannte  Biirgerliche  Recht  noch  unent- 
wegt  gegen  die  Schuldner  exekutiert  wird.  Gegen  die  kleinen 
Schuldner  natiirlich,  denn  dem  Optimisten  Jakob  Goldschmidt 
hat  man  ja  den  Offenbarungseid  nicht  abverlangt.  Das  ist  ja 
grade  der  Fehler  dieser  Wirtschaft,  daB  sie  sich  nicht  zu  offen- 
baren  braucht.  Sie  ist  eine  Dunkelwirtschaft,  und  sie  wird  es 
bleiben,  solange  sie  existiert. 

Kriegserklarungen;  Revolutionserklarungen  sind  sozusagen 
Firmierungen  eines  schon  bestehenden  Zustandes.  So  ist  es 
auch  jetztt  nur  wird  die  Firma  verschwommen  und  reichlich 
spat  eingetragen,  man  hatte  das  schon  sehr  viel  friiher  tun 
konnen.  Denn  wenn  man  ehrlich  sein  wollte  und  nicht  opti- 
mistisch  wie  ein  Kind  a  la  Jakob  Goldschmidt,  dann  hatte  man 
eingestehen  miissen,  daB  nicht  nur  in  der  Danatbank  die  Debi- 
toren  faul  sind  und  daB  der  Fall  Lahusen  sozusagen  nur  ein 
Explosionsfall  ist,  denn  Lahusens  sitzen  an  vielen  Stellen  in 
der  deutschen  Wirtschaft.  Sie  sind  ja  fur  das  Kapital  nur  des- 
halb  Verbrecher,  weil  ihnen  der  Wechsel  nicht  mehr  prolon- 
giert  worden  i«t.  Prolongation,  nicht  Produktivitat,  das  ist  das 
A  und  O  des  Kapitals. 

DaB  die  Schrumpfung  weitergeht,  jc  mehr  Kredit  in  den 
Korper  gepumpt  wird,  das  ist  doch  wohl  klar,  und  daB  unter 
solchen  Umstanden  der  Wechsel  nicht  noch  oft  prolongiert 
werden  kann,  auch  das  ist  sicher.  Mit  Flugzeugen  lafit  sich 
das  Disagio  nicht  uberbriicken.  Die  Substanz  ist  totkrank,  die 
Palaste  der  Lahusens  stehen  auf  sehr  schwankem  Grund.  Und 
auch  die  unentwegtesten  Optimisten,  die  Rundfunkredner  mit 
Brom  und  die  verlogenen  Halbeingesteher  mit  der  Geste: 
„Habt  Geduld,  es  wird  doch  nooh  besser!",  sie  alle  sitzen  in 
der  groBen  Danatbank,  unter  sich  faule  Debitoren  und  hinter 
sich  jene  Glaubiger,  die  den  Konkurs  erklaren  werden. 

409 


Bemerkungen 

Reichsaufsichtsamt 

Im  Herbst  des  Jahres  1891 
*  brachen  in  Berlin  mehrere 
Bankfirmen  zusammen,  die  zum 
Teil  sebr  einfluBreiche  Kreise  des 
Hofes  und  der  Beamtenschaft  zu 
ibren  Kunden  zahlten.  Diese 
Vorkommnisse  lehrten,  daB  die 
bisherigen  Bestimmungen  tiber 
Aufbewahrung  und  Verwaltung 
von  Wertpapieren  einen  unge- 
niigenden  Schutz  fur  den  Depot- 
inbaber  boten.  Aus  dieser  Ober- 
legung  heraus  entstand  nach  lan- 
gen  Vorarbeiten  im  Jahre  1896 
das  Bankdepotgesetz,  das  — -  mit 
einer  Abanderung  aus  dem  Jahre 
1923  —  noch  heute  in  Kraft  ist 
Wenn  die  Falle  von  Depotunter- 
schlagungen  bei  Zahlungseinstel- 
lungen  zu  den  Ausnahmen  ge- 
horen,  so  ist  dies  in  erster  Linie 
dem  Gesetz  von  18%  zu  danken. 
Am  13.  Juli  1931  schloB  die 
Darmstadter  und  Nationalbank 
ibre  Schalter.  Staat  und  Volks- 
wirtschaft  sind  von  diesem  Er- 
eignis  aufs  schwerste  getroffen. 
Heute  gilt  es  nicht  mehr,  den  Ein- 
zelnen  gegen  Denotunterschlagun- 
gen  sondern  Burger  und  Staat 
allgemein  gegen  verschuldete  oder 
unverschuldete  Zusammenbruche 
von  Kreditunternehmungen  zu 
sichern.  Da  das  Reich  die  Aus- 
fallbiirgschaft  bei  der  Darm- 
stadter und  Nationalbank  uber- 
nommen  hat,  um  eine  Wirt- 
schaftskatastrophe  von  unuber- 
sehbaren  AusmaBen  zu  verhin- 
dern,  und  man  annehmen  darf, 
daB  in  jedem  ahnlichen  Fall  nach 
Moglichkeit  wieder  ebenso  ge- 
handelt  werden  soil,  hat  der 
Staat  das  Recht  und  die  Pflicht, 
im  Iriteresse  der  Steuerzahler 
eine  standige  Kontrolle  uber  alle 
Kreditinstitute  auszuiiben.  Eine 
solche  Aufsicht  wiirde  wesentlich 
zur  Beseitigung  der  schweren 
Vertrauenskrise,  in  der  sich  das 
Bankgewerbe  befindet,  beitragen. 
Daher  sollte  mit  groBter  Be- 
schleunigung  auf  dem  Wege  der 
Notverordnung  das  , .Reichsauf- 
sichtsamt fur  Kreditinstitute"  ge- 
schaffen  werden,  dessen  Funktio- 
nen  im  folgenden  kurz  dargestellt 

110 


seien,  ohne  daB  diese  Skizze 
mehr  sein  will  als  eine  zeitge- 
maBe  Anregung: 

—  Das  Reichsaufsichtsamt  um- 
faBt  Kreditinstitute  in  jeder  han- 
delsrechtlichen  Form:  unter  an- 
derm  Privatbanken,  Sparkassen, 
Genossenschaften,  unbeschadet 
bereits  bestehender  einzelstaat- 
licher  Oberaufsicht. 

Die  Erlaubnis  zur  Eroffnung 
eines  kaufmannischen  Unterneh- 
mens,  das  sich  mit  der  Annahme 
von  Depositengeldern  und  der 
Verwaltung  von  Effektendepots 
befaBt,  ist  von  der  Priifung  der 
Eroffnungsbilanz  durch  das 
Reichsaufsichtsamt  abhangig.  Alle 
derartigen  Unternehmungen  haben 
erstmalig  einen  Status  per 
30,  Juni  1931  und  dann  jeweils 
per  31.  Dezember  einzureichen, 
Notwendige  Erlauterungen  sind 
dem  Status  beizufiigen  oder  auf 
Ersuchen  des  Amtes  nachtraglich 
abzugeben. 

Das  Reichsaufsichtsamt  ernennt 
auf  Vorschlag  des  Zentralverban- 
des  des  Deutschen  Bank-  und 
Bankiergewerbes  beziehungsweise 
des  Verbandes  der  Sparkassen 
oder  der  Genossenschaftsver- 
bande  Priifer,  die  im  Geschafts- 
lokal  der  betreffenden  Unterneh- 
mungen die  Hauptbiicher  einer 
regelmafiigen  Kontrolle  unter- 
ziehen.  Das  Reichsaufsichtsamt 
nimmt  ferner  —  mindestens  ein- 
mal  im  Zeitraum  von  drei  Jahren  — 
(iberraschende  Revisionen  durch 
seine   eignen  Beamten  vor. 

Die  Reichsregierung  erlaBt 
Richtlinien  uber  die  Hohe  der  li- 
quiden  Mittel  und  das  Verhaltnis 
der  Kreditoren  zu  dem  Eigen- 
kapital  und  den  Reserven.  Das 
Aufsichtsamt  hat  die  Innehaltung 
dieser  Vorschriften  zu  iiber- 
wachen. 

In  seinen  geschaftlichen  Ent- 
schlussen  ist  jedes  Institut  —  so- 
weit  seine  Statuten  nicht  andre 
Bestimmungen  enthalten  —  voll- 
kommen  frei.  Jedoch  kann  das 
Reichsaufsichtsamt  besondere 

Deckungsvorschriften  fur  Bank- 
kredite  erlassen,  — 


Wenn  dieser  Vorschlag  auch 
nur  ein  Teilgebiet  der  gegenwar- 
tig  von  vielen  Seiten  geforderten 
Wirtschaftskontrolle  umfaBt,  so 
sind  die  Aufgaben  des  „Reichs- 
aufsichtsamtes  fiir  Kreditinstitute" 
vielleicht  die  dringendsten.  An- 
ders ist  eine  Gesundung  des 
deutschen  Wirtschaftslebens  un- 
moglich.  Die  Vorkampfer  eines 
privatwirtschaftlichen  Absolutis- 
mus  werden  natiirlich  einwenden, 
daB  man  durch  eineu  solchen 
Plan  das  Verantwortungsgefiihl 
des  Unternehmers  untergrabt, 
aber  denjenigen,  die  friiher  am 
lautesten  von  „Verantwortung" 
gesprochen  haben,  diirfte  es  nicht 
unangenehm  sein,  wenn  sie  sich 
jetzt  nicht  selbst  zu  verantworten 
haben, 

Bernhard  Citron 

Zuzutrauen 

*7u  den  i  ammerlichsten  aller  Ar- 
"  gumente  der  Rechtspflege,  bei 
der  das  Recht  langsam  zu  Tode 
gepflegt  wird,  gehort  dieser  Satz: 

„Dem  Angeklagten  ist  die  Tat 
zuzutrauen/' 

Wann  — ?  Allemal  dann,  wenn 
die  Unabsetzbaren  aus  den  Akten 
und  den  Vernehmungen,  aus  den 
Zeugenaussagen  und  der  hochst 
dubiosen  Tatigkeit  der  in  der 
Offentlichkeit  viel  zu  wenig  ge- 
kannten  MGerichtspflege'*  die 
Oberzeugung  gewonnen  haben,  das 
sittliche  Niveau  des  Angeklagten 
sei  derart,  daB  die  Ausfuhrung 
der  Tat  bei  ihm  nicht  mehr  uber- 
raschen  konne.  Gott  segne  diese 
Seelenkunde. 

Man  erinnert  sich  vielleicht 
noch  an  den  furchtbaren  Fall  des 
schlesischen  Massenmorders 

Denke.  Der  Mann,  ein  schwerer 
Geisteskranker,  pflegte  wan- 
dernde  Handwerksburschen  an- 
zulocken,  er  gab  ihnen  zu  essen 
und  zu  trinken,  und  wenn  sie 
eingeschlafen  waren,  totete  er  sie; 
ihr  Fleisch  fraB  er  oder  pokelte 
es  ein,  Er  hat  sich  dann  in  seiner 
Zelle  erhangt.  Nun,  dieser  Denke 
war  nach  auBen  hin  ein  braver 
Mann;  er  war  sogar,  wie  damals 
zu  lesen  stand,  Fahnentrager  in 
seinem  Verein,  eine  Wurde,  die 
mancher  anstrebt,  ohne  sie  zu 
erreichen,      Und      niemals      hatte 


ihm  der  landlaufige  Richter  „die 
Tat  zugetraut",  Ich  sehe  ordent- 
lich  den  Polizeibericht  vor  mir: 
,,D.  ist  in  der  Gemeinde  als  or- 
dentlicher  und  ruhiger  Mann  be- 
kannt."  Darauf  dann  der  Rich- 
ter: Also  ist  ihm  die  Tat  nicht 
zuzutrauen. 

Diese  Strafkammern  haben  sich 
da  einen  Artigkeitskodex  zu- 
rechtgemacht,  der  schon  manchem 
Unschuldigen  Jahre  von  Gefang- 
nis  gekostet  hat,  vom  Zuchthaus 
ganz  zu  schweigen.  Das  ist  iiber- 
all  so.  So  hat  neulich  in  Eng- 
land ein  Handlungsgehilfe  sein 
lockres  Leben  mit  dem  Tode  ge- 
biiBt;  er  stand  im  Verdacht  des 
Mordes,  beweisen  konnte  man 
ihm  den  nicht  so  recht,  aber  es 
war  ihm  auf  Grund  seines  Le- 
benswandels  zuzutrauen,  und 
schon    hing    er.      Zuzutrauen...? 

Aber  es  gibt  Tausende  und 
Tausende  von  Menschen,  die  ein 
unordentliches  Leben  fiihren; 
solche,  die  saufen  und  die  huren, 
solche,  die  kleine  Unterschlagun- 
gen  begehn  und  Kinder  qualen; 
solche,  die  sich  in  den  Wirtshau- 
sern  prugeln  und  ihre  Frau  be- 
triigen  nach  Strich  und  Faden  -  - . 
und  denen  man,  wenn  man  etwas 
von  Psychologie  versteht,  gar 
nichts  zutrauen  kann:  sie  leben 
sich  aus  und  haben  es  nicht  no- 
tig,  Morde  zu  begehen. 

Und  es  gibt  Monstra  in  Beam- 
tengestalt;  sauber  geburstete 
Staatspensionare,  die  innerlich 
vor  Bosheit  und  Tucke  kochen, 
vor  unterdriickten  Trieben  und 
vor  zuriickgehaltener  verbreche- 
rischer  Leidenschaft;  solche,  die 
nur  zu  feige  sind,  das  zu  be- 
gehn, wovon  sie  nachts  fiebrig 
traumen  . . .  und  dann  knallt  es 
doch  einmal  aus  ihnen  heraus, 
und  keiner  hat  es  ihnen  zuge- 
traut,  Diese  Richter  zu  aller- 
letzt. 

Das  muB  nicht  immer  nach 
solch  einfachem  Schema  laufen. 
E s  gib t  iiberhaupt  kein  Schema , 
-nach  dem  man  einem  eine  Tat 
zutrauen  kann ;  das  ist  nur  bei 
sehr  seltenen  und  sehr  einfachen 
Tatbestanden  moglich. 

Die  Unabsetzbaren  aber  haben 
sich  da  so  etwas  wie  das  Modell 
eines  braven  Untertanen  zurecht- 

111 


tfemacht;  man  kann  im  Halbschlaf 
aufzahlen,  was  vor  einem  Gericht 
als  belastend  und  was  als  gute 
Nummer  vermerkt  wird,  wean 
dort  das  Vorleben  aufgerollt 
wird.  Ach,  dieses  Vorleben  . .  .! 
Mochte  doch  j  eder  Schof f e  und 
jeder  Geschworene  diesen  einge- 
priigelten  Respekt  vor  den  Juri- 
sten  zu  Hause  lassen  und  sich  an 
die  eigne  Nase  packen,  bevor  er 
an  die  Beurteilung  eines  fremden 
Vorlebens  geht.  Es  ist  beinahum- 
gekehrt  als  die  ricbterliche  Vul- 
garpsychologie  lehrt:  die  soge- 
nannten  einfachen  Menschen  sind 
gewohnlich  viel  verwickelter  und 
die  sogenannten  verwickelten 
Falle  sind  viel  einfacher  als  es 
der  Staatsanwalt  wahto  haben 
will. 

Und  so  soil  es  denn  vorgekom- 
men  sein,  dafi  auf  diesem  Wege 
verbohrter  Seelenkunde  schreck- 
liche  Justizirrtiimer  zustande  ge- 
kommen  sind.  Ja,  machen  denn 
die  Richter  auch  Fehler? 

Es  ist  ihnen,  nacb  genauer  Be- 
urteilung  ihrer  Vorbildung  und 
des  unter  ihnen  herrschenden 
Kastengeistes,  nach  ihrer  Ge- 
schichte  und  nach  der  Beschaf- 
fenheit  dieses  Klassenstaates,  zu- 
zutrauen. 

Ignaz    Wrobel 

Nathan  SOderblom 

Je  mehr  uns,  alien  Dutzend- 
menschen  gegeniiber,  alien,  die 
nie  aus  der  Reihe  tanzen,  ewig 
korrekt  sind,  stolz  darauf,  Be- 
amte  zu  sein,  eine  wahre  Strind- 
berg-Sehnsucht  packt:  Ich  suche 
Menschen!  um  so  gliicklicher  sind 
w;rf  wenn  wir  einem  begegnen. 
Soderblom  war  einer.  Stellen 
wir  uns  vor:  Ein  Kirchenmann, 
ein  Erzbischof  —  international 
gerichtet,  Trager  des  Friedens- 
Nobelpreises. 

Die  schwedische  Zeitung 

..Svenska  Tagblat'  meint,  er  habe 
alle  Gaben  in  sich  vereinigt,  die 
die  groften  geschicht lichen  Per- 
sonlichkeiten  auszeichneten.  Schon 
in  seinen  Studentenjahren  mach- 
ten  sie  sich  bemerkbar.  Er  war 
Anhanger  und  Bahnbrecher  der 
damals  neuen  liberalen  Theologie 
und  schloB  sich  den  Gedanken- 
gangen     Rit^chls     und     Harnacks 

112 


an.  Eine  Studienreise  ftihrte  ihn 
nach  Amerika.  Das  religios- 
kirchliche  Leben  in  England  und 
in  der  Schweiz  lernte  er  kennen. 
Als  junger  Prediger  war  er  jahre- 
lang  in  Frankreich,  in  Paris  an 
der  schwedischen  Kirche,  als  See- 
mannspfarrer  in  den  Hafen  Nord- 
frankreichs,  Mehrere  Jahre  war 
er  in  Leipzig  als  Professor  fur 
Religionsgeschichte  tatig.  Von 
hier  ging  er  als  Professor  nach 
Upsala,  wo  er  einst  als  Prediger 
am  Hospital  begonnen  hatte, 
Seine  Heimkehr  bedeutete  eine 
Epoche  fur  die  Theologie  in 
Schweden,  Er  machte  Schlufi  mit 
der  alten  Isolierung,  die  das 
schwedische  Kirchenleben  in  Ab- 
hangigkeit  von  dem  deutschen 
hielt  und  offnete  die  Fenster  zur 
ganzen  Welt,  Seine  Antrittsrede 
war  eine  Fanfare.  Schon  damals 
begann  der  dauernde  Strom  aus- 
landischer  Geistlicher  nach  Up- 
sala, der  noch  mehr  anschwoll, 
als  Soderblom  Erzbischof  wurde. 
Allen  Kriegstheologen  gegen- 
iiber  fiihlte  er  sich  als  Mann 
des  Friedens.  -  Er  nahm  sich  in 
nie  ermudendert  aufopfernder  Ar- 
beit der  Kriegsgefangenen  an  und 
suchte  ihr  Los  zu  lindern,  wo 
und  wie  er  konnte.  Er  schlug 
mitten  im  Krieg  Briicken  zwischen 
den  christlichen  Kirchen  der 
feindlichen  Volker,  die  sich  eben- 
so  feindlich  gegeniiberstanden  wie 
ihre  Volker.  Er  betonte  die 
Pflicht  der  Christen,  mitten  im 
Volkermorden  barmherzige  Sama- 
riter  zu  sein.  Nach  dem  Kriege 
machte  er  nicht  ohne  Erfolg  den 
Versuch,  die  protestantischen 
Landes-Nationalkirchen  okume- 
nisch  zu  einigen  und  stellte  ihnen 
als  praktische  Aufgabe  die,  fur 
Weltabriistung  einzutreten  gegen 
den  Krieg  der  Zukunft.  Er  legte 
sein  Bekenntnis  ab  in  den  Wor- 
ten:  Friede  ist  eine  sittliche  An- 
gelegenheit  und  eine  sittliche 
Probe,  Friedensliebe  wird  eine 
sittliche  Tatf  wenn  sie  sich  nicht 
von  dem  Wunsche  leiten  laBt, 
Miihe  und  Beschwerlichkeit  zu 
vermeiden,  sondern  selbst  unter 
Opfern  etwas  Gutes  zustande 
bringen  will.  Allzusehr  versaumt 
wurde  die  Pflicht  der  Kirche,  zum 
Frieden  zu  reden  und   Stimmung 


wie  Zusammenleben  der  Volker 
zu  beeinflussen.  Die  Abriistung 
muB,  wie  man  gesagt  hat,  auf  der 
Denkweise  begriindet  werden. 
Eigentlich  ist  es  erstaunlich,  daB 
die  Lehre  der  Kirche  und  die 
Unterweisung  der  Kanzel  und  des 
Katheders  bis  herab  zum  grund- 
legenden  Anfangerunterricht  in 
Kirche  und  Schule  nicht  als  ein 
Gebot  so  wichtig  wie  nur  irgeud 
eines  die  bruderliche  Gesinnung 
zwischen  den  Volkern  autgenom- 
men  hat. 

DaB  Pazifisten  so  denken,  ist 
bekannt.  DaB  ein  soziaiistischer 
Pfarrer  sich  so  ausspricht,  ist 
nicht  neu.  Man  bewundert  dann 
seinen  Mut  und  sagt:  er  ist  ein 
weifier  Rabe.  Aber  daB  ein  evan- 
gelischer  Erzbischof  sagt;  Die 
Kirche  hat  geirrt,  die  Kirche  hat 
Fehler  gemacht,  die  sie  wieder 
gutmachen  muB  durch  eine  andre 
neue  Haltung,  das  ist  so  erstaun- 
lich,  daB  es  eben  zeigt:  Soder- 
blom  war  ein  Mensch,  Soderblom 
war  ein  Protestant.  Unter  aller 
Amtswiirde,  unter  alien  Ehren 
und  Auszeichnungen  —  er  war 
neunfacher  Dr.  theol.,  Ehrenbur- 
ger  der  Stadt  Halle  und  der  Wart- 
burg  —  hat  er  dies  eine  nicht 
vergessen.  Das  ist  sein  Verdienst, 
deshalb  allein  war  er  wurdig  des 
Nobelpreises,  daB  er  unter  all  die 
Kirchenmanner,  die  von  natio- 
nalistischen  Gedankengangen  und 
Gebundenheiten  auf  Grund  der 
Geschichte  der  Kirchen,  ihrer 
Struktur  her  kamen,  trat  und 
sagte:  Wendet  Euch  um  von  der 
Landeskirche  zur  Weltkirche  I 
Krieg  ist  nicht  gottgewollt  son- 
dern    Siinde,     Die    eihzige    Mog- 


lichkeit,  dem  Protestantismus 
Achtung  und  Zukunlt  zu  ver* 
schaffen,  ist,  daB  er  okumenisch, 
Weltprotestantismus  wird.  DaB 
er  dabei  manchen  Hemmungen 
unterworfen  blieb,  ist  naturlich, 
Aber  vielleicht  war  es  ihm  nur 
wegen  dieser  Begrehztheit  mdg~ 
lich,  so  zu  wirken,  wie  er  gewirkt 
hatf  und  sich  dabei  durchzu- 
setzen.  Dadurch  daB  er  die  Kir- 
chen zusammenbrachte,  hat  er 
dem  Protestantismus  eine  neue 
Zukunft  gewiesen,  die  all  em  Fas- 
cismus  gegenuber  in  der  Linie 
einer  Internationale  des  Friedens 
liegt.  Die  letzte  Krankheit  packte 
ihn  auf  dem  schwedisch-eng- 
lischen  Theol ogenkongreB  in  der 
Nahe  Stockholms,  den  er  noch 
zusamraengebracht.  Von  ihm  laflt 
sich  unsre  f riedelose  Gegenwart 
gern  sagen:  Friede  sei  mit  Euchl 
August  Bleier 

Edle  farbentragende  Jugend 

Wo  du  hinschlagst,  ist  die  Hoffnung  blau, 
grun  iit  ohnehin  die  dir  gemafie  Farbe  ; 
bald   ziert   jeden   Deutschen   die   von   dir 
verliehne  Narbe 
und    dein    Stockbiebmal    die    nicht    tfanx 
blonde  rrau. 
Edle  Jugend,  teutsche  Jugend,  fleglel 
Flegle  dich  empor  mit  selbstbewufitem  Sinn,, 
wirf   die  Sturheit   deines  Hochmuts   alien 
Volkern  hin- 
und  dann  maste  dich  als  Spiefi  und  kegleT 
Deinem  Sohnchen  wird  dann  Heil  geschehn 
und  die  Feindschaft,  die  sein  Mut  braucht, 
wird  ihm  werden; 
glorreich    wird    er,    splendid   isoliert   auf 

Erden, 
wenn  die  Zeit  erfullt  tst,   vor  die  Hunde 

gehn. 
Aber  Fichte,  aber  Kant  und  Goethen, 
aber  deutschen  Geist  im  Maul  und  im  Gemutf 
Wenn  euch  farbigen  Knaben  Freude  daraus 

bluht: 
LaBt  mich,  bitte,  deutsch  fur  euch  errotenl 

Peter  Scher 


'  .    JttwxA 

befindet  sich  In   hSchster  Form   beim   GenuB  der  unvergieichlichen 

EGYPTIAN  Nr.  16,  o/M.  u.  Gold,  Stuck  10  Pf. 

Abdulla-Cigaretten  genieBen  Weltruff 
Abdulla  &  Co.   •  Kalro  -  London  -  Berllt? 


113 


Wie  macht  man  Sudseefilme? 
F\  ie  „WeiBen  Schatten"  waren 
*-*  an  sich  kein  tibler  Sudseefilm. 
Aber:  „Aufgenommen  auf  den 
Marquesas -Inseln  der  Sudsee,  un- 
ter  Mitwirkung  eines  der  altesten 
Eingebor  enenstamme' ' ,  erzahlten 
die  Filmplakate  und  -prospekte 
in  Berlin.  Das  klingt  ein  wenig 
merkwurdig,  wenn  man  weiB,  daB 
die  Marquesaner  fast  vollig  aus- 
gestorben  sind.  Zu  den  Auffuh- 
rungen  wurde  ein  Jllustrierter 
Filmkurier'  (Nr.  1193)  verkauft, 
in  dem  der  Regisseur  beispiels- 
weise  erzahlte,  daB  Sage  und 
Hammer  „unheimliche  Zauber- 
dinge"  fur  die  Eingeborenen  von 
Tahiti  seien.  Ich  selber  habe  auf 
♦einer  abgelegenen  Insel  derselben 
Gruppe,  in  einem  Dorf,  in  dem 
auBer  dem  Lehrer  kein  Mensch 
-ein  auskommliches  Franzosisch 
sprach,  die  Eingeborenen  jeden 
Tag  diese  Werkzeuge  mit  groBter 
Selbstverstandlichkeit  handhaben 
sehen.  Als  ich,  nach  Wochen, 
genug  Tahitanisch  konnte,  fragten 
sie  mich  eines  Abends,  wie  man 
in  einem  Flugzeug  des  Nachts 
fliegen  konne,  ohne  sich  zu  ver- 
irrenl  So  sind  die  Eingeborenen 
neute  auf  der  unkultiviertesten 
Insel  der  Gruppe,  ganz  zu  schwei- 
gen  von  denen  von  Tahiti. 

Aber  mehr  als  verblufft  war  ich 
dann  doch,  als  bei  der  Autofahrt 
um  die  Insel  Tahiti  der  Chauffeur 
plotzlich  anhielt  und  erklarte,  dies 
sei  der  Ort,  an  dem  die  IfWeiBen 
Schatten"  gedreht  worden  seien. 
Da  ich  den  Film  zweimal  gesehen 
hatte,  erkannte  ich  nun  auch  die 
Landschaft  sofort  wiedert  ein  Irr- 
tum  war  nicht  moglich.  Wo  aber 
liegt  dieser  Ort?  Zwanzig  Mi- 
nuten  mit  dem  Auto  (Richtung 
Pointe  de  Venus)  entfernt  von 
Papeete,  einer  Stadt  mit  vielen 
tausend  Einwohnern  und  min- 
-destens  fiinf  guten  Hotels.  Und 
-was  verkiindete  jenes  .  Heftchen 
des  Filmkuriers  iiber  die  Aufnah- 
tncn?  „Die  Gefahren  und  Stra- 
pazen  des  Dschungels  waren 
auBerordentlich." 

Folgt  die  Fabrikation  des  Siid- 
seezaubers.  Dabei  muB  auf  Bie- 
gen  und  Brechen  jenes  urspriing- 
liche     Eingeborenenleben     wieder 

114 


und  wieder  vorgezaubert  werden, 
so  wie  es  etwa  war,  als  die  ewig 
betrunkenen  Sandelholzhandler  in 
der  Sudsee  randalierten  und  viel 
Alkohol  und  noch  mehr  Gewehre 
und  Krankheiten  einschleppten. 
Das  Echteste  an  diesem  Zauber 
sind  die  tahitanische  Kocherei 
und  die  Tanze  und  der  Fischfang; 
das  Perlentauchen  filme  man  an 
Stellen,  wo  es  gar  keine  Perl- 
austern  mehr  gibt  und  spare  sich 
die  Fahrt  nach  den  weit  entfern- 
ten  Tuamotu-Inseln. 

Diese  und  ahnliche  Ingredien- 
zien  mische  man  nach  Belieben 
und  stelle  daraus  jenes  Leben  in 
Schonheit  und  Sorglosigkeit  her; 
man  achte  darauf,  daB  der  naive 
Europaer  von  Aussatz,  Elefan- 
tiasis,  der  fiirchterlichen  Mucken- 
plage  und  all  den  sonstigen  Heim- 
tiicken  des  Klimas  selbst  auf  den 
gesundesten  Inseln  moglichst  we- 
nig merke;  fur  die  prominenteren 
weiblichen  Mitspieler  nehme  man 
tahitanisches  Halbblut,  50  Prozent 
Sudsee,  50  Prozent  irgendwelches 
Europa,  denn  das  hat  die  drahti- 
gen  Beine,  die  Korperlinien,  spar- 
sam  und  weich  zugleichf  bei  de- 
nen die  Manner  im  Kino  Stiel- 
augen  kriegen  und  die  Frauen 
Anfalle  von  Eifersucht,  wahrend 
sich  fur  die  echten  tahitischen  va- 
hines  mit  ihrem  weichlich  tippigen 
Fleisch  kein  Filmsaal  Europas 
auch  nur  fiinf  Minuten  lang  inter - 
essieren  wurde.  Zumal  sie,  ange- 
zogen  wie  sie  seit  der  Zeit  der 
Missionare  sind,  unsern  Klein- 
stadterinnen  im  Sonntagsstaat  zum 
Verzweifeln  ahnlich  sehen.  Die 
Hauptsache  aber  ist  und  bleibt, 
daB  der  europaische  Zuschauer 
die  Sudsee  nach  wie  vor  gradezu 
fur  ubervolkert  halt  mit  wunder- 
vollen  braunen  Frauen  und 
Mannern. 

Dabei  sind  die  WeiBen  in  der 
Sudsee  auch  gar  nicht  so  ohne, 
und  es  sind  mir  im  Laufe  der  Mo- 
nate  Stoffe  genug  begegnet,  die 
gradezu  nach  dem  Film  schreien. 
„Echtes  Eingeborenenleben"  laBt 
sich  dabei  immer  noch  als  Hinter- 
grund,  als  Arabeske,  verwenden, 
soweit  man  es  an  Ort  und  Stelle 
vorfindet,  Im  tibrigen  gibt  es  tat- 
sachlich,  auch  heute  noch,  im  Pa- 


zifik  Inseln,  auf  denen  man  von 
Zivilisation  fast  nichts  merkt,  In- 
seln,  so  weltverloren,  daft  dort 
das  Geld  nichts  gilt,  und  man  nur 
gegen  Tauschware  etwas  bekommt. 
Man  braucht  gar  nicht  auf  die 
scheuBlichen  Menschenfresser- 

inseln  zu  fahren,  man  findet  auch 
Inseln  mit  friedlicherer  Bevolke- 
rung.  Und  ich  frage:  Wenn  es 
wirklich  nicht  ohne  Siidseezauber 
geht,  warum  geht  man  nicht  nach 
solchen  Inseln,  warum  filmt  man 
ein  gestelltes  und  verlogenes 
Siidseetheater  „unter  auBerordent- 
lichen  Strapazen  und  Gef ahren' ' 
zwanzig  Minuten  vom  nachsten 
Hotel  entfernt? 

Fiir  einen  armlichen  Privatmann 
freilich  ist  es  fast  unmoglich, 
nach  so  abgelegenen  Inseln  zu  ge- 
langen,  aber  mit  einem  eignen 
Schooner,  wie  ihn  sich  die  Film- 
tfesellschaften  leisten  konnen,  ist 
es  wahrhaftig  eine  Kleinigkeit. 
Und  das  Publikum,  das  schliefi- 
lich  alles  bezahlt,  hat  docli  ein 
gewisses  Recht  darauf,  mit  der 
Wahrheit  uber  die  Siidsee  bedient 
zu  werden.  Und  diese  Wahrheit 
ist  auch  heute  noch  bunt  und 
wundervoll  genug, 

Erich  R.  KeilpfluZ 

Habt  ihr  schon  bemerkt 

wie  gewisse  Buchhandlungefl  sich 
verfeinern?  Buchhandlung  —  was 
sage  ich  —  Biicherstube  natiirlich! 
Mit  Biichern  handelt  man  doch 
nicht,  das  ist  unkulfiviert;  man 
schenkt  ein  Buch  hin,  dann  kneift 
man  die  Augen  zu,  und  wenn  man 
sie  wieder  aufmacht,  hat  man 
Geld  in  der  Hand.  Man  spricht 
nicht  von  Kunden  sondern  von 
Besuchern,  versaumt  aber  nicht, 
gegen  Besucher,  die  liber  den  Be- 
such  nicht  hinauskommen,  hoch- 
fahrend    zu   werden.     Was   haben 


auch  solche  Burschen  hier  ver- 
loren,  in  der  ubersinnlichen  Welt 
der  Biicher,  zwischen  Mahagoni- 
schranken,  Klubsesseln  und  matt- 
getonten  Vorhangen?  (Manchmal 
stehen  auch  Zigaretten  da,  aber 
die  sind  nicht  fiir  dich  sondern 
fiir  die  Leute  von  zwanzig  Mark 
aufwarts.) 

Bediehung  exquisit,  die  Sortie 
menter  belacheln  den  Geist  der 
Waschzettel,  indem  sie  mit  glei- 
chem  Wortschatz  das  Gegenteil 
sagen.  Sie  wissen  was,  und  du 
sollst  wissen,  daB  sie  was  wissen. 
Fiir  die  bessern  Damen,  die  sich 
selbst  psychoanalysieren,  hat  der 
Herr  der  Biicherstube  einen  be- 
sonderen  Tvo  angeschafft,  etwas 
Rosarotes,  Hochblondes,  das  ge- 
rfebenenfalls  das  Verdrangte  kraft- 
voll  zutage  fordern  kann.  Die 
ganz  hohen  Besucher,  also  etwa 
Nobelpreistrager  und  Aufsichts- 
rate,  ubernimmt  der  Besitzer 
selbst.  Wenn  der  Nobelpreistra- 
ger ein  gefalliges  Wort  in  das 
Gastebuch  schreibt,  so  steht  das 
nicht  fiir  den  Iieben  Gott  da  oder 
fiir  dich  insolventen  Burschen 
sondern  damit  es  im  gegebenen 
Augenblick  dem  Aufsichtsrat  pra- 
sentiert  werde. 

Reclamhefte  fiihrt  man  nicht. 
Auch  nicht  die  Sammlung  G6- 
schen  oder  „Aus  Natur  und  Gei- 
steswelt".  Die  Inselbandchen  neh- 
men  ja  fiir  ihre  lumpigen  neunzig 
Pfennig  eigentlich  auch  zu  viel 
Platz  weg,  aber  da  kann  man 
nichts  machen,  die  sind  schon  ge- 
sellschaftsfahig. 

Warum  so  einfaltig  „Bucher- 
stube"  ?  Warum  nicht  „Buch- 
palast"  oder  „Feine  Buchwaren"? 
Aber  nein,  diese  Buchhandler 
sehen  ihrem  Geschaft  nur  abends 
nach  Sieben  ins  Auge,  tagsiiber 
tragen  sie  Kultur. 

Gattamelata 


Berechtigte  Sehnsucht 

la6t  jeden  Menschen,  der  sich  selber  achten  karni,  iiber  sein  Alltagserleben 
hinausverlarigen,  Wie  dieser  Sehnsucht  bleibende  Erfiillung  sicher  wird,  zeigen 

die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

dnrch  ihre  eigenartigfe  Fuhrung.  Sie  sind  in  jeder  guten  Buchhandlung' 
vorratig.  Einfiihrun^sschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos. 
Der  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel  u.  Leipzig. 

115 


Wohlerwofbenes  Eigentutn 

T\er  Staat  bleibt  Eigentiimer  der 

*-*  von  ihm  verschossenen  Muni- 

tioh,    beha.lt   also,    wenn    er    das 

Feld    behauptct,    das   Recht,      sie 

wieder  an  sich  zu  nehmen.     Das 

im  Korper   des   Verwundeten   be- 

findliche   Geschofi  ist  aber   (nach 

allgemeiner       Rechtsiiberzeugung) 

als    sein   Eigentum   anzusehen. 

Martin  Wolff, 

Lehrbuch  des  Sachenrechts, 

Seite  240 


Glatt  erledigt 

In  der  .Medizinischen  Welt'  vom 
20.  Juni  steht  die  folgende  Buch- 
besprechung  von  Gerhard  Venzmer 
iiber  ein  Buch  von  Dr.  Anton 
Schucker: 

p  ine  mutige,  dankenswcrte 
"  Schrift,  die  uberzeugend  den 
Beweis  ftihrt,  daB  weder  wirt- 
schaftliche  Verhaltnisse,  noch  der 
Fraueniiberschufi,  noch  die  „Un- 
terdrtickung  der  Frau"  die  aus- 
losenden  Faktoren  der  Frauenbe- 
wegung  sind,  Vielmehr  sind  die 
wahren  Grundlagen  der  Emanzi- 
p  at  ion  psychopathisch,  denn  ihre 
Forderungen  und  Gedanken  gehen 
von  zwei  psychopathischen  Cha- 
rakterformen  aus:  von  der  mann- 
lichen  (athletischen)  und  von  der 
infantilen  Frau.  Dem  entspricht 
es,   daB  die  Frauenbewegung  kei- 


nen  Anspruch  darauf  erheben 
kann,  eine  Kulturbewegung  ge- 
nannt  zu  werden;  sie  ist  nicht 
nur  unproduktiv  sondern  auch 
destruktiv,  indem  sie  dem  Verfall 
des  hauslichen  Kulturkreises  Vor- 
schub  leistet. 

Begreiflich 

P  s  starb  am  Herzschlag,  mit  dem 
"  Buche  „Erl6sung  von  Jesu 
Christo"  in  der  Hand  Generalleut- 
nant  H,  v,  R.t  ein  tapferer  Soldat 
des  alten  Heeres  und  ein  bewahr- 
ter  Truppenfiihrer  im  Weltkriege, 
ein  begeisterter  Tannenberg- 
kampfer  und  ein  tief  uberzeugtes 
Mitglied  des  Deutschvolkes,  im 
Alter  von  72  Jahren,  am  21.  des 
Ostermonds. 

Er  war  mir  ein  treuer  Freund. 

Ludendorff. 

tLudendorffs    Volkswarte* 

Ein  Ziel,  aufs  Innigste  zu 
wunschen 

1^  as  SchieBen  auf  lebende  Ziele 
^-^  hat  seinen  eignen  Reiz.  Kein 
Wunder,  daB  solche  Obungen  von 
den  meisten  Beamten  leidenschaft- 
lich  gern  geschossen  werden,  Wo 
der  Polizist  aber  mit  Leib  und 
Seele  bei  der  Sache  ist,  kann  der 
Erfolg  nicht  ausbleiben. 

,Deutsche$  Polizei-Archiv' 
10.  Jahrgang,  Heft  11 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Vorbereitendes  Komitee  zur  Bildung  eines  Kampfausschusses  gegen  Hochschulreaktion 
und  Kulturfascismus.  Oeffentliche  Kundgebung.  Dienstag  20.00:  Spichernsale, 
SpichernstraBe.  Am  Komitee  sind  beteiligt:  Alfred  Apfel,  Bruno  Frei,  Alfons  Gold- 
schmidt,  Felix  Halle  und  Ludwig  Renn.  * 

Hamburg 

Wdtbuhnenlescr.  Freitag  20.00:  Detaillisten-Kammcr,  Neue  RabenstraBe :  Die  Presse 
als  politischer  Machtfaktor. 

Bflcher 

f    Ferdinand  Fried :  Das  Ende  des  Kapitalismus.    Eugen  Diederichs,  Jena. 


Rundfunk 

Diensta?.     Hamburg   16.15:    Ernst  Glaeser   Hest.  ■ 


Breslau    18.20:    Armin    T.  Wegner: 


Weltreisereporter  erzahlen. —  Leipzig  19.30:  Musikalische  Plagiate,  Hans  Reimann. 
Konigsberg  21,15;  Ernst  Bringolf  liest  Joh.  V.Jensen  und  Rudyard  Kipling.  — 
Hamburg  21.15:  Paulskirche  Frankfurt  a.  M.  von  Rudolf  Frank  und  Georg  Lichey.  — 
Donnerstag.  Hamburg  16.15:  Wie  entsteht  ein  Filmmanuskript  ?  Harry  Kahn.  —  Lan- 
genberg  18.20:  Der  WeltauBenhandel  und  der  deutsche  AuBenhandel  in  der  Welt- 
wirtschaftskrise,  Fritz  Sternberg.  —  19.35:  Der  Bauer  in  der  Feudalzeit,  Alfons 
Goldschmidt.  —  Berlin  21.10:  Turandot  von  Carlo  Gozzi,  bearbeitet  von  Alfred 
Wolfenstein.  —  Freitag.  Berlin  18.00:  Eine  Spanien-Reise,  Gerhart  Pohl.  —  Munch  en 
20.20:  Kaspar  Hauser  von  Erich  Ebermayer, 


116 


Antworten 

Professor  Paul  Nicolaus  Cofimann.  Der  Internationale  Psycho- 
analytische  Verlag,  Wien,  hat  Ihnen  als  dem  Herausgeber  der  ,Stid- 
deutschen  Monatshefte*  folgenden  schonen  Brief  geschrieben:  „Sehr 
geehrte  Herren!  Bitte  machen  Sie  sich  nicht  lacherlich  und  bombar- 
dieren  Sie  uns  nicht  mit  Ihren  wiederholten  Aufforderungen,  in  Ihrer 
in  Vorbereitung  befindlichen  Sondernummer  (Gegen  Psychoanalyse'  zu 
inserieren,  Auch  der  angebotene  ,Kollegenrabatt  von  30  Prozent' 
kann  uns  nicht  zu  der  Geschmacklosigkeit  verleiten,  Ihr  in  Vorberei- 
tung befindliches  Pamphlet  gegen  die  Psychoanalyse  zu  Werbe- 
zwecken  fur  unsere  psychoanalytischen  Veroffentlichungen  zu  mifi- 
brauchen.  Auch  mochten  wir  die  ,Siiddeutschen  Monatshefte'  vor 
einem  sittlichen  Konflikt  bewahren.  Die  ,Siiddeutschen  Monatshefte1 
haben  fur  die  Psychoanalyse  die  Bczeichnung  tPanschweinismus'  ge- 
pragt.  Da  mixfiten  Sie  doch  wirklich  auf  Inserateneinnahmen  von  sei- 
ten  des  (International  en  Panschweinistischen  Verlages'  verzichten 
konnen.  Hochachtungsvoll  Internationaler  Psychoanalytischer  Verlag. 
gez.  A.  J.  Storfer."  Vielleicht  konnen  wir  Ihren  Kummer  iiber  den 
entgangenen  Inseraten-Auftrag  ein  wenig  stillen,  indem  wir  Ihnen 
schon  jetzt  versichern,  dafl  wir  besonders  eifrige  Leser  Ihrer  Sonder- 
nummer sein  werden, 

Germania..  Der  Kulturbolschewismus  hat  dich  angenagt.  Wir 
lesen  in  deinen  ziichtigen  Spalten  diese  Anekdote:  ,, Josef  Winckler, 
der  emeritierte  Zahnstocher  und  preisgekronte  Poet,  der  beriihmte 
Verfasser  des  .Tollen  Bomberg'  und  weiterer  zumindest  ebenso  wich- 
tiger  Bucher,  zog  um,  Wieder  einmal.  Mitsamt  seiner  beriickend  lie- 
benswiirdigen,  jungen  Frau,  einem  schonen  Schatz  stitvoller  Mobel 
und  einer  ungeheuern  Bibliothek.  Und  ganz  zuletzt  noch  mit  einem 
unheimlich  groCen  Sack . , ,  Dieser  Sack,  zentnerschwer,  abscheulich, 
Schmutzstarrend,  zerrissen,  stand,  noch  verlassen  in  einer  Ecke,  als 
die  Arbeiter,  miide,  zwar  nicht  von  der  Frau,  doch  von  den  Mobeln 
und  der  Bibliothek,  schon  die  leere  Wohnung  abschliefien  und  fort- 
fahren  wollten . . . ."  Miide,  zwar  nicht  von  der  Frau?  Welch  kecke 
Perspektive,  Germania! 

Mucker.  Veroffentlichungen  in  der  ,Miinchner  Post'  iiber  den 
Hitlerschen  Stabschef,  Hauptmann  a.  D.  Rohm,  haben  zur  Folge  ge- 
habt,  daB  die  Staatsanwaltschaften  von  Berlin  und  Miinchen  gegen 
Rohm  ein  Verfahren  auf  Grund  des  Paragraphen  175  eingeleitet 
haben.  Das  nehmen  leider  linke  Blatter  zum  Anlaft,  die  Veranlagung 
des  Nazifuhrers  fur  ihre  politischen  Zwecke  zu  miBbrauchen  und  auf 
den  MSumpf"  in  Miinchen  mit  sittenstrenger  Oberheblichkeit  hinzu- 
weisen.  Der  Herr  Hauptmann  ist  fur  seine  Veranlagung  nicht  ver- 
antwortiich  zu  machen.  Das  Wissenschaftlich-humanitare  Komi  tee 
weist  in  einer  Erklarung  mit  Recht  darauf  hin,  wie  gefahrlich  es  ist, 
die  Veranlagung  eines  politischen  Gegners  als  Waffe  gegen  ihn  zu 
verwenden.  Sind  wir  Linken  fiir  die  Aufhebung  des  Paragraphen  175, 
dann  ist  es  inkonsequent,  ihn  gegen  den  Feind  auszuspielen,  Uns 
scheint  wichtiger,  auf  die  moralische  Verlogenheit  des  Hitler-Kreises 
hinzuweisen,  die  darin  besteht,  mit  den  iibelsten  Ausdriicken  gegen 
eine  sexuelle  Variante  zu  hetzen,  die  in  den  eignen  Reihen  ihre  Ver- 
treter  hat.  Wenn  die  sogenannten  Beschuldigungen  gegen  Rohm  zu- 
treffen  sollten,  dann  sind  sie  das  schlagendste  Argument  gegen  die 
sexualstrafrechtlichen  Anschauungen  der  Partei,  gegen  ihre  mittel- 
alterliche  SexualmoraL 

Bruno  Traut  Auf  Ihren  Aufsatz  „Der  Schrei  nach  dem  Bilde"  (in 
Nummer  26)  schickt  der  Bildhauer  Jacob  Plessner  eine  Entgegnung, 
aus  der  folgendes  zitiertsei:  Es  bedarf  keiner  besonderen  Erorterung, 
daB  jeder  Einsichtige  die  Dekorationsgreuelf  die  Geschmacklosigkeiten 

117 


des  iiberiadenen,  leeren  Schwuistes  an  Bauten  verurteilt  und  dankbar 
anerkennt,  da6  moderne  Arehitekten,  und  nicht  zum  wenigsten  Taut, 
uns  davon  befreit  haben,  Ebenso  riickhaltlos  freuen  wir  uns  der  emi- 
nenten  Leistungen  der  modernen  Architektur,  sowohl  auf  asthetischem 
wie  technischem  Gebiet,  konnen  jedoch  nicht  verhehlen,  daB  bisweilen 
auch  manche  Architekturgreuel,  Baukastenspielereien  von  oder  Gleich- 
fdrmigkeit  und  schreiender  Langweiligkeit  als  besondere  Leistung  hin- 
gestellt  wurdcn  und  werden.  In  keinem  Falle  aber  kann  man  mit  Taut 
und  seinen  Mitlaufern  dem  absoluten  Kahlbau  a  tout  prix  das  Wort 
reden,  Als  Gegenbeispiel  sei  nur  auf  Messel  verwiesen,  der  unbe- 
schadet  seiner  vornehmen,  groBartigen,  und  groBziigig-konstruktiven 
Architektur,  etwa  beim  Wertheimbau,  in  geschmackvoller  Weise  zur 
Belebung  der  Fassade  und 'zur  Freude  der  Beschauer  den  von  Taut 
so  verponten  plastischen  „reinen  Schmuck"  aufs  Glucklichste  verwen- 
det  hat  und  auch  in  seinen  Privatbauten  bewies,  dafi  Architektur  und 
bildende  Kunst  sich  aufs  Beste  vertragen  und  erganzen.  In  seiner 
Villa  fur  Eduard  Simon  waren  ohne  Schadigung  der  architektonischen 
Wirkung  die  Wande  bedeckt  mit  gerahmten  Meisterwerken  —  nach 
Adolf  Behhe  „Entartungen  Von  Altarschreinen".  Ware  es  Messel  je- 
mals  eingefallen,  den  Bewohnern  seiner  Bauten  die  Betatigung  ihrer 
Kunstfreude  verbieten  zu  wollen  und  das  als  MAnfalle  moderner  Ro- 
mantik"  zu  verhohnen?  Der  von  Taut  konstruierte,  in  Anbetung  der 
nackten  Wand  versunkene  freudlose  Mensch'mit  der  kalten  Schulter 
und  dem  sachlichen  Innenleben,  das  gewissermafien  mir  auf  Hebel- 
druck  reagiert,  existiert  in  Wirklichkeit  nicht,  auch  nicht  in  den 
trockensten  Exemplaren  der  Gattung  Mensch,  die  hinwiederum  nicht 
fiir  Tautsche  Architektur  in  Frage  kame.  „Der  Schrei  nach  dem 
Bilde"  ist  eine  notwendige  „Reaktion",  die  kein  „Zuriick"  sondern 
Fortschritt  bedeutet,  Sie  war  vorauszusehen,  sie  mufite  kommen  als 
Rettung  vor  innerer  Erkaltung  und  dem  „Horror  vacui". 

Doktor  Fritz  Sternberg.  Sie  haben  an  den  Nummern  4,  6  und  7 
der  in  Koln  monatlich  erscheinenden  linkssozialdemokratischen  Zeit- 
schrift  ,Der  Rote  Kampfer*  entscheidend  mitgearbeitet.  Sie  legen,  um 
alle  Mifiverstandnisse  zu  vermeiden,  grofien  Wert  darauf,  festzu- 
stellen,  daB  Sie  mit  der  soeben  erschienenen  Nummer  8  dieser  Zeit- 
schrift  nicht  das  Geringste  zu  tun  haben.  Sie  sind  fiir  keinen  der 
dort  erschienenen  Artikel  in  irgendeiner  Weise  verantwortlich  zu 
machen.  Sie  werden  im  nachsten  Heft  der  Weltbuhne  selbst  darauf 
zuriickkommen. 

Moskauer  Rundschau,  Eure  neuste  Nummer  enthalt  den  voll- 
standigen  deutschen  Wortlaut  der  Stalin-Rede,  von  der  wir  im  vori- 
gen  Heft  einen  kleinen  Auszug  brachten.  Die  neue  Adresse  eurer 
deutschen  Auslieferung  ist:   Berlin  W  8,  Wilhelmstr.  48, 

Neugieriger  Saugling.  Du  fragst  uns,  was  Milch  ist.  „Milch  ist 
das  durch  regelmaBiges,  vollstandiges  Ausmelken  des  Euters  ge- 
wonnene  und  griindlich  durchgemischte  Gemelk  von  einer  oder 
mehreren  Kiihen  aus  einer  oder  mehreren  Melkzeiten,  dem  nichts  zu- 
gefiigt  und  nichts  entzogen  ist."  So  belehrt  dich  und  uns  die  ,Erste 
Verordnung  zur  Ausfuhrung  des  Milchgesetzes*  (Justiz-Ministerial- 
Blatt  von   1931,  S.   150). 

Manuskripte  sind  qui  an  die  Redaktion  de»  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruekporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Riicksendung  erfol^en  kann. 
Das  Auf  f  Cihruny srecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertungr  im  Rahmen  von  Radiovortrasen 
bleiben   fUr  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdrficklich  rorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unlet   Mitwirkung    voo  Kurt  TuchoLsky  geleitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ossietzky.    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co*,  CharloUeoburg. 

Telephon;    CI,  Steinplatz  7757.  —  Postscheckkonto:   Berlin  119  58. 
Bankkonto.     Dannstadtei    u.    Nationalbank,      Depositenkasse    Charlottenburg,     Kantstr.    112 


OTILJahffug  2ft.Julimt  NnnnerSO 

Stillhalten  und  mitsingen  voncariv.ossietzky 

Kommqnisten  und  Volksentscheid 

F)ie  Kommunisten  haben  beschlossen,  sich  am  Volksentscheid 
ttber  die  Auflosung  des  preuBischen  Landtags  zu  beteiligen. 
Das  ist  das  wichtigste  innenpolitische  Ereignis  der  vergangenen 
Woche.  Der  BeschluB  der  KPD  bedeutet  ganz  gewiB  nicht, 
dafl  sie  nun  den  letzten  Mann  aufbieten  wird,  um  dem  Stahl- 
helm  zum  Siege  zu  verhelfen;  er  ist  vornehmlich  ein  agitatori- 
scher.  Die  Partei  will  auf  die  Anhangerschaft  der  Rechten 
einwirken,  sie  in  ihre  eignen  Versammlungen  bringen,  Wenn 
Hitler  und  Seldte  .nicht  so  groBformatige  L)ummkopfe  waren, 
wiirde  ihnen  diese  unerwartete  Bundesgenossenschaft,  die 
keine  ist,  recht  lastig  fallen,  Ob  die  Kommunisten  also  wirk- 
lich  entschlossen  sind,  ausschlaggebend  mitzuhelfen  und  das 
Gelingen  des  Volksentscheids  zu  sichern,  darf  mit  Fug  be- 
zweifelt  werden.  Aber  ohnc  Zweifel  wird  die  kommunistische 
Entscheidung  fur  das  Referendum  auf  die  Leute  von  rechts, 
die  beim  Volksbegehren  -  wegen  der  Aussichtslosigkeit  des 
Unternehmens  groBenteils  zu  Haus  geblieben  sind,  belebend 
wirken,  denn  die  Sache  sieht  jetzt  etwas  hoffnungsvoller  aus. 
Selbstverstandlich  ist  dieser  BeschluB  nicht  ohne  heftigste 
Auseinandersetzungen  in  der  Parteizentrale  zustande  gekom- 
men,  und  er  wird  auch  in  der  Partei  von  denen,  die  sonst  ge- 
wohnt  sind,  zur  Zentrale  wie  zu  den  Kuppeln  einer  Kathedrale 
emporzuschauen,  nicht  vollig  verstanden.  Die  Opposition  er- 
halt  frische  Nahrung,  in  der  Feme  zeichnen  sich  die  Konturen 
einer  neuen  Parteikrise  ab.  Die  KPD  mag  wohl  eine,  radikale 
Partei  sein,  die  ihre  Impulse  von  einer  revolutionar  bewegten 
Epoche  empfangt,  aber  eine  Revolutionspartei  ist  sie  nicht. 
Sie  nimmt  ganz  und  gar  die  Entwicklung  zu  einer  Massen- 
partei,  der  bunte  Scharen  von  alien  Seiten  zustromen  und  die 
jetzt  durch  taktisches  Manovrieren  das  ersetzen  muBf  was  sie 
ihnen  an  einheitlichem  Geist  nicht  zu  geben  vermag.  Eine  Partei, 
die  Millionen  erfaBt,  schlagt  immer  in  gegebenen  Verhaitnissen 
Wurzel,  mag  sie  auch  noch  so  laut  die  Utopie  verkunden.  Das 
ist  wie  ein  politisches  Naturgesetz,  wenn  es  auch  niemals  den 
schnell  Berauschten  aufgehen  wird,  die  sich  in  der  Schlachten- 
musik  der  Versammlutigsreden  verlieren.  So  hatte  neulich  der 
leitende  Redakteur  der  ,Welt  am  Abend'  die  bewegteste 
Stunde  seines  Lebens,  als  das  Blatt  die  verfruhte  Meldung  vom 
Zusammenbruch  der  Danat-Bank  brachte.  Munzenberg  tobte 
vor  Wut  iiber  die  an  sich  glanzende  journalistische  Leistung 
und  ware  beinahe  tatlich  geworden.  Und  diese  Wut  ist  be- 
greifiich,  wenn  man  bedenkt,  daB  der  rote  Aufbau  des  Miin- 
zenberg-Konzerns  auf  Danat-Krediten  ruht.  Jakob  Gold- 
schmidt  war  eben  kein  Doktrinar,  er  stiitzte  Hugenberg  und 
Munzenberg  mit  gleicher  Objektivitat 

So  bedauerlich  das  Ja  der  KPD  fur  den  Volksentscheid 
der  Fascisten  auch  ist,  es  kommt  nicht  (iberraschend  und  ist 
auch  in  keiner  Weise  absurd.     Die  Zentrale  hat  kaum  anders 

i  119 


handeln  konnen.  Die  Verantwortung  dafur  fallt  auch  auf  die 
sozialdemokratischen  Minister,  deren  Verstandnislosig- 
k-eit  es  den  Kommunisten  unmoglich  gemacht  hat,  eine  an- 
standige  Neutralitatsformel  zu  find  en.  Erwariet  man  wirklich, 
daB  die  KPD  eine  Regierung  retten  soil,  die  sie  seit  Jahren 
unter  Ausnahmerecht  stellt?  Erwartet  man  von  den  Kommu- 
nisten wirklich  die  Bereitschaft,  Braun  und  Severing  zu  tole- 
rieren,  so  wie  die  Sozialdemokratie  Bruning  und  Groener  tole- 
riert?  Namlich  ohne  Gegenleistung!  Vor  zwei  Wochen  hat  Ja- 
kob Links  hier  erzahlt,  wie  die  KPD  bereit  war,  mit  sich  re- 
den  zu  lassen,  falls  Severing  dafur  die  Spartakiade,  das  Ar- 
beiter-Sportfest,  gestattete.  Die  preuBische  Regierungskoalition 
schien  auch  bereit  zu  sein,  bis  Herr  Wirth  namens  der  Reichs- 
regierung  intervenierte  und  die  fur  berliner  Verhaltnisse  ailzu 
romanhatte  Polizeiepisode  in  der  Frankfurter  Allee  eine  zwar 
explosive  aber  nicht  unerwiinschte  Losung  braohte. 

Auch  diesmal  hat  die  KPD  noch  einen  Versuch  unter- 
npmmen,  Sie  hat  Severing  durch  den  Abgeordneten  Schwenk 
vier  Forderungen  unterbreitet:  Herstellung  der  Presse-  und 
Versammlungsfreiheit;  Zurucknahme  der  AbbaumaBnahmen 
gegen  Unterstiitzungsempf anger;  Sicherung  der  vollen  Auszah-' 
lung  kleiner  Guthaben  bei  den  preuBischen  Sparkassen;  Auf- 
hebung  desVerbots  der  Roten  Frontkampfer.  Das  sind  alles 
andre  als  erpresserische  Forderungen,  Auch  wenn  man.  in  Be- 
tracht  ziehf,  daB  die  finanziellen  Punkte  an  die  Zustandigkeit 
des  Reiches  gebunden  sind,  so  bildet  das  Ganze  doch  eine 
mogliche  Verhandlungsbasis.  Statt  dessen  spielte  Herr  Seve- 
ring wieder  mit  seinen  Muskeln,  die  er  in  den  Tagen  der  bres- 
lauer  Stahlhelm-Demonstration  so  schamhaft  verborgen  gehalr 
ten  hatte.  ,fAuf  Ihr  Schreiben  vom  21.  Juli  teile  ich  Ihnen 
mit,  daB  die  preuBische  Staatsregierung  es  ablehnt,  MaBnah- 
men  zum  Schutze  der  offentlichen  Ordnung  und  Sicherheit  zum 
Gegenstand  eines  politischen  Tauschhandels  zu  machen."  Gut 
gebrullt,  Lowel    Das  ist  bester  preuBischer  Puttkamerstil. 

Politiker,  die  sich  nicht  so  gottahnlich  fiihlen  wie  Herr 
Severing,  hatten  in  den  kommunistischen  Forderungen  weniger 
das  Ultimatum  gesehen  als  vielmehr  den  Wunsch,  lieber  einen 
halbwegs  pa&sablen  Akkord  mit  den  Sozialdemokraten  zu  fuv 
den  als  in  eine  Front  mit  dem  Stahlhelm  zu  kommen.  Der 
,Yorwarts*  versucht,  die  kommunistische  Aktion  lacherlich  zu 
machen.  weil  seine  Leser  schlieBlich  doch  nachdenklich  werden 
konnten.  Er  behauptet,  der  Brief  der  kommunistischen 
Fraktion  sei  ohne  Kopf  und  Stempei  gewesen  und  hatte  auBef- 
dem  einige  Fettflecke  aufgewiesen.  Dann  leistet  sich  der  , Vor- 
warte*  eine  ausgewachsene  Flegelei:  „Das  historische  Doku- 
ment  bleibt  vorlaufig  bei  den  Akten.  Spater  soil  es  dem 
Kriminalmuseum  des  Polizeiprasidiums  iiberwiesen  werden/' 
Nun,  diese  Fettflecke  hatten  eine  Aussprache  nicht  hindern 
sollen,  in  der  hohen  Politik  ist  man  doch  sonst  nicht  so  penibel, 
Als  Dumouriez,  in  seiner  Eigenschaft  als  Minister  der  Gironde 
sich  Ludwig  XVI.  vorstellen  wollte,  versuchten  ihn  die  HofV 
schranzen  aufzuhalten,  weil  er  nicht  die  vorgeschriebenen  Escar-^ 
pins  triige.  Ein  paar  Monate  spater  muBte  Seine  Majestat  mit 
Leuten  verhandeln,  die  abgeschlagene  Kopfe  auf  Piken  trugen. 

120 


Die  Nutzanwendung,  nicht  nur  fur  Monarchien,  ist  einleuchtend. 
In  unruhigen  Zeiten,  wo  niemand  weiJJ,  was  morgeri  sein  wird, 
darf  man  auf  AuBerlichkeiten  nicht  allzuviel  geben.  Es  1st 
besser,  man  verstandigt  sich  mit  den  Leuten,  deren  Papiere  mit 
ein  paar  Fettflecken  geziert  sind,  Denn  morgen  konnen  schon 
Andre  kommen,  die  nicht  mehr  mit  sich  reden  Iassen, 

Das  Ausreise-Verbot 

Die  Konferenz  von  London  hat  mit  einem  vollen  FehLschlag 
geendet.  Herr  Briining  bringt  kein  Geld  mit  sondern  nur  ein 
nettes  SchluB-Communique,  das  geeignet  ist,  Hoffnung  auf  neue 
Hoffnungen  zu  erwecken,  Ein  paar  Bankiers  werden  nach- 
stens  den  Hungerleib  Deutschlands  wieder  beklopfen;  nicht 
die  Glaubiger  werden  stillhalten  miissen  sondern  der  Schuld- 
ner.  Alles  in  allem,  wir  rutschen.in  die  ersten  Reparations- 
jahre  zuriick,  wo  Sachverstandige  aller  Lander  bei  uns  ihre 
tiefgriindigen  Analysen  vornahmen  und  jeder  amerikanische 
Bankier  wie  die  Taube  uber  der  Arche  begriiBt  wurde,  Alles 
interessierte  sich  fiir  Deutschland,  und  wir  kamen  dabei  sachte 
auf  den  Hund.  Nach  jedem  neuen  Krafteverfall  schlugen  die 
Politiker  neue  kraft voile  Anstrengungen  vor,  das  Vernunft- 
gemaBe  abzuwehren,  und  wer  sein  Nein  am  lautesten  schmet- 
terte,  das  war  der  Hauptkerl,  der  bekam  am  Potsdamer  Bahn- 
hof  seine  Hurras  und  seinen  BIumenstrauB.  Minister  kommen 
zum  Besuch,  Konferenzen  werden  folgen,  ein  neues  Cannesf 
ein  neues  Genua,  und  sicher  ist  bei  alledem  nur,  daB  die  di- 
rekte  Verstandigung  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  bis 
jetzt  nicht  zustande  gekommen  ist.  Zwar  wird  vielfach  ver- 
sichert,  auch  Briining  wiinsche  nichts  sehnlicher  als  das  und 
wolle  keine  Prestigematzchen.  Aber  selbst  wenn  das  richtig 
ist,  so  steht  ihm  sein  eignes  Kabinett  im  Wege.  Mindestens 
Treviranus,  sein  blauer  Freundf  miiBte  geopfert  werden,  und 
auch  mit  Schiele,  dem  Agrarminister,  und  dem  erzgeschienteh 
Groener  laBt  sich  keine  europaische  Politik  machen:  Und  hin- 
ter  dem  blassen  Curtius  steht  noch  undeutlich  und  ohne  Figur 
der  Staatssekretar  von  Biilow,  der  sich  vor  Jahren  fiir  sein 
Amt  als  Volkerbundreferent  mit  einem  Buch  gegen  den  Vol- 
kerbund  qualifiziert  hat- 
So  lebhaft  Briining  auch  in  Paris  und  London  die  deutsche 
Bereitschaft  zu  europaischer  Kooperation  beteuerte,  was  in 
Deutschland  in  den  letzten  vierzehn  Tagen  an  wirtschaftlichen 
Notverordnungen  herauskam,  dient  nicht  nur  natiirlicher  Selbst- 
hilfe,  sondern  kokettiert  heftig  mit  jener  iiberspannten  Auf- 
fassung,  daB  Deutschland  sich  abschlieBen  miisse,  urn  ,,aus  eig- 
ner  Kraft"  zu  gesunden.  Lieber  die  Verwesung  als  Verstandi- 
gung mit  Paris!  Wenn  die  Welt  nicht  will  wie  wir,  dann 
blockieren  wir  uns  selbst,  dann  schlieBen  wir  uhs  selbst  in 
den  Zwinger.  Die  alldeutsche  Ideologie,  die  den  Kampf  um 
die  Welt  verloren  hat,  schlagt  in  Ohnmacht  und  Ratlosigkeit 
nach  innen,  Deutschland  soil  wie  ein  boses  Tier  hinter  selbst- 
geschmiedeten  Gitterstaben  sitzen  und  die  Welt  anfletscheii 
und  anstinken.    Das  ist  der  Sinn  der  „Autarkie". 

Aus     dieser   Ideologie    stammt    das   Ausreiseverbot,     das 
tibrigens  in  der  kurzen  Zeit  seines  Bestehens  so  griindlich  von 

121 


Protesten  zugedeckt  worden  ist  wie  kaum  cine  andrc  rainiste- 
rxcllc  Leistung  vorher.  Wahrschcinlich  wird  es  bald  ctwas 
umfrisiert,  wenigstens  sein  plumper  Eingriff  in  den  geschaft- 
lichen  Alltag  etwas  besser  wattiert  werden,  aber  es  ist  bis  zur 
Stunde  noch  zweifelhaft,  ob  die  Regierung  dazu  gebracht  werden 
kann,  es  wieder  ganz  verschwinden  zu  lassen.  Denn  es  ware  ein 
Irrtum,  darin  einfach  ein  Stuck  ahnungsloser  bureaukratischer 
Experimentierfreude  zu  sehen.  Es  ist  dem  erfindungsreichen 
Kopf  des  Herrn  Treviranus  entsprungen,  es  ist  eine  ausge- 
sprochene  KriegsmaBnahme.  Der  erste  Schritt  zur  Selbst- 
blockade.  Die  Rechtspresse  schreit  schon  jetzt,  daB  nachstens 
das  Verbot  der  Einfuhr  auslandischer  Waren  folgen  miisse. 
Man  unterschatze  dieses  aufgeregte  Gehabe  nicht.  Wir  leben 
schon  wieder  ganz  in  Ruhrkriegsstimmung.  Die  Unheilsparolen, 
die  im  vorigen  Sommer  mit  der  oratorischen  Tatigkeit  des 
Herrn  Treviranus  einsetzten:  die  Revisionskampagne,  die  er- 
hohte  auBenpolitische  Aktivitat,  das  alles  ist  heute  lebendiger 
als  jemals.  Wenn  nicht  in  absehbarer  Zeit  eine  fiihlbare  Er- 
leichterung  erfolgt,  dann  wird  manches  von  dem  Tatsache 
werden,  was  heute  noch  wie  eine  leere  Phrase  durch  die 
OKentlichkeit  klingelt. 

Es  ware  muBlig,  hier  nochmals  zu  wiederholen,  was  aus 
der  nichtpolitischen  Praxis  gegen  das  Ausreiseverbot  gesagt 
worden  ist.  Nachdem  das  Kapital  in  Milliard  en  durch  unsicht- 
bare  KJanale  abgeflossen  ist,  soil  der  Geschaftsreisende,  der 
mit  seinem  Musterkoffer  in  die  nachsten  Grenzorte  fahrt,  soil 
der  Tourist,  der  mit  seinen  zusammengesparten  Sechsern  ein- 
mal  Italien  oder  die  Schweiz  sehen  will,  plotzlich  als  der 
Schadling  entlarvt  werden,  der  am  Ruin  des  Landes  schuldig 
ist.  Weil  die  GroBen  viele  Milliarden  verschoben  haben,  des- 
halb  diirfen  die  Kleinen  keinen  FuB  mehr  ins  Nachbarland 
setzen.  Weil  die  GroBen  eine  gottserbarmliche  Wirtschafts- 
und  Finanzpolitik  getrieben  haben,  deshalb  diirfen  die  Kleinen 
nicht  mehr  an  ihre  armlichen  Sparkassen-Guthaben. 

Die  neue  treviranische  Idee  hat  auBerhalb  Deutschlands 
keine  bessere  Auifnahme  gefunden  als  die  fruhern.  Von  den- 
jenigen  lErwerbszweigen,  die  am  diirektesten  davon  betroffen 
werden,  kann  man  bald  einige  Repressalien  erwarten.  Die 
deutsche  Wirtschaft  wird  an  dieser  kleinen  Kostprobe  spu- 
ren,  was  fur  unangenehme  Konsequenzen  weitere  Versuche 
autairkischen  Oharakters  mit  sich  bringen  konnen.  Aber  wir 
wollen  ganz  ruhig  sein,  man  wird  auch  dafiir  bald  den  Schuldigen 
in  Paris  oder  Warscha-u  gefunden  haben.  Wenn  Herr  Trevi- 
ranus auch  diesmal  seine  Erf indung  mit  ein  paar  freundlichen 
Wlorten  fur  ein  europaisches  Zusammengelhn  einfuhrte,  so 
ruhrt  sie  doch  ganz  von  jenem  dumpfen  Provinzialismus  her, 
von  jenen  stupid  en  Vaterlanderei,  die  in  dem,  was  auBerhalb 
der  Landesgrenzen  liegt,  nur  Aiusbeutungsphar<e  sieht  oder 
Kriegsschauplatz. 

Zensur 

Warum  eigentlich  eine  neue  Presse-Notverordnung?  Die 
kommunistische  Presse  ist  doch  schon  lange  nur  noch  zum  Ver- 
bieten  da.    Auch  die  Hairpfblatter  der  Nation  also  zialis  ten  sind 

122 


fortwahrend  konfisziert.  Man  muB  also  auch  mit  dem  ordent- 
lichenRecht  auskommen.  Von  den  zweiundzwanzig  ausgespro- 
chenen  Parteiblattern  der  Kommunisten  sind  zweidrittel  zur 
Zeit  verboten.  Seit  Januar  sind  gegen  die  kommunistische 
Presse  sechsundvierzig  Verbote  fur  zusammen  1026  Tage  aus- 
gesprochen  worden.  Das  sind  Verbotszif f ern,  die  neben  denen 
der  gelernten  Diktaturstaaten  gewiB  noch  nicht  viel  bedeuten, 
aber  doch  einen  frohen  Ausblick  auf  mehr  eroffnen. 

Bis  vor  kurzem  that  man  sioh  vornehmlich  an  die  Tages- 
presse  der  radLkalen  Parteien  gehalten.  Jetzt  pirscht  man  sich 
langsam  an  die  Zeitschriften  heran,  an  die  unbequemen  Ein- 
ganger.  In  Stuttgart  ist  die  pazifistische  ,Sonntagszeitung'  kon- 
fisziert worden,  und  Herr  Grzesinski  hat  vor  ein  paar  Tagen 
die  Monatsschrift  Erich  Miihsams  verboten,  gleich  darauf  das 
Wochenblatt  des  nationalistischen  Unabhangigen  Otto  StraBer. 
Dieses  Blatt  ist  beschlagnahmt  worden,  weil  es  eine  be- 
unruhigende  wirtschaftliche  Nachricht  gebracht  hat,  die  nicht 
den  Tatsachen  entsprechen  soil  und  hoffentlich  auch  nicht 
entspricht.  Nun  waren  Geriichte  ahnlicher  Art  aber  schon 
langere  Zeit  im  Publikum  verbreitet,  und  auch  der  Herr 
Polizeiprasident  diirf  te  davon  Kenntnis  gehabt  haben. 
Warum  hat  er  die  kompetenten  Stellen  nicht  ermahnt,  dage- 
gen  rechtzeitig  etwas  zu  unternehmen?  Ein  Dementi  in  Form 
eines  Zeitungsverbotes  ist  keine  Antwort,  die  geeignet  ware, 
die  Angstlichen  zu  beschwichtigen.  Herr  Grzesinski  ist  auch 
nicht  gegen  die  Erklarung  Hitlers  und  Hugenbergs  eingeschrit- 
ten,  in  der  gesagt  wurde,  daB  die  nation  ale  Opposition  Ab- 
machungen  Briinings  in  London  nicht  respektieren  werde.  Es 
ist  bekannt,  daB  dieses  iPronunziamento  einen  gradezu  kata- 
strophalen  Emdruck  in  London  machte  und  ein  geruttelt  MaB 
Schuld  an  dem  grundlichen  MiBlingen  der  Konferenz  tragt. 
Wenn  diese  ganze  liberfltissige  Presseverordnurig  (iberhajpt 
einen  Sinn  haben  kann,  so  nur  den,  auBenpolitischen  Schuden 
zu  vermeiden.  Innenpolitisch  —  ja,  da  ist  schon  hinreichend 
gesorgt. 

Die  Autoren  von  Zensurgesetzen  sind  nicht  sefar  phanta- 
siebegabt.  Auch  Herr  Ministerialdirektor  Klausener,  dem  Vor- 
gesetzten  Severings  und  geistigen  Vater  dieser  Notverordnung, 
ist  nichts  neues  eingetf  alien.  jDruckschriften,  durch  der  en  In- 
halt  die  offentliche  Sicherheit  und  Ordnung  geiahrdet  wird, 
konnen  polizeilich  beschlagnahmt  und  eingezogen  werden/* 
Mager,  sehr  mager.  Wir  politischen  Puiblizisten  sdmtteln  zu 
diesen  schulerhaften  Bemiihungen  den  Kopf.  WSr  wissen,  daB 
die  Zensur  dem  Geist  unsres  Berufes  immer  recht  gut  be- 
kommen  ist,  mag  sie  die  Bewegungsfreiheit  der  physischen 
Person  auch  manchmal  gehemmt  haben.  Die  Zensur  ist  eine 
ausgezeichnete  Padagogin.  Sie  erzieht  zur  Wadhsamkeit,  sie 
verhindert  das  Ausglitschen  der  Feder,  die  schnell  herunter- 
diktierte  Plumpheit;  der  Ausdruck  erhalt  wieder  Nuance  und 
Schattierung,  das  Wort  Gewicht  und  Wurde.  Die  GroBtaten 
der  politischen  Publizistik  sind  im  Schatten  der  Zensurbehor- 
den  geleistet  worden;  die  meisterhaftesten  Pamphlete  wurden 
in  Kellern  geschrieben,  wahrend  drauBen  auf  dem  Platze  die 
Soldaten   im    Carre    standen,    um    die    Geiahrdung  der  offent- 

2  123 


lichen  Siclierheit  und  Ordnung  tax  verhindern,  Die  amtlichen 
Glossatoren  der  Presseverordming  versichern,  es  komme  nur 
darauf  an,  Excesse,  nicht  Richtungen  tax  tareffen.  Nun  wird 
bei  der  hoffnungslosen  VerptLumpiung  unsres  politischen  Emp- 
fkidens  heute  jede  unbequeme  Richtung  sehr  leicht  als  ExceB 
betrachtet,  jede  Kritik  als  ein  strafwurdiges  Verbrechen,  das 
Vorhandensein  von  Kritikern  schon  als  cin  Mianko  der  Schop- 
fung,  das  von  dein  uberlegenen  iMenschengeist  schleunigst 
korrigiert  werden  muB. 

Aus  diesem  Grunde  hat  sich  die  hohe  Obrigkeit  auch  ein 
Entgegnungsrecht  in  den  Zeitungen  reserviert.  Die  Presse  muB 
kunftighin  bedingungslos  abdrucken,  was  eine  crleuchtetc  Regie- 
rungss telle  ihr  zusdhickt  und  darf  auch  in  der  gleichen  Niuxn- 
mer  nicht  dazu  Stellung  nehmen.  Die  Meinung  der  Regierung 
ist  also  der  rocher  de  bronce,  den  unsre  kleine  UnmaB- 
geblichkeit  nicht  mit  Affichen  bedecken  darf,  auch  wenn 
der  GuB  noch  so  wenig  gelungen  ist,  Denn  so  gewiB  es 
eine  Zeitungsliige  gibt,  so  gewiB  gibt  es  auch  eine  amtliche 
Luge.  Wie  oft  wird  uns  Journalisten  nicht  in  Amtszimmern 
die  Hucke  vollgelogen.  Wir  kennen  alle  die  gutgeolte 
Dementiertechnik  von  Ministerien  und  Magistrates  Wir 
haben  oft  und  oft  die  heitere  Sicherheit  best  aunt,  mit 
der  Amtspersonen  offenkundige  Tatsachen  ableugnen.  Wir 
kennen  aus  alien  Parlamenten  die  Szene,  wie  der  Ab- 
geordnete  den  Minister  fragt(  warum  grade  diese  Firma 
100000  Mark  Subventionen  erhalten  babe,  und  wie  der  Mini- 
ster mit  ehrlicher  Entriistung  antwortet,  es  sei  kein  Pfennig 
an  Subventionen  gewahrt  worden,  und  wie  der  Abgeordnete 
dann  fas&ungslos  nach  Luft  schnappend  seine  Beweise  schwingt 
und  der  Minister  dem  armen  Irren  mit  echter  ttberlegenheit 
vorhalt:  ffJa,  das  sind  dodh  keine  Subventionen,  sondern 
So  ist  diese  Dementiertechnik.  Sie  klammert  sich  an  Forma- 
litaten,  Auslegungen,  sie  ergeht  sich  in  Silbenstechereien  und 
unterschlagt  die  Sache.  I  oh  habe  hier  ein  imaginares,  ein  ganz 
harmloses  Beispiel  gewahit,  ich  habe  —  o  erzieherischer  Ein- 
fluB  der  Zensur!  — ■  nidht  den  Rieichswehretat  als  Exempel  her- 
angezogen.  Nun  sind  die  vielen  kleinen  amtlichen  Schwinde- 
leien  ein  parlameniarisches  Gesellschaftsspiel,  bei  dem  t)bel- 
nehmen  nicht  gilt.  Was  aber  ward,  wenn  dieses  Spiel,  heute 
ins  GroBe  uibertragen,  bittere  Wahrfieiten  entkraften,  ernste 
Warnungen  in  den  Wind  schlagen  soil?  Denn  mag  der  Zen- 
sor  es  sich  tausendmai  einbilden,  Sicherheit  und  Ordnung  zu 
retten,  aber  Anstand  und  politische  Moral  sind  nicht  auf  dies 
erfreuliche  Konto  zu  setzen. 

Die  Presseverordnung  ist  ein  glanzendes  Pendant  zum 
Ausreiseverbot.  Der  liberal  schillernde  Staat  weicht  wieder 
den  soliden  alten  Begriffen,  nach  denen  er  eine  Korrektions- 
anstalt  ist,  ein  Gefangnis;  nichts  andres.  Die  Fascisierung 
sdhreitet  unaufhaltsam  fort.  Jede  Zeitung  ein  Regierungsorgan 
—  das  steht  am  Ende  der  iEntwicklung,  die  mit  dieser  Notver- 
ordnung  gegen  die  Pressefreiheit  begonnen  hat.  Stillhalten  und 
mitsingenf  Und  es  wird  bald  nur  eine  noch  erlaubte  Melodie 
geben,  und  jeder  unsrer  Schritte  wird  sorgfaltig  bemessen  sein, 
Wer  weitergeht,  wird  erschossen. 

124 


Der  engllSChe  Dokhstofi  von  Felix  Stdsslnger 

T\  ie  dcutschcn  Delegierten  sind  mit  leercn  Taschcn  und 
lceren  Vcrsprcchungen  aus  London  zuriickgekehrt.  Wicdcr 
ist  cine  englische  Konferenz,  deren  Zusammentritt  von  Eng- 
land gradezu  erpreBt  worden  ist,  fur  Dcutschland  vcrnichtcnd 
zu  Ende  gegangen.  Wieder  hat  es  sich  gezeigt,  daB  England 
nicht  einmal  mit  amerikanischer  Hilfe  imstandc  ist,  ctwas  fiir 
Dcutschland  zu  tun.  Wieder  H&t  England  Himmel  und  Holle 
in  Bewegung  gesetzt,  um  die  deuitsch-franzosische  Verstandi- 
gung  und  die  direkte  Aussprache  beider  Lander  ohne  aufdring- 
liche  Vermittler  zu  verhindern.  Niemals  waren  Deutschland 
und  Frankreich  so  nahe  daran,  die  Einigung  zu  suchen.  Nie- 
mals noch  haben  eben  deswegen  die  angelsachsischen  Machte 
mit  einem  derartigen  Hochdruck  gearbeitet,  die  Kontrahenten 
auseinanderzubringen.  Nichts  fiirchtet  der  englische  Im- 
perialismus  und  das  englische  Ausbeutungskapital  mehr  als 
die  deutsch-franzosische  Verstandigung.  Bis  vor  einem  Jahr- 
zehnt  (aber  seit  Jahrhunderten)  betrachtete  die  englische 
Politik  die  jeweils  starkste  Kontinentalmacht  als  ihren  Feind 
und  als  eine  Gefahr  fiir  das  englische  Weltreich.  Seit  einem 
Jahrzehnt  weiB  England,  daB  nicht  Frankreich  und  nicht 
Deutschland  allein  die  englische  Politik  des  europaischen 
Gleichgewichts,  das  heifit  die  englische  Politik  der  Balkani- 
sierung  Europas  iiberwinden  konnen,  Nur  Deutschland  und 
Frankreich  zusammen,  nur  der  Vereinigte  Europaische  Konti- 
nent  ist  in  der  Lage,  dieser  Politik  der  Zerstorung  ein  Ende  zu 
machen.  Deswegen  richtet  die  englische  Politik  ihre  ganze 
Energie,  die  imponierend  ist,  gegen  den  deutsch-franzosischen 
ZusammenschluB,  der  freilich  den  englischen  Imperialisms, 
nicht  aber  das  britische  Imperium  bedroht.  Niemand  weiB  so 
gut  wie  England,  was  eine  ehrliche,  direkte  deutsch-franzosische 
Verstandigung  bedeutet,  Deutschland  und  Frankreich  konnen  gar 
keine  Bindungen  zu  einer  Zusammenarbeit  eingehen,  die  sich 
nicht  zwangslaufig  zu  einem  Biindnis  ausweiten  miissen.  Das 
weiB  England,  deswegen  verhindert  es  die  deutsch-franzo- 
sische direkte  Verstandigung  (eine  andre  gibt  es  nicht),  und 
deswegen  hat  es  in  Eile  und  Hast  diese  Konferenz  zusammen- 
getrommelt,  die  wiederum,  wie  alle  diese  englischen  Konferen- 
zen  seit  1920,  dazu  bestimmt  war,  Deutschland  und  Frank- 
reich vor  den  englischen  Kadi  zu  schleppen,  der  von  diesen 
endlosen  und  aussichtslosen  Prozessen  allein  profitiert, 

t,Nach  Chequers",  schrieb  ich  in  der  ,Weltbuhne*  vom 
9.  Juni,  einige  Tage  vor  der  Abreise  der  deutschen  Delegier- 
ten nach  England,  ,,gibt  es  nur  noch  die  direkte  Verhandlung 
mit  Frankreich,  ohne  jeden  Vermittler,  oder  den  Marasmus1*. 
Wer  nach  den  Prinzipien  der  .Kontinentalpolitik  die  Ereignisse 
beurteilt,  hatte  es  nicht  schwer,  ihren  Lauf  vorauszusagen.  Es 
war  seit  Jahren  nicht  moglich,  und  es  wird  noch  lange  nicht 
moglich  sein,  den  deutschen  Politikern  zu  beweisen,  daB  Eng- 
land uns  nicht  helfen  will.  Erkennt  aber  die  deutsche  Politik 
nach  dieser  londoner  Katastrophe  noch  immer  nicht,  daB  Eng- 
land uns  auch  gar  nicht  helfen  kann?  Darf  man  hoffen,  daB 

125 


die  Erklarung,  die  Briining  am  23.  Juli  den  deutschen  Presse- 
vertretern  in  London  gab,  den  Beginn  einer  richtigen  Erkennl- 
nis  der  Realitaten  bedeutet?  Nach  Briining  mache  e>s  die  Ver- 
fassung  der  Vereinigten  Staaten  ihnen  unmogiich,  an  einer 
langfristigen  Anleihe  teilzunehmen  und  die  Lage  des  londoner 
Kapitalmarktes,  versichert  Briining,  laBt  eine  solche  Anleihe 
zur  Zeit  ganzlich  ausgeschlossen  erscheinen.  Nun  also!  Wir 
wollen  mit  Briining  iiber  dieses  t)zur  Zeit"  nicht  rechten.  Ent- 
scheidend  ist,  dafi  ,fzur  Zeit"  Deutschland  nur  durch  eine  lang- 
fristige  Anleihe  gerettet  werden  kann,  daB  nach  Briinings  Er- 
klarung, weder  Amerika  noch  England,  das  eine  politisch,  das 
andre  finanziell,  dazu  in  der  Lage  ist  und  Deutschland  sich 
daher,  ob  es  will  oder  nicht,  mit  dem  Staat  einigen  muB,  der 
sowohl  politisch  als  auch  finanziell  in  der  Lage  ist,  Deutschland 
eine  langfristige  Anleihe  zu  gewahren.  Die  Tragodie  der 
deutschen  Politik  beruht  aber  seit  einem  Jahrzehnt  darauf,  daB 
diese  Machtrealitaten  vollig  verkannt  wurden.  Die  Kontinen- 
talpolitik  versichert  dagegen  seit  mehr  als  einem  Jahrzehnt, 
daB  Deutschland  nicht  nur  wirtschaftlich,  politisch,  schicksals- 
maBig  an  Frankreich  gebunden  ist,  sondern  daB  auch  Frank - 
reich  allein  die  Macht  hat,  das  zu  geben,  was  Deutschland 
braucht.  Die  Anlehnung  der  deutschen  Politik  an  Eng- 
land hat  nicht  verhindern  konnen,  daB  Frankreich  politisch, 
militarisch,  wirtschaHlich  zur  entscheidenden  Weltmacht  auf- 
gestiegen  ist.  Gegen  diese  Uberlegenheit  fxihrt  Deutschland 
seit  Jahren  einen  vollig  sinnlosen  Kampf.  Heute  muB  es  end- 
lich  einsehen,  daB  wir  nach  dem  verlorenen  Weltkrieg  keine 
andre  Politik  betreiben  konnen  als  die  Politik  Thiers  nach 
1871,  die  Politik  der  „gegebenen  Tatsachen".  Die  gegebenen 
flnanziellen  Tatsachen  hat  Briining  in  dieser  Erklarung  urn- 
rissen.  Sie  war  diplomatisch  vorsichtig  und  enthielt  daher  nur 
einen  Teil  der  Wahrheit. 

Die  voile  Wahrheit  ist  die,  daB  die  deutsche  Wirtschafts- 
krise  die  londoner  City  auf  das  gefahrlichste  bedroht.  Man 
sollte  glauben,  daB  grade  deswegen  England  alien  Grund  hatte, 
Deutschland  durch  eine  Verstandigung  mit  Frankreich  zu 
retten,  und  sich  dazu.  Aber,  abgesehen  davon,  daB  Politik 
nicht  nach  verniinftigen  Grundsatzen  getrieben  wird,  sonst 
sahe  ja  die  Welt  anders  aus,  lebt  die  City  zum  Teil  davon, 
daB  Frankreich  sich  nicht  mit  Deutschland  verstandigt  und 
seine  Gelder  statt  in  Deutschland,  in  England  anlegt  oder  nach 
Deutschland  iiber  England  verborgt.  Es  ist  hochste  Zeit,  daB 
den  Franzosen  in  diesen  tragischen  Wochen  die  Geduld  ge- 
rissen  ist  und  ihre  Presse  von  links  bis  rechts  die  Englander 
beschuldigt  hat,  die  deutsch-franzosische  Verstandigung  zu  ver- 
hindern, weil  sie  von  der  deutsch-franzosischen  Enfremdung 
leben.  Die  londoner  Bankeri,  erklarte  Jules  Sauerwein  dem 
,12-Uhr-Blatt',  haben  jahrelang  davon  profitiert,  daB  sie  in 
Paris  Geld  zu  3  Prozent  aufnahmen  und  zu  6,  7  und  8  Prozent 
nach  Deutschland  weitergaben.  Eine  deutsch-franzosische  Ver- 
standigung ist  nach  Sauerwein  fiir  diese  Banken  eine  Kata- 
strophe.  Die  deutsche  Insoivenz  England  gegeniiber  zieht  die 
englische  Insoivenz  Frankreich  gegeniiber  nach  sich. 

126 


Kein  Wunder,  daB  die  dcutsche  Krise  die  englische  Borse 
mitt  schweren  Schlagen  trifft.  Als  Deutschland  am  16.  Juli  in 
dcr  pariser  Borsenbaisse  Trost  und  Hoffnung  suchte,  war  die 
eigentlich  entschiedene  Tatsache  des  Weltmarkts  dcr  Sturz  des 
Pfundes  fast  auf  den  Katastrophenkurs  von  192^  England  hat, 
seitdem  es  Briining  verhindcrt  hat,  in  Paris  elnen  deutsch- 
franzosischen  Freundschaftspakt  zu  schlieBen,  fiir  500  Millionen 
Mark  Gold  an  Paris  abtreten  miissen.  Die  englischen  Staats- 
anleihen  sind  gesturzt,  das  Plund  beginnt  ein  Spielball  der 
Weltbaissiers  zu  werden,  sein  Fall  bringt  Unruhe  bis  nach 
New  York,  das  selbst  franzosische  Kreditkiindigungen  zu 
fiirchten  hat.  Morgan  flog  auf  seiner  schnellsten  Jacht  nach 
Europa,  nicht  um  das  Anleihegeschaft  zu  machen,  dessen  Aus- 
sichtslosigkeit  er  kannte,  sondern  weil  er  selbst  in  Paris  mit 
13  Milliarden  Francs  im  Debe't  steht  und  diese  Geschafts-. 
verbindung  die  europaische  Grundlage  seines  Geschaftes  ist. 
Indes  festigte  sich  der  Franc  weiter  und  das  fran- 
zosische Zentralnoteninstitut  hat  an  Gold  und  Devisen 
den  Rekord  von  82  Milliarden  Francs  erreicht,  DaB  diese 
Goldhortung  auch  die  franzosische  Wirtschaft  schadigt  und  zu 
Preissteigerungen  und  Zinsverlusten  fiihrt,  ist  eine  Binsenwahr- 
heit,  die  wir  so  glanzenden  Finanzleuten  wie  den  Franzosen 
wahrhaftig  nicht  zu  versichern  brauchen.  Sie  wissen  es  selbst, 
sie  wissen  aber  auch,  daB  Preissteigerungen  und  Zinsverluste 
ein  kleineres  Obel  sind  als  die  Abgabe  von  12  Milliarden 
Francs  an  ein  Deutschland,  das  nicht  aufhoren  willt  Politik 
gegen  Frankreich  und  Storungen  Europas  auf  englisches  Ge- 
heiB  zu  betreiben.  Die  langfristige  Anleihe,  die  Frankreich 
Deutschland  anbietet,  kann  selbstverstandlich  nur  eine  poli- 
tische  sein,  was  dem  Wesen  eincr  Staatsanleihe  entspricht. 
Frankreich  hat  Deutschland  wissen  lassen,  daB  es  diese  An- 
leihe bekommen  kann.  Deutschland  hat  weder  in  Paris  noch 
in  London  diese  Anleihe  verlangt,  es  hat  keine  Garantien  ge- 
boten,  um  sich  diese  Anleihe  zu  sichern,  und  es  hat  nach  kei- 
nen  Bedingungen  und  Garantien  gefragt,  die  der  Geldgeber 
beansprucht.  Wohl  aber  hat  England,  das  sehr  wohl  weiB,  daB 
Frankreich  eine  langfristige  Anleihe  ohne  politische  Verstan- 
digung  mit  Deutschland  gar  nicht  anbieten  kann,  weil  sich 
sonst  keine  Franzosen  finden,  die  diese  Anleihe  zeichnen,  die 
politische  Verstandigung  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
dadurch  verhindert,  daB  es  Frankreich  beschuldigte,  von 
Deutschland   erniedrigende   Bedingungen  zu  verlangen, 

Es  ist  bekannt  —  oder  sollte  es  wenigstens  sein  — ,  dafi 
die  DolchstoBlegende  eine  englische  Erhndung  ist,  bestimmt 
dazu,  die  Konsolidierung  der  deutschen  Republik  zu  verhindern 
und  Frankreich  vor  Deutschland  herabzusetzen.  Der  Erfinder 
der  DolchstoBlegende  ist  der  englische  General  Maurice,  der 
sie  in  der  tDaily  News'  begriindete.  Von  dort  fand  sie  liber 
einen  Bericht  der  ,Neuen  Ziiricher  Zeitung'  vom  17.  Dezember 
1918  ihren  Weg  nach  Deutschland.  Spater  hat  dieser  englische 
General  erklart,  daB  er  f!miBverstanden"  wurde.  Das  deutsche 
Heer  sei  nicht  von  der  deutschen  Heimat  erdolcht  sondern 
regelrecht  besiegt  worden.  Die  DolchstoBlegende  war  dadurch 
dementiert,   aber  sie  hatte  ihren  Dienst  bereits  geleistet.    Sie 

127 


selbst   war    ein   DolchstoB  in  den   Riicken   der  deutschen  Re- 
publik,  in  den  Riicken  Europas. 

Ebenso  einen  DolchstoB  hat  jetzt  England  wieder  gegen 
Deutschland  und  Europa  gefuhrt.  Obwohl  es  in  vielen  deut- 
schen Zeitungen  stand,  ja,  obwohl  es  die  Presse  der  ganzen 
Welt  berichtet  hat,  konnte  doch  aus  dem  BewuBtsein  der 
deutschen  Offentlichkeit  die  Vorstellung  nicht  entfernt  werden, 
da8  Bedingungen,  die  Frankreich  nie  und  niemals  gestellt  hatte 
und  die  nur  von  der  englischen  Regierungspresse  an  Deutsch- 
land gestellt  worden  sind,  franzosische  Bedingungen  waren. 
Es  war  das  Blatt  der  englischen  Arbeiterpartei,  der  , Daily- 
Herald',  der  sich  iiberhaupt  in  diesen  Wochen  wie  ein  gemein- 
gefahrliches  Jingoblatt  auffiihrte  und  die  tTimes\  die  beide 
ubereinstimmend  am  9.  Juli  von  Deutschland  forderten,  den 
Panzerkreuz*erbau  einzustellen  und  die  Zollunion  mit  Oster- 
reich  aufzuheben.  Sowohl  der  ,Vorwarts'  wie  der  hemps' 
haben  festgestellt,  daO  hier  eine  Anregung  der  englischen  Re- 
gierung  selbst  vorliege.  Binnen  weniger  Tage  verstand  es 
aber  die  angelsachsische  Presse  und  die  deutsche  Presse,  die 
unter  angelsachsischen  Suggestionen  stent,  den  Eindruck  zu 
erwecken,  daB  dies  franzosische  Forderungen  sind.  Mit  Recht 
hat,  die  deutsche  Offentlichkeit  das  Stellen  solcher  Bedingun- 
gen als  demutigend  abgelehnt.  Der  Austausch  einer  lang- 
fristigen  franzosischen  Anleihe  gegen  solche  Bedingungen,  die 
freilich  Frankreich  niemals  gestellt  hat  und  niemals  stellen 
wird,  wiirde  die  deutsch-franzosische  Gemeinschaft  von  vorn- 
herein  vergiften  und  vernichten.  Die  Franzosen  treiben  Politik 
auf  lange  Sicht  und  haben  mit  Recht  angedeutet,  daB  diese 
Bedingungen  teils  viel  zu  wenig,  teils  viel  zu  viel  sind.  Frank- 
reich verlangt  von  Deutschland  fiir  seine  langfristige  Anleihe 
etwas  ganz  andres  als  etwa  die  Aufgabe  des  Panzerkreuzers, 
dessen  Bau  nur  die  englisch-amerikanische  Politik  der  Ent- 
waffnung  Europas  stort:  Es  verlangt,  daB  Deutschland  seine 
aggressive  Politik  gegen  Frankreich  aufgibt,  und  dafi  es  auf- 
h6rt,  die^Rolle  des  englischen  Degens  auf  dem  Xontinent  zu 
spielen.  Dieses  Ziel  ist  weder  durch  einen  Vertrag  noch  durch 
Bindungen,  noch  durch  ein  politisches  Moratorium  oder  Ga- 
rantien  zu  erreichen.  Frankreich  ist  in  diesen  zehn  Jahren  oft 
genug  von  England  dupiert  und  von  Deutschland  im  englischen 
Auftrag  angegriffen  worden,  als  daB  es  Lust  hattet  fiir  neue  Pa- 
pierf  etzen  sein  Gold  nach  Deutschland  zu  tragen.  Es  erwartet  von 
Deutschland  nichts  andres,  als  die  Abkehr  von  seiner  angel- 
sachsischen Horigkeit.  Solange  Deutschland  sich  weigert,  mit 
Frankreich  Vertrajge  oder  Abmachungen  dir ekt  zu  tr ef f en ; 
solange  Deutschland  jede  politische  Differenz  mit  Frankreich 
dem  englischen  Vermittler  unterbreitet;  solange  Deutschland 
alle  politischen  Forderungen  Englands  an  Frankreich  zu  den 
seinen  macht  und  selbst  politische  Forderungen  stellt,  die  nur 
den  englischen  Interessen  dienen  und  die  den  europaischen 
Kontinent  beunruhigen,  bekommen  wir  von  Frankreich  kein 
Geld.  Briining  hat  in  London  von  Frankreich  keine  Anleihe 
verlangt  Fiir  diesen  Verzicht  gibt  es  zwei  Erklarungen:  Ent- 
weder  wagte  er  nicht,  mit  England  zu  brechen,  oder  aber  wollte 
er  die  groBe  deutsch-franzosische  Aktion  grade  in  London  nicht 

128 


in  die  Wege  leiten.  War  das  letztere  seine  Absicht,  so  be* 
deutet  sie  den  Beginn  einer  richtigen  Erkenntnis,  der  dann 
audi  die  richtige  Tat  folgen  mufi.  Wiederum  hat  Brtining  in 
einer  uberaus  delikaten  Situation  staatsmannische  Disziplinie- 
rung  bewiesen.  £r  hat  die  Deutsche  Politik  von  der  eng- 
lischen  nicht  losgelost  —  das  war  in  London  unmoglich  —  aber 
er  hat  die  'Faden  zur  franzosischen  enger  gezogen.  Briining  hat 
in  den  letzten  sechs  Monaten  mehr  AuBenpolitik  gelernt  als 
siclh  das  A.  A.  traumen  laBt;  Cave,  iBiilow!  —  und  durfte  nun- 
mehr  wissen,  daB  die  deutsch-franzosische  Verstandi- 
gung  nur  in  Paris  abgeschlossen  werden  kann,  nur 
mit  bewufiter,  klarer,  eindeutiger  Ablehnung  aller  englischen 
Angebote  zur  Vermittlung  und  zur  Hilfe.  Die  Zeit,  da  Frank- 
reich  sich  widerwillig  aber  durch  die  Umstande  gezwungen, 
der  englischen  Fiihfung  beugte,  ist  endgiiltig  vorbei.  Alles 
Gebriill,  das  uns  auch  in  diesen  Wochen  aus  der  deutschen 
Presse  entgegenschlug,  daB  Frankreich  „isoliertM  wird,  daB 
England  auf  Frankreich  „driickt"f  daB  England  und  Amerika 
die  Franzosen  von  der  Anleihe  „ausschlieBen"  wollen,  ist  sinn- 
los  und  macht  nur  die  Schreier  lacherlich.  Frankreich  kann 
die  Isolierung  ertragen.  Deutschland  nicht.  Frankreich  kann 
sich  zur  Not  auch  von  England  isolieren,  England  nicht  von 
Frankreich,  von  dera  es  vielleicht  liber  kurz  oder  lang  selbst 
eine  Anleihe  erbitten  wird,  nicht  nur,  weil  es  sie  braucht,  vor 
all  em  auch,  damit  Deutschland  sie  nicht  bekommt  und  weiter 
an  der  Kandare  kurzfris tiger  angelsachsischer  Kredite  gefes- 
selt  bleibt.  Frankreich  hat  Deutschland  gezeigt,  ohne  Dank 
zu  ernten,  daB  es  zu  Opfern  bereit  ist.  Es  hat  3  Milliarden 
Francs  fur  die  Young-Anleihe  zur  Verfugung  gestellt,  die  zu 
40  Prozent  entwertet  ist.  Es  hat  auf  2%  Milliarden  unge- 
schutzte  Annuitaten  verzichtet.  Es  hat  3  Milliarden  fur  den 
Garantiefond  der  B.LZ,  gezeichnet.  Es  hat  600  Millionen  der 
Reichsbank  gepumpt.  Ohne  eine  Umkehr  der  deutschen  Politik 
bekommen  wir  von  Frankreich  weder  kurzfristige  noch  lang- 
fristige  Kredite,  die  Deutschland  auch  nach  London  weiter  re- 
serviert  bleiben.  Die  Voraussetzungen,  auf  die  Frankreich 
wartet,  muten  Deutschland  keinen  Verzicht  auf  erreichbare 
Werte  zu.  Der  vorlaufige  Verzicht  auf  unerreichbare  Werte 
ist  nur  ein  gefiihlsmaBiger,  kein  wirklicher.  Nur  diese  Ver- 
standigung  mit  Frankreich  bietet  Deutschland  die  Moglichkeit, 
in  geraumer  Zeit  aber  auch  zu  dem  zu  kommen,  was  es  ohne 
oder  gegen  Frankreich  niemals  erreichen  wird.  Noch  gibt  es  - 
keine  einzige  deutsche  Tageszeitung,  die  auch  nur  die  Diskussion 
liber  eine  Frage  zulaBt,  mit  der  sich  die  franzosische  Presse 
freimutig,  ja  leidenschaftlich  beschaftigt.  Keine  Notverordnung 
verbietet  der  deutschen  Presse,  die  Wahrheit  iiber  England 
zu  suchen,  zu  sagen,  Sie  selbst  verbietet  es  sich  und  verhin- 
dert  eben  dadurch  die  Verstandigung  mit  Frankreich.  Die 
londoner  Konferenz,  diese  hastig  zusammengetrommelte 
Stiitzungsaktion  fiir  die  City  und  den  englischen  Imperialismus 
mag  manchem  Deutschen  die  Augen  geoffnet  haben.  Wie  lange 
soil  Deutschland  weiter  sein  Blut  tropfenweise  zu  Ehren  des 
englischen  Ausbeuterimperialismus  verlieren?  Das  ist  die 
Frage,  auf  die  wir  Antwort  verlangen.  Wer  dazu  schweigt,  ist 
schuldig  am  sichern  Untergang. 

129 


Potentiel  de  Guerre  von  Otto  Lehmann-RuBbiUdt 

VV7ir  haben  in  unsrer  Betrachtung  daruber,  was  Kriegspotenz  ist  und 
"  bedeutet,  eincn  Versuch  gemacht,  kriegerische  Auseinandersetzun- 
gen  der  Zukunf t  in  ihrem  Verlauf  so  voraus  zu  berechnen,  dafi  ein 
ausgebrochener  Krieg  hochstens  noch  Interesse  wegen  etwaiger  Fehler- 
quellen  der  Rechnung  bieten  witrde.  Wir  erkannten  als  wichtigsten 
Faktor  solcher  Berechnung  smoglichkeit  das  sogenannte  Potentiel  de 
guerre,  die  Fahigkeit  eines  politischen  Gebildes,  seine  Volks-  und  Ma- 
terialkraft  in  moderne  Kriegsmaschinen  umzumiinzen. 

Als  Beweis  der  Moglichkeit  solcher  exakten  Berechnung  fiihrten 
wir  an,  wie  im  Friihjahr  1917  Professor  Staudinger  auf  Grund  einer 
Berechnung  nach  Pferdekraftjahren  genau  die  Verschiebung  der  Krafte 
der  Zentralmachte  zur  Entente  am  wechselnden  Besitz  der  Kohlen- 
und  Eisenvorrate  feststellte.  Staudinger  las  an  seiner  kleinen  Tabelle 
schon  im  Friihjahr  1917  das  Schicksal  der  Zentralmachte  vom  Herbst 
1918  genau  ab. 

Staudingers  Berechnung  erfolgte  exakt  mathematisch.  Es  gibt  aber 
einen  noch  verbluffenderen  Beweis  solcher  Vorausberechnung,  die 
allerdings  reiner  Intuition  entsprang. 

Am  30-  Juli  1914  schrieb  der  politische  Mitarbeiter  der  ,Morgen- 
post',  Doktor  Arthur  Bernstein,  einen  kurzen  Aufsatz:  „Die  letzte 
Warming."  Darin  war  nach  einer  treff lichen  psychologischen  Einleitung 
iiber  den  Geisteszustand  Deutschlands  zu  lesen: 

Erstens:  es  gibt  keinen  Dreibund.  Italien  macht  nicht  mit, 
jedenfalls  nicht  mit  uns;  wenn  iiberhaupt,  so  stellt  es  sich  auf  die 
Seite  der  Entente.  Zweitens:  England  bleibt  nicht  neutral  sondern 
steht  Frankreich  bei;  entweder  gleich  oder  erst  in  dem  Augenblickt 
wo  Frankreich  ernstlich  gefahrdet  erscheint.  England  duldet  auch 
nicht,  dafi  deutsche  Heeresteile  durch  Belgien  marschieren,  was  ein 
seit  1907  allgemein  bekannter  strategischer  Plan  ist.  Kampft  aber 
England  gegen  uns,  so  tritt  die  ganze  englische  Welt,  insbesondere 
Amerika,  gegen  uns  auf,  Wahrscheinlich  aber  die  ganze  Welt  iiber- 
haupt. Drittens:  Japan  greift  RuBland  nicht  an,  wahrscheinlich 
aber  uns  in  freundlicher  Erinnerung  an  unser  feindseliges  Da- 
zwischentreten  beim  Frieden  von  Schimonoseki.  Viertens:  Die  skan- 
dinavischen  Staaten  (unsere  „germanischenM  Briider)  werden  uns 
verkaufen,  was  sie  entbehren  konnen,  aber  sonst  sind  sie  uns  nicht 
zugeneigt,  Fiinftens:  Oesterreich-Ungarn  ist  militarisch  kaum  den 
Serben  und  Rumanen  gewachsen.  Wirtschaftlich  kann  es  sich  grade 
drei  bis  ftinf  Jahre  selbst  durchhungern.  Uns  kann  es  nichts  geben, 
Sechstens:  Eine  Revolution  in  RuBland  kommt  hochstens  erst  dann, 
wenn  die  Russen  unterlegen  sind.  Solange  sie  gegen  Deutschland 
mit  Erfolg  kampfen,  ist  an  eine  Revolution  nicht  zu  denken. 

Unsre  Botschafter  kennen  die  Lage  ganz  genau.  Auch  Herr 
v.  Bethmann  muB  sie  kennen.  Es  ist  nicht  denkbar,  daB  er  das 
Reich  durch  Unverantwortliche  in  einen  drei-  bis  fiinfjahrigen  Krieg 
hineinsteuern  laSt,  wahrend  er  aus  Scheu  vor  den  Drohungen  der 
Alldeutschen  und  Militaristen  seiner  Verantwortlichkeit  sich  ent- 
ledigt.  Ob  wir  am  Ende  dieses  furchtbarsten  Krieges,  den  je  die 
Welt  gesehen  haben  wird,  Sieger  sein  werden,  steht  dahin.  Aber 
selbst  wenn  wir  den  Krieg  gewinnen,  so  werden  wir  nichts  ge- 
winnen,  denn  Oesterreich-Ungarn  wird  sich  nicht  dafiir  ins  Zeug 
legen,  daB  das  Deutsche  Reich  an  Umfang  zunimmt.  Geld  als; 
Kriegsentschadigung  wird  am  Ende  des  Gemetzels  nirgends  mehr  zu 
finden  sein.  Der  einzige  Sieger  in  diesem  Kriege  wird  Eng- 
land sein.  Deutschland  fuhrt  den  Krieg  um  nichts,  wie  es  in  den 
Krieg  hineingegangen  ist  fur  nichts.  —  Eine  Million  Leichen,  zwei 

130 


Millionen  Kriippel  und  50  Mil  liar  den  Schulden  werden  die  Bilanz 

dieses  „frischenf  frohlichen  Krieges"  sein.  —  Weiter  nichts. 
Alles  trat  ein:  die  ganze  Welt  gegen  Deutschland,  auch  der  Bun- 
desgenosse  Italien,  auch  Amerika.  Der  Krieg  dauerte  „drei  bis  funf 
Jahre".  Nur  darin  irrte  Bernstein,  dafi  es  —  auf  deutscher  Seite 
all  ein  meinte  er  wohl  —  1  Million  Tote  gabe.  Es  gab  rund  2  Mil- 
lionen und  statt  50  Milliarden  Schulden  ebenfalls  rund  das  Doppelte. 
Man  stelle  sich  vor,  dieser  kurze  Aufsatz  ware  eine  Woche  vor 
dem  Beginn  kriegerischer  Handlungen  jedem  Einwohner  nicht  nur 
Deutschlands  sondern  Europas  so  vor  die  Nase  gebracht  worden,  dafi 
er  ihn  innerlich  aufnahm.  Welche  Wirkung  hatte  das  gehabt?  Solche 
retrospektiven  Prophezeiungen  sind  allerdings  noch  umstrittener 
als  Zukunftsprophezeiungen.  Aber  der  deutsche  Generalstab  hatte 
sicherlich  eine  gute  Witterung,  als  er  den  schon  in  die  Form  ge- 
gossenen  Artikel  verbot.  (Wegen  Bleimangels  kam  dann  der  stehende 
Satz  erst  in  der  Nachkriegszeit  wieder  zum  Vorsch'ein  und  wurde  im 
UU  stein- Jubilaumsjahrbuch  1927  wiedergegeben,) 

Hier  ist  ein  Fingerzeig,  was  jene  Front  zu  tun  hat,  die  den  Mili- 
tars  und  der  Rustungsindustrie  aller  Lander  gegenubersteht,  die  aber 
selbst  noch  kein  Vaterland  hat.    Nennen  wir  sie  die  Friedensfront. 

Von  den  rund  2000  Millionen  Menschen  der  Erde  stehen  in  dieser 
Friedensfront  fruchtbarer  Arbeit  fast  alle  —  bis  auf  7  Millionen  Sol- 
daten  unter  der  Fahne  und  etwa  1  Million  Arbeiter  der  unmittelbaren 
volkswirtschaftlichunfruchtbarenRustungsindustrie — ialsol992Millionen 
gegen  S  Millionen  (249:l}f  Bei  diesem  Zahlenverhaltnis  ware  der 
Ausgang  eines  Versuchs,  die  Soldaten  und  Rtistungsarbeiter  aus  dem 
Tempel  der  Menschheit  hinauszujagen,  von  vornherein  gegeben,  wenn 
die  Menschen  der  Friedens-  und  Arbeitsfront  so  einheitlich  zusammen- 
standen,  wie  es  beim  militarischen  Apparat  der  Fall  ist.  Genau  so, 
wie  man  aber  mit  einem  Maschinengewehr  Tausende  Unbewaffneter 
zerstreuen  kann,  genau  so  beherrscht  der  kleine  militarische  Apparat 
die  grofien  Massen  der  Volker, 

Der  Kampf  zwischen  diesen  beiden  Fronten  ware  fur  alle  Zeiten 
ganzlich  aussichtslos,  wenn  nicht  -nach  der  Betrachtung  des  Potentiel 
de  guerre  aus  einer  sehr  einfachen  Oberlegung  heraus  der  strategisch 
schwache  Punkt  der  vereinigten  Kriegsfronten  sofort  zu  erkennen 
ware.  Er  liegt  darin,  dafi  die  Waffe  sich  nicht  aus  sich  selbst  erzeugt, 
sondern  dafi  der  Ursprung  der  Waffe  in  der  Friedensfront  liegt,  in  der 
Arbeit,  und  nicht  in  ihrem  eignen  Schofi,  namlich  der  Kriegsfront.  Sol- 
daten verbrauchen  nur,  namlich  die  Produkte  der  Arbeit;  erzeugen 
konnen  sie  nur  Wunden.  Wenn  das  fur  die  sichtbaren  Kanonen,  also 
fur  die  schon  geborenen  Waffen  gilt,  so  gilt  das  noch  vlel  mehr  fur  das 
Potentiel  de  guerre,  fur  die  noch  nicht  geborenen  Waffen,  die  aber, 
wie  wir  gesehen  haben,  beim  Zukunftskrieg  eine  das  Kriegs-Effektiv 
und  die  Kriegs-Reserve  weit  iiberragende  Entscheidung  in  sich  bergen. 

Fur  den  Kampf  zwischen  Kriegs-  und  Friedensfront  gelten  die  Ge- 
setze  der  Kriegskunst,  wenn  auch  die  Fronten  nicht  an  den  Grenzen 
von  „Vaterlandern"  entlanglaufen.  Die  Waffe  der  Friedensfront  ist 
die  Arbeit.  Diese  Waffe  ist  der  militarischen  Waffe  von  vornherein 
hundertprozentig  uberlegen,  da  die  militarische  Waffe  zuerst  und 
allein  aus  der  Arbeit  hervorgeht.  Diese  hundertprozentige  Uberlegen- 
heit  ist  aber  solange  auf  Null  herabgedruckt,  solange  die  Front  der 
Arbeit  nicht  wie  ein  magnetisches  Kraftfeld  einheitlich  zusammenwirkt* 
Solange  die  Friedensfront  glaubt,  der  Kriegsfront  selbst  mit  militari- 
schen Waffen  entgegentreten  zu  konnen,  wird  sie  selbst  bei  etwaigen 
Erfolgen  nur  urn  so  mehr  in  die  Kriegsfront  hineingerissen  werden. 

Dieser  Kampf  der  Friedensfront  erfordert  alle  die  Fahigkeiten* 
die  auch  in  der  Kriegsfront  zum  Erfolg  fuhren.  Vor  allem  mufi  jene 
Vorbedingung  erfullt  sein,  die  in  der  Kriegskunst  „Aufklarung"  heifit. 
Jeder  Patrouillenftihrer,  jeder  General  weifi,  dafl  von  der  Aufklarung 

3  131 


alles  abhangen  kann.  Fiir  die  Friedensfront  handelt  es  sich  zunachst 
um  die  Auf  kla  rung  iiber  die  Starke  des  Gegners  und  besonders  iiber 
dessen  Hauptposition,  das  Potentiel  de  guerre.  Das  vermag  nicht  ein 
Einzelner,  das  vermag  nicht  ein  Buch,  das  vermag  nur  ein  Antikriegs- 
Generalstab  von  Sachkennern  der  Wirtschaft  und  der  Kriegstechnik. 
Diese  Idee  keimt  jetzt  in  Schweden,  England,  Amerika.  Ein  solcher 
Antikriegs -General  stab  kann  nur  international  sein. 

1st  es  durch  eine  solche  wissenschaftliche  und  organisationstech- 
nische  Arbeit  moglich,  einen  drohenden  Zukunftskrieg  in  seinen  Aus- 
maBen,  seinem  Beginn,  seinem  Verlauf,  seinem  Ausgang  so  zu  bestim- 
men,  wie  wir  das  an  den  Beispielen  Bernstein  und  Staudinger  sahen, 
so  ware  damit  der  Zweck  der  Aufklarung  iiber  den  Gegner  voll  er- 
fiillt.  Dann  ware  auch  eine  Moglichkeit  gegeben,  das  sonst  Unmog- 
liche  zu  erreichen,  namlich  diesen  Krieg  zu  verhindern.  Aber  nur  eine 
Moglicbkeit!  Derm  die  Volker  ahnen  nicht,  genau  wie  vor  1914,  in 
welcher  bedroblichen  Weise  das  Kriegsgewitter  iiber  ihnen  hangt, 
dessen  untriigliches  Barometer  die  steigenden  Dividenden  der 
Rustungsbetriebe  sind, 

Diesen  drohenden  Krieg  nicht  mit  der  militarischen  Waffe  sondern 
mit  der  tiberlegenen  Waffe  der  nach  den  Gesetzen  der  Kriegskunst 
organisierten  wirtschaftlichen  Arbeit  zu  bekampfen,  raufi  die  Aufgabe 
eines  solchen  interna tionalen  Antikriegs -Generalstabes  sein.  Nur  er 
konnte  durch  die  Organisation  der  Friedensfront  die  Abriistung  her- 
beifiihren,  durch  organisierte  Verweigerung  von  Geld  und  Arbeit  fiir 
die  militarischen  Waff  en.  Der  Volkerbund  wird  dann  seinen  Segen 
dazu  geben,  wenn  er  merkt,  daB  es  den  Volkern  ernst  wird  mit  dem, 
womit  er  unter  dem  Einflufi  der  Riistungsindustrie  nur  Spiegelfechte- 
reien  treibt:  namlich  mit  der  tatsachlichen,  sinnlich  wahrnehmbaren 
Abriistung.  Abriistung  heiBt  nicht,  daB  die  mit  zwei  Millionen  Dollars 
von  Morgan,  einem  der  unwillkurlich  grofiten  Kriegsforderer,  dotierte 
Volkerbundsbibliothek  in  Genf  noch  um  einige  Tausend  Bande  iiber 
Abriistung  vermehrt  wird,  sondern  Abriistung  heiBt,  um  es  zu  wieder- 
holen,  daB  die  auf  der  Erde  jetzt  vorhandenen  150  000  Riesenmord- 
maschinen  an  Flugzeugenf  Tanks,  schweren  Geschutzen,  Maschinenge- 
wehren  wieder  in  die  Hochbfen  zura  Einschmelzen  hineingeschoben 
werden,  die  sie  ausgespieen  haben.  Das  iibrig  bleibende  Potentiel  de 
guerre  ist  dann  von  selbst  in  das  Potentiel  de  travail  verwandelt. 

Zuriick  zur  Barbarei!  von  waitner  Karsch 

f)ic  Zahl  ist  tot  —  Gott  geht  wieder  um!"  Wo?  In 
»  der  Welt,   ach  neinf  im  deutschen  „Kulturkreis".     Denn 

es  hie  Be  „liberalistisch"  denkent  eine  Idee,  ein  Gedanke  konne 
Weltgiltigkeit   besitzen. 

Diese  gradezu  erschutternde  Kennzeichnung  des  Libera- 
lismus  lindet  sich  in  einem  Buch,  betitelt  t,Wir  suchen  Deutsch- 
land"  (Grethlein  &  Co.,  Leipzig/Zurich).  Auf  die  Deutschland- 
Suche  begeben  sich  da:  die  Fiihrer  der  t,Kampfgemeinschaft 
Revolutionarer  Nationalsozialisten'V  Otto  StraBer,  Herbert 
Blank,  Major  Buchrucker,  und  dazu  Gerhard  Schultze-Pfael- 
zer,  der  sich  zur  nstaatspolitischen  Linie  Hindenburg-Briining- 
Dietrich**  bekennt  Sie  haben  iiber  die  ,,Zeitkrisis"  disputiert, 
und  das  Ergebnis  liegt  in  diesemBuche  vor.  Man  kann  sagen: 
Die    Bibel   des   Revolutionaren   Nationalsozialismus. 

Ungefahrliche  Sektierer?  Auf  der  Linken  hat  man  allzu- 
lange  geglaubt,  der  Nationalsozialismus  sei  eine  Angelegenheit 
von  ein  paar  harmlos  Irren,  bis  diese  paar  am   14,  September 

132 


zu  mehr  als  sechs  Millionen  wurden.  Die  Verheerung,  die 
Hitler  atif  politischem  Gebiet  bcreits  angerichtet  hat  und  noch 
anrichten  wird,  ist  gar  nichts  gegen  die,  die  StraBer  mit  sei- 
ner Ideologic  auf  geistigem  Gebiet  anzurichten  im  Begriffe 
stent.  In  hundertfiinfzig  Jahren  Prazisionsarbeit  hat  sich  die 
Philosophie  nach  der  Uberwindung  des  Mittelalters  abgemiiht, 
Klarheit  zu  schaff  en,  und  dann  kommt  so  ein  Verachter  der 
Philosophie  daher  und  tritt  mit  dem  leicht  veredelten  KommiB- 
stiefel,  der  sich  als  ,, Seele"  drapiert,  alles  wieder  kaputt.  Je- 
nes  glitschige  Denkfuhlen,  von  dem  wir  glaubten,  es  sei  nur 
noch  in  den  Resten  der  ehemaligen  Jugendbewegung  behei- 
matet,  feiert  hier  frohliche  Auferstehung.  Da  wird  einmal  von 
der  „Sinnlosigkeit  des  heutigen  Lebens"  gesprochen,  um  ein 
paar  Seiten  spater  festzustellen,  daB  alles  einen  Sinn  habe, 
daB  es  eine  „Sinnhaftigkeit  des  Lebens"  gebet  man  miisse  sie 
nur  „ftihlen",  —  ergo  hat  doch  auch  das  heutige  Leben  einen 
Sinn.  Denkerische  Sauberkeit  scheint  liberalistisches  Teufels- 
werk  zu  sein.  Herr  Blank  doziert,  der  Liberalismus  habe  von 
der  „Dreiheit:  Geist  —  Seele  —  Materie"  die  beiden  letzten  ge- 
leugnet,  er  „ritt  unaufhorlich  im  Geist'*.  (Wie  er  das  wohl 
gemacht  haben  mag?)  Nur  ganze  sechs  Seiten  spater  donnert 
derselbe  Herr  Blank,  „die  liberalistischen  Wissenschaftler" 
hatten  „Gott  durch  die  Materie  erschlageii",  Und  ich  dachte 
doch,  der  Liberalismus  leugne  die  Materie.  Aber  ich  soil 
nicht  denken,  Doch  ich  kanns  nicht  lassen,  und  so  dachte  ich 
auch  immer,  zwischen  Intellekt  und  Ratio,  zwischen  Verstand 
und  Vernunft  bestiinden  gewisse  Unterschiede.  Diese  Leute 
schmeiBen  alles  durcheinander,  und  dann  springen  sie  dir  mit 
der  abstrusen  Behauptung  entgegen,  wir  lebten  in  einer  „Dik- 
tatur  der  Vernunft".  0,  ware  es  doch  so!  Dabei  kann  man 
doch  noch  nicht  einmal  behaupten,  wir  lebten  in  einer  Dikta- 
tur  des  Verstandes.  Denken  scheint  hier  wirklich  verboten 
zu  sein.  Und  dabei  sind  alle  Argumente,  mit  denen  sie  ihre 
Ideologic  zu  sttitzcn  versuchen,  sofern  es  sich  um  Oberlegun- 
gcn  und  Verwendung  von  Tatsachenmaterial  handelt  und  nicht 
um  bloBe  Schwarmcrei,  und  all  ihre  Plane  kiinftiger  Gesell- 
schaftsordnung  Ausgebtirten  ihres  Intellekts. 

Um  zu  beweisen,  daB  alles,  was  heute  in  Deutschland  Gel- 
tung  hat,  von  Hitler  bis  Thalmann,  Mliberalistisch",  daB  die 
kommende,  die  ^Deutsche  Revolution"  eine  ,,konscrvativc*' 
sci,  hat  sich  StraBer  das  )tGesetz  der  dreieinigen  Bipolaritat" 
ausgeheckt.  In  einem  Zeitraum  von,  ausgerechnet,  hundert- 
undlunfzig  Jahren  pendele  die  Geschichte  zwischen  zwei  Po- 
Ien,  ,,liberal"  und  „konservativ",  hin  und  her.  Hin  und  Her. 
Daher  die  „Bipolaritat"!  Alles  tforganische  Leben"  bestehe 
aus  der  „Dreiheit:  Korper — Seele  —  Geist".  Und  nun  wird 
diese  biologische  Feststellung1  so  mir  nichts  dir  nichts  auf  die 
Geschichte  libertragen,  das  Wirtschaftssys.  tern  vertritt  da  den 
Korper,  das  Gesellschaftssystem  ist  der  Geist,  und  die  „Kul- 
turauffassung"  die  Seele  vom  Ganzen.  Und  weil  nun,  predigt 
er,  alles  „organisch"  sein  mufi,  so  auBere  sich  diese  ,rDreieinig- 
keit"  bei  „liberaler  Vorherrschaft'*  im  „Ungebundenen"t  „In- 
dividuellen"  (er  meint  Individualistischen),  „Materialistischen" — f 
bei    ..konservativer   Vorherrschaft"    im   ,,Gebundenen",     „nach 

133 


der  Gemeinschaft  Orientierten",  „Idealistischen".  Historisches 
Material  wird  herangeschleppt,  urn  die  ,,GesetzmaBigkeit" 
glaubhaft  zu  machen.  Wie  frohlich  man  doch  in  der  ,,Welt 
der  Tatsachen"  platschern  kann,  wenn  man  sie  braucht.  Aber 
wir  wissen  nicht  erst  seit  gestern,  wie  willfahrig  historisches 
Material  ist,  und  Analogien  treffen  schon  deshalb  immer  nur 
halb  zu,  weil  sich  inzwischen  alle  Voraussetzungen  erheblich 
verandert  haben. 

Aber  machen  wir  uns  selbst  diese  empirische  Methode 
einmal  zu  eigen,  dann  weiB  Herr  StraBer  anscheinend  nicht, 
dafi  alle  Revolutionen  Mliberal",  namlich  destruktiv,  antikon- 
servativ  waren:  sie  wollten  Befrehmg  von  tiberlebten  Formen 
und  Normen.  Alle.  Und  die  Konsolidierung  der  Revolutio- 
nen hat  schliefilich  immer  dazu  gefiihrt,  daB  die  ,,liberalen" 
Inhalte  allmahlich  zu  „konservativen"  erstarrten  und  somit 
Angriffspunkte  neuer  Revolutionen  wurden.  „Liberales" 
kann  also  zu  etwas  durchaus  ,,Konservativem"  werden,  woraus 
erhellt,  wie  unbrauchbar  StraBers  Terminologie  ist.  Dariiber 
hinaus  aber  konnte  dieser  Theoretiker,  wollte  er  sich  die 
Miihe  machen,  die  Geschichte  einmal  wirklich  zu  durchfor- 
schen  und  ihr  nicht  Gewalt  anzutun,  finden,  daB  vollig  ge- 
schlossene  historische  Perioden  ganz  andre  Mischungsverhalt- 
nisse  aufweisen  als  die  beiden  von  ihm  skizzierten.  Aber  wozu 
die  Vergangenheit  bemiihn?  Wenn  rum  Beispiel  die  Deutsch- 
nationalen  nach  der  Auffassung  StraBers  wirklich  „liberali- 
stisch*'  waren,  weil  sie  namlich  kapitalistisch  sind,  dann  miiBten 
sie  auch  Materialisten  sein.  Sind  sies?  Oder  sind  sie  viel- 
leicht  gegen  den  §  218,  dessen  Bekampfung  StraBer  fur  ein 
Kennzeichen  des  „individualistischen  Liberalismus"  halt?  "Hit- 
ler mufi  sich  ebenfalls  in  diese  Kategorie  einordnen  lassen, 
weil  es  internationalistischer  Humbug  sei,  einen  Staatsgedanken, 
in  diesem  Fall  den  fascistischen,  auf  ein  andres  Land  ubertragen 
zu  wollen.  Herr  StraBer,  die  Idee  lafit  sich  schon  auf  andre 
Lander  transponieren,  nur  die  Form  sieht  jeweils  verschieden 
aus.  Besonders  hart  wird  mit  den  Marxisten  ins  Gericht  ge- 
gangen.  Sie  seien  namlich  nicht  nur  darauf  versessen,  Sozia- 
lismus  mit  Materialismus  zu  verkniipfen,  sondern  ,,individuali- 
stisch"  seien  sie  obendrein,  denn  si-e  gestatteten  dem  Indivi- 
duum  die  verschiedensten  Freiheiten.  Das  ist  nicht  „orga- 
nisch",  also  auch  nicht  lebensfahig.  Und  wenn  ihr  Marxisten 
es  bisher  noch  immer  nicht  gewuBt  habt,  Otto  StraBer  verrat 
es  euch:  ihr  seid  mit  eurer  Hochschatzung  der  Maschine,  der 
Zahl  nichts  andres  als  Kapitalisten.  Und  daB  ihr  „Liberali- 
sten"  seid,  das  beweise  die  Obereinstimmung  in  kulturpoliti- 
schen  Fragen  zwischenv  dem  ,Berliner  Tageblatt'  und  der  ,Roten 
Fahne*.     Beweise?     Beweise! 

Was  aber  ist  denn  nun  der  einzige,  der  wahre,  der  wirk- 
liche,  der  ,,schicksalsgewollte"  Sozialismus?  Wenn  der  Staat 
in  die  Wirtschaft  eingreift.  Wahrhaftig!  Das  steht  zwar  nicht 
so  da,  aber  wenn  StraBer  demonstriert,  das  preuBische  Ko- 
nigtum  des  achtzehnten  Jahrhunderts  sei  sozialistisch  ge- 
wesen  (anscheinend  von  wegen  der  Staatsmonopole),  dann  heiBt 
das  schlieBlich  nichts  andres  als:  Sozialismus  haben  wir  dann, 
wenn    sich    der   Obrigkeits-Staat    eines   Teils    der   Wirtschaft 

134 


bemachtigt.  Aber  wie  denkt  sich  Strafier  die  Formen  seines 
Sozialismus?  Das  Eigentum  wird  abgeschafft,  jeder  Bauer  er- 
halt  ein  „Erblehen'\  in  der  Fabrik  wird  ein  „Kollektivlehen 
aller  in  dem  Werk  Schaffenden"  eingerichtet,  und  die  Ge- 
werbe  und  freien  Berufe  schliefien  sich  zu  Zwangsinnungen 
zusammen.  Und  das  alles  soil  dazu  iiihren,  Deutschland  vom 
Ausland  unabhangig  zu  machen.  „Wirtschaftliche  Autarkie" 
heiBt  dies  nach  dem  Kreis  um  die  ,Tat*  riechende  neue  Ge- 
heimmittel,  das  iibrigens.  grade  in  diesen  Tagen  vielfach  ernst- 
haft  als  letzte  Rettung  aus  der  Krise  emplohlen  wurde.  Fiir 
Strafier  ist  es  ,tmarxistischer  Irrwahn",  an  eine  inter- 
nationale  Verilechtung  der  Wirtschaft,  an  die  Existenz  einer 
Weltwirtschait  zu  glauben.  Eine  einzige  Tatsache  widerlegt 
schon  diese  originelle  Weisheit:  zur  gleichen  Zeit,  wo  in  einem 
Lande  Lokomotiven  mit  iiberflussigem  Getreide  gefeuert  wer- 
den, sind  in  einem  andern  Land  Tausende  am  Verhungern. 
Aber  wir  sollen  ja  hungern,  tuchtig  hungern,  wenns  nach  Herrn 
Strafier  geht,  dessen  Wirtschaftsideal  anscheinend  die  durch 
den  Ietzten  Krieg  erzwungene  Kohlriiben-Selbstgeniigsamkeit 
des  deutschen  Volkes  ist.  Und  trot zd em  nimmt  er  sich  dann 
noch  ernst,  wenn  er  dem  Marxismus  nachsagt,  er  erstrebe  die 
Verproletarisierung  aller  Kreise.  Aber  auch  diese  Autarkie 
hat  ihr  Loch,  weil  wir  namlich  doch  manchest  zum  Beispiel 
Rohstoffe,  einfiihren  mussen.  Das  gibt  er  zu.  Da  wird  dann 
eben  schnell  ein  Handelsmonopol  geschaffen,  und  alles  lauft 
glatt,  Hundert  Jahre  Nationalokonomie  sind  an  diesen  „Natio- 
nalokonomen"  spurlos  voriibergegangen,  Nur  Adam  Miiller, 
dessen  Staatsmetaphysik  sie  auf  neu  gebiigelt  haben,  scheint 
dort  in  Geltung  zu  stehn, 

Natiirlich  versteht  es  sich  von  selbst,  dafl  wir  Krieg  fiih- 
ren  mussen,  um  die  Friedensvertrage  zu  „zerreifienM,  Denn 
so  ziemlich  alles  Ungliick  kommt  von  den  „Tributen'\  Der 
Krieg  liegt  selbstverstandlich  im  MSchicksal"  begriindet.  Und 
der  sonst  so  kluge  Major  Buchrucker  kann  sich  nicht  die 
Spiefierwahrheit  verkneifen:  1tKampf  und  Krieg  werden  blei- 
ben  bis  an  das  Ende  der  Zeit/'  Fiir  die  Gleichsetzung  von 
Kampf  und  Krieg  verdiente  er  eins  auf  die  Finger,  er  unter- 
schiebt  namlich  damit  den  Kriegsgegnern,  sie  seien  Gegner  je- 
den  Kampfes,  was  einer  iiblen  Nachrede  gleichkommt.  Zum 
Krieg  braucht  man  Bundesgenossen  und  Gegner.  Deshalb 
konstruiert  sich  Strafier  eine  Machtekonstellation,  bei  der 
schliefilich  (wenigstens  fiir  den  Kriegsanfang)  nur  noch  Frank- 
reich  als  alleiniger  Gegner  iibrigbleibt,  England  kann  nicht 
sofort  eingreifen,  Amerika  wird  sich  kaum  beteiligen,  Polen, 
die  Tschechoslowakei,  „Ser-bien"  und  Rumanien  werden  durch 
eigne  Gefahren,  namlich:  Oesterreich,  Ungarn,  Bulgarien  und 
Rufiland  in  Anspruch  genommen.  Denn  Rufiland  werde  ent- 
weder  neutral  bleiben  oder  seine  MBegierde"  nach  den  polni- 
schen  Industriegebieten  und  den  Ostseekiisten  befriedigen  wol- 
len  und  aktiv  eingreifen.  Natiirlich  bleibt  auch  Italien  aus 
lauter  Franzosenfeindschaft  neutraL  Und  die  ganze  Welt 
wird  sich  beeilen,  es  so  zu  machen,  wie  Herr  Strafier  sich  das 
zurechtphantasiert,  Aber  seine  Phantasie  wird  noch  aus- 
schweifender;    Frankreichs    Kampf kraft    werde    innerlich    ge- 

135 


schwacht  sein,  denn  die  franzosischen  Muskoten  wtirden  er- 
kcnnen,  daB  Deutschland  Blur  seine  Revolution  verteidigen 
und  nichts  annektieren  wolle.  Sie  wurden  sich  schamen,  als 
,,Gerichtsvc|llzieher  Morgans'  zu  fungieren.  Die  schonen 
Aug  en  des  Herrn  StraBer,  und  wenn  nicht  seine  schonen 
Augen,  dann  sein  edler,  klarer  Stil  werden  Frankreichs 
Staatsmanner  und  Presse  sicherlich  veranlassen,  diese  An- 
sicht  unter  ihren  Landsleuten  zu  verbreiten.  DaB  Herr  Buch- 
rucker  die  Gefahren  eines  kommenden  Krieges  bagatellisiert, 
die  Anschau'ungen  vom  Gaskrieg  als  „Fabeln"  hinstellt,  ver- 
steht  sich  am  Rande.  Wir  brauchen  nur  anzufangen  und 
schon  haben  wir  gesiegt,  die  ganze  Welt  wird  sich  nach  un- 
sern  Prognosen  richten.  Dilettantismus  ?  Ja,  aber  ein  ver- 
fiihrerischer  und  darum   ein  gefahrlicher. 

Es  entspricht  dieser  politischen  Schwarmerei,  wenn  aller 
Wissenschaft  der  Kampf  angesagt  wird-  Die  Medizin  hat 
natiirlich  nur  Scheinerfolge  erzielt:  „Fniher  war  das  Volk  ge- 
sund  und  die  Heilkunde  schlecht.  Heute  ist  das  Volk  krank 
und  die  Heilkunde  gut/*  Dieser  Herr  Blank  will  nicht  sehn, 
daB  das  VoLk  heute  bei  schlechter  Heilkunde  noch  viel  kran- 
ker  ware.  Was  geschahe  denn,  wenn  bei  dieser  Massen- 
arbeitslosigkeit,  dieser  Wohnungsnot  nicht  wenigstens  die 
Fortschritte  der  Medizin  und  Technik  mildernd  wirkten?  Aber 
solche  Paradoxien  sind  da  beliebt,  wo  das  Denken  achsel- 
zuckend  veraclitet  wird.  Dafiir  propagiert  man  die  Vor- 
herrschaft  der  ^Seele",  und  die  Schlage  der  teutonischenKeule 
sausen  nur  so  auf  die  Wissenschaft,  besonders  die  Naturwis- 
senschaft,  hernieder,  Aber  die  Herren  treffen  vorbei;  sie  er- 
schiittern  die  Wissenschaft  nicht  durch  Argumente;  sie  uber- 
gieBen  sie  nur  mit  selbstgef  alligem  Hohn.  Wenn  Herr  Blank 
prophezeit,  daB  ,,Herr"  Planck  (der  Physiker)  ,,kein  Denk- 
mal  mehr"  ,,kriegtM,  weil  das  Kausalitatsprinzip,  an  dem 
Planck  noch  immer  festhalte,  in  der  zuktinftigen  Wissenschaft 
„nur  noch  die  Hintertreppe  benutzen"  diirfe,  —  so  wirkt  das 
nur  komisch.  Die  Wissenschaft  wird  schliefilich  auch  noch  mit 
diesen  organischen  Quacksalbern  fertig  werden,  die  sie  wieder 
zur  ,fMagd  der  Theologie"  machen  wollen,  Doch  sollte  man  die 
Gefahrlichkeit  solcher  mystischen  Theorien  nicht  unter- 
schatzen. 

Diese  ganze  Wissenschaftsfeindlichkeit  ist  nur  AuBerungs- 
form  allgemeiner  Geistf eindlichkeit.  Und  diese  bestimmt  auch 
das  Verhaltnis  turn  Judentum.  Die  Juden  werden  unter  Frem- 
denrecht  gestellt,  damit  sie  ihre  „Wurde"  wieder  gewinnen. 
Diese  „Wurde"  ist  nur  eine  schone  Umschreibung  fur  das 
Ghetto,  in  das  man  die  Juden  wieder  sperren  wird.  Denn 
worauf  anders  lauft  es  hinaus,  wenn  man  sie  aus  alien  offent- 
lichen  Stellungen  verdrangen  will?  Obrigens  nicht  ()man",  die 
f,konservative  Revolution"  will  es,  denn  in  ihr  herrscht  die 
,,Seele*\  und  das  Judentum  reprasentiert  den  Geist  Und 
wenn  die  Juden  sich  auf  die  welthistorischen  Leistungen  von 
Glaubensgenossen  berufen,  so  auf  Spinoza,  Heine  und  Ein- 
stein, dann  kommt  ihnen  Herr  Blank  mit  dem  lacherlichsten, 
spieBigsten  Argument:  wieviel  Deutsche  kennen  denn  schon 
die  Werke  dieser  Geister.     Herr  Blank,  wieviel  Deutsche  ken- 

136 


ncn  denn  schon  Ihrcn  Spengier,  auf  den  Sic  und  Ihr  Freund 
StraBer  sich  standig  berufen?  DaB  sich  hier  nichts  andres  als 
«in  tiefwurzelndes  Minderwertigkeitsgefiihl  gegeniiber  allem 
Geistigen  Luft  macht,  erhellt  jene  Stelle,  in  der  Herr  Blank 
„den  letzten  pommcrschen  Bauernjungen"  gegen  „den  geist- 
vollstcn  Juden"  ausspielt,  derselbe  Herr  Blank,  der  von  sei- 
nem  Idealtyp  des  pommerschen  Bauernjungen  sowcit  cntfernt 
ist  wic  Margarete  Maultasch  von  der  Venus  von  Milo.  Und 
dann  wird  das  ganze  Feuerwerk  jener  Begriffe  wie  ,,Art", 
„Nation",  ,,Rasse"  abgebrannt,  urn  darzutun,  daB  der  Jude 
mit  seiner  Mbl6den"  Geistigkeit  ein  Fremdkorper  im  Leibe  des 
deutschen  Volkes  sei.  An  Stelle  alles  Geistigen,  aller 
Bildung,  deren  Gberschatzung  auch  wir  nicht  verkennen,  wird 
„Zucht'\  „Haltung"  gesetzt  So  laufe  der  Ob,errealschuler 
zwar  Hetwas  ofter  in  den  verstaubten  Physiksaal",  aber  ,,die 
Haltung  des  technischen  Menschen"  erlerne  er  nie.  Der  Ideal- 
fall  der  Erziehung:  das  Offizierkorps  Friedrich  des  GroBen, 
das  „herzlich  ungebildet"  war.  Da  konnen  wir  uns  gratulieren! 

Oberhaupt  spielen  die  Ausdrticke  wie  ..Zucht",  „Blut", 
f, Haltung",  ,,Verhaltenheit"  (,,Die  Seele,  das  Geftihl  kann  recht 
eigentlich  lib erhaupt  nicht  sprechen",  daher  stehe  bei  den  na- 
tionalistischen  Schriftstellern  das  meiste  f,zwischen  den  Zei- 
len")»  ttWiirde",  „die  Bereitschaft"  zum  Handeln,  wenn  das 
MSchicksal"  ,,ruft",  ,,die  Zwangslaufigkeit"  alien  Geschehens, 
also  das  Bekenntnis  zum  Fatalismus,  die  spartanische  t,Selbst- 
geniigsamkeit",  ,,der  Stachel  der  Verantwortung"  und  ahn- 
liches  eine  hervorstechende  Rolle.  Welch  verklemmtes  Trieb- 
leben !     Mit    einem    Wort :    Marquis    de    StraBer-Masoch, 

Wenn  diese  ,,Jakobiner  der  Deutschen  Revolution"  ((tde- 
ren  ,EnzykIopadisten'  die  feldgrauen  Helden  des  GroBen  Krie- 
ges  waren"),  ans  Ruder  komraen  werden,  dann  gehn  wir  herr- 
lichen  Zeiten  entgegen.  Der  Bauer  auf  seinem  ,,Erblehen" 
wird  der  herrschende  Typ  sein;  wir  Asphalttreter  werden  ent- 
thront;  die  Wissenschaft  wird  sich  verkriechen  miissen  und 
der  Quacksalberei  Platz  machen;  wer  Geist  hat,  wird  ver- 
stofien;  hofiert  wird  der  geistige  Kleinbiirger;  an  die  Stelle 
tatigen  Willens  tritt  das  „Es",  das  „Schicksai";  in  Literatur 
und  Kunst,  ja  uberall  wird  sich  das  Mulmige,  das  Schwammige, 
das  Dumpfe,  Ungeklarte,  Wolkige  breitmachen.  Mit  einem 
Wort;  wir  werden  sowohl  unsrer  okonomischen  wie  auch  uns- 
rer  geistigen  Situation  nach  wieder  zu  Primitiven,  zu  prahisto- 
rischen  Menschen,   zu  Barbaren  werden, 

Und  dieser  politische  Dilettantismus,  diese  Prophetien, 
diese  erkenntnisferne,  romantische  Kriegsbegeisterung,  dieser 
Hochmut  gegen  alle  Wissenschaft,  dies  Lob  des  Dumpfen,  des 
Barbarentums,  diese  metaphysische  Verschwommenheit  — ,  all 
das  wird  seine  Wirkung  nicht  verfehlen,  wenn  man  sich  nicht 
endlich  bei  den  Parteien  der  Linken  aufrafft,  an  die  Stelle 
abgeleierter  Parolen  lebendige  Ideen  zu  setzen. 

Es  tut  mir  leid,  daB  grade  in  dem  Augenblick,  wo  diese 
Polemik  erscheint,  StraBers  Organ  ,Die  Deutsche  Revolution 
verboten  ist.  Wir  bedauern  auBerordentlich,  daB  StraBer  da- 
mit  mundtot  gemacht  ist.  Hoffentlich  hat  er  bald  Gelegenheit, 
sich  zu  dem  Artikel  zu  auBern, 

137 


Dutnmheit  zu  Pferde  von  Erich  Kistner 

In  Dresden  haben,  Gott  seis  geklagt, 
*  die  deutschen  Kavalleristen  getagt. 
Sie  haben  getagt,     Sie  haben  genachtigt, 
Sie  taten   sehr   existenzberechtigt. 
Sie  trabten  in  Horden, 
sie  trabten  in  Herden, 
mit  klappernden  Or  den, 
auf  klappernden  Pferden. 
In  Anwesenheit  eines  Feldmarschalles 
sangen  sie:    „Deutschland  uber  alles". 
Die  Pferde  hielten  vorzuglich  Schritt 
und  sangen  vor  lauter  Begeisterung  mit, 

Es  gluhten,  im  Widerschein  solcher  Spafie, 
die  abgehartetsten  ReitergesaBe. 
Man   sah   gepanzerte   Kiirassiere, 
gemeine  Leute,  und  hohe  Tiere, 
und  blaue  Ulanen 
mit  wehenden  Fahnen, 
und  rote  Husaren 
mit  langen  Fanfaren, 
und  anlafilich  dieses  Maskenballes 
sangen  sie:   lfDeutschland  uber  alles" 
Die  Esel  dachten  auf  ihren  Pferden: 
Durchs  Reiten  wird  es  schon  besser  werden, 

Sie  strahlten  und  ritten,   die  Beine  breit, 

retour  in  die  deutsche  Vergangenheit. 

Sie  blahten,  ganz  wie  die  Gaule,  die  Niistern 

und  iiberhorten  den  Wind  und  sein  Flfistern: 

„Heute   Spafi, 

morgen  Gas, 

ubermorgen 

Wurmerfrafir 

Stolz  zogen  sie  iiber  Stock  und  Stein, 

ein  reitender  Mannergesangverein. 

Ein  Nervenarzt,  schon  ziemlich  alt, 

sprach:     „Marsch    mit     den   Kerls    in     die   Irrenanstalt!" 

Medizin  UDd  PubHkUtn   von  Richard  Prigge 

Professor  Prigge,  wissenschaftliches  Mitglied  des  Staat- 
lichen  Instituts  fur  experimentelle  Therapie,  versucht  hier,  die 
notorische  Vertrauenskrise  zwischen  Patient  und  Schulmedizin 
von  einer  neuen  Seite  zu  erklaren:  Nicht  Mangel  an  Erfolgen 
macht  die  moderne  Medizin  unpopular  sondern  die  notwendige 
Unanschaulichkeit  ihrer   Anschauungen. 

Oudolf  Virchow,  der  beriihmte  Erneucrcr  der  pathologischen 
Anatomie,  hat  es  fur  ganzlich  uberfliissig  erklart,  ein  Ge- 
setz  gegen  die  Kurpfuscher  zu  machen.  Er  war  der  Meinung, 
das  deutsche  Vplk  sei  intelligent  genug,  sich  selbst  gegen  sie 
zu  schiitzen.  Trotzdem  hat  der  Kampf  zwischen  der  arzt- 
lichen  Medizin  und  der  sogenannten  Naturheilkunde  heute 
scharfere  Formen  angenommen  als  je.  Nach  dem  Krieg  hat 
sich  die  Kurpfuscherei  in  vielen  Landern,  vor  allem  in  Deutsch- 
land  und  Oesterreich,  gewaltig  ausgedehnt.  Ein  Zusammenhang 
mit   mystischen   Bestrebungen  war   hier  vielfach   zu   erkennen, 

138 


besaB  aber  durchaus  nicht  die  ausschlaggebende  Bedeutung,  die 
ihm  oft  zugeschrieben  wird.  Uber  die  Ursachen  der  augen- 
blicklichen  Entwicklung  herrschen  die  allerverworrensten  An- 
sichten.  Im  allgemeinen  gilt  sie  ganz  einfach  a  Is  Ausdruck  der 
vielberedeten  „Krise  in  der  Medizin". 

Dem  Unparteiischen  stellt  sich  der  Kampf  zwischen  der 
Schulmedizin  und  der  Naturheilkunde  als  Streit  zweier  gegen- 
satzlicher  Richtungen  dar,  von.  den'en  jede  im  ausschlieBlichen 
Besitz  der  Wahrheit  zu  sein  vorgibt.  Bei  der  Entscheidung 
fur  die  eine  oder  andre  Richtung  geben  subjektive  Momente 
fast  immer  den  Ausschlag.  Um  aber  ein  objektives  Bild  von 
den  Krafteverhaltnissen  zu  gewinnen,  miiBte  man  sich  zunachst 
einmal  Klarheit  iiber  die  eigenartigen  Zusammenhange  ver- 
schaffen,  welche  die  beiden  Schulen  verbinden  oder  trennen. 
Eine  der  wichtigsten  Tatsachen,  ja  sogar  die  Grundtatsache, 
die  eine  objektive  Beurteilung  erst  moglich  macht,  scheint 
namlich  vollig  unbekannt  zu  sein.  Der  gedankliche  Inhalt  der 
Naturheilkunde  deckt  sich  zu  einem  sehr  groBen  Teil  mit 
Lehren,  die  die  Schulmedizin  vor  einigen  Jahrzehnten  oder 
noch  fruher  selbst  vertreten  hat.  Ohne  daB  hierauf  ein  Urteil 
begriindet  werden  konnte,  besteht  also  der  eigentumliche 
Sachverhalt,  daB  die  Spaltung  der.  Heilkunde  nicht  auf  dem 
Gegensatz  zweier  gleichzeitig  entstandener  Lehrmeinung^n 
beruht  —  wie  oft  in  friiheren  Epochen  der  Geschichte  —  son- 
dern  daB  der  MSchulmedizin"  eine  in  viele  Einzelrichtungen  ge- 
spaltene  konservative  Opposition  gegenitbersteht,  die  die 
Wand  lung  en  nicht  mitgemacht  hat  sondern  an  den  Lehren 
einer  vergangenen  Zeit  festhalt. 

Ein  Beispiel  macht  das  am  besten  verstandlich.  Als  man 
bei  der  Erforschung  der  Stoffwechselkrankheiten  zuerst  den 
Zusammenhang  zwischen  dem  fur  Gicht  charakteristischen 
libermaBigen  Harnsauregehalt  des  Blutes  und  gewissen  Fleisch- 
speisen,  vor  allem  Briesf  Leber,  Niere,  Hirn  feststellte,  glaubte 
man  zunachst,  die  falsch  zusammengesetzte  Nahrung  als  direkte 
Ursachei  der  Gicht  ansehen  zu  miissen,  Mit  dem  Fortschreiten 
der  Forschung  erkannte  man  freilich,  daB  die  wirkliche  Ur- 
sache  der  Erkrankung  in  einer  von  vornherein  vorhandenen 
1tkonstitutionellen"  Unfahigkeit  des  Organismus  besteht,  mit 
der  aus  der  Nahrung  herriihrenden  Harnsaure  fertig  zu  werden* 
Durch  Vermeiden  der  ^efahrlichen  Nahrungsmittel  laBt  sich 
nur  der  einzelne  Gichtanfall  verhiiten.  Aber  die  Annahme,  der 
Grundfehler  des  Korpers  iasse  sich  hierdurch  beheben,  ist 
ebenso  falsch  wie  die  Vorstellung,  er  sei  durch  libermaBigen 
GenuB  der  schadlichen  Fleischspeisen  entstanden,  Ein  Ge- 
s under  kann  so  viel  Fleisch  essen  wie  er  mag,  ohne  daB  er 
einen  Gichtanfall  zu  befiirchten  hatte.  Weil  sein  Korper  mit 
noch  so  groBen  Harnsauremengen  fertig  wird,  stellen  sie  fur 
ihn  keine  Gefahr  dar.  Die  Harnsaure  selbst  ist  kein  „Gift'\ 
das  krank  macht.  Sondern  die  Krankheit  besteht  in  dem  Un- 
vermogen,  einen  an  sich  nicht  schadlichen  Stoff  zu  bewaltigen. 
Auch  der  Zucker  ist  kein  Gift.  Nur  vermag  der  Zuckerkranke 
diesen  harmlosen  Stoff  nicht  in  normaler  Weise  zu  verarbeiten. 

Die  Vorstellung,  wonach  die  Harnsaure  selbst  als  Ursache 
von  Krankheiten   anzusehen   ist,    ist   somit   nur   eine   bequeme 

139 


Denkgewohnheit,  deren  Irrigkeit  schon  vor  Jahrzehnten  fest- 
gestellt  worden  ist.  Trotzdem  wirkt  diese  Vorstellung  wegen 
ihrer  Einfachheit  so  suggestiv,  daB  sie  noch  hcute  die  groBte 
Bedeutung  besitzt  und  daB  Naturheilkundige,  Kurpfuscher, 
Laien  und  auch  Arzte  die  verschiedensten  Systeme  zur  Be- 
handlung  und  Verhiitung  von  Krankheiten  auf  ihr  aufbauen. 
,,Harnsaure"  ist  ein  Schlagwort,  dessen  Verwendbarkeit  selbst 
unter  der  Entdeckung  der  ^Vitamine"  und  der  ,fHormone" 
kaum  gelitten  hat.  Einen  ahnlichen  Wandel  der  Vorstellungen 
wie  in  dem  angefiihrten  Beispiel  hat  die  medizinische  For- 
schung  nun  auf  den  allerverschiedensten  Gebieten  herbeige- 
fiihrt,  und  grade  dieser  Wandel  tragt  Schuld  an  der  Entfrem- 
dung  zwischen  Schulmedizin  und  Publikum.  Wenn  der  Laie  den 
veranderten  Vorstellungen  iiber  den  Harnsaure-Stoffwechsel 
noch  ohne  weiteres  folgen  kann,  so  ist  dies  auf  den  meisten 
Gebieten  infolge  der  auBerordentlichen  Kompliziertheit  der 
Forschungsergebnisse  nahezu  unmoglich.  Die  Medizin  hat  dem 
Laien  heute  einfach  „nichts  zu  sagen". 

Ich  glaubef  man  sollte  deswegen  noch  nicht  von  einer 
„Krise"  der  Medizin  reden  und  ihr  die  Existenzberechtigung 
ohne  weiteres  absprechen.  Aber  man  darf  sich  auch  nicht  ver- 
hehlen,  daB  es  der  „Schulmedizin"  heute  in  der  Tat  viel 
schwerer  fallen  mufi,  das  Vertrauen  des  Publikums  zu  erwer- 
ben  als  friiher.  Die  Naturheilkunde  und  die  Laienmedizin  hal- 
ten  noch  immer  an  den  Begriffen  und  Anschauungen  fest,  die 
die  medizinische  Forschung  in  einer  naivern  Epoche  ge- 
schaffen  hat  und  mit  denen  auch  der  Laie  operieren  konnte. 
Richtig  oder  falsch  —  sie  waren  einleuchtend.  Und  deshalb 
kommt  ihnen  das  Publikum  heute  noch  mit  Vertrauen  ent- 
gegen,  wahrend  es  die  allzu  abstrakten  Erkenntnisse  der 
wissenschaftlichen  Medizin  argwohnisch  ablehnt-  Dieser  geisti- 
gen  Haltung  des  Laien  ist  es  im  wesent lichen  zuzuschreiben, 
daB  die  Ideen,  die  friiher  das  arztliche  Denkcn  beherrschten, 
sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  gehalten  haben  und  jetzt  noch 
einmal  das  Lehrgebaude  einer  Heilschule  tragen.  Eine  Kur, 
bei  der  der  Patient  die  ,,krankmachendem  Stoffe  auszu- 
«chwitzen"  oder  sein  f1Blut  von  bosen  Saften  zu  reinigen*'  ver- 
meint,  wird  selbstverstandlich  mehr  Anklang  finden  als  ein 
Impfverfahren,  bei  dem  grade  Bazillen  von  der  Art  eingespritzt 
werden,  gegen  die  man  sich  schutzen  will  Der  Kampf  der 
alten  mit  der  neuen  Generation  hat  in  der  Geschichte  der  Me- 
dizin noch  niemals  solchen  Umfang  angenommen  wie  jetzt  — 
und  dabei  machen  wir  die  verbliiffende  Beobachtung,  daB  der 
Streit  zwischen  f, Medizin'  und  f,Naturheilkunde"  heute  noch 
gar  nicht  als  Kampf  der  Generationen  erkannt  ist. 

Wie  grofi  der  Unterschied  zwischen  der  modernen  und  der 
konservativen  Denkweise  ist,  sehen  wir  besonders  deutlichbei 
der  Lehre  von  den  ansteckenden  Krankheiten.  Ein  erkenntnis- 
freudigeres  und  erkenntnisglaubigeres  Zeitalter  konnte  die  In- 
fektion  als  tlKampf '  zwischen  Organismus  und  Bakterium  auf- 
fassen  und  sich  hierunter  zweifeilos  etwas  Handfestes  vor- 
stellen.  Die  Forschung  der  letzten  fiinfzig  Jahre  hat  ungeahnte 
Einsichten  in  das  Wesen  der  Infektionskrankheiten  gebracht, 

140 


aber  sic  hat  uns  auch  gelehrt,  wie  ungeheuer  kompliziert  die 
pathologischen  Vorgange  sind  und  wie  wenig  wir  noch  immcr 
unter  die  Oberflache  der  Erscheinungen  vordringen  konnen. 
Der  Versuch,  mit  plausiblen,  ,,handfesten"  Thesen,  die  auch 
dem  Laien  etwas  bedeuten,  Krankheitsvorgange  zu  erklaren, 
ertscheint  heute  als  naive  Unbescheidenheit.  Soweit  Verstand- 
nis  fur  das  arztliche  Denken  Vorbedingung  fiir  das  Vertrauen 
zum  arztlichen  Handeln  ist,  wird  ein  Wilder  seinem  Medizin- 
mann  mehr  Zutrauen  entgegenbringen  als  der  Europaer  des 
zwanzigsten  Jahrhunderts  einem  modernen  Arzt.  Und  grade 
der  bestausgebildete,  kenntnisreichste  Arzt  wird  sich  davor 
htiten,  dem  Patienten  Schlagworte  an  Stelle  von  wirklicheti 
Erklarungen  zu  sagen. 

Der  Ausweg  aus  diesem  Dilemma  ist  freilich  nicht  leicht 
zu  finden.  Zweifellos  kann  auf  die  Dauer  nur  das  unbeirrte 
Suchen  nach  Wahrheit  den  wirklichen  Fortschritt  bringen. 
DaB  diesem  Fortschritt  liebgewordene  Denkgewohnheiten  zum 
Opfer  fallen,  kann  selbstverstandlich  nicht  als  Argument  gegen 
ihn  gelten.  Die  primitiv  suggestive  Wirkung,  die  friihern  arzt- 
lichen Schulen  und  der  Naturheilkunde  die  enge  Fuhlung  mit 
dem  kranken  Menschen  so  leicht  machte,  ist  und  bleibt  der 
modernen  Medizin  versagt.  Dieser  Verlust  kann  nur  durch 
eine  Neuorientierung  auf  Gebieten  ausgeglichen  werden,  die 
auch  dem  Laien  zuganglich  sind.  DaB'  wir  bereits  mitten  in 
einer  solchen  Neuorientierung  begriffen  sind,  ist  schon  jetzt  in 
voller  Deutlichkeit  zu  erkennen.  Schon  die  weitverbreitete 
Losung,  , , nicht  Krankheiten  sondern  kranke  Menschen  zu  be- 
handeln",  kennzeichnet  das  Suchen  nach  neuen  Wegen.  Hier 
soil  nur  kurz  auf  ein  eigenartiges  Phanomen  hingewiesen  »sein. 
Die  Medizin  friiherer  Zeiten,  zum  Beispiel  die  altgriechische 
Heilkunde,  hatte  ihr  Augenmerk  vorwiegend  auf  die  Diffe- 
renziertheii  der  Krankheitsbilder  gerichtet  und  ihre  Heilungs- 
methoden  auf  diese  Mannigfaltigkeit  eingestellt  Die  moderne 
Medizin  hingegen  dankt  ihre  Fortschritte  grade  der  Ursachen- 
forschung,  die  auf  Vereinheitlichung  und  Ordnung  der  ver- 
wirrenden  Erscheinungen  bedacht  ist.  DaB  diese  Besirebun- 
gen  auf  einigeh  Gebieten  zur  Einseitigkeit  fiihren  und  der  in- 
dividualisierenden  Heilkunst  fiir  eine  Zeitlang  Fesseln  anlegen 
konnten,  ist  heute  allgemein  bekannt.  Aber  grade  hier  zeigt 
sich  der  Beginn  des  Wandels.  Der  Schmerz,  das  wichtigste 
Krankheitszeichen  fiir  den  Kranken,  war  lange  fiir  den  Arzt 
ein  Merkmal,  das  er  nur  schwer  deuten  konnte.  Die  unend- 
lich  vielen  Nuancen  des  Schmerzes  konnten  ihm  bei  der  Fest- 
stellung  von  Krankheiten  nur  wenig*  Fingerzeige  geben.  Aber 
seit  kurzem  gewinnt  der  Schmerz  auch  fiir  den  Arzt  mehr  und 
mehr  an  Bedeutung.  Besonders  bezeichnend  dafiir  ist  ein  Buch 
des  bedeutenden  wiener  Klinikers  Norbert  von  Ortner,  das  in 
zwei  umfangreichen  Banden  zeigt,  wie  sehr  dem  Arzt  dutch  die 
intime  Vertrautheit  mit  dem  Schmerz  und  seinen  mannigfal- 
tigen  Formen  die  Erkenntnis  der  Krankheiten  erleichtert  wird. 
Mit  diesem  Werk  ist  eine  durchaus  neue  Gattung  medizinischer 
Literatur  begrundet,  und  es  ist  daher  wie  kein  andres  geeignetf 
die  Veranderung  der  geistigen  Haltung  der  Arzte  und  des  ge- 
samten  medizinischen  Denkens  aufzuzeigen. 

141 


Lehrstiick  vom  Richter  Lindsey  Radoinrnheim 

^ITenn  jemand  hinkt,  weil  er  schlechte  Schuhe  anhat,  so  gibt 
es  zwei  Mittel,  ihn  vom  Hinken  abzubringen.  Entweder 
man  verschafft  ihm  bessere  Schuhe,  oder  man  setzt  auf  da$ 
Hinken  so  schwere  Strafen,  daB  der  Mann  sich  dazu  zwingt, 
trotz  schlechter  Schuhe  nicht  zu  hinken.  Das  zweite  Mittel 
wendet  der  Staat  in  der  Kriminaljustiz  an.  Mit  dem  ersten 
versuchte  es  der  Richter  Lindsey  aus  Denver  in  Colorado,  bis 
man  ihn  aus  dem  Amt  jagte  und  ihm  sein  Anwaltspatent  nahm; 
bis  der  Bischof  William  T.  Manning  in  offentlicher  Predigt  eine 
Hetzrede  gegen  ihn  hielt  und  die  Glaubigen  ihn  aus  der  Kirche 
priigelten.  Die  Geschichte  dieses  Passionsweges  kann  man  jetzt 
lesen  in  Ben  B,  Lindseys  und  Rube  Boroughs  Buch  „Das  ge- 
fahrliche  Leben'Y  erschienen  bei  der  Deutschen  Verlagsanstalt 
Stuttgart.  Es  gehdrt  zu  den  allerlehrreichsten  und  wichtigsten 
Biichern,  die  fur  die  Aufklarungsarbeit  zur  Verfiigung  stehen. 

Die  Einrichtungen  unsrer  heutigen  Staaten  sind  derart,  daB 
sie  zwangslaufig  Schadiinge  zuchten,  die  sich  gegen  das  Wohl 
ihrer  Mitme  rise  hen  vergehen.  Es  laBt  sich  aber  von  Staats 
wegen  gegen  diese  Einrichtungen  nichts  tunternehmen,  weil  das 
Wohlleben  derjenigen  Menschen,  die  iiber  ihr  Sein  oder  Nicht- 
sein  zu  entscheiden  haben,  eben  darauf  begriindet  ist,  dafi  sie 
so  bestehen  bleiben,  wie  sie  sind,  Der  Staat  will  sich  nicht  an 
Verbesserungsbestrebungen  beteiligen,  die  seine  eignen  Grund- 
lagen  untergraben,  und  so  tut  er  Gutes  nur,  soweit  er  nicht 
aus  Selbsterhaltungstrieb  Schlechtes  tun  muB.  Die  seltsame 
Aufgabe  der  Rechtspflege  im  heutigen  Staat  besteht  darin,  die 
Auswirkungen  des  Bosen  durch  KampfmaBnahmen  zu  unter- 
driicken,  weil  der  Herd  des  Obels  unantastbar  ist. 

Man  kann  viel  fur  die  Psychologie  des  menschlichen  Den- 
kens  lernen,  wenn  man  sich  recht  klar  macht,  wie  bereitwillig 
auch  diejenige  Menschenschicht,  die  iiber  die  gepflegtesten 
Gehirne  verfiigt,  ihren  Oberlegungen  die  derbsten  Beschran- 
kungen  auferlegt,  sobald  der  eigne  Vorteil  es  erfordert.  Wie 
wenig  zwingend  also  die  nachstliegenden  Tatsachen,  die  ein- 
fachsten  Folgerumgen  sind,  wenn  man  sich  ihnen  zu  entziehen 
wiinscht.  Denn  es  ist  ja  nicht  so,  daB  die  herrschende  Klasse 
in  bewuBter  Selbstsucht  (ihre  Machtmittel  ausnutzt  —  dahn 
lagen  die  Verhaltnisse  klar.  Sondern  eine  staatliche  Einrich- 
tung  wie  die  Rechtspflege  wird  ja  gestiitzt  von  lauter  Men- 
schen, die  das  Gute,  das  Richtige,  das  Selbstverstandliche  zu 
tun  glauben,  Kein  anstandiger,  verniinf tiger  Mensch  wiirde 
sich  je  fiir  den  richterlichen  Beruf  finden,  wenn  das  einfache 
Gefiihl  fiir  das  Groteske  einer  solchen  Beschaftigung  ihm  nicht 
mit  derselben  Natiirlichkeit  fehlte,  wie  der  blinde  Fleck  im 
Auge  unser  Sehvermogen  beeintrachtigt,  ohne  daB  wir  jemals 
etwas  davon  merken.  Diese  ratselhafte  Fahigkeit  uaisres  Orga- 
nismus,  offensichtliche  Locher  zu  iibersehen,  wenn  ihm  nur 
daran  gelegen  ist,  bietet  die  eigentliche  Voraussetzung  dafurt 
daB  so  schlechte  Staatsformen  wie  die  unsern  moglich  sind. 
Die  groBen  Obelstande  unsres  gesellschaftlichen  Lebens  waxen 
nicht  moglich,  wenn  es  den  einfluBreichen  Menschen  nicht  ver- 

142 


sagt  ware,  ihre  Ursachen  zu  verstehen.  Es  ware  an  der  Zeit, 
die  kantische  Kategorientafel  zu  erganzen  durch  eine  Schilde- 
rung  der  biologischen  Kategorien,  die  unsre  Erkenntnis  em- 
engen. 

Das  Gewehr  im  Anschlag,  steht  der  Richter  an  der  Grenze 
zwischen  Gut  und  Bose,  bereit,  sofort  zu  schieBen,  sobald  einer 
diese  Grenze  uberschreitet  Zwei  Eigenschaften  machen  ihn 
tiichtig  fiir  seinen  Beruf:  er  muB  einen  moglichst  scharfen 
Blick  fiir  den  Verlauf  der  Grenzlinie  haben,  und  er  muB  so 
kurzsichtig  seinf  daB  er  diesseits  und  jenseits  dieser  Grenze 
nichts  wahrzunehmen  vermag.  Fehlte  ihm  die  erste  dieser 
Eigenschaften,  so  fiele  er  durchs  Referendarexamen,  fehlte  ihm 
die  zweite,  so  brachte  er  niemals  die  rechtliche  Oberzeugtheit 
auf,  die  er  fiir  seinen  Beruf  unbedingt  braucht. 

So  unerschutterlich  aber  dieser  Mechanismus  der  Sichtbe- 
schrankung  fur  den  Durchschnittsmenschen  ist,  so  prompt  fallt 
er  iiber  den  Haufen,  wenn  ein  auBergewohnlich  Begabter  auf- 
tritt.  Wie  die  Geschichte  der  Wissenschaften  zeigt,  besteht 
das  Besondre  der  genialen  Entdecker  weniger  darin,  daB  sie 
neue  Tatsachen  auffinden,  als  daB  sie  die  alten  ohne  die  ge- 
danklichen  Bindungen  des  zeitgenossischen  Geistes  zu  priifen 
wissen.  Ganz  ahnlich  liegt  es  im  Politischen  und  im  Sittlichen. 
Das  Verdienst  des  Richters  Lindsey  besteht  nicht  in  Ent- 
deckungen  sondern  einfach  in  der  Fahigkeit,  das  Selbstver- 
standliche  und  Natiirliche  ohne  die  verfalschenden  Vorurteile 
der  Zeitgenossen  zu  sehen.  Daher  wirkt  das,  was  er  tut  und 
vortragt,  in  einem  hohen  Sinne  einfaltig.  Es  ist  ein  Kreuzzug 
des  schlichten  common  sense  gegen  die  ausgekliigelten  Raffine- 
ments  der  Beschranktheit, 

Zur  Zeit  des  Paracelsus  trugen  die  Arzte  rote  Rocke  und 
Barette  als  Amtstracnt.  Heute  tun  sie  ihre  Arbeit  nicht  min- 
der wirksam  im  gewohnlichen  biirgerlichen  Anzug.  Friiher  do- 
zierte  und  predigte  man  lateinisch,  heute  geht  es  auch  auf 
deutsch.  Es  ist  erstaunlich  zu  sehen,  wie  die  Berufsbeschafti- 
gungen,  je  fachlicher  und  fur  den  Laien  unzuganglicher  sie  wer- 
den,  sich  im  AuBerlichen  immcr  starker  verdilettantisieren.  Je 
weiter  der  menschliche  Geist  fortschreitet,  um  so  mehr  ver- 
zichtet  er  auf  die  Zaubermittel  des  Medizinmannes;  um  so 
entschiedener  ersetzt  er  die  Suggestionswirkung  auBerlicher 
Aufmachung  durch  die  sachliche  Wirkung  der  eigentlichen 
Leistung.  Ond  es  ist  natiirlich  kein  Zufallt  daB  die  Arzte  den 
roten  Rock  langst  abgelegt  haben,  wahrend  die  Richter  und 
Priester  und  Soldaten  noch  heute  in  Robe  und  Ornat  und  Uni- 
form herumlaufen.  Denn  wahrend  der  Wert  der  arztlichen 
Arbeit,  trotz  aller  Einschrankungen,  so  offensichtlich  ist,  daB 
ihn  auch  der  Dumme  begreift,  fallt  der  Sinn  der  richterlichen, 
priesterlichen,  militarischen  Arbeit  vor  aller  Augen  in  sich  zu- 
sammen,  sobald  sie  sich  ihrer  iheatralischen  Einkleidung  begibt 
und  nur  die  Sache  wirken  laBt-  Am  Beispiel  Lindseys  kann 
man  sehen,  wie  ihn  die  Abkehr  vom  richterlichen  Zeremoniell 
mit  Notwendigkeit  nicht  zu  einer  verbesserten  Rechtspflege 
sondern  iiberhaupt  von  der  Rechtspflege  fort  fuhrt.  Zu  einer 
Art  arztlicher  oder  weltlich-seelsorgerischer  Betatigung.  Und 
zur'  Revolte  gegen  die  wichtigsten  staatlichen  Einrichtungen, 

143 


Der  Fall  Lindscy  ist  dcshalb  so  bemerkenswert,  wcil  es 
sich  hicr  nicht  urn  einen  anarchischen,  fanatischen  AuBenseiter 
handelt  sondern  um  einen  sehr  friedlichen  Menschen,  der  sein 
Leben  mit  biirgerlichen  Absichten  und  Anspriichen  begann  und 
dann  allmahlich,  durchaus  gegen  sein  en  Willen  und  gegen  sein 
Temperament,  Schritt  fiir  Schritt  aus  der  Bahn,  in  die  Oppo- 
sition gedrangt  wurde.  Seine  Erlebnisse  sind  so  iibersichtlich 
und  unmittelbar  verstandlich,  daB  man  sich  kaum  einen  besse- 
ren  Stoff  fiir  ein  belehrendes  Volksstiick  denken  kann,  Weil 
sein  Schicksal  sich  in  einem  kleinen  amerikanischen  Staat  ab- 
spielt,  sind  die  Machte,  gegen  die  er  zu  kampfen  hat,  sehr  an- 
schaulich  durch  Personen  vertreten;  Herr  Evans  von  der 
Strafienbahngesellschaft,  Herr  Field  von  der  Telephongesell- 
schaft,  Herr  Cheeseman  von  den  Wasserwerken  —  darunter 
kann  man  sich  etwas  vorstellen,  und  es  ist,  damit  der  Begriff 
Fleisch  werde,  nicht  notig,  ,,den"  Kapitalisten  mit  der  Speck- 
falte  zu  bemtihen,  der  als  symbolische  Zirkusfigur  in  unsrer 
Tendenzdramatik  spukt. 

Der  Durchschnittsrichter  schlieBt  von  der  Tat  auf  den 
Tater,  Lindsey  schlieBt  vom  Tater  auf  die  Tat.  Das  soil  heiBen: 
der  Jurist  teilt  vom  Delikt  her  die  Menschen  in  zwei  Klassen 
ein,  in  straffallige  und  unbescholtene,  Fiir  ihn  wird  das  Ver- 
haltnis  des  Menschen  zu  den  G^setzen  zum  wichtigsten  Kenn- 
zeichen  des  Menschen  uberhaupt,  zur  differentia  spezifica.  Der 
Typ  Lindsey  sieht  sich  den  ,,Angeklagten"  an,  sieht  einen  nor- 
malen,  nicht  unsympathischen  Menschen  und  schlieBt  daraus, 
daB  sich  die  schlimme  Tat  irgendwie  als  die  Verbiegung  einer 
im  Grunde  guten  Anlage  miisse  erklaren  lassen.  Fiir  ihn  ist  die 
Menschheit  eine  einheitlich  gutartige  Spezies,  von  der  einzelne 
Exemplare  durch  hohere  Gewalt  schuldig  werden,  Der*  Jurist 
hingegen  schaltet  —  nicht  immer  im  einzelnen  praktischen  Fall 
aber  sicherlich  in  der  Grundanschauung  —  unter  dem  Zwang 
politischer  Axiome  die  Einflusse  jener  hpheren  Gewalten  auto- 
matisch  aus,  und  da  also  die  exogenen  Faktoren  forttallen,  muB 
er  die  Verantwortlichkeit  fiir  das  Endprodukt,  eben  den 
Rechtsbruch,  und  seine  Ursache  in  die  Anlage  des  Obeltaters 
hineinlegen.  Das  heiBt,  fiir  ihn  gibt  es  auf  der  Welt  zwei  Sor- 
ten  Menschen,  gute  und  schlechte,  und  wenn  der  Staat  sich 
gegen  die  Schlechten  wehrt,  so  bekampft  er  damit  nicht  seine 
eigne  sondern  des  Angeklagten  Schlechtigkeit! 

Es  ist  nun  sehr  fesselnd  zii  sehen,  wie  iiberall  in  Lindseys 
MaBnahmen  die  Bemiihung  steckt,  im  Rechisbrecher  dieselbe 
Gutartigkeit  zu  demonstrieren,  die  man  nur  den  Unbescholte- 
nen  zuschreibt,  ihn  also  von  seiner  Tat  zu  trennen  und  seine 
Verwandtschaft  mit  den  Rechtlichen  aufzuzeigen.  Die  Metho- 
den  des  Juristen  zeigen  die  Grundmeinung,  daB  es  darum  gehe, 
die  minderwertige  Artung  des  Rechtsbrechers  durch  Macht- 
mittel,  die  den  seinen  iiberlegen  sind,  in  Schach  zui  halten  — 
ihn  zu  fesseln  und  einzusperren,  damit  er  nicht  weiter  Schad- 
liches  tun  kann,  ihm  Nachteile  anzudrohen,  die  ihm  die  Vor- 
teile  aus  seinen  Untaten  weniger  verlockend  machen  sollen. 
Es  handelt  sich  um  reine  Kampfmethoden,  auf  dem  Boden  der 
gegebenen  Tatsache,    daB   der   Mensch  schlecht    ist.     Lindsey 

144 


schickt  Hunderte  von  jugendlichen  Krimincllen,  Diebet  Morder 
und  Einbrechcr,  zum  Entsetzen  der  Polizei  ohnc  allc  Bedeckung 
allein  auf  die  Fahrt  zmt  Fiirsorgeanstalt,  und  aus  dcr  Erfahrung, 
dafi  nicmals  cincr  entwischt,  beweist  er,  cin  wie  hohes  MaB 
von  Sportsgeist  —  feierlichcr;  Sittlichkeit  —  in  ihnen  steckt, 
Seine  Art,  ,,Gerichtsverhandlungen"  zu  fiihren,  zeigt  dasselbe 
Bestreben,  den  Angeklagten  aus  der  Kampfstellung  gegen  das 
Gesetz  zu  locken  und  ihn  zum  willigen,  dankbaren  Patienten 
zu  machen.  Er  reiBt  die  Barrikade  nieder,  er  sitzt  nicht  hin- 
term  Richtertisch  und  der  Angeklagte  nicht  auf  der  Anklage- 
bank.  Er  treibt  die  Anwalte  aus  dem  Tempel  und  ladt  den 
Staatsanwalt  mit  den  jugendlichen  Einbrechern  zusammen  zum 
Mittagessen  ein.  Und  sogleich  stiirzt  das  Grundprinzip  aller 
Rechtspflege;  die  Menschen  auf  der  Anklagebank  sind  anders 
und  zwar  schlechter  geartete  Menschen  als  wir!  Damit  ent- 
fallt  alle  Unbefangenheit  des  ,,Richtens". 

Sehr  einleuchtend,  daB  Lindsey  vom  Jugendgericht  her  zu 
seinen  Erkenntnissen  kommt.  Denn  beim  Jugendlichen  ist  es 
besonders  auffallig,  wie  stark  das  Delikt  durch  schlechte  Ein- 
fliisse  der  Umwelt  bestimmt  ist,  Lindsey  setzt  sich  fur  ein 
„MitwirkungsgesetzM  ein,  nach  dem  die  verantwortlichen  Er- 
wachscnen  mit  fur  das  Vergehen  des  Jugendlichen  bestraft 
werden  sollen,  Er  ist  da  auf  einem  gefahrlichen  Wege,  denn 
wenn  er  sich  sein  Mitwirkungsgesetz  genau  ansieht  —  und  er 
tut  es  —  dann  fallen  darunter  nicht  nur  schlechte  Eltern  son- 
dern  vor  allem  der  groBe  schlechte  Vater,  der  Staat.  Und  den 
Staat   darf  man  nicht  bestrafen. 

So  miinden  Richter  Lindseys  Cberlegungen  und  Erfahrun- 
gen  in  einer  Negierung  der  Rechtspflege  ,iiberhaupt.  Er  be- 
greift,  daB  dort,  wo  zugepackt  werden  darf,  nicht  zugepackt 
werden  darf.  Er  begreift  auch,  daB  man  nicht  strafen  sondern 
heilen  muB,  und  da  es  mit  ambulatorischer  Behandlung  nicht 
getan  ist,  geht  er  aus  dem  Gerichtssaal  in  die  Wohnungen  der 
Schuldigen  und  also  Hilfsbediirftigen,  wird  zum  Heifer,  zum 
Anwalt,  zum  Kampfer.  Geht  aus  dem  Gerichtssaal  und  findet 
nicht  mehr  zuriick. 


Tanzkunst  durch  Eilboten  von  Ernst  K*iiai 

TNT  eil  das  Figurenspiel  des  alten  Balletts  sich  zur  ausdrucka- 
losen  Arabeske  uberlebt  hatte,  suchte  der  neue  Tanz 
neuen  Inhaft  und  damit  neue  Formen  zu  gewinnen,  Es  ent- 
stand  der  moderne  Ausdruckstanz,  der  sich  wie  die  gesamte 
moderne  Kunst  1(ielfach  an  primitive  und  exotische  Vorbilder 
oder  an  kultische  Gebrauche  des  Mittelalters  anlehnt,  soweit 
seine  Anregungen  nicht  in  Bewegungselementen  der  Maschine 
und  der  rhythmischen  Gymnastik  zu  suchen  sind.  Es  gibt,  um  nur 
zwei  auBerste,  aber  in  ihrer  gegenseitigen  Zuordnung  fiir  die 
gesamte  moderne  Tanzsituation  bezeichnende  Gegensatze  zu 
nennen,  ein  Tanzdrama  Mary  Wigman  und  eine  Tanzgymnastik 
Palucca.  Und  es  gibt  zwischen  diesen  auBersten  Zuspitzun- 
gen    alles    Erdenkliche,    bemuht,    eine    tanzerische    Harmlosig- 

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keit,  wenn  nicht  eine  Armut  an  urspriinglicher  Tanzsinnlich- 
kcit  mit  abstrakten  Alliiren  hochzustilisieren,  sehr  geistig,  sehr 
seelisch,  sehr  ideenvoll  zu  tanzen.  IndeB  —  man  wiinschte 
weniger  Ideen  und  mehr  Tanz  zu  sehen. 

Wir  sind  weit  entfernt  von  dem  glticklichen  Zustand  ost- 
licher  und  siidlicher  Volker,  bei  denen  der  Tanz  allgegen- 
wartig  istf  zu  jedcr  Zeit  und  in  jeder  Situation  bercit,  in  Be- 
wcgung  zu  geraten.  Die  Deutschen  haben  cine  Marschier- 
und  Sitzfleischseele,  und  zwar  je  mehr  sie  dem  PreuBentum 
verfallen,  um  so  ausschliefllicher.  Ihre  Tanze  brauchen  be- 
sondere  Ab-Gelegenheit  und  Inszenierung,  um  sich  in  die 
Glieder  zu  wagen.  Aus  diesem  kargen  Tanzboden  versucht 
man  von  heute  auf  morgen  eine  neue  Tanzkunst  herauszu- 
s  tamp  fen,  Kame  es  nur  auf  Ideologien,  auf  Methodik,  Syste- 
matik  und  Energie,  vor  allem  aber  auf  Betriebsamkeit  an,  dann 
miiBten  wir  schon  langst  eine  erstaunliche  Tanzkultur  haben. 
Die   Quantitat  reicht.     Aber  die  Qualitat? 

Es  gibt  zweifellos  manche  wichtige  Leistung,  wenn  auch 
der  Begriff  ffLeistung"  an  sich  bereits  etwas  anruchig  Be- 
wuBtes,  allzu  BewuBtes  enthalt.  Das  eigentlich  Schopferische 
aber  ware  unbewuBt,  ware  natiirliches,  organisches  Wachstum, 
wenn  auch  selbstverstandlich  kunstvoll  gegliedert  und  geregelt. 
Mehr  ein  Geschenk,  das  uns  ein  giitiger  Schlaf  beschert,  als 
eine  Leistung  des  Willens.  Wir  aber  ,fwollen"  um  jeden  Preis, 
mit  verbissener  Energie,  eine  Tanzkunst  produzieren,  AUe 
Achtung  vor  Heroismen.  Aber  es  gehort  schon  ein  fur  unser 
tanzerisches  SelbstbewuBtsein  zwar  sehr  schmeichelhafter,  je- 
doch  in  Anbetracht  des  tatsachlich  Erreichten  geradezu  unver- 
frorener  Enthusiasmu«  dazu,  wenn  ein  prominenter  berliner 
Tanzkritiker  die  deutsche  Tanzkunst  zu  einer  nWeltkunst" 
proklamiert,  die  vor  kurzer  Zeit  zwar  noch  gar  nicht  existiert 
habe  aber  „vor  etwa  ein  Dutzend  Jahren  mit  einem  Male  da 
war,  als  Mary  Wigman  die  Biihne  betrat".  Zwolf  Jahre  ge- 
niigten,  um  diese  phanomenale  Entwicklung  zu  erzielen-  Eine 
Weltkunst  in  zwolf  Jahren.  Enorme  Leistung!  Nur  dem  Auf- 
stieg  des  Films  vergleichbar  —  und  ebenso  maBlosf  ebenso  in- 
stinktlos  in  der   eignen   Selbstiiberhebung  wie  dieser. 

Eine  Weltkunst  in  zwolf  Jahren.  Man  muB  diesen  Satz 
immer  wieder  langsam,  mit  Bedacht  wiederholen,  um  das 
ganze  MaB  von  zivilisatorischem  Ungeist  zu  erfassen,  der  in 
dieser  AuBerung  ernes  vom  Industrialismus  und  Merkantilismus 
her  auch  in  Dingen  der  Kunst  eingefleischten,  hier  aber  aufs 
iibelste  unangebrachten  Produktionsdiinkels  liegt  GewiB  ist 
unsre  Weltkunst  in  Amerika  gefeiert  worden.  Vom  selben 
Amerika,  das  uns  einen  kitschigen  Damenliebling  wie  Ted 
Shawn  als  seinen  groBten  Tanzer  zu  prasentieren  beliebte-  Er 
genugtf  um  die  kiinstlerische  Legitimiertheit  des  Erfolges 
„druben"  ins  richtige  Licht  zu  setzen. 

Nehmt  alles  nur  in  allem:  Die  deutsche  Welttanzkunst 
schielt  nach  alien  Himmelsrichtungen  der  Exotik.  Allerdings 
ist  dieser  Eklektizismus  von  den  Tanzbeflissenen  und  ihren 
enthusiastischen  Verkiindern  auf  bequemste  Weise  zu  ver- 
klaren    als    schopferische    Leistung    einer    Kultur    der    Mitte. 

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Deutschland  ist  doch  bekanntlich  das  Land  der  neucn  Mitte 
zwischen  Ost  und  West.  Hier  wird  das  zur  Weltvollendung 
und  Weltgeltutng  gemixt  und  reif  „gemacht'\  was  auf  Java  und 
in  Siam,  in  RuBland  und  in  Spanien,  bei  den  Negern  und  In- 
dianern  von  Amerika  nur  provinziell  war,  wenn  auch  ein 
Wachstum  etlicher  Jahrhunderte  oder  Jahrtausende.  Wir 
,,schaffen"  das  in  zwolf  Jahren. 

Weil  wir  von  alien  guten  Geistern  der  Kultur  verlassen, 
mit  unserm  Gehirn  und  unsern  Nerven,  mit  unserm  durch  und 
durch  bewuBt  bespiegelten  karglichen  Seelenrest  nur  noch  auf 
Rekorde  der  Schnetlfertigkeit  jagen  —  nur  aus  dieser  Ver- 
blendung  bilden  wir  uns  ein,  in  zwolf  Jahren  eine  rieue 
„Standardkunst  herausgebracht"  zu  haben:  die  deutsche  Welt- 
tanzkunst.  Und  weil  wir  auf  unsre  einstweilen  noch  recht 
fragwurdigen  Anfange  so  lacherlich  eingebildet  sindt  daB  wir 
es  fertig  bring  en,  alle  KunstwertmaBstabe  auf  den  Kopf  zu 
stellen  und  uns  fur  die  Spitze  zu  erklaren  -*-  weil  wir  so 
lacherlich  eingebildet  sind,  muB  man  von  den  meisten  Tanz- 
abenden  und  Tanzmatineen  so  heillos  begossen,  so  entsetzlich 
deprimiert  nach  Ha  use  gehen. 


Der  MiteSSer  von  Theobald  Tiger 

Denen,  die  sich  nicht  getroffen  fiihlen 
Cr  wohnt  am  Rand  der  reichen  Leute, 
■■-1  verkehrt  ^mit  Adcl  und  heiBt  Schmidt. 
Den  Schlips  von  morgen  tragt  er  heute 
und  fahrt  in  fremden  Autos  mit. 

Er  lebt  in  einem  ihm  fremden   Stile  — 
Fauler  Koppf 
Fauler  Snob! 
Aber   davon  gibts  viele, 

Er  selbst  hat  nur  ein  kleines  Zimmer, 

als  Untermieter  bei  Frau  Schay, 

Doch  gcht  er  aus,  dann  tut  er  immer, 

als   war   er  aufgewachsen  bei. 

Yon  der  Socke  bis  zum  gescheitelten  Haar: 

es  ist  alles  nicht  wahr  —  es  ist  alles  nicht  wahrf 

Er  ist  so  gerne  eingeladen: 

er  zeckt  an  Kaufmann  und  Bankier. 

Er  weiB:  am  Lido  muS  man  baden, 

er  gruBt  im  Ritz  den  Herrn  Portier.  ' 

Er  nassauert  elegant  und  beflissen 

vor  fremden  Kulisscn. 

Was  er  auch  hat,  das  hat  er  gratis. 
Er  lauft  mit  der  Society. 
Er  kennt  die  feinsten  Cocktail -Parties. 
Nur  seine  Lage  kennt  er  nie. 

Bald  kunstgewerblicher  Friseur, 

bald  Redakteur  . . . 

so  sehn  wir  ihn  gestern,  morgen  und  heute: 

ein  Affe. 

Ein  Affe  der  reichen  Leute. 

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Die  Schlagerclique  dementiert  Herbervtonconnor 

T")afi  der  Artikel  „Schlagerindustrie  im  Rundfunk"  (Nummer  28  der 
*~*  .Weltbuhne')  nicht  ohne  eine  Entgegnung  der  angegriffenen  Kreisc 
bleiben  wtirde,  war  vorauszusehen.  Denn  ein  Blick  hintcr  die  Ku- 
lissen  der  Schlagerpropaganda  im  Rundfunk  tun,  hieB,  die  Schlager  - 
industrie  in  ihrem  empfindlichsten  Punkte  treffen.  Nicht  vorauszu- 
sehen allerdings  war,  daB  die  Erwiderungen  derart  toricht  sein  wur- 
den,  nicht  vorauszusehen  war,  daB  weder  vom  berliner  Rundfunk, 
noch  von  der  Reichrundfunkgesellschaft  auch  nur  der  Versuch  einer 
Rehabilitierung  gemacht  werden  wvirde. 

Es  meldeten  sich  zu  Worte  die  Herren  Wilczynski  und  Scheiben- 
hofer, beide  beschuldigt,  ihre  Stellung  im  Rundfunk  zu  personlichen 
Zwecken  ausgebeutet  und  der  Schlagerindustrie  Handlangerdienste 
geleistet  zu  haben.     Wilczynski  „berichtigt"  diese  Vorwiirfe  wie  folgt: 

„1.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  ich  an  leitender  Stelle  im  Rundfunk 
sitze.  Wahr  ist  dagegen,  dafi  ich  weder  direkt  noch  indirekt  mit 
dem  Rundfunk  zu  tun  habe  und  also  auch  nicht  angestellt  bin. 

2.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  samtliche  Schlagerprogramme  der  deut- 
schen  Rundfunkstationen  durch  meine  Hande  gehen.  Wahr  ist  da- 
gegen, daB  ich  die  Rundfunkprogramme  vorher  uberhaupt  nicht  kenne 
und  nur  dann  kennen  lerne,  wenn  ich  zufallig  ein  Programm  abhore. 

3.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  ich  meinen  Posten  in  erster  Linie  dazu 
benutze,  um  moglichst  hohe  Auffuhrungsziffern  fur  mich  herauszu- 
schinden.  Wahr  ist  vielmehr,  daB  ich  keinen  Posten  im  Rundfunk 
habe,  also  auch  nicht  diesen  Posten  zu  genanntem  Zweck  ausnutzen 
kann. 

Wahr  ist  ferner,  daB  ich  noch  keine  Schlager  schrieb,  als  ich  vor 
etwa  anderthalb  Jahren  dem  Rundfunk  angehorte. 

4.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  in  jeder  Schlager-Veranstaltung  man 
vier  bis  funf  meiner  Nummern  eingelegt  findet.  Wahr  ist  vielmehr, 
daB  ich  im  Gegensatz  zu '  anderen  Autoren  viel  zu  wenig  gespielt 
werde,  weil  ich  eben  einmal  in  ganz  anderer  Position  dem  Rundfunk 
angehorte,  und  man  bemiiht  ist,  jede  Bevorzugung  meiner  Person  zu 
vermeiden. 

5.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  besonders  die  „Bunten  Sonnabend- 
Abende1'  reine  Propaganda- Veranstaltungen  meiner  Schlager  sind. 
Wahr  ist  dagegen,  daB  ich  in  grade  den  „Bunten  Sonriabend-Abenden" 
fast  nie   gespielt  werde,  woruber  ich  oft   Klage  fuhrte. 

6*  Es  ist  nicht  wahr,  daB  Herr  Scheibenhofer  jemals  mein  Mit- 
arbeiter  in  irgendeiner  Form  gewesen  ist.  Wahr  ist  dagegen,  daB  ich 
nachweislich  das  Treiben  des  Herrn  Scheibenhofer  stets  deutlich  ge- 
miflbilligt  habe. 

7.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  man  in  jeder  Woche  irgendwo  im  Reich 
eine  Sendung  entdeckt,  die  ausschlieBlich  meiner  Produktion  ge- 
widmet  ist,  Wahr  ist  vielmehr,  daB  ich  hin  und  wieder  wie  jeder 
andre  fur  eine  Schlagerstunde  verpflichtet  werde-  Wahr  ist  dagegen, 
daB  ich  besonders  von  Berlin,  abgesehen  von  den  andern  Sendern, 
stets  stiefmutterlich  be  hande  It  werde.  Wahr  ist  ferner,  daB  ich  z.  B. 
in  Berlin  in  anderthalb  Jahren  einmal  zu  Worte  kam,  woruber  ich 
mit  Recht  Klage  ftihre. 

8.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  man  meine  Nummern  ungesehen  druckt. 
Wahr  ist  dagegen,  daB  ich  im  Gegensatz  zu  andern  Schlagerautoren 
wenig  schreibe,  und  daB  die  Verleger  selbstverstandlich  nicht  alles 
nehmen,  was  ich  ihnen  anbiete. 

9.  Es  ist  nicht  wahr,  daB  die  Tonfilmindustrie  sich  die  Beine 
nach  mir  ausreiBt.  Wahr  ist  vielmehr,  daB  sie  dies  durchaus  nicht 
tut,  und  ich  nur  sehr  wenig  Schlager  fur  die  Tonfilmindustrie  schrieb. 

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10.  Es  ist  nicht  wahr,  dafi  ein  dickes  Aktienpaket  hinter  mir 
stent.  Wahr  ist  dagegen,  dafi  ich  keine  Aktien  besitze  noch  je  be- 
sessen  habe. 

11.  Es  ist  nicht  wahr,  dafi  ich  bisher  nicht  zu  stiirzen  gewesen  bin* 
Wahr  ist  dagegen,  dafi  ich  nicht  zu  stiirzen  bin,  weil  kein  Amt  fur 
mich  vorhanden  ist,  aus  dem  ich  gestiirzt  werden  kann.  Vielmehr  ist 
wahr,  dafi  ich  gegen  den  Willen  aller  mafigebenden  Herren  im  Rund- 
funk  aus  rein  privaten  Griinden  vor  anderthalb  Jahren  von  meinem 
Amt  zunickgetreten  bin." 

Dieser  Brief  ist  uberaus  charakteristisch:  Ein  Mann  ohne  Talente 
und  Verdienste,  den  eine  Konjunkturwelle  an  die  Oberflache  ge- 
schwemmt,  und  der  es  verstanden  hat,  Beziehungen  anzukntipfen  und 
auszunutzen,  bekleidet  jahrelang  einen  reprasentativen  Posten  in  der 
Funkstunde  und  scheidet  plotzlich  eines  Tages  offiziell  aus  dieser  In- 
stitution aus.  Ein  merkwiirdiger  Zufall  will  es,  dafi  er  in  dem  Mo- 
ment, in  dem  er  seinen  Posten  „aus  privaten  Griinden"  aufgibt,  sein 
Talent  fiir  Schlagertexte  entdeckt.  Er  fangt  also  an  zu  dichten,  nicht 
besser,  hochstens  schlechter  als  die  meisten  seiner  Kollegen,  und  er- 
reicht  durch  seine  Beziehungen,  dafi  seine  Sachen  von  alien  Rund- 
funkstationen  gesendet  und  den  wehrlosen  Horern  so  lange  eingeblaut 
werden,  bis  die  unscheinbaren  Texte  Schlager,  echte,  tantiemen- 
trachtige  Schlager  geworden  sind.  Als  die  Verleger  und  Filmfabri- 
kanten  die  Zusammenhange  bemerken,  fangen  sie  an,  sich  fiir  den 
neugebackenen  Schlagertextdichter  gewaltig  zu  interessieren.  Herr 
Wilczynski  wird  der  begehrteste  Textdichter  in  der  ganzeji  Branche. 
Im  Nebenberuf  ist  er  nach  wie  vor  als  maitre  de  plaisir  im  Rundfunk 
tatig  und  arrangiert  Feste,  heitere  Abende  und  ahniiche  Veranstaltun- 
gen,  auf  denen  Schlager  popular  gemacht  zu  werden  pflegen. 

Wir  glauben  es  Herrn  Wilcynski  sehr  gern,  dafi  er  keine  „Stel- 
lung"  beim  Rundfunk  im  gebrauchlichen  Sinne  des  Wortes  hat,  wir 
kennen  seine  bescheidene  Art,  am  liebsten  im  Stillen  zu  wirken. 
Wurde  doch  selbst  sch'on  in  der  Pots  darner  Strafie  auf  telephonische 
Anfrage  hin  geantwortet,  dafi  ein  Herr  Wilczynski  im  Hause  nicht  be- 
schaftigt  seif  indessen  der  Herr  Schlagertextdichter  oben  im  dritten 
Stock  in  seinem  Bureau  arbeitete.  Aber  mit  solchen  Dingen  macht 
man  die  Of fentlichkeit  nicht  dumra.  Jedes  Kind  in  Berlin  weifi,  dafi 
Herr  Wilczynski  im  Funkhaus  ein-  und  ausgeht  und  mafigebendsten 
Einflufi  ausiibt,  jedes  Kind  weifi,  dafi  Wilczynski  diesen  ganzen  Ein- 
flufi  zur  Lancierung  seiner  eignen  Schlager  aufbietet.  Die  Funk- 
stunde hat  die  Wahl:  Entweder  sie  deckt  Wilczynski  mit  ihrem  Na- 
men,  dann  hat  sie  erneut  bewiesen,  wie  versippt  und  vervettert  ihr 
Betrieb  ist,  oder  sie  gibt  ihn  preis  —  dann  hat  sie  sich  und  der 
offentlichen  Sauberkeit  einen  gleich  grofien  Dienst  erwiesen. 

Interessant  ist,  dafi  sowohl  Wilczynski  ostentativ  von  seinem 
Kollegen  Scheibenhofer  abriickt  und  Wert  auf  die  Feststellung  legt, 
dafi  er  dessen  Treiben  stets  ..deutlich  gemifibilligt1*  habe,  als  auch 
Herr  Scheibenhofer  selbst  in  einem  Schreiben  an  die  ,Weltbiihne'  be- 
tont,  dafi  er  Wilczynski  nur  „voriibergehend"  kenne  und  weder  ge- 
schaftliche  noch  gesellschaftliche  Verbindung  mit  ihm  habe.  So  zwei 
Herren,  die  seit  Jahren  im  selben  Betrieb  und  im  selben  Ressort 
arbeiten.  Des  weitern  schreibt  Herr  Scheibenhofer  in  dem  ihm  ange- 
borenen  gepflegten  Deutsch:  „Erstens  ist  es  nachweislich  durch  meine 
Direktion  festzustellen,  dafi  ich  von  der  Funk  Stunde  AG.  Be- 
st echungen  halber  nicht  entlassen  wurde.  Ich  habe  heute  wieder 
meinen  Dienst  angetreten.  Dafi  ich  keinen  Menschen  in  der  Funk 
Stunde  jemals  bestochen  habe,  werde  ich  einwandfrei  nachweisen. 
Diese  Verlaumdung,  die  mir  in  jeder  Weise  beruflich  wie  geschaftlich 
schaden  kann,  werde  ich  auf  das  scharfste  verteidigen."  Nun,  was  die 
Verteidigung  unsrer  „Verleumdung"  anlangt,  sie  ist  gut  genug  fundiertf 
um  Herrn  Scheibenhofers  Verteidigung  entbehren  zu  konnen.  Wie 
Herrn   Scheibenhofers   Entlassung   zum   1.   September  von   der   Funk- 

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stunde  nach  aufien  hin  motiviert  werden  wird,  ist  fur  den  Tatbestand 
gleichgultig,  Im  ubrigen  verwechselt  Herr  Scheibenhofer  passive  mit 
aktiver  Bestechung.  Passive  Bestechung  ist  es,  wenn  er  als  Ange- 
stellter  des  Rundfunks  vom  Verlag  Meisel  Geldcr  zur  Propagierung 
seiner  Schlager  entgegennimmt. 

Zum  SchluB  uoch  eine  flBerichtigung"  des  Siiddeutschen  Rund- 
funks: „In  dem  Artikel  ,Die  Schlagerindustrie  im  Rundfunk' .  ist  gesagt: 
fDer  Suddeutsche  Rundfunk  in  Stuttgart  und  Frankfurt  hat  beispiels- 
weise  seine  festen  Satze  fur  sogenannte  Schlagerstunden,  die  jeder 
Verlag  sich  kaufen  kann,  Der  Preis  schwankt  zwischen  dreihundert 
und  funfhundert  Mark.  Skandalos  ist  dabei,  dafi  eine  solche  Schla- 
gerstunde  nicht  etwa  als  Werbesendung  gekennzeichnet  wird,  sondern 
das  offizielle  Programm  fiillen  bilft/  Diese  Darstellung  ist  von  vom 
bis  binten  unwahr.  Richtig  ist  vielmehr,  daB  fiir  die  Schlager-  und 
Schallplattenstunden  im  Programm  unsrer  Gesellschaft  —  sei  es 
direkt  —  sei  es  indirekt  —  keinerlei  Vergtitung  bezablt  oder  sonstige 
Leistungen  gewahrt  werden,  sondern  die  Schallplattenprogramme  le- 
diglich  nach  kiinstlerischen  Gesichtspunkten  aufgestellt  werden,  Ledig- 
lich  in  der  als  ,Werbekonzert'  besonders  gekennzeicbneten  Sendung 
werden  Schallplatten  auf  Grand  von  geschaftlichen  Abscbltissen  ge- 
spielt.  Dies  Werbekonzert  ist  jedoch  keine  Veranstaltung  unsrer  Ge- 
sellschaft, sondern  eine  Veranstaltung  der  Deutschen  Reichspost- 
reklame  G*  m.  b.  H,,  die  hierauf  ein  konzessionsmaBiges  Recht  hat, 
und  hat  mit  Darbietungen  unsrer  Gesellschaft  nichts  zu  tun/'  Der 
suddeutschg  Rundfunk,  der  ja  zu  derselben  Sendegesellschaft  gehort, 
schickt  eine  Erklarung,  die  mit  anderen  Worten  dasselbe  besagt. 
v  Hierzu  bemerkt  der  Verfasser  der  von  vorn  bis  hinten  unwahren 
Darstellung  folgendes:  Er  selbst  unternahm  im  Sommer  des  Jahres 
1928  als  Propagandaleiter  eines  Schlagerverlags  eine  Reise  nach  Stutt- 
gart, urn  sich  dort  an  Ort  und  Stelle  iiber  die  Verhaltnisse  am  Siid- 
deutschen Rundfunk  zu  orientieren,  Auf  seine  Beanstandung,  daB  die 
regelmaBig  stattfindenden  , ,  Schlagerstunden"  ausschlieBliche  Pro  pa - 
gandaveranstaltungen  des  Wiener  Bohemeverlags  und  der  Firma 
Alberti  darstellten,  wurde  ihm  geantwortet,  daB  die  betreffenden  Ver- 
lage  bestimmte  pekuniare  Abmachungen  mit  dem  Siiddeutschen  Rund- 
funk eingegangen  waren,  Es  wurde  ihm  ferner  mitgeteilt,  daB  jeder 
Verlag  gegen  eine  entsprechende  Gebuhr  sich  eine  solche  Schlager- 
stunde  am  stuttgarter  und  frankfurter  Sender  kaufen  konne,  und 
schlieBlich  wurde  ihm  ein  solches  Abkommen  selbst  proponiert, 

Genug  der  Dementis.  Ein  Lichtblick  war  ein  Artikel  in  der 
frankfurter  Zeitung'  vom  19.  Juli,  der  auf  die  hier  angeruhrten 
Fragen  einging,  den  Wunsch  aussprach,  daB  die  Radibhorer  sich  in 
ganz  anderm  MaBe  als  bisher  gegen  die  Geschmacksinfektion  von 
Seiten  der  Schlagerindustrie  zur  Wehr  setzten,  und  den  zustandigen 
Kulturstellen  des  Reiches  die  ganze  Angelegenheit  zur  Bearbeitung 
empfahL  Dies  ist  auch  unsre  A'nsicht:  Eine  von  oben  angeordnete 
grundliche  Sauberungsaktion  im  deutschen  Rundfunk  wurde  zu  einem 
iruchtbareren  Resultat  fuhren  als  alle  iiberflussigen  und  unleidlichen 
Diskussionen  zusammen, v 

Die  DeiltSChe  Planting  von  Jao  Bargenhosen 

T^iesi  ist  eine  Sache,  fiir  die  mir  die  medizinische  Terminolo- 
gie  zaistandig  ist:  wie  aus  jedem  Ruckschlag  in  den  Ver- 
JhandliMigen  um  einen  inter nationalen  iMiilliarden-Kredit  der 
frahliche  Glaube  emporschieBt,  daB  „wir  iDeutsche"  unsern 
Dreck  alleine,  wirklioh  ganz  alleine  inachen  konnten.  Erst  ein 
verzagtes  Warten  darauf,  ob  denn  nicht  endlich  ibei  den  An- 
dern   die  Vernunft   siegen   werde,    ob   man   Deutschland   nicht 

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dooh  noch  bitten  werde,  einen  grofien  Kredit  freundlichst  an- 
zunehmen  —  und  dann,  wenn  das  Wunder  wieder  einmal  nicht 
geschehen  ist,  die  Euphotrie  des  Hektikers,  oder  meinetwegen 
die  tJberkompensation  def  Schwachegehlhle,  ein  ungeheuerer, 
kranklhaft  ubersteigerter  Lebensmut;  MJetzt  nehnien  wir  unser 
Schick  sal  selbst  in  die  (Hand!  Schwiengkeiten  sind  dazu  da* 
urn  tiberwtunden   zu  warden!" 

Das  heiBt  dann:  Autarkic  Oder,  im  Stile  des  Reichskabi- 
netts;  Nationale  Selbsthilfe.  Eine  echt  kerndeutsche  Bezeich- 
nung,  die  der  Wurde  der  Stunde  trad  dem  Gewidht  der  Sache 
so  recht  entspraohe,  fehlt  leider  noch.  Ich  fur  mein  Teil  wtirde 
vorschlagen,  das  Ding  f)Die  (Deutsche  Planting"  zu  nennen.  (Pla- 
nung  ist  besser  als  Plan.  Daws-Plan,  Neuer  Plan,  Funfjahres- 
plan;  das  hat  alles  zu  sehr  haut  gout.) 

Zunachst  fhatte  man  es  mit  der  Wahrung.  Falsch  verstan- 
dene  Analogien  lieBen  an  eine  Ruckkehr  zur  Rentenmark  den- 
ken.  Im  Reichslandwirtschafts-Ministerium  stoberte  man  in 
den  alt  en  Aktenschranken  nach:  alte  Roggenmark-Plane  wur- 
den  netifrisiert  <und  dem  Kabinett  Hzugeledtet".  Andre  Leute 
griifen  einen  Gedankensplitter  Htigenbergs  auf.  tind  propagier- 
ten  eine  „Inlandswahrung".  In  der  Reichskanzlei  tiitftelte  ein 
wenig  beschaftigter  Minister,  Gottfried  Treviranus,  den  Plan 
aus,  das  ganzlich  unbelastete  Vermogen  der  Reichspost  als 
„Unterlage"  fur  eine  neue  Geldsorte  einzusetzen. 

Ehe  die  Projekte-Mlacher  noch  fertig  war  en,  hatte  die 
Reichsbank,  nach  langem  Zogern  freilidi,  den  alten,  guten 
Wahrungs-Mechanismus  doch  wieder  in  Bewegung  gesetztj  der 
Disk  on  t  wurde  etwas  erhoht,  die  Oeckungsgrenze  fur  den  No- 
tenumlauf,  dieses  ehrwtirdige  Requisit,  wurde  etwas  beiseite- 
gesdhoben  tind  der  Notenumlauf  etwas  erhSht.  Seitdem  war- 
tet  man  wieder,  namlich  nun  auf  die  logische  Fortsetzung  die- 
ser  Politik,  die  iiber  eine  voariibergehende  Kreditatisweitung 
(pltis  Erhohung  des  Notenumlatifs,  plus  Kreditvertetierung)  den 
Zafhlungsverkehr  wieder  in  Gang  setzen  kann  und  soil.  (Das 
geht  freilich  hart  an  der  Inflation  vorbei  —  da  muB 
also  aufgepaBt  werden!)  Man  wartet  also. 

Etwas  anders  hatte  -man  sich  ja  im  Kabinett  die  Dinge  ge- 
dadht,  als  man,  nach  dem  Zwist  der  GroBbanken,  der  das 
Schicksal  der  jDanat-Bank  besiegelte,  angeweht  vom  Schauer 
der  historischen  Stunde  einer  groften  Pleite,  den  stolzen  Be- 
schitiB  faBte:    jetzt    dekretieren   wir   den    Staatssozialismus   — 

E*  ;tzt  ubernimmt  das  Reich,  wenn  die  (D-Banken  versagen,  die 
eitung  der  deutschen  Kreditwirtschaft!  Welche  Perspektiven 
tat  en  sich  auf:  AbschlieBung  vom  Ausland  —  AuBenhandels- 
mo nopal  a  la  SowjetruBland  —  Autarkic  fur  Lebensmittel  — 
Naturaltausch,  Fertigwaren^Exporte  gegen  Rohstoff-Importe — . 
wir  werdens  dem  vertrackten  westlerischen  Kapitalismus  da 
drauBen  schon  zeigen,  wir! 

Die  Plane  waren  so  schon,  ein  „geschlossenes  Ganzes", 
sozusagen.  Leider  konnte  man  den  Anfang  gar  nidht  fin- 
den  . . .  Und  da  kam  der  Katzenjammer.  Und  die  Not  war 
groB.  Und  Brtining  fuhr  via  Paris  nach  London.  Um  es  noch 
einmal  mit  dem  westlerischen  Kapitalismus  und  mit  Krediten 
2u  versuchen.    Die  Ergebnisse  sind  bekannt. 

151 


Da  sich  immer  noch  kein  Erzberger  gefunden  hat,  der  be- 
rcit  ware,  in  den  Wald  von  Compiegne  zu  fahren,  rufen  die 
kleinen  Rathenaus  von  iHeute,  nicht  minder  unklar  als  ihr  hi- 
storisches  Vorbild,  emeut  zur  levee  en  masse  auf,  zum  letzten 
Alufgebot  des  Wirtschaitskrieges.  Zuerst  handelt  es  sich  dar- 
um,  die  Kraite  zu  samineln.  Die  Deutsche  Planting  beginnt: 
das  deutsche  Kapital  wird  aufgerufen.  Es  soil  nicht  mehr 
t,£ludhtenMf  es  soil,  soweit  es  gefltichtet  ist,  ins  Vaterland  zu- 
riickgeholt  werden:  Notverordnung  gegen  die  Kapital-  und 
Steuerflucht. 

Soweit  diese  -Notverordnung  dazu  dient,  die  Devisenreser- 
ven  der  Unternehmungen  und  der  Privaten  zu  erfassen,  ujn  sie 
den  Zwecken  der  Wlahrungsstutzung  dienstbar  tax  machen,  laBt 
sich  gegen  sie  nicht  allzuviel  einwenden,  Hochstens  die  Art 
ihrer  Durchluhrung,  die  schrecMiche  M&ngel  zeigt  und  groBe 
Luck  en  off  en  laBt,  ware  zu  kritisieren.  Aber  der  Kampf  gegen 
die  Kapital-  und  Steuerflucht  —  das  ist  schon  eine  komische 
Sache.  Nicht  nua:  wegen  der  angewandten  Methoden,  die  leb- 
haft  an  das  Blinde-Kuh-Spiel  gemahnen,  sondern  ziierst  und 
vor  allem  im  Grundsatzlichen. 

Man  kann  ja  gewiB  verschiedener  iMeinung  fiber  diese  Fra- 
gen  sein,  und  auch  an  dieser  St  elk  sind  sohon  andre  Ansich- 
ten  vertreten  worden.  Ich  glaube  aber,  daB  man  die  Dinge 
etwa  so  ansehen  muBte: 

Wir  haben  ein  kapitalistisches  Wirtschaftssystem,  und  in 
dies  em  ist  die  Verfiigung  uber  das  Kapital  grundsatzlich  frei. 
Dtas  Kapital  stoebt  nach  Rente,  nach  Sicherheit;  es  geht  den 
groBen  Risiken  aus  dem  Wege,  oder  es  versucht  doch  wenig- 
stens,  Geschafte  mit  groBen  Gewinn-  und  Risikochancen  und 
soldhe,  die  kleinere  aber  sichere  Gewinne  versparechen,  mit- 
einander  zu  ,,mischen'\  Der  ^Capitalist,  der  die  geschaftliche 
EntwickLung  in  Deutschland  skeptisch  beurteilt  hat  (was  nur 
fur  eine  niichterne  Beurteiluftg  der  Sachlage  spricht),  handelt 
also  nach  den  Spiekegeln  der  kapitalistischen  Wirtschaft  ganz 
richtig,  wenn  er  einen  Teil  seiner  IMSttel  im  Auslande  angelegt 
hat.  Genau  so  folgerichtig  handelt  irgend  ein  kapitalistisches 
Unternehmen,  wenn  es  sich  Verbindungen  im  Ausland  schafft, 
Filialen,  Finanzierungsgesellschaften,  Niederlassuhgen,  Holding- 
gesellschaften  und  dergleichen.  Wo  erne  Profitchance  ist, 
wird  sie  mitgenommen,  gleichgiiltig,  wie  die  Grenzpfahle  am 
Geschaftsort  angesttrdchen  sind.  Genau  so  ist  ja  auch  das  Aus- 
landskapital  nach  Deutschland  hereingekommen,  urn  hier  seine 
Zinsen  zu  vereinnahmen,  einschlieBlidh  einer  nicht  zu  geringen 
Risikopramie.  Diese  war  nicht  ganz  unberechtigt,  wie  die  Tat- 
sache  des  d-e  facto   bestehenden  deutschen  Moratoriums  zeigt 

—  auch  die  Schroeder^Bank  in  London  konnte  etwas  von  deut- 
schen Risiken  erzahlen,  wenn  sie  wollte  (sie  will  aber  vorerst 
noch  nicht).    Das  Kapital  namlich,  so  komisch  das  klingen  mag 

—  das  Kapital  kennt  kein  Vaterland. 

Nun  ist  es  verstandlich  und  konsequent,  wenn  jemand  sagt: 
diese  kapitalistische  Wlirtschaftsgesinnung,  die  nur  nach  dem 
Profit  fragt.  und  nicht  nach  Vaterland  und  Votksgenossen,  ist 
eine  Schweinerei.     Also  ist  auch  die  Kapitalwirtschaft,  aus  der 

152 


jene  Gesinnung   erwachst,    eine  Unsittlichkeit,    die    wir    nicht 
mehr  dulden  wollen.    Fort  damit!  Und  ctwas  Neues  her! 

Das  ist,  wie  gesagt,  konsequent.  Aber  nun  stellt  sich  da 
ein  Mann  hin  und  erklart:  die  deutschen  Unternehmungen,  die 
drauBen  in  der  Welt  arbeiten,  das  sind  die  Pioniere  der  deut- 
schen Weltgeltung,  das  1st  die  Bliite  der  Nation,  das  ist  unser 
Stolz;  die  Hapag,  dear  Lloyd,  (und  gestern  noch;  die  Nord- 
wolle),  der  deutsche  tJberseer,  der  deutsche  Exporteur  und 
Kolonialkaufmann,  die  deutsche  Auslandsbank,  die  I.  G.  Far- 
benindustrie  mit  ifhren  auslandischen  Tochtergesellschaften, 
—  und  so  fort,  tausend  andre  glanz voile  Namen,  Der  einzelne 
Kapitalist  aber,  der,  okonomisch  gesehen,  genau  dasselbe  tut, 
wie  jene  Herren  von  Unternehmern  und  Unternehmungen,  in- 
dem  er  namlich  seine  Reserven  und  seine  Gewinne  zu  einem 
guten  Teil  an  den  sogenannten  sichern  Punkten  der  Weltwirt- 
schaft  zinsbringend  anlegt  —  dieser  einzelne  Kapitalist  (es 
kann  auch  eine  Bank  sein)  wird  dann  plotzlich  als  Abschaum 
der  iMenschheit,  als  Verrater  an  seinen  Volksgenossen,  als 
Schadling  und  Verbrecher  gebrandmarkt!  Diese  Unterschei- 
dung,  daB  das  „schaffende"  Kapital  iiif  dieseibe  Sache  belobt 
wird,  die  beim  „raffenden"  Kapital  eine  Angelegenheit  des 
wia-tsdhaftlichen  Landesverrats  sein  soil,  mag  ein  Andrer  ver- 
stehn.  WHe  es  ja  iiberhaupt  ein  bischen  grotesk  ist,  einem  Ka- 
pitalisten  moralische  Vorhaltungen  machen  zu  wollen  und  ein 
streng  ethisches  Verhalten  von  dhm  zu  fordern,  Wer  verlangt 
denh  von  einem  Maschinengewehr,  daB  es  fromme  Lieder 
singt  — ? 

Nun,  das  beruhigende  Geftihl,  daB  etwas  gegen  die  Ka- 
pital- und  Steuerfliichtlinge  getan  werde,  ist  schlieBlich  auch 
etwas  wert.  ttber  die  Einzelheiten  der  einschlagigen  Notver- 
ordnung,  die  interessanterweise  eine  nette  kleine  Denunzian- 
ten-Klausel  enthalt,  die  zu  nichts,  aber  zu  nichts  verpflichtet, 
die  eine  Steuer-Amnestie  stipuliert  und,  trotz  Androhung  drako- 
nischer  Stralen,  wenig  oder  gar  nichts  fur  die  Feststellung  der 
Fliichtigen  tut,  braucht  man  nidht  viel  zu  reden.  Ohne  die  schon 
fast  bolschewistische  iMaBnahme  der  Aufhebung  des  Bankge- 
heimnisses  in  alien  Staaten,  einschliefilich  Liechtenstein,  ware 
eg  auch  beinahe  unmoglich,  dem  fliichtigen  Kapital  nachzuspii- 
ren,  Und  selbst  wenn  man  das  Bankgeheimnis  aufthebt  und 
die  Grundbiicher  oftenlegt,  dann  bleibt  immer  noch  der 
Schweizer  Nbtar  als  Vermogenstreuhander,  oder  irgend  ein 
Strohmann  wird  gefunden,  der  gern  als  stiller  Teilhaber  an 
einef  Gesellschaft  mit  undurch&icthtigen  Bilanzen  fungiert.  So 
engmaschig  ist  kein  Sieb,  daB  man  damit  Wasser  schopfen 
konnte. 

So  schreitet  die  Deutsche  Planung,  die  Nationale  Selbst- 
hiMe,  langsam,  aber  sicher  voran,  Weiteres  wird  folgen,  Der 
Versuch  init  der  Autarkie,  fur  diese  und  fur  jene  Ware,  wird 
gemacht  werden.  Was  uns  fehlt,  was  wir  solange  nicht  mehr 
gehabt  haben,  seit  zehn  Jahren  nicht  mehr,  das  sind  die  Ersatz- 
Stoffe,  das  sind  die  Konsumenten,  die  sie  kaufen  muss  en.  In 
der  Industrie  herrscht  bereits  freudige  Erwartung:  man  muB 
nur  die  richtigen  Beziefeungen  zur  ZentraJe  haben,  dann  gibt 
es  auch  Autarkie-Gewinne,  Extra-Profite  aus  der  Deutschen 
Planung.  Heran  ans  Geschaft! 

153 


Bemerkungen 

Freiwilliger  Arbeitsdienst 

VV/as  gegen  eine  Lieblingsidee 
**  aller  Ruckwartser  Deutsch- 
lands:  die  Arbeitsdienstpflicht, 
spricht,  habe  ich  im  Jahrgang 
1924  der  .Weitbuhne'  (XX, 
839/42)  dargelegt,  und  ich  mochte 
mich  nicht  wiederholen.  Unter 
den  ftinf  Argumenten  gegen  das 
Projekt,  die  dort  vorgebracht  wer- 
den, gilt  mindestens  eines  auch 
gegen  jenen  „freiwilligen  Arbeits- 
dienst", den  die  Notverordnung 
vom  5,  Juni  dieses  Jabres  in  die 
politiscbe  Geschichte  Deutsch- 
lands,  zunachst  als  Moglichkeit, 
eingefuhrt  hat.  Auch  er  „druckt 
die  Lohne,  schafft  eine  Schthutz-  " 
konkurrenz  des  Staates  gegen  die 
freie  Wirtschaft  durch  Sklaven- 
wirtschaft,  stellt  ein  Attentat  auf 
das  Str eikrecht  dar ; ' '  auch  er 
„wirkt  im  hochsten  Grade  arbei- 
terf  eindlich'  \  Man  konnte  ein- 
wenden,  die  Wendung  „durch 
Sklavenwirtschaft"  passe  nicht  auf 
den  f  reiwilligen  Arbeitsdienst ; 
aber  dieser  Einwand  wtirde  an  der 
Tatsache  vorbeisehen,  dafi  ne- 
ben  der  Sklaverei,  in  die  ein 
Mensch  hineingezwungen  wird,  die 
Sklaverei  existiert,  in  die  sich 
einer  freiwillig  begibt  und  fur 
welche  gilt;  ,,Im  Ersten  sind  wir 
firei,  im  Zweiten  sind  wir 
Knechte," 

In  welchem  Grade  Knechte,  das 
laflt  jene  Verordnung  erahnen, 
die,  auf  Grund  der  Notverordnung 
vom  5.  Juni,  soeben  ergangen  ist. 
Danach  sind  Gemeinden,  auf 
deren  Gebiete  freiwilliger  Ar- 
beitsdienst geleistet  wird,  ver- 
pflichtet,  „gegen  angemessene  Ent- 
schadigung  fur  Unterkunft  und 
Verpflegung  der  Arbeitskrafte  zu 
sorgen".  Fast  jede  Gemeinde 
heute  ist  bettelarm;  die  „Entscha- 
digung"  wird  in  der  Tat  „ange- 
messen"  sein,  namlich  der  Kassen- 
Ebbe  des  Entschadigers;  herrliche 
Unterkunfte  und  prachtvolle  Ver- 
pflegung durften  fur  die  „Arbeits- 
krafte"  (klingt  sachlich  wie 
„  Pf er  dekraf  te* ' )  dabei  heraus  - 
springenf 

Ein  ,Deutsches  Komitee  gegen 
Wehrpflicht  und  militarische  Aus- 

154 


bildung  der  Jugend',  an  dessen 
Spitze  der  sozialdemokratische 
Kulturpolitiker  Doktor  Otto 
Reinemann  steht,  versendet  eine 
Proklamation  gegen  den  freiwil- 
ligen  Arbeitsdienst,  der  man  im 
Kern  nur  zustimmen  kann,  Ich 
muB  sogar  sagen,  ich  habe  selten 
ein  so  phrasenarmes,  so  prazis  ge- 
faBtes  Flugblatt  in  die  Hand  be* 
kommen.  Man  werde,  heiBt  es 
darin,  den  jungen  Menschen  sa- 
gen; Arbeitsdienst  sei  Dienst  am 
Volke;  in  Gemeinschaft  gleichge- 
sinnter  Jugendlicher  wurden  sie 
Brot  Und  Arbeit  finden;  Arbeits- 
dienst fiihre  sie  zur  heimatlichen 
Scholle ;  in  der  Einf achheit  des 
Lagers  und  in  Verbundenheit  mit 
der  Natur  wurden  sie  sich  zu 
einer  neuen  Zukunft  durchringen. 
Aber  die  Wahrheit  sei;  „Arbeits- 
dienst  ist  Dienst  fur  die  kapi- 
talistische  Klasse.  Nicht  Gemein- 
schaftsgeist,  sondern  Kadaverge- 
horsam  wird  herrschen,  Euer  Brot 
und  Arbeit  (hier  fehlt  wohl 
„eure")  wird  Lohndruck  sein.  Zu 
Streikbrechern  sollt  ihr  gedrillt 
werden.  Fur  euch  gilt  kein  Ar- 
beitsrecht!  Ehrgeizige  Abenteurer 
werden  euch  im  Burgerkrieg  als 
Truppe  gegen  eure  Volksgenossen 
mifibrauchen."  Der  Aufruf  schlieBt 
folgerichtig:  „Bleibt  dem  Arbeits- 
dienst fern!  Bekampft  den  Ar- 
beitsdienst!" 

Trotzdem  ist  hier  ein  Haken. 
Die  Psychologie  der  Verfasser 
dieses  schonen  Protestes  laflt  in 
ihrer  (landestiblichen)  okonomis- 
tischen  Einseitigkeit  ein  libidinoses 
Etwas  fort,  das  auf  der  Wage  des 
Entschlusses  zum  freiwilligen  Ar- 
beitsdienst schwerer  wiegen  diirfte 
als  alle  proletarpolitischen  Ge- 
gengrunde:  namlich  den  Masochis- 
mus.  „Kadaver£ehorsam"?  Famos! 
..Gedrillt"?  Wunderbar!  „Kein 
Arbeitsrecht"?  Eben  nach  diesem 
Verzicht  steht  uns  4as  Herz,  Man 
wird  uns  %*im  Burgerkrieg  mifi- 
brauchen"?  Danach  gelustet  es 
uns  grade. 

Nicht,  als  ob  die  paar  Hundert- 
tausend,  um  die  es  geht,  diese 
Wiinsch&  so  klar  im  BewuBtsein 
trugen;    aber   unbewuBte,    halbbe- 


wuGte,  verdrangte,  unterdriickte, 
verschwommene,  umschattete 

Wiinsche  bestimmen  das  Handeln 
oft  starker  als  klare.  DaB  *jene 
♦Artamanen'bewegung,  welcher  der 
freiwillige  Arbeitsdienst  als  Idee 
und  praktischer  Versuch  ent- 
sprang,  eine  masochoide,  das  heiBt 
von  Leidenschaftlichen  der  Selbst- 
erniedrigung,  von         passiven 

Schmerzlustlingen  getragene  Be- 
wegung  sein  muB,  steht  fur  Jeden 
fest,  der  gewohnt  ist,  durch 
Griinde  hindurch  bis  zu  den  ge- 
heimen  Ursachen  zu  schauen, 
durch  moralische  Ideen  hindurch 
bis  zu  den  Trieben,  deren 
Kostum  sie  sind,  und  iibrigens  im 
Motivenkomplex  nicht  bloB  die 
okonomische  Materie  zu  sichten, 
sondern  auch  die  sexuelle. 

Mit  andern  Worten:  Der  frei- 
willige  Arbeitsdienst,  groBzugig 
organisiert,  konnte  zu  einer  Ein- 
richtung  werden,  die,  ,  ich  will 
nicht  sagen:  alle  iugendlichen  Ma- 
sochisten  Deutschlands,  aber  einen 
erheblichen  Teil  von  ihnen,  einen 
bestimmten  Typ  unter  ihnen,  in 
den  Stand  der  Befriedigung 
brachte.  Das  gilt  nattirHch  auch 
fur  die  Arbeitsdiehstpflicht;  mit 
dem  Unterschied,  daB  diese  da- 
neben  Millionen  Nichtmasochisten 
trifft  —  was  geniigt,  dies  Projekt 
zu  verwerfen.  Aber  muB  der 
freiwillige  Arbeitsdienst  gleich- 
falls  verworfen  werden?  Unbe- 
dingt  unter  okonomischer  Per- 
spektive-  Auch  unter  erotischer? 
Ich  meine,  der  Staat  sollte  die 
erotische  Perspektive  nicht  ver- 
nachlassigen.  SchlieBlich  haben 
unsre  Masochisten  ein  Recht  auf 


offentliche  Institutionen,  durch  die 
sie  zu  ihrem  Gluck  kommen 
konnen  —  die  exklusiv  hetero^ 
sexuellen  und  auch  die  sonstigen. 
Und  hier  kame,  wer  zu  seinem 
Gluck  kommt,  wenigstens  nicht 
auf  Kosten  Andrer  dazu;  wahrend 
beispielsweise  die  schon  vor  lan- 
gem  ins  Leben  gerufene  staatliche 
Institution  fur  Sadisten,  die  „Ju- 
gendfursorge",  nur  dadurch  funk- 
tioniert,  daB  ihr  eine  ganze 
Gruppe  von  Volksgenossen  beden- 
kenlos  geopfert  wird.  Vielleicht 
empfiehlt  sichs,  die  „Jugendfur- 
sorge'*  aufzulosen  und  ihre  sa- 
distischen  MErzieher"f  damit  sie 
nicht  brot-  und  glucklos  werden, 
zu  Leitern  des  freiwill^gen  Ar- 
beitsdienstes  zu  machen,  zu  Vog- 
ten  iiber  di6  Sklaven  aus  Passion 
— -  dann  kamen  beide  Teile  voll 
auf  ihre  Kosten. 

Kurt  Hitler 

Vorsicht:  Geschichtsroman! 

^WTarum  werden  so  schrecklich 
"^  viel  Geschichtsromane  ge- 
schrieben?  Die  Buchladen  sind 
gestopft  volb  von  diesen  herm- 
aphroditischen  Gebilden,  die  vor 
lauter  Roman  keine  Geschichte 
mehr  sind  und  vor  lauter  Ge- 
schichte noch  kein  Roman. 
Konnen  wir  reine  Geschichte 
nicht  mehr  vertragen?  Oder  ist 
uns  ein  Roman,  der  von  sich 
selbst  lebt,  nicht  verburgt  genug? 
Aber  dahinter  steckt  noch  etwas 
andres,  was  mit  der  echten  Sach- 
lichkeit  nur  insofern  etwas  zu  tun 
hat,  als  es  ihr  Gegenteil  ist:  die 
Sucht  nach  Bildung.  Wir  wollen 
uns  auf  der  Bildungssuche  keines- 


W 


TBUHHENLESEft 

begeisternsich  ebenso  letdenschaftlich  fur  ihre 
Abdulla-Cigarette.wiefurjedeNummerihrerZeitschrift 

Standard o/M.  u.  Gold    .    .    .  Stuck    5  Pfg. 

Coronet m.  Gold  u.  Stroh/M.  Stuck    6  Pfg. 

Virginia  Nr.  7  .    .    ,    .  o/M Stuck    8  Pfg. 

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Abdulla-Cigaretten  genieflen  Weltruff! 

Abdulla  &  Co.     •     Kalro    //    London    //    Bor lln 

155 


falls  langweilen  —  daher  Ro- 
man — ,  abcr  wir  wollen  bei  der 
Unterhaltung  auch  jedenfalls  pro- 
fitieren  —  daher  Geschichte.  Das 
Resultat  dieser  Doppeltatigkeit 
ist  die  gediegene  Halbbildung,  die 
iiberall  mitquatscht  und  im 
Grunde  nichts  beherrscht. 

Ich  habe  sehr  oft  erlebt,  dafi 
der  geschichtliche  Stoff  von 
einem  Durchschnittsromancier 

heruntergezogen  wurde,  habe  aber 
nie  erlebt,  dafi  der  grofie  Stoff 
den  kleinen  Schreiber  auf  seine 
Ebene  gehoben  hatte.  Hochstens 
dafi  er  den  Schreiber  lautlos  zer- 
druckt.  Aber  das  ist  ja  kein 
literarischer  sondern  ein  mehr 
sadistischer  GenuB. 

Dieser  Zeilen  wegen  wird  nicht 
ein  einziger  Geschichtsroman  un- 
gcschrieben  bleiben,  das  ist  klar, 
Der  gute  Schriftsteller  ist  durch 
seine  Verantwortung  und  Ehr- 
furcht  geschtitzt,  der  schlechte 
nimmt,  was  er  bekommen  kann. 
Aber  ich  kann  mir  nicht  denken, 
dafi  ein  Publikum  dieses  ver- 
waschene  Zeug,  das  noch  oft  par- 
teipolitisch  oder  konfessionell 
verfleckt  ist,  immer  wieder  her- 
unterfriBt,  wo  fur  den  Unterhal- 
tungsdurst  und  den  Bildungshun- 
ger  so  viel  Besseres  gedruckt 
wird.  Die  Verleger  decken  sich 
mit  der  Feststellung,  dafi  „die 
Leute  sowas  haben  wollen"; 
nehmt  ihnen  diese  Deckung,  zeigt 
ihnen,  dafi  wir  mit  diesen 
siifisauren  Geschichtsbonbons, 

dieser  infamen  Verriihrung  von 
Wirklichkeit,  nichts  zu  tun  haben 
wollen!  Es  geht  ja  nicht  um 
Kitsch  oder  Kunst  —  das  sind 
formale  Dinge  — ,  es  geht  um  die 
Verschmierung  von  Wahrheitsge- 
halten  zugunsten  irgendeines 
Portemonnaies,    Und  dazu  mussen 


uns  selbst  vergangene  Wirklich- 
keiten  zu  gut  sein. 

In  der  Praxis  wiirde  das 
heifien:  seid  vorsichtig  bei  allem, 
was  sich  Hgeschichtlicher  Roman" 
nennt  oder  im  Titel  danach 
riecht.  Fragt  herum,  nicht  bei  den 
Buchkritikern  der  Zeitungen  son* 
dern  bei  Menschen,  die  ihr  als 
Selbstdenker  kennt.  Das  kleinste 
Tatsachenwissen  ist  sicherer  und 
gesunder  als  eine  ganze  Bibliothek 
Hterarisch  veredelter  Geschichte. 
Ezzelino 

Gott  in  Montreux 

Am  Abend  hatte  es  ein  Gewitter 
**  gegeben. 

Man  feierte  das  Narzissenfest, 
das  Fest  des  Friihlings,  aber  der 
Regen  hatte  die  Masken  und  die 
blumengeschmiickten  Wagen  ver- 
trieben,  und  iibriggeblieben  waren 
der  bedeckte  Himmel,  die  wol- 
kenverhangenen  Berge  und  die 
illuminierten  Orte  am  Rande  des 
Sees.  Und  cben,  halbwegs  zwi- 
schen  Territet  und  Glion,  leuch- 
tete  eine  Kirche.  Auch  der  Hebe 
Gott  hatte  illuminiert:  den  Turm 
entlang  hatte  er  Gluhbirnen  gezo- 
gen  zur  hoheren  Ehre  seiner  Hei- 
ligkeit    des  Fremdenverkehrs. 

Am  Sonntagmorgen,  als  die 
Sonne  schien,  stieg  ich  hinauf. 
Der  Berg,  ein  Paradies  der  Blu- 
men,  entsandte  einen  berauscheri- 
den  Duft  zum  Himmel.  Weit  war 
die  Sicht,  die  Dents  du  Midi 
schimmerten  im  Morgenlichte, 
azurn  wie  er  nur  noch  auf  Post- 
karten  sich  darbietet,  funkelte 
der  See. 

Auf  dem  Turm  der  Eglise  Na- 
tionale  Vaudoise  jedoch  lautete 
ein  Mann  in  blauen  Hemdsarmeln 
die  Glocke:  es  war  Kirchzeit.  Mit 


B6  Yin  Ra 

diirfte  sich  nicht  anders  nennen,  als  seine  orientalischen  Lehrer  ihn 
bezeichnet  haben.  Es  gibt  in  westlichen  Sprachen  keinen  Laufcakkord, 
der  diesen  zeitverlangten  Ueberzeitlichen  bezeichnen  kbnnte.  Einfiihrungs- 
schrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos  in  jeder  Buchhandlung 
7M  beziehen  sowie  vom  Verlag:  Kober'sche  Yerlagsbuchhandlnn^  Basel 

und  Leipzig. 

156 


beiden  Armen  zog  er  den  Strang, 
auf  —  ab,   auf  —  ab. 

Die  Kirche  selbst  aber  war 
leer. 

Schmucklos  innen  und  niich- 
tern,  dumpf  die  Luft.  Gott  wohnt 
sehr  bescheiden  hier  oben.  Ein 
Spruch  an  der  Wand  besagt,  das 
erste  commandement  sei  die  Lie- 
be  zum  Herrn  dieses  Hauses.  Et 
voici  le  second,  qui  lui  est  sem- 
blable:  Tu  aimeras  ton  prochain 
comme   toi-meme. 

Mir  war  ein  biBchen  weh  zu- 
mute.  Ach  Gott,  dachte  icb,  so 
einsam  und  verlassen  bist  Du 
hier?  Mitten  in  diesem  Paradiese 
der  Schonheit  ein  leeres,  dumpfes 
Mauerloch,  —  das  ist  dein  Eigen? 
Und  Keiner,  der  dich  besucht? 
Nur  Dekoration  Dein  Haus,  Teil 
jener  rians  paysages,  deren  Be- 
wtinderer  eine  Tafel  auflordert, 
wenigstens  einen  Obolus  fur  die 
Armen  zu  entrichten?  Bist  Du 
etwa  ein  ewiger  Bonivard,  auf 
Deinem  Chillon  gefangen,  froh 
wie  ihn  Byron  bedichtet  hati  in 
Ketten  allein,  aber  in  Schon- 
heit . . ,? 

So  traumte  ich  im  leeren,  fah- 
len  Raum,  Da  pl&tzlich  tonte 
eine  Stimme.  Erschreckt  blickte 
ich  mich  urn.  Es  war  die  des 
Landgerichtsrats  Kiinzel  aus 
Zwickau.  Ganz  deutlich  sagte 
sie:  Abgefeimter  Gotteslasterer 
Du! 

Da  ergriff  ich  schleunigst  die 
Flucht.  Beinahe  hatte  ich  jeman- 
den  umgerannt.  Es  war  die  stein- 
alte  Englanderin  aus  meiner  Pen- 


sion. Mit  Regenschirm  und 
Schleier  kam  sie  gegangen. 

Die  Sonne  lachte. 

Ober  Gottes  wahrem  Tempel : 
der  Natur.  Walther  Victor 

Monogame  Sprachkunde 

r^er  Jiingling,  der  an  seine  Ge- 
*^  liebte  schreibt:  „Meine  ein- 
zigste  Freundin ..."  will  doch  da- 
mit  nicht  sagen,  daB  er  mehrere 
einzige  Freundinnen  habe  und  daB 
nur  diese  eine  von  alien  einzigen 
die  „einzigste"  sei.  Und  selbst 
wenn  er  das  sagen  wollte,  selbst 
wenn  die  Dinge  sich  so  verhiel- 
ten  —  sprachlich  ist  der  Aus- 
druck  auf  jeden  Fall  zu  beanstan- 
den,  von  den  sittlichen  Bedenken, 
die  gegen  diesen  Zustand  zu  er- 
heben  waren,  ganz  zu  schweigen. 
,Der  Zeitungsverlag* 

Die  Notverordnung 

gegen  die  Presse  war  kaum  her- 
aus,  da  erschien  im  Buchhandler- 
borsenblatt  ein  Inserat  folgenden 
Inhalts: 

Restvorrat   (ca.  500  Stuck) 

Verfassung 

des  Deutschen  Reiches 

Textausgabe 

billig  abzugeben. 

Wilh.  Langguth,  EBlingen. 

Mildernde  Umstande 
Cin  Schiffsheizer  lieB  sich  in 
"  Ruhrort  mit  einer  Dime  ein, 
die  ihm  im  Affekt  funf  Reichs- 
mark  aus  der  Tasche  stahl.  Die 
Diebin  ist  festgenommen  worden. 
tEcho  vom  Niederrhein 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Schayspietertruppe.  Freitag  23.00.  Deutsche!  Kiinstlertheater,  Nfirnberger  StraBe: 
Der  frohliche  Reichstag  von  Alexander  Weckerle. 

Hamburg 

Weltbfihnenleser.    Freitag  20.00.    Timpe,  Grindelallee  10—12:  Bankenkrach. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  15.40:  Das  europaisierte  Bagdad,  Armin  T.  Wegner.  —  20.30;  Pygmalion 
von  Bernard  Shaw.  —  Munch  en  20  35:  Frank  Wedekind,  Tilly  Wedekind,  Pamela 
Wedekind  und  Kadidja  Wedekind.  —  Langenberg  20.40:  Das  neue  Gedicht  in  der 
Musik.  —  Mittwoch.  Berlin  20.00:  Ein  Mensch  mit  Schallplatten  und  Bttchern, 
Hana  Georg  Brenner  und  Ernst  Bringolf.  —  Breslau  21.30:  Querschnitt  durch 
Bernard  Shaw  von  Erich  Franzen. —  Berlin  22.15:  England  und  die  Ab  rustling 
von  Actualis.  —  Uonnerstag.  Berlin  18.10:  Zu  Unrecht  vergessene  Dichter,  Kurt 
Kersten.  —  19.10:  Das  Theater  stellt  sich  urn,  Alois  Munk  und  Martin  Zickel.  — 
Muhlacker  19.30:  Aus  Slings  Werk.  —  Freitag.  Berlin  2l.t5:  Dichtung  und  Wirk- 
lichkeit,  Hermann  Kasack.  —  Muhlacker  21.45:  Neue  Musik  der  Nationen.  —  Sonn- 
abend.  Berlin  15.40:  Zwei  Frauen  reisen  durch  die  Welt,  M.  M.  Gehrke  und  Lisa 
Matthias.  —  18.00:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Georg  Schwarz. 

157 


Antworten 

Riidiger  Robert  Beer.  Sie  baben  soeben  eine  kleine  Biographic  des 
Reichskanzlers  Briining  veroffentlicht,  die  niemand  zur  historischen 
Belletristik  zahlen  wird.  Es  sei  denn,  man  leitete  Bclletristik  nicbt  von 
belles  lettres  abf  sondern  von  triste.  Da  heifit  es  also  einmal  zur 
Charakterisierung  der  Beziehungen  zwischen  Hindenburg  und  Briining: 
nDer  Ehrfurcht  des  Jungern  begegnete  ein  vaterliches  Wohlwollen  des 
alten  Herrn,  das  sich  in  manchera  kleinen  Zug  auBerte,  so,  wenn  er 
spater  dem  Reichskanzler  fiir  die  '  OstpreuBenreise  seinen  Pelz,  den  er 
wahrend  des  Feldzuges  getragen  hatte,  zuschickte,  damit  er  sich  nicht 
erkalte.  Ubrigens  ist  das  nicht  nur  eine  riihrende  Anekdote,  sondern 
auch  bezeichnend  fiir  den  Geist  preuBischer  Sparsamkeit,  der  in  den 
hochsten  Reichsstellen  lebt/'  Das  walte  Gott.  Warum  hat  sich  BdB 
nicht  an  die  allerhochste  Stelle  gewandt? 

S.  Fischer  Verlag..  Ihr  verschickt  einen  Prospekt  iiber  Bernard 
Shaws  „Wegweiser  zum  Sozialismus",  in  dem  die  Preisangabe  „Ge- 
heftet  12,50  RM,f  in  Ganzleinen  16  RM/'  tiberdruckt  ist  durch  „Neue 
wohlfeile  Ausgabe,  ungekiirzt,  geheftet  6  RM.,  Ganzleinen  7,50  RM.*\ 
Das  Buch,  im  Herbst  1*928  erschienen,  kostet  also  plotzlich  weniger 
als  die  Halfte!  Warum  gebt  das  auf  einmal?  1st  ein  Werk  von  Shaw 
ein  so  riskantes  Objekt,  dafi  man  erst  abwarten  muB,  ob  es  einschlagt? 
Sollen  wir  von  nun  ab  bei  jeder  Neuerscheinung  erst  ein  paar  Jahre 
warten,  bis  die  Volksausgabe  erscbeint?  Wie  sollen  wir  euern  Kalku- 
lationen  trauen,  wenn  sie  solche  Preisstiirze  vertragen?  Die  Krise  im 
deutschen  Verlagswesen  beruht  auf  der  Preisfrage.  Die  Biicher  mussen 
so  billig  herauskommen  wie  irgend  moglich,  Und  zwar  nicht  erst 
nach  drei  Jahren. 

Metro-Goldwyn-Mayer.  Neulich  haben  wir,  und  nicht  nur  wir, 
uns  iiber  den  widerwartigen  Hundedressurfilm  beschwert,  der  im  Ca- 
pitol herauskam.  Nun  kiindigt  ihr  in  euerra  neuen  Produktions- 
programm  weitere  Filme  dieser  Art  an.  Es  wird  so  viel  von  „ge- 
schmacksverrohenden"  Filmen  gesprochen  —  hier  ist  einmal  ein  Fall, 
wo  uns  Protest  am  Platz  scheint. 

Amtsgericht  Dresden.  Du  schreibst:  „Innerhalb  der  letzten 
Wochen  ist  in  Ihrer  Zeitung  eine  angebliehe  Verftigung  des  Amtsge- 
richts  Dresden  vom  9,  Juni  1927  wegen  des  Ziehens  an  der  Strippe 
abgedruckt  worden.  Ich  bitte  um  Uberlassung  eines  Stuckes  der  be- 
treffenden  Nummer.  Der  President  des  Amtsgerichts.  gez,  (Unter- 
schrift.)"     Das  Zugstuck  ist  dir  inzwischen  zugegangen. 

Michael  Andermann,  Elberfeld,  Briillerstr.  13.  Tel.  35  322.  Sie 
schreiben:  „Kaum  ein  halbes  Dutzend  Leser  haben  sich  bisher  bei  rair 
zur  Grundung  einer  Gruppe  der  wuppertaler  Weltbiihnenleser  gemel* 
det.     Wo  bleiben  die  iibrigen?" 

Malik-Verlag.  Ihr  bringt  demnachst  einen  Band  ,,30  Erzahler  des 
Neuen  Deutschlands"  heraus.  Es  sollen  darin  nur  solche  jungen 
Schriftsteller  vertreten  sein,  die  sich  mit  dem  Kampf  der  proletari- 
scben  Klasse  solidarisch  wissen.  Ihr  bittet  alle  interessierten  Autoren, 
vor  Einsendung  von  Manuskripten  zunachst  iiber  Thema  und  Umfang 
ihrer  Arbeiten  zu  berichten. 

Wer  hat  an  Kurt  Tucholsky  einen  Beitrag  „Zehnsassa"  ge- 
schickt? 

Nlanuakripte  cud  cur  an  di*  Redaktioa  der  WeltbOhna,  Charlottenbu^,  Kantst*.  152,  m 
riditeo:  ei  wird  gebeten.  ihneo  Ruckporto  beixulegen,  dm  sonst  koine  Rfickwodung  erfolgen  kua. 
Dae  Auf  f  abrungsrecht,  die  Verwertung  tod Tltelnu- Text  tm  Rahmen  des  Film*,  die  mustk- 
mecbanieche  Wiederrabe  aller  Art  and  die  Verwertuna  im  Rahmen  tod  Radlevortrlge*; 
btelben  fur  idle  In  der  WeUbubne  encbeinenden  Beitrage  atudHlckllch  Torbeaatteo, 


Die  Weltbflhn.   worde  begrflndet    voo   Siegfried   J«cob»ohn   nod   wird  von   Cart  *.  Oeejetek* 

untat  Mitwirkuor    von  Kurt  Tudioleky  geteitet  —  Veimntwortlidt:    C«H  v.  Ouletaky,    Berb*j 

Verlag  der  WeUbubne,  SfwrHed   Jecobeotm  A  Co*  Cbarlettenbere, 

Telephon:    C  I  Steinplata  7757    -  Po»tsd»Akonto:   BerHn  U95fc 

Baokkooto.     Dann»t*dler    a.    Nationalbank,      DepojitcnkAwe    Ouuiottenburg.     KaaUb.    IU 


XXVII.  Jtbrgtng        4.  August  1MI Hummer  31 

Briining  und  sein  Ruhm  von  cart  v.  ossietzky 

Legende 

P  in  Herr  Riidiger  Robert  Beer  hat  eine  Schrift  uher  den 
Reichskanzler  Briining  herausgegeben,  die  wir  vorige 
Woche  mit  einem  kleinen  heitern  Licht  gestreift  hatten.  Wir 
glaubten  dabei  nicht,  daB  es  notwendig  sein  wurde,  auf  diese 
ganz  unwesentliche  Arbeit,  die  sich  durch  nichts  auszeichnet 
als  durch  Wichtigtuerei  und  falsche  Biederkeit,  nochmals  zu- 
ruckzukommen.  Inzwischen  hat  sich  gez^igt,  dafi  auch  Herr 
Beer  seine  Bewunderer  hat  und  daB  auch  ein  liberal-demokra- 
tisches  Blatt  wie  die  frankfurter  Zeitung',  urn  ihrer  Sympathie 
fiir  Briining  Ausdruck  zu  geben,  sich  einer  Interpretation  be- 
dient,  die  in  ihrer  psychologischen  Hilflosigkeit  und  ihrer  po- 
litischen  Verwaschenheit  kaum  anders  als  komisch  genommen 
werden  kann.  Es  handelt  sich  nicht  um  Herrn  Beer,  einen 
jungnickelnden  Stilisten,  sondern  um  den  yon  ihm  Biographi- 
sierten  und   seine  Verehrer. 

Schopenhauer  hat  sich  einmal  iiber  die  Kathederphiloso- 
phen  lustig  gemacht,  fiir  die  die  Weisheit  des  Sokrates,  die 
uns  doch  nur  in  Anekdoten  iiberliefert  wird,  ein  Axiom  ist, 
Wir  haben  es  augenblicklich  mit  einem  ahnlichen  Axiom  zu 
tun:  das  ist  die  Staatsweisheit  des  Herrn  Doktor  Briining.  Herr 
Beer  zitiert  ein  Wort  des  Pralaten  Kaas,  der  durch  Krankheit 
behindert,  aber  wohl  auch  in  dem  Gefuhl,  daB  ein  katholischer 
Kleriker  fiir  die  hochsten  politischen  Reichsamter  nicht  geeig- 
net  ist,  in  den  letzten  Jahren  immer  mehr  zugunsten  Briinings  zu- 
riickgetreten  ist:  ,,Ich  habe  ihn systematisch  in  die  vordere  Reihe 
geschoben,  weil  ich  in  ihm  eine  Synthese  zwischen  Denken  und 
Handeln  entdeckte,  wie  man  sie  ahnlich  vielleicht  nur  bei  den 
Staatsmannern  dcr  alten  Griechen  findet."  Und  Herr  Rudoll 
Kircher,  der  berliner  Botschafter  der  (Frankfurter  Zeitung', 
der  das  kiimnierliche  Dekokt  des  Herrn  Beer  ernst  genug  fin- 
det, um  sich  in  mehr  als  acht  Spalten  unterm  Strich  dariiber 
zu  verbreiten,  meint:  „In  der  Person  Briinings  hat  sich  das 
Deutschtum  wieder  auf  die  Eig«nschaften  besonnen,  die  uns 
im  offentlichen  Leben  unter  Wilhelm,  aber  auch  im  Jahrzehnt 
der  Parteidemagogie,  fast  aus  den  Aug  en  entschwunden  waren." 
Und  weiter:  nIhm  fehlen  die  gewohnten  Interpretationismittel, 
sei  es  wilhelminischer,  sei  es  demokratisch-demagogischer 
Art.'*  Wir  wollen  uns  nicht  dabei  aufhalten,  mit  welcher  Selbst- 
verstandlichkeit  hierin  einer  der  letzten  biirgerlich-demokra- 
tischen  Bastionen  Demokratie  gleich  Demagogie  gesetzt  wird. 
Auch  wir  schatzen  an  demKanzIer  die  Schlichtheit,  die  unper- 
sonliche  Art,  hinter  seinem  Amt  zu  verschwinden.  Aber  in  der 
Politik  kommt  es  schlieBlich  nicht  darauf  an,  ob  ein  Minister 
beim  Scheideh  von  seinem  Amt  nur  den  einen  Handkoffer  mit- 
nimmt,  den  er  ins  Haus  brachte,  sondern  ob  er  ein  Staatsmann 
geworden  ist  und  was  er  an  staatsmannischen  Fakten  hinterlaBt 
Ginge  es  nach  der  Einfachheit  der  Lebensfiihrung  und  dem 
Verzicht  auf  die  Annehmlichkeiten  des  Daseins  allein,  so  ware 

i  159 


der  trostlos  tugendhafte  Robespierre  der  segensreichste  aller 
Regierer  gewesen,  was  die  Frankfurterin,  deren  altes  Sonne- 
mannsches  Geruchsorgan  plotzlich  gegen  demokratisch-dema- 
gogische  MiBdiifte  so  empfindlich  geworden.  ist,  gewiB  nicht 
zulassen  mochte.  Es  ist  wohl  aller  Ehren  wert,  wenn  Herr 
Bruning  den.  nicht  verbrauchten  Teil  seines  Gehaltes  an  die 
Reichskasse  zuruckverweist,  aber  politisch  bedeutsamer  ware 
es,  wenn  er  sein  Geld  behielte  und  dafiir  durch  eine  Notver- 
ordnung  weitere  Auszahlungen  an  die  abgefundenen  Fiirsten 
verhinderte.  Das  ist  der  alte  Trick,  der  Dreh  mit  dem  ,,rein 
Menschlichen",  vor  eine  hochst  anfechtbare  Politik  die  hochst 
unanfechtbare  Person  des  Verantwortlichen  zu  stellen.  Nir- 
gends  hat  Bruning  bisher  Staatsmannstum  gezeigt  und  bewahrt. 
Seine  Notverordnungen  sind  nach  den  primitivsten  kapitali- 
stischen  Rezepten  hergestellt,  hohe  Steuern,  niedrige  Lohne. 
Seine  Innenpolitik  bedeutet  den  Anbruch  neuer  Kulturreaktion, 
das  Ende  der  Versammlungs-  und  Pressefreiheit,  Seine  AuBen- 
politik  den  Beginn  des  sogenannten  Aktivismus,  die  traurige 
Episode  der  Zollunion.  Unter  dies  em  Kanzler  ist  in  fiinfzehn 
Monaten  viel  gesch^hen  —  aber  wo  hatte  er  Initiative,  wo 
schopferische  Kraft  gezeigt?  Hat  er  seine  diktatorischen  Be- 
fugnisse  gebrauchtf  um  auch  nur  einem  einzigen  MiBstand  zu 
Leibe  zu  gehen?  Brunings  Ruhm  —  das  ist  die  Hoffnung  des 
politisch  und  wirtschaftlich  lahmgepriigelten  Biirgertums,  der 
Mann,  der  »es  aus  seinen  verfassungsmaBig  garantierten  Freihei- 
ten  vertrieben,  unter  dessen  tatenloser  Anwesenheit  seine  oko- 
nomischen  Positionen  in  Stiicke  geschlagen  wurden,  werde 
ihm  wenigstens  ein  bescheidenes  kapitalistisches  Altenteil 
sichern. 

„Er  kam  nicht  ins  Amt,  um  zu  diktieren.  Er  kam  mit  einer 
parteipolitischen  Idee,  die  sich  nicht  verwirklicht  hat/'  So 
Herr  Kircher,  ohne  sich  leider  iiber  diese  Idee  naher  zu  auBern, 
Etwas  deutlicher  wird.  schon  Herr  Beer,  wenn  er  die  Pro- 
grammrede  Stegerwalds  vom  essener  KongreB  der  Christlichen 
Gewerkschaften  im  Jahre  1920  erwahnt.  In  dieser  Rede  for- 
derte  Stegerwald  „an  die  Stelle  der  formalen  westlerischen 
Demokratie  die  organische  Demokratie  der  Selbstverwaltung 
zu  setzen",  Damals  war  Briining  der  Famulus  Stegerwalds, 
und  im  ,Deutschen  hat  er  diese.Aoschauungen  spater  oft  ver- 
treten.  Das  Gedachtnis  der  Menschen  und  besonders  jener, 
die  die  Zeitungen  schreiben,  ist  schwach.  Sonst  wiirde  doch 
irgend  jemand  Artikel  aus  jener  Zeit  wieder  ausgraben,  in  de- 
nen  zu  lesen  war,  daB  dies  Programm  Stegerwalds  den  ersten 
Versuch  in  der  Zentrumspartei  darstellte,  wieder  in  die  alten 
reaktionaren  Bahnen  ziuruckzugehen,  die  schroMe  Absage  an  die 
Erzbergerpolitik  der  ersten  republikanischen  Jahre.  Wenn  Herr 
Bruning  einem  Programm  treu  gewesen  ist,  dann  diesem.  Mit 
verschrankten  Armen  hat  er  von  April  bis  September  1930 
zugesehen,  wie  der  Wahlkampf  ausschlieBlich  gegen  Links, 
gegen  die  Arbeiterschaft  gefiihrt  wurde,  gegen  Erfiillungspoli- 
tik  und  Volkerbund,  gegen  Sozialpolitik,  gegen  Gedankenfrei- 
heit  und  Menschenrechte.  Auf  alle  Apostrophen,  sich  doch 
endlich  zu  auBern,  ob  er  das  Biindnis  mit  Hugenberg  und 
Hitler    wolle    oder   nicht,    hat    er    geschwiegen.     Damit   ist    er 

160 


zum  Wegbereiter  des  reaktionaren  Triumphes  vom  14.  Sep- 
tember geworden,  zum  Mit  ver  ant  wort  lichen  fiir  das  Unheil, 
das  seitdem  iiber  Deutschland  hereingebrochen  ist,  Wenn  etwas 
in  dieser  Zeit  gelungen  ist,  so  die  Beseitigung  der  t1formaleti 
westlerischen  Demokratie",  die  ubrigens  schon  friiher  nicht 
allzu  iippig  ins  Kraut  geschossen  war.  Hier  ist  an  die  Stelle 
der  verfassungsmaBig  verbrieften  Garantien  biirgerlicher  Frei- 
heit  die  ganz  unformale  und  gar  nicht  westlerische  Polizei 
getreten.  Die  „organische  Demokratie  der  Selbstverwaltung" 
wird  dagegen  wohl  noch  etwas  auf  sich  warten  lassen,  Denn 
einstweilen  gibt  es  nichts  zu  verwalten  als  die  Pleite. 

Der  Reichskanzler  Briining  hat  wenig  bewirkt,  aber  viel 
zugelassen.  Wenn  sein  Ruf  als  AuBenpolitiker  trotzdem  zu- 
sehends  wachst,  wenn  Beer  sogar  in  der  Lage  ist,  enthusia- 
stische  Auslandsstimmen  zu  zitieren,  so  hat  das  einen  recht 
prosaischen  Grund.  In  Deutschland  haberi  sich  in  diesen  Jah- 
ren  so  viele  larmende  Hanswurste  vorgedrangt,  das  ein  ernst 
aussehender  Mann,  der  wenig  spricht,  schon  als  ein  Genie  an- 
gestaunt  werden  mufi.  An  wen  soil  sich  das  Ausland  halten? 
An  Schacht  oder  Bang?  An  Seeckt?  Zwischen  randalieren- 
den  und  ahnungslos  herumspielenden  Halbwiichsigen  erwacht 
das  Verlangen  nach  einem  Erwachsenen.  AuBerdem  halt  man 
einen  katholischen  Politiker  niemals  fiir  ganz  dumm.  Erst 
wenn  die  Phantasten,  die  Katastrophen-Spezialisten,  etwas  zur 
Ruhe  gekommen  sind,  wird  die  Stimme  des  AuBenpolitikers 
Briining  vernehmbar  werden.  Aber  erst  dann  wird  sich  auch 
ein  Urteil  fallen  lassen.  Bis  jetzt  mahnen  die  innenpolitischen 
Folgen  der  Kanzlerschaft  Briinings  zur  Vorsicht.  Wenigstens 
uns,  die  wir  nicht  iiber  das  virtuose  seelenkennerische  Riist- 
zeug  von  Beer  und  Kircher  verfiigen,  infolgedessen  auch  nicht 
iiber  deren  unbegrenztes  Vertrauen. 

Politik  ohne  Geld 

Als  vor  drei  Wochen  die  Danatbank  zusammenkrachte, 
senkte  sich  auf  das  allgemeine  Entsetzen  ein  merkwiirdiges 
trostendes  Gefiihl  nieder,  die  Ahnung,  dafl  die  Aera  des  Kapi- 
talismus  vorbei  ist,  daB  es  auf  den  Besitz  des  Einzelnen  nicht 
mehr  ankommt.  In  den  Galgenhumor  mischte  sich  die  Hoff- 
nung  auf  ein  Neues,  ein  Unbekanntes.  Die  Menschen  hatten 
es  weniger  im  BewuBtsein  als  in  den  Nerven,  daB  dieser  gigan- 
titsche  Klotz:  die  Wirtschaft,  der  ihnen  sonst  jede  Minute  ihrer 
Existenz  diktierte,  plotzlich  gesprungen  war,  daB  er  seinen 
Schrecken  verloren  hatte. 

.War  dies  Gefiihl  nicht  berechtigt?  Flikhtete  nicht  die 
Grofimacht  iWirtschaft,  die  bisher  bei  jeder  Gelegenheit  ihre 
Superioritat  mit  einer  Intoleranz  ohnegleichen  betont  hatte, 
unter  die  abgeschabten  RockschoBe  des  sonst  immer  in  die 
Ecke  gedrangten  Staates?  Seitdem  hat  der  Staat  sehr  viele 
Findelkinder  aufnehmen  miissen.  Die  groBte  sach&ische  Bank 
hat  sich  mit  der  Staatsbank  vereinigt;  Mtetm  sich  auch  die 
Schriftigelehrten  im  Augenblick  noch  nicht  einig  sind,  welchem 
Institut  es  am  schlechtesten  ging,  so  besagt  dooh  die  Entschei- 
dung  der  Privatbank,   daB   sic   den   Staat  fur  kein  Bankrott- 

161 


unternehmen  halt,  Und  wahrend  diese  Zcilen  geschrieben  wer- 
den,  sind  die  iMeldungen  noch  nicht  dementiert,  dafl  das  Reich 
in  jdie  Dresdener  Bank  einziusteigenbeabsichtige.  Wir  stehen  am 
Anfang  einer  neuen  Entwicklung.  Erst  nach  Einfiihrung  des 
vollen  Zahlungsverkehrs  ward  sidh  ein  ttberschlag  iiber  den 
Stand  der  Wirtschaft  mac  hen  lassen.  Die  gegenwartige  Dunkel- 
heit  verhindert  nioht  nur  das  Seben,  sondern  auch  den  Griff  in 
eigne  oder  fremde  Tasohen.  Bald  ward  es  tagen,  und  bei  hellem 
Tageslicht  ward  der  Kapitalismus  furchterlich  aussehen.  Ein 
bleiches,  ausgehohltes  Gespenst,  dem  die  Haut  grau  und  runzlig 
um  die  diirren  Oieder  schlotteirt.  Ein  Fresser,  der  plotzlich 
auf  Wasser  und  Brot  gesetzt  ist  und  zusehends  verfallt.  Fiir 
den  deutschen  Kapitalismus  ist  der  13.  Juli  das  geworden,  was 
der  14.  September  fiir  die  deutsche  Demokratie  gewesen  ist. 
AJber  so  wie  Hitler  den  Tag  nach  dem  14.  September  ver- 
saumte  und  damit  eine  Gelegenheit,  die  niemals  wiederkehren 
ward,  so  verpaBt  der  Staat  heute  die  Stunde,  den  Kapitalismus 
fiir  immer  unter  seine  Hoheit  zu  bringen,  das  generationenlange 
Duell  zwiscben  Staat  und  Wirtschaft  mit  seinem  endgiiltigen 
Siege  zu  beenden.  Alles  was  die  Regierung  unternimmt,  lauft 
darauf  hinaus,  sie  zu  pappeln,  zu  sahieren.  Aber  dieser 
Patient  ward  niemals  mehr  gesund  werden. 

Was  wirklich  los  ist,  hat  die  offentliche  Meinung  viel 
besser  in  den  Fingerspitzen.  Wer  beachtet  noch  die  poltern- 
den  Kundgebungen  der  Schwerindustrie?  Wo  liest  man  noch 
etwas  von  t,freier  Wfrrtschaft",  „privater  Initiative"?  Wo  noch 
die  altgewohnten  Deklamationen  gegen  die  offentliche  Hand? 
Welches  Blatt  zitiert  eigentlich  noch  die  ,Bergwerkszeitung\ 
die  .Borsenzeitung1  oder  die  ,  Deutsche  AUgemeirie  Zeitung', 
die  gestern  nooh  so  pomp 6s en  Herolde  des  kiassenbewuBten 
Unternelhmertums?  Diese  schwergepanzertenlndustriemoniteure 
wirken  vorgestrig,  und  auBerdem  sind  sie  reichlich  kleinlaut 
geworden.  Die  ge stern  noch  wie  Bliicher  iibern  Rheiri  wollten, 
wart  en  nun  ganz!  klein  und  haBlich  auf  den  pariser  Pump. 

Was  wir  jetzt  in  Dieutschland  erieben,  diese  Kirchhoifsruhe, 
dieses  hofliche  Schwieigen  auoh  der  wildest  en  Parteien,  ist 
etwas  iganz  Einzigartiges.  Die  Parteien  haben  kein  Geld,  und 
damit  hort  auch  die  Politik'  auf.  Wenn  man  Sozis  oder  Reichs- 
bannerleute  fragt,  warum  sie  nicht s  gegen  den  Stahlhelm  unter- 
nehmen, so  antworten  sie  resigniert,  wir  haben  kein  Geld. 
Fragt  man  die  Stahlhelmleute,  warum  die  Agitation  fiir  den 
Volksentscbeid  so  gemachlich  betrieben  werde,  so  heiBt  es 
auch  hiear  achselzuckend:  Kein  Geld!  Dasselbe  wird  man  horen, 
falls  das  Referendum  fehlschlagt.  Hugenberg  selbst,  der  alte 
Gherusker,  schaut  sinnend  auf  sein  Barenfell,  denn  auch  er  sitzt 
bei  der  Danatbank  fesU  Hitler,  der  Brecher  der  Zinsknecht- 
schaft,  ist  stillgeworden,  seitdem  Lahusens  keine  Wolle  mehr 
kammen  und  seitdem  seine  andern  Mazene  ihr  biBchen  Geld 
lieber  zum  Einkauf  von  Lebensmitteln  verwenden,  was  ent- 
schieden  verniinf tiger  ist.  Und  die  K.P.DM  die  revolutionare 
Partei,  die  seit  Jahr  und  Tag  Bastillen  stiirmt  und  Systeme  an 
der  Wurzel  packt?  Sie  denkt  nicht  im  Traum  an  Revolution. 
Sie  beteiligt  sich  lieber  am  Volksentseheid,  einer  streng  legalen 

162 


Sache,  um  die  Energie  ihrer  Aktivsten  zu  beschaiftigen.  Ein 
Ablenkungsmanover;  Getose  ohne  Kampf. 

Es  1st  kiein  Geld  da,  <und  deshalb  stagniert  auch  die  Poli- 
tik.  Wo  die  Herren  vom  Bau  notgedrungen  agieren,  tun  sies 
wie  Schauspieler  aui  der  Probe:  sie  bleiben  in  der  Alltags- 
kleidung  und  schonen  die  Stimme;  sie  markieren.  So  wird  mit 
seltener  Eindiringlicheit  eine  ungeheure  Kluft  siohtbar:  hier  die 
Parteiapparate,  die  mangels  Betriebsstoff  ruhen,  hier  das  Volk 
mit  seinen  Sorgen,  mit  seiner  Emporung,  mit  seiner  Not,  die 
keine  Pause  kennt. 

Aber,  gesetzt,  es  kam>e  morgen  wieder  Geld  ins  Land  — 
dieser  Augenblick  diirfte  fiirchterlich  werden.  Wenn  erst  die 
Kredite  des  Erbfeindes  hereinstromen,  dann  fahrt  neuer  Le- 
bensmut  in  die  Verzagten.  Dann  aber:  Licht  ausfi  Mlesser  raus! 
Die  Parteiapparate  fangen  an  zu  gltihen  und  zu  brodeln  wie 
delirierende  Wurstkessel.  Sie  speien  wieder  FlugibJatter,  Re- 
den,  Scnlagzeilen.  Die  Hetmannsschlacht  respective  Volks- 
r evolution  respektive  Kampf  fiir  respektive  gegen  die  Republik 
setzt  mit  ungeahnter  Vehemenz  ein.  Aber  erst  muB  wieder 
etwas  Geld  da  sein. 

Pressechef  verkundet  die  Autarkie 

Zwei  englische  und  ein  amerikaniscber  Minister  sind  in 
Berlin  gewesen  und  wieder  abgereist.  Laval  wird  nach  Berlin 
kommen,  BriinLng  und  Curtius  werden  nach  Rom  ifahren.  In  der 
AuBenpolitik,  die  noch  vor  einiger  Zeit  eingefroren  schien, 
herrscht  totale  Mobilmachung,  Dennoch  weiB  man  nicht  rechti 
zu  welchein  Ende,  und  vor  allem  weiB  man  nicht,  was  die 
Reichsregierung  Will  Welches  sind  ihre  Plane?  Niemand 
kann  dartiber  Genaues  sagen,  und  ziemlich  sicher  1st  nur,  daB 
starke  Krafte  in  der  Reichsregierung  der  Verstandigung  mit 
Paris  widerstreben. 

In  dieses  etwas  wirre  Ratselraten  fallt  plotzlich  ein  Licht 
von  Oben.  Die  Reichsregierung  selbst  ist  es,  die  in.  einer  an 
die  ,B.Z,  amMittag'  gesandt en  Entgegnung  aui  Grund  der  Not- 
verordnung  ,,zur  Bekampfung  der  politischen  Ausschreitungen" 
ihre  aufienpolitische  Linie  zu  definieren  sucht.  Die  politische 
Ausschreitung  des  Blattes  besteht  darin,  das  unterstutzt  zu 
haben,  was  von  wohlwollenden  Beurteilern  fur  die  Politik  der 
Reichsregierung  gehalten  wird. 

Die  fi.Z.'  mag  sich  ungeheuer  gewrundert  haben,  als  ihr 
so  unvermittelt  attestiert  wurde,  daB  sie  Sicherheit  und  Ord- 
nung  gefahrde.  In  Wahrheit  hat  sie  der  Regierung  einen  Ge- 
fallen  erweisen  wollen,  indem  sie  sich  gegen  unberufene 
nationalistische  Ratgeber  wandte;  f,Man  kann  sich  des  Ein- 
drucks  nicht  erwehren,  daB  gewisse  Kreise  den  Ausgang  der 
Londoner  Konferenz  und  die  Tatsache  der  augenblicklich  nicht 
bestehenden  Anleihemoglichkeiteh  dazu  benutzen  wollen,  die 
vom  Reiohskanzler  in  Paris  und  London  angebahnte  deutsch- 
iranzosische  Annaherung  als  uberflussig  hinzustellen  und  da- 
mit  zu  sabotieren,"  Die  Entgegnung  des  Berrn  MinisteriaJ- 
direktors  Doktor  Zechlin,  der  sich  als  Pressechef  nun  wohl  als 
unser  aller  Vorgesetzter  fuhlt,  schwingt  sich  ganz  gemutlich  dar- 

2  163 


ufber  hinweg,  daB  die  ,B.Z.'  ja  nur  „gewdsse  Kreise"  beschul- 
digt,  solche  Auffassungen  zu  vertreten.  Er  verteidigt  schlank- 
weg  die  gar  nicht  angegriffene  Regierung:  „Die  Reichsregie- 
rung  treibt  keine  ,Prestigepolitik'  auch  nioht  Frankreich  gegen- 
tiber."  Niemand  hat  das  foehauptet.  „Die  fur  eine  (Dteutschland- 
Anleihe  geforderte  Staatsgarantie  Frankreichs,  Englands  und 
Amerikas  ist  in  keiner  Weise  zu  erhalten.  Die  Ausfuhrungen 
der  ,B.Z.  am  Mittag*  gefahrden  daher  den  Willen  des  deutschen 
Volkes  ziua-  Selbsthilf  e  und  schwachen  das  Vertrauen  auf  seine 
eigne  Kraft,  durch  das  in  diesen  Zeiten  allein  die  tfberwindung 
der  Wirtschaftsnote  moglich  ist." 

Die  tiberraschung  uber  diese  Art  von  Zwangsentgegnung 
war  ungeheuer,  Auffallig  genug  ist  es,  wenn  ein  Blatt,  das  der 
Regierung  nach  Kraften  zu  sekundieren  sucht,  derartig  geruifelt 
wird;  auch  der  ,B6rsencourier\  der  in  der  -Regierung  Br  lining 
so  ziemlich  das  Erlesenste  seit  Bismarck  sieht,  hat  wegen  einer 
andern  Sache  einen  WSscher  bekoramen.  Handelt  es  sich  hier 
nur  urn  die  iMlachtgeluste  eines  Pressechels,  der  sich  als 
Pressevogt  fiihlt,  oder  wunscht  die  Regierung  nicht  die  Unter- 
stutzung  von  Slattern  die  zur  Verstandigung  mit  Frankreich 
raten?  Der  zweite  Punkt  ist  ernster.  Denn  es  ist  die  eigne 
Sache  der  betroffenen  Zeitungen,  wenn  ihre  glaubige  Beflissen- 
heit  enttauscht  wird,  das  andre  aber  ist  ein  Politicum  ersten 
Ranges.  Bisher  wenigstens  muBte  man  der  Meinung  sein,  daB 
die  „ Selbsthilf e"  die  Bemuhungen  um  eine  langfristige  Anleihe 
nicht  ausschlieBe  und  nur  der  notwendigsten  innern  Balance 
zu  dienen  habe.  Der  Herr  Pressechef  jedoch  unterstreicht  das 
Vertrauen  auf  ft eigne  Kraft,  durch  das  in  diesen  Zeiten  allein 
die  Oberwindung  der  Wirtschaftskrise  moglich  ist".  Das  ware 
doch  ein  offenes  Bekenntnis  zur  sogenannten  Autarkie,  und 
man  versteht  nicht  recht,  warum  danach  noch  Unterhandlungen 
mit  Laval  und  Mussolini  no  tig  sein  sollen.  Es  ist  ja  alles  in 
Ordnung,  Wir  ersetzen  ein  Mittagessen  durch  stramme  Haltung. 

Von  vornherein  haftete  der  Regierung  Bruning  eine  fat  ale 
auBenpolitisohe  Zweideutigkeit  an,  die  der  Kanzler  erst 
ijungst  beseitigt  hat.  Soil  dieses  gefahrliche  Spiel  von  neuem 
beginnen?  Pariser  Blatter  schreiben  bereits,  die  Reichsregie- 
rung  verbreite  die  Meinung,  daB  sie  von  Frankreich  selbst 
gegen  politische  Garantien  keine  Kredite  erhalte.  Es  muB 
schnell  und  eindeutig  geklart  werden,  ob  der  Herr-  Reic'hs- 
pressechef  als  Interpret  offizieller  Meinungen  autgetreten  ist 
oder  ob  er  in  eignen  Improvisationen  geschwelgt  hat.  Seit 
1918  stand  es  niemals  gut  um  Deutschland,  wenn  wir  naus  eig- 
ner  Kraft"  und  , .allein"  fertig  werden  wollten.  Auch  ohne 
toridhte  Experimente  werden  die  naohsten  Monate  schwer  ge- 
nug werden.  Die  Autarkie  fiihrt  die  Kohlriibe  im  Wappen,  Das 
stolze  ,,Allein"  heiBt:  allein  verkiimmern,  allein  verhungern. 
Der  Reichskanzler  mag  nicht  so  grofi  sein  wie  sein  Ruhm,  aber 
er  wird  klug  genug  sein,  um  zu  wissen,  daB  kein  Staatsmann 
mehr  d«m  Volke  das  grauenhafte  Opfer  einer  selbstgeschaffe- 
nen  Blockade  auferlegen  kann,  die,  wie  Dreiundzwanzig,  mit 
einer  elenden  und  bedingungslosen  Kapitulation  enden  muB. 
Der  nachste  verlorene  Ruhrkrieg  wird  ganz  Deutschland  in 
Brand  stecken.  Illusionen  dariiber,  Herr  Pressechef,  gefahr- 
den Sicherheit  und  Ordnung. 
164 


Die  Schuldigen  strafen  von  Kurt  inner 

FJas  Palladium  der  Demokratie  ist  die  Pressetreiheit.  Der 
Revolutionar  begreift,  dafi  Leiter  cines  revolutionaren 
Staats  sich  gezwungen  sehn,  die  Pressefreiheit  voriibergehend 
aufzuheben,  um  die  werdende  neue  Ordnung  zu  schiitzen  vor 
Attacken  der  alten  Machte;  niemals  aber  kann  erhaltenden 
Verwaltern  des  Alten  das  Recht  zugestanden  werden,  die 
Funktion  der  Kritik  an  ihren  eignen  Handlungen,  diese  wich- 
tigste  Funktion  des  Volkskorpers,  zu  hemmen  und  zu  unter- 
brechen.  Die  Notverordnung  vom  17.  Juli  bedeutet  eine  solche 
Funktionshemmung.  Der  schwer  erkrankte  deutsche  Volks- 
korper  wird  mittels  dieser  Therapie  nicht  zur  Gesundung  ge- 
bracht  werden;  im  Gegenteil,  neue  Eiterherde  mtissen  sich 
bilden,  die  Fieberkurve  muB  steigen.  Wer  seiae  Nation  liebt, 
ist  ihr  verpflichtet,  das  auszusprechen  —  in  Ruhe  und  auf 
jede  Gefahr  hin. 

Paragraph  1  der  Verordnung  enthalt  Berechtigtes.  Der  Re- 
gierung  soil  Redefreiheit  zustehn  in  alien  Zeitungen  und  Zeit- 
schriften.  Wozu  ware  eine  Regierung  schlieBlich  Regierung, 
wenn  sie  nicht  die  Moglichkeit  haben  sollte,  sich  samtlichen 
Lesern  des  Landes  zu  offenbaren;  wenn  sie  nicht  die  Macht 
haben  sollte,  MiBverstandnissen  und  Liigen  iiberall  entgegen- 
zutreten,  wo  sie  auftauchen:  also  rechts,  links  und  in  der  Mitte. 
Unser  offentliches  Recht  enthielt  hier  eine  Liicke;  die  Not- 
verordnung beseitigt  sie.     (Nicht  ohne  Schonheitsfehler.) 

Ganz  anders  Paragraph  2,  Hiernach  konnen  Druckschrif- 
ten  beschlagnahmt,  eingezogen  und,  falls  es  periodische  sind, 
bis  zu  sechs  Monaten  verboten  werden,  ,,wenn  durch  ihren 
Inhalt   die    offentliche  Sicherheit   und  Ordnung   gefahrdet  wird". 

War  je  ein  Rechtssatz  Kautschuk,  dann  dieser  I  Was  heiBt 
Sicherheit,  was  Ordnung,  was  Gefahrdung?  Mag  der  Satz 
theoretisch  und  nach  den  beschwichtigenden  Erklarungen  so- 
zialdemokratischer  Wurdentrager  das  Harmloseste  bedeuten: 
praktisch  bedeutet  er  unzweifelhaft,  daB  die  Regierung  jede 
ihr  unbequeme  Meinung  unterdrucken,  jede  ihr  unangenehme 
Kritik  verhindern  kann.  Die  Regierung  —  das  heiBt  nicht  nur 
die  mittelparteiliche  Reichsregierung  der  Gegenwart,  sondern 
auch  eine  ihr  etwa  nachfolgende  nationalistische;  nicht  nur  die 
Reichsregierung,  sondern  auch  die  Landesregierungen,  unter 
denen  sich  ja  heute  schon  ausgesprochen  reaktionare  befin- 
den.  Triumph  des  ,,Ermessens";  Triumph  derWillkiir;  (auch 
gegen  Biicher).     Am  Boden  liegt:  der  freie  kritische  Geist. 

Dieser  Zustand  ist  Vollblut-Fascismus.  „Warum  denn  nicht ?**" 
darf  einer  fragen.  Gut.  Aber  wer  in  Verteidigung  dieses  Re- 
gimes auch  jetzt  noch  behaupten  wollte,  es  sei  Demokratief 
der  loge, 

Zu  den  Artikeln  der  Reichsverfassung,  die  laut  Artikel  48 
auBer  Kraft  gesetzt  werden  konnenf  gehort  jener  Artikel  118, 
der  das  Recht  der  freien  MeinungsauBerung  statuiert.  Er  kann 
dann  auBer  Kraft  gesetzt  werden,  „wenn  im  Deutschen 
Reiche  die  offentliche  Sicherheit  und  Ordnung  erheblich 
gestort  oder  gefahrdet  wird".  Wird  sie  das  zurzeit?  Mag  sein. 

165 


Aber  wer  hat  sic  denn  gefahrdet,  die  offentiiche  Sicherhcit  und 
Ordnung?  Wer  ist  denn  schuld  an  dieser  Unruhe  im  Volk, 
an  diesem  plotzlichen  Schwund  alien  Vertrauens,  an  diesen 
Zusammenbriichen?  Man  soil  Schuldfragen  nie  uberbetonen; 
man  soil  der  Abhilfefrage  immer  den  Vorrang  lassen  vor  der 
Schuldfrage;  aber  vernachlassigen  darf  man  die  Schuldfrage 
auch  nicht.  Jene  Not,  mit  der  sich  die  Verordnung  rechtfer- 
tigt,  entstand  vor  allem  durch  Zuruckziehen  auslandischer  Kre- 
dite  in  beispiellosem  Umfang,  und  dies  Zuruckziehen  beruhte 
auf  einer  Nervositat,  die  ihrerseits  erzeugt  war  durch  den 
neuen  Kurs  der  deutschen  Politik,  den  man  als  bedrohlich 
empiand.  Die  Konzessionen  an  den  Nationalismus;  der  zweite 
Panzerkreuzer,  in  keinem  realen  Bediirfnis  dieser  verarmten 
Nation  begrtindet;  die  Zollunion,  von  der  das  Gleiche  gilt;  das 
Dulden  unverblumter  Kriegshetzreden,  von  Stahlhelmhaupt- 
lingen  nicht  nur,  sondern  auch  beispielsweise  des  Volkspartei- 
lers  Seeckt  —  diese  Taten  und  Unterlassungen  der  Reichs- 
regierung  Iiefien  im  Ausland  das  MiBtrauen  entstehen,  das 
zur  Zuriickziehung  der  Gelder  fiihrte.  Und  wenn  nicht  nur 
das  ausland Lsche,  wenn  auch  das  Kapital  deutscher  Kapita- 
listen  milliardenweise  iiber  die  Grenzen  floh,  so  ist  es  wieder- 
um  die  Reichsregierung,  die  gesetzliche  Vorkehrungen  da- 
gegen  zu  treffen  straflich  verabsaumt  hatte.  Da8  Vorkehrun- 
gen gegen  die  Kapitalflucht  moglich  sind,  beweist  die  Verord- 
nung, die  man  zu  spat  erlieB.  (Es  gabe  iibrigens,  freilich  nur 
durch  Abmachungen  mit  einigen  auslandischen  Staaten,  die 
Moglichkeit  drastischerer  und  wirksamerer  MaBnahmen!) 

Die  Fehler  der  Regierung  selbst  sind  es  also,  die  ,,im 
Deutschen  Reiche  die  offentiiche  Sicherheit  und  Ordnung  er- 
heblich  gestort  oder  gefahrdet'*  haben;  und  wenn  eben  jene 
im  eminentesten  AusmaB  an  dem  Zustandt  der  herrscht,  schul- 
dige  Regierung  sich  fur  berechtigt  halt,  unter  Berufung  auf 
diesen  Zustand  die  offentiiche  Kritik  an  ihren  Taten  zu  unter- 
binden  oder  auch  nur  einzuschranken,  so  wird  darauf  zu  ant- 
worten  sein,  daB  solche  AnmaBung  einiger  vielleicht  wohl- 
gesinnter,  aber  nachweislich  unfahiger  Herren  fiir  die  Nation  in 
dieser  Stunde  untragbar  ist/  So  sehr  der  anstandige  Publizist 
mit  jeder  Bemiihung  sympathisieren  wird,  die  offentiiche  Kri- 
tik zu  entgiften,  das  bosartig-leere  Schimpfen,  die  Falschung 
und  die  Verleumdung  aus  der  Presse  zu  rotten,  so  wenig  kann 
und  darf  er  doch  <hinnehmen,  daB  just  unter  den  Schuldigen 
einer  Katastrophe  eine  Orgie  des  Mangels  an  Selbstkritik  aus- 
bricht  und  daB  sie,  anstatt  sich  personlich  zu  geifieln^  fiir  die 
eignen  Siinden  die  Andern  strafen:  mit  Redeverboten;  mit 
Exist enzvernichtungen.  Eingeraumt,  daB  in  Notzeiten  Fuhrer 
der  Nation  tabu  sein  sollen  —  so  konnen  doch  Minister  nicht 
deshalb  als  Fuhrer  gel  ten,  weil  sie  grade  Minister  sind;  und 
erweist  sich,  was  hier  erwiesen  ist:  daB  eine  Regierung,  und 
seis  auch  blofi  durch  ihre  Unf ahigkeit,  die  Nation  aufs  schwerste 
geschadigt  hat,  dann  rechtfertigt  sich  vielleicht,  daB  die  Nation 
ihr,  aber  niemals,  daB  sie  der  Nation  den  Mund  verbietet.  Wir 
vermissen  in  dieser  Verordnung  gegen  die  Freiheit  des  Schrift- 
tums  wenig  er  die  Demokratie  als  die  Scham;  hier  in  sind  wohl 
rechte  und  linke  Opposition!  einig. 

166 


Linke  Sozialdemokraten  und  SowjetruBland 

von  Fritz  Sternberg 

Qis  zum  Hcrbst  des  vergangenen  Jahres  war  cine  fast  ein- 
heitliche  Stellung  der  deutschen  Sozialdemokratie  zu 
SowjetruBland  festzustellen:  der  nahende  Untergang  des 
Systems  wurde  zum  hundertsten  Male  prophezeit,  die  Bericht- 
erstattung  war  vollig  tendenzios,  nur  die  Fehlschlage  wurden 
gemeldet,  dazu  vielfach  iibertrieben;  der  sozialdemokratische 
Arbeiter,  der  sich  uber  SowjetruBland  informieren  wollte,  griff 
darum  haufig  zur  biirgerlichen  Presse,  da  er  der  eignen  nicht 
traute.  Denn  —  das  war  einheitlich  in  ganz  Deutschland  fest- 
zustellen  — t  der  grofiere  Teil  der  Arbeiter,  auch  der  sozial- 
demokratischen  und  freigewerkschaftlich  organisierten,  stand 
Ietzthin  bejahend  zu  all  dem,  was  sich  in  SowjetruBland  er- 
eignete.  Mochte  er  auch  im  einzelnen  an  manchen  MaBnah- 
men  zweifeln,  insgesamt  sagte  er  sich:  die  Bolschewiki  haben 
den  Krieg  beendigt,  und  zwar  haben  das  die  Arbeitermassen 
getan,  wahrend  die  herrschenden  Klassen  weiter  Krieg  fiihren 
wollten.  Sie  haben  sich  einen  eignen  Staat  gebaut  und  sind 
dabei  ohne  fremdes  auslandisches  Kapital  ausgekommen.  Sie 
sind  seit  fast  einem  halben  Menschenalter  am  Ruder  und  fiih- 
ren die.  Wirtschaft  ohne  Kapitalisten,  ohne  Unternehmer.  Das 
sind  Tatbestande,  die  keine  noch  so  raffinierte  Argumentation 
dem  sozialdemokratischen  Arbeiter  hinweginterpretieren 
konnte,  denen  sich  aber  gleichzeitig  linke  fuhrende  Kreise 
der   Sozialdemokratie   immer   schwerer   entziehen   konnten. 

Otto  Bauer,  der  nicht  nur  der  Fuhrer  der  osterreichischen 
Sozialdemokratie  ist,  sondern  eine  gewichtige  Rolle  in  der 
Zweiten  Internationale  spielt,  hat  vor  kurzem  den  ersten  Band 
einer  Schriftenreihe  publiziert,  die  den  Kapitalismus  und  So- 
zialismus  nach  dem  Weltkrieg  behandeln  solL  Uns  interessiert 
in  diesem  Zusammenhang  nur  das  letzte  Kapitel  iiber  das  heu- 
tige  RuBland,  Otto  Bauer  beweist  in  diesem  Buch  person- 
lichen  Mut,  er  scheut  sich  nicht,  seine  friihern  Ausfiihrungen 
iiber  RuBland  vollig  zu  revidieren.  Vor  zehn  Jahren  bei  der 
Einfiihrung  der  sagenannten  Nep-Politik  hatte  er  geschrieben; 
,,Es  ist  eine  kapitalistische  Wirtschaft,  die  wir  so  wieder- 
erstehen  sehen,  eine  kapitalistische  Wirtschaft,  die  von  der 
neuen  Bourgeoisie  beherrscht  wird,  die  sich  auf  die  Millionen 
Bauernwirtschaften  stiitzt  und  der  sich  die  Gesetzgebung  und 
die  Verwaltung  des  Staates  notgedrungen  anpassen  miissen." 
Hatte  er  also  damals  angenommen,  daB  sich  in  RuBland  infolge 
seiner  industriellen  Zuriickgebliebenheit  der  Kapitalismus  wie- 
der  entwickeln  miiBte,  so  hat  er  in  den  zehn  Jahren,  die  auf 
den  Nep  foLgten,  umgelernt  Es  heiBt  bei  ihm,  um  nur  einige 
wesentliche  Stellen  zu  zitieren: 

Aber  so  ungeheuer  groB  diese  Gefahren  sind  —  je  weiter  die 
Period e,  innerhalb  derer  der  Fiinfjahrplan  durchgefuhrt  werden  soil, 
fortschreitet,  desto  eher  erscheint  es  doch  denkbar,  daB  die  Sow  jet- 
union  durch  die  Zone  der  groBten  Gefahr  unerschtittert  hindurch- 
kommen,  dafi  sie  das  mit  dem  Fiinfjahrplan  gesteckte  Ziel  an- 
nahernd  erreichen  wird  * . .  Aber  wenn  die  Volker  der  Sowjetunion 
die  Zeit  der  Entbehrungen,  die  der  Fiinfjahrplan  von  ihnen  heischt, 

',  167 


noch  ungefahr  zwei  Jahre  „durchhalten'\  dann  wird  das  Ziel  des 
Plans,  wenigstens  auf  industriellem  Gebiet,  annahernd  erreicht 
werden, 

Wenn  abcr  der  Plan  auf  industriellem  Gebiet  gelingt,  so 
bleibt  die  Wirkung  naturlich  nicht  auf  die  Industrie  beschrankt, 
und  so  gibt  Bauer  folgende  Perspektive  der  Entwicklung: 

Wird  die  Industrie  den  Bauern  die  Industrieprodukte  liefern 
konnen,  die  sie  brauchen,  werden  die  Bauern  ftir  sie  Agrarprodukte 
austauschen;  so  wird  auch  die  Lebensmittelversorgung  der  Stadte  all- 
mahlich  verbessert  werden  konnen.  Zugleich  wird  auch  die  Waren- 
ausfuhr  der  Sowjetunion  steigen.  Die  sehr  starke  Entwicklung  der 
Kunstdiingerindustrie  in  der  Sowjetunion  wird  es  ermoglichen,  die 
Bodenertrage  bedeutend  zu  erhohen;  die  Sowjetunion  wird  daher 
ihren  Getreideexport  vergroBern  konnen.  Aber  auch  manche  von  den 
neuerrichteten  Industrien  werden  einen  Teil  ihrer  Erzeugnisse  im 
Ausland  absetzen.  Je  mehr  die  Sowjetunion  ihre  Ausfuhr  zu  ver- 
groBern imstande  sein  wird,  desto  mehr  Arbeitsmittel  und  Ver- 
brauchsguter  wird  sie  aus  dem  Auslande  zur  Versorgung  ihrer  Be- 
volkerung  einfiihren  konnen*  All  das  wird  zusammenwirken,  die  Not 
allmahlich  zu  tiberwinden. 

In  dem  Mafie,  als  die  Lebenshaltung  der  Volksmassen  wird  ge- 
bessert  werden  konnen,  wird  die  terroristische  Diktatur  liberfliissig 
und  abgebaut,  das  Sowjetregime  demokratisiert  werden  konnen.  Wenn 
die  Diktatur,  die  liber  den  staatlichen  Produktionsapparat  verfiigt, 
von  einer  Demokratie  der  werktatigen  Massen  abgelost  wird,  wird  aus 
dem  Staatskapitalismus  der  Diktatur  eine  sozialistische  Organisation 
der   Gesellschaft. 

Der  letzte  Abschnitt  ist  besonders  bedeutsam,  Hier  wird 
von  einem  fiihrenden  Sozialdemokraten  direkt  gesagt,  da8  die 
Diktatur  in  SowjetruBland  nur  ein  Obergangsstadium  ist  und 
dafi  sie  beim  weitern  Fortschritt  in  der  industriellen  und  land- 
wirtschaftlichen  Produktion  abgebaut  werden  wirdv  Das  Buch 
Otto  Bauers,  die  positiven  Ausfiihrungen  des  Vorsitzenden  der 
Zweiten  Internationale  Vandervelde  iiber  RuBland  (die  bezeich- 
nenderweise  im  ,Vorwarts'  nicht  gedruckt  wurden)  sind  auf  die 
deutschen  linken  Sozialdemokraten  nicht  ohne  Wirkung  ge- 
blieben,  zumal  auch  in  der  Ffihrerschicht,  die  sich  um  Seyde- 
witzs  tKla«senkampf  gruppiert,  eine  immer  positivere  Haltung 
zu  SowjetruBland  festzustellen  ist.  Der  Reichstagsabgeordnete 
Engelbert  Graf,  einer  der  Neun,  die  gegen  den  Panzerkreuzer 
gestimmt  haben,  hat  vor  kurzem  eine  Broschiire  veroffentlicht, 
„Die  Industrialisierung  der  Sowjetunion",  die  den  Ausfiihrun- 
gen Bauers  durchaus  zustimmt.  Graf  wendet  sich  dort  aus- 
driicklich  gegen  die  „parteipolitische  Verzerrung",  die  den  so- 
zialdemokratischen  Arbeiter  oft  daran  hindere,  sich  ein  wah- 
res  Bild  von  SowjetruBland  zu  machen.     Er  betont  weiter: 

Es  ist  unter  der  politischen  Leitung  der  Bolschewiki  in  RuBland 
ein  wirtschaftliches  System  erwachsen,  das  seine  erste  Feuerprobe  be- 
standen  hat. 

Er  zieht  aber  auch  indirekt  aus  dieser  seiner  Stellung  zu 
RuBland  Schliisse  fur  Deutschland.  Ich  zitiere  den  ganzen 
Abschnitt  (iber  den  bolschewistischen  Aufbau: 

Nirgends  war  der  technische  und  organisatorische  Apparat  von 
Handel  und  Industrie  so  radikal  zerstort  wie  in  RuBland.  Und  sein 
Wiederaufbau  gelang  ohne  Zuziehung  des  privatkapitalistischen  Unter- 
nehmertums.     Wie?    Calt   das   nicht   als   nationalokqnomische    Selbst- 

168 


verslandlichkeit,  gradezu  als  wirtschaftspolitisches  Dogma  in  Mittel- 
<ind  WesteUropa,  daB  eine  zusammengebrochene  Wirtschaft  nur  durch 
die  Initiative  des  kapitalistischen  Unternehmers  zu  sanieren  sei?  Hat 
man  nicht  damit  bei  uns  den  Ruf  nach  der  Sozialisierung  ubertont? 
Aber  die  Bolschewiki  spotteten  dieser  Theorie.  Selbst  in  der  Nep- 
Periode  blieben  die  „Kommandohdhen  der  Wirtschaft"  —  Industrie, 
Eisenbahnen,  InlandgroBhandel  und  der  gesamte  Aufienhandel  —  in 
den  Handen  und  in  der  Kontrolle  des  Staates,  eine  „offentliche  Wirt- 
schaft" von  so  riesigen  Dimensionen,  daB  kein  Staat  der  Welt  etwas 
Ahnliches  an  die  Seite  stellen  konnte, 

Der  Hinweis  auf  die  Sozialisierung  in  Deutschland  steht  an 
dieser  Stelie  nicht  zufallig.  Denn  es  ist  kein  Zufall,  daB  die 
veranderte  Stellung  gewisser  linkssozialdemokratischer  Kreise  zu 
SowjetruBland  in  eine  politische  Situation  fallt,  wo  die 
okonomische  und  politische  Krise  in  Deutschland  sich  immer 
mehr  zuspitzt,  in  der  das  Monopolkapital  die  Demokratie 
immer  mehr  abbaut,  in  der  die  Parole1  daB  der  Diktatur  des 
Finanzkapitals  die  des  Proletariats  gegeniibergestellt  werden 
miiBte,  in  der  diese  Parole  bald  sehr  aktuellen  Charakter  an- 
nehmen  kann.  Es  ist  weiter  kein  Zufall,  daB  die  immer  posi- 
tivere  Stellung.  gewisser  linkssozialdemokratischer  Kreise  zu 
SowjetruBland  vom  sozialdemokratischen  Parteivorstand  mit 
«iner  noch  groBern  SowjetruBland-Hetze  als  vorher  beant- 
wortet  wird*  Otto  Wels  begann  damit  auf  dem  Parteitag  in 
Leipzig,  der  ,Vorwarts*  setzt  diese  Hetze  jeden  Tag  fort. 

Die  neueste  Stalinrede  wurde  vom  ,Vorwarts*  und  in  einem 
Teil  der  reformistisch  sozialdemokratischen  Presse  mit  dem 
Kommentar  begriifit,  der  Fiinfjahresplan  sei  undurchfuhrbar, 
Stalin  miiBte  zu  kapitalistischen  Methoden  zuriickkehren,  um 
oiberhaupt  retten  zu  konnen,  was  noch  zu  retten  ist*  Als  die 
Nep-Politik  seinerzeit  vor  zehn  Jahren  in  SowjetruBland  einge- 
Hhrt  wurde,  haben  dieselben  Blatter  geschrieben,  daB  nunmehr 
das  Sowjetsystera  in  Wirklichkeit  liquidiert  sei  und  der  private 
Kapitalismus  in  RuBland  bald  regieren  werde.  Die  letzten  zehn 
Jahre  haben  bewiesen,  wie  wahr  diese  Prognosen  waren.  Der 
,Vorwarts'  selbst  muBte  zugeben,  daB  die  Staatsproduktion  in 
RuBland  bereits  im  vergangenen  Jahr  in  alien  ihren  Zweigen 
die  Vorkriegsproduktion  uberschritten  habe.  Heute  spricht 
man  wieder  von  einer  „Wendung"  in  der  russischen  Politik; 
Und  worin  bestand  die?  Stalin  hat  verlangt,  daB  eine  starkere 
T>if  f  erenzierung  in  der  Entlohnung  der  qualif  izierten  und  un- 
qualifizierten  Arbeiter  einsetzen  miisse,  Und  das  soil  eine 
Riickkehr  zu  „pfivatkapitalistischen"  Methoden  sein.  Nun, 
auch  der  qualif izierte  Arbeiter  kann  in  RuBland  nicht  Kapi- 
ialist  werden,  schon  weil  die  Produktionsmittel  nicht  einzelnen 
^ehoren  sondern  dem  Staate.  Nein,  SowjetruBland  kehrt  nicht 
mehr  zum  Privatkapitalismus  zurtick.  SowjetruBland  arbel- 
tet  weiter  am  Aufbau  des  Sozialismus,  und  daB  die  Reformisten 
in  der  Sozialdemokratie  heute  mehr  als  je  gegen  SowjetruBland 
Stellung  nehmen,  ist  nur  die  Antwprt  darauf,  daB  bei  der  Zu- 
spitzung  der  politischen  und  okonomischen  Situation  in 
Deutschland  immer  weiter e  Kreise  auch  der  sozialdemokrati- 
schen Arbeiter  nach  der  prole tarisch en  Diktatur  verlangen,  da- 
nach  verlangen,  daB  dem  kapitalistischen  Ausweg  aus  der 
Krise  der  proletarische  gegeniibergestellt  wird.    Positive  Stel- 

169 


lung  zu  RuBland  bedeutet  hcutc  gleichzeitig  positive  Stellung 
zu  einer  proletarisch-rrevolutionaren  Losung  der  heutigcn  Krise, 
Dafiir  sind  bereits  groBe  Massen  der  sozialdemokratischen  Ar- 
beiter.  Das  befiirchten  aber  auf  der  andern  Seite  bereits: 
Kreise,  die  ehemals  das  privatkapitalistische  Wirtschaftssystem 
fiir  ewig  gehalten  haben.  Lujo  Brentano  schreibt  in  einer  Be- 
sprechung  der  Aufsatze  von  Fried  in  der  ,Tat':  „Sollte  im 
Kampfe  zwischen  Profitminimum  und  Lohnminimum  das  erstere 
triumphieren,  so  dtirfte  Fried  in  seiner  Prognose  Recht  behal- 
ten,  daB  das  kapitalistisehe  System  seinem  Untergang  bei  uns 
entgegengeht,  und  nach  furchtbaren  Hungerrevolten  wird  die 
sowjetistische  Planwirtschaft  sein  Ende  sein." 

Scharfste  Kampfe  aber  stehen  in  der  nachsten  Zeit  bevor. 
Das  erste  Erfordernis  istf  keine  Verwirrung  in  die  Reihen  der 
Arbeiterschaft  zu  tragen,  weder  Verwirrung  iiber  die  augen- 
blickliche  deutsche  Situation  noch  Verwirrung  tiber  die  Stellung 
SowjetruBlands  bei  einer  revolutionaren  Zuspitzung  der  Lage 
in  Deutschland.  Es  ist  klar,  daB  bei  den  augenblicklichen 
chaotischen  Zustanden  gewisse  Verwirrungsapostel  voriiber- 
gehend  leicht  EinfluB  gewinnen  konnen.  Man  kann  ihnen  da- 
her  nicht  friih  genug  eritgegentreten.  In  Koln  erscheint  im  Mo- 
natsabstand  eine  Zeitschrift,  der  ,Rote  Kampfer',  der  vor  allem 
der  Revolutionierung  der  sozialdemokratischen  Arbeiter  ge- 
widmet  war.  Grade  weil  ich  selbst  an  der  4.,  6.  und  7.  Num- 
mer  dieses  Blatts  in  entscheidender  Weise  mitgearbeitet  habe, 
mochte  ich  an  dieser  Stelle  in  aller  Offentlichkeit  betonen,  daB 
ich  mit  der  Nutmmer  8  dieses  Blattes  nichts  zu  tun  habe.  Dort 
heiBt  es  iiber  RuBland,  daB  es  eine  ernsthafte  revolutionare 
Auseinandersetzung  in  Europa  zur  Zeit  nicht  brauchen  konne, 
am  wenigsten  in  Deutschland.  Und  zur  Begrundung  dieser  Be- 
hauptung  wird  lapidar  erklart:  „Eine  Revolution  in  Deutsch- 
land wiirde  im  Augenblick  den  Funfjahresplan,  den  gegenwar- 
tigen  wie  den  kunftigen,  zum  Zusammenbruch  bringen,  denn  er 
basiert  ja  auf  der  Stetigkeit  und  der  ungestorten  Entwicklung 
der  Lieferungsvertrage/'  Welch  eine;  Froschperspektivef 
Die  deutschen  Monopolkapitalisten  waren  sehr  froht  wenn  die 
Lieferung  deutscher  Maschinen  Sowjetrufiland  veranlassen 
wiirde,  jede  revolutionare  Aktion  in  Deutschland  zu  verhin- 
dern.  Was  sind  das  fiir  absurde  Lacherlichkeiten!  Vor  kurzer 
Zeit  hat  die  englische  Regierung  bekanntlich  die  Kreditfristen 
fiir  Exporte  nach  RuBland  verlangert,  weil  man  sich  davon  eine 
Erhohung  der  Exportmengen  versprach.  Maschinen  stellt 
nicht  nur  Deutschland  her:  wenn  Stockumgen  in  der  deutschen 
Maschinenlieferung  eintraten,  so  wiirden  die  Russen  d«n  aus- 
fallenden  Teil  der  Maschinen  in  England  und  den  VereinigteTi 
Staaten  bestellen. 

Nein,  so  einfach  liegen  die  weltwirtschaftlichen  Zusammen- 
hange  SowjetruBlands  mit  Europa  nicht.  Grade  die  letzten 
deutschen  Kreditverhandlungen  mit  RuBland  haben  gezeigt,  daB' 
Sowjetrufiland  in  diesem  Punkte  eine  ziemlich  feste  Position: 
hat,  darum,  weil  alle  Staaten  an  den  Lieferungen  nach  RuBland 
interessiert  sind,  weil  sie  nicht  unter  einen  Hut  zu  bringen  sind 
und  weil  daher  die  Russen  sie  im'groBten  Umfang  gegen- 
einander  ausspielen  konnen. 
170 


SowjctruBland  wird  den  Ftinfjahresplan  durchfiihren,  es 
wird  die  Maschinen  dazu,  solange  es  sie  nicht  selber  herstellt, 
von  dort  einfiihren,  wo  es  die  besten  Bedingungen  bckommt, 
aber  es  wird  den  Zusammenbruch  des  deutschen  Kapitalismus 
nicht  darum  verhindern,  weil  es  von  ihm  Maschinen  bezieht. 

Das  deutsche  Monopolkapital  wird  wieder  versuchen,  die 
weitere  Zuspitzung  der  heuitigen  Krise  auf  die  breiten  Massen 
abzuwalzen.  Ein  dreifiigprozentig«r  Abbau  der  Lohne  wird  ge- 
fordertt  die  Mittelschichten  werden  weiter  proletarisiert,  das 
Reparationsfeierjahr,  die  Beseitigung  aller  Lasten  aus  dem 
Young-Plan  wird  nichts  niitzen.  Diesem  kapitalistischen  Aus- 
weg  aus  der  Krise  muB  der  prole tarische  gegeniibergestellt 
werden.  Und  die  deutsche  Arbeiterschaft  wie  die  gesamten 
Mittelschichten,  deren  Lebenslage  durch  das  Monopolkapital 
immer  weiter  verschlechtert  wird,  imiBten  wissen,  daB  bei  der 
Organisation  des  proletarischen  Auswegs  aus  der  Krise  sie  in 
SowjetruBland  einen  Freund  und  Bundesgenossen  finden 
werden. 


Der  Krieg  1st  eine  grauenhafte  Schlachterei! 

von  Papst  Benedikt  XV. 

An  die  kriegfiihrenden  Volker  und  deren  Oberhaupterl 

A  Is  wir  ohne  unser  Verdienst  auf  den  Apostolischen  Stuhl  berufen 
**  wurden  zur  Nachfolge  des  friedliebenden  Papstes  Pius  X.,,  dessen 
heiliges  und  segensreiches  Leben  durch  den  Schmerz  iiber  den  in  Eu- 
ropa  entbrannten  Bruderzwist  verkiirzt  wurde,  da  fuhlten  auch  wir 
mit  einem  schaudernden  Blick  auf  die  blutbef  leek  ten  Kriegsschau- 
platze  den  herzzerreiBenden  Schmerz  eines  Vaters,  dem  ein  rasender 
Orkan  das  Haus  verheerte  und  verwustete.  Und  wir  dachten  mit 
unausdriickbarer  Betriibnis  an  unsre  jungen  Sbhne,  die  der  Tod  zu 
Tausenden  dahinmahte,  und  unser  Herz,  erfullt  von  der  Liebe  Jesu 
Christi,  offnete  sich  den  Martern  der  Mutter  und  der  vor 
der  Zeit  verwitweten  Frauen  und  dem  untrostlichen  Wim- 
mern  der  Kinder,  die  zu  fruh  des  vaterlichen  Beistands  beraubt 
waren.  Unsre  Seele  nahm  teil  an  der  Herzensangst  unzahliger  Fami- 
lien  und  war  durchdrungen  von  den  gebieterischen  Pflichten  jener  er- 
habenen  Friedens-  und  Liebesmission,  die  ihr  in  diesen  ungliickseli* 
gen  Tagen  anvertraut  war.  So  faBten  wir  alsbald  den  unerschutter- 
lichen  EntschluB,  all  unsre  Wirksamkeit  und  Autoritat  der  Versoh- 
nung  der  knegfiihrenden  Volker  zu  weihen,  und  dies  gelobten  wir 
feierlich  dem  gottlichen  Erldser,  der  sein  Blut  vergoB,  auf  daB  alle 
Menschen  Briider  wurden. 

Die  ersten  Worte,  die  wir  an  die  Volker  und  ihre  Lenker  richte- 
ten,  waren  Worte  des  Friedens  und  der  Liebe.  Aber  unser  Mahnen, 
liebevoll  und  eindringlich  wie  das  eines  Vaters  und  Freundes,  ver- 
hallte  ungehort!  Darob  wuchs  unser  Schmerz,  aber  unser  Vorsatz 
wurde  nicht  erschiittert.  Wir  lieBen  nicht  ab,  voll  Zuversicht  den  All- 
machtigen  anzurufen,  in  dessen  Handen  Geist  und  Herzen  der  Unter- 
tanen  und  Konige  liegen,  und  flehten  ihn  an,  die  furchterliche 
Geifiel  des  Krieges  von  der  Erde  zu  nehmen.  In  unser 
demiitiges  und  inbriinstiges  Gebet  wollten  wir  alle  Glaubigen 
einschlieBen,  und,  um  es  wirksamer  werden  zu,  lassen,  sorgten  wir 
dafiir,  daB  es  verbunden  wurde  mit  Ubungen  christlicher  BuBe.  Aber 
heute,  da  sich  der  Tag  jahrt,  an  dem  dieser  furchtbare  Streit  aus- 
brach,  ist  unser  Herzenswunsch  noch  gluhender,  diesen  Krieg  beendigt 

3  171 


zu  sehn;  lauter  erhebt  sich  unser  vaterlicher  Schrei  nach 
Frieden,  Moge  dieser  Schrei  das  schreckliche  Getose  der  Waffen 
iibertdnen  und  bis  zu  dea  kriegfiihrenden  Volkern  und  ihren  Lenkern 
dringen,  urn  die  einen  wie  die  andern  mildern  und  ruhigern  Ent- 
schliissen  geneigt  zu  machen, 

Im  Namen  des  allmachtigen  Gottes,  im  Namen  unsres  himralischen 
Vaters  und  Herrn,  bei  Jesu  Christi  benedeitem  Blute,  dem  Preis  der 
Menschheitserlosung,  beschworen  wir  euch,  euch  von  der  gottlichen 
Vorsehung  an  die  Spitze  der  kriegfiihrenden  Volker  Gestellte,  endlich 
dieser  grauenhaften  Schlachterei  ein  Ende  zu  setzen,  die  nun  schon 
ein  Jahr  Europa  cntehrt.  Bruderblut  trankt  das  Land  und  farbt  das 
Meer,  Die  schonsten  Landstricbe  Europas,  des  Gartens  der  Welt,  sind 
besat  mit  Leichen  und  Triimmern;  da,  wo  kurz  zuvor  noch  rege  Ta- 
tigkeit  der  Fabriken  und  fruchtbare  Feldarbeit  herrschten,  hort  man 
jetzt  den  schrecklichen  Donner  der  Geschiitze^  die  in  ihrer  Zersto- 
rungswut  weder  Dorfer  noch  Stadte  verschonen,  sondern  iiberall  Ge- 
metzel  und  Tod  saen.  Ihr,  die  ihr  vor  Gott  und  den  Men- 
schen  die  furchtbare  Verantwortung  fur  Krieg  und  Frieden  tragt,  er- 
hort  unser  Gebet,  hort  auf  die  vaterliche  Stimme  des  Stellver- 
treters  des  ewigen  und  hochsten  Richters,  dem  auch  ihr  iiber  euer 
offentliches  und  privates  Tun  Rechenschaft  ablegen  mufit. 

Die  grofien  Reichtiimer,  mit  denen  der  Schopfer  eure  Lander  ge- 
segnet  hat,  erlauben  euch,  den  Kampf  fortzusetzen;  aber  um  welchen 
Preis !  Das  sollen  die  Tausende  der  jungen  Menschen  beantworten,  die 
taglich  auf  den  Schlachtfeldern  dahinsiaken.  Das  sollen  die  Trim- 
mer so  vieler  Flecken  und  Stadte  beantworten,  die  Trummer  so  vie- 
ler  der  Frommigkeit  und  dem  Geist  der  Vorfahren  geweihter  Monu- 
mente.  Und  wiederholen  nicht  die  bittern,  in  hauslicher  Verschwie- 
genheit  oder  an  den  Stufen  der  Altare  vergossenen  Tranen,  daB  dieser 
Krieg,  der  schon  so  lange  dauert,  viel  kostet,  zu  viel? 

Niemand  sage,  daB  dieser  grausige  Streit  sich  nicht  ohne  Waffen- 
gewalt  schlichten  lieBe,  Moge  doch  jeder  von  sich  aus  dem  Ver- 
langen  nach  gegenseitiger  Vernichtung  entsagen,  denn  man  tiberlege, 
daB  Volker  nicht  sterben  konnen.  Erniedrigt  und  unterdruckt  tragen 
sie  schaudernd  das  Joch,  das  man  ihnen  auferlegte,  und  bereiten  den 
Aufstand  vor.  Und  so  ubertragt  sich  von  Generation  zu  Generation 
das  traurige  Erbe  des  Hasses  und  der  Rachsucht. 

Warum  wollen  wir  nicht  von  nun  ab  mit  reinem  Gewissen  die 
Rechte  und  die  gerechten  Wiinsche  der  Volker  abwagen?  Warum  wol- 
len wir  nicht  aufrichtigen  Willens  einen  direkten  oder  indirekten  Mei- 
nungstausch  beginnen,  mit  dem  Ziel,  in  den  Grenzen  des  Moglichen 
diesen  Rechten  und  Wiinschen  Rechnung  zu  tragen  und  so  endlich 
dieses  schreckliche  Ringen  zu  beendigen,  wie  das  in  andern  Fallen 
unter  ahnlichen  Umstanden  geschah?  Gesegnet  sei,  wer  als  erster  den 
Olzweig  erhebt  und  dem  Feind  die  Rechte  entgegenstreckt,  ihm  den 
Frieden  unter  verniinftigen  Bedingiingen  anbietet!  Das  Gleichgewicht 
der  Welt,  die  gedeihliche  und  gesicherte  Ruhe  der  Volker  beruht  auf 
dem  gegenseitigen  Wohlwollen  und  auf  dem  Respekt  vor  Recht  und 
Wiirde  des  andern,  viel  mehr  als  auf  der  Menge  der  Soldaten  und 
auf  dem  furchtbaren  FestungsgiirteL 

Dies  ist  der  Schrei  nach  Frieden,  der  an  diesem  traurigen  Tage 
besonders  laut  aus  uns  herausbricht;  und  alle  Freunde  des  Friedens  in 
der  Welt  laden  wir  ein,  sich  mit  uns  zu  vereinen,  um  das  Ende  des 
Krieges  zu  beschleunigen,  der,  ach,  schon  ein  Jahr  lang  Europa  in 
ein  riesiges  Schlachtfeld  verwandelt  hat.  Moge  Jesus  in  seiner  Barm- 
herzigkeit  durch  die  Vermittlung  seiner  schmerzensreichen  Mutter  be- 
wirken,  daB  still  und  strahlend  nach  so  entsetzlichem  Unwetter  end- 
lich die  Morgenrote  des  Friedens  anbreche,  das  Abbild  seines  erhabe- 
nen  Antlitzes,  Mogen  bald  Dankgebete  fur  die  Versohnung  der 
kriegfiihrenden  Staaten  emporsteigen  zum  Hochsten,  dem  Schopfer 
alles    Guten;    mogen    die   Volker,   vereint    in   bruderlicher   Liebe,    den 

172 


friedlichen  Wettstreit  der  Wissenschaft,  der  Kirnste  und  der  Wirt- 
schaft  wiederaufnehmen,  und  mogen  sie  sich,  nachdera  die  Herrschaft 
des  Rechts  wiederhergestellt  istf  entschlieBen,  die  Losung  ihrer 
Meinungsverschiedenheiten  kiinftig  nicht  mehr  der  Scharfe  des  Schwer- 
tes  anzuvertrauen,  sondern  den  Argumenten  der  Billigkeit  und  Ge- 
rechtigkeit,  in  ruhiger  Erorterung  und  Abwagung.  Das  wiirde  ihre 
schonste  und  glorreichste  Eroberung  sein! 

In  dem  sichern  Vertrauen,  daB  sich  diese  ersehnten  Friichte  zur 
Freude  der  Welt  bald  am  Baum  des  Friedens  zeigen  werden,  erteilen 
wir  unsern  Apostolischen  Segen  alien  Gliedern  der  uns  anvertrauten 
Herde;  und  auch  fur  die,  die  noch  nicht  der  romischen  Kirche  an- 
gehoren,  beten  wir  zum  Herrn,  daB  er  sie  mit  uns  vereinen  moge 
durch  das  Band  seiner  unendlichen  Liebe, 

Rom.  Vatikan,  28.  Juli  1915. 


Nacbwort  von  Walther  Karsch 

28.  Juli  1915,  ein  Jahr  nach  dem  Mord  in  Serajewo.  In 
die  grelle  Dissonanz  des  Volkermordens  mischt  sich  dieser 
Ruf  nach  Frieden.  GcwiB  verfolgtc  Benedikt  mit  seiner  Bot- 
schaft  den  Zweck,  das  Interesse  der  Kirche  wahrzunehmen; 
iramerhin  seine  Emporung  war  darum  wohl  nicht  weniger  echt. 
In  einer  Situation,  in  der  die  Praponderanz  des  Zugehorigkeits- 
gefiihls  zur  Kirche  in  den  Katholiken  erstickt  zu  werden 
drohte  von  der  Liebe  zu  den  jeweiligen  Vaterlandern,  war  das 
Kliigste,  was  der  Papst  tun  konnte,  sich  neutral  zu  verhalten 
und  zum  Frieden  zu  mahnen.  Anerkannt  werden  muB,  daB 
Benedikts  Botschaft  kein  allgemeines  Friedensgerede  ist,  son- 
dern, wenn  auch  nur  andeutende,  Vorschlage  zur  Anderung  der 
Beziehungen  zwischen  den  Staaten  enthalt.  Der  Mahnruf 
spricht  an  vielen  Stellen  gradezu  in  pazifistischer  Terminologies 
Benedikt  hat  s pater,  in  einer  Note  vom  August  1917,  seinen 
Vorschlagen  einen  konkreteren  Inhalt  gegeben.  1917,  ein  Jahr, 
in  dem  die  Mittelmachte  von  dem  hohen  Pferd,  aui  dem  sie 
noch  1915  saBen,  bereits  erheblich  herabgerutscht  waren  und 
nur  noch  mit  einem  FuB  im  Steigbugel  hingen.  Fur  die  Mit- 
telmachte in  ihrer  Situation,  die  schon  langsam  begann,  ver- 
zweifelt  zu  werden,  war  die  Note  von  1917  Schalmeienmusik, 
woraus  sich  erklaren  mag,  daB  sie  allenthalben  als  ein  Beweis 
fur  die  Deutschireundlichkeit  des  Papstes  ausgelegt  wurde.  Der 
.als  klug  und  diplomatisch  bekannte  Benedikt  sah  das  Inter- 
esse der  Kirche  allein  in  der  Wiederherstellung  des  status  quo 
ante.  Die  Alliierten  zeigten  ihm  daher  die  kalte  Schulter, 
woriiber  Benedikt  gar  nicht  erstaunt  war. 

1915  war  die  Lage  noch  recht  anders.  Die  Mittelmachte 
befanden  sich  im  Siegestaumel,  und  da  ist  es  denn  gar  nicht 
verwunderlich,  wenn  man  beim  Vergleich  der  authentischen 
deutschen  Version  mit  dem  italienischen  Original  auf  Ab- 
weichungen  stoBt,  die  sich  schlieBlich  als  Falschungen  ent- 
puppen,  fabriziert  mit  der  eindeutigen  Tendenz,  Deutschland 
die  wahre  Meinung  des  Papstes  iiber  den  Krieg  zu  verschleiern, 
Diese  Falschungen  lieBen  es  reizvol\  erscheinen,  das  Original 
noch  einmal  vollstandig  zu  tibersetzen,  wobei  ich  entdeckte, 
daB  sie  sich  nicht  nur  auf  das  Formale  erstrecken,  sondern  bis 

173 


zum  Inhaltlichen  gehn.  Keinen  der  entriisteten  Ausdriicke, 
mit  denen  Benedikt  seine  Emporung  kundtat,  iibernimmt  der 
Obersetzer  in  die  deutsche  Version.  Das  eklatanteste  Bei- 
spiel:  Benedikt  nennt  den  Krieg  eine  ,,grauenhafte  Schlachte- 
rei"  („orrenda  carneficina"),  und  der  Obersetzer  biegt  das  in 
einen  t,entsetzlichen  Kampf"  um,  1(Karapf",  das  ist  schlieBlich 
kein  anriichiges  Wort,  von  „Schlachterei"  kann  man  das  wohl 
kaum  behaupten,  Spricht  der  Papst  von  der  „entsetzlichen 
GeiBel  des  Krieges"  („immane  flagello"),  so  setzt  der  bereit- 
willige  Falscber  statt  dessen  ein  „ungeheures  Ungluck".  „Das 
schreckliche  Getose  der  Waffcen"  („pauroso  fragore")  verwan- 
delt  er  in  das  frohliche  Wort  ..WaHengeklirr";  der  „Schrei" 
(Hgrido")  wird  durchweg  zum  „Ruf"  nach  Frieden,  Und  wenn 
der  Papst  den  Schrei  nach  Frieden  ,,an  diesem  Tage  um  so 
lauter  aus  uns  herausbrechcn"  laBt  (piu  alto  erompc),  fttont" 
er  beim  Obersetzer  nur  ,,um  so  lauter'*.  Wahrend  einzelnen 
St  ell  en  durch  Hinzufiigungen  ein  ganz  andrer  Sinn  unterschoben 
wird,  fallt  mancher  Ausdruck  einfach  weg,  so  „die  Zersto- 
rungswut"  („furia  demolitrice")  der  Geschiitze. 

Diese  kleine  Auslese  mag  geniigen,  um  zu  zeigen,  in  wel- 
cher  gradezu  verbrecherischen  Absicht  hier  einer  tielen,  fast 
leidenschaftlichen  Verdammung  des  Krieges  ihre  Scharfe  und 
Wirksamkeit  genommen  wurde.  Die  papstliche  Emporung 
achtete  den  Krieg,  der  Obersetzer  gibt  ihm  liber  eine  Hinter- 
treppe  die   Ehre  wieder. 

Wie  das  zustande  kam,  dariiber  kann  man  sich  in  ver- 
schiedenen  Vermutungen  ergehen.  Moglich,  daB  die  deutsch- 
freundliche  Mehrheit  der  Kurie  diese  Falschung  veranlaBt  hat, 
um  die  deutschen  Machthaber  dem  Vatikan  geneigt  zu  erhal- 
ten  und  ihnen  die  Moglichkeit  zu  geben,  der  deutschen  Offent- 
lichkeit  die  wahre  Meinung  des  Papstes  vorzuenthalten.  Mog- 
lich, daB  die  deutsche  Version  vor  ihrer  Veroffentlichung  der 
deutschen  Regierung  vorgelegen  hat  und  diese  somit  selbst  an 
den  Falschungen  beteiligt  ist.  Wie  es  sich  verhielt,  mag 
Gegenstand  genauer  historischer  Untersuchung  werden.  In 
jedem  Fall  tragt  die  Kurie,  die  die  Falschung  veranlaBte  oder 
zuliefi,  die  Hauptschuld  daran,  daB  die  deutsche  5ffentlichkeit 
nichts  von  der  Art  und  dem  Grad  erfuhr,  wie  Benedikt  den 
Krieg  gegeiBelt,  wie  er  ihn  entehrt  hat.  Erkennt  man  Benedikt 
die  Ehrlichkeit  seiner  Friedensgesinnung  zu,  der  katholischen 
Kirche  irniB  man  sie  jedenfalls  ahsprechen,  Diese  Falschungs- 
aktion,  zu  der  die  Kirche  ihre  Hand  bot,  ist  ein  Beweis  mehr 
fur  uns,  daB  nicht  der  Wille  zum  Frieden  oberstes  Gesetz  des 
Handelns  in  der  katholischen  Kirche  ist,  sondern  einzig  und 
allein  ihr  machtpolitisches  Tagesinteresse.  Und  dies  verlangte, 
daB  man  die  Emporung  des  Papstes  den  deutschen  Macht- 
habern  mundgerecht  machte. 

Jenes  Falscherkunststiickchen  stent  nicht  allein  da.  So 
wurde  in  den  Vertrag  der  katholischen  Kirche  mit  PreuBen, 
nach  der  Untefzeichnung,  das  Wort  ,,Konkordat"  hinein- 
geschmuggelt,  mit  der  letzten  Ehe-Enzyklika  sind  auch  Dinge 
geschehen,  die  noch  der  Aufklarung  harren.  Rom  hat  da 
Routine;  fragt  sich  nur,  wie  weit  sie  reicht.  Man  wird  der 
Kirche  von  Zeit  zu  Zeit  auf  die  Finger  klopfen  miissen. 

174 


MllSSOlillitO   von  Alton s  Goldschmidt 

Im  Mai  dieses  Jahres  wurde  in  Santiago  de  Chile  gegen  die 
Regierung  des  chilenischen  Diktators,  Generals  Carlos 
Ibaiiez,  demonstriert,  Einige  Zeit  vorher  waren  in  Siid-Chile 
Truppen  und  Bevolkerung  gegen  die  Diktatur  aufgestanden. 
Ibanez  war  der  Armee  nicht  mehr  sicher,  pbwohl  er  den  grofi- 
ten  Teil  der  Staatseinnahmen  fiir  sie  verwendet  hatte.  Einer 
Bevolkerung  von  4t3  Millionen  wurde  ein  Heeres-  und  Marine- 
etat  fiir  40  000  Mann,  zur  Halfte  Soldaten,  zur  Halfte  Gendar- 
men,  aufgelastet.  Es  ist  das  Schicksal  aller  unkonstruktiven 
Diktaturen  gewesen,  schlieBlich  auch  die  ausgehaltenen  Garden 
zu  verlieren.  Der  Abfall  beginnt,  wenn  die  wachsenden  Lasten 
den  Diktator  auch  zur  Herabsetzung,  der  Offiziersgehalter  und 
der  Soldatenlohnung  zwingen.  Das  war  in  Chile  der  Fall,  und 
auch  andre  Diktaturen  werden  dieselbe  Erfahrung  machen. 

Die  letzten  Regierungstage  des  einstigen  Hauptmanns  von 
Antofagasta  sind  kerne  Glanztage  mehr  gewesen.  Der  Nimbus 
war  weg,  die  Generalsuniform  und  die  mussolinistische  Unfehl- 
barkeitsgeste  zogen  nicht  mehr,  die  Tatsachen  sprachen  bitter 
gegen  Ibanez,  und  alle  Manifeste,  Ausweisungen  und  Einkerke- 
ruagen  half<en  nichts.  Die  Gendarmensabel,  Flinten  und  Ma- 
schinengewehre  blieben  wirkungslos  gegen  die  wachsende  Em- 
porung,  die  eine  Volksemporung  geworden  war.  Auch  die 
Frauen  demonstrierten  auf  der  Strafie  gegen  die  Brutalitaten 
der  Diktatur,  die  Arbeiter  und  Studenten  wollten  nichts  mehr 
von  der  MiUwirtschaft,  der  Dicketuerei  mit  Personlichkeit,  von 
dem  widerwartigen  patriarchalischen  Getue,  nichts  mehr  von 
diesem  diktatorialen  Klimbim  wissen,  der  zur  Not  des  Landes 
paBte  wie  ein  falscher  Brillant  zum  knurrenden  Magen. 

Ibafiez  versuchte,  wie  viele  Diktatoren  vor  ihm,  einen 
Teil  des  Heeres  gegen  den  andern  auszuspielen,  die  Gendarme- 
rie gegen  die  regularen  Truppen.  Er  verbannte  den  fruhern 
sozial-liberalen  Prasidenten  Arturo  Alessandri,  weil  er  die 
Sympathie  der  Menge  fiir  diesen  Mann  fiirchtete.  Mehr  als 
hundert  Personen  muBten  nach  der  Maidemonstration  in  Sant- 
iago das  Land  verlassen,  darunter  der  Fuhrer  der  sozialisti- 
schen  Partei,  der  Senator  Manuel  Hidalgo.  Das  waren  die 
letzten  Zuckungen  eines  durch  Dummheit  und  GroBenwahn 
ausgezeichneten  Regiments,  das  langst  reif  zum  Fall  war. 

Dieser  kleine  Mussolini  in  den  Anden  Sudamerikas,  Musso- 
linito,,  ist  ein  Lehrbeispiel  der  Schiefheiten  und  Unfahigkeiten 
solcher  ,tHerrenmenschen'\  di<e  per  Putsch  nach  oben  gelangen 
und  sich  durch  gut  bezahlte  Flintentrager  und  eine  Armee 
nicht  schlechter  bezahlter  Zivilkreaturen  eine  Zeitlang  auf  dem 
Sessel  halten.  Man  wuBte  in  Europa  nicht,-  wie  die  Arbeits- 
theorie,  die  Magna  Charta  der  Arbeit  dieser  Diktatur  ausge- 
sehen  hat.  Es  war  derselbe  Unsinn,  durch  Nachahmung  nur 
noch  schlimmer  und  komischer,  wie  der  Unsinn  der  Arbeits- 
Charte  Mussolinis.  Nicht  ein  Fingerhut  voll  Produktivitat  ist 
durch  die  Anwenduntf  dieser  Dummheit  en  erzielt  worden,  und 
mochten  sie  mit  noch  so  bombastischer  Dogmenfrechheit  vor- 
getragen  werden,    SchlieBlich  blieb   doch  nichts  andres  iibrig, 

175 


als  der  Pump,  und  sa  pumpte  denn  auch  Ibanez  in  England, 
in  den  Vereinigten  Staaten  und  lib er all  dort,  wo  er  nur  Geld 
kriegen  konnte.  Das  USA-Kapital  hat  in  Chile  einen  heftigen 
Karapf  gegen  das  englische  Pfund  gefiihrt,  mit  dem  Resultat, 
daO  nun  das  groBere  Risiko  bei  den  USA  liegt.  Das  ist  ja  das 
Schicksal  dieser  iibergescheiten  Investierungspolitik,  die  auch 
durch  die  gelehrtesten  Sanierungskommissionen  nicht  vor  der 
Pleite  gerettet  werden  kann. 

Die  Diktatur  Ibanez  war  aus  der  Salpeterkrise  entstanden. 
Als  sie,  im  Jahre  1927,  schneidig  die  Ziigel  ergriff,  arbeiteten 
von  152  Salpeterwerken  noch  33,  und  als  Ibanez  attsgewirt- 
schaftet  hatte,  waren  es  noch  weniger.  Die  offizielle  Statistik 
gab  fur  September  des  vorigen  Jahres  32  arbeitende  Werke  an, 
und  fur  die  ersten  Monate  1931  schweigt  sie  sich  ganz  aus.  Man 
kann  sich  die  Situation  in  der  chilenischen  Salpeterindustrie 
vorstellen,  also  in  der  Industrie,  von  der  das  Land  lange  Zeit 
gelebt  hat.  Die  Zahl  der  Salpeterarbeiter  ging  entsprechend 
zuriick  und  die  Zufriedenheit  des  Proletariats  in  Chile  lo- 
gischerweise  ebenfalls.  Die  Weltmarktkrise,  die  Konkurrenz 
des  kiinstlichen  Stickstoffs  und  die  wachsende  Belastung  durch 
Schulden  fiber  Schulden  bei  sinkenden  Preisen,  diese  Natur- 
katastrophe  vermochte  auch  der  schoaste  General  mit  den 
blitzendsten  Augen  und  den  tonendsten  Worten  nicht  aufzu- 
halten.  Nicht  aufzuhalten  vermochte  er  den  rapiden  Kursfall 
der  Salpeterwerte,  der  Kupferwerte  an  der  Borse  in  Valparaiso, 
in  Wirklichkeit  hat  also  diese  Diktatur  nichts  erreicht  fur  das 
Wohl  des  Volkes,  zu  dessen  Stabilisierung  und  Mehrung  sich 
alle  Diktaturen  berufen  fuhlen.  Der  MiBerfolg  des  Haupt- 
manns  von  Antofagasta  ist  hochst  lehrreich  auch  fiir  Lander, 
die  uns  naher  liegen  als  Chile,  besonders  fiir  ein  uns  nachst 
liegendes  Land,  iiber  dem  augenblicklich  eine  taube  Kredit- 
raserei  geschieht,  die,  mit  unterschiedlichen  Dimensionen  und 
Intensitaten,  genau  dieselben  Widerspruche  in  sich  birgt  wie 
die  unproduktive  Schuldenschluderei  iiber  Chile.  Aber  was 
helfen,  da  Mahnungen,  wenn  die  Kapitane  sich  berufen  fiihlen, 
und  somit  eines  Tages  doch  der  Generalkapitan  die  Pleite  diri- 
gieren  wird? 

Fraglo«  hat  die  spanische  Revolution  den  Sturz  des  chile- 
nischen Diktators  beschleunigt.  Sie  wirkt  in  vielen  Landern 
Lateinisch-Amerikas  in  derselben  Richtung.  In  Cuba  zeigt 
sich  schon  die  Revolution  gegen  die  Diktatur  Machado,  in 
Peru,  in  Argentinien  und  Brasilien  wollen  die  Massen  wieder 
zur  Verfassung  zuriick,  oder  daruber  hinaus  zu  einer  neuen 
stabilern  Organisation,  Zollkriege  uberall,  vergebliche  Sehn- 
sucht  nach  einer  amerikanischen  Zollunion,  die  allerdings  bei 
Fortdauer  solcher  Zustande  auch  nichts  nutzen  wurde,  Arbeits- 
losigkeit,  Aufstande  des  Proletariats  in  der  Ebene  und  auf  den 
Bergen,  deutlich  sieht  man,  wie  das  Riesengebiet  in  Bewegung 
kommt.  Tausend  Plane,  Schuldzuschiebungen,  Vaterlandsbe- 
teuerungen,  fascistische  Biinde,  wie*  die  Legion  Civica  in  Ar- 
gentinien, die  jetzt  schon  offiziell  zur  Lehrmeisterin  der  argen- 
tinischen  Jugend  gemacht  wird.  Das  alles  wird  nichts  helfen, 
denn  die  Menschen  mtissen  essen,  das  ist  die  Hauptsache.  Kein 

176. 


Mussolini  und  kein  Mussolinito  wird  sich  haiten  konnen,  wenn 
er  den  Massen  nicht  geniigend  Brot  geben  kann.  Das  abcr  kann 
er  nicht,  und  sogar  dcr  blutige  Patriarch  von  Venezuela,  Juan 
Vicente  Gomez,  der  jetzt  zum  vierten  Mai  zum  Prasidenten 
„gewahlt'^  wurde,  wird  dieses  Problem  nicht  losen  konnen.  Das 
Leben  der  bestehenden  und  noch  kommenden  kapitalistischen 
Diktaturen  ist  hochst  schadlich  oder  wird  es  sein,  aber  die  Ge- 
wahr  hat  die  Menschheit:  die  Kurzlebigkeit  dieser  Art  kleinen 
Obermenschentums  ist  gewiB. 

Der  Revolver   von  Rudolf  Leonhard 

Am  Tage  nach  dem  hundertsiebzehnten  Geburtstage  des  amerika- 
"**■  nischen  Fabrikanten  Samuel  Colt,  dem  der  bose  Geist  die  Er- 
findung  des  Revolvers  eingegeben  hat,  stand  Abbas  Mohammed  AH, 
ein  persischer  Student,  vor  dem  Schwurgericht.  Er  hatte,  ganz  wie 
der  Mann  in  Wedekinds  Gedicht,  seine  Tante  ermordet,  die  aller- 
dings  nicht  alt  und  schwach,  sondern  Jung  und  stark  und  sogar 
schon  war.  Abbas  Mohammed  AH  hat  sie  nicht  etwa  aus  Liebe  er- 
mordet, auch  nicht  wegen  des  Geldes;  sondern  aus  gar  keinem  deut- 
lich  erkennbaren  Grunde.  Er  wohnte,  ein  wohlhabender  Student,  bei 
seinem  Onkel,  einem  reichen  Perlenhandler,  im  Villenvororte  Gar- 
ches.  Alle  wuBten,  daB  er  ein  schwer  neurasthenischer  Mensch  ist. 
Eines  Abends  verlangte  er  von  seinem  Onkel,  daB  er  den  Chauffeur 
entlasse,  weil  der  schlecht  iiber  ihn  gesprochen  habe.  Der  Onkel 
weigerte  sich,  zumal  er  wuBte,  daB  diese  Beschuldigung  unrichtig  war. 
Der  Student  wollte  wutend  seine  Koffer  packen;  als  sein  Bruder  ihm 
zuredete,  zu  bleiben,  holte  er  aus  seinem  Zimmer  einen  vor  mehre- 
ren  Monaten  gekauften  Revolver,  ging  die  Treppe  herab,  und  schoB 
seine  Tante,  die  er  zufallig  durch  eine  zufallig  halboffne  Tiir  auf 
dem  Sofa  liegen  sah,  tot.  Zu  welchem  Zweck  er  den  Revolver  ge- 
kauft  hatte,  konnte  im  Prozesse  nicht   festgestellt  werden. 

Am  Tage  darauf  begann  in  Nancy  der  ProzeB  gegen  Elise  Alten- 
hoven.  Sie  war  von  einem  tschechischen  Ingenieur  verlassen  worden, 
als  der  in  seiner  Heimat  heiraten  wollte,  Sie  hatten  auf  dem  Ost- 
bahnhof  einen  ruhrenden  und  ruhigen  Abschied  genommen.  Spater 
fuhr  sie  ihm  nach,  wurde  als  Touristin  im  Elternhaus  des  Ingenieurs 
eingef iihrt  und  wohnte  in  Leitmeritz  der  Trauung  bei.  Verzweifelt 
fuhr  sie  nach  Paris  zuriick,  und  kaufte  dort,  verzweifelt,  einen  Re- 
volver. Mit  diesem  reiste  sie  wieder  nach  Bohmen.  Nun  gelang  es 
ihr,  nicht,  ihren  Freund  zu  treffen  —  in  jedem  Sinne  des  Wortes. 
Aber  eines  Tages  sah  sie  ihn  mit  seiner  jungen  Frau  zum  Bahnhof 
gehen.  Sie  bestieg,  mit  dem  Revolver,  denselben  Zug.  Sie  wartete 
viele  Stunden.  Es  scheint,  daB  sie  auch  viele  Stunden  lang  ge- 
sprochen hat.     Hinter   Nancy  knallte  sie  den   Ingenieur  nieder. 

Gleichzeitig  begann  in  Versailles  der  ProzeB  gegen  Marcelle 
Schneider.  Die  hatte  ihren  Mann  verlassen,  um,  nach  einigen  andern 
Versuchen  mit  Mannern,  mit  dem  Flieger  Duterriez  zu  leben;  sie 
hatte  es  mit  den  FHegern,  und  sie  sprach  auch  einmal  von  ihrem 
eignen  Drange  zur  freien  Luft,  der  sie  hindere,  ihren  Beruf  auszu- 
liben.  Vielleicht  war  dieser  Drang  gar  zu  stark;  jedenfalls  gestaltete 
sich  das  gemeinsame  Leben  nicht  befriedigend,  und  Marcelle  Schnei- 
der kaufte,  natiirlich,  einen  Revolver.  Sie  war  so  unvorsichtig,  ihn 
ihrer  Wirtin  zu  zeigen,  die  Geschichten  dieser  Art  nicht  liebte  und 
den  Flieger  von  der  Neuerwerbung  unterrichtete.  Duterriez,  der  zu 
viel  Phlegma  oder  zu  viel  Humor  besaB,  begniigte  sich  damit,  den 
Hahn  unbrauchbar  zu  machen.  Seine  Geliebte  wuBte  aber,  was  sie 
wollte.    Sie  kaufte,  als  Duterriez  ihr  dringend  riet,  zu  ihrem  Manne 

177 


zuruckzukehren,  und  ihr  sogar  in  groBziigiger  Wcise  das  dazu  notige 
Reisegeld    anbot,    eine   neue    Pistole,    lud    sie    mit    fiinf    Kugeln,    und . 
entlud   sie   am   nachsten   Morgen   in   den   Kopf   des   noch   schlafenden 
Freundes, 

Diese  drei  Geschichten  stehen,  sensationeller  und  ausfiihrlicher 
naturlich,  in  einer  einzigen  Morgenzeitung, 

Vertagen  wir  die  Ausfiihrung  der  interessanten  Beobachtung,  daB 
seit  Krieg  und  Inflation  der  Typus  und  die  Provenienz  des  Morders 
sich  geandert  haben;  daB  in  der  Regel  nicht  mehr  Verbrecher  mor- 
den,  sondern  Kleinbiirger,  die  man  bis  zur  Tat  fur  friedlich  gehalten 
hatte;  Menschen  wie  Mestorino,  der  nur  einen  Wechsel  nicht  bezah- 
len  konnte,  und  Philipponet,  der  sich  in  einem  ProzeB  benachteiligt 
fuhlte,  brave,  ruhige,  murrische  Menschen,  in  denen  plotzlich  die 
Holle  aufbricht,  keine  gebornen  Verbrecher,  sondern  Leute,  die  sich 
inRecht  und  Wirtschaft  plotzlich  nicht  mehr  anders  zu  helfen  wissen 
als  durch  eine  fatale,  schonungslose,  barbarische  Selbsthilfe.  Lassen 
wir  das,  und  fragen  wir:  wie  ist  es  moglich,  daB  Marcelle  Schneider 
eine  Pistole  nach  der  andern  kaufen  konnte?  DaB  Fraulein  Alten- 
hoven,  der  man,  nach  den  ProzeBberichten,  Erregung  und  Verzweif- 
lung  ansehn  muBte,  eine  Pistole  ausgehandigt  bekam?  DaB  der  Neur- 
astheniker  Abbas  Mohammed  AH  zu  unbekanntem  Zweck  eine 
Pistole  besaB? 

Wie  ist  es  moglich,  daB  in  den  sogenannten  zivilisierten  Landern 
die  Todesmittel  genau  so  gehandelt,  verkauft  und  gekauft  werden  wie 
die  Lebensmittel  ?    Mit  mindestens   genau   so  wenig   Umstanden? 

GewiB,  es  gibt  den  Waffenschein;  und  es  gibt  die  Bestimmung 
einer  lacherlich  geringen  Strafe  wegen  unbefugten  Waffentragens.  Es 
ist,  gewifi,  sogar  vorgekommen,  daB  ein  wegen  der  Totung  Frei- 
gesprochner  wegen  des  durch  den  Schein  nicht  gedeckten  Besitzes 
der  Waffe  verurteilt  wurde.  DaB  diese  Rechtsanordnungen  nicht 
geniigen,  beweisen  die  drei  Geschichten,  beweisen  die  Tausende  ahn- 
licher  Geschichten.  Die  Frage  muB  genereller  geregelt  werden;  auch 
in  der  Justiz  ist  vorsorgende  Hygiene  wichtiger  und  wirksamer  als 
Medizinierung,  Die  Pazifisten  verlangen  von  jeher  die  Verstaat- 
lichung  der  Riistungsindustrie.  Verlangen  wir  eine  Abrustung  auch 
fur  die  kleinen  und  groBen  Affaren  des  Privatlebens;  verlangen  wir 
das  Verbot  jedes  privaten  Waffenhandels.  Es  diirfen  an  Privatleute 
—  auBer,  unter  sorgfaltigster  Kontrolle,  Jagdwaffen  an  Jager,  und 
uberhaupt  Berufswaffen  in  genau  zu  regelnden  Fallen  —  SchuB- 
waffen  nicht  verkauft  werden,  Der  Nachweis  zur  Besitzberechtigung 
ist  nicht  nur  der  Behorde,  sondern  auch  der  Verkaufsstelle  zu  er- 
bringen;  und  der  vor  allem,  da  sie  im  Schadensfalle  haftbar  sein  muB* 

Das  soil  schwer  sein?  Aber  die  Regierungen  haben  sich  doch 
daran  gewohnt,  in  alter  Eile  und  in  groBer  Not  zu  verordnen,  was 
ihnen  grade  paBt,  Warum  sollen  sie  nicht  einmal  was  Gutes  verord- 
nen! Und  auch  in  den  Parlamenten  wurde  ein  solches  Gesetz  es 
nicht  sehr  schwer  haben ;  die  Zahl  der  materiell  Inter essierten  ist, 
anders  als  im  Falle  der  groBen  Riistungsindustrie,  gering. 

Das  wurde  eine  bluhende  Industrie  vernichten?  Aber  sie  soil 
ja  grade  vernichtet  werden!  Es  sind  schon  bessere  Industrien  ver- 
nichtet  worden,  und  es  werden  noch  ganz  andre  vernichtet  werden, 
Und  die  drei  Geschichten  und  tausend  andre  zeigen,  daB  jedes  Pro- 
dukt  dieser  Industrie  vernichtet,  Ihr  geschieht  also  nur  Recht, 
Wie  mufi,  nach  den  Prozessen,  das  Gewissen  der  Herren  aussehen, 
die  dem  persischen  Studenten,  dem  Fraulein  Altenhoven  und  der 
Marcelle  Schneider  die  Pistolen  verkauft  haben!  Ist  es  glaublich, 
daB  sie  den  Mundungen  der  Waff  en  in  ihren  Laden  nicht  entfliehen? 
Helfen  wir  ihnen  zur  Flucht.  Retten  wir  ihr  Gewissen,  Es  gibt 
bessere  und  wichtigere  Berufe,   auch   diesseits  der   Stempelstellen. 

178 


Die  MaBregel  wird  nichts  niitzen?  Wer  nicht  schieften  kann, 
wird  eben  stechen  und  wiirgen?  Aber  die  Pistole  selbst  hat  cine 
Verfiihrung  —  wir  wissen  es,  da  wir  selbst,  da  selbst  wir  sie  geftihlt 
haben;  die  Verfuhrung  der  Prazision,  des  Werks,  des  Spielwerks, 
des  Zaubers,  der  Leichtigkeit  und  der  Schnelligkeit,  die  Suggestion 
des  Metalls  und  die  der  Macht.  Ihr  kann  nicht  erliegen,  wer  keine 
Waffe  hat.  So  einfach  ist  es:  wer  keinen  Revolver  hat,  kann  nicht 
schieBen.  Es  ist  etwas  ganz  andres,  die  Finger  um  einen  Hals  zu 
pressen  und  zuzudrucken,  es  ist  viel  schwerer,  nur  wenige  Menschen 
bringen  es  fertig.  Nicht  der  neurasthenische  Abbas  Mohammed  Ali, 
nicht  die  von  Verzweiflung  zermurbte  Elise  Altenhoven,  nicht  die 
leichtsinnige  Marcelle  Schneider  hatten  gewtirgt,  sie  sind  nicht  Men- 
schen, die  das  konnen,  sie  hatten  nicht  gemordet,  wenn  sie  nicht  so 
leicht  hatten  morden  konnen,  Aber  es  ist  ja  so  leicht,  nur  auf  den 
Abzug  driicken,   so  kinderleicht,   so  kindisch  leicht! 

Leicht  ist  es,  wenn  man  es  will,  den  Mord  schwer  zu  machen; 
und  damit  viele  Morde  zu  verhindern  und  zu  verhuten.  Her  also  mit 
dem  Verbot.     Und:  die  Waffen  nieder!  —  sogar  im  Privatleben. 

Fur  die  interessanten  Auseinandersetzungen  mit  uns  behalten  die 
Herrn  Fascisten  ja  immer  noch  ihre  Totschlager  und  Stahlruten, 

DeiltSCheS  ChaOS   von  Kaspar  Hanser 

10.  August 
f^as  fiir  heute  frtih  8,30  Uhr  angesetzte  Chaos  ist  durch  eine 

Notverordnung  der  Regierung  auf  morgen  verschoben 
worden. 

11.  August 
Heute  8.30  Uhr  ist  das   Chaos   ausgebrochen   (Siehe  auch 

Letzte  Nachrichten),  Das  Chaos  wurde  durch  eine  Rede  des 
Reichskanzlers  sowie.durch  einen  kurzen,  kernigten  Spruchdes 
Reichsprasidenten  Hindenburg  eroffnet.  Der  preuBische  Mi- 
nisterprasident  Braun  fiihrte  in  seiner  Chaos-Rede  aus,  daB 
Deutschland  auch  fiirderhin. 

Das  bayrische  Chaos  brach  erst  um  9.10  Uhr  aus. 

Die   Reichsbank  nahm   eine   abwartende  Stellung   ein. 

12.  August 
Heute  hat  das  Reichs-Chaos-Amt  seine  Arbeit  angetreten. 

Jedes  Chaos  (sprich:  Chaos)  bedarf  demnach  einer  besonderen 
Chaos-Ausbruchs-Genehmigung  durch  das  Reichs-Chaos-Amt, 
einer  Nachpriifung  durch  das  Reichs-Chaos-Nachschau-Amt  so- 
wie  durch  die  einzelnen  Chaos-Landesamter.  Die  Reichsbank 
nimmt  vorlaufig  eine  abwartende  Haltung  'ein. 

13.  August 
Das  Chaos  ist  nunmehr  (iberall  definitiv  ausgebrochen. 
Ein  reizender  Vorfall  wird  aus  EBlin,gen  (Wurttemberg)  be- 

kannt.  Der  dortige  Burgermeister  hatte  verabsaumt,  die  Ver- 
fiigungen  des  Reichs-Chaos-Amts  zur  Durchfiihrung  zu  bringen, 
und  so  wuBten  die  guten  EBlinger  noch  bis  gestern  abend  iiber- 
haupt  nichts  von  dem  Chaos  und  gingen  ihrer  Tatigkeit  (Nicht- 
auszahlung  von  Gehaltern  sowie  Vertrostung  der  Glaubiger 
untereinander)  mit  ruhrendem  Eifer  auch  weiterhin  nach.  Erst 
ein  Funkspruch  der  wurttembergischen  Chaos-Regierung  machte 
diesem  Zustand  ein  En<le.  Das  Back  en  von  Chaos-Spatzle  ist 
bis  auf  weiteres  verboten. 

179 


14.  August 
Die  Sozialdemokratische  Partci  Deutschlands  hat  heute  zu 

den  Vorgangen  einen  bedeutungsvollen  EntschluB  gefaBt.  Die 
Partei  ermachtigt  danach  die  Fraktion,  den  Altestenrat  des  so- 
genannten  ,,Reichstages"  zu  ersuchen,  bei  der  Reichsregierung 
dahin  vorstellig  zu  werden,  daB  die  Regierung  mit  alien  zur 
Verfugung  stehenden  Mitteln  dahin  wirken  moge,  den  §  14  des 
Chaos-Gesetzes  abzuinildern.  Die  Partei  wiirde  sich  sonst 
andrerseits  genotigt  sehn,  in  die  Opposition  zu  gehn. 

Der  EntschluB  ist  deshalb  so  bedeutungsvoll,  weil  wir  aus 
ihm  zum  ersten  Mai  erfahren,  daB  es  in  Deutschland  eine  So- 
zialdemokratische Partei  gibt,  und  daB  diese  Partei  jemals  in 
der  Opposition  gestanden  hat. 

Die  Reichsbank  wird  sich  vermutlich  abwartend  verhalten. 

15.  August 
(Leitartikel),  .  ,.festf  aber  entschieden  gemaBigt.    Was  wir 

nun  zum  Nutzen  der  gesamten  Weltwirtschaft,  deren  Augen 
gespannt  auf  Deutschland  gerichtet  sind,  brauchen,  ist  Ruhe 
und  Ausdauer*  Es  muB  durch  das  Chaos  durchgehalten  wer- 
den! Reichskanzler  Briining  wird  auch  im  Chaos  die  Geschafte 
weiterfiihren;  in  den  Etat-Positionen,  insbesondere  denen  der 
Reich<swehr,  treten  zunachst  keine  Anderungen  ein.  DaB  der 
Kanzler  sich  personlich  von  der  ordnungsgemaBen  Durchfiih- 
rung  des  Chaos  iiberzeugt,  begriiBen  auch  wirf  insbesondre, 
daB  er  gestern  in  einigen  berliner  Kaufladen  erschien,  urn  sich 
zu  informieren.  In  der  Lebensmittelhandlung  von  Grote  setzte 
sich  der  Kanzler  dabei  versehentlich  auf  eine  Wage/  Die 
Deutsche  Staatspartei  wird  auch  weiterhm  das  Ziinglein  an  der 
Wage  bilden.  DaB  sich  die  Reichsbank  dabei  abwartend  ver- 
halt,  bedarf  keiner  Erwahnung. 

16.  August 
Es   wird    vielfach    angenommen,   daB   im   Chaos   die  Vor- 

schrift,  wonach  Frischeier  einer  Genehmigung  der  Reichs-Eier- 
Absatz-Zentrale  zum  Tragen  einer  Banderole  sowie  zur  Be- 
nutzung  des  Adlerstempels  durch  den  Reichs-Milch-AusschuB 
im  Benehmen  mit  der  Zentrale  zur  Aufzucht  junger  Hahne  be- 
diirfen,  aufgehoben  ist.  Das  ist  irrig.  Die  Vorschrift  bleibt 
selbstverstandlich  auch  weiterhin  in  Kraft.  Sehr  aktuell  wird 
sie  allerdings  nicht  sein.    Es  gibt  keine  Eier. 

17.  August 
In  den  stadtischen  Fursorgeanstalten  wird  ein  besonderer 

Chaos-Priigeltag   eingelegt    Warum?    Weyl. 

18.  August 
Nach  der  neusten  Chaos- Verordnung  ist  es  verbotent  De- 

visen-Kurszettel  zu  veroffentlichen.  Es  diirfen  lediglich  die 
auslandischen  Borsennamen  mit  den  dazu  gehorigen  Barometer- 
Zahlen  angegeben  werden. 

19.  August 
(Zuschrift  eines  Lesers).   . .  .  „denn  doch  zu  weit  mit  dem 

Chaos!  Meine  Frau  und  meine  Schwagerin  gingen  gestern 
Abend  iiber  den  Wittenbergplatz,  und  war  es  ihnen  nicht 
moglich,  in  die  dortige  Bediirfnisanstalt  fiir  Damen  EinlaB  zu 
bekommen,  da  die  Aufsichtsfrau  offenbar  einmal  fortgegangen 

180 


war,  um  in  einer  nahcn  Restauration  cin  Glas  Bier  einzuneh- 
men,  Als  Kriegsteilnehmer  und  Familienvater  frage  ich  namens 
aller  Gleichgesinnten;   1st  das  noch  ein  Chaos?" 

20.  August 

Zu  der  Verfiigung  tiber  die  Vertilgung  von  Ungeziefer  in 
Wohnungen  unter  sechs  Zimmern  ist  noch  nachzutragen,  dafi 
Schrotschusse  auf  Wanzen  nur  von  ^11  Uhr  morgens  bis  Kl 
mittags  statthaft  sind.  Es  empfiehlt  sich,  in  den  andern  Tages- 
stunden  die  Wanzen  mit  einem  Tischmesser  zu  zerspalten. 

Auch  die  Spaltung  d-es  rechten  Fliigels  der  linken  Oppo- 
sition der  Stennes-Gruppe  ist  nunmehr  Tatsache,  Hitler  hat 
Siidtirol  sowie  sich  definitiv  aufgegeben.  Die  Reichsbank  ver- 
halt  sich  abwartend. 

Die  Groftbanken  haben  beschlossen,  anstatt  der  am  1,  Sep- 
tember falligen  Gehaltszahlung  von  jedem  Angestellten  einen 
Monatsbeitrag  von  35  RM  einzufordern.  Die  Einzahlung  dieses 
Arbeits-Erlaubnis-Geldes  auf  stadtische  Sparkassen  ist  erlaubt. 

Die  Berliner  Studentenschaft  hatgesternanlaBlichdeszehn- 
ten  Chaos-Tages  gegen  den  Westfalischen  Frieden  sowie  gegen 
alle  noch  kommenden  Friedensschlusse  protestiert.  Vier  Poli- 
zeibeamte  sowie  die  akademische  Wurde  wurden  leicht  ver- 
letzt.    Der  Schnellrichter  wurde  Hitler  vorgefuhrt. 

21.  August 

Leichtes  Chaos,  bei  starken  sudwestiichen  Winden. 

Der  BiidungsausschuB  der  SPD  hat  nunmehr  gegen  die 
parteischadigenden  Auswiichse  der  Asphalt-Literaten  pro- 
testiert.    Die  Partei  als  solche  ist  allerdings  aufgeiost 

Gerhart  Shaw  und  Bernhard  Hauptmann  haben  beschlos- 
sen, zur  Verminderung  der  Reklamespesen  ihre  nachsten  Ge- 
burtstage  als  150.  Geburtstag  zusammen  zu  feiern. 

23.  August 
Der  Titel  des  Konfusionsrats  Dr.  Schacht  ist  in  den  eines 

Ober-Chaos-Rats  abgeandert  worden. 

24.  August 
Gestern  wurde  in  den  StraBen  Schonebergs  eine  Reichs- 

mark  gesehn.  Es  handelt  sich  vermutlich  um  eine  Irrefuhrung 
des  Publikums,  und  wir  machen  nochmals  darauf  aufmerksam, 
dafi  es  gegen  diestaatspolitischen  Interessen  ist,  wenn  sich  in 
Deutschland  noch  irgendwielches  Geld  befindet.  Wenn  auch 
das  Ausland  nicht  hinsieht;  wir  werden  es  ihm  schon  zeigen! 
Die  Reichsbank  verhalt  sich  abwartend. 

25.  August 
Wie  wir  horen,  hat  sich  die  Bridgepartie  von  Jakob  Gold- 

schmidt  aufgeiost.  Er  kann  das  ewige  Abheben  nicht  mehr 
vertragen. 

26.  August 
Die  Ziffer  5  des  §  67  der  Wiederaufnahme- Verfiigung  der 

Aufhebung  der  Riickgangigmachung  des  Verbotes  von  Riick- 
iiberweisungen  alter  Postscheckzahlungeri  nach  Haiti  wird  in 
GemaBheit  des  §  10,  II,  17  des  Allg.  Landrechts  aufgehoben  bzw. 
wieder  in  Kraft  gesetzt.  Unsre  Voraussage  ist  demnach  ein- 
getroffen:  das  Chaos  unterscheidet  sich  in  nichts  von  dem  vor- 
herigen  Zustand  — ! 

181 


„Schlager  im  Rundfunk^  von  Intendant  HansFlesch 

In  Nummer  30  der  .Weltbiihne'  vom  28.  Juli  stcllt  Hcrr  Herbert 
Connor  in  seinem  Artikel:  ,,Die  Schlagerclique  dementi ert" 
fest,  er  habe  nicht  vorausgesehen,  1fdaB  weder  vom  berliner 
Rundfunk,  noch  von  der  Reichsrundfunkgesellschaft  auch  nur 
der  Versuch  einer  Rehabilitierung  gemacht  werden  wiirde." 
Rehabilitierung?  Man  hat  also  der  Funkstunde  schwere  Ver- 
gehen  nachgewiesen?  Denn  das  Wort  „  Rehabilitierung"  ist 
ja  nur  angebracht,  wenn  ein  Delikt  festgestellt,  eine  Verurtei- 
lung  erfolgt  ist,  einwandfrei,  vor  einem  unanfechtbaren  Tri- 
bunal. 

Nichts  von  alledem  ist  geschehen:  Ein  eh^maliger  Propa- 
gandaleiter  eines  Schlagerverlages  tist  mit  den  Tanz-  und 
Schlagerabenden  des  Rundfunks  nicht  zufrieden.  Er  gibt  sei- 
ner Unzufriedenheit  dadurch  Ausdruck,  da8  er  die  Funkstunde 
angreift.  Dies  unter  dem  Titel;  Schlagerindustrie  im  Rund- 
funk  in  Nummer  28  der  .Weltbuhne'  vom  14.  Juli. 

Nun  ist  zwischen  dem  14.  und  dem  28.  Juli  allerhand  in 
der  Welt  geschehen.  Just  am  Tage  des  Erscheinens  der  Vor- 
wiirfe  des  Herrn  Connor  stellte  die  Danatbank  ihre  Zahlun- 
gen  ein,  die  Krise  ...  —  es  ist  nicht  notigt  das  auszufuhren. 
Fur  den  Rundfunk  bedeutete  das  Konzentration  auf  den  Ver- 
such, so  eng  wie  moglich  mit  den  Geschchnissen  in  Verbin- 
dung  zu  sein.  Ob  er  zu.  wenig  tat  oder  nicht,  steht  hier  nicht 
zur  Diskussion;  die  Schwierigkeiten  waren  sehr  grofi,  das  Inter- 
esse  unvermindert  bei  der  Politik,  die  Wichtigkeit  der  Tanz- 
Abende  und  damit  auch  —  so  bedauerlich  das  ist  —  die  Wich- 
tigkeit des  Herrn  Connor  muBte  zurucktreten. 

In  ruhigeren  Zeiten  war  das  anders.  Die  Notwendigkeit 
der  Schlagermusik  im  Rundiunkprogramm,  auf  die  hier  nicht 
einge^angen  zu  werden  braucht,  erfordert  eine  aurmerksame 
Behandlung.  Die  Funkstunde  holte  sich  fur  die  Leitung  des 
gesamten  Unterhaltungsteils  deshalb  vor  .nun  bald  zwei  Jahren 
einen  begabten  und  fortschrittlichen  jungen  Musiker:  Walter 
Gronostay.  Sie  hatte  die  Freude,  einen  gliicklichen  Griff 
durch  Erfolg  bestatigt  zu  sehen.  Denn  Herr  Gronostay  wurde 
nicht  nur  in  seiner  Arbeit  von  „Publikum  und  Presse  aner- 
kannt",  er  machte  nicht  nur  gute  und  interessante  Programme, 
er  machte  sich  auch  daran,  in  die  hochst  verwickelten  und 
undurchsichtigen  Verhaltnisse,  die  (Achtungt  Herr  Connor!)  im 
Umkreis  des  Schlagers  tatsachlich  vorhanden  sind,  Ordnung  zu 
bringen.  Urn  diese  Schwierigkeiten  zu  verstehen,  ist  es  notig, 
sich  einen  Augenblick  damit  zu  beschaftigen,  wie  eigentlich 
ein  Schlager  ins  Rundfunk-Programm  kommt,  wieso  der  eine 
oft  gespielt  wird,  der  andre  nur  einmal  erscheint,  und  warum 
die  Verhaltnisse  da  so  kompliziert  sind. 

Fur  den  Schlagerfabrikanten  bedeutet  haufiges  Spielen  im 
Kaffeehaus,  im  Tanzlokal  und  vor  allem  im  Rundfunk  gute 
Propaganda.  Komponist  und  Dichter  werden  infolgedessen 
alles  daransetzent  dafi  ihre  Schlager  soviel  gespielt  werden, 
wie  nur  moglich*  Sie  setzen  den  Hebel  bei  der  Kapelle  an. 
Die  Tanzkapelle  und  ihre  eventuelle  Bereitschaft,  einen  Schla- 

182 


ger  zu  iibernehmen,  ihn  fiir  ihre  spezielle  Besetzung  zu  instru- 
mentieren,  einzustudieren  und  zu  spielen,  bilden  den  wichtig- 
sten  Faktor  in  der  Wahrscheinlichkeitsbilanz  der  Schlager- 
firma.  Dazu  kommen  die  Refrain-Sanger,  kommen  Unterneh- 
mungen,  die  Tanzkapellen  spielen  lassen  etc.  Sic  alle  sucht 
der  Schlagerfabrikant  zu  beeinflussen. 

Wie  sieht  die  Sache  nun  beim  Rundfunk  aus?  Im  Ge- 
gensatz  zu  seinem  sonstigen  Musik-Programm,  das  er  vollig 
in  der  §land  hat,  steht  dem  Rundfunk  die  Auswahl  der  Stiicke 
der  Tanzmusik  nicht  vollig  frei,  wenn  bekannte  Tanzorchester 
bei  ihm  gastieren.  Er  hat  mit  dem  Repertoire  der  einzelnen 
Kapellen  zu  rechnen  und  wahlt  lediglich  aus  den  von  ihnen 
einstudierten  Stucken  aus-  Er  achtet  dabei  darauf,  daB  sich 
Schlager  nicht  zu  haufig  wiederholen,  Erfolge  nicht  zu  stark 
ausgenutzt  werden,  kurzum,  daB  die  Tanzmusik  abwechslungs- 
reich  ist  und  richtig  ausbalanziert.  Vor  allem  aber  greift  er 
ein,  wenn  ein  Erfolg  kunstlich  ngemacht"  werden  soil,  und 
hier  liegt  die  Schwierigkeit  seiner  Arbeit.  Es  ist  gar  nicht  zu 
sagen,  was  alles  probiert  wird  und  auf  welch  versteckten  We- 
gen  der  Schlager  versucht,  ins  Fun  kh  a  us  zu  gelangen.  Vor 
kurzem  erst  stellten  wir  fest  —  und  das  ist  nur  ein  Beispiel  — , 
dafl  Refrainsanger  sich  von  Verlegern  fiir  jedes  Lied  Geld  zah-  . 
len  HeBen;  die  Verleger  befanden  sich  solchen  Forderungen 
gegenuber  in  der  unangenehmsten  Situation,  weil  sie  beftirch- 
ten  muBten,  daB  ihre  Erzeugnisse,  wenn  sie  nicht  zahlen,  von 
gewissen  Kapellen  oder  Refrainsangern  boykottiert  wiirden. 
Die  Berliner  Funkstunde  rief,  als  sie  davon  erfuhr,  die  Schla- 
gerverleger  zusammen,  mit  dem  positiven  Resultat,  daB  der- 
artige  Gelder  nicht  mehr  gezahlt  werden,  ja  daB  alle  Verleger 
sich  verpflichteten,  gegen  solche  und  ahnliche  Versuche  vor- 
zugehen.  Es  sei  hier  bemerkt,  daB  auch  die  guten  Tanzkapel- 
len den  Rundfunk  in  diesen  Bemuhungen  urn  Sauberkeit  in 
dankenswerter  Weise  unterstiitzen. 

So  liegen  die  Verhaltnisse-  Die  Funkstunde  kann  nur 
froh  dariiber  seinf  wenn  ihr  Handhaben  zum  Eingreifen  gegeben 
werden,  falls  ihr  trotz  aller  Vorsicht  etwas  entgangen  ist.  Eine 
solche  Handhabe  bedeutet  aber  gewiB  kein  voller  Unrichtig- 
keiten  steckender  Artikel  wie  der  des  Herrn  Connor.  Seine 
1(Enthullungen"  haben  jene  verzweifelte  Ahnlichkeit,  die  alle 
sogenannten  Enthiillungen  von  Leuten  miteinander  haben,  die 
ehemals  zu  einer  Branche  gehorten  und  nun  ihre  angeblichen 
Kenntnisse  verwerten  wollen.  Was  der  friihere  Propaganda- 
Leiter  beispiels weise  iiber  die  Beziehungen  des  Herrn  Wil- 
czynski  zur  Funkstunde  zu  sagen  weiB,  ist  zu  berichtigen  kaum 
dem  Ernst  der  Zeit  entsprechend.  Herr  Doktor  Wilczynski 
steht  —  durchaus  libereinstimmend  mit  seinem  eignen  De- 
menti —  in  keinem  Vertragsverhaltnis  zur  Funkstunde,  hat 
keinen  EinfluB  auf  das  Programm,  Herr  Gronostay,  der  die 
Tanzmusik  leitet,  hat  keine  Veranlassung  zu  „zittern,  wenn 
Herr  Wilczynski  hustet".  Die  Funkstunde  macht  ihre  Tanz- 
und  Schlagerprogramme.  Sie  mufi  dabei,  wie  oben  dargelegt, 
das  einstudierte  Repertoire  der  einzelnen  Kapellen  bis  zu 
einem  gewissen  Grad  beriicksichtigen,  sie  muB  die  echte,  kurz- 

183 


lebige  Popularitat  cincs  wirklichen  Schlagers  beachten.  Jede 
andrc  Beeinflussung,  komtne  sie  vom  Verleger,  vom  Schlager- 
fabrikanten,  vom  Schlagerdichter  oder  -Komponisten,  spielt  in 
ihrer  Programmgestaltung  keine  Rolle  und  wird,  wo  immer  sic 
sich  einschleicht,  mit  alien  Mitteln  bekampft. 

Mehr  ist  dariiber  nicht  zu  sagen.  Herrn  Connors  Schlager- 
angriff  war  kein  Schlager,  ehcr  cin  Schlag  ins  Wasser,  der 
nichts  andres  erzielte,  als  daB  das  aufspritzende  Wasser  den 
Pudel,  der  keinen  Kern  hat,  begoB.  ^ 


BreSSart   von  Rudolf  Arnheim 

Dressart  iiberragt  die  Sachlage  urn  Haupteslange,  und  eben 
deshalb  paBt  er  nicht  in  sie  hinein.  Was  die  Nase  in  sei- 
nem  Gesicht,  das  ist  er  selbst  im  Ensemble  —  Sperrgut,  Wohl- 
geformte  Liebhaber  und  vorschriftsmaBige  Soldaten  werden 
vom  Publikum  nach  Gebuhr  erst  dann  gewurdigt,  wenn  Bres- 
sart  als  lebendes  Gegenbeispiel  in  der  Nahe  weilt.  Aber 
weilt  er  denn  je?  Es  ist  Weile  mit  Eile.  Er  verkorpert  Ge- 
schaftigkeit  und  die  Sorgen  des  Alltags  —  diesmal,  in  dem 
Ufa-Film  „Nie  wieder  Liebe'1,  als  Kammerdiener  — ,  wahrend 
Harry  Liedtke,  in  die  weiBe  Tracht  der  Unschuld  und  des 
Seglers  gekleidet,  Schecks  unterschreibt  und  Madchen  kiiBt, 
Bressart  ist  durch  seine  langen  GliedmaBen  dazu>  pradesti- 
niert,  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen.  Zwei  tiefe  Sorgen- 
falten  in  seinem  Gesicht  zeigen  an,  daB  er  vorher  gewuBt  hat, 
was  kommen  wiirde,  und  daB  er  weiB,  was  kommen  wird, 
Bre&sart  kommt  vor  dem  Fall.  Seine  zwei  raffenden  Krebs- 
augen  sammeln  der  Nase  Stoff  zum  Sich-Rumpfen.  Die  Lippen 
schieben  sich  begehrlich  vor,  aber  es  ist  nur  die  Begierde,  zu 
zweifeln  und  zu  verneinen.  Der  Verstand  hat  im  Lustspiel 
keine  Statte,  und  so  wandelt  er  sich  zum  Bressart.  Als  das 
Wappentier  der  Weisheit  lebt  Bressart  unter  den  Filmschau- 
spielern  wie  die  Eule  unter  den  Vogeln,  Sie  necken  ihn,  sie 
hacken  auf  ihn  los.  Sie  sind  schon  und  dumm  und  grausam. 
Er  aber  hat  es  alles  gleich  gewuBt.  Er  keckert  wie  ein  ge- 
argertes  Saxophon,  er  stolpert  liber  die  Wurzeln  und  Stamme 
der  Worter,  er  stolpert  auch  iiber  die  jungen  Madchen,  denn 
ihm  ist  Hindernis,  was  andern  verehrungswiirdig.  Seine  wich- 
tigste  Gebarde  ist  die  des  Regenschirms:  die  Arme  vom  Kor- 
per  abheben  und  sie  wieder  fallen  lassen.  Er  breitet  die  Arme 
zum  Fluge,  aber  er  weiB  zugleich,  daB  man  nicht  fliegen  kann, 
und  so  laBt  ers  bleiben.  Dieser  klagende  Fliigelschlag  der 
Resignation  dient  ihm  als  bescheidenes  FortbewegungsmitteL 
Er  zuckt  die  Achseln,  nein,  er  zuckt  die  Arme  bis  hinunter 
zu  den  Fingerspitzen,  es  ist  die  Mimik  des  „Ich  habe  es  nicht 
gewolltl",  des  ,,Hier  stehe  ich,  ich  kann  nicht  anders!",  des 
Offenbarungseides.  Er  akzeptiert  das  Leben  unter  Vorbehalt 
und  in  der  stillen  Absicht,  es  seinem  Anwalt  zu  iibergeben. 
Er  schaut  bekummert  auf  Harry  Liedtke.  Er  sieht  aus,  wie 
wir  durchaus  nicht  aussehen  mochten,  aber  er  ist  der  einzige, 
in  dem  wir  uns  erkennen. 

184 


Banken-Krach  von  b.  Travea 


Danksttirme  beginnen.  Die  Sparer  sind  von  Panik  erfaBt  worden. 
^  Sie  fiirchten,  nein  schlimmer,  sie  sind  sicher,  daB  ihr  Geld,  fur 
das  sie  gespart  und  gedarbt  haben,  verloren  ist.  In  unendlich  langen 
Reihen  stehen  sie  schon  vor  Mitternacht  vor  den  Banken,  urn  die 
ersten  zu  sein,  wenn  die  Kassen  offnen.  Je  fruher  man  da  ist,  je 
groBer  die  Moglichkeit,  noch  etwas  zu  retten.  Das  geordnete  Leben 
der  Banken  wird  zerrissen,  Alle  Krafte  miissen  heran,  um  auszuzahlen. 
Niemand  zahlt  etwas  ein.  Alle  K  red  He  werden  aufgekiindigt.  Banken 
in  andern  Landern  werden  bittend  angekabelt,  auszuhelfen  mit  fliissi- 
gem  Geld  und  mit  Schecks.  Alle  Reserven  der  nationalen  Bankver- 
einigung  werden  aufgerufen.  Aber  die  Reihen  vor  den  Banken  ver- 
Iangern  sich, 

Und  dann  beginnen  die  Banken  zu  krachen,  weil  sie  nicht  zahlen 
konnen.  Das  Geld  ist  ausgeliehen;  denn  wenn  die  Bank  kein  Geld 
ausleihen  kann,  dann  kann  sie  ihren  kleinen  Sparern  keine  Zinsen 
zahlen.  Erst  krachen  die  kleinen  Banken.  Die  groBen  helfen  sich 
noch  damit,  daB  sie  die  Kassenstunden  auf  zwei,  endlich  auf  eine 
beschranken.     Dann  beginnen  auch  groBere  zu  krachen. 

Und  hinter  all  diesem  Wirrwarr  sitzt  kein  plotzliches  Verschwin- 
den  eines  Erdteils,  sitzt  keine  gigantische  Naturkatastrophe,  die  un- 
wiederbringliche  Werte  vernichtete.  Hinter  all  diesem  Zusammen- 
brechen  wirtschaftlicher  Ordnung  und  wirtschaftlicher  Sicherheit,  die 
bestandig  bedroht  wird  von  Aufwieglern,  sitzt  nichts  andres  als  die 
gestorte  Einbildung  derer,  die  etwas  haben,  die  unsicher  gewordene 
Hoffnung  derer,  die  viel  besitzen,  und  derer,  die  wenig  besitzen.  Alles 
das,  was  nun  in  der  Wall  Street  geschieht,  beruht  in  nichts  andrem, 
als  daB  die  Gedanken  plotzlich,  zu  plotzlich,  eine  andre  Richtung  ein- 
genommen  haben  als  die  gewohnte,  Massenhypnose.  Massensuggestion. 
Die  Suggestion,  die  Einbildung:  „Ich  kann  verlierenf"  reiBt  dieses 
schone,  von  Gott  gewollte,  von  Gott  begnadete,  von  Gott  beschiitzte 
Wirtschaftssystem  in  Fetzen.  Und  dennoch  sind  alle  Werte  gleichge- 
blieben.  Die  Werte  haben  sich  nicht  geandert.  Es  ist  ebensoviel 
Kohle  auf  Erden  wie  vorher.  Alles  Geld  ist  noch  da,  und  es  ist  kein 
Cent  vom  Erdball  heruntergef alien  in  das  Weltall,  aus  dem  er  nicht 
mehr  gefischt  werden  kann.  Alle  Hauser  stehen  noch  da.  Alle  Wal- 
der.  Alle  Wasserfalle.  Alle  Ozeane.  Die  Eisenbahnen  und  Schiffe 
sind  alle  noch  unversehrt.  Und  Hunderttausende  gesunder  und  kraf- 
tiger  Menschen  sind  willig,  zu  arbeiten  und  zu  produzieren  und  den 
vorhandenen  Reichtum  der  Erde  zu  vermehren.  Kein  Ingenieur  hat  die 
Fahigkeit  verloren,  neue  Maschinen  zu  konstruieren,  Kein  Kohlen- 
schacht  ist  von  einer  Naturgewalt  verschiittet  worden.  Die  Sonne 
steht  leuchtend  und  warm  am  Himmel  wie  immer.  Es  regnet  wie 
immer.  Das  Getreide  steht  auf  den  Feldern  und  reift  wie  immer.  Die 
Baumwol  If  elder  stehen  in  Pracht.  Nichts  hat  sich  am  vorhandenen 
Wert  irdischen  Reichtums  geandert.  Die  Menschen,  als  Einheit  ge- 
sehen,  sind  ebenso  reich  wie  gestern.  Und  nur  darum,  und  allein 
nur  darum,  weil  sich  der  Besitz  einzelner  zu  verandern  und  zu  ver- 
schieben  droht,  darum  bricht  eine  Katastrophe  fur  die  gesamte  Mensch- 
heit  herein ... 

Ein  Wirtschaftssystem,  eine  Wirtschaftsordnung,  geschaffen  von 
Menschen,  die  von  sich  selbst  behaupten,  Intelligenz  zu  besitzen,  Men- 
schen jedoch,  die  trotz  aller  ihrer  so  hochentwickelten  Technik,  die  sie 
schufen,  noch  immer  nicht  die  Primitivitat  vollig  unzivilisierter  Men- 
schen iiberwunden  haben,  soweit  ein  durchdachtes  und  wohlgeregeltes 
Wirtschaftssystem  in  Frage  kommt. 

Aus  ,Die  weiSe  Rose' 
185 


WirtSCtiaft  blingt  Not  von  Bernhard  Citron 

Das  stille  Moratorium 

p  s  gehort  zu  den  groBen  Wundern  dieser  an  Merkwiirdig- 
keiten  iiberreichcn  Zeit,  daB  in  cinem  hochkapitalistischen 
Lande  mitten  im  zwanzigsten  Jahrhundert  der  Geldverkehr 
drei  Wochen  lang  ruhen  konnte.  Das  merkwiirdigste  aber  ist, 
daB  den  Gralshutern  des  herrschenden  Wirtschaftssystems, 
den  Kapitanen  der  Schwerindustrie,  dieser  kapitallose,  nach 
ihrer  Auffassung,  eigentlich  anarchische  Zustand  ganz  annehm- 
bar  erscheint.  In  den  Reden,  die  auf  der  Prasidialsitzung  des 
Reichsverbandes  der  Deutschen  Industrie  vom  29,  Juli  gehal- 
ten  wurden,  vermiBt  man  einen  deutlichen  Hinweis  auf  die 
Notwendigkeit,  den  normalen  Zahlungsverkehr  wieder  aufzu- 
nehmen.  Die  Herren  Kastl,  Frowein  und  Silverberg  ftihren 
doch  sonst  eine  recht  scharfe  Sprache,  wenn  es  um  erne 
Schicksalsfrage  der  Privatwirtschaft  geht.  Im  Schatten  der 
Bankfeiertage  entwickelte  sich  aber  ein  stilles  Generalmora- 
torium,  auf  das  die  Industrie  kaum  mehr  verzichten  kann. 

Die  Danatbank  wm*de  illiquide,  weil  sie  einen  Teil  der  ihr 
zur  Verfugung  gestellten  kurzfristigen  Gelder  langfristig  an- 
gelegt  hatte;  von  mancher  Industriegesellschaft  kann  man  sa- 
geti,  daB  sie  so  mit  ihr  em  ganzen  Fremdkapital  verfuhr.  Daher 
hat  man  in  den  mitteldeutschen  Textilfabriken  ebenso  wie  auf 
den  Huttenzechen  Westdeutschlands  die  groBte  Angst  vor  der 
restlosen  Durchfuhrung  eines  normalen  Zahlungsverkehrs.  Die 
Bank  en,  die  auch  ohne  ausgesprochenen  Run  sehr  hohen  An- 
f  orderungen  begegnen  werden,  miissen  in  den  nachsten  Wochen 
einen  Teil  d«r  Debitoren  fltissig  machen.  Vor  allem  werden 
sie  auf  eine  Verstarkung  der  bisherigen  Deckungsunterlagen 
dringen.  Da  auf  die  Wiederaufnahme  des  Zahlungsverkehrs 
bald  auch  die  Of fnung  der  Borsen  f olgen  diirf  te,  wird  man  dann 
auch  ermessen  konnen,  welche  Einschiisse  auf  beliehene  Wert- 
papiere  zu  leisten  sind.  Gewisse  Anhaltspunkte  bieten  auch 
jetzt  schon  die  Kurse  deutscher  Aktien  und  Rent  en  im  Aus- 
lande,  Sollten  die  Einschusse  nicht  gezahlt  werden,  dann  wur- 
den  die  Zwangsverkaufe  des  verpfandeten  Effektenbesitzes 
mit  so  enormen  Kursverlusten  verbunden  sein,  daB  die  Zahl 
der  insolvent  en  Unternehmungen  bedenklich  steigen  mufite. 
Ahnlich  wie  dem  Effektenbesitz  geht  es  natiirlich  auch  den 
Warenvorraten.  Schon  heute  kann  mit  groBer  Wahrschein- 
Hchkeit  vorausgesagt  werden,  daB  so  manches  Kartell  aufflie- 
gcn  wird,  und  daB  bald  zu  Preisen  verkauft  werden  muB,  die 
hinter  den  Mauern  des  Zollschutzes  und  zwischen  den  Stachel- 
drahten  der  Kar  telle  in  Deutschland  bisher  unbekannt  war  en. 
Mit  aller  Deutlichkeit  erweist  sich  dann,  welche  gefahrlichen 
Auswuchse  das  Kartellwesen  gezeigt  hat.  In  dem  Augenblick, 
wo  das  eine  oder  das  andre  MitgHed  aus  dem  Preisverband 
ausbricht,  erkennt  die  Offentlichkeit  erst,  daB  Jahre  hindurch 
an  einem  iiberhohten  Preisniveau  festgehalten  und  fur  die 
wachsenden  Vorrate  eine  falsche  Bewertungsgrundlage  ge- 
schaffen  wurde.  In  Krisenzeiten  rachen  sich  alle  Fehler,  die 
in  vergangenen  Jahren  gemacht  word  en  sind. 

186 


Konzern-  Gefahren 

Wie  iiHigesund  ist  auch  das  Schachtelsystem  der  Konzerne, 
Einen  graden  Weg  in  dcm  Labyrinth  eines  weitverzweigten 
Industrieunternehmens  zu  linden,  ist  unmoglich.  Im  Falle 
Norddeutsche  Wollc,  dessen  verbrecherischer  Hintergrund  cine 
Ausnahmeerscheinung  in  der  deutschen  Industrie  darstelltr 
diente  die  Uniibersichtlichkeit  des  Unternehmens  dazu,  die 
Kreditgeber  zu  tauschen.  Aber  komien  nicht  auch  tiichtige 
Konzernleiter  einer  Selbstta-uschung  unterliegen,  indem  sie  das 
Verhaltnis  der  einzelnen  Konzernglieder  zueinander  nicht  rich- 
tig  einschatzen? 

Greifen  wir  einen  beliebigen  Industriekonzern,  der  durch 
nationale  und  internationale  Kartelle  gegen  scharfes  Absinken 
der  Preise  geschiitzt  ist,  heraus.  Dieser  Schutz  erstreckt  sich 
allerdings  nicht  auf  den  standig  geringer  werdenden  Absatz. 
Von  Jahr  zu  Jahrf  von  Monat  zu  Monat  haufen  sich  die  Vor- 
rate,  die  in  der  Bilanz  zu  Kartellpreisen  eingesetzt  sind,  nach- 
dem  Abschreibungen  vorgenommen  wurden,  die  fur  normale, 
nicht  aber  fur  kritische  Zeiten  ausreichen.  Die  einzige  Ver- 
kaufsmoglichkeit  fur  diese  Bestande  wiirde  sich  aus  Schleuder- 
preisen  ergeben,  zu  denen  man  im  Inlande  mit  dem  Kartell, 
und  im  Auslande  ohne  dieses  schreiten  miiBte. 

Etwa  96  Prozent  des  Aktienkapitals  liegt  in  den  Handen 
verschiedener  Holdinggesellschaften.  Beherrscht  wird  der 
Konzern  von  einer  Gruppe,  die  eigentlich  nur  3  Prozent  des 
Kapitals  besitzt,  der  es  aber  gelang,  in  den  verschiedenen  an- 
dern  Holdinggesellschaften  EinfluB  zu  gewinnen  und  auf  diese 
Weise  nicht  nur  diesen  Konzern  zu  kontrollieren,  sondern  zur 
linken  Hand  noch  einen  zweiten  aufzubauen.  Die  eigenartige 
Verschachtelung  bewirkt  nicht  nurt  daB  in  den  einzelnen  Kon- 
zerngesellschaften  der  groBte  Teil  der  Aktiven  aus  aktienma- 
Bigen  Beteiligungen  an  den  andern  Gesellschaften  besteht,  son- 
dern  daB  dieselben  Aktien  in  Form  verschiedener  Beteiligun- 
gen in  mehreren  Gesellschaften  gleichzeitig  auftauchen.  Es 
ist  keineswegs  zutrefferid,  daB  Aktienbesitz  heute  noch  wie 
in  friihern  Jahren  die  am  leichtesten  zu  mobilisierende  Kapi- 
talanlage  darstellt.  Die  fertige  Ware  ist  vom  Unternehmen 
losgelost  und  hat  zumeist  irgend  einen  internationalen  Markt- 
preis.  Die  Aktie  ist  ein  Teil  des  Unternehmens,  ihr  Kurs  ist 
abhangig  von  den  gegenwartigen  und  kiinftigen  Gewinnen  der 
Gesellschaft,  von  den  vorhandenen  Aktiven  und  von  der  Auf- 
nahmefahigkeit  der  Borse.  Nimmt  man  an,  daB  weder  in  die- 
sem  noch  im  folgenden  Jahre  Gewinne  zu  erzielen,  daB  Inter- 
essenten  fur  die  Aktien  kaum  vorhanden  sind,  so  wird  man 
einen  recht  niedrigen  Kurs  erwarten.  Dieser  Kurs  dient  aber 
in  dem  vorliegenden  Falle  den  Gesellschaften  als  Bewertungs- 
grundlage  ihrer  wichtigsten  Aktiven  und  den  Banken  als 
Sicherheit  fur  die  Konzernschulden. 

Sozialiskrung  und  Bationalisierung 

Es  paBt  nicht  ganz  in  den  Rahmen  der  gegenwartigen 
Burgfriedenspolitik,  wirtschaftliche     Gefahren  aufzuzeigen  und 

18T 


dem  Leser  dann  wciterc  Schliisse  anheim  zu  stellen,  Defaiti- 
sten  sind  heute  wieder  so  verpont  wie  vor  siebzehn  Jahren. 
Ein  Witzblatt  gab  nculich  sehr  treffend  cincn  zeitgemaBen 
Armeebefehl  aus;  „Gediente  Kriegsberichterstatter  haben  sich 
in  reingewaschenem  Korperzustand  im  Bureau  der  Reichs- 
/pressestelle  einzufinden",  Abcr  grade  angesichts  der  schweren 
Wirtschaftskrise,  die  eine  Staats-  und  Existenzkrise  zugleich 
ist,  hat  die  5ffentlichkeit  das  Recht,  Klarheit  zu  verlangen. 
Da  das  Parlament  ausgeschaltet  ist,  mufi  wenigstens  der  Zei- 
tungsleser  eine  gewisse  Kontrolle  iiber  die  MaBnahmen  des 
Reiches  ztigunsten  der  Privatwirtschaft  ausiiben  konnen,  Vor 
allem  muB  dariiber  gewacht  werden,  dafi  die  Staatsaktionen 
nicht  miBbraucht  werden,  Schon  jetzt  darf  die  Regierung  mit 
mehr  Recht  als  ihre  Vorgangerin  vom  Jahre  1919  dem  Volke 
verkiinden:  ,,Die  Sozialisierung  marschiert"  —  die  Sozialisie- 
rung  der  -Verluste,  versteht  sich,  Aus  Kreisen  der  Wirtschaft 
vernimmt  man  ungefahr  folgenden  Einwand:  „Erst  hat  das  Reich 
auf  dem  Wege  sozialer  und  sieuerlicher  Belastungen  unsre 
Gewinne  sozialisiert,  nun  ist  es  recht  und  billig,  daB  man 
uns  einen  Teil  der  Verluste  ersetzt,  die  eine  'Folge  falscher 
Politik  gewesen  sind."  Ist  nicht  die  Industrie  an  der  Arbeits- 
losigkeit  bewuBt  mitschuldig,  da  die  Rationalisierung  Arbeit s- 
krafte  sparte?  Man  braucht  kein  Maschinenstiirmer  zu  sein, 
um   diese  Frage  zu  bejahen, 

Ermoglicht  wurde  dieser  ProzeB  durch  lang-  und  kurz- 
fristige  Auslandskredite.  Dagegen  hat  Schacht  als  Reichsbank- 
prasident  niemals  opponiert,  er  beschrankte  sich  immer  nur  auf 
die  Kritik  am  Gebaren  der  offentlichen  Hand-  Die  ,,Bera- 
tungsstelle  fxir  Auslandsanleihen*'  sah  Jahre  hindurch  ihre  Auf- 
gabe  grade  darin,  den  internationalen  Anleihemarkt  fur  die 
Privatwirtschaft  frei  zu  halten,  Der  ehemalige  Reichsbankpra- 
sident  erblickte  in  dem  groBen  Auf  wand  der  Kommunen  einen 
tibertriebenen  „Luxfus",  wahrend  die  iiberwiegende  Mehrheit 
des  Volkes  Badeanstalten,  Grtinflachen  und  Wohnungsver- 
besserungen  als  Kulturfortschritt  betrachtet.  Man  mag  dar- 
iiber streiten,  ob  es  sich  bei  diesen  Ausgaben  um  totes  oder 
werbendes  Kapital  handelt.  Aber  nicht  einmal  der  mit  Recht 
gescholtenen  Grundstiickspolitik  der  Stadt  Berlin  kann  man 
nachsagen,  daB  sie  Werte  zerstort  hatte.  Diese  Wirkungen 
aber  haben  die  mit  Auslandsgeld  genahrten  Rationalisierungs- 
Versuche  der  Industrie  gezeitigt.  Ware  in  Deutschland  eine 
gute  Konjunktur  von  langerer  Dauer  eingetreten,  dann  hatten 
die  ersparten  Personalausgaben  vielleicht  in  einigen  Jahren  die 
groBen  Investitionen,  die  fur  die  Betriebsmechanisierung  auf- 
gewandt  wurden,  amortisiert.  Man  durfte  nicht  in  blinder  Ab- 
hangigkeit  von  amerikanischen  Wahnideen  an  eine  ewige 
, prosperity"  glauben,  sondern  man  muBte  sich  sagen,  daB  die 
Betriebe  im  gunstigsten  Falle  zu  einem  Zeitpunkt  rentabel  ge- 
worden  waren,  wo  selbst  unter  normalen  Verhaltnissen  die 
Konjunktur  ihr  Ende  erreicht  haben  wiirde.  Es  waren  also 
noch  weitere  Jahre  verstrichen,  bis  der  deutschen  Volkswirt- 
schaft  ein  Nutzen  erwachsen  konnte.  Da  aber  die  Konjunk- 
turkurve  nicht  diesen  regelmaBigen  Verlauf  nahm,  sondern  im 
188 


Gegenteil  jah  abficl,  kann  die  Kapazitat  der  MrationaIisierten" 
Betricbe  nicht  im  entferntesten  ausgenutzt  werden.  Was  blieb( 
sind  Schulden  auf  der  <einenf  Arbeitslosigkeit  auf  dcr  andern 
Scitc.  Die  Wirtschaft  aber  hat  sich  und  den  Staat  in  Not  ge- 
bracht.     Ratio  1st  Vernunft,   (fVernunft  wird  Unsinn", 


Poesie  rer.  pOl.  von  Erich  Kastner 

Subventionen 

Subventionen  sind  die  Summen, 
ohne  die  wir  prompt  verkiimmern. 
Das  Geschenk  kommt  von  den  Dummen 
und  das  Geld  von  noch  viel  Dummern, 


Lohne 


Unerhorte  Geldbetrage 
braucht  man  fur  die  Arbeitskrafte. 
Lohn  ist  nichts  als  Armenpflege 
und  verdirbt  bloB  die  Geschafte, 


Kredite 


Die  Reichsbank  jagt  ins  Ausland  Brief e: 
„Borgt  Geld,  weil  sonst  der  Staat  zerbricht!" 
Das  ist  die  Subalternative, 
und  etwas  Drittes  gibt  es  nicht. 

Goldivdhrung 

*  Das  Gold,  das  liegt  im  Keller, 
woselbst  es  Noten  deckt. 
Ihr  jammert,  ohne  Heller, 
vor  eurem  leeren  Teller. 
Das  Gold,  das  liegt  im  Keller. 
Hauptsache,  daC  es  schmeckt! 

tfberproduktion 

Wir  fabrizieren  nur  ins  Voile,     . 
und  wer  nichts  kauft,  lafits  eben  sein. 
Der  Konsument  spielt  keine  Rolle, 
Wir  motten  unsre  Waren  ein.    v 

Mapitalfluchi 

Der   Staat   drapiert   sich   als  Bezwinger 
und  flucht,  weil  unser  Geld  verschwand. 
Die  Schweiz  ist  weit,     So  lange  Finger 
hat  keine  offentliche  Hand. 

189 


Bemerkungen 


Wie  empfangen  wir  unsre 
Krieger? 

C  eit  der  Mobilmachung  sind 
*^  siebzehn  Jahre  vergangen, 
ohne  dafi  sich  an  dem  Wahnsinn 
der  kriegshetzerischen  Kreise  viel 
geandert  hatte.  Zwischen  den  ir- 
ren  Tonen  der  Nazis  von  heute 
und  den  tollsten  Blilten  damali- 
ger  Kriegsnarretei  ist  kein  allzu 
groBer  Unterschied.  Der  Geist, 
den  wir  damals  mit  Kriegs- 
psy  chose  entschuldigten,  dieser 
Geist  ist  heute  starker  denn  j'e, 
obgleich  es  keine  Entschuldi- 
gungspsychose  mehr  gibt.  Noch 
mehr  als  in  andern  Landern  fand 
er  von  jeher  in  Deutschland  seine 
Abnehmer,  Die  vernich  tends  ten, 
grimmigsten  Elaborate  des  Im- 
perialismus  sind  auf  deutschem 
80  den  gewachsen.  Eine  Perle 
dieser  Art,  1915/16  entstanden, 
eine  der  bizarrsten  und  groteske- 
sten  Gewachse  aus  dem  Sumpf 
jener  Tage  ist  „Die  Mobil- 
machung der  deutschen  Frau. 
Ein  Kriegsheft  von  E,  Schuster 
fiir  unsre  Frauen  und  Tochter". 
Das  Wesen  dieses  Amazonentums, 
das  Herr  Schuster  schon  1915  so 
lebhaft  propagierte,  fafit  er  in 
drei  Fragen  zusammen;  „Wie 
empfangen  wir  unsre  {heimkeh- 
renden  Krieger?  Wie  ehren  wir 
sie?  Wie  decken  wir  ihnen  die 
Tafel?"  Der  Gehalt  dieses  Hef- 
tes  lafit  sich  in  seiner  ganzen  Er- 
barmlichkeit  kaum  interpretieren. 
Aber  der  Text  spricht  fur  sich 
selbst: 

„Es  wird  die  Sorge  sein,  wie 
unser  Heim  zu  einem  glucklichen 
deutschen  hauslichen  Herd  ge- 
stalten,  wo  echte,  deutsche  Sitte 
und  Gemiitlichkeit  der  Grundzug 
ist,  nicht  Oberflachlichkeit  und 
eitler  Tand.  Darum  erlaube  ich 
mir  denWortlaut:  Deutsche  Frau, 
zeig   deutsches  Wesen. 

Wie  dtirfen  wir  uns  kleiden 
beim  Empfang?  Das  ist  auch 
ein  Punkt,  der  streng  in  den 
Rahmen  des  Ereignisses  gebracht 
werden  muB.  Es  sei  nur  aufEin- 
fachheit  hingewiesen,  die  immer 
das  Zeichen  einer  vornehmen, 
feierlichen  Gesinnung   ist,      Viel- 

190 


leicht  auch  diirfte  sich  das  Koni- 
gin-Luise-Muster  dem  Ernst  und. 
der  Wttrde,  sowie  auch  seiner 
historischen  Bedeutung  nach,  am 
besten  anpassen,  sofern  eine  ent- 
sprechende  deutsche  Mode  nicht 
gefunden  wird.  Blumen  im  Haar 
und  im  Zimmer  sollten,  je  nach 
der  zu  vertretenden  Symbolsauf- 
fassung  nicht  fehlen,  Vielleicht. 
laBt  sich  damit  eine  kleine  ge- 
schickt  angelegte  aber  einfache 
und  sinnige  Illumination  verbin- 
den,  die  natiirlich  im  Rahmen  ge- 
halten  sein  muB,  verbunden  mit 
Dekoration  des  Kaiserbildest  der 
Konigsbiiste  oder  irgend  einem 
Feldherrn,  unter  dessen  Ober- 
befehl  der  Heimkehrende  im- 
Felde  gekampft  hat,  —  Beim 
Eintritt  ins  Haus  wird  dem  Krie- 
ger ein  Glas  Rotwein  von  Dienst- 
boten,  oder  sonst  einer  dem 
Krieger  bekannten  Person  ge- 
reicht,  eventuell  von  dem  Haus- 
besitzcr,  wenn  der  Krieger  es 
nicht  selbst  ist,  Dabei  werden 
ein  paar  warme,  widmende  Worte 
gesprochen.  Vergessen  darf  man 
hier  wieder  den  Takt  nicht. 

Der  Heimgekehrte  wird  aller- 
hand  Bediirfnisse  baben,  die  na- 
tiirlich vorbereitet  sein  nuissen. 
Ein  Bad  mit  Unterwasche  und 
Kleidung  sollte  bereit  sein,  denn 
das  Bediirfnis  ist  unzweifelhaft 
daf iir  vorhanden,  Auch  f riihere 
liebe  Gewohnheiten  des  Gatten, 
Sohnes  oder  Bruders,  die  uns  be- 
kannt  sind,  durfen  nicht  verges- 
sen  werden,  wie  zum  Beispiel 
Rauchwaren  mit  Feuerzeug  nach 
Tisch  etcetera.  SchlieBlich  kann 
die  Gattin,  Freundin,  Braut  oder 
\  Schwester  dem  Heimgekehrten 
eine  besondere  Obcrraschung  da- 
durch  bereiten,  indem  sie  neue 
Gliicks-  oder  Eheringe  mit  ent- 
sprechender  Widmung  besorgen 
lassen,  die  wiederum  den  Tag: 
kennzeichnet  und  die  man  dem 
Heimgekehrten  nach  oder  wah- 
rend  dem  ersten  Austausch  an 
den  Finger  steckt,  j  a  vielleicht 
auch  sehr  gut  wahrend  dem  Zu- 
tischegehen  geschehen  kann. 

Die    Tafel    sollte    vor    Ankunft 
des  Kriegers  gedeckt  und  dieGe- 


rrichte  so  vorbereitet  sein,  daB 
man  ohne  groBe  Umtriebe  zur  Ta- 
fel  gehen  kann,  auch  wenn  wir 
die  Ankunft  nicht  auf  die  Stunde 
oder  den  Tag  hin  erraten  kon- 
nen/*  (Bei  dem  KohlriibenfraB 
kams  freilich  nicht  drauf  an,  ob 
er  ein  paar  Tage  friiher  oder  spa- 
ter  gekocht  war.) 

„Der  Heimkehrende  weiB  wohl 
die  langentbehrte  Bequemlichkeit 
zu  schatzen,  weshalb  es  sich 
empfiehlt,  jeder  Stuhllehne  ein 
Lehnkissen  mit  dem  darauf- 
gestickten  Ehrenkreuz  anzuhan- 
gen,  das  eine  selbstangefertigte 
Stickarbeit  der  Hausfrau  sein 
soil." 

„Die  Tafelbrotchen  soil  ten  in 
Form  des  Ehrenkreuzes  beim 
Backer  bestellt  werden.  Ebenso 
bricht  man  die  Serviette  in  Form 
des  Ehrenkreuzes,  das  man  mit 
Immergrun  verziert  und  kann  als 
Zierserviette  noch  die  Palme 
brechen.  Auch  die  Speisekarte  in 
Form  einer  Gedenkkarte  mit 
Widmung  sollte  selbst  auf  der 
einfachsten  Tafel  nicht  fehlen. 
Diese  Karte  sollte  nicht  ver- 
schleudert  werden,  da  sie  auch 
noch  spater  fiir  Kinder  und  Kin- 
deskinder  als  Erinnerung  an  die 
groBe  Zeit  von  sittlich^m  Wert 
ist.  Das  Speisezimmer  sollte  eine 
vaterlandische  Ausschmtickung 
erhalten,  und  auf  dem  Speise- 
tisch  die  deutsch-osterreichische 
Siegesfahne  wehen  oder  eine 
groBere  Fahne  in  der  Ecke  des 
Zimmers   aufgestellt   sein." 

Einen  weitern  Kommentar  zu 
diesen  Ausfuhrungen  des  lob- 
lichen  Herrn  Schuster  ist  iiber- 
fliissig.  Sie  zeichnen  treffender 
als  vieles  andre  den  Geist  jener, 
die  sich  als  die  berufenen  fuhl- 
ten  und  fuhlen  und  auch  heute 
noch   als    wiirdige  Vertreter    des 


Deutschtums  im  In-  und  Aus- 
lande  spazieren  gehen.  Herr 
Schuster  war  Lehrer  an  der 
Hauswirtschaftl.  Frauenschule  in 
StraBburg,  wo  er  sich  vermutlich 
neben  den  (,vaterlandischen"  Auf- 
gaben  besonders  dem  Stil  der 
deutschen  Sprache  gewidmet  hat. 
Er  sagt  selbst,  daB  er  mit  seinen 
Vortragen  in  obigem  Sinn  viel 
Anklang  in  Deutschland  gefunden 
hat.  Heute  wird  er  wohl  bei  den 
Nazis  sein. 

Max  Goering 

Der  bewachte  Kriegsschauplatz 

Im  nachsten  letzten  Krieg  wird 
*■  das  ja  anders  sein . . .  Aber 
der  vorige  Kriegsschauplatz  war 
polizeilich  abgesperrt,  das  ver- 
gifit  man  so  haufig.    Namlich: 

Hinter  dem  Gewirr  der  Acker- 
graben,  in  denen  die  Arbeiter  und 
Angestellten  sich  abschossen, 
wahrend  ihre  Chefs  daran  gut 
verdienten,  stand  und  ritt  un- 
unterbrochen,  auf  alien  Kriegs- 
schauplatzen,  eine  Kette  von 
Feldgendarmen.  Sehr  beliebt  sind 
die  Herr  en  nicht  gewesen;  vorn 
waren  sie  nicht  zu  sehen,  und 
hinten  taten  sie  sich  dicke.  Der 
Soldat  mochte  sie  nicht;  sie  er- 
innerten  ihn  an  i  enen  burger- 
lichen  Drill,  den  er  in  falscher 
Hoffnung  gegen  den  militari- 
schen  eingetauscht  hatte. 

Die  Feldgendarmen  sperrten 
den  Kriegsschauplatz  nicht  nur 
von  hinten  nach  vorn  ab,  das 
ware  ja  noch  ver  standi  ich  ge- 
wesen; sie  paBten  keineswegs  nur 
auf,  daB  niemand  von  den  Zi- 
vilisten  in  einen  Tod  lief,  der 
nicht  fiir  sie  bestimmt  war.  Der 
Kriegsschauplatz  war  auch  von 
vorn  nach  hinten  abgesperrt. 

„Von  welchem  Truppenteil  sind 
Sie?"  fragte  der  Gendarm,  wenn 


Das  Buch  vom  Menschen 

voa  Bo  Yin  Ra  ftihrt  zum  begluckenden  Ziel  bewuBten  Selbsterlebens  und 

lafit  dabei  keines  der  Probleme  menschlichen  Gemeinschaftslebens  aufier 

acht.    Viele  Tausende  danken  diesem  Buch  ihre  seeiische  Befreiung! 

Die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

aind  in  jeder  besseren  Buchhandlung  zu  erhalten.    Einftihrungsschrift  von 

Dr.  jar.  Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos.    Der  Verlag:  Kober'sche  Ver- 

lagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

191 


er  auf  einen  einzelnen  Soldaten 
stiefi,  der  versprengt  war.  nSic", 
sagte  er.  Sonst  war  der  Soldat 
„du"  und  in  der  Menge  „ihr"  — 
hier  aber  verwandelte  er  sich 
plotzlich  in  ein  steuerzahlendes 
Subiekt,  das  der  burger  lichen 
Obrigkeit  untertan  war.  Der 
Feldgendarm  wachte  daruber, 
dafi  vorn  richtig  gestorben  wurde. 

Fur  viele  war  das  gar  nicht 
notig.  Die  Hammel  trappelten 
mit  der  Herde  mit,  meist  wufiten 
sie  gar  keine  Wege  und  Moglich- 
keiten,  urn  nach  hinten  zu  kom- 
men,  und  was  batten  sie  da  auch 
tun  soil  en!  Sie  war  en*  ia  doch 
geklappt  worden,  und  dann:  Un- 
tersuchungshaf  t,  Kriegsgericht, 

Zuchthaus,  oder,  das  schlimmste 
von  allem:  Strafkompagnie.  In 
diesen  deutscben  Strafkompag- 
nien  sind  Grausamkeiten  vorge- 
kommen,  deren  Schilderung, 
spielten  sie  in  der  franzdsischen 
■  Fremdenlegion,  gut  und  gern 
einen  ganzen  Verlag  ernahren 
konnte.  Manche  Nationen  jagten 
ihre  Zwangsabonnenten  auch  mit 
den  Maschinengewehren  in  die 
Maschinengewehre. 

So   kampften   sie. 

Da  gab  es  vier  Jahre  lang 
ganze  Quadratmeilen  Landes,  auf 
denen  war  der  Mord  obligato- 
risch,  wahrend  er  eine  halbe 
Stunde  davon  entfernt  ebenso 
streng  verboten  war.  Sagte  ich: 
Mord?  Nattirlich  Mord.  Soldaten 
sind  Morder. 

Es  ist  ungemein  bezeichnend, 
dafi  sich  neulich  ein  sicherlich 
anstandig  empfindender  pro- 
testantischer  Geistlicher  gegen 
den  Vorwurf  gewehrt  hat,  die 
Soldaten  Morder  genannt  zu  ha- 
ben,  denn  in  seinen  Kreisen  gilt 
das  als  Vorwurf.  Und  die  Hetze 
gegen  den  Professor  Gumbel  fufit 
darauf,  dafi  er  einmal  die  Ab- 
deckerei  des  Krieges  „das  Feld 
der  Unehre"  genannt  hat.  Ich 
weifi  nicht,  ob  die  randalierenden 
Studenten  in  Heidelberg  lesen 
konnen.  Wenn  ja:  vielleicht  be- 
muhen  sie  sich  einmal  in  eine 
ihrer  Bibliotheken  und  schlagen 
dort  jene.  Exhortatio  Bene- 
dicts XV.  nach,  der  den  Krieg 
Mein  entehrendes  Gemetzel"  ge- 
nannt   hat    und     das     mitten     im 

192 


Kriege!  Die  Exhortatio  ist  in 
dieser  Nummer  nachzulesen. 

Die  Gendarmen  aller  Lander 
hatten  und  haben  Deserteure 
niedergeschossen.  Sie  mordeten 
also,  weil  einer  sich  weigerte, 
weiterhin  zu  morden.  Und  sperr- 
ten  den  Kriegsschauplatz  ab, 
denn  Ordnung  mufi  sein,  Ruhe, 
Ordnung  und  die  Zivilisation  der 
christlichen  Staaten. 

Ignaz   Wrobel 

MacDonald  in  Degerloch 

C  inmal,  als  ganz  junger  Mensch, 
*-*  war  ich  bei  der  beriihmten 
Agitatorin  Klara  Zetkin  ange- 
stellt.  Sie  gab  damals  in  Deger- 
loch bei  Stuttgart  die  sozialistische 
Frauenzeitschrift  ,Die  Gleichheit' 
heraus.  Meine  Aufgabe  war;  Die 
Korrespondenzen  aus  den  einzel- 
nen Bezirken  durchzuarbeitenT 
druckfertig  zu  gestalten.  Ich  er- 
innere  mich  genau,  welche  Not  ich 
mit  den  von  Trockenheit  knattern- 
den,  ganz  unmoglichen  Korre- 
spondenzen eines  Berichterstatters 
hatte,  der  heute  Polizeiprasident 
einer  der  grofiten  deutschen 
Stadte  ist.  Ich  hatte  ihm  damals 
allenfalls  die  Karriere  eines  Kon- 
sum-Lagerhalters  prognostiziert. 
So  ist  das  Leben. 

In  freien  Stunden  machte  ich 
mich  mit  Marx  vertraut.  Da  mir 
Gotzerianbetung  nicht  lag,  konnte 
ich  mich  mit  den  Praktiken  der 
damaligen  marxistischen  Partei- 
oberlehrer  nicht  befreunden. 
(Ubrigens  hat  mich  kiirzlich  eine 
Auflerung  Rudolf  Breitscheids  in 
dieser  Zeitschrift  unterrichtet, 
dafi  die  Parteidoktrinare  —  wenn 
es  ihnen  grade  gelegen  ist  — 
heute  genau  noch  so  stramm  am 
Wort  festhalten  konnen  wie  da- 
mals. Das  geschieht  ja  wohl 
„zwangslaufig"  immer  proportio- 
nal der  Nichtbeachtung  des  In- 
halts.  Immer  wieder  hort  man 
Opportunisten  im  selben  Augen- 
blick  pathetisch  auf  den  Gehrock 
des  Propheten  schworen,  da 
dessen  Hirnleistung  eliminieren 
zu  helfen  ihnen  Stolz  und  Vor- 
Jbedingung  zur  Karriere  ist,  Doch 
dies  nur  nebenbei.) 

In  jene  degerlocher  Zeit  fiel 
ein  gewaltiges  Internationales 
Meeting      auf      dem     Cannstatter 


Waasen,  und  diesem  Umstand 
hattc  ich  die  personliche  Bekannt- 
schaft  mit  den  groflen  Unter- 
minierern  der  Zeit  zu  verdankeH. ' 
(Natiirlich  {ernte  ich  sie  kennen, 
nicht  sie  mich,  denn  sie  waren 
Fiihrer,  ich  ein  unbekannter  jun- 
ker Mensch,) 

Eines  Tages  geschah  es,  daB 
bei  Klara  Zetkin  Jean  Jaures, 
der  polnische  Fiihrer  Daszinsky 
(der  heutige  Sejm-Marschall)  und 
MacDonald  beisammen  saBen, 

Von  Jaures  ist  mir  eine  Epi- 
sode in  der  Erinnerung,  Als  er 
zu  einer  Versammlung  im  Freien 
sprach  —  es  war  furchtbar  heifi 
an  diesem  Tage  —  wurde  eine 
Arbeiterin  ohnmachtig.  Jaures  — 
auch  einer,  dem  das  Leben  von  je 
naher  stand  als  die  Doktrin,  wes- 
halb  er  auch  im  An  fang  des 
Krieges  seins  biiBen  muBte  im 
Gegensatz  zu  den  Doktrinaren, 
die  sich  ihrs  auf  Kosten  der 
Menschheit  erhielten  —  also 
Jaures  hielt  mitten  in  seiner 
Rede  inne.  Er  hatte  den  Vorfall 
sofort  bemerkt.  Die  gauze  Inter- 
nationale war  ihm  in  diesem 
Augenblick  nicht  so  wichtig  wie 
die  kranke  Arbeiterin'  vor  ihm. 
Noch  sehe  ich  die  giitige  Be- 
wegung:  Wie  er  seinen  breiten 
bretternen  Strohhut  vom  Kopf  rifl 
und  schutzend  liber  die  Frau 
hielt,  die  dann  bald  wieder  zu 
sich  gebracht  war.  Nun  konnte 
Jaures  weiter  reden.  (Entschuldi- 
gen  Heir  Breitscheid  —  so  war 
Jaures,  ich  kann  nichts  dafur,  bin 
aber  beruhigt,  daB  solche  Form- 
losigkeiten  in  einer  Versammlung 
von  Parteiprominenten  hente 
nicht  mehr  vorkommen  konnten.) 

Aber  zu  MacDonald!  Ich  habe 
den  trommelnden  Klang  seiner 
Stimme  von  damals  heute  noch 
im  Ohr.  UnvergeBlich,  wie  er,  in 
seinen     Rednergesten     schon    be- 


herrscht,  nur  seine  Stimme  wir- 
ken  lieB,  und  sie  wirkte  so,  da& 
eine  junge  Arbeiterin,  die  ich 
kannte,  in  ekstatische  Zustande 
fiel,  wenn  bloB  der  Name  ge- 
nannt  wurde.  Doch  uns  Jtingsten 
auf  dem  Waasen  machte  noch 
mehr  als  MacDonalds  Stimme 
seine  groBe  leuchtend  rote 
Plastronkrawatte  Eindruck,  die- 
den  ganzen  Westenausschnitt 
fiillte.  Man  darf  nicht  vergessen, 
daB  derartiges  damals  noch  als 
Herausforderung  wirkte.  Rote 
Nelken  im  Knopfloch  zu  tragen, 
war  unter  Umstanden  eine  krimi- 
nelle  Angelegenheit.  Kurzum, 
MacDonald  leuchtete  nur  so  in- 
Rot.  Im  ubrigen  sah  er  gut  aus, 
fast  zu  gut.  Die  Frauen  konnten, 
wie  bemerkt,  bei  seinem  Anblick 
alles  Mogliche  erleben.  Auch 
innerhalb  seiner  revolutionaren 
Partei  ist  derartiges  nicht  ohne 
Belang. 

Man  stelle  sich  vor,  wie 
bescheiden  sich  ein  j  unger  Re- 
daktionsgehilfe  am  Ende  eines 
Tisches  zu  verbergen  suchte,  um 
dem  solche  Manner  safien.  Der 
breite  gutmiitige  Jaures  schaufelte 
die  Speisen  unter  heiteren  Ge- 
sprachen  in  die  Bezirke  seines 
viereckigen  Bartes;  auch  der  pol- 
nische Fiihrer  gab  sich  ganz  leger. 
Anders  MacDonald,  der  wie  an 
einer  illustren  Tafel  speiste  und 
sorgsam  achtzugeben  schien,  daB' 
kein  Fettfleck  seine  pompose  rote 
Krawatte  verunziere.  Ich  er- 
innere  mich  deutlich,  daB  ich  un- 
geachtet  meiner  Ehrfurchtshaltung^ 
grade  ^  dieses  Moment  wie  eine- 
historische  Kuriositat  registrierte. 

Niemand  hatte  bei  dem  bemer- 
kenswerten  Essen  einen  froh- 
lichern  Heiterkeitserfolg  erzielen 
konnen  als  der,  dem  etwa  einge- 
fallen  ware,  MacDonald  die 
einstige  ^  Ministerprasidentschaft 
des      englischen      Imperiums     zu 


J£eine  <RJIt. IOO-  Jiusweise-Gebuhrl 
OVine  3)ei>isen  in  die  (fatral 


20  Tage  RM.  190,- 
30  Tage  RM.255,- 

flans  Godal,  L-ubochna. 


mit  Kur  und  Badearzt  55,—  RM.  mehr, 
inbIasire:Reise  bin  n.  znriick, 

erstkl.Verpflegung,Kurtaxe,Bediemiiig. 
Alle  Zimraer  fli  efi.  warm.  u.  kait.  Wasser. 

Auskunft:    Western!   6739. 

193 


prophezeien.  Ich  glaube,  alle 
flatten  sich  geschuttelt  vor 
Lachen.    Ob  auch  er  selbst? 

Sucb  is  life.  Der  tapfere 
Jaures  ist  tot;  die  kuhne  Klara 
Zetkin  ist  auf  dem  weiten  Weg 
iiber  Moskau  und  zuruck  in  Al- 
tersvergessenheit  versunken  und 
MacDonald,  der  schone  Mann  mit 
der  aufreizenden  Stimme,  wurde 
beim  diesmaligen  Besuch  Deutsch- 
lands  nicht  von  der  biedern 
degerlocher  Polizei,  wie  damals, 
miBtrauisch  uberwacht,  sondern 
ganz,  ganz  anders  empfangen. 

Die  Ieuchtcnd  rote  Krawatte 
brachte  er  diesmal  bestimmt  nicht 
mit!  obgleich  ihre  herausfordernde 
Couleur  von  den  Fettflecken  des 
englischen  Imperiums  langst  so 
diskret  umgefarbt  sein  diirfte,  daB 
sie  dieser  Republik  eigentlich 
nicht  unangenehm  ins  Auge 
stechen  konnte, 

Peter  Scher 


Epilog  zur  Bauausstellung 

^jJT  as  wir  brauchen,  ist  die  Woh- 
w  nung  zu  dreiBig,  ftinfzig, 
hundert,  hundertfiinfzig  Mark. 
Keinem  Geschaftsmann  wurde  es 
heute  einfallen,  seine  Waren  ohne 
Preis  ins  Schaufenster  zu  stellen. 
Die  Bauausstellung,  das  groBe, 
halb  offizielle  Unternehmen,  ver- 
zlchtet  darauf;  sie  nennt  keine 
Preise  und  lafit  auch  den  Ge- 
sichtspunkt  des  Preises  bei  alien 
ihren  Darbietungen  auBer  Acht. 
Die  einzige  Ausnahme  bilden  die 
Typen  von  Studenten-Wohnrau- 
men  der  beiden  jungen  Architek- 
ten Heinz  Rau  und  Heinrich  Scha- 
fer,  mit  Schlafdivan,  Arbeits-  und 
Zeichentisch,  Bticherregal,  einge- 
1»autem  Schrank,  eingebauter 
Wasch-  und  Duschnische  und 
selbstverstandlich  Zentralheizung. 
Hier  wurde  zum  Ausgangspunkt 
die  monatliche  Miete  von  dreiBig 
Mark,  mit  Bettwasche,  genommen, 
Man  mag  die  Verantwortung 
fur  die  Durchfuhrbarkeit  die- 
ses Preises  den  Architekten 
tiberlassen  —  die  Tatsache,  daB 
man  vom  Preis  ausging,  ist  lo- 
benswert  genug  und  es  ware  rich- 
tig  gewesen,  wenn  die  fur  die 
Ausstellung   verantwortlich   zeich- 

194 


nenden  Architekten  allesamt 
einen  ahnlichen  Weg  gegangen 
waren.  Ware  es  nicht  besser  ge- 
wesen, wenn  schon  nicht  ftir  die 
gesamte  Ausstellung/  so  zumin- 
dest  fur  den  Teil,  der  sich  mit 
dem  Bauen  in  der  Stadt  beschaf- 
tigt,  zehn  oder  zwanzig  Woh- 
nungstypen  nach  verschiedenen 
Preisen  und  Bediirfnissen  aufzu- 
stellen  (wie  es  seinerzeit  auf 
der  stuttgarter  Ausstellung  ge* 
schehen  ist)  und  deren  Kosten  bis 
aufs  letzte  zu  berechnen,  viel- 
leicht  eine  Subskriptibn  auszu- 
schreiben  und  zu  sagen:  diese 
Wohnung  kostet  soviel;  wenn  sich 
aber  zehntausend  Interessenten 
daftir  finden,  kostet  sie  nur  so- 
viel ... 

Statt  dessen  hat  man  extrava- 
gante  Luxuswohnungen  in  den 
Mittelpunkt  desjenigen  Saals  ge- 
stelit,  dem  die  groBte  padagogi- 
sche  Bedeutung  zukommt,  weil  er 
als  einziger  den  Besucher  nicht 
vor  nichtssagende  Tabellen  oder 
vor  unfertige  und  zusammenhang- 
lose  Waren  stelit  sondern  vor 
wirkliche  Raume  und  Hauser. 
Glaubt  Mies  van  der  Rohe,  den 
wir  bisher  doch  als  einen  bedeu- 
tenden  Architekten  schatzten,  mit 
seinem  ErdgeschoBwohnhaus,  das 
er  unmittelbar  daneben  von  seiner 
Mitarbeiterin  L.  Reich  wieder- 
holen  laBt,  einen  Zukunftstyp  ge- 
schaf fen  zu  haben,  indem  er  an  den 
brennendsten  Fragen  der  Gegen- 
wart  vorubergeht?  Wir  brauchen 
heute  keine  Ausstellung  der  Woh- 
nung des  Menschen,  der  zuviel 
Geld  hat.  Der  reiche  Mann  hat 
sich  von  jeher  seine  Wohnung 
selbst  gebaut,  angepaBt  seinen  in- 
dividuellen  Anforderungen  und 
seinem  personlichen  Geschmack. 
Eine  Ausstellung  aber,  die  zum 
groBten  Teil  aus  offentlichen  Sub- 
ventionen  erbaut  ist,  hat  wichti- 
gere  Aufgaben  zu  losen,  als  dem 
Luxus  verschwindend  kleiner 
Schichten  zu  dienen.  Warum  laBt 
man  hier  die  Gebrtider  Luck- 
hardt  ein  angebliches  Einfa- 
milienhaus  bauen,  dessen  an- 
spruchsvoller,  groBer  Raum  mit 
schwarzen  Lackwanden  und  ver- 
kriippelten  Stahlstuhlen  praktisch 
bestenfalls     fur      einen     kuriosen 


Junggesellen  in  Frage  kommt? 
Was  ist  Walter  Gropius,  der 
noch  vor  wenigen  Jahren  als  Let- 
ter des  Bauhauses  ganz  bestimm- 
te  und  sehr  radikale  Forderun- 
gen  an  dieArchitektur  stellte,  ein- 
gefallen,  als  er  einen  Bibliotheks- 
raum  mit  mehr  dekorativ  als 
praktisch  scheinenden  Tezett- 
Rost-Wanden  und  einer  ebensol- 
chen  Galerie  und  Treppe  aus- 
stattete?  Ob  es  beute  viele 
Sportsleute  gibt,  die  sicb  einen 
sicherlich  nicht  wenig  kostspieli- 
gen  Raum  nacb  dem  Vorbilde 
Marcel  Breuer  leisten  konnen, 
weiB  ich  nicht,  dagegen  bin  ich 
der  festen  Oberzeugung,  daB  es 
heute  keinen  Musiker  mehr  gibt, 
der  sich  die  Wande  seines  Mu- 
sikraums  mit  den  farbigen  Flie- 
sen  nach  den  Entwurfen  Kan- 
dinskys  belegen  Iiefie.  Und  wo- 
zu  das  Wiederkauen  langst  be- 
kannter  „Lebensregeln",  die  durch 
monumentale  und  dekorative  Auf- 
machung  nicht  bemerkenswerter 
werden?  Es  ist  zwar  nicht  zu 
leugnen:  das  auge  braucht  licht 
—  die  nase  braucht  luf t  —  das 
ohr  braucht  ruhe  —  der  korper 
braucht  bewegung  —  aber  derlei 
Dinge  auf  eine  riesige  Wand  zu 
projizieren  und  mit  bizarren 
Bilddarstellungen  auszuschmiik- 
ken,  liegt  kein  Anlafi  vor.  Dem- 
gegemiber  treten  die  wenigenBei- 
spiele  von  Wohnungstypen  in 
den  Hintergrund,  zum  Teil  durch 
ihre  Belanglosigkeit,  noch  mehr 
aber  deshalb,  weil  der  Besucher 
an  ihnen  keinen  MaGstab  fur  die 
Anschaffungsmoglichkeiten  findet 
sondern  bestenfalls  Gelegenheit 
hat,  sich  hier  und  da  auf  einen 
Stahlstuhl  zu  setzen  und  die 
Sitzfahigkeit   zu   priifen, 


Ein  Kapitel  fur  sich  ist  die  Ab- 
teilung  t,Bildende  und  Baukunst". 
Hier  haben  sich  unter  der  Lei- 
tung  von  Bruno  Paul,  der  auf 
sein  Werk  recht  stolz  zu  sein 
scheint,  eine  Anzahl  Ktinstler  im 
Ausschmucken  isoliert  aufgebau- 
ter  Wande  betatigt;  Damit  ist  das 
Gegenteil  von  dem  erreicht,  was 
man  eigentlich  zeigen  wollte, 
namlich  die  Verbindung  von  Bil- 
dender  Kunst  und  Architektur, 
Die  ohne  jede  architektonische 
Beziehung  nackt  nebeneinander 
stehenden  Wandmalereien  bewei- 
sen  nichts  —  man  hatte  sie  doch 
wohl  in  Architekturen  stellen 
miissen.  Aber,  ist  es  denn  tiber- 
haupt  richtig,  heute,  wo  man 
eigentlich  nicht  das  dauerhafte 
sondern  das  bewegliche  Heim  be- 
vorzugt,  in  so  aufdringlicher 
Weise  eine  Technik  zu  propagie- 
ren,  die  ganz  unzeitgemaB  ist ; 
denn  fiir  die  moderne  Wohnung 
scheint  das  bewegliche  Bild  doch 
den  einzig  brauchbaren  Typ  des 
Wandschmuckes   abzugeben! 

Nur  in  einer  einzigen-  Abteilung 
der  grofien  Ausstellung  scheinen 
die  Besucher  wirklich  auf  ihre 
Rechnung  zu  kommen,  in  der 
theoretischen,  wo  man  sich  tage- 
lang  wirklich  Wissenswertes,  ne- 
ben  vielem  Unnotigen,  vorfuhren 
lassen  kann.  Sehr  auf  fall  end  ist 
die  Willkiir  vieler  Statistiken, 
wie  zum  Beispiel  derjenigen,  die 
besagt,  daB  man  sich  bei  einem 
Monatseinkommen  von  225  Mark 
und  einer  monatlichen  Ausgabe 
von  45  Mark  fur  die  Wohnung 
vier  Zimmer  mit  Nebenraumen 
leisten  konne! 

Die  Bauausstellung  hatte  eine 
grofie  padagogische  Aufgabe  ge- 
habt.    Es  ist  fast  erschreckend  zu 


warum  ¥€rsagte  der  Zeppelinfunh 
im  ArMisgcMrt? 

Weil  die  Radlowellen  Lebewesen  slnd,    die   in 

dieserZone  nicht  gedelhen.  Slehe„Lebenstiefenlt 

von  Hermann  Eilfeld 

Freis  geb.  5  Mark 

Westdeulsche  verloasdracherel  A.-O.,  DQsseklorf 

195 


sehen,  wieviele  Menschen  taglich 
dorthin  kamen,  urn  sich  beleh- 
ren  zu  lassen,  und  wie  sie  kopf- 
schtittelnd  herumirrten.  1st  wirk- 
lich,  wie  wir  immer  geglaubt  ha- 
ben,  die  Architektur  die  ftihrende 
Kunst  unsrer  Zeit?  Und  wo  ist 
die  Werktreue  und  Sachlichkeit, 
von  der  wir  so  schones  in  den 
Biichern   lesen? 

Ferdinand   Eckhardt 

Notverordnung  als  Preis- 
aussctirelben 

T  T  ber  Lavals  letzte  Worte  an 
*-^  Bruning  berichtet  anlafilich 
der  Riickkehr  Briinings  aus  Lon- 
don die  ,B*Z.  am  Mittag*  vom 
25.   Juli  folgendes: 

Lavals  letztes  Wort  vor  dem 
Abschied  von  Bruning  war  die 
erneute  Yersicherung,  daB  er 
alles  zu  tun  bereit  sei,  um 
eine  ,tfruchtbare  und  praktische 
Zusammenarbeit  besonders  auf 
wirtschaf  tlichem  und  f  inanzi- 
ellem    Gebiet   zu   starken/' 

,,Wenn  Sie  irgendeine  Idee 
haben/'  sagte,  er  wortlich  zu 
Bruning,  „z6gern  Sie  nicht,  sie 
mir  so  fort  mitzuteilen.  Ich 
meinerseits  werde  das  gleiche 
tun." 

Wie  wir  hdren,  stellt  sich  die 
Reichsregierung  auf  den  Stand- 
punkt,  daB  auf  Grund  der  Wei- 
marer  Verfassung  (vgl,  ,tdie 
Gleicbheit  alter  Deutschen")  nicht 
nur  die  Reichsregierung,  sondcrn 
feder  Deutsche,  der  an  der  Kon- 
1  solidierung  der  Verhaltnisse  in- 
teressiert  ist,  eine  Idee  zu  haben 
vcrpflichtet  sei.  Sie  plant  darum 
eine     neue     Notverordnung,    aber 


diesmal  erfreulicherweise  in  Form 
eines    Preisausschreihens. 

Das  Preisausschreiben  soil  lau- 
ten:  „Wer  hat  eine  Idee  und  wie 
rettet  man  mit  solcher  am 
schnellsten  unser  deutsches  Va- 
terland?"  Durch  die  Not  verord- 
net  wird:  „Jeder  Deutsche,  der 
das  einundzwanzigste  Lebensjahr 
erreicht  und  in  den  Grenzen  des 
erlaubt  Republikanischen  zu  den- 
ken  gelernt  hat,  ist  verpflichtet, 
an  diesem  Preisausschreiben  teil- 
zunehmen." 

Um  auch  denen,  welche  uber 
die  Grenzen  des  erlaubt  Republi- 
kanischen hinaus  denken,  Ge* 
legenheit  zu  geben,  in  diese 
Grenzen  zuruckzukehren,  werden 
Preise  verteilt,  welche  mit  gro- 
8en  politischen  Erleichterungen 
verbunden  sind. 

Wie  man  hort,   ist   der 

1.  Preis;  eine  vollig  kostenlose 
dreitagige  Reise  nach  Paris 
zwecks  Vorstellung  bei  Laval. 
Die  lOO-Mk.-Ausreisebufie  ent- 
fallt. 

2.  Preis:  vollig  kostenloses  Drei- 
tminuten-Telephongesprach  mit 
Laval  zwecks  Austauschs  von 
Gedanken.  Der  Zoll  fur  Ge- 
danken  entfallt. 

3.  Preis:  personliches  Gesprach 
mit  Bruning.  Eine  politische 
Erleichterung  kann  hier  nicht 
gewahrt    werden. 

AuBerdem  997  Trostpreise:  In- 
haber  dieser  sind  herechtigt,  von 
den  Sparkassen,  solange  die 
Bankfeiertage  Geltung  haben. 
Summen  in  unbeschrankter  Hohe 
abzuheben.  Uber  die  Verschie- 
hung  dieses  Kapitals  nach  dem 
Ausland   sind  entgegen   der  Not- 


1/JFLTBVHHEMESEn 

J^   W^  begeisternsich  ebenso  leidenschaftlich  fOr  ihre 

f  Abdulla-Cigarette.wiefOrjedeNummerihrerZeitschrift 

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als  Lebenskameradin  —  von  nord. 
Blut  u.  Charakter;  rechtwinklig 
an  Leib  und  Seele,  von  gesund., 
naturl.  Empfinden,  mit  Schneid, 
Freiheitsdrang,  Weibesstolz, 

Opfersinn  u.  Sangesfreude,  mit 
heiBer  Hingabe  zu  Volk  u.  Sippe, 
Heimat  u.  Herd,  zu  Natur,  Sonne 
u.  Leibesubg.;  ein  echt  weibl.  u, 
ebenmaB.,  gerades,  vollk,  gesun- 
des  u.  wetter  festes,  unbed.  wahres 
u.  ehrL,  furchtloses  und  treues 
Madchen  m.  stark,  Lebensbejahg. 
u.  d.  siegh.  Willen  zu  einem 
neuen  schoneren  Leben,  mit  Lust 
u.  Eignung  z.  Landwirtschaft  soil 
es  sein  (volk.  Bauerntochter  u. 
aus  der  Artamanen-  od.  sonst 
volk.  Erneuerungs-Bewgg.),  ein 
Madchen,  das  Bestimmung  in  ein. 
artgem.  Leben  auf  eign.  Scholle 
in  Natur  u.  Sonne,  als  Weib  u. 
Mutter,  Bauerin  u.  Mitkampferin 
in  uns.  volk.  Kampf  sieht  —  an 
der  Seite  eines  geraden,  gesunden, 
natur-  u.  sportl.  bauerl.  deut- 
schen  Mannes.  —  Ich  bin  Anf. 
30,  170  Zentimeter  groB,  Bauern- 
sohn,  Krgsfw.,  Res.-Offz.  (StoB- 
trupp-  u.  Flugzeugf.),  z.  Z.  Schul- 
mstr.,  u.  will  wieder  Bauer  wer- 
den.  . —  Vermogen  nicht  Bedin- 
gung,  aber  Oesundheit  an  Leib  u. 
Seele.  Tanz-  u.  Modepuppen  aus- 
geschlossen!  —  Fur  uneigenn^ 
Vermittlg.  von  Gesinnungsfr.  ware 
ich  dankbar!  —  Frdl.  Zuschr.  m. 


Bild  unter  „Deutscher  Bauer" 
a.  d.  Vlg. 

tDie  Kommenderi 

Verweye  doch,  du  bist  so  schdn 

In  den  „Munchner  Neuaten  Nachrichten" 
schreibt  der  bonner  Prof.  J-  M.  Verwcyen : 

JV4an  braucht  nur  zu  sagen,  dafi 
1V1  bis  in  den  letzten  Winkel 
des  Raumes,  in  dem  sich  der  Ho- 
rende  befindet,  die  drahtlos  ge- 
sandten  Wellen  fernster  Orte  sich 
zusammenfinden,  und  zwar  — 
diese  Feststellung  riihrt  schon  an 
schwierigste  physikalische  Pro- 
bleme  —  finden  sie  sich  in  einem 
Punkte  zusammen,  an  dem  sie  mit 
entsprechenden  Aufnahmeappa- 
raten  von  menschlichen  Ohren 
vernommen  werden  konnen.  So 
wird  also  schon  physikalisch  das 
Dort  zum  Hier,  so  daB  man  etwa 
sagen  kann:  an  diesem  Punkte 
des  Raumes  ist  die  Welle  Wien 
wie  Berlin,  London  wie  Paris,  ja 
im  Prinzip  jede  Stelle  der  ganzen 
Welt , , .  Solches  bedenken  heiBt, 
den  Blick  fur  die  Metaphysik  des 
Radios  scharfen,  es  heiBt  er- 
kennen,  daB  alte  metaphysische 
Ideen  wie  die  der  gottlichen  All- 
wissenheit  und  Allgegenwart 
durch  die  Radiotechnik  eine  fur 
begrenzte  menschliche  Auffas- 
sungsweise  sehr  lehrreiche  Veran- 
schaulichung   finden. 

Was  ware  wenn  .  .  . 

Wenn  Deutschland  Sieger  blieben  war 
im  Streite,  — 
!Ich  sag'  es,  obs  auch  vielen  nicht  gefalle  J)— 
n  Waffen  starrte  es ;    die  Volker  alle, 
Sie  trugen  allzu  schwer  am  Eisenkleide,  — 

Dem  Deutschen  ziemts,  furs  Vaterland  zu 

gliihen 

Und   auch  vorm   Schwerte  nicht  zurtick- 

zubeben, 

Einherzugehn  mit  mannlichen  Gebarden  I  — 

,Der  Reichsbote'  Nr.'177 


Hinweise  der  Redaktion 

Rundfunk 

Dienata;.  Hamburg  17.15:  KontinentalpoHtik  seit  funf  Jahrhunderten,  Felix  Stcissinger. 
Langenberg  20.00:  Griechisches  Weekend,  Leo  Matthias.  —  Munchen  20.50:  Hans 
Schweikart  liest  zwei  Geschichten  von  Alexander  Lernet-Holenia.  —  Leipzig  21.10: 
Otto  Bernstein  liest  aus  Arnold  Zweigs  Knaben  und  Manner.  —  Mittwoch.  Leipzig 
18.20:  Arbeitslosenschicksale  von  Bruno  Nelissen  Haken.  —  Langenberg  18.40:  Von 
der  Eigenart  der  Weltarbeitslosigkeit,  Fritz  Sternberg.  —  Konigswusterhausen  19.20: 
Literarische  Gaststatten,  Erich  Miihsam.—  Donnerstag-.  Berlin  17.45:  Gerhart  Pohl 
liest  eigne  Dichtungen.  —  Konigsberg  20.00:  Leonie  Pepler  liest  aus  Leonhard 
Franks  Der  Mensch  ist  gut.  —  Freita?.  Frankfurt  18.40:  Die  Dichter  arbeiten  an 
der  Zeitgeschichte,  Hermann  Kesser  und  Paul  Laven.  —  Munchen  21.50:  Stunde 
des  Buhnenkunstlers,  Frida  Richard.  —  Sonnabend.  Leipzig  18.35:  Zwei  Kurz- 
geschtchten  von  Alfred  Prugel.  —  Berlin  19.30:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Otto 
Rombach. 

197 


Antworten 


Kampfkomitee  fur  die  Freiheit  des  Schrifttums.  Ihr  ubermittelt 
uns  den  nachfolgenden  Aufruf:  Die  Freiheit  von  Wort  und  Schrift 
hat  in  Deutschland  aufgehort  zu  bestehen!  Der  Schriftsteller  soil  ver- 
hindert  werden,  seine  Meinung  frei  zu  auBern  und  Regierungsmafi- 
nahmen  nach  seiner  Uberzeugung  zu  kritisierenl  Die  Regierung  han- 
delt  dabei  nach  den  Wtinschen  und  Befehlen  der  groBkapitalistischen 
Interessenten  und  der  kirchlichen  Kulturfeinde.  Das  sogenannte  Re- 
publikschutzgesetz  hat  Hunderte  von  linksgerichteten  Schriftstellern 
wegen  literarischen  „Hochverrats"  ins  Zuchthaus,  Gefangnis  und  auf 
Festung  gebracht.  Die  Notverordnung  vom  28.  Marz  1931  schuf  wei- 
tere,  der  verwegensten  Auslegung  zugangliche  Unterdriickungsmoglich- 
keiten.  Die  Pressenotverordnung-  vom  Juli  endlich  laBt  die  Vorschrift 
fallen,  Verbote  durch  Tatsachen  zu  begriinden,  und  bestellt  durch  Ein- 
fiihrung  des  MErmessens"  die  Polizeiwillkiir  zum  obersten  Zensor.  Po- 
litisch  unbequeme  Zeitungsverlage  sollen  materiell  ruiniert  und  die 
Schriftsteller  und  Redakteure  entweder  zu  Gesinnungslumpen  oder 
brotlos  gemacht  werden.  Vor  allem  aber  soil  jeder  Kampf  der  werk- 
tatigen  Massen  gegen  die  Diktatur  der  Notverordnungspolitik  gewalt- 
sam  unterdrtickt  werden.  Den  Beweis  erhielten  zahlreiche  Schrift- 
steller Berlins,  als  sie  am  29.  Juli  in  einer  Versammlung  gegen  die 
Notverordnungen  protestieren  wo  1  Hen:  Die  Polizei  verhinderte  unter 
Andrphung  von  Gewalt  die  Kundgebung.  Wir  fiihlen  uns  verpflichtet, 
zu  unerbittlichem  Kampf  gegen  jede  Art  von  Unterdrtickung  der  freien 
Meinungsaufierung  aufzuruf en,  Als  Journalisten,  Schriftsteller,  Dich- 
ter,  wenden  wir  uns  an  alle  Gleichgesinnten  im  Lande  ohne  Unter- 
schied  der  Parteirichtung  und  fordern  sie  auf,  sich  unsrem  Kampf- 
aufruf  in  aller  (Mfentlichkeit  anzuschliefien,  ,  An  die  Presse  richten 
wir  die  Aufforderungt  durch  Abdruck  dieses  Aufrufs  unsern  Kampf 
zu  unterstiitzen.  Kampfkomitee  fur  die  Freiheit  des  Schrifttums,  Der 
ArbeitsausschuB:  Carl  Baade,  Dr.  Edith  Bone,  Julian  Borchardt, 
Bernard  von  Brentano,  Dr.  Andor  Gabor,  Professor  Alfons 
Goldschmidt,  Dr.  Kurt  Hiller,  Dr.  Erich  Kastner,  Walther  Karsch, 
Dr.  Johannes  Karl  Koenig,  Alfred  Kurella,  Berta  Lask,  Dr.  Kate  Mar- 
cus, Peter  Maslowski,  Erich  Muhsam,  Friedrich  Natteroth,  Ludwig 
Renn,  Recha  Rothschild,  Dr-  Artur  Samter,  Anna  Seghers,  Vorlaufige 
Adresse,  an  die  Zustimmungserklarungen  erbeten  werden:  Walther 
Karsch,   Berlin-Neukolln,  Bohmische  StraBe   16,  3  Treppen. 

Rundfunkhorer,  Wir  werden  im  nachsten  Heft  auf  die  in  der 
heutigen  Nummer  veroffentlichte  Entgegnung  des  Rundfunk-Intendan- 
ten  Hans  Flesch  zuruckkommen,  und  ebenso  auf  einen  Brief,  den  der 
Rundfunksanger  Leo  Monosson  in  dieser  Angelegenheit  an  uns  ge- 
richtet  hat, 

Wilhelm  IL(  Doom,  Wieviel  hat  man  Ihnen  an  Ihren  Beziigen  ge- 
sperrt? 

Reichskanzler  a.  D.  Cuno.  Und  Ihnen  — -? 
General  Ludendorff.  Und  Ihnen  — ? 
Reichswehr-Etat.  Und  Dir  —  ? 

Manuskriple    und   dux    an   die    Redaktion   der  Woltb5hne,   Chariottenburg,    Kantstr.    152,  ku 
richten;   ea  wird  gebeten.  ihnen  Ruckporto  beizulegea,  da  tout  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 


Das  Auff  uhrangsrecht,  die  Verwertong  Ton  Tlteln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  maslk- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rafamen  you  Radlovortrlgen 
bleiben  fOr  alle  in  der  Weltbuhno  erscheinenden  Beitrage  ausdracklich  Torbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oasietzky 
unter  Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  geieitct.  —  Veranrwortlich :    Carl  ▼.  Oasietzky.    Berlin; 

VerUg  der  Weltbuhne,  Siegfried   facobsohn  &  Co,  Charlottenbury. 

Telephon:    C  I,  Steinplatz  7757    -  Postscheckkonto:  Berlin  119  58. 
Banlckonto:     DarmsUdtar    a.    Nationalbank.       Deposilenkaase    Charlottenbury.     Kantsb.    112 


XXVn.  Jafirgaig  1 1.  Aognst  1931  Hammer  32 

VolksentSCfieid  von  Carl  v.  Ossietzky 

7  wei  Drittcl  aller  preuBisphen  Staatsbiirger  begegnen  sich 
in  dem  Wtmsch,  etwas  zui  unterlassen.  Das  ist  der  diirre  Sinn 
dcr  Ablehnung  dieses  Volksentscheids.  Wie  ware  das  Resultat 
gewesen,  wenn  die  Regierung  Braun  mehr  gefordert  hatte  als 
ein  Bleibenlassen,  als  eine  Unterlassungstugend?  Die  Herren 
Hugenberg  und  Seldte  sind  doch  sonst  keine  so  langstrahnigen 
Theoretiker,  sondern  intime  Kenner  der  deutschen  Volksseele. 
Hatte  das  Begehren  schlankweg  gelautet:  Die  preuBische 
Staatsregierung  ist  unverziiglich  aufzuhangen!  —  es  hatten  sich 
zwanzig  Millionen  eingeschrieben.  Wer  intercssiert  sich  denn 
bei  uns  fiir  formale  Demokratie? 

Schon  die  bruchweisen  Resultate,  die  jetzt,  Montag  Nacht, 
vorliegen,  zeigen  das  Steckenbleiben  des  Volksentscheids.  In  den 
meisten  Wahlkreisen  sind  nicht  mehr  als  einige  dreifiig  Prozent 
erreicht  worden,  nur  die  pommersche  Vendee  kommt,  wie 
nicht  and'ers  zu  erwarten  war,  iiber  ftinfzig  Prozent  hinaus. 
Es  ist  den  Rechtsparteien  nebst  Dingeldey  nicht  gelungen,  einen 
zweiten  14*  September  in  Szene  zu  setzen.  Die  Wahler  sind 
miide  geworden  und  glauben  nicht  mehr  an  die  Heilkraft  par- 
lamentarisch-legaler  Mittel,  am  allerwenigsten,  daB  durch  ein 
innenpolitisches  Partialunternehmen  viel  gebessert  werden 
konnte.  Das  Ergebnis  ist  kein  Vertrauensvotum  fiir  die  preu- 
Bische    Regierung,    sondern    ein  Zeugnis    wachsender  Passivitat, 

Auf  beiden  Seiten^  ist  die  Bedeutung  dieser  Abstimmung 
erheblich  iiberschatzt  worden.  Der  preuBische  Landtag  wird 
sowieso  im  nachsten  Friihjahr  neu  gewahlt  werden.  Seine  Zu- 
sammensetzung  wird  in  jedem  Fall  eine  ganz  andre  werden,  da 
die  meisten  biirgerlichen  Parteien,  die  im  Landtag  noch  in" 
alter  Starke  sitzen,  im  Reiche  inzwischen  zusammengebrochen 
sind.  Der  Ausgang  des  Volksentscheids  besagt  gar  nichts  iiber 
das  kiinftige  Krafteverhaltnis;  es  liegt  auch  noch  ein  Winter 
wachsender  Arbeitslosigkeit  und  neuer  Verelendung  zwischen 
heute  und  dem  Wahltermin.  Namentlich  das  allzu  erregte 
Ausland  irrt,  wenn  es  von  einem  Entscheidungskampf  zwischen 
Demokratie  und  Reaktion  spricht.  Die  Demokratie  hat  ihre 
Marneschlacht  schon  hinter  sich  und  ist  in  einen  Stellungs- 
krieg  gedrangt  worden,  iiber  dessen  Ausgang  sich  kein  Kenner 
Deutschlands  im  unklaren  sein  sollte.  ,  Den  Block  Briining- 
Braun,  von  dem  schlecht  unterrichtete  auslandische  Presse- 
vertreter  in  Berlin  phantasieren,  gibt  es  nicht.  Es  gibt  einen 
Block  Hindenburg-Bruning-Reichswehr,  das  ist  die  machtpoli- 
tische  Grundlage  der  gegenwartigen  Diktaturwirtschaft.  Die 
Legende,  daB  Briining  und  Braun,  ein  katholischer  und  ein  so- 
zialistischer  Demokrat,  das  deuische  Weltgebaude  gemeinsam 
auf  starken  Schultern  tragen,  ist  ein  frommer  Irrtum,  der  dem 
Reichskanzler  indessen  zurzeit  aus  auBenpolitischen  Griinden 
zustatten  kommt,  weil  er  ihm  in  London  und  Paris  eine  libe- 
rals Aura  sichert.  In  Wahrheit  wird  die  Regierung  Otto  Braun 
in  PreuBen  nur  durch  die  bedingungslose  Kapitulation  der  So- 

1  199 


ziatcUmokratie  im  Reiche  erkauft.  Die  friiher  sehr  tatige  preii- 
Bische  Koalitionsregierung  besitzt  heutc  auch  nicht  mehr  den 
Schatten  ihrer  einstigen  Autoritat  und  Selbstandigkeit  Die 
ahnungslosen  Toren,  die  noch  immer  an  das  Biindnis 
zwischen  Reichsregierung  und  PreuBenregierung  glauben,  wur- 
deft  rauh  aus  ihren  Traumen  gerissen,  als  unmittelbar  vor  der 
Volksabstimmung  vom  Reichsprasidenten-Palais  aus  versucht 
wurde,  Herrn  Otto  Braun  wegen  der  Zwangsveroffentlichung 
der  allerdings  unsagbar  schlechten  preuBischen  Regierungs- 
proklamation  ein  Bein  zu  stellen.  Dieser  Zwischenfall  zeigt 
allzu  deutlich,  daB  die  engern  Berater  des  Reichsprasidenten 
mit  den  sozialdemokratischen  Ministern  in  PreuBen  schon  jetzt 
gern  reinen  Tisch  gemacht  hatten,  ohne  viel  nach  der  AuBen- 
wirkung  zu  fragen.  ,,Mich  wird  man  nicht  an  der  Wahlurne 
sehen,"  sagte  Herr  Briining  in  seiner  Rundfunkrede.  Dafiir 
hat.  man  aber  Herrn   Schiele   gesehen,   Hindenburgs  Ziehkind. 

Es  mutet  etwas  komisch  an,  wenn  das  Hugenbergsche 
Montagsblatt  in  der  ersten  Bestiirzung  iiber  die  kargen  Ziffern 
den  Kommunisten  die  Schuld  in  die  Schuhe  schiebt.  Erwagt 
Hugenberg  etwa  eine  Schadenersatzklage  gegen  Thalmann? 
Ein  festes  Abkommen  bestand  doch  nicht.  Die  Kommunisten 
hatten  doch  ihren  Kampf  auf  eigne  Faust  und  unter  eigner 
Parole  gefiihrt.  Es  1st  Heuchelei  und  Unsinn  obendrein,  wenn 
die  Sozialdemokraten  behaupten,  die  KPD  habe  als  Verbiin- 
dete  der  Rechten  mitgewirkt  Einig  waren  die  Parteien  des 
Volksentscheids  nur  in  der  Forderung  nach  Neuwahlen,  sonst 
lag  weder  in  Programm  noch  Ziel  eine  Gemeinsamkeit  vor- 
Die  Sozialdemokratie  ist  am  wenigsten  legitimiert,  solche  An- 
klagen  zu  erheben,  nachdem  sie  seit  1914  mit  jeder  Reaktion 
durch  Dick  und  Dunn  gegangen  ist.  Erst  bei  der  Beratung 
des  letzten  Reichswehretats  hat  ihr  Redner  Schopflin  das  pro- 
vozierende  Wort  gebraucht:  t,Lieber  mit  Groner  als  mit  den 
Kommunisten!"  was  auch  nicht  grade  von  proletarischer  Soli- 
daritat  durchtrankt  ist.  Der  Abgeordnete  Miinzenberg  ist 
durchaus  im  Recht,  wenn  er  in  einem  seiner  Blatter  schreibt: 
„.  .  *  es  gibt  keine  Partei  in  Deutschland,  die  soviel  ihrer  besten 
Kampfer,  Funktionare  und  Mitglieder  im  Kampfe  gegen  den 
Fascismus  verloren  hat  wie  die  KPD.'*  Leider  unternimmt  es 
der  rote  Zeitungslord  in  diesem  Artikel,  die  Stellungder  ,Welt- 
biihne1  zu  den  Kommunisten  in  der  Frage  des  Volksentscheids 
in  riidester  Weise  zu  verfalschen,  sehr  im  Gegensatz  zu  seinem 
eignen  Zentralorgan,   das  unsre  Meinung  richtig  ausgelegt   hat. 

Trotzdem  sollte  die  Tatsache,  daB  unzahlige  kommunisti- 
schen  Wahler  ferngeblieben  sind,  der  Zentrale  ernsthaft  zu 
denken  geben.  Die  Partei  hat  im  letzten  Jahr  allzu  viel 
experimentiert,  allzu  viel  abwegige  Versuche  gemacht,  die 
Abgesplitterten  von  rechts  aufzufangen.  Dariiber  hat  sie  die 
Massen  vergessen,  die  ihr  von  Links  zustromen  konnen.  Es 
wird  fur  die  KPt)  Zeit,  aus  den  Illusionen  einer  Selbstzweck 
gewordenen  Propaganda,  aus  den  abgriindigen  Bezirken  des 
skrupellosen  Seelenfangs  in  di-e  wirklichen  Sachwerte  zuriick- 
zukehren.  Die  deutsche  Arbeiterschaft  ist  fur  Militarisms 
und  Nationalismus  nicht  einzuspannen.  -  Das  hat  sich  auch  hier 
wieder  spontan  gezeigt. 
200 


Die  Regierungspresse  ist  schon  daran,  uns  zu  belehren, 
daB  dieser  Volksentscheid  in  erster  Linic  als  ein  Votum  fur  die 
Politik  Brunings  aufzufassen  sei,  als  ihre  Rechtfertigung  nicht 
durch  das  Parlament,  das  ja  nach  Hausc  geschickt  ist,  sondern 
durch  das  unendlich  groBere  Forum  des  Plebiscite.  So  hatten  also 
die  sozialdemokratischen  Arbeiter  die  Notverordnungen,  den 
Lohnabbau,  dieReduzierung  derSozialpolitik  legalisieren  wollen? 
Das  wird  doch  nur  ein  gottverlassener  Narr  behaupten  wollen/ 
Und  Herr  Severing  ist  auch  kein  solcher  Volksheld  mehr,  als 
daB  seine  von  der  Polizei  verpriigelten  Untertanen  ihm  damit 
seine  selbstgeflochtenen  Lorbeerkranze  hatten  bestatigen 
wollen.  Nein,  dieser  9.  August  hat  keinen  Sieg  ge- 
bracht,  dazu  ist  das  Ergebnis  zu  zweischneidig,  die 
Wirkung  zu  zwitterhaft.  Mogen  die,  die  nicht  alle  wer- 
den,  Fahnen  heraushangen  und  Freudenfeuer  abbrennen. 
Was  gibt  es  da  viel  zu  heroisieren?  Dieser  Sieg  der  De- 
mokratie  ist  nur  moglich  geworden,  weil  die  preuBische  Re- 
gierung.  das  Zuhausebleiben  als  hochste  staatsbxirgerliche  Pflicht 
proklamierte.  Wlas  ware  aber  geworden,  wenn  sie  selbst  von 
ihren  Leuten  Aktivitat  gefordert  hatte?    Was?  frage  ich. 


Bruch  in  der  nationalen  Front  von  k.  l.  Gerstortt 

p\  er  deutsche  Kapitalismus  ist  als  Imperialismus  spater  in 
die  Weltgeschichte  eingetreten  als  der  englische  und 
franzosische  Kapitalismus.  Er  fand  die  Welt  bereits  verteilt 
vor.  Das  MiBverhaltnis  zv/ischen  der  Entwicklung  der  deut- 
schen  Industrie  und  den  mangelnden  imperialistischen  Expan- 
sionsmoglichkeiten  ist  einer  von  den  entscheidenden  Griinden 
gewesen,  die  zum  Weltkrieg  gefiihrt  haben.  Nach  1917  hat 
sich  die  deutsche  Industrie  in  weit  schnellerm  Tempo  ent- 
wickelt  als  die  Industrie  der  europaischen  Konkurrenz- 
staaten.  Die  Moglichkeiten  einer  imperialistischen  Expan- 
sion sind  aber  noch  weit  ungiinstiger  als  fruher.  Dieser 
Widerspruch  durchzieht  die  gesamte  deutsche  AuBenpolitik 
der  Nachkriegszeit,  vor  allem  die  Politik  der  Regierung 
Briining,  Als  die  Soziaidemokratie  seinerzeit  aus  der  Regie- 
rung  ausschied,  als  mit  Briining  auch  Treviranus  und  Schiele 
eintraten,  hielt  man.  die  Zeit  fur  gekommen,  um  eine  aktive 
imperialistische  AuBenpolitik  zu  treiben.  Panzerkreuzer  und 
osterreichische  \ZoHunion  sind  die  deuilichsten  Symptome. 
Man  versuchte  dies  in  einem  Zeitpunkt,  wo  die  Internationale 
Krise  sich  weiter  verscharfte  und  wo  immer  deutlicher  wurde, 
daB  der  deutsche  Kapitalismus  in  der  Krise  das  schwachste 
Glied  der  Kette  sei,  in  dem  daher  jede  zusatzliche  Belastung 
leicht  zu  einer  Katastrophe  fiihren  konnte.  Die  Folgen  haben 
wir  in  den  letzten  Wochen  geniigend  zu  spiiren  bekommen. 
Es  ist  an  dieser  Stelle  der  Nachweis  gebracht  worden,  daB  die 
Reparationszahlungen  zwischen  Dawes-  und  Youngplan  nicht 
durch  Exportiiberschusse  aufgebracht  wurden,  sondern  da- 
durch,  daB  man  sich  das  Doppelte  dessen  borgte,  was  roan 
zahlte.  Acht  bis  zehn  Milliarden  kurzfristiger  Gelder  sind  vom 
Ausland  in  Deutschland  angelegt  worden,  und  heute,  nach  den 

201 


starken  Abziigen  durch  die  auslandischen  Glaubiger,  diirften 
die  kurzfristig  angelegten  Betrage  noch  Hinf  Milliarden  iiber- 
steigen.  An  diesem  Betrag  ist  Frankreich  nur  mit  einem  klei- 
nen  Prozentsatz  beteiligt;  aber  die  internationale  Verflech- 
tung  der  Kapitalmarkte  macht  die  franzosische  Position 
Deutschland  gegemiber  starker,  als  es  diesem  geringen  Pro- 
zentsatz entspricht.  Der  franzosische  Kapitalismus  hatte  in 
den  letzten  Jahren  eine  starke  Aktivitat  in  seiner  Zahlungs- 
bilanz.  Im  Gegensatz  zum  englischen  und  amerikanischen 
Kapitalismus  hat  er  diese  Aktivitat  nicht  zu  langfristigen  Ka- 
pitalexporten  ins  Ausland  benutzt  Der  langfristige  Kapital- 
export  spielte  in  diesen  Jahren  in  Frankreich  nur  eine  geringe 
Rolle.  Sondern  er  hat  auf  der  einen  Seite  die  Goldbestande 
der  Bank  von  Frankreich  vermehrt,  die  heute  mehr  als  dop- 
pelt  so  groB  sind  wie  die  Goldbestande  der  Bank  von  England 
und  der  Reichsbank —  er  hat  auf  der  andern  Seite  Milliarden 
kurzfristig  im  Ausland  angelegt,  einen  bescheideneh  Prozent- 
satz in  Deutschland,  einen  sehr  erheblichen  in  England,  Ein 
auBerordentlich  schnelles  Tempo  der  franzosischen  Geldabziige 
in  England  wurde  die  City  in  Kalamitaten  bringen,  oder  sie 
zwingen,  die  in  Deutschland  angelegten  Gelder  abzurufen. 

Die  franzosischen  finanziellen  Druckmittel  sind  also  sehr 
bedeutend.  Als  die  deutsche  finanzielle  Lage  sich  trotz  der 
Hoover-Botschaft  stark  verschlechterte  und  der  Rtm  der  aus- 
wartigen  Glaubiger  einsetzte,  wurde  von  amerikanischer  und 
englischer  Seite  ohne  jede  Verschnorkelung  erklart,  daB  lang- 
fristige Kredite  nur  nach  einer  Verstandigung  mit  Frankreich 
zu  haben  seien, 

In  diesem  Punkt  hat  sich  die  Situation  bisher  nicht  ge- 
andert.  Beweis  gibt  die  letzte  Rundfunkrede  Briinings, 
die  dadurch  besonders  charakteristisch  ist,  daB  er  sich:  alle 
Moglichkeiten  offen  laBt,  Briining  sagte  liber  die  letzten  Kon- 
ferenzergebnisse  bei  aller  vorsichtigen  diplomatischen  Forrnu- 
lierung,  daB  nichts  erreicht  ist:  ,,Eine  durchgreifende  Finanz- 
hilfe  grofien  Stils  —  ich  trage  keine  Bedenken,  dieses  festzu- 
stellen  —  ist  damit  einstweilen  nicht  erreicht."  Er  betont 
weiter,  daB  die  politischen  Voraussetzungen  fur  eine  Anleihe 
nicht  gegeben  seien?  MIch  stelle  erneut  fest,  daB  eine  groBe 
Auslandsanleihe  augenblicklich  und  fiir  geraume  Zeit  aufier- 
halb  der  realpolitischen  Moglichkeiten  liegt,  insbesondere  in 
der  Tatsache,  daB  zu  einer  solchen  Anleihe  die  Garantie  meh- 
rerer  groBer  Lander  verlangt  wird,  deren  Zusage  teils  aus 
staatsrechtlichen,  teils  aus  finanztechnischen  Griinden  zur  Zeit 
ausgeschlossen  ist/' 

Briining  will  sich  aber  mit  diesen  letzten  Satzen  durchaus 
nicht  etwa  auf  irgend  eine  Autarkie  f estlegen,  er  betont  im 
Gegenteil:  ,,Es  ist  ausgeschlossen,  daB  wir  Deutschland  mit 
einer  chinesischen  Mauer  umgeben  konnen,  innerhalb  deren 
das  deutsche  Volk  unter  Befriedigung  seiner  eignen  Bediirf- 
nisse  ausschlieBlich  eignem  Handel  und  Wandel  nachgehen 
konnte.  Die  deutsche  Wirtschaft  ist  und  bleibt  auf  enge  han- 
delspolitische  Zusammenarbeit  mit  dem  Auslande  anjje- 
wiesen." 

202 


Also:  heute  kcine  Auslandsanleihen,  aber  auch  keinen 
Versuch,  die  Bindungen  des  deuitschen  Kapitalismus  mit  dem 
Weltkapitalismus,  die  Bindungen  des  deutschen  AuBenhandels 
mit  dem  WeltauBenhandel  zu  lockern.  Und  spater?  Dariiber 
sagt  Briining:  „Eine  groBe  auslandische  Finanzhilfe  ist,  wie  ich 
schon  sagte,  im  Augenblick  auBerhalb  des  Bereichs  der  Mog- 
lichkeit.  Was  . fur  die  Stunde  gilt,  braucht  aber  nicht  Hir  die 
Dauer  zu  gelten." 

Die  Moglichkeit  einer  Verstandigung  mit  Frankreich  wird 
also  durchaus  of  fen  gelassen.  Was  aber  bedeutet  die  Verstan- 
digung mit  Frankreich,  ohne  die  langfristige  Kredite  nicht  zu 
erreichen  sind?  Sie  bedeutet,  daB  in  nachster  Zeit  an  der  mili- 
tarischen  Vormachtstellung  Frankreichs  nicht  geriittelt  wird. 
Wenn  das  Monopolkapital,  wenn  die  Briiningregierung  diese 
militarische.  Vormachtstellung  Frankreichs  fiir  die  nachste  Zeit 
anerkennt  —  und  nichts  andres  bedeutet  die  politische  Ver- 
standigung -—  dann  wird  man  franzosische  Gelder  bekprnmen, 
sonst  nicht. 

Wenn  man  sich  aber  mit  Frankreich  verstandigt,  dann 
wird  damit  ein  Keil  in  die  nationale  Front  getrieben,  und  zwar 
zu  einem  Zeitpunkt,  wo  -dies  sehr  gefahrlich  werden  kann. 
Der  deutsche  Kapitalismus  ist  im  Niedergang.  Die  ungeheure 
Mehrheit  des  deutschen  Volkes  wird  davon  betroffen,  Nicht 
nur  die  Proletaries  sondern  immer  mehr  auch  die  breiten 
mittelstandLschen  Schichten,  die  zwei  Funitei  der  Bevolkerung 
ausmachen.  Sie  hat  man  bisher  durch  die  Betonung  der 
„nationalen  Belange"  aus  einer  gemeinsamen  Front  mit  dem 
Proletariat  gegen  das  Monopolkapital  herauszubrechen  ver- 
sucht.  Der  Nationalismus  ist  die  Klammer,  die  das  Monopol- 
kapital und  die  Briiningregierung,  die  Reichswehrgenerale 
und  die  Mittelschichten,  Hitler  und  Hugenbergj  den 
Stahlhelm  und  die  Jungdo,  den  Evangelischen  Volks- 
dienst  und  die  Wirtschaftspartei  zusammengefaBt  hat. 
In  einer  okonomisch  ruhigern  Zeit  konnte  man  gleich- 
zeitig  Stahlhelmparaden  in  Breslau  macheri  und  die  welt- 
wirtschaftlichen  Beziehungen  zu  pflegen  versuchen.  In  der 
heutigen  Situation,  um  dies  noch  einmal  zu  sagen,  wo  jede 
zusatzliche  Belastung  zur  Katastrophe  werden  kann,  wird 
dies  immer  schwerer  mogHch  sein.  Daher  die  scharfen  Worte 
Briinings,  daB  man  Deutschland  nicht  mit  einer  chinesischen 
Mauer  umgeben  darf.  Tut  man  das  aber  nicht,  stellt  man  die 
nationale  Phrase  zuriickf  so  beginnt  die  Klammer  sich  zu 
losen,  die  bisher  die  revoltierenden  Mittelschichten  mit  dem 
Monopolkapital  gegen  das  Proletariat  vereinigt  hat.  Die 
Klammer  beginnt  dann  an  Festigkeit  zu  verlieren,  wenn  man 
sie  am  notigsten  braucht,  wenn  die  okonomische  Situation  sich 
weiter  verscharft.  Man  braucht  kein  Prophet  zu  sein,  um  vor- 
aus  zu  sagen,  daB  die  Lebenslage  von  90  Prozent  der  Bevol- 
kerung sich  in  den  nachsten  Monaten  verschlechtern  wird. 
Die  Arbeitslosigkeit  wird  starker  zunehmen,  als  man  ange- 
nommen  hat,  die  Steuern  gehen  weniger  ein,  als  man  an- 
genommen  hat;  man  wird  sich  helfen  wie  bisher,  man  wird  die 
Sozialpolitik  abbauen,  den  Arbeitslosen  wird  es  noch  schlech- 
ter   gehen.      Die  Lohne   werden   weiter   abgebaut   werden,   im 

2  203 


Rheinland  hat  man  bereits  den  An  fang  gemacht,  und  die 
Deutsche  Allgemeine  Zeitung1  fordert  in  riihrcnder  Beschei- 
denheit  gleich  cinen  Abbau  von  dreiBig  Prozent,  Die  Krise, 
die  zur  Geld-  und  Kreditkrise  geworden  ist,  trifft  natiirlich  vor 
allem  die  kleinen,  die  Mittelbetriebe.  Hier  wird  ein  groBer 
Teil  auf  der  Streckej  bleiben. 

Man  hat  es  diesmal  schwerer  als  je  zuvor,  all  das  Elend 
dem  „Feindbund"  in  die  Schuhe  zu  schieben,  der  die  „Young- 
lasten"  einzieht,  der  Deutschland  in  ein  „Kolonialland"  ver- 
wandelt.  Denn  die  Verschlechterung  der  Lage  der  ungeheuren 
Mehrheit  in  Deutschland  ergibt  sich  im  Reparationsfeierjahr. 
Wenn  nun  noch  dazu,  um  die  franzosischen  Kredite  zu  erhal- 
ten,  um  den  Kontakt  mit  dem  Weltmarkt  aufrecht  zu  erhal- 
ten,  der  Nationalismus  etwas  abgestoppt  wird,  so  droht  fur 
das  Monopolkapital  die  Gefahr,  daB  groBe  Massen,  die  man 
bisher  durch  den  „Nationalismus"  von  dem  ,,internationalen" 
Marxismus  ferngehalten  hat,  ihm  die  Gefolgschaft  verweigern 
und  in  die  Front  der  revolutionaren  Arbeiterschaft  eintreten. 
Die  Gefahr  ist  groB.  Der  Bruch  in  der  nationalen  Front  kann 
eintreten,  da  Hugenberg  und  Hitler  schwer  mehr  zuriick- 
konnen.  Um  dieser  Gefahr  zu  begegnen,  besitzt  das  Monopol- 
kapital nur  einen  einzigen  Weg,  dessen  Gefahren  bekannt 
genug  sind;  einen  Weg,  den  Briining  selbst  An  seiner  letzten 
Rumdfunkrede  noch  abgelehnt  hat:  man  nennt  ihn  heute 
Autarkie.  In  der  Bruningregierung  sind  seine  eifrigsten  Ver- 
treter  Treviranus  und  Schiele-  Man  will  die  wirtschaftliche 
Verflochtenheit  des  deutschen  Kapitalismus  moglichst  verrin- 
gern.  Man  will  dadurch  einmal  die  unrentablen  landwirt- 
schaftlichen  Betriebe,  die  keine  sonstige  Zuwendung  mehr  zu 
retten  vermag,  dadurch  retten,  daB  man  die  Agrarzolle  noch 
weiter  erhoht;  die  Parole  ist,  daB  die  deutsche  Landwirtschaft 
die  Bevolkerung  allein  zu  ernahren  vermag,  Damit  will  man 
die  Abhangigkeit  des  deutschen  Kapitalismus  vom  Welt- 
kapitalismus  verkleinern.  Denn  braucht  man  weniger  zu 
importieren,  dann  braucht  man  auch  weniger  zu  exportieren. 
Und  wenn  das  Ausland  seine  Gelder  zuriickverlangt,  und  man 
sie  nicht  hat  —  und  woher  sollen  Hitler  und  Hugenberg  sie 
haben?  —  nun,  auch  die  sudamerikanischen  Lander  und 
Austr alien  haben  die  Zahlung  in  fremder  Wahrung  abgelehnt. 
Warum  soil  man  das  nicht  auch  in  Deutschland  tun?  Also 
eigne  Wahrung  mit  Inflation;  und  wenn  die  deutsche  Industrie 
erklart,  daB  infolge  der  GegenmaBnahmen  aller  andern  Lan- 
der ihre  Absatzchancen  sich  katastrophal  verringern  wiirden, 
nun,  dann  sagt  man  ihr,  die  Lohne  sollen  soweit  abgebaut 
werden,  daB  sie  doch  noch  konkurrenzfahig  bleibt. 

Bisher  hat  sich  die  Industrie  mit  diesen  Planen  noch  sehr 
wenig  befreundet.  Im  Gegensatz  zu  Herrn  Hitler  kann  sie 
rechnen,  Sie  weiB,  daB  schon  vor  der  Weltkrise  etwa  ein 
Viertel  der  deutschen  Produktion  ins  Ausland  gegangen  ist, 
sie  weiB,  daB  der  Anteil  der  Ausfuhr  in  der  Krise  stark  ge- 
stiegen  ist,  weil  die  \gesamte  industrielle  Produktion  weit 
starker  gesunken  ist  als  die  Ausfuhr,  Sie  weiB  weiter,  daB, 
wenn  durch  die  landwirtschaftlichen  Zolle  alle  Lebensmittel 
den  Arbeitern  verteuert  werden,  man  schwer  im  gleichen  Zeit- 

204 


punkt  noch  die  Lohne  abbauen  kann,  Sie  weiB  lctzthin,  dafl 
die  Arbeitslosigkeit  bei  derartigen  Experimenten  ins  Uferlose 
anschwellen  wiirde.  Wir  hatten  im  Winter  fiinf  Millionen  Ar- 
beitslose,  jetzt,  im  Hochsommer,  vier.  Das  Institut  fur  Kon- 
junkturforschung  schatzte  sie  Anfang  Juni  auf  fiinf  bis  sechs 
Millionen  fur  den  kommenden  Winter  und  dies  unter  der  Vor- 
aussetzung,  daB  keine  weitere  Verschlechterung  eintreten 
wiirde.  Nun  haben  wir  die  Geld-  und  Kreditkrise,  deren  Wir- 
kungen  auf  den  Arbeitsmarkt  sich  in  nachster  Zeit  erst  deut- 
licher  zeigen  werden.  Schon  d'adurch  wird  die  Arbeitslosig- 
keit  im  Winter  weit  groBer  werden,  als  es  das  Institut  fiir 
Konjunkturforschung  angenommen  hatte;  wir  werden  im  Win- 
ter sicher  mit  sechs  bis  sieben  Millionen  zu  rechnen  haben. 
Wenn  man  aber  noch  irgend  welche  Schritte  auf  dem  Wege 
zur  Autarkie  machen  will,  dann  wurden  die  sich  daraus  er- 
gebenden  wirtschaftlichen  Gesamtumstellungen  zunachst  zur 
Folge  haben,  daB  im  Winter  jeder  zweite  Deutsche  arbeitslos 
ist.  Das  weiB  die  Industrie  und  daher  verhalt  sie  sich  gegen- 
iiber  alien  Autarkieplanen  sehr  distanziert.  Nicht  nur  die 
chemische  und  die  elektrische  Industrie,  die  besonders  stark 
mit  den  Weltmarkten  zu  tun  haben,  sondern  auch  die  Schwer- 
industrie  hat  sehr  ernste  Bedenken, 

Briining  hat  zwischen  zwei  Obeln  zu  wahlen.  Verstandigt 
er  sich  mit  Frankreich,  so  ist  der  Bruch  in  der  nationalen 
Front  unvermeidlich.  Dieser  Bruch  bedeutet  eine  auBerordent- 
liche  Verstarkung  der  revolutionaren  Arbeiterschaft.  Wird 
aber  die  nationale  Front  zusammengehalten,  so  kommt  man 
zu  einer  Wirtschaftspolitik,  die  zu  einer  katastrophalen  Zu- 
spitzung  fuhrt. 

Briining  hat  die  Wahl  zwischen  zwei  Obeln.  Also  muB 
er  lavieren,  also  muB  er  stets  durch  die  Ereignisse  wieder 
uberrascht  werden.  Es  ist  an  dieser  Stelle  schon  mehrfach 
gesagt  worden:  Es  ist  das  Zeichen  einer  herrschenden  Klasse, 
daB  sie  die  kommende  okonomische  Entwicklung  richtig  vor- 
aussieht  und  sie  in  ihren  politischen  Mafinahmen  vordis- 
kontiert.  Es  ist  das  Zeichen  des  Niedergangs  einer  herrschen- 
den Klasse,  daB  sie  die  kommende  okonomische  Entwicklung 
nicht  mehr  richtig  voraussehen,  daher  durch  ihre  politischen 
MaBnahmen  nicht  vorwegnehmen  kann.  Die  letzten  Wochen 
und  Monate  brachten  die  tausendfache  Bestatigung  fiir  diesen 
Satz;  die  kommenden  werden  ihn  gleichfalls  bringen.  Es 
wird  Briining  von  kapitalistischer  Seite  schon  vorgeworfen, 
daB  er  alle  seine  MaBnahmen  nur  halb  und  zu  spat  trifft  und 
daB  sie  auch  von  kapitalistischen  Gesichtspunkten  aus  ihre 
Wirkung  verfehlen.  Briining  sucht  zu  lavieren,  aber  die  ge- 
schichtfiche  Situation  verringert  die  Lavierungschancen  stan- 
dig.  Die  Widerspriiche  im  nationalen,  im  biirgerlichen  Lager 
nehmen  zu.  Wenn  die  Decke*  zu  kurz  wird  und  immer  mehr 
Locher  aufweist,  dann  soil  der  Nachbar  die  schlechte  Stelle 
haben.  Die  Widerspriiche  im  kapitalistischen  Lager  nehmen 
zu  —  und  auf  der  andern  Seite?  Der  Historiker  muB  fest- 
stellen,  daB  wir  auf  dem  Wege  zur  Einheit  der  Arbeiterklasse 
noch  sehr  wenig  fortgeschritten  sind.  Der  Politiker  muB  fur 
die  Einheit  arbeiten,  in  dieser  Stunde  mehr  denn  je. 

205 


Brihling  in  Rom  vou  Hanns-Erich  Kaminski 

lUfanche  Leute  werfen  dem  Rcichskanzler  seine  Reise  nach 
Rom  vor.  In  Wirkiichkeit  bringt  Doktor  Briining  damit  ein 
groBes  Opfer,  Vor  wenigen  Wochen  erst  ist  die  Enzyklika  des 
Papstes  gegen  den  Fascismus  erschienen,  in  der  es  heiBt:  „Wir 
wie  das  Episcopat  wie  der  Klerus  und  alle  guten  Glaubigen,  ja, 
wie  alle  'Burger,  die  die  Ordnung  und  den  Fried  en  lieben,  waren 
und  sind  in  Trauer  und  in  Sorge  wegen  der  nur  zu  oft  syste- 
matischen  Attentate  gegen  die  heiligsten  und  kostbarsten  Frei- 
heiten  der  Religion  und  der  Gewissen."  Die  Enzyklika  schil- 
dert  das  schergenhafte  Vorgehen  der  Polizei  gegen  die  Katho- 
lische  Aktion  und  selbst  gegen  die  Oratorien  der  Kinder  und  die 
frommen  Kongregationen  der  Marientochter.  „So  viele  Bru- 
talitaten  und  Gewalttaten  bis  zu  Schlagen  und  bis  aufs  Blut, 
Unehrerbietigkeiten  der  Presse,  durch  Worte  und  durch  Taten, 
gegen  Sachen  und  gegen  Personen,  nicht  ausgenommen  die 
Unsrige,  gingen  voraus,  begleiteten  und  folgten  der  polizeilichen 
Exekution",  erklart  Pius  XL  feierlich  ex  cathedra.  Sicher  fallt 
es  dem  Reichskanzler  nicht  leicht,  eine  Regierung  zu  besuchen, 
deren  Politik  in  Widerspruch  steht  t1zu  den  sakrosankten  und 
unverletzlichen  Rechten  der  Seelen  und  der  Kirche".  Sicher 
erfiilit  es  einen  guten  Katholiken  wie  Doktor  Briining  mit  be- 
sonderm  Widerwillen,  sich  mit  Mussolini  an  einen  Tisch  setzen 
zu  miissenf  der  die  Botschaft1  des  GroBen  Fascistenrats  verfafit 
hat,  jene  Botschaft,  von  der  der  Papst  sagt:  „Die  Geschichte  der 
Dokumente,  die  nicht  im  Dienst  sondern  zur  Beleidigung  der 
Wahrheit  und  der  Gerechtigkeit  verfaBt  sind,  ist  eine  lange  und 
traurige  Geschichte;  aber  mit  tiefster  Bitterkeit  miissen  Wir 
sagen,  daB  Wir  selbst  in  den  vielen  Jahren  Unsres  Lebens  und 
Unsrer  Tatigkeit  in  Bibliotheken  selten  einem  so  tendenziosen, 
einem  so  der  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  widersprechenden  Do- 
kument  begegnet  sind/" 

Wenn  der  Reichskanzler  trotzdem  eine  Romfahrt  unter- 
nimmt,  nicht  um  sein  Knie  vor  dem  Haupt  der  Christenheit, 
dem  Stellvertreter  Gottes  auf  Erden,  zu  beugen,  sondern  um 
sich  mit  dessen  Widersacher  zu  treffen,  so  tut  er  es  nur  um 
Deutschlands  willen.  Denn  wer  vermag  Deutschland  zu  helfen, 
wenn  nicht  der  Fascismus?  Hat  er  nicht  auch  Ungarn  mit  guten 
Ratschlagen  geholf enf  bis  Graf  Bethlen  wie  ein  marxistischer 
Landesverrater  die  italienische  Freundschaft  fur  eine  franzo- 
sische  Anleihe  preisgab? 

So  zwischen  Vaterlandsliebe  und  Katholikentum  gestellt, 
mag  sich  Doktor  Briining  in  Rom  an  das  Wort  erinnern,  das 
Jesus  liber  Jerusalem  sprach:  ,,Wenn  doch  auch  Du  erkenntest 
ztfdieser  Deiher  Zeit,  was  zu  Deinem  Friedendient!  Aber  nun  ists 
vor  Deinen  Augen  verborgen/r  Freilicht  vor  den  Augen  des 
Fascismus  ist  verborgen,  was  der  Zeit  und  dem  Frieden  dient, 
jedoch  der  Kanzler,  der  weiB  es.  Der  Papst  hat  es  nur  wenige 
Wochen  vor  seiner  Enzyklika  gegen  den  Fascismus  in  der 
Enzyklika  iiber  das  soziale  Programm  Leos  XIII.  gesagt,  er  hat 
darin  als  allein  christlich  eine  Politik  bezeichnet,  die  weder 
sozialistisch  noch  kapitalistisch  ist,  er  hat  sogar  zu  Koalitionen 

206 


mit  der  Sozialdemokratie  geraten.  Und  just  das  ist  ja  die  Politik 
des  deutschen  Reichskanzlers. 

In  Demut,  abcr  doch  voll  Stolz  darf  sich  Doktor  Briining 
in  der  ewigen  Stadt  vor  Augen  halten,  daB  DeutschJand  nicht 
vom  Fascismus  beherrscht,  sondern  im  Sinn  des  Heiligen  Vaters 
regiert  wird.  Was  er  in  Italien  sehen  wird,  muB  den  Kanzler 
mit  Schmerz  und  Abscheu  erfiillen,  und  nur  das  BewuBtsein, 
aus  einem  Land  zu  kommen,  dessen  Zustande  besser  sind,  wird 
ihm  die  Kraft  geben,  die  Eindriicke  iiberhaupt  zu  ertragen,  die 
ihn  als  Republikaner  und  Christen  nur!  immer  aufs  neue  belei- 
digen  konnen. 

Er  wird  mit  einer  Regierung  zu  verhandeln  haben,  deren 
Politik  hauptsachlich  bestimmt  ist  durch  die  Besorgnis  um  ihr 
Prestige  und  durch  die  Furcht,  durch  Preisgabe  nationalistischer 
Phrasen  Anhanger  zu  verlieren.  Er  wird  sehen,  wie  diese  Re- 
gierung Frankreich  als  den  bosen  Feind  betrachtet,  mit  dem  sie 
sich  um  keinen  Preis  verstandigen  kann,  selbst  wenn  die  Fort- 
setzung  dieser  Feindschaft  das  Land  mit  den  schwersten  Ge- 
fahren  bedroht.  Er  wird  sehen,  daB  dieselbe  Regierung  mit 
ihreiri  ostlichen  Nachbarn  noch  schlechter  steht  als  mit  dem 
westlichen,  und  daB  sie  die  Hetze  ftir  den  kommenden  Gstkrieg 
nicht  nur  duldet,  sondern  noch  fordert, 

Er  wird  sehen,  wie  diese  Regierung  selbstherrlich  regiert, 
ohne  Parlament,  ohne  sich  vor  der  5ffentlichkeit  zu  verantwor- 
ten.  Er  wird  sehen,  daB  es  keine  Pressefreiheit,  keine  Ver- 
sammlungsfreiheit  gibt  und  daB  das  Koalitionsrecht  durch  das 
Verbot  aller  unliebsamen  Organisationen  kaum  noch  auf  dem 
Papier  steht.  Er  wird  sehen,  daB  sich  das  Haupt  des  Staates 
dagegen  mit  einem  militarischen  Verband  identifiziert,  der  ne- 
ben  dem  Heer  und  der  Polizei  als  dritte  bewaffnete  Macht  eine 
entscheidende  Rolle  spielt. 

Nicht  minder  entsetzen  wird  den  Kanzler  die  fascistische 
Wirtschaftspolitik.  Er  wird  ein  Budget  sehen,  das  die  militari- 
schen Ausgaben  verschleiert,  so  daB  viele  den  ganzen  Etat  als 
falsch  betrachten-  Er  wird  eine  Subventionspolitik  sehen, 
durch  die  <ler  Staat  mit  dea  groBen  Unternehmuingen  so  ver- 
Hlzt  ist,  daB  niemand  mehr  weiB,  wer  Glaubiger  und  wer 
Schuldner  ist-  Er  wird  den  Prasidenten  der  Staatsbank  und  den 
Prasidenten  der  italienischen  Oberrechnungskammer  erroten 
sehen,  wenn  er  sie  fragt,  wohin  die  fascistische  Wirtschaftspoli- 
tik gefiihrt  hat,  die  einst  die  demokratische  Regierung  Bonomi 
angriff,  weil  sie  bankrotte  Unternehmungen  wie  die  Banco  di 
Sconto  nicht  auf  Kosten  der  Steuerzahler  mit  offentlichen  Mit- 
teln  stiitzte.  Er  wird  sehen,  wie  durch  hohe  Zolle  zum  Besten 
einiger  Produzenten  alle  Preise  kiinstlich  hochgehalten  werden. 

Er  wird  sehen,  wie  die  Gehalter  und  Lohne  immer  wieder 
abgebaut  werden  und  wie  die  staatlichen  Schlichtungsstellen 
immer  im  Sinn  der  Arbeitgeber  entscheiden.  Er  wird  sehen, 
daB  alle  Kommunen  bankrott  sind,  daB  der  Staat  aber  genii- 
gend  Geld  fur  militarische  Spielereien  und  fur  den  Bau  einer 
Kriegsflotte  hat,  die  andern  Marinemachten  doch  unterlegen 
bleiben  muB. 

207 


Er  wird  sehen,  daB  alie  Hochschulprofessoren  und  Lehrer 
im  Dienst  des  Fascismus  die  Jugend  vergiften.  Er  wird  sehen, 
daB  die  Justiz  langst  ein  Hohn  auf  jede  Gerechtigkeit  ist  und 
daB  den  Rich  tern  jeder  Kommunist  als  Verbrecher  gilt. 

Er  wird  sehen,  wie  die  gesamte  fascistische  Politik  dabei 
von  einem  prahlerischen  Hochmut  besessen  ist^  der  Vaterlands- 
liebe  gleich  Verachtumg  und  Unterschatzung  des  Auslands  setzt. 
Er  wird  sehen,  wie  die  Meinung  verbreitet  wird,  Italien 
brauche  auf  andre  Lander  iiberhaupt  keine  Riicksicht  zu  neh- 
men  und  konne  mit  geniigend  Begeisterung  allein  fertig  wer- 
den. Er  wird  sehen,  wie  dieser  Nationalisms  jedem  Anders- 
gesinnten  das  Leben  verbittert  und  ihn  oft  um  seine  ganze 
Existenz  bririgt.  Er  wird  sehen,  wie  dies  Regime  selbst  in 
Kleinigkeiten  und  Kleinlichkeiten  schikanos  ist,  etwa  indem  es 
Reisen  ins  Ausland  erschwert  oder  die  Vorfuhrung  pazifisti- 
scher  Filme  verbietet, 

Der  Reichskanzler,  dessen  Land  die  freieste  Demokratie 
der  Welt  ist,  wird  es  schwer  haben,  angesichts  dieser  in  Ita- 
lien herrschenden  Verhaltnisse  seine  Ruhe  zu  bewahren,  Zum 
Gliick  fiir  sein  seelisches  Gleichgewicht  und  fur  die  uberaus 
wichtigen  Verhandlungen,  die  er  fiihren  muB,  kann  er  auf  diese 
Zustande  mit  dem  erhebenden  BewuBtsein  herabblicken,  ein 
Volk  zu  vertreten,  ,,das  einig  in  seinen  Stammen  und  von  dem 
Willen  beseelt  ist,  sein  Reich  in  Freiheit  und  Gerechtigkeii 
zu  erneuern  und  zu  festigen, .  dem  innern  und  dem  auBern 
Frieden  zu  dienen  und  den  gesellschaftlichen  Fortschritt  zu 
fordern". 

Otto  Bauer  und  James  Maxton  von  Ernst  Fischer 

AAs  auf  dem  KongreB  der  sozialistischen  Arbeiterinternationale 
in  Wien  James  Maxton,  der  Redner  der  Independent  La- 
bour Party,  in  den  marmornen  Prunksaal  des  Konzerthauses 
hincinrief;  ,,Mit  kapitalistischen  Mitteln  kann  die  Welt  nicht 
mehr  gerettet  werden,  auch  wenn  diese  kapitalistischen  Mrttel 
den  Segen  der  Arbeiterregierungen  und  der  Arbeiterinterna- 
tionale bekamen!*',  als  die  Delegierten  der  deutschen  Sozial- 
demokratie  mit  zornigen  Zwischenrufen  gegen  den  Englander 
protestierten,  flog  die  Nachricht  herein  und  wurde  fliisternd 
weitergegeben:  Die  Dresdner  Bank  ist  zusammengebrochen! 
Das  Deutsche  Reich  hat  die  Garantie  iibernommen!  Maxton, 
der  nichts  davon  wuBte,  setzte  seine  Rede  fort:  „Wenn  Sie 
sich  dem  Gedanken  hingeben,  daB  der  Kapitalismus  geflickt 
werden  kann,  wenn  Sie  eine  Politik  des  Zusammengehens  mit 
burgerlichen  Parteien  befiirworten,  um  den  Kapitalismus  zu 
stiitzen,  dann  machen  Sie  sich  an  eine  unmogliche  Aufgabe 
heran,  dann  wollen  Sie  ein  System  aufrechterhalten,  das  nicht 
aufrechterhalten  werden  kann!*'  Das  war  die  Situation,  in  der 
sich  dieser  KongreB  befand.  ^ 

Einmal  schon,  im  Jahre  1914,  sollte  der  KongreB  der  Zwei- 
ten  Internationale  in  Wien  tagen;  der  Krieg  zerschlug  die  In- 
ternationale, ehe  sie  fiir  den  Frieden  pladieren  konnte.  Sieb- 
zehn  Jahre  spater  tagt  er  nun  wirklich  in  Wien,  der  KongreB 

208 


der  Zweiten  Internationale!  urn  den  Frieden,  die  Demokratie 
zu  ret  ten;  indessen  ist  der  Wirt  sch  aft  skrieg  zwischen  Deutsch- 
land  und  Frankreich  losgebrochen;  indessen  krtimmt  sich  die 
Demokratie  unter  den  Trummern  des  Kapitalismus.  Rascher, 
als  eine  Resolution  geschrieben  wird,  wachst  die  Katastrophe. 
Rascher,  als  man  berat,  welcher  Weg  zu  gehen  sei,  stiirzen  La- 
winen  der  Weltgeschichte  iiber  die  Strafle,  die  am  gangbarsten 
schien.  Rascher  als  alle  Vernunft  funktioniert  der  Wahnwitz. 
In  dieser  Situation  befand  sich  der  KongreB. 

Aus  den  vielen  Meinungen,  aus  den  mannigfaltigen  Wider- 
spruchen,  die  in  der  Internationale  zusammengebundelt  sind, 
wurden  zwei  Resolutionen  geformt,  eine  Resolution  der  Mehr- 
heit,  von  Otto  Bauer  dem  KongreB  vorgelegt,  eine  Resolution 
der  Minderheit,  von  James  Maxton  leidenschaftlich  verteidigt 
Es  war  eine  Mehrheit  von  dreihundertvierzehn  Stinimen.  Es 
war  eine  Minderheit  von  fiinf  Stimmen.  Aber  das  ist  nicht 
das   Entscheidende. 

Die  Resolution  der  Mehrheit  fordert  eine  Internationale 
Kreditaktion  fur  Deutschland,  Hilfe  des  internationalen  Kapi- 
talismus fiir  den  deutschen  Kapitalismus.  Sie  fordert  eine 
friedliche  Revision  der  Friedensyertrage.  Sie  wendet  sich 
schlieBlich    drohend   an    die    kapitalistische    Welt. 

Die  Resolution  der  Minderheit  stellt  fest,  daB>  der  Kapita- 
lismus versagt  hat,  daB  in  vielen  europaischen  Staaten  der 
Fascismus  herrscht! 

Ist  nicht  fiir  jeden  Sozialisten  die  Resolution  der  Minder- 
heit annehmbarer  als  die  Resolution  der  Mehrheit,  sind  wir 
nicht  alle  der  Meinung,  daB  der  Kapitalismus  versagt  hat,  daB 
es  nun  Zeit  ist,  mit  alien  Mitteln  um  die  Macht,  um  den  So- 
zialismus  zu  kampfen?  Aber  es  ware  falsch  und  oberflachlich, 
nur  den  Text  der  einen  mit  dem  Text  der  andern  Resolution 
zu  vergleichen,  nur  wie  ein  unbefangener  Kritikus  der  Welt- 
geschichte die  Resolution  der  Minderheit  als  gut,  die  Resolu- 
tion der  Mehrheit  als  unbefriedigend  zu  klassifizieren.  Die 
Frage  ist  vielmehr:  Wie  weit  konnte  man  die  Internationale 
fiir  eine  aktive  sozialistische  Politik  gewinnen,  wie  konsequerit 
durfte  man  sein,  ohne  sie  entschluBunfahig  zu  machen,  welche 
positive  Parole  war  moglich,  ohne  die  Politik  der  deutschen 
Sozialdemokratie  vor  der  ganzen  sozialistischen  Welt  zu  des- 
avouieren?  Oder:  wenn  man  dazu  entschlo&sen  war,  wena 
man  diese  Politik,  die  gewiB  nicht  alle  fiir  richtig  halten,  die 
fiir  sie  gestimmt  haben,  wenn  man  diese  Politik  als  unsozia- 
listisch  und  verhangnisvoll,  brandmarken  wollte  —  was  dann? 
(MMit  Ertrinkenden  diskutiert  man  nicht,  Ertrinkende  muB  man 
retten!"  sagte  der  Englander  Latham.)  Welche  Konsequenzen 
sollte  man  daraus  ziehen,  welche  Politik  der  sozialdemokrati- 
schen  Arbeiterschaft  in  Deutschland  anempfehlen?  Diese 
Fragen  hat  Maxton  nicht  beantwortet,  um  diese  Frage  hat  er 
herumgeredet;  er  hat  daher  eine  wirkungsvolle  Rede  gehalten 
und  einen  wirkungslosen  VorstoB  unternommen. 

Otto  Bauer  hat  gezeigt:  MEs  gibt  zwei  Wege  zum  Sozialis- 
mus.  Es  ist  denkbar  jener  Weg  der  Gewalt,  der  Diktatur,  des 
Terrors,  zu  dem  das  weltgeschichtliche  Beispiel  der  russischen 

209 


Revolution  breite  Massen  von  Arbeitern  in  alien  Landern  ver- 
lockt.  Ja,  wir  werden  nicht  leugnen  —  denn  RuBland  zeigt 
es  — ,  daB  auch  auf  diesem  Wege  die  Produktionsmittel  den 
Kapitalisten  entrissen  werden  konnen,  das  Besitz-  und  das 
Bildungsmonopol  der  besitzenden  Kiassen  gebrochen  werden 
kann,  daB  der  Versuch  gemacht  werden  kann,  die  kapitali- 
stische  Anarchie  durch  planwirtschaftliche  Organisation  der 
gesellschaftlicken  Produktion  zu  ersetzen.  Aber  wir  wissen 
alle  —  denn  auch  das  zeigt  RuBland  — ,  daB  der  Versuch  auf 
diesem  Wege  erkauft  wird  mit  den  denkbar  schwersten  Ent- 
behrungen  durch  Jahrzehnte,  mit  dem  Verzicht  auf  die  kost- 
baren  Giiter  der  personlichen  und  der  geistigen  Freiheit . . . 
Dieser  Weg  der  Gewalt,  der  Diktatur,  des  Terrors,  er  ist  nicht 
unser  Weg,  Wir  haben  immer  einen  ganz  andern  entgegen- 
gesetzten  Weg  zum  Sozialismus  gewollt  und  wollen  ihn  auch 
heute/' 

Maxton  muBte  erwidern:  Der  zweite  Weg  ist  ver- 
schiittet,  nur  der  Weg  der  Gewalt,  der  Revolution  ist  frei.  Es 
gibt  keine  Wahl,  es  gibt  keine  Wahlen  mehr,  der  Endkampf 
hat  begonnen,  mit  all  der  Schroffheit  und  all  den  Schrecken, 
die  Otto  Bauer  in  dunkler  Vision  heraufbeschworen  hat!  Aber 
dieser  Englander,  dem  von  den  Deutschen  in  riider  Art  Un- 
kenntnis,  ja,  sogar  Leichtfertigkeit  vorgeworfen  wurde,  hat  die 
mitteleuropaische  Situation  in  der  Tat  nur  verschwommen  ge- 
sehen;  er  hat  gemeint,  es  gabe  nicht  nur  die  beiden  Wege,  die 
Otto  Bauer  der  Internationale  zeigte,  sondern  man  konne  sich 
zwischendurch  ins  griine  Gelande  schlagen  und  gewaltlos  eine 
revolutionare  Politik  machen.  Man  rmisse  nur  die  Parole  aus- 
geben:  ^Der  Sozialismus  in  unsrer  Zeit,  der  Sozialismus  als 
Aufgabe  dieser  Generation!"  Daftir  werbend,  werde  man  den 
Sozialismus  vor  Entehrung  bewahren  und  die  Zukunft  gewin- 
nen.  Er  hat  mit  dieser  Utopie  seiner  Resolution  die  Durch- 
schlagskraft  genommen  und  sie  zu  einem  edlen,  aber  unfrucht- 
baren    Bekenntnis    zur   reinen    Idee    des   Sozialismus    gemacht. 

Die  Kommunisten  haben  den  KongreB  der  Zweiten  Inter- 
nationale hohnisch  einen  KongreB  ,,der  gewesenen  und  der  zu- 
kiinftigen  Minister"  genannt  Man  kann  dieses  Wort  auch  ohne 
Hohn  aussprechen.  Ja,  die  europaische  Sozialdemokratie  hat 
zuviel  Anteil  an  der  Staatsmacht,  es  ist  daher  fur  sie  nicht 
leicht,  alle  Macht  gegen  die  Staaten  des  Kapitalismus  zu  ent- 
falten.  ' 

Die  Sozialdemokratie  verwaltet  grofie  Trakte  des  alten 
Gebaudes,  das  niederzureiBen  immer  unvermeidlicher  wird; 
sie  hat  gehofft,  die  Eigentiimer  langsam  verdrangen,  das  Ge- 
baude  langsam  umbauen  zu  konnen,  aber  die  Eigentiimer 
sitzen  fest  und  das  Gebaude  ist,  da  sie  die  Renovierung  ver- 
eitelten,  so  schadhaft  geworden,  daB  es  einzustiirzen  beginnt. 
Die  Sozialdemokratie  fiirchtet  nun,  unter  den  Trummern  be- 
graben  zu  werden  und  versucht,  die  Eigentiimer  in  letzter 
Stunde  zur  Renovierungsarbeit  zu  zwingen.  Um  das  Prole- 
tariat, das  in  Untermiete  wohnt,  verteufelt  schlecht  und  ver- 
teufelt  ungesund,  vor  niederbrechendem  Stein  und  Gebalk  zu 
bewahren,  ist  sie  bereit,  das  ganze  Gebaude  der  kapitalisti- 
schen  Welt  zu  retten.     Und  so  gerat  sie  immer  tiefer  in  die 

210 


tragische  Situation,  desto  ohnmachtiger  zu  sein,  je  mchr  sie 
Anteil  nimmt  an  der  Macht,  desto  unsicherer  zu  werden,  je 
mehr  der  Kapitalismus  wankt,  desto  bitterer  die  Widerspriiche 
der  kapitalistischen  Welt  zu  erleiden,  je  erbitternder  diese 
Widerspriiche  sich  geltend  machen.  In  dem  Augenblick,  da 
diese  tragische  Situation  so  deutlich  fiihlbar  wurde  wie  nie 
zuvor,  hat  der  KongreB  in  Wien  getagt. 

Heraus  aus  dieser  Situation!  hat  Maxton  der  Internatio- 
nale zugerufen.  Mit  einer  pragnanten  Formel  hat  er  die  Situa- 
tion gekennzeichnet:  MMan  spricht  von  der  Drohung  des  Fascis- 
mus.  Von  meiner  insularen  Stellung  aus  habe  ich  den  Ein- 
druck,  dafi  der  Fascismus  in  Deutschland  gewachsen  ist,  seit- 
dem  die  deutsche  Sozialdemokratie  sich  auf  die  Koalitions- 
poiitik  festgelegt  hat.  Es  hieB,  die  Koalition  sei  notwendig, 
damit  das  Kind  nicht  groB  werde.  Nun  ist  es  groB  geworden, 
nun  droht  es  immer  schrecklicher  zu  werden/1  Aber  er  hat 
die  Konsequenz  nicht  gezogen,  Man  fuhlte  wohl  die  Hingege- 
benheit  an  eine  Idee,  aber  man  hatte  lieber  etwas  weniger 
von  dieser  Idee  und  etwas  mehr  von  konkreten  Moglichkeiten 
der  Gegenwartspolitik  vernommcn.  Und  man  begriff:  diese 
„Linke"  sieht  zwar  die  Dinge  richtig,  aber  es  fehlt  ein  klares 
Aktionsprogramm,  es  fehlt  ihr  die  unerbittliche  Konsequenz  des 
Denkens.  Und  eben  .dies  verscharft  die  Tragik  der  Situation; 
die  richtige  Diagnose  gentigt  nicht,  es  muB  auch  die  richtige 
Heilungsmethode  gezeigt  werden. 

Otto  Bauer,  der  bedeutendste  Mann  der  Zweiten  Inter- 
nationale, zu  groB  fur  die  osterreichische  Politik  und  zu  sehr 
Politiker,  um  seine  GroBe  frei  entfalten  zu  diirfen,  hat  den 
ganzen  KongreB  in  den  Bann  seiner  Rede  gezwungen;  den- 
noch  merkten  alle,  die  diesen  groBen  Redner  der  Logik  und 
der  Leidenschaft  ofter  gehort  haben,  daB  er  diesmal  gebun- 
dener,  unfreier  sprach  als  sonst.  Es  war  gewifi  eine  auBer- 
ordentliche  politische  Leistung,  die  Internationale  sozusagen 
auf  das  Linzer  Programm  der  ftAustromarxisten"  zu  vereidi- 
gen,  als  ihr  offizieller  Redner  von  zwei  Wegen  zum  Sozialis- 
mus  zu  sprechen,  von  dem  Weg  der  Bolschewiken  und  von 
dem  Weg  der  Sozialdemokraten,  alle  die  Meinungsverschie- 
denheiten  und  Stimmungsgegensatze  in  einem  Brennpunkt,  in 
der  Stellungnahme  zur  mitteleuropaischen  Katastrophe,  zu 
sammeln  —  aber  man  spiirte  die  Dampfung,  die  Vorsicht,  die 
Konzession  an  andre  Metnungen,  andre  Stimmungen.  Aber 
auch  das  war  nicht  das  Entscheidende;  vielmehr  erkannte  man 
mit  schmerzlicher  Deutlichkeit  die  Kernfrage  aller  sozialisti- 
schen  Politik.  Otto  Bauer  ist  nicht  der  Typus  eines  „gewese- 
nen  oder  zukiinftigen"  Ministers,  nicht  ein  Schatten  von  Biir- 
gerlichkeit  trvibt  sein  Wesen,  nicht  der  leiseste  Nebel  von 
Staatsmannerei  verdunkelt  seinen  Blick,  der  Sozialismus  ist 
die  einzige  Leidenschaft  dieses  Mannes  ohne  Privatleben  — 
und  grade  deshalb  verkorpert  er  die  ganze  Problematik  des 
demokratischen  Sozialismus,  reiner  und  tragischer  als  jeder 
andre  Mann  der  Zweiten  Internationale.  Otto  Bauers  Bekennt- 
nis  zur  Demokratie  ist  nicht  das  Bekenntnis  zu  einer  politi- 
schen  Form,  die  angenehmer  und  verniinf tiger  ist  als  eine 
andre  —   es   ist  ein  Bekenntnis  zur  Freihei^  und   Unverletz- 

s  211 


lichkeit  des  Menschenlebens.  Das  geht  iiber  politische  Erwa- 
gungen  hinaus,  das  ist  nicht  ein  Abschatzen  taktischer  Chan- 
cen,  das  ist  der  innerste  Zweifel  eines  Mannes,  fur  den  die 
Menschen  nicht  Material  einer  Idee,  sondern  atmende,  fiih* 
lende,  lebende  Wesen  sind.  Und  so  lautet  die  unausgesprochene, 
die  ungeheure  Frage:  Vielleicht  ist  der  Weg,  den  die  Bol- 
schewiken  gegangen  sind,  auf  weite  Sicht  der  Weg  der  Not- 
wendigkeit  —  aber  darf  man  so  verschwenderisch  sein  wie  die 
Natur,  fur  die  Millionen  Lebewesen  nur  Vorbereitung  zu  einer 
hohern  Spezies  sind,  darf  man  um  der  Zukunft  willen  Freiheit 
und  Leben  der  Gegenwart  ppfern,  darf  man  den  Weg  des  Blu- 
tes  und  des  Sieges  wahlen,  solange  auch  nur  die  winzigste 
Moglichkeit  besteht,  dennoch  den  andern  Weg,  dennoch  den 
Weg  der  Demokratie  zu  gehen? 

Es  gibt  in  Europa  gewiQ  nicht  viele  Menschen,  die  eine 
Situation  so  klar,  so  unbarmherzig  klar  zu  sehen  vermogen 
wie  Otto  Bauer;  aber  durch  alle  Konstruktionen  des  Verstan- 
des  schlagt  ein  groBes  Menschenherz,  dem  das  Leben  und  die 
Freiheit  aller  Arbeiter,  aller  Sozialisten  kostbar,  unerhort  kost- 
bar  ist.  Nach  dem  osterreichischen  Ungliickstag,  nach  dem 
15.  Juli  1927,  hat  Otto  Bauer  in  tiefster  Erschiitterung  seinem 
Gegenspieler,  dem  kalten  und  hart  en  Seipel,  zugerufen:  „Ihr 
wollt  mit  Menschenblut  eure  Weinberge  dungen!"  Und  davor, 
mit  Menschenblut  die  Weinberge  des  Sozialismus  zu  diingen, 
schreckt  Otto  Bauer  zuriick,  weniger  kalt  und  weniger  hart 
als  der  Typus  Seipel.  Und  so  bricht  es  aus  seiner  Rede  heiB 
hervor:  „Entweder  gelingt  es  durch  rechtzeitige  Hilfe  in 
Deutschland  uind  Europa,  die  WirtschaH  wiederherzustellen, 
die  Demokratie  in  Europa  und  damit  den  Frieden  der  Welt 
zu  retten;  dann  ist  der  Arbeiterklasse  der  beste,  der  giin- 
stigste  Weg  erhalten,  der  Weg  der  Demokratie.  Oder  aber, 
unser  EinfluB  ist  nicht  stark  und  wirksam  genug,  das  durch- 
zusetzen.  Oder  aber,  diese  kapitalistischen  Regierungen,  die 
vor  dem,  was  kommen  kann,  zittern  und  trotzdem  nicht  im- 
stande  sind,  ihre  irmern  Widerspruche,  ihre  Egoism  en,  ihre 
Prestigefragen  zu  iiberwinden  und  die  rettenden  MaBnahmen 
anzuwenden.  Oder  aber  die  Katastrophe  bricht  herein  — 
dann  moge  sich  niemand  daruber  tauschen,  dann  wird  es  nur 
noch  die  eine  Aufgabe  geben;  Wenn  schon  das  Enisetzliche 
geschieht,  es  auszuniitzen  mit  aller  Kraft  fur  die  Eroberung 
der  politischen  Macht  durch  die  Arbeiterklasse,  fur  den  Sturz 
des  Kapitalismus,  fur  die  Errichtung  der  sozialistischen  Ge- 
sellschaft!" 

Katon  ein  Mensch  in  Mitteleuropa  glaubt,  daB  das 
Schlimmste  vermieden  werden  kann  —  aber  was  das  ist,  das 
Schlimmste,  weiB  niemand  genau.  Zwei  Wege  sind  sichtbar, 
aber  man  sieht  nur  den  Anfang  und  nur  das  Ende  der  beiden 
Wege,  alles  andre  ist  vage  Vision,  vernebeltes  Schlachtfeld  des 
Grauens.  Zwei  Wege  werden  gezeigt,  aber  in  Wahrheit  er- 
kennt  man  keinenWeg,  in  Wahrheit  tasten  sowohl  die  Kom- 
munisten  wie  die  Sozialdemokraten  von  Tag  zu  Tag,  von  Un~ 
gewiBheit  zu  Ungewifiheit.  In  Wahrheit  warten  alle  auf  die 
Entscheidung,  die  herbeizufiihren  bisher  niemand  die  Vermes- 
senheit,   niemand   die   Besessenheit  hatte. 

212 


Tonkin   von  Jonathan  Wild 


On  n'est  jamais  tout  a  fait  Francais  quand 
on   n'est  pas   completement   humain. 

Mre  NoavcllC 
Editorial,  20.  VL  1930 

7  wci  Tage  zuvor,  am  18.  Juni  1930,  war  in  der  pariser  Presse 
folgendes  kleine  Communique  des  Kolbnialministeriums  er- 
schienen: 

Auf  Grund  der  Entscheidung  dcs  Staatsoberhauptes  vom... 

sind  die  dreizehn,  am  23.  Marz  von  der  IL  Kriminalkommission 

in  Yen  Bay  zum  Tode  verurteilten  Fuhrer  der  letzten  Aufstands- 

bewegung  heute,  den  17.  Juni  morgens,  hingerichtet  worden. 

Dem    reaktionaren    .Intransigeant*    erschien    das  Ereignis 

groB  genug,  urn  ihm  tags  darauf  den  liblichen  Letter  zu  wid- 

men,  er  schrieb:  flDie  franzosische  Regierung  hatte,  ran  voile 

Gerechtigkeit  walten  zu  lassen,    vor  der    prasidentiellen  Ent- 

scheidung  urn  die  Cbersendung  der  dreizehn  Dossiers  aus  Yen 

Bay  gebeten.    Nach  gewissenhaf tester  Priiiung  jedes  einzelnen 

der  Falle  hatte  sie  beschlossen,  der  Gerechtigkeit  freien  Lauf  zu 

lassen.    So  sind  gestern  die  Kopf e  der  dreizehn  Schuldigen  ge- 

fallen,    und    zwar    an    der  Stelle    selbst,   wo    die   abscheulichen 

Verbrechen  begangen  worden  sind  .. /' 

Indessen  waren  die  Sonderberichterstatter  der  groBen 
Blatter,  die  sogleich  nach  der  Niederwerfung  dcs  ffAufstauds'* 
nach  Indochina  abgereist  waren,  um  sich  an  Ort  umd  Stelle  von 
der  Abscheulichkeit  der  Verbrechen  zu  liberzeugen,  nicht  un- 
tatig  geblieben.  Wahrend  in  Yen  Bay  die  Guillotine  aufmon- 
tiert  wurde,  schauten  sie  sich,  soweit  sie  nicht  noch  hinter 
schiitzenden  Moskitonetzen  schliefen,  in  Sandalen  und  leichten 
Shantungpyjamas  den  Sonnenaufgang  von  Tonkin  an.  Der  Ab- 
gesandte  des  ,Matin*  schrieb  im  Auto,  das  ihn  im  Hundertkilo- 
metertempo  zur  Hinrichtungsstelle  transportierte,  freudig: 
„Dreizehn  sind  es«  die  heute  aus  der  Schar  der  Elenden  ent- 
hauptet  werden,  die  im  vergangenen  Februar  mitten  in  der 
Nacht  die  Unsern  uberfielen  und  ermordeten ..."  Er  fuhr  fort: 
„ Gestern  sagte  mir  der  Mandarin  Thd:  ,Wenn  Ihr  nicht  wenig- 
stens  zwei  Annamitenleben  nehmt,  um  ein  franzdsisches  zu 
rachen^  dann  habt  Ihr  Angst,  oder  Ihr  habt  den  Stolz  Eurer 
Rasse  verloren."'  Folgten  zwei  Spalten,  wie  auBerordentlich 
geschickt  der  annamitische  Henker  die  importierte  Mord- 
maschine  bediente  und  der  Generalresident  von  Yen  Bay  drei- 
zehnmal  im  Gefangnistor  verschwand,  um  seine  Schiitzlinge  zu 
holen,  Alle,  gewiB,  alle  diese  gelben  Halunken  starben  wie 
elende  Memmen,  von  ihrem  kommunistischen  Gott  und  den 
eignen  frechen  Kraften  verlassen.  Einige  muBten  sogar  zur 
Richtstatte  getragen  werden.  Es  war  kein  erhebendes  Bild, 
nach  dem  Sonderberichterstatter  des  ,Matin\ 

In  der  Zwischenzeit  sind  den  Dreizehn  von  Yen  Bay  gut 
nochmal  soviel  aufs  Schafott  gefolgt.  Still  diesmal,  einzeln, 
ohne  Beisein  von  pariser  Gasten.  Ein  kurzes  sachliches 
Communique  aus  dem  Kolonialministerium  zeigte  jedesmal  nur 

.  213 


an,  daB  ,,die  Gerechtigkeit  ihren  Lauf"  genommen  hatte,  In 
Paris  krahte  kein  Hahn  nach  den  Opfern  dieses  Amoklaufes 
der  Gerechtigkeit. 

Und  dennoch  sterben  auch  elende,  nichtswiirdige  Asiaten, 
die  keine  Arbeitstiere  fiir  die  WeiBen  sein  wollen  und  eher  das 
Blutgeriist  besteigen,  nicht  umsonst.  Ein  Buch  unter  vielen  ist 
nach  dem  Schlachtmorgen  von  Yen  Bay  in  Paris  erschienen: 
„Viet  Nam"  von  Louis  Roubaud.  Der  Franzose  Roubaud  hat 
den  blutenden  Siidostwinkel  Asiens  mit  offenen  Augen  durch- 
messen,  er  hat  der  Hinrichtung  der  Dreizehn  beigewohnt,  er  hat 
die  Sarge  gezahlt,  er  hat  die  schweigende  Bevolkerung  beob- 
achtet,  die  vom  nahen  Hiigel  dem  Blutbad  zusah.  Angesichts 
der  entsetzlichen  Rache,  die  die  beleidigte  weiBe  Rasse  fiir  den 
Tod  von  sieben  der  ihren  an  —  oh  allzustolzer  Mandarin!  — 
dreimal  soviel  Annamiten  genommen  hat,  war  es  ihm  wichtig 
erschienen,  das  Schuldteil  abzuwiegen,  das  hiiben  und  driiben 
der  Guillotine  liegt.  Sein  Urteil  ist  niederschmetternd  fiir  die 
aus  dem  Abendland  kommenden  Kulturtrager,  Justizpachter 
und  Volkserzieher  ausgefallen. 

Was  sich  zur  Zeit  in  Tonkin,  Annam,  Laos,  Cambodja, 
Cochinchina  abspielt,  gleicht  aufs  Haar  dem  Repertoire  in 
Indien.  Dank  der  franzosischen  Verwaltung  geht  es  nur  ge- 
schliffener  zu  und  blutiger. 

Seit  1929  schmiedet  Indochina  eine  Kette  todlicher  Pro- 
teste,  ein  MiBverstandnis  ist  ausgeschlossen.  Am  7-  Januar 
1929  war  der  Generalgouverneur  Pierre  Pasquier  in  Hanoi 
Zielpunkt  eines  Attentats-  Am  9.  Januar,  zwei  Tage  spater, 
fand  der  verhaBte  Leiter  des  Landesarbeitsamts,  Bazin,  durch 
einen  wohlgezielt.en  Dolchstich  den  Tod.  Seiner  Leiche  war 
ein  eindeutiges  Manifest:  ,,Raus  mit  den  Franzosen  aus  dem 
Land!"  am  Riicken  angeheftet.  Im  Marz  gab  es  „Streik- 
unruhen"  zugleich  in  Hanoi,  Haiphong  und  Namdinh;  Juli  und 
August  brachten  den  Stadten  und  Dorfern  Annams,  Ton- 
kins und  Cochinchinas  rote  Regen  revolutionarer  Aufrufe. 
Massenverhaftungen  begannen.  Am  3,  September  ging  in  My- 
diem  ein  Haus  durch  die  Explosion  von  Bomben  in  die  Luft, 
die  Verschworer  drinnen  fabrizierten.  Am  6.  Oktober  lag  im 
botanischen  Garten  von  Hanoi  die  Leiche  eines  annamitischen 
Studenten,  der  „Geheimnisse  der  Partei"  verraten  hatte.  Am 
20.  November  entdeckte  die  franzosische  Polizei  hundertfiinfzig 
Bomben  im  Dorf  zu  den  „Sieben  Pagoden";  am  23,  Dezember 
die  gleiche  Menge  in  Noivien,  am  26.  ein  Lager  von  dreihun- 
dert  Sprerigkorpern  in  Thaila;  am  10.  Januar  grub  sie  bei  Bac- 
Ninh  vier  Wagenladungen  revolutionarer  Schriften  aus  der 
Erde;  am  20,  wanderten  drei  Schmiede  ins  Gefangnis,  die,  an- 
statt  am  AmboB  zu  hammern,  spitze  Sabel  schliffen.  In  der 
Nacht  des  11.  Februar  erfolgte  dann  der  Oberfall  auf  das  Fort 
Yen  Bay,  der   den  Auftakt   zur  Revolution  geben  sollte. 

Das  Land  ist  voll  geheimer  Gesellschaften  und  Parteien, 
schreibt  Roubaud.  Sie  haben  verschiedene  Namen  und  kennen 
alle  doch  nur  ein  Ziel:  Befreiung  des  Landes  von  der  Fran- 
zosenherrschaft.  Es  gibt  eine  „Revolutionare  Partei  von  Neu- 
Annam",  eine  „Annamitische  Nationalistenpartei",  eine  f1Partei 
der    Revolutionaren    Jugend",    eine    ,,Annamitische    Unabhan- 

214 


gigenpartei",  und  es  gibt  die  „ Viet  Nam  Cong  San  Dang'\  die 
iibersetzt  ungefahr:  „Gemeinschaft  der  patriotischen  Kommu- 
nisten  von  Annam"  heiBt.  Diese  Partei  soil  die  machtigste  in 
Indochina  und  via  Kanton  Moskau  angeschlossen/sein.  Sie  ubt 
die  Disziplin  der  Dritten  Internationale,  interpretiert  die  mos- 
kowitische  Doktrin  jedoch  nach  Belieben.  Viet  Nam,  die  bei- 
den  ersten  Worte,  die  Roubaud  auch  zum  Titel  seines  Buches 
gemacht  hat,  bedeuten:  Sudliches  Vaterland.  Viet  Nam  ist  zu- 
gleich  der  Name  einer  der  hundert  sagenhaften  Familien,  die 
Annam  vor  Jahrtausenden  begriindet  haben  sollen.  Und  Viet 
Nam  betont  den  nationalistischen  Charakter  der  Partei,  deren 
Ziel  durchaus  nicht  die  Verwirklichung  des  Kommunismus  ist, 
sondern  ebenfalls  die  Befreiung  Indochinas  von  der  Fremd- 
herrschaft.  Was  fasziniert,  vermutet  Roubaud,  ist  die  Organi- 
sation, der  Apparat  der  moskowitischen  Partei,  die  glanzend 
funktionierende  Minierarbeit,  die  phantastische  Kraft,  die  aus 
dem  stummen  Gehorsam   Tausender  emporwachst, 

Exempel:  Am  I.  Mai  1930  marschieren  1500  Menschen  von 
Vinh  nach  Ben  Thuy.  In  Ben  Thuy  gibt  es  eine  Ziindholz- 
fabrik  mit  siebenhundert  Arbeitern.  Die  Fiinf  zehnhundert 
marschieren  stumm,  mit  nackten  FiiBen,  wohlgeordnet,  Keine 
Fahne,  kein  Ruf,  kein  Parolenbanner.  Die  ,,Viet  Nam  Cong 
San  Dang"  verbietet  kommunistische  Embleme.  Der  Resident 
schickt  dem  Zug  der  Zerlumpten  ein  Detachement  entgegen, 
das  verhandeln  soil.  Aber  die  Partei  verbietet  Verhandlungen. 
Als  die  Gendarmerie  auf  hundert  Meter  ankommt,  mit  einem 
,,tri  phu"  (Mandarin-Interpret)  an  der  Spitze,  wird  komman- 
diert:  „Zerstreuen,  sonst  wird  geschossen!"  Die  Fiinfzehnhun- 
dert niarschieren.  Nach  einigen  Metern  erfolgt  das  zweite 
Kommando.  Die  Zerlumpten  marschieren.  „Es  ist  ernst",  ruft 
zum  dritten  Mai  der  tri  phu,  ,,die  Gewehre  sind  ge- 
laden!"  Die  Stummen  marschieren . . .  Eine  Minute  spater 
liegen  fiinf  Tote,  sechzehn  Schwerverletzte  iiberm  Haufen. 

Am  gleichen  ersten  Mai  sind  unter  gleichen  Urn  stand  en  bei 
Cat-Gnan  sechzehn  Tote  und  fiinfundzwanzig  Verwundete  ge- 
blieben.     Kein  einziger  von  ihnen  trug  eine  Waffe  bei  sich. 

Fallen  die  ersten  Toten,  walzen  sich  Haufen  von  Ver- 
letzten,  dann  pflegt  rasender  Schrecken  sich  der  Demonstran- 
ten  zu  bemachtigen.  Sie  stiirzen  nach  alien  Windrichtungen 
davon,  um  nach  dem  Gemetzel  nicht  verhaftet  zu  werden.  Die 
lebende  Beute  wird  in  Massenverhandlungen  abgeurteilt.  Louis 
Roubaud  beschreibt  so  eine  Gerichtsszene,  sie  fand  im  Juhi 
1930  in  Phutho  statt.  85  Angeklagte.  Sie  hocken  in  einem 
heifien  Schuppen  eng  aneinander.  Am  drapierten  Tisch  sitzen 
vier  Richter,  der  franzosische  Kommissar  fur  ,,politische  An- 
gelegenheiten"  in  weiBer,  goldgestickter  Uniform  prasidiert. 
Legionare  umzingeln  die  Fiinf undachtzig  mit  aufgepflanzten 
Bajonetten.  Aufgerufene  haben  vorzutreten,  der  Interpret  be- 
ginnt.  (Nicht  drei  Prozent  Franzosen  vermogen  sich  direkt 
mit  den  Eingeborenen  zu  verstandigen.)  Er  hort  gelangweilt 
zu  und  iibersetzt  was  er  will.  Zwei  junge  Anwalte  sind  den 
Fiinfundachtzig  beigegeben,  sie  stellen  selten  eine  Frage  und 
gahnen  geflissentlich.  ,,Angeklagter,  geben  Sie  zu...?"  wieder- 

215 


holt  mechanisch  der  Dolmetscher.  „Ja,  ich  gebe  zu,.."  Von 
den  85  geben  80  zu.  Sie  machen  kcin  Hehl  aus  ihrcm  HaB,  ob- 
wohl  sie  es  biiBen  werden.  In  zwei  Vormittagen  ist  das 
Monstreverfahren  beendet,  das  Urteil  gesprochen.  Je  vier 
rechte  Arme  zusammengetan,  die  zarten  Gelenke  aneinander  ge- 
fesselt,  so  sind  sie  verschwunden,  zierliche,  bewegte  Sterne,  in 
die  Nacht  der  Gefangnisse, 

Die  Augen  der  Welt  von  ignaz  wrobei 

T\  a   ist   nun   Deutschland,   ein  Land,   das  sich  fur  alles  inter- 

essiert,  was  in  der  Welt  vorgeht,  und  ist  doch  eine  Provinz 
geblieben,  trotz  allem:  Provinz  Deutschland.  Woran  liegt  das — ? 

Erst  haben  sie  mit  dem  Sabel  gerasselt,  und  wenn  die  an- 
dern  unwillig  dazu  gemurmelt  haben,  dann  haben  sie  das  fur 
Furcht  gehalten  und  diese  vermeintliche  Furcht  fur  Achtung 
vor  dem  deutschen  Wesen.  Und  dann,  als  die  Friedensbedin- 
gungen  an  den  Schaufenstern  klebten,  haben  sie  Luft  durch  die 
Nase  gestoflen,  recht  verachtlich,  und  haben  nicht  begriffen, 
was  das  heiBt:  einen  Krieg  verlieren,  an  dem  sie  immerhin 
ein  gut  Teil  Schuld  hatten.  Und  seitdem  rasseln  sie  und  wim- 
mern  sie,  immer  in  schoner  Abwechslung,  und  wenn  sie  drauBen 
genug  gewimmert  habenf  dann  kommen  sie  nach  Hause  und 
sag  en;  ,,So  schlimm  ist  das  alles  gar  nicht.  Erst  ens  haben  wir 
gar  nicht  gewimmert.  Zweitens  haben  wir  niir  im  Interesse 
des  Vaterlandes  gewimmert.  Und  drittens  hatten  die  andern 
doch  machtige  Angst  vor  uns," 

Weit  entfernt,  in  dem  Gedeihen  eines  intakten  Staats- 
bureaukraten-Apparates  das  Heil  des  Landes  zu  sehn,  w  oil  en 
wir  untersuchen,  wie  es  in  der  Seele  des  Durchschnitts-Deut- 
schen  aussieht,  wenn  er  an  das  Ausland  denkt.  Seine  Begriffe 
sind  wxist.  Ein  kleiner  Teil  von  Gebildeten  ist  wirklich  iiber 
das  unterrichtet,  was  drauBen  vor  sich  geht —  die  Rechte  und 
die  Linke,  soweit  es  das  noch  gibt,  haben  einige  sehr  gute 
AuBenpolitiker,  auf  die  aber,  wenns  zum  Klappen  kommt,  nie- 
mand  hort.    Das  Gros  hat  von  Tuten  und  Blasen  keine  Ahnung. 

In  Deutschland  dominiert,  was  die  AuBenpolitik  angeht, 
der  innenpolitische  Stammtisch,  Zu  dessen  ehernen  Grundsatzen 
gehort  die  Phrase:  ,, Die  Augen  der  Welt  sind  auf  uns  gerich- 
tet".     Dieser  Satz  ist  einfach  eine  Liige. 

Deutschland  spielt  in  der  Welt  nicht  die  Rolle,  die  es  zu 
spielen  glaubt. 

Es  hat  fiir  den  lateinischen  Kulturkreis  eine  kleine  Bedeu- 
tung,  wie  mir  scheint;  eine  zu  kleine.  Es  hat  fiir  den  angel- 
sachsischen  Kulturkreis  eine  kleine  Bedeutung.  Es  hat  fiir 
seine  unmittelbaren  Nachbarn  eine  Bedeutung,  die  meistens  im 
Warenaustausch  liegt  und  nicht  so  sehr  auf  dem  Gebiet  der 
Kulturpolitik.  Deutschland  weiB  nicht,  wie  klein  sein  kultur- 
politisches  Hinterland  ist. 

Hat  etwas  in  Paris  Erfolg,  auf  welchem  Gebiet  auch  immer: 
so  hat  es  damit  in  alien  franzosischen  Kolonien  Erfolg,  die  ja 
immerhin  recht  betrachtlich  sind;  es  hat  weiterhin  Erfolg  in 
der   Levante    und   in   Sudamerika,    wo   die   Franzosen   das   er- 

216 


staunliche  Kunststiick  fertig  bekommen  haben,  wenig  Waren 
und  einen  groBen  Teil  ihrer  Kultur  zu  exportieren,  und  das  mit 
gutcr  Wirkuag.  Hat  etwas  in  England  Erfolg,  so  weiB  man,  was 
geschieht:  die  halbe  Welt  ist,  was  ihre  Lebensart  angeht,  angel- 
sachsisch.  Und  man  fragt  sich,  ob  sich  diese  deutschen  Radau- 
patrioten  denn  keinen  Atlas  kaufen  konnen,  auf  dem  ja 
immerhin  zu  sehen  ist(  wie  diese  Kugel  heute  nun  einmal  aus- 
sieht.    Folgerungen  — ? 

Der  bestehende  Zustand  andert  am  Wert  dessen,  was  der 
Deutsche  hervorbringt,  zunachst  gar  nichts.  Ich  lebe  jetzt  seit 
rund  sieben  Jahren  im  Ausland,  und  nichts  ist  mir  so  fatal,  wie 
jener  Typus  Deutscher,  der  sich  an  eine  fremde  Nation  weg- 
wirft,  Er  darf  sie  lieben  —  er  soil  sich  nicht  wegwerfen,  Es  gibt 
da  eine  Nummer  von  Deutschen,  die  haben  gewissermaBen 
Notre-Dame  gebaut,  und  wenn  sie  durch  die  londoner  City 
gehn,  dann  mochteri  sie  sich  am  liebsten  auf  dem  Damm  walzen; 
sie  protzen,  und  zwar  mit  der  Macht  der  andern,  gegen  ihr  Land. 
Das  ist  dummes  Zeug  und  verrat  nur  die  eigne  Unsicherheit. 

Der  Wert  Deutschlands  hat  mit  seiner  Weltgelffung 
gar  nichts  zu  tun.  Man  muB  diese  Weltgeltung  nur  genau 
kennen,  sonst  verrechnet  man  sich  zum  Schaden  Deutsch- 
lands, so  wie  sich  die  Kaiserlichen  1914  verrechnet  haben,  wo 
sie  den  Islam  und  Indien  und  weiB  Gott  was  noch  alles  in  ihre 
verfaulte  Rechnung  eingesetzt  haben,  weil  sie  nicht  Bescheid 
gewuBt  haben,  wieviel  sie  in  Wahrheit  drauBen  wert  gewesen 
sind.  Viel  weniger  als  sie  geglaubt  haben  —  etwa  den  zehnten 
Teil.     Das  hat  sich  bis  heute  nicht  geandert. 

Es  gibt  viele  Arten,  einen  Staat  zu  machen.  Mit  der  deut- 
schen Not  ist  kein  Staat  zu  machen.  Es  ist  eine  glatte  und 
simple  Luge,  zu  behaupten,  die  Augen  der  Welt  seien  auf 
Deutschland  gerichtet,  die  Welt  beschaftige  sich  intensiv  mit 
der  deutschen  Krise...  es  ist  nicht  wahr.  DaB  die  beteiligten 
Finanzleute  alles  Interesse  haben,  ihre  in  Deutschland  angeleg- 
ten  Kapitalien  zu  retten,  ist  richtig;  die  breiten  Massen  der  latei- 
nischen  Lander  und  der  angelsachsischen  Welt  befassen  sich 
wenig  mit  uns:  wir  spielen  in  ihrem  Gefiihlsleben  eine  ganz 
untergeordnete  Rolle.  Etwa  die,  die  bei  uns  Bulgarien  spielt 
oder  Jugoslavien.  Die  Volkischen  mogen  ihr  Geheul  stoppen: 
damit  ist  nicht  gesagt,  daB  Deutschland  diesen  beiden  Landern 
gleichzusetzen  sei.  Im  GegenteiL  ich  fiige  etwas  hinzu,  was 
keiner  von  den  volkischen  Beobachtern  nachdrucken  wird,  die 
meine  Artikel  zu  falschen  pflegen.  Ich  fiige  namlich  hinzu,  daB 
der  wahre  Wert  Deutschlands  nicht  richtig  eingeschatzt  wird: 
von  manchen  gebildeten  Auslandern  zu  hoch,  von  den  Massen 
zu  tief. 

Das  ist  Deutschlands  eigne  Schuld.  Was  wir  an  Kultur- 
werten  exportieren,  wie  wir  es  exportieren:  wenn  man  das 
sieht,  mochte  man  sich  inGrund  undBoden  schamen,  Und  das 
nimmt  den  nicht  wunder,  der  etwa  die  Tendenzen  des  Vereins 
fur  das  Deutschland  im  Ausland  kennt.  Diese  Tendenzen  sind 
unentwegt  wilhelminisch;  die  da  haben  nichts  hinzugelernt  und 
alles  vergessen.  Das  einzige,  was  sie  inzwischen  gelernt  haben, 
ist,  wie  man  die  Kinder  in  den  Schulen  zwingen  kann,  diesen 
Trubel  mitzumachen. 

217 


Die  braven  Mittelparteien,  die  heute  vom  patriotischen 
Raptus  befallen  sind  wie  nur  eh  und  je  zu  Beginn  des  Krieges, 
mit  derselben  Terminologie,  mit  denselben  plumpen  Propa- 
gandakiinsten;  sie  irren,  wenn  sie  glauben,  die  Welt  horche  auf 
Deutschland.  Sie  horcht  gar  nicht.  Das  Leben  geht  drauBen 
seinen  Gang,  und  nichts  ist  wahnwitziger  und  verfehlter  als 
diese  torichte  Theorie  vom  „Abgrund"  und  von  der  Welt- 
Katastrophe,  MNoch  geht  es  England  gut .  . ."  In  diesem  Mnoch" 
ist  der  menschenfreundliche  Wunsch  enthalten:  „Uns  geht  es 
schlecht.  Dann  soil  es  denen  aber  auch  schlecht  gehen.  Auch 
sie  sollen  in  den  Abgrund,  in  die  Katastrophe!"  Diese  Kata- 
strophe  spielen  die  Deutschen:  aus  wie  einen  Trumpf  beim  Kar- 
tenspieL  ,,Wenn  wir  schon  untergehen  sollen",  las  ich  neulich 
bei  einem  dieser  wild  gewordenen  Patrioten,  „dann  sollen  sie 
wenigstens  alle  mit/'     Sie  denken  gar  nicht  daran. 

Man  kann  schon  an  der  Verschiedenheit  der  Vokabeln  er- 
kennen,  wie  weit  das  Ausland  von  uns  entfernt  ist.  Es  gibt 
eine  international  Krise  des  Kapitalismus,  aber  die  andern 
werden  auf  ihre  Weise  damit  iertig,  nicht  auf  die  unsre.  Da  fah- 
ren  nun  so  viel  gute  und  brauchbare  deutsche  Reiseschrift- 
steller  in  der  Welt  herum,  die  allerhand  Nutzliches  von  drau- 
Ben nach  Hause  bringen  — ja,  lernt  denn  die  Masse  der  Deut- 
schen nicht  endlich  erkennen,  daB  beispielsweise  Asien  "immer 
asiatisch  reagiert  und  eben  nicht  europaisch  und  am  allerwenig- 
sten  deutsch?  ,,RuBland  muB  badisch  werden!"  stand  zuKriegs- 
beginn  auf  den  Viehwagen,  in  denen  man  das  Menschenmate- 
rial  transportierte.    Aber  ich  fiirchte:  eher  wird  Baden  russisch. 

Sie  haben  drauBen  ihre  eignen  Sorgen,  und  sie  brauchen 
die  unsern  nicht.  Und  Deutschland  ist  ihnen  viel  gleichgiiltiger 
als  jene  im  Geist  Provinziellen  ahnen. 

Genau  so,  wie  die  rasenden  alten  Weiber,  die  sich  Wind- 
jacke  und  Stahlhelm  kaufen,  damit  sie  sich  als  Manner  fiih- 
len,  die  Riickwirkung  der  deutschen  Krise  auf  die  Welt  iiber- 
schatzen  — :  genau  so  tun  es  leider  die  Kommunisten.  Es  war 
einer  der  groBten  und  unbegreiflichsten  Irrtiimer  Lenins, 
zu  glauben,  die  Revolution  springe  fast  mechanisch  auf 
die  Welt  iiber,  wenn  sie  nur  in  RuBland  gesiegt  habe.  Falsch: 
die  Welt  ist  dazu  nicht  reiL  Es  ist  nichts  mit  jener  von  vielen 
Deutschen  so  laut  oder  heimlich  herbeigesehnten  Apokalypse 
—  es  ist  der  Wunsch  des  Schiilers,  die  Schule  solle  verbren- 
nen,  weil  das  Zeugnis  nichts  taugt.  Die  Schule  aber  verbrennt 
nicht. 

Die  andern  denken  nicht  daran  unterzugehen,  nur  deshalb, 
weil  bei  uns  in  schandlicher  Weise  Bankwucher  betrieben  wird. 
Sie  denken  nicht  daran,  in  das  „ Chaos"  zu  stiirzen,  und  zwar 
deshalb  nicht,  weil  bei  ihnen,  den  Lateinern,  den  Angelsachsen, 
den  Amerikanern,  ganze  Schichten  des  Biirgertums  noch  viel 
gesiinder  und  kraftiger  sind  als  das  von  den  Theoretikern  des 
Umsturzes  gewohnlich  in  Rechnung  gestellt  wird.  Diese  Rech- 
nung  ist  falsch.  Was  da  in  Frankreich  knistert,  was  da  in 
England  brockelt  —  ihr  konnt  hundert  Beispiele  zitieren, 
AuBerungen  aus  deren  eigneri  Munde,  Und  ihr  zitiert  sie  alle 
falsch,    weil    einer    englischen   Biirgersfrau    die    Wandlung    der 

218 


Sittcn  fur  die  Nachmittagsbesuche  bereits  wie  Bolschewismus 
erscheint.  Man  muB  mit  franzosischem  MaBstab  mcsscn,  wenn 
man  Marseille  verstehen  will,  und  mit  englischem,  wenn  man  be- 
greifen  will,  was  sich  in  England  wandelt.  Mit  Wiinschen  ist 
nichts  getan.  Ein  anstandiger  Arzt  hat  erst  einmal  vor 
der  Therapie  eine  richtige  Diagnose  zu  stellen,  und  wenn  wir 
ehrlich  sind,  mussen  wir  klar  sehn.  Wir  konnen  die  Tatsachen 
beklagen,  aber  wir  mussen  sie  sehn,  wie  sie  sind.  Was  dadurch 
die  Welt  schleicht,  ist  eine  geistige  Krise  erster  Observanz,  die 
also  die  wirtschaftliche  nach  sich  zieht  —  doch  geht  hier  nichts 
unter.  Es  wandelt  sich  nur  etwas,  und  zwar  grundlegend.  Wo- 
mit  Deutschland  zunachst  gar  nicht  geholfen  ist. 

Das  ist  unbequem,  das  ist  hart,  das  ist  langweilig.  Also 
wollen  sie  das  nicht  sehn.  Sie  wollen:  das  voile  Theater, 
mit  einem  atemlos  gespannten  Publikum,  das  ihren  sentimen- 
talen  Arien  und  ihrem  Panzerkreuzer-Gerassel  Iauscht.  Das 
Land  irrt.  Das  Theater  ist  halbleer,  und  das  Stuck  interessiert 
nicht. 

Also  sollte  man  wohl  diesem  Notstand  anders  begegnen, 
als  mit  jenen  abgebrauchten  Gesten  zu  einer  Gaierie  hin,  die 
gar  nicht  vorhanden  ist.  Welche  Wiirdelosigkeit  ist  darin:  im 
Gerassel  und  im  Gegrein  welche  Wiirdelosigkeit!  Wie  sie 
nach  jedem  Zeitungsaufsatz  fiebern,  der  von  ihnen  Notiz  nimmt. 
Welche  Oberschriften!  „Paris  optimistisch!"  MLondon  ge- 
spannt!"  Aber  es  stimmt  ja  alles  gar  nicht;  das  da  ist  Ange- 
legenheit  eines  kleinen  Klubs  politischer  Fachleute,  und  da- 
mit  basta.  Euer  Einflufi  auf  die  fremden  Kulturkreise  ist  vor- 
handen, aber  er  ist  kleiner  und  ganz  anders  beschaffen  als 
ihr  meint. 

Exportiert  eine  Geistigkeit,  die  die  Welt  angeht,  eine,  die 
in  Deutschland  gewachsen  und  die  echt  ist!  Exportiert  Qualitats- 
waren,  die  es  wirklich  sind,  nicht  solche,  die  durch  Dumping 
und  niedrige  deutsche  Lohne  in  fremde  Absatzmarkte  hinein- 
gepumpt  werden  und  die  man  den  Fremden  vergeblich  als 
Qualitat  einzureden  sucht!  Exportiert  Gutes,  und  ihr  werdet 
Gutes  ernten.  Was  heute  exportiert  wird,  ist  Grofienwahn,  der 
aus  einem  Insuffizienzgefuhl  herriihrt,  und  damit  erobert  man 
keine  Welt. 


Amerikas  Film-Herrschaft  von  Ebbe  Neergaard 

Desteht  tatsachlich  die  Moglichkeit,  dafi  die  gesamte  Film- 
industrie  Europas  bald  von  den  Amerikanern  beherrscht 
werden  wird?  Man  kann  sich  das  heute  kaum  vorstellen,  aber 
wenn  man  die  Entwicklung  der  Industrie  in  Hollywood  seit 
dem  Tage  betrachtet,  an  dem  vor  nur  zwanzig  Jahren  Al 
Christie  dort  das  erste  Studio  begriindete,  so  ist  auch  da  ein 
beispielloser  Vorgang  im  industriellen  Leben:  In  ffinfzehn  bis 
zwanzig  Jahren  von  einem  Gauklerhandwerk  zur  Weltmacht! 
Und  grade  der  amerikanische  Kapitalismus  ist  ja  besonders  stark 
von  der  Zwangsvorstellung  besessen,  daB  Produktion  und  Macht- 
gebiet    einer  Industrie    sich    immer  erweitern  und  steigern    muB, 

219 


ohne  Riicksicht  auf  den  wirklichen,  berechenbaren  Bcdarf.  Der 
amerikanische  Kapitalismus  ist  ja  ein  unaufhaltsames  per- 
pctuum  mobile,  und  die  Filmindustrie,  als  sein  echtes  Kind, 
wird  nicht  damit  zufrieden  sein,  daB  sie  in  den  Vereinigten 
Staaten  ein  Monopol  hat  —  Hollywood  muB  weiter,  immer 
weiter,  wo  es  nur  Wege  gibt, 

* 

In  der  modernen  Gesellschaft  wird  die  Entwicklung  der  In- 
dustrie gelenkt  durch  das  Gesetz  der  Konzentration,  Das  gilt 
auch  fur  die  Filmindustrie,  Amerika  ist  an  der  Spitze  ge- 
wesen,  ist  zuerst  dem  Gesetz  gefolgt  —  nicht  dem  offiziellen 
Gesetz,  das  die  Bildung  von  Trusts  verbietet,  sondern  dem 
Gesetz  der  wirtschaftlichen  Entwicklung.  Die  amerikani- 
schen  Filmindustriellen  haben  von  Rockefeller  gelernt  —  es 
war  nicht  verboten,  einen  Verein  zur  Hebung  des  moralischen 
und  kulturellen  Niveaus  der  Filmproduktion  zu  griinden,  und 
so  entstand  im  Jahre  1922  The  Motion  Picture  Producers  and 
Distributors  of  America,  allgemein  bekannt  als  The  Hays  Or- 
ganization; unter  der  Leitung  des  ehemaligen  Postministers  in 
Hardings  Kabinett,  Will.  H.  Hays,  umfaBt  diese  Organisation 
95  Prozent  der  gesamten  amerikanischen  Filmindustrie,  offi- 
ziell  mit  dem  Ziel,  den  amerikanischen  Film  moralisch  zu 
machen,  in  Wirklichkeit,  um  ein  inoffizielles  Monopol  zu  bil- 
den,  Und  das  ist  erreicht  worden.  In  dieser  machtigsten  Or- 
ganisation der  amerikanischen  Filmwelt  sind  unter  andern 
First  National,  Fox  Film,  Metro-Goldwyn,  Paramount,  RKO, 
United  Artists,  Universal,  Warner  Bros,,  Cecil  B.  de  Mille  und 
D,  W.  Griffith  in  einer  konkurrenzfreien  Freundschaft  unter 
d«r  offiziellen  Fiihrung  von  Hays  vereinigt. 

Auch  in  Europa  folgt  die  Filmindustrie  dem  Konzen- 
trationsgesetz.  Aber  der  nationale  Individualismus,  der  noch 
vorherrscht,  bildet  ein  Hindernis  fiir  diese  naturliche  Entwick- 
lung; immerhin  gab  es  so  viele  Ansatze  zur  internationalen 
Sammlung,  daB  man,  besonders  vor  ein  paar  Jahren,  schon 
gern  yon  einem  „Film-Europa"  sprach.  Wahrend  der  letzten 
paar  Jahre  jedoch  ist  die  Entwicklung  hier  nicht  nennenswert 
weitergegangen.  Die  Konzentration  hat  sich  hauptsachlich  nur 
innerhalb  der  einzelnen  Lander  verstarkt.  Deutschland  bei- 
spielsweise  hatte  im  Jahre  1928  alles  in  allem  78  Produktions- 
gesellschaften  mit  einem  Gesamtkapital  von  73  Millionen  Mark, 
1929  gab  es  nur  noch  66  Gesellschaften,  aber  mit  einem  Kapi- 
tal  von  85  Millionen  I  Auch  in  Frankreich  hat  die  Industrie 
sich  sehr  stark  konzentriert.  Man  scheint  dort  vor  einem 
Monopol  zu  stehen. 

Die  Umstellung  vom  stummen  Film  zum  tonenden  hat  be- 
sonders kraftig  zur  Konzentration  beigetragen,  Im  Juli  1930 
haben  die  deutschen  und  die  amerikanischen  Elektrizitatsge- 
sellschaften,  die  die  Tonfilmpatente  besitzen,  in  Paris  einen 
Vertrag  geschlossen,  der  in  der  Tat,  praktisch  gesehen,  ein  Welt- 
monopol  bedeutet,  das  alle  notwendij^en  Patente,  also  die  Ton- 
filmproduktion  iiberhaupt,  erfaBt.  Western  Electric-RCA  und 
Tobis-Klangfilm  teilten  sich  in  die  Welt:  die  Deutschen  sollen 
Apparate    herstellen     und  Lizenzen    geben    in    Deutschland, 

220 


Oesterreich,  Ungarn,  der  Schweiz,  der  Tschechoslowakei,  Hol- 
land mit  Kolonien,  Danemark,  Schweden,  Norwegen,  Finnland, 
Jugoslawien,  Rumanien  und  Bulgarien;  die  Amerikaner  haben 
das  Monopl  in  U.S. A,,  Kanada  und  Neufundland,  Australien, 
Neu-Seeland,  Straits  Settlement,  Indien  und  RuBIand  und  fak- 
tisch  auch  in  GroBbritannien  und  Irland.  ,,Apparaturen  fiir 
alle  iibrigen  Lander  der  Welt  sollen  sowohl  in  amerikanischen 
wie  in  deutschen  Fabriken  hergestellt  werden." 


Hinter  dem  Sieg  des  Tonfilms,  in  der  Produktion  wie  im 
Detailgeschaft,  in  Amerika  wie  in  Europa,  liegt  etwas  andres 
und  mehr  als  nur  eine  weitere  Konzentration  des  Kapitals. 
Das  Vordringen  des  Tonfilms  ist  tatsachlich  nur  einer  von 
Amerikas  zahlreichen  Versuchen,  Europa  zu  seiner  wirtschaft- 
lichen  Kolonie  zu  machen. 

Schon  ein  paar  Jahre  nach  dem  Weltkrieg,  der  durch  die 
Absperrung  sehr  stark  zur  Entwicklung  der  amerikanischen 
Filmindustrie  beigetragen  hat,  begann  Hollywood  sich  leise 
aber  zahe  auf  den  europaischen  Filmmarkt  einzuarbeiten. 
Man  muBte  neue  Markte  finden,  gesteigerten  Umsatz.  Die 
Amerikaner  richteten  in  Europas  GroBstadten  ihre  eignen  Ver- 
mietungszentralen  ein  und  fingen  an,  die  kapitalschwachern 
nationalen  Firmen  niederzukonkurrieren.  SchlieBlich  waren 
in  vielen  europaischen  Landern  85  bis  90  Prozent  aller  Filme, 
die  gezeigt  wurden,  amerikanisch.  Zu  diesem  Resultat  hat  das 
typisch  amerikanische  ,,block-fcooking"-System  sehr  viel  bei- 
getragen. Als  GegenmaBnahme  wurden  die  Kontingentgesetze 
eingefiihrt.  In  Deutschland  gibt  es  eine  fiinfzigprozentige 
Quote.  In  England  hat  man  die  steigende  Quote:  im  Jahre 
1928  sollten  1%  Prozent  der  vorgefiihrten  Filme  britisch  sein, 
1938  miissen  20  Prozent  im  Lande  selbst  produziert  werden. 
Auch  in  Frankreich  und  I  tali  en  hat  man  sich  durch  Kon- 
tingente  zu  schiitzen  gesucht,  in  Italien  auf  die  Weise,  daB 
deutsche,  englische  und  franzosische  Filme  durch  besondre 
Vereinbarungen  in  das  nationale  Kontingent  mit  eingerechnet 
werden  konnen,  weil  die  italicnische  Produktion  sehr  schwach 
ist  —  eine  deutlich  antiamerikanische  Aktion! 

Nun  begann  das  amerikanische  Filmkapital  und  das  film- 
inter  essierte  Kapital  eine  neue  Taktik:  man  finanzierte  und 
kaufte  Theater  und  Gesellschaften  in  Europa  auf,  was  um  so 
leichter  moglich  war,  als  die  europaische  wirtschaft  in  einer 
Depressionskurve  lag. 

Trotzdem  erschien  die  Situation  den  amerikanischen  Film- 
industriellen  nicht  giinstig  gentug,  und  im  Jahre  1927/28  schien 
man  einen  toten  Punkt  erreicht  zu  haben.  Das  Interesse  auf 
dem  Binnenmarkt  lieB  nach,  und  die  Kurse  der  Filmaktien  an 
der  new  yorker  Borse  fielen.  Besonders  lieB  das  Interesse  des 
Auslandsmarktes  nach:  1925  exportierten  die  Amerikaner  fiir 
8,7  Miilionen  Dollars  Filmet  1927  fiir  1,5  Millionen  weniger, 
und  im  folgenden  Jahr  fiel  der  Export  noch  um  weitere  760  000 
Dollar.  Aber  dann,  von  1929  an,  steigt  der  Export  plotzlich 
wieder,  namlich  auf  7,5  Mill.     Warum? 

221 


■Der  Tonfilm  kam  als  das  RettungsmitteL  Nicht,  daB  er  durch 
einen  gliicklichen  Zufall  grade  in  diesem  Augenblick  erfunden 
worden  ware'  —  es  gab  ihn  schon  langc,  aber  man  hattc  vor- 
her  kcinc  Verwcndung  daftir,  weil  der  stumme  Film  bis  dahin 
guten  Absatz  fand,  Jetzt  aber,  als  die  Filmindustrie  merktet 
daB  die  Kurve  zu  sinken  begann,  nahm  sie  mit  Vergniigen  das 
Kapitalangebot  der  reichen  Elektrokonzerne  an;  sie  hatte  frei- 
lich  ausreichende  Reservefonds,  um  noch  ein  Weilchen  allein 
durchzukommen,  aber  der  kluge  Mann  baut  vor.  Man  nahm 
das  Angebot  an  und  hatte  nichts  Besonderes  gegen  die  Bedin- 
gung  der  Elektroindustrie,  daB  von  nun  ab  nur  Tonfilme  pro- 
duziert  werden  diirften.  Die  amerikanischen  Filmleute 
schwammen  im  Geld,  das  aber  natiirlich  verwendet  und  ver- 
zinst  werden  muBte.  Ein  Teil  des  Geldes  ging  in  die  Pro- 
duction, ein  andrer  ging  fur  die  gigantische  Reklame  drauf, 
die  denn  auch,  jedenfalls  vorlaufig,  das  Interesse  des  Publi- 
kums  stimuliert  hat.  Und  der  letzte  Teil  des  Kapitals  wurde 
iiber  Europa  ausgeschiittet!  Erst  jetzt,  nut  dem  Tonfilm,  mil 
all  dem  schonen,  frischen  Geld  der  Elektroindustrie,  erst  jetzt 
fangt  im  Ernst  die  Eroberung  von  Film-Europa  an.  Auch  in 
Europa  sollen  die  Theater  amerikanische  oder  amerikanisierte 
Tonfilme  zeigen:  die  Amerikaner  kaufen  oder  finanzieren 
Theater;  auch  in  Europa  sollen  Tonfilme  produziert  werden: 
die  Amerikaner  unterstutzen  und  kontrollieren  Filmgesell- 
schaften  (unter  diesen  auch  viele  der  groBten  nationalen), 
griinden  eigne  Ateliers  fur  die  Produktion  in  europaischen 
Sprachen,  rJesonders  in  der  Nahe  von  Paris  (zum  Beispiel  Para- 
mount) und  fordern  im  ubrigen  die  Konzentration  innerhalb  der 
europaischen  Industrie,  weil  sie  so  leichter  iibersehbar  ist.  Mit 
Frankreich  fangt  es  an.  Die  Methode  sei  durch  eins  von  Hun- 
derten  von  Beispielen  beleuchtet:  der  franzosische  Nationalist 
Leon  Bailby,  der,  wie  er  sagt,  franzosischer  als  alle  Franzosen 
zusammen  ist,  kampfte  lange  in  seiner  Zeitung  ,L'Intransigeant* 
gegen  den  Tonfilm,  aber  eines  schonen  Tages  horten  die  An- 
griff e  auf.  Kurze  Zeit  darauf  eroffnete  Bailby  im  Gebaude 
seiner  Zeitung  sein  „eignes"  Kino.  Die  Eroffnungsvorstellung 
war  —  ein  amerikanischer  Tonfilm, 

Europa  ist  zersplittert,  Amerika  einig  —  Europa  ist  ge- 
schwacht,  Amerika  gespickt  —  der  OberfiuB  der  amerikani- 
schen Filmindustrie  mufi  naturnotwendig  in  das  Vakuum  der 
europaischen  Industrie  hereinflieBen.  Die  Amerikaner  sind 
die  ersten,  die  sich  zusammengeschlossen  haben,  daher  sind  sie 
die  starkern,  nun  fordern  und  stiitzen  sie  die  europaische  Kon- 
zentration, weil  die  zeitgemaB,  praktisch,  stark  ist  und  sich 
leicht  kontrollieren  laBt.  Sie  betrachten  auf  ihre  Weise  die 
triibe  europaische  Situation  optimistisch.  Einer  der  unabhan- 
<gigen  amerikanischen  Filmleute,  Edw.  L.  Klein,  hat  neulich 
seine  freudige  Auffassung  der  Verhaltnisse  in  folgenden  unbe- 
fangenen    Worten    ausgedriickt: 

Die  Moglichkeiten  fiir  den  amerikanischen  Produzenten  und  Ver- 
leiher  in  GroBbritannien  und  auf  dem  Kontinent  sind  grofier  als  sie 
jemals  gewesen  sind . . .  Fiir  amerikanische  Interessen  wird  ein 
groBes  Zentralstudio  errichtet  werden,  ohne  Zweifel  „irgendwo  in 
Frankreich" . . .   das   es   den   amerikanischen   Produzenten   ermoglichen 

222 


wird,  in  groBtem  MaBstabe  eine  Massenproduktion  sowohl  in  den 
verschiedenen  Sprachen  des  Kontinents  wie  auf  Englisch  einzuleiten, 
und  es  wird  ein  veritables  europaisches  Hollywood  entstehen.  Es 
werden  auch  Allianzen  zwischen  amerikanischen,  deutschen,  fran- 
zosischen  und  andern  Produktionsgesellschaften  mit  gemeinsamen 
Ateliers  in  oder  urn  Paris  oder  Berlin  entstehen,  und  neue  Theater 
werden  von  amerikanischen  Kapitalinteressen  in  England  und  auf 
dem  Kontinent  erworben  oder  gebaut  werden,  entweder  allein  oder 
in  Zusammenarbeit  mit  britischen  und  auslandischen  Interessen, 


Was  wird  werden,  wenn  Amerika  die  europaischen 
Ateliers,  Verleihe,  Kinos  beherrscht? 

In  dem  Augenblick,  wo  die  Amerikaner  praktisch  das 
Monopol  besitzen  (auf  das  noffizielle"  werden  sie  pfeifen 
konnen),  werden  die  Hollywood-Methoden  tiberall  durchge- 
fuhrt  werden,  und  zwar  in  einer  Form,  die  noch  einseitiger 
sein  wird  als  die  jetzige.  Hollywood  bedeutet  bereits  Kon- 
zentration  in  auBerster  Konsequenz,  Alle  Produktionsgesell- 
schaften,  alle  Regisseure,  Manuskriptverfasser  und  Schau- 
spieler  sind  an  einem  Ort  konzentriert,  haben  keine  Verbin- 
dung  mit  der  Wirklichkeit,  weil  sie  nur  mit  Filmleuten  urn- 
gehen  und  ausschlieBIich  Film  denken,  reden,  riechen,  sehen. 
Das  Ergebnis  ist  Mangel  an  Ideenfrische,  jene  kindische  Angst 
vor  fortschrittlichem  moralischen  oder  sozialen  Denken, 

Die  Konzentration  in  Riesengesellschaften  macht  die 
,,  Organisation"  notwendig:  die  vollig  unpersonliche  Pro- 
duktionsmethode;  weder  Regisseur  noch  Manuskriptverfasser 
oder  Schauspieler  konnen  da  frei  arbeiten.  Sie  sind  durch  die 
„  Organisation"  gebtmden.  „Der  Betrieb  wird  rationalisiert": 
das,  was  die  natiirlichstet  frischeste,  vielseitigste  Kunst  sein 
konnte,  wird  zu  einem  Fabrikprodukt,  einem  Serienprodukt, 
zu  lauter  gleichartigen,  farblosen  Filmen.  Ein  danischer 
Schriftsteller  (der  iibrigens  in  der  kopenhagener  Filiale  der 
Paramount  angestellt  ist)  hat  neulich  in  .Politiken'  einen  Ar- 
tikel:  ,,Verteidigung  des  amerikanischen  Films"  veroffent- 
licht;  darin  heiBt  es:  „Es  ist  unmoglich,  ein  besonders  Hte- 
rarisch  wertvolles  oder  eigenartiges  Manuskript  an  die  ameri- 
kanischen Filmgesellschaften  zu  verkaufen,  aber  man  vergiBt, 
daB  genau  dasselbe  fur  die  europaischen  Filmgesellschaften 
gilt"  —  jawohl,  heute  ist  es  so,  aber  es  war  nicht  immer  so. 
Vor  der  amerikanischen  Invasion,  in  den  Jahren  1919/23,  hat 
vor  allem  die  deutsche  Filmindustrie  eine  Reihe  von  nicht  nur 
literarisch  sondern  filmtechnisch  wertvollen  Manuskripten  ge- 
kauft  und  verarbeitet.  Heute  ist  es  dagegen  unmoglich,  ein 
wirklich  gutes  Manuskript  zu  verkaufen,  und  daran  ist  teils 
direkt  der  amerikanische  EinfluB,  teils  vor  allem  die  Konkur- 
renz  der  smartern  amerikanischen  Filme  schuld,  die  noch  hand- 
fester   den   Geschmack  verderben. 

Die  fabrikmaBige  Filmherstellung  bringt  es  mit  sich,  daB 
individuell  gepragte  Filme  gefahrlich  werden,  Jede  Art  Film, 
die  nicht  fabrikmaBig,  unpersonlich,  innerhalb  der  Organisation 
gemacht  wird,  ist  gefahrlich,  Chaplin,  zum  Beispiel,  ist  ge- 
fahrlich,    Er  hebt  das  Niveau,  er  weckt  den  Geschmack  des 

223 


Publikums  fur  etwas  andres,  besseres  als  das  Serienprodukt, 
Von  hier  aus  muO  man  den  Skandal  urn  seine  Ehescheidung 
vor  ein  paar  Jahren  sehen:  ein  Versuch,  ihh  unmoglich,  un- 
popular zu  machen  —  und  ich  meinerseits  zweifle  sehr  an  der 
Wahrheit  der  zahlreichen  Geschichten  uber  Chaplins  GroBen- 
wahn  und  Snobismus  hochgestellten  Personlichkeiten  gegen- 
iiber,  wie  die  Zeitungen  sie  heute  dauernd  bringen.  Wer  ein 
wenig  von  den  harten  Methoden  der  amerikanischen  Industrie 
weiB,  dem  wird  die  wahrscheinlichste  Erklarung  sein:  er  ist  so 
sonderbar,  er  muB  weg!  Man  konnte  mehrere  Beispiele  dafiir 
nennen,  wie  man  Kiinstlern  ganz  einfach  den  Weg  gesperrt 
hat,  weil  sie  zu  eigenartig  und  zu  tiichtig  waren.  Die 
gewohnliche  Methode,  allzu  tiichtige  Filmkunstler  un- 
schadlich  zu  machen,  ist  ja  sonst,  sie  zu  kaufen.  Das 
klingt  roh,  ist  es  aber  auch:  man  „unterstutzt"  die 
Avantgarde  und  ladt  die  groBen  Europaer  nach  Holly- 
wood ein  (siehe  Jahnings,  Sjostrom,  Stiller,  Greta  Garbo, 
Marlene  Dietrich  „vor  u«id  nach  dem  Gebraucn"!)  Und  wollen 
sie  nicht  mit  hinein  in  die  Organisation,  dann  hinunter  mit 
ihnen!  Nur  Chaplin  hat  bis  jetzt  seine  Stellung  behauptet, 
weil  er  schon  vor  der  groBen  Konzentration  okonomisch  selb- 
standig  war  und  sich  ein  so  groBes  Publikum,  zu  dem  der 
Weg  auch  wirtschaftlich  direkt  geht,  geschaffen  hat,  daB  er 
sich  auch  heute  noch  als  Einzelner  halt  en  kann. 

Je  groBer  die  Konzentration  unter  der  Alleinherrschaft 
der  Amerikaner  wird,  urn  so  leichter  wird  es  ihnen  fallen,  die 
Leute   auszusperren,  die  den  Standard  heben. 

Das  Ziel  der  Amerikaner  ist  nicht,  so  gute  Filme  wie 
moglich  zu  schaffen,  ihr  Ziel  ist  vor  allem  die  Organisation 
selbst,  eine  Art  Industriesport:  sie  fein  und  gutgeolt  gleiten 
machen.  Durch  das  fanatische  und  immer  eingepaukte  Schlag- 
wort  ,, service"  wird  bei  alien  Angestellten  eine  Art  Firma- 
Patriotismus  gezuchtet;  besonders  Paramount,  eben  die  Or- 
ganisation, die  am  st  arks  ten  in  Europa  arbeitet,  zwangt  ganz 
bewtuBt  in  all  ihre  Mitarbeiter  die  Oberzeugung  hinein,  daB 
,(die  Paramount  die  hervorragendste  Organisation  ihrer  Art 
auf  der  ganzen  Welt  ist."  Dies  wird  von  der  Firma  selbst 
„der  Paramountgeist"  genannt.  Die  Organisation  fur  die  Or- 
ganisation, nicht  die  Organisation  um  des  guten,  belehrenden 
oder  kiinstlerisch  hervorragenden  Films  willen,  wie  inDeutsch- 
land  nach  dem  Weltkrieg,  auch  nicht  um  einer  groBen,  kon- 
kreten  Idee  willen,  wie  in  der  Sowjetunion  —  nur  Organi- 
sation, Funktionieren  des  Apparats,  das  ist  das  Ziell 

Je  mehr  sich  die  Konzentration  und  das  Monopol  dieser 
Organisation  befestigt  und  dahin  entwickelt,  auch  Europa  zu 
umfassen,  um  so  mehr  wird  die  Monopolstellung  zum  Publi- 
kum  dazu  fiihren,  daB  die  Reklame  in  noch  hoherm  MaB  als 
heute  die  eigentliche  Kunstbetatigung  der  Filmindustrie  wird, 
die  wirkliche  Probe  fur  die  Macht  der  Organisation.  Heute 
schon  ist  die  Reklame  eine  Art  Sport  geworden,  schon  jetzt 
amusieren  sich  die  Produzenten  damit,  durch  bloBe  Reklame- 
hypnose  kiinstlich  Erfolge  zu  schaffen.  Es  ist  danach  leicht, 
sich  auszumalen,  wie  es  mit  den  Zukunftsaussichten  fur  eine 
ernsthaf te  Filmkunst  stent, 

224 


ReligiOSe  Klllist?  von  Ernst  Kfillai 

Es  ist  Zeit,  das  Wort  Richard  Muthers  von  dcr  Denkmal- 
seuche  umzupragen  in  die  Feststellung,  daB  wir  von  einer 
wahren  Edelkitschseuche  neuer  Kirchenbauten,  dazugehoriger 
Kultgerate,  Bilder  tind  Bildwerke  heimgesucht  werden.  Wo 
ist  das  Forum,  diese  Machwerke  nicht  etwa  cincr  rcligiosen 
Erneuerung,  sondern  einer  iiblen  Pharisaer-Konjunktur  wcgen 
Geisteslasterung  vor  Gcricht  zu  stellen?  Auge  um  Auge,  Zahn 
um  Zahn  fiir  die  unauihorlichen  und  unerhorten,  hanebiichenen 
Gotteslasterungsprozesse  gegen  Ktinstler,  die  wciter  nichts 
vcrbrochen  haben,  als  die  offenkundige  Tatsache  der  Verfil- 
zung  von  Kirche  und  kapitalistischer  Staatsgcwalt  festzunageln, 
Man  kann  diese  kultische  Edelkitschseuche  auf  ersten  An- 
hieb  aus  Griinden  der  Wirtschaftsvernunft  bekampfen.  Schade 
um  das  viele  Geld,  das  in  diese  Scheinkultur  gestcckt  wird, 
wahrend  aus  Geldmangel  dringendste  Notstandsarbeiten  des 
sozialcn  Bauwesens  unterbleiben  mussen.  Der  Staat  ireilich"r 
der  mit  seinen  schwer  erschwitzten  Geldern  an  der  Finanzie- 
rung  der  neuen  Pharisaertempel  direkt  oder  indirekt  beteiligt 
ist,  weiB  sehr  wohl,  was  er  dem  realpolitischen  Btindnis  mit 
der  Kirche  schuldet  Sind  doch  Kanzeln,  Altar e  und  Beicht- 
stiihle  noch  immer  recht  wirksame  Stiitzen  seiner  gemein- 
gefahrlichen  MOrdnung",  Und  die  Kirche  laBt  sich  diese 
Dienste  selbstverstandlich  bezahlen.  Sie  kann  sich  zudem  auf 
die  gewaltige  Zahl  ihrer  eingeschricbenen  Mitglieder  berufen, 
die  trotz  der  vielen  Austritte  die  Zahl  der  Gottlosen  noch 
immer  bei  weitem  iibertrifft  Fiir  die  Seelen  dieser  ansehn- 
lichen  Herde  muB  doch  gesorgt  wcrden.  Also  werden  Kirchen 
gebaut.  Keine  neue  Siedlung  ohne  Kirche,  Du  gehst  an  den 
Grundmauern  irgend  einer  solchen  Siedlung  vorbeL  Inmitten 
ausgedehnter  Wohnblock'e  und  -zeilen,  an  einer  stadtebaulich 
besonders  hervorragenden  Stelle  ist  die  Anlage  eines  groBern 
Bauwerkes  von  offenbar  gehobener  Bedeutung  zu  erkennen, 
Du  freust  dich  auf  ein  neues  Kino  etwa.  Weitgefehlt.  Da 
wird  keine  Vergniigungsstatte,  sondern  eine  Kultstatte  gebaut. 
Eine  neue  Kirche.  Das  Theater,  das  hier  gespielt  wird,  ist 
nicht  profan,  sondern  fromm. 

Es  ware  verkehrt,  wollte  man  dieses  fromme  Theater 
und  seine  neuen  Bauten,  Inszenierungen  und  Re  qui  si  ten  als 
Anwalt  der  Freidenker  kritisieren.  Man  ist  im  Gegenteil  ver- 
sucht,  zu  behaupten,  daB  die  Kirche  ihre  noch  immer  bedeu- 
tende  Anziehungskraft  zum  groBen  Teil  grade  dem  philistrosen 
Ungeist  der  Freidenkerbewegung  zu  verdanken  hat.  Sie  lebt 
von  der  Beschranktheit  ihrer  Feinde,  Allerdings  hat  sie  ne- 
ben  dieser  unfreiwilligen  Hilfe  und  den  VerheiBungen  des  Jen- 
seits  auch  durchaus  greifbare  irdische  Vorteile  und  Nachteile 
zur  Hand,  mit  denen  besonders  der  Katholizismus  auBerst  ge- 
schickt  zu  operieren  weiB  —  wenn  es  gilt,  Glaubige  zu  kodern 
und  zu  belohnen  oder  Ketzer  zu  schneiden.  Katholik  und  Zen- 
trumsmann  zu  sein,  ist  das  beste  Vorzeichen  fiir  Beamte  oder 
solche,  die  es  werden  wollen.  Aber  auch  fiir  freie  Berufe.  Ein 
katholisches  Lippenbekenntnis  ist  ein  solider  geschaftlicher 
Einsatz.     Zumal   wenn   es   in   Formen   kirchlicher  Kunstiibung 

225 


abgelegt  wircL  Der  Katholizismus  gehort  heutc  zu  den  ergie- 
bigsten  Auftragsquellen  fiir  Architekten,  Malcr,  Bildhaucr  und 
Kunstgewerbler.  Seine  kiinstlerische  Regsamkeit  hat  auch  die 
andern  Kirchen  angesteckt.  Die  Ausstellung  von  Kultgeraten, 
die,  vom  dresdner  ,,Kiunstdienst"  veranstaltet,  vor  einiger  Zeit 
im  ganzen  Reich  umherwanderte,  war  die  Musterkollektion 
einer  riihrigen  Kunstindustrie  fiir  alle  Konfessionen. 

Sie  zeigte  katholisches,  evangelisches  und  israelitisches 
Andachtszubehor  friedlich  vereint  im  Zeichen  jener  gespreiz- 
ten,  weil  allzu  bewufiten  und  betonten  Einfachheit  der  For- 
men,  die  sich  selber  mit  einem  modischen,  aber  falsch  an- 
gebrachten  Schlagwort  als  „sachlichM  hinzustellen  beliebt. 
Diese  gebieterisch  gradlinige,  iiberlegene  Haitung  lieB  an  den 
kultischen  Geraten  alles  Symbolhafte,  also  grade  das  im  Reli- 
giosen  eigentlich  Sinnvolle  und  Bedeutsame  mit  Absicht  zu- 
riicktreten,  zugunsten  einer  aufdringlichen  Glanzparade  mo- 
derner  Material-  und  Proportionseffekte.  Die  Folge  war  engste 
Anlehnung  des  erstrebten  sakralen  Charakters  an  das  profane 
Kunsthandwerk  im  Bauhaus-   oder  auch  WerkbundstiL 

Allerdings  brauchten  die  Taufbecken,  Kelche  und  Mon- 
stranzen,  die  Gebetpulte  und  Leuchter  aus  ihrer  sowieso  nur 
scheinheiligen  Reserve  weiter  gar  nicht  hervorzutreten,  urn 
diese  Anlehnung  zu  erreichen.  Der  Werkbundstil  kommt  ihnen 
auf  halbem  Wege  entgegen.  Er  laBt  die  Einfachheit  seiner 
biirgerlichen  Gebrauchs-  und  Ziergegenstande  dermaBen  aus- 
gepragt  und  feierlich  in  Form  treten,  als  sollte  sie  einen  Got- 
zendienst  im  Namen  der  profanen  Dreifaltigkeit  Rationalis- 
mus  —  Materialismus  —  Utilitarismus  zelebrieren.  Seine 
Konfektdosen  etwa  sind  weihevoll  und  monumentalisch  wie 
Urnen.  Seine  Fruchtschalen  sind  wie  geschaffen,  um  mit  den 
hochbedeutsamen  Gebarden  irgend  einer  pathetischen  Tanz- 
gymnastik  dargeboten  zu  werden.  Ein  Kunsthandwerk,  das 
den  profanen  Gebrauchszweck  seiner  Gegenstande  mit  so  viel 
zeremoniellem  Abstand  vor  jeder  unmittelbaren  triebhaften 
Formsinnlichkeit  bewahren  mochte,  ist  eher  Wahrzeichen  einer 
tiberspannten  Idee  und  Monument  seiner  selbst,  als  praktisch. 
Es  streift  schon  an  kultische  Representation,  zumal  wenn  diese 
ihrerseits  wieder  bestrebt  ist,  nicht  so  sehr  symboltrachtig  als 
vielmehr  ganz  ,,zeitgemaB  —  sachlich",  das  heiBt  als  eine  ge- 
schlossene  Front  selbstherrlicher  Gegenstande  dazustehen. 
Zum  kultisch  tib erst eigerten  profanen  Gebrauchsgerat  gesellt 
sich  das  symbolschwache,  rationalisierte  Sakralgerat,  Gleich 
und  gleich  gesellt  sich  gern, 

Es  gehort  zur  besondern  Ironie  dieser  pseudo-religiosen 
Kunstsituation,  wenn  die  eine  oder  die  andre  Werkstatt  das 
verfangliche  Wort  ,, sachlich"  in  programmatischen  AuBerungen 
mit  gewissem  Stolz  auch  fiir  ihr  kirchliches  Kunstgewerbe  in 
Anspruch  nimmt.  Die  Verkniipfung  von  sachlich  und  religios 
ist  von  einer  gradezu  perversen  Paradoxic  Wenn  es  etwas 
restlos  Entgottertes  und  Profanes  auf  der  Welt  gibt,  so  ist 
es  diese  strammdeutsche  Korrektheit  der  kunstgewerblichen 
Zweckform,  dieses  geometrische  Exerzieren  ohne  Hoheit,  aber 
auch  ohne  Anmut,  ohne  Eros,  Man  braucht  nur  ein  wenig 
an   der   Markierung   ihrer   religiosen  Zwecke   zu  retuschieren, 

226 


um  die  kaltc  Pracht  dieser  modernistisch  stilisierten  Kult- 
gerate  in  die  kalte  Pracht  eines  mondanen  Wefkbund:  oder 
Bauhausinterieurs  zu  verwandeln.  Andachtszubehor  fiir  die 
Dame  von  Welt,  fiir  den  Herrn  der  Gesellschaft,  Szenische 
Requisiten  fiir  ein  Theater  der  Anspruchsvollen,  fiir  Rein- 
hardtsche  Kirchenfestspiele. 

Wie  die  Altargerate,  so  ihre  Behausung.  Sieht  man  sich 
die  neuen  Kirchenbauten  an,  mogen  sie  nun  traditionalistisch 
oder  modernistisch  sein,  so  hat  man  immer  den  Eindruck,  eine 
Biihne  fiir  Theaterauffiihrungen  oder  Filmaufnahmen  zu  be- 
treten.  Sehr  begreiflich.  Die  gewaltige,  tief  ins  wirkliche 
Leben  der  Gesellschaft  greifende  mittelalterliche  Kraft  des 
Gottesgiaubens  ist  dahin.  Am  griindlichsten  grade  in  den  so- 
zialen  Schichten,  zu  denen  die  Bewohner  der  neuen  Siedlun- 
gen  gehoren,  die  man  so  eifrig  mit  Kirchenbauten  versorgt. 
So  wenig  der  verlassene  Seelenraum  dieses  Glaubens  mit  dem 
materialistischen  ABC  der  Freidenker  auszufiillen  ist,  so  falsch 
ist  es,  seine  Verlassenheit  mit  den  Kulissen  einer  scheinheili- 
gen  Kirchenbaukunst  zu  bemanteln.  Diese  Architektur  hat 
bestenfalls  ,,Stimmung".  Die  erd-  und  volkverbundene  Reali- 
tat  der  alten  Kathedralen,  Kirchen  und  Kapellen  ist  zum 
asthetischen  Destillat  verdiinnt. 

Es  mag  Landstriche  mit  bauerlicher  Bevolkerung  geben, 
die  ihren  frommen  Glauben  noch  einigermafien  bewahrt  ha- 
ben.  Die  Masse  des  Burgertums,  der  Intellektuellen  :und  erst 
recht  des  Industrieproletariats  ist  gottlos,  Selbst  dann,  wenn 
sie  dem  Gesetz  der  Tragheit  gehorchend  oder  aus  irgend- 
welchen  taktischen  Erwagungen  e^nstweilen  noch  bei  den 
Kirche  verharrt.  Soweit  diese  Masse  irrationale  Geistes-  und 
Gemiitsbediirfnisse  hat,  greift  sie  zu  den  mehr  oder  minder 
verfeinerten  oder  popular  en  Graden  einer  philosophischen 
oder  kiinstlerischen  Befriedigung.  Die  Kunst  aber  hat  ihr 
empfindsames,  nach  Licht  lechzendes  Antlitz  schon  langst  von 
der  erloschenden  Strahlenquelle  abgewandt,  die  wir  mit  dem 
Begriff  ,,Gott"  nur  noch  markieren,  so  wie  man  bei  militari- 
schen  Friedensmanovern  den  ,,Feind"  mit  einer  weiflen  oder 
roten  Schleife  zu  markieren  pflegt.  Wenn  gut  bezahlte  Aui- 
trage  sie  nun  wieder  in  die  Versuchung  bringen,  auf  die  aus- 
gebrannte  dunkle  Hohlung  Gott  zu  starren  und  vor  dieser 
Hohlung  Gebarden  einer  scheinbaren  Frommigkeit  zu  iibenf 
Kirchen  zu  bauen,  Altarbilder  zu  malen,  Kultgerate  herzu- 
stellen,  so  kann  das  kiinstlerische  Ergebnis  dieser  frommen 
Obungen  nur  ein  Formalismus  von  schlimmster  Verlogenheit 
oder  von  guten,  jedoch  ohnmachtigen    Vorsatzen  sein. 

GewiB  gibt  es  Kiinstler,  die  von  der  unleugbar  vorhan- 
denen  seelischen  Not  unsrer  guten  neuen  Zeit  aufs  tiefste  er- 
schiittert  sind,  und  betroffen  vor  der  abgriindigen  Gewifiheit 
eines  Grofien  Unbekannten,  eines  ewigen  X  in  der  Gleichung 
Welt  und  Mensch  stehen.  Lehmbruck!  Gerhart  Marcks! 
Doch  was  sie  gestalten,  ist  die  verkorperte  tragische  Ratlosig- 
keit  und  Vereinsamung,  ein  blindes  Herumtasten,  Die  Kirche 
aber  verlangt  dogmatische  Bekenntnisse,  und  die  sind  von 
solchen  echten  Begabungen  nicht  zu  haben.  Da  springen  die 
betriebsamen   Alleskonner  in   die   Bresche.     Sie  bauen   heute 

227 


«in  Konf  ektionshaus,  einen  Kinopalast,  oder  eine  Tanzdiele, 
morgen  eine  Kirche.  Malcn  mit  der  linken  Hand  cin  monda- 
nes  Damenbildnis  und  mit  der  rechten  eine  Madonna.  Haben 
soeben  eine  Puderbiichse  in  der  Arbeit  und  bringen  im  Hand- 
umdrehen  einen  Behalter  fur  geweihte  Hostien  hervor.  Ge- 
wifl  haben  auch  die  alten  Meister  Sakrales  und  Profanes  ge- 
baut,  gemalt,  modclliert.  Aber  man  braucht  nur  einen  Blick 
auf  ihre  Kirchen,  Altare  und  Mefigerate  zu  werfen.  Vor  der 
innern  Wahrheit  und  Wurde  dieser  Arbeiten  zerfallt  jede 
Oberlegenheits-  und  Sachlichkeitspose,  zerfallt  auch  alles 
krampfhafte  Gottsuchen  unsrer  modernen  Kirchenkiinstler  in 
ein  jammerliches  Nichts.  Je  wortgetreuer  diese  religiosen 
Lippenbekenntnisse  sind,  um  so  peinlicher  ist  das  MiBverhalt- 
nis  zwischen  ihrer  formalen  Sicherheit  und  ihrer  ausdrucks- 
losen  Leere.  Je  raffinierter  ihre  asthetische  Qualitat,  um  so 
affektierter,  also  kitschigert  die  Wirkung.  Und  dieser  kul- 
tische  Edelkitsch  kann  sich  widerspruchslos  in  unsern  Kunst- 
ausstellungen  und  -zeitschriften  breitmachen.  Am  sichersten 
^rade  an  den  Stellen,  die  sich  als  besonders  autorisierte  Ver- 
tretungen  der  modernen  Kunst  aufspielen.  Eine  Hand  wascht 
eben  die  andre.  Die  Gesinnungslosigkeit  unsres  ktinstlerischen 
Lebens,  seines  Schaffens  und  seiner  Kritik  ist  einfach  nicht 
mehr  zu  unterbieten. 

Schatzwechsel  —  und  was  dann?jan  Bargemen 

J  Jnser  Reichsarbeitsminister,  Herr  Adam  Stegerwald,  mag 
es  als  personlichen  Erfolg  fur  sich  buchen,  daB  die  Kan- 
didatur  des  Geheimrats  Schmitz  von  der  I.  G.  Farben  fur  den 
Posten  des  Reichswirtschaf tsministers  nach  einem  heftigen 
Ausfall  des  ,Deutschen'  ganzlich  von  der  Bildflache  verschwun- 
den  ist.  Der  ^Deutsche*  namlich,  das  Blatt  der  christlichen 
Gewerkschaften,  wollte  keinen  neuen  Wirtschaftsminister. 
Man  glaubt  wohl  bei  den  (1Christen",  daB  Adam  Stegerwald 
das  wirtschaftliche  Ressort  im  Reichskabinett  am  besten  auch 
weiterhin  alleine  verwalten  konne. 

Der  Finanzdirektor  bei  der  L  G.  Farben,  Geheimrat 
Schmitz,  wird  freilich  nicht  sehr  traurig  dariiber  gewesen  sein, 
daB  er  gar  nicht  erst  in  die  Verlegenheit  gekommen  ist,  sich 
iiber  seine  Bereitwilligkeit,  als  Wirtschaftsminister  dem  Reiche 
zu  dienen,  positiv  oder  negativ  zu  auBern.  Er  bleibt  weiter 
im  Hintergrund  als  der  unverantwortliche  Ratgeber  der  Reichs- 
regierung  in  alien  wirtschaftlichen  Fragen.  Und  diese  Stellung 
ist  ja  fiir  ihn  in  jeder  Hinsicht  bequemer  und  angenehmer,  als 
die  Verwalturag  eines  Ministerportefeuilles.  , 

Westialb  soil  sich  der  Farb en-Trust  exponieren,  wenn  die 
Dinge  ohnedies  schon  soweit  in  Ordnung  sind,  daB  gegen  seinen 
Willen  kein  Sperling  von  den  Dachern  der  Wilhelm-StraBe 
fallt?  Was  soil  der  L  G,  schon  passieren?  Das  machtigste 
wirtschaftliche  Reichsressort  —  Adam  Stegerwald,  der  nur  in 
den  AuBenbezirken  der  Wirtschaftspolitik  gebieten  darft  ist 
dort  fast  ohne  jeden  EinfluB  —  bleibt  ja  doch,  besonders  in 
kritischen  Zeiten,  das  Finanzministerium,     Und  da  ist,  bei  der 

228 


wechselseitigen  groBen  Schatzung,  die  Schmitz  und  Dietrich 
fureinander  empfinden,  die  Sache  der  L  G.  Far  ben  bestens 
aufgehoben.  Es  ist  ja  noch  gar  nicht  so  lange  her,  daB  der 
«,per$6nliche  Referent"  des  Reichsfinanzministers,  sein  Vor* 
zimmer-Mann  also,  ein  Oberregierungsrat,  das  Geheimnis  die- 
ser Beziehungen  ausgeplaudert  hat:  Wer  die  Dinge  etwas 
naher  kenne,  so  schrieb  er,  der  wisse  auch,  dafi  die  GroB- 
industrie  bei  dem  ErlaB  der  Wirtschafts-Notverordnungen  der 
Ministerialbureaukratie  still  mitgearbeitet  habe.  So  sehen 
diese  Verordnungen  derm  ja  auch  aus. 

Allmahlich  hat  es  sich  nun  herumgesprochen,  daB  die 
I.  G.  Farben,  und  mit  ihr  die  iibrige  GroBindustrie,  selbst  in 
den  Zeiten  des  Unglucks  und  der  Krise  eine  reiche  Ernte  ah 
wirtschaftspolitischen  Errungenschaften  halten  konnen.  Mogen 
Andre  Hunger  leiden  —  ihre  Krippen  werden  von  den  Wirt- 
schaftsministerien  immer  wieder  aufs  neue  gefullt.  So  schlimm 
hat  man  es  beim  Reich  zugunsten  der  Leuna-Leute  getrieben, 
beim  Benzinzoll  und  bei  der  Einfuhrsperre  fin*  StickstofL  daB 
selbst  eines  der  sanftesten  Regierungsblatter  aufbegehrte. 
Welchem  Faktum  wir  das  bittere  aber  berechtigte  Wort  vom 
„L  G.  Deutschland"  verdanken. 

In  den  letzten  Wochen  sind  die  Dinge  noch  weiter  ge- 
diehen,  Es  wird  immer  deutlicher,  daB  nur  noch  Ideologen 
und  Plattkopfe  sich  iiber  die  praktische  Ausfiillung  des 
Schlagworts  von  der  nationalen  Selbsthilfe  Gedanken  machen. 
Unsre  bewahrten  Realpolitiker  sind  iiber  die  Phantastereien 
der  „Deutschen  Planung"  langst  hinausgediehen.  Sie  machen 
das,  was  allein  lohnend  ist:  namlich  Geschafte.  Geschafte  in 
der  Personalpolitik  und  Subventionsgeschafte.  AuBen  steht 
noch  die  Firma  , Rationale  Selbsthilfe"  groB  angeschrieben. 
Von  dieser  Plakatierung  gedeckt,  verteilt  man  drinnen  die 
Postchen  und  die  Quoten  an  neuen  Transaktionen.  Sub- 
ventions wirtschaft  wie  noch  nie! 

Aus  der  Devisen-Zwangsbewirtschaftung  macht  man  durch 
Schaffung  illegaler  Einfuhrsperren  den  „trockenen  Protek- 
tionismus"  —  das  bedeutet  Preisschutz,  bedeutet  Subventionen 
fiir  die  GroBlandwirtschaft,  fiir  den  Waldbesitz,  fiir  die  ver- 
schiedensten  Industriegruppen.  Die  Aufsicht  iiber  die  Banken, 
vielfach  angekiindigt,  bedeutet  die  Schaffung  einiger  hoch- 
dotierter  Posten  fiir  bisher  aktive  Reichsbeamte,  fiir  beschaf- 
tigungslose  Generaldirektoren  und  fiir  besonders  verdiente 
Politiker-  Die  zusatzlichen  Kredite  fiir  die  Erntefinanzierung 
werden  wieder  den  bekannten  Roggenstutzungsgesellschaften 
zuigeleitet.  Und  die  im  ersten  Rausch  der  Entschliisse  als 
„Staatskapitalismus"  gepriesene  Expansion  des  Reichs  auf  dem 
Gebiet  des  Privatbankwesens  prasentiert  sich  heute  schon  als 
eine  groBartige  Subventionsangelegenheit.  Im  Faile  Dresdner 
Bank  und  im  Falle  Akzeptbank  haben  alle  iibrigen  Kredit- 
institute  den  Vorteil  von  den  HilfsmaBnahmen  des  Reichs;  im 
Falle  Danat-Bank  aber  sind  die  groBindustriellen  Glaubiger  und 
die  neuen  groBindustriellen  Besitzer  dieser  Firma  die  fr6h- 
lichen  Selbsthilfegewinnler. 

Natiirlich  geht  eine  soiche  Unterstiitzungspolitik  zugun- 
sten   der   groBen   Kapitalmachte   nicht  ohne   Opfer   ab<   Es   ist 

229 


heute  kein  Geheimnis  mehr,  wer  diese  Opfcr  bringen  muB. 
Bei  den  Kommimen  hat  es  angefangen,  und  die  Lander  wer- 
den  bald  ahnliches  erleben.  Die  Oberbiirgermeister,  die  im 
groBen  Durchschnitt  fast  ebenso  sinnlos  mit  den  ihnen  anver- 
trauten  Werten  gewirtschaftet  haben  wie.  die  typischen  "Ge- 
neraldirektoren  in  der  Privatwirtschaft  mit  den  ihrer  Obhut 
anempfohlenen  Gesellschaften,  werden  jetzt  von  ihrem  Piede- 
stal  heruntersteigen  muss  en,  und  das  ist  recht  und  billig  so. 
Aber  dann  kommt  auch  die  Senkung  der  Gehalter  bei  den 
kleinen  Kommunalbeamten,  es  kommt  der  Abbau  der  Unter- 
stiitzungssatze  bei  der  ..Wohlfahrt",  die  Entlassung  von  Leh- 
rern,  die  Zusammenpferchung  der  Schulklassen,  die  Verrin- 
gerung  der  Lohne  bei  den  Kommunalarbeitern,  und  schlieBlich: 
der  Ausverkauf  des  kommunalen  Betriebsvermogens  an  die 
Privatwirtschaft.  Gas-,  Wassex-  und  Elektrizitatswerke  — 
adel  Von  der  kommunalen  Selbstverwaltung  und,  spater,  von 
der  Autonomic   der  Lander  wird  nicht  mehr   viel  tibrig  bleiben. 

Etappe  zwei:  Steuererhohungen  beim  Reich  (die  „letzte 
Reserve"  der  Umsatzsteuer  muB  ja  einmal  eingesetzt  werden) 
und  Verpfandung  aller  Steuerquellen,  die  fur  eine  monopol- 
maBige  Auswertung  geeignet  sind,  zugunsten  in-  und  auslan- 
discher  Anleihe-Vermittler.  Das  heifit:  Tabak-,  Benzin-  und 
Lotterie-Monopol  —  vielleicht  auch;  Verpfandung  der  Haus- 
zinssteuer,  unter  Kapitalisierung  der  Steuerbetrage.  Als  Er- 
ganzung;  rigorose  Einsparungen  im  Reichsetat,  besonders  bei 
den    Personalausgaben  —  also   bei  Gehaltern   und    Sozialrenten. 

Etappe  drei:  Senkung  aller  Lasten,  die  eine  Rentabilitat 
des  „schaffenden  Kapjitals'*  noch  verhindern.  Also:  Lohn- 
abbau,  Abwertung  der  festverzinslichen  Kredite,  Reduktion 
der  Beitrage  zu  den  Sozialversicherungen. 

Das  ist  der  Weg,  den  man  gehen  wird,  unter  giitiger  Mit- 
wirkung  der  groBen  Wirtschaftsfiihrer,  die  sich  der  Reichs- 
regierung  gern  und  freudig  als  sachkundige  Berater  zur  Verfit- 
gung  stellen  —  mit  der  Bitte,  daB  ihre  Namen  in  der  Offent- 
lichkeit  moglichst  nicht  genannt  werden. 

Ehe  es  soweit  kommt,  durchlaufen  wir  allerdings  noch 
eine  Wirtschaftsphase,  wo  die  Dinge  auf  des  Messers  Schneide 
balancieren,  Man  macht  noch  einmal  den  Versuch,  sich  vor 
der  Verantwortung  zu  driicken.  Die  unpopularen  MaBnahmen 
werden  hinausgeschoben .  ,  ,  vielleicht  laBt  sich  durch  eine 
kleine  Inflation  dies  alles  leichter  und  weniger  schmerzvoll 
regeln?     Diese   Oberlegungen  regieren   die   Stunde. 

Wie  leicht  war  es  doch  fur  das  Reich,  die  Danat-Bank 
zu  stiitzen,  die  Dresdner  Bank  zu  erwerben,  die  Akzept-  und 
Garantiebank  zu  griinden,  die  Rheinische  Landesbank  zu  stiit- 
zen! Man  brauchte  nur  Schatzwechsel  im  Wert  von  ein  paar 
hundert  Millionen  auszugeben,  deren  Verwandlung  in  Bar- 
geld,  iiber  ein  paar  Zwischenstationen,  die  Reichsbank  gerne 
leistete.  Warum  soli  man  nicht  diesen  Weg  weiter  verfol- 
gen?  Die  Wahrung  ist  ja  nicht  gefahrdet,  denn  die  Reichs- 
bank erhalt  nur  vorschriftsmafiige  Handelswechsel  —  und 
wenn  Kritikaster  und  uble  Norgler  von  einer  staatlich  sank- 
tionierten  Wechsel-Reiterei  sprechen,  so  braucht  man  sich 
darum  doch  nicht  im  geringsten  zu  kximmern. 

230 


Die  Entscheidung  dariiber,  ob  sich  das  Reich  die  fur  seine 
eignen  Zwecke  und  fiir  die  Untersttitzung  der  Kommunen 
erforderlichen  Mittel  durch  Anspannung  aller  Reserven  und 
durch  rigorose  Ausgabenbeschrankungen  beschaffen  und  sichern 
will,-  oder  ob  es  nach  beriihmten  Mustern  eine  inflatorische 
Schatzwechsel-Politik  treibt,  muB  sehr  bald  schon  fallen.  Die 
Sicherungen,  die  gegen  inflatorische  Tendenzen  bestehen,  be- 
sonders  am  Statut  der  Reichsbank,  sind  auBerordentlich  stark. 
Deshalb  ist  auch  anzunehmen,  daB  die  Finanzwirtschaft  nicht 
zu  der  bequemen  Aushilfe  der  fortgesetzten  Schatzwechsel- 
Produktion  greifen  wird,  die,  um  es  klar  auszusprechen,  die 
Inflation  bedeuten-  miiBte.  Wahrscheinlich  also  wird  man  an- 
dersherum  vorgehen,  und,  da  schon  eine  Geldentwertung  nicht 
moglich  ist,  die  Abwertung  der  Lohne,  der  Soziallasten  und 
der  Schuldenlasten  auf  direktem  Wege  erzwingen.  Denn  die 
deutschen  Unternehmer  miissen  leben  —  und  sei  es  selbst 
auf  Kosten  *  der  Arbeiter,  der  Konsumenten  und  der  Rentner, 
auf  Kosten  der  Kommunen,  der  Lander  und  des  Reichs. 

Alltarkie  von  Theobald  Tiger 

Ira   Juni  hat  noch  keiner  gewuBt, 
was   Autarkie   bedeutet; 
heut  hebt  sich  jede  deutsche  Brust, 
wenn  das  Schlagwort  herunterlautet: 

Autarkie ! 
Wir  schlieBcn   einfach   die   Grenzen  zu. 
Dann  hat  die  liebe  Seele  Ruh. 
Appelsinen,   jroCe  un  kleene, 
die  machen  wir  uns  alleene. 

Kohlriiben  wachsen  hei  uns  zu  Hauf. 
Fiir  uns  ist  nichts  zu  schade. 
Wir  rauchen  still  unser  Sofa  auf, 
.   mit  Maikafer-Marmelade. 

Autarkie!  Autarkie! 
Wir  schuften  fiir  Zins  und  fiir  Zinseszins, 
und  wir  bleiben  eine  kleine  Provinz, 
Paris  is    ja  so  jemeene! 
Wir  machen  uns  aliens  alleene. 

Dann  halten  wir  fest  das  Proletenpack: 

beherrscht  von  Bureaukraten, 

von  Banken  und  Knuppel  aus  dem  Sack, 

von  Polizei  und  Soldaten. 

Kraht  der  Adler  auf  dem  Mist; 

Autarkie ! 
andert  sichs  Wetter,  oder  es  bleibt  wie  es  ist  — 

Autarkie! 
Fur  Pleite,  Not  und  Kirchhofsruh  — 
brauchen  wir  etwa  das  Ausland  dazu? 

Diese  Wirtschaftskapitane, 

die  machen  det  janz  alleene. 

231 


Bemerkungen 


Der  schtitzende  Paravent 

Am  vorletzten  Sonntag  gab  es 
*^  zum  Morgenkaffee  die  be- 
ruhigende  Nachricht,  daB  die 
,Rote  Fahne'  wiederum  auf  fiinf 
Tage  verboten  worden  sei,  weil 
sie,  wie  es  hiefi,  zu  Gewalttatig- 
keiten  aufgefordert  habe.  Die 
Leser  haben  aber  nicht  erfahren, 
dafi  dieses  Verbot  nach  drei  Ta- 
gen  als  ganzlich  unhaltbar  wie- 
der  aufgehoben  werden  muBte. 
Das  Zentralorgan  der  KPD  hatte 
einen  Leitartikel  veroffentlicht, 
der  die  politische  Plattform  der 
Partei  enthielt,  auf  Grund  deren 
die  Massen  zur  Stimmabgabe  fiir 
den  bevorstehenden  Volksent- 
scheid  im  Freistaat  Preufien  auf- 
gefordert  wurden.  Ein  Teil  der 
Programmpunkte  war  in  be- 
stimmten  „Forderungen"  formu- 
liert,  die  sich  vollinhaltlich  mit 
den  gleichen  Antragen  der  kom- 
munistischen  Reichstagsfraktion 
deckten.  Von  der  Voraussetzung 
ausgehend,  daB  der  Volksent- 
scheid  zur  Auflosung  des  preu- 
Bischen  Landtages  und  zu  Neu- 
wahlen  fiihren  werde,  legt  der 
Artikel  vor  den  Wahlermassen 
die  politischen  Ziele  dart  fur 
deren  Verwirklichung  die  KPD 
k  amp  ft  und  fiir  die  sie  in  einem 
kiinftigen      preuBischen     Landtag 


mitreden  will.  In  dem  Artikel 
ist  iiberhaupt  nicht,  auch  nicht 
einmal  andeutungsweisef  zur  Ge- 
waltanwendung  aufgefordert  wor- 
den: Der  Ausdruck  ,,Rote  Selbst- 
hilfe"  ist  ganz  offensichtlich  und 
deutlich  als  Gegenparole  gegen 
das  Schlagwort  „Nationale 
Selbsthilfe"  gebraucht  wordent 
worunter  nach  der  Auffassung 
der  ,Roten  Fahne'  eine  Reihe  von 
Forderungen  vereinigt  wurden, 
die  gegen  die  Interessen  des  deut- 
schen    Volkes    verstofien. 

Da  die  in  den  Notverordnun- 
gen  vorgesehenen  Beschwerde- 
moglichkeiten  praktisch  in  den 
meisten  Fallen  bedeutungslos 
sindt  wandte  man  sich  unmittel- 
bar  an  die  Innenminister  des 
Reiches  und  PreuBenst  die,  das 
sei  anerkannt,  schneLl  und  form- 
los  Remedur  schafften,  urn  mich 
sanft  auszudriicken.  Die  Erhe- 
bung  einer  RegreBklage  gegen 
den  zustandigen  Beamten  im  ber- 
liner  Polizeiprasidium  war  tibri- 
gens  ernsthaft  erwogen  worden. 
-  Dieses  Verbot  ist  nur  dann  ver- 
standlich,  wenn  man  die  sehr 
weitverbreitete  Ansicht  teilt,  daB 
manche  Beamte  im  berliner  Poli- 
zeiprasidium, gedeckt  durch  den 
schutzenden  Paravent  des  Staa- 
tes,  im  Krieg  zwischen  SPD  und 
KPD      die      Machtmittel      dieses 


Dagegen  wirkt  nur  die  unubertroffene  Abdu  11a  -  Cigarette! 
Standard  ....  o/M.  u.  Gold  ....  Stuck  5  Pfg. 
Coronet  .     .     .    m.  Gold  u.  Stroh/M.   .    .    Stuck    6  Pfg. 

Virginia  Nr.  7   .    .    o/M Stuck    8  Pfg. 

Egyptian  Nr.  16     .     o/M.  o.  Gold Stuck  10  Pfg. 

Abdulla  -  Cigaretten    geniefien    Weltruf ! 

Abdulla  &  Co.       -        Kairo        /       London       /       Berlin 


232 


Staates  in  einer  Weise  ausnut- 
zen,  die  viele  zu  einem  „Ja"  beim 
Volksentscheid  veranlassen,  Wer 
heute  oben  sitzt,  kann  in  diesen 
wirren  Zeiten  morgen  unten  lie- 
gen*  Alle  Richtungen  haben  ein 
gemeinsames  Interesse  daran, 
daB  bei  der  Einsetzung  der  staat- 
lichen  Machtmittel  gewisse  Tur- 
nierregeln  von  den  jeweiligen 
Machthabern  innegehalten  wer- 
den.  Der  eigentliche  Reichspresse- 
chef  ist  zurzeit  der  Pressechef 
des  berliner  Polizeiprasidiums. 
Die  groBe  Machtfiille,  die  in  sei- 
ner Hand  vereinigt  ist,  verhindert 
vielleicht  die  beschauliche  Erin- 
nerung  an  die  Zeit,  wo  er  selbst 
radikaler  war  als  die  heutige 
KPD ;  aber  er  sollte  doch  rein 
fachrhannisch  seinen  Chef  so  be- 
raten,  daB  solche  Blamagen  er- 
spart   bleiben. 

DaB  die  deutsche  Presse  die 
Angelegenheit  bewuBt  oder  weil 
sie  sie  nicht  kennt,  totschweigt, 
ist  nicht  weiter  erstaunlich.  Schon 
beim  vorletzten  Verbot  der  ,Roten 
Fahne*  war  es  allein  das  (Berli- 
ner Tageblatt',  das  sich  nicht 
scheute,  sich  auch  vor  ein  kom- 
munistisches  Blatt  zu  stellen,  wie 
es  auch  fast  als  einziges  biir- 
gerliches  Blatt  die  grundsatz- 
liche  Bedeutung  des  vollig  un- 
begreiflichen        .  Verbotes  der 

„Barrikaden  am  Wedding"  er- 
kannt   hat. 

DaB  man  alle  diese  Dinge 
noch  mit  einem  juristischen 
Mantelchen  umhangt,  ist  fiir 
manch  einen  Juristen  tief  be- 
dauerlich.  Wollen  sich  die  deut- 
schen  Juristen  widerspruchslos 
zu  Biitteln  der  Polizei  degra- 
dieren  lassen?  Ob  sich  ein  deut- 
scher  Richter  finden  wird,  der 
urteilsmafiig    die    fiir   mich    zwei- 


felsfreie  Verfassungswidrigkeit 
der  meisten  Notverordnungen  fest- 
stellen    wird? 

Alfred    Aphl 

Ufa-Dramaturgic 

Folgende  Vorfalle  lassen  es 
ratsam  erscheinen,  im  Ver- 
kehr  mit  der  dramaturgischen 
Abteilung  der  UFA,  besonders  aber 
mit  dem  UFA-Chefdramaturgen 
Podehl,  aufierste  Vorsicht  walten 
zu  lassen: 

Der  Fihnschriftsteller  Adolf 
Lantz  hat  dem  Chefdramaturgen 
der  UFA,  Podehl,  mit  Bewilli- 
gung  des  Autors  und  schriftlicher 
Option  des  Verlages  Felix  J31och- 
Erben  das  Theaterstuck  „Dover — 
Calais'*  von  Julius  Berstl  zur 
Verfilmung  angeboten.  Lantz  hat 
das  Buch  mit  dem  Bemerken  zu- 
ruckbekommen,  daB  der  Stoff 
abgelehnt  worden  sei.  Nach  Ab- 
lauf  seiner  Option  hat  die  UFA 
diesen  Stoff  direkt  vom  Ver- 
lag  erworben,  ohne  Lantz 
auch  nur  in  irgendeiner  Form 
daruber  zu  verstandigen.  Lantz 
richtete  daraufhin  einen  Brief 
an  den  verantwortlichen  Pro- 
duktionsdirektor  der  UFA, 
Ernst  Hugo  Corell,  legte  ihm 
den  ganzen  Sachverhalt  klar  und 
wollte  damit  der  UFA  Gelegen- 
heit  geben,  die  Verfehlung  ihres 
Chefdramaturgen  in  irgendeiner 
Weise  wieder  gutzumachen.  Ge- 
nau  siebeniindvierzig  Tage  vergin- 
gen,  ehe  Herr  Corell  antwortete. 
Er  begriindete  diese  reichlich 
lange  Zeit  damit,  daB  „er  sich 
zunachst  mit  dem  Studium  des 
vorhandehen  Aktenmaterials  be- 
fassen  muBte".  Recht  seltsam 
sind  auch  seine  weitern  Ausfuh- 
rungen.  Namlich:  „Herr  Corell 
hat  sich  in  der  von  ihm  vor- 
genommenen  Prufung   die   Gewifi- 


Lebendige  Kraftquellen 

der  en  Eigenart  sich  schwer  definieren  lafit,  weil  sie  durchaus  singular  im 
heutigen  Schrifttum  dasteht,  sind  nach  aller  Erfahrung 

die  Bucher  von  B6  Yin  Rd 

zu  haben  in  jeder  guten  Buchhandlung.    Einftihrungsschrift  von  Dr.  jur. 

Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos.    Der  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuch- 

handlung  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

233 


heit  verschafft,  daB  auch  in  mo- 
ralischer  Hinsicht  ein  Vorwurf 
Herrn  Podehl  nicht  zu  machen 
ist."  Zugegeben,  daB  der  leitendc 
Produktionsdirektor  der  UFA 
ein  vielbeschaftigter  Mann  ist,  zu- 
gegeben, daB  es  nicht  allein  in 
der-  dramaturgischen  Abteilung 
der  UFA  einiges  aufzuraumen 
"gibt,  so  ist  es  glattweg  einSkan- 
dal,  wenn  er  den  heikelsten 
Punkt  des  Lantzschen  Briefes 
iibergeht  und  in  seiner  Antwort 
auslafit,  daB  Lantz  eine  Option 
auf  das  Stuck  Berstls  hatte, 
Damit  aber,  daB  Herr  Corell  das 
recht  zweideutige  Verhalten  sei- 
nes Dramaturgen  Podehl  deckt, 
erklart  er  es  also  fur  ein  Ge- 
schaftsprinzip  der  UFA,  Stoffe, 
die  man  nach  der  Lektiire  von 
vielen  Buchern  findet  und  anbie- 
tet,  einfach  fur  sich  selber  zu  an- 
nektieren  und  denjenigen,  der  die 
UFA  erst  auf  diese  Idee  brachte, 
zu  hintergehen.  Autoren  und 
Filmschriftsteller  sollen  also  nach 
Herrn  Corells  Ansicht  die  Tatig-  v 
keit  der  festbesoldeten  UFA-Dra- 
maturgen  gratis  und  franko  aus- 
tiben.  Ein  fataler  Irrtum,  Herr 
Corell  1  Ihre  Stellungnahme  wi- 
derspricht  nicht  nur  den  primi- 
tivsten  Ehrbegriffen  eincs  orderit- 
lichen  Kaufmanns,  sondern  ist 
auch  juristisch  unhaltbar.  Den 
Beweis  werden  hoffentlich  bald 
die  prozessualen  Weiterungen  er- 
bringen,  die  der  „Schutzverband 
der  deutschen  Schriftsteller"  eben- 
so  wie  der  t)Verband  der  Tonfilm- 
schriftsteller"  nach  dieser  Ver- 
offentlichung  gegen  Ihre  Firma 
anstreben  wird.  Das  Ob jekt  dieses 
gerissenen  Geschaftstricks  heifit 
jetzt  „Nie  wieder  Liebe"  und 
lauft,  beifallig  von  Publikum  und 
Presse  aufgenommen,  im  berliner 
Gloria-Palast.     Als  Autoren  laBt 


die  UFA  auf  der  Leinwand  eine 
Dame  L  von  Cube  und  den  Re- 
gisseur    Anatol    Litwak    zeichnen. 

Der  suddeutsche  Filmautor 
Ernst  Iros  schrieb  auf  Veranlas- 
sung  des  damaligen  UFA-Drama- 
turgen,  Doktor  Roland  Schacht, 
zwei  Exposes,  denen  der  Roman 
Reck-Malleczewens  „Bomben 

uber  Monte  Carlo"  zugrunde  lag. 
Iros  entnahm  aus  der  Korrespon- 
denz  mit  Doktor  Schacht  die 
grundsatzliche  Bereitwilligkeit 

von  Seiten  der  UFA  zur  Verfil- 
mung  des  Sujets,  wurde  dann 
aber  durch  die  Nachricht  iiber- 
rascht,  dafi  die  UFA  das  Ver- 
filmungsrecht  vom  Verlag  Scherl 
direkt.  erworben  habe.  Er  hat  bis 
heute  nichts  mehr  von  der  UFA 
gehort. 

Der  Filmschriftsteller  Doktor 
Josef  Than  besorgte  sich  in  Wien 
bei  dem  Komponisten  Eisler  eine 
schriftliche  Option  auf  dessen 
Operette         „Der  uns'terbliche 

Lump"  und  bot  sie  unter  Options- 
Vorweisung  dem  damaligen  Chef- 
dramaturgen  der  UFA,  Robert 
Liebmann,  unter  der  Bedingung 
an,  daB  er  auch  den  Auftrag  zur 
Herstellung  des  Manuskripts  er- 
halte.  Wenige  Tage  nach  Ablauf 
der  Option  erwarb  die  UFA  den 
Stoff  direkt  vom  Verlag,  ohne 
Than  auch  nur  zu  verstandigen 
oder  ihm  ein  Manuskript-Ange- 
bot  zu  machen.  Bis  auf  den  heu- 
tigen  Tag  hat  man  von  seiten  der 
UFA-Dramaturgie  Than  mit  lee- 
ren    Versprechungen    hingehalten. 

Der  Filmautor  Johannes  Brandt 
machte  der  UFA  den  Vorschiagf 
einen  Film  „Flotenkonzert  von 
Sanssouci"  herzustellen.  Die  dra- 
maturgische  Abteilung  der  UFA 
bestellte  bei  ihm  ein  Treatment 
und  schlofi  mit  Brandt  einen  Ver- 
trag,    der    ihn    berechtigte,     auch 


Unser  Umsatz  steigt!!! 


nicht  trotz,  sondern  infolge  der  Krise.    Denn  jedermann  forscht 
nach  Ursadte,  Wesen  und  weiterem  Verlauf  dieser  Krise  —  und 


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234 


das  endgiiltige  Drehbuch  auszu- 
arbeiten.  Brandt  war  verpflich- 
tet,  alle  von  der  UFA  gewunsch- 
ten  Anderungen  zu  machen,  was 
er  auch  tat,  Sein  Drehbuch  wurdc 
endgiiltig  fiir  gut  befunden.  Die 
UFA  veroffentlichte  Brandt  in 
den  Tages-  und  Fach-Zeitungen 
als  Autor  dieses  Films.  Trotzdem 
wurde  Brandts  Manuskript  bei- 
seitegelegt  und  der  Freund  des 
Regisseurs  Gustav  Ucicky,  der 
Filmautor  Walter  Reisch,  beauf- 
tragt,  ein  neues  Drehbuch  anzu- 
fertigen.  Bei  der  Premiere  des 
Films  wurde  Brandts  Name  iiber- 
haupt  nicht  erwahnt,  und  erst 
Entscheidungen  des  Landgerichts 
und  spater  Kammergerichts  zwan- 
gen  die  UFA,  in  alien  Plakaten, 
Inseraten  und  Veroffentlichungen 
Brandts  Namen  zu  nennen  und 
ihm  eine  hohe  Entschadigung  zu 
zahlen. 

Vorfalle  ahnlichen  inkorrekten 
Geschaftsgebahrens  der  dramatur- 
gischen  Abteilung  der  UFA  sind 
noch  viele.  Sie  ahneln  sich  je- 
doch  derart,  daft  es  unnotig  und 
ermiidend  ware,  sie  alle  einzeln 
aufzuzahlen.  Der  offentliche  Hin- 
weis  in  dieser  Form  wird  hoffent- 
lich  genugen,  die  maBgebenden 
Herren  der  UFA  darauf  hinzu- 
weisen,  dafi  man  die  monopoli- 
stischc  Stellung,  die  zweifellos 
ihre  Firma  innerhalb  der  deutschen 
Filmindustrie  innehat,  wenigstens 
materiell  Schwachern  gegentiber 
nicht  derart  rigoros  wider  Treu 
und    Glauben   ausnutzt. 

Max  Magnus 

Lange  Leltung 

|7  iir  Wasserklosetts  mit  Hoch- 
*•  behalterspulung  hat  eine 
rheinische  Firma  einen  geistreich 
ausgedachten,  wassersparenden 
Zusatzapparat  herausgebracht,  den 


I 


ich  in  einem  chemnitzer  Hause  sah 
und  der  durch  folgende  fett- 
gedruckte  Erlauterung  gekenn- 
zeichnet  ist: 

Bei  kleinem  Austritt 

nur  Hauptkette   ziehen. 
Bei  groBem  Austritt 
zuerst     Auslosekette      (Ring) 
mit    einer    Hand    ziehen    und 
festhalten,    dann    Hauptkette 
mit  der  andern  Hand  ziehen. 
Wie  ist  es  nun  bei  groBem  und 
kleinem  Austritt?     Das  ist  leider 
nicht   angegeben. 

Leutnant  warst  du  efnst  .  .  ♦ 

n  diesen  furchtbar  ernsten  Zeiten 

Ists    i  edes    Deutschen     hochste 

Pflicht, 

DaB  er  —  und  selbst  in  Kleinig- 

keiten  — 

Nur  Deutschen  hilft  und  Fremden 

nicht! 

Deshalb   mufi    man  bei  Deutschen 

kaufen! 

Ein    Schweinehund,     ders    anders 

machtl  — 

Wozu  zum  Juden,  Fremden 

laufen, 
Die  nur  aufs  eigne  Wohl  bedacht? 

Von  Fremden  wird  man  doch  be- 
trogen 
Und  machtig  iibers  Ohr  gehaun, 
Auch  oftmals  bbse  ausgesogen!  — 
Nur  deutschen  Firmen  kann  man 
traun! 

Drum  kauf  ich  nur  bei  deutschen 
Firmen, 
Die  stehn  im  ,,V.  B."  und  „I.  B.M! 
So    helf    ich    deutsche    Arbeit 

schirmen 
Und    Hndern    deutsche    Not    und 

Weh! 
Hans-Joachim  v.  Sckulz,  Leutnant 
z.  S.  a.  D.  und  Kaufmann, 
Zoppot,      SchaferstraBe    18 


DAS  BUCH   DIESES  SOMMERS 
EIN  EUROPAlSCHES  EREIQNIS: 

WAHN-EUROPA 1934  ^:,;'e^ 

THOMAS  MANN:  „Ich  schulde  Ihnen  Dank  fQr  die  Be- 
hanntschaft  mit  diesem  ausgezelchneten  politlschen  Roman." 
EMIL  LUDWI6:   „  .  .  .  ailes   1st  ausgezelchnet  gelungen." 

348  Selten,   Ganzleinenband  4,80  Mark 
FACKELREITER*VERLAG,HAMBURG-BERGEDORF 

/  235 


Grofie  Zeiten  (neueste-  Ausgabe) 

r\ie  Zcit  ist  vfel  zu  grofl,  so  groB  itt  sie. 

Sie  wuchs  zu  rasch.  Es  wird  ihr  echlecht 

bekommcn. 

Man  nimmt  ihr  taglich    Ma0   und   denkt 

beklommen : 

So  groB  wie  faeute  war  die  Zcit  no ch  nie. 


Die  Selbstbewufite 

lUfein  Herr",  rief  Emma!  „was 
»*"  denken  Sie  von  mir?  Ich 
bin  ein  solides  Madchen/' 

„Waren  Sie  nicht  drei  Jahre 
verlobt  mit  einera  Maler?" 

„Gewifi.  Aber  die  Strtimpfe 
nab  ich  immer  anbehalten." 


Sie  wuchs.  Sie  wachst,  Schon  geht  sie 
aus  den  Fugen. 
Was  tut  der  Mensch  dagegen?  Er  ist  gut. 
Rings  in  den  Wasserkdpfen  steigt  die  Flut. 
Und  Ebb e  wird  es  im  Gehirn  der  Klugen. 


Der  Optimistfink  schlagt  im  Blatterwald. 
Die  guten  Leute,  die  ihm  Futter  gaben, 
sind  gHicklich,  dafl  sie  einen  Vogel  haben. 
Der  Zukunft  werden  sacht  die  FtiBe  kalt. 


Wer  warnen  will,  den  straft  man  mit  Ver- 

achtung. 
Die  Dummheit  wurde  zur  Epidemic 
So  grofl  wie  heute  war  die  Zeit  noch  nie. 
Ein  Volk  versinkt  in  geistiger  Umnachtung. 

Erich  Kastner 


Neues  votn  Tage 

Uerr    Professor   Carl   Schnritt- 

•■*  *  Berlin    macht    mich    freund- 

licher  Weise  darauf  aufmerksam, 

daB    die    Kirche    in     den    ersten 

Jahrhunderten     auctontas,     aber 

nicht  potestas  beansprucht  habe." 

.Deutsche s    Volksiurn 

August    1931 

Liebe  Weltbuhne ! 

F\ie  frankfurter  Zeitung'  hatte 
*-^  in  Kopenhagen  einen  Korre- 
spondenten,  der  nicht  viel  tat. 
,  Mahnungen  blieben  erf  olglos. 
SchlieBlich  wurde  Rudolf  Geek 
vom  Verlag  aufgefordert,  dem 
Manne  den  Text  zu  lesen. 

Geek     setzte      sich     hin      und 
schrieb    f olgenden    Brief : 
Sehr    geehrter    Herr! 
Etwas   ist   faul   im   Staate   Da- 
nemark.     Und  das  sind  Sie. 
Mit   Grufi 

— ck 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Bund  proletarisch  revolutionarer  Schriftsteller,  Gruppe  West.  Schulungsabend.  Diens- 
tag  20.00:  Lokal  Kulka,  Wilmersdorf,  Lauenburger  Ecke  UhlandstraQe:  Alfred 
Kureila;  Die  Lage  der  Schrifts teller  in  der  Sowjetunion.    DUkussion. 

Kamplkomitee  fur  die  Freiheit  dea  Schriftturas.  Freitag  20.00:  Oeffentliche  Ver- 
sammlung  im  Schubert-Saal,  BulowstraQe:  Gegen  die  Zens ur.  Es  sprechen:  Joh. 
R.  Becher  ttber:  „Die  Schriltsteller  und  die  Freiheit",  Bernard  v.  Brentano  Qber 
..Wissenschaft  und  Fortschritt",  Johannes  K.  Koenig  uber  „Gotteslasterung"  und 
Jurgen  Kuczynski  aber  ..Statistik  und  Wahrheit". 

Bflcher 

E.  J.Gumbelr  „LaBt  K6pfe  rollen".    Fascistische  Morde  1924-1931.    Flugftchrift.    Preis 

10  Pfg.    Deutsche  Liga  fur  Menschenrechte. 
Felix  Hollaender:  Ein  Mensch  geht  seinen  Weg.    Ullstein  Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Montag.  Berlin  21.00:  .Oedipus"  von  Sophokles,  bearbeitet  von  Heinz  Liepmann.  — 
Langenberg  18.00:  A.  Paquet;  Fahrt  auf  dem  Oberrhein.  —  Dlenatag.  Koniffs- 
wusterhausen  18.00:  F.  Stossinger:  Die  moderne  Franz 6 sin  im  Leben  und  in  der 
Literatur.  —  Wien  17.45:  Norbert  Schiller:  Novellen  und  Marchen  aus  Arabien  und 
Indien.  —  Mittwoch.  Berlin  15.40:  Kurt  Ruhemann:  Fttrsorge  far  hirnverletzte 
KriegsbeschEdigte.  —  18.25:  Albert  Daudistel  liest  eigene  Erzahlungen.  —  21.10: 
Heitere  Bilder  um  und  von  Jerome  K.  Jerome,  Querschnitt  von  Renee  Christians.  — 
Donneratag.  Breslau  20.30;  Ein  Mann  erklart  einer  Fliege  den  Krieg,  HSrspiel  von 
Wilb.  Schmidtbonn.  —  Mtinchen  20.45:  Lesestunde.  MDer  GroBe",  hist  No  veil  e 
von  Strindberg.  (Ewald  Balser).  —  Freitag.  Berlin  17.50:  Ernst  Gl&ser  liest  eigene 
Arbeiten.  —  Sonnabend*  Muhlacker  18.40:  Atte  und  neue  Publizistik.  (Hannes 
Ktippers  und  Erik  Reger). 

236 


Antworten 


Alfred  Kolmar*  Sie  schreibeh:  ,,Herr  Staatssekretar  a.  D,  Pro- 
fessor Doktor  Julius  Hirsch  ist  bekanntlich  der  Er finder  des  ameri- 
kanischen Wirtschaftswunders.  Nun  sollte  man  meinen,  daB  die 
Ent  wick  lung  der  amerikanischen  Wirtschaft  wahrend  der  letzten 
Jahre,  die  so  gar  nicht  wunderbar  gewesen  ist,  Herrn  Hirsch  einigen 
AnlaB  zur  Beobachtung  groflter  Vorsicht  bei  der  Behandlung  wirt- 
schaftlicher  Fragen  geben  sollte.  Unter  uns:  Von  einem  ,Volks- 
wirt',  der  ein  so  blamables  Buch  geschrieben  hat,  wiirde  sich  in  Eng- 
land und  in  Frankreich  wahrscheinlich  kein  Student  mehr  prufen 
lassen.  In  Deutschland  ist  es  dagegen  moglich,  daB  Herr  Hirsch 
sich  in  Leitartikeln  immer  wieder  blamieren  darf.  Das  ist  ihm  neu- 
lich  im  .Berliner  Tageblatt'  in  gradezu  fabelhafter  Weise  gelungen, 
Herr  Hirsch  fiihlt  sich  als  ,Fachmann  fiir  Amerika*  natiirlic'h  dazu 
berufen,  zu  dem  amerikanischen  Angebot  eines  Rohstoffkredites  fiir 
Deutschland  Stellung  zu  nehmen.  Er  ,untermauert*  —  wie  man  heute 
in  Deutschland  so  schon  sagt  —  seine  selbstverstandlich  positive 
Stellungnahme  zu  diesem  Angebot  mit  dem  folgenden  Zahlenmaterial : 
Einfuhr  Deutschlands  aus  U.S.A.  in  Millionen  Reichsmark 

Jahr  Baumwolle  Kupfer  Weizen 

1927       832,6  356,0  674,0 

1928 795,0  376,0  571,0 

1929       815,0  404,0  448,0 

1930 581,0  251,0  231,0 

1931  erste  6  Monate  187,0  94,5  49,6 

Es  ist  Herrn  Hirsch  hierbei  ein  ganz  groteskes  Versehen  passiert 
Er  braucht  nicht  zu  wissen,  daB  die  Vereinigten  Staaten  im  ersten 
Halbjahr  1931  nur  27,8  Prozent  der  deutschen  Kupfereinfuhr  gedeckt 
haben;  dafur  ist  er  Professor.  Aber  er  sollte  sich  wenigstens  die 
Kopfe  der  gedruckten  Statistiken,  die  er  verwertet,  genauer  ansehn, 
Dann  wiirde  er  namlich  merken,  daB  Deutschland  im  Jahre  1930 
nicht  fiir  1063  Millionen  Mark,  sondern  nur  fiir  515  Millionen  Mark 
Baumwolle,  Kupfer  und  Weizen  aus  U.S.A.  gekauft  hat  Herr 
Hirsch  hat  sich  den  Scherz  geleistet  ,in  der  ganzen  Tabelle  statt  der 
Werte  des  deutschen  Importes  aus  den  Vereinigten  Staaten  die  des 
deutschen  Gesamtimportes  an  Baumwolle,  Kupfer  und  Weizen  ein- 
zusetzen.  Ein  kleiner  Unterschiedl  Denn  so  entsteht  naturlich  der 
Eindruck,  daB  die  Amerikaner  uns  viel  groBere  Mengen  der  frag- 
lichen  Materialieri  kreditweise  zur  Verfiigung  stellen  wtirden,  als  sie 
uns  gegen  bar  jemals  geliefert  haben,  Oder  will  Herr  Hirsch  den 
Amerikanern  ein  Lieferungsmonopol  fiir  Deutschland  einraumen?  Dann 
mag  er  das  sagen,  aber  nicht  mit  falschen  Zahlen  kpmmen.  Er 
miiOte  dann  aber  auch  darauf  hinweisen,  daB  die  Folgen  eines 
solchen  amerikanischen  Monopols  fiir  den  deutschen  Export  nach 
den  Landern,  aus  denen  wir  sonst  noch  die  fraglichen  Materialien 
beziehen,  gar  nicht  abzusehen  waren.  Vielleicht  wfrd  sich  Herr  Hirsch: 
auf  einen  Schreibfehler  herausreden  wollen,  der  passieren  konnte. 
Urn  der  Moglichkeit,  ja  Wahrscheinlichkeit  dieser  Ausrede  willen* 
ist  die  ganze  Glosse  geschrieben  worden.     So  etwas  darf  nicht  pas- 

Jtteine  (flJtt.  IO©.-  JiusTeise~9e&uhvl 
Ctkne  £>evisen  in  die  (Tatral 

20  Tage  RM.  190,—  mit  K"  und  Badearzt  66,- RM.  mehr, 

on  Tfl«fl  dm  QRR  _  infelnslvetReise  bin  u.  zni'ticbt 

dU  I  age  KM.  -*DO,—  erstkl.Verpflegiing,Kurtaxe,Bedienungl 

Alle  Zimmerfliefl.  warm.  u.  kait.  Wasser. 

Ham  Ctodal,  Lnbochna.         Auskunlt:    Western]  67&£, 

237 


sieren  und  am  wenigsten  einem  Gelehrten,  der  es  fur  sich  in  An* 
spruch  nimmt,  in  wirtschaftlichen  Fragen  gehort  zu  werden,  Es  han- 
delt  sich  hier  nicht  urn  Herrn  Hirsch  allein  und  um  seine  Beweis- 
fuhrung,  die  er  einem  Studenten  seines  Seminars  hoffentlich  nicht 
durchgehen  lassen  wiirde,  Aber  diese  Schluderei,  die  nicht  nur  in 
der  sogenannten  schonen  Literatur  und  ihrem  scheuBlichen  Betrieb 
sondern  auch  in  der  angeblich  wissenschaftlichen  Behandlung  von 
Wirtschaftsfragen,  also  von  Lebensfragen,  zur  iibelsten  Gewohnheit 
geworden  ist,  darf  in  Zukunft  nicht  mehr  geduldet  werden.  Man 
wird  den  Herren  von  nun  an  mehr  auf  die  Finger  sehen.  Wir  haben 
gar  keine  Lust  mehr  dazu,  uns  widerspruchslos  von  irgend  einem 
.Volkswirt   wundermild*   blauen   Dunst   vormachen   zu   lassen." 

Willi  Miinzenberg,  M.  d.  R.  Sie  schreiben  unter  Hinweis  auf  das 
Pressegesetz:  (,In  Nummer  30  der  .Weltbuhne*  befindet  sich  fol- 
gende  Behauptung:  ,Und  diese  Wut  ist  begreiflich,  wenn  man  be- 
denkt,  daB  der  rote  Aufbau  des  Miinzenberg-Konzerns  auf  Danat- 
Krediten  ruht/  Diese  Behauptung  ist  unrtchtig.  Richtig  ist,  daB 
keiner  der  von  mir  kontrollierten  Betriebe  irgendwann  und  irgend- 
welche  Summen,  und  seien  es  auch  die  kleinsten,  von  Jakob  Gold- 
Schmidt  oder  von  einer  von  ihm  beeinfluBten  Bank  oder  Gel  destitu- 
tion in  irgendeiner  Form  erhalten  hat." 

W.  K.  Sie  schreiben:  ,, Unter  zwei  Bildern  des  prunkvollen 
Hauses  der  Familie  Lahusen  in  Bremen  lesen  wir  in  der  ,Neuen 
Badischen  Landeszeitung'  in  Mannheim  vom  11.  Juli:  ,Die  Patri- 
zierdynastie  Lahusen  in  Bremen  hatte  sich  in  SchloB  Hohehorst  einen 
Landsitz  errichtet,  der  fiir  einen  der  edelsten  und  schonsten  Schop- 
fungen  der  modernen  deutschen  Baukunst  gait/  Zehn  Zeilen  wei- 
ter,  auf  der  gleichen  Seite,  hat  der  brave  demokratische  Kritiker 
bereits  diese  Meinung:  tAuBer  ihren  kiinstlerischen  Neigungen,  wenn 
man  das  Protzenhaus  in  Hohehorst  unter  solcher  Rubrik  einordnen 
darf,  hatten  die  Lahusens ,, .  /  Eben  erst  ,Patrizierdynastie'  und 
zehn  Zeilen  spater  schon  bemitleidenswerte  ,Protzen\  Und  gleicher- 
maBen  iiberkommen  den  armen  Kritiker  bose  Zweifel,  ob  man  die 
,edelste  und  schonste  Schopfung  moderner  deutscher  Baukunst'  in 
das  Gebiet  der  Kunst  rechnen  durfe.  Liebe  Neue  Badische,  Dein 
Kunstreferent  ist  nicht  ganz  sattelfest,  Schon  vor  einigen  Wochen 
hat  er  die  berliner  Nationalgalerie  Schinkel  zugeschrieben.  Armer 
SchinkeL  Wenn  man  schon  zwei  kiinstlerische  Seelen  in  seiner 
Brust  wohnen  hat,  so  empfiehlt  es  sich,  immer  nur  eine  auf  einmal 
reden  zu  lassen/' 

Leser  in  Leipzig.  Wenn  Sie  Interesse  an  regelmafiigen  wochent- 
lichen  Zusammenkunften  der  Weltbiihnenleser  Ihrer  Gegend  haben, 
geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Kurt  Lowenthal,  Leipzig  C,  1, 
Kohlgartenstr.  18,  IL,  bei  Wellmann. 

Magdeburger.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  „Hauptpostlagernd 
Magdeburg  P.  S.  500",  Der  Empf anger  beabsichtigt,  regelmaBige 
Zusammenkunfte  der  magdeburger  Weltbiihnenleser  in  die  Wege  zu 
leiten. 


Manuskript*  find  am  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Cborlottenburg,  Kantatr.  152,  zu 
richten;  ea  wird  gebcten.  ihneo  Ruckporto  beizuleyen.  da  toast  keine  Rndcsendung  erfolfcn  It  ana. 
Da.  Aufftthrungtrecht,  die  Verwertung  van  Tilelnu.  Text  im  Rahmen  des  FUmi.  die  muaik- 


mechanUehe  Wiedergab*  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiorortrtgen 
falelben  fttr  nlU  in  der  WeltbOhne  eracheinenden  Beltr&ge  auadrBcklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne   wurde   begriindet   von   Siegfried   Jaeobsoho    und    wird   von   Cail  v.  OsBietzky 
untei   Mitwirkung    von  Kurt  Tuchotiky  eeleitet  —  Verintwortlich:    Carl  v.  Owtetzky,    Berlin; 

Veda*  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacob.ohn  &  Co*  CharloHenbur*. 

Telephon:    CI.  SteinpUts  7757.  —  Postachedtkonto:  Berlin  119 5& 
Bankkonto.     Darmatadter    u.    Nfttiooalbank,      Depositenkaaae    Charlottenburg.    Kantatr.    112 

238 


XXVII.  Jahrgang  18.  Angost  1931  Nommer33 


BfilOW-PlatZ  von  Carl  v.  Ossietzky 

Am  Sonntag    den  9.  August,  abends  acht  Uhr,  sind  am  ber- 
^*   liner   Biilow-Piatz    vor  dem    Lichtspieltheater   „Babylon" 
zwei  Polizeioffiziere,  die  eine  Streife  fiihrten,  meuchlings  er- 
mordet  word  en;   ein  dritter  erhielt  eine  schwere  Verletzung. 
Als  die  Polizei  das  Feuer  erwiderte,  blieben  ein  paar  Leute 
tot   und  verwundet  liegen,   Leute,   von  denen  niemand   weiB, 
ob  es  Konibattanten  oder  Passanten  waren.  Wir  werden  auch 
schwerlich  Jemals  die  Wahrheit  erfahren,  derm  inzwischen  ist 
das  Bild  dieser  traurigen  Vorgange  durch  eine  Kommunisten- 
hetze verfalscht  und  verzerrt  worden,  wie  wir  sie  seit  langem 
nicht  erlebt  haben,     Ja,  alle  innere  Politik  scheint  in  diesem 
Augenblick   nur   Kommunistenhetze   zu   sein  und   nicht  mehr. 
Selbst  bei  denjenigen  liberalen  Blattern,  die  sich  sonst  ein  ge- 
wisses  Maft  von  Objektivitat  bewahren,  auch  wenn  es  sich  urn 
Linksradikale   handelt,    gelten    die   Behauptungen  der    Polizei 
als  sakrosankt.  Es  gilt  als  erwiesen,  daB  die  KPD  die  Meuchel- 
morde  am  Btilow-Platz  gewiinscht  und  planmaBig  durchgefiihrt 
hat,     Sie  unterhalt  Terrorgruppen,  sie  unterhalt  eine  Geheim- 
abteilung  fur  Sprengstoff-Attentate  wie  das  von  Juterbog.  Nir- 
gends  regt  sich  angesichts  der  Fiille  von  Geruchten  eine  re- 
gulierende    Skepsis*      Nirgends   denkt    man    daran,    die    vom 
Polizeiprasidium    ausgegebenen   Berichte   unter   eine    kritische 
Sonde  zu  nehmen,     Nirgends  erinnert  man  sich  der  blutigen 
Maitage  von  1929,  die  bekanntlich  mit  wilden  Aufruhrmeldun- 
gen  begannen  und   mit   einer  ausgewachsenen   Polizeiblamage 
endeten.     Das  SchluBergebnis  bildeten  dreiBig  Tote  und  drei- 
mal  so  viel  Verletzte,  aber  nicht  ein  Quentchen  Beweis  konnte 
erbracht  werden,  daB  diese  Opfer  im  StraBenkampf  gefallen 
waren,    daB  iiberhaupt    so    etwas    wie  Aufruhr   stattgefunden 
hatte.   Und  niemand  erinnert  sich  mehr  der  erst  kurze  Zeit  zu- 
riickliegenden  Episode,  wo  ein  Schutzpolizist  in  Zivil  im  dienst- 
lichen   Auitrag   zwischen   larmenden   Demonstranten   gesteckt 
hatte. 

Die  politischen  Griinde  dieser  neuesten  Kommunistenhetze 
sind  leicht  zu  find  en.  Den  sogenannten  Siegern  vom  9.  August 
ist  nicht  ganz  wohl  bei  ihren  Lorbeeren.  Statt  daB  jetzt  mit 
den  Rechtsparteien  endlich  Fraktur  geredet  wird,  will  sich 
Briining  mit  Hugenberg  ireundlich  unterhalten.  Die  preuBische 
Regierung  hat  die  ihr  von  der  Reichsregierung  wegen  der 
Zwangsveroffentlichung  ihres  Aufrufs  erteilte  Maulschelle 
schweigend  eingesteckt.  Ein  schones  moralisches  Beispiel,  daB 
auch  der  Sieger  nicht  dem  Hochmut  verf alien  darf.  Die  an- 
geblich  in  Stiicke  geschlagene  Rechte  findet  freundliche  Sama- 
riterhande,  die  ihr  die  Schwielen  am  Hintern  mit  Salben  be- 
streichen.  Losung  aus  dem  Reichsprasidenten-Palais:  auf  La- 
zarette  darf  nicht  geschossen  werden!  So  blieben  nur  die 
Kommunisten  iibrig.  Die  Sozialdemokraten  benutzen  die  all- 
gemeine   Vernebelung,    um   die   Konkurrenz   aufzureiben   oder 

1  239 


wenigstens  nach  Kraften  zu  schadigen.  Es  wird  ihr  nicht  ge- 
lingen.  Nur  die  Kluft  zwischen  den  beiden  Arbeiterparteien 
wird  verbreitert,  hoffnungslos  verbreitert  werden. 

Auch  die  neue  blutige  Episode  am  Biilow-Platz  gehort  in 
das  jammervolle  Kapitel  der  Kampfe  zwischen  den  beiden  Ar- 
beiterparteien. Nicht  Staat  und  Staatsfeinde  sind  es,  die  hier 
ringen,  sondern  Parteien,  von  denen  die  eine  das  Gliick  hat,  als 
Staatsautoritat  verkleidet  waiten  zu  diirfen.  Ich  behaupte,  daB 
dieser  jahrelange  Burgerkrieg  am  Biilow-Platz  unter  einem 
halbwegs  verstandigen  biirgerlichen  Polizeiprasidenten  unmog- 
lich  ware.  Dem  waren  die  Kommunisten  Hekuba;  nur  Sozial- 
demokraten,  also  Blutsverwandte,  kennen  diesen  intimen  HaB, 
dieses  beiBende  Geliist,  die  Abscheulichkeit,  die  Gemeingefa.hr- 
lichkeit  der  benachbarten  Partei  immer  aufs  Neue  zu  beweisen. 

So  ist  der  Biilow-Platz  seit  Jahr  und  Tag  die  klassische 
berliner  Arena  erbitterter  Parti&anenkampfe.  Ein  Stiick  Mittel- 
alter  tut  sich  mitten  in  der  michternen  Millionenstadt  auL 
Alexander-Platz  gegen  Biilow-Platz!  Polizeiprasidium  gegen 
kommunistische  Parteizentralel  So  stand  das  Quartier 
der  Capulets  gegen  das  der  Montagues.  So  stand  die 
Stadtvogtei  des  Patriziats  gegen  das  Ha  us  der  Zunfte  oder  der 
Handwerksgesellen.  Ist  es  nicht  wie  eine  Erscheinung  aus  ver- 
sunkenen  Jahrhunderten?  Seit  Jahr  und  Tag  wiederholt  sich  das: 
eine  Polizeistreife  kommt  uber  den  Biilow-Platz;  ein  paar  junge 
Burschen,  mit  Parteiabzeichen  versehen,  gehen  voriiber.  Die  Poli-" 
zisten  sehen  die  jungen  Leute  scharf  und  miBtrauisch  an,  diese 
erwidern  mit  herausfordernden  Blicken  oder  Grimassen.  Ein 
boses  Wort  fallt,  die  Gummikniippel  fliegen,  ein  SchuB  kracht, 
und  nachher  liegt  ein  Polizist  oder  ein  junger  Arbeiter  starr 
und  strack  auf  der  Bahre. 

Gibt  es  da  noch  eine  Schuldfrage?  Es  ist  heute  wohl  fast 
unmoglich,  das  MaB  von  Schuld  zu  verteilen  und  soil  auch 
nicht  versucht  werden.  Zwei  Psychosen  treffen  hier  explo- 
sionsbereit  zusammen  und  verwandeln  ein  Stuck  dieser  niich- 
ternen  und  noch  immer  ruhigenStadt  in  ein  besonderes  Terri- 
torium  wuster  Indianerinstinkte.  Nicht  Polizei,  nicht  Rotfront 
soil  hier  bemakelt  werden,  das  sei  den  Parteimenschen 
iiberlassen.  Es  soil  nur  in  jene  tragische  Verstrickung  hin- 
eingeleuchtet  werden,  die  immer  neue  Todesopfer,  immer  neue 
Lahmgeschossene  und  Krummgepriigelte  fordert.  Es  kommt 
nicht  darauf  an,  wer  den  ersten  SchuB  abgefeuert  hat,  aber 
die   Schusse  vom  9.   August  miissen  die  letzten  gewesen  sein. 


Wenn  man  in  diesen  Tagen  iiber,  den  Biilow-Platz  kommt, 
so  bietet  sich.  ein  Bild,  wie  man  es  in  Berlin  seit  der  Revo- 
lution nicht  gesehen  hat.  Das  Karl-Liebknecht-Haus,  das  kom- 
munistische Parteihaus,  ist  geschlossen;  ein  weiter  Umkreis 
ist  gesperrt  und  darf  iiberhaupt  nicht  betreten  werden.  Die 
Schupos  gehen  zu  zweien  und  herrschen  jeden  an,  der  die 
Hande  in  der  Tasche  halt.  „Hande  raus!'*,  heiBt  es  schon  auf 
viele   Meter   Entfernung,   von   drohenden   Gebarden  illustriert. 

240 


t.Auseinander",  wenn  ein  paar  Lcutchen  eingehakt  gehen.  Die 
Bauzaune  im  Zuge  der  HankcstraBe  bilden  cinen  EngpaB,  dcr 
vom  Publikum  gern  benutzt  wird,  weil  es  sich  zwischen.  den 
hohen  Planken  sicherer  fiihlt  als  auf  dem  weiten  Platz.  Es 
eilt  schnell  und  schweigend  an  den  Posten  voriiber.  Nach 
Dunkelwerden  fahren  die  groBen  Mannschaftsautos  umher,  und 
das  stechend  weiBe  Scheinwerferlicht  schlagt  hart  in  er- 
schreckte  Gesichter,  in  geblendete  Augen.  Bei  dieser  Auf- 
machung  fiihlt  sich  jeder  verdachtig,  jeder  als  Missetater. 
Schneller  noch  wenden  sich  Gesichter  bei  Seite,  husChen 
Menschen  gespenstisch  wie  kopflose  Schatten  voriiber.  So 
sieht  es  in  einer  eroberten  Stadt  am  ersten  Abend  aus,  Noch 
fiihlt  sich  der  Sieger  von  Hinterhaltschiitzen  bedroht.  Noch  hal 
die  Bevolkerung  nicht  angefangen  zu  fraternisieren.  Noch 
haben  die  kleinen  Madchen  vor  den  fremd  aussehenden  Sol- 
daten  Angst  und  machen  ein  Gesicht,  als  sollten  sie  gefressen 
werden.  Nun,  im  Kriege  hat  sich  das  immer  schnell  gegeben. 
Hier  jedoch  hat  man  das  Gefiihl,  daB  diese  Zivilisten  und  diese 
Uniformierten  niemals  zusammenfinden,  niemals  ein  freund- 
liches  Wort  wechseln  werden. 

Die  Schupos  patrouillieren  zu  zweien  mit  ernsten,  ver- 
bissenen  Gesichtern.  Man  sieht  ihnen  an,  wie  sie  der  Tod 
ihrer  Kameraden  getroffen  hat.  Man  sieht  aber  noch  mehr; 
sie  fiihlen  sich  in  einem  gefahrlichen  Dienst  und  noch  immer 
an  Leib  und  Leben  bedroht.  Sie  stehen  unter  einem  nerven- 
aufreibenden  Eindruck.  Sie  glauben  zu  wissen,  daB  jeder  der 
Feind  sein  kann.  Sie  verlieren  die  neutral e  dienstliche  Hal- 
tung,  wo  eine  Hand  sjch  selbstvergessen  in  die  Rocktasche 
senkt,  Dann  schreien  sie  schrill  und  undiszipliniert  und  stiir- 
zen  drauflos,  wie  einer,  der  sich  von  unsichtbaren  Feinden  be- 
droht fiihlt  und  erleichtert  ist,  daB  diese  geheime,  diese  kor- 
perlose  Schrecknis  plotzlich  ein  Gesicht  bekommt,  Auch  sie 
sind  die  bedauernswerten  Mitspieler  etnes  politischen  Trauer- 
spiels,  in  dem  es  fur  sie  weder  MaB  noch  Urteil  gibt,  nur  das 
BewuBtsein,  pflichtgemaB  zu  handeln.  Sie  fiihlen  sich  nicht 
als  Sicherheitspolizei,  sondern  als  Soldaten.  Sie  wissen;  wenn 
sie  eingesetzt  werden,  so  bedeutet  das  Krieg.  Der  Soldat 
fragt  nichtt  warum  Krieg  ist.  Das  ist  nicht  seine  Sache,  dar- 
uber  mogen  sich  die  Vorgesetzten  den  Kopf  zerbrechen. 

'  So  patrouillieren  sie  paarweis  uber  den  weiten  Biilow- 
Platz  und  an  den  Ausgangen  der  schmalen  ZufahrtsstraBen. 
Ihre  Blicke  sagen:  Wir  werden  von  hinten  erschossen,  das  ist 
kein  ehrlicher  Krieg!  Und  was  habt  ihr  iiberhaupt  in  der  Feuer- 
zone  verloren?  Oder  steckt  ihr  alle  mit  denen  im  Bunde,  die 
aus  dem  Hinterhalt  schieBen?  Die  Manner  jag  en  hastig  wei- 
ter,  niemand  hat  Lust  sich  aufzuhalten,  die  Madchen  mit  ihren 
Stadtkofferchen  trippeln  auf  hohen  Absatzen  vorbei  ohne  auf- 
zublicken.  Niemand  denkt  an  Resistenz.  Es  ist  richtig, 
hier  sind  zwei  Morde  geschehen.  *  Aber  Mordtaten  werden 
sonst  im  stillen  aufgeklart.  Niemand  denkt  sonst  daran,  eitfen 
ganzen  Stadtteil  deswegen  fur  aussatzig,  fiir  aufierhalb  des 
Gesetzes  stehend  zu  erklaren,  iiber  ihn  deswegen  das  Kriegs- 
recht  zu  verhangen. 

241 


Spat  abends  ist  der  Platz  so  gut  wie  leer.  Wer  nicht 
grade  dort  wohnt,  wahlt  lieber  einen  andern  Weg.  Dcr 
Passant  fahrt  plotzlich  erschreckt  zusammen;  aus  einer  Mauer- 
nische  starrt  ihn  ein  forschendes  Gesicht  untcr  einem  schwar- 
zen  Tschako  an.  Dann  wird  die  Erscheinung  wieder  von  der 
Finsternis  gefressen.  Es  ist  unheimlich  still  in  die  sen  dicht- 
bevolkerten  ProletarierstraBen,  Feme  Schritte  verhallen,  und 
hoch  oben  iiber  dem  Kinopalast  Babylon  knallt  ein  groBes  ro- 
tes Plakat,  grell  beleuchtet,  aus  dem  nachtlichen  Dunkel  des 
alien  Scheunenviertels,  „Opernredoute":  ein  zartliches  Paar 
mit  gespitzten  Lippen.  Seltsam,  wie  obscon  dieses  harmlose 
Plakat  iiber  diesem  waffenstarrenden  Platz  wirkt.  Es  ist  wie 
die  Vision  eines  riesenhaften  Kriegsbordells. 


Eine  Polizeibeamten-Zeitung  schrieb  vor  einiger  Zeit  kla- 
gend:  „Leider  ist  es  heute  so,  daB  der  im  Dienst  befindliche 
Polizeibeamte  immer  auf  sich  allein  oder.auf  seine  Kollegen 
angewiesen  ist  und  nur  sehr  selten  Hilfe  und  Unterstiitzung 
aus  dem  Publikum  erhalt,  wenn  er  bedrangt  wird-*' 

Diese  Klage  steht  in  einem  Verbandsblatt,  dessen  republi- 
kanische  Gesinnung  nicht  bezweifelt  werden  kann,  wie  denn 
uberhaupt  die  preuBische  Polizei  noch  immer  starke  republi- 
kanische  Bestandteile  enthalt,  Desto  bedauerlicher  ist  auch 
der  unverkennbare  Zwiespalt  zwischen  der  Polizei  und  dem 
Publikum,  besonders  der  Arbeiterschaft.  Der  Grund  dafiir  ist 
in  der  ungewohnlichen  und1  nur  selten  motivierten  Harte  des 
korperlichen  Zugriffs  zu  suchen,  den  die  Polizei  bei  Auftritten, 
namentlich  politischer  Art,  fur  notig  halt.  Erste  Phase:  Rip- 
penstofi  von  Gebriill  begleitet,  zweite  Phase:  Gummikniippel, 
dritte  Phase:  Revolver.  Das  ist  feststehender  Ritus.  wenn 
ich  nach  eignen  Beobachtungen  schlieBen  darf,  so  mufi  ich 
sagen,  daB  der  einzelne  Schutzpolizist  bei  Auskiinften  der 
hoflichste  Mensch  von  der  Welt  ist;  im  iibrigen  tolerant  ge- 
gen  Besoffene,  beim  Erscheinen  Radaubriidern  bereit,  nach  der 
andern  Seite  zu  gucken;  ein  wahrer  Satan  jedoch,  wo  sich  ein 
kleiner  politischer  Krakehl  anspinnt.  Die  preuBische  Polizei  hat 
manche  Vorziige,  aber  unglucklich^rweise  fehlt  ihr  die  Erkennt- 
nis,  daB  ein  Teil  der  Politik  sich  heute  auf  der  StraBe  abspielt; 
eine  Tatsache,  die  wir  auch  bedauern,  die  uns  aber  nicht  no- 
tigt,  deswegen  einen  Totschlager  zu  erwerben.  Die  Polizei 
sieht  in  Menschen,  die  Versammlungen  besuchen,  ihren  natiir- 
lichen  Feind.  Staatsbiirgerliche  Rechte  und  obrigkeitiiche  Auf- 
fassungen  von  Ruhe  und  Ordnung  werden  auch  in  stillern  Zei- 
ten  oft  kollidieren.  Heute  sind  Millionen  unter  uns  verzwei- 
felt,  weil  sie  nicht  wissen,  wovon  sie  am  nachsten  Tage  leben 
sollen.  Solche  Stimmungen  miissen  sich  notgedrungen  in  Ein- 
zelexzessen  Luft  machen.  Und  diesen  bis  jetzt  gewiB  nicht 
grofien  Ausschreitungen  steht  eine  militarisierte  Polizeitruppe 
gegeniiber,  der  ein  schabiger  Rock,  ein  ausgehungertes  Gesicht 
schon  hinreichend  verdachtig  erscheint.  Da  wird  gleich  ge- 
schrien,,  da  setzt  es  umgehend  Puffe  und  Schlage.  So  entsteht 
zwischen  Polizei  und  Proletariat  ein  Zustand  des  Basses  und 

242 


der  Gewalttatigkeit;  auf  beiden  Sciten  gibt  es  vieles  zu  rachen. 
Die  Vendetta  ist  in  manchen  G  eg  end  en  schon  zur  normalen 
Verkehrsform  geworden. 

Es  ware  ungerecht  und  unsinnig,  den  einzelnen  Schupo- 
mann  verantwortlich  zu  machen.  Er  lebt  kaserniert,  er  halt 
sich  an  Instruktionen,  und  diese  Instruktionen  werden  gewiB  sehr 
schroff  sein.  Sie  mu&sen  den  Mannschaften  das  Bild  einer  bo- 
sen,  feindiichen  Welt  geben,  in  der  man,  wie  im  Kriege  zuerst 
schlagen  muB,  um  nicht  selbst  erschlagen  zu  werden.  Diese 
nervosen,  oft  iibernachtigen  Gesichter,  diese  argwohnischen 
angespannten  Augen  unterm  Tschako  Jassen  auf  die  Harte  der 
Instruktionen  schliefieri.  Entspricht  dieses  Bild  der  Wirklich- 
keit?  GewiB,  wir  haben  sehr  gerauschvolle  radikale  Parteien. 
Aber  hat  selbst  die  ungeheure  Verelendung  dieser  letzten  bei- 
den  Jahre  schpn  Ausschreitungen  groBern  Umfanges  gezeitigt? 
Es  hat  keine  nennenswerten  Hungerkrawalle  gegeben,  wie  all- 
gemein  erwartet  wurde.  Wo  Scheiben  eingeworfen  wurden, 
handelte  es  sich,  wie  schnell  festgestellt  wurde,  um  haken- 
kreuzlerische,  um  antisemitische  Zettelungen.  Auslandische 
Beobachter  schreiben  bewundernd  voni  der  Disziplin  des  deut- 
schen  Volkes,  sich  nicht  in  unnutzen  Gewalttaten  zu  verlie- 
ren.  Nur  unsre  Obrigkeit  bringt  Deutschland  nicht  das  gleiche 
Vertrauen  entgegen.  Sie  steht  standig  schuBbereit,  und  bei 
jedem  Hoch  auf  Rotfront  geht  das  Gewehr  los;  Die  Obrigkeit 
ist  viel  besser  genahrt  als  das  Gros  des  Volkes,  aber  ihre 
Nerven  sind  bedeutend  schlechter, 

iEs  wird  auch  allzu  oft  mit  zweierlei  MaB  gemessen,  Viele 
Polizeioffiziere,  die  nach  links  ausschlagen,  ertragen  national- 
sozialistische  Ausschreitungen  mit  beleidigender  Nachsicht. 
Nicht  nur  Kommunisten,  auch  das  stets  so  loyale  Reichsbanner 
hat  manche  Schramme  davongetragen.  Hat  es  nicht  bei  den 
Remarque-Krawallen  im  vorigen  Winter  tagelang  gedauert,  ehe 
die  Polizei  etwas  gegen  das  StraBenregiment  des  kleinen 
Goebbels  unternahm?  Ich  denke  auch  an  die  denkwurdige  Pre- 
miere des  ,,F16tenkonzerts  von  Sanssouci"  im  vorigen  Dezem- 
ber,  wo  Polizisten  sich  auf  jeden  harm] o sen  Zischer  und 
Zwischenrufer  mit  der  Wildheit  von  Amoklaufern  warfen  und 
ihn  mit  sich  schleppten,  wahrend  sie  stumm  wie  Bildsaulen 
blieben,  wenn  unmittelbar  hinter  ihnen  „Deutschland  erwache!" 
gerufen  wurde.  Eine  Polizei,  die  alle  gleich  hart  anfaBt,  mag 
als  ungemutlich  empfunden  werden.  Eine  Polizei  <jedoch,  die 
ihre  Energie  vornehmlich  gegen  eine  Seite  richtet,  verliert  ihre 
Autoritat  und  wird  einfach  als  Partei  betrachtet  werden. 

iDer  Abend  des  9,  August  am  <Bulow-Platz  war  fur  die 
Polizei  gewiB  tragisch.  Aber  ihre  Mafinahmen  seitdem  tragen 
nicht  zur  Beruhigung  bei,  sondern  sind  nur  geeignet,  neue 
Racheinstinkte  zu  erwecken.  Die  Presse  deckt  alles,  was  seit- 
dem geschehen  ist,  rait  dem  Mantel  der  Liebe,  glucklich,  sich 
an  den  kommunistischen  Priigelknaben  halten  zu  konnen.  Wenn 
der  Rotkoller  verflogen  ist,  wird  manches  wieder  anders  aus- 
sehen.  Was  inzwischen  unter  die  Rader  kommt,  ist  ja  nicht  viel: 
es  sind  nur  die  verfassungsmaBigen  Garantien  personlicher 
Freiheit.  Der  Deutsche  ist  leicht  geneigt,  auf  solche  Kleinig- 
keiten  zu  verzichten, 

•it 

2  243 


Die  Deutsche  iPresse  weiB  sich  in  dem  Punkte  einig,  daB 
die  Zentrale  der  KPD  den  Mocrd  an  den  be i den  Schupoleuten 
bestellt  hat,  turn,  ihre  Niederlage  ibeim  Volksentscheid  zu  ver- 
decken  und  ihren  Leuten  etwas  zum  Protestieren  zu  geben. 
Bis'her  hat  sich  noch  keine  Spur  ergeben,  die  dahin  fiihrt;  die 
Terrorgruppen  konnten  nicht  nachgewiesen  werden  und  werden 
auch  nicht  nachgewiesen  werden  konnen,  denn  so  dumm  ist 
keine  Partei,  sich  auf  ein  so  waghalsiges  Abenteuer  einzulassen. 
Das  Geheimnis  konnte  nicht  lange  verborgen  bleiben,  seine  Ent- 
'hiillung  wiiirde  das  Verbot  der  Partei  automatisch  herbeifiihren. 
Schon  lange  wird  in  g-ewissen  Regierungskreisen  des  Reichs 
und  PreuBens  mit  diesem  iGedanken  gespielt,  Ein  Ruckzug  in 
die  Illegalitat  wiirde  die  Partei  sum  die  Verbindung  mit  den 
Massen  bringen.  Sie  nriiBte  ihre  ganze  Kraft  auf  die  Erhaltung 
des  umfangreichen  Apparates  richten.  Ein  paar  Draufganger 
mogen  das  inter essante  Halibdunkel  illegaler  Arbeit  herb-ei- 
wtinschen,  die  Funktionare,  die  den  Ausschlag  geben,  sind  da- 
von  weniger  begeistett, 

(Es  ist  iibrigen  noch  niemals  gelungen,  groBen  Parteien 
politische  Morde  an  die  RockschoBe  zu  hangen,  aber  manche 
Parteien,  die  sich  heute  hochst  honorig  gebarden,  sind  schon 
solchem  Verdacht  ausgesetzt  gewesen.  Die  Attentate  der  sieb- 
ziger  Jahre  schrieb  Bismarck  groBziigig  und  unbegrundet  der 
Sozialdemokratie  und  dem  Zentrum  zu  und  erreichte  damit 
sein  Sozialistengesetz.  Mit  diesem  Ausnahmegesetz  hat  Bis- 
marck jahrelang  die  Sozialdemokratie  unter  der  F.uchtel  ge- 
halten.    Das  war  die  heroische  Zeit  der  Partei. 

Heute  wird  das  Sozialistengesetz  von  Sozialisten  gegen 
Sozialisten  angewendet,  und  damit  hat  es  eine  Scharfe  und 
Unbarmherzigkeit  erlangt,  von  der  Bismarck  nichts  ahnte.  Im 
berliner  Polizeiprasidium  sieht  man  in  der  Kommunistischen 
Partei  den  Feind  schlechthin.  Bier  ist  zuerst  die  Idee  ent- 
standen,  die  Roten  Frontkampfer  aufzulosen.  Damit  nimmt  der 
Kampf  zwischen  den  beiden  Parteien  eine  unerhorte  Gehassig- 
keit  an-.  Die  Kommunisten  weigern  sich,  darin  einen  Akt  der 
Staatsautoritat  zu  sehen,  sondern  nur  die  Willkiir  einer  kon- 
kurrierenden  Partei,  die  ihre  Macht  nicht  gegen  die  Reaktion 
zu  gebrauchen  wagt  Zugieich  bedeutet  diese  Auflosung  des 
kommunistischen  Kampfbundes  eine  ungeheure  Vergiftung  des 
politischen  Lebens  und  besonders  des  Vefhaltnisses  zwischen 
den  beiden  Arbeiterparteien.  Eine  Organisation  von  Hundert- 
tausenden  laBt  sich  nur  unterdrucken,  nicht  auflosen.  Sie 
fliichtet  in  hundert  verschiedene  iMasken  und  Namen.  Ihre  ge- 
heimen  Mitglieder  fiihlen  sich  zu  auBerster  Aggressivitat  ver- 
pflichtet.  Ihr  Aktivismus  lebt  sich  in  gewalttatigen  Formen  aus. 
Sie  wittern  (iberall  Verrat,  sie  laufen  mit  bosartiger  Spannung 
herum.  Kurzum,  sie  gleichen  in  ihrer  Geistesverfassung  immer 
mehr  ihren  uniformierten  Gegnern,  Auch  sie  fiihlen  sich  als 
Soldaten,  als  die  Streiter  eines  kommenden  Rechts,  als  die 
Vorposten  einer  Legalitat,  der  einmal  die  ganze  Welt  im 
Zeichen   der   Dritten   Internationale   unterworfen  sein  wird. 

Das  ist  das  Unheimliche  an  dieser  Situation,  daB  sich  die 
Leute   vom   Biilow-Platz  und    vom   Alexander-Platz    so   ahnlich 

244 


sehen.  Wer  das  einmal  erkannt  hat,  ward  es  aufgeberi,  nach 
SchukMragen  zu  suchen.  Was  hier  notig  ist,  das  ist  kein  neues 
Hochgericht,  das  ist  ein  ehrliches  Clearing-House,  das  ist  cin 
Mi  t  tier,  Sonst  bluten  beide  Arb  cater  part  cicn  langsam  aus. 
Dann  wird  esi  weder  eine  demokratische  Republik  geben  noch 
ein  Sowjetdeutschland,  sondern  nur  die  Reaktion,  den  Fascismus. 


Der  Vorwurf,  der  gegen  die  Kommunistische  Partei  zuer- 
heben  ist,  liegt  nicht  in  der  Linie  der  von  der  biirgerlichen 
und  sozialdemokratischen  Presse  erhobenen  Anklagen.  Der 
argste  Fehler,  den  die  Partei  begeht,  ist  der,  daB  sie  eine  Re- 
valutionsromantik  nahrt,  fur  die  kein  realer  Boden  vorhanden 
ist.  Die  Fiihrer  leben  nicht  in  diesem  (Deutschland  mit  seiner 
Geduld,  mit  seinem  BeJiarrungsvermogen,  sondern  im  vorletzten 
Stadium  der  Revolution,  in  der  kurzen  Etappe  vor  dem  defini- 
tiven  Sieg.  Richtig  ist  ihre  Diagnose,  daB  wir  in  hochst  re- 
volutionaren  Zustanden  leben,  aber  sie  verkennen  daruber,  daB 
die  Menschen  nicht  revolutionar  sind.  Sie  buchen  jede  gegen 
einen  Schutzmann  erhobene  Arbeiterfaust  als  Plus  im  Re- 
volutionskonto.  Aber  es  geht  ihnen  nicht  auf,  daB  es  sich  hier 
urn  individuelle  Akte  von  Desperation  handelt.  Sie  folgern 
aus  einer  StraBenschlagerei,  daB  ,,das  Proletariat  nicht  mehr 
zu  halten  ist",  und  ahnen  nicht,  wie  schnell  das  leidenschaft- 
liche  Auflbegehren  wieder  in  Passivitat  und  Stumpf heit  urn- 
schlagt.  Sie  leben  in  einer  phantastischen  Welt,  halb  russische, 
halb  chinesische  Revolution,  und  danach  richten  sie  ihre  Taktik 
ein.  So  fiirchten  sie  imm«r,  „die  Massen  zu  verlieren",  so 
klemmen  sie  sich  hinter  den  Nationalisraus,  aus  Furcht,  Hitler 
konnte  ihnen  Leute  wegschnappen,  so  Ziehen  sie  den  blamablen 
Scheringer-Rummel  auf,  so  drangen  sie  sich  in  den  Volksent- 
scheid,  so  suchen  sie  sich  dem  Fascismus  anzugleichen,  anstatt 
den  entgegengesetzten  Typus  deutlich  herauszubilden.  So  ge- 
winnen  sie  voriibergehend  versprengtes  Biirgertum  oder  ein 
paar  masochistische  Intellektuelle,  die  selig  sind,  wenn  sie  ein 
kraftiger  Funktionar  anbriillt.  Nur  den  gewerkschaftlich  or- 
ganisierten  Kern  der  Arbeiterklassen,  den  gewinnen  sie  nicht. 

Ein  getreuer  Abklatsch  dieser  Romantik  ist  das  Karl- 
Liebknecht^Haus  am  Biilow»-Platz.  Man  denke  sich  ein  mo- 
dernes  vielstockiges  Bureaulhaus  so  aufgemacht,  als  ware  es' 
eine  verborgene  Kellerhohle,  wo  sich  vermummte  Verschworer 
um  Mitternacht  tref  f  en  und  in  Geheimzeichen  reden,  Wer  dieses 
Hauptquartier  der  deutschen  Revolution  betritt,  der  begibt  sich 
damit  in  die  ehrwiirdige  Sphare  des  Detektivromans.  Das  ganze 
Haus  ist  in  seiner  Verwinkelung  ein  wahres  Labyrinth.  Es  gibt 
Tiiren  ohne  Klinken,  die  mit  einem  Griff  untern  Tisch  geoffnet 
werden.  Der  Besucher  fiihlt  sich  unter  argwohnischen  Blicken 
wie  ein  ungluckMcher  Wanderer,  der  aus  Versehen  in  eine 
belagerte  Festung  geraten  ist  und  nun  das  schlimmste  erwartet. 
Aber  es  ist,  Gott  sei  Dank,  nicht  so  schlimm,  Denn  der  junge 
Mann  mit  der  feldmarschmaBigen  Lederjacke  entkorkt  grade 
eine  Thermosflasche,  und  in  der  Ecke  tickt  keine  Hollen- 
mas  chine,  sondern  raschelt  nur  Stullenpapier.  Aber  diese  ganze 

245 


Inszenierung  a  la  Edgar  Wallace  ist  grotesk.  Was  hat  sic 
schlieBlich  genutzt?  Die  Polizei  drang  wie  in  jedes  andre  Haus 
ein  und  setzte  die  Bewohner  an  die  Luft  IDen  meisten,  die  im 
Parteihaus  arbeiteten,  sieht  man  an,  daB  sie  an  einer  Art  von 
Belagertenpsy chose  kranken.  Und  das  ist  seit  langem  das 
Leiden  der  ganzen  Partei.  Sie  wehrt  sich  gegen  neue  Ideen, 
sie  bildet  in  ihrer  Geistesenge  das  Musterbild  eines  Staates, 
in  dem  die  Autarkie  ausgeborochen  ist.  So  kann  einmal  Deutsch- 
land  aussehen,  wenn  die  Apostel  der  „eignen  Kraft"  sich  durch- 
setzen  sollten. 

An  der  Peripherie  der  Partei  aber  hat  sich  allerhand  an- 
gesetzt,  was  nicht  in  eine  Arbeit erpartei  gehdxt.  So  gewiO  die 
Auflosung  von  Rotfront  daran  schuld  ist,  daB  sich  ein  hochst 
unerwiinschtes  Revolverheldentum  eingenistet  hat,  so  gewiB 
ist  leider  auch,  daB  die  Partei  bisher  offentlich  nicht  s  get  an 
hat,  urn  sich  von  einer  besonders  fatalen  Spielart  eines  miB- 
geleiteten  Aktivismus  tax  reinigen.  Was  in  den  Qrganisationen 
selbst  geschieht,  entzieht  sich  der  Kenntnis  dessen,  der  kein 
Mlitglied  ist,  aber  offentlich  ist  nichts  geschehen,  und  in  der 
Parteipresse  ist  nichts  davon  zu  lesen.  Es  ist  gewiB  schwierig, 
in  dieser  Zeit  maBloser  Verelendung  den  MaBstab  zu  finden, 
aber  Hooligans  haben  in  einer  Arbeiterpartei  nichts  zu  suchen. 
Und  die  KPDM  die  besonders  stramm  ist,  wenn  es  gilt,  intellek- 
tuelle  Ausschweifungen  zu  siihnen,  die  massenhaft  diejenigen 
hinauswiirit,  die  unter  Kollektivismus  nicht  den  Verzicht  auf 
eignesDenken  verstehen,  diese  Partei  sollte  sich  vor  physischen 
Excess  en  nicht  schwacher  zeigen  als  vor  geistigen. 

Die  vornehmste  Pflicht  aber  ware,  der  Arbeiterschaft  ein 
reales  Bild  von  den  Dingen  in  Deutschland  z>u  geben.  Wer 
glaubt,  sich.  mitten  im  Endkampf  zu  befinden,  wird  in  der 
Wfahl  der  Mitt  el  nicht  sehr  heikel  sein,  wird  leicht  giauben, 
daB  ein  fester  StoB  genugt,  die  Bastille  des  Kapitalismus  zu 
werfen.  Aber  am  Boden  liegt  nachher  nicht  der  Kapitalismus, 
sondern  ein  armer  Mensch  mit  BauchschuB,  ein  armer  Mensch, 
der  mit  Schmerzen  verzuckt,  ob  er  eine  Uniform  tragt  oder 
ein  Parteiabzeichen. 


Es  ist  ein  ungemutliches  Schicksal,  in  einem  Augenblick 
wie  diesem  zwischen  den  Parteien  zu  stehen.  Es  ist  eine  schwere 
Aufgabe,  von  Vernunft  zu  sprechen,  wo  die  Trager  der 
Unvernunft  auf  beiden  Seiten  geehrt  und  geachtet  dieFuhrung 
fest  in  der  Hand  halten.  iWer  mit  der  weiBen  Fahne  auf  die 
StraBe  geht,  wo  zwei  Parteien  streiten,  braucht  um  Spott  und 
Pferdeapfel  nicht  verlegen  zu  sein.  iSoll  aber  dieser  menschen- 
fressende  Krieg  zwischen  Biilow-Platz  und  Polizeiprasi- 
dium  weitergehen?  Jedes  neue  Opfer  vergroBert  nur  den 
Leichenhiigel  zwischen  den  Arbeiterparteien  ins  Unubersteig- 
bare.  Es  ist  ein  nutzloser  Kampf  ohne  tiefere  Realitat:  Zwei 
Psycho  sen  fiihren  Krieg  miteinander,  zwei  iiberspitzte  Tbesen 
suchen  eine  leider  sehr  korperliche  Auslosung.  Von  beiden  Par- 
teien kann  mir  bedeutet  wer  den,  daB  das  inn  ere  Parteiange- 
legenheiten  sind,  die  den  AuBenstehenden  nichts  angehen.  Wer 

246 


nicht  organisiert  ist,  hat  in  Deutschland  nicht  mitzureden.  So 
konnen  die  beiden  Parteicn  sioh  salvieren,  Abcr  in  einem  Ver- 
bande  bin  ich  allerdings  organisiert,  als  d ess  en  Mitglied  lasse 
ich  mir  nicht  den  Mund  verbieten,  und  das  ist  der  groBe  Verein 
Deutsches  Reich.  Dem  Staatsburger  kann  man  nicht  zu  sagen 
verwehren,  daB  die  Politik  der  gegenwartrgen  Inhaber  des  ber- 
liner  Polizeiprasidiums  mit  der  verfas&ung  nicht s  zu  tun  hat, 
daB  sie  ein  schlechtes  Beispiel  aufstellt  fiir  alle,  die  spater 
einmal  diese  Machtposition  inne  haben  werden.  Die  Staats- 
polizei  ist  keine  Parteitruppe.  Trotz  der  abgelehnten  Land- 
tagsauflosung  ist  noch  immer  recht  unklar,  wer  im  nachsten 
Sommer  schon  im  PreuBen  regieren  wird.  Wenn  der  nachste 
Chef  der  Exekutive  in  Berlin  den  Sozialdemokraten  ahnliche 
Gefiihle  entgegenbringt,  wie  Herr  Grzesinski  den  Kommunisten, 
dann  geht  die  Partei  bewegten  Zeiten  entgegen.  Das  Polizei- 
prasidium,  das  ist  unmiBverstandHch  zu  sagen,  geniefit  das 
Vertrauen  der  berliner  Bevolkerung  nicht,  und  diese  Unbeliebt- 
heit  wird  auf  dem  Ruck  en  und  mit  den  Knochen  des  einzelnen 
Schupomanns  ausgetragen.  Die  letzten  Ereignisse  am  Biilow- 
Platz  sollten  den  Herren  am  Alexander-Platz  einigen  Stoff 
zum  Nachdenken  geben.  Denn  Herr  Grzesinski  wird  doch  nicht 
glauben,  daB  seine  Partei  ewig  dieses  Haus  besetzt  halt  en  wird, 
Auch  fur  ihn,  auch  fiir  Herrn  Severing,  den  obersten  Chef  der 
preuBischen  Polizei,  gilt  das  alte  Wort:  „Auch  Patroklus  ist 
gestorben,  und  war  mehr  als  du". .." 


Die  nachste  Notverordnung  von  Thomas  Tarn 

r\ie  Danatbank  hat  mit  staatlicher  Untersttitzung  ihre  Schal- 
■  ter  wieder  geoffnet.  Der  Dresdner  Bank  ist  der  Staat  bei- 
gesprungen.  Die  Bankfeiertage  sind  aufgehoben  worden,  die 
Bank  en  zahlen  wieder  voll  aus,  die  Sparkassen  sollen  es  auch 
in  den  nachsten  Tagen.  Der  letzte  Reichsbankausweis  zeigt 
eine  Zunahme  von  Devisen,  die  Deckung  fiir  den  Notenumlauf 
hat  sich  erhoht;  der  Run  auf  die  Ban  ken  und  Sparkassen  hat 
aufgehort,  der  Reichsbankdiskont  ist  auf  10  Prozent  herab- 
gesetzt  —  Was  will  man  mehr?  fragt  sich  (nicht  der  Mann, 
sondern)  der  Burger  von  der  StraBe,  fragt  vor  allem  der 
groBte  Teil  der  Presse,  die  heute  in  Deutschland  die  offent- 
liche  Meinung  produziert.  Was  will  man  mehr  —  nachdem 
nun  noch  der  Volksentscheid  keinen  Erfolg  gebracht  hat  und 
so  auch  politisch  eine  gewisse  Stabilitat  gewahrleistet  scheint 
Es  ist  damit  heute  der  groteske  Zustand  geschaffen,  daB  die 
vorlaufige  Beseitigung  der  Geldkrise  vielfach  den  Blick  dafiir 
getriibt  hat,  daB  in  den  letzten  Wochen  und  Monaten  die  oko- 
nomische  Situation  wieder  zusehends  schlechter  geworden  ist. 

Es  sind  zweieinhalb  Monate  her,  da  tagte  in  Leipzig  der 
sozialdemokratische  Parteitag;  man  ist  in  Leipzig  vor  der  Ver- 
kiindung  des  offiziellen  Textes  der  Notverordnung  auseinander 
gegangen,  weil  man  befurchtete,  daB  deren  Bekanntwerden 
wahrend  des  Parteitags  die  Opposition  starken  konnte,  die 
Bruch  mit  der  Tolerierungspolitik  fordert. 

247 


Die  Notverordnung  kam  mit  ihrem  brutalen  Angriff  auf 
die  Sozialpolitik.  Man  protestierte  und  erreichte  nur  eine  Er- 
klarung  Briiisings,  cr  wiirdc  vielleicht  im  August  iiber  einigc 
Milder  ungen  verhandeln,  vorausgesetzt,  daB  dadurch  der 
finanzielte  Ertrag  der  Notverordnung  nicht  verkleinert  werden 
wurde.  Wir  schreiben  jetzt  August,  und  es  gibt  keinen  Men- 
schen  mehr  in  Deutschiand,  der  so  naiv  ware,  zu  glauben,  daB 
heute  noch  an  den  driickenden  Bestimmungen  der  Notverord- 
nung; zugunsten  der  Arbeiterschaft  etwas  geandert  werden 
wurde.  Im  Gegenteilt  seit  damals  hat  sich  die  Situation 
weiter  verschlechtert,  so  dafl  Brfining  die  Gelder  aus 
dem  Reparationsfeierjahr  zur  Entlastung  des  Budgets  in  Ari- 
spruch  nahm  und  erklarte,  daB  auch  jetzt  an  der  Notverord- 
nung nichts  geandert  werden  diirfte;  und  im  letzten  Monat  hat 
sich  die  Situation  weiter  so  verscharft,  daB  wir  vor  einer 
neuen  Notverordnung  stehen, 

Es  ist  der  alte  Zirkei:  Die  Steuern  gehen  nicht  in  dem 
Umfange  ein,  in  dem  man  sie  auf  dem  Papier  veranschlagt 
hatte.  Das  erste  Halbjahr  1931  hatte  bereits  ein  erhebliches 
Defizit  gebracht.  Im  Juli  sind  kaum  Steuern  gezahlt  worden. 
Das  Defizit  der  zweiten  Hatfte  1931  wird  sicher  noch  weit 
groBer  werden  als  im  ersten  Halbjahr.  Bleibt  weiter  die  So- 
zialpolitik auch  nur  in  dem  Umfange  bestehen,  wie  es  die 
letzte  Notverordnung  festgelegt  hatte,  so  entsteht  hier  ein 
neues  Defizitt  weil  die  Arbeitslosigkeit  starker  zunimmt,  als 
man  angenommen  hatte.  In  der  zweiten  Julihalfte  war  be- 
reits eine  Erhohung  zu  konstatieren  und  in  den  nachsten 
Wochen  und  Monat  en  werden  wir  stark  ansteigende  Zahlen 
der  Arbeitslosigkeit  festzustellen  haben.  Nach  der  vorlaufigen 
Liquidierung  der  Geldkrise  wirkt  sich  die  Verschlechterung 
der  okonomischen  Situation  zunachst  einmal  darin  aus,  daB 
eine  Unmenge  kleiner  und  mittlerer  Unternehmungen  kaputt 
geht.  Die  Folge  dieser  zahllosen  Zusammenbruche  wird  den 
Arbeitsmarkt  sehr  stark  belasten.  Wenn  das  Institut  fur 
Konjunkturforschung  in  seinem  letzten  Vierteljahrsbericht  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  im  Winter  auf  fiinf  bis  sechs  Millionen 
schatzte,  so  diirfte  diese  Zahl  zu  gering  sein,  wir  werden  min- 
destens  auf  sieben  Millionen  kommen.  Das  schaf ft  das  zweite 
Defizit  im  Etat.  Das  beschleunigt  gleichzeitig  das  Ende  der 
kommunalen  Selbstverwaltung.  Denn  da  von  den  Arbeits- 
losen relativ  die  Zahl  derer,  die  in  der  Erwerbslosenunter- 
stiitzung  stehen,  das  heiBt  vom  Staat  unterstutzt  werden, 
abnimmt,  die  Zahl  der  Wohlfahrtserwerbslosen,  das  heiBt 
derer,  die  von  den  Stadten  unterstutzt  werden,  immer 
mehr  zunimmt,  so  gehen  die  Stadte  bankrott,  weil  sie 
vom  Staat  nicht  geniigend  unterstutzt  werden.  Bei  den  Gel- 
dern  fur  die  Wohlfahrtserwerbslosen  zeigt  sich  der  Staat  sehr 
zugeknopf t,  hier  wird  nur  zogernd  und  niemals  ausreichend 
gegeben.  Bei  den  Banken  lag  es  anders.  Da  gab  man  schnell 
und  reichlich.  Da  gab  man  300  Millionen  fur  die  Dresdner 
Bank,  da  gab  man  etwa  140  Millionen  fiir  die  Garantiebank, 
da  ubernimmt  die  Stadt  Bremen  den  groBten  Teil  der  Geider 
fiir   die  Schroderbank,  da   borgt    man    45   Millionen    den    In- 

248 


dustriellen,  die  Schuldner  der  Danatbank  sind  und  sie  gleich- 
zeitig  sttitzen  sollen. 

Diese  Art  der  Bankenfinanzierung  ist  selbst  dem  ,Vor- 
warts'  etwas  zu  viel  geworden.  Er  protesticrte  und  fragte 
nach  den  Zusammenhangen,  da  die  amtlichen  Communiques 
nicht  sehr  deutlich  sind.  Der  fVorwarts'  hat  natiirlich  auf 
seine  Frage  keine  Antwort  bekommen.  Er  wunderte  sich 
dariiber.  Der  tVorwarts*  hat  sich  auch  gewundert,  daB  die 
Notverordnung  erst  publiziert  wurde,  nachde'm  der  sozialdemo- 
kratische  Parteitag  beendigt  war. 

Die  Regierung  Bruning  saniert  mit  aller  GroBziigigkeit  die 
Bankenpleite;  aus  nichts  aber  wird  nichts.  Zum  Sanieren  ge- 
t  hort  Geld,  und  das  Geld  fehlt  im  Etat.  So  wird  der  Etat,  der 
durch  die  Notverordnung  vom  Juni  fur  absehbare  Zeit  saniert 
sein  sollte,  bereits  heute  durch  diese  drei  Faktorenreihen 
durchlochert.  So  werden  wir  schon  in  der  nachsten  Zeit  mit 
der  Verscharfung  der  okonomischen  Krise  die  neue  —  die 
wievielte?  —  Krise  der  Staatsfinanzen  haben*  Man  wird  sie 
nach  bewahrtem  Muster  losen,  man  wird  die  Sozialpolitik,  vor 
allem  die  Arbeitslosenversicherung,  weiter  abbauen  und  damit 
die  Voraussetzung  dafiir  schaffen,  die  Lohne  der  Beschaftig- 
ten  weiter  abzubauen.  Man  findet  auch  hier  keinen  Ausweg 
aus  dem  Zirkel.  Man  verscharft  durch  die  Verringerung  des 
binnenlandischen  Konsums  die  Krise  weiter.  Was  tun  die 
Parteien  in  dieser  Lage?  Was  tun  die  Parteien  vor  der  neuen 
Notverordnung?  Die  biirgerlichen  Parteien  schweigen.  Sie 
haben  recht.  Was  soil  man  vorher  viel  dariiber  reden.  Die 
Massen  erfahren  es  Irtih  genug,  wenn  ihnen  auf  den  Arbeits- 
amtern  klargemacht  'wird,  daB  die  Unterstutzungsbeitrage 
weiter  herabgesetzt  werden. 

Was  tut  die  Sozialdemokratie?  Was  tut  die  Spitzenfuh- 
rung  der  Gewerkschaften?  Was  schreibt  der  ,Vorwarts#?  Er 
verlangt  ein  Bankenamt.  Und  weiter?  Weiter  nichts.  Staat- 
liche  Beaufsichtigung  der  Banken,  Gut.  Aber  wer  ist  heute 
der  Staat?  Der  Staat  ist  das  ausfiihrende  Organ  des  Monopol- 
kapitals.  Hier  soil  also  das  Monopolkapital  das  Monopol- 
kapital  beaufsichtigen.  Als  die  Geldkrise  schwerer  wurde, 
hatte  man  sich  eine  Zeitlang  mit  dem  Gedanken  getragen, 
einen  Wahrungskommissar  zu  ernennen.  Und  als  Anwarter 
auf  diesen  Post  en  w.urde  Herr  Schmitz  von  den  I.  G.  Farben 
genannt.  Warum  auch  nichti  Die  L  G,  Farben  haben  ein  eig- 
nes  Unternehmen  in  Basel  gegriindet,  um  ihre  Bewegungsfrei- 
heit  in  steuerlichen  und  finanziellen  Fragen  zu  erhohen.  Sie 
verfiigen  also  iiber  die  Sachverstandigen,  die  fiir  Wahrungs- 
und  Kapitalflucht  in  Frage  kommen.  Ein  Wahrungskommissar 
aus  dem  Kreise  der  I.  G.,  das  zeigt,  wie  ein  staatliches  Banken- 
amt heute  aussehen  wtirde. 

Kontrolle  der  Banken,  gewifi.  Aber  es  kommt  darauf  an, 
wer  die  Kontrolle  ausiibt.  Nach  der  Meinung  des  ,Vorwarts* 
die  Kapitalisten  untereinander.  Es  ist  kein  Zufall,  daB  der 
„Vorwartsl  von  Bankenkontrolle  spricht,  aber  nicht  uber  die 
£konomische  Situation,  die  zur  iieuen  Notverordnung  fiihrt; 
denn  es  ist  leicht,  zu  zeigen,  welche  wesentlichen  funktionalen 

24* 


Beziehungen  zwischen  dies-en  beiden  —  scheinbar  auf  ganz 
verschiedenen  Ebcnen  liegenden  —  Faktorenreihen  vorhanden 
sind.  Die  Brimingregierung  wird  versuchen,  das  neue  Defizit 
im  Etat  auf  monopolkapitattstischem  Wege  zu  losen,  Sie  wird 
die  Lasten  wieder  zum  groOten  Teil  auf  die  breiten  Massen 
abwalzen.  Sie  wird  dies  tun,  wcnn  nicht  eine  breite  Gegen- 
.  bewegung  der  Massen  organisiert  wird,  Solange  der  ,  Vor- 
warts  als  Organ  der  reformistischen  Richtung  in  der  Sozial- 
demokratie  die  Tolerierungspolitik  gegeniiber  der  Briining- 
regierung  fortsetzt,  wird  er  keine  Massenbewegung  gegen  die 
neue  Notverordnung  organisieren.  Tut  er  das  nicht,  dann  ist 
aber  seine  Forderung  der  Bankenkontrolle  nicht  das  Papier 
wertf  auf  dem  sie  verlangt  wird.  Nur  dann,  wean  eine  Mas- 
senbewegung organisiert  wird,  deren  Ziel  es  ist,  die  Lasten, 
die  sich  aus  dem  neuen  Defizit  ergeben,  auf  die  besitzenden 
Klassen  abzuwalzen,  nur  dann,  wenn  im  Laufe  dieser  Be- 
wegung die  Arbeiterschaft  wieder  ein  politisch  erheblicher 
Faktor  wird,  und  sie  ist  es  heute  weniger  als  je,  erst  dann  be- 
kommt  die  Frage  der  Bankenkontrolle  konkreten  Sinn, 

Herr  Bruning  ist  aus  Italien  zuriickgekommen  und  wird 
in  nachster  Zeit  kaum  wieder  ins  Ausland  reisen.  Die  AuBen- 
politik  tritt  in  den  nachsten  Wochen  zuriick,  die  innere  tritt 
wieder  in  den  Mittelpunkt.  Sie  wird  unter  dem  Zeichen  der 
neuen  Notverordnung  stehen. 

EinenSchrittnoch, Einstein!  von  Kurt  miier 

Sehr  verehrter  Herr  Professor! 
Sie  haben  an  die  Internationale  der  Kriegsdicnstgegner, 
die  in  Lyon  jiingst  KongreB  machte,  eine  Botschaft  gerichtet, 
deren  Mut  und  Schonheit  bezaubert.  Den  Text  der  Botschaft 
fand  ich  in  keiner  berliner  Zeitung  (wie  sollten  denn  auch 
Zeitungen  dazu  kommen,  eine  Manifestation  des  Geistes 
wieder-  und  weiterzugeben),  sondern  das  Bureau  der  War 
Resisters*  International  sandte  ihn  mir  aus  London.  „Wenn 
Sie  klug  und  mutig  handeln,"  rufen  Sie  den  Dienstverweige- 
rern  zu,  Mkonnen  Sie  die  wirksamste  Gemeinschaft  in  der 
grofiten  aller  menschlichen  Bestrebungen  werden."  „Die  Man- 
ner und  Frauen  in  sechsundfunfzig  Landern,  die  Sie  vertre- 
ten,  konnen  zu  einer  groBern  Weltmacht  werden  als  das 
Schwert/'  „Bci  <len  Volkern  wachst  der  Gedanke  der  Kriegs- 
dienstverweigerung.  Ihr  miifit  furchtlos  und  herausfordernd 
diesen  Gedanken  verbreiten."  (Wunderbar:  ein  ordentlicher 
Universitatsprofessor  propagiert  nicht  nur  einen  in  der  Biir- 
gerwelt  anstoBigen  Gedanken,  sondern  er  propagiert  sogar 
eine  provokante  Art  der  Propaganda  dieses  Gedankens!)  ,,Ihr 
miiBt  die  Volker  dazu  fiihren,  die  Abriistung  selbst  in  die 
Hand  zu  nehmen."  „Ihr  miiBt  die  Arbeiter  aller  Lander  dazu 
auffordern,  sieh  vereint  zu  weigern,  zu  Werkzeugen  lebens- 
feindlicher  Interessen  zu  werden/'  ,,Ich  appelliere  an  meine 
Kollegen,  die  Vertreter  der  Wissenschaften,  ihre  Mitarbeit 
fttr  Kriegszwecke  zu  verweigern."  ,,Ich  appelliere  an  die  Geist- 
lichkeit."     „Ich  appelliere  an  die  Schriftsteller,  sich  offen  zu 

250 


uns  zu  bekennen  "  „Ich  f  order c  jede  Zeitung,  die  fiir  den 
Frieden  kampfen  will,  dazu  auf,  die  Menschen  zur  Kriegs- 
dienstverweigerung  zu  ermutigen."  „Jetzt  ist  nicht  Zeit  zur 
MaBigung. .  Entweder  ihr  seid  fur  oder  gegen  den  Krieg,  Seid 
ihr  gegen  den  Krieg,  dann ■.  . ."  „Ich  appelliere  an  alle  Man- 
ner und  Frauen,  an  die  bedeutenden  und  an  die  Durchschnitts- 
menschen,  noch  vor  dem  Zusammentreten  der  Weltabriistungs- 
konferenz . .  zu  erklaren,  daB  sie  sich  weigern,  in  Zukunft  ir- 
gendwelche  Kriege  oder  Kriegsvorbereitungen  zu  unterstiitzen." 
„M6ge  diese  Generation  den  wichtigsten  Fortschritt  zuwege 
bringen,  den  die  Geschichte  der  Menschheit  kennt.  Moge  sie 
denen,  die  nach  ihr  kommen,  die  unschatzbare  Gabe  einer 
Welt  hinterlassen,  aus  der  die  Barbarei  des  Krieges  fiir  immer 
verbannt  ist." 

Ein  Kriegsgegner,  der  diese  Worte  liest  —  ich  kann  mir 
nicht  denken,  verehrter  Herr  Professor,  daB  er  sie  anders  als 
rait  Ergriffenheit,  ja  mit  Erschutterung  liest.  Mich  selber  ha- 
ben  sie  tief  bewegt,  obwohl  ihr  Sinn  mir  so  vertraut  ist  wie 
nur  irgendwelcher  Worte  Sinn;  warb  ich  doch  vor  zehn,  zwolf 
Jahren  mit  hei&em  Eifer,  wofiir  Sie  heut  werben.  Hatten  Sie 
damals,  als  die  demokratische  Gevatterschaft  nach  uns  pazifi- 
stischen  Aktivisten  mit  Duftkugetn  schmiB,  als  man  uns  als 
Anarchisten  verleumdete,  als  Dilettanten  verhohnte,  als  Zer- 
setzer  bespie  —  o,  Albert  Einstein,  hatten  Sie  damals  so  ge- 
sprochen,  wie  Sie  jetzt  gesprochen  haben,  Sie,  der  Mann  von 
Ruhm,  der  Sie  schon  damals  war  en:  unser  Kampf  ware  weni- 
ger  schwer,  weniger  schmerzlich  und  er  ware  fruchtbarer  ge- 
worden.  Waxen  Sie  1924,  aus  dem  berliner  Internationalen 
Pazifistenkongrefi,  wo  ein  Hochprominenter  Kriegsdienstver- 
weigerung  mit  Feigheit  gteichsetzte;  waren  Sie.  auf  dem 
pariser  KongreB,  1925,  unser  Sekundant  gewesen  gegen 
die  moderierte  Mediokritat,  die  Staatsloyalen,  die  Pazi- 
Mumien,  die  uns  niederstimmten  — :  manches  ware  an- 
ders gekommen!  Denn  bei  der  Mehrheit  gilt  nicht  der 
Grund;  bei  der  Mehrheit  gilt  die  Person,  die  ihn  vor- 
tragt.  Wen  man  fiir  eine  Autoritat  halt,  der  setzt  nahezu 
jeden  Unsinn  —  wer  obendrein  .eine  ist,  der  setzt  manchmal 
auch  das  Verniinftige  durch, 

Leider,  leider,  verehrter  Herr  Professor,  waren  Sie  bei 
den  Gelegenheiten,  von  denen  ich,  spreche,  nicht  dabei,  auch 
nicht  per  Botschaft;  und  ich  gehe  wohl  kaum  fehl  in  der  An- 
nahme,  daB  die  Entwicklung  Ihrer  philosophisch-politischen 
Erkenntnis  zu  jener  Zeit  die  Stufe  noch  nicht  erreicht  hatte, 
die  sie  inzwischen  erreicht  hat.  Zwar  nennen  Sie  bereits  1922, 
in  Ihrem  Vorwort  zur  deutschen  Ausgabe  von  Bertrand  Rus- 
sell's ,Politischen  Idealen',  die  f,konseq,uente  Ausbildung  zur 
organisierten  passiven  Resistenz"  gegen  den  Krieg  eine  „Lo- 
sung",  die  f, nicht  mehr  utopisch  erscheinen"  konne;  vom  Im- 
petuoso  Ihres  jiingsten  Aufrufs  ist  dieses  vorsichtige,  andeu- 
terische,  gedampfte  Bekenntnis  sehr  verschieden.  Das  soil 
kein  Vorwurf  sein  und  nichtmal  eine  Kritik.  Ich  werde  mit 
neunzig  Jahren  kosmo-theoretisch  nicht  so  weit  sein,  wie  Sie 
vermutlich  mit  neunzehn  waren;  Ihr  gutes  Recht  ist,  polito- 
theoretisch   etwas   langsamer   zu   wachsen.     Heutzutage    kann 

3  251 


niemand  —  was  anno  Kant  vielleicht  noch  ging  —  zugleich 
in  den  exakten  Wissenschaften  und  in  der  politischcn  Philo- 
sophic Weltmeister  scin;  Hut  ab  vor  Dem,  der  es  auf  cincm 
dieser  Gcbictc  wurde!  Und  zweimal  den  Hut  ab  vor  einem 
Fachgelehrten  hochster .  Kompetenz,  der,  weit  davon  entf ernt, 
nach  dem  Ritus  der  Seriosen  sich  in  sein  Fach  einzuspinnen, 
vielmehr  erfiillt  vom  Willen  zur  Universalitat,  leidenschaftlich 
in  die  antibarbarische  Aktion  eingreift,  Partei  ergreift,  Phi- 
lister  angreift,  voll  Feuers  teilnimmt  an  der  Kampagne  zur 
Anderung  der   Welt. 

Das  alles  hindert  nicht,  verehrter  Herr  Professor,  daB  Sie 
in  der  Sache  unrecht  haben,  Jene  Sektion  des  Kriegsgegner- 
tums,  die  in  der  Dienstverweigerung  das  Allheilmittel  gegen 
den  Kriegsieht,  humpelt  hinter  der  Entwicklung  her  —  hinter 
der  Entwicklung  der  Kriegs-Technik  und  der  politischen  Theo- 
rie.  Nieder  die  Wehrpflicht!  Es  lebe  die  Dienstverweige- 
rung! So  ruf  ich  noch  heute.  Aber  mit  dem  Kampf  gegen 
die  Wehrpflicht  und  mit  einer  selbst  grandios  gluckenden 
Propaganda  der  Dienstverweigerung  wird  ein  Krieg,  der  ein- 
mal  ausgebrochen  ist,  umso  weniger  erschwert  oder  gar  zum 
Abbruch  gebracht  werden,  als,  aller  Voraussicht  nach,  der 
Zukunftskrieg  grade  in  seinen  aggressivsten  Formen  durch 
technische  Elitetruppen  gefiihrt  wird,  die  sich  aus  Freiwilli- 
gen  zusammensetzen,  Nicht  etwa  aus  Scheinfreiwilligen,  wie 
es  die  ,tEinjahrig-Freiwilligen"  des  Zweiten  Reichs  waren  (ver- 
logenste  seiner  Voka-beln!),  sondern  aus  wahrhaft  Freiwilli- 
gen,  namlich  Fanatikern  des  Kriegs  oder  sportlichen  Enthu- 
siasten  des  Kriegs,  Der  Appell  zur  Dienstverweigerung  er- 
reicht  die  Menschen  dieses  Typus  wohl,  aber  er  depoten- 
ziert  sie  nicht.  Im  Gegenteil:  er  fordert  ihren  Protest  her- 
aus  und  steigert   so  ihren   kriegerischen  Willen, 

Solange  Kriege  nur  mit  Riesenarmeen,  auf  Grund  des 
Wehrzwangs,  gefiihrt  werden  konnten,  gait  der  vom  braun- 
schweiger  Pazifistentag  (1920)  verworfene  Satz:  t,Es  gibt  aber 
kein  so  einfaches,  kein  so  wirksames  Mittel  zur  Verhinderung 
von  Kriegen,  wie  die  Weigerung  der  zum  Opfer  Bestimmten, 
sie  zu  fiihren.  Die  Welt-Friedensbewegung  muB  .  . .  sich  zu 
einer  Weltpropaganda  der  Heeresdienstverweigerung  und  per- 
sonlichen  Kriegssabotage  entwickeln."  Seit  wir  aber  wissen, 
daB  die  modernste  Strategic  auf  Riesenarmeen  pfeift,  daB  sie 
also  auf  Zwangstruppen  verzichten  kann,  wissen  wir  auch, 
daB  die  groBartigste  international  durchorganisierte,  Dutzende 
von  Millionen  Menschen  umfassende  Dienstverweigerungsbewe- 
gung  keinem  Manrie,  Weibe  oder  Kinde,  dessen  Stadt  von  f  eind- 
lichen  Giftgeschwadern  vergast  wird,  das  Leben  rettet.  Es 
trifft  nicht  zu,  daB,  wie  Sie  in  Ihrer  Botschaft  sagen,  sie  ,,am 
sich  erst  en  die  Abschaffung  des  Krieges  verbiirgt",  Denn.  diese 
Chemiker   arbeiten  freiwillig  und  diese  Piloten  auch. 

Es  ist  eine  Naivitat,  hochverehrter  Herr  Professor,  die 
unbeschreibliche  Entsetzlichkeit  eines  kommenden  Krieges,  mit 
seinen  Spreng-,  Brand-,  Bazillen-  und  Giftgasbomben  iiber  den 
GroBstadten,  dadurch  glauben  bannen  zu  konnen,  daB  man  die 
Menschen  auf  fordert,  sich  nicht  an  ihm  zu  beteiligen,  Gesetzt, 
von  Denen,  die  sich  nur  unter  Zwang  beteiligen  wiirden,  ent- 

252 


zpgen  sich  dem  Kriegc  tatsachlich  Alle  —  der  Krieg  dcr  An- 
dcrn  tobte  dochJ 

.  Zwingt  diesc  Uberlegung,  den  Gedankcn  der  Dienstver- 
weigerung  preiszugeben?  Keineswegs.  Sie  behalt  ihren  par- 
x  tiellen  Wert,  ihre  partielle  Wirksamkeit;  bei  fast  alien  Militar- 
machten  besteht  ja  der  Wehrzwang  noch,  Aber  wir  miissen 
erkennen,  daB  sie  nur  ein  Nebenmittel  sein  kann,  Nicht, 
weil  —  wie  die  biirgerlich-pazifistischen  Flaumacher,  Herr  Hil- 
ferding  einbegriffen,  versichem  —  ihre  Durchfiihr,ung  jillu- 
sionar  ware;  sondern  weil  es  eine  Illusion  ist,  zu  glauben, 
durchgefiihrt  konne  sie  den  Krieg  verhindern.  Sie  allein  je- 
denfalls  kann  es  nicht.  So  wenig,  wie  Genf,  der  Haag  und  das 
Volkerrecht  allein  es  konnen. 

Es  gibt,  verehrter  Herr  Professor,  ein  einziges  wirklich 
taugliches  Mittel  zur  Verhinderung  des  gigantischen  Ver- 
brechens:  die  revolutionare  Erhebung  gegen  die  Verbrecher, 
die  Eroberung  der  politischen  Macht. 

Dieser  Schritt  will  gut  vorbereitet  sein;  die  Methoden 
sind  noch  umstritten.  Nicht  strittig  ist  die  Identitat  der  Macht- 
eroberung  gegen  den  Krieg  mit  der  Machteroberung  gegen  den 
Kapitalismus,  Erst  die  Herren  einer  sozialistischen  Erde  wer- 
den  imstande  sein,  die  Quellen  der  Kriegsgefahr  zu  verstop- 
fen..  Der  Sozialismus  ist  allerdings  nicht  von  selber  der  Friede; 
aber  wer  den  Frieden  will,  muB  den  Sozialismus  wollen.  Die 
Verwirklichung  des  Sozialismus  jedoch  fiihrt  iiber  Stationen 
und  Situationen,  denen  die  Maxime  der  Kriegsdienstgegner- 
Internationale;  „Gegen  }ede  Art  bewaffneter  Gewaltl"  nicht 
gewachsen  ist,  Der  konsequente  Humanitar  wird  Revolutio- 
nen  zum  Gitten  hin,  zum  Geiste  hin,  zur  Gerechtigkeit  hin, 
zur  Vernunft  hin  nicht  daran  scheitern  lassen,  daB  der  Trager 
des  bosen,  des  konservativen  Prinzips  iiber  Waffen  verfiigt, 
die  ihm  um  Gottes  willen  nicht  aus  der  Hand  geschlagen  wer- 
den  diirfen.  Der  konsequente  Humanitar  wird  gewiB  in  je- 
dem  geschichtlichen  Augenblick  fur  ein  Minimum  an  Gewalt 
eintreten,  als  geschworener  Feind  der  Bluthunde  aller  politi- 
schen Farbungen;  doch  in  der  absoluten  Nichtgewalt  erkennt 
er  ein  konterrevolutionaresf  darum  im  Endeffekt  auch  kontra- 
pazifistisches  Dogma, 

Der  Kreis,  an  den  Sie  Ihre  schone  Botschaft  gerichtet 
haben,  schwort  auf  dieses  Dogma;  wahrend  er  sich  zum  Ge- 
gensatz  Kapitalismus/Sozialismus  neutral  stellt.  Er  IaBt  Pro- 
kapitalisten  zu,  wofern  sie  nur  absolute  Gewaltlosigkeit  be- 
fiirworten;  er  schlieBt  Kriegsgegner  und  Kriegsdienstgegner 
aus,  falls  sie  umsturz-aktiv  sind,  im  Sinne  etwa  der  Soziali- 
sten   Fimmen   und   Maxton    („Biirgerkrieg   gegen   den  Krieg"). 

Vom  Pazifismus  obrigkeitsfrommer  Demokraten,  die 
—  immer  legal,  immer  loyal  —  Kriege  praktisch  mitmachen, 
auch  wenn  sie  den  Krieg  theoretisch  verwerfen,  zum  Radikal- 
pazifismus  der  Dienstverweigerer  ist  ein  gewaltiger  Schritt;  tun 
Sie  noch  einen,  verehrter  Professor!  Auf  diesen  einen  Schritt 
namlich  kommt  es  an;  er  ware  der  nicht  mehr  bloB  symbo- 
lische,  nicht  mehr  bloB  religiose,  er  ware  der  realisatorische. 
Tun  Sie  unstarr  und  denkmutig  den  Schritt,  Albert  Einstein, 
vom   radikalen  Pazifismus   zum   revolutionaren! 

253 


Die  Herren  Wirtschaftsf iihrer  von  ignaz  wrobei 

Q  tcts  hat  die  Menschheit  ihre  Helden  gehabt:  Priester  oder 
***  Ritter,  Gelehrte  oder  Staatsmanner.  Bis  zum  14.  Juli  1931 
waren  es  fur  Deutschland  die  Wirtschaftsfuhrer,  also  Kaufleute. 

Die  Kaufleute  sind  Exponenten  des  Erwerbsinnes;  sie 
haben  immer  ibre  Rolle  gespielt,  docb  wohl  noch  nie  so 
erne  groBe  wie  heute.  Weil  das,  was  sie  in  Handen  halten, 
das  wichtigste  geworden  ist,  werden  sie  in  einer  Weise  iiber- 
schatzt,  die  lacherlich  ware,  wenn  sie  nicht  so  tragische  Fol- 
gen  hatte.  Die  deutsche  Welt  erschauert,  sie  braucht  Gotzen, 
und  was  fiir  welche  bat  sie  sich  da  ausgesucbt  — ! 

Man  sollte  meinen,  daB  der  gesunde  Menschenverstand 
wenigstens  eincs  sehen  konnte:  den  MiBerfolg,  Aber  damit  ist 
es  nicht s.  Niemand  von  denen,  die  diese  Wirtschaftsfiihrer  be- 
wundern,  behielte  aucb  nur  einen  Tag  lang  einen  Chauffeur, 
der  ihm  die  Karre  mit  Frau  und  Kind  umgeworfen  hatte,  auch 
dann  nicht,  wenn  dem  Chauffeur  die  Schuld  nicht  nachzuwei- 
sen  ware.  Er  kiindigt,  denn  solchen  Chauffeur  will  er  nicht. 
Aber  solche  Wirtschaftsf  iihrer,  die  will  er, 

Der  unbeirrbare  Stumpfsinn,  mit  dem  diese  Kapitalisten 
ihre  torichte  G«ldpolitik  fortsetzen,  immer  weiter,  immer  wei- 
ter,  bis  zur  Ausblutung  ihrer  Werke  und  ihrer  Kunden,  ist 
bewundernswert.  Alles,  was  sie  seit  etwa  zwanzig  Jahren 
treiben,  ist  von  zwei  fixen  und  absurden  Ideen  beherrscht: 
Druck  auf  die  Arbeiter  und  Export, 

Fiir  diese  Sorte  sind  Arbeiter  und  Angestellte,  die  sie 
heute  mit  einem  cuphemistischen  und  kostenlosen  Schmeichel- 
wort  gern  „Mitarbeiter"  zu  titulieren  pflegen,  die  naturlichen 
Feinde.  Auf  sie  mit  Gebriill!  Driicken,  driicken:  die  Lohne, 
die  Sozialversicherung,  das  SelbstbewuBtsein  —  driicken, 
driicken!  Und  dabei  merken  diese  Dummkopfe  nicht,  was  sie 
da  zerstoren.  Sie  zerstoren  sich  den  gesamten  innern  Absatz- 
markt. 

Sie  scheinen  ihn  nicht  zu  wollen  —  dafiir  haben  sie  dann 
den  Export,  Was  dieses  Wort  in  den  Kopfen  der  Kaufleute 
angerichtet  hat,  ist  gar  nicht  zu  sagen,  Ihre  fixe  Idee  hin- 
dert  sie  nicht,  ihre  Waren  auch  im  Inland  weiterhin  anzu- 
preisen;  ihre  Inserate  wirken  wie  Hohn.  Wer  soil  sich  denn 
das  noch  kaufen,  was  sie  da .  herstellen?  Ihre  Angestellten, 
denen  sie  zumLeben  z.uwenig  und  zum  Sterben  zuviel  geben, 
wenn  sie  sie  nicht  uberhaupt  auf  die  StraBe  setzen?  Die  kom- 
men  als  Abnehmer  kaum  noch  in  Frage.  Aber  jene  protzen 
noch:  daB  sie  deutsche  Werke  seien,  und  daB  sie  deutsche 
Kaufleute  und  deutsche  Ingenieure  beschaftigten  —  und  wozu 
das?     „Um  den  Weltmarkt  zu  erobern!" 

So  schlau  wie  die  deutschen  Kaufleute  sind  ihre  Kolle- 
gen  jenseits  der  Grenzen  noch  alle  Tage.  Es  setzt  also  uber- 
all  jener  blodsinnige  Kampf  ein,  der  darin  besteht,  einen  Geg- 
ner  niederzukmippeln,  der  bei  verniinftigem  Wirtschaftssystem 
ein  Bundesgenosse  sein  konnte.  Die  Englander  preisen  rein 
englische  Waren  an,  die  Amerikaner  rein  amerikanische,  und 
das  Wirtschaftsinteresse  tritt  als  Patriotismus  verkleidet  auf. 
Eine  schabige  Verkleidung,   ein  jammerlicher  Maskenball. 

254 


Schuld  — ?  Viclleicht  gehort  eine  groBe  geistige  Uber- 
lcgcnhcit  dazu,  aus  diesem  traurigen  Trott  dcs  Geschaftes  her- 
auszukommen  und  auch  einmal  ein  biBchen  weiterzublicken 
als  grade  bis  zum  nachsten  Ultimo.  Aber  das  konnen  sie  nicht. 
Sie  machen  weiter,  wie  sie  es  bisher  getrieben  haben.  Also  so: 

Niederkniippluiig  des  Inlandskunden;  Spekulation  auJ  cinen 
Export,  der  heute  nicht  mehr  so  durchzufuhren  ist  wie  sich  die 
Herren  das  traumen;  Oberlastung  der  gesamten  Industrie  durch 
ein  gradezu.  formidables  Schreibwerk,  das  hinter  dem  Leerlauf 
der  Staatsbureaukratie  urn  nichts  zuriicksteht.  Was  da  an 
Pressechefs,  Syndicis,  Abteilungsleitern,  Bureaufritzen  herum- 
sitzt  und  Papierbpgen  vollschreibt,  obne  auch  nur  das  leiseste 
zu  produzieren,  das  belastet  uns  alle.  Aufgeblasen  der  Ver- 
waltungsapparat  —  man  sehe  sich  etwa  das  Verwaltungs- 
gebaude  der  L  G.-Farben  in  Frankfurt  am  Main  an:  das  Ding 
sieht  aus  wie  eine  Zwingburg  des  Kapitalismus,  weit  ins  Land 
drauend,  Fruher  haben  die  Ritter  die  Pfeffersacke  ausgepliin- 
dert;  heute  hat  sich  das  gewandelt. 

Wie  immer  in  ungesunden  Zeiten  ist  der  Kredit  in  einer 
gradezu  sinnlosen  Weise  iiberspannt.  Das  Wort  .jWucher*1 
ist  ganz  unmodern  geworden,  weil  der  Begriff  niemand  mehr 
schreckt,  er  erscheint  normal.  Nun  haben  aber  Kartelle  und 
kurzfristige  Bankkredite  die  Unternehmungslust  und  die  so- 
genannte  „freie  Wirtschaft"  vollig  getotet  —  es  gibt  sie  gar  nicht 
mehr.  Fast  jeder  Unternehmer  und  besonders  der  kleinere  ist 
nichts  als  der  Verwalter  von  Bankschulden;  gehts  gut,  dann 
tragt  er  den  ungeheuern  Zins  ab,  und  gehts  schief,  dann  legen 
die  Banken  ihre  schwere  Hand  auf  ihn,  und  es  ist  wie  in 
Monte  Carlo;  die  Bank  verliert  nicht.  Und  wenn  sie  wirklich 
einmal  verliert,  springt  der  Steuerzahler  ein:  also  in  der  Haupt- 
sache  wieder  Arbeiter  und  Angestellte. 

„Das  WerkM,  dieser  Gotze,  hat  sich  selbstandig  gemacht, 
und  stohnend  verrichten  die  Sklaven  ihr  Werk,  nicht  mehr 
Sklaven  eines  Herrn,  sondern  Sklaven  ihrer  selbst.  Auch 
der  Unternehmer  ist  langst  zu  einem  Angestellten  geworden, 
nur  kalkuliert  er  fur  sich  ein  derartiges  Gehalt  heraus,  daB  er 
wenig  riskiert.  Die  fortgeschrittenen  Kommunisten  tun  recht 
daran,  den  Unternehmer  nicht  mehr  damit  zu  bekampfen,  daB 
sie  ihm  Sekt  und  Austern  vorwerfen,  dergleichen  verliert  von 
einer  gewissen  Vermogensgrenze  ab  seine  Bedeutung.  Aber 
daB  diese  Kerle  die  Verteilung  von  Ware  und  Verdienst  un- 
gesund  aufbauen,  daB  sie  ihre  Bilanzen  vernebeln  und  den  An- 
gehorigen  der  wirtschaftlich  herrschenden  Klassen  so  viel 
Geld  zuschieben,  daB  den  andern  nicht  mehr  viel  bleibt:  das 
und  nur  das  ist  Landesverrat. 

Ohnmachtig  sieht  der  Staat  dem  zu.  Was  kann  er  machen? 
Nun,  er  kann  zum  Beispiel  eine  Verordnung  erlassen,  wonach 
das  zu  verkaufende  Brot  sein  Gewicht  auf  der  Kruste  ein- 
gepragt  erhalten  muB,  und  das  ist  ein  groBer  Fortschritt,  Seine 
Gesetze  beriihren  die  Wirtschaft  gar  nicht,  weil  sie  ihm  ebenbiir-. 
tig  an  Macht,  weil  sie  ihm  uberlegen  ist.  Sie  pariert  jeden  Schlag 
mit  den  gleichen  Mitteln:  mit  denen  einer  ausgekochten  For- 
maljurisprudenz,    mit    einer    dem    Staat    iiberlegenen    Bureau- 

255 


kratie,  mit  Geduld.  Schiebt  ihm  aber  alle  Lastcn  zu,  ohnc 
ihm  etwa  das  Erbrecht  zu  konzedieren.  Er  hat  zu  sorgen. 
Wovon?     Das  ist  seine  Sache. 

Also  unsre  Sache.  Fiir  wen  wird  gelitten?  Fur  wen 
gehungert?  Fiir  wen  auf  Banken  gepennt,  wahrend  die  Ban- 
ken  verdienen? 

Fiir  diese  da.  Es  ist  nicht  so,  daB  sie  sich  masten,  das 
ist  ein  Wort  fiir  Volksversammlungen.  Sie  masten  den  Got- 
zen,  sie  sind  selber  nicht  sehr  glucklich  dabei,  sie  fuhren  ein 
Leben  voller  Angst,  es  ist  ein  Kapitalismus  des  schlechten  Ge- 
wissens.  Sie  schwindeln  sich  vom  Heute  in  das  Morgen  hin- 
ein,  iiber  viele  Kinderleichen,  iiber  ausgemergelte  Arbeitslose 
—  aber  das  Werk,  das  Werk  ist  gerettet. 

Selbst  die  frankfurter  Zeitung',  die  sich  in  einer  gradezu 
riihrenden  Weise  bemiiht,  diesen  storrischen  Eseln  des  Kapi- 
talismus gut  zuzureden,  wobei  jene  wild  hinten  ausschlagen, 
gibt  zu,  daB  ,,nach  den  Erhebungen,  die  das  Institut  fiir  Kon- 
junkturforschung  und  eine  deutsche  GroBbank  unabhangig  von- 
einander  durchgefiihrt  haben,  noch  entbehrliche  Lager  im  Werte 
von  mehreren  Milliarden  vorhanden  sind"  —  man  male  sich 
das  angesichts  dieser  Not  aus!  Aber  die  Lager  bleiben.  Und 
das   Werk   ist   gerettet. 

Wo  steht  geschrieben,  daB  es  gerettet  werden  muB?  War- 
urn  ist  die  Menschheit  nicht  starker  als  dieser  Popanz?  Weil 
sie  den  Respekt  in  den  Knochen  hat.  Weil  sie  glaubig  ist. 
Well  man  sie  es  so  gelehrt  hat.    Und  nun  glaubt  sie. 

Noch  ist  die  andre  Seite  starker  als  man  glaubt.  Zu  war- 
nen  sind  alle  jene,  die  die  Arbeiter  sinnlos  in  die  Maschinen- 
gewehre  und  in  die  weitgeoffneten  Arme  der  Richter  hinein- 
treiben.  Drei  Jahre  Zuchthaus  —  zwei  Jahre  Gefangnis  — 
vier  Jahre  Zuchthaus . . .  das  prasselt  nur  so.  Noch  sind  jene 
starker.  Die  Arbeiterparteien  sollten  ihre  Krafte  nicht  in 
einem  zunachst  aussichtslosen  Kleinkrieg  verpulvern,  solche 
Opfer  haben  einen  ideologischen  Wert,  ihr  praktischer  ist 
noch  recht  klein.     Driiben  ist  viel  Macht. 

Also  muB  gekampft  werden.  Aber  so  wenig  ein  geschulter 
Prjoletarier  indlividuelle  Attentate  auf  Bankdirektoren  gut- 
heiBen  kann,  so  wenig  sind  Verzweiflungsausbriiche  kleinerer 
oder  groBerer  Gruppen  allein  geeignct,  ein  System  zu  stiirzen, 
das  jedef  aber  auch  jede  Berechtigung  verloren  hat,  RuBland 
zu  kritisieren.     Wer  so  versagt,  hat  zu  schweagen. 

Doch  schweigen  sie  nicht.  Sie  haben  die  Dreistigkeit, 
unter  diesen  Verhaltnissen  noch  ,fVertrauen"  zu  fordern,  die- 
selben  Manner,  die  das  Ungliick  verschuldet  haben.  Und  keiner 
tritt  ab,  nur  die  Gruppierung  andert  sich  ein  wenig.  Das  ver- 
dient  die  scharfste  Bekampfung, 

Kampf,  ja.  Doch  unterschatze  man  den  Gegner  nicht, 
sondern  man  werte  ihn  als  das,  was  er,  immer  noch,  ist;  ein 
iibernotierter  Wert,  der  die  Hausse  erstrebt  und  die,  Baisse 
in  sich  fiihlt.  Sein  Niedergang  wird  kommen.  Das  kann,  wie 
die  gescheiten  und  weitblickenden  unter  den  Kaufleuten  wis- 
senf  auch  anders  vor  sich  gehen  als  auf  dem  Wege  einer  Re- 
volution. Bleiben  die  Wirtschaftsfuhrer  bei  dieser  ihrer  Wirt- 
schaft,  dann  ist  ihnen  die  verdiente  Revolution  sicher, 

256 


Pater  Muckermann   von  Anton  Oantner 

F\  er  Katholizismus  ist  cine  GroBmacht  geworden;  man  kann 
f*  im  Gebiet  des  Geistes  von  wunderbaren  Siegen  des 
katholischen  Gedankens  sprechen."  Schlagwortc  wahrend  der 
morderischen  Kriegszeit  aus  dcr  damals  noch  unbedeutenden 
katholischen  Zeitschrift  ,Der  Gral',  Die  Nachkriegsjahre  haben 
die  Taten  folgen  lassen.  Es  ist  heute  keine  Oberraschung  mehr, 
wenn  Jesuiten  der  scharfsten  romischen  Observanz  in  den 
liberalen  Zeitungen  und  den  modernsten  literarischen  Zeit- 
schriften  zu  Worte  kommen.  Die  romischen  Patres  haben  ihre 
Aufgaben  nicht  nur  mit  Geschick  durchzufuhren  vermocht, 
sondern  sie  haben  uns  auch  mit  hochster  politischer  Unter- 
stiitzung  in  eine  Situation  versetzt,  in  der  jede  Aussprache 
iiber  aktuelle  Kulturfragen  ohne  ihre  Anwesenheit  zum  Disput 
mit  dem  Teufel,  zum  fJK'ulturbolschewismusM  gestempelt  wird. 
Jem  Redaktionen,  die  heute  an  hervorragender  Stelle  AuBe- 
rungen  der  Jesuiten  Muckermann,  Gundlach,  Przywara,  Pri- 
bila,  Fahsel  und  Genossen  abdrucken  —  wiirden  sicher  das 
Oberfallkommando  anrufen,  sollten  es  nationalsozialistische 
oder  deutschnationale  Domprediger  und  Pfarrer,  von  den  Kom- 
munisten  ganz  zu  schweigen,  auch  nur  wagen,  iiber  deutsche 
Kulturinteressen  bei  ihnen  mitzureden  versuchen.  Die  jesu- 
itische  Aufmachung  ist  heute  eine  Modesache  geworden. 
Aber  steckt  denn  eine  geistige  Macht  dahinter? 

Wir  haben  an  Pater  Muckermann  und  seinen  Gralsheften 
ein  schones  Beispiel,  um  die  katholische  Kulturinvasion 
mit-  papstlicher  Kommandozentrale  auf  ihren  politischen  und 
kulturellen  Wert  priifen  zu  konnen.  Die  Entwicklung  dieses 
Mannes  gibt  uns  gleichzeitig  einen  tiefen  Einblick  in  die 
katholische  Machtentfaltung.  Es  ist  notwendig,  daB  endlicE 
einmal  die  Umwandlung  des  ,Grals'  von  einer  katholisch- 
literarischen  Revue  des  wiener  Kralik-Kreises  zu  einer 
streng  romisch-international  und  jesuitisch  geleiteten  Kultur- 
kampfzeitschrift  instruktiv  aufgezeigt  wird, 

Friedrich  Muckermann  ist  1883  im  Zentrum  des  katholi- 
schen Westens,  in  Osnabriick,  geboren  und  hat  nach  Beendi- 
gung  seiner  theologischen  Studien  den  Krieg  als  Feldgeist- 
licher  auf  dem  polnischen  Kriegsschauplatze  mitgemacht.  Son- 
derbar  bleibt,  daB  der  deutsche  Jesuit  Muckermann  grade  in 
dem  Augenblick  in  Wiina  war,  wo  die  russische  Front  nach 
der  bolschewistischen  Revolution  zusammenbrach.  In  diesem 
Zeitpunkt  tritt  dann  auch  der  bis  dahin  stille  Pater  in  den  Kreis 
der  offentlichen  Betatigung.  In  einer  antibolschewistischen 
Broschiire  fur  junge  Leute  ,,Wollt  ihr  das  auch"  berichtet 
Muckermann  iiber  diese  erste  geistliche  Kriegstatigkeit.  Man 
ist  im  ersten  Moment  erstaunt,  wie  grade  dieser  Feldgeistliche, 
dessen  Aufgaben  doch  nur  in  der  Etappe  liegen,  mit  den  Roten 
in  Beriihrung  kommt.  Da  erzahlt  er  uns  aber  von  seiner  hel- 
denmiitigen  Tat,  wie  er  im  Auftrage  des  Papstes  die  Kasimir- 
Kathedrale  nach  Ausbr.uch  der  roten  Revolution,  natiirlich 
unter  begeisterter  Zustimmung  der  Polen,  in  Besitz  genommen 
hatte.  Begriindung:  sie  sei  eine  alte  Jesuitenkirche  gewesen; 
Sinn;    die    Polen   beginnen   unter    dem   Motto    ..Riickkehr   zur 

257 


Kirche"  jene  bis  heute  andauernde  grausame  Polonisierung,  die 
vor  kurzem  selbst  den  Papst  in  Wallung  brachte.  Und  noch 
ein  Drittes:  die  romischen  Unionsbestrebungen  im  Osten  wur- 
den  vorbereitet;  dazu  warcn  cben  die  zentral  geleiteten  Jesuitic 
scben  Exponenten  an  die  richtigen  Stellen  beordert  worden. 
Wilna  wird  vortibergehend  bolscbewistisch  und  unser  Pater 
der  Organisator  und  Fiihrer  der  Gegenaktion,  Man  verhaftef 
Muckermann  und  fiihrt  ihn  mit  andern  Geiseln  einige  Zeit  in 
bolschewistische  Gefangenschaft.  Pater  Muckermann  konnte 
bestimmt  damit  rechnen,  daB  man  grade  ihn  als  Geisel  auf 
keiner  Seite  iibersehen  werde.  Deshalb  durfte  er  beinahe  mit 
Sicherheit  in  dieses  heldenhafte  Experiment  steigen.  Bis 
heute  ist  es  immer  wieder  die  Erinnerung  an  diese  paar 
Wochen  einer  selbstverschuldeten  Gefangenschaft,  die  den 
Herrn  Pater  zum  fuhrenden  Kampfer  gegen  den  Bolschewismus 
macht.  Die  Broschiire  selbst  ist  in  den  Bibliotheken  ver- 
schwunden,  da  Inhalt  und  Sprache  dieses  Pamphlets  seinen 
heutigen  kulturellen  und  auch  politischen  Auf  gab  en  nur  scha- 
den  konnte:  ,, Bolschewismus  ist  eine  Pest  schlechthin;  er  ist 
der  inkarnierte  Atheismus;  Ende  aller  Kultur.  Ein  Ungeheuer, 
ein  Hollenwerk  wider  Gottes  Himmel.  Wehrlos  war  man  den 
Hunnen  ausgelieiert,  deshalb  miiBt  ihr  euch  organisieren!  Und 
die  groBte  Organisation  der  Welt  ist  eben  die  katholische 
Kirche/'  Und  in  den  Schilderungen  seiner  Gefangniszeit 
offenbart  uns  der  spatere  literarische  Schrittmacher  Roms 
gleichzeitig  auch  sein  kunstlerisches  Sprachvermogen;  „Im> 
Gefangnis  in  Minsk;  eine  Justiz  gibt  es  in  der  Raterepublik 
nicht.  Es  gibt  nur  Gewalt  und  Totschlag;  manchmal  schaute 
ich  in  die  ode  Gegend  und  wiinschte  mir  ein  Friihlingsveilchen, 
als  der  Lenz  ins  Land  zog;  niemand  brachte  es!"  Dabei  straft 
er  sich  selbst  Liigen.  Denn  er  erzahlt  selbst,  wie  Kalinin,  der 
President  der  Raterepublik,  ihn  im  Gefangnis  besucht  und 
mit  ihm  spricht.  Dann  fahrt  Muckermann  lyrisch  fort:  f,Hab 
alles,  alles  hingegeben/kein  Heim,  kein  Herz,  kein  Platzchen 
auf  der  Welt/das  tut  oft  bitter  weh  im  Leben/wenn  so  der 
Mensch  auf  sich  allein  gestellt/dann  ftihl  ich  eine  Hand  so 
weich  und  lind/sei  ruhig,  ruhig,  denn  du  bist  mein  Kind." 

Er  kam  mit  andern  Gefangenen  nach  Smolensk  und  wurde 
bald  gegen  rote  Gefangene  ausgetauscht.  Sicherlich  war  dieser 
Zwischenfall  keine  angenehme  Unterbrechung  des  gesunden  und 
interessanten  Dienstes  an  der  Ostfront;  aber  grade  dieser 
Unterbrechung  verdankt  doch  Muckermann  sozusagen  die  Vor- 
zugsberechtigung,  nach  seiner  Rtickkehr  in  die  veranderten 
deutschen  Verhaltnisse  den  schwierigen  Auftrag  ubernehmen 
zu  diirfen:  Bildung  einer  einheitlichen  katholisch-christlichen 
Kulturfront  gegen  den  russischen  Arbeiterstaat  mit  besonderer 
Betonung  des  franzosisch-polnischen  Vorpostens.  Muckermann 
hat  seine  Auftraggeber  nicht  enttauscht.  Sein  Kurs  ist. 
kulturreaktionar  im  Sinne  einer  kleinburgerlich-klerikalen  Hal- 
tung.  Es  ist  notwendig,  daB  man  an  den  Einzelhandlungen 
Muckermanns  die  Zusammenhange  der  literarischen  und  kul- 
turellen Interessen  mit  den  wirtschaftlichen  und  politischen: 
Machtpositionen  der  katholischen  Zentrumspolitik  besonders  in 
PreuBen  eindeutig  aufzeigt,     Vielleicht  gelingt  es  dann  doch  zu. 

258 


uberzeugen,  daB  Dezernate  der  Kultus-  und  Innenministerien 
grade  unter  der  heutigen  parteipolitischen  Konstellation  unge- 
he urc  Bedeutung  erlangt  haben,  Wir  erleben  das  tiberalL  Bei  je- 
der  kulturellen  und  kiinstlerischen  Entscheidung  heiBt  es:  Das 
macht  der  Minis terialrat  vom  Zentrum.  Hinter  dieser  Kultur- 
diktatur  steckt  eine  groBe  Arbeit  der  Reaktion  und  eine  noch 
viel  groBere  Schuld  der  freiheitlichen  Elemente.  Die  Ftihrer- 
arbeit  Muckermanns  miissen  wir  untersuchen. 

Das  papstliche  AuBenamt  hatte  im  Weltkrieg  auch  von  den 
gehaBten  Gegnern  gelernt.  Keine  Entwicklung  ohne  die  ent- 
sprechende  Ideologic  Der  roten  Internationale  konnte  our  mit 
einer  ebenso  straff  organisierten  katholischen  Internationale 
begegnet  werden.  Dem  Jesuiten  Muckermann  wurde  die  Lite- 
ratur  zugewiesen.  Die  Suche  nach  einem  katholischen  Organ, 
das  schon  Bedeutung  und  Anhangersehaft  besaB,  fiihrte  zum 
,Gral\  Dadurch  brachte  man  den  Katholiken  eindeutig  zum 
Ausdruck,  daB  alles,  was  nun  kommen  sollte,  als  offizielle  Kul- 
turpolitik  streng  papstlicher  Richtung  anzusehen  sei;  denn  der 
,Gral'  war  ja  schon  von  seinen  Griindern  als  die  Kampfschrift 
gegen  die  damaligen  Modernisten,  besonders  gegen  den  Kreis  um 
Karl  Muth,  den  Herausgeber  der  Zeitschrift  ,Das  Hochland', 
ins  Leben  gerufen  worden.  Die  Absicht  dabei  war,  auch  in  die- 
sen  Fragen  dem  autoritativen  Kurs  der  Kurie  zu  folgen  und  die 
beiden  deutschen  Literaturrichtungen  auszuschalten.  Der  Plan 
gelang  hervorragend:  der  neue  Jahrgang  des  ,Grals'  wird  im 
Verlag  des  ,Hochlands*  beiKosel  erscheinen,  und  die  alt  geworde- 
nen  Herren  Muth  und  Kralik  geistern  in  ihre  letzten  Tage.  Sie 
diirfen  sich  manchmal  sogar  beteiligen,  aber  die  katholische 
Kulturinternationale  wird  in  Deutschland  nur  von  Mucker- 
mann, als  eine  Art  Nebenkanzlei  des  Herrn  Pacelli,  geleitet. 
Die  erste  offentliche  Betatigung  Muckermanns  gait  auch  in 
Deutschland  der  iKonstituierung  und  Vorarbeit  der  beriichtig- 
ten  Anti-Russeniront  zusammen  mit  Herrn  Pacelli  unter  dem 
Namen  „Katholische  Aktion".  Wenn  wir  noch  hinzurechnen, 
dafi  der  politische  Ftihrer  dieser  Aktion  in  der  Person  des 
Herrn  Klausener  zugleich  Leiter  der  Schupo  istf  daB  die  direk- 
ten  Verbindungen  zur  Funkstunde  und  zur  Deutschen  Welle 
durch  ebenso  bekannte  Regierungsrate,  zum  Theater  und  zur 
Kunst  durch  Herrn  Hatslinde  garantiert  werden,  dann  erhal- 
ten  wir  ein  geschlossenes  Schema:  politische  Machtergreifung 
—  dann  Kulturbeherrschung  durch  Diktatur  —  wieder  zuriick 
zur  politischen  Machtentfaltung  einer  katholischen  Minderheit. 

Ein  Vorwarts-Redakteur  hat  mir  bei  einer  Diskussion  dar- 
iiber  wahrhaftig  entgegengehalten:  „Ich  begreife  Sie  nicht; 
Muckermann  ist  ein  groBartiger  Kerl  und  versteht  sein  Hand- 
werk  vortrefflich.  Was  ist  schon  dabei,  wenn  wir  Sozialdemo- 
kraten  in  Kulturfragen  nicht  aktiver  sein  konnen;  Mucker- 
mann und  Fahsel  sind  doch,  weiBGott,  aktiv  genug."  Mucker- 
mann und  seine  Freunde  vom  ,Gral'  haben  zuerst  alle  Gebiete 
der.  Kulturbetatigung,  vor  allem  die  Weltliteratur,  in  den  Auf- 
gabenkreis  des  ,Grals*  einbezogen;  von  besonderer  Bedeutung 
wurde  es  auch,  daB  aus  diesem  Mitarbeiterkreis  eine  ton- 
angebende  jiingere  Literatengeneration  des  Zentrums  hervor- 
gegangen  ist.    Die  wichtigsten  Verbindungsm  aimer  nach  links: 

259 


Werner  Thormann  von  der  .Deutschen  Republik',  Walter 
Dirks  von  der  ,Rhein-Mainischen  Volkszeitung',  Rockenbach 
vom  kolner  Sender ,  Otto  Forst  de  Battaglia  als  pseudonymer 
Schrittmacher  fur  Polen  und  Frankreich  und  eine  umfassende 
Kulturreaktion.  Dringend  notwendig  war  auch,  daB  der  Jesuit 
Muckermann  seine  ganze  Aufmerksamkeit  daran  setzte,  seine 
Zeitschrif t  erst,  einmal  durch.  Verbreiterung  des  Arbeitsgebietes 
auch  fur  Nichtkatholiken  interessant  zu  machen. 

Um  die  ersten  Arbeiten  Muckermanns  von  seiner  Grals- 
warte  aus  richtig  verstehen  zu  konnen,  muss  en  wir  nochmals 
an  die  russische  Gefangenschaft  ankntipfen:  da  beginnt  jene 
literarische  Mischung  von  -Wirklichkeitsbeobachtung  und 
zweckhafter  Routine,  vermengt  mit  einer  untiberbietbar 
kitschigen  Ausdrucksform.  Antibolschewistische  Riesenvereine 
schweben  ihm  vor,  sagt  er  doch  selbst:  „Ich  habe  in  Wilna 
einst  die  erste  antibolschewistische  Organisation  geschaffen!" 
Er  hat  eine  Arbeiterliga  im  Kopf  nach  den  iiberlebten  Selbst- 
hilfemaBnahmen  Leos  XIII. :  Genossenschaft  des  Proletariats 
ohne  HaB  und  Klassenkampf;  Lohnerhohungen  nur  mit  gleich- 
zeitiger   Installierung   katholischer  Volkshochschulen. 

Muckermann  braucht  natiirlich  zugunsten  seines  Pro- 
gramms  eine  Weltpresse,  einen  internationalen  katholischen 
Weltfilmverband,  einen  Buhnenvolksbund  und  dann  noch  einen 
katholischen  Weltfunk,  um  so  endlich  das  Dach  iiber  der  ka- 
tholisch-amerikanischen  Weltkulturliga  gegen  den  Bolsche- 
wismus  fertig  zu  bauen.  MScheidung  der  Geister.  Wie  zum 
Gericht.  Endlich.  Es  kommt  doch  so,  daB  alles  zermahlen 
wird,  was  nicht  rote  oder  schwarze  Internationale  ist;  letzt 
gehts  um  die  Religion."  Zur  Bekraftigung  dieser  Devisen  hebt 
Herr  Forst  de  Battaglia  unbekannte  katholisierende  polnische 
Schriftsteller  in  den  neuen  Dichterhimmel,  nachdem  er  kurzer- 
hand  Tolstoi,  Puschkin,  Gorki  abgesetzt  hat,  Nach  der  ersten 
Volker bunds versammlung  in  Paris  konstatierte  Muckermann 
herausfordernd:  ,,Ungeschwacht  aus  Krieg  und  Revolution 
herausgegangen  ist  einzig  die  katholische  Kirche",  Er  gibt  die 
verheerende  Losung  aus,  die  ftir  die  gesamte  Arbeit  der  katho- 
lischen Machtentfaltung  im  preuBischen  Deutschland  der  letzten 
Jahre  gilt:  „Wer  nicht  gegen  uns  ist,  der  ist  fur  uns!"  Auch 
die  praktischen  Aufgaben  im  Theaterbund,  den  Volkshoch- 
schulen, dem  Bibliothekswesen  kommen  nicht  zu  kurz.  Der 
,Gral'  wird  also  zu  einem  Organ  der  katholischen  Weltliteratur 
im   Sinne  der  romischen  Kurie,  mit  festgesteckten  Zielen. 

Je  fester  sich  der  politische  Katholizismus  in  der  preuBi- 
schen Position  ausbaut,  desto  ignindlicher  werden  alle  unange- 
nehmen  Mitstreiter  beiseite  gedrangt,  in  die  verschiedensten 
Zentralstellen  werden  treue  Anhanger  eingesetzt.  Man  biedert 
sich  mit  alien  Leuten  an,  von  denen  man  wenigstens  Propa- 
gandawert  und  keine  offene  Gegnerschaft  erwarten  darf,  Na- 
tiirlich erobeft  Muckermann  auch  den  Film,  indem  er  in  mehre- 
ren  Artikeln  in  kritischer  Beschaulichkeit  an  das  Fricksche 
Zensurprogramm  heranriickt.  Aoich  die  hanebiichenen  be- 
volkerungspolitischen  Rezepte,  die  sein  pseudowissenschaft- 
licher  Forscherbruder  in  Broschiiren  verbreitet,  setzt  er  in  die 
Reihe   seiner  Ratschlage   zur   Behandlung   der  Arbeitslosigkeit 

260 


cin.  Da  kommt  ihm  der  nationalistische  Roman;  ,,Die  Arbeits- 
losen"  von  Richard  Euringer  zuhilfe,  der  ihm  die  Orders  einer 
eugenetischen  Rassenkontrolle  punktweise  angibt.  „Selbstwert 
der  Personlichkeit,  mannliche  Kraft  bei  Kinderzeugung  und  na- 
vt(irliche  Ritterlichkeit  trotz  aller  verhaltenen  Energie  im  Pri- 
vaten  und  Technischen"  werden  gegen  die  ungeheure  Not  der 
Arbeitslosen  ausgespielt,  die  man  hier  durch  ,,Fiirsorge- 
epidemie,  Krankenkassenpathologie,  Versichefungsanamie" 
verdorben  wahnt.  Pater  Muckermann,  der  ftinf  Millionen  deut- 
scher  Volksgenossen,  die  ungewollt  in  jene  christliche  Sphare 
der  morderischen  Armut  gestoBen  worden  sind,  mit  solchen 
Schlagworten  zu  verhohnen  wagt,  schreibt  als  ausgewachsener 
Mensch  zum  Tage  des  Buches:  ,,Gute  Biicher  und  Trauben  am 
Rhein  —  bringen  Wein.     Wollen  vorher  gelesen  sein." 

Es  gibt  kerne  kulturelle  Sparte,  die,  zunachst  von  tiichti- 
gen  Leuten  in  Angriff  genommen,  nicht  endlich  Muckermann 
in  die  geschaftigen  Hande  geraten  ware-  Er  schreibt:  ,,Zu 
Ende  war  es  immer  mit  einer  Ketzerei  erst  dann,  wenn  man 
die  in  ihr  schlummernde  Wahrheit  entdeckt  und  sie  fur  sich 
ausgenutzt  hatte."  Die  Beziehungen  gehen  ebensogut  zur 
liberalen  Pre&se  und  der  ,Literarischen  Welt*  wie  zum 
Herrenklub  des  Herrn  von  Gleichen.  Ich  habe  ahsichtlich  die 
philosophischen  Fundamente  dieser  Seite  der  romischen  Kultur- 
politik  auBer  acht  gelassen,  weil  man  die  jesuitische  Philo- 
sophLe-Propaganda  eingehender  behandeln  muB;  der  ,Gral*  halt 
hierin  ein  so  niedriges  Niveau,  daB  eine  objektive  Debatte  iiber 
diesen  Punkt  unmoglich  ist,  Muckermann  hat  auch  bei  seinem 
weitverzweigten  Auftreten  nur  den  einzigen  Befehl  auszufiih- 
ren:  tfNach  und  nach  eine  gewisse  Klarheit  in  der  Art  zu  ge- 
winnen,  wie  man  iiber  weltanschauliche  Gegenstande  vor  einem 
vielfach  geistig  gespaltenen  Zuhorerkreis  vorzutragen  hat!" 
Das  bedeutet  Propaganda  und  Tendenz  auf  alien  Kulturgebie- 
ten.  Und  alle  Mittel  werden  hier  durch  den  einen  Zweck 
geheiligt:   ,,Kampf  gegen  den  Bolschewismus". 


ZU  dieser  ZenSUr  von  Hermann  Kesser 

Cine  gewaltsame  tJbereinstiimmung  zwischen  Staatsleitung 
und  Zeitung  hat  sich  niemals  bewahrt.  Die  rucksich'ts- 
lose  und  einseitige  Bevormiundung  der  politischen  Presse  zei- 
tigt  eine  ahnliche  Scheingesundheit  wie  ein  gefahrliches 
Opiat,  Sie  kann  vorubergehend  wirken,  indem  eine  krampf- 
hafte  Unempfindlichkeit  oder  ein  kiinstliches  Wohlgefiihl  ent- 
steht,  aber  ein  Ertrag  fur  die  Volkskraft  bleibt  aus<  Das  alles 
ist  durch  die  Geschichte  und  die  Gegenwart,  die  Geschichte 
sein  wird,  so  klar  geworden,  daB  weiter  nichts  aufzuhellen  ist 
Manner  der  Presse  in  Horigkeit,  in  einem  Botendienst  zu  hal- 
ten,  dieser  Wunsch  wird  erneut  werden,  so  lange  es  Zeitun- 
gen  und  Abhangigkeiten  gibt.  Nur  starke  journalistische  Per- 
sonen  konnen  durch  Riickgrat  und  Leistung  dieses  Verhaltnis 
moralisch  richtigstellen  und  ins   Gegenteil   umkehren, 

Erschienen  November  1916  in  der  frankfurter  Zeitung' 

261 


Tonkin   von  Jonathan  Wild 

II 

Im  tonkin esisch en  Dorf  Coam  hatte  ein  Revolutionar  Zuflucht 
gesucht  und  gefunden,  Der  Resident  wuBte  es.  Am  16,  Fe- 
bruar  1930  iiberflog  ein  franzosisches  Flugzeuggeschwader,  be- 
stehend  aus  fiinf  Einheiten,  das  Dorf  Coam,  warf  57  Bomben 
a  10  Kilogramm  ab  und  mahte  sodann  mittels  Maschinengeweh- 
ren  das  zu  „strafende"  Territorium  noch  einmal  durch.  Ein- 
undzwanzig  Tote,  fiinf  Frauen  und  sechs  Kinder  darunter,  sind 
das  offizielle  Ergebnis  dieser  Straf expedition.  Was  bei  Nacht 
an  Toten  und  Verwundeten  geborgen  wurde,  ist  man  an  offi- 
zieller  Stelle  nicht  verpflichtet  zu  wissen. 

Freilich  wird  nicht  immer  gleich  zu  dieser  einleuchtenden 
MaBnahme  geschritten.  Die  beruhmte  franzosische  Nuance  hat 
Eingang  auch  in  den  Straf code  fur  rebellische  Eingeborene  ge- 
funden.  Dorfer,  die  sich  der  geringsten  Zweideutigkeit  in 
ihrer  Haltung  schuldig  machen,  werden  zum  Beispiel  des  Bam- 
buszauns,  der  ihre  Gemeinschaft  umschlieBt,  beraubt.  Der 
Europaer  ist  schwer  in  der  Lage,  die  Bedeutung  dieser  harm- 
los  erscheinenden  Phantasie  zu  begreifen,  Zwange  man  ihn, 
in  einem  Haus,  dem  Turen  und  Fenster  ausgerissen  worden 
sind,  zu  leben,  so  wurde  er  durch  Zynismus  und  Schamlosigkeit 
im  Handumdrehen  die  Unwurde  der  Strafe  gegen  ihre  Ur-> 
heber  kehren.  Anders  der  Eingeborene.  Er  hat  noch  nicht 
gelernt,  zynisch  zu  sein  und  verschmaht  bis  auf  weiteres  in 
kult-traditioneller  Gehemmtheit  das  freche  Mittel  der  Scham- 
losigkeit. Er  zieht  sich  wie  ein  verwundetes  Tier  in  die  Erde, 
in  seine  Hutte  zuriick.  Das  Land  ist  nackt,  rasiert  am  gan- 
zen  Korper,  vorbereitet  zur  Operation* 

Aus  diesen  Dorf ern  ohne  Bambuszaun  ziehen  sie  aus,  die 
Manner,  Madchen,  Jungens,  den  Fabriken  zu,  Zehn  Stunden 
werden  sie  dort  arbeiten  und  hungern  dafiir.  Was  Louis  Rou- 
baud  in  d«n  Fabriken  gesehen  hat,  kann  kein  kommunistischer 
Liigenbeutel  erfind^n.  Erlogen,  alles  erlogen,  wiirde  es  heiBen. 
Roubauds  Reportage  aber  ist  im  ,Petit  Parisien',  dem  offiziei- 
len,  politisch  vom  Quai  d'Orsay  genahrten  biirgerlichen  Nach- 
richtenblatt  vor  der  Buchausgabe  erschienen.  Hier  einige  Falle; 

Thia  Va 

Thia  Va  ist  ein  verbliihtes  Madchen  von  siebzehn  Jahren. 
Sie  arbeitet  seit  funfzig  Monaten  in  einer  Baumwollspinnerei 
zehn  Stunden  pro  Tag.  Eines  Tages  werden  einige  Spuien 
Baumwoile  gestohlen.  Die  dreizehnjahrige  Hai  ist  verdachtig. 
Sie  ist  an  einen  Pfahl  gebunden  und  erwartet  die  ubliche  Prii- 
gelstrafe,  Thi  Va  bleibt  vor  der  weinenden  Kleinen  stehen, 
um  sie  zu  trosten,  da  kommt  unversehens  der  Werkfiihrer, 
Monsieur  Theresaux,  ins  Atelier,  Er  sieht  Thi  Va,  die  auf 
ihren  Platz  fiieht,  geht  langsam  auf  sie  zu,  das  Madchen  legt 
schiitzend  die  Arme  vors  Gesicht,  Im  nachsten  Augenblick 
liegt  Thi  Va  auf  der  Erde,  die  Augen  offen,  das  Gesicht  starr, 
ohnmachtig.  Monsieur  Theresaux  hatte  ihr  zwei  Tritte  in  den 
Unterleib  gegeben.  Die  Siebzehnjahrige  konnte  nach  Monaten 
das  Spital  als  Knippel  verlassen. 

262 


Kum 

Kum  arbeitet  mit  t  aus  end  andern  Kulis  in  cincm  Kohlen- 
bergwerk  ia  Cochinchina.  Er  schiebt  Kohlenkarren  auf  Feld- 
bahnschienen  -der  Verlad  est  elle  za  Es  pa&siert  ihm,  daB  ein 
Karren  plotzlich  aus  dcr  glitzernden  Reihe  springt,  dcr  Wcrk- 
meistcr  Schultz  schaut  zu.  Drci,  vicr  Minuten  vergehn,  Kum 
kriegt  den  Karren  nicht  auf  die  Schienen  zuriick.  ,,Hundesohn'\ 
schreit  da  Herr  Schultz,  ,,ich  werde  dir  zeigen,  wie  man  ar- 
beitet/' Er  geht  auf  den  Karren  zu,  itm  ihn  mit  seinen  drei- 
fachen  Kraften  zuriick  in  die  Bahn  zu  heben.  Aber  er  ist 
ungeschickt  und  fallt  dabei  auf  die  Nase,  Kums  Seele  ist  nicht 
kompliziert.  Er  vermag  nicht  auszurechnen,  was  kommen 
muB,  wenn  er  jetzt  seiner  Schadenfreude  Ausdruck  gibt.  Kum 
lacht.  Schultz  erhebt  sich.  Kum  fliegt  mit  dem  Schadel  zu- 
erst  an  den  Karren,  dann  gegen  die  Schienenf  dann  in  den 
Graben.  Als  er  in  die  Infirmerie  eingeliefert  wird,  lacht 
Kum  zwar  noch  immer,  aber  er  hat  drei  Rippen  gebrochen 
und-  die  Milz  zerrissen.    Der  Totenschein  wird  ausgestellt. 

Glaubt  nicht,  daB  ein  Schultz  in  Indochina  Kulis  nur  so 
zertreten  darf,  Dieser  vielmehr  wurde  nach  Hanoi'  vors  Ge- 
richt  ziti-ert.  Er  erhielt  fiir  Korperverletzung  mit  Todeserfolg 
zwei  Monate  Gef angnis  —  mit  Aufschub . .  * 

Le   Van  Tao 

Aus  einem  der  blutenden  Kautschukgarten  Cochinchinas 
sind  nachts  dreiBig  Kulis  entflohen,  Beim  Appell  urn  funf 
Uhr  morgens  wird  ihre  Flucht  entdeckt.  Eine  Schar  von 
Wachtern  jagt  sogleich  den  Deserteuren  nach*  zwolf  von  ihnen 
werden  zuriickgefangen.  Neuerlicher  AppelL  Als  alle  Kulis 
versammelt  sind,  erscheinen  die  Zwolf  auf  dem  Platz.  Sie 
Ziehen  auf  Befehl  ihre  Hosen  herab,  legen  sich  bauchlings  zur 
Erde,  die  Strafexekution  beginnt:  zwanzig  Streiche  fiir  jeden 
mit  dem  spanischen  Rohr,  das  ist  der  Tarif  fiir  die  erste  De- 
sertion. Mit  Miihe  erheben  sich  die  Geziichtigten,  Ziehen  vor- 
sichtig  die  Hosen  uber  das  blutende  Fleisch,  gehen  daran,  das 
vorgeschriebene   Pensum  zu  leisten. 

In  der  folgenden  Nacht  verlassen  von  den  Gepeitschten 
wieder  drei  die  Plantage.  Zuriickgefangen  wird  einer:  Le  Van 
Tao.  Er  wird  vor  Monsieur  Boulerst,  Direktorstellvertreter, 
gefuhrt.  Monsieur  Boulerst  sucht  eine  der  Saulen  seiner  Ve- 
randa aus,  lafit  Le  Van  Tao  die  Arme  um  sie  legen,  schnappt 
Schelien  um  seine  Hande.  So  bleibt  er  die  Nacht  uber.  Am 
Morgen  Appell  der  Kulis.  In  die  Mitte  des  Sammelplatzes 
wird  Le  Van  Tao  gebracht  und  mit  Zeremonie  seine  Hose 
ausgezogen.  Zwei  Wachter  packen  ihn,  einer  an  den  Handen, 
einer  an  den  FiiBen  und  halten  ihn  zwanzig  Zentimeter  uber 
dem  Boden.  Monsieur  Boulerst  selbst  erscheint  und  verab- 
reicht  ihm  in  dieser  Stellung  27  Streiche  mit  dem  Ochsen- 
ziemer.    Als  alles  fertig  ist,  bleibt  Le  Van  Tao  liegen, 

Wieder  Untersuchung.  „Sie  haben  zur  Ziichtigung  keinen 
Rohrstock,  sondern  den  Ochsenziemer  veTwandt?"  wird  Mon- 
sieur Boulerst  gefragt  „Ganz  richtig,"  antwortet  er,  „ich 
habe  mit  dem  Ochsenziemer  geschlagen,  weil  ich  ihn  grade  in 

263 


der  Hand  hatte.     Im  Obrigen,  wo  ist  ein  Unterschied  zwischen 
einem  Ochscnzicmcr  und  cinem  spanischen  Rohr?  ..." 

Thi  Nguyen 

Dorf  Dong.  Gliihende  Hitze.  In  der  Fabrik  ist  kein 
Wasser  mchr  in  den  Kiibeln,  Drei  Frauen  gehen  zum  Bach, 
urn  zu  trinken.  Sic  hatten  nicht  tun  Erlaubnis  gebeten.  ALs 
sic  zuriickkehren,  haben  sie  ihrc  flCaig-uans"  auszuziehen,  sich 
auf  die  Erdc  zu  legen.  Die  einundzwanzigjahrige  Thi  Tuong, 
die  dreiBigjahrige  Thi  N'guyen,  die  mit  sechs  Mohaten  schwan- 
gcr  ist  und  die  sechsunddreiBigjahrige  Thi  Nhon,  Mutter  dreier 
Kinder.  Jede  erhalt  zehn  Schlage  mit  einem  drahtumwik- 
kelten  Rohrstock.  Die  Schwangere  erleidet  selbstver- 
standlich  zwei  Tage  spater  eine  Friihgeburt  Photographien 
ihrer  zentimetertiefen  Wunden  sind  an  den  Staatsanwalt  in 
Sa'igon  gegangen  —  im  Dorfe  Dong  wird  weiter  geschlagen  .  .  , 

i. 

Roubaud  fahrt  fort,  wir  wollen.  die  Liste  schlieBen.  Denn 
es  kommt  nicht  auf  ein  Beispiel  mehr  oder  weniger  an;  es 
kommt  auf  die  erschiitternde  Tatsache  an,  daB  alles  wahr  ist, 
was  je  iiber  Sklaverei  gesagt  und  geschrieben  wurde,  Es  kommt 
darauf  an,  dafi  Louis  Roubaud,  der  Franzose  und  Nichtkommu- 
nist,  es  bestatigt.  Er  schreibt  wortlich:  ,,So  unangenehm  das 
Wort  auch  sein  mag,  es  muB  ausgesprochen  werden,  der  anna- 
mitische  Arbeiter  unterzeichnet  fiir  drei  Jahre  einen  Sklaven- 
vertrag/'  —  Eine  der  Hauptparolen  der  kommunistischen 
Schule  Whampoa  in  Canton,  zu  der  sich  alle  revolutionaren 
Element e  Indochinas  drangen,  lautet  denn  auch;  ,,Erzwingung 
weltstadtischer  Arbeitergesetze;  V«rbot  der  Rekrutierung  von 
Kulis/' 

Sie  hat  gut  Parolen  aufstellen.  15  Millionen  Kulis  gibt 
es  heute  in  Indochina  bei  einer  Gesamtbevolkerung  von 
20  Millionen.  Alle  20  Millionen  drehn  sich  nach  dem  Wink 
von  20  000  weiBen  Kolonisten.  Von  den  20  000  verstehen,  wie 
gesagt,  keine  drei  Prozent  die  Sprache  des  Landes.  15  Millio- 
nen Kulis  verdienen  bei  zehnstundiger  Arbeitszeit  im  Durch- 
schnitt  25  Sous  pro  Tag,  das  sind  50  franzosische  Sous,  heiBt; 
2  Franks  50  =  25  Pfennige!  10  Stunden  wohlgemerkt!  Da- 
bei  hat  die  Weltwirtschaftskrise  der  letzten  Jahre  eine  groBe 
Zahl  dieser  Sklaven  selbst  um  diesen  beschamenden  Verdienst 
gebracht.  Die  Preise  der  Rohmaterialien  begannen  zu  fallen, 
das  rasende  Tempo  ihrer  Gewinnung  lieB  sie  immer  tiefer 
sink  en.  Die  Herren  Michelin,  Outrey,  Homberg,  diese  „GroB- 
martyrer  der  Rationalisierung",  wie  Ilja  Ehrenburg  sie  nennt, 
schranken  die  Produktion  ein,  um  in  wertlosem  Reichtum  nicht 
zu  ersticken-  Sie  halten  heute  genaue  Schau  im  wachsenden 
Heer  der  Arbeitslosen,  sie  nehmen  die  starksten  und  besten 
und  solche,  die  willig  sind.  Vorbei  sind  die  Zeiten,  da  Kulis 
mit  heimtuckischen  Versprechungen  auf  die  Plantagen  gelockt 
werden  muBten.  Heute  hat  es  sich  eingebiirgert,  daB  der  auf- 
genommene  Kuli  dem  ,,Cai",  den  anuamitischen  Rekruteur,  zum 
Dank  fiir  die  Aufnahme,  3  Sous  pro  Tag  uberlaBt.  Bleiben 
ihm  22  Sous.     Davon  kauft  er  taglich  zwei  Schalen  Reis,  die 

264 


Schale  zu  10  Sous.  Dem  Kuli  bleiben  2  Sous.  Er  ist  nackt. 
Die  Stcucrn,  die  er  zu  entrichten  hat,  betragen  5  Piaster  pro 
Jahrf   das  ist  dcr  Lohn  eines  Monats. 

Dcr  Kuli  kann  seine  Steuer  nicht  bezahlen,  Er  stohnt 
unter  der  Last  des  Fiskus.  Und  so  la-utet  die  nachste  der 
groBen  Parolen  der  beruhmten  Schule  Whampoa  in  Kanton: 
Zahlt   keine   Steuern! 

Die  historische  „Gabelle",  die  Gandhis  Feldzug  des  Un- 
gehorsams  heraufbeschwor,  driickt  auch  den  franzosischen 
Kuli.  Sie  hat  im  Jahre  1929'  dem  indochinesischen  Budget 
11  Millionen  Piaster  eingebracht.  Das  Volk  verflucht  die 
Gabelle. 

Den  zweiten  Hauptposten,  und  zwar  rund  ein  Viertel  des 
Einnahmebudgets,  stellt  die  franzosische  Opiumregie.  Ilja 
Ehrenburg  gibt  in  seinem  Buch  ,,Das  Leben  der  Autos"  ein 
Rundschreiben  des  Generalgouverneurs  an  die  Unterprafekten 
wieder,  es  lautet:  ,,Ich  gestatte  mir,  Ihnen  die  Liste  der  Ort- 
schaften  zu  senden,  in  denen  es  iiberhaupt  noch  keinen  Alko- 
hol  und  kein  Opium  gibt,  und  wo  daher  staatliche  Verkauis- 
stellen  zu  eroffnen  sind  , , ."  Anzunehmen,  daB  seither  die 
fehlenden  Verkaufsstellen  errichtet  wurden  und  Pierre  Pas- 
quier,  Mle  coupeur  de  tetes",  wie  ihn  die  ^umanite'  nennt, 
hat  offenbar  auch  auf  diesem  Gebiet  seine  Verdienste. 

Am  Tage  nach  der  pomposen  Eroffnung  der  Internatio- 
nalen  Kolonialausstellung  in  Paris,  an  dem  der  junge  Kaiser 
von  Annam,  geblendet  von  der  Ehre,  die  man  ihn  antat,  an  der 
Seite  des  Prasidenten  Doumergue  saB .  und  der  Marsailleise 
lauschte,  brachten  »  drei  Linksblatter  folgendes  Privattele- 
gramm  aus  Saigon: 

1  Mai  Annam  Demonstrationsziige  iiberall  mit  Gewehrsalven 
empfangen  mindestens  hundert  Tote  stop  Keine  Verluste  bei  den 
Truppen  stop  Menschlich  denkende  erheben  emporten  Protest 
erwarten  andre  MaBnahmen  als  unniitze  Massakers  fordern 
sofortige  parlamentarische  Untersuchung 

Cancellieri  Avocat  Saigon 

Der  Inhalt  des  Telegramms,  das  von  der  ,Htimanite\  dem 
sozialistischen  .Populaire*  und  der  republikanischen  ,Lumiere' 
wiederholte  Male  auf  der  ersten  Seite  gebracht  worden  ist, 
hat  bis  heute  seitens  der  Regierung  weder  ein  Dementi  noch 
eine  Bestatigung  erfahren.  Statt  einer  authentischen  Aufle- 
rung  sind  aber  weitere  Blutdepeschen  aus  Indochina  ein- 
getroffen; 

,,9.  Mai  acht  Revolutionare,  Flugschriften  verteilend,  von 
Legionaren   auf   offenem   Feld   erschossen . .  /' 

Paris  liest  fleiBig  den  ,Temps',  Er  beschuldigt  Moskau 
alien  Unheils  und  verlangt  nimmermude  den  RausschmiB  der 
russischen  Botschaft.  Im  (ibrigen,  nur  keine  Nervositat!  ^Die  Ma- 
laise in  denKolonien,"  schreibt  er,  ,,ist  zurzeit  allgemein.  Uber- 
all  Wirren  und  Bewegungen,  die,  wenn  man  sie  nicht  entschlossen 
unterdriickte,  zur  Zerstorung  des  groBen  zivilisatorischen  Wer- 
kes  fiihren  konnten,  das  die  okzidentalen  Demokratien  in  ihren 
iiberseeischen  Besitzungen  unternommen  haben,  Diese  Demo- 
kratien sind  solidarisch, . ." 

265 


ElirOpaiSChe  Kinderstube  von  Peter  Panter 

„rapprochement  (raproschma)  m.  1.  Zusammenriicken  n, 
Wiederannaherung  f;  (reunion)  Vereinigung  f,  2.  fig. 
(reconciliation)    Annaherung   f,  Versohnung  f" 

Sachs-Villatte 

r\ic   pariscr   ,Comoedia*   vom   19.   Juli   erithalt  auf  der  crstcn 
Seite  folgenden  Artikel: 

Das  merkwiirdige  Schamgeftihl  Thomas  Manns 
wird  Paris  mit  einem  skandalosen  Buch  beschenken. 

Nachstens  wird  bei  Bernard  Grasset  ein  neues  Werk  Tho- 
mas Manns  „Sang  reserve"  erscheinen. 

Der  Inhalt  ist  allem  Anschein  nach  auBerst  anstoflig. 

So  anstofiig,  dafi  Thomas  Mann  unmittelbar  nach  Erschei- 
nen der  deutschen  Ausgabe  alle  bereits  ausgedruckten  Exem- 
plare  aus  dem  Handel  zuriickgezogen  hat.  Das  Romanthema 
ist:   Blutschande.  ^ 

Dieses  Werk  ist  auch  nicht  in  den  Gesammelten  Werken 
Thomas  Manns,   die  zur  Zeit  erscheinen,  aufgenommen. 

Man  nimmt  wohl  in  Deutschland  an,  dafi  Frankreich  weni- 
ger  Schamgeftihl  hat,  Herr  Thomas  Mann,  der  befiirchtet,  seine 
Landsleute  vor  den  Kopf  zu  stofien,  hat  keinerlei  Bedenken, 
dergleichen  mit   Frankreich   zu  tun. 

Ist  das  nun  seinerseits  ein  Zeichen  von  Hochachtung  fur 
unsre  Fahigkeit,  uns  von  allem  das  beste  auszuwahlen? 

Oder  muB  man  in  seinem  Verhalten  nicht  im  Gegenteil  eine 
fiir  uns  sehr  unfreundliche  Unverfrorenheit  sehen?  Dies  Buch 
ist  fiir  Deutschland  nicht  gut,  Aber  ftir  Frankreich,  nicht 
wahrt  ist  es  noch  alle  Tage  gut!  SchlieBlich  ist  ja  fiir  ein  so 
verdorbenes  Volk  wie  das  franzosische  nichts  zu  gewagt . . . 

Immerhin  hat  aber  dieses  verdorbene  Volk  in  seinen  Cafes, 
in  seinen  Restaurants,  in  seinen  Theatern  und  auch  nicht  in  der 
Gesellschaf t  j  enen  Geschlechterwechsel  organisiert,  wie  er  in 
Berlin  ublich  ist. 

Dieses  verdorbene  Volk  hat  die  Lehre  Freuds  weder  er- 
funden  noch  hat  es  sie  und  ihre  zahlreichen  Abarten  theore- 
tisch  oder  praktisch  angewendet. 

Dieses  verdorbene  Volk  halt  keine  Kongresse  uber  sexuelle 
Seltsamkeiten  ab,  wie  wir  noch  im  vorigen  Jahr  so  einen  Kon- 
grefi  im  Rheinland  erlebt  haben.  Dieses  Volk  hat  keine  Ko- 
edukation,  weder  solche,  bei  der  die  Kinder  angezogen  sind, 
noch  solche  mit  Nacktkultur,  wie  das  in  den  grofien  deutschen 
Stadten  gang  und  gabe  ist,  und  so  wundern  wir  uns  fiber  die 
plotzliche  Schamhaftigkeit  eines  deutschen  Autors,  in  demsel- 
ben  Lande,  wo  man  dauernd  Stucke  spielt,  die  sich  auch  nicht 
eine  Viertelstunde  auf  einer  pariser  Btihne  halten  konnten. 

Wir  wollen  immerhin  einem  andern  Deutschen,  dem  Fiir- 
sten  Biilow,  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen.  Der  wendet  sich 
im  letzten  Bande  seiner  Memoiren  energisch  gegen  die  uble 
Gewohnheit  seiner  Landsleute,  Paris  das  moderne  Babylon  zu 
nennen.  P.  L. 

Es  erscheint  mcrkwiirdig,  daB  ein  grofies  Blatt  wie  tCo- 
moedia'  offenbar  nicht  die  Mittel  besitzt,  sich  Redakteure  zu 
halten,  die  lesen  und  schreiben  konnen  und  die  liber  Europa 
soviel  Bescheid  wissen,  wie  notig  istf  urn  sich  eine  Meinung 
iiber  fremde  Lander  zu  bilden.  Wo  in  aller  Welt  hat  die  Re- 
daktion  diesen  Analphabeten  aufgegabelt?  Das  mufi  nicht 
leicht  gewesen  sein  —  Frankreich  hat  so  gute  Schulen, 

266 


Was  zunachst  die  Meinung  angeht,  Frankreich  sei  kein  un~ 
moralischcs  Land,  so  ist  das  der  einzige  Lichtblick  in  diesem 
traurigen  Artikcl.  Ich  habe  mich  seit  Jahren  bemiiht,  diese 
wirklich  kindische  Vorstellung  aus  den  deutschen  Kopfen  her- 
auszutrommeln;  da  aber  die  heimischen  Schriftgelehrten  immer 
viel  besser  iiber  das  Ausland  orientiert  zu  sein  glauben  als  die 
Leute,  die  dort  leben,  so  ist  das  keine  einfache  Aufgabe.  Der 
Rest  des  Artikels  aber  .  .  , 

Da  bemiihen  sich  nun  auf  beiden  Seiten  wohlmeinende 
und  gebildete  Manner,  ihre  Volker  iiber  einander  zu  infor- 
mieren.  Die  Deutschen  sind  iiber  die  Franzosen  meist  falsch,, 
die  Franzosen  iiber  die  Deutschen  meist  gar  nicht  unterrichtet. 
Da  erscheinen  nun  Obersetzungen:  da  geben  sich  franzosische 
Wochen-  und  Monatsschriften  solche  Miihe  —  und  dann  kommt 
einer  und  trampelt  imPorzellanladen  herum,  daB  es  nur  so  kracht. 

Zunachst  ist  das  Buch  „Walsungenblut",  um  das  es  sich 
hier  handelt,  nicht  unsittlich.  Thomas  Mann  hat  das  Werk 
meines  Wissens  nicht  etwa.  aus  sittlichen  Bedenken  aus  dem. 
Handel  zuriickgezogen,  sondern  aus  Griinden,  die  nur  ihn  allein 
angehn.  Diesem  Schriftsteller  vorzuwerfen,  er  schriebe  unsitt- 
liche  Biicher,  ist  nicht  nur  eine  Niedrigkeit  —  es  ist  eine 
Dummheit,  die  einen  gradezu  katastrophalen  Mangel  an  Bil- 
dung  enthiillt.  Eine  solche  Blamage  hatte  ,Comoedia*  nicht 
notig  gehabt. 

Es  ist  unrichtig,  zu  behaupten,  Thomas  Mann  halte  Frank* 
reich  fur  gut  genug,  dort  Biicher  abzusetzen,  die  man  in 
Deutschland  aus  Griinden  der  Moral  nicht  Verorfentlichen 
konne.  Ganz  abgesehen  davon,  daB  es  von  diesem  Werk  eine 
begrenzte  deutsche  Ausgabe  gibt:  Thomas  Mann  spricht  und 
schreibt  franzosisch,  WeiB  von  Frankreich  viel  und  hat  sich 
wahrend  seines  pariser  Besuchs  seiner  Aufgabe  mit  Takt  ent- 
ledigt.  Ich  sehe  die  Wirkungen  dieses  Besuchs  ganz  anders  an 
als  er,  aber  der  Artikel  der  ,Comoedia*  ist  ein  Anwurf,  der  zu- 
riickgewiesen  werden  muB,  Nicht  der  Wert  der  literarischen 
Leistung  Manns  steht  hier  zur  Diskussion  —  die  literarische 
Sauberkeit  steht  zur  Diskussion.  ,Comoedia'  hat  die  Grund- 
gesetze  jeder  geistigen  Debatte  verletzt. 

Wenn  die  Homosexualitat  sich  in  Deutschland  mitunter  in 
den  Vordergrund  driingt,  so  hat  das  mancherlei  Griinde.  Ger- 
manische  Rassen  neigen  mehr  zur  Gleichgeschlechtlichkeit  als 
lateinische  (briillt  nicht,  es  ist  so),  und  auBerdem  hat  der  Deut- 
sche die  fatale  Neigung,  aus  allem  eine  MWeltanschauung"  zu. 
machen,  als  welches  Wort  sich  nicht  ins  franzosische  iiber- 
setzen  laBt.     Mit  Moral  hat  dergleichen  nichts  zu  tun. 

Koedukation  ist  keine  Spezialitat  von  Bordellen.  Nackt- 
kultur  auch  nicht.  Der  gesunde  Versuch  der  Bevolkerung,  die 
entsetzliche  Wohnungsnot  durch  sportliche  Betatigung  in 
frischer  Luft  auszugleichen,  hat  Auswiichse;  es  gibt  auch 
torichte  Vereine,  wo  Postsekretare  vor  entsprechenden  Frauen- 

leibern  ihre  sicherlich  siindige  Lust  zu  bekanjpf en  vorgeben 

was  aber  Korperpflege  angeht,  so  fasse  sich  Paris  an  die  eigne 
Nase;  es  hat  wenig  brauchbare  Hallenschwimmbader  fur  das. 
Volk,  und  was  sich  an  Priiderie  und  Albernheit  in  franzosischen 
Seebadern  begibt;  reicht  an  das  finsterste  Bayern  heran, 

267 


Auf  deutschen  Theatern  werden  Sttickc  gespielt,  die  nicht 
-etwa  unanstandig  sind,  sondcrn  die  man  in  Paris  deshalb  aus- 
lachte  und  mit  Rccht  auslachte,  weil  diese  schwerfallige  Art, 
sich  dem  Bett  zu  nahern,  in  Frankrcich  auf  kein  Verstandnis 
trifft-  Dort  gleitet  man  in  sanfter  Kurve  auf  die  Lagerstatt: 
der  Deutsche  sieht  erst  vorher  im  Lexikon  nach,  obs  auch 
stimmt.    Unmoral?   Nein;  Privatdozenten  der  Sunde, 

Was  hingegen  den  Angriff  gegen  die  Lehre  Freuds  angeht, 
so  darf  gefragt  werden,  ob  der  Verfasser  jener  Glosse  auch  nur 
ein  eiriziges  Mai  ein  Buch  Freuds  in  der  Hand  gehabt  hat.  Ich 
mochte  das  bezweifeln.  Er  halt  diese  Lehre  wahrscheinlich  fiir 
«inen  Freibrief,  Embryos  zu  vergewaltigen,  was  ja  die  Deut- 
schen bekanntlich  zum  Friihstiick  zu  tun  pflegen. 

Kurz;  Rapprochement. 

*    . 

Auf  welchem  Erdteil  leben  wir! 

Man  kann  sich  an  den  Fingern  abzahlen,  was  nun  fiir  ein 
Spiel  anhebt.  .  ■  '. 

Die  volkischen  Esel  werden  begeistert  I-A  schreien,  weil 
der  Erbfeind  den  Juden  Thomas  Mann  verunschimpfiert  hat. 
Und  sie  werden  hinzufiigen:  ,,Da  sieht  man,  wie  diese  Porno- 
^raphen  den  Ruf  des  braven  deutschen  Volkes  im  Ausland 
schadigen!  Da  hat  mans  wieder!"  Das  Spiel  hat  schon  ange- 
hoben.  Die  .Deutsche  Zeitung'  ist  schwer  begeistert,  schaumt 
vor  Schadenfreude  und  wirft  mit  Bourdet  zuriick,  dessen  leich- 
tes  Spiel  vom  t1Sexe  Faible"  sie  fiir  Hfranz6sische  Selbstent- 
larvung  eines  verendeten  Zeitalters"  halt.  So  wenig  weiB  sie 
von  Frankreich. 

Und  dann  werden  wieder  die  Franzosen  antworten,  die 
Deutschen  seien  Heuchler  und  Ferkel,  Wenn  sie  iiberhaupt 
antworten  —  denn  die  meisten  von  ihnen  konnen  ja  nicht 
deutsch  lesen,  Und  dann  werden  die  volkischen  Esel  ihr  Ge- 
briill  wieder  aufnehmen  und  iiber  den  Rhein  rufen,  Paris  sei 
viel  schlimmer  als  Babylon,  schlimmer  schon  deshalb,  weil  es 
so  teuer  sei,  Und  alle  Franzosen  tranken  immerzu  Cham- 
pagnerf  und  woraus,  das  konne  man  nur  in  Herrengesellschaft 
erzahlen.     Und  so  vergniigen  wir  uns  alle  Tage. 

Narren.  Ein  Haufe  von  Narren,  denen  das  eigne  Land  zum 
religiosen  Begriff  geworden  ist.  Und  da  jede  Religion  ihren 
Teufel  notig  hat:  der  Teufel,  das  ist  allemal  der  Auslander. 

Wir  brauchen  Thomas  Mann  nicht  in  Schutz  zu  nehmen. 
Die  Sauberkeit  des  literarischen  Betriebes  gegen  Schmierfm- 
ken  aber  wollen  wir  doch  wahren. 

So  zum  Beispiel  werden  Kriege  vorbereitet. 

Alte  und  neue  Banken  von  Bernard  citron 

Von  Fiirstenberg  zu  Jacob  Goldschmidt 

In  England  hat  man  vor  einiger  Zeit  eine  Enquete  iiber  das 
Bankwesen  veranstaltet.  Das  Gutachten  fiir  Deutschland 
gab  Dr.  h.  c.  Jacob  Goldschmidt  ab.  Es  heiBt  dort,  daS  die 
deutschen  Banken  im  neunzehnten  und  beginnenden  zwanzig- 
sten   Jahrhundert   die   Industrie    groB    gemacht    haben.     Wer 

268 


mag  bestreiten,  daB  die  A.TLG.  das  gemeinsame  Werk  des  In- 
dustriellen  Emil  Rathenau  und  dcs  Bankiers  Carl  Fiirstenberg 
ist?  Wiirdc  man  diesen  Vergleich  fortfiihren,  dann  miiBte  man 
auch  die  Darmstaldter  Bank;  und  die  Norddeutsche  Wjollkammerei 
in  einem  Atemzuge  nennen.  So  hart  wollen  wir  nicht  urteilen* 
vielmehr  sei  das  gegenwartige  Verhaltnis  zwischen  Bank  und 
Industrie  an  dem  Beispiel  der  Vereinigten  Stahlwerke  erlautert. 
Die  Darmstadter  Bank  unter  Jacob  Goldschmidt  hatte  die 
Ftihrung,  als  aus  der  Stinnesmasse  der  wertvollste  Kern,  die 
Rhein-Elbe-Union  herausgefischt  wurde.  Mit  dieser  Tat,  die 
kurz  nach  der  Inflation  die  deutsche  Wirtschaf  t  vor  einer  schwe- 
ren  Katastrophe  bewahrte,  hatten  sich  Manner  wie  Gwinner 
oder  Fiirstenberg  begniigt.  Eben  war  der  Vertikaltrust,  der  den 
Namen  Hugo  Stinnes  trug,  zusammengebrochen,  und  schon 
wurde  in  Horizontalform  ein  neues  Riesengebilde  aufgetiirmt: 
die  Vereinigten  Stahlwerke.  An  diesem  Geschopf  der  Danat- 
bank  bestatigt  sich  das  Mephistowort:  „Am  Ende  hangen  wir 
doch  ab  von  Kreaturen,  die  wir  machten'7  Die  Industrie  —  an 
ihrer  Spitze  Friedrich  Flick,  der  Beherrscher  der  Vereinigten 
Stahlwerke  —  hat  die  Danatbank  iibernommen,  urn  sie  vor  der 
„drohenden  Sozialisierung"  zu  ret  ten.  Diesem  gliicklichen  Um- 
stand  darf  Goldschmidt  sein  Verbleiben  in  der  Leitung  des  In- 
stituts  verdanken. 

Weiter  als  irgend  einer  seiner  Zeitgenossen  vermochte 
der  blinde  Gerson  Bleichroder  zu,  sehen.  Hat  sein  gei- 
stiges  Auge  auch  das  kiinftige  Schicksal  des  Hauses  S.  Bleich- 
roder erblickt?  Den  letzten  Rest  einstigen  Glanzes  ha- 
ben  die  unerquicklichen  Folgen  der  Prozesse  zwischen  Firma 
und  Familie  getilgt.  Wenigstens  der  Name  bleibt  als  Aushange- 
schild   einer  jungern  und  kraftigern  Firma  erhalten. 

Ein  Epigone  andrer  Art  ist  Herbert  Gutmann.  ALs  Bank- 
direktor  zehrte  er  von  dem  materiellen  und  ideellen  Kapital 
des  Vaters.  Die  geschaftlichen  Fahigkeiten  d«s  Sohnes  waren 
nie  iiberragend,  schon  zu  Lebzeiten  Eugen  Gutmanns  muBte 
Herbert  saniert  werden.  Dessen  Verdienste  urn  die  Dresdner 
Bank  beschrankten  sich  auf  die  Kundenwerbung.  Wenn  der 
Leiter,  einer  deutschen  GroBbank  Kunden  acquerieren  will, 
kann  er  sich  nicht  der  Methoden  eines  Versicherungsagenten 
oder  Handelsreisenden  bedienen,  sondern  muB  reprasentieren. 
Fiir  Herbert  Gutmann  wurde  die  Representation  schlieBlich 
Selbstzweck,  seine  Haushaltung  war  schon  fast  eine  Hofhal- 
tung.  Keine  bekannte  Personlichkeit  des  politischen  oder 
geistigen  Lebens,  die  durch  Berlin  kam,  w.urde  nicht  in  der 
Friedrich-Ebert-StraBe  oder  in .  Herbertshof  zum  Friihstiick 
empfangen.  Der  Prasident  des  Golf-  und  Landklubs  hatte  vom 
,,Dienst  am  Kunden"  anscheinend  eine  sehr  weitgehende  Vor- 
stellung.  Dennoch  ist  die  Dresdner  Bank  gewiB  nicht  infolge 
der  Ausgaben  des  Chefs  in  Schwierigkeiten  geraten,  aber  nach 
einem  Krach  steht  vor  der  Offentlichkeit  ein  Hasardeur  besser 
da  als  ein  wirklicher  oder  angeblicher  Verschwender, 

Zugrunde  gerichtet  wurde  die  Dresdner  Bank  durch  ihr 
Genossenschaftsgeschaft.  Da  diese  Verluste  groBtenteils  durch 
die  Landwirtschaft   hervorgerufen   worden  sind,   ist  die   Bank 

269 


auf  dem  „Fclde  der  Ahre"  gefallen.  Nur  so  erklart  sich  eine 
Hilfsaktion,  deren  Umfang  (dreihundert  Millionen  Reichsmark) 
wohl  jedc  bisherige  Staatssubvention  an  die  Privatwirtschaft 
in  den  Schatten  stellt  Da  man  in  Deutschland  nie  gleich 
offen  mit  der  Sprache  herausriickt,  wurde  erst  die  Akzept- 
und  Garantiebank  gegriindet,  deren  anfangliche  Hauptaufgabe 
darin  bestand,  die  Dresdner  Bank  durch  Diskontierung  von 
eigens  zu  diesem  Zwecke  hergestellten  Wechseln  am  Leben 
zu  halten.  Nachdem  dieses  Ziel  erreicht  ist,  herrscht  in  den 
fur  die' Zwecke  des  neuen  Instituts  in  aller  Eile  hergerichteten 
Prachtraumen  groBte  Ruhe.  Die  von  den  verschiedenen  Ban- 
ken  abkommandierten  Angestellten  kehren  allmahlich  wieder 
zu  ihrer  bisherigen  Tatigkeit  zuriick. 

Wir  sind  noch  nicht  am  Ende  dieser  neuartigen  Griin- 
dungsperiode.  Da  im  Hint  ergr  und  jeder  Um-  oder  Neubildung 
im  Bankgewerbe  das  Reich  mit  einer  Garantie  stent,  mufl  man 
immer  wieder  fragen:  „Und  wer  hilft  dem  Reich?" 

Die  Ueberlebenden 

Das  Geheimnis  der  Liquiditat  beruht  heute  auf  der  Erfah- 
rung  der  letzten  Zeit,  daB  nur  der  Geschafte  macht,  der  kein 
Geschaft  hat.  An  der  Borse  weiB  man  es  langst,  daB  die  wohl- 
habendsten  Bankiers  kein  Bureau  und  keine  Angestellten  und 
kerne  Kunden  haben.  Da  aber  ganz  gegen  ihren  Willen  zahl- 
reiche  Bankgeschafte  von  dem  Ideal  volliger  Geschaftslosigkeit 
nicht  mehr  weit  entfernt  sind,  konnten  ihnen  kaum  noch  Kre- 
dite  gekiindigt  werden,  und  wahrend  der  Borsenruhe  fraBen 
die  zwangslaufigen  Spesen  nicht  das  ganze  Betriebsvermogen 
auf.  Daher  brauchen  die  Bankiers  in  ihren  Reihen  nur  ein  einzi- 
ges  Opfer  der  Krise  zu  beklagen.  Von  den  Kreditbanken  blieben 
schlieBlich  Deutsche  Bank,  Commerzbank  und  Berliner  Han- 
dels-Gesellschaft  unbeschadigt,  Im  Hause  Carl  Furstenbergs 
hat  man  sich  stets  von  der  Massenpsychose  ferngehalten.  We- 
der  auf  die  Inflationskonjunktur  noch  auf  den  Kredittaumel 
von  1926  hat  die  Berliner  Handels-Gesellschaft  Hauser  gebaut. 
Die  Deutsche  Bank  blieb  dank  der  geringen  Hohe  kurzfristiger 
Auslandsverschuldungen  liquide.  Die  Zugkraft  ihres  Namens 
brachte  der  Bank  einen  Zulauf  neuer  Kunden,  die  den  andern 
Bank  en  und  Bankgeschaften  nicht  mehr  trauten.  Die  Starke 
der  Commerzbank  aber  beruht  auf  einer  jahrelang  geubten 
Zuriickhaltung,  die  in  Bankkreisen  falschlicherweise  als  Ver- 
kalkung  angesehen  wurde.  So  ist  auch  der  leitende  Mann, 
Friedrich  Reinhart,  zur  ersten  Finanzkapazitat  aufgeruckt, 
Den  personlichen  Charme.  Jacob  Goldschmidts  besitzt  er  nicht, 
vielmehr  vertritt  er  in  der  BehrenstraBe  die  neue  Sachlichkeit, 
die  im  Grunde  ein  Vermachtnis  der  alten  Schule  ist, 

Wenn  sich  das  kapitalistische  Deutschland  von  dem 
schwersten  Schlag,  den  es  je  erlitten  hat,  noch,  einmal  erholen 
wird,  dann  muB  es  nach  neuen  Formen  sucheti.  Was  jetzt  im 
Bankgewerbe  offenbar  wurde,  ist  keine  zufallige  Erscheinung 
sondern  der  Mangel,  eines  Systems,  dessen  Tragern  der  Plan 
zum  Vormarsch  und  der  Mut  zum  Riickzug  fehlte. 

270 


Bemerkuflgen 

Das  wirkliche  Ruhrgebiet 

sieht  dock  noch  ein  bifichen  an- 
ders  aus,  als  es  tins  gelegentliche 
Besucher,  Reporter,  zeitfreiwillige 
Bergarbeiter  geschildert  haben, 
selbst  wenn  sie  sehr  scharfaugig 
und  anstandig  waren. 

Dafi  sich  zwischen  den  verherr- 
Hchten  Wundern  der  industriellen 
Technik  schlimmste  Not  aller 
Grade  drangt  und  qualt,  das  wufi- 
ten  ,wir.  Auch  davon  haben  wir 
gehdrt,  dafi  wobl  der  einzelne 
Kumpel  im  Bergwerk  sich  als 
Kamerad  des  andern  fiihlt,  dafi  es 
aber  kaum  einen .  einheitlichen 
proletarischen  Willen  des  ganzen 
Reviers  gibt,  weil  Neid,  Klein- 
kram,  Tratsch  und  engherziger 
Diinkel  ein  feinabgestuftes  Klas- 
sensystem  innerhalb  der  Arbeiter- 
schaft  aufrechterhalten. 

Aber  die  von  Oberburger- 
meistern  und  Regierungsprasiden- 
ten,  in  Feuilletons  und  Werk- 
reportagen  (auch  in  der  Arbeiter- 
presse)  laut  gepriesene  Entwick- 
des  ganzen  Gebiets,  des  „Gigan- 
ten  an  der  RuhrMt  machte  doch 
einigen  Eindruck  auf  uns.  Da 
kommt  nun  ein  graugebundenes 
Buch:  MKohlenpott'\  von  Georg 
Schwarz  geschrieben  und  in  der 
Biichergilde  Gutenberg  erschienen, 
und  nimmt  uns  auch  diese  letzte 
Illusion.  Wir  erfahren,  dafi  es  mit 
dem  stolzen  und  selbstverstand- 
lichen  Wachstum  nicht  so  sehr 
weit  her  ist  Langsam,  oft  kum- 
merlich  und  stockend  geht  es 
iiberall  voran.  Offenbar  sind  in 
einer  Gegend,  wo  die  Menschen 
dichter  aufeinanderhocken  als 
sonst  in  Deutschland,  nicht  nur 
die  sozialen  sondern  uberhaupt 
alle  Reibungsflachen  vergrobert 
und       vergrofiert.  Unverstand, 

Kleinstadterei,  Ressortstolz,  alle 
lieblichen  deutschen  National- 
laster  sind  hier  aufgestaut  und 
werden  doppelt  wirksam,  Neben 
grofizugigem  Tatwillen  eine 
manchmal  erstaunliche  Kleinlich- 
keit.  Stadte,  Bezirke,  Gemeinden, 
Elektrizitat,  Gasf  Bahn,  Post,  Ver- 
bande  aller  Art  fiihren  Kampfe 
gegeneinander,  statt  ineinanderzu- 
greifen.      Das     industrielle     Herz 


Deutschlands  ahnelt  zuweilen 
einem  Fettherz,  dessen  Schlag 
stockt. 

Schwarz  stammt  aus  Dortmund 
und  hat  einen  grofien  Teil  seines 
Lebens  in  der  Arbeiterbewegung 
des  Reviers  verbracht  Nur  wer  so 
mit  dieser  einzigartigen  Land- 
schaft  verwachsen  ist,  vermag  zu 
ermessen,  wie  sehr  sie  in  ent- 
scheidenden  Dingen  zuruckgeblie- 
ben,  wie  bose,  dumpf  und  dreckig 
sie  mit  all  ihren  Wundern  ist. 
Dabei  ist  Schwarz  durchaus  nicht 
blind  gegen  tatsachliche  Leistun- 
gen.  Er  erzahlt  von  Zusammen- 
hangen  und  Kraften,  die  uns  bis- 
her  recht  nebelhaft  waren.  Zum 
Beispiel  beschreibt  er  ausgezeich- 
net  die  Bestrebungen  der  macht- 
oder  eigentlich  rekordsiichtigen 
einzelnen  Stadte.  Unter  den  Pro- 
leten  war  er  nicht  nur  vor  dem 
Giefiofen  und  im  Stollen  sondern 
auch  bei  ihren  armseligen  Be- 
miihungen  um  ein  kargliches 
Sonntagsvergniigen.  Erstaunliches 
berichtet  er  von  der  Verkehrs- 
misere,  die  fiir  die  Nerven  des 
ausgepumpten  Arbeiters  eine  so 
griindliche  letzte  Belastung  be- 
deutet,  dafi  man  versucht  ist,  an 
eine  raffinierte  Absicht  zu  glau- 
ben.  Von  den  echten  Dichtern  des 
Ruhrproletariats  weifi  er  und  von 
den  Werkzeitungen.  Er  schildert, 
welche  besonders  aufreizende 
Rolle  vefstandnislose  Richter  im 
proletarischsten  Lande  Deutsch- 
lands spielen  konnen.  Und  immer 
wieder  sucht  und  findet  er  den  ur- 
sprtinglichen  „Auftrieb  der  Ar- 
beitskraft,  den  Rebellencharakter 
in  allem  Elend,  den  Drang  zur 
Umformung",  der  inmi'tten  aller 
Unvollkommenheiten  vom  ein- 
fachen  Arbeiter  ausgeht.  Das  war 
es,  was  Alfons  Goldschmidt,  vor 
einigen  Wochen  an  dieser  Stelle, 
in  dem  sonst  vortrefflichen  Roman 
Erik  Regers  „Union  der  starken 
Hand"  vermifite,  Das  klare,  red- 
liche  Buch  von  Georg  Schwarz  ist 
in  diesem  Sinne  eine  erschopfende 
Erganzung.  Gute,  unverschmockt 
ausgesuchte  Photos  verstarkpn 
noch  seine  Bedeutung, 

Axel  Eggebrecht 
271 


Vernunftige  Zauberer 

VV/enn  ich  ein  Zauberer  war',  ver- 
**  hielte  ich  .  mich  an  der  s  als 
die  Prominenten  des  Okkultismus, 
der  Astrologie,  der  Chiromantie, 
des  Hellsehens  und  der  Grapho- 
logie,  die  in  einer  Sondernummer 
der  .Literarischen  Welt'  ihre  vor- 
sichtigen  Spruche  aufsagen,  Diese 
Herren  wollen  namlich  keine  Zau- 
berer mehr  sein,  Prosperos  Stab 
verwandelt  sich  in  ihren  Handen 
zum  Meter maB,  und  der  Traum 
einer  grofien  Magie  liegt  in  ihren 
Seelen  unter  f  akultatsreif  en 
Fremdworten  begraben.  Sie  haben 
nur  noch  einen  Ehrgeiz:  vor  der 
Wissenschaft  zu  bestehn,  vor  eben 
derselben,  die  sie  verachten  miifl- 
ten,  wenn  sie  nicht  so  instinktver- 
lassen  waren.  Zaubem  ist  nam- 
lich eine  Kunst,  also  Anti-Wis- 
senschaft.  Wehe  der  dekadenten 
Zeit,  die  diese  Binsenwahrheit 
verkennt.  Schmach  den  Pseudo- 
Zauberern,  die  so  gar  nicht  zau- 
berhaft  sind,  die  auf  das  Abra- 
kadabra  ihrer  Zunft  verzichten, 
um  es  gegen  den  viel  unverstand- 
licheren .  Jargon  einer  wissen- 
schaftlichen  Terminologie  einzu- 
tauschen.  Arrae  Epigonen,  die 
sich  den  Kriterien  der  Gegner 
unterwerfen.  Was  wiirde  man  von 
einem  Reichswehrminister  sagen, 
der  seinen  Etat  nach  den  Wiin- 
schen  der  Pazifisten  einrichtet? 
Die  Stimme  des  Volkes  wiirde  ihn 
verriickt  nennen,   wahrend  man  von 


den  Vertretern  des  Gkkultismus 
und  der  verwandten  Kunste  ge- 
rade  das  sagen  mufi,  was.  niemals 
von  ihnen'  gesagt  werden  dtirfte, 
daB  sie  namlich  verminftig  sind. 
Beim  grofien  Cagliostro,  wir  ha- 
ben ein  Recht  auf  Hokuspokus 
und  kein  Dozent  der  Parapsycho- 
logie  soil  es  uns  rauben, 

Woher  kommt  nur  der  Verfall 
des  Zauberns?  Eine  AuBerung  des 
Hellsehers  Erik  Hanussen  scheint 
die  Erklarung  zu  geben.  „Ich  bin," 
sagt  er  sachlich  und  humorlos, 
„vereidigter  gerichtlicher  Sacbver- 
standiger  und  werde  auch  von  den 
Behorden  meiner  Heimat  als  Wis- 
senscnaftler  anerkannt."  Es  ist 
erreicht  Der  Telepath  ist  Beam- 
ter.  Vielleicht  ist  er  pensions- 
berechtigt.  Intuition  als  Bureau- 
kratie  mit  andern  Mitteln,  Der 
Hellseher  hebt  die  Gesetze  der 
Physik  auf,  um  den  Gesetzen  des 
Staates  Geltung  zu  verschaffen. 
Er  ist  gleichzeitig  illegal  und  le- 
gal, was  bisher  nur  dem  Herrn 
des  Braunen  Hauses  in  Miinchen 
gelungen  ist.  Was  soil  man  von 
Zauberern  halten,  die  alle  bis 
j  etzt  bekannten  Weltbilder  zer- 
triimmern  und  dabei  keine  aus- 
schweifendere  Ambition  haben,  als 
niitzliche  Mitglieder  der  bestehen- 
de  Gesellschaft  zu  werden,  Lieb- 
haber  der  schwarzen  Kunste, 
wahrt  eure  heiligsten  Giiter  und 
grundet  einen  Verein  gegen  die 
staatliche      Bewirtschaftung      der 


</«/• 


In.   Lo»d    ^  *££«    100  M„v,  hl„  g.M  „  (.Ml  und  „,.„.!.-  »lt  ...or  Abd»llo-Ct9<«H.  I 
C«_.danl  .    O'M.  u.  Gold S<0d<      *  "•• 

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Vlrgtalo  Hr.  7      ....    o/M.  .    . |«*     »  JJf- 

EgrFtlaii  Nr.  U   ....    o/M.  u.  Gold Slock  ••  W». 

Abdulla-Cigareffen   genieften   Welfruff 

AMiilfa  *  Co.  Ka>r»       /       london       /       Berlin 


272 


ZaubereL  Ware  die  Nekromantie 
im  alten  Palastina  Staatsmonopol 
und  die  Hexe  von  Endor  Beam- 
tin  mit  Gehaltsanspruchen  und 
wohlerworbenen  Rechten  gewesen, 
so  hatte  sie  kaum  den  Mut  ge- 
habt,  dem  Inhaber  der  Staats- 
gewalt  unerfreuliche  Wabrheiten 
zu  sagen.  Darum:  Freies  Zaubern 
im  freien  Staat* 

Simplex 
Volkskunst 

31.  August  1867 
(aui  ,Die  Strafie'} 

1UT  eines  Eracbtens  kann  die 
***  Kunst  die  Geschicke  eines 
Volkes  lenken.  Sie  gibt  souve- 
ran  die  Richtung  an  fur  die  Ge- 
fuhle,  von  denen  die  verdienten 
Niederlagen  oder  die  gerechten 
Siege  abhangen.  Jene,  die  sicb 
mit  den  geistigen  Dingen  be- 
schaftigen,  haben  die  Pflicht  und 
die  Macht,  ein  freies  Volk  zu 
bilden,  Aber  die  heutige  Kunst 
ist   weit   davon   entfernt! 

Sie  ist  auf  ihre  Weise  noch 
aristokratisch,  Veranstalterin  von 
Zereraonien,  Sklavin  Seiner  Eti- 
kette,  die  ebenso  krankend  fur 
die  Unwissenheit  der  Masse  wie 
fur  den  Charakter  des  Kunstlers 
ist.  Auf  alien  Seiten  werden 
bestandig  die  Worte  Gleicbheit 
und  Unabhangigkeit  gefaselt,  aber 
sogar  jenet  die  sie  im  Munde  fiih- 
ren,  haben  Jteine  Ahnung  von 
Einfachheit  oder  Gerechtigkeit. 
Sie  wollen  sich  immer  den  An- 
schein  geben,  von  oben  herab  zu 
sprechen  und  stellen  sich  uber 
die  Masse  und  nicht  in  die  Masse 
hinein,  wenn  sie  das  Volk  beleh- 
ren  wollen.  Wahrend  doch  das 
arme  Volk,  in  den  Stunden  der 
Verwirrung,  fur  die  Eroberung 
der  Freiheit  alles  hergegeben  hat, 
was   es   geben   konnte,    drei    Mo- 


nate-  des  El  ends  und  viel  Blut, 
Die  Herren  vom  Geistesadel  ha* 
ben  aber  nichts  gegeben,  gar 
nichts,  und  es  ist  klaglich  zu 
sehen,  wie  sehr  im  Geist  und  im 
Werk  der  Literaten  und  Ktinstw 
lert  welche  die  Zeitgenossen  die* 
ser  denkwiirdigen  Kampfe  warent 
tiefe  Spuren  unfruchtbarer  Eitel- 
keit  und  straflicher  Schiichtern- 
heit  eingegraben  sind! 

Die  einen  lecken  den  GroBen 
die  FuBe,  sie  wollen  hier  eineri 
Orden,  dort  einen  Preis,  zuletzt 
ein  Kreuz. 

Die  andern  fiihlen  wohl,  daB 
sie  nur  Schiiler  oder  Plagiat- 
schmierer  sind,  aber  sie  wagen 
nicht  —  aus  Angst,  sich  lacher- 
lich  zu  machen . . .  oder  weil  sie 
hungern!  —  mit  den  Gewohnhei- 
ten  der  Zunft  zu  brechen  und  die 
Formen  zu  zertrummern,  um 
nicht  den  Anschein  zu  erwecken, 
sie  werfen  die  Fensterscheiben 
ein.  Sie  trauen  ihrem  Magen  oder 
auch  ihrem  Kopf  nicht  geniigend, 
um  ihre  Kette  zu  zerbrechen  und 
als  Wolfe  zu  leben! 

Sie  bleiben  Schiiler,  selbst  dann, 
wenn  sie  schon  weiBe  Barte  ha- 
ben. Sie  haben  das  Mai  der 
klassischen  Bildung  und  tragen 
es  auf  ihre  Weise  zur  Schau,  sie 
vergessen  es  nicht  und  wollen 
auch,  daB  die  andern  es  nicht 
vergessen,  daB  sie  die  hohere 
Schule  absolviert  und  gelernt  ha- 
ben, was  die  andern  nicht  wis- 
sen.  Sie  iiberlaufen  zwar  nicht 
grade  die  Wartezimmer,  aber  sie 
sind    die    Sklaven   der    Tradition* 

Oberall  ist  nur  Nachahmung, 
geistiger  Diebstahl,  Plagiat,  also 
das  Gegenteil  von  Freiheit.  Selbst 
jene,  die  Verdienst  und  Oberzeu- 
gung  haben,  lassen  der  Mensch- 
heit  nichts  davon  zukommen. 


HANNS  GOBSCH 

WAHN-EUROPA  1934 

Eine  Vision,  ein  Ruf  zu  Beslnnung  und  Umkehr.  Es 
geht  in  diesem  spannenden  Roman  um  Probleme, 
die  gegenwartig  alle  Welt  in  Atem  halten.  Nur  wenn 
die  Gesinnung  dieses  Buches  in  alien  Landem  die 
Oberhand  gewlnnt,  Konnen  noch  In  letzter  Stunde 
vernichtende  Katastrophen  abgewendet  I  QA  BU 
werden.     348   Seiten.     Ganzlelnenband   V|OU   nil* 

FACKELREITER-VERLAG,HAMBURG-BERGEDORF 

273 


Wenn  sie  den  Kopf  bewegen, 
90  schauen  sie  immer  nur  hinter 
sich. 

Sowohl  Mystiker  wie  Mythiker 
— -  alle,  ja,  alle!  Jene,  die  sich 
Freidenker  ncnnen,  reden,  predi- 
gen  und  baucn  Altar  gegen  Altar, 
anstatt  cinfach  die  menschliche 
Freiheit  zu  bestatigen,  Wenn  sie 
«in  Dogma  leugnen,  so  verkiindi- 
gen  sie  daftir  ein  andrcs.  Jeden- 
falls  reden  sie  eine  Sprache,  von 
welcher  der  gewohnliche  Sterb- 
liche  nichts  versteht,  und  die  sie 
selber,  glaube  ich,  nicht  immer 
verstehen!  Sie  sagen  wohl,  sie 
sehen  klar,  aber  das  hat  der 
Truthahn  in  der  Fabel  auch  ge- 
sagt. 

Die  Litcratur,  die  Kunste,  die 
Poesie,  die  Malerei,  die  Bildhaue- 
rei  halten  sich  noch  immer  im 
Altertum  und  im  Mittelalter  auf, 
eskortiert  von  einer  Menge  von 
Ungeheuern:  Gottern,  Wahrsa- 
gern,   Engeln. 

Unter  dem  Vorwande,  daB  es 
einen  Olymp  und  ein  Paradies 
gab,  zeichnet  man  noch  immer 
mit  Tinte  oder  Ol  Heiligen-  und 
Glorienscheine  um  die  Stirnen, 
befestigt  Flxigel  an  den  marmor- 
nen  Schultern,  sieht  nur  Heilige 
oder  Helden,  Abbilder  des  Glau- 
bens  und  Spuren  der  Tradition. 
Die  Gegenwart  schleppt  dieVer- 
gangenheit  an  ihre  Fersen  gehef- 
tet  mit  sich  wie  einen  Leichnam, 
dessen  Last  sie  niederdruckt. 

Es  handelt  sich  da  rum,  das 
Leben,  und  nicht  den  Tod  zu  stu- 
dieren,  vorwarts  zu  schauen  und 
nicht  zuriick  oder  nach  oben. 

Man  will  in  den  Wolken  lesen 
und  man  rollt   in   den  Abgrund. 

Ich  verlange,  da6  man  sich  den 
Schauspielen  der  Erde  zuwende 
und  nicht  den  Versuch  mashe, 
die  Tiefe  des  Himmels  zu  erken- 


nen.  Ich  ziehe  der  interpretier- 
ten  Geschichte  oder  dem  Glau- 
ben,  der  interpretiert  werdensoll, 
die  lebendigen  und  wahren  Ge- 
mutsbewegungen  der  Wirklich- 
keit  vor. 

Jutes  Valtes 
Deutsch  ven  Lina  Frender 

„Sein  Liedchen 
blast  der  Postillion  . . ." 

T:h  Hebe  den  Postilion.  Ich  lie- 
A  be  auch  das  Liedchen,  das  er 
blast,  Schade  nur,  daB  er  nicht 
merkt,  daB  sein  Instrument  ver- 
stopft   ist. 

Ich  kam  nach  Miinchen  (in  je- 
der  andern  deutschen  Stadt  ware 
es  mir  aber,  wie  ich  nachtraglich 
erfuhr,  genau  so  ergangen)  und 
wollte,  alter  Gewohnheit  gemafi, 
ein  Postfach  mieten*  das  fur  mich 
bei  der  Ausubung  meines  Berufs 
eine  bedeutende  Erleichterung 
und  Vereinfachung,  eigentlich 
eine  Notwendigkeit  ist.  Ich  ver- 
suchte  es  vergebens;  und  es  er- 
wies  sich  wieder  einmal,  daB 
Dinge,  die  sich  in  andern  Lan- 
dern  nicht  schwerer  vollziehen  als 
ein  Zigaretteneinkauf  oder  eine 
Taxifahrt,  bei  uns  noch  immer 
mit  dem  Gewicht  einer  Haupt- 
und   Staatsaktion  ablaufen. 

Zwei  Jahre  werde  ich  zunachst 
auf  ein  SchlieBfach  warten  miis- 
sen,  dann  bekomme  ich . . .  zwar 
noch  immer  keins  aber  wenigstens 
ein  Anrecht  darauf.  Und  mit  mir 
warten  alle  die,  die  noch  nicht 
zwei  Jahre  in  Miinchen  ansassig 
sind.  Es  ist  eine  stattliche  An- 
zahl,  die  sich  da  zusammenfindet, 
und  sie  wachst  taglich.  Wenig- 
stens versicherte  es  der  Beamte. 
Nicht  so  die  Anzahl  der  Schliefi- 
facher,  die  in  Miinchen  zur  Ver- 
fiigung  steht  und  die  klein  ist. 
Auf    den    naheliegenden    Gedan- 


B6  Yin  Ra 

bemtiht  sich,  alles  Mysteriose  von  seiner  Personlichkeit  fernzuhalten.  Um 
so  mehr  bezeugt  sich  sein  Leben  und  Wirken  als  Ausdruck  geheimnisvoller 
Krafte.  EinJiihrungsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos  in 
jeder  Buchhandlung  zu  beziehen,  sowie  vom  Verlag:  Kober'sche  Verlags- 
buchhandlung,  Basel  und  Leipzig, 

274 


ken,    der    Nachfrage    entgegenzu- 
komraen    und    neue  SchlieCfacher 
zu     errichten     (in    den    raumlich 
nicht   ausgenutzten   Vorhallen,    in 
Korridoren,  wenig  benutzten  Zim- 
mern,  wie  das  in  andern  Stadten 
geschieht) ,      ist      in    diesem    Ge- 
schaft,    dessen   Kundschaft    keine 
Konkurrenz     wegschnappen     darf 
(sonst    wird    sie    bestraft),     noch 
niemand     gekommen,     Ich    fragte 
zweimal     danach;     und     zweimal 
blieb  meine  Frage  unbeantwortet. 
Ihrem    technischen    Fehler    ge- 
sellt    die    Post    einen    psycho-. , , 
nein,    uberhaupt    einen    logischen. 
Ich  erklartc,  warum  ich  ein  Post- 
fach  brauche:  dafl  ich  von  Berufs 
wegen  nicht  mit  jedem  moblierten 
Zimmer     meine    Adresse     andern 
kann;   und  man  wechselt   als  Un- 
termieter    die   Wohnung    ja   ofter, 
und      das     kaum      aus     Obermut. 
Meine    Erklarung    machte    meine 
Aussichten     vollends     zu    nichte. 
„Ein  Postfach  bekommen  Sie  nur 
hei    dem    fur   Ihre   Wohnung    zu- 
standigen     Postamt"       Ich     ware 
also  an  einen  Stadtteil  gebunden, 
bekame   kein    Postfach    im    Zen- 
trum,  wenn  ich  im  Vorort  wohnte, 
ginge   meines   Postfachs   verlustig, 
wenn  ich  in  einen  andern  Vorort 
zoge . , .   Und:   „Wir  konnen  doch 
unsern  Postfachmietern   nicht  un- 
unterbrochen     nachlaufen."      Eine 
Bemerkung,   die  sich  auf  das  Be- 
zahlen   der    Miete    und    die   Zu- 
stellung    von     Telegrammen     und 
Eilbriefen    bezog.       „Wir    konnen 
nicht",  schien  mir  of  fen  gestanden  . 
und  leider  das  Motto  dieser  Ab- 
teilung  der  Post  zu  sein,    Warum 
solche   Unterschatzung  der  eignen 
.  Fahigkeiten?    Wenn   es  die  Post- 
institute   andrer   Lander   konnen? 
Auf    zwei    Postamtern    in    Italien 
bekam    ich     ohne     weiteres    und 
ohne  jede   Hemmung   ein  SchlieB- 
fach    eingeraumt.     Ich    bekam    in 


Pragf  obwohl  ich  abseits  wohnte 
und  bei  einem  andern  Postamt 
nzustandig"  und  obendrein  „feind- 
licher"  Auslander  war,  ein 
SchlieBfach  auf  der  Hauptpost. 
In  Prag  bekam  ich  allerdings 
auch  einen  Stuhl  angeboten,  als 
ich  mit  dem  Beamten  sprach.  Den 
hiesigen  muBte  ich  vor  leeren 
Stuhlen  stehend  mit  meinem  An- 
liegen  behelligen  und,  um  verste- 
hen  zu  konnen,  was  er  sagte,  aus 
einem  schreibmaschinendurchtrom- 
melten  Gemach  erst  in  ein  stille- 
res  bitten,  statt  dafi  er  mich  bat. 
Es  ist  nicht  wichtig,  nur  verstim- 
mend  und  erscheint  in  der  Ver- 
stimmung  leicht  symptomatisch  . . . 
Ich  spreche  meine  Erfahrung 
vor  allem  darum  offentlich  aus, 
weil  der  Beamte,  mit  dem  ich  ver- 
handelte,  seine  Auskunft  und  Ab- 
lehnung  als  definitiv  und  ein  Ge- 
such  an  eine  vorgesetzte  Stelle 
als  aussichtslos  bezeichnete.  - 

Ossip  Kalenter 

Zur  Obung 

Einer  schriftlichen  Aufforderung 
leistete  die  Schiederer  aber 
keine  Folge.  Es  wurde  deshalb 
nach  einigen  Tagen  ein  Polizeibe- 
amter  in  ihre  Wohnung  geschickt, 
um  sie  vorzufiihren.  Als  er  in 
die  Wohnung  EinlaB  gefunden 
hatte  und  der  Schiederer  von 
ihrer  Hauswirtin  der  Zweck  sei- 
nes Kommens  durch  die  Ture  ge- 
sagt  worden  war,  versperrte  diese 
die  Ture  ihres  Zimmers  und  off- 
nete  sie  erst  auf  nochmalige  Auf- 
forderung.  Sie  stand  nackt  im 
Zimmer  und  sagte  spottisch  zu 
dem  Beamten:  So,  Herr  Wacht- 
meister,  jetzt  konnen  Sie  mich 
auf  die  Polizeiwache  bringen. 

tDie   Bayerische   Potizei',   Heft  1, 

*  5.  Jahrgang,  Vbun&sieit 

und  Sprachecke. 


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275 


Voiksentscheid 

r\  er  Ehrenprasident  des  Stahl- 
*-^  helms,  Paul  von  Hindenburg, 
bittet  uns,  mitzuteilen,  dafi  er  mit 
dem  Reichsprasidenten  Paul  von 
Hindenburg  nicht  identisch  ist. 

Im  Aquarium  in  Berlin 

A  us  tiefster  Nacht  alles  Grauen 
**  Im   Funkel    kindlicher   Fern- 

seligkeit. 
Deine  eigenen  Augen  schauen 
Dich  an  durch  tausendjahrige  Zeit, 

Zwischen  atmendem  Stein  '  und 

Mimose 
Wandert  und  wundert,  ohne.Schrei, 
Ohne   Klage,   das   nicht   seelen- 

lose 
Nur  seelenblinde  Vorbei. 

Auch  dein  Herz  ist  stehengeblieben 
Und   lauscht  —  du  merkst   es 

nicht    — 
Auf  etwas,  was  nie  geschrieben 
Ist  und  was   keiner   spricht. 

Joachim  Ringelnatz 

Liebe  WeltbOhne! 

^"IJrete  Walfisch  erzahlt: 
^*  Die  Thurgauer  —  ganz  recht, 
die  in  der  Schweiz  —  haben  den 
Ruf,   es   mit   dem   Eigentum  nicht 
immer  so  scharf  zu  halten. 

Ein  Thurgauer  fahrt  mit  einem 
Fremden  durch  seine  Heimat.  Es 
wird  Dammerung,  da  sagt  der 
Thurgauer    und     zeigt     aus     dem 


Fenster:  nDa,  sehn  Sie  mal  — 
das  ist  mein  Heimatsort!"  - — 
Der  andre  sieht  einmal,  sieht 
zweimal:  „Ja  . . ,  Heimatort  . .  - 
wieso  Heimatort?  Da  ist  doch 
gar  nichts.  Da  sind  doch  gar 
keine  Hauserl"  —  MJa,"  sagt  der 
Thurgauer.  ,,  Abends  nehmen 
wir  sie  rein  — !" 

Erklarung 

T\  er     Schutzverband     Deutscher 

*~*    Schriftsteller  hat  zu  der  Not- 

verordnung   (iber  die  Presse   eine 

Kundgebung    erlassen,    in    der    es 

heifit: 

„Der  SDS.  verkennt  nicht,  dafi 
in  einer  Notzeit  j  ede  Regierung 
die  Moglichkeit  haben  muB,  fal- 
schen  und  den  Bestand  des  Vol- 
kes  gefahrdenden  Nachrichten 
selbst  mit  dem  Mittel  des  Publi- 
kationszwanges  entgegenzutreten/* 

Diese  Kundgebung  gibt  die 
Lage   nicht   richtig   wieder, 

Durch  die  Notverordnung  iiber 
die  Presse  werden  nicht  dielnter- 
essen  des  Volkes  wahrgenommen. 
Es  mag  sein,  dafi  der  Schutzver- 
band Deutscher  Schriftsteller 
nicht  in  der  Lage  ist,  in  die  Op- 
position zu  gehen  —  Opposition 
gegen  Geldgeber  gibt  es  nicht. 

Die  Kundgebung  macht  dann 
lendenlahm  und  brav  die  Regie- 
rung   darauf   aufmerksam,   dafi  . .  - 

Ich  bin  aus  dem  Schutzverband 
Deutscher  Schriftsteller  ausge- 
treten. 

Kurt  Tucholsky 


Hinweise  der  Redaktion 

Rutidfunk 

Montflg.  Berlin  20.00:  Goethe  und  Frau  von  Stein,  Ernst  Bulowa.  —  Hamburg  17.00: 
Bucherborse,  Die  deutsche  Autobiographic,  Gesprach  mit  Robert  Walter.  —  Konigs- 
wusterhausen 20.10:  Die  neue  Linie  der  russischen  Wirtschaftspolitik.  —  Leipzig 
18.00:  Stunde  der  Neuerschetnungen,  Dr.  A.  Schirokauer,  Sprecherin:  Marg.  Anton. — 
Dienstajr.  Munchen  15.40:  Das  wnechte  Geld,  O.Maria  Graf.  —  16.00:  Tristan  und 
Isolde  v.  Wagner  Ltg.:  W.  Furtwangler.  —  Mittwoch.  Konigswusterhausen  19.40: 
Querschnitt  durch  deutsche  Zeitschriften.  —  Munchen  15.40:  Das  unechte  Geld, 
O.  Maria  Graf  (Schluu).  —  Donnersta?.  Berlin  17.30:  Fur  und  wider  die  Handlese- 
kunst,  Margot  Naval  u  Axel  Hggebrecht.  —  Konigsberg  1840:  Franz  Kafka,  ein 
prager  Dichter,  Erich  Pfeiffer-Belli.  —  Konigswusterhausen  18.30:  GroBe  deutsche 
Publizisten,  Dr,  A.  M.  Wagner.  —  Muhlacker  18.40:  Stunde  des  Buches.  Was  nicht 
im  Baedeker  steht,  Wolf  Zucker.  —  Freitag.  Berlin  18.15:  Das  neue  Buch;  Kurt 
Tucholsky :  SchloB  Gripsholm.  —  W.  Schafer  j  Das  Haus  mit  den  drei  TGren.  Sprecher: 
E.  Wiechert.  —  Breslau  21.10:  Herr  Keinezeit,  Horspiel  von  K.  Megerle  v.  Mtthlfeld 
und  Karl  Schnog.  —  Konigswusterhausen  21.10:  Klavier,  Horspiel  von  Franz  War- 
schauer  u.  Gertrud  Vermeer.  [ Aus  Koln.)  —  Langenberg  18.20:  Der  WeltauBenhandel 
und  der  deutsche  AuBenhandel  in  der  Krise,  Dr.  Fritz  Sternberg.  —  Muhlacker 
18.40:  Das  Kinderelend  in  RuBland,  Felix  Stossinger.  —  Munchen  18.50:  Shake- 
speare auf  der  deutschen  Bflhne  1930/31,  Dr.  E.  Stahl.  —  20.40:  Der  Autor  liest: 
Annette  Kolb.  —  Sonnabend.  Breslau  19.30:  Prosa  und  Gedichte  v.  Richard  Dehmel, 
Dora  Salochin.  —  Langenberg  16.20:  Die  Mouche,  L.  Marcuse. 

276 


Antworten 


Rundfunkhorer.  Herr  Intendant  Doktor  Flesch  hat  vor  zwei 
Wochen,  in  Nr.  31  der  ,Weltbuhne*  auf  den  Artikel  Herbert  Connors 
iiber  die  Schlagerclique  im  Rundfunk  geantwortet.  .Ich  finde,  etwas 
ironischer  als  die  Sache  verdient,  „Nun  ist  zwischen  dem  14.  und 
28.  Juli  allerhand  in  der  Welt  geschehen.  Just  am  Tage  des  Er- 
scheinens  der  Vorwiirfe  des  Herrn  Connor  stellte  die  Qanatbank 
ihre  Zahlungen  ein,  die  Krise . , .  —  es  ist  nicht  notig,  das  auszu- 
fuhren."  Es  ist  nicht  notig.  Am  14.  Juli,  neun  Uhr  zehn,  ging 
die  Welt  unter,  und  damit  war  Herr  Connor  desavouiert.  „Fiir  den 
Rundfunk  bedeutete  das  Konzentration  auf  den  Versuch,  so  eng  wie 
moglich  mil  den  Geschehnissen  in  Verbindung  zu  sein . . .  die  Schwie- 
rigkeiten  waren  sehr  grofl,  das  Interesse  unvermindert  bei  der  Poli- 
tik . . ."  Das  heifit  hoffentlich  nicht,  daft  der  unterhaltende  Teil  im 
Rundfunk  in  Zukunft  von  den  Ministern  bestritten  werden  soil. 
Der  Herr  Intendant  ist  nicht  gut  beraten,  wenn  er  sich  iiber  Herrn  Con- 
nor lustig  zu  machen  und  uberhaupt  das  ganze  Thema  zu  bagatellisieren 
versucht.  Es  kommt  auch  nicht  darauf  an,  ob  Herrn  Connor  in  Ein- 
zelheiten  kleine  Irrtiimer  unterlaufen  sind,  dazu  ist  das  ganze  Ge- 
biet  zu  untibersichtlich  und  die  Verfilzung  zu  weit  vorgeschritten. 
Es  ist  auch  ganz  belanglos,  ob  die  Herren  so  viel  oder  etwas  we- 
niger  verdienen.  Die  Herren  Berichtiger,  denen  sich  leider  auch 
Herr  Doktor  Flesch  angeschlossen  hat,  der  sich  in  diesem  Kreis 
wunderlich  ausnimmt,  ubersehen  das.  Jedenfalls  nahrt  dieses  undis- 
kutable  Genre  seinen  Mann  recht  ausgiebig.  Worauf  es  uns  ankam,  das 
war,  die  Kulturschande  dieser  Schlagerindustrie  aufzuzeigen,  auf  ihre 
Methoden  hinzuweisen,  durch  unterirdische  Kanale  in  die  verschiedenen 
deutschen  Sender  einzudringen.  Ein  exaktes  Eingehen  auf  diese 
Dinge  war  nicht  moglich.  So  gute  Sauerstoff-Apparate  gibt  es  nicht, 
um  eine  Expedition  beherzter  Manner  studienhalber  in  diese  Kloake 
zu  schicken.  Wir  muBten  uns  auf  ein  paar  Stichproben  beschranken. 
Wir  haben  jedenfalls  erreicht,  was  wir  wollten:  die  Schlagerclique 
ist  in  Aufruhr,  zahlreiche  ernste  und  kritische  Menschen  sind  auf 
ein  Gebiet  aufmerksam  gemacht  worden,  das  sie  bisher,  teils  aus 
Mangel  an  Interesse,  teils  aus  Widerwillen  ignoriert  hatten.  Der 
von  uns  hochgeschatzte  Herr  Intendant  Doktor  Flesch  wird  sich  ein 
Verdienst  erwerben,  wenn  er  der  Schlagerpest  zu  Leibe  nickt,  was  bei 
seinen  Beziehungen  zur  besten  modernen  Musik  gewifl  nicht  unmog- 
lich   ist. 

Hermann  Scheibenhoier.  Sie  schreiben:  „Die  von  Ihnen  geleitete 
Zeitschrift  die  ,Weltbuhne'  brachte  in  ihrer  Nr.  30  auf  Seite  150  die 
Angabe,  Scheibenhofer  verkenne  aktive  und  passive  Bestechung; 
passive  Bestechung  sei  es,  wenn  er  als  Angestellter  des  Rundfunks,  von 
dem  Verlage  Meisel  Gelder  zur  Propagierung  seiner  Schlager  entgegen- 
nehme,  Diese  Angabe  ist  unrichtig,  da  ich  noch  niemals  vom  Verlage 
Meisel  Gelder  zur  Propagierung  meiner  Schlager  erhalten  oder  an- 
genommen  habe.  Ich  ersuche,  gema3  §  11  des  Gesetzes  iiber  die 
Presse,  diese  Berichtigung  in  der  nachsten  Nummer  Ihrer  ,Weltbuhne' 
zu  veroffentlichen." 

Hans  Koch,  Koln-  Sie  schreiben  zu  dem  Artikel  von  Professor 
Richard  Prigge  in  Nummer  30  der  ,Weltbiihne:  t,Wenn  Herr  Pro- 
fessor Prigge  der  Ansicht  ist,  dafi  die  heutige  Ausiibung  der  Heil- 
kunde  durch  den  approbierten  Arzt  eben  fur  den  Laien  eine  zu  kom- 
plizierte  und  daher  fiir  ihn  unverstandliche  geworden  ist,  so  hat  er 
damit  wohl  den  Kern  der  Sache  getroffen.  Aber  die  Sachlage  ist 
doch  eine  ganz  andre.  Genau  wie  wir  heute  wissen,  dafi  die 
Virchowsche  Cellular-Pathologie   in  vielen   Fallen   briichig   ist,    genau 

277 


wie  wir  wissen,  dafi  Radium-Strahlen  nicht  nur  die  kranken,  son- 
dern auch  die  gesunden  Stellen  des  Organismus  verbrennen,  wie  wir 
wissen,  dafi  nicht  jede  Operation  gut  verlaufen  kann,  genau  so 
fuhlt  der  Patient  instinktiv,  dafi  dem  heutigen  Arzt,  das  Wesen 
Mensch  eben  f remd  geworden  ist,  dafi  Prigge  den  grundlegenden 
Fehler  macht,  eine  Komplizierung  der  Menschenbehandlung  als  not- 
wendiges  Obel  gutzuheifien,  wogegen  es  sich  in  Wirklichkeit  nicht 
nur  um  eine  Komplizierung,  sondern  um  Technisierung  der  arzt- 
lichen  Behandlung  dreht,  Wahrend  Vol  hard,  Brugsch  und  auf  dem 
letzten  Internistenkongrefi  wieder  von  Bergmann  mit  allem  Nach- 
druck  betonten,  dafi  es  keine  Krise  gabe,  kommt  grade  im  richtigen 
Augenblick  das  Referat  Aschners,  der  sich  seit  mehr  als  zehn  Jah- 
ren  nachzuweisen  bemuht,  dafi  es  nicht  die  wissenschaftliche  Uni- 
versitatsmedizin  allein  ist,  die  Erfolge  verbtirgt.  Er  weist  nach,  dafi 
viele  einfache  und  gute  Heilmittel  von  der  heutigen  Medizin  brach- 
liegen  gelassen  werden,  weil  sie  nicht  in  das  experimentell-analytisch- 
induktiv-rationale  iDenken  hineinpassen.  Denselben  Nachweis  be- 
muht sich  auch  Bier  zu  ftihren,  der  langst  erkannt  hat,  dafi  es 
aufierhalb  der  offiziellen  Schulmedizin  manch  gutes  Heilmittel  gibt, 
das  angewandt  zu  werden  verdient.  Wahrend  Prigge  den  Blick  nur 
in  die  Zukunft  gerichtet  wissen  und  die  Naturheilkunde  als  etwas 
Oberlebtes  angesehen  haben  will,  oder,  wie  er  sich  ausdruckt,  ein 
Kampf  zwischen  der  alten  und  jungen  Generation,  zeigt  Aschner  den 
richtigern  Weg,  indem  er  das  Alte  mit  dem  Neuen  verbinden  will. 
Er  zeigt,  dafi  das  neue  Wissen  keine  Grundfesten  hat  und  der 
Wechsel  des  heute  Guten  und  morgen  Schlechten  nie  so  grofi  gewesen 
ist  wie  heute.  Er  behauptet,  dafi  das  wahre  Handwerkszeug  des  Arz- 
tes  namlich  die  empirische  klassische  humoral-pathologische  Therapie 
zu  neun  Zehntel  yerlorengegangen  ist,  Sieht  man  dies  nicht  ein, 
so  wird  das  Vertrauen  des  Publikums  in  die  Schulmedizin  immer  wel- 
ter verlorengehen,  und  das  Publikum  wird  sich  immer  mehr  den  ihm 
sympathischeren  Heilmethoden  zuwenden.  Dies  ist  ja  eben  die  Krise 
der  Medizin,  dafi  das  Publikum  keine  Sympathie  mehr  fur  diese  Art 
der  Behandlung  aufbringen  kann.  Auch  hier  befindet  sich  Prigge  in 
der  irrigen  Auffassung,  dafi  man  jeglicher  Suggestionstherapie  ent- 
behren  konne.  Grade  die  bedeutende  und  bewufit  tiefe  Wirkung  der 
Suggestionstherapie  erleichtert  in  alien  Fallen  die  Behandlung  des 
aus  dem  seelischen  Gleichgewicht  gebrachten  Patienten,  denn  dies 
ist  der  Fehler  der  arztlichen  Kunst,  dafi  sie  glaubt,  nicht  nur  zwi- 
schen Korper  und  Seele,  sondern  auch  noch  zwischen  den  einzelnen 
Organen  unterscheiden  zu  konnen.  Solange  das  Wort  von  der  Be- 
handlung des  kranken  Menschen  nicht  noch  grofiere  Bedeutung  ge- 
winnt  und  immer  noch  die  Zerlegung  des  menschlichen  Korpers  in 
pathologische  und  gesunde  Teile  vorgenommen  wird,  solange  wird 
auch  die  Krise  in  der  Medizin  nicht  aufhoren.  —  Andrerseits  aber 
verlangen  besondre  Zeiten  auch  besondre  Mafinahmen,  Wer  wollte 
leugnen,  dafi  unsre  gegenwartige  Zeit  mit  ihrer  ungeheuren  Not  und 
der  grofien  Masse  notleidenden  Proletariats  auch  besondere  Zu- 
stande  erzeuge,  die  in  keinem  offiziellen  Lehrbuch  beriicksichtigt  sind." 


Manuikripte  sind  oui  an  die  Redaktion  dei  WeltbQhne,  Cbarlottenbur?.  Kanbrtr.  152,  xu 
rich  ten;  e*  wird  ?ebeten.  ihnen  RGdiporto  beizulegen.  da  sonat  keine  Ruck»endung  erfolyen  kann. 
Das  Aufffihrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rah  men  dtm  Films,  die  mustk- 
mechanische  Wiedergabe  ailer  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrlgen 
blelben  fOr  alle  in  der  Weltbahne  erscheinenden  BeitrUge  ausdr&cktich  vorbehalten. 

Die  Weltb&bne  wurde  begrundet  voo  Siegfried  jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Onsietzky 
untet  Mitwirkung    von  Kurt  Tudiolskv  eeleitet  —  Verantwortlich     Carl  v.  Oisieteky.    Berlin; 

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278  / 


XXVII.  Jahrgang  25.  August  1931  Natnmer  34 


Zll  Spat!  von  Carl  v.  Ossietzky 


p  ine  amerikanische  Nachrichtenagentur  verbrcitete  vor  ein 
paar  Tagen  die  Meldung  vom  AbschluB  cines  franzosisch- 
russischen  Nichtangriffspaktes.  Die  Nachricht  war  verfriiht, 
dean  die  Verhandlungen  sind  noch  nicht  zum  Ende  gediehen. 
Aber  der  Erfolg  ist  kaum  mehr  bezweif  el/bar,  nachdem  sich 
beide  Machte  bei  den  Beratungen  iiber  einen  Handeisvertrag 
entschieden  nahergekommen  sind.  Seit  einiger  Zeit  findet  die 
moskauer  Presse  wieder  freundlichere  Worfe  fur  Frankreich, 
und  im  Hint  ergr  und  steht  noch  ein  gleiches  Abkommen  zwi- 
schen RuBland  and  Polen,  von  dem  man  bald  horen  wird. 

Wir  haben  die  Bedeutung  solcher  Pakte  niemals  iiber- 
schatzt,  Sie  schaffen  den  Krieg  nicht  aus  der  Welt(  wohl  aber 
legen  sie  niitzliche  Hemmungen  in  das  Unheilswerk  der 
Schwertpolitiker.  Zum  minde-sten  sanieren  sie  fiir  eine  be- 
stimmte  Phase  die  Beziehungen  zwischen  zwei  Machten,  sie 
geben  den  Vertragspartnern  wehigstens  voriibergehend  Frei- 
heit,  sich  im  Guten  oder  Schlimmen  andern  Aufgaben  zuzu- 
wenden  als  der  Kultivierung  einer  alt  en  Feindschaft,  Der  Um- 
gangston  zwischen  Paris  und  Moskau  war  ausgesprochen 
schlecht.  Nirgendwo  war  die  Bolschewikenfurcht  arger  als  in 
Frankreich.  Nirgendwo  benahm  sich  die  Presse,  auch  die 
offiziose,  unhoflicher  gegen  die  diplomatischen  Vertreter  der 
Sowjets.  Das  hat  die  Herren  im  Kremi  nicht  daran  gehindert, 
erst  die  engere  wirtschaftliche  Verkniiprung,  dann  eine  Besse- 
rung  des  politischen  Verhaltnisses  zu  versuchen.  Daran  konnte 
sie  nicht  der  Skandal  um  Kutjepow,  nicht  die  Hetze.  gegen  den 
Botschafter  Dowgalewski  hindern.  Denn  die  russische  AuBen- 
politik  zeichnet  sich  bei  der  Wahrnehmung  der  eignen  Inter- 
essen  durch  eine  glasklare  Verniinftigkeit  aus.  Sie  gleicht  darin 
durchaus  der  franzosischen  AuBenpolitik,  deren  logische  Folge- 
richtigkeit  in  Deutschland  so  oft  verkannt  wird.  Sie  beide,  die 
russische  und  die  franzosische  Politik,  vertreten  den  gleichen 
sublimierten  Egoismus;  sie  drapieren  sich  beide  ideologisch  und 
menschheitlich:  die  eine  sagt  ,,Europa",  die  andre  ffdie  Re- 
volution". 

Die  deutsche  Presse,  die  sonst  das  Grasv  der  Diplomatic 
immer  wachsen  hort,  widmet  den  franzosisch-russischen  Ver- 
handlungen keine  langen  Betrachtungen.  Sie  beschrankt  sich 
auf  trockene  Registrierung.  Solche  Schweigsamkeit  laBt  sich 
leicht  erklaren.  Dieser  Vertrag  bedeutet  den  Totenschein 
unsres  „auBenpolitischen  Aktivismus",  die  Paraphe  darunter 
sein  Grabkreuz.  Denn  die  Revisionskampagne,  die  mit  der 
Aera  Brtining  aufkam,  beruhte  auf  der  Voraussetzung,  daB  die 
Feindschaft  zwischen  Paris  und  Moskau  weder  gesinnungsmafiig 
noch  technisch  zu  uberbriicken  ware,  daB  RuBland  dem 
Europa  versailler  Konstruktion  in  ewiger  Ablehnung  gegen- 
uberstehen  wiirde.  So  iibernahm  man  Kiplings  beriihmtes 
Wort  Meast   is  east,  and  west  is  west"   kritiklos  in  ein  ganz 

1  279 


andres  Klima,  man  bautc  darauf  eine  Politik  und  wie  das  hier 
landesiiblich  ist,  gleich  cine  fertige  Weltanschauung,  Man  hielt 
es  fiir  selbstverstandlich,  daB  RuBland  nicht  zogern  werde,  sich 
mit  einein  revanchesuchenden  fascistischen  Deutschland  gcgen 
die  kapitalistischc  Demokratie  Frankreichs  zu  verbunden;  zum 
mind  est  en  rechnete  man  auf  eine  schadenfrohe  Neutrality  der 
Russen  bei  einer  kleinen  Regulierung  der  Ostgrenzen.  Die 
russisch-franzosische  Feindschaft,  das  ist  der  groBe  Glaubens- 
satz  der  Nationalisten  aller  Farben.  Davon  lebt  der  alte  Na- 
tionalismus  von  Hugenberg  und  Seeckt  ebenso  wie  der  neue 
Nationalisms  von  Jiinger  und  Schauwecker  und  der  rote  Na- 
tionalismus  des  Leutnants  Scheringer. 

Die  Herren  kommen  zu  spat!  Die  beiden  Staaten,  die  im 
Laufe  des  Jahres  1918  ihre  Erbfeindschaft  entdeckten,  sind 
drauf  und  dran,  eine  wohltatige  Erholungspause  elnzulegen. 
Und  die  franzosische  AuBenpolitik  erteilt  der  Wilhelm-StraBe 
nock  eine  ganz  besondere  Lektion,  indem  sie  die  Kredit- 
schwierigkeiten  Ungarns  benutzt,  um  in  diese  Zitadelle  des  Re- 
visionismus  Bresche  zu  schlagen.  Das  jetzt  in  argsten  Finanz- 
noten  zusammengebrochene  Regime  des  Grafen  Bethien  stellte 
gewiB  niemals  eine  ernste  Verneinung  der  Vertrage  dar-  Aber 
fiir  die  deutschen  Nationalisten!  bedeutete  es  mit  seinem  italie- 
nischen  Biindnis,  mit  seinem  sturen  Chauvinismus,  niit  seiner 
permanenten  GroBmauligkeit  und  seinen  gelegentlichen  Geld- 
ialschungen  gradezu  das  Musterbild  einer  Staatsordnung,  in  der 
die  nationale  Idee  das  Erste  und  das  Letzte  ist  Nun  erweitert 
Frankreich  seinen  EinfluB  im  Sudosten;  AnschluB  und  Zoll- 
union  werden  damit  utopische  Begriffe.  Der  deutschen  AuBen- 
politik wird  aber  jetzt,  nach  der  Romreise  des  Kanzlers,  sehr 
handgreiflich  demonstriert,  daB  die  Freundschaft  mit  Mussolini 
den  Bankrott  nicht  verhindern  kann.  Die  grofite  Blamage  klebt 
am  Auswartigen  Amt,  das  jahrelang  die  Regierung  Bethien  als 
starke  Alliierte  und  groBe  Zukunftschance  betrachtet  hat.  Das 
Auswartige  Amt  hat  seit  den  Tagen,  wo  der  Staatssekretar 
Zimmermann  den  Weltkrieg  mit  Hilfe  Mexikos  gewinnen 
wollte,  eine  besondere  Vorliebe  fiir  Nieten.  Hier  zeigte  sich 
das  wieder  sehr  deutlich. 

Der  Aktivismus  hat  also  die  besten  Friichte  getragen. 
Wenn  Herr  Laval  demnachst  nach  Berlin  kommt,  wird  er 
Deutschland  in  volliger  Isolierung  vorfinden.  Man  hat  von 
einer  Schutzengrabengemeinschaft  mit  RuBland  gefaselt,  man 
hat  iiber  eiriem  gelegentlichen  diplomatisch-militarischen  Tech- 
telmechtel  in  Moskau  die  Verstandigung  mit  Frankreich  ver- 
saumt  und  dabei  nicht  einmal  das  Vertrauen  RuBlands  erwor- 
ben.  Man  hat  gemeinsam  mit  dem  russischen  Kommunismus 
die  t(Ketten  von  Versailles"  brechen  wollen  und  zu  diesem 
Zweck  zunachst  einmal  die  deutschen, Kommunisten  in  Ketten 
gelegt.  Deutschland  behalt  in  Moskau  keinen  andern  Ruf  als 
den,  das  gelobte  Land  der  Kommunistenverfolgungen,  der 
Zuchthausurteile  zu  sein.  Eiri  Traum  ist  zu  Ende.  Die  Drohung 
mit  RuBland  lost  sich  in  Dunst  auf,  der  ungarische  Bluff  zer- 
platzt.  Es  ist  unter  diesen  Umstanden  kein  Wunder,  daB  man 
jetzt,  wo  es  tagt,  die  kiinstliche  Beleuchtung  verstarkt  und  daB 
von  ailed  em  in  der  groBen,  Presse  kein  Wort  zu  lesen  ist, 

280 


PaX  bHtanniCa   von  Felix  StOssinger 

T\  as  deutschc  Volk  hat  seit  acht  Wochcn  reichlich  Gelegen- 
heit  gehabt,  die  entscheidenden  Fragen  der  deutschen  und 
europaischen  AuBenpoIitik  kcnnenzulerncn.  Wenn  die  uber- 
deutliche  Sprache  und  die  Logik  der  Ereignisse  noch  nicht 
ausgereicht  haben,  selbst  die  fuhrende  Schicht  der  Nation,  die 
die  auBenpblitischen  Geschafte  leitet,  endgiiltig  zur  Besinnung 
zu  bringen,  so  beweist  dies  wiederum,  wie  wenig  Argumente 
der  Logik  und  wie  viel  Vorurteile  und  Oberzeugungen  im  Le- 
ben  austnachen.  Das  deprimierende  Ergebnis  der  londoner 
Konferenz  hat  nicht  verhindert,  die  britischen  Minister  in  Ber- 
lin als  echte  Freunde  Deutschlands,  ja  sogar  als  seine  Heifer 
zu  begruBen.  Die  deprimierenden  Ergebnisse  der  berliner  Kon- 
ferenz und  des  Laytonberichts  haben  den  angelsachsischen 
EinfluB  in  Berlin  keinewegs  geschwacht,  im  Gegenteil  von 
neuem  gefestigt. 

Diejenigen,  die  glauben,  daB  AuBenpoIitik  eine  Betatigung 
ist,  die  einige  Male  im  Jahre  ausgeiibt  wird,  Iehnen  sich  noch 
immer  gegen  die  Feststellung  auf,  daB  die  englische  AuBen- 
poIitik ununterbrochen,  mit  hochster  Aktivitat,  die  direkte 
deutsch-franzosische  Verstandigung  unterbindet,  die,  wie  jeder 
politisch  gebildete  Franzose  und  Englander  w#eifi,  zu  einer 
deutsch-franzosischen  Wirtschafts-  und  Schicksalsgemeinschaft 
fiihren  muB.  Es  ist  daher  fur  eine  AuBenpoIitik  von  der  In- 
tensitat  und  Schlagfertigkeit  der  englischen  selbstverstandlich,. 
dafi  sie  mit  hochster  Wachsamkeit  die  Ereignisse  verhindert, 
die  eine  fur  England  nicht  erwunschte  politische  Konstellation 
auf  dem  Kontinent  herbeifuhren  konnten.  Kaum  war  es  dem 
Foreign  Office  gelungen,  die  deutsch-franzosischen  Be- 
sprechungen  nach  London  zu  bringen,  um  sie  dort  besser  iiber- 
wachen  zu  konnen,  kaum  hat  die  londoner  Konferenz  ihr 
Ziel  erreicht,  Vermittler  zwischen  Deutschland  und  Frank- 
reich  zu  sein  und  neue  Differenzen  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  zu  schaffen,  die  wiederum  dem  englischen 
Schiedsrichteramt  neue  Auftrage  zufiihren,  setzt  die  englische 
Politik  neue  Bedingungen,  Forderungen  oder  angebliche  Hilfs- 
aktionen  fur  Deutschland  in  die  Welt,  die  iiberhau.pt  keinen 
andern  Sinn  haben  konnen,  als  die  direkte  deutsch-franzosische 
Verstandigung  zu  vereiteln.  Die  englische  Politik  weiB  ganz 
genau,  daB  jede  deutsche  Regierung  es  hollisch  schwer  hat, 
das  deutsche  Volk  von  seiner  aufgepeitschten  Feindschaft  ge- 
gen Frankreich  zu  befreien,  und  daB  nur  eine  unendlich  miih- 
same  und  diffizile  Politik  der  deutschen  Nation  eine  neue 
auBenpolitische  Idee  begreiflich  machen  kann.  Das  deutsche 
Volk  muB  verstehen,  daB  alle,  aber  auch  alle  Ziele  der  soge- 
nannten  revisionistischen  AuBenpoIitik  Bagatellen  sind,  gegen- 
uber  den  groBen,  fast  unermeBlichen  Vorteilen,  die  Deutsch- 
land aus  einer  Kooperation  mit  Frankreich  organisch  erwach- 
sen.  Wenn  uns  trotzdem  in  diesen  Wochen  England  und 
Amerika  mit  Vorschlagen  trosten  und  zu  Planen  verfiihren, 
die  eine  Kampfstellung  gegen  Frankreich  in  sich  schliefien, 
so  bedeutet  da*  objektiv  eine  Aufpeitschung  Deutschlands  ge- 

281 


gen  Frankreich  in  dem  Augenblick,   in  dem  sich  Dcutschland 
mit  Frankreich  versohnen  will  und  muB. 

Es  ist  von  verschiedenen  Seitcn  gegen  diese  Auffassung 
dcr  englischen  Politik  eingewendet  wordcn,  daB  mcinc  Partei- 
freundc  MacDonald  und  Henderson  in  Paris,  in  London,  in 
Berlin  Deutschland  zur  Verstandigung  mit  Frankreich  ermahnt 
haben.  Das  ist  tatsachlich  der  Fall.  Und  iiberzeugten  Sozia- 
listen  wie  MacDonald  und  Henderson  wird  niemand  unter- 
schieben  wollen,  daB  sie  Deutschland  von  einer  Verstandi- 
gung mit  Frankreich  abraten.  MacDonald  und  Henderson  ha- 
ben aber  nicht  nur  Deutschland  zu  dieser  Verstandigung  mit 
Frankreich  geraten,  sondern  auch  gleichzeitig  unermiidlich  ver- 
sichert,  daB  diese  Verstandigung  nur  unter  englischer  Kontrolle 
und  durch  englische  Vermittlung  erfolgen  diirfe.  Hier  voll- 
zieht  sich  eben  unbewufit  der  Umschlag  eines  schemenhaften 
Internationalismus  in  den  britischen  Imperialismus.  Die  fran- 
zosische  Politik  weifi  auf  Grund  Jahrhuriderte  alter, 
und  seit  1918  grtindlich  erneuerter  Erfahrung,  daB 
England  bei  der  deutsch-franzosischen  Verstandigung  da- 
bei  sein  will,  um  zu  verhindern,  daB  diese  Verstan- 
digung allzu  groBe  Dimensionen  annimmt.  Die  , Times' 
haben  Mitte  Juli  richtig  bemerkt,  daB  die  franzosische  Regie- 
rung  die  Verstandigung  mit  Deutschland  als  Sache  der  beiden 
Nachbarlander  ansieht,  die  die  Einmischung  einer  dritten  Par; 
tei  nicht  zulaBt  Sehr  hiibsch  hat  aber  der  .Figaro'  vom 
29.  Juli  Englands  Liebe  zu  Deutschland  charakterisiert.  Eng- 
land liebt  Deutschland  so  sehr,  dafi  es  gradezu  eifersuchtig  ist, 
wenn  Deutschland  sich  mit  Frankreich  allein  unterhalt.  Es  kann 
vor  iibergroBer  Liebe  gradezu  nicht  ertragen,  daB  deutsche 
und  franzosische  Minister  sich  fern  von  England  und  ohne 
"England   verstandigen. 

Es  ist  auch  klar,  was  die  englischen  Minister  dazu  treibt, 
einer  deutsch-franzosischen  Verstandigung  beizuwohnen.  Sie 
benutzen  solche  Anlasse,  um  den  Franzosen  deutsche  Ge- 
schenke  anzubieten,  an  denen  Frankreich  nicht  das  Mindeste 
Hegt,  und  die  Deutschen  vor  franzosischen  Bedingungen  zu 
schiitzen,  die  zu  stellen  Frankreich  auch  nicht  im  Traume  bei- 
kommt.  Ich  habe  schon  in  der  ,Weltbuhne*  vom  28.  Juli  in 
meinem  Artikel  Der  englische  DolchstoB  nachgewiesen,  daB 
die  angeblichen  franzosischen  Hauptbedingungen:  Einstellung 
der  Kreuzerbauten  und  Liquidierung  der  Zollunion  mit  Oester- 
reich,  englische  Forderungen  sind,  die  zuerst  vom  ,DaiIy 
Herald'  und  den  fTimes'  offentlich  aufgestellt  worden  sind.  In- 
zwischen  habe  ich  noch  feststellen  konnen,  daB  alle  grofien 
pariser  Zeitungen  bereits  dreiTage  vor  ,Daily  Herald*  und  ,Times', 
namlich  am  6.  Juli,  ein  berliner  Havas-Telegramm  veroffent- 
licht  haben,  in  dem  es  heiBt,  daB  die  englische  Regierung  die 
Initiative  ergriffen  habe,  Deutschland  zur  Aufgabe  des 
Kreuzerbaus  und  der  Zollunion  zu  bestimmen.  Die  britische 
Botschaft  in  Berlin  hat  bereits  vor  dem  5.  Juli  im  Auftrage 
Hendersons  diese  Anregungen  der  deutschen  Regierung  tiber- 
mittelt.  Wurde  nun  Deutschland  diese  Anregungen  befolgen, 
so  wiirden  sie  Frankreich  keineswegs  befriedigen.  Frankreich 

282 


stande  dann  wiedcr  am  Pranger  dcr  deutschen  Offentlichkeit  als 
unersattlicher  .  Erpresser.  Waren  aber  dicse  englischen  ..for- 
derungen"  wirklich  so  crnst  gemeint,  wie  sic  cs  nicht  sind, 
dann  wiirde  Deutschland  wahrhaftig  nicht  zogcrn,  sic  zu  er- 
fiillen,  Einc  cnglischc  Fordcrung  hat  Dcutschland  stets  nur 
dann  abgelehnt,  wenn  es  sich  von  England  versichert  glaubte, 
sic  nicht  annehmen  zu  sollen.  So  ist  es  iibrigens  jctzt  auch 
mit  der  angeblich  von  England,  gewiinschten  deutsch-franzosi- 
schen Verstandigung.  Wenn  England  sie  ernsthaf  t  wollte,  ware 
der  deutsch-franzosische  Akkord  in  drei  Wochen  fertig.  Das 
ware  denn  wirklich  sonst  der  erste  englischc  Wunsch,  den 
Deutschland  nicht  erfullte. 

Auch  das  politische  Fiinfjahresmoratorium,  von  dem  seit 
einigen  Wochen  wieder  die  Rede  ist,  erweist  sich  ohne  weiteres 
als  ein  englisches  Projekt.  Akzeptiert  Deutschland  das  Mora- 
torium, so  werden  eben  die  deutsch-franzosischen  Differenzen 
auf  weitere  fiinf  Jahre  konserviert,  wahrend  es  sich  allein  dar- 
um  handcln  kann,  sie  aufzuheben  und  in  ciner  hohern  Gemein- 
schaft  zu  kompensieren,  Frankreich  wiirde  dadurch  nicht  be- 
friedigt;  Deutschland  wiirde,  zu  seinem  eignen  Nutzen,  mit 
Frankreich  nicht  wirklich  vereint  werden. 

Seit  Monaten  ist  die  Gefahr  der  deutsch-franzosischen 
Verstandigung  fiir  England  wesentlich  gewachsen.  Wie  immer 
tritt  auf  dem  Hohepunkt  ciner  englischen  Krise  Amcrika  als 
Heifer  Englands,  als  machtiger  Partner  der  angelsachsischen 
Welthcrrschaft  in  Funktion,  Der  erste  Hoover-Plan  hat 
Deutschland  zweifellos  geniitzt.  Wie  jeder  englisch-amerika- 
nische  Plan  warer  aber  organisch  mit  einer  wenigstens  voriiber- 
gehenden  neuen  Storung  der  deutsch-franzosischen  Beziehun- 
gen  verbunden.  Auch  hier,  wie  so  oft,  war  Deutschland  angel- 
sachsischer  als  die  Angelsachsen,  und  es  muBte  von  der  eng- 
lischen Presse  in  Ziigel  gehalten  werden-  Die  angelsachsische 
Politik  liebt  uniibersichtliche  Krafteverteilung,  und  nichts  ist 
ihr  peinlicher,  als  wenn '  Deutschland,  bar  aller  Finessen  fiir 
Intrigen  groBen  Stils,  poltronhaft  auftritt,  Wenn  in  solchen 
Augenblicken  die  Angelsachsen  Deutschland  verwarnen,  ist 
das  durchaus  ernst  zu  nehmen,  Der  zweite  Hooverplan,  der 
uns  cinen  grofien  Kredit  bringen  sollte,  erwies  sich  schnell  als 
Phantasie,  die  nur  in  der  deutschen  Presse  in  groBer  Druck- 
aufmachung  erschien,  Der  dritte  Hooverplan  wahrend  dcr  lon- 
doner  Konferenz  verhinderte  planmaBig  die  deutsch-franzo- 
sische Verstandigung,  die  nach  London  hatte  erfolgen  konnen, 
und  zerfiel  in  Nichts.  Und  nun,  nachdem  alle  englischen  und 
amerikanischen  Plane  weder  Geld  nach  Dcutschland  bringen, 
noch  die  bedrohliche  Lage  des  englischen  Geldmarktes  ver- 
hiillen  konnten,  treten  Amerika  und  England  wieder  mit  Pla- 
rien  auf,  bestimmt,  die  deutsch-franzosische  Verstandigung  zu 
verhindern,  Illusionen  einer  deutschen  Provinzialpolitik  zu  er- 
halten  und  Frankreich/ wie  man  es  nennt,  zu  ,,isolicren'  Ob- 
wohl  Deutschland  nun  wissen  konnte,  daB  Frankreich  eine 
Isolicrung  von  England  und  Amerika  /leichter  ertragen  kann 
als  Umgekehrt,  haberi  doch  alle  diese  Plane  nuralizu  g.ute 
Aussiehten.  in  Deutschland  Eindruck:  zu  machen,     Wieder  isi 

2  m 


es  die  angelsachsische  Presse,  die  in  diesen  Wochcn  cincr 
Wende  der  deutschen  Politik  cine  gradezu  ruchlose  revisioni- 
stische  Kampagne  gegen  Frankreich  betreibt.  DaB  eine  Re- 
vision des  Versailler  Vertrages  niemals  eine  Revision  der  eng- 
lischen  Beute  bedeutet,  ist  selbstverstandlich.  Das  ist  seit 
zwolf  Jahren  nicht  anders.  MacDonald  hat  in  Berlin,  Borah  in 
Washington  liber  eine  Revision  des  Versailler  Vertrags  ge- 
sprochen,  Es  gibt  gewiB  niemanden,  der  den  Versailler  Ver- 
trag  auirecht  erhalten  will.  Es  gibt  aber  fur  Deutschland  kein 
andres  Mittel,  den  Versailler  Vertrag  zu  revidieren,  als  durch 
seine  innere  Oberwindung  kraft  einer  deutsch-franzosischen 
Gemeinschaft.  Die  Revision,  die  die  Englander  verlangen,  so 
als  ob  sie  die  Macht  hatten,  gegen  den  Willen  Frankreichs 
auch  nur  einen  einzigen  Stein  auf  dem  europaischen  Kontinent 
zu  verschieben,  die  ist  es  grade,  die  den  Versailler  Vertrag 
verhartet  und-  verewigt.  Die  deutsch-franzosische  Koopera- 
tion ist  unendlich  revisionistischer  als  alle  angelsachsischen 
Aktionen  gegen  Versailles  zusammengenommen. 

Wann  immer  eine  deutsch-franzosische  Verstandigung  sich 
anbahnt,  bieten  uns  die  Angelsachsen  ihre  Hilfe  gegen  die  Re- 
parationen an.  Wir  wis  sen  sehr  wohl,  was  damit  ge- 
meint  ist.  Die  Reparationen,  die  Frankreich  empfangt,  also 
20  Prozent  des  Young-Plans,  sollen  abgeschafft,  die  restlichen 
80  Prozent  Kriegstribute  an  die  amerikanischen  Kriegsgewinn- 
ler  sollen  aufrecht  erhalten  werden.  Der  amerikanische  Plan, 
durch  Obertragung  eines  Teils  der  deutschen  Industrie  an 
Amerika  in  Obligationen  die  Tribute  an  die  Kriegsgewinnler 
abzulosen,  das  heiBt  ehdgiiltig  zu  bezahlen,  enthiillt  die  Bedeu- 
tung  dieser  Aktion.  Amerika  weiB,  daB  eine  deutsch-franzo- 
sische Kooperation  uber  kurz  oder  lang  zu  einer  Aufhebung  der 
europaischen  Tribute  an  Amerika  fiihren  wird,  England  weiB, 
daB  die  deutsch-franzosische  Kooperation  sich  liber  die  echten 
Reparationen  sehr  schnell  einigen,  sie  namlich  in  Sachliefe- 
rungen  verwandeln  wird.  Die  neuen  angelsachsischen  An- 
griffe  gegen  den  Young-Plan  laufen  daraus  hinaus,  diese  Ver- 
standigung mit  Frankreich  und  die  Abschiittelung  der  Tribute 
an  Amerika  zu  verhindern.  Eine  angelsachsisch  inspirierte 
Diskussion  daruber,  ob  Deutschland  die  wirklichen  Kriegs- 
schaden  schon  bezahlt  hat  oder  nicht,  ist  prompt  im  besten 
Ziige!  Von  den  wahrhaft  fetten  Profiten  der  amerikanischen 
Kriegsgewinnler  ist  naturlich  nicht  die  Rede. 

Auch  der  amerikanische  Plan  eines  groBziigigen 
Dumpings  von  Baumwolle  und  Getreide  nach  Europa, 
ist  absolut  antieuropaisch-  Die  europaische  Sanierung 
kann  nur  durch  Sanierung  des  europaischen  Kontinents 
erfolgen,  Noch  immer,  und  immer  mehr,  ist  der  euro- 
paische Kontinent  der  Hauptkunde  Deutschlands.  Wie  lacher- 
tich  gering  ist  dafleben  die  Bedeutung  des  deutschen  Handels 
mit  Amerika.  Im  Jahre  1925  betrug  die  deutsche  Ausfuhr 
nach  Europa  ,73  Prozent,  nach  Amerika  nur  ein  Zehntel  da- 
vonf  namlich  7,4  Prozent.  Im  Jahre  1930  fuhrte  Deutschland 
nach  Europa  ftir  12  Milliarden  aus,  nach  Amerika  wiederum 
nur  etwa  ein  Zehntel  davon,  namlich  1,3  Milliarden,  Aufgabe 
einer  europaischen  Politik  ist  es  nicht,  Getreide,  zu*  welchem 

284 


Krcdit  auch  immer,  aus  Amerika  zu  beziehen,  sondern  aus 
den  europaischen  Agrarausftihrlandern,  und  es  mit  deutschen 
Industriewaren  zu  bezahlen.  Frankreich  1st  der  gegebene  Ban- 
kier  fur  diese  kontinentaLeuropaische  Transaktion.  In  Deutsch- 
land  ist  es  selbstyerstandlich,  daB  ein  solchcs  Dumpirigangebot 
Amerikas  wohlwollend,  ja  sogar  mit  cinem  gewissen  Stolz  auf- 
genommen  wird,  Warum  diirfte  Amerika  kein  Dumping  gegen 
Europa  trciben?  Wcnn  aber  crwogen  wird,  die  elf  Millionen 
Tonnen  Kohlen^  die  auf  den  Ruhrhalden  liegen,  zu  einem  her- 
abgesetzien  Preis  abzusetzen,  dann  wird,  man  sollte  es  nicht 
glauben,  einem  solchen  Projekt  mit  Riicksicht  auf  England 
widersprochen,  Auf  den  deutschen  Kohlenhalden  liegen  auBer 
der  Kohle  Bankschulden  von  1 70  Millionen,  Ein  limitierter 
Ausverkauf '  dieser  elf' Millionen  Tonnen  zu  einem  Sonderpreis 
konnte  wahrhaftig  die  Weltwirtschaft  nicht  erschiittern,  Wenn 
wir  Kontinentalpolitiker  behaupten,  daB  sich  Deutschland  wie- 
derholt  nicht  zu  retten  wagte,  um  England  nicht  zu  kranken, 
so  gilt  das  als  Beweis  unsrer  Anglophobic  Zuerst  erscheinen 
unsre  Thesen  paradox,  bis  sie  das  nachste  Abendblatt  bestatigt. 
Zusammenfassend  ist  also  festzustellen,  daB  seit  Briinings 
Riickkehr  aus  Paris  die  deutsch-franzosische  Verstandigung  um 
kcinen  Schritt  vorwarts  igekommen  Lst.  Die  deutsche  Politik 
hat  zwar  offiziell  nichts  getan,  um  die  deutsch-franzosischen 
Beziehungen  zu  verschlechtern,  aber  auch  nichts,  um  sie  zu 
verbessern,  Deswegen  kann  der  Aufschub  des  franzosisehen 
Gegenbesuchs  der  Sache  nur  nutzenf  Die  von  der  Regierung 
vertretene  Version,  daB  eine  franzosische  Staatsanleihe 
im  Augenblick  nicht  zu  bekommen  ist,  ist  nur  im 
Rahmen  der  Beschrankungen  richtig,  die  gleichzeitig  im- 
mer ausgesprochen  werden,  namlich  einer  langfristigen, 
von  Amerika  und  England  mitgarantierten  Anleihe.  DaB 
die  Bank  von  Frankreich  binnen  einer  Woche  ohne  Staats- 
befragung  eine  Milliarde  Goldmark  mit  New  York  fur  England 
mobilisiert  hat,  widerlegt  zur  Geniige  die  berliner  Auffassung. 
Wahr  ist,  daB  nur  in  den  Handen  des  deutschen  Volkes  und 
seiner  Regierung  sein  Schioksal  und  sein  Kredit  liegt.  Eine 
Kundgebung  von  Reichsprasident  und  Reichsregierung  an  das 
deutsche  Volk,  in  der  die  deutsch-franzosische  Kooperation 
als  Ziel,  Sinn  und  Schicksal  der  deutschen  Politik  erklart  wird, 
hatte  nach  einer  Woche  zur  Folge,  daB  die  Bank  von  Frank- 
reich der  Reichsbank  einen  Rediskont  in  jeder  Hohe  eroffnet. 
Zu  einer  solchen  Kundgebung  fehlt  der  deutschen  Regierung 
heute  noch  der  Mut  Eine  solche  Kundgebung,  von  ganz  Frank- 
reich mit  einem  kaum  vorstellbaren  Enthusiasmus  aufgenommen, 
ware  der  Friede,  der  endgultige  Friede,  Schopfung  eines  europai- 
schen  Imperiums,  das  im  Frieden  neben  dem  britischen,  amerl- 
k  anise  hen,  russischen,  ostasiatischen  den  Neuaufbau  der  Welt- 
wirtschaft beginnt,  Nur,  wer  diese  Politik  fordert,  f order t  den 
Frieden.  Wer  diese  Politik,  wie  die  Angelsachsen,  verbieict 
und  hintertreibt,  will  gewiB  nicht  den  Krieg;  aber  diese 
Politik  reserviert  sich  den  Krieg  als  letztes  Mittel  zur  Auf- 
rechterhaltung  der  angelfiachsischen  Weltherrschaft  und  der 
Schiedsrichterstellung  Londons  iiber  ein  entwaffnetes  und  zer- 
rissenes  Europa. 

265 


Die  SCtlWarZe  Front  von  Jan  Bargenhusen 

Mun  naben  wirs  also  wiedcr  einmal  geschafft.     Der    Volks- 

entscheid  ist  danebengegangen;  Hugenberg  ist  nicht  Vize- 
kanzler  geworden;  die  Schalter  der  Banken  und  der  Spar- 
kassen  sind  wieder  geoffnet,  und  die  ,,Nationale  Selbsthilfe" 
wird  sorgfaltigst  vorbereitet,  was  bedeutet,  daB  mail  noch 
eiriige  Wochen  Zeit  hat.  Inzwischen  beginnen  die  Stadte  mit 
dem  Lohnabbau  bei  ihren  Arbeitern,  und  mit  dem  Gehalts- 
abbau  lbei  ihren  Angestellten,  Mit  berechtigtem  Stolze 
konnen  wir  also,  unter  Hinweis  auf  die  Hoffnungen,  die  das 
Ergebnis  von  Basel  eroffnet,  die  beliebte  Formel  aussprechen; 
,,Wir  sind  jetzt  iiber  den  Berg!"  Jawohl,  wir  sind  jetzt  iiber 
den  Berg  —  es  geht  schon  abwarts. 

Die  wirtschaftlichen  Note  sind,  auf  zwei  Wochen  oder  auf 
zwei  Monate,  vertagt;  man  hat  die  faulen  Stellen  mit  Schatz- 
wechseln  tiberklebt.  Das  halt  so  lange,  bis  die  Oberkleiste- 
rung  aufplatzt.  Also  nicht  lange,  Saniert  ist  noch  nichts,  und 
der  muhsam  zuruckgehaltene  KrisenprozeB  wird  weitergehen: 
weil  man  die  Verluste  durch  ein  paar  Stutzungsmanover  nicht 
ungeschehen  machen  kann, 

Inzwischen  treiben  die  Dinge  im  politischen  Sektor  weiter. 
Nach  welcher  Richtung? 

* 

Der  Verfall  der  ,,Linken"  ist  offenbar.  Die  kommunistische 
Bewegung  ist  durch  den  Streit  der  1(Richtungen"  gelahmt:  die 
alte  Ftthrerschaft  kampft  gegen  den  Scheringer-Kurs,  Bei  der 
Sozialdemokratie  zeigen  sich  die  Folgen  der  Briiningschen  Zer- 
murbungstaktik  immer  deutlicher-  Bruning  macht  schon  kein 
Hehl  mehr  aus  seinen  Planen,  die  Partei,  die  er  ausgequetscht 
hat  wie  eine  Zitrone,  beiseite  zu  werfen,  und  Hugenberg  und 
Hitler  zur  weitern  Unterstittzung  seines  Kabinetts  heranzu- 
ziehen  —  mit  dem  Ziel,  nun  auch  die  Parteien  der  Rechten 
abzunutzen,  zu  demtitigen  und  zu  diskreditieren.  Zunachst  ist 
der  Versuch,  das  Schwergewicht  auf  die  Seite  der  Rechten 
hiniiberzulegen,  ailerdings  miBgluckt:  die  Aktion  ist  an  den 
allzu  weitgehenden  Forderungen  Hugenbergs,  der  gleichzeitig 
fur  Hitler  sprach,  gescheitert.  Aber  in  ein  paar  Wochen  wird 
man  wieder  beisammen  sitzen,  und  dann  wird  das  Geschaft 
wohl  perfekt  wefden- 

Zwei  Machtpositionen  hat  die  Sozialdemokratie  gehabt: 
die  Gewerkschaften  —  und  PreuBen.  Wie  sieht  es  heute  da- 
mit  aus? 

Die  Gewerkschaften  sind  nicht  aktionsfahig,  das  heiBt  sie 
konnen  keine  Streiks  mehr  fiihren.  Das  hat  verschiedene 
Griiride.  Arbeitslose  und  GemaBregelte  konnen  nicht  streiken, 
Gejbe  Gewerkschaftler,  .  Stahlhelmer,  Nazi-Manner  t  Unorgani- 
sierte  und.  Dinta-Zoglinge  stehen  als  Betriebsgarden  und  als 
Streikbrecher  alien  groBern  Uriternehmungen  reichlich  zur 
Verfiigung.  Das  ist  die  erne  Seite  der  Sache.  Die  andre: 
das  Geld  der  Gewerkschaften-  der  Streikfonds,  ist  bank  ma  Big 
angeiegt,  ist  nicht  liquide,  Das  ist  das  Verdienst  der  Arbeiter- 
bank    und    ihres   Direktors,    des   Staatsanwaltschaftsrats    a.    D. 


Bachem  —  ernes  Mannes,  der  zu  den  interessantesten  Bliiten 
am  Baume  der  SPD  gehort,  Weil  er,  dcr  Sozialistenfresser 
von  1913,  der  Held  der  Kriegsstelle  fiir  Ole  und  Fette,  der 
Entrepreneur  der  HohenzoUernabfindung,  der  begabte  Dakty- 
loskpp  in  Sachen  Bern  Meyer  —  weil  er,  der  argeritinische 
Latifundienbesitzer,  auch  in  der  Leitung  der  Arbeiterbank  die 
Dmge  so  griindlich  verfahren  hat,  deshalb  soil  er  jetzt  das 
Aufsichtsamt  iiber  die  Privatbanken  erhalten.  „Sieg  des  So- 
zialismusl" —  so  wird  man  rufen,  falls  dieser  Plan  gliickt.  Er 
wird  nicht  gliicken, 

* 

Und  nun:  Preuflen!  Otto  Braun  hat  eine  groflziigige 
Offerte  gemacht,  Kennwort  ,,Reichsreform".  Die  preuBische 
Regierung  fiirchtet,  spatestens  im  Friihjahr  finanziell  vollig 
pleite  zu  sein,  Unter  demDruck  des  Reichs,  wohlverstanden, 
das  den  Landern  ihre  wichtigste  Steuerquelle,  die  Hauszins- 
steuer,  abgrabt  und  ihnen  neue  Erwerbslosenlasten  aufbiirdet. 
Sie  fiirchtet  auBerdem,  bei  den  Landtagswahlen  in  offener 
Feldschlacht  zu  fallen.  Diese  doppelte  Furcht  gebar  einen 
grandiosen  Plan:  man  will  PreuBen  still  Iiquidieren,  durch  einen 
Staatsvertrag  den  groBten  Teil  der  Staatsfunktionen  aufs  Reich 
iibertragen,  durch  ein  Reichsreform-Gesetz  die  Auflosung 
PreuBens  vollenden,  Damit  will  man  die  Landtagswahlen  im 
Mai  vermeiden,  ebenso  die  Kommunalwahlen,  urn,  trotz  der 
Auflosung  des  Ganzen,  die  Machtpositionen  im  einzelnen,  in 
der  zentralen  Verwaltung  und  in  den  AuBenforts,  das  heiBt  in 
den  Gemeinden,  wenigstens  noch  iiber  die  nachsten  Jahre  hin- 
iiberzuretten. 

Das  ist  der  preuBische  Plan-  Aber  Briining  schweigt.  Er 
kommt  Otto  Braun  nicht  mit  offenen  Armen  entgegen:  ,,WilI- 
kommen  im  Reich!"  'Dieses  Schweigen  ist  todlich.  Es  be- 
deutet,  daB  der  groBartige  Plan  der  stillen  Liquidation  nicht 
verwirklicht  werden  kann,  daB  Otto  Braun  im  ,,eigenstaat- 
lichen"  PreuBen  aushalten  muB    bis  zum  bittern  Ende. 

* 

Die  Parole  heiBt  also:  Rechts  heran!  Wenn  aber  die 
Rechte  als  Hilfstruppe  des.  Kabinetts  Briining  herangezogen 
wird,  so  darf  sie,  um  Briining  und  seine  Freunde  nicht  allzu 
sehr  zu  storen,  nicht  gar  zu  stark  sein,  Deshalb  beginnt  die 
Zernierung  und  Zermurbung  der  Rechtsgruppen  schon  jetzt, 
vor  der  Herstellung  des  offenen  Biindnisses.  Hugcnberg  und 
Hitler  sollen  ja  nicht  als  Triumphatoren  ins  Reichskabinett 
einziehen,  sondern  sich  als  dienende  Glieder  des  Briining- 
kurses  dort  willig  einfiigen. 

Und  darum  erschallt  jetzt  der  Ruf:  Freischarler  heraus! 
Heran,  ihr  nationalen  Manner,  die  ihr  es  wagt,  mit  Hitlern 
selbst  anzubinden!  Wir  brauchen  eine  Truppe,  die  ihn  standig 
in  Bewegung  halt,  ablenkt  und  in  Scharmiitzeln  beschaftigt  — 
wir  brauchen  eine  „Schwarze  Schar",  die  ihm  in  der  offenen 
Flanke  sitzt,  und  ihn  nicht  zur  Ruhe  kommen  laBt.  Und  wir 
wollen  uns  das  etwas  kosten  lassen! 

Die  schwarze  Front  tritt  an:  Hellmuth  von  Miicke,  und 
sein   ,,Deutschlandbund".     Hauptmann   Stennes  und  die   Reste 

287 


seiner  S.-A.-Miinner.  Otto  Strasser  und  seine  Schwarzblusen. 
Und  dazu —  nein,  es  ist  kein  schlechter  Scherz!  —  ein  Mann 
mit  dem  gut  jiidischen  Namen  Ferdinand  Fried . . .  Die  In-* 
karnation  des  Mitarbeiterkreises  der  ,Tat\ 

Welch  ein  Gespann !  Im  Hintergrund  erscheint  weiter 
Kapitan  Ehrhardt,  der  Kamerad  des  Ministers  Treviranus,  und 
mit  ihm  einig  in  dem  gliihenden  Wunsch,  die  Verstandigung  mit 
Frankreich  aus  der  Taufe  z-u  heben.  Wobei  es  wichtig  ist,  zu 
wissen,  daB  zwischen  Ehrhardt  und  dem  Verwalter  der  groB- 
ten  Kasse  im  Reich,  Herrn  Dietrich,  die  besten  freund-nach- 
barlichen  Beziehungen  von  der  schwarzwalder  Heimat  her  be- 
stehen,  Und  damit  wir  keinen  vergessen,  so  sei  auch  noch 
gesagtf  daB  Major  Pabst  bemtiht  ist,  die  Dinge  aus  nachster 
Nahe  genau  zu  studieren,  urn  dem  groBen  Duce  genau  vermel- 
den  zu  konnen,  wie  das  Spiel  gemischt  wird,  und  wo  die  fran- 
zosischen  Trumpfbuben  sitzen. 

Die-  schwarze  Front  —  welch  treffender  Name!  Die 
schwarze  Garde,  die  Hitler  in  Schach  halten  soil,  aus  schwar- 
zen  Fonds  gespeist,  und,  ohne  es  recht  zu  wissen,  im  Dienste 
der  schwarzen  Gewalten,  Kohle  und  Klerus . . .  das  ist  genau 
das,  was  uns  noch  gefehlt  hat. 

* 

Aber  auch  noch  andre  Krafte  bemuhen  sich  darumr  das 
System  der  schwarzen  Garden  auszubatten.  Da  ist  beispiels- 
we,ise  Herr  Luther,  immer  noch  Reichsbankprasident,  und  in 
der  Furcht  Schach ts,  der  Hugenberg  und  Hitler  weit  genehmer 
erscheint,  schon  deshalb,  weil  er  nicht  gar  so  franzosenireund- 
lich  ist,  Wie  Friedrich  Hielscher,  der  Prophet,  Theoretiker 
und  Taktiker  der  jungen  Nationalisten  um  das  .Reich*  — 
Schauwecker,  Junger,  Heinz  —  zu  meld  en  weiB,  hat  sich  Herr 
Luther,  dessen  Beziige  ihm  das  wohl  erlauben,  eine 
Schutztruppe  in  Gestalt  des  ,Ring'-Kreises  zugelegt.  Wo- 
mit  die  Tatsache  zwanglos  erklart  ware,  daB  Adel 
und  GroBindustrie,  die  der  ,Ring*  vereint,  neuer  dings 
so  sehr  verstandigungsbereit  und  frankophil  geworden 
sind,  Hinter  dieser  Verstandigungsbereitschaft  steht  aller- 
dings  der  fromme  und  frohliche  Kinderglaube,  daB  Frank- 
reich das  erforderliche  Geld  zur  Aufrustung  Deutschlands  her- 
ausnicken  werde,  wenn  man  sich  nur  erst  iiber  ,,gewisse 
Punkte",  unter  denen  das  sow/jetrussische  Waren-Dumping  auf 
dem  Weltmarkt  eine  gewisse  Rolle  spielen  soil,  einig  geworden 
sei.  Wobei  man  also  wieder  bei  den  Gedankengangen  von 
Treviranus  und  Ehrhardt   angekommen  ware. 

Nun,  wenn  die  Karte  Luther  nicht  sticht  —  so  hat  ja  die 
GroBindustrie  noch  ihren  Schacht  in  Reserve.  Und  der  will 
den  Handel,  auf  streng  geschaftlicher  Basis,  mit  England  und 
mit  Amerika  machen. 

* 

Schacht,  Schleicher,  Hugenberg,  Strasser  und  Hitler,  selt- 
sarae  Anttpoden-Parchen,  die  sich  gegenseitig  in  Schach  hal- 
ten miissen!  Im  Grunde  sind  sie  doch  alle  nur  die  schwarzen 
Garden  jener  Machte,  die  als  Union  der  festen  Hand  Deutsch- 
land  heute  regieren. 

288 


Von  Bruning  bis  Seydewitz  von  k.  l.  oerstortt 

T\  er  Reichskanzler  Bruning  hatte,  wie  die  Zeittmgen  melden, 
cine  Unterredung  mit  dem  Chefredakteur  der  .Daily 
Mail*.  Bruning  sprach  dort  schr  offen.  In  dem  Bericht 
tiber  die  Unterredung  heiBt  es;  ,,Die  Griinde  der  gegenwartigen 
Schwierigkeiten  Europas  faBte  Doktor  Bruning  in  folgende  vier 
Punkte  zusammen:  Erst  ens:  die  Oberindustrialisierung  der 
kleinern  Staaten.  Zweitens:  die  Abnahme  der  Kaufkraft  in 
China  und  Indien.  Drittens:  die  hohen  Zollmauern  in  der 
ganzen  Welt*  Viertens:  die  Richtung,  in  der  die  deutschen 
Reparationszahlungen  flieBen."  Wenn  man  vom  letzten  Punkt 
absieht,  so  sagt  Bruning  uber  die  entscheidenden  Griinde,  die 
diese  Krise  so  vertieft  haben,  dasselbe,  was  die  neuere  marxi- 
stische  Theorie  uber  den  Imperialisms  seit  Jahren  behauptet. 
Die  immer  groBern  Schwierigkeiten  fur  den  Kapitahsmus,  im- 
perialistisch  uber  seine  eignen  Grenzen  vorzustoBen,  die  Verrin- 
gerung  der  Expansionsmoglichkeiten  verandern  den  gesamten 
Konjunkturzyklus,  machen  die  Krise  so  tief,  das  Herauskommen 
aus  ihr  so  schwer,  verscharfen  die  imperialistischen  Konkur- 
renzkampfe  auf  den  Weltmarkten  eberiso  wie  die  Situation  im 
Innern.  Bruning  gibt  damit  gleichzeitig  zu,  daB  die  heutige 
Krise  nicht  mit  denen  der  Vorkriegszeit  in  einem  Atemzuge 
zu  nennen  ist.  Denn  die  Ursachen  ihrer  Vertiefung,  auf  die 
er  vor  all  em  hi  n  we  ist,  sind  nicht  in  absehbarer  Zeit  zu  andern. 
Ober  die  Oberindustrialisierung  der  kleinern  Staaten  und  die 
hohen  Zollmauern  in  der  ganzen  Welt  wird  seit  vielen  Jahren 
Klage  gefiihrt.  Jedes  Jahr  hatten  wir  Konferenzen,  die  es 
fiir  vernunftig  und  notwendig  erklarten,  die  Zollmauern  ab- 
zubauen,  und  jedes  Jahr  wurden  sie  erhoht,  nicht  nur  in 
den  kleinern  Staaten,  sondern  auch  von  den  hochkapitalisti- 
schen  Zentren  wie  den  Vereinigten  Staaten,  und  in  Deutschland 
—  durch  die  Briiningregierung. 

Auf  die  Beendigung  der  Krise  dureh  Abtragung  der  hohen 
Zollmauern  werden  wir  daher  noch  lange  warten.  Bruning 
sprach  dann  weiter  von  der  Abnahme  der  Kaufkraft  in  In- 
dien  und  China.  Hier  ist  seine  Formttlierung  nicht  ganz  rich- 
tig.  Abgenommen  hat  die  Kaufkraft  in  China  und  Indien  nur 
sehr  wenig.  Der  chinesische  und  der  indische  AuBenhandel 
ist  nicht  kleiiier  als  in  der  Vorkriegszeit.  Aber  er  hat  eben 
nicht  zugenommen.  Und  das  ware  fiir  die  Oberwindung  der 
Krise  notwendig.  In  der  Vorkriegszeit  hatten  wir  einen  star- 
ken  standigen  Zuwachs  in  den  weltwirtschaftlichen  Beziehun- 
gen,  einen  standigen  VorstoB  der  kapitalistischen  Zentren  in 
Gebiete,  die  in  der  Entwicklung  zum  Kapitalismus  hinter  ihnen 
zuriickgeblieben  waren.  Und,  wahrend  jetzt  die  Zahl  der 
hochkapitalistischen  Staaten  groBer  wird,  die  kapitalistischen 
Zentren  standig  wachsen  und  fiir  die  kapitalistische  Expan- 
sion eine  Peripherie  notwendig  ware,  die  weit  schneller  wachst, 
als  in  der  Vorkriegszeit,  stagniert  die  Entwicklung  in  dieser 
Peripherie,  gibt  es  keine  neuen  Kolonien  mehr  zu  verteilen, 
entwickelt  sich  in  alien  Kolonien  die  nationale  Bewegung, 
erwachen  die  Volker  in  Asien  und  Afrika  aus  der  Geschichts- 
losigkeit.     Glaubt  Bruning,  daB  ^sich  in  absehbarer  Zeit  Ver- 

28* 


anderungen  ergeben  werden,  die  so  stark  sind,  daB  sie  einen 
Konjunkturaufschwung  schaffen?  Briining  glaubt  nicht  daran. 
Denn  im  Anfang  seiner  Unterredung  betonte  er:  Der  kom- 
mende  Winter  werde  der  schlimmste  fur  Europa  in  den  letz- 
ten  hundert  Jahren  sein.  Die  Deutschen  wiirden  am  me  is  ten 
von  ihm  zu  spiiren  bekommen.  Es  werde  in  Deutschland  we- 
nigstens  sieben  Millionen  Arbeitslose  geben."  Der  kommende 
Winter  wird  der  schlimmste  seit  hundert  Jahren  sein.  Er 
wird  nach  Briining  schlimmer  sein  als  der  Winter  von  1918/19r 
als  der  von  1923/24.  Kein  Wunder,  daB  Briining  in  der  gleichen 
Rede  erklarte,  daB  er  den  Kommunismus  fur  die  groBte 
innere  Gefahr  halte, 

.  Mit  sieben  Millionen  nimmt  der  Chef  der  Regierung  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  fiir  den  Winter  an.  Er  meint  also,  daB 
die  Schatzungen  des  Institutes  fiir  Konjunkturforschung  noch 
urn  eine  reichliche  Million  iiberschritten  werden.  Sieben  Mil- 
lionen Arbeitslose  —  das  sollte  die  gesamte  Arbeiterschaft 
und  ihre  Organisation  en  auf  den  Platz  rufen!  Aber  was  ge- 
schieht?  Wie  verhalt  sich  der  ,Vorwarts',  das  Zentralorgan 
der  Sozialdemokratischen  Partei,  in  dieser  Situation?  Der  ,Vor- 
warts'  schreibt  in  seinem  Kommentar  zum  Briining-Interview: 
MWar  es  notwendig,  schwarzestem  Pessimismus  Raum  zu  ge- 
ben und  die  Ziffer  von  sieben  Millionen  Arbeitslosen  zu  nen- 
nen?  Es  ist  etwas  andres,  das  Volk  vor  Illusionen  bewahren 
zu  wollen,  und  einen  iibertriebenen  Pessimismus  zur  Schau 
zu  tragenf  der  wie  Verzweiflung  am  eignen  Programm  und 
wie  fatalistische  Ergebenheit  wirken  muB!"  Der  ,Vorwarts* 
halt  es  also  fiir  richtigere  Politik,  die  deutsche  Arbeiterschaft 
iiber  die  wirkliche  Situation  hinwegzutauschen,  sie  weiter  in 
Illusionen  dariiber  zu  wiegen,  wie  tief  in  Wirklichkeit  die 
Krise  ist,  die  heute  das  gesamte  kapitalistische  System  er- 
schiittert,  Und  das  ist  keine  zufallige  Entgleisung.  Der  ,Vor- 
warts'  setzt  hier  nur  die  traditionelle  Politik  fort,  die  der  Re- 
formismus  in  der  £anzen  Krise  betrieben  hat.  Wahrend  der 
Reformismus  der  Vorkriegszeit  die  gesamte  biirgerliche  Wis- 
senschaft  zitierte  und  Tabellen  aus  der  ganzen  Welt  brachter 
um  seine  Politik  zu  untermauern,  ist  heute  das  tragikomische 
Schauspiel  zu  konstatieren,  daB  er,  um  sich  eine  Plattform  fiir 
seine  Politik  zu  schaffen,  hinter  den  vorgeschrittensten  Ver- 
tretern  des  Biirgertums  und  der  okonomischen  Wissenschaft 
zuriickbleiben  muB,  daB  das  Burgertum  iiber  die  Tiefe  der 
Krise  bereits  Bescheid  weiB,  wahrend  der  Reformismus  noch 
Illusionen  verbreitet.  Einige  Belege  aus  einer  fortlaufenden 
Kette.  Einer  der  Vertreter  der  reformistischen  Richtung,  einer 
der  entscheidenden  wissenschaftlichen  Sachverstandigen  der 
Sozialdemokratischen  Partei,  Fritz  Naphtali,  schreibt  in  einer 
Broschure,  die  Ende  1930  erschienen  ist  (,,Weltwirtschafts- 
krise  und  Arbeitslosigkeit"):  t,Die  typischen  Erscheinungen 
des  fiirchterlichen  Krisenbildes  haben  wir  also  zweifellos  ebenso 
jetzt  wie  in  friihern  Krisen , .  ."  ,,Mein  Eindruck  nach  dem 
Versuch,  aus  diesen  Einzelerscheinungen  ein  Bild  zu  gewin- 
neri,  geht  ungefahr  dahin,  daB  die  Krisen  friiherer  Zeit,  natiir- 
lich  in  verschiedenem  Grade,  sehr  ahnliche  Erscheinungen 
auch  in  der  quantitativen  Auswirkung  gehabt  haben,  wie  wir 

290 


sic  gegenwartig  erleben,"  Zur  gleichen  Zeit  crschien  der  No- 
vemberbericht  des  Institutes  fiir  Konjunkturforschung,  Dort 
heifit  es:  ,FDer  weltwirtschaftliche  Konjunkturriicksohlag  hat 
eine  Ausdehnung  und  Intensitat  angenommen,  wie  dies  in  der 
modernen  Wirtschaftsentwicklung  noch  niemals  zuvor  beob- 
achtet  werden  konnte."  Und  der  Letter  des  Institutes  fiir 
Konjunkturforschung,  Professor  Wagemann,  schrieb  in  seinem, 
vor  einigen  Monaten  erschienenen  Buch:  „Struktur  und  Rhyth- 
mus  der  Weltwirtschaft":  ,,Die  gegenwartige  Krise  ist  die  bei 
weitem   schwerste   des   ganzen  Ietzten   Jahrhunderts/' 

Als  der  Februarbericht  des  Institutes  fiir  Konjunkturfor- 
schung  erschien,  brachte  das  , Berliner  Tageblatt'  seine  Ergeb- 
nisse  unter  der  Oberschrift:  Die  Krise  hat  sich  weiter  vertieft 
Im  ,Vorwarts*  hiefi  die  Oberschrift;  Das  Tief  der  Krise  ist  er- 
reicht.  Auf  dem  leipziger  Parteitag  erklarte  Tarnow;  ,,Die  starke 
Senkung  der  Zinssatze  und  der  Rohstoffpreise  sind  nach  alien 
frtihern  Krisenerfahrunjgen  auch  schon  die  sichtbaren  Anzeichen 
dafiir,  daB  ein  Umschwung  sich  vorbereitet  (bei  Tarnow  ge- 
sperrt),  was  natiirlich  noch  nichts  iiber  die  Zeitdauer  sagt." 
Das  gleichzeitig  erschienene  Juniheft  des  Institute  fur  Konjunk- 
turforschung  schreibt:  „Die  Voraussetzungen  fiir  einen  Auf- 
schwung  sind  jedenfalls  nicht  gegeben." 

Die  Monate  nach  dem  Parteitag  zeigen  ebenso  deutlich  wie 
die  Rede  Briinings,  wie  falsch  die  Prognosen  Tarnows  waren. 
Es  fuhrt  so  eine  grade  Linie  von  der  Broschiire  Naphtalis  im 
vergangenen  Jahre  bis  zuni  .Vorwarts'-Kommentar  iiber  die 
Briining-Rede,  Es  miissen  stets  Iilusionen  erweckt  werden,  um 
weiter  die  Politik  des  kleinern  Obels  zu  begriinden. 

Zwei  Ereignisse  haben  diese  Vertuschung  erleichtert;  der 
Volksentscheid  und  die  vorlaufig  liquidierte  Geldkrise.  Der 
Volksentscheid  hat  die  Abwanderung  der  sozialdemokratischen 
revolutionaren  Arbeiter  zur  Kommunistischen  Partei  gebremst- 
Er  gab  dem  Reformismus  die  erwiinschte  Gelegenheit,  gegen 
die  Kommunistische  Partei  zu  hetzen,  die  hier  in  der  gleichen 
Front  mit  den  Natkmalisten  aller  Schattierungen  kampfte. 
Und  die  Liquidierung  der  Geldkrise  schuf  zunachst  einmal  eine 
Atempause.  Nachdem  die  Banken  und  die  Sparkassen  ihre 
Schalter  wieder  aufgemacht  haben,  sieht  die  Lage  wieder  ein- 
mal etwas  hoffnungsvoller  aus  als  in  der  zweiten  Julihalfte, 
Die  Erregung  iiber  den  Volksentscheid  wird  bald  verschwin- 
den,  die  Freude  iiber  die  Eroffnung  der  Bankschalter  wird 
schwinden  —  aber  der  Katzenjammer  wird  bleiben. 

Sieben  Millionen  Arbeitslose  im  Winter,  das  heifit  wieder 
riesenhafte  Steuerriickgange,  wieder  Defizit  bei  der  Arbeits- 
losenversicherung,  wieder  Krise  der  Staatsfinanzen.  Die  Ge- 
meinden  haben  bereits  erklart,  daB  sie  nicht  weiter  konnen. 
Das  Defizit  bei  den  Gemeinden  belauft  sich  auf  etw<a  800  Mil- 
lionen Reichsmark.  Die  Gemeinde-Finanzen  sind  an  sich  in 
Ordnung.  Ihr  Defizit  kommt  lediglich  daher,  daB  der  Staat 
die  Finanzierung  der  Wohlfahrtserwerbslosen  auf  sie  abge- 
walzt  hat.  Welch  eine  Riesensumme  die  Gemeinden  dafur 
aufzubringen  haben,  das  geht  wohl  am  besten  daraus  hervor, 
wenn  man  die  Zahlen  mit  der  Summe  vergleicht,  die  die  ge- 
samten    freien    Gewerkschaften    im    vergangenen    Jahre    zur 

3  291 


Unterstiitzung  fur  ihre  Arbeitslosen  aufgebracht  haben.  Diese 
Summc  betragt  uugefa.hr  120  Millionen.  Sie  ist  also  nur 
etwas  mchr  als  ein  Neuntel  der  Summc,  die  die  Gemein- 
den  fur  die  Wohlfahrtserwerbslosen  aufzubringen  haben,  Eine 
Kiirzung  des  Etals  fiir  die  Wohlfahrtserwerbslosen  um  reich- 
lich  10  Prozent  wurd«  die  gleiche  Summe  ergeben,  die  die 
freien  Gewerkschaften,  die  etwa  fiinf  Millionea  Arbeiter  ver- 
treten,  fur  ihre  Arbeitslosen  1930  aufgebracht  haben. 

Die  Vertuschungspolitik  des  Reformismus  zeigt  an,  wohin 
die  weitere  Reise  gent.  Man  wird  wie  bisher  die  Regierung 
Briining  tolerieren,  um  ihr  damit  die  Moglichkeit  zu  schaffen, 
auch  dieses  Defizit  wieder  auf  monopolkapitalistischem  Wege 
zu  beseitigen,  Um  den  Preis,  daB  Hugenberg  nicht  in  die  Re- 
gierung ,  geht,  wird  man  weiter  die  Politik  des  kleinern  Obels 
treiben  und  die  Arbeiterorganisationen  noch  weiter  unter- 
hohlen.  Die  Linie  der  Wels  und  Breitscheid  ist  eindeutig. 
Aber  was  tut  die  Seydewitz-Gruppe  in  dieser  Zeit?  Sie  hat 
seinerzeit  gegen  den  Panzerkreuzer  gestimmt,  aber  den  Etat 
bewilligt.  Ein  Teil  der  Gruppe  hat  noch  auf  dem  Parteitag 
gehofft,  daB  ihre  Politik  einmal  die  Politik  der  Mehrheit  wer- 
den  wiirde;  keiher  ihrer  Vertreter  wird  das  heute  mehr  glau- 
ben,  Sie  hat  dann  in  ihrem  Organ,  im  tKlassenkampf\  einen 
Mahnruf  erlassen  und  um  Zustimmungserklarungen  aus  dem 
ganzen  Reich  gebeten.  Als  der  Parteivorstand  einschritt,  wurde 
die  Sammlung  zunachst  nicht  mehr  fortgesetzt.  Die  Entwick- 
lung  hat  seitdem  weiter  getrieben. 

Die  Hoffnungen  der  sozialdemokratischen  Arbeiter- 
massen,  daB  der  Reformismus  seine  Politik  noch  einmal  andern 
wird,  werden  immer  geringer.  Zehntausende  sozialdemo- 
kratisch  organisierte  Arbeiter  gibt  es  heute,  die  innerlich  be- 
reits  mit  der  Sozialdemokratischen  Partei  gebrochen  haben. 
Aber  sie  besitzen  kein  Organisationszentrum,  sie  wissen  nicht, 
wohin.  Zur  Kommunistischen  Partei  wollen  sie  nicht,  wollen 
vor  allem  diejenigen  nicht,  die  gewerkschaftlich  organisiert 
sind,  die  die  kommunistische  Gewerkschaftstaktik  fiir  falsch 
halten,  da  diese  Taktik  die  Gewerkschaften  nicht  revolutio- 
niert,  sondern  nur  lebensunfahige  Gebilde  schafft.  Zur  Kom- 
munistischen  Partei  wollen  sie  nicht,  wollen  sie  vor  allem  jetzt 
nach  der  Parole  der  Kommunisten  fiir  den  Volksentscheid 
nicht.  Auch  innerhalb  der  Kommunistischen  Partei  ist  diese 
Parole  nicht  mit  Begeisterung  aufgenommen  worden.  Gut  ge- 
rechnet  wird  die  Partei  die  Halfte  ihrer  Wahler  dafiir  mobil 
gemacht  haben.  In  ausgesprochenen  Arbeiterbezirken  ist  die 
Zahi  der  Jastimmen  fiir  den  Volksentscheid  oft  geringer  ge- 
wesen,  als  die  Zahl  der  kommunistischen  Stimmen  bei  den 
September- Wahlen  1930  allein.  So  gibt  es  heute  breite  Ar- 
beiterschichten,  die  dem  Reformismus  innerhalb  der  Sozial- 
demokratischen Partei  ablehnend  gegeniiberstehen,  die  bereits 
revolutionar  marxistisch  sind,  oder  auf  dem  Wege  dorthin,  die 
auf  der  andern  Seite  die  Taktik  der  Kommunistischen  Partei 
in  der  heutigen  Situation  in  wesentlichen  Punkten  fiir  falsch 
halten.  Alle  diese  Schichten  brauchen  ein  Organisations- 
zentrum. Die  Zuspitzung  der  okonomischen  Situation  schafft 
starke   dynamische   Tendenzen    auch  innerhalb    der   Arbeiter- 

292 


parteien.  Die  Entscheidung,  die  man  beim  Panzerkreuzer  und  irr 
Leipzig  vertagt  hat,  diese  Entscheidung  laBt  sich  jetzt  immer 
schwerer  umgehen.  Will  die  Seydewitz-Gruppe  auch  die  neue 
Notverordnung  schlucken?  Es  gibt  Zeiten,  wo  die  Politik  ein 
Lavieren  verlangt.  Je  mehr  die  Krise  sich  verscharH,  um  so 
weniger  Lavierungsmoglichkeiten  gibt  es  —  fiir  die  Briining- 
Regierung  und  fiir  die  Seydewitz-Gruppe. 

Die  LDSling   von  Theobald  Tiger 

Vy/enn  was  nicht  klappt,  wenn  was  nicht  klappt, 
dann  wird  vor  allem  mal  nicht  berappt. 
Wir  setzen  frisch  und  munter 
die  Lohne,  die  Lohne  herunter  — 

immer  runter! 
Wir  haben  bis  iiber  die  Ohren 
bei  unsern  Geschaften  verloren 

Unser  Geld  ist  in  alien  Welten: 
Kapital  und  Zinsen  und  Zubehor. 
So  lassen  wir  denn  unser  groBes  Malheur 
nur  einen,  nur  einen  entgelten: 

Den,  der  sich  nicht  mehr  wehren  kann. 
Den  Angestellten,  den  Arbeitsmann; 
den  Hund,  den  Moskau  verhetzte, 
Dem  nehmen  wir  nun  das  Letzte. 
Arbeiterblut  mufi  man  keltern. 
Wir  sparen  an  den  Gehaltern  — 
immer  runter! 
Unsre  Inserate  sind  nur  noch  ein  Hohn, 
Was  braucht  denn  auch  die  deutsche  Nation 
sich  Hemdea   und   Stiefel  zu  kaufen? 
Soil  sie  doch  barfuft  laufenl 
Wir  haben  im  Schadel  nur  ein  Wort: 
Export!     Export! 

Was  braucht  ihr  eignen  Hausstand? 

Unere  Kunden  wohnen  im  Ausland! 

Fiir  euch  gibts  keine  Waren. 

Fiir  euch  heiBts:   sparen!  sparen! 

Nicht  wahr,  ein  richtiger  Kapitalist 

hat  verdient,  als  es  gut  gegangen  ist. 

Er  hat  einen  guten  Magen. 

Wir  muBten  das  Risiko  tragen  . . . 

Wir  geben  das  Risiko  traurig  und  schlapp 

inzwischen  in  der  Garderobe  ab. 

Was  macht  man  mit  Arbeitermassen? 

Entlassen !    Entlassen !    Entlassen ! 
Wir  haben  die  Losung  gefunden: 
Krieg  den  eignen  Kunden! 
Dieweil  der  deutsche  Kapitalist 
Gemut  hat  und  Exportkaufmann  ist. 
Wufiten  Sie  das  nicht  schon  fruher  — ? 

Gott  segne  die  Wirtschaftsverf uhrer ! 

295 


Aufspaitung  uer  ueutschen  Zolleinheit 

von  Alfred  Kolmar 


T\ie  Verfassung  des  Deutschen  Reiches  sagt  in  ihrem  Ar- 
**   tikei  82: 

Deutschland  bildet  ein  Zoll-  und  Handelsgebiet,  umgeben  von 
einer  gemeinschaftlichen  Zollgrenze,  Die  Zollgrenze  fallt  mit  der 
Grenze  gegen  das  Ausland  zusammen . . .  Aus  dcm  Zollgebiete  konnen 
nach  besonderem  Erfordcrnis  Teile  ausgeschlossen  werden  - . .  Zoll- 
ausschlusse  konnen  durch  Staatsvertrage  oder  Obereinkommen  einem 
fremden  Zollgebiete  angeschlossen  werden.  Alle  Erzeugnisse  der 
Natur  sowie  des  Gewerbe-  uhd  KunstfleiBes,  die  sich  im  freien  Ver- 
kehr  des  Reiches  befinden,  diirfen  iiber  die  Grenze  der  Lander  und 
Gemeinden  ein-,  aus-  und  durchgefilhrt  werden.  Ausnahmen  sind  auf 
Grund  eines  Reichsgesetzes  zulassig. 

Daneben  wird  in  Artikel  6  bestimmt,  dafi  das  Reich  „die 
ausschlieOlichc  Gesetzgebung  iiber  das  Zollwesen  sowie  die 
Einheit  des  Zoll-  und  Handeisgebietes  und  die  Freiztigigkeit 
des  Warenverkehrs  hat." 

Mit  diesen  Bestimmungen  der  Reichsverfassung  ist  das 
Prinzip  der  Einheitlichkeit  des  deutschen  Zollgebietes  vom 
Kaiserreich  auf  die  Republik  iibergegangen.  Denn  seitdem  im 
Jahre  1866  Bismarck  die  deulsche  Frage  im  Sinne  der  „klein- 
deutschen  Losung"  entschieden  hatte,  stellte  die  Einheitlich- 
keit des  deutschen  Zollgebietes  weder  eine  politische  noch  eine 
wirtschaftliche  Frage  mehr  dar.  Sie  ist  auch  unsrer  Genera- 
tion eine  Selbstverstandlichkeit  geblieben,  in  die  wir  hinein- 
geboren  sind  und  ohne  die  uns  der  Besitz  des  Reiches  an 
Hoheitsrechten  nicht  vollstandig  zu  sein  scheint. 

Freilich  miissen  wir  uns ,  dartiber  klar  sein,  dafi  der  Ge- 
danke  der  Einheitlichkeit  des  ReichszoUgebietes  in  einer  Zeit 
entstanden  ist,  wo  die  Wirtschaft  des  Reiches  einen  heute 
nicht  mehr  vorhandenen  Charakter  trug.  Sowohl  im  Norden  als 
auch  im  Siiden  des  in  den  fiinfziger  und  sechziger  Jahren  er- 
strebten,  seit  1871  zur  Tatsache  gewordenen  „kleindeutschen" 
Reiches  lag  der  Schwerpunkt  fur  diese  Wirtschaft  in  der, 
Landwirtschaft  und  im  Handel.  Er  lag  nicht  in  einer 
Industrie  im  heutigen  Sinne,  konnte  auch  gar  nicht  in  ihr  lie- 
gen,  weil  es  diese  weder  zur  Zeit  der  Schaffung  'des  preuBisch- 
stiddeutschen  Zollvereins,  noch  auch  des  Norddeutschen  Bun- 
des(  noch  schlieBlich  des  Reiches  selbst  gegeben  hat. 

Die  Tatsache,  dafi  gewisse  Teile  Deutschlands  etwa  seit 
den  achtziger  Jahren  des  vergangenen  Jahrhunderts  Indu- 
strien  entwickelten,  deren  volkswirtschaftliches  Gewicht  mehr 
und  mehr  zunahm,  spielte  nattirlich  auch  in  der  Zollpolitik  des 
Kaiserreiches  eine  groBe  Rolle.  Objektiv  rentabel  ist  auch 
schon  dam  als  die  deutsche  Landwirtschaft  in  wciten  Teilen 
nicht  mehr  gewesen.  Aber  der  politische  Schwerpunkt  des 
Reiches  lag  noch  innerhalb  der  Bevolkerungssqhichten,  deren 
wirtschaftliche  Interessen  die  deutsche  Wirtschaftspolitik  nach 
der  agrariscben  Seite  lenkten.  Diese  Schwerpunktslagerung 
und  ihre  Ausnutzung  in  einer  entsprechenden  Handels-  und 
Zollpolitik   konnte   die   objektiv  schlechte   Situation  der  Land- 

294 


wirtschaft  in  Deutschland  damals  noch  cachieren.  In  der 
Nachkriegszeit  verlegte  sich  abcr  der  politischc  Schwerpunkt 
Deutschlands  ziemlich  plotzlich  in  die  Stadte,  das  heiBt  in 
solche  Zentren,  deren  Intercsse  an  der  Landwirtschaft  aus- 
schlieBIich  ein  Konsumcntenintercssc  ist.  Dicscr  Verlagerung 
nun  ist  in  der  jiingsten  Zeit  wieder  cin  fiihlbarer  Riickschlag 
nach  der  andern  Seite  gefolgt.  Unverkennbar  hat  die 
deutsche  Landwirtschaft  den  Verlust  an  EinfluB  auf  Politik 
und  Wirtschaftspolitik  des  Reiches,  der  in  den  Jahren  von 
1919  bis  1923  fast  vollstandig  zu  sein  schien,  seither  wieder 
in  sehr  erheblichem  Umfang  wettgemacht,  Wieder  wer- 
den  ihr  ffLiebesgaben"  in  reichem  MaBe  zuteil  —  jetzt  aber 
—  im  Gegensatz  zur  Vorkriegszeit  —  auf  Kosten  einer  vollig 
ausgepowerten,  zu  einem  erheblichen  Teile  sogar  arbeitslosen 
stadtischen  Konsumentenmasse  und  einer  Industrie,  die  ohne 
Reserven  dasteht  und  weder  leben  noch  sterben,  kann. 

Das  Dilemma  ist  furchtbar!  Macht  das  Reich  eine  am 
agrarischen  Interesse  orientierte  Wirtschaftspolitik,  so  fiihrt 
dies  zu  einer  Oberhohung  der  Lebenshaltungskosten  in  den 
industriellen  Zentren  und  damit  zu  einer  starken  Minderung 
der  industriellen  Konkurrenzfahigkeit,  Macht  das  Reich  aber 
eine  den  industriellen  Interessen  entsprechende  Politik,  so 
erliegt  die  Landwirtschaft.  Man  hat  seit  etwa  zehn  Jahren 
gradezu  verzweifelte  Anstrengungen  gemacht,  um  einen  Aus- 
gieich  dieser  einander  widerstreitenden  Interessen  herbeizu- 
fiihren.  Es  ergab  sich  aber  auch  hier  der  beriihmte  circulus 
vitiosus,  der  schon  fast  zum  Symbol  deutscher  Wirtschafts- 
politik geworden  ist:  Gab  man  der  Industrie  Zolle,  so  mel- 
dete  auch  die  Landwirtschaft  mit  genau  der  gleichen  Berech- 
tigung  entsprechende  Forderungen  an  und  setzte  sie  durch. 
Gab  man  der  Landwirtschaft  Zolle,  so  kam  die  Industrie  und 
verlangte  ihrerseits  eine  ausgleichende  Berucksichtigung.  Der 
Erfolg  war  fur  beide  Teile  negativ.  Ein  Ausgleich  wurde 
nicht  gefunden.  Sowohl  landwirtschaftliche  als  auch  indu- 
strielle  Erzeugnisse  wurden  kiinstlich  iiberteuert,  ohne  eine 
Rentabilitat  der  beiden  grofien  Wirtschaftsgruppen  zu  gewahr- 
leisten. 

Wo  ist  der  Ausweg?  Liegt  er  im  radikalen  Abbau  bei- 
der  Zollgruppen,  der  landwirtschaftlichen  und  der  industriel- 
len? Niemand  kann  in  der  heutigen  Situation  der  deutschen 
und  der  Weitwirtschaft  dieses  Experiment  wagen.  Freihandel 
war  gut,  solange  die  Situation  der  Weitwirtschaft  im  kapita- 
listisch-individualistischen  Sinne  gut  war.  Sie  ist  aber  nicht 
mehr  gut,  denn  allenthalben  sehen  wir  furchtbare  Stockungen. 
in  der  okonomischen  und  finanziellen  Zirkulation.  Man  mag 
sogar  ruhig  fur  die  allseitige  Aufhebung  der  Zollgrenzexi  wei- 
terkampfen,  die  aber  noch  lange  nicht  zu  einem  ^Freihandel" 
im  Sinne  der  alten  Manchester-Schule  zu  fiihren  brauchte:  so- 
lange dieses  Programm  nicht  wirklich  allseitig  verwirklicht  ist, 
kann  Deutschland  nicht  einseitig  die  Zolle  aufheben.  Einer  muB 
den  Anfang  machen?  GewiB,  aber  nicht  Deutschland  in  seiner 
volligen  Pleite!  Ein  neues  Heer  von  fiinf  Millionen  Arbeits- 
losen konnte  sich  fur  die  Verwirklichurig  einer  Doktrin  be- 
danken,    die     iibrigens    ihrer    ganzen    Idee    nach    kapitalisti- 

295 


•sches  Gewachs  1st  und  jeder  wirtschaftliehen  PlanmaBigkeit 
strikte  widerspricht.  (Es  soil  Sozialisten  geben,  die  das  noch 
nicht  gemerkt  haben.)  Solange  wir  nicht  eine  wirkliche  und 
allseitige  PlanmaBigkeit  in  der  Weltwirtschaft  haben,  braucht 
Dcutschland  demnach  gewisse  Obergangsformen  der  Zollpolitik, 
die  den  beiden  groBen  Komponenten  seiner  Wirtschaft,  der  In- 
dustrie und  der  Landwirtschaft,  Geniige  leisfen. 

II 

Man  hat  bisher  stets  versucht,  diese  Formen  in  dem  oben 
angedeuteten  Sinne  dadurch  zu  Hnden,  dafi  man  den  Durch- 
schnitt  des  beiden  Gruppen  an  Schutz  zu  Gewahrenden  hori- 
zontal gelegt  hat.  Das  Ergebnis  dieser  Versuche  war  hochst 
unbeiriedigend.  Wie  ware  es,  wenn  man  einmal  dem  Ge- 
danken  nachginge,  den  Schnitt  vertikal  zu  legen,  die  deutsche 
Zolleinheit  aufzuspalten  und  zwei  groBe  deutsche  Zollstufen 
zu  schaff en,  von  denen  die  eine  ihren  Schwerpunkt  im  land? 
wirtschaftliehen,  die  andre  im  industrielleri  Interesse  fande? 

Zieht  man  von  dem  Eintritt  der  Elbe  in  das  deutsche 
Reichsgebiet  an  eine  Linie,  die  iiber  Pirna,  Dresden,  Riesa, 
Torgau,  Dessau,  Magdeburg,  Braunschweig,  Hannover,  Osna- 
briick,  Rheine  bis  zur  niederlandischen  Grenze  bei  Bentheim 
fiihrt,  so  teilt  man  damit  das  deutsche  Zollgebiet  in  zwei  Teile, 
deren  wirtschaftliche  Basis  sehr  stark  voneinander  ver- 
schieden  ist,  Man  erhalt  das  Gebiet  A,  welches  vorwiegend 
landwirtschaftlich  orientiert  ist,  und  das  Gebiet  B,  dessen  wirt- 
schaftlicher  Schwerpunkt  in  der  Industrie  liegt. 


Wie  weit  die  Verschiedenheit  der  wirtschaftliehen  Struk- 
tur  beider  Gebiete  geht,  das  mag  an  einigen  Zahlen  nachgewie- 
sen  werden; 
296 


Das  Gcbict  A  hat  (nach  der  letztcn  Volkszahfung)  auf 
einer  Flache  von  242  188  qkm  cine  Einwohnerzahl  von 
26  506  000  Mcnschen.  Das  sind  109  Mcnschen  pro  qkm.  Im 
Gebiet  B  mit  ciner  Flachc  von  224103  qkm  und  einer  Ein- 
wohnerzahl  von  35  788  000  Menschen  bewohnen  im  Durch- 
schnitt  159  Menschen  den  qkm,  Schon  dicse  groBere  Bcvolke- 
rungsdichte  des  Gebictcs  B  ist  in  sozialokonomischer  Be- 
ziehung  iiberaus  bedeutungsvoll.  (Dabei  liegeri  im  Gebiet  A 
die  groBten  deutschen  Stadtc!) 

Die  Anzahl  der  Berufszugehorigen,  nicht  der  Erwerbstati- 
gen,  verteilte  sich  in  den  beiden  Gebieten  auf  die  Landwirt- 
schaf t  einerseits,  auf  Industrie  und  Handwerk  andrerseits  f  ol- 
gendermaBen: 

Gebiet  A 

Berufszugehorige 

"cha£t     Handwerk 

OstpreuBen        2  256  36  991  1021  442 

Berlin            .     . 4  0^4  883  32  1859 

Brandenburg 2  592  39  033  815  898 

Pommern ,     .     .  1 878  30  209  863  442 

Posen-WestpreuBen       332  7  713  156  64 

Niederschlesien 3  132  26  603  888  1075 

Oberschlesien        „ 1 379  9  712  423  503 

Teil  Prov.  Sachsen       1 200  9 100  282  508 

Schleswig-Holstein 1 579  15  076  359  505 

Teil   Hannover      ........  2 190  28582  692  742 

Teil  Westfalen 1  100  6  200  146  624 

Teil   Freistaat  Sachsen 1500  5  900  136  846 

Teil    Freistaat   Anhalt 150  1500  27  71 

Teil    Freistaat    Braunschweig    ...  200  1 000  39  86 

Hamburg :    ...  1  152  415  21  369 

Oldenburg         545  6  423  194  159 

Mecklenburg    (beide) 784  15  954  317  177 

Bremen 338  257  7  132 

Lubeck 127  297  6  51 

Schaumburg-Lippe          ....     .     .  48 340 1<) 21 

Zusammen:     26  506      242 188        6434        9574 


Gebiet  B 

Teil    Provinz    Sachsen 2  077 

Teil    Hannover 1 000 

Teil   Westfalen         3  684 

Hessen-Nassau 2  452 

Rheinprovinz         .7  284 

Hohenzollern         71 

Teil    Freistaat   Sachsen    .....  3  494 

Bayern , 7  379 

Wurttemberg        2  580 

Baden 2  312 

Thiiringen         1  607 

Hessen 1347 

Teil    Braunschweig        301 

Teil    Anhalt .  200 

Zusammen:  35  788 


16  175 

488 

876 

10  000 

316 

339 

14  011 

489 

2  092 

16  671 

552 

963 

24  505 

968 

3  707 

1  142 

38 

18 

9  086 

317 

1970 

75  9% 

2583 

2  423 

19  507 

851 

1032 

15  069 

631 

916 

11765 

335 

803 

7  691 

325 

564 

1672 

59 

129 

813 

37 

95 

J24  103 

7989 

15  927 
297 

Bei  der  Beurteilung  dieser  Zif  f  ern  ist  zu  beachten,  daB  in- 
f  olge  der  leidigen  Ruckstandigkeit  dcr  deutschen  Berufs- 
statistik,  dcren  Schema  die  Berufsgruppen  „Industrie"  und 
,, Handwerk"  noch  immcr  nicht  trennt,  ein  falscher  Eindruck 
entstehen  kann;  der  namlich,  daB  auch  in  dem  Gebiet  A  die 
Anzahl  der  Berufszugehorigen  in  der  Industrie  die  der  Land- 
wirtschaft erheblich  iiberwiegt.  In  WirkUchkeit  ist  jedoch  in 
der  Zahl  von  9  574  000,  die  sich  in  dem  Gebiet  A  fiir  die  Be- 
rufszugehorigen  von  Industrie  und  Handwerk  ergibt,  eine  groBe 
Prozentziffer  solcher  Handwerker  enthalter^  deren  Tatigkeit 
allein  landwirtschaftlich  'bedingt  ist  und  die  auch  zum  guten 
Teile  mit  in  d«r  Landwirtschaft  tatig  sind  (dorfliche  Schmiede, 
Stellmacher  etcetera).  Wenn  wir  diese  nicht  auszumerzende 
Fehlerquelle  in  Kauf  nehmen  und  uns  fernerhin  vergegen- 
wartigen,  daB  nicht  weniger  als  20  Prozent  der  Industrie-  und 
Handwerksbevolkerung  des  Gebiets  A  in  Berlin  und  Hamburg 
konzentriert  sand,  also  in  gewi&sem  Sinne  einen  Sonderfall  dar- 
stellen,  so  kommen  wir  immer  noch  zu  folgenden  Anteilsziffern 
fiir  die  beiden  Gebiete: 

Gebiet  A:  Industrie  und  Handwerk  .    .  36,1  Prozent;  Landwirtschaft:  .    .  24,2  Prozent 
Gebiet  B;  „  „  .    .  44,5        ,,  „  .    .  22,3 

Diese  Ziffern  sind  freilich  fiir  die  Fortsetzung  unsrer  Ge- 
dankenreihe  nicht  von  entscheidender  Bedeutung.  Die  Tat- 
sache,  daB  im  Gebiet  A  ein  verhaltnismaBig  hoher  Prozentsatz 
industriell  Beschaftigter  und  im  Gebiet  B  ein  solcher  an  land- 
wirtschaftlich Tatigen  vorhanden  ist,  bedeutet  weder  eine  Ober- 
raschung,  noch  darf  sie  davon  ablenken,  daB  in  Deutschland  in 
absehbarer  Zukumft  das  Problem  der  Berufsumschichtung,  der 
„beruflichen  Wanderung"  in  einem  sehr  fiihlbaren  Grade  akut 
werden  wird,  Seine  Losung  muB  auf  jeden  Fall  angestrebt 
werden,  sie  ist  in  einem  Deutschland  mit  zwei  getrennten  Zoll- 
stufen  wahrscheinlich  sogar  leichter  zu  bewerkstelligen  als 
innerhalb  des  heutigen  Einheitszollsystems.  Voraussetzung  hier- 
fiir  ware  allerdirigs  eine  planmaBige  Leitung  der  Binnenwande- 
rung.  Landwirte  und  Landarbeiter  miiBten  konsequenterweise 
nach  dem  Gebiet  A,  Industriearbeiter  nach  dem  Gebiet  B  ge- 
leitet  werdent  um  auf  diese  Weise  die  Einheitlichkeit  der  wirt- 
schaftlichen  Gliederung  innerhalb  dieser  Gebiete  noch  zu  ver- 
starken. 

Wichtiger  als  derartige  Ausbiicke  scheint  aber  die  Tat- 
sache  zu  sein,  dafl  zwischen  den  beiden  Gebieten  A  und  B  ein 
wirtschaftliches  Gefalle  wahrnehmbar  ist,  welches  in  den  fol- 
genden Gegenuberstellungen  sehr  deutiich  zum  Ausdruck 
kommt; 

1.  Landwirtschaft 

Produktion  an  Getreide  und  Kartoffeln. 


Gebiet    A 


Gebiet  B 


Deuticher 

Durchscbnitta- 

verbrauch 


Ertrag  anRoggen  589lOO0t;  proKopf  210  kg 
.,  Weiren  1951 000 1;  „  „  70  kg 
„  Gerate  1708000 1;  „  „  60  kg 
„  Kafer  4911 000 1;  „  „  140  kg 
„  Kartotf.  23239000 t;    *      M     870  kg 

298 


2464000  t;  pro  Kopf  70  kU 
1 398 000  t;  „  „  40kg 
1472000 1;  „  ,  40kg 
2471000 1;  „  „  70kg 
16838000  ti     „        „  470kg 


proKopfll7kg 

m'        «         87kg 

«        «       76  kg 

,.      98  kg 

„        .,     648kg: 


Es  ergibt  sich  demnach  im  Gebiet  A  fur  Roggen  cin  Pro- 
duktionsuberschufi  von  93  Kilogramm  pro  Kopf,  ftir  Weizen 
ein  Produktionsminus  von  17  Kilogramm  pro  Kopft  fiir  Gerste 
cin  Minus  von  16  Kilogramm,  fiir  Hafer  cin  Plus  von  42  Kilo- 
gramm und  fiir  Kartoffeln  cin  Plus  von  322  Kilogramm.  Fiir 
das  Gebiet  B  lauten  die  entsprechenden  Ziffern:  Roggen 
Minus  47  Kilogramm,  Weizen  Minus  47  Kilogramm,  Gerste 
Minus  36  Kilogramm,  Hafer  Minus  28  Kilogramm,  Kartoffeln 
Minus  78  Kilogramm.  (Es  sind  hier  stets  die  amtlichen  An- 
gaben  fiir  1929  der  Berechnung  zugrunde  gelegt  worden.  Das 
Jahr  1930  bietet  bereits  ziemlich  irregulare,  durch  das  Ein- 
setzen  der  Krise  stark  beeinfluBte  Ergebnisse,)  Was  den  Wei- 
zenanbau  anlangt,  so  ist  ja  hier  eine  gewisse  Umstcllung  bereits 
im  Gange,  welche  im  Gebiet  A  die  Erreichung  des  allgemeinen 
deutschen  Verbrauchsdurchschnittcs  pro  Kopf  sehr  bald  her- 
beifiihren  diirfte.  Jedenfalls  zeigen  die  Zahlen,  daB  eine  ein- 
deutige  agrarische  Orientierung  der  Zollpolitik  fiir  das  Gebiet 
A  dem  Getreide-  und  Kartoffelbau  in  seiner  Gesamtheit  sehr 
bald  die  Ausfuhr  erheblicher  Mengen  gestatten  wiirde, 

Vichhaltung  (Bestand  vom  2.  Dezembcr  1929) 


Gebiet   A 


Gebiet 

B 

8760000  St..  . 
10975.000    „  .  . 
1129000    „   .  . 
1344000    „   .  . 
1224000    „    .  . 

.    24  St. 

30    „ 

3    „ 
3     „ 

3      n 

Rindvich:  zusammen  9272000  St.  pro  100  Einwohner  34  St- 

Schweine:  „  8986000    „      „     100  „  33    „ 

Schafe:  „  2350000    „      „     100  „  8    „ 

Ziehen:  „  1281000    „      „     100  „  4    „ 

Pferde;  „  2393000    .      »     100  .  7    „ 

Das  wirtschaftliche  ,,Gefalle"  ist  also  auch  in  der  Vieh- 
haltung  ganz  deutlich  erkennbar. 

Zum  AbschluB  der  landwirtschaftlichen  Angaben,  die  na- 
tiirlich  nur  in  ganz  groben  Ziigen  das  erforderliche  Bild  zu  ge- 
ben  vermogen,  seien  noch  die  Zahlen  aus  der  Milchwirtschaft 
angefiihrt: 

Milchproduktion 

Gebiet  A:   zusammen  11  Milliarden  Liter  =  416  Liter  pro  Kopf 

*        B:  „  10         „  „       =  279      „         „        „ 

Es  mogen  nun  einige  Berechnungen  iiber  die  wichtigsten 
industriellen  Produktionen  in  den  beiden  Gebieten  A  und  B 
folgen: 

2.  Industrie 

Steinkohlenforderung 

Deutscber 
Verbr&uchadurcbschnitt 
Gebiet  A:  zusammen  89861000  t;  pro  Kopf  der  BevDlkerung  1500  kg  ]  pro  Kopf    2258  kg 
„       Bi  „  128579000  t;     a  „  3450    , -|    «        ,        2258    . 


Roheisenerzeugung 

t ;  pro  Kopf  der  Bevolkeru 

*«       »  »  m  n 

Rohstahlgewinnung 

BevSlkemng    69  kg 

299 


Gebiet  A:  zusammen    1444579  t;  pro  Kopf  der  Bevo  Ike  rung    54  kg  I  pro  Kopf  186,4  kg 
» ■       B:  „  11956188  t;      ,        „        ,  „  334   ,     \    „        n       186,4    . 


Gebiet  A:  zusammen    1827  722  t;    pro  Kopf  der  BevSlkemng    69  kg 
,       B:  1  14418376  t;      „         ,        .  ,  403    ,. 


Das  sind  natiirlich  nur  einige  „Standardzahlen'\  Es 
wiirde  viel  zu  weit  ftihren,  walltc  man  an  dieser  Stelle  das  ge- 
samte  fur  die  Untersuchung  herangezogene  Zahlenmaterial 
ausbreiten,  abcr  sovicl  ist  aus  den  wenigen  Zahlen  doch  wohl 
ersichtlich,  daO  auch  in  der  Industrie  das  Gefalle  zwischen  den 
beiden  Zollstufen  vorhanden  ist,  nur  daB  es  in  entgegengesetz- 
ter  Richtung  verlauft  wie  in  der  Landwirtschaft. 

Ill 

Aus  diesen  Verhaltnissen  erwachst  eben  die  Interessen- 
divergenz,  deren  Uberbriickuing  sich  bisher  noch  stets  als  un- 
moglich  erwiesen  hat,  solange  man  den  Versuch  machte,  beiden 
Teilen,  der  Industrie  und  der  Landwirtschaft,  innerhalb  des  ge- 
schlossenen  deutschen  Zollraumes  gerecht  zu  werden.  Man 
teile  diesen  Raum  und  versuche  die  Landwirtschaft  des  Ge- 
bietes  A  durch  ein  Schutzzollsystem,  wie  wir  es  heute  schon 
haben,  lebensfahig  zu  erhalten  —  soweit  landwirtschaftliche 
Erzeugnisse  in  Frage  kommen,  Dagegen  ware  in  diesem  Ge- 
biet  die  Einfuhr  industrieller  Erzeugnisse  im  Prinzip  vollig 
freizugeben.  Umgekehrt  ware  im  Gebiet  B  die  Zollsperre  fiir 
landwirtschaftliche  Erzeugnisse  vollig  aufzuheben,  dagegen  der 
industrielle  Zollschutz  zu  belassen.  Die  Folge  derartiger  MaB- 
nahmen  miiBte  sein,  daB  die  Landwirtschaft  im  Gebiet  A  ihren 
Bedarf  an  industriellen  Erzeugnissen  zu  Weltmarktspreisen 
decken  konnte,  was  ihre  Wettbewerbsfahigkeit  auch  auf  dem 
fiir  landwirtschaftliche  Erzeugnisse  nur  die  Weltmarktpreise 
zahlen  den  Gebiet  B  aufierordentlich  verstarken  wiirde,  dariiber 
hinaus  aber  auch  auf  dem  iibrigen  Weltmarkt.  Umgekehrt 
wiirde  das  Gebiet  B  eine  Senkung  seiner  Lebensmittelpreise 
auf  das  Weltmarktniveau  in  einer  entsprechenden  Herab- 
driickung  des  Lohnniveaus  und  in  einer  entsprechenden  Stei- 
gerung   seiner   industriellen   Exportfahigkeit   verspuren. 

Es  sei  hieraus  gefolgert:  eine  weitgehende  Untersuchung 
der  Moglichkeiten  fiir  eine  Auf spaltung  -  der  deutschen  Zoll- 
einheit  in  der  oben  bezeichneten  Weise  scheint  angebracht  zu 
sein,  weil  auf  diesem  Wege  vielleicht  der  Ausgleich  zwischen 
den.  einander  widerstreitenden  Interessen  von  Landwirtschaft 
und  Industrie  gefunden  werden  kann.  Freilich  wiirde  die  Ver- 
wirklichumg  derartiger  Ideen  niemak  eine  „Patentlosung"  brin- 
gen,  sie  wiirde  sogar  sehr  groBe  Harten  im  Gefolge  haben 
miissen,  namlich  fiir  die  Landwirtschaft  im  Gebiet  B  und  fiir 
die  Industrie  im  Gebiet  A.  Vor  allem  wiirde  ein  so  kiinstliches 
Gebilde  wie  das  berliner  Industrie- Zentrum  hi er durch  zum 
Tode  verurteilt  werden.  Das  sind  alles  Momente,  die  eine 
etwaige  Diskussion  des  Gedankenganges,  den  ich  oben  zu  be- 
zeichnen  unternahm,  nicht  unfruchtbar  zu  machen  bra^uchen, 
Eher  diirfte  das  Gegenteil  der  Fall  sein. 

Politisch  gabe  es  gegen  die  Aufgabe  der  deutschen  Zoll- 
einheit  in  dem  angedeuteten  Sinne  ein  sehr  starkes  Gegen- 
gewicht:  die  Lander einteilung  miiBte  endlich  vers6hwinden. 
Ein  politisch  und  verwaltungstechnisch  wirklich  geeintes  Reich 
brauchte  fiir  den  Fortbestand  seiner  Einheit  eine  innerdeutsche 
'Zoll-Linie  nicht  zu  fiirchten. 

300 


Die  Kunst  als  Waffe  von  Ad  on  Behne 

F^ie  Ktinst  cine  Waffe!4' ... ,  da  ware  die  erste  Frage:  meint 
**  der  Satz,  daB  Kunst  eine  spezifische  Waffe  ist,  also  der 

Waffenwirkung  wegen  da  wie  der  Revolver . , .  oder  meint  er, 
daB  die  Kunst  zwar  eine  Sache  fiir  sich  ist,  aber  unter  Um- 
standen,  gelegentlich,  auch  als  Waffe  wirken  kann? 

Sollte  das  letztere  gemeint  sein,  so  ist  die  Antwort  ein 
klares  zweifelloses  Ja.  Viele  Beispiele  lassen  sich  nennen,  daB 
Kunstwerke  als  Waffe  gewirkt  haben.  Daumiers  Zeichnungen 
sind  eines  der  groBartigsten  Beispiele.  Ja,  wir  konnen  sagen, 
daB  ein  ganzes  machtiges  und  glorreiches  Kapitel  der  Kunst, 
die  Satire,  Waffencharakter  tragt,  und  wenn  es  eines  Beweises 
fiir  die  Moglichkeit  einer  Waffenwirkung  durch  Kunst  noch  be- 
diirfte,  ware  er  eindeutig  gegeben  durch  die  Tatsache,  daB  zu 
jeder  Zeit  die  herrschenden  Machte,  wenn  sie  sich  durch  ein 
Kunstwerk  angegriffen  fiihlten,  ihre  Gegenwaffen:  Zensur, 
Polizei,  Gericht,  Gefangnis  und  Zerstorung  des  Kunstwerkes  in 
Tatigkeit  gesetzt  haben.  Aus  ihrer  politischen  Reaktion  dur- 
fen  wir  auf  eine  vorangegangene  politische  Aktion  schlieBen. 

Wir  wollen  die  psychologische  Frage,  ob  die  betreffenden 
Kunstwerke  vom  Urheber  selbst  immer  als  Waffe  gemeint 
waren,  zunachst  bei  Seite  lassen,  weil  hier  zunachst  nichtwich- 
tig.  1494  war  der  miBbeliebte  Herzog  Piero  aus  Florenz  ver- 
trieben  worden.  Florenz  war  wieder  Republik.  Um  dea  Sieg 
zu  feiern,  wurde  die  Bronzegruppe  der  Judith,  die  Donatello 
um  1455  fiir  den  Hof  des  Palazzo  Medici  gearbeitet  hatte,  als 
Wahrzeichen  der  wiedererlangten  Freiheit  vor  der  Signoria 
aufgestellt  . . .  ganz  unabhangig  davon,  was  etwa  Donatello 
bei  der  Arbeit  an  der  Gruppe  gemeint,  gedacht  und  empfun- 
den  hatte.  Als  Delacroix  1831  „Die  Freiheit  fiihrt  das  Volk 
auf  die  Barrikaden"  ausstellte,  wurde  er  zunachst  Ritter  der 
Ehrenlegion,  weil  die  Regierenden  noch  paktieren  mufiten.  Als 
sie  wieder  f est  im  Sattel  saBen,  versteckten  sie  das  Bild,  das 
erst  dreiunddreiBig  Jahre  spater  wieder  gezeigt  werden  durfte- 
Und  in  diesem  Falle  ist  es  unschwer  nachzuweisen,  daB  Dela- 
croix an  eine  Waffenwirkung  bei  dem  Bilde  me  gedacht  hat, 
ja,  daB  er  politisch  ganz  anders  stand  als  die  von  dem  Bilde 
Begeisterten,  daB  ihn  ein  ausschlieBlich  aesthetischer  Impetus 
getrieben  hatte. 

Aber  wie  gesagt:  diese  psychologischen  Fragen  konnen 
wir  zunachst  zuruokstellen.  Der  Beweis,  daB  so  oder  so  ge- 
meinte  Kunstwerke  als  gelegentliche  Waffe  gewirkt  haben,  ist 
einwandfrei, 

Diese  ihre  politische  Wirkung  andert  aber  nichts  an  der 
Tatsache,  daB  wir  diese  Kunstwerke  als  sozusagen  hauptamt- 
lich  aesthetische  Gebilde  ansehen  und  werten  miissen. 

Die  Anerkennung  des  Satzes  von  der  moglichen  gelegent- 
lichen  Waffenwirkung  des  Kunstwerkes  hebt  nicht  die  An- 
erkennung des  Kunstwerkes  als  eines  eignen  autonomen  asthe- 
tischen  Gebildes  auf,  so  wenig  wie  der  Briefbeschwerer  auf- 
hort,  ein  Briefbeschwerer  zu  sein,  wenn  ich  ihn  bei  einer  be- 
stimmten?  Gelegenheit,  in  der  Notwehr,  als  Waffe  benutze. 

301 


Aber  bei  jenen,  die  den  Satz  „Die  Kunst  eine  Waffe"  vor- 
nehmlich  vertreten,  ist  es  doch  anders  gemeint.  Sie  mcinen 
nicht  die  Moglichkeit  einer  nebenamtlichen  Wirkung  des 
Kunstwerkes  als  Waffe,  sondern  me  in  en  ganz  entschieden,  daB 
die  Kunst  eine  spezifische  Waffe  sei,  im  Hauptamt  und  der 
urspriinglichen  Bestimmung  nach,  und  daB  sich  ihr  Leben  nicht 
in  irgend  einer  andern  Sphare  erfiille,  sondern  nur  und  aus- 
schlieBlich  in  der  kampferischen  Sphare,  und  es  ist  nur  vollig 
iogisch,  wenn  sie  sich  mit  Heftigkeit  gegen  die  aesthetische 
Aufgabe  des  Kunstwerkes  richten,  als  einen  Zweck  auBer  der 
Waffenwirkung,  Aesthetik  ist  ihnen  Verrat  am  Wesen  der 
Kunst  als  einer  Waffe-  Dort,  wo  diese  Anschauung  ganz  zu 
Ende  gefiihrt  wird,  muB  sich  konsequenterweise  auch  der  Be- 
griff  der  kiinstlerischen  Qualitat  verfliichtigen;  denn  ist  das 
Kunstwerk  spezifisch  eine  Waife,  so  kann  das  Kriterium  seiner 
Qualitat  nur  die  Starke  des  Kampferfolges  sein,  aber  keinerlei 
aesthetische  Quantitat. 

Der  Kategorie  des  Aesthetischen  gilt  der  ganz  spezielle 
Hohn  und  HaB  der  Anhanger  dieser  Anschauung.  Nun,  es 
gibt  Aestheten  als  eine  ziemlich  unertragliche  Sorte  von  Zeit- 
genossen,  als  der  Welt  und  Wirklichkeit  abgewandte  Snobisten 
der  Form,  und  die  Wendung  gegen  sie  ist  berechtigt  und  uns 
natiirlich.  Aber  der  MiBbrauch,  den  diese  Schwachlinge  mit 
dem  Aesthetischen  treiben,  kann  doch  nicht  veranlassen,  die 
Existenz  der  aesthetischen  Phanome  zu  leugnen,  Diese  aesthe- 
tischen Phanome,  die  der  Aesthet  egoistisch  ausbeutet, 
obwohl  sie  ihrem  Wesen  nach  durchaus  soziale  Phanomene 
sind,  und  die  der  Aesthetiker  wissenschaftlich  objektiv  er- 
forscht,  diese  aesthetischen  Phanomene  sind  als  Naturerschei- 
nungen  einfach  dat  auch  wenn  ich  sie  hundert  Mai  am  Tage 
verbanne,  streiche  und  negiere.  DaB  Rot  anders  auf  mich  wirkt 
als  Blau,  als  Schwarz;  em  hoher  Ton  anders  als  ein  tiefer;  ein 
heller  Raum  anders  als  ein  dunkler;  ein  Song  anders  als  ein 
Choral,  —  das  kann  doch  nur  ein  Narr  leugnen,  und  alles 
Leugnen  wiirde  ihm  nichts  helfen,     Es  ist  so. 

Selbstverstand'lich:  eine  erneuerte  befreite  Wissenschaft 
kann  diese  Phanomene  vielleicht  anders  deuten  als  eine  friihere 
Wissenschaft;  auch  das  andert  nichts  daran,  daB  diese  Phano- 
mene existieren,  daB  wir  sie  unter  dem  Namen  „aesthetische 
Phanomene"  zusammenfassen,  und  daB  eine  Wissenschaft,  die 
sie  uns  vollig  neu  deutet,  eben  eine  neue  Aesthetik  sein  wird, 
auch  wenn  sie  sich  vielleicht  anders  nennt,  aber  doch  dem 
Wesen  nach  Aesthetik. 

Es  ware  wirklich  nicht  schwer  nachzuweisen,  daB  der 
wildeste  und  feindseligste  Negierer  des  Aesthetischen  immer 
wieder  ganz  unhewuBt  aesthetischen  Einwirkungen  unterliegt, 
in  der  Wahl  der  Zigarette,  in  der  Wahl  des  Ladens,  in  dem  er 
sie  kauft,  in  der  Entscheidung,  ob  er  zu  FuB  geht  oder  mit  der 
Bahn  fahrt,  ob  er  auf  ein  Kinoplakat  reagiert  oder  nicht  —  in 
alle  solche  Entscheidungen  mischen  sich  mehr  oder  minder 
stark  aesthetische  Machte  ein,  ganz  unabhangig  davon,  ob  ich 
die  Erklarung  der  Zusammenhange  mechanistisch,  idealistisch, 
psychoanalytisch  oder  sonst  wie  vornehme,  genau  so  wie    die 

302 


Katze  auf  jeden  Fall  existiert,  gleichviel,  ob  ich  sie  aus  der 
Genesis  oder  aus  einem  Sternbilde,  oder  ttber  die  nattirliche 
Zuchtwahl  Darwins  herleite. 

Woher  also  eigentlich  die  Feindschaft  der  Kunstwaffe- 
Anhanger  gegen  die  Aesthetik,  eine  Feindschaft,  die  nicht  ver- 
niinftiger  ist  als  etwa  die  Verleugnung  der  Atomgewichte  oder 
der  Fallgesetze. 

Der  Kampf,  die  schroffe  Wendung  gegen  jeden,  der  von 
Aesthetik,  auch  im  allein  wissenschaftlichen  Sinne,  auch  nur 
spricht,  ist  eine  stimmungshafte  Angelegenheit:  weil  der  aesthe- 
tische  Snob  zumeist  wohl  aus  der  Schicht  des  Adels  oder 
des  reichen  Biirgertums  kam,  identifizierte  man  nicht  nur  das 
Aesthetentum  mit  Biirgerlichkeit,  was  vielleicht  noch  einigen 
Sinn  hatte,  sondern  auch  die  Aesthetik  des  Wissenschaftlers, 
ja  iiber  d  ess  en  vielleicht  auch  noch  burgerlich  befangene  Theo- 
rien  hinaus  die  aesthetischen  Phanome  an  sich, 

Weil  man  das  Aesthetische  fur  eine  biirgerliche  Sache 
halt,  will  man  es  ausloschen,  das  heiBt:  der  die  Sentenz  „Die 
Kunst  eine  Waffe'*  vertritt,  ist  der  Gegner  des  Burgers  und  der 
biirgerlichen  Kultur. 

Was  also  scheinbar  eine  allgemein  gultige  neue  Erkennt- 
nis  ist,  die  Wendung  gegen  das  Aesthetische,  ist  in  Wahrheit 
eine  Frontaufstellung.  Weil  man  das  Aesthetische,  zu  Unrecht, 
als  Burgertum  ansieht,  und  weil  man  Gegner  des  Burgers  ist, 
verwirft  man  hohnisch  und  mit  Erbitterung  das  Aesthetische, 
unter  dem  man  sich  offenbar  nichts  andres  vorstellt,  als  das 
Schone,  Harmonische,  Mollige  und  SiiBliche,  obwohl  es  damit 
gar  nichts  zu  tun  hat,  denn  das  Grauen  ernes  Goya,  der  HaB 
eines  Daumier,  die  Tragik  eines  Zille  sind  AuBerungen  —  und 
reinere  AuBerungen!  derselben  Aesthetik, 

Aber  das  Wichtigste  ist,  daB  von  hier  aus  der  Satz  ,, Kunst 
eine  Waffe"  ein  ganz  neues  Licht  erhalt, 

Es  konnte  anfangs  scheinen,  als  sei  der  Satz  „Kunst  eine 
Waffe"  ein  zwar  aggressiver,  aber  doch  politisch  allgemein 
giiltiger  Gedanke,  in  dem  Sinne,  daB  diese  Waffe  Kunst  alien 
um  die  Herrschaft  kampfenden  Machten  zur  Verfiigung  stehe, 
so  wie  in  einem  Gewehrladen  sich  alle  eindecken  konnen,  die 
ein  Gewehr  bezahlen  konnen,  und  hinterher  konnen  sie  sich 
mit  den  Gewehren  gegenseitig  um  die  Ecke  bringen,  die  sie 
bei  ein  und  derselben  Firma  gekauft  haben. 

Nehmen  wir  zunachst  einmal  an,  der  Satz  „Kunst  eine 
Waffe"  sei  tatsachlich  in  diesem  neutralen  Sinne  gemeint,  der 
die  Waffe  Kunst  alien,  die  sie  bezahlen  konnen,  gleicherweise 
zur  Verfiigung  stellt,  so  ergabe  sich,  daB  in  einem  nachsten 
Weltkriege  alle  Machte  gegeneinander  aufler  Flugzeugen,  Gas- 
bomben,  Uriterseebooten'  und  Spionen  auch  die  Kunst  mobili- 
sieren  konnten. 

Nun^  wir  wissen,  daB  im  Kriege  jedes  Mittel  recht  ist, 
und  sehen  wir  auf  die  Jahre  von  1914  bis  1918  zuriick,  so  fin- 
den  wir  gewifi  Beispiele,  daB  die  kriegfiihrenden  Machte  zur 
Propaganda  bei  den  Neutralen  auch  die  „nationale  Kunst"  her- 
angezogen  haben.  Mit  grofiem  Geschick  haben  die  Franzosen, 
als    deutsche    Granaten   die   Kathedrale   in   Reims   traf en,   die 

303 


alten  Sympathien  der  zivilisierten  Welt  fur  ihre  Kunst  zur 
Schiirung  des  Hasscs  und  der  Verachtung  gegen  die  „Boches" 
benutzt,  so  wie  die  Deutschen  es  mit  der  heidelberger  Ruine 
machen,  die  eine  willkomiiiene  Illustration  zur  Brandmarkung 
der  „franz6sischen  Kultur  unter  Ludwig  XIV."  bietet,  dessen 
Truppen  hier  unter  Melac  wie  die  Vandalen  hausten. 

Selbstverstandlich,  in  einem  neuen  Kriege  wiirden  auch 
diese  Giftbomben  erst  ihr  groBtmogliches  Riesenformat  an- 
nehmen.  Die  Waffe  der  gegenseitigen  Verleumdung  wiirde 
nicht  verfehlen,  den  Gegner  auch  der  ruchlosesten  Kunstlosig- 
keit  und  Kunstbarbarei  zu  bezichtigen,  auch  wenn  den  Gift- 
mischern  sonst  alles  Kunstlerische  einen  Pappenstiel  wert  ist. 

Aber  wir  werden  uns  wohl  einig  sein,  daB,  wenn  die  Mili- 
tars  die  Kunst  als  Waffe  derart  benutzen,  das  mit  Kunst  gar 
nichts  zu  tun  hat.  Nicht  irgend  welche  kiinstlerischen  Mo- 
mente  verwenden  sie,  sondern  ganz  einfach  eine  der  vielen 
Arten  der  nationalistischen  Phrase.  Es  ware  ihnen  ja  ganz 
recht  und  willkommen,  wenn  alle  Kathedralen  und  Schlosser 
nicht  nur  auf  der  Gegenseite,  sondern  auch  bei  ihnen  selbst 
in  Rauch  und  Schutt  aufgingen,  weil  ja  ein  nationales 
Kunstgut  zur  Aufpeitschung  nationalistischer  Gesinnung  viel 
geeigneter  ist  im  zerstorten  als  im  unbeschadigten  Zustande; 
und  daft  sie,  wenn  man  aus  Saul  en  Kanonenrohre  machen 
konnte,  wenn  man  aus  Tiirmen  schieBen  konnte,  keine  Se- 
kunde  zogern  wiirde,  alle  erhabene,  herrliche,  einzige,  deutsche, 
franzosische,  italienische  Kunst  zu  faktischen  SchieB-,  Hieb- 
und  Stechwaffen  zu  machen,  ist  doch  auBer  Frage. 

,,Aesthetik"  scheint  uns  noch  immer  die  richtigere  Region 
fiir  Kunst  als  der  ,,Militarismus", 


Filme  im  Zeichen  der  Krise  von  Ernst  Angei 

y\  nnahme:  Einer  von  uns  hatte  nichts  gehort  von  Amerikas 
wachsenden  Wirtscbaftssorgen,  von  seinen  schwindenden 
Absatzmarkten,  von  seiner  steigenden  Arbeitsnot.  Annahme 
ferner,  dieser  zeitfremde  Zeitgenosse  lieBe  sich  die  letzten 
hach  Deutschland  gelangten  Spitzenfilme  amerikanischer  Her- 
kunft  vorfiihren:  Erzahlten  ihm  diese  Bilder  nicht  deutlicher 
von  Krampf  und  Krise,  als  es  Ziffern  und  Kurven  vermochten? 
Amerikanische-  Prosperitat:  das  war  ,,GoldrauschM  und 
der  ,, General'*,  Fairbanks  und  „Zwei  junge  Herzen\  Ameri- 
kanische Krise:  das  ist  „Monte  Carlo"  und  „Heilige  Flamme'\ 
, .Harold,  halt  dich  fest!"  und  „City-LightsM. 

Man  mag  es  bei  Chaplin  einen  Zufall  nennen,  daB  seine 
kunstlerische  Krise  mit  der  wirtschaftlichen  seines  Landes  zu- 
sammenfallt:  Auch  er  fuhlt  sich  nicht  mehr  wohl  in  seiner 
zweiten  Haut,  ist  der  Figur,  die  er  so  lange  war,  ^ntwachsen, 
entlauf  t  der  Form,  die  ihn  kiinstlerisch  nicht  ntc.  ernahren 
kann:  jener  auBerlich  tumultuosen  Groteske  voll  tieterer  Be- 
deutung,  deren  Dienst  es  war,  Milieus  fiir  Chaplin,  Partner  fiir 
Chaplin,  Situationen  fiir  Chaplin  zu  liefern;  deren  primitive 
Figuren  Commedia  del'arte   spielten,    deren  Raume    —    sche- 

304 


matisch  mit  Licht  vollgeknallt  —  als  Kulissen  wirkten.  Hatte 
das  Genie  Chaplin  kein  Auge  fiir  differenzierte  Photographie, 
ahnte  es  nichts  von  moderner  Filmarchitektur?  Man  erzahlt 
sich,  daB  ein  neuengagierter  ausgezeichneter  Architckt,  der 
es  unternommen  hatte,  einen  bessern  Stil  in  die  Chaplinschen 
Filmbauten  zu  bringen,  kurzerhand  gekiindigt  wurde.  ffIch 
kann  Sie  nicht  brauchen",  habe  Chaplin  dem  Bestiirzten  er- 
offnet.  „Sie  sind  ein  zu  guter  Architekt!"  Ja,  diese  Unvoll- 
kommenheit  war  bewuBter  Stil,  und  mit  ihm  eng  verbunden  die 
Begrenzung  des  Umf  angs,  die  Beschrankung  in  der  Meterzahl, 
die  noch  nicht  gehalten  war,  den  „Abend  zu  Hillen  \ 

Schon  seit  „The  Kid"  zerrt  Chaplin  an  seiner  alten  Aus- 
drucksform,  „ City-Lights"  ist  ihr  —  in  vielen  Phasen  noch 
groBartiges  —  Sterbeprodukt.  Die  gestreckte  Groteske,  die 
noch  kein  dramatischer  Film  ist,  klafft  in  ihren  Teilen  aus- 
einander.  Chaplin  setzt  an  zu  moderner  Aufnahmetechnik, 
Chaplin  spiel t  in  gehaltenen  GroBaufnahmen;  Element e  von 
morgen  sprengen  die  gestrige  Form.  Zwei  Jahre  Zogern  und 
Zweifeln  haben  den  Film  auseinandergedacht.  Die  Gewichte 
haben  sich  verschoben:  was  fruher,  als  ,,Marchen",  Stil  und 
Balance  hielt,  schlagt  jetzt  spiirbar  aus  als  ,, sentimental";  was 
fruher  sprudelnder  Einfall  schien,  ist  zum  „Gag"  geworden. 
Die  Denkmals-Pointen  sind  zu  prapariert  —  der  Gully  sinkt 
und  steigt  zu  programmgemaB  —  die  geschluckte  Trillerpfeife 
trillert  zu  hauiig  —  die  Flicken  dee  Landstreichers  Chaplin 
sind  zu  bunt  gewiirfelt  —  der  Film  ist  zu  abendfullend. 

Nicht  seine  Stummheit  hat  das  Publikum  diesem  letzten 
Chaplinfilm  iibel  genommen:  es  hat  die  Krise  herausgefuhlt, 
den  Bruch  einer  alten  Form,  die  noch  nicht  neu  geformt  ist. 
Man  sieht  nicht  gern  einem  Sterben  zu  — •  grade  wenn  das  zu- 
gehorige  Le.ben  schon  und  begliickend  war. 

Einen  halben  Film  lang  einem  hingezogerten  Sterben  zu- 
zusehen,  sich  iiber  seine  komisch  gemeinten  Zuckungen  zu 
amiisieren,  — .  das  mutet  einem  der  letzte  Harald-Lloyd-Film 
zu  („Harold,  halt  dich  fest!")t  der  das  Prinzip.der  „Rettung  im 
letzten  Augenblick'1  auf  die  Spitze,  auf  die  Spitze  eines  Wol- 
kenkratzers  treibt.  An  dessen  grausamer  Fassade  fahrt  Harold 
auf  einem  lacherlichen  Materialaufzug  hoch  und  nieder,  ein 
Spielball  ahnungsloser  Hande.  Ein  paar  Dutzend  Stockwerke 
tiefer  krabbeln  BuBchens  und  Bahnleins.  Der  Aufzug  schlingert, 
schlagt  und  splittert  gegen  Mauervorsprung  und  Fensterrah- 
men  —  die  diinnen  Brettchen  biegen  sich  bedenklich  —  hun- 
dertmal  scheint  Harold  zu  wanken,  zu  kippen,  zu  stiirzen  — 
hundertmal  ergaunert  er  sich  das  schon  verspielte  Gleichge- 
wicht  zuriick.  Dumme  Stiefel  treten  den  Kopf  des  hilflos 
Turnenden,  fallende  Fenster  klemmen  seine  klammernden 
Hande  —  so  tief  schlaft  kein  sadistischer  Trieb,  daB  er  da 
nicht  wachgekitzelt  wurde!  Und  wenn  man  hundertmal  weiB, 
daB  die  Gefahr  keine  ist,  daB  nur  photographischer  Trick 
dieses  unwahrscheinlich  uberzogene  Risiko  vortauscht  —  um 
so  schlimmer!  Hier  jongliert  die  Groteske  in  unfairer  Absicht 
mit  tragischen  Ballen.  Vor  diesem  durch  nichts  fundierten, 
kalt  rechnenden  Spiel  mit  dunklen  Instinkten,  vor  dieser  plan- 

305 


maBigen  Inflation  letztcr  Augenblicke,  vor  diesem  offentlichen 
MiBbrauch  des  tiefsten  und  unbegreiflichsten  Begriffs,  den 
Menschen  kennen,  trenncn  sich  wahrhaftig  die  Rassen  der  Zu- 
schauer:  Die  es  nicht  ekelt,  die  ,,niedlichen"  Dressurakte  peit- 
schenfrommer  Tiere  mitanzusehen  —  die  es  nicht  verdrieBt, 
das  tagliche  Tadesrisiko  keuchender  Artisten  gegen  Entree  zu 
kaufen  —  die  werden  auch  „Haroldf  halt  dich  festi"  komisch 
finden    und  ganz  und  gar  nicht  peinlich. 

Peinlich  ist  es  auch,  und  nicht  etwa  tragisch,  wenn  junge 
Ehemanner  durch  abscheuliche  Zuf&lle  (Flugzeugabsturz  in 
,,Die  Heilige  Flamme",  Beinbruch  in  ,,Die  Sehnsucht  jeder 
Frau")  kurz  vor  der  Hochzeit  ihrer  korperlichen  Liebesfahig- 
keit  beraubt,  erotisch  auBer  Gefecht  gesetzt  werden.  Und 
es  ist  die  gleiche  unfaire  Spannung,  die  gleiche  wohlberechnete 
Nervenprobe,  wenn  man  uns  in  diesen  beiden  Filmen  das  sinn- 
lose  Leiden  der  ausgeschalteten  Manner,  das  langwierige 
Kampfen  und  schlieBliche  Fallen  der  entbehrenden  Frauen 
rnitansehen  laBt. 

Eine  Nervenprobe  ist  es  auch,  der  uns,  trotz  leichter 
Hand,  Lubitsch  in  tfMonte  Carlo*'  unterzieht  —  eine  Ge- 
schlechtsnervenprobe.  Wie  dort  das  Sterben,  so  wird  hier  die 
andre  letzte  Konsequenz;  das  Lieben  —  mit  alien  Mitteln 
einer  hochpotenten  Artistik  durch  einen  ganzen  Film  hindurch 
hinausgeschoben.  Auch  hier  im  Anfang  ein  verhinderter  Ehe- 
mann.  Doch  welche  Kiinste  bietet  Lubitsch  auf,  den  vorent- 
haltenen  Akt  zu  rationieren! 

Wenn  die  Balz  beginnt,  nimmt  Rudolf,  der  sich  als  Friseur 
in  die  Dienste  der  Geliebten  eingeschlichen  hat,  nach  einem 
von  holden  Eindeutigkeiten  gewiirzten  Engagementsgesprach 
vor  allem  einmal  eine  raffiniert  aufgebaute  Ersatzhandlung 
vor:  damit  ihr  hairdresser  sie  „iachmannisch"  behandeln  kann, 
klagt  die  Comtesse  liber  Kopfschmerzen.  Indem  er  mit  sanf- 
ten  Finger  spitz  en  ihre  Kopfhaut  knetend  reibt,  an  den  Nerven- 
punkten  angenehm  verweilend,  absolviert  sie  alle  Stadien  von 
emporter  Weigerung  iiber  zappelndes  Widerstreben  bis  zum 
stilleri  Wonnekut  der  Hingabe . . .  Noch  eine  kurze  Nachbe- 
handlung  —  zartliche  Vibrationsmassage  des  Arms:  ((.  . .  und 
was  du  mir  tust,  ist  gutl..."  Mit  dieser  Talentprobe  hat  sich 
der  vorher  schon  gekiindigte  Friseur  wieder  voilig  legitimiert: 
„Sie  bleiben!'* 

Jetzt,  sollte  man  meinen,  steht  der  Sache  selbst  nichts 
Ernsthaftes  mehr  im  Wege?  Es  kommt  auch  ziemlich  schnell, 
umflattert  von  dreihundert  Tausend-Francs-Scheinen,  zu 
einem  praludierenden  KuB.  Aber  —  man  soil  es  sich  nicht  zu 
leicht  machen  —  diese  Liebesnacht  wird  nur  singenderweise 
durch  die  vierfach  verschlossene  Tiir  fortgesetzt,  um  am  nach- 
sten  Morgen  in  einem  kiinstlichen  Riickzieher  der  Comtesse 
zu  enden:  er  sei  in  ihren  Augen  nur  ein  Friseur,  kein  Mann! 

—  versetzt  sie  herausfordernd  dem  doch  offensichtlich  Gelieb- 
ten. Mit  Recht  fiihlt  der  sich  in  seinen  mannlichsten  Teilen 
wild  provoziert:    Er  sperrt  die  Tiir  ab,  zieht  sein  Sakko   aus 

—  Wird  er  endlich...?  Werden  sie...?  —  aber  nur,  um  in 
hoflicher     Ironie      den     Friseurmantel     anzulegen . , .      Wieder 

306 


nichts?  Oder  doch?  Herrisch  reiBt  der  Friseur  die  angenehmv 
Erschrockene  in  seine  Arme,  ktiBt  sie  erst  kirre,  tragi  dann 
die  sichtlich  Liebesbereite  zur  harrenden  Couch  —  und  ver- 
laBt  abrupt,  um  nicht  zu  sagen:  interrupt,  In  direkt  gesund^ 
heitsschadigender  Rticksichtslosigkeit  das  Schlafziramer!* 

Werden  sie  nicht  doch  noch...?  —  Unbesorgt,  sie  wer* 
den!  So  versprichts  nach  weitern  Wendungen  und  Windun* 
gen  das  happy  end  des  Films.  Hoffentlich  ist  ihnen  inzwischen 
nicht  die  Lust  vergangen,  die  man  uns  und  ihnen  so  genieBe- 
risch  aufgespart  hat. 

Man  verstehe  richtig:  Nichts  gegen  das  Motiv  vom  ver- 
schleppten  Liebesakt!  Gut  die  Halfte  aller  Weltliteratur,  be- 
sonders  der  dramatischen,  hat  sich  in  diesem  ewigen  Rahmen 
erfiillt.  Da  greifen  Charaktere,  Handlungen,  Ideen  hemmend, 
fordernd  und  verstrickend  in  die  Liebestriebe  zweier  Men* 
schen  ein . ,  .  Diese  MWiderspenstige"  aber  ist  gar  nicht  wider- 
spenstig!  Sie  ist  in  Wahrheit  von  allem  Anfang  an  entschlos- 
sen,  mit  diesem  Rudolf  baldmoglichst  zu  Bett  zu  gehen,  und 
wenn  es  Hindernisse  gibt,  so  sind  sie  nur  an  jenen  Haaren 
herbeigezogen,  die  fiir  gewohnlich  nicht  der  Friseur  zu  behan- 
deln  pflegt . .  .■  Kein  Wort  auch  gegen  den  Selbstzweck,  die 
Spanne  zwischen  Wunsch  und  Gewahrung  lustvoll  zu  dehnea 
—  doch  sollen  solche  Umwege  geschmackvoller  ohne  Zeugen 
genossen  sein. 

„Harold,  halt  dich  fest":  die  Groteske  krepiert  an  der  ge- 
blahten  Sensation.  „ Monte  Carlo";  die  Komadie  erstickt  art 
der  erotischen  Situation.  Hier  wie  dort  das  fast  tabellarisch 
auskalkulierte  Spiel  mit  letzten  Konsequenzen,  deren  ar- 
tistische  Werte  eingesetzt,  deren  Erlebnisinhalte  ausgeraucht 
sind.  Liebe.  und  Tod  errechnet  als  Kitzel  und  Spannung,  ent- 
leerte  Formen  und  verlorene  Zusammenhange,  fruchtlose 
Technik  und  tauber  Aufwand  —  sind  das  nicht  Zeichen  der1 
grofien  Krise? 

Vielleicht,  daB  das  Genie  ein  Vorrecht  hat,  sich  drei 
Schritt  abseits  der  Zeit  abzuspielen,  daB  Chaplin  sich  sein 
Sterben  und  Werden  noch  hochst  personlich  kommandiert  — 
den  iibrigen,  iiirchten  wir,  konnte  selbst  eine  neue  Konjunk- 
tur  nicht  mehr  helfen. 


Lehar  am  Klavier   von  Peter  Panter 

Cs  gibt  in  London  einige  Kinos,  deren  Programme  nur  aus 
einer  tonenden  Wochenschau  bestehen,  das  ist  recht  lustig; 
mitanzusehn.  Natiirlich  ist  dieses  Zeug  zensiert,  gesiebt,  ge- 
priift  und  noch  einmal  gepriift  —  vom  Hersteller  bis  zum  Zen- 
sor  eine  einzige  Kette  von:  ,,Pst!  Das  konnen  wir  nicht  machen!' 
Aufnahmegenehmigung  verweigert!",  und  das  interessanteste  an 
dieser  Wochenschau  ist  sicherlich  das,  was  sie  alles  nicht  und 
niemals  bringt. 

Sie  zeigt  hauptsachlich  Massen:  Feste  und  Aufziige  und 
immer  wieder  Militar  und  Flottenrevuen  in  tausend  verschied- 
nen  Aufmachungen,  Der  Steuerzahler  hat  ja'  etwas  von  seinem 

307 


Militar:  nicht  nur,  dafi  er  gratis  totgeschossen  wird,  wenn  die 
nationale  Ehre  es  erfordert,  nein,  schon  im  Frieden  ersetzt  ihm 
das  Militar  die  groBe  Oper.  Das  bekommt  man  hier  alles  zu 
sehn. 

Und  Renneii  wcrden  vorgefiihrt,  die  so  geschickt  photo- 
graphiert  sind,  daB  man  auch  vara  besten  Platz  niemals  so  viel 
und  so  gut  beobachten  konnte . . .  und  plotzlich,  mitten  in  Lon- 
don, was  war  denn  jetzt  dos?   Da  hatten  wir  den  Herrn  Lehar. 

Ein  Text  zeigt  an,  daB  er  nun  gleich  erscheinen  wird,  und 
daB  er  uns  etwas  auf  dem  Klavier  vorspielen  wird,  und'  daB  man 
auch  zugucken  konnte,  wie  er  an  einer  neuen  Operette  arbei- 
ten-  tate.  Ich  sehe  solche  unanstandigen  Sachen  fur  mein  Le- 
ben  gern,  und  vor  Aufregung  kniff  ich  mir  ins  Bein,  weil  keiner 
da  war,  den  ich  hatte  kneifen  konnen  —  und  los  gings.  Da 
war  er. 

Da  saB  also  ein  ziemlich  dicker,  gemutlicher  Mann  an 
einem  Klavier,  und  die  Wochenschau  sprach  mit  seiner  Stimme: 

„Ich  Ireie  mich,  daB  meine  Melodien  in  der  ganzen  Welt 
gespielt  werden,  und  ich  he  ere,  daB  man  mich  nun  auch  mal 
sehen  mechte  . . .  und  daher ..." 

Und  daher  spielte  er  uns  zunachst  auf  einem  sehr  maBigen 
Klimperkasten  je  ein  paar  Takte  aus  seinen  alten  Operetten, 
von  denen  ja  die  „Lustige  Witwe"  wirklich  hiibsche  Musik  ent- 
halt.  Und  dann  spielte  er  dieses,  und  dann  spielte  er  jenes, 
und  warum  soil  er  nicht,  das  ware  ja  alles  gut  und  schon.  Nun 
aber  kam  das  mit  der  neuen  Operette  —  wir  sollten  einen 
Blick  in  die  Werkstatt  des  Meisters  tun. 

In  der  Werkstatt  standen  zwei  Libre ttisten. 

Allmachtiger  Vater  im  Himmel,  der  du  die  Kasemaden  er- 
schaffen  hast  und  den  Hitler,  die  Hundewiirstchen  und 
schwarze  und  rote  Pfaiieri  und  die  fleischliche  Liebe  mit  Kom- 
pott  —  lieber  Gott,  das  hattest  du  nicht  tun  durfen!  Das  nicht. 
Aber  es  war  sehr  lehrreich. 

Die  ischler  Kurpromenade  kenne  ich  nur  in  unbevolkertem 
Zustand,  aber  jetzt  weiB  ich  endlich,  wie  die  Leute  aussehen, 
die  in  Lehars  „Friederike"  den  Satz  aufgeschrieben  haben: 
„Ja,  hier  ist  alles  in  Poesie  getaucht!"  Da  standen  die  beiden 
Taucher,  und  es  war  ganz  herrlich.  Der  eine,  der  Kleirie,  sagte 
gar  nichts,  er  stand  nur  da  und.  war  der  Textdichter.  Der 
groBere  Taucher  aber,  das  war  der,  der  die  schonen  Lieder 
schreibt,  und  eines  davon  hatte  er  auf  einem  Papier  in  der 
Hand,  und  sie  taten  so,  als  seien  sie  in  der  Werkstatt,,  das 
waren  sie  aber  nicht,  dazu  wurde  zu  wenig  gefuchtelt,  es  ging 
alles  so  ruhig  her,  und  der  Taucher  sagte  zu  Lehar:  „Spiels 
amal,  damit  wir  sehn,  obs  auch  klappt!" 

Und  Lehar  spielte,  und  der  Taucher  sang  mit . , ,  nein,  das 
ja  nun  nicht,  denn  er  konnte  nicht  singen,  und  das  kann  ja  auch 
kein  Mensch  von  ihm  verlangen,    Gott,  es  singen  so  yiele,  die 
das  nicht  konnen!    Und  er  fing  an: 
Wenn  die  Liebe  will, 
stehn  die  Sterne  still... 
aber  da   unterbrach  er  sich  und  sprach:   ,,Ich  deute  nur  an" 
und  dann  deutete  er  an: 

308 


tlUnd  die  ganze  Erde  wird  ein  Marchenland!"  —  und  Lehar 
paukte,  und  der  Kleine  stand  dabei,  und: 

„Der  Erfolg  eincr  Operctte  hangt  in  hohem  MaBe  von 
cinem  guten  Libretto  ab.  Die  Personen  des  Stuckes  miissen 
lebenswahr  gezeichnet  und  ihr  Schicksal  dem  Verstandnis  des 
Publikums  nahe  gebracht  werden.  Ich  nehme  gewohnlich  ein 
Libretto  nur  dann  an,  wenn  mich  das  Geschick  der  Heldin  des 
Stuckes  packt  tund  wenn  mich  die  Erlebnisse  des  Helden  so  ge- 
fangennehmen,  als  handele  es  sich  um  meine  eigene  Person. 
Die  Schiirzung  des  Knotens  und  dessen.Losung  muB  zwanglos 
und  in  logischem  Zusammenhang  erfolgen."  Also  sprach  Lehar, 

Es  war  sehr  erhebend.  Man  horte  ordentlich  den  Tenor, 
wie  der  das  aber  nun  hinlegen  wiirde.  Ein-  mannlicher  Kri- 
tiker  sollte  niemals  etwas  uber  Tenore  aussagen  —  wir  sind 
da  nicht  kompetent.  Wenn  die  Frauen  so  leise  zerfliefien,  weil 
der  Tenor  im  Falsett  haucht:  davon  verstehen  wir  nichts,  das 
ist  ein  physiologischer  Vorgang,  und  Manner  haben  ja  nur  ganz 
selten  einen  Uterus.  Wir  miissen  uns  bescheiden:  es  ist  dies 
eine  Art,  der  Liebe  teilhaftig  zu  werden,  die  uns  verschlos- 
sen  bleibt 

tlWarum  besitzt  nun  die  Operette  cine  weit  groBere  An- 
ziehungskraft  auf  das  Publikum  als  irgend  ein  anderes  Biihnen- 
werk?  Meiner  Meinung  nach  liegt  es  daran,  daB  die  Operette 
dem  allgemeinen  Gescnmack  am  meisten  gerecht  wird.  Die 
Oper,  das  Schauspiel,  die  Komodie,  ebenso  wie  Novelle.  oder 
Gedicht  bleiben  in  ihrer  Wirkung  auf  einen  Teil  des  Publikutms 
beschrankt.  Die  Operette  dagegen  wendet  sich  an  die  gesamte 
Bevolkerung  und  findet  iiberall  Liebhaber.  Man  hat  oft  genug 
behauptet,  daB  die  Operette  dem  seichten  Geschmack  des 
Publikums  entgegenkomme.  Trotzdem  mochte  ich  behaupten, 
daB  eine  gute  Operette  durchaus  geschmackbildend  wirken 
kann.  Dem  kultivierten  Zuschauer  schafft  sie  Anreguing  und 
Vergniigen,  wahrend  sie  andererseits  den  Geschmack  primitiver 
Naturen  zu  heben  geeignet  ist.  In  der  Operette  macht  sich  die 
Kunst  sozusagen  uber  sich  selbst  lustig.  Der  dramatische  Sinn 
lacht  uber  die  torichten  Verwicklungen  des  Lebens,  der  musi- 
kalische  Sinn  freut  sich  der  graziosen  und  spielerischen  Fliissig- 
keit  der  Melodien,  das  Auge  ergotzt  sich  an  den  prachtigen 
Kostiimen  und  den  stilvollen  Dekorationen.  Alles  in  der  Oper 
rette  dient  nur  dem  einen  Zweck,  dem  Zuschauer  eine  unge- 
triibte  Freude  zu  bereiten.  In  jedem  Menschen  schlummert, 
wie  Nietzsche  sagt,  das  groBe  Kind.  Diese  Bemerkung  trifft 
auf  jeden  Zuhorer  der  Operette,  besonders  aber  auf  die  Frau 
zu,  die  machtigste  Verbundete  der  Operette.  Sie  sieht  sich 
selbst  in  der  Primadonna  verkorpert,  von  der  Bewunderung, 
die  man  der  Heldin  entgegenbringt,  fuhlt  sie  sich  selbst  um- 
schmeichelt.  Fur  die  Frau  tragen  alle  Operetten  den  Titel: 
Wie  gefalle  ich  dem  Mann?  Aus  Musik,  Text  und  darstelle- 
rischer  Leistung  schopft  sie  neue  Kenntnis  der  Anmut  und 
Kunst  des  allewigen  Liebesspiels."    Also  sprach  Lehar. 

Dabei  klingen  alle  seine  Melodien  ganz  gleich,  es  ist  ge- 
wissermaBen  die  ewige  Melodic,  und  man  kann  sie  alle  unter- 
einander  auswechseln.  Puccini  ist  der  Verdi  des  kleinen 
Mannes,  und  Lehar  ist  dem  kleinen  Mann  sein  Puccini. 

309 


Und  dieser  Dreck  ist  international,  und  die  ausiibenden 
Kiinstler  bilden  sich  gewiB  ein,  sie  erfiillten  cine  ho  he  Kultur- 
mission,  wenn  sie  das  Zeug  in  aller  Welt  sangen.  „Denken  Sie, 
der  Mut!  Er  singt  in  England  und  nun  gar  vor  dem  Konig 
deutsch!"  Die  nationale  Ichbezogenheit  der  Deutschen  glaubt 
ja  gern,  daB  uberall  ftetwas  passiert",  wenn  sie  auftauchen;  es 
geschieht  aber  in  Wahrheit  gar  nichts,  und  in  London  kann 
einer  abessinisch,  nordchaldaisch,  deutsch  oder  hebraisch  sin- 
gen:  wenn  er  nur  gut  singt. 

Brot  und  Spiele , . .  Mit  dem  Brot  ist  es  zur  Zeit  etwas 
diinn.  Na,  da  spieln  mir  halt,  Lehar,  mein  Lehar,  wie  lieb  ich 
dich  — ! 

Alle  spielen  Blindekuh  von  AHce  Ekert-Rottiboiz 


W 


enn   wir   alles   das   wuBten,  was  wir  nicht   wissen 
Unser   Leben   ware   nochmal    so   bescheiden  . . . 


Wenn  wir  wuBten,  dafi  wir  am   12,  Dezember  19 . ,  beim  Mittagessen 

sterben    werden 
Dann  war  dieser  angesagte  Tod 
ein   Gummiknuppel,   der   standig   droht. 

Wir   werden  ausbrennen, 
Ganz  plotzlich.     Wie  unser   elektrisches   Licht , . , 
Aber  noch   konnen   wir:  leuchten  — 
Denn   wir   wissen   es   nicht, 

Wenn  wir  wiiBten,  daB  unsere  Hebe  Ehebraut  uns  zu  Neujahr 
verlassen    wird 
Wir  wurden  ihr  erstens  nichts  mehr  zu  Weihnachten  schenken 
Und  von  Anfang  an  nur  an  dies  Ende  denken, 

Sie  wird  uns   verlassen, 
Aber   noch   gehort   uns   die   Stimme,    der  Duft,   das   geliebte, 

kleine  Gesicht . . . 
Noch    konnen    wir    kiissen 
Denn  wir  wissen  es  nicht, 

Wenn  wir  wiiBten,  daB  unser  kleiner  Angestellter  uns  vom  Chefsessel 
stoBen  wird 
Wir  wurden  ihm  nicht  ganz  so  gonnerhaft  die  Schulter  klopfen 
Sondern   ihm    dafiir   den    Zugang   zum    Innenbetrieb   verstopfen, 

Er   wird   uns   stofien, 
Aber   noch   tragt  er   sein  gesichtloses   Untergebenengesicht , , ., 
Noch  konnen  wir  klopfen  — 
Denn  wir  wissen   es   nicht, 

Wenn    wir  wiifiten,    daB   unsere   kleinen   Sonne   im   August   19 , ,   zum 

frohlichen    Schlachtfest 
marschieren  werden 
Wir   wurden   wie  in  roten  Nebeln  gehn 
Und   uns   keine   Militaroper   im  Kino   besehn,  j 

Sie    werden   marschieren. 
Auf  zum  Gasmaskenball !     Pour   le   credit!     Fur   die  Pf licht! 
Aber   noch   konnen   wir   scherzen  — 
Denn   wir   wissen   es  nicht. 

Wie  praktisch,   daB  wir   nichts  von  Morgen  wissen! 
Was  wiirde  sonst  aus   unserm  festen  Schlaf? 
So   ist  man  bis  zum  Tod  ein  neugebornes   Schaf . . . 
Nichts   wissen  ist   ein   sanftes   Ruhekissen, 

310 


Bemerkungen 


Das  Verbot  des  »Aiigrifts' 

p\  er  Polizeiprasident  von  Ber- 
*^  liii  hat  das  Blattchen  des 
Herrn  Goebbets  verboien,  weil 
es  den  hanebiichenen  Schwindel 
kolportiert  hat,  das  Eisenbahn- 
attentat  von  Juterbog  ware  von 
Reichsbannerleuten  inszeniert 

worden.  Die  liberale  Presse  zollt 
diesem  Verbot  lauten  Beifall  und 
fordert  weitere  strenge  MaB- 
nahmen. 

Wir  konnen  uns  dieser  Forde- 
rung  nicht  anschliefien,  weil  sic 
an  die  Grundlagen  der  -Presse- 
freiheit  ruhrt.  Morgen  konnen 
schon  andre  Herren  regieren  als 
heute.  Die  gleichen  Verordnun- 
gen,  die  heute  einen  unbestreit- 
baren  Exzefi  ziichtigen,  konnen 
morgen  schon  eine  unbequeme 
Wahrheit  unterdriicken.  Es  gilt 
den  Anfangen  zu  ^vidersttfeben, 
mag  der  Widerstand  auch,  wie 
hier,  aus  moralischen  und  ge- 
schmacklichen  Griinden  noch  so 
schwer  fallen. 

Das  Reichsbanner  hat  als  poli- 
tische  Organisation  auf  keinen 
andern  Schutz  Anspruch  als  auf 
den  in  den  Gesetzen  vorgesehe- 
nen.  In  dieser  Zeit  sind  alle  po- 
litischen  Gruooen,  und  die  oppo- 
sitionellen  nicht  zum  wenigsteri, 
beschimpft  und  verleumdet  wor- 
den,  Es  gibt  keine  politisch  ak- 
tive  Gruppe,  die  nicht  schon  mit- 
ten  im    Streukegel   der    Schmutz- 


granaten  gestanden  hatte,  Pazi- 
fisten  werden  von  Frankreich  be- 
zahlt,  Kommunisten  von  Moskau 
—  nicht  wahr?  Der  Vorwurf,  , 
das  Reichsbanner  ware  am 
Attentat  auf  den  D-Zug  beteiligt, 
ist  nicht  intelligenter  als  der  von 
der  gesamten  berliner  Presse 
gegen  die  KPD  erhobene  Vor- 
wurf,  sie  hatte  die  Polizisten- 
morde  am  Biilow-Platz  veranstal- 
tet.  Und  doch  hat  das  Polizei- 
presidium  nicht  daran  gedacht, 
im  Interesse  der  innern  Sicher- 
heit  und  Ordnung  auch  nur  ein 
einziges  Blatt  deswegen  zu  ver- 
bieten.  Es  hatte  dann  mit  dem 
,Vorwarts'    anfangen   miissen, 

Grundsatz  muG.  bleiben:  die 
Presse  reguliert  sich  selbst !  Sie 
k  amp  ft  gegen  die  unanstandigen 
Erscheinungen  in  ihren  Reihen, 
verzichtet  dabei  aber,  das  troja- 
nische  Pferd  der  Staatsautoritat 
in  ihre  Mauern  zu  hoi  en.  Das 
ware  Selbstmord  in  einer  Zeit 
der  Ausnahmegesetze,  wo  es  dem 
Staat  nicht  so  sehr  darauf  an- 
kommt,  die  schlechte  Presse  zu 
unterdriicken  als  vielmehr  die 
Meinungsfreiheit  iiberhaupt  zu 
beschranken.  Keine  Silbe  zu- 
gunsten  des  kleinen  Goebbels, 
der  mitsamt  seinem  Walkiiren- 
chor  baldigst  nach  Nebelheim 
fahren  moge,  aber  alles  fiir  jene 
Presse,  die  heute  noch  den  Mut 
zum  freien  Worte  findet. 


lasseh  sich  leichter  I6sen  beim. Genua  einer  anregenden  Abdulla- Cigarette! 
Standard  ....  o/M.  u.  Gold  ...  .  StOdc  5  Pfg* 
Coronet  ...  m.  Gold  u.  Stroh/M  .  .  Studs  6  Pfg. 
Virginia  Nr. 7  .  .  o/M;  .  ,  -.  ...  Stuck  -  8- Pfg. 
Egyptian  Niv  16         o/M.  u.  Gold  ..        .     .     .    Stuck  10  Pfg. 

Ahctulla  -Cigarettes    geniefien    Weltruf ! 

Ahdvlla  ct  Co.  Kaifo        '       London       /       Berlin 


311 


Herr  Wichtig 

I  m  Verlag  Orell  Ftissli  in  Zurich 
*  ist  ein  kleines  Buch  von  Rolf 
Italiaander  erschienen  „So  lernte 
ich  segelfliegen'V  Der  Vcrfasser, 
ein  Sechzehnjahriger,  erzahlt  dar- 
in  von  einem  Segelf  liegerkurs, 
den  er  in  Rossitten  besucht  hat; 
ein  wenig  zu  fertig,  nicht  ganz  so 
unmittelbar,  wie  man  sich  das 
wiinschte  —  aber  im  groBen  gan- 
zen  recht  sympathisch.  Wir  erfah- 
ren  aus  dem  Biichlein  dies  und 
jenes,  auch,  dafi  es  bei  dieser  Er- 
ziehung  durch  alte  Offiziere  nun 
einmal  nicht  ohne  jene  milita- 
rische  Schroffheit  abgeht,  die  auf 
die  Betroffnen  wie  siifie  Liebko- 
sung  wirkt » , .  also  das  ist  ein 
masochistischer  Erbf ehler.  Nun 
aber  hat  das  Buch  ein  Vorwort, 
und  das  sieht  so  aus: 

Lieber  Rolf  Italiaander! 
Soeben  bin  ich  mit  dem  Manu- 
skript  Ihres  „So  lernte  ich  segel- 
fliegen"  fertig.  Das  war  mir 
eine  hocherfreuliche  Weihnachts- 
lektiire.  War  ich  doch  selbst  im 
August  dieses  Jahres  zum  ersten- 
mal  in  Rossitten  gewesen  und 
stand  noch  ganz  unter  dem  Ein- 
druck  dieser  Landschaft  und  die- 
ser Schule! 

Der  Segelflug  ist  ein  stolzes 
Zeugnis  fur  die  Leistungen  deut- 
schen Geistes  trotz  schwerster 
auBerer   Bedriickung, 

Freut  euch,  ihr  deutschen  Jun- 
gens  und  —  Madels,  an  dieser 
Schilderung  deutscher  Jugendlust 
beim  Segelflug  I 

Dominicus 

Staatsminister  a.   D, 

1.    Vorsitzender    des   Deutschen 

Luftfahrverbandes, 
Man  sieht   den  Mann:   ein  ehe- 
maliger     Kommunalbeamter,     be- 


hangt  mit  Titeln  und  einem  ewi- 
gen  Gehrock,  etwas  Grausliches. 
Frage:  Warum  ist  der  Segel- 
flug ein  stolzes  Zeugnis  deut- 
schen Geistes  trotz.  schwerster 
auBerer  Bedriickung?  Das  ist 
doch  gar  nicht  wahr.  Diese  Jun- 
gen  da  freuen  sich  an  einem 
Sport,  das  geschieht  in  jedem 
Lande,  und  es  sei  ihnen  gern 
gegonnt,  Wozu  muB  in  diese, 
wie  man  denken  sollte,  harmlose 
Betatigung  das  Gift  des  Natio- 
nalismus  hineingetragen  werden? 
Weil  in  Deutschland  keine 
Verdauungsstorung  vor  sich  geht, 
ohne  dafi  nicht  einer  dazu  brtillt: 
„Im  Felde  unbesiegt !  Trotz 
allem!  Hurra!"  Sie  bekommen 
es  sogar  fertig,  ein  Fliegerdenk- 
mal  zu  errichten,  auf  dem  diese 
Unwahrheit   prangt: 

Wir    toten    Flieger 

Blieben   Sieger 

Durch  uns  allem, 

Volk 

Fliege  wieder 

Und  du  wirst  Sieger 

Durch  dich  allein, 
Schon,  aber  falsch.  Die  toten 
Flieger  sind  j  ene,  die  abge- 
schossen,  also  unterlegen  sind  — 
was  ihnen  gewiB  nicht  zur 
Schande  gereicht.  Aber  aus  einem 
AbschuB,  den  man  im  umge- 
kehrten  Fall  als  Glorie  feiert, 
einen  Sieg  zu  konstruieren*  das 
geht  doch  wohl  nicht  an. 
.  Rossitten,  Segelflug  an  der 
Rhon.  Herr  Dominicus,  Staats- 
minister a-  D.  Verein  fur  das 
Deutschtum  im  Ausland.  Es  ist 
iiberall   dasselbe. 

Es  ist  ubelste  Wichtigmacherei, 
Nationalismus,  geistige  Auf- 
riistung  an  alien  Ecken  und  En- 
den  und  Reklame  fur  den  nach- 
sten   Krieg, 

Igncn  Wrobel 


BdYinRa 

zeigt  jedem  Menschen  und  jeder  Gruppe  den  einzig  mOglieben  Weg,  aul 
dem  Ittr  jedes  Zeitproblem  die  Losung  zu  finden  ist.  (Neue  ZurcHer  Zeitung.) 
N&heres  fiber  ihn  und  sein  Werk  sagt  die  ^infuhnmgsschrift  von  Dr.  Alfred 
Kober*8taehelia,  kostenlos  zu  beziehen  in  jeder  Buchhandlung,  sowie  vom 
Verlag :  Kober'ache  Verlagsbuchbandlung,  Basel  und  Leipzig.    Gegr.  1816. 

312 


Was  sich  auf  der  Erde  begibt, 
wenn  die  Ernte  gut  ist 

Washington,  13.  Aug.  (United 
PreB.)  In  den  Baumwollstaaten 
des  Sudens  herrscht  eine  vollige 
Panikstimmung  infolge  der  un- 
erwartet  hohen  Ernteschatzung 
des    Landwirtschaftsamtes. 

Pessimisten  rechnen  bereits 
damit,  daB  die  Baumwollpreise 
auf  den  unerhorten  Tiefstand 
von  5  Cents  pro  Pfund  herabsin- 
ken  werden.  Der  Vorschlag  des 
Landwirtschaftsamtes,  gegebenen- 
falls  ein  Drittel  der  Ernte  zu 
vernichten,  wird  als  eine  Ver- 
zweiflungsmafinahme  angesehen, 
die  schwerlich  durchfuhrbar  sein 
wiirde,  GewiB  wird  darauf  hin- 
gewiesen,  daB  die  Ernte  infolge 
schlechter  Witterung  oder  durch 
Insektenschaden  hinter  den 
Schatzungen  der  Regierung  zu- 
ruckbleiben   konnte. 

Washington,  13.  Aug.  (Wolff.) 
Das  Federal  Farm  Board  hat  den 
Gouverneuren  der  14  baumwoll- 
erzeugenden  Staaten  telegra- 
phisch  anempfohlen,  den  Pflan- 
zern  nahezulegen,  ein  Drittel  der 
bevorstehenden  Baumwollernte 
einfach  zu  vernichten.  Als  Gegen- 
dienst  verpflichtet  sich  das  Farm 
Board,  seinen  OberschuB  an 
Baumwollvorraten  ein  Jahr  lang 
zuriickzuhalten.  Der  Vorsitzende 
des  Farm  Board,  Stone,  erklarte 
in  einem  Telegramm  an  die  Gou- 
verneure;  Wenn  dieser  Vorschlag 
voll  durchgefuhrt  wird,  so  be- 
deutet  er  eine  Verminderung  der 
ges'amten  Baumwollernte  um  min- 
dcstens  vier  Millionen  Ballen 
und  eine  Einschrankung  der  Be- 
lieferung  des  diesjahrigen  Mark- 
tes  um  weitere  drei  Millionen 
Ballen. 

Washington,  13.  Aug.  (United 
PreB.)  Auf  die  Empfehlung,  ein 
Drittel  der  diesjahrigen  Baum- 
wollernte zu  vernichten,  die,  wie 


gemeldet,  das  Bundes-Landwirt- 
schaftsamt  an  die  Gouverneure 
der  14  Baumwollstaaten  drahttit, 
haben  einige  Staaten  bereits  ge- 
antwortet.  Texas  ist  bereit,  hier- 
bei  mit  dem  Bundes-Landwirt- 
schaftsamt  zusammenzuarbeiten, 
ebenso  der  Staat  Mississippi.  Der 
Staat  Louisiana  bindet  sich  in 
seiner  Antwort  nach  keiner  Seite 
hin,  wahrend  Nord-Carolina  be- 
reit ist,  mit  alien  seinen  Kraften 
mitzuarbeiten.  In  der  Antwort 
des  Staates  Florida  wird  eine 
Aufstapelung  der  Vorrate  einer 
Vernichtung  vorgezogen.  Soweit 
sich  iibersehen  lafit,  sind  die 
Baumwollpflanzer  nicht  dem  Vor- 
schlag geneigt,  jede  dritte  Reihe 
auf  den  Baumwollfeldern  einzu- 
pflugen,  statt  abzuernten.  Andrer- 
seits  daubt  man,  daB  die  Pflan- 
zer  doch  nicht  ihre  ganze  Ernte 
einbringen,  vielmehr  groBe  Men- 
gen  Baumwolle  auf  den  Feldern 
stehen  lassen  werden. 


Der  Heiiige  der  Notveiordnung 
. . .  Ich  weiB  schon,  wer  das  fer- 
tigbringt.  Wir  werden  die  Not- 
verordnung  dem  lieben  hi.  Franz 
von  Assist  in  die  Hand  geben, 
Er  wird  sie  durchs  Land  tragen 
und  sogar  noch  die  Laute  dabei 
spielen.  An  seiner  Seite  sollen 
gehen  die  hi,  Elisabeth  und  der 
hi.  Antonius.  Die  drei  kommen 
aus  den  Anfangen  des  kapitalisti- 
schen  Zeitalters  und  haben  die 
Liebe  erneuert,  als  die  Gewinn- 
sucht  anfing,  die  Menschen  har- 
ter  zu  machen.  Nichts  mehr 
brauche  ich  hier  hinzuzufugen, 
ist  doch  alles  gesagt  in  dem  einen 
Gedanken;  Die  Notverordnung 
gehort  in  die  Hand  des  hi.  Fran- 
ziskus...  Er  wird  es  schon 
schaffen. 

Pater  Muckermann  in  der 
,Essener  Volkszeitung* 


$ 


Rudolf  Arnheim:  Sfframe  von  der  Sulerle 

25  Aufsatze:  Psychoanalyse,  Negersanger,  Spiritismus,  Er- 
ziehung,  Boxkampf,  Oktoberwiese,  absolute  MalereJ,  Greta 
Garbo,  Russenfilm,  Fritz  Lang,  moderne  Moral  u.  a, 
Einleitung :  Hans  Relmann  — BUder:  Kail  hpltz.  QM  4 
Zu  beziehen  durch  Verlag  der  WeltbOhne         Wit  fct 

313 


Das  Lied  vom  Dingeldey. 

TO/os   1st   des  Deutschen  Volks- 

w  partci? 

Ich  rufe  es  in  den  Wald  und 

lausche; 
da  kommt  ein  verworrencs  Ge* 
rausche; 

Dingel-dey! 

Dingeldey! 

Die  Huhner  lachen  in  den  Stallen 
und  lassen  was  fallen,  aber  kein 

Ei; 
die  Hunde  heben  das  Bein  statt 
zu  bellen  — 
Dingel-dey! 

Dingeldey! 

Ein   altes   Weibchen   loffelt   Brei; 
der  letzte  Zahn  ist  ihm  ent- 

schwunden; 
es  mummelt   und  hat  doch   etwas 
gefunden: 

Dingel-dey! 

Dingeldey! 

Die  mit  dem  Bauch  und  mit  dem 

Schinken. 
die    fuhlen    sich    so    beherzt    und 

frei, 
wenn    sie   ihm:    Prostchen!  und: 
Wohlsein!  trinken  — 
,  Dingel-dey! 

Dingeldey! 

Die    Infantrie   und   Reiterei, 
die  ollen  Grofipensionsverzehrer, 
die   prasentieren  ihm   die   Ge- 
wehrer: 

Dingel-dey! 

Dingeldey! 


Gibt  es  ein  hoheres  Gltick  auf 

Erden 
als   so  von  all  em,   was  vorbei 
und  modrig  ist,   geliebt  zu  wer- 
den  — 

Dingel-dey! 

Dingeldey! 
Peter  Scher 

Oberfalt  auf  die  Reichsbank 

p\ie  Reichsbank  bittet  uns  mit- 
*■'  zuteilen,  daB  der  Oberfall 
auf  ihre  Filiale  in  der  Inns- 
brucker  Strafie  nicht  von  ihr  zu 
Reklamezwecken  veranstaltet 

worden  ist.  Wie  nichtig  dies  Ge- 
rede  ist,  beweist  schon  der  Urn- 
stand,  dafi  es  sich  dabei  um  mas- 
kierte  Rauber  gehandelt  hat.  Die 
Leute,  die  das  Reich  bestehlen, 
tragen  keine  Masken. 

Liebe  WeltbQhne! 

*7  war  bin  ich  kein  Burger  der 
"  Universitat,  aber  ich  komrae 
doch  manchmal  hin.  Bei  so  einer 
Gelegenheit  muBte  ich  mal  hin- 
aus.  Und  wie  uberall  die  Hitler- 
leute  bei  Bedtirfnissen  das  Be- 
dtirfnis  haben,  ihre  kernigen 
Spruche  an  die  Wand  zu  malen, 
so  auch  hier.  „Heil  Hitler",  „Hoch 
das  dritte  Reich"  etcetera.  Am 
meisten  und  am  dicksten  stand: 
„Juden  raus!"  Und  unter  jedes 
dieser  Judenspriichlein  hatte 
einer  druntergesetzt:  „Hitler  hier- 
bleiben". 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  Mr  Menschenrechtc.  Sonnabend  16.30:  Internationales  Freundschafts- 
treffen  anlafilich  der  Anwesenheit  von  Austauschschulern  aller  Nationen  im  Kaiser- 
garten  am  StdBensee. 

Hamburg 

Weltbfihnenleser.  Freitag  20.00.  Timpe,  Grindelallee  12:  Struktur  und  Konjunktur- 
krise,  Stern  uud  Dr.  Richter. 

BOcher 

Alfred  Kurella;  Mussolini  ohne  Maske.    Neuer  Deutscher  Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienvtag-.  Konfgswusterhausen  17.30;  Die  mod  erne  Franzosin  im  Leben  und  in  der 
Literatur,  Felix  Stossinger.  —  Breslau  20.30:  Querschnitt  durch  deutsche  Bauern- 
dichtung  von  Rudolf  Mirbt.  —  Leipzig  20.30:  Otto  Bernstein  liest  aus  Wielands 
Abderiteh.  —  Mittwoch.  Berlin  17.15:  Praktische  Fursorge  iiir  Jugendliche,  Kurt 
Groflmann.  —  Munchen  21,00:  Fur  Ludwig  Thoma.  -^Leipzig  21.10:  Querschnitt  durch 
bwiwig  Thoma  von  Erich  Fortner.  —  Oonnerstajr.  Berlin  18.35:  Qie  Salzburger 
Festspiele.  Herbert*  Iheririg.  —  Leipzig  19;00;  Das  welt-  und  Lebensbild , Theodore 
Dreisers  Ton  M.  Kunath.  -^-20.30:  Prometheus,  Literatur  und  Musikl  —  Freitag. 
Breslau  17.45:  Theodore  Dreiser,  Franz  Fein,  —  Berlin, 1835;  Die  neue  literarische 
SaUblt;  Gottfried  Benn.  —Sonnabend.  Berlin  19.30:  KulturliberaHsmu$,  Samuel 
Saenger  und  Herbert  Blank/ 

3» 


Antworten 

Licht  Bild  Biihne.  In  Ihrer  Ausgabe  vom  17.  August  verunzieren 
Sie  unsre  sachlich  klaren  Anschuldigungen  gegen  die  dramaturgische 
Abteilung  der  UFA  mit  torichten  Verdrehungen  und  schielen  dabei 
wohl  auf  den  grofiten  deutschen  Filminserenten,  der  Ihren  Verleger 
bereits  genugsam  am  eignen  Leibe  wie  auch  durch  publizierte  Prozefi- 
berichte  als  )(provisionellen  Zwischenverdiener"  kennen  gelernt  hat 
Abgesehen  davon,  dafi  grade  Ihnen  also  die  moralische  Berechtigung 
zu  solchen  Bemerkungen  nicht  zukommt,  haben  Sie  unsre  Ausfuhrun- 
gen  weder  richtig  gelesen  noch  verstanden.  Denn  wir  sind  seit  Be- 
stehen  unsrer  Zeitschrift  gegen  jegliche  verwerfliche  Vermittlertatig- 
keit,  kennen  aber  die  fast  traditionelle  Abneigung  der  Filmindustrie 
gegen  Originalstoffe  und  glaubten  die  Offentlichkeit  von  den  unhalt- 
baren  Zustanden  innerhalb  der  dramaturgischen  Abteilung  der  UFA 
unterrichten  zu  miissen.  Eine  Klage  der  UFA  gegen  uns  und  den 
Verfasser  des  Artikels  ist  uns  bisher  nur  aus  dem  von  Ihnen  ange- 
fiihrten  Artikel  des  ,Montag  Morgen'  bekannt.  Einem  gerichtlichen 
Vorgehen  der  UFA  sehen  wir  in  aller  Ruhe  entgegen,  waren  aber  von 
vornherein  davon  iiberzeugt,  daB  durch  den  Mund  des  offiziellen 
UFA-Organs  .Kinematograph'  bewufit  falsche  Melodien  verbreitet 
wiirden. 

Kampfkomitee  fiir  die  Freiheit  des  Schrifttums.  Sie  verbreiten 
an  die  *  Unterzeichner  Ihres  auch  hier,  in  Nummer  31,  abgedruckten 
Aufrufs  ein  Rundschreiben,  in  dem  es  unter  anderm  heiBt:  „Hin- 
gegen  sind  aus  dem  Komitee  ausgeschieden:  Doktor  Kurt  Hiller, 
Walther  Karsch  und  Doktor  Erich  Kastner,  da  sie  mit  dem  Be- 
schlufl  des  Komitees,  die  Notverordnung  gegen  Pressefreiheit  in  ihrer 
Gesamtheit  zu  bekampfen,  nicht  einverstanden  waren.  Die  genann- 
ten  Herren  wunschten,  den  ersten  Paragraphen  der  Notverordnung, 
der  den  Regierungen  das  Recht  zu  Zwangsveroffentlichungen  in  alien 
Zeitungen  einraumt,  von  der  Bekampfung  auszuschlieBen."  Hierzu 
erklaren  Kurt  Hiller,  Walther  Karsch  und  Erich  Kastner:  „Diese 
Darstellung ,  ist  von  A  bis  Z  unwahr.  Es  entspricht  nicht  den  Tat- 
sachen,  daB  wir  mit  einem  BeschluB,  die  Notverordnung  in  ihrer 
Gesamtheit  zu  bekampfen,  nicht  einverstanden  waren.  Wir  haben  uns 
nur  der  Zumutung  widersetzt,  daB  niemand  seine  im  Einzelnen  ab- 
weichende  Meinung  kundgeben  diirfe  und  daB  alle  Mitglieder  ver- 
pflichtet  sein  sollen,  die  Notverordnung  Jn  jedem  Punkt  zu  bekampfen. 
Da  wir  glauben,  daB  das  Prinzip  des  §  1  zu  billigen  ist  und 
keinen  Eingriff  in  das  Recht  der  freien  MeinungsauBerung  be- 
deutet,  man  nur  fordern  muB,  daB  die  Redaktion  auch  auf  Be- 
richtigungen  sofort  antworten  diirfe  und  daB  der  Umfang  des  un- 
entgeltlich  aufzunehmenden  Regierungstextes  begrenzt  werde  (was 
inzwischen  ja  geschehen  ist),  so  blieb  uns  nur  der  Austritt  iibrig,  da 
wir  uns  dem  Gewissenszwang  nicht  beugen  wollten,  ein  Prinzip  zu 
bekampfen,  das  wir  fiir  richtig  halten.  Vor  allem  aber  ist  es  un- 
wahr, daB  wir  wunschten,  den  ersten  Paragraphen  von  der  Bekamp- 
fung auszuschlieBen.  Es  ist  uns  gar  nicht  eingefallen,  unsrerseits 
auf  irgendjemanden  einen  Gewissenszwang  auszuuben.  Wir  wollten 
niemanden  in  seiner  Agitation  gegen  den  ersten  Paragraphen  behin- 
dern,  nur  verlangten  wir  fiir  uns  das  Recht,  unsre  abweichende  Mei- 
nung kundzutun.  Ware  nicht  bei  der  kommunistischen  Mehrheit 
der  Teilnehmer  jener  Sitzung  die  Tendenz  deutlich  spiirbar  gewesen, 
uns  das  Mitarbeiten  zu  erschweren,  wenn  nicht  uberhaupt  un- 
moglich  zu  machen,  so  hatte  man  sich  einigen  konnen,  um  so  mehr, 
als  wir  unsern  Kampf  in  erster  Linie  gegen  den  Paragraphen  2  der 
Notverordnung  zu  richten  haben,  der  bestimmt,  daB  Druckschriften 
beschlagnahmt,  eingezogen  und,  falls  es  periodische  sind,  bis  zu  sechs 
Monaten  verboten  werden  konnen,   ,wenn  durch  ihren   Inhalt  die  6f- 

315 


fentliche  Sicherheit  und  Ordnung  gefahrdet  sind\  Dafl  einige  dcr 
Mitglieder  sogar  der  Ansicht  waren,  man  miisse  in  erster  Linie  den 
Paragraphen  1  bekampfen,  zeigte  uns,  wiees  mit  dem  Willen  dieser 
Mitglieder  bestellt  ist,  iiber  das  blofie  Protestgeschrei  hinaus  dem 
AusschuB  eine  so  breite  Basis  zu  geben,  dafi  die  Verwirklichung 
unsrer  Forderungen  aussichtsvoll  erscheint.  Wir  hatten  vor,  die 
Tatsache  unsres  Austriits  nicht  offentlich  bekanntzugeben.  Die  Un- 
wahrheiten,  die  der  AusschuB  verbreitet  hat,  zwingen  uns  leider,  sie 
in  aller  Offentlichkeit  zu  berichtigen,  besonders  da  die  Zusage  eines 
Komiteemitgliedes,  eine  Gegenerklarung  von  uns  an  die  Empfanger 
jenes  Briefes  zu  verbreiten,  vom  Komitee  nicht  erfullt  wurde.  Das 
Komitee  hat  einen  Brief  Walther  Karschs  an  dieses  Mitglied  und  die 
darin  enthaltenc  Erklarung  in  einem  den  Kern  der  Sache  nicht  be- 
riihrenden  Schreiben  beantwortet  und  stellt  in  Aussicht,  ,mit  dieser 
Angelegenheit,  die  zur  Klarung  der  Frage,  was  eigentlich  Kampf  der 
Fortschrittlichen  gegen  Reaktion  bedeute,  vor  die  Offentlichkeit  zu 
treten*.     Wir  sehen  diesem  Schritt  mit  Fassung  entgegen." 

Fritz  Goldenring.  Sie  schreiben:  „Unser  hoher  Reichsfinanzhof 
hat  es  nicht  leicht.  Da  klagte  vor  einiger  Zeit  ein  Monchsorden 
auf  Steuerbefreiung.  Die  Monche  wollten  als  ,Berufsverband'  an- 
gesehn  werden.  Aber  der  Reichsfinanzhof  wies  sie  ab.  In  der  Ur- 
teilsbegrundung  definierte  der  Richter  den  Begriff  ,Beruf.  Und  da 
liest  man  nun  restlos  entzuckt:  fBeruf  ist  die  Hingabe  einer  physi- 
schen  Person  an  ein  Tatigkeitsfeld,  das  sich  als  eine  Funktion  im 
Leben  des  Gesamtorganismus  darstellt.'  (Urt.  IL  A  490/30.)  Also 
zitiert  in  einer  der  letzten  Nummern  der  ,Deutschen  Juristen-Zeitung'." 
Merkwiirdig,  wie  der  hohe  Reichsfinanzhof  in  die  Diktion  des  Herrn 
Professors   Vandervelde   gerat. 

Leo  Monosson*  Sie  erwidern  auf  die  vvon  Herbert  Connor  in 
Heft  28  aufgestellte  Behauptung:  „Es  erscheint  demnachst  ein  Schla- 
ger,  der  zwar  von  Rillo  textiert  ist,  dessen  Schlagzeile  ,Wenn  meine 
Olle  verreist  ist*  aber  vom  Rundfunksanger  Leo  Monosson  stammt"  — : 
,,ein  so  betitelter1  Schlager  erscheint  gar  nicht,  Richard  Rillo  hat  nie 
so  einen  Schlager  textiert,  die  Schlagzeile  ist  tatsachlich  von  mir, 
aber  auch  nicht  nur  die  Schlagzeile,  sondern  der  ganze  Schlagertext, 
den  ich  dem  Komponisten  Otto  Stransky  neulich  zur  Vertonung 
iiberlassen  habe."  Fur  die  Berechtigung,  dafi  der  Schlagzeilen-Ver- 
fasser  an  dem  betreffenden  Schlager  beteiligt  werden  musse,  fuhren 
Sie  an,  dafi  die  Schlagzeile  zumeist  entscheidend  fiir  den  Erfolg 
des  Schlagers  ist.  Es  konne  also  keine  Rede  davon  sein,  dafi  die 
Schlagersanger  durch  Oberlassung  eines  Anteils  an  den  Auffiihrungs- 
rechten  bestochen  werden.  Unsre  Stellung  zu  der  ganzen  Angelegen- 
heit finden  Sie  in  einer  Antwort  „Rundfunkh6rer"  aus  der  vorigen 
Nummer. 

Kleist-Verlag,  Berlin  W  62,  Courbierestr.  12.  Sie  beabsichtigen, 
einen  Novellenband  von  Franz  Hammel  „Die  schwarzen  Gitter"  heraus- 
zugeben,  der  die  Schicksalc  von  Fiirsorgezoglingen,  Straflingen  und 
Zuchthauslern  schildert.  Franz  Hammel  war  mehrere  Jahre  Fiirsorger 
in  Strafanstalten.  Um  die  Herausgabe  des  Bandes  iiberhaupt  zu  er- 
mdglichen,  rufen  Sie  zur  Subskription  auf.  Der  Subskriptionspreis  be- 
tragt  1,80  Mark. 

Manuskripte  sind  nut  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlotlenbuix  (Cantstr.  152,  zu 
rich  tea:  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruekporto  beizu'egen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgeo  kann. 
Das  Auf f Uhr unjf  srecht,  die  Verwertung  von  Titelnu.  Text  im  Rahtnen  dei  Films,  die  muitik- 
mechanische  Wiedergabe  ailer  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radio v or tragen 
bleiben    fttr   alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdrttcklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  beg'undet  von  Siegfried  jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
untei   Mitwirkung    von  Kurt   Tucholsky   geleitet   —   Verantwortlich.    Carl  v.  Ossietzky.    Berlin; 

Verlag  det  Weltbuhne,  Siegfried    lacobsohn  &  Co.,  Char lotten burg. 

Telephone    CI,  Steinplatz  7757    -  PosUchecfckonto-   Berlin  119  5a 
Bankkonto      Darmstadler    u.    Nationalbank,       Depositenkasse     Chariot  teuburg.     Kaotsb.     11? 


XXVIL  Jahrgang  1.  September  1931  Nmnmer  35 


Am  rUflden  TlSCh  von  Carl  v.  Ossietzky 

7ur  Beurteilung  der  letzten  englischen  Regierungskrise  und 
ihrer  provisorkchen  Losung  reichen  dcutsche  MaBstabe 
nicht  aus.  Westminster  und  RepubJik-Platz,  Downing  Street 
und  Wilhelm-StraBe,  d'a  laBt  sich  keine  geistige  Linie  Ziehen, 
so  gern  auch  unsre  Politiker  englischen  Schnitt  tragen  moch- 
ten.  Hier:  langgewalzte  Krisen,  kiihle  MiBachtung  der  Ver- 
fassung,  Diktatur  der  Bureaukratie.  Drxiben:  schnelle  prak- 
tische  Losungen,  strenge  Beachtung  der  durch  Gesetz  und 
Oberlieferung  geheiligten  Formen,  Bei  uns:  Verschweigen  von 
Gefahren,  Optimismus  erste  Biirgerpflicht.  Jenseits  des  Kanals: 
schonungslose  Aufdeckung  der  politischen  und  wirtschaftlichen 
Wahrheit,  ja  starke  Obertreibung,  urn  materielle  und  geistige 
Widerstandskrafte  zu  wecken.  Der  Labourpremier  wendet  sich 
hilfesuchend  an  den  Oppositionsfiihrer,  der  sich  ohne  strangu- 
lierende  Bedingungen  zur  Mitarbeit  bereit  findet.  Zwar  trennt 
ihn  dieser  Schritt  von  seiner  eignen  Partei.  Aber  er  nennt  die 
Genossen  von  gestern  nicht  ,,schlechte  Patrioten",  weil  sie  ihm 
nicht  mehr  zu  folgen  vermogen,  und  sie  selbst,  die  ihn  der 
ernstesten  Parteigefahrdung  zeihen,  schelten  ihn  deswegen 
nicht  MSozialverrater"  oder  ,,Renegat",  Eine  niichterne  und 
saubere  Abwicklung  unter  Beachtung  oft  erprobter 
Spielregeln,  Man  gibt  der  Politik  viel,  aber  nicht  mehr 
als  ihr  zukommt.  Man  packt  ihr  keine  Weltanschauung, 
kein  zweifelhaftes  Philosophem  auf;  kein  Fanatismus  lodert- 
Auf  Anstandigkeit  der  Haltung,  die  auBerste  Anspannung  aller 
Energien  nicht  zu  beeintrachtigen  braucht,  wird  mehr  Wert 
gelegt  als  auf  Prinzipien  oder  auf  das  BewuBtsein,  der  bessere 
Mensch  zu  sein.  So  hat  England  den  Krieg  gewonnen,  so  tritt 
es  in  den  Kampf  gegen  den  groBten  Gegner,  den  seine  Macht 
bisher  gefunden  hat,  gegen  die  Weltkrise  der  Wirtschaft. 

Nachdem  man  dies  mit  dem  Neid  des  Fernwohnenden  und 
an  schlechtere  politische  Formen  Gewohnten  gern  konstatiert 
hat,  mufi  man  leider  zur  Sache  sagen,  daB  James  Ramsay 
MacDonald  und  Philip  Snowden  einen  verhangnisvollen  Weg 
eingeschlagen  haben,  indem  sie  in  der  Kapitulation  vor  der  City 
und  den  amerikanischen  Bankiers  die  einzige  Rettung  sahen. 
Es  ware  verfehlt,  ihnen  personlichen  Ehrgeiz  zu  unterschie- 
ben,  Festhalten  an  Ministersesseln,  die  ihnen  nicht  mehr  ge- 
horen.  Beide  haben  nicht  nur  im  Krieg,  als  sie  in  scharfster 
Opposition  standen  und  alle  Konsequenzen  trugen,  ihre  Makel- 
losigkeit  bewiesen.  Aber  beide  teilen  mit  den  meisten  sozial- 
demokratischen  Fiihrern  von  heute  den  Unglauben  in  die  Be- 
deutung  proletarischer  Aktionen.  Wo  Kapitalismus  und  Ar- 
beiterschaft  im  Interessenkampfe  zusammenstoBen,  da  muB  die 
Arbeiterschaft  der  schwachere  Teil  sein  und  nachgeben,  Auch. 
die  engiische  Sanierung  soil  auf  Kosten  der  Arbeiterschaft 
geschehen,  und  dabei  ist  noch  gar  nicht  sicher,  ob  diese  Sa- 
nierung mit  den  Mitteln  eines  iiberalterten  und  nicht  mehr 
schopfungskraftigen    Kapitalismus    auch   gelingen    wird.       Das 

1  317 


Opfer  der  Arbeiterschaft  diirfte  also  wahrscheinlich  ganz  um- 
sonst  dargebracht  werden. 

Dabei  ist  durchaus  zu  verstchcn,  daB  MacDonald  sich  von 
seinem  Amt  nur  schwer  trennen  mochte,  denn  er  hatte  meh- 
rere  gut  angefangene  Arbciten  Hegen  lassen  miissen.  So  wenig 
erfolgreich  die  Wirtschaftspolitik  seines  Kabinetts  auch  ge- 
wesen  sein  mag,  so  tief  hat  er  sich  doch  als  AuBenpolitiker 
in  das  Gedachtnis  der  Welt  eingeschrieben.  Wir  haben  die 
AuBenpolitik  des  Labour-Kabinetts  oft  scharf  kritisiert  und 
Deutschland  vor  Illusionen  dariiber  gewarnt.  Aber  unbestreit- 
bar  ist  auch,  daB  MacDonald  in  die  AuBenpolitik,  wo  sich  ja 
nicht  grade  frischeste  Jugend  zu  tummeln  pflegt,  neues  Blut 
und  neue  Methoden  gebracht  hat.  Er  hat  die  AuBenpolitik 
wieder  aktiv  gemacht,  er  hat  die  Escarpins  der  Diplomaten 
durch  solide  StraBenschuhe  ersetzt,  er  hat  das  geheimnisvolle 
Getue  der  Routinierten  durch  direkte  Aussprache  abgelost.  Und 
selbst,  wo  es  hart  auf  hart  ging,  wie  bei  dem  haager  Rede- 
duell  zwischen  Snowden  und  Cheron,  muBte  man  sagen,  daB 
es  besser  ist,  sich  Gift  und  Galle  von  der  Seele  zu  reden,  an- 
statt  mit  hoflicher  Miene  einen  ungelosten  haBlichen  Rest  wei- 
terzuschleppen.  Das  andre  nicht  zu  Ende  gefiihrte  Werk  ist 
der  Ausgleich  mit  Indien,  der  mit  der  Round- Table-Konferenz 
begonnen  hat.  Bei  diesem  Unternehmen,  das  zunachst  unter 
schlechten  Sternen  stand,  haf  sich  MacDonald  am  besten  be- 
wahrt,  und  er  mag  sich  sagen,  daB  er  zur  Fortftihrung  geeig- 
neter  ist  als  selbst  ein  so  konzilianter  konservativer  Premier- 
minister  wie  Stanley  Baldwin.  Mit  Riicksicht  auf  die  indische 
Frage  ist  wohl  auch  der  Lordkanzler  Sankey  im  Kabinett  ge- 
blieben,  der  bei  den  Verhandlungen  einen  iiberlegenen  Geist 
bewiesen  hat.  Dieser  unerwartet  gute  Ausgang  der  ersten 
Konferenz  mit  den  indischen  Vertretern  mag  in  MacDonald 
die  Vorstellung  erweckt  haben,  daB  sich  alles  am  besten  am 
runden  Tisch  regeln  lafit.  Auch  die  Finanzkrise,  auch  die  in- 
nere  Politik.  So  spielte  er  in  dem  Augenblick,  wo  nach  Men- 
schendenken  seine  Herrschaft  abgelaufen  schien,  die  Karte 
des  Konzentrationskabinetts  aus.  Und  so  sieht  heute  die  ganze 
Welt  etwas  erstaunt  auf  eine  englische  Regierung,  in  der  samt- 
liche  Parteifuhrer  sitzen.  Diese  Regierung  hat  ihr  eignes  Da- 
sein  nur  kurz  befristet.  Sie  will  nur  das  Budget  in  Ordnung 
bring  en  und  dann  Neuwahlen  ausschreiben.  Und  dann  soil 
wieder  eine  Partei  die  ganze  Verantwortung  ubernehmen. 

Fur  das  wirtschaftspolitische  Versagen  der  Labourists 
kommt  mildernd  in  Betracht,  daB  sie  im  Parlament  keine  abso- 
lute Majoritat  hatten,  sondern  auf  die  Unterstiitzung  der  Libe- 
ralen  angewiesen  waren.  Sie  konnten  also  keine  eigne  Idee  ent- 
wickeln,  und  MacDonald  war  nicht  ganz  im  Unrecht,  als  er  die 
Verantwortung  fur  das  Defizit  von  120  Millionen  auch  auf  die 
Schultern  der  andern  Parteien  legte.  Der  Bericht  der  Spar- 
kommission,  die  alles  in  Ordnung  bringen  sollte,  hatte  ein 
arges  Dilemma  geschaffen.  Zwei  Vorschlage  standen  sich  ge- 
genuber.  Der  eine  forderte  eine  Kiirzung  der  Arbeitslosenbei- 
trage,  der  andre  einen  zehnprozentigen  Zollzuschlag  auf  alle 
eingefiihrten    Waren.      Gegen    den   ersten   Punkt    standen    die 

318 


Gewerkschaften,  gegen  den  zweiten  die  liberalen  Freihandler. 
So  war  also  eine  Einigung  nicht  zu  erzielen,  und  der  Premier- 
minister  wagte  vor  einem  unausgeglichenen  Budget,  mitten  in 
einer  internationalen  Kapitalkrise  keine  Neuwahlen  zu  ver- 
anstalten. 

Vielleicht  ware  trotzdem  manches  anders  gekommen,  wenn 
in  diesen  kritischen  Wochen  nicht  Lloyd  George,  der  wirklich 
konstruktive  Kopf,  auf  den  Tod  krank  niedergelegen  hatte. 
Die  Sozialisten  MacDonald  und  Snowden  haben  sich  dem  Dik- 
tat der  City  bedingungslos  unterworfen,  Lloyd  George,  der 
alte  Liberale  mit  dem  echt  revolutionaren  Temperament,  dem 
England  seine  Sozialpolitik  verdankt  und  der  erst  kiirzlich  den 
Citybankiers  ihre  Riickstandigkeit  und  Selbstzufriedenheit  in 
hartesten  Worten  vorgeworfen  hat,  ware  wohl  imstande  ge- 
wesen,  eine  Losurig  zu  finden,  die  weniger  auf  Kosten  der  brei- 
ten  Massen  erfoigt  ware.  Denn  er  hat  oft  genug  die  Fahigkeit 
bewiesen,  seinen  Willen  durchzusetzen.  Und  grade  in  den  letz- 
ten  beiden  Jahren  hat  Lloyd  George  im  Parlament  wiederholt 
den  sturmischen  Beifall  der  Labourfraktion  gefunden,  nicht 
grade  zur  Freude  MacDonalds. 


England  hat  also  jetzt  seine  ,,nationale  Regierung",  eine 
Tatsache,  deren  Ausstrahlungen  unbestreitbar  sind.  Auch  Hu- 
genberg  und  Hitler  begreifen  das,  und  die  .Deutsche  All- 
gemeine  Zeitung'  dringt  schon  darauf,  das  englische  Beispiel 
nachzuahmen.  Leon  Blum  wirft  im  .Populaire'  seinem  Ge- 
nossen  MacDonald  vor.  er  habe  die  Reaktion  der  ganzen  Welt 
ermuntert  und  damit  urinennbaren  Schaden  angerichtet. 
Wir  glauben,  er  hat  nicht  nur  der  politischen  Reaktion 
ein  Zeichen  gegebenf  er  hat  vor  allem  die  Sozialreaktion  ge- 
starkt.  Indem  die  machtige  englische  Regierung  unters  Joch 
der  amerikanischen  Bankiers  ging,  die  fiir  ihre  Kredithilfe  die 
Herabminderung  der  Arbeitslosenbeitrage  verlangtent  hat  sie 
dem  Dunkel  des  innerlich  so  ratios  gewordenen  kapitalistischen 
Systems  einen  gewaltigen  Triumph  verschafft.  Oberall  wird 
jetzt  gegen  die  nirgends  liberreich  dotierte  Sozialpolitik  Sturm 
gelaufen  werden,  als  ob  diese  paar  Millionen  im  Budget  fiir  die 
krisenhafte  Hemmung  im  kapitalistischen  Organismus  verant- 
wortlich  waren. 

Es  gibt  aber  noch  ein  andres  weniger  niederschlagendes 
Beispiel,  und  das  ist  die  f este  und  aff ektlose  Art,  in  der  Labour 
Party  und  Trade  Unions  die  Trennung  von  ihrem  beriihmten 
und  schon  historisch  gewordenen  Fiihrer  vollziehen.  Das  ist 
ein  Vorgang  ohne  gleichen.  Man  vergleiche  das  mit 
Auseinandersetzungen  in  deutschen  Parteien.  Es  gibt  kein 
Spaltungsgeschrei  und  nicht  mal  eine  nennenswerte  Spal- 
tung.  Partei  und  Gewerkschaften  notifizieren  Herrn 
MacDonald  ganz  einfach,  daB  sie  ihn  fiir  einen  Staats- 
mann  voll  bester  Eigenschaften  halten,  daB  sie  aber 
nicht,  imstande  sind,  sich  mit  ihm  an  den  runden  Tisch 
zu  setzen,  wo  Arbeiterinteressen  verhandelt  werden.  Es 
ware  vergebliches  Bemiihen,  aus  den  scheidenden   Kabinetts- 

319 


ministern  Radikale  zu  machen.  Clynes  und  Henderson  sind 
nicht  revolutionarer  als  Leipart  oderWels.  Aber  sie  haben  die 
bescheidene  Wahrheit  nicht  vergessen,  daB  Arbeitervertreter 
vor  a  11  em  Arbeiterinteressen  wahrzunehmen  haben.  Unsre 
grofien  sozialdemokratischen  Ftihrer  dagegen  fiihlen  sich  immer 
Mim  Dienste  der  ganzen  Nation".  Die  englische  Arbeiterschaft 
steht  wahrhaftig  nicht  mit  dem  Klassenkampf  auf  du  und  ist 
hoffnungslos  unmarxistisch,  aber  sie  lehnt  es  ab,  fur  hochpoli- 
tische  Extratouren  ihrer  Vertrauensmanner  an  ihrem  Magen 
gestraft  zu  werden.  Dann  spielt  sie  eben  nicht  mehr  mit.  Diese 
besondere  Seite  der  letzten  englischen  Ereignisse  sei  unsern 
sozialdemokratischen  Mitbiirgern  zum  eingehenden  Nachdenken 
uberlassen. 


BethlenS  GlUCk  Und  Ende   von  B6la  Menczer 

F^as  Jubilaum  seines  groBten  Erfolges  war  ihm  nicht  ge- 
*^  gonnt.  Im  Oktober  wird  es  zehn  Jahre  her  sein,  daB  er  durch 
ein  offentliches  Bekenntnis  zur  Legitimist  Karl  von  Habsburg 
nach  Ungarn  gelockt  und  dann  bei  Budaoers  beseitigt  hat, 
um  die  Herrschaft  des  schwarzgelben  tfberbleibsels  in  Buda- 
pest weiter  zu  sichern.  Der  Teufel,  der  nach  ungarischer  Auf- 
fassung  in  Prag  wohnt  und  den  Namen  Eduard  Benesch  tragt, 
war  damals  eben  imstande,  das  nach  dem  Sturze  Bela  Kuns 
auf  erst  and  ene  Alt-Ungarn  zu  holen.  Die  Auslieierung  Karls 
an  die  Entente  und  die  rasche  Kodifizierung  des  Verlustes 
habsburgischer  Rechte  auf  Ungarns  Thron  hat  die  Gespenster- 
herrschaft  von  K.  u.  K.  gerettet.  Ungarn  ist  Konigreich  ohne 
Konig  geblieben,  der  Konig  regierte  weiter  als  moralische 
Person,  wahrend  man  seine  physische  Person  nach  Madeira 
geschickt  hat.  Dies  war  Bethlens  Werk,  dies  war  Bethlens 
Verrat  von  1921.  Nun  ist  er  1931  gestiirzt  als  verratener 
Verrater. 

Was  ist  denn  geschehen?  Die  Legende  macht  sich  breit, 
Frankreichs  Wille  hatte  gesiegt,  die  AnschluBgeiahr  und  die 
Zollunion  hatten  Briand  bewogen,  die  habsburgische  Mon- 
archic in  Budapest  und  in  Wien  zu  restaurieren.  Das  ge- 
ririgste  Verstandnis  fiir  franzosische  Politik  geniigt,  um  die  Un- 
moglichkeit  dieser  Konstruktion  darzutun.  Das  Prinzip  quieta 
non  movere  kann  man  in  der  Politik  des  Siegers  fragwurdig 
linden.  Es  bleibt  zweifelhaft;  ob  die  Beibehaltung  alles 
Bestehenden,  ob  die  Politik  der  Ruhe,  wozu  der  gesattigte 
Sieger  immer  neigt,  auch  zugleich  eine  Politik  des  Friedens 
sei,  und  ob  die  aktive  Forderung  pazifistischer,  ja  sogar  revo- 
lutionarer Krafte  nicht  von  grofierm  politischen  und  vor  allem 
von  groBerm  moralischen  Wert  ware.  Es  ist  Lndessen  nicht 
zu  bezweifeln,  daB  Frankreich  diese  Politik  der  Ruhe  treibt, 
daB  nichts  so  wenig  in  der  Linie  und  in  der  Tradition  fran- 
zosischer  Politik  liegt,  wie  die  Unterstiitzung  innerer  Umwal- 
zungen  und  Abenteuer  in  fremden  Landern.  Solche  Kombi- 
nation  wiirde  der  italienischen  oder  der  russischen,  auch  der 
vorfascistischen  und  vorrevolutionaren  Diplomatie  ent- 
sprechen,  keineswegs  aber  der  franzosischen.  Die  Wahrheit 
320 


liegt  anders.  Frankreich  hat  der  ungarischen  Regierung  nur 
vorgeschlagen,  ihre  Beziehungen  zu  den  Nachbarn  endlich 
zu  normalisieren  und  zu  diesem  Zweck  Handelsvertrage  und 
einen  Pakt  abzuschlieBen.  Das  aus  Griindcn  dcr  innern  Sa- 
nierung  stark  aufcs  franzosische  Geld  angcwiesene  Ungam 
war  zum  Nachgeben  bereit.  Bethlen,  dessen  machtpolitische 
Gerissenheit  ebenso  groB  ist,  wie  sein  Mangel  an  Gedanken 
und  seibstandigen  Konzeptionen,  faBte  den  EntschluB,  den  un- 
angenehmen  Gef  ahrten  von  Budaoers,  den  Kriegsmmister  Gom- 
bos, endlich  loszuwerden.  Dies  scheiterte  jedoch  an  dem 
zahen  Widerstand  Horthys. 

Die  Clique  der  Militars,  zu  welcher  der  Reichsverweser 
auch  gehort,  stand  schon  seit  langer  Zeit  im  Gegensatz  zu 
Bethlen.  Die  erstere  vertritt  die  gegenrevolutionare,  volks- 
tumliche  Demagogie  von  1919,  den  Patriotismus  der  durch 
den  DolchstoB  beschaftigungslos  gewordenen  Unbesiegten,  wah- 
rend  der  letztere  die  altungarische  Reaktion  vertritt,  jene 
feudale  Reaktion,  die  noch  Juni  1918  nichts  von  der  Einfuh- 
rung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  horen  wollte  und  sich  fur 
die  Annektierung  rumanischer  Gebiete  aussprach.  Diese  Re- 
aktion, deren  Wortfuhrer  seit  etwa  fiinfzehn  Jahren  Graf 
Stephan  Bethlen  war,  will  die  Beibehaltung  der  Macht  mit 
alien  Mitteln,  also  auch  rait  friedlichen.  Es  ist  ihr  also 
lastig,  daB  die  Freunde  des  Herrn  Gombos  etwa  Franken 
falschen,  wenn  Bethlen  sich  grade  franzosisch  orientiert,  oder 
daB  Herr  Gombos  in  seiner  Villa  die  Morder  Erzbergers 
beherbergt,  wenn  Bethlen  sich  wieder  deutsch  orientieren  will. 
Diese  Reaktion  vereinigt  die  alte  Feudalitat  und  die  Banko- 
kratie,  das  historische  Ungarn  also,  und  die  ,,neuern  Schich- 
ten  der  ungarischen  Gesellschaft"  in  ihrem  Lager,  die  beiden 
Faktoren,  deren  verschiedene  wertvolle  Eigenschaften,  wie 
Tisza  einst  sagte,  sich  zu  einer  harmonischen  Einheit  ergan- 
zen.  Worunter  zu  verstehen  ist,  daB  die  Grafen  schon  lange 
im  Geschaftsleben  bewandert  sind,  wahrend  die  jiidischen 
Bankiersohne  schon  seit  langer  Zeit  Duelle  schlagen  und  Kar- 
ten  spielen  konnen.  In  der  Geschaftstiichtigkeit  treffen  sich 
Magnaten  und  judisch-liberale  GroBbankiers,  und  dort  gesellt 
sich  auch  die  unzufriedene,  umsturzlerische  Militarclique  zu 
ihnen,  Niemals  gab  es  vielleicht  in  der  Geschichte  eine  en- 
gere  Kette  von  Korruptionen  als  in  der  Regierungszeit  Stephan 
Bethlens.  Mit  den  Ausfuhrbewilligungen  von  1921,  die  man 
im  Ministerium  nur  gegen  Erlegung  einer  Summe  fur  patrio- 
tische  Zwecke  gewahrte,  hat  es  angefangen,  mit  den  fal- 
schen Tausendfrankscheinen  vo?i  1926  ging  es  weiter,  um  (vori 
kleinern  Fallen  ganz  zu  schweigen)  mit  dem  ungarischen  See- 
schiff  zu  enden,  das  kurz  vor  dem  hi.  Stephanstag,  an  dem 
der  unheilige  Stephan  abdankte,  an  der  schwedischen  Kiiste 
beim  Alkoholschmuggel  ertappt  wurde.  Endlich  weiB  man, 
wozu  das  Land  des  Admirals  Horthy  auch  eine  Handelsflotte 
besitzt.  Man  hat  betrogen,  gefalscht,  geschmuggelt,  man  hat 
verdient  —  ein  historischer  Kriminalfilm,  das  war  die  Regie- 
rung  Stephan  Bethlens. 

Wer  ist  der  Mann,  der  an  ihrer  Spitze  stand?  Ein  sieben- 
biirgischer  Magnat,   Kalvinist   und   GroBgrundbesitzer.     Es   ist 

2  321 


notig,  dies  zu  betonen,  denn  daraus  erklart  sich  seine  Politik, 
Als  Siebenbiirger  und  Kalvinist  gait  er  dem  katholischen  Hoch- 
adel,  der  meistens  in  Transdanubien  begiitert  ist  und  in  der 
Nahe  Wiens  seine  Traditionen  hat,  nie  als  vollwertiger  Ari- 
stokrat.  Seine  Stellung  ware  in  einer  habsburgischen  Mon- 
archic, niemals  die  eines  Esterhazy,  Andrassy  oder  Karolyi  ge- 
wesen,  Als  siebenbiirgischer  Grundbesitzer,  hat  er  durch  die 
rumanische  Bodenreform  alles  verloren.  Er  war  zuerst  dem 
Plan  einer  rumanisch-ungarischen  Personalunion  nicht  ganz 
abgeneigt,  nachdem  aber  auch  dies  keine  Moglichkeit  bot,  die 
verlorenen  Giiter  der  magyarischen  Oligarchie  in  Siebenbiir- 
gen  wieder  zu  bekommen,  warf  er  die  unter  dem  Namen 
,(Optantenproblem"  in  der  internationalen  Politik  bekannte 
Frage  auf,  snamlich  die  Bescnwerden  des  siebenbiirgischen 
GroBgrundbesitzers  Grafen  Stephan  Bethlen  gegen  die  sie- 
benbiirgische  Landreform,  vorgetragen  als  nationale  Be- 
schwerde  von  dem  ungarischen  Ministerprasidenten  Grafen 
Stephan  Bethlen.  Volkerbundkommissionen  und  Konferenzen 
suchten  lange  die  Losung  dieser  schwierigen  Frage,  Endlich 
fand  Bethlen  selbst  die  ideale  Losungi  indem  er  im  Haag  frei- 
willig  im  Namen  Ungarns  Reparationsverpflichtungen  iiber- 
nahra,  unter  der  Bedingungt  daB  die  ungarischen  Grundbesitzer 
Siebenbiirgens  (das  heifit  Bethlen  und  seine  Verwandtschaft) 
aus  der  Reparationskasse  entschadigt  wiirden.  Dies  war 
seine  groBte  staatsmannische  Leistung,  sein  Werk,  das  nicht 
so  leicht  aus  der  Geschichte  verschwindet  wie  ein  Tropfen 
Schmuggelspiritus  im  schwedischen  Meer.  Dafiir  wird  Un- 
garn   noch  Jahre   hindurch  Reparationen   zahlen. 

Nun  ist  er  abgesagt,  und  Ungarn  orientiert  sich  vom  italie- 
nischen  Biindnis  zum  franzosischen  um.  Es  stellt  seine  Be- 
dingungen.  Es  will  den  Habsburger  nur  wiederherstellen, 
wenn  Frankreich  ihm  dafiir  neue  Grenzen  gewahrt.  Ja,  lachen 
Sie  nicht,  dies  stand  in  alien  wohlinformierten  Korresponden- 
zen  des  Auslandes.  Die  franzosische  Umorientierung  soil  das 
Werk  des  Grafen  Julius  Karolyi  sein,  einer  aristokratischen 
NulL  Der  neue  Herr  verdankt  seinen  Eintritt  in  die  Politik 
dem  Umstand,  daB  man  ihn  wahrend  der  Proletarierdiktatur 
an  die  Spitze  der  weiBen  Gegenregierung  gestellt  hat.  Denn 
die  Bauern  sollten  ihn  mit  seinem  Vetter,  dem  roten  Grafen 
Michael  Karolyi,  verwechseln.  Er  hat  im  Faubourg  St.  Germain 
ein  paar  franzosische  Vettern,  Namen  des  ancien  regime,  deren 
Geld,  falls  sie  Bankierstochter  geheiratet  haben,  eben  aus- 
reicht,  einige  Hauslehrer  mit  literarischen  Ambitionen  zur 
Abfassung  riihrender  Reisebiicher  iiber  die  ritterliche  unga- 
rische  Nation  zu  veranlassen.  Der  protestantische  und  philo- 
fascistische  Bethlen  ist  durch  einen  katholischen  Legitimist  en 
ersetzt,  dies  mag  einige  Bischofsherzen  freuen  und  einige 
Damenherzen  im  Faubourg  St.  Germain  erwarmen,  Frankreich 
wird  darum  noch  keine  Restauration  unterstiitzen.  Bischofe 
und  fromme,  vornehme  Damen  freuen  sich  und  weiterverdie- 
nende  Patrioten  Ungarns  offerieren  sich  als  Frankreichs 
Freunde. 

Dieu  protege  la  France. 
322 


Eine  BeSChwerde    von  Alfred  Apfel  and  Felix  Halle 

I 
Anordnung 

Am  9.  August  1931  ist  es  in  deu  Abendstunden  auf  dem  Biilow- 
**  platz  wiederum  zu  gewalttatigen  Ansammlungen  gekommen.  Zwei 
Polizeioffiziere  wurden  erschossen,  ein  Poiizeioberwachtmeister  schwer 
verletzt.  Auf  Grund  der  Verordnung  dcs  Reichsprasidenten  zur  Be- 
kampfung  politischer  Ausschreitungen  vom  28.  Marz  1931  verbicte  ich 
bis  auf  weiteres  alle  Ansammlungen,  Versammlungen  und  Aufzuge 
unter  freiem  Himmel  auf  dem  Bulowplatz  und  auf  alien  zu  diesem 
Platz  fuhrenden  Strafien  in  einer  Entfernung  von  200  Meter  von  der 
Einmiindung. 

Zuwiderhandlungen  werden  nach  §-  2  der  oben  erwahnten  Ver- 
ordnung mit  Gefangnis  nicbt  Unter  drei  Monaten  geahndet, 

Zur  Durcbfiihrung  ordne  ich  weiter  unter  Hinweis  auf  §  16  jener 
Verordnung  an,  daB  das  sogen.  Karl-Liebknecht-Haus  zunachst  bis 
einscbliefilich  20.  August  geschlossen  wird  und  alle  Raume  und  Ein- 
gange   polizeilich   besetzt   werden. 

Berlin,  den  10.  August   1931. 

Der  Polizeiprasident  Der  Polizeiprasident. 

Abteilung  I A  gez.  Grzesinski. 

Tgb.  Nr.  IA.  3.  6033/6  LS   fur   ricbtige  Abscbrift 

Bischof, 
Kanzleisekretar, 
Berlin,  den  10.  VIII.  31. 

I/E  Berlin,  den  24.  August  1931. 

II 
Beschwerde 
In  Vollmacbt  des  Zentralkommitees  der  Kommunistischen  Partei 
Deutschlands   erheben  wir 

Beschwerde 
gegen    die   Anordnung   vom    10,    d.   M,    (Aktenzeichen    Abt.    I A   Tgb. 
Nr.  I A  3.  6033/6). 
Wir  beantragen: 

die    angefochtene    Anordnung    fur    unzulassig 
zu    erklaren. 

Wir  beantragen: 

diese  Beschwerde,  die'  wir  beim  Herrn  Polizei- 
prasidenten  zu  Berlin  als  derjenigen  Stelle  ein- 
reichen,  von  der  die  Anordnung  ausgegangen  ist, 
weiter  zu  leiten  an  die  Stellen,  die  auf  Grund  der 
Verordnung  des  Reichsprasidenten  vom  28.  Marz 
1931,  §  13  und  der  zu  dieser  Verordnung  ergan- 
genen  Ausfuhrungsbestimmungen  und  Erganzungs- 
verordnungen  zur  Entscheidung  iiber  die  Be- 
schwerde  zustandig   sind. 

Begrundung 

Die  Mafinahmen  der  Polizei  beruhen  auf  einem  fehlerhaften 
Staatsakt,  insofern  die  Voraussetzungen  fur  die  Anwendung  der  Dik- 
tatur  nicht  gegeben  waren. 

Selbst  wenn  aber  die  Beschwerdestelle  die  formelle  Gultigkeit 
der  Verordnung  vom  26.  Marz  1931  annehmen  sollte,  so  liegt  in  der 
Anordnung  des  Polizeiprasidenten  eine  tlberschreitung  der  durch 
diese  Verordnung  gegebenen  Vollmachten  vor, 

323 


Die  Verordnung  beschaftigt  sich  in  §  1  mit  offentlichen  poli- 
tischen  Versammlungen  und  Aufziigen,  Es  wird  unter  Beweis  ge- 
stellt, dafi  weder  auf  dem  Bulowplatz,  noch  in  der  Umgebung  am 
9*  d.  M.  eine  von  der  Kommunistischen  Partei  einberufene  oder  an- 
gesagte  Versammlung  stattgefunden  hat.  Ebensowenig  haben  an  die- 
sem  Tag  Aufziige  von  Angehorigen  der  Kommunistischen  Partei  statt- 
gefunden. 

Die  in  dem  ersten  Satz  der  Anordnung  vom  10,  d.  M,  angefuhr- 
ten  Tatbestande  der  Ansammlung  sind  im  §  1  der  Verordnung  nicht 
genannt,  sondern  es  handelt  sich  nach  der  Darstellung  der  Poiizei 
in  der  Anordnung  vom  10,  d,  M.  urn  Tatbestande,  die  nicht  in  der 
Verordnung  vom  28.  Marz  1931,  sondern  ausschliefilich  im  siebenten 
Abschnitt   des   Strafgesetzbuches   geregelt   sind. 

Es  wird  unter  Beweis  gestellt,  dafi  die  Vorgange,  die  der  Polizei- 
prasident  als  Grundlage  seiner  Anordnung  nimmt,  sich  anders  ab- 
gespielt  haben,  als  in  der  einseitigen  Darstellung  der  Behorden,  wie 
sie  nicht  nur  in  der  Anordnung,  sondern  auch  in  dem  Polizeibericht 
zum    Aus druck    koramt 

Die  Benennung  der  Zeugen  bleibt  vorbehalten,  ebenso  die  Bei- 
bringung   von    urkundlichem   Beweismaterial. 

Der  tatsachliche  Hergang  der  Zusammenstofie  war  folgender: 
Bereits  am  8,  d.  M.  hat  die  Poiizei  auf  unbewaffnete,  wehrlose  Pas- 
santen  geschossen,  Durch  diese  mifibrauchliche  Anwendung  der 
Schufiwaffen  ist  der  Arbeiter  Auge  getotet  und  ein  andrer  Arbeiter 
verletzt    worden. 

Am  Tage  des  Volksentscheides  ging  die  Poiizei  gegen  die  Be- 
volkerung  des  proletarischen  Viertels  gegen  Abend  wiederum  mit 
kaum  zu  iiberbietender  Scharfe  vor,  ohne  dafi  hierzu  seitens  der  Be- 
volkerung  ein  Anlafl  gegeben  war.  Wie  verfehlt  die  polizeilichen  An- 
ordnungen  waren,  wird  durch  folgenden  Umstand  gekennzeichnet. 
Obwohl  bereits  ein  grofies  Polizeiaufgebot  gegen  die  sich  fur  die 
Wahlresultate  interessierende  Bevolkerung  aufgeboten  war,  kam  es 
zu  einem  derart  iibersturzten  Gebrauch  der  Schufiwaffen,  dafi  trotz 
des  Vorhandenseins  einer  so  grofien  Anzahl  von  Polizeibeamten  auf 
einem  verhaltnismafiig  begrenzten  Raum,  die  fiihrenden  Offiziere  und 
ein  Wachtmeister  erschossen  werden  konnten,  ohne  dafi  die  Poiizei 
in  der  Lage  war,  mit  Sicherheit  die  ausschliefiliche  Feststellung  zu 
treffen,  dafi  diese  Beamten  nicht  Opfer  des  Schufiwaffengebrauchs 
von  Angehorigen  der  eingesetzten  Truppen  waren,  oder  auf  der  Stelle 
die  angenommenen  Tater  zu  verfolgen  und  zu  stellen. 

Als  weiteres  Beispiel  des  uberstiirzten  und  fehlerhaften  Handelns 
der  Poiizei  kann  die  Auflosung  einer  friedlichen,  erlaubten,  ge- 
schlossenen  Versammlung  in  den  Musikerfestsalen  gelten,  die  unter 
brutalster  Anwendung  des  Gummikntippels  auseinander  gehauen 
wurde. 

In  ahnlicher  unmotivierter  Weise  ging  die  Poiizei  an  demselben 
Abend  gegen  das  Karl-Liebknecht-Haus  vor,  Obwohl  durch  die 
Mafinahmen  der  Poiizei  der  Verkehr  zwischen  dem  Karl-Liebknecht- 
Haus  und  dem  Hauserblock,  in  dem  das  Kino  Babylon  liegt,  unter- 
bunden  war,  und  jeder  Verkehr  fur  Passanten  wegen  der  Anwen- 
dung der  SchuBwaffen  Lebensgefahr  bedeutete,  wurde  seitens  der 
Poiizei  Angrif f e  gegen  das  Karl  -Liebknecht-Haus  unternommen,  in 
ahnlicher  Art,  wie  die  Truppen  in  feindlichem  Land  bei  in  der  auf- 
geregten   Phantasie  vermuteten   Franktireurangriffen   gehandelt   haben. 

Es  wird  auf  Grund  des  vorgefundenen  Tatsachenmaterials  unter 
Beweis  gestellt,  dafi  das  Karl-Liebknecht-Haus  beschossen  worden 
ist.  Die  Einschusse  waren  noch  nach  der  Besetzung  sichtbar.  Auch 
Geschosse  sind  gefunden  worden  und  konnen  unter  eidlicher  Angabe 
ihres   Vor  fin  dens  vorgelegt  werden. 

324 


Es  ist  in  keiner  Weise  in  der  Begriindung  der  Anordnung  auch 
nur  der  Versuch  gemacht  worden,  einen  tatsachlichen  Zusammenhang 
zwischen  den  Vorgangen  am  Kino  Babylon  und  auf  der  Strafie  und 
dem  Verhalten  der  im  Karl-Liebknecht-Haus  anwesenden  Personen 
zu  geben, 

Es  wird  unter  Beweis  gestellt,  daB  die  im  Karl-Liebknecht-Haus 
befindlichen  Personen  ausnahmslos  mit  ihren  beruflichen  Aufgaben 
beschaftigt  waren  und  erst  durch  Idas  Vorgehen  der  Polizei  in  ihrer 
beruflichen  Tatigkeit   gestort   worden  sind. 

Die  Ausnutzung  der  Vorgange  am  9,  d.  M,  zur  SchlieBung  des 
Karl-Liebknecht-Hauses  ist  ein  rechtlich  in  keiner  Weise  begrundeter 
Akt.  Nach  der  Verordnung  konnen  Versammlungen  und  Aufzuge 
verboten  werden.  Unerfindlich  aber  bleibt  es,  dafi  zur  Durchfuhrung 
von  Versammlungs-  und  Aufzugsverboten  die  tagelange  Besetzung 
und  SchlieBung  samtlicher  Wirtschaftsbetriebe  dieses  Hauses  notwen- 
dig  sein  soil. 

Es  ist  fur  denjenigen,  der  sich  bemuht,  die  Vorgange  objektiv 
zu  wiirdigen,  der  hinreichende  Verdacht  gegeben,  daB  die  durch  das 
Vorgehen  der  Polizei  mit  hervorgerufenen  Vorgange  des  9.  d.  M. 
den  Vorwand  gegeben  haben,  die  Reichsleitung  einer  groBen  Partei 
in  •  einer  gespannten  politischen  Situation  durch  SchlieBung  ihres 
Hauses  zu  behindern,  den  einseitigen  und  gehassigen  Darstellungen 
entgegen  zu  treten,  die  in  den  nachfolgenden  Tagen  vom  berliner 
Polizeiprasidenten  und  der  ihm  parteipolitisch  nahestehenden  Presse 
veroffentlicht   worden    sind* 

Sodann  muB  darauf  hingewiesen  werden,  daB  diese  Besetzung 
des  Hauses  auf  Grund  einer  extensiven  Ausdehnung  der  Diktatur- 
gewalt  alle  strafprozessualen  Sicherheiten  fiir  den  Inhaber  der  be- 
setzten  Raume  ausgeschaltet  hat,  BekanntHch  waren  bereits  vorher 
Haussuchungen  mit  negativem  Ergebnis  vorgenommen  worden.  Es 
hat  dann  eine  Haussuchung  am  neunten  Tage  der  Besetzung  unter 
Hinzuziehung  der  Abgeordneten  stattgefunden,  nachdem  acht  Tage 
Iang  die  Verfugungsgewalt  auf  den  Polizeiprasidenten  ubergegangen 
war,  Es  darf  darauf  hingewiesen  werden,  daB  die  deutsche  Straf- 
prozeBordnung  die  Vorschriften  uber  Beschlagnahme  und  Durch- 
suchung  gegeben  hat  aus  dem  begriindeten  MiBtrauen  des  Gesetz- 
gebers  gegen  die  Dbergriffe  der  Polizei,  ferner  aber  auch  zur  Ab- 
wendung   der   Gefahr   von   konstruierten   Schuldbeweisen. 

Der  Zuhalter  von  f.  Frank 

rjer  Zuhalter,  von  dem  ich  reden  will,  ist  ein  Paragraph,  der 
*^  Paragraph  184  Ziff,  3  des  Strafgesetzbuchs  namlich.  Die 
Abtreibung  ware  selbstverstandlich  keine  Frage,  die  Millio- 
nen  Deutscher  auf  das  tiefste  bewegt,  wenn  die  offentliche 
Anpreisung  von  Empfangnisverhutungsmitteln  erlaubt  ware. 
Es  ist  eben  nicht  allgemein  bekannt,  daB  bei  richtiger  Anwen- 
dung  gewisser  Mittel  mit  etwa  98  Prozent  Sicherheit  eine 
Empfangnis,  also  das  Verhangnis,  verhiitet  werden  kann.  Eine 
Aufklarung  des  Volkes  ist  unmoglich,  denn  die  offentliche  An- 
preisung, Ankiindigung  oder  Ausstellung  dieser  Mittel  wird  mit 
Gefangnis  bis  zu  einem  Jahre  und  Geldstrafe  bis  zu  tausend 
Reichsmark  oder  mit '  einer  dieser  Strafen  bedroht.  Rechnet 
doch  die  Rechtsprechung  des  Reichsgerichts  die  Empfangnis- 
verhiitungsmittel  zu  den  zum  unziichtigen  Gebrauch  bestimm- 
ten  Gegenstanden  mit  der  Begriindung,  daB  „sie  auch  beim 
auBerehelichen       Geschlechtsverkehr       angewendet       werden 

325 


konuexi  und  Anwendung  finden,  und  der  auBerchcliche  Ge- 
schlechtsverkehr  ganz  allgemein  der  Unzucht  gleichzu- 
setzen  sei" 

Die  Gerichte  durcndenken  ja  bekanntlich  ihre  Theorien 
selten  bis  zur  letzten  logischen  Konsequenz,  Nach  dieser 
Theorie  miiBte  man  alle  Mobelhandler  einsperren,  denn  Bett 
und  Chaiselongue  . , .  ?  Merkwurdig,  daB  der  liebe  Gott  diese 
Judikatur  nicht  geahnt  hat.  Graser  und  Ahren,  Moos  und 
Laub  hatte  er  sonst  nur  mit  vielen  und  langen  Dornen  wachsen 
lassen;  e<s  sei  denn,  daB  er  hier  andrer  Meinung  als  das  Reichs- 
gericht  ist. 

Aber  im  Ernst,  diese  Rechtsprechung  ist  unmoglich;  sie 
ireibt  mittelbar  die  Frauen  der  Abtreibung  zuf  ja  ermoglicht 
sie  erst,  und  deshalb  wird  der  Paragraph  184  Ziffer  3  zum  Zu- 
halter  des  Paragraphen  218.  Diese  Rechtsprechung  ziichtet 
Rechtsbrecher. 

Im  Jahre  1930  hatte  sich  eine  groBe  Strafkammer  des 
Landgerichts  Chemnitz  unter  Vorsitz  des  ,Prasidenten  Doktor 
Ziel  endlich  ihres  richterlichen  Rechtes  erinnert,  auf  alle  ober- 
gerichtliche  Judikatur  zu  pi^ifen  und  das  zu  sagen,  was  sie 
selbst  liber  die  offentliche  Anpreisung  von  Empfangnisver- 
hutungsmitteln  r  denkt.  Das  Ergebnis  war  ein  freisprechendes 
Urteil,  das  moderner  Auffassung  entsprach.  Sorgfaltig  und 
ausf iihrlich  erorterte  dieses  Gericht  das  Fur  und  Wider,  wies 
auf  die  jetzt  ernsthaft  diskutierte  Frage  der  Kameradschafts- 
ehe  hin  und  urteilte: 

Der  auBereheliche  Geschlechtsverkehr  sei  keineswegs  schlecht- 
hin  der  Unzucht  gleichzusetzen,  sei  mindestens  dann  nicht  sitten- 
widrig,  wenn  er  auf  gegenseitiger  Zuneigung  beruhe,  und  auch  die 
Empfangnisverhtitung  als  solche  entbehre  jeden  unztichtigen  Mo- 
mentes. 

DaB  iiber  das  Urteil  die  reaktionare  Presse  das  Radschla- 
gen  bekam,  ist  klar;  ebenso  klar,  daB  in  Richterkreisen  Ent- 
setzen  dariiber  herrschte,  weil  ein  Gericht  in  sexuellen  Din- 
gen  nicht  an  der  verstaubten  Phraseologie  der  Obergerichte 
klebtef  sondern  das  aussprach,  was  wirklich  ist.  Und  bald 
kam  der  GegenstoB  der  reaktionaren  Richter.  Monate  spater 
stand  einer,  der  dasselbe  getan  hatte,  wie  der  Freigesprochene, 
dessen  Name  aber  mit  einem  andern  Buchstaben  begann,  des- 
halb vor  der  Vierten  kleinen  Strafkammer  desselben  Gerichts. 
Er  wurde  verurteilt.  Diese  Tatsache  ist  an  sich  noch  kein 
Grund  zur  Erregung.  Wir  wissen  alle,  daB  das  andre  Urteil 
nur  ein  weiBer  Rabe  war,  der  uns  keineswegs  iiber  die  ge- 
wohnliche  Farbe  dieser  Vogel  tauscht.  Wohl  aber  gibt  die 
BegrtLndung  des  neuen  Urteils  AnlaB  zur  Erregung;  sie  kenn- 
zeichnet  den  Geist  und  die  Ideologic  der  Mehrzahi  der  Unab- 
setzbaren  so  treff end,  daB  es  sich  lohnt,  den  Wortlaut  wieder- 
zugeben: 

Mag  auch  durch  den  letzten,  vierjahrigen  Weltkrieg  und  den 
nachfolgenden  staatlichen  Umsturz  in  weiten  Volksschichten  eine  sitt- 
liche  Verwilderung  eingerissen  und  der  Sinn  fur  Zucht  und  Sitte  un- 
tergraben  sein,  der  weitaus  uberwiegende  Teil  der  Bevolkerung  steht 
doch  auf  dem  Boden  der  christlich-religiosen  Weltanschauung  und 
huldigt  einer  Sittenlehre,  die  die  Hurerei  in  jeder  Form  verpont,  das 

326 


tingehemmte  Sichausleben  verdammt,  Zuriickhaltung  und  Enthaltsam- 
keit  in  geschlechtlichen  Dingen  ganz  besonders  von  der  Jugend  ver- 
langt  und  Keuschheit  als  Tugend  preist.  Wir  leben  nicht  im  Zeit- 
alter  der  ,  .Kameradschaftsehe",  welchen  Locktitel  man  als  Deckmantei 
fiir  ein  ill  eg  i  times  Verhaltnis  namentlich  zwischen  Jugendlichen  ge- 
wahlt   hat,   und  sind  weit  entfernt   davon. 

Nachdem  weiter  ausgefiihrt  wird,  daB  die  Eltern,  die  sich 
dieser  Kameradschaftsehe  nicht  auf  das  Entschiedenste  wider- 
setzen,  eines  zuchthauswiirdigen  Verbrechens,  namlich  der 
schweren  Kuppelei,  schuldig  seien,   fahrt  das  Urteil  fort: 

Die  sogenannte  Kameradschaftsehe  ist  eine  Utopie  und  wird  sich 
in  keinem  zivilisierten  Lande  verwirklichen  lassen;  eine  solche  Ein- 
richtung  wtirde  die  Abkehr  von  der  Kultur  und  den  Riickfall  in  den 
animalischen  Urzustand  bedeuten  und  nur  auf  dem  Sumpfboden  des 
Bolschewismus  kann  etwas  derartiges  emporwachsen,  Wilde  Ehen 
und  freie  Liebe  unterliegen  noch  immer  der  gesellschaftlichen  Ach- 
tung.  Nach  der  vorherrschenden  christlichen  Auffassung  ist  ferner 
aber  auch  in  der  ordentlichen  Ehe  die  Verwendung  von  empfangnis- 
verhiitenden  Mitteln  unerlaubt  und  unsittlich.  Eugenetik  liegt  auf 
anderem  Gebiete.  Das  Schlagwort  vom  HVolk  ohne  Raum",  das  zu 
einer  Zeit  gepragt  wurde,  als  nach  Kriegsende  durch  die  Heimkehr 
der  deutschen  Krieger  aus  Feindesland  und  die  Rtickkehr  der  deut- 
schen Beamten  und  die  sonstiger  zahlreicher  deutscher  Reichsangeho- 
xiger  aus  den  uns  vom  Feindesbund  entrissenen  weiten  deutschen  Lan- 
desteilen  und  Kolonien  in  das  verkleinerte  Deutschland  in  seinen  en- 
geren  Grenzen  voriibergehend  eine  Uberbevolkerung  eintrat,  hat  heute 
keine  Bedeutung  mehr  zu  einer  Zeit  und  fur  ein  Land,  wo  nach  den 
neusten  statistischen  Erhebungen  —  sehr  im  Gegensatze  insbeson- 
dere  zu  den  von  Osten  vordringenden  Volkern  —  nicht  nur  ein  Still  - 
stand  in  der  Volksvermehrung  eingetreten,  sondern  die  Geburtenzahl 
bereits  unter  die  Sterblichkeitsziffer  gesunken,  das  Volk  im  Abstieg 
und  Niedergang  begriffen  ist  und  Reich,  Staat  und  sonstige  politische 
Gemeinden  seit  dem  Geburtenausfalle  wahrend  des  Krieges  nach  wie 
vor  an  ihre  Beamten  und  Angestellten  in  Form  sozialer  Beihilfen 
Kinderpramien   zahlen. 

Dieses  Urteil  ist  symptomatisch  fur  die  Unabsetzbaren. 
Sie  wissen,  daB  sich  der  Angeklagte  ihrer  Beschimpfungen 
nicht  erwehren  kann  und  darf.  Sie  kennen  keinen  sachlichen 
Streit  um  Weltanschauungen;  geschtitzt  von  der  Kruste  ihrer 
Robe  beschimpfen  sie  Andersdenkende,  pathetisch  im  Tone, 
liberheblich  und  unsachlich  in  der  Form.  Diese  Vertreter  der 
angeblich  christlich-religiosen  Sittenlehre,  welchen  Locktitel 
sie  frtiher  als  Deckmantei  imperialistischer  Machtbestrebun- 
gen  gewahlt  hatten,  werfen  den  Gegnern  ihrer  Anschauungen 
„sittliche  Verwilderung",  „Abkehr  von  der  Kultur'  und 
„Ruckiall  in  den  animalischen  Urzustand1'  vor.  DaB  sie  dabei 
nicht  einmal  verstandesgemaB  erkennen,  daB  ihre  Ideologic 
auf  dem  Sumpfboden  des  Imperialisms  gewachsen  ist,  ist  die 
eine  Ursache  dieser  Rechtsprechung. 

Was  vom  Inhalt  dieses  Urteils  als  sachliche  Auseinander^ 
setzung  aufgefaBt  werden  konnte,  ist  ausnahmslos  unrichtig. 

Die  Idee  der  Kameradschaftsehe  entsprang  biirgerlichen 
Gedankengangen  (Richter  Lindsey).  Mit  dem  sogenannten 
Sumpfboden  des  Bolschewismus  hat  sie  nichts  zu  tun.  Was 
auBerhalb  der  Fassungskraft  oder  des  Verstandigungswillens 
der  SpieBer  liegt,  das  tun  sie  ab  mit  der  Zauberformel  „Kul- 
iurbolschewismus", 

327 


Jed  em,  der  sich  darum  bermiht,  zeigt  ein  Blick  in  das 
statistische  Jahrbuch,  daB  der  GeburteniiberschuB  in  den 
Jahren  1923  bis  1928  zwischen  jahrlich  547  800  und  404  700 
schwankte.  . 

Die  Behauptung  im  Urteile,  t1Eugenetik"  liege  auf  anderm 
Gebiete,  mangelt  jeder  Begrundung,  Eugenik  fordert  beim 
Vorliegen  bestimmter  Voraussetzungen  die  Geburtenregelung 
durch    Empfangnisverhutung,, 

Wesen  und  Motiv  der  Kinderbeihilfen  werden  in  ihr  Ge- 
genteil  gekehrt.  Naiv  zu  glauben,  daB  diese  geringen  Betrage 
jemanden  anregen  konnten,  sich  mehr  Kinder  zuzulegen.  Die 
1tKinderpramieM  ist  doch  nichts  als  ein  jammerlicher  Ausgleich 
fur  die   soziale   Schlechterstellung  der   kinderreichen  Familien, 

So  griindlich  ist  der  Mangel  an  Kenntnissen!  Er  diktiert 
den  sachlichen  Inhalt  der  richterlichen  Argumentation!  Und 
das  ist  also  —  neben  der  gefuhlsmaBigen  Haltung  —  die  andre 
Ursache  dieser  Rechtsprechung,  denn  man  kann  doch  wohl 
nicht  annehmen,  dafi  die  Wahrheit  bewuBt  verletzt  wurde. 

So  wird  aus  dem  Paragraph  184  Ziffer  3  der  Zuhalter  der 
Abtreibung,  Rechnete  man  die  Empfangnisverhtitungsmittel 
nicht  unter  diese  Strafvorschrift,  das  Tor  der  Abtreibung 
wiirde  zugehalten. 


Reparationsfibel  von  ignaz  wrobei 

Warum  ist  doch  der  Deutsche  nach  dem  fiir  ihn  ver- 
derblichen  und  schimpflichen  Frieden,  da  man  ihn  wie 
eine  Heerde  theilt,  aufgebrachter  auf  die  Franzosen,  als 
selbst  auf  die  Englander  und  einen  ihrer  grofiten  Bundes- 
genossen  wahrend  des  Krieges?  Weil  der  Mensch  immer 
mehr  auf  die  Wirkung,  durch  die  er  leidet,  als  auf  die 
Ursache  sieht,  die  das  Leiden  veranlafit  hat. 

F.  M.  Klinger,  Betrachtungen  und  Gedanken  iiber 
verschiedene  Gegenstdnde  der  Welt  und  der 
Literatur.  1802 

F)er  gegenwartige  Rechtszustand  ist  der,  daB  die  west- 
"  falischen  Schienenwalzwerke  mit  den  lothringisch-fran- 
zosischen  Werken  zusammen  beschlieBen  konnen,  auf  dem 
Wege  hoherer  Schienenpreise  der  deutschen  und  der  franzo- 
sischen  Republik  eine  neue  Steuer  aufzuerlegen,  daB  aber  die 
beiden  Regierungen  nicht  daruber  verhandeln  diirfen,  ob  sie 
gemeinschaftlich  gegen  ihre  Ausbeuter  vorgehen  wollen."  In 
der  gar  nicht  genug  zu  empfehlenden  Broschiire  Rudolf  Kellers 
lfDeutschland  und  Frankreich"  (erschienen  bei  R.  Piper  &  Co. 
in  Miinchen)  findet  sich  dieser  Satz,  benebst  vielen  andern 
Satzen,  die  in  keiner  grofien  deutschen  Tageszeitung  zu  finden 
sind  —  aus  begreif lichen  Griinden.  ,, Nicht  die  Verzweiflung 
des  ganz  kleinen  Mannes  ist  das  Charakteristische  des  heutigen 
Deutschland,  sondern  die  Desertion  des  Kapitalisten.  Der 
oberste  Grundsatz  des  Kapitalismus  ist,  daB  der  Unternehmer 
ein  Risiko  tragt  und  dafiir  einen  verhaltnismaBig  groBern  An- 
teil  am  Gesamtgewinn  in  Anspruch  nimmt    Der  reichsdeutschet 

328 


Kapitalist  jedoch  will  kein  Risiko  mehr  tragen,  wie  zuerst 
Professor  Bonn  mit  Nachdruck  gezeigt  hat.  Er  hat  sich  der 
kommunistischen  Grundanschauung  angeschlossen,  daB  alles 
von  der  Gesamtheit  oder  vom  Staate  erhalten  werden  muB,  er 
will  am  liebsten  in  der  toeutigen  Lage  Deutschlands  keine  In- 
vestitionen  mehr  wagen , .  ."  Keller  zeigt  zweierlei:  daB  zwei 
Drittel  der  Young-Plan-Raten  an  die  amerikanische  Regierung 
gezahlt  werden,  und  zwar  indirekt  —  und  dafi  viel  groBer 
als  diese  Zahlungen,  verlogen  lfTribute"  genannt,  jener  Ober- 
preis  ist,  den  das  deutsche  Volk  an  seine  Ausbeuter:  an  die 
Landwirtschaft,  die  Stahl-  und  Kohle-Herren,  an  die  Kartelle 
und  Trusts  bezahlt.    Das  kann  kein  Volk  auf  die  Dauer  tragen. 

Was  tut  es  also  — ?,  Es  laBt  sich  anliigen.  Und  glaubt 
diesen  Dreck  auch  noch,  den  einige  ftinfzig  kapitalistische 
Dynastien  durch  Presse,  Kino,  Kirche  und  Schulen  herunter- 
regnen  lassen.  Die  kleine  Oberschicht  regiert  unumschrankter 
als  es  jemals  ein  asiatischer  Fiirst  getan  haben  diirfte:  sie  er- 
ganzt  sich,  nicht  etwa  nach  den  Grundsatzen  des  freien  Wett- 
bewerbes,  sondern  durch  Kooptation,  durch  Heirat,  durch  Erb- 
schaft,  und  sie  nimmt  Unfehlbarkeit  fiir  sich  in  Anspruch. 
Wenn  diese  Krise  jetzt  einen  positiven  Erfol^  aufweist,  so  ist 
es,  hoffen  wir,  der  des  erschiitterten  Vertrauens  in  jene  Ge- 
sellschaft. 

Die  Verblodung  dieses  Biirgertums  ist  vollstandig. 

Sie  sehen  nichts,  sie  horen  nichts,  und  der  himmlische 
Vater  ernahrt  ihre  Ausbeuter  dennoch.  Und  wo  bleiben  deren 
Gewinne? 

Wofiir  kein  Geld  da  ist,  wissen  wir.  Fiir  Lohne  zum  Bei- 
spieL  Diese  schlechten  Karikaturen  eines  epigonalen  Kapi- 
talismus  suchen  ihre  Absatzmarkte  lieber  in*  der  Mandschurei 
als  zwischen  der  Elbe  und  der  Oder.  Da  wohnt  ein  geduldiger 
Stamm,  der  wie  die  angespannten  Biiffel  fiir  die  gesamte  iibrige 
Welt  arbeiten  soil  und  auch  arbeitet,  und  niemals  fiir  sich,  Alle 
stellen  etwas  her,  was  sie  selber  nicht  kaufen  konnen;  ihre 
Hungerlohne  reichen  nicht.  Und  die  Weisheit  ihrer  Antreiber 
kennt  bei  alien  Krisen  nur  ein  einziges  Mittel,  nur  eines:  die 
Lohne  der  Sklaven  noch  mehr  herabzusetzen,  immer  wieder 
herabzusetzen.    Wenn  nur  der  Export  garantiert  ist. 

Und  wo  bleiben  die  Uberschiisse?    Wofiir  ist  Geld  da? 

Fiir  die  Unterstiitzung  Hitlers,  in  dem  diese  Wirtschafts- 
fiihrer  mit  Recht  einen  Hort.und  einen  Schutz  gegen  ihre  Ar-. 
beiter  sehn.  Und  wofiir  ist  noch  Geld  da?  Fiir  die  dtimmste, 
aber  auch  schon  die  allerdiimmste  Propaganda,  eine  von  der 
Sorte,  wie  sie  bereits  im  Kriege  das  vergniigte  Lacheln  der 
Gegner  Deutschlands  hervorgerufen  hat. 

..Reparationsfibel",  Bilder  von  O,  Garvens,  O.  Gulbransson 
{leider),  Th.  Th.  Heine  (leider,  leider),  E.  Schilling,  W.  Schulz 
und  Ed.  Thony.  (Erschienen  bei  der  Verlagsbuchhandlung  Bro- 
schek  &  Co.,  Hamburg.) 

Es  ist  ein  groBes  Heft,  mit  bunten  Bildern;  es  herzustellen 

war  gewiB  nicht  billig.  Doch  wir  habens  ja.  Es  ist  viersprachig** 

die  Deutschen,  die  Englander,  die  Franzosen  und  die  Spanier 

dtirfen  von  dieser  Weisheit  profitieren.     Das  Spanische  kann 

a  329 


ich  nicht  kontrollieren  —  die  andern  Sprachcn  sind  einwandfret 
benutzt,  die  fremdsprachigen  Bildunterschriften  sind  sehr  gut, 
Aber  welcher  Unfug! 

Da  wird  neben  manchem  richtigen  einem  Ausland,  das  zum 
Gltick  nieht  hinhort,  eingeblaut,  wer  oder  was  an  der  deutschen 
Krise  schuld  sei  Die  verbrecherische  Auspowerung  deutscher 
Arbeitskrafte  durch  die  eignen  Landsleute?  Ach,  keine  Spur, 
Es  Hegt  alles,  alles  am  Frieden  von  Versailles. 

.  Erste  Luge:  der  WaffenstiUstand  sei  im  Vertrauen  auf 
Amerika  abgeschlossen  worden,  Falsch.  Der  WaffenstiUstand 
ist  abgeschlossen  worden,  weil  die  Deutschen  nicht  mehr 
weiter  konnten.     Es  war  aus. 

Zweite  Luge  (eine  Verschweigung);  die  Deutschen  haben. 
mit  ihren  Gegnern,  mit  den  Rumanen  und  den  Russen,  genau 
dasselbe  gemacht,  was  Versailles  mit  den  Deutschen  gemacht 
hat.  Woru  fiihrt  man  auch  sonst  Krieg?  Um  den  Gegner 
moglichst  zu  schw^chen.  Die  Deutschen  haben  mit  den  Fran- 
zosen  und  den  England-em  genau  dasselbe  machen  wollen,  was 
die  spater  mit  ihnen  gemacht  haben;  das  zeigen  die  zahlreichen 
Forderungen  der  Wirtschaftsfuhrer  und  besonders  der  Schwer- 
Industrie  wahrend  des  Krieges. 

Dritte  Liige:  Der  deutsche  Michel  und  der  WareniiberfluB 
der  Welt.  Dadurch,  daB  Deutschland  als  Kaufer  ausfallt,  gerat 
der  Weltmarkt  an  einigen  Stellen  in  Unordnung;  weitere  Folgen 
hat  das  zunachst  nicht. 

.  Vierte  Liige:  Die  Weltarmee  der  Arbeitslosen  hat  wenig 
mit  dem  Frieden  von  Versailles  zu  tun,  dagegen  alles  mit  jenem 
groBen  Krieg,  den'  die  Kapitalisten  in  ihrer  abgrundtiefen 
Dummheit  gegen  die  Arbeit er  aller  Lander  fuhren. 

Fiinfte  Liige:  ;,Wehe  euch,  wenn  ich  abstiirze",  sagt  der  mit 
dem  Versailler  Rucksack  beschwerte  deutsche  Bergsteiger  zu 
dem  hinter  ihm  kletternden  Franzosen,  Englander,  Italiener, 
Pol  en.  Faisch;  England  und  Frankreich  und  Italien  sind  keines- 
wegs  auf  Deutschland  allein  angewiesen,  das  ist  eine  sinnlose 
Oberschatzung  der  deutschen  Position. 

Sechste  Lxige:  MKanada  kann  mit  Weizen  heizen,  aber  die 
Deutschen  konnen  ihre  Kohlen  nicht  essen."  Dann  sollen  sie 
den  kanadischen  Weizen  hereinlassen.  Das  tun  sie  aber  nicht. 
Die  deutsche  Landwirtschaft  verhindert  vielmehr  seit  dreiBig 
Jahren  mit  alien  Mittelnt  dal^  die  hohen  Lebensmittelzolle  fort- 
fallen;  sie  will  ihren  veralteten  und  unzureichenden  Betrieb 
gegen  die  auslandische  Konkurrenz  schiitzen,  auf  Kosten  der 
Deutschen,  die  teures  und  schlechtes  Brot  essen  miissen.  Aber 
Kanada  heizt  mit  Weizen. 

Siebente  Liige:  „Nehmt  diese  Last  —  Versailles  —  von  der 
Welt,  und  sie  ist  geheilt."  Falsch:  es  gibt  allerdings  eine  Last: 
wenn  man  die  von  der  Welt  nimmt,  dann  ginge  es  ihr  besser, 
und  das  ist  der  Kapitalismus,  der  wohl  Geld  hat,  einen  solchen 
Schund  wie  dieses  Heft  zu  bezahieii,  aber  gar  kern  Geld,  seine 
Gewinne  anstandig  zu  verteilen. 

Es  ist,  wie  wenn  Gott  sie  mit  Blindheit  geschlagen  hat,  um 
sie  desto  sicherer  zu  verderben,  DaB  um  sie  herum  alles  ver- 
dorrt;    dafi   diese   Angestellten,   denen  sie  kleine   Brotbrocken 

330 


hinwerfen,  damit  sie  nicht  auf  den  Kuchcn  schielen,  immcr 
lustloser  arbeiten,  wcil  cs  ja  keinch  Sinn  mehr  hat,  diese  Arbeit 
zu  verrichten  --das  sehen  sie  nicht.  Sie  machen  Propaganda. 
Daftir  haben  sie  Zeit,  und  dafiir  haben  sie  Geld. 

DaB  diese  Propaganda  nun  auch  noch  ganzlich  nutz-  und 
sinnlos  vertan  ist,  sei  nur  nebenbei  erwahnt.  Welcher  gran- 
diosen  Tauschung  gibt  sich  doch  Deutschland  iiber  seine  eigne 
Stellung  in  der  Welt  hin!  Dasselbe  haben  sie  in  den  Kriegs- 
jahren  getan,  sie  sind  damit  elend  hereingefallen  —  sie  haben 
nichts  dazu  gelernt. 

Diese  Reparationsfibel  hat  viele  schone  Empfehlungen  auf 
den  Weg  mitbekommeh.     Die  Mittel,  deren  sich  diese  Propa- 
ganda bedient,  sind  so  kindlich,  so  dumm,  so  weltenweit  von 
der  Denkungsart  der  Volker  entfernt,  an  die  sie  sich  wendet  . 
aber  das  macht  nichts. 

Doktor  Schieck,  sachsischer  Ministerprasident:  „Ich  bin  der 
Oberzeugung,  daB  die  anschauliche  Darstellung  dazu  beitragen 
wird,  den  Widersinn  der  Reparationszahlungen  auch  dem  Aus- 

lande  vor  Augen  zu  fiihren."     Seeckt:  ganz  auBerordent- 

lich  wirkungsvolL"  Geheimrat  Kummel,  ein  Arzt:  . . .  ein  zwei- 
fellos  groBes  Verdienst . . ,"  (MuB  heiBen:  ,fein  zweifellos 
groBer  Verdienst").  Westarp:  „. . .  fiir  besonders  wirksam  . . ,". 
Reichsbankprasident  Doktor  Luther;  „.  ...  in  eindringlicher  und 
klarer  Weise  die  die  ganze  Welt  schadigende  Wirkung  der  Re- 
parationen  ,  .7'  Generaldirektor  Amsinck,  Hamburg-Sudameri- 
kanische  Dampfschiffahrts-Gesellschaft:  „Ich  kann  nur  hoffen  .  /' 
Uhd,  damit  auch  dies  nicht  fehlt,  Walter  von  Molo:  „Die  Ver- 
breitung  dieser  Fibel  ist  Menschenpflicht  und  drum  auch  echt 
deutsche  Pflicht . .  ."    JJa  gewiB  doch. 

Und  man  fragt  sich:  Wo  leben  eigentlich  alle  diese?  Auf 
dem  Mond-  Aber  sie  gleichen  einer  ProzeBpartei,  die  sich  an 
den  Schriftsatzen  des  eignen  Anwalts  delektiert,  Der  Richter 
durchfliegt  sie  vielleicht,  und  Wirkung  haben  sie  gar  keine. 

Gelogen,  daB  Versailles  an  allem  schuld  sei.  Gelogen,  daB 
die  ubrige  Welt  andre  als  egoistische  und  kapitalistische  ■  In- 
teressen  an  Deutschland  habe  —  und  diese  Interessen  sind 
noch  nicht  ein  Zehntel  so  groB  wie  Deutschland  glaubt.  Ge- 
logen, daB  diese  faule  Kriegspropaganda  .  irgend  etwas  fiir 
Deutschland  bewirkt. 

Und  das  fuhrt.  Und  das  gibt  ^den  Ton  an.  Und  das  ent- 
scheidet  iiber  die  Gewirinverteilung,  Begeistert  umbrullt  von 
den  Biirgersohnen,  die  ihren  Kohlriibentatendrang  an  Juden 
auslassen  oder  an  Arbeitern  und  in  den  StraBen  der  Univer- 
sitatsstadte  einen  Krieg  fiihren,  den  zu  fiihren  ihnen  drauBen 
verwehrt  ist. 

Reparationsfibel  ist  ein  gutes  Wort.  Das  Zeug  ist  gut  genug 
fiir  kleine  Kinder.  Das  Ausland  aber  liest  es  nicht,  und 
Deutschland  ist  keine  Klippschule. 

Die  einzige  Hoffnung,  die  bleibt,  ist  die  auf  eine  opposition 
iielle,  radikale  und  politisch  klar  denkende  Jugend.  Die  Alten 
aber  werden  noch  im  Sarg  murmeln: 

Entlassungen,  Herabsetzung  der  Lohne.  Zu  hohe  Sozial- 
lasten,    Versailles. 

331 


Korruption  auf  Filzpantoffeln  von  udwig  Quidde 

Uor  kurzem  sind  die  umfangreichen  Protokollc  des  sogenann- 
ten  Sklarek-Untersuchungsausschusses  veroffentlicht  wor- 
den,  Aus  ihnen  -ergibt  ■  sich  die  authentische  Begriindung  fur 
das  Urteil,  -das  der  AusschuB  iiber  die  Personlichkeit  des 
Oberbtirgermeisters  BoB  gefallt  hat.  Dieses  sehr  vorsichtig 
formulierte  Urteil  kam  zu  der  Feststellung;  „Vor  allem  war 
der  damalige  Oberbiirgermeister  BoB  seinen  Amtsaufgaben 
nicht  gewachsen.  Dariiber  hinaus  bewahrte  er  nicht  diejenige 
personliche  Zuriickhaltung,  die  seine  besonders  exponierte 
aratliche  Stellung  als  Oberhaupt  der  Reichshauptstadt  erfor- 
dert  hatte."  Diese  Konstatierung  ist  schmerzlich,  Aber  Herr 
BoB  wird  damit  zugleich  von  viel  weitergehenden  Beschuldi- 
gungen,   deren  Opfer  er  war,  entlastet. 

Widerwartig  war  es,  wie  skandalierende  Horden  den 
aus  Amerika  zuruckkehrenden  Oberburgermeister  empfingen, 
und  das  Disziplinarurteil  erster  Instanz,  das  ihn  ,,der  Achtung 
unwurdig"  etcetera  erklarte,  werden  mit  mir  viele  als  eine 
unverdiente,  brutale  Harte  empiunden  haben.  Andrerseits  aber 
rriuB  ich  sagen:  als  in  der  ungliicklichen  Pelzaffare  das  BoBsche 
Telegramm  aus  Amerika  veroffentlicht  wurde,  also  die  eigne, 
zur  Rechtfertigung  gegen  verleumderische  Angriffe  bestimmte 
Darstellung  des  Angegriffenen,  war  mein  Urteil,  daB  BoB  in 
seiner  Stellung  nicht  bleiben  konne,  fertig. 

Dieselbe  Meinung  habe  ich  freilich  schon  einmal  in  einem 
andern  einigermaBen  ahnlichen  Fall  gehabt,  und  bin  durch  die 
Entwicklung  Liigen  gestraft  worden.  Das  war  damals,  als  in 
den  Jahren  nach  Beendigung  des  Krieges  die  Zuckervorrate  in 
Deutschland  noch  so  knapp  waren,  daB  deren  Verteilung  der 
offentlichen  Kontrolle  unterstellt  war,  der  deutsche  Weinbau 
aber  einen  starken  Bedarf  an  Zucker  hatte,  dessen  Zuweisung 
dem  Ministerium  fiir  Ernahrung  und  Landwirtschaft  zustand. 
Damals  machte  eine  Winzergenossenschaft  dem  zustandigen 
Minister  Hermes  eine  Kiste  ausgesucht  schoner  Weine  zum 
Selbstkostenpreis  —  man  darf  wohl  sagen  —  zum  Prasent.  Der 
Minister  aber  nahm  die  Kiste  dankend  an,  anstatt  sie  entrtistet 
zuriickzuweisen.  Ich  nahm  als  selbstverstandlich  an,  daB 
ein  Minister,  der  so  inkorrekt  gehandelt  hatte,  aus  seinem 
Amt  scheiden  miisse.  Aber,  weit  gefehlt,  er  blieb  ruhig  Mi- 
nister und  wurde  spater  in  andre  sehr  einfluBreiche  Stellungen 
berufen,  stand  an  der  Spitze  der  Delegation,  die  iiber  den 
Handelsvertrag  mit  Polen  zu  verhandeln  hatte,  ist  heute  einer 
der  Prasidenten  der  ,,Griinen  Front"  und  wird  zu  wichtigen 
amtlichen  Auftragen  verwandt. 

Da  handelte  ein  alter  Freund  von  mir,  ein  einfacher  Land- 
biir  germeister,  anders,  Wahrend  ja:  die  Landbevolkerung  in 
der  Kriegszeit  im  allgemeinen  keinen  Mangel  an  Nahrungs- 
mitteln  litt,  hungerte  er  mit  seiner  Familie  wie  ein  GroB- 
stadter;  denn  er  hatte  sein  Gut  verpachtet  und  der  Pachter 
belieferte  ihn  nicht,  —  aus  Griinden,  die  nicht  hierher  gehoren, 
In  seinen  Handen  lag  natiirlich,  wie  iiberall  bei  den  Gemeinde- 
behorden,  die  Zuteilung  der  verschiedenen  Bezugskarten.  Nun 
332 


kam  es  6fter  vor,  daB  Bauern  seines  Dorfes  ihrem  unterernahr- 
ten  Biirgermeister  Butter  bringen  wollten.  Er  setzte  sie  an 
die  Luft  mitsamt  der  Butter.  Er  hatte  eben  das  richige  Ge- 
fiihl  fur  das,  was  sich  fur  den  Vertreter  einer  Behorde  schickt, 
und  hatte  die  rechte  Witterung  fiir  die  so  harmlos,  gleichsain 
auf  Filzpantoffeln  heranschleichende  Korruption, 

Niemand  wird  ja  annehmen,  daB  sich  Herr  B6B  oder  Herr 
Hermes  durch  den  Pelz  oder  die  schonen  Weine  zu  einer 
pflichtwidrigen  Handlung  hatten  bestimmen  lassen  oder  daB  es 
auch  nur  die  Absicht  der  Herren  Sklarek  oder  der  Winzer- 
genossenschaft  oder  der  Butter  bringenden  Bauern  gewesen 
ware,  die  Vertreter  der  Behorde  zu  „bestechen'\  Aber  ebenso 
wenig  handelten  sie  doch  aus  ganz  uneigenniitziger  Freund- 
schaft.  Am  ehesten  ware  das  noch  bei  den  ihrem  Burger- 
meister aufrichtig  zugetanen  Bauern  anzunehmen.  Ihr  Gedanke 
war  doch  der,  eine  freundliche  Beziehung  zu  einer  in  wichtigen 
Fragen  entscheidenden  Personlichkeit  herzustellen,  um . .  .  ja 
urn:  man  kann  ja  nicht  wissen,  wie  solch  ein  freundliches 
Verhaltnis  sich  mal  rentiert,  ohne  daB  grade  eine  pflicht- 
widrige  Begunstigung  in  Frage  zu  kommen  braucht, 

Es  miiBte  deshalb  selbstverstandlich  sein,  daB  jeder  Ver- 
treter einer  Behorde  die  strengste  personliche  Zuriickhaltung 
bewahrt  imx  Verkehr  mit  Personen,  die  mit  seiner  Amtsstetie 
amtlich,  besonders  geschaftlich,  etwas  zu  tun  haben,  und  daB 
er  sich  von  ihnen  auch  nicht  die  geringsten  Gefalligkeiten  er- 
weisen  laBt,  besonders  aber  kerne  offenen  oder  versteckten 
Geschenke  annimmt. 

Nicht  genugdamit:  wenn  einem  Beamten,  der  an  der  Spitze 
einer  Behorde  steht,  jemand  in  dieser  Weise  naht,  so  muB  er  sich 
doch  selbstverstandlich  die  Frage  vorlegen,  welchen  Ver- 
suchungen  wohl  die  Untergebenen  ausgesetzt  sind,  wenn  man 
schon  wagt,  ihm,  dem  Chef,  die  Annahme  solcher  Freundlich- 
keiten  von  materiellem  Wert  zuzumuten.  Oberbiirgermeister 
BoB  hatte  sich  sagen  mtissen,  daB,  wenn  ein  Sklarek  sich  her- 
ausnimmt,  ihm  oder  seiner  Frau  einen  wertvollen  Pelz  zu  ver- 
ehren,  wahrschemlich  in  den  untern  Spharen  der  Stadtverwal- 
tung  schon  eine  heillose  Korruption  eingerissen  sein  wird.  So 
war  es  ja  in  der  Tat,  Das  Pelzgeschenk  hatte  eine  scharfe 
Untersuchung  iiber  die  Beziehungen  nachgeordneter  Beamten 
zu  den  Sklareks  zur  Folge  haben  mussen,  -  Und  auch  Mi- 
nister Hermes  hatte  gut  getan,  aus  der  Kiste  Wein  (die  ja  ge- 
wiB  erheblich  harmloser  als  der  Pelz  des  Herrn  Sklarek  war) 
ahnliche  Folgerungen  zu  ziehen,  Dafi  in  seinem  Ministerium 
schwere  Korruption  eingezogen  war,  hat  ja  der  Fall  Augustin 
bewiesen,  der  am  6.  Dezember  1920  im  Reichstag  zur  Sprache 
kam,  Ein  hoher  Ministerialbeamter  hatte  erst  tausend,  dann 
sechstausend  Mark  vora  Geschaftsfuhrer  der  Ackerbaugesell- 
schaft  erhalten.  Dabei  handelte  es  sich  nicht  um  die  Bewirt- 
schaftung  des  Zuckers    sondern  der  Dungemittel, 

Klagen  iiber  Korruption  in  unserm  offentlichen  Leben, 
iiber  eine  Korruption,  die  nicht  auf  Filzpantoffeln  daher- 
schleicht,  sondern  die  schon  mit  Wasserstiefeln  im  Schlamm 
herumtrampelt,  so  dafi  der  Schmutz  hoch  aufspritzt,  reiBen 
nicht  ab,     Sie  wird  in  reaktionaren  Kreisen  der  Republik  aufs 

333 


Schuldkonto  geschrieben.  Es  liegt  ja  det  Verdacht  nahe,  daB 
das  Eindringen  von  Pcrsonen  in  die  Verwaltung,  die  nicht  in 
der  strengen  Schule  eines  ehrenfesten  Beamtentums  aufge- 
wachsen  sind,  die  Schuld  an  der  Locker  ung  der  Ehrbegriffe 
und  an  der -Korruption  trage.  Ich  weiB  nicht,  ob  man  versucht 
hat,  den  Anteil  der  alt  en  und  der  neiien  Beamtenschaf  t  an  der 
Korruption  statistisch  zu  erfas$en.  Mir  ist  nur  aufgef alien,  wie 
haufig  Personen,  die  dem  alten  Beamtenstande  oder  den  Ge- 
sellschaftsschichten  der  alten  Bourgeoisie  entstammen,  also 
nicht  zu  den  „NutznieBern  der  Revolution"  zu  zahlen  sind,  zu 
den  Schuldigen  gehoren. 

Die  ganze  Diagnose  ist  aber  falsch.  Die  Korruption,  unter 
der  wir  leidcn,  geht  nicht  auf  die  politische  Umwalzung,  son- 
derri  auf  den  Krieg  zuruck.  Darin  hatte  der  preuBische  Mi- 
nisterprasident  Braun  in  jener  Reichstagssitzurig  vom  De- 
zember  1920  ganz  recht  Wahrend  des  Krieges  beherrschten 
Unehrlichkeit  und  Betrug  das  politische  und  wirtschaftliche 
Leben,  Angefangen  von  der  gewissenlosen  Ausbeutung  der 
patriotischen  Aufopf erung  -  einer  fur  die  Verteidigung  des 
Vaterlandes  zu  den  Fahnen  eilenden  Jugend  fiir  die  Erobe- 
rungsziele  der  Schwerindustrie,  angefangen  von  der  Verlogen- 
heit  der  Heere&berichte,  angefangen  von  der  schamlosen  Be- 
wucherung  des  Reiches  durch  die  groBen  Kriegsgewinnler  bis 
herab  zu  den  Geschaftspraktiken  der  kleinen  Schieber  und  bis 
zu  den  unzahligen  Verordnungen,  die  schliefilich  auch  von  den 
rechtlichsten  Burgern  ohne  Gewissensbisse  ubertreten  wurden, 
iiberall  die  Gewohnung  an  eine  Unehrlichkeit,  die  das  Ver- 
harren  bei  den  Grundsatzen  alter  Ehrbarkeit  vielmals  als  eine 
altfrankische,  etwas  lacherliche  Weltfremdheit  erscheinen  lieB. 

Es  ist  ja  auch  gar  nicht  wahr,  daB  es  in  dem  kaiserlichen 
Deutschland  keine  Korruption  gegeben  hatte.  Nur  trat  sie  in 
vorwiegend  andern  Formen  auf*  Was  war  denn  die  ganz  offen 
bei  Besetzung  der  Amter  getriebene  Protektionswirtschaft  auf 
Grund  von  Familienbeziehungen  und  Korpsstudententuni 
anders  als  Korruption?  Auch  die  Ausnutzung  von  Beamten- 
stellung  und  allerhand  andern  Beziehungen  zu  wirtschaftlichen 
Vorteilen  fehlte  nicht*  Ich  erinnere  nur  an  den  Fall  Podbielski 
und  Tippelskirch  oder  an  die  Versuche,  die  Konkurrenz 
andrer  fabriken  zugunsten  der  Firma  Krupp  auszuschaiten. 
Bei  gewissen  Gelegenheiten  trat  die  Korruption  des  offent- 
lichen  Lebens  sogar  viel  ungenierter,  man  darf  wohl  sagen: 
schamloser,  auf.  Bismarck  erzahlte  im  Reichstag  vor  ver- 
sammeltem  Kriegsvolk:  da  er  sich  durch  den  Landrat  des 
Kreises,  zu  dem  sein  Gut  Varzin  gehorte,  schlecht  behandelt 
fuhlte,  habe  er  „die  Klinke  der  Gesetzgebungf\  die  in  seiner 
Hand  gewesen  sei,  benutzt,  um  die  Kreisgrenzen  zu  verlegen! 
Darauf  erhob  sich  kein  Sturm  der  Entnistuag.  Dieser  unglaub- 
liche  MiBbrauch  der  offentlichen  Gewalt  fiir  die  Privatinter- 
essen  des  leitenden  Ministers  wurde  wie  eine  Selbstverstand- 
lichkeit  oder  doch  Harmlosigkeit  hingenommen,  Wenn  die 
offentliche  Moral  so  tief  gesuriken  war,  sollten  die  Vertreter 
des  „alten  PreuBen (  sich  eisige  Zuriickhaltung  auferlegen  in 
GeiBelung  der  Korruption,  die  heute  herrscht  und  die  zu  be- 
kampfen  die  Republik  heroische  Anstrengungen  machen  muB. 

334 


Amerikanisches  Mittelalter  von  Frank  Harris 

Cin  deutscher  Verleger  brachte  mich  anlaBlich  des  Falles 
Chaplin  auf  den  Gedanken,  iiber  die  moralische  Hcuchelci 
in  den  Vereinigten  Staaten  zu  schreiben.  Ich  tat  dies  urn  so 
lieber,  weil  ich  auch  im  Ausland  einmal  dieser  Heuchelei,  die 
so  grofi  ist  wie  die  Staaten  selbst,  entgegentreten  wollte. 

Die  in  Amerika  maBgebenden  Schichten  sind  eine  Art 
schlechter  demokratischer  Variation  Englands,  und  ein  jiingst 
vorgekommener  Gerichtsfall  hat  wiederum  klar  und  deutlich 
Englands  moralische  Heuchelei  in  geschlechtlichen  Dingen  ge- 
zeigt:  Der  fruhere  Offizier  Peter  Wright  hatte  von  dem  ver- 
storbenen  Premierminister  Gladstone  behauptet,  daB  dieser  in 
sexueller  Beziehung  notorisch  unsittlich  gewesen  sei.  Er 
wurde  hierauf  von  Lord  Herbert  Gladstone,  dem  Sohn,  offent- 
lich  „Liigner  und  Feigling"  genannt.  Der  Fall  kam  yor  Ge- 
richt,  und  zwar  vor  den  Richter  Avory.  .Wright  bewies,  daB 
schon  Lord  Milner  gesagt  hatte,  Gladstone  halte  sich  ein 
,, seraglio*';  aber  der  gebildete  Richter  versicherte  der  Jury, 
daB  nach  seiner  Kenntnis  des  Italienischen  das  Wort  ,, seraglio" 
etwas  ganz  Unschuldiges  bedeute.  Der  arme  Richter  wuBte 
eben  nicht,  daB  MseragJio'*  nicht  nur  im  Italienischen  vor- 
kommt,  denn  hatte  er  in  Johnsons  Dictionary  nachgeschlagen, 
so  hatte  er  gesehen,  daB  der  groBe  Lexikograph  durchaus 
nicht  seiner  Meinung  war.  ,, Seraglio",  sagt  namlich  Johnson, 
„is  a  house  of  women  kept  for  debauchery",  Aber  jene  eng- 
lische   Jury  akzeptierte   Richter  Avorys   anmaBende   Ignoranz. 

Die  Moralheuchelei  Amerikas  ist  die  direkte  Fortsetzung 
der  englischen,  und  ich  werde  dies  sorgfaltig  beweisen:  aber  ich 
mochte  vorerst  feststellen,  daB  die  amerikanische  Heuchelei 
auf  einem  weit  niedrigeren  und  sumpfigeren  Niveau  wuchert 
als  die  englische. 

Seit  vielen  Jahren  briistet  sich  England  mit  seiner  Kultur 
der  individuellen  Freiheit,  und  auch  Amerika  nennt  sich  „the 
land  of  the  Free",  spreizt  also  die  gleichen  Federn.  Gewissen- 
hafte  Beobachter  haben  jedoch  aufgezeigt,  daB  diese  angel- 
sachsische  Freiheit  nur  eine  politische  ist,  keine  soziale,  ge- 
schweige  denn  eine  kiinstlerische.  Der  Despotismus  def  Prii- 
derie  ist  und  war  in  England  iiberall  anerkannt;  eine  Zeit  lang 
schien  es,  als  ob  die  Vereinigten  Staaten  in  bezug  auf  Priiderie 
und  politische  Freiheit  England  durchaus  kopieren  wollten.  In 
Wirklichkeit  gingen  sie  aber  ein  Halbjahrhundert  lang  iiber 
das  englische  Muster  weit  hinaus.  Washington  und  Jefferson, 
die  Begrtinder  der  ^Constitution,  waren  leidenschaftliche  Ver- 
'  ehrer  der  individuellen  Freiheit.  Diese  Liebe  zur  Freiheit  des 
Individuums  ist  verkorpert  im  ersten  Zusatz  zur  Konstitution, 
in  dem  gesagt  wird,  daB  weder  der  President  noch  der  KongreB 
jemals  das  Recht .  haben  sollten,  die  Freiheit  der  Rede,  der 
Presse  oder  der  offentlichen  Versammlung  einzuschranken. 

Prasident  Wilson  wurde  unter  dem  Schlagwort:  „er  hielt 
uns  vom  Krieg  fern"  zum  zweitenmal  gewahlt.  Als  er  dann 
doch  in  den  Krieg  zog,  geschah  dies,  wie  bekannt,  gegen  den 
Willen  des  Volkes.  So  konnte  er  beispielsweise  im  ganzen 
Staate  New  York  kaum  zehntausend  Kriegsfreiwillige  auftrei- 

335 


ben,  Abcr  die  ausgehaltene  Presse  hattc  nach  dem  Krieg  ge- 
schrien,  Wall  Street  und  die  Morgans  waren  alle  gierig  nach 
dem  Krieg,  der  sie  bereichern  sollte,  und  so  kam  der  Krieg. 

Mit  der  Kriegserklarung  offenbarte  sich  plotzlich  ein  neuer 
Geist  in  Amerika,  ein  Geist,  wie  er  sich  niemals  vorher  im 
Lande  gezeigt  hatte.  Herbert  Spencer-  hatte  gelehrt,  daB  die 
individuelle  Freiheit  in  England  immer  gedeihen  miisse,  da  die 
Insel  von  der  (ibrigen  Welt  total  abgeschlossen  sei  und  daher 
frei  von  jeglichem  Druck  von  auBeri.  Und  ein  erstarktes 
Amerika  miisse  immer  fur  das  Recht  der  individuellen  Freiheit 
eintreten,  denn  die  Vereinigten  Staaten  seien  frei  von  irgend- 
welchem  auBern  Druck.  Aber  Spencer  zog  niemals  die  Zen- 
tripetalkraft  der  sozialen  Gravitation  im  Lande  selbst  in  seine 
Rechnung,  die  im  Verhaltnis  zur  Volksmasse  wachst  und  wirk- 
sam  wird.  Diese  Kraft  kam  in  Amerika  in  Form  des  wahn- 
sinnigsten  Herdeninstinkts  zur  Erscheinung,  weit  lurchtbarer  als 
jemals  in   Europa  sich  Untertanengeist  gezeigt  hatte. 

Zuerst  wollte  Wilson  vom  KongreB  die  Befugnis  erhalten, 
die  Freiheit  der  Rede  und  der  Presse  zu  beschranken.  Er 
wurde  abgewiesen.  Einige  Monate  spater  gelang  es  ihm,  den 
infamen  Espionage  Act  durchzubringen,  auf  Grund  dessen  zwar 
spater  niemals  ein  Spion  entdeckt  wurde,  der  aber  dem  Pra- 
sidenten  die  Machtmittel  in  die  Hande  gab,  die  Freiheit  der 
Rede  und  der  Presse  zu  unterdrticken. 

Kriegsgegner  aus  Gewissensgrunden  wurden  in  England 
eine  Zeit  lang  mit  Milde  behandelt  und  niemals  mit  mehr  als 
zwei  Jahren  Gefangnis  bestraft;  in  den  U.S.  verurteilte  man 
sie  oftmals  zu  zwanzig  und  selbst  zu  vierzig  Jahren  Gefangnis. 
Soldaten,  die  schon  genug  vom  Kriege  hatten,  wurden  in  den 
Gefangnissen  oft  und  oft  von  hierzu  eigens  beorderten  Offi- 
zieren  blutig  geschlagen;  in  vielen  Fallen  starben  die  Opfer  in- 
folge   der  unmenschlichen  Behandlung. 

Der  Fall  der  Molly  Steimer  ist  typisch,  Als  Russin  pro- 
testierte  sie  gegen  den  illegalen  Krieg,  den  Wilson  gegen  ihr 
Vaterland  fiihrte;  sie  wurde  in  Untersuchungshaft  genommen 
und  zu  einer  funfzehnjahrigen  Gefangnisstrafe  verurteilt,  ob- 
gleich  sie  erst  achtzehn  Jahre  alt  war. 

Radikale  und  selbst  sozialistische  englische  Blatter  setz- 
ten  in  nahezu  vollkommener  Freiheit  ihre  Antikriegspropa- 
ganda  fort.  In  Amerika  wurde  vierzig  von  zweiundvierzig 
Blattern  der  Maulkorb  umgehangt,  sie  wurden  unter  irgend- 
einem  Vorwand  systematisch  ruiniert.  Die  Kerdenpsychose 
aber  gebardete  sich  von  Tag  zu  Tag  tollwiitiger,  dank  den  An- 
strengungen  der  ausgehaltenen  Presse,  die  nicht  erlahmte,  den 
liblen  Brei   immer  wieder   aufzukochen. 

Selbst  ernstzunehmende  Richter  lieferten  sich  der  allge- 
meinen  Stimmung  aus  und  entblodeten  sich  nicht,  beispiels- 
weise  einen  Mann  ins  Gefangnis  zu  werfen,  weil  er  Satze  aus 
der  Bergpredigt  veroffentlicht  hatte,  oder  einen  Zeitungsher- 
ausgeber,  weil  er  eine  Stelle  aus  Washingtons  ,,Last  Address. 
to  the  American  People"  zitiert  hatte. 

Kurz,  Amerika,  das  niemals  einen  Feind  gehabt  hatte, 
Amerika,  dessen  Herzen  und  Heimstatten  von  dem  Weltmord 
hatten   unversehrt  bleiben    konnen,   erlangte   die   traurige   Be* 

336 


ruhmtheit  einer  Intoleranz,   die  man  sich  in  England,  Frank- 
reich.  odcr  Deutschland  nic  hatte  traumen  lasscn. 

Und  als  der  Krieg  zu  Ende  war  und  wieder  Friede,  als 
England  und  Frankreich  einc  allgemeine  Amnestic  erlieBea 
und  sich  uberall  die  Gefangnistore  den  ehrlichen  Kriegsgegnern 
offneten,  da  hielten  die  U.S.A.  in  einem  Anfall  von  kindischenx 
HaB  die  Zellen  verschlossen,  Noch  zwei  Jahre  nach  Friedens- 
schluB  fiihrte  der  Versuch,  deutsche  Musik  nach  New  York  zu; 
bringen,  zu  einem  Skandal;  ehemalige  Frontsoldaten  wollten. 
es  einfach  nicht  gestatten,  daB  man  in  Amerika  Musik  von. 
Mozart,  Beethoven  oder  Wagner  hore.  Auch  die  deutsche 
Sprache  war  lange  in  den  Schulen  als  Lehrgegenstand  ver- 
boten,  und  deutsche  Wiirste  konnten  nur  unter  italienischea 
Namen  in  den  Handel  gebracht  werden, 

Nirgends  in  der  traurigen  und  weglosen  Geschichte  der 
Menschheit  gibt  es  irgendein  Beispiel  fur  einen  so  kindischen, 
und  zugleich  viehischen  Terror,  wie  er  in  Amerika  uberall  zu~ 
tage  trat,   von  New  York   bis   San  Franzisco, 

Dieses  Wilson-Regime  war  der  Wellenberg;  aber  schon. 
lange  bevor  er  kam,  hatte  sich  der  Despotismus  der,  Dollar- 
aristokratie  vollkommen  etabliert.  Er  hatte  praktisch  das; 
heiligste  der  individuellen  Rechte  abgeschafft,  das  Recht  nam- 
lich,  daB  jeder,  dessen  Schuld  vor  einem  offenttichen  Gericht 
in  einem  ordentlichen  Gerichtsverfahren  nicht  erwiesen  wor- 
den  war,  als  unschuldig  zu  gelten  habe. 

E^s  sind  jetzt  ungefahr  zwanzig  Jahre  her,  seitdem  die- 
amerikanische  Polizei  mit  Methoden  begann,  die  einstmals 
durch  die  heilige  Inquisition  in  Spanien  eingefiihrt  worden 
waren.  Man  fing  namlich  mit  jener  Methode  an,  die  sich 
euphemistisch  der  ,,dritte  Grad"  nennt  und  die  naher  zu  be- 
leuchten  notwendig  ist;  Es  ist  jetzt  die  Gewohnheit  der  ameri- 
kanischen  Polizei,  einen  Verdachtigen  solange  einer  unmensch- 
lichen  Folterung  zu  unterwerfen,  bis  er  gesteht.  Das  ungliick- 
liche  Opfer  wird  in  einen  Raum  gebracht  und  dort  be- 
fragt:  wenn  der  Delinquent  die  Ant  wort  verweigert,  wird  er 
geschlagen  und  bekommt  FuBtritte;  jede  Art  von  korperlicher 
Ziichtigung  wird  ihm  dort  zuteil.  Menschen  wurden  Tage  und 
Nachte  lang  wach  gehalten  und  in  grausamster  Weise  gemar- 
tert  und  haben  haufig  Verbrechen  gestanden,  von  denen  sie 
nichts  wuBten.  Es  ist  auch  vorgekommen,  daB  vollkommen 
unschuldige  Menschen  Selbstmord  begingen,  nur  um  der  Fol- 
terung zu  entgehen. 

Arger  noch;  amerikanische  Richter  wissen  darum  und  ak- 
zeptieren  die  Resultate  dieser  Methode;  sie  akzeptiereh  an- 
dauernd  Gestandnisse,  von  denen  sie  wissen,  daB  sie  durch  die 
Folter  erpreBt  worden  sind,  Und  am  argsten  ist  wohl,  daB: 
die  amerikanische  Of fentlichkeit  diese  nichtswiirdigste  aller 
Ungesetzlichkeiten  durch  eine  Gleichgultigkeit  sanktioniert,  die 
ohne  Beispiel  ist-  Nichts  konnte  dem  Durchschnittsburger 
druben  klarmachen,  daB  sein  Mitmensch  Rechte  inne  hat, 
die  er  in  seinem  eignen  Interesse  und  im  Interesse  der  ganzen 
Menschheit  verteidigen  sollte.  Von  Zeit  zu  Zeit  wird  dann 
ein  Fall  ruchbar,  der  vermutlich  anderswo  der  AnlaB  zu  mehr 

33T 


;als  zu  Zeitungsartikeln  ware.  Polizeibeamte  folterten  eincn 
jungen  Italiener,  der,  wie  sich  hernach  herausstellte,  voll- 
kommen  unschuldig  war,  urn  ein  Gestandnis  zu  erpressen;  in 
seiner  wahnsinnigen  Angst  sprang  er  aus  dem  Fenster  eines 
Zimmers  im  vierzehnten  Stockwerk  und  wurde  zerschmettert 
weggetragen,  Keinem  Menschen  fiel  es  damals  ein,  die  fur  diese 
Tortur  Verantwortlichen  anzuklagen;  keine  einzige  Zeitung 
brachte  Scham  oder  Trauer  zum  Ausdruck.  Die  Republik,  ge- 
griindet  von  Washington  und  JeHerson,  gibt  es  nicht  mehr;.  der 
Dollardespotismus  von  heute  wird  'durch  gerichtliche  Ver- 
brechen  gestiitzt,  die  iiberall  in  der  zivilisierten  Welt  AnlaB 
zu  einer  spontanen  Revolution  waren. 

Sieben  Jahre  lang  schrieb  und  sprach  ich  in  New  York  mit 
ganzer  Leidenschaft  gegen  diese  Kulturschande;  mit  dem  Er- 
folg,  daB  die  Zeitschrift,  die  mir  gehorte  und  die  ich  heraus- 
gab,  immer  wieder  durch  Anordnung  des  Generalpostmeisters 
auf  den  Postamtern  beschlagnahmt  und  aufgehalten  wurde,  so 
daB  ein  eingefiihrtes,  bliihendes  Unternehmen  in  kurzer  Zeit 
ruiniert  war;  ohne  Billigkeit  und  in  direkter  Umgehung  der 
Gesetze  durch  den  Postminister  A.  S.  Burleson. 

Und  als  man  mich  schlieBlich  vor  das  Post  Office  Gericht 
in  Washington  brachte  und  ich  von  Gouverneur  Dockery  for- 
mal freigesprochen  wurde,  da  wurde  mir  gleichzeitig  erklart, 
daB  meine  Spesen  nicht  vergutet  werden  konnten.  Das  reichste 
Land  der  Welt  hat,  wenn  es  einen  seiner  Burger  verfolgt  hat 
und  den  ProzeB  verliert,  kein  Geld,  um  dessen  Gerichtskosten 
zu  bezahlen. 

Was  Amerikas  Geschlechtsheuchelei  angeht,  so  ist  sie 
ebenso  schimpflich  wie  seine  Heuchelei  in  Dingen  politischer 
Freiheit,  Es  gibt  keine  richtige  Geschmackszensur  in  Lite- 
ratur  und  Kunst,  und  so  kann  es  passieren,  daB  man  den  einen 
Autor  verfolgt,  wahrend  ein  andrer  wegen  der  gleichen  Unge- 
niertheit  von  der  Offentlichkeit  verhatschelt  wird.  Das  Ge- 
schlechtsgesetz  ist  dem  Alkoholgesetz  ganz  ahnlich:  beide  Pro- 
hibitionen  wurden  von  den  Frauen  durchgesetzt.  Ich  erinnere 
mich,  wie  vor  nun  schon  fiinfzig  Jahren  in  Lawrence  (Kansas) 
und  in  Columbia  (Ohio)  Frauen  die  Saloons  zu  schlieBen  be- 
gannen,  ind'em  sie  sich  vor  ihnen  aufstellten  und  beteten.  In 
kiirzester  Zeit  hatten  sie  es  jedem  achtbaren  Menschen  un- 
moglich  gemacht,  einen  Saloon  zu  betreten;  er  wurde  verwarnt 
und,  wenn  er  f ortf uhr,  Bars  zu  besuchen,  schlieBlich  von  den 
Damen  der  Stadt  in  Acht  und  Bann  getan,  Und  ganz  in  der 
gleichen  Weise  verurteilen  die  Frauen  jedes  freimiitige  Buch, 
Theaterstiick  oder  BikL  Sie  ignorieren  die  Weltliteratur  des 
letzten  Halbjahrhunderts  und  ihre  Arbeit  fur  die  Freiheit, 
Einige  von  uns  tun  alles.  um  die  Literatur  und  die  drama- 
tische  Kunst  und  die  Kunst  iiberhaupt  von  dem  lahmenden 
EinfluB  angelsachsischer  Priiderie  zu  befreien  —  aber  was 
niitzt  es?  Es  ist  beispielsweise  noch  heute  in  England  verpont, 
das  Wort  „Bauch"  anzuwenden,  und  in  Amerika  gilt  selbst 
nMagen"  als  unstatthaft;  man  lehrt  uns,  schamhaft  von  ,,unsrer 
kleinen  Mary"  zu  sprechen. 

-338 


Voltaire  hat  gesagt,  daB  die  Anstandigkeit  in  die  Sprache 
*ingeht,  wenn  sie  aus  dem  Leben  verschwindet. 

Aber  all  diese  Scheinheiligkeit  und  Verbotsraserei, 
diese  ganze  furchtbare  Tyrannis,  durch  die  Folter  des  dritten 
Grades  uber  den  Burger  verhangt,  ist  nur  ein  Symbol  der 
auBerordentlichen  Verirrttng  des  Landes,  ein  Resultat  der  all- 
gemeinen  Stupiditat.  In  raehreren  Staaten  ist  gegenwartig  das 
Rauchen  gesetzlich  verboten,  und  in  den  durchfahrenden  Zii- 
gen  werden  die  Reisenden  angehalten,  bei  Passieren  der 
Grenze  das  Rauchen  einzustellen.  Dies  im  „Lande  der  Freiheit"! 

Alles  in  den  Vereinigten  Staaten  ist  der  Gier  nach  Geld 
untertan;  es  ist  so  leicht,  Geld  zu  machen,  daB  alle  Menschen 
von  Talent,  ja  selbst  von  Genie,  in  diesen  verhangnisvollen 
Strudel  gerissen  werden,  Alle  fahigen  Leute  werden  druben 
reich,  Aber  was  niitzt  es  dem  Menschen,  wenn  er  die  ganze 
Welt  gewinnt  und  seine  Seele  dabei  verliert.  Amerika  hat  seine 
Seeie  verloren;  der  Geist  Franklins,  Jeffersons  und  Washing- 
tons  ist  tot,  und  es  gibt  keine  Seele,  kein.  WertmaB  mehr  jen- 
seits  des  Materiellen. 

Ich  entsinne  mich,  daB  einmal  eine  gemeinsame  Bekannte 
Tor  Warren  Harding  anerkennend  auf  mich  hinwies,  und  Har- 
ding, der  damals  fur  die  Prasidentschaft  kandidierte,  mich 
schriftlich  bat,  ihn  in  seinem  Heim  in  Marion,  Ohio,  zu  be- 
suchen.  Ich  fuhr  hin  und  wir  hatten  ein  langes  Gesprach.  Als 
ich  ihm  sagte,  daB  in  alien  Stadten  mit  mehr  als  fiinfzigtausend 
Einwohnern  Hochschulen  fiir  Musik  und  Literatur  und  Lehr- 
anstalten  fiir  Chemie  und  Physik  errichtet  werden  sollten,  ent- 
;gegnete  er:  ,,Ich  glaube,  daB  unser  Volk  das  gebildetste  der 
Welt  ist",  und  fiigte,  iriein  Lacheln  bemerkend,  hinzu:  ,,Ihre 
Reformen  wiirden  ungeheuer  viel  kosten,  woher  sollten  wir  das 
Geld  nehmen?" 

Ich  antwortete  einfach:  „Sie  verwenden  dpch  auch  jahr- 
lich  viele  Millionen  Dollar  fiir  Armee  und  Kriegsmarine,  ob- 
gleich  die  Vereinigten  Staaten  unbestreitbar  die  starkste  Macht 
der  Welt  sind  und  durch  ihr  Kapital  jedem  Angriff  trotzen 
konnen,  Warum  nicht  Armee  und  Kriegsmarine  abschaffen 
und  das  Geld  fiir  die  Volksbildung  verwenden?  Kommt  noch 
hinzu,  daB  Ihre  Armee  und  Marine  nichts  andres  ist,  als  ein 
falsches  *  GebiB,  mit  dem  Sie  im  Ernstfalle  nicht  zu  beiBen 
wagen  diirften,  Warum  also  nicht  ein  groBartig.es  Beispiel 
geben  und  dies  alles  mit  einem   Schlag  abschaffen?" 

„Unsre  Armee  und  Marine",  antwortete  Harding,  in  hef- 
tiger  Erregung  aufspringend,  ,,halten  wir  fiir  die  besten  Macht- 
mittel  der  Welt,  und  Sie  sagen,  sie  seien  ein  falsches  GebiB- . .! 
Ich  schatze  mich  ghicklich,  nicht  Ihrer  Meinung  zu  sein.  Ameri- 
kas  Platz  und  EinfluB  in  der  Welt  werden  durch  sie  bestimmt!" 

Und  Harding  war  keineswegs  der  unintelligenteste  unter 
den  amerikanischen  Prasidenten.  Aber  auch  seine  Nachfolger 
sind  darauf  erpicht,  die  amerikanische  Marine  zu  verstarken 
und   Wail  Street   allerhochste  Macht  zu  verleihen. 

Ubersetzt  von  Otto  Basil 

339 


Anglikana  von  Paul  Cohen-Portheim 

Tm  Jahre  1931: 

Gab  es  in  England  einige  Millionen  Arbeitslose.  /  Lie& 
Douglas  Fairbanks  fiir  scinen  londoncr  Schneider  eine  lebens- 
groBe  Wachsfigur  anfertigen,  auf  der  seine  Anziige  angeprobt 
werden.  /  SaB  Lady  Wimborne,  Fiihrerin  der  exklusivsten  lon- 
doner  Gesellschaft,  ohne  Hut  in  ihrem  Auto  und  rauchte  eine 
dicke  Zigarre.  /  Wurde  ein  Angestellter  der  groBen  Lloyds- 
Versicherungsgesellschaft  von  seinen  Kollegen  herausgeschmis- 
sen,  weil  er  das  Bureaugebaude  in  Plus-fours  betreten  hatte.  / 
Stundete  GroBbritannien  den  Dominions  die  Schuldenzahlun- 
gen,  was  aber  Sudafrika  ablehnte:  es  zahlte  lieber  weiter.  / 
Wurde  der  Rekord  der  Herstellung  eines  Herrenanzugs  ge- 
brochen,  indem  in  Huddersfield  zwei  Stunden,  neun  Minuten, 
sechsundvierzig  Sekunden,  nachdem  zwolf  Schafe  geschoren 
worden  waren,  der  Anzug  fertig  war.  Hundert  Minuten  dauerte 
die  Anfertigung  des  Materials,  woran  vierundneunzig  Mann 
arbeiteten,  wahrend  vierzig  Mann  den  Anzug  anfertigten.  Die 
Kosten  betrugen  100  Pfund  Sterling.  Der  amerikanische  Re- 
kord war  sechs  Stunden,  /  War  die  Kindersterblichkeit  seit; 
1900  um  50  Prozent  gesunken.  /  Wurden  achtzehn  alte  Gefang- 
nisse  ,abgerissen.  /  Wurde  in  einem  londoner  Vorort  (Dagen- 
Kam)  das  fiinfundzwanzigtausendste  Haus  innerhalb  der  Zeit 
von  zehn  Jahren  erbaut.  /  Baute  sich  auch  Mrs.  Wilfrid  Ashley 
ein  neues  Haus  mit  einem  Bett  aus  Glas  und  Spiegeln,  und 
Glaswanden  (undurchsichtigen).  /  Wurden  von  offentlichen 
Behorden  108  104179  Pfund  Sterling  fiir  Gesundheitsdienste 
ausgegeben,  gegen  23  457  109  Pfund  Sterling  im  Jahre  ,1900/1.  / 
Eiitstand  der  neue  Frauenberuf  der  l(Airhostess'\  die  wahrend 
des  Flugs  Bridgepartien  arrangiert,  Beltanntschaften  vermit- 
telt  und  auf  Sehenswurdigkeiten  aufmerksam  macht.  /  Kam 
im  Juni  der  Muff  wieder  in  Mode:  aus  frischen  Blumen  oder 
TiilL  /  Wurde  das  Dorchester  Hotel  in  Park  Lane  eroffnet:  das 
billigste  Zimmer  kostet  35  Shilling;  das  Hotel  hat  tiirkische 
Badert  ein  Institut  de  beaute,  eine  Sherry-bar;  wird  alle  zehn 
Minuten  mit  frischer  Luft  versehen,  hat  Kprkbelag  zwischen 
alien  Wanden,  so  daB  es  fast  gerauschlos  ist,  und  gepreBten 
Seetang  als  Deckenbelag.  Es  hat  keine  Hofe  und  alle  Fenster 
gehen  auf#  die  StraBen;  es  ist  feuerfest,  bombenfest  und  erd- 
bebenfest.  Es  hat  gegen  zwei  Millionen  Pfund  Sterling  ge- 
kostet.  Das  neue  Hotel  der  Canadian  Pacific  soil  drei  Mil- 
lionen Pfund  kosten;  der  Neubau  von  Regent  Street  hat  100^ 
Millionen  Pfund  gekostet.  /  Stiirzte  Mrs.  Gallien  ab  und  kam 
um.  Es  war  ihr  zweiter  Absturz,  bei  dem  ersten  hatte  sie 
sich  die  Beine  gebrochen.  Sie  hatte  eine  Expedition  nach 
dem  Tanganyika-Gebiet  bezahlt  und  geleitet,  und  war  allein 
im  Auto  wahrend  der  dortigen  Aufstande  in  Arabien  herum- 
gefahren.  /  Stiirzte  auch  die  Honourable  Mrs.  Edwin.  Montagu 
irgendwo  in  Asien  ab,  wurde  aber  gerettet,  weil  ein  Bekann- 
ter  von  ihr  zufallig  auch  in  Asien  herumflog.  Sie  bedauerte 
sehr,  ihr  Flugzeug  nicht  versichert  zu  haben,  da  sie  glaubter 
sich  im  Falle  eines  Absturzes  keine  Geldsorgen  mehr  machen 
zu  brauchen.  /  Wanderten  hunderttausende  von  Arbeitern  aus, 

340 


Nordengland  und  Wales  nach  Sudengland,  wo  neue  Industrie- 
werke  entstehen,  wahrend  die  Kohlen-  und  Stahlindustrie  zu- 
fuckgeht.  /  HinterlieB  Mr,  Otway  Robinson  sein  Vermogen 
(7000  Pfund  Sterling)  der  deutschen  Regierung  zugunsten  der 
Kriegsinvaliden,  da  ,,England  in  der  Lage  ist,  gut  fur  seine  In- 
validen  zu  sorgen",  /  Stieg  eine  junge  Dame  im  Badeanzug  in 
das  Springbrunnenbassin  in  Trafalgarsquare,  wodurch  sie  eine 
Wette  gewann.  /  Konnte  man  in  /The  Times1  folgende  Annon- 
cen  lesen:  Herr  mit  viel  iiberfliissiger  Zeit  umd  in  guten  Ver- 
haltnissen  wiinscht  Bekanntschaft  eines  gleichsituierten  Her- 
ren.  —  Weiter:  Antiquitaten.  Psychische  Vortrage  im 
Buddhazimmer.  Amerikanische  Gerichte  in  einem  orientali- 
schen  Salon.  25.  B,.  .street.  —  Comtesse  de  la  Calle  zeigt 
an,  daB  Mile.  Le  Dieu,  zwolf  Jahre  (bis  zur  Revolution)  Er- 
zieherin  der  spanischen  Konigsfamilie  von  jetzt  ab  mit  ihr  zu- 
sammen  eine  Schule  fur  junge  Damen  in  Paris  leiten  wird.  / 
SaB  der  Ex-Konig  von  Spanien  beim  Tennisturnier  in  Wimble- 
don dem  Ex-Konig  von  Portugal  gegeniiber.  /  Riefen  viele  hun- 
derte  von  Londonern  die  Polizei  telephonisch  an,  weil  die 
Erde  bebte.  /  Bekam  Lady  Blackwoods  Penkingese  zum  Lunch 
im  Ritz  Hotel  taglich  das  Herz  einer  Wachtel,  das  ihm  der 
Oberkellner  personlich  servierte.  /  Wurden  die  Touristen,  die 
die  Isle  of  Skye  (Schottlandj  besuchtcn,  gezwungen,  dem  Som> 
tags-Gottesdienst  beizuwohnen,  der  mindestens  zwei  Stunden 
dauert,  wenn  sie  Unterkunft  auf  der  Insel  linden  wollten. 

Zwei  SprachbUCher    von  Peter  Panter 

Deide  sind  von  Hans  Reimann:  ,,Vergnugliches  Handbuch  der 
deutschen   Sprache"    (erschienen  bei  Gustav   Kiepenheuer 
in  Berlin)  und  ,,Sachsisch"  (erschienen  bei  R.  Piper  &  Co.  in 
Munchen).     Beides  Kollegs  von  lehrreicher  Lustigkeit. 

Das  Vergniigliche  Handbuch  der  deutschen  Sprache  ist 
ganz  und  gar  unsystematisch  —  Reimann  hat  das  so  gewollt, 
und  er  hat  auch  gewuBt,  warum:  die  Leute  haiten  es  sonst  fiir 
eine  Grammatik,  und  dann  lesen  sie  es  nicht.  Schade  ist  es 
doch.  Denn  in  diesem  kleinQri  Buch  ist  mit  scharfster  Sprach- 
sorgfalt  eine  Fiille  von  Wissen  untergebracht,  und  weil  aber 
alles  mit  viel  Klamauk  erzahlt  ist,  von  Anekdoien  unter- 
brochen,  von  Witzen  und  allerlei  Erinnerungen,  so  wird  der 
Brillenleser  es  nicht  ernst  nehmen,  wenigstens  nicht  jene 
Sorte,  die  da  angesichts  eines  dicken  Walzers  meint:  ,,Wenn 
einem  dies  Buch  auf  den  FuB  fallt,  ist  man  lahm  —  also  ist 
es  ein  schweres  Buch".  Reimanns  Sprachbuch  ist  ein  leichtes 
Buch,  und  doch  kann  man  viel  daraus  lernen. 

Das  Sprachgefuhl  Reimanns  ist  so  lebendig  und  so  fein, 
daB  ich  ihm  und  uns  nur  eines  wiinschte:  er  sollte  einmal  das 
herrliche  Buch  des  alten  Wustmann  „AlIerhand  Sprachdumm- 
heiten"  neu  bearbeiten.  Die  Neuauilage  dieser  Sprachbibel 
ist  gekiirzt  und  lange  nicht  mehr  so  gut  wie  zu  Lebzeiten 
Wustmannst  und  manches  ist  veraltet  darin.  Es  ist  aber  keine 
Kenntnis  der  deutschen  Sprache  ohne  systematische  Arbeit 
moglich.    Warum  konnen  Frauen  meist  nicht  interpungieren? 

341 


Weil  sie  oft  nicht  wissen,  was  ein  Nebensatz  und  was  ein  er- 
weiterter  Infinitiv  ist,  und!  ohne  das  gents  nun  einmal  nicht. 

Doch  hat  Reimann  sein  Moglichstes  get  an,  um  das  Buch. 
nicht  zu  MAllerlei  Misccllcn  aus  der  Sprachlehre"  werden  zu 
las  sen,  und  so  viel  ich  auch  darin  umhergepickt  habe:  da  ist 
kaum  eine  Stelle,  zu  der  ich  nicht  aus  vollem  Herzen  Ja  sagte^ 
Schade  nur,  daB  er  seinen  Lesern,  die  diese  Freiheit  nicht 
yerdienen,  in  vielen  Fallen  die  Tur  zur  Anarchie  of  fen  lafit, 
indem  er  etwa  sagt:  man  schreibe,  wie  es  einem  um  den 
Federhalter  ist,  Willkiir  in  der  Sprachbehandlung  ist  meist 
vom  Obel,  und  ohne  testes  Geriist  kann  man  nicht  springen, 
AuBerordentlich  sein  eigner  Sprachreichtum,  auBerordentlick 
sein  innerer  KompaB  fiir  die  Sprache,  fiir  ihre  Komik,  fur  ihre 
Unzulanglichkeit,  fiir  die  Unzulanglichkeit  unsrer  Gehirne. 
Ganz  besonders  schon  und  ein  herrliches  Museum  der  ScheuB- 
lichkeiten  ist  das.  kleine  Schlagworter-Lexikon,  in  dem  er  alle 
diese  fiirchterlichen  Unarten  der  Epoche  von  „Abbau"  bis 
f,zyklothym"  aufbewahrt  hat.  Mochten  doch  alle  Redakteure 
ihren  Mitarbeitern  den  ernsthaften  Gebrauch  dieser  widerwar- 
tigen  Klischeeworter  verbieten! 

Reimann,  aber  zwei  Dinge  habe  ich  nicht  verstanden,  ein 
kleines  und  ein  grofies.  Das  kleine  ist:  ,,Ein  was  steht  nur  in 
zwei  Fallen,  Erstens  nach  alles  und  zweitens,  wenn  auf  den 
Inhalt  des  vorangegangenen  Satzes  oder  aui  mehrere  Worter 
Bezug  genommen  wird."  Und  wie  ist  es  mit:  „Das  Erhabenste, 
was  Beethoven  geschaffen  hat"?  Das  ist  namlich  richtig,  weil 
—  nach  Wustmann  —  hier  ,,von  allem"  zu  erganzen  ist,  also:  „Das 
Erhabenste  von  allem,  was  Beethoven  geschaffen  hat,"  Hinter 
dem  Superlativ  von  substantivierten  Eigenschaftswortern,  sagt 
Wustmann,  ist  in  den  meisten  Fallen  ,,was"  das  richtige, 

Doch  ist  dies  eine  Kleinigkeit  gegeniiber  einer  Schreib- 
weise,  Reimann,  die  ich  gar  nicht  begreifen  kann.  Sie  schrei- 
ben:  Bettvorleger.  Affenpintscher.  Doktorwiirde,  Aber: 
SaueregurkenZeit.  GerichtsberichtErstatter,  TeerDestillat.  Spie- 
gelScheiben,  Und  einmal  sogar;  ,,Im  WarteSaal  des  Haupt- 
bahnhofs",  Nanu  — ?  Haben  wir  noch  nicht  genug  Durchein- 
ander  mit  den  groBen  und  kleinen  Buchstaben?  Miissen  wir 
jetzt  diese  Saulen  des  Unsinns  au^h  noch  innerhalb  der  Worter 
auf richten  ?  Das  verstehe,  wer  kann.  Ich  habs  nicht  ver- 
standen. 

Im  Lehrbuch  des  Sachsischen  aber  habe  ich  alles  verstan- 
den, ,,Der  Sachse  denkt  wie  die  Katze  um  den  heifien  Brei." 
Und,  von  der  sachsischen  Kuche:  „Das  Brotchen  ist  physio- 
gnomielos  und  unterscheidet  sich  in  aufgeweichtem  Zustand 
kaum  von  einem  ertrunkenem  Bieruntersetzer  aus  Pappe"  — ' 
da  weifi  man  doch! 

Das  Buch  ist  vor  allem  deshalb  so  vorziiglich,  weil  es  sich 
nicht  gnadig  herbeilaBt,  den  sachsischen  Dialekt  zu  belacheln, 
wie  das  unertraglicherweise  oft  bei  Dialekten  geschieht,  son- 
dern  es  nimmt  ihn*  als  Ausdrucksweise  einer  Gemtitsverfassung 
ganz  und  gar  ernst,  und  nun  wird  er  erst  komisch!  So  ein 
gutes  Buch  liber  den  berlinischen  Dialekt  kenne  ich  nicht  — 
da  kommen  sich  die  Herren  Sprachforscher  immer  so  iiber- 
legen  vor,  wenn  sie  den  berliner  Dialekt  beschreiben  . . .! 

342 


Reimann,  der  Qualitatsgefiihl  hat,  weiB,  daB  zum  Beispief 
Roda  Roda  einc  der  saubersten  Schreibarten  sein  eigen 
nennt,  die  wir  kennen,  klipp  und  klar,  aber  es  ist  ja  nur  ein. 
Humorist.    Wenn  es  einen  Roda  Roda-Ring  gabe  — :  Hans  Rei- 

mann  hat  ihn  allemal  verdient. 

Die  NeUerSCheinUflg  von  Alice  Ekert-Rothholz 

Us  gibt  eine   ganz  bestimmte  Frau 
*-*  ^Wenn  sie  ins  Zimmer  tritt,  wird  Dir  flau . , . 
Du  weiBt,  daB  der  Deinige  glatt  auf  sie  fliegt. 
Sie  tut  fast  gar  nichts  — 
Aber  sie  siegt, 
Sie  ist  ein  Prinzip,  sie  ist  Deine  Verneinung, 
Sie  ist  fremd 
Sie  ist  bunt ... 
Kurz*.  die  Neuerscheinung! 

Es  ist  fast  gleich,  um  wen  sichs  da  handelt. 
Plotzlich  ist  Deiner  wie  umgewandelt. 
Willst  Du  einen  Tanz,  einen  Blick  —  dann  pennt  er. 
Sie  will  dauernd  was  Andres  — 
Plotzlich  rennt  er. 
Sonst  stort  ihn  doch  jedes  blode  Gesicht. 
Die  Neue  hat  eins  — 
Es  stort  ihn  nicht, 
Gegen  Dich  ist  die  Neue  ein  Ungeheuerf 

Das  sowieso. 
Doch  ein  stumraer  Funk . , .  und  Deiner  fangt  Feuer. 
Wo  hat  son  Mann  seine  Augen? 
Wo? 

Du  fragst  ins  Leere,     Weil  Du  vergiBt 
daB  er  die  Neue  nicht  an  Dir  miBt. 
Du  hast  Gemiit.     Sie  hat  dicke  Beine 
Wozu  sagst  Du  ihm  das? 
Das  sieht  er  alleine. 
Sie  ist  vielleicht  gar  nichts . . .  aber  sie  ist 

.  Alles 
was  Du  fur  ihn  nicht  mehr  bist. 

Du  bist  sein  Brot.     Die  Neue  ist  Kuchen. 
Mit  faulen  Rosinen  — 
Egal  I  —  Er  kann  suchen  . . , 
Sie  nimmt  ihn  leicht.     Du  nimmst  ihn  so  schwer. 
Sie  gibt  ihm  weniger,     Und   darum  mehr . . , 
Du  bist  ihm  lieb,  verbunden,  teuer, 
Alles  richtig! 
Aber  die  Neue  ist  neuer. 

Du  nennst  sie  stets  „Tierchen".     Du  verachtest  sie  sehr, 
Man  stiehlt  keine  Manner. 
Das  ist  nicht  fair. 
Das  ist  gemein  , . .  gedankenlos  , . .  schlecht  . . , 
Du  verstehst  die  Person  nicht  — 
Du  hast  ja  sooo  rechtf  ,.,, 

Nur  ein  Fall  Hegt  anders.     Ganz  anders, 

Der  ist: 
Wenn  Du  selber  die  Neuerscheinung  bist! 

343 


Die  Akademie  am  Scheidewege  von  Adoit  Bebne 

7um  Verfassungstage  teilte  uns  der  tAmtliche  PreuBische 
Pressedienst'  mit,  daB  die  Maler  Noldc,  Schmidt-Rottluff, 
Dix  und  Kirchner,  die  Bildhauer  Gies,  Schcrff,  Sintenis  und 
Belling  und  die  Architekten  Mies  van  der  Rohe,  Mebes,  Men- 
delsohn, Bruno  Taut  und  Martin  Wagner  in  die  Akademie  der 
Kiinste  beruien  seien.  Wir  tiberschatzen  die  Wichtigkeit  des 
Vorganges  nicht:  eine  gewisse  Erfrischung  und  Verjiingung  der 
Akademie,  aber  keine  besondere  Oberraschung,  Eine  Ober- 
raschung  ist  nur  die  Berufung  Emil  Noldes,  vollzogen  unter 
der  Prasidentschaft  Max  Liebermanns.  Sollte  die  Institution 
der  Akademie  einen  Sinn  haben,  so  muBte  Nolde,  heute  iiber 
die  Sechzig  hinaus,  dieser  Akademie  angehoren  seit  dem  ersten 
Tage  nach  ihrem  Bruch  mit  der  Hoflieferanten-Tradition.  Aber 
in  zwolf  Jahren  Prasidentschaft  Max  Liebermann  blieben  Emil 
Nolde  die  Tore  der  Akademie  verschlossen.  Liebermanns 
Paladin  Karl  Scheffler  erfand  extra  fur  Emil  Nolde  einen  sonst 
in  tKunst  und  Kiinstler'  nicht  iiblichen  Kasernenhofton.  Wird 
er  ihn  fortfiihren?  Jene  Zeitungen  aber,  die  fur  Liebermann 
^in  spezlelles  Ruhmeskonto  fiihren,  erwahnten  die  Berufung 
Noldes  nur  so  im  allerbeilaufigsten  Ton  des  ,,.  . .  i erner  lie- 
ien".  Man  muBte  annehmen,  daB  sie  mit  naherm  Verweilen 
bei  diesem  fiir  die  Offentlichkeit  doch  sehr  bemerkenswerten 
JEreignis  —  jedenfalls  sehr  viel  bemerkenswerter  als  die  Affare 
Heckendorf,  iiber  die  sie  tage-  und  spaltenlang  berichteten  — 
ihren  Monopolheros  zu  kranken  fiirchteten,  Aber  tun  sie 
nicht  grade  Max  Liebermann  Unrecht?  Wir  wenigstens  moch- 
ten  glauben,  dafi  Liebermann  von  sich  aus  bereit  war  und  ist, 
«in  historisches  Unrecht  sachlich  zu  korrigieren,  auch  wenn  es 
ihm  aus  personlichen  Griinden  bestimmt  sehr  schwer  fallt, 
und  wir  konnen  uns  iiber  seinen  EntschluB  nur  ehrlich  freuen, 
Eine  Akademie,  der  seit  Jahren  Willy  Jackel  angehort,  aber 
nicht  Nolde,  war  eine  Absurditat. 

Wenn  jetzt  mit  Nolde,  Mies  van  der  Rohe,  Bruno  Taut, 
Wagner,  Schmidt-Rottluff,  Otto  Dix  in  die  Akademie  ein- 
^iehen,  so  konnte  die  Akademie  eine  Bedeutung  gewinnen.  Ja 
«s  ist  unsre  Oberzeugung,  daB  der  Akademie,  wenn  sie  jetzt 
jnutig,  vorurteilslos  und  zielbewuBt  handelt,  die  geistige  Fuh- 
xung  ganz  von  selbst  zufallen  muB.  Immer  mehr  scheiden  die 
privaten  Kunstsalons  fiir  eine  aktive  Teilnahme  am  kiinstleri- 
schen  Geschehen  aus,  Sie  konnen  sich  keine  Experimente 
mehr  leisten  , . .  obwohl  allein  der  Mut  zum  konsequenten  Ex- 
periment sie  noch  retten  konnte.  Die  Vereins-Ausstellungen 
werden  nie  Niveau  halten.  Und  die  paar  Museen,  die  moderne 
Kunst  sammeln?  Gustav  Pauli  hat  es  fertig  bekommen,  den 
Kollegen  vom  Erwerb  zeitgenossischer  Kunst  iiberhaupt  abzu- 
xaten.  Das  sei  Sache  der  privaten  Sammler.  Also  niemandes 
Sache,  denn  es  gibt  keine  Sammler  moderner  Kunst  mehr.  Im 
reichen  Essen  wurde  in  der  Ausstellung  des  Deutschen  Kiinst- 
lerbundes  nicht  ein  Stiick  verkauft!  Pauli  meint,  der  Direktor 
konne  ja  doch  nie  wissen,  was  wirklich  gut  sei  und  die\Depots 
wiirden   mit    schnell    ungenieBbar   gewordener   Moderne  uber- 

344 


fiillt.  Das  mag  in  Hamburg  wohl  so  sein.  Aber  ist  es  in  ir- 
gend  eincm  Museum  alter  klassischer  Kunst  denn  anders? 
WeiB  man  doch  bei  einem  Gang  durch  das  Kaiser-Friedrich- 
Museum  oft  wirklich  nicht,  ob  man  im  Depot  oder  in  der  Ga- 
lerie  ist.  Das  Kronprinzenpalais  aber  ist  ewig  unentschie- 
den,  Es  kiindigt  eine  Lesser-Ury-Ausstellung  an,  die  vor 
dreiBig  Jahren  eine  Tat  gewesen  ware,  und  eine  Gedachtnis- 
Ausstellung  Maria  Slavona.  Es  wird  aus  seiner  Diplomatik  nie 
herauskommen.  Die  Gedachtnis-Ausstellung  Theo  van  Does- 
burg,  die  der  tapfere  Dorner  in  Hannover  macht,  wird  Justr 
nicht  nach  Berlin  holen. 

In  dieser  ganzen  tristen  Atmosphare  konnte  die  Akademie; 
vorstoBen,  Ihre  letzten  Ausstellungen  waren  miide  und  wirk- 
lich akademisch.  Aber  nach  deni  neuen  Statut  hat  sie  ja  das: 
Recht,  auch  Arbeiten  von  Mitgliedern  auszujurieren.  Wenn  sie 
von  diesem  Recht  guten  Gebrauch  macht  und  vorurteilslos 
alles  heranholt,  was  heute  durch  die  Sperre  des  Betriebes  und 
Geschaftes,  der  festgefahrenen  Kritik  und  der  mutlos  gewor- 
denen  Redaktionen  nicht  durchdringt,  dann  konnte  von  ihr  ein 
Strom  der  Ermutigung  ausgehn,  der  unendlich  viel  wichtiger 
ist,  als  die  eingemottete  Wiirde  des  Instituts.  Ja  ware  es  nicht 
iiberhaupt  denkbar,  daB  die  Akademie  einige  Raume  —  viel- 
leicht  jene  gelegentlich  fur  kleinere  Ausstellungen  benutzten 
Sale,  die  wohl  den  groBten  Teil  des  Jahres  leerstehen  —  als* 
eine  Art  Studio  fortlaufend  jungen  Kiinstlern  zur  Verfiigung; 
stellte?  Die  Salons  konnen  darin  heute  absolut  keine  Schadi- 
gung  ihres  Geschaftes  mehr  sehen.  Und  wenn  sie  etwas  der- 
artiges  murmeln,  so  soil  man  sie  auslachen.  Die  Ausstellungen 
des  Studio  der  Akademie  brauchten  durchaus  nicht  juryfrei 
zu  sein.  Ein  kleiner  Beirat,  etwa  Philipp  Franck,  Karl  Hofer 
und  Schmidt-Rottlufl,  konnte  iiber  die  Hergabe  entscheiden- 
Ich  konnte  ihm  a  tempo  ein  halbes  Dutzend  junger  Kiinstler 
nennen,  die  von  jeder  Ausstellungsmoglichkeit  abgeschnitten 
sind  und  <leren  Forderung  der  Akademie  sehr  zur  Ehre  ge- 
reichen  wiirde.  Und  ware  es  an  solcher  Stelle  einmal  mog- 
lich,  diese  Generation  in  ganzer  Front  zu  zeigen,  so  wiirde 
man  mit  Erstaunen  sehen,  dafi  es  wieder  eine  Malerei  bei  uns 
gibt,  die  alle  angeht  und  vor  deren  Kraft,  Freiheit  und  Wahr- 
heit  fast  alles  diinn  und  blutlos  ist,  was  heute  die  offiziellen* 
Stellen  —  soweit  sie  fortschrittlich  sind  —  als  moderne  Kunst 
pflegen. 

Die  Akademie  hat  eine  Reihe  von  Leuten  berufen,  zu  de- 
nen  jeder  Vertrauen  hat.  Die  Berufung  Noldes  kann  ein  Sym- 
bol sein.  Nun  sollte  Max  Liebermann,  den  seine  Presse  zu 
ehren  glaubt,  wenn  sie  ihn  in  Watte  wickelt,  zeigen,  daB  er 
ein  Fiihrer  groBen  Stiles  ist:  er  stelle  die  Akademie  in  das; 
Leben  und  gebe  ihr  die  Bestimmung  zu  helfen.  Eine  Ausstel- 
lung,  von  ihm  inauguriert,  die  die  neuen  Leute  nicht  vorsich- 
tig  und  tropfenweise  zulaBt,  sondern  sie  heranholt  und  klar 
und  eindeutig  herausstellt  —  und  diese  ganze  Stickluft  von 
sauer  gewordenen  Urteilen,  stagnierenden  Phrasen  und  lavie- 
renden  Taktiken  ist  durchstoBen. 

34S 


Tabu  von  Rudolf  Arnheim 

Cs   ist   sicher   nicht   wahr,   daB   sich  Siidsee-Insulaner   so  be- 

nehmen,  wie  sich  vor  zchn  Jahren  europaische  und  ameri- 
kanische  Filmschattspiclcr  zu  bcnehmcn  pflegten.  Man  muB 
-es  deshalb  Flaherty-Murnaus  Siidseefilm  ,-,Tabu"  veriibeln, 
wenn  cine  Insulanerin,  urn  Schrcck  zu  markieren,  effektvoll  die 
Augen  aufreiBt,  die  Armc  ausbreitet  und  mit  langsamen  Ballett- 
schritten  zuriickweicht,  oder  wenn  ein  Jiingling  im  Schmerz 
.zu  einer  raffaelischen  Drcicckskomposition  erstarrt.  Hcnny 
Porten-Mimik  kleidet  ein  nacktcs  Noa  Noa-Madchen  ebcnso 
schlecht  wie  einen  nackten  Papua  Zylinder  und  Stehkragen. 
Zumal  an  einzelnen  Stellen  dieses  Films  die  natiirlichen  Aus- 
drucksbewegungen  der  Siidseeleute  sehr  lebendig  festgehalten 
sind:  wenn  der  Liebhaber  sein  Madchen  trostet,  indem  er  ihr 
streichelnd  die  Knie,  Arme,  Augen  mit  Quellwasser  befeuchtet; 
wenn  die  jungenLeute  mit  obszonem  Vibrieren  der  Oberschen- 
kel  einen  Liebestanz  auffiihren;  wenn  der  Jager  auf  der  Klippe, 
am  ganzen  Leibe  schwingend  vor  Ungeduld  und  Jagdlust,  den 
Speer  zum  Fischstechen  hebt. 

Die  Filmleute,  Missionare  des  Maltheserkreuzes,  zeigen 
den  Insulanern,  wie  es  auL  einer  romantischen  Sudseeinsel  aus- 
zusehen  hat.  Die  schonen  Berge  am  Horizont,  die  schlanken 
Bogen  der  Palmenstamme  wirken  fast  wie  im  Atelier  nach- 
3*ebaut,  wenn  in  diesem  echten  Milieu  die  echten  Siidseeleute 
•ein  Hollywood-Tahiti  auffiihren,  Es  herrscht  ein  Oberangebot 
an  Blutenzweigen  und  Kranzen  im  Haar,  so  als  ob  im  Para- 
dies  zwecks  Raumung  des  Lagers  ein  Saisonausverkauf  von 
Schonheit  stattfindet 

Sehr  lehrreich,  wie  sich  auch  in  einen  soichen,  am  andern 
Ende  der  Welt  spielenden  Film  die  Ideologic  der  biirgerlichen 
Filmproduktion  einschmuggelt;  wie  der  nackte  Wilde  den 
Abendlandern  ihre  Staatsmoral  schmackhaft  machen  muB.  Die 
Insulaner  leben  sorgenlos  gliicklich  wie  die  Frackbarone  in 
-unsern  Gesellschaftsfilmen.  Ebenso  wie  der  Generaldirek- 
4or  im  Film  gelegentlich  einmal  stirnrunzelnd  ins  Tele- 
phon  spricht,  damit  der  Zuschauer  ein  Bild  vom  Geschaftlichen 
bekomme,  so  wirft  der  Insulaner  ab  und  zu  malerisch  einen 
-Speer,  zwecks  Lebensunterhalt,  und  liegt  im  ubrigen  mit 
Blumen  im  Haar  seiner  Geliebten  ob.  Das  Wirtschaftliche  er- 
«cheint  nur  als  damonisches  Motiv:  wenn  der  schleichende 
chinesische  Schankwirt  seinen  Schuldschein  ziickt.  Die  Liebe 
lehnt  sich,  damit  dramatische  Spannung  ins  Manuskript  komme, 
•gegen  die  Gesetze  auf,  sei  es  nun  das  Tabu  der  Siidseereligion 
oder  das  Sakrament  der  christlichen  Ehe,  aber  hier  wie  dort 
siegt  in  volksbildender  Weise  das  Gesetz,  und  den  Missetater 
beiBen  die  Haie. 

Als  Spielfilm  gewertet  ist  „TabuM  eine  einfallsarme,  ge- 
dehnte  Liebesgeschichte.  Als  Kulturfilm  bietet  er  weniger, 
•vor  allem  weniger  ungestellt  Wahres,  als  wir  heute 
^rerlangen.  Flahertys  „Moana"  war  erhebiich  besser,  Man 
'«rfahrt  nicht  viel  vom  Leben  der  Sudseeleute,  und  manches 
wirkt  verdachtig  opernhaft:  das  Rheintochteridyli  der  baden- 
den  jungen  Madchen  oder  das  feierliche  Zusammentreffen  der 

346 


beiden  Hauptlinge,   wo  ein   Pergament   entrollt  und  eine  Bot- 
schaft  im  Karl  May-Stil  verlesen  wird. 

Es  handclt  sich  urn  einen  stumm  aufgenommenen,  nach- 
synchronisierten  Film.  Und  dazu  ist  noch  cins  zu  sagen.  Seit 
man  beliebige  Ton-  und  Bildstreifen  ubereinanderkopieren 
kann,  steht  es  mit  der  Wahrheitsliebe  des  Films  noch  miBlicher 
als  friiher-  Zur  Zcit  dcs  stummcn  Films  konnte  man  nur  durch 
die  Auswahi  dessen,  was  man  zeigte,  liigen.  Heutc  kann  man 
Ton  und  BiLd  tauschend  zusammenfugen,  die  gar  nicht  zusammen- 
gehoren.  Rene  Clair  hat  neulich,  in  cinem  Aufsatz  fur  die 
Zeitschrift  ..Plans",  erzahlt:  MIch  habe  cincn  Operateur  erlebt, 
der  in  seinen  Tonstreifen  von  der  Ankunft  eines  Staatsmannes 
zuviel  Beifallklatschen  und  zu  wenig  Protestgeschrei  hinein- 
bekommen  hatte  und  deshalb  zwanzig  Meter  mit  einem 
Kollegen  austauschte,  der  reich  an  beleidigenden  Akkla- 
mationen  aber  arm  an  Hochrufen  war."  So  steht  es  mit  der 
Authentizitat  des  Tonfilms.  In  MTabu"  hat  man  die  Bilder 
vom  Musizieren  und  Singen  der  Sudseeleute  mit  einer  Musik 
unterlegt,  die  teils  an  Schuhplattler,  teils  an  evangelische 
Chorale  erinnert  und  mit  bayrischen  Jodlern  untermischt  ist. 
Dies  Verfahren,  dokumentarische  Filme  nachtraglich  mit  Totf- 
zusatzen  auszustatten,  die  jedes  unbefangene  Publikum  fur  echt 
nimmt,  ist  ganz  auBerordentlich  gefahrlich.  Es  bringt  Ver- 
wirrung  und  Irrefiihrung,  wenn  wahre  Bilder  durch  falsche 
Tone  unmerklich  zu  Liigen  werden. 

AlSO  Wat  Ml  —  ja  Oder  ja?  von  Theobald  Tiger 

W7ie  ick  noch  a  kleena  Junge  wah, 
^*  da  hattn  wa  aufe  Schule 
een  Lehra,  den  nannten  wa  blofi:  Papa, 
een,  iewissn  Dokter  Kuhle. 

Und  frachte  der  wat.und  der  Schieler  war  dumm, 
un  der  quatschte  und  klohnte  blofi  so  ruin, 
denn  sachte  Kuhle  feierlich: 

f,Also  —  du  weeflt  et  nichf 

So  nachn  Essen,  da  rooch  ick  jern 
in  Stillen  meine  Ssijarre. 
Da  denk  ick  so,  inwieso  und  wiefern, 
und  wie  se  so  Iooft,  die  Karre. 

Wer  weefi  det . . .  Heute  wahln  wa  noch  rot, 

un  morjen  sind  wa  valleicht  alle  tot. 

Also  ick  ja  nich,   denkt   jeda.    Immahin... 

man  denkt  sich  so  manchet  in  seinen  Sinn. 
Ick  bin,  ick  werde,  ick  bin  jewesen , . . 
Da  haak  nu  so  ville  Biecher  jelesen. 
Und  da  steht  die  Wissenschaft  uff  de  Kommode , , . 
Wie  wird  det  mit  uns  so  nachn  Tode? 
Die  Kiirche  kommt  jleich  eilich  jeloofn, 
da  jibt  et  n  Waschkorb  voll  Phillesophn . . , 
Det  lies  man.     Un  haste  det  hinta  dir, 
dreihundert  Pfund  bedrucktet  Papier, 
denn  leechste  die  Weisen 
beit  alte  Eisen 

un  sachst  dir  wie  Kuhle,  innalich: 

Sie  wissen  et  nich.    Sie  wissen  et  nich. 

347 


Bemerkungen 


Die  Eh  re  in  Glatz 

P\ic  Ehre  in  Glatz  ist  eine  sehr 
***  differenzierte  Sache:  Ist  sie 
zum  Beispiel  die  ernes  jiidischen 
Kaufmanns,  so  ist  sie  den  berech- 
tigten  Interessen  der  national- 
sozialistischen  Propaganda  ausge- 
liefert.  Solches  hat  die  II,  kleine 
Strafkammer  des  glatzer  Landge- 
richts  zum  Aktenzeichen  3.  P. 
14/31  durch  Urteil  vom  8.  Mai 
dieses  Jahres  festgestellt,  Der 
Vorfall  war  folgender:  Die  Nazis 
hielten  in  einem  glatzer  Hotel 
eine  Wahlversammlung  ab,  Vor 
dem  Hotel  hatten  sich  gegnerische 
Demonstranten  versammelt.  Die 
Naziversammlung  leitete  einer 
ihrer  Stadtrate,  der  plotzlich  Fol- 
gendes  erklarte:  ,,Ich  habe  gehort, 
dafi  Herr  £.  dem  Mob  da  drauBen 
zweihundert  Mark  gegeben  '  hat, 
um  unsre  Versammlung  zu  spren- 
gen.  Ich  gebe  das  unter  Vorbehalt 
wieder,  da  ich  das  zur  Zeit  nicht 
nachpriifen  kann."  Die  Wirkung 
war  die  gewiinschte. 

Herr  E,t  der  natiirlich  keinen 
Pfennig  an  den  „Mob"  gegeben 
hatte  („Die  Leute  war  en  zu  einem 
groBen  Teil  Kommunisten,  teil- 
weise  waren  sie  auch  angetrun- 
ken'\  koordiniert  das  Gericht),  er- 
hob  gegen  den  Stadtrat  Privat- 
klage  wegen  offentlicher  ubler 
Nachrede.  Der  Angeklagte  ver- 
suchte  den  Wahrheitsbcweis,  der 
sogar  nach  der  Feststellung  des 
Landgerichts        „ganzlich        mifl- 


gliickte".  Der  Amtsrichter  ver- 
urteilte  ihn  daher  zu  siebzig  Mark 
Geldstrafe  oder  einer  Woche  Ge- 
fangnis,  Doch  die  zweite  Instanz, 
mit  einem  Hotelbesitzer  und 
einem  Brennereidirektor  als- 
Schoffen,  hob  das  Urteil  auf.  Be- 
grundung? 

„Als  Leiter  der  Ortsgruppe 
Glatz  der  NSDAP.  war  der  An- 
geklagte berechtigt,  die  Interessen 
seiner  Partei  wahrzunehmen. 
Diese  steht  im  offenen  Kampf 
gegen  alles  Jiidische.  Diesera 
Kampf  lieferte  der  Angeklagte 
eine  neue  Waffe,  indem  er  uber 
einen  Juden  ein  Geriicht  ver- 
breitete,  wonach  dieser  sich  einer 
schimpflichen  und  strafbaren 
Handlung  schuldig  gemacht  habe. 
Freilich  schadigte  er  durch  diese 
AuBerung  einen  angesehenen  jii- 
dischen Kaufmann  moralisch  und 
geschaftlich.  Letzteres  war  aber 
nicht  der  Allein-Zweck  seiner 
AuBerung.  Es  kann  daher  dahin- 
gestellt  bleiben,  ob  der  Ange- 
klagte insoweit  berechtigte  Inter- 
essen wahrnahm,  und  nicht  der 
Wahrnehmung  dieser  Interessen 
die  guten  Sitten  entgegenstanden. 
Die  guten  Sitten  standen  dem  An- 
geklagten  insoweit  nicht  entgegenr 
als  er  im  Wahlkampf,  es  war  die 
letzte  Woche  vor  derWahl,  seiner 
Partei  neue  Anhanger  fur  die  be- 
vorstehende  Wahl  zufiihren  sollte, 
indem  er  durch  die  AuBerung 
den  Versammlungsteilnehmern  vor 
Augen  fiihrte,  wie  berechtigt  und 


*■/& 


-Of 


■nvinor  N«rv*n  wird  beim  ersfen  Zug  au«  einer  Abdul !  a -Cigarette  b«s6nftigt. 

/  Stamper*      ......  o/M.  u.  Gold Sittck     5  M«. 

Coroncf m.  Gold  u.  Stroh/M Stack     •  Mf- 

Vlrglala  Mr.  1      ....  o/M. Stuck     •  Wg. 

fffrpflaii  Mr.  to   ...    .  o/M.  u.  Gold StUcfc  tO  Mf. 

Abduffa  -  Cigareffen    genie/jen   Wclfruff 

Abdulla  *  Co.       •       Kalro       /       London       /       Berlin 

348 


fcegriindet  der  von  seiner  Partei 
gegen  das  Judentum  gefuhrte 
Kampf  sei.  Die  Kundgabe  des  Ge- 
rtichts,  an  das  er  glaubte,  ent- 
sprach  daher  den  berechtigten 
Interessen  der  Partei  des  Ange- 
klagten,  zu  deren  Wahrnehmung 
er  als  ihr  Ortsgruppenleiter  befugt 
war." 

Da  die  Sache  so  ist,  mochte  ich 
der  IL  Strafkammer  des  Landge- 
richts  Glatz  folgende  Rechtsfrage 
geziemend  unterbreiten: 

Es  wird  augenblicklich  hier  in 
Berlin  eine  Partei  fur  absetzbares 
Volksrichtertum  gegriindet,  ■  als 
deren  glatzer  Ortsgruppenleiter 
der  Unterzeichnete  vorgesehen  ist- 
Der  einzige  Paragraph  des  Partei- 
programms  lautet;  „Abschaffung 
aller  Richterprivilegien,  insbe- 
sondere  der  Unabsetzbarkeit;  Ein- 
fiihrung  absetzbarer  Volksb-ichter." 
Diese  Partei  steht  im  offenen 
Kampf  gegen  das  Berufsrichter- 
tum.  Wenn  ich  nun  in  einer 
glatzer  Werbeversammiung  dieser 
Partei  die  Erklarung  abgeben 
sollte:  „Ich  habe  gehort,  dafi  Herr 
Landgerichtsrat  X,  von  den  Nazis 
zweihundert  Mark  monatlich  er- 
halt,  urn  zugunsten  der  NSDAP, 
Fehlurteile  zu  erlassen.  Ich  gebe 
das  unter  Vorbehalt  wieder,  da 
ich  das  zur  Zeit  nicht  nachprufen 
kann" ,  —  was  erwartet  mich 
dann?  Ich  mufi  annehmen,  spate- 
stens  in  der  zweiten  Instanz  der 
Freispruch.  Habe  ich  nicht  dem 
Kampf  meiner  Partei  gegen  alles 
Berufsrichtertum  eine  neue  Waffe 
geliefert,  indem  ich  iiber  einen 
Berufsrichter  ein  Geriicht  ver- 
breitete,  wonach  dieser  sich  einer 
schimpflichen  und  strafbaren 
Handlung  schtddig  gemacht  habe? 
Freilich     schadigte     ich     dadurch 


einen  angesehenen  Richter  mo- 
ralisch  und  beruHich.  Aber  war 
f,Letzteres"  Alleinzweck  meiner 
Aufierung?  Nein.  Es  kann  „da- 
her  dahingestellt  bleiben,"  inwie- 
weit  ich  gegen  die  guten  Sitten 
verstieB.  Denn  die  guten  Sitten 
von  Glatz  standen  mir  insofern 
nicht  entgegen,  als  ich  in  der 
Werbung  fur  meine  Partei  ihr 
neue  Anhanger  zufiihren  sollte, 
indem  ich  ja  durch  die  erlogene 
Aufierung  den  Versammlungsteil- 
nehmern  vor  Augen  fiihrte,  wie  — 
wie  —  berechtigt  und  begrundet 
der  von  meiner  Partei  gegen  die 
Berufsrichter  gefuhrte  Kampf  sei* 
Die  Kundgabe  des  Geriichts  ent- 
sprach  daher  den  berechtigten 
Interessen  meiner  Partei,  zu  deren 
Wahrnehmung  ich  als  ihr  Orts- 
gruppenleiter befugt  war. 

Fiat  justitia,  pereat  mundus? 
Den  zweiten  Teil  des  Satzes  wer- 
det  Ihr  mit  dieser  Sorte  von  Ge- 
rechtigkeit,  die  zugleich  miserable 
Jurisprudenz  ist,  bald  realisiert 
haben.   Von  Rechts  wegen. 

A.  Stein 

Der  Schweizerische  Maezen 
YV7eifi   Gott,   welcher  alte  Klas- 
"    siker  uns  den  Scherz  iiberlie- 
fert  hat: 

Man  fragte  einen  Mann  aus 
Kreta:  „Ist  es  wahr,  daB  alleKre- 
ter  liigen?"  —  ,(Jaf"  antwortete 
er,  „alle." 

Seine  Antwort  ist  iibergegangen 
in  unsre  Lehrbiicher  der  Logik 
—  als  Urbeispiel  des  Dilemmas. 
Denn  es  ist  klar:  Hat  der  Mann 
aus  Kreta  recht,  dieser  eine,  dann 
liigen  doch  nicht  alle  Kreter. 
Also  hat  er  selbst  Falsches  be- 
hauptet,    und    die    Ausnahme    ist 


Die  Weisheit  des  Johannes 

lieiBt  ein  Buch,  das  schon  vielen  wieder  den  Weg  zum  Glauben  der  Vater 
gangbar  werden  liefl.  Die  gegebenen  Aufschliisse  iiber  das  nach  Johannes 
fcenannte  Evangelium  erscheinen  wold  zuerst  als  Niederschlage  subjektiven 
Hrlebens,  erweisen  jedoch  ihreWahrheit  gerade  dadurch,  dafi  sie  wieder 
zum  Glaubenkonnen  rtthren.    Das  Buch  z&hlt  unter 

die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

die  heute  in  jeder  guten  Buchhandlung  zu  haben  sind.    Ueber  den  Aufcor 

und   sein  Werk  findet   man   Naheres   in  der  kostenlos  erhaltlichen  Ein- 

fuhrungsschrift   von    Dr.  jur.  Alfred    Kober  -  Staehelin,      Der    Verlag: 

Kober'sche  Verlagsbuchhandlang  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

349 


wieder   hinfallig:   heillose  Wirrnis 
der   Folgerungen. 

Die  Unwahrheit  steckt  eben 
verborgen  im  Vordersatz:  „Die 
Kreter  ltigen";  sie  steckt  in  je- 
dem  verallgemeinernden  Urteil 
iiber  em  Volk :  weder  sind  alle 
Sachsen  helle,  noch  alle  Schotten 
geizig  —  und  die  Schweizer  sind 
keineswegs  durchaus  habsiichtige 
Gastwirte.  Wer  da  aber  meint, 
die  folgende  Geschichte  wolle 
das  Gegenteil  beweisen  —  er 
miBversteht  mich  von  Grund. 
* 

Die  ziircher  Polizei  schlagt  um 
elf  Uhr  Zapfenstreich:  du  darfst 
noch  bis  Mitternacht  in  derWirt- 
schaft  sitzenbleiben  —  Getranke 
kredenzt  man  dir  von  elf  an 
nicht. 

Nun  dachten  wir,  bester  Laune, 
noch  nicht  ans  Schlafengehen,  wir 
Sieben  —  sechs  j  unge  Leute 
namlich  und  ich,  den  man  diesen 
Abend  fiir  jung  gelten  HeB,  weil 
ich   mit   den   andern  f  rohlich  war. 

„WiBt  ihr  was?"  schlug  Frau- 
lein  Hemberger  vor,  Mizzi  Hem- 
berger,  die  reizende  Soubrette  — 
„wir  setzen  den  Abend  fort  in 
meiner   Wohnung." 

Herrlich  —  prachtvoll  —  glan- 
zender  Einfall.  Herr  Nierli, 
Seidenfabrikant,  erbot  sich,  fiir 
Sekt  und  Brotchen  zu  sorgen. 
Bravo,  Herr  Millionar!  Mit  zahl- 
losen  Packen  beladen,  fuhren  wir, 
gezwangt  in  zwei  Autos,   ab. 

Bei  der  Soubrette,  gegen  halb 
eins,  fand  ich  es  nicht  gar  so 
amusant,  Weil  sich  namlich  die 
Besitzverhaltnisse  betrtiblich  ge- 
klart    hatten:    die    kleine    Blonde 


erwies  sich  als  mit  dem  Doktor 
verbandelt;  die  Schwarze  mit 
Nierli;  und  der  Rechtsanwalt  be- 
tonte  deutlich  Anspriiche  auf  die 
Soubrette. 

Also  fuhlte  ich  mich  iiberfliis- 
sig  und  beschloB,  schlafrig  zu 
sein. 

Ich  kiiBte  heimlich  eine  eben 
unbeschaftigte  Hand  der  reizen- 
den  Soubrette  und  fliisterte  ihr 
in   ein   zufallig   freies    Ohr: 

„Dank,  Dank,  Hebe  Hausfraul 
Gute  Nacht!  Um  die  Gesellschaft 
nicht  zu  storen,  will  ich  mich 
hollandisch    empfehlen." 

Schlich  hinaus,  legte  den  Man- 
tel an,  druckte  die  Klinke  , . . 
da . . . 

...  da  trat  er  mir  entgegen,  der 
cdle  Sektspender,  ziircher  Mil- 
lionar. 

„Herr  Roda,"  sprach  er,  „auf 
Ihr   Teil    entf alien    4    Frank   80." 

Ich  . . .  ich  . . .  druckte  ihm  ein 
Fiinf f r ankenstuck  in  die  Hand : 
„So.  Den  Rest  konnen  Sie  be- 
halten." 

„Danke,"  sagte  er  —  und  6ff- 
nete  mir  mit  einer  Verbeugung 
die  Tiir. 

* 

Nochmals:  Ich  wollte  mit  die- 
ser  Geschichte  beileibe  kein  ver- 
allgemeinerndes  Urteil  gefallt 
haben:  dafi  etwa  die  Schweizer 
Gastwirte   seien  von  Geburt. 

Roda    Roda 

Philologlsches 

T\  as  Worterbuch  „V Argot  du 
■^  Milieu"  von  Dr.  Lacassagne 
gibt  fiir  das  Wort  MNazi"  die 
tJbersetzung    „Syphilis"    und    fiir 


350 


„etre  nazi",  „etre  syphilitique". 
Sollte  dies  eine  neue  Perfidie 
des  Erbfeinds  sein?  Der  Aus- 
druck  wird  1896  zum  ersten  Mai 
zitiert.     Tant  pis! 

S.  Spender 

Autarkie 

Herrn  Robert  Villwock, 
Berlin  W  30 
Teile  Ihnen  hierdurch  mit,  daB 
Sie  vora  1,  8,  31  an  meine  Schau- 
fenster  usw,  nicht  mehr  reinigen 
brauchen,  da  von  diesem  Zeitpunkt 
die  Reinigung  ein  deutsch  denken- 
der   Putzer  ubernimmt. 

Hochachtungsvoll 
Arthur  Poetkke, 
Berlin  W  50,  Prager  Str.  12 

Herrn  Ktifz  zur  Beachtung 

A  us  Kaiserslautern  wird  gemel- 
■**■  det:  Am  15.  und  16.  August 
findet  hier  die  Tagung  des  Reichs- 
verbandes  der  praktischen  Ka- 
strierer  Deutscblands  statt. 

Alles  Schicksal 

T  n  tiefer  Demut  und  mit  dank- 
*  barem  Herzen  zu  Gott  blicke 
ich  heute  am  1.  8.  31  auf  meinen 
80jahrigen  Lebensweg  zuruck. 
Sorgen,  Krankheit  und  Tod  in 
der  Familie  waren  meirie  Beglei- 
ter,  12  Kinder  im  Alter  von 
1 — 20  Jahren  und  deren  3  Mutter 
sind  tot.  7  Jahre  war  ichtyitwer 
und  zirka  15  Jahre  bin  ich  zum 
4ten  Mai  verheiratet.  —  Alles 
Schicksal.  —  Denn  wer  hatte, 
oder   nimmt  einen  alten,   nerven- 


kranken  Mann  mit  kleiner  Pen- 
sion in  Pflege,  dazu  exakte  Auf- 
wartung??  NiemandU  Eigener 
Herd  ist  Goldes  wert.  Carl  Brunn* 
Zugfiihrer  i.  R.  in  Streng. 

,Deutsch- Kroner    Zeitung* 
1.  8.  3L 

Segen  der  Erde 
Longview  (Texas),  18.  August.. 
(United  Prefi.)  Nicht  weniger  als: 
zwolftausend  Mann  Staatsmilizr 
fiberwachen  in  Ost-Texas  die 
Schliefiung  der  Olquellen.  Seit- 
dem  gestern  das  Standrecht  ver- 
hangt  worden  ist,  ist  es  bisher  nir- 
gends  zu  Unruhen  gekommen,  Die- 
Mafinahmen  der  Staatsregierung 
sind  ahnlich  wie  in  Oklahoma 
darauf  gerichtet,  den  Petroleum- 
preis,  der  bis  auf  fimfzig  Cents; 
pro  FaB  gefallen  war,  wieder  auf 
einen   Dollar  pro   FaB   zu   bringen.- 

Abglanz 

fjaben  zwei  sich  einen  Ab- 
^-*       schiedskuB, 
Anscheinend  zwei  Freundinnen. 
Stieg  die  eine  in  den  Omnibus. 
Und  der  Omnibus  fuhr  von  hinnenv 

Die  im  Omnibus  saB  mir  zu- 

gewandt. 
Und  ich  sah,  dafi  in  ihrem  Ge- 

sichte 
Noch  lange  ein  liebes  Lacheln 

stand; 
Das   erzahlte   eine   kleine   Ge- 

schichte. 

Joachim  Ringelnatz 


Hinweise  der  Redaktion 

Bucher 

Mai  Adler,  Alexander  Gerschenkron,  Theodor  Hartwig,  Fritz  Lewy  und  EduardWolfr 
Unsere  Stellung  zu  SowjetruOland;  eingeleitet  von  Max  Seydewitz.  Marxistische- 
Verlagsgesellachaft,  Berlin-Tempelhof. 

Franz  Werfel:  Realismus  und  Innerlichkeit    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Rutidfunk 

Dienatae.  Berlin  20.30:  Vor  Sonnenaufgang  von  Gerfaart  Hauptmann.  —  Mittwoch^ 
Berlin  19.45:  Ein  Mensch  mit  Buchern  und  Schallplatten,  Gerhart  Pohl.  —  Mtthl- 
acker  21.00 :  Arbeiterdichtung,  Emil  Hess  und  Ernst  Stockinger  (Johannes  R.  Becherr 
Maxim  Gorki,  Katajew,  Heinrich  Lersch,  Hans  Lorbeer,  John  Dos  Passos,  Walter 
Bauer).  —  Donnerstay.  Muhlacker  18.40:  Carl  Ebert  liest  Kleine  Geschichten  von 
Max  Barth.  —  Hamburg  20.00:  Kundgebung  fur  das  deutsche  Schrifttum,  Selma- 
Lagerlaf,  Barbara  Ring  und  Johannes  V.  Jensen.  —  Kdnigsberg  20.15:  Balzacs  Pa- 
noptikum,  Ein  Querschnitt  von  Hans  Georg  Brenner  und  Ernst  Bringolf,  Ernst  WF 
Freifller.  —  Freitag-.  Hamburg  17.25 :  Architektur  und  Lebensgestaltung,  Theodor 
Lessing.  —  Langenberg  18.15:  Zum  Drama  und  Theater  der  Zeit,  Erik  Reger.  — 
Hamburg  21.00:  Der  zerbrochene  Krug  von  Heinrich  von  Kleist.  —  Sonnabend.  Bres- 
lau  17.20:  Berlin  im  Roman,  Hellmuth  Falkenfeld.  —  Langenberg  18.40:  Arbeiter  und 
Film,  Lu  Marten.  —  Berlin  19.20:  Gibt  es  politikfreie  Wissenschaf t  ?  Studenten- 
diskussion. 

351 


Antworten 


Jungdo.  la  deinem  Organ  ,Der  Orden  ist  zu  lesen:  „Das  Or- 
■densamt  will  .  .  .  einen  aus  Ordenskreisen  stammcnden  Vor- 
schlag  den  Meistern  und  Bnidern  zur  Erwagung  geben,  im  Kiein- 
kaliber-SchieBsport  untcr  Umstanden  eine  SchieBauszeichnung  ein- 
.zufuhren.  Der  Wunsch  ist  ofter  zur  Sprache  gebracht.  Da  das  iDr- 
densamt  auf  den  Kleinkaliber-Schiefisport,  als  Volkssport  betrieberi, 
den  allergrofiten  Wert  legt,  soil  obiger  Vorschlag  nicht  ganz  zuruck- 
^ewiesen  werden.  Zurzeit  beschaftigt  sich  das  Ordensamt  mit  der 
Feststellung  der  zu  erfiillenden  SchieBleistungen,  welche  gegebenen- 
falls  die  Verleihung  einer  vom  Orden  einzufiihrenden  SchieB-Aus- 
zeichnung  zur  Folge  haben  sollen.  Die  Grofiballeien  werden  gebeten, 
^ich  nach  Anhorung  ihrer  Balleiwander-  und  Jugendwarte,  iiber  obige 
Anregung  zu  aufiern.  Ordenswanderamt."  Wir  erfahren  zu  dieser 
einschneidenden  MaBnahme,  dafi  den  Herren  Dietrich,  Koch-Weser 
und  Lemmer  die  ersten  Exemplare  dieser  Schnur  zum  Gedenken  an 
gemeinsame  schone  Stunden  iiberreicht  werden  sollen.  Man  ist 
grade  dabei,  die  SchieBleistung  der  ehemaligen  Bundesgenossen  zu  be- 
rechnen.  Wir  befiirchten  nur,  daB  die  erforderliche  Zahl  nicht  zu- 
sammenkommen  wird,  —  die  Herren  haben  doch  schon  so  oft  da- 
nebengetroffen. 

A  Here  Amerikanerin-  Sie  schleudern  so  viel  moralisch  entriistete 
Proteste  in  die  Welt  hinaus;  gegen  Alkoholismus  und  gegen  die  Un- 
sittlichkeit;.  Sie  iiberwachen  das  Leben  der  Filmstars  und  die  Dar- 
winsche  Lehre  in  den  Schulen ,  . ,  vielleicht  haben  Sie  die  Giite,  sich 
einmal  mit  denTorturen  zu  befassen,  die  in  Ihren,  in  den  amerikani- 
schen  Gefangnissen  an  Gefangenen  vollstreckt  werden.  Mag  von  dem, 
was  die  amerikanische  Presse  daruber  berichtet,  auch  nur  ein  Zehntel 
wahr  sein:  wenn  von  diesem  Zehntel  ein  Zehntel  die  Russen  taten, 
was  erhobe  sich  da  fur  ein  Gebriill  aller  amerikanischen  Altweiber- 
Organisationen!  Ein  merkwiirdiges  Land,  das  sich  von  solchen 
Frauen  gangeln  lafit, 

Hiddenseen  Unter  der  Uberschrift  „Auf  der  Insel  der  Promi- 
nenten,  Gesellschaftliche  Sensationen  auf  Hiddensee"  steht  im 
iNeuen  Wiener  Journal'  vom  9,  August  zu  lesen:  „Unzahlige  Be- 
sucher  des  Hauses  Hauptmann  Iockt  die  zweite  Villa,  die  er  sich 
dieses  Jahr  erst  neben  der  ersten  hat  erbauen  lassen.  Die  Villa  hat 
insgesamt  zwei  Raume.  Ein .  Monsteratelier  in  feenhafter  Beleuch- 
tung  und  mit  Kunstschatzen,  Das  ist  die  neue  Bibliothek.  Dann 
einen  Fayence-Weinkeller,  alle  auf  der  Welt  vorkommenden  Weine 
in  einem  Exemplar  bergend.  Hauptmann  arbeitet  augenblicklich  an 
einem  neuen  Biihnenwerk,  das  er  zu  seinem  in  Kiirze  stattfindenden 
70.  Gebiirtstag  vollenden  wird.  Der  Meister  ist  sehr  deprimiert.  Von 
seiner  Gattin  gar  nicht  zu  reden,  Sie  lebt  von  Zeitung  zu  Zeitung 
und  verfolgt  alle  Phasen  der  politischen  Lage.  Beide  sind  aufierst 
besorgt  um  Deutschlands  Zukunft."  Bei  der  dritten  Villa  bricht  er 
bestimmt    zusammen. 

Georg  Herzberg,  Berlin.  Sie  schreiben  zu  dem  Artikel  von  Ebbe 
Neergaard  „Amerikas  Filmherrschaft"  (Nr.  32):  „Die  Einfuhrung  des 
Tonfilms  hat  den  amerikanischen  EinfluB  in  Europa  nicht  nur  nicht 
verstarkt,  sondern  imGegenteil  ganz  erheblich  gemindert.  Das  Ende 
dieser  Entwicklung  ist  nicht  abzusehen.  In  den  Zeiten  des  stummen 
Films  amortisierten  sich  die  amerikanischen  Filme  im  Herstellungs- 
land,  die  Erlose  aus  dem  Auslandsverkauf  waren  Reingewinne,  die 
Filme  kdnnten  zu  jedem  Preis  abgegeben  werden,  ohne  dafi  Verluste 
entstanden.  Heute  miissen  fur  Europa  die  Versionen  extra  gedreht 
werden.  Das  europaische  Kinopublikum  hat  sich  generell  geweigert, 
Tonfilme  in  fremden  Sprachen  zu  horen.  Ausnahmen,  wie  die  guten 
Erfolge  von  ,Liebesparade*  und  ,Sous  les  toits'  in  Deutschland  (zu- 
352 


meist  nur  in  den  grbuern  Madten),  konnen  hieran  nichts  andern. 
Die  Ausnutzungs-Chancen  fur  fremdsprachige  Tonfilme  sind  in  den 
wichtigsten  europaischen  Absatzgebieten  sehr  gering.  Amerika  hat 
dieser  Notwendigkeit  Rechnung  getragen,  durch  Herstellung  fremd- 
sprachiger  Versionen  in  Hollywood  oder  in  Europa  (Paramount- 
Joinville),  Mit  deutschsprachigen  Filmen  wurden  etn  paar  Achtungs- 
erfolge  erzielt,  verdient  hat  Amerika  an  diesem  ganzen  Versionen- 
geschaft  bisher  nichts,  weil  die  meisten  Filme  bisher  zu  geringen 
Anklang  finden.  Dagegen  ist  der  Gedanke  fFilm-Europa'  seit  Auf- 
kommen  des  Tonfilms  in  frtiher  nie  geahntem  MaBe  verwirklicht 
worden.  Noch  nie  waren  die  Produktionsverbindungen  zwischen  Pa- 
ris-London-Rom und  Berlin  so  eng  wie  j  etzt.  Deutschsprachige 
Filme,  in  London  oder  Paris  hergestellt,  hatten  in  Deutschland  gute 
Erfolge,  Die  franzosischen  Versionen  deutscher  Filme  umgekehrt  ha- 
ben  beispielsweise  in  Paris  begeisterte  Aufnahme  gefunden.  Amerikas 
EinfluB  auf  dem  deutschen  Markt  war  seit  Wiedereroffnung  der 
Handelsbeziehungen  noch  nie  so  gering  wie  im  Augenblickf  Im  tibri- 
gen  Europa,  besonders  in  den  deutschen  und  franzosischen  Sprach- 
gebieten,  nimmt  die  Entwicklung  einen  ahnlichen  Verlauf.  In  den 
Zeiten  des  stummen  Films  war  Amerika  der  wichtigste  Auslandsliefe- 
raht  fur  den  deutschen  Markt,  in  der  letzten  Saison  ist  Amerika  von 
dem  auflerdeutschen  Europa  weit  uberfliigelt  worden.  Ein  paar  Zah- 
len  laut  ,Film-Kurier*:  Im  Jahre  1930  waren  von  alien  Spieltagen  der 
berliner  Premieren-Theater  69,  Prozent  mit  deutschen  Filmen  belegt, 
gegen  nur  50  Prozent  im  Jahre  1929!  Dabei  hat  sich  unter  den  frem- 
den  Filmen  das  Angebot  zugunsten  der  europaischen  Produktions- 
lander  und  zuungunsten  Amerikas  verschoben.  In  der  vergangenen 
Saison  kamen  in  Deutschland  179  hundertprozentige  deutschsprachige 
Tonfilme  heraus,  von  denen  Deutschland  124,  Europa  39  und  Amerika 
16  lieferte!  (Unter  den  europaischen  Filmen  sind  allerdings  einige, 
die  von  der  Paramount-Joinville  hergestellt  wurden.)  Zu  Zeiten  des 
stummen  Films  sahen  die  Zahlen  anders  aus.  Beispielsweise  fur  das 
Kalenderjahr  1928:  Gesamtangebot:  520  Filme.  Davon  deutsch:  221, 
amerikanisch  205,  europa\sch  94,  Ob  Amerika  jemals  das  Terrain,  das 
es  durch  den  Tonfilm  in  Europa  verloren  hat,  aufholen  wird,  ist  mehr 
als  zweifelhaft.  Die  Behauptung,  Amerika  habe  durch  den  Tonfilm 
in  Europa  Boden  gewonnen,  ist  jedenfalls  durch  die  tatsachlichen 
Verhaltnisse  entkraftet." 

Junger  Buchhandler.  Es  regt  sich.  Also  gibt  es  doch  noch  andre 
Buchhandler  als  die  vermufften  Reaktionare  des  Borsenvereins.  Da 
hat  der  Deutsche  Buchhandler-Verband  eine  Zeitschrift  ,Der  Buch- 
handel*  ins  Leben  gerufen,  die,  anstandig  und  sachlich  geleitet,  auch 
einmal  andre  Stimmen  zu  Gehor  bringt,  als  wir  sie  aus  Leipzig  zu 
horen  gewohnt  sind.  Der  fortschrittliche  Buchhandel  sollte  sich  aufier- 
halb  aller  Parteien  zusammentun  und  dem  Terror  der  verkalkten 
„feinen  Leute"  ein  Ende  machen*  Nicht  nur  die  Autoren  und  das 
Publikum,  die  abendliche  Kassenausweise  werden  es  ihm  danken, 

Buchdrucker.  In  der  ,Zeitschrift  fur  Deutschlands  Buchdrucker'  regt 
sich  ein  Arbeitgeber  aus  Osnabriick  iiber  den  ,Jungbuchdrucker''  auf, 
eine  Lehrlingszeitschrift,  die  auch  pazifistische  Beitrage  abdruckt. 
„Diese  Gemeinheiten  brauchen  wir  uns  nicht  bieten  zu  lassen.  Mit 
unsern  Lehrlingen  darf  so  ein  Schindluder  nicht  getrieben  werden, 
Wir  haben  die  verdammte  Pflicht  und  Schuldigkeit ..."  Ihr  habt  gar 
nichts.  Ihr  habt  vor  allem  nicht  mit  unehrlichen  Mitteln  dafiir  zu 
sorgen,  daB  die  nachste  Lehrlingsgeneration  wiederum  kriegsbesofffen 
zugrunde  geht.  Eure  politisch  aufgeklarten  Lehrlinge  werden  euch 
schon  heute  was  husten,  DaB  der  Mann  aus  Osnabriick  auch  gegen 
die  „fiirstlichen  Gehalter"  der  Lehrlinge  wettert,  versteht  sich  von 
selbst.     Der  pazifistische  „Schund  und  Schmutz"  aber,  den  der  arme, 

353 


alte  Mann  zu  lesen  bekommt , . .  „Einem  anstandigen  Menschen  kann 
beim  Lcsen  mancher  Nummern  dcr  Verstand  stehen  bleiben."  Er  ist 
ihm  stehen  geblieben. 

Michael  Andermann.  Als  alter  Verehrer  Bayreuths  beklagen  Sie 
das  Uberwiegen  der  reichen  Auslander,  besonders  der  Amerikaner, 
unter  den  diesjahrigen  Besuchern  der  Festspiele:  „Dage£en  mussen 
wir  Idealisten,  wir  Daheimgebliebenen,  wir  deutschen  Wagnerianer 
uns  damit  begniigen,  dafi  Bayreuth  existiert  Die  deutschen  Vor- 
kriegs- Wagnerianer  sind  jetzt  wohl  zu  99  Prozent  verarmt  und  stel- 
len  daher  nur  einen  verschwindend  geringen  Teil  der  diesjahrigen 
Besucher.  Im  Jahre  1921  waren  es  aber  die  deutschen  Wagner- 
verehrer,  die  dem  Aufruf  Bayreuths  Folge  leisteten  und  soviet  sie 
konnten,  Patronatsscheine  zeichneten,  und  sie  zeichneten  viel,  denn 
Bayreuth  ist  1924  nach  zehnjahrigem  Schlaf  (kraft  der  deutschen 
Patronatszeichnungen)  wiedererwacht.  Diese  Patronatsstiftung  hat 
laut  Bericht  des  Vorjahres  der  Festspielleitung  zu  existieren  auf- 
gehort,  und  den  Patronatsspendern  ist  heute,  wie  aus  den  Prospekten 
der  Fest-Spielleitung  ersichtlich,  nicht  einmal  eine  PreisermaBigung 
auf  die  sehr  hohen  Eintrittspreise  angeboten  worden.  Wie  gesagt, 
wohl  nur  ein  kleiner  Bruchteil  der  fruhern  Spender  ist  heute  tiber- 
haupt  noch  in  der  Lage,  nach  Bayreuth  zu  fahren.  Vielleicht  bringt 
es  der  Idealismus  Bayreuths  doch  einmal  zuwege,  dafi  den  jetzt  ver- 
armten,  fruhern  Patronatsscheinzeichnern  Freikarten  fiir  wenigstens 
eine  Auffuhrung  als  Abfindung  zur  Verfugung  gestellt  wurden.  Viel- 
leicht wtirde  sich  die  Reichsbahn  in  Verbindung  mit  dieser  Idee  zu 
einer  funfzigprozentigen  Fahrpreisermafiigung  aufschwingen."  Lieber 
Herr,  Sie  werden  sich  tauschen.  Die  Bayreuther  feiern  zwar  die 
Toten,  aber  sie'  nehmen  es  von  den  Lebendigen. 

Schriftsteller,  Sie  sind  mit  Ihrer  Organisation,  dem  Schutz- 
verband  Deutscher  Schriftsteller  unzufrieden?  Die  Opposition  im  SDS 
veranstaltet  am  Mittwoch,  19.30  Uhr,  im  Cafe  Wittelsbach  am  Bayri- 
schen  Platz,  eine  Oppositionsberatung  mit-  der  folgenden  Tagesord- 
nung:  nl,  Arbeitsprogramm  der  Opposition.  —  2,  Die  St  el  lung  Jakob 
Schaffners  zur  Opposition.  —  3.  Aktionen  zur  Vorbereitung  der 
aufierordentlichen  Generalversammlung  der  Ortsgruppe  Berlin.  — ■ 
4.  Sind  die  Pressemitarbeiter  noch  Mitglieder  der  SDS?"  Zutritt 
haben  nur  Angehorige   des  SDS. 

Weltbuhnenleser  in  Koln.  treffen  sich  im  politisch-literarischen 
Kabarett    Kolibri,    alter   Posthof,    Kreuz-,    Ecke  Glockengasse. 

Goebbels.  Die  Weisen  von  Zion  haben  in  das  neue  englische 
Kabinett  zwei  von  ihren  Leuten  beordert,  Lord  Reading  und  Sir  Her- 
bert Samuel.  AufgepaBt,  was  fiir  ein  Teufelswerk  dabei  heraus- 
kommtf 

F\ieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  ftir  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*-^  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  IV.  Vierteljahr  .1931 

einzuzahlen,  da  am  10.  Oktober  die  Einziehung  durch  Nachnahme  be- 
ginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manuskripte  sind  nut  an  die  Redaktion  der  Weltbubne,  Charlottenburg,  ICanUtr.  152,  zu 
riditen:  as  wild  ^ebeten.  ihnen  Ruckporto  beizulegen.  da  sonst  keine  Ruduendung  erfolyeo  kann. 
Das  Auffilhrungarccht,  die  Verwertung  von  Tltelnu.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  mnsik- 
mechanische  wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  tou  Radiovortrftgen 
bleiben  ftir   alle  In  aer  Weltbtthne  erscheinenden  Beitrage  ausdrucklicb  rorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oasietxky 
unlet   Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  ?e!ettet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Oasietxky.    Berlin; 

Verlag  der  WellbQhne,  Siegfried    lacobsoho  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:    C  1,  Steinplati  7757    -  PosUcheckkonto:   Berlin  1195% 
Bankkonto.     Darmstadtei    u.    Nationalbank,      Depositenkas**    Charlottenburg.     (Cantab.    11? 

354 


XXVII.  Jafergng  &  September  mi  Mamaer  38 

PilSUdski-Regime  von  Carl  v.  Ossietzky 

I^urch  einen  amtlichen  Ukas  yom  21.  August  ist  ia  den  pol- 
nischen  Gefangnissen  der  Unterschied.  zwischen  politischen 
und  kriminellen  Gefangenen  aufgehoben  worden.  Das  ist  ge- 
schehen  unter  der  Herrschaft  Josef  Pilsudskis,  der  zu  drei  Vier- 
teln  seines  Lebens  als  politischer  Verbrecher  verfolgt  wurde,  der 
dreiBig  Jahre  lang  Putschist,  Rebell  und  Verschworer  war, 
nachdem  er  sich  als  Terrorist  und  Sprengstoffattentater  in  die 
Politik  eingefiihrt  hatte.  Noch  heute  ist  Pilsudski  von  Aben- 
teurerromantik  umwehtf  er  wirkt  wie  eine  Gestalt  aus  der  vor- 
marzlichen  Charbonnerie.  Dieser  alte  Freiheitskampfer  mit 
dem  von  Krankheit  und  wohl  auch  von  Gewissensskrupeln  zer- 
furchten  Nietzschekopf ,  den  das  Schicksal  bestimmt  hat,»der  erste 
Fiihrer  des  wiedererstandenen  polnischen  Staates  zu  werden,  be- 
zeichnet  heute  dessen  Krise  und  schweres  inneres  Siechtum.  Er 
stand  am  Taufbecken  der  polnischen  Freiheit,  heute  ist  er  ihr 
Unterdriicker,  morgen  wird  er  ihren  Sargdeckel  zuschlagen. 

Es  kann  und  soil  nicht  untersucht  werden,  ob  Pilsudski  von 
den  Schandlichkeiten  weiB,  die  G  end  a  r  men  und  Kerkermeister 
in  seinem  Namen  veriiben.  Er  hat  die  Demokratie  durch  den 
personlichen  Despotismus  abgelost;  er  haftet  vor  der  Ge- 
schichte.  Und  er  haftet  auch  vor  der  Gegenwart.  Die  Ver- 
irrungen  des  zweiten  Pilsudski-Regimes,  das  im  Sommer  1926 
begann,  sind  um  so  beklagenswerter,  als  es  zunachst  mit  einem 
gewissen  moralischen  Elan  einsetzte.  Pilsudski  stand,  nicht  hin- 
ter  dem  damaligen  Militarputsch.  Regimenter  meuternder  Sol- 
daten  zogen  vor  sein  Landhaus  und  fiihrten  den  widerwillig 
Mitgehenden  im  Triumph  nach  Warschau;  der  spontane  Volks- 
wille  trug  ihn  zum  zweitenmal  nach  oben.  Pilsudskis  Programm 
war  die  f, Sanation  \  die  Reinigung  der  Politikerschaft  und 
Bureaukratie  von  Bestechlichen  und  Schmarotzern.  In  diesem 
Kampf  verrannte  er  sich.  Er  wollte  Korruption  treffenf  die  sich 
in  Institutionen  des  Staates  und  der  Parteien  verbarrikadierte, 
und  schlug  gegen  die  Volksrechte  schlechthin.  Er  wollte  die  Reini- 
gung durchsetzen  und  hat  nur  den  Sumpf  vergroBert,  nur  den 
Gestank  von  Blut  und  Kot  vermehrt.  Es  gibt  in  der  Politik 
keine  schlimmere  Figur  als  den  enttauschten  Idealisten,  der 
die  Machtmittel  des  Staates  schrankenlos  in  der  Hand  hat, 
der  in  seiner  Verbitterung  und  Menschenfeindlichkeit  Richter 
und  Henker  auf  die  Fragen  loslaBt,  vor  denen  seine  Begabung 
versagte.  In  vielen  Stticken  erinnert  das  jetzige  Regiment  Pil- 
sudskis an  die  letzte  traufige,  Epoche  des  Prasidenten  Wilson. 
Seit  Jahren  haufen  sich  die  Klagen  aus  Polen.  Es  liegt 
herzzerreiBendes  Material  vor  iiber  Willktir  vonPolizei  und  Ju- 
sliz,  iiber  Folterungen  in  Gefangnissen,  iiber  grausame  Exekutio- 
nen,  iiber  die  sogenannten  Pazifizierungsaktionen  in  der  west- 
1  355 


lichen  Ukraine,  wo  die  batierliche  Bevolkerung  schrecklich  unter 
der  Agrarkrise  leidet  und  die  Not  vornehmlich  mit  dem  Bajonett 
be  hand  el  t  wird*  In  gewissen  Abstanden  geht  ein©  Terrorwelle 
durch  das  Land;*  wenn  dann  allzuviele  Schilderungen  nach 
auBen  dringen,  wird  wieder  gebremst  und  die  Fassade  des 
zivilisierten  Staates  wenigstens  notdurftig  wieder hergestellt. 

Die  Anklagen  gegen  die  Exzesse  des  Pilsudski-Regimes 
sind  nicht  parteimaBig  begrenzt,  sie  kommen  nicht  von  der 
auBersten  Linken  allein,  und  das  macht  sie  besonders  gewichtig, 
Sozialdemokraten,  Liberate,  Biirgerliche  vom  rechten  Fliigel, 
alle  die  in  Opposition  stehen,  verfallen  den  gleichen  barbari- 
schen  Behandlungsmethoden.  Sie  werden  in  Kerker  gesteckt, 
die  nicht  menschenwiirdig  sind,  sie  werden  geschlagen  und  Hun- 
gerqualen  ausgesetzt.  Untersuchurigsrichter  schrecken  nicht 
vor  Anvyendung  der  Tortur  zuriick,  Frauen  werden  in  Polizei- 
kammern  bis  aufs  Blut  gepeitscht.  Die  Vorkommnisse  in  der 
Zitadelle  von  Brest-Litowsk  sind  noch  bekannt  genug.  Wenn 
ein  Politiker  von  internationaler  Beriihnitheit  wie  Korfanty 
nicht  einmal  vor  korperlichen  MiBhandlungen  sicher  war,  so 
k arm  man  sich  leicht  vorstellenf  was  fiir  ein  Los  dem  unbe- 
kannten  FuBsoldaten  der  Opposition  zuteil  wird,  dem  kleinen 
Agitator,  dem  Flugblattverteiler,  dem  Zettelkieber,  wenn  *er 
das  Ungliick  hat,  in  die  Klauen  der  Ordnungsbestie  zu  geraten. 
Der  RegierungserlaB,  daB  die  politischen  Haftlinge  gemeinen 
Verbrechern  gleichzusetzen  sind,  bedeutet  nur  die  konsequente 
Fortfuhrung  des  bisherigen  Zustandes,  bedeutet  nur  die  Sank- 
tionierung  des  administrativen  Sadismus,  zeigt  aBer  auch  den 
unbeugsam  schlechten  Willen  der  Regierenden,  DaB  aber  eine 
solche  MaBnahme  im  Namen  eines  alten  Revolutionars  durch- 
gefuhrt  wird,  das  ist  eine  besondere  Schande  und  muB  Gefiihle 
von  Emporung  und  Scham  jenseits  von  aller  Politik  erwecken, 

Ein  besonders  abscheuliches  Kapitel  in  der  neuen  pol- 
nischen  Geschichte  nimmt  die  Blutherrschaft  in  der  West- 
ukraine  ein.  Denn  dort  ist  der  Zusammenprall  am  argsten, 
dort  wird  der  Terror  am^brutalsten  angewendet.  Denn  dort 
steht  nicht  nur  eine  groBenteils  kommunistische  Landbevolke- 
rung  gegen  die  war»schauer  Machthaber,  sondern  auch  eine 
biirgerlich-nationalistische  Bewegung,  die  fascistisch  gefarbt 
ist  und  Schrecken  mit  Schrecken  beantwortet.  Grenzerkampfe 
zeichnen  sich  immer  durch  besondere  Schonungslosigkeit  aus; 
in  der  polnischen  Ukraine  mischen  sich  soziale  und  nationale 
Motive  aufs  verhangnisvollste.  Die  Ermordung  des  Abgeord- 
neten  Holowko,  die  jetzt  groBe  Erregung  verursacht,  ist  auf  die 
Unterdriickung  der  ukrainischen  Minoritat  zuruckzufiihren. 
Holowko,  der  eine  Saule  der  parlamentarischen  Mehrheit  Pil- 
sudskis  war,  wurde  ak  Renegat  gehaBt.  Er  war  iriiher  So- 
zialist  und  hatte  sich  erst  1926  dem  Marschall  angeschlossen, 
als  dessen  treuer  Diener  er  eine  besonders  herausfordernde 
356 


Sprachc  gegen  alle  Opponenten  fuhrte.  Vor  wenigen  Monaten 
erst  hat  Holowko  die  Ukrainer  aufs  AuBerste  verhohnt,  indem 
cr  ihnen  von  der  Tribune  des  Sejm  zurief,  sie  kfinnten  sich 
ruhig  in  Genf  beschweren,  in  Polen  werde  sich  doch  nichts 
andern.  Diesen  Zynismus  beantworteten  die  Ukrainer  mit  der 
Vendetta,  und  es  ist  jetzt  zu  befurchten,  daB  die  Regierung 
wieder  mit  einer  neuen  „PazifizierungM  antworten  wird,  mit  ver- 
starkten  Greueln,  die  wieder  Unschuldige  treilen  werden.  Wenn 
die  europaische  Offentlichkeit  nicht  durch  das  Studium  der  sin- 
kenden  Borsenpapiere  hinreichend  abgelenkt  ware,  so  wiirde 
sie  sich  schon  langst  etwas  mehr  um  die  Zustande  in  Polen  ge- 
kiimmert  haben.  Auch  die  Herren  Diktatoren  berrschen  nur 
im  eignen  Hause,  und  die  Meinung  der  Welt  kann  ihnen  nicht 
gleichgultig  sein.  Der  polnische  Staat  leidet  ohnehin  nicht 
unter  einer  allzu  groBen  Beliebtheit,  seine  haufigen  Nerven- 
anfalle  werden  auch  von  den  Freunden  in  Paris  nicht  mehr  so 
harmlos  wie  fruher  beurteilt  Den  paar  deutschen  Politikern 
und  Pubiizistent  die  sich  im  Kreuzfeuer  ihrer  eignen  Nationa- 
listen  um  eine  deutsch-polnische  Verstandigung  bemiihen,  wird 
der  Mut  genommen,  fur  die  Versohnung  mit  einem  Staat  zu 
plaidieren,  dessen  Gewalthaber  die  Menschenrechte  auBer  Kurs 
gesetzt  haben. 

TarilOW  Oder  R.G.O.?  von  Jakob  Links 

U  s  wiederholt  sich  nichts:  gemessen  am  Elend,  das  der  kom- 
mende  Winter  urrs  bringen  wird,  werden  uns  die  Note  des 
vergangenen,  die  uns  schon  unertraglich  schienen,  wie  ein  ver- 
lorenes  Paradies  erscheinen.  Und  wer  glaubte,  daB  die  turbu- 
lenten  Massenversammlungen,  die  StraBenunruhen,  Ladenpliin- 
derungen,  Morde  und  Selbstmorde  des  letzten  Jahres  bereits 
die  latente  Revolution  darstellten,  der  wird  in  den  nachsten 
Monaten  erkennen,  daB  die  Wirren  der  Vergangenheit  nur  ein 
zahmer  AuJtakt  zu  dem  waren,  was  uns  bevorsteht.  Es  wieder- 
holt sich  nichts:  die  innenpolitischen  Kampfe,  die  nach  der 
Scheinruhe  der  Sommermonate  von  neuem  einsetzen,  werden 
nicht  nur  einen  viel  scharfern  Charakter  sondern  auch  ein 
andres   Gesicht   tragen. 

Wie  wird  dies  Gesicht  aussehen?  In  den  Kampf  auf  der 
StraBe  und^in  den  Massenversammlungen  wird  der  Kampf  in 
den  Betrieben  selbst  hineingezogen.  Und  die  Schlacht,  die  hier 
geschlagen  wird,  die  wird  fur  die  groBe  Frage  des  Winters 
^Revolution  oder  Lethargie?"  entscheidend  sein.  In  diesem 
Winter  haben  die  Gewerkschaften  das  Wort  —  bisher  standen 
sie  a  la  suite  der  Entwicklung,  erlieBen  Resolutionen,  nahmen 
theoretisch  Stellung,  debattierten  und  versuchten  mit  den  fein- 
sten  Kniffen  der  auf  alien  KompromiB-Satteln  gerechten  Bonzo- 
kratie,  die  Massen  bei  der  Stange  zu  halten.  Das  „W under" 
des  vergangenen  Winters  war  in  Wirklichkeit  ein  Sieg  der  Ge- 
werkschaftsbureaukratie,  die  bereits  im  Oktober  1930  mit 
dem   vorzeitig   abgeblasenen  berliner.  Metallarbeiterstreik   der 

357 


Kampffreudigkeit  der'  Massen  das  Riickgrat  gebrochen  hatte. 
In  ICrisenzeiten  be4eutet  ein  verlorener  Strcik  eine  ungieich 
groBere  —  da  auch  psychologisch  tiefwirkende  —  Niederlage, 
als  in  ciner  Konjunkturepoche. 

Die  „Thcorie  vom  kleinern  Obel"  hat  sich  als  die  Tatsache 
dcr  groBern  Katastrophc  erwiesen.  Knapp  vier  Jahrc  ist  cs 
erst  her,  daB  Tarnow,  dicsc  festeste  Saule  im  Tempel  des 
A,D.G.BM  seine  Broschiire  veroffentlichte:  1(Warum  arm  sein?" 
In  ihr  bewies  der  Arbeiterf  iihrer,  daB  der  Sozialismus  nicht 
mehr  vonnoten  sei,  denn  der  durch  die  Rationalisierung  hervor- 
gerufene  Aufschwung  der  Wirtechaft  ermogliche  auch  dem  Pro- 
letarier  einen  marchenhaften  Aufstieg.  Als  es  sich  nach  zwei 
Jahren  zeigte,  daB  die  Rationalisierungsmaschine  das  Heer  der 
standigen  Arbeitslosen  in  Deutschland  um  anderthalb  bis  zwei 
Millionen  hungernder  Miinder  vermehrt  hatte,  wurde  die  Theo- 
rie  ein  wenig  umgebaut.  Ganz  iiber  Bord  werfen  konnte  man 
sie  nicht,  ohne  den  eignen  Bankrott  zii  offenbaren,  Und  so 
handelte  auch  der  Reformismus  durchaus  folgerichtig,  wenn  er 
alsbald  seinen  Anhangern  verkundete,  man  miisse  mit  den 
Wolfen  heulen,  wenn  man  wenigstens  die  abgenagten  Knochen 
reiten  wolle,  die  die  Wolfe  gelegentlich  iibrig  lieBen,  Ganz  ab- 
gesehen  davon  ergab  sich  die  Riickzugslinie  des  Stillhaltens 
in  der  Gewerkschaftspolitik  aus  der  innenpolitischen  Haltung 
der  Sozialdemokratischen  Partei  selbst.  Da  die  Sozialdemo- 
kratie  seit  1918  gezwurigen  ist,  die  Fiktion  der  Demokratie  zu 
verteidigen,  so  schwenkte  auch  die  Gewerkschaftsbureaukratie 
gehorsam  in  das  seichte,  aber  sehr  gefahrliche  Wasser  einer  auf 
arbeitgeberfreundlichen  Schiedsspriichen  aufgerichteten  Wirt- 
schaftsdiktatur  ein.  Sie  wird  jetzt  in  diesem  Wasser  elend  er- 
trinken. 

Dcnn  in  diesem  Winter  wird  man  sich  nicht  mehr  mit 
Schiedsspriichen  aufhalten.  Die  Wirtschaftsdemokratie  und 
mit*  ihr  die  famose  Arbeitsgemeinschaft  existieren  nicht 
mehr,  nicht  einmal  mehr  auf  dem  Papier.  Wir  stehen  vor  bru- 
tal durchgefuhrten  Massenentlassungen  von  einigen  Millionen 
Arbeitern,  und  diese  sind  der  Kern  der  noch  auf  die  sozial- 
demokratische  Fahne  /schworenden  Gewerkschaftsmitglieder. 
Das  Spiel  ist  aus,  das  anmutige  Spiel,  das  sich  Fabrikherr  und 
sozialdemokratischer  Betriebsrat  bisher  leisten  konnten:  nam- 
lich  bei  notwendig  werdenden  Entlassungen  in  erster  Linie 
Unorgankierte  und  Kommunisten  zu  entfernen.  Bisher  nahm 
man  noch  groBtmogliche  Riicksicht  auf  die  Klagen  der  Gewerk- 
schaften,  man  moge  doch  nicht  durch  Entlassungen  „besonde- 
rer  Arbeiterschichten"  der  politischen  Radikalisierung  Vor- 
schub  leisten. 

Auch  diese  Periode  der  Schonung  ist  nun  beendet,  so  gern 
sie  auch  ein  Teil  der  Arbeitgeberschaft  noch  ferner  (iben 
mochte.  Die  ganze  Hilflosigkeit  der  Gewerkschaftsfiihrer  vor 
den  Ereignissen  des  kommenden  Winters  zeigt  sich  in  haBlich- 
ster  Bliite  auf  dem  KongreB  in  Frankfurt  am  Main.  Sie  geben 
zwar  der  allgem einen  Stimmung  folgend  den  Kapitalismus  preisf 
mit  dessen  Hilf e  sie  eben  noch  dem  Arbeiter  die  Fleischtopf e 
Aegyptens  versprachen.  Und  was  versprechen  sie  stattdessen? 
Wie  hoffnungslos  lang  und  diirr  sind  diese  Reden,  wie  nichts- 

358 


sag  end  und  kokett  die  Formulierungen,  mit  dcncn  die  groBen 
Theoretikcr,  wie  etwa  Lederer,  das  Gewitter,  das  sie  mit  gro- 
Bem  Geschick  heraufbeschworen  haben,  an  der  Entladung  zu 
hindern  vcrsuchen.  Nur  Tarnow  ist  tapsig  genug,  den  Schleier 
zu  zerreiBen,  mit  dem  man  geglaubt  hat,  dem  Arbeiter  den 
freien  Blick  auf  die  wahre  Lage  der  Dinge  vernebeln  zu  kon- 
nen.  Tarnow  tritt  off  en  fur  die  Autarkic  ein:  er  fordert  Staats- 
sanierung  und  Staatsaufsicht  fiir  alle  wackelnden  Betriebe.  Nur 
so  konnten  Massenaussperrungen  verhindert  werden.  Furwahr, 
ein  vornehmer  Vorschlag,  freilich  stammt  er  nicht  von  Tar- 
now, sondern  ist  bereits  von  Mussolini  langst  in  die  Praxis 
umgesetzt  worden.  In  der  ,Carta  del  Lavoro'  wird  den  italie- 
nischen  Gewerkschaften  lediglich  das  Recht  zugebilligt,  an  der 
Aufrechterhaltung  der  Produktion  unter  Staatsaufsicht  mitzu- 
arbeiten.  Die  Staatsaufsicht,  so  wie  Tarnow  sie  herbeisehnt, 
wiirde  bei  dem  Grad  unsrer  Krise  und  der  Macht  der  Ar- 
beitgeber  noch  ein  wenig  scharfer  aussehen. 

Die  Treue  des  deutschen  Arbeiters  zu  seinen  Fiihrern  ist 
ein  einmaliges  Phanomen.  Wird  sie  auch  noch  halten,  wenn 
die  letzte  Stutze  ihres  Glaubens  im  kommenden  Winter  zer- 
bricht?  Man  soil  sich  vor  Prophezeiungen  huten.  Aber  in 
diesem  Falle  ist  es  unschwer  vorauszusagen,  daB  Hunderttau- 
sende  von  arbeitslos  gewordenen  Sozialdemokraten  den  Weg 
zur  kommunistischen  Gewerkschaftsopposition  finden  werden, 
Und  dieses  Ereignis  wird  fiir  Deutschland  einschneidender  sein 
als  hundert  Massenversammlungen,  ein  halbes  Dutzend  neuer 
Bankkrache  und  andre  Ereignisse  der  vergangenen  Monate, 
die  ja  nur  zeigten,  daB  es  auch  im  Gebalk  der  feinsten  Etagen 
zu   knistern   beginnt. 

Die  Theorie  der  R.G.O.  ist  ebenso  klar  und  richtig,  wie 
die  Praxis  ihres  Erfolges  bisher  gering  war.  In  der  Theorie 
erkannten  die  Kommunisten,  daB  jede  Streikbewegung  in  dei 
heutigen  Situation  nur  dann  zu  einem  Erfolg  fiihren  kann 
wenn  die  Masse  der  Gewerkschaftsmitglieder  sich  der  Bewe- 
gung  anschlieBt,  SchlieBt  sie  sich  an,  so  entwickelt  sich  jede 
groBere  Streikbewegung  zu  einer  politischen  Aktion.  Nun, 
die  beste  Theorie  niitzt  nichts,  wenn  man  im  taglichen  Leben 
falsche  Wege  einschlagt.  Die  R.G.O,  hat  in  ihren  Werbefeld- 
ziigen  zahllose  taktische  Ungeschicklichkeiten  begangen.  Statt 
die  Anhanger  der  reformistischen  Gewerkschaftslinie  zu  iiber- 
zeugen,  schlug  man  sie  vor  den  Kopf  und  nannte  sie  Verrater. 
So  wirbt  man  keine  Freunde.  Seit  drei  Monaten  allerdings  ist 
dieser  linke  Kurs  liquidiert  —  auf  einen  Wink  von  Moskau 
hin,  und  schon  zeigen  sich  die  Friichte:  die  verschiedensten 
Betriebswahlen  der  letzten  Wochen  ergaben,  daB  die  Stimmen- 
zahl  fiir  die  Vertreter  der  freien  Gewerkschaften  in  mathe- 
matisch  fast  genau  demselben  Verhaltnis  sinkt,  wie  die  Stim- 
menzahl  fiir  den  Vertreter  der  Kommunisten  steigt. 

Aber  das  ist  erst  der  Anfang  einer  Entwicklung,  die  ganz 
zwangslaufig  weitergehen  wird,  Es  wird  aber  alles  davon  ab- 
hangen,  ob  es  der  R.G.O.  gelingt,  das  Auffangebecken  fiir  die 
Hunderttausende  und  Millionen  entlassener  Arbeiter  zu  sein, 
die,  um  die  geringste  Frucht  ihrer  fast  unmenschlichen  Diszi- 
plin  betrogen,  ihren  Gewerkschaftsfiihrern  die  Mitgliedsbiicher 

359 


endlich  vor  die  Fu8e  werfeii;  Versagt  die  praktische  Arbeit 
der  RG,(X  in  den  nachsten  Monaten,  so  steigt  freilich  die 
fascistische  Gefahr.  J  Denn  maa  darf  hicHt  vergessen,  daB  auf 
der.  andern  Seite  nicht  mix  die  gelben  Gewerkschaften,  son- 
dern  in  erster  Linie  die  Nationalsozialisteh  mit  offenen  Armen 
und  den  groteskesten  Versprechungen  stehen^ 

Aber  der  EinfluB  Hitlers  sinkt  doch  im  groBen  und  gan- 
zen  innerhalb  der  Arbeit erschaft  ---  um  freilich  in  den  Reihen 
der  mittlerii  und  hohern  Angestellten,  der  Beamtenschaft,  der 
Schupo  und  Reichswehr  immer  noch  zu  wachsen.  Hier  zieht 
der  legale  Kurs,  Es  ist  also  nicht  anzunehmen,  da'B  wirklich 
gfroBere  Massen  des  arbeitslosen  Millionenheeres  Hitler  in 
die  Lage.  versetzen  wer den,  noch  einpaar  Dutzend  neuer  brau- 
ner  Hauser  in  den  deutschen  GroBstadten  zu  errichten. 

Nicht  dort,  nicht  in  der  Wilhelm-StraBe,  und  schon  ganz 
und  gar  nicht  im  Schattenparlament,  sondern  in  den  sich  lee- 
renden  Betrieben  und  in  den  uberfiillten  Raumen  der  Stempel- 
stellen  wird  die  Schlacht  des  Winters  geschlagen  werden. 

Das  mifiverstandene  Rufiland 

von  George  Bernard  Shaw 

Cin  sentimentaler  franzosischer  Autor  hat  das  Wort  ,, alles 
verstehen,  heifit  alles  verzeihen"  gepragt.  Seine  Auffassung 
ist  vollkommen  irrig.  Wenn  zwei  einander  gefahrliche  Parteien 
gegenseitig  zu  gut  ihre  Motive  verstehen,  so  ist  die  natiirliche 
Folge,  daB  sie  alles  tun,  um  sich  gegenseitig  umzubringen.  Sie 
mogen  insoweit  mit  dem  Franzosen  ubereinstimmen,  als  sie  we- 
der  Zeit  noch  sittliche  Entriistung  verschwenden,  um  sich  ge- 
genseitig Gardinenpredigten  iiber  ihre  unniogliche  Unmoral  zu 
halten.  Dasmacht  aber  ihrenKampf  riur  sachlicher  und  unerbitt> 
licher.  Ich  bin  keineswegs  tiberzeugt,  daB  ich  durch  Aufkla- 
rung  der  lacherlichen  MiBverstandnisse  zwischen  dem  kommu- 
nistischen  RuBland  und  der  kapitalistischen  Zivilisation  in  an- 
dern Landern  die  Feindschaft  zwischen  den  beiden  Parteien 
aus  der  Welt  schaffe.  Vielleicht  rufen  die  kapitalistischen 
Zeitungen  und  imperialistischen  Politiker  sogar  umso  lauter 
nach  der  Verriichtung  des  russischen  Kommunismus,  je  mehr 
Aufklarungen  ich  dariiber  gebe.  Wenn  sie  aber  unbedingt  nach 
Blut  schreien  miissen,  so  soil  en  sie  es  lieber  in  intellig  enter  als 
in  unsinniger  Weise  tun.  Die  ubliche  antirussische  Propaganda 
besteht  lediglich  in  einer  Herabsetzung  RuBlands,  die  dazu 
fuhrt,  daB  der  Kapitalismus  seinen  Gegner  unterschatzt  und 
sich  selbst  in  sehr  gef ahrlicher  Weise  iiber  schatzt,  dies  umso 
mehr,  als  das  MiBverstandnis  nicht  auf  Gegenseitigkeit  beruht. 
Die  kommunistischen  Fuhrer  verstehen  sowohl  den  Kommunis- 
mus  als  auch  d^n  Kapitalismus.  Die  Wortfuhrer  des  Kapitalis- 
musVerstehen  weder  den  Kapitalismus  noch  den  Kommunis- 
mus./  Stalin  konnte  mit  dem  Erzbischof  Whately  und  Palmer- 
ston-sagen:  HDie:  t^richtenLeute  verstehen  nicht  ihr  eignes  to- 
richtes  Geschait/' 

Er  konnte  hinzufiigen,  daB  selbst  verstandige  Leute  die 
Verhaltnisse  in  ihrem  eignen  I,,ande  so  wenig  kennen,  daB  sie 

360 


entsetzt  sind,  wenn  sie  Beschreibungen  fiber  Zustande  in  RuB- 
land lesen,  die  in  zchn  Minuten  Entfernung  von  ihrem  eignen 
Hausc  genau  so  existieren,  Diese  Leute  erinncrn  mich  an  jene 
begeisterten  Fiirsprecher  der  schwarzen  Sklaven,  die  vor  einem 
Jahrhundert  fur  die  Abschaffung  des  Sklavenhandels  eintraten 
und  nichi  wuBten,  daB  in  Fabriken,  deren  Rauch  ihre  Fenster 
verdunkelte,  weiBe  Kinder  grausamer  ausgenutzt  und  geschla- 
gen  wurden  als  die  erwachsenen  Neger  in  Afrika,  von  deren 
Leben  sie  so  herzzerreiBend  Geschichten  erzahlten. 

In  RuBland  werden  gegenwartig  die  Verbrecher  nachgiebi- 
ger  und  vernunftiger  behandelt  als  in  irgendeinem  andern  Land, 
das  ich  kenne.  In  England  verubte  kiirzlich  ein  des  Raubes 
Oberfiihrter  im  Gefangnis  Selbstmord,  nachdem  er  unmensch- 
licherweise  zu  zehn  Jahren  Zwangsarbeit  und  einer  Prtigel- 
strafe  verurteilt  worden  war.  Die  Schrecken  von  Cayenne 
und  der  Teufelsinsel  bei  den  Franzosen,  die  entsetzlich  lange 
Ausdehnung  der  Einzelhaft,  sowie  die  gegen  Frauen  zur  An- 
wendung  kommende  Priigelstrafe  in  Delaware  bei  den  Ameri- 
kanern  scheinen  mehr  teuflischen  als  menschlichen  Sitten  zu  ent- 
sprechen.  Die  Zeitungen  der  westlichen  Welt  sind  voll  von 
Berichten  iiber  die  Schrecken  des  amerikanischen  Verbrecher- 
tunis  und  von  Bildern  der  Unterwelthelden.  Verbrecher,  die 
nicht  einmal  klug  genug  sind,  sich  mit  der  amerikanischen  Bun- 
desregierung  durch  Zahlung  ihrer  Einkommenssteuer  gut  zu 
verhalten,  haben  entdeckt,  wie  leicht  es  ist,  Geschworene  ein- 
zuschiichtern  und  die  Polizei,  ja  sogar  die  Richter,  zu  be- 
stechen.  Unter  diesen  Verhaltnissen  ware  der  Alkohol- 
schmuggel  Geldverschwendung,  da  es  viel  bequemer  und  ebenso 
ungefahrlich  ist,  in  einen  Laden  zu  gehen  und  dem  Ladeninha- 
ber  zu  eroffnen,  daB  er  auf  der  Stelle  erschossen  wird(  wenn 
er  nicht  sofort  einige  Dollars  herausruckt. 

In  SowjetruBland  hatte  ein  Verbrecher  genau  so  viel  Le- 
benschancen  wie  eine  Ratte  in  einem  Hofe  voller  Terriers.  In 
Amerika  hungern  Millionen  von  Familien  oder  verkaufen  ihre 
letzten  Mobel,  um  sich  Nahrungsmittel  dafiir  zu  beschaiien. 
Sie  bekommen  nicht  einmal  die  Unterstutzung,  die  in  England 
die  Arbeitslosen  vor  dem  Verhungern  rettet.  In  beiden  Lan^ 
dern  tut  die  regierende  Klasse  nichts,  um  durch  soziale  oder 
industrielle  MaBnahmen  die  Lage  zu  bessern/  Sie  kauft  sich 
von  einem  Verzweiflungsauf stand  der  Hungernden  durch  pri- 
vate Wohltatigkeit  ios,  die  in  Amerika  freiwillig,  in  England 
zum  Teil  obligatorisch,  in  beiden  Landern  aber  nur  ein  Trop- 
fen  auf  den  heiBen  Stein  ist*  In  RuBland  gibt  es  keine  Ar- 
beitslosen. Das  Volk  ist  gesund,  lebt  sdrgenfrei  und  voller 
Vertrauen  auf  die  Zukunft  Es  muB  sich  etwas  einschranken 
und  ziemlich  schwer  arbeiten,  hat  aber  die  Oberzeugung,  daB 
der  Gewinn  ihm  selbst  zugute  kommt  und  nicht  von  MiiBig- 
gangern  in  Luxushotels  zwischen  Palm  Beach  und  dem  Adria- 
tischen  Meer  vertan  wird.  In  RuBland  warten  nicht  schon 
vor  ihrer  Geburt  Millionenvermogen  auf  sokhe  MuBigganger. 
Und  obgleich  die  Todesstrafe  dort  abgeschafft  ist,  miissen  sie 
entweder  arbeiten,  oder  sie  werden  kurzerhand  erschossen, 
weil  sie  nicht  wert  sind,  daB  die  Gesellschaft  sie  durchfiittert. 

361 


Ich  konnte  noch  zahlreiche  derartige  Gegensatze  anfiihren. 
Aber  die  bisherigen  Beispiele  geniigen  wohl,  urn  selbst  die  arg- 
sten  Pharisaer  untef  den.  Antikommunisten,  die  in  Versuchung 
kommen  konnten,  RuBland  Vorwiirfe  uber  seine  sozialen  und 
politischen  Einrichtungen  oder  die  Lebensbedingungen  seines 
Volkes  zu  machen,  daran  zu  erinnern,  daB,  wer  im  Glashaus 
sitzt,  nicht  mit  Steinen  werfen  soil. 

Die  erste  Frage,  die  ein  Reisender  urn  seiner  personlichen 
Sicherheit  willen  und  zu  seiner  Information  stellen  muB,  wenn 
er  sich  in  einem  fremden  Lande  auf  halt,  lautet;  ,,Worauf  steht 
hier  Todesstrafe?"  Die  zweite:  ,,Was  gilt  hier  als  ehrenwert?" 
In  kapitalistischen  Landern  ist  die  Antwort  sehr  einfach.  To- 
desstrafe  steht  auf  Mord,  und  geehrt  werden  Leute,  die  viel 
Geld  verdienen.  In  RuBland  werden  Todesstrafen  wegen  Mor- 
des  nicht  mehr  verhangt,  und  an  ihre  Stelle  treten  vier  oder 
fiinf  Jahre  Gefangnis.  Dagegen  wird  jeder  erbarmungslos  er- 
schossen,  der  zu  viel  Geld  verdient.  Das  Bankwesen  ist  in 
RuBland  verstaatlicht,  und  dies  sollte  in  jedem  verniinftigen 
Lande  der  Fall  «ein.  Wenn  jemand  bei  der  Staatsbank  eine 
Sum  me  Geldes  einzahlt,  bekommt  er  darauf  acht  Prozent  Zin- 
sen,  Lassen  aber  die  Betrage,  die  er  zur  Bank  bringt,  denVer- 
dacht  aufkommen,  daB  er  mehr  als  angemessen  verdient,  so 
priifen  die  Einkommenssteuerbeamten  die  Sache,  und  wenn  sie 
feststellen,  daB  der  Betreffende  spekuliert  oder  die  Arbeit 
andrer  ausgenutzt  hat,  wird  er  plotzlich  von  s  ein  en  Angehori- 
gen  vermiBt  werden  und  nicht  wieder  zum  Vorschein  kommen. 
Er  ist  „liquidiert"  worden.  Liquidation  bedeutet  Entfernung 
eines  Schadlings  aus  dem  Wirtschaftsleben.  Es  gibt  keine 
sichtbaren  Geschworenen,  die  eingeschiichtert,  keine  sicht- 
baren  Polizisten,  die  bestochen,  keine  sichtbaren  Beamten  oder 
Richter,  die  an  der  Beute  beteiligt  werden  konnen.  Die  ein- 
zige  Garantie,  daB  das  unsichtbare  Gericht  sich  nicht  heim- 
tiickisch,  gegen  einen  selbst  wendet,  ist,  daB  es  ein  Interesse 
daran  hat,  einen  am  Leben,  an  der  Arbeit  und  in  Freiheit  zu 
lassen,  weil  man  seinen  Mitmenschen  irgendweichen  Nutzen 
bringt.  Erst  wenn  man  zum  Dieb  oder  zum  Bettler  wird  oder 
zu  werden  versucht,  nimmt  sich  jemand  die  Zeit  und  macht 
sich  die  Miihe,  einen  zu  liquidieren.  Der  beriihmte  und  hoch- 
ehrenwerte  englische  ^Capitalist  John  Ruskin  wies  darauf  hin, 
daB  es  nur  drei  Arten  von  Individuen  in  der  mcnschlichen  Ge- 
sellschaft  gibt:  Arbeiterf  Bettler  und  Diebe.  Ein  Russe  wiirde 
das  Verfahren  vielleicht  noch  mehr  abkiirzen  und  nur  zwei 
Arten  unterscheiden;  Produktive  Arbeiter  und  Parasiten.  Nun 
beruht  der  Kapitalismus  unter  anderm  auf  der  Theorie,  daB 
niemand  ohne  den  Anreiz  arbeiten  wiirde,  spater  selbst  Kapi- 
talist  (lies:  Parasit)  werden  zu  konnen,  und  daB  infolgedessen 
das  Parasitentum  zu  den  unvermeidlichen  Produktionskosten 
gehort.  Eine  Fabrik,  erklart  der  Kapitalismus,  ist  underikbar 
ohne  einen  Grundbesitzer,  der  das  Land,  auf  der  sie  steht,  zu 
dem  hochsten  Zins  verpachtet,  den  er  bekommen  kann,  ohne 
einen  Kapitalisten,  der  aus  seinem  iiberschussigen  Geld  die 
hochsten  Zinsen  herausschlagt,  die  gezahlt  werden,  ohne  einen 
Fabrikherrn,  der  entschlossen  ist,  einen  Vertrag  herauszuwirt- 
schaften,  der  nicht  nur  die  Pacht  und  die  Zinsen  deckt,  son- 

362 


dern  noch  einen  moglichst  hohcn  UberschuB  fiir  ihn  selbst  abr 
wirft.  Das  kann  er  nur  erreichen,  wcnn  er  die  Arbeitslohne  so 
niedrig  wie  moglich  halt.  Die  Arbeiter,  welche  gezwungen  sind, 
entweder  zu  arbeiten  oder  zu  verhungern,  verkaufen  ihm  auch 
ihre  Arbeitskraft  zu  stark  gednickten  Preisen.  RuBland  wider- 
legt  diese  kapitalistische  Theorie  durch  die  Praxis.  Es  besitzt 
zahlreiche  Fabriken  mit  moderns  ten  amcrikanischen  Maschi- 
nen,  in  denen  amerikanische  Ingenieure  und  Techniker  arbei- 
ten, die  das  Leben  in  RuBland  dem  Leben  der  Vereinigten 
Staaten  vorziehen.  Diese  Fabriken  sind  in  vollem  Betrieb, 
ohne  daB  ein  .einziger  Parasit  darin  zu  finden  ware.  Miete 
und  Pacht  flieBen  in  die  Staatskassen,  desgleichen  die  Zinsen 
von  dem  investierten  Kapital  sowie  der  Reingewinn.  Der  da- 
durch  gebildete  offentliche  Fonds  wird  zum  Bau  neuer  Fabri- 
kenf  zur  Errichtung  neuer  Kollektivfarmen,  zur  Erzeugung  von 
Nahrungsmitteln  in  groBtem  MaBstabe  und  zur  Erhaltung  einer 
Riesenarmee  verwandt,  die  Mr.  Churchill  und  Mr.  Babbitt  li- 
quidieren  wird,  sobald  sie  von  den  antirevolutionaren  Wort^ 
gefechten  zu  antirussischen  militarischen  MaBnahmen  iiber- 
gehen.  Der  Rest  wird  zum  Wohle  der  Arbeiter  verwandt  wer- 
den.  In  dem  ganzen  Wirtschaftskorper  ist  mit.  einer  Aus^ 
nahme  kein  Platz  fiir  Faulenzer,  Parasiten  oder  Ausbeuter, 
und  diese  Ausnahme  ist  das  hungrige  russische  Baby,  das  sich 
noch  nicht  einmal  durch  das  Zimmer  bewegt,  wcnn  es  nicht 
getragen  wird.  Und  selbst  das  Baby  muB  Heller  und  Pfennig 
zuriickzahlen,  wenn  es  alt  genug  zum  Arbeiten  ist. 

Es  hat  keinen  Zweck,  noch  weiterhin  die  Behauptung  aut- 
recht  zu  erhalten,  daB  all  diese  Theorien  nicht  durchfuhrbar 
sind,  weil  Habgier  und  Selbstsucht  der  Menschen  es  unmog- 
lich  machen.  Sie  werden  durcHgefuhrt,  es  rentiert  sich,  und 
selbst  die  Habgierigen  und  Selbstsiichtigen  mochten  nicht  mehr 
in  einem  kapitalistischen  Staate  leben. 

Parteipolitik,  allgemeines  Wahlrecht  und  alle  iibrigen  Lii- 
gen  und  Torheiten,  durch  die  angeblich  die  Ziele  der  Demo- 
kratie  verwirklicht  werden,  die  aber  tatsachlich  mit  groBter 
Sicherheit  die  Erreichung  dieser  Ziele  vereiteln,  existieren  nicht 
in  RuBland.  Wenn  die  Russen  einem  Mann  eine  nationale  Auf- 
gabe  ubertragen,  setzen  sie  nicht  einen  andern  Mann  ein,  der 
ihn  daran  hindert,  sie  durchzufuhren,  und  amiisieren  sich  dann 
iiber  den  Kampf  der  beiden.  Sie  lassen  nicht  zu,  daB  Acker- 
bauer  sich  in  Fragen  des  wissenschaftlichen  Unterrichts  mi- 
schen,  und  bitten  auch  nicht  Dorffuhrleute  um  ihre  Meinung 
iiber  finanzielle  MaBnahmen  und  auswartige  Politik.  Trotzdem 
hat  der  Verzicht  auf  diese  pseudodemokratischen  Vorsichts- 
maBnahmen  weder  die  Tyrannei  der  Zaren,  der  Kirch enfiirst en 
und  des  Adels  wiederhergestellt  noch  das  Volk  aufs  neue  in 
Leibeigenschaft  gebracht. 

„Merkwiirdig!'\  sagt  Mr.  Babbitt,  „wie  machen  sie  es 
nur?" 

Einfach  genug.  Die  Urheber  der  kommunistischen  Verfas- 
sung  SowjetruBlands  hatten  in  den  Tagen  ihrer  Verfolgung  und 
Verbannung  sehr  viel  Zeit  zum  Nachdenken,  und  zwar  zum 
groBen  Teil  in  Sibirien.  In  Detroit,  Pittsburgh,  New  York  und 
ahnlichen  Stadten  hat  man  keine  Zeit  dazu.    Sie  griibelten  iiber 

2  363 


die  Naturgeschichte  der  Menschheit  nach.  Sie  sahen  an  sich 
selbst,  dafi  der  merkwiirdigc  Faktor  in  dcr  Natur,  den  wir 
Vorsehung  nennen,  immer  dafiir  sorgt,  daB  jede  menschliche 
Gemeinschaft  soviel  sozial  gewissenhafte  und  geistig  interes- 
sierte  Menscheri  hervorbringt,  wie  notwendig  sind,  um  sie 
zu  regieren,  vorausgesetzt,  daB  jeder  die  gleichen  kulturellen 
Moglichkeiten  hat*  Diese  besondern  Individuen  sind  leicht 
zu  erkennen  an  ihrem  dauernden  Ruf  nach  Weltverbesserung, 
ihrer  Gesellschaftskritik,  ihrem  eifrigen  Lesen  und  ihrem  daraus 
folgenden  geschichtlichen  und  wirtschaftlichen  Wissen,  ihrer 
Verachtung  habgierigen  Ehrgeizes,  ihrer  Geringschatzung  von 
Reichtum  und  Rang,  und,  wenn  sie  arm  sind,  ihrer  haufigen  Ver- 
urteilung  zu  Freiheitsstrafen,  Diese  Art  von  Menschen  leitete 
die  russische  Revolution  in  die  Wege  und  baute  den  Sowjet- 
staat  auf.  Sie  wurden  nicht  in  einer  offiziellen  Wahl  gewahlt, 
sie  hatten  nicht  die  geringste  Aussicht  gehabt,  daB  Hinz  und 
Kunz  sie  geniigend  anerkannten,  um  sie  zu  Dienern  der  Allge- 
meinheit  zu  ernennen.  Die  meisten  von  ihnen  waren  bei  ihren 
werten  Nachbarn  griindlich  unbeliebt  und  gefiirchtet.  Sie  er- 
schienen,  ohne  gewahlt  worden  zu  sein,  denn  die  Natur  hatte 
sie  auserwahlt.  Die  Natur  setzt  ihr  Werk  fort.  Im  Westen 
werden  ihre  Auserwahlten  verhohnt,  lacherlich  gemacht,  ein- 
gekerkert  und  sogar  auf  dem  elektrischen  Stuhl  ins  Jenseits 
befordert.  In  RuBland  werden  sie  der  Kommunistischen  Par-  , 
tei  eingegliedert,  und  niemand  anders  als  die  Kommunistische 
Partei  regiert  RuBland.  Sie  wahlt  und  bestellt  die  Verwaltungs- 
behorden,  die  Komitees,  ihre  Prasidenten  und  Sekretare,  welche 
die  Politik  des  obersten  Wirtschaftsrats  durchfiihren.  Das  ist 
RuBlands  Beitrag  zur  Wissenschaft  und  zur  sozialen  Organisa- 
tion. Unbeliebte  Propheten  im  Westen  haben  schon  vor  langer 
Zeit  auf  Durchfuhrung  von  Versuchen  gedrungen,  an  denen  die 
Russen  jetzt  arbeiten.  Aber  die  russische  Losung  der  Demo- 
kratie,  die  in  der  Naturgeschichte  der  Menschheit  begriindet 
ist  und  auf  dem  geheimnisvollen  Willen  der  Vorsehung  be- 
ruht,  bewirkt,  daB  die  iibrige  Welt  RuBland  um  ein  Jahrhun- 
dert  nachhinkt. 

Erst  wenn  durch  Hebung  des  allgemeinen  kulturellen  Ni- 
veaus  kein  fahiger  Mensch  mehr,  infolge  Unwissenheit,  Armut 
oder  mangelnder  Gelegenheit,  aufier  Wettbewerb  stent,  die 
Auslese  also  aus  einem  grofien  Kreis  von  Individuen  erfolgen 
kann,  werden  die  hochsten  Erfolge  erzielt  werden.  Aber  selbst 
jetzt,  wo  die  Zahl  der  vollkommen  qualifizierten  Personen 
sehr  gering  bleibt,  ist  die  russische  Regierung  die  fahigste 
und  aufgeklarteste  in  der  zivilisierten  Welt;  Das  konnte  sie 
auch  ohne  besondere  Tiichtigkeit  sein,  denn  je  schlechter  im 
Westen  regiert  wird,  desto  mehr  Grund  hat  der  Osten,  fur  die 
geringste  kluge  Tat  seiner  Regierung  dankbar  zu  sein. 

Das  kommunistische  System  ist  ein  Ratsel  fur  den  durch- 
schnittlichen  Westeuropaer,  der  an  die  Moglichkeit  der  Regel 
glaubt:  „Wer  hat,  dem  soil  gegeben  werden,  und  wer  nicht  hat, 
dem  soil  auch  das  Wenige  genommen  werden,  das  er  hat."  Es 
kommt  ihm  vor,  als  wenn  er  in  einem  Tollhaus  saBe,  dessen 
Bewohner  darauf  bestehen,  daB  schwarz  weiB  ist  und  daB  zwei 
plus  zwei  fiinf  ergibt.   Doch  die  Tollheit  hat  Methode.    Es  gibt 

364 


keine  Millionaire,  keine  Damen  und  Herren  und  so  wenig  Geist- 
liche,  daB  man  sic  nicht  bemerkt,  wenn  man  in  eine  Kirche  geht. 
Es  gibt  ferner  keine  StraBen  mil  Luxusgeschaften  und  keine 
Reklameplakate.  Niemand  scheint  es  darum  fiir  fiinf  Pfennig 
schlechter  zu  gehen.  Der  Anreiz  personlichen  Gewinns,  ohne 
den  nach  den  Behauptungen  der  Kapitalisten  keine  Fabrik  exi- 
stieren  oder  produzieren  konnte,  fehlt  in  den  russischen  Fabri- 
ken vollstandig.  Trotzdem  existieren  die  russischen  Fabriken 
und  produzieren  genau  wie  die  kapitalistischen,  nur  viel  rei- 
bungsloser,  da  in  ihnen  alie  Krafte  zusammenwirken,  um  einen 
so  grofien  Nutzen  wie  moglich  zu  erzielen,  wahrend  in  den 
Fabriken  auf  kapitalistischer  Grundlage  die  Interessen  geteilt 
sind.  Es  gibt  im  Privatleben  keine  Rangunterschiede.  Der  Sol- 
dat  verkehrt  auBerhalb  des  Dienstes  mit  seinem  Offizier  auf 
vollkommen  gleichem  FuBe.  Trotzdem  ist  die  Disziplin  in  der 
russischen  Armee  streng.  Ein  Kind,  das  geschlagen  worden 
ist,  verklagt  seine  Eltern  wegen  Korperverletzung  und  geniefit 
Biirgerrechte  wie  ein  Erwachsener.  Ehen  werden  auf  den 
Wunsch  einer  der  Parteien  leicht  geschieden;  aber  das  Fami- 
lienleben  spielt  sich  trotzdem  ganz  ahnlich  ab  wie  bei  verniinfti- 
gen  und  netten  Leuten  in  andern  Landern.  Privateigentum  exi- 
stiert  nicht,  und  trotzdem  ist  personlicher  Besitz  viel  sicherer 
als  in  London  oder  Chicago.  Wenn  jemand  Kapitalist,  selb- 
standiger  Kaufmann  oder  Gutsbesitzer  ist,  mufi  er  jeden  Augen- 
blick  gewartig  sein,  auf  die  StraBe  gesetzt  zu  werden,  zu  leben 
wie  jeder  beliebige  Proletarier  oder  sogar  vor  einen  geheimen 
Gerichtshof  zu  kommen,  der  eine  Untersuchung  gegen  ihn  an- 
stellt,  welche  mit  einem  Todesurteil  endet.  Trotzdem  bestehen 
privater  Handel  und  freie  Bauernwirtschaften  in  dem  vol- 
len  Umfang  weiter  fort,  der  erforderlich  ist,  um  die  Arbeit  auf 
den  von  der  Flut  des  Kommunismus  noch  nicht  erfaBten  Gebie- 
ten  zu  gewahrleisten-  Die  fiihrenden  Staatsmanner  haben  kei- 
nen  Privatbesitz  und  beziehen  Gehalter,  liber  die  in  West- 
europa  der  Leiter  einer  Bankfiliale  in  einer  Provinzstadt  die 
Nase  riimpfen  wurde.  Trotzdem  konnen  alle  kapitalistischen 
Prasidenten,  Reichskanzlen  und  Ministerprasidenten  sie  um 
ihre  Stellung  beneiden.  Wer  daran  zweifelt,  moge  Stalin  ir- 
gend  einen  ihrer  Posten  anbieten,  und  warten,  was  er  darauf 
sagt.  Die  Freiheit  wird  als  Aberglaube  der  Bourgeoisie  ver- 
lacht;  aber  in  Moskau  kann  jeder  tragen,  was  er  will,  und  das 
kann  kein  Mann  und  keine  Frau  in  irgend  einer  andern  Kapi- 
tale  Europas. 

Kurz  und  gut,  die  von  RuBland  erzielten  Ergebnisse  ent- 
sprechen  den  Erwartungen  seiner  ehrenwerten  Nachbarn.  Wenn 
diese  ehrenwerten  Nachbarn  Narren  sind,  versuchen  sie,  die 
Tatsachen  zu  leugnen  und  darauf  zu  bestehen,  daB  die  Ver- 
haltnisse  in  RuBland  ihrer  biirgerlichen  Logik  entsprechen  miis- 
sen.  Bei  einiger  Vernunft  geben  sie  zu,  daB  sie  falsch  unter- 
richtet  sind,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  der  erstaunlichen  Mog- 
lichkeit  gegemiber  zu  stehen,  daU  ihr  hochehrenwertes  Land 
etwas  von  Moskau  lernen  kann. 

Deutsch  von  Lucie  Hirsdt 

Copyright  by  North  American  Newspaper  Alliance, 

Nadidrudi,  audi  auszngsweise,  verboten. 

365 


Der  deUtSChe  Sumpf  von  Hanns-Erich  Kaminski 

PJas  Lcben  hat  seinen  Sinn  verloren.  Man  arbeitet  nicht 
mchr,  urn  vorwarts  zu  kommen  oder  etwas  fur  die  alien 
Tage  zuriickzulegen,  man  lernt  nicht  mehr  was,  urn  es  anzu- 
wenden,  man  heiratet  nicht  mehr,  urn  Kinder  in  die  Welt  zu 
setzen,  man  sat  nicht  mehr,  um  zu  ernten,  man  produziert  nicht 
mehr,  um  Giiter  zu  erzeugen;  selbst  der  Diebstahl  von  Waren 
ist  nicht  mehr  rent ab el. 

Jede  Zeit  hat  ihr  Schlagwort.  Das  der  Gegenwart  heiBt 
Abbau.  Es  zieht  das  Fazit  der  Stunde,  indem  es  den  Wahn- 
sinn  zum  Programm  erhebt:  „Da  von  allem  zu  viel  da  ist,  ver- 
braucht  weniger,  schrankt  Euch  ein,  spart!"  Der  Weizen  wird 
verbrannt,  der  Kaffee  ins  Meer  geschiittet,  die  Baumwolle 
nicht  mehr  geerntet.  Und  was  proklamieren  die  Herren  der 
Welt  als  Ideal  in  dem  allgemeinen  OberfluB?  Den  Hungertod! 
Abbau  der  Erzeugung,  der  Arbeit,  der  Kultur!  Abbau  aller 
Wertei 

Wo  die  Verzweiflung  sich  ausbreitet,  erscheint  der 
stumpfste  Fatalismus  schon  als  Heldentum.  Auf stand  der 
Massen?  Die  Gefahr  ist,  daB  Endemien  des  Wahnsinns  aus- 
brechen.  Denn  da  der  Abbau  der  Zivilisation  uns  ins  Mittel- 
alter  zuriickwirft,  mufl  auch  die  Psyche  der  Menschen  wie  im 
Mittelalter  reagieren.  Die  Erdbebenwarten  meldenf  wir  stiin- 
den  am  Beginn  einer  Epoche  tellurischer  Katastrophen;  in 
Barcelona  wiitet  die  Beulenpest.  Bald  werden  vielleicht  auch 
Ziige  von  Flagellanten  die  StraBen  durchziehen  und  verhun- 
gerte;  Kinder  auf  alien  Platzen  „Tut  BuBe!"  schreien. 

Die  Welt,  die  nach  dem  groBen  Krieg  noch  stand,  beruhte 
auf  der  Kultur  und  der  Moral  der  Bourgeoisie.  Jetzt  wird  mit 
der  Kultur  auch  die  Moral  abgebaut.  Die  geistigen  und  sitt- 
lichen  Giiter  des  Zeitalters  sind  zu  ein  paar  Millionaren  ent- 
flohen,  die  sich  noch  etwas  leisten  konnen,  und  zu  den  en,  die 
von  jeher  durch  die  Lage  ihrer  Klasse  oder  den  Zwang  ihres 
Geistes  abseits  standen.  Die  burgerliche  Mittelklasse  hat  kein 
Geld  mehr,  und  mit  der  gesicherten  Existenz  hat  sie  auch  ihre 
Weltanschauung  verloren. 

In  den  Bibliotheken  stehen  die  Werke  der  nKlassiker'\  Es 
ist  nur  bedrucktes  Papier,  sie  haben  die  Nation  nicht  geformt, 
ihr  Idealismus,  ihr  Glaube,  ihr  Wille,  ihre  Mahnungen  und  ihre 
Warnungen  sind  kein  Wall  gewesen  gegen  die  Verlumpung 
derer,  die  sie  einst  lasen*  Der  Burger  pflegt  sich  nicht  an  die 
eigne  Brust  zu  schlagen,  aber  er  mag  sich  umsehen  unter  sei- 
nen Bekannten  und  zahlen,  wie  viele  Schieber,  Zuhalter,  Hu- 
ren  und  Kupplerinnen  darunter  sind,  —  alle  aus  „guter 
Familie". 

Wie  friiher  der  Gebrauch  obszoner  Worte  gilt  heute 
schon  als  unpassend,  Schuiden  zu  bezahlen,  treu  zu  sein  und 
Scham  und  Ehrfurcht  zu  empfinden.  Diese  Bourgeoisie  hat 
nur  noch  eine  Uberzeugung:  namlich  daB  Vertrage  inter- 
pretiert,  Wechsel  prolongiert,  Raten  gestundet  und  Vertrauens- 
selige  hereingelegt  werden  konnen.     Ihr  Gott   ist  nicht  mehr 

366 


der  Profit.  Das  war  immerhin  ein  ehrlicher  Gott,  der  Arbeit 
und  Einsatz  verlangte.  Ihrc  Gottin  ist  die  Provision,  die 
nichts  verlangt  als  dabei  zu  sein  und  sich  eine  Scheibe  abzu- 
schneiden, 

Wer  wundert  sich  noch,  daB  im  offentlichen  Leben,  in 
dem  schon  immer  Moral  fur  das  Kennzeichen  politischef 
Idioten  gehalten  wurde,  die  gleichen  Grundsatze  triumphieren, 
die  heute  die  Weltanschauung  der  herrschenden  Klasse  bil- 
den?  Wem  erscheint  es  noch  als  schlechthin  unanstandig,  daB 
Generalspensionen  nicht  angetastet  werden,  wahrend  die 
Kriegskriippel  in  den  Rinnsteinen  des  dankbaren  Vaterlandes 
krepieren;  daB  reiche  Leute  dem  Staat  ihre  Zuchthausstrafen 
zu  maBigen  Preisen  abkaufen  konnen,  wahrend  die  Kranken- 
hauser  der  Armen  geschlossen  werden;  daB  groBe  Ban- 
krotteure  mit  Steuerertragnissen  saniert  werden,  wahrend  bei 
kleinern  Subhastationen  das  Finanzamt  allemal  der  wichtigste 
Glaubiger  ist;  daB  inlandische  und  auslandische  Fiirsten  weiter 
Millionenrenten  bekommen  und  Aufwertungsprozesse  ftihren, 
wahrend  Lehrer  in  Massen  entlassen  werden?  Wer  gerat  noch 
in  Erstaunen,  wenn  Interessenten  als  Sachverstandige  berufen 
werden,  nicht  fur  die  Arbeitslosigkeit,  versteht  sich,  sondern 
fiir  die  Industrie,  die  Banken,  die  Landwirtschaft,  —  Inter- 
essenten, die  acht  Tage  spater  Direktoren  und  Aufsichtsrate 
der  Firmen  werden,   die   sie   kontrollieren  sollten. 

Der  Privatmann,  der  sich  einschranken  muB,  setzt  heutzu- 
tage  zuerst  das  Gehalt  seines  Dienstmadchens  herab,  dann  be- 
antragt  er  ErmaBigung  der  Hauszinssteuer,  dann  erst  verzichtet 
er  auf  das  Auto,  noch  .spater  auf  die  Sommerreise,  und  erst 
ganz  zuletzt  verzichtet  die  Frau  Gemahlin  auf  das  Abend- 
kleid  fiir  den  Winter.  Warum  soil  der  Staat  anders  handeln? 
Wir  sind  nicht  mehr  auf  einem  sinkenden  Schiff,  nein,  das 
Schiff  ist  langst  gesunken,  und  die  Sieger,  die  einen  Platz  im 
Boot  erobert  haben,  schlagen  mit  den  Rudern  auf  die  Ertrin- 
kenden  ein,  die  sich  mit  ihrer  letzten  Kraft  ans  Rettungsboot 
klammern. 

Allzu  bequem  ist  der  Einwand,  die  Bourgeoisie  sei  eine 
sterbende  Klasse,  mage  sie  zugrunde  gehn,  was  stiirze  solle 
man  stoBen.  Nach  der  Bourgeoisie,  ihrem  Geschmack,  ihren 
Neigungen,  bildet  sich  ja  das  Proletariat.  Und  wonach  sollte 
es  sich  sonst  bilden,  da  fast  alles,  was  Ideen  und  Kenntnisse 
vermittelt,  in  den  Handen  der  Bourgeoisie  ist?  Das  Proletariat 
ist  und  mufi  darum  weitgehend  ihr  Abbild  sein.  Freilich,  seine 
Tugenden  wie  seine  Laster  sind  nicht  die  gleichen.  Aber  wer 
wollte  leugnen,  daB  die  Katastrophe  der  Wirtschaft,  der  Kul- 
tur,  der  Moral  auch  das  Proletariat  in  seinen  Grundanschau- 
ungen  aufwiihlt?  Man  braucht  dabei  nicht  einmal  an  die  Un- 
gliicklichsten  der  Ungliicklichen  zu  denken,  die  die  Gesell- 
schaft  ins  Lumpenproletariat,  ins  Vagabundentum,  auf  den 
Strich,  in  die  Verbrecherwelt  mit  erbarmungsloser  Gewalt  hin- 
abstoBt.  Es  geniigt,  an  die  Erscheinungen  zu  denken,  die  die 
hochste  Tugend  der  Arbeiterklasse,  die  Solidaritat,  unter  dem 
Druck  der  Verhaltnisse  mehr  und  mehr  verdrangen.     Was  fiir 

367 


die    Bourgeoisie    die    kaufmannische    Unmoral,    das   ist   fur   das 
Proletariat  Streikbruch,   Schwarzarbeit,  Werkspionage. 

.  In  Wahrheit,  diese  Krise  ist  erst  in  zweiter  Linie  eine  po- 
litische  und  wirtschaftliche.  In  erster  Linie  ist  sie  eine  mo- 
ralische!  Wir  brauchen,  angesichts  eines  Wahnsinns,  den  keine 
Spitzfindigkeit  rechtfertigen  kann,  gesunden  Menschenver- 
stand,  Ja,  auch  die  angeblichen  Geheimnisse  des  Wirfcschafts- 
lebens  vermag  der  gesunde  Menschenverstand  zu  durchdrin- 
gen,  wenn  er  sich  nur  mit  dem  Mut  paart,  die  Dinge  zu  Ende 
zu  denken.  Vor  allem  aber  brauchen  wir  Anstandigkeit!  Man 
kann  sie  kaufmannische  Ehrlichkeit,  Ktdturgewissen,  prole- 
tarisches  BewuBtsein,  Fairness  oder  Sportsgeist  oder  sonstwie 
nennen  —  es  ist  immer  wieder  die  gute  alte,  einfache  An- 
standigkeit. 


Taglich  lesen  die  Menschen  die  Zeitung.  Fragen  sie  sich 
dabei,  was  werden  soil?  Vielleicht,  Aber  instinktiv  ahnen  sie, 
daB  nichts  werden  wird,  daB  auch  diese  Krise  dort  enden  wird, 
wo  alle  deutschen  Krisen  enden  —  im  SumpL 

Seit  die  Staufer  mit  den  Welfen  rangen,  seit  die  Kaiser 
mit  der  Kirche  stritten,  immer  haben  die  groBen  Bewegungen 
Deutschlands  in  den  Sumpf  fauler  Kompromisse  und  ungeloster 
Fragen  gefiihrt.  Der  Bauernkrie<g,  die  Reformation,  der  dreiBig- 
jahrige  Krieg,  die  Auseinandersetzung  zwischen  der  kaiser- 
lichen  Zentralmacht  und  den  Territorialfiirsten,  die  achtund- 
vierziger  Revolution,  die  Hinausdrangung  Oesterreichs  aus 
Deutschland  —  was  ist  daraus  geworden?  Und  so  sehr  sich 
im  Lauf  der  Jahrhunderte  auch  die  Blutmischung  der  Nation 
geandert  hat,  ihr  Rhythmus  ist  der  gleiche  geblieben.  Der 
Weltkrieg,  die  Revolution,  die  Inflation,  der  Ruhrkrieg,  Morde, 
Korruptionsfalle,  Justizskandale  und  jetzt  die  Gegenwart  — 
und  immer  sind  dieselben  Manner  da,  immer  herrscht  dieselbe 
dumpfe  Luft,  immer  regiert  dieselbe  phrasenhafte  Romantik, 
dieselbe  weltfremde  Engstirnigkeit  und  derselbe  banale  Egois- 
mus,  der  in  seiner  hochmiitigen  Kleinlichkeit  nicht  einmal  ab- 
warten  kann,  bis  er  sich  dem  Meistbietenden  verkauit  hat. 

In  diesem  Land  wir  ken  die  Gewitter  nicht  reinigend;  wenn 
Dornroschen  endlich  wachgekufit  ist,  geht  alles  wieder  seinen 
alten,  seinen  „normalen"  Gang,  und  der  Koch  gibt  dem 
Kiichenjungen  die  Ohrfeige,  zu  der  er  die  Hand  erhoben  hatte, 
bevor  er  einschlief,  Wir  haben  weder  nuchterne  Sachlichkeit 
noch  rebellische  Spontanitat  noch  den  Fanatismus,  der  vor 
dem  AuBersten  —  nicht  in  Worten  sondern  in  Taten  —  nicht 
zuriickschreckt.  Wir  warten  stets  auf  das  Wunder  und  auf 
den  Messias,  der  es  brin,gen  soil,  unser  seelisches  Klima  ist 
eine  Mischung  aus  alien  vier  Jahreszeitent  das  Licht  unsr«s 
Geistes  ist  ein  Zwielicht. 

In  Deutschland  gibt  es  nur  einen  wirklich  wirkenden  Poli- 
tiker:  die  Zeit.  Ohne  es  zu  wissen  und  ohne  es  zu  wollen 
werden  die  kommenden  Geschlechter  die  Zukunft  bauen. 
Aber  wir  werden  sterben  wie  unsre  Vater  und  GroBvater  und 
nichts  getan  haben. 

368 


Der  Philosoph  der  Schwerindustrie 

von  Bernard  von  Brentano 

Ohilosophierend  iiber  Mensch  und  Technik  hat  Herr  Speng- 
ler, der  sich  in  der  Rolle  einer  Cassandra  des  Abendlandes 
gefallt,  ein  neues  Buch  geschrieben.  (Der  Mensch  und  die  Tech- 
nik. Beitrag  zu  einer  Philosophie  des  Lebens.)  Es  wird  ihm  nicht 
angenehm  sein,  zu  erfahren,  da6  es,  alien  Hymnen  der  Rechts- 
presse  zum  Trotz,  ein  antikapitalistisches  Buch  geworden  ist. 
Die  Sache  ist  zu  Ende,  rufter  aus,  „Nur  Traumer  glauben  an 
Auswege.  Optimismus  ist  Feigheit.  Auf  dem  verlorenen 
Posten  ausharren,  ohne  Hoffnuirg,  ohne  Rettung,  das  ist  Pflicht." 
Welche  Sache  ist  denn  zu  Ende?  Herr  Spengler  meint,  die 
Menschheit  hatte  genug  von  der.  Technik,  und  die  Revolte 
gegen  das  organisierte  Leben  begiinne.  Damit  sagt  er  nur 
schlecht,  was  Marx  im  Vorwort  zur  Politischen  Oekonomie  gut 
gesagt  hat:  „Auf  einer  gewissen  Stufe  ihrer  Entwicklung  ge- 
raten  die  materiellen  Produktivkrafte  in  der  Gesellschaft  in 
Widerspruch  mit  den  vorhandenen  Produktionsverhaltnissen 
oder,  was  nur  ein  juristischer  Ausdruck  dafiir  ist,  mit  den 
Eigentumsverhaltnissen,  innerhalb  deren  sie  sich  bisher  bewegt 
hatten.  Aus  Entwicklungsformen  der  Produktivkrafte  schla- 
gen  diese  Verhaltnisse  in  Fesseln  derselben  um.  Es  tritt  dann 
eine  Epoche  sozialer  Revolutionen  ein."  In  dieser  Epoche 
leben  wir,  und  Herr  Spengler  ist  nur  ein  Schiiler  von  Marx. 

Allerdings  ein  schlechter  Schiiler.  Anstatt  namlich  die 
Ursache  der  heutigen  Krise  in  den  gesellschaftlichen  Zustanden 
zu  sehen,  konstruiert  er  sich  einen  idealistischen  Begriff  Tech- 
nik, mit  dem  er  nun  operiert.  Dabei  geht  er  wie  ein  Mann 
vor,  der,  ein  Operationsmesser  in  der  Hand  eines  Metzgers  er- 
blickend,  gegen  das  Op^rieren  wettert.  Ohne  weiteres  ver- 
wirit  er  ein  brauchbares  Werkzeug,  weil  es  ein  Mann  nicht  an- 
zuwenden  weiB.  Das  kommt  von  seiner  Unkenntnis  der  Ge- 
schichte.  „Die  Technik",  sagt  er  namlich,  „ist  nichts  historisch 
Besonderes,  sondern  etwas  ungeheuer  Allgemeines.  Sie  reicht 
weit  iiber  den  Menschen  zuriick  in  das  Leben  der  Tiere,  und 
zwar  aller  Tiere."  Das  ist  falsch.  Die  Technik  ist  eine  histo- 
rische  Kategorie.  Sie  ist  angewandte  Wissenschaft  und  in 
ihrer  heutigen  Form  wird  sie  mit  der  Bourgeoisie  untergehn, 
mit  der  sie  heraufgekommen  ist.  Das  Proletariat  wird,  wenn 
es  zur  Herrschaft  gekommen  ist,  eine  andre  Technik  ent- 
wick  ein,  weil  es  unter  andern  gesellschaftlichen  Bedingungen 
leben  wird.  Denn  die  gesellschaftlichen  Bedingungen  sind  die 
Ursachen  der  heutigen  Technik.  Man  darf  sich  gegen  diese  Be- 
hauptung  auch  nicht  durch  einen  Hinweis  auf  Sowjetrufiland 
stellen.  Die  Russen  holen  heute  in  ihrem  Funfjahresplan  nach, 
was  sie  unter  der  Diktatur  des  Zarismus  versaumen  mufiten. 
RuBland  braucht  zuvor  einen  Produktionsapparat,  ehe  es  einen 
sozialistischen  organisieren  kann. 

Das  Mittelalter  kannte  keine  Technik  der  Art,  die  Herr 
Spengler  meint,  und  infolge  davon  naturlich  auch  keine  Revolte 
gegen  die  Technik.  Marx  schreibt,  daB  man  den  Unterschied 
zwischen  Werkzeug  und  Maschine  darin  sucht,  daB  beim  Werk- 
zeug  der  Mensch  die  Bewegungskraft   sei,   bei  der  Maschine 

369 


cine  von  der  menschlicben  vcrschicdene  Naturkraft,  wie 
Tiere,  Wasser,  Wind  etcetera.  „Danach",  spottet  er,  „ware  ein 
mit  Ochsen  bespannter  Pflug  eine  Maschine,  Claussens  Rund- 
webstuhl  aber,  der  —  von  der  Hand  eines  einzigen  Arbeit ers 
bewegt  —  96  000  Maschen  in  der  Minute  verfertigt,  ein  bloBes 
Werkzeug." 

Die  heutige  Technik  ist  ein  kapftalistisches  Arbeitsmittel. 
MAls  Maschinerie",  schreibt  Marx,  „erhalt  dieses  Arbeitsmittel 
eine  materielle  Existenzweise,  welche  Ersetzung  der  Men- 
schenkraft  durch  Naturkrafte  und  erfahrungsmaBiger  Routine 
durch  bewuBte  Anwendung  der  Naturwissenschaft  bedingt.  In 
der  Manufaktur  ist  die  Gliederung  des  gesellschaftlichen  Ar- 
beitsprozesses  rein  subjektiv,  Kombination  von  Teilarbeitern; 
im  Maschinensystem  besitzt  die  groBe  Industrie  einen  ganz  ob- 
jektiven  Produktionsorganismus,  den  der  Arbeiter  (und  heute 
auch  der  Angestellte,  d.  Verf.)  als  fertige  materielle  Pro- 
duktionsbedingungen  vorfindet.  Die  Maschinerie  funktioniert 
nur  in  der  Hand  unmittelbar  vergesellschafteter  oder  gemein- 
samer  Arbeit." 

Damit  sind  wir  wieder  am  Anfang,  und  Herr  Spengler  und 
seine  Leser  werden  nun  hoffentlich  den  Satz  von  Marx  be- 
greifen,  daB  auf  einer  gewissen  Stufe  ihrer  Entwicklung  die 
materiellen  Produktivkrafte  in  der  Gesellschaft  in  Widerspruch 
mit  den  vorhandenen  Produktionsverhaltnissen  geraten  —  was 
die  Ursache  der  heutigen  Krise  bildet.  Aber  wir  haben  gelesenf 
daB  die  Technik  die  Kraft  des  einzelnen  Menschen  durch  be- 
wuBte Anwendung  der  Naturwissenschaft  bedingt  und  von  hier 
aus  ist  der  Beweis  dafiir  anzutreten,  daB  die  heutige  Technik 
eine  historische  Kategorie  ist.  In  seinem  Buch:  ,,Der  Aufstand 
der  Massen"  schreibt  Ortega  Y  Gasset:  ,,Streng  genommen  sind 
liberale  Demokratie  und  Technik  so  eng  verflochtent  daB  die 
eine  nicht  ohne  die  andre  denkbar  ist  und  daher  ein  dritter  all- 
gemeiner  Ausdruck  erwiinscht  ware,   der  beide  umfaBte." 

„Das  Problem  der  Technik  und  ihres  Verhaltnisses  zu  Kul- 
tur  und  Geschichte  tauchte  erst  im  -neunzehnten  Jahrhundert 
auf/1  Mit  diesem  Satz  beginnt  Herr  Sprengler  seine  Abhand; 
lung  und  die  Reihe  seiner  Fehler.  Denn  Herr  Spengler  ver- 
wechselt  sofort  —  Kapitalismus  und  Technik;  oder,  urn  es 
noch  deutlicher  zu  sagen:  kapitalistische  Technik  mif  einer 
Technik  ,,an  sich",  die  es  nicht  gibt,  ,,Das  achtzehnte  Jahr- 
hundert",  fahrt  er  dann  fort,  „hatte  mit  der  grundlichen  Skep- 
sis,  dem  Zweifel,  welcher  der  Vefzweiflung  gleichkommt,  die 
Frage  nach  Sinn  und  Wert  der  Kultur  gestellt  —  eine  Frage, 
die  zu.  weitern  immer  zersetzenderen  Fragen  fiihrte  und  damit 
die  Grundlagen  der  Moglichkeit  schuf,  im  zwanzigsten  Jahr- 
hundert, heute,  die  Weltgeschichte  uberhaupt  als  Problem  zu 
sehen."  Hier  muB  festgestellt  werden,  daB  Herr  Spengler, 
wenn  er  ,,wir"  sagt  oder  ,,die  Menschheit'*  schreibt,  immer  die 
Bourgeoisie  meint.  Daruber  hinaus  ist  auch  dieser  zweite  Satz 
seines  Buches  falsch.  Denn  der  Zweifel  taucht  nicht  erst  im 
achtzehnten  Jahrhundert  auf,  sondern  weit  fruher.  Und  er 
steht  nicht  am  Grab e  der  Bourgeoisie  {Herr  Spengler  sagt: 
der  weiBen  Herrenrasse!),  sondern  an  ihrer  Wiege,  Erst  heute, 
wo   die   Bourgeoisie,    vom   Proletariat    attackiert,    nicht    mehr 

370 


zweifeln  und  das  heifit  forschen  kann,  wo  sie,  in  die  Defensive 
gedrangt,  das  Bestehende  verteidigen  muB,  um  es  zu  erhalten, 
was  gegen  die  Gesetze  der  Natur  ist,  erst  heute  also  ist  sie 
starr  geworden  und  ihre  Wissenschaft  zerfallt  Denn  den 
Idolen  und  Vorurteilen  gegeniiber,  sie  mogen  kommen  woher 
sie  wollen,  beginnt  die  burgerliche  Wissenschaft  mit  dem  Zwei- 
fel  und  der  volligen  UngewiBheit.  Der  Zweifel  bildet  den  Aus- 
gangspunkt  der  Wissenschaft,  nicht  deren  Ziel;  das  Ziel  ist  die 
sichere  und  wohlbegrundete  Erkenntnis.  Als  sich  die  Mensch- 
heit  anschickte,  in  ihre  burgerliche  Epoche  einzutreten,  wurde 
sie  von  Mannern  wie  Bacon  gefiihrt,  ,,Das  Ziel,  welches  ich 
im  Sinn  habe",  schrieb  Bacon  1620,  „ist  nicht  der  Zweifel,  son- 
dern  die  richtige  Erkenntnis,  denn  ich  will  die  menschlichen 
Sinne  nicht  verwerfen,  sondern  leiten  und  unterstiitzen,  ich 
will  den  menschlichen  Verstand  nicht  gering  schatzen,  sondern 
regieren.  Zu  diesem  Zweck  aber  miissen  die  Idole  jeglicher 
Art,  alle,  durch  einen  beharrlichen  und  feierlichen  BeschluB 
fiir  immer  vernichtet  und  abgeschafft  werden.  Der  mensch- 
liche  Verstand  muB  sich  davon  ganzlich  befreien  und  reinigen, 
auf  daB  in  das  Reich  der  menschlichen  Herrschaft,  welches  in 
den  Wissenschaften  besteht,  der  Eingang,  wie  in  das  Himmek 
reich,  nur  den  Kindern  offen  sei/' 

Der  Baconsche  Zweifel  war  also  die  Gebiirt  der  angewand- 
ten  Wissenschaft;  und  das  ist  der  Technik.  Bacon  war  der 
erste,  der  die  Herrschaft  des  Menschen  iiber  die  Dinge  als 
Forderung  aufstellte.  Aber  wir  wollen  hier  keinen  Idealismus 
einschmuggeln  und  so  tun,  als  sei  es  Bacon  gewesen,  der  diese 
Herrschaft  faktisch  begriindet  habe.  Im  Gegenteil;  er  forderte 
wie  alle  grofien  Manner  nur,  was  schon  im  Gange  war.  Die 
entscheidenden  Erfindungen  waren  zu  seiner  Zeit  schon  gemacht 
worden.  Aber  Bacon  erkannte,  daB  die  Erfindung  die  Macht 
der  Menschheit  zu  fordern  imstande  sei,  und  von  diesen  Er- 
findungen schrieb  er,  daB  keine  Herrschaft  und  keine  Sekte  je 
groBere  Wirkung  und  groBern  EinfluB  auf  die  menschlichen 
Verhaltnisse  ausgeiibt  habe  als  diese  technischen  Dinge.  Ziu 
seiner  Zeit  hatte  bereits  Kopernikus  die  Vorstellung  zertriim- 
mert,  es  sei  die  Erde  der  Mittelpunkt  der  Welt.  War  aber  die 
Erde  nicht  mehr  der  Mittelpunkt,  so  war  es  auch  der  Mensch, 
ihr  erster  Bewohner,  nicht  mehr;  die  moralisch-scholastische 
Betrachtungsweise  des  Mittelalters  half  nicht  mehr  weiter;  es 
gait  nicht  mehr,  den  Dingen  zu  befehlen,  wie  das  die  Religion 
getan  hatte,  sondern  ihnen  zu  gehorchen,  wie  die  Erde  der 
Sonne  gehorchen  muB;  die  Verhaltungsweise  des  Mittelalters 
brach  zusammen,  aber  der  Mensch,  bis  dahin  auch  gesellschaft- 
lich  und  wissenschaftlich  dem  religiosen  Aberglauben  unter- 
worfen,  richtete  sich  auf.  Die  Bourgeoisie  erschien  und  ihr  gab 
Bacon  die  Parole:  t,Macht  des  Menschen  und  Wissenschaft 
fallen  zusammen.  Denn  die  Unkenntnis  der  Ursache  vereitelt 
die  Wirkung.  Die  Natur  laBt  sich  nur  besiegen,  indem  man  ihr 
gehorcht." 

Die  gesamte  Wissenschaft,  also  die  denkende  und  nan- 
delnde  Menschheit  folgte  diesem  Befehl,  Das  Experiment,  die 
wahre  Erforschung  der  Natur  wurde  ihre  Methode,  und  die 
Technik,  die  wir  angewandte  Wissenschaft  genannt  hatten,  ist 

371 


nichts  andres  als  angewandtes  Experiment.  Nun  aber  hatte 
zwar  Bacon  die  Herrschaft  iiber  die  Dinge  gefordert,  die  wir 
heute  so  miihelos  ausiiben,  indem  wiT  die  Luft  durchfliegen,  das 
Wasser  durchfahren  und  durch  einen  kleinen  Hebeldruck  die 
unbekannte  Macht  Elektrizitat  zwingen,  unsre  Stuben  zu  er- 
leuchten,  aber  die  heraufsteigende  Bourgeoisie  bemachtigte  sich 
der  Herrschaft  iiber  die  Dinge,  indem  sie  durch  die  gleich- 
zeitige  Entstehung  des  freien  Lohnarbeiters  einen  Teil  der  Ge- 
sellschaft  zwingen  konnte,  ihr  zu  diesem  Zweck  und  ihrem 
Nutzen  zu  dienen.  Die  Freiheit  der  Wissenschaft  erzeugte  den 
Kapitalismus,  der  Kapitalismus  das  Proletariat,  das  ihn  ver- 
nichten  wird.  Die  Technik  ist  eine  historische  Kategorie  und 
ihre  heutige  Krise,  welche  Herrn  Spengler  &  Co.  so  arg  be- 
angstigt,  ist  nur  das  Ende  Spenglers,  aber  nicht  der  Spengler. 

Inwiefern  ist  aber  nun  Spengler  der  Philosoph  der  Schwer- 
industrie?  Man  kann  antworten,  weil  er  noch  vor  Kopernikus 
lebt.  Also  nur  vierhundert  Jahre  zuriick  ist,  was  heute  noch 
keinen  Rekord  darstellt.  Wie  dessen  Vorlaufer  nun  glaubten, 
alle  Welt  drehe  sich  urn  die  Welt,  so  scheint  sich  Spenglern 
alles  um  die  Industrie  und  ganz  besonders  natiirlich  um  deren 
Fiihrer  zu  drehen.  „Die  Flucht  der  geborenen  Fiihrer  vor  der 
Technik  beginnt!"  klagt  er  und  begnindet  damit  den  Anfang 
vom  Ende.  Aber  ich  habe  noch  keinen  Industriellen  davon- 
laufen  sehen;  bis  jetzt  lauft  nur  das  Kapital.  Jedoch,  die  Wirt- 
schaft  als  Schicksal,  der  Industrielle  als  Fiihrer  der  Nation, 
und  wie  dergleichen  Satze  soiiist  noch  lauten,  diese  Haltung  ist 
heute  die  offizielle.  Herr  Spengler  nun  doziert  besonders  in 
dieser  Hochofenmetaphysik.  Dabei  ist  aber  iolgendes  zu  be- 
achten.  Die  Industrie  verbreitet  zwar  solche  Ansichten,  weil 
sie  ihr  nutzen,'  aber  sie  teilt  sie  nicht.  Das  Volk  soil  glauben, 
es  ginge  alles  zugrunde,  damit  es  aus  Angst  gefiigig  wird.  Der- 
weil  aber  nun  die  Bourgeoisie  jammert  und  auf  die  Marxisten 
schlagt,  versucht  die  Industrie  die  Leute,  auf  die  es  ankommt, 
die  Arbeiter,  mit  der  Technik  und  der  Maschine  zu  versohnen. 
t)ber  diese  Methode,  die  weit  kliiger,  moderner  und  niitzlicher 
als  die  Spenglersche  ist,  soil  spater  einmal  gesprochen  werden. 

Wir  haben  die  Arbeit  Spenglers  nicht  in  der  ublichen 
Weise  besprochen,  weil  das  die  Miihe  nicht  gelohnt  hatte. 
Wichtig  erschien  uns,  die  irrige  Vorstellung  von  der*absoluten 
Technik  richtig  zu  stellen,  die  leider  weit  verbreitet  ist  und 
viel  zur  politischen  Verwirrung  beitragt.  Zur  Charakteristik 
Spenglers  aber  sei  das  folgende  mitgeteilt:  auf  Seite  85  seines 
Biichleins  schreibt  Spengler  iiber  den  Unterschied  in  den  Loh- 
nen  der  weiBen  und  der  farbigen  Arbeiter,  macht  aber  nun 
hinter  farbigen  ein  Sternchen  und  sagt  in  einer  FuBnote:  ,,Ich 
verstehe  unter  Farbigen  auch  die  Bewohner  RuBlands  und 
eines  Teils  von  Siidt-  und  Sudosteuropa."  Das  ist  doch  eine 
schone  Behauptung  fiir  einen  Philosophen.  Die  Russen  sind 
Neger!  Fertig.  Aber  die  Russen  sind  keine  Neger  und  da 
nicht  anzunehmen  ist,  daB  sie  sich  iiber  Spengler  griin  und 
gelb  argern,  werden  sie  so  weiB  bleiben  wie  —  Herr  Spengler. 
Vielleicht  wird  der  dann  rot  vor  Zorn  —  womit  er  allerdings 
abermals  die  gleiche  Farbe  triige  wie  die  Russen!  Wie  ist  dem 
Mann  bloB  zu  helfen? 

372 


Der  Priem   von  Theobald  Tiger 

Alle  Rechte  vorbehalten 

Unter  vielem  S  puck  en  zu  singen 
ps  haben  die  Matrosen 
"  wohl  auf  dem  blauen  Meer 
nicht  nur  die  weiten  Hosen  — - 
sie  haben  noch  viel  mehr. 

Denn  gibt  es  nichts  zu  rauchen, 
weifit  du,  was  sie  da  brauchen 
bei  Nacht  und  auch  bei  Tag? 

Den  Kautabak  —  den  Kautabak  — 
ein  kleines  Stiickchen  Kautabak 
von   der   Firma   Eckenbrecht 
aus  Kiel. 

Es   heulen   die   Sirenen, 
Die  Braut  in  Tranen   schwimmt. 
Es  schwimmt  die  Braut  in  Tranen, 
wenn  der  Seemann  Abschied  nimmt. 

Sie  drucken  sich  die  Hande;  ' 

dann  gibt  sie  ihm  am  Ende 
verschamt   ein   kleines   Pack 

mit  Kautabak  —  mit  Kautabak  — 
mit  nem  halben  Pfiindchen  Kautabak 
von  der  Firma  Eckenbrecht 
aus   Kiel. 

Da  hinten  liegt  sein  Kutter, 
da  hinten  liegt  sein  Kahn. 
Sie  sagt,   sie  fuhlt  sich  Mutter, 
er  sieht  sie  blode  an. 

Er  lafit  sich  von  ihr  kosen, 
die  Hande  in  den  Hosen, 
dann  nimmt  er  einen  Schlag 

vom  Kautabak  —  vom  Kautabak  — 
ein  kleines  Stiickchen  Kautabak 
von  der  Firma  Eckenbrecht 
aus  Kiel. 

Das  Schiff  fahrt  in  den  Hafen 
wohl  in  Batavia. 

Mit  den  Madchen  muB  man  schlafen, 
wozu  sind  sie  sonst  daf 

Die  er  geliebkost  hatte, 
liegt  nackt   auf   einer  Matte; 
er  holt  aus   seinem  Pack 

den  Kautabak  —  den  Kautabak  — 
ein   kleines  Stiickchen  Kautabak 
von  der  Firma  Eckenbrecht 
aus  KieL 

Das  Schiff  tat  nicht  versaufen, 
in  Hamburg  legt  es  an. 
Marie  muBt  sich  verkaufen 
nachts  auf  der  Reeperbahn, 

Nun  spiirt  der  arme  Junge 
grad  unter  seiner  Zunge 
den  bitteren  Geschmack 

vom  Kautabak  —  vom  Kautabak  — 
vom  kl  einen  Stiickchen  Kautabak 
von  der  Firma  Eckenbrecht 
aus   KieL 

373 


Wie  dem  Seemann  mit  den  Frauen, 

uns  gehts  genau  wie  ihm. 

Das  Leben  muB  man  kauen, 

das  Dasein  ist  ein   Priem. 

Es  schmeckt  dem  Knecht  und  Ritter 
mal  siifi  und  auch  mal  bitter 
Spuck  ihn  aus,  wer  ihn  nicbt  mag! 
Den  Kautabak  —  den  Kautabak  — 
das  kleine   Stiickchen  Kautabak 
von  der  Firma  Eckenbrecht 
aus   Kiel! 


D 


Das  Zimtner  im  Innenministerium 

von  Leo  Hirsch 

icse  Gcschichtc  ist  jahrelang  geheim  gehalten  worden,  und 

die  Priiderie  und  die  Humorlosigkeit  haben  sie  auch  noch 
unterdriickt,  als  sic  langst  cin  brauchbares  Argument  gewor- 
den  war.  Ware  sie  erf  und  en,  so  ware  «ie  doch  so  gut  erfun- 
den,  daB  sie  bekannt  zu  werden  verdiente  wie  eine  von  Gogol, 
aber  das  Wort  des  alten  Herrn,  der  sie  erzahlt  hat,  die  Wtirde 
seiner  Erscheinung,  sein  weiBes  Haar  und  der  beinahe  schiich- 
terne  Ernst  seiner  Stimme,  biirgen  ftir  die  Wahrheit. 

Also,  der  alte  Herr  war  knapp  nach  der  Oktoberrevolu- 
tion  im  russischen  Innenministerium  beschaftigt.  Man  hatte 
das  alte  Gebaude  beibehalten,  und  die  neuen  Herren  wuBten 
noch  nicht  recht  Bescheid  darin.  Der  alte  Herr  entdeckte  da 
mit  einem  andern  Beamten  ein  verschlossenes  Zammer,  das 
umso  geheimnisvoller  wurde,  als  der  Schlussel  dazu  fehlte- 
Man  brach  die  Tur  auf  und  —  ,,Es  war  das  merkwiirdigste 
Zimmer,  das  ich  je  gesehen  habe."  Aber  vielleicht  war  es  gar 
nicht  so  merkwurdig,  denn  es  stand  nichts  darin  als  eine  Ar- 
mee  von  Regalen. 

Man  weiB,  wie  Regale  in  Bureaus  von  Behorden  auszu- 
sehen  pflegen;  auch  in  diesem  war  die  Ordnung  peinlich.  Je- 
des  Fach  war  mit  Aktenbogen  gefiillt,  und  jeder  von  den 
Hunderten  oder  Tausenden  Aktenbogen  war  mit  Buchstaben 
gefiillt.  „Und  nun  kommt  das  Merkwiirdiget1*  sagte  der  alte 
Herr,  ,,auf  jedem,  abet  auch  auf  jedem  Blatte  stand,  immer 
wieder  und  auf  jedem  Bogen  von  einer  andern  Handschrift 
geschrieben,  der  gleiche  Satz  . . ." 

Hier  kam  der  schiichterne  Ernst  des  wiirdigen  Erzahlers 
zum  Ausdruck,  und  der  Zuhorer,  davon  nur  neugieriger,  fragte: 
welcher  Satz?  Der  alte  Herr  stockte.  Er  schien  sich  zu  ge- 
nieren  oder  nicht  die  rechten  Worte  zu  linden.  „Wissen  Sie 
—  verstehen  Sie  russisch?  Also  . ,  /'  Er  sagte  schlieBHch  das 
Unaussprechliche:  „Vaterchen  soil  mich  am  A../'  Entschul- 
digung.  Also  dieser  Satz  stand  unzahlige  Male  auf  unzahligen 
Aktenbogen  in  den  Regalen. 

,,Sie  miissen  wissen,  daB  mit  Vaterchen  der  Zar  gemeint 
war."  Nun,  die  neuen  Herren  interessierten  sxch  fur  die  Ge- 
schichte  dieser  seltsamen  Handschriften-Sammlung,  und  es  ge- 
lang  ihrer  Findigkeit,  Einiges  davon  in  Erfahrung  zu  bringen.. 

374 


Bcvor  er  dariiber  berichtete,  gab  der  alte  Herr  aber  noch 
AufschluB  iiber  die  friihern  Bauverhaltnisse  in  den  russischen 
GroBstadten,  iiber  die  enormen  Mietskasernen-Blocks,  die 
f,Prospekte"(  die  groBe  Hofe  und  darauf  einen  Gemeinschafts- 
(Entschuldigung,  sagte  der  alte  Herr)  Abort  hatten. 

Was  nun  die  Geschichte  jener  Aktenbogen  betrifft,  so 
hatte  sie  sich  grade  noch  gewissermaBen  auf  dem  Vulkan  der 
stillen  Friedenszeit  abgespielt.  Ein  Polizist  war  auf  demHeim- 
weg  in  einem  Hof  eingekehrt  und  hatte  innen  an  der  Tiir  des 
besagten  —  Entschuldigung,  sagte  der  alte  Herr  —  in  groBen 
Buchstaben  angekreidet  gefunden  jenen  majestatsbeleidigenden 
Satz:  ./Vaterchen  soil  mich  am 

Der  Pflichtfreudigkeit  des  Polizisten  war  kein  Vorwurf  zu 
machen.  Er  hatte  sich  stracks  erhoben  und  war  zu  seinem 
Vorgesetzten  geeilt  Der  Vorgesetzte  hielt  die  Angabe  fur 
einen  Scherz,  bis  er  sich  selbst  von  der  Wahrheit  iiberzeugt 
hatte.  Die  Sache  ging  den  Instanzenweg,  und  ein  hohererBe- 
amter  des  Innenministeriums  iibernahm  es,  vielieicht  aus  Ehr- 
furcht  vor  dem  Herrscher  vielieicht  auch  nur  aus  Ehrgeiz,  die 
schmutzige  Affare  ins  Reine  zu  bringen. 

Dieser  Herr,  so  etwas  wie  ein  forscher  Ministerialdirigent, 
bildete  ein  Rollkommando  oder  einen  StoBtrupp,  lieB  den  Pro- 
spekt  umstellen  und  abriegeln.  Nach  seiner  Meinung  handelte 
es  sich  darum,  festzustellen,  wer  jenen  majestatsschandenden 
Satz  an  die  -Tiir  geschrieben  hatte.  Und  der  hohe  Beamte 
zweifelte  in  seiner  kriminalistischen  Weisheit  nicht  daran,  daB 
ein  Einwohner  des  Blocks  der  Schuldige  sein  muBte,  und  sei- 
nem Scharfsinn  blieb  lediglich  uberlassen  herauszufinden, 
welcher. 

Das  geschah  dann  in  der  Formf  daB  alle  Einwohner  ge- 
zwungen  wurden,  den  so  frechen  wie  nonchalant  en  Satz  an 
/  der  majestatsbeleidigenden  Tiir  des  unmajestatischen  Ortes 
viele  Male  auf  Aktenbogen  nachzuschreiben.  Wie  eng  es  in 
diesem  groBem  Block  gewesen  und  wie  wenige  Analphabeten 
es  da  gegeben  haben  muBte,  konnte  man  an  der  Fiille  der  be- 
schriebenen  Bogen  erkennen. 

Welche  padagogische  Wirkung  mit  dieser  erzwungenen 
Schreibiibung  beabsichtigt  und  ob  iiberhaupt  eine  vorgesehen 
war,  ist  nicht  mehr  zu  erfahren.  Ebensowenig  war  es  festzu- 
stellen,  ob  der  Eifer  des  hohern  Beamten  durch  einen  Orden 
und  durch  welchen  oder  nur  durch  Erfolg  belohnt  wurde,  ob 
man  den  Schuldigen  gefunden  oder  nur  einen  Siindenbock, 
vielieicht  den  AUerarmsten  herausgegriffen  hat,  welche  Strafe 
ihn  ereilt,  ob  er  nach  Sibirien  geschickt  und  dann  vielieicht 
gar  zum  Soldaten  begnadigt  worden  ist. 

„Es  scheint,"  meinte  der  alte  Herr,  f,daB  die  Sache  Ende 
Juli  1914  passiert  ist.  Jed enf alls  kam  der  Krieg  dazwischen. 
Vaterchen  hat  also  den  Krieg  begonnen  mit  einem  Innenmini- 
sterium,  das  zur  guten  Vorbedeutung  ein  Zimmer  hatte,  ganz 
erfiillt  von  dem  &atz:  .Vaterchen  soil  mich  . . .'  Ich  glaubte, 
Ihnen  diese  Geschichte  erzahlen  zu  diirfen,  weil  sie  mir  mit  ihrer 
—  erlauben  Sie  einem  Materialisten  diesen  Ausdruck  —  ge- 
spenstigen  Kuriositat  einen  Hinweis  auf  die  damaligen  Verhalt- 
nisse  bei  uns  zu  geben  scheint.    Entschuldigung." 

375 


Flucht  aus  der  Sozialisierang  BemhaVd  citron 

A  uf  der  Regierung  Bruning  lastct  der  schwere  Verdacht, 
"^  Banken  sozialisiert  zu  haben.  Zwar  hat  sic,  s.chon  beteuert, 
daB  ihr  nichts  ferner  liegt,  als  den  privatwirtschaftlichen  Cha- 
rakter  der  Banken  aazutasten,  aber  jetzt  muB  sie.  mit  Tat  en 
beweisen,  da8  ihr  nur  eine  andre  Form  der  Sozialisierung  vor- 
geschwebt  hat:  die  Sozialisierung  derVerluste.  Das  Reich  hat 
durch  drei  MaOnahmen  Subventionen  fiir  die  Banken  bereit- 
gestellt:  durch  die  Garantie  zugunsten  der  Danat-Bank,  durch 
die  Zeichnung  von  300  Millionen  Dresdner  Bank-Vorzugsaktien 
und  durch  die  Griindung  der  Akzept-  und  Garantiebank,  de- 
ren  Aufgabe  es  ist,  den  Banken  in  ihrer  Gesamtheit  Wechsel- 
kredit  zur  Verfiigung  zu  stellen, 

Niemand  in  Deutschland  hat  je  bezweifelt,  daB  der  Staat 
am  14.  Juli  eingreifen  muBte,  um  eine  Katastrophe  zu  ver- 
hindern.  Die  Verfechter  des  absoluten  Kapitalismus,  die 
Macchiavells  unsrer  Wirtschaft,  erklaren,  daB  der  Bankkrach 
ein  Naturereignis  darstellt  und  der  Staat  zu  bedingungsloser 
Hilfe  verpflichtet  war.  Man  konnte  hier  als  Prazedenzfall 
die  Ruhrentschadigung  der  rheinisch-westfalischen  Industrie 
anfiihren.  Danials  erhob  sich  nach  Bekanntwerden  dieser 
Subventionen  ein  Sturm  der  Entrustung,  der  Reichstag  setzte 
einen  UntersuchungsausschuB  ein,  und  die  Zusammenhange 
wurden  restlos  geklart.  Im  Gegensatz  zu  den  Ruhrschaden 
steht  hier  unzweifelhaft  fest,  daB  die  Banken  selbst  zum  gfoB- 
ten  Teil  die  Schuld  an  ihrem  Ungltick  tragen;  was  ihnen  dar- 
iiber  hinaus  noch  zugestoBen  ist,  muB  als  unvermeidliches 
Risiko  angesehen  werden,  dessen  Anerkennung  einer  der 
Grundpfeiler  des  kapitalistischen  Systems  ist.  Wenn  also  die 
Danat-Bank  und  die  Dresdner  Bank  saniert  wurden,  so  ge- 
schah  dies  nicht  pour  les  beaux  yeux  der  Herren  Goldschmidt 
und  Gutmann,  sondern  zum  Schutze  der  Einleger,  der  deut- 
schen  Wirtschaft  und  des  ganzen  deutschen  Volkes.  So  ver- 
stand  es  sich  von  selbst,  daB  die  Majoritatsbesitzer  der  Danat- 
Bank,  Goldschmidt  und  seine  Freunde,  die  Hilfe  des  Reiches 
mit  ihrem  Aktienbesitz  bezahlen  muBten.  Das  Reich  war 
plotzlich  Hauptaktionar  einer  deutschen  GroBbank  geworden. 
Aber  *da  sich  die  Regierung  um  jeden  Preis  von  der  ungewoll- 
ten  Sozialisierung  freimachen  wollte,  hatte  sie  nichts  Eiligeres 
zu  tun,  als  die  Beteiligung  abzustofien.  Der  erzielte  Kauf- 
preis  (125  Prozent)  war  nicht  niedrig,  also  scheinbar  ein  gutes 
Geschaft  fiir  den  Fiskus.  Leider  hat  die  Rechnung  ein  Loch, 
da  der  Verkauf  dieses  Pakets  an  die  Industrie  nicht  in  bar, 
sondern  auf  Stottern  erfolgt  ist.  So  wurde  reinlich  geschie- 
den  zwischen  der  Sozialisierung  der  Verluste,  die  in  Form  der 
Reichsgarantie  aufrecht  erhalten  bleibt,  und  der  Sozialisie- 
rung der  Gewinne,  die  durch  Ubertragung  an  die  Industrie 
aufgehoben  wurde,  Wiederholt  ist  von  der  Industrie  erklart 
worden,  daB  sie  nicht  Schuldner,  sondern  Glaubiger  der  Danat- 
Bank  sei.  Selbst  wenn  man  dieser  Behauptung  Glauben  schen- 
ken  soil,  bleibt  noch  so  viel  zu  klaren,  daB  nach  einem  parla- 
mentarischen  UntersuchtingsausschuB  gerufen  werden  muB, 

376 


Aber  Verzeihung,  wir  habcn  ja  kcin  Parlament,  also  miis- 
sen  wir  uns  mit  jenen  Auskiinften  bescheiden,  die  der  General- 
versammlung,  dem  Parlament  der  Aktionare,  erteilt  werden.  Es 
ware  nur  zu  wunschen,  dafl  von  Anteilseignern  der  Danat- 
Bank  auf  die  Einberufung  einer  auBerordentlichen  General- 
versammlung  .  gedrangt  wird.  Diesem  Verlangen  konnte  die 
Tatsache  zugrunde  Iiegen,  daB  die  Majoritat  der  Kommandit- 
anteile  aus  dem  Besitz  der  Bank,  in  dem  sie  sich  unzweifel- 
haft,  wenngleich  nur  fur  wenige  Tage,  befand,  an  die  Indu- 
strie verkauft  worden  ist.  Derartige  Blockverkaufe  bedurfen 
der  Genehmigung  durch  die  Generalversammlung.  Natiirlich 
fiirchtet  man  jede  Art  der  Diskussion  und  versucht,  dieser 
aktienrechtlichen  Forderung  aus  dem  Wege  zu  gehen. 

Auch  die  Dresdner  Bank  diirfte  dem  Reich  wieder  ab- 
genommen  werden.  Der  We»g  aus  der  Sozialisierung  fiihrt  in 
diesem  Falle  iiber  die  Commerz-  und  Privatbank.  Die  ver- 
schiedensten  Geriichte  von  einer  Verschmelzung  der  Dresdner 
Bank  und  der  Commerzbank  sind  aufgetaucht,  nachdem  ein 
Aufsichtsrat-  und  ein  Vorstandsmitglied  der  Commerzbank  in 
den  Aufsichtsrat,  respektive  in  den  Vorstand  der  Dresdner 
Bank  eingetreten  ist  In  friihern  Jahren  hatte  die  Commerz- 
bank etwas  darum  gegeben,  eine  „D"-Bank  zu  sein;  heute  ran- 
giert  sie  nicht  nur  urn  einen  Buchstaben  vor  den  iibrigen 
GroBbanken.  Die  vorsichtigen,  zuriickhaltenden  Herren,  die 
sich  nicht  iiber  den  Durchschnitt  tiichtiger  Bankdirektoren  er- 
hoben  haben,  genieBen  mit  einem  Male  den  Ruf  ungeheurer 
Klugheit  und  Weitsicht,  sind  die  Ratgeber  der  Regierung  und 
ihre  Vertrauten  in  flen  wichtigsten  Gremien  geworden.  Jetzt 
scheint  auch  der  Plan  aufzutauchen,  mindestens  einen  Teil  der 
Dresdner  Bank-Vorzugsaktien  gegen  Stundung  des  Gegenwer- 
tes  (Vergleiche  die  Danat-Transaktion)  an  die  Commerzbank  zu 
iibertragen.  Die  zweite  Sozialisierung  wird  auf  diese  Weise 
riickgangig  .gemacht  werden,  ohne  daB  das  Risiko  des  Reiches 
erlischt, 

Der  dritte  Eingriff  des  Staates,  der  zwar  nur  moralischer, 
aber  nicht  minder  schwerwiegender  Natur  gewesen  ist,  bestand 
in  dem  Plan  einer  Bankenkontrolle.  Zum  ersten  Mai  in  diesen 
Krisentagen  wurde  der  Gedanke  des  Bankenaufsichtsamtes  in 
Nummer  29  der  ,Weltbuhne'  propagiert.  Berufen  zur  Unter- 
suchung  iiber  die  DurchHihrbarkeit  der  Bankenkontrolle  ist 
das  Neuner-Komitee  der  Banksachverstandigen.  Einer  dieser 
ehrwurdigen  Manner,  Professor  Weber,  schrieb  vor  dreifiig 
Jahren  in  seinem  Buche  MKredit-  und  Spekulationsbanken": 

„. . .  andrerseits  ist  es  jedoch  eine  offenkundige  Tatsache,  dafi 
die  Bankenkontrolle,  wie  sie  zurzeit  in  Deutschland  durch  den  Auf- 
sichtsrat ausgeubt  wird,  in  der  groBen  Mehrzahl  der  Falle  fast  alles 
zu  wiinschen  ubrig  IaBt.  Die  grofie  Anzahl  von  Aufsichtsratstellen, 
die  haufig  ein  und  dieselbe  Person  einnimmt,  das  Vettern-  und  Sip- 
penwesen,  welches  bei  der  Besetzung  der  Posten  eine  grofie  Rolle 
spielt,  die  Sucht,  mit  glanzenden  Namen  zu  blenden,  ohne  Riicksicht 
darauf,  ob  die  Trager  dieser  Namen  auch  nur  soviel  vom  Bank- 
geschafte  verstehen  wie  der  jtingste  Gehilfe,  das  und  manches  andre 
hat  dazu  gefuhrt,  daB  der  Aufsichtsrat  heute  meist  nur  noch  eine 
Karikatur  von  dem  ist,  was  dem  Gesetzgeber  vorschwebte,  als  er 
das  Institut   schaffte." 

377 


Hoffentlich  hat  Weber  diese  Satze,  mit  denen  er  die  Unf  ahig- 
keit  des  Aufsichtsrates  zu  tatsachlicher  Aufsicht  anprangerte, 
im  Laufe  der  Jahrzehnte  nicht  wieder  vergessen;  hoffentlich 
aber  wissen  die  Banksachverstandigen  iiberhaupt  noch,  zu  wel- 
chem  Zwecke  sie  zusammenberufen  sind.  Die  Schweiz,  die 
von  viel  geringern  Zusammenbriichen  getroffen  wurde  aLs 
Deutschland,  hat  rascher  die  Konsequenzen  gezogen.  Die 
Bankkontrolle  wird  dort  der  Eidgenossischen  Bank,  als  dem 
Zentralnoteninstitut,  iibertragen.  Aber  in  Deutschland  wird 
man  am  Ende  noch  Mittel  und  Wege  finden,  urn  auch  diese 
unerwiinschte  Einmiscbung  in  die  Angelegenheiten  der  Privat- 
wirtschaft  auszu&chalten.  Dann  bleibt  dem  Reiche  von  der 
Bankensozialisierung  nichts  andres  als  die  Obernahme  riskanter 
Biirgschaften  und  das  stolze  Gefiihl,  einige  Wochen  in  der 
BehrenstraBe  geherrscht  zu  haben.  Brtining  aber  ist  von  dem 
entsetzlichen  Verdacht  befreit,  der  er«te  sozialistische  Kanzler 
gewesen  zu  sein. 

Kleine  Nachrictlten  von  Kaspar  Hauser 

r\er   geschlagene  Wcltmeister    Sharkey   hat   einen   Ruf   als   Boxtehr- 
*~^   mcister  fiir  Kansas  City  angenommen. 

Der  Chauffeur  Theodor  Schultze,  dem  nach  einem  Zusammen- 
stofi    der   Fahrschein   entzogen   wurde,    hat    eine   Fahrschule   eroffnet, 

Doktor  Rudolf  Hilferding  ist  dem  KontrollausschuB  der  Banken 
beigetreten. 

& 

Die  Abteilung  I  a  des  berliner  Polizeiprasidiums  verhaftete  ge- 
stern  fiinf  Kommunisten,  die  im  Verdacht  stehnf  mit  Waffenfunden 
im  Zusammenhang  zu  stehn,  von  denen  als  sicher  gelten  darf,  da 6  sie 
im  Benehmen  mit  Personen  gemacht  wurden,  die  im  Verdacht  stehn, 
im  Verdacht  zu  stehn.  Ein  Verfahren  wegen  Hochverrats  ist  dem- 
gemaB  im  Gange. 

Wie  wir  horen,  sind  Verhandlungen  im  Gange,  die  eine  Kredit- 
gewahrung  an  die  Erde  seitens  des  Planeten  Mars  zum  Inhalt  haben, 
Bisher  hat  der  Placet  als  Antwort  auf  alle  Anfragen  nur  seinen  Na- 
men  gefunkt. 

Ein  bekannter  berliner  Dramatiker  hat  sich  in  einem  Theater  er- 

hangt,    weil    seine  Monats-Tantiemen   wohl    fiir    einen    Stehplatz    aus- 

reichten,  nicht  aber,  auch  noch  Theaterzettel  und  Garderobengebiihr  zu 

bezahlen,     Der  Dichter,   der  als   ausschweifend   gait,   hat   sich  in  der 

Damentoilette  erhangt.     Der   betreffenden  Toilettenfrau   ist  gekundigt 

worden. 

* 

Reichstagsprasident  Loebe  weilte  uber  das  Wochenende  zu  Be- 
such  bei  Bekannten,  in  deren  Hause  Feuer  ausbrach.  Als  die  Feuer- 
wehr  anrtickte,  stand  Reichstagsprasident  Loebe  bereits  auf  einem 
Stuhl  und  hieit  eine  feurige  Ansprache,     Er  wurde  geloscht. 

* 

Die  Filmbranche  hat  beschlossen,  Ehrenworter  mit  Gummizug  in 
den  Handel  zu  bringen.  Die  ersten  zweitausend  Stuck  sind  bereits 
vergriffen. 

378 


In  Genf  gibt  es  einen  Volkerbund.  > 

* 

In  Reinickendorf  ist  eine  riesige  Internationale  Kommunisten- 
Zentrale  ausgehoben  worden.  Ihre  Faden  erstreckten  sich  von  Rei- 
nickendorf bis  nach  Peking.  Eine  genaue  Durchsuchung  der  Papier- 
korbe  hat  ergeben,  dafl  in  der  Zentrale  aufierordentlich  gefahrliches 

Stullenpapier 
verwandt  wurde.  Die  Polizei  ist  weiterem  Stullenpapier  auf  der  Spur. 


Die  obersten  Sportbehorden  alter  Sportarten  haben  sich  zu  einem 
Reichskartell  zusammengeschlossen.  Wie  wir  horen,  beabsichtigt  das 
Kartell,  die  Ausubung  von  Sport  bis  auf  weiteres  ganzlich  zu  ver- 
bieten,   damit  die  Behorden  ungehinderter  arbeiten  konnen. 


Gegen  das  Deutsche  Reichspatent  Nummer  678  456  (Mannerhosen 
mit  ReifiverschluB)  hat  der  Verband  der  Deutschen  Lichtspieltheater- 
Besitzer  Protest  eingelegt,  weil  efr  eine  Storung  seiner  Vorstel- 
lungen  befiirchtet. 

Da  das  deutsche  Volk  seinen  Reichstag  so  sehr  entbehrt,  hat 
sich  die  Scala  entschlossen,  ihn  zu  engagieren:  er  tritt  also  allabend- 
lich  dort  auf.  Es  wird  gebeten,  den  Reichstag  wahrend  seiner  Ar- 
beit nicht  zu  storen,  das  besorgt'  er  selber. 

Das  Reichstagsgebaude  ist  nunmehr  ganz  und  gar  von  dem  Bu- 
reau des  Geheimrats  Galle  belegt  worden,  der  sich  dort  selber  ver- 
waltet, 

Reichskanzler  a.  D.  Cuno  hat  sich  bereiterklart,  seine  Pension 
von  18  000  Mark  in  der  von  ihm  geschaffenen  Papiermark  entgegen- 
zunehmen. 


Die  Ortsgruppe  der  berliner  Bardamen  hat  ein  Stillhalte-Konsor- 
tium   gebildet, 

Der  Chefredakteur  einer  groOen  siiddeutschen  Zeitung  hat  erklart, 
daB  sich  sein  Blatt  in  der  Beurteilung  der  Krise  geirrt  habe;  doch. 
hoffen  die  Arzte,  den  Kranken  durchbringen  zu  konnen. 


Lord  Breitscheid  ist  auch  von  der  Ufa  als  Edelkomparse  ver- 
pflichtet  worden. 

* 

Das  Reichsgericht  hat  den  Plan,  eine  Studienkommission  nach 
Italien  zum  Studium  der  Kamorra  und  der  Maffia  zu  entsenden,  als 
unnotig   abgelehnt. 

* 

Wie  wir  horen,  ist  der  Vorschlag,  kimftighin  auf  Botschafter- 
posten  nur  noch  Burgerliche  und  in  die  Schutzengraben  nur  noch 
Adlige  zu  schicken,  wieder  zuriickgezogen  worden.  Es  bleibt  bei 
der   alten  Verteilung. 

379 


Bemerkungen 


Montagu  Norman 
fa  einem  Aufsatz  iiber  die  selt- 
■  same  Macht  des  Goldes  macht  e 
Sir  Norman  Angell  die  Bemer- 
kung,  dafi  die  Rolle  des  Gold- 
stiicks  in  unsrer  modernen  und 
scheinbar  prosaischen  Welt  eben- 
so  verborgen  und  ebenso  geheim- 
nisvoll  vie  die  einer  Tempel- 
reliquie  ist.  Aber  um  wieviel  ge- 
heimnisvoller  und  verborgener  ist 
das  Leben  der  Manner,  die  iiber 
diese  Goldstticke  zu  befehlen  ha- 
ben.  Sind  nicht  Figuren  wie  Basil 
Zaharof  und  Ivar  Kreuger  scbon 
jetzt,  wahrend  sie  nocb  leben, 
gradezu  mythische  Gestalten? 
Und  der  Right  Honourable  Mon- 
tagu Collet  Norman,  der  all- 
-machtige  Gouverneur  der  Bank 
von  England?  Wer  kennt  ihn? 
Bei  alien  wichtigen  Konferenzen, 
an  denen  England  beteiligt  ist, 
-stent  stets  im  Hintergrund  und 
fur  die  meisten  unsichtbar  der 
Herr  der  „01d  Lady  of  Thread- 
needle  Street",  wie  der  Volks- 
mund  die  Staatsbank  zu  bezeich- 
men  pf legt.  Betrachten  wir  die 
vielen  Photos  der  internationalen 
Konferenzen,  so  werden  wir  eine 
Unmenge  bekannter  und  ebenso 
vieler  unbekannter  Politiker  fest- 
stellen,  aber  die  hagere  Gestalt 
und  den  intelligenten  schmalen 
Kopf  mit  den  lebhaften  Augen 
und  dem  kleinen  grauen  Spitz  - 
bart  werden  wir  nicht  finden. 
Montagu  Norman  liebt  nicht  die 
Cffentlichkeit  und  auch  nicht  die 
Photographen.  Er  zieht  das 
-Mysterium,  den  Schatten,  Verab- 
redungen  in  der  Nacht  vor.  Sein 
Kabinett  in  der  Bank  von  Eng- 
land ist  unzuganglich  wie  eine 
Festung;  es  ist  schwerer,  zum 
Gouverneur  der  Bank  als  zum 
Konig  von  England  zu  gelangen. 
Tlnd  die  Macht,  die  er  ausdbt;  ist 
nicht  minder  grofi,  wie  das  Ge- 
heimnis,  das  ihn  umgibt.  Sie  ist 
grofier  als  die  der  Regierungen, 
deren  Berater  er  in  alien  wirt- 
schaftlichen  Fragen  ist.  Und  je 
mehr  grade  diese  Fragen  in  der 
Politik  in  den  Vordergrund 
rucken,   um    so   mehr  wachst   die 

380 


Macht  und  der  EinfluB  Montagu 

Normans. 

Als  1922  Baldwin  nach  New 
York  ging,  um  wegen  der  inter- 
allUertenSchulden  zu  verhandeln, 
geschah  es  unter  dem  Patronat 
des  ihn  begleitenden  Norman.  Als 
Snow  den  im  Haag  mit  seiner  un- 
beugsamen  Haltung  den  Unwillen 
Frankreichs  heraufbeschwor, 

folgte  er  nur  den  Anweisungen 
des  Konigs  der  City.  Und  als 
unlangst  MacDonald  und  Hender- 
son verkundeten,  dafi  Deutschland 
geholfen  werden  miisse,  war  es 
wiederum  der  Herr  der  „01d  Lady 
of  Threadneedle  Street",  der  da- 
zu  den  Anstofi  gab. 

Ein  Ministerium  nach  dem 
andern  kommt  und  geht,  und  sie 
alle  mussen  Angriffe  und  Kritiken 
iiber  sich  ergehen  lassen,  aber  der 
Gouverneur  der  Bank  von  Eng- 
land bleibt  und  ist  niemandem 
verantwortlich,  nur  etwa  formal 
dem  Konig,  in  dessen  Geheimen 
Rat  er   1923  berufen  wurde. 

Diese  allmachtige  Personlich- 
keit,  dieser  Nebenkonig  in  einem 
Konigreich  —  eine  seltsame  Tat- 
sache  —  ist  fast  unbekannt.  Er 
konnte  leicht  einen  belebten  Platz 
Londons  iiberqueren  ohne  erkannt 
zu  werden.  Er  hat  auch  sozu- 
sagen  keine  Vergangenheit, 

Er  wurde  1871  geboren.  Nach 
der  Schulzeit  in  Eton  studiert  er 
im  Kings-College  in  Cambridge 
und  wird  dann  Soldat  im  Bed- 
fordshire-Regiment. Von  1900  bis 
1901  macht  er  den  Burenkrieg 
mit.  Plotzlich  gibt  er  die  mili- 
tarische  Laufbahn  auf  und  widmet 
sich  ganz  dem  Bankwesen.  Fi- 
nanzfragen  interessieren  ihn  der- 
mafien,  dafi  er  auch  wahrend  des 
Krieges  im  Dienste  dieser  Waffe 
bleibt.  Seine  finanziellen  Fahig- 
keiten,  verbunden  mit  einer 
aufierordentlichen  diplomatischen 
Veranlagung,  werden  von  den 
Leitern  der  Bank  von  England  an- 
erkannt.  1918  wird  Norman  zum 
Vize-Gouverneur  der  Bank  er- 
nannt,  ;  um  bereits  1920  zum 
ersten  Gouverneur  der  „01d 
Lady"  aufzurucken. 


Auflerlich  sieht  Norman  viel 
eher  einem  Kunstler  als  einem 
Geschaftsmenschen  ahnlich.  Ver- 
starkt  wird  dieser  Eindruck  durch 
den  grauen  Velvethut,  von  dem 
er  unzertrennlich  scheint.  Sein 
ganzes  Wesen  druckt  Verschlos- 
senheit  und  Zuriickhaliung  aus; 
er  spricht  wenig,  und  selten  in 
der  Offentlichkeit.  Im  iibrigen  ist 
er  auch  Icein  guter  Redner.  Sei- 
nen  Reden  mangelt  es  im  Auf- 
bau  und  an  der  folgerichtigen 
Entwicklung  des  Themas.  Da- 
gegen  besitzt  er  die  seltene  Gabe 
der  Uberredung,  eine  aufier- 
ordentliche  Gewandtheit,  insbe- 
sondere  ist  er  ein  Meister  in  der 
Kunst  verwickelter  Verhand- 
lungen. 

Von  hoher  magerer  Statur,  mit 
seinem  intelligenten  Gesichtf  den 
durchdringenden  Augen,  mit  dem 
forschenden  und  etwas  spotti- 
schen  Blick,  mit  einem  ewig  ge- 
heimnisvoll  lachelnden  Mund,  mit 
seinem  kleinen  grauen  Spitzbart, 
den  leichtergrauten  sorgf al  tig 
nach  hinten  gekammten  Haaren, 
die  eine  von  vier  Querfalten 
durchzogene  Stirn  umrahmen,  er- 
weckt  er  den  Eindruck  eines  Ma- 
giers  . . .  Und  er  ist  es  wohl  auch. 
Woldemar  Klein 

Der  musikalische  Infinltiv 

TJnter  den  Dingen,  die  S.  J, 
*"^  aus  alien  Aufsatzen  heraus- 
strich,  wenn  er  sie  „ins  Deutsche 
iibersetzte",  war  eines,  das  er  in- 
briinstig  hafite,  und  das  er  ver- 
nichtete,  wo  immer  er  es  antraf. 
Das  'war  der  substantivierte  In- 
finitiv.  „Das  Musizieren"  pflegte 
er     immer     in    Satze    aufzulosen 


oder  durch  ein  Substantiv  zu  er- 
setzen  —  und  er  hatte  recht. 

Es  gibt  nun  eine  Gattung  von 
Menschen  , . .  also,  Menschen  ist 
iibeftrieben,  die  schwimmen  und 
platschern  in  substantivierten 
Infinitiven.  Das  sind  die  ge- 
bildeten  Kunstschriftsteller,  und 
zwar  tun  sie  es  allemal  gern 
dann,  wenn  sie  auf  die  Musik  zu 
sprechen  kommen.  Da  wimmelt 
es  nur  so  von  diesen  falschen 
Hauptwortern.  „Es  ist  ein  Bluhen 
und  Gliihen  in  dieser  Musik../*, 
und  wenn  der  einfache  Infinitiv 
nicht  langt,  dann  backen  sie  sich 
einen*.  „Dieses  Von-vorn-herein- 
alles-noch-einmal-denken"  —  ei, 
das  ist  schon!  Von  dem  „Wollen" 
wollen  wir  schon  gar  nicht 
sprechen;  es  sind  die  national  en 
Politiker,  die  dieses  dicke  Wort 
dauernd  anwenden,  als  gebe  es 
nicht  jt.Wille",  nicht  (,Absicht", 
nicht  „Trieb" —  es  gibt  nur  noch 
„ das  Wollen".  Das  klingt  dann  so: 
,,Er  darf  nicht  dutch  Verharren 
im  Gewor den-  Sein  das  Sichent- 
wickeln  des  Volkswerdens  in  fal- 
schem  Wollen  zu  einem  Stecken- 
bleiben  verfuhren  wollen".  Wohl 
bekomms. 

Auch  die  Tanzkritiker  stelzen 
gern  auf  diesen  Infinitiven  ein- 
her,  aber  diese  Menagerie  hat  ja 
von  jeher  eine  besondere  Sprache 
zur  Rechtfertigung  ihres  So-Seins 
und  Do-Seins   gebraucht. 

Mich  diinkt,  als  sei  es  schon 
einmal  besser  mit  der  deutschen 
Sprache  gewesen  als  heute,  wo 
jeder  Hitlerknabe  das  Wort 
deutsch  im  Maul  fiihrt.  Zur  Zeit 
lesen  wir:  nachgemachtes  Be- 
amtendeutsch;  nachgemachtes  ge- 
hobenes        Deutsch,        so,        wie 


ist  glanzend   beim   GenuB   der  einzlgartigen 

ABDULLA  Nr.  16,  o/M.  u.  Gold,  Stuck  10  Pf. 

Abdu-lla-Cig  arette  n  gfcnieSen  We.rt'fUfl 
Abdulla  &  Co.  •  Kalro  /  London  /  Berlin 

381 


friiher  die  Oberlehrer,  wenn  sie 
von  den"  alten  Germanen  spra- 
chen,  einen  BaB  gehen  lieften; 
nachgemachtes  Philosophen- 

deutsch  solcher  falscher  Philo- 
sopher*, die  da  im  Gehirn  Siilze 
haben,  und  der  substantivierte 
Infinitiv  ist  eines  der  schlimmsten 
Kennzeichen  dieser  vertrackten 
Stile.  Man  kann  ihn  manchmal 
anwenden :  namlich  dann,  wenn 
eine  Tatigkeit  zu  einem  abstrak- 
ten  Begriff  werden  soil.  Eine 
Untersuchung  uber  das  Schrei- 
ben  im  sechsten  Lebensjahr,  das 
gibt  es;  das  Wollen  einer  Partei 
aber  gibt  esMiicht.  Im  ubrigen  sollte 
man  sich  bei  alledem  nicht  auf 
Vater  Hegel  und  Onkel  Schelling 
beziehen,  deren  Deutsch  keinem 
zur  Nachahmung  dienen  kann. 
Ich  sehe,  wie  ein  Schuler  den 
Finger  hochhebt , ,  ,  Nein,  er  will 
nicht  hinaus,  im  Gegenteil.  Er 
will  uns  klar  machen,  daft  grade 
diese  zum  Hauptwort  erhobenen 
Verbalformen  wie  keine  andre 
Form  es  ermoglichten,  uns  durch 
ein  Sich-mitten-Hinein-Stellen  in 
die  dynamische  Statik  des  Die- 
.  Begriff  e-in-ein-Wort-Verwandelns 
. . .  Herr  Schuler,  ich  mochte  mal 
rausgehn. 

Peter  Panter 

Ein  Volk  klagt  anl 

I7unfzig  Briefe  iiber  den  Kriegf 
*  erschienen  bei  Heft  &  Co., 
Wien,  ein  diinnes  Bandchen  von 
einigen  sechzig  Seiten,  und  darin 
das  ganze  Elend  eines  Volkes, 
das  durch  den  Krieg  ging.  Man 
spurt,  wie  schwer  es  manchem 
dieser  Arbeiter,  Handwerker, 
Kaufleute,  Beamten  und  Haus- 
frauen  geworden  ist,  zu  Papier  zu 
bringen,  was  sie  da  drauften  oder 
im     heimatlichen     Schiitzengraben 


erlebt  haben.  Es  sind  dokumen- 
tarische  Erganzungen  zu  den 
besten  Kriegsbuchern.  Alles  wird 
durch  diese  Briefe  bestatigt:  die 
schlotternde  Angst  der  angeb- 
lichen  Helden  vor  dem  Tode,  die 
Sinnlosigkeit,  auf  verlorenem 
Posten  ausharren  zu  mussen,  die 
Lust  von  Vorgesetzten  am  Qua- 
len,  die  vielfaltigen  Grau- 
samkeiten  des  Krieges,  der 
Gasangriff,  der  Erstickungstod  in 
zerstorten  und  verschtitteten  Un- 
terstanden.  Und  in  der  Heimat? 
Da  mussen  Frauen,  die  in  den 
Munitionsfabriken  arbeiten,  den 
Aufsehern  zu  Willen  sein, 
damit  ihr  Leben  und  ihre  Ar- 
beit wenigstens  einigermaften 
ertraglich  ist.  Nicht  anders  erging 
es  jenen,  die  als  weibliche  Hilfs- 
krafte  in  die  Etappe  gingen:  „Je 
hotter  der  Rang  des  Offiziers, 
desto  grofier  der  Saukerl**,  Ge- 
schlechtskrankheiten  und  Kinder, 
das  war  die  Belohnung  fur  die 
Erfiillung  vaterlandischer  Pflicht. 
Diese  funfzig  Briefe  sind  nur 
ein  kleiner  Ausschnitt;  er  liefte 
sich  beliebig  erweitern,  Und  hin- 
ter  diesen  Worten  steckt  der 
Wille,  nicht  mehr  mitzumachen, 
wenn  es  wieder  losgeht.  Wir 
wissen,  wie  wenig  fiir  den  Ernst- 
fall  ein  solches  Bekenntnis  be- 
deutet;  wir  wissen,  daft  es  dar- 
auf  ankommt,  die  Abwehr  plan- 
mafiig  zu  organisieren;  wir  wissen 
auch,  und  einer  der  Briefe  be- 
statigt es,  wie  wenig  die  Jugend 
durch  solche  Erlebnisschilderun^ 
gen  zu  bekehren  ist,  —  trotzdem 
sollte  man  diese  Stimmen ,  und 
Stimmungen  nicht  unterschatzen. 
Die  Sammlung  hat  schon  dadurch 
ihre  Berechtigung  erwiesen,  daft 
sie  uns  Material  an  die  Hand 
gibt,    mit    dem    man    jene    wider- 


B6  Yin  R* 

stent  Beit  1913  in  der  Oeffentlichkeit.  Seine  Schrif ten.  haben  recht  auf- 
merksame  Leser  gefunden,  die  eine  Namensnennung  fttr  iibernussig  halten, 
wenn  sie  die  Formulierungen  Bo  Yin  R&'s  ihren  eigenen  zufiigen.  Wer 
hier  klar  sehen  lernen  will,  lese  die  Originalschriften,  die  so  anregend  zu 
wirken  verm5chten  Einfuhnmgsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin 
kostenlos  in  jeder  Buchhandlung  zu  beziehen  sowie  vom  Verlag:  Kober'sche 
Verlagsbucbhandlung,  Basel  und  Leipzig.    Gegrundet  1816. 

382 


legen  kann,  die  den  Kricjjsbucher- 
autoren  vorwerfen,  sie  hatten  ein 
Zerrbild  vom  Soldaten  entworfen. 
Hier  sind  Dokumente,  die  den 
nationalistischen  Kriegsverherr- 
lichern  den  Phrasenmund  stopfen 
konnen.  Diese  Menschen  hier 
haben  „gemordet(  nur  urn  nicht 
selbst  gemordet  zu  werden", 
denn  nicht  Begeisterung  fur 
„Gott,  Kaiser,  Vaterland"  fuhrte 
ihnen  die  Waffe,  sondern  nur  die 
nackte  Existenzangst. 

Walther  Karsch 

Hans  Albers 

W/er  weifi,  ob  ein  Volksent- 
"  scheid  iiber  den  Bau  von 
Panzerkreuzern  fur  Filmzwecke 
nicht  positiv  ausgehen  wiirde.  Je- 
denfalls  bewilligt  die  Ufa,  die 
doch  des  Volkes  Stimme  mittels 
Verstarkeranlagen  abhort,  Rate 
auf  Rate.  Kaum  haben  Harry 
Liedtke  und  Lilian  Harvey  ab- 
gemustert,  da  treten  Hans  Albers 
und  Anna  Sten  in  Marineuniform 
auf  die  Planken,  die  neuerdings 
die  Welt  bedeuten.  Die  Militar- 
operette  bekennt  sich  zu  dem 
Grundsatz :  Unsre  Zukunf t  liegt 
auf  dem  Wasser.  Denn  was  den 
Landkrieg  anlangt,  so  hat  es  sich 
herumgesprochen,  dafi  Tanks, 
ferngesteuerte  Bombenttugzeuge 
und  Flammenwerfer  keine  pas- 
sende  Dekoration  fur  ein  Vergnu- 
gen  mit  Damen  abgeben  und  dafi 
sich  Gasmasken  als  neckische  Ko- 
stiimierung  fur  hochbezahlte  Blon- 
dinen  nicht  eignen.  Hingegen  die 
Marineschirmmutze  harmoniert  in 
glucklicher  Weise,  mit  den  neu- 
sten  Intentionen  der  Putzmache- 
rinnen,  und  so  sind  es  die  zumeist 
im  doppelten  Sinne  des  Wortes 
blauen  Jungen,  fur  die  heute  das 
Herz  der  Filmkaufleute  schlagt. 
Immer  wieder  verzeichnet  man 
mit  Schrecken,  dafi  wir  ins  Leere 
fliehen  miissen,  wenn  wir  uns 
amtisieren  wollen,  diesmal  in  K6- 


nigin  Yolas  Miniaturmonarchie 
Pontenero,  die  doch  wohl  fur  die 
Spitzehproduktion  der  Ufa  ein 
etwas  diirftiges  Invasionsobjekt 
abgibt,  Sieht  man  davon  ab, 
so  ist  der  Film  „Bomben  aufi 
Monte  Carlo"  (Hanns  Schwarz, 
Hans  Muller,  Franz  Schulz)  recht 
lustig.  Produktionsleitung:  Rabbi 
Ben  Akiba  —  aber  es  prasen- 
tiert  sich  eine  Serie  vergnugter 
Schauspieler,  und  einige  Szenen 
erinnern  an  gute  amerikanische 
Grotesken.  Wenn  man  nur  die 
wundervolle  Anna  Sten  nicht  so 
mifihandelt  hatte.  Auf  der  ober- 
sten  Kommandobrucke,  ein  bifi- 
chen  hoch  iiber  dem  Regisseur: 
Hans  Albers. 

Das  Gesicht  dieses  Hans  Al- 
bers ist  den  Berlinern  seit  lan- 
gem  bekannt,  wenn  auch  erst  seit 
kurzer  Zeit  lieb,  denn  viele  Jahre 
lang  hat  man  auf  dem  Theater 
diesen  kraftvollen,  burschikosen 
Volksschauspieler  den  siifi lichen 
Liebhaber  machen  lassen.  Sein 
Gesicht  ist  von  einem  Sieges- 
allee-Konditor  im  spathelleni- 
stischen  Stil  entworfen,  aber  es 
wird  aufregend  durch  ein  paar 
Raubvogelaugen,  die  in  solchet 
Weifiglut  brennen,  dafi  man  sich 
wundert,  wie  die  Feuerpolizei  das 
in  Lichtspieltheatern  zulafit  Ge- 
wifi,  dies  Feuer  stammt  nicht  von 
Prometheus,  es  ist  mehr  inner- 
sekretorischer  Natur,  aber  es 
warmt  dennoch  bescheidene  wie 
anspruchsvolle  Seelen.  Das  macht, 
in  diesem  blendend  scharfsich- 
ttgen  Blick  liegt  zugleich  eine  Art 
verruckter  Angst  vor  dem  eignen 
Temperament,  eine  Art  Schwache 
gegeniiber  der  eignen  Starke,  und 
das  versohnt  mit  so  viel  Musk  ein. 
Denn  wahrend  wir  vom  Gesicht 
des  Hans  Albers  reden,  sind  die 
Blicke  der  Damen  auf  seinen, 
Oberkorper  gerichtet.  Er  nimmt 
sie  alle  an  seine  Brust,  und  siehe, 
es  entsteht  kein  Platzmangel.     Er 


Opel  12  LfK  -  der  ? orDUdllche  Wafien 

PREISE  AB   WERK  VON   RM   2350  AN. 


383 


ist  Schwergewicht,  mag  er  auch 
zu  leicht  befunden  wcrden.  Er 
bewegt  sich  nicht  zierlich,  er  lauft 
gewichtig  vom  Stapel,  es  ist,  als 
mu£te  imtner  erst  eine  Sekt- 
flasche  an  seinem  Bug  zerschel- 
len,  bevor  er  einen  Ortswechsel 
vornimmt,  Mit  vorgebeugten 
Schultern  schiebt  er  die  leichte 
Luft  wie  einen  Felsen  beiseite, 
er  betritt  den  Tanzsaal  wie  der 
Gladiator  die  Arena  und  schaut 
den  Kokotten  mutig  wie  dem 
Tode  ins  Aiige.  GewiB,  er  be- 
handelt  die  Madchen  als  minder- 
jahrige  Kaninchen,  putzt  ihnen 
die  Nase  und  stopft  sie  obne 
Umstande  ins  Bett,  aber  man 
fiihlt,  daB  er  das  leichte  Leben 
schwer  nimmt.  Und  er  hat,  als 
ein  unbefangener,  frecher  Kerl, 
die  Tonfilmsprache  erfunden. 
Viele  Filmschauspieler  sprechen 
bis  zum  heutigen  Tage  ein  feier- 
liches  Biihnendeutsch,  wahrend 
Albers  schon  in  einem  der  aller- 
ersten  Tonfilme,  in  f,Die  Nacht 
gehort  tins",  etwas^ganz  Neues 
und  sehr  Passendes  machte:  da 
sa6  er  iiber  ein  ohnmachtiges 
Madchen  gebeugt  und  sprach  ihr 
gut  zu.  Aber  er  sprach  keinen 
reinen  Text,  er  murmelte  Trost- 
gerausche,  er  streute  unverstand- 
liches  Zeug  zwischen  die  Zeilen, 
allerlei  akustischen  Kehricht, 
halbe  Worter,  kleine  Seufzer,  be- 
friedigtes  Gebrumm.  Denn  er 
fuhlte,  daB  es  zu  den  Aufgaben 
des  Tonfilms  gehort,  die  Sprache 
in  die  ubrige  Welt  der  Laute  ein- 
zuordnen. 

Rudolf  Arnheim 


Maskuline  Begierden 

Sie  horte  die  Ausrufe  des  Ent- 
ziickens,  sie  fuhlte  die  Blicke 
der  Bewunderung  beinahe  korper- 
lich  durch  den  dttnnen  Stoff  ihres 
Kleides.  Die  Sensation  des  Ge- 
sehenwerdens  ging  ihr  auf,  Sie 
wurde  sich  bewufit,  daB  masku- 
line Begierden  hinter  ihr  herkni- 
sterten, 

Ernst  Klein, 

.Deutsche  lllustrierte' t 

11.  8.  31. 


Casar  auf  Reisen 

Der  Duce  reist  im  Lande,  das  ihn  Hebt; 

an  jedem  still verschwiegnen  Bruckenbogen 

sind  —  nicht  Girlanden,  aber  Wachen 

auf gezogen ; 

wie  viel  Begeisterte  es  aoui  hier  gibt! 

Ich  habe  ihn  gesehn  —  in  weifier  Hose; 
die  Casarmaske  wird  nun  ziemlich  fett  — 
der  Sorgenspeck !  —  vor  morgens  nie  zu  Bett !  — 
wirf  du  mal  Tag  und  Nacht  die  SchicksaUlote  I 

Zwar  immerhin :  Wenn   man  an  jenen  denkt, 
der  diestra  nachzueifern  sich  bemufiigt: 
Vom  Hemdenmatzchen  bis  zum  romiscben 

GruBigt  — 

dann  bleibt  ein  Grofiformat,  von  Gott  geschenkt. 

Ich  habe  ihn  gesehn  —  mir  war  nicht  heilig, 
doch  andern  umso  mehr,  als  sie  ihn  sahn. 
Ein  Volk  von  Kindern  kann  so  hubsch  hurrahn. 
Er  hob  die  Hand  —  und  Wolken 

schwanden  eilig. 

Warum  nur  so  viel  Wachen  an  der  Bahn? 

Peter  Scher 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Jugendliga  fur  Menschenrechte.   Dienstag  20,00.   Monbijouplatz  10:  Dr.  Kurt  Beck  spricht. 
Weltbuhnenleser.    Mittwoch  20.00.    Cafe  Adler  am   Donhoffplatz:   Das  russische  Dorf. 
Karl  Grfinberg. 

Hamburg 

Weltbuhnenleser.    Freitag  20.00..  Timpe,  Grindelallee  10— 12:  Die  L age  der  Angestellten- 

Rundfunk 

Dienstag.  Konigswusterhausen  18.00:  Gegenwartsfragen  der  Kunst,  Paul  Westheim.  — 
K5nigsberg  20.20:  Balzacs  Panoptikum,  Querschnitt  von  Hans  Georg  Brenner  und 
Ernst  Bringolf,  Ernst  W.  Freifller.  —  Donncrstag.  Berlin  22.15:  Ungarns  Aufien-  und 
Innenpolitik  vor  dem  Rucktritt  Bethlens.  —  Freitag.  Leipzig  14.30:  Versuche  mit 
neuen  Horspielformen.  —  17.30 :  Dichtung  als  politischer  Spiegel,  Arno  Schirokauer.  — 
Breslau  17.45:  Otto  Zarek  Hest.  —  Betlin  20.00:  Kirche  und  Abrustung,  K.Bohme. — 
Langenberg  20.30:  Mississippi  von  Georg  Kaiser.  —  MuMacker  21.00:  Segen  der 
Erde.  —  Breslau  21.20:  Die  Stimme  der  Erde  von  Gerhard  Menzel.  —  Sonnabend. 
Berlin  18.00:  Die  Erzfchlung  der  Woche,  Axel  Eggebrecht.  —  K6nigsberg  18.55: 
Kaukasische  Balladen  von  Otto  Rombacb 

384 


Antworten 

Maxchen  Jungnickel.  Ihneh  ist  ein  'peinliches  Malheur  unter- 
laufen.  Sie  ergeuBen  in  der  .Deutschen  Zeitung'  den  Seim  Ihres 
schlechten  Stils  und  etwa  dreiundzwanzig  Tranen  iiber  die  bose  Welt, 
die  bei  guten  Ernten  lieber  Vorrate  vernichtet  als  sie  billig  abgibt, 
„Und  das  soil  wirklich  eine  Wirtschaftsordnung  sein!  Wo  liegt  das 
Ethos  in  dieser  Wirtschaftsordnung?"  Auf  der  Riickseite  des  Blattes, 
Maxchen.  Sie  brauchten  die  .Deutsche  Zeitung'  nur  herumzudrehen, 
und  Sie  hatten  gefunden:  ..Landwirte,  weiter  Disziplin  halten!  In 
bezug  auf  die  allgemeine  Wirtschaftslage  wurde  der  deutschen  Land- 
wirtschaft dringend  empfohlen,  ihre  bisherige  Zuruckhaltung  beizu- 
behalten  und  sich  durch  die  jetzige  kiinsilich  erzeugte  offenbar  nur 
vorubergehende  Entspannung  der  Wirtschaftslage  nicht  von  der  klaren 
Erkenntnis  abbringen  zu  lassen,  daB  es  um  ihretwillen  und  um 
Deutschlands  willen  notwendig  ist,  daB  die  Landwirtschaft  auch  im 
kommenden  Friihjahr  noch  ausreichende  Erntevorrate  an  den  Ver- 
braucher  abzugeben  in  der  Lage  ist"  Das  heiBt  auf  deutsch:  Verkauft 
jetzt  noch  nicht,  die  Preise  sind  niedrig,  die  verfluchten  Stadter 
konnten  zu  billigem  Brot  kommen  —  wartet  lieber  bis  zum  Fruhling, 
wenn  die  Not  groB  sein  wird,  dann  bekommt  ihr  mehr!  Solln  sie 
betteln  gehn,  wenn  sie  hungrig  sind!  „Die  Wirtschaftsordnung",  sagt 
Maxchen,  „wird  von  den  MachlernN  und  Kr&mern  wie  ein  gluhender 
Wiirfel  in  das  verzweifelte  Volk  geschuttet"  Das  gibts  zwar  nicht, 
aber  was  Sie  meinen,  ist  dennoch  klar;  nieder  mit  den  deutschen  Ju- 
den  in  der  Landwirtschaft!       v 

Prenzlauen  Manchmal  erhellt  ein  Satzchen  blitzartig  die  wirk- 
liche  politische  Lage  auf  dem  Lande.  In  deiner  Heimatstadt  Prenz- 
lau  haben  sie  gegen  2wei  Strafgefangene  verhandelt,  die  ausgebrochen 
sind  und  einen  Gefangnisaufseher  ermordet  haben.  Der  eine,  so  be- 
richtet  der  .Berliner  Lokal-Anzeiger',  wurde  von  einemLandjager,  der 
andre  von  Stahlhelmern  festgenommen.  Von  Stahlhelmern?  Seit  wann 
haben  die  Stahlhelmen  polizeiliche  Rechte?  Wie  ist  das  vor  sich  ge- 
gangen?  Haben  die  Stahlhelmer  eine  Patrouille  ausgesandt,  diesen 
gesuchten  Mann  zu  fangen?  Mit  wessen  Genehmigung?  Haben  sie 
ihn,  der  ja  kein  Schild  auf  dem  Bauch  trugt  angehaiten  und  um  Vor- 
zeigung  seiner  Papiere  ersucht?  Ist  es  schon  soweit . . .?  Hier  war 
der  Zweck  nun  zufallig  gut  und  schon  —  aber  sicherlich  werden  diese 
Stahlhelmer  doch  au'ch  auf  streikende  Arbeiter  losgelassen,  auf 
Kommunisten ...  Ist  es  schon  soweit?  Es  ist  schon  soweit.  Eine 
Unternehmergarde,  die  fur  ein  Paar  Breeches  und  die  Moglichkeit, 
befehlen  und  gehorchen  zu  konnen,  alles,  aber  auch  alles  fur  die 
Stahlmagnaten   und   die   Kartoffelbarone  tut.    Prozentheil! 

R.  A.  Sie  schreiben:  „Nichts  gegen  den  Freiherrn  von  Stein,  aber 
es  argert  mich,  dafi  aus  Pietat  gegen  ihn  die  Postkarten  fur  acht 
Pfennig  ein  Drittel  weniger  Schreibflache  bieten  als  bisher.  Und 
wenn  schon  Pietat,  dann  zeigt  doch  das  naheliegende  Beispiel  der 
Briefmarke,  daB  man  auch  auf  zehnfach  so  kleinem  Raum  noch  gut 
Ebert  von  Hindenburg  unterscheiden  kann.  Es  ist  zu  wvinschen,  daB 
sich  dieser  Typus  von  Zwangsansichtskarten  nicht  einbiirgert  und  wir 
nicht  etwa  im  nachsten  Jahr  die  ganze  Breitseite  mit  Goethe  besetzt 
finden." 

Historiker.  Ja,  das  gibt  es.  Das  Ding  heiBt  „Zentralstelle  fiir 
Erforschung  der  Kriegsursachen",  und  eine  Zeitschrift  ist  auch  da,  die 
im  Quader-Verlag  erscheint  Auf  welchen  Quadern  der  ruht,  ist  nicht 
recht  ersichtlich.  Die  Zeitschrift  gibt  in  ihrem  Untertitel  an,  sie  diene 
der  international  en  Aufklarung.  Und  so  ist  sie  denn  auch.  Wer  die- 
sen  Unfug  lesen  oder  gar  glauben  soil,  ist  vollig  unerfindlich.  Da 
wird  jeder  kleine  Zettel  aus  den  Juli-Tagen  1914  gepriift,  da  werden 
Minuten   gezahlt,    da   werden    die  Mobilmachungsorders    miteinander 

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^verglichen  * . .  und  das  alles,  urn  zu  beweisen,  dafi  das  arme,  gute, 
liebe,  friedliche  Deutschland  keineswegs  angefangen  habc,  sondern 
vielmehr  die  Karnickel  -  und  die  Radfahrer,  Die  These  von  der 
Alleinschuld  Deutschlands  wird  von  keinem  verstandigen  Menschen 
geglaubt;  die  schwere  Schuld  Oesterreichs  und  die  schwere  Mitschuld 
Deutschlands  sind  nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Dafi  die  kapi- 
talistischcn  Entente-Staaten  den  Krieg  vorbereitet  haben  wie  alle 
andern  auch,  wissen  wir,  Diese  Art  Aufklarung  da  ist  blanker  Un- 
fug.  Sie  sieht  etwa  so  aus:  „Unrichtig  ist  die  abermalige  Behauptung, 
dafi  der  (deutsche)  Generalstabschef  dem  Kanzler  nicht  untergeordnet 
gewesen  sei.  (IL  198,)  Anmerkung  15:  Siehe  dazu  die  Ausfiihrungen 
im  Juliheft  S.  668/'  Aber  man  braucht  sie  gar  nicht  einzusehn;  denn 
es  kommt  bei  der  Beurteilung  der  deutschen  Kriegsschuld  nicht  auf 
die  papierne  Unterstellung  des  Generalstabes  ant  sondern  darauf,  dafi 
kein  deutscher  Reichskanzler  jemals  eine  Politik  hat  machen  konnen, 
die  den  Militars  nicht  genehm  gewesen  ist,  Genau  wie  heute.  Das 
aber  weifi  die  Welt,  und  der  Vorfall  ist  fur  sie  erledigt.  Die  Zentral- 
stelle  packe  ein.  Wissenschaftlicher  Wert  kommt  diesen  Benuihun- 
gen  nicht  zu. 

Ernst  Friedrich.  Vom  1.  Februar  bis  zum  15.  Juli  sind  fiir  die 
Antikriegsanleihe  folgende  Beitrage  eingegangen:  A.  B.  Brunn  20, — ; 
P.  F.  Brunn  50, — ;  M.  F.  Berlin  20, — ;  Deutsche  Friedensges.,  Orts- 
gruppe  Solingen  8t — ;  H.  E.  Berlin  5, — ;  H.  G.  Dortmund  30, — ; ,  A. 
H.  Mahlsdorf  6,—;  Dr.  W.  L.  Konigsberg  10,—;  O.  R.  Prag  12,42;  J. 
M.  Berlin  W  10, — ;  Lehrer  D.  Adlershof  3, — ;  H.  L.  Lodoholm,  Schwe- 
den  25,—;  Dr.  K.  R.  Steglitz  20,—;  A.  H.  Neunkirchen  50,—;  E.  K. 
Muhlenbeck  1,—;  Frau  M.  R.  Berlin  20,—;  Dr.  med,  J.  L.  Kiel  10,—; 
Dr.  med.  M.  Oberaula  20,—;  G.  G.  Steglitz  20,—;  A.  J.  St.  Andree- 
berg  2,—;  K.  K.  Johannisthal  6,—;  Dr.  H.  E.  Berlin  5,—;  P.  W-  Sch. 
Friedenau  50, — ;  W.  M.  Braunschweig  2, — ;  G.  M.  Zwickau  20, — ; 
M.  St.  Sounthexm  4, — ;  Frau  Prof.  M.  Grunewald  20, — ;  Niedcrland. 
Bureau  der  Jungen  Friedens  Action  Griiningen  200, — ;  J.  A.  Kopen- 
hagen  5, — ;  M.  E.  Lichterfelde  10, — ;  Dr.  med.  Sch.  Bad  Pyrmont 
10, — ;  E.  L.  Nordhausen  3, — ;  L.  W.  Leipzig  25, — ;  A.  H.  Neunkirchen 
150,—;  E.  K.  Bremen  5,—;  J.  S.  Berlin  3,—;  Fr.  T,  Berlin  100,—; 
E.  H.  Potsdam  30,—;  M.  F.  S.  Berlin  0,50;  Frau  A.  D.  Herford  50,—; 
Frau  K.  Breslau  10, — ;  Bund  soz.  Freidenker,  Leipzig  50, — ;  Neue 
Feuerbestattungskasse  org.  Freidenker,  Leipzig  100, — ;  H.  P.  Neukolln 
50,—;  P.  H.  StraBbourgSO,— ;  Frau  K.  Breslau  5,—;  Nationale  Vredes 
Actie,  Ammerstol  (Holland)  100,—  und  130,—;  O.  B.  Rotterdam 
10, — .  Bisheriges  Gesamtergebnis:  1.  Liste:  1289,42  RM.;  2.  Liste: 
1392,50  RM.;  3.  Liste:  1594,43  RM.;  insgesamt  4276,34  RM.  Auch  das 
gemigt  leider  noch  nicht.  Die  Gesellschaft  der  Freunde  des  1.  Inter- 
nationalen  Antikriegs-Museums  bittet  weiter,  sich  an  der  Rettung  des 
Antikriegs-Museums  zu  beteiligen. 

FVeser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*-**  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  IV.  Vierteljahr  1931 

einzuzahlen,  da  am  10.  Oktober  die  Einziehung  durch  Nachnahme  be- 
ginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht. 

Manuskripte  tind  nor  an  die  Redaction  der  Weltbuhne.  Charlotteaburg,  Kantstr.  152,  zu 
riditea;  ea  wird  yebetea,  ihoen  Rflckporto  beixulegcn.  da  soost  It  eine  RftckMadiing  erfotijeo  kann. 
Das  AaffOhrungirecht,  die  Verwertuny  von  Tttelnu.  Text  im  Rahmen  dtm  Films,  die  musik- 


mechantsene  wleder?abe  alter  Art  und  die  Verwertwny  im  Rahmen  too  Radiorortraffen 
blelben  fttr  all*  in  der  Weltbfttme  aracheinenden  Beitrage  ausdrOckllcH  Torbebalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  befrrundet   von  Siegfried   Jacobsoho   uod   wird   von   Carl  v.  Owietxky 
vote?  Mitwtrkung   von  Kurt  Tuchotskv  ffeltitsL  —  Vorantwortficfa:   Carl  v.  Ossistxky,    Berlin; 

Verla*  dei  Woltbuhne, .  Siegfried   Jacobsoho  &  Co,  Charlottenburff. 

Telethon:    Ct  Steioplats  7757.  —  PosUchedkkonto:  Berlin  119  5& 
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I 


XXVIL  Jihrgug  15.  Septenber  1031  Hammer  37 

Armer  ClirtiUS!  von  Carl  v.  Ossietzky 

n  kaum  zwei  Wochen  sollen  Briand  und  Laval  nach  Berlin 
kommen.  Noch  sind  nicht  allc  Formalitaten  erledigi  und 
selbst  wenn  sich  jetzt  alles  schnell  abwickelt,  so  mochten  wir 
doch  an  diesen  Besuch  erst  dann  glauben,  wenn  die  franzosi- 
schen  Gaste  am  Bahnhof  FriedrichstraBe  aussteigen.  Es  sind 
noch  vierzchn  Tage  bis  dahin,  und  was  kann  in  dieser  Zeit 
nicht  alles  passieren! 

Es  ist  auch  keine  besonders  gliickliche  Geste  gegen  die  . 
franzosischen  Minister,  daB  man  grade  jetzt  Herrn  Doktor 
Curtius  in  die  Wiiste  schickt.  weil  er  in  Genf  davon  abgesehen 
hat,  den  Verzicht  auf  die  Zo  11  union  mit  einem  iiberflussigen 
Protest,  mit  einem  bombastischen  Appell  an  die  Rechte,  die 
unverauBerlich  dort  droben  hangen,  zu  begleiten.  Ein  solcher 
Auftritt  als  knalliger  AbschluB  einer  ohnehin  unvermeidlichen 
Niederlage  wiirde  die  franzosische  Regierung  nur  unniitz  ge- 
reizt  haben.  Mit  etwas  Krach  in  Genf,  mit  einer  franzosischen 
Absage  in  der  Tasche  hatte  Herr  Curtius  auf  Ovationen  am 
Potsdamer  Bahnhof  rechnen  konnen,  und  er  ware  wiederein 
gemachter  Mann  gewesen.  Wenn  man  b«i  uns  popular  sein 
will,  muB  man  Unheil  angerichtet  haben.  Weil  sich  Curtius  nach 
dem  traurigen  Effekt  der  Zollunion  zu  keiner  neuen  Provo- 
kation  entschlieBen  konnte,  deshalb  hack  en  jetzt  alle  deut  schen 
Adler  nach  seinem  schwachen  Fl'eisch;  die  Treviranen,  die 
eigne  Partei,  die  .Germania*,  das  Organ  des  Reichskanzlers, 
sie  alle  schnappen  nach  ihm,  und  sogar  die  Staatspartei,  der 
lacherliche  alte  Pleitegeier,  wagt  ein  miBgunstiges  Gekrachze. 
Zwischen  zwei  ausgezeichneten  demokratischen  Publizisten, 
die  von  Anfang  an  Gegner  der  Zollunion  waren,  ist  ein  Streit 
entbrannt,  ob  Curtius  zu  verteidigen  sei  oder  nicht.  Seltsamer 
Zwist,  denn  wie  kann  man  verteidigen,  was  es  gar  nicht  gibt? 
Dieser  AuBenminister  ist  in  seiner  fast  zweijahrigen  Amtszeit 
niemals  vorhanden  gewesen.  Schattenhaft  saB  er  im  Reichs- 
kabinett,  gewichtios  thronte  er  in  seinem  Amtszimmer.  Seine 
eignen  Bureaukraten  handelten  iiber  seinen  Kopf  hinweg,  stell- 
ten  ihn  immer  vor  fertige  Tatsachen,  und  auch  die  fatale  Zoll- 
union mit  Herrn  Schober  soil  ihn  ebenso  iiberrascht  haben 
wie  etwa  die  franzosische  Regierung.  Auch  der  freundlichste 
Beurteiler  muB  feststellen,  daB  die  Protestrede,  die  er  in  Genf 
nicht  gehalten  hat,  eine  Unterlassung  also,  die  ihm  nun  den 
Hals  kostet,  seine  einzige  staatsmannische  Leistung  war.  Dieser 
Nachfolger  Stresemanns  wird  jetzt  zum  ersten  Mai  sichtbar,  wo 
er  hoflich  und  diskret,  den  Zylinder  auf  dem  Kopf,  durch  die 
Gasse  der  johlenden  Patrioten  zum  tarpejischen  Fels  schreitet. 
Wie  kann  man  fur  jemanden  die  Hand  ins  Feuer  legen,  von 
dessen  Personalitat  man  nicht  tiberzeugt  ist?  Herr  Curtius 
war  als  Amtsperson  wirklich  nur  ein  Nichts,  oder,  wie  ein 
witziger  Beobachter  sagte,  eine  Mappe  auf  zwei  Beinen. 

Die  Gerechtigkeit  gebietet  hinzuzufiigen,  daB  im  gegen- 
wartigen  Kabinett  noch  ein  paar  andre  Nullen  sitzen,  die  sich 
durch  nichts   auszeichnen  als   durch   ihre   Geduld,    das   Elend 

1  387 


des  deutschen  Volkes  zu  ertragen.  Und  wozu  braucht  man 
heute  auch  Politikcr  von  Format  und  Talent?  Die  Staats- 
geschafte  werden  durch  Notverordnungen  geregelt,  konstitu- 
tionelle  Faktoren,  deren  Behandlung  besonderes  Geschick  er- 
forderte,  gibt  es  nicht  mehr.  Der  gegenwartige  Zustand  be- 
ruht  auf  einem  Biindnis  zwischen  Reichsprasident,  Reichswehr 
und  Schwerindustrie,  das  Voik  hat  nicht  mitzureden,  dafiir  ist 
die  Polizei  da,  die  Presse  hat  nicht  zu  mucksen,  dafiir  ist  die 
Zensur  da.  Die  wirklichen  Trager  der  Macht  bleiben  im  Dun- 
keln,   es   ist   ziemlich  igleichgultig,   wer   im  Vordergrund   agiert. 

Dasselbe  gilt  auch  fur  die  AuBenpolitik.  Sie  ist  ebenso 
unpersonlich  geworden  wie  die  andern  Ressorts.  Deshalb  ist 
es  auch  nicht  sehr  aufregend,  ob  Herr  Curtius  einen  nominel- 
len  Nachiolger  erhalt  oder  ob  der  Reichskanzler  selbst  einstwei- 
len  ins  AuBenamt  geht,  Denn  auch  die  AuBenpolitik  kann  in 
dieser  Zeit  nicht  mehr  zu  den  hohen  politischenKiinstengerech- 
net  werden,  in  denen  Geist,  Menschenkenntnis  und  Weltlaufig- 
keit  oft  genug  Resultate  iiber  den  Tag  hinaus  errangen.  Wenn 
Talleyrand  und  Bismarck  heute  wiederkamen,  wiirden  sie  sich 
sehr  wunidern,  was  aus  ihrem  Metier  geworden  ist.  Fiir 
Deutschland  und  viele  andre  Lander  auch  bedeutet  AuBen- 
politik nur  noch  Geld  pumpen.  Wer  den  groBen  Pump  nach 
Hause  bringt  oder  wenigstens  eine  Fristverlangerung  erreicht, 
der  ist  das  Staats genie,  der  Vater  des  Vat er lands. 

Unter  diesen  Umstanden  verliert  der  Besuch  der  franzo- 
"sischen  Staatsmanner  die  epochal e  Bedeutung,  die  er  hatte 
haben  konnen.  Es  werden  Komplimente  gewechselt  werden, 
und  im  ganzen  diirfte  sich  die  Unterhaltung  darauf  beschran- 
ken,  das  Thema  der  nachsten  Unterhaltung  festzulegen. 
Deutschland,  vom  Nationalismus  durch  und  durch  vergiftet, 
sieht  in  Frankreich  den  Urheber  aller  seiner  Note.,  und  in 
Frankreich  selbst  gesellt  sich  zu  dem  vorhandenen  politischen 
MiBtrauen  die  argv/ohnische  Vorsicht  des  reichen  Besitzers, 
der  sein  Geld  nicht  gern  riskiert.  Wie  schnell  sind  die  scho- 
hen  Beschworungen  des  gemeinsamen  europaischen  Geistes 
verraucht!  Frankreichs  neuer  Mann  in  Berlin,  Herr  Francois- 
Poncet,  bringt  das  Programm  einer  inidustriellen  Allianz  mit, 
also  einer  Allianz  der  beiden  Schwerindustrien  gegen  ihre  Vol- 
ker.  Wird  ein  solches  Projekt  Wirklichkeit,  so  erhalt  der 
deutsche  Nationalismus  noch  ein  gefahrliches  soziales  Motiv, 
auf  alle  Falle  eine  Verstarkung.  Die  pariser  Friedensboten 
kamen  sonst  von  der  Linken.  Herr  Francois-Poncet,  ein  ent- 
schlossener  Karrierist,  macht  aus  seiner  Verachtung  von  De- 
mokratie  und  Sozialismus  kein  Hehl,  er  entspricht  in  seiner 
Denkungsart  etwa  den  Industriesyndici,  die  sich  in  der  ,Deut- 
schen  Allgemeinen  Zeitung'  auslassen.  Das  ist  die  einzige  zur 
Zeit  mogliche  Verstandigung  mit  Frankreich.  Welch  ein  trau- 
riger  Ausblick!  Aristide  Briand,  heute  alt  und  krank,  macht 
den  Eindruck  des  Mannest  der  weiB,  daB  seine  Zeit  vor iiber 
ist.  Die  Zollunion  hat  ja  auch  die  Nebenwirkung  gehabt, 
Briands  Stellung  in  Frankreich  zu  demolieren.  „Wie  konnten 
Sie  mir  das  antun?"  soli  er  verzweifelt  gerufen  haben,  als  ihm 
Herr  v.  Hoesch  die  angenehme  Neuigkeit  notifizierte.  Mit  was 
fur  Gefuhlen  mag  der  alte  Mann  nach  Deutschland  kommen, 

388 


dcssen    Tapsigkeit    seine    Europaplane    und    seine  Aussichten 
auf  die  Prasidentschaft  zerstort  hat? 

Einstweilen  gehen  die  Paktverhandlungen  zwischen  Paris 
und  Moskau  weiter.  Dam  it  off  net  sich  fiir  die  franzosLschia 
Politik  eine  neue  Aufgabe,  hinter  der  Deutschland  zuriicktritt 
Frankreich  hat  einige  Einfuhrverbote  erlassen,  was  in  der  deut- 
schen  Wirtschaft  grade  jetzt  vor  dem  Ministerbesuch  als  be- 
sondere  Unfreundlichkeit  empfunden  wird,  was  aber  nur  be- 
deutet,  daB  man  sich  in  Paris  die.  Hande  fiir  das  Russengeschaft 
freihalten  will.  Der  rote  Handel  lockt  eben  mehr  als  die  Plan- 
kelein  mit  einem  Nachbarn,  der  standig  sagt:  Ich  brauche 
Geld,  Du  muBt  mich  retten!,  der  aber  trotzdem  nicht  auf  De- 
monstrationen,  nicht  auf  Feindseligkeiten  verzichten  will.  Wenn 
man  eine  Diagnose  der  deutsch-franzosischen  Beziehungen  in 
diesem  Augenblick  geben  will,  so  kann  sie  nur  lauten:  Hoflich 
aber  hoffnungslos. 

Frankreichs  Gold  von  k.  l  oerstorff 

Wierhundert  Millionen  Dollar  fiir  England;  jawohl  fiir  Eng- 
land. Das  ist  kein  Druckfehler.  Diesmal  ist  das  Geld  fiir 
England  bestimmt  und  wird  nicht  von  England  gegeben.  Was 
ist  los?  fragt  der  gute  Burger.  Haben  wir  nicht  in  4er  Schule 
gelernt,  daB  die  City  der  Weltbankier  ist,  daB  die  englischen 
Kapitalanlagen  im  Ausland  hundert  Milliarden  Mark  betragen? 
Und  jetzt  muB  sich  die  City  Geld  trorgen  —  muB  sich  Geld 
borgen,  wahrend  wir  in  Deutschland  es  so  dringend  brauchen? 
England  befindet  sich  augenblicklich  in  der  Situation 
Deutschlands  etwa  beim  Beginn  der  Weltkrise.  Der  englische 
Etat  weist  ein  starkes  Defizit  auf.  Erst  schatzte  man  es  auf 
einige  hundert  Millionen, » dann  auf  eine  Milliarde,  zuletzt  auf 
zirka  zweieinhalb.  Wenn  der  Winter  da  ist,  werden  noeh 
einige  hinzukommen.  Wir  kennen  das  aus  eigner  Erfahrung. 
Woher  kommt  das  englische  Defizit?  Auch  das  wissen  wir. 
Die  Geschafte  stehen  schlecht,  also  gehen  die  Steuern  nicht 
mehr  in  dem  Umfange  ein,  wie  sie  veranschlagt  waren,  Die 
Arbeitslosigkeit  wachst,  also  kostet  die  Arbeitslosenversiche- 
rung  mehr,  wenn  die  Arbeitslosen  den  gleichen  Satz  bekom- 
men.    Das  Defizit  im  englischen  Etat  muB  gedeckt  werden. 

Also  bricht  MacDonald  mit  der  Arbeiterpartei  und  vertritt 
das  ausschlieBlich  kapitalistische  Programm,  das  Defizit  im 
wesentlichen  durch  den  Abbau  der  Sozialpolitik  zu  beseitigen. 
Es  ist  hier  dieselbe  Entwicklung  wie  bei  uns.  Es  ist  hier 
gleichfalls  festzustellen,  daB  die  Krise  der  Staatsfinanzen  ja 
nur  die  auBerordentliche  Tiefe  der  okonomischen  demon- 
striert.  GewiB  hat  die  englische  Krise  gegenirber  der 
deutschen  ihre  starken  Besonderheiten;  gewiB  ist  der  riesen- 
hafte  Kolonial-  und  Kapitalbesitz  ein  auBerordentlich  wichtiger 
Puffer  gegen  starke  StoBe.  Auf  der  andern  Seite  aber  ist  die 
so  starke  Verknuphi-ng  des  englischen  Kapitalismus  mit  der  ge- 
samten  Weltwirtschaft  in  dieser  Krise  ein  besonders  schweres 
Gefahrenmoment.  Im  Gegensatz  zu  Deutschland,  dessen  Aus- 
fuhr  zum  iiberwiegenden  Teil  in  Europa  bleibt,  setzt  Eng- 
land   den    groBten    Prozentsatz     in    auBereuropaischen     Lan- 

389 


dcrn  ab.  Hicr  abcr  hat  sich  die  Weltwirtschaftskrise  bercits 
katastrophal  ausgewirkt.  In  Siidamerika  handelt  es  sich  nicht 
mehr  um  eine  Krisc  der  Staatsfinanzen,  sondcrn  bercits  urn 
einen  verschleierten  Bankrott.  In  einigen  uberseeischen  Lan- 
dern  ist  es  nicht  viel  besser.  Hier  racht  sich  die  Monopol- 
politik  der  hochkapitalistischen  Zentren.  Man  hat  lange  Zeit 
Mgeregelte"  Preise  zu  halten  gesucht,  aber  mit  dem  Erfolgs  daB 
die  Preise  der  Produkte,  die  die  uberseeischen  Lander  ex- 
portieren,  ins  Unwahrscheinliche  gef alien  sind.  Wenn  aber 
diese  Lander  immer  schlechtere  Preise  fiir  ihre  Ausfuhr  be- 
kommen,  dann  konnen  sie  immer  weniger  einfiihren,  dann  geht 
ihre  Wahrung  kaputt,  und  die  Zinsen  fiir  die  ihnen  geborgten 
Kapitalien  kann  man  sich  suchen,  Der  katastrophale  Ruck- 
gang  im  englischen  und  amerikanischen  Aufienhandel  beruht 
zum  groBten  Teil  darauf,  und  in  absehbarer  Zeit  ist  hier  keine 
Besserung  zu  erwarten.  Die  Situation  ist  aber  fiir  England 
darum  so  schlecht,  weil  die  Stellung  der  City  als  Weltbankier 
unter  anderm  auf  einer  starken  Liquiditat  beruhte,  die>  ihre  Vor- 
aussetzung  in  den  riesenhaften  englischen  Kapitalreserven  hatte. 
Auf  dem  Papier  sind  die  heute  noch  da.  Aber  sie  sind  nicht 
mehr  liquid  zu  machen.  Wenn  Australien  oder  Chile  keine 
Zinsen  fiir  ihre  Anleihen  mehr  zahlen  konnen,  so  vermogen  sie 
noch  weniger  die  Anleihen  selbst  zuriickzahlen. 

England  erhalt  einen  Kredit  von  vierhundert  Millionen 
Dollar.  Ob  es  ihn  voll  ausnutzen  wird,  steht  noch  dahin.  In 
der  Presse  werden  die  heutigen  Kredite  an  England  in 
Analogie  gestellt  mit  den  Krediten,  die  England  seinerzeit  von 
den  Vereinigten  Staaten  bekam,  als  das  Pfund  Sterling  auf 
Goldbasis  stabilUiert  wurde.  Aber  die  Analogic  stimmt  nicht. 
Sie  beriicksichtigt  nicht,  daB  sich  die  gesamte  Lage  des  inter- 
nationalen  wie  des  englischen  Kapitalismus  seitdem  erheblich 
verschlechtert  hat;  die  englische  biirgerliche  Presse  schreibt 
bereits  klagend,  daB  man  vom  eignen  Kapital  lebe. 


England  ist  in  der  gleichen  Lage,  in  der  sich  Deutschland  beim 
Krisenbeginn  befand.  In  den  Vereinigten  Staaten  geht  es  noch 
etwas  besser;  aber  dort  machen  sich  immer  starker  Tendenzen 
zur  «,Europaisierung"  des  amerikanischen  Kapitalismus  geltend. 

Unsre  Vulgarokonomen  haben  uns  lange  Zeit  erklart,  daB 
sich  die  europaische  Wirtschaft  „amerikanisieren"  miisse,  daB 
sie  nur  die  amerikanischen  Rationalisierungsmethoden  zu 
iibernehmen  brauche,  damit  alles  gut  laufe.  Wahrend  sie  diese 
Abgeschmacktheiten  verzapften,  hat  der  amerikanische  Kapi- 
talismus immer  mehr  seinen  Sondercharakter  eingebuBt,  durch 
den  er  sich  von  dem  europaischen  Kapitalismus  unterschied. 
Er  hat  seine  eigne  Kolonialstruktur  verloren;  eine  Abwande- 
rung  aufs  Land  findct  nicht  mehr  statt,  im  Gegenteil,  die  land- 
wirtschaftlich  tatige  Bevolkerung  nimmt  in  den  letzten  Jahren 
absolut  ab.  Der  amerikanische  Kapitalismus  hat  in  der  Stel- 
lung zur  Weltwirtschaft  6eine  Kolonialstruktur  verloren.  Er 
ist  nicht  mehr  ein  Kolonialland,  das  hauptsachlich  industrielle 
Rohstoffe  und  Agrarprodukte  ausfiihrt  und  Fertigwaren  ein- 
fiihrt,  er  ist  immer  mehr  zum  Fertigwarenexporteur  geworden. 

390 


~Er  hat  beim  Wachstum  seiner  Bevolkerung  seine  Struktur 
"Vollig  geandert  und  1st  nicht  mehr  das  Einwanderungsland 
fur  die  europaische  Reserve armee.  Im  Jahre  1931  ist  die  Ein- 
wanderung  so  gering  wie  niemals  zuvor  in  den  letzten  hundert 
Jahren.  Bis  1831  muB  man  zuriickgehen,  um  zu  einer  so  niedri- 
,gen  Einwanderungsquote  zu  kommen,  Der  amerikanische  Ka- 
pitalismus  hat  semen  Sondercharakter  eingebuBt,  derm  die 
JClassenkampfe,  die  man  fur  ein  Charakteristikum  Europas 
hielt,  erschiittern  ihn  mehr  und  mehr.  Es  kommen  bereits 
Nachrichten  von  driiben,  dafi  man  dort  eine  Arbeitslosenver- 
rsicherung  eihfiihren  wolle.  Bisher  haben  die  Arbeit  si  osen  noch 
zu  einem  gewissen  Teil  von  fhren  eignen  Ersparnissen  leben 
konnen.  Die  lange  Dauer  der  Krise  hat  diese  aufgezehrt.  So 
muB  auch  Amerika  die  Arbeitslosenversicherung  durchfuhren, 
die  von  deutschen  Schwerindustriellen  als  „Risikopramie" 
jjegen  die  Revolution  bezeichnet  wurde.  Die  Vereinigten 
Staaten  haben  sich  europaisiert,  die  Theorie  der  hohen  Lohne 
zum  alten  Eisen  geworfen,  Nach  den  amtlichen  Berichten  sind 
die  Lohnsummen  um  mehr  als  ein  Drittel  zuriickgegangen,  und 
Henry  Ford1  der  uns  friiher  immer  erzahlte,  daB  man 
in  der  Krise  die  Lohne  erhohen  und  die  Preise  herabsetzen 
miisse,  macht  seine  Werke  in  Detroit  zu.  Der  amerikanische 
Etat  weist  bereits  jetzt  ein  groBes  Defizit  auf,  und  kommt 
noch  die  Arbeitslosenversicherung  hinzu,  dann  wird  es  sich 
natiirlich  erhohen.  Auch  auf  den  internationalen  Kapitalmark- 
ten  hat  sich  die  Situation  des  Kapitalismus  der  Vereinigten 
Staaten  betrachtlich  verschlechtert.  Die  Exportiiberschiisse 
sind  stark  zuriickgegangen,  und  die  Zinsen  vom  Auslandskapi- 
tal  gehen  ebenso  wenig  und  cbenso  schwer  ein  wie  in  Eng- 
land. Man  hat  die  Konjunktur  fur  ewig  gehalten  und  daher 
alle  seine  Oberschiisse  langfristig  angelegt,  um  so  an  der  Zins- 
differenz  selbst  zu  profitieren.  Daher  ist  auch  die  Liquiditat 
in  den  Vereinigten  Staaten  keine  allzu  giinstige,  wenn  auch 
natiirlich  noch  besser  als  in  England. 

Diese  Situation  auf  den  Kapitalmarkten,  vor  allem  die 
Verschlechterung  in  England,  schuf  die  Voraussetzung  fiir  die 
aufierordentlich  starken  Positionen,  die  der  franzosische  Kapi- 
talismus heute  innehat.  GewiB,  auch  in  Frankreich  ver- 
schlechtert  sich  die  Konjunktur,  auch  Frankreich  ist  keine 
Oase  mehr  in  der  Weltwirtschaftskrise.  Aber  bisher  ist  der 
Konjunkturriickgang  kein  allzu  groBer;  in  der  Production  er- 
reicht  er  bisher  nur  ungefahr  10  Prozent  gegenuber  dem  Rtick- 
gang  von  zirka  einem  Drittel  in  den  iibrigen  hochkapitalisti- 
schen  Zentren,  GewiB,  auch  in  Frankreich  wachsen  die  Ar- 
beitslosenzahlen,  wachst  vor  allem  die  Zahl  der  Kurzarbeiter. 
Aber  bisher  bleiben  diese  weit  hinter  denen  Englands,  der 
Vereinigten  Staaten  und  Deutschlands  zuriick,  denn  neb  en 
allem  andern  hat  Frankreich  noch  einen  besonder en  Vorteil,  da 
die  Arbeitslosigkeit  zunachst  auf  die  fremden  Arbeiter  abge- 
schoben  werden  kannt  von  denen  dort  in  der  Nachkriegszeit  * 
mehr  als  eine  Million  Beschaftigung  f and  en.  Die  Lage  auf  den 
internationalen  Kapitalmarkten  ist  fiir  Frankreich  eine  besdn- 
ders  giinstige.  Friiher  spielte  der  franzosische  Kapitalismus 
Irier  keine  sehr  entscheidende  Rolle.    Wahrend  man  die  ameri- 

2  391 


kanischen  Oberschusse  einst  auf  etwa  sechs  Milliarden 
schatzte,  die  englischen  auf  drei,  betrugen  die  franzosischen 
kaum  mehr  als  ein  bis  zwei  Milliarden.  Aber  wahrend  man? 
in  den  Vereinigten  Staaten  und  England  diese  Oberschusse  zu 
langfristigen  Krediten  benutzte,  trieb  man  in  Frankrcich  cine 
ganz  andrc  Politik.  Der  iiberwiegende  Teil  dieser  Oberschiisse* 
wurde  zur  Verstarkung  des  Goldes  der  Bank  von  Frankreich 
benutzt,  zur  Verstarkung  ihres  Devisenbestandes  und  zu  kurz- 
fristigen  Auslandskrediten.  Die  Goldbestande  der  Bank  von 
Frankreich  -erreichten  eine  fiir  europaische  Verhaltnisse  phan- 
tastische  Hohe,     Sie  betrugen; 

in  Milliarden  Mark 

Ende  1927  4  128,0 

1f      1928  5  260,2 

„      1929  6  854,5 

.„      1930  8  811,9 

30.  6.  1931  9  280,3 

Am  30.  Juni  1931  betrug  der  Goldbcstand 

in  Milliarden  Mark 
der   Reichsbank  in  Deutschland  1  487,0 

der   Bank   von  England  3  350,4 

Da  im  Juli  die  Bank  von  Frankreich  weitere  grofiere 
Goldmengen  aufgenommen  hat,  so  ist  heute  ihr  Goldbestand 
wohl  doppelt  so  groB  wie  der  der  Bank  von  England  und  der 
deutschen  Reichsbank  zusammen.  Wenn  Frankreich  lang- 
fristig  Gelder  im  Auslande  anlegte,  dann  im  eignen  Kolonial- 
reich  und  in  Landern,  die  man  von  der  franzosischen  Politik 
abhangig  machte,  zum  Beispiel  in  Polen.  Diese  Finanzpolitik 
hat  die  franzosischen  Kapitalisten  vor  der  Krise  einiges  Geld 
gekostet,  denn  die  Milliarden  in  der  Bank  von  Frankreich 
bringen  keine  Zinsen.  Die  kurzfristig  im  Ausland  angelegten 
Gelder  bringen  nur  geringe  Zinsen.  Hatte  der  franzosische 
KapitaUsmus  so  wie  der  englische  und  amerikanische  seine 
Oberschusse  zu  langfristigen  Anlagen  im  Ausland  verwendet, 
so  hatte  er  seine  Einkimfte  fraglos  betrachtlich  verstarken 
konnen.  Aber  dieser  Zinsenverzicht  in  der  Zeit  vor  der  Krise 
bringt  in  diesen  Tagen  doppelte  politische  und  okonomische 
Zinsen.  Der  franzosische  Kapitalismus  ist  heute  dem  Welt*- 
kapitalismus  gegeniiber  in  der  Lage  eines  Bankhauses,  -das  vol- 
lig  liquid  geblieben  ist,  und  sich  so  aus  der  Konkursmasse  die 
besten  Objekte  billig  erwerben  kann.  Wer  heute  Kapital 
brauchtt  geht  nach  Frankreich;  in  England  ist  gegen  ein  fran- 
zosisches  Veto  keine  iangfristige  Anlage  mehr  zu  bekommen. 
Sollten  es  die  Englander  doch  wagen,  so  kann  der  franzosische 
Kapitalismus  dutch  einen  Run  auf  das  Pfund  die  englische  Krise 
aufs  auBerste  verscharfen.  Die  Verscharfung  der  okonomischen 
Krise  in  den  angelsachsischen  Landern,  die  Verschlechterung 
ihrer  Positionen  auf  den  Kapitalmarkten,  der  bisher  verhalt- 
*  nismaBig  geringe  Konjunkturabstieg  in  Frankreich,  verbunden 
mit  der  Politik  des  franzosischen  Kapitalismus,  sich  auBeror- 
dentlich  liquid  zu  halt  en,  das  sind  die  okonomischen  Vorausset- 
zungen  fiir  die  heutige  franzosische  Weltpolitik,  fur  ihre  Poli- 
tik  in  Ungarn  und  in  RuBland,  in  Polen  und  in  Deutschland. 

392 


Kurzer  Abrifi  der  Nationalokonomie 

von  Kaspar  Hauser 

M  ationalokonomie  ist,  wenn  die  Lcute  sich  wundern,  warum 
^      sie  kcin  Geld  haben.    Das  hat  mehrere  Griinde,  die  fein- 
sten  sind  die  wissenschaftlichen  Griinde,  doch  konnen  solche 
durch  eine  Notverordnung  aufgehoben  werden. 

Ober  die  altere  Nationalokonomie  kann  man  ja  nur  lachen 
und  diirfen  wir  selbe  daher  mit  Stillschweigen  iibergehn.  Sie 
regierte  von  715  vor  Christo  bis  zum  Jahre  1  nach  Marx.  Seit- 
dem  ist  die  Frage  vollig  gelost:  die  Leute  ha/ben  zwar  immer 
noch  kein  Geld,  wissen  aber  wenigstens,  warum* 

Die  Grundlage  aller.  Nationalokonomie  ist  das  sog.  „Geld". 

Geld  ist  weder  ein  Zahlungsmittel  noch  ein  Tauschmittel, 
auch  ist  es  keine  Fiktion,  vor  allem  aber  ist  es  kein  Geld.  Fiir 
Geld  kann  man  War  en  kaufen,  weil  es  Geld  ist,  und  es  ist 
Geld,  weil  man  dafiir  Waren  kaufen  kann.  Doch  ist  diese 
Theorie  inzwischen  fallen  gelassen  worden.  Woher  das  Geld 
kommt,  ist  unbekannt.  Es  ist  eben  da  bzw,  nicht  da  —  meist 
nicht  da.  Das  im  Umlauf  befindliche  Papiergeld  ist  durch  den 
Staat  garantiert;  dieses  vollzieht  sich  derart,  daB  jeder  Papier- 
geldbesitzer  zur  Reichsbank  gehn  und  dort  fiir  sein  Papier 
Gold  einfordern  kann.  Das  kann  er.  Die  obern  Staatsbank- 
beamten  sind  gesetzlich  verpflichtet,  Goldplomben  zu  tragen, 
die  fiir  das  Papiergeld  haft  en.  Dieses  nennt  man  Golddeckung* 

Der  Wohlstand  eines  Landes  beruht  auf  seiner  aktiven 
und  passiven  Handelsbilanz,  auf  sein  en  innern  und  auBern  An- 
leihen  sowie  auf  dem  Unterschied  zwischen  dem  Giro  des 
Wechselagios  und  dem  ZinsfuB  der  Lombardkredite;  bei  Regen- 
wetter  ist  das  umgeke'hrt.  Jeden  Morgen  wird  in  den  Staats- 
banken  der  sog,  f,Diskont"  ausgewtirfelt;  es  ist  den  Deutschen 
neulich  gelungen,  mit  drei  Wiirfeln  20  zu  trudeln. 

Was  die  Weltwirtschaft  angeht,  so  ist  sie  verflochten. 

Wenn  die  Ware  den  Unternehmer  durch  Verkauf  verlassen 
hat,  so  ist  sie  nichts  mehr  wert,  sondern  ein  Pofel,  dafiir  hat 
aber  der  Unternehmer  das  Geld,  welches  Mehrwert  genannt 
wird,  obgleich  es  immer  weniger  wert  ist.  Wenn  ein  Unter- 
nehmer sich  langweilt,  dann  ruft  er  die  andern  und  dann  buV 
den  sie  einen  Trust,  das  heiBt,  sie  verpflichten  sich,  keinesfalls 
mehr  zu  produzieren,  als  sie  produzieren  konnen  sowie  ihre 
Waren  nicht  unter  Selbstkostenverdienst  abzugeben.  DaB  der 
Arbeit  er  fiir  seine  Arbeit  auch  einen  Lohn  haben  muB,  ist  eine 
Theorie,  die  heute  allgemein  fallen  gelassen  worden  ist. 

Eine  wichtige  Rolle  ini  Handel  spielt  der  Export.  Export 
ist,  wenn  die  andern  kaufen  sollen,  was  wir  nicht  kaufen 
konnen;  auch  ist  es  un  patriot!  sch,  fremde  Waren  zu  kaufen, 
daher  muB  das  Ausland  einheimische,  also  deutsche  Waren 
konsumieren,  weil  wir  sonst  nicht  konkurrenzfahig  sind.  Wenn 
der  Export  andersrum  geht,  heiBt  er  Import,  welches  im  Plural 
eine  Zigarre  ist,  Weil  billiger  Weizen  ungesund  und  lange 
nicht  so  bekommlich  ist  wie  teurer  Roggen,  haben  wir  den 
Schutzzoll,  der  den  Zoll  schutzt  sowiex  auch  die  deutsche  Land- 
wirtschaft.  Die  deutsche  Landwirtschaft  wohnt  seit  fiinfund- 
zwanzig  Jahren  am  Rande  des  Abgrunds  und    fiihlt    sich   dort 

393 


ziemlich  wohl.  Sie  ist  versohuldet,  weil  die  Schwerindustrie 
ihr  nichts  iibrig  laBt,  und  die  Schwerindustrie  ist  nicht  auf  der 
Hohe,  weil  die  Land  wirtschaft  ihr  zu  viel  fortnimmt.  Dieses 
n>ennt  man  den  Ausgleich  der  Inter essen.  Von  beiden  In- 
stitutionen  werden  hoheSteuern  gefordert,  und  muBderKon- 
sument  sie  auch  bezahlen. 

Jede  Wirtschaft  beruht  auf  dem  Kreditsystem,  das  heifit 
auf  der  irrtumlichen  Annahme,  der  andre  werde  gepumptes 
Geld  zuriickzahlen.  Tut  er  das  nicht,  so  erfolgt  eine  sog. 
„Stutzun.gsaktion",  bei  der  alle,  bis  auf  den  Staat,  gut  ver- 
dienen.  Solche  Pleite  erkennt  man  daran,  dafl  die  Bevolke- 
rung  auf  gefordert  wird,  Vertrauen  zu  haben.  Weiter  hat  sie 
ja  dann  auch  meist  nichts  mehr. 

Wenn  die  Unternehmer  alles  Geld  im  Ausland  unterge- 
bracht  haben,  nennt  man  dieses  den  Ernst  der  Lage.  Geordnete 
Staat  swesen  werden  mit  einer  solchen  Lage  leicht  fertig;  das 
ist  bei  ihnen  nicht  so  wi.e  in  den  kleinen  Raubstaaten,  wo 
Scharen  von  Briganten  die  notleidende  Bevolkerung  aussaugen. 
Auch  die  Aktiengesellschaften  sind  ein  wichtiger  Bestandteil 
der  Nationalokonomie.  Der  Aktionar  hat  zweierlei  wichtige 
Rechte:  er  ist  der,  wo  das  Geld  gibt,  und  er  darf  bei  der  General- 
versammlung  in  die  Opposition  gehn  und  etwas  zu  Protokoll 
geben,  woraus  sich  der  Vorstand  einen  sog,  Sonnabend  macht. 
Die  Aktiengesellschaften  sind  fur  das  Wirtschaftsleben  un- 
erlaBlich:  stellen  sie  doch  die  Vorzugsaktien  und  die  Aufsichts- 
ratsstellen  her.  Denn  jede  Aktiengesellschaft  hat  einen  Auf- 
sichtsrat,  der  rat,  was  er  eigentlich  beaufsichtigen  soil-  Die 
Aktiengesellschaft  haftet  dem  Aufsichtsrat  fiir  piinktliche  Zah- 
lung  der  Tantiemen.  Diejenigen  Ausreden,  in  denen  gesagt  ist, 
warum  die  A.-G.  keine  Steuern  bezahlen  kann,  werden  in  einer 
sogenannten  „Bilauz"  zusammengestellt. 

Die  Wirtschaft  ware  keine  Wirtschaft,  wenn  wir  die  Borse 
nicht  hatten.  Die  Borse  dient  dazu,  einer  Reihe  aufgeregter 
Herren  den  Spielklub  und  das  Restaurant  zu  ersetzen;  die  from- 
mern  gehn  auBerdem  noch  in  die  Synagoge.  Die  Borse  sieht  je- 
den  Mittag  die  Weltlage  an:  dies  richtet  sichnach  dem  Weitblick 
der  Bankdirektoren,  welche  jedoch  meist  nur  bis  zu  ihrer  Na- 
senspitze  sehn,  was  allerdings  mitunter  ein  weiter  Weg  ist. 
Schreien  die  Leute  auf  der  Borse  auBergewohnlich  viel,  so 
nennt  man  das:  die  Borse  ist  fest.  In  diesem  Fall  kommt  — 
am  nachsten  Tage  —  das  Publikum  gelaufen  und  engagiert 
sich,  nachdem  bereits  das  Beste  wegverdient  ist.  Ist  die  Borse 
schwach,  so  ist  das  Publikum!  allemal  dabei.  Dieses  nennt  man 
Dienst  am  Kunden.  Die  Borse  erfiillt  einewirtschaftliche  Funk- 
tion:  ohne  sie  verbreiteten  sich  neue Witze  wesentlich  langsamer. 

In  der  Wirtschaft  gibt  cs  auch  noch  kleinere  Angestellte 
und  Arbeit  er,  doch  sind  solche  von  der  neuen  Theorie  langst 
fallen  gelassen  worderu 

Zusammenfassend  kann  gesagt  werden:  die  National- 
okonomie ist  die  Metaphysik  des  Pbkerspielers. 

Ich  hoffe,  Ihnen  mit  dies  en  Angaben  gedient  zu  haben,  und 
fiige  noch  hinzu,  daB  sie  so  gegeben  sind  wie  alle  Waren,  Ver- 
trage,  Zahlungen,  Wechselunterschriften  und  samtliche  andern 
HandelsverpflJchtungen  — :  also  ohne  jedes  Obligo. 

394 


Kanton  und  Nanking  von  Asiatics 

Mitten  im  „tiefsten  Fried  en",  noch  am  Vor abend  des  Zusam- 
mentritts  der  Nationalversammlung  in  Nanking,  die  nicht 
nur  den  AbschJuB  der  militarischen  Emigung  Chinas  demon- 
strieren,  sondern  auch  die  Mkonstitutionelle  Aera"  durch  die 
Annahme  einer  Verfassung  eroffnen  sollte,  ist  ein  neuer  Biir- 
gerkrieg  ausgebrochen.  Diesmal  sind  es  nicht  die  Generale 
des  Nordens,  die  der  Nanking-Regierimg  trotzen.  Der  RiB 
geht  jetzt  mitten  durch  diese  Regierung  selbst.  Das  erste  An- 
zeichen  des  unvermeidlichen  Bruches  war  der  Riicktritt  Hu 
Han-Mins  vom  Vorsitz  des  Gesetzgebenden  Rates  in  Nanking; 
er  wurde  daraufhin  von  Tschiang  Kai-Schek  „in  Gewahrsam" 
genommen.  Kurz  nach  dieser  Verhaftung  meuterte  die 
kantoner  Garnison  gegen  den  Provinzgouverneur  von  Kwang- 
tung,  einen  Vertrauensmann  von  Tschiang  Kai-Schek,  zwang 
ihn  zur  Flucht  nach  Hongkong  und  erklarte  die  Provinz  fin* 
selbstandig.  Daraufhin  entsandte  Nanking,  wie  es  damals  offi- 
ziell  hieB,  den  Verkehrsminister  Sun  Fo  zur  Vermittlung  und 
Wiederherstellung  des  Friedens,  Sun  Fo,  der  hierzu  als  Sohn 
Sun  Yat-Sens  und  langjahriger  Biirgermeister  von  Kanton  be- 
sonders  auserlesen  schien,  f  uhr  nach  Hongkong,  um  dort  an  einer 
Konferenz  teilzunehmen,  die  sich  aber  nicht  mit  dem  Frieden, 
sondern  mit  der  Eroffnung  des  Biirgerkrieges  beschaftigte.  An 
dieser  Konferenz  nahmen  teih  Wang  Tsching-Wei,  Tschen 
Yu-Jen  (Eugen),  Tang  Shao-Yi  von  den  Politikern  und  Pei 
Tschung-Si,  Tschang  Fat-Kui  und  Tang  Schen-Tschi  von  den 
Generalen.  Am  Ausgang  der  Konferenz  kiindigte  Eugen  Tschen 
im  Namen  aller  Teilnehmer  Tschiang  Kai-Schek  den  Krieg  bis 
zur  Vernichtung  seiner  Diktatur  an.  In  Kanton  feierlich  emp- 
fangen,  konstituierten  sie  dann  eine  Regierung  des  Siidens  mit 
Tang  Shao-Yi  als  Prasidenten  und  Eugen  Tschen  als  AuBen- 
minister,  drahteten  nach  Nanking  ein  Ultimatum  mit  der  For- 
derung  des  sof  ortigen  Riicktritts  von  Tschiang  Kai-Schek  unter 
Drohung  der  Eroffnung  des  Biirgerkrieges,  So  iiberraschend 
diese  Ereignisse  fiir  alle  Welt  schienen,  so  waren  sie  in  ihrem 
letzten  Ursprung  und  Zweck*  doch  der  englischen  und  japani- 
schen  Diplomatie  so  vertraut,  daB  sowohl  die  Machthaber  von 
Hongkong  als  auch  die  japanische  Regierung  sich  beeilten,  die 
Regierung  von  Kanton  dei  facto  anzuerkennen. 

Zum  Verstandnis  dieser  neuen  Spaltung  ist  ein  geschicht- 
licher  Riickblick  notwendig.  In  den  Jahren  1924/26  kampften 
in  der  Kuomintang  von  Kanton  und  ihrer  Nationalregierung, 
die  damals  noch  auf  den  auBersten  Siiden  Chinas  beschrankt 
war,  drei  Cliquen  um  die  Fiihrung,  Ihre  Anfuhrer  waren  auf 
der  Rechten  Hu  Han-Min,  im  Zentrum  Tschiang  Kai-Schek 
und  auf  der  Linken  Wang  Tsching-Wei.  Sun  Fo,  Eugen 
Tschen  und  Sung  Tse-Wen,  der  Finanzminister  der  Nanking- 
Regierung,  hielten  zum  Zentrum,  widerstrebten  aber  den  dikta- 
torischen  Selbstandigkeitsbestrebungen  Tschiang  Kai-Scheks. 
Kanton  war  damals  ein  brodelnder  Kessel  der  Revolution,  ein 
Schrecken  Hongkongs  wie  auch  der  feudal-militarischen  £li- 
quen.  In  der  Kuomintang,  zu  der  damals  auch  die  Kommuni- 
sten  gehorten,  rangen  die  verschiedenen  Klassen  der  national- 

395 


reyolutionaren  Front,  die  groBe  und  kleine  Bourgeoisie,  die  Ar- 
beiter  und  Bauern  um  die  Macht,  indes  sie  nach  auBen  noch 
geschlossen  das  vulkanische,  feuerspeiende  Zentrum  der  Revo- 
lution verkorperte.  Nach  dem  Tode  Sun  Yat-Sens  wurde  Hu 
Han-Min  als  der  Vertreter  der  groBen  Bourgeoisie  und  der 
reiahen  Bauernschaft  auf  kurze  Zeit  zum  Vorsitzenden  der  Re- 
gierung,  umkampft  vom  Zentrum  und  vom  Hnken  Fliigel,  vor 
allem  aber  von  der  auBersten  Linkeri,  die  mit  Liao  Tschung-Hai 
an  der  Spitze  die  tragenden  Krafte  der  antienglischen  Boykott- 
und  Streikbewegung,  gleichzeitig  aber  auch  der  Massenrevolu^ 
tion  gegen  die  Kompradoren  und  Militaristen  reprasentierten. 
Mit  der  Zuspitzung  des  revolutionaren  Kampfes  wechselte  die 
Fiihrung  von  Hu  Han-Min  bis  zu  dem  linksradikalen  Fiihrer 
des  Kleinbiirgertums  Wang  Tsching-Wei  hiniiber.  Hu  Han-Min 
griff  sodann  zum  Meuchelmord,  und  Liao  Tschung-Hai,  der 
kluge,  energische,  von  den  Massen  geliebte  Fiihrer  blieb  auf 
der  Strecke.  Hu  Han-Min  muBte  auf  kurze  Zeit  das  Land  ver- 
lassen,  er  wurde  als  der  Verantwortliche  fur  diese  Ermordung 
bezejchnet  und  doch  nur  ausgewiesen,  weil  er  nicht  der  Allein- 
schuldige  in  der  Fiihrung  war.  Kurz  darauf  trat  aber  Tschiang 
Kai-Schek  auf  den  Plan,  usurpierte  im  Marz  1926  die  Fiihrung 
der  Partei  und  der  Regierung  und  zwang  Wang  Tsching-Wei, 
den  link  en  Antipoden  von  Hu  Han-Min,  ebenfalls  ins  Ausland 
zu  gehen.  Ein  Jahr  spater  war  Tschiang  Kai-Schek  soweit,  daB 
er  sich  offen  mit  Hu  Han-Min  bei  der  Bildung  der  konter- 
revolutionaren  Regierung  in  Nanking  und  zum  Straff eldzug  ge- 
gen die  Arbeit  er  und  Bauern  verbiinden  konnte, 

Wenn  heute  Wang  Tsching-Wei  Arm  in  Arm  mit  Sun  Fo 
und  Eugen  Tschen  und  in  betonter  Solidaritat  mit  dem  inzwi- 
schen  wieder  verhafteten  Hu  Han-Min  denKrieg  an  Tschiang 
Kai-Schek  erklart,  so  ist  das  zwar  noch  die  Fortfuhrung  des  alten 
Cliquenkampfes  —  aber  die  Revolution  ist  jenseits  ihres  La- 
gers. Die  Kuomintang  selbst,  die  friiher  das  revolutionare 
Schild  der  Massenbewegung  war,  ist  jetzt  herrschende  Partei 
der  Konterrevolution  und  der  allgemeine  Rahmen  fiir  alle  Ge- 
neralscliquen'  des  Nordens  und  Siidens.  Der  Tote  ergriff  den 
Lebenden  und  setzte  sich  an  seine  Stelle.  Der  mandschurische 
Despot  Tschang  Sue-Liang,  der  allchinesische  Diktator  Tschiang 
Kai-Schek  und  das  heterogene  Sammelsurium  von  verkrachten 
Politikanten  und  Generalen,  das  jetzt  die  siidchinesische  Re- 
gierung bildet  —  alle  die  reklamieren  fiir  sich  die  Kuomintang 
und  die  Ideen  Sunyatsens.  Ein  breiter  Graben  von  Blut  und 
Leid  trennt  sie  von  den  kampfenden  Massen  der  Arbeiter  und 
Bauern  und  der  revolutionaren  Intelligenz,  ein  Krieg  auf  Tod 
und  Leben  tobt  zwischen  ihnen  unentwegt.  War  die  Kuomin- 
tang friiher  die  Partei  des  antiimperialistischen  Kampfes,  so 
stehen  heute  hinter  ihren  getrennten  Lagern  die  widerstreiten- 
den  Interessen  der  imperialistischen  GroBmachte. 

Die  Oberlegenheit  Tschiang  Kai-Schek s  ist  die  des  ameri- 
kanischen  Imperialismus,  Das  amerikanische  Anlagekapital  in 
China  stellt  zwar  nur  einen  Bruchteil  des  englischen  und  japa- 
nischen  dar.  Aber  Nanking  sollte  grade  die  Bahn  fiir  das 
kommende  groBe  Geschaft  der  „Rekonstruktion"  Chinas  unter 
der  Obhut  der  amerikanischen  Weltbankiers  freimachen.  Nach 

396 


euier  neusten  Errechnung  amtlicher  Stcllcn  betragt  das  eng- 
lische  und  japanische>  Kapital  in  China  jc  1  000  000  000  GoM- 
<lollar,  das  amerikanische  200  000  000  Golddollar.  Das  eng- 
lische  konzentriert  sich  in  Siidchina  und  im  Yangtsetal,  das 
japanische  in  der  Mandschurei  und  Nordchina,  das  amerika- 
nische hauptsachlich  in  Shanghai  und  Hankau,  Die  washing- 
toner  Diplomatic  verlangt  von  Nanking  als  Voraussetzung  fiir 
den  Einsatz  der  Rekonstruktionsanleihen  die  Beendigung  des 
Biirgerkrieges  und  die  Ausdehnung  ihrer  Zentralgewalt  auf  ganz 
China  und  die  Mandschurei.  Die  Allianz  Nankings  mit  Muk- 
den, wie  sie  heute  in  dem  Bund  Tschiang  Kai-Schek  und 
Tschang  Sue-Liang  bereits  besteht,  war  ebenso  ein  Schritt  auf 
diesem  Wege,  wie  die  Posse  der  Nationalversammlung,  ohne 
Wahlen  und  Gewahlte,  nur  zusammengeschoben  von  den  mili- 
tarischen  Cliquen  Nankings  und  Mukdens.  Der  englische  und 
japanische  Imperialismus  sind  aber  im  Gegenteil  an  selbstandi- 
ijen  Slid-  und  Nordregierungen  und  an  einer  fiktiven  Zentral- 
gewalt interessiert  und  helfen  sowohl  in  Kanton  als  auch  in 
Mukden  und  Peiping  in  dieser  Richtung  kraftig  nach.  Weder 
London  noch  Tokio  sind  in  einem  zentral  regierten  China  im- 
stande,  die  Wettjagd  mit  dem  Dollarimperialismus  zu  bestehen. 
Es  verlohnt  sich  aber,  zur  Erhaltung  der  alten  Positionen  und 
-zur  Erhohung  der  eignen  Quote  bei  der  ,,Kooperation  der 
Machte",  die  Generals-  und  Kuomintang-Cliquen  zu  bestechen 
und  zu  begonnern,  Daher  die  Eile  der  englischen  und  japani- 
schen  de  facto-Anerkennung  fiir  die  Fronde. 

Die  Interessengegensatze  der  Machte  in  China  konnen  aber 
wohl  einen  vorlaufigen  Ausgleich  finden.  Die  Allianz  zwischen 
Nanking  und  Mukden  unter  amerikanischer  Patenschaft  ist  ein 
Beispiel  hierfiir.  Sowohl  die  amerikanische  als  auch  die  japa- 
nische Wirtschaitskrise  sind  sehr  zwingende  Argumente,  beson- 
ders  zwingend  fiir  Japan,  das  arm  an  Rohstoffen  und  dessen 
Handelsverluste  (etwa  35  Prozent  im  vergangenen  Jahre)  die 
-chronische  passive  Bilanz  seit  dem  Weltkriegsende  in  eine  kata- 
strophale  verwandeln  und  ganze  Industrien  zum  Erliegen  brin- 
gen.  Fur  den  englischen  Imperialismus  brachte  eben  dieser 
Bund  zwischen  Nanking  und  Mukden  eine  so  starke  Zuriick- 
drangung  seiner  Position  in  Nanking,  daB  es  Zeit  wurde,  das 
Spiel  Washingtons  zu  durchkreuzen.  Aber  ein  Biirgerkrieg  zwi- 
schen Kanton  und  Nanking  mit  den  Kriegsf ronten  in  Siidchina 
nnd  im  Yangtsetal  und  angesichts  der  aufgewuhlten  Bauern- 
.schaft,  ihrer  roten  Armeen  und  der  zahlreichen  Sowjetherde 
ist  auch  fiir  den  englischen  Imperialismus  ein  sehr  riskantes 
Unternehmen.  Schon  ganz  zu  schweigen  von  den  unmittelba- 
ren  Verlusten  des  englischen  Handels  in  China,  die  jetzt  —  im 
Talle  eines  langwierigen  Biirgerkrieges  —  zu  den  Verlusten  in 
Indien  hinzutreten  wurden.  Das  wahrscheinlichste  Ergebnis 
dieser  Lage  wird  daher  sein,  daB  die  interessierten  Machte 
sich  auf  Kosten  Chinas  zunachst  unter  sich  verstandigen  und 
1faus   allgemeiner  Friedensliebe"   vermitteln  werden. 

Die  Taktik  Nankings  laBt  auch  auf  diesen  Ausgang  schlie- 
&en,  Hu  Han-Min  ist  entgegen  dem  iiblichen  Brauch,  obwohl 
*er  das  wirkliche  Haupt  der  Fronde  ist,  basher  nicht  hingerich- 
4et  worden,  wie  das  Tschiang  Kai-Schek  vor  zwei  Jahren  mit 

397 


seincm  Gast,  dem  kantoner  Generalissimus  Li  Tai-Sun  ge~ 
macht  hat.  Die  Presse  von  Nanking  bestreitet  in  hoherm  Auf- 
trage  die  Tatsache  dcr  Verhaftung  Hu  Han-Mins:  Tschiang; 
Kai-Schck  erlaube  ihm  nur  deshalb  nicht,  Nanking  zu  verlas- 
sen,  ,weil  er  auf  seinen  erfahrenen  Rat  nicht  verzichten  konne, 
DaB  er  keine  Besuche  empfangen  darf,  sci  nur  cine  vorlaufige* 
MaBnahme,  diktiert  von  den  Arzten  und  von  der  Sorge  urn 
seine  Gesundheit.  Tschiang  Kai-Schek  beruft  sich  darauf,  daB 
er  selbst  Sun  Fo  zur  Vermittlung  geschickt  habe.  Ferner  hat 
er  die  Bereitschaf  t  erklaxt,  den  neuen  Gouverneur  von  Kanton 
anzuerkennenf  falls  die  Verhandlungen  aufgenommen  wiirden.. 
Nur  die  Forderung  seines  Riicktritts  miisse  er  zuriickweisen, 
Auf  der  andern  Seite  geht  auch  die  neue  Regiexung  sehr 
behutsam  ans  Werk.  An  der  Spitze  ihrer  Anklage  gegen  das 
Regime  Tschiang  Kai-Scheks  setzt  sie  seine  Unfahigkeit,  die. 
kommunistischen  Bauernarmeen  und  -revolten  in  Slid-  und 
Mittelchina  entsprechend  seiner  wiederholten  Ankiindigung  zu 
vernichten.  Ddeser  Anklagepiinkt  ist  ein  Credo  der  neuen  Re- 
gierung und  ein  Beweis,  daB  der  blutige  Leichnam  Liao  Tschung- 
Hais  ihr  Wahrzeichen  ist,  daB  Hu  Han-Min  und  sein  Anhang 
auch  hier  ihrer  in  der  Revolutionsgeschichte  der  letzten  Jahre 
so  finstern  Tradition  treu  bleiben  werden. 


Die  Mordklirve  von  Hans  Hyan 

T\  ie  Reichsstatistik  fur  Kriminalitat  liegt  abgeschlossen  vor 
^  bis  zum  Jahre  1927  inklusive.  Die  dariiber  hinaus  gesam- 
melten  Zahlen  werden  noch  nicht  veroffentlicht.  Nun  ergibt 
sich  aus  der  Reichsstatistik  durchaus  nicht  die  Zahl  der  vorge- 
kommenen  Morde-  Was  man  aus  den  Statistischen  Jahrbtichern 
ersehen  kann,  sind  allein  die  wegen  Mordes  angeklagten,  ver- 
urteilten  und  freige'sprochenen  Personen,  Vielleicht  ist  das 
Reichsjustizministerium  i'm  Besitz  von  Zusammenstellungen 
auch  iiber  die  Anzahl  der  vorgekommenen  Mordverbreche.i, 
aber  diese  wurden  nicht  veroffentlicht;  (iberhaupt  ist  die  Kri- 
minalstatistik  bis  jetzt  sehr  mangelhaft.  Es  scheint  noch  immer 
nicht  die  Erkenntnis  aufgegangen  zu  sein,  daB  die  Kriminali- 
tat eines  Staates  das  wesentlichste  Material  zu  seiner  voll- 
kommenen  Beurteilung  bietet,  Und  daB  Kriminalitat  durch- 
aus nicht  nur  der  Kampf  zwischen  Dieb  und  Diebesfangern 
ist,  sondern  daB  das  gesamte  Volksleben  von  der  Kriminali- 
tat, wie  der  Waldboden  von  einem  unendlich  verzweigten 
Wurzelgeflecht,  dnrchzogen  wird.  Wir  sind  heute  noch  nicht. 
so  weit,  zum  Beispiel  die  wucherische  Ausbeutung  eines  Vol* 
kes,  wenn  sie  von  Banken,  GroBindustriellen  etcetera  betrie- 
ben  wird,  zum  Verbrechen  zu  erklaren  und  durch  ein  Straf- 
gesetz  zu  bekampfen,  Aber  die  Erkenntnis,  daB  solch  ein 
Kampf  die  Vorbedingung  zur  gliicklichen  Gesundung  der  Na- 
tion ist,  setzt  sich  mit  einer  gefahrlichen  Schnelligkeit  durch 
—  gefahrlich  fur  die  Vei  iiber  solcher  Verbrechen,  die  aller- 
dings  bisher  das,  was  ihnen  in  Zukunft  droht,  noch  nicht  er- 
kannt  haben.  Aber  der  Tag  wird  kommen,  wo  das  Sprich- 
wort;   „Die  groBen  Diebe  laBt  man  laufen,   die  kleinen  hangt 

398 


man",  seine  Giiltigkeit  verliert.  Die  Erkenntnis  der  Asoziali- 
tat  und  ihre  allgemein  richtige  Wertung  verbirgt  sich  auch  im 
Anfange  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  noch  hinter  den 
Schleiern  jener  „gottgewollten  Abhangigkeit",  die  Thron  und 
Altar  seit  Jahrtausenden  als  oberstes  Gesetz  stabilisiert  haben 
und  fur  die  sie  beide  mit  letzter  Zahigkeit  bis  zu  ihrem  Unter- 
gang  kampfen  werden. 

Die  Bekampfung  des  Verbrechens,  die  selbstverstandlich 
international  sein  miiBte,  steckt  heute  noch  vollkommen  in  den 
Anfangen,  und  der  tiberwiegende  Teil  samtlicher  Verbrechen 
wird  nicht  allein  nicht  aufgedeckt  und  gesiihnt,  sondern  eine 
unendliche  Anzahl  auch  von  Mordtaten  wird  nieraals  bekannt. 
Zum  Beweise  dessen  sei  hier  nur  auf  die  Fememorde  verwie- 
sen,  deren  Entdeckung,  wo  sie  uberhaupt  erfolgt  ist,  allein  dem 
Zufail  zu  dank  en  war.  Die  tatsachliche  Ziffer  diirfte  die  be- 
kannt gewordene  urn  das  Zehniache  iibersteigen.  Aber  das 
Gleiche  gilt  ziemlich  fur  alle  Mordtaten,  nur  daB  die  Feme- 
morde von  dem  groBen  Kreise  der  Interessenten  absichtlich 
vertuscht,  geheimgehalten  und  auBerdem  auch  von  der  Justiz 
gelegentlich  verschleiert  worden  sind. 

Hier  soil  gezeigt  werden,  in  welcher  unheilvollen  Schnel- 
ligkeit  das  Mordverbrechen  in  Deutschland  voranschreitet. 
Dazu  will  ich  tabellarisch  die  Anzahl  der  angeklagten 
und  verurtedlten  Morder  von  1914  bis  1927  geben.  Fur  die 
Jahre  1928,  1929  und  1930  habe  ich  die  Zahlen  aus  meinem 
Privatarchiv  zusammengestellt,  Hier  war  es  aber  aus  recht- 
lichen  und  zeitlichen  Grunden  nicht  moglich,  die  Angeklagten 
und  Verurteilten  aufzuzahlen,  sondern  ich  habe  mich,  wenn 
auch  nur  mit  teilweisem  Erfolge  bemiiht,  die  Mordtaten  selbst 
zusammenzustellen.  Das  Tabellarium  bis  1927  darf  Anspruch 
auf  fehlerlose  Vollstandigkeit  machen.  Es  bietet  dem  auf- 
merksamen  Beobachter  des  Interessanten  genug  und  es  be- 
weist  zur  Evidenz  —  worauf  es  allein  ankommt!  — ,  daB  das 
Verbrechen  durchaus  das  Endresultat  des  auf-  und  niederstei- 
genden  Volkswohlstandes  und  einer  mehr  oder  weniger  ver- 
niinftigen  und  auf  die  offentliche  Sicherheit  bedachten  Regie- 
rung  ist.  Diese  Ziffern  beweisen  ferner,  daB  die  groBten  Ver- 
brechen, die  es  uberhaupt  gibt:  Der  Krieg  und  die  von  den 
Kapitalisten  jeden  Landes  hervorgerufene  und  gemastete  In- 
flation in  ihrer  Kurve  mit  den  Mordverbrechen  absolut  gleich- 
laufen.  , 


1914 

1915 

1916 

1917 

1918 

1919 

1920 

1921 

1922 

1923 

1924 

1925 

1926 

1927 

Wegen  Mordes  An- 
geklagte 

109 

114 

88 

92 

101 

212 

272 

330 

247 

187 

235 

225 

209 

160 

Verurteilte 

82 

68 

74 

71 

87 

164 

209 

243 

200 

139 

193 

185 

170 

124 

Jugendliche 

13 

19 

29 

28 

32 

16 

12 

23 

14 

9 

17 

9 

8 

12 

Freigesprochene 
Erwachsene 

27 

46 

14 

21 

18 

48 

63 

87 

47 

48 

42 

40 

39 

36 

FreigesprocheDe 
Jugendliche 

4 

4 

1 

2 

1 

3 

3 

3 

1 

1 

3 

._ 

2 

1 

Zum  Tode  Vcrur- 
teilte 

41 

18 

23 

28 

30 

86 

113 

149 

123 

76 

110 

92 

89 

64 

3 

' 

399 

Die  Jahre  vor  1914  zeigen  ein  ziemlich  gleichmaBiges  und  dem 
Wachstum  des  Landes  und  der  Bevolkerung  entsprechendes 
Anschwcllcn  der  Mordziffer,  Der  Rahmen  dieser  klcinen  Ar- 
beit erlaubt  es  inicht,  die  wahrscheinlich  sehr  interessante  Zu- 
sammenstellung  der  wegen  Mordes  Verurteilten  vom  Jahre 
1870  an  aufzuzeichnen.  Aber  schon  der  Vergleich  zwischen 
1914  und  1915  zeigt  ein  durch  den  Krieg  hervorgerufenes  An- 
steigen  der  Anklageziffern,  wahrend  die  Verurteilungen  im 
Jahre  1915  zuriickgehen  und  die  so  sehr  wichtige  Ziffer  der 
jugendlichen  Verurteilten  stabil  bleibt. 

Die  Jahre  1916,  1917  und  1918  zeigen  Schwankungen,  die 
nicht  xiberraschen.  Aber  im  Jahre  1919,  das  heiBt  nach  Aus- 
bruch  der  Revolution,  steigt  die  Ziffer  der  Mordanklagen 
von  101  plotzlich  auf  212,  ja  sie  erhebt  sich  1920  auf 
272,  1921  sogar  auf  330,  Sie  fallt  dann  wieder  im  Jahre  1922 
und  1923  bis  auf  87,  um  1924  plotzlich  wieder  bergan  zu  gehen 
bis  auf  235,  Die  Ursache  des  Unterschiedes  zwischen  1923 
und  1924  liegt  auf  der  Hand.  Im  Jahre  1923  hatte  die  Infla- 
tion mit  der  Habe  und  mit  dem  Lebensstandard  des  Prole- 
tariats und  des  gesamten  Mittelstandes  reinen  Tisch  gemacht. 
Hatte  der  Kapitalismus  damals  nicht  noch  eben  rechtzeitig  er- 
kannt,  daB  es  nunmehr  die  hochste  Zeit  sei,  die  Inflation  ab- 
zudrosseln  und  wieder  Geld  statt  der  Milliardenscheine  aus- 
zugeben,  so  ware  mit  hochster  Wahrscheinlichkeit  am  Ende 
dieses  Verbrechensjahres  eine  neue  und  blutigere  Revolution 
ausgebrochen.  So  kam  im  letzten  Augenblick  die  Rettung  in 
Gestalt  der  Festmark.  Aber  die  Allerarmsten  erreichte  das 
Bargeld  nicht  so  schnelL  Sie  muBten  nun,  wo  das  Schie- 
ben  aufhorte,  in  erhohter  Menge  dem  Gewaltverbrechen  an- 
heimf alien,  Auch  1925  ist  die  Zahl  der  Morde  noch  sehr  hoch, 
sie  fallt  jedoch  in  den  nachsten  Jahren  ab.  1926  sinkt  sie  auf  89 
und  1927  sogar  auf  64,  was  deutlich  fur  eine  Befriedung  der 
Bevolkerung  und  fiir  eine  mit  der  zunehmenden  Entfernung 
von  der  Kriegspsychose  gleichlaufende  Riickkehr  zu  geordne- 
ten  Zustanden  spricht. 

Von  nun  an  lain  ich  auf  die  Ergebnisse  meines  Archivs  an- 
gewiesen,  Ich  bemerke,  daB  es  fiir  einen  Einzelnen  auBerordent- 
lich  schwierig  ist,  die  doch  nur  durch  die  Zeitungen  ubermittel- 
ten  Mordnachrichten  vollstandig  zu  erhalten.  Die  berliner  Presse 
referiert  iiber  die  in  der  Provinz  vorkommenden  Kapitalver- 
brecheri  ungleichmaBig,  oft  gar  nicht.  Selten  in  einer  der 
Bedeutung  solcher  Falle  Rechnung  tragenden  Weise.  Schon 
dieser  Umstand  laBt  meine  Zahlung  auf  jeden  Fall  hinter  der 
Wirklichkeit   zuruckbleiben. 

Ich  gebe  hier  ebenfalls  tabellarisch  die  Mordzahlen  fur 
die  drei  Jahre  1928,  1929  und  1930  neben  der  Aufstellung  der 
verjschiedenen  Mordarten,  will  aber  nochmals  bemerken,  daB 
die  von.mir  gegebenen  Zahlen  wahrscheinlich  t  nicht  an  die 
wirnliche  Zif  ier  der  in  die  sen  drei  Jahren  gescKehenen  Kapital- 
yerbreebep  heraiireicjieti? 

40u 


1928 

1929 

1930 

Frauenniorde . 

6 

2 

15 
47 
55 
13 
11 

3 

12 
14 

1 

12 
65 
77 
24 

9 
13 

16 

Giftmorde  ......... 

4 

Von  Aerzten  begangene  Moide    .     .     . 

Kin  derm  orde 

Raubmorde  und  and  re  Morde   .... 
Familienmorde 

1 

10 

45 

117 

32 

Politische  Morde 

27 

Sexualmorde 

23 

157 

227 

275 

An  dieser  Aufstellung  frappiert  vor  alien  Dingen  der  ge- 
waltige  Anstieg  der  Mordziffer  im  Jahre  1930,  dem  leider  fur 
die  bisher  abgelaufenen  Monate  des  Jahres  1931  ein  ebenso 
gewaltsames  Hinaufschnellen  iolgt.  1928  wirkte  noch  die  Her- 
einriahme  groBer  Auslandsanleihen  gfinstig.  Die  Mordziffer 
sank  auf  157.  1929  begann  die  Krise  —  die  Mordzahi  stieg 
auf  227,  und  1930,  wo  die  Arbeitslosenziffer  urn  mehr  als  eine' 
Million  heraufrfickte,  sind  275  Morde  (nach  meiner  Rechnung) 
geschehen.  1925,  1926  und  1927  betragt  die  Zahl  der  wegen 
Mordes  Angeklagten  594,  und  diese  schon  recht  betrachtliche 
Hohe  wurde  im  letzten  Triehnium  noch  um  64  Bluttaten  iiber- 
schritten,  obwohl  das  Jahr  1928  einen  ungemein  gunstigen 
Status  aufweist.  Was  aber  im  hochsten  MaBe  bedrohlich  er- 
scheinen  mufi,  das  sind  einmal  die  47  politischen  Mordtaten 
und  zum  andern  die  317  Familien-  und  Gattenmorde,  also 
Bluttaten  innerhalb  einer  Familie. 

Nach  meiner  Anschauung  sind  derart  grauenhafte  Ereig- 
nisse  nur  Exzesse,  die  im  Zustande  dauernder  oder  voriiber- 
gehender  Unzurechnungsfahigkeit  begangen  werden.  Sie 
sprechen  aber  fur  eine  schreckenerregende  seelische  Zermiir- 
bung  und  fur  einen  Ernahrungszustand,  der  sich  wiederum 
jenen  Kriegsjahren  1916 — 1917  nahert. 

Und  damit  kommen  wir  auf  den  Kern  der  Sache:  Namlich 
das  Gleichlaufen  der  Mordkurve  und  der  Brotpreiskurve.  1914 
kos'tete  das  Kilo  Roggenbrot  28  Pfennig.  Und  dieser  Brotpreis 
hielt  sich,  mit  geringen  Schwankungen,  auch  durch  die  Infla- 
tion und  ihre  Riesenziffern  —  die  ja  im  Grunde  nur  ein  Tau- 
schungsmanover  waren,  um  die  unwissende  Volksmenge,  nicht 
aber  den  Handler,  zu  betriigen  und  auszurauben  —  bis  April 
1924.  Erst  in  der  zweiten  Halfte  von  1924  stieg  der  Brot- 
preis auf  33  Pfennig,  ging  1925  auf  38  Pfennig,  1927  auf  43 
Pfennig  und  1928  auf  45  Pfennig,  1930  auf  46  Pfennig  hinauf, 
um  im  Jahre  des  Heils  1931  fiber  die  50  hinauszuklettern.  Ver- 
gleicht  man  dieses  Anscbwellen  mit  der  Mqrdziffef,  so  wird 
man—  ihrierhalb  der  notwendigen  Schwankungen  -^-  die  Kon- 
gruenz  der  Brotpreis-  und  Mordktirve  feststellen.  Diese  Korr- 
grnehz  ist   ein  Ifaturgebot.  SMafi  foigt 

40! 


Die  neue  literarische  Saison  von  Gottfried  Benn 

Gesprochen  vor  dem  berliner  Sender  am  28.  August  1931 

T\  ie  Formulierung,  unter  der  der  f  olgende  Vorirag  angekiindigt 
ist,  erscheint  mir  etwas  irrefiihrend  und  nicht  gan<z  gliick- 
Hch.  Ix&  kann  mieh  iiber  -die  neue  literarische  Saison  natiir- 
lich  gar  nicht  auBern,  ich  bin  kein  Prophet,  ich  bin  auch  kein 
Kritiker,  ich  habe  mit  Verlagsprospekten  nichts  zu  tun,  ich 
lese  uberhaupt  nicht  viele  literarische  Biicher.  Wenn  ich  aber 
einmal  einen  von  den  neuen  deutschen  Romanen  zu  lesen  an- 
fange,  finde  ich,  daD  er  sich  sehr  wenig  von  denen  vor  dreiBig 
Jahren  unterscheidet.  Damals  hieBen  die  Helden  Hans  und 
Crete,  heute.  heiBen  sie  Evelyn  und  Kay,  damals  boten  sie  sich 
auf  Seite  zweihundert  hinter  einer  Rosenhecke  das  Du  an  und 
versprachen  sich  furs  Leben,  heute  bei  einem  Reifenwechsel 
oder  einem  Propellerbruch  nehmen  sie  Pupille  auf  ihre  sport- 
gebraunten  Ziige,  besprechen  das  Geschaftliche,  eroffnen  sich 
ihre  Komplexe  und  beschlieBen  fiir  die  nachsten  vierzehn  Tage 
in  den  Clinch  der  Kiisse  zu  gehen.  Das  erscheint  mir  kein  gro- 
Ber  Unterschied  zu  sein,  die  Liebe  ist  es  damals  wie  heute,  die 
•die  Sedtenzahlen  vermehrt  und  den  Autor  zu  ausgreifender  Ent- 
wicklung  treibt:  —  „Liebe  denkt  in  siiBen  Tohen  und  Gedanken 
stehn  ihr  fern'4,  sagt  Tieck,  namentlich  von  der  zweiten  Halfte 
wird  wieder  ausgiebig  Gebrauch  gemacht  werden,  und  ich  bin 
uberzeugt,  daB  auch  in  der  neuen  Saison  diese  Art  Biicher 
fiihren  werden  und  in  groBem  Ansehen  stehen-  Daneben  wer- 
den wieder  die  zwei  oder  drei  andern  Biicher  erschenren,  die 
die  Epoche  und  was  sie  treibt,  etwas  kalter,  entfernter,  sprach- 
lich  schwieriger  darstellen,  und  sie  werden  auch  in  der  kom- 
menden  Saison  genau  so  ungelesen  bleiben,  wie  sie  es  in  den 
fruhern  waren.  Und  in  dies  em  Zusammenhang  und  da  heute 
der  28.  August,  namlich  Goethes  Geburtstag  ist,  worauf  Sie 
die  Funkstund©  ja  schon  bei  andrer  Gelegenheit  heute  hin- 
gewiesen  hat,  mochte  ich  Sie,  auch  von  der  Iiterarischen  Seite 
aus,  daran  erinnern,  daB  der  fiinfzigjahrige  Goethe  wahrend 
des  Xenienkampfes  ein  Literat  von  zweifelhafter  Begabung  ge- 
nannt  wurde,  die  Hauptbroschiire  gegen  ihn  von  den  beiden 
Sudelkochen  in  Weimar  und  Jena  sprach,  ein  preuBischer 
Stabsoffizier,  der  1806  bei  Goethe  in  Einquartierung  lag,  nie- 
mals  vorher  dessen  Nam  en  gehort  hatte,  und  als  die  Gesamt- 
ausgabe  von  Goethes  Schriften  unternommen  wurde,  der  Ver- 
leger  in  seinen  Brief  en  bitter  iiber  den  geringen  Absatz  klagte, 
der  von  dem  Werk,  das  von  Goethes  illegitimen  Schwager 
Vulpius  verfaBt  war,  namlich;  „Rinaldo  Rinaldini"  ganz  be- 
deutend  iibertroffen  wurde.  Auch  war  es  die  Zeit,  in  der  sich 
die  P-amen  der  weimarer  Gesellschaf t  von  Goethe  weg  und 
Kotzebue  zuwandten,  da  dieser,  wie  es  schon  damals  so  herr- 
lich  hieB,  „dem  Leben  naher  stand"  und  „die  Wirklichkeit" 
brachte.  Man  muB  also  wohl  prinzipiell  und  fiir  alle  Zeiten 
eine  Vordergrundsliteratur  unterscheiden,  die  vom  Feuilleton 
umrankt  wird  und  der  die  Damenwelt  zuneigt,  und  eine  Hinter- 
grundsliteratur,  ausschliefilich  dazu  berufen,  von  niemandem 
als  dem  Gesetz  der  Personlichkeit  dazu  berufen,  die  wenigen 

402 


groBen  Geister  der  folgenden  Generation  zu  befrucMen  und  zu 
erziehen, 

Was  die  Gedichtbiicher  der  neuen  Saison  angeht,  so  wer- 
den  gewifi  weiter  die  Sonnenuntergange  von  der  Liineburger 
Heide  bis  zum  Oetztaler  Alpenmassiv  den  Stoff  liefern  mit  der 
Einteilung:  Liebe  zur  Natur*  Liebe  zu  Gott  und  Liebe  zu  den 
Menschen,  Nicht  weniger  wird  der  Bahnbau  in  Wolhynien, 
sowie  die  Hochofen  der  Ruhr  mit  aktivem  Pathos  besungen 
werden,  negativ  oder  positiv,  je  nachdem,  ob  der  Sanger  mehr 
den  arbeitgebenden  oder  arbeitnehmenden  Schichten  naher 
steht.  Stimmung  und  Gesinnung  sind  ja  nun  einmal  die  Eck- 
pfeiler  der  kleinburgerlichen  Poesie.  Dazu  der  notige  reale 
Gehalt.  Die  konstruktive  Glut,  die  Leidenschaft  zur  Form,  die 
innere  Verzehrung,  das  ist  ja  kein  Gehalt-  Nie  wird  der 
Deutsche  erfassen,  niemand  wird  ihm  gegenstandlich  machen 
konnen  (und  es  ist  ja  auch.  gar  nicht  notig,  daB  es  geschieht), 
dafi  zum  Beispiel  die  Verse  Holderlins  substanzlos  sindf  nahezu 
ein  Nichts,  um  ein  Geheimnis  geschmiedet,  das  nie  ausge- 
sprochen  wird  und  das  sich  nie  enthiillt.  Aber  das  sind  Fi- 
nessen,  das  will  man  nicht  wissen,  heutzutage,  bei  der  Kassen- 
lage,  alle  Mann  an  Bord,  Ihre  Sorge  mochte  ich  habeti,  mein 
Herrt  (iber  die  deutsche  Dichtung! 

Was  unsre  Biihnenkunst  angeht,  so  durften  wir  eben  aus 
einer  einzigen  Zeitungsnummer  crfahren,  dafi  eine  dreiaktige 
Komodie  MDie  Brustwarze"  herauskommt  und  ein  Schauspiel 
„Schlanke  Rotblondinen  gesucht".  Daneben  aber  brauchen  wir 
nicht  unruhig  zu  sein,  dafi  auch  der  muntere  Backfisch  weiter 
den  alt  en  Onkel  verwirrt  und  die  hochbusige  Vierzigerin  sich 
dem  unverbrauchten  Konfirmanden  nahert,  ganz  wie  in  „So- 
doms  Ende",  genau  wie  im  „Schlaraffenland"(  genau  wie  vor 
vierzig  Jahren.  Die  neue  Nuance  wird  sich  ausschliefilich  im 
Lokalkolorit  aufiern:  es  gilt  in  der  neuen  Biihnenkunst  als 
smart,  an  der  Bar,  wahrend  der  Boy  den  Olivencocktail  schiit- 
telt,  in  drei  Apercus  zwischen  Ratschlagen  an  den  Mixer  das 
Facit  von  Lebensausgangen  zu  glossieren,  und  es  gehort  zum 
Stil,  die  geistigen  Vorwande  fiir  die  KuJissenverschiebung  so- 
wie den  Toilettenwechsel  der  Diva  aus  f ernen  Zonen  zu  be- 
ziehen.  Steht  gar  in  einem  Blockhaus  auf  einem  Holztisch  eine 
Whiskyflasche  und  aus  der  rauhen  Goldsucherkehle  entsteigt 
der  Woilustsong,  steht  die  neue  Synthese  aus  Biichner  und 
Kleist  vor  uns  da.  Ob  diese  Produkte  auf  dem  Broadway,  in 
Paris  oder  innerhalb  der  einheimischen  Industrie  entstehen,  ist 
ohne  Belang,  wir  haben  das  schone  Beispiel,  daB,  wahrend  wir 
alle  vergeblich  nach  der  Internationale  der  Politik,  des  Zolls 
und  der  Wirtschaft  verlangen,  die  Internationale  des  litera- 
rischen  Tinnefs  in  hoher  Bliite  unter  uns  steht. 

Hinter  dieser  reinen  Vordergrundsliteratur,  die  auch  in 
der  jetzt  beginnenden  Saison  alien  zum  Trotz  den  Markt,  das 
Geschaft,  die  Zeitungen  und  die  Gesellschaft  beherrschen 
wird,  spielt  sich  jedoch  ein  echter  literarischer  und  welt- 
anschaulicher  Kampf  ab,  steht  eine  Problematik,  die  nament- 
lich  die  junge  Literatur  stark  beschaftigt,  die  ernsthafte  junge 
Literatur,  und  sie  zweifellos  auch  im  kommenden  Winter  in  an- 
betracht   der  Zeitlage  noch  mehr  beschaftigen  wird.     Bringen 

403 


wir  dieses  Problem  auf  eine  kurze  Formulierung,  so  ist  sein 
Inhalt  der  Gegensatz  zwischen  der  kollektivistischen  und  der 
artistischen  Kunst,  Die  Frage,  die  diskutiert  wird,  lautet:  hat 
der  Mensch  bei  unsrer  heutigen  sozialen  und  gesellschaftlichen 
Lage  uberhaupt  noch  das  Recht,  eigne  individuelle  Probleme 
,  zu  empfinden  und  darzustellen  oder  hat  es  nur  noch  kollek- 
tive  Probleme  zu  geben?  Hat  der  Schriltsteller  noch  das 
Recht,  seine  Individualist  als  Ausgangspunkt  zu  nehmen,  ihren 
Ausdruck  zu  verleihen,  darf  er  fur  sie  noch  auf  Gehor  rechnen 
oder  ist  er  vollig  zuruckgefiihrt  auf  seine  kollektiven  Schich- 
ten,  nur  noch  beachtenswert,  ja  interessant  als  Sozialwesen? 
Losen  sich,  —  haben  sich  zu  losen  —  alle  seine  innern  Schwie- 
rigkeiten  in  dem  Augenblick,  wo  er  mitarbeitet  am  Aufbau 
des  gesellschaftlichen  Kollektivs? 

Dieser  Problemkreis  wurde  in  einem  sehr  raffinierten  und 
polemisch  fesselnden  Vortrag  diskutiert,  den  im  Friihjahr  die- 
ses Jahres  hier  bei  uns  der  russische  Schriftsteller  Tretjakow 
hielt  und  dem  das  ganze  literarische  Berlin  zuhorte.  Tretjakow, 
auch  bei  uns  als  Dramatiker  bekannt,  nach  seinem  AuBern 
und  der  Art  seiner  Schilderung  ein  literarischer  Tschekatyp, 
der  alle  Andersglaubigen  in  Rufiland  verhort,  vernimmt,  ver- 
urteilt  und  bestraft.  Es  lohnt  sich,  auf  diese  hochst  aktuelle 
Frage,  die  die  jungen  deutschen  Schriftsteller  so  bewegt,  einen 
Augenblick  einzugehen,  Tretjakow  schilderte,  wie  in  RuB- 
land  wahrend  der  ersten  zwei  Jahre  des  Fiinfjahresplans  im- 
merhin  noch  einige  psychologische  Romane  erschienen,  denen 
das  Schriftstellerkollektiv  auf  folgende  Weise  zu  Leibe  ging. 
Ein  Roman  zum  Beispiel  stellte  dar,  wie  in  einem  Haus,  das 
einem  Burger  enteignet  und  fiir  einen  hohern  Sowjetbeamten 
requiriert  worden  war,  dieser  Sowjetbeamte  zu  trinken  an- 
ting, seinen  Dienst  vernachlassigte,  herunterkam  und  der  alte 
Hauseigentumer  allmahlich  wieder  seine  Zimmer  okkupierte. 
Dies  war  in  abendlandischer,  psychologischer  Manierf  in  her- 
kommlicher  Romanweise,  etwas  imaginar  und  ganzlich  un- 
politisch  geschiidert,  Tretjakow  lieB  den  Autor  bei  sich  er- 
scheinen.  ,,Wo  hast  du  das  erlebt,  Genosse?"  fragte  er  ihn. 
ffIn  welcher  Stadt,  in  welcher  StraBe?"  „Ich  habe  es  gar  nicht 
erlebt/'  antwortete  der  Autor,  ,,das  ist  doch  ein  Roman."  ,fDas 
gilt;  nicht,"  antwortete  Tretjakow,  ,,du  hast  das  irgendwo  aus 
der  Realitat  in  dich  aufgenommen.  Warum  hast  du  das  nicht 
der  zustandigen  Sowjetbehorde  gemeldet,  daB  einer  ihrer  Be- 
amten  infolge  Trunkes  seinen  Dienst  unordentlich  versah  und 
der  Burger  Hausbesitzer  wietder  seine  Raume  beziehen 
konnte?"  Wiederum  antwortete  der  Autor:  „Ich  habe  das  ja 
nicht  in  der  Wirklichkeit  gesehen,  ich  habe  mir  das  zusammen 
getraumt,  zusammengereimt,  gedichtet,  eben  einen  Roman  ge- 
schrieiben."  Darauf  Tretjakow:  t,Das  sind  westeuropaische 
,Individualidiotismen\  Du  hast  verantwortungslos  gehandeit, 
eitel  und  konterrevolutionar.  Dein  Buch  wird  eingestampft 
und  du  wanderst  in  die  Fabrik/'  Auf  diese  Weise,  schilderte 
Tretjakow,  ist  in  RuBland  jede  individualpsychologische  Lite- 
ratur  verschwunden,  Jeder  schongeistige  Versuch  als  lacherlich 
und  bourgeois  erledigt,  der  Schriftsteller  als  Beruf  ist  ver- 
schwunden,  er  arbeitet  mit  in  der  Fabrik,  er  arbeitet  mit  fiir 

404 


den  sozialen  Aufbau,  er  arbeitet  mit  am  Fiinfjahresplan.  Und 
cine  ganz  neue  Art  von  Literatur  ist  im  Entstehen,  von  dcr 
Tretjakow  einige  Beispiele  mitbrachte  und  mit  groBem  Stolz 
vorzeigte.  Es  waren  Bucher,  mehr  Hefte,  jedes  von  einem 
Dutzend  Fabrikarbeitern  unter  Ftihrung  cines  frtihern  Schrift- 
stelLers  verfaBt,  ihre  Titcl  lauteten  zum  Beispiel;  „Anlage  einer 
Obstplantage  in  der  Nahe  der  Fabrik",  ferner:  ,,Die  Durch- 
luftung  des  EOraumes  in  dcr  Fabrik1',  ferner  als  -besonders 
wichtig  von  einigen  Wefkmeistern  verfaBt:  „Wie  schaffen  wir 
das  Material  noch  schneller  an  die  Arbeitsstatten?"  Das  also 
ist  die  neue  russische  Literatur,  die  neue  Kollektivliteraturj 
die  Literatur  des  Fiinfjahrsplans.  Die  deutsche  Literatur  safi 
zu  Tretjakows  FiiBen  und  klatschte  begeistert  und  enthusias- 
miert.  Tretjakow  wird  sich  iiber  dies  en  Beifall  sehr  gefreut, 
wahrscheinlich  aber  auch  amiisiert  haben,  dieser  kluge  Russe 
wuBte  natiirlich  ganz  genau,  daB  er  hier  nur  einen  propagan- 
dist isch  en  Abschnitt  aus  dem  neuen  russischen  Imperialismus 
entwickelte,  wahrend  die  biedern  deutschen  Kollegen  es  als 
absolute  Wahrheit  nahmen.  Als  welche  Wahrheit?  frage  ich 
mich  nun.  Welche  Psychologies  frage  ich  michf  steht  hinter 
dieser  russischen  Theorie,  die  in  Deutschland  so  viele  Junger 
findet? 

Diese  russische  Kunttheorie,  wenn  man  sie  sich  einmal 
ganz  klar  macht,  behauptet  nicht  mehr  und  nicht  weniger, 
als  daB  alles,  was  in  uns,  dem  abendlandischen  Menschen,  an 
Innenleben  vor hand en  ist,  also  unsre  Krisen,  Tragodien,  unsre 
Spaltung,  unsre  Reize  und  unser  GenuB,  das  sei  reine  kapita- 
Hstische  Verfallserscheinung,  kapitalistischer  Trick.  Und  der 
Kiinstler  verarbeite  aus  Eitelkeit  und  Ruhmsucht,  ja  Tretja- 
kow fiigte  in  wahrhaft  kindlicher  Unkenntnis  der  Verhaltnisse 
hinzu:  vor  allem  aus  Geldgief  diese  seine  ffIndividualidiotis- 
men'\  wie  er  es  immer  nannte,  zu  Biichern  und  Dramen.  In 
dem  Augenblick  aber,  wo  der  Mensch  zur  russischen  Revo- 
lution erwacht,  so  behauptet  diese  Theorie,  fallt  das  alles 
vom  Menschen  ab,  verraucht  wie  Tau  vor  der  Sonne  und  es 
steht  da  das  zwar  armliche,  aber  saubere,  das  geglattete  hei- 
tere  Kollektivwesen,  der  Normalmensch  ohne  Damon  und 
Trieb,  beweglich  vor  Lustf  endlich  mitarbeiten  zu  dtirfen  am 
sozialen  Aufbau,  an  der  Fabrik,  vor  allem  an  der  Festigung 
der  roten  Armee,  Jubel  in  der  Brust:  in  den  Staub  mit  alien 
Feinden   nicht   mehr  Brandenburgs,   sondern   Moskaus. 

Ich  frage  nun,  ist  das  psychologisch  wahrscheinlich  oder 
ist  das  primitiv?  Ist  <ler  Mensch  in  seinem  Wesen,  in  seiner 
substantiellen  Anlage,  im  letzten  GrundriB  seines  Ich  natura- 
listisch,  material  ist  isch,  also  wirtschaftlich  begriindet,  wirt- 
schaftlich  gepragt,  nur  von  Hunger  und  Kleidung  in  der  Struk- 
tur  bestimmt  oder  ist  er  das  groBe  unwillkiirliche  Wesen,  wie 
Goethe  sagte,  der  Unsichtbare,  der  Unerrechenbare,  der  trotz 
'  aller  sozialen  und  psychologischen  Analyse  Unauflosbare,  der 
auch  durch  diese  Epoche  materialistischer  Geschichtsphilo- 
sophie  und  atomisierender  Biologie  seinen  schicksalhaften  Weg: 
eng  angehalten  an  die  Erde,  aber  doch  iiber  die  Erde  geht? 

Ich  las  in  diesen  Tagen  von  einem  der  Haupter  der  jun- 
gen  deutschen  Literatur,  das  in  der  vorigen  Saison  eine  Rolle 

405 


spicltc  und  wahrscheinlich  auch  in  der  kommehdcn  sich  be- 
merkbax  zu  machen  versuchen  wird,  den  Satz:  flDas  Ewig- 
Menschliche  wider t  uns  an."  Er  sprach,  da  er  „uns"  sagte, 
also  wohl  im  Namen  einer  Gruppe,  einer  Gesinnuagsschicht, 
wohl  der  wahren  neuen  deutschen  Literatur.  Er  meinte  d'ann 
weiter:  wir  sind  fur  Realitaten,  „organisieren  wir  das  Leben," 
rief  er  aus,  ,,uberlassen  wir,"  fiigte  er  hohnisch  hinzu,  „den 
,tiefen  Schriftstellern  die  tragischen  Probleme;  wir  unsrer- 
seits  wollen  leben!"  Das  ist  also  nun  wohl  die  Tretjakow- 
gruppe  in  Berlin  und  sie  ist  esf  der  gegeniiber  ich  altmodisch 
und  abendlandisch  die  These  aufrecht  zu  er  halt  en  habe,  daB 
durch  Organisation  seiner  Wohnungs-  und  Nahrungsverhalt- 
nisse  der  Mensch  in  seinen  entscheidenden,  das  heiBt  nicht 
etwa  nur  kunst-  umdern  auch  lebensproduktiven  Schichten 
nicht  bestlmmend  verandert  wird.  Mit  „bestimmendM  meine 
ich:  erbmaBig  formandernd,  anlagemaBig  wesenhaft  nicht  ver- 
andert wird.  Auch  wer  nicht  weniger  radikal  als  die  paten- 
tierten  Sozialliteraten  das  nahezu  UnfaBbare,  iast  Vernich- 
tende  unsrer  jetzigen  Wirtschaftslage,  vielleicht  unsres  Wirt- 
schaftssy stems  empfindet,  muB  sich  meiner  Meinirng  nach  doch 
zu  der  Erkenntnis  halten,  daB  der  Mensch  in  alien  Wirt- 
schaftssystemen  das  tragische  Wesen  bleibt,  das  gespaltene 
Ich,  dessen  Abgriinde  sich  nicht  durch  StreuBelkuchen  und 
Wollwesten  auffxillen  lassen,  dessen  Dissonanzen  nioht  sich 
auflosen  im  Rhythmus  «iner  Internationale,  der  das  Wesen 
bleibt,  das  leidet;  das  Hunderttausende  von  Jahren  ein  Haar- 
kleid  trug  und  in  dem  nicht  weniger  tief  und  schmerzhaft  urn 
sein  Menschentum  kampfte  als  heute  in  Buckskin  und  Cheviot. 
Und  selbst  wean  man  die  ganze  Epoche  des  Individualismus 
ausloschen  konnte,  die  ganze  Geschichte  der  Seele  von  der 
Antike  bis  zum  Expressionism  us:  eine  Erfahrung  bliebe  ge- 
geniiber der  innern  Raumlosigkeit  dieser  Tretjakow-Vorstellung 
als  groBe  Wahrheit  durcH*  alle  Saisons,  durch  alle  geschicht- 
lichen  Epochen  bestehn:  wer  das  Leben  organisieren  will, 
wird  nie  Kunst  machen,  der  darf  sich  auch  nicht  zu  ihr  rech- 
nen;  Kunst  machen,  ob  es  die  Falken  von  Aegypten  sind  oder 
die  Romane  von  Hamsum,  heiBt  vom  Standpunkt  der  Kiinstler 
aus,  das  Leben  ausschlieBen,  es  verengen,  ja  es  bekampfenf 
um  es  zu  stilisieren.  Und  noch  eins  wiirde  ich  hinzufiigen, 
etwas  Historisches,  da  dessen  Kenntnis  in  diesen  Kreisen 
offenbar  so  mangelhaft  ist;  der  Kampf  gegen  die  Kunst  ent- 
stand  nicht  in  RuBland  und  nicht  in  Berlin.  Er  geht  von  Plato 
bis  Tolstoi,  Er  ging  immer  von  den  mittlern  Kraften  auBer- 
halb,  aber  auch  innerhalb  des  Kiinstlers  gegen  die  hoheren. 
Alle  Kampf e,  mit  denen  die  heutige  Saison  beginnt,  alles,  was 
die  Tretjakowleute  gegen  die  „tiefen  Schriftsteller"  sagen, 
schrieb  vor  hundert  Jahren  Borne  gegen  Heine,  Heine  gegen 
Goethe.  (Vergleiche  Ludwig  Marcuse:  Das  Leben  Ludwig  Bor- 
nes.  List- Verlag,)  Goethe:  ,,Das  Zeitablehnungsgenie",  wie, Heine 
iltn  nannte.  Goethe:  „Der  Stabilitatsnarr",  wie  Borne  von  ihm 
schrieb.  Goethe,  der  Feind  des  Werdens;  Goethe,  das  trage 
Herz,  das  nie  ein  armes  Wortchen  fiir  sein  Volk  gesprochen; 
Goethe,  der  am  2,  August  1831  ein  en  Besucher  fragte,  was 
er  von  dem  machtigen  Zeitereignis  halte,  alles  sei  in  Garungi 

406 


der  Besucher  antwortete  rait  Ausfiihrungen  iiber  die  Juli- 
revolution,  die  grade  alles  in  Atem  hielt,  woraufhin  Goethe 
sich  indigniert  und  uninteressiert  abwaadte,  denn  er  hatte  an 
einen  wissenschaftlichen  Streit  iiber  die  Entwicklungslehre  ge- 
dacht.  Das  war  also  Goethe,  der  Mann  der  Zuruckhaltung,  des 
MaBes,  des  Selbstschutzes,  namlich  der  Mann  der  Kunst,  dem 
man  es  verdachte,  daB  er  nicht  der  Mann  des  Stammtischs 
war.  Aber  Heine  ging  es  dann  nicht  anders.  Heine  ficht  mit 
Blumen,  schreibt  Borne,  Heinen  ist  es  einerlei,  ob  er  schreibt, 
die  Monarchic  oder  die  Republik  ist  die  bessere  Staatsform, 
er  wird  immer  das  wahlen,  was  in  dem  Satz,  den  er  eben 
schreibt,  grade  den  besten  Tonfall  macht.  Heine,  der  mit 
dem  Asthetenkitzel,  der  immer  nur  die  Frage  bereit  hatte: 
,,Aber  ist  es  nicht  schon  ausgedriickt?"  Heine,  der  den  Ta- 
baksqualm  der  Volksversammlungen  scheut  und  den  SchweiB- 
geruch  der  Subskriptionslisten:  Heine  war  damals  der  Feind, 
der  „tiefe  Schriftsteller"  und  Borne  der  Tretjakowjiinger,  der 
junge  Mann,  den  das  Ewig-Menschliche  anwidert,  Und  nach 
weitern  hundert  Jahren,  wenn  Einer  an  einem  unwahrschein- 
lich  imaginaren  Hertzwellen-Apparat  steht  und  dann  die  Sai- 
son  einleitet,  wird  es  wahrscheinlich  nochmals  so  sein.  Aber 
vielleicht  wird  er  an  unsre  Saison  dann  doch  eine  Frage  rich- 
ten,  Vielleicht  wird  er  dann  doch  sagen,  wo  war  eigentlich 
in  der  damaligen  Krisenzeit  innerhalb  der  jungen  literarischen 
Generation  Jener,  der  der .  nicht  mit  Theorien  und  Redens- 
arten  vorging,  sondern  mit  Substanz  und  Werken?  Wo  war 
eigentlich  das  Gehirn,  das  alle  diese  Stimmungen,  Moglich- 
keiten,  Zuckungen,  Wehen  aufnahm  und  nicht  in  Geschwatz 
und  Feuilletons  reportierte,  sondern  die  Zeit  durch  seine  Exi- 
stenz  zeugend  legitimierte,  der  nicht  tiberall  mitlief,  den  Rum- 
mel  mitmachte,  dabei  war,  sondern  die  Trachtigkeit  zu  der 
Erkenntnis  hatte;  wer  mit  der  Zeit  mitlauft,  wird  von  ihr  tiber- 
rannt,  aber  wer  still  steht,  auf  den  kommen  die  Ding e  zu? 
Vielleicht  wird  er  dann  einen  sehn,  ich  heute  sehe  inn*  nicht. 
Es  miiBte  ja  auch  cin  riesiges  Gehirn  sein,  schon  wegen  der 
Wucht  des  Instichlassens  alles  dessen,  was  bewahrt  und  giltig 
in  unsrer  OHentlichkeit  steht.  Nicht  bloB  Honorare  muBte  es 
im  St  ich  lassen  und  die  Gegenseitigkeit  der  Literaten  und  das 
Sich-bererUStellen  fur  die  Saison,  auch  langes  Schweigen 
miiBte  es  haben  und  langes  Warten  und  Hinwegse'hn  iiber  alle 
St  at  ten  alt  en  Spiels  und  alt  en  Traums,  Salzburg,  Wien,  den 
Kurfurstendamm,  den  ganzen  Erholungs-  und  Amiisierimpres- 
sionismus  erotisiertcr  Schieberschichten  der  letzten  funfzig 
Jahre  miiBten  vor  ihm  versinken,  ja  —  so  melancholisch  es  ist, 
es  auszusprechen,  so  sehrwdas  Wort  zogert  es  zu  tun,  so  sehr 
es  furchtet,y  miBverstanden  zu  werden;  es  miiBte  auch  Paris 
verlassen.  Nie  zu  vergessen,  nie  dankbar  genug  sich  zu  er- 
innern:  die  wahrhaft  groBe  abendlandische  Haltung  der  La- 
tinitat,  die  Frankreich  in  jahrhundertlanger  strengster  dialek- 
tischer  Arbeit  vor  uns  entwickelte  und  uns  hinterlieB;  der  ein- 
zige  geschlossene  geistige  Raum,  in  den  Europa  seit  dem  Hel- 
lenentum  blickte,  Nietzsche  und  die  literarische  Generation 
um  1900  hat  es  uns  als  unvergleichlichen  Besitz  fur  immer 
gerettet,   aber  wir  sind  weiter  gegangen,  haben   mehr  erlebt, 

407 


mchr  aus  uns  hervorgegraben,  mehr  in  uns  herabbeschworen, 
als  dafl  wir  uns  cincn  Ausdruck  bei  der  gesicherten  und  tra- 
ditionell  gebundenen  Form  des  klassisch-antikisierenden  Gei- 
stes  leihen  diirften.  Es  mtiBte  welter  gehn  dies  groBe  Ge- 
hirn:  ganz  gestimmt  auf  die  Fuge  des  neuen  sich  ankiindigen- 
den  Weltgefuhls:  der  Mensck  nicht  mehr  der  dicke  hoch- 
gekampfte  Affe  der  Darwinschen  Aera,  sondern  urspriinglich 
und  primar  in  seinen  Elementen  als  metaphysisches  Wesen 
angelegt,  nicht  der  Zuchtstier,  nicht  der  Sieghafte,  sondern 
der  vom  Anfang  an  Seiende,  der  tragisch  Seiende,  dabei  im- 
mer  der  Machtige  uber  den  Tieren  und  der  Bebauer  der 
Natur. 

Aus  diesem  neuen  Menschheitsgefiihl  wird  die  kommende 
Saison  sich  bilden,  die  vielleicht  nicht  in  diesem  Winter  an- 
bricht  und,  soweit  ich  sehe,  noch  gar  nicht  in  der  literarischen 
Literatur.  Aber  die  Forschung  fuhrt  uns  em  Blick  immer 
weiter  zuriick  auf  Menschengeschlechter,  die  '  vor  Millionen 
Jahren  auf  der  Erde  wohnten,  Geschlechter,  die  einmal  mehr 
Fisch  waren,  einmal  mehr  Beuteltier,  einmal  mehr  Affe,  aber 
immer  Menschen:  Wohnraum  schaffend,  Handwerk  schaffend, 
Gotter  schaffend,  hunderttausendjahrige  Kulturzusammenhange 
schaffend,  die  wieder  vergingen  in  Katastrophen  unter  noch 
ungestirnten  Himmel  und  in  vormondalter  Zeit.  Von  diesem 
Blick  aus,  glaube  ich,  wird  sich  das  neue  Menschheitsgefiihl 
entwickeln,  von  diesem  Blick  aus  wird  der  Individualismus  ab- 
gebaut  werden*  der  |>sychologische  und  intejllektiuali$tische 
unsrer  Tage,  nicht  durch  das  Gekrausel  von  Literaten  und 
nicht   durch   soziale   Theorien. 

Der  uralte,  der  ewige  Mensch!  Das  Menschengeschlecht! 
Unsterblichkeit  innerhalb  eines  schopferischen  Systems,  das 
selber  wieder  Erweiterungen  und  Verwandlungen  unausdenk- 
bar  unterworfen  ist.  Welch  langes  Epos!  Luna,  die  Busch 
und  Tal  ftillte,  ist  der  vierte  Mond,  in  den  wir  sehn!  Nicht 
Entwicklung:  Unaufhorlichkeit  wird  das  Menschheitsgefuhl  des 
kommenden  Jahrhunderts  sein,  —  warten  Sie  in  Ruhe  ab,  daB 
es  sich  nahert,  eines  Tages,  wahrscheinlich  auBerhalb  der  lite- 
rarischen Saison,  werden  Sie  es  sehn. 

Geschaft  und  trotzdem!  von  Rudoit  Amheim 

\V7  enn  einmal  in  einem  Film  ein  Filmkritiker  aufzutreten 
hatte,  so  wiirden  ihn  die  Her r en  von  der  Industrie  etwa 
mit  Alfred  Doblins  Bruder  Hugo  besetzen:  ein  verhutzeltes, 
zusammengekriimmtes  Mannchen,  die  Hande  vor  dem  Bauch 
in  einem  unsichtbaren  Muff  verborgen,  listige,  kurzsichtige 
Auglein,  viel  Bosheit  und  wenig  Seife.  Denn  die  Rotte  der 
Filmkritiker  dient  den  Produzenten  als  lebendiger  Beweis  da- 
fur,  dafi  der  Menschen  Trachten  bose  ist  von  Jugend  an,  Der 
Filmkritiker  waltet  streng  aber  ungerecht,  er  weint,  wenn  er 
lachen  soil,  und  wenn  er  weinen  soil,  so  lacht  er.  Die  Frei- 
karte  in  der  Hand,  zieht  er  aus,  das  Geschaft  zu  verderben. 

In  Wirklichkeit  wird  jeder,  der  es  ernst  mit  der  Filmkunst 
meint,  vor  der  Premiere  eines  neuen  Films  ein  leichtes  Lam- 
penlieber  spur  en,  und  wahrend  er  unruhigen  Auges  liest,  wer 

408 


die  Tonkopie  lieferte,  wer  dem  Regieassistenten  assistierte 
und  wer  den  Aufnahmeleiter  leitete,  denkt  er  nicht  ohne  Herz- 
klopfen:  Mochte  es  doch  einmal  etwas  Gutes  werdcn!  Urn  so 
dankbarer  muB  man  dem  Regisseur  E.  A.  Dupont  sein,  dafi  er 
mit  seinem  Zirkusfilm  „Salto  Mortale"  diese  Hoffnung  endlich 
einmai  wieder  erfiillt.  Dieser  Film  steht  turmhoch  tiber  allem, 
was  wir  in  der  letzten  Zeit  gesehen  haben.  Der  Zirkus,  ein 
Milieu,  in  dem  sich  die  Manuskriptschreiber  von  jeher  bis  zum 
UberdruB  tummeln,  leuchtet,  ifunkelt,  erregt  von  der  ersten 
machtvoll  einsetzenden  Szene  an.  Mit  einer  fast  mono- 
manischen  Besessenheit  bringt  Dupont  in  Hunderten  von  iiber- 
raschenden  Einstellungen  die-  toten  Dinge  zum  Sprechen.  Git- 
terwerk  und  Spiegel,  Glaser,  Geriimpel,  Uniformen  dekorieren 
Menschenschicksale;  in  der  Glasplatte  eines  Bartischs  er- 
scheint  unter  Cocktailglasern  ein  Frauengesicht;  zwischen  den 
Kopfen  zweier  heftig  erregter  Menschen  leuchtet  riesenhaft 
eine  milchweiBe  Ampel;  die  handelnden  Figuren  sind  geborgen 
in  ihrer  Welt,  spielen  nicht  vor  Kulissen  sondern  eingeschmiegt 
in  einen  prachtvoll  ausgeiiillten,  mit  Bedeutun-g  durchsattigten 
Raum,  der  in  hundertfachem  Echo  mittont.  Jeder  Schauspieler 
ist  zu  einer  iiberraschenden  Type  zurechtgeknetet,  die  ein- 
deutig  wie  ein  Plakat  ist,  ohne  herkommlich  zu  sein.  Kurt 
Gerron  als  gespenstisches  Monument  eines  Sonderlings,  halb 
Schildkrote,  halb  Ameisenbar,  hockt  unbeweglich  im  Gestriipp 
einer  Erfinderwerkstatt  Er  braucht  nicht  zu  f, spielen  \  uncf 
das  ist  es,  was  der  Filmschauspieler  vom  Film  verlangen  muB. 
Jede  Filmszene  muB  so  mit  Episoden  besetzt,  so  von  Requi- 
siten  gestiitzt  sein,  daB  der  Schauspieler  nur  dazusein,  anzu- 
sehen  braucht.  Mimen  darf  man  auf  der  Opern-  und  der 
Sprechbiihne.  Der  Wirklichkeitsnahe  der  Photographie  wider- 
spricht  es.  Aber  der  Schauspieler  kann,  im  Interesse  der  Ver- 
standlichkeit,  nur  dann  sparsam  sein,  wenn  die  Bild-  und 
Handlungsmotive  nicht  schweigen  sondern  sprechen,  ihn  wie 
einen  Schwimmer  tragen.  Dies  gelingt  Dupont  begreiflicher- 
weise  bei  den  Chargenspielern  besser  als  bei  den  Hauptdar- 
stellern.  Wo  der  Dialog  einsetzt,  gibt  es  leicht  'Deklamation 
und  falsche  Tone.  Es  ist  fiir  die  Leistungen  der  bewahrten 
Regisseure  im  Tonfilm  charakteristisch,  dafi  sie  Ausgezeich- 
netes  bieten,  soweit  sich  die  Handlung  durch  Bild  oder  Ge- 
rausch  von  der  Oberflache  her  formen  laBt,  dafi  sie  aber  beim 
Wort  leicht  ins  Schiilerhafte  fallen  und  den  Schauspieler  ohne 
Halt  lassen.  Das  ist  schwierig  fiir  Anna  Sten,  leichter  fur  eine 
so  stabile  Figur  wie  Reinhold  Berndt,  dessen  neues  Gesicht 
sich  sogleich  einpragt.  Diese  hohlen  Proletarieraugen,  zwi- 
schen schiefen  Backenknochen  wie  in  einen  Blumentopf  ein- 
gepflanzt,  diese  natiirliche  Eckigkeit  und  Schwere,  das  scharfe 
Krahen  dieser  Stimme  —  da  hat  Dupont  einen  guten  Griff  ge- 
tan.  Wie  denn  uberhaupt  sein  Film  alle  Aufmerksamkeit  der 
Kinofreunde  verdient.  Um  zahlreiche  Beweise  der  Teilnahme 
wird  gebeten  . .  . 

.  . .  wie  Max  Adalbert  in  der  ,,Schlacht  von  Bademiinde" 
sagt.  Bekiimmert,  und  durch  einen  goldenen  Feuerwehrhelm 
der  Situation  Rechnung  tragend,  kampft  er  gegen  eine  Ober- 
schwemmung  von  Matrosen  und  Infanteristen,  die  in  ihrer  be-  ' 

409 


liebten  rauhen  Art  das  voa  .Vandevelde  vorgeschriebene  Vor- 
spiel  zur  Vergattung  mit  Blasmusik  und  Pauken  auffiihren. 
Selbst  Adele  Saradrocks  diirrer  Kassandra-Arm  kann  hier  nicht 
Einhalt  gebieten,  dcnn  das  selbstgebastelte  Kriegsschiff  der 
Ufa,  jener  Potemkinsche  Panzcrkreuzer,  von  dem  hicr  nculich 
die  Rede  war,  war  offenbar  durch  die  ,,Bomben  auf  Monte 
Carlo"  noch  nicht  geniigend  amortisiert,  und  so  gab  es  fur  die 
Matrosen  aufs  Neue  Landurlaub,  diesmal  in  einem  weniger 
eleganten,  von  Max  Adalbert  mit  dem  Artikel  48  regierten 
Badeort.  (Wahrend  in  der  gleichen  Woche,  als  ein  leuchtendes 
Gegenbeispiel  zionistisch-nationalistischer  Rassentheorien  Sieg- 
fried Arno  mit  Matrosenmiitze  am  Steuerrad  debiitierte.  Man 
soil  die  Marine  nicht  an  die  Wand  malen!)  Was  fur  einen  Ko- 
modienstoff  konnte  so  ein  Badeort  abgebeii!  Hatte  sich  doch 
der  Produktionsleiter,  Herr  Ulrich,  statt  in  die  stickige  Luft 
der  Kostiimkammer,  in  der  die  Filmtypen  eingemottet  liegen, 
fiir  vier  Wochen  an  die  deutsche  Ostsee  begeben! 

VerpaBte  Chancen  innerhalb  der  durch  den  Geschmack 
des  Massenpublikums  vorgezeichneten  Grenzen,  Dazu  noch 
zwei  Beispiele;  Wochenschau  und  Kabarett-Film.  Nun  haben 
wir  auch  in  Berlin  ein  Wochenschau-Kino,  aber  es  bringt 
nichts  andres  sondern  nur  mehr  als  wir  aus  dem  Vorprogramm 
gewohnt  sind.  Soil  die  Wochenschau,  dieser  Liebling  des 
Publikums,  immer  weiter  ein  zusammengewiirfelter  Haufen 
von  Bildern  bleiben,  schema tisch  eingeengt  durch  langweilige 
Zwischentexte?  Welch  eine  Aufgabe  fiir  geschickte,  intelli- 
gente  Monteure  solches  Material  durcheinander  zu  schneiden, 
durch  lebhaften  Begleitspruch  zu  beleben,  Beziehungen  inhalt- 
licher  oder  rein  bildlicher  Art  zwischen  Heterogenem  herzit- 
stellen,  den  koketten  Bernard  Shaw  mit  den  hohnisch  lachen- 
den  Vogeln  von  Port  Elizabeth  zu  konirontieren  und  die  Ein- 
geborenentanze  der  Kolonialausstellung  mit  Reinhardts  feier- 
lichen  Salzburger  Choren,  Und  was  alles  lieBe  sich  mit  dem 
Filmkabarett  machen!  In  Kurt  Gerroiis  Ufa-Kurzfilmen  wird 
die  Biihne  abphotographiert.  Die  Kamera  ist  gefesselt  wie  vor 
zwanzig  Jahren.  Bedauernswerte  Stimrhungssanger,  aufge- 
scheuchte  Humoristen,  blasse  Jazzbandparaden,  und  alle  zwei 
Minuten  fallt  leibhaftig  der  Vorhang.  Wahrend  doch  hier,  wo 
es  keine  Bindung  durch  ,tHandlung"  gibt,  Feuerwerke  der 
Kamerakunst  abgebrannt  werden  konnten. 

Eine  Chance  ausgenutzt  haben  Wilhelm  Thiele,  S.  Fodor 
und  Kurt  Siodmak  in  ihrer  pariser  Arbeit  tiDer  Ball".  Hier 
kann  die  beruhmte  Kochin  aus  Treuenbrietzen  fiir  ihr  Ein- 
trittsgeld  lachen,  ohne  dafi  ihre  anspruchsvollere  Dienstherr- 
schaft  unter  Protest  das  Kino  verlassen  miiBte.  Dies  leicht- 
gefiigte  Rondo  gipfelt,  zwischen  happy  beginning  und  happy 
end,  in  dem  eindrucksyollen  Bilde  eines  leeren,  prunkvollen 
Tanzsaals,  belebt  durch  den  einsamen  Galgenhumor  eines 
abenteuerlichen  Tanzerpaars,  begleitet  durch  den  Gelachter- 
chor  der  umsonst  bestellten  Dienerschaft,  den  Werner  R.  Hey- 
mann  sehr  tongerecht  in  die,  Melodie  der  Tanzmusik  em- 
arbeitet.  Dies  durchaus  nicht  vpllig  makellose  Lustspiel  ist 
dennoch  fiir  das  Pufolikum  ein  Vergniigen  und  fiir  alle  Pro- 
duktionsleiter ein  kleines  Lehrstiick. 

410 


UFA  UOd  Alltoren  von  Max  Magnus 

„Im  Verfolg  von  Pressemeldungen,  nach  denen  sich  Filmschrift- 
steller  in  ihrer  Eigenschaft  als  Vermittler  von  Stoffen  geschadigt  ftih- 
len,  bitten  wir  Sie,  zur  Kenntnis  zu  nehmen,  daB  die  UFA  das  Agen- 
ten-  und  Provisions-Unwesen  aufs  energischste  bekampft  .  Die  UFA 
schlieBt  stets  nur  direkte  Vertrage  ab,  so  daB  wir  Ihnen  dankbar 
waren,  wenn  Sie  Filmbearbeitern  auf  die  Behauptung  hinf  sie  konnten 
einen  Stoff  bei  der  UFA  unterbringen,  keine  Optionen  mehr  einrau- 
men  wiirden/1 

FVes  ist  der  genaue  Wortlaut  eines  Schreibens  an  fiihrende 
•deuische  Verleger  und  stellt  die  einzige  greifbare  Antwort 
dar,  zu  der  sich  die  UFA  auf  meine  in  der  ,Weltbuhne*  am 
11.  August  erhobenen  schweren,  sachlich  begriindeten  Anschul- 
digungen  gegen  ihre  Dramaturgische  Abteilung  am  2.  Septem- 
ber bequemte.  Dieses  Rundschreiben  ist  eine  Ablenkung 
von  Tatsachenf  denn  keiner  der  von  mir  aufgefiihrten  Autoren 
hat  auch  nur  in  irgend  einer  Form  Provision  fiir  die  Zubringung 
eines  Filmstoffes  verlangt  noch  erhalten.  Es  ist  ferner  der 
Versuch,  sich  fur  weitere  Aufdeckungen  von  Verfehlungen  ihrer 
Dramaturgischen  Abteilung,  die  sich  auch  liber  das  zurzeit  in 
Arbeit  beiindliche  Produktionsprogramm  der  UFA  erstrecken, 
Deckung  zu  konstruieren.  Dadurch  will  die  UFA  anscheinend 
von  sich  aus  Material  zu  einer  Gegenerklarung  zur  Hand  ha- 
ben,  die  fiir  AuBenstehende  begriindet  erscheint.  In  Wahrheit 
stellt  dieser  Brief  an  die  Verleger  eine  bedenkliche  Tauschung 
iiber  den  wirklichen  Tatsachenkern  meiner  Anschuldigungen 
dar.  In  fast  traditioneller  Abneigung  der  Filmindustrie  gegen 
Originalstoffe  verlangt  die  UFA  wie  fast  alle  iibrigen  deutschen 
Filmfirmen  dmmer  wieder  nur  erfolgreiche  Novellen,  Romane 
oder  Theaterstiicke,  die  ein  Kassengeschaft  eben  durch  ihre 
Erfolgsstatistik  auch  als  Filmprodukt  garantieren.  Bei  dem 
Erwerb  derartiger  Stoffe  bedient  sich  aber  die  UFA  auch 
nachweisbar  sogenannter  gewerbsmaBiger  „Stoffvermittler'\ 
Dieser  UFA-Brief  an  die  Verleger  also  scheint  nur  darauf  hin- 
zuzielen,  jedes  Angebot  eines  zur  Verfilmung  geeigneten  Stof- 
fes  als  Versuch  einer  Provisionsvermittlung  zu  denunzieren. 
Seit  Jahren  ist  es  innerhalb  der  Filmindustrien  Amerikas, 
Deutschlands,  Frankreichs  und  Englands  handelstiblicher  Brauch, 
daB  Autoren  mit  dem  Hinweis  auf  fremde  Filmstoffe  Anrecht 
auf  einen  Manuskriptauftrag  erwerben.  Und  davon  miissen  die 
meisten  Filmautoren  leben,  da  die  Filmindustrie  fiir  frei  erfun- 
dene  Originalstoffe  selten  Verstandnis  hat  und  haben  will,  die 
auch  bestenfalls  nur  von  einem  versierten  Dramaturgen  ver- 
standen  und  richtig  gewiirdigt  werden.  Das  aber  ist  nicht  aus- 
schlaggebend,  da  erst  die  nachfolgenden  Instanzen,  Produk- 
tionsleiter,  Verleiher  etcetera,  iiber  den  Ankauf  eines  Stoffes 
entscheiden  und  selten  imstande  sind,  aus  einem  kurzen  Film- 
exposd  allein  seinen  richtigen  Wert  zu  erkennen.  Die  Schuld, 
daB  produktive  Autoren  mit  kiinstlerischem  Ehrgeiz  nicht  eigne 
sondern  fremde  Stoffe  zur  Verfilmung  anbieten  miissen,  liegt 
also  bei  der  Industrie,  bei  der  UFA  selber  und  nicht  bei  denen, 
die  dazu  genotigt  wurden.  Die  Aufforderung  der  UFA  an  die 
Verleger,   keine   Optionen  mehr  an  Filmschriftsteller   zu  ver- 

411 


geben,  ist  ein  rticksichtsloser  Eingriff  in  die  Existenz  und  Ta- 
tigkcit  der  Autoren,  der  andern  Produzenten  und  Verleger. 

Andrerseits  hat  ja  die  UFA  durch  ihr  Verhalten  bewiesen, 
daB  es  ihr  vollig  gleichgiiltig  ist,  ob  Autoren  im  Besitz  von  Op- 
tionen  sind  odcr  nicht.  Die  Dramaturgische  Abteilung  hat 
Autoren  aui  die  Suche  nach  Filmstoff  en  geschickt  und  hat  dann 
unter  Umgehung  dieser  beauftragten  Autoren  diei  Optionen 
der  ausgesuchten  Stiicke  erst  nach  ihrem  Ablauf  direkt  vom 
Verlag  erworben.  Sie  hat  sich  Filmideen  ausarbeiten  und  diese 
spater  unter  Ausschaltung  des  eigent lichen  Urhebers  von  an- 
dern bearbeiten  lassen.  Sie  hat  Schindluder  mit  materiell 
Schwachern  getrieben  und  sie  nach  Willkiir  ausgebeutet.  Es 
steht  mir  reiches  Material  dariiber  zur  Verfiigung,  wie  das  ge- 
schehen  ist  und  in  was  fur  Not  sie  die  Geschadigten  gebracht 
hat.  Denn  die  UFA  ist  nicht  nur  die  groBte,  deutsche  sondern 
auch  die  groBte  europaische  Filmgesellschaft  und  ist  kraft  ihrer 
internationalen  Beziehungen  imstande,  eine  auf  den  Film  ge- 
griindete  Existenz,  wenn  auch  nicht  vollends  zu  ruinieren,  so 
doch  empfindlich  zu  schadigen.  Gegen  die  Interessen  der  deut- 
schen .  Kinobesitzer  ist  es  ihr  durch  Beziehungen  zu  ein* 
fluBreichen  Stellen  gelungen,  einen  gesetzlichen  Filmeinfuhr- 
schutz,  kurz  Kontingent  genannt,  herbeizufiihren,  der  ihr  ein 
Monopol  auf  dem  Gebiet  der  Fabrikationt  des  Verleihs  und  Ver- 
triebs  und  auch  des  Theatergeschafts  sichert.  Gegen  diese  iiber- 
machtige  Organisation  haben  also  Autoren  offentliche  Auf- 
lehnung  gewagt,  die  Gefahr  des  Boykotts,  des  Ruins  ihrer  Exi- 
stenz dadurch  heraufbeschworen.  Denn  wie  ist  im  allgemeinen 
die  Lage  der  deutschen  Filmautoren?  Der  Autor  lebt  fast  immer 
im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  von  der  Hand  in  den  Mund.  Hat 
er  keinen  Auftrag,  dann  hat  er  auch  kein  Geld,  da  das  vorher 
verdiente  Geld  erst  langsam  in  Ratenzahlungen,  Wechseln  etce- 
tera hereinkommt,  1st  er  aber  nach  vielen  fehlgeschlagenen 
Arbeiten  und  Bemuhungen  im  Besitz  eines  Auftrags,  so  reicht 
das  Geld  bestenfalls  dazu,  um  tagliche  Ausgaben  und  alte 
Verpflichtungen  zu  bestreiten,  da  die  Restzahlungen  wieder 
erst  auf  dem  erbarmlichen  Teilzahlungsweg  hereinkommen. 

Von  interessierter  Seite  sind  meine  schweren  Anschuldi- 
gungen  gegen  die  Dramaturgische  Abteilung  der  UFA  als  Hetze 
dargestellt  worden.  Dies  war  und  ist  nie  der  Sinn  meiner 
Ausfuhrungen  gewesen,  Ihr  Ziel  ist  nur,  'die  maBgebenden  Per- 
sonlichkeiten  der  UFA  auf  Verfehlungen  und  MiBstande  in  der 
Dramaturgischen  Abteilung  aufmerksam  zu  machen. 

In  der  Geschichte  groBer  und  fiihrender  Unternehmungen 
steht  das  Verhalten  der  UFA  derartigen  Anschuidigungen  ge- 
geniiber  einzigartig  da.  Denn  es  gab  darauf  nur  eine  Antworh 
Klarung  um  jeden  Preis,  sei  es  auf  Grund  eines  zivil-  oder 
strafrechtlichen  Prozesses,  Entweder  Klage  gegen  mich  —  oder 
Aufforderung  zur  Vorlage  und  Einsichtnahme  meiner  Unter- 
lagen,  die  eine  vollkommene  Um-  und  Neti-Besetzung  der  UFA- 
Dfamaturgie  riach  sich  ziehen  miissen. 

Statt  -  dessen  hat  man  Mittel  angewandt,  dereri  sich  ein 
Uriteriiehmen  wie  die  UFA  schamen  sollte.  Dabei  hat  der 
verantwortliche  PToduktiorisdirektor  der  UFA  Ernst  Hugo 
Cor  ell,  iiber  mich  Unwahrheiteh  verbreitet.    Und  als  mein  Kol- 

412 


lege  Paul  Marcus  (Pern)  auf  Grund  ernes  Interviews  mit  leiten- 
den  Personlichkeiten  der  UFA  und  nach  Einsichtnahme  in  mein 
Material  im  ,Montag  Morgen*  sich  offentlich  gegen  das  Ver- 
bal ten  der  UFA  wandte  und  Klarung  verlangte,  hat  die  UFA 
ihren  Pressechef,  Heinrich  Pfeiffer,  in  den  Verlag  geschickt 
und  versucht,  Marcus  um  seine  Existenz  zu  bringen. 

Ich  gebe  nunmehr  ein  paar  andre  Falle,  die  wiederum  ad 
libitum  fortzusetzen  waren  . .  . 

AnmaBender  Feldwebelton  und  rucksichtsloser  Machtdiin- 
kel  zeigt  sich  in  dem  Briefwechsel  mit  einem  Autor,  der  die 
UFA-Dramaturgie  sehr  hoflich  darauf  aufmerksam  machte,  dafi 
sein  bereits  im  Filmregister  einer  Filmfachzeitung  geschiitzter 
Titel  „Meine  Frau,  der  Doktor"  groBe  Ahnlichkeit  mit  dem 
Titel  eines  UFA-Films  ,,Meine  Frau,  die  Hochstaplerin"  auf- 
weise.  "„Wir  sind  uns  im  Zweifel,  ob  Ihr  Schreiben  vom  12. 
dieses  Monats  auf  einem  Scherz  oder  auf  Unkenntnis  der  deut- 
schen  Sprache  beruht.  Da  wir  zunachst  das  Letztere  anneli- 
men,  weisen  wir  Sie  darauf  hin,  daB  die  Worte:  ,Die  Hoch- 
staplerin' und  fder  Doktor*  sprachlich  verschiedene  Begriffe 
sind.  Wir  sehen  deshalb  einer  Unterlassungsklage  in  Ruhe 
entgegen."  Abgesehen  davon,  daB  der  Brief  des  Autofs  in 
auBerst  hoflichem  Ton  gehalten  war  und  keinerlei  Klage- 
androhungen  enthielt,  ist  die  Antwort  der  UFA  hochst  unsach- 
lich,  denn  beide  Titel  sind  in  ihrer  Wirkung  durchaus  gleich. 

Nichts  Neues  in  der  Koch-StraBe.  Mit  der  Devise:  MGut 
geklaut,  dst  halb  gelungen!"  wird  in  der  UFA-Dramaturgie  also 
weiter  gearbeitet.  Im  Zusammenhang  damit  gewinnt  das  Preis- 
au&schreiben  der  UFA  in  der  Scherlschen  ,Woche*  an  Bedeu- 
tung,  Denn  dieses  Preisausschreiben  gibt  den  festbesoldeiten 
Handlangern  der  UFA-Dramaturgie  Einblick  in  fremde  Expo- 
ses und  Filmideen,  die,  wenn  sie  als  nUnverwertbar"  zu- 
ruckgesandt  werden  sollten,  auch  ohne  „dolus"  und  nachweis- 
bares  Plagiat  in  spatern  Bearbeitungen  andrer  Manuskripte 
wieder  auftauchen  konnen.  Immer  wieder  wird  von  Seiten 
der  Autoren,  und  das  nicht  ohne  Berechtigung,  behauptet,  daB 
Herren  aus  der  Dramaturgischen  Abteilung  aus  ihren  Exposes 
Details,  Einzel-Szenen  und  Ideen  in  ihren  Manuskripten  ver- 
wandt  haben,  die  natiirlich  als  Plagiate  in  den  seltensten  Fal- 
len nachgewiesen  oder  beiangt  werden  konnen. 

Mit  welch  rucksichtslosem  Machtdiinkel  die  Dramaturgic 
im  BewuBtsein  ihres  Monopols  arbeitet,  geht  eindeutig  aus  dem 
Fall  des  Schriftstellers  H.  R.  Berndorff  hervor.  Vor  ungefahr 
einem  Jahr  kiindigte  sie  einen  Film  unter  dem  Titel  seines 
Buches  ,iSpionage"  an.  Die  Handlung  entsprach  ungefahr 
der  Berndorffschen  Artikelserie  „Mademoiselle  Docteur". 
Man  hatte  also  wieder  einmal  versucht,  ohne  irgend  welche  Ber 
sitzrechte  einen  fremden  Stofl  zu  annektieren,  Berndorff 
muBte  erst  gegen  die  UFA  ProzeB  fiihren,  um  ihr  zu  beweisen, 
daB  ihre  Handlung  rechtswidrig  war.  Er  und  sein  Verleger 
flatten  namlich  der  UFA  „MademoiselIe  Docteur''  zur  Verfil- 
mung  angeboten.  Und  als  die  UFA  bereits  den  Film  drehte, 
weigerte  sie  sich,  das  Honorar  zu  zahlen.  Sie  begrundete  das 
mit  der  Erklarung,  daB  alles  j.geschichtlich1*  und  der  Titel  des 
Berndorffschen  Buches  f!Spionage"  nicht  geschiitzt  ware. 

413 


Beunruhigend  wirken  auch  dieVorwiirfe  der  Fihnschrift- 
stcllerin  Margarete-Maria  Langen  gegen  den  Chefdramaturgen 
dcr  UFA,  Herrn  PodehL  Sic  hattc  mit  dem  Filmautor  Max  Jungk 
im  Bureau  dcr  Terra-Filmgesellschaft  (iber  ihrc  Filmoperctte 
„Scheidungsfieber"  gesprochen.  Jungk  hattc  scin  Intcretsse  fur 
diesen  Stoff  bektuklet  und  wollte  ihn  zusammen  mit  Frau  Lan- 
gen  fur  die  UFA  schreiben.  Auf  seine  Veranlassung  hin  sandte 
sic  ihm  und  Podehl  ihr  Expose  am  18.  April  1930.  Podehl 
schickte  es  ihr  am  20,  Mai,  einen  Monat  spater,  zurtick.  Doch 
ganz  unerwartet  bckam  Frau  Langen  ein  Jahr  spater,  am 
13.  Mai  1931,  die  erneute  Aufforderung  von  Podehl,  ihm  das 
gleiche  Expose  zur  Verfiigung  zu  stellen.  Noch  am  selben 
Tagc  sandte  sie  es  an  die  UFA  ab  und  crhiclt  es  am  9.  Juli 
zuriick.  Kurz  darauf  erfuhr  sie  durch  Zeitungsnotizen,  daB 
Jungk  fiir  die  UFA  ein  Manuskript  „Sein  Scheidungsgrund" 
geschrieben  hattc,  das  im  Wesentlichen  dem  Inhalt  ihrer  der 
UFA  eingereichten  Operettc  „Scheidungsfieber"  entsprach. 
Was  ging  davor?  Warum  tciltc  Podehl  Frau  Langen  nicht  mit, 
daB  die  UFA  bercits  vor  dcr  Einreichung  ihr  as  Manuskripts 
einen  ahnlichen,  wenn  nicht  gieichen  Stoff  erworben  hatte? 
Warum  lieB  sich  Podehl  nochmals  am  13.  Mai  dieses  Jahres 
das  gleiche  Expose  geben? 

Im  ubrigen  erhebt  Frau  Langen  ernsthaft  Vorwiirfe  gegen 
die  UFA  wegen  Verwendung  von  Details,  Bildeinfallen  und 
sogar  Schlagertexten.  aus  den  Exposes,  die  sie  der  UFA  ein- 
reichte  und  als  .Ainverwendbar1'  zurtickerhielt, 

Emporend  ist  das  Veirhalten  der  UFA-Dramaturgie  gegen- 
iiber  dem  Biihnenautor  Carl  Gustav  von  Negelein.  Er  ist  von 
dcr  Dramaturgen-Clique  d«r  UFA  schwer  geschadigt  und  aus- 
genutzt  worden.    Er  schrcibt  wortlich: 

„Ich  fuhle  roich  durch  die  UFA,  speziell  durch  die  Herren  Lieb- 
mann  und  Podehl,  sowohl  pekuniar  als  auch  rein  kunstlerisch  schwer 
geschadigt.  Das  Nahere  ergeben  folgende  Belege.  Ich  komme  erst 
jetzt  dazu,  die  Sache  aufzurollen,  da  ich  in  letzter  Zeit  schwer  herz- 
leidend  gewesen  bin,  auch  sehe  ich  in  dem  kurzlich  erschienenen 
Artikel  gegen  die  UFA  und  in  dem  gemeinsamen  Vorgehcn  mehrerer 
Schriftsteller,  die  sich  in  ahnlicher  Lage  wie  ich  befinden,  gegen  die 
UFA  erst  eine  Moglichkeit,  meine  Anspruche  gegen  die  stets  rigoros 
vorgehende  und  wirtschaftlich  so  bedeutend  uberlegene  groBe  Film- 
Aktiengesellschaft  mit  einer  gewissen  Aussicht  auf  Erfolg  vertreten  zu 
konnen.  —  Der  beiliegende  Vertrag  fur  Kurzfilme  hatte  mir  noch 
1400  Mark  eingebracht.  —  Derselbe  ist  aber  von  Herrn  Podehl  direkt 
sabotiert  worden.  „Ich  fahr'  mit  Dir  nach  Teheran"  sollte  6000  Mark, 
davon  4000  Mark  fur  mich  bringen.  Ich  bin  der  Ansicht,  dafi  mich  die 
UFA  widerrechtlich  urn  diese  Summe  gebracht  hat,  da  ich  am  Nicht - 
zustandekommen  des  Films  schuldlos  bin  und  eine  erhebliche  Arbeit 
geleistet  habe!  „Herzog  Lehmann"  (ein  von  Negelein  der  UFA  ein- 
gereichtes  Manuskript.  Die  Redaktion)  wurde  mir,  nachdem  der  Stoff 
allgemein  gefallen  und  schon  auf  dem  Atelierplan  gestanden  hatte, 
wohl  auf  Herrn  Liebmanns  Betreiben,  wieder  zuruckgesandt.  Dafur 
kam  ein  Film  „LiebeswalzerM  von  Herrn  Liebmann  heraus.  (Ich  habe 
den  Film  nicht  gesehenf)  Zwei  ganzlich  voneinander  unabhangige  Film- 
stellen  haben  erklart,  die  beiden  Stoffe  hatten  starke  Ahnlichkeit.  — 
Auch  dadurch  fuhle  ich  mich  stark  geschadigt.  —  Meines  Erachtens 
bin  ich  ledigltch  durch  den  Brotneid  des  Herrn  Liebmann,  der  Ma- 
nuskriptschreiber  und  Chefdramaturg  in  einer  Person  ist  oder  de  facto 

414 


war,  aus  der  UFA  verdrangt.  Herr  Podehl,  durch  Herrn  Liebmann 
in  die  UFA  gebracht,  ist  lediglich  als  Werkzeug  des  Herrn  Lieb- 
mann  anzusehn.  Ich  fiihle  mich  urn  etwa  9400  Mark  geschadigt.  — 
Um  wieviel  ich  geschadigt  wurde,  indem  man  mich  aus  der  UFA  her- 
ausdrangte,  ist  kiinstlerisch  und  pekuniar  unbegrenzt,  da  der  Autor 
eines  UFA-Films  bestimmt  weitere  Filme  in  Auftrag  bekommen  hatte. 
Es  sei  erwahnt,  daB  Herrn  Liebmanns  Tatigkeit  mit  72  000  Mark  im 
Jahr,  wie  es  heifit,  honoriert  wird,  Hieraus  lassen  sich  unschwer 
Ruckschliisse  Ziehen,  warum  Herr  Liebmann,  bzw.  dessen  Protege,  einen 
andern  Autor,  wenn  angangig,  nicht  aufkommen  laCt.  Die  rucksichts- 
lose  skandalose  Behandlung,  die  mir  zuteil  wurde,  ist  in  der  UFA 
ganz  besonders  in  der  Aera  Liebmann-Podehl  etwas  Selbstverstand- 
liches.  Wenn  ich  so  toricht  war,  mich  mit  einer  Summe  wie  400  und 
500  Mark  fur  wochenlange  Arbeit  abfinden  zu  lassen,  so  hat  mich 
speziell  Herr  Liebmann,  wie  ich  zu  beeiden  bereit  bin,  damtt  gekodert, 
indem  er  sagte:  „Sie  wollen  doch  noch  weiter  mit  uns  arbeiten".  Wenn 
ich  das,  was  ich  heute  weiB,  damals  gewuBt  hatte,  ware  ich  nie  auf 
diesen  Schmus,  der  nie  ernst  gemeint  war,  wie  ich  beweisen  kann, 
hereingefallen/' 

Zu  diesen  Anschuldigungen,  die  wohl  die  schwerwiegend- 
stcn  sind,  die  der  Dramaturgischen  Abtedlung  einer  Firma  von 
Weltruf  gemacht  werden  konnen  und  fiir  die  Herr  von  Nege- 
Iein,  genau  so  wie  die  andern  geschadigten  und  hintergangenen 
Autoren  eintritt,  habe  ich  nichts  mehr  hinzuzufiigen,  Sie 
sprechen  fiir  sich  selbst. 

Der  Schriftsteller  Ernst  Wolff  auBert  sich  in  einem  aus- 
fiihrHchen  Schreiben,  dessen  schwere  substanziierte  Vorwiirfe 
gegen  diese  Abteilung  aufzuzahlen,  zu  weit  fuhren  wiirde: 
,,Lasciate  ogni  speranza  voi  che  entrate!"  „Ich  lasse  sie  (die 
Hoifnung)  drauBen  und  trete  nicht  mehr  ein,  wenigstens  nicht 
in  diese  Dramaturgische  Abteilung!" 

Zum  SchluB  sei  noch  einmal  an  die  Vorgeschichte  des  UFA- 
Films  „Fl6tenkonzert  von  Sanssouci"  erinnert,  Professor 
M.  L.  Goldis  wollte  ursprtinglich  einen  kulturhistorischen  Film 
fiir  die  Kulturfilm-Abteilung  der  UFA  machen,  wurde  dann 
aber  von  Doktor  Johannes  Brandt,  der  die  gleiche  Idee  der 
UFA-Dramaturgie  vorschlagen  wollte,  darauf  gebracht,  einen 
abendfulleriden  Film  gleichen  Inhalis  mit  ihm  gemeinsam 
zu  machen.  Professor  Goldis,  einer  der  hervorragendsten 
Viola  d'Amore-Spieler  (eine  Art  Bratsche),  sollte  die 
musikalische  Leitung  und  auBerdem  die  Rolle  des  italieni- 
schen  Komponisten  Toeschi  erhalten.  Trotzdem  die  UFA  mit 
Goldis  einen  Vertrag  hatte,  wurde  er  bei  der  Herstellung  des 
„Flotenkonzerts"  ausgeschaltet  und  muBte  sich  erst  sein  Recht 
in  einem  SchiedsgerichtsprozeB  holen, 

Wie  ich  bereits  eingangs  erwahnte,  hat  die  UFA  die  schwe- 
ren,  durch  Unterlagen  gestiitzten  Anschuldigungen  in  meinem 
ersten  Artikel  zu  bagatellisieren  versucht,  Man  versucht  auch 
weiter,  durch  unwiirdige  Manover  von  den  Tatsachen  abzulen- 
ken.  Wann  wird  endlich  die  maBgebende  und  verantwortliche 
Personlichkeit  an  der  Spitze  der  UFA,  mit  deren  Namen  der 
Aufstieg  der  UFA  aufs  engste  verbunden  ist,  wann  wird  end- 
lich Herr  Ludwig  Klitzsch  zu  diesem  moralischen  Debakel  sei- 
nes Unternehmens  offentlich  Stellung  nehmen?  Diese  Genug- 
tuung  ist  er  den  geschadigten  und  betrogenen  Autoren  zum 
mindesten  schuldig. 

415 


SchnipSel   von  Peter  Panter 


VV/enn  die  Maschinen,  die  die  Menschen  so  im  Lauf  der  Zeit  erfun- 
"     den  haben,  nun  auch  noch  funktionierten:  was  ware  das  fur  ein 
angenehmes  Leben  — ! 

Langweilig  ist  noch  nicht  ernsthaft. 

Er  trug  sein  Herz  in  der  Hand,  und  er  ruhte  nicht,  bis  sie  ihm  aus 
der  Hand  fraB. 

Die  beste  Ubersetzung  fiir  puella  publica,  die  mir  bekannt  ist, 
heifit:  Vorfreudenmadchen. 

Erwarte  nichts.     Heute:  das  ist  dein  Leben, 

■  * 

Es  gibt  Zeiten,  wo  es  fiir  den  Schriftsteller,  der  da  wirken  will, 
nicht  gut  ist  zu  schreiben.  Wo  das  Geklapper  der  Schreibmaschine 
nicht  so  wichtig  ist  wie  das  Tick-Tack  des  Maschinengewehrs,  Doch 
tackt  dieses  nur  nach,  was  jene  ihm  vorgeschrieben  hat, 

* 

Man  stelle  sich  vor,  Friedrich  Nietzsche  ware  gestorben,  ohne  An- 
gehorige  zu  hinterlassen.  Und  man  stelle  sich  vor,  Freunde  hatten  sein 
Werk  in  Obhut  genomraen.  Und  es  kame  dann  eine  Frau  gegangen, 
eine  Frau  Forster ,  Lieschen  For ster,  die  sagte :  „Ich  mochte  das 
Nietzsche-Archiv  verwalten!"  —  Was  hatten  die  Freunde  gesagt? 
Nichts  hatten  sie  gesagt.  Man  hatte  die  Achseln  gezuckt  und  ge- 
schwiegen;  eine  arme  Person 

Nun  aber  ist  Lieschen  die  Schwester.  Und  nun  darf  sie.  Sie  darf 
den  NachlaB  Nietzsches,  seine  Briefe,  seine  Zettel  verwalten  und 
sie  verwaltet  sie  so,  wie  wir  wissen.  Genutzt  hat  es  ihr  nichts. 
Nietzsche,  der  wahre  Nietzsche,  ist,  hauptsachlich  durch  Andler,  be- 
kannt geworden  —  trotz  dieses  Archivs. 

Aber  ist  dieses  Urheberrecht  nicht  eine  Schande  —  ein  Recht,  das 
geistige  Werte  wie  einen  Kaseladen  vererbt?    Es  ist  eine  Schande. 

* 

Wenn  einer  einen  Tintenklex  auf  dem  Kinn  hat  und  damit  ernste 
Sachen  redet,  dann  farbt  die  Tinte  auf  das  Ernste  ab,  und  alle  seine 
Argumente  werden  lacherlich.     So.  kindisch  sind  wir  Menschen. 

Wenn  einer  nichts  gelernt  hat  — :  dann  organisiert  er. 
Wenn  einer  aber  gar  nichts  gelernt  und  nichts  zu  tun  hat  — :  dann 
macht  er  Propaganda. 

Das  wird  im  nachsten  Krieg  ein  reizvolles  Schauspiel  sein:  die 
Rotarier-Clubleute  der  gegnerischen  Lander  zu  sehn,  wie  sie  als  gute 
Patrioten  treu  zu  ihren  Fahnen  stehn,  bedauernde,  aber  grundsatzliche 
Erklarungen  loslassen,  und  dennoch  —  und  das  trostet  ungemein  — 
auch  furderhin  gute  Rotarier  sein  und  bleiben  werden. 

Aber  machen  das  schlieBlich  die  Katholiken  anders  — ? 

* 

Wer  lobt,  wird  selten  nach  seiner  Aktivlegitimation  gefragt. 

* 

Greift  einer  den  Militarismusf  eine  groBe  Zeitung  oder  Moskau  an, 
dann  wird  unter  den  Schlagen  der  Verteidigung  ein  Stohnen  horbar:  „Er 
hat  Gott  gelastert!"  Vorwurfsvolle  Augen  klappen  zum  Himmel  auf: 
Eigentlich  brauchten  wir  uns  ja  gar  nicht  zu  wehren  - , .  denn  er  hat 
Gott  gelastert. 

416 


Merk:  Wer  sich  so  mit  dem  Nebel  des  Mysteriums  umgibt,  wie 
alle  diesc,  die  cs  mehr  odcr  minder  begabt  der  katholischen  Kirche 
nachmachen,  der  zeigt,  dafi  seine  Position  bei  voller  Klarheit  viel  zu 
furchten  hat. 

* 

Der  Amerikaner  halt  sich  fur  den  ersten  Mann  der  Welt,  weil  er 
kein  Farbiger  ist. 

Der  Englander  halt  sich  fur  den  ersten  Mann  der  Welt,  weil  er 
Englander  ist. 

Der  Deutsche  halt  sich  fur  den  ersten  Mann  der  Welt,  weil  er  die 
Juden  und  die  Franzosen  haBt;  was  er  selber  ist,  weiB  er  nicht  genau. 

So  verschieden  ist  es  im  menschlichen  Leben. 


Tonende  Wochenschau  von  Mice  tkert-Rothhoiz 

\U  cnn  der  Mensch  nichts  mehr  hat,  hat  er  wenigstens  S  org  en 

und  die  schone,  tonende  Wochenschau ... 
Wer  wird  uns  diesen  Winter  das  Kinogeld  borgen? 

Wir  Leute,  die  abends  ins  Kino  gehn 
diirfen  uns   als   Monumentalfilm  besehn. 

Magen  flau.     Zukunft  grau. 

Schau  die  schone  Wochenschau*. 
„Deutscher  Heldenflieger  kocht  in  Afrika  unter  lauter  Kaffern 

deutsches   Apfelmus." 
Wir  sehn  uns  das  an.     Und  bewundern  es  stumm. 
Wir  fliegen  blofi  raus  . . .     Und  der  fliegt  noch  rum! 

Wir  Leute,  die  abends  ins  Kino  gehn 
dtirfen  dort  f.  f .  Wunder  der  Technik  besehn. 

Magen  flau.     Zukunft  grau. 

Schau  die  schone  Wochenschau: 
„In   Butter  gebratener   deutscher   Erfinder    erfindet    den    praktischen 

deutschen  Gasherd  mit  Musikvorrichtung." 
Wir  sehn  uns  das  an.     Und  bewundern  es  stumm. 
Wir  sind  so  mtide . . .     Und  die  Technik   rast   rum! 

Wir  Leute,  die  abends  ins  Kino  gehn 
dtirfen  drei  Heldenboxer  pro  Woche  besehn. 

Magen  flau.     Zukunft  grau. 

Schau  die  schone  Wochenschau: 
„Meisterboxer   (Produkt  der  deutschen  Stahlwerke)   haut  USA.-Gegner 

mit   deutscher  Stofikraft." 
Wir  sehn  uns  das  an.     Und  wundern  uns  stumm. 
Wir  sind  doch  knockout!  —  Und  der  boxt  noch  rum? 

Wir  Leute,  die  abends  ins  Kino  gehn 

dtirfen  dort  deutsche  Kriegssport-Bilder  besehn. 

Herzen  grau.     Zukunft  grau. 

Schau  die  schone  Wochenschau: 
1.  Modell-Panzerkreuzer.     2.  Parademarsch.    3.  Es  kommt  Hitler. 

Klatsch  doch  mal  — !  Faabelhaft!" 

Wir  sehn  uns  das  an.     Und  nicken  ganz  stumm . . . 
Unserer  modert  in  Belgien!  —  Und  die  proben  rumf 

Wir  Leute,  die  abends  ins  Kino  gehn 
dtirfen   Deutschland  in  Prachtausgabe   besehn. 
Uns  personlich  sinkt  der  Mut  in  die  Hose. 
Doch  die  Wochenschau  hebt  uns.     Ins  Ufalose. 

Magen  flau.     Zukunft  grau. 

Wochenschau  bleibt: 
Heldenschau! 

417 


Betnerkungen 


Am  Telephon 

Meulich  hat  der  franzosische  Mi- 
*  *  nisterprasident  den  dcutschen 
Reichskanzler  antelephoniert,  tun 
ihm  mitzuteilen,  daB  er  wegen 
ciner  UnpaBlichkeit  Briands  nicht 
zum  urspriinglich  vorgesehenen 
Datum  nach  Berlin  kommen 
konne.  Warum       telephonieren 

eigentlich  die  europaischen  Staats- 
manner  nicht  viel  haufiger  mitein- 
ander  — ? 

Da  liegen  nun  die  Hauptstadte 
Euronas,  eine  von  der  andern 
immer  nur  ein  paar  Flugstunden 
entfernt.  Und  wie  verstandigen 
sich  die  Direktoren  der  Staatsver- 
bande,  die  ja  trotz  alien  Geschreis 
nur  einen  groBen  Klub  bilden?  Sie 
verstandigen  sich  untereinander 
in  einer  Art,  gegen  die  die  Trom- 
melpost  der  Neger  eine  hochst  mo- 
derne  und  hervorragende  Sache  ist, 

Welches  Brimborium  und  welche 
Feierlichkeit,  wenn  sie  einander 
etwas  zu  sagen  haben!  Da  werden 
Botschafter  in  Bewegung  gesetzt, 
diese  Brieftrager  der  Umstandlich- 
keit,  da  gibt  es  Verbalnoten  und 
schriftliche  Noten  und  Konferen- 
zen  und  ein  Getue,  das  die  braven 
Zeitungen,  schmatzend  und  diese 
scheinbaren  Neuigkeiten  mit 

Wonne  schliirfend,  berichten.  Und 
man  stelle  sich  vor,  die  groBen 
Konzerne,  die  ja  an  Wichtigtuerei 
auch  nicht  grade  Schlechtes  leisten, 
gestatteten  sich  diese  Zeitver- 
schwendung ! 

Das  ginge  zwischen  den  Staaten 
nicht  anders?  Diese  hochst  wich- 
tigen  und  schrecklich  geheimen 
Gesprache  zwischen  Briining  und 
MacDonald,  zwischen  MacDonald 
und  Laval  konnten  abgehort  wer- 
den ?  Aber  die  Trusts,  deren 
Macht  in  Europa  weit  grofier  ist 
als  die  Macht  dieser  lacherlichen 
Staaten,  telephonieren  ja  auch, 
und  Gott  weiB,  daB  auch  dort  der 
Verrat  in  alien  Bureauzimmern 
bluht.  Und  es  geht  doch.  Natiir- 
lich  wird  kein  verstandiger 
Mensch  erwarten,  daB  sich  die 
europaischen  Staatsmanner  am 
Telephon  alles  mitteilten,  obgleich 
zum     Beispiel      eine     telephonische 

418 


Kriegserklarung  ( „Hallo,  Sie !  — 
Von  morgen  ab  ist  Krieg")  hochst 
reizvoll  ware.  Warum  telephonie- 
ren sie  nicht? 

Weil  sie  sich  viel  zu  feterlich 
nehmen,  Weil  sie  noch  immer 
glauben:  England,  das  sei  eine 
schier  religiose  Sache,  und 
Deutschland,  das  -sei  ein  Heilig- 
tum,  und  Frankreich,  das  sei  eine 
Kultstatte,  Macht  euch  doch  nicht 
in  die  Hosen!  Es  ginge  uns  alien 
viel  besser,  wenn  die  Staaten  ihre 
wahre  Rolle  erkennen  wollten. 
Noch  aber  leben  sie,  wahrend 
einer  Epoche,  die  die  Gesattigten 
gern  Frieden  zu  nennen  belieben, 
in  einem  latenten  Kriegszustand. 
Welches  Theater,  wenn  einer  den 
andern  besucht!  Darunter  liegen 
dann  Streichholz-  und  Petrpleum- 
geschafte  sowie  die  alien  gemein- 
same  Angst,  der  Arbeiter  konne 
sich  eines  Tages  mit  Gewalt  seinen 
Lohn  nehmen,  den  sie  ihm  heute 
vorenthalten.  GroBe  Oper  spielen 
die  Staaten,  mit  Helden,  denen  die 
Strumpfbander  rutschen.  Leider 
eine  Oper  mit  tragischem  Ausgang, 
Ignaz  Wrobel 

Protest  gegen  „positiv" 

r\ie  .Briicke*  des  .Berliner  Ta- 
^  geblatts'  brachte  vor  einiger 
Zeit  Aufierungen  junger  Men- 
schen  iiber  sich,  ihre  Stelluug.im 
Leben  und  zur  iibergeordneten 
Generation.  Ich  habe  da  eine 
Wendung  vermiBt,  die  Wendung 
gegen  jene,  die  uns  immer  wie- 
der  vorhalten,  wir  waren  nicht 
Hpositiv"  genug  —  wir  trieben 
nur  Opposition,  Negation,  an- 
maBende  Kritik,  wir  waren  zy- 
nisch,    etcetera. 

Zugegeben,  Alles  dies  zugege- 
ben.  Aber  weshalb  sind  wir  denn 
so?  Ich  spreche  fur  diejenigen, 
die  vierundzwanzig,  fiinfundzwan- 
zig,  sechsundzwanzig  Jahre  sind. 
Unsre  schonste  Jungenszeit  fiel 
in  den  Krieg ;  unsre  Entwick- 
lungs jahre  in  die  Nachkriegszeit. 
Wir  wurden  in  uberfullten  Schul- 
klassen  unterrichtet,  von  Lehrernr 
die  meistens  iiberaltert  waren, 
spater    von    solchen,    deren   Kraft 


in  den  Feldziigen  verzehrt  wor- 
sen. Zuhause  fehlten  die  Vater, 
manche  blieben  fort,  manche  ka- 
men  verwandelt  zuriick,  Wir  hat- 
ten  viele  entscheidende  Jahre  hin- 
durch  zu  wenig  zu  essen.  Als  wir 
von  der  Schule  kamen  und  auf 
die  Universitaten  gingen,  waren 
alle  Zustande  immer  noch  ver- 
worren  und  nicht  normaL  Ein 
grofler  Teil  von  uns  mufite  sei- 
nen  Lebensunterhalt  in  ungewohn- 
ter  Nebenbeschaftigung  verdienen 
und  konnte  nur  die  karge  Frei- 
zeit  zu  seiner  fernern  Ausbildung 
verwenden.  Wir  habens  geschafft, 
Wir  haben  unsre  Examina  ge- 
roacht  und  unsre  Lehrzeit  been- 
det,  Wir  stehen  jetzt  in  dem 
Augenblick,  wo  wir  anfangen 
mtifiten,  zwei-  bis  dreihundert 
Mark  monatlich  zu  verdienen, 
um  uns  etwas  regen  zu  konnen. 
Wir  mochten  jetzt  einen  dritten 
Anzug  kaufen  und  regelmafiig  zu 
Mittag  essen.  Wir  mochten  jetzt 
in  einem  Beruf,  der  uns  Freude 
macht,  etwas  leisten.  Deshalb 
haben  wir  uns  durch  viele  Jahre 
so  angestrengt.  Aber  alles  war 
offenbar   vergeblich. 

Ich  spreche  fiir  die  biirgerliche 
und  akademische  Jugend.  Wie 
schlecht  es  der  proletdrischen 
geht,  davon  mogen  andre  zeugen. 
Aber  auch  uns  geht  es  schlecht. 
Tausende  von  ausgelernten  Kauf -> 
leuten  laufen  ohne  Anstellung 
herum.  Den  Ingenieuren,  den . 
Chemikern  geht  es  nicht  anders, 
Wer  reagiert  auf  die  Not  der 
Juristen?  Was  sollen  eigentlich 
die  siebentausend  Philologen  an- 
fangen, deren  Zukunft  aussichts- 
los    erscheint?      Uberall    werden 


Turen  zugeschlagen:  Kein  Platz! 
Kein  Platz!     Kein  Platz! 

In  einer  mittlern  Stadt  der  Pro- 
vinz  Hannover  sind  im  vorigen 
Herbst  zwanzig  junge  Leute  die- 
ses Alters  aus  sogenanntem  gu- 
ten  Hause,  die  alle  etwas  gelernt 
und  ordentliche  Zeugnisse  erhal- 
ten  hatten,  nach  Kanada  ausge- 
wandert,  weil  es  unmoglich  war, 
fiir  sie  ein  berufliches  Unterkom- 
men  zu  finden.  Diesen  Leuten 
konnten  die  Familien  noch  ein 
kleines  Kapital  fiir  den  Anfang 
vorschieBen.  Die  meisten  von  uns 
aber  hocken  wieder  bei  den  El- 
tern  mit  den  jiingern  Geschwistejn 
zusammen,  ihnen  und  sich  selber 
zur  Last,  ohne  Beschaftigung, 
ohne  Bewegungsfreiheit,  oft  ohne 
ein  eignes  Zimmer.  Welch  eine 
Summe  von  Energie  wurde  auf- 
gewandt  und  scheint  jetzt  vollig 
sinnlos  vertan !  Wieviel  Fahig- 
keit,  Konnen,  Intelligenz  liegt 
brach  und  geht  langsam  vor  die 
Hunde.  Wieviel  Lebenswille,  Mut, 
Elan  wird  planmafiig   zerstort! 

Und  da  wirft  man  nun  der  Ju- 
gend  vor,  dafi  sie  es  zum  Bei* 
spiel  mit  der  Liebe  nicht  so  ge- 
nau  nahme,  wie  es  fruhere  Ge- 
nerationen  getan.  Mein  Gott, 
was  bleibt  den  jungen  Leuten 
zwischen  Zwanzig  und  Dreiflig 
denn,  welche  Freude  bleibt  ihnen, 
die  liberal  1  tiberfliissig  sind,  die 
nicht  arbeiten  durfen  und  kein 
Geld  verdienen,  wenn  nicht  die 
Freude  am  andern  Geschlecht, 
die  allein  —  Gott  sei  Dank 
haufig  —  noch  nichts  kostet. 

Man  wirft  der  Jugend  vor,  sie 
habe  zu  wenig  Staatsgesinnung, 
sie  sei  radikal,  sie  hatte  nicht  die 


vollasog  slclv  sctuiell: 

ich  problerfe  —und  rauche  self  dem  nur  noch  die  einzigarfige 

ABDUILA  Nr.  16 

o/M,  u.  oold  ; SfUcK  10  Pig. 

ABDULLAH  Co.    -    KAIRO    I    LONDON   I   BERLIN 

419 


richtige  Achtung  vor  dem  Leben 
andrer,  Aber  wie  soil  sie  denn 
diesen  Staat  bejahen,  in  dem  sie 
so  ein  Dasein  fiihrtl  Was  tut 
der  Staat  fiir  uns?  Er  erfindet 
nur  immer  neue  Schikanen,  urn 
uns  von  den  Stellungen  zuruck- 
zuhalten,  die  wir  auf  Grund  uns- 
rer  Arbeiten  und  Leistungen  jetzt 
einnebmen  miiCten.  Was  tut  er 
fur  eine  Jugend,  die  mehr  aus 
eigner  Kraft  fertig  bekommt,  als 
je  eine  Jugend  zuvor?  Erschlagt 
vor  jedem  Beruf  die  Tiiren  zu 
und  laBt  uns  drauBen  stehen. 
Was  tut  die  Wirtschaft?  Das 
Gleiche!  Wir  mdchten  wohl  mit- 
arbeiten.  Man  laBt  uns  aber 
nicbt.  Wir  sollen  Werte  an- 
erkennen,  die  fiir  uns  nicht  gel- 
ten  und  deren  wir  nicbt  teilhaftig 
werden  diirfen?  Wir  sollen  nicht 
kritisieren,  protestieren,  wir  sol- 
len nicht  Sturm  laufen?  Wir  sol- 
len Achtung  haben  vor  dem  Le- 
ben andrer?  Wer  hat  Achtung 
vor  unserm  Leben?  Wer  hilft 
uns?  Wer  kummert  sich  um  uns? 
Man  predige  uns  nicht!  Man 
ermabne  uns  nicht!  Man  gebe 
uns  Platz  und  Arbeit!  Dann  wer- 
den wir  von  selber  „positiver" 
werden.  Wenn  aber  auch  weiter- 
hin  nicbts  geschieht,  werden  die 
Zusammenrottungen  nicht  auf  ho - 
ren,  wird  die  Verwilderung,  die 
doch  nur  VerzweiHung  ist,  ins 
MaBlose  wachsen.  Wir  haben  Un- 
sagbares  ausgehalten.  Aber  auch 
die  Nerven  jener  Besonnenen  un- 
ter  uns,  die  j  etzt  noch  schwei- 
rfend  die  Zabne  zusammenbeiBen, 
sind   irrfendwann   einmal   zuEnde. 

Julius  Lothar  Schiicking 


Das  ewige  Butterbrot 

T\  ie  Menschheit  traumt  seit 
***  Jahrtausenden.  Ihre  Sehn- 
sucht  hat  Flugel,  die  den  Ather 
durchbrausen.  Das  pochendeHerz 
gebar  den  Menschen  das  Wort ; 
Geist  und  Gefuhl  formten  es  zu 
Mythen,  Marcben  und  Legended 
Schwache  und  Hingabeverlangen 
erfanden  die  Gottheit,  frostelnde 
Unbeholfenheit  dem  Leben  gegen- 
uber  den  Zauber  und  jah  ver- 
lan<*ende  Wtinsche  das  erfullende 
Wunder,  Es  wurden  die  Sieben- 
meilenstiefel  erdacbt  und  das 
Flutfzeug  des  Ikarus,  das  Wunsch- 
hutlein,  der  unsichtbar  machende 
Ring  und  andres.  Sie  blieben 
schone  Phantasie.  Bis  schlieBlich 
der  Geist  unsrer  Zeit  die  in  ihnen 
inkarnierten  Ideen  auf  ihre  tech- 
nische  Verwendbarkeit  priifte  und 
Erfindergenies  den  letzten  Schritt 
zu  ihrer  Verwirklichung  durch 
Stahl  und  Kupfer,  Dampf  und 
Strom  taten,  Manches  Marchen 
ist  noch  immer  Marchen,  so  das 
vom  Tischlein  deck  dich, 

Da  hat  ein  wiener  Ingenieur 
ein  ewiges  Zundholzchen  erfun- 
dent  ein  Zundholzchen,  das,  im 
Gegensatz  zu  den  haufig  nachzu- 
fiillenden,  haufig  versagenden  Ta- 
schenfeuerzeugen,  ewig  entzund- 
bar  ist,  ohne  sich  abzuntitzen 
oder  zu  versagen.  Man  streicht  es 
an,  es  brennt,  man  verloscht  es, 
streicht  es  wieder  an  und  so  in 
alle  Ewigkeit. 

Wichtiger  als  seine  Gefahrlich-' 
keit  fiir  Kreuger  ist  die  Frage  sei- 
ner sozialwitrschaftlichen  Bedeu- 
tung  fiir  anonymere  Zeitgenossen. 


420 


Was  niitzet  mir  das  schonste 
ewige  Ziindholz,  wenn,  beispiels- 
weise,  die  Tabaksteuergesetz- 
gebung  mich  allmahlich  daraa 
hindert,  mir  cine  Zigarre  anzu- 
stecken,  und  was  niitzet  das 
ewige  Streichholz  den  vielen 
Andern,  die  infolge  Arbeitslosig- 
keit  nicht  in  der  Lage  sind,  den 
Herd  zu  heizen  und  eine  Suppe 
zu  kochen.  Kurz  gesagt;  der  Er- 
findergeist  hat  eine  unumgangliche 
Stufe  logischer  Entwicklung 
iibersprungen.  Dem         ewigen 

Streichholz  hatte  unbedingt  das 
ewige  Butterbrot  als  Tischlein- 
deck-dich-Ersatz  vorangehen  mus- 
sen.  Man  beiBt  ab  und,  ehe  hoch 
der  Bissen  verschluckt  ist,  hat 
sich  das  bestrichene  Brot  wiede- 
rum   erganzt   und   gerundet. 

Tja  ...  das  ewige  Butterbrot, 
das  ware  eine  Sache!  Man  er- 
wage  doch  den  Umsturz  auf 
gastronomischem  Gebiet,  von  den 
sozialen  Auswirkungen  gar  nicht 
zu  reden.  Ob  Popoer-Lynkeus  die 
Briicke  von  solcher  Utopie  zur 
Wirklichkeit  ahnte,  ob  die  ,Sow- 
j  et-Russen  auf  dem  richtigen 
Wege  sind  —  wer  wollte  das  so 
schlank  weg  entscheiden !  Aber, 
gabe  es  so  ein  ewiges  Butterbrot, 
dann,  ja...  dann  ware  das  ewige 
Streichholz  etwas  ganz  Herrliches, 
weil  der  gefullte  Magen  Mufie  und 
Geld  fur  Warme  und  Genufi  und' 
vor  allein  natiirlich  fur  die  Kosten 
des  ewigen  Streichholzchens  spa- 
ren  Iiefie.  So  aber:  die  wiener 
Erfindung  gleicht  dem  Fasse  der 
seligen  Danaiden,  die  es  ewig  zu 
f  till  en  versuchten,  ohne  Erfolgt 
weil  der  Boden  ein  Loch  hatte. 
Wir  werden  das  Streichholz  ewig 
anstreichen,  aber  bald  vielleicht 
nicht  wissen,  was  wir  damit  an- 
heizen  und  kochen  sollen.  Fried- 
rich  Hebbel  driickte  sich  lapidarer 
aus:  MBaId  fehlt  uns  derBecher, 
bald  fehlt  uns  der  Wein". 

Felix  Lan&er 


Nun  mufi  sich  alles,  alles  wend  en! 

Ob  es  logisch  ist,  dafi  man  als 
Pazifist  der  Jagd  huldigt, 
dartiber  werden  die  Ansichten 
auseinander  gehn.  Ntitzlich  ka.nn 
es  jedenfalls  sein,  weil  man  auf 
die  Weise  auch  Zeitschriften  zu 
Gesicht  bekommt,  die  ein  ge- 
wohnlicher  Sterblicher  nicht  zu 
lesen  pflegt. 

Da  hat  ein  Herr  Gerlich  eine 
angeblich  sensationelle  Erfindung 
auf  dem  Gebiet  der  Schiefitech- 
nik  gemacht.  Er  will  entdeckt 
haben,  wie  man  die  Anfangsge- 
schwindigkeit  der  Geschosse  fur 
Infanteriegewehre  und  Geschiitze 
sowie  die  fiir  Torpedos  bis  auf 
3000  sek/m  steigern  konne.  Bis- 
her  ungeahnte  Moglichkeiten  er- 
geben  sich  fiir  die  Vermehrung 
des  Mordradius  in  einem  kom- 
menden  Kriege. 

Die  fDeutsche  Jagerzeitung' 
(Nr.  32)  bemerkt  zu  der  Gerlich- 
schen  Erfindung: 

„Wenn  die  Erfindung  so  ist,  wie 
sie  Herr  Gerlich  darstellt,  konnte 
man  nur  wiinschen,  daB  wenig- 
stens  der  neue  Panzerkreuzer 
noch  mit  Gerlichschen  Ultrage- 
schutzen  bestiickt  und  mit  Ultra- 
torpedos  ausgeriistet  wurde.  Wir 
hatten  dann  mit  dem  kleinen 
Kahn,  der  es  schon  beim  Taufakt 
so  eilig  hatte,  die  Uberlegenheit 
zur  See,  und  die  ganze  Weltpolitik 
bekame  ein  andres   Gesicht." 

Der  alte  Fritz  Reuter  wurde 
gesagt  haben:  „DaB  du  die  Nase 
ins  Gesicht  behaltst!" 

Also  wenn  ein  deutsches  Schiff 
mit  Ultrageschutzen  und  Ultra- 
torpedos  ausgestattet  wurde,  so 
hatten  wir  die  Oberlegenheit  zur 
See,  trotz  der  uns  verbotenen  U- 
Boote  und  Militarflugzeuge,  und 
die  Weltpolitik  bekame  ein 
andres  Gesicht. 

Im  Kriege  hatten  wir  die  wei- 
testtragenden  Geschiitze,  so  daB 
wir  Paris  aus  130  Kilometer  Ent- 


Rudolf  Arnheim:  Sffmme  von  der  Gulerie 

25  Aufsatze:  Psychoanalyse,  Negersanger,  Spiritismus,  Er- 
ziehung,  Boxkampf,  Oktoberwiese,  absolute  Malerei,  Greta 
Garbo,  Russenfilm,  Fritz  Lang,  moderne  Moral  u.  a. 
Einleitung:  Hans Reimann  — Bilder:  Karl  Holtz.  nu  m 
Zu  beziehen  durch  Verlag  der  Weltbuhne         IU1»  L~ 

421 


fernung  beschieBen  konnten.  Es 
ist  uns  nicht  erinnerlich,  dafi  da- 
durch  der  Krieg  ein  andres  Ge- 
sicht  bekommen  hatte- 

Aber  in  Zukunft  wird  das  na- 
turlich  anders  werden,  falls  Herr 
Gerlich  und  die  Gelehrten  der 
,Deutschen  Jagerzeitung'  recht 
haben,  Unsre  Staatsmanner  brau- 
chen  ibre  Kopfchen  nicht  mehr 
anzustrengen.  Mit  Ultrageschiit- 
zen  und  Ultratorpedos  wird 
Deutschland  eine  Ultra-Weltpoli- 
tik  machen, 

Deutschland  braucht  nicht  zu 
verzweifeln,  Es  hat  nicht  bloB 
Adolf  Hitler,  es  hat  auch  Herrn 
Gerlich  mit  3000  sek/m  Anfangs- 
geschwindigkeit.  Deutschland  ist 
erwacht.  Die  andern  konnen  sich 
schlafen  leg  en,  zum  ewigen 
Schlummer. 

H.  v,  Gerlach 

Zeddies 

*7  eddies,  ich  duze  dich  nur  aus 
"  S^afl.  Zeddies,  du  muBt  eins 
auf  den  Hut  bekommen.  Zeddies, 
du  hast  im  Septemberheft  der 
,Koralle'  einen  Aufsatz  ver- 
of fentlicht , . ,  fiber  den  guten 
Witz  und  seine  Theorie,  Sowas 
lese  ich  leidenschaftlich  gern, 
Denn  wenn  ernste  Manner  der 
Wissenschaft  humor  istische  Ge- 
iilde  betreten,  dann  weht  die 
Luft  von  Sargmagazinen,  und  das 
gibt  einen  prickelnden  Reiz.  Ach, 
Zeddies,  du  weltfremdes  Weseh, 
mit  Ach  und  Krach  hast  du  etwas 
mehr  als  ein  Dutzend  gute  Witze 
zusammengekratzt,  iiber  die 
meine  fiinfjahrige  Nicht  e  keine 
Miene  verzieht,  weil  sie  ihr  zu 
schimmlig  sind,  und  iiber  die 
unsereiner  schon  wieder  lachelt 
...  ob  der  Zumutung,  daB  man 
dariiber  lachen  soil.  Angenom- 
men,    es    gibt    zweitausend    gute 


Witze  —  warum,  o  Zeddies,  zi- 
tierst  du  vierzehn  oder  funfzehn 
mittelmafiige  und  trotz  Patina 
unveredelt  gebliebene  ?  Weil  es 
auf  deinen  intellektuellen 

Schwatz  ankommt  und  nicht  aufs 
Beispiel.  Aha.  Warum  aber,  o 
Zeddies,  zitierst  du  genau  die 
gleichen,  wortwortlich  die  nam- 
lichen  Witze,  die  Siegmund 
Freud  in  seiner  Abhandlung 
„Der  Witz"  (Franz  Deuticke 
1925)  bereits  abgedruckt  und  un- 
barmherzig  zerpfliickt  hat?  War- 
um, o  Zeddies?  Das  ist  sowohl 
armselig,  o  Zeddies,  als  auch  un- 
statthaft,  o  Zeddies.  Das  ist  doch 
einfach  geklaut,  o  Zeddies.  Und 
weil  ich  einem  ernsten  Manne 
der  Wissenschaft  keinen  Dieb- 
stahl  zutraue,  halte  ich  dich  fur 
ein  Pseudonym  Siegmund  Freuds, 
der  sich  auch  einmal  einen  klei- 
nen  feuilletonistischen  Nebenver- 
dienst  schaffen  wollte.  Herr  Pro- 
fessor, tun  Sie  das  nicht  wieder. 
Sie  haben  es  nicht  notig. 

Hans  Reimann 

Zu  diesem  Devaheim 

Die  Hilfsgelderkasse  wurde  ge- 
fuhrt 
Von  wahren  Christen  und  From- 
men  — 
Erfahren  hat  nie  die  linke  Hand, 
Wieviel  die  rechte  genommen. 
Heinrich  Heine, 
Deutschland,  Kaput  XXI 

Der  Menschenfreund 

r\  as  war  in  Tschatschak,  West- 
^  serbien.  Der  Herr  Protopope, 
Propst,  sagte  mir: 

„Ich  lese  mit  Verwunderung 
Eure  Blatter  —  wie  unduldsam 
Ihr  seid  dort  in  Deutschland.  Es 
gibt  Chauvinisten  bei  Euch,  Anti- 
semiten.     Bei  uns,   siehst    du,  ist 


Das  Buch  der  Liebe 

yon  B6  Yin  Ra  gehort  schon  bei  seinem  ersten  Erscheinen  zu  den  bevor- 

zugten  Biichern  dieses  Lehrers  praktischer  Seelenkunde.    Niemand,  der  die 

erste  Ausgabe  kennt  wird  die  soeben  erschienene 

vielfach  bereicherte  Neuausgabe 

entbehren  wollen.  Wir  erbitten  in  Ihrem  persb'nlichen  Interesse  baldigste 
Besteltang,  falls  Ihr  Buchfcandler  noch  nicht  die  rieue  endgtiltige  Ausgabe 
auf  Lager  hat.  Kober'sche  Verlagsbuchhandltmg  (gegr.  1816)  Basel  a.  Leipzig. 

422 


dergleichen   unbekannt ;    hier   giht 
es  keinen  HaC/' 

„Und  habt  Ihr  viele  Juden 
hierzulande?" 

„Nein(  Kindchen.  Der  letzte  ist 
vor  mehr  als  120  Jahren  getotet 
worden." 

/toaa  /coaa 

Schaubude  anno  2000 

Leute,  hier  seht  ihr  in  der  Tat, 
was  man  nodi  nie  gesehen  hat! 
Nur  naherl    Die  jjroflte  Attraktion! 
Ihr  lacht  euch  krank  und  wieder  gesund  — 

Ihr  seht  den  Dunkel  in  Potenz, 

die  Dummheit  in  Quadratessenz, 

ihr  seht  die  Blute  der  Nation 

mit  vollig"  totalem  Gedankenschwund  — ■_ 

In  einer  Box,  umzaunt  von  Draht, 
seht  ihr  den  deutschen  Studienratt 

Das  ist  der  Mann,   der  die  Jugend  verhetzte, 

mit  seinem  Geifer  Volker  benetzte, 

der  Gift  in  junge  Adern  spritzte, 

mit  heimlichem  Hafi  die  Gemuter  erhitztel 

Er  hat  mit  der  sanftesten  Miene  der  Welt 
sich  selber  als  Unschuldslamm  hingestellt. 

Er  war  der  Feldwebel  in  Zivil. 
Er  hat  mit  Stock  und  Arrest  gezuchtigt. 
Er  hat  in  wehr-  und  mannhaftem  Spiel 
die  Kinder  ium  nachsten  Mord  ertuchtigt. 
Er  hat  geschurt  und  hat  gewutet, 
und  hat  nationale  Guter  gehutet  .... 
Er  war  der  Bazillus  im  Vollce.    Und  sacht 
hat  er  Studienrate  fur  morgen  gemacht. 

Nun  sitit  er  in  vergtttertem  Loch 

und  ist  ungefahrlich  und  zahm. 

Er  spielt  mit  Soldatchen  und  Kinderkram, 

einer  kleinen  Kanone  mit  riohtiger  Lafette  — 

Er  darf  nur  noch  spiel  en.    O  wenn  man  doch 
das  schon  fruher  veranlaflt  hatte! 

Heinrich  Vola 


Pietat 

Statt  Karten 

Sanitatsrat 

Dr.  Nicolaus  Hess 

Liesel  Hess  geb.  Haymann 

Witwe    des    Kommerzienrats 

Joseph  Baum 

Vermahlte. 
frankfurter    Zeitung 

No  violence 

Vwei  Juden  stehen  auf  der 
"  Landstrafie  vor  einem  Fels- 
block,  der  den  Weg  versperrt. 
Zaghaft  und  ratios*  Kommt  ein 
blonder  Hiine  daher,  stemmt  sich 
gegen  das  Hindernis  und  macht 
die  Bahn  frei-  Die  Beiden  stehen 
einen  Augenhlick  sprachlos,  und 
dann  der  eine  zum  andern:  „Ja 
—  mit  Gewalt!" 

Liebe  Weltbfihne! 

P  in  bekannter  berliner  Lyriker 
*-"*  leidet,  wie  das  in  diesem  Fach 
vorkommen  soil,  so  heftig  an 
schmutzigen  Handen,  dafi  er  sich 
kein  Smokinghemd  zumachen 
kann,  ohne  es  vollig  zu  be- 
schmutzen.  Aus  diesem  Dilemma 
half  ihm  ein  Gonner  in  wahrhaft 
chaplinscher  Weise:  er  liefi  ihm 
Hemden  konstruieren,  die  auf  dem 
Riicken  zuzuknopfen  sind. 


Hinweise  der  Redaktion 


Weltbuhnenleser, 
Nachster  Abeni 


Berlin 

Rote  Studentengruppe.  Schulungskurs.  Mittwoch  20.00.  Braustubl  Haokestr.  4,  U-Bahn 
Schouhauser  Tor. 

Hamburg 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Alle  Zuschriften  werden  erbeten  an  Kurt  Zornig 
Altona-StelHngen,  Steenwirstr.  22.   H  4  Norden  5640. 

Leipzig 

Jeden  2.  Montag  Diskussionsabend  im  Lehrervereinshaus.  Karmerstr. 
d  am  21. 

Bucher 

Andre  Siegfried :  Die  englisehe  Krise.   S.  Fischer,  Berlin. 

Carl  Steuermann;  Weltkrise  —  Weltwende.    S.Fischer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienatasr.  Konigswusterhausen  18.00:  Gegenwartsfragen  der  Kunst,  Paul  Westheim.  — 
Berlin  18.10;  Alfred  Wolienstein  liest  eigne  Kurzgeschichten.  —  Leipzig  18.50: 
Pol  von  Reinhold  Goering.  —  Donnerstag.  Berlin  und  andre  Sender  (aus  Genf): 
Fidelio  von  Beethoven,  Dir.  Weingartner.  —  Freitag.  Berlin  18.00:  Berliner  Bankel- 
sang,  Hans  v.  Zwehl,  —  Breslau  18.05 *.  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung.  —  Langenberg 
20.00:  Gnadenbrot  und  Die  Kleinstadterin  von  Turgenjew.  —  Sonnabend.  Berlin 
16.05:  Seltsame  Reiseerlebnisse,  M.  M.  Gchrke  und  E.  Lubranyi.  —  18.30;  Die  Er- 
zahlung  der  Woche,  Friedrich  Burschelt.  —  Sonntag*  Berlin:  Stunde  mit  Buchern 
und  Schallplatten,  Hans  Reimann. 

423 


Antworten 

Deutsche  Zeitung.  Von  dir  kann  man  allerhand  lernen.  Zum  Bei- 
spiel,  wie  man  den^Gegner  moglichst  infam  verunglimpft.  In  deiner 
Ausgabe  vom  .1.  September  teilst  du  mit,  dafi  durch  die  Calmette- 
Erkrankungen  Ltibeck  bis  jetzt  331 000  Mark  Unkosten  erwachsen 
seien.  Schon  und  gut,  es  ist  Ja  auch  nicht  mehr  als  riehtig,  daB  Lu- 
beck  fxir  die  Opfer  dieses  Ungliicks  aufkommt:  es  war  ein  stadtisches 
Krankenhaus  und  es  waren  stadtische  Arzte,  Wie  aber  heifit  die 
Oberschrift  dieser  Meldung?  „Lubeck  zahlte  331000  Mark  fur  Cal- 
mette"! Das  soil  also  heifien,  Herr  Calmette  ist  schuld  an  der  lii- 
becker  ^Catastrophe.  Woher  weiBt  du  das  denn?  Dir  wird  doch  nicht 
unbekannt  sein,  dafi  in  vielen  andern  Fallen  das  Praparat  ohne  Scha- 
digung  angewandt  worden  ist.  Diese  Notiz  kann  nun  nicht  etwa  so 
ausgelegt  werden,  als  seiest  du  gegen  den  Impfzwang,  und  da  Herr 
Calmette  furs  Impfen  sei,  konne  man  ruhig  behaupten,  er  habe  dem 
Senat  so  viel  gekostet,  —  das  stimmt  ja  nicht,  du  bist  ja  Anhanger  des 
Impfzwangs,  Was  bleibt  also  iibrig?  Der  iibelriechende  Versuch,  einen 
Forsqher  zu  beschimpfen,  nur  weil  er  zufallig  Franzose  ist.  Ware  das 
mit  einem  deutschen  Praparat  passiert,  du  wiirdest  die  Schuld  bei 
den  Arzten  suchen.  Aber  warum  sich  um  Untersuchungsergebnisse 
kummern:  wenn  ein  Franzose  da  ist,  dann  haben  wir  ja  den  Siinden- 
bock  und  alles  andre  ist  egal.  Wir  mdchten  nur  sehn,  wie  du 
schaumtest,  tate  das  im  umgekehrten  Fall  eine  franzosische  Zeitung. 
Wie  mu6  es  doch  um  deine  Leser  bestellt  sein,  daB  sie  dir  den  Dreck 
deiner  Rotationsmaschinen  noch  nicht  vor  die  FiiBe  geworfen  haben. 
Aber  sie  sind  ja  allerhand  gewohnt.  Wenn  man  die  Kommunisten 
ordentlich  durchpriigele,  dann  wiirde  in  kurzer  Zeit  der  ganze  bol- 
schewistische  Spuk  verflogen  sein,  das  konntest  du  neulich  verkiin- 
den,  ohne  daB  die  Druckmaschinen  sich  geweigert  hatten,  diesen  haar- 
straubenden  Unsinn  durchzulassen.  Das  muB  eine  Sorte  von  Dick- 
schadeln  mit  ganz  besonders  gutem  Magen  sein,  die  solche  politi- 
schen  Dilettantismen  und  solche  Verleumdungen  schluckt,  ohne 
Brechreiz  zu  verspiiren, 

Schriftsteller,  Der  von  der  Opposition  im  Schutzverband  Deut- 
scher  Schriftsteller  gewahlte  Arbeitsausschufi  hat  an  Jacob  Schaffner 
das  nachstehende  Schreiben  gerichtet:  „Sehr  geehrter  Herr  Schaffner! 
Im  Auftrag  des  Arbeitsausschusses  der  Opposition  im  Schutzverband 
deutscher  Schriftsteller  (Ortsgruppe  Berlin)  teile  ich  Ihnen  mit,  daB 
die  am  2.  September  1931  im  Cafe  Wittelsbach  abgehaltene  Versamm- 
lung  der  Opposition,  zu  der  auch  Sie  eingeladen  wurden,  nach  dem 
Referat  des  Kollegen  Erich  Muhsam  (,Unsre  Stellung  zu  Jacob 
Schaffner')  mit  vierzig  Stimmen,  bei  vier  Stimmenthaltungen,  folgende 
EntschlieBung  angenommen  hat:  ,Der  erste  Vorsitzende  des  SDS,  Orts-  . 
gruppe  Berlin,  Jacob  Schaffner,  hat  dasVertrauen  der  Mitglieder,  als 
deren  Kandidat  er  gewahlt  wurde,  getauscht,  Er  ist  infolgedessen 
nicht  mehr  Vertrauensmann  der  Opposition.'  Indem  ich  Ihnen  die 
EntschlieBung  mitteile,  ersuche  ich  Sie,  die  entsprechende  Erklarung, 
die  Sie,  wie  die  Opposition  dies  bestimmt  erwartet,  abgeben  werden, 
nicht  nur  dem  Hauptvorstand  des  SDS,  sondern  auch  der  Opposition, 
die  urspriinglich  Ihnen  das  Mandat  eines  Vorsitzenden  anvertraute, 
schriftlich  einsenden  zu  wollen.  Um  Ihnen  die  entsprechende  Erkla- 
rung zu  erleichtern,  teile  ich  Ihnen  des  weiteren  mit,  daB  die  Oppo- 
sition die  Stelle  des  ersten  Vorsitzenden  bereits  als  vakant  betrachtet 
und  fur  die  kommende  aufierordentliche  General versammlung  eine 
andre  Kandidatur  vorgenommen  hat.  Mit  Hochachtung.  I.  A.:  Olga 
Halpern." 

Hamburg^rJ  In  deinem  Hagenbeck-Zoo  sind  „Kanaken,  die  letzten 
Kannibalen  der  Sudsee"  zu  sehen.  Man  hat  sie  von  der  pariser  Ko- 
424 


lonial-Ausstellung  hierher  „engagiert".  Und  dies  Engagement  kam  so 
zustande:  Die  Kanaken  sind  nach  Europa  gelockt  worden  und  sollten 
auf  der  Kolonialausstellung  als  Delegierte  ihres  Landes  fungieren, 
Aber  bereits  in  Marseille  nahm  man  ihnen  ihre  europaische  Kleidung 
ab,  die  sie  in  ihrer  Heimat  aufier  bei  der  Arbeit  standig  tragen,  und 
steckte  sie  in  Phantasielappen:  schwarze  zerlumpte  Turntrikots  und 
weifie  rotbedruckte  Chiffontiicher  wurden  ihnen  um  Kopf  und  Htiften 
gehangt,  und  so  muBten  sie,  fast  alle  barfuB,  Postkarten  verkaufen, 
schnitzen,  tanzen,  um  die  Wette  laufen,  Speere  werfen  und  sich  von 
all  und  jedem  besehen  und  befublen  lassen.  Von  Paris  aus  wurden 
sie  auf  Grund  eines  „Vertrages",  den  niemand  von  ihnen  je  gesehen 
hat,  in  drei  Gruppen  nach  Deutschland  gebracht,  und  eine  Gruppe  hilft 
nun  in  Hamburg  Herrn  Hagenbeck,  die  Kassen  zu  fullen.  Auch  dort 
mtissen  sie  sich  so  benehmen,  als  seien  sie  ,,Kannibalen",  dabei  sind 
die  meisten  von  ihnen  getauft,  und  alle  sprechen  franzosisch.  Ab- 
gesehn  also  davon,  dafi  hier  das  Publikum  betrogen  wird:  es  wird  da 
mit  Menschen  Schindluder  getrieben,  die  an  ein  warmeres  Klima  ge- 
wohnt,  sich  als  halbnackte  Wilde  auffiihren  mtissen.  Kein  Wunder, 
dafi  alle  husten,  einer  liegt  im  altonaer  Krankenhaus  und  spuckt  Blut. 
Der  Sklavenhandel  ist  zwar  abgeschafft,  aber  was  ist  das  hier  andres? 
Man  lockt  die  Menschen  aus  ihrer  Heimat  unter  falschen  Versprechun- 
gen  nach  Europa,  schleppt  sie  mir  nichts  dir  nichts  von  einem  Ort  zum 
andern  und  stellt  sie  den  weifien  Gaffern  zur  Schau.  Wann  endlich 
wird  das  Publikum  von  diesen  geschmacklosen  Schaustellungen,  die 
noch  dazu  ein  vollig  verlogenes  Abbild  der  Wahrheit  geben,  genug 
haben?  Uns  scheint,  die  Herren  Hagenbeck  und  Konsorten  kennen 
ihre  Leute.  Und  um  diesen  moglichst  oft  und  moglichst  billig  solche 
Sensationen  bieten  zu  konnen,  schrecken  sie  nicht  einmal  vor  Mitteln 
zurtick,  die  man  auch  dann  als  Freiheitsberaubung  und  Korper- 
verletzung  bezeichnen  muBf  wenn  zwischen  den  Veranstaltern  und 
irgendeiner  MSocieUM,  von  der  nichts  Naheres  zu  erfahren  ist,  ein  Ver- 
trag  iiber  das  Auftreten  der  Kanaken  geschlossen  worden  ist.  Men- 
schen sind  keine  Ware,  und  den  Herren  Hagenbeck  &  Co.  wurde  es 
wohl  wenig  recht  sein,  w,enn  man  sie  im  afrikanischen  Busch  den  stau- 
nenden  Negern  zur  Schau  stellen  wurde. 

Hans  Henning  Freiherr  Grote.  Sie  stimmen  im  .Berliner  Lokal- 
Anzeiger'  vom  30.  August  ein  Klagelied  iiber  die  Bevorzugung  der 
„Zivilisationsliteratur"  durch  die  deutschen  Verleger  an  und  meinen, 
das  Publikum  wolle  das  nicht  mehr  lesen.  Es  konne  nicht  von  einer 
Geistesnot  die  Rede  sein,  sondern  nur  von  einer  Geistesdammerung. 
Und  diese  Geistesdammerung  „wird  den  Dichtern  und  Kunstlern  zu- 
gute  kommen,  die  bislang  zugunsten  einer  blutleeren  Zivilisations- 
literatur  noch  unbeachtet  blieben  oder  nur  iiber  einen  geringen  An* 
hangerkreis  verftigen".  Nun,  wer  so  schamhaft  sich  selbst  anpreist, 
dem  mu6  Belohnung  zuteil  werden.  Verleger,  an  die  Front!  LaBt 
Herrn  Gote  auch  ein  biBchen  mitverdienen. 

Egon  v.  Kapherr.  Ober  das  Buch  „Renegaten"  irgendeines  Herrn 
Waldemar  Darner,  das  die  Gebietsabtrennungen  im  Osten  zum  Thema 
hat,  schreiben  Sie  im  ,Stettiner  Generalanzeiger*  vom  30,  Mai  eine 
schaumende  Besprechung,  in  der  sie  es  dem  Wilson,  den  Franzosen 
und  den  Polen  aber  ordentlich  geben.  Dies  Geschrei  ist  man  ge- 
wohnt  und  es  interessiert  kaum  noch.  Aber  dort  steht  etwas,  das 
muflte  eigentlich  eine  bestimmte  amtliche  Stelle  interessieren.  Es  heifit 
da:  „. . .  der  Hauptlump  lebt  noch,  ist  nicht,  wie  die  Rache  der  Ge- 
rechtigkeit  verlangt,  von  wiitenden  Fausten  deutscher  Manner  zum 
Fenster  hinausgefleddert,  dem  franzosischen  tami*  nach . . .  lebt.  Andre 
anstandige  deutsche  Manner,  die  Vaterland  und  Ehre  liebten,  vertei- 
digten,  starben  unter  polnischen  Schtissen,  polnischen  Schlagen  —   Es 

425 


kommt  die  Vergeltung.  Noch  ist  nicht  aller  Tage  Abend*  Und  Volks- 
gericht  wird  keine  Amnestie  kennen.  Verrat  am  Vaterlande,  an  der 
eignen  Sippe  und  Stadt,  Renegaten,  Wir  verstehen  den  Polen,.  den 
Franzosen,  wenn  er  sich  vergifit,  wenn  er  Narr  wird  aus  Patriotismus. 
Aber  —  wir  verstehen  den  Renegaten  nicht.  Dem  Narren  die  anstan- 
dige  KugeL  Dem  Renegaten  den  Strick".  Uns  interessiert  hier  nicht, 
wen  Sie  da  aus  Neutomichel,  denn  urn  diesen  Ort  handelt  es  sich^ 
meinen.  Wir  finden  nurt  dafi  hier  eine  derart  unverbltimte  und  un- 
verhiillte  Aufforderung  zum  Mord  vorliegt,  dafi  man  eigentlich  er- 
warten  muflte,  ein  Staatsanwalt  kummere  sich  darum,  Aber  da  werden 
wir  wohl  lange  warten  konnen,  Aufforderung  zum  Mord  ist  bei  uns 
nur  strafbar,  wenn  sie  auf  der  Linken  ausgesprochen  wird.  Oder  aber 
sollte  der  zustandige  Staatsanwalt  sich  die  Argumentation  von  Ihnen 
zu  eigen  gemacht  haben?  Sie  schreiben  ja  selber,  man  konne  verstehn, 
wenn  einer  lfNarr  wird  aus  Patriotismus".  Diese  schone  Selbsterkennt- 
nis  ehrt  Sie,  und  der  SchluB  liegt  nahe,  dafi  die  Staatsanwaltschaft 
Ihnen  deshalb  Straffreiheit  zubilligt. 

Lehrer.  In  dem  griechischen  Lese-  und  Ufbungsbuch  fiir  den  An- 
fangsunterricht  „Palaistra",  Ausgabe  B,  Herausgeber  Oberschulrat 
Doktor  Weygand,  findet  sich  auf  der  Seite  42  ein  Satz,  der  in  deut- 
scher  Ubersetzung  folgendermafien  lautet:  „Wer  zu  leben  begehrt,  ver- 
suche  zu  siegen,  Denn  es  ist  Sache  der  Sieger  zu  toten,  der  Unter- 
legenen  aber  zu  sterben.  Und  wenn  jemand  nach  Reichtumern  strebt, 
suche  er  zu  herrschen.  Denn  es  steht  in  der  Macht  der  Sieger,  sowohl 
ihre  eigne  Habe  sich  zu  erhalten  als  auch  die  Besitztumer  der  Untcr- 
legenen  wegzunehmen".  Ein  ebenso  stilistisch  wie  inhaltlich  schoner 
Satz,  den  du  deinen  Schulern  da  beibringen  sollst.  Der  Herr  Ober- 
schulrat ist  immerhin  ehrlich,  er  umkleidet  die  imperial istisch en  Raub- 
ziige,  genannt  Kriege,  wenigstens  nicht  mit  dem  iiblichen  Phrasen- 
schwall,  sondern  nennt  das  Kind  beim  rechten  Namen.  Diesen  Satz 
konnte,  nur  besser  stilisiert,  ein  Pazifist  erfunden  haben,  um  den  Sinn 
des  Krieges  zu  kennzeichnen.  Die  Herren  Schulbuch-Verfasser  schei- 
nen  noch  niemals  die  Reichsverfassung  gelesen  zu  haben.  Da  steht 
namlich  was  uber  „Erziehung  im  Sinne  der  Volkervers6hnung'\  Unsrer 
Erinnerung  nach  ist  dieser  Artikel  der  Verfassung  noch  nicht  durch 
eine  Notverordnung  aufier  Kraft  gesetzt  worden,  Aber  was  kiimmert 
diese  Sorte  Padagogen  das.  Es  wird  frohlich  weiter  gehetzt,  und  diese 
sogenannten  Erzieher  genieren  sich  nicht,  Schulkindern  die  Ansichten 
von  Raubern  und  Mordern  iiber  Leben  und  Eigentum  ihrer  Mit- 
menschen  beizubringen,  und  das  alles  im  Geiste  des  Humanismus,  dem 
ja  angeblich  der  griechische  Unterricht  dienen  soil. 

Politischer  Haftling.  Im  Tribunal-Verlag,  Berlin,  ist  eine 
Broschure  erschienen  „Deine  Verteidigung  vor  dem  Schnellgericht". 
Besorg  sie  dir  fiir  zehn  Pfennige,  sie  wird  dich  vor  manchen  tJber- 
raschungen  bewahren. 

Frankfurt  a.  M.  Die  bisher  angegebene  Adresse  der  frankfurter 
Weltbuhnenleser  stimmt  nicht  mehr,  sie  lautet  jetzt:  A,  Kl,  Frankfurt- 
Main-Sud,   Postamt    10,   postlagernd. 


Manuskripte    eind   nur    an   die    Redaktion   der  WoltbSboe,   Chariottenburg*    Kantatr.    152,  m 
richten:  •*  wird  gebeten,  ihneo  Ruck  port  o  beixuleffen,  da  sons*  ketne  Rudcsendung  erfolgen  kann. 


Die  Weltbuhne  wurde   begrfiodet   von   Siegfried    Jacobsohn   und   wird   von   Carl  v.  Oiaietsky 
antei  Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  geteitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Oaaietxky,    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne.  Si©Vfried  Jacobsohn  &  Co*  Charlottenbnrff. 

Telephon:    C  1,  Steinplatx  7757.  —  Postscheckkonto:  Berlin  119  58. 
Sankkonto.     DarmstSdter    u.    Nationalbank.      Depositenkaue    Chariottenburg,     Kaotctr    113 


XXVlUahrgUg  22.  September  Ml  NuMier! 


Der  Pfrimer-PutSCh    von  Ernst  Fischer 

17  s  ist  fur  eincn  Menschcn  jenseits  der  osterreichischen  Atmo- 
sphere nicht  leicht,  diese  Mischung  von  Dummheit  und 
Niedertracht,  von  Hirnlosigkeit  und  Hintergrundigkeit,  von 
GroBenwahn  und  Perfidie  vollkommen  zu  verstehn,  hinter  den 
plumpen  Marionetten  der  „starken  Hand"  die  leisen  Hande 
der  Marionettenspieler,  hinter  den  Tolpeln  Pfrimer  und  Star- 
hemberg  die  klugen  Intriganten  der  Konterrevolution,  hinter 
der  Posse  des  Putsches  den  Schatten  des  Staatsstreichs  zu 
sehn.  Jenseits  der  osterreichischen  Atmosphare,  in  der  die 
Schlamperei  gefahrlich  organisiert,  die  Lacherlichkeit  hochst 
bedrohlich,  die  Gemiitlichkeit  hochst  gewalttatig  ist,  in  der 
die  Wirklichkeit  stets  dem  Anschein  ein  Schnippchen  schlagt 
und  eine  Aktion  erst  beunruhigend  wird,  wenn  sie  bereits  zu- 
sammenbrach,  jenseits  dieser  igespenstischen  Biedermeierei 
wird  man  meinen,  die  Staatsgewalt  habe  den  Putsch  liquidiert, 
die  Regierung  habe  die  Ruhe  hergestellt,  ehe  sie  ernstlich  ge- 
stort  worden  war.  Man  wird  sich  vielleicht  ein  wenig  wun- 
dern,  daB  die  Heimwehr  auseinanderlief,  ohne  daB  die  Gen- 
darmerie, die  Wehrmacht  einen  SchuB  gegen  sie  abgegeben 
hatte,  daB  sie  die  Machtergreifung  lediglich  plakatierte,  aber- 
bereits  in  den  Wirtshausern  zechtef  als  die  Truppen  einzogen, 
daB  sie  nirgends  Widerstand  leistete,  sondern  unter  dem 
Schutz  der  Behorden  in  ihre  Wohnungen  heimkehrte.  Man 
wird  die  Fiihrer  der  Heimwehr  fur  arme  Gebirgsidioten  hal- 
ten  und  damit  recht  haben;  nicht  recht  haben  wird  man,  wenn 
man  der  osterreichischen  Formel  glaubt:  ,,Es  war  nix!"  Denn 
auf  diese  Formel  kann  man  in  Oesterreich  alles  bringen, 

Aber  man  kann  sich  von  den  Ereignissen  nur  ein  Bild 
machen,  wenn  es  ein  Vexierbild  ist.  In  veralteten  Witzblat- 
tern  und  in  der  osterreichischen  Politik  ist  das  Vexierbild  eine 
traditionelle  Einrichtung.  Man  sieht  eine  Landschait  und  liest 
den  Text  dazu:  ,,Wo  ist  der  Gendarm?"  In  den  Linien  fried- 
licher  Baume,  Wiesen  und  Wolken  wird  man  ihn  finden,  wenn 
man  das  Bild  geduldig  hin-  und  herdreht  und  weiB,  daB  j'ede 
Linie  doppelt  gilt.  Ein  solches  Vexierbild  war  der  steirische 
Heimwehrputsch;  und  der  Text  dazu  lautet:  „Wo  ist  der  Sinn 
in  diesem  Unsinn?" 

Um  zwei  Uhr  morgens  erfuhr  man  in  Wien,  daB  <die  stei- 
rische Heimwehr  einen  Putschversuch  unternommen  habe. 
Sollte  man  diese  telephonische  Meldung  ernsthaft  beachten, 
sollte  man  sie  nicht  als  Mystifikation  abtun  und  zu  Bett  gehn? 
Die  Heimwehr  ist  langst  keine  Macht  mehr,  vielleicht  ist  es 
irgendwo  zu  einem  lokalen  ZusammenstoB  gekommen  —  denn 
daB  Pfrimer  vor  einiger  Zeit  einen  Putsch  angekiindigt  hatte, 
hielt  man  fur  eine  der  landesublichen  GroBsprechereien. 
Aber,  so  komisch  es  ist,  die  Meldung  wird  von  alien  Seiten  be- 
statigt,  um  drei  Uhr  morgens  gibt  es  keinen  Zweifel  mehr,  daB  in 
der  Steiermark,  in  dem  Gebiet  der  Alpine-Montan-Gesellschaf t, 
sozusagen  geputscht  wird.  Die  Regierung  ist  alarmiert;  sie 
i  427 


verspricht,  in  wenigen  Stunden  den  Aufstand  niedergeworfen 
zu  haben,  die  Staatsgewalt  zu  mobilisieren  und  den  auslan- 
dischen  Kreditoren  zu  beweisen,  daB  Oesterreich  ein  ordent- 
liches  Land  ist.  Um  sechs  Uhr  morgens  wird  der  Republi- 
kanische  Schutzbund,  die  Wehrorganisation  der  sozialdemo- 
kratischen  Partei,  in  ganz  Oesterreich  bereitgestellt;  zu  glei- 
cher  Zeit  erklart  die  Regierung,  Gendarmerie  und  Wehrmacht 
seien  gegen  die  Heimwehr  autgeboten  worden.  Unterdessen 
hat  man  erfahren,  daB  in  den  meisten  obersteirischen  Ortschaf- 
ten  die  Biirgermeisteramter  und  die  Gebaude  der  Bezirks- 
hauptmannschaften  besetzt,  daB  iiberall  Maschinengewehre  in 
Stellung  gebracht  wurden.  Die  Telegraphenamter  jedoch 
funktionieren;  wir  sprechen  telephonisch  mit  den  Fiihrern  der 
obersteirischen  Arbeiterschaft,  mit  jedem  sozialdemokratischen 
Arbeitersekretariat  ist  miihelos  eine  Fernverbindung  herzu- 
stellen.  Das  ist  die  Situation  um  sechs  Uhr  morgens;  ein  son- 
derbarer  Putsch!  Eine  besoffene  Stammtischrunde  ist  aus  dem 
Schlagwort  unversehens  in  die  Aktion  geraten.  Anstatt  mit 
ihren  Ehefrauen  wollen  die  Hahnenschwanzmanner  mit  den  po- 
litischen  Gegnern  handgemein  werden*  ' 

Etwas  mehr  als  drei  Stunden  fahrt  man  von  Wien  nach 
Bruck;  bis  zur  steirischen  Grenze  halt  man  den  Putsch  fur 
eine  Privatangelegenheit  Pf rimers,  Mein  Begleiter  z^yeifelt 
uberhaupt  an  der  Realitat  der  Ereignisse;  es  wird  sich  heraus- 
stellen,  meint  er,  daB  das  Ganze  ein  Nachtmanover  der  Heim- 
wehr ist,  eine  kleine  Provokation,  sonst  nichts,  Immerhin 
traut  auch  er  dem  Pirimer  einen  ExzeB  der  Dummheit  zu;  der 
Mann  ist  eine  tragikomische  Figur.  Die  Politik  ist  fiir  ihn 
Flucht  aus  dem  Privatleben;  in  der  kleinen  Stadt,  wo  er 
Advokat  ist,  stehn  die  Ehebetten  mitten  auf  dem  Marktplatz. 
Jeder  weiB,  daB  die  Ehe  des  Heimwehrfiihrers  in  keiner  Weise 
funktioniert,  daB  er  von  der  Diktatur  traumt  wie  ein  Gym- 
nasiast  von  kolossaler  Unzucht.  Vielleicht  will  Pfrimer  end- 
lich  einmal  seiner  Gattin  imponieren;  fiir  ihn  Grund  genug, 
einen  Putsch  zu  machen.  Aber  ist  es  auch  Grund  genug  fiir 
seine  Gefahrten,  die  ja  gewiB  Dummkopfe,  aber  doch  nicht  so 
gottverlassen  sind,  ohne  Ruckversicherung,  ohne  Ziel  und 
Plan  blindlings  auszuschwarmen,  Eintagsf liegen  der  Konter- 
revolution?  Freilich  unterschatzt  man  die  Dummheit  dieser 
alpinen  Condottieri  immer  wieder,  halt  man  oft  fiir  undurch- 
sichtig,  was  nur  vertrottelt  ist,  aber  irgendwo  endet  die  Dumm- 
heit,  beginnt  die  Politik. 

Jenseits  der  Grenze.  wird  uns  die  Sache  unheimlich;  da 
stehn  bei  jeder  Bahnstation  bis  an  die  Zahne  bewaffnete  Heim- 
wehrleute  und  halten  Maulaffen  feil.  Teilnahmslos  stehn  sie 
in  der  Landschaft  herum  und  warten,  was  daraus  entsteht;  es 
entsteht  jedoch  nichts  daraus,  in  seinem  beschaulichen  Eigen- 
leben  spielt  der  Putsch  mit  sich  selbst,  betrachtet  er,  wie 
NarziB,  eitel  und  erstaunt  sein  Spiegelbild  in  den  Alpen- 
bachen.  Da  und  dort  wird  ein  Automobil  aufgehalten,  da  und 
dort  ein  Biirgermeister  verhaftet  und  wieder  freigelassen, 
nicht  ein  einziges  Telegraphenamt  wurde  besetzt,  nicht  ein 
einziger  Fiihrer  der  Arbeiterschaft  gefangen  genommen,  die 
Eisenbahnen  fahren  wie   sonst,   Sonntagsausflugler  lassen   sich 

428 


nicht  storen,  mit  aufgepflanztem  Bajonett  wartet  die  Heim- 
wehr auf  die  Fortsetzung  der  Aktion.  Und  diesc  Operetten- 
haftigkeit,  diese  Konsequenzlosigkeit,  dieses  kindische  Nichts- 
tun  beunruhigt  uns  immer  mehr;  irgend  etwas  stimmt  da  nicht, 
so  dumm  ist  nicht  einmal  die  steirische  Heimwehr,  dafi  sie 
glatubt,  man  miisse  nur  sagen:  ,,Wir  ergreifen  die  Macht!",  um 
dann  neugierig  warten  zu  konnen,  wie  das  ist,  wehn  man  die 
Macht  ergriffen  hat,  Irgend  etwas  stimmt  da  nicht;  man  ist 
in  eine  bewaffnete  Idylle  hineingeraten  und  nicht  in  einen  be- 
waffneten  Aufstand.  Nun,  in  Bruck  wird  das  anders  sein, 
meinen  wir;  aber  in  Bruck  ist  (iberhaupt  nichts,  Einige  Gen- 
darmeriepatrouillen  gehen  in  den  StraBen  umher  und  an  den 
Wanden  kleben  Plakate:  „Volk  von  Oesterreich!  In  hochster 
Not  hat  mich  das  heimattreue  Volk  Oesterreichs  zum  obersten 
Hiiter  seiner  Rechte  berufen . , .  Der  Heimatschutz  ergreift  im 
Sinne  seiner  Grundsatze  die  Macht  im  Staate.  Zur  Sicherung 
seiner  Bestrebungen  rufe  ich  hiermit  die  gesamten  heimat- 
treuen  Verbande  unter  die  Waffen.  . . .  Auf  Grund  des  rechtr 
lichen  Nichtbestehens  des  Staates  und  der  Staatsverfassung 
entbindc  ich  das  Bundesheer,  Polizei,  Gendarmerie  sowie  alle 
offentlichen  Beamten  und  Angestellten  ihres  Diensteides.  Ge- 
zeichnet:  Dr,  Walter  Pfrimer.1'  Und  ein  zweites  Plakat: 
MProvisor.  Verfassungspatent.  Als  Fiihrer  des  Staates  Oester- 
reich ordne  ich  an  ..  "  Vor  den  Plakaten  kleine  Menschen- 
gruppen  —  und  da  und  dort  ein  Heimwehrmann,  der  osten- 
tativ  friedliebend  auf  und  ab  spaziert  und  sich  um  die  Ecke 
driickt,  wenn  er  einen  Vertrauensmann  der  Arbeiter  sieht. 
,,Was  ist  los?"  ,,Die  Heimwehr  hat  vor  zwei  Stunden 
Bruck  verlassen  und  ist  nach  Leoben  marschiert."  Wurde  sie 
von  der  Gendarmerie  vertrieben?  Keine  Spur;  die  Gen- 
darmerie ist  erst  eine  halbe  Stunde  spater  gekommen.  Das 
ist  der  Putsch  in  Bruck. 

Um  drei  Uhr  morgens  ist  die  Heimwehr  in  Bruck  ein- 
marschiert,  hat  die  Briicke  und  den  SchloBberg  besetzt.  Am 
Abhang  des  Schlofibergs  wurden  einige  einzelstehende  Arbei- 
terhauser  (iberfallen  und  beschossen;  ein  Arbeiter  war  daheim, 
er  hat  sich  mit  seinem  Gewehr  gcgen  zwanzig  Heimwehrleute 
verteidigt,  hat  sie  davongejagt.  Zwei  Hauser,  in  denen  nur 
Frauen  waren,  wurden  erobert  und  ,um  zehn  Uhr  vormittags 
wieder  geraumt.  Einige  Arbeiter  wurden  miBhandelt,  einige 
interniert;  im  Gebaude  der  Bezirkshauptmannschaft  ergriff  die 
Heimwehr  die  Macht,  d«m  Arbeiterheim  wich  sie  in  weitem 
Bogen  aus.  Plotzlich  verlieB  sie  die  Stadt,  niemand  wuBte, 
warum;  wesentlich  spater  tauchte  Gendarmerie  auf.  Der  Re- 
publikanische  Schutzbund  stand  bereit,  brannte  daraxif,  mit  den 
Heimwehrleuten  abzurechnen;  telephonisch  kam  zum  zehn- 
ten  Mai  die  Meldung  von  der  steirischen  Landesregierung, 
daB  Wehrmacht  unterwegs  sei.  Von  Graz  nach  Bruck  fahrt 
man  eine  Stunde;  um  drei  Uhr  nachmittags  kam  en  die  erst  en 
Truppen  in  Automobilen.  Sie  blieben  in  Bruck,  niemand 
wuBte  warum;  in  der  Bezirkshauptmannschaft  verhandelten 
die  Behorden  mit  Heimwehrleuten  in  Zivil.  Gaffend  umstan- 
den  die  Burger  von  Bruck  die  Militarautomobile,  die  in  Bruck 
blieben,  obwohl  aus  Leoben  (funfzehn  Schnellzugsminuten  ent- 

429 


fernt)  die  Nachricht  kam,  daB  dort  ungefahr  zweitausend 
Heimwehrleute  konzentricrt  wurden.  In  Kapfenberg  (fiinf 
Schnellzugsminuten  cntfcrnt)  wurde  geschossen.  Die  Heim- 
wchr  griff  das  Arbeiterheim  an,  totete  zwei  Arbeiter,  zog  sicn 
zuriick,  als  Gendarmerie  kam,  wurde  von  der  Gendarmerie 
nicht  verfolgt.  In  Bruck  standen  die  Militarautomobile,  riihr- 
ten  sich  nicht  von  der  Stelle.  Zwei  Dutzend  Gendarmen  ftihr- 
ten  gegen  die  Heimwehr  Krieg,  einen  Krieg,  der  darin  bestand, 
daB  einer  dem  andern  auswich,  einer  dem  andern  Schwierig- 
keiten  ersparten.  Nur  in  Pernegg,  einer  kleinen  Ortschaft  bei 
Bruck,  ging  die  Gendarmerie  energisch  und  in  Massen  vor; 
dort  hatten  zwolf  Heimwehrleute  die  Macht  ergriffen.  Sie 
wurden  von  hundert  Arbeitern  umstelit,  in  einem  Gebaude 
zerniert.  Kurz  darauf  tauchten  zweihundert  Gendarmen  auf, 
verjagten  die  Arbeit er,  ernannten  die  Heimwehr  zur  staat- 
lichen  Notpolizei;  kein  SchuB  ist  in  Pernegg  gef alien, 

Aus  Leoben  kommen  wilde  Geruchte,  wir  fahren  im  Auto 
nach  Leoben.  In  Leoben  ist  nirgends  Heimwehr  zu  sehn;  wir 
horen,  daB  der  Putsch  zu  Ende  ist,  Wie  das?  Ja,  die  Heim- 
wehr ist  durch  die  Stadt  marschiert,  von  den  waffenlosen  Ar- 
beitern mit  Pfuirufen  empfangen,  hat  zuerst  in  den  StraBen 
ein  Heerlager  aufgeschlagen,  hat  sich  dann  in  die  Walder  zu- 
riickgezogen,  ist  wieder  zuriickgekehrt  xind  in  die  Hotels  ge- 
gangen,  deren  Besitzer  ihre  Freunde  sind.  In  dem  groBten 
Hotel  der  Stadt  wird  abgeriistet;  die  Waff  en  werden  ver- 
steckt,  die  Uniformen  mit  Zivilkleidern  vertauscht  und  drauBen 
jagt  die  Gendarmerie  mit  auEgepflanztem  Bajonett  die  Neu- 
gierigen  durch  die  StraBen,  hierhin  und  dorthin,  bis  die 
Heimwehrwaffen  und  die  Heimwehrfuhrer  in  Sicherheit  sind. 
Gegen  diese  Heimwehrfuhrer  hat  die  Regierung  den  Haftbefehl 
erlassen  —  die  Gendarmerie  scheint  davon  nichts  zu  wissen. 
AuBerdem  ist  sie  damit  beschaftigt,  die  StraBen  zu  saubern, 
in  denen  Frauen  und  Kinder  offenbar  die  Ruhe  und  Ordnung 
gefahrden.  Ahnlich  geht  es  in  Kapfenberg  zu;  die  Heimwehr- 
leute sitzen  in  ihren  Gasthofen,  die  Arbeiter  werden  von  den 
Bajonetten  der  Gendarmerie  durch  die  StraBen  gejagt  —  und 
schlieBlich  gehn  die  Gendarmen  in  eines  der  Heimwehrwirts- 
hauser,  nicht  um  die  Waffen  der  Aufriihrer  an  sich,  sondern 
um  eine  Jause  zu  sich  zu  nehmen.  Der  Putsch  ist  zu  Ende, 
niemand  weiB  warum,  die  Wehrmacht  ist  noch  immer  unter- 
wegs.  Abends  treffen  viele  Kompanien  mit  Maschinengeweh- 
ren  und  Geschiitzen  in  der  Obersteiermark  ein;  die  Heimwehr 
ist  unterdessen  schlafen  gogangen.  ,,Es  war  nix!"  —  nur,  daB 
zwei  tote  und  eiriige  verwundete  Arbeiter  zuruckgeblieben 
sind,  nur,  daB  die  Arbeiterschaft  in  wilder  Erregung  wacht 
und  das  Land  von  den  Waffen  der  Staatsgewalt  starrt,  um 
zwolf  Stuaden  zu  spat.  Und  am  nachsten  Tag  schreibt  die 
christlichsoziale  ,Reichspost\  das  Blatt  der  Regierung:  „Wo 
Truppen  des  Bundesheeres,  uberall  mit  tadelloser  Sicherheit 
eingesetzt,  erschienen,  zerstaubte  sofort  jeder  Widerstand. 
Kein  SchuB  aus  einem  Soidatengewehr  brauchte  zu  fallen." 
Und  man  lobt  die  starke  und  weise  Regierung  Oesterreichs. 

Das  ist  das  Vexierbild.  Ahnt  man  bereits  den  Sinn  in  dem 
Unsinn? 

430 


Erstens:  es  war  kein  Putsch,  sondern  ctwas  weitaus  Ge- 
fahrlicheres,  was  da  gcspiclt  wurde.  Mit  den  paar  hundert 
HeLmwehrleuten,  die  jedem  ernsten  ZusammenstoB  aits  dem 
Wege  gingen,  die  iiber  das  ganze  Land  verstreut  war  en  und 
erst  nachmittags  zum  Teil  in  Leoben  zusammengezogen  wur- 
den,  urn  kurz  darauf  abzuriisten  und  hcimzuschleichen,  mit 
diesem  Hauflein  einer  parodist  ischen  Kont  err  evolution  ware 
die  Staatsgewalt  in  einer  Stunde  fertig  geworden.  Urn  acht 
Uhr  morgens  ware  alles  zu  Ende  gewesen,  ehe  es  recht  be- 
gonnen  hatte,  wenn  nicht  die  Staatsgewalt  dbenso  gewartet 
hatte,  wie  die  Heimwehr  gewartet  hat.  Ja,  die  Arbeiter 
hatten  die  Heimwehr  in  erstem  Ansturm  hinausgeohrfeigt, 
ohne  vieler  Waffen  zu  bedurfen,  wenn  sie  nicht  in  bitterer 
Disziplin  zuruckgehalten  wprden  waren  —  mit  Recht  zuriick- 
gehalten;  denn  uberall,  wo  sie,  wie  in  Pernegg,  die  Heimwehr 
in  die  Enge  trieben,  griff  blitzgeschwind  die  Staatsgewalt  ein. 

Zweitens:  nicht  alle  Politiker  der  Bourgeoisie  waren  so 
ahnungslos  wie  der  Innenminister  Winkler  und  der  AuBen- 
minister  Schober,  die  von  der  Heimwehr  nichts  wissen  wollen; 
Winkler  aus  alter  Gegnerschaft,  Schober,  weil  er  auBenpoli- 
tisch  mit  ihr  keinen  Staat  machen  kann,  beide,  weil  ihre 
.  Parteien,  die  Landbiindler  und  die  Grofideutschen,  der  Heim- 
wehr ablehnend  gegeniiberstehn.  Winkler  und  Schober  woll- 
ten  energisch  vorgehn,  aber  der  Heeresminister  Vaugoin  und 
der  steirische  Landeshauptmann  Rintelen  haben  ihre  Wiinsche 
sabotiert,  haben  der  Heimwehr  nicht  nur  Zeit  gelassen,  sfdh 
zu  entfalten,  sondern  ihr  auch,  als  der  VorstoB  miBlang,  den 
Riickzug  leicht  gemacht.  Die  Herren  der  Alpine-Montan-Ge- 
sellschaft,  eng  mit  Rintelen  versippt,  haben  den  Putsch  finan- 
ziert,  Rintelen  und  Vaugoin  haben  gewartet,  wie  sich  die 
Dinge  entwickeln  —  erst,  als  die  vollige  Uniahigkeit  Pfrimers 
offenbar  wurde,,  haben  sie  schonungsvoll  das  Abenteuer  liqui- 
diert  und  den  Eintagsdiktator  fallen  gelassen,  Langer  durfte 
das  Experiment  nicht  hingezogen  werden,  sonst  hatte  man  die 
Auslandsglaubiger  allzu  nervos  gemacht  —  das  wurde 
Rintelen  unzweideutig  mitgeteilt.  Da  Pf rimer  die  Zeit  nicht 
zu  niitzen  verstand,  muBte  er  geopfert  werden. 

Drittens:  so  dumm  der  Walter  Pf  rimer  ist,  hat  er  dennoch 
nicht  grundlos  seinen  Putsch  derart  putschwidrig  aufgezaumt. 
Offenbar  aber  hat  er  in  seiner  Beschranktheit  die  Auftrag- 
geber  nur  zum  Teil  verstanden,  zu  naiv  mit  der  Unterstutzung 
der  Staatsgewalt  gerechnet  —  denn  daB  er  damit  gerechnet 
hat,  und  zwar  nicht  nur,  weil  Gott  ihm  einen  Traumwink  gab, 
sondern  auch,  weil  er  solidere  Anhaltspunkte  hatte,  ist  jedem 
Zweifel  entruckt.  Er  hat  gewuBt:  wenn  er  allzu  energisch 
vorgeht,  wenn  aus  der  Putschkomodie.  wirklich  ein  regelrech- 
ter  Putsch  wird,  kann  das  die  Staatsgewalt  in  die  unange- 
nehme  Situation  bring  en,  um  der  Auslandskredite  willen  rasch 
gegen  ihn  einschreiten  zu  miissen.  Daher  hat  er  die  Heimwehr 
mobilisiert,  aber  nirgends  einen  zielbewuBten  Angriff  unter- 
nomm^n;  er  hat  vielmehr  gewartet.  Ebenso  hat  die  Staats- 
gewalt, haben  Rintelen  und  Vaugoin  gewartet.  Worauf  aber 
haben  alle  umsonst  gewartet? 

2  431 


Viertens:  Wcnn  Pf rimer  etwas  begabter  oder  die  Arbei- 
terschaft  etwas  unbesonnener  gewesen  ware,  hatte  die  Heim- 
wehrprovokation  ihre  Wirkung  nicht  verfehlt.  Denn  die  Ar- 
beiter  zu  provozieren,  sie  zum  Angriff  herauszulocken,  das 
war  der  einzige  Sinn  des  „Putsches".  Ware  es  irgendwo  zu 
er  listen  ZusammenstoBen  gekommen,  dann  hatte  sich  im  GroBen 
ereignet,  was  in  Pernegg  im  Kleinen  angedeutet  wurde.  Die, 
Staatsgewalt  hatte  nicht  so  lange  gebraucht,  um  nach  Bruck 
oder  Leoben  zu  kommen,  sie  ware,  die  Heimwehr  zur  Nol> 
polizei  ernennend,  gegen  die  Arbeiter  vorgegangen  —  und  die 
Zeitungen  hatten  am  nachsten  Tag  gemeldet:  Ein  blutiger 
Aufstand  der  steirischen  Marxisten  niedergeschlagen.  Die  Re- 
gierung  beherrscht  die  Situation.  Die  Heimwehr  kampft  auf 
,  der  Seite  der  staatlichen  Ordnung.  In  dieser  Situation  ware 
es  den  Rechtsradikalen,  Seipel,  Vaugoin,  Rintelen  gelungent  die 
biirgerlichen  Parteien  zu  einer  Politik  der  „starken  Hand"  zu 
bringen  und  vor  dem  Elendswinter  einen  Ausnahmezustand 
iiber  Oesterreich  zu  verhangen-  Dann  hatte  die  Alpine-Montan- 
Gesellschaft  die  Heimwehr  nicht  umsonst  finanziert,  dann 
konnte  die  Regierung  mit  dem  Bajonett  gcgen  die  Wirtschafts- 
krise  regieren.  Es  ist  anders  gekommen,  Pfrimer  hat  seine 
Sache  schlecht  gemacht,  er  mufi  daftir  biiBen  (allzuviel  wird 
ihm  nicht  geschehn).  Und  die  Regierung  hat,  so  sonst  nichts 
iibrig  blieb,  die  Ruhe  und  Ordnung  in  Oesterreich  gerettet. 

n Lange  Wellen"  von  Thomas  Tarn 

\l  or  kurzer  Zeit  sind  die  neuen  Vierteljahrshefte  des  Insti- 
tuts  fiir  Konjunkturforschung  erschienen.  Sie  geben  keine 
systematische  Analyse  der  heutigen  Situation,  sie  versuchen 
nicht  einmal,  eine  Prognose  fiir  die  nachste  Zeit  zu 
geben,  Sie  referieren  lediglich  iiber  die  letzten  Monate  und 
bestatigen,  was  wir  langst  wissen:  nirgends  ist  ein  Anzeichen, 
daB  die  Krise  in  nachster  Zeit  liquidiert  werden  wird,  im  Ge- 
genteil,  sie  wird  sich  weiter  vertiefen.  Wagemann,  der  Leiter 
des  Instituts  fiir  Konjunkturforschung,  hatte  bereits  Mai  1931, 
im  Vorwort  zu  seinem  Buch;  ,,Struktur  und  Rhythmus  der 
Weltwirtschaft".  geschrieben;  „Am  Beschaftigungsgrad,  an  der 
Produktion,  am  Volkseinkommen  und  am  Welthandel  gemes- 
senen  ist  die  gegenwartige  Krise  die  bei  weitem  schwerste  des 
ganzen  letzten  Jahrhunderts.  Dabei  wissen  wir  nicht  einmal, 
ob  sich  die  Riickgange  nicht  noch  weiter  fortsetzen." 

Wir  wissen,  dafi  die  Riickgange  seitdem  riesenhaft  an- 
gehalten  haben.  Wenn  aber  diese  Krise  die  schwerste  des 
ganzen  letzten  Jahrhunderts  ist,  und  wenn  man  sich  dabei  um 
die  Erkenntnis  herumzudrucken  sucht,  daB  sie  im  Niedergang 
des  kapitalistischen  Systems  stattfindet,  so  mufite  man  diese 
besondere  Schwere  der  Krise  aus  Faktoren  ableiten,  die  nur 
vorubergehenden  Charakter  haben,  und  die  daher  in  irgend 
einer  rabsehbaren  Zeit  beseitigt  werden  wiirden.  In  Deutsch- 
land  hatte  man  zunachst  aui  den  Krieg  und  die  direkten  und 
indirekten  Kriegsfolgen  hingewiesen.  Aber  nachdem  der  ameri- 
kanische  Kapitalismus,  der  durch  den  Krieg  nicht  sehr  mit- 
432 


genommen  wurde,  so  auBerordentlich  stark  betroffen  war,  daB 
auch  driibcn  in  der  ganzen  bisherigen  Krisengeschichte  keine 
Parallcle  zu  find  en  ist,  war  es  immer  schwerer,  im  Krieg  den 
entscheidenden  Faktor  zu  sehen.  Weiter:  der  Hinweis  auf 
den  Krieg  verlor  international  seine  Bedeutung  immer  mehr. 
In  den  ersten  Jahren  nach  dem  Kriege  konnte  man  gewisse 
Erscheinungen  mit  dessen  Liquidierung  in  direkten  Zusammen- 
hang  bringen.  Je  weiter  weg  wir  aber  von  der  Beendigung  des 
Krieges  sind,  um  so  schwerer  findet  die  Ansicht  Glauben,  daB 
vor  allem  der  Krieg  fvir  die  zugespitzten  Widerspriiche  des 
kapitalistischen  Systems  verantwortlich  zu  machen  ist.  Man 
brauchte  daher  artdre  kausale  Zwischenglieder  und  kon- 
struierte  sie  sich.  Man  sagte,  diese  Krise  sei  mit  irgendeiner  der 
letzten  zwanzig  Vorkriegsjahre  nicht  zu  vergleichen,  denn  da- 
mals  gab  es  eine  ,,lange  Welle'*  der  Wirtschaft,  in  der  die  „Ex- 
pansion"  vorherrschte.  Dagegen  gab  es  nach  1870  eine  „lange 
Welle"  der  wirtschaftlichen  Entwicklung,  in  der  die  ,, Stagna- 
tion'* vorherrschte;  <so  ist  es  auch  nach  dem  Weltkrieg.  Da 
also  die  heutige  Krise  in  eine  Stagnationsepoche  fallt,  ist  ihr 
AusmaB  ein  so  groBes.  Aber  herauskommen  wird  der  Kapita- 
lismus  auch  aus  dieser  Stagnationsepoche,  wie  er  aus  der  Stag- 
nationsepoche nach  dem  Krieg  von  1870/71  herausgekommen 
ist.  Wagemann  teilt  die  einzelnen  Epochen  in  folgender  Weise 
ein:  1845  bis  1873:  Expansion  —  1873  bis  1895:  Stagnation  — 
1895  bis  1920:  Expansion  —  ab  1920:  Stagnation.    . 

Die  Theorie  der  langen  Wellen  ist  nicht  von  Wagemann 
entdeckt,  sie  findet  sich  bei  der  gesamten  burgerlichen 
Vulgarokonomie.  Zu  welchen  politischen  Zwecken  man  sie 
heute  braucht,  das  ve^rat  Naphtali,  der  zur  Zeit  einer  der  wich- 
tigsten  Wortfiihrer  des  Reformismus  ist.  In  seiner  Broschiire 
,,Wirtschaftskrise  und  Arbeitslosigkeit"  schreibt  er: 

Eine  der  Besonderheiten  liegt  ohne  Zweifel  bei  jeder  Krise  darin, 
ob  sie  sich  in  einem  Zeitraum  abspielt,  in  dem  die  gesamtwirtschaft- 
liche  Bewegung,  die  Gesamtentfaltung  der  kapitalistischen  Wirtschaft 
sturmisch  aufwarts  geht,  oder  in  einer  Periode,  in  der  die  Bewegung 
abebbt  und  ruhiger  ist.  Man  hat,  rein  als  Tatsachenbeobachtung,  die 
Feststellung  gemacht,  daB  in  den  rund  hundertzehn  Jahren  der  kapi- 
talistischen Entwicklung,  die  wir  iibersehen  konnen,  die  kurzen  Zyklen 
der  Konjunktur,  die  sich  etwa  im  Rahmen  yon  sieben  bis  zehn  Jahren 
abspielen  und  von  denen  bisher  allein  die  Rede  war,  sich  innerhalb 
sogenannter  langer  Wellen  abwickeln.  Es  gab  in  dieser  Zeit  Perioden 
des  langfristigen  Tiefstandes  und  Perioden  des  langfristigen  Auf- 
schwungs,  Perioden  der  Ebbe  und  ^er  Springflut,  wie  es  S.  de  Wolff 
genannt  hat  („Der  lebendige  Marxismus",  Festgabe  zum  siebzigsten 
Geburtstag  von  Karl  Kautsky.  Jena  1924),  und  man  kann  mit  ziem- 
Iicher  Sicherheit  feststellen,  daB  in  den  langen  Ebbeperioden  .  die 
Baissejahre  iiberwiegen,  in  den  langen  Aufschwungsperioden  dagegen 
die  Haussejahre,  An  der  Preisbewegung  gemessen  —  und  das  ist,  wie 
schon  erwahnt,  fast  der  einzige  statistische  MaBstab,  der  hier  anwend- 
bar  ist,  zeigt  sich,  daB  etwa  von  1825  bis  1850  eine  solche  Ebbeperiode 
herrschte,  in  der  die  Aufschwiinge  keinen  hohen  Grad  erreichten,  dafi 
dann  von  1851  bis  1873  eine  langfristige  Springflutperiode  folgte,  eine 
Periode  der  auBerordentlich  schnellen  Entwicklung  des  Kapitalismus. 
Von  1874  bis  1895  haben  wir  wieder  eine  Ebbeperiode,  also  eine 
Periode  der  ruhigen  Preisbewegung,  und  von  1896  bis  1913  eine  neue 
Zeit  der  Springflut,  die  mit  den  besondern  Einiliissen  des  Welt- 
krieges  wohl  bis  1920  fortgewirkt  hat. 

433 


Wir  mtissen  uns  nun  die  Frage  vorlegen:  Wo  stehen  wir,  in  welch 
langfristiger  Periode  spielt  sich  der  gegenwartige  Konjunkturzyklus, 
spielt  sich  die  gegenwartige  Krise  vermutlich  ab.  Da  spricht  nun 
auBerordentlich  viel  fur  die  Annahme,  daB  wir  uns  seit  etwa  1921, 
also  seitdem  die  Hausseperiode,  die  okonomisch  fur  die  meisten  Lan- 
der auch  in  der  Kriegszeit  herrschte,  abgebrochen  ist,  seitdem  wir  die 
ersten  internationalcn  Nachkriegskrisen  vom  Jahre  1921  ab  gehabt 
haben,  weltwirtschaftlich  gesehen  in  einer  Ebbeperiode  befinden. 

Die  Theorie  der  Langen  Wellen  wird  also  hier  dazu  ver- 
wendet,  die  politischen  Konsequenzen  zu  ziehenf  die  der  Re- 
formismus  braucht.  Die  Krise  ist  tiefer  als  jede  andre,  das  muB 
man  zugeben.  Also  gehort  sie  einer  Ebbeperiode  an,  einer 
Periode  der  Stagnation,  Auch  das  hat  der  Kapitalismus  schon 
gekannt;  auch  die  Ebbe,  auch  die  Stagnationsperiode  hat  er 
schon  iiberwunden,  also  wird  er.  sie  auch  dieses  Mai  uberwin- 
den  und  wieder  zu  einer  ,,Hausse",  zu  einer  ,,Expansionsperi- 
ode"  kommen.  Einige  Zeit  kann  das  naturlichnochdauern.  Und 
so  schreibt  Wagemann  bereits,  daB  diese  Depressionswelle  bis 
zum  Jahre  1940  anhalten  wird/  Es  ist  hier  nicht  der  Platz, 
nachzuweisen,  welches  Gemisch  von  Plattheiten  und  voreili- 
gen  Verallgemeinerungen  diese  Theorie  der  Langen  Wellen 
iiberhaupt  ist.  Fiir  uns  ist  es  nur  notwendig,  daB  die  „Tat- 
sachenbeobachtung",  wonach  in  der  Zeit  von  1874  bis  1894  eine 
Ebbeperiode  herrschte,  vollig  falsch  ist,  daB  die  Tatsachen  in 
Wahrheit  das  genaue  Gegenteil  beweisen  und  daB  es  kein  Zu- 
fall  ist,  wenn  Naphtali  an  der  bereits  zitierten  Stelle  allein  von 
der  Preisbewegung  spricht.  Er  weiB  warum,  er  weiB,  daB  die 
gesamte  iibrige  Statistik  seine  Ausftihrungen  ganz  und  gar 
Liigen  straft.  Wie  entwickelte  sich  die  Produktion  von 
1870  bis  zti  den  neunziger  Jahren?  Wir  besitzen,  wie 
bekannt,  fiir  diese  Epoche  keine  exakte  Produktionsstati- 
stik,  aber  die  Daten,  die  wir  bringen,  diirften  doch  vollig  aus- 
reichend  sein.  (Damit  uns  nicht  der  Einwand  gemacht  werden 
kannf  daB  sie  willkurlich  zusammengestellt  sind,  benutzen  wir 
in  der  Hauptsache  die  Bucher  von  Wagemann  und  Sombart,  das 
heiBt  die  Bucher  von  Autoren,  die  selbst  die  Theorie  der  Lan- 
gen Wellen  vertreten.) 

Wagemann  bringt  Zahlen  iiber  die  Entwicklung  der  indu- 
striellen  Produktion  in  den  drei  entscheidenden  hochkapitalisti- 
schen  Staaten. 

Entwicklung  der  Industrieproduktion  wichtiger  Lander: 
1913  =  100 


Jahr 

GroB- 
britannicn 

Dcutschland 

Vereinigte 
Staaten 

1870 

43,8 

17,5 

7,7 

1880 

52,7 

24,6 

17,4 

1890 

61,9 

40,3 

38,5 

1900 

78,8 

64,7 

54,2 

1910 

85,1 

88,6 

89,0 

1913 

100,0 

100,0 

100,0 

Was  besagen  die  Zahlen?  Von  1870  bis  90  hat  sich  die  indu- 
strielle  Produktion  in  den  Vereinigten  Staaten  verfunffacht,  die 
deutsche  mehr  als  verdoppelt,  die  englische  ist  um  zirka  die 
Halfte  gestiegen.  Von  einer  Stagnation  war  also  in  der  Welt- 
produktion  in  keiner  Weise  die  Rede,  wohl  aber  von  einem 

434 


voiiig  ungleichmaBigen  Tempo  in  der  Entwicklung  der  einzel- 
nen  hochkapitalistischen  Lander.  Wie  stand  es  mit  der  Schwer- 
industrie in  Deutschland?  Nach  Sombart  hat  sich  in  diesem 
Zeitraum  die  Bergbauproduktion  mehr  als  verdoppelt.  Und 
wie  steht  es  mit  der  deutschen  Roheisen-  und  Hiitten- 
produktion? 

Hvittenindustrie 
Produktion  in  1000  Tonnen 
Roheisen  Summe  aller  Huttenerzeugnisse 

1871/75  1945,7  1871/75  2157,3 

1876/80  2176,5  1876/80  2497,8 

1881/85  3410,5  1881/85  3969,5 

1886/90  4214,6  1886/90  4901,9 

1891/95  5081,8  1891/95  5952,7 

Hier  ist  also  im  gleichen  Zeitraum  eine  Steigerung  um 
mehr  als  150  Prozent  eingetreten.  Die  Steigerung  in  Deutsch- 
land war  grade  damals  besonders  bedeutend,  weil  sich  die 
groBkapitalistische  Produktionsweise  vielfach  erst  in  diesen 
Jahrzehnten    entwickelte,      Sombart    schreibt    daruber: 

Hier  nur  die  Feststellung,  daB  in  den  genannten  beiden  Jahrzehn- 
ten das  kapitalistische  Wirtschaftssystem  zu  allgemeinster  Verbreitung 
in  Deutschland  gelangt  und  namentlich  auch  Gebiete  erobert,  die  bis 
in  die  1870er  J  ah  re  der  hahdwerksmaBigen  Organisation  so  gut  wie 
ausschlieBlich  verblieben  waren.  Es  ist  die  Zeit,  in  der  sich  auch  auf 
dem  Gebiete  der  Produktion  ein  grofikapitalistisches  Unternehmertum 
entwickelt,  das  vordem  iiberwiegend  nur  im  Handel  und  als  Hoch- 
finanz  existiert  hatte. 

Und  wie  steht  es  mit  der  internationalen  Entwicklung? 
In  den  Jahren  der  Stagnation  hatte  sich  allein  von  1880  bis 
1890  die  Roheisenproduktion  der  Welt  um  50  Prozent  erhoht, 
die  Stahlproduktion  von  1880  bis  1895  mehr  als  verdoppelt. 
Diese  riesenhafte  Ausdehnung  der  gesamten  Schwerindustrie 
in  der  Epoche  der  „Ebbe"  erklart  sich  daher,  daB  zu  dieser 
Zeit  der  Eisenbahnbau  in  der  ganzen  Welt  so  auBerordent- 
liche  Fortschritte  machte. 

Die  Jahreszunahme  der  Eisenbahnen  betrug  in  runden  Zif- 
fern  (die  Zahlen  nach  Sombart): 

Jahr  Erdc: 

1841—1850  3  000 

1851—1860  7  000 

1861—1870  10  000 

1871—1880  16  000 

1881—1890  24  000 

1891—1900  17  000 

seit  1900  24  000 

Diese  riesenhafte  Zunahme  des  Eisenbahnfcaus  in  den  Jah- 
ren der  Stagnation  wurde  selbst  in  der  Zeit  der  Expansion,  seit 
1900,  nicht  mehr  (ibertroffen.  Also  in  der  Epoche  der  Stag- 
nation und  der  Ebbe  eine  auBerordentlich  groBe  Steigerung  in 
der  Produktion  der  gesamten  Schwerindustrie  und  im  Welt- 
Eisenbahnbau,  dazu  aber  auch  eine  starke  Steigerung  im  Welt- 
auBenhandeL  Grade  hier  ist  das  Gebiet,  an  dem  immer  wieder 
die  Stagnation  in  dieser  Zeit  demonstriert  werden  soil,  Aber 
nur  dann  ist  eine  verhaltnismaBig  langsame  Entwicklung  zu 
konstatieren,  wenn  man  lediglich  die  Preise  beriicksichtigt  und 

435 


in 

auflerhalb 

Europa 

Europas 

2  000 

1000 

2  800 

4  200 

5  300 

4  700 

6  400 

9  600 

5  500 

19  500 

6  000 

11000 

5  000 

19  000 

nicht  die  ausgetauschten  Warenmengen.  In  der  Epochc  scit 
den  siebziger  Jahren  sind,  wie  bekannt,  die  Preise  der  Agrar- 
produkte  ani  dem  Weltmarkt  stark  gefallen,  da  damals  jungfrau- 
liche  Boden  Amerikas  mit  ihrer  Produktion  auf  den  Weltmark- 
ten  erschienen;  und  weiter  sind  damals  die  Preise  Mr  Industrie- 
produkte  stark  gefallen.  Wenn  man  aber  nur  die  Preise  bei 
der  Entwicklung  des  Welthandels  berucksichtigt,  so  kommt 
man  zu  einem  vollig  falschen  Rild. 


Nach  Wagemann  hatte  der 
WeltauBenhandel  in  dieser 
Epoche  folgende  Entwicklung 
genommen: 

Welthandel 

Jahr 


In  den  gleichen  Jahren  ent- 
wickelte  sich  der  GroBhan- 
delsindex  in  folgender  Weise: 


Milliarden  M.  bzw.  RM. 
Einfuhr  Ausfuhr 


1870' 

1880 

1881 

1885 

1890 

1894 

1895 


20,0 
27,1 

27,4 
27,4 
33,2 
30,8 
31,8 


17,2 
23,6 
24,8 
24,3 
29,4 
27,1 
28,2 


Deutsches 
Reich 

Stat. 
Reichsamt 

91,7 
94,0 
90,2 
73,6 
89,1 
72,2 
70,5 


GroB- 
britannien 

Statist 

112,9 
103,5 
100,0 
84,7 
84,7 
74,1 
72,9 


Ver.  Staaten 

vonAmerika 

Bureau  of 
Labour  Stat 

103,4 
94,2 
93,1 
81,9 
80,5 
68,6 
69,9 


Nach  diesen  Zahlen  ist  also  selbst  dem  Preise  nach  von 
1870  bis  1894  erne  Steigerung  um  fast  50  Prozent  eingetreten. 
Der  Menge  nach  war  aber  die  Steigerung  eine  ungleich  groBere, 
denn  im  gleichen  Zeitraum  ist  der  GroBhandelsindex  um  zirka 
cin  Drittel  zuriickgegangen.  Wenn  man  das  beriicksichtigtt  und 
es  ist  charakteristisch  fur  Naphtali,  daB  er  nur  von  Preisen 
sprichtt  aber  nicht  von  Produktions-  und  Umsatzmengen,  dann 
ist   auch  der  WeltauBenhandel   damals   sehr  kraftig  gestiegen. 

In  dieser  Epoche  hat  aber  auch  die  Zahl  der  beschaHig- 
ten  Industriearbeiter  um  viele  Millionen  zugenommen.  In 
Deutschland  wuchs  die  IndustriearbeiterschaH  zu  der  Zeit  nicht 
nur  parallel  mit  der  Bevolkerungsvermehrung,  sondern  dar- 
iiber  hinaus  durch  die  auBerordentlich  starke  Abwanderung 
vom  Land.  Wachstum  der  Arbeiterschaft,  damals  ver- 
bunden  mit  Erhohung  der  Reallohne,  das  bedeutet  natiir- 
lich  Steigerung  der  binnenlandischen  Konsumtion,  die,  wie  wir 
gezeigt  haben,  mit  einem  betrachtlichen  mengenmaBigen  Wach- 
sen  des  AuBenhandels  zusammenfieL  Kein  Wunder,  da  ja  da- 
mals eine  Ausbreitung  der  kapitalistischen  Produktionsweise 
iiber  die  ganze  Welt  stattfand.  Von  einer  Ebbeperiode,  von 
einer  Stagnation  nach  den  siebziger  Jahren  kann  also  in  keiner 
Weise  die  Rede  sein,  Nur  das  Tempo  war  aui  manchen  Ge- 
bieten,  durchaus  nicht  auf  alien,  kein  so  schnelles  wie  von  den 
neunziger  Jahren  bis  zum  Krieg,  Es  zeigt  sich  hier  deutlich, 
wie  abgeschmackt  es  ist,  Formulierungen,  die  aus  einer  andern 
Epoche  stammen,  heute  einfach  zu  libernehmen.  Wenn  die  Ka- 
pitalisten  durch  langere  Zeitraume  25  Prozent  Profit  machen  und 
dann  Jahre  kommen,  in  denen  sie  „nur"  15  Prozent  verdienen,  so 
sind  dies  Jahre  der  Ebbe,  Jahre  der  Stagnation.  Wenn  die 
Produktion  in  solchem  riesenhaften  Tempo  gestiegen  ist,  wie 
von  den  neunziger  Jahren  bis  zum  Krieg,  dann  gelten  die  Jahre 
vorher  leicht  als  Jahre  der  Ebbe,  der  Stagnation. 

436 


Die  Kapitalisten  waren  aufterordentlich  Iron,  wenn  die 
nachsten  Jahre  ebenso  verliefen,  wie  die  Jahre  nach 
4870,  wenn  in  den  nachsten  Jahren  die  Production,  der  AuBen- 
handel,  die  Zahl  der  beschaftigten  Arbeiter,  die  Profite,  die 
Lohne  so  zunahmen. 

Sie  werden  diese  Freude  nicht  erleben. 

SllbventlOnen  von  Bernhard  Citron 

A  Is  durch  die  Notveirordnung  vom  9.  Juni  1931  ein  Betrag 
von  140  Millionen  Reichsmark  (Differ enz  zwischen  Bedarf 
der  Krisenfiirsorge  und  Ertrag  -der  Krisensteuer)  fur  Sur> 
ventionszwecke  bereitgestellt  wurde,  schrieb  ein  bekanntes 
Linksblatt:  „Diese  Subvention  ist  die  groBte  seit  der  Hilfe  fiir 
die  Ruhrindustrie".  Professor  Bonn  errechnete  damals  im  (Ber- 
liner Borsen-Courier'  aus  dem  Etat  1931/32  offene  Subventionen 
in  Hohe  von  370  Millionen  Reichsmark.  Wie  bescheiden  neh- 
men  sich  diese  Betrage  gegen  die  Zuschiisse  und  Garantien 
aus,  die  seit  dem  13.  Juli  gewahrt  worden  sind.  300  Millionen 
an  die  Dresdner  Bank  in  Form  siebenprozentiger  Vorzugsaktien, 
deren  Verzinsung  alles  andre  als  sicher  ist,  43  Millionen  beab- 
sichtigter  Kredit  an  die  Industrie  zur  Obernahme  der  Danat- 
bank-Majoritat,  10  Millionen  an  die  Schroder-Bank  in  Bre- 
men und  140  Millionen  an  die  Garantie-  und  Akzept- 
bank.  als  Beteiligung  des  Reiches,  dann  neuerdings  der  Redis- 
kontkredit  der  Reichsbank  in  Hohe  von  150  Millionen  fiir  die 
Russenauftrage  der  Industrie  als  Erganzung  einer  bereits  iiber- 
nommenen  Ausfallburgschaft  von  300  Millionen,  Das  alles  sind 
noch  algebraische  GroBen.  Aber  die  zahlenmaBig  nicht  zu  er- 
fassenden  Garantien  fiir  die  Danatbank  und  fiir  -die  Schro- 
der-Bank, die  Erleichterung  des  Wechselverkehrs  fiir  die 
Gesamtheit  der  Kreditbanken,  das  sind  inkommensurable 
Werte.  In  der  auBerordentlichen  Generalversammlung  der 
Dresdner  Bank  wurde  liber  den  Status  des  Instituts 
nichts  bekannt.  Die  Monatsbilanzen  der  Kreditbanken 
geben  in  dieser  Beziehung  keine  hinreichende  Auskunft,  da 
die  Gewinn-  und  Verlustrechnung  fehlt.  In  Nummer  36  der 
,Weltbuhne'  wtirde  die  aktienrechtliche  Unumganglichkeit  einer 
Danatbank-Generalversammlung  begrtindet.  Die Umwandlung  der 
Rechtsform  dieses  Instituts  von  einer  Kommanditgesellschaft 
auf  Aktien  in  eine  Aktiengesellschaft,  die  inzwischen  er- 
,  wogen  worden  ist,  lafit  an  der  Einberufung  keinen  Zweifel 
mehr.  Hoffentlich  wird  wenigstens  iiber  das  AusmaB  der  vom 
Reich  bei  der  Danatbank  ubernommenen  Verpflichtungen  Klar- 
heit  geschaffen. 

Aber  alles  bisher  Erwahnte  wird  in  denSchatten  gestellt 
durch  die  Garantie,  die  demAuslande  gegentiber  teilweise  von 
der  reichseignen  Golddiskontbank  und  die  —  moralisch  wenig- 
stens—  vom  Reich  fur  die  Gesamtheit  der  5 — 7-Milliarden- 
Stillhaltung  zugunsten  der  deutschen  Banken  iibernommen  wor- 
den ist.  Bei  uns  erfreuen  sich  Banken,  Werften,  Reedereien, 
Rittergiiter,  Bergwerke,  Lokomotivfabriken,  Textilgesellschaf- 
iten  und  zahlreiche  andre  wirtschaftliche  Unternehmungen  niit- 

437 


telbarer  oder  iinmittelbarer  Subventionen.  Auch  in  andern  Lan- 
dern  hilft  dcr  Staat  einem  notleidenden  Industriezweig.  Dort 
weiB  man  aber  wenigstens,  wie  hoch  diese  Unterstiitzungen  sind. 
Bei  uns  hcrrscht  hieriiber  volliges  Dunkel,  Vor  acht  Jahren, 
im  Ruhrkrieg,  lebte  ein  ganzer  Landesteil  auf  Kosten  des  Reichs> 
heute  leibt  die  gauze  Wirtschaft  vom  „  Deutschen  Arm**. 

Der  stellvertretende  Reichswirtschaftsminister,  Staats- 
sekretar  Trendelenburg,  erklarte  bei  der  Beratung  seines  Etats 
im  Februar  1931  vor  dem  Reichstag:  „Man  darf  iiber  dem  na- 
tuTlicheai  Mitgefiihl  mit  denjenigen,  welche  von  den  Auswir- 
kungen  der  Wirtschaftskrise  betroffen  werden,  doch  niemals 
vergessen,  dafi  die  Unterstiitzung  eilies  Betriebes  oder  eines 
Wirtschaftszweiges  durch  kiinstliche  Mittel  allzu  leicht  nur  die 
Folge  zeitigt,  dafi  die  an  dieser  Stelle  entstandenen  Schwierig- 
keiten  auf  andre  Betxiebe  oder  Wirtschaftszweige  verlagert 
werden,  dafi  mit  andern  Wort  en  durch  das  Zustopfen  eines 
Loches  an  einer  Stelle  entsprechende  Lpcher  an  andern  Stellen 
auigerissen  werden/* 

Doktor  Trendelenburg  hat  diese  Worte  gewifi  nicht  ver- 
gessen, auch  andre  Regierungsmitglieder  diirften  heute  noch 
ahnlicher  Ansicht  sein,  aber  die  Verhaltnisse  waren  starker  als 
die  Vorsatze.  Wenn  am  12.  Juli  dem  Reichskanzler  von  den 
Banken  erklart  wurde,  falls  die  Danatbank  nicht  unter  Ga- 
rantie  des  Reichs  fiir  die  Einleger  die  Schalter  schlieBt,  dann 
miifiten  sie  samtlich  ihre  Zahlungen  einstellen,  so  blieb  kaum 
etwas  andres  iibrig  als  zu  helfen.  Ais  die  Reichsbank  in 
Basel  iiber  die  Stillhaltung  mit  den  auslandischen  Bankenglau- 
bigern  verhandelte,  war  es  em  zweiter  Wald  von  Compiegne, 
in  den  die  Schuldigen  einen  Vertreter  der  Regierung  entsand- 
ten.  Wie  1918  sind  huben  und  driiben  die  Generale  —  damals 
mit  dem  Marschallstab,  heute  mit  dem  Fiillfederhalter  in  der 
Hand  —  die  Verantwortlichen.  Der  .Matin*  hat  beide  Parteien 
dieses  Kreditkrieges  treffend  gekennzeichnet,  wenn  er  bei  Ab- 
schlufi  der  baseler  Verhandlungen  schrieb:  „Die  Hauptverant- 
wortlichen  an  der  Krise  sind  die  deutschen  Bankiers,  die  Geld 
um  jeden  Preis  geborgt  haben,  und  die  auslandischen  Banken, 
die  es  ihnen  geliehen  haben*. 

Gewifi  konnte  man  nicht  die  Banken  auffliegen  lassen,  das 
Reich  mufite  helfen,  aber  es  mufi  auch  wissen,  wofur  und  in 
welcher  Hohe  Mittel  aufgewandt  werden,  von  denen  man  noch 
nicht  weiB,  aus  welcher  Quelle  sie  fliefien  sollen.  Von  ver- 
schiedenen  Seiten  ist  der  Regierung  die  gefahrliche  Anregung 
gegeben  worden,  die  Krise  der  Deflation  durch  ihr  Gegenteil 
zu  beseitigen.  Wieder  wagen  es  die  Verantwortlichen  am 
deutschen  Ungliick,  Katastrophenpolitik  zu  empfehlen.  Eine 
neue  Inflation  soil  ihre  Schuld  verstecken  und  ihre  Schulden 
beseitigen.  Wir  wissen,  daB  man  im  Reichskabinett  nicht  ge- 
nedgt  ist,  diesen  Einfliisterungen  Gehor  zu  schenken.  Aber 
warum  deckt  man  die  Karten  nicht  auf,  warum  wird  nicht  Aus- 
kunft  iiber  die  voile  Hohe  der  gewahrten  Subventionen  und 
ubernommenen  Garantien  erteilt?  Wo  bleibt  die  Denkschrift 
iiber  den  13.  Juli?  Wir  haben  einen  Anspruch  darauf  zu  er- 
fahren,  womit  der  Bankrott  der  Wirtschaft  bezahlt  werden  soil* 

438 


Die  Mordklirve  von  Hans  Hyan  SMttfi 

Yfji*  besitzen  in  PreuBen  ein  Kriminalbeamten-Korps  mit 
einem  Regierungsdirektor,  5  Regierungs-  und  Oberregie- 
rungsraten,  17  Kriminaldirektoren,  90  Kriminalpolizeiraten, 
471  Kommissaren,  395  Bezirkssekretaren,  1646  Kriminalsekre- 
taren,  4306  Kriminalassistenten  und  170  Kriminalanwartern. 
An  weiblichen  Kriminalbeamten:  einen  Kriminalrat,  zwolf 
Kriminalkommissare,  64  Bezirkssekretarinnen  und  32  Kriminal- 
sekretarinnen.  In  Berlin  haben  wir  30  Kommissare,  126  Sekre- 
tare  und  2125  Kriminalassistenten,  Die  Zahl  der  Kriminal- 
beamten  in  ganz  Deutschland  zu  nennen,  bin  ich  nicht  im- 
slande,  da  hieriiber  keine  bestimmten  Angaben  vorhanden  sind, 
Es  findet  in  den  Landern  eine  fortwahrende  Verschiebung 
zwischen  den  stadtischen  Beamten  und  den  Staatsbeamten 
statt,  und  es  besteht  dort  auch  noch  vielfach  der  alte  Modus, 
daB  der  uniformierte  Polizeibeamte  sich  Zivil  anzieht  und  da- 
durch  zum  Kriminalbeamten  wird.  Ich  kann  nicht  einmal  die 
Entwicklung  der  Kriminalpolizci  hier  darstellen,  da  auch  dort 
bis  vor  etlichen  Jahren  die  staatlichen  und  kommunalen  Poli- 
zeien  nicht  scharf  voneinander  zu  trennen  waren. 

Mit  dieser  Summe  von  7000  Kriminalbeamten  in  PreuBen 
konnte  man  auch  eines  heftig  anwachsenden  Verbrechertums 
Herr  werden.  Dafi  dies,  selbst  bei  freundlichster  Beurteilung, 
nicht  ganz  geschieht,  hat  verschiedene  Ursachen.  Die  Krimi- 
nalpolizei  hat  in  dem  neuen  Aufbau,  den  sie  zweifellos  nach 
der  Revolution  vorgenommen  hat,  etwa  3000  sogenannte  „alte 
Blaue",  das  sind  die  fruhern  Schutzleute,  in  sich  auinehmen 
miissen;  meist  schon  recht  verbrauchte,  durch  den  Krieg  ge- 
gangene  Beamte,  die  grade  fur  den  auBerordentlich  schwieri- 
gen  und  anstrengenden  Kriminaldienst  wenig  geeignet  waren. 
Diese  Leute  sind  durch  Pensionierung  und  natiirliche  Aus- 
schaltung  zu  einem  Teil  abgegangen,  ein  andrer  Teil  i*st  nicht 
zum  Nutzen  der  Kriminalpolizei  noch  vorhanden.  Aber  das  1st 
nicht  das  Wichtigste.  Es  ist  eine  Systemanderunig  auf  ver- 
schiedenen  Gebieten  erforderlich. 

Ein  Beamter,  der  einmal  fest  angestellt  ist,  kann  nur 
wegen  grober  Ungehorigkeit  oder  Unehrlichkeit  entlassen  wer- 
den. Untiichtigkeit  kann  ihm  niemals  das  Genick  brechen. 
Untiichtigkeit  ist  aber  in  keinem  Beamtenkorper  so  gefahrlich 
fur  das  ganze  Korps  wie  grade  bei  der  Kriminalpolizei.  Ich 
will  das  an  einem  Beispiel  demonstrieren:  Der  Lustmorder 
Bottcher  war  am  Teltow-Kanal  als  Arbeiter  tatig;  er  nahm 
einen\  Tag  Urlaub  und  totete  —  wahrscheinlich  in  den  Nach- 
wehen  eines  Alkoholrausches  —  die  kleine  Senta  Eckert.  Die 
Beamten  forschten  landauf  landab  und  so  auch  bei  den  Ar- 
beiterkolonnen  am  Teltow-Kanal  nach  einem  Menschen,  der 
fur  den  Mord  in  Frage  kam.  Eine  griindlichere  Durchdrin- 
gung  hatte  erweisen  miissen,  daB  Bottcher  sich  fur  den  Mord- 
tag  Urlaub  genommen  hatte.  Diese  Feststellung  wurde  aber 
nicht  getroffen,  und  Bottcher  kam  dadurch  in  die  Lage,  noch 
eine  groBe  Anzahl  von  Unzuchtverbrechen  und  den  schweren 
Sexualmord  an  der  Grafin  Lambsdorf  zu  begehen. 

Das  sind  die  Fehler  dieses  ,,Siebsystems",  die  um  so  verhang- 

3  439 


nisvollcr  werden,  wenn  man  der  „siebenden"  Beamten  nicht 
absolut  sicher  ist.  Zum  Kriminalbeamten  gehort  ein  starker 
Impetus,  der  Jagdinstinkt  des  geborenen  Fangers,  eine  eiserne 
Natur,  anspruchslos  genug,  um  trotz  der  geringen  Bezahlung 
den  schweren  Dienst  jahraus  jahrein  zu  leisten.  Diescn  hoch- 
geschraubten  Anspriichen  werden  und  konnen  viele  der  Be- 
amten nicht  gerecht  werden,  Sie  werden  dazu  aucb  zu 
schlecht  bezahlt.  Es  ist  nicht  richtig,  wenn  man  sie  nur  ebenso, 
oder  womoglich  geringer  stellt  als  den  Schupo.  Ober  die 
angstliche  Bemessung  der  Spesen  ist  oft  genug  geschrieben 
worden.  Man  muO  diese  Fehlerquelle  des  Systems  immer 
wieder  hervorheben,  man  muB  aber  gerechterweise  auch  an- 
erkennen,  daB  grade  die  Beamten  der  Mordkommissionen  hin- 
reichende  pekuniare  Moglichkeiten  haben.  Von  ihnen  wird 
nur  verlangt,  daB  sie  in  der  Aufrechnung  ihrer  Auslagen  eini- 
germafien  Ordnung  halten. 

Auf  Grund  meiner  Erfahrungen  sehe  ich  die  Entwicklung 
der  deutschen  Kriminalitat  sebr  schwarz.  Es  miiBten  denn 
Wunder  geschehen.  Bleibt  aber  die  erhoflte  Besserung  der 
deutschen  Wirtschaftslage  aus,  so  wird  und  mufi  da«s  Des- 
peradotum  bei  uns  zunehmen.  Und  diese  Zunahme  der  Krimi- 
nalitat wird  eine  Anderung  des  kriminalistischen  Systems  not- 
wendig  machen.  Vor  alien  Dingen  in  der  Richtung  einer  stren- 
gen  Zentralisierung,  was  von  unsern  Oberbehorden  noch  durch- 
aus  nicht  begriffen  ist. 

Es  darf  nicht  jeder  Polizeiprasident  tun,  was  er  will.  Die 
groBen  Kapitalverbrechen  miissen  von  einer  berliner  Zentral- 
stelle  bearbeitet  werden.  AuBerdem  aber  muB  sich  im  Geiste 
der  Kriminalpolizei  seibst  eine  Anderung  vollziehen.  Der  Be- 
amte  darf  nicht  wie  bisher  „den  Fall"  aLs  seine  Privatdomane 
betrachten,  bis  nachher  alles  versiebt  ist  und  das  Verbrechen 
unentdeckt  bleibt.  Die  Veroflentlichung  der  groBen  Mordfalle 
mufi  ohne  alle  Geheimniskramerei,  soweit  nicht  das  absolute 
Untersuchungsinteresse  dagegeri  spricht,  ohne  Zeitverlust  ge- 
schehen. Und  zwar  muB  dies  auBer  in  den  Zeitungen  durch 
immer  wiederholte  Maueranschlage  geschehen,  die  reich  mit 
Bildern  zu  versehen  sind. 

Aber  seibst  unter  der  Voraussetzung,  daB  all  das  geandert 
und  gebessert  wird,  die  preuBische  und  deutsche  Kriminal- 
polizei wird  auch  night  darum  kommen,  das  Privatbeamtentum 
in  ihre  Arbeiten  einzubeziehen.  Den  Privatdetektiv,  der  bei 
uns  noch  immer  eine  mit  Spott  und  MiBtrauen  betrachtete 
Figur  ist,  wird  man  auch  bei  uns  auf  die  Dauer  im  offentlichen 
Dienst  nicht  entbehren  konnen.  Man  wird  ihm  wie  in  Amerika 
eine  Zwischenstellung  einraumen  und  ihm  die  entsprechenden 
Vollmachten  geben  miissen.  Dazu  ist  selbstverstandlich  notig, 
daB  die  in  Frage  kommenden  Personen  mit  aller  Vorsicht  aus- 
gesucht  und  einer  dauernden  Kontrolle  unter  stellt  werden, 

Wer  meine  mehr  als  dreiBigjahrige  Arbeit  auf  diesem  Ge- 
biete  kennt,  weiB*  mit  welcher  dauernden  Liebe  und  Ftirsorge 
ich  grade  dem  Institut  der  Kriminalpolizei  diene.  Deshalb 
wird  man  mir,  im  Gegensatz  zu  den  Ausfuhrungen  des  Leiters 
einer  bekannten  Polizei-Zeitschrift,  auch  das  Recht  zur  Kritik 
und  zu  Reorganisationsvorschlagen  nicht  bestreiten  diirfen. 

440 


Nationaler  Philosophatsch  von  Kurt  miier 

ps  gibt  Philosophic  und  Philosophatsch.  (Definitionen  wird 
cine  intelligent e  Leserschaft  mir  erlassen,)  Der  Philo- 
sophatsch hat  die  Philosophic  in  Verruf  gebracht;  cr  hat  Leu- 
ten,  denen  es  an.  Tiefe.  oder  an  Willen  zur  Methodik  im  Den- 
ken  fehlt  oder  an  Beidem,  Griinde  geliefert  fur  abgeschmackte 
Hochnasigkeiten  gegeniiber  einer  Disziplin,  der  sie  sich  nicht 
gewachsen  wissen.  Wenn  Antiphilosophen  uater  Philosophie 
substanzlos-lebensferne  Spintisiererei,  etwas  Wichtigtuend- 
Vages,  Wirr-Unverbindliches,  Unkontrollierbares,  Unsolides, 
Schleimiges,  Leimiges,  Molluskenhaites,  einen  pathetischen 
Begriffsglibber  verstehen,  vielmehr  Solches  unter  Philosophie 
zu  verstehen  vorgeben  diirfen  — :  der  Philosophatsch,  der 
Denk-Kitsch  ist  schuld  daran, 

Solange  er  seine  Stoffe  in  der  Sphare  des  rein  Theoreti- 
schen  sucht,  bleibt  er  verhaltnismaBig  harmlos;  gefahrlich  wird 
er,  wenn  er  zur  Lebenspraxis,  gar  zur  Politik  hinuberwechselt, 
Heute  ist  der  „neue  Nationalismus"  die  Gegend,  wo  der  Philo- 
sophatsch am  iippigsten  gedeiht;  und,  so  sehr  ich  die  Verall- 
gemeinerungen  sogenannter  Volkerpsychologie  hasse;  nirgends 
gedeiht  er  so  gut  wie  in  DeutschJand,  weil  doch  wohl  keine 
Nation  so  sehr  wie  die  deutsche  (gewiB  nicht  „die"  ganze 
Nation,  aber  groBe,  wichtige,  representative  Tcile  und  Typen) 
. ...  weil  keine  Nation  so  sehr  wie  die  deutsche  in  alles  Ver- 
schwommene,  Wolkig-Konturlose,  Vieldeutige,  Dunkle,  Dumpfe 
verliebt  ist,  in  die  mystische  Form,  in  jene  Unklarheit,  die  fiir 
Tiefe  gilt,  wenn  sie  sich  halb  im  psalmodierenden  Ton  des 
Priesters,  halb  im  kommandierenden  des  Offiziers  vortragt.  Von 
Haman  und  Hegel  iiber  Lagarde  und  Langbehn  bis  Spengler  und 
Pannwitz:  immer  wieder  Stilkreuzungen  aus  Magus  und  Major! 
Ein  Stil,  der,  statt  triibe  und  streng,  luzide  und  urban  ist  und, 
wo  nicht  urban,  doch  noch  im  Zorn  heiter,  weil  funkelnd  — 
erscheint  unserios,  Voltaire,  Lichtenberg,  Schopenhauer,  Borne, 
Anatole  France,  Nietzsche,  Wilde  (auch  Zeitgenossen  waren 
nennbar):  lauter  Luftikussel  Keine  Seite  an  Goethe  wird  in 
Deutschland  so  vernachlassigt  wie  jene,  die  sich  in  den  Xenien 
oder  den  Spr lichen  in  Prosa  zeigt  und  die  fr agios  eine  seiner 
herrlichsten  ist  und  seiner  wahrhaft  ewigen, 

Ich  wittre  scit  je  den  Philosophatsch  hundert  Meter  gegen 
den  Wind.  Aber  noch  nie  stank  er  mich  so  durchdringend 
an  wie  unlangst,  als  mein  Weg  mich  in  ,Das  Reich'  des  Natio- 
naldenkers  Fricdrich  Hielscher  fiihrte.  Dieses  , Reich':  ein  ein- 
ziger  Matsch  und  Modder;  in  der  Mittc  eine  Tafel:  „Geheilig- 
ter  Bezirk!" 

Es  ist  aber  ein  Buch;  von  dreihundertundachtzig  Seiten; 
als  Grundlehre,  PrinzipienabriB,  Leitfaden,  Bibel  fur  deutsche 
Nationalisten  gedacht  (,,gedacht"  ist  gut);  im  Verlage  .Das 
Reich',  Berlin,  erschienen.  Wens  gelustet  nachzupriifen,  ob  ich 
den  Aggregatzustand  richtig  beschrieben  habe,  der  priiie!  Ich 
will  von  d*n  drcihundertachtzig  Seiten  die  letzten  zehn  zum 
Beweise  heranholen. 


441 


,,Das  kriegerische  Herz  vcrwcchsclt  die  zcitlichc  Erhal- 
tung  nicht  mit  der  gottlichen  Unsterblichkeit,  Es  ist  unsterb- 
lich  uiiid  frcut  sich  der  zeitlichen  Vernichtung  als  der  Biirg- 
schaft  seiner  uniiberwindlichen  Gewalt."  Wir  wollen  diesen 
Satz  einmal  scherzeshalber  ernstnehmen  und  ein  biBchen 
sezieren, 

f,Das  kriegerische  Herz  verwechselt  nicht**  —  in  der  Tat 
ausgeschlossen!  Denkvorgange  namlich  spielen  sich  im  MHer- 
zen"  iiberhaupt  nicht  ab;  es  fuhlt  nur.  Selbst  das  unkriege- 
rische  Herz!  Und  auch  das  unkriegerische  Herz,  vielmehr  Hirn 
^verwechselt"  nicht  ,,Erhaltung"  mit  ^Unsterblichkeit";  an  der 
Unsterblichkeit  zweifelt  es  hochstens.  Gar  ,,zeitlich"  und 
ftg6ttlich"  verwechselt  es  schon  deshalb  nicht,  weil  es  mit  so 
schiefen  Gegensatzen  nicht  operiert.  F.  Hielschers  kriege- 
risches  Herz  ergreift  die  Gegensatzpaare  Zeitlich/Ewig, 
Menschlich/Gottlich  und  vermanscht  sie  zu  der  Stief-Antithese 
„Zeitlich/Gottlich'\  DaB  es  sich  ,,der  zeitlichen  Vernichtung 
freut",  sei  ihm  geglaubt  (obwohl  es  sich  diese  Freude,  welche 
billig  istt  bemerkenswerterweise  bis  heute  nicht  verschafft 
hat);  aber  inwiefern  grade  sie,  die  Vernichtung,  ,,Burgsehaft" 
fiir  Uniiberwindlichkeit  und  Unsterblichkeit  sein  soil,  weiB  der 
Kuckuck.  Es  mag  Griinde  fiir  die  Unsterblichkeitshoffnung 
geben;   der  physische  Tod  ist  bestimmt  keiner. 

,,Der  Untergang,  dem  sich  , . .  die  Menschen  des  Reiches  . .  . 
aussetzen,  fuhrt  die  Freiheit  herauf,  um  die  seit  der  ersten 
Schlacht  des  Ersten  Weltkrieges  gekampft  .wird,  die  Freiheit, 
welcher  als  erwiinschtes  Werkzeug  der  Westen  selber  dient, 
d  ess  en  Griff  iiber  die  Erde  das  Zeitalter  der  igroBen  Kriege 
des  Reiches  ermoglicht."  Hielscher  schreibt  den  „Ersten  Welt- 
krieg"  groB,  etwa  wie  unsereins  die  Soziale  Revolution  groB- 
schreibt,  die  Rote  Einheit  oder  den  Heiligen  Geist.  Wahr- 
haftig,  dem  verhaBten  „Westen"  wird  dafiir  gedankt,  daB  er 
Kriege  „erm6glicht".  Der  Krieg,  der  Giftkrieg  der  Zukunft, 
als  absolute  Wunschbarkeit! 

Nun  sollte  man  annehmen:  wenn  ,fdas  Reich"  durch  ,,groBe 
Kriege"  die  Erde  vom  ,, Griff"  des  „Westens"  befreit  hat,  daB 
dann  endlich  fiir  eine  Weile  Friede  sich  herniedersenkt  Das 
kriegerische  Herz  will  es  anders!  ,,Die  Freiheit  vom  Westen 
ermoglicht  die  Ordnung,  mit  der  die  Menschen  des  Reiches 
dem  Zeitalter  der  Erdkriege  gewachsen  sind."  Also  die  Knech- 
tung  durch  den  Westen  ermoglicht  Kriege,  und  die  Befreiung 
vom  Westen  ermoglicht  Kriege  abermals.  Es  gibt  offenbar  nur 
ein  einziges  wirkliches  Ungliick:  den  Fried  en.    Und  zwar: 

,,Weil  in  d«n  vergangenen  zweitausend  Jahren  die  Men- 
schen des  Reiches  bewuBt  geworden  sind,  wird  in  der  neuen 
Ordnung  das  Inbild  des  Reiches  zeitlich  greifbar,"  Das  sieht 
fiirwahr  ein  Blinder. 

„Denn  der  Mensch  ist  Mittel  und  gehort  mit  allem  Hab 
und  Gut  dem  in  der  neuen  Ordnung  sichtbar  gewordenen 
Reich.*'  Wem  aber  gehort  „das  Reich?"  Sich?  Ein  „Inbild", 
selbst  falls  es  „greifbar"  wird,  kann  sich  schliefilich  nicht  selbst 
verwalten.  Gesetzt,  es  ist  iiberhaupt  verwaltbar:  so  wird  es 
am  Ende  von  Personen  verwaltet  werden.  Doch  wohl  von 
Personen  3.  la  Hielscher?    Also  Hielscher  und  Konsorten  sind 

442 


Zweck,  und  der  Mensch  ist  MitteL     Der  Mensch  „mit  allem 
Hab  und  Gut"  „gehort"  Hielscher  und  Konsorten. 

Immerhin:  „das  sichtbare  Reich  hat  das  Obereigentum 
nicht  nur  an  Grund  und  Bod  en,  sondern  an  samt lichen  Giitern 
fiber  ha  up  t"  —  klingt  das  nicht  wie  Kommunismus  ?  ,,Recht  zur 
jederzeitigen  entschadigunigslosen  Enteignung  des  Untereigen- 
tums ':  Dunnerkiel!  Sofort  freilich  folgt  die  Versicherung,  daB 
„dieses  Untereigentum  auf  dem  Lande  anders  zu  gestalten  ist 
als  in  der  Stadt,  weil  der  Bauer  die  Erde  als  Erbteil  emp- 
Hndet";  daB  Mdie  Forstwirtschaft  gesondert  zu  ordnen  ist"  — 
kurz,  der  Feld-,  Wald-  und  Stahlhelmdeutsche  wird  von  der 
Sozialisierung  ausgenommen.  Die  Frage  taucht  auf:  ,,wie  Zwi- 
schenhandel  und  Handwerk  in  solche  Wirtschaft  einzubauen 
sind";  Antwort;  „ist  nicht  zu.  erortern."  MWer  Ratschlage  er- 
teiltf  die  heute  handgreiflich  ausgefiihrt  werden  konnen,  hilft 
der  Geigenwart,  die  wir  zerstoren  wollen,"  Diese  Heroischen 
machen  sichs  bequem.     Desertieren  vor  der  Ratio. 

„In  der  neuen  Ordnung  benotigt  PreuBen  das  westelbische 
Gebiet  nicht  mehr,  weil  es  in  Bohmen  und  an  der  Weichsel 
seinem  Amte,  Menschen  aller  Stamme  anzusiedeln,  nachkom- 
men  kann."  Menschen  aller  Stamme  siedeln.  sich  demnach 
keineswegs  an,  sondern  werden  angesiedelt.  Von  wem?  Vor 
PreuBen.  Tschechen  und  Polen  werden  von  PreuBen  angesie 
delt.  Oder  rangieren  Tschechen  und  Polen  nicht  unter  MMen 
schen  aller  Stamme"?    Werden  sie  am  Ende  ausgesiedelt? 

,,Das  Oberhau-pt,  das  diesen  Bundesstaat  lenkt,  regiert  un- 
eingeschrankt."  „Damit  wirklich  PreuBen  sein  Amt  als  stam- 
mesfreies  Gefiige,  als  Ausgleichsort  der  Lander  erfiillen  kann, 
gebiihren  die  Krone  PreuBen  und  die  Reichskrone  demselben 
Haupt."  f,Der  Konjg  des  Reiches  ist  zugleich  Herrscher  und 
Pries ter/'  ,,Es  sei  denn,  der  Glaube  des  Reiches  steigt  aus  den 
Herzen  in  die  Hirne,  wird  die  Freiheit  nicht  kommen;  Dieser 
Glaube  weiB  urn  das  sichtbare  Reich  als  um  den  lebendig  spiir- 
baren  Herzschlag  des  Ewigen;  er  weifi,  daB  in  dieser  neuen 
Ordnung  die  Herrschaft  Gottes  ihr  Sinnbild  findet,  die  Macht, 
durch  die  er  die  Fiille  seines  Wesens  wirkt/'  Er  weiB;  jaf 
er  weiB, 

MDas  priesterliche  Amt  der  Verkiindigung  wachst  aus  dem 
Bekenntnis;  das  Bekenntnis  wachst  aus  dem  Glauben."  Und 
dieser  Denkstil  wachst  aus  dem  Halse  —  mir  wenigstens. 

„Die  Bruderschait  der  Schopferischen,  der  Opfernden, 
der  Begnadeten  ist  das  Reich,  welches  die  Fiille  der  Welt  in 
sich  tragi"  „Die  Herzen,  die  ihm  gehoren,  bindet  kein  Raum 
und  keine  Grenze.  Aus  den  Grenzen  ihres  inwendigen  We- 
sens entbindet  sich  das  Grenzenlose,  die  unaufhorliche  Wir- 
kung,  der  die  Welt  gehorcht,"  Mordprcfpaganda,  religios  for- 
muliert;  Imperialismus,  magisch-mystisch  ins  Kosmische  gestei- 
gert,    (,, Kosmische",  Setzer,  nicht  „KomischeM!) 

„Alle  gehorchen.  Sie  haben  es  immer  getan"  (wirklich?) 
„und  werden  es  immer  tun/'  Ich  fiirchte  fast,  er  hat  recht; 
aber  ein  Rest  von  Hoffnung  bleibt;  wir  werden  uns  anstren- 
gen;   1789  und  1917  waren  auch  Jahre, 

„Die  Einheit  ist  verborgen;  aber  das  Werk  offenbart  sich 
im  Wandel  des  Raums  und  der  Zeit,  und  der  Schlag  des  wir- 

443 


ken  den  Herzens  im  Umkreis  der  Geschehnisse  um  die  bren- 
nende  Mittc  dcr  Erde."  Minimax  her!  Diese  ,,brennende 
Mitte"  scheint  Deutschland  zu  sein. 

,,Unser  Werk  schmiedet  uns;  und  es  ist  dcr  Willc  unserer 
Kinder,  der  Wille  des  Menschentums,  welches  der  Sinn  der 
Erde  ist/'  Den  Willen  unserer  Kinder  kennt  diese  Propheten- 
natur  genau,  Praziser  laBt  er  sich  schwerlich  beschreibenf  Man 
fragt  hochstens,  wie  MMenschentum"  einen  „Willen"  haben 
konne,  da  doch  schon  auBerst  fraglich  ist,  ob  die  Menschheit 
einen  hat;  und  worin  er  denn  nun  eigentlich  besteht.  .yder  Sinn 
der  Erde"? 

Ganz  einfach;  darin:  ,,Die  Seelenttimer,  die  das  Wesen  der 
Seelen,  welche  ihre  Glieder  sind,  in  dauerndem  Geschick  wir- 
ken,  trachten  alte  nach  der  Mitte  des  Schicksals,  in  dem  sie 
handeln." 

Ja,  so  verfahren  sie;  das  setzt  dem  Mulm  die  Gallerten- 
krone  auf;  und  ernsthaft  an  der  Sache  bleibt  nur,  daB  in 
einer  Nation,  die  Kant,  Lessing,  Goethe,  Schopenhauer, 
Nietzsche  hervorgebracht  hat,  solch  Schauerschund  als  Geist 
ausgeboten  werden,  solch  Schwafelaugust  als  Fiihrer  gelt  en 
kann.  Dazu  generationenlang  Humanismus!  Die  das  Hohe 
nicht  verstehen,  fallen  auf  hochtrabenden  Quark  hinein;  wer 
Massenmord  in  metaphysischer  Tunke  serviert,  der  wiirde  ein 
specknackiger  Philister  mit  Bierschmissen  sein  diirfen  —  Hor- 
den  junger  und  alter  Knaben  feierten  ihn  doch  als  Helden- 
gestalt.  So  lustig  unter  Briidern  dies  Buch  ist  — ;  wie  traurig, 
wie  traurig,  daB,  wo  Philosophie  vergebens  an  verschlossene 
Turen  pocht,  Philosophatsch  wie  ein  Heiland  empfangen  wird. 


Der  kartellierte  Zeisig  von  Kaspar  Hauser 

Z>escheiden  trippelnd  ndhert  sich  unser  Herr  Zeisig , , ,  wie?  also 
0  gut,  mein  Herr  Zeisig  .  .  .  nein,  ndhert  sich  unser  Herr  Zeisig 
dem  Bureaudiener  der  Andullje- Aktien-Gesellschaft  mit  beschrankter 
Haft  auf  Aktien.  Dem  Bureaudiener  geht  der  Hintem  mit  Grundeis; 
er  weip  nicht,  ob  die  Andullje  ihm  nicht  Bum  n&chsten  Termin  kun- 
digen  wird,  ein  Termingeschaft,  das  kein  tuchtiger  Arbeitspender  zu 
verabsaumen  pflegt.  Doch  tragi  er  den  Zeisig  grundeisig  nach  dessen 
Begehr  und  tut  dann  das,  was  jeder  gut  geschulte  Bureaudiener  ilber- 
all  zu  tun  hat:  er  l&fit  ihn  warten. 

Der  Zeisig  sitzt  im  Wartezimmerchen  und  zimmert  und  wartet 
Auf  dem  Hof  schnaiiern  die  Schreibmaschinen;  man  hdrt,  auch  wenn 
man  nicht  hinhort,  wie  sie  sagen:  ,,Zuun$ermgr6{&enleidwesendiese- 
zahlungjetztnichtleisten. a  Der  Zeisig  nickt  —  er  kennt  diese  Melodic. 
Andullje  —  denkt  er.  Was  ist  das  uberhaupt  fur  ein  Name?  Er 
ist  hierhergekommen,  um  etwas  zu  tun,  was  Zeisige  sonst  gar  nicht 
machen:  er  mil  einen  Fuhler  ausstrecken.  Er  moehte  horen,  ob  man 
nicht  willens  sei,  die  Kartell-  Satzun gen  zu  mildern  —  die  Preise  sind 
zu  hochf  Die  Andullje  Mnnte,  wenn  sie  wollte  .  *  .  Wer  ist  die 
Andullje?  Das  weifi  man  nicht.  Es  ist  eine  Art  Gotiheit,  mit  einigen 
irdischen  Vertretern,  die  sich  aber  meistens  vertreten  lassen,  zum  Schluji 
bleibt  dann  blofi  noch  der  Bureaudiener  ubrig,  und  der  kann  nichts 

444 


dafur.  Man  nennt  das  tine  Interessen-Gemeinschaft.  Die  Prei&e  sind 
vielzu. . .  —  „Sic  mochtenreinkommen",  sagt  der  Grundeisdiener, 
und  der  Zeisig  tut  es. 

Hinter  seiner  Schreibburg  residiert  Generaldirektor  Klempners- 
kirch, ein  eleganter  Wirtschaftsfiihrer  von  circa  46  Jahren,  heute  ist 
es  ein  birchen  fester,  sagen  wir:  47.  Er  hebt  seine  Augenbraue, 
das  bedeutet:  nAh,  der  Kerr  Zeisig  /"  —  er  lafit  sie  wieder  sinken, 
das  heiftt:  nBittet  nehmen  Sie  einen  Stuhl,  aber  ohne  unser  Obligol" 
Der  Zeisig  sitzt. 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Zu  unserm  groBten  Leid- 
wesen,  mein  lieber  Herr  Zeisig,  miissen  wir  Sie  zum  nachsten 
Ersten  entlassen, 

Der  Zeisig:    Iche  . . . 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Entlassen.  Die  allge- 
meine  Wirtschaftssituation  ist  fiir  Deutschland  derart  gelagert, 
verstehn  Sie  mich,  daB  wir  wesentliche  RationalisierungsmaB- 
nahmen  vorzunehmen  uns  in  die  Lage  versetzt  sehn.  Die  Lage 
dauert  noch  an.  Sie  werden  begreifen,  dafl  es  unter  diesen 
Umstanden  auch  fiir  Sie  das  Beste  ist .  , . 

Der  Zeisig:  Ihr  . . . 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Unterbrechen  Sie  mich 
nicht  Das  Unternehmen  kann  nur  gedeihn,  wenn  alle  unsre 
Mitarbeiter  entlassen  sind  und  daher  auch  ihrerseits  Verstand- 
nis  fiir  die  augenblickliche  Situation  aufbringen.  Unsre  Ein- 
stellung . . . 

Der  Zeisig:   Aber ... 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Unterbrechen  Sie  mich 
nicht.  Die  Bereinigung  der  durch  die  augenblickliche  Krise 
hervorgerufenen  Krise  zwingt  uns,  grade  von  unsern  leitenden 
Angestellten  das  Vorletzte  zu  fordern.  Das  Letzte  fordern  wir 
von  unsern  Arbeitern.  Wie  lange  waren  Sie  bei  uns  im  Hause? 

Der  Zeisig:   Zehn  Minuten, 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Was  soil  das  heiBen? 
Wie  lange  Sie  bei  uns  angestellt  sind  . . .! 

Der  Zeisig:  Gar  nicht.  Ich  bin  hierher  gekommen,  urn  mit 
Ihnen  wegen  der  Kartell-Satzungen  zu  sprechen.  Ich  bin  gar 
nicht  bei  Ihnen  angestellt,  Herr  Generaldirektor! 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Entschuldigen  Sie  mich, 
mein  lieber  Herr  Zeisig!  Wenn  ich  einen  Menschen  seh,  ent- 
lasse  ich  ihn  — *-  ich  bin  schon  derartig  in  der  Obung .  .  J  Ent- 
schuldigen Sie  mich,  Sie  verstehn:  die  Krise  ist  gelagert, 

Der  Zeisig;  Piep.  Ich  bin  also  hierhergekommen . . .  es 
handelt  sich  urn  die  Satzungen.  Der  Zeisig  gluckst,  nimmt  alien 
Mid  zmammeri,  dann  heraus:  Die  Preise  sind  zu  hoch,  Herr 
Generaldirektor! 

Bern  Generaldirektor  Klempnerskirch  fallen  die  Augen  aus 
dem  Kopf\  er  hebt  sie  auf  und  seUt  sie  wieder  ein.  Die 
Preise  sind  zu  hoch?  Ja,  was  fallt  Ihnen  denn  eigentlich  ein? 
Haben  Sie  schon  mal  ein  Kartell  gesehn,  das  seine  Preise  her- 
absetzt?    Immer  hoch  den  Preis  — ! 

Der  Zeisig:  Herr  Generaldirektor  —  die  Kundschaft  kauft 
nicht  mehr.     Alle  meine  Abnehmer  sagen  mir  das.    Die  Leute 

445 


sind  arbcitslos  und  konnen  nicht  kaufen.  Das  heiBt:  kaufen 
konnen  sie  schon,  abcr  sie  konnen  nicht  bezahlcn. 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Sollen  sie  lieber  bezah- 
len;  zu  kaufen  brauchen  sie  nicht.  Da  entlassen  wir  nun  und 
entlassen,  und  die  Leute  wollen  immer  noch  nicht  kaufen!  Das 
kann  nur  borsentechnische  Griinde  haben. 

Der  Zeisig;  Steuertechnische  vielleicht . . .? 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Alles  in  Deutschland  hat 
steuertechnische  Griinde.  Lieber  Freund,  wenn  es  nach  mir 
ginge,  wiirde  ich  noch  hundert  Leute  engagieren,  damit  ich 
sie  am  nachsten  Ersten  entlassen  kann.  Das  ware  gesunde 
Wirtschaftspolitik!  Was  wir  zum  Attfbau  brauchen,  ist  der  Ab- 
bau  —  daran  ist  kein  Zweifel.  Und  da  kommen  Sie  mir  mit  zu 
hohen  Preisen.  Ein  Kopf  stecltt  sich  zur  Tiir  herein.  Der 'Ge- 
neraldirektor wird  seiner  ansichtig  und  briillt:  Sie  sind  entlassen! 
Der  entlassene  Kopf  verschwindet.  Kurz  und  gut,  me  in  lieber 
Zeisjg:  es  ist  nicht  daran  zu  denken.    Es  sei  denn  . . , 

Der  Zeisig:   Es  sei  denn  .  . .  ?  , 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Es  sei  denn,  die  Regie- 
rung  entschlosse  sich,  die  Lohne  abzuschaffen.  Dann  konnte 
man  eventuell  daran  denken,  von  eioier  Heraufsetzung  der  Kar- 
tellpreise  abzusehn.  Aber  solange  das  nicht  geschieht,  bleiben 
wir  fest,  wir  und  unsre  Preise.  Merken  Sie  sich:  es  kommt 
nicht  darauf  an,  daB  unsre  Waren  gekauft  werden,  es  kommt 
darauf  an,  daB  sie  hergestellt  werden! 

Der  Zeisig:    Sehr  wohl. 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Sie  kennen  die  Grund- 
satze  unsres  Kartells:  man  muB  vor  allem  die  Unkosten  ver- 
mindern.  Lohne  sind  Unkosten.  Also.  Traurig  genug,  daB  wir 
iiberhaupt  Arbeiter  brauchen!  Wissen  Sie,  was  Deutschland 
werden  muB? 

Der  Zeisig:  Bitte? 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Exportfahig  muB  es  wer- 
den. Am  besten,  man  exportierte  das  ganze  Land  —  das  Ge- 
schaft  mochte  ich  machen.     Was  meinen  Sie  dazu? 

Der  Zeisig:  Piep. 

Generaldirektor  Klempnerskirch :  War um  sagen  Si  e  in 
einemfort  Piep,  Menschenskind  ? 

Der  Zeisig;  Ich  war  fruher  ein  Vogel,  Herr  Generaldirektor. 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Sie  haben  einen  — !  Kom- 
men Sie  mir  nicht  mit  Phantastik,  Herr  —  wenn  ich  das  will, 
lese  ich  unsre  Geschaftsberichte.  Was  ist — ?  Das  bezieht  sich 
auf  Fraulein  Wagenmitte,  die  Privatsekret&rin  des  GeneraldireMors. 
Draufien  hat  sie  soeben  einen  1'eil  ihres  Mrglichen  Gehalts,  nicht 
immer  geschlossenen  Mundes,  verzehrt,  und  dann  hat  sie  sich  die 
IAppen  nachgezogen,  weil  sie  etwas  Bessres  istt  nein,  sie  ist  etwas 
JBessres,  weil  sie  sich  die  Lippen  nachzieht,  und  dann  ist  sie  herein- 
gegangen,  ein  bifichen  storen,  Sie  tuschelt,  das  hat  der  General- 
direktor gem. 

Die  Wagenmitte:  Puschpusch  —  huschelhuschel  —  tuschel- 
tuschel 

Der  Zeisig  denkt  mit  dem  Solarplexus:  Ob  man  mal  mit 
der  , ,  .?  Wenn  man  mal  mit  der  . ,  .? 

446 


Generaldirektor  Klempnerskirch;  Schdn.  Tschuldigen  einen 
Moment,  Hcrr . . .  Hcrr  Zeisig.  Bittc  schrciben  Sief  Frollein. 
Aehm  —  an  die  Zeudag,  Magdeburg  und  so  weiter . . .  Inna . . . 
Inbeantwortungihreswertenschreibensvomneulichen  .  .  .  Ihnen 
mit,  daB  wir  eventuell  geneigt  sind  —  mm  —  Ihnen  dxei  Waggon 
gegen  prima . . .  aeh  . . .  Zeisig,  kennen  Sie  die  Liechtensteiner 
Holding-Gesellschaf  t  ? 

Der  Zeisig,  dessert  Gedanken  grade  der  Wagenmitte  ganz  leise 
das  Hemd  hochgehoben  haben:    Holding-Gesellschaf t? 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Frtiher  cine  Dachgesell- 
schaft,  jetzt  im  Keller.  Gute  Leute;  in  Deutschland  total  pleite, 
also  vertrauenswiirdig.  Kennen  Sie  nicht?  Schreiben  Sie,  Frau- 
lein  Wagenmitte:  wir  geben  nicht.  Ich  ziehe  alles  zuriick.  Nein. 
Doch  nicht.  Ja.  Doch.  Nein.  Schreiben  Sie:  die  Andullje 
liefert,  und  zwar  prompt,  und  zwar  die  gewiinschten  Rohseiden 
. . .  ich  diktiere  Ihnen  das  nachher. 

Wie  der  Generaldirektor  „Bohseidena  sagt,  fiihlt  die  Wagenmitte, 
daft  sie  im  rechten  Strumpf  ein  Loch  hat,  der  Fufi  klebt  an  einer 
Stelle.  Merkwiirdig,  denkt  sie,  wer  wohl  heate  Bohseide  kaufen 
kann  ...  Sie  entschwindet 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  sieht  ihr  nach  und  sagt: 
MiiBte  man  auch  entlassen.  Also,  lieber  Zeisig  —  der  langen 
Rede  kurzer  Sinn:  die  Preise  sind  unantastbar.  Erst  die  Regie- 
rung  —  dann  wir.  Vorleistungen  gibt  es  hier  nicht!  Wir  konnen 
nicht.  Wir  muBten  Steuern  bezahlen;  wir  hatten  unsre  Lohne 
voll  ausbezahlen  spllen;  wir  sollten  unsre  Glaubiger  befriedi- 
gen  ---:  also  haben  wir  kein  Geld.  Und  Hitler  will  auch  leben. 
Waren  Sie  beim  Volksentscheid? 

Der  Zeisig:  Ehiim.   Nein* 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Sehr  unrecht.  Das  haben 
wir  finanziert,  und  Sie  gehn  nicht  hin!  Hitler...  der  ist  aus 
dem  Stroh,  aus  dem  die  groBen  Leute  gedroschen  werden!  Wir 
haben  ihn  finanziert  —  das  lenkt  ab  und  ist  mal  auf  alleFalle 
gut.  Hie  Rnodus  —  hie  Domino!  Sonst  finanzieren  wir  gar  nichts. 
Denn  das  erste,  was  ein  tiichtiger  Geschaftsmann  in  jeder  Krise 
zu  tun  hat,  ist:  Geld  anhalten.  Nicht  auszahlen*  Das  ist  das 
einzig  wahre.  Ich  habe  mein  Geld  nicht  gestohlen.  Meine  Ar- 
beiter  haben  es  ehrlich  verdient.  Preise  herabsetzen!  Bei 
dem  Diskont? 

Der  Zeisig:  SchlieBlich  haben  die  Banken  ja  vorher  ver- 
dient.   Der  Absatz ... 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Lieber  Freund,  wir 
haben  von  den  guten  Zeiten  profitiert,  jetzt  sollen  die  andern 
auch  von  den  schlechten  profitieren.  Absatz!  Absatz!  Die  In- 
dustrie hat  Dreck  am  Absatz.  Verstehn  Sie  mich!  Die  Preise 
bleiben.  Ein.  Mann  —  ein  Wort.  Zwei  Manner  —  vier  Worter, 
n  Augenblick  mal!  n  Augenblick  mal  ist  eine  magische  Formel: 
der  Generaldirektor  sagt  es  nicht  etwa  /sum  Telephon,  das  ge- 
schnarrt  hat,  weil  e$  zu  heiser  ist,  zu  Hingeln;  er  sagt  es  zum  Be- 
sucher,  der  ja  nicht  Hingeln  kann,  Und  telephoniert  ausgiebig.  Der 
Zeisig  freut  sich,  wie  schdn  rechteckig  der  Plafond  gebaut  ist.  Als 
er  sich  genug  gefreut  hat,  f&ngt  Generaldirektor  Klempnerskirch 
das  Gesprach  erst  richtig  an.    Dem  Zeisig  wird  der  Plafond  langsam 

447 


oval.  Auch  schmerzen  ihn  beim  Sitzen  seine  Hamorrhoiden,  die  so 
Itistig  sind,  weil  sit  kein  Mensck  richtig  schretben  kann.  Nun  isi  der 
Kirchenklempner  so  weit. 

Generaldirektor  Klempnerskirch:  Sie  kommen  mir  grade 
so  vor  wie  der  Mann,  der  da  vorhin  auf  Ihrem  Stuhl  gesessen 
hat.  Sagf  der  Mann,  einer  von  der  Plava£,  zu  mir,  ob  ich  jnicht 
mein  Geld  in  seine  Fabrik  stecken  will!  Ich?  Mein  Geld?  Ich 
bin  dochkein  Spieler!  Ich  trage  die  Verantwortung, .  da  brauch 
ich  doch  nicht  noch  mein  Geld  zu  riskier  en!  Der  Zeisig  flattert 
schwach,  doch  der  Generaldirektor  macht  Husch  und  fahrt 
fort:  Wir  brauchen  hohere  Preise,  damit  wir  billiger  herstellen 
konnen!  Das  begreiit  doch  ein  Kind!  Wir  brauchen  teure  In- 
landspreise,  weil  wir  billige  Exportpreise  haben  miissen!  Und 
hohe  Zolle,  natiirlich  —  damit  das  Land  nicht  von  fremden 
Waren  iiberschwemmt  wird! 

Der  Zeisig:  Ich  bin  ruiniertJ 

Generaldirektor  Klempnerskirch  s  Da  kann  man  nur 
gratulieren! 

Der  Zeisig;  Was  soil  ich  tun? 

Generaldirektor  Klempnerskirch;  Verschaffen  Sie  sich  eine 
Geschaitsaufsicht  und  markieren  Sie  da  den  starken  Mann,  das 
kann  der  schwachste!  Der  Zeisig  will  etwas  piepen,  aber  der 
Generaldirektor  la@t  ihn  kein  Ei  legen.  Und  ich  sage  Ihnen  — 
ich  gehe  von  dem  Standpunkt  aus:  wer  nicht  iBt,  braucht  auch 
nicht  zu  arbeiten!  Wir  haben  hier,  verstehn  Sie  mich,  das  Ri- 
siko  getragen,  verstehn  Sie  mich;  wir  haben  das  Risiko  ge- 
tragen, ich  habe  das  Risiko  getragen,  bis  nach  der  Schweiz  hab 
ich  es  getragen,  und  die  Amktankte-Staaten  sind  verpflichtet, 
verstehn  Sie  mich,  Deutschland  Geld  zu  geben,  sonst  geht  es 
unter,  und  jene  mit  uns!  Bruiting  wirds  schaffen,  da  gibts  an 
der  Borse  nur  eine  Stimme,  und  wenn  die  Borse  was  sagt,  dann 
konnen  Sie  Gift  drauf  nehmen;  es  ist  sowieso  das  einzige,  was 
Ihnen  dann  noch  ubrig  bleibt. 

Der  Zeisig;  Ist  das  Ihr  letztes  Wort? 

Generaldirektor  Klempnerskirch  hat  sich  aufgerichtet,  ein 
wenig  schr&g,  die  Unterarme  sind  auf  die  Sessellehne  gestutzt, 
die  Faust  ist  schwach  geballt:  Wenn  Sie  vielleicht  glauben,  daB 
sich  jemals  ein  deutscher  Industrieller  so  albern  benimmt,  wie 
mich  der  Herr  Hauser  hier  schildert,  da  irren  Sie  sich!  Lesen 
Sie  unsre  Syndikatsbeschlusse  nach!  Wir  sind  das  Mark,  was! 
wir  sind  die  Ruckenmarker  der  deutschen  Wirtschaft!  Herr 
Zeisig,  ich  habe  Ihnen  nur  noch  das  eine  zu  sagen,  was  ich  seit 
Monaten  alien  Leuten  sage:  Herr  Zeisig,  Sie  sind  entlassen  — ! 
Der  Zeisig  riskiert  eine  zahme  Verbeugung,  die  unbeachiet  bleibt% 
und  entflattert.  Braufien  fallt  er  beinah  iiber  die  Wagenmitte, 
die  ihn  enlriistet  von  sich  abstaubt 

Auf  der  Strafe  vor  der  riesigen  Zmngburg  der  Andullje  steht 
der  Zeisig  und  will  uber  den  Bamm  hupfen.  Was  mftffte  man  mit 
diesen  Kerlen  machent  denkt  er.  Da  naM  ein  Wagen  und  fahrt  ihn 
beinah  urn  und  urn.  Es  ist  ein  griiner  Wagen.  Der  Zeisig  sieht 
ihm  gedankenvoll  nach.  Wenn  Sie  sich  beeileni  k&nnen  Sie  ihn  noch 
stehn  sehn  — :  Tauben-  und  Jftgerstrafien-Ecke. 

448 


Der  Okonomische  Tee  von  Rudoit  Arnheim 

f^afi  heute  noch  irgend  jemand  den  EinfluB  der  Wirtschaft 
in  der  Welt  unterschatzt,  ist  unwahrscheinlich.  Auch  die- 
jenigen  Kreise,  die,  weil  sie  Geld  hatten,  der  Meinung  waren, 
das  wirtschaftliche  verstehe  sich  von  selbst,  haben  in  der  Zeit 
von  der  Inflation  bis  zu  den  in-  und  auslandischen  Bankzu- 
sammenbriichen  der  letzten  Monate  am  eignen  Leibe  erfahren, 
daB  Not  mehr  ist  als  ein  f  ess  eludes  Zeitungsthema.  Und  dar- 
uber  hinaus  haben  Proletarier  und  Intellektuelle  begriffen, 
daB  solche  Not  nicht  mit  dem  Pariatura  des  vierten  Standes 
oder  mit  geistiger  Beschaftigung  durch  gottliche  oder  natur- 
gesetzliche  Fiigung  fur  ewig  verkniipft  sei,  sondern  daB  eine 
groteske,  unnaturliche  Verteilung  der  Giiter  durch  eine  zu 
diesem  Zweck  geschaffene  Staatsordnung  aufrechterhalten 
werde. 

Sicherlich  ist  diese  Einsicht  ein  groBer,  notwendiger  Fort- 
schritt  Aber  kaum  ist  sie  da,  so  heiBt  es  schon  wieder  vor 
einer  solchen  panokonomischen  Weltbetrachtung  warnenf 
Eine  groBe  Zahl  unsrer  Geistigen  hat  leider  den  Hang,  sich 
uberall;  wo  Macht  oder  Lebenskraft  zu  spiiren  ist,  sogleich 
hinzugeben  und  aufzugeben.  So  ging  es  ihnen  mit  dem  Sport, 
Wt  dem  Temporummel  der  modernen  Technik,  mit  der  „Sach- 
lichkeit"  —  so  geht  es  ihnen  jetzt  wieder  mit  der  Wirtschaft. 
Friiher  befleiBigten  sich  die  Bankherren,  in  den  Salons  von 
Hauptmann,  Liebermann  und  Reinhardt  zu  sprechen.  Heute 
plaudern,  mit  noch  geringerer  Sachkenntnis,  die  Dichter  und 
die  Maler  bei  ihren  *geselligen  Zusammenkiinften  vom  Reichs- 
bankdiskont  und  vom  Getreideimport.  Nicht  mehr  der  asthe- 
tische  Tee,  der  okonomische  Tee  ist  das  Leib-  und  Seelen- 
getrank.  Dagegen  ware  nun  nichts  zu  sagen,  wenn  nicht  zu- 
gunsten  solcher  smarten  Gesprachsstoffe  alles  Geistige  immer 
mehr  mit  hohnischem  Achselzucken  abgetan  wiirde.  Es  ist 
wieder  jene  kokette  Selbstmordgebarde,  die  fiir  viele  In- 
tellektuelle der  Nachkriegszeit  so  widerwartig  bezeichnend 
ist.  Dieselben  Leute  sind  es,  die  sich  lieber  in  Boxhand- 
schuhen  als  am  Schreibtisch  photographieren  lassen,  die 
Amerikasiichtigen,  die  enthirnten  Reporter.  Es  scheint  fast, 
als  sei  ihnen  die  Beschaftigung  mit  Geistigem  mehr  Sache  des 
Prestiges  als  einer  angebornen  Besessenheit  und  als  suchten 
sie  immer  wieder  ein  neues  Loch,  um  durch  die  lastige  Hiirde 
zu  brechen.  Unsympathisch  waren  gewiB  auch  jene  alt- 
modischen,  oberflachlichen  Idealisten,  die  sich  unsre  Welt 
gern  als  eine  Dame  ohne  Unterleib  vorstellten  und  beim  An- 
blick  von  Banknoten  err6te,ten,  Aber  wieviel  schlimmer  sind 
ihre  Nachfolger,  denen  die  aufgeblasene  Wirtschaft  als  eine 
Circe  erscheint,  von  der  sie  sich  willig  in  Schweine  verzau- 
bern  lassen.  Man  glaubt,  sich  auf  zeitgemaBe  Weise  mit 
Kunst  zu  befassen,  wenn  man  iibex  Kunsthandel  liest  und 
schreibt,  man  bewehrt  die  Arbeitsstube  des  Schriftstellers 
stolz  mit  Karteien,  Haustelephonen  und  Sekretarinnen,  man 
sucht  die  blaue  Blume  in  der  Bureauausstellung. 

Nichts  ist  naturlicher,  als  daB  Menschen,  die,  auch  wenn 

449 


sie  nicht  Kaufleute,  Nationalokonomen  oder  Bankicrs  sind, 
doch  als  Glieder  eines  Wirtschaftsorganismus  dauernd  unter 
seinen  heftigsten  Einwirkungen  zu  leiden  haben,  daB  solchc 
Menschen  iiber  Wirtschaftliches  sprechen  und  sich  dariiber  zu 
unterrichten  suchen  —  es  ist  ja  fast  Notwehr,  was  sie  dazu 
^wingt;  abcr  nichts  ist  unnaturlicher,  als  daB  sich  untcr  dem 
EinfluB  dicscr  Macht  bei  den  Gelstigen  eine  Umgruppief ung 
der  Werte  vollzieht,  Heroisierung  der  Borse,  Verrat  an  der 
eignen  Aufgabe. 

Ober  der  guten  Einsicht  in  wirtschaftliche  Zusammen- 
hangs  vergiBt  man  die  Grundtatsache,  daB  hier  ein  Feind 
stent,  gegen  den  es  eine  Festung  zu  halten  gilt.  Nicht  das 
Wirtschaftliche  schlechthin  ist  der  Feind  des  Geistigen,  wohl 
aber  diese  unsre  Wirtschaft,  die  am  Kultusetat  abstreichtf  was 
in  den  Aufsichtsraten  verdient  wird,  und  die  alle  Freiheit  des 
Lehrens,  Lernens  und  Forschens  durch  ihre  Schreckensherr- 
schaft  austilgt.  Wie  minderwertig  und  diirftig  ist  es,  sich  vom 
Klugen  und  Schonen  abzuwenden,  nur  weil  es  unter  den  heu- 
tigen  Machtverhaltnissen  keine  Rolle  spielt.  Man  scheut  sich 
nicht,  vom  Kommunismtts  zu  sprechen,  obwohl  fur  ihn  unter 
uns  doch  heute  wenig  Platz  ist,  aber  es  gilt  fur  lacherlich, 
sich  beispielsweise  fur  Filmkunst  zu  interessieren,  weil  doch 
die  Filmproduktion  heute  von  den  Geldinteressen  der  In- 
dustrie gelenkt  werde!  Man  vergiBt,  daB  eben  grade  weil  es 
so  ist,  die  Geistigen  die  Pflicht  haben,  mit  jener  rohen  Un- 
erbittlichkeit,  die  sie  an  Rayonchefs  uind  Boxmanagern  so  be- 
wundern,  ihre  Interessen,  ihre  Werte  zu  propagieren.  GewiB 
sollen  sie  alles  tun,  diesen  Wirtschaftsterror  zu  verstehen,  um 
ihn  zu  entlarven,  aber  wozu,  bitte,  entlarvt  man,  wenn  man 
auf  der  andern  Seite  immer  nlehr  die  eignen  Arbeitsgebiete 
mit  den  MaBstaben  der  Gegner  miBt,  sie  verachtet,  weil  sie 
schwach  und  einfluBlos  sind!  Man  entzieht  unsrer  Kultur 
auBer  dem  materielien  Nahrboden  nun  auch  noch  den  geisti- 
gen, indem  innerhalb  der  Intellektuellen  die  Achtung  und  die 
Aufmerksamkeit  fiir  die  eignen  Bestrebungen  immer  geringer 
wird.  Die  geistige  Stiitze,  die  grade  in  solcher  Zeit  einer  am 
andern  unbedingt  haben  muB,  wankt  bedenklich. 

Thomas  Mann  hat  dieser  Tage  in  seiner  schonen  hibecker 
Rede  an  die  Jugend  davon  gesprochen,  daB  es  an  der  Zeit  sei, 
„dem  Begriff  der  El^te  zu  neuen  Ehren  und  zu  neuer  Geltung 
zu  verhelf^n  gegen  den  weltbedrohenden  Geist  oder  Ungeist 
der  Masse,  welcher  mit  Demokratie  in  des  Wortes  respek- 
tablem  Verstande  langst  nicht  mehr  das  Geringste  zu  tun"  habe. 
Fiir  diese  Elite  zu  kampfen,  ware,  wie  mir  scheint,  nicht  nur 
zum  Vorteil  des  Geistes  sondern  der  Kampfer  selbst.  Denn 
es  konnte  leicht  sein,  daB  unter  den  Intellektuellen  sehr  schnell 
eine  neue  Generation  heraufkame,  fiir  die  das  Wirtschaftliche 
nicht  mehr  jenen  verfiihrerischen  Charme  hatte  sondern  ein- 
fach  das  bekampfenswerte  Prinzip  des  Bosen  und  Hinder- 
lichen  ware  und  vor  deren  Augen  unsre  feingeistigen  Adoran- 
ten  des  Handelsteils,  die  ihre  Erstgeburt  fiir  ein  Linsengericht 
verkaufen,  dastanden  als  ungebildet,  unkultiviert,  beschafti- 
gungslos  und  ohne  rechten  Nutzen  fiir  diese  Welt. 

450 


Theater  von  Alfred  Polgar 
Kat 

F\er   Amerikaner    Ernest   Hemingway    hat    ein   paar    zaube- 

riscbe  Erzahlungen  geschrieben.  Nicht  einmal  der  Bei- 
fall  der  Feinschmecker,  den  sie  find  en,  kann  die  Freude  an 
ihnen  verekeln,  Es  sind  Erzahlungen  von  beinerner  Trocken- 
heit  der  Diktion  bei  Hochstgehalt  der  Luft  an  alkoholischer 
Feuchtigkeit.  Mannsgeschichten,  hart  ohne  StiBe.  Doch  der 
At  em  der  Frau  ist  es,  der  in  ihnen  den  Sturm,  ihr  Schatten, 
der  die  Finsternis  macht.  GroBe  Empfindung,  zumindest  deren 
groBen  Ausdruck  verwehrt  sich  Hemingway:  als  ob  er  seinen 
Ehrgeiz  darein  setzte,  Brennendes  mit  nackter  Hand  zu  fassen, 
ohne  eine  Miene  zu  verziehen.  Er  erzahlt  tolle  Geschichten, 
aber  er  macht  keine  mit  ihnen.  Psychologie  fehlt.  Beschrie- 
ben  wird  nicht,  die  Figuren  beschreiben  sich  selbst  durch  ihre 
Rede  und  Schweige,  Handlung  und  Haltung.  Das  Pathetische 
wie  das  Zarte  wird  verheimlicht,  vergraben,  zugedeckt  von 
unscheinbarem  Wort,  damit  der  Leser  den  Schatz  nicht  so 
leicht  finde.  Strenge  Prohibition  des  Gefuhls.  Hemingways 
Menschen  verbeiBen  den  Schmerz,  auch  den  hartesten.  Was 
fur  Zahn-Athleten! 

MFare  well  to  the  arms",  die  Vorlage  fiir  „Kat",  spielt  im 
Kriege,  Henry,  der  Amerikaner,  macht  ihn  mit,  an  der  italie- 
nischen  Front.  Er  verliebt  sich  in  Kat,  die  Krankenschwester, 
Er  brennt  mit  ihr  durch,  nach  der  Schweiz,  einer  friedevollen 
Insel  im  Meer  der  GreueL  Sie  sind  gliicklich,  holen  an  Lust 
aus  ihrer  Zweisamkeit,  was  Leib  und  Seele  hergeben.  Dann 
stirbt  Kat  im  Wochenbett.  Henry?  Henry  beiBt  die  Zahne 
zusammen.  Den  Marterpfahl  gibt  es  nicht,  an  dem  ein  Heming- 
wayscher  Mann  wimmerte* 

Dieser  einiach  bezwingende,  bezwingend  einf ache  Roman, 
in  dem  die  Liebe  elementarisch  rauscht  wie  der  See,  der  so- 
wohl  zum  Bade  Iadt  als  auch  sein  Opfer  haben  will,  wurde, 
von  Zuckmayer  und  Hilpert,  fiir  die  Drehbuhne  geschnitten 
und  geklebt.  Das  Dramatische  der  erzahlenden  Fassung  ver- 
fliichtigte  sich  in  der  dramatischen,  leibhaftig  verkorpert  er- 
schienen  die  Figuren  flacher  als  im  Buch,  das  Sentimentalische, 
dort  gedrosselt,  bekam  aui  der  Szene  Luft,  und  von  dem  gan- 
zen  stark  en  Gebilde  aus  Wort,  Handlung,  Passion  ging,  mit 
den  Wassern  des  Theaters  gewaschen,  die  charakteristische 
Farbe  herunter. 

Verdienst  der  Drama tisierung  bleibt,  daB  sie  AnlaB  gibt, 
wieder  von  dem  Roman  Hemingways  zu  sprechen  (der  deutsch 
bei  Ernst  Rowohlt,  Berlin,  erschienen  ist).  Ferner  fand,  im 
Deutschen  Theater,  Herr  Gustav  Frohlich  Gelegenheit,  sich 
auf  der  Sprechbiihne,  trotz  aller  Liebenswiirdigkeit,  hochst 
mannlich  zu  bewahren;  wie  Frau  Dorsch  hochst  weiblich  als 
Naturvirtuosin  auf  der  Herz-Saite.  Die  schauspielerischen 
Hohepunkte  bringt  Paul  Horfoiger.  Sehr  fein  die  Mischung 
von  Grimm,  Trauer  und  Galgenhumor,  mit  der  er,  krieg- 
geschlagener  Mensch,  ein  Schicksal  tragt,  das  zu  meistern  er 
nicht  die  Kraft,  dem  glatt  sich  zu  ergeben,  er  nicht  die  hilf- 
reiche  Dumpfheit  hat. 

45t 


Junge  Liebe 

Im  Lessing-Theater  ist  „Junge  Liebe'*  zu  sehen,  ein  Lust- 
spiel  von  R.  Samsont  das  durch  den  Fallschirm  des  sogenann- 
tcn  Esprits  alle  Stiirze  aus  dern  Lustigen  ins  Lacherliche  ohne 
Schaden  iibersteht.  Es  handelt  sich  in  diescm  Spiel  urn  das 
physiologische  Problem  der  -geschlechtlichen  Anziehungskraft 
beziehungsweise  darum,  daB  ein  Privileg,  solche  auf  ihn  aus- 
zuiiben,  der  Mensch  leider  nicht  an  ein  einziges  Wesen,  auch 
nicht  an  das  grade  von  ihm  geliebte,  vergeben  kann.  Ein 
Thema,  so  sehr  ernster  Behaiidlung  wiirdig,  daB,  wird  ihm 
diese  nicht  zuteil,  nur  eine  ganz  heitere  tauglich  erscheint. 
Samsons  Lastspiel  sucht,  mit  Schwierigkeiten,  eine  mittlere 
Linie  einzuhalten.  Das  groBe  Fragezeichen,  hinter  Liebe  und 
Treue  gesetzt,  dient  hier  als  Gerat  fur  Turniibungen  im  Ex- 
zentrik-Stil.  Da  aber  muntre  Reden  sie  begleiten  (gesprochen 
von  Frau  Mosheim  und  Frau  Haack,  von  den  Herren  Homolka 
und  Brausewetter),  hat  der  Zuschauer  seinen  SpaB  daran,  be- 
sonders  an  Homolkas  gelassenem,  unbeirrbar  naturlichem  Spiel 
Frau  Mosheim  ist  Personlichkeit  genug,  urn  sich  erlauben  zu 
diirfen,  geziert  zu  sein.  Aber  die  Schatzer  ihrer  Kunst  hatten 
doch  lieber,  sie  wiirde  es  sich  nicht  erlauben,  und  es  ginge  be- 
sonders  auf  ihrem  Mienenspielplatz  weniger  affektiert  zu. 

Goethe- Jahr  1932  von  Theobald  Tiger 

^achstes  Jahr,  da  werden  wir  was  erleben! 
*^       So  im   Marz,   April  und  Mai: 
Goethe  hundert  Jahre  tot!    Das  wird  was  geben! 
War  es  schon  vorbei  — ! 

Richtig,  Joethe! 

Hundert  Philologen  walzen 
Briefe,  Werke,  Bilder  im  Archiv. 
Und  schon  seh  ich  Wolfgang  Goetzen  stelzen 
durch  die  Folljetoner  lang  und  tief. 

Richtig,  Joethe! 

Spitzen  der  Behorden  -> 

weihen  olig  quasselnd  etwas  ein, 
Und  die  Spitzen  der  Behorden  worden 
alle  voll  von  Faust-Zitaten  sein  — 
richtig,  Joethe! 

Und  es  wimmelt  von  Beziiglichkeiten: 
„Goethe  und ..."  so  tont  es  immerzu, 
Auf  den  bunten  Marken  mufi  er  schreiten, 
Und  dann  sagen  alle  zu  ihm  Du! 

Bote,   Krote,   Note,  Rote,   Fltite . . . 
wochenlang  reimt   alles   sich  auf  Goethe. 
Dann    verstummen   Prosa   und   Sonett. 
Von  den  deutschen  Angestellten-Massen 
hat  man  keinen  weniger  entlassen. 
Klassiker  sind  nur  furs  Bucherbrett. 

Nachstes  Jahr,  da  kannst  du  was  erleben! 
So  im  Marz,  April  und  Mai . , . 
Lieben  Freunde,  das  wird  etwas  geben! 
War  es  schon  vorbei  — ! 

452 


Bemerkungen 

Pogrom  und  Polizei 

A  m  12.  September,  dem  jti- 
***  dischenNeujahrstag,  ist  es  in 
den  Abendstunden  auf  dem  Kur- 
iurstendamm  zu  einem  regelrech- 
ten  Pogrom  gekommen.  Die  Na- 
tionalsozialisten  hatten  den  Uber- 
fall  ausgezeichnet  organisiert;  auf 
ein  gegebenes  Signal  sperrten  sie 
den  Kurfiirstendamm  von  der  Ge- 
dachtnis-Kirche  bis  zur  Leibniz- 
Strafle  ab.  Eine-  Rotte  von  ein 
paar  hundert  Mann  tyrannisierte 
eine  halbe  Stunde  lang  die  StraBe 
und  mifihandelte  FuBganger,  die 
sie  fur  Juden  hielten. 

Die  liberale  Presse  hat  zunachst 
ihre  Berichterstatterpflicht  nicht 
erfiillt.  Sie  versuchte,  die  skan- 
dalosen  Vorgange  zu  bagatellisie- 
ren.  Denn  diese  Presse  fiihlt  bei 
unpassendstem  AnlaB  immer  eine 
hohere  Verantwortung,.  die  sie 
notigt,  nicht  mit  der  vollen  Wahr- 
heit  herauszuriicken.  In  diesem 
Falle  gait  es,  auf  das  MAnsehen 
Berlins"  Riicksicht  zu  nehmen. 
Sie  hat  also  die  Tatsache,  dafi 
die  Krawalle  am  jiidischen  Neu- 
jahrstage  vor  sich  gingen,  so  be- 
scheiden  wie  moglich  oder  iiber- 
haupt  nicht  gebracht.  Ahnungs- 
lose  Gemiiter,  die  nur  ihr  Blatt- 
chen  lesen  und  sonst  nichts,  bat- 
ten bei  diesen  Schilderungen  sehr 
leicht  auf  den  Gedanken  kommen 
konnen,  es  habe  sich  dabei  urn 
eine  etwas  rabiate  Kundgebung 
der  geprellten  Devaheimsparer 
gegen  ihren  Vorstand  gehandelt. 
Erst  als  die  Zeitungen  von  ihren 
Lesern  mit  Zuschriften  bombar- 
diert  wurden,  bequemten  sie  sich, 
Beschwerden  gegen  die  Polizei  zu 
erheben.  Denn  jetzt  stellte  es  sich 
heraus,  dafi  auch  die  Polizei  zu- 
nachst zu  gut  davongekommen 
war.  Jetzt  war  nicht  mehr  daran 
zu  zweifeln,  dafi  die  Polizei  we- 
der  die  ihr  zugegangenen  War- 
nungen  beachtet  hatte  noch  recht- 
^eitig  zur  Stelle  gewesen  war, 
Jedenfalls  war  das  Versagen  der 
Polizei  bald  wieder  offenkundig, 
und  ihre  Haupter  ergingen  sich  in 
lahmen  Ausreden. 

Man    vergleiche    die    Laschheit 
der  Polizei    am    Kurfiirstendamm 


mit  der  Scharfe  und  Punktlichkeit 
bei  Zusammenstofien  mit  Links- 
radikalen.  Die  traurige  Affare 
Biilow-Platz,  ein  Kind  der  Presse- 
stelle  des  Polizeiprasidiums,  ist 
von  der  gesamten  Presse  zunachst 
glaubig  hingenommen  und  noch  uln 
einiges  Beiwerk  vermehrt  worden. 
Jetzt  aber  regt  sich  der  Zweifel, 
und  es  werden  Fragen  an  die 
Polizei  laut,  was  es  mit  der  vor 
einigen  Wochen  schon  „unmittel- 
bar  bevorstehenden"  Aufklarung 
auf  sich  habe.  Die  als  verdachtig 
Verhafteten  sind  inzwischen  wie- 
der entlassen  worden. 

Am  12.  September  ist  die  Polizei 
weit  weniger  radikal  vorgegangen. 
Sie  kam  zu  spat  und  war,  im  Ge- 
gensatz  zu  den  Rowdygruppen,  un- 
einheitlich'  gefiihrt,  Wahrend  sie 
an  der  Gedachtnis-Kirche  noch 
aufraumte,  trieben  einige  hundert 
Meter  weiter  die  National-Hooli- 
gans noch  ihr  Wesen.  Dazu  ka- 
men  noch  einzelne  taktische  Feh- 
ler,  die  verheerend  wirkten.  So 
blieben  die  beiden  Schupos,  die 
standig  vor  der  chinesischen  Ge- 
sandtschaft  postiert  sind,  ruhig 
stehen.  Gewifi  konnten  sie  gegen 
die  Ubermacht  nichts  ausrichten, 
aber  es  ware  kliiger  gewesen,  wenn 
sie  ins  Haus  hineingegangen  oder 
sonstwie  von  der  Bildflache  ver- 
schwunden  waren.  Statt  dessen 
verharrten  sie  in  kerzengrader 
Diensthaltung,  und  es  sah  aus, 
als  hatten  sie  die  Oberaufsicht 
iiber  den  Tumult  rundum. 

Es  ging  gegen  Rechts,  also  hat 
die  Polizei  versagt,  Der  glatte 
Ablauf  dieses  Pogroms  kann  die 
S.A.-Sturme  nur  zu  baldiger 
Fortsetzung  ermutigen.  Es  war 
nicht  anders  als  im  vorigen  Herbst 
bei  den  StraBenkrawallen  um  den 
Remarque-Film.  Damals  durfte 
Goebbels  ein  paar  Abende  lang 
die  StraBe  beherrschen,  ohne  dafi 
ihn  die  Polizei  gestort  hatte.  Die 
Linkspresse  mufite  sich  erheblich 
riihren,  um  die  Kommandohohen 
am  Alexander-PIatz  aus  der  Le- 
thargie  zu  riitteln.  Unsre  preu- 
Bische  Polizei  gilt  als  republi- 
kanisch,  als  sozialistisch  durch- 
setzt.  Wenn  es  gegen  Rechts  geht, 

453 


merken  wir  nichts  davon,  nur 
gegen  die  Kommunisten  funktio- 
niert  das  scharfc  Schwert.  Wir 
haben  das  erst  vor  wenigen  Tagen 
gesehen,  bei  der  wahnwitzigen 
Versammlung  im  Sport-Palast, 
wo  die  bcrittene  Polizei  auf  der 
dichtgef  till  ten  Strafie  vor  dem 
Versammlungslokal  immer  wieder 
uber  den  Gehsteig  setzte,  ins 
Publikum  hinein.  Was  mogen  sich 
die  altgedienten  Sozialdemokra- 
ten  bei  diesem  wilhelminischen 
Kavalleriemanover  ihres  Genos- 
sen  Polizeiprasidenten  gedacht 
haben?  Als  Polizeiaktion  sind 
solche  Reiterkunststiicke  wir- 
kungslos,  aber  die  politische  Un- 
zulanglichkeit  wirkt  hoch  zu  RoB 
nicht  schoner,  nur  ist  sie  noch 
besser  zu  sehen. 

Carl  v.  Ossietzky 


Eines  aber 

mochten  wir  in  absehbarer  Zeit 
gewiB  nicht  horen;  das  jammer- 
voile  Geachz  der  aus  der  Regie- 
rung  herausgeworfenen  Sozial- 
demokraten,  weil  man  sie  dann 
grade  so  behandeln  wird,  wie  sie 
heute  den  Reaktionaren  helfen, 
die  Arbeiter  zu  behandeln. 

Eines  Tages  "wird  es  soweit 
sein.  Die  furchtbare  Drohung, 
sich  nunmehr  bald  an  die  frische 
Luft  zu  verfugen,  wird  von  der 
Partei  wahrgemacht  werden, 
wahrscheinlich  eine  halbe  Minute, 
bevor  man  .sie  auch  in  aller  Form- 
lichkeit  bitten  wird,  den  Tempel 
zu  raumen,  Und  dann  wird  sich 
die  Fiihrung  besinnen:  Jetzt  sind 
wir  in  der  Opposition.  Mit  einem 
groBen  O.  Wie  macht  man  doch 
das   gleich. . .? 

Da  werden  sie  dann  die 
Mottenkisten  aufmachen,  in  de- 
nen  —  ach,  ist  das  lange  her!  — 
die  guten,  alten  Revolutions  j  acken 
modern,  so  lange  nicht  getragen, 
so  lange  nicht  gebraucht!  Werden 
ihnen  zu  eng  geworden  sein.  Und 
dann  frisch  als  Sansculotten 
maskiert,  vor  auf  die  Szene,  „Die 
Partei  protestiert  auf  das  nach- 
drucklichste  gegen  die  Gewalt- 
mafinahmen  , , ,"  Herunter!  Ab-. 
treten!  Faule  Apfel!  SchluBJ 
Schlufi! 

454 


Die  werden  sich  wundern,  Und 
sie  werden  keinen  schohen  An- 
blick  bieten.  Denn  nichts  ist 
schrecklicher  als  eine  zu  jedem 
KompromiB  bereite  Partei,  die 
plotzlich  Unnachgiebigkeit  mar- 
kieren  soil*  Millionen  ihrer  An- 
hanger  sind  das  gar  nicht  mehr 
gewohnt;  die  Gewerkschafts- 
bureaukratie  auch  nicht,  fur  die 
uns  a  Her  dings  nicht  bange  ist; 
es  findet  sich  da  immer  noch  ein 
Unterkommen.  Waren  die  Stahl- 
helm-Industriellen  nicht  so  maB- 
los  unintelligent  —  sie  konnten 
sich  das  Leben  mit  denen  da 
schon  heute  wesentlich  leichter 
mac  hen,  Sie  werden  es  sich 
leicht   machen. 

Alles  gut  und  schon.  Aber  er- 
zahlt  uns  ja  nichts  von:  Recht  auf 
die  Strafie;  Polizeiwillkfir ;  Ver- 
fassung;  Freiheit . . .  erzahlt  sonst 
alles,  was  ihr  lustig  seid.  Aber 
dieses  eine  j  em  als  wieder  zu  sa- 
gen  — :  das  habt  ihr  verscherzt. 
Ignaz  Wrobel 

Unfug  mit  Jimmy  Walker 
*7  weimal  habe  ich  das  groBe 
"  elegante  Hotel  an  einer  Haupt- 
straBe  Berlins,  das  sich  selbst.  fur 
besonders  vornehm  halt,  in  ganz 
plebejischer  Aufregung  gesehn: 
das  eine  Mai  am  Tage  des  Kapp- 
Putsches,  als  Admirale  und 
GroBgrundhesitzer  in  der  Halle 
herumstanden  und  nicht  ahnten, 
daB  im  zweiten  Stock  —  heute 
kann  mans  ja  wohl  erzahlen  — 
im  Zimmer  eines  auslandischea 
Pressephotographen  eins  der 
Zentren  der  proletarischen 

Gegenbewegung  war;  und  das 
zweite  Mai,  als  ein  bild- 
hiibscher  blonder  Judenj  unge 
aus  Amerika,  der  Jackie  Coogan. 
hiefi,  aus  einem  Auto  sprang  und 
die  Treppe  hinaufrannte.  Damals. 
dachte  ich:  es  ist  gewiB  besser, 
daB  sie  dem  grofien  Kiinstler,  der 
der  kleine  Jackie  war,  zujubelten, 
als  daB  sie  fur  den  Kronprinzen 
Parade  stehn;  aber  —  konnen  sie- 
denn  die  Formen  nicht  anpassen, 
mussen  sie  denn  immer  fur  irgend 
einen  Hurra  schrein? 

Gegenwartig  reist  —  vielmehr 
jagt  —  James  Walker,  kurz 
und     intim     von     den     Zeitungeiv 


„Jimmy"  genannt,  in  Europa  her- 
um,  Er  war  in  Berlin,  Prag, 
Wien,  ist  in  Cannes,  wird  nach 
Paris,  London  und  Bremen  gehn, 
und  es  ist  eine  Schande,  was  sie 
tiberall  mit  ihm  anstellen. 

Sie  wissen  hof f entlich .  nicht, 
wer  Jimmy  Walker  ist?  Er  ist 
namlich  der  Biirgermeister  von 
New  York.  Also  von  einer  Stadt, 
die  uns  Europaern  alien  leider 
ungeheuer  imponiert  und  die  das 
eirigestandne  oder  uneingestandne 
Entwicklungsideal  unsrer  besten, 
durch  dieses  Ideal  scheuBlich  ver- 
falschten  eignen  Stadte  ist.  Von 
einer  Stadt,  deren  Bedeutung  und 
Interessantheit,  deren  Vitalitat 
und  Phantastik  ganz  gewiB  nicht 
bestritten  werden  soil,  in  der  aber 
auch,  wie  alles  massenhafter  — 
und  eben  nur  massenhafter  —  ist, 
das  umiberwindbare  Elend  grofier 
und  druckender,  die  Herzlosigkeit 
der  Epoche  naher  und  deutlicher 
ist;  und  die  taglich  die  Zeitungen 
auch  deshalb  beherrscht,  weil  die 
dffentliche  Sicherheit  in  ihr  auf 
einer  so  primitiven  Stufe  steht 
wie  in  Bamberg  und  Poitiers,  in 
Drontheim  und  Graz  seit  dem 
Mittelalter    nicht. 

Biirgermeister  Walker  reigt  nun 
nicht  etwa  durch  Europa,  urn 
unsre  schwacheren  Versuche  von 
Unterweltsgemeinschaften  und  Kri- 
minalkorruption  mitleidig  zu  be- 
trachten,  auch  nicht  urn  die  in 
Europa  fraglos  besser  als  in 
Amerika  entwickelten  StraBen- 
kampfmethoden  der  Polizeien  zu 
studieren;  er  reist  inkognito,  um 
sich  feiern  zu  lassen. 


Er  reist  wie  ein  Amerikaner, 
In  Wien  beispielshalber,  wo  er 
eine  Nacht  und  einen  halben  Tag 
weilte,  verbrachte  er  den  ganzen 
Abend  beim  „Heurigen"  und  auf 
dem  Kobenzl,  um  dann  —  nachtsl 
—  einige  Stellen  der  Stadt  zu  be- 
sichtigen;  im  Vorbeifahren.  Nach 
langem  Schlaf  amVormittag,  des- 
sen  einzelne  Phasen  die  Zeitungen 
ganz  genau  registrierten,  machte 
er  eine  Rundfahrt,  vom  Hotel 
bis  zum  Rathaus.  Dagegen  ware 
gar  nichts  zu  sagen,  jeder  kann  so 
unergiebig  reisen  wie  er  will,  und 
ein  nasser  Biirgermeister  ist  viel 
sympathischer  als  ein  trockner, 
und  ein  Herumtreiber  angenehmer 
als  ein  Puritaner;  dagegen  ware 
gar  nichts  zu  sagen,  wenn .  nicht 
Herr  Walker,  Jimmy,  als  Ergeb- 
nis  seiner  tiefgnindigen  For- 
schungen  in  das  natiirlich  anwe- 
sende  Tonfilm-Mikrophon  die 
Feststellung  von  der  „Herrlichkeit 
Wiens"  trompetet  hatte.  Und  auch 
das  ginge  noch  als  eine  belang- 
lose  Albernheit  hin,  wenn  nicht 
die  Wiener,  die  Burger  der  (sehn 
wir  einen  Augenblick  von  aller 
Politik  ab)  am  besten  verwalteten 
Kommune  des  nichtrussischen  Eu- 
ropas,  dariiber  so  begluckt  ge- 
wesen  waren. 

Auch  die  sentimentale  Note 
„kam  zu  ihrem  Recht".  Wal- 
ker —  was  fur  eine  wunder- 
bare  Herablassung  von  einem  so 
groBen  Manne!  —  hatte  sich  auf 
der  Reise  die  dritte  Schiffsklasse 
angesehn  und  dabei  ein  kleines 
Madchen  gefunden,  das  bitterlich 
weinte.     Leutselig,   wie   so   reiche 


T0RI5CH 


dikTA 


fordert  der  Kenner  seine  Abdulla-Cigarette 

Standard o/M.  u   Gold StUck    5  Pfg. 

Coronet m.  Gold  u.  Stroh/M.    .    .    .  Stuck    6  Pfg. 

Virginia  Nr*  7  .    .    .    .  o/M StOck    3  Pig. 

Egyptian  Mr.  15   .    .    .  o/M   u.  Gold    ......  Stack  10  Pfg. 

Abdul  la-Cigaretten  genieBen  Weltruf! 
Abdulla  &  Co.  -  Kalro  /  London  /  Berlin 

435 


Biirgermeister  sind,  liefi  er  sich 
sagen,  dafi  die  kleine  Waise  we- 
gen  einer  Krankheit  von  Verwand- 
ten  in  New  York  zu  Verwandten 
nach  Wien  geschickt  wtirde.  Der 
he  rr  lie  he  Biirgermeister  konnte 
sein  Herz  nicht  halten.  Er  nahm 
das  Kind  aus  der  dritten  Klasse 
in  die  erste,  er  zahlte  —  man 
denke!  —  die  Preisdifferenz,  Und 
schon  wahrend  des  Empfangs  im 
Rathause  liefi  er,  der  nichts  ver- 
gifit,  in  sein  Hotel  telephonieren, 
ob  das  Madchen,  das  ihn  besuchen 
sollte,  schon  angekommen  sei; 
und  im  Hotel  versprach  er  dem 
Kinde,  er  werde,  wenn  es  sich  in 
Wien  trotz  der  eben  so  geruhmten 
Herrlichkeit  der  Stadt  nicht  wohl 
ftihle,  fur  seine  Riickreise  nach 
New    York   sorgen. 

Keiner  von  den  erschutterten 
Wienern  kam  angesichts  dessen, 
wie  hier  ein  goldenes  Herz  xiber- 
flofi,  darauf,  dafi  dieses  ganze 
Verhalten  die  blodeste,  gedanken- 
loseste,  unniitze  oder  schadliche 
Handhabung  biirgerlicher,  prot- 
zender,  reklamesuchtiger  Wohl  - 
tatigkeit  sei.  Sie  erinnerten  sich 
>der  Lesebuchtaten  ihrer  Kaiser 
und   jubelten, 

Keiner  von  den  jubelnden  Eu- 
ropaern  erinnerte  sich,  dafi  die- 
ser  nicht  einmal  ein  kleines  Kind 
vergessende  „lustigste  Biirgermei- 
ster der  Welt",  dessen  Lustigkeit 
freilich  von  Hunderttausenden 
seiner  Schutzbefohlenen  langst 
nicht  mehr  geteilt  wird,  im  vorigen 
Jahr  eine  Deputation  Arbeitslo- 
ser,  die  sich  mit  ihm  ruhig  iiber 
die  Frage  unterhalten  wollten,  wie 
sie  sich  davor  schiitzen  konnten, 
zu  verhungern,  die  Rathaustreppe 
hat    hinunterpriigeln  iassen. 

Aber  ist  denn  dieses  armselige 
Europa,  das  durchaus  nicht  dazu 
kommen  kann,  ein  politischer 
Verband  zu  werden,  ganz  und  gar 
zu      einem     Fremdenverkehrsver- 


bande  geworden?  Sind  die  Euro- 
paer  schon  ganz  und  gar  verkell- 
nert,  verhausknechtet,  verknech- 
tet?  Besteht  die  einzige  Gunst, 
die  Gott  uns  noch  erweisen  will, 
in  Reisenden  in  und  mit  Dollars? 
Die  vielleicht  notige  Entprivati- 
sierung  Europas  vollzieht  sich  auf 
eine  greuliche  Art. 

Stadtbeherrscher,  die  mit  Ar- 
beitslosen  ebenso  gut  und  schnell 
fertig  werden  wie  sie  es  mit  Ver- 
brechern  nicht  werden,  haben  wir 
doch  wohl  selbst  genug.  Wir  ha- 
ben genug,  (ibergenug  von  alien 
Jimmys  und  von  diesen  Enthusi- 
asmen! 

Rudolf  Leonhard 

Friedrich  Leopold 

Der  soeben  verstorbene  Prinz 
Friedrich  Leopold  von  Preu- 
fien  hat  in  einem  Teil  der  re- 
publikanischen  Presse  ziemlich 
wohlwollende  Nachrufe  erhalten. 
Man  hob  zu  seinen  Gunsten  her- 
vor,  dafi  Wilhelm  II.  ihm  unhold 
gewesen  sei. 

Das  scheint  in  der  Tat  fur  ihn 
zu  sprechen.  Aber  in  diesem 
Fall  trugt  der  Schein. 

Friedrich  Leopold  war  der 
Typus  einer  furstlichen  Drohne. 
Trotz  eines  selbst  fur  einen 
Prinzen  aufiergewohnlichen  Ver- 
mogens  hat  er  nie  etwas  Niitz- 
liches  getan.  Er  hat  iiberhaupt 
nichts  getan.  Allerdings  hat  er 
am  11.  November  1918  auf  seinem 
Schlofi  die  rote  Fahne  aufziehen 
lassen.  Aber  das  war  nur  eine 
Geste,  die  er  fur  eine  schlaue 
Vermogensversicherung  hielt,  nicht 
etwa  der  Ausflufi  irgendeiner  Ge- 
sinnung. 

Auf  Gesinnung  hat  Friedrich 
Leopold  nie  Wert  gelegt,  immer 
nur  auf  Kleidung  und  Bequem- 
lichkeit. 

Als  er  noch  junger  Offizier 
war,    sollte   er.   einmal   beim   Ma- 


WALTHER  RODE 

KNOPFE  UND  VOGEL 

Lesebuch  far  Angeklagle     /     70  KapKel,  Lelnen  M  4,80 

Eine  originelle  Abrechnung  mit  dem  tebenden  und  totenln- 
ventar  der  Rechtspflege,  zornig  und  voll  voltaire'schem  Witz. 

TRANSMARE   VERLAG,    BERLIN  W  10 

456 


nover  zu  einer  meiner  Grofi- 
tanten  in  Hinterpommern  ins 
Quartier  kommen.  Die  alte  Dame 
war  nattirlich  sehr  geriihrt  von 
der  Ehre,  einen  leibhaftigen 
Hohenzollernprinzen  in  ihrem 
Schlofi  beherbergen  zu  diirfen. 
Weitestgehende  Vorbereitungen 
wurden  getroffen.  Am  Tage  vor 
dem  Einpassieren  des  Prinzen 
erschien  der  quartiermachende 
Offizier.  Mit  Stolz  zeigte  ihm 
meine  Tante  das  fur  den  hohen 
Gast  wundervoll  hergerichtete 
Schlafzimmer.  Der  Offizier  er- 
klarte  j edoch  kurz :  t,Die  Betten 
miissen  heraus.  Konigliche  Ho- 
heit  ist  gewohnt,  nur  in  seinen 
eignen  Betten  zu  schlafen." 

In  der  Tat  erschien  am  nach- 
sten  Morgen  ein  hochbepackter 
Kriimperwagen  mit  den  Betten, 
die  allein  die  zarten  Glieder 
Seiner  Koniglichen  Hoheit  urn- 
fangen  durften.  Das  Manover 
sollte  )  a  Vorbereitung  fur  den 
Krieg  sein. 

Die  wichtigsten  Personen  fur 
den  Prinzen  waren  Schuster  und 
Schneider/  Sein  eiserner  Bestand 
an  Lackschuhen  und  Lackstiefeln 
schwankte  zwischen  34  und 
36  Paar,  Der  Leibschneider  war 
besonders  geeicht  auf  den  Unter- 
schied  zwischen  Stehhosen  und 
Sitzhoseril  Der  Prinz  legte  nam- 
lich  hochsten  Wert  darauf,  dafi 
seine  Uniformhosen  —  er  war 
Husar  —  so  eng  wie  moglich  an- 
lagen.  Deswegen  wurde  die 
Halfte  der  Hosen  so  angefertigt, 
dafi  der  Prinz  darin  nur  stehen 
konnte,  wahrend  die  andre  ihm 
auch  das  Sitzen  erlaubte. 

Bei  einem  Hofball  stand  Fried- 
rich  Leopold  in  seinen  Steh- 
hosen  in    Unterhaltung   mit    einer 


ehrwiirdigen  Furstin.  Ihr  entfiel 
das  Taschentuch.  Steif  wie  ein 
Stock  blieb  der  Prinz  stehen. 
Jedes  Beugen  des  Korpers  ware 
gleichbedeutend  gewesen  mit 
einer  Katastrophe  fur  die  aller- 
hochsten  Hosen  in  dem  aller- 
wertesten  Teile.  Also  mufite  er 
alien  Kavalierspf lichten  zum  Hohn 
das  Taschentuchlein  liegen  lassen. 
Der  Vorfall  kam  zur  Kenntnis 
des  Kaisers  und  rief  seinen  Ieb- 
haften  Unwillen  hervor.  Die 
Stehhosen  Friedrich  Leopolds 
waren  der  erste  AnlaB  zu  der 
Ungnade,  mit  der  ihn  sein  kaiser- 
licher  Vetter  fortan  bedachte. 
Hellmut  v,  Gerlach 

Theobald  Tiger 

freut  sich,  dafi  ein  Nazi-Papier 
einmal  ordentlich  hereingefallen 
ist. 

Die  Nr.  159  des  2.  Jahrganges 
der  dusseldorfer  .Volksparole* 
vora  27,  August  enthalt  ein  Ge- 
dicht  „Die  Ortskrankenkasse". 
Dieses  Gedicht  ist  gestohlen:  es 
stand  hier  in  der  ,Weltbtihne'  am 
3.  Juni  1930.  Der  neue  Verfasser 
nennt  sich  mit  Recht  „SchIochM. 
Wahrscheinlich  heifit  er  mit  Vor- 
namen  auch   Adolf. 

Oder  hat  sich  jemand  mit  den 
Schriftgelehrten  einen  Scherz  er- 
laubt?  Dazu  gehort  freilich  nicht 
viel,  mit  denen  etwas  zu  tun,  was 
sie  gewohnt  sind;   sie  anzufiihren, 

Jetzt  wollen  wir  einmal  sehn, 
ob  diese  deutschen  Mannen  so 
viel  Ehrlichkeit  und  Anstandig- 
keit  bcsitzen,  zuzugeben,  dafi  sie 
geklaut  haben.  Und  noch  dazu 
bei    dem   freundlich   feixenden 

Theobald  Tiger 


B6  Yin  Ra 

hat  kein  einziges  Buch  geschrieben,  das  nicht  bei  wiederholtem  Lesen 
gewinnen  wiirde.  Wer  eines  seiner  Bucher  auch  zweidutzendmal  gelesen 
hat,  glaubt  bei  erneutem  Lesen  ein  neues  Buch  vor  sich  zu  haben.  Das 
wurde  bereits  von  Tausenden  best'atigt.  Naheres  fiber  ihn  und  sein  Werk 
sagt  die  Einfiihrungsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin,  kostenlos  bei 
jeder  Buchhandlung  zu  beziehen,  sowie  beim  Ver^ag:  Kober'sche  Verlags- 
buchhandlung,  Basel  und  Leipzig. 

457 


Arbeitslose  Jugetid  1931 

YV7cnn  sich   erwiesen  hat, 
w     daB  in  einem  Staat 
ein   junger  Mensch 
von  23  Jahren, 
unprobiert, 
zuni   alten  Eisen 
geworfen  wird, 
dafi  er  iiberfliissig  ist, 
einfach  zuviel, 
dieser  Staat 
der  Schmarotzer 
und  Protektion, 
dieser  Staat 
braucht  Sauberung, 
Revolution, 

Es  soil  jeder  ehrlich 
urn  sich  kampfen, 
es  braucht  kein  Mensch 
der  Welt  sich  zu  dampfen, 
er  soil  sich  entfalten, 
aber  nicht  stillhalten, 
jahrelang  sich  ausschalten, 
nicht  in  der  Jugend 
schon  vergreisen, 
er  hat  das  Recht, 
sich  zu  beweisen! 

Hinter  den 
zugeknallten  Turen 
sitzen  die,  die  ftihren, 
die  die  Arbeit  verweigern, 
die  Menschen  versteigern, 
wie  Tiere! 

Wer  nicht  ein  Judas  ist, 

goldgescheit, 

kommt  nicht  weit! 

Junger  Mensch  wehre  dich 

gegen  das  Land, 

das  Dich  zeugte 

und  keinen 

Platz  fiir  Dich  fand, 

wehre  Dich 

gegen  dieses  Deutschlandl 

Margarete  VoB 


Mifitdnende  Wochenschau 

p\  er  tausendste  Betroffene  der 
*-'  hundertsten  Notverordnung 
erhalt  vom  Reichskanzler  Bru- 
ning  personlich  ein  Photographie- 
album.  mit  Bildern  von  seiner 
pariser  und  londoner  Reise  iiber- 
reicht. 

458 


Zu  den  Sparmafinahmen  in 
PreuBen;  Hindenburg  schreitet 
gleichzeitig  die  Ehrenkompanie 
der  Verfassungsfeier  und  die 
Ehrenprotektoratsfront  des  Stahl- 
helms  ab. 

* 
Max  Pallenberg,  der  Racher 
der  kleinen  Millionensparer,  kiin- 
digt  zum  Zeichen  des  Protests 
sein  Rundfunkabonnement,  weil 
der  berliner  Sender  noch  immer 
das  „Niederlandische  Dankgebet" 
spielt. 

Gandhi  schweigt. 

* 
Die  notleidenden  Aktionare  des 

berliner     Zoo      werden     zweimal 

wochentlich  im  Bassin  des  Riesen- 

see-Elefanten  gefiittert. 

* 

Heiteres  aus  aller  Welt: 

Briand  spricht  fiir  die  Ab- 
rtistung, 

Reichsbankprasident  Luther  geht 
zu  FuB, 

Der  neue  Naziminister  in 
Braunschweig  schwort  auf  die 
Verfassung. 

Die    Amstelbank    wird     taglich 
nach  Geschaf  tsschluB  gereinigt  — 
Interview  mit  der  Scheuerfrau. 
Friedrich  Raff 

Spate  Reue 

T\  er  Hausvater: 
*^  „Nun  hat  mir  meine  Tochter 
die  Hausschuhe  schon  wieder  so 
tief  unter  das  Bett  getan  .  .  . 
Ach,  hatten  wir  das  bose  Kind 
seinerzeit  doch  abgetrieben!" 

Die  Begrfifiung 
|  m  Stidwestdeutschen  Rundfunk 
*  liest  Ricarda  Huch.  Der 
Sprecher  —  entweder  weil  er 
seine  Belesenheit  zeigen  will  oder 
weil  die  Reklameworte  ihm  schon 
unversehens  kommen  —  schickt 
voraus,  daB  Thomas  Mann  ir- 
gendwo  sagt,  Ricarda  Huch  sei 
die  bedeutendste  Frau  Deutsch- 
lands,  vielleicht  der  Welt,  Die 
Geschmacklosigkeit,  Ricarda 

Huch  so  ein  faustdickes  Kompli- 
ment  uber  den  Kopf  weg  ins 
Mikrophon  zu  sprechen,  fallt 
schon  nicht  mehr  auf.  Beachtlich 
ist,  dafi  nicht  die  Persdnlichkeit 
der  Huch  in  der  vordersten  Linie 


zu  stehen  scheint,  sondern  die 
Tatsache,  daB  Thomas  Mann  das 
auch   sagt. 

Es  gibt  so  etwas  wic  eine 
Kaste  der  BegrtiBer,  Wenn  heute 
in  Deutschland  irgendein  gewich- 
tiges  Buch  erscneint,  dann  lauft 
sich  der  Verlag  und  womoglich 
auch  noch  der  Autor  die  Hacken 
ab,  um  eine  BegriiBung  von  Tho- 
mas Mann  zu  erlangen.  Fur 
Frankreich  begriiBt  Romain  Rol-> 
land,  fur  England  wurde  es  Shaw 
sein  mussen,  aber  der  hat  sich 
durch  seine  fortgesetzte  gute 
Laune  fur  den  Posten  eines 
Olympiers  disqualifiziert.  Natiir- 
lich  gibt  es  auch  noch  Spezial- 
begriiBer  fiir  Spezialgebiete.  So 
begruBt  Frank  ThieB  etwa  die 
Romane,  Klaus  Mann  schlechthin 
die  Jugend.  Aber  die  letzte 
Autoritat  strahlt  doch  Thomas 
Mann  aus,  so  wie  sie  vormals 
Gerhart  Hauptmann,  wie  sie  ehe- 
dem  Goethe  ausstrahlte. 

Sind  wichtige  Manner  dieser 
Art,  die  Tag  fiir  Tag  fast  aus- 
schlieBlich  mit  sich  selbst,  ihrem 
eignen  Wesen  und  Schaffen  be- 
schaftigt  sind,  wirklich  die  ide- 
alen  BegriiBer,  an  deren  kriti- 
schem  Schalter  man  Kette  stehen 
mtifite?  Goethe  hat  Kleist  durch  - 
aus  nicht  begruBt,  auch  Holder- 
lin  nicht,  weil  sie  keine  „natur- 
gemaBen",  das  heiBt:  seiner  Na- 
tur  gemaBen  Begabungen  waren.  , 
Zelter  war  sein  Leib-  und  Magen- 
komponist,  aber  fiir  Schuberts 
Vertonungen  seiner  Gedichte  hat 
er  nicht  mal  einen  Dankesbrief 
iibrig  gehabt.  Es  scheint  also 
mit  der  Kompetenz  der  Begrii- 
Bungen  nicht  weit  her  zu  sein, 
und     die     Unsterblichkeit     eines 


Unsterblichen  ist  immer  noch 
nicht  ausreichend,  auch  fiir  andre 
Unsterblichkeit  zu  dekretieren, 
beziehungsweise    zu   verbieten. 

Denn  wer  den  Besten  seiner 
Zeit  genug  getan . . .  einverstan- 
den.  Aber  wir  drangeln  uns  ja 
nicht  an  die  Besten,  sondern  an 
die  Obersten,  und  wir  wollen 
ihnen  nicht  geniigen,  sondern  uns 
durch  ihr  offentliches  Lob  ge- 
wissermaBen  verchromen  lassen, 
da  mit  uns  der  Rost  nicht  so 
schnell  friBt.  Daher:  seid  skep- 
tisch!  Wenn  ihr  merkt,  daB  euch 
vor  der  BegriiBung  eines  notori- 
schen  Begriifiers  ein  Schauer  der 
Zustimmung  iiberrieseln  will,  sagt 
kraftig  und  laut:  „Ach,  gibt  der 
auch  wieder  seinen  Senf  dazu !" 
Und  dann  schlagt  die  erste  Seite 
auf   und   lest, 

Ezzelino 

Seine  lieben  Dendrologen 

Ich  bitte  ergebenst,  nachfolgenden 
*  Artikel  in  Ihrer  Zeitung  auf- 
n  eh  men  zu  wollen: 

Am  .  .  .  begeht  der  lang- 
jahrige  Prasident  der  Deut- 
schen  Dendrologischen  Gesell- 
schaft,  Dr.  Fritz  Graf  vonSchwe- 
rin  auf  Wendisch-Wilmersdorf 
bei  Thyrow,  Kr.  Teltow,  seinen 
75.  Geburtstag.  Seine  erstaun- 
liche  Frische  sowie  seine  unge- 
lahmte  Arbeitskraft  ermoglicht 
ihm  nicht  nur  seine  hervorragen- 
den  Dahlien-  und  Staudenkultu- 
ren,  welche  weit  uber  Deutsch- 
lands  Grenzen  beriihmt  sind,  zu 
leiten,  sondern  er  fuhrt  die  Ge- 
schicke  der  Dendrologischen  Ge- 
sellschaft  mit  einer  Bewunderung, 
die  von  alien  riihmlichst  aner- 
kannt  wird. 


Ein  Buch  von  den  AbgrOnden  der  menschllchen  Seeles 


HEILIGE  UND  HEXER 


Glaube  und  Aberglaube  im  Lande  des  Lamaismus. 
Dargestetlt  nach  eigenen  Erlebnissen   in  Tibet  von 

ALEXANDRA  DAVID-NEEL 

Mit  22  Abbildungen  nach  Aufnahmen 
der  Verfasserin  und  einer  Karte. 
Geheftet    M    8.70,    Leinen    M    10.50 


F.  A.  BROCKHAUS  /  LEIPZIG 


459 


Graf    Schwerin    hat    den   Vor-  M&blierte  Zimmer 

Sltz     scit      1902.      Die     Mitglieder-  TVr  Selbstmord  wohnt  in  diesen  Hohlen. 

zahl  ist   unter   seiner  Leitung  von  ^  Kein  Feuer,  keine  Kohle  kann  .  .  . 

icn  *     i£.nn     *     *.•   *  c  i_  wenn  nebenan  die  Kinder  nohlen, 

350     auf     7600     gestiegen.      Schon  Was  f&ngst  du  dann  mit  Bergson  an  7 

hieraus    ersieht    man,    was    fiir  ein  Der,  Selbstmord  hockt  in  diesen  Zimmern 

glanzender         Organisator         Graf  Auf  dem  verschoBnen  Kanapee. 

Schwerin     ist.      Ailjahrlich    unter-  J?ic  ^tin,  deinen  Gr am  zu  schlimmern, 

_• .        .    -.         .  i-   «  r\  Bereitet  Bitterms  statt  Tee. 

nimmt  er  mit  semen  heben  Den-  _.    „„..    ,.     ,  ,     .    ,     ,.    ,Vf  tl 

J_~1    ^   -  •-  T_        i  a*    _        *  E|n  Hollenhund  heult  in  die  Weite. 

drologen       eme       Inspektionsreise,  Zwci  Grammophone  kreischen  grell. 

welche  abwechselnd  nach  dem  In-  Des  Lebens  unvermischte  Pleite 

und    Auslande    fiihrt.      Auch    hier-  Zermtirbt  dich  langsam,  aber  schnell. 

bei     ist     er     unermiidlich     in     Vor-  Der  Selbstmord  haust  in  diesen  Kammern, 

tragen  und  Besichtigunfien    Wobei      £  g*^  S%S2S£S.'  \  \ . 

lhn    sein   Humor  me  verlaiit.  Im  Nebel  ein  verwaistes  Herz  .  .  . 

Moge    es    Graf    von    Schwerin  Ossip   Kalenter 

noch  recht  lange  beschieden  sein,  Liebe  Weltbuhne! 

seine  ungebeugte  Arbeitskraft  sei-      _ ..      ^  .  ,       „  .  .         „     , 

nen    Dendrologen,    seinem    Hause      Rhf  ^^  Sahm  SfmC?u    i  !?*" 
und  unserm  lieben  Vaterlande  zu  m    .Berhn   .fntrat      uberlegte 

widmen,  man<  W1C  man  inn  und  in  W€sscn 

Gesellschaft   am  giinstigsten  pho- 
Mit    vorzuglicher    Hochahtung  tographiere. 

ergebenst  Und      ein     Schlaumeier      net: 
„Knipst   ihn   zusammen   mit   Ein- 
Heinrich   Nitschke          stein  und  der  Betty  Stern!" 

Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Rote  Studentengruppe.  Dienstag  20.00.  Braustfibl,  Hankestr.  4,  U-Bahn  Schonhauser  Tor ; 
Biindische  Jugend,  Karl  O.  Paetel. 

Kampfkomitee  fiir  die  Freiheit  des  Schrif  ttums,  Opposition  des  Schutzverbands  Deutscher 
Schriftsteller,  Bund  revolutionarer  bildender  Ktinstler,  Gruppe  der  Abstrakten, 
Opposition  der  Buhnengenossenschaft,  Liga  fur  unabhangigen  Film,  Verband  pro- 
letarischer  Freidenker,  Bund  proletarisch-revolutionarer  Schriftsteller.  Dienstag.  den 
29.,  Johann-Georg-Sale,  Johann-Georg-Strafle  19,  Halensee,  19.30:  Notverordnung 
und  Notlage  der  geistig  Schaffenden,  Karl  August  Wittfogel  und  Vertreter  der  ge- 
nannten  Organisationen. 

Mannheim 

Kunsthalle.  Ausstellung:  Scb6pferische  Kopien.  ErSffnung  Sonntag. 

Bucher 

Ludwig  Bauer:  Morgen  wieder  Krieg.  Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

H.  R.  Knickerbocker:  Der  rote  Handel  lockt.  Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Robert  Neumann:  Das  Schiff  „Esperance".  Paul  Zsolnay,  Wien. 

Richard  Oehring;  Sowjethandel  und  Dumpingfrage.  Ernst  Rowohlt.  Berlin. 

Rundfunk 

Dienatag.  Leipzig  16.00  <  Warum  wandern  die  Volker?  Alfons  Goldschmidt.  —  Breslau 
18.00;  Lebt  der  Expressionismus  noch?  Herwarth  Walden.  —  KonigswusterhauBen 
18.00:  Gegenwartsfragen  der  Kunst,  Paul  Westheim.  —  Berlin  18.30:  Heinrich  Eduard 
Jacob  liest.  —  Langenberg  20.00:  Das  neue  Gedicht  in  der  Musik.  —  Breslau  20.00: 
Die  moderne  Plastik  als  Ausdruck  eines  neuen  Lebensgefuhls,  Herbert  Bahlinger 
und  Joachim  Karsch.  —  KSnigswusterhausen  20:30:  Don  Juan  von  Mozart.  —  Leipzig 
21.10:  Dialoge  der  Weltliteratur.  —  Mublacker  22.15;  Englands  nationale  Regierung 
vor  dem  Parlament  von  Actualis.  —  Mtttwoch.  Hamburg  17.30:  Btibnenformen  als 
Zeitspiegel  von  Ibsen  bis  Piscator,  Erich  Raventos.  —  Langenberg  18.30:  Ausser 
Dienst  von  Hermann  Kesaer.  —  Berlin  19.20:  Darf  6ffentliche  Kritik  Privatinteressen 
verletzen?  Justizrat  Julius  Magnus  und  Herbert  Ihering.  —  Leipzig  21.00:  Zweierlei 
MaB  von  Shakespeare.  —  Konigaberg  21.35:  Mexiko  von  Traven.  —  Donnerstag, 
KSnigswusterhausen  18.00:  Haben  Sie  schon  Stellung?  Bruno  Nelissen-Haken.  — 
Konigaberg  20.00:  Cosi  fan  tutte  von  Mozart.  —  Langenberg  20.30:  Strafienmann 
von  Hermann  Kesser.  —  Leipzig  20.30:  Der  zeitgendasische  Roman  gibt  Auskunft 
auf  Liebes-  und  Ehefragen.  —  Muhlacker  20.30:  The  Beggar's  Opera.  —  Munchen 
20.30:  A.  M.  Frey  liest.  —  Freitag.  Breslau  17.20:  Anton  Schnack  liest.  —  Berlin 
17.55:  Cuba  und  die  Weltwirtschaftskrise,  Alfons  Goldschmidt.  —  Breslau  18.10: 
Die  Architektur  als  Spiegel  der  Zeit.  Heinrich  Knipping  und  K.  Langer.  —  22.10: 
Ein  Leben  in  Versen  von  Anton  Schnack.  —  Sonnabend.  Berlin  19.30:  Zweimal 
Strafienmann,  Alfred  Braun  und  Hermann  Kesser.  —  Sonntag.  Langenberg:  Tiere 
reden  dich  an,  Hans  Reimann. 

460 


Antworten 


„Intellektueller".  Von  Kommunisten  und  den  Hitler-Analphabeten 
gleichmaBig  beschimpft,  wunderst  du  dich,  diese  torichte  Terminologie 
nun  auch  bei  den  braven  Demozeitungen  zu  finden.  Die  (Frankfurter 
Zeitung'  kreidet  es  den  „Intellektuellen"  sehr  an,  dafi  sie  die  Wirt- 
schaftslage  nicht  so  milde  beurteilten  wie  es-  die  halbgebildeten  Ge- 
werkschaftsfunktionare  tun,  die  ja  auf  ihrem  letzten  KongreB  einen 
fur  sie  sicherlich  erfreulichen  Optimismus  zur  Schau  getragen  haben. 
Soweit  gut.  Wer  aber  schreibt  da  eigentlich  das  Scheltwort  MIn- 
tellektueller"?  Ein  Redakteur.  Also  doch  hoffentlich  auch  ein  In- 
tellektucller-  Abgesehn  davon,  daB  ein  Anstellungsvertrag  mit  einer 
Zeitung  noch  keine  geistige  Superiority  begriindet,  sollte  sich  ein 
Literat  soicher  Matzchen  schamen.  Wie  stolz  wird  da  dem  „Nur-In- 
tellektuellen"  der  Mann  der  Tat  gegeniibergestellt!  Und  dann  muB 
man  diese  Manner  der  Tat  sehn.  Drollig,  wie  sich  die  geolte  Wiirde 
mancher  Journalisten  darin  gefallt,  mit  den  Kaufleuten  gemeinsame 
Sache  gegen  jene  Schicht  zu  machen,  aus  der  der  Journalist  stammen 
sollte.  Spengler  hat  in  diesen  Kopfen,  falls  dies  noch  moglich  war, 
viel   Unheil   angerichtet. 

Sozialdemokrat.  AIs  Teilnehmer  an  der  unerhorten  Radauver- 
s  a  mm  lung  im  Sport-Palast  richten  Sie  an  die  Bezirksleitung  der  SPD 
das  folgende  Schreiben:  „Sie  haben  am  H.September  eine Versamm- 
lung  im  Sport-Palast  einberufen,  urn,  wie  Sie  mit  schonem  Selbstver- 
trauen  versprachen,  ,mit  den  Kommunisten  abzurechnen'.  Ihre 
Situation  war,  wenn  man  die  Lage  innerhalb  Ihrer  Partei  bedenkt, 
prekar  genug.  Seit  etwa  einem  halben  Jahre  ziehen  Ihre  jungen  und 
durchaus  nicht  besonders  radikalen  Parteigehossen  bei  Demonstrationen 
mit  Fahnen  herum,  auf  denen,  sehr  zum  MiBvergnugen  des  Partei- 
vorstandes,  die  Parole  geschrieben  steht:  „Republik,  das  ist  nicht 
viel  —  Sozialismus  heifit  das  Ziel."  Ihre  Partei  ist  heute  nicht  im- 
stande,  den  Mitgliedern  mehr  zu  bieten  als  Lohnabbau,  Arbeitslosig- 
keit  und  ein,e  ziemlich  auegefranste  Republik.  Unter  diesen  Umstan- 
den  hatten  Sie  alle  Veranlassung,  einer  Auseinandersetzung  mit  dem 
radikalern  Teil  der  Arbeiterschaft  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Sie 
haben  die  schwierige  Aufgabe,  diese  Versammlung  zu  inszenieren,  mit 
einer  Geschicklichkeit  gelost,  die  Sie  als  echte  Nachfolge  des  ehemals 
von  Ihnen  bekampften  preuBischen  Feldwebels  legitimiert.  Sie  haben 
die  Kommunisten  in  den  Sport-Palast  eingeladen,  und  als  die  Er- 
werbslosen  zu  FuB  und  in  zerrissenen  Schuhen  von  Neukoiln  und  aus 
dem  Friedrichshain  gekommen  waren,  haben  Sie  sie  von  der  Polizei 
Ihres  Parteigenossen  Grzesinski  mit  Gummiknuppeln  ausetnander- 
priigeln  lassen.  Trotzdem  haben  es  einige  KPD-Leute  fertigbekommen, 
Ihrer  Einladung  zu  folgen.  Als  die  Versammlung  begann,  leitete  Ge- 
nosse  Lidtke  die  Auseinandersetzung  mit  der  Bemerkung  ein,  die 
SPD  ware  nicht  nach  der  Hasenheide  gekommen,  sondern  in  den 
Sport-Palast,  weil  sie  gehort  hatte,  das  die  KPD  bereits  die  Sale  in 
der  Neuen  Welt  bestellt,  und  ,man  den  Kommunisten  das  Vergmigen 
bereiten  wollte,  Sale  zu  bezahlen,  ohne  sie  zu  benutzen.'  Finden  Sie 
nicht,  daB  diese  Erklarung  etwas  kindisch  ist?  Der  Ton  der  andern 
Ausfuhrungen  des  Genossen  Lidtke  veranlaBte  im  ubrigen  einige 
sozialdemokratische  Arbeiter  zu  der  treffenden  Bemerkung:  Genau 
wie  Willi  Lehmann!  Die  Rede  des  Referenten  Franz  Ktinstler  bestand, 
von  einem  an  sich  berechtigten,  aber  ungeschickt  vorgetragenen  Ver- 
rifi  des  tRoten  Volksentscheids'  abgesehen,  aus  einer  einzigen  Schimpf- 
kanonade  gegen  die  KPD  und  den  Korreferenten  Heinz  Neumann.  ,Mor- 
der\  fVolksbetruger'  ,Tscheka-Agenten',  ,Abschaum  der  Arbeiter- 
schaft', ,Mob*  (eine  besonders  taktvolle  Bezeichnung,  die  sich  eine 
.Arbeiterpartei  wirklich  verkneifen  sollte),  ,Spitzel  der  G.P.U/,  und 
zum  SchluB  die  maBlos  arrogante  Bemerkung,  die  sich  besonders  im 

461 


Munde  des  von  alien  guten  Geistern  der  Politik  verlassenen  Kiinstler 
so  schon  ausnimmt:  ,Zur  Politik,  Herr  Neumann,  gehort  Begabung, 
Verstand  und  Fingerspitzengefuhl.  Dazu  muO  man  geboren  sein!1 
Dieser  ist  dazu  geboren.  Welch  ein  Kiinstler!  Als  dann  Heinz  Neu- 
mann das  Wort  ergriff,  haben  Sie  ihn  von  Ihrem  Reichsbanner-Roll- 
kommando  bei  jedem  Satz  auspfeifen  und  niederbrullen  lassen.  In 
den  ersten  Reihen  haben  Ihre  Leute  gesessen  und  von  einem  vorher 
vorbereiteten  Programmzettel  die  Zwischenrufe  abgelesen,  Diese  Be- 
obachtung  haben  biirgerliche  Journalisten  am  Pressetisch  gemacht.  Da- 
bei  ist  Ihnen  ein  kleiner  Irrtum  unterlaufen.  Als  Heinz  Neumann  auf  die 
Anschuldigung  Kunstlers,  die  KPD  hatte  —  obwohl,  man  denke,  ob- 
wohl  es  verboten  war  ■ —  Demonstrationen  einberufen,  mit  einem 
Zitat  antwortete,  setzten  Sie  Ihr  Pfeiforchester  in  Bewegung.  Worauf- 
hin  Neumann  kuhl  entgegnete,  dieses  Zitat  stamme  von  Ihrem  Alt- 
meister  August  Bebel.  Als  Neumann  fertig  war,  begannen  die 
Kommunisten,  die  sich  bisher  musterhaft  ruhig  verhalten  hatten,  die 
Internationale  zu  singen.  Daraufhin  wurde  vom  Vorstandstisch  ,Auf- 
horen'  gebriillt.  Als  die  Kommunisten  diesem  echt  preufiischen  Kom- 
mandoton  nicht  Folge  leisteten,  stiirmte  Ihr  Reichsbanner  den  Saal 
und  verpriigelte  jeden,  der  es  wagte,  den  Mund  zu  offnen.  Mit  be- 
sonderm  Eifer  hielt  man  sich  hierbei  an  Frauen  und  Madchen.  Eine 
Frau,  die  gesungen  hatte,  wurde  mit  dem  KoppelschloB  ins  Gesicht 
geschlagen,  eine  Parteigenossin,  die  gegen  diese  Mifihandlung  pro- 
testierte,  bekam  ebenfalls  den  Gummiknuppelersatz  Ihrer  ,Schufo'  zu 
spuren,  Ein  Mann  wurde  vom  ersten  Rang  ins  Parkett  .herunter- 
gereicht',  viele  andre  muBten  blutiiberstromt  weggebracht  werden. 
Ware  dieser  Pogrom  nicht  von  Reichsbannerleuten,  sondern  von  Nazis 
oder  von  Kommunisten  verubt  worden,  Ihre  Partei  hatte  unisono  und 
mit  vol  1  em  Recht  nach  dem  Richter  geschrieen.  DaB  das  Reichs- 
banner an  diesem  Abend  im  Sportpalast  nicht  eine  Neuauflage  des 
1.  Mai  1929  veranstaltete,  lag  gewiB  nicht  an  seinem  guten  Willen  — 
hochstens  an  dem  Mangel  geeigneter  Schufiwaffen.  Fur  die  Partei- 
genossen  wird  die  Erfahrung,  dafi  das  Singen  der  Internationale  in 
den  Augen  des  Parteivorstandes  ein  Verbrechen  sei  und.  mit  Koppel- 
schloBhieben  bestraft  werden  musse,  zweifellos  neu  und  reizvoll  sein. 
Die  Quittung  fur  diesen  Abend  wird  bald  iiberreichf  werden.  Wenn 
die  Kommunisten  in  ihrer  Einheitsfronttaktik  fortfahren  und  sie  auch 
auf  die  Gewerkschaften  ausdehnen,  dann  wird  von  der  deutschen 
Sektion  der  volkerbefreienden  Sozialdemokratie  bald  nicht  mehr  viel 
iibrig  sein.  Die  Bureaustiihle  in  der  Linden-StraBe  wackeln  schon." 
Nobelpreis-Kandidaten.  Nur  nicht  drangeln,  es  kommt  jeder 
ran!  Der  nachste  Friedenspreis  wird  unter  diejenigen  Staatsmanner 
aufgeteilt,..  die   im  vergangenen   Jahr  keinen  Krieg  angefangen  haben. 

I""Veser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fiir  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
***  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  IV.  Vie rtel jahr  1931 

einzuzahlen,  da  am  10.  Oktober  die  Einziehung  durch  Nachnahme  be- 
ginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht. 

Mammkripte  aind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Chartottenburg,  Kantftr.  152,  xu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucktendung  erfolgen  kann. 
Da*  Auff  Uhninyarecht,  die  Verwertung  vonTitelnu.  Text  imRahmen  des  Films,  die  musik- 


mechaniache  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rafcmen  von  RadiovortrSgen 
bleibeu  fur  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitr&ge  ausdrticklich  Torbehalten. 

Die  Weltbuhne   wurde  begrundet   von   Sieg-tried   Jacobsoun   und   wird  von   Carl  v.  Oisietxky 
untet  Mitwirkung    von  Kurt  Tucbolsky  geleitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ossietzky.    Berlin; 

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Telephon:   CI,  Steinplatz  7757.  —  Poitscheckkonto:  Berlin  119  58. 
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XXVILJahrgwg  20.  September  1931  Hummer  39 

Volker  ohne  Signale  von  can  v.  ossietzky 

nFighting  T6meraire" 

{"Ve  Meuterei  der  britischen  Hochseeflotte  hat  weder  in  Eng- 
*^  land  noch  anderswo  viele  Federn  in  Bewegung  gesetzfc 
Das  is't  nicht  verwunderlich,  denn  niemand,  der  an  alten  Autori- 
taten  hangt,  kann  in  diesem  Ereignis  etwas  andres  als  ein 
furchtbares  Menetekel  erbiicken,  Diese  Blaujacken  streikten 
nicht  mit  dem  fegenden  Furor  der  Leute  vom  „Potemkin",  sonr 
dern  eher  mit  der  saubernPrazisionder  bengalischenWoilwebef, 
Gandhis  waffenlosen  Streitscharen.  Der  Witz  darah  war,  d&B 
die  Matrosen  selbst  nicht  ahnten,  wie  uberaus  revolutions*  sie 
handelten.  Sie  kampften  weder  fur  ein-  Ideal  noch  fur  erne 
groBartige  Realitat,  sie  protestierten  nur  gegen  eitte  Soldkur- 
zung,  und  sie  fiihrten  das  mit  den  guten  Nerven  voh  Arbeiter^ 
juhgen  durch,  die  ihre  Schulung  von  der  gediegensten  Gewerk- 
schafts-Bureaukratie  der  ganzen  Welt  erhalten  haben.  Auch 
den  jtingern  Offizieren  schien  die  Sache  Spafl  zu  machenr  sie 
hieiten  grofienteils  mit  Die  Regierung  gab  bleich;  und  still 
nach.  Die  sejbe  Regierung,  der  en  Schatzkanzler  noch  ein  paaf 
Tage  vorher  seine  patriotische  Budge  trede  mit  der  „Stiriime 
Nelsons"  geschlossen  hatte-  Durch  den  Mund  Horatio  Nelsons, 
lieB  Swinburne,  vor  dreiBig  Jahren  der  poeta  laureatus,  ver- 
kiinden,  daB  „England  stehen  wird"  Nun,  in  der  AdnriTalitat, 
wo  Austen  Chamberlain  regiert,  war  von  Nelsons  Stimnte 
nichts  zu  horen,  und  England'  stand  nicht,  sondern  gab  kleih  bei. 

In  diesen  Tagen  ist  in  deutscher  Sprache  das  ungewohnlich 
aufschluBreiche  Such  des  beriihmten  franzosischen  Soziologen 
Andre  Siegfried  iiber  das  heutige  England  erschienen,  :)  (Die 
englische  Krise,  S.  Fischer  Verlag.)  Das  ist  eine  erschutternde 
Untersuchung  iiber  GroBe  und  Verfall  eines  Reiches  unij  einer 
Wirtschaft,  ihr  Wert  liegt  in  den  Zustandsschilderungeii;  die 
turmhoch  iiber  den  engen  manchester-liberalen  SchluiSfolgerun': 
gen  des  Verfassers  stehen.  Andre  Siegfried  behandelt  ein- 
gehend  den  von  Gewerkschaften  und  Unternehmern  gefuhrien 
Streit  urn  das  Lohnniveau.  Dazu  schreibt  er  <cu:e  sefyr  bev 
zeichnenden  Satze:  „Doch  in  dies  em Streit  ist,  wir  tauschen  uns 
hierin  nicht,  die  offentliche  Meinung  auf  Seiten  des  .Arb&iters; 
was  ubrigens  in  einem  Lande  von  Arbeitern  nicht  weiter  er- 
staunlich  ist.  Kein  Politiker,  selbst  ein  konservativer,  wurcle 
es  wagen,  diese  etwas  unklare,  doch  nicht  zu  erschutternde 
Anschauung  direkt  anzugreifen.  Dem  Refrain  vom  standard  oi 
living  begegnet  man  unfehlbar  in  den  Reden  der  Konservativen 
ebenso  wie  in  den  Reden  der  Arbeiterparteiler.  Es  gehi  hier 
urn  die  englische  Wiirde,  heiBt  es." 

„In  einem  Lande  von  Arbeitern  . .,."!  Man  beachte  das!  Denn 
hier  sagt  der  franzosische  Liberale  klipp  und  klar,  daB  die  Arbeit 
terschaft  die  Mehrheit  bildet  Dieses  Wissen  hat  er  der  englischen 
Arbeiterschaft  voraus,  die  wie  jede  andre,  iiber  dem  Ringen 
um    die    parlamentarische  Majorilat    ihr    zahtenmaBiges    Ober* 

*  463 


gewicht  als  Klasse  vergiBt.  Der  Kampf  urn  Parlamcntssitze 
spaltet  in  Parteien,  der  Kampf  urn  die  Sammlung  der  Klasse 
mufi  beinahe  automatisch  zur  Eroberung  der  Macht  ftihren 
and  den  Zwiespalt  zwischen  Gesellschaft  und  Staat  beenden. 
Die  meuternden  Matrosen  wissen  selbst  nicht,  iiber  was  fur 
furchtbare  Waff  en  sie  verfug«n,  Sie  giaubten,  nur  eine  Lohnbe- 
wegung  zu  fiihren,  und  der  ganze  Staat  kam  dabei  ins  Wackeln. 
Die  Matrosen  von  Invergordon,  die  ihre  Lohnbewegung 
mit  einem  aus  rauhen,  ehrlichen  Kehlen  stromenden  ,,God  save 
the  King!"  beendigten,  waren  um  nichts  rebellischer  als  die 
Filmmatrosen  der  „Schlacht  von  Bademiinde",  die  einer  Schiirze 
halber  einen  Privatkrieg  gegen  die  Landstreitkrafte  eroffnen, 
Der  britische  Matrose  hat  wie  ein  junger,  tappischer  Riese 
gespielt,  der  den  kleinen  Staat  da  unten  mal  in  die  Hand 
nimmt,  um  sich  das  komische  Gewimmel  naher  anzusehen. 
Wie  sie  nervos  durcheinanderlaufen,  die  wiirdigen  alien  Her- 
ren,  wie  die  Zopfe  wackeln!  Aber  Gulliver  macht  das  SpaD, 
er  denkt  gar  nicht  daran,  die  Regierung  von  Liliput  zu  laidie- 
ren,  er  setzt  sie  behutsam  wieder  auf  den  Boden.  Jedoch  ge- 
setzt,  es  stache  ihn  in  diesem  Augenblick  eine  Miicke,  so  lieBe 
er  das  Ding  fallen  und  es  ware  in  tausend  Stticke  zerbrochen. 
Gegen  eine  organisierte  Masse  gibt  es  keine  Macht;  wo  ein 
organisierter  Volkskorper  sich  erhebt,  da  klappt  die  bestens 
organisierte  staatliche  Autoritat  z  us  a  mm  en  wie  tein  Gebilde  aus 
Pappmache. 

So  weit  ist  es  noch  nicht,  noch  kampft  England,  und  weil 
es  redlich  und  ohne  GroBsprecherei  in  einen  Kampf  trat,  der 
die  Dammerstunde  der  alten  britischen  GroBe  einleitet,  so 
hat  es  Sympathie  und  guten  Wunsch  auf  seiner  Seite.  Es 
wirkt  jetzt  ein  wenig  wie  der  ..Fighting  Temeraire"  auf  dem 
beriihmten  Bilde  von  Turner  in  Tate-Gallery,  Da  wird  der 
„Temeraire",  das  alte  Admiralschiff  aus  der  Nelsonzeit,  zum 
letzten  Male  durch  den  Hafen  gezogen.  Durch  den  grauen  und 
braunen  Nebel  fallt  ein  Abschiedsschimmer  von  Purpur  und 
Gold  auf  ein  riihrendes  holzernes  Gespenst  im  verschlissenen 
Paraderock.  Ein  letztes  Mal  reckt  es  die  morschen  Masten, 
ein  letztes  Mal  greift  der  Wind  an  die  imiden  (Rahen.  Doch 
vor  ihmf  in  schwarzem  Rauch,  schneidet  ein  klein«r  Schlepp- 
dampfer  scharfe,  sichere  Furchen,  Er  hat  den  tapferen  alten 
Invaliden  fest  an  der  Kette  und  holt  ihn  ins  Dock,  wo  er  fur 
immer  abgewrackt  wird. 

Der  ..Fighting  Temeraire"  im  Abendrot,  das  ist  Britannia, 
das  ist  die  ganze  kapitalistische  Welt.  Aber  wo  ist  die  Ab- 
losung?     Wo  ist  der  Bote  der  neuen  Zeit? 

Um  Seydewltz 

Der  Vorstand  der  Sozialdemokratischen  Partei  hat  sich 
jetzt  endgiiltig  entschlossen,  mit  der  Opposition  aufzuraumen. 
Die  acht  Abgeordneten:  Max  Seydewitz,  Kurt  Rosenfeld,  Hein- 
rich  Strobel,  August  Siemsen,  Walter  Oettinghaus,  Paul  Berg- 
mann,  Andreas  Fortune  und  Hans  Ziegler  sind  in  diesem  Au- 
genblick so  gut  wie  vor  die  Tiir  gesetzt.  Eine  Unterwerfung 
wiirde  nur  ihr  politisches  Ansehen  zerstoren,  aber  kaum  die 
Bewegung  beenden,    die   hinter  ihnen    steht.      Ihre  Anhanger- 

464 


schaft  ist  schwer  zu  iibersehen.  Dafl  sie,  wic  in  der  sozialisti- 
schcn  Parteiprcssc  behauptet  wird,  die  Organisationen  in  ihren 
eignen  Wahlkreisen  nicht  hinter  sich  haben,  besagt  wenig. 
Opposition  riihrt  sich  in  der  ganzen  Sozialdemokratischen  Par- 
tei;  keinc  Scktion  ist  frci  da  von.  Es  kommt  nicht  darauf  an, 
in  welchcr  Kopfstarke  die  Revolteure  heute  abziehen,  son- 
dern  was  die  Partei  morgen  und  libermorgen  tun  wird,  um 
ihren  Bestand  zu  erhalten.  Eines  aber  ist  sicher:  wenn  Seyde- 
witz  und  sein  Anhang  auch  diesmal  nicht  zur  Tat  kommen,  so 
i lutet  die  Unzufriedenheit  der  Arbeitermassen  auch  uber  sie 
hinweg,  und  die  Kommunisten  werden  die  einzigeri  Erben  sein. 

Herr  Rudolf  Hilferding  soil  seit  einiger  Zeit  die  Meinung 
vertreten,  eine  zweitet  um  einige  Tongrade  scharfere  soziali- 
stische  Partei  ware  notwendig,  um  nicht  alle  Genossen,  die 
fiir  Aufgabe  der  Tolerierungspolitik  sind,  an  die  Kommuni- 
stische  Partei  abzutreten.  Man  brauche  eine  Zwischenpartei, 
mit  der  man  sich  spater  wieder  vertragen  konne.  Herr  Hilfer- 
ding, vor  zwanzig  Jahren  ein  riistiger  Kritiker  des  Finanz- 
kapitals,  hat  sich  in  diesen  le'tzten  Jahren  als  einer  der  groB- 
ten  Dummkopfe  erwiesen,,  die  in  der  ohnehin  nicht  gut  bera- 
tenen  Sozialdemokratie  ihr  Wesen  treiben.  Was  fiir  eine  Al- 
bernheit  anzunehmen,  man  konnte  eine  Spaltung  arrangieren 
und  sich  die  Opposition,  die  man  in  der  Partei  nicht  dulden 
will,  auGerhalb  des  Hauses  gleichsam  a  la  suite  halten!  WeiB 
dieser  austro-marxistische  Abfall,  der  iibrigens  in  Deutschland 
sehr  weich  gefallen  ist,  nicht,  daB  die  Dinge  ihre  eigne  Logik 
haben  und  namentlich  in  dieser  Zeit  einer  rapiden  Entwick- 
lung  die  Sezession  nicht  bald  in  ganz  andre  Richtung  getrieben 
werden  kann?  Otto  Wels  ist  der  richtige  Hausknecht,  sein 
strammer  Zugriff  kann  imponieren,  Unertraglich  ist  nur  der 
diplomatisch  gebildete  Hausknecht,  der  sein  Opfer  iibers  Ge- 
lander  wirft  und  ihm  dabei  noch  ins  Ohr  flustert,  warum  dies 
Verfahreri  das  Beste  fiir  ihn  sei.  Eine  neue  Partei,  die  von 
vornherein  im  Verdacht  stent,  Partnerin  in  einem  Spiel  mit 
verteilten  Rollen  zu  sein,  wird  natiirlich  niemals  wirksam  wer- 
den, wird  auch  den  bescheidenen  Zweck  verfehlent  den  ihr  Hil- 
fer dings  akkumulierte  geislige  Unziulanglichkeit  zugesteht. 

Eine  Opposition,  auBerhalb  der  Tore  kiinstlich  gehalten, 
das  ist  die  Idee  eines  Macchiavells  von  der  Hintertreppe.  Was 
der  Sozialdemokratie  not  tut,  das  ist  eine  tunktionierende  und 
id^ologisch  gut  fundierte  Opposition  inn«rhalb  des  Parteiha-uses. 
Diese  Moglichkeit  hat  der  Parteivorstand  nicht  ausreifen  las- 
sen.  Man  hat  Seydewitz  und  die  andern  Wortfiihrer  der  Lin- 
ken  stets  wie  eine  Ansammlung  lastiger  Krakehler  behandelt, 
man  hat  sie  auf  den  Parteitagen  schikaniert  und  verhohnt,  man 
ist  ihnen  wie  Schulbuben  ins  Wort  gefahren.  Auf  dem  leipzi- 
ger  Parteitag  vor  einigen  Monaten  war  das  Auftreten  der  Op- 
position in  nichts  mehr  von  einem  ganz  ordinaren  SpieBruten- 
lauien  unterschieden.  Dieselben  Leute,  die  in  ihren  Volksver- 
sammlungen  die  Demokratie  als  Universalmittel  empfehlen, 
haben  zu  Haus  die  einfachsten  Rechte  von  Meinungsfreiheit 
suspendiert,  Sie  fanden  dafiir  die  seltsame  Form,  sogenannte 
Gruppenbildungen  zu  verbieten,  das  Zusammentun  von  Gleich- 
gesinnten  von  vornherein  als  Sonderbiindelei  zu  brandmarken, 

465 


Es  ist  wohl  selbstverstandlich,  daB  keinc  Millionenpartei 
ohne  Fliigelgruppen  existieren  kann.  Wir  wollcn  ganz  von  den 
besondern  englischen  VerhlLltnissen  absehen,  wo  die  starksten 
Impulse  immer  von  Korpbrationen  Gleichgesinnter  ausgingen, 
die  ganz  off  en  erklarten,  sie  wollten  Einf  luB  auf  die  Labour  Party 
gewinnen;  /A  propos,  kann  sich  jemand  die  Entwicklung  dieser 
Partei  vom  Handwerkerverein  zur  akkreditierten  Regierungs- 
partei  ohne  die  geistige  Formung  durch  die  Manner  der  Fabian 
Society  vorstejlen?  In  Deutschlaiid  ware  es  ohne  Zweifel  ver- 
ponty  sich  mit  zweifelhaften  Intellektuellen  wie  Shaw  und 
Wells  zusammenzusetzen.  Die  ffanzosische  Sozialistenpartei 
kennt  die  beiden  Flugelmanner  Zieromski  und  Paul-Boncour 
und  stent  sich  gut  dabei.  Die  deutsche  Sozialdemokratie  aber 
verkiindet  die  Diktatur  der  Striohkopfe,  und  das  in  einer  Zeit, 
wp  alle  Dinge  in  FluB  sind,  wie  seit  langem  nicht,  und  eine 
yerstandig  geleitete  Partei  alle  ihre  Nuancen  liebevoll  pflegen 
imiBte;  dertn  niemand  weiB,  welche  sie  morgeri  schon  einzu- 
setzen  hat.  , 

*  Die  alte  Sozialdemokratie  der  Vorkriegszeit  ist  groB  ge- 
worden  im  Kampfe  von  zwei  leidenschaftlich  um  die  Macht 
streit end-en  Gruppen.  Radikale  und  Reformisten  haben  erbittert 
um  die  Herrschaft  gerungen,  es  hat  der  Partei  nichts  geschadet. 
Sie  Mieb  schlagkraftig,  Ohne  Eduard  Bernstein  und  Georg 
von  Vollmar  rechts  und  Rosa  Luxemburg  und  Georg  Le  deb  our 
tinks  laBt  sich  das  historische  Rild  der  Partei  nicht  mehr  vor- 
stelleh.  Ja,  wenn  wir  von  der  alten  Sozialdemokratie  sprechen, 
so  denken  wir  vornehmlich  an  diese  Extreme,  am  wenigsten 
an  die  brave  Mitte,  an  die  Scheidemanner,  die  den  radikalen 
Zungenschlag  tibrigens  auch  gut  weghatten.  Noch  heute  exi- 
stiert  aois  dieser  Zeit  das  Organ  der  Revisionisten,  die  ,So- 
zialistischen  Monatshefte*,  und  wenn  dies  einst  von  Eduard  Bern- 
stein ins  Leben  gerufene  Blatt  auch  schon  lange  tiber  seine 
Vergangeriheit  hinausgewachsen  ist,  so  erftillt  es  doch  mit  sei- 
nem  seharf  abgegrenzten  Mitarbeiterkreis,  mit  seiner  von  der 
Partei. sonst  nicht  goutierten  Kontinentalpolitik  und  mit  seinem 
alljahrlichen  iSozialisteniball,  zu  dem  selbst  Kommunisten  Zutritt 
haben,  ialls,  sie  die  Examination  durch  Frau  Bloch  lebendig 
uberstehen;  oifensichtlich  die  juristischenMerkmale  einer  Grup- 
pe.  Ich  mochte  beileibe  keine  weitern  Tschekainstinkte  auf- 
kitzeln,  aber die  Lihke  um  Seydewitz  bildet  nicht  die  einzige 
„Gruppe"  in  der  Partei.  Weiter  hat  der  hochmogende  Vorstand 
die  iMitgliedschalt  in  der  Deutschen  Frdedensgesellschaft  ver- 
boten,  Selbst  die  Kommunisten,  denen  doch  niemand  iiber- 
stromende  Duldsamkeit  nachsagen  kann,  suchen  in  den  von 
Miunzenberg-  geschaffenen  .Organisationen  sogenannte  Sym- 
pathisiereriide  zu  sammeln.  Und  wenn  die  dort  Zugelassenen 
auch  oft  genug  iiber  eine  wechselvolle  Behandlung  zu  klagen 
haben,  wenn  ihnen  der  Eine  noch  gonnerhaft  den  Kopf  kraut, 
wahr end  sie  der  Andre  schon  in  den  Hintern  tritt,  so  liegt  doch 
in  dieser  Heranziehung  von  Biirgerlichen  die  deutiiche  An- 
erkenriung  der  Tatsache,  daB  es  eine  AuBenwelt  gibt,  daB  der 
Parteikral  nicht  alles  ist.  Wenn  aber  die  Sozialdemokratie 
sich  schon  zur  Autarkic  bekennen  will,  warum  pfeift  sie  dann 
nicht  die  Genossen  zuruck,  die  noch  immer  in  betont  nicht- 
466 


sozialistischen  Vereinigungen  sitzen,  zum  Beispiel,  in  den 
Schuldliigeverbanden?  Und  wenn  es  Sozialdemokraten  ver- 
wehit  sein  soil,  bei  Kommunisten  und  Pazifisten  zu  hospitieren, 
warum  verbietet  sie  nicht  den  organisierten  Paxteigenossen 
redaktionelle  Tatigkeit  in  burgerlicihen  Blattern?  Man  braucht 
doch  nur  irgend  ein  Schartfmacherorgan  auszuklopfen  und  es 
fallt  ein  sozialdemokratischer  Schriftleiter  heraus,  Und  selbst  in 
der  politischen  iRedaktion  des  ehemals  liberalen  und  heute 
schwerindustriell  infizierten  ,Berliner  Borsen-Couriers',  wo 
standig  die  Herabsetzung  der  Lohne  als  Allheilmittel  verktin- 
det  wird,  wirkt  ein  Mitglied  der  Sozialdemokratie  mit,  die 
Gattin  des  Roggenorganisators  Baade,  Die  Partei  denkt  aber 
gar  nicht  daran,  alle  diese  —  sagen  wir  —  weit  vorgeschobenen 
AuBenposten  einzuziehen,  sie  wendet  sich  nur  gegen  links. 
Die  Sozialdemokratie  kann  es  sich  heute  nicht  mehr  er- 
lauben,  Meinungsverschiedenheiten  nach  dem  Hausknechts- 
komment  zu  regeln.  Nachdem  eine  zum  Teil  durchaus  gefiihls- 
maBige  Unzufriedenheit  sich  bis  in  die  Fundament e  der  Partei 
hineingefressen  hat,  kann  jetzt  sehr  Jeicht  alles  ins  Rutschen 
komraen.  GewiB  sind  die  Aussichten  einer  Sezession'  heute  un- 
bestimint,  die  Gefahr  fiir  die  Gesamtpartei  liegt  darin,  daB  die 
Genossen,  die  bisher  hilflos  mit  den  Fausten  gegen  die  Wande 
gehammert  haben,  plotzlich  einen  Ausgang  sehen  und  hinaus- 
stromen.  Im  Variete  kann  man  gelegentlch  den  Mann  bewun- 
dern,  der  sich  selbst  hinauswirft.  Das  heiBt,  es  nimmt  sich  einer 
selbst  am  Kragen  und  zieht  sich  aus  Leibeskraften  durch  einen 
engen  Tiirspalt.  Die  Sozialdemokratie  ist  auf  dem  besten 
Wege,  sich  selbst  hinauszuschmeiBen,  Vielleicht  wird  Herr  Brii- 
ning  in  einem  Anfall  von  GroBmut  den  um  Braun  und  Seve- 
ring verfeleibenden  Rest  durch  eine  Notverordnung  zum  Natur- 
schutzpark  erklaren,  damit  die  beranwachsende  Generation 
sieht,  wie  zwtischen  1920  und  1930  regiert  wiurde. 

Humor  der  Wodie 
„Brauchen  wir  noch  eine  Lehre  aus  dieser  neuen  Erfah- 
rung  zu  ziehen?  Die  kapitalistische  Weltordnung  ist  wirklich 
reif  zum  Abbruch  geworden!  Die  groBe  historische  Aufgabe  uns- 
rer  Zeit  ist,  die  Krafte  der  Arbeiterschaft  zu  sammeln,  um 
durch  den  siegreichen  Vormarsch  der  geeinten  Arbeiterklasse 
die  neue  Weltordnung  durchzusetzen,  Proletarier  aller  Lander 
und  eines  jeden  Landes  vereinigt  euch  —  in  diesem  Zeichen 
mufi  oind  wird  der  Sozialismus  siegen!"  (,Votrwarts\  22,  Sep- 
tember 1931.) 

Briining  und  Hugenberg 
Ratselhaft  bleibt,  warum  der  Sozialdemokratische  Partei- 
vorstand  grade  jetzt  die  Gegner  der  Tolerierungspolitik  zu  ex- 
mittieren  beginnt,  wo  nach  raenschlichem  Ermessen  diese  selbst 
in  ihre  letzte  Stunde  tritt.  Warum  die  Einheit  der  Partei  durch 
einen  Putsch  von  oben  gefahrden,  wo  die  Ereignisse  selbst  doch 
morgen  schon  eine  Situation  schaifen  konnen,  in  der  nicht s 
mehr  da  von  zur  Debatte  stent,  was  die  Flugelbildung  innerhalb 
der  Partei  in*  diesen  letzten  Jahren  veranlaBte?  Danach  muB 
die  Frage  erlaubt  sein,  ob  die  Sozialdemokratie  bereit  ist, 
Briinings  Winterpragramm,  mag  es  ausfallen,  wie  es  wolle,  zu 

2  467 


stiitzen  —  Lohnabbau  und  Sondergerichte,  alles,  alles.  Und  es 
muB  weiter  gefragt  werden,  ob  sie  sich  also  dazu  entschlossen 
hat,  nicht  nusr  Bruning,  sondern  auch  ein  Kabinett  Hugenberg  - 
Briining  zu  tolerieren,  und  ob  die  Hinauswurfzeremonie  bereits 
als  Vorbereitung  dazu  zu  betrachten  ist. 

Auf  dein  deutschnationalen  Partcitag  in  Stettin  hat  der  alte 
Geheimrat  Hugenberg  mit  einer  verbliirfenden  Sicherheit  ge- 
sprochen,  Danach  schien  alles  in  Ordnung  zu  sein,  und  das 
national  konzentrierte  Kabinett  Hugenberg  unmittelbar  bevor- 
zustehen,  Sogar  fur  den  welschen  Erbfeind  fiel  ein  freundliches 
Wort  afo.  Die  teutoburger  iMoraste  sollen  ihn  nicht  mehr  ver- 
schlingen,  er  soil  in  Frieden  leben,  Diese  unerwartete  Friedfer- 
tigkeit  des  alten  Hammer gottes  hat  einiges  Erstaunen  hervor- 
gerufen.  In  der  Tat  gehen  schon  seit  einiger  Zeit  Geriichte,  wo- 
nach  die  franzosische  Regierung  nur  gegen  Garantien  fiir  das 
Wohlverhalten  der  nationalistischen  Opposition  zur  Hilfe  fiir 
Deutschland  bereit  sei.  Das  hiefie  also,  dafi  Frankreich  eine 
offene  Rechtsregierung  einer  fragilen  demokratischen  Regierung 
vorzieht,  deren  Bereich  an  Macht  und  Wirkung  doch  durch  die 
rechte  Opposition  eng  begrenzt  wird.  Solche  Tendenzen  mogen 
in  Kreisen  der  franzosischen  Schwerindustrie  verbreitet  sein, 
auch  Herr  Francois-Poncet  mag  ahnliches  vorhabien.  Hat  doch 
auch  Adolphus  Rex,  der  Herr  der  braunen  Heerscharen,  seinen 
Mannen  Demonstrationen  gegen  Laval  und  (Briand  untersagt. 
GewiB,  er  kleidet  das  in  Verachtung,  aber  dafi  er  sich  uber- 
haupt  zu  ein  em  solcheri  Verbot  aufschwingt,  laBt  doch  bei  ihm 
zum  erstenmal  Ansatze  von  Politik  ahnen. 

Nun  hat  es  mit  dieser.  deutsch-franzosischen  Verstandigung 
aus  dem  Geiste  der  beiden  Scrrwerindustrien  seine  eigne  Be- 
wandtnis,  I>ie  Beiden  haben  jahrelang  nicht  an  Kosten  gespart, 
den  nationalistischen  Hetzapparat  auszubauen.  Soil  Hugenberg 
seinen  Hussong  anweisen,  jetzt  Liebesgestandnisse  an  Frank- 
reich zu  dichten?  Industrie  und  Finanz  mochten  selbstverstand- 
lich  lieber  heute  als  morgen  ihren  Separatfrieden  mit  Paris 
■  inachen,  Aber  der  von  ihnen  gestaltete  und  genahrte  Na- 
tionalismus  kann  nicht  so  leicht  ummontiert  werden,  er  hat  ein 
Eigenleben  gewonnen,  er  hat  die  Volksseele  durch  und  durch 
vergiftet.  Die  Herrschatften  ersticken  unter  dem  Gewichte  der 
Hetzpresse  und  der  Pamphlete,  die  sie  selbst  ibezahlt  haben. 

So  siegesgewiB  Hugenberg  auch  in  Stettin  gesprocheri  hat, 
so  unfreundlich  war  das  Echo  in  der  Zentrumspresse.  Nament- 
lich  die  ,Germania\  das  Blatt  des  Kanzlers,  reagierte  mit  einer 
fast  forciext  wirkenden  Scharfe,  So  riickt  die  Verbruderung 
wieder  einmal  in  die  Feme,  und  Briining  behauptet  noch  weiter 
als  AHeinherrscher  seinen  Platz.  Dort  wird,  ihn  weder  die  Ber 
triebsamkeit  Dingeldeys  stqren,  noch  die  komische  Anstnengung 
der  biirgerlichen  Parteikadaver,  eine  Einheitspartei  der  Matte 
^u  schaffen.  Diese  Parteien  sind  erledigt,  sie  sind  schon 
nicht  mehr  als  Etiketten,  Die  einzige  gefahrliche  Be- 
•drohung  Briinings  kann  nur  durch  neue  Verschlechterung 
der  wirtschaltlichen  Verhaltnisse  kommen.  ;Wenn  eine 
neue  Katastrophenwelle  durchs  Land  rast,  wenn  Hunger- 
revolten  ausbrechen  und  -die  Drohung  der  Massen  sich  nicht 
mehr  gegen  den  franzosischen  Erbfeind  richtet    sondern  direkt 

468 


gegen  die  Regierung,  dann  kann  der  Zentrumspartei  die  Allein- 
vetantwortung  zu  gefahrlich  werden,  dann  kann  sie  es  doeh 
vor ziehen,  die  Verantwortung  mit  der  Rechten  zu  teilen  oder 
sie  ganz  an  diese  abzutreten.  Das  Gleiche  kann  eintreten,  wenn 
die  Sozialdemokratie  zerbrockelt,  die  Gewerkschaften  ihre 
Leute  nicht  mehr  ibei  der  Stange  halten  kohnen. 

Was  die  Diktatur  Briining  von  der  tDdktatur  Hugenberg  un- 
terscheidet,  ist  lediglich  die  schwachereSpraclie.  Mindestens  be- 
reft et  der  gegenwartige  Diktator  die  Formen,  in  die  der  rabia- 
tere  JSTachfolger  miihelos  einsteigen  kann.  Die  Notverordnungen 
sind  zunachst  einmal  da — was  Iafit  sich  nicht  alles  mit)  ihnen  an- 
fangen?  Die  meisten  Grundrechte  der  Verfassung  sind  auf- 
gehoben.  Die  Sondergerichte,  die  jetzt  eingetfciihrt  werden  sollen, 
konnen,  sobald  die  Zustande  es  erfordern,  Standgerichte  war- 
den. Jedenfalls  ist  fur  Herrn  Hugenbergs  Regime  grundlich 
vorgearbeitet  worden,  Er  braucht  sich  nicht  mehr  mit  groben 
Arbeit  en  die  Finger  schmutzig  zu  machen,  er  braucht  nur  noch 
zu  unterschreiben. 

„Das  letzte  Gefecht* 

Eine  Zitadelle  des  Kapitalismus  nach  der  andern  bricht  zu- 
sammen.  Machtpositionen  und  Ooktrine  wanken,  Niemand 
sturmt  von  aufien;  alte  Konstruktionsfehler  rachen  sich,  und 
der  Bau  fallt  in  sich  zusammen.  Das  englische  Pfund,  durch 
ein  Jahrhundert  ein  venerabler  Begriff,  gibt  sich  seibst  preis 
und  sinkt  in  die  monetarische  Halibwelt.  Andre  Wahrungen 
konneni  morgen  folgen,  gewaltige  Bank  en  und  Trusts  wie  Zun- 
der  auseinanderfallen,  strotzende  nationale  Wirtschaftskorper 
plotzlich  bresthaft  werden. 

Wie  lange  der  Kapitalismus  noch  leben  wird,  mag  Herr  Fer- 
dinand Fried  ausrechnen,  der  ja  audi1  herausgerechnet  hat,  daB 
wir  uns  jetzt  im  achtzehnten  Jahr  der  Revolution  befinden,  wo- 
bei  er  wahrscheiniich  mit  1913  beginnt,  denn  1918  zahlt  als  Re- 
volutions jahr  kaum  mit.  Und  trotzdem  scheint  ein  solches 
Rechenkunst  stuck  noch  realer  zu  sein  als  das  in  den  groBen 
Handelsredaktionen  'betriebene  Gesellschaftsspdel,  eine  Wirt- 
schaft  zu  analysieren,  die  es  nicht  mehr  gibt,  sich  uiber  Papier e  zu 
verbreiten,  die  morgen  kaum  ihren  Materialwert  haben  werden, 
und  sich  iiber  ein  en  Markt  eingehend  zu  auBern,  der  mangels 
Beteiligung  aufgehort  hat,  einer  zu  sein  und  in  tiefstem 
Frieden  daliegt.  Alles  hat  sich  grotesk  ins  Gegenteil  verkehrt. 
Der  Kapitalismus  hat  aufgehort,  seinen  bisherigen  Favoriten 
SfpaB  zu  machen.  Er  ist  zu  einer  schweren  Last  fur  seine 
Trager  geworden,  Und  wenn  die  reichen  Leute  fruher  in  gele- 
gent  lichen  Anwandlungen  von  moralischem  Snabismus  gern  be- 
hauptet  haben,  daB  sie  unter  dem  Kapitalismus  eigentlich 
furchtbar  litten,  so  hat  auch  das  heute  seine  Wahrheit  erhalten. 
Allerdings  ist  auch  gar  nichts  mehr  da.  Unternehmer  ver- 
fluchen  ihre  Seibst  an  digkeit,  Bankiers  wart  en  auf  die  Soziali- 
sierung  wie  fruher  auf  die  Diividenden.  Diese  Generation  von 
Kapitalisten  ist  wirklich  eine  Lazarusschicht,  sie  biiBt  fur  die 
Siinden  der  Vorangegangenen. 

Die  ganz  Schlauen  h  of  fen  auf  eine  kleine  Inflation.  Sie 
werden  sich  tauschen,  -  Dbr   Glaube  ans   Geld  ist   erscbtittert, 

469 


die  Freude  daran  verlorengegangen,  der  Arger  an  der  Wirt- 
schaft  ist  geblieben,  Geleugnet  werden  kann  natiirlich  nicht, 
dafi  Deutschland  fur  cine  neaie  Inflation  seelisch  aufs  tref f- 
lichste  vorbereitet  ist.  Die  Korruptionsskandale  wachsen,  die 
letzten  Begriffe  von  Scham  und  AJnstand  gehen  vor  die  Hunde, 
tind  die  deuische  Frau,  die  eben  noch  in  nationaler  Politik 
dem  iMann  gleichtat  oind  allem  welschen  Wesen  mit  der  Feuer- 
zange  zu  Leifoe  ging,  hat  die  Fahne  verlassen  und  sich  definitiv 
auf  spanischen  Unterricht  zuruckgezogen. 

Eine  Zeit  ist  urn,  aber  wo  sinddie  Erben?  Niemand  meldet 
sich,  SowjetruBland  selibst,  der  Hort  der  Revolution,  muB 
fiirchten,  seine  Kunden  zu  verlieren,  und  hat  alles  Interesse, 
seine  kommerziellen  Verbindungen  von  dem  zweifelhaften  Aben- 
teuer  eines  antikapitalistischen  Aufruhrs  fernzuhalten.  Die 
Menschen  torkeln  zwischen  Triimmern  eines  Systems,  ratios, 
kopflos.  Ein  paar  Generationen  haben  die  Hymne  gesungen  von 
den  ^Signalen",  auf  die  die  Vdlker  horen  sollen,  und  dann  den' 
Vers  vom  „letzten  Gefecht".  Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  daB  wir 
heute  mitten  in  diesem  letzten  Gefecht  stehen,  Aber  die  Sig- 
nal e  sind  vershimmt.  Fast  scheint  es,  als  6b  der  Weltbankrott 
die  Teilhaber  der  einzelnen  Nationalpleiten  eher  beruhigt  als 
revolutioniert,  Aber  vielleicht  ist  das  nur  die  Ermudung  des 
Ahigenblicks,  und  morgen  kann  der  Menschheit  schon  die 
ScMachtmusik  der  Zukunft  in  die  Ohren  drohnen. 


Welt-InflatlOn  von  K.  L.  Gerstorff 

T\  ie  Kredite,  die  England  noch  in  letzter  Zeit  von  New  York 
und  Paris  erhielt,  haben  den  Run  auf  *das  Pfund  nicht  zu 
stoppen  vermocht.  Zunachst  sah  es  so  aus,  als  ob  die  Gold- 
und  Devisenabgaben  der  Bank  von  England  etwas  abgenom- 
men  hatten,  Ganz  sicher  fiihlten  sich  die  amerikanischen  und 
franzosischen  Glaubiger  nie  wahrend  der  ganzen  Aktion,  denn 
sie  hatten,  hochst  charakteristisch,  dieses  Mai  die  Kredite  nicht 
mehr  in  Pfund  gegeben  sondern  in  Francs  und  Dollars.  Aber 
das  MiBtrauen  wuchs  von  Woche  zu  Woche.  Der  englische 
Schatzkanzler  erklarte,  daB  man  im  nachsten  Jahr  ein  Budget- 
defizit  von  etwa  dreieinhalb  Milliard  en  haben  werde.  Und 
wenn  das  Budge tdefizit  bereits  jetzt  so  hoch  veranschlagt 
wurde,  so  glaubte  das  Ausland,  dies  Defizit  werde  in  Wirklich- 
keit  nochweit  groBersein.  Man  hatte  ja  in  diesem  Punkte  ein- 
gehende  Erfahrungen  in  Deutschland  gesammelt,  Auch  hier  ist 
das  Defizit  stets  niedriger  eingeschatzt  worden,  als  es  inWirk- 
lichkeit  war.  Warum?  Weil  man  mit  einer  gewissen  Stabili- 
sierung  in  der  Weiterentwicklung  der  Krise  gerechnet  hatte, 
wahrend  sie  sich  in  Wirklichkeit  immer  weiter  vertiefte,  Genau 
dasselbe  nahm  das  Ausland  von  England  an.  Nirgends  in  der 
Welt  ist  ein  Silberstreifen  zu  entdecken,  der  fur  absehbare 
Zeit  einen  Aufstieg  ankiindigte.  Wenn  also  das  Defizit 
fur  das  nachste  Jahr  in  England  auf  dreieinhalb  Milliarden  ge- 
schatzt  wurde,  so  war  es  besser,  man  kalkulierte  gleich  einige 
Milliarden  hinzu,  vor  allem  auch  darum,  weil  die  MaBnahmen 
zur  Beseitigung  des  Defizits  nicht  grade  eine  stark  e  Ankurbe- 
lung    der    Wirtschaft    erwarten    lieBen.      Denn   warum    hatte 

470 


MacDonald  die  Arbeiterpartei  vcrlassen?  Warum  hatte  er 
mit  Baldwin  und  den  Liberalen  ein  Kabinett  der  nationalen 
Konzentration  gebildet?  Er  tat  dies,  um  das  Defizit  auf  dem 
gleichen  Wege  aus  der  Welt  zu  schaffen,  der  uns  seit  mehr  als 
einem  Jahr  bekannt  und  auchdem  Ausland  nicht  mehr  fremd  ist. 

Wenn  man  die  einzelnen  Etappen  der  englischen  Krise, 
betrachtet,  so  wird  man  zuweilen  von  der  Ahnlichkeit  mit  der 
deutschen  Entwickhmg  frappiert.  Krise  der  Wirtschaft,  die 
sich  immer  verscharft,  standige  Steigerung  der  Arbeitslosen- 
zif fern,  Krise  der  Wirtschaft,  die  zur  Krise  der  Staatsfinanzen 
und  des  Budgets  fiihrt.  Krise  des  Budgets,  die  man  in  Eng- 
land, grade  wie  bei  uns,  dadurch  zu  beseitigen  sucht,  dafi  man 
die  Sozialpolitik,  vor  allem  die  Arbeitslosenversicherung,  ab- 
bairt,  wahrend  der  Heeresetat  und  die  groBen  Vermogen  nicht 
stark  herangezogen  werden;  wobei  man  sich  dariiber  klar  ist, 
daB  der  Abbau  der  Sozialpolitik  und  der  Arbeitslosenversiche- 
rung  die  Basis  fur  weitern  groBen  Lohnabbau  schafft, 

Krise,  der  Staatsfinanzen,  rigoroser  Abbau  der  Sozialpoli- 
tik —  damit  verlor  das  Ausland  seinerzeit  das  Vertrauen  zur 
deutschen  Wirtschaft,  damit  begann  das  sprunghafte  Abziehen 
der  kurzfnstig  angelegten  Gelder. 

Krise  der  Staatsfinanzen,  Abbau  der  Arbeitslosenversiche- 
rung,  damit  wurde  auch  das  Vertrauen  der  auslandischen  Glau- 
biger  zu  England  immer  geringer,  und  in  der  letzten  Zeit  hat 
die  Bank  von  England  nicht  weniger  als  vier  Milliarden  Mark 
an  das  Ausland  ausgezahlt.  Verstarkt  wurde  das  MiBtrauen 
noch  durch  die  Matrosenmeuterei.  Die  Matrosen  meuterten, 
als  ihnen  der  Sold  herabgesetzt  wurde-  Sie  haben  dabei  nicht 
die  Internationale  gesungen  sondern  ,,God  save  the  King". 
Aber:  negative  englische  Zahlungsbilanz,  riesenhaftes  Defizit 
im  englischen  Etat  und  Matrosenmeuterei  —  da  wurde  das  Aus- 
land angstlich,  die  Geldabziige  iiberstiirzten  sich.  Und  als 
die  Bank  von  England  in  New  York  und  Paris  anfragte,  ob  sie 
einen  neuen  groBen  Kredit  bekommen  konne,  da  lehnte  man 
hoflich  ab,  (Nach  der  letzten  Version  ist  die  Verhandlung 
daran  gescheitert,  daB  Paris  zugesagt,  New  York  aber  abge- 
lehnt  habe.)  Die  Bank  von  England  konnte  nicht  mehr  lange 
die  auslandischen  Gelder  zuriickzahlen,  die  man  von  ihr 
verlangte.  Also  beugte  sie  vor  und  hob  die  Einlosungspflicht 
fur  englische  Noten  auf. 

Die  Folge  ist  schon  jetzt  deutlich  zu  erkennen.  Sie  heiBt: 
Inflation. 

Das  Pfund  hat  sich  stark  entwertet,  gegeniiber  dem 
Goldstandard  hat  es  10  bis  20  Prozent  eingebiiBt.  Es  wird  in 
absehbarer  Zeit  nicht  wieder  die  Goldparitat  erreichen.  Der 
englische  Kapitalismus  liquidiert  damit  die  Politik,  die  er  1925 
eingeleitet  hat.  Bis  dahin  war  das  Pfund  entwertet  und  da- 
mit Englands  Stellung  als  Weltbankier  gefahrdet  gewesen.  Der 
Dollar  gewann  immer  mehr  an  Boden.  England  hat  dann  im 
starksten  Gegensatz  zu  den  Wiinschen  vieler  seiner  Industriel- 
len,  die  eine  Inflation  sehr  gern  gesehen  hatten,  das  Pfund  auf 
der  Goldbasis  stabilisiert.  Die  Stellung  der  City  als  Welt- 
bankier war  ihm  damals  wichtiger  als  die  Klagen  der  Indu- 
striellen,     Man   hoffte    gleichzeitig,    wenn    die    gesamte   Welt- 

471 


wirtschaf  t  eine  starke  Aufwartsentwicklung  zeigte,  dann 
wiirde  es  auch  der  englischen  GroBindustrie  besser  gehn.  Es 
waren  ja  die  Konjunkturjahre  der  Vcreinigtcn  Staaten,  die 
Jahre,  in  denen  die  Vulgarokonomen  der  ganzen  Welt  zu  be- 
weisen  versuchten,  daB  eine  Stabilisierung  der  Konjunktur,  eine 
Konjunktur  auf  Dauer  moglick  sei,  wenn  man  nur  amerikanische 
Methoden  durchitihrte.  Aber  die  Aufwartsentwicklung  der 
Weltwirtschaft  trat  nicht  ein,  und  der  englischen  Industrie,  die 
keine  Inflationsgewinne  machte,  ging  es  immer  schlechter,  so 
daB  die  englische  Handelsbilanz  katastrophal  aussah.  Die 
Stellung  der  City  als  Weltbankier  hat  aber  dem  Mutterland  in 
der  Krise  nicht  viel  geniitzt,  da  es  den  Schuldnern  zum  groB- 
ten  Teil  noch  weit  schlechter  geht  als  ihm.  Kurzfristige  Kre- 
dite,  die  man  yon  den  Vereinigten  Staaten,  Frankreich  und 
den  kleinern  europaischen  Kapitalexporteuren,  wie  der  Schweiz 
und  Holland,  hineinnahm,  um  seinerseits  langfristige  Kredite  zu 
geben  und -an  der  Zinsdifferenz  zu  verdienen:  diese  Finanz- 
politik  Englands  hat  sich  in  der  Krise  schwer  geracht,  sie  ist 
einer  der  wesentlichsten  Faktoren  gewesen,  der  dieses  Land 
mit  seinem  riesenhaf ten  Kapitalreichtum  so  illiquid  gemacht  hat. 


Inflation  in  England,  das  bedeutet,  wenn  sie  gelingt,  eine 
auBerordentliche  Verscharfung  der  Konkurrenzkampfe  auf  den 
Weltmarkten;  Wenn  sie  gelingt.  Denn  zur  Inflation  gehort 
immer,  daB  sie  auf  einen  bestimmten  Sektor  beschrankt  bleibt 
—  national  und  international;  das  heiBt,  es  diirfen  nicht  alle 
in  Gold  rechnen,  vor  allem  die  Arbeiterschaf t  nicht.  Denn 
sonst  niitzt  die  ganze  Inflation  nicht s.  Eine  Entwertung  des 
Pfundes  mit  einer  Verbilligung  der  Produktionskosten  erhoht 
die  englischen  Exporte  und  verringert  die  Importe  nur  dann, 
wenn  die  Lohne  nicht  im  gleichen  Umfange  steigen  wie 
die  Preise;  das  heiBt,  wenn  die  englischen  Arbeiter  ihre  Lohne 
nicht  in  Gold  umrechnen.  Ob  dem  englischen  Kapitalismus 
eine  Inflation  mit  Herabsetzung  der  Reallohne  gltickt,  ist 
noch  zweifelhaft.  Die  englische  Arbeiterbewegung  verfiigt 
iiber  starke  Positionen.  England  ist  bisher  das  Land  gewesen, 
das  trotz  riesenhafter  Arbeitslosigkeit  die  Tariflohne  der  be- 
schaftigten  Arbeiter  noch  am  wenigsten  gesenkt  hatte,  und  es 
war  ja  bezeichnend,  daB  MacDonald  die  Gefolgschaft  der  ge- 
samten  Arbeiterschaf t  verlor,  als  er  die  Arbeitslosenversiche- 
rung  abbaute.  Die  englischen  Unternehmer  haben  immer  wie- 
der  erklart,  die  hohen  englischen  Lohne  verringerten  stark 
ihre  Konkurrenzfahigkeit  auf  den  Weltmarkten.  DaB  die  eng- 
lische Arbeiterschaft,  die  einen  direkten  Lohnabbau  zu  iiber- 
wiegendem  Teil  zu  verhindern  mochte,  sich  durch  die  Inflation 
einen  indirekten  aber  ebenso  wirksamen  kampflos  gef alien 
las  sen  wird,  ist  kaum  anzunehmen. 


Inflation,  so  sagten  wir,  kann  nur  dann  gelingen,  wenn  sie 
auf  einen  bestimmten  Sektor  beschrankt  bleibt.  International 
also,  wenn  sie  auf  England  beschrankt  bleibt  und  nicht  allge- 
meine  Erscheinung  wird.  Ist  dies  aber  der  Fall,  kommt  eine  eng- 

472 


lische  Pfundentwertung  bci  faktisch  herabgesetzten  Realloh- 
nen  der  englischen  Arbeiterschaft,  dann  werden  sich  schwerc 
Riickwirkungen  fur  die  Weltwirtschaft  ergeben.  England  stand 
einmal  in  der  Ausfuhr  an  der  Spitze  der  Welt.  Es  ist  in  sei- 
ncn  Exporten  von  den  Vereinigten  Staaten  und  Deutschland 
Ciberfliigelt  worden.  Entwertung  der  englischen  Valuta,  das  be- 
deutet  einen  wahrscheinlich  sehr  hartnackigen  Versuch  der 
englischen  Industrie,  ihre  Ruckschrittlichkeit  im  Rationalisie- 
rungstempo  aufzuholen  und  das  verlorene  Terrain  auf  den 
Weltmarkten  wieder  zu  erobern.  Aber  dieser  englische  Vor- 
stoB  erf olgt  dann  nicht  mehr  in  der  Zeit  einer  aufsteigenden 
Konjunktur,  sondern  in  einer  weitern  Zuspitzung  der  Weltwirt- 
schaftskrise,  wo  der  WeltauBenhandel  nicht  steigt,  auch  nicht 
stabil  bleibt,  sondern  zusammenschrumpf  t.  Der  WeltauBenhandel 
steht  heute  bereits  unter  dem  Niveau  von  1913.  Englische  In- 
flation und  verstarkter  englischer  Exportdmck,  das  bedeutet 
also  fiir  alle  iibrigen  hochkapitalistischen  Zentren  eine  Ver- 
starkung  ihrer  okonomischen  Schwierigkeiten.  Denn  neben 
den  direkten  Wirkungen  des  englischen  Exportdruckes  ist  fest- 
zustellen,  daB  ein  sehr  groBer  Teil  des  WeltauBenhandels  bis- 
her  durch  Pfundkredite  finanziert  wurde.  Es  ist  weiter  zu 
bedenken,  daB  der  londoner  Kapitalmarkt  bei  aller  Verringerung 
seiner  Liquiditat  doch  noch  eine  zentrale  Stellung  hat. 


Aber  es  ist  durchaus  noch  nicht  sicher,  daB  die  Entwer- 
tung des  Pfundes  sich  allein  in  verstarkten  Konkurrenzkamp- 
fen  auf  den  Weltmarkten  auswirken  wird.  Wir  sagten:  Damit 
eine  Inflation  gelingt,  muB  sie  einen  bestimmten  Sektor  haben, 
auch  internationalf  das  *  heiBt,  die  Inflation  muB  auf  England 
beschrankt  bleiben.  Wie  steht  es  damit?  Zunachst  ist  zu  kon- 
statieren,  daB  die  Kolonien  und  Dominions  schwer  allein  blei- 
ben konnen,  wenn  das  Mutterland  seine  Wahrung  entwertet. 
Indien  und  Irland  haben  die  Goldwahrung  faktisch  aufgehoben. 
In  Kanada  hat  sich  der  kanadische  Dollar  bereits  stark  entwer- 
tet. Auch  in  Australien  und  Neuseeland  besteht  faktisch1  die 
Goldwahrung  nicht  mehr.  Im  gesamten  Empire  herrscht  also  be- 
reits Inflation.  In  Siidamerika  sieht  es  nicht  viel  besser  aus.  Man 
erklart  dort  zwar,  dafi  man  sich  vom  englischen  Pfund  unab- 
Mngig  machen  wolle,  aber  nachdem  die  groBten  siidamerika- 
nischen  Lander  keine  Auslandszinsen  mehr  zahlen  kon- 
nen, ist  es  sehr  fraglich,  ob  man  sich  dort  vor  der  Inflation 
retten  kann,  retten  will.  Wenn  aber  im  gesamten  englischen 
Weltreich  die  Inflation  Wirklichkeit  wird,  wenn  Siidamerika 
bankrottiert,  wenn  in  Mitteleuropa  die  Krise  sich  weiter  ver- 
scharft,  dann  ist  es  auBerordentlich  fraglich,  wie  sich  die  Ver- 
einigten Staaten  und  Frankreich  in  dieser  Situation  verhalten 
werden,  dann  besteht  die  Moglichkeit,  daB  auch  sie  starker  als 
bisher  in  die  Weltkrise  hineingerissen  werden. 

Die  Bank  von  England  hat  die  Goldwahrung  aufgehoben. 
Ein  Beben  geht  durch  die  Weltwirtschaft;  ein  neuer  StoB  hat 
eingesetzt. 

Was  ist  noch  sicher,  wenn  die  Bank  von  England  nicht 
mehr  zahlt! 

473 


„Geplante  Vorschriften"  von  Rudolf  omen 

Oazifismus  und  Landesverrat"  heiBt  ein  Artikel,  den  ein 
w  Angestellter  des  Reichswehrministeriums,  Doktor  von 
Carlowitz,  in  dcr  Militar-Zeitschrift  fWisscn  und  Wehr'  ver- 
offcniliclit.  Er  verweist  auf  den  Satz,  den  der  im  Reichswehr- 
ministerium  diensttuende  Major  Thayssen  als  Sachverstandi- 
ger  im  leipziger  HochverratsprozeB  gegen  die  drei  ulmer 
Reichswehrleutnants  gesprochen  hat:  ,,Wenn  der  Reichswehr- 
minister  sich  einmal  im  Reichstag  zu  einem  gesunden  Pazifis- 
raus  bekannt  hat,  so  heiBt  das  gleichzeitig,  daB  wir  den  Pazi- 
fismus  im  landlaufigen  Sinne,  der  im  allgemeinen  mit  ideellem 
Landesverrat  verbunden  ist,  entschieden  ablehnen." 

Herr  von  Carlowitz  schreibt,  er  wolle  zugunsten  der  pazi- 
fistischen  Organisationen  annehmen,  „daB  sie  sich  in  ihrem 
Wirken  allein  von  politischen,  ideellen  Motiven  leiten  lassen, 
und  deshalb  —  trotz  der  eingestandenen  Geldzahlungen  aus- 
landischer  ,Gesinnungsfreunde*  —  von  den  Landesverratern 
unterschieden  werden  sollen,  die  nur  tun  materieller  Vorteile 
willen  ihr  Vaterland  verraten/' 

Man  sieht  nicht:  ist  der  Artikelverfasser  ein  ungeschickter 
oder  ein  zu  geschickter  Stilist?  Denn  er  sagt  zweierlei  in 
einem  Satz,  Meint  er,  die  Pazifisten  lie  13 en  sich  Mallein  von 
ideellen  Motiven  leiten"?  Oder  meint  er,  sie  verrieten  ihr  Va- 
terland auoh  um  materieller  Vorteile  willen?  Ich  fiirchte,  man 
muB  hier  pessimistisch  sein  und  den  Ton  auf  das  „nur"  legem 
Ist  das  so,  so  lautet,  ins  Positive  gewendet,  die  Behauptung  des 
Herrn  von  Carlowitz;  Erstens,  die  deutschen  Pazifisten  ver- 
raten  ihr  Vaterland.  Zweitens:  sie  tun  es  aus  politischen,  ide- 
ellen Motiven  und  weil  sie  aus  dem  Landesverrat  materielle 
Vorteile  ziehen, 

Seither  ist  in  Moabit  der  PazffistenprozeB  durchgefuhrt 
worden.  Doktor  Kurt  Hiller,  der  die  finanziellen  Verbindungen 
der  pazifistischen  Vereine  wohl  besser  kennt.  als  Herr  von 
Carlowitz,  hat  seine  purifikatorische  Anklage  mit  Erfolg 
durchgefochten.  Er  hat  aber  nicht  behauptet,  und  es  ist  auch 
nicht  etwa  liber  seine  Behauptung  hinausgehend  bewiesen  oder 
wahrscheinlich  gemacht  worden,  daB  Pazifisten  personlich  ma- 
terielle Vorteile  aus  ihrer  Propaganda  gezogen  hatten.  Der 
Streit  ging  ausschlieBlich  darum,  ob  die  Propaganda  auch  aus 
Mitteln  auslandischer  Regierungen  gespeist  worden  sei.  Was 
Herr  von  Carlowitz  an  den  Anfang  seiner  Untersuchung  stellt 
und  ihr  zugrunde  legt,  ist  also  unbewiesen.  Er  fiigt  hinzu: 
,,Die  Schwere  des  Vorwurfs  verpflichtet  jeden,  der  ihn  erhebt, 
sich  freizumachen  von  der  Atmosphare  der  politischen  Schlag- 
worte "  Diese  Verpflichtung  hat  er  vorher  schon  gebrochen. 

Ich  mochte  nicht  fur  pazifistische  Vereine  sprechen,  von 
denen  ich  keinem  angehore  oder  angehort  habe.  Wenn  Herr 
von  Carlowitz  fortfahrt:  „Am  deutlichsten  tritt  die  gegenwar- 
tig  herrschende  Tendenz  des  deutschen  Pazifismus  in  der  Ab- 
riistungsfrage  hervor,"  so  bezeichnet  er  damit  das  Thema,  das 
ihn  eigentlich  beschaftigt.  Zugleich  vermengt  er  zwei  Dinge, 
die  ich  trennen  mochte.  Die  Front  zieht  sich  in  der  Ab- 
rustungsfrage  meiner  Beobachtung  nach  nicht  zwischen  Pazi- 
474 


fist  en  un$  Bellizisten  sondem  zwischen  Politikern  und  Trau- 
mern.  Gegen  Herrn  von  Carlowitz  mochte  ich  ein  Wort  fur 
Politik  sprechen, 

Der  Artikel  geht  weiter  mit  dem  Beweis,  daB  Carl  Mer- 
tens,  Professor  Friedrich  Wilhelm  Foerster,  Fritz  Rottcher,  Fritz 
Kiistcr,  General  von  Schonaich,  Otto  Lehmann-RuBbiildt,  Bert- 
hold  Jacob-Salomon,  Hellmut  von  Gerlach,  Professor  Quidde, 
Senatsprasident  Freymtith,  Doktor  Carl  Misch,  Professor  Georg 
Bernhard,  Doktor  Ernst  Feder  im  Grunde  >ein  und  dasselbe 
seien,  und  stellt  zwischen  ihnen  und  dem  Dokumentenfalscher 
Schreck  die  Verbindung  her,  Eine  gewisse  Ungenauigkeit  in 
der  Abgrenzung  ist,  wie  wir  schon  oben  sahen,  eigentiimlich 
fiir  den  interessanten  Aufsatz.  Von  der  Propaganda,  die  die 
genannten  Politiker,  wie  Herr  von  Carlowitz  lehrt,  gemeinsam 
betreiben,  sagt  er  „aus  einem  natiirlichen  Ernpfinden  fiir  die 
Schicksalsgemeinsqhaft  einer  ganzen  Nation  heraus  und  mit 
dem  gesunden  Menschenverstand,"  sie  sei  ,,glatter  Landes- 
verrat". 

Ein  wenig  zwiespaltig  ist  es  auch,  wenn  der  Artikel  weiter 
deduziert:  Erstens,  in  Genf  stehen  sich  heute  nur  noch  ,,macht- 
politische  Interessen"  gegemiber;  zweitens,  die  Mverleumderi- 
schen  Enthiillungen  iiber  Geheimrtistungen  Deutschlands"  ha- 
T?en  unsern  Vertragsgegnern  „die  jeweils  erforderlichen  Argu- 
ments geliefert,  die  sie  brauchten,  urn  sich  der  Durchfuhrung 
des  Abriistungsversprechens  zu  entziehen".  Denn  wenn  die 
reine  Machtpolitik  herrschte,  so  waren  Arguments  unniitz. 
Aber  diese  Zwiespaltigkeit  ist  notwendig,  sonst  konnte  nicht, 
was  hier  geschehen  soil,  begrimdet  werden,  daB  die  Pazifisten 
eingesperrt  werden  miissen.  Urn  zu  dieser  SchluBfolgerung 
zu  gelangen,  pragt  Herr  von  Carlowitz,  in  strengem  Gegensatz 
zu  der  Machttheorie,  die  er  vertritt,  den  Satzf  daB  Deutsch- 
lands  ^Position  nicht  wie  die  der  aadern  Staaten  in  erster 
Linie  auf  Macht,  sondern  fast  ausschlieBlich  auf  Vertrauen 
beruht".  Das  Vertrauen  zu  Deutschland  werde  von  den  Pazi- 
fisten zerstort.  Darum  konnen  „die  geltenden  und  geplanten 
Vorschrifteri  iiber  Landesverrat  zur  Beurteilung  der  pazifisti- 
schen  Propaganda"  herangezogen  werden. 

Geplante  Vorschriften?  Man  erinnere  sich  daran,  daB 
kiirzlich  die  Nachricht  durch  die  Presse  ging,  ein  Gesetz- 
entwurf  des  Reichswehrministeriums  iiber  Erweiterung  der 
Landesverratsbestimmungen  werde  seit  langerer  Zeit,  bisher 
vergeblich,  im  Reichsministerium  des  Innern  und  im  Aus- 
wartigen  Amt  empfohlen;  seine  Einfiigung  in  eine  Notverord- 
nung  sei,  ebenfalls  bisher  erfolglos,  verlangt  worden. 

Das  Vertrauen  zu  Deutschland  werde,  so  lehrt  also  Herr 
Doktor  von  Carlowitz,  durch  die  Propaganda  der  genannten 
Pazifisten  geschadigt  und  also  das  Wohl  des  Reiches  durch  sie 
gefahrdet.  Ob  eine  bestimmte  Handlung  „im  Enderfolg  fiir  das 
Reich  giinstige  oder  nachteilige  Folgen"  haben  werde,  konne 
„der  einzelne"  ■  itberhaupt  nicht  iibersehen.  MVerniinftiger- 
weise  wird  man  daher  . ..  das  BewuBtsein  der  Gef  ahrdung  be- 
reits  dann.als  gegeben  ansehen  miissen,  wenn  der  later  wuBte, 
daB  seine  Tat  irgend  eine  Schadigung  der  Reichsinteressen  zur 
Folge  haben  konne,  ohne  gleichzeitig  und  mit  demselben  Grad 
3  475 


von  Sicherheit  eine  gegenteilige,  kompensierende  Wirkung  aus- 
zulosen/'  Ob  er  diese  Sicherheit  besafi,  hatte  da$  Reichs- 
gericht  mit  seinen  Sachverstandigen  zu  beurteilen.  Die  De- 
duktion  ist  natiirlich  nicht  neu.  Die  Folge,  wiirde  sie  Gesetz, 
ware  .etwa  so;  Wer  vor,  der  Schwarzen  Reichswehr  warntet 
wcr  die  militarische^Dienstleistuiig^les  Kaiserenkels  meldetet_ 
wer  die  Phobus-Afiare  publizierte,  aber  auch  wer  rechtzeitig 
ein  Etats-Defizit  ankun^ligt,  gegen  Vbrbereitung en  einer  in- 
flation auftritt,  oder  einen  Bankkonkurs  voraussieht,  wiirde  als 
Landesverrater  bestraft  werden. 

Herr  von  Carlowitz  ist  sich  in  seinem  Artikel  nicht  immer 
klar  dariiber,  ob  Pazifisten  schlechthin  schon  nach  dem  gel- 
tenden  Gesetz  strafbar  sind.  Er  entscheidet  sich  zum  SchluB 
fur  die  Notwendigkeit  neuer  Bestimmungen:  „Die  auBenpqli- 
tische  Wirkung  der  Propaganda  hat  das  Strafgesetz  noch  nicht 
beriicksichtigt  ...  Die  landesverraterische  Propaganda  der 
Pazifisten  weist  deshalb  auf  einie  neue  Etappe  in  der  Entwick- 
lung  des  Schutzes  der  auBenpolitischen  Interessen  des  Staates 
hin.1*  Auch  der  anfangliche  Zwiespalt,  ob  die  Pazifisten  ideali- 
stische  Politiker  oder  gewohnliche  Plusmacher  sei'en,  lost  sich 
am  Ende.  Der  Artikel  schlieBt  mit  dem  Bedauern  dariiber, 
daB  die  pazifistische  Propaganda  nicht  iiberall  die  Verachtung 
gefunden  habe,  die  ihr  gebiihre, 

Zur  Kritik  des  Vorschlages,  den  der  Artikel  bringt,  sei 
verwiesen  auf  die  Artikel  der  friihern.  berliner  franzosischen 
Militarattaches  in  ,L'Echo  de  Paris1  iiber  die  Reichswehr,  auf 
diet  Kritik  des  Refchswehretats  in  der  , Revue  des  Deux  Mon- 
des'  vom  15.  August,  auf  den  Brief  Austen  Chamberlains  an 
den  Redakteur  der  .Times*  in  der  Angelegenheit  der  Aus- 
spahung  der  breslauer  Stahlhelmparade,  auf  die  Veroffent- 
lichung  der  ,Haag'sche  Post'  iiber  eine  angeblich  mit  deutschen 
Mitteln  unterhaltene  hollandische  Riistungsfabrik.  Die  Dis- 
kussion  iiber  solche  deutschen  Themen  spielt  sich  schon  heute 
fast  ausschUeBlich  im  Ausland  ab.  Wenn  ein  Politiker,  wie 
der  Pralat  Kaas,  g'egen  Aufrustungsplane  spricht,  so  wird  er 
in  der  nationalistischen  Presse  des  Landesverrats  beschuldigt 
und1  von  der  ,Germania'  mit  groBer ,  Vorsicht  kqmmentiert  Das 
Schweigen  in  der  deutschen  Offentlichkeit  wiirde  durch  die 
Verwirklichung  des  Carlowitzschen  Yorschlags  endgiiltig 
wer  den,  Es  ist  zu  fragen,  wodurch  das  Internationale  Vertrauen, 
Deutschlands  wichtigstes  auflenpolitisches  Aktivum,  gestarkt 
und  vermehrt  werden  k6nnte,  durch  eine  intensive  demokra- 
tische  Kontrolle  oder  durch  ihre  liickenlpse  Unterdrtickung, 
erzwungen  mit  Zuchthausdrohungen. 

Aber  nur  Traumer  konnen  die  Frage  falsch  beantworten. 

Die  Traumer  nennen  sich  Realpolitiker.  Sie  haben  den 
sehr  realen  Vorteil  fur  sich,  die  Achtung  alter  respektablen 
Leute  zu  genieBen,  unabhangig  davon,  ob  ihre  realistischen 
Traume  das  Wohl  des  Reiches  gefahrden  oder;  nicht.  Die  Ra- 
dikalen  unter  ihnen  erstrecken  den  Vorwurf  des  Landesverrats 
bis  zu  Lobe  und  Kaas.  Die  Verteidigung  wird  nur  matt  ge- 
fiihrt.  An  ein  Gesetz  gegen  Kriegshetzer  denkt  niemand  in 
Deutschland.  Das  Ailes  gehort  zur  Vorbereiifung  der  Ab- 
riistungskonferenz. 
476 


Ullsteill  Und  Ufa  von  Heinz  Pol 

7  wolf  Jahre  war  ich  im  Verlag  Ullstein  als  Journalist  tatig. 

Am  10,  September  dieses  Jahres  sah  ich  mich  gezwungen, 
meine  Arbeit  niederzulegen,  um  mit  sofortiger  Wirkung  auszu- 
scheiden,  Diese  Tatsache  an  sich  ist  ohne  jedes  Interesse  fur 
die  Offentlichkeit,  Anders  steht  es  um  die  Ursachen  meines 
plotzlichen  Ausscheidens,  weil  es  sich  hier  namlich  um  den 
versuchten  Eingriff  in  die  Gewissensfreiheit  und  Unabhangig- 
keit  des  Journalistenberufes  handelt. 

Anfang  November  1930:  Heinz  Ullstein  laBt  den  >ersten 
Filmkritiker  des  .Tempos',  Harms  G,  Lustig,  zu  sich  kommen  und 
setzt  ihm  auseinander,  er  gehe  bei  seinen  Kritiken  von  der 
vollig  falschen  Voraussetzung  aus,  daB  so  etwas  wie  eine  Film- 
kunst  existiere,  Vielmehr  sei  der  Film  ein  Geschaft  und  nichts 
weiter,  Deshalb  werde  Herr  Lustig  nicht  mehr  weiter  Film- 
kritiken  schreiben. 

Auszug  aus  dem  Schriftsatz  der  Verleger  Doktor  Franz  und 
Hermann  Ullstein  vom  17.  Marz  1931  an  das  Schiedsgericht  im 
Ullsteinschen  Familienstreit:  t,Bereits  vorher  hatte  die  MaB- 
regelung  des  begabten  Filmkritikers  des  .Tempo'  Hanns  G.  Lu- 
stig weit  iiber  die  Grenzen  des  Ha  uses  Befremden  erregt.  Ihm 
wurde  von  einem  Tag  zum  andern  das  Film-Ressort  von  Heinz 
Ullstein  auf  Beschwerden  der  Inseraten-Abteilung  entzogen. 
Grade  dieser  Vorfall  erweckte  in  journalistischen  Kreisen  den 
Eindruck,  daB  die  geistige  Freiheit  der  Journalisten  im  Ullstein- 
Hause,  in  dem  sie  Iruher  ihren  sichersten  Ort  hatte.  nunmehr 
eine  standige  Bedrohung  durch  Eingriff e  des  Verlages  erfahre." 

Ende  Marz  1931;  Heinz  Ullstein  erklart  mir  bei  AbschluB 
meines  neuen  Vertrages:  ..Selbstverstandlich  steht  in  Ihrem 
neuen  Vertrag,  daB  Sie  der  erste  Filmkritiker  der  .Vossischen 
Zeitung'  sind,  tatsachlich  waren  Sie  das  ja  auch  schon  bisher 
seit  vielen  Jahren.  Und  ich  mochte  ausdriicklich  hinzufugen, 
daB  der  Verlag  mit  der  Art  Ihrer  Filmkritik  ganz  besonders  zu- 
fried>en  ist.  Hier  konnen  Sie,  nein:  hier  sollen  Sie  kulturpoli- 
tisch  mindestens  so  aggressiv  sein  wie  bisher,  schreiben  Sie 
meinetwegen  kommuriistisch.  Jedenfalls  haben  Sie  hier  vollig 
freie  Hand/' 

12,  August:  Ich  schreibe  die  Kritik  iiber  den  franzosischen 
Film  „Der  Konig  der  Nassauer",  Am  SchluB  erklare  ich  die 
deutsche  Rahmenhandlung  der  Ufa  fiir  uberfliissig. 

14.  August:  Ein  Vertreter  der  Inseraten-Abteilung  der 
,Vossischen  Zeitung'  sagt  mir,  daB,  wie  auch  fruher  schon  ge- 
legentlich,  die  Ufa  die  Filminserate  fiir  die  ,Vossische  Zeitung' 
auf  die  Dauer  von  einer  Woche  gesperrt  habe,  mit  der  Erkla- 
rung,  meine  letzte  Kritik  babe  ihr  nicht  gefallen. 

15,  August;  Ich  wemte  mich  an  den  jungen  Kyser  von  der 
Presse-Abteilung  der  Ufa,  der  in  der  konziliantesten  und  ange- 
nehmsten  Form  den  personlichen  Verkehr  mit  den  Filmkriti- 
kern  aufrecht  erhalt.  Kyser  meint,  er  halte  es  fiir  ausgeschlos- 
sen,  dafl  die  betreffende  Ufa-Abteilung  dem  Inseratenvertreter 
der  Voss  einen  solchen  Beschekf  gegeben  habe.  Er  erkundigt 
sich  auch  und  sagt  mir,  die  Inserate  seien  zwar  nicht  gegeben 
worden,  aber  ohne  jede  Begrundung. 

477 


16.  August:  Ich  wende  mich  tioch  einmal  an  den  Inseraten- 
vertreter.  Dieser  blcibt  bei  seiner  Darstellung:  Die  Ufa  habe 
ausdrucklich  auf  meine  Kritik  hingewiesen,  und  zwar  als  Ur- 
sache  des  Inseraten-Entzuges. 

1.  September:  Ich  schreibe  die  Kritik  iiber  den  Ufa-Film 
,,  Bomb  en  auf  Monte  Carlo M.  Den  Korrekturabzug  lege  ich  dem 
Leiter  des  unpolitischen  Teils  vor,  der  die  Kritik  sehr  scharf 
findet,,aber  dann"  meint,  ich  triige  ja  dafiir  die  Verantwortung. 
Daraufhin  lege  ich  die  Kritik  dem  verantwortlichen  Redakteur 
der  ,Vossischen  Zeitung'  vor,  der  mir  eitiige  Formanderungen 
vorschlagt,  die  ich  sofort  vornehme. 

2.  September:  Verschiedene  Kollegen  im  Ullsteinhaus  sagen 
mir,  daB  der  Leiter  des  lokalen  Teils,  Herr  Goetz,*  irgendweiche 
geharnischten  Beschwerden  der  Ufa  iiber  meine  letzte  Film- 
kritik  erhalten  habe.  Die  Beschwerden  sollen  telephonisch  und 
brieflich  erfolgt  seiri.  Goetz  selbst  sagt  mir  lediglich,  es  habe 
ihn  jemand1  von  der  Ufa  angerufen.  Auf  naheres  Befragen  gibt 
er  an,  daB  Major  Grau,  der  Leiter  der  TheaterrAbteilung  der 
Ufa,  sick  an  ihn  gewandt  habe.  Als  ich  ihn  bitte,  mir  mitzu- 
teilen,  was  Grau  gesagt  hat,  zuckt  er  die  Achseln.  Einige 
andfe  Redaktionskollegen,  die  von  der  ganzen  Angelegenheit 
etwas.  mehr  zu  wissen  scheinen,  erklaren,  sie  diirften  leider 
nichts  sagen,  wenn  Goetz  nichts  sage,  aber  die  Sache  sei  dies- 
mal  ziemlich  ernst. 

Ich  erfahre  von  ,der  Inseraten-Abteilung,  daB  die  Ufa  die 
Filminserate   fur   die   Voss  .  wieder   gesperrt   habe. 

3.  September:  Gesprach  mit  Kyser,  wobei  ich  versuche 
herauszubekommeh,  wer  alles  von  der  Ufa  sich  beschwert  hat. 
Kyser  ist  ein  w.enig  bose  und  meint,.  auf  ihn  ergieBe  sich  im 
Ufa-Hause  die  ganze  Schale  des  Zorns,  weil  er  uberhaupt  noch 
mit  mir  rede  und  verkehne.  Die  Stimmung  gegen  mich  sei  sehr 
bedrohlich,  so  sei  sein  Chef,  Herr  Pfeiffer,  der  Ansicht,  ich 
hatte  deshalb  eine  so  mifilaunige  Kritik  iiber  „Bomben  atif 
Monte  Carlo"  geschrieben,  weil  ich  eine  Viertelstunde  im  Ufa- 
Theater  hatte  stehen  miissen,  bevor  ich  meinen  Platz  angewie- 
sen  bekommen  hatte.  Ich  antworte,  daB  ich  diesmal  noch 
sehr  schonend  verfahren  sei  und  nicht  einmal  in  mei- 
ner  Kritik  hervorgehoben  habe,  daB  das  schmucke 
Kriegsschiff,  auf  dem  Albers  kommandiere,  pikanterweise  von 
Herrn  Schneider-Creuzot,  dem  franzosischen  Krupp,  der  Ufa 
ztir  Verf iigung  gestellt  worden  sei,  Auf  die  Frage,  ob  auch 
Herr  Pfeiffer  sich  bei  Ullstein  beschwert  habe,  erhalte  ich  ria- 
turgemaB  ein  Achselzucken  als  Antwort. 

4.  September:  Alle  Bemiihungen  in  der  Redaktion  Naheres 
iiber  die  Beschwerden  der  U£a  iiber  mich  zu  erfahren,  scheitern 
daran,  daB  Goetz  schweigt,  Ich  mache  Goetz  darauf  aufmerk- 
sam,  daB  er  doch,  wenn  kiinftig  wieder  jemand  von  der  Ufa 
anriefe,  darauf  hinweisen  konnte,  fur  alle  diese  Beschwerden, 
sei  nach  einem  Abkommen  mit  dem  Verb  and  der  Berliner  Film- 
kritiker  allein  die  Spitzenorgariisation  der  Deutsdien  Filmin- 
dustrie  (Spio)  zustandig,  die  sich  dann  mit  dem  betreffenden 
Kritiker  direkt  in  V'erbindung'  setzt.  Diese  Tatsache  sei  ihm, 
Goetz,  doch  seit  langem  foekannt.   Keine  Antwort. 

47S 


5,  September:  Gesprach  mit  Kyser.  Als  ich  mich  uber  die 
Kampfesweise  cter  Ufa  besohwere,  meint  er:  MWas  wollen  Sie! 
Die  Leute  bei  uns  gehen  indie  Luft,  wenn  sie  nur  Ihren  Nam  en 
horen.  Die  Kritik  der  fVossischen  Zeitung'  ist  die  erste,  die  von 
Hand  zu  Hand  geht  Augenbhcklich  herrscht  eine  absolute  Pd- 
gromstimmung  gegen  $ie;  Ich  wurde  Ihnen  nicht  raten,  mom  en- 
tan  zu  uns  zu  kommen," 

Im  weitern  Verlauf  dieser  Unterhaltung  kommt  es  zu  fol- 
gendem  Dialog: 

Kyser:  „Es  gab  und  gibt  lediglich  zwei  Kritik  er  in  der 
berliner  Tagespresse,  gegen  die  sich  der  Kainpf  der.  Ufa  richtet. 
Alle  iibrigen  ha  ben  aUmahlich  einen  Ton  angenommen,  mit  dem 
wii*  uns  abfinden.  Vielleicht  macht  noch  IherinjT  eine  Aus- 
nahme,  aber  der  schreibt  ja  gliicklicherweise  im  jBorsen^Cou- 
rier',  der  fur  uns  geschaftlich  nicht  wichtig  ist.  Es  bleiben  im 
Augenblick  also  nur  zwei.  Der  eine  ist  Hanns  G.  Lustig  vom 
.Tempo',  der  zweite  Heinz  Pol/' 

„Lustig  schreibt  doch  gar  keine  Kritiken  mehr!" 

„Na  ja,  d'er  ist  ja  im  vorigen  Jahr  auf  Verlangen  der  Ufa 
abgesetzt  worden!" 

„Soviel  ich  weiB,  war  doch  das  eine  Mafinahme  des  Ver- 
lages   Ullstein?" 

„Ja,  aber  auf  Verlangen  der  Ufa.  Das  ist  doch  gar  kein 
Geheimnis.     Nut  noch  Sie  sind  jetzt  also  da!" 

„Was  hat  denn  die  Ufa  gegen  Lustig  und  mich?" 

,,Lustig  war  zu  iiberspitzt  in  seinen  asthetischen  Forderun- 
en.  Dafiir  sind!  Sie  zu  wenig  asthetisch  und  zu  viel  politisch, 
ie  Ufa  ist  doch  voilkommen  unpolitisch." 

„Das  ist  leider  nicht  der  Fall.  Herr  Hugenberg,  der  Besitzer 
der  Ufa,  ist  gleichzeitig  em  sehr  exponierter  Parteipolitiker,  der 
seiner  Zeit  die  Ufa  mit  der  ausdrueklichen  Erklarung  ubernahm, 
ihn  wtirden  beira  Fibngeschaft  .nicht  nUr  geschaftliche  sondern 
auch  politische  Gesichtspunkte  leiten.  Natiirlich  ist  nicht  jeder 
Ufafilm  politisch,  aber  wie  steht  es  zum  Beispiel  mit  dem  Fri- 
dericusfihn,  dem  Zapfenstreichfilm,  dem  Rosenmontagfilm,  ganz 
zu  schweigen  von  den  immer  kriegerischer  werdenden  Wochen- 
schauen?  Der  Kritiker  hat  nicht  nur  das  Recht  sondern  die 
Pflicht,  von  Fall  zu  Fall  auf  den  nationalistischen  Charakter  der 
Ufa  hinzuweisen.  Ich  sehe  also  der  Kampfansage  mit  Ruhe  ent- 
gegen,  um  so  mehr,  da'  ich  ebenso  sehr  das  Vertrauen  meines 
Verlages  wie  der  Redaktion  genieBe." 

Kyser  lachelt:  „Ich!  wiirde  mich  nicht  so  sehr  darauf  ver- 
lassen,  Wir  haben  ganz  gute  Verbindungen  mit  gewissen  Stel- 
len  im  Ullstein-Hause  angekniipft.  Ich  kann  ja  nichts  Naheres 
sagen*  Aber  passen  Sie  auf,  wir  kriegen  Sie  vielleicht  auch 
noch  her  a  us,  wer  w«iB,  vielleicht  sehr  bald  -.-./'" 

8.  September:  Amer{ka  verbietet die  deutsche  Military 
Humoreske  „Drei  Tage  Mittel-Arrest"  mit  der  Begriindung,  das 
Schicksal  einer  unehelichen  Mutter  werde  hier  entwiirdigt, 
Uber  diese  Tatsache  schreibe  ich  fur  den  politischen  Teil  der 
jVassischen  Zeitung'  eine  Qlosse,  in  der  ich  darauf  hinweise, 
daB  tatsachlich  derartige  Filme  geeignet  seien,  das  deutsche 
Ansehen  im  Ausland  herabzusetzen,  nicht  so  sehr  wegen  der 

479 


Glorifizierting  des  Militars,  als  der  LacherUchmachung  der  Zivi- 
listen. 

An  diesem  Abend  Hndet  die  Urauffiihrung  der  ersten  Mi- 
litar-Groteske  der  Ufa  statt,  betitelt  „Die  Schlacht  von  Bade- 
mundV\ 

9/  September:  Um  der  Ufa  keine  Handhabe  zu  geberi,  wei- 
terhin  gegen  mich  vorzugehen,  schreibe  ich  eine  besonders  ab- 
gewogene  Kritik,  die  sich  in  ihrem  Hauptteil  darauf  beschrankt, 
den  Inhalt  der  „Schlacht  von  Bademunde'*  wiederzugeben,  ohne 
darin  die  Ufa  zu  erwahnen,  Der  SchluBabsatz  lautete  wortlich: 
f,Man  konnte  vielleicht  glauben,  ein  Film  mit  dies  em  Inhalt  sei 
von  irgendeiner  auslandischen  Firma  hergestellt,  mit  dem 
Zwecke,  das  deutscke  Ansehen  im  Ausland  zu  schadigen,  Der 
Name  der  Produktionsfirma  lautet  jedoch:  Ufa/*  Darunter 
mein   Signum,  SchluB. 

Einem  Kollegen  in  der  Redaktion,  der  sich  privat  die  Ur- 
auffiihrung „Die  Schlacht  von  Bademiinde"  angesehen  hat,  zeige 
ich  den  Abzug  meiner  Kritik.  Er  meint,  meine  Kritik  sei  in 
diesem  Falle  zu  maBvoll,  dieses  Machwerk  sei  ein  unglaublicher 
Skandal,  und  es  sei  Auigabe  des  Filmkritikers  ernes  nicht 
rechts  gerichteten  Blattes  wie  der  ,Vossischen  Zeitung',  diesen 
Skandal   auch   einen  Skandal   zu  nennen. 

An  diesem  Tage  hatte  ich  auf  der  Redaktion  Nachtdienst, 
der  um  zwolf  Uhr  beginnt  und  um  zwei  Uhr  endet.  Von  einer 
bosen  Vorahnung  beunruhigt,  fahre  ich  bereits  tun  elf  Uhr  ins 
Bureau,  um  den  Umbruch  der  Morgenzeitung  noch  mitzu- 
machen.  Der  Umbruchredakteur  des  lokalen  Teils  will  grade 
meine  Kritik  umbrechen  lassen.  Ich  sehe  sie  mir  an  und  stelle 
fest,  daB  der  letzte  Absatz;  vollig  weggestrichen  1st,  die  Kritik 
also  lediglich  die  bloBe  Inhaltsangabe  enthalt,  ohne  daB  man 
daraus  auch  nur  erfahrt,  daB  es  sich  um  einen  Ufafilm  han- 
delt.  Mein  Signum  war  geblieben,  Auf  meinen  Protest  erklart 
sich  der  Umbruchredakteur  bereit,  die  vollig  verstummelte  Kri- 
tik zuriickzustellen.  Ich  verspreche  ihm,  am  nachsten  Vormit- 
tag  sofort  mit  der  Chefredaktion  dariiber  zusprechen. 

Um  es  noch  einmal  festzuhalten:  Ware  ich  nicht  vorzeitig 
in  die  Setzerei  gekommen,  so  hatte  in  der  Morgenausgabe  vom 
10.  September  meine  Kritik  liber  die  ,tSchlacht  von  Bade- 
munde" gestanden,  aus  der  der  Leser  lediglich  den  Inhalt,  nicht 
aber  die  Herkunft  des  Films  und  die  kritische  Stellung  des  hier- 
iiir  verantwortlich  Zeichnenden  erfahren  hatte. 

10.  September:  Dreistiindige,  sehr  stiirmische  Auseinander- 
setzung  in  der  Redaktion  mit  Herrn  Goetz,  dem  Leiter  des  un- 
politischen  Teils,  und  Herrn  Elbau,  dem  stellvertretenden  Chef- 
redakteur  der  ,Vossischen  Zeitung*.     Hier   der  Extrakt: 

Zunachst  erklart  Herr  Goetz,  er  habe  den  letzten  Absatz 
der  Kritik  gestrichen,  weil  er  Beleidigungen  gegen  die  Ufa  ent- 
halte,  Herr  Elbau  schlieBt  sich  nach  Priifung  dieser  Ansicht  an 
und  bleibt  auch  dabei,  nachdem  der  verantwortliche  Redakteur 
erklart,  daB  er  die  beanstandete  Stelle  fiir  zulassig  und  nicht 
zu  weit  gehend  halte  und  sie  verantworten  wiirde.  Als  ich 
erklare,  daB  ich  unverziiglich  alle  Konsequenzen  Ziehen  wiirde, 
falls  die  verstummelte  Kritik  in  ihrer  vollig  sinnentstellenden 
Weise  ins  Blatt  kame,   nennt  mich  der  stellvertretende  Chef- 

480 


redakteur  zunachst  einen:  unverschamten  Erpre&scr,  der  sofort 
«ein  Zimmer  und  das  Ullstein-Haus  zu  verlasscn  habe,  urn 
dann,  als  ich  fest  bleibe,  mir  cine  Anderung  des  letzten  Ab- 
satzes  vorzusehlagen.  Um  in  dieser  fur  mich  entscheidenden 
Angeiegenbeit  bis  zum  auBersten  korrekt  zu  bleiben,  erklare 
ich  mich  zu  einer  Anderutog  in  der  Form  bereit,  die  aber  die 
scharf  ablehnende  Stcllung  gegen  das  Machwerk  deutlich  dem 
Leser  vor  Augen  ruhrt, : 

Dariiit  ist  die  Angelegenheit  aber  nicht  aus  der  Welt  ge- 
schafft.  Ich  frage  Herrn  Goetz,  warum  er  mich  nicht,  wie  es 
seine  Pflicht  gewesen  ware,  vorher  von  seinen  Bedenken  be- 
nachrichtigt  habe.  Herr  Goetz  gibl  zu,  noch  nicht  einmal  den 
Versuch  gemacht  zu  haben,  mich  zu  benachrichtigen,  obwohl 
ich  nur  zwei  Zimmer  von  ihm  entfernt  den  ganzen  Nachmittag 
im  Bureau  und  dann  zu  Haus  zu  erreichen  war,  Er  erklart  dann 
weiter  wortlich: 

„Es  ist  mir  ganz  gleichgiiltig,  ob  Sie  nach  Ihrem  Vertrag 
erster  Filmkritiker  sind  oder  nicht.  Ich  bin  jedenfalls  als  Leiter 
des  unpblitischen  Teils  auch  Leiter  des  Filmteils  und  kann  und 
wcrde  auch  kunftig  so  verfahf en  wie  in  diesem  Falle,  das  heiBt 
Kritiken  andern,  so  wie  ich  es  fur  richtig  halte,  wobei  ich  nicht 
notig  habe,  mich  iiberhaupt  mit  Ihnen  in  Verbindung  zu  setzen. 
Es  kommt  nur  das  ins  Blatt,  was  ich  will.  Der  Verlag  steht 
hihter  mir." 

Ich  frage  den  Chefredakteur  Elbau,  ob  er  diese  Meinung 
teile.  Nach  den  verschiedensten  Ablenkungsversuchen,  in 
d'enen  er  mich  beschimpft,  dafl  ich  die  Autoritat  der  Chef- 
redaktion  untergrabe,  stellt  er  sich  auf  den  Standpunkt  des  Lei- 
ters  des  unpolitischen  Teils. 

Ich  antworte,  daB  ich  keinerlei  Autoritat  untergrabe,  son- 
dern  mich  nur  gegen  die  Ufa  zur  Wehr  setze.  Da  der  Leiter 
des  lokalen  Teils  grade  in  einem  Augenblick  meine  Ufakriti- 
ken  ohne  mein  Wissen  und  Willen  zensiere,  wo  die  Ufa  gegen 
mich  Sturm  laufe,  so  hatte  ich  die  Berechtigung,  miBtrauisch  zu 
werden.  Wenn  ich  im  politischen  Teil  der  Zeitung  erklaren 
diirfe,  daB  Amerika  mit  Recht  in  deutschen  Militar-Lustspielen 
eine  Schadigung  des  deutschen  Ansehens  sehe,  so  sei  es  doch 
unfaBbar,  dafi  ich  bei  dem  Ulafilm,  der  mindestens  so  schlecht 
sei  wie  MDrei  Tage  Mittelarrest",  diese  Feststellung  nicht  treffen 
diirf  e.  Ich  bitte  Herrn'  Elbau  mir  zu  sagen,  ob  auch  auf  ihn,  den 
Chefredakteur  des  Blattes,  von  der  Ufa  ein  Druck  ausgeiibt 
worden  sei.  Nach  langem  Zogern  erklart  Herr  Elbau,  daB  ihm 
der  von  friiher  her  gut  bekannte  Leiter  der  Pressestelle  der 
Ufa,  Herr  Pfeiffer,  vor  einigen  Wochen  einen  Beschw  erdebrief 
iiber  mich  geschickt  habe.  Er!  kann  sich  jedoch  nicht  mehr  er- 
innern,  ob  er  diesen  Brief  dem  Verlag  Ullstein  gezeigt  habe, 
und  was  er  Herrn  Pfeiffer  geantwortet  habe.  Das  sei  doch  aber 
alles  ganz  unwichtig. 

„Es  handelt  sich  doch  nicht  allein  um  den  Wortlaut  dieser 
einen  Kritik'*,  antworte  ich,  „es  handelt  sich  auch  gar  nicht  um 
die  politische  Richtung  der  ,Vossischen  Zeitung',  sondern  es 
geht  allein  darum:  die  Ufa  versucht  mit  den  infamsten  Mitteln 
des  Inseratenentzuges  und  unkontrollierbarer  Beschwertien  die 

481 


verschiedensten  Inst  an  z  en  des  Verlages  und  der  Redaktion  ge- 
gcri  den  Filmkritiker  aufzuhetzen.  Statt  daB  sich  die  Chefredak- 
tion  hinter  den  bedrohten  Kollegen  stellt,  erklart  sie  alle  Be- 
einflussungen  durch  die  Ufa  fur  lacherlich,  zufallig  oder  uber- 
triehen.  Und  warum  sperrt  denn  immer  nur  die  Ufa  Inserate 
und  warum  haben  bisher  immer  nur  meine  Ufakritiken  der 
Chefredaktion  zu  Korrektureri  und  Bedenken  AnI'aB  gegeben? 
Das  sind  doch  alles   keine  Ztifalligkeiten." 

,«Ach  reden  Sie  doch  nicht  so  viel,  Ihr  polemischer  Ton 
verargert  die  Ufa  und  auch  den  Verlag,  man  kann  doch  auch 
verbindlicher  sein.  Sie  miissen  der  allgemeinen  politischen  und 
wirtschaftlichen  Entwicklung  Rechnung  tragen,  wie  es  die  Voss 
tut,  Es  ist  eben  untragbar,  daB  Sie  immer  noch  gewisse  Tenden- 
zen  in  Ihren  Kritiken  bekampfen,  mit  denen  wir  heute  rechnen 
miissen." 

,,Ich  stelle  also  fest:  man  darf  im  Hause  Ullstein  nur  so 
lange  ,freie*  Kritiken  schreiben,  wie  es  der  Ufa  gefallt,  Oben 
in  der  Politik  darf  Herr  Hugenberg  als  politischer  Gegner  bei 
jeder;  Gelegenheit  angegriffen  werden  —  fur  den  Filmteil  aber 
ist  er  der  gute  Geschaitsfreund  des  Hauses,  also  tabu*  Unter 
diesen  emporendenUmstanden  sehe  ich  mich  gezwungen,  meine 
Arbeit  sofort  niederzulegen,  vorausgesetzt,  daB  auch  der  Ver- 
lag, den  ich  sofort  fragen  werde,  den  Standpunkt  der  Chef- 
redaktion teilt." 

Der  Vertreter  des  Verlages  kundigt  mir  meinen  Vertrag, 
der  bis  zum  31.Dezember  Giiltigkeit  hat.  Ich  antworte,  dafi 
diese  Kiindigung  ihren  Sinn  verloren  hat,  da  ich  bereits  meine 
Arbeit  niedergelegt  habe.  Und  ich  wiirde  sie  auch  nicht  wieder 
auf nehmen ,  sondern  sofort  ausscheiden,  falls  der  Verlag  die  An- 
sicht  der  Chefredaktion  uber  die  Unfreiheit  der  Kritik  billige. 
Der  Vertreter  des  Verlages  stellt  sich  hinter  die  Ausfiihrungen 
des  Leiters  des  unpolitischen  Teils  und  des  Chefredakteurs. 
Daraufhin  scheide  ich  am  10.  September  mittags  zwei  Uhr  aus 
diem  Verlag  Ullstein  aus. 

Am  12.  September  berichtet  die  ,Welt  am  Abend'  unter 
der  Uberschrift  „Skandal  bei  Ullstein"  von  meinem  Ausschei- 
den und  erhebt  den  Vorwurf,  daB  „das  demokratische  Haus 
Ullstein  mit  der  Hugenbergschen  Ufa  in  einem  geschaitlichen 
Liebesverhaltnis  stent".  Diese  Behauptung  ist  bis  heute  weder 
vom  Verlag  Ullstein  noch  von  der  Ufa  berichtigt  oder  demen- 
tiert  worden,  Dafiir  war  am  Mittwoch,  dem  16.  September,  in 
der  dem  Ullsteinverlag  gehorenden  ,B.-Z.  am  Mittag'  Folgendes 
zu  lesen: 

Ludwig  Klitzsch,  der  Generaldirektor  der  Ufa,  feiert  heute  seinen 
50.  Geburtstag.  Als  Hugenberg  1927  die  Ufa  tibernahm,  setzte  er 
seinen  Verlagsdirektor  in  die  Leitung  des  groftten  deutschen  Film- 
unternehmens,  das  unter  der  Aegide  des  gewiegten  Zeitungsfachmanns 
zu  dem  bestfundierten  und  bestorganisierten  Filmunternehmen  Euro- 
pas  wurde.  Klitzsch  gelang  es  auch,  dem  Ufa-Film  Eingang  in  die 
Kinds   der  Vereinigten  Staaten  zu  verschaf f en. 

Und  in  der  Sonnta^sausgabe  der  .Vossischen  Zeitung'  vom 
20.  September  war  nach  drei  Wochen  zum  ersten  Mai  wieder 
ein  Inserat  der  Ufa  zu  seheri,  das  den  Film  „Bomben  auf  Monte 
Carlo"   pries. 

482 


Sigilla  Veil  von  Ignaz  Wrobel 


Aus    dem   Antisemitismus  kann   erst    etwas   richtiges 
werden,   wenn  ihn  ein  Jude  in   die  Hand  nimmt. 

Roda  Rod  a 
Co  um'die  zchnte  Abendstunde,    wenn  die  Luft  in  den  Knei- 

pen  schon  etwas  dick  geworden  ist  tind  der  Alkohol  die 
Gehirntatigkeit  verlangsamt  hat;  urn  die  zehnte  Abendstunde* 
wenn  die  Stammtischrunden  der  alten  Majore,  der  Tierarzte, 
Studienrate  und  Bergassessoren  in  mystischer  Gelahmtheit 
dumpf  hinter  ihren  Glasern  hocken  — ;  da  bririgt  der  deutsche 
Mann  das  Gesprach  gern  auf  die  Juden, 

Schwer  setzt  der  aufrechte  Tfinker  sein  Glas  vor  sich  hin, 
wischt  sich  den  Bart,  putzt  den  Kneifer  und  spricht:  ,,Daran 
sind  meines  Erachtens  nach  nur  die  Juden  schuld!"  —  „Wahr( 
wahr  . .  "  murmelt  es  um  den  Jisch,  und  audi  Frieda,  die 
Kellnerin,  und  Heinrich,  der  Herr  Ober,  nicken,  Und  der  Ober- 
bergrat  fahrt  fort:  „Meine  Herren,  schon  im  Jahre  1677*..'* 
Woher  weiB  er  das  — ? 

Es  gibt  erne  Stammtisch-Wissenschaft,-  die  gilt  nur  von 
abends  um  hafb  neun  bis  um  dreiviertel  zwolf.  Am  Tage  haben 
die  Leute  alles  vergessen:  Daten,  Namen,  Biichertitel  und  den 
Rest.  Aber  eines  ist  ihnen  geblieben:  das  BewuBtsein,  daB  die 
Juden  schuld  sind. 

Nun  aber  ist,  um  diesen  Wissensliicken  abzuhelfen,  gegen 
die  Radfahrer  endlich  das  grofie  und  schone  Werk  erschienen, 
dessen  wir  so  lange  entraten  haben: 

Sigilla  Veri 
(Ph,  Staufs  Semi-Kiirschner) 

Lexikon  der  Juden,  -Genossen  und  -Gegner  aller  Zeiten  und 
Zonen,  insbesondere  Deutschlands,  der  Lehren,  Ge- 
brauche,  Kunstgriffe  und  Statistikeh  der  Juden  sowie 
ihrer  Gaunersprache,  Trugnamen,  Geheimbunde  etcetera. 

Unter  Mitwirkung  gelehrter  Manner  und  Frauen  aller  in  Be- 
tracht  kommenden  Lander  im  Auftrage  der  „Weltliga 
gegen  die  Luge"  in  Verbindung  mit  der  ..Alliance  chre- 
tienne  arienne" 

U.  Bodung-Verlag. 

Das  hat  mir  schon  lange  gefehlt.  Denken  Sie  doch  nur  — ! 

Was  die  Kunstgriffe  der  Juden  angeht,  so  benotige  ich 
deren  Kenntnis  wie  das  Hebe  Brot  —  das  wilde  Volk  der  Ver- 
leger  und  der  Filmleute  macht  unsereinem  das  Leben  nicht 
leicht.  Und  die  Gaunersprache?  ..Requisition '  statt  Dieb- 
stahl?  —  Und  die  Trugnamen?  „Lindstr6mM?  —  Und  die 
Geheimbunde?    Es  muB  sehr  interessant  sein 

Doch  ist  es  nicht  ganz  leicht,  das  Buch  zu  erhaiten.  Ich 
habe  bisher  nur  den  Prospekt  mit  den  Probeseiten  bekommen. 

Bedingungen,  gleichzeitig  Bestellschein: 
2.    Ich   bin   nicht jiidischer   Herkunft   und   mit    Juden   weder 
versippt  noch  verschwagert. 

483 


4.  Ich  erklare  ehrenwortlich,  daB  ich  nicht  von  dritter  Seite 
aus  als  Kaufer-Strohmann  vorgeschoben  bin* 

5.  Ich  vcrpflichte  mich 

c)  alle  Stellen,  in  denen  eine  Beleidigung  gefunden  oder 
gesucht  werden  konnte,  demVerlage  zwecks  Ausmer- 
zung  mitzuteilen.    Dcr  Verlag  lcgtWcrt  darauf,  sach- 
lichc  wissenschaftliche  Auf  klarung  zu  bringen ... 
Die  sieht  so  aus: 

Carbe,  geb.   Cohn,  Dr.,  Gerichtsassessor,  Neffe  dcs  Dr. 

h.  c,  Ru.  Mosse,  Erbe  dcs  ,B.  17  Berlin-    Ihm  wurde  das 

populare  Gedicht  „Haben  Sie  nicht  den  kleinen  Cohn  ge- 

sehn?"   auf  den  Leib  geschrieben,  er  erhielt  dann  1917 

vom  preufi.  Min.  des  Innern  durch  den  guten  Freurid  des 

Hauses   Mosse,    Ministerialdirektor   Freund,    den   neuen 

Namen;  Carbe. 

Wenn  ich  den  Verlag  darauf  aufmerksam  machen  darf:  in 

diesera  Abschnitt  sind  zwei  Unrichtigkeiten  enthalten,  aber  die 

mufi  er  sich  schon  allein  heraussuchen.    Gegen  ein  Freiexem- 

plar  des  Werkes  bin  ich  bereit,  ihm  zu  sagen,  wer  in  Wahrheit 

der  kleine  Cohn  gewesen  ist.    Herr  Carbe  war  es  nicht.    Goeb^ 

be  is  auch  nicht. 

Ein  Frei-Exemplar?  Der  Verlag  wird  sich  hiiten;  so  hoch 
bemiBt  er  den  Wert  dieser  Mitteilung  nicht.  Denn  sein  Werk 
ist  teuer,  so  teuer,  als  ware  es  echt  jiidisches  Produkt.  Das 
sechsbandige  Lexikon  kostet  im  Buchhandel  pro  Band  70  RM.; 
der  Subskriptionspreis  ist,  je  nach  der  Zahlungsweise,  50  RM. 
pro  Band,  oder  46  RM.,  bis  herunter  zu  35  RM.,  heiBt  ein  Ge- 
schaft 

Die  Probeseiten  des  Prospekts  haben  es  in  sich. 
Einstein  zum  Beispiel,  dem  ein  eignes  Kapitel  gewidmet 
ist,.  hat  ebenso  wie  Soldner  den  Faktor  2  vergessen;  da 
staunen  Sie.  Was  das  heiBt?  Ich  habe  keine  Ahnung,  der  Le- 
ser  aber  auch  nicht;  es  ist  die  typische  Stammtischwissenschaft, 
aus  Zeitungsausschnitten  zusammengesetzt,  aus  Biichern  hervor- 
gekramte  Details,  und  auf  alle  Falle  —  Ober,  noch  ein  Halbes! 
—  hat  der  Einstein  mal  Unrecht. 

Ober  Magnus  Hirschfeld:  „Wenn  man  nun  erwagt,  dafi  das 
Laster  in  dem  stark  mischrassigen,  von  Abkommlingen  spa- 
nischer  Juden  formlich  wimmelnden  Holland  von  jeher  ver- 
breitet  war,  und  daB  dort  Personen  jeden  Standes  und  Alters 
gewohnheitsmaBig  die  gemeinsten  Ausdriicke  im  Munde  fiihren, 
so  ist  dem  Hollander  durch  die  Propaganda  des  Wissenschaft- 
lich-Humanitaren  Comites  die  Moglichkeit  gegeben,  das 
orientalische  Laster  in  seinem  Lande  ,wissenschaitlich  gestiitzt' 
auf  tdeutsche'  Einfliisse  zur  Schadigung  des  deutschen  An- 
sehens  zuriickzufiihren,  urn  dadurch  zngleich  die  Juden  und 
Mischlinge,  die  es  doch  in  den  arischen  Landern  verbreitet 
haben,  zu  entlasten." 

Uber  Knigge,  der  gesagt  hat,  dafi  es  weder  fiir  den  Denker 
noch  fiir  den  Menschenfreund  einen  Unterschied  zwischen  Ju- 
den und  Christen  gibt,  welches  Diktum  offenbar  aus  dem  Zu- 
sammenhang  gerissen  ist:  ,, Dieser  Satz  ist  vollig  frei  aus  dem 
Handgelenk  geschuttelt". 

484 


Zwei  voile  Probeseiten  iiber  den  „Kulturbolschewismus" 
—  das  ist  bekanntlich  alles,  was  einem  nicht  pafit,  wie  ja  denn 
der  Antisemitismus  dcr  Sozialismus  der  Dummen  ist. 

Schone  Probcseitc  uber  Kutisker,  Iwan  —  die  liber  den 
Pastor  Craemer  und  den  Devaheim-Skandal  ist  offenbar  noch 
nicht  fertig.    i 

Kurz:  Stammtisch. 

Antisemitismus  . . .  Herrschaften,  warum  engagiert  ihr  nicht 
mich!  Fur  67,50  Mark  monatlich  und  freie  Pension  mit  zwei- 
maligem  sonntaglichem  Ausgang  liefere  ich  euch  uber  die  Ju- 
den  «in  Material,  das  wenigstens  echt  ist  —  ihr  kennt  sie  nicht 
einmaL 

Immer  wieder  erschiitternd  ist  die  partielle  Gehirnlahmung 
bei  den  Deutschen:  iiberall  da  eine  Verschworung  zu  wittern, 
wo  sie  mit  ihr  em  Wesen  auf  irgendeinen  Widerstand  stoBen, 
Willy  Haas  hat  ftir  den  Fall  Ludendorff  das  stark  theologische 
Moment  dieses  Hergangs  aufgezeigt;  man  lese  das  in  seinen 
„GestaIten  der  Zeit"  nach.  Sie  stellen  sich  wirklich  die  Welt 
vor,  wie  sie  in  den  Kinderfibeln  gemalt  wurde:  unten  im  Keller 
sitzen  spitzmiitzige  Juden  und  kochen,  finstere  Gebete  mur- 
melnd,  eine  herrliche  Dynamitsuppe  gegen  die  Gojim.  Ihr  ah- 
nungslosen  Esel! 

Warum  packt  ihr  den  Juden  nicht  da,  wo  er  wirklich  zu 
fassen  ist!  In  seiner  engen  Ichbezogenheit;  in  seiner  ewigen 
Empfindlichkeit,  die  ihn  aufschreien  laBt,  wenn  ihm  einmal 
einer  die  Wahrheit  sagt;  in  seinem  Aberglauben,  welcher  an- 
nimmt,  der,  der  schneller  denke,  sei  kliiger  als  der,  der  Lang- 
sam  denke;  in  seiner  wahnwitzigen  Eitelkeit,  die  besonders  fur 
Deutfichlands  Fluren  'die  jiidische  Klugheit  nur  aus  einem 
Grunde  hat  statuieren  konnen:  weil  die  andern  meist  noch 
dummer  sind.  An  der  Levante  oder  gegeniiber  den  Schotten 
hat  der  Jude  nichts  zu  melden  —  die  stecken  ihn  alle  Tage 
in  den  Sack  des  Handels.  Ach,  ihr  ahnungslosen  Esel!  Welch 
ein  jammervoller  Antisemitismus  ist  das!  Es  gibt  bei  euch 
noch  eine  andre  Sorte;  das  sind  die  Mischtiker  aus  den  Be- 
zirken  urn  Hielscher,  die  im  Neb  el  ihr  en  Pfad  suchen,  ihn 
aber  bis  heute  noch  nicht  gefunden  haben.  Denen  kann  man 
freilich  nicht  beikommen  —  sie  uberschtitten  dich  mit  Vo- 
kabeln,  die  sie  zu  diesem  Behuf  erfunden  haben,  und  mit  dem 
Judentum  hat  auch  dies  nichts  zu  tun.  Die  meisten  Anti- 
semiten  sag  en  viel  mehr  iiber  sich  selber  aus  als  liber  ihren 
Gegner,  den  sie  nicht  kennen. 

Ware  ich  Antisemit  — ;  ich  schamte  mich  soldier  Bundes- 
genossen. 

Die  RUSSen  Spielen  von  Rudolf  Arnheim 

JVflan  hat  das  dilettantische  Zeittheater,  diese  Inflation  des 
Ungeistes,  ohne  Geprange  zu  Grabe  befordert.  Aus  Lam- 
pels  prugelnden-Schupos  und  Fiirsorgezoglingen  sind  teils  wohl- 
bezahlte  Liebhaber,  teils  hochherrschaftiiche  Livreekomparsen, 
teils  Stammkunden  der  Stellennachweise  geworden,  Wilhelm 
der  Zweite  hat  nun  auch  seine  Biihnenlaufbahn  beendet  und 
ist  endgiiltig  abgeschminkt,  der  Dormer  explodierender  Grana- 

485 


ten,  der  die  Kehlen  der  TonfiLmlautsprecher  aufrauhte,  ist  dent 
zierlichcn  Gesumm  der  Comedian  Harmonists  und  den  haus- 
gemachten  Liebeswalzern  der  Schlagerkomponisten  gewichen, 
aus  rauhem  Feldlarm  wurden  muntre  Feste,  aus  furchtbarn 
Marschen  holde  Tanzmusiken.  Der  grimme  Krieg  hat  seine 
Stirn  entrunzelt,  und  statt  geharnischte  Rosse  zu  besteigen, 
um  drohnder  Gegner  Seelen  zu  erschrecken,  hiipft  er  behend 
in  einer  Dame  Zimmer  nach  iippigem  Gefailen  einer  Laute.  In 
den  teuren  Theaterchen  des  berliner  Westens  verwechseln 
unbeschaftigte  Eheleute  das  Baumelein  und  tummeln  sich  ver- 
liebte  Landmadchen,  und  selbst  in  den  Chansontexten  der  lite- 
rarischen  Revuen  hat  das  Chasseurhutchen  den  Pazif  ismus  ver- 
drangt.  Welche  Stiicke  fiillen  die  Herzen  mit  Jubel,  die  Kas- 
sen  mit  Geld?  Die  groBe  unzeitgemafie,  iiberzeitliche  Kunst, 
Schillers  „Kabale  und  Liebe*',  die  klassische  Operette,  Offen- 
bachs  „Schone  Helena",  und  im  Kino  Lubitschs  ,tLachelnder 
Leutnant",  ein  Kapitel  wiener  Rokoko,  grazios  und  obszon  wie 
franzosische  Kupferstiche,  die  fast  geniale  Spitzenleistung  einer 
bezaubernden,  tandelnden  Luxuskunst.  Mit  nachsichtiger  Hei- 
terkeit  belacht  das  Publikum  Schiebungen,  Schwindel  und 
Luftgeschafte  in  Kurt  Gerrons  „Meine  Frau  —  die  Hochstap- 
lerin'1;  die  Luft  ist  mit  borsianischen  Epigrammen  geschwan- 
gert,  Pleite  mit  Refraingesang,  Hochstapelei  als  charmante 
Handarbeit  fiir  schone  Frauenhande,  zehntausend  Paar  Wiirst- 
chen  und  die  eheliche  Treue  werden  in  derselben  Valuta  ge- 
handelt-  Hier  lockt  der  Geist  der  Zeit.  Wahrend  die  Gruppe 
junger  Schauspieler  ihre  AuHiihrungen  des  Sowjetstiicks 
,,Avantgarde"  von  Kataje^v  nach  acht  Tagen  abbrechen  muBf 
weil  dabei  die  Pachtsumme  fiir  das  Theater  nicht  zu  verdie- 
nen  ist, 

Sehr  seltsam  wirken  die  frisch  eingefuhrten  Filme  und 
Theaterstiicke  der  Sowjet-Union  in  einer  Stadt,  in  der  der 
Ernst  des  Lebens  von  den  Biihnen  abgetreten  ist  und  nur  noch 
in  Kassenabrechnungen  und  Gagenverhandlungen  seine  tristen 
Rollen  spielt.  Den  Luxus,  Not  auf  dem  Theater  zu  sehen,  will 
man  sich  hierzuland'e  nicht  mehr  gestatten.  Und  so  bringen  die 
russischen  Stiicke,  die  von  den  Kampfen  der  Wirklichkeit  be- 
richten,  einen  MiBklang  in  den  Frohsinn  unsrer  tragen  Konkurs- 
massen. 

Dsiga  Wertoff  arbeitet  in  seinem  Tonfilm  MEnthusias- 
mus"  nach  denselben  Prinzipien  fort,  die  wir  aus  seinen  stum- 
men  Filmen  kennen,  Wieder  verzichtet  er  auf  gestellte  Auf- 
nahmen  und  damit  auf  Spielhandlung.  Mit  Montage  allein  soli 
die  Gestaltung  bestritten  werden,  und  durch  diese  ziemlich 
kunstliche,  theoretisch  ausgedachte  Beschrankung  entsteht  eine 
Oberlastung  des  Schnitts,  ein  nur  locker  zusammengehaltenes 
Bildgeflimmertkdas  die  Nerven  der  Zuschauer  stark  beansprucht* 
Nicht  ohne  Gegengabe  beansprucht,  denn  dieser  anstrengende 
Hymnus  auf  die  Arbeitsfreude  vermittelt  uns  mit  urigewohn- 
licher  Kraft  das  Lebensgefiihl  des  Sowjetmenschen,  Zum  ersten 
Mai  empfindet  man,  daB  das  deutliche  Manko  einer  solchen 
Filmvorfiihrung  nicht  auf  der  Leinwand,  sohdern  im  Zuschauer- 
raum  zu  suchen  ist,  in  diesem  Parkett  fremder,  bestenfalls 
sympathisierend'er   Menschen,   die   gekommen  sind,   ein   Kunst- 

486 


werk  zu  sehen.  So  wie  die  Monotonie  eines  Arbeitsliedcs  fiir 
die  Arbeitenden  selbst  sinnvoll  und  hilfreich,  fiir  den  zuhoren- 
den  Musikfreund  aber  auf  die  Dauer  qualend  und  langweilig 
ist,  so  braucht  die  besessene,  gleichformige  Raserei  eines  sol- 
chen  Films  die  Resonanz  von  Zuschauern,  die  ihre  eigne  Ta- 
gesarbeit,  ihre  realsten  Plane  und  Sehnsiichte  hier  zu  einer 
Symphonie  gestaitet  finden.  Wertoff  sagte  mir  neulich  im  Ge- 
sprach,'  daB  ihm  als  Ideal  eine  Art  plastischer  Film  vorschwebe« 
der  nicht  mehr  in  der  flachen  Projektionswand  lokalisiert  sei, 
sondern  dessen  Figuren  ins  Publikum  hineinzulaufen  schienen 
oder  leibhaftig  hineinliefen,  Ein  solcher  Film  wiirde  uns.  noch 
schlechter  vorbereitet  finden,  denn  dieser  Enthusiasmus  hat 
als  Voraussetzung  den  tatigen  Enthusiasmus  der  Zuschauer! 

Wertoff  besingt  den  Gedanken  der  Aufbauarbeit,  aber  er 
versagt  es  sich,  ihn  in  eine  Geschichte  zu  kleiden,  und  so  ist 
er  unvermeidlich  auf  eine  begrenzte  Zahl  von  Bildsymbolen  an- 
gewiesen,  die  allzu  schnell  erstarren:  die  stillstehende,  die,  lau- 
fende,  die  rasende  Maschine;  die  marschierenden,  die  ham- 
mernden,  die  singenden  Arbeiterbrigaden.  Dralle  Madchen- 
gesichter  im  Kopftuch  lacheln  dem  Gelingen  des  Fiinfjahres- 
plans  entgegen,  und  byzantinische  Zwiebeltiirme  versinnbild- 
lichen  den  christlichen  Zarismus.  Photographisch  sind  diese 
Bilder  immer  wieder  neu,  selten  hat  man  so  schone  Aufnah- 
men  aus  Bergwerken  und  Walzwerken  gesehen,  aber  Sinn 
und  Gehalt  sind,  trotz  .aller  FKissigkeit  der  Kamerakunst,  schon 
jetzt  erstarrt. 

Sehr  eindrucksvoll  ist  jedoch  der  anschauliche  Beweis, 
Vie  sich  in  der  Bewertung  der  Arbeit  das  Vorzeichen  andert, 
sobald  nicht  mehr  in  die  Tasche  der  Unternehmer  sondern  fiir 
den  kommunistischen  Staat  gearbeitet  wird.  Dieselben  Bilder, 
mit  denen  man  friiher  das  Elend  der  Ausgesaugten  malte,  be- 
zeichnen  nun  den  begeisterten  Kampf  um  die  Erde.  Die  Mo- 
notonie des  Arbeitsrhythmus  ist  nicht  mehr  entnervender 
Stumpfsinn  sondern  Kraft;  plotzlich  entdeckt  man,  wie  ahnlich 
sie  dem  Marschtakt  der  revol-utionaren  Kaihpflieder  ist,  und 
so  tauscht  Wertoff  die  Motive  aus,  begleitet  die  schreitenden 
Kolonnen  durch  das  Stampf en  der  Maschinen  und  verkoppelt 
mit  dem  optischen  Schwungtanz  der  Raderund  Kolben  den  Ge- 
sang  der  Revolutionare.  Bei  Fritz  Lang  (MMetropolis")  ver- 
wandelte  sich  die  Maschine  in  einen  Moloch  mit  gliihendem 
Rachen,  bei  den  Russen  wird  sie  Kamerad  und  Turngerat/ Und 
wahrend  Fritz  Lang  („Nibelungen")  das  stimmungsvolle  Spiel 
der  einf allenden  Sonnenstrahlen  im  Fabelwald  der  Siegfried- 
sage  zeigte,  streichen  bei  Wertoff  diese  selben  Sonnenstrahlen 
zartlich  durch  die  Fabrikraume,  machen  den  Arbeitsplatz  feier- 
lich  -und'  schon  wie  eine  Kirche.  Der  SchweiB  in  den  Gesich- 
tern  der  Fabrikarbeiter  leuchtet  plotzlich  als  Glanz,  und  die 
weiBgliihenden  Eisenstangen  schmiicken  das  Walzwerk  wie 
Lichtgirlanden   einen  FestsaaL 

Die  Russen  suchen  nach  einer  dem  Kollektivismus  ad- 
Squaten  Kunstform,  und  in  diesem  Bemiihen  beladen  sie  ihre 
Werke  mit  einem  etwas  groflsprecherischen  Wust  theoretischer 
Formulierungen.     Sie  sind  Amateurbastler  der  Philosophic  und 

487 


fur  ihrcn  naiven  Stolz,  ihrc  prahlerische  Umstandlichkeit  wiiBte 
ich  kein  besseres  Bild  als  die  hochst  russischc  Episode  jenes 
schrulligen  Erfinders  in  ,,Avantgarde'\  der,  um  eine  simple 
Klingelleitung  zu  legen,  eine  Konstruktion  rait  Sprungfedern 
und  Gewichten  ersinnt,  Sehen  wir  nicht  auf  die  Programme, 
sondern  auf  die  praktischen  JLosungen,  so  zeigt  sich,  daB  sich 
der  Kollektivismus  bisher  der  Darstellung  entzieht.  Wertoff 
verzichtet  sehr  radikal  auf  alles  Individuelle,  auch  auf  das 
menschliche  Individuum.  Immer  neue  Schauplatze  und  Figu- 
ren  huschen  in  Momentaufnahmen  voriiber,  aber  was  sich  aus 
diesen  Splittern,  und  seien  sie  noch  so  leuchtend,  zusammen- 
setzen  lafit,  bleibt  ein  in  seiner  Abstraktheit  ziemlich  unab- 
wandelbares  Gebilde. 

Im  Gegensatz  dazu  versuchen  Valentin  Katajew,  in  dem 
Theaterstiick  „Avantgarde'\  und  Nikolai  Ekk,  in  dem  Film 
„Der  Weg  ins  Leben",  den  neuen  Inhalt  in  den  alt  en  drama- 
tischen  For  men  darzustellen.  In  Spielhandlungen  wollen  sie 
die  Schicksale  von  Gruppen  schildern:  eine  landwirtschaftliche 
Kommune,  eine  Horde  verwahrloster  Jungen,  Aber  die  Hand- 
lung  kann  nicht  anders  beginnen,  als  indem  Sprecher,  Fiihrer 
sich  aus  der  Gruppe  losen.  Und  deren  Drama,  nicht  das  der 
Gruppe,  wird  nun  verhandelt.  Grade  weil  die  Masse,  wah- 
rend  die  Solisten  ihr  Spiel  auffuhren,  als  rhabarbernder  Chor 
den  Hintergrund  fiillt,  grade  deshalb  wirken  diese  Solisten 
nicht  als  herausgegriffene  Einzelmenschen  sondern  als  Konige 
klassischer  Schlachtendramen,  Man  schenke  sich  diese  Staf- 
fage.  Man  glaube  nicht,  da8  im  Drama  Individuelles  schon 
notwendig  Individualistisches  sei.  Der  Konflikt  des  Einzelnen 
mit  der  Gesellschaft,  dieser  natiirliche  Stoff  des  Sowjetdramas, 
laBt  sich  in  einem  Kammerspiel  mit  zwei  Personen  behandeln. 

Katajew  macht  uns  mit  den  Freuden  und  den  Schmerzen 
seiner  Helden  nicht  sehr  eindringlich  vertraut  —  aber  es  fragt 
sich,  ob  er  das  unterlaBt,  weil  er  ein  guter  Bolschewist  oder 
weil  er  ein  maBiger  Dichter  ist,  Der  Grundsatz,  daB  der  echte 
Mann  nicht  redet  sondern  handelt,  hat  fur  das  Drama  keine 
Gultigkeit.  Bei  Schiller  spricht  Tell  minutenlang,  ehe  er  den 
Pfeil  auf  GeBler  abschieBt.  Bei  Katajew  schlagt  ein  MiBver- 
gniigter  dem  Anfiihrer  wortlos  einen  Ziegelstein  auf  den  Kopf. 
Bezeichnend  auch,  wie  ungliicklich  die  Frauenrolle  in  das 
Stuck  eingerenkt  ist.  Dabei  zeigen  einige  wirksam  ans- 
gedachte  Einzelszenen,  daB  Katajew  Theaterblut  hat,  Moge  er 
es  sich  nicht  durch  die  Doktrinen  der  roten  Professoren  ver- 
wassern  lassen. 

In  MAvantgardeM  wie  im  „Weg  zum  LebenM  findet  sich 
das  identische  Motiv:  der  Fiihrer  fallt,  aber  seine  Aktion 
triumphiert.  Auf  diese  Weise  soil  offensichtlich  gezeigt  wer- 
den,  wie  das  Leben  des  Einzelnen  sich  im  Leben  der  Gemein- 
schaft  auf  lost,  aber  wiederum  ubersehen  die  Verfasser,  daB 
ja  hier  nicht  irgend  ein  Stuck  Masse  stirbt  sondern  die  Fiihrer- 
figur,  ein  Ausnahmemensch,  ftir  den  man  mit  dramatischen  Mit- 
teln  Anteil  geweckt  hat,  Bei  Ekk  gibt  der  Tod  des  kleinen 
Tatarenjungen  Mustafa  zugleich  einen  befriedigenden  AbschluB 
dieses  Einzelschicksals,  denn  eine  dramatische  Wandlung  vom 
verbrecherischen  Zerstorer  zum  Aufbaufanatiker  hat  sich  voll- 

488 


zogen.  Katajews  ltGenos£e  Vorsteher"  hingegen  ist  ein  Mann, 
der  infolge  bedauerlicher  Verzogerung  einer  Traktorenlieferung 
einen  Stein  an  den  Kopf  bekommt  —  eine  Lokalnotiz,  kein 
Biihnenstoff. 

Ekks  „Weg  zum  Leben"  fiihrt  die  Linie  der  groBen  Rus- 
senfilme  weiter.  Im  erst  en  Teil  zwar  stort  eine  seltsame  Un- 
freiheit  der  Einstellungstechnik.  Man  sieht  portrathafte  GroB- 
aufnahmen,  die  einen  Katalog  der  Darst ell er  aber  k einen  Bild- 
ablauf  ergeben,  Der  Kopf  einer  Tot  en  wird  wie  ein  Obst- 
stilleben  dekorativ  dargeboten.  Und  den  ganzen  Film  hin- 
durch  stehen  Zwischentitel  als  storende  Eselsbriicken  zwischen 
Bild  und  Bild.  Aber  wie  kraftvoli  und  eigenartig  sind  alle 
diese  Bilder.  Mit  welcher  Unbefangenheit  ist  die  Schonheit 
im  HaBlichen  gesehen.  Undwenn  fur  den  still  beobachtenden 
Westeuropaer  diese  allzu  tugendliche  Erzahlung  yon  der  Zivili- 
sierung  der  verwahrlosten  Kinder  ein  wenig  an  die  erbaulichen 
Bekehrungsgeschichten  des  .Kriegsrufs1  erinnern  mag,  so  ver- 
gesse  man  nicht,  welcher  schone  Unterschied  besteht  zwischen 
den  verlogenen,  gerissenen,  narkotisierenden  happy  ends  unsrer 
Liebesgeschichten  und  der  kindlichen  Glaubigkeit,  dem  Will  en 
zum  Guten,  in  den  Bilderfibeln  der  Russen. 


Hunger  ist  heilbar 

Eine  dentscbe  Allegorie  von  Erich  KSstner 

P  s  kam  ein  Mann  ins  Krankenhaus 

*-*  und  erklarte,  ihm  sei  nicht  wohl. 

Da  schnitten  sie  ihm  den  Blinddarm  heraus 

und  wuschen  den  Mann  mit  Karbol. 

Befragt,  ob  ihm  besser  sei,  rief  er;  „Nein," 

Sie  machten  ihm  aber  Mut 

und  amputierten  sein  linkes  Bein 

und  sagten:  ,,Nun  gehts  Ihnen  gut." 

Der  arme  Mann  hingegen  litt 
und  fullte  das  Haus  mit  Geschrei. 
Da  machten  sie  ihm  den  Kaiserschnitt, 
um  nachzusehen,  was  denn  sei. 

Sie  waren  Meister  in   ihrem  Fach 

und  schnitten  ein  ernstes  Gesicht. 

Er  schwieg.    Er  war  zum  Schreien  zu  schwach, 

Doch  sterben  tat  er  noch  nicht. 

Sein  Blut  wurde  freilich  langsam  knapp. 
Auch  litt  er  an  Atemnot. 
Sie  sagten  ihm  noch  drei  Rippen  ab. 
Dann  war  er  endlich  tot. 

Der  Chefarzt  sah  die  Leiche  an. 

Da  fragte  ein  Andrer,  ein  junger: 

uWas  fehlte  denn  dem  armen  Mann?" 

Der  Chefarzt  schluchzte  und  murmelte  dann: 

.ilch  glaube,  er  hatte  nur  Hunger." 

489 


Kabale  und  Liebe  von  Alfred  poigar 

C  chillers  Jugendstuck  Hbt  noch  heute  starkste  Wirkung, 
Das  ist  nicht  seinem  Inhalt  zu  dank  en,  sondern  der  Kraft, 
mit  der  dieser  geformt  ist,  nicht  den  Dingen,  die  im  Drama 
zur  Sprache  kommen,  sondern  der  VeJiemenz  dieser  Sprache. 
Die  Personen  des  unverganglichen  Spiels  sind  bis  zum  AuBer- 
sten,  was  sie  sind,  das  Gegensatzliche  ihrer  Art  so  gesteigert, 
daB  hier  schon  bloBes  Nebeneinander  Spannung  ist,  Funken 
gibt.  Was  fur  Blitze  dann  erst  das  Gegeneinander!  SiiBes, 
Bittres,  Hochtracht  oder  Niedertracht  fullen  das  Herz  Schille- 
rischer  Menschen  bis  an  den  Rand:  bei  der  leisesten  Erschtit- 
terung  geht  es  liber,  Und  der  Dichter,  Meister  im  dramatischen 
Schwergewicht,  stoBt  nicht  leise.  Von  solcher  Kunst  radikaler 
Gestaltung  und  Bewegung,  vom  grofien  Gefiihl,  das  im  groBen 
Wort  sich  spiegelt,  von  der  Verwurzelung  des  Werks  im  saf- 
tigsten  Erdreich  der  Buhne  riihrt  das  Bleibende  seiner  Wir- 
kung  her.  Kurz  also  davon,  daB  die  Dichtung  ein  herrliches 
Theaterstiick  ist.  Die  revolutionise  Flamme  in  ihm?  Was 
diese  nahrte,  ist  langst  aufgezehrt. 

Wie  dem  auch  sei:  ,, Kabale  und  Liebe'*  ist  von  keiner 
Neuinszenierung  umzubringen.  Es  widersteht  jetzt,  bei  Rein- 
hardt,  brillant  besetzt  {man  konnte  auch  sagen:  mit  Brillan- 
ten  besetzt),  dem  stilloscn  Zusammenwirken  schauspielerischer 
Prominenzen  und  einer  Regie,  die  manchen  Darsteller  so 
lockert,  daB  er  aus  demLeim  geht.  Man  spielt  durcheinander 
pathetisch,  natiirlich,  klassisch,  modern,  einfach,  iiberlebens- 
groB,  auf  verschiedenen  Ebenen  gewissermaBen,  Dramatur- 
gisches:  die  Szene  Ferdinand-Kaib  ist  gestrichen.  Dadurch 
wird,  abgesehen  von  der  Zerstorung  an  den  MaBen  des  Dra- 
mas, die  Figur  des  Hofmarschalls  durchaus  episodisch,  und 
Ferdinands  Sturz  in  die  Limonade  qualend-plotzlich.  Den 
Brief  gelesen  *  .  .  und  schon?  Das  Gold,  das  Ferdinand, 
letzter  Akt,  dem  Musikus  gibt  und  dessen  Freudenrausch 
dariiber  (ein  genialischer  Einfall  Schillers,  in  die  Gloriole  des 
Biedermannes  solchen  Farbf ieck  zu  setzen) :  gestrichen.  Es 
ist  etwa  so,  als  ob  man  dem  Prinzen  von'Homburg  die  To- 
desfurcht   striche. 

Die  Regieeinfalle  sind  als  Regieeinfalie  deutlichst  erkenn- 
bar.  Sie  zieren  das  Spiel  wie  kunstlich  aufgesetztes  Orna- 
ment. So  etwa,  wenn  der  alte  Miller  wiederholt  die  Diago- 
nale  des  Zimmers  entlang  tobt  (das  furiose  Wandern  ist  die- 
ses Millers  Lust),  die  Millerin  beharrlich  parallel  ihm  nach, 
wenn  Wurm  beim  Briefdiktat  die  Stirne  trocknet,  dreimal* 
(soil  heiBen:  auch  der  Bosewicht  transpiriert  bei  so  hohem 
Grad  der  Bosheit),  wenn  er  die  Stuhllehne  streichelt,  wenn 
Ferdinand  das  Zimmer  durchmiBt,  in  gehauest  abgestufter  Ge- 
schwindigkeit,  sempre  piu  allegro,  und  so  weiter.  Oft  wird  dem 
Zuschauer,  als  ob  den  vortref f lichen  Schauspielern,  die  hier 
am  Werk  waren,  weniger  Hilfe  mehr  geholfen  hatte,  Klopfer 
als  Vater  Miller  zum  Beispiel,  in  der  Anlage  groBartig,  nach 
auBerem  und  innerem  Format  fiir  die  Rolie  geschaffen,  wie 
wachst  er   in  Reinhardis  Zucht   zum   kochenden,    schaumenden 

490 


Choleriker  aus,  d  ess  en  Gliederwurf  die  ganze  Biihnc  fiillt. 
Oder  Frau  Hoflich,  Millerin,  die  in  grotesk  iiberhohter  Ton- 
lage  die  Worte  versprudeln  muB,  unverstandlich  wird,  hiex- 
durch  so  sehr  neben  das  Spiel  gerat,  dafi  man  iiberhaupt 
kaum  bemerkt,  sie  sei  da.  Und  ofogleich  Klopfer  sich  in  eine 
richtige  Priigelei  mit  den  Gerichtsdienern  einlafit,  obgleich 
einen  von  diesen  Ferdinands  Degen  der  Lange  nach  auf  die 
Bretter  streckt,  welche  die  Welt  bedeuten:  die  SchluB-Szene 
des  zweiten  Aktes  (,,halten  zu  Gnaden")  geriet  wohl  selten  so 
zerfahren,  ungegliedert,  ungesteigert,  wie  in  dieser  vielgeruhm- 
te,n  Neuinszenierung. 

Die  originellste  Leistung  des  Abends:  Herrn  Grundgens' 
Hofmarschall.  Nicht  der  meckernde,  zittrige  Hanswurst,  als 
der  er  meist  gespielt  wird,  sondern  ein  auBerst  vifer  Hofling, 
der  mit  strahlendem  Temperament  albern  ist.  Umso  bedauer- 
licher,  daB  seine  Szene  mit  Ferdinand  fiel.  Dieser  ist  Paul 
Hartmann,  nach  wie  vor  den  Adel  von  Schillers  Gnaden  wie 
angebornen  tragend,  als  konservierter  Jungling  dem  Aug  und 
Ohr  noch  so  wohlschmeckend,  wie  seinerzeit  als  frischer.  An 
diesem  Mann  von  starker  schauspielerischer  ^Constitution  ist 
das  Burgtheater,  das  ihn  hat,  spurlos  vorxibergegangen.  Prii- 
sident  Forster  hochst  seigneural,  Wort  und  Geste  kantig  ge- 
schliffen.  Schurkerei  und  Wiirde  sind  bei  ihm  zweieinig,  nicht 
zu  trennen,  Er  atntiert  in  einem  herrlichen  Prasidial-Salon 
mit  Ausblick  auf  mehrere  Iautlose  Diener.  Lady  Milford;  ist 
Frau  Darvas,  Fiinf  Jahre  spielte  sie,  immerzu,  in  Mondani- 
tat  und  Schonheit  eingefrorne  Damen.  Jetzt  endlich  darf 
sie  einmal  auftauen,  die  natiirliche,  warme  Farbe  ihres  Ta- 
lents bekennen,  sich  als  die  Schauspielerin  von  hohen  Graden 
zeigen,  die  sie  ist.  Ein  paar  gequalte  Posen  der  Lady  konn- 
ten  professoraler  Herkunft  sein.  Die  Begabung  der  jungen 
Ursula  Hoflich  (Luise)  kam  zum  Vorschein  wie  Teilcfien  eines 
Bildes  auf  halb  entwickelter  photographischer  Platte.  Der 
Zuschauer  war  geriihrt,  wobei  er  nicht  sicher  unterscheiden 
konnte,  ob  mehr  iiber  das  dargestellte  oder  mehr  iiber  da«  dar- 
stellende  Madchen. 


Zlir  Gojdkrise  von  Edmond  de  Goncourt 

4.  Oktober  1890 
D  in  Entwurf  fur  >eine  phantastische  Erzahlung  a  la  Poe.  Man 
hat  ausgerechnet,  daB  seit  der  Verwendung  von  Gold- 
plomben  fiir  die  Zahne,  die  in  den  Vereinigten  Staaten  gang  und 
gabe  ist,  fur  750  Millionen  Gold  in  den  Kirchhofen  steckt.  Neh- 
men  wir  einmal  an,  daB  nach  vielen  Jahren,  wenn  die  Millionen 
sich  in  Milliarden  werden  verwandelt  haben,  eine  finanzielle 
Krise  eintritt;  welche  pietatlose  Nachforschung  nach  diesem 
Golde  kann  da  die  Ruhe  der  Toten  storen. 

Aus  den  Tagebuchern  der  Goncourts  von  Meinhart  Maur 
ausgegraben 

491 


Bemerkungen 

Wer  kampft  fur  uns? 

\Y/ir  wissen  es  ja  nun  allmah- 
"  lich,  daB  kcin  Geld  da  ist, 
urn  Waren  zu  kaufen,  und  daB 
deswegen  weniger  produziert 
wird.  Und  well  weniger  produ- 
zicrt wird,  miissen  Arbeiter  ent- 
lassen,  Beamte  abgebaut,  Lohne 
und  Gehalter  reduziert,  Arbeits- 
zeiten   verkiirzt  werden. 

Gut,  oder  vielmehr  schlecht: 
Arbeiter  und  Angestellte  werden 
entlassen,  bekommen  Erwerbs- 
losenunterstiitzung,  werden  Wohl- 
fahrtserwerbslose,  erhalten  Kri- 
sengelder,  Viel  ist  es  nicht,  aber 
man  gibt  es  ihnen  doch  wenig- 
stens  eine  Zeit  lang.  Wenn  Ta- 
rifvertrage  gekundigt,  Stunden- 
lohne  heruntetrgesetzt  werden, 
dann  tun  -sich  die  Arbeitgeber 
mit  den  Vertretern  der  Arbeit- 
nehmer  zusammen  und  beraten; 
Handelskammern,  Ministerien, 

Arbeitsgerichte,  Gewerkschaften, 
Schlichter  —  ein  ganzes  Heer 
staatlicher  und  privater  Instan- 
zen  wird  bermiht,  um  eine  Ent- 
lassung  zu  verhindern,  ein  An- 
gebot  durchzudriicken,  einen 
Stieik  zu  vermeiden.  Eingeweihte 
behaupten  zwar,  das  alles  sei 
eine  Farce,  in  Wirklichkeit  „dik- 
tiere  das  Kapital"  oder  Mder  Un- 
ternehmer",  Ich  bin  kein  Na- 
tionalokonom,  ich  kann  daruber 
nicht  urteilen.  Das  aber  sehe 
ich :  daB  wenigstens  noch  der 
Schein  gewahrt  und  dadurchhier 
und  da  Zeit  gewonnen  und  doch 
dies  oder  jenes  Faktisch-Prak- 
tische   erreicht  wird. 

Und  nun  ist  wieder  einmal  der 
Augenblick  da,  in  dem  gesagt 
werden  muB,  daB  der  sogenannte 
freie  Geistesarbeiter  keines  der 
Rechte  besitzt,  die  fur  den  Hand- 
arbeiter  selbstverstandlich  sind, 
mogen  sie  nun  Schein  oderWirkr 
lichkeit  bedeuten.  Der  freie,  das 
heiBt  der  nichtbeamtete  und 
nichtangestellte.  Ich  nehme  Arzte 
undAnwalte  aus,  dieersten,  weil 
sie  doch  meist  irgend  einen  festen 
Punkt  —  Krankenhaus,  Kassen- 
praxis  —  haben,  und  beide  zu- 
sammen, weil  ihre  Standes- 
vertretungen    immerhin    eine    ge- 

492 


wisse  offiziose  Macht  darstel- 
len.  Ich  begniige  mich  da- 
mit,  meam  rem  zu  agieren,  die  . 
des  Schriftstellers,  dessen  Frei- 
heit  zur  starksten  aller  wirt- 
schaftlichen  Knebelungen  gefiihrt 
hat.  (Die  Lage  der  Maler  und 
Illustrator  en  diirfte  entsprechend 
sein.) 

Wenn  heute  der  freie  Schrift- 
steller  einen  flammenden  Artikel 
tiber  das  Elend  des  Proletariats 
und  die  Ungerechtigkeit  der  Ta- 
.  rifvertrage  geschrieben  hat  und 
drei  Tage  nach  Erscheinen  sein 
Honorar  abholt,  so  wird  er 
plotzlich  mit  Erstaunen  bemer- 
ken,  daB  dies  sein  Honorar  um 
20  Prozent  gekurzt  ist,  und  wenn 
er  noch  so  naiv  ist,  nach  Grun- 
den  zu  fragen,  so  wird  er  die 
stereotype  Antwort  erhalten:  der 
Verlag  hat  so  verfugt.  Wohl  ihm, 
wenn  die  Kurzung  nur  20  Pro- 
zent betragt  und  wenn  es  bei 
diesen  20  Prozent  bleibt;  es  gibt 
hauptstadtische  erste  Zeitungen, 
bei  denen  sie  bereits  bis  zu 
50  Prozent  gestiegen  ist.  Der 
Schriftsteller  macht  noch  ancfre 
Erfahrungen:  er  hat  ein  Feuille- 
ton  geschrieben,  es  ist  angenom- 
men  worden,  es  ist  nicht  erschie- 
nen.  Nach  drei  Monaten  erfahrt 
er,  daB  „der  Verlag  alle  Extra- 
zuschlage  gestrichen"  habe,  und 
daB  er  froh  sein  muB,  seine  Ar- 
beit uberhaupt  abgenommen  zu 
kriegen,  zum  neuen,  reduzierten 
Zeilenpreis.  Sehr  froh;  denn  es 
gibt  fiihrende  deutsche  Zeitungs- 
verleger,  die  tiber  ihre  Blatter 
Manuskriptsperre  verhangen;  von 
heute  an  ad  calendas  graecas  wer- 
den nur  die  vorhandenen  Vor- 
rate  aufgearbeitet.  An  und  ftir 
sich  konnte  das  ein  Segen  sein; 
aber  es  geschieht  nicht  um  der 
wartenden  Mitarbeiter  willen, 
sondern  ftir  die  Kasse,  und  der 
Zusatz  lautet:  was  fehlt,  witrd 
„im  Hause  gemacht". 

Im  Hause  gemacht.  Das  be- 
deutet,  daB  der  geplagte  Redak- 
teur,  der  wirtschaftlich  iiber- 
haupt  nichts  mehr  mitzureden 
hat  und  nicht  einmal  mehr  Ho- 
norare    anweisen    darf,    sich    hin- 


setzt  und  sich  die  Artikcl  aller 
Ressorts  aus  dem  Hirn  zieht. 
Meist  stcht  in  seinem  Vertrag 
eine  Verpflichtung  auf  so  und  so 
viele  Beitrage  im  Monat  und  eine 
Garantie  auf  so  und  so  viele 
Extrazeilen,  die  niedriger  hono- 
riert  werden  als  die  Beitrage  der 
freien  Mitarbeiter,  vor  denen  der 
Redakteur  j  a  den  grofien  Vor- 
teil  des  f esten  Monatsgehaltes 
voraushat,  Jetzt  wird  peinlich 
darauf  geachtet,  dafi  seine  Extra - 
zeilenzahl  auch  eingehalten  wird, 
und  es  werden  Drehs  gefunden, 
die  Spalien  mit  Beitragen  zu  fiil- 
len,  die  man  noch  vom  Redak- 
teur heraus-  und  in  seinen  Ver- 
trag  hineinpressen  kann.  Gleich- 
zeitig  reduziert  man  das  Zeilen- 
honorar  der  freien  Mitarbeiter 
parallel  mit  der  ganzen  Moglich- 
keit  ihrer  Mitarbeiterschaft;  es 
ist  bezeichnend,  dafi  man  bei 
ihnen  mit  der  Reduktion  ange- 
fangen  hat  —  vermutlich  zum 
freundlichen  Ausgleich  dafur, 
dafi  sie  ohnehin  kein  Monats- 
fixum  haben,  keine  Sicherheit, 
A  propos  Honorarkiirzung:  auch 
der  Rundfunk  stofit  da  ins  gleiche 
mifitdnende  Mikrophon,  ohne  dafi 
auch  das  scharfste  '  Okular  in 
diesem  Fall  irgend  einen  Grund 
dafur  zu  finden  vermochte. 

Um  diese  Dinge  aber  kummert 
sich  niemahd.  will  sich  niemand 
ktimmern.  Es  gibt  den  Schutz- 
verband  Deutscher  Schriftsteller 
und  den  Reichsverband  derDeut- 
schen  Presse,  zwei  Institutionen, 
die  sich  als  Gewerkschaften  be- 
trachten,    als    Arbeitnehmerorga- 


nisationen.  Wenn  also  beispiels- 
weise  Verlag  X  das  Zeilenhono- 
rar  fiir  freie  Mitarbeiter  von 
dreifiig  auf  zwanzig  Pfennige 
heruntersetzt,  mufi  er  doch  wohl 
vorher  mit  den  genannten  Organi- 
sationen  Fuhlung  nehmen?  Es  ist 
das  Naturlichste  von  -  der  Welt, 
aber  hat  das  schon  mal  einer  ge- 
hort  ?  Das  grenzenlose  Staunen, 
dem  ein  solcher  Vorschlag  begeg- 
net,  ist  das  beste  Zeichen  fiir  die 
Verfahrenheit  der  ganzen  Si- 
tuation. 

Weitere  Frage:  wieso  gibt  es 
keine  Arbeitslosenunterstiitzung 
fiir  Schriftsteller?  Eine  illustrierte 
Zeitung  berichtete  dieser  Tage 
von  einem  Rollkutscher,  der  ein- 
mal  in  einem  Film  als  Edelkom- 
parse  fiir  eine  spezielle  Type  ge- 
braucht  wurde  und  seitdem  als 
stellungsloser  Schauspieler  Un- 
terstiitzung  bezieht.  Aber  ein 
Schriftsteller,  der  seit  Jahren 
vom  Schreiben  lebt  und  jetzt  nur 
noch  ein  Viertel  seiner  Produk- 
tion  absetzen  kann,  da  seine  Blat- 
ter eingegangen  sind  oder  alles 
„im  Hause  machen"  —  dieser  Ge- 
legenheitsarbeiter  hat  kein  An- 
recht  auf  Untersttitzung*  Zuge- 
geben,  dafi  unsre  Arbeit  schwer 
zu  definieren  und  zu  kartell ie- 
ren  ist;  aber  die  vorstehend  an- 
gedeuteten  Selbstverstandlich- 

keiten  miifiten  sich  durchfuhren 
lassen,  um  mindestens  doch  den 
Anschein  des  Rechtes  zu  wah- 
ren.  Recht  hangt  eng  zusammen 
mit  Berechtigung,  und  freilich 
bleibt  immer  wieder  die  Frage, 
ob  der  Luxus  der  Kunst  noch  da- 


herrscht  Einstimmigkeit:  iiber  eine  Abdulla-Cigarette  geh*  nichts! 


— ......     o/M.  u.  Gold      ......  StOdt      $  Mg. 

CoroMf m.  Gold  u.  Stroh/M StDdc     4  Mg. 

Nrg/ila  Mr.  7      .    ...    o/M.  ...   ' Stadc     •  Wg. 

Egyptian  «r.  f*  .    .    ,     .     «/M.  tt.  Gold       .    .         ...  Stadc  f«  Wg. 

Abdulla  -  Cigoreffen    geniefyen  Weffruf  t 

Abdulta  4  Co.  Kafre       /       London  /       Berlin 

493 


seinsberechtigt  sei,  Aber  solange 
stellungslose  Schauspieler  und 
Musiker  unterstutzt  werden,  so- 
lange man  aus  unsern  Einfallen 
mit  oder  ohne  Umgehung  des 
Rechtsweges  Filme  und  Horspiele 
macht  und  damit  Geld  verdient, 
solange  also  noch  irgend  ein 
Kiinstler,  irgend  einc  Art  Geistes- 
arbeiter  als  dem  Handarbeiter 
gleichberechtigt  anerkannt  wird 
-1-  so  lange  gilt  diese  Gleich- 
berechtigung  auch  fur  uns,  und 
so  lange  fordern  wir  das  Recht, 
das   sich   daraus   ergibt. 

Hans    Glenk 

Kampf  mit  einem  Prominenten 

lUfan  mochte  nicht  glauben,  wie 
"*     schwer   das  ist. 

Die  nichttschechischc  Offent- 
lichkeit  erfuhr  zum  ersten  Mai 
durch  mich  von  der  grandiosen 
Figur  Hascheks  und  seines 
Schwej  k,  Mein  Artikel  erschien 
in  einigen  Zeitungen,  dann  1923 
in  me  in  em  Essay  buch  „Steraen- 
himmel",  (Rasch  mal  eine  Liste 
meiner  MEntdeckungenM  anlegen: 
Franz  Kafka,  Werfel,  Janacek, 
Torberg,  Weinbergers  „Schwanda, 
der  Dudelsackpfeifer"  und  jetzt 
wieder  die  wundervoll  phantasie- 
reiche  Humoroper  Krickas  MSpuk 
im  SchloB'\)  Mit  Hans  Reimann 
zusammen  schrieb  ich  das  Stuck, 
Es  wurde  von  Piscator  entschei- 
dend  umgebaut,  j  edoch  unter 
meiner  Teilnahme;  in  Berlin  kam 
kein  Wort  auf  die  Szene,  das  ich 
nicht  mitgeformt  hatte,  Dariiber 
habe  ich  in  der  .Weltbuhne'  sei- 
nerzeit  ausftihrlich  berichtet  Ge- 
ruchte  dringen  zu  mir,  daB  Pal- 
lenberg  in  der  Provinz  das  Stuck 
ganz  anders  spielt,  Vollig  un- 
revolutionar,  albern,  eine  Anek- 
dotenreihe,  die  nichts  als  den 
Lacherfolg  will.  Eine  lange  Kor- 
respondenz  beginnt.  Pallenbergs 
Hauptinteresse;  er  wiinscht  meine 
halbe  Tantieme  zu  schlucken,  Ob- 
wohl  er  Abend  fur  Abend  1000 
Mark  und  mehr  erhalt,  mein  An- 
teil  sich  in  der  Grofienordnung 
von  20  bis  50  Mark  bewegt,  ver- 
langt  ihn  sehr  heftigt  zu  seinen 
1000  Mark  noch  10  bis  25  Mark 
allabendlich  von  mir  hinzuzuero- 
bern.      WeiB    man,    daB    die   mei- 

494 


sten  Stars  solche  und  ahnliche 
Anforderungen  an  die  Autoren 
stellen?  Es  sei  hiermit  der  Of- 
fentlichkeit  bekanntgegeben.  Als 
ich  diese  Zumutung  ablehnte,  be- 
gann  Pallenbergs  edler  Zbrn  ge- 
gen  mich. 

Da  wir  schon  von  Honoraren 
sprechen  — :  es  besteht  ein  wei- 
terer  MiBstand  darin,  daB  der 
Star  seine  Gage  jeden  Abend  aus 
der  Kasse  erhalt,  Meist  zwischen 
dem  ersten  und  zweiten  Akt,  in 
seiner  Garderobe,  sonst  spielt  er 
nicht  weiter.  Mit  dem  Autor 
dagegen  (und  in  meinem  Falle 
auch  mit  den  Erben  Hascheks, 
die  ich  an  meiner  Tantieme  bis 
zu  zwei  Dritteln  beteiligt  habe) 
wird  erst  nach  Wochen  und  Mo- 
naten  abgerechnet.  Und  dann -ist 
oft  infolge  Pleite  des  Unterneh- 
mers  langst  nichts  mehr  da.  So 
ging  es  mir  meist  mit  Pallen- 
berg, 

Doch  das  alles  kommt  gegen- 
(iber  den  nicht  materiellen  Scha- 
digungen  gar  nicht  in  Betracht 
Als  ich  ein  Biihnenexempiar  ver- 
langte,  nach  dem  Pallenberg 
spielt,  wurde  mir  prazise  die  Fas- 
suntf  Reimann-Brod  gesandt,  Nur 
drei  oder  vier  Satze  waren  ver- 
andert.  Da  verstummte  ich  na- 
turlich,  lieB  den  Dingen  ihren 
Lauf.  Und  erfuhr  spater,  daB 
Pallenberg  einen  ganz  andern 
Text,  seinen,  den  verbal  Ihornt  en 
Schwej'k  spricht  Mit  solchen 
Waffen  zu  kampfen,  ist  mir  nicht 
gegeben. 

Durch  ein  Wunder,  nein,  durch 
eine  Ungeschicklichkeit  der  Tau- 
schungsregie,  kam  Mitte  August 
1931,  kurz  vor  dem  prager  Gast- 
spiel,  ein  Exemplar  des  Pallen- 
berg-Textes  in  meine  Hand.  Jetzt 
verbot  ich  die  Auffuhrung,  Das 
Geheul,  das  nun  losbrach!  Wie 
man  mit  alien  Mitteln  mich  um- 
zustimmen  suchte,  unter  anderm 
durch  den  Hinweis  auf  die  sozia- 
Ien  Schaden,  die  ich  in  dieser 
schweren  Zeit  dem  wiener  En- 
semble zufiigte,  das  in  Prag  ga- 
stieren  sollte.  Und  dariiber  hin- 
aus  noch  einem  zweiten  En- 
semble, das  zu  derselben  Zeit 
das  verlassene  wiener  Theater 
beziehen    sollte.      Ich    gab     nach. 


Es  wurde  schriftlich  fixiert,  dafi 
in  Prag  nur  mein  Text  ge- 
sprochen  werden  sollte,  (Die  feh- 
lenden  Szenen  sollten  fiir  Wien 
nachstudiert  werden.)  Wurde 
man  nun  nicht  glauben,  daB  die- 
selben  sozialen  Riicksichten,  die 
mich  zum  Einlenken  bewogen, 
auch  fur  den  wackern  (inzwi- 
schen  allerdings  verstummten) 
Bekampfer  der  Amstelbank  Gel- 
tung  hatten?  Keine  Spur!  Pal- 
lenberg erklarte  sofort,  dafi  er 
sich  an  die  Vereinbarung  nicht 
halten,  daB  er  sprechen  werde, 
was  er  wolle.  Fiir  Berlin  revo- 
lutionare  Tendenz  —  fiir  die 
Provinz  harmloser  Militar- 
schwank  —  so  wollte  es  der  Pro- 
minente  und  geschah  es  auch.  In 
dem,  was  er  spielt,  ist  selbstver- 
standlich  immer  noch  zu  vier 
Fiinfteln  das  geistige  Eigentum 
von  Reimann  und  mir  enthalten. 
Trotzdem  behauptet  Pallenberg, 
es  sei  eigentlich  alles  von  ihm. 
Dies  trifft  aber  nur  fiir  das  funfte 
Fiinftel  zu,  das  die  Figur  leider 
vollig  verzeichnet  und  in  dem 
Scherze  vorkommen  wie  der,  dafi 
Schwejk  auf  die  Frage  „Was 
willst  du  in  Budweis?"  die  don- 
nerride  Ant  wort  gibt:  (,Die  Stadt 
vom  Tyrannen  befrein!"  Der 
tschechische  Infanterist  zitiert 
Schiller;  eine  runde  Gestalt.  Im- 
provisationen,  sagt  man  begiiti- 
gend,  Ich  wurde  jede  Improvi- 
sation, die  aus  genialisch  frohem 
Obermut  kommt,  begriifien.  Dum- 
men  Spafien,  die  sich  jeden  Abend 
wiederholen,  kann  ich  den  Eh- 
rentitel  „ImprovisationV  nicht  zu- 
erkennen. 

Zum  Zeichen  des  Protestes,  dafi 
sich    ein    Schauspieler    derartige 


Willkiirlichkeiten  an  der  unsterb- 
lichen  Gestalt  eines  der  grofiten 
Humoristen  aller  Zeiten  erlaubt, 
wies  ich  fiir  meine  Person  (Rei- 
mann ist  nicht  mehr  mit  mir  so- 
lidarisch)  die  Tantiemen  zuriick 
und  bestimmte  sie  fur  die  Arbeits- 
losen.  Die  Wut,  die  sich  nun 
iiber  mich  ergofi,  ist  unbeschreib- 
lich!  Pallenberg  „bestrafte"  mich 
mit  vierzehn  Tage  Prefihetze.  Und 
dies  der  eigentliche  Grund  die- 
ser  Zeilen:  es  soil  gesagt  wer- 
den, daB  bei  der  Liebedienerei, 
mit  der  immer  ncch  ein  Teil  der 
Presse  den  Prominenten  umwe- 
delt,  der  gerechteste  Kampf  des 
Autors  ein  arges  Risiko  bleibt. 
Dabei  sind  die  linksgerichteten 
Blatter  nicht  um  ein  Haar  bes- 
ser  als  die  Rechtspresse.  Zu  den 
komischsten  Beschuldigungen,  die 
Pallenberg  gegen  mich  in  Umlauf 
setzte,  gehort  auch  die,  dafi  der 
Mifierfolg  des  prager  Gastspiels 
mit  dem  Arger  zusammenhangt, 
den  ihm  meine  Proteste  ver- 
ursacht  hatten.  Aber  warum 
nicht  die  einfache  Wahrheit  ein- 
gestehen:  der  tschechischen  Of- 
fentlichkeit  gefiel  Pallenbergs 
Schwejk  nicht,  well  er  einen 
Clown  statt  eines  Menschen  mit 
den  tiefen  Weisheitsinstinkten  der 
friedfertigen    Volksseele    auf    die 


Szene  stellt. 


Max   Brod 


Courths-Mahfer  rot 

I  m  Internationalen  Arbeiter-Verla^ 
*  erscheint  eine  Reihe  „Der  Rote 
1  Mark-Roman";  zwei  davon: 
Willi  Bredels  „RosenhofstraBe" 
und  Franz  Kreys  „Mana  und  der 
Paragraph"  demonstrieren  wohl 
am  krassesten,  was  es  mit  dieser 


DER  SCHWARZE  NAPOLEON 

Toussaint  Louverture  und  der  Neger auf  stand  auf  San  Domingo 

Von  Karl  Otten. 
Broschiert  RM  4-50,  in  Leinen  peb.  RM  6.50.    ATLANTIS  VERLAG,  Berlin. 

,Man  kann  dieses  Buch  lesen  wie  einen  der  glanzvo listen,  hinreifiendsten, 
Uaterhaltungsromane,  aber  es  hat  daruber  hinaus  eine  hddist  ernsthafte, 
sehr  aktuelle  Wichtigkeit.  Denn  die  Befreiung  der  scfawarzen  Rasse  von 
der  Vormundschaft  Europas,  dieser  grofie  Traum  des  ,sdiwarzen  Napoleons*, 
ist  vielleidit  schon  bald  ein  brennendes  Problem  unserer  Zeit." 

Franz  Sdioenberner. 
495 


Art  ,,proletarischer  Literatur" 
auf  sich  hat.  Die  Verfas- 
ser  sind  Arbeiter,  so  sagt  es  we- 
nigstens  in  beiden  Fallen,  dasVor- 
wort;  von  Franz  Krey  erzahlt 
man  sich  all er dings,  daB  er  j  e- 
ner  Sorte  von  Intel  lektuellen  an- 
gehore,  die  ihre  Herkunft  gern 
verleugnen,  urn  moglichst  Mprole- 
tarisch"  zu  erscheinen,  als  sei 
Proletariertum  mit  geistiger  Pri- 
mitivitat  gleichzusetzen.  So  fa- 
tal dieser  Anschmeifier  -  Typ 
auch  ist,  die  These  von  Kreys 
Herkunft  Ware  uninteressant, 
sprache  nicht  der  ganze  soge- 
nannte  Roman  fur  sie.  Krey 
scheint  wirklich  der  Ansicht  zu 
sein,  man  musse  sich  auf  das  Ni- 
veau sentimentaler  Schmocker 
herablassen,  urn  vom  Arbeiter  ver- 
standen  zu  werden,  von  dem 
gleichen  Arbeiter,  der  seinen  ge- 
wiB  nicht  leichten  Karl  Marx 
sehr  gut  versteht.  Dabei  findet 
sich  hier  und  da  ein  Gedanke, 
eine  Formulierung,  die  verra- 
tenf  dafi  der  Autor  mehr 
kann,        als       er       gibt.  Das 

andre,  und  das  ist  allerdings  bei- 
nahe  alles,  ist  scheuBlich  ver- 
krampft,  gewollt,  unecht,  blutleer. 

Bredel  will  ein  Bild  von  dem 
Leben  eines  groBen  hamburgischen 
Mietskaseraenblocks  geben,  Krey 
zeigt  einen  MassenprozeB  um  den 
Paragraphen  218,  auf  dessen  Hin- 
tergrund  sich  das  Eihzelschicksal 
eines  Proletariermadels  abhebt, 
gleichsam  Verkorperung  des  Lei- 
dens  ihrer  Mitschwestern.  Aber 
wie  ist  das  gemacht!  Die 
beruchtigte  Schwarz-WeiBmanier 
schmuggelt  sich,  mit  dem  Etikett 
,tproletarische  Kunst"  versehn, 
iiber  eine  Hintertreppe  wieder 
einmal  in  die  Literatur;  Es  steht 
fur  die  Verfasser  ganz  auBerhalb 


jeder  Diskussion,  daB  alle  Kom- 
munisten  anstandige  Menschen, 
alle  Sozialdemokraten  schwach- 
liche  Arbeiterverrater(  alle  Klein- 
burger  Spiefler  und  Klatsch- 
mauler,  alle  Nationalsozialisten 
gekauftes  Lumpenpack  sind. 
Auf  dieser  Grundlage  wird  nun 
drauflos  erzahlt,  mit  den  guten 
alten  Mitteln  spannender*  Gar- 
tenlaube-Lektiire,  von  der  sich 
diese  Romane  wirklich  nur  durch 
ihre  anstandige  Tendenz  unter- 
scheiden. 

Was  soil  da  bewiesen  werden? 
Die  Ungerechtigkeit  unsres  Ge- 
sellschaftssystems,  aufgezeigt  an 
einzelnen  Geschehnissen,  in  denen 
es  sich  manifestiert.  Dazu  ware 
notwendig,  dieses  System  in  all 
seiner  Kompliziertheit  darzustel- 
len,  eine  Kompliziertheit,  die  zu 
adaquaten  Methoden  der  Be- 
kampfung  zwingt.  Statt  dessen 
steht  da  ein  gefraBiges  Ungeheuer, 
eine  konturlose  Masse,  gegen  die 
mit  Leitartikelphrasen  angegan- 
gen  wird.  Die  simpelste  Tech- 
nik  und  Psychologie  tobt 
sich  da  aus,  alles  ist  schief 
gesehn,  keine  Zeichnung  stimmt, 
jeder  Versuch,  ein  Gesicht,  eine 
Gestalt  zu  beschreiben,  geht  da- 
neben,  keine  Situation  wird 
plastisch,  diese  Menschen  le- 
ben ja  gar  nicht,  diese  Gescheh- 
nisse  haben  sich  ja  nie  so  ab- 
gespielt:    alles  ist   Papier, 

Und  wie  der  innere  Gehalt  so 
die  auBere  Form.  Zahes  Zeitungs- 
deutsch,  schludriger  Stil:  „Grup- 
penweise  wurden  Kampflieder  ge- 
su^gen  und  diskutiert",  —  ,,Die 
Stenotypistinnen  wurden  sofort 
fur  eine  Operation  fertig  gemacht, 
ihr  Unterleib  mit  Lysol  gewa- 
schen,  dann  auf  eine  Bahre  ge- 
legt  und   fortgefahren."      Die  In- 


Das  Buck  der  Stunde! 
OTTO  GRAUTOFF: 

Franzosen  sehen  Deutschland 

Begegnungen    •   GesprSche  •    Bekenntnisse    *   Kart.  3.80  RM. 

Jeder  Deutsche  muB  wissen,  wo  die  Franzosen 
bel   uns  Positives  und  wo  sie  Negatives  sehen  I 


W.  R.  LINDNER  VERLAO  LEIPZIO 

496 


terpunktion  sieht  so  aus,  als 
hatten  die  Verfasser,  beson- 
ders  Bredel,  in  die  Schub- 
lade  gegriffen,  wo  sich  die 
Ausrufezeichen  und  Gedanken- 
striche  befinden,  und  hatten  wahl- 
los  einen  ganzen  Schwung  tiber 
ihren  Text  geworfen.  Da  stehn 
sie  nun  und  wissen  nicht  warum. 
Ich  auch  nicht. 

Es  gehort  heute  dazu,  dafi 
einem  Buch,  so  es  etwas  auf  sich 
halt,  das  Vorwort  von  einem  be- 
kannten  Manne  geschrieben.  wird, 
und  deshalb  sprechen  dich  hier 
Klaber  und  Friedrich  Wolf  an. 
Wolf  hat  einen  guten  Namen  zu 
verlieren.  Es  wiirde  ihm  doch 
nie  einfallen,  etwa  „Ich  lasse 
Dich  nicht"  als  Lekture  zu  emp- 
fehlen.  Warum  dann  aber  so  un- 
kritisch,  nur  weil  die  Tendetiz 
zusagt?  Wo  es  doch  ein  Leich- 
tes  ware,  unter  ihrem  Lack  eben- 
falls  ein  „Ich  lasse  dich  nicht" 
zu  entdecken. 

Vielleicht  erfiillt  diese  Schrei- 
berei  den  geplanten  Zweck,  auf- 
zuriitteln  und  zur  Abwehr  zu 
mahnen,  ich  glaube  es  nicht. 
Uber  eins  aber  gibt  es  nichts  zu 
diskutieren:  das  da  hat  ganz  und 
gar  nichts  mit  Literatur  zu  tun, 
geschweige  mit  Kunst.  Das  ist 
die  rohe  und  aufierliche  Plaka- 
tierung  einer  Tendenz,  die  nie- 
mals  erlebt  wurde,  die  dem  Ro- 
man nicht  entwachst,  sondern 
ihm  aufgeklebt  ist,  und  zwar  so 
schlecht,  dafl  der  Kolportage- 
charakter  immer  wieder  durch- 
bricht.  Es  kommt  namlich  nicht 
nur  auf  das  Was,  es  kommt  eben- 
so  sehr  auf  das  Wie  an.  Warum 
lernt  man  nicht  auch  hier  von 
SowjetruBland? 

Walther  Karsch 


Die  neueste  „Miflt8nende 
Wochenschau" 

7  urn  franzosischen  Minister- 
"  besuch  in  Berlin:  Bniningbk- 
tet  Laval  gegen  Ruckgabe  von 
Deutsch-Ost-Afrika  die  ungarische 
Kolonie   in   Berlin   an. 

Die  ersten  Aufnahmen  der  gro- 
Ben  Baukatastrophe:  Einsturz  der 
Golddecke  in  London. 

Reichsminister  Treviranus  zahlt 
beim  Grenzubertritt  hundert  Mark 
fur  den  durch  die  Aufhebung  der 
Ausreisegebiihr  noch  immer 
schwer  geschadigten  Deutsch- 
Oesterreichischen-Alpenverein. 

Zu  den  Kampfen  in  Palastina; 
Die  national  gesinnten  Araber 
ubertragen  das  Oberkommando 
Pg.  Goebbels,  dem  Sieger  vom 
Kurfurstendamm. 
* 

Die  Versammlung  gekiirzter 
Rentenempfanger  im  berliner 
Sportpalast  nahm  einen  stiirmi- 
schen  Verlauf.  Rechts  in  derHof- 
loge  Wilhelm  von  Doom,  zu  sei- 
nen  Fiifien  der  Stehkragenprole- 
tarier  Hjalmar  Schacht. 
* 

Der  Hohepunkt  der  englischen 
Flottenmanover:  Konzentriertes 
loyales  Ergebenheitsfeuer  der  bri- 
tischen  Schlachtflotte  auf  die 
britische    Admiralitat. 

it 

Zu  den  Wirren  in  China  und 
Oesterreich :  Feierliche  Putsch- 
konzessionserteilung  an  den  Fiir- 
sten  Starhemberg.  Bundesprasi- 
dent  Miklas  wegen  Verhutung 
der  Unruhen  und  Ubertretung  des 
Achtstundentags     unter    der   An- 


Alte  Firmen 


lassen  sich  auf  keine  Experimente  ein.    Unser  Verlag  besteht  tiber  hundert 
Jahre  und  wir  wissen,  was  wir  tun,  wenn  wir  uns  fur 

die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

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Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegn  1816)  Basel  und  Leipzig. 

497 


klage  des  Hochverats,  Nanking 
errichtet  eine  Gesandtschaft  in 
Graz. 

.  # 

Aus  unsrer  Kulturecke:  Wun- 
der  dcs  Weltalls :  Ausschiittung 
eincr   Dividende. 

Friedrich   Raff 

Jom  Kippur 

Am  21,  September,  am  vergan- 
**  genen  Montag  also,  erfahren 
wir  friih  morgens  von  der  Krise 
der  Bank  von  England  und 
von  dem  Ungliick  des  englischen 
Pfunds.  Und  dann  tuten  wir  uns 
durchs  Telephon  die  Schreckens- 
nachricht  durch  und  sind,  wie  cs 
sich  gehort,  wie  aus  den  Wolken 
gefallen. 

Nur  meine  Schwagerin  ist  gar 
nlcht   tiberrascht. 

„Das  weifi  ich  schon,"  sagt  sie 
ganz  erhaben,  „Onkel  Jacob  hat 
doch  gestern  Abend  Georg  Bern- 
hard  in  der  Synagoge  getroffen, 
der  hat  es  ihm  erzahlt." 


Der  Expedltionsfilm 

|m  Urwald  filmt  man  heute  ton. 
*  Die  Sonne  brennt.     Die  Weifieri  schmoren. 
Den  Schwarzen  rat  das  Megaphon: 
Benehmen  Sie  sich  eingeboren ! 

Die  Wilden  spielen  mit  Bravour 
Als  ein  Ensemble  gut  Gedrillter. 
Und  fehlt  ea  mal  an  Spielkultur, 
Dann  brullt  der  Weifle  wie  ein  Wilder. 

Was  dann  den  Tierpark  anbelangt, 
So  sind  nur  Krafte  zugelassen, 
Die  es  vor  jedem  Luftzug*  bangt 
Und  die  wie  Gift  die  Fleischkost  hassen. 

Der  Lowe  aus  dem  Heldenfach 
Hats.  auBer  Dienst,  mit  Sitzbeschwerden. 
Der  Tiger  ist  schon  altersschwach 
Und  mufi  ins  Bild  getragen  werdcn. 

Ein  blinder  Schufi  aus  dem  Gewehr: 
Schon  flieht  der  Elefant  ins  Weite. 
Im  Kino  heifit  das  hinterher, 
Da8  er  zu  einem  Angriff  schreite. 

Das  Wichtigste  ist  die  Gefahr, 
In  die  die  Weifien  ofter  kommen. 
Doch  das  hat  Zeit  und  wird  aogar 
In  Hollywood  erst  aufgenommen. 

Hans  Bauer 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Kampfkomitee  fur  die  Freiheit  des  Schrifttums,  Opposition  des  Schutzverbands  Deutscher 
Schriftsteller,  Bund  revolutionarer  bildender  Kiinstler,  Gruppe  der  Abstrakten, 
Opposition  der  Btihnengenossenschaft,  Liga  ftir  unabhangigen  Film,  Verband  pro- 
letarischerFreidenker,  Bund  proletarisch-revolutionarer  Schriftsteller.  Dienstag  19.30. 
Johann-Georg-Sale,  Johann-Georg-Str.  19,  Halensee  t  Notverordnung  und  Notlage  der 
geistig  Schaffenden.  £s  sprechen:  Bert  Brecht,  Erich  Kastner,  Hans  Ottwald, 
Heinz  Pol,  Hans  Rodenberg,  Helly  Weigl,  Karl  August  Wittfogel.  (Zur  Finanzierung 
der  Aktion  baben  eigenhandig  signierte  Bucher  zum  Verkauf  zur  Verfiigung  gestellt : 
Bert  Brecht,  Bernard  v.  Brentano,  Leonhard  Frank,  Ernst  Glaser,  Otto  Heller,  Kurt 
Kersten,  Erich  Muhsam,  Ludwig  Renn,  Anna  Seghers,  Erich  Weinert  u.  a.) 

Weltbuhnenleser.  Mittwoch  20.00.  Cafe  Adler  am  Donhoffplatz:  Die  Lage  in  China, 
Hans  Jager. 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Freitag  20.00.  Cafe  Adler  am  Donhoffplatz :  Offent- 
liche  Diskussion:  Friedenskampf  und  Nation  (Zum  Pazifisten-ProzefJ).  Es  sprechen: 
Eugen  Brehm,  Kurt  Hiller  und  Rechtsanwalt  Heinz  Kahn. 

Liga  fQr  Menschenrechte.  Freitag  20.30.  Reichswirtschaftsrat,  Bellevuestr.  15  (Plenar- 
saal):  Ist  Deutschland  noch  ein  Rechtsstaat?  Es  sprechen:  Willi  Braubach,  Prof. 
M.  I.  Jastrow,  Kurt  Rosenfeld  und  Erich  Zeigner. 

BQcher 

Ernst  WeiB:  Georg  Letham,  Arzt  und  Morder.    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Rundfunk 

Dienstag.  Konigswusterhausen  18.00:  Gegenwartsfragen  der  Kunst,  Paul  Westheim.  — 
Kdnigsberg  20.10:  Gertrud  Gerlach-Jacoby  iiest  Guy  de  Maupassant.  —  Muhlacker 
20.30:  Theodor  Brandt  liest  Jean  Paul.  —  Mittwoch.  Laugenberg  16.20:  Ungedruckte 
Dichter.  —  Berlin  17.30:  Ernst  Toller  liest.  —  18.30:  Das  Wiederaufnahme-Verfahren, 
Rechtsanwalt  Erich  Frey  und  Regierungsrat  Robert  Kempner.  —  Muhlacker  20.15: 
Leonce  und  Lena  von  Buchner.  —  Munchen:  Gesprach  mit  Philipp  Snowden  von 
Chronikus.—  Donnerstag.  Berlin  19.00:  Der  Bastiltesturm  auf  Europa,  Valeriu  Marcu.  — 
Hamburg  19.30:  Der  Lyriker  Friedrich  Nietzsche.  —  Leipzig  20.30:  Dichter  fiber 
Getellschaftskritik.  —  Freltagf.  Breslau  20.05:  tlber  dkonomische  Geschichts- 
auffassung,  Prof.  Siegfried  Marck  und  Roman  ReiOe.  —  Sonnabend.  Breslau  17.15; 
Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung.  —  Berlin  19.20:  Die  Erzahlirag  der  Woche,  Paul  Zech. 

498 


Antworten 


Bibliothekar*  Im  Katalog  der  Neuerscheinungen  aus  den  Jahren 
1929—31  fur  die  Volksbibliotheken  der  Stadt  Berlin  ist  zu  lesen: 
„Heinrich  Mann:  Der  Untertan,  Die  Armen.  2  Romane.  Ein  kari- 
kierendes  und  in  seiner  SchwarzweiB-Manier  verzerrtes  Zeitbild  der 
Vorkriegszeit  vom  Klassenkampf  des  Kapitalismus  mit  dem  Prole- 
tariat." Was  soil  das?  Seid  ihr  dazu  daf  eure  Meinung,  die  keinen 
Menschen  interessiert,  alien  Besuchern  eurer  Bibliotheken  aufzudran- 
gen,  oder  dazu,  euren  Abonnenten  eine  Aufstellung  der  bei  euch  zu 
entleibenden  Bucher  zu  geben?  Wenn  euch  Heinrich  Manns  Romane 
nicht  passen,  dann  schafft  sie  euch  nicht  an,  aber  Zensuren  zu  ver-' 
teilen,  dazu  seid  ihr  nicht  angestellt  und  auch  gar  nicht  berecbtigt. 
Kummert  euch  darura,  euern  Lesern  moglichst  viel  Bucher  zu  ver- 
schaffen,  aber  bevormundet  sie  nicht,  das  ist  eine  AnmaBung,  die  euch 
nicht  zukommt,     Dafur  werdet  ihr  nicht  bezahlt. 

Dr,  med.  Alfred  Doblin,  Wenn  in  Ihre  nervenarztliche  Sprech- 
stunde  ein  Herr  kame  und  im  Lauf  der  Konsultation  den  Satz  von 
sich  gabe,  den  neulich  Ernst  Robert  Curtius  in  der  .Neuen  Rund- 
schau' als  Beweis  fur  den  Verfall  der  Bildung  zitiert  hat:  „Nicht 
Balzac  zu  lesen  gehort  fur  mich  ebenso  zu  den  Selbstverstandlich- 
keiten  wie  in  einer  groBen  Stadt  nicht  die  Sehenswurdigkeiten  be- 
suchen"  und  wenn  dieser  Herr  aufierdem  mitteilte,  er  sei  ein  repre- 
sentatives Mitglied  der  deutschen  Dichterakademie  —  was  fur  eine 
Diagnose  wiirden  Sie  eigentlich  stellen? 

Jungling*  Der  Christliche  Verein  Junger  Manner  verbreitet  ein 
Traktatchen,  in  dem  gegen  die  Kameradschaftsehe  zu  Felde  gezogen 
wird.  Der  wahrhaft  christliche  Verfasser  bezeichnet  sie  als  Krokodil, 
das  die  armen  Jiinglinge  und  Jungfrauen  verschlingen  will.  Aber  hore 
selbst:  „Die  Kameradschaftsehe  zerstort  jede  zarte  und  heilige  Jugend- 
liebe,  die  harren  und  warten  kann  und  im  Harren  und  Warten.  er- 
starkt.  Aus  zarter  Jugendliebe  macht  die  Kameradschaftsehe  einen 
hiindischen  Trieb,  der  auf  hiindische  Weise  befriedigt  werden  soil . . . 
Was  die  Kameradschaftsehe  zerstort,  ist  die  Wiirde  des  Weibes  so- 
wohl  wie  die  des  Mannes.  Das  Weib,  das  nach  Gottes  Willen  Gehilfin 
des  Mannes  sein  soil,  wird  zum  Spielball  der  mannlichen  Geliiste  ent- 
wiirdigt,  Dem  Mann,  der  nach  gottlicher  und  menschlicher  Ordnung 
erst  etwas  werden  und  gewini&n  soil,  ehe  er  die  Hand  nach  der  Ehe 
ausstreckt,  wird  die  Ehe  gewissermafien  vor  die  FuBe  geworfen.  Miihe- 
los  kann  er  sie  aufnehmen  und  wieder  fortwerfen.  So  wird  ihm  der 
hochste  Antrieb  zur  Stahlung  seines  Charakters  genommen,  indem  er 
ein  Ehemann  wird,  ehe  er  ein  Mann  geworden  ist.  Darum  auf  der 
Hut  vor  dem  amerikanischen  Ungeheuer,  welches  Kameradschaftsehe 
heiBt!  Krokodil  bleibt  Krokodil,  auch  wenn  es  Krokodilstranen  liter- 
weise  vergieBt.  Was  Gott  zusammengefugt  hat,  soil  der  Mensch  nicht 
scheiden,  sagt  die  Bibel,  und  sie  wird  recht  behalten.  Sie  sagt  ferner: 
Kinder  sind  eine  Gabe  Gottes,  Wohl  dem,  der  seinen  Kocher  derselben 
vol!  hat!1'    Uns  scheint,  dem  armen  Mann  lauft  der  Kochef  iiber. 

Max  Jungk,  Sie  schreiben:  „Das  Niveau  Ihrer  sehr  geschatzten 
Zeitschrift  verpflichtet  f  Ich  bin  daher  auch  fest  iiberzeugt,  daB  Sie 
Ihre  Artikel  nicht  um  der  bloflen  Sensation  willen  veroffentlichen, 
sondern  im  guten  Glauben."  Sie  senden  uns  folgende  Berichtigung: 
„Das  Manuskript  zu  dem  Tonfilni  ,Sein  Scheidungsgrund'  von  Franz 
Arnold  und  Max  Jungk  wurde  auf  Grund  eines  ausfiihrlichen  Treat- 
ments vom  2.  April  1930  von  der  UFA  in  Auftrag  gegeben.  Erst 
dreizehn  Tage  spater  hat  Frau  Margarete  Maria  Langen  einen  Ent- 
wurf  tScheidungsfieber'  dem  damaligen  Dramaturgen  der  Terra- 
Film-Gesellschaft,  Max  Jungk,  eingereicht.  Der  Film  ,Sein  Schei- 
dungsgrund' von  Franz  Arnold  und  Max  Jungk  konnte  daher,  ent- 
gegen   der   Behauptung  von   Frau  Langen,   keineswegs   in   seinem   In- 

499 


halt  dem  Expose*  zu  einer  Filmoperette  ,Scheidungsfieber'  ent- 
sprechen  und  weist  selbstverstandlich  nicht  die  geringste  Ahnlichkcit 
mit .  der  Arbeit  von  Frau  Langen  auf .  Ftir  die  Richtigkeit  liegt  ein 
umfangreiches,  einwandfreies  Beweismaterial  vor.'*  Wir  beabsichtigten 
nicht,  uns  in  eine  personliche  Differenz  zwischen  Frau  Margarete 
Maria  Langen  und  Ihnen  hineinzumengen.  Wir  verlangten  nur  durch 
die  Frage:  „Was  ging  da  vor?"  eine  Klarstellung  des  in  Ihrera  Fall 
undurchsichtigen  und  zweideutigen  Verhaltens  des  Herrn  PodehL  Im 
iibrigen  erklart  Frau  Langen  auf  unsre  Anfrage,  da8  Sie  am  7.  oder  8.  Juli 
dieses  Jahres  am  Telephon  wortlich  antworteten:  „Ich  gebe  ja  zu,  dafi 
eine  gewisse  Ahnlichkeit  in  beiden  Fallen  vorhanden  ist;  denn  in 
beiden  Manuskripten  verliebt  sich  der  Hauptdarsteller  in  seinen 
Scheidungsgrund,"  Frau  Langen  ist  auBerdem  der  Ansicht,  dafi  Sie 
ihr  bei  ihrem  ersten  Besuch  im  dramaturgischen  Bureau  der  Terra, 
am  16.  oder  17.  April  1930,  unbedingt  hatten  mitteilen  mussen,  dafi 
Sie  einen  ahnlichen  Stoff  der  UFA  eingereicht  hatten.  Und  warum 
haben  Sie  Frau  Langen  auf  ihren  Brief  vom  18.  April  vorigen  Jahres 
keine  Antwort  gegeben? 

H.  R,  BerndorxL  Wir  bestatigen  Ihnen  gem,  dafi  die  Erwahnung 
Ihres  Streitfalls  mit  der  ]LJfa  in  dem  Artikel  von  Max  Magnus  in 
Nummer  37  der  ,Weltbuhne'  ohne  Ihr  Wissen  und  Ihren  Willen  ge- 
schehen  ist.     Seien  Sie  nicht  so  ungliicklich  dartiber. 

Aufmerksamer  Leser.  In  dem  Artikel  von  Bernhard  Citron 
„Flucht  aus  der  Sozialisierung"  (Nr.  36)  ist  durch  ein  Versehen  ein 
Irrtum  entstanden.  Die  Bankenkontrolle  iiber  die  schweizer  Banken 
ubt  nicht  die  Eidgenossische  Bank  aus  sondern  die  Schweizerisch* 
Nationalbank. 

Neuer  deutscher  Verlag.  Der  Schlufitermin  fur  die  Einsendungen 
zu  euerm  Roman-Preisausschreiben  „Das  wahre  Gesicht  des  Fascis- 
mus"  ist  auf  den  15.  Oktober  verlegt  worden.  Mindestumfang  12  Bo- 
gen  zu  je  40  000  Druckzeilen,  Hochstumfang  20  Druckbogen  zu  je 
40  000  Druckzeilen. 

Wiener.  Geben  Sie  bitte  Ihre  Adresse  an  Herrn  Doktor  Rudolf 
Kukula,  Wien  III,  Dapontegasse  1  (Telephon  U  16 — 7 — 49),  damit 
die  regelmafiigen  Zusammenkunfte  der  wiener  Weltbuhnenleser  wie- 
der,   wie  im  vorigen  Winter,   zustandekommen  konnen. 

rBraunschweiger.  Wenn  Sie  Interesse  an  regelmafiigen  Zusammen- 
kunften  der  braunschweiger  Weltbuhnenleser  haben,  so  geben  Sie  Ihre 
Adresse  an  Herrn  Adolf  Grupe,  Braunschweig,  Weststr.  39. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Subskriptionseinladung  zu  der  von 
Magnus  Hirsckfeld  herausgegebenen  und  von  Andreas  Gaspar  bear- 
beiteten  „Sittengeschichte  den  Nachkriegszeit"  bei.  Der  berliner  Auf- 
lage  ist  auSerdem  ein  Prqspekt  der  Kamera,  Unter  den  Linden,  bei' 
gefiigt.  Wir  empfehlen  die  Beilagen  der  besonderen  Aufmerksamkeit 
unsrer  Leser. 

FVeser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*-^  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  far  das  IV.  Vierteljahr  1931 

einzuzahlen,   da  am  10.  Oktober  die  Einziehung  durch  Nachnahme  be- 
ginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht.  

Manuiumpte  una  aui  mo  die  Kedaktioo  der  Weltbuhne,  Chariottenburg,  Kantsti.  152,  xu 
ricfaten;  et  wild  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Dm  AuffOhrangsrecht,  die  Verwertung  vonTiteln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  muaik- 
mechanlache  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertun?  im  Rahmen  von  Radiovortrlgen 
bleiben  for  alle  in  der  Weltbtihne  erscheinenden  Beitrage  ansdracklieh  Torbehalten. 

Die  WeltbOhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jaeobsohn  und  wrird  von  Catl  v.  Osaietxky 
untet  MHwfrkung    von  Kurt  Tucfcolsky  ^eleltet  —  Verant wortlich:   Carl  v.  Oisietzlcy,    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jaeobsohn  &  Co*  Cnarlottenburg. 

Telephon:    CI,  Steinplatz  7757  —  Postschedtkonto:  Berlin  119  58. 
Bankkonto      DarmstSdtet    u,    Nationalbank.      Depositenkasse    Qharlottenburg,    Kantatr.    112 


XXVII.  Jahrgang  6.  Oktober  1931  Nmnrner  40 

Dieser  Winter  ...  von  Carl  v.  Ossietzky 

In  diesen  Winter  geht  Deutschland  nur  noch  mit  zwei  organi- 
sierten  Machten:  mit  dem  Militarisms  und  mit  der  katho- 
Iischen  Kirche.  Ailes  andrc  ist  entweder  in  Auflosung  be- 
griffen  oder  sucht  durch  groBe  Gestikulation  iiber  die  innere 
Hilflosigkeit  hinwegzutauschen.  Die  Sozialdemokratie  hat  keine 
runde  Gestalt  mehr,  der  Erdrutsch  an  ihren  Grenzen  hat  be- 
gonnen.  Die  Gewerkschaften  leiden  mehr  und  mehr  unter  der 
wachsenden  Arbeitslosigkeit;  die  widerstandslose  Hinnahme 
arbeiterfeindiicher  Schiedsspriiche  raubt  ihnen  das  Vertrauen 
auch  ihrer  alten  Mitglieder,  Die  Banken,  bis  vor  wenigen  Mo- 
naten  noch  Kultstatten  des  Kapitalismus,  werden  vom  Publi- 
kum  mit  hochstem  Argwohn  betrachtet.  Die  Schwerindustrie, 
vor  kurzem  noch  eine  uneinnehmbare  Stellung  aus  Eisenbeton, 
erweist  sich  bei  zunehmender  Krise  als  ein  ganz  gewohnliches 
deutsches  Klublokal,  in  dem  ein  Rudel  von  Bierphilistern  sich 
als  Union  der  starken  Hand  fuhlt.  Und  wie  steht  es  um  die  ex- 
treme Opposition?  Die  Kommunisten  haben  zwar  ungeheuer  ge- 
wonnen,  wie  jetzt  wieder  die  Wahl en  in  Hamburg  zeigen,  aber 
sie  schleppen  deixWiderspruch  zwischen  einer  fremdenDoktrin 
und  den  ganz  anders  gearteten  deutschen  Verhaltnissen  mit 
sich,  und  die  dialektische  Losung  dieses  Widerspruchs  ist  bis 
jetzt  noch  nicht  gelungen.  Auch  die  Nationalsozialisten  sind 
noch  immer  im  Wachstum  begriffen,  aber  ohne  Ideen,  ohne 
Fiihrung  —  ein  gewaltiger,  unbehilflicher  KloB,  der  sinnlos  in 
der  Landschaft  herumliegt  und  sich  seines  Umfangs  freut,  Alle 
alten  Autoritaten  haben  abgewirtschaftet.  Der  Reichstag  ist 
nur  noch  eine  klappernde  Jasagemaschine,  die  bei  Funktions- 
storungen  der  Verschrottung  anheimfallt,  die  biirgerlichen  Par- 
teien  von  Hugenberg  bis  Dietrich  sind  nur  noch  ein  einziger 
Komposthaufen,  auf  dem  der  maftgebliche  Dingeldey  mit  komi- 
schem  Ernst  seinen  Fiihrerpart  herunterkraht, 

Zwei  kompakte  Machte  gibt  es  also  nur  noch:  davon  stelit 
die  eine  den  Kanzler,  die  andre  die  erforderlichen  Nahkampf- 
mittel,  um  dessen  Herrschaft  zu  sichern. 

Wir  wissen  nicht,  wie  lange  der  Katholizismus  einem  so- 
zialen  Sturm  standhalten  kann.  Die  Stellung  Briinings  beruht 
ja  nicht  auf  einem  Kontrakt  zwischen  ihm  und  Deutschland 
sondern  auf  einem  stillenPakt  mit  den  biirgerlichen  und  so- 
zialistischen  Fraktibnsfuhrern,  weil  ihnen  ein  konfessionell  ge- 
bundener  Politiker,  der  notfalls  die  Religion  als  letzte  ideolo- 
gische  Etappe  beziehen  kann,  geeigneter  erscheint  als  ein  Mann 
der  konkreten  Partei-  und  Klasseninteressen. 

Und  wir  wissen  noch  viel  weniger,  wie  sich  die  Wehr- 
macht  bei  einem  von  rechts  kommenden  StoB  verhalten 
wiirde.  Vielmehr,  wir  wissen  es  ziemlich  genau,  aber  wir 
wollen  lieber  nicht  dariiber  reden. 

Die  Gefahr  dieses  Winters  liegt  also  nicht  in  den  bewuBten 

und  geplanten  Umsturzversuchen  von  rechts  und  links.     Hier 

sind    die    innern   Explosivkrafte    noch    stark    gefesselt.       Noch 

i  501 


immer  ist  der  Umsturz  bei  der  Reichsregierung  monopolisiert, 
die  auf  dem  Verordnungswcge  mit  den  Verfassungspara- 
graphen  alle  Neune  wirft,  wahrend  die  ungliicklichen  Sozial- 
demokraten  wie  nervose  Kegeljungen,  von  alien  Seitcn  ange- 
schnauzt,  iiber  die  Bahn  stolpern.  Die  wirkliche  Gefahr  liegt 
in  spontanen  Volksaufstanden,  die  von  niemandem  angezettelt 
und  begiinstigt,  plotzlich  losbrennen  konnen.  Entwickein  sich 
erst  hier  und  dort  Hungerrevolten,  von  politischen  Parolen  um- 
i  lackert,  dann  muss  en  sich  die  radikalen  Parteien  wohl  oder 
ubel  entscheiden.  Dann  miissen  sie  die  Ftihrung  iibernehmen, 
wenn  die  Bewegting  nicht  iiber  sie  hinweggehen  soil. 

Von  diesem  Risiko  weiB  der  Reichskanzler  gewifi  mehr 
als  die  meisten  Mitglieder  seines  Kabinetts.  Er  furchtet  den 
Ansturm  der  Unternehmer  gegen  das  Lohnniveau  und  gegen  die 
Sozialversicherung;  hier  ist  die  Stelle,  wo  zwei  Klassen  zu- 
sammenpr alien  miissen  und  aus  unterdriickten  Arbeiterinter- 
essen  unmittelbar  revolutionare  Politik  fiammen  kann.  Aber 
wie  will  Briining  dem  vorbeugen?  Er  will  den  Staat  heraus- 
ziehen  und  die  Auseinandersetzung  den  Beteiligten  selbst  iiber- 
lassen.  Soeben  wird  offizios  verlautbart,  daB  die  nachsten  Not- 
verordnungen  nur  ndie  dringenden  finanzpolitischen  Fragen 
regeln*\  aber  nicht  an  das  heiBe  Eisen  der  Lohne  riihren  wollen. 
Es  soil  eine  Art  Arbeitsgemeinschaft  aufgebaut  werden, 
„die  die  Lohn-  und  Tarifstreitigkeiten  durch  direkte  Verein- 
barungen  ohne  Eingreifen  der  staatlichen  Instanzen"  ordnet. 
Das  hort  sich  recht  groBartig  an  und  heiBt  im  Grunde  doch 
nur,  daB  der  Staat  sich  vor  der  brennendsten  sozialen  Frage 
druckt  und  daB  er  nicht  in  die  Verlegenheit  kommen  mochte, 
etwas  Autoritat  gegen  die  Unternehmerschaft  anwenden  zu 
miissen.  Der  Staat  will  seine  Hande  in  Unschuld  waschen,  Ar- 
beitervertreter  sollen  selbst  der  Herabsetzung  der  Lohne  zu- 
stimmen.  Heute  beugen  sich  noch  Gewerkschaftsfiihrer  ratios 
und  zahneknirschend  vor  Schiedsspriichen,  die  sie  nachher  vor 
ihren  Leuten  vertreten  miissen.  Aber  sie  konnen  sich  noch 
immer  damit  salvieren,  daB  man  sich,  so  bitter  es  sein  mag,  den 
Gesetzen  beugen  muB  und  daB  Tarifbruch  katastrophale  Folgen 
nach  sich  zieht.  Aber  daB  Gewerkschaftsmanner  in  gemisch- 
ten  KorperschaHen,  die  zunachst  auf  nichts  anderm  beruhen 
als  auf  der  Empfehlung  des  Staates,  unter  eigner  Verantwor- 
tung  die  Schadigung  der  von  ihnen  Vertretenen  beschlieBen, 
das  ist  ganz  unmoglich.  Solche  Funktionare  kann  man  selbst 
unter  den  heutigen  zahmen  sozialistischen  und  christlichen  Ge- 
werkschaften  mit  der  Laterne  suchen.  Sie  wiirden  von  ihren 
eignen  Leuten  in  Stiicke  gerissen  werden. 

Ein  derartiges  System  wiirde  also  nicht  idem  sozialen 
Frieden,  nicht  dem  verniinftigen  Ausgleich  der  Interessen 
dienen  sondern  zur  Schwachung  und,  im  Endeffekt,  zur  Zer- 
storung  der  Gewerkschaften  fiihren.  Kommen  die  Gewerk- 
schaiten  aber  ins  Rutschen  und  stellen  sie  keine  festen  Gebilde 
mehr  dar,  so  ist  bis  zur  Zwangssyndizierung  nach  italienischem 
Muster  kein  langer  Schritt  mehr.  Dann  wiirden  in  Kartellen, 
wo  Arbeiter  und  Unternehmer  angeblich  eintrachtig  miteinan- 
der  verhandeln,  die  Arbeiter  faktisch  als  Gefangene  sitzen,  und 
die  Tarife  wiirden  einlachdiktiert  werden.  Selbst  wenn  wir  dem 

502 


Reichskanzler  keine  bewuBten  Fascisierungstendenzen  unter- 
stellen  wollen,  so  muB  doch,  gesagt  werden,  daB  es  ein  Unding 
1st,  den  Staat  hcute  dort  herauszunehmen,  wo  seine  wichtigste 
Aufgabe  Hegt.  Das  Verhaltnis  von  Arbeiterschaft  und  Unter- 
nehmertum  in  Deutschland  ist  wie  mit  Dynamit  geladen.  An- 
slatt  schleunigst  die  Zundschnur  durchzuschneiden,  empfiehlt 
dcr  Staat  den  beiden  Gegnern,  es  sich  einstweilen  auf  dem 
PuIverfaB  bequem  zu  machen,  und  zieht  sich,  zufrieden  mit 
seincm  Versohnungswerk,  aus  der  Rauheit  des  sozialen  Klimas 
in  die  bekommliche  Luft  seiner  Kanzleien  zuriick. 

Wic  es  mit  dem  Geist  der  Arbeitgeberschaft  steht,  beweist 
das  in  diesen  Tagen  veroffentlichte  Programm  der  Spitzenver- 
bande  des  Unternehmertums.  Da  wird,  wie  in  den  BHitezeiten 
des  Liberalismus,  gegen  die  offentliche  Hand  gewettert,  grade 
so,  als  hatte  man  sich  niemals  uber  sie  gebeugtf  um  ihr  Sud- 
ventionen  zu  entnehmen.  Da  wird  „in  kraftvoller  Entschlos- 
senheit"  von  der  Regierung  gcfordert,  sofort  an  das  Rettungs- 
werk  zu  gehen.  Natiirlich  sollen  die  Lohne  und  Gehalter  den 
,,gegebenen  Wettbewerbsverhaltnissen"  angepaBt  werden;  des- 
halb  Mindividuellere  Lohngestaltung",  deren  Voraussctzung 
wieder  eine  Reform  des  Tarif-  und  Schlichtungswesens  sein 
soil;  deshalb  Generalattacke  auf  die  Sozialversicherungt  damit 
sie  ,,unverzuglich  mit  den  wirtschaftlichen  Kraften  unsres  Vol- 
kes  in  Einklang  gebracht  wird",  Kurzum,  es  ist  der  gleiche 
Inhalt  und  die  gleiche  Melodie  wie  seit  Jahren,  nur  daB  die 
Hcrren  von  der  Schwerindustrie,  inzwischen  durch  einen  Felil- 
schlag  nach  dem  andern  bloBgestellt,  von  ihrer  Schrecklich- 
keit  einiges  eingebuflt  haben.  Ihre  Betriebe  stehen  still,  ihre 
Gehirne  auch.  Die  ,*Wirtschaft",  die  sich  jahrelang  in  sakraler 
Oberheblichkeit  darstellte,  steht  heute  vor  dem  ganzen  Volk 
als  ein  Haufe  renommierender  Tartarins,  die  mit  den  Armen 
herumf uchteln  und  von  ihren  GroBtaten  erzahlen.  Dicse  Miitzen- 
jager  von  Rhein  und  Ruhr,  die  der  ganzen  Welt  Krieg  angesagt 
haben,  beanspruchen  heute  noch  den  Staat  als  das  ihnen  von 
Gott  zugesprochene  Instrument,  sie  tun  es  dreister  als  es  je- 
mals  der  alte  Feudaladel  getan  hat. 

Der  Reichskanzler  soil  (iber  den  Unverstand  der  Industrie- 
h  err  en  verzweifelt  den  Kopf  geschuttelt  haben.  In  den  Weg 
gestellt  hat  er  sich  ihnen  jedoch  nicht.  Er  machte  nur  den 
Sozialdemokraten  die  kleine  Konzession,  die  Arbeiterlohne 
einstweilen  nicht  zum  Freiwild  zu  erklaren.  Diese  brenzlichtste 
Frage  soil  also  auf  die  Arbeitsgemeinschaft  abgeleitet,  der 
Staat  in  wirtschaftlichen  Kampfen  neutralisiert  werden.  Das 
nennt  man  ein  Programm  fur  die  harteste  Winternot  seit  hun- 
dert  Jahren!  Der  privaten  Charitas  bleibt  es  (iberlassen,  die 
Goulaschkanone  in  Bewegung  zu  setzen,  die  Sammelbuchse 
zu  schwingen. 

Es  ist  merkwiirdig,  wie  gering  dieser  Staat,  von  kleinen 
Ordnungsrettern  geleitet,  seine  eignen  Krafte  einschatzt.  Und 
doch  hat  es  sich  immer  wieder,  und  zuletzt  noch  mit  zwingen- 
der  Gewalt  in  den  Tagen  des  groBen  Julikrachs  gezeigt,  daB 
er  das  einzige  Stabile  bleibt,  wo  rundherum  alles  sttirzt.  Da- 
rn als  hatte  der  Staat  muhelos  einige  der  starksten  Festungen  des 

503 


Kapitalismus  besetzen  konnen,  und  sic  sind  heute  noch  zu 
haben,  denn  der  Verteidigungswille  ist  schwach,  der  Glaube 
gebrochen,  Man  vergesse  doch  nicht,  daB  der  Sozialismus 
schon  lange  keine  mchr  aus  den  letzten  sozialen  Tiefen  auf- 
steigende  Forderung  mchr  ist.  Der  Sozialismus  ist  keine  Sache 
rebellierender  Einzelganger  mchr,  die  sich  an  den  glasernen 
Wanden  ciner  festen  Gesellschaftsordnung  die  Stirne  blutig 
stoBen,  sondern  eine  Fragc  der  Umorganisierung,  der  besscrn 
Distribution,  Der  objektive  Befund  der  gegenwartigen  Situation 
stellt  sich  als  hochgradig  revolutionar  dar,  abcr  die  Menschen 
sind  es  nicht.  Viele  davon  sind  sehr  miide,  gewiB,  abcr  die 
Meisten  sind  geduldig,  und  die  Sorge  urn  sich  und  die  nachsten 
Angehorigen  lahmt  ihren  Blick  furs  Ganze.  Wie  lange  dicser 
ungeklarte  Zustand'  anhalten  kann,  das  ist  die  schwere  Frage 
am  Rande  dieses  Winters.  Abcr  das  Einc  ist  sicher;  so  auf- 
gelockert  waren  die  sozialen  Verhaltnisse  niemalsf  und  nie- 
mals  trieb  da«  kapitalistische  System  so  mutlos,  so  abdankungs- 
reif  dahin.  Ncbcn  dieser  Tatsachc  wirkt  der  PosaunenstoB 
dcr  Schwerindustrie,  die  eine  von  ihren  Trustherren  selbst  de- 
molierte  Individualwirtschaft  fordert,  cinfach  komisch.  Vicles 
wiirdc  sich  jetzt  mit  einem  Fcderzug  erreichen  lassen,  was  in 
geandcrter  Situation  jahrelange  revolutionare  Kampf e  erfordert. 

SPD  gespalten!  von  k.  l.  Gerstont 

FJic  Krise  schreitet  weiter  fort.  Wenn  an  dieser  Stelle  in 
der  vcrgangenen  Woche  ausgeliihrt  wurde,  daB  die  Ent- 
wertung  der  Valuta  voraussichtlich  nicht  auf  England  be- 
schrankt  blcibcn  wiirdc,  so  haben  die  Ereignissc  dieser  Woche 
die  Voraussagc  bestatigt.  Schweden,  Nprwegen  und  Dane- 
mark  haben  sich  von  ihrer  Goldwahrung  gelost.  Spaniens 
Wahrung  ist  vollig  deroutiert.  In  Italien  kann  Mussolini  nur 
mit  starkster  Anstrengung  die  Lira  auf  dem  seincrzeit  stabili- 
sierten  Stand  halten.  Die  europaischen  Wahrungen  sind  in 
Bewegung.  An  welcher  Stelle  die  Entwertung  des  Pfundes 
gestoppt  wird,  stcht  dahin.  Noch  schwankt  der  Kurs  standig. 
Die  Wirkungen  der  Pfundentwertung  sind  bcreits  in  Deutsch- 
land  sehr  deutlich  zu  spur  en.  Die  cnglische  Kohlenindustrie  ist 
ebenso  wic  die  Textilindustrie  dabei,  verlorcnes  Terrain  zu 
gewinncn.  Die  Folgen  wird  der  deutsche  AuBenhandel  zu  tra- 
gen  haben,  der  wachsende  Oberschiissc  zeigtc  und  dessen  Ent- 
wicklung  in  letzter  Zeit  dcr  einzige  Lichtpunkt  in  dcr  Krise 
war.  Denken  wir  weiter  daran,  daB  in  dcr  gesamten  Welt- 
wirtschaft  kein  Silberstreifen  zu  entdecken  ist,  daB  die  ameri- 
kanische  Eisen-  und  Stahlproduktion  auf  30  Prozent  dcr  Pro- 
duktion  von  1929  zurtickgegangen  ist,  daB  weiter  die  englische 
Krise  die  Kapitalmarkte  der  ganzen  Welt  in  Verwirrung  bringt, 
was  auch  Frankreich  bcreits  zu  spiiren  beginnt,  so  haben  wir 
die  weltwirtschaftlichen  Hintergrunde  fiir  die  deutsche  Situa- 
tion im  Winter.  Bruning  hatte  schon  vor  einiger  Zeit  gesagt, 
daB  dieser  Winter  der  schwerste  scit  hundert  Jahrcn  sein 
wurde,  also  schwerer  als  die  Winter  von  1918  und  1923.  Brur 
ning  hatte  diese  AuBerung  getan,  bevor  sich  der  weltwirtschaft- 

504 


liche  Horizont  so  verdunkelte.  Er  wird  nach  den  letzten 
Ergebnissen  von  seinen  AuBerungen  nichts  zuruckzunehmen 
haben,  auch  wenn  er  das  Rcsultat  der  Vereinbarungen  mit 
Frankreich  einkalkuliert,  Denn  das  eine  ist  nach  den  Verhand- 
lungen  sicher,  namlich  das,  was  sie  nicht  gebracht  haben. 
Nicht  gebracht  haben  sie  eine  grofie  langfristige  franzosische 
Anleihe.  Wenn  aber  mitten  in  diesem  Winter,  in  dem  Briining 
mit  sieben  Millionen  Arbeit  slosen  rechnet,  die  Prolongation  der 
kurzfristigen  Kredite  ablauft,  dann  werden  diese  kaum  zu- 
riickbezahlt  werden  konnen,  dann  werden  die  Glaubiger 
zwangslaufig  weiter  prolongieren  mtissen.  Das  bedeutet  aber, 
daB  die  an  sich  schon  auBerordentlich  schwere  langwirkende 
Krise  durch  die  Schuldnerstellung  Deutschlands  auf  den  inter- 
nationalen  Kapitalmarkten  noch  weiter  vertieft  wird.  Der  ge- 
samte  deutsche  Kapitalisraus  hat  in  dieser  Situation  nur  das 
alte  Rezept:  Lohnabbau,  Lohnabbau,  Lohnabbau!  In  aller 
Sturheit  wird  es  immer  betont  Wenn  die  bestehenden  Tarif- 
vertrage  daran  hindern,  dann  muB  das  Tarifsystem  zertriim- 
mert  werden.  Und  das  Monopolkapital  erwartet  von  der 
Briiningregierung,  daB  sie  die  erforderlichen  Notverordnungen 
erlaBt,  urn  die  Zertrummerung  des  Tarif systems  juristisch  zu 
begriinden.  Wie  das  Monopolkapital  die  nachsten  Schritte 
sieht,   ist  also  eindeutig. 

* 

Die  auBerordentliche  Verscharfung  der  wirtschaftlichen 
Krisef  das  ist  der  Hintergrund  fiir  die  neueste  Entwicklung  in 
der  Arbeiterbewegung,  fiir  die  Entwicklung  in  der  SPD  und  in 
der  KPD.  Beim  ersten  Zusehen  ist  die  Entwicklung  ganz  ein- 
deutig. Die  KPD  gewinnt.  Die  SPD  verliert.  Die  hamburger 
Wahlen  zeigen  nur,  was  sich  bei  allgemeinen  Wahlen  in  ganz 
Deutschland  zeigen  wurde.  Die  SPD  wiirde  eine  reichliche 
Million,  das  sind  mehr  als  10  Prozent  ihrer  Wahler  von  1930, 
verlieren,  die  KPD  wiirde  eine  Million,  das  sind  mehr  als 
20  Prozent  ihrer  Wahler  von  1930,  gewinnen.  Aber  das  sind  ja 
nur  die  nackten  Zahlen,  was  steckt  dahinter?  Wachsen  wirk- 
lich  proportional  mit  der  Vertiefung  der  okonomischen  Krfse 
die  Krafte  des  revolutionaren  Proletariats?  1st,  wenn  die  ob- 
jektiven  Bedingungen  die  -Frage  der  Eroberung  des  Sozialis- 
mus  auf  die  Tagesordnung  setzen,  ist  dann  der  subjektive  Fak- 
tor,  das  revolutionar-marxistische  KlassenbewuBtsein.da? 

Diese  Frage  muB  bisher  strikt  verneint  werden.  Es  hat 
in  der  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  wohl  selten  eine 
Epoche  gegeben,  in  der  em  solches  Auseinanderklaffen  zwi- 
schen  den  objektiven  Faktoren  und  dem  subjektiven  Faktor 
zu  konstatieren  war.  Es  hat  selten  eine  Epoche  gegeben,  in 
der  die  Schlagkraft  der  Arbeiterschaft  so  gering  war.  Die 
entscheidende  Schuld  daran  trifft  den  Reformismus  innerhalb 
der  SPD.  Auf  der  andern  Seite  soil  das  zahlenmaBige 
Wachsen  der  KPD  nicht  dariiber  hinwegtauschen,  daB  sie  an 
der  fiir  die  spatern  Kampfe  schlechthin  entscheidenden  Stelle, 
in  den  Betrieben,  nur  wenig  weiter  gekommen  ist.  Das  Karl- 
Liebknecht-Haus  war  vierzehn  Tage  besetzt;  die  ,Rote  Fahne' 
ist  auf  vier  Wochen  verboten.  Aber  es  gibt  kaum  einen  Be- 
trieb  in  Berlin,   der  dag  eg  en  protestiert  hatte.     Die  Betriebe 

2  505 


schwiegen.  Wenn  abcr  die  Bctriebc  schweigen,  wenn  die 
Kommunisten  in  den  Betrieben  nicht  die  Massen  an  sich  reiBen 
konnen,  dann  ist  dies  das  deutlichste  Zeichen,  da8  in  den  Be- 
trieben bei  der  Majoritat  der  Arbeiterschaft  der  Wille  l  zum 
Kampf  fehlt.  Warum  fehlt  dieser  Wille?  Warum  ist  heute 
ein  so  schweres  Mifiverhaltnis  festzustellen  zwischen  dem 
standigen  wachsenden  Eindringen  der  kommunistischen  Ge- 
dankenwelt  bei  denArbeitern  und  der  so  geringen  organisato- 
rischen  Verwurzelung  auf  der  andernSeite?  Weil  die  Kommu- 
nistische  Partei  grade  in  der  Epoche,  wo  die  Klassenkampf e  sich 
immer  mehr  zuspitzen,  wo  der  Bankrott  des  kapitalistischen 
Systems  immer  deutlicherwurde,  wo  aucb die  Massen  der  gewerk- 
schaftlich  organisierten  Arbeiter  auizuwachen  begannen,  ^weil 
die  Kommunistische  Partei  grade  in  dieser  Epoche  die  Taktik 
iiir  richtig  hielt,  bei  den  Betriebsratswahlen  gegen  die  gewerk- 
schaftliche  Liste  ihre  eigne  rote  Betriebsratsliste  aufzustellen 
und  so  allmahlich  zur  RGO  (Revolutionare  Gewerkschafts- 
Opposition),  zu  eignen  Gewerkschaftsladen  kam.  Damit  wurde 
und  wird  die  revolutionare  Elite  in  der  Arbeiterbewegung  von 
den  breiten  Massen  getrennt,  grade  in  der  Zeit,  wo  diesen  Mas- 
sen  die  Historie  drauBen  Dialektik  einhammert.  Damit  wird 
nicht  nur  die  revolutionare  Elite  von  den  Massen  getrennt, 
sondern  gleichzeitig  wird  den  Unternehmern  die  bequemste 
Gelegenheit  gegeben,  die  Betriebe  kommunistenrein  zu 
machen;  denn  wenn  die  roten  Betriebsrate  gemaBregelt  wer- 
den,  so  stehen  keine  Gewerkschaften,  keine  Masseneinfltisse 
hinter  ihnen.  Nichts  hat  bbjektiv  den  Unternehmern  und  den 
reiormistischen  Gewerkschaftsbureaukraten  mehr  geniitzt  als 
die  kommunistische  Gewerkschaftspolitik,  In  der  KPD  hat 
man  bereits  vielfach  das  Falsche  dieser  Politik  eingesehen  und 
von  Moskau  aus  wird  immer  wieder  geschrieben,  daB  man  die 
Arbeit  im  Betriebe,  die  Arbeit  in  den  Massenorganisatio- 
nen,  vor  allem"  in  den  Gewerkschaften,  vernachlassigt  habe. 
Aber  man  ist  hier  der  Gefangene  der  einmal  outrierten  Poli- 
tik, man  kann  schwer  wieder  zuriick.  Und  so  ist  heute  fest- 
zustellen, daB  an  der  fur  die  proletarische  Losung  der  Krise 
entscheidenden  S telle,  in  der  Eroberung  der  Betriebe  fur  den 
Kommunismus,  bisher  nur  sehr  wenig  geschehen  ist,  und  zwar 
infolge  -einer  Taktik,  die  bereits  ein  sehr  wesentlicher  Teil  der 
kommunistischen  Funktionare  fiir  falsch  halt,  die  man  aber  als 
Sklave   der   bisherigen   Politik  nicht   radikal   zu   andern   wagt. 

Nur  im  Hintergrunde  dieser  Situation  sind  die  letzten  Er- 
eignisse  in  der  SPD  vollig  zu  verstehen.  Die  SPD  bekommt 
die  Folgen  ihrer  Tolerierungspolitik  jeden  Tag  deutlicher  zu 
spiiren.  Der  .Vorwarts'  weiB  beim  Ausgang  der  hamburger 
Wahlen  nichts  andres  zu  sagen,  als  daB  sie  die  Antwort  auf 
die  Verscharfung  der  wirtschaftlichen  Krise  sind.  Ein  wesent- 
licheres  Zeichen  fiir  die  Verburgerlichung  der  heutigen  So- 
zialdemokratie  lafit  sich  nicht  erbringen.  Es  gab  einmal  eine 
Sozialdemokratie,  die  grade  in  der  Krise  zunahm  —  lang  ist 
es  her. 

Die  Emporung  der  sozialdemokratischen  Arbeiter  gegen 
die  Tolerierungspolitik  des  Parteivorstandes  wird  immer  groBer. 
Der  Parteivorstand  hat  bisher  nur  eine  Antwort  daraui:  Aus- 

506 


schluB.  AusschluB  zunachst  der  Jug  end,  so  weit  noch  wclchc 
da  ist.  Es  ist  bekannt,  dafi  der  Prozcntsatz  der  Jugend  in 
der  SPD  geringer  ist  als  der  Prozentsatz  der  Jugend  in 
Beutschland  uberhaupt,  Durch  die  AusschluBoffensive  des 
Parteivorstandes  in  letzter  Zeit  ist  das  Verhaltnis  noch  schlech- 
ter  geworden.  Aber  der  AusschluB  der  Jugend  geniigt  nicnt 
mehr.  Denn  neben  der  Jugend  rebellierte  der  Kreis  um  Seyde- 
witz  immer  starker,  Wenn  dieser  organisatorisch  innerhalb 
der  SPD  noch  nicht  in  die  hunderttausende  geht,  so  lag  und 
liegt  das  an  der  falschen  Gewerkschafts-  und  damit  Betriebs- 
politik  der  KPD.  Denn  wenn  von  dem  Kreis  um  Seydewitz  die 
Tolerierungspolitik  gegeniiber  Briining  immer  starker  kriti- 
siert  wurde,  so  fragten  ihn  die  Arbeiter:  „Wo  willst  du  hin? 
Willst  du  in  die  KPD,  die  sich  durch  ihre  RGO  des  Einflusses 
in  den  Betrieben  so  beraubt  hat?"  Die  falsche  kommunistische 
Taktik  war  ein  nicht  unwesentlicher  Grund  fur  die  vielfach 
schwankende  Haltung,  die  die  Seydewitzgruppe  in  ihrer  Oppo- 
sition gegen  den  Parteivorstand  zeigte.  Aber  selbst  diese 
Opposition  war  dem  Parteivorstand  in  der  immer  kritischeren 
Situation  zu  gefahrlich*  Seydewitz  und  Rosenfeld  sind  aus 
der  Partei  ausgeschlossen.  Eine  groBe  Anzahl  weiterer  Aus- 
schliisse  steht  bevor  und  ist  inzwischen  schon  eingetreten.  Was 
wird  weiter  geschehen?  Einer  aus  dem  Kreise,  der  Reichs- 
tagsabgeordnete  Walter  Oettinghaus,  der  Bevollmachtigter  des 
Deutschen  Metall-Arbeiter-Verbandes  in  Hagen  ist,  tritt  in 
die  KPD  ein,  und  er  hat  zur  Begnindung  dieses  seines 
Schrittes  gesagt,  es  sei  ihm  vom  kommunistischen  Zentral- 
Komitee  zugesichertt  worden,  daB  er  seine  Tatigkeit  im  Ver- 
band  fortsetzen  konne,  denn  die  Kommunistische  Partei  ge- 
denke,  ihre  RGO  zu  liquidieren.  Man  muB  aufs  scharfste  be- 
zweifeln,  ob  die  Kommunistische  Partei  ihr  Versprechen  an 
Oettinghaus  halten  wird,  Wenn  die  Partei  diese  Politik  wirk- 
lich  liquidieren  wollte,  so  wurde  sie  es  nicht  auf  die  Weise 
tun,  dafl  sie  einem  sozialdemokratischen  Abgeordneten,  der  zu 
ihr  iibertritt,  ein  Versprechen  gibt,  sondern  sie  wird  es  tun, 
wenn  die  objektiven  Verhaitnisse  sie  dazu  zwingen,  wenn  nicht 
ein  Einzelner  mit  ihr  verhandelt,  sondern  wenn  die  Verhandlun- 
gen  von  Macht  zu  Macht  erfolgen.  Dazu  aber  geniigt  in  keiner 
Weise,  was  Seydewitz  und  Rosenfeld  bisher  getan  haben,  die 
ihren  Kampf  gegen  den  sozialdemokratischen  Parteivorstand 
lediglich  unter  der  Devise  der  Meinungsfreiheit  gefiihrt  haben. 
Dazu  ist  der  scharfste  dokumentarische  Bruch  mit  dem  Refor- 
mismus  notwendig.  Dazu  ist  die  Aufstellung  eines  kommuni- 
stischen Programms  notwendig,  eines  Programms,  dafi  der  re- 
formistischen  Wirtschaftsdemokratie  die  Diktatur  des  Prole- 
tariats gegenuberstellt,  das  weiterhin  Gegenwartsforderun- 
gen  aufstellt  und  dem  kapitalistischen  Ausweg  aus  der  Krise 
den  proletarischen  gegenuberstellt.  Eine  neue  zentristische 
Partei  zwischen  KPD  und  SPD  ist  in  Deutschland  auf  die  Dauer 
unmoglich.  Der  Gegner  des  Reformismus  innerhalb  der  Arbei- 
terbewegung  kann  nur  der  Kommunismus  sein.  Dagegen  ist  es 
bei  der  heutigen  Taktik  der  Kommunistischen  Partei  notwen- 
dig, eine  Auffangorganisation,  ein  Sammelbecken  zu  schaffen. 
Wenn   die   Gruppe   um    Seydewitz   und   Rosenfeld   heute   eine 

507 


Aufgabe  innerhalb  der  Arbeiterbewegung  hat,  dann  ist  cs 
diese,  Massen  urn  sich  zu  sammeln,  Masscn,  die  im  Reformis- 
mus  den  Feind  der  Einhcit  der  Arbeiterklasse  sehen,  die  die 
Tolerierungspolitik  ablehnen,  die  bereit  sind,  den  proletari- 
schen  Ausweg  axis  der  Krise  zu  organisieren  und  die  heutige 
Gewerkschaftspolitik  der  Kommunisten  ablehnen,  weil  sie  wis- 
sen,  daB  dadurch  die  kommunistische*  Eroberung  der  Betriebe 
gefahrdet,  wenn  nicht  gar  verhindert  wird  Diese  Massen  sind 
da,  Diese  Massen  sind  nicht  nur  innerhalb  der  linken  sozial- 
demokratischen  Arbeiter  da,  die  mit  Seydewitz  und  Rosen- 
feld  ihr  Parteimitgliedsbuch  wegwerfen,  sondern  dariiber  hin- 
aus  gibt  es  Hunderttausende,  ja  Millionen,  die  Kommunisten 
sind,  die  den  Reformismus  ablehnen,  aber  auch  die  kommuni- 
stische  Taktik  der  RG-O.  Sie  gilt  es  zu  organisieren  Sie 
gilt  es  zu  sammeln  Gelingt  dies,  gelingt  die  Organisation, 
dann  ist  ein  objektiver  Faktor  geschaffen,  der  die  KPD  zu 
einer  taktischen  Wendung  veranlassen  konnte,  zu  einer  tak- 
tischen  Wendung,  die  ihre  besten  Funktionare  bereits  heute 
fiir  notwendig  halten.  Dann  ist  der  entscheidende  Faktor  ge- 
s  chaff  en  fiir  die  Eroberung  des  Sozialismus:  die  Einheit  der 
klassenbewuBten  Arbeiterschaft. 


Interview  mit  Max  Seydewitz  waitueTkarsch 

Frage 

LJaben  Sie     und  Ihre  Gesinnungsfreunde  vor,      eine  neue  Partei  zu 
griinden? 

Antwort 

Ja,  denn  es  bleibt  uns  kein  andrer  Weg  tibrig,  wollen  wir  nicht 
in  dre  vollige  Isolierung  geraten.  Zur  Kommunistischen  Partei  konnen 
wir  nicht  gehn,  weil  uns  wichtige  Fragen  der  Taktik  und  der  Organi- 
sation von  ihr  trennen.  Fur  die  Durchfiihrung  des  Klassenkampfes 
hat  es  sich,  zum  Beispiel,  als  eine  Gefahr  erwiesen,  dafi  eine  zentrale 
Stelle,  also  Moskau,  dekretiert,  was  in  den  einzelnen  Landern  zu  ge- 
schehen  hat.  Aber  die  Bedingungen  sind  in  jedem  Land  anders,  und 
es  gibt  kein  allgemeingtiltiges  Rezept.  Meinungsverschiedenheiten 
politischer  Natur  fiihrten  zu  unserm  Ausschlufi  aus  der  SPD,  weil 
wir  uns  der  Apparatdiktatur  nicht  fugen  wollten.  In  der  KPD  aber 
ist  diese  Apparatdiktatur  noch  viel  starker  ausgebildet.  Wir  wurden 
sicherlich  sofort  wieder  ausgeschlossen  werden,  wenn  wir  unsrer  ab- 
weichenden  Meinung  Geltung  verschaffen  wollten.  Wir  wollen  inner- 
halb der  Partei  die  Freiheit  der  Meinungsaufierung  gewahrt  wissen. 
Da  aber  die  Kommunisten  jeden  beschimpfen,  der  auch  nur  in  den 
geringfiigigsten  taktischen  Fragen  andrer  Meinung  ist,  so  war  auch 
aus  diesem  Grunde  fur  uns   der  Weg  zur  KPD  verschlossen, 

Frage 

Ist  es  denn  zu  einer  Parteineugrundung  nicht  bereits  zu  spat? 
Hat     es    die    SPD     nicht     ausgezeichnet    verstanden,     Sie    und     Ihre 

508 


Freunde  in  die  Isolierung  zu  lawieren?  Und  geht  nicht  auf  der 
andern  Seite  beute  die  Massenbewegung  der  Arbeiter  von  der  SPD 
direkt  zur  KPD? 

Antwort 

Da  wir  keine  Parteispaltung  wollten,  lag  es  auch  nicbt  in  unsrer 
Macht,  den  Zeitpunkt  zu  einer  Parteineugrundung  zu  bestimmen;  wir 
haben  gar  nicbt  daran  gedacbt,  eine  neue  Partei  auizumachen,  so  lange 
wir  nocb  Mitglieder  der  SPD  waren.  Erst  beute,  wo  wir  ausgeschlossen 
sind,  wird  diese  Frage  akut.  Ob  es  zu  spat  ist  oder  nicht,  das  wird 
die  Entwicklung  lehren.  Wir  wollen  nicht,  daB  unsre  Genossen,  die 
mit  uns  kommen,  der  politischen  Indifferenz  anheimfallen,  denn  fiir 
sie  gibt  es  keinen  Weg  zur  KPD.  Auch  zwischen  den  oppositionellen 
SPD-Arbeitern  und.  den  Kommunisten  besteht  eine  HaBatmosphare,  in 
der  ein  Zusammengehen  nicbt  gedeihen  kann.  Unsre  Genossen 
wollen  nicbt,  sie  lehnen  den  Kurs  der  KPD  ab,  Diejenigen, 
die  binter  uns  stehn,  verlangen  von  uns  '  die  Schaffung  einer 
organisatorischen  Bindung,  Ein  Grund  mehr  fiir  uns,  unser  Partei- 
projekt  in  Angriff  zu  nehmen;  ungeachtet  aller  Hemmungen,  die  sicb 
entgegenstellen  konnen  und  entgegenstellen  werden,  Wenn  Oetting- 
haus  zur  KPD  ubergetreten  ist,  so  erklart  sich  das  aits  der  besonderen 
Situation  im  Westen  Deutschlands,  Hier  haben  sich  die  Klassen- 
gegensatze  weitaus  mehr  verscharft  als  anderswo  in  Deutschland,  Die 
Arbeiterschaft  war  demgemaB  noch  viel  weniger  mit  der  Tolerierungs- 
taktik  der  SPD  einverstanden.  Auf  diese  unzufriedenen  Massen  kon- 
zentrierte  sich  nun  der  Druck  der  Parteidiktatur  so  sehr,  daB  tiberall 
Ausschliisse  erfolgten.  Da  die  Ausgeschlossenen  nicht  zur  politischen 
Inaktivitat  verdammt  sein  wollten  und  wiederum  noch  kein  andres 
Becken  da  war,  sie  aufzunehmen,  so  vollzogen  sie  den  Ubertritt  zur 
KPD,  und  Oettinghaus  hat  scblieBlich  nichts  andres  getan  als  aus 
dem  Obertritt  der  groBen  Anzahl  von  Mitgliedern  seines  Bezirks  die 
Konsequenzen  zu  ziehen.  Das  alles  aber  gilt  nur  fur  den  Westen 
Deutschlands,  und  auch  da  nur  bedingt. 

Frage 

Wie  stehen  Sie  zu  den  Gewerkschaften?  Tragen  Sie  Ihren  Kampf 
auch  in  diese,  und  wie  werden  Sie  sich  mit  der  Revolutionaren  Ge- 
werkschafts-Opposition  auseinandersetzen? 

Antwort 

Wir  sind  selbstverstandlich  nach  wie  vor  gegen  jegliche  Spaltung 
in  den  Gewerkschaften.  Mag  der  politische  Standort  der  Arbeiter 
auch  verschieden  sein,  in  wirtschaftlichen.  Fragen  kann  es  nur  ein  ge- 
meinsames  Vorgehen,  und  zwar  innerhalb  der  freien  Gewerkschaften 
geben,  Man  hat  uns  oft  entgegengehalten,  warum  sich  unsre  Genos- 
sen in  den  Gewerkschaften  so  zuriickhielten.  Das  kam  einfach  daher, 
daB  jedem  Kritiker  aus  den  Reihen  der  oppositionellen  Arbeiter  von 
der  Gewerkschaftsbureaukratie  bedeutet  wurde,  er  betreibe  das  Ge- 
schaft  der  kommunistischen  Spalter.  Die  oppositionellen  SPD-Arbeiter 
sind  scblieBlich  einfach  den  Versammlungen  ferngeblieben,  weil  sie 
um  der  Fraktionsdisziplin  willen  still  sein  und  ibre  Meinung  unter- 
driicken  muBten.  Diese  Hemmung  fallt  jetzt  fort.  Es  wird  sich  dann 
zeigen,    daB  wir  grade   in   den   Gewerkschaften   liber   eine   erbeblicbe 

509 


Zahl  von  Anhangern  verfiigen.  Wie  ja  iiberhaupt  die  Ansicht,  wir 
seien  isoliert,  weil  doch  zunachst  so  wenig  bcsoldcte  Funktionare  mit- 
gegangen  sind,  total  verkehrt  ist.  Die  von  der  Partei  abhangigen 
Funktionare  warten,  ob  wir  vorwarts  kommen  oder  aber  auf  der 
Strecke  bleiben;  und  ich  babe  alles  Verstandnis  daftir,  Diese  im 
Apparat  arbeitenden  Genossen  haben  zwar  EinfluB  auf  viele  Arbeiter, 
sie  sind  aber  nicht  die  Massen.  Und  von  denen  wird  ein  erheblicher 
Teil  mitmachen,  wenn  wir  zur  Aktion  schreiten.  Unsre  Genossen 
sind  mit  Recht  der  Ansicht,  dafi  die  Grtindung  der  RGO 
ebenso  wie  alle  andern  Spaltungen,  so  zum  Beispiel  auf  kulturpoli- 
tischem  Gebiet  und  im  Sport,  der  Arbeiterschaft  nur  geschadet  ha- 
ben, Auch  aus  diesen  Grtinden  erklart  sich  die  Abneigung  unsrer 
Anhanger  gegen  den  Eintritt  in  die  KPD.  Ich  will  Ihnen  noch  ein 
ganz  typisches  Beispiel  fur  die  Stimmung  in  unsrer  Arbeiterschaft 
geben.  Die  Sportorgamsationen  haben  sich  im  Laufe  der  Jahre  zum 
groBten  Teil  uberall  eigne  Hallen  und  Platze  erworben.  Heute  sitzen 
nun  die  von  der  Spaltung  Ubriggebliebenen  in  den  groBen  Raumen, 
ihre  Hauser  sind  in  wirtschaftlichen  Schwierigkeiten,  —  und  die 
Schuld  wird  naturlich  den  Kommunisten  zugeschrieben.  So  grotesk 
es  erscheinen  mag,  aber  grade  solche  scheinbaren  Kleinigkeiten  tragen 
dazu  bei,  die  Atmosphare  im  Kampf  der  Arbeiter  aus  den  ver- 
schiedenen  Parteien  zu  vergiften.  Wir  wollen  innerhalb  all  dieser 
Organisationen  fur  unsre  Ziele  kampfen  und  glauben,  daB  grade  die 
Gewerkschaften  fur  uns  ein  groBes  Wirkungsfeld  darstellen.  Die  RGO 
werden  wir  bekampfen,  weil  sie  der  Sache  der  Arbeiterschaft  im 
Kampf  um  die  wirtschaftlichen  Forderungen  nur  schadet,  indem  sie 
deren  Krafte  zersplittert. 

Frage 

Wird  man  die  neu  zu  grundende  Partei  als  eine  radikalisierte 
SPD  anzusprechen  haben,  oder  denken  Sie  an  die  Schaffung  einer 
neuen,  auf  ganz  andern  geistigen  Grundlagen  ruhenden  Partei,  die 
sich  nicht  mehr  allein  parlamentarisch-demokratischer  Mittel  bedient 
sonderh  den  aktuellen  revolutionaren  Kampf  um  die  Machtergreifung 
durch  die  Arbeiterschaft  in  den  Mittelpunkt  ihrer  Politik  stellt? 


Antwort 

Wir  werden  uns  selbstverstandlich  nicht  damit  begniigen,  das 
Programm  der  SPD  zu  radikalisieren.  Vorerst  aber  ist  es  einmal 
notwendig,  ein  provisorisches  Aktionsprogramm  aufzustellen,  ehe 
wir  uns  in  weitgehende  programmatische  Diskussionen  einlassen  kon- 
nen,  Aber  soviel  laBt  sich  schon  jetzt  sagen:  Im  Sinne  von  Karl 
Marx  sind  auch  wir  fur  die  Diktatur  des  Proletariats,  „die  Diktatur 
der  ungeheuren  Mehrheit  im  Interesse  der  ungeheuren  Mehrheit." 
AuBerdem  halten  wir  im  Gegensatz  zu  der  alten  SPD  die 
gegenwartige  Krise  nicht  fur  voriibergehend.  Sie  geht  tiefer, 
und  wir  miissen  sie  ausnutzen  zum  Sturze  des  kapitali- 
stischen  Gesellschaftssystems.  Das  ist  ubrigens  ganz  im  Sinne  des- 
sen,  was  die  Zweite  Internationale  auf  ihrem  KongreB  in  Wien  be- 
schlossen  hat.  Dieser  BeschluB  blieb,  wie  manches  andre,  Papier. 
In    den    organisatorischen    Fragen   haben   wir   an   eine   weitestgehende 

510 


interne  Demokratie  gedacht.  Wir  wollen,  dafi  die  Funktionare  von 
der  Masse  getragen  und  nicht  von  oben  her  bestimmt  werden,  wie 
das  in  der  SPD  der  Fall  ist.  Unsre  Funktionare  sollen  Beauftragte  - 
der  sie  wahlenden  Massen  sein,  standi  ger  Ausdruck  fur  den  Willen 
dieser  Massen,  Die  Stimmung  der  SPD-Mitglieder  ist  verfalscht 
worden  durch  die  Allmacht  der  Bureaudiktatur.  Dieser  Gefahr  miis- 
sen  wir  von  vornherein  begegnen.  Das  ist  es  ja  auch,  was  wir  unter 
anderm  an  den  Kommunisten  auszusetzen  haben,  diese  Unterdruckung 
der  Parteidemokratie.  Disziplin  muB  gehalten  werden,  aber  diese  ist 
nicht  gleichbedeutend  mit  bedingungslosem  Kuschen.  Wer  iibrigens 
Naheres  iiber  „Unsere  Stcllung  zu  Sowjetrufiland"  wissen  will,  den 
verweisen  wir  auf  den  Band  gleichen  Titels  aus  der  Reihe  „Die  roten 
Bucher".  Wir  gehen  da  iiber  den  auch  nie  beachteten  Beschlufi 
des  marsailler  Kongresses:  Hande  weg  von  Sowjetrufiland!  —  hinaus. 
Wir  wollen  uns  schiitzend  vor  die  Sowjetunion  stellen. 

Frage 

Gefahrdet  eine  neue  Partei  die  Rote  Einheitsfront  nicht  mehr 
als   sie   ihr   niitzt? 

Antwort 

Im  Gegenteil.  Wir  sehen  heute  zwei  Arbeiterlager,  die  durch 
einen  tiefen  Spalt  voneinander  getrennt  sind.  Keines  dieses  Lager 
wird  die  Rote  Einheitsfront  schaffen,  weil  keiner  den  Spalt  iiber- 
briicken  sondern  den  andern  zu  sich  heriiberziehen  will.  Wir  wol- 
len diese  Brticke  bauen,  und  deshalb  ist  unsre  Partei  nicht  Selbst- 
zweck,  sie  ist  Mittel  zu  diesem  Zweck.  Wir  sind  der  Oberzeugung, 
daB  doch  noch  einmal  eine  groBe  eihheitliche  Arbeiterpartei  ent- 
stehen  wird,  Natiirlich  wird  sie  nur  existieren  konnen,  wenn  sie  sich 
ihres  rechten  Fliigels,  des  kleinbiirgerlich  gewbrdenen  Teils  der 
SPD,  entledigt  haben  wird.  Bis  diese  einheitliche  Partei  zustande- 
kommt,  wird  noch  einige  Zeit  vergehen.  Wir  wollen  die  Vorarbei- 
ten  dazu  leisten.  Und  da  ist  uns  ein  jeder  willkommen.  Wir 
werden  ftir  grofite  Toleranz  in  der  Partei  sein  und  daftir  sorgen, 
daB  in  den  Parteileitungen  alle  Stromungen  vertreten  sind; 
denn  nur  so  haben  wir  die  Garantie,  tatsachlich  den  Willen  der 
Mehrheit  unsrer  Mitglieder  auszufiihren,  Wir  sind  dabei  der  Uber- 
zeugung,  daB  es  uns  gelingen  wird,  so  ziemlich  alle  Gruppen  zwi- 
schen  SPD  und  KPD  in  einer  gemeinsamen  Front  zu  einigen,  eben 
wegen  der  von  uns  angewandten  weitgehenden  Toleranz.  Wir  haben 
diese  Hoffnung,  alle  Gruppen  zwischen  SPD  und  KPD  fiir 
uns  gewinnen,  denn  wir  wollen  uns  mit  alien  einigen,  die  mit  uns 
kampfen  wollen  und  die  vor  allem  aus  iKrer  todlichen  Isolierung  her- 
auswollen.  Am  starksten  aber  macht  sich  unser  Einflufi  auf  die  Ju- 
gend  geltend.  Es  steht  schon  heute  fest,  dafi  sich  der  grofite  Teil  der 
sozialistischen  Arbeiterjugend  zu  uns  ,  bekennt,  und  andre  Jugerid- 
organisationen  haben  uns  bereits  ihre  Mitarbeit  angeboten.  Wir  wer- 
den die  Formel  finden,  auf  der  wir  sie  einigen  konnen.  Helfen  wird 
uns  da  unser  Wille  zur  Toleranz  und  zur  Demokratie  innerhalb  der 
Organisation.  Die  Rote  Einheitsfront  wird  durch  uns  nicht  gefahr- 
det. Wir  werden  sie  vor  allem  mit  denen  zu  schaffen  versuchen,  die 
bisher  vergeblich   an  ihrem   Zustandekommen  gearbeitet  haben. 

511 


Die  Krise  des  Kapitalismus  yon  Bernard  citron 

Der  gerechtfertigte  Marx 

\/or  einem  halben  Jahrhundert  hat  Karl  Marx  die  Welt  mit 
seiner  Mehrwerttheorie,  die  den  Kern  der  marxistischen 
Lehre  bildet,  vertraut  gemacht/  Im  letzten  Jahrzehnt  hatte 
man  bis  tie!  in  die  Reihen  der  Arbeiterschaft  hinein  diese  Be- 
griffe  bereits  fiir  iiberlebt  gehalten.  Das  gedankenlose  Ge- 
schrei,  das  von  Industriefuhrern  und  nationalsozialistischen 
Demagogen  wider  den  Marxismus  erhoben  wurde,  rettete  ihn 
wenigstens  vor  der  Vergessenheit.  Plotzlich  aber  hat  Karl 
Marx  uber  alle  seine  Gegner  von  Walt  her  Rathenau  bis  Gott- 
fried Feder  triumphiert/  Die  Gesetze  vom  Mehrwert  und  von 
der  Akkumulation  bedrohen  die  Existenz  des  Kapitalismus, 
Der  Mehrwert  ist  jener  Teil  der  durch  Arbeitskraft  erzeugten 
Leistung,  der  den  Konsum  der  Arbeit enden  ubersteigt.  Aus 
diesem  Mehrwert  entsteht  die  Anhaufung  des  Kapitals,  Grade 
in  der  Akkumulation  sah  ein  so  geistvoller  Kritiker  des 
Marxismus  wie  Rathenau  die  Lebensberechtigung  des  Kapi- 
talismus, da  nach  Abzug  des  Unternehmerverbrauchs  der 
Mehrwert  wieder  dem  ProduktionsprozeB  zugefiihrt  wird.  Er 
iibersah  aber  —  mit  ihm  die  meisten  Gegner  der  marxistischen 
Lehre  — ,  daB  der  Fortschritt  des  Produktionsprozesses  nur 
dann  einen  okonomischen  Sinn  behalt,  wenn  die  Konsumkraft 
der  Bevolkerung  in  gleichem  MaBe  steigt  wie  die  Erzeugungs- 
kapazitat  des  Landes.  Da  aber  die  Spanne  zwischen  Pro- 
duktion  und  Verbrauch  von  Jahr  zu  Jahr,  von  Jahrzehnt  zu 
Jahrzehnt  groBer  wurde,  hat  der  nicht  konsumierte  Mehrwert 
schlieBlioh  zu  der  von  Marx  vorausgesehenen  Krise  des  Kapi- 
talismus gefuhrt.  Das  gegenwartige  System  der  Weltwirt- 
schalt  oHenbart  seine  Sinnlosigkeit,  indem  die  Existenz  der 
SchaHenden  durch  Mangel,  die  der  Unternehmer  durch  Ober- 
fluB  an  Konsumgutern  bedroht  ist. 

Absatznot  —  Arbeitsnot 

In  jener  schon  halbvergessenen  Zeit,  als  noch  taglich 
Wertpapierborsen  abgehalten  wurden,  war  die  Tendenz  regel- 
maBig  flau,  wenn  ein  Bericht  des  Instituts  fiir  Konjunktur- 
forschung  veroffentlicht  wurde,  Man  machte  dafiir  natiirlich 
nicht  die  Konjunktur,  sondern  das  Forschungsinstitut  verant- 
wortlich,  Ein  Erdbeben  laBt  sich  nicht  vermeiden,  auch  wenn . 
man  den  Seismographen  zerstort.  Im  letzten  Vierteljahrs- 
bericht  des  Konjunkturforschungsinstituts  hieB  es,  daB  sich  die 
riicklaufige  Entwicklung  in  alien  kapitalistischen  Volkswirt- 
schaften  fortsetzt.  Die  weitere  Einschrankung  der  Wirtschafts- 
tatigkeit  durch  Verringerung  des  Kreditvolumens  wurde  mit 
dem  Steigen  der  Geldsatze  in  den  meisten  mittel-f  ost-  und 
sudeuropaischen  Landern  und  in  GroB-Britannien  erklart.  Die 
Geld  vers  teifung  hat  nun  auch  auf  Nordeuropa  iibergegriffen, 
Eine  neue,  ungeahnte  Erscheinung  ist  hinzugetreten:  die  Geld- 
abwertung  in  England,  den  skandinavischen  Staaten  und  , , . 
(Fortsetzung  folgt),  Also  grade  die  Staaten,  die  bisher  zu  den 
kapitalkraftigsten    gezahlt   wurden,    sirid   als  Kreditgeber   aus- 

512 


geschaltet,  der  Export  nach  diesen  Wirtschaftsterritorien  ist 
fur  die  andern  Lander  —  vor  allem  fiir  Deutschland  —  sehr 
erschwert  worden.  In  den  Vereinigten  Staaten  machen  sich 
unter  dem  Eindruck  der  eignen  ungeheuren  Absatzkrise  neue 
Schutzzolltendenzen  bemerkbar.  Da  es  trotz  der  hoffnungs- 
vollen  Verhandlungen  zwischen  den  deutschen  und  den  fran- 
zosischen  Ministern  nicht  gelingen  diirfte,  bei  Frankreich  einen 
genii^enden  Ersatz  fiir  den  Exportausfali  nach  andern  Landern 
zu  finden,  muB  mit  einem  Sinken  des  deutschen  Ausfuhriiber- 
schusses  gerechnet  werden.  Diese  Tatsache  ist  um  so  nieder- 
schmetternder,  als  die  seit  einem  Jahre  fast  ununterbrochen 
gestiegene  Aktivitat  der  Handelsbilanz  nur  die  Folge  einer  bis 
zum  auBersten  verminderten  Einfuhr  gewesen  ist.  So  miissen 
wir  befurchtenj  dafi  die  Produktion  in  Deutschland,  die  in  der 
ersten  Halfte  des  Jahres  um  5  Milliarden  Reichsmark  zuriick- 
gegangen  ist,  noch  eine  weitere  Einschrankung  erfahren  wird. 
Gleichzeitig  wird  sich  auch  das  im  selben  Zeitraum  um  3  Milli- 
arden Mark  gesunkene  Arbeitseinkommen  weiter  verringern, 
Im  Kreislauf  der  Volkswirtschaft  erzeugt  das  verminderte  Ar- 
beitseinkommen verminderte  Kaufkraft  und  neue  Drosselung 
der  Produktion.  So  kommt  es  taglich  zu  Entlassungen  und 
Betriebsstillegungen.  Die  vermehrte  Arbeitslosigkeit  und  das 
Sinken  der  Unterstiitzungssatze  «chwacht  wiederum  die  Kon- 
sumkraft  und  fiihrt  zu  immer  neuen  Absatzkrisen.  Ein  furcht- 
barer  circulus  vitiosus,  dessen  Radius  —  nach  den  Schatzun- 
gen  des  Reichskanzlers  —  Arbeitslosigkeit  fiir  7  Millionen 
Menschen  bedeutet, 

Angesichts  dieser  verzweifelten  Lage  sind  gewisse  Pro- 
jekte  aufgetaucht,  um  die  Arbeitslosenbataillone  wieder  in  die 
Armee  der  Arbeit  einzureihen.  Arbeitslosensiedlung,  Natural- 
unterstiitzung  und  freiwilliger  Arbeitsdienst  gehen  ihrer  Ver- 
wirklichung  entgegen,  Eines  haben  diese  drei  Projekte  gemein- 
sam,  sie  beweisen  die  Absurditat  eines  iibersteigerten  kapi- 
talistischen  Systems  und  fiihren  zur  primitiven  Form  der  vor- 
kapitalistischen  Wirtschaft  ,  zuriick,  Der  Siedlungsgedanke, 
der  in  einigen  Gegenden  bereits  durchgefiihrt  ist,  soil  die  aus 
dem  ProduktionsprozeB  Ausgeschalteten  zu  Selbstversorgern 
machen.  Die  Beschaffung  der  Kleidung  und  des  fehlenden 
Teiles  der  Nahrung  soil  durch  Verkauf  eigner  Erzeugnisse  oder 
durch  beschrankte  Dienstleistung  ermoglicht  werden.  Die  Na- 
turalversorgung  soil  dazu  dienen,  die  Bediirfnisse  der  Arbeits- 
losen  aus  dem  ProduktionsuberschuB  zu  befriedigen.  Der  Ver- 
brauch  wird  nach  der  Produktion  reguliert,  weil  die  Produ- 
zenten  es  unterlassen  haben,  die  Erzeugung  im  Preis  und  Urn- 
fang   dem  Verbrauch  anzupassen. 

Ersparnis  an  Arbeitskraften  durch  technische  Vervoll- 
kommnung  und  Vermehrung  der  Produktionsmittei  war  das 
Prinzip  der  Rationalisierungsmethoden*  die  Millionen  von  Ar- 
beitern  mittelbar  oder  unmittelbar  brotlos  gemacht  haberi. 
-FluBregulierung,  Urbarmachung  von  Odland,  Wegebau  etc.  — 
die  Aufgaben  des  Arbeitsdienstes  —  sollen  Arbeitskraft  bei 
sparsamster  Verwendung  von  Produktionsmitteln  der  All- 
.gemeinheit  nutzbar  machen.     Bezeichnend  ist  es,  daB  man  bei 

3  513 


jedem  Projekt  zur  Bekampfung  der  Arbeit  slosigkeit  auf  Ver^ 
suche  stoBt,  die  Schaden  durch  Umkehrung  des  bisheriger* 
Systems  zu  heilen, 

Kredit-  und  Kreditihstitute 

Eine  moderne  Volkswirtschaf  t  ohne  heimischen  und  inter- 
nationalen  Kreditverkehr  ist  niclit  denkbar.  Daher  bringt  die 
plotzliche  Abschniirung  vom  Kredit  mark  t  schwere  Erschiitte- 
rungen  mit  sich,  unabhangig  von  der  gesunden  oder  ungesun- 
den  Basis  der  friihern  Kreditpolitik.  Wie  ungesund  sie  bei 
uns  und  in  den  meisten  andern  Staaten  gewesen  ist,  hat  der 
franzosische  Finanzminister  Flandin  vor  dem  Volkerbund  dar~ 
gelegt.  Da  Frankreich  vorlaufig  recht  behalten  hat,  miissen 
die  andern  Nationen  die  Belehrungen  des  Herrn  Flandin  wohl 
oder  ubel  hinnehmen.  ,,Ein  Land,  England,  hat  seine  Arbeits- 
losigkeit  ruhig  um  sich  fressen  lassen,  ein  andres,  Deutsche 
land,  bat  sich  an  der  Rationalisierung  ruiniert,  andre,  ameri- 
kanische  Staaten,  haben  ihre  Warenlager  zu  valorisieren  ver- 
sucht  und  dadurch  die  Kapitalzirkulation  gehe.mmt."  Man  hort 
ferner  den  wohlgemeinten  Rat,  an  Stelle  neuer  Kredite  die 
alten  aufrechtzuerhalten.  Den  gleichen  Gedankengangen  ist 
die  Stillhaltung  entsprungen,  die  auf  Grund  der  Vereinbarun- 
gen  zwischen  Deutschland  und  den  auslandischen  Bankglaubi- 
gern  zustande  kam.  Die  vollige  Absperrung  von  neuen  Kre- 
diten  ist  ohne  Schwierigkeit  nur  denkbar,  wenn  ein  normaler 
Kreditstandard  aufrechterhalten  wird.  Als  aber  die  Stillhal- 
tung  in  Kraft  trat,  war  bereits  ein  sehr  grofler  Teil  auslan- 
discher  Guthaben  aus  Deutschland  abgezogen  worden.  Die 
Verhinderung  jeder  neuen  Kreditzufuhr  wirkt  sich  als  indirelt- 
ter  Kreditabzug  aus.  So  ist  die  Kapitaldecke  in  Deutschland 
vollstandig  eingeschrumpft,  Der  deutsche  Realkredit,  dessen 
Gesamtvolumen  rund  12  Milliarden  betragt,  ist  ins  Stocken  ge- 
raten.  Die  Sparkassen  lassen  erklaren,  daB  die  Liquiditats- 
politik  vor  der  Kreditpolitik  gehe.  Die  Kreditbanken  haben 
das  einzige  Streben,  ihre  Debitoren  moglichst  abzubauen. 

Ahnlich  wie  nach  dem  Zusammenbruch  der  Oesterreichi- 
<schen  Credit-Anstalt  erfahrt  man  erst  jetzt  allmahlich  von  dem 
AusmaB  der  Schwierigkeiten  bei  der  Danatbank.  Vor  zwei- 
einhalb  Monaten  schloB  dieses  Institut  seine  Schalter.  Ein 
Treuhander  wurde  eingesetzt,  der  den  Status  mit  moglichster 
Beschleunigung  vorlegen  sollte.  Bis  heute  herrscht  iiber  die 
Hohe  der  Aktiven  und  Passiven  volliges  Dunkel.  Die  Industrie 
war  angeblich  bereit,  die  Aktienmajoritat  dieser  Bank  zu  er- 
werben,  Auch  dies  ist  schon  anderthalb  Monate  her,  ohne 
dafi  man  etwas  Positives  gehort  hatte,  Nur  die  bisherige  Lei- 
tung  bemiihte  sich,  die  Offentlichkeit  durch  tendenziose  Mel- 
dungen  von  einem  bevorstehenden  AbschluB  bei  Stimmung  zu 
halten.  Nach  dem  bisherigen  Verlauf  gewinnt  man  den  be- 
stimmten  Eindruck,  daB  auf  die  Reichsgarantie  bereits  zuriick- 
gegriffen  worden  ist.  Be  vor  der  Treuhander  ^  nicht  kiipp  und 
klar  das  Gegenteil  beweisen  kann,  miissen  wir  an  dieser  An- 
nahme  festhalten.  Auch  das  Schicksal  der  Dresdher  Bank  ist 
noch  ungewiB.  Bald  nach  dem  Eintritt  der  Vertreter  des 
Reichs  in  den  Aufsichtsrat  tauchte  der  Gedanke  auf,  die  Bank 

514 


in  ein  norddeutsches,  ein  siiddeatsches  und  ein  westdeutsches 
Institut  aufzuteilen.  Man  hat  diescn  Plan  wieder  fallen  lassen, 
ohne  daB  an  eine  Fortftihrung  im  altcn  Stil  gedacht  werden 
kann.  Die  Pfundverluste,  die  andre  sehr  groBe  Bankinstitute 
in  den  letzten  Wochen  erlitten  haben,  riefen  bereits  neue  Ge- 
fahren  hervor,  die  anscheinend  nur  mit  Hilfe  des  Reiches  vor- 
laufig  gebannt  werden  konnten.  Eine  Zeitlang  dtirfte  man  so- 
gar  an  die  Wiederholung  der  MaBnahmen  vom  13.  und  14.  Juli 
gedacht  haben. 

Wer  zahlt? 
Banken,  Sparkassen  und  Hypothekenbanken  scheiden  fiir 
die  Kreditversorgung  der  Wirtschaft  vorlaufig  aus.  Es  bleibt 
also  als  letztc  ZufLucht  das  Reich.  Das  Reich  hat  die  Banken 
und  die  Kommunen  sanieren  mussen,  ihm  fallt  die  Unter- 
sttitzung  der  Arbeitslosen  in  erster  und  letzter  Linie  zur  Last, 
Mit  einem  Defizit  von  anderthalb  Milliarden  trat  das  Reich  in 
die  Jtdi-Krise  ein.  Die  Aufwendungen,  die  durch  Subventionen 
und  Garantien  zugunsten  privater  und  offentlicher  Stellen  ent- 
stehen,  lassen  sich  schwer  abschatzen;  somit  ist  es  auch  un- 
moglich,  eine  bestimmte  Zahl  fiir  den  Fehlbetrag  im  Reichs- 
haushalt  zu  nennen,  der  sich  nicht  nur  durch  vermehrte  Aus- 
gaben  sondern  auch  durch  Verringerung  des  Steueraufkom- 
mens  vergrofiert  hat.  Selbst  bei  einem  vollen  Erfolg  der 
Reichsbahnanleihe,  der  wohl  kaum  zu  erwarten  ist,  wird  nur 
ein  sehr  bescheidener  Teil  des  Defizits  konsolidiert  werden 
konnen.  Also  bleibt  anscheinend  nur  die  Schafiung  zusatzlicher 
Zahlungsmittel,  die  nicht  vorne  herum  durch  vermehrten  No- 
tendruck,  sondern  iiber  die.  Hintertreppe  in  Form  weitherziger 
Wechseldiskontierungen  bereits  stattgefunden  hat.  In  den  fol- 
genden  schweren  Monaten  wird  es  sich  zeigen,  ob  es  noch 
moglich  ist,  durch  Wahrungsexperimente  —  Inflation  oder  De- 
flation —  das  System  zu  retten  oder  ob  wir  dem  Ende  der 
deutschen  und  vielleicht  auch  der  europaischen  Wirtschaft 
entgegengehen. 

Zu  dieser  Zensur 

FYas  ist  ja  eben  der  Segen  der  PreBfreiheit,  sie  raubt  der  kuhnen 
^  Sprache  des  Demagogen  alien  Zauber  der  Neuheit,  das  leiden- 
schaftliche  Wort  neutralisiert  sie  durch  ebenso  leidenschaftliche  Ge- 
genrede,  und  sie  erstickt  in  der  Geburt  schon  die  Ltigengeruchte,  die 
—  von  Zufall  oder  Bosheit  gesat,  so  totlich  frech  emporwuchern 
im  verborgenen,  gleich  jenen  Giftpflanzen,  die  nur  in  dunklen  Wald- 
sumpfen  und  im  Schatten  alter  Burg-  und  Kirchentriimmer  gedeihen, 
im  hellen  Sonnenlichte  aber  elendig  und  jammerlich  verdorren.  Frei- 
Hch,  das  helle  Sonnenlicht  der  PreBfreiheit  ist  fiir  den  Sklaven,  der 
lieber  im  Dunkeln  die  allerhochsten  FuBtritte  hinnimmt,  ebenso  fatal 
wie  fur  den  Despoten,  der  eine  einsame  Ohnmacht  nicht  gern  be- 
leuchtet  sieht.  Es  ist  wahr,  daB  die  Zensur  solchen  Leuten  sehr 
angenehm  ist.  Aber  es  ist  nicht  weniger  wahr,  daB  die  Zensur,  in- 
dem  sie  einige  Zeit  dem  Despotismus  Vorschub  leistet,  ihn  am  Ende 
mitsamt  dem  Despoten  zugrunde  richtet,  daB  dort,  wo  die  Ideen- 
guillotine  gewirtschaftet,  auch  bald  die  Menschenzensur  eingefiihrt 
wird,  daB  derselbe  Sklave,  der)  die  Gedanken  hinrichtet,  spaterhin 
mit  derselben  Gelassenheit  seinen  eigenen  Herrn  ausstreicht  aus  dem 
Buche  des  Lebens,  Heinrick  Heine 

515 


Das  Laster  der  Sparsamkeit 

von  Hanns-Erich  Karainski 

Dereits   vor   cinem   Jahr     gab    der   italienische  Fascismus   die 

Parole  aus:  ^Nieder  mit  -der  fordistischen  Politik  der 
hohen  Lohne!  Zuriick  zur  Sparsamkeit  der  Vater!"  Und  wie 
die  meisten  Errungenschaften  des  Fascismus  hat  sich  die  in 
Deutschland  herrschende  Klasse  auch  diese  Parole  zu  eigen 
gemacht. 

Nun  ist  eine  Ford  er  wig  gewiB  noch  nicht  darum  schlecht, 
weil  sie  zuerst  von  Fascisten  erhoben  worden  ist,  Aber  kann 
ein  Regime  s  einen  Will  en  zur  Zukunft  starker  verneinen,  als 
indem  es  nur  zuriick  in  die  Vergangenheit  weist?  Gibt  es  einen 
deutlicheren  Beweis  fur  die  Unfahigkeit  und  Unfruchtbarkeit 
eines  Systems  als  die  Tatsache,  d&B  es  genotigt  ist,  seine  Zu- 
flucht  zu  Banalitaten  von  vorgestern  zu  nehmen? 

Die  Zeit  ist  aus  den  Fugen,  Kaiser  und  Konige  und  selbst 
das  englische  Pfund  sind  von  ihren  Thronen  gestiirzt,  keine 
Autoritat  steht  noch  fest.  .  Aber  die  herrschenden  Klassen 
spielen  patriarchalische  Regierungsform  und  proklamieren  als 
Ideal  den  guten  Burger,  der  unter  alien  Umstanden  Optimist 
bleibt,  an  amtliche  Verlautbarungen  glaubt,  die  Polizei  fur  den 
besten  Schutz  gegen  alles  Oble  halt,  sich  nicht  zum  Gebrauch 
empfangnisverhiitender  oder  gar  abtreibender  Mittel  verleiten 
laBt,  niemals  aufmuckt,  niemals  widerspricht,  niemals  einen 
eignen  Gedanken  hat  und  vor  allem  unentwegt  spart. 

Ist  Sparsamkeit  iiberhaupt  eine  Tugend?  Neinf  denn  Tu- 
genden  sind  Funktionen  der-  Moral,  Sparsamkeit  dagegen  ist 
eine  okonomische  Funktion,  Okonomische  fiir  moralische  Funk- 
tionen auszugeben,  ist  nun  freilich  einer  der  interessantesten 
Tricks  der  menschlichen  Gesellschaft. 

In  dem  wunderbaren  System,  in  dem  wir  leben,  ist  es 
zum  Beispiel  viel  schlimmer,  Wechsel  zu  falschen  als  etwa  den 
lieben  Nachsten  mit  einer  Geschlechtskrankheit  anzustecken. 
Von  Rechts  wegen:  Wechselfalscher  sind  fiir  die  herrschende 
Ordnung  gefahrlicher  als  Geschlechtskranke.  Der  Wert  der 
Verbrechen  wie  der  Tugenden  richtet  sich  eben  nach  den  je- 
weiligen  Bediirfnissen.  DemgemaB  ware  es  auch  gerechtfertigt, 
die  Sparsamkeit  als  eine  <ler  Tugenden  herauszustaffieren,  die, 
wenn  nicht  auf  Erden,  so  doch  im  Himmel  ihren,  leider  nicht 
diskontfahigen,  Lohn  finden  —  vorausgesetzt,  daB  die  Spar- 
samkeit wirklich  im  Interesse  unsres  Systems  Hegt. 

Das  aber  tut  sie  nicht.  In  Wirklichkeit  ist  sie  langst  ein 
sinnloser  Begriff  geworden,  so  wie  der  Begriff  der  Feloniesinn- 
Los  geworden  ist,  weil  es  keine  Lehnsherrschaft  mehr  gibt. 

Die  Sparsamkeit  wurde  namlich  in  einer  Zeit  zur  Tugend 
erklart,  in  der  die  Menschheit  im  Zustand  der  Hauswirtschaft 
lebte,  Jeder  produzierte  selbstf  was  er  notig  hatte,  und  wenn 
er  es  verbrauchte,  bevor  er  neu  produziert  hatte,  geriet  er  in 
Verlegenheit.  „Spare  in  der  Zeit,  so  hast  Du  in  der  Not"  heifit 
einfach:  IB  Deine  gute  Ernte  nicht  ganz  auf,  die  nachste  kann 
schlecht  sein. 

Was  jedoch  fiir  die  Hauswirtschaft  paBte,  gilt  noch  lange 
nicht   fiir   das   kapitalistische   System,   das   auf   dem  Austausch 

516 


von  Gutern  beruht.  In  der  Hauswirtschaft  schadeite  es  nichts, 
wenn  jemand  alles,  was  er  hatte^,  in  seiner  Scheuer  auf- 
bewahrte.  Im  kapitalistischen  System  miissen  die  Waren,  muB 
vor  all  em  die  Ware  Geld  standig  zirkulieren.  Die  ganze  Exi- 
stenz  des  Kapitalismus  fuBt  darauf,  daB  nicht  gespart,  sondern 
ausgegeben  wird,  moglichst  viel  ausgegeben  wird.  Es  ist  grade- 
zu  das  Kennzeichen  dieses  Systems,  daB  es  immer  mehr  Dinge, 
die  zunachst  uberfliissig  erschienen,  zu  unabweislichen  Bediirf- 
nissen  gemacht  hat. 

Nun  sollen  wir  ja  auch  gar  nicht  sparen  —  wir  sollen  andre 
fiir  uns  sparen  lassen!  Denn  so  verzwickt  ist  die  Moral  des 
Zeitalters,  daB  Sparsamkeit  in  ihm  erst  zur  wahren  Tugend 
wird,  wenn  der  Hausvater  sein  Geld  nicht  in  den  Strumpf  tut, 
sondern  auf  eine  Bank  bringt.  Wenn  die  Bank  zahlungsfahig 
bleibt  und  das  Geld  nicht  seinen  Wert  verliert,  wird  diese 
Tugend  sogar  mit  Zinsen  belohnt. 

Man  stelle  sich  nun  vor,  alle  Menschen  wiirden  wirklich 
nur  kaufen,  was  sie  unbedingt  brauchen,  um  nicht  zu  verhun- 
gern  und"  zu  erfrieren,  und  alles,  was  sie  mehr  verdienen, 
wiirden  sie  als  Spargelder  anlegen.  Was  sollte  dann  mit  diesen 
Spargeldern  geschehen? 

Angeblich  sollen  sie  zur  Kapitalbildung  dienen.  Aber  Spar- 
geld  ist  noch  kein  KapitaL  Damit  es  zum  Kapital  wird,  muB 
es  etwas  einbringen,  also  produktiv  angelegt  werden,  Je  mehr 
jedoch  gespart,  je  weniger  verbraucht  wird,  desto  weniger 
kann  produziert,  desto  weniger  Kapital  angelegt  werden. 

Kapital  statt  Absatz  wollen  natiirlich  auch  nicht  die  ge- 
schickten  Equilibristen,  die  die  Okonomie  mit  der  Moral  ver- 
wechseln.  Fur  sie  ist  Sparsamkeit  auch  durchaus  keine  all- 
gemeine  Tugend,  sondern  lediglich  eine  Vorschrift  des  nationa- 
len  Gottes,  ,tWir",  sagen  diese  patriotischen  Religionsstifter, 
„brauchen  Kapital,  das  deutsche  (englische,  italienische  etce- 
tera) Volk  muB  sich  daher  mit  niedrigen  Lohnen  begniigen 
und  wenig  einkaufen,  es  muB  sparen  und  uns  sein  Geld  geben, 
damit  wir  produzieren  und  unsre  Produkte  moglichst  billig  an- 
dern  Volkern  verkaufen  konnen."  Die  andern  Volker  diirfen 
also  nicht  sparen,  im  Gegenteil,  sie  konnen  nicht  verschwende- 
risch  genug  sein.  Wie  aber,  wenn  die  andern  Volker  von  der 
deutschen  (englischen,  italienischen  etcetera)  Religion  an- 
gesteckt  werden  und  ebenfalls  sparen? 

Die  Idee  der  nationalen  Selbstversorgung  oder  mit  andern 
Worteii:  die  Idee,  die  Einfuhr  abzuschaffen,  ist  gliicklicherweise 
absurd.  Der  Geisteszustand,  dem  sie  entspringt,  ist  darum  nicht 
minder  reaktionar.  Diese  Idee  negiert  die  Weltwirtschaft,  die 
tatsachlich  aufhoren  muBte,  wenn  alle  Lander  nur  noch  aus- 
fiihren  und  nichts  mehr  einfiihren  wiirden,  wobei  man  sich  vor 
Augen  halten  muB,  daB  es  im  Effekt  vollkommen  gleichgiiltig 
ist,  ob  ein  Land  Kapital  oder  Waren  ausfiihrt,  respektive  ein- 
fiihrt.  Auf  diesem  internationaien  Austausch  von  Waren  und 
Kapital  beruht  unsre  Zivilisation.  „Fuhrt  wenig  ein  und  nichts 
aus!"-das  heiBt  deshalb:  Selbstmord  unsrer  Zivilisation. 

Der  einzelne  muB  allerdings  mit  dem,  was  er  hat,  auszu- 
kommen  versuchen.  Die  Witwe,  die  ihr  Scherflein  gab,  han- 
delte  sehr  riskant,  denn  sie  verzichtete  damit  auf  ihr  Existenz- 

517 


minimum.  Fraglicher  ist  es  dagegen  schon,  ob  die  torichten 
Jungfrauen,  die  ihr  01  verbrauchten  und  nachher  im  Dunk  ein 
sa Be nt  wirklieh  so  toricht  waren;  denn  es  ist  sehr  zweifelhaft, 
ob  eia  Gewinn  darin  liegt,  einen  GenuB,  den  man  doch  nur 
einmal  haben  kann,  in  die  Zukunft  zu  verschieben.  Immerhin, 
man  kann  den  Sparsamen  sympathisch  und  den  Verschwender 
wider  war  tig  finden,  besonders  in  einer  Zeit,  in  der  jeder  zur 
Schau  getragene  Aufwand  eine  Herausforderung  der  notleiden- 
den  Massen  ist, 

Aber  es  hand e It  sich  gar  nicht  darum,  ob  der  Mensch  als 
Einzelwesen  mehr  oder  weniger  ausgeben  soil,  ohgleich  der 
Verschwender  im  kapitalistischen  System  em  niitzlicheres  Mit- 
glied  der  Gesellschaft  ist  als  der  Sparsame.  Die  Frage  lautet 
vielmehr:  Niitzt  Sparsamkeit  der  Volkswirtschaft  als  Ganzes 
gesehen?  Wenn  also  das  Gesamteinkommen  des  deutschen 
Volkes  jahriich  50  Milliarden  Mark  betragt:  Ist  es  richtiger, 
daB  das.  deutsche  Volk  einen  moglichst  groBen  Teil  dieses  Be- 
trags  auf  die  Banken  und  Sparkassen  bringt,  oder  ist  es  rich- 
tiger,  daB  es  ihn  in  War«n  anlegt?  Und  weiter:  Niitzt  es  der 
Volkswirtschaft,  wenn  das  Gesamteinkommen  gesenkt  wird? 

Eine  ganz  andre  Frage  ist  es,  wie  das  Nationaleinkommen 
sich  verteilt,  Gesetzt  den  Fall,  die  groBen  Einkomm«n  wiirden 
kleiner  und  die  kleinen  grofier  werden,  so  wiirde  das  ja  an 
der  Gesamtkaufkraft  Deutschlands  nichts  andern;  es  wiirden 
dann  vielleicht  weniger  Pelze  aber  dafiir  mehr  Wintermantel 
gekauft  werden.  Werden  aber  alle  Einkommen  oder  werden 
auch  nur  die  Lohne  der  Arbeiter  gesenkt,  so  verringert  sich 
die  Kaufkraft  insgesamt.  Und  wenn  das  deutsche  Volk  alles 
in  allem  nur  noch  ein  Einkommen  von  25  Milliarden  Mark 
hatte,  dann  konnte  es  eben  nur  noch  fiir  diesen  Betrag  kaufen. 
Und  wenn  es  von  diesen  25  Milliarden  noch  einen  erheblichen 
Teil  sparen  und  den  Kapitalisten  als  Kapital  zur  Verfiigung 
stellen  wiirde,  so  ware  sein  Bedarf  noch  geringer,  es  konnte 
also  noch  weniger  produziert  werden. 

Gegenwartig  werden  die  Kapitalisten  mit  ihrem  eignen 
System  nicht  mehr  iertig,  Sie  versuchen  es  einzuschranken, 
indem  sie  die  Kaufkraft  der  Massen  mit  alien  Mitteln  herunter- 
driicken  und  nach  dem  Prinzip:  Kleiner  Umsatz,  grofier  Nutzen 
wirtschaften,  —  und  hinterher  wundern  *ie  sich,  daB  die  Nation 
immer  armer  wird.  Sie  wolleti  sparen,  sie  bauen  ab,  —  und 
sie  merken  gar  nicht,  daB  sie  Kaufer  abbauen! 

Alle  Welt  spricht  jetzt  davon,  daB  die  Wirtschaft  ,,ange- 
kurbelt"  werden  miiBte.  Innerhalb  des  kapitalistischen  Systems 
gibt  es  dazu  nur  ein  Mittel:  die  VergroBerung  der  Kaufkraft, 
sei  es  durch  Erhohung  der  Lohne  und  Gehalter,  sei  es  durch 
Herabsetzung  der  Preise.  Je  grofier  die  Kaufkraft,  desto  mehr 
Waren  finden  Absatz,  desto  mehr  konnen  erzeugt  werden, 
desto  rascher  lauft  das  Geld  um,  desto  mehr  wachst  der  Wert 
des  angelegten  Kapitals.  Denn  nicht  in  demt  was  sie  besitzen, 
allein  in  demt  was  sie  fortlaufend  schaffen  und  umsetzeh,  liegt 
der  Reichtum  der  Nationen!  Vorlaufig  leben  wir  noch  im  Ka- 
pitalismus,  und  im  kapitalistischen  System  heiBt  Sparsamkeit 
Verarmung  der  Volkswirtschaft,  ist  Sparsamkeit  folglich  keine 
Tugend  sondern  ein  Laster. 

518 


Zum  Sterben  zuviel . . .?  von  Heinz  poi 

p\as  ist  jetzt  ziemlich  genau  em  Jahr  her.  Da  raffte  sich 
das  durch  die  September- Wahlen  in  jeder  Beziehung  ge- 
schwachte  Kabinett  Briining  zu  einer  kuhnen  Tat  auf:  Es  ge- 
ruhte  najnlich,  zum  ersten  Male  festzustellen,  daB  in  Deutsch- 
land so  etwas  wie  eine  wirtschaftliche  und  soziale  Not  herrsche, 
und  daB  dagegen  etwas  zu  geschehen  habe.  Wenn  sich  in 
Deutschland  etwas  umsturzend  Neues  oder  Wichtiges  er- 
eignet,  so  gibt  es  einen  Aufruf,  In  jenem  beruhmten  Aufruf 
nun,  den  das  Kabinett  Briining  im  Oktober  vorigen  Jahres  er- 
lieB,  hieB  es,  daB  die  Reichsregierung  mit  alien  Mitteln  eine 
allgemeine  Preissenkungsaktion  durchfuhren  werde,  und  daB 
sie  —  damit  auch  ja  keiner  etwa  lachle  —  mit  dieser  Aktion 
stehe  pder  falle.  Es  war  ein  historischer  Moment,  wir  hielten 
alle  den  Atem  an  und  sperrten  die  Augen  auff  um  die  Preisc 
purzeln  zu  sehen.  Tatsachlich  war  eine  Woche  hindurch  das 
Schweinefleisch  in  einigen  uberangstlichen  Laden  der  Reichs- 
hauptstadt  um  fiinf  Pfennige  fur  das  Pfund  billiger  geworden. 
,,Hosian  — "  riefen  wir  alle,  aber  die  letzte  Silbe  blieb  uns 
im  Halse  stecken,  denn  schon  war  das  Schweinefleisch  wieder- 
um  um  zehn  Pfennige  in  die  Hohe  geklettert,  und  mit  ihm  alle 
andern  Lebensmittel.  Dafiir  senkte  sich  etwas  andres,  nam- 
lich  das  Lohnniveau;  Mit  dem  berliner  Metallarbeiterstreik 
im  Oktober  1930  begann  diese  von  der  Regierung  allerdings 
nicht  so  feierlich  angekiindigte  Aktion.  Sie  wurde  begonnen, 
und  sie  wurde  in  ebenso  atemberaubendem  Tempo  wie  eiser- 
ner  Konsequenz  und  Entschlossenheit  durchgefuhrt.  Von  der 
andern  Aktion  dagegen,  von  dem  Versprechen,  zum  mindesten 
einen  Preisausgleich  herbeizufuhren,  war  schon  im  Dezember 
1930  nichts  mehr  in  den  groBen  biirgerlichen  Gazetten  zu 
lesen.  Die  groBen  Kartelle  hatten  namlich  ihr  Veto  eingelegt, 
und  da  die  Kartelle  herrschen,  und  niemand  anders  sonst  in 
Deutschland,  so  wurde  lautlos  zum  Riickzug  geblasen.  Und 
die  Bruningregierung  fiel  nicht,  vielmehr  stand  sie  mit  dem 
Riicken  an  die  Kartelle  fest  angelehnt  und  schob  mit  dem  FuB 
das  kleine  unbequeme  Steinchen  der  Preissenkungsaktion  ko- 
kett  beiseite.  Hoppla,  man  hatte  ja  womoglich  stolpern  konnen! 

Nun  sind  wir  wieder  ein  Jahr  weiter,  und  wenn  sich  auch 
vieles  inzwischen  verandert  hat  —  das  Kabinett  Briining  steht 
immer  noch  und  beehrt  sich,  mit  Herbstanfang  uns  die  neueste 
Attraktion  darzubieten:  „die  it  garantiert  echte  Preissenkungs- 
aktion, Produktionsjahr  1931/32/'  Ich  weiB  nicht,  ob  die  Not- 
verordnungen  es  uns  gestatten,  iiber  diese  neueste  Ankiindi- 
gung  der  Reichsregierung  noch  ebenso  zu  lacheln,  wie  wirs  ehe- 
mals  durften,  Bestimmt  aber  diirften  wir,  ga.be  es  keinen  von 
einem  Teil  der  demokratischen  Freiheitshelden  so  sehnlich  her- 
beigewiinschten  Pressemaulkorb,  der  Meinung  Ausdruck  geben, 
daG  die  Preissenkungsaktion  diesmal  ein  noch  viel  klaglicheres 
Schicksal  erleiden  wird  als  im  vorigen  Jahr.  Und  wir  diirften 
hinzufugen,  —  und  zwar  auf  Grund  der  neuesten  Schieds- 
spruche  im  Ruhrgebiet,  der  Massenentlassungen  in  der  Metall- 
Industrie,   der   Kurzarbeit,   der   Feierschichten  — ,  dafi   die   im 

519 


Oktober  1930  so  tapfer  begonnene  Lohnsenkungsaktion  in  die- 
seiri  Winter  kraftige  Urstand  feiern  wird.  Im  vorigen  Jahr 
konnte  man  noch  prophczcien,  daB  alles  so  kommen  werder 
beutc  aber  habcn  wir  nur  noch  notig,  die  Tatsachen  zu  uber- 
blicken  und  zusammenzustellen,  die  jeder  Zeitungsleser  kennt. 
Als  im  vorigen  Herbst  die  grofie  Preissenkungswelle,  die  in- 
zwischen  zur  Sturmflut  geworden  ist,  erst  im  Entstehen  be- 
griffen  war,  da  gab  es  noch  die  technische  Moglichkeit,  die 
\  Pr  eise  zum  mindesten  fiir  Lebensmittel,  Heizung  und  Kleidung, 
wenn  auch  nicht  absolut,  so  doch  wenigstens  relativ,  das  heifit 
auf  das  Niveau  der  herabgedruckten  Lohndecke  zu  bringen. 
Damals  handelte  es  sich  nur  um  wenige  Prozent,  fiinf  bis  zehn 
etwa.  Diese  Differenz  ware  noch  ausgleichbar  gewesen.  Heute 
jedoch  liegen  die  Verhaltnisse  so,  daB  das  Lohnniveau,  abso- 
lut genommen,  gegeniiber  dem  Herbst  1930  um  nicht  weniger 
als  25  bis  30  Prozent  tiefer  liegt.  Die  Preise  fur  die  Waren  sind 
aber  fast  dieselben  geblieben  —  wenn  man  einen  sehr  guten 
Durchschnitt  annimmt,  bleibt  allerhochstens  ein  Absinken  von 
5  bis  8  Prozent  zu  konstatieren.  Die  Differenz  zum  Lohn- 
niveau betragt  also  20  bis  25  Prozent.  Die  Regierung  Briining 
miifite  schon  ihren  eignen  Notverordnungen  zum  Trotz  eine 
platterdings  revolutionise  Tat  begehen  und  also  mindestens 
sofort  alle  Preiskartelle  zerschlagen,  wenn  es  ihr  in  diesem 
Winter  gelingen  sollte,  die  Differenz  auch  nur  einigermaften 
auszugleichen.  Diese  Differenz  wird  von  Woche  zu  Woche 
groBer.  Sie  muB  es  werden.  Und  wenn  man  die  letzten 
Befehlsausgaben  der  groBen  Industrieverbande  gelesen  hat, 
in  denen  Briining  barsch  aufgefordert  wird,  nun  endlich 
einmal  die  Lohne  zu  senken,  so  ersieht  man  daraus,  daB  die 
Beherrscher  Deutschlands  entschlossen  sind,  eher  Selbstmord 
zu  begehen,  als  auch  nur  eine  Spur  egoistischer  Klugheit  oder 
gar  altruistischer  Menschlichkeit  zu  zeigen.  Die  politische 
Macht  der  Gewerkschaften  haben  sie  im  vorigen  Jahre  end- 
gultig  zerbrochen.  In  diesem  Jahre  gehen  sie  mit  frischem 
Mut  daran,  die  physische  und  psychische  Widerstandskraft 
der  Massen  zu  zerwiirgen.  Ist  alles  zu  Ende,  dann  kann  der 
nationale  Wiederaufbau  in  Sturmangriff  genommen  werden, 

Aber  wer  diirfte  leugnenf  daB  die  Reichsregierung  diesmal 
auch  noch  andre  Wege  zur  Rettung  vorschlagt?  Ist  die  ge- 
plante  Ansiedelung  von  hunderttausend  Erwerbslosen  auf  dem 
Lande  etwa  kein  Silberstreifen  am  Horizont?  Nun,  dieser 
Silberstreifen  tauchte  vor  etwa  drei  Wochen  auf,  er  ver- 
schwand  aber  gleich  wieder  am  Horizont,  man  hat  bis  heute 
nichts  Konkretes  mehr  iiber  diese  Plane  gehort.  So  daB  sich 
vielleicht  erubrigt,  festzustellen,  daB  wir  nicht  hunderttausend, 
sondern  im  Augenblick*  bereits  viereinhalb  Millionen  Arbeits- 
lose  im  Reich  haben.  Und  dafi  sich  weiter  erubrigt,  festzustel- 
len, wie  grotesk  der  Gedanke  ist,  hunderttausend  Menschen 
plotzlich  keine  Arbeit slosenunterstiitzung,  dafur  aber  ein  Stuck 
Land  zu  geben,  von  dessen  Ertragnissen  sie  leben  sollen.  Wer 
soil  ihnen  die  notige  Kleidung,  wer  soil  ihnen  die  Maschinen 
und  Werkzeuge  zur  sachgemaBen  Bearbeitung  des  Bodens  lie- 
fern?     Und  wie  sollen  diese   Hunderttausend  das  Kunststiick 

520 


fertig  bringen,  aus  ihrem  Stuck  Land  vor  der  nachstjahrigem 
Herbsternte  —  also  in  rund  einem  Jahr  —  auch  nur  einen 
Pfennig  Erlos  zu  ziehen?  Wer  ernahrt  sie  in  der  Zwischen- 
zeit?  Wer  baut  ihnen  die  Wohnungen?  Natiirlich  alles  die 
Reichsregierung:  also  brauchte  sie,  wenn  sie  ihren  Plan  in  die 
Tat  umsetzt  (was  wir  freilich  nicht  glauben),  ungefahr  zehnmal 
soviel  Geld,  wie  wenn  sie  die  Unterstutzung&gelder  weiter  zahlt. 

Inzwischen  hat  die  Stadt  Berlin  im  allerkleinsten  MaB- 
stabe  einen  Versuch  gemacht,  den  Plan  der  Reichsregierung; 
in  die  Tat  umzusetzen.  Ein  sehr  merkwiirdiger  Versuch.  Bel 
dem  Ort  Gussen,  unmittelbar  an  der  schlesischen  Grenze,  be- 
sitzt  der  berliner  Magistrat  etwa  vierzig  Morgen  Land.  Er 
hat  dort  ein  paar  Erwerbslosenfamilien  angesiedelt,  die  das 
Land  zu  bestellen  haben.  Aber  der  Erlos  der  Ernte  gehort. 
nicht  etwa  ihnen,  sondern  der  Stadt  Berlin,  die  ihn,  wie  sie 
stolz  verkundet,  zur  ^Amortisation  der  Siedelungsstelle"  ver- 
wendet.  Der  Familienvater  bekommt  fur  seine  Arbeit  pro 
Tag  fiinf  Mark,  wovon  ihm  eine  Mark  als  Kostgeld  wieder 
abgezogen  wird.  Frauen  diirfen  nicht  mitarbeiten,  sie  sollen 
sich  durch  ,,hausindustrielle  Spinnarbeit"  den  dringend  not- 
wendigen  Nebenverdienst  fur  den  Lebensunterhalt  der  ganzen 
Familie  beschaffen.  Und  wenn  ihnen  nun  keiner  diese  Arbeit 
abnimmt?  Der  einzige  Besitz,  der  diesen  angesiedelten  Er- 
werbslosenfamilien  bleibt,  sind  pro  Familie  zwei  Ziegen  und 
fiinf  Huhnert  die  ihnen  die  Stadt  Berlin  „vorlaufig"  zur  Ver- 
fiigung  gestellt  hat. 

Und  da  wir  grade  bei  den  Reformen  und  Unterstiitzungen. 
halten,  so  diirfen  wir  auch  nicht  die  ,,Winterhilfe"  vergessen, 
die  ebenso  wie  die  Preissenkungsaktion  im  Herbst^  vorigen 
Jahres  ins  Leben  gerufen  wurde.  Jawohl:  ins  Leben  wurde  sie 
gerufen,  aber  es  reichte  nicht  zum  Leben,  es  war  ein  vorzei- 
tiges  Sterben  in  Durftigkeit.  Die  groBen  kirchlich-charitativen 
\vohlfahrtsorganisationen  und  die  sozialdemokratische  Arbeiter- 
Wohlfahrt  isammelten  damals  ,in  Berlin  einige  zehntausend 
Mark,  verteilten  auch  die  Essenmarken  des  Magistrats  —  aber 
in  Wirklichkeit  gab  es  nur  ein  paar  armselige  Bettelsuppen 
und  einen  Haufen  alter  Kleider,  Dies  Ergebnis  war  nicht  die 
Schuld  der  Spender:  wo  nichts  ist,  hat  selbst  Severing  sein 
Recht  verloren.  Und  im  vorigen  Jahr  war  noch  viel,  viel  mehr 
da  als  jetzt.  Damals  schloB  sich  noch  der  berliner  Einzelhan- 
del,  schlossen  sich  die  groBen  Geschafte  und  Warenhauser  der 
Aktion  der  Winterhilfe  an.  Inzwischen  hat  gut  die  Halfte  von 
ihnen  Konkurs  angemeldet,  sie.  sind  nicht  mehr  Subjekte  einer 
Winterhilfe  —  sie  *sind  Objekte  geworden. 

Ganz  abgesehen  davon  hat  man  es  diesmal  mit  pupillari- 
scher  Sicherheit  verstanden,  die  soziale  Aktion  der  Winter- 
hilfe —  die  als  solche  ja  eine  anerkennenswerte  Geste  dar- 
stellt  —  aufs  politische  Gebiet  hinuberzuspielen.  Nur  die  vom 
Staate  anerkannten,  das  heiBt  politisch  einwandfreien  Wohl- 
fahrtsverbande  diirfen  Sammlungen  veranstalten.  Die  Kom- 
munisten  haben  gefalligst  vor  der  Tiir  zu  bleiben.  Es  ware 
ja  noch  schoner,  wenn  diese  Bruder,  die  sich  bekanntlich  an 
der  Not  des  deutschen  Volkes  ihr  parteipolitisches  Siippchen 

52t 


kochen,   einen  wirklichen  Teller  warmer  Suppe   erhalten  soil- 
ten!    Denen  gehts  ja  noch  viel  zu  gut! 

Ganz  anders  liegen  natiirlich  die  Dinge,  wenn  es  sich  urn 
die  „Vaterlandische  Winterhilfe"  handelt,  die  von  den  Deutsch- 
nationalen  ins  Leben  gerufen  wurde.  Zwar  traf  auch  sie  das 
Sever  ingsche  Verbot,  aber  das  bleibt  mehr  Theorie.  In  dcr 
Praxis  hat  die  hauptsachlich  vom  Stahlhelm  organisierte  „Va- 
terlandische  Winterhilfe"  am  26.  September  eine  interne  Ver- 
sammlung  abgehalten,  in  der,  laut  T.U.,  folgendes  mitgeteilt 
-wurde:  Major  von  Stephani  und  Major  von  Sodenstern  wiesen 
darauf  hin,  daB  die  ,,Vaterlandische  Winterhilfe*'  nicht  als 
Konkurrenz  der  berliner  Winterhilfe  geschaffen  wurdet  son- 
dern  als  vorbeugende  MaBnahme.  Trotz  des  Verbotes  hoffe 
man,  daB  die  internen  Sammlungen  in  den  Verbanden  und 
Organisationen  geniigende  Mittel  erbrachten  (Bankhaus  Spon- 
holz  &  Co.).  An  Lebensmitteln  wiirde  es  nicht  fehlen.  Schon 
jetzt  seien  180  Waggons  mit  je  320  Zentnern  Kartoffeln  sowie 
Gemiise  zur  Verfiigung  gestellt  worden,  Um  moglichst  alle 
Bediirftigen  der  nationalen  Kreise  zu  erfassen,  sollen  Karten  an 
die  der  vaterlandischen  Winterhilfe  angcschlossenen  Parteien, 
Verbande  und  Organisationen  abgegeben  werden,  die  sie  wie- 
derum  an  die  Bediirftigen  weiterleiten  sollen . . . 

Jat  Bauer,  das  ist  ganz  etwas  andres.  Und  daB  es  an 
grofien  Spenden  gut  nationaler  Rittergutsbesitzer  nicht  fehlen 
vvird,  das  glauben  wir  gern.  Kein  Mensch  wird  etwas  da- 
gegen  einzuwenden  haben,  daB  auch  die  Hugenbergianer.  fiir 
ihre  Leute  sammeln.  Aber  was  wiirde  wohl  geschehen,  wenn 
die  Kommunisten  fiir  ihre  hungernden  Massen  ahnliche  Or- 
ganisationen, trotz  dem  Verbot,  ins  Leben  riefen?  Herr 
Severing  weiB  die  Antwort  besser  als  wir.  Und  deshalb 
fiirchten  wir,  daB  auch  die  von  der  Reichswehr  der  Winter- 
hilfe giitigst  zur  Verfiigung  gestellten  Lastautos  und  Blas- 
orchester  nicht  geniigen  werden,  um  auch  nur  einen  Bruchteil 
-aller  in  Berlin  Notleidenden  mit  einer  Wollweste  oder  einer 
taglichen  warmen  Mahlzeit  wenigstens  am  Leben  zu  erhalten. 
Denn  die  charitativen  Verbande  geben  den  hungernden  Kom- 
munisten nichts,  weil  sie  unerhorterweiser  ngottlos"  sind,  und 
fiir  die  Arbeiterwohlfahrt  sind  Genossen  nur  diejenigen,  die 
das  Mitgliedsbuch  des  Herrn  Kiinstler  in  der  Tasche  tragen. 

Aber  wir  wollen  nicht  zu  bitter  werden.  Ein  Hoffnungs- 
strahl  bricht  doch  durch  das  diistere  Gewolk,  Und  zwar  in 
Person  von  Frau  Clara  Mende,  die  jiingst  in  einem  Vor- 
trag  fiir  die  „Reichsarbeitsgemeinschaft  zur  Forderung  der 
Volksernahrung"  (auch  das  gibts  schon)  praktische  Anweisun- 
gen  zur  Linderung  der  Not  gab-  Die  Reichsarbeitsgemeinschaft 
plane,  so  verkiindete  die  riistige  Dame,  erstens  die  Heraus- 
gabe  von  billigsten  Kochrezepten,  zweitens  aufklarende  Vor- 
trage,  drittens  Umwandlung  von  Gaststatten  in  Wohlfahrts- 
einrichtungen,  viertens  sorgfaltige  Oberwachung  der  hygieni- 
schen  Zubereitung  bei  den  Volksspeisungen,  schlieBlich  sollc 
jeder,  der  dazu  in  der  Lage  sei,  ein  afmes  Kind  als  Mittags- 
gast  aufnehmen. 

Und  da  wollten  wir  schon  die  Kopfe  hangen  lassen! 
522 


Gesprach  mit  demMinisterium  von  Erich  Kastner 

J-Jans  Wilhelm  und  ich  iuhren  zum  Reichsministerium  des  In- 

nern.  Eine  Stundc  spater  saBen  wir  jenem  Referenten 
gegeniiber,  den  wir  sprechen  wollten.  Er  erzahlte,  es  kamen 
Tag  fin*  Tag  StoBe  von  Besuchern,  Brief  en  und  Exposes.  Das 
sei  einerseits  erfreulich,.  denn  es  beweise  den  im  deutschen 
Volk  verbreiteten,  wenn  nicht  gar  zunehmenden  Drang,  mit- 
zuhelfen.  Andrerseits  mache  es  verstandlich,  daB  er  bitten 
miisse,  wir  mochten  uns  kxirz  fassen.  Herr  Wilhelm  babe  ihn 
ja  schon  telephonisch  ein  w«nig  informiert.     Also. 

,fAlso,"  sagte  ich,  „der  Reichsprasident  und  das  Kabinett 
haben  einen  Aufruf  zur  Winterhilfe  erlassen,  der  zum  Teil 
das,  was  wir,  schon  ehe  dieser  Aufruf  erschien,  besprachen 
und  was  auBer  uns  sicher  Tausende  besprochen  haben.  Wir 
finden  aber  die  Formulierung  und  die  Gesinnung  des  Aufrufs 
und  die  Art   seiner  Bekanntgabe  unzureichend." 

„Mein  Minister  hat  auBerdem  vor  einigen  Tagen  am  Rund- 
funk  ausfiihrlich  iiber  das  Thema  gesprochen,"  warf  der  Mini- 
sterialrat  ein. 

MUnser  Plan/*  sagte  ich,  ,,handelt  von  einer  Aktion,  die, 
wie  auch  immer,  unternommen  werden  muB,  aber  er  hat  hin- 
sichtlich  andrer  Projekte,  die  vorliegen  mogen,  bedeutende  Vor- 
ziige,  Er  1st  erstens  befahigt,  alle  Bevolkerungskreise,  von  Hin- 
denburg  angefangen  bis  zum  kleinen  Backermeister,  in  den 
Dienst  der  notleidenden  Bevolkerung  zu  stellen,  und  das  wird 
im  kommenden  Winter,  wenn  die  Zahl  der  Arbeitslosen  wei- 
ter  gewachsen  und  die  Kassen  der  Behorden  noch  leerer  ge- 
worden  sein  werden,  unvermeidlich.  AuBerdem  wiirde  der 
Plan,  gelange  seine  Durchfiihrung,  eine  Folge  haben,  die  eben- 
so  wichtig  ware  wie  die  Aktion  selber:  die  verschiedenen 
Volksschichten  konnten  sich  wieder  einmal  als  zusammengeho-  * 
rig  empfinden,  die  gemeinsame  und  die  gemeinsam  bekampfte 
Not  konnte  eine  Notgemeinschaft  herbeifuhren,  deren  sittlicher 
und  nationaler  Wert  einleuchtet." 

Jetzt  griff  Hans  Wilhelm  ein.  ,,Wie  war  das  zum  Beispiel 
im  Krieg?"  fragte  er.  „Gab  damals  nicht  jeder  das  Letzte  her? 
Sammelten  da  nicht  Tausende  von  Schiilern  alles,  was  in  den 
Haushalten  einigermaBen  entbehrlich  war?  Wurde  da  nicht 
am  liebsten  jedes  Madchen  Krankenschwester?  Strickte  da- 
mals nicht  jede  Tante  Striimpfe  und  Pulswarmer  fur  die,  die 
froren?  Sparte  sich  da  nicht  noch  der  Armste  vom  Munde 
ab,  um  den  andern  zu  helfen?  Sollten  die  Deutschen  solcher 
Opfer  nur  fahig  sein,  wenn  es  eine  hirnverbrannte  Sache  gilt? 
Halten  Sie  die  Situation,  die  der  Winter  herbeifuhren  wird, 
fiir  harmloser?  1st  es  denn  nur  moglich,  ein  Vblk  aufzuriitteln, 
solange  Granaten  platzen?  Was  damals  ging,  muB  doch  auch 
heute  moglich  sein!" 

Der  Herr  Ministerialrat  schiittelte  die  Fragen  ab,  als  wa- 
xen es  Regentropfen  auf  einem  Hut.  „Der  Aufruf  zur  Winter- 
hilfe war  der  erste  Schritt,  nicht  der  einzige,"  beruhigte  er. 
„Wir  planen,  im  Laufe  der  Zeit,  mehrere  VorstoBe  dieser  Art. 
Sie  glauben  nicht,  wie  schwierig  es  ist,  die  verschiedenen  cha- 
ritativen  Organisationen  unter  einen  Hut  zu  bring  en." 

523 


„Wir  glauben  es,"  entgegnete  ich.  nWir  glauben  aber  audi, 
daB  es  jetzt  nicht  darum  geht,  Organisationen  unter  Hiitc,  son- 
dern  eine  wirksame  Aktion  ins  Rollcn  zu  bringen;  cine  Bewe- 
gung,  die  nichts  mit  Parteien,  Kirchcn,  Standpunkten,  neuen 
Verwaltungsapparaten  und  andern  organisatorischen  Dingcn  zu 
tun  hat;  eine  Bewegung,  die,  etwa  von  einem  offncn  aufriit- 
telnden  Aufruf  Hindenburgs  angeregt,  zwischen  den  Privat- 
menschen  anwachst  und,  mitreiBend,  Nutzcn  stiftct.  Wenn 
der  Aufruf,  meinetwegen  als  Maueranschlag,  eindrucksvoll  for- 
muliert  und  angcbracht  und  wenn  in  seinem  Wortlaut  die  wirk- 
liche  Schwere  und  Tragweitc  der  heraufziehenden  Not  geschil- 
dert  wird,  miiBte  es  mit  dem  Teufel  zugehen..." 

,,Es  ist  natiirlich  ausgeschlossen,  in  einem  solchen  Aufrufe 
den  von  Ihnen  befiirchteten  Umfang  der  Not  zu  charakterisie- 
ren  oder  gar  zu  betonen,"  sagte  der  Ministerialrat.  ,,Wir  miis- 
sen   politisch   denken." 

Wilhelm  wurde  aufgeregt.  MNcin!"  erklarte  er.  „Das  ist 
das  Einziget  was  Sie  nicht  tun  diirfen!  Warum  wollen  Sie 
denn  diese  Not  nicht  of  fen  zugeben?  Glauben  Sie  vielleicht, 
die  Bevolkerung  weiB  noch  nichts  davon?  Was  hat  denn  der 
Plan,  das  gesamte  deutsche  Volk  iiber  den  Winter  zu  bringen, 
mit  Politik  zu  tun?  Von  Politik  konnte,  durch  die  Zwischen- 
zeit  der  Notgemeinschaft  gtinstig  beeinfluBt,,  vielleicht  im  Friih- 
jahr  wieder  gesprochen  werden,  Bis  dahin  ginge  es  doch,  aber 
vor  allem  darum,  dieses  Friihjahr  tiberhaupt  noch  zu  erlebenl 
Bei  Hindenburg  miiBten  bunder  t  Arbeitslose  essen,  beim  Reichs- 
kanzler  gleichfalls;  Fleischermeister  Miiller  konnte  fiinf  Per- 
sonen  durchfiittern;  Eisenbahninspektor  Schulz  einen;  ich 
konnte,  solange  ich  verdiene,  pro  Tag  drei  Mann  in  meiner 
Wohnung  bekostigen." 

,,Ich  esse  auBer  Haus,"  sagte  ich,  ,,Aber  ich  wurde  in 
meinem  Stammlokal  auf  meine  Kosten  ebenfalls  drei  Leute  als 
Tischgaste  unterbringen." 

Der  Ministerialrat  wurde  langsam  ungeduldig.  „Es  wird. 
Vieles  geschehn,  darauf  konnen  Sie  sich  verlassen.  Die  Volks- 
kiichen  werden  beispielsweise  verstarkt  in  Betrieb  genommen 
werden." 

,,Aber  das  ist  ja  doch  nicht  dasselbe,"  sagte  ich.  „Wir  be- 
miihen  uns  doch  die  ganze  Zeit,  Ihnen  vor  Augen  zu  fiihren, 
wie  wichtig  es  sein  wird,  die  ganze  Aktion  nicht  anonym  zu 
betreiben,  sondern  auf  Grund  wirklicher  menschlicher  Be- 
ziehungen  iiber  ganz  Deutschland  zu  verbreiten," 

„Ich  weiB,  ich  weiB,"  bemerkte  der  Beamte.  „Sie  denken 
an  Nachbarhilfe,  das  ist  ein  alter  charitativer  Begriff.  Na  ja. 
Ich  bin  schon  sehr  lange  in  der  Wohlfahrtspflege.  Ich  kenne 
mich  begreiflicherweise  auf  dem  Gebiete  besser  aus  als  Sie,, 
das  werden  Sie  mir  glauben  miissen."  Da  klingelte  das  Tele- 
phon.  Der  Herr,  der  die  Wohlfahrtspflege  professionell  er- 
lernt  hatte,  entschuldigte  sich  bei  uns  und  erledigte  das  Tele- 
phongesprach.  Er  legte,  anscheinend  mit  einem  Kollegen  von 
einem  andern  Ministerium,  einen  Besprechungstermin  fest.  Er 
bat  den  Herrn  Kollegen,  die  Herren  vomRundfunk  zu  bestel- 
len,  er  ubernehme  es,  Herrn  Pastor  X  und  dessen  „Stab"  za 
benachrichtigen. 
524 


„Sie  horten  es  grade,"  sagte  er,  als  er  sich  wiedcr  ge- 
setzt  hattc,  „wir  stehen  dauernd  mit  dem  Rundfunk  in  Ver- 
bindung,  urn  unsre  MaBnahmen  den  breitesten  Kreisen  zugang- 
lich  zu  machen." 

„Und  wenn  Ihre  MaBnahmen  jener  Not,  die  wir  erwar- 
ien,  nicht  gewachsen  sein  sollte?"  fragte  Wilhelm. 

„Dann,"  meinte  der  Ministerialrat,  „dann  miiBte  man  aller- 
dings  die  privaten  Krafte  in  Bewegung  setzen,  und  zwar  auf 
dem  Wege  einer  Notverordnung." 

,,Aber  in  diesem  Fall  ware  doch  alles,  was  wir  von  dem 
Elan  und  dem  Sinn  der  privaten  Aktion  erwarten,  kaputt!" 
rief  Wilhelm. 

„Ja,"  sagte  der  Ministerialrat  und  stand  auf,  „Icfi  muB 
Sie  jetzt  bitten,  mich  zu  entschuldigen.  Meine  Zeit  ist  knapp 
bemessen,  Sie  diirfen  versichert  sein,  daB  alles  geschehen 
wird,  was  moglich  ist.  Wir  haben  unsre  Erfahrung,  und  wir 
tun,  was  wir  konnen,  Es  ist  erfreulich,  daB  die  Bevolkerung 
so  regen  Anteil  nimmt.  Das  lafit  uns  hoffen,  daB  unsre  MaB- 
nahmen weitgehende  Unterstiitzung  finden  werden.  Im  (ibri- 
^en,  meine  Herren,  Sie  sind  ja  Schriftsteller.  Suchen  Sie 
doch  in  der  Presse  zu  wirken,     Schreiben  Sie  doch!" 

Er  gab  uns  die  Hand,  Wir  verabschiedeten  uns  verlegen 
und  verlieBen  das  Reichsinnenministerium.  Dann  standen  wir 
xioch  eine  Weile  auf  der  StraBe,  und  uns  war,  als  kamen  wir 
vom  Sprachunterricht  und  hatten  die  erste  Stunde  Chinesisch 
hinter  uns.   Schreiben  Sie  doch!  hatte  er  gesagt. 

Gesagt,  get  an. 

Imma  mit  die  Ruhe!    von  Theobald  Tiger 

^jT^enn  ick  det  sehe,  wat  se  so  machn, 
"^    wie  se  bei  de  jeringsten  Sachn 
sich  uffpustn,  det  man  denkt,  se  platzen  — 
wie   se   rot   anlaufn,    bis   an   die   Jlatzen, 
ahms  spat  tin  morjens  uiii  achte  — : 
sachte!    sachtel 
Warum  denn  so   furchtbar  uffjerecht? 
Wir  wern  mal   alle  inn  Kasten  gelecht. 

Wissen  Sef  ick  wah  mal  dabei  — - 
da  hattn  se  uff  de  Polessei 
eenen  Selbstmorda,   janzlich  nackt, 
in  eenen  murksijen  Sarch  jepackt 

Die  hatten  det  eilich!    Un  ick  dachte: 
Sachte!   Sachte! 
Un  der  Anblick  hat  sich  mir  injeprecht: 
Wir  wern  mal   alle  inn  Kasten   jelecht. 

Janich    rellejohs. 

Wie  soil  ick  det  sahrn . . »? 
Ick  kann  det  Jefuchtel  nich  vatrahrn, 
Wir  komm  bei   Muttan  raus  mit  Jeschrei, 
un  manche  bleihm   denn  auch  dabei, 

Wenn  ick  mir  det  so  aliens  betrachte: 
Imma   sachte! 
Mal   liechste  still.    Denn   wird   ausjefecht,  ' 

Un  wir  wern  alle  inn  Kasten  jelecht. 

525 


Kurz  und  unfreundlich  von  Rndoif  Amheim 

J7  s  gibt  welche,  die  zahlen  mit  Papier,  als  ob  sic  Gold  im 
"  Keller  hatten.  Das  sind  die  Schlimmsten,  Und  es  gibt 
andre,  die  zahlen  mit  Papier,  obwohl  sie  Gold  im  Keller  haben. 
Um  die  ist  es  schade,  Und  es  gibt  welche,  die  zahlen,  wenn 
sie  zahlen,  mit  Gold.  ^ 

Der  Satz,  daB  iiberall  mit  Wasser  gekocht  wird,  sollte  au£ 
Gemiise  keine  Anwendung  finden. 

* 

Gott  ist  groB.    Man  verirrt  sich  leicht  in  ihm. 

* 

Sprichworter:  Sage  mir,  was  sie  an  dir  lobt,  und  ich  werde 
dir  sagen,  was  sie  an  sich  liebt.  —  Frisch  gewagt,  ist  halb  ver- 
patzt.  —  Wo  ein  Weg  ist,  da  spare  man  den  Willen.  —  Nacb 
unten  zu  gibts  keine  Grenzen. 

Protestversammltingen  sind  Kirchgange  der  machtlosen  In- 
tellektuellen.  Auf  der  Kanzel  steht  ein  atheistischer  Pope  im 
Schillerkragen  und  predigt:  „Lasset  uns  eine  Resolution  fas- 
sen!"  Und  wahrenddem  gehen  die  himmlischen  und  die  irdi- 
schen   Gotter  taubstumm  ihren  Geschaften  nach. 

* 

In  ihrem  Antlitz  stand  mit  unsichtbaren  Lettern  geschrie- 
ben:   ,,Alle  Packungen  in  diesem  Fenster  sind  nur  Attrappe", 

*  ■         * 

Es  gibt  zwei  Erkenntnismittel:  sehen  und  riechen.  Riechen 
ist  genialer.  A 

Es  gibt  zwei  Dinge,  die  ein  Schriftsteller  sich  nur  sehr 
schwer  vorstellen  kann:  daB  jemand  seine  Sachen  liest,  und 
daB  jemand  seine  Sachen  nicht  liest. 

Unter  Kollektivismus  stellt  man  sich  gem  etwas  wie  einen 
uberftillten  Untergrundbahnwagen  vor.  Damit  tun  ihm  seine 
Gegner  wie  seine  Anhanger  unrecht. 

Man  soil  lieben,  und  man  mag  dichten.  Aber  man  soil 
nicht  mit  der  Feder  lieben. 

An  der  belebten  Hafenpromenade  von  Lugano  hatte  sich 
ein  italienischer  Herr  auf  einer  Bank  einen  Schuh  ausgezogen, 
weil  ein  Stein  hineingeraten  war.  Als  er  den  Schuh  aber 
wieder  anziehen  wollte,  griff  er,  weil  er  gleichzeitig  ein  leb- 
haftes  politisches  Gesprach  mit  einem  vor  ihm  stehenden 
Landsmann  fuhrte,  unversehens  seinen  Hut,  der  neben  ihm  auf 
der  Bank  gelegen  hatte,  und  bemiihte  sich  nun  mit  hertigem 
Zerren,  den  Hut  iiber  den  bestrumpften  FuB  zu  ziehen.  Als 
der  andre  Italiener  dies  bemerkte,  entwand  er  —  wie  seltsam 
ist  die  menschliche  Natur!  —  ohne  die  leiseste  Verwunderung, 
ohne  das  leiseste  Lacheln  dem  Freunde  den  Hut,  legte  ihn 
zuriick  auf  die  Bank  und  fuhr  ohne  Pause  fort,  mit  beiden 
Handen  iiber  die  politische  Lage  zu  reden. 

526 


Drohllllg  fiber  Paris  von  Le  Corbnsier 

Aus  einer  von  Alfred  Wolfenstein  herausgegebenen 
Sammlung  ,,Hier  schreibt  Paris",  die  demnachst  im  Ver- 
lag  der  Internationalen  Bibliothek,  Berlin,  erscheint. 

Cin  recht  theatralischer  Titel:  Drohung  iiber  Paris!  Wcnn  ich 
nur  zeigen  konnte,  daB  es  der  Ausdruck  einer  pathetischen 
Lage  ist.  Meine  Gedanken  umkreisen  bange  diese  Stadt,  die 
verkiimmern,  absterben,  ausloschen  kann,  wenn .  , .  wenn  man 
nicht  handelt,  wenn  man  den  Glauben  an  das  Leben  aufgibt, 
wenn  man  Dammerung  sich  iiber  Europa  breiten  laBt,  wenn 
man  die  Oberlieferung  der  Stadt  verleug.net  und  kapituliert! 

Welche  andre  Stadt  konnte  sich  noch  so  herrlich  auf- 
richten  wie  diese  auf  ihrem  tausendjahrigen  Grund  und  vor  der 
ganzen  Welt  das  frohliche  und  kraftvolle  Wort  finden,  das  die 
Welt  von  ihr  erwartet! 

Paris  —  Sitz  des  cartesianischen  Geistes,  Schauplatz  der 
groBen  Waffengange  der  Kunst;  Paris  —  ungeheure  Kultur- 
macht;  Paris,  das  stets  zu  urteilen  wuBte  und  mit  seinem  Urteil 
stets  auf  der  Hohe  der  Zeit  stand:  nein,  diese  Stadt  wird  nicht 
in  Schlaf  fallen  und  aufhoren,  zu  sein! 

Ich  mochte  meine  Liebe  zu  Paris  in  Worte  kleiden:  ein 
Ort,  zitternd  von  Leben  und  doch  mit  der  Atmosphare  einer 
groBen  Leere,  in  der  die  Krafte  wie  im  Wettkampf  um  Rein- 
heit  aufeinanderprallen.  Die  reine  Idee  allein  ist  Siegerin:  wie- 
viel  Leichen  ringsumher,  wieviel  Halbheiten,  die  unterliegen. 
So  heiB  ist  der  Kampf,  so  ubermachtig  die  Masse  sekularer 
Wahrheiten,  mit  denen  man  die  neue  Idee  erdriicken  kann,  daB 
nur  diejenigen  Kampfer  widerstehen,  die  lachen,  die  trotz  allem 
singen,  die  mit  dem  klaren  Wissen  um  ihre  vollige  Uneigen- 
niitzigkeit  werken.  Das  sind  die  in  die  Welt  und  in  die  Kunst 
Vernarrten,  in  diese  letzte  Wirksamkeit,  die  Tragerin  des. 
Gliickes  ist. 

Man  sat  Samen  aus,  die  Knospe  zeigt  sich:  sofort  ist  sie 
zertreten.  Man  steckt  eine  Wurzel  mehr  ins  Erdreich,  man 
arbeitet  in  die  Tiefe,  neues  Aufgehen  der  Stecklinge;  neuer- 
liches  Zerstampfen.  Allzu  viele  wollen  unsre  Idee  vortragenr 
ein  einfaches  geistvolles  Wort,  kostliche  Frucht  alter  Kulturen, 
bedeckt  euch  mit  Schutt,  Diese  Erfahrung  wiederholt  sich 
seit  langem;  junge  Generationen  reiben  sich  damit  auf  und 
auch  altere  Jahrgange.  Man  muB  einen  Kampf  von  zwanzig 
Jahren  bestehen,  um  durchzudringen.  Der  nzwanzigjahrige 
Krieg"  und  ein  einziger  Krieger  (man  selber)  gegen  ein  Heer 
vollendeter  Tatsachen.  Ich  kenne  keine  andre  Stadt,  die  so 
hart  ware.  O  geliebte  Rabenmutter,  man  setzt  Wurzeln  in 
deinen  Boden,  tiefe,  langsame,  und  man  kann  den  Wettkampf 
der  Reinheit  gewinnen. 

So  ist  der  kostbare  Boden  von  Paris.  Ist  diese  Spannung 
nichts  andres  als  die  letzte  Auswirkung  des  Aufruhrs  der 
Maschinen?  War  en  die  Dinge  einfacher  vor  Stevenson?  Ich 
weiB  es  nicht,  wir  waren  nicht  dabei;  und  der  Mensch,  der  das 
Ufer  erreicht,  hat  schnell  sein  dramatisch  bewegtes  FloB  auf 
dem  rasenden  Meere  vergessen.  Vorwarts  blickend  beeilt  er 
sich,   festes  Land   zu  gewinnen,   und   baut.     Wir   haben   keine 

527 


Historiker  der  schlechten  Tage,  darum  gibi  e*  kcine  Denkmaler 
:fiir  die  unbekannten  Toten  des  groBen  Wettkampfes, 

Cartesianisches  Paris,  das  keine  Verwirrung  kennt.  Klares 
Paris, 

Es  gibt  im  Golf  von  Lion  cine  tote  Stadt:  Aigues-Mortes, 
eine  versandete  Bucht,  eine  Stadt,  die  vor  dem  Schilf  der 
Lagunen  und  hinter  den  Siimpfen  der  Salinen  liegt.  Sie  wurde 
im  Ganzen  vom  heiligen  Ludwig  erbaut  fiir  die  Einschiffung 
*der  Kreuzfahrerheere.  Die  Walle  sind  noch  unbeschadigt  mit 
ihren  Schutzvorrichtungen  fiir  den  KriegsfalL  Das  ist  eine  bis 
ins  kleinste  sorgfaltige,  genaue,  gutgefiigte,  scharfsinnige 
Schutzanlage.  .  Die  Steine  sind  klar  umrissen,  die  Kanten  aus- 
drucksvoll,  es  entstromt  ihnen  eine  geistige  Helle.  Aigues- 
Mortes  ist  pariserisch,  von  einem  Pariser  fiir  Pariser  erbaut. 
Die  Vernunft  ist  dort  allmachtig  und  doch  von  einem  Lacheln 
beglanzt  Das  ist  es,  was  sich  uberall  in  dieser  Geschichte 
wiederfinden  laBt:  Hellsichtigkeit  und  Spiel  des  Geistes,  das 
heiBt  eine  harte  Aufgabe,  aber  ein  Sieg  ohne  Brutalitat,  un- 
gezwungene  Anmut  gemischt  mit  Strenge,  und  diese  Strenge 
erscheint  in  der  Weltgeschichte  der  Kiinste  als  eine  gewisse 
Steifheit.  Sie  ist  der  adlige  Ausdruck  fiir  Exaktheit.  Ist  sie 
etwa  zu  trocken,  zu  kleinlich,  ohne  Kraft?  Keine  Spurt  sie 
betigt  sich  weder  nach  rechts  noch  nach  links,  sie  hat  die  Ge- 
schmeidigkeit  des  Seiles,  gespannt  fiir  einen  Seiltanzer:  mathe- 
matischer  Ausdruck,  reines  Profil,  Linie. 

Das  Innere  von  Notre-Dame,  die  Gemalde  von  Fouquet, 
der  Turm  von  Vincennes,  die  Zeichnungen  von  Clouet,  der 
Pont  Neuf,  die  Place  des-  Vosges,  der  Pont  Royal,  Nicolas 
Poussin,  die  Invalides,  die  Concorde,  l'Arc  de  l'Etoile,  die 
Passerelle  des  Arts,  Ingres,  die  Bibliothek  Ste. -Genevieve,  der 
Eiffelturm,  Cezanne  —  das  alles  ist  diese  Steifheit,  die  Strenge 
ist.  Die  Erbschaft  der  Epochen  von  Paris.  Das  Seil  des  Seil- 
tanzers,  gespannt  zwischen  dem  Glockenturm  der  Kirche  und 
dem  Dach  der  Mairie,  ist  keine  Gerade,  es  ist  ein  Bo  gen,  in 
■dem  jeder  Punkt  im  Gleichgewicht  gehalten  wird  durch  die 
auBerste  Spannung:  eine  Linie  des  Geistes.  Reisen  wir  durch 
die  Welt,  und  setzen  wir  den  Punkt. 

* 

Was  mich  an  Paris,  in  Paris  so  sehr  bewegt,  ist  seine 
Vitalitat.  Mehr  als  tausend  Jahre  lebt  diese  Stadt  aus  sich 
heraus,  immer  schon,  immer  umschmeichelt,  immer  neu  unfl 
^stets  erneuert.  Das  MaB  des  Fortschritts  ist  durch  die  Um- 
friedung  gegeben,  in  der  sich  der  Wettkampf  der  Reinheit  ab- 
spielt.  Paris  lebt.  Aber  damit  hangt  meine  Besorgnis  zusam- 
men;  Dort,  wo  die  Beschlusse,  gefaBt  werden,  ist  man  nicht 
darauf  bedacht,  die  Oberlieferung  von  Paris  zu  erhalten.  Die 
Stadt  windet  sich  heute  in  Krampfen,  sie  ist  auf  dem  Wege, 
gebrechlich  zu  werden,  es  brockelt  iiberalL  Und  kein  Colbert 
ist  da,  um  Heilmittel  zu  verordnen,  kein  Chirurg,  um  zu  ope- 
rieren,  nicht  einmal  eine  Diagnose! 

Ist  es  nicht  vermessen  und  dunkelhaft  von  mir,  die  Frage 
so  zu  stellen?  Mit  welchem  Recht  urteiie  ich?  Auf  was  stutzt 
^ich  meine  Uberzeugung?  Darauf:  die  Kostlichkeit  des  Lebens 
ist  etwas,  was  man  mit  der  Nase  spurt,  weder  Oberlegung  noch 
528 


Wille  konnen  daran  ctwas  andern.  Wahrnehmungen,  feincr  als 
der  einfache  Gesichts-  oder  Tastsinn,  bestimmen  die  Richtung 
unsres  Handelns:  man  geht.  Man  geht,  einem  Gebote  folgend, 
welches  das  Leben  selbst  ist.  Das  Leben!  Aber  das  ist  Tun, 
Bewegung,  Unternehmung,  Fiigung,  die  Minute,  die  verrinnt 
und  die  erfaBt  sein  will,  Zeichen  werden  sichtbar;  die  vor- 
wartstreibende  Kraft  dieser  Zeit  stellt  sich  dar.  Entweder  wir 
lassen  uns  von  ihr  tragen  und  werden  stark  oder  wir  werden 
verschimmeln  und  verfaulen.  Die  gegenwartige  Stunde  ist 
schleierlos;  die  stadtischen  Ereignisse  zeigen  das  unwider- 
stehliche,  unaufhaltsame  Zunehmen  der  Mechanisierung  an. 
Das  neue  Zeitalter  bestatigt  sich,  es  tritt  iiberall  in  Erschei- 
nung,  es  richtet  sich  in  all  em  auf,  iiberschlagt  sich,  drangt  sich 
durch,  erkampft  sich  den  Weg,  erobert.  Es  verwandelt  die 
Stufenleiter  der  durch  Jahrhunderte  geltenden  Masse,  es  ge- 
bietet  der  Zeit  einen  neuen  Lauf.  Alles  bliiht  auf,  alles  ware 
eitel  Freude  in  diesem  neuen  Friihling:  Tatigkeit,  Optimismus, 
Arbeit,  Werk,  Stolz,  GroBe,  Schwung  der  Gemeinschaft,  Er- 
oberung,  Gefahr,  ein  starkes  und  gesundes  Abenteuer.  Aber 
die  Machte  der  Reaktion ;  richten  sich  bereits  auf  hinter  der 
Brustwehr  der  erworbenen  Erfahrungen,  des  erworbenen  Gel- 
des,  hinter  den  Mauern  der  Unbeweglichkeit,  die  starr  sind 
von  den  allgemeinen  Leiden.  Die  Reaktion  ruft  die  offentliche 
Meinung  an.  Um  uns  niederzukampf  en,  uns,  die  wir  hand  ein 
wollen,  reizen  die  Zufriedenen  die  Millionen  armer  Teufel  auf, 
die  beschmutzt  und  bedriickt  sind  von  der  schimmelnden 
Stadt:  ,, Armer  Teufel",  rufen  sie,  Mman  will  den  Jahrhunderte 
alten  Ruf  deines  guten  Geschmacks  beflecken;  armer  Teufel, 
Vandalen,  herzlose  Menschen  wollen  die  Schonheiten  deiner 
Stadt  zerstoren,  —  vernichten  wollen  sie  die  grofiartige  Ge- 
schichte  des  Ortes  deiner  Not!1*  Man  will  die  Meinung  in  Bann 
schlagen  in  Zeitungen,  Zeitschriften,  Vortragen.  Die  Reaktion 
marschiert. 

In  der  Stunde  des  Alarms  zum  Kampf  fur  die  groBe 
Epopoe  der  neuen  Zeit  herrscht  die  kalte  Angst.  Die  Stadt 
verfallt  immer  rascher  der  Faulnis,  die  Stadt  kann  sinnlos  wer- 
den. Die  wachsende  Mechanisierung  zerstort.  Der  Pariser 
weiB  nicht  mehr,  wo  der  Feind  steht.  Wenn  er  reich  ist,  schickt 
er  sogleich  seine  Kinder  fort  —  die  Stadt  verliert  ihre  Seele 
—  die  Frohlichkeit  des  Volkes.  Zwanzig  Jahre  haben  diese 
Abdankung  volibracht,  weil  die  eng  gewordene  Sicht  der 
Stadt  die  wahren  Horizonte  ihres  Werdens  verdeckt  hat.  Es 
ist  eine  Drohung  iiber  Paris. 

Keine  Ausfliichte  mehr.  Nicht  mehr  solche:  wir  werden 
ganz  allmahlich,  eins  nach  dem  andern,  das  Programm  Lud- 
wigs  XIV.  zu  Ende  fiihren  (dies  wurde  gesagt  und  geschrieben 
zur  Feier  des  Durchbruchs  des  Boulevard  Haussmann,  am 
15.  Januar  1927).  DaB  man  dergleichen  zu  sagen  und  zu  schrei- 
ben  wagt!  Nein,  begreifen,  besprechen,  entscheiden,  tun!  So- 
lange  es  noch  Zeit  ist!  -  Mit  jedem  Tage  erstarrt  Paris  mehr 
und  mehr:  man  laBt  an  den  gleichen  Stellen  in  deh 
gleichen  StraBen  die  dicken  Mbuildings"  wieder  erstehen,  Sind 
denn  gar  keine  Jungen  mehr  da?  Gibt  es  gar  kein  Programm? 

529 


1st  der  starkc  Bogen  der  Tradition  entzweigebrochen?  Sind 
wir  besiegt,  geschlagen,  niedergemacht,  crledigt?  Die  kaltc 
Angst  herrscht!  Wessen?  Nicht  unsre,  und  unsre  Zahl  ist  doch 
Legion  —  sie  ware  Legion,  wenn  wir  verstiinden,  uns 
zusammenzuschlieBen,  Man  miifite  es  konnen  —  sich  zusam- 
menschlieBen  und  die  Aufbewahrungsstatten  des  akademi- 
schen  Geistes  in  die  Luft  sprengen! 

Eine  Aufgabe  ist  in  alien  ihren  AusmaBen,  an  ihrem  Ort, 
mit  ihren  Finanzierungsmoglichkeiten  durch  das  heutige  Ge- 
schehen  selbst  gestellt.  Es  sind  neue  Dimensionen  da,  darin 
die  neuen  Organe  des  heutigen  Leb ens  ihre  eignen  MaBe  fin- 
den.  Die  Lage  ist  klar  gekennzeichnet:  der  verzweifelte  Krank- 
heitszustand  der  Stadt;  die  durchaus  treffende  Diagnose;  man 
weiB,  wo,  wie,  womit  man  zu  handeln  hat.  Die  mogliche  Auf- 
wertung  des  Grund  und  Bodens  veranlaBt  die  Vertreter  der 
Finanz,  nicht  langer  zu  zogern.  Berechnungen  werden  auf- 
gestellt:  nichts  ist  unmoglich;  was  getan  werden  muB,  ist  zu 
machen.  Das  Zeitalter  der  Architektur  hat  begonnen.  Archi- 
tektur  ist  heute  in  den  tausend  kleinen  Dingen,  mit  denen  sich 
die  Stadt  beschaftigt.  Paris  braucht  eine  Ordnung.  Wer  wird 
sie  ihm  geben?  Die  Auserwahlten  sind  im  Biide,  sind  bereit, 
der  Gefahr  die  Stirn  zu  bieten,  sind  einverstanden,  die 
Schmerzen  oder  zumindest  die  Miihen  der  Veranderung  zu 
tragen,  Sie  haben  die  Neugier  des  Neuen,  sie,  haben  das  Be- 
diirfnis  nach  Harmonie,  sie  sind  bereit,  ihre  Arbeit  fur  die  Idee 
daranzugeben. 

Die  niemals  wiederkehrende  Stunde  schlagt,  vielleicht 
hangt  das  Leben  der  Stadt  von  ihr  ab,  Alles  kann  durch  Nach- 
lassigkeit  in  lauter  MittelmaBigkeit  untergehen.  Ein  Paris  der 
MittelmaBigkeit!  Das  ist  doch  nicht  moglich.  Paris,  das  ab- 
dankt,  weil  es  hier  miide  Geister  gibt,  festgeschraubt  auf  den 
Sesseln  ihrer  Sinekuren;  weil  diese  Leute  kleine  Ausbriiche 
kalten  SchweiBes  haben,  ihrer  Verantwortung  wegen;  weil  sie 
bremsen  —  grundsatzlich!  GewiB,  Paris  versteht  zu  bremsen, 
wir  wissen  es,  strenge  Mutter  des  Gedankens;  Paris  hat  zu 
bremsen  verstanden  bis  zur  Stunde  der  hochsten  Gefahr.  Aber 
da  nun  hochste  Gefahr  im  Verzuge  ist,  tut  es  not,  daB  Paris 
vorstoBt. 

Die  strahlende  Stadt  kann  gebaut  werden  als  frohliches 
Unternehmen,  aktiv,  produktiv,  mit  Enthusiasmus,  mit  Zuver- 
sicht,  in  Liebe  zur  Schonheit,  in  der  architektonischen  GroBe 
des  neuen  Programme,  das  eine  neue  Stufenleiter  liar  Grofie 
aufstellt!  Doch  es  ist  wirklich  eine  Drohung  iiber  Paris,  und 
wenn  es  sich  nicht  riihrt,  wird  es  verkummern. 


Die  Familie  von  Helmut  Klaffke 

r^ie   Familie   gleicht   einem   Teich  ohne   Quelle.       Sie  ruht  in 
sich,  und  ihre  Oberflache  tragt  goldne  Entengriitze.     Ihre 

Tiefe  riecht. 

Der    Familienvorsteher    sucht    allwochentlich       vorsichtig 

stachelnd  nach  dem  lieben  Gott  und  findet  allemal,  wenn  neun 

Monate  vergangen  sind,  nur  ein  Kind.     Das  ist  ein  Fehler,  man 

530 


hat  ohncdics  genug  Geldausgaben.  Doch  sie  freuen  sich  herz- 
lich,  denn  der  Mensch  ist  kcin  Tier,  und  ein  Kind  ist  klein.  Es 
bekommt  cincn  schonen  Nam  en  und  heiBt  vielleicht  Ferdinand. 

Ferdinand  ist  den  Eltern  fiir  sein  Leben  dankbar  von  An- 
fang  an.  Er  ehrt  sie.  Sein  Temperament  berechtigt  zu  scho- 
nen  Hoffnungen,  er  sagt  friiher  als  andre  Knaben  seines  Alters 
ba,  ba,  das  ist  ein  Zeichen.  Er  sieht  dem  Vater  ahnlich  — 
nein,  der  Mutter;  er  hat  wohl  die  Nase  vom  Vater  und  die 
Augen  der  Mutter.  Er  ist  die  Summe  der  elterlichen  Veranla- 
gungen  und  wird  vielleicht  spater  studieren,  das  ist  ein  klares 
Ziel. 

Der  Friihling  geht,  der  Sommer  kommt,  der  Herbst  da- 
nach,  der  Winter  ist  schneeweiB.  Der  Vorsteher  war  nicht 
mehr  zu  jung,  als  Ferdinand  versehentlich  kam,  jetzt  ist  er 
alter,  Er  hat  sich  friih  ein  Ziel  gesteckt  und  es  zum  guten 
Teil  erreicht:  seine  Steilung  ist  nicht  ohne  Verantwortung.  Er 
verfiigt  iiber  aufgespeicherte  Reserven:  er  stachelt  weniger, 
dafiir  ist  er  voll  verhaltener  Kraft. 

Die  Gattin  nickt:  es  geht  ihnen  gut,  unberufen,  es  konnte 
manches  besser  sein,  doch  sie  haben  im  Sommer  ihre  Erholung, 
sie  haben  im  Winter  ihre  ruhigeri  Abende,  und  sie  haben 
Ferdinand. 

Ferdinand  spielt  still  in  der  Stubenmitte  mit  „Fallada",  dem 
weiBen  Holzpferd.  Er  ehrt  seine  Eltern  und  schlieBt  sie  in  sein 
Abendgebet  ein.  Seine  Feuchte  erfrischt  den  Kitt  der  Fami- 
lienfugen  —  er  erfrischt  die  Liebe.  Er  ist  die  Summe  der  elter- 
lichen Veranlagungen. 

Die  Tage  werden  kiirzer  . —  die  Tage  werden  langer;  am 
Himmel  gehen  weiBe  Wolken  oder  auch  graue.  Es  gibt  viel 
kleine  Geschehnisse,  die  erfreuen,  vielleicht  ein  wenig  mehr, 
die  befremden.  Nicht  nur  an  Ferdinand  spurt  der  Vorsteher, 
daB  er  altert.  Doch  ist  dafiir  gesorgtt  daB  sein  Alter  nicht  in- 
haltsios  sei. 

Die  Gattin  leidet  an  periodischer  Furunkulose:  am  Halse, 
unter  der  Achsel,  manchmal  am  Leibe.  Da  ist  der  Vorsteher 
eine  Hilfe.  Er  driickt  und  betupft  sie  mit  Watte  vor  dem 
Einschlafen,  das  ist  —  rein  menschlich  —  eine  schone  Gemein- 
schaft  und  ersetzt  vieles.     Sie  haben  auBerdem  Ferdinand. 

Ferdinand  geht  langst  zur  Schule;  er  ist  bald  soweit,  daB 
er  damit  fertig  sein  nuiBte.  Im  Lateinischen  ist  er  etwas 
schwach,  dafiir  in  Geschichte  prachtvoll,  das  ist  gar  keine 
Frage.  Er  betet  riicht  mehr,  doch  ist  er  still  und  nachdenk- 
lich.  Er  fiihlt  das,  was  der  Vorsteher  aus  innerer  Oberzeugung 
verneint:  er  mochte  stacheln.  Er  stachelt.  Er  sucht  nach  Gott 
und  findet  nur  ein  Kind. 

Das  hat  der  Vorsteher  nicht  gewollt:  er  hatte  andre  Ab- 
sichten.  Obrigens  ist  er  kein  Schwein.  Die  Gattin  nickt:  wo- 
her  der  Knabe  das  haben  mag;  es  liegt  doch  nicht  in  der  Familie. 

Ferdinand  schiittelt  mit  der  Hand,  als  habe  er  in  Kot  ge- 
faBt.  Er  steckt  sein  Ziel  ein  wenig  heran  und  wird  selbst  Vor- 
steher.    Hier  schlieBt  sich  der  Kreis. 

Die  Familie  gleicht  einem  Teich  ohne  Quelle.  Sie  ruht  in 
sich,  und  ihre  Oberflache  tragt  goldene  Entengrutze.  Ihre 
Tiefe  riecht. 

531 


Zeittheater!  Zeittheater!  von  Mice  Ekert-Rothnoiz 

Zeittheater? 
Mutter  spielt  Bridge  . , .    Und  Vater? 
Vater  geht  nich  in  son  Theater. 
Vater  hat  an  der  Borse  Theater . , . 

Sagt  Vater. 

Denn  der  Berliner  von  Rang  und  Parkett 
mochte  gern  lachen  oder  ein  Bett . . , 

Selbstverstandlich  auf  Freibillett. 
Wo   die  Zeit   ihm  den  ganzen  Tag   so   mififallt 

denn  ooch  noch  Zeittheater? 
Nur  wenn  Tauber  da   mitsingt: 

nSchoon  ist   die  Welt!" 

Zeittheater? 
„Ich  bitt  Sic,  das  gibt  so  leicht  Skandal! 
Das   Publikum  spuckt  mir  ins   Personal . . . 
AuBerdem  schieBen  se  heut  immerzu  — 
In  meinem  Theater  will  ich  mei  Ruh!" 

Spricht  der   Direktor  und  Vater 
vons   Zeittheater. 

Denn  der  Berliner  von  Rang  und  Parkett 
mochte  gern  lachen   oder  ein  Bett . . . 
Er  verlangt  fur  sein  teures  Freibillett: 
Running.    Brtiste,  die  man  genau  durchs  Glas  bewundert  — 
Zeittheater? 
Aber  gern! 
Aus  der   Zeit   urn   1900. 

Zeittheater? 
Wenns  hochkommt,  ists  wie  im  Parteilokal . . . 
Leute  von  heute,  spielt  doch  mal: 

,, Deutsche  Wirtschaft."    Ein  garantiert   starkes   Stuck! 
Leute,  spielt  mal,  wie  alles  so  kam 
Wie  man  uns  Glauben  und  Spargroschen  nahm . . . 
Leute!    Spielt:   „Zeit  ohne  ZuckerguB" 
Spielt,  wie  ein  ganzes  Volk  stillhalten  mufi . . . 

—  „H6ren  Se  uff!    Sie  Mann  da! 

Das  ist  rote  Propaganda!" 

Denn  der  Berliner  von  Rang  und  Parkett 
mochte  gern  lachen  oder  ein  Bett . , . 
Alles  Andere  nicht  mal   auf  Freibillett! 

Zeittheater? 
. . .  Nischt  wie  Larm   und  Radau.   Zum  SchluB   noch  mit 

Toten 
Und  die  Buhne  riecht  immer  so  nach  Moskau . . . 
Der  Arzt  hat  mir  Larm  und  Moskau  verboten!" 
* 
Und  deswegen  kommt  es  auf  Folgendes  raus: 
Man  spielt  Johann  Straufi  oder  Vogel  StrauB , , . 
Das  Zeittheater  —  merken  Se  wat?  — 
findet  auBerhalb  des  Theaters  statt. 
532 


Bemerkungen 

Parteiwirtschaft 

VV/ie  ware  es,  wenn  man  nun 
^*  einmal  einen  damlichen 
kleinen  Trick  aus  unsrer  Politik 
entfernte,  der  darin  besteht,  je- 
der  grade  an  der  Macht  befind- 
lichen  Partei  vorzuwerfen,  sie 
betreibe  Parteiwirtschaft  — ?  Ja, 
was  soil  sie  denn  eigentlich  sonst 
betreiben  — ? 

Das  Wohl  der  Allgemeinheit . . ., 
ich  weiB  schon.  Aber  ich  mochte 
nur  einmal  wissen,  wozu  denn 
Wahlen  und  Propaganda  und 
Parteikampf  da  sein  sollen,  wenn 
nicht  zu  dem  alleinigen  Zweck, 
eine  Partei  an  die  Macht  zu  brin- 
gen.  Und  wenn  sie  dort  ange- 
kommen  ist,  was  hat  sie  zu  tun? 
Natiirlich  ihre  Macht  zu  gebrau- 
chen.  Das  haben  alle  Parteien 
begriffen,  mit  Ausnahme  der  SPD, 
der  man  sehr  zu  Unrecht  den 
Vorwurf  macht,  sie  mitfbrauche 
ihre  Machtstellung.  Sie  hat  gar 
keine,  Es  mag  ja  sein,  daC  die 
Postchenverteilung  fiir  ihre  Mit- 
glieder  angenehm  ist  —  ihre 
Macht  hat  sie  nie  richtig  benutzt: 
sie  hat  stets  nur  Kompromisse 
gemacht,  und  die  zu  ihrem  Scha- 
den.  Sind  die  Rechten  an  der 
Macht,  so  benutzen  sie  ihre 
Macht,  und  sie  tun  recht  daran. 
Und  das  Zentrum . . .  aber  das  ist 
ja  in  Deutschland  immer  an  der 
Macht.  Die  Zeitungen  kreischen 
gegen  Moskau,  und  das  Land 
wird   von   Rom   regiert. 

Doch  sollte  man  mit  jener  tie- 
fen  Unehrlichkeit  aufhoren,  !j  e- 
der  Regierung  vorzuwerfen, 
sie  sei  eine  Parteiregierung, 
Natiirlich  ist  sie  das,  und 
das  soil  sie  auch  sein.  DaC  aber 
in  Deutschland  der  Begriff  „Par- 
tei"  bis  auf  das  Rinnstein-Niveau 
gesunken  ist,  das  ist  eine  andre 
Sache,  und  hier  sollte  man  zu- 
packen.  .  Der  Rest    ist  Heuchelei. 

Das  Niveau,  auf  dem  sich  die 
meisten  deutschen  politischen  De- 
batten  bewegen,  ist  kaum 
noch  zu  unterbieten.  Sieht  man 
von  einigen  Jugendbiinden  ab, 
die  sich,  besonders  sehr  weit 
recht s  und  sehr  weit  links,  ernst- 
haft   urn    einen   gesunden   Kampf 


bemiihen,  das  heifit,  die  den  Geg- 
ner  nicht  bagatellisieren  und  ihn 
nicht  fortdisputieren,  sondern  die 
wirklich  ant  re  ten  —  dann  bleibt 
ein  Meer  von  Liigen.  Man  sehe 
sich  etwa,  wenn  man  die  Geduld 
dazu  aufbringt,  diese  unsagliche 
Hitlerpresse  an:  wie  das  der  Re- 
gierung vorwirft,  das  Land  nach 
Prinzipien  zu  regieren,  also  ge- 
nau  das  zu  tun,  was  jene  tun 
wollen.  Es  ist  mehr  als  jammer- 
lich,  was  da  getrieben  wird. 

Zu  bekampfen  ist  allein  die 
Parteiwirtschaft,  die  sich  nicht 
offen  als  solche  bekennt,  sondern 
die  vorgibt,  fiir  das  groBe  Gauze 
zu  arbeiten,  so,  wie  die  katho- 
lische  Kirche  gern  „die  Natur" 
vorschiebt,  wenn  sie  ihr  Dogma 
meint,  Sagt,  was  ihr  wollt,  und 
sagt,  was  ihr  tut,  wenn  ihr  an 
der  Macht  seid.  Euch  dann  noch 
Parteiwirtschaft  vorzuwerfen,  ist 
die  Negierung   jeder  Politik. 

Ignaz  Wrobel 

Antwort  an  Max  Brod 

P\er  Dichter  und  Kampf er  Max 
^  Brod  fugt  seinen  dreihundert- 
vierundachtzig  Protesten,  die  der 
Kummer  iiber  den  textungetreuen 
Schwejk  ihm  abn6ti|t,  trotz  sei- 
nem  am  17.  September  im  ,Prager 
Tagblatt'  erschienenen  Epilog 
zum  Schwejk  —  einen  dreihun- 
dertfiinfundachtzigsten  (in  der 
letzten  Nummer  der  jWeltbuhne'} 
hinzu.  Hier  erklare  ich;  dafi 
seine  Behauptungen  im  dreihun- 
dertfiinfundachtzigsten  Protest 
samt  und  sonders  teils  entstellt, 
teils  ganzlich  erfunden  sind.  (Jber 
die  vom  Dichter  Max  Brod  mifi- 
billigten  Text-Improvisationen,  die 
ich  in  einer  unter  andern  von 
Piscator,  Bert  Brecht,  Leo  La- 
nia  und  Gasbarra  bearbeiteten 
Schwejk-Fassung  seit  vier  Jah- 
ren  spiele  und  von  der  der  Dich- 
ter Max  Brod  seit  ebenso  vielen 
Jahren  die  Tantiemen  bezieht, 
obwohl  sie  mit  der  von  ihm  ge- 
dichteten  Offiziersdienerposse 

, .Schwejk"  nicht  das  geringste 
zu  tun  hat,  urteilt  der  Possen- 
Mitarbeiter    des    Dichters,     Hans 

533 


Reimann,   in  einem  Brief  an   die- 
sen  so: 

,,Leoni   am    Starnbergsee 
Mein  lieber  Max! 

Ich  habe  Dir  heute  dieses  Tele- 
gramm  geschickt:  MAuffuhrungen 
miissen  stattfinden,  bin  gegen 
Deinen  Protest.    Hans/' 

Jawohl,  Max,  icb  bin  gegen 
Deinen  Protest,  aus  etlichen 
Griinden. 

Erstens  sei  froh,  daB  iiberhaupt 
noch  Theater  gespielt  wird  in 
dieser  Dreckzeit  und  dafi  man  als 
Autor   etwas   daran   verdient. 

Zweitens,  weil  man  infolge  Dei- 
nes  offentlichen  Protestes  ohnehin 
weiBf  daB  nicht  die  Originalfas- 
sung  gespielt  wird  und  infolge- 
dessen  Du  keinerlei  Schaden  in 
Deiner  Reputation  erleidest. 

Die  Fassung  Pallenbergs  ist 
(fiir  Buhnenzwecke)  unendlich 
viel  besser,  als  die  Formulierung 
des  geschwatzigen  Schwe j  ks  im 
Roman. 

Gott,  sind  die  Osmanen  nett 
und  das  goldene  Hornchen!  Hat- 
ten  wir  nur  alles  so  lustig  ge- 
schrieben!  Ich  bin  blindlings  fiir 
Pallenbergs  Fassung  eingenommen 
und  protestiere  nochmals  gegen 
Deinen  Protest, 

Ich  bin  der  Uberzeugung,  daB 
Pallenberg  uns  zuliebe  eine  Form 
finden  wird,  und  Du  wirst  es 
nicht  notig  haben,  einen  Riickzug 
anzutreten,  weil  (wie  gesagt) , 
durch  Deinen  offentlichen  Pro- 
test die  Ehre  der  Autoren  nebbich 
langst   hergestellt  ist, 

Aber  deshalb  das  ganze  Gast- 
spiel    vermasseln?     Nein,    Max, 


Durch  Deinen  Protest  mufite 
sich  die  Sache  erledigt  haben. 
Direktor  Beer  wird  eine  mittlere 
Linie  finden,  damit  Du  nicht  als 
der   Lackierte   dastehst, 

Ich  als  '{entschuldige  I)  Mit- 
autor  habe  nicht  das  mindeste 
gegen  das  Gastspiel.  In  seinem 
Interesse  wird  Pallenberg  die 
Sache  so  famos  wie  moglich 
machen,    verlaB    Dich    darauf. 

Es  ist  der  reine  Hohn,  daB  eine 
anstandige  Sache  durch  iiber- 
triebene  Korrektheit  ins  Wasser 
fallen  soil.  Seien  wir  froh,  daB 
der  Schwe jk  endlich  in  Prag  ge- 
spielt  wird.  Ich  habe  daxnals 
einen  Film  gesehen,  der  war  der 
letzte  Mist ;  und  niemand  hat 
protestiert. 

Gegen  Pallenberg  zu  protestie- 
ren  halte  ich  mich  nicht  fiir  be- 
fugt.  Ich  Hebe  diesen  genialen 
Mann  und  entschuldige  ihm  alle 
Zusatze  und  Ubertreibungen, 

Hoffentlich  bringt  er  die  gegen 
die  Osmanen  kampfenden  Tiir- 
ken, 

Herzlichen  GruB  von 

Hans  m.   p." 

Bezeichnend  fiir  die  Polemik 
des  Dichters  Max  Brod  (und 
noch  mehr  fiir  den  Polemiker)  ist 
es,  daB  er  in  dem  Streit  um 
Schwe  jk  nicht  vergiBt,  meine  An- 
gelegenheit  mit  der  Amstelbank 
zu  erwahnen,  Wobei  er,  be- 
ziehungsvoll  zwinkernd,  vermerkt, 
daB  ich  in  dieser  Sache  „ver- 
stummt"   sei. 

Wie  jeder  anstandige  Mensch 
solche  Art  der  Polemik  nennen 
wird,  brauche  ich  nicht  zu  sagen. 


WICHTIGE   NEUERSCHEINUNG! 

.  .  .  unfer  tausend  neuen 
BucKern  em  aufsehenerregen- 
der   Erlolg. 

.  .  .  unter  tausend  Zigaretton 
etwas  Einmatiges:  eine  Ab- 
dulla-Neuerscheinungran  der 
ein  kultivierter  Raucher  nicKl 
vorubergehen  darf. 

ABDULLA  &  Co. 

534 


6  Pig.  Ohne  MundttOck 

KAIRO  .  LONDON  •  BERLIN 


Aber  was  tut  nicht  alles  ein 
Dichter,  der  fur  einen  Dichter 
kampft! 

Bis  zu  seinem  ftinfhundertsten 
(Jubilaums)  Protest  hort  der 
Dichter  und  Kampfer  Max  Brod 
nichts  mehr  von  mir! 

Max  Pallenberg 

„Ruckkehr% 

ein  Gesellschaftsspiel  von  der 
Liebe,  Verfasser;  Donald  Ste- 
wartf  macht  es  dem  Zuhorer 
nicht  leicht,  ein  solcher  zu  seiru 
Auf  der  Biihne  (der  MKom6die") 
breitet  eine  Gruppe  miteinander 
verwandter  oder  bekannter  Per- 
sonen,  feiner  Mittelstand,  in  ver- 
schlungnem  Dialog  —  sie  sprechen 
Achter,  wie  man  auf  der  Eis- 
bahn  welche  schleift  —  ihr  all- 
tagliches  Leben  aus,  das  stellen- 
weise  mit  Innenleben,  unuberseh- 
bar  durchschimmernd,  gef  xittert 
ist,  Im  Stewartschen  Dialog 
wird  manches  horbar  verschwie- 
gen:  das  im  Gesprach  nicht  Aus- 
gesprochene  schwebt  als  ein  Ge- 
sprach zweiten  Grades  zwischen 
den  Worten.  Doch  ist  leider 
auch,  was  in  diesem  stumm-laut 
wird,  um  entscheidende  Grade  zu 
uninteressant.  Lahge  dauert  es, 
bis  die  gegenseitigen  Beziehungen 
der  Figuren  klar  gestellt  sind, 
bis  der  Horer,  umsummt  von 
Evie,  Bill,  Liz,  Johnny,  Fleur. 
Robby,  beilaufig  weifi,  wer  zu 
wem,  mit  wem,  wessentwegen. 
Die  Handlung  ist  zwirndtinn  und 
der  in  den  Zwirn  gekniipfte  Kno- 
ten  kaum  merkbar.  Im  Wesent- 
lichen  geht  es  um  das  Schicksal 
der  kapriziosen  Fleur,  die,  weil 
sie  den  nicht  heiraten  kann,  den 


sie  liebt,  den  liebt,  den  sie  hei- 
ratet,  In  der  Ehe  erleidet  Fleur 
Kummer,  —  Bill  flattert  um 
Evie  — ,  der  sie  bis  an  den  Rand 
der  Selbstverleugnung  bringt, 
aber  im  vorletzten  Augenblick  (in 
den  Garderoben  ist  schon  alles 
ready)  fangt  sie  sich  wieder 
(„Ruckkehr"),  und  damit  auch, 
obschon  niemand  weifi,  warum 
und  wieso,  den  halb  Entflatterten. 

Frau  Dorsch  spielt  die  Rolle, 
oder  eigentlich:  sie  spielt  a  pro- 
pos  der  Rolle.  Sie  gibt  Proben 
aus  ihrem  Repertoire  der  Zart- 
lichkeit  und  Herzenswarme,  des 
Obermuts,  der  leichteren  und  der 
tieferen  Schmerzen,  sehr  schone 
Muster  von  verhaltenem  und  aus- 
brechendem  GefUhl,  von  kummer- 
voller  Frohlichkeit  und  mit 
Selbstverspottung  zugedecktem 
Kummer,  alles  bezaubernd  weich 
in  den  (Jbergangen  und  apart  in 
der  Mischung.  Und  alles,  gewis- 
sermaflen,  an  und  fur  sich,  abso- 
lut,  das  heiBt  aufierhalb  der  Ord- 
nung  und  Begrundung  der 
schwachen  Komodie,  die  nicht 
den  Baum  abgibt,  an  dem  solche 
Friichte  reiften,  sondern  nur  den 
Teller,  auf  den  sie  gelegt  wurden. 

Alfred  Polgar 

Feininger 

Armer  Feininger,  als  Frick  Kul- 
■**  tusminister  geworden  war  im 
Lande  der  Thiiringer,  warf  er 
Deine  Bilder  aus  dem  Schlofi- 
museum  heraus.  Sie  hangen  jetzt 
in  der  aufierordentlichen  Feinin- 
ger-Ausstellung  des  Kronprinzen- 
palais,  die  Justi  eben  eroffnet. 
Der  Katalog  hat  bei  jedem  die 
Schande  vermerkt. 


B6  Yin  Ra 

hat  sein  Wissen  nicht  aus  Hbrsalen  und  Biichern.  Er  war  auch  niemals 
Mitglied  irgendeiner  sektiererischen  Gruppe  wie  etwa  die  der  Theosophen, 
Okknltisten  oder  ahnlicher  Gesellschaften.  Naheres  iiber  ihn  und  sein 
Werk  sagt  die  Einfuhrungsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin,  kostenfrei 
bei  jeder  Buchhandlung  zu  beziehen,  sowie  beim  .Verlag:  Kober'sche 
Verlagsbuchhandlung  Basel  und  Leipzig. 


535 


Was  braucht  ein  Frick  von  der 
Malerei  zu  verstehn?  Nichts. 
Aber  Frick  nahm  jedenfalls  Deine 
Bilder  ernst,  so  crnst,  daB  er 
sein  Volk  nicht  weiter  ihren  Wir- 
kungen  aussetzen  wollte.  Wenn 
er  dunkel  fubite,  daB  Deine  Bil- 
der keine  Spielerei  sind,  daB  sie 
etwas  wollen,  dafi  sie  der  eignen 
Kiimmerlichkeit  und  Muffigkeit 
schadlich  werden  konnten,  dann 
hat  er  Dir  doch,  auf  seine  treu- 
deutsch-tapfere  Art,  Respekt  er- 
wiesen.  Und  in  ein  Hakenkreuz- 
Museum  gehorst  Du  ja  wirklich 
nicht. 

Max  Deri,  Kritiker  der  ,BZ, 
am  Mittag\  berufsmaBiger,  appro- 
bierter  Kenner  der  Kunst,  tiber 
jeden  Verdacht  reaktionarer  Ge- 
sinnung  erhaben,  hat  Dich  schlim- 
mer  getroffen,  Er  hat  Dir  auf- 
munternd  auf  die  Schulter  ge- 
klopft,  Dich  neckisch  mahnend  in 
die  Backe  gekniffen  und  Dich 
schlieBlich  mit  einem  kleinen 
Klaps  entlassen:  „Es  ist  nicht 
viel,  mein  Jungelchen,  was  Du 
kannst,  aber  weine  nicht,  versetzt 
kannst  Du  werden." 

Es  ist  ja  eigentlich  verdammt 
schwer,  Dich  miBzuverstehn;  ver- 
dammt schwer,  Deine  Art,  die 
ganz  rein  in  Deine  Bilder  uber- 
geht,  nicht  zu  erkennen,  Aber 
Doktor  Deri  kann  es.  Ich  traue 
meinen  Augen  nicht,  aber  da 
stent  es  Schwarz  auf  WeiB:  Du 
bis  „begabt,  frisch,  zupackend" 
und  vier  Zeilen  tiefer  noch  be- 
st immter;  „frech  im  besten 
Sinne  (wovon  ich  nicht  weiB,  was 
das  ist),  unbeschwert  und  unbe- 
kummert".  Von  wem  ist  das  ge- 
sagt?  Wahrscheinlich  von  Gino 
von  Finetti,  von  Hans  Meid, 
Jackel  oder  KrauskopL  Abet 
nein,  von  Lyonel  Feininger,  der  in 
seiner  ersten  Periode,  nach  Dok- 


tor  Deri,    gebriillt   hat,    ohne  es 
doch  ernst  zu  meinen. 

Wenn  wir  einen  Maler  in 
Deutschland  haben,  der  Vorbild 
nie  endender  Gewissensscharfung, 
immer  sich  prufender,  nie  zufrie- 
dener,  disziplinier tester  Arbeiter 
ist,  dann  Feininger*  „Frisch?" 
„Zupackend?"  „Unbekummert?" 
„Unbeschwert?"  —  Ja,  er  ist  so 
frech  wie  eine  zitternde  KompaB- 
nadeL 

Doktor  Deri  hat  Feininger  ge- 
wogen  und  fur  ein  Genie  zu 
leicht  be  fun  den.  Es  reicht  nur  zu 
einem  „schonen  Talent".  Nicht 
dariiber  mochte  ich  mich  mit 
Doktor  Deri  auseinandersetzen, 
Ich  verstehe,  daB  einem  Forscher, 
der  so  sehr  auf  Kunst-Psycho- 
Anal/se  gestellt  ist  wie  Doktor 
Deri,  die  „Kanten  und  Ecken  und 
Pyramiden  und  Wurfel"  Feinin- 
gers  nicht  sehr  viel  Erkenntnis- 
Material  hergeben.  Aber  ware .  es 
zu  viel  verlangt,  in  einem  immer- 
hin  wichtigen  Falle  auch  andre 
Materialien  vor  dem  Urteil  heran- 
zuziehn?  Es  liegen  zum  Beispiel 
im  achten  Jahrgang  des  H Sturm", 
im  sechsten  Heft,  Briefe  von  Fei- 
ninger gedruckt  vor,  die  iiber  sein 
Schaffen,  seine  kiinstlerische  Na- 
tur  sehr  schon  unterrichten,  Die 
kristallklare,  groBe  und  ernste 
Art  Feiningers  ist  in  diesen  AuBe- 
rungen!  Hatte  Doktor  Deri,  wenn 
ihm  schon  die  Bilder  nichts  sa- 
gen,  wenn  ihm  schon  Gestalt  und 
Antlitz  dieses  Menschen,  den  wir 
lieben,  undeutbar  sind  —  hatte  er 
nicht  wenigstens  lesen  sollen,  was 
Feininger  tiber  „frech,  unbe- 
schwert, frisch,  zupackend"  (Fei- 
ninger nennt  es  kurz  „Tempera- 
ment")  denkt?  —  „Auf  der 
Staffelei  steht  vor  mir  ein  ange- 
fangenes  Bild.  Voller  Frische, 
mit  kuhnem,  breitem  Auftrag.  Seit 
drei    Tagen    berausche    ich   mich 


liliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiJiiiiiiiiiiiiiii 

ADAM  UND  EVA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSG ABE 

Adam,  ein  wunderbarer  tolpatschiger  Bursche,  steht  immer  wieder  verblDfft  vor  den 
Wandelbarkeiten  der  be  id  en  Frauen:  Lilith  und  Eva,  der  Geliebten 
und  der  graMBIich  Legltimen.    Alles,  was  zwischen  Mann  und  Frau 
exlstiert,  wird  in  diesem gelstreichen,  wltzigen Buohe ausgesprochen. 


TRANSMARE  VERLAQ  A.-O. 

536 


BERLIN  W  10 


Lelnen 

3.75RM 


daran.  Und  nun:  ich  habe  zwei 
drei  Bilder  aus  diesen  lefzten 
schrecklichen,  verqualten  Winter- 
monaten  hervorgeholt  und  ver- 
gleiche  sie  mit  dera  neuen  Gliicks- 
bild.  Ja,  was  meinen  Sie?  .  — 
Das  Gliicksbild  zerfallt  in  Bra- 
vour  . . .  und  die  Schmerzensbil- 
der  sind  verklarte  Werke . . .  mit 
einem  Zauberschlage  scheint  es  zu 
gestehen,  daB  aus  diesen  verqual- 
ten Kindern  dunkler  Zeiten  dia- 
mantharte,  unvergangliche  Vi- 
sionen  entstehen,  voller  verborge- 
ner  Schonheit.  Sie  sind  nicht  von 
der  heutigen  Zeit.  Das  Gliicksbild 
ist  es,  —  Soil  ich  noch  von  mei- 
nem  Gliicksbild  berichten?  Es  ist 
im  Modder  und  Schlamm  un- 
reiner  Farben  untergegangen  und 
besteht  nicht  mehr,  sondern  wird 
iiberspachtelt  als  Grundflache  fur 
ein  kiinftiges  „ern$tes"  Bild,  Da- 
gegen  habe  ich  mit  Harte  und 
Zorn  mich  gezwungen,  dasselbe 
Bild  noch  einmal  anzufangen  und 
mir  die  groBte  Strenge  zum  Ge- 
setz  gestellt,  Es  wird  jetzt  erst 
ein  Bild,  das,  diszipliniert  und 
festgefiigt,  vielleicht  einmal  ein 
.Gliicksbild'  werden  kann". 

Wie  sagte  Doktor  Deri?  „Frech 
(im  allerbesten  Sinne),  unbekiim- 
mert,  unbeschwert'*  —  welch  ein 
lieber  Vertreter  des  lustigen 
Malervdlkchens,       Adoli  Behne 

Also  -? 

T^as  Verbot  des  evangelischen 
))LS  pfarramts  Eberstadt  in  Hes- 
sen  an  die  politischen  Verbande, 
die  Kirche  in  Uniform  zu  betreten, 
ist  vom  Landeskirchenamt  auf 
Beschwerde  der  nationalen  Ver- 
bande  aufgehoben  worden." 
Also  aus  der  Kirche  austreten. 


Der  HdfHche 

Wenn  man  mich  fragt,  wer  det 
hoflichste  Mann  war,  den 
ich  je  gesehen  habe:  der  Abbe 
von  Mesancy, 

Die  Franzosinnen  sind  sehr 
aberglaubisch  —  einem  Priester 
auf  der  StraBe  zu  begegnen,  gilt 
als  boses  Omen;  man  mufi  sofort 
nach  einem  Stuck  Eisen  fassen  — 
das  bringt  dann  die  Chancen 
wieder   ins   gleiche. 

In  Mesancy:  eine  junge  Dame 
erbleichte  beim  Anblick  des 
Abbes,  Blieb  fassungslos  stehen 
—  dann  augte  sie  fieberhaft  nach 
einem  Stuck  Eisen  um, 

Mit  reizend-nachsichtigem  La- 
cheln  griff  der  Abb6  in  die 
Tasche  und  reichte  ihr  seinen 
Hausschliissel,  Roda  Roda 

Theaterkultur 

In  der  Provinz  findet  gegenwartig 
*■  eine  Theaterwerbewoche  statt. 
Di^  Schauspieler  gehen  von 
Haus  zu  Haus,  um  Abonne- 
ments  oder  Gutscheinhefte  zu 
verkaufen.  Ein  Kollege  aus 
Erfurt  klingelt  an  einer  eleganten 
Villa  und  tragt  dem  offnenden 
Madchen  sein  Anliegen  von 

Das  Madchen  verschwindet,  um 
mit  der  gnadigen  Frau  Riick- 
sprache  zu  nehmen  und  kehrt 
nach  einer  Weile  zuriick. 

Die  gnadige  Frau  laBt  fragen, 
ob  Sie  denn  nicht  lesen  konnten? 

...? 

Ob  Sie  nicht  lesen  konnten! 

Wieso?  — 

Da  deutet  das  Madchen  stumm 
auf  das  Schild  neben  der  Klingel: 
BETTELN  UND  HAUSIEREN 
VERBOTEN 


LYRIK-PREISAUSSCHREIBEN 

Die  „Kolonnea,  Zeitsdbrift  fur  Didhtung,  wiederholt  das  iin 
vorigen  Jahr  veranstaltete  Preisaussdbreiben  fur  Lyrik.  —  Naheres 
dariiber  in  dem  soeben  ersdhienenen  Heft  4  des  II.  Jahrgangs. 

Pre  is  des  Heftes  /.—  RM 

VERLAG  DER  „KOLONNE" 

Wolfgang  Jess  Verlag  in  Dresden 

537 


Germanisch 

/"^haraktervoll  selbstandig,  mutig 
^■^  kritisch,  Belesenheit  und 
Scharfsinn  bekundend,  da  und 
dort  gedankensprtihend  und 
durchhin  gef iihldurchwarmt ;  stel- 
lenweise  in  schemes  Sprachge- 
wand  gekleidet,  mit  konzisen 
Formulierungen,  die  asthetischen 
Genufl  gewahren.  Meiner  Begut- 
achtung  ist  meines  Erinnerns 
eine  bessere  Dissertation  nie 
unterstellt  gewesen.  Ich  habe  fur 
mich  selbst  von  ihr  gelernt  und 
beim  Lesen  mit  Stolz  als  Ger- 
mane mich  gefuhlt. 

Prof.  Dr.  H.  Haas 
in  Theol.  Lit.  Ztg. 

Ein  kesser  Nachkomme 

f^ie  Urenkelin  unsrer  bedeutend- 
*""^  sten  klassischen  Dichterin  hat 
einen  fliissig  geschriebenen 
etwas  erotisierten  Roman  im  Ma- 
nuskript  fertig.  Sie  wiirde  mit 
ihrem  hochangeseh.  Namen  allein 
schon  ihren  Weg  machen. 

Fur  Verleger,  die  auf  Massen- 
auflage  eingestellt  sind,  ein  sehr 
giinstiges  Angebot. 

Angebote  unter  +  1510  d.  d. 
Geschaftsstelle  des  Borsenvereins. 
,Buchhandler-Borsenblatt' 

Physik 

T  J  nd  KrauB  zieht  ein  Beispiel 
^  aus  der  Physik  heran:  „Das 
Licht  hat  ja  grofiere  Geschwin- 
diekeit  als  der  Schall  —  folglich 
kann  das  Biihnenbild  rasch  kon- 
zipiert    werden   und    das   mull    es, 


damit  das  Wort  zur  Wirkung 
kommen  kann.  Nur  keine  ver- 
wirrenden  Dekorationen,  die  ab- 
lenken."  Film-Kurier 

Liebe  Weltbuhne! 

Dremiere  des  neuen  Hansi-Niese- 
*  Films.  Auf  der  Pro|ektions- 
wand  erscheint  der  Titel  des 
Films: 

HPurpur  und  Waschblau" 
Stimme    einer    Kritikersgattin    im 
Parkett:     „Ach    so,    ein    Farben- 
film!" 

Deutscher  Winter  1931/32 

Der  Winter  naht,  der  Winter  droht, 
Er  droht  mit  Kalte,   Hunger,  Tod, 
Er  droht  der  Stadt  und  droht  dem  Land, 
Er  droht  —  und  das  ist  allerhand  — 
Nun  auch  dem  deutschen  Mittelstand, 
Auch  Briining  kommt  dahinter: 
Das  wird  ein  schwerer  Winter. 

Die  Heilsarmee  zieht  durch  die  Stadt, 
Sie  macht  die  Arraen  fett  und  satt; 
Die  hohen  Tiere  von  der  Bank 
Gehn  jetzt  zu  FuG  die  Linden  lang, 
Erkalten  sich  und  werden  krank,  — 
Und  Briining  kommt  dahinter: 
So  kommt  man  durch  den  Winter. 

In  die  Umgebung  von  Berlin 

Sieht  man  in  Scharen  Siedler  ziehn, 

Sie  san  und  ernten  hinterher 

Soviel  sie  wolln  und  noch  viel  mehr, 

Und  Unterstiitzung  gibts  nicht  mehr  — : 

Es  steckt  schon  was  dahinter  1 

So  kommt  man  durch  den  Winter, 

Die  Nazis  brulln:  „Juda  verrecke"  im  Chor 
Und  stelln  zu  Wohlfahrtszwecken  sich  vor. 
Hitler,  wie  immer  an  der  Spitze, 
Erzahlt  allabendlich  jiidische  Witze 
Und  verwertet  Kommunisten  zu  roter 

Griitze. 
So  wird  aus  den  diversen  Krisen 
Der  Weg  zu  herrlichen  Zeiten  gewiesen. 
Anscheinend  kommen  sie  dahinter, 
Aber  kommen  sie  auch  durch  den  Winter? 

G.  Wallenstein 


Hinweise  der  Redaktion 

Hamburg 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Dienstag  20.00:  Zusammenkunft  im  Volksheiin, 
Eichenstrafle. 

BOcher 

Oskar  Maria  Graf:  Bolwieser.     Drei  Masken-Verlag,  Berlin. 

Alexander  Lernet-Holenia:  Das  Abenteuer  eines  jungen  Herrn  in  Polen.  Gustav 
Kiepenheuer,  Berlin. 

Run  d  funk 

Dienstag.  Muhlacker  18.40:  Ist  Kunst  eine  Waffe?  Adolf  Behne.  —  Berlin  20.00:  Stunde 
der  Unbekannten,  Edlef  Koppen. —  Konigsberg  20.10:  Lenz,  Horspiel  nach  Buchner. — 
Breslau  21.45:  Fazit  des  Kritikers,  Herbert  Jhering.  —  Berlin  22.15:  Gandhi  am 
runden  Tisch  mit  England  von  Actual  is.  —  Mittwoch.  Berlin  19.15:  Assignaten  und 
Inflation,  Samuel  Saenger.  —  20.00:  Musik  aus  der  Zeit  des  stummen  Films.  — 
Donnerstag-.  Berlin  18.15:  Else  Lasker-Schuler  liest.  —  Munchen  20.00:  Die  sieben 
Sachen  von  Erich  Kastner.  —  Freitay-  Hamburg  19.30:  Bruno  Nelissen-Haken 
liest.  —  Konigsberg  20.10:  Szenen  aus  Dos  Passos  Manhattan  Transfer.  —  Berlin 
20.30:  Die  Rauber  von  Schiller.  —  Sonnabend.  Berlin  19.00:  Die  Erzahlung  der 
Woche,  Giinther  Birkenfeld.  —  19,25;  Der  Zweck  der  Kunst,  Kurt  Hiller  und 
Ludwig  Meidner. 

538 


Antworten 


Buchhandler-Borsenblatt*  AIs  seinerzeit  das  Photo-Buch  von  John 
Heartfield  und  Kurt  Tucholsky  1fDeutschland  iiber  alles!"  erschien, 
verweigertet  ihr  dem  Neuen  Deutschen  Verlag  die  ersten  Anzeigen, 
weil  die  Wiedergabe  des  Titelbildes  geeignet  sei,  irgend  etwas  zu  ver- 
letzen;  wenn  wir  nicht  irren,  waren  es  die  vaterlandischen  Gefiihle 
oder  die  deutsche  Reichsverfassung,  kurz,  etwas  sehr  Zerbrechliches, 
Nun  aber . . ,  Nun  aber  ist  da  bei  Breitkopf  und  Hartel  ein  Bilder- 
buch  erschienen,  das  die  von  Heartfield  und  Tucholsky  gewiesenen 
Wege  geht:  „Das  Gesicht  der  Demokratie".  Nehmen  Sie  fascistisch, 
das  hebt  Ihnen.  Und  dieses,  Buchhandler-Borsenblatt,  ist  auf  einmal 
ganz  anders.  Das  verletzt  keinen.  Nicht  die  sehr  bosartig  ausge- 
suchte  Photo  des  verstorbenen  deutschen  Auflenministers  Stresemann, 
der  bei  den  Hitlern  aller  Pragungen  langsam  zum  zweiten  Erzberger 
geworden  ist;  es  verletzt  auch  keinen,  wenn  iiber  den  Bildern  Lieb- 
knechts  und  von  Proletariern  am  Maschinengewehr  eine  Tafel  anzeigt: 
,,Das  deutsche  Volk,  einig  in  seinen  Stammen  und  von  dem  Willen 
beseelt,  sein  Reich  in  Freiheit  und  Gerechtigkeit  zu  erneuern . . ."  also 
eine  klare  Verhohnepipelung  der  Reichsverfassung.  Uns  ist  das  ge- 
wiB  gleichgiiltig.  Aber  welches  Gebriill  der  edeln  Seelen,  wenn  sich 
die  Linke  das  erlaubt,  was  hier  die  Rechte  mit  voller  Genehmigung 
aller  reaktionarer  Buchhandler  vollfiihrt.  Nach  wie  vor:  das  Borsen- 
blatt   fur   den   deutschnationalen  Buchhandel. 

Dr.  Rudolf  Hilferding.  Sie  schreiben  mir  diesen  Brief:  „Reichstag. 
Berlin  NW  7,  den  30.  September  1931.  An  die  Redaktion  der  ,Welt- 
biihne'.  In  Nr.  39  der  ,Weltbuhne'  vom  29.  September  1931  wird  in 
einem  Arjtikel  von  Carl  von  Ossietzky  gesagt,  ich  sei  der  Meinung, 
eine  zweite,  urn  einige  Tongrade  scharfere  sozialistische  Partei  ware 
notwendig,  um  nicht  alle  Genossen,  die  fur  Aufgabe  -der  Tolerierungs- 
politik  sind,  an  die  Kommunistische  Partei  abzutreten.  Man  brauche 
eine  Zwischenpartei,  mit  der  man  sich  spater  wieder  vertragen  konne. 
Ich  habe  diese  Meinung  nie  vertreten.  Da  die  weitern  SchluSfolgerun- 
gen  des  Artikels  auf  dieser  irrigen  Auffassung  beruhen,  nehme  ich  an, 
daB  diese  Schlufifolgerungen  infolgedessen  auch  unzutreffend  sind. 
In  vorziiglicher  Hochachtung  gez.  Hilferding."  Nein,  Herr  Doktor,  meine 
pessimistische  Auffassung  von  Ihren  Verstandeskraften  beruht  nicht 
allein  auf  Ihrem  Verhalten  in  obengenannter  Angelegenheit  sondern 
auf  vielen  altern  Erfahrungen. 

,.Wisokii"  oder  auf  Deutsch:  Arbeitsvermittlungsstelle  fur  wissen- 
schaftliche,  soziale  und  kunstlerische  Berufe.  Ihr  driickt  den  bei 
euch  Arbeit  Suchenden  einen  Fragebogefci  in  die  Hand,  auf  dem  sie 
allerhand  zu  beantworten  haben.  Wirklich  allerhand,  denn  ihr  ver- 
langt  iiber  das  hinaus,  was  sich  bei  der  Neugier  deutscher  Behorden 
von  selbst  versteht,  auch  noch  zu  wissen,  ob  der  Arbeitslose  Vor- 
strafen  erlitten  hat,  wann,  wie  lange  und  wofur.  Was  geht  euch  das 
eigentlich  an?  Ihr  habt  dafiir  zu  sorgen,  dafi  die  Arbeitslosen  Stellung 
bekommen,  und  zwar  nach  ihren  Fahigkeiten;  ihr  Vorleben  spielt  da 
gar  keine  Rblle.  Was  ist  denn  der  Erfolg  dieser  Selbstbezichtigung? 
Der  Vorbestrafte  wird  iiberhaupt  keine  Stellung  mehr  bekommen.  Und 
wer  kann  an  dieser  Mafinahme  allein  ein  Interesse  haben?  War  es 
fur  den  Arbeitgeber  bisher  nicht  so  einfach,  prazise  Auskiinfte  iiber 
die  Vergangenheit  eines  Bewerbers  zu  erhalten,  hier  bekommt  er  sie 
fein  sauberlich  geliefert,  Das  Interesse  der  Arbeitgeberkreise,  die 
nichts  zu  tun  'haben  wollen  mit  diesen  „Vorbestraften",  ist  also  an- 
scheinend  hier  ausschlaggebend  gewesen,  denn  schliefilich  werdet  ihr 
diese  Erhebungen  doch  nicht  zu  euerm  PriVatvergniigen  machen. 
Hoffentlich  verfahren  die  also  Befragten  genau  so,  wie  es  eure  WiB- 
begier  bei  der  Sparte  „Religionszugeh6rigkeit"  immerhin  zulaBt:  sie 
beantfcvorten   die   Frage   iiberhaupt    nicht,    denn    dieser    Komplex   geht 

539 


den  Arbeitgeber  gar  nichts  an.  Wer  einmal  im  Leben  daneben- 
getreten  ist  und  dann  trotzdem  wieder  in  den  ArbeitsprozeB  zuruck- 
gefunden  hat,  der  bietet  schon  eine  Gewahr,  dafi  er  nicht  ruckfallig 
wird.  Mit  euren  Methoden  aber  verdammt  ihr  diese  Leute  zu  dauernder 
Arbeitslosigkeit,  ihr  zwingt  sie  gradezu,  ihrem  Erwerb  wieder  auf  der 
sogenannten  schiefen  Ebene  nachzugehn. 

Felix  Stossinger  schreibt  uns:  Weltbuhnenleser  haben  mich  nach 
meinen  hier  erschienenen  Aufsatzen  zur  Aufienpolitik  iiber  meine 
Stellung  zu  Ereignissen  der  letzten  dreizehn  Jahre  gefragt,  die,  wie 
manche  glauben,  die  deutsch-franzosische  Verstandigung  erschwert 
oder  gar  bewufit  verhindert  haben  soilen,  Ist  es  wirklich  wahr,  dafi 
das,  was  Frankreich  in  den  letzten  Jahren  getan  hat  oder  getan  haben 
soil,  Schuld  am  deutschen  Widerstand  gegen  die  Verstandigung  mit 
Frankreich  trug?  (Ein  Widerstand,  der  bei  sinkendem  Pfundwert  an 
Hartnackigkeit  verlieren  wird.)  Kein  Zweifel,  dafi  auch  wohlmeinende 
Freunde  der  deutsch-franzosischen  Verstandigung  nicht  immer  wissen, 
was  in  diesen  Jahren  gespielt  wurde.  Eine  Klarstellung  dieser  Epoche 
wird  noch  einmal  zu  schreiben  sein.  Zunachst  liegt  eine  Arbeit  von 
mir  vor,  die  unter  dem  Titel  „Deutschland  und  Frankreich,  die  Ge- 
schichte  ihrer  Entfremdung"  im  Septemberheft  der  .Sozialistischen 
Monatshefte'  erschienen  ist.  Ich  habe  davon  einen  Sonderabdruck 
in  dreihundert  Exemplaren  herstellen  lassen,  den  ich  Weltbuhnen- 
lesern  kostenlos  zur  Verfiigung  stelle.  Interessenten  erhalten  ein 
Exemplar  gegen  Einsendung  eines  Freiumschlages  an  meine  berliner 
Adresse,    Stresemannstr.    123. 

Dr,  L,  F.f  Berlin*  Sie  haben  den  Film  „Der  Weg  ins  Leben"  ge- 
sehen  und  mochten  sich  nun  naher  iiber  die  Frage  der  verwahrlosten 
Kinder  unterrichten.  Empfehlenswert  sind  als  eine  mehr  kritische 
und  theoretische  Lektiire  die  betreffenden  Kapitel  in  Hans  Siemsens 
„RuBland  —  ja  und  nein"  (Verlag  Rowohlt)  und  als  erzahlende  Be- 
richte  von  Augenzeugen  die  im  Verlag  der  Jugendinternationale  er- 
schienenen  Biicher  ,,Schkid,  die  Republik  der  Strolche"  von  Bjelych 
und  Eantelejew  und  „Die  Uhr"  von  Pantelejew. 

Max  Magnus  Auf  Ihre  Angriffe  gegen  die  Dramaturgische  Ab- 
teilung  der  Ufa  in  der  ,  Weltbuhne*  hat  dieses  Weltunternehmen  mit 
den  ihm  eignen  Mitteln  reagiert.  Namlich  so:  „Herrn  Max  Magnus. 
Wir  bedauern,  Ihnen  mitteilen  zu  miissen,  dafi  wir  auf  Anordnung 
des  Gesamtvorstandes  der  Ufa  Ihnen  auf  Grund  der  in  Ihren  Handen 
befindlichen  Pressekarte  EinlaB  in  unsre  Theater  nicht  mehr  gewah- 
ren  konnen,  Wir  bitten  daher  urn  Rucksendung  Ihrer  personlichen 
Pressekarte  Nr.  164  fur  ,Variety'  New  York.  Hochachtungsvoll  Uni- 
versum-Film  Aktiengesellschaft  vertreten  durch  iUfa'  Theater-Betriebs- 
G.  m.  b.  H.  gez.  Grimmer,  gez.  Staab."  Borowsky,  Heck  haben  gesprochen. 
Hugh.  Ein  Skandal  ist  zu  einer  ordentlichen  Bureauangelegenheit 
geworden,     Es  ist  das  einzige  Ordentliche  an  der  Geschichte. 

f^ieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
***  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  IV.  Vierteljahr  1931 

einzuzahlen,  da  am  10.  Oktober  die  Einziehung  durch  Nachnahme  be- 
ginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manujuuipte  und  nvu  ua  die  Kedaktion  dei  W-eltbuhne,  Charlottenburg,  Kaatstr.  152,  zt. 
richteo:  es  wird  yebeten.  thnen  Ruckporto  betzulegeo,  ds  -soasi  keine  Rticksendung  erfolg-eo,  Icann. 
Dag  Auf  f  Uhrunrsrecht,  die  Vcrwertung  von  Titelnu,  Text  im  Rah  to  en  des  Films,  die  mtuik- 
mechanische  Wicdergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiorortragen 
bleiben  fur  alle  in  der  Weltbuhne  erschelnenden  Beitrage  ausdrucklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  vod  Siegfried  Jacobsobn  und  wird  von  Cail  v.  Ossietzky 
unlet   Mitwirkung    von  Kurt  Tucboisky   ^eleitet  —  Verantwortlich .    Carl  v.  Ossietzky.    Berlin; 

Verlag  de»   Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsobn  &  Co*.  Charlottenburjr. 

Telephon:    CI,  Stein  pi  at*  7757.  —  PosUcheckkonto:   Berlin  119  58. 
Rankkonto       Darmstadtet    u.    NatioDulbaok.       Depostteukasue    CbarloHenburg.     ICanUir.    112 


XXVII.  Jahrgang  U  Oktober  1931  Nammer  41 

ReChtS  ist  TrUtnpf !  von  Carl  v.  Ossietzky 

A  nderthalb  Jahre  hat  der  Reichskanzler  Briining  sich  bemiiht, 
**  dcr  sogenannten   Nationalen   Opposition   Manieren  beizu- 
bringen.    Er  hat  sich  sein  Erziehungswerk  durch  so  viele  Kon- 
zessionen  an  die  Rechte  zu  erleichtern  versucht,  daO  die  arme 
demokratische    Republik    dabei    in    die  Briiche    gegangen    ist. 
Briinings  Idee  war:   die  Rechtsparteien  soweit  zu  zivilisieren, 
daB  sie  auBenpolitisch  tragbar  wurden  und  innenpolitisch  we- 
nigstens  noch   einen   Schein    von  Legalitat    wahrten.       Damit 
ist  der  Reichskanzler  gescheitert.    In  dem  braunschweigischen 
Harzburg  tritt  aUes,  was  Kiiche  und  Keller  an  Fascismus,  Mon- 
archismus   und   Nationalisms    zu    bieten    haben,    geschlossen 
gegen  ihn  auf.     Die  Reden  der  Fiihrer  sind  ein  einziges  droh- 
nendes  Pronunciamento.    Zugleich  miBlingt   Briinings   Versuch, 
durch  Aufnahme  von  Vertrauensmannern  der  Schwerindustrie 
sein  Kabinett  umzubilden,  um  durch  Gewinnung  der  wirtschaft- 
lichen  Reaktion    auch    die    politische    Reaktion    an    sich    zu 
kniipfen.  Nach  einigen  Tagen  qualvollster  Verlegenheit  kommt 
nur  ein  maBig  verandertes  Kabinett  zustande,   das,  von  alien 
Mittelgruppen   verlassen,   nicht   lange  leben   kann,   auch   wenn 
es  das  erste  parlamentarische  Feuergefecht  iiberstehen  sollte. 
Das  Bemerkenswerteste  an  den  Wirren  der  vergangenen 
Woche  istf  daB  Briining  auf  den  Reichsprasidenten  nicht  mehr 
in  dem  MaBe  wie  friiher  rechnen  kann.     Wir  wollen  uns  nicht 
in  das  Ratselraten  yerlieren,  ob  Briining  besondere  Vollmach- 
ten  verlangt  hat  oder  nicht.     Die  Hauptsache  ist,  daB  er  sie 
nicht  in  der  Hand  hat.     Infolgedessen  sagten  Schmitz,  Siiver- 
berg  und  Vogler  ebenso  ab  wie  Bracht,  Gefiler  und  Neurath. 
Die  Herrschaften  verzichteten  auf  das  Vergniigen,  nach  einer 
Ministerschaft  von  ein  paar  Stunden    wieder  in    ihre  Privat- 
wohnungen  zuriickzukehren.  Nicht  einmal  mit  den  Namen  GeB- 
ler  und  Neurath  als  Koder  ist  es  Briining  gelungen,  die  Rechte 
wenigstens  zur  Tolerierung  zu  verfuhren.    Die  anonyme  Clique, 
die  sich  hinter  der  ehrwiirdigen  Kulisse  „der  Reichsprasident" 
verbirgt   und  deren   Quertreibereien  schon  wiederholt   Unheil 
angerichtet  haben,  will  diesmal  ganze  Arbeit  machen  und  die 
Regierung  an  Hugenb  erg-Hitler  ausliefern,    Desha  lb  wird  die 
formale   Demission   des   Kabinetts   zum  AnlaB   genommen,   ein 
wahres  Fegefeuer  von  Intrigen  anzufachen.     Und  deshalb  er- 
scheint  einen  Tag  vor    dem    harzburger  Treffen    der    braune 
Hauptling  des  deutschen  Fascismus  im  Palais  des  Reichsprasi- 
denten,    Ein  Ereignis  von  unerhorter  propagandistischer  Wir- 
kung  fiir  die  Reaktion,  auch  wenn  sich  die  beiden  Herren  nur 
iiber  das   Wetter   unterhalten    haben,     Und*  als    Auftakt    fiir 
Harzburg  wird  die  Sprache  der  Nationalsozialisten  so  drohend 
und  frech  wie  seit  einem  Jahre  nicht.    In  Dessau  hat  einer  da- 
von,  der  Abgeordnete  Stohr,  in  offentlicher  Versammlung  aus- 
gefiihrt,  es  miiBten  nicht  immer  Kopfe  rollen,  das  hochste  Ge- 
richt  des  Dritten  Reichs  werde  eine  Methode  ausfindig  machen, 
deren  Durchfiihrung  ein  Erzeugnis  der  deutschen  Hanfindustrie 

i  541 


vorubergehend  im  Preise  steigert.  So  etwas  darf  offentlich 
gcsagt  werden,  und  obgleich  es  nicht  erst  cincr  Notverordnung 
bedurfte,  um  da  cinzuschreiten,  lauft  dcr  Liimmel  noch  immer 
frei  herum.  Die  Rechte  weiB,  was  sie  riskieren  darf.  Sie  steht 
an  der  Szene,  sie  ist  dran. 

Die  in  Harzburg  versammelte  Nationale  Opposition  hat 
sich  ,,bereit  und  gewillt4'  erklart,  „die  Verantwortung  zu  iiber- 
nehmen."  Dabei  war  das  von  den  Haupthahnen  des  Nationalis- 
mus  abgelesene  Zeug  ohne  Geist  und  Plan  wie  sonst  auch.  Hu- 
genberg  iibernahm,  so  ganz  nebenbei,  auch  noch  die  Rettung 
Amerikas,  Hitler  forderte  die  Aufhebung  des  Versailler  Ver- 
trags,  und  der  unqualifizierbare  Schacht  denunzierte  die 
Reichsbank,  daB  ihre  Ausweise  nicht  den  Tatsachen  ent- 
sprachen.  Obgleich  das  alles  tonte  und  rasselte  wie  schlechte 
Militarmusik,  fehlte  doch  eine  am  AuBerlichen  haftende 
Aggressivitat.  Die  Herren  waren  alle  auf  ihre  Weise  bemuht, 
den  Realitaten  Rechnung  zu  tragen.  Kommunismus  oder  Na- 
tionalismus!  ruft  Hitler,  und  gibt  damit  den  ohnehin  faden- 
scheinigen  Sozialismus  der  Seinen  endgiiltig  auf,  Schacht  will, 
nach  alten  Rezepten,  nur  an  das  t,raffende  Kapital"  heran.  Hu- 
genberg  wettert  gegen  den  internationalen  Kapitalismus,  um  da- 
tiir  dessen  deutsche  Spielart  desto  dicker  zu  unterstreichen.  Er 
feiert  die  t1nationale  Volkswirtschaft*',  die  nicht  dem  geschlosse- 
nen  Handelsstaat  gleichzusetzen  ist,  ,,aber  eine  sich  selbst  ge- 
niigende  Nahrungsgrundlage  bedeutet,"  er  fordert  „selbstandige 
Wahrungs-  und  Handelspolitik".  Das  sieht  alles  nicht  sehr 
nach  Drittem  Reich  aus,  das  sind  keine  besessenen  Wieder- 
taufer,  deren  irdisches  Handeln  und  Wollen  die  Idee  meta- 
physisch  durchleuchtet.  Dieser  Adolf  Hitler  ist  kein  neuer 
Jan  Bockelson  van  Leyden,  der  eine  ganze  Nation  in  Ver- 
ziickung  bringt  wie  dieser  die  kleine  Bischofsstadt  Miinster. 
Dieser  Prophet  ist  ein  gerissener  Industrieagent,  der  weiB,  was 
seine  Einb laser  wollen.  Gute  Nacht,  Moeller  van  den  Bruck, 
du  bist  gestern  in  Harzburg  ein  zweites  Mai  gestorbeta,  Hier 
geht  cs  nicht  um  den  in  Deutschland  tax  verwirklichenden 
Gottesstaat  sondern  um  hochst  kommune  Geschaftsinter- 
essen.  Die  erstrebte  Nationale  Regierung  entlarvt  sich 
immer  mehr  als  ein  neues  Kabinett  Cuno  mit  Inflation,  Unter- 
nehmerwillkiir,  Abbau  der  Sozialpolitik  und  etwas  nationa- 
listischem  Tamtam.  Diesen  Herren  Schwerindustriellen  und 
GroBagrariern  brennt  das  Feuer  unter  den  Nageln,  und  weil 
Briining  den  letzten  Einbruch  in  die  Lohntarife  und  die  Sozial- 
politik verzogert,  deshalb  laBt  Hugenberg  sein  Ultimatum  in 
eine  Staatsstreichdrohung  ausklingen:  MDer  Bauplatz  mufi  zu- 
vor  seitens  der  Andern  geraumt  sein,  oder  er  muB  durch  die 
Unsern  gesturmt  werden." 

Zu  diesem  Sturm  wird  es  kaum  kommen,  Denn  die  zweite 
Briiningregierung  steht  auf  so  schwachen  Beinen,  daB  sie  Herr 
Hugenberg  ohne  jedea  Aufwand  durch  eine  Raumungsklage 
beim  Amtsgericht  Berlin-Mitte  zum  Abzug  notigen  konnte. 
Wenn  die  Harzburger  sonst  nichts  fur  sich  haben,  so  doch  die 
Logik  der  Situation.  Eine  volkstiimliche  Welle  tragt  sie  hoch, 
ihr  Plus  ist  das  katastrophale  Minus  heute  nach  anderthalb 
Jahren  Briining.     Die  nationalistische  Bewegung  ist  sehr  stark, 

542 


auch  wcnn  sic  in  sich  nicht  geschlossen  ist  und  Nationalsozia- 
listcn  und  Stahlhelmcr  gestern,  wic  Kriemhild  und  Brunhild,  urn 
den  Vortritt  gestritten  haben.  Weniger  aussichtsvoll  sind  dagegen 
die  nachsten  Chancen  einer  Rechtsregierung.  Sie  wird  sich  zu- 
nachst  mit  Frankreich  zu  vertragen  haben,  also  viele  ihrer  An- 
hanger  enttauschen  miissen,  denn  Geld  kommt  nur  iiber  Paris. 
Der  neue  franzosische  Botschafter  Francois-Poncet  ist  zwar 
der  Rechten  wohlgeneigt,  aber  das  franzosische  Volk  ist  es 
nichtf  und  Frankreich  wird  noch  immer  nicht  von  betriebsamen 
Industriebeamten  regiert.  Die  antifranzosische  Hetze  wird 
jedenfalls  aufhoren  miissen,  Deklamationen  gegen  die  Tribute 
fallen  ohnehin  fort,  denn  die  Reparationen  sind  inzwischen  im 
Weltmeer  der  Krise  still  versunken.  Man  vergesse  nicht,  daB 
der  deutsche  Nationalismus  heute  noch  von  starken  sozial- 
revolutionaren  Kraften  getragen  wird.  Im  Falle  der  Macht- 
ergreifung  aber  hat  er  nichts  zu  bieten  als  Wirtschaftsreaktton, 
praktisch  wird  er  gezwungen  sein,  das  System  der  Notverord- 
nungen  fortzusetzen,  das  Briining  so  vorbildlich  eingeleitet  hat. 

Doch  diese  Betrachtung  greift  den  Ereignissen  vor.  Einst- 
weilen  kommt  das  Regime  des  Nationalismus  naher  wie  ein 
unabwendbares  Verhangnis.  In  seiner  todlichen  Verlegenheit 
hat  der  Reichskanzler,  d'em  alle  bequemern  Sitzgelegenheiten 
verloren  gegangen  sind,  sich  in  verzweifelter  Entschlossenheit 
auf  dieSpitzeder  Bajonette  gesetzt.  An  Stelle  des  Herra  Wirth, 
der  sich  in  seinem  Kampfe  um  die  Reinheit  der  deutschen  Seele 
einen  Gloriensche^n  erworben  und  den  trotzdem  der  Teufel 
geholt  hat,  tritt  der  '  Wehrminister  Groener.  Militar  und 
Polizei  in  einer  Hand,  Wehrmacht  und  Exekutive  in  einer  Per- 
son vereinigt,  das  heiBt  hochste  Alarmbereitschaft,  In  auBer- 
ster  Not  ernennt  Briining  selbst  einen  Primo  de  Rivera,  um 
einem  Andern,  der  dazu  Lust  haben  konnte,  die  Rolle  vor  der 
Nase  wegzuschnappen.  Eine  Diskussion  iiber  die  Verfassungs- 
treue  Groeners  eriibrigt  sich  unsres  Erachtens,  denn  die  Ver- 
fassung,  die  es  zu  schiitzen  gilt,  ist  von  Briining  selbst  in  un- 
ermudlicher  Bureauarbeit  in  Atome  zertriimmert  worden.  Noch 
in  seinen  Ietzten  Notverordnungen  bemiiht  er  sich,  den  Ober- 
gang  zu  Hugenberg-Hitler  moglichst  unauffallig  zu  machen. 

Die  Absagen  an  Briining  kommen  heute  von  den  wenigen 
Liberalen,  die  es  noch  in  Deutschland  gibt.  Die  Sozialdemo- 
kratie  hat  sich  zu  einem  solchen  EntschluB  noch  nicht  durch- 
gerungen,  ja,  Briining  kann  in  seine  Ietzten  Amtsstuhden  den 
Trost  mitnehmen,  daB  die  Sozialdemokratie  einen  pietatvollen 
Kranz  von  Immortellen  auf  seinem  Grabe  niederlegen  wird. 
Welch  eine  Komodie  hat  die  Wirklichkeit  da  gedichtet!  Wenn 
dieser  Kanzler  iiberhauptein  Programm  hatte,  so  war  es  das, 
die  Sozialdemokratie  in  die  Ecke  zu  drangen  und  in  ihren  Ein- 
flufi  auf  den  Staat  durch  konservative  Elemente  zu  ersetzen, 
So  wie  eine  arme  verschmahte  Geliebte,  die  nach  einer  Zart- 
lichkeit  hungerte  und  statt  dessen  nur  Priigel  bezog,  als  einzige 
dem  Sarge  des  Angebeteten  folgt,  wahrend  die  viel  feinern 
Damen  bereits  die  nachste  Lagerstatt  parfumieren,  so  trauert 
die  Sozialdemokratie  heute  um  den  teuren  Verblichenen,  der 
ihr  Seele  und  Unterleib  fiir  immer  ruiniert  hat,     Briining  hat 

543 


der  Sozialdemokratie  nichts  zuliebc  getan.  Er  schrccktc  nicht 
cinmal  davor  zuriick,  ihr  GeBler  und  Ncurath  zuzumuten,  Und 
daB  Hcrr  Geheimrat  Schmitz  von  I,  G.  Farben  nicht  Minister 
wurde,  scheiterte  nicht  nur  an  dcssen  mangelndem  Willen  son- 
dern  auch  an  dcm  Einspruch  Stegerwalds,  der  vcrmeintc,  die 
Sozialisten  wurden  nicht  imstande  sein,  Herrn  Schmitz  hin- 
zunehmen.  Welch  iiberfltissiges  Zartgeftihl,  sie  hatten  noch 
ganz  andre  Pillen  geschluckt.  Der  christliche  Arbeiterfuhrer 
Imbusch  ist  es  gewesen,  der  vor  ein  paar  Tagen  gegen  die 
Zechenherrcn  mit  Sozialisierung  gedroht  hat,  sicher  nicht  aus 
einem  Oberschwang  an  Radikalismus,  sondern  in  der  klaren 
Erkenntnis,  daB  man  heute  zu  Arbeitern  nicht  anders  sprechen 
kann.  Wahrend  die  Sozialdemokratie  ihre  eignen  Radikalen 
vor  die  Tur  setzt,  spielt  ein  nichtsozialistischer  Arbeiterver- 
treter  die  Karte  der  Sozialisierung  aus. 

„Gegen  das  zweite  Kabinett  Bruning  kann  man  genau  das- 
selbe  einwenden  wie  gegen  das  erste.  Aber  auch  nicht  viel 
mehr,"  schreibt  der  .Vorwarts*.  Und  weiter:  nEs  ist  ein  oHen- 
barer  Unsinnt  wenn  man  sagt.  es  sei  dasselbe  wie  ein  Kabinett 
Hitler-Hugenberg.1*  Gegen  eine  so  unerbittlichc  Selbstmord- 
absicht  laBt  sich  nicht  mehr  mit  oft  wiederholten  Argumenten 
streiten.  Hier  muB  man  sich  nach  einem  unverdachtigen  Zeu- 
^en,  am  besten  von  der  andern  Seitc  der  Barrikade,  umsehen. 
Die  .Deutsche  Allgemeine  Zeitung1  schreibt  am  4.  Oktober: 
„So  steuern  wir  immer  weiter  von  der  Demokratie  ab.  Brii- 
nings  politische  Tatigkeit  kann  man  doch  nur  dahin  zusammen- 
fassen,  daB  sie  mit  einem  Wort  Bismarcks,  die  Vorfrucht  der 
national  en  Diktatur  bedeutet,  das  heifit,  er  gew5hnt  das  Volk 
an  die  Diktatur  und  ermoglicht  es  seinen  Nachfolgern,  sich  zu 
behaupten  unter  Hinweis  auf  ihren  Vorganger/1  Hier  ist  mit 
musterhafter  Deutlichkeit  ausgesprochen,  worauf  es  ankommt. 
Dies  und  nichts  andTes  haben  wir  vom  ersten  Tage  der  Kanz- 
lerschaft  Briinings  an  behauptet.  und  die  Harzburger  sind  herz- 
lich  undankbar,  wenn  sie  den  Mann,  der  alles  so  nett  fur  sie 
eingerichtet  hat,  jetzt  als  nationalen  Schadling  in  den  tiefsten 
Tartaros  sturzen  mochten,  Auch  fiir  diesen  Katastrophen- 
spezialisten  sollte  in  dem  Katastrophenkabinett  Hitler-Hugen- 
berg ein  Platz  frei  sein.  Der  Politiker  Bruning  hat  den  Ruck 
nach  rechts  gewollt  und  statt  dessen  den  Fascismus  heraufbe- 
schworen.  Nun  sind  ihm  die  Dinge  iibern  Kopf  gewachsen, 
und  der  Zauberstab,  mit  dem  er  so  munter  hantierte,  tanzt  ihm 
grob  auf  dem  Rucken  herum.  Die  papiernen  Wande  der  Kon- 
stitution  sind  durchstoBen,  keine  „f ormale  Demokratie"  wird 
in  Zukunft  mehr  hindernd  und  mildernd  zwischen  Kapitalismus 
unci  Arbeiterschaft  stehen.  Der  Weg  der  Evolution  ist  ver- 
rammelt,  der  Kanzler,  der  die  Autoritat  starken  wollte,  hat 
die  Anarchie  durch  tausend  Locher  ins  Haus  gelassen.  Der 
Mann,  dem  es  gelungen  ist,  die  Republik  auf  dem  Verordnungs- 
wege  zu  erledigen,  muB  sich  heute  hinter  Groeners  Bajonette 
verkriechen.  Der  Mann,  der  das  Volk  an  die  Diktatur  gewohnt 
hat,  verlaBt  er  die  Szene,  und  ihm  wird  zum  Abschied  genau 
das,  was  er  verdient  hat:  —  ein  Steinwurf  und  ein  Fluch. 


544 


SyilthetiSChe  Polltik  von  Jobann  Kunkel 

Im  Leuna-Werk,  unweit  Halle  und  Merseburg,  stellt  dei 
Deutsche  Farbentrust  auf  synthetischem  Wege  aus  Luft, 
Wasserdampf  und  Braunkohle  die  schonsten  Gebrauchs- 
Chemikalien  her:  Ammoniak,  Methanol  und  Benzin*  Fiir  der- 
artige  Synthesen  braucht  man  einen  Katalysator,  ein 
kupplerisches  Ingredienz,  oder,  wie  die  Leute  vom  Bau 
sagen,  einen  „Kontakt'\  Der  technische  und  wirtschaft- 
liche  Erfolg  der  Kohlenverflussigungs-Verfahren,  wie  man 
unprazise,  aber  puristisch,  den  Hydrier-ProzeB  bezeichnet, 
beruht  auf  der  Wahl  der  richtigen  Katalysatoren,  deren  Zu- 
sammensetzung  das  groBe  Betriebsgeheimnis  ist, 

Der  LG,  Farben-Konzern  macht  aber  nicht  nur  chemische 
Synthesen.  Ef  wendet  seine  Verfahren  auch  in  der  Politik  an. 
Das  sieht  dann  folgendermaBen  aus; 

Westarp,  Treviranus,  Schiff  erer,  Bredt  und  August  Weber 
werden  unter  gelindem  Druck  zusammengeleitet  und  iiber  einen 
Kontakt  gefiihrt.  Das  Ergebnis  ist  dann,  falls  das  Experiment 
gelingt,  die  Schaffung  einer  erst  losen,  spater  aber  nach  An- 
sicht  der  Fachleute  immer  fester  werdenden  Biirgerblock-Ver- 
bindung  —  zunajchst  Interessengemeinschaft,  spater  Partei. 
Das  Geheimnis  des  Erfolges  liegt  in  <ler  Wahl  des  richtigen 
Katalysators.  Sollte  sich  -das  Verfahren  nicht  bewahren,  so 
wird  der  Versuch  unter  Anwendung  hohern  Drucks  wiederholt. 

Der  Sinn  dieser  Aktion  ist  die  Schaffung  einer  politischen 
Gruppierungf  die  dazu  verwandt  werden  kann,  durch  zoll-  und 
handelspolitische  MaBnahmen  die  Preise  fiir  die  von  der  I.G. 
Farben  hergestellten  Gebrauchs-Chemikalien  moglichst  hoch- 
zuhalten.  Mit  der  gradezu  erpresserischen  Drphung,  daB  man 
sonst  das  Leuna-Werk  stillegen  werdet  hat  die  I.G.  Farben  das 
verflossene  Kabinett  Briining  zum  ErlaB  einer  Notverordnung 
veranlaBt,  die  den  Inlandsabsatz  von  Stickstoff  zu  einem  Preis, 
der  66  Prozent  iiber  Weltmarktstand  liegt,  sicherstellt.  Gleich- 
zeitig  wurde  eine  Zollerhohung  fiir  Benzin  durchgesetzt,  die 
dem  Leuna-Benzin  einen  wesentlichen  Preisvorsprung  auf  dem 
Inlandsmarkt  sichert  und  der  I.G.  Farben  eine  zusatzliche 
Rente  von  acht  oder  neun  Millionen  Mark  jahrlich  beschert- 
Wird  die  Produktion  von  Benzin  in  Leuna,  wie  angekiindigt, 
nunmehr  verdreifacht,  so  bedeutet  das  einen  jahrlich  en  Netto- 
Plusgewinn  von  mindestens  30  Millionen  Mark,  entsprechend 
den  bei  bcsserer  Ausnutzung  der  Anlagen  sink  end  en  Erzeu- 
gungskosten  je  Hektoliter. 

Die  Willfahrigkeit  des  alten  Kabinetts  Briining  und  der 
hinter  ihm  stehenden  Parlamentarier  gegeniiber  den  Wiinschen 
der  I.G.  Farben  bedingt  eine  gewisse  Anhanglichkeit  der 
Schmitz,  Warmbold,  Duisberg  und  so  weiter  an  den  Briining- 
kurs.  Wer  so  groBe  Geschenke  empfangt,  der  muB  sich  auch 
die"  Freundschaft  etwas  kosten  lassen.  Unsicher  bleibt,  ob 
eine  Partei-Gruppierung  Hugenberg-Hitler  die  gleiche  Bereit- 
schaft  zeigen  wird,  den  „Monop6lkapitalismus"  der  I.G.  Farben 
zu  subventionieren,  dem  Landwirt  weiter  den  Stickstoff  zu  ver- 
teuern  und  der  alten  Schwerindustrie  an  Ruhr  und  Rhein,  ein- 
schlieBlich  des  Benzolverbandes,  die  unliebsame  Konkurrenz 
2  545 


der  I.  G.-Emporkommlinge  und  ihrcs  Leuna-Benzins  vorzu- 
ziehen.  Mit  Br  lining  ist  man  gut  gefahren,  Er  verdient  eine 
Unterstiitzung.  Personell  kann  man  sich  freilich  nicht  allzu- 
schr  engagieren,  Zwei  LG.-Leute  im  Bruningkabinett 
—  Schmitz  und  Warmbold  —  das  wars  eine  rechte  Kateridee, 
das  konnte  zu  leicht  zu  einer  unerwiinschten  Festlegung,  ja 
zu  einer  Diskreditierung  des  Konzerns  in  der  offentlichen  Mei- 
niing  fiihren.  Eine  finanzielle  Unterstiitzung  des  Briiningkurses, 
durch  Subventionierung  der  ihm  ergebenen  Parteigruppierung, 
ware  schon  eher  ertraglich.  Natiirlich  muB  der  Aufwand  einen 
gewissen  Nutzeff  ekt  versprechen.  Dieser  ist  solange  nicht  ge- 
geben,  als  eine  ganze  Anzahl  kaum  lebensfahiger  Splitterpar- 
teien  mit  hochst  eigenwilligen  Fiihrern  vorhanden  sind.  Des- 
halb  hat  der  LG.-Farben-Trust  ein  Interesse  daran,  daB  eine 
groBe  btirgerliche  Partei,  neben  und  parallel  dem  Zentrum, 
entsteht:  wenn  moglich,  mit  einem  Unternehmer-  und  einem 
GewerkschaftsfliigeL  In  einer  Gruppierung  halt  man  auch  die 
Massen  der  Angestellten  und  der  Arbeiter  hiibsch  bei  der 
Stange.  Auch  die  Einbeziehung  agrarischer  Gruppen,  ahnlich 
wie  beim  Zentrum,  ware  erwiinscht,  damit  die  Stickstoff-Ver- 
braucher  nicht  zuviel  Klamauk  wegen  der  hohen  Preise  fur 
Leuna-Salpeter  machen  konnen. 

Der  geeignete  Katalysator  ist  also  gefunden:  L  G.-Subven- 
tionen  an  die  neue  Partei.  Fragt  sich  nur,  ob  der  Druck  aus- 
reichen  wird,  urn  die  widerstrebenden  Elemente  zur  Synthese 
zu  zwingen. 

Aber  auch  hier  findet  sich  Rat  Wenn  man,  beUpielsweise^ 
mit     der     Einfuhrung    der   Wahlreform     durch    Notverordnung 
drohen   konnte  — ?     Unter  diesem  Druck   miiBte  die   Selbst- 
herrlichkeit    der  Splitterparteien  und  ihrer  Fiihrer  verschwinden. 

Die  Wahlreform  ist,  was  man  mittlerweile  in  den  Auf- 
regungen  des  letzten  halben  Jahres  fast  vollig  vergessen  hat, 
bereits  halb  fertig.  Der  Reichsrat  hat  der  Regierungsvorlage, 
gegen  die  Stimmen  von  ein  paar  unbeachtlichen  Landern  schon 
zugestimmt.  Im  Reichstag  erhob  sich  Widerspruch;  die  Bera- 
tung  blieb  liegen.  Die  Kronjuristen  haben  aber  festgestellt, 
daB  das  Gesetz  nicht  verlassungsandernd  sei.  Und  Hermann 
Dietrichs  Freund,  der  badische  Gendarmerie-Obrist  Kuenzer, 
bekannt  als  Reichskommissar  fur  die  offentliche  Ordnung,  hat 
als  geschickter  und  vielseitiger  Mann  in  der  ,Deutschen  Juri- 
stenzeitung'  auch  schon  sein  Rechtsgutachten  dahin  abgege- 
ben,  daB,  „wenn  das  Parlament  sich  versagt,  zur  Rettung  des 
Staates  nur  Artikel  48  helfen  kann"  —  auch  zur  Oktroyierung 
des  Wahlgesetzes.  Denn  er  meint,  daB  eine  weitere  Reichs- 
tagswahl  unter  dem  alten  Wahlrecht  „unmoglichM  sei, 

Folgt  man  diesem  Rat,  setzt  man  die  Wirthsche  Wahl- 
reform durch  Notverordnung  in  Kraft,  so  sind  die  burgerlichen 
Parteien  unter  alien  Umstanden  zum  ZusammenschluB  gezwun- 
gen.  Denn  unter  dem  neuen  Wahlgesetz  wiirden  sie,  selbst 
wenn  es  ihnen  gelange,  dieselbe  Stimmenzahl  wie  am  14.  Sep- 
tember 1930  zu  erhalten,  gradezu  gevierteilt  werden.  Sie 
konnten  nur  noch  32  Mandate  heimbringen,  anstatt  der  116 
aus  der  Septemberwahl:  Die  Wirtschaftspartei  wurde  auf  drei 
Sitze  heruntergeworf en  werden,  die  Staatspartei  und  die  Volks- 

546 


partei  auf  je  sieben  Mandate,  die  Christlich-Sozialen  auf  zwei. 
Und  die  Koiiservativen,  die  rechtens  schon  in  diesen  Reichstag 
nicht  hineingehorten,  wiirden  ganz  verschwinden.  So  stark 
ware  die  „selektorische  Wirkung"  der  Reform,  die  aus  dem 
Fortfall  der  Reststimmen  in  den  Wahlkreisen  resultiert. 

Selbst  die  Deutschnationalen  wurden  unter  dem  neuen  Ge- 
setz  eine  ernstliche  EinbtiBe  erfahren.  Eine  solche  Entwick- 
lung  wurden  viele  Leute,  die  rechts  stehen,  ohne  auf  Hitler 
eingeschworen  zu  sein,  gar  nicht  ungerne  sehen,  Denn  Hugen- 
berg  wird  bei  den  Kraften  der  Reaktion,  die  ihre  hochst  eigen- 
niitzigen  Zwecke  verfolgen,  gar  nicht  allzusehr  geschatzt.  Die 
grofte  Wirtschaftsmacht  der  L  G.  Farben  wiinscht,  ebenso  wie 
die  Generalsclique  in  der  BendlerstraBe,  keine  Bevormundung 
durch  den  starrkopfigen  und  selbstherrlichen  Parteidiktator. 
Zuviel  Politik  stort  eben  die  Geschafte, 

Selbst  in  der  Ruhrindustrie,  deren  Freundschaft  zu  Hugen- 
berg  etwas  alter  und  dank  personlicher  Beziehungen  auch 
sicherer  ist,  herrscht  nicht  allzuviel  Neigung,  sich  der  geheim- 
ratlichen  Fiihrung  anzuvertrauen-  Aber  die  Mont anindus trie 
hat  gegenwartig  nicht  sehr  viel  zu  sagen.  Die  starkern  Batail- 
lone  der  Reaktion  stehen  heute  anderswo:  in  den  Kreisen,  die 
selbst  Politik  machen,  selbst  fuhren  wollen,  und  die  nicht  be- 
reit  sind,  dem  eben  erst  hinausgeworfenen  Partei-Parlamenta- 
rismus  in  einer  andern  Form.  ihrGeschick  in  die  Hand  zugeben. 
Deshalb  also:  synthetische  Politik  —  der  Techniker  bestimmt 
und  kontrolliert  den  Ablauf  des  Prozesses  in  den  Retorten. 

GeSprach  mit  Patel   von  Bruno  Frei 

Dieses   GeSprach  fand  vor  Beginn   der  Round-table-Konfe- 

renz  statt.     Der  bisherige  Verlauf  der  Verhandlungen  hat  den 

pessimistischen  Erwartungen  Patels  durchaus  recht  gegeben, 

\7ithalba   J.  Patel   sitzt  in  dem   kleinen   Hotelzimmer,   in   die   Ecke 

*  eines  Diwans   gedrtickt,   und   seine  grofien  Augen,   die  weiche  Braune 

seiner  Haut,  der  weifie  Bart,  der  das  voile  Gesicht  umrahmt,  stromen 

Ruhe  und  Abgeklartheit  aus.     Man  schamt  sich  ein  wenig  seiner  her- 

linischen  Unrast  und  Hast.     Der  fruhere  President  des  Indischen  Na- 

tionalkongresses  spricht  ohne  Nachdruck,  ja  ohne  Betonung,  flieBend. 

als   waren   es   Lehrsatze   eines   Rituals. 

Wir  sprechen  von  einem  gemeinsamen  wiener  Freund,  von  der 
Vortrefflichkeit  der  wiener  Arztc,  von  Berlin,  das  Patel  trotz  seiner 
sechsten  Europareise  zum  erstenmal  kennen  lernt.  Hoflichkeiten. 
..Haben  Sie  hier  auch  offizielle  Personlichkeiten  gesprochen?"  „Ja» 
Es  handelt  sich  bei  meiner  jetzigen  Rundreise  urn  die  Vorbereitung  der 
zweiten  Round-table-Konferenz,  die  im  September  in  London  zusam- 
mentreten  soil,  Der  Watfenstillstand,  zwischen  Gandhi  und  Lord 
Irwin  geschlossen,  geht  seinexn  Ende  entgegen," 

„Billigen  Sie  diesen  Waffenstillstand?" 

„Wir  waren  in  einen  Kampf  auf  Lehen  und  Tod  verwickelt. 
Unsre  Waffe,  die  Gewaltlosigkeit,  war  neu  und  ohne  Vorbild.  Die 
Lage  der  Regierung  wurde  von  Tag  zu  Tag  schwerer.  Siebzig-  bis 
fiinfundsiebzigtausend  unsrer  Freunde  waren  verhaftet.  Es  gab  zu 
wenig  Kerker,  urn  die  Millionen  einzusperren,"  die  unserm  Rufe  fol- 
gend  die  Gesetze,  die  wir  nicht  anerkennen,  brachen.  Dann  kam  eine 
Periode  brutaler  Gewalt.  Tausende  unbewaffnete  Manner,  Frauen 
und  Kinder  wurden  im  ganzen  Lande  niedergeschlagen  und  nieder- 
geschossen.     In  Peshawar  allein  sind  Hunderte  im  Maschinengewehr- 

547 


feuer  gef alien.  Niemals  in  der  Geschichte  Indiens  hat  es  einc  derartige 
unmenschliche  Unter  driickungsgewalt  gegeben,  wic  hicr  unter  einem 
christlichen    Vizekonig    und    unter    einer    ,sozialistischen'   Regierung". 

„Und  jetzt?" 

„Sie  mcinen,  warum  Gandhi  diesen  Kampf  abgebrochen  hat?  Vor 
allem  will  ich  feststellen,  daB  Lord  Irwin  es  war,  der  Gandhi  be- 
dingungslos  aus  dem  Gefangnis  entlieB.  Aller dings:  Mahatma  Gandhi, 
der  bis  dahin  ein  extremer  Anhanger  der  Gewaltlosigkeit,  der  Nicht- 
zusammenarbeit  mit  England  gewesen  ist,  wurde  plotzlich  ein  ex- 
tremer Anhanger  der  Zusammenarbeit,  der  das  Land  bereist,  urn  das 
Volk  aufzufordern,  Steuern  zu  zahlen  und  den  antienglischen  Waren- 
boykott  aufzugeben.  Das  ist  fur  mich  ein  Wunder.  Ich  verstehe,  daB 
Lord  Irwin  diesen  Effekt  als  einen  groBen  Erfolg  bucht,  Der  All- 
indische  NationalkongreB  in  Karachi  hat  Gandhi  zugestimmt.  Das  ist 
fur  mich  ein  noch  groBeres  Wunder,  das  nur  Ghandi  vollbringen 
konnte.  Aber,  vergessen  Sie  nicht,  es  gibt  in  Indien  eine  kleine,  aber 
wohl  organisierte  Gruppe,  die  an  den  Erfolg  der  Gewaltlosigkeit 
nicht  glaubt,  Wenn  diese  Gruppe  bis  jetzt  im  GroBen  und  Ganzen 
schwieg,  so  deshalb,  um  Gandhis  Versuch  der  Organisierung  des 
.zivilen  Widerstandes*   eine  voile   Chance  zu  geben." 

,,Was  ist  das  Ziel  dieser  Bewegung?" 

„Das  Ziel  steht  schon  fest  seit  dem  Lahore -Kongre  3  im  De- 
zember  1929,  Es  heiBt:  vollstandige,  bedingungs-  und  vorbehaltlose 
Unabhangigkeit  Indiens.  Nicht  , Swaraj',  wie  wir  friiher  sagten,  son- 
dertt  tPurna  Swaraj*.  Wenn  man  heute  eine  Volksabstimmung  in  In- 
dien machte,  wurde  die  tiberwiegende  Mehrheit  fur  vollkommenen 
Bruch  mit  England  stimmen.  Wenn  Gandhi  von  der  londoner  Konfe- 
renz  mit  einer  vollen  Dominion -Verfassung  nach  Hause  kame  —  es 
wiirde  ihm  kaum  gelingen,  das  Land  zur  Annahme  zu  iiberreden." 

„Was  halten  Sie  vom  Sozialismus?" 

So  bestimmt  Patels  AuBerungen  liber  die  Stellung  England  gegen- 
iiber  sind,  so  unbestimmt  und  ausweichend  sind  seine  Worte,  wenn  er 
von   der  innern  Verfassung   des   unabhangigen   Indien   spricht: 

„Sie  meien  den  Kommunismus.  Ich  sehe  im  Kommunismus  eine 
Frage  der  innern  Ordnung  unsrer  Verhaltnisse.  Vielleicht  ist  er 
richtig,  vielleicht  nicht,  Ich  glaube  jedenfalls,  daB  die  Diskussion 
dieser  Frage  im  gegenwartigen  Stadium  des  Kampfes  die  unmittelbar 
vor  uns  stehende  Aufgabe  nur  erschwert.  Was  wir  heute  brauchen, 
ist  die  absolute  Unabhangigkeit  zur  Ordnung  unsrer  Angelegenheiten. 
Erst  mufi  Indien  frei  sein  von  jeder  Fremdherrschaft;  dann  erst  wird 
die  Zeit  kommen,  diesen  Fragen  der  innern  Ordnung  ins  Gesicht  zu 
sehn,  Dann  konnen  wir  die  guten  Seiten  jedes  sozialen  Systems  an- 
nehmen,  woher  immer  es  kommt.  Deshalb  bin  ich  fiir  den  Augen- 
blick  nur  fur  Nationalismus  und  fiir  sonst  keinen  andern  Ismus.  Das 
indische  Volk  muB  gemeinsam  die  Fremdherrschaft  abwerfen.  Die 
britischen  Bajonette  und  die  britischen  Maschinengewehre  machen 
keinerlei  Unterschied  zwischen  Kasten  und  Klassen,  zwischen  Bauern 
und  Besitzern,  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  zwischen  Religionen  und 
Rassen.  Alle  drei  englischen  Parteien  stehen  geschlossen  gegen  unsT 
deshalb  konnen  wir  uns  den  Luxus  von  Trennungen  nicht  leisten. 
Vielleicht  werden  wir  einmal  in  ferner  Zukunft  diesen  engstirnigen 
Nationalismus  zugunsten  internationaler  Ideen  aufgeben  konnen  — 
heute  ist  das  unmoglich," 

In  diesem  Augenblick  wird  mir  klar:  hier  spricht  ein  Liberaler  mit 
achtundvierziger  Illusionen.  Auch  Indien  muB  seine  Volksgemeinschafts- 
Seifenblasen  platzen  sehn*  Sprach  nicht  genau  so  der  chinesische 
General  Tschiang-Kaitschek  im  Namen  der  Kuomintang,  bevor  er 
seinen  Soldaten  Befehl  gab,  die  Gewehre  umzudrehen,  um  diejenigen 
niederzuschieBen,  die  ihm  half  en,  die  Fremdherrschaft  zu  vertreiben? 
Nein,  Mr.  Patel,  die  Arbeiter  und  Bauern  Indiens  haben  mit  den  Ar- 
beitern  und  Bauern  Nichtindiens  mehr  Gemeinschaft  als  mit  den  Fa- 

548 


brikanten  und  Fiirsten,  die  heute  im  Namen  Indiens  sprechen.  Der 
Kommunismus  ist  nicht  cine  Frage  der  „innern  Ordnung",  die  man 
nach  errungener  Freiheit  in  Angriff  nimmt,  sondern  die  Voraussetzung 
dieser  Freiheit, 

Aber  Patel  spricht  weiter.  Ober  die  Realitaten  des  Tages.  Die 
nachste  Aufgabe  ist  die  Septemberkonferenz.  Der  Waffenstillstand 
war  nach  seiner  Ansicht  verfrtiht.  Aber  nun,  da  er  abgeschlossen  ist, 
muB  er  gehalten  werden,  obwohl  England  inn  nicht  halt.  Die  poli- 
tischeh  Gefangenen  sind  nach  immer  nicht  frei.  Entscheidend  ist 
nicht  der  Waffenstillstand  —  der  geht  voruber;  entscheidend  ist,  ob  es 
Frieden  geben  kann  zwischen  Indien  und  England.  Das  soil  jetzt 
entschieden  werden. 

Patel  faBt  seine  Meinung  iiber  die  Voraussetzungen  einer  fried- 
lichen  Losung  zusammen.  Er  kommt  aus  England  und  sein  Eindruck 
ist  pessimistisch.  England  hat  offenbar  noch  immer  nicht  begriffen, 
was  auf  dem  Spiele  steht.  Die  Gefahr  eines  Zusammenbruchs  der 
kommenden  Konferenz  ist  fur  England  groBer  als  fur  Indien.  .Die 
indischen  Massen  sind  bereit,  den  Kampf  mit  verscharften  Mitteln 
aufzunehmen  und  alle  Opfer  auf  sich  zu  nehmen,  die  ein  Entschei- 
dungskampf  mit  sich  bringt,  An  Indien  wird  England  zugrunde 
gehn,  wenn  es  nicht  vorher  einlenkt.  „Aber  was  ich  jetzt  in  London 
sah,  macht  mich  in  bezug  auf  die  Moglichkeit  einer  friedlichen  Ver- 
standigung  skeptisch." 

Patel  faBt  seine  Meinung  tiber  die  indischen  Fordefungen  auf  der 
Septemberkonferenz  zusammen:  Vollkommene  Unabhangigkeit  ein- 
schlieBlich  des  Rechts  der  Separation,  vollkommene  Kontrolle  tiber 
die  Militar-  und  Polizeigewalt,  vollkommene  Selbstandigkeit  der  aus- 
wartigen  Beziehungen,  vollkommene  Selbstandigkeit  der  Finanz-  und 
Wirtschaftspolitik,  Priifung  der  offentlichen  Schuld  Indiens  mit  Be- 
riicksichtigung  der  Gegenforderungen,  Nichtanerkennung  von  Vorbe- 
halten  iiber  die  rechtliche  Stellung  der  Auslander,  Die  Dif ferenzen  zwi- 
schen den  zwei  Volksgruppen,  den  Mohammedanern  und  Hindus,  sof ern 
man  ernsthaft  von  solchen  sprechen  kann,  werden  in  dem  MaBe  ver- 
schwiriden,  als  ein  einheitliches  Nationalgefiihl,  wie  es  bei  der  Jugend 
schon  vorhanden  ist,  Allgemeingut  wird.  Im  iibrigen  sehe  man  schon 
jetzt,  daB  die  Interessengruppierungen  im  Lande  starker  sind  als  die 
religiosen;  die  Hindu-  und  Moslemarheiter  stehen  zusammen,  ebenso 
wie  die  Hindu-  und  Moslemfabrikanten,  Es  wird  den  Feinden  Indiens 
nicht  mehr  gelingen,  den  religiosen  Gegensatz  auszuniitzen  und  auf 
ihn  den  Fortbestand  der  Fremdherrschaft  aufzubaun. 

„Wird  Gandhi  nicht  wieder  zuruckweichen?" 

„Die  Frage  heiBt  jetzt:  Krieg  oder  Frieden?  Indien  ist  ent- 
schlossen,  die  Freiheit  zu  erkampfen,  ohne  Riicksicht  auf  Kosten,  Lei- 
den, Opfer.  Gewalt  und  Unterdruckung  sind  unfruchtbar  gegeniiber 
einem  erwachenden  Indien.  Ein  Scheitern  der  Konferenz  bedeutet 
Vernichtung  des  britischen  Handel s  in  Indien  fur  alle  Zeiten.  Die 
Zukunft  wird  zeigen,  daB  das  keine  leere  Drohung  ist.  Aber  die 
Frage  Krieg  oder  Frieden  ist  eine  Frage,  die  alle  Volker  angeht,  nicht 
nur  die  beteiligten.  Von  dem  Ergebnis  der  Round-table-Konferenz 
wird  der  Frieden  und  die  Zufriedenheit  von  einem  Fiinftel  der 
menschlichen  Rasse  abhangen.  Die  Zeit  ist  vorbei,  da  die  zivilisierte 
Welt  diesem  Kampf  mit  mehr  oder  minder  interessierter  Neugier  zu- 
sehen  konnte.'* 

Patel  hat  recht:  Von  Indien  hangt  fur  Europa  viel,  sehr  viel  ab. 
Aber  wenn  er  meint,  das  Ziel  des  indischen  Unabhangigkeitskampfes 
sei  erreicht,  wenn  der  Volkerbund  ein  neues  Mitglied  .  auf  nimmt, 
diirfte  er  sich  sehr  irren.  Die  Zeiten  sind  vorbei,  da  aus  dem  Feuer 
von  Revolutionen  burgerliche  Staaten  entstanden.  Das  selbstandige 
Indien  wird  konimen,  aber  ob  dann  noch  Zeit  sein  wird  zu  iiberlegen, 
ob  es  ein  kapitalistisches  oder  ein  sozialistisches  Indien  werden  soil, 
darf  man  fiiglich  bezweifeln. 

549 


Zehtl  Jahre   I.A.H.   von  Alfons  Goldschmidt 

Qpiirt  Ihr  in  dcr  Erinnerung  noch  das  Grauen  vor  dem  Hun- 
ger  an  dcr  Wolga?  Seht  Ihr  noch  die  Bilder:  verdorrende 
Menschen  auf  verdorrtem  Boden?  Die  Sonne  von  sengender 
Unbarmherzigkeit,  der  Acker  geborsten,  kein  Trqpfen,  kein 
Korn  ringsum?  Krieg  nach  dem  Kriege  mit  der  entsetzlichsten 
Waffe,  dem  unabwendbaren  Feuer  von  oben?  Und  dann 
krochen  Hunderttausende  iiber  den  Hollenrand  hinaus,  Manner, 
Frauen,  Kinder,  eine  ganze  Welt  schien  nur  noch  stumm 
schreiender  Magen  zu  sein.  Urentsetzlichkeitea,  nur  die  Kreatur 
war  geblieben,  Hunger,  Durst,  Menschentiere! 

Wir  sind  noch  immer  Nachbarschaftsethiker.  Das  Mitleid 
nimrat  ab  mit  den  Kilometern,  Aber  ehe  Ihr  nicht  bebt  und 
aufspringt,  wenn  Eure  Briider  brotlos  werden  in  Indien,  wenn 
sie  verkauft  werden  in  Afrika,  wenn  sie  gekocht  werden  auf 
dem  elektrischen  Stuhl,  wenn  man  sie  in  Anam  erschiefit  und 
in  China  kopft,  wenn  Ihr  nicht  Jeden  haBt,  der  irgendwo  lei- 
dende  Menschen  knutet,  so  mogt  Ihr  tausendmal  iiber  Wunden 
und  Leichen  in  Eurem  Haus  weinen,  Biester  seid  Ihr  doch. 

Als  der  erste  Hilferuf  gegen  den  Hunger  an  der  Wolga 
aufgellte,  vor  zehn  Jahren,  im  August  1921t  da  kamen  die  Hei- 
fer aus  vielen  Lagern.  Es  war  im  ersten  Augenblick  keine  po- 
litische  Hilf sbereitschaftt  es  war  drangende  Giite  aus  den  guten 
Tiefen  des  Menschen.  In  jenen  Tagen  hatte  ich  die  Sicherheit: 
Es  wird  einen  Menschenglobus  gebenf  einen  Globus  ohne 
Metzeleien,  ohne  kleinpolitische  Verkniestheiten,  ohne  den  Sa- 
dismus,  unberiihrt  zu  bleiben,  einen  Globus  mk  allgemeiner 
aktiver  Hilfe  drauft  einen  solidarischen  Globus. 

Am  12.  August  1931  wurde  das  Auslandskomitee  zur  Or- 
ganisierung  d»es  Kampfcs  gegen  den  Hunger  in  Sowjet-RuBland 
gegrundet  Die  Idee  von  Lenin,  in  die  Welt  getromraelt  und 
mit  groBem  Enthusiasm  us  und  Talent  von  Willi  Miinzenberg 
aktiviert.  Ich  gehore  zu  den  Griindern  dieser  Organisation, 
zehn  Jahre  meines  Lebens  habe  ich  mitgearbeitet  an  ihrem 
Ausbau,  ich  bin  ihr  Vorsitzender  in  Deutschland,  aber  was  war 
und  ist  das  alles  gegen  diese  tatkraftige  Vielfaltigkeit,  die 
realisierbare  Phantasie,  die  auffeuernde  Rastlosigkeit  dieses 
Menschen,  fiir  den  jede  Kampagne  die  Jugendbewegung  zu 
sein  scheint,  aus  der  er  sich  seine  ersten  proletarischen  Me- 
riten  geholt  hat?  Dagegen  bedeuten  auch  Nebenleistungen, 
steckengebliebene  Versuche,  kleine  Fehlblicke  nur  sehr  wenig 
oder  gar  nichts. 

Aus  dem  Kampf  gegen  den  Hunger  in  RuBland  wurde  der 
Kampf  gegen  den  Hunger  der  arbeitenden  Menschen  in  aller 
Welt.  Denn,  das  war  der  einfache  Gedanke,  iiberall  hungern 
die  Produzenten  des  Reichtums.  Wer  kann  gegen  diesen  Hun- 
ger kampfen?  Nicht  die  Kapitalisten  und  ihre  Heifer,  nicht 
Trusts  und  Monopole,  nicht  die  schabigen  Internationalen  des 
Geldes  und  der  Rohstoffe,  die  gar  keine  Internationalen  sind, 
kampfen  konnen  nur  die  werktatigen  Massen  dagegen,  nur  aus 
sich  selbst,  aus  ihrer  eignen  Not  und  ihrer  eignen  Kraft  konnen 
sie  sich  helfen.  Diesen  sozialistischen  Grundgedanken  sucht 
die  Internationale  Arbeiter-Hilfe  zu  verwirklichen. 
550 


Mit  Erfolg,  das  muB  man  sagen.  Noch  lange  nicht  mit  dcm 
ganzen  Erfolg,  den  wir  wiinschen,  wohl  aber  mit  sichtbaren 
und  fiihlbaren  Resultaten.  Die  Internationale  Arbeiter-Hilfe 
ruft  alle  Proletarier  auf,  die  Proletarier  aller  Parteien,  die  Ar- 
beit er  mit  der  Hand  und  mit  dem  Kopf  aus  alien  Lager n,  sie 
ist  eine  Saminelorganisation  fur  aktive  Solidaritat  in  der  gan- 
zen Welt.  Dieser  Gedanke  ist  Iogisch,  gesund,  selbstverstand- 
lich.  Ich  konnte  seine  Wirkung  sehen,  nioht  nur  in  Deutsch- 
land  und  in  den  andern  europaischen  Landern,  auch  in  Mexiko, 
in  Argentinieri,  in  den  U.S.A.  Ob  Naturgewalt  oder  Menschen- 
gewalt,  wo  Elend  stohnt  aus  Werktatigen,  da  ist  auch  Hilfs- 
notwendigkeit  und  Hilfswille*  Im  Kinder  dor  f  der  LA.H,  bei 
Mexikostadt,  im  Gewerkschaftsbureau  in  Buenos-Aires,  in  den 
Baracken  der  streikenden  IBergarbeiter  bei  Pittsburgh,  in  tau- 
send  I.A.H.-Versammlungen,  in  Speisungsraumen,  in  Kinder- 
heimen,  auf  der  kampfenden  Leinwand,  in  Zeitungen  und  Zeit- 
schriften,  in  Biichern  und  Flugblattern,  Tag  fiir  Tag  habe  ich 
die  ungeheure  Saugekraft  d-er  Hilfsidee  erlebt. 

GroBe  Vefbande  sind  Mitglieder  der  International  Ar- 
beiter-Hilfe, Tausende  und  Hunderttausende  von  Einzelmitglie- 
dern  hat  sie  in  vielen  Landern,  achtzehn  Millionen  Mitglieder 
bis  heute  insgesamt.  Sie  wirkt  nicht  nur  gegen  den  Augen- 
blickshunger,  sie  wirkt  fur  Dauersattigung  in  der  Zukunft.  So 
ist  sie  eine  proletarische  Starkungsorganisation,  eine  wirkliche 
revolutionare  Organisation,  denn  Revolution,  das  ist  Solidaritat, 
das  ist  aktive  Gegenseitigkeit,  das  ist  Blick  auf  eine  sozia- 
listische  Welt,  das  ist  Verbundenheit  aller  schaffenden  Men- 
schen,  AusgegHchenheit  aller  Krafte  der  Hande,  der  Hirne, 
in  der  Luft,  in  der  Krume,  im  Stein  und  im  Wasser. 

Ein  solch  umfassendes  Werk  kommt  nicht  ohne  Gegensatze 
zustande,  nicht  ohne  Innenkampfe,  nicht  ohne  Programmdis- 
kussionen  und  Programmanderungen.  Aber  geblieben  ist  in 
den  ganzen  zehn  Jahren  die  groBe  Linie,  die  Aufnahmebereit- 
schaft  fiir  alle,  der  dringende  Ruf:  „Wo  Ihr  auch  steht,  Ihr 
konnt  mit  uns  sein,  weil  Ihr  ja  doch  alle  dieselben  Note  habt!" 
Die  Hiifssummen,  das  Hilfsgeld,  die  Hilfsnahrung  und  die 
Hilfskleidung,  darauf  kommt  es  an.  Das  druckt  sich  aus  in 
einer  „GroBenordnung"  von  hundert  Millionen  Mark  oder 
mehr.  Aber  mehr  noch  kommt  es  an  auf  die  Solidarisierung, 
auf  das  Entstehen  einer  wirklichen  Internationale  der  werk- 
tatigen Massen.  Da  die  Internationale  Arbeiter-Hilfe  das  will 
und  da  sie  diesen  Willen  mit  unleugbarem  Erfolg  verwirklicht, 
wird  sie  auch  bespien  und  verfolgt.  Deshalb  muBten  Menschen 
fiir  sie  sterben,  wurden  Kampfer  fiir  sie  ins  Gefangnis  gesteckt. 
Keinen  Begriff  macht  man  sich  von  diesen  schabigen  Wiite- 
reien,  diesen  dummen  Kleinbiirgereien  und  dieser  muffigen 
Rachsucht.  Aber  wir  haben  ein  Plus,  das  man  nicht  beseitigen 
kann:  Was  man  auch  tut  gegen  die  Internationale  Arbeiter- 
Hilfe  in  einem  Lande,  es  bleiben  immer  noch  alle  die  andern 
Lander.  Diese  Organisation,  weil  sie  eine  aktive  Gegenseitig- 
keit bedeutet,  ist  nicht  wegzuradieren,  Was  ihr  Obles  ge- 
schieht  an  einer  Stellef-starkt  sie  an  hundert  andern,  und  wer 
sie  toten  will  hier,  ist  dort  und  dort  verachtet  von  den 
Millionen. 

551 


Giftmordprozefi  Riedel  —  Guala  von  Emst  Toiler 

F^ar  vierundzwanzigjahrige  Student  der  Medizin,  Max  Riedel,  lernt 
*"^  im  Jahre  1916  in  Zurich  die  Schneiderin  Ida  Schnewlin  kennen 
und  heiratet  sie.  Nach  seinem  Examen  praktiziert  er  mit  gutem 
Erfolg  in  OberburjJ  und  Langnau. 

Es  gibt  ein  schweizer  Advokaten-Wort:  „Zum  Nachweis  der 
Ehezerriittung   geniigt   es,    den   Trauschein   vorzuweisen." 

Die  Ehe  ist  ungliicklich  vom  ersten  Tage  an.  Auch  die  Geburt 
eines  Kindes  im  Jahre  1923  fiihrt  die  Gatten  nicht  zusammen.  Streit 
un4  Zank  herrschen  im  Haus.  Die  Verhaltnisse  sind  so  unerquick- 
lich,  daB  beide  Ehegatten  im  Jahre  1924  die  Scheidung  beantragen. 

Zu  dieser  Zeit  nimmt  Doktor  Riedel  Fraulein  Antonia  Guala  als 
Wirtschafterin    ins    Haus. 

Die  Ehe  wird  geschieden,  das  Kind  der  Mutter  zugesprochen  und 
Doktor  Riedel  als  dem  Hvorwiegend  schuldigen  Teil"  ein  einjahriges 
Eheverbot  auferlegt.  Solche  Eheverbote  sind  nach  schweizer  Gesetz 
bis  zu  drei  Jahren  moglich,  auch  wenn  kein  „EhebruchM  zur  Zerriit- 
tung   gefuhrt   hat. 

Doktor  Riedel  verliebt  sich  in  Fraulein  Guala,  verlobt  sich  mit 
ihr,  verspricht,  nach  Ablauf  der  Verbotsfrist,  sie  zu  heiraten.  Da 
die  geschiedene  Frau  bei  der  Scheidung  Mobel  und  Wasche  mitgenom- 
men  hat,  schafft  Fraulein  Guala  aus  ihren  Ersparnissen  eine  neue 
Einrichtung   an. 

Um  seine  kleine  Tochter  zu  sehen,  besucht  Doktor  Riedel  von 
Zeit  zu  Zeit  seine  geschiedene  Frau,  die  in  Zurich  wohnt, 

Als  Frau  Riedel  erfahrt,  dafi  ihr  Mann  Fraulein  Guala  die  Ehe 
versprochen  hat,  gelingt  es  ihr,  zehn  Tage  vor  Ablauf  des  Ehever- 
bots,  Doktor  Riedel  zu  iiberreden,  sie  wiederzuheiraten,  um,  so  be- 
teuert  sie,  dem  Kinde  das  Elternhaus  zu  erhalten,  Sie  veranlafit  ihnf 
Fraulein  Guala,  die  nichts  von  der  neuen  Wendung  weifi,  zur  Erho- 
lung  nach  Saignelegier  zu  schicken,  heiratet  Doktor  Riedel  binnen 
wenigen  Tagen  und  zieht  zu  ihm  nach  Langnau.  Ein  Anwalt  wird 
beauftragt,  Fraulein  Guala  von  den  Geschehnissen  zu  unterrichten  und 
ihr  die  Riickkehr  in  das  Doktorhaus  zu  verbieten,  Aber  der  Anwalt 
lafit  den  Brief  einige  Tage  liegen,  als  er  in  Saignelegier  eintrifft,  ist 
Fraulein  Guala  unterwegs  nach  Langnau.  Die  Ture  offnet  ihr  die 
neuvermahlte  Frau  Riedel,  Fraulein  Guala  bricht  zusammen.  Sie 
wird   spater   im  Haus   des   Doktor  Riedel   auigenommen. 

Auch  die  zweite  Ehe  ist  nicht  gliicklicher  als  die  erste.  Am  14.  De- 
zember  1925  kommt  es,  als  Riedel  zu  spat  zum  Essen  heimkehrt,  zu 
einem  leidenschaftlichen  Auftritt.  Die  herrschsiichtige  Frau  wirft  ihm 
sein  „LumpenlebenM  vor,  Riedel  antwortet,  sie  moge,  wenn  es  ihr  nicht 
passe,  die  Sachen  packen  und  das  Haus  verlassen.  Das  Kind,  das 
dem  Auftritt  beiwohnt,  klammert  sich  an  Fraulein  Guala,  nicht  an  die 
Mutter.  Nachmittags  erkrankt  Frau  Riedel.  Vier  Tage  spater,  am  Frei- 
tag,  den  19.  Dezember  1925,  stirbt  sie.  Einige  Stunden  vor  dem  Tode 
zieht  Riedel  zwei  andre  Arzte  hinzu,  die  spater  die  Obduktion  der 
Leiche  veranlassen.    Man    findet  im  Korper    starke  Mengen  von  Arsenik. 

Am  22.  Dezember  werden  Doktor  Riedel  und  Fraulein  Guala 
wegen  Giftmordverdachts  verhaftet.  Am  28.  Juli  1926  werden  beide 
auf  Grund  eines  Indizienbeweises  von  den  Geschworenen  in  Burgdorf 
fiir  schuldig  befunden  und  zu  je  zwanzig  Jahren  Zuchthaus  verurteilt. 
Verdachtig  erscheinen  den  bauerlichen  Geschworenen  die  „unsittlichen" 
Beziehungen  Antonia  Gualas  zu  Riedel,  der  schon  als  Neunzehnj  ahri- 
ger,  wie  Zeugen  bekunden,  mit  der  Frau  seines  Schulrektors  nach 
Paris  durchgebrannt  war.  Kein  tatsachlicher  Beweis  zeugt  fiir  den 
Vorsatz  der  Angeklagten,  Frau  Riedel  aus  dem  Weg  zu  raumen. 

Die  Entscheidung  im  Prozefi  bringt  das  Gutachten  des  Toxykolo- 
gen    der    Universitat    Basel,    Professor    Schonberg,    der    erklart,    daE 

552 


nach  der  Verteilung  des  Arsenik  im  Korper  die  Frau  in  der  Zeit 
von  Montag  bis  Freitag,  von  der  Erkrankung  bis  zum  Tod,  mehrere 
Male,  zum  mindesten  zweimal,  Arsenik  genommen  haben  musse.,  Da- 
mit  wird  die  Anriahrae  der  Verteidigung,  daB  Selbstmord  vorliege, 
unwahrscheinlich,  denn  eine  Selbstmorderin  wiirde,  nach  Annahme 
der  Geschworenen,  nur  einmal  Gift  zu  sich  genommen  haben. 

Das  Urteil  trifft  zwei  fassungslose  Menschen,  die  ihre  Unschuld 
beteuern.  Fraulein  Guala  kommt  in  die  „Weiberstrafanstalt"  Hindel- 
bank,  Riedel   ins   Zuchthaus   fiir   Schwerverbrecher  nach   Thorberg. 

Jahre  vergehen.  Die  beiden  Verurteilten  kampfen  unaufhorlich 
urn  die  Wiederaufnahme  des  Prozesses.  Der  bekannte  berner  Anwalt 
Fritz  Roth  nimmt  sich  ihrer  an  und  reicht  am  9.  Marz  1931  einen 
umfangreichen,  lesenswerten  Revisionsantrag  beim  Kassationshof  des 
Kantons  Bern  ein,  den  er  gleichzeitig  in  Buchform  bei  Orell-FiiBli 
publiziert,  Das  entscheidende  Argument  des  Professors  Schonberg,  Frau 
Riedel  habe  angeblich  mehrraals  Gift  genommen,  das  Hauptindizium, 
wird  im  Revisionsverfahren  erschiittert,  da  Professor  Schonberg  auf 
Grund  neuer  Forschungen  es  fiir  moglich  halt,  sich  geirrt  zu  haben. 
AuBerdem  gewinnen  die  durch  das  Tagebuch  der  Frau  Riedel  be- 
kanntgewordenen   Selbstmordneigungen   an   Wahrscheinlichkeit. 

Am  9.  Juli  1931  beschliefit  der  Kassationshof  das  Wiederauf- 
nahmeverfahren,  die  beiden  Verurteilten  werden  aber  trotz  fiinfjahri- 
ger  Haft  nicht  in  Freiheit  gesetzt,  sondern  wegen  Verdunkelungs- 
gefahr   ins   Untersuchungsgefangnis    nach   Burgdorf   iibergefuhrt. 

Man  bedenke;  nach  fast  sechsjahriger  Durchforschung  des  Tat- 
bestandes  halt  das  Gericht  t,VerdunkelungsgefahrM  fiir  gegeben!  Selbst 
der  Staatsanwalt  hatte  Freilassung  beantragt. 

Gleichzeitig  mit  diesem  BeschluB  verhangt  das  Gericht  eine  Ord- 
nungsstrafe  von  100  Franken  uber  Rechtsanwalt  Roth,  der  in  seiner 
Revisionsschrift  den  damaligen  Untersuchungsrichter  Gerber  „un~ 
gebuhrlich"  angegriffen  habe,  Dieser  Herr  Gerber  hatte  den  An- 
geschuldigten,  entgegen  der  ProzeBordnun^,  keine  der  Rechte  zugebrl- 
ligt,  die  sie  im  Untersuchungsgefangnis  beanspruchen  konnen.  So  ver- 
bot  er  ihnen  anfangs  den  Gebrauch  von  Seife  und  Zahnpasta,  ver- 
weigerte  ihnen  Kostzulagen,  Lektiire  von  Zeitungen  und  Biichern, 
nicht  einmal  medizinische  Fachwerke  durfte  Riedel  lesen.  Rechts- 
anwalt Roth  wird  zu  einer  Ordnungsstrafe  verurteilt,  obschon  sich 
aus-  Verwaltungsakten  ergibt,  daB  die  vorgesetzten  Behorden  das  Ver- 
halten  des  Herrn  Gerber  als  „gelinde  seelische  Folter"  gekennzeichnet 
haben.  Auch  die  Anwaltskammer  in  Bern  geht  gegen  Roth  vor;  es  ver- 
trage  sich  nicht  mit  der  Wurde  des  Anwaltsstands,  daB  ein  Anwalt, 
durch  Veroffentlichung  eines  Buches,  Reklame  mache,  und  sie  ver- 
urteilt ihn  gleichfalls  zu  einer   Strafe  von   100  Franken. 

Zuzusehen,  wie  Unschuldige  im  Zuchthaus  verkiimmern,  scheint 
sich  mit  der  Wiirde  der  berner  Anwaltskammer  zu  vertragen. 

Fast  zweieinhalb  Jahre  dauerte  es,  bis  der  Kassationshof  iiber 
den  Revisionsantrag  des  Verteidigers  entschied,  und,  wenn  die  Offent- 
lichkeit  sich  des  Falles  nicht  annimmt,  werden  wieder  Monate  und 
Monate  vergehen,  bis  es  zur  neuen  Verhandlung  kommt.     - 

Am  9.  Juli  1931  erfolgte  die  Revisionsbewilligung.  Den  Verted 
digern,  Rechtsanwalt  Roth  und  Rechtsanwalt  Rosenbaum-Duccommun 
Zurich,  der  Antonia  Guala  verteidigt,  wird  versprochen,  daB  die  Ver- 
handlung im  Herbst  stattfindet.  Jetzt  sieht  es  so  aus,  als  ob  der 
ProzeB  erst  im  Jahre  1932  durchgefuhrt  werde. 

Immer,  wenn  der  Staat  sich  irrt,  verschanzen  sich  seine  Funktio- 
nare  hinter  dem  gefahrdeten  Staatsprestige,  und  die  Einfaltigen  glau- 
)ben  es  und  merken  nicht,  daB  jene  nur  ihr  eignes  Prestige  retten 
wollen. 

Fraulein  Guala)  an  deren  geistiger  Gesundheit  im  ersten  Pro- 
zeB niemand  zweifelte,  am  wenigsten  das  Gericht,  das  ihr  zwanzig 
Jahre  Zuchthaus  zudiktierte,  soil  jetzt  psychiatrisch  untersucht  wer- 
8  553 


den.  Was  will  man  feststellen?  DaB  die  Nerven  der  Frau  durch 
fiinfjahrige  zermtirbende  Zuchthaushaft  zerriittet  sind?  Das  kann 
jeder  Laie  sagen,  auch  ohne  monatelange  Begutachtung,  durch  die  die 
Verhandlung  unnotig  verzogert  wird. 

Die  schweizer  Justiz  soil  wissen,  daB  dieser  Fall  kein  privater 
ist,  daB  die  Offentlichkeit  am  Schicksal  der  Beiden  teilnimmt,  weil 
hier   das  beleidigte   Rechtsempfinden   jedes  Menschen   Stihne   forderL 

Ich  habe  Doktor  Riedel  trad  Fraulein  Guala  im  Untersuchungs- 
gefangnis  Burgdorf  gesehen.  Gewifi  gibt  es  keine  gefahrlicheren  Satze 
als  diese:  MSo  sieht  ein  Morder  aus"  oder  „So  sieht  kein  Morder 
aus",  Aber  von  diesen  beiden  Menschen,  die  ohne  jede  Lamentation 
und  ungebeugt  um  ihr  Recht  kampfen,  bin  ich  doch  versucht  zu  sa~ 
gen:   So  kampfen  nur  Unschuldige. 

Bevor  ich  Riedel  besuchte,  sah  ich  das  Zuchthaus  Thorberg,  in 
dem  er  ftinf  Jahre  lebte,  Dort  lernte  ich  eine  der  furchterlichsten 
Strafen  kennen,  die  Europa  kennt:  „Das  Gatter\  Wenn  sich  ein 
Haftling  gegen  die  Hausordnung  vergeht,  kann  er  in  eine  lichtlose, 
unheizbare,  eiskalte,  unterirdische  Zelle  bis  auf  die  Dauer  von  drei 
Wochen  eingesperrt  werden.  Zur  Verscharfung  dieser  Strafe  darf  ge- 
gen ihn  ,,das  Gatter"  angewandt  werden,  Der  Haftling  wird  in  einen 
Winkel  der  dunklen  Zelle  gestellt,  der  durch  ein  Eisengitter  ab- 
getrennt  ist.  Der  Winkel  ist  grade  so  groft,  daB  ein  Mensch  darin 
stehen  kann.     Bis  zu  vierundzwanzig  Stunden  dauert  diese  Folter! 

Die  Schweiz  hat  das  Institut  der  Volksinitiative.  Wann  wird  der 
Gesetzesantrag  eingebracht,  der  diese  Barbarei  beseitigt? 

Einer,  der  es  genau  weifi  von  peter  Panter 

A  Is   ich   in  den  erst  en   Monaten  nach  Siegfried   Jacobsohns 

Tode  die  Redaktion  der  fWeltbiihne*  innehatte,  meldete 
sich  unter  andern  Otto  Forst  de,  Battaglia  mit  dem  Angebot 
von  Beitragen,  Ich  wies  ihn  ab  —  das  Zeug,  das  ich  von  ihm 
gelesen  hatte,  ermunterte  mich  nicht,  ihn  unsern  Lesern  vor- 
zusetzen.     Dann  vergaB  ich.  den  Mann  und  den  Namen. 

y  Heute  liegt  nun  vor:  „Der  Kampf  mit  dem  Drachen"  von 
Otto  Forst  de  Battaglia,  „Zehn  Kapitel  von  der  Gegenwart  des 
deutschen  Schrifttums  und  von  der  Krise  des  deutschen  Gei- 
steslebens".  Darin  bekommen  wir  es  alle  miteinander  nicht 
schlecht  zu  horen. 

Es  ist  die  alte  Leier:  die  wahren  deutschen  Kiinstler  wer- 
den niedergehaiten  und  unterdruckt;  alles,  was  heute  Gel- 
tung  hat,  hat  keine  Geltung  zu  haben;  die  SpieBbiirger  der 
Recht  en  werden  weit  liber  die  SpieBbiirger  der  Link  en  gestellt, 
und  das  Ganze  soil  eine  wilde  Attacke  sein,  geritten  zugunsten 
der  volkischen  Belange. 

Die  Rechten  haben  mit  ihren  literarischen  Vertretern 
durchaus  Pech,  Dies  Buch  zum  Beispiel  ist  kaum  fiir  uns  Leute 
vom  Bau  inter essant;  es  ist  die  typische  interne  Abrechnung, 
ein  Atelierscherz,  mit  seinen  kleinen  Gehassigkeiten  und  fa- 
den  Austriacismen  nur  den  Beteiligten  verstandlich;  was  das 
Publikum  damit  anfangen  soil,  kann  ich  mir  nicht  vorstellen. 
Vermutlioh  wird  es  keiner  lesen.  Ich  mochte  aber  einmal  einen 
kleinen  Begriff  davon  geben,  wie  diese  iiberheblichen  Mann- 
chen  arbeiten,  die  heute,  mit  der  Nase  fiir  die  Konjunktur,  auf 
der  Rechten  statt  auf  der  Linken  herumschleichen, 

Forst  de  Battaglia  schreibt  tiber  den  MJahrgang  1902"  von 
Ernst  Glaeser: 
554 


„An  einem  Wort  haben  die  Franzosen  wahrend  des  Krie- 
ges  einen  im  ubrigcn  ausgezeiqhnet  gefalschten  Aufruf  erkannt, 
mit  -dem  die  deutsche  Gegenpropaganda  revolutionare  Stim- 
mung  in  Frankreich  entfe&seln  wollte.  Es  hieB  da  von  einer 
,joie  sadistique'  und'  die  drei  uBerfliissigen  Buchstaben,  der  un- 
scheinbare  Germanismus  ,sadistique'  anstelle  des  richtigen  ,sa- 
dique'  hat  geniigt,  den  eingeschmuggelten  Feind  zu  entlarven. 
Jetzt  haben  wir  bei  Glaeser  etwas  Ahnliches:  Sein  Motto,  das 
Grundmotiv  seines  Roches  laute.t  im  franzosischen  Mund:  ,La 
guerre,  ce  sont  nos  parents'.  Das  ein-e  ,ce  sont'  statt  des  rich- 
tigen ,c'est\  der  eine  Germanismus,  den  sicher  alle  deutschen 
Leser  iibersahen,  entlarvt  dieses  Wort  als  Konstruktion  Glae- 
sers  und  driickt  so  das  Siegel  auf  die  vorgebliche  Echtheit 
dieser  Kriegserinnerungen.1' 

Er  weiB  es  ganz  genau,  Aber  abgesehn  von  dem  gramma- 
tischen  Fehler,  den  der  Herr  Lehrer  macht  („Es  hieB  da  von 
einer  joie  sadistique"  ist  Unsinn;  entweder:  Es  ist  da  von 
einer  joie  sadistique  die  Rede,  oder:  es  heiBt  da  joie  sadistique) 
—  abgesehn  von  diesem  Fehler  ist  das,  was  er  iiber  das  fran- 
zosische  Motto  erzahlt,  grundfalsch. 

Man  kann  in  der  franzosischen  Sprache  des  Alltags  sag  en: 
„C'est  nos  parents."  Die  korrekte  Form  aber  ist  die  von  Glae- 
ser  gewahlte;  „Ce  sont  nos  parents/'  Das  unbetonte  ,,ce" 
kann  nur  Attribut  sein,  aber  nicht  Subjekt;  Subjekt  ist  , .pa- 
rents". Soil  das  Pronomen  Subjekt  sein,  so  muB  die  betonte 
Form  genommen  werden,  und  die  heiBt  „cela'\  Man  sagt; 
„Cest  un  homme",  wobei  „homrae"  Subjekt  ist;  man  sagt  aber: 
,,Cela  est  beau",  wobei  cela  Subjekt  ist. 

Das  ist  die  starre  RegeL  Nun  hat  der  Alltagsgebrauch 
diese  Unterschiede  leicht  verwischt;  man  kann  also  sagen: 
„La  guerre,  e'est  nos  parents",  aber  man  muB  es  nicht  sagen. 
Der  Satz,  der  ja  ein  Paradox  ist,  wird  wahrscheinlich  besser 
,,c'est  nos  parents"  lauten;  von  einem  Fehler  ist  keine  Rede. 

„Les  voyez-vous,  les  hussards,  les  dragons,  la  garde? 
Les  voila  —  ce  sont  eux!" 
heiBt  es  in  einem  franzosischen  Liede. 

Otto  Forst  de  Battaglia  stecke  seine  Nase  in  die  Gram- 
matiken:  Grammaire  Maquet  et  Flot,  3ieme  degre  (bei 
Hachette  erschienen);  Seite  91,  §§  331  bis  334.  Oder:  Gram- 
maire Crouzet   (bei  Didier  erschienen);  Seite  71,  §§  170,   171. 

Jeder  haut  einmal  daneben,  Aber  diese  fatale  Besser- 
wisserei,  dieses  peinliche  Bildungsgeprotz,  das  am  Kaffeehaus- 
tisch  ganze  Wissenschaften  erledigt . . .  und  wenn  du  nachher  zu 
Hause  nachblatterst,  dann  ist  es  alles  falsch.  Hoffentlich  steht 
das,  was  dieser  Drachentoter  sonst  iiber  die  Literatur  aussagt, 
auf  einer  besser  fundierten  Basis.  Aber  so  gefahrlich  ist  das 
ja  alles  gar  nicht.  Obgleich  er  mich,  nicht  einmal  sehr  un- 
sanft,  auch  beim  Wickel  hat,  muB  ich  doch  sagen:  die  meisten 
seiner  Drachen  sind  gar  keine  Drachen,  sondern  Regenwiir- 
mer,  dieser  Siegfried  ist  kein  Siegfried,  sondern  ein  miscJbT 
bliitiger  Pole,  der  Sehnsucht  nach  einer  reinen  Rasse  hat,  die 
es  nicht  gibt,  und  wir  gehen  zur  Tagesordnung  iiber,  Neu- 
gierig  bin  ich  nurt  wann  er  uns  den  nachsten  Artikel  einsen- 
den  wird'. 

555 


Charakterdeutung  als  Wissenschaft 

von  Rudolf  Arnheim 

I 

fj[it  der  ehrenden  Bezeichnung  t)Streng  wissenschaftlich" 
■  .  wird  heute  ein  unerfreulicher  MiBbrauch  getrieben,  Vom 
Brief  kastengraphologen  bis  zum  gottlichen  Meistcr  Joseph 
WeiBenkas,  vom  Augendiagnostiker  bis  zu  den  metaphysischen 
Atemiibungen  der  Mazdaznan-Leute  nennt  sich  alles  so.  Das 
ist  umso  argerlicher,  als  die  neueste  Entwicklung  der  soge- 
nannten  exakten  Wissenschaften  es  iramer  schwieriger  macht, 
nach  sicheren  Kriterien  zu  entscheiden,  was  wissenschaftlich 
sei  und  was  nicht. 

Den  Graphologen,  Chirologen,  Astrologen  wird  immer  wie 
der  vorgeworfen,  sie  arbeiteten  nicht  mit  exakten  Mitteln 
Ihre  Beschaftigung  sei  bestenfalls  Kunst,  jedenfalls  nicht  Wis- 
senschaft,  beruhe  auf  Intuition,  Blick  und  Begabung,  nicht  auf 
Beweisen,  Schltissen,  Experimented  Dies  ist  nun  sicherlich 
richtig.  Zwar  bestehen  die  Vorarbeiten  zu  einem  Horoskop 
oder  einer  graphologischen  Analyse  darin,  gewisse  Tatbestande 
festzulegen,  von  denen  man  nachpriifbar  und  mit  aller  wiin- 
schenswerten  Scharfe  sagen  kann,  sie  seien  richtig  oder  falsch, 
aber  das  Wesentliche  einer  solchen  Arbeit,  der  eigentliche 
„Deutungsvorgang"  besteht  durchaus  darin,  Gebilde  zu  erken- 
nen  und  zu  beschreiben,  die  sich  jeder  scharfen  Bezeichnung, 
jeder  brauchbaren  Einordnung  unter  Oberbegriffe  entziehen.  Die 
Geburtskonstellatiori  ernes  Menschen  laBt  sich  mit  astronomi- 
scher  Sicherheit  festlegen;  es  laBt  sich  sagen,  ob  eine  Hand- 
schrift  Arkaden-  oder  Girlandenbindungen,  einen  spitzen  oder 
einen  stumpfen  Winkel  zut  Schreiblinie  aufweist,  und  man 
mu£  herausbekommen,  ob  die  Schriftprobe  in  einer  normalen 
Schreibsituation,  auf  guter,  fester  Untetlage  entstanden  ist 
oder  etwa,  wie  wir  es  von  jenem  Liebhaber  bei  Chaderlos  de 
Laclos  wissen,  auf  dem  nackten  Riicken  der  Geliebten.  Alle 
diese  Recherchen  aber  schaffen  hur  das.  Material  herbei  fur 
die  eigentliche  Untersuchung,  die  darin  besteht,  das  individu- 
elle,  undefinierbare  Zueinander  bestimmter  an  sich  gut  defi- 
nierbarer  Faktoren  zii  erfassen.  Es  handelt  sich  dabei  nicht 
darum,  eine  Reihe  von  Relationen  aufzuzeigen  und  aus  ihnen 
schlieBlich  die  Summe  zu  ziehen  —  das  ware  eine  systema- 
tische,  begrifflich  festlegbare,  aus  Lehrbiichern  restlos  erlern- 
bare  Arbeit,  Sondern  die  konstitutionellen  Faktoren  eines 
solchen  Gebildes  stehen  nicht  summativ,  nur  durch  ein  Phis- 
zeichen  verbunden,  tiebeneinander,  sie  sind  vielmehr  ein- 
geschmolzen  in  eine  Ganzheit,  in  deren  Zusammenhang  erst 
der  nicht  isolierbare  Sinn  des  Einzelnen  verstanden  werden 
kann.  Dies  widerstreitet  durchaus  der  uralten,  klassischen  Er- 
kenntnismethode  aller  Wissenschaften;  denri  die  erfaBt  die  in 
der  Wirklichkeit  vorkommenden  Einzetdinge  —  oder  glaubte 
sie  zu  erfassen  — ,  iridem  sie  sie  restlos  in  ihre  Bestandteile 
zerlegt,  diese  Bestandteile  in  die  betreffenden  Kategorien  ein- 
ordnet  und  auf  diese  Weise  jedem  Gegenstand  den  Schnitt- 
punkt  der  fur  ihn  gultigen  Relationen  als  nur  ihm  zugehorigen 
Platz  im  Begriffsnetz  des  wissenschaftlichen  Weltbildes  ari-* 
556 


weist.  LaBt  sich  aber  ein  Ding  nicht  mehr  als  die  Summe  sei- 
ner Tcile  charakterisieren,  so  fallt  jede  exakte  Moglichkeit 
der  Eiriordnung  tind  damit  der  Beschreibung  fort.  Eine  Ganz- 
heit  ist  eine  Spezies  fur  sich,  ein  Begriff,  unter  den  nur  ein 
Fall  ftllt. 

Doktor  Rolf  ReiBmann  spricht  in  einer  Sondernummer  der 
,Literarischen  Welt'  von  den  astrologischen  Elementent  den 
Tierkreiszeichen,  Planeten,  t,Hausern"(  Aspekten  als  vonOber- 
symbolen,  Formprinzipien,  der  en  Verflechtung  und  Oberschnei- 
dung  in  synthetischer  Zusammenschau  erkannt  werden  miisse. 
Von  dies  en  Element  en  ist  jedes  fiir  sich  mit  wissensohaftlicher 
Sauberkeit  konstatierbar.  An  welchem  Punkt  des  Himmels 
der  Mars  zu  einer  bestimmten  Minute  gestanden  hat,  laBt  sich 
mit  jeder  gewunschten  Prazision  errechnen,  Aber  damit  ist 
eben  no ch  nichts  getan.  Der  Chirologe  Julius  Spier  sagt,  daB 
von  jeher  die  Handlesekunst  gewisse  gesicherte  Regeln  be- 
sessen  habe,  „nicht  allzu  viele,  denn  man  war  sich  wohl  be- 
wuBt,  daB  die  Deutung  einer  organischen  Gestalt  letztlich  ein 
intuitiver  Vorgang  ist,  nicht  anders  als  die  Erfassung  eines 
Kunstwerkes",  Und:  „Jedes  einzelne  Merkmal,  das  sich  in  der 
Handflache  befindet,  bedeutet  als  einzelnes  nichts,  sondern 
kann  —  wie  bei  jeder  physiogriomjschen  Methode  —  nur  in 
Bezug  auf  das  Gesamtbild  verstanden  werden."  Hieruber  macht 
sich  Werner  Hegemann  in  wenig  einsichtiger  Werse  lustig, 
weil  er  annimmt,  die  Vieldeutigkeit  des  Merkmals  bedeute  das 
Eingestandnis  volliger  Willktir,  Er  iibersieht  (nicht  nur,  daB 
hier  das  tiefernste  Grundproblem  aller  heutigen  Wissenschaft 
liegt,  sondern  auch),  wohl  werl  er  es  nicht  aus  eigner  An- 
schauung  weiB,  daB  innerhalb  einer  bestimmten  Ganzheit  jedem 
Merkmal  eine  vollkommen  feste  Bedeutung  zukommt,  die  fiir 
die  Anschauung  eindeutig,  begrifflich   aber  nicht  erfaBbar  is$. 

Denn  streng  erfaBbar  sind  eben  nur  Tatbestande,  die  sich 
auf  einfache  MaBbegriffe,  etwa  aui  Zahlen,  zuriickfiihren  las- 
sen,  Eine  Tonhohe  beispielsweise  kann  ich  durch  die  Fre- 
quenzzahl  physikalisch  eindeutig  bestimmen,  und  setze  ich 
eine  Serie  soldier  Frequenzzahlen  nebeneinander,  so  kann  ich 
die  Reihenfolge  einer  Melodie  angeben.  Das  Eigentliche  einer 
Melodie  aber,  die  dynamischen  Charaktere  des  Auf  und  Ab, 
das  Verhaltnis  der  Intervalle  kann  ich  nicht  definieren,  obwohl 
es  sich  tun  ein  durchaus  offenliegendes,  klares  Phanomen  der 
Wirklichkeit  handelt,  urn  etwas  durchaus  Unmystisches,  Gehort 
Intuition,  gehort  Kunst  dazu,  eine  Melodie  aufzufassen?  Nein, 
nicht  unsre  Anschauung,  sondern  unsre  Begriffe  lassen  uns  hier 
im  Stich!  Fast  genau  so  steht  es  mit  den  ganzheitlichen  Ge- 
bilden,  die  in  einer  Handschrtft,  einer  Handflache,  einer  Ge- 
stirnkonstellation  eriaBt  werden  sollen.  Sie  sind  mit  wissen- 
sohaftlicher Scharfe  nicht  beschreibbare,  dabei  aber  ebenso 
deutliche,  von  jedermann  unmittelbar  aufiaBbare  Gegebenhei- 
ten  wie  etwa  die  Umrifiform  einer  Wolke  am  Himmel. 

Es  ist  irrefuhrend,  fur  diese  Dinge  immer  wieder  den 
Gegensatz  von  kiinstlerischcr  und  wissenschaftlicher,  von  intui- 
tiver und  exakt  forschender  Betatigung  anzufiihren.  Diese 
Terminologie  ist  nicht  neu,  sie  findet  sich  schon  bei  Lavater 
und  bei  Carus,  der  in  seiner  „Symbolik  der  menschlichen  Ge- 

557 


stalt"  (Verlag  Nick  Campmann,  Celle)  etwa  sagh  (,Hief  ist 
nur  zweierlei  zum  Ziele  fiihrend:  entweder  dem  leisen  aber 
aufmerksamen  Gange  der  Wissenschaft  zti  folgen,  und  aus  ihren 
Handen  Teil  fur  Teil  die  Bedeutung  der  Gestaltung  in  ihrer 
ungeheuern  moglichen  Mannigtaltigkeit  sich  erklaren  und 
reichen  zu  lassenf;  oder  seibst,  durch  ein  besonderes  Geschick 
begabt  zu  sein  mit  jenem  SeherbBcke,  welcher,  ohne~^daB  er 
der  einzelnen  Grtinde  bedarf,  das  Ratsei  durch  den  Genius 
lost/'  Nun  haben  aber  Experimente  gezeigt,  daB  normalerweise 
jeder  Mensch  graphologische  und  physiognomische  Tatbestande 
sehr  eindringlich  sieht,  und  daB  nur  eine  spezielle,  durch 
SchuLe,  Wissenschaft  und  Leben  unsrer  Zeit  geschaffene  Dres- 
sur  auf  „atomisti$ches"  Sehen  diese  Fahigkeit  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  verschiittet  Auch  bedient  sich  jedermann  im 
alltaglichen  Verkehr  mit  Menschen  physiognomischer  Eradnicke 
so  selbstverstandlich,  wie  er  Farben,  Formen,  Tone  als  etwas 
Seiendes  behandelt  Naturlich  laBt  sich  durch  Schulung  die 
Leistung  auBerordentlich  verbessern,  naturlich  auch  gibt  es 
iibernormale  Begabung  fur  diese  Dinge,  aber  das  andert  nichts 
an  dem  Grundfaktum,  daB  es  sich  hier  nicht  urn  hellseherische, 
dem  Boden  des  ErfaBbaren  entzogene  Einzelleistungen  son* 
dern  urn  allgemein  zugangliche  Erscheimingen  unsrer  Sinnen- 
welt  handelt.  Ein  Phanomen  wie  Raphael  Schermann  ist  eben 
nicht  charakteristisch  fur  die  graphologische  Methode  sondern 
ein  Ausnahmewesen. 

Riicken  schon  dadurch  diese  Hilfsmethoden  der  Charakter- 
und  Schicksalsforschung  stark  in  die  Nahe  der  exakten  Wis- 
senschaften,  so  wird  die  Frage  der  Abgrenzung  umso  pein- 
licher,  wenn  man  daran  denkt,  daB  auch  alle  die  exakten 
Wissenschaften  heute  vor  der  Aufgabe  stehen,  ganzheitliche 
Tatbestande  methodtsch  zu  erfassen.  Die  Meinung,  daB  man 
mit  den  klassischen  Mitteln  der  Analyse  der  Welt  nicht  ge- 
recht  werde,  spiegelt  sich  in  den  mannigfachen  Remuhungen 
urn  Begriffe  wie  Ganzheit  und  Synthese  —  B'emuhungen,  die 
sich  in  Hunderten  von  wissenschaftlichen  Publikationen,  vom 
seichtesten,  terminologisch  aufgeputzten  Geplauder  bis  zum 
naturwissenschaftlichen  Experiment,  manifestieren.  Am  deut- 
lichsten  vielleicht  in  den  Arbeiten  der  „Gestalttheoretiker* ',  die 
allerdings  charakteristischerweise  in  der  eleganten  Widerlegung 
ihrer  Gegner  mehr  leisten  als  in  der  Aufzeigung  positiver  Me- 
thoden,  zum  Erfassen  von  Ganzheiten, 

In  der  Biologie  hat  sich  gezeigt,  daB  man  den  Organismus 
nicht,  wie  es  fniher  geschah,  als  eine  Maschine  erklaren  kaiin, 
als  eine  Summe  von  Teilapparaten,  die  isolierte  Funktionen 
haben  und  ab  ovo  gesetzmaBig  vorgebildet  sind.  In  der  Psy- 
chologie  kommt  man  von  der  Spezialuntersuchung  der  Sinnes- 
empfindungen,  vom  Reiz-Reflex-Schema,  von  der  Herauspra- 
parierung  von  Triebmechanismen  dazu,  daslebende  Wesen  von 
seinen  Zieien  und  Bestrebungen  her  als  eine  Ganzheit  zu  ver- 
stehen  und  den  unabtrenhbaren  Zusammenhang  mit  der  Um- 
welt  zu  berucksichtigen.  In  der  Medizin  weicht  die  Lokal- 
behandlung  des  einzelnen  Organs,  die  zahlenmaBige  Vermes- 
sung  und  Abwagung  der  Korperteile  einer  auf  das  Funktionie- 
ren  des  gesamten,  zum  Beispiel  nicht  in  Korper  und  Seele  auf- 

558 


geteilten  Menschen  und  auf  die  HK<mstitution"  gerichteten,  Be- 
trachtung.  In  der  Physik  bemiiht  man  sich  wn  die  Formulie- 
rung  von.  ganzheitlichen  „Feldgesetzen'\ 

In  alien  diesen  Wissenschaften  stand  man  friiher  auf  dem 
methodisch  gesicherten  Boden  analytischer  Einzelforschung,  in 
alien  diesen  wissenschaf ten  sieht  man  die  Unzulanglichkeit  der 
bisherigen  Verfahren  ein.  Es  ist  bemerkenswert,  wie  man  ver- 
sucht  hat,  das  alte  Prinzip  zu  ret  ten,  indem  man  die  Ganzheit- 
lichkeit  einfach  als  einen  neuen  Teil  den  ubrigen  Teilen  hin* 
•zufiigte.  Von  Ehrenfels  zum  Beispiel,  der  sich  wohl  als  erst er 
mit  dieser  Frage  beschaftigt  hat,  sagte,  eine  Melodie  bestehe 
aus  der  Summe  ihref  Tone  plus  einer  „Gestaltqualitat'7  der 
eben  der  oben  erwahnte  eigentlich  melodiehafte  Zusammen- 
hang  zu  danken  seL  Und  die  Driesch-Vitalisten  nennen  das, 
was  den  Organismus  von  der  Maschine  unterscheidet,  die  ,,En- 
telechie'V  die  in  ihrer  Theoriebildung  ebenfallsals  ein  bloBer 
Zusatz   auftritt. 

In  der  Graphologie,  Physiognomik,  Chirologie,  Astrologie 
zeigt  sich  durchaus  dieselbe  Entwicklung.  In  der  Graphologie 
arbeitete  noch  die  klassische  franzosische  Schule  des  vorigen 
Jahrhunderts  ausschlieBlich  so,  daB  man  durch  induktive  Sta- 
tlstik  zu  erfahren  suchte,  welche  einzelnen  Charaktereigen- 
schaften  der  einzelnen  Schrifteigenschaft  zugeordnet  seien.  Das 
war  eine  streng  exakte  wissenschaftliche  Methode,  nur  leider 
eine  falsche.  Aber  selbst  in  dem  Lehrbuch  von  Ludwig  Klages 
noch,  der  im  Prinzip  die  Sachlage  durchaus  erfafit  hat,  kommt 
das  praktische  Verfahren  darauf  heraus,  daB  man  auf  Grund 
des  obersten  Einzelmerkmals  „F6rmniveau"  fur  die  ubrigen 
Merkmale  positiv  oder  negativ  gefarbte  Einzeldeutungen  sche- 
matisch  ableitet.  Was  die  Physiognomik  anlangt,  so  sagt  etwa 
Carus  iiber  die  beriihmte  Gallsche  Schadellehre:  „Daher  ist 
es  auch  jedenfalls  gekommen,  daB  das  in  Quadrate  und  Kreise 
auf  dem  menschlichen  Haupte  abgeteilte  Siinden-  und  Tugend- 
register  Galls  eine  solche  Popularitat  bei  der  Menge  alsbald 
«rhalten  konnte,  denn  es  war  den  Menschen,  denen  die  Wis- 
senschaf t  gewohnlich  das  Fernste,  der  Nutzen  aber  dasNachste 
ist,  nicht  zu  verdenken,  wenn  sie  es  sehr  bequem  fanden,  als 
man  ihnen  sagte,  man  brauche  zum  Beispiel  nur  gewisse  Scha- 
del-Erhohungen  hinter  den  Ohren  zu  untersuchen,  urn  sogleich 
die  GewiBheit  zu  erlangen,  ob  von  der  fraglichen  Personlichkeit 
weder  Diebssinn  noch  Mordsinn  angenommen  werden  diirfe, 
und  also  weder  fur  unsre  Borse  noch  fur  unser  Leben  von 
ihnen  einige  Gefahr  drohen  mochte,"  Aber  dies  falsche  Ver- 
fahren war  eben  nicht  nur  das  bequemste,  es  war  das  Ver- 
fahren der  Wissenschaft  uberhaupt,  das  einzige  exakte  bis  zum 
heutigen  Tage!  Betrachtet  man  die  Untetsuchungen  Ernst 
Kretschmers,  die  sich  auf  den  konstitutionellen  Gesamthabitus 
des  menschlichen  Korpers  beziehen,  so  sieht  man,  daB  hier  die 
eigentliche  Entscheidung  uber  die  Rubrizierung  dem  „intuiti- 
ven"  Blick  des  Beobachters  anheimgegeben  ist  und  daB  exakte 
Angaben,  genati  wie  etwa  in  der  Graphologie,  nur  als  Hilfsmit- 
tel  dienen.  Von  der  alten  Chirologie  sagt  Julius  Spier  in  der 
^iterarischen  Welt':  „ Wenn  man  las,  daB  bestimmte  Kreuz- 
-chen,  Gabeln,  Sternchen,  Hakchen  und  Inselchen  bald  Pech  in 

559 


der  Liebc,  bald  Erbschaft,  bald  Sturz  vom  Pferde,  bald  eineni 
bosen  Schwiegervater  bed«uteri,  so  eriibrigte  sich  jedcs  Ein- 
gehen  auf  cin  solches  System,  Dieser  ganze  Kehricht  von  to- 
richten  Regeln  muftte  zunachst  iiber  Bord  geworfcn  werden,'* 

In  dcr  ganzen  Wissenschaft  ist  man  heute  dabei,  alte  Re- 
geln  fiber  Bord  zvl  wetf  en.  Aber  niemand  kann  dartiber  Aus- 
kunft  geben,  wie  es  mit  exaktcn  Methoden  moglich  sein.  soil, 
Ganzheiten  zu  erfassen.  In  die  Wissenschaft  ist  eine  schone 
Lebendigkeit  eingezogen,  ein  freier,  anschaulich  beschreibender 
StiL  Aber  wenn  man  bosartig  ist,.  kann  man  dies  auch  den 
Anbruch  der  Anarchie  nennen. 

Was  also  den  bcliebtcn  Haupteinwand  gegen  jene  Metho- 
den der  Charakterforscbung  abgibt,  das  sollte  man  eher  als 
ein  Zeichen  ihrer  Wissenschaftlichkeit  ansehen.  Akademisch 
legitime  und  illegitime  Forschungsgebiete  werden  hier  zu  Brti- 
dern  in  der  Not.  Fortsetzung  foigt 

Der  Grofie  Plan  von  Axei  Eggebrecht 

p*pos  des  sozialistischen  Aufbaus"  nennt  Johannes  R.  Becher 
99  dieses  Gedicht  in  vier  Teilen,  hunderten  von  Einzelnum- 
mcrn,  erschienen  im  Agis-Verlag  zu  Berlin. 

Im  Vorspruch  zum  vierten  Teil  fiihrt  er  ein  paar  seiner 
Vorganger  an,  proletarische  Dichter  RuBlands,  die  sich  „mit 
der  Waffe  der  Sprache  hartnackig  in  die  Probleme  verbohrt'* 
hatten.     Und  schlieBt  dann: 

Gewaltiges  haben 
Vor  uns  gesungen 
Die  Dichter  aller  Zeiten. 

Das  Gewaltigste  aber 
Bleibt  uns  zu  singen: 

WIR  SINGEN 

DEN  funfjahresplan;. 

Wir  wollen  fiber  das  ein  wenig  naive  SelbstbewuBtseim 
nicht  lacheln.  Es  ist  echt,  Becher  spurt,  daB  dem  Kommunismus, 
dieser  starken,  zukunftsglaubigen,  aufsteigenden  Bewegung,  ein, 
gesundes  Selbstgefiihl  zukommt.  Er  ahnt,  daB  es  nach  so  vie- 
len  Aufrufen,  Programmen,  Diskussionen  und  Parteibefehleni 
schon  und  angemessen  ware,  etwas  Enthusiasmus  zu  zeigen, 
Er  hat  in  RuBland  einen  naturlichen  und  hochst  eindrucksvollen? 
Enthusiasmus  erlebt  Den  mochte  er  gern  riach  Deutschland 
transponieren.  Er  sehnt  sich  danach,  iir  die  kuhlern,  ordent- 
lichen  und  bedrfickten  Seelen  deutscher  revolutionarer  Arbei- 
ter  den  Funken  reiner,  dichterischer  Begeisterung  zu  werfen_ 

Ein  groties  Ziel,  ein  hohes  Wollen.  Freilich  muB  er  sich 
gef alien  lassen,  daB  auch  die  hochsten  MaBstabe  daran  gelegt 
werden. 

Man  muB  mit  diesem  Buche  genau  sein.  Es  geniigt  nicht, 
eihen  allgemeinen,  verwaschenen  Eindruck  zu  umschreibenv 
Man  mufi  diese  190  Seiten  wiederholf  lesen  und  auf  sich  wir- 
ken  lassen,  ehe  man  sich  zu  einem  endgultigen  Urteil  ent- 
schlieBt  Sie  lordern  zum  Nachdenken  und  zur  iiberlegten  Stel- 
lungnahme  heraus.  GewiB  ein  Plus  in  dieser  Zeit,  deren  Buchec- 
bei  aller  Zeitbeflissenheit  fast  stets?  unvedbindlich:  bleiben. 
560 


Das  Epos  ist  ein  Stuck  Literatur  und  will  cs  sein.  Der 
Dichtcr  beruft  sich  wiederholt  auf  die  Wirkung  des  reincu 
Wortes.  TJnd  besondcrs  die  ganze  Aufmachung,  iiber  die  spa 
ter  noch  gesprochen  werden  wird,  rechnet  sehr  bewuBt  mit  for- 
malen  Effekten.  Dcshalb  diirfen  sich  Kommunistcn  cine  Wer- 
tung  nach  literarischen  Maftstaben  diesmal  nicht  verbitten. 
Dennoch  muB  gerechterweise  von  vornherein  zugegeben  wer- 
den, daB  fiir  die  Beurteilung  das  Aesthetische  selbstverstand- 
lich  nicht  allein  ausschlaggebend  sein  darf. 

Becher  ist  immer  noch  ein  Dichter.    Ganz  bestimmt  war  er 
es,  als  er  vor  zehn  und  fiinfzehn  Jahren  unsre  ganze  Genera- 
tion durch  seine  hymnischen  Verse  aufrief  und  mitriB.     Spater 
trieb  ihn  sein  dichterisches  Temperament  in  schwere  Zweifel*, 
es  riB  ihn  zwischen  rebellischem  Elan  und  unbestimmter  Re- 
ligiositat   hin  und   her;    endlich  schien   es  mehr   und   mehr  zu: 
versiegen,   seit  er  zum  offiziellen  Sanger  einer  Partei   wurde,, 
die  eigentlich  nur  den  Gesang  der  Massen  auf  den  StraBen  er- 
laubte.     Becher   durfte   sich   als    eine   Art  Funktionar   fiihlen, 
richtig  eingebrdriet  und  durchaus  an  einem  historisch  wichtigcn 
und  richtigen  Platze.  DaB  ihm  auch  in  diesen  Jahren  gelegent- 
lich  immer  wieder  einmal  starke  und  ursprungliche  Verse  ge- 
lungen  sind,  konnen  nur  blinde  Gegner  leugnen. 
.    Nun  also  will  er  ,,das  Gewaltigste  singen". 

Das  Buch  bietet  sich  im  auBerst  wirkungsvollen  LJmschlag 
eines  Genossen  Keilson  dar,  der  von  John  Heartfield  abgeguckt 
hat.  Innen  im  Umschlag  ein  anpreisender  Waschzettel,  ganz 
wie  bei  Biichern  biirgerlicher  Herkunft  Darin  wird  das  Ganze 
als  „dialektische  Montage"  bezeicfmet.  Montage  —  gut.  Aber 
warum  dialektisch?  'Ober  den  Inhalt  heiBt  es:  MMit  einzigarti- 
ger  Darstellungskraft  leuchtet  der  Dichter  unter  die  Oberflacne 
der  Erscheinungen".    Halt.    Ist  das  so? 

Ich  habe  das  Buch  vier-,  fiinfmai  gelesen.  Ich  blattere  wie- 
der darin  und  suche.  Es  gibt  nur  ganz  wenige  Stellen,  wie 
etwa  die  besch  wing  ten  und  im  best  en  Sinne  hymnischen  Kapi- 
tel  vom  Bau  der  neuen  Stadte,  auf  die  man  die  Lobpreisung 
des  Verlages  rechtens  beziehen  mag.  Sonst  aber  gibt  Becher 
Darstellung  von  Zustanden,  nein,  weniger:  Meldungen  von  Zu* 
standen,  Vorgangen,  Fortschritten.  Nein,  weniger:  Reporta- 
ges Nein,  noch  weniger:  Oberschriften  zu  Reportagen;  Schlag- 
zeilen,  Bruchstiicke  von  Statistiken;  Aufschriften  fiir  Versamm- 
lungstransparente. 

„.  .  .leuchtet  unter  die  Oberflache  der  Erscheinungen?"  Im 
GegenteiL  Er  f ahrt  mit  hastigem  Scheinwerf er  druber  hin. 

Handelt  es  sich  also  urn  einen  summarischen,  gewxsser- 
maBen  eiligen  Naturalismus?  Auch  nicht.  Dem  widerspricht 
der  getragene  Ton,  die  Emphase,  die  Betontheit  jedes  Satzes. 
Und  die  Aufmachung. 

Immer  wieder  stoBe  ich  mich  daran.  Ich  gebe  es  zu,  mag; 
es  auch  kleinlich  erscheinen.  Diese  Teile,  Kapitel,  Schlagzei- 
len,  Nummern.  Diese  schmachtigen  Zeilchen,  oft  beinahe  ver- 
loren  auf  weiten,  weiBen  Seiten.  Kernstellen  und  Leitsatze> 
in  Versalieh  gesetzt,  erinnern  an  die  Pratentionen  eines  Stefan* 
George-Bandes. 

561 


Und  dann  ist  dcr  mit  soviel  Anspruch  und  Miihe  auf- 
gemachte  Text  in  ncun  von  zehn  Fallen  nichts  als  trockenei 
«ehr  niichterne,  bewuBt  ntichterne,  manchmal  aber  auch  pein- 
lich  armliche  Prosa. 

GewiB,  in  dem  einen  Fall,  alle  zehn  oder  zwanzig  Seiten, 
bricht  Bechers  ursprungliche  Sprachkraft  durch.  Da  gelingt 
ihm  ein  klares,  lebhaftes  Deutsch,  er  riihrt  uns  an.  Etwa  gleich 
zu  Aniang;  „Du  kannst  die  Zeit  dir  nicht  aussuchen,  in  der  du  ge- 
boren wirst,  Das  20.  Jahrhundert  hat  dich  ausgesucht,  die  Zahl 
19  . .  begleitet  deine  Jahre.  Du  bist  geboren  in  der  Zeit  der  Vol- 
Iterwanderung;  Die  Volker  wandern  von  unten  nach  obcn.  Die 
Frage  ist  an  dich  gerichtet:  ,Wie  heiBt  du?1  Wenn  du  deinen 
Namen  nennst,  wird  dir  geantwortet:  Du  bist  nicht  nach  dei- 
nem  Namen  gefragt.  Das  ist  nicht  die  Frage.  Sage,  wer  du 
bist,  wovon  lebst  du,  bekenne  dich  zu  deiner  Klasse!" 

Gedruckt  sieht  das  aber  leider  so  aus: 

Erstens 
Du  kannst  die  Zeit 
Dir  nicht   aussuchen, 
In   der  Du 
Geboren  wirst. 

Das   20.   Jahrhundert 
Hat  Dich  ausgesucht, 
Die  Zahl   19.. 
Begleitet  Deine  Jahre. 

Du  bist  geboren 
In  der  Zeit  der 
Volkerwanderung. 

Die  Volker  wandern 
Von  unten  nach  oben. 

Zweitens 
Die  Frage  ist  an  D^h 
Gerichtet . . . 

Und  so  weiter.  Spater,  in  den  Berichten  eines  deutschen 
Werkmeisters  aus  RuBland,  in  den  Beschliissen  von  Sowjet- 
behorden,  in  den  Reden  der  Gegner  und  der  Freunde,  in  Ge- 
richtsverhandlungen  und  in  den  verhaltenen  Worten  vom 
nMann  der  in  der  Reihe  geht'\  wirkt  diese  Aufmachung  noch 
viel  gequalter. 

Was  soil  das?  Liebt  das  etwa  der  Arbeiter?  Soil  er  zu 
«inem  Snobismus  erzogen  werden,  den  wir  gliicklich  uberwun- 
<len  haben?  Soil  er  eine  hohle,  falsche  Romantik,  einen  hochst 
nichtigen  Begriff  von  Literatur  vermittelt  bekommen?  Becher 
ist  heute  fur  kommunistische  Proletarier  eine  Autoritat.  Er 
hat  eine  verdammte  Verantwortung  ihnen  gegeniiber. 

Aber  das  AuBerliche  ist  es  nicht  ailein*  Schlimmer  ist, 
daB  uberall  in  dies  em  Buch  der  Einfall  weit  starker  ist  als 
die  Ausfuhrung.  Die  Gliederung  ist  sicher  geschickt  und  wirk- 
sam.  Aber  das  Organisatorische  erweist  sich  als  das  einzig 
Kraf tige.  Das  Leben  darin,  der  Gedanke,  das  GefuhL  und  oft 
beinahe  jedes  einzelne  Wort  sind  tot.     Erwiirgt.     Im  Netz  der 

562 


MaBnahmen  gefangen,    erstickt.     Will    dieses   Epos   in    seiner 
Anlage  ein  Symbol  fur  gewisse  politische  Realitaten  sein? 

Der  Vergleich  mit  den  groflen  Romanen  SowjetruBlands 
oder  auch  mit  Epen  wie  Alexander  Blocks  „Zw6lf"  oder  Ma- 
jakowskis  ,,150  Millionen"  fallt  nicht  gut  aus  fiir  Becher,  mag 
er  selber  auch  andrer  Meinung  sein  und  das  unbefangen  an- 
deuten.  Warum  gruppiert  er  den  groBten  Teil  dieses  Ge* 
dichts,  wenn  es  denn  so  heiBen  soil,  das  doch  den  sozialisti- 
schen  Aufbau  besingen  will,  um  den  RamsinprozeB,  also  urn 
eine  kleine,  wenig  reprasentable  AbwehrmaBnahme?  Hatte 
er  lieber  mehr  solche  Stiicke  geschrieben,  wie  die  schon  er- 
wahnten,  wahrhaft  dichterischen  Gesange  vom  Aufbau  der 
neuen  Stadte.  Da  liberwaltigen  ihn  Bilder,  da  lost  sich  die 
Starrheit  der  Sprache,  da  glauben  wir  ihm  die  dichten,  gliick- 
lich  gefundenen  Worte,  die  sonst  nur  tote,  aufgereihte  Worter 
sind.  Vielleicht  begeht  Becher  den  groBen  Irrtum,  Einfachheit 
und  Trockenheit  zu  verwechseln.  Der  Prolet  aber  ist  nicht 
trocken,  er  hat  seine  hochst  bunte  und  vielfaltige  Phantasie. 
Und  der  Russe  hat  sie  erst  recht.  Wieviel  mehr  bliihende 
Einfalle  stecken  in  Jeder  russischen  Zeitung,  ja,  leuchten  von 
jedem  moskauer  Plakat   als  aus  den  Zeilen  dieses  Buches. 

Statt  dessen  bietet  Becher  uns  Pathos.  Wir  sind  weit 
entfernt,  Pathos  an  sich  zu  verachten.  Wie  pathetisch  geht 
es  bei  Pilnjak  oder  Ehrenburg  manchmal  her.  Bei  Becher  aber 
wirkt  das  allzuoft  krampfhaft  und  kiinstlich  gemacht.  Seine 
Pathetik  streift  fortwahrend  die  Grenze  des  Banalen.  Und 
;grade  da,  wo  er  schlicht  und  deutlich  spricht,  besonders  in 
dem  schonen  Stuck  vom  Werden  der  Stadt  Traktorostroj,  wo 
er  jede  Verkrampfung  vergiBt,  —  da  wirkt  er  unmittelbar. 

Kommunisten  nannten  die  Hymnik  dieses  Buches  biblisch. 
"Sie  ist  aber  bestenfalls  Brecht .  nachempfunden.  Bechers  Ge- 
sinmmg  ist  echt.  Aber  solche  Literatur  am  laufenden  Bande 
ware  raschestens  fiir  jede  Gesinnung  lieferbar.  Sie  erweist 
nichts.  Und  die  pompose,  innerlich  armliche  Aufmachung 
steht  in  gar  keiner  Beziehung  zu  den  Inhalten,  auf  die  es  doch 
auch  Becher  grade  ankommt.  Schade,  —  auch  dieses  Buch 
ist  unverbindlich. 

Der  Partei  kann  man  keinen  Vorwurf  daraus  machen.  Sie 
ist  grade  gegen  ihre  Intellektuellen  letzthin  weitherziger  ge- 
Tvorden  als  lange  Jahre  zuvor.  Und  in  der  Zeit  bitterer  Ver- 
folgungen  und  Verleumdungen  hat  sie  gewiB  andres  zu  tun  als 
^ich  um  eine  offizielle  Literatur  zu  kummern.  Aber  jene  Kreise, 
die  sich  als  berufene  Kiinder  des  Kommunismus  literarisch  be- 
merkbar  machen,  haben  grade  jetzt  eine  um  so  groBere  Verant- 
wortung.  Mehr  denn  je  miiBten  sie  sich  vor  Enge,  Zwang, 
TConstruktion  htiten  und  vor  dem  Anschein,  kommandierte 
Dichtung  beflissen  zu  Iiefern.  Statt  dessen  vertun  sie  ihre 
Kraft e  in  unwirksamen  und  angstlichen  Bemuhungen  um  eine 
Orthodoxie,  deren  schlussigster  Beweis  doch  erst  in  unbefan- 
gener  Produktion  bestehen  wiirde.  Und  Kritik  von  auBen  her 
lehnen  sie,  als  nur  der  Partei  verantwortlich,  grundsatzlich  ab. 

Immer  noch  wird  die  Literatur  des  deutschen  Kommunis- 
mus von  Unteroffizieren  gemacht.  Oder  von  Fahnenjunkern, 
die  sich  bemiihen,  recht  kommissig  zu,  erscheinen. 

563 


Deflation  oder  Inflation?  von  Thomas  Tarn 

Allmahlich  schcut  man  sich,  den  Satz  niederzuschreiben,  daft 
die  Krise  sich  weiter  vertieft  hat;  denn  man  muBte  ihn 
seit  zwei  Jahren  schon  zu  oft  niederschreiben.  Aber  nun  muft 
man  doch  feststellen:  die  Krise  hat  sich  grade  in  den  letzten. 
Wochen  weiter  vertieft,  und  sic  erreicht  auch  in  den  kapitali- 
stischen  Staaten, _  in  denen  ein  Umschlag  der  okonomischen, 
Krise  in  die  politische  noch  nicht  droht,  bereits  ejne  Ausdeh- 
nungt  eine  Vertiefung,  daB  sie  sich  eigentlich  von  selbst  wei~ 
ter  ernahrt.  Sehr  deutlich  ist  der  ProzeD  in  den  Vereinigten 
Staaten  zu  beobachten.  Die  Krise  begann  dort  mit  einera 
Borsenkrach,  Aber  der  Borsenkrach  war  ja  nur  der  Ausdruck 
dafiir,  daB  sich  fur  eine  ungeheure  Oberproduktion  kein  Absatz: 
finden  lieB.  Die  Oberproduktion  hatte  zur  Folge,  daB: 
die  Preise  sanken.  Man  hoffte  jedoch,  daB  die  Krise  nur  so> 
lange  dauern  wurde  wie  die  von  1921  und  daB  bei  einer  neuen 
Konjunktur  auch  die  Preise  wieder  anziehen  wiirden.  Aber 
die  Krise  wurde  nicht  liquidiert,  die  Oberproduktion  blieb,  die 
riesenhaften  Rohstoffvorrate  lagen  da,  die  Arbeitslosigkeit 
nahm  standig  zu,  und  die  Preise  Helen  weiter,  fielen  in  den  Ver~ 
einigten  Staaten  und  international.  Die  Folge  des  Preisfalls; 
aller  Waren  ist,  daB  das  Geld  an  Wert  gewinnt.  Denn  mit 
100  Dollar  in  LLS.A.  kann  man  im  Herbst  1931  mehr  kaufen 
als  im  Herbst  1930  und  noch  mehr  als  im  Herbst  1920.  Die 
Deflation  hat  eingesetzt.  Das  ist  eine  f,normale'*  Erscheinung, 
aus  der  Geschichte  der  Krisen  wohlbekannt.  Deflation  hat 
es  in  Krisenzeiten  immer  gegeben.  Niemals  aber  gab  es  bis* 
her  edne  Krise  von  der  Dauer  und  der  Tiefe  und  niemals  da* 
her  auch  eine  Deflation  in  diesem  Umfange,  Die  Deflation 
hat  jetzt  in  U.S.A,  eine  Vertiefung  erreicht,  daB  sie  die 
Krise  weiter  verscharft,  und  zwar  vor  allem  dadurch,  daft 
sie  das  gesamte  Finanz-  und  Banksystem  zu  deroutieren  be- 
ginnt,  Der  normale  Burger,  der  sein  Geld  zur  Bank  bringt,  er- 
wartet,  daB  sie  ihm  dafiir  Zinsen  zahlt.  Viel  mehr  weiB  er 
nicht.  Wenn  er  weiter  denkt,  so  weiB  er  grade  noch,  daB  die 
Banken  mehr  zahlen,  wenn  er  ihnen  das  Geld  nur  nach  einer 
bestimmten  Frist  kundigen  kann.  Aber  woher  nehmen  die 
Banken  die  Zinsen?  Bisher  hat  es  das  Geld  noch  nicht  fer- 
tig  gebracht,  sich  von  selbst  zu  vermehren,  und  der  Silber- 
dollar  bekommt  keine  Kupferkinder.  Wenn  die  Banken  alsa 
ihren  Glaubigern  Zinsen  zahlen  sollen,.  dann  miissen  sie  wieder- 
urn  selber  ihre  Gelder  yerleihen,  ihre  Gelder  anlegen,  und  sie 
miissen  diese  zu  Satzen  anlegen,  die  hoher  sind  als  jene,  die  sie 
an  ihre  Glaubiger  zahlen,  damit  sie  ihre  Geschaftsunkosten  dek- 
ken  konnen  und  dariiber  hinaus  ihr  eignes  Kapital  verzinsen* 
Wenn  alles  „normar*  verlauft,  klappt  es  auch  bei  den  Banken; 
sie  ziehen  von  ihren  Schuldnern  die  Zinsen  ein  und  bezahlen  dam- 
mit ihre  Glaubiger.  Wenn  es  friiher  zu  Krisen  kam,  so  stieg 
im  allgemeinen  die  Macht  der  Banken.  Denn  solange  die 
Schuldner  zahlungsfahig  blieben,  gewannen  die  Banken  als 
Glaubiger,  gewannen  sie  an  der  Deflation,  an  der  Hoherbewer- 
rung  des  Geldes,  Die  Krise  ist  jedoch  heute  so  tie!  gewor- 
den,  daB  die  Banken  nicht  mehr  an  ihr  verdienen,  daB  sie  viel* 
564 


mehr  selbst  immer  mehr  von  ihr  bedroht  werden.  Die 
Ban  ken  haben  ihr  Geld  in  der  Industrie  angelegt.  Zum  Teil 
haben  sie  ihr  langfristige  Kredite  gegeben,  zum  Teil  haben 
sie,  grade  um  sich  ihre  Liquiditat  in  der  heutigen  Zeit  zu 
^rhalten,  Aktienpakete  erworben.  Aber  wie  stehen  heute 
die  Aktienkurse  zum  Beispiel  im  reichsten  kapitalistischen 
Land,  in  den  Vereinigten  Staaten?  Im  vergangenen  Jahr  hatte 
-die  Krise  dort  bereits  eine  so  groBe  Vertiefung  erreicht*  daB 
gegenuber  dem  Hochststand  von  1929  die  Aktienkurse  stark 
befallen  waren.  Seitdem  hat  sich  das  Kursniveau  wieder- 
um  auBerordentlich  tief  gesenkt.  Das  , Berliner  Tageblatt' 
bringt  eine  Statistik  iiber  die  Kursentwicklung  der  reprasen- 
tativsten  Werke  seit  Dezember  1930.  Die  Zahlen  sehen  fol- 
gendermaBen  aus: 


.  Gesellschaft 

16. 12. 

2.1. 

1.9. 

19.9. 

1.10. 

19301) 

1931 

1931 

1931 

1931 

Baltimore  &  Ohio 

55,25 

71  — 

46,12 

33,25 

35,- 

New  York  Central 

108,— 

117,37 

70,— 

59,50 

63,50 

Pennsylvania 

53,50 

58,— 

39,75 

31,75 

32,50 

Bethlehem   Steel 

49,75 

52,75 

39,87 

33,75 

28,50 

U.S.  Steel 

135,50 

141,87 

88,— 

75t25 

71,50 

Chrysler 

14,75 

17,87 

22,25 

15,62 

12,37 

General  Motors 

32,37 

37,25 

36,25 

29,12 

22,87 

General   Electric 

42,75 

45,37 

40,87 

31,25 

27,— 

Radio   Corporation 

12,37 

13,37 

20,25 

13,50 

12,50 

Anaconda   Copper 

26,12 

31,87 

24,25 

17,25 

15,— 

American   Smelting 

39,87 

42,25 

31,12 

22,25 

23,— 

American    Can 

105,50 

113,75 

93,- 

80,37 

70,75 

International   Harvester 

46,75 

50,37 

37,87 

28,75 

25,50 

Standard    Oil 

45,12 

48,87 

40,37 

33,12 

29,12 

Aliied  Chemical 

174- 

176,25 

111,50 

92,— 

79t- 

Du  Pont   de  Nemours 

81- 

89,75 

85,25 

69,50 

59,25 

Wool  worth 

52,25 

57,— 

69,75 

53,75 

47,— 

x)  Tiefster  Jahreskurs. 

Die  Entwicklung  springt  in  die  Augen.  Allein  im  Ver- 
laufe  des  September  1931  hat  sich  das  Kursniveau  um  nicht 
weniger  als  60  Prozent  gesenkt.  Wurde  also  eine  wirkliche 
Bilanz  zum  heutigen  Wert  aufgestellt,  die  amerikanischen  Ban- 
ken  waren  zum  groBten  Teil  pleite.  Denn  sie  imissen  ihren 
Glaubigern,  die  ihnen  Dollars  geborgt  haben,  wiederum  Dol- 
lars zuriickzahlen.  Sie  haben  sich  aber  Papiere  gekauft,  deren 
Wert  riesenhaft  gesunken  ist,  sie  haben  sich  an  Unternehmun- 
gen  beteiligt,  deren  Wert  gleichfalls  riesenhaft  gesunken 
ist,  und  sie  konnen  diesen  nicht  einmal  die  Kredite  a  tempo 
kiindigen,  selbst  wenn  sie  es  wollten.  Wenn  die  amerikani- 
schen Banken  heute  eine  genaue  Bilanz  aufmachten,  dann 
waren  diev.Verluste  bei  einem  groBen  Teil  weit  hoher  als  das 
eigne  Aktienkapital.  Es  ist  heute  schon  nicht  mehr  so,  daB 
nur  kleine  Provinzbanken  bankrott  gehen,  heute  sind  bereits 
groBe  Bankinstitute  bedroht.  Und  es  ist  nur  ein  Zeichen 
fur  die  Schwere  der  Situation,  wenn  das  .Berliner 
Tageblatt'  unter  dem  Tit-el:.  „Gegenseitige  Hilfe  bei 
dea  amerikanischen  Banken"  berichtet:  „Die  Mitglieder 
der  Clearinghouse-Association  in  New  York,  in  der  die  mei- 
steri  groBern  Banken  vertreten  sind,  haben  einander  Stiitzung 

565 


zugesichert,  wic  sic  schon  einige  Male  ohiie  Kenntnis  der 
Offentlichkeit  erfolgte.  Die  Sparbanken  in  Philadelphia  er- 
klarten  angesichts  der  Massenabhebungen  und  SchlieOungea 
von  kleinern  Sparbanken,  daB  sie  von  dem  Recht  Gebrauch 
machen  wollen,  Abhebungen  nur  in  Monatsfrist  etcetera  zuzu- 
lassen."  Die-Jfoision  der  Bank  of  America  New  York  mit  der 
National  City  Bank  ist  auch  nicht  ganz  freiwillig  erfolgtT   ^ 

Die  Verluste  der  amerikanischen  Banken,  die  sie  bei  der 
Industrie  erlitten  habent  sind  an  andrer  Stelle  nicht  aus- 
geglichen  worsen,  im  Gegenteil  sie  wurden  noch  verstarkt.  Denn 
die  Preise  auf  den  internationalen  Rohstoffmarkten  sind  ganz 
katastrophal  gesunken,  und  grade  der  Handel  in  diesen  Wa- 
ren  ist  von  den  Banken  in  groBem  Umfange  kreditiert  worden* 


Nun  ist  selbstverstandlich,  dafl  diese  schwere  Erschutte- 
rung  des  gesamten  Bank-  und  Finanzwesens  sehr  ernsthafte 
Riickwirkungen  auf  die  Produktion  haben  mufi,  Denn  grade 
wegen  ihrer  riesenhaf ten  Verluste  miissen  die  Banken  bestrebt 
sein,  mit  dem  Rest  ihrer  Gelder  moglichst  liquide  zu  bleiben. 
Den  faulen  Schuldnern  die  Kredite  zu  kiindigen,  hat  wenig 
Sinn,  denn  von  diesen  bekommt  man  sowieso  nichts  heraus. 
Mit  Erfolg  kann  man  die  Gelder  also  nur  den  guten  Schuld- 
nern kiindigen,  und  so  wirkt  sich  die  Finanzkrise  in  starken 
Kreditkiindigungen  aus,  die  natiirlich  das  Massensterben  in 
-der  Industrie  verstarken  und  so  die  Krise  weiter  vertiefen. 


Die  Zusammenhange  zwischen  Produktionsriickgang,  De- 
flation, Finanz-  und  Bankenkrise  geiten  natiirlich  nicht  nur 
fur  die  Vereinigten  Staaten,  sie  geiten  international,  beson- 
ders  stark  aber  fur  Deutschland,  Wie  schwer  das  deutsche 
Bankenwesen  betroffen  ist,  haben  ja  die  Vorgange  bei  der 
Danat-Bank  und  bei  der  Dresdner  Bank  deutlich  demonstriert; 
grade  bei  den  deutschen  Banken  ist  der  Prozentsatz  der 
fremden  Gelder  im  Vergleich  zum  eignen  Aktienkapital  an  sich 
sehr  grofl,  grade  bei  den  deutschen  Banken  konnen  daher 
grofiere  Verluste  bald  einen  sehr  erheblichen  Prozentsatz  des 
Aktienkapitals  ausmachen.  Die  Stiitzungsaktion,  mit  der  man 
sich  heute  in  den  Vereinigten  Staaten  beschaftigt,  ist  in 
Deutschland  langst  durchgefuhrt,  ist  durchgefiihrt  im  Verhaltnis 
der  Regierung  zu  den  GroBbanken,  ebenf alls  aber  im  Verhalt- 
nis  der  Banken  zur  Schwerindustrie,  Wir  erleben  in  Deutsch- 
land seit  1929  ra  einem  kontinuierlichen  ProzeB  eine  standige 
Verringerung  der  industriellen  Produktion  und  damit  eine 
standige  Verringerung  des  Handelsumsatzes.  Aber  der  Wech- 
selumlauf  ist  heute  ungefahr  so  hoch  wie  damals.  Das  heifit 
der  Wechselumlauf  hat  sich  nicht  proportional  mit  der  Verrin- 
gerung der  Handelsumsatze  verringert,  sondern  er  ist  ein  Mat- 
tel geworden,  urn  schwache  Betriebe  zu  erhalten.  Damit  sind 
gewisse  inflationistische  Momente  in  die  deutsche  Wirtschaft  ge- 
tragen  worden,  inflationistische  Momente,  von  denen  der  Mann 
auf  der  StraBe  darum  noch  nicht  viel  bemerkt,  weil  sie  zur- 
zeit  noch  durch  entgegengesetzte  Faktoren  kompensiert,  iiber- 

566 


kompensiert  wurden.  Die  Deflation  hat  zur  Folge,  daB  die 
Preise  fallen.  Sie  fallen  in  der  garizen  Welt;  sie  fallen  aber 
nicht  liberall  gleichmaBig.  Sie  fallen  in  Deutschland  im  ge~ 
bremsten  Tempo,  weil  durch  den  im  Vergleich  zur  Prodtik- 
tion  liberhohten  Wechselumlauf  inflationistische  Ziige  in  die 
deutsche  Wirtschaft  getragen  wurden  und  daher  der  Preisfall 
durch  die  Deflation  sich  langsamer  gestaltete, 

Wenn  wir  die  Sachlage  mit  einem  Satz  umschreiben  wol- 
len,  so  haben  wir  zurzeit  eine  durch  iiberhohte  Kredite  ver- 
langsamte  Deflation.  Es  braucht  nicht  naher  ausgefiihrt  zit 
werden,  daB  dies  nur  ein  Durchgangsstadium  sein  kann.  Man 
wird  sich  bald  entscheiden  tmussen,  ob  man  wirklich  ab- 
schreibt,  oder  nicht.  Bleibt  die  Deflation  ungehemmt,  dann 
werden  zahlreiche  Kapitalisten   daran   glauben   muss  en. 

Bisher  hatte  die  Sozialdemokratie  zwischen  zwei  Obeln 
zu  wahlen,  Sie  glaubte,  mit  der  Tolerierung  der  Regierung 
Briming  das  kleinere  zu  wahlen,  es  ergab  sich  aber  das  grfiBere, 
Jede  deutsche  Regierung  stent  in  den  nachsten  Wochen  eben- 
falls  zwischen  zwei  Obeln:  Deflation  oder  ... 


Beit  FrietlStick   von  Theobald  Tiger 

IV^enn  ick  in  meine  Stulln  beifle, 
**    denn  kuck  ick  in  de  Sseitung  rin. 
Die  liejn  namlich  inne  Sseitung, 
da  wickelt  se  mir  Mutta  in. 

Ick  streiche  det  Papier  scheen  jlatt 

und,  seh,  wats  so  jejehm  hat. 

Ick  lese  von  drei  Zwillingsschwestern . 
und  vonne  Feiersbrunst  in  Wald . . . 
Mai  is  die  Sseitung  noch  von  jestern, 
mal  isse  ftfchzehn  Tahre  alt. 

Wat  mir  det  Friehstick  nich  vamiest. 

Et  is  ja  bloB,  det  man  wat  liest. 

Da  ha  ick  nu  so  rausjefunden: 
Erscht  kommt  die  Sseitung  in  Vakehr, 
un  schon  nach  vierunzwanssich  Stunden, 
da  stimmt  det  aliens  jahnich  mehrf 

Denn  sind  se  reine  wie  blamiert. 

Ick  ha  dadrieba  simmeliert ... 

Ick  sach  ma  so: 

Wat  die  so  sahrn 
un  wat  die  aliens  proffezein, 
det  stimmt  schon  nich  mehr  nach  acht  Tahrn  — 
det  kann  nie  wahr  jewesn  sein! 

Nu  ham  die  Brieda  machtjet  Jlick: 
et  blattert  ja  keen  Mensch  zerrickf 
Man  schmeifit  et  wech.    Und  kooft  sich  brav  un 

bieda 
n  neuet  Blatt  un  jloobt  et  imma  wieda. 

Un  willste  wissen  wat  det  is  jewesen, 
denn  muBte  alte  Sseitungsnumman  lesen. 
Un  siehste  denn,  wie  die  vakehrt  sind  — : 
denn  weeBte,  wat  die  neien  wert  sind, 

567 


Bemerkungen 

Schtachtfeld  und  LohntOte 

VV/cr  untcr  uns  wiinschte  nicht 
"  die  aufrichtigste  Verstandi- 
gung  mit  den  Bewohnern  Frank - 
reichs?  Wer  ersehnte  nicht  die 
Aufhebung  jener  tausendjahrigen 
Grenze  zwischen  zwei  Landern, 
<lie  in  jedem  Jahrhundert  soviel 
Blut  ihrer  besten  Bewohner  da- 
hinstromen  sehen  mufiten!  Wie 
Viele  erinnern  sich  nicht  noch 
heute  mit  tiefster  Erschiitterung, 
wie  im  imperialistischen  Krieg 
in  den  besetzten  Departements 
Frankreichs  die  ungliicklichen, 
entrechteten,  vollig  wehrlosen 
Bewohner  freiwillig  freundlich  zu 
den  deutschen  Soldaten  waren, 
oft  ihr  letztes  Stftckchen  Brot 
mit  ihnen  teilten  und  so  eine 
Brticke  mitten  in  einer  grauen- 
vollen,  von  Hafi  erfiillten  Welt 
schlugen.  Es  war  der  Ausdruck 
einer  Solidaritat  im  Ungliick,  das 
gemeinsam  ertragen  werden 
mufite ;  und  Mancher  hat  sich 
grade  seit  jenen  Tagen  fur  immer 
die  Hoffnung  erhalten,  daB  der 
Gedanke  der  Solidaritat  aller 
Unterdriickten  niemals  auszutil- 
gen   sein   wird. 

Wenn  die  offiziellen  Vertreter 
-der  herrschenden  Klasse  beider 
Lander  in  der  letzten  Zeit  Hande- 
driicke,  Telegramme  wechselten, 
dachte  man  oft  an  jene  Begeg- 
nungen  im  imperialistischen 
Kriege ;  man  wufite,  dafi  der 
Bund  zwischen  den  Ausgebeute- 
ten  beider  Lander  langst  ge- 
rschlossen  war. 

Aber  es  wirkte  wie  unfreiwil- 
liger  Zynismus,  wenn  schwache 
Kopfe,  die  keine  Vorstellung  von 
den  realen  Verhaltnissen  haben, 
immer  von  Verstandigung  redent 
weil  sich  Herr  Briining  und  Herr 
Laval  zu  geschaftlichen  Be- 
sprechungen  zusammensetzen.  Es 
ist  auch  plotzlich  wieder  sehr 
still  um  diesen  Geschaftsakkord 
geworden,  nicht  weil  man  jene 
Verhandlungen  abgebrochen  hatte 
oder  weil  sie  eingeschlafen  wa- 
ren, sondern  weil  der  franzo- 
sische  Partner  mit  schwer  ver- 
borgener  Unruhe  die  deutsche 
Krise    verfolgt.      In     den    letzten 

568 


Tagen  war  die  Lektiire  der  biir- 
gerlichen  franzosischen  Presse 
besonders  interessant.  Vielleicht 
hat  man  auch  von  den  Veranstal- 
tungen  in  Paris  und  Berlin  gele- 
sen,  die  von  einer  Reihe  demo- 
kratischer  Geschaftsleute  ausgin- 
gen.  Hier  wurden  Reden  auf  die 
deutsch-franzosische  Geschafts- 
verbindung  gehalten,  und  natur- 
lich  mufite  Heinrich  Mann  diese 
Veranstaltung  mit  feucht  gewor- 
denem  Salz  wiirzen,  Es  gab  eine 
etwas  breiige  Speise,  die  nicht 
grade  den  Appetit  anregt.  Man 
kann  auch  sagen,  daB  es  eine 
schlechte  Musik  sein  mufi,  die 
sich  bemuht,  die  Grundmotive 
Eisen,  Kohle  und  Kali  durch 
schrille,  unnaturlich  klingende 
Flotentone  zu  iibertonen.  Man 
sollte  sich  doch  nicht  einbilden, 
dafi  man  der  Hauptakteur  in  die- 
sem  Schauspiel  ware.  Auch  die 
Trusts  des  Monopolkapitalismus 
halten  sich  ihre   Narren. 

Studiert  man  die  Leitartikel 
des  .Journal',  so  liest  man  bit- 
tere  Wahrheiten.  Da  enthiillt  sich 
in  knappen  Satzen  das  Grund- 
wesen  des  deutsch-franzosischen 
Akkordes.  Hier  war  zu  lesen, 
dafi  der  franzosische  Imperialis- 
mus  sehr  interessiert  an  der 
Briiningregierung  ist,  die  ihr  al- 
lein  den  Fortgang  der  Verhand- 
lungen garantiert.  Nicht  einmal 
in  einer  deutschen  regierungs- 
freundlichen  Zeitung  werden  in 
so  dustern  Farben  die  Folgen 
eines  Sturzes  der  Briiningregie- 
rung gemalt.  Ausdriicklich  wird 
erklart,  dafi  nach  Briining  die 
Anarchie  komme,  und  es  sei  not- 
wendig,  dafi  sich  die  Sozialdemo- 
kraten  dazu  verstanden,  die  Re- 
gierung  zu  stiitzen,  Man  brauchte 
ihnen  wohl  kaum  von  Paris  her 
diese  Aufforderung  zu  schicken. 
Aber  ebenso  deutlich  wird  auch 
erklart,  dafi  im  Interesse  der 
deutsch-franzosischen  Beziehun- 
gen  ein  Akkord  zwischen  Arbeit- 
geberri  und  Arbeitnehmern  not- 
wendig  ware,  und  der  durch  den 
Pfundsturz  gefahrdete  deutsche 
Export  durch  eine  allgemeine 
Unkostensenkung,  vor  allem   aber 


durch  einen  radikalen  Lohnabbau, 
saniert  werden  mtifite. 

Vielleicht  gibt  diese  Erkenntnis 
auch  manchen  Nationalisten  zu 
denken,  die  in  jedem  Falle  den 
Kiirzeren  Ziehen  und  sich  doch 
nicht  einbilden  sollten,  es  ware 
ihr  freier  Wille,  in  die  Schlacht 
zu  gehen.  Ob  sie  mit  ihremBlut 
zahlen  oder  mit  Lohnabziigen  — 
die  Dummen  sind  sie  in  jedem 
Falle,  Sie  sollten  sich  endlich  klar- 
machen,  dafi  sie  ihre  Front  an 
einer  andern  Stelle  suchen  soll- 
ten. Lohntute  oder  Schlacht f eld 
—  das  sind  nur  zwei  Begriffe  fur 
eine  Sache  —  aber  ganz  gewifi 
nur  eine  Sache,  die  sehr  Wenige 
angeht, 

Kurt   Kersten 

Premiere  in  Moabit 

C  in  politisches  Vorspiel  und 
*-J  eine  burgerliche  Tragddie. 
Oder:  ein  Glas  Bier  und  die  Fol- 
gen.  Der  grofie  Schwurgerichts- 
saal,  oft  kopiert  und  nie  erreicht, 
wirkt  in  Moabit  nuchterner  als 
auf  dem  Theater.  Ein  Strahl  Sonne 
ist  der  einzige  Beleuchtungseffekt. 
Die  Regisseure  konnen  etwas  ler- 
nen. 

Auch  vom  Text.  Wir  erleben 
Dialoge  ohne  Matzchen.  Der  Vor- 
sitzende  spricht  wie  ein  Vorsit- 
zender.  Der  Staatsanwalt  ist  ganz 
unpathetisch.  Sogar  die  Gerichts- 
diener  sind  echt.  Dann  und  wann 
geht  jemand  von  rechts  nach 
links.  Wenn  er  mufi.  Nicht  als 
Regieeinfall. 

Auf  der  Bank  sitzen  zwei  Man- 
ner in  Zivil,  Ein  Polizeiober- 
wachtmeister  und  ein  Wachtmei- 
ster,     Angeklagt  wegen  Meineids. 


Es  soil  vorkommen,  dafi  Poli- 
zisten  falsch  schiefien;  dafi  sie 
auch  falsch  schworen,  ist  seltener. 
Sie  sitzen  da  in  ihren  burgerlichen 
Anzugen,  der  eine  hat  einen  grii- 
nen  Lodenmantel  an.  Unwillkiir- 
lich  denkt  man:  wenn  alle  Beam- 
ten  Zivil  triigen,  wenn  es  sich  her- 
umsprache,  dafi  Polizisten  auch 
Menschen  sind  , . .  Nein.  Nicht 
auszudenken.   Ordnung  mufi   sein. 

Wir  befinden  uns  an  einem 
Juliabend  in  Weifiensee.  Nachts 
urn  Zwolf.  Die  Beamten  sind  auf 
einer  Streife.  Es  ist  nichts  los 
und  sie  haben  keine  Zigaretten. 
Also  gehen  sie  in  eine  Kneipe. 
Eine  Vorschrift,  deren  Sinn  dun- 
kel  ist,  verbietet  den  Schankwir- 
ten,  nach  sieben  Uhr  abends  Ta- 
bak  ohne  Getranke  abzugeben. 
Die  Polizisten  bestellen  ein  Glas 
Bier.  Das  wiederum  verbietet  den 
Polizisten  die  Vorschrift.  Incipit 
tragoedia. 

Auf  der  Strafie  gibt  es  plotz- 
lich  KrawalL  Kommunisten  contra 
Nazis.  Ein  Schufi  fallt.  Die  Be- 
amten stiirzen  aus  der  Kneipe. 
Tumult,  Verhaftungen.  ProzeB 
wegen  Landfriedensbruch.  V7er 
hat   geschossen? 

Die  Polizisten  sagen  sich:  wenn 
das  mit  der  Kneipe  herauskommt, 
•fliegen  wir.  Wenn  wir  aber  be- 
haupten,  wir  haben  gesehn,  wie 
geschossen  wurde,  kann  uns 
nichts  passieren.  Also  sind  es 
die  Kommunisten  gewesen. 

Das  Gericht  bemiiht  sich,  am 
Tatort  mit  Scheinwerfern  und 
Sachverstandigen  die  Richtigkeit 
dieser  Aussage  nachzuprufen.  Den 
Angeschuldigten  droht  Zuchthaus. 
Die  Beamten  schworen  Stein  und 
Bein.     Aber  sie  haben  die  Rech- 


Me  toauti*  Front 


ber  'Ranker  fjaf  cine  Senfafion  bes 
(Betiufjes:  bte  neue  2(bbulla-(Eigarctte 


2ibbuUa  &  <£o. 


dairo 


Con&on 


eq>fg. 
o&ne  IRunbfHlct 

•'    Berlin 

569 


nung  ohne  den  Wirt  gemacht 
Der  erscheint  als  Zeuge,  Dcm 
Staatsanwalt  kommt  die  Sache 
verdachtig  vor,  und  er  telepho- 
niert  mit  dem  Reviervorsteher. 
Das  ist '  der  Vorgesetzte  der  bei- 
den  und  trotzdem  ein  anstandiger 
Mensch.  Er  redet  ihnen  ins  Ge- 
wissen,     Gestandnis.    Widerruf. 

Jetzt  sitzen  sie  in  demselben 
Saal,  und  die  Rotten  sind  ver- 
tauscht.  Sonderbare  Ironie:  wenn 
der  Staatsanwalt  nicht  eingegrif- 
fen  hatte,  waren  damals  Unschul- 
dige  verurteilt  worden.  Das  Tele- 
phongesprach  rettete  die  Beamten 
vor  dem  Zuchthaus,  weil  durcb 
den  rechtzeitigen  Widerruf  ein 
Ungltick  verhtttet  wurde. 

Der  grofie  Menschenfreund 
Sling  hat  sein  Leben  lang  gegen 
die  Gefahr  des  Eides  gekampft, 
Er  ahnte  nicht!  dafi  ihm  die  Po- 
lizei  eines  Tages  den  Wahrheits- 
beweis  liefern  wtirde.  Als  die  An- 
geklagten  zu  einem  Jahr  Gefang- 
nis  verurteilt  wurden,  weinten 
sie.  Ob  sie  auch  geweint  haben, 
wenn  andre  Menschen,  die  sie 
verhafteten,  verurteilt  wurden? 
Der  letzte  Akt  des  Dramas 
schlieBt  mit  einem  Fragezeichen. 
Das  Publikum  verlieB  schweigend 
den  Saal. 

Walter  Hasenclever 

Bruno  Weils  Boulanger-Buch 

Ich  erinnere  mich  —  als  ich,  sebr 
*  jung  noch,  zum  erstenmal  nach 
Paris  kamt  da  schwebten  die 
Schatten  der  „Boulange",  sicht- 
bar,  jedocb  schon  entmateriali- 
siert,  iiber  den  Dachern,  und  der 
Gassenhauer  des  beliebten  Volks- 
sangers  Paulus,  „en  revenant  de 
la  revue .  .  .",  vor  kurzem  noch 
die  Marseillaise  des  Boulangis- 
mus,  klang  in  der  Atmosphare 
der  Stadt  mit  unverminderter 
Frische.  Die  Popularitat  dieses 
Liedes  fiigte  zu  dem  franzosischen 
Sprichwort,  dafi  in  Frankreich 
alles  mit  einem  Chanson  ende, 
noch  eine  SchluBpointe:  denn 
siehe  da,  es  hatte  den  General 
Boulanger  und  seine  Idee  iiber- 
lebt,  obzwar  es  im  Vergleich  zu 
den  Gesangen  B6rangers  ein  elen- 
des    Machwerk     genannt    werden 

570 


darf.     Die    groBe    Severine,    jetzt 
kann  man  das  staunend  in  ihrer 
Biographie    nachlesen,     die    mein 
Freund    Bernard    Lecache,    Gatte 
ihrer    Enkelin,     vor    kurzem    bei 
Grasset  publiziert  hat,    die  grofie 
revolutionare  Sozialistin  und  Pa- 
zifistin    Severine    hat    einst    eine 
absonderliche    Eskapade     in     den 
Boulangismus    vollftihrt,    —    man 
raufi    diese   Verirrung    wohl    mit 
dem     offenkundigen     Sex-appeal 
des   blondspitzbartigen,    eleganten 
und     manikurten    Brav*     General 
auf  seinem  Rappen  Tunis   erkla- 
ren     oder     rechtfertigen    —    die 
prachtvolle  Severine  hat  eine  Art 
Grabschrift  auf  ihr  vorubergehen- 
des    Idol  verfertigt:   es   lautet  — 
Begonnen    wie    Casar    —    Gelebt 
wie    Catilina    —    Gestorben    wie 
Romeo.    Doktor  Weil  setzt  es  als 
Motto    seinem    Buche     iiber    die 
pittoreske     Figur     des     Beinahe- 
Kaisers    von    Frankreich    voran, 
dieses      Kleinbtirgersohnes,      der, 
ohne     die     siegreichen    Stationen 
jener  andern  Karriere  des  eben- 
falls  B.  zu  durchlaufen,  so  gut  wie 
dieser  sein  Elba  und  Waterloo  er- 
lebt  hat    Severines  Resume  wirft 
auf  dieses  erstaunliche  Schicksal, 
das  fast  das  Schicksal  der  dritten 
Republik     geworden     ware,      ein 
gutes   Schlaglicht,    Weil   hat  sich 
vorgenommen,     die      grofie      und 
grofiartige  Chronique  Scandaleuse 
der  dritten  Republik  zu  schreiben, 
und  er  hat  dieses  Buch,  das  bei 
Doktor  Walther  Rothschild  in  Ber- 
lin-Grunewald  erschienen  ist,  seiner 
Darstellung    des    Dreyfus -Prozes- 
ses   folgen   lassen,    Wahrend  die- 
ser Fall  hauptsachlich  den  Juden 
und      den    Antimilitaristen    Weil 
interessiert  hat,  wandte  dem  Bou- 
langerbuch       der       Republikaner 
Weil  sein  Inter  esse  zu;  der  letzte 
angekundigte    Band     dieser    selt- 
samen    Trilogie    aber,    der    Band 
iiber    den    Panamaskandal,     wird 
den  Juristen  Weil  zum  Verfasser 
haben.       Das     vorliegende     Buch 
zeigt    bemerkenswerten    Sinn    fur 
Parallelitaten    in    der  Geschichte, 
und  ohne  dafi  auf  diese  Parallelen 
allzu    eifrig    hingedeutet    wtirde, 
weiB   der   Leser   doch  genau   Be- 
scheid,    Ich  las  das  Buch  mit  be- 
sonderm  Vergniigen,  weil  mir  bei 
der  Lektiire  alte  zartlich  gehegte 


Erinnerungen  emporstiegen,  unter 
anderm         jene         bezaubernden 
Abende  bei  einer  aus  dem  ElsaB 
stammenden,    von    einem    hollan- 
dischen      Graf  en      ausgehaltenen, 
scharmanten    und  geistvollen  Frau, 
die  in  dem  historischen  Apparte- 
ment    der    Geliebten    Boulangers, 
der    schonen    Grafin    Bonnemains 
in  der  Rue  de  Berri  hauste,  dem 
beruhmten  Liebesnest,  in  dem  der 
Brav'  General  seine  Ekstasen  und 
Niederlagen  erlebte  —  er  hat  sich 
ja  spater,    wie    bekannt,    als    er- 
ledigter  und  bis  fast  aufs  Skelett 
kompromittierter    Mann    an    dem 
briisseler    Grabe    der  Grafin    er- 
schossen.    Zuweilen  kamen  in  die 
historischen     Salons,      in     denen 
hauptsachlich  Dichter  und   Maler 
aus  dem  Kreise  des  Sar  Peladan 
verkehrten,  aber  auch  Grbfien  des 
pariser   Theaters    und    der    Jour- 
nalistik,  verspatete  Pilger,  fromme 
Uberreste  des  Boulangismus  —  in 
einer     Ecke     safi     dann     Caran 
d'Ache,  der  Zeichner  des  .Figaro', 
und     zeichnete      diese     Gestalten 
heimlich    in    sein  Notizbuch,     In 
Weils   Buch    finde    ich    also    die 
Atmosphare    jener    erregten  Tage 
der   dritten  Republik  wieder,   die 
wohl     von    Revanchelarm     erfullt 
waren,  was  aber  nicht  verhinderte, 
dafi    der    Rhythmus    des    pariser 
Lebens   seine   noch    immer   bffen- 
bachsche  Anmut  beibehielt.    Sieg- 
reich   uberwand    die   ewige   Stadt 
—    die   schon   andre  Stiirme   ge- 
sehen  hatte  —    die    kleine  Alte- 
ration,    und     die    Republik     be- 
festigte  sich  sogar,  trotz  den  Mil- 
lionen  der  Herzogin  von  Uzes,  die 
sie   vergeblich   in   den  Boulangis- 
mus gesteckt  hatte.    Jedenfalls  — 
dieser  elegante  Heros   der  Fran- 
zosen   war   keine   abstofiende   Fi- 
gur.     Sein  Magnetismus    stammte 


nicht    aus    jenem    augenscheinlich 
stark   radioaktiven   Schlamm,   aus 
dem  wir  heutigen  Tages  staunend 
so    manche    diktatorische   Grofie 
emporsteigen  sehn.     Er    war    ein 
wirklicher    „Held"f   das   heiBt,   er 
war  in   den    franzosischen   Kolo- 
nien  wiederholt    schwer    verwun- 
det  worden,    ein  gar  nicht    iibler 
Redner    —    obzwar    sein    erstes 
Auftreten    in     der   Kammer    mit 
einem  Fiasko  endete  —  und  die 
sentimentale  Seite  seiner  Lebens- 
schicksale  entbehrten  der  Klebrig- 
keit  wie  der  SpieBigkeit,  die  bei 
Gestalten,    die   sich   in   ahnlicher 
Richtung  vorwarts  oder  im  Zick- 
zack    bewegen,    als  unangenehxne 
Attribute  in  die  Erscheinung  tre- 
ten.     G^n^ral    Revanche,    General 
TEsp^rance  stieg  und  fiel  mit  der 
Uberreizung     des      Nationalismus 
seines  Landes;    sein  Fall  begrub, 
wie  es  sich  erwiesen  hat,  keines- 
wegs  die  Revancheidee  unter  sich, 
aber  seine  Partisanen  waren  auch 
keineswegs  Desperados,  um  mich 
schonungsvoll  auszudrticken,  son- 
dern     geistreiche    Manner,     kluge 
und  witzige  Politiker,  ausgezeich- 
nete  Publizisten  und  hingebungs- 
vollste    Schwarmer,    namlich    der 
Graf   Dillon,   Naquet,   Chincholle, 
dann,    wie    gesagt,    S^verine    und 
Pierre  Denis.    Wenn  er  auch  vor 
Prozessen  Reifiaus  nahm,  die  auf 
seinem     Generalsgewand     etliche 
schwer    abwaschbare    Kotspritzer 
hinterliefien,     so    ereigneten     sich 
doch    zum    VerdruB    aller    guten 
Republikaner     um     dieselbe    Zeit 
weitaus  argere  Skandale,  wie  jener 
beruhmte    des    Ordensschacherers 
Wilson,  Schwiegersohnes  des  Pra- 
sidenten  der  Republik  Gr6vy.  Sa- 
lomon   Reinachj    der    Geschichts- 
schreiber    jener    Epoche    schrieb, 
und  Weil  zitiert   diese  AuBerung 


DAS  PRIVATLEBEN 

DER  SCHGNEN  HELENA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Helena  vertritt  die  Frau  von  Troja  bis  heute,  hinreiBend   und  gefShrlich  In  SchSn- 
heit,  Intuition  und  Dberzeugungskraft.  Der  Lebensphllosoph  Erskine 
gibt  in  dem  he  iter  en  Rahmen  dieses  Buches  seine  Anslcht  Uber 


gii  .  

Liebe  und  Ehe,  Konvention  und  Sitte  wieder. 

TRANSMARE  VERLAG  A.-G.v  BERLIN  W  10 


Lelnen 

3.75RM 


571 


Reinachs,  zur  Erklarung:  was 
denn  eigentlich  der  Boulangismus 
bedeutet:  die  Idee  des  Boulangis- 
mus  (besser  gesagt,  die  Vorbe- 
reitetheit  auf  jede  Diktatur!)  ent- 
springe  dem  Geist  der  Unzufrie- 
denheit  mit  alien  Parteien,  sie 
zeige  sich  in  der  Stimmung  aller 
Miidegewordenen,  Entmutigten, 
aller  Dummkopfe  auch,  die  die 
Republik  verantwortlich  machten 
fur  jede  schlechte  Ernte,  der 
Hohlkopfe,  die  die  Liebe  zum 
Federbusch  (oder  farbigen  Hem- 
den)  in  sich  groBgezogen  haben, 
der  Kranken,  die  ohne  rechten 
Grund,  weil  sie  auf  der  linken 
Seite  eine  Weile  unbequem  lagen, 
sich  nun  auf  die  rechte  walzen 
wollen  —  es  ist  der  Geist  der 
simplen  Kopfe,  .die  da  glauben, 
ein  Unteroffizier  werde  in  fiinf 
Minuten  die  Versprechen  realisie- 
ren,  die  achthundert  Senatoren 
und  Deputierte  in  sovielen  Jahren 
nicht  durchfiihren  konnten.  Dem 
ist  nichts  hinzuzuftigen.  Es  steht 
indes  nirgends  geschrieben,  dafi 
vor  Angst  vor  dem  Boulangismus, 
oder  aber  auch,  um  ihm  Vorschub 
zu  leisten,  die  Bewohner  Frank - 
reichs  mit  Umgehung  der  Verfas- 
sung  durch  drakonische  MaB- 
regeln  bedrangt  und  kopfscheu 
gemacht  worden  waren,  Der  Zau- 
ber  des  pariser  Daseins  verleug- 
nete  sich  nicht  in  jenen  Tagen  der 
Irritation,  und  wenn  ich  das  Buch 
Weils  aus  der  Hand  lege,  iiber- 
kommt  mich  wieder  das  Ent- 
ziicken  im  Gedenken  jener  Stadt, 
die  leuchtend  geblieben  ist,  heute 
leuchtender  denn  je  —  man  sehe 
bloB  an,  wie  Paris  jetzt  bei  Nacht 
aussieht:  Scheinwerfer  zaubern 
tausendundeine  Nacht  auf  j  enen 
Platz,  wo  einst  eine  tuchtige, 
fleiBige  Guillotine  stand  und  der 
deshalb:  Platz  der  Eintracht  ge- 
nannt  zu  werden  verdient, 

Arthur  Holitscher 


Zwei  Filme 

LJermann  Kosterlitz  und  der 
*  *  Theaterregisseur  Erich  Engel 
watscheln  angeseilt  hinter  Charlie 
Chaplin  her,  und  der  ist  ein  gu- 
ter  Fiihrer  auf  die  Berge  der 
Filmkunst.  Bis  zum  Gipfel  sind 
sie  mit  ihrem  Film  „Wer  nimmt 
die  Liebe  ernst .  . ,"  (Terra)  nicht 
gelangt,  aber  ihre  Arbeit  ist  gut, 
Es  ist  schwer,  so  leicht  zu  sein, 
so  ohne  Verschrobenheit  an- 
spruchsvoll,  so  ohne  Geschmack- 
losigkeiten  derb  und  volkstum- 
lich,  Dieser  Film  ist  nicht  tief 
wie  Chaplin,  aber  seine  lustige 
Oberflachlichkeit  hat  auch  nicht 
das  Peinliche  jener  „K6m6dien", 
in  denen  der  Pleitegeier  als  loser 
Vogel  auftritt.  Es  herrscht  ein 
Andrang  bezwingender  Possen- 
einfalle,  wenn  unter  ihnen  auch 
viele  alte  Bekannte  aus  Amerika 
sind:  der  Schutzmann  als  verstei- 
nerte  Rachefurie  hinter  dem 
Missetater  auf  gepf  lanzt ;  die 
plotzlich  abflauende  Freundschaft 
des  dicken  Reichen;  die  Krimi- 
naljagd  durch  den  Luriapark.  Jat 
fast  hatte  sogar  der  dicke  Wall- 
burg  zum  Geld  auch  noch  die  Braut 
bekommen  und  der  kleine  Mann 
mit  dem  Melonenhut  ware  ent- 
sagend  ohne  Dame  ins  Bett  ge- 
gangen  —  wie  ein  Versehen  des 
Inspizienten  erscheint  es,  dafi  zu- 
guterletzt  dennoch  unter  der  Bett- 
decke  etwas  quietscht.  Leider  ist 
der  Film  im  Stil  uneinheitlich. 
Eine  Groteske  im  StraBenanzug. 
Das  Stilisierte,  oft  fast  Tanze- 
rische  der  Chaplinschen  Panto- 
mimik  paBt  nicht  zur  Wochen- 
schauprosa  dieser  Masken,  dieser 
Dekorationen,  dieser  Sprache 
noch  gar  zu  schmachtenden  Lie- 
besliedern.  Und  Max  Hansens 
Gesicht,  dies  verschmitzte  BlaB- 
gesichtchen  eines  zu  friih  aufge- 
klarten  Gymnasiasten,  verdient 
den  koniglichen  Kopfschmuck  des 


Alle  Angst  verschwindet 

fur  jeden,  der  einmal  fest  verwurzelt  ist  in  dem  sicheren  Boden,  den  ihm 

die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

zugiinglich  werden  lassen !  Yerlangen  Sie  die  kostenlose  Einfiihrungsschrift 
von  Dr.  jar.  Alfred  Kober-Staehelin,  in  jeder  guten  Buchhandlung  erhaltlich, 
sowie  bei  der  Kober'schen  Verlagsbuchhandlung  (gegr.1816)  Basel  u.  Leipzig. 

57? 


Chaplinhiitchens  keineswegs. 

Einen  kleinen  BlumenstrauB  fur 
Jenny  Jugo.  So  vergniigt,  so 
lustig,  so  naturlich  hatte  sie 
schon  oft  sein  konnen,  wenn  die 
Filmregisseure  es  auch  im  Atelier 
verstanden,  mit  Frauen  umzu- 
gehen.  Der  Theatermann  Erich 
Engel  hat  hier  ein  wichtiges  Bei- 
spiel  gegeben.  Einzelszenen,  so 
das  Hexentrio  der  Zimmerver- 
mieterinnen  zeigen,  wieviel  Regie- 
kultur  sich  der  Sprechfilm  vom 
Sprechtheater  holen  kann. 

Sein  Kollege  Karl  Heinz  Mar- 
tin hat  in  Doblins  „Berlin-AIexan- 
derplatz"  mit  weniger  Gltick  de- 
biitiert.  Er  hat  noch  nicht  das 
Gefiihl  dafiir,  wie  dicht  das  Kino- 
publikum  dem  Filmschauspieler 
auf  dem  Pelz  sitzt,  wie  aufdring- 
lich  jeder  Theaterton,  jede  The- 
atergebarde  in  diesem  intiraen 
Beisammensein  wirkt.  Aber  er 
allein  ist  nicht  schuld  daran,  dafi 
las  Epos  von  Franz  Biberkopfs 
.<ampf  um  die  Anstandigkeit 
nicht  recht  ehrlich  wirkt.  Je 
mehr  der  Anschauungsunterricht 
des  Films  unser  Gefiihl  fur  das 
Echte,  Natiirliche  scharft,  um  so 
fiihlbarer  wird  an  den  sogenann- 
ten  sozialen  Filmen,  daJ3  die 
Filmleute  vom  Proletarier 

sprechen  wie  der  Blinde  von  der 
Farbe.  Es  sind  Ausfliige  in 
fremde  Reiche,  unternommen  von 
Biirgern,  die  in  den  Bouillon- 
kellern  nicht  heimischer  sind  als 
bei  den  Nibelungen  oder  den 
Marsbewohnern.  Sie  kennen  sich 
bestenfalls  mit  den  Augen,  be- 
stimmt  nicht  mit  dem  Herzen  aus. 
Diese  Schauspieler  und  Regis- 
seure  sind  am  Alexanderplatz  nur 
dann  zuhause,  wenn  man  sie  ver- 
traglich  fiir  vier  Wochen  dorthin 
engagiert.  Die  gesellschaftliche 
Klassengrenze  verlauft  hier  sto- 
rend  zwischen  dem  Kunstler  und 
seinem  Gegenstand.  Auch  der 
begabte  Piel   Jutzi   bringt  wieder, 


neben  manchem  sehr  Gelungenem, 
die  uns  bis  zum  OberdruB  gelau- 
figen  Kneipenszenen,  in  denen 
vier  Mann  konspiratorisch  um 
einen  Kneipentisch  hocken,  rauhe 
Burschen  an  der  Theke  einen 
kleinen  Korn  herunterspiilen  und 
verwegen  bemalte  Damen  als 
Mannequins  des  Lasters  quer 
durchs  Lokal  wippen.  Ich  kenne 
mich  in  Huren  nicht  aus,  aber 
ich  kann  mir  nicht  denken,  daB 
sie  Maria  Bard  als  ihresgleichen 
anerkennen  werden.  Dieser  Schau- 
spielerin  wird  die"  Beweglichkeit 
ihres  Korpers  zur  Untugend.  Sie 
hat  eine  Art,  mit  der  Hintertiir 
ins  Haus  zu  fallen,  die  einen  auf 
die  Dauer  verdrieBt.  Heinrich 
George  ist  Kunstler  genug,  um 
den  Franz  Biberkopf  lebendig  zu 
machen;  er  ist  nicht  sehr  an- 
regend,  weil  der  eine  Typus,  den 
er  immer  wieder  so  iiberzeugend 
und  mit  so  viel  Volumen  gestal- 
tet,  nicht  sehr  anregend  ist,  aber 
wenn  er  mit  stumpfer  Gutmiitig- 
keit,  mit  erstauntem  Stammeln 
auf  seine  Gedanken  wie  auf  eine 
triibe  Lache  blidkt,  wenn  er  sich. 
zu  sammeln  sucht,  wo  so  wenig 
zu  sammeln  ist,  dann  riihrt  er  un- 
f ehlbar.  Ganz  hervorragend  ist 
wiederum  Gerhard  Bienert,  der 
nun  schon  so  oft  aus  kleinen  Rol- 
len  groBe  Figuren  geformt  hat. 
Er  ist  einer  der  besten  Filmschau- 
spieler Deutschlands.  Die  Bilder 
vom  Alexanderplatz  beginnen 
nach  Markthalle  und  Keller  zu 
riechen,  wenn  er  den  Mund  off- 
net.  Er  hat  die  proletarische 
Noblesse,  die  mannliche  Verhal- 
tenheit  des  anstandigen  Kerls,  er 
ist  auch  als  Verbrecher  ehrlich, 
unheimlich  ohne  Damonie  und  auf 
Wunsch  in  einem  kurzen  Geknurr 
so  berlinisch-schnoddrig,  daB  ihm 
das  goldne  GebiB  des  Achtuhr- 
abendblattes  gebiihrte.  GroBe 
Rollen  fiir  Bienert! 

Rudolf  Arnheim 


Rudolf  Arnheim:  Stimme  von  der  Gnlerie 

25  Aufsatze:  Psychoanalyse,  Negers3nger,  Spiritismus,  Er- 
ziehung,  Boxkampf,  Oktoberwiese,  absolute  Malerei,  Greta 
Garbo,  Russenfilm,  Fritz  Lang,  moderne  Moral  u.  a. 

Einleitung;  HansReimann  —  Bilder:  Karl  Holtz.  pu  n 

Zu  beziehen  durch  Verlag  der  WeltbUhne  Rllt  *t 

573 


Wer-? 

VJ^  aschzettel: 

„Gegenuber  diesem  Unfug  ist 
es  eine  patriotische  Pflicht,  den 
Mann  genauer  zu  pr&fen,  im 
Sinne  Nietzsche*  cinmal  wieder 
mit  dem  Hammer  zu  philosophies 
ren  und,  wie  es  der  Verfasser 
tut,  auf  Grund  einer  sorgfaltigen 
geschichtlichen  Untersuchung  die- 
ses moderne  Gotzenbild  mit  mar- 
kigen  Streichen  in  tausend  Stticke 
zu  zerschlagen.  Was  bleibt  da 
von  seiner  gottahnlichen  Grofie 
ubrig? 

Ein  gewissenloser 
Phrasenheld, 
ein  selbstsuchtiger,  nur  auf  den 
eigenen  Vorteil  bedachter  Kar- 
rieremacher,  der  seine  rhetorische 
Gabe  ausnutzt,  urn  der  Welt  Sand 
in  die  Augen  zu  streuen,  der  die 
Menschen  mit  seinem  Sing-Sang 
einlullt  wie  der 

alte  Rattenfanger, 
dafl  sie  ihm  folgen,  wohin  er  sie 
fiihren  will,   und  ware  es   in    ihr 
eigenes  Verderben," 

Hitler  — ? 

Nein,  Briand, 

Gut  aufgehoben 

Ein  Angestellter  der  warschauer 
Strafienbahnwerkstatten  na- 
mens  Bielski  hat  einen  Marsch 
unter  dem  Titel  „Bruderlichkeit 
der  Volker"  komponiert  und  dem 
Sekretariat  des  Volkerbundes  ein- 
gereicht.  Der  Komponist  erhielt 
dieser  Tage  aus  Genf  ein  Dank- 
schreiben  des  Sekretariats  mit  der 
Mitteilung,  daB  die  „Bniderlich- 
keit  der  Volker"  im  Museum  des 
Sekretariats  aufbewahrt  werden 
wird. 

tKonigsberger  Hariun&sche  Ztg* 
26.  9.  31 

Reklame-Lyrik 

WTas    hab    ich    da    bloB    unter- 
**  nommen: 

Jetzt  werden  keine  Gaste 

kommenl 
Die  "Briefe  warf  ich  in  die  Seine 
Ich   glaub,   das   Beste   ist,   ich 
weine. 

Film-Plakat 

574 


Lied  des  Deutschen  von  1931 

Zu  singen  nadi  der  Melodie: 
mGotd  und  Silber  lieb  ich  sehr*. 

Gebt  mir  einen  Erbfeind  her  I 
Erbfeind  mufi  ich  haben. 
Volk,  das  keinen  Erbfeind  hat. 
Lasse  sich  begraben. 

Meistens  war  es  der  Franzos, 
Manchmal  auch  der  Brite, 
Alle  sind  bedeutungslos, 
Wir  sind  stets  die  Mitte. 

Oesterreicher,  Bayer,  PreuB : 
Immer  Kain  und  Abel. 
Lippe-Detmold,  Anhalt,  Reufi: 
Wir,  der  Menschheit  Nabcl. 

Gebt  mir  einen  Erbfeind  her* 
Dafl  ich  mich  dran  labe. 
Ode  ist  die  Welt  und  leer, 
Wenn  ich  keinen  habe. 

Erbfeind  her  und  Erbfeind  bin. 
Erbfeind  in  der  Wiege. 
Das  ist  meines  Lebens  Sinn: 
DaB  ich  einen  kriege. 

Friiher  war  es  der  Franzos* 
Pole  ist  es  heute. 
Morgen  sinds  die  Eskimos 
Mit  der  Renntiermeute. 

Erbfeind,  ja  ftir  Dich,  fGr  Dich, 
Kauf  ich  Panzerplatten. 
Erbfeind,  laB  mich  nicht  im  Stich 
Bei  den  Hdchstrabatten. 

Du  bist  ich  und  ich  bin  Du. 
Zwillingsbruder,  trauter. 
Jeder  stSrt  des  andern  Ruh, 
Trommel  t  immer  lauter. 

Gebt  mir  einen  Erbfeind  her, 
Denn  das  ist  mein  Wesen. 
Wenn  ich  keinen  Erbfeind  hab, 
Kann  ich  nicht  genesen. 

Simplex 


Ludendorff  und  das  Goethe-Jahr 

C     Rost:     Goethes    Faust,    eine 
"•  Freimaurertragodie.   Munchen: 
Ludendorffs  Volkswarte-Verlag. 
,Buchhandler'B6r$enbtatt4 

Lehm 

Tm  Jungbornzeichen  stemmen  die 
A  Urelemente  Licht  Luft  Lehm 
(Erde)  Wasser  drehend  den  Kreis, 
das  ewig  schwingende  Rad  des 
Lebens  In  diesem  Symbol  der 
Besinnung  auf  das  Wesentliche 
der  Hinkehr  zu  naturlicher  Ein- 
fachheit  im  Denken  und  Leben 
und  Erkenntnis  der  Leben  bewe- 
genden  Urkrafte  steht  die  Jung- 
born- Arbeit  tief  gewurzelt 

Briefkopf 


Der  M&ceen 
In  Kassel  bezog  einst  ein  alter 
*  Pauker,  der  damals  noch  kur- 
fiirstlichen  Hofkapelle  das  hochste 
Gehalt,  „weil  ihm  der  Kurftirst 
von  der  Loge  aus  gern  auf  die 
Glatze  spuckte". 

tBerliner    Lokal-Anzeiger 

Der  Trachtengedanke 

To  Lindau  erlaubte  sich  kurzlich 
1  ein  freches  Judenschicksel  in 
der  ,,Kurzen"  durch  die  Stadt  zu 
spazieren.  Es  fanden  sich  aber 
bald  Leute,  die  dieser  unver- 
schamten  Verhohnung  des  Trach- 
tengedankens  ein  Ende  setzten. 
Ein  Hitler-Blatt 

Motto:  Ich  babe  seit  meiner 

Kadettenzeit  kein  Buch  mehr 

gelesen 

Reich sprasident  Hindenburg  hat 
das  Ehrenprotektorat  fur  die 
frankfurter  Goethehaus-National- 
spende  1932  ubernommen. 

Zeitungsnotiz 


Rentnerinnen 

rn  langer  Reihe  barren  tie 

Und  in  den  Morten  starren  tie 
Wie  von  der  Not  verateint 
Und  jedes  regennasse  Kleid 
Verrat  das  totgeschwiegne  Leid, 
Das  tie!  in  ihnen  weint. 

Wie  eine  Maucr  stehen  sie, 
Wie  steife  Puppen  gehen  sie 
Zu  dem  Era  ah  re  r  Staat. 
Die  Mtinze  klingt  mit  dfinnem  Ton, 
Das  ist  der  Helden  Hungerlohn 
Aus  ihrer  Wunden  Saat. 

Der  bockt  vom  Kriege  irr  zu  Haus, 

Dem  schossen  sie  die  Augen  aus  — 

Die  Frauen  zagen  nicht. 

Der  wurde  totgeprellt  im  Werk, 

Der  liegt  von  Nacht  erstickt  im  Berg  — 

Die  Witwen  klagen  nicht. 

Sie  murren  nicht,  sie  stdhnen  nicht, 
Sie  fluchen  nicht,  sie  hShnen  nicht, 
Wenn  sie  die  Not  rerstoflt. 
Sie  harren  nur  auf  einen  Tag,. 
Auf  ihrer  Stunde  Flagelschlag, 
Der  sie  vom  Leid  erldst. 

Manfred  Sturman'n 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  fur  Menschenrechte.  Mittwoch  Kammersale,  Tel  tower  Str.  20.00:  Fttrsten- 
abfindung,  GroBpensionen  und  Erwerbslose.  Es  sprechen:  Karl  Conrad,  Karl 
Emonts,  Arthur  Holitscher,  Polizeioberst  a.  D.  Lange,  Dr.  Voelter  M.  d.  R. 

Verband  Sozialistischer  Arzte.  Montag  (19.).  20.15.  Arztchans  Genthiner  Strafie  34. 
Arzteversammlung t  Wirtschaftskrise  und  Arztekammerwahl.  Es  sprechen:  Frau 
Biber,  Bruno  Cohn.  Minna  Flake,  Haase,  Max  Hodann,  Leo  Klauber,  Prof.  Kronfeld, 
Paul  Levy  und  Simmel. 

Hamburg-Altona. 

Gruppe  Re  vol  u  Hon  are  r  Pazifisten.  Dienstag  (20.)  Volksheim  Efchenstrafie,  Musikzimmer 
20.00.    Unter  anderm:  Zum  PazifistenprozeB. 

Bflcher 

Heinrich  Hauser:  Feldwege  nach  Chikago.    S.  Fischer,  Berlin. 

Rnndfunk 

Dienstag.  Berlin  20.00:  Goethe  und  Schiller,  Friedrich  Burschell  und  Edltef  K6ppen.  — 
Mittwoch.  Hamburg  19.30:  Georg  W.  Pi  jet  liest.  —  Berlin  22.15:  Der  Mandachurei- 
Konflikt  von  Actualis.  —  Domteratag.  Berlin  16.05:  Theater  und  Wirtschaftskrise, 
S.  Nestriepke.  —  17.50:  Der  Kunstmarkt  gestern,  heuteund  morgen,  Lothar  Brieger 
und  Paul  Graupe,  —  Langenberg  18.20:  Kunst  und  Unkunst  im  dffentlichen  BewuBt- 
sein,  C.  O.  Jatho.  —  Kfinigsberg  18.55:  Gesprache  urn  Cesare  Borgia  aus  Gobineaus 
Renaissance.  —  Frcitag.  Breslau  18.05 :  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung.  —  Hamburg 
18 JO:  Oscar  Wilde.  —  Frankfurt  19.05:  Der  Dfiblin-Film  Berlin- Alexanderplatz,  Carl 
Dreyfus.  —  Berlin  19.15:  Aus  den  Entstehungsjahren  von  Ueberbrettl  und  Kabarett, 
Erich  Mfihsam.  —  Leipzig  19.30:  Die  Rose  und  die  Nacbtigall  von  Oscar  Wilde.  — 
Mflhiacker  19.45:  Oscar  Wilde  75  Jahre  alt.  —  Breslau  20.t5:  Welt  von  gestern  — 
Jugend  von  heute,  Erich  Franzen  und  Ernst  Glaeser.  —  Mflhiacker  21.00:  Ge- 
spenstersonate  von  August  Strindberg.  —  Leipzig  2130;  Max  Brod  liest  aus  Stefan 
Root  oder  das  Jahr  der  Entscheidung.  —  Berlin  22.15:  Salome  von  Oscar  Wilde. — 
Sonnab«nd.  Berlin  16.30:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Martin  Raschke.  —  Kdnigsberg 
19.15:  Der  Dichter  Friedrich  Nietzsche.  —  SonnUff.  Berlin:  Die  sch5nsten  Schall- 
platten,  Hans  Reimann. 


575 


Antworten 

Besserer  Hern  Es  geht  Ihnen  heute  schlecht.  Die  Kredite  sind 
gekiindigt.  Auch  Sie  werden  sich  bald  nach  einer  billigen  Unter- 
kunft  in  einer  kleinen  Pension  umsehen,  wo  der  normale  Duft  nach 
Bratensauce  sich  wenigstens  am  Freitag  mit  einem  penetranten  Schell- 
fischgeruch  in  pikanter  Weise  vermischt.  Und  dennoch  haben  Sie, 
selbst  im  Stiirzen  noch,  einen  Triumph  errungen.  In  der  Entschei- 
dung  zwischen  Ihnen  und  der  Politik  hat  jemand  fur  Sie  optiert. 
Das  ist  erstaunlich,  nicht  wahr?  Ihr  Klubmitglied  Professor  Waen- 
tig,  friiher  preufiischer  Innenminister,  hat  sich  fur  den  Klub  entschie- 
den.  Herr  Waentig,  dem  man  nachsagt,  der  eleganteste  sozialistische 
Minister  gewesen  zu  sein,  hat  die  Sozialdemokraiie  mit  einer  unwir- 
schen  Erklarung  verlassen.  Herr  Waentig  war  als  Minister  weder 
besser  noch  schlechter  als  die  weniger  gut  angezogenen  Genossen, 
aber  man  argerte  sich  uber  seinen  Lebensstil.  Man  schikanierte  ihn, 
weil  seine  naturliche  Eleganz  nicht  recht  in  die  Lagerbieratmosphare 
der  heutigen  Politikerschaft  hineinpaBte.  Das  ist  Geschmackssache. 
Andre  werden  den  gehobenen  Bonzen  mit  der  dicken  Importe  auch 
nicht  grade  als  ein  Edelprodukt  volkstumlicher  Fiihrerauslese  bestau- 
nen.  Karl.  Marx,  der  nie  Geld  hatte,  kampfte  doch  ewig  urn  die 
Moglichkeit  groBbiirgerlicher  Lebensfiihrung,  und  Ferdinand  Lassalle 
hat  in  einer  Gesellschaft  verkehrt,  neben  der  die  Herrschaften  vom 
Golf-  und  Landklub  wie  aufgetakelte  Plebejer  wirken.  Herr  Pro- 
fessor Waentig  mag,  mit  einigem  Recht,  die  Sozialdemokratie  heute 
nur  noch  fiir  eine  Fiktion  halten,  aber  ist  die  berliner  Society  eine 
geringere?  Diese  Gesellschaft  war  wichtig  durch  ihr  Scheckbuch  und 
schon  durch  Elida.  Aus  eignem  gab  sie  nichts,  sie  lebte  von  Remi- 
niscenzen  an  andre  Metropolen.  Heute  lassen  sich  ihre  Baronessen 
fiir  Zeitungsreklame  photographieren,  ihre  Haut,  ihre  Haare,  ihre 
Biiste  demonstrieren  die  Wirksamkeit  entsprechender  kosmetischer 
Praparate.  Morgen  werden  die  Herren  dieser  Gesellschaft  ihr  kiihnes 
Energieprofil  mit  dem  glatt  zuriickgelegten  Haar  fiir  Okasaplakate 
verkaufen.  Ihr  Klubmitglied,  Herr  Professor  Waentig,  hat  sich  ge- 
wifl  mit  vornehmer  Geste  aus  der  Politik  zuriickgezogen,  und  abends, 
wenn  man  genug  von  londoner  Hutmachern  und  pariser  Schneidern 
gesprochen  hat,  wird  er  von  seinen  merkwiirdigen  Abstechern  in  die 
Welt  der  Parteien  erzahlen  und  wie  man  Minister  wird,  respektive 
aufhort,  es  zu  sein,  Aber  das  alles  kommt  funf  Minuten  zu  spat. 
Die  Matthaikirch-Strafie  wird  kein  Faubourg-Saint-Germain  mehr 
werden,  kein  aristokratisches  Refugium.  Der  Nachrichter  dieser  Zeit 
ist  nicht  der  Revolutionar,  sondern  der  Gerichtsvollzieher.  Alles  wan- 
dert  in  einen  groBen  Korb.  Der  letzte  Schrei  ist  lange  in  einem 
unbeachteten  Rocheln  verklungen,  Zwischen  Kleidern  und  Mantel 
liegt  ein  bunter  Picasso,  der  einmal  viele  kommentierende  Federn 
in  Bewegung  gesetzt  hat,  und  ein  Golfschlager  ragt  melancholisch 
heraus  wie  ein  rostiger  Degen  aus  altem  Museumsplunder. 

Stadtschulrat  von  Berlin.  Wir  dtirfen  doch  wohl  annehmen,  daB 
Sie  sich  alle  jene  Biicher  sehr  genau  ansehn,  die  fiir  den  Unter- 
richt  in  den  Ihnen  unterstehenden  Schulen  gebracht  werden.  Viel- 
leicht  ist  Ihrer  Aufmerksamkeit  entgangen,  was  in  Diesterwegs 
Rechenbuch  fiir  Grofi  -Berlin,  Ausgabe  B  fiir  Madchen,  Heft  5,  dritte 
Auflage  1929,  Seite  32,  zu  finden  ist.  Da  stehen  zwei  Tabellen,  auf 
denen  Deutschlands  GroBe  vor  und  nach  dem  Weltkrieg  miteinander 
verglichen  wird,  und  da  heifit  es  unter  anderm:  „Geraubt  wurden 
ferner  samtliche  von  Deutschland  gegrtindeten  Kolonien  mit 
2  907  804  qkm  und  11951000  Einwohnern  (davon  22  396  Deutsche). 
Rechne,  vergleiche,  urteile!"  Geraubt?  Haben  wir  den  Vertrag  von 
Versailles    unterschrieben    oder    haben   wir    ihn   nicht   unter schrieben? 

576 


Wenn  ja,  und  eine  andre  Antwort  gibt  es  nicht,  dann  kann  von 
„geraubt"  keine  Rede  sein.  Was  ist  also  der  alleinige  Zweck,  zu 
der  diese  offenkundige  Unwahrheit  den  etwa  zehnjahrigen  Madchen 
vorgesetzt  wird?  Man  will  sie  aufhetzen  gegen  den  „Schmachfrie- 
den".  Und  dann  diese  Maske  der  Biederkeit:  „Urteile!M  Wie  wer- 
den  denn  diese  Zehnjahrigen  urteilen?  So  wie  es  Denen  gefallt, 
die  da  glauben,  Rechenbucher  mit  chauvinistischen  Schnorkeln  ver- 
zieren  zu  miissen.  Was  wurden  die  Herren  wohl  sagen,  wenn  sie 
in  einem  franzosischen  Mathematikbuch  aus  der  Vorkriegszeit  das 
gleiche  iiber  ElsaB-Lothringen  fanden?  Das  Geschrei  mochten  wir 
horen.  Wenn  ihr  scbon  etwas  erreichen  wollt,  gewohnt  euch  eine 
andre  Sprache  an.  ,fRauber"  werden  kaum  gutwillig  ihren  „Raub" 
herausgeben.  Da  ihr  aber  sicher  sehr  gut  in  der  Geschichte  Bescheid 
wiBt,  so  wifit  ihr  vielleicht  auch  noch,  wie  diese  Kolonien  einst  zu 
Deutschland  gekommen  sind.  Vielleicht  wird  sich  dann  eher  f est- 
stellen  lassen,  was  Raub  ist.  Ihnen  aber,  Herr  Stadtschulrat,  emp- 
fehlen  wir,  das  Buch  aus  dem  Unterricht  entfernen  zu  lassen.  Wir 
haben  immer  wieder  betont,  daB  jener  Paragraph  der  Verfassung, 
der  von  der  Erziehung  zur  Volkerversohnung  spricht,  noch  keiner 
Notverordnung  gewichen  ist.  Er  laBt  sich  schlecht  mit  solchen  Ent- 
gleisungen   in   Einklang  bringen. 

Doktor  Weynand,  Magdeburg.  In  Nummer  37  veroffentlichten 
wir  ein  Stiick  aus  Ihrem  griechischen  Lese-  und  Ubungsbuch  „Pa- 
Iaistra",  und  deuteten  es  als  eines  der  heute  in  unsern  Schulbuchern 
iiblichen  Monumente  der  militaristischen  Verhetzung.  Wir  freuen 
uns  feststellen  zu  konnen,  daB  der  Verfasser  des  Eingesandts  sich  im 
Irrtum  befunden  hat.  Es  handelt  sich,  wie  Sie  betonen,  ura  eine  S telle 
aus  Xenophon,  die  Sie  aus  bestimmten  sprachlichen  Grunden  auf- 
genommen  haben.  Sie  wollten  den  Krieg  nicht  verherrlichen,  im  Ge- 
genteil:  „DaB  der  Schiiler  aus  diesen  Worten,  wenn  sein  Lehrer  ihm 
vom  Zusammenhang  bei  Xenophon  nichts  sagen  sollte,  eine  Ahnung 
bekommt  von  der  grafilichen  Grausamkeit  des  antiken  Krieges  —  und 
in  vieler  Beziehung  hat  sich  bis  heute  noch  nichts  daran  geandert  — 
halte  ich  fur  gut."    Wir  geben  das  gern  zur  Kenntnis. 

Stuttgarter.  Sie  teilen  uns  einen  Vorfall  mit,  der  sich  in  der 
Schuhfabrik  Salamander  abgespielt  hat  und  der  so  recht  zeigt,  mit 
welchen  Mitteln  das  Unternehmertum  heute  gegen  die  Arbeiter 
kampft.  In  der  Fabrik  hatte  die  RGO  zu  den  Betriebsratswahlen 
eine  eigne  Liste  aufgestellt,  und  noch  wahrend  des  Wahlkampfes 
wurden  die  samtlichen  Kandidaten  dieser  Liste  wegen  „Arbeitsman- 
gels"  entlassen,  und  zwar  im  Einverstandnis  mit  dem  sozialdemo- 
kratischen  Betriebsrat.  Die  also  GeschaBten  klagten  vor  dem  Ar- 
beitsgericht  und  bekamen  auch  recht,  ebenfalls  wurde  die  Revision 
der  Firma  beim  Landesarbeitsgericht  verworfen.  Zur  Zeit  schwebt 
die  Angelegenheit  beim  Reichsarbeitsgericht.  Anscheinend  erhofft  sich 
die  Firma  durch  die  Verschleppung  doch  noch  einen  Erfolg,  denn  es 
kann  ja  bald  eine  ausgesprochene  Rechtsregierung  geben;  und  da 
kann  man  nicht  wissen,  vielleicht  bat  dann  das  Gericht  mehr  Ver- 
standnis  fur  die  offenbar  notleidende  Firma.  Unter  den  Entlassenen 
befand  sich  auch  der  Schwerkriegsbeschadigte  Bossert,  der  wegen 
Arbeitsmangel  '  uberhaupt  nur  mit  Zustimmung  der  Landesf tirsorge 
entlassen  werden  durfte.  Der  Vertreter  der  Firma,  von  Busekist,  gat 
auch  zu,  daB  die  Entlassung  nicht  gerechtfertigt  sei,  aber  der  Mann 
habe  keinen  Anspruch  auf  Arbeit  sondern  nur  auf  Lohn,  und  den 
wolle  die,  ach  so  grofizugige,  Firma  ihm  auch  zahlen,  Herr  v.  Buse- 
kist hoffte  namlich,  doch  noch  das  Einverstandnis  der  Landesfursorge 
zu  erlangen.  SchlieBlich  gab  diese  auch  ihre  Zustimmung  zur  Ent- 
lassung per  1.  August,  weil,  wie  der  Vorsitzende  zu  Bossert  sagte,  es 

577 


der  Behdrde  lieber  sei,  dcr  Arbeiter  crhcbe  Einspruch  gegen  diese 
MaCnahme  der  Fiirsorge  als  daB  diese  sich  mit  der  Firma  herum- 
streite.  Bossert  wird  nun  diese ,  Entscheidung  anfechten.  Wenn  er 
aber  gehofft  hat,  von  der  Firma  wenigstens  den  ihm  fur  die  Monate 
Mai  bis  Juli  zustehenden  Lohn  zu  erhalten,  dessen  Bezahlung 
Herr  von  Busekist  ja  vor  dem  Gericht  zugesichert  hatte,  so  befand  er 
sich  im  Irrtum,  er  muBte  klagen  und  bekam  recht,  Busekist  wollte 
beantragen,  daB  das  Urteil  nicht  vollstreckbar  sei,  muOte  sich  aber 
belehren  lassen,  daB  ein  solcher  Antrag  vor  der  Urteilsfallung  ge- 
stellt  werden  muB.  Jetzt  glauben  Sie,  hatte  dieses  feine  Unterneh- 
men  endlich  gezahlt?  Irrtum,  sie  lieB  sich  den  Gerichtsvollzieher 
schicken,  und  der  zog  unverrichteter  Sache  wieder  ab.  Fruchtlos  ge- 
pfandetl  Und  das  bei  einer  Bilanz,  die  einen  Gewinn  von  vier  Mil- 
lionen  aufweist.  Wiirde  dasselbe  heute  einer  Bank  passieren,  die 
eine  Forderung  an  das  Unternehmen  hat,  dann  mtiBte  man  dieses  als 
pleite  bezeichnen.  Aber  davon  kann  wohl  keine  Rede  sein.  Es  han- 
delt  sich  hier  nur  um  ein  geschicktes  Manover,  das  man  dem  Ge- 
richtsvollzieher vorgemacht  hat,  einzig  zu  dem  Zweck,  den  Schwer- 
kriegsbeschadigten  um  die  ihm  zustehenden  paar  Mark  zu  bringen. 
Hat  sich  denn  dieser  Staat  schon  so  stark  an  die  Wirtschaft  ver- 
kauft,  daB  die  Herren  Wirtschaftsfiihrer  auch  die  primitivsten  Ge- 
setze  so  glatt  und  zynisch  umgehen  konnen?  Der  Staat  hat  keine 
Zeit,  sich  um  das  Schicksal  eines  einzelnen  Menschen  zu  kiimmern? 
Uns  scheint,  dies  Einzelschicksal  zeigt  doch  nur,  wie  herrlich  sich  die 
Unternehmerwillkur  in  Deutschland  entwickelt  hat.  Man  macht  noch 
nicht  einmal  vor  Menschen  halt,  die  ihre  Knochen  fur  das  gleiche 
Unternehmertum  geopfert  haben. 

Schutzverband  Deutscher  Schriftsteller.  Seit  ein  paar  Tagen  wird 
erzahlt,  dein  Vorstand  beabsichtige,  die  von  Erich  Muhsam  und  Lud- 
wig  Renn  gefiihrte  Opposition  kurzerhand  hinauszuwerfen.  Macht 
der  sozialdemokratische  Parteivorstand  Schule?  Wir  erwarten  von 
deinem  gegenwartigen  Vorstand  keine  Heldentaten,  aber  es  sitzen 
doch  ein  paar  vernunftige  Menschen  darin,  denen  solch  ein  selbst- 
morderischer  Wahnsinn  kaum  zuzutrauen  ist,  Inzwischen  ist  uns  aller- 
dings  der  Beweis  erbracht  worden,  daB  gegen  einzelne  an  der  Oppo- 
sition beteiligte  Mitglieder  des  S.D.S.  ein  AusschluBverfahren  einge- 
leitet  worden  ist, 

Internationale  Frauenliga  fur  Frieden  und  Freiheit.  Sie  hatten 
vor  einiger  Zeit  unserm  Blatt  eine  Auf forderung  zur  Beteiligung  an 
Ihrer  internationalen  Kundgebung  ftir  die  Weltabriistung  beigelegt, 
Es  sind  inzwischen  eine  groBe  Anzahl  von  Unterschriften  eingegangen, 
Sie  bitten  unsre  Leser,  die  Listen  iibernommen  haben,  diese  mog- 
lichst  rasch  ausfullen  zu  lassen.  Ihre  Geschaftsstelle,  die  weitere 
Unterschriften  entgegennimmt,  befindet  sich  in  Berlin-Steglitz,  Her- 
furthstr.   6, 

Ktnobesucher.  In  dem  Doblin-Film  „Berlin-Alexanderplatz" 
spielt,  wie  erzahlt  wird,  kein  einziger  Schauspieler  mit,  dessen  Wiege 
an  der  Spree  gestanden  hat.  Man  hat  deshalb  vorgeschlagen,  den 
Film   umzutaufen   und  ihn   „Rund  um  den  Stephansdom"   zu  nennen. 

Manuskript*  sind  nur  an  die  Redaktion  der  WeltbGhoe,  Charlotteaburjj,  KanUtr.  152,  zu 
richten:  as  wird  ^ebeten,  ihoco  Ruckporto  beizulegen.  da  sons*  keine  Rucksendung  eWolyen  keno. 
Da*  Auff  Qbrung«recht,  die  Verwertun?  von  Ttteln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  mutik- 
ntechanische  Wiederjrabe  alter  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  RadioYortrSyen 
blelben  fur  all*  in  der  Weltbttnno  erscheinenden  BeitrJjje  ausdrticklicli  vorbebalten. 

Die  Weltbflhne  wurde  begrundet  voa  Siegfried  lacobsoho  und  wird  von  Cat  I  v.  Ossietzky 
oatet  Mitwtrkung    von  Kuri  TuchoUky  ^eleitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ossietrky.    Berlin; 

Verleg  der  Weltbuhne,  Siegfried    |ecobsoho  &  Co*.  Charlottenburg. 

Telephon:    CI,  Steinplatz  7757    -  Postscheckkonto:   Berlin  119 5& 
Baakkonto:     Darmstfidter    a.    Naiionalbank.       Depositenkasse    ChaHottenburg,     Kaotstr.    112 


XXVII.  Jahfgaug  20.  Oktober  1931  Nmnrner  42 

50  ZU  50  von  Carl  v.  Ossietzky 

TV/fit  vierundzwanzig  Stimmen  Mehrhcit  ist  der  Reichskanzler 
***  dem  Ansturm  seiner  Gegner  entronnen.  Den  Ausschlag 
gaben  nicht  die  biedern  Agrarier,  denen  Briining  mehr  ge- 
wahrt  hat  als  irgend  ein  deutscher  Minister  seit  Jahrzehn- 
ten,  sonderri  die  Hicketiere  von  der  Wirtschaftspartei.  Es  ist 
noch  nicht  bekannt,  womit  diese  kleine  Gefalligkeit  der  Bu- 
dikerpartei  erkauft  ist,  wahrscheinlich  wird  die  Reichsregie- 
rung  einen  anstandigen  Obolus  in  die  Ladenkasse  tun  miissen. 

Wer  indessen  glaubt,  daB  der  Reichskanzler  nunmehr  von 
seiner  Vorliebe  fur  die  Rechte  kuriert  ist,  der  sollte  die  Rede, 
die  er  am  Freitag  vor  der  SchluBabstimmung  gehalten  hat, 
nochmals  genau  nachlesen.  In  dieser  sogenannten  Abrechnung, 
die  sich  vornehmlich  gegen  einige  allzu  plumpe  Cbergriffe  der 
Schwerindustrie  richtete,  warb  er  gradezu  um  die  Gunst  der 
Hitlerpartei.  Er  dankte  nicht  nur  den  Fuhrern  der  National- 
sozialisten  ,,fiir  die  Vornehmheit,  wie  sie  sich.  meiner  Person 
gegenuber  bei  aller  Kritik  eingestellt  haben,"  sondern  beklagte 
auch  am  Ende  seiner  Ausfiihrungen  ausdriicklich,  daB  Hitler 
nicht  vertrauensvoll  einige  Monate  mit  ihm  gehe.  MVornehm- 
heit?1*  Entfernte  sich  nicht  das  braune  Politikantenpack  mit 
knarrenden  Stiefeln  aus  dem  Plenarsaal,  als  der  Reichs- 
kanzler das  Wort  nahm?  GewiB,  das  Gros  davon,  ist  dort,  wo 
es  aufs  freie  Wort  ankdmmt  und  nicht  auf  den  Kniippei,  zu 
f eige  oder  zu  dumm,  aber  die  Geste  gegen  Briining,  mag  sie 
auch  der  Verlegenheit  entsprungen  sein,  bedeutete  doch 
offentlich:  Ablehnung  und  Verachtung.  Aber  selbst  in  der 
Entscheidung  noch  beschwort  der  also  Behandelte  die  Idee  der 
nationalen  Konzentration,  ladet  er  Hitler  ein,  sich  neben  ihn 
zu  setzen.  Was  mogen  wohl  die  Sozialdemokraten  fiir  Gesich- 
ter  dazu  gemacht  haben?  Der  Zeitungsbericht  verzeichriet: 
stiifmischer  Beifall  in  der  Mitte  und  bei  den  Sozialdemokraten. 

Wird  die  Nationale  Opposition  den  Mann,  der  selbst,  wenn 
er  sie  zuchtigt,  nur  leicht  mit  dem  Olzweig  streicht,  nicht  bald 
etwas  freundlicher  betrachten?  Sie  traut  ihm  nicht,  gewiB. 
Sie  fiirchtet  sein  stereotypes  Klerikerlacheln  und  wittert  da- 
hinter  romische  Txicke.  Sie  fiihlt  sich  ihm  unterlegen.  Brii- 
ning ist  nicht  der  groBe  Staatslenker,  fiir  den  ihn  seine  Be- 
wunderer  halten.  Aber  Briining  verglichen  mit  deii  Matadoren 
des  Nationalismus  wirkt  er  haben  und  gewaltig  —  ein  Ringel- 
wurm  unter  Kasemaden.  Und  dennoch  hatte  er  sich  diesmal 
nicht  loseisen  konnen,  wenn  ihm  nicht  das  harzburger  Gast- 
spiel  des  Herrn  Hjalmar  Schacht  eine  kaum  erwartete  Entlastung 
verschafft  hatte.  Ohne  diesen  unfreiwilligen  Partisan  ware 
Briining  verloren  gewesen.  Die  Harzburger  haben  allzu  vor- 
schnell  nach  der  Inflation  geschrien,  und  grade  die  Angst  vor 
der  Inflation  steckt  den  meisten  Deutschen,  die  Herren  von 
der  Schwerindustrie  naturlich  ausgenommen,  allzu  tief  in  den 
Knochen.      So   warfen   Hugenberg    und   Hitler    der   Regierung 

1  579 


selbst  die  Gegenparole  zu,  und  das  Auftreten  des  Psycho- 
pathen  Schacht,  dessen  traditionellcr  hohcr  Stehkragen  jetzt 
endlich  gegen  die  Zwangsjacke  ausgewechselt  werden  solltc, 
machte  die  rechtea  Splitterparteien  wieder  wankend. 

Br  lining  hat  also  diesmal  noch  gesiegt,  aber  nunmehr,  nach 
beendigter  Schlacht,  lautet  die  Frage  nicht  mehr;  gegen  wen? 
sondern;  zu  was?  Der  Reichskanzler  hat  weder  Ideen  ge- 
geben,  die  sich  entwickeln  lieBen,  noch  ein  Programm,  an  das 
man  sich  halten  konnte.  Er  hat  kraftige  Worte  fiir  die  feste 
Wahrung  gefunden,  jedoch  nichts  genannt,  was  sie  vor  dem 
Abgleiten  bewahren  konnte.  Er  hat  unter  dem  Druck  der  christ- 
lichen  Gewerkschaften  die  dreistesten  schwerindustriellen  An- 
grif  f  e  gegen  den  Tarif  gedanken  zuriickgewiesen,  aber  sich  durch- 
aus  nicht  wie  ein  rocher  de  bronce  vor  die  sozialen  Rechte  der 
Arbeit erschaft  gestellt.  ,,Die  Sozialpolitik  muB  allerdings  der- 
artig  gestaltet  tmd  gehandhabt  werden,  daB  sie  sich  den  finan- 
ziellen  und  wirtschaftlichen  Notwendigkeiten  einfiigt . . .  Vor 
allem  gilt  dies  auch  fiir  den  Tarifgedanken,  der  als  solcher  ge- 
surrd  ist  und  erhalten  werden  muB,  aber  groBere  Elastizitat  in 
der  ficindhabung  bedarf.  Die  Tarife  mussen  veranderten  Ver- 
haltnissen  schneller  angepaBt  werden  konnen/*  Wo  ist  da  der 
Unterschied  zwischen  Briining  und  Doktor  Oberfohren,  der  als 
Sprecher  Hugenbergs  gegen  die  Unabdingbarkeit  der  Tarif- 
vertrage  und  gegen  das  Schlichtungswesen  grobes  Geschiitz 
auf f uhr  ?  Die  Deutschnationalen  wollen  die  Gewerkschaften 
niedertrampeln,  Briining  will  sie  in  eine  Arbeitgemeinschaft 
mit  den  Unternehmern  zwangen,  in  der  sie,  kraf  tig  unter  Druck 
gesetzt,  ihre  Rechte  selbst  stuckweis  aufgeben.  Diese  Arbeits- 
gemeinschaft,  die  unter  dem  segenskraftigen  Vorsitz  Hinden- 
burgs  tag  en  soil,  ist  iiberhaupt  der  Lowengedanke  Briinings. 
Wie  das  (Berliner  Tageblatt'  mitteilt,  diirften  die  Gewerk- 
schaften bei  diesen  Verhandlungen  von  Herrn  Geheimrat 
Bachem,  dem  ruhmlichst  bekannten  Arbeiterbankier,  ver- 
treten  werden.  Herr  Bachem  hat  noch  von  seiner 
fruhern  Tatigkeit  als  koniglich  preuBischer  Staatsanwalt 
her  eine  hochgradige  Abneigung  gegen  den  Sozialis- 
mus,  die  er  auch  als  Mitglied  der  Sozialdemokratie  nicht 
vollig  hat  xiberwinden  konnen,  Dieser  altbewahrte  Labour- 
leader  wird  neben  Vogler  und  Schmitz  ganz  gewiB  nicht  allzu 
oft  mit  der  schwieligen  Faust  auf  den  runden  Tisch  schlagen, 
er  wird  schon  einsehen,  daB  der  an  sich  gesunde  Tarif- 
gedanke  in  der  Handhabung  groBerer  Elastizitat  bedarf. 

Herr  Briining  ist  von  seiner  gottlichen  Mission  tief  durch- 
drungen,  und  dieses  Gefiihl  mag  gut  und  niitzlich  sein  fur  ein 
Ami,  das  die  bosesten  Nervenproben  mit  sich  bringt.  Aber 
was  berechtigt  ihn  zu  dem  naiven  Optimismus,  dem  er  in  seiner 
Rede  Ausdruck  verlieh?  Vor  kurzem  habe  er  noch  das  Be- 
wuBtsein  gehabt,  daB  die  Situation  zu  90  Prozent  verloren  sei, 
HHetite  jedoch",  fuhr  der  Reichskanzler  fort,  Mist  sie  so,  daB 
ich  sagen  kann,  das  Verhaltnis  von  Gliick  oder  Ungluck  steht 
schon  50  zu  50/'  Was  hat  sich  inzwischen  denn  so  griindlich 
gebessert?  Ist  die  Lage  der  Reichskassen  um  so  viel  hoff- 
nungsvoller?    Hat  der  Reichskanzler  nicht  selbst  fiir  den  Win- 

580 


ter  siebcn  Millionen  Arbcitslosc  prophezcit?  Hat  dcnn  in  der 
Geschaftswelt  die  Plcite  zu  wiiten  aufgehort?  Nichts  hat  in 
diesen  Ietztcn  Wochen  das  Verhaltnis  von  Gltick  und  Ungltick 
verschoben.  DaB  die  Weltkrise  inzwischen  auch  das  eng- 
lische  Pfund  erschtittert  hat,  wird  doch  der  Reichskanzler 
kaum  zu  den  Ereignissen  rechnen,  die  auf  der  Gliicksseite  zu 
verbuchen  sind. 

Einmal  war  der  Kanzler  der  Wahrheit  sehr  nahe,  als  er 
auf  das  wachsende  MiBtrauen  gegen  das  privatwirtschaftliche 
System  hinwies,  allerdings  nur,  urn  sick  sofort  schiitzend  da- 
vorzustellen  und  selbst  fiir  die  Banken  ein  verteidigendes 
Wort  zu  finden.  Nichts  berechtigt  zu  der  Annahme,  dafi  die 
gegenwartige  Regierung  etwas  gegen  GroBagrariertum  und 
Schwerindustrie  unternehmen  wird.  „Es  ist  kein  Grand,  etwa 
zu  glauben,  daB  das  System  unsrer  deutschen  Banken  an  sich 
von  Grund  aus  irgendwie  verkehrt  sei.  Das  muB  icfi  auch 
ausdehnen  auf  den  weitaus  groBten  Teil  unsrer  deutschen 
Wirtschaft."  Das  sagt  der  Kanzler,  wo  sich  immer  mehr  offen- 
bart,  daB  eine  unverniinftige  Kreditpolitik  ebenso  wie  eine 
blindwutige  Rationalisierung  dazu  beigetragen  hat,  der 
international  rasenden  Wirtschaftskrise  in  Deutschland  ein 
besonders  bosartiges  Gesicht  zu  geben.  Ohne  Plan,  ohne  Pro- 
gramm,  aufrechterhalten  nur  von  der  Hoffnung,  daB  in  ein  paar 
Monaten  von  auBen  her  Hilfe  kommt,  so  geht  die  Regierung 
in  den  schwersten  Winter  seit  hundert  Jahren,  und  ihr  ver- 
antwortlicher  Fiihrer  nennt  das  ein  Verhaltnis  von  50  zu  50. 
Die  hohlgewordenen  Gehause  des  Kapitalismus  sinken  in  sich 
zusammen,  und  der  Staat  verteidigt  die  Fiktion  einer  Privat- 
wirtschaft,  die  doch  vornehmlich  von  seinen  Subventionen,  also 
auf  Kosten  des  ganzen'  Volkes,  lebt,  anstatt  das  in  Besitz  zu 
nehmen,  was  von  den  bisherigen  Inhabern  kaum  mehr  vertei- 
digt wird.  Sozialisierung  von  oben  oder  Kommunismus  vonunten! 
Das  ist  heute  die  Alternative.  Das  Volk,  noch  immer  ruhig 
und  geduldig,  scheut  den  russischen  Weg  und  wartet  noch 
immer,  daB  selbst  von  dieser  Regierung  ein  Zeichen  komme. 
Hier  stehen  in  der  Tat  die  Dinge  noch  50  zu  50,  aber  die 
nachste  Erschiitterung  schon  kann  das  Verhaltnis  andern. 

So  iiberaus  dramatisch  diese  vier  Tage  Reichstag  auch 
verliefen,  ihre  Bedeutung  liegt  nicht  in  dem  Gesagten  sondern 
in  dem  Ausweichen  aller  Beteiligten  vor  dem  wirklich  Wich- 
tigen.  Als  der  Antrag  der  Kommunisten,  die  Youngzahlungen 
aufzuheben,  zur  Abstimmung  kam,  verlieBen  die  National- 
sozialisten  den  SaaL  Und  unmittelbar  nachdem  mit  einer 
sozialistisch-kommunistischen  Mehrheit  die  Einstellung  des 
Panzerkreuzerbaues  beschlossen  wurde,  laBt  die  Regierung 
als  ihre  Meinung  zirkulieren,  daB  sie  dkse  Formulierung  als 
eine  EntschlieBung  interpretiere,  zu  deren  Innehaltung  sie 
nicht  unter  alien  Umstanden  verpflichtet  sei.  Das  ist  die  erste 
Quittung  fiir  die  Verlangerung  der  Tolerkrungspolitik.  Hitler 
wird  mit  Liebenswiirdigkeit  traktiert,  die.  Sozialdemokratie 
wird  nach  getaner  Arbeit  kalt  abgeschiittelt.  Sie  wird  es  nicht 
iibelnehmen,  sondern  das  alte  Versteckspiel  fortsetzen.  Chaos 
oder  Ordnung!  rufen  die  republikanischen  KannegieBer.  Es 
gibt  noch  ein  drittes:    den  Marasmus. 

581 


LeX  Weiliert  von  Walther  Karsch 

r\ic  Oberprasidien  und  Polizeiamter,  hauptsachlich  PreuBens* 

geben  sich  seit  kurzcr  Zeit  die  groBte  Miihe,  Erich  Weinert 
mundtot  zu  machen,  ihm  die  Verbindung  mit  den  Massen  ab- 
zusehneiden,  Dieser  Dichter  propagandistisch  wirkungsvoller 
Verse,  die  —  seltener  Fall  —  meist  auch  noch  kiinstlerische 
Qualitat  vorzuweisen  haben,  hat  sich  anscheinend  den  ganz 
besondern  HaB  eines  einfluBreichen  Beamten  zugezogen,  der 
nun  unter  der  Vorspiegelung,  Weinerts  Auftreten  gefahrde  die 
offentliche  Sicherheit,  seine  Macht  ausnutzt,  ihn  wo  es  geht  zu 
schikanieren.  Eine  MaBnahme  folgt  der  andern,  und  das  alles 
in  der  kleinen  Spanne  vom  27.  September  bis  zum  8.  Oktober. 

Versammlungen,  in  denen  Weinert  sprechen  soil,  werden 
verboten.  Er  selbst  wird,  von  einer  Vortragsreise  zuriickge- 
kehrt,  morgens  um  sechs  Uhr  aus  dem  Bett  geholt  und  vor  den 
Untersuchungsrichter  gebracht,  weil  er  einen  Vernehmungs- 
termin  versaumt  habe.  Aber  Weinert  hatte  sich  doch  vor  sei- 
ner Abreise  entschuldigt,  ein  Blick  in  die  Akten  hatte  den 
Herrn  das  sagen  konnen,  —  tut  nichts,  Weinert  wird  heran- 
geholt.  Nur  ein  Versehen  der  Behorde?  Merkwiirdig,  daB  die- 
ses „Versehen"  mit  andern  Ereignissen  zusammenfallt,  die 
deutlich  zeigen,  was  hier  gespielt  wird. 

In  Leipzig  verlangt  der  Polizeiprasident,  Weinert  solle  vor 
einer  beabsichtigten  Versammlung  seine  Gedichte  zur  Prii- 
fung  vorlegen.  Da  bisher  durch  keine  Notverordnung  eine  Vor- 
zensur  eingefiihrt  ist  (was  nicht  ist,  kann  noch  werden),  so 
weigerten  sich  die  Veranstalter  mit  Recht,  die  Neugierde  des 
leipziger  Polizeihauptlings  zu  befriedigen.  Er  gibt  dann  auch 
nach  und  damit  zu,  daB  sein  Verlangen  das  Tempo  unsrer  Not- 
verordnungsmaschinerie  uberschatzt  hat. 

In  Oberschlesien  dasselbe  Bild.  Hier  bemiiht  sich  sogar 
der  Herr  Oberprasident  Lukaszek  selber  und  untersagt  kur- 
zerhand  alle  fiinf  angesetzten  Abende,  mit  der  interessanten 
Begriindung:  fiir  Weinert  bestehe  in  PreuBen  ein  Redeverbot. 
Dem  Abgeordneten  Wojtkowski  gelingt  es  nach  energischer 
Intervention,  erst  einmal  zu  erreichen,  daB  wenigstens  die  Ver- 
sammlungen stattfinden  konnen,  doch  Weinert  diirfe  weder 
auftreten  noch  reden.  Schliefilich  gestattet  der  Provinzall- 
machtige,  daB  Weinert  seine  Gedichte  rezitiert,  aber  er  solle 
sich  ja  nicht  erlauben,  auch  nur  ein  Wort  dariiber  hinaus  an 
die  Anwesenden  zu  richten.  Der  also  Schikanierte  und  Wojt- 
kowski bearbeiten  tiunmehr  den  Polizeivizeprasidenten  von 
Gleiwitz.  Und  nachdem  auch  dessen  Wunsch,  die  Gedichte 
vorher  kennenzulernen,  an  der  guten  Gesetzeskenntnis  der 
Beiden  gescheitert  ist  und  Weinert  ihm  plausibel  gemacht  hat, 
daB  die  Kommentare  zu  seinen  Gedichten  ebenfalls  unter  die 
Rubrik  f,Kunstlerische  Produktion"  fielen  und  nicht  einfach 
weggelassen  werden  konnten,  darf  er  endlich  reden,  —  und 
zwar  vor  einem  ganz  erlesenen  Publikum:  neben  dem  heute 
ia  unvermeidlichen  Polizeiaufgebot  erschienen  auch  noch  die 
Herren  vom  Prasidium  und  bekamen  endlich  einmal  gute  revo- 
lutionare  Verse  zu  horen,  was  ihnen  nichts  geschadet  haben 
kann.    Das  ganze  Theater   muB   ihnen  aber   sicher   allmahlich 

582 


selber  iacherlich  vorgekommen  sein,  dean  auf  Grund  des  Be- 
richtes  vom  Verlauf  der  gleiwitzer  Vcranstaltung  hcbt  dcr 
Oberprasident  das  Verbot  fin*  ganz  Oberschlesicn  auf,  und 
Wcincrt  darf  ungehindert  reden. 

In  Magdeburg  aber  half  allcs  Intervenieren  nichts,  Auch 
hier,  wo  Weinert  iiber  seine  RuBland-Reise  sprechen  soil,  ver- 
hindert  die  Polizei  sein  Auftreten,  wieder  mit  der  Begriin- 
dung:  Redeverbot  fiir  PreuBen.    Die  Versammlung  entfallt 

Wie  steht  es  denn  nun  mit  dem  sagenhaften  Redeverbot? 
Weinert  weiB  bisher  noch  nichts  davon;  ihm  diese  Individual- 
notverordnung  zuzustellen,  kann  nicht  schwer  sein,  seine 
Adresse  diirfte  man  kennen.  Und  da  die  Verbotsmaschine  in 
den  einzelnen  Stadten,  wo  er  auftreten.  soil;  ausgezeichnet 
funktioniert,  scheint  man  doch  iiber  seine  Reiseroute  sehr  gut 
unterrichtet  zu  sein.  Also  her  mit  dem  Stuck  Papier,  wenn  es 
tatsachlich  existieren  sollte!  Wir  mochten  uns  gern  mit  eignen 
Augen  davon  iiberzeugen,  wie  hier  mit  alien  moglichen,  beson- 
ders  aber  moglichst  ungesetzlichen  Mitteln  versucht  wird, 
einen  Propagator  und  Agitator  um  seine  EinfluBmoglichkeiten 
zu  bringen,  der  —  zugegeben  —  hochst  unbequem  ist,  gehort 
er  doch  zu  den  wenigen  Tendenzdichtern,  deren  Strdphen  tat- 
sachlich mitreifien  und  nicht  versifizierte  Versammlungsparo- 
len  sind,  oft  gepredigt  und  daher  ziemlich  abgenutzt.  Da  es 
bisher  noch  nicht  gelungen  ist  und  wohl  auch  schwerlich  gelin- 
gen  wird,  Weinert  in  die  Gesellschaft  seiner  politischen 
Freunde  nach  Gollnow  zu  verfrachten,  versucht  man  es  eben 
andersherum,  den  bei  der  Masse  mit  Recht  Beliebten  dieser 
Masse  zu  entziehen,  Aber  wo  ist  die  gesetzliche  Handhabe? 
Die  politischen  Gedichte  Weinerts  und  sein  personliches  Auf- 
treten gefahrdeten  durch  die  satirische  Note  gegenwartig  die 
offentliche  Sicherheit  —  wie  es  im  gleiwitzer  Verbot  heiBt? 
Wie  unsicher  miissen  sich  doch  diese  Huter  offentlicher  Sicher- 
heit fiihlen,  wenn  sie  sich  die  Ohren  sogar  vor  der  Satire  ver- 
schlieBen,  iiber  deren  Attacken  souverane  Geister  selber  zu 
lachen  pflegen,  werden  sie  auch  noch  so  hart  getroffen.  Wer 
zum  Kadi  lauft,  weil  ihm  der  Satiriker  ein  biBchen  heftig  zu- 
setzt,  ist  eine  etwas  klagliche  Figur.  Vergleiche  mit  dem  preu- 
Bischen  Staat  und  seiner  Aktion  gegen  Weinert  zu  ziehn,  ver- 
bietet  die  Hoflichkeit. 

Aber  SpaB  beiseite,  die  preuBischen  Polizeiamter  scheinen 
keinen  zu  verstehn:  soil  hier  wirklich  ein  Prazedenzfall  ge- 
schaffen  werden,  an  Hand  dessen  man  jedem  unbequemen 
Redner  den  Mund  schlieBen  kann,  eine  Art  lex  Weinert?  Es 
liegt  ja  hier,  gemessen  an  der  Fiiile  von  Zeitungs-  und  Ver- 
sammlungsverboten,  nur  ein  Einzelfall  vor,  Aber  dieser  Ein- 
zelfall  hat  insofern  besondre  Bedeutung,  als  es  sich  um  die 
systematische  Unterbindung  der  Redefreiheit  ein«r  bestinim- 
ten  Person  hand  el  t.  Das  kann  aber  morgen  genau  so  jedem 
andern  passieren.  Ich  bin  so  optimistisch,  anzunehmen,  daB 
sich  hier  selbst  jene  Presse.  riihren  wird,  die  bisher  alle  Be- 
schneidungen  des  Rechts  der  freien  MeinungsauBeriing,  wehen 
Herzens  zwar  aber  mannhaft,  iiber  sich  hat  ergehen  lassen, 
Wir  wollen  uns  doch  nicht  auch  noch  der  letzten  klSglichen 
Cberbleibsel  unsrer  Rechte  berauben  lassen.    Nicht  wahr? 

2  '  583 


Schrif tsteller - Schutzverband  David  Yuschnat 

l^agt  an  dir  ein  Gedanke,  denke  ihn  weg!M  Dicscn  Aus- 
"  spruch  Stirners  berichtet  Panizza  in  seinem  Friihwerk 
,,Der  Illusionismus  und  die  Rettung  der  PersonHchkeit."  Robert 
Bfeuer,  der  ungekrqnte  Konig  des  Schutzverbandes  deut- 
scher  Schriftsteller,  praktiziert  folgende  Variation;  ,,Nagt  an 
dir  cine   Opposition,  senmeifie  sie  raus." 

Panizza  starb  im  Irrenhaus.  Er  war  ein  Genie.  breuer 
wird  das  Schicksal  Panizzas  nicht  teilen.  Sein  gesunder  Men- 
schenverstand  hindert  ihn  daran.  Breuers  gesunder  Menscheri- 
verstand  rat  ihm,  alle  Schriftsteller  aus  dem  SDS  auszuschlie- 
Ben,  welche  sich  tatkraftig  fiir  Freiheit  des  Schrifttums  ein- 
setzen, 

tlweil,  so   schliefit  er  messerscharf, 
nicht  sein  kann,  was  nicht  sein  darf," 

Denn  diese  armen  irregeleiteten  Oppositionkollegen,  welche 
die  Stirn  haben,  fiir  Wanrheit,  Gerechtigkeit  und  Freiheit  ein- 
zutreten,  konnten  ja  (Gott  behiite)  gegen  die  Notverordnung 
verstoBen,  So  etwas  tut  man  doch  nicht,  Erstens  steht  in  der 
Bibel  „seid  untertan  der  Obrigkeit,  die  Gewalt  iiber  euch  hat", 
zweitens:  was  wird  aus  der  Not  des  deutschen  Volkes  ohne 
Notverordnung?,  drittens  wirkt  nach  Ansicht  des  SDS-Haupt- 
vorstandes  die  offentliche  Kritik  an  der  Notverordnung  ver- 
bandsschadigend.  Denn  die  Geldmittel,  die  aus  Regierungs- 
kassen  jahraus  jahrein  dem  SDS  zuflieflen,  konnten  ja  plotz- 
lich  aufhoren  zu  flieBen,  wenn  die  grofite  deutsche  Schrift- 
stellerorganisation  sich  erdreistet,  fiir  Freiheit  des  Schrifttums 
einzutreten.  Diese  Moglichkeit  hat  Breuers  gesunder  Men- 
schenverstand  messerscharf  berechnet,  Deshalb  wurden  vor 
einigen  Tagen  alle  Schriftsteller,  die  solchen  unzeitgemaBen 
Ideologien  nachjagten,  durch  SDS-Notverordnung  notwendiger- 
weise  aus  dem  Verband  ausgeschlossen,  Erich  Miihsam  er- 
wahnte  bereits  in  der  ,Weltbuhne*  vom  14.  Juli  1931  Breuers 
offene  Drokung,  die  Opposition  auszuschlieBen.  Jetzt  hat  Herr 
Breuer  seine  T)rohung  wahr  gemacht.  Allerdings,  nicht  alle 
Mitglieder  des  Hauptvorstandes  sind  geschworene  Breuerianer. 
Aber  Herr  Breuer  versteht  es  trefflich,  die  zogernden  im  ge- 
eigneten  Moment  durch  seine  fascinierende  Persdnlichkeit  zu 
bezaubern.    Heil! 

Folgende  Kollegen  stehen  auf  der  AusschluBliste;  Ber- 
nard von  Brentano,  Bert  Brecht,  Dr.  Hermann  Budzisiawski, 
Dr.  Willi  Wolfradt,  Dr.  Max  Goering,  Werner  Turk,  Walter 
Zadek,  Walther  Karsch,  Otto  Corbach,  Friedrich  Natterbth, 
Heinz  Ludwig,  Sylvia  v.  Harden,  Oscar  Ludwig  Brandt,  Anna 
Seghers,  Erich  Miihsam,  David  Luschnat,  Dr.  Bruno  Adler,  Eva 
Melinger,  Siegfried  Jacoby,  Dr.  Edith  Bone,  Siegmund  Reis, 
Karl  Feller,  Rudolf  Oehring,  Maria  Leitner,  Johannes  R.Becher, 
Erich  Weinert,  Olga  Halpern,  Berta  Lask,  Karl  Griinberg,  Paul 
Baudisch,  Alfred  Kurella,  Klaus  Neukrantz,  Lu  Marten,  Georg 
N.  Felke,  Dr.  Felix  Pincus-Flattow,  Erich  Baron,  Regina  Ruben, 
Kurt  Klaber,  Recha  Rotschild,  Otto  Muller-Glosa,  Andor  Ga- 
bor,  Julian  Borchardt,  Dr.  Kate  Marcus,  Prof.  Dr.  Alfons  Gold- 

584  ' 


schmidt,  Ludwig  Rennt  Wicland  Herzfelde,  Johannes  K, 
Koenig. 

Wie  kam  diese  hef tige  Angelegenheit  zustande,  wird  der 
geneigte  Lcscr  fragen.  Das  kam  so;  Von  jeher  war  die  Tatig- 
keit  einer  kleinen  Gruppe  im  Hauptvorstand  darauf  gerichtet, 
die  Aktionskraft  des  SDS  nach  auBen  zu  lahmen.  Die  Oppo- 
sition forderte;  Umwandlung  des  SDS  in  eine  Gewerkschaft, 
damit  der  Kampf  gegen  das  Unternehmertum  zweckvoll  gefiihrt 
werden  kann.  Der  Vorstand  weigerte  sich.  Er  wollte  die  Sub- 
ventionen  nicht  verlieren.  SchlieBIich  wurde  der  Name  ,,Ge- 
werkschaft  deutscher  Schriftsteller"  in  Klammern  beigefiigt. 
Weiter  geschah  nichts,  Mehrheitsbeschliisse  der  Mitglieder- 
versammlung,  die  dem  Vorstand  nicht  paBten,  wurden  einfach 
nicht  ausgefuhrt. 

Die  jah  ansteigende  Not  unter  den  Schriftstellern  erweckte 
anfangs  1931  neue  Oppositionsstromungen  unter  den  Fachgrup- 
pen.  Man  wollte  sich  die  freche  Bevormundung  durch'  die 
kleine  Gruppe  im  Hauptvorstand  nicht  langer  gefallen  lassen. 

In  der  Jahres-Hauptversammlung  am  29.  Marz  1931  kommt 
es  zum  off enen  Bruch,  Am  Abend  vorher  feiert  der  Haupt- 
vorstand mit  den  auswartigen  Delegierten  den  sechzigsten  Ge- 
burtstag  von  Heinrich  Mann.  Der  Prasident  der  Dichterakade- 
mie  wird  zum  Ehrenmitglied  des  SDS  ernannt.  In  seiner  Fest- 
rede  auf  diesem  Bankett  wiinscht  Heinrich  Mann:  ,,durch  die 
enge  Gemeinschaft  der  deutschen  Schriftsteller  eine  politische 
Macht  in  dem  besondern  Sinne  erstehen  zu  sehen,  daB  wir,  wie 
immer  sonst  auch  gefarbtt  gemeinsam  Front  machen  gegen  je- 
den  Einbruch  in  die  Geistesfreiheit,  gegen  die  Verfinsterung, 
die  von  der  Zensur  her  droht,  auch  gegen  jede  Beeintrachti- 
gung  der  wirtschaftlichen  Rechte  des  Schriftstellers."  {BT.  vom 
30.  Marz  1931.)  Dies  alles  wiinscht  Heinrich  Mann  in  seiner 
Geburtstagsfestrede.  Zur  Verwirklichung  seiner  Wiinsche  hat 
er  bisher  nichts   getan. 

Gegen  Ende  der  Hauptversammlung  vereinigt  Herr  Doktor 
Friedrich  aus  Bayern  in  seiner  Hand  32  Stimmen,  das  heiBt  die 
Vertretung  von  achthundert  Mitgliedern.  Er  hat  sich  die  Stint 
men  der  inzwischen  abgereisten  Delegierten  iibertragen  lassen, 
Auch  Herr  Breuer  mit  seinen  Paladinen  hat  kraftige  Aktien- 
pakete  von  abgereisten  Delegierten  in  Empfang  genommen.  Die 
Herren  Breuer  und  Friedrich  sind  in  der  bequemen  Lage, 
samtliche  Antrage,  die  ihnen  nicht  passen,  niederzustimmen. 
Die  berliner  Delegierten  verlassen  unter  Protest  den  Saal. 
Zahlreiche  auswartige  Delegationen  schlieBen  sich  den  Ber- 
linern  an.  Der  SDS  scheint  sich  in  Einzelteile  aufiosen  zu  wol- 
len.    Mit  Miihe  wird  der  Bruch  zusammengeleimt, 

Der  Kampf  geht  weiter.  Mittelpunkt  des  Kampfes  wird  in 
zunehmendem  MaBe  Berlin.  Der  Hauptvorstand  vermutet  die 
tatkraftigsten  Mitglieder  der  biirgerlichen  Opposition  in  der 
Fachgruppe  der  freien  Pressemitarbeiter.  Diese  Fachgruppe 
wird  ausgeschaltet.  Durch  einen  statutenwidrigen  Willkiirakt 
wird  erreicht,  daB  zahlreiche  Mitglieder  angeblich  ihr  Stimm- 
recht  im  SDS  eingebuflt  haben.  Berlin  hat  inzwischen  am 
11,  Mai  seinem  Vorstand  einstimmig  das  MiBtrauen  ausgespro- 

585 


chen.     Scchs   Wochcn  spater   konnen  die  Herren  cndlich  zum 
Rticktritt  gezwungen  werden. 

Neuwahl  des  bcrlincr  Vorstandes  ist  nunmchr  in 
Sicht:  Jakob  Schaffner  auBert  sich  zustimmend,  schreibt 
der  Opposition  mehrere  Briefe,  fordert  sofortige  Einberufung 
eixier  aufierordentlichen  Hauptyersammlung,  fordert  Abberu- 
fung  des  Hauptvorstandes  und  des  geschaftsfiihrenden  Direktors 
Werner  Schendell.  Auf  dieser  Grundlage  wird  Jakob  Schaff- 
ner durch  die  Opposition  im  SDS  zur  Wahl  gestellt  und  von 
der  Mitgliederversammlung  am  29.  Juni  zum  ersten  Vorsitzen- 
den  von  Berlin  gewahlt.  Die  Wahl  der  Beisitzer  wird  spater 
aus  formellen  Griinden  angefochten,  so  da8  Jakob  Schaffner 
allein  wirken  kann,  Wie  wirkt  Jakob  Schaffner?  Es  offen- 
bart  sich  schnelL  Als  die  Pressenotverordnung  der  Bruning- 
regierung  erscheint,  unterstiitzt  der  Hauptvorstand  nachdriick- 
lich  den  §  1  der  Presse-Notverordnung  iiber  Zwangsveroffent- 
lichung.  Um  den  Hauptvorstand  fur  sein  verbandsschadigen- 
des  Vorgehen  zur  Rechenschaft  zu  ziehen,  verlangt  die  Oppo- 
sition von  ihrem  neugewahlten  ersten  Vorsitzenden  die  Ein- 
berufung  einer  berliner  Gauversammlung.  Jakob  Schaffner 
beruft  die  Versammlung  nicht  ein.  Jakob  Schaffner  geht  offen 
ins  Lager  des  Hauptvorstandes  iiber.  Die  berliner  Gauver- 
sammlung  wird  vom  Hauptvorstand  verhindert,  von  der  Polizei 
auseinandergetrieben. 

Neues  Bild;  Im  Verbandsorgan  ,Der  Schriftsteller'  erklart 
sich  Schaffner  fur  Auflosung  der  berliner  Gaugruppe, 
Durch  Aufteilung  in  kleine  Griippchen  hdfft  er,  die 
,,tatenhungrige  und  auf  Leistung  erpichte  Menschenart"  kalt- 
zustellen.  Sie  sollen  ihre  Beschaftigung  haben,  diese  unruhigen 
Leute,  die  es  sich  immer  noch  nicht  abgewohnt  haben,  fiir  Frei- 
heit  des  Schrifttums  einzutreten.  In  kleinen  Sondersparten 
soil  sie  sich  totlaufen,  diese  auf  Gerechtigkeit  und  Wahrheit 
, .erpichte  Menschenart".  Jakob  Schaffner  als  Befiirworter  der 
Zensur  hat  jetzt  seine  Wahler  geschlossen  gegen  sich.  Nie- 
mand  erhebt  sich  zu  seiner  Verteidigung.  Herr  Schaffner  je- 
doch  legt  nicht  etwa  sein  Amt  nieder,  sondern  beantragt  Aus- 
schlieBung  seiner  Wahler  aus  dem  SDS. 

Der  Hauptvorstand  gewahrt  ihm  die  Bitte,  obwohl  nach 
§  7  der  Satzung  nur  der  berliner  Gauvorstand  iiber  den  Aus* 
schlufi  von  Mitgliedern  BeschluB  fasseri  kannf  erst  nach  An- 
horung  des  Gauvorstandes  der  Hauptvorstand.  Ober  diese  Be- 
stimmung  setzt  sich  der  Hauptvorstand  hinweg,  er  ist  Richter 
in  eigner  Sache,  ist  Angeklagterf  Staatsanwalt  und  Richter  zu- 
gleich.  So  vollzieht  sich  der  groteske  Unsinn,  daB  die  Ange- 
klagten  ihre  Anklager  aburteilen. 

Die  Opposition  im  SDS  gibt  sich  ein  wirtschaftliches  und 
berufsflolitisches  Programm.  Nicht  etwa  Sowjet-Deutschlahd 
ist  geplant  —  denn  dreiviertel  der  Oppositian  ist  burgerlich  — 
sondern  Sicherung  der  materiellen  und  geistigen  Unabhangig- 
keit  aller  Schriftsteller.  Das  schmeckt  nicht  nach  Bolschewis- 
mus.  Wenn  die  Herren  Breuer  und  Schendell  verbreiten^  fetzt 
sei  die  bblschewistische  Zelle  aus  dem  SDS  eliminiert,  so  kon- 
nen wir  uns  mit   dieser  Lesart  nicht  einverstanden  erklaren. 

586 


Verbandstechnische  Einzelheiten  sind  unwichtig.  Die  Sym- 
ptome  der  Zersetzung  bewegen  die  Opposition  im  Augenblick 
nicht,  da  der  Kampl  in  cin  Stadium  getreten  ist,  das*  prinzi- 
pielle  Stellungnahme  erfordert.  Zum  Beispiel  wtirde  wahrend 
der  monatelangen  Kampfe  kcin  Gewicht  gelegt  auf  die  phan- 
tastische  Tatsache,  dafi  der  Vcrband  26  800  Mark  jahrlich  an 
Mitgliedsbeitragen  einnimmt,  wahrend  der  Geschaftsfiihrer  fur 
seine  Person  ein  Gehalt  von  10  400  Mark  jahrlich  bezieht.  Dies 
alles  interessiert  jetzt  nicht  mehr. 

Die  Opposition  im  SDS  —  zu  dreiviertel  aus  'biirgerlichen 
Schriftstellern  bestehend  —  wird  sich  nicht  einschiichtern 
lassen.  Sie  bleibt  im  SDS  und  kampft  ftir  die,  Grundrechte  des 
Berufes:  Freiheit  der  MeinungsauBerung,  Gerechtigkeit  des  so- 
zialen  Urteils,  Wahrheit  des  Wortes.  Die  Opposition  im  SDS 
hat  zu  Montag,  dem  26,  Oktober,  die  gesamte  Presse  und  die 
Offentlichkeit  in  die  Johann-Georg-Sale,  Halensee,  eingeladen, 
damit  Vertreter  aller  Parteien  und  Richtungen  Gelegenheit 
haben,  die  Ziele  und  die  bisher  geleistete  Arbeit  der  Oppo- 
sition kennenzulernen. 

Absicht  des  Hauptvorstandes  ist  Spaltung.  Unweigerlich 
stirbt  der  SDS ,  falls  es  den  Herren  gelingen  sollte,  diesen 
MassenausschluB  zu  bewerkstelligen,  Sechzig  Personen  auszu- 
stoBen,  die  kein  andres  Verbrechen  begangen  haben,  als  fiir 
Freiheit  des  Schrifttums  einzutreten,  das  kann  sich  selbst  der 
SDS  nicht  leisten.  Ohne  die  Opposition  kann  der  Verband 
nicht  leben.,  Ohne  die  Herren  Breuer  und  Schendell  ganz  gewiB, 


An  einetn  Sterbebett  von  Hanns-Erich  Kaminski 

Us  gibt  haBliche  Menschen,  die  im  Sterben  schon  werden.  Von 
1-1  der  Klasse,  die  gegenwartig  in  Agonie  liegt,  kann  man  das 
nicht  behaupten.  Die  Bourgeoisie  stirbt  tioch  schlechter  als  sie 
gelebt  hat,  Sollte  ein  kiinf tiger  Historiker  sie  gleich  andern 
Toten  I(verklart'*  nennen  wollen,  wird  er  viel  Phantasie  haben 
mussen. 

Auch  die  Bourgeoisie  hat  ihre  Pubertatsjahre  gehabtt  in 
denen  alle  Madchen  schon  und  alle  Jiinglinge  begabt  sind.  Da- 
mals  glaubte  sie  an  den  f)Fortschritt'\  und  die  Voraussetzung 
dazu  sollte  die  .jFreiheit'1  sein.  Die  junge  Bourgeoisie  war 
ganz  durchdrungen  von  der  Cberzeugung,  man  brauche  nur 
das  Spiel  der  freien  Krafte  wirken  zu  lassen,  damit  alle  Gegen- 
satze  sich  von  selbst  ausglichen  und  der  Tiichtigste  sich  durch- 
setze.  In  diesem  System  des  idealisierten  Egoismus  war  es 
fiir  das  Gedeihen  der  Gesamtheit  nur  notig,  der  naturlichen 
Auslese  durch  die  freie  Konkurrenz  die  juristische  Basis  zu 
geben>  So  entstand  die  groBe  Errungenschaft  der  Bourgeoisie: 
der  Rechtsstaat,  in  dem  vor  dem  Gesetz  alle  gleich  sind. 

Schon  sieht  er  aus,  unser  Rechtsstaat!  Wo  sind  sie  hinf 
die  heiligen  Grundsatze  des  Liberalismus?  Die  Bourgeoisie  hat 
ihr  naiv-optimistisches  Selbstgeftihl  langst  verloren,  und  nun 
tritt  ihre  starkste  Eigenschaft  hefvor:  die  Feigheit. 

587 


Diesc  Klasse  hat  das  Lcben  kommerzialisiert,  sic  hat 
jeden  Mythos,  jedcn  Heroismus,  jedes  Opfer  aus  der  Welt  ent- 
fernt,  abcr  sic  hat  nie  den  Mut  gehabt,  sich  zu  sich  sclbst  zu 
bekennen.  Sic  hat  sich  stets  an  glanzenden  Liigen  und  roman- 
tischen  Bildcrn  berauscht,  ttFreiheit"  gerufen,  wenn  sic  ihr  Ge- 
schaft,  ^Gerechtigkeit",  wenn  sie  ihre  Ruhe  meinte.  Sie  hat  die 
Metapher  an  die  Stelle  dcr  Realitat,  die  Phrase  an  die  Stelle 
der  Tat,  das  Zitat  an  die  Stelle  des  Gedankens  gesetzt.  Immer 
gait  es  ihr  als  gefahrlich,  cine  Katze  eine  Katze  zu  nennen.  All 
ihre  Liebe  gehorte  darum  auch  dem  Professional  des  schonen 
Scheins,  dem  Schauspieler. 

Die  Wahrheit  aber,  die  sie  am  wenigsten  vcrtragen 
konnte,  war  die,  daB  am  Ende  des  Lebcns  der  Tod  steht. 
Nichts  erscheint  der  Bourgeoisie  taktloser  und  grausamer  als 
einem  Menschen  zu  sagen,  er  imisse  sterben.  Und  dabei  hat 
sic  stets  eine  besondre  Vorliebe  fur  die  Euthanasie  gchabt! 
Wic  haben  unsre  Lehrer  uns  das  Ende  des  Sokrates  einge- 
paukt,  die  Verse  der  Odyssee,  in  denen  dcr  Schattcn  Achills 
erklart,  er  mochte  licber  als  Tagelohner  leben  als  die  ganze 
Schar  vermoderter  Toten  behcrrschen,  iibcrschlugen  wir  dafiir, 
selbst  den  Prinzen  von  Homburg,  der  sich  yor  dem  Tod  furchtet, 
lernten  wir  verachten,  obglcich  er  doch  brand enburgischer 
General  war. 

Die  unhcroischste  Klasse  der  Weltgeschichte  hat  auch  den 
Tod,  grade  den  Tod,  verfalscht  und  umgelogen.  Ihr  Ideal  hatte 
es  scin  imissen,  am  Schreibtisch  zu  sterben,  den  herabgesunkc- 
nen  Kopf  auf  dem  Kontobuch,  in  dem  das  Haben  groficr  ist  als 
das  Soil,  Statt  dessen  begcisterten  sie  sich  fur  das  Ende  des 
Cyrano  von  Bergerac  t,mit  einem  guten  Wort  fur  eine  gute 
Sache'*.  Wilhelm  II.,  diese  Spitzenlcistung  der  dcutschen 
Bourgeoisie,  schrieb  an  Bismarck^  cr  sei  bereit,  „fechtend  auf 
den  Stufen  seines  Thrones  zu  fallen".  Vielleicht  sah  er  sich 
sogar  wirklich  schon  in  der  schimmerndeh  Uniform  dcr  Garde 
du  Corps  vor  einem  mit  rotem  Samt  bezogenen  Scsscl  den 
Sabel  schwingen.  Spater  wolltc  eine  ganze  Generation  von 
Dam  en  gleich  Hedda  Gabler  ,,mit  Weinlaub  im  Haar"  sterben. 
Und  wo  gibt  es  einen  Stammtisch,  an  dem  jetzt  nicht  min- 
destens  einmal  wochentlich  erklart  wird,  das  deutsche 
Volk  miissc  sich  schlimmstcnfalls  unter  den  Trummern 
des  Reichs  begraben?  Vermutlich  haben  wir  uns  das 
so  vorzustellen,  daB,  wenn  alles  schicf  gcgangen  ist, 
Adolf  Hitler  sich  in  die  Reichspulverkammer  begibt  und 
einen  Feuerbrand  hineinschleudcrt,  indes  in  der  Wagen- 
burg  Frauen  und  Kinder  patriotische  Lieder  singen.  Die 
Bourgeoisie  kennt  keinc  Ehrfurcht,  iiberall  findet  sie  nur  Vor- 
wande  fiir  Phrasen  und  Metaphern.  Sclbst  die  fiirchterlichste 
Todcsart  des  20.  Jahrhunderts,  den  Tod  durch  Gas,  kilpmeter- 
weit  vom  Feind  entfernt,  hat  diesc  Klasse  ,,Heldentod"  ge- 
nannt. 

Und  nun  ist  es  so  weit.  Nun  muB  die  Bourgeoisie  dem 
Tod  ins  Auge  blicken,  nun  sieht  sie,  daB  cr  kalt  und  hart  und 
grausam  ist  und  durchaus  nicht  schon,  sondern  daB  cr  meuchle- 
risch  heranschleicht   und   daB   hintcr  ihm  das   grausige  Nichts 

588 


steht.  Der  Tod?  Ach,  dem  Einzelnen  droht  nicht  einmal  das 
physische  Ende,  nuf  die  Klasse  stirbt.  Dem  Einzelncn  droht 
schlimmstenf  alls  Armut,  das  Schicksal  von  Millionen  also. 
Doch  mit  einem  Schlag  sind  die  heroischen  Bilder  ver- 
schwunden. 

Jetzt  heifit  es:  Rette  sich  wer  kann!,  urid  das  einzige  Ge- 
fuhl,  das  die  Bourgeoisie  sich  in  ihrer  Todesangst  noch  ge- 
stattet,  ist  Mitleid.  Mitleid  mit  wem?  Etwa  mit  den  Arbeits- 
losen,  die  vor  unsern  Augen  verhungern?  Oder  mit  den  vierzig 
Millionen  Chinesen,  die  ertrinken  ?  Nein,  die  Bourgeoisie 
braucht  den  groSten  Teil  ihres  Mitleids  fur  sich  selber  und 
den  Rest  fur  die  unehrliche  Sentimentalitat,  die  den  Schmuck 
ihres  Daseins  bildete  und  die  sie  auch  jetzt  nicht  lassen  kann. 
In  Wien  hat  einer  Schwalben,  die  nicht  rechtzeitig  nach  dem 
Siiden  geflogen  waren,  per  FJugzeug  an  die  Adria  gebracht. 
Wie  edelmutig!  Es  ist  fast  wie  friiher  auf  Wohltatigkeits- 
festen.  Schwalben  haben  keine  Fauste,  die  sie  ballen  konnten, 
sie  stehen  auch  nicht  mit  anklagenden  Blicken  voir  den 
Theatern  und  Restaurants,  uin  das  Vorgefuhl  des  Vergniigens 
zu  beeintrachtigen.  Schwalben  kann  man  noch  Wohltaten  er- 
weisen  —  von  Bettlern  kann  man  sich  hochstens  loskaufen. 

Die  Bourgeoisie  ist  kein  reiner  Tor,  der  durch  Mitleid 
wissend  wird.  Sie  zittert  vor  der  Armut,  aber  selbst  die  Ar- 
mut  gilt  ihr  nicht  als  absoluter  Schrecken.  Er  ist  relativ,  je 
nach  dem,  was  der  Arme  friiher  bessesen  hat.  Viel  schlimmer 
als  der  Hunger  des  Wohlfahrtsempfangers  ist  in  ihren  Augen 
die  Notlage  des  ehemals  Reichen,  der  einen  Teil  seiner  Villa 
vermieten,  sein  Reitpferd  verkaufen  und  sein  Hausmadchen 
entlassen  muB.  Millionen  Menschen  fehlt  es  am  Notdurftig- 
sten?  Traurig.  Aber  dafl  dieser  oder  jener  die  Halfte  seiner 
Aufsichtsratsposten  verloren  hat,  das  ist  nicht  auszudenken! 

Die  Jugend  Eurbpas  ist  langst  aufgebrochen,  urn  sich  ehr- 
lichere,  mannlichere  Ideale  als  die  ererbten  zu  suchen.  Die 
Bourgeoisie  jedoch  furchtet  sich  noch  auf  dem  Sterbebett  vor 
der  Wahrheit  und  noch  ihre  letzten  Worte  sind  lauter  Liigen. 
Sie  sagt  „die  Wirtschaft'7  wenn  sie  die  Millionare,  sie  sagt 
^Abbau",  wenn  sie  das  Elend  der  Massen,  sie  sagt  „Komfort'\ 
wenn  sie  ihren  Luxus,  sie  sagt  „Notverordnung",  wehn  sie  Ge- 
walt  meint,  so  wie  sie  immer  Recht  statt  Macht,  Moral  statt 
Profit  gesagt  hat.  Aus  ihrem  Rechtsstaat  ist  langst  ihr  Beute- 
stiick  rfeworden,  aber  sie  halt  inimer  noch  f est  ah  ihrem  libe- 
ralen  Firmenschild.  Haben  wir  eine  Diktatur?  Beileibe  nicht! 
Wir  haben  die  Volkssouveranitat,  das  parlamentafische  System 
und  die  Ministerverantwortlichkeit,  die  Grundrechte  der 
Staatsbtirger  sind  gewahrleistet,  und  der  Reichsprasident  ist 
nur  die  representative  Spitze  des  Staates. 

Wen  tauscht  die  herrschende  Klasse  eigentlich  noch? 
Sich  selbst!  Immer  hat  sie  sich  selbst  noch  mehr  als  andre  be- 
logeri,  sie  beltigt  sich  auch  auf  dem  Totenbett  noch,  wah- 
rend  die  Erben  schon  im  Sterbezimmer  warten,  Aber  viel- 
leieht  hort  sie  eine  Stimme,  die  ihr  wie  Richard  III.  zuruft: 
„Traum  weiter,  traum  vofl  Tod  und  Verderben:  Du  sollst  ver^ 
.zweifeln  und  verzweifelnd  st erben." 

589 


Doktor  Genter  in  Liibeck  von  curt  zetm 

Curt  Zeun  sendet  tins  als  Mitarbeiter  Doktor  Genters  und 
Beauftragter  der  lubecker  Eltern  den  folgenden  Artikel: 
In  Liibeck  soil  auf  dem  Wege  des  Prozesses  die  Wahrheit 
iiber  die  Gefahrdung  von  254  gefiitterten  Kindern,  von 
denen  befeits  76  verstorben  sind,  offenkundig  werden.  Die 
Welt,  254  Eltern  warten  auf  die  Siihne  einer  Tat,  die  ihnen 
eine  Zeit  furchtbarer  Aufregung  und  mafilosen  Leides  war,  Sie 
kampfen  unerbittlich  den  harten,  zweifelhaften  Kampf  um 
Recht  und  Gerechtigkeit,  Es  wird  sich  entscheiden,  wieweit 
Professor  Jastrow  der  Wahrheit  nahe  gekommen  ist  mit  seinem 
Ausspruch:  ^Ich  hajte  das  Reich  noch  nicht  ganz  verloren  im 
Sinne  von  Recht  und  Gesetz;  der  Bogen  aber  ist  zum  Zersprin- 
gen  gespannt."  Das  Recht,  die  Medizin,  —  Arm  in  Arm!  Wer- 
den beide  sich  stiitzen,  werden  beide,  die  jetzt  vereint  am 
Abgrunde  wandeln,   stiirzen?. 

Zwischenakt  der  Geschehnisse  in  Liibeck  bleibt  die  Hilfe, 
die  den  Kindern  und  den  Eltern  wurde  und  von  der  der  Staat 
Liibeck  behauptet,  er  habe  alles  getan,  sie  zu  gewahren.  Dpr 
ProzeB  soil  Klarheit  schaff en,  Wahrheit  bringen.  Zum  Zwiscnen- 
akt  gehort  die  Arbeit  des  praktischen  Arztes  Doktor  Genter 
aus  Berlin,  der  nach  Liibeck  gerufen  wurde.  Er  iibernahm  von 
dem  Mitangeklagten  Professor  Doktor  Klotz  den  Toten- 
saal  des  Kinderhospitals,  besetzt  mit  elf  Kindern.  Den  To- 
tensaal,  den  bisher,  so  sagte  Professor  Klotz,  niemals  ein  Kind 
lebend  verlassen  hatte.  Unter  diesen  fand  Genter  drei  Kin- 
der und  legte  sich  auf  sie  namentlich  festt  weil  sie  nach 
seiner  Ansicht  gerettet  werden  konnten.  Er  rettete  sie  alle 
drei, 

Eltern  brachten  ihre  Kinder,  insgesamt  vierzig,  die  Genter 
alle,  ohne  Ausnahme  und  ohne  sie  sich  ausziisuchen,  behan- 
delte,  obwohl  eine  Reihe  dieser  Kinder  ebenfalls  als  aufgege- 
ben  bezeichnet  war.  Er  rettete  von  ihnen  29.  Sieben  Kinder 
wurden  spater  seiner  Behandlung  entzogen,  vier  starben. 

Und  doch  blieb  die  Wahrheit  iiber  diese  Hilfeleistung 
Genters  bis  heute  verborgen.  Wird  der  ProzeB  diese  Wahrheit 
enthiillen?  Werden  die  eingeleiteten  Disziplinarverfahren  ge- 
gen  die  Verantwortlichen,  gegen  die  Genter  und  seiner  Be- 
handlungsart  feindlichen  Beamten,  Klarheit  bringen? 

Recht,  Wahrheit,  Objektivitat,  sollen  alle  diese  Begriffe 
nur  Begriffe  sein?  Es  mochte  so  scheinen,  wenn  man  den  nach- 
stehenden  Briefwechsel  aufmerksam  verfolgt. 

* 

Berlin- Wilmersdorf,  den  13.  Juni  1931 
■  An     den  Prasidenten  des  Reichsgesundheitsrates 
Herrn  Reichsminister  des  Innern  Dr.  Wirth 
Herr  President,  Herr  Reichsminister! 
Unter  Stiitzung  auf  Artikel  126  und  Artikel   118  der  Verfassung 
des  Deutschen  Reiches-  ersuche  ich  Sie,  in  Ihrer  Eigenschaft  als  Pra- 
sident  der  angeschriebenen  Korperschaft  und  als  Gesundheitsminister, 
den   unzweifelhaft   unrichtigen   BeschluB   in   Sachen    Dr.    Genter    und 
Liibeck,   wie    er   in   der   Sitzung    des   Reichsgesundheitsrates   vom   De~ 
zember  1930  gefallt  worden  ist,  einer  Nachprufung  zu  unterziehen, 

590 


Das  Unterlagenmaterial  fur  diesen  BeschluB  ist  dem  Reichsge- 
sundheitsrat  durch  das  Gcsundheitsamt  in  Lubeck  geliefert  worden. 

Als  Beweis  dafur  dient  mir  das  fotgende  Schreiben: 
Der  President  d.  Reichsges.Amtes  Berlin,  den  16,  12.  1930 

Nr.  IV.  1188/30 

An   das   Gesundheitsamt   der   freien  und  Hansestadt 

Lubeck 

Die  mit  dem  gefl.  Schreiben  vom  29.  November  1930,  Tgb.-Nr.  1641, 
dem  Reichsgesundheitsamt  iibersandten  Schriftstiicke  sind  von  mir  im 
AnschluB  an  die  Reichsgesundheitsratsitzung  am  12.  Dezember  1930 
den  bei  der  vorerwahnten  Sitzung  anwesenden,  fiir  die  Beurteilung  der 
Frage  in  Betracht  kommenden  Sachverstandigen  des  Reichsgesund- 
heitsrates  zur  Stellungnahme  vorgelegt  werden.  Nach  einer  sehr  ein- 
gehenden  Aussprache  ist  von  diesen  Sachverstandigen  des  Reichs- 
gesundheitsrates  einstimmig  folgende  EntschlieBung  gefaBt  worden: 
„Auf  Grund  der  Berichte  iiber  die  klmischen  und  pathologisch-anato- 
mischen  Befunde  bei  Kindern,  die  mit  Antiphthisin  behandelt  wordea 
sind,  konnen  die  angehorten  Sachverstandigen  des  Reichsgesundheits- 
rates  dem  Staate  Lubeck  eine  weitere  Forderung  der  Tatigkeit  des 
Herrn  Dr.  Genter  nicht  empfehlen."  Die  Sachverstandigen  des 
Reichsgesundheitsrates  haben  mich  ermachtigt,  dem  Gesundheitsamte 
der  freien  und  Hansestadt  Lubeck  von  dieser  EntschlieBung  Kenntnis 
zu  geben. 

In  Vertretung:  gez.  Haendel. 

DaB  aber  eine  Korperschaft,  wie  der  Reichsgesundheitsrat,  unter 
Ihrem  Presidium  auf  Grund  des  Materials  des  Gesundheitsamtes  in 
Lubeck,  einer  Stelle,  die  an  der  Katastrophe  die  unzweifelhafte  Mit- 
schuld,  wenn  nicht  die  Alleinschuld,  tragt,  einen  solchen  BeschluB 
fassen  konnte,  ist  mir  genugender  Beweis,  dafi  die  Behauptungen  des 
Abgeordneten  Dr.  Solmitz,  die  unwidersprochen  blieben,  in  Lubeck, 
Biirgerschaftsprotokoll  .vom  18.  7.  30,  Seite  468,  sich  vermeintlich  auf 
Wahrheiten  stiitzen. 

Dr.  Solmitz  sagt:  n Nicht  nur  ich  allein,  sondern  auch  viele 
Kollegen,  mit  denen  ich  daruber  gesprochen  habe,  stehen  unter  dem 
zwingenden  Eindruck,  dafi  dieser  Geist  arztlicher  Standessolidaritat 
sich  bis  ins  Reichsgesundheitsamt,  das  die  Untersuchung  zu  ftihren 
hat,   hinein   ausgedehnt   hat." 

Bisher  war  es  in  der  Rechtspflege  D cuts chl and s  tiblich,  dafi  sich 
der  ()Angeklagte"  zur  Anklage  auBerte.  Niemals  ist  meines  Wissens 
dem  Angeklagten  diese  Moglichkeit  bisher  versagt  worden. 

Das  Reichsministerium  des  Innern,  das  Reichsgesundheitsamt  und 
der  Reichsgesundheitsrat  scheinen  aber  vollig  neue  Wege  zu  gehen, 
und  zwar  Wege,  die  einer  berechtigten  Kritik  bediirf en . . . 

1,  Das  Reichsgesundheitsamt  pruft  1924/25  das  Genter-Mittel  im 
Reihenversuch  an  Tieren. 

2.  Das  Reichsgesundheitsamt  findet  am  Genter-Mittel  etwas  Posi- 
tives, wie  Professor  Ludwig  Lange  in  seinem  Schreiben  vom  12.  5. 30 
an  Herrn  Professor  U.  Friedmann  feststellt,  indem  er  sagt:  „Sehr  ver- 
ehrter  Herr  Kollege!  Sehr  gerne  erfulle  ich  Ihre  Bitte  vom  9.  d.  M. 
Das  Praparat  Antiphthisin  wurde  vor  einigen  Jahren  von  mir  zur 
Orientierung  des  Reichsgesundheitsamtes  an  Meerschweinchen  gepruft. 
Die  Versuche  haben  ergeben,  daB  1.  das  Praparat  fur  die  Tiere  auch 
in  Dosen,  die,  auf  das  Korpergewicht  berechnet,  ein  Vielfaches  der 
beim  Menschen  zur  Verwendung  kommenden  Menge  betrugen,  gut  ver- 
tragen  wurde,  —  2.  eine  spezifische  Schutz-  und  Heilwirkung  gegen  die 
Tuberkulose  zwar  nicht  festgestellt  werden  konnte,  —  3.  jedoch  eine 
deutliche  Resistenzerhohung  bei  den  behandelten  Tieren  auftrat,  die 
sich  in  einer  Lebensverlangerung  um  4  bis  6  Wochen  gegenuber  den 

8  591 


Kontrollen  sowie  in  einer  auffallend  starken  Gewichtszunahme 
auBerte.  —  Das  Mittel  hatte  nach  .meinen  Erfahrungen  somit  zwar 
keine  spezifische  Wirkung  aufgewiesen,  aber  zu  einer  unverkennbaren 
giinstigen  Beeinflussung  des  Allgemeinzustandes  der  Tiere  geftihrt,  die 
beachtlich  erscheint.  Wenn  ich  auch  tiber  seine  Wirksamkeit  beim 
Menschen  kein  Urteil  abgeben  kann,  so  wiirde  sich  m.  £.  nach  den 
Ergebnissen  der  Txerversuche  eine  klinische  Uberpriifung  des  Mittels 
wegen  der  ihm  zukommenden  giinstigen  Wirkungcn  auf  den  Allgemein- 
zustand  wohl   verlohnen." 

Dem  Reichsgesundheitsamt  aber  war  es  vorbehalten,  das  positiv 
Gefundene  zu  verschweigen,  denn  die  zugesagte  Veroffentlichung 
wurde  wegen  eines  angeblichen,  bisher  nicht  nachgewiesenen  Wort- 
bruches  des  Dr.  Genter  unterlassen, 

3.  Das  Reichsgesundheitsamt  bemuhte  sich,  nachdem  die  Sache 
von  mir  erneut  aufgegrif fen  wurde,  fur  die  klinische  Oberprtifung. 

4.  Das  Reichsgesundheitsamt  gibt  nach  Lubeck,  auf  Grund  der 
Anfrage  des  Gesundheitsamtes  in  Ltibeck  Auskunft,  die  fur  Lubeck 
und  die  Eltern  die  Berufung  Genters  angezeigt  erscheinen  laBt, 

5.  Das  Reichsgesundheitsamt  erhalt  von  Lubeck,  und  zwar  vom 
Gesundheitsamt,  mit  Schreiben  vom  29.  11,  30,  Tgb.-Nr.  1641,  Unter- 
lagen  uber  die  Behandlung  des  Dr.  Genter  in  Lubeck  geliefert. 

Die  Lieferung  dieser  zu  5.  genannten  Unterlagen  erfolgt  von  der 
Behorde,  die  in  leichtfertiger  Weise  Reklame  fur  das  Verfahren  Cal- 
mette  machte,  falsche  Behauptungen  zur  Erreichung  dieses  Zieles  auf- 
stellte  und  damit  die  Eltern,  die  urn  jeden  Preis  gewonnen  werden 
muBten,  tauschte  und  irrefiihrte,  um  eigne  Ziele,  ohne  vorsichtige 
Wahl  der  Mittel  in  ausgesprochener  Schadigung  der  Gesamtheit  zu 
erreichen. 

Die  gelieferten  Unterlagen  wurden  widerspruchslos  als  allein 
richtig  und  seligmachend  anerkannt,  obwohl  dem  Reichsgesundheits- 
amt bekannt  war,  mit  welchem  HaB  Genter  von  den  Arzten  und  der 
Behorde  in  Lubeck  verfolgt  wurde.  Er  wurde  gehaBt  und  verfolgt 
und  uber  Gebiihr  verleumdet,  grade  weil  er  Erfolge  hatte,  denn  vor- 
her  hatte  sich  ja  die  Gesamtwissenschaft  in  Deutschland  zu  der  Er- 
klarung  genotigt  gesehen:  „Es  gibt  kein  Mittelf  um  diesem  furchtbaren 
Kindersterben  in  Lubeck  Einhalt  zu  gebieten." 

Man  versagte  dem  „Angeklagten"  Genter,  obwohl  man  vorher 
durch  die  Presse  hatte  erklaren  lassen,  Dr,  Genter  wird  vor  ein  wis- 
senschaftliches  Forum  beim  Reichsrfesundheitsamt  geladen,  bewuBt  und 
anscheinend  absichtlich  jede  Moglichkeit  der  Aufierung  zu  den  ge- 
lieferten Unterlagen.  Und  selbst  wenn  diese  Unterlagen  Falschungen 
dargestellt  hatten,  so  wurden  sie,  beim  Gauge  der  Sache  und  der 
Untersuchung  mit  nachfolgender  Gerichtssitzung  durch  den  Reichs- 
gesundheitsrat,  menials  als  Falschungen  erkannt  worden  sein. 

Das  Reichsgesundheitsamt,  der  Reichsgesundheitsrat  und  das 
Reichsministerium  des  Innern  saBen  also  in  Abwesenheit  des  „An- 
geklagten",  ohne  diesen  zu  benachrichtigen,  zu  Gericht  und  be- 
dienten  sich  dabei  Beweisunterlagen  gegen  den  MAngeklagten" 
und  fur  seine  angebliche  Unfahigkeit,  die  der  Mitschuldige 
am  Tode  von  76  Kindern  lief erte,  der,  weil  befangen,  eigentlich  hatte 
abgelehnt  werden  miissen^  Der  Vertreter,  der  diese  Unterlagen  lie- 
fernden  Behorde  gibt  selbst  uber  diese  Gerichtssitzung  folgende  zy- 
,  nische  AuBerung:  „Dort  brachten  wir  es  endlich  so  weit,  dafi  wir  die- 
sen  Mann  loswurden." 

Der  Reichsgesundheitsrat  lieB  sich  diese  Unterlagen  sogar  noch 
vortragen  durch  den  Direktor  des  Reichsgesundheitsamtes,  Prof, 
Dr,  Haendel,  der  im  Falle  Genter  vollig  befangen  ist  und  unbedingt 
hatte  abgelehnt  werden  miissen.  Zum  Beweis  der  Befangenheit  des 
Prof.  Haendel,  der  das  Schreiben  vom  16,  12,  30  auch  noch  unter- 
zeichnete,  verweise  ich  auf  meinen  f,Offenen  Brief"  an  Herrn  Professor 

592 


Dr,  Haendel,  Direktor  des  Reichsgesundheitsamtes  in  Berlin,  abge- 
druckt  in  der  .Medizinalpolitischen  Rundschau',  Oktoberheft  1930,  der 
auch  Ihnen,  Herr  Minister  zugesandt  worden  ist  und  worin  ich  be- 
weise,  daB  Professor  Haendel,  entsprechend  Artikel  131  der  Verf as- 
sung  des  Deutschen  Reicbes  seine  Rechte  als  Beamter  groblich  und 
fahrlassig  miBbraucht  hat. 

Professor  Dr.  Haendel  hat,  wie  die  Presse  meldete,  in  einer 
Pressekonferenz  vom  5,  7.  30,  namens  und  im  Auftrage  des  Herrn 
Reichsministers  Dr,  Wirth  erklart:  „Dr  Center  ist  in  Liibeck  aufge- 
taucht,  von  Niemanden  gerufen,  sein  Mittel  Antiphthisin  ist  leider 
nicht  sehr  ernst  zu  nehmen.     Erfolge  sind  leider  nicht  vorhanden." 

Ich  habe  dazu  mit  Schreiben  vom  6.  1.  30  an  das  Reichsgesund- 
heitsamt,  das  auch  Ihnen  Herr  Minister  zugegangen  ist,  bewiesen,  daB 
die  Erklarung  vollig  unrichtig  ist  und  habe  die  Richtigstellung  ge- 
fordert.  Die  Eltern  in  Liibeck  haben  gegen  diese  Haendelsche  Er- 
klarung in  aller  Offentlichkeit,  namlich  in  der  liibecker  Gesamtpresse, 
in  scharfster  Weise  Stellung  genommen ... 

Herr  Minister!  Dr.  Genter  ist  Erfinder  eines  Heilmittets,  Forscher 
auf  dem  Gebiete  der  Tuberkulosebekampfung,  Wenngleich  er  die 
alten  ausgetretehen  Wege  der  Forschung  verlassen  hat,  fand  er  doch 
ein  Mittel,  mit  dem  er  seit  siebzehn  Jahren  sehr  viele  groBe  Erfolge 
erzielte,  Auch  Ihnen  durften  diese  Erfolge  nicht  verschlossen  ge- 
blieben  sein;  sie  hatten  Ihnen  aber  augenfallig  werden  miissen  in 
Liibeck,  denn  Ihr  Ministerium  ist  ja  zugleich  Gesundheitsministerium, 
und  sie  hatten  Ihnen  scharfste  und  sachlichste  Prufung  zur  Pflicht 
raachen  miissen,  wenn  Sie,  wie  die  Verfassung  es  Ihnen  zur  Pflicht 
macht,  dem  Erfinder  Schutz  gewahren  wollen, 

Oder  glauben  Sie,  Herr  Minister,  daB  die  Eltern  in  Liibeck  nur 
Genter  zu  Liebe  sich  gegen  Ihren  Beamten,  den  Professor  Haendel, 
in  der  Offentlichkeit  wenden.  Glauben  Sie,  dafl  es  den  Eltern  Freude 
macht,  sich  mit  besonderen  Schreiben  an  Sie  zu»  wenden  und  Hilfe  zu- 
gunsten  des  Dr,  Genter  zii  erbitten,  wie  dies  geschehen  ist  unterm 
9,  11,  30  in  Form  einer  zweiten  Vertrauenskundgebung  fur  Genter  und 
unterm  28,  11,  30  in  Form  einer  begriindeten  Beschwerde  an  Sie, 

Was  tat  denn  Genter  eigentlich  so  Furchtbares,  daB  man  heute 
seitens  der  Behorde  und  der  Medizin  mit  Steinen  nach  ihm  wirft?  . . . 

Er  tat,  gestiitzt  auf  Artikel  163  der  Verfassung,  seine  Pflicht  . . . 
zur  Wiederherstellung  der  Gesundheit  vergifteter  Kinder  in  Liibeck, 
die  infolge  eines  unerkannten  Versehens  der  hohen  Wissenschaft  als 
Opferlammer  fiir  den  Tod  bereitstanden. 

Dr,  Genter  half  also  in  Liibeck,  eine  groBe  Anzahl  Kinder  den 
Armen  des  Todes  entreiBen,  weil  diese  von  andern  Arzten  bereits  als 
restlos  verloren  auf gegeben  waren.  War  das  die  Schuld  Genters,  daB 
er  die  Kinder  nicht  sterben  lieB,  daB  er  sie  durch  sein  Mittel  rettete; 
daB  er  damit  MiBachtung  der  Kathederwissenschaft  der  Medizin,  aber 
groBte  Achtung  dem  Leben  bezeigte? 

Herr  Minister,  alle  diese  Tatsachen  konnen  Ihnen  nicht  unbe- 
kannt  sein,  Es  kann  Ihnen  auch  nicht  unbekannt  sein,  daB  Ihr  Herr 
Ministerkollege  in  Liibeck,  der  Senator  Mehrlein,  auf  eine  Anfrage 
des  Abgeordneten  Bannemann  (Nat,-Soz.)  in  Liibeck,  2.  Sitzung  vom 
9.  3,  31,  wie  folgt  geantwortet  hat:  „Ich  habe  vorhin  vergessen,  diese 
Summe  zu  erwahnen,  und  ich  will  gleich  dariiber  Auskunft  geben, 
weil  sie  sehr  schmerzlich  ist,  Dr,  Genter  ist  seinerzeit  auf  Wunsch 
der  Eltern  von  Berlin  hierhergeholt  worden,  Er  hatte  in  Berlin  eine 
kleine  Praxis  -und  hat,  wie  wir  nachtraglich  festgestellt  haben,  das 
Mittel  Antiphthisin  erfunden,  ein  Mittel,  das  vom  Reichsgesundheits- 
amt  als  unschadlich,  vielleicht  auch  lebensverlangernd  bezeichnet 
wurde.  Besser  ware  es  gewesen,  es  ware  vollig  abgelehnt  worden. 
Von  den  Eltern  haben  sich  leider  eine  groBe  Anzahl  auf  diesen 
Mann   furchtbar   verbissen   und    ihn    fiir   einen   Wundertater   gehalten. 

593 


Seine  Behandlung  war  cine  solche,  die  man  als  Laie  fiberhaupt  nicht 
verstehen  kann.  Das  Kind  wurde  taglich  im  GesaB  geimpft,  und  zwar 
erhielt  jedes  Kind  mindestens  100  Sprit  zen,  wodurch  die  Heilung  ein- 
treten  sollte.  Wir  haben  uns  dagegen  gewandt,  indem  wir  das  lfibeck- 
hamburger  Konsilium  der  Arzte  gegen  Genter  und  sein  Verfahren  an- 
gingen.  Das  sagte  aber,  wenn  das  Reichsgesundheitsamt  das  Mittel  so 
bezeichnet,  wie  es  gesehehen  war,  konnte  man  nichts  dagegen  machen. 
Wir  sind  dann  weiter  gegangen.  Als  Genter  erklarte,  er  musse  min- 
destens nocb  40  Sprit  zen  den  armen  Sauglingen  geben,  im  ganzen  also 
140  Spritzen,  haben  wir  uns  an  das  Reichsgesundheitsamt  gewandt. 
Dieses  aber  wartete  erst  die  Sitzung  des  Reichsgesundheitsrates  am 
17.  Dezember  v.  J,  ab.  Dort  brachten  wir  es  endlich  so  weit,  daB  wir 
den  Mann  los  wurden,  indem  wir  ein  Gutachten  gegen  das  Verfahren 
Genters  erzielten.  So  ist  er  im  Januar  von  uns  gegangen.  Dr.  Gen- 
ter hat  insgesamt  48  850  RM.  bekommen.  Es  ist  ein  direkter  Skandal, 
daB  dieser  Mann,  gestfitzt  auf  viele  Eltern,  die  heute  noch  teilweise 
auf  ihn  schworen,  mit  diesem  Betrage  fiber  den  Harz  gegangen  ist/' 

Das  aber  erklarte  derselbe  Minister,  dem  die  Eltern  in  einer  Be- 
sprechung  am  8.  12.  30  im  Gesundheitsamt  in  Lubeck  die  Erfolge 
Genters  und  die  MiBgunst  und  gehassigen  von  Neid  erfullten  AuBe- 
rungen  einzelner  lubecker  Arzte  berichteten.  Derselbe  Minister,  der 
dem  Vernehmen  nach  zum  Ausdruck  gebracbt  hat,  daB  er,  falls  er 
selbst  ein  Calmette-Kind  hatte,  es  wahrscheinlich  bei  den  Erfolgen 
Genters  auch  von  diesem  wurde  behandeln  lassen.  Derselbe  Minister, 
der,  sobald  sich  Anklagen  gegen  ihn  selbst  richten,  sich  als  blutiger 
Laie  bezeichnete,  spielt  sich  in  seiner  Erklarung  plotzlich  als  Sach- 
verstandiger  gegen  Genter  auf. 

Und  weiter,  kann  Ihnen,  Herr  Minister,  nicht  unbekannt  geblie- 
ben  sein,  daB  die  Eltern  in  Lubeck  Dr.  Genter  am  13.  4.  1931  erneut 
nach  Lubeck  berufen  haben  und  das  Gesundheitsamt  darum  angingen, 
daB  es  die  Kosten  4er  Behandlung  durch  Dr.  Genter  ubernehmen 
sollte...  Das  Gesundheitsamt  in  Lubeck  hat  die  Kostentibernahme 
abgelehnt  und  soil  damit  dem  Vernehmen  nach  erneut  erhebliche  Un- 
ruhe  in  die  beteiligten  Kreise  getragen  haben. 

In  der  Ablehnung  aber  vom  19.  5.  31,  Tgb.-Nr.  1077,  beruft  sich 
das  Gesundheitsamt  in  Lubeck  auf  das  Werturteil  des  Reichsgesund- 
heitsamtes  und  -rates,  niedergelegt  im  Schreiben  vom  16.  12.  30,  IV 
1188/30,  das,  wie  ich  bewiesen  habe  und  in  einem  Straf-  oder  Zivil- 
prozeB  gegen  mtch  beweisen  werde,  vdllig  falsch  ist,  da  Genters  Mit- 
tel einwandfrei,  auch  das  stelle  ich  unter  Beweis,  Tuberkulose  aus- 
heilt  und  sogar  in  den  Vergiftungsfallen  m  Lubeck  ausgeheilt  hat. 

Meines  Wissens  hat  sich  selbst  einer  der  riihrigsten  Sachverstan- 
digen  des  Reichsgesundheitsrates  im  lubecker  Ungliick  als  vollig  ohne 
Sachkenntnis  bezeichnet  und  diese  Erklarung  beim  Untersuchungs- 
richter  zu  den  Akten  gegeben.  Da  dieser  Sachverstandige  der  Ab- 
geordnete  Dr.  Moses  sein  soil,  frage  ich,  ob  dieser  Sachverstandige, 
den  die  Eltern  in  einer  Versammlung  in  Lubeck  fiber  die  Unglucks- 
ursachen  nicht  zum  SchluBwort  kommen  liefien  und  ihn  ablehnten, 
beim   Beschlusse   gegen   Genter  ebenfalls  mitgewirkt   hat . . . 

Die  Hauptschuld  trifft  aber  unstreitig  die  Sachverstandigen  des 
Reichsgesundheitsrates,  die  an  der  Beseitigung  der  entstandenen 
Schaden  mitarbeiten  soil  ten  und  die  in  einer  Sitzung  auf  Grund  zwei- 
felhaften  Materials,  geliefert  vom  Mitschuldigen  an  der  Katastrophe, 
der  obendrein  noch  erheblich  gegen  Genter  eingestellt  war,  ein  leicht- 
fertiges  Urteil  fiber  ein  Verfahren  fallten  und  damit  die  Todeskurve 
in  Lubeck  vergrofierten  ... 

Herr  Prasident,  Herr  Minister,  ich  zitiere  zum  Fall  Genter  und 
zum  Verhalten  der  arztlichen  Kollegen  Genter  gegeniiber,  Herrn  Pro- 
fessor Dn  His,  der  sagte;  „Von  alien  dunklen  Ehrenmannern  wird 
dem  Arztestand  auch  nicht  einer  geschenkt,  denn  sie  alle,  und  wehn 

594 


sie  auch  noch  so  unfahig  waren,  werden  Arzte,  denn  mit  der  Moglich- 
keit,  dafl  sie  in  der  Staatsprufung  durchfallen  konnten,  ist  nicht  zu 
rechnen" , , , 

Ich  erwarte  Ihre  Stellungnahme  als  President  der  angeschriebe- 
ncn  Korperschaft,  als  Gcsundheits-  und  Verfassungsminister,  und  er- 
bitte  diese  Stellungnahme  mdglichst  umgehend,  Zur  personlichen  Be- 
sprechung  und  zur  Beweisfufarung  mit  dem  im  Laufe  von  zwolf  Mo- 
nateri  in  Liibeck  gesammelten  Material  stehe  ich  zur  Verfiigung,  wie 
ich  mich  auch  zur  gerichtlichen  Verfolgung  und  Beweisfiihrung  be- 
reit  halte . . ,  gez.  Curt  Zeun 

* 

Au!  diesen  Brief  antwortete  das  Reichsministerium  des  Innern 
nach  einer  Mahnung,  datiert  vom  28.  Juli,  am  7.  August  mit  dem  fol- 
genden  Schreiben: 

An  Herrn  Curt  Zeun   in  Berlin- Wilmersdorf 
Auf  das  gefallige  Schreiben  vom  28,  Juli 
1931,  betrelfend  Heilverfahren  des  Dr.  Center, 

Im  Hinblick  auf  Form  und  Inhalt  Hires  Schreibens  vom 
13,  Juni  1931  mufi  ich  leider  davon  absehen,  in  eine  Ausein- 
andersetzung  mit  den  darin  enthaltenen  Darlegungen  einzu- 
treten, 

Im  Auftrag 
gez.  Dr.  Dammann. 
Beglaubigt 
StempeL  gez.  Unterschrift. 

Ministerialkanzleisekretar, 
* 

Acht  Monate  schwerster  Arbeit  und  taglichen  Ringens 
brachten  Genter  bei  seiner  Riickkehr  nach  Berlin: 

Sperrung  seiner  durch  einen  Vertreter  in  Berlin  verdienten 

und  angeforderten  Kassenbeziige,  Kampf  des  Ortskranken- 

kassenverbandes, 
Kampf  der  Standesorganisation  der  Arzte  in  Berlin,  weil  er 

entgegen  den  Ergebnissen  der  offiziellen  Wissenschaft  ein 

Mittel  zu  haben  glaubte,  das  diesem  furchtbaren  Kinder- 

sterben  in  Liibeck  Einhalt  gebieten  konnte  und  das  sich 

im  Laufe   von  etwa  zwanzig  Jahren  in  seiner  Praxis  be- 

wahrt  hatte, 
Zahlungsverzogerung  der   ihm  zustehenden  Gebuhren, 
Verweigerung  der  Bezahlung  seines  eignen  in  Liibeck  ange- 

wandten  Mittels, 
Prozesse  uber  Prozesse,  die  durch  das  Armenrecht  und  die 

Notverordnungen  ins  Endlose'  verzogert  werden, 
Ruin  seiner  Praxis  in  Berlin  infolge  seiner  acht  Monate  wiih- 

renden  Abwesenheit, 
Wirtschaftlichen  Ruin,   weil   Glaubiger   drangen    und    nicht 

verstehen  wollen,  daB  er  genau  so  arm  von  Liibeck  zu- 

ruckgekehrt  ist,  wie   er  nach  Liibeck   ging. 

Sieht  Recht  und  Gerechtigkeit  so  aus?  Wir  wollen  war- 
ten,  denn  schliefllich  wurden  andre  Menschenhelfer  und  groBe 
Wissenschaftler  ebenso  begeifert,  und  doch  wurde  ihnen  spa- 
ter  Genugtuung, 

595 


Harden  von  Walter  Metering 


In  einer  langen  Reihe  von  Jahren  hat  er  wieder 
und  wieder  seine  groBen  Fahigkeiten,  seine  ehrgeizige 
Willenskraft  eingesetzt,  um  der  Wahrheit  zu  dienen;  daB 
er  in  gleich  langer  Zeit  Unrecht  und  Obermut  verfolgt 
hat  —  und  das  nicht  immer  unter  gefahrlosen  Umstanden 
—  das  kann  nur  vollige  Parteilichkeit  verneinen,  Der- 
selbe  Knabe,  der  mit  dreizehn  Jahren  entwich,  um  seinen 
I  deal  en  nachzulaufen,  hat  sich  als  Mann  aus  Liebe  zu 
seinen  Idealen  ins  Gefangnis,  in  Verkennung  und  HaB 
von  Hunderten  geschrieben.  Er  hat  das  Zeug  zu  einem 
Helden.  Seiner  t)berzeugung  wegen  konnte  er  den  Schei- 
terhaufen  besteigen.  Moge  er  vielleicht  auch  dabei  sich 
selbst  neben  sich  sehen,  er  bestiege  ihnl 

Bjornstjerne  Bjbrnson  iiber  Maximilian  Harden 
Oberall  richteten  sich  solche  Attentate,  fast  immer, 
gegen  solche,  die  man  fur  schadlich  in  Ausubung  der 
Macht  hielt.  Ich  hatte  keine  Macht  als  die,  die  mir 
raein  biBchen  Verstand  und  FleiC  gab.  Ich  HeB  ein 
kleines  braunes  Heft  erscheinen,  fiir  das  keine  Reklame 
gemacht  wurde ♦ . ,  Und  trotzdem  mufite  ich  niederge- 
schlagen  werden   in  der  barbarischsten  Weise, 

Harden  im  ProzeB  gegen  seine  Attentater 
pjcn  siebzigsten  Geburtstag,  den  hundertsten  Todestag  ihrcr 
Helden  und  Heiligen  zu  feiern,  gehorte  zum  festeri  Kult- 
programm  des  biirgerlichen  Rituals.  Zum  ersten  Mai,  vor  dem 
nahenden  Goethejahr,  zeigt  man  auch  hier  Unsicherheit,  scheut 
man  es,  allzulaut  den  Namen  des  groBten  Geistes  zu  nennen, 
den  man  immer  anrief,  wenn  Riistungsindustrie,  Kasernentum 
und  das  nJuda-verrecke*'-Gebriill  das  Deutschtum  in  MiBkre- 
dit  brachten,  Wie  man  den  Luxus  cachiert,  so  tarnt  man  die 
Individuality!  Geld  und  Individuum  glauben  sie,  weil  bei- 
des  ihnen  stets  untrennbar  schten,  zugleich  zum  Untergang 
verurteilt.  Und  tatsachlich  wird  beides  entwertet,  nicht  aber 
wie  man  getraumt  hatte:  durch  Oberwindung,  sondern  durch 
Inflation.  Der  tausendmal  in  Ton  und  Bild  vervielfaltigte 
Mahatma  verliert  ah  Raritatsschatzung.  Nicht  rasch  genug  kann 
die  Prominentenpresse  neue  GroBen  nachdrucken.  Kein  Goethe 
laBt  sich  augenblicklich  stabilisieren.  Wirft  man  den  Namen 
Harden  in  der  Debatte,  es  werden  nur  wenige  hinhoren  — 
und  von  den  Wenigen  die  Mehrzahl  peinlich  beriihrt. 

In  Frankreich  wiirde  eine  ganze  Literatur  iiber  ihn  er- 
scheinen, in  RuBland  wiirde  man  vielleicht  eine  Gesamtaus- 
gabe  seiner  Schriften  verbieten,  dpch  haufig  daraus  zitieren, 
Zu  untersucheh,  ob  Einer  rechtmafiig  oder  zu  Unrecht  in  Ver- 
gessenheit  geriet,  ist  nur  dialektische  Spieler  ei.  Harden  aber 
ist  gar  nicht  vergessen,  sondern  einstimmig  zum  Totgeschwie- 
gensein    verurteilt    worden, 

Denn  der  HaB  gegen  ihh,  scheint  noch  selir  lebendig,  so 
lebendig  wie  in  der  Nekrologpolemik  zu  seinem  Exiltod, 

Fragt  nach  dem  Grund!  Jeder  wird  die  Argumente  aus 
dem  Gedachtnis  aufsagen:  Harden,  dieser  getaufte  Jude  und 
Antisemit!  Der  wildeste  Expansionspolitiker  bis  in  denKrieg 
und  Inspirator  der  Wilsonpunkte  spater!  Denunziant  des  Hof- 
klatsches!     Bismarckianer,  Antidreyfusard  und  Leninverehrer! 

5% 


Fur  jeden,  der  im  Schlagwortkampf  dieser  Epochc  stand, 
muB  ja  Harden  das  Plakatbild  des  Vercins  zur  Bekampfung 
von  Charakterlosigkeiten  scin! 

Aber  scit  wann  diese  Feinfiihligkeit? 

Es  soil  Weseri  geben,  Objcktc  fast  totemistischcr  Ver- 
ehrung,  die  den  Eid  auf  die  Republik  und  das  Treugelobnis 
zum  Monarchen  zugleich  ablegten!  Chauvinisten,  die  An- 
naherungsbanketten  prasidieren!  WeiBgardisten,  die  im  Sow- 
jetdienst  den  in  Ungnade  gefallenen  Bolschewisten  verhaften! 
Prasidenten  der  Republik,  die  acht  Wochen  nach  der  Macht- 
ergreifung,  ihre  Heifer  als  Landesverrater  einkerkern! 

Viel  dreisterer  Gesinnungsumschwung  ist  Andern  verziehen, 
ja  zur  Ehre  angerechnet  worden!  Wie  Harden  ihn  vollzog. 
war  es  stets  die  unpopularste  Taktik,  mit  dem  einzigen  Ziele: 
zu  entlarven.  Priift  man  den  AnlaB  seiner  Wandlungen  histo- 
risch  nach,  das  ergibt  sich  klar:  nie  hat  er  um  auBerer  Vor- 
teile  willen,  nie  aus  Bequemlichkeit  seine  Oberzeugung  ge- 
wechselt!  Zu  seinen  Ausbriichen  oft  maBIosen  Zornes  trieb 
ihn  die  stets  gleiche  Feindschaft,  Von  alien  Seiten  berannte 
er  das  wilhelminische  Unheil-System,  aus  alien  Gedankengan- 
gen:  den  feudalistischen  wie  sozialistischen  heraus  enthiillte 
er  die  Briichigkeit.  Wie  muBte  er  im  Parvenudeutschland 
des  Griinderpliisches,  dem  jede  satirische  Regung  und'  noch 
mehr  das  Pamphlet  wesensfremd  war,  miBverstanden  werden. 
DaB  man  ihn  miBverstand,  hat  sich  am  AbschluB  seiner  Kar- 
riere  herausgestellt.  Erst  als  man  das  begriff,  hat  man  ihn 
verfemt. 

Und  doch  hat  dieser  Abkommling  aus  einer  guten  Biir- 
^ersfamilie  sich  eine  Machtposition  erschrieben  wie  sonst  kein 
deutscher  Publizist  vor  oder  nach  ihm,  mit  solchem  Furor,  so 
sturmender  Besessenheit  gegen  das  Regime,  daB  er  zur  Ver- 
folgung   ihm   nachsprang,    als   es   zusammenkrachte: 

Im  Deutschen  Reich  gehen  jetzt  seltsamc  Gespenstcr  um.  Dieses 
kunstvoll  und  kiinstlich  gefugte  Reich  hat  eine  nach  neuestem  Stil 
modisch  verputzte  Fassade,  die  der  Geschmacksrichtung  der  meisten 
Mieter  entspricht,  der  demokratischen  Massen,  die  alle  Gelasse  und 
Keller  des  neuen  Gebaudes  mit  wirrem  Gewimmel  erftillen;  im  ersten 
Stock  aber  wohnen  feudale  Herren,  die,  weil  sie  ihrer  Herrlichkeit  die 
Gotterdammerung  heraufziehen  sehen,  mit  ^erloschender  Kraft  noch 
gewalttatig  sich  bemtihen,  die  Sitten  und  Brauche  des  Feudalismus 
auch  in  veranderter  Zeit  zu  bewahren. 

So  sah  er  es  im  Beginn  der  Zukunft,  als  jeder  Zweifel  an 
der  Haltbarkeit  der  Wacht  am  Rhein  das  Hirngespinst  eines 
Verriickten  schien. 

Und  so  im  letzten  Jahrgang  dieser  Zukunft,  als  jeder 
Zweifler  am  Bestand  der  Republik  von  den  „Sozis"  zum  poli- 
tischen  Kindskopf  gestempelt  wurde: 

Paraden,  Proteste,  Unschuldsbeteuerung,  Steuerbirsch,  Streit  um 
die  Ziffer  der  Reparierpflicht,  Schnorrerei,  Schimpferet;  kein  Halm 
erwachst  daraus  dem  Acker  der  Deutschen  Republik.  Die  hat  sich, 
weil  ihre  Phantasie,  Geist,  Schwung,  Mut  fehlt,  weil  sie  schlecht  ver- 
walteti  schleimig  grau,  zum  Spielen  verlogen  und  zum  Heulen  lang- 
weilig  ist,  rurgends  das  Empfinden  des  Volkes,  gar  seiner  Jugend  zu 
*robern  vermocht. 

597 


Die  Herren  Fachleute  fur  Republikwesen  und  Verwandtes 
waren  weit  erhaben  iiber  solchem  Geschwatz  eines  altcn  Nar- 
ren  aus  dem  Gruriewald,  dcr  schon  von  jeher  gestankert  hatte, 
nie  an  eincm  Kommers  von  Parteifiihrern  tcilgenommen  hatte. 
Zwolf  Jahre  blieben  sic  erhabcn,  protestierend,  Unschuld- 
beteuernd.  schnorrend  und  schimpfend;  dcr  Acker  ist  zur 
Dauerbranche  versandet;  in  den  Septemberwahleri  ging  zum 
zweiten  Mai  die  prophezcitc  Herrlichkeit  zuschanden.  Glaubt 
Ihr,  sie  gaben  heute  Harden  Rccht?  Im  Gegentcil!  Schuld 
an  dem  Untergang  tragt  dcr,  der  diese  Unschuldslammer  Ham- 
mel   nannte, 

In  Friedrichsruh,  bcim  Altrcichskanzlcr,  der  so  das  Ver- 
sohnungsgeschenk  des  jungen  Kaisers  verhohnte,  hatte  der 
Dreiunddreifiigjahrige  die  historische  Flasche  Wcin  mitgetrun- 
ken  und  sich  damit  furs  Lebcn  bcrauscht.  Fast  drci  Jahre 
vorher,  am  1.  Oktober  1892,  war  die  Zukunft  erschienen;  ein 
Gedicht  von  Liliencron,  ein  Brief  von  Strindbergt  zwei  Bei- 
trage  des  jungen  Herausgebers.  Ein  Interview  des  Erzbischofs- 
von  Stablewski  iiber  die  Polenpolitik,  die  sich  spater  in  Ver- 
sailles so  bitter  geracht  hat.  Ein  Angriff  auf  das  Ronacher- 
theater  und  eine  kurze  Erklarung  in  eigner  Sachc:  er  wehrt 
sich  gegen  die  erste  Verleumdung,  ein  bezahltes  Subjekt  Bis- 
marcks  zu  sein. 

Wenn  die  Presse  sonst  kein  Unheil  anrichtete,  wenn  sie  nur  mich 
verleumdete,  mich  totzuschweigen  und  totzuheulen  abwechselnd  ver- 
suchte,  nicht  einen  Federstrich  setzte  ich  deshalb  an,  Weil  sie  aher 
in  Berlin  ihr  grofies  Farbemagazin,  ihren  Falscherstempel  errichtet 
hat,  weil  sie  ein  Millionenvolk  verderbt  und  verdummt,  deshalb  nur 
bestreite  ich  hier  diesen  neuen  Bel  und  ktinde  ihm  Fehde,  ohne  Er- 
barmen,  und  rufe,  so  laut,  wie  der  Falscherchor  zwingt;  Glaubt 
ihnen  nicht 

Von  hier  nimmt  cr  seinen  Anlauf  zu  einer  einzigen  Attacke 
sein  ganzes  Leben  durch  gegen  die  Hohenzollernburg,  dies 
antiquierte,  modrigc  Symbol  des  Feudalismus,  wo  man  sich 
mit  Eulenburg-Gstanzln  und  Ballett-tanzenden  Kriegsministern 
iiber  die  Weltkriegsvorbereitungen  der  Schwerindustrie  hin- 
wegamusiert.  Harden,  nihilistischer  Publizist  aus  der  Schule 
Nietzsches,  den  cr  oft  widerlegt,  ist  so  von  ahnungsvollem 
Grauen  angefullt,  so  aflgewidert  von  dem  falschcn  Glanz  und 
Wohlstand,  daB  er  nur  eins  kennt:  um  jeden  Prcis  allein  stehen. 
Er  bekampft  die  deutschen  Dreyfusards,  nur  um  nicht  in  Ein- 
heitsfront  mit  ihncn  zu  geraten.  Er  gibt  sich  judenfeindUch, 
um  den  Beifall  des  Geheimratsviertels  abzudrosseln,  Er  iiber- 
lastet  seinen  Stil  mit  Da  ten,  Flo  skein,  Andeutungen,  nur  um 
es  seinen  Lesern  schwer  zu  machen.  Im  Mai  1914,  vor  alien, 
blast  er  die  Kriegs fanfare  und  warnt: 

Grunzet  nicht,  wahrend  Italiens  Jugend  wider  Oesterreich  tobt, 
die  Tripleentente'  gleiche  der  korperlos  schillernden  Scifenblase,  der 
Dreibund  dreifach  gehartetem.  Erz.  Zaumet  die  Zunge!  In  diesem 
Sommer  wird  Schicksall 

Im  Februar  1916  schlagt  er  um: 

England  droht  die  Revolution  und  der  Verlust  Indiens.,,  Off  net, 
Franzosen  und  Deutsche,  die  Augen  und  lasset  Euch  nicht  von  Eng* 
lands    Reptilien    tauschen;    nur    die  Selbstsucht    der   Briten   wunscht^ 

598 


daB  Ihr  immcr  tiefcr  Euch  in  Hafi  und  Feindschaft  widereinander 
einbohret , . ,  den  Europaerblocfc  kann  nur  das  Bundnis  Frankreichs 
mit  Deutschland  schaffen 

Die  liebenberger  Kamarilla,  die  hofisch-dekadente,  konnte 
er  sprengen,  einzig  durch  die  Scharfe  seines  Intellekts.  Beim 
ersten  Ansturm  lieB  Wilhelm  seinen  heiBgeliebten  Phili  fallen. 
Der  andern,  der  Feme  des  Nachkriegs,  fiel  er  selbst  zum 
Opfer  —  in  den  Monaten  vorher  immer  wieder  gewarnt  — 
Feigheit,  auch  nur  Vorsicht  ist  nie  seine  Art  gewesen!  Zum 
Opfer  dem  bar  bezahlten  Idealismus  zweier  Deutschlandretter, 
die  nie  eine  Zjeile  von  ihm  gelesen  hatten.  Die  Zukunft  war 
hin.  Denn  die  nun  sein  Gegner  war  en,  lasen  nicht  mehr!  Nur 
das  Ausland:  Amerika  und  Holland  horte  noch  seine  Zeitkriti- 
ken.  In  Holland,  am  Strande  von  Nordwyk,  begegnet  er  dem 
Erlauchten  Ex-Landesvater,  Mfltichtig  dem  Gefltichteten"  und 
bricht  in  schallendes  Gelachter  aus.  In  der  Schweiz,  in  volli- 
ger  Einsamkeit,  trifft  ihn  der  fast  von  ihm  provozierte  Tod. 

ft 

Ein  Schauspieler.  Als  das  begann  er;  das  Theater  hat 
er  mehr  geliebt,  inbrunstiger  studiert  als  Alles  andre;  Theater 
im  Leben  wurde  ihm  vorgeworfen;  und  war  doch  nur  Verken- 
nung  seines  auBerordentlichen  Lebensstils,  seiner  fjru*.~n- 
endeten  Beherrschtheit.  Deutsch  sprach  er  mit  der  Gef f1  ;. 
heit  eines  Lateiners;  durchsetzt  von  ironischen  Berlini^^ 
es  klang  wie  Franzosisc^  weil  uns  Diktion  ungewohnl  ist. 
Welch  ein  Redner!  Nie  hat  es  in  Deutschland  eine  cratorische 
Begabung  dieser  Art  gegeben;  er  schien,  wenn  er  in  math^- 
matisch  exakten  Satzen  begann,  sich  nur  fur  seine  Glace- 
handschuhe  zu  interessieren,  um  plotzlich  die  Versammlung 
hochzureiBen  bis  in*  die  fernsten  WinkeL  Seine  herrlichste 
erschutterndste  Rede,  im  ProzeB  gegen  seine  Mordert  der  ein 
ProzeB  gegen  ihn  war,  hat  niemand  vom  Gerichtshof  mehr 
kapiert.  Nur  eins  begriffen  sie  in  ihrer  Stumpfheit:  der  Jude 
Harden  spricht!  Das  war  nicht  seine  Waffengattung!  Die 
Welt  seiner  Feinde  hatte  er  vernichtet;  und  sich  mit  ihr! 

Charakterdeutung  als  Wissenschaft 

von  Rudolf  Arnheim 
H 

T\  och  soil  nun  keineswegs  die  Wissenschaftlichkeit  jener 
*^  illegitimen  Grenzgebiete  schon  als  bewiesen  gelten,  Viel- 
mehr  heiBt  es  dazu  noch  ganz  andre  Gesichtspunkte  priifen, 

Es  gehort  zu  den  groflten  Schwierigkeiten  unsres  Lebens, 
daB  ein  so  wichtiger  Teil  unsrer  Welt  wie  der  menschliche 
Charakter  ein  so  vollig  unanschauliches  und  daher  unmittelbar 
uberhaupt  nicht  erkennbares  Ding  ist.  So  ziemlich  alle  folgen* 
reichen  Ereignissef  so  ziemlich  alle  Bewegtheit  und  Tatigkeit 
hat  ihren  Motor  in  diesem  durchaus  unvorstellbaren,  aber  auf 
alle  Falle  hochst  verzwickt  konstruierten  Gebilde.  Man  kennt 
die  bescheidenen  Versuche,  die  von  der  altesten  bis  in  die 
neuste  Zeit  gemacht  worden  sind,  eine  Art  Topologie  der  Seele 
aufzustellen.     Man  sprach  und  spricht  von  Geist  und   Seele, 

5$? 


von  Verstand,  Gefuhl  und  Wille  —  bloBe  statische  Einteilun- 
gen,  in  die  allenfalls  durch  Wertunterscheidungen  einige  Ord- 
nung  und  Beziehung  kam;  und  wenn  nicht  nur  vom  GrundriB 
sondern  vom  Funktionieren  der  Psyche  die  Rede  sein  soil, 
spricht  man  vom  nervosen  Zentralorgan,  das  die  Sinnesempfin- 
dungen  verarbeite  ader  etwa,  wie  die  Psychoanalytiker,  von 
Kellern  des  UnbewuBten,  vorgelagerten  Zensurstellen,  storen- 
<len  Oberbleibseln  einschneidender  Erlebnisse,  Man  muB  sich 
das  Wolkige,  Begrenzte  aller  dieser  Theoriebildungen  recht 
klar  inachen,  das  verzweifelte  Suchen  nach  irgend  welcher 
anschaulichen  Vorstellung  darin  spuren!  Dies  fast  unentwirr- 
bare  Netz,  in  dem  Wille,  Trieb,  Verstand,  Wahrnehmung,  Er- 
innerung,  Temperament,  Angeborenes  und  Angenommenes, 
Wandelbares  und  Bleibendes,  sich  jedes  mit  jedem  zu  hundert 
unaufhorlich  wechselnden  Beziehung  en  verkniipf  en  —  grade  an 
diesem  seltsamen  Stiick  Schopfung  sind  wir  aus  bitterster  Not- 
wendigkeit  innig  interessiert.  Und  grade  hier  versagen  un- 
£liicklicherweise  unsre  Sinnesorgane  ,  als  Vermittler  der  Er- 
kenntnis  vollig,  weil  es  sich  um  etwas  Unkorperliches  handelt! 
Fur  den  Graphologen,  Chirologen,  Physiognomiker,  Astrologen 
ergibt  sich  also,  noch  ehe  er  uberhaupt  sein  Handwerkszeug 
auspackt,  als  eine  grundlegende  Schwierigkeit,  daB  es  bis  heute 
nicht  moglich  ist,  psychische  Einrichtnngen  und  Vorgange  eini- 
jJermaBen  treffend  und  sicher  zu  beschreiben,  Man  denke 
daran,  wie  sehr  die  Meinungen  iiber  den  Charakter  irgend  eines 
Menschen  auseinand'ergehen  und  wie  schwer  es  ist,  in  popu- 
larer  und  gar  in  wissenschaftlicher  Rede  das  Besondre  eines 
Charakters,  auch  wenn  man  es  sehr  deutlich  zu  spuren  glaubt, 
«inigermaBen  zu  formulieren.  Das  Dilemma  beginnt  also  schon 
in  der  Charakterologie  selbst.  Und  darf  man  es  tdem  Deuter 
aufs  Schuldkonto  schreiben,  daB  das  zu  Deutende  ratselhaft 
und  quallig  sei! 

Wenn  ein  Ding  unanschaulich  ist,  so  pflegt  man  sich  auf 
zweierlei  Weise  zu  helfen.  Man  symbolisiert  es  durch  an- 
schauliche  Vergleiche,  und  man  beschreiBt  es  durch  seine  an- 
schaulichen Auswirkungen.  DaB  wir  beispielsweise  der  elek- 
trischen  Kraft  nicht  bei  ihrer  Arbeit  zusehen  konnen,  verur- 
sacht  uns  wenig  Kopfschmerzen;  denn  wir  veranschaulichen 
uns  ihre  Tatigkeit  einigermaBen  durch  das .  Gleichnis  des 
fliefienden  Wassers  und  lesen  im  ubrigen  vom  Volt-  und 
Amperemeter  alles  Notwendige  ab.  Beim  Charakter  aber  ist 
so  ziemlich  jede  tatliche  Auswirkung  die  Resultante  eines  so 
vielstimmig  mstrumentierten  Prozesses,  daB  sie  die  Eindeutig- 
keit  eines  Zeigerausschlags  auf  der  MeB-Skala  haben  konnte 
-■  -  v/elche  sie  kaum  je  hat  —  und  uns  doch  nicht  viel  weiter- 
helien  wiirde.  Fiir  gewisse  Falle  kann  man  die  Bedingungen 
im  Experiment  kiinstlich  verscharf en,  und  im  Dichtwerk  finden 
wir  die  AuBerungen  und  Handlungen  der  Menschen  ztir  Klar- 
lieit  hin  stilisiert,  aber  sobald  wir  den  psychischen  Mechanis- 
mus  eines  wirklich  im  Leben  herumiauienden  Menschen  be- 
greifen  wollen,  geben  uns  seine  handgreiflichen  Manifestieriin- 
gert  nur  einen  sparlichen,  vieldeutigen  Anhalt. 

Wie  gut  begreift  man  hiernach  die  leidensehaftiiche  Auf- 
icrksamkeit,  mit  der  die  Menschen  yon  ieher  alien  sinnlichen 

xjOO 


Spiegelbildern  des  Charakters  nachgespiirt  haben.  Was  man 
tmbedihgt  sehen  wollte  und  doch  nicht  sehen  konnte,  schien 
sich  in  Gesichts-  und  Schriftziigen,  in  den  Bahnen  der  Hand- 
linien  und  der  Gestirne  getreu  abzuzeichnen,  Es  ist  bezeich- 
nend,  daB  man  nicht  alien  Ausdrucksformen  des  Charakters 
gleich  sorgfaltig  nachgeforscht  hat.  Klang  und  Melodie  der 
menschlichen  Stimme  zum  Beispiel  und  ebenso  Gebarden  und 
Gang  hat  man  kaum  verweriden  konnen,  weil  sie  sich  fast  so 
schwer  fixieren  und  analysieren  lassen  wie  der  Charakter 
selbst.  Dafiir  aber  hat  man  groBe  Sorgfalt  auf  die  Handschrift 
verwandt,  weil  man  in  ihr  einen  Niederschlag  von  Bewegungs- 
formen  besitzt. 

Fiir  die  wissenschaftliche  Verwertbarkeit  dieser  charakte- 
rologischen  Hilfsmethoden  hangt  nun  alles  davon  ab,  zu  wis- 
sen,  ob  die  Beziehung  zwischen  Abbild  und  Urbild  eine  wirk- 
liche  oder  ob  sie  nur  hineingedeutet  ist,  Auf  zweierlei  Weise 
kann  man  sich  hieriiber  zu  yergewissern  suchen:  mail  kann  an 
moglichst  groBem  Material  rein  empirisch  untersuchen,  ob  sich 
Entsprechungen  finden  lassen  und  bis  zu  welchem  Grade  der 
GesetzmaBigkeit.  Aber  bei  der  bloBen  Aufzeigung  solcher  Be- 
ziehungen  beruhigt  sich  der  Wissenschaftler  nicht  auf  die 
Dauer,  sondern  nur  dann  wird  er  mit  gutem  Gewissen  von 
einem  Gesetz  sprechen,  wenn  er  einsehen  gelernt  hat,  worauf 
denn  diese  Beziehung  beruhe. 

Reine  Tatsachenlorschung  ist  als  ein  Anfang  nirgendwo 
^erboten  sondern  begrtiBenswert,  So  wird  man  sich  zum  Bei- 
spiel zu  den.Experimenten  der  Okkultisten  zu  stellen  haben. 
Versuche  uber  Hellseherei,  Telekinese,  Spiritismus  sind  auf 
alle  Falle  gut,  seibst  wenn  man  glaubt,  daB  sich  diese  Erschei- 
.  nungen  einmal  weniger  romantisch  erklaren  werden,  als  die 
Beteiligten  heute  noch  gern  annehmen.  Und  sicher  ist  es  nicht 
angebracht,  uber  die  diirftigen  Leistungen  der  „Geister"  zu 
spotten,  die  nicht  mehr  konnen  als  einen  Tisch  zum  Schweben, 
eine  Giocke  zum  Kiingeln  bringen,  Denn  wenn  sich  diese 
Dinge  bewahrheiten,  so  ist  damit  bewiesen,  daB  eine  fiir  uns 
vollig  neue  Klasse  von  Naturerscheinungen  existiert.  SchlieB- 
lich  war  jenes  Zuoken  von  Froschschenkeln,  mit  dem  man  zum 
erstenmal  die  Wirkung  galvanischer  Strome  demqnstrierte,  an 
sich  auch  kein  Vorgang  von  kosmischer  GroBartigkeit. 

Hingegen  ist  es  nirgends  angangig,  sich  endgiiltig  mit  der 
Aufzeichnung  unerklarter  Tatsachen  begniigen  zu  wollen. 
Wenn  die  Astrologen  —  wie  es  etwa  Doktor  ReiBmann  in 
dem  erwahnten  Sonderheft  der  ,Literarischen  Welt1  tut  — 
behaupten,  die  Beziehung  zwischen  Gestirn  und  Menschen- 
schicksal  sei  nicht  kausaler  sondern  rein  symbolischer  Natur, 
so  ist  das  nicht  weiser  Verzicht  auf  kurpfuscherische  Phan- 
tasterei  sondern  einfach  eine  Verkennung  dessenf  was  man  von 
ihrer  Arbeit  billig  verlangen  muB.  Denn  fur  Sytnbole  ist  in 
unserm  Weltbild  kein  Platz,  und  kein  Fortschritt  urisrer  Er- 
Icenntnis  wlfd  daran  jemals  etwas  andern.  Was  ist  ein  Sym- 
bol? Die  Leitmotive  in  Wagners  Opern,  die  Gleichnisse 
Christi  sind  Symbols  Wenn  auf  Michelangelos  Schopfungs- 
bild  der  Lebensfunke  von  Gottvaters  Finger  zu  Adams  Finger 
luberspfingt,  so  ist  das  ein  Symbol    Ein  Symbol  ist  eine  ari- 

601 


schauliche  Darstellung  eincs  unanschaulichen  Tatbestandes. 
Nun  kennen  wir  abcr  keine  Naturkraft,  die  fahig  oder  willens 
ware,  die  Gestirne  auf  eine  fur  unsre  Geschicke  charakte- 
ristische  Weise  zu  lenken,  und  die  Wahrscheinlichkeit,  daB  aus 
reinem  Zufall  eine  solche  liickenlose  Entsprechung  zwischen 
jedem  Menschenschicksal  und  der  ihm  zeitlich  zugeordneten 
astronomischen  Konstellation  bestehen  solle,  ist  natiirlich  gleich 
null,  Eine  solche  Entsprechung  ware  aber  moglich  und  ver- 
standlich,  wenn  sich  irgend  ein  physikalischer  Zusammenhang 
aufzeigen  HeBe,  sei  es  ein  EinfluB  der  Sterne  auf  die  Menschen, 
sei  es  daB  beide  gemeinsamen  Gesetzen  untertan  waren,  und 
somit  ware  dies  das  unumgangliche  Grundaxiom  fur  alle  astro- 
logische  Forschung.  DaB  ein  so  gewaltiges  Phanomen  wie  die 
Wetterlage  eines  Landes  sich  von  einem  so  unscheinbaren  In- 
strument wie  dem  Barometer  ablesen  laBt,  wundert  uns  nicht, 
weil  wir  den  physikalischen  Zusammenhang  kennen,  und'  nie~ 
mandem  wiirde  es  einf  alien,  das  Barometer  .ein  Symbol  des 
Wetters  zu  nennen.  Erst  weil  es  mehr  als  ein  Symbol  ist,  diir- 
fen  wir  es  fiir  verlaBlich  halten. 

Wir  lassen  uns  also  mit  dem  Wort  Symbol  nicht  abspeisen 
sondern  fragen  nach  der  Realbeziehung  zwischen  Urbild  und 
\bbild,  und  da  zeigt  sich  fiir  unsre  vier  Gebiete  nicht  die 
|leiche  Sachlage:  Astrologen  und  Chirologen  wissen  keine 
solche  Beziehung  anzugeben,  hingegen  fiir  die  Graphologie  und 
die  Physiognomik  versteht  sie  sich  fast  von  selbst, 

DaB  die  Handlinien  eher  eine  Beziehung  zu  der  psychi- 
schen  Konstitution  eines  Menschen  haben  konnten  als  die  fer- 
nen  Gestirne,  wird  einem  einleuchten,  aber  dennoch  geniigt 
iiese  bloBe  Nachbarschaft  nicht  im  mindesten  als  Beweis  fiir 
lie  Moglichkeit  einer  Chirologie.  Sicherlich  wird  die  Hand, 
vie  andre  Korperteile  auch,  gewisse  allgemeine  Eigenschaften 
ier  korperlich-seelischen  Konstitution  zeigen;  Gespanntheit 
oder  Gelostheit,  edle  ader  gewohnliche  Form,  Harmonie  oder 
Disharmonie,  Kraft  oder  Schwache.  Und  sicher  wird  die  Hand 
als  ein  besonders  fein  ausgebildetes,  an  Nervenendigungen 
reiches  Organ  diese  Eigenschaften  besonders  ausdrucksvoll  und 
ausgepragt  haben.  Aber  es  ist  in  keiner  Weise  einzusehen, 
warum  grade  aus  der  durch  die  Bewegungen  des  Daumen- 
ballens  entstehenden  Falte  der  Verlauf  der  Lebenskurve  abzu> 
lesen  sein  soil  und  warum,  ein  paar  Zentimeter  weiter,  andre, 
physiologisch  durchaus  gleichartige  Linien  iiber  die  Verstandes- 
und  Gemiitsart,  iiber  Begabting  und  Liebesfahigkeit  berichten 
sollen.  Carus,  doch  sicherlich  ein  begeisterter  Symbolikerf  hat 
die  Chirologie  als  Aberglauben  abgelehnt  und  ihr  nur  allge- 
meinen  Ausdruckswert  wie  etwa  den  Stirnrunzeln  eingeraumt. 

Der  Sinn  solcher  Einwande  gegen  die  Handlesekunst  wird 
besonders  deutlich,  wenn  man  dagegen  halt,  auf  welchen 
Grundlagen  die  Physiognomiker  ihre  Oberzeugungen  aufbauen 
konnen.  DaB  in  Korper  und  Seele  der  gleiche  Formtypus,  das 
gleiche  Formniveau,  die  gleichen  Spanmmgsverhaltnisse  herr- 
schen  mussen,  wird  besonders  demjenigen  natiirlich  sein,  der 
sich  von  der  heute  iiblichen  Vorstellung  frei  macht,  daB  der 
Korper  eine  Art  Gehause  der  Seele  sei,  das  nun  erstaunlicher- 
weise  wie  ein  Firmenschild  ihre  Ziige  trage,    Vielmehr  sind  ja 

602 


entwicklungsgeschichtlich  Korper  und  Seele  nicht  zwei  tir- 
sprunglich  getrenntc  Dinge,  die  wie  zwei  Ehegatten  zueinander 
gefunden  haben  und  nun  nur  durch  Zufall  odcr  gutc  Auswahl 
einander  ahneln  und  zueinander  passen  konnen,  sondern  der 
Korper  ist  ja  phylogenetisch  durchaus  primar  und  hat  aus  sich 
heraus  allmahlich  alles  Psychische  als  ein  Zusatzgerat  geschaf- 
f en.  Korper  und  Seele  verhalten  sich  zueinander  nicht  wie 
Mann  und  Frau  sondern  wie  Mutter  und  Kind,  und  da  ist  es 
<lenn  wohl  wahrscheinlicher,  daB  sie  ahnlich,  als  daB  sie  ver- 
schieden  sind. 

Aber  die  Beziehung  zwischen  Korper  und  Seele  geht  iiber 
solche  allgemeinen  Entsprechungen,  wie  wir  sie  oben  fur  die 
Hand  erwahnten,  hinaus.  Wir  begniigen  uns  mit  einem  ganz 
primitiven  Beispiel.  Wenn  beim  Tier  und  beim  Kinde  die  Ge- 
sichtspartie  im  Verhaltnis  zum  Schadel  mehr  Raum  einnimmt 
als  beim  Erwachsenen  und  wenn  diesem  Verhaltnis  das  Uber- 
wiegen  der  Sinneseindriicke  fiber  den  Verstand  entspricht,  so 
ist  das  nicht  eine  vom  Himmel  geschneite  ,,symbolischeM  Be- 
ziehung, die  allenfalls  durch  Statistik  verifiziert  werden  konnte. 
Denn  das  Gesicht  ist  ja  die  korperliche  Lokalitat  der  Sinnes- 
funktionen  und  die  Schadelkapsel  die  der  geistigen  Ope- 
rationen,  und  so  ist  der  Realgrund  fur  jene  Entsprechung  durch- 
aus einzusehen.  DaB  einer  Verkrampftheit  der  Muskeln 
psychische  Verkrampftheit  entspricht,  daB  jemand,  der  einem 
nicht  offen  in  die  Augen  sieht,  auch  kein  offener  Charakter 
sein  konne  —  das  ist  nicht  dichterische,  symbolische  Veran- 
schaulichung  von  Unsichtbarem  sondern  leistet  zwar  eben 
diese  Dienste,  aber  aus  dem  handgreiflich-naturwissenschaft- 
lichen  Grunde,  daB  da  eins  zum  andern  gehort  wie  das  Baro- 
meter zum  Luftdruck!  Was  aber  die  Chirologie  anlangt,  so 
kann  uns  kein  Physiologe  irgend  einen  Anhalt  dafiir  geben, 
daB  die  Generallinie  unsrer  Leberiskraft  ausgerechnet  mit  dem 
Daumenballen  etwas  zu  tun  habe  und  daB  Verstand  und  Gemiit 
im  Handteller  kleine  Filialorgane  unterhalten,  deren  Wirksam- 
keit  sich  aufien  im  Faltennetz  der  Haut  sichtbar  abspiegeln 
konnte! 

In  derselben  Art  wie  etwa  die  Spannungsverhaltnisse  der 
Muskeln  ist  auch  die  Gebarde,  die  „Melodie"  der  Bewegung, 
mit  dem  psychischen  Charakter  verwandt.  Denn  unsre  Be- 
wegungen  sind  ja  Produkte  der  Nerven  und  Muskeln-  Und  ein 
Produkt  dieser  Bewegungen  wiederum  ist  die  Handschrift. 
Aber  sie  ist  nicht  bloBer  Niederschlag  von  Bewegungen.  Es 
gilt  namlich  jetzt  zu  erklarenf  weshalb  es  dem  Graphologen 
erlaubt  sein  soil,  von  dem  Handprodukt  „Handschrift"  aus  iiber 
den  gesamten  Charakter  des  Schreibenden  zu  sprechen,  wah- 
rend  dies  dem  Chirologen  fur  das  Handprodukt  „Handlinien" 
versagt  wurde* 

Die  Handschrift  ist,  wie  gesagt,  kein  bloBer  Niederschlag 
von  Ausdrucksbewegungen,  wie  er  etwa  entsteht,  wenn  man 
einem  Menschen  im  dunklen  Zimmer  eine  Gliihbirne  an  FuB 
oder  Hand  anbringt,  deren  Bewegungsbahn  dann  auf  einer 
photographischen  Platte  festgehalten  wird.  Auch  solche  Be- 
wegungskurven  lieBen  sich  fur  die  Charakter-nDeutung"  ver- 
wenden,  aber  eben  nur  in  jenem  allgemeinen  Sinne,   wie  wir 

603 


es  von  den  Handlinien  glauben,  Die  Handschrift  hingegen  ist 
mehr,  Sie  zeigt  nicht  nur  den  dynamischen  Charakter  der  Be- 
wegung,  Entschlossenheit,  Kraft,  Lebhaftigkeit,  Groflziigigkeit, 
Geschwindigkeit  —  sondern  sie  zeigt  einen  Menschen  bei  der 
Losung  einer  Aufgabe,  Die  Schreibbewegungen  sind  nicht  freif 
sie  sind  zielgebunden,  Sie  zeigen,  wie  der  Schreiber  sich  da- 
mit  abfindet,  Buchstaben,  deren  Normform  ja  dera  Graphologen 
bekannt  ist  —  bekannt  sein  mufl!  — ,  auf  seine  Art  zu  bilden. 
Hierbei  ist  nicht  nur  die  Hand,  hierbei  ist  der  ganze  Mensch 
beteiligt,  Ob  einer  die  Buchstaben  regelrecht  oder  eigenwillig, 
sorgfaltig  oder  schludrig,  verstellt  oder  ehrlich,  in  stetigem 
FluB  oder  in  immer  neuen  Einsatzen,  zierlich  oder  grob,  saftig 
oder  diinn,  groBziigig  oder  kleinlich,  eigenartig  oder  nur 
originell,  fest  oder  verschwimmend  formt  —  das  zeigt  ihn  ganz! 
Eine  besondre  Rolle  spielt  hier  das  Verhaltnis  des  Schreiben- 
den  zur  Schriftrichtung.  Die  Aufgabe  lautet,  sich  von  links 
nach  rechts,  vorwarts  zu  bewegen,  Es  ist  hochst  charakte- 
ristisch,  ob  jemand  diesen  Zeilenweg  willig  oder  storrisch  zu- 
rechtlegt,  ob  er  sich  seinem  Ziel  hingibt,  in  bequemen,  losen, 
nach  vorwarts  gerichteten  Schwiingen  dahineiltf  oder  ob  er 
sich  stemmt,  sich  immer  wieder  am  Ziigel  zuriickhalt,  sich 
Schwierigkeiten  macht.  Alle  diese  Dinge  sind,  zumal  wenn 
man  einmal  auf  sie  aufmerksam  gemacht  worden  ist,  unmittel- 
bar  und  leicht  aus  der  Handschrift  zu  entnehmen.  Dabei  ist 
nichts  Ubernaturliches  und  nichts  Symbolisches,  Denn  wie  ein 
Mensch  sich  bei  einer  (so  neutralen)  Sache  betragt,  so  betragt 
er  sich  auch  bei  den  ubrigen,  Und  wie  er  sich  betragt,  so  ist 
er.  (Denn  beim  Schreiben  kann  man  nicht  Maske  machen: 
nichts  zeigt  sich  hier  so  einfach  wie  Verstellung!)  Die  Hand- 
schrift verwirklicht  durch  einen  Gliickszuf all  die  Bedingungen 
eines  guten  Experiments*  Sie  erprobt  den  Menschen  an  einer 
einfachen,  eindeutigen,  Hir  alle  Schreibgewandten  gleichen 
Aufgabe,  deren  Normlosung  durch  die  Schulvorschrift  festge- 
legt  ist;  und  sie  halt  sein  Verhalten  unmittelbar  getreu  fest, 
ohn  daB  ein  zwischengeschalteter  Beobachter  oder  Bericht- 
erstatter  etwas  verfalschen  kdnnte.  Das  direkte  Produkt  liegt 
schwarz  auf  weiB  vor.  Offen  bleibt  hierbei  die  Frage,  wie  voll- 
standig  die  Handschrift  den  Charakter  wiedergibt,  Ebenso  wie 
bei  der  Physiognomik,  zumal  wenn  diese  sich  notgedrungen 
darauf  beschrankt,  nur  das  Gesicht  oder  nur  die  auBere  Ober- 
flache  desKorpers,  nicht  auch  die  der  inneren  Organe,  zu  be- 
trachten. 

Jedenfalls  wird  man  die  Forschungsarbeit  der  Physiogno- 
miker  und  Graphologen,  zumal  sie  immer  enger  mit  dem  Phy- 
siologen  und  dem  Mediziner  zusammengehen,  mit  Zuversicht 
verfolgen  diirfen.  Die  Hauptschwierigkeit  fur  ein  planmaBiges 
Vorgehen  liegt,  wie  gesagt,  darin,  zwei  Landkarten  des  Cha- 
rakters  miteinander  zu  vergleichen,  von  denen  die  eine  bis 
heute  nicht  viel  mehr  als  ein  weiBer  Fleck  ist.  Erst  wenn  es 
den  Psychologen  gelungen  sein  wird,  vom  Aufbau  und  dem 
Verhalten  der  Seele  eine  brauchbare  Beschreibung  zu  geben, 
erst  dann  kann  fiir  den  Wert  der  graphologischen  und  physio- 
gnomischen  Arbeit  der  Wahrheitsbeweis  angetreten  werden. 

SchluB  folgt 

604 


Salzburger  neues  Welttheater  Norbertvoschnier 

Der  bekannte  salzburger  Schauspieler  Alexander  M,  soil 
als  Dr.  Alexander  rait-  geklebtem  Vollbart,  angeblich  zu  Stu- 
dienzwecken,  in  einer  Klinik  einer  Geburt  beigewohnt  haben, 
Er  fiel  aber  den  Anwesenden  bald  durch  sein  extatisches  Ge- 
habe  auf.  ■ 

Gewisse  volkische  Kreise  wollen  ihm  nun  das  Auftreten  ■  in 
Wien  und  der  tibrigen  osterreichischen  Provinz  verbieten, 

Kleines  wiener  Revolverblatt 
Die  Stimme  des  Gyndkologen 
Dr.  Alexander 
Ein  schlafender  Student 
Eine  alte  Assistentin 
Chor  der  Sduglinge 
Galerie  des  gyndkologischen  Horsaals. 
Stimme  des  Gyndkologen:  Die  Wehen  steigern  sich  und  erreichen 
den  Hohepunkt  — 

Dr.  Alexander:  Wehe,  wehe,  manche  Strecke  — 
Stimme  des  Gyndkologen:  Alles  vorbereitett  Schwester?  —  Watte- 
bauschchen,  bitte  — 

Dr.  Alexander:  Oh,  diese  hollischen  Lattwerge  — ■ 
Stimme  des  Gyndkologen:  Meine  Damen  und  Herren,  wir  beginnen 
mit    unsrer     Entbindung,     Leider  .alles    ganz    normal.     Was     vorne 
liegt,  ist  der  Kopf. 

Dr.  Alexander:  Wunder!  Oh  Wunder!  Zwei  Zauberstabe  halte 
ich  in  meinen  Fingern:  die  Schauspielkunst.  und  die  Phantasei,  Oh 
Wunder!  (Er  weckt  den  schlafenden  Studenten):  Bruder,  wach  auf, 
Mein  Bonapartedrama  ist  schon  gedruckt  und  gelangt  nun  zum  Ver- 
sand  an  die  Buhnen.  Es  ist  besser  als  man  es  von  mir  crwartet. 
Wach  auff  Bruder,  und  neige  dich,  hier  wird  ein  Kindlein  geboren, 
GegriiBt  seist  du  Kindlein.  Oh  Mahado,  oh  Mahado,  do,  do,  du  Herr 
der  Erde.  (Der  Student  schldft  wieder  ein.  Dr.  Alexander  wendet 
sich  an  die  alte  Assistentin):  Schwester,  wes  Geschlechtes  ist  dies 
Kindlein? 

Die  alte  Assistentin:  —  Soweit  ich  mich*erinnern  kann,  ist  es  ein 
Knablein. 

Dr.  Alexander:  Dank,  Schwester.  Oh,  kluge  Knableins  werden 
selten  alt.     Ich  merke  das  an  mir. 

Stimme  des  Gyndkologen:  Ich  binde  zu  —  ich  schneide  ab  — 
Dr.  Alexander:  Armer  Jorik, 

Stimme  des  Gyndkologen:  Hollenstein.  Man  wasche  ihm  die 
Augen  aus. 

Stimme  des  Kindes:  Bah,  bah. 

Dr.  Alexander  (kniet):  Talatta,  talatta!  Es  spricht.  Unerhorter 
Wohlklang  in  der  Stimme  des  Geborenen.  Ich  mochte  weinen.  Wie 
ein  Wurm  krieche  ich  am  Boden.  Der  Geringsten  Einer  setze  den 
Fufi  auf  mich.  Ich  bin  nicht  wert,  eine  Geburtszange  zu  reichen. 
tJbrigens  schade,  ewig  schade,  dafl  hier  kein  Photo  in  der  Nahe  ist. 
Wie  sehr  freuten  sich  die  illustren  Blatter,  mich  bei  Geburten  so 
voller  Demut  zu  sehen.  (Weckt  den  schlafenden  Studenten):  Eine 
Mutter  ja  hat  uns  geboren.  Lafit  uns  bebriidern,  laBt  uns  be- 
schwestern,  laBt  uns  vergatten.  (Der  Student  schldft  wieder  ein.)  Aus- 
ziehen  mochte  ich  mich,  nackelig  wie  ein  Splitter  und  mich  beugen 
vor   dem   Geborenen  als  briiderliches   Symbol, 

Die  alte  Assistentin:  Nicht  weiter!   Der  Rock  geniigt. 
Stimme  des  Sduglings:  Oh  bah.    Oh  bah  —  ah  —  ah. 
Dr.  Alexander:  Es   schreit.     Es   klagt   an.     Wen    klagt    es    an? 
J'accuse.      Wer   tat   dir   was,     unschuldig    Menschenkind?     (Zieht   ein 

605 


Opernglas  heraus  und  betrachtet  das  Kind.  Plotzlich  in  ganz  anderm 
Ton):  ooh!  Was  seh  ich?  Dieser  frtihverderbte  Ausdruck  im  Ge- 
sicht  dcs  Geborcnen!  Wie  er  voller  Gier  urn  sich  blickt.  Sooo  jung 
und  sooo  gemein.  Ja,  gnadige  Frau,  es  ist  gemein.  Die  Schlange  hat 
ihn  beleckt;  er  ist  in  Siinden  gebadet.  (Weckt  wieder  den  schlafenden 
Studenten):  Wach  auf,  Bruder,  hier  ist  einer  von  der  Schlange  ge- 
hissen 

Der  Student:  Lafi  mich   schlafen,   verdammter  Radfahrer. 

Dr.  Alexander:  Du  irrst,  Bruder,  eine  italienische  Ammc  hat 
mich  gesaugt. 

Stimmen   der  Sduglinge:  Wo   sind  hier   Radfahrer? 

Der  Gynakotoge:   In  die  Badewanne,    Das  nachste   Embryo,   bitte. 

Der  Saugling  fwdhrend  er  weggetragen  wird,  mit  vorwurfsvollem 
Blick  auf  Dr.  Alexander);  Radfahrer  hinaus! 


Die  Plane  der  Industrie  von  Bernard  citron 

Cine  Fahrt  durch  das  Industriegebiet  offenbart  die  Not  dcs 
Bergbaues-  Man  sieht  ausgeblasene  Hochofen,  Schorn- 
steine,  die  nicht  rauchen,  dazwischen  die  Neubauten  sinnlos 
gewordener  Verwaltungspalaste,  Schutthaufen,  in  denen  Leute 
nach  Kohlen-  und  andern  Abfallen  suchen,  und  begreift  die 
Verzweiflung  der  Arbeitslosen  und  aller  jener,  die  fiirchten 
miissen,  demnachst  ihre  Arbeit  zu  verlieren.  Man  begreift 
aber  vielleicht  auch  die  Verzweiflung,  die  heute  die  Mehrzahi 
der  Industriellen  erfafit  hat.  Der  Generaldirektor  einer  groBen 
Steinkohlengewerkschaft,  die  einst  als  eine  der  besten  des 
ganzen  Reviers  gait,  meinte,  daB  das  Schicksal  des  ganzen 
Steinkohienbergbaus  noch  in  di'esem  Jahre  besiegelt  sein  wird, 
wenn  nicht  ein  plotzlicher  Umschwung  eintritt. 

Wie  dieser  denken  auch  andre  Kohlenindustrielle.  Viele 
fiirchten,  daB  ein  natiirlicher  Umschwung  —  etwa  auf  dem 
Wege  der  Exportbelebung  oder  neuer  Auslandskredite  —  doch 
nicht  mehr  zu  erwarten  sei;  daher  hofft  man  auf  das  groBe 
Wunder.  Die  wirtschaftliche  und  politische  Revolution,  die 
das  unterste  zu  oberst  kehrtt  erscheint  hier  als  letzte  Hoff- 
nung.  Kame  die  HNationale  Opposition"  ans  Ruder,  dann 
meint  die  Wirtschaft,  leichtes  Spiel  zu  haben,  Hugenberg  hat 
die  gleichen  Interessen  wie  Thyssen  oder  Klockner,  die  Na- 
tionalsozialisten  aber  verstehen  so  wenig  von  Volkswirtschaft, 
daB  sie  der  Industrie  das  Konzept  nicht  verderben  konnten. 
Die  Nazis  glauben  wahrscheinlich  ganz  ehrlich,  daB  sie  in 
keiner  Weise  an  Inflation  denken,  die  doch  von  ihrem  national- 
okonomischen  Sachverstandigen,  Gottfried  Feder,  in  den  Er- 
lauterungen  zum  Parteiprogramm  gefordert  wird,  Man  ist  in 
dieser  Beziehung  e  ben  so  gutglaubig  wie  Herr  Schacht,  der  in 
Harzburg  vielleicht  gar  nicht  erfafit  hat,  daB  er  von  gewissen 
industriellen  Kreisen  zum  Vorspann  benutzt  wurde. 

Eine  Inflation,  wie. sie  sich  der  kleine  Moritz  —  oder 
richtiger  gesagt  der  kleine  Baldur  —  vorstellt,  ware  ungefahr 
so:  Hindenburg  befiehlt  dent  Reichsbankprasidenten:  „Nun 
druck  er  Noten'\  Darauf  regnet  es  Tausendmarkscheine,  Mil- 
lionen    und    Milliarden,    und    bei    einer    Billion   fangt    die   Ge- 

606 


schichte  wieder  von  vorne  an.  Aber  es  kommt  ganz  anders. 
Der  deutschnationale  Fraktionsvorsitzende  Oberfohren  besta- 
tigte  ausdriicklich  cine  friihere  AuBerung  Hugenbergs,  in  dcr 
er  gegen  den  Wiirgeengel  Deflation  Siellung  nahm,  angeblich 
ohne  dabei  im  geringsten  an  Inflation  gedacht  zu  haben.  Ein 
Spiel  mit  Worten,  da  eine  verhinderte  Deflation  nichts  andres 
als  eine  besondere  Form  der  Inflation  darstellt.  Als  Mitt  el  zu 
jenem  Zweck  empfahl  Hugenberg  die  Bihnenwahrung.  Diese 
Wiinsche  sind  eigentlich  bereits  in  Erfiillung  gegangen.  Die 
Reichsmark  ist  eine  Binnenwahrung  par  excellence,  da  ihre  in- 
ternationale  Kaufkraft  der  inlandischen  keineswegs  entspricht. 
Die  Markkurse  im  Ausland  sind  nur  nominell  und  konnen 
nicht  als  tatsachliche  Anhaltspunkte  fiir  die  Bewertung  gel- 
ten.  Die  Deflation  wird  seit  Monaten  rait  Erfolg  bekampft. 
Wenn  es  nach  dem  gegenwartigen  Umfang  unsrer  Wirtschaft 
ginge,  danri  miifite  der  Notenumlauf  mindestens  funfzig  Prozent 
niedriger  sein  als  er  heute  ist.  Da  aber  die  Reichsbank  als 
Deckungsmaterial  nicht  nur  erstklassige  Handelswechsel  son- 
dern  auch  drittklassige  Finanzwechsel  verwendet,  ist  der  not- 
wendige  Umlaufriickgang  vermieden  worden,  da  mit  befinden 
wir  uns  bereits  mitten  in  einer  unsichtbaren  Inflation,  die  als 
verhinderte  Deflation  getarnt  ist,  Man  hat  in  der  Linkspresse 
einen  Fehler  begangen,  die  Angriffe  gegen  die  Industrie  auf 
die  Forderung  weiterer  Inflationsbestrebungen  zu  konzentrie- 
ren.  Eine  olle,  ehrliche  Inflation  wie  anno  1923  wurde  heute 
nur  eine  geringe  Entlastung  fur  die  iiberschuldete  Industrie 
bedeuten.  Man  wurde  sich  der  Tilgung  der  Bankschulden 
noch  nicht  einmal  freuen  konnen,  well  die  Banken  bei  dem 
gleichzeitig  einsetzenden  Run  ihrer  Einleger  mit  Stumpf  und 
-  Stiel  bankrott  machen  muBten,  Daher  haben  die  Industriel- 
len  vielleicht  ganz  recht,  wenn  sie  erklaren:  , inflation  wollen 
wir  gar  nicht",  sie  wollen  namlich  bloB  ihre  Schulden  nicht 
bezahlen. 

In  mancheh  industriellen  Kreisen  spricht  man  von  der 
Schaffung  einer  „Abwertungskommission",  die  den  Weg  zu 
einer  allgemeinen  oder  partiellen  Schuldenreduzierung  wei- 
sen  soil.  Wahrend  die  Reichsmark  unangetastet  bleibt,  will 
man  eine  Herabsetzung  der  Verpfiichtungen  vornehmen,  wo- 
bei  Gold-  oder  Devisenklauseln  keine  Rblle  spielen.  Wenn 
man  so  verfahrt,  ist  eine  Inflation  tatsachlich  nicht  von  Noten, 
vielmehr  wiirden  von  der  Abwertung  auch  die  Auslandsglaubi- 
ger  betroffen  werden,  so  daB  der  Erfolg  fiir  die  verschuldeten 
Teile  der  Wirtschaft  viel  groBer  ware  als  im  Falle  einer  Mark- 
entwertung.  Auf  die  Frage,  wer  dann  iiberhaupt  noch  Kredite 
nach  Deutschland  zu  geben  bereit  ist,  hat  man  im  industriellen 
Lager  schon  die  Ahtwort  bereit:  Frankreich,  In  den  letzten 
Wochen  scheinen  von  industrieller  Seite  —  ohne  Wissen  und 
gegen  Willen  der  Reichsregierung  —  Verhandlungen  in  dieser 
Richtung  gefiihrt  worden  zu  sein, 

Um  etwaigen  Entgegnungen  im  voraus  zu  begegnen,  sei 
hiermit  erklart,  daB  weder  Herr  Vogler,  noch  Herr  Silyerberg, 
noch  irgend  ein  andres  Mitglied  des  Langnamvereins  bei  Herrn 
Laval  Besuch  gemacht  hat.  Aber  zu  solchen  Zwecken  kon- 
nen sich  auch   einfluBreiche   Industriekreise  eines  Mittelsman- 

60T 


ncs  bedient  haben,  der  in  Paris  seine  Fuhler  ausgestreckt  hat. 
Vielleicht  hat  man  sogar  schon  einige  Aussicht  auf  Erfolg. 
Frankreich  ist  an  dem  auslandischen  Lcihkapital,  das  in 
Deutschland  Uegt,  nicht  beteiligt.  Da  franzosische  Interessen 
durch  eine  Schuldenabwertung  nicht  getroffen  werden,  und 
man  sich  in  Paris  mii  den  gef  ahrdeten  Privatglaubigern  des 
Deutschen  Reiches  in  keiner  Weise  solidarisch  erklart,  liegt 
die  Verrautung  nahe,  daB  fiir  politische  Zugestandnisse  franzo- 
sisches  Kapital  zu  erhalten  ware.  Nun  meint  man  in  jenen 
Kreisen,  die  diese  Gedanken  fordern,  daB  den  Franzosen  an 
neuen  Zusicherungen  der  Regierung  Briining  gar  nichts  ge- 
legen  ist,  da  man  von  ihr  nichts  zu  befiirchten  hat.  Viel 
teurer  wiirden  die  Franzosen  politische  Konzessionen  der 
,,Nationalen  Opposition"  bezahlen.  Auffallend  ist  es,  wie  maB- 
voll  sich  die  Nationalsozialisten  seit  kurzem  gegeniiber  Frank- 
reich benehmen.  Mit  welchen  Mitteln  diese  Zahmung  der 
Nationalisten  ermoglicht  wurde,  ist  ein  Geschaftsgeheimnis. 
Man  glaubt  zwischen  Rhein  und  Ruhr,  daB  nun  der  Augenblick 
gekommen  sei,  das  System  zu  andern.  Von  den  kommen- 
den  Mannern  hofft  man,  daB  sie  der  Industrie  die  Wirtschafts- 
und  Sozialpolitik  zur  freien  Verfiigung  iiberlassen  und  in 
auBenpolitischen  Dingen  Zuruckhaltung  iiben.  Was  die  Nazis 
dann  mit  Republikanern,  Juden  und  andern  verdachtigen  In- 
dividuen  machen,  ist  den  schwerindustriellen  Bundesgenossen 
hochst    gleichgiiltig. 

Fastistenparade  von  Peter  Scher 

/~*ewifl,  die  Augen  blitzen  hell 
^*  wie  man  das  hat  bei  ungerupften  Gockeln; 
doch  wie  sie  mahlich  nun  vortiberzockeln, 
wirken  die  meisten  etwas  kriminell. 

Ein  Hauptling,  stelzend,  mit  Korsett, 
ganz  Operette,  macht  sich  furchtbar  wichtig; 
ein  PreBlakei,  schief,  blaBgesichtig, 
mochte  urn  vieles  lieber  gleich  zu  Bett. 

Ach  Gott,  so  ist  des  Schicksals  Lauf, 

der  ganze  A£ist  ist  ihm  im  Grand  zuwider, 

jedoch  er  HeB  sich  unterm  blauen  Himmel  nieder  — 

also  muB  Schmus  sein,  denn  die  passen  auf. 

Noch  bringen  Autos  Last  auf  Last; 
an  einem  kann  man  weithin;   Schlachthaus   lesen; 
das   ist  noch   gestern  Viehtransport  gewesen  — 
Kinder,  der  Zeitgeist  trif ft  es,  wenn  er  spafit! 

Geschrei  und  chorisches  Gelall; 
die  Burger  tragen  ihren  Maulkorb  schweigend; 
sich  rasch  noch  vor  dem  GeBlerhut  verneigend, 
wackeln  sie  eilig  heimwarts  in  den  Stall. 

Ein  Land  hat  mir  noch  ein  Gesicht, 
ein  Volk  ist  nur  noch  ein  Bambino. 
Komm  —  libera  Hugenberg  —  mein  Hitlerino  — 
dulde  das  Vorrecht  dieser  Welschen  nicht! 
^608 


Bemerkungen 


Die  Kriegsschuldfrage 

ist  gar  keine  —  fur  die  Welt  ist 
sie  langst  keine  Frage  mehr.  Je- 
der  deutsche  Spezialist  konnte 
zweihundert  Artikel  fremder 
Spezialisten  zitieren,  aber  die 
Massen  im  Ausland  bewegt  diese 
langst  erledigte  Materie  keines- 
wegs.  Die  Kriegsschuldfrage  ist 
eine  lediglich  innerdeutsche 
Sache,  erfunden  zu  Propaganda- 
zwecken,  erfunden,  um  vom  We- 
sentlichen  abzulenken,  namlich 
von  der  Grundfrage  alles  deut- 
schen  Lebens:  wer  beutet 
Deutschland  aus?  Die  fremden 
Machte  nur  zum  geringen  TeiL 

Es  ist  ein  bescharaender  An- 
blick,  das  Geheul  und  Getobe  der 
Studenten  zu  beobacHten,  wie 
sie  ununterbrochen  auf  dieser  er- 
ledigten  und  langst  entschiednen 
Frage  herumreiten.  Es  ist,  wie 
wenn  man  einen  Verdauungsvor- 
gang  ungeschehen  machen  wollte. 
Was  wollen  sie  — ?  Die  Welt- 
geschichte  riickwarts  drehen  ? 
Aber  die  antideutsche,  zum  Teil 
berechtigte,  zum  Teil  vollig  un- 
sinnige  Propaganda  der  Kriegs- 
jahre  hat  ihre  durchgreifende  Wir- 
kung  getan,  und  die  verstandigen 
und  friedliebenden  Auslander 
schamen  sich  heute  dieses  Wahn- 
sinnzustandes  und  wollen,  voller 
Scham,  nicht  mehr  an  ihn  erin- 
nert  werden.  Jede  Propaganda 
auf  diesem  Gebiet  ist  wirkungs- 
los  und  wird  es  bleiben. 

Was  Deutschland  erreichen 
kann,  liegt  auf  einem  ganz  an- 
dern  Feld,  Freilich  ist  der  Ver- 
trag  von  Versailles,  wie  jeder 
Friedensvertrag  Diktat  des  Sie- 
gers an  den  Besiegten,  nicht 
ewig.  Doch  hat,  ein  recht  alltag- 
licher    Vorgang,     dieses     Unrecht 


einen  Kechtszustand  ^eschaffen, 
den  man  nur  mit  Gewalt  oder 
durch  einen  neuen  Vertrag  ab- 
andern  kann.  Hat  Deutschland 
heute  oder  morgen  diese  Gewalt, 
ihn  abzuandern,  zur  Verf ugung  ? 
Kein  Student  will  sich  das  tiber- 
legen;  noch  die  lautesten  Schreier 
denken  nicht  daran,  Krieg  mit 
Frankreich  zu  fiihren,  Sie  bil- 
den  sich  ein,  durch  Resistenz  et- 
was  erreichen  zu  konnen,  und 
das   ist   unrichtig. 

Was  diesen  eingesperrten  und 
sich  nur  nach  Oesterreich  orien- 
tierenden  Randalmachern  immer 
wieder  gesagt  wer  den  muB,  ist; 
dafi  man  allein  nicht  wettlaufen 
kann.  Die  andern  laufen  nam- 
lich nicht  mit.  Sie  verstehen  das 
Geschrei  gar  nicht;  sie  werten  es 
vielleicht  als  das,  was  es  unter 
anderm  auch  ist:  als  ein  Zeichen 
des  alten  wilhelminischen  Un- 
geistes.  Und  sie  schutteln  die 
Kopfe  und  leben  ihr  Leben 
weiter, 

Diese  Protestaktionen  haben 
weite  deutsche  Kreise  ergnffen: 
man  kann  sich  doch  von  Hitler 
nicht  im  Nationalismus  schlagen 
lassen!  Man  kann.  Man  muB  nur 
den  Mut    aufbringen,    es    zu  tun. 

Die  Schlachten,  die  in  den 
kleinen  Universitatsstadten  und 
in  den  groBen  gleichmaBig  gc- 
schlagen  werden,  sind  von  vorn- 
herein  verloren,  soweit  das  Aus- 
land in  Betracht  kommt.  Es  sind 
Schlachten  und  Siege  gegen  ei- 
nen, der  jenen  viel  verhaBter  ist 
als  alle  fruheren  Entente-Staa- 
ten  zusammen,  Gegen  einen 
Deutschen.  Gegen  den  deutschen 
Arbeiter  und  Angestellten,  der 
niedergekmippelt  werden  soil. 
Ignaz    Wrobel 


Soeben  erschienen!  In   alien    Buchhandlungen    erhaitlicKI 

STALIN  &  CO. 

von  R.  N.  Coudenhove-Kalergi 

Ein  Blltzstraht  am  Rande  des  Abg^Undes  ist  diese 
neueste  Schrlft  Coudenhoves.  Sie  beleuchtet 
RuBlands  MacKtstellung  und  Europas  Macht- 
zerrUttung.      Ein    Weckruf    in    zwolfter    Stunde 


84  Seiten   —  oo  Pfennig 


PANEUROPA  VERLAQ,  LEIPZIG-WIEN 


609 


Autarkie 

I  n  der  spanischen  Nationalver- 
*■  sammlung  stand  die  Trennung 
von  Kirche  und  Staat  zur  Debatte. 
Sic  ist  inzwischen  Gesetz  gewor- 
dcn.  Der  Justizminister  trat  fur 
vollige  Trennung  ein,  lehnte  aber 
die  Ausweisung  der  Jesuiten  ab. 
Aus  den  bisher  bekannt  gewor- 
denen  Gesetzen  ist  die  Auflosung 
aber  nicht  Ausweisung  der  Jesu- 
itenorden  zu  ersehn.  Zur.  Begriin- 
dung  seiner  Gegnerschaft  einer 
Vertreibung  von  tausenden  Men- 
schen  erinnerte  Los  Rios  an  den 
Scbaden,  den  Spanien  jdurch  die 
Ausweisung  der  Juden  erlitten 
habe.  Wilde  Volker,  wie  nun  ein- 
mal  die  Spanier  sind,  machte  auf 
sie  grade  dieses  Motiv  besondern 
Eindruck,  Aber  nicht  genug  da- 
mit,  benutate  Los  Rios  die  Gele- 
genheit,  um  auszusprechen,  wel- 
che  Gefuhle  der  Bewunderung  er 
fur  das  judische  Volk  habe,  Nach 
dem  Sitzungsbericht  des  .Temps' 
trug  diese  Bemerkung  dem  Mini- 
ster den  sturraischen  Beifall  der 
ganzen  Kammer   ein. 

In  der  nationalen  Regierung, 
die  England  bis  zu  den  Neuwah- 
len  vom  27.  Oktober  leitet,  ist  der 
Innenminister  Herbert  Samuel 
Jude,der  AuBenminister  und  f riihe- 
re  Vizekdnig  von  Indien  Lord 
Reading  Jude  und,  was  weniger 
bekannt  ist,  der  Gouverneur  der 
Bank  von  England,  Montague 
Norman,  Jude.  Trotzdem  ist  es 
nicht  bekannt  geworden,  daft  das 
englische  Volk  den  Zusammen- 
bruch  der  Goldwahrung  als  einen 
jiidischen  DolchstoB  bezeichnete. 
Ira  Gegenteil,  die  Ludendorff,  Fe- 
der  und  sonstigen  Deutschgeldler, 
die  die  Loslosung  der  Mark  von 
dem  jiidischen  Golde  fordern,  ver- 


langen,  daB  Deutschland  zusam- 
men  mit  England  und  Amerika 
sich  von  der  Jahwegoldwahrung 
loslose.  Offenbar  wissen  sie  noch 
nicht,  daB  sie  sich  auch  da  wie- 
der  in  judischer  Gesellschaft  be- 
f  inden.  Nimmt  man  noch  hinzu,  daB 
Mussolini  den  Antisemitismus  in 
einer  beriihmten  Rede  als  Bar- 
barei  bezeichnete  und  einen 
Trennungsstrich  zwischen  Anti- 
semiten  und  Fascisten  zogt  so 
bleibt  nur  festzustellen,  daB  der 
Antisemitismus  der  deutschen 
Rechten,  der  .  freilich,  wie  die 
Reichstag ssitzung en  von  1930  ge- 
zeigt  haben,  sehr  weit  nach  links 
reicht,  ein  Reinprodukt  der  deut- 
schen Autarkie  ist,  nicht  export- 
fahig  und  auf  den  innern,  — wie 
sagt  man  heute? —  „Verzehr"  an- 
gewiesen. 

Felix  Stossinger 

Gombos,  der  letzte  Ritter 

Ceit  Monaten  liegt  iiber  Ungarn 
^  eine  nervose  Spannung  wie  sie 
das  Land  seit  den  Wochen  vor 
dem  Ausbruch  der  Kommune 
nicht  kannte.  Jedermann  fuhlt, 
daB  es  so  nicht  mehr  lange  wei- 
tergeht . . .  Mit  dem  Sturze  Beth- 
,  len  begann  es.  Wie  aus  einem 
schweren  Rausch  erwacht,  sah 
Ungarn  mit  einem  Schlage,  daB 
der  „Retter'*  das  Land  in  einer 
katastrophalen  Finanzlage  zuriick- 
gelassen  hat.  Dann  kam  die 
Eisenbahnkatastrophe  von  Bia 
Torbagy.  Unfall  oder  Attentat? 
Noch  heute  —  nach  den  sonder- 
baren  Gestandnissen  des  Herrn 
Matuschka  —  ist  die  Frage  nicht 
geklart.  Allerdings:  die  Per- 
son dieses  Helden  bildet  fur 
die  Reaktion  eine  peinliche  Ange- 
legenheit    Matuschka  ist  namlich 


BdYinRa 

ist  unser  Autor.  Wir  sind  sein  Yerlag.  Auch  wenn  Ihr  Lebensgltick 
von  dem  abhangt,  was  in  den  Bo  Yin  Ra-Buchem  stent,  kann  Sie  der 
Autor  doch  nicht  erreichen.  Es  ist  unsere  Fflicht,  Ihnen  seinen  Namen 
zu  nennen.  Einfuhrungsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober-Staehelin,  kostenfrei 
in  jeder  Buchhandlung  erhaltlich,  sowie  heim  Yerlag:  Kober'sche  Yerlags- 
buchhandlung  Basel  und  Leipzig. 

610     . 


kcin  „umstiirzlerisches  Element" 
sondern  ein  frommer,  wenn  auch 
vielleicht  psychopathischer  Katho- 
!ik,  also  ein  etwas  Ungeeigneter 
Beweis  fur  die  „Blutschuld 
Molkaus"  oder  des  t,Inter- 
nationalen  Judentutns",  von 
der  die  wiener  Hakenkreuz- 
Studenten  in  einem  Anschlag  auf 
dem  Schwarzen  Brett  sprechen 
durften.  Sei  nun  aber  Matuschka 
der  Tater  oder  blofi  ein  Narr  oder 
ein  Werkzeug  der  budapester 
Polizei:  die  Tat  von  Bia  Torbagy 
kam  der  ungarischen  Reaktion 
iiberaus  gelegen.  Tags  darauf 
waren  die  Standgerichte  fiir  das 
ganze  Land  wieder  eingefiihrt, 
war  die  Tatigkeit  der  gesamten 
Opposition  praktisch  lahmgelegt, 
war  eine  Kommunistenhetze  nach 
alien  Regeln  fascistischer  Regie- 
rungskunst  eingeleitet.  Und  dam  it 
hat  Bia  Torbagy  seine  Pflicht  ge- 
gemiber   dem  Regime  erfiillt . . . 

Sollte  sich  aber  auch  das  als 
nicht  ausreichend  erweisen,  dann 
steht  noch  immer  hinter  dem 
schwachen  Ministerprasidenten 
Karolyi  der  eigentliche  Herr  des 
Landes,  Honvedminister  Gombos. 
Unumschrankter  Gebieter  iiber 
Heer,  Gendarmerie  und  Polizei 
mit  ihrem  Riesenbudget  von  250 
Millionen  Pengo,  iiber  die  gewal- 
tigen  illegalen  Stofltrutfpen  der 
Reaktion,  die  ^Levente",  hat  er 
den  ganzen  Machtapparat  des 
Landes  in  der  Hand.  Da  er  sich 
iiberdies  der  uneingeschrankten 
Gunst  Horthys  erfreut,  ist  er  der 
eigentliche  Chef  der  Regierung. 
Auf  Gombos  richten  sich  die 
Hoffnungen  der  Reaktion,  wenn 
es  zum  AuCersten  kommen  sollte. 


Er  ist  berufen,  im  Notfalle  die 
Regierung  aus  den  Handen  des 
integren  aber  schwachen  Karolyi 
zu  iibernehmen  und  ein  „Kabinett 
der  starken  Hand'*  zu  bilden,  das 
hinter  einer  diinnen  parlamen- 
tarischen  Fassade  —  denn  Horthy 
ist  nicht  fiir  offene  Diktatur  — 
das  Land  diktatorisch  niederhal- 
ten  wiirde. 

Gombos  ist  der  Mann,  der  die 
eigentliche  Nachfolge  Bethlens 
iibernehmen  solL  Dieser  hat  sich 
bei  der  groflenwahnsinnigen  Wirt- 
schaftspolitik  aufgebraucht.  Ein 
Jahresdefizit  von  420  Millionen 
Pengo  hat  er  hinterlassen,  eine 
Gesamtverschuldung  von  dreiMilli- 
arden  Pengo  an  das  Ausland,  da- 
von  eine  Milliarde  in  kurzfristi- 
gen  Krediten,  die  zum  Teil  be- 
reits  fallig  sind.  Das  durch  die 
Landwirtschaftskrise  *  furchtbar 
betroffene  Ungarn  ist  am  Ende 
seiner  Krafte, 

Bethlen,  murbe  gemacht  durch 
die  Krise,  hat  seine  Allmachts- 
stellung  dem  j  tingern  Gombos 
abgetreten.  Gombos  ist  die  letzte 
Hoffnung  der  ungarischen  Re- 
aktion. 

Denn  man  weiB,  dafi  ein  Re- 
gime Gombos  den  finanziellen  Zu- 
sammenbruch  des  Landes  rapid 
beschleunigen  wiirde.  Ein  Gom- 
bos wiirde  wahrscheinlich  yom 
Ausland  keinen  Pfennig  bekom- 
men,  oder  doch  nur  unter  sehr 
schweren  Bedingungen.  In  der 
judischen  Hochfinanz  des  Lan- 
des wiirde  eine  Kapitalflucht 
einsetzen,  wie  sie  Ungarn  noch 
nicht   erlebt   hat, 

Ein  Zusammenbruch  von  Gombos 
—   der   voraussichtlich   nicht   un- 


auch  dieWeltcigarette  in  der 
neuen  Abdulla  -  Spezialit&t 


Abdulla  <£  Co. 


o/iae  DZunctst&ck 

Kalro   I   Condon    /    Berlin 

611 


WILLI  MONZENSERG 

solidaritAt 

10  J  ah  re  Internationale  Winterhilfe 

lm  Herbst  1931  besteht  die  Internationale 
Arboiterhilfe  10  Jahre.  Auf  dlrekte  Anregung 
von  Lenin  gegrtlndet,  entstand  diese  Orga- 
nisation durch  die  Zusammenfassung  der 
Krfifte  In  alter  Welt,  die  sich  begeistert  an 
dom  beispielfosen  Hitfswerk  betelllgten  fUr 
die  Opfer  der  russischen  Hungersnot,  fUr 
dlejapanischen  Opfer  der  groSen  Erdbeben- 
katastrophe.  fUr  die  deutschen  Werktatigen 
wfihrend  des  Hungerwinters  1923/24,  fUr  die 
vom  .  Hungertod  verfolgten  chinesischen 
Kulia  und  fUr  die  UnterstUtzung  der  Streiks 
und  Wirtschaftskampfe,  die  weit  Qber  lokale 
Grenzen  hinaus  Bedeutung  fUr  die  Werk- 
tStigen  alter  Lender  besaBen.  So  1st  die 
Internationale  Arbeiterhilfe  heute  zu  einer 
Organisation  geworden,  in  derviele  Millionen 
Einzel-  und  Kollektlvmitglieder  zusammen- 
geschlossen  sind.  Die  bedeutehdsten  KGpfe 
der  Kunst  und  des  Geistestebens  haben 
etch  in  ihr  mlt  d&n  Massen  der  Hand-  und 
Kopfarbeiter  verbunden,  um  Werke  elnzlg- 
artiger  und  gr&Bter  Menschlichkeit  und 
brUderflcher  Hilfe  zu  vollbringen.  An  d&r 
Schweile  des  2.  Jahrzehnts  ihrer  Organisa- 
tion ist  es  an  derZeit,  einen  RUokblick  auf 
das  Geleistete  zu  werfen  und  Pl&ne  fUr  die 
neuen  zu  bewaltigenden  Aufgaben  zu  ent- 
werfen.  Der  Verlag  ist  davon  Uberzeugt, 
daB  an  diesem  Bericht  die  b  re  i  teste  Off  en  t- 
iichkeit  interesstert  Ist;  der  Verlag  1st  sich 
ferner  bewu8t,  daS  Aufkl&rung  Uber  TStlg- 
keit  und  Ziele  der  Internatlonalen  Arbeiter- 
hilfe in  unserer  Zeit,  die  SuBerste  Anspan- 
nung  und  Einsetzung  alter  hilfsbereiten 
Krfifte  erfordert,  heute  ganz  besonders  not 
tut.  Aus  den  vielen  hundert  Selten  und 
Dokumenten  dieses  umfassenden  Berichts, 
der  nlchts  gemeln  hat  mit  der  gewohnten 
Etnttinlgkett  und  Langatmtgkeit  Shnlicher 
Berichte,  strOmt  die  unbegrenzte  und  auf- 
opferungsf&hige  Lie  be  des  werktatigen  Vol- 
kes  zu  jedem  einzelnen  Unterdrllckten  und 
Ausgebeuteten.  So  1st  dieses  Werk  im 
be s ten  Sinne  des  Wortes  das  Hohelied  der 
brUderlichen  Hilfe  aller  Werktfitlgen. 
Das  Buch  urnfaBt  alle  Geblete  und  alls 
Aktlonen.  Den  Text,  fUr  den  der  General- 
sekretaYder  Organisation,  Willi  MUnzenberg, 
verantwortlich  zeichnet,  1st  zusammengestellt 
worden  von  einem  Stab  der  verantwortlich- 
sten  FunktlonaVe  und  FUhrer  dleser  wett- 
umspannenden  Organisation. 

Lexfkonformat  1931.  528  Seiten.  48  Kunst- 
drucktafeln.  Mlt  einem  zweifarbigen  Schutz- 
umschlag  von  Fritz  Stammberger,  Berlin. 
In  Buckramleinen  gebunden  ....  RM  6,80 

NEUER  DEUTSCHE R  VERLAG 
BERLIN  W  8 

612 


blutig,  verlaufenwtirde — ware  aber 
nicht  nur  das  Ende  dieses  Aben- 
teurers  sondern  gleichzeitig  das 
Ende  des  gegenwartigen  feudalen 
Regimes  in  Ungarn,  Der  Pen  del - 
schlag  wurde  dann  aber  wahr- 
scheinlich  nicht  bei  einem  ge- 
mafiigten  Koalitiohsregime  halt- 
machen  sondern  weit  hintiber- 
schwingen  nach  links.  Wie  weit 
laBt  sich  nicht  voraussagen.  Je- 
denfalls  haben  die  zehn  Jahre 
Bethlen-Horthy-Regime  in  Ungarn 
so  viel  Ziindstoff  angehauft, 
daB  es  gefahrlich  waret  sich  uber 
den  Umfang  dieser  Gegenreak- 
tion  gegen  die  Reaktion  Illusio- 
pen  hinzugeben.  Wenn  es  einmal 
zu  einer  Abrechnung  in  Ungarn 
kommt,  wird  sie  griindlich  sein. 
Das  weifi  man  auf  der  Link  en,  das 
weifi  man  aber  auch  auf  der 
Rechten.  Und  das  ist  es,  was 
die  Lage  dieses  Landes  so  be- 
sonders verscharft  und  was  zur 
Entscheidung  drangt. 

K.  L.  Reiner 

Marokko 

Vor  Josef  von  Sternbergs  Film 
ftMarokko"  (bei  uns  stim- 
mungsvoll  „Herzen  in  Flammen" 
geheifien)  hat  sich  das  bessere 
Berlin  heftig  blamiert.  Was  ein 
gelernter  Premiere  ntiger  ist,  der 
braucht  nur  einen  schnellen  BHck 
auf  tanzende  Araberinnen,  den 
singenden  Muezzin,  die  marschie- 
renden  Fremdenlegionare  zu  wer- 
fen, und  schon  weifi  er;  „Das  ist 
eiri  Kitschfilml",  schon  fahrt-  er 
mit  Gebrtill  aus  der  Haut  und 
aus  dem  Kino.  Marlene  Dietrichs 
schone  Beine  vollends  legen  ihm 
den  Verdacht  nahe,  daB  sie  keine 
schone  Seele  haben  konne  —  er 
schenkt  es  sich,  das  nachzuprti- 
fen. 

Dabei  spielt  dieser  Film  eben- 
so  wenig  in  Marokko  wie  Othello 
in  Venedig  oder  Tasso  in  Belri- 
guardo.  Gewifi,  die  Pappgeogra- 
phie,  die  beim  Theater  Vorteil 
bringt,  wirkt  beim  Film  immer 
als  ein  Manko,  und  so  schadigt 
es  Sternbergs  Filme,  daB  in  ihnen 
Leben  immer  nur  in  einem  Me- 
ter Umkreis  um  den  Menschen 
herrscht.  Aber  dieser  enge  Kreis 
wird   zum   Zauberkreis:  Sternberg 


hext  Seele  in  drei  FUmschauspie- 
ler,  drei  herrliche,  schlanke 
Zuchttiere,  die*  man  mit  dem  lei- 
sesteri  Zugeldruck  lenken,  aber 
grade  deshalb  ebenso  leicht  den 
richtigen  wie  den  falschen  Weg 
schicken    kann. 

Sternberg  weifi,  was  wenige 
wissen:  dafi  die  Kunst  mit  der 
Schonheit,  nicht  mit  der  Natur- 
lichkeit  anfangt.  Man  besehe  sich 
Marlene  Dietrich,  Gary  Cooper, 
Adolphe  Menjou  auf  ihre  tanze- 
rische  Schonheit  hin,  und  dann 
prufe  man  unsre  hiesigen  Promi- 
nenten  —  man  wird  manches  ein- 
sehen.  Schauspieler  und  Tanzer 
sind  naher  verwandt,  als  man  bei 
uns  wahr   haben   mochte. 

Wobei  gar  nicht  bestritten 
werden  soil,  daB  Sternbergs 
Schonheit  etwas  sufi,  etwas  par- 
fiimiert  ist.  Aber  was  schadet 
das,  wenn  er  trotzdem  und  trotz 
Marokko  mit  seinen  Schauspie- 
lern  ein  Trio  von  unglaublich  mo* 
derner  Klangfarbe  aiiffuhrt!  Was 
wir  immer  fordern  und  vermissen: 
die  Liebe  ohne  Arien,  ohne  Getral- 
ler,  ohneTaubefei  —  hier  ist  sie; 
jeder,  der  Augen  hat,  konnte  sie 
sehen,  aber  Marokko  ist  wohl 
etwas  weit  weg,  und  die  allzu 
dekorativen  maurischen  Fenster 
versperren  wohl  die  Aussicht. 
Die  Liebe  als  schicksalhafter  Zwi- 
schenfall  fiir  Menschen,  die  still 
und  ernst  werden,  wenn  es  ihnen 
geschieht;  die  keine  groBen  Worte 
machen,  die  manchmal  leise 
lacheln  iiber  den  Schrecken,  de- 
nen  ihnen  ihr  Gluck  einjagt,  Mar- 
lene Dietrich  sieht  den  Geliebten 
fast  feindlich  an,  und  wie  die 
Nachricht  von  einem  Trauerfall 
klingt  ihr  , J  begin  to  like  you". 
Schweigen  —  Amor  geht  wie  ein 
Engel    durchs    Zimmer.    Der   Kufi 


verbirgt  sich  hinter  dem  Facner, 
der  eingeschnitzte  Name  der  Ge- 
liebten unter  einem  Haufen  von 
Zigarettenstummeln,  GewiB  ist 
diese  Verhaltenheit  der  Grund 
fiir  das  MiBlingen  der  (kurz  nach 
der  berliner  Premiere  amputier- 
ten)  SchluBzene,  die  nur  als  Tern* 
peramentsausbruch  verstandlich 
ware,  nicht  als  stiller  EntschluB 
einer  klugen,  wenn  auch  verlieb- 
ten  Frau  —  aber  wer  in  diesem 
Film,  den  Anstand,  die  unpathe- 
tische  Delikatesse  nicht  sieht,  dem 
sitzen  die  Augen  hinter  dem  Ge- 
hirn  statt  davor. 

Die  militarische  Ehrenbezeu- 
gung  des  Legionars  wird  zu  einer 
zierTichen,  ironischen  Arabeske 
umgedichtet,  wird  zum  Verstan- 
digungsmittel  zwischen  Frau  und 
Mann,  dient  statt  Umarmung  und 
Schmachten  als  optische  Chiffre 
der  Liebe.  So  ist  MMarokko"  vol- 
ler  raffinierter  Bildsymbole.  An 
Gary  Coopers  Soloszene  konnte 
man  die  ganze  Filmkunst  exem- 
plifizieren.  Es  ist  einer  der  be- 
sten  optischen  Monologe,  die  wir 
kennen:  das  Gluck  der  Gelieb- 
ten —  das  Armband  des  reichen. 
Freiers  liegt  auf  dem  Tisch;  soil 
er  desertieren?  —  spielerisch 
nimmt  er  sein  Kappi  ab  und  pro- 
biert  Marlenes  Zylinder;  und 
dann  schreibt  er  mit  einem 
Schminkstift  auf  den  Spiegel: 
,,Ich  habs  mir  iiberlegt  —  leb 
wohl  I'*  Er  hat  sichs  iiberlegt,  und 
wir   konnten   es   sehen, 

Sternberg  ist  kein  Revolutionar. 
Er  emport  sich  nicht  gegen  die 
Schmalztopfe  Kaliforniens.  Man 
mag  daruber  denken,  wie  man  will 
—  die  Leistungen  dieses  Regis- 
seurs   darf  man    nicht    ubersehen. 

Rudolf  Arnheim 


Hinweise  der  Redaktion 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  17.40:  Oskar  Wilde  und  sein  Kreis,  Arthur  Holttscher.  —  Frankfurt 
18.40:  Warum  wandern  die  Menschen?  Alfons  Goldschmidt  —  Hamburg  19.30; 
Martin  Andersen-Nexfl  West.  —  Berlin  20.00 1  Dichter  far  und  getfen  die  Franz5sische 
Revolution.  —  Hamburg  21.00:  Freiheitshelden  der  Bfihne.  —  Mittwocfa.  Berlin  18.10: 
Ein  Mensch  mit  Buchcrn  und  SchallpUtten,  Rudolf  Arnheim.  —  20.30:  Shakes pc arcs 
Richardm  —  Leipzitf  20.40:  Der  Geizige  von  Moliere.  -  Muochen  20.40:  Aua  Knut 
Hamsuns  Victoria.  —  Langenberg  2<'.50:  Arbeiterdichtuntfen,  Ernst  Hardt.  — 
ponnerrta*.  Berlin  1605:  Werner  Turk  liest.  —  MG  blacker  18.40:  Oskar  Ludwitf 
Brandt  liest  Jack  London.  —  FreiUg.  Berlin  15.40;  Paul  Cezan»e.  Paul  Westheim.  — 
Kdnitfaberg  20.00:  Hdrspiel  nach  Biichners  Lenz.  ■—  Leipzig  20.40:  Das  Aschenseil 
von  Walter  Bauer,  —  Sonnabend.  Berlin  17.45:  Die  Erzahluntf  der  Woche,  Hermann 
Sinzheimer. 

613 


Antworten 

Nationaler  Mann.  Sie  haben  Ihrem  Bundesgenossen  Herrn 
Doktor  Schacht  jene  Gunst  zuteil  werden  lassen,  die  er  einigen  hun- 
derttausend  unsrer  Landsleute  verweigert  hat:  sie  haben  ihn  aufge- 
weriet,  Der  Finanzsiar  von  Harzburg  war  vor  sieben,  acht  Jahren 
ein  Mann,  von  dem  kein  nationaler  Werwolf  den  fettesten  Knochen 
nahm.  Es  liegt  eine  Art  ausgleichende  Gerechtigkeit  darin,  daB  Herr 
Schacht,  der  Renegat,  der  sich  der  Nationalen  Opposition  mit  alien 
Mitteln  aufgenotigt  hat,  ihr  jetzt  das  Konzept  verdorben  hat,  Er  hat 
die  Inflationsplane  der  versammelten  Patrioten  entlarvt  Herr  Hjal- 
mar  Schacht  ist  ein  tuchtiger  Hasser,  '  Es  gibt  einen  groBen,  einen 
produktiven  Haft,  der  stark  genug  ist,  altes  Gerumpel  niederzuwerfen 
und  Wege  frei  zu  machen.  Das  ist  der  Hafi  des  Menschen,  der  nicht 
aus  kleinem  personlichen  Ehrgeiz,  sondern  aus  einer.  Idee  heraus  ha  fit 
und  fur  diese  Idee  haBt.  Der  HaB  des  Herrn  Schacht  kommt  aus 
einer  kleinen  verstankerten  Seele,  es  ist  der  Arger  des  von  den  Er- 
eignissen  ubersprungenen  Ehrgeizes,  Herr  Schacht  mochte  allzu 
gern  wieder  an  die  Spitze,  und  sein  Schicksal  wird  es  weiterhin 
bleiben,  immer  hinterher  zu  laufen,  sich  uberall  anzukoppeln  und  da- 
zwischen  zu  schieben,  bis  einmal  die  Rader  iiber  ihn  weggehen.  So 
ist  er  denn  jetzt  in  Harzburg  gelandet  und  attackiert  dort  die  von 
ihm  mitgeschaffene  deutsche  Wahrung  im  Interesse  der  gleichen 
Schwerindustrie,  die  1923  gegen  ihn  aufgetreten  ist,  weil  sie  in  ihm 
den  Exponenten  der  Linken  und  des  sozialen  Fortschritts  sah.  In 
der  (Weltbuhne'  vom  27.  November  1928  (XXIV.  Jahrgang  Nr,  48) 
gaben  wir  ein  Dokument  des  Reichsbankdirektoriums  vom  17.  De- 
zember  1923  wieder,  worin  die  Reichsbankdirektoren  von  Glasenapp 
und  von  Grimm  eine  dringende  Warming  an  den  Staatssekretar  der 
Reichskanzlei  richteten,  den  Wahrungskommissar  Schacht  nicht  zum 
Reichsbankprasidenten  zu  machen.  Die  Herren  waren  in  ihrer  Argu- 
mentation nicht  sehr  fein.  Sie  bezweifelten  kurzer  Hand  die  person- 
liche  Lauterkeit  des  Bankiers  Schacht.  Vor  alien  Dingen  kramten  sie 
einen  Vorgang  heraus,  der  sich  1915  in  Brussel  abgespielt  hat:  ,tDie 
Akten  ergeben  zunachst,  daD  Herr  Dr.  Schacht,  welcher  der  Dresdner 
Bank  als  (stellvertretender)  Direktor  angehorte, .  aber  in  die  Bank- 
abteilung  beim  Generalgouvernement  berufen  war,  im  Interesse  der 
Dresdner  Bank  Antrage  auf  Oberweisung  belgischer  Noten  bei  der 
Armeeintendantur  gestellt  hat.  Damit  verstiefi  er  gegen  die  Pflich- 
ten,  die  ihm  seine  amtliche  Stellung  auferlegte.  Wir  mochten  indessen 
diesen  VerstoB  nicht  streng  beurteilen,  denn  Herr  Dr.  Schacht  ge- 
hdrte  eben  seiner  ganzen  Ausbildung  und  bisherigen'  Tatigkeit  nach 
nicht  der  Beamtenwelt,  sondern  der  Geschaftswelt  an,  und  es  ist  an 
sich  denkbar,  daB  ein  Geschaftsmann  in  solchem  Falle  sich  fur  be- 
rechtigt  halten  mochte,  so  zu  handeln,  wie  Herr  Dr.  Schacht  tat. 
Viel  bedenklicher  und  fur  uns  entscheidend  ist,  daB  er  in  der  Refe- 


ELIZABETH  RUSSELL  /  HOCHZEIT,  FLUCHT 
UND  EHESTAND  DER  SCHONEN  SALVATIA 

Roman. 

Diese  Geschichte  von  elnem  weibllchen  Parsifal  ist  so  lustlg,  wie  man  es  sich  nur 
wUnschen  kann.  Man  facht  beim  Lesen  oft  laut  auf.  Es  1st  einer  jener  nicht  h»u- 
ftgen,  wirklich  unterhaltenden  Romane,  fflr  den  man  dem  Ver- 
fassor  ebenso  dankbar  sein  muQ  wie  Freunden.  die  uns  einen 
helteren,  sorgenlosen  Abend  bereitet  haben.      Llterarische  Welt. 


TRANSHARE  V1RLAO  A..Q.f  BERLIN  W  10 

614 


Leinen 

4.80RM 


rentenbesprechung  vom  3.  Juli  1915,  {iber  den  Sachverhalt  befragt,  die 
dieserhalb  an  ihn  gerichteten  Fragen  unaufrichtig  beantwortet  und  am 
5,  Juli  1915,  als  die  Unaufrichtigkeit  seiner  Angaben  erwiesen  war, 
sich  durch  eine  ,spitzfindige  Auslegung*  seiner  AuBerungen  zu  recht- 
fertigen  suchte."  Die  Herren  Reichsbankdirektoren  sprechen  -  dann 
weiter  von  einer  MVerfehlung"  Schachts  und  kommen  zu  dem 
SchluB:  „Der  ganze  Vorgang  ist  in  weitem  Kreise  bekannt.  Er 
schliefit  unsres  Erachtens  die  Berufung  des  Herrn  Dr.  Schacht  an  die 
Spitze  des  Reichsbankdirektoriums  aus,  mag  er  ihn  auch  fur  andre 
Stellungen  nicht  disqualifizieren.  Denn  der  Reichsbankprasident 
muB  unter  alien  Umstanden  eine  absolut  makellose  Vergangenheit 
haben;  seine  unbedingte  Uneigenniitzigkeit,  Lauterkeit  und  Zuver- 
lassigkeit  darf  nicht  der  leisesten  Anzweiflung  unterliegen,  an  ihm 
darf  nicht  das  kleinste  Staubchen  haften;  andernfalls  verliert  er  das 
Vertrauen  in  der  Bevolkerung  und  die  Autoritat  in  der  Geschafts-, 
insbesondere  in  der  Bankwelt.  Weiterhin  aber  verliert  er  auch  die 
Autoritat  gegeniiber  der  ihm  unterstejlten  Beamtenschaft,  deren  un- 
bedingt  erforderliche  Intregitat  Schaden  leiden  muB,  wenn  sie  den 
an  ihrer  Spitze  stehenden  Mann  selber  nicht  fur  unbedingt  integer 
halt."  In  der  Sitzung  des  Zentralausschusses  der  Reichsbank  war  am 
17,  Dezember  1923  (iber  die  Ernennung  Schachts  verhandelt  worden. 
Dabei  trat  eine  fast  einhellige  Abneigung  gegen  Schacht  zutage.  Wir 
zitieren  aus  dem  Protokoll:  „Herr  von  Schwabach  stellte  schlieBlich 
den  Antrag,  durch  BeschluB  auszusprechen,  daB  der  ZentralausschuB 
erstens  den  Herrn  Dr.  Schacht  fur  die  Stellung  des  Reichsbankprasi- 
denten  nicht  fur  geeignet  halte;  zweitens  nach  wie  vor  der  Meinung 
sei,  daB  Herr  Dr.  Helfferich  der  weitaus  geeignetste  Kandidat  fiir 
dieses  Amt  sei.  Bei  der  Abstimmung  wurde  der  Antrag  zu  eins  mit 
alien  gegen  die  Stimmen  der  Herren  von  Mendelssohn,  Kube  und  Ko- 
petzky,  der  Antrag  zu  zwei  mit  alien  gegen  die  Stimme  des  Herrn 
Kube  angenommen."  Seitdem  hat  Herr  Schacht  seine  Eignung  vielfach 
bewiesen.  Er  hat  sich  in  allem  den  Leuten  angepaBt,  die  ihn  1923 
ablehnten  und  nicht  einmal  davor  zuriickschreckteh,  auf  Grund  eines 
belanglosen  und  vergessenen  Zwischenfalls  seinen  Namen  zu  be- 
schmutzen.  In  Harzburg  hat  er  versucht,  auch  seine  Eignung  als  Fi- 
nanzdiktator  des  Dritten  Reichs  neu  zu  belegen,  Dabei  hat  er  des 
Guten  etwas  zuviel  getan,  der  offene  Appell  an  das  Ausland,  die 
Kredite  aus  Deutschland  zuriickzuziehen,  hat  keinen  weitern  Effekt 
gehabt,  als  daB  Herr  Schacht  sich  selbst  ruinierte.  Es  gibt  nichts 
schrecklicheres  als  den  rasend  gewordenen  Fachmann,  den  Mann  mit 
den  anerkannten  Spezialfahigkeiten,  aber  ohne  Blick  fiir  Gesamtheit. 
Herr  Schacht  hat  gesagt,  daB  der  Wiederaufbau  Deutschlands  nicht 
so  sehr  eine  Frage  der  Intel ligenz  als  vielmehr  eine  des  Charakters 
sei.     DaB  Herr  Schacht  die  Intelligenz  ausschlieBt,  mag  nicht  nur  aus 


gibt  fronzbsischen 

Unterricht 


Eden-Verlag,  Berlin  W  62 


615 


einem  Anfall  von  Selbsterkenntnis  herriihren  sondern  auch  eine  Kon- 
zession  an  seine  harzburger  Zuhorerschaft  sein.  Was  aber  den  Cha- 
rakter  anbelangt,  so  wissen  wir,  aus  welchem  Grunde  Hjalmar 
Schacht  in  Deutschland  fiirderhin  keine  Rolle  mehr  spielen  wird.  Es 
ist  allerdings  moglich,  dafi  Schacht,  der  heute  wieder  fur  Industrie- 
profite  kampft,  zur  Rechtfertigung  seiner  harzburger  Excesse  das  an- 
luhri,  was  ihm  da  ma  Is  die  beiden  Reichsbankdirektoren  bescheinigten: 
„Wir  mochten  indessen  diesen  VerstoB  nicht  streng  beurteflen,  denn 
Herr  Dr.  Schacht  gehorte  eben  seiner  ganzen  Ausbilduhg  und  bishe- 
rigen  Tatigkeit  nach  nicht  der  Beamtenwelt,  sondern  der  Geschafts- 
welt  an,  und  es  ist  an  sich  denkbar,  dafi  ein  Geschaftsmann  in  sol- 
chem  Falle  sich  fiir  berechtigt  halten  mochte,  so  zu  handeln,  wie  Herr 
Dr.   Schacht  tat" 

Weltbuhnenleser  in  Zurich  treffen  sich  jeden  Montag  abend  im 
Cafe  Eckstein  1.   Stock,   Sonnenquai, 

Verein  „Berltner  Presse",  Du  schreibst  am  15,  Oktober  1931  an 
deine  Mitglieder:  „Sehr  geehrter  Herr  Kollege!  Am  23.  Oktober, 
abends  8.30  Uhr,  findet  im  Ufa-Palast  am  Zoo  die  Erstauffuhrung  des 
neuen  Charell-Films  ,Der  Kongrefi  tanzt'  zugunsten  der  Wohlfahrts- 
kassen  des  Vereins  .Berliner  Presse'  statt,  Der  FestausschuB  des 
Vereins  .Berliner  Presse*.  gez,  Falk."  Und  wie  heifit  der  Autor  des 
Charell-Films?    Falk! 

SchrHtsteller.  Zu  dem  geplanten  Ausschlufi  der  in  dem  Artikel 
von  David  Luschnat  genannten  Schriftsteller  aus  dem  SDS,  iiber- 
mitteln  Sie  uns  die  nachfolgende  Solidaritatserklarung:  „Die  Unter- 
zeichneten  verurteilen  die  Absicht  des  SDS-Vorstandesf  die  Oppo- 
sition im  Verband  durch  Massenausschlufi  zu  beseitigen,  Sie  sind  der 
Uberzeugung,  dafi  diese  Opposition  mit  ihrer  Kritik  und  Aktivitat  den 
SDS  neu  zu  beleben  versuchte  und  dafi  ihre  Ziele  geeignet  sind,  die 
geistige  und  wirtschaftliche  Stellung  der  Schriftsteller  zu  heben.  In 
dieser  Uberzeugung  erklaren  sich  die  Unterzeichneten  mit  den  vom 
Ausschlufi  bedrohten  Kollegen  solidarisch."  Bisher  unterschrieben 
von;  Ernst  Toller,  Walter  Mehring,  Ernst  Ottwalt,  Theodor  Plivier, 
Ernst  Blass,  Ernst  Glaeser,  Steenbock-Fermor,  Axel  Eggebrecht,  Ber- 
nard Guillemin,  Lisa  Tetzner,  Anselm  Ruest,  F.  C,  Weiskopf,  Georg 
Lukacz,  Erich  Franzen,  Heinz  Pol,  August  Wittfogel,  Carl  v.  Ossietzky, 
Alfred  Polgar,  Herbert  Ihering,  Alfred  Kerr,  Arthur  Holitscher,  Erich 
Kastner,  Frank  Warschauer,  Gerhart  Pohl,  Hellmuth  Walter  Brann, 
Werner  Ackermann,  Kurt  Hiller,  Rudolf  Arnheim,  E.  I.  Gumbel,  Hans 
Fallada,  Heinrich  Vogeler,  Richard  Huelsenbeck,  George  Grosz,  Kurt 
Kersten,  B6la  Balasz,  Leonhard  Frank,  Bruno  Frei,  Stefan  Grofi- 
mann,  Ludwig  Marcuse,  Margarete  Liebmann,  Heinz  Liepmann,  Albert 
Hotopp,   Kurt   Pinthus. 

Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospekt  der  Universum-Bucherei  fiir 
Alle  bei,  den  wir  der  besonderen  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser  emp- 
fehlen.  Der  Prospekt  gibt  AuskunH  iiber  die  in  der  Universum- 
Bucherei  erschienene  „Marxistische  Reihe*', 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktton  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  m  wird  gebeten,  ihnen  R&ckporto  beizulegen,  da  tout  keine  Rucksendun?  erfbljfen  kann. 
Das  Auffunningsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  muslk- 
mechanlsche  wiedergabe  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radlovortragen 
blelben  for  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitr&ge  ausdrucklicb  vorbehalten- 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet   von  Siegfried  Jacobsohn   und  wird   von  Cart  v.  Ossietzky  . 
outer  Mitwirkung    von  Kurt  TucholsWv  geleiteL  —  Verantwortlich:   Carl  v.  Ossietzky,    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co*  Charlottenburv. 

Telephon:    C  1,  Steinplatz  7757.  —  Postscheddconto:  Berlin  119  58. 
Bankkonto;     DarmstSdter   u,    Nationalbank,      Depositenkaase    Charlottenbur*.     Kantstr.    112 


XXVII.  Jahrgang  27.  Oktobcr  1931  Nuramer  43 


Die  beiden  Groener  von  cari  v.  ossietzky 

Dei  dem  braunschweiger  Hitlertag  vom  18.  Oktober  sind  von 
1-1  den  Nationalsozialisten  drei  Personen  getotet,  iiber  achtzig 
schwer  verletzt  worden.  Einen  ganzen  Tag  lang  wiitete  Schrek- 
kensherrschaft  in  den  Arbeiterquartieren.  Konrektor  Klagges, 
der  Polizeiminister,  rief  triufnphierend,  daB  der  „marxistische 
Mob"  sich  nicht  aus  seinen  Schlupfwinkeln  traue.  Es  ist  gleich- 
gultig,  ob  Herr  Klagges  seinen  Freunden  das  Stichwort  gab 
oder  selbst  der  Gefangene  ihrer  Raserei  war.  Von  Belang  ist 
nur,  wie  sich  das  Reich  zu  diesem  Polizeiminister  stellt,  welche 
MaBnahmen  der  neue  Reichsinnenminister  ergreift,  urn  den 
braunschweiger  Brand  nicht  weiter  greifen  zu  lassen. 

Die  bange  Frage,  wie  wir  ohne  blutige  Gewalt  durch  die 
nachsten  Monate  koramen  sollen,  hat  ein  Mann  von  rechts, 
Herr  Doktor  Fritz  Klein,  der  Chefredakteur  der  .Deutschen 
Allgemeinen  Zeitung',  in  einer  Broschiire  zu  beantworten  ver- 
sucht,  die  sich  „Auf  die  Barrikaden  — ?"  betitelt.  Diese  paar 
Druckbogen  sind  auBerst  lesenswert,  weil  darin  ein  paar  Er- 
kenntnisse  zu  finden  sind,  gegen  die  sich  namentlich  die  so- 
zialdemokratische  Presse  mit  Entschiedenheit  straubt,  Warum 
eigentlich  Revolution?  fragt  der  Verfasser.  So  ein  Kraftauf- 
wand  ist  doch  ganz  uberHiissig  geworden.  Die  Kommunisten? 
„Sie  werden  sich,  wenn  sie  es  wiinschen,  sehr  schnell  nochmals 
blutige  Kopfe  holen.  Es  ist,  auBer  fiir  die  Polizei,  uninter- 
essant,  was  sie  planen,  und  der  deutsche  Staat  wird  ihnen  nie- 
mals  gehoren.1*  Und  dann  wendet  sich  Herr  Klein,  der  den 
Block  Briining-Hitler-Hugenberg  lebhaft  befiirwortet,  an  die 
Freunde  von  rechts,  die  dem  „System'J  mit  aller  Gewalt  den 
Garaus  machen  wollen.  Was  ist  denn  von  dem  verschrienen 
System  noch  ubrig?  „Niemals  mehr  werden  wir  uns  an  dem 
Gift  parlamentarischer  Konjunkturen  berauschen  . . .  Wir  leben 
in  einer  halb  fascistischen  Regierungsform,  die  bessere  Mog^- 
lichkeiten  fiir  die  Staatsfuhrung  eroffnet  als  die  westlandische 
Formaldemokratie,  von  der  sich  die  denkenden  Deutschen  in 
Scharen  abwenden.  In  das  offentliche  Wesen  finden  heute 
auf  diktatorialem  Wege  Eingriffe  statt,  die  noch  vor  kurzem  als 
Verraterei  und  Utopie  verschrien  worden  waren."  Das  f,Sy- 
stem"  lebt  nur  noch  auf  Abruf:  „Das  Provisorium  der  halb^ 
fascistischen  Diktatur  der  Bureaukratie  wird  nicht  mehr  lange 
vorhalten  konnen.  Dann  ist  der  Augenblick  da,  um  die  neue 
Form  der  Staatsfuhrung  zu  schaffen,  unblutig,  ohne  Nahkampf 
auf  der  StraBe,  aber  des  Erfolges  trotzdem  gewiB/'  Hier  spricht 
nicht  der  versagende,  der  absackende  Teil  des  Biirgertums,  der 
sich  in  seinem  Elend  in  sozialrevoiutionare  Phraseologie  stiirzt, 
hier  spricht  der  nervenstarke,  der  gesund  gebliebene  GroB- 
biifger  aus  der  Welt  der  Industrie  und  Banken,  der  die  Macht 
will  und  sich  seiner  Mittel  sicher  weifi.  Und  wenn  er  auch 
mit  etwas  zweifelhafter  Generositat  auf  den  Nahkampf  ver- 
zichtet,  so  doch  nur,  weil  er  gewiB  ist,  daB  die  Stellung  des 

*  617 


Gegners,     schon     unter    dem    Trommelfeuer    erschiittert,    in- 
zwischcn  von  selbst  geraumt  wird. 

Auch  General  Groener,  obgleich  seit  fiinfzehn  Jahren  von 
dem  Ludergeruch  des  Demokratismus  umwittert,  hat  sich  in 
entscheidenden  Augenblicken  immer  als  ein  handfester  Ver- 
fechter  burgerlicher  Interessen  bewahrt.  ,,Welcher  Hundsfott 
wagt  zu  streiken,  wenn  Hindenburg  befiehlt?"  so  rief  er  im  Ja- 
nuar  1918  den  streikenden  Munitionsarbeitern  zu,  ZuBeginndes 
Novembersturms  schloB  er  als  frischgebackener  Republikaner 
das  historische  Biindnis  mit  Ebert,  das  jeden  revolutionaren 
Impetus  zertreten  hat  und  als  tiefste  Ursache  dafur  anzusehen 
ist,  daB  aus  der  Republik  nichts  andres  werden  konnte  als 
ein  neumodisch  angestrichenes  Kaiserreich,  Der  Unnachgiebig- 
keit  des  spatern  Verkehrsministers  Groener  gelang  es,  einen 
allgemeinen  Eisenbahnerstreik  hervorzurufen,  und  der  Reichs- 
wehrminister  im  Kabinett  Hermann  Muller,  gleichfalls  Grpener 
init  Namen,  zwang  den  sozialdemokratischen  Kollegen  den 
Panzerkreuzer  auft  womit  die  Krise  in  der  Partei,  die  jetzt  zur 
Spaltung  gefiihrt  hat,  zuerst  akut  wurde.  Wie  entsetzlich  un- 
sicher  muS  die  Partei  sick  fiihlen,  wenn  sie  einer  Regierung  ihr 
Vertrauen  ausdriickt,  in  dem  dieser  Mann,  der  so  eng  und  so  un- 
heilvbll  mit  ihrem  Schicksal  verbunden  ist,  alle  wichtigen 
Machtmittel  des  Reiches  in  der  Hand  halt!  Militar  und  Poli- 
zei,  Verfassuagsschutz,  Beamtenpolitik,  Schutz  oder  Knebelung 
der  Geistesfreiheit,  das  alles  Hegt  bei  General  Groener,  durch 
Personalunion  Inhaber  der  Ressorts  Inneres  und  Krieg. 

Natiirlich  ware  es  unsinnig,  aus  Groener  einen  besondern 
Freund  des  Rechtsradikalismus  zu  machen.  Das  ist  er  nicht, 
und  er  wird  von  der  Rechten  ehrlich  gehaBt.  Dieser  General 
hat  in  seiner  wechselvollen  Karriere  immer  nur  eine  Farbe 
getragen:  die  des  liberparteilichen  Fachmanns,  der  sich  den 
einmal  gegebenen  Verhaltnissen  anpafit  und  eine  eigne  scharfe 
Note  nur  dann  betont,  wenn  die  kapitalistische  Ordnung  in  Ge- 
fahr  kommt,  Damit  hat  er  sich  frischer  gehalten  als  Herr  von 
Seeckt,  der  heute,  gemeinsam  mit  Hjalmar  Schacht,  endgiiltig 
auf  die  Ludendorff-Tour  gerat. 

Wie  Herr  Groener  sein  neues  Amt  aulfaBt,  hat  er  vor 
wenigen  Tagen  in  einem  Interview  dargelegt.  Es  ist  selbst- 
verstandlich,  daB  bei  einem  schwierigen  Debut  die  beiden 
Rollen  noch  gelegentlich  ineinander  verflieBen  und  der  Kriegs- 
groener  den  innern  Groener  riicksichtslos  in  die  Ecke  schiebt, 
Der  Reichsinnenminister  verspricht,  daB  die  personelle  Verbin- 
dung  mit  der  Reichswehr  deren  uberparteiliche  Linie  nicht  ver- 
andern  soil.  Das  wirkt  sehr  beruhigend,  denn  wir  sahen  in  der 
Tat  schon  die  Gefahr  nahe,  daB  die  Ministerialrate  vom  Platz 
der  Republik  in  der  Bendler-Strafie  herumwirtschaften  konnten, 
Dafur  ist  aber  bereits  von  einem  liberalen  Blatt'gejammert  wor- 
den,  daB  sich  Herr  General  von  Schleicher,  die  rechte  Hand 
des  Kriegsgroener,  allzu  lebhaft  um  das  Ressort  des  innern 
Groener  bekiimmere.  Ausschliefilich  der  Militarminister-  ist 
es  jedoch,  der  diese  Satze  formtaliert;  „Unsre  Ehre  erfordert  die 
Bekampfung  von  Versuchen,  die  durch  Denunziationen  und  bos- 
willige  Diffamierung  das  Ansehen  des  Deutschen  Reiches  herab- 

618 


setzen.'1  Das  Reichwehrministerium  fordcrt,  wie  hicr  nculich 
dargelegt  wurde,  schon  lange  ein  Ausnahmegesetz  gegen  un* 
bequeme  Militarkritiker,  das  bisher  an  Ressortstreitigkeiten 
scheiterte.  Wird  der  Zivilgroener  nun  cndlich  dem  Kriegs- 
groencr  das  lang  crschnte  Geschenk  machen? 

Voran  geht  eine  kleine  Elegie  iiber  die  lcidige  politische 
Uneinigkeit,  iiber  „die  Spaltung  des  Volkcs  in  zwei  Lager". 
Leider  wird  nicht  verraten,  urn  welche  Lager  es  sich  handelt 
Es  gibt  gewiB  viele  Parteifahnen  in  Deutschland  aber  nur  zwei 
wirklich  groBe  Lager:  das  kapitalistische  und  das  antikapitali- 
stische.  Die  Regierung,  der  Herr  Groener  angehort,  hat  sich 
durch  den  Mund  des  Reichskanzlers  unumwunden  fur  die  Er- 
haltung  der  Privatwirtschaft  ausgesprochen.  Wenn  Groener 
weiter  meint,  es  komme  darauf  an,  ,,alle  aufbauwilligen  Krafte 
zu  positiver  Mitarbeit  heranzuziehen",  so  ist  das,  mit  Verlaub 
gesagt,  eine  Rede  aus  dem  hohlen  FaB.  Denn  wo  gibt  es  noch 
eine  Moglichkeit  zur  Mitarbeit,  seit  Deutschland  durch  Not- 
verordnungen  regiert  und  die  Meinungsfreiheit  immer  mehr  ein- 
geengt  wird?  1st  das  alles  bisher  noch  etwas  allgemein  gehal- 
ten,  so  wird  endlich  doch  der  bose  Feind  sichtbar,  der  be- 
zwungen  werden  mufl:  ,(der  Bolschewismus".  Zwar  ist  die  Kom- 
munistische  Partei  eine  betrachtliche  und  noch  immer  wach- 
sende  Macht,  aber  sie  kann  und  will  nicht  marschieren,  ehe 
sie  nicht  die  Mehrzahl  der  Arbeiterschaft  hinter  sich  hat;  Der 
Fascismus  dagegen  ist  eine  aktuelle  Gefahr,  bereit  zur  Ubernahme 
der  Gewalt,  und  seiner  wird  in  Groeners  Erklarungen  nicht 
Erwahnung  getan.  Bolschewismus,  das  ist  ein  leicht  zu  hand- 
habender,  ein  hochst  Hexibler  Begriff.  Bolschewismus  kann 
morgen  ein  spontaner  Hungeratifruhr  sein,  dessen  Teilnehmer 
sich  dann  als  christlich'  organisierte  Arbeiter  oder  als  stellungs- 
lose  deutschnationale  Handlungsgehilfen  erweisen.  Als  Bolsche- 
wismus gilt  im  Unternehmertum  schon  lange  die  Verteidi^ 
gung  von  Gewerkschaftsrechten,  die  Abwehr  des  schwer- 
industriellen  Einbruchs  in  den  Lohntarif. 

Aber  Groener  verheiBt  auch  scharfste  MaBnahmen  gegen 
Terrorakte,  er  will  da  selbst  vor  drakonischen  Ausnahme- 
bestimmungen  nicht  zuriickschrecken.  Die  erste  Gelegenheit 
dazu  ware  jetzt  in  Braunschweig  gegeben  gewesen.  Unter  dem 
Eindruck  der  alarmierenden  Nachrichten  forderte  Groener  zu- 
nachst  Bericht  von  dem  Garnisonaltesten,  Oberst  Geyer,  der 
denn  auch  den  Nationalsozialisten  sofort  ein  giinstiges  Fiih- 
rungszeugnis  ausstellte  und  sich  groBartig  iiber  die  Bagatelle 
hinwegsetzte,  daB  drei  Menschen  zu  Tode  gekommen  sind,  die 
nicht  zur  Nationalsozialistischen  Partei  zahlten.  Wir  kennen 
diese  militarischen  Berichte  iiber  ZusammenstoBe  zwischen 
rechts  und  links  zur  Geniige.  Der  Schuldige  steht  links!  das 
ist  der  Refrain.  Der  Reichswehrminister  aber  sollte  von  dem 
Reichsinnenminister  die  Belehrung  entgegennehmen,  daB  der 
Herr  Garnisonalteste  keine  in  der  Verfassung  vorgesehene  In- 
formationsquclle  ist,  denn  noch  haben  wir  nicht  den  militari- 
schen Ausnahniezustand,  wo  die  alleinige  Vollzugsgewalt  bei 
den  Gruppenkommandeuren  der  Reichswehr  liegt.  Und  wir 
wenden   uns  aufs   entschiedenste   gegen   alle   Versuche,   diesen 

619 


Zustand  ohne  offiziclle  Bekanntmachung  durch  cine  Hintertiir 
einzuiuhren.  Der  vorschriftsmaBige  Weg  ware  gewesen,  einen 
Beamten  des  Reichsinnenministeriums  zur  Untersuchung  nach 
Braunschweig  zu  entsenden  oder  von  dem  zustandigen  Mini- 
ster Klagges  Bericht  zu  verlangen.  Drako  Groener  fangt  es 
zum  mind  es  ten  etwas  umstandlich  an,  den  Nationalsozialisten 
seine  voile  SchrecklicHkeit  zu  beweisen. 

Nach  einer  Zeitungsmeldung  beabsichtigt  die  Regierung, 
ein  allgemeines  Verbot  offentiicher  Demonstrationen  fur  den 
ganzen  Winter  zu  erlassen,  Ebenso  soil  durch  eine  besondere 
Notverordnung  ein  generelles  Verbot  des  Tragens  von  Unifor- 
men  aller  Art  ausgesprochen  werden,  Diese  Verbote  wiirden 
sich  demnach  auch  auf  das  Reichsbanner  und  etwaige  andre 
republikanische  Organisationen  erstrecken.  Armes  Reichsban- 
ner! Die  Regierung  dankt  freundlichst  fiir  deine  jahrelangen 
Vorbereitungen,  die  Republik  zu  retten,  sie  lehnt  dies  Monopol 
ab.  Ihr  ist  es  nicht  urn  die  Republik  zu  tun  sondern  um  die 
brave  biirgerliche  Ordnung.  Von  welcher  Seite  sie  im  Notfall 
Sukkurs  einfordert,  von  Hitler  oder  von  Horsing,  das  hangt 
ganz  von  der  jeweiligen  politischen  Konstellation  ab.  Es  hat 
eine  Zeit  gegebent  wo  republikanische  Verbande  mit  dem 
Reichsinnenministerium  engstens  verbiindet  waren.  Joseph 
Wirth,  der  inzwischen  still  von  der  Saule  gefallene  Heilige  der 
schwarzrotgoldenen  Demokratie,  hat  da  schon  kraftig  abgebaut, 
und  dem  heutigen  Reichswehrminister  des  Innern  fallt  es  zu,  die 
kummerlichen  Reste  schmerzlos  zu  liquidieren.  Wenn  der 
Wunsch  nach  einem  allgemeinen  Demonstrationsverbot,  wie  be- 
hauptet  wird,  von  der  preuUischen  Regierung  ausgeht,  so  kann 
das  an  der  Beurteilung  nichts  andern.  Das  wiirde  nur  beweisen, 
dafl  Braun  und  Severing  die  Starke  ihrer  Position  uberschatzen. 

Ware  es  der  Regierung  Briining  mit  der  Abwehr  des  Fas- 
cismus  ernst,  so  wiirde  sie  oeherzigen,  daB  in  seinem  Existenz- 
kampf  gegen  eine  Umsturzwelle  der  Staat  nicht  als  Abstrak- 
tum  uber  den  Wolken  schweben  kann,  sondern  sich  auf  organi- 
sierte  Volksmassen  stiitzen  muB.  Aber  grade  das  wird  von 
dem  heutigen  Regime  mindestens  ebenso  verabscheut,  wie  der 
leibhaftige  Bolschewismus.  Wenn  sozialistische  Arbeiter  sich 
gegen  Obergriffe  des  Nationalsozialismus  zur  Wehr  setzen,  des- 
sen  Fiihrer  unentwegt  ihre  Legalitat  beteuern,  so  sind  sie  Frie- 
densstorert  gegen  die  der  Staat  seine  Machtmittel  einsetzt. 
Und  inzwischen  vollendet  sich  in  aller  Ruhe  der  ProzeB,  den 
der  Chefredakteur  der  ,D.  A.  Z.'  viel  besser  durchschaut  und 
schildert,  als  es  der  Chefredakteur  des  .Vorwarts*  jemals  getan 
hat,  Aus  dem  ,,Provisorium  der  halb  fascistischen  Diktatur" 
wird  ein  Definitivum.  Der  Umsturz  von  rechts  wird  iiber- 
fliissig,  weil  andre  Leute  das  viel  ruhiger  und  systematischer  ge- 
tan haben.  Man  kann  dieser  Konzeption  nicht  die  Gediegenheit 
absprechen,  aber  die  soziale  Wirklichkeit  steht  ihr  dennoch 
entgegen.  Der  politische  Kalkxil  ist  kein  Allheilmittel  gegen 
hungernde  Magen,  der  Begriff  der  biirgerlichen  Ordnung  kein 
Sanktissimum,  vor  dem  sich  alle  beugen,  wahrend  iiberall  die 
okonomischen  Grundfesten  zusammenkrachen.  Nachdem  Brii- 
ning seine  Sache  auf  die  Notverordnungen  gestellt  hatte,  war 
es  nur  folgerichtig,  einen  Mann  mit  diktatorischen  Vollmachten 

620 


zvl  ernennen,  der  das  Fluten  der  Massea  gegen  die  immer 
schwacher  werdenden  Damme  der  GesetzmaBigkeit  zu  hemmen 
hat,  Aber  Briining  hat  sich  nicht  nur  in  der  Person,  sondern 
auch  iin  Ressort  vergriften.  Was  not  tut,  ist  nicht  ein  drako- 
nischer  Ordnungskommissar  sondern  ein  Sozialminister  mit 
umfassenden  Vollmachten,  die  selbst  das  heilige  Privateigentum 
nicht  schonen,  wenn  das  Leben  des  ganzen  Volkes  es  erfordert. 
DaB  die  Regierung  die  soziale  Initiative  zu  ergreifen  versteht, 
hat  sie  bisher  noch  nicht  bewiesen,  Statt  dessen  prasentiert 
sie  uns  die  Personalunion  von  Gendarm  und  Soldat;  Groener 
in  doppelter  Ausfertigung.  Den  Matin,  der  durch  weise  Wirt- 
schaftsmaBnahmen  die  Ursache  jeglichen  Aufruhrs  beseitigt, 
bleibt  sie  uns  schuldig.  An  seine  Stelle  tritt  ein  energischer 
General,  der  in  einem  aufgewuhlten  Volk  nur  eine  disziplinlose 
Rotte  sehen  kann,  die  zum  Parieren  gebracht  werden  muB;  Die 
Praponderanz  der  Militars  wird  neu  gestarkt,  die  innere  Politik 
zicht  endgiiltig  nach  der  Bendler-StraBe.  Die  Vereinigung  aller 
Macht  in  Groeners  Hand  ist  ein  Irrtum,  der  sich  bitter  rachen 
wird. 


Laval  in  Washington  von  Marcei  Ray 

F\ie  Amerikareise  des  Ministerprasidenten  Laval  —  dreizehn 
Tage  Hin-  und  Riickfahrt,  fiinf  kurze  Tage  Aufenthalt  in 
Amerika  —  beansprucht  zurzeit  mit  vollem  Recht  das  Inter- 
esse  der  Regierungen,  der  Presse  und  der  breiten  Offentlich- 
keit  aller  Lander.  Denn  man  kann  in  der  kritischen  Lage,  in 
der  wir  uns  befinden,  von  alien  Landern  das  sagen,  was 
La  Fontaine  von  den  pestkranken  Tieren  sagte:  „Es  starben  nicht 
alle,  aber  alle  wurden  heimgesucht."  Ein  Bekannter,  der  von 
einer  Reise  aus  China  zuriickkam,  erzahlte  mir,  daB  alle  grofien 
Hafen,  die  er  auf  seiner  Reise  beruhrte,  —  Hongkong,  Saigon, 
Singapore,  Colombo  — ,  Hafen,  die  ich  selbst  noch  vor  zwei 
Jahren  von  Schiffen  und  Waren  erfullt  gesehen  habe,  leer 
und  ausgestorben  gewesen  seieri.  Australien,  Japan, 
die  Staaten  Siidamerikast  sie  alle  stehen  im  Zeichen 
eines  Verfalls,  ganz  ahnlich  dem  in  Europa.  Es  ist  h6chste 
Zeit,  daB  unsre  Vorstellung  die  Grenzen  Europas  verlaBt,  und 
daB  wif  endlich  aufhoren,  unsern  Kontinent  und  vor  allem 
unser  eignes  Land  in  den  Mittelpunkt  der  Krise  zu  stellen.  Die 
Krise  ist  eine  Angelegenheit  der  Welt,  so  wie  es  der  Krieg  war, 
in  dem  sie  letzten  Endes  ihren  Ursprung  hat.  Alle  Nationen 
sind  zwar  nicht  in  gleicher  Weise,  aber  zugleich  davon  erfaBt, 
ob  sie  wollen  oder  nicht.  Oberall  gerat  die  Sicherheit  ins  Wan*- 
ken,  angesammelte  Vermogen  losen  sich  auf,  Tausenden  fehlt 
es  an  Arbeit  und  Brot.  Regierende  und  Regierte  merken,  dafl 
der  Kredit  anfangt  auszusterben,  daB  man  heute  nicht  mehr 
mit  vollen  Handen  ausgeben  kann,  was  man  erst  spater 
zu  zahlen  gedenkt.  Fiir  alle  schlagt  die  Stunde  der  Abrech- 
nung,  der  Bilanz  und  die  schwerste  und  schmerzlichste:  die 
der  Liquidation. 

Dies  sind  die  Griinde,  aus  denen  Laval  es  fiir  unerlafilich 
angesehen  hat,  die  Einladung  des  Prasidenten  Hoover  anzuneh- 

2  621 


men,  so  sehr  auch  die  Angelegenheiten  seines  eignen  Landes 
drangten,  mit  deren  Erledigung  er  betraut  ist.  Amerika  be- 
ginnt  endlich  einzusehen,  daB  es  mit  Europa  untrennbar 
verbunden  ist,  eine  Tatsache,  die  es  lange  verkannt  hat,  Der 
franzosische  Regierungschef  wiederum  hat  erkannt,  daB  eine 
Reise  nach  Washington  die  logische  Folge  seiner  Besuche  in 
London  und  Berlin  sei.  Er  reist  ins  WeiBe  Haus  mit  derselben 
Entschlossenheit  und  Klugheit,  die  ihn  auch  bei  MacDonald  und 
Briining  geleitet  haben.  Die  abenteuerlich  Gestimmten,  beson- 
ders  im  Ausland,  erwarten  von  dieser  Zusammenkunft  ein 
Wunder,  wahrend  die  angstlichen  Gemiiter,  vor  allem  in  Frank- 
reich, den  Abreisenden  beschworen,  nichts  zu  riskieren,  nie- 
manden  bloBzustellen,  ja  am  besten  iiberhaupt  nichts  zu 
machen.  Laval  hat  sie  alle  reden  lassen,  er  selbst  hat  ge- 
schwiegen.  Er  ist  nicht,  um  zu  verhandeln,  hiniibergefahren, 
denn  er  ist  weder  vom  AuBenminister  noch  vom  Finanzmini- 
ster  begleitet,  sondern  um  sich  zu  informieren,  um  anzuhoren, 
was  man  ihm  zu  sagen  hat  und  vor  allem  —  wie  auf  seinen 
vorhergehenden  Reisen  —  um  zu  versuchen,  sich  klar  dariiber 
zu  werden,  was  moglich  und  was  unmoglich  ist.  Diese  zu- 
gleich  bereitwillige  und  zuriickhaltende  Stellungnahme  ist  sehr 
ahnlich.  der  des  aeutschen  Reichskanzlers,  der  in  seiner  ersten 
Rede  im  Reichstag  sagte:  ,,Ich  verwahre  mich  gegen  jede 
Augenblickslosung,  die  unter  dem  Druck  materieller  Not  im- 
provisiert  worden  ist."  Man  kann  sicher  sein,  daB  der  franzo- 
sische Ministerprasident  nicht  improvisieren  wird. 

Es  fehlt  nicht  an  Gesprachsstoff  zwischen  Frankreich  und 
Amerika.  Die  erste  Frage,  die  einem  einfallt,  ist  die  der 
Schulden  und  Reparationen.  Sie  steht  noch  offen  seit  dem 
Vorschlag  eines  einjahrigen  Moratoriums,  den  Hoover  selbst 
der  Welt  unterbreitet  hat-  Die  Folgen  dieses  Vorschlages  hat 
der  President  der  Vereinigten  Staaten  keineswegs  voraus- 
gesehn.  Alle  Welt  ist  sich  dariiber  klar,  daB  trotz  seinen 
besten  Absichten  er  derjenige  war  der  den  Bankenzusammen- 
bruch  in  Deutschland  und  die  Wahrungskatastrophe  in  Eng- 
land mit  alien  ihren  Folgeerscheinungen  ausgelost  hat.  Ich 
weiB,  daB  man  in  Deutschland  uns  Franzosen  die  Verantwor- 
tung  fur  diese  Katastrophen  unterschieben  will,  weil  wir  nicht 
schnell  genug  dem  Plan  Hoovers  zugestimmt  hatten.  Ich  bin 
iiberzeugt,  daB  dieselben  Folgen  eingetreten  waxen  —  viel- 
leicht  nur  ein  oder  zwei  Wochen  spater  —  wenn  Frankreich 
den  amerikanischen  Vorschlag  mit  geschlossenen  Augen  hatte 
annehmen  konnen.  Beireit  man  diese  These  von  dem  politi- 
schen  Giftstoff,  so  ist  sie  gleichbedeutend  der  Erkenntnis,  daB 
der  Irrtum  Hoovers  dariri  bestand,  allein,  mit  katastrophaler 
Plotzlichkeit  und  ohne  vorherige  Beratung  mit  den  europai- 
schen  Regierungen  gehandelt  zu  haben;  woraus  folgt,  daB  er 
sich  zu  plotzlich  und  zu  spat  unter  dem  Druck  jener  „materiel- 
len  Not'*  entschlossen  hat,  von  der  Briining  spricht, 

Man  erwagt  anscheinend  in  den  Vereinigten  Staaten  die 
Moglichkeit,  das  Moratorium  um  fiinf  Jahre  zu  verlangern, 
woraus  zu  ersehen  ist,  dafi  Amerika  sich  noch  nicht  zu  der  Auf- 
f assung  durch^gerungen  hat,  nach  der  von  jetzt  an  die  Kriegs- 
schulden  prakttsch  gestrichen  sind.     Es  ist  sehr  verstandlich, 

622 


daB  die  Regierung  von  Washington  am  Vorabcnd  der  Prasi- 
dentenwahl  zogert,  sich  die  logischen  und  unvermeidlichen 
Folgcn  ihres  eignen  Vorgehens  einzugestchen,  und  nach  Mitteln 
sucht,  dicse  theoretischen  Rechte  (oder  bcsser  Illusionen} 
scheinbar  aufrechtzuerhalten.  Franzosischerseits  ist  man  aber 
sicher  nicht  bereit,  den  ungeschiitzten  Teil  des  Young-Plans  zu 
opf ern ;  man  ist  nicht  einmal  von  der  Notvy endigkeit  eines 
solchen  Opfers  iiberzeugt,  besonders  nach  der  Hypothese 
einer  Verlangerung  des  Moratoriums,  was  die  Fiktion  von 
Kriegsschulden  zu  neuem  Leben  erwecken  wiirde.  Von  heut 
auf  morgen  konnen  Ereignisse  eintreten,  die  cine  definitive 
Regelung  dieser  Frage  notig  machen  wiirden,  Ein  Ergebnis 
der  Reise  Lavals  konnte  eine  zwischen  denbeidenRegierungen 
getroffehe  Vereinbaruhg  sein,  miteinander  zu  verhandeln,  ehe 
irgend  eine  neue  Entscheidung  iibcr  die  Kriegsschulden  herbei- 
gefiihrt  werden  soil  So  wiirden  in  Zukunft  gefahrliche  Ober- 
raschungen  —  ahnlich  dcnen  im  Juni  —  vermieden  werden, 

Viel  heikler  und  wichtiger  ist  die  Frage  des  Goldstandards 
—  die  Frage,  wie  sich  Frankreich  und  Amerika  gegeniiber  dem 
Sinken  des  englischen  Pfundes  verhalten  sollen  und  ob  ein  ge- 
meinsames  Vorgehen  der  Notenbanken  von  Paris  und  New 
York  moglich  ist.  Bis  in  die  ersten  Oktobertage  konnte  man 
die  franzosische  und  amerikanische  Valuta  fur  gleich  gesund 
halten,  woraus  sich  die  Moglichkeit  ergab,  daB  die  gesunden 
Valuten  ihre  Anstrengungen  vereinigen,  um  den  kranken  und 
bedrohten  zu  Hilfe  zu  eilen,  auf  alle  Falle  aber,  um  sich  selbst 
so  iveit  wie  moglich  gegen  Ansteckung  zii  schiitzen. 
Schon  unter  diesen  Voraussetzungen  war  die  Sache  von  nicht 
geringer  Schwierigkeit,  denn  es  schien,  als  ob  sie  nur  unter 
den  Perspektiven  der  Politik  behandelt  werden  konnte.  Man 
stieB  sich  zunachst  an  der  Frage  der  Beziehungen  Amerikas 
zu  Europa  und  an  dem  Grundprinzip:  No  entanglements  —  kei- 
nerlei  Einmischung  von  Seiten  Amerikas  in  die  Angelegenheit 
der  andern  Kontinente, 

In  den  letzten  Wochen  tauchte  aber  eine  neue  Schwierig- 
keit auf:  das  sind  die  Goldabziige  in  Europa  von  Seiten 
Amerikas  in  taglichen  Raten  von  40  bis  50  Millionen  Dollar. 
Sollte  der  Dollar  nicht  mehr  als  gesunde  Valuta  anzusehen 
sein?  Wiirde  sich  an  die  Pfundfrage  eine  Dollarfrage  anschlie- 
Ben?     Und  damit  eine  neue  Gefahr  fur  die  Weltwirtschaft? 

Wenn  das  trotz  den  beruhigenden  Erklarungen,  die  die 
offiziellen  Stimmen  von  Washington  und  Wall-Street  verbrei- 
tent  eintrafe  und  wenn  der  Dollar  nicht  nur  den  Kapitalabzug 
Amerikas  in  Europa  sondern  auch  durch*  starken  Ver- 
kauf  amerikanischer  Werte  ins  Wanken  geraten  ware,  so 
konnte  man  keinen  Grund  mehr  fur  eine  Zusammenarbeit  auf 
dem  Geldmarkt  zwischen  Paris  und  New  York  sehen.  Die 
Wirtschaftskrise  ist  keine  Geldfrage,  sie  ist  eine  politische 
(eine  Vertrauens-)  Frage  und  eine  Frage  der  Technik  der  in- 
ternationalen  Organisation.  Die  „Goldkonferenzen",  mit  de- 
nen  man  uns  in  den  Ohren  liegt,  hatten  zur  Aufgabe,  das  Gold 
in  Behalter  ohne  Boden  zu  leiten  und  den  Landern,  die  schon 
jetzt  an  /Kreditiiberschwemmung  leiden,  neue  Kredite  zuzu- 
fiihren. 

623 


Die  Vereinigten  Staaten  konnen  an  der  Wiederhersteilung 
dcs  Vcrtrauens  in  dem  MaBe  mitarbeiten,  in  dem  sie  aus 
ihrer  politischen  Isolierung  heraustreten.  An  der  internatio- 
nalen  Organisation  der  Produktion  mitzuhelfen,  ist  fur  sie 
noch  eine  schwierige  Sache:  sie  miiBten  ihre  Zollmauern  sen- 
ken,  in  die  sie  sich  eingeschlossen  haben,  und  daran  denken 
sie  nicht.  Nur  die  Regierungen  und  die  Volker  Europas  kon- 
ncn  Europa  der  Gesundung  zufuhren. 

Bleibt  unter  alien  Fragen,  die  in  Washington  aufgeworfen 
werden,  eine  einzige  ubrig,  und  ich  glaube,  es  ist  weder  niitz- 
lich  noch  moglich,  sie  im  Augenblick  im  Einzelnen  zu  behan- 
deln;  es  ist  die  Frage  der  Abriistung,  Man  kann  sie  in  ihrem 
ganzen  Umfange  nicht  anschneiden,  erstens  weil  sie  der  Genfer 
Abriistungskonferenz  vorbehalten  ist,  und  zweitens  weil  sie  zum 
groBen  Teil  von  der  bisher  noch  ungeklarten  politischen  Situa- 
tion Deutschlands  abhangt.  Aus  diesen  Grtinden  kann  man 
auch  keineswegs  an  einen  Erfolg  jenes  Vorschlages  glauben( 
der  eine  20-  bis  25prozentige  Herabsetzung  des  Riistungsbud- 
gets  in  alien  Staaten  vorsieht. 

Die  amerikanische  Regierung  hat  ein  sehr  wirksames  Mit- 
tel  in  Handen,  die  Erfolgschancen  der  Abriistungskonferenz  zu 
verbessern;  namlich,  den  Pakt  von  Paris  durch  eine  Erkla- 
rung  zu  erganzen,  dahingehend,  daB  die  Vereinigten  Staaten 
bereit  sind,  im  Falle  einer  Kriegsgefahr  zusammen  mit  den 
Unterzeichnern  des  Paktes  iiber  die  MaBnahmen  zu  beraten, 
die  im  Hinblick  auf  einen  eventuellen  Angreif er  zu  tref f en  sind. 
Eine  solche  Erklarung  wiirde  die  Stellung  Englands  in  der 
Frage  der  Freiheit  der  Meere  modifizieren  und  die  allgemeine 
Sicherheit  in  ungeahnter  Weise  vergroBern  —  das  heiBt,  auf 
eine  definitive  Formel  gebracht:  sie  wiirde  die  Atmosphare  des 
Vertrauens  in  der  Welt  wiederherstellen.  Es  ist  schwer  zu 
sagen,  ^  bis  zu  welchem  Grade  Hoover  im  Augenblick  bereit 
ist,  eine  derartige  Initiative  zu  ergreifen.  Wir  sehen  uns 
immer  wieder  demselben  Hindernis  gegeniiber:  Will  Amerika, 
das  die  Wiederaufrichtung  des  Vertrauens  wiinscht,  auch  die 
Mittel  dazu  ergreifen?  Hat  die  Krise,  die  sie  erleidet,  sie  iiber 
die  Notwendigkeit  belehrt,  mit  ihrem  Willen  zu  friedlicher  Zu- 
sammenarbeit  bis  zum  Ende  zu  gehn  und  die  Folgen  auf  sich 
zu  nehmen,  wenn  sie  auch  mit  ihren  Gewohnheiten  und  tradi- 
tionellen  Grundsatzen  im  Widerspruch  stehn? 

Die  Besprechungen  in  Washington  konnen  die  internatio- 
nale  Lage,  die  voll  von  Gefahren  ist,  nur  verbessern.  Sie  wer- 
den  nur  dann  Friichte  tragen,  wenn  sie  von  beiden  Seiten  mit 
Mut  und  Aufrichtigkeit  gefiihrt  werden.  Mogen  sie  nicht  zu 
spat  kommen  wie  viele  Verhandlungen  der  letzten  Jahre. 
Wenn  sie  vor  sechs  Monaten  stattgefunden  hatten,  so  ware 
durch  ein  franzosisch-amerikanisches  Obereinkommen  der  Welt 
eine  Reihe  von  Katastrophen  erspart  geblieben.  Unter  einer 
Bedingung:  daB  die  amerikanische  Politik  aufhort,  eine  Speku- 
lation  zu  sein  und  der  Wirklichkeit  Rechnung  tragi  Die  Welt 
wird  weder  durch  Geldtransaktionen  gesunden  noch  durch 
aufsehenerregende  Beschlusse,  die  fur  Tage  die  Borse  lahmen. 
Sie  ist  nur  durch  strenge  Enthaltsamkeit  zu  heilen  und  nicht 
durch  Boom, 

624 


Am  runden  Tisch  bei  HindenburgK.L.Ge°rastorff 

Jn  seiner  groBen  Reichstagsrede  hatte  Bnining  erklart:  „Nicht 
Kampf  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern,  sondern 
der  Gedanke  der  Arbeitsgemeinschaft  muB  im  Vordergrund 
stehen.  Wir  hoffen,  durch  Gestaltung  des  Wirtschaftsbeirats 
der  Reichsregierung  eine  Form  zu  Hnden,  wo  durch  vertrauens- 
volle  Aussprache  beider  Teile  Losungen  gefunden  werden,  die 
notwendig  und  beiden  Teilen  niitzlich  sind." 

Was  ist  der  Wirtschaftsbeirat?  Er  hat  im  wesentlichen 
eine  einzigeL  Funktion.  Er  soil  den  Lohn  kraftig  herabsetzen, 
aber  er  soil  ihn  in  einer  Form  herabsetzen,  zu  der  die  Gewerk- 
schaftsvertreter  ja  sagen  konnen.  Das  ist  die  Aufgabe  des 
Wirtschaftsbeirates,  Alles  andre  ist  Schnorkel,  Was  war 
vorausgegangen?  Die  Schwerindustrie  hatte  zum  Sturm  ge- 
blasen.  Sie  hatte  erklart,  dafi  nicht  im  gleichen  Schritt  mit 
der  Vertiefung  der  Krise  die  Lohne  abgebaut  worden  seien, 
daB  der  Lohnabbau  vielmehr  nur  in  langsamem  Tempo  erfolgt 
ware,  Und  den  Grund  fur  die  Verzogerung  des  Lohnabbaus 
sah  sie  vor  allem  im  Tarifrecht  So  wie  bisher  gehe  es  nicht 
weiter*  Wenn  das  Tarifrecht  eine  „elastischere"  Lohngestal- 
tung  verhindere,  dann  mtisse  eben  das  Tarifrecht  zerschlagen 
werden*  Die  Schwerindustrie  hatte  aber  bei  diesem  ihrem 
plumpen  Angriff  einen  ungeahnten  Erfolg.  Sie  fand  auf  der 
Seite  ihrer  Gegner  nicht  nur  die  Freien  Gewerkschalten,  son- 
dern auch  die  Christlichen,  die  Hirsch-Dunckerschen,  ja  sogar 
den  Deutschnationalen  Handlungsgehilfen-Verband.  Der  Vor- 
sitzende  der  Christlichen  Gewerkschaften,  der  Abgeordnete 
Imbusch,  erklarte  bei  einer  AusschuBtagung  der  Gewerkschaf- 
ten: „Die  Unternehmer  sind  nicht  zu  befriedigen,  auch  wenn 
man  ihnen  noch  so  weit  entgegenkommt,  Sie  wollen  uns  in 
einen  Zustand  zuruckwerfen,  den  sich  die  Arbciterschaft  nicht 
gefallen  laBt,  Gegeniiber  den  radikaien  Unternehmerforderun- 
gen  gibt  es  nur  ein  einziges  wirksames  Mittel:  Kein  Entgegen- 
kommen." 

Fiir  die  Schwerindustrie,  fiir  das  Monopolkapital,  entstand 
eine  etwas  heikle  Situation;  Die  Regierung  sturzen,  mit  dem 
Programm  gegen  die  Gewerkschaftent  fur  Zerschlagung  des 
Tarifrechts,  das  hatte  auch  in  der  „  national  en"  Front  zu  star- 
ken  Spannungen  gefiihrt.  Das  hatte  sogar  die  Nationalsozia- 
listen,  die  den  Deutschnationalen  Handlungsgehilfen-Verband 
fast  vollig  geschluckt  haben,  in  eine  bedenkliche  Situation  ge- 
bracht.  Also  bremste  man  in  der  Folge  etwas.  Also  heiBt  es 
heute  nicht  mehr  f,Zerschlagung"  des  Tarifrechts,  also  muB  so- 
gar ein  solches  Scharfmacherorgan  wie  die  ,Deutsche  All- 
gemeine  Zeitung1  in  ihren  Formulierungen  vorsichtig  sein.  Sie 
schreibt:  „Sicher  ist  es,  dafi  der  uns  aufgezwungene  Defiations- 
prozeB  zu  einer  starken  Senkung  von  Preisen  und  Lohnen  fiih- 
ren  muB.  Wird  diese  Aufgabe  rechtzeitig  erfullt  und  lassen 
sich  Wege  finden,  auf  denen  eine  elastische  Anpassung  der 
Lohne  an  die  Wirtschaf tslage  erreicht  werden  kann,  so  wird 
niemand  den  Tarifgrundsatz  selbst  und  die  kollektive  Verein- 
barung  der  Arbeitsbedingungen  bekampfen  wollen."  Der 
PferdefuB  kommt  allerdings  gleich  hinterher,  denn  unmittelbar 

625 


dahinter  heifit  es:  ,,Diese  Anerkennung  grundsatzlicher  Ar- 
beiterwunsche  erfordert  aber  auf  der  andern  Scite  auch  den 
ehrlichen  Willen,  die  Lebensbediirfnisse  des  kapitalistischen 
Wirtschaftssystems,  mit  dem  nun  auch  einmal  seine  theoreti- 
schen  Gegner  zu  rechnen  haben,  zu  respektieren  und  zu  er- 
fullen," 

Das  Programm  ist  also  klar.  Lohnabbau  in  auBerordent- 
lich  schnellem  Tempo,  aber  mit  Einverstandnis  der  Gewerk- 
schaftsvertreter, so  daB  formal  das  Tarifrecht  gewahrt  bleibt. . 
Es  ist  kein  Zufall,  daB y  sich  die  L  G,  Farben  an  diesen  Ver- 
handlungen  intensiv  beteiligt,  daB  sie  auf  die  Schwerindustrie 
mildernd  einzuwirken  versucht  und  daB  sie  im  Parlament  den 
Reichskanzler  off  en  unterstiitzt  hat.  Die  chemische  Indu- 
strie ist  eine  junge  Industrie,  die  von  vornherein  auf  hoher 
Stuf  e  der  Konzentration  begriindet  wurde.  Sie  ist  eine  Industrie, 
wo  die  menschliche  Arbeit  nicht  so  ins  Gewicht  fallt  wie  bei 
der  Schwerindustrie,  wo  der  Lohnfaktor  keine  so  gewichtige 
Rolle  spielt.  Daher  ist  die  chemische  Industrie  nicht  in  dem 
MaBe  an  der  Herabdriickung  der  Lohne  interessiert  wie  Kohle 
und  Eisen,  denn  die  Produktionsverbilligung,  die  eine  sehr 
schwer  durchfiihrbare  20prozentige  Lohnherabsetzung  gegen- 
uber  einer  weit  leichter  durchfuhrbaren  lOprozentigen  Lohn- 
herabsetzung mit  sich  bringt,  ist  fur  sie  nicht  sehr  bedeutend. 
Daher  ist  sie  auch  nicht  in  dem  MaBe  wie  die  Schwerindustrie 
an  dem  Abbau  der  Sozialpolitik  interessiert,  denn  im  Verhalt- 
nis  zu  dan  gesamten  Produktionskosten  spielen  in  der  chemi- 
schen  Industrie  die  Beitrage  fiir  die  Sozialpolitik  nicht  eine 
solch  entscheidende  Rolle,  In  der  L'G.  hat  Briining  bei  seinen 
Versuchen,  die  Unternehmer  und  die  Arbeitnehmer  an  einen 
Tisch  zu  bringen,  fraglos  einen  sehr  wichtigen  Bundesgenos- 
sen,  Auf  der  andern  Seite  aber  wird  die  Position  der  Sozial- 
demokratie  und  ihrer  Gewerkschaftsvertreter  immer  schwie- 
riger,  Sie  hat  nicht  nur  in  ihrer  Politik  gegeniiber  der  Regie- 
rung  Briining  sondern  auch  in  ihrer  Lohnpolitik  seit  einem 
Jahr  nach  dem  Prinzip  des  kleinern  ttbels  gehandelt.  Sie  hat 
als  einen  Erfolg  gebucht,  wenn  zum  Beispiel  statt  eines  von 
den  Unternehmern  verlangten  12prozentigen  Lohnabbaus  nur 
ein  6prozentiger  erfolgte.  Sie  hat  vor  einem  Jahr  den  berliner 
Metallarbeiterstreik  deshalb  nicht  als  aktiven  Offensivkampf 
gefuhrt,  urn  den  politischen  Stand  der  Bruningregierung  nicht 
zu  gefahrden.  Sie  hat  seit  einem  Jahr  alles  auf  die  eine  Karte 
gesetzt:  Die  Bruningregierung  ist  zwar  schlimm,  aber  Hitler 
und  Hugenberg  sind  noch  schlimmer,  Sie  hat  in  diesem  Jahr 
die  Erfahrung  machen  mussen,  daB  der  Fascismus  keine  yor- 
ubergehende  Fiebererscheinung  ist,  daB  sein  EinfluB  weiter 
wachst,  daB  aber  die  Arbeiter,  die  ihr  bisher  folgten,  passiv, 
mutlos  werden  oder  zu  den  Kommunisten  gehen.  Was  ihr  aber 
bei  den  Verhandlungen  des  Wirtschaftsbeirates  jetzt  zugemutet 
werden  soil,  ist  mehr  als  alles  bisher,  ist  die  Zumutung,  daB 
sie  sich  selbst  die  Schlinge  urn  den  Hals  legt, 

Der  verlangte  Lohnabbau  wird  so  groB  sein,  daB  ihn  die 
Sozialdemokratische  Partei  eigentlich  nicht  schlucken  konnte. 
Werden  ihn  jedoch  die  Gewerkschaftsvertreter  schlucken  und 
werden  sie  ihre  Zustimmung  drauBen  vor  den  breiten  Massen 

626 


verteidigen  konnen?  Dcnn  nur  dann,  wenn  sic  sich  in  den  Ge- 
wcrkschaften  dafiir  einsetzen,  flatten  ihre  Verhandlungen  fur 
die  Unternehmer  einen  Sinn, 

Man  will  ihnen  das  erleichtern.  Man  will  den  Wirtschafts- 
beirat  unter  Vorsitz  des  Reichsprasidenten  tagen  lassen,  man 
will  ihn  eine  Proklamation  fassen  lassen,  die  an  das  gesamte 
deutsche  Volk  gerichtet  ist,  Man  will  also  einen  Burgfrieden 
schaffen  zwischen  Unternehmern  tmd  Arbeitern,  einen  neuen 
4,  August,     Und  Hitler  ist  der  Feind. 

Werden  die  Gewerkschaftsvertreter  darauf  hineinf  alien  ? 
Stromungen  daf lir  sind  fraglos  vorhariden,  Es  hat  einen  4.  August 
gegeben,  an  dem  die  Sozialdemokratie  erklarte;  In  der  Stunde 
der  Gefahr  lassen  wir  das  Vaterland  nicht  im  Stich!  Es  gibt 
auch  Tieute  bei  den  Gewerkschaftsinstanzen  viele,  die  erklaV 
ren:  In  der  Stunde  der  Gefahr  lassen  wir  den  deutschen  Kapi- 
talismus  nicht  im  Stich!  Aber  die  Situation  fiir  die  Gewerk- 
schaften  wird  immer  schwieriger,  denn  unter  den  Arbeiter- 
massen  werden  die  Stromungen  immer  deutlichdr,  die  der  Mei- 
nung  sind,  daB  der  Burgfrieden  mit  den  Unternehmern,  um  den 
Preis  scharfster  Lohnherabsetzung,  die  Gefahr  Hitler  nicht  be- 
seitige  sondern  nur  kurz  vertage,  und  zwar  auf  einen  Zeit- 
punkt,  wo  die  Waff  en  Hitlers  scharfer,  die  eignen  aber  weiter 
abgestumpft  sein  werden,  Wie  stark  diese  Stromungen  sind, 
das  hat  die  Spaltung  der  Sozialdemokratie  bewiesen.  Es 
ist  lacherlich,  wenn  von  der  Sozialdemokratischen  Partei  ver- 
sucht  wird,  diese  Spaltung  zu  bagatellisieren,  denn  die  Wir- 
kung,  die  die  SAP  im  ganzen  Reich  schon  jetzt  hat,  beweist 
mit  aller  Deutlichkeit,  dafi  es  sich  bei  dieser  Spaltung  um 
Massenstromungen  handelt,  daB  die  Unzufriedenheit  mit  der 
Politik  des  kleinern  Obels  wachst,  Wenn  die  Gewerkschafts- 
vertreter im  Wirtschaftsbeirat  sich  mit  den  Unternehmern  zu- 
sammensetzen  und  sich  aus  Angst  vor  Hitler  freiwillig  mit 
einem  groBen  Lohnabbau  einverstanden  crklaren,  dann  kann 
die  Unzufriedenheit  der  breiten  Massen  liber  diese  Politik  sehr 
verhangnisvolle  Folgen  zeitigen,  Einer  der  sechs  Reichstags- 
abgebrdneten  der  SAP,  Zaegler,  der  Bevollmachtigte  des  bres- 
lauer  Metallarbeiterverbandes,  hat  bei  der  Reichstagung  der 
SAP  eine  EntschlieBung  durchgesetzt,  in  der  mit  Recht  darauf 
hingewiesen  wird,  daB  im  Niedergang  des  kapitalistischen  Sy- 
stems auch  von  den  Gewerkschaften  neue  taktische  Grund- 
linien  herausgearbeitet  werden  miissen  fiir  die  Fiihrung  der 
gewerkschaftlichen  Kampfe,  daB  man  also  auch  hier  radikal 
umlernen  muB,  Es  ergibt  sich  aus  der  ganzen  Haltung  der 
SAP,  daB  sie  den  Wirtschaftsbeirat  aufs  scharfste  bekampfen 
wird,  Aber  es  hat  sich  bisher  sehr  deutlich  gezeigt,  daB  Zei- 
tungspolemiken  hier  nichts  helfen.  Die  Bekampfung  dieses 
Wirtschaftsbeirates  muB  in  die  Organisationen  hineingetragen 
werden,  die  seine  Beschliisse  durchfiihren  sollen:  in  die  Ge- 
werkschaften. Es  wird  fiir  die  weitere  Entwicklung  der  SAP 
von  entscheidender  Bedeutung  sein,  ob  und  in  welchem  MaB- 
stabe  ihr  das  gelingt.  Die  Unzufriedenheit  der  Arbeiterschaft 
mit  ihren  Lebensbedingungen,  mit  der  Partei  und  den  Gewerk- 
schaften ist  es  ja  grade,  die  der  SAP  breite  Massen  zufiihrt. 
Aber  sie  wird  diese  Massen  nur  halt  en  konnen,  wenn  sie  eine 

627 


Politik  treibt,  <lie  aktiviert.  Es  ist  von  entscheidender  Wich- 
tigkeit,  daB  sie  ihre  scharfc  Ablehnung  gegen  den  Wirt- 
schaftsbeirat  iiberall  in  die  Gewerkschaften  hineintragt. 
Es  ist  noch  nicht  zu  spat  dazu.  Die  Masscn  mtissen  nur  wieder 
Zutrauen  zu  sich,  zu  ihrer  eignen  Macht  bekommen.  Sic  mus- 
sen von  ihrer  eignen  Macht  ebenso  iiberzeugt  sein  wie  ihre 
Gegner  von  der  ihren  uberzeugt  sind.  Bruning  hat  im  Reichs- 
tag erklart,  daB  er  eine  Regierung  gegen  die  Arbeiter  fur 
unmdglich  halte.  Dieser  Satz  sollte  in  alle  Gewerkschafts- 
versammlungen  getragen  werden.  Eine  Regierung  gegen  die 
Arbeiterklasse  ist  unmoglich.  Wenn  aber  die  Arbeiterklasse 
so  stark  ist,  daB  man  gegen  sie  nicht  regieren  kann,  dann  soil 
sie  sich  fur  die  Politik  der  heutigen  Gewerkschaftsfiihrung  be- 
danken,  die  sie  bisher  durch  ihr  standiges  Ausweichen  zum 
Objekt  der  Krise  gemacht  hat,  die  durch  ihre  Politik  des  klei- 
nern  Obels  einen  moglichst  reibungslosen  Lohnabbau  garan- 
tieren  soil. 

Dann  soil  sie  ihre  Starke  einsetzen,  dann  soil  sie  kampfen. 
Dann  soil  sie  den  Kapitalisten  beweisen,  daB  Briinings  Worte 
richtig  sind,  Der  Kampf  gegen  den  Wirtschaftsbeirat  und  seine 
Plane,  iiber  die  bisher  von  den  Kapitalisten  bewuflt  ein  dich- 
ter  Schleier  gehalten  wird,  ist  ein  konkretes  Kampffeld. 

Zehn  Millionen  Deutsche  vorbestraft! 

von  Johannes  Buckler 

V\  ie  Justizpressestellen  veroffentlichen  von  Zeit  zu  Zeit 
***  Durchschnittszahlen  der  Tagesbelegung  in  den  preuBischen 
Strafanstalteh.  Da  erscheint  die  Zahl:  35  000.  Die  setzt  sich 
fest  im  Kopf  des  Zeitungslesers  und  laBt  alle  Fragen  gegen- 
iiber  einer  Einwohnerzahl  von  65  Millionen  geringfiigig  er- 
scheinen. 

Wie  aber  sehen  diese  Zahlen  aus,  wenn  man  sie  in  rich- 
tige  Beziehungen  bringt? 

Im  Jahresdurchschnitt  kommen  in  Deutschland  rund 
750  000  Straf verf ahren  zur  Durchfuhrung.  AUjahrlich,  Ein- 
geleitet  werden  viel  mehr.  Von  diesen  750  000  Verfahiren 
enden  allein  jeweils  100  000  mit  Freisprechung,  Bestraft  wer- 
den rund  650  000  Deutsche.  Das  macht  genau  1  Prozent  der 
Bevolkerung  aus.  Im  lauf enden  Jahr  ist  die  Kriminalitat, 
parallel  mit  der  Wirtschaftsnot,  wieder  erheblich  gestiegen. 
In  Berlin  allein  wurden  im  Rechnungsjahr  1930/31  uber  mehr 
als  40000  Menschen  Freiheitsstrafen  verhangt.  Es  wird  also 
kaum  eine  Fehlrechnung  sein(  wenn  man  annimmt,  daB  im 
letzten  Jahr  600  000  Deutsche  in  Gefangnissen  waren. 

Die  Gesamtzahl  der  Vorbestraften  laBt  sich  mit  Sicherheit 
nicht  angeben.  Da  aber  alljahrlich  1  Prozent  der  BevSlke- 
rung  bestraft  wird,  so  ist  diese  Zahl  bei  Berucksichtigung  der 
mehrfach  Bestraft  en  mit  10  Millionen  bestimmt  nicht  zu  hoch 
geschatzt.  Rechnet  man  die  durch  die  Bestrafung  des  Ein- 
zelnen  immer  mitbetroffenen  Familienangehorigen  hinzu,  so 
sieht  man,  daB  etwa  ein  Drittel  der  Gesamtbevolkerung  des 
Reiches  am  Strafvollzug  und  der  Entlassenenfiirsorge  ganz  per- 
sonlich  interessiert  ist. 
628 


10  Millionen  Vorbestrafte,  20  Millionen  B'etroffene:  dicsc 
Zahlen  wirken  anders  als  die  35  000  der  amtlichen  Verlaut- 
barungen.  Dicse  erschreckend  hohen  Zahlen  sind  viel  hoher 
als  die  entsprechenden  Zahlen  andrer  Kulturlander.  Sie  zei- 
gen  aber  natiirlich  nicht  eine  mehr  zum  Verbrechen  neigende 
Natur  des  Deutschen  sondern  nur  die  Harte  des  deutschen 
Gesetzes. 

Herabsetzung  der  Kriminalitat  ist  grade  in  der  heutigen 
Notzeit  nicht  nur  aus  ethischen,  sondern  auch  aus  staatsfinan- 
ziellen  Grunden  sehr  erstrebenswert.  Jeder  Gefangene  bedeutet 
fur  den  Staat  eine  Summe,  die  fur  produktive  Zwecke  weit  bes- 
ser  angelegt  wiirde.  Im  Jahr  kostet  ein  Gefangener  mindestens 
2000  Mark;  in  einzelnen  deutschen  Landern  sogar  erheblich 
mehr.  Die  Justizetats  der  Lander  erfordern  jahrlich  einen  Zu- 
schuB  von  700  Millionen  Mark.  Davon  entfallt  ein  groBer 
Teii  auf  die  Kosten  der  Kriminalfalle.  Hinzu  kommt  noch  der 
Teil  der  Polizeikosten,  der  zur  Bekampfung  von  Verbrechen 
gebraucht  wird.  Weiter  der  Schaden,  der  dem  Staat  und 
seinen  Burgern  durch  Eigentumsdelikte  erwachst,  die  Unter- 
stiitzung  der  Angehorigen  der  Gefangenen  . . .  Bei  der  Gesamt- 
addierung  werden  wahrscheinlich  Milliardenbetrage  heraus- 
kommen. 

Die  Statistik  zeigt,  daB  die  kostspieligen  Vergehen  oder 
Verbrechen  von  Riickfalligen  veriibt  werden.  Das  ist  einer 
der  Griinde,  wahrend  der  Haft  mit  der  Erziehung  zum  so- 
ziaien  Leben  zu  beginnen.  Und  das  Resultat  dieser  Er- 
ziehungsversuche  ist  das  MStufensystem".  In  der  Offentlichkeit 
haben  die  Erorterungen  iiber  dies  System  einen  breiten 
Raum  eingenommen.  Es  muB  aber  vor  groBen  Hoffnungen  auf 
Erfolg  gewarnt  werden.  Denn  in  den  Stufenanstalten  befihden 
sich  insgesamt  hochstens  8  Prozent  aller  Gefangenen.  Davon 
7  Prozent  in  Stufe  II  und  1  Prozent  in  Stufe  III.  Von  10  000 
Gefangenen  kommen  also  jeweils  nur  100  nach  Durchlaufen 
des  gesamten  Stufensystems  wieder  in  die  Freiheit 

92  Prozent  aller  Gefangenen  kommen  iiberhaupt  mit  dem 
Sttifensystem  nicht  in  Beriihrung.  Es  ware  ein  Irrtum,  die 
Stufe  I,  in  die  alle  Gefangenen  eingereiht  werden,  als  Teil  des 
Stufensystems  zu  betrachten.  Die  Stufe  I  ist  so,  daB  irgend- 
eine  Beeinflussung  der  Gefangenen  ausscheidet.  Hier  muB 
auch  gesagt  werden,  daB  es  92  Prozent  aller  Gefangenen  seit 
Einfuhrung  des  Stufensystems  weit  schwerer  haben  als  vorher, 
weil  die  Erleichterungen,  die  friiher  jedem  Gefangenen  zugang- 
lich   waren,  heute  nur  den  Eingestuften  vorbehalten  sind. 

Es  gibt  —  nach  Kriminalkommissar  v.  Liebermann  —  etwa 
8000  Berufsverbrecher  in  Deutschland.  Es  gibt  aber  etwa 
10  Millionen  Vorbestrafte.  Bei  ErlaB  der  Verordnungen  iiber 
den  Stufenstrafvollzug  hat  man  den  Fehler  begangen,  alle  Be- 
straften  mit  dem  MaBe  der  Berufsverbrecher  zu  messen.  Alle 
Vorschriften  sind  psychologisch  auf  den  Berufsverbrecher,  der 
etwa  ein  zehntel  Prozent  ausmacht,  zugeschnitten;  dabei  ist 
aber  vielleicht  grade  der  Berufsverbrecher  der  wirklich  Un- 
erziehbare. 

Der  preuBische  Justizminister  hat  wiederholt  erklart,  daB 
das    Aufsichtspersonal    in    den    Anstalten     der   Stufen    ,.noch 

3  629 


nicht"  geniigend  ausgehildet  sei.  In  der  Tat  ist  es  heute  prak- 
tisch  so,  daB  eine  Auswirkung  der  Vorschriften  uberhaup.t 
nicht  festzustellen  ist.  Den  Wachtmeistern,  mit  denen  allein 
der  Gefangene  zu  tun  hat,  sind  zwei  Dinge  ausschlaggebend 
fiir  die  Beurteilung:  Zelle  blitzblank  geputzt  und  niemals 
M  auf  fall  en".  Jede  Regung  des.  eignen  Willens  ist  hochvcr- 
dachtig.  Und  diese  Wachtmeistcr  werden  allein  gefragt,  wenn 
es  sich  urn  eine  Begutachtung  des  (1EingestuftenM  handelt. 
Die  mittlern  und  Oberbeamten  kennen  die  Gefangenen  nicht, 
sie  haben  mit  der  Bearbeitung  der  Akten  vollauf  zu  tun,  Es 
vergehen  Wochen,  ehe  ein  Eingestufter  seinen  Direktor  zu 
Gesicht  bekommt;  mit  ihm  sprechen  kann  er  nie,  es  sei  denn 
aus  AnlaB  einer  Beschwerde  —  und  wer  sich  beschwert,  ist 
fiir  das  Stufensystem  nicht  geeignet.  Jede  Einwirkung  von 
Lehrer  oder  Pfarrer  ist  an  personliche  Vormeldung  gebunden. 
Es  ist  nichts  AuBergewohnliches,  daB  ein  Eingestufter  nach 
monatelangem  Aufenthalt  den  Lehrer  noch  nicht  einmal  von 
Ansehn  kennt, 

Wie  ein  Stufensystem,  wenn  es  wirksam  sein  sollte,  aus- 
sehen  miiBte?  Es  miiBte  auf  grundsatzlich  alle  Gefangenen 
Anwendung  finden,  die  eine  langere  Strafe  als  drei  Monate 
zu  verbiiBen  haben,  Es  miiBte  dem  Gefangenen  den  Willen 
und  das  Verfiigungsrecht  iiber  sich  selbst  wiedergeben.  Jetzt 
ist  er  von  friih  bis  spat  von  Geboten  und  Verboten  eingeengt, 
Jede  Willensregung  wird  systematisch  unterdriickt.  Der  Mi- 
nister legt  das  Schwergewicht  nicht  auf  Erleichterungen  son- 
dern  aqf  das  Recht  des  Gefangenen  zur  Mitarbeit  in  der  An- 
stalt.  Nicht  einmal  der  Versuch  zur  Realisierung  des  ministe- 
riellen  Wollens  wird  gemacht.  Sehr  wirksam  ware  es,  wenn 
man  eine  weitgehende  Selbstverwaltung  einfiihren  wollte.  Und 
dann:  Fort  mit  der  Briefzensur.  Sie  lastet  wie  ein  Alb  auf 
den  Gefangenen  und  erzieht  zur  Heuchelei.  Sie  verhindert 
die  Pflege  wirklicher  Familienbeziehungen,  die  fiir  den  Ent- 
lassenen  auBerst  wichtig  sind.  In  Wirklichkeit  bestehen  un- 
gezahlte  Moglichkeiten  des  unbeatifsichtigten  Verkehrs  mit 
der  AuBenwelt,  die  nur  durch  das  Bestehen  der  Briefzensur 
florieren. 

Grundsatzlich  besser  als  das  heutige  System,  bei  dem  sich 
der  Gefangene  die  Einstufung  durch  sein  Verhalten  verdienen 
—  besser  gesagt  erschleichen —  muB,  ware,  es  umgekehrt  zu 
machen:  alle  Gefangenen  werden  eingestuft,  sie  verlieren  die 
Vergiinstigung,  wenn  sie  sich  etwas  zuschulden  kommen 
lassen. 

In  Wirklichkeit  stehen  aber  die  92  Prozent  der  Nicht- 
eingestuften  und  die  8  Prozent  der  Eingestuften  nach  ihrer 
Entlassung  gleich  mittellos  auf  der  StraBe.  Die  ganze  Er- 
ziehung  wird  dadurch  illusorisch.  Bei  der  Lage  der  Staats- 
und  Gemeindefinanzen  ist  an  durchgreifende  Hilfe,  die  die 
Entlassenen  vor  Riickfall  schiitzt,  nicht  zu  denken.  Soil  man 
deshalb  fatalistisch  den  Dingen  ihren  Lauf  lassen? 

Ein  mehrfach  Vorbestrafter  macht  seinen  Leidensgenossen 
folgenden  Vorschlag:  „Jeder  Entlassene,  auch  der  vielfach 
Vorbestrafte,    hat  den    dringenden  Wunsch:    niemals    wieder 

630 


dor  thin  zuruck!  Jeder  mochte  arbeiten,  aber  er  will  keinc 
,inUdeii  Gaben*.  Er  will  auch  keinc  Bevormundung,  die  sein 
bitteres  Los  im  Gefafignis  war;  Arbeitsbeschaffung  durch  die 
Afbeitsamter  ist  sehr  schwierig.  Es  bleibt  nur  der  Weg  der 
Selbsthilfe.  Der  Verdienst,  den  der  Gefangene  im  Jahr  er- 
arbeitet,  betragt  im  Mittel  300  bis  400  Mark.  Davon  behlilt 
der  Staat  dreiviertel  fur  sich  ein.  Fur  das  letzte  Viertel  kann 
sich  der  Inhaftierte  Seife,  Tabak,  Fett  kaufen.  Verzichtete 
der  Staat  im  Interesse  der  Herabsetzung  der  Kriminalitat  auf 
ein  weiteres  Viertel  des  Arbeitsverdienstes,  so  kame  damit 
eine  Summe  zustande,  mit  der  sich  schon  eine  Moglichkeit 
bote,  dem  Entlassenen  produktiv  zu  helfen.  Daftir  ist  aber  be- 
sonders  wichtig,  daB  der  Gefangene  sich  schon  in  der  Straf- 
zeit  durch  eigne  Arbeit  auf  em  neues  Leben  vorbereitet- 
Wohlfahrtsamter,  Versicherungsgesellschaften,  Industrie-  und 
Einzelhandelskonzerne  haben  ein  groBes  finanzielles  Interesse 
an  der  Verminderung  der  Kriminalitat.  Sie  miiBten  —  urn 
Geld  zu  sparen  —  zu  der  produktiven  Beschaftigung  Entlasse- 
ner  beitragen/' 

Die  Organisation  der  Entlassenen  zu  gegenseitiger  Hilfe 
und  produktiver  Arbeit  ist  im  Entstehen.  Das  Vorurteil  gegen 
Vorbestrafte  muB  in  dem  Augenblick  fallen,  wo  man  weiB,  daB 
es  sich  um  die  ungeheure  ZahJ  von  10  Millionen  handelt.  Wem 
die  Zahl  ubertrieben  scheint,  der  lese  im  offiziellen  Fuhrer 
der  Stadt  Berlin  nach.  Da  stent  ein  Aufsatz  des  verstorbenen 
katholischen  Sozialpolitikers  Karl  Sonnenschein,  in  dem  der 
Umfang  der  Kriminalitat  eindringlich  geschildert  wird.  Allein 
fiir  Berlin  nannte  Sonnenschein  als  jahrliche  Zahl  der  Entlas- 
senen aus  samtlichen  Strafanstalten  110  000.  Taglich  300! 
Wenn  man  diese  Zahlen,  Sonnenscheins  auf  das  Reich  und  auf 
eine  Generation  umrechnet  und  immer  nur  ein  Drittel  als  Neu- 
bestrafte  annimmt,  wie  dies  den  Verhaltnissen  von  Tegel  und 
Plotzensee  entspricht,  so  kommt  man  auf  die  gleiche  Zahl  von 
10  Millionen. 

Der  Oberlandjager  von  Amo  Muhien 

F\er  Korridor  ist  nicht  nur  ein  geographischer  und  wirtschaftlicher 
*"-/  Trennungsstrich  zwischen  Ostpreufien  und  dem  Reich,  er  ist  vor 
allem  die  chinesische  Mauer,  hinter  der  unverbliimt  und  ungeschminkt 
eine  Reaktion  gedeiht,  die  sich  weit  vom  SchuB  weiB,  Der  Grofi- 
grundbesitz  dominiert  hier  und  halt  die  Landarbeiterschaft  noch  genau 
so  wie  in  friihern  Zeiten  in  patriarchalischer  Abhangigkeit,  Unter 
diesen  Umstanden  wird  jede  freiheitliche  Anschauung  terrorisiert,  und 
wer  es  wagt,  sich  of  fen  fiir  die  verhaBte  Republik  einzusetzen,  erhalt 
den  LaufpaB.  Dies  ist  die  politische  Atmosphare  in  Masuren.  Der 
Stammtisch  ist  der  Treffpunkt  fur  die  disputierende  Clique  und  der 
Ortt  von  dem  aus  Intriguen  gegen  unangenehme  Gegner  gesponnen 
werden. 

Ein  derartiges  Milieu  ist  fiir  ein  GroBstadtgehirn  schwer  faBbar. 
Daher  konnen  gewisse  Ministerialrate  in  Berlin  und  Konigsberg  nur 
schwer  das  Drum  und  Dran  manches  in  einem  AktenstoB  verzeich- 
neten  Vorganges  begreifen.  Fiir  die  Bureaukratie  bleibt  eben  dieses 
Aktenbiindel  nur  ein  Fall,  mag  davon  auch  die  Entscheidung  uber  eine 
biirgerliche  Existenz  oder  gar  ein  Menschenschicksal  abhangen, 

631 


Seit  drei  Jahren  fuhrt  der  Oberlandjager  Reinholz  in  Skottau, 
Kreis  Neidenburg,  einen   verzweifelten  Kampf   urn  seine  Rehabilitierung. 

Im  Hochsommer  1928  wurde  seine  Frau,  wahrend  er  sich  auf 
einem  Dienstgange  be  fan  d,  von  dem  ihm  vorgesetzten  Gendarmerie* 
Oberleutnant  Brandstatter,  laut  seiner  bei  der  Staatsanwaltschaft  Allen- 
stein  eingereichten  Anzeige,  vergewaltigt,  Es  hat  eine  eigne  Bewandt- 
nis  damit,  daB  die  Anzeige  erst  viel  spater,  am  1,  Dezember  1929, 
der  Staatsanwaltschaft  in  Allenstein  unterbreitet  wurde.  Reinholz 
hatte  namlich  sofort  nach  Kenntnisnahme  dem  damaligen  Landrat  von 
Mirbach  miindliche  Anzeige  erstattet.  Dieser  Dienstvorgesetzte  ver- 
sicherte  hoch  und  heilig,  die  Untersuchung  unverziiglich  vorzunehmen. 
Er  beschwor  weiter  den  vollkommen  zusammengebrochenen  Reinholz, 
daB  er  wie  auch  seine  Ehefrau  zu  keinem  Menschen  uber  diesen  Vor- 
fall  sprechen  diirften.  Als  alter  Soldat,  im  Subordinationsgefuhl  groB 
geworden,  vertraute  der  Oberlandjager  seinem  Landrat.  Reinholz 
sollte  schwer  enttauscht  werden.  Als  Ende  1929  der  Landrat  von 
Mirbach  starb,  da  mufite  Reinholz  zu  seinem  Schrecken  erfahren,  daB 
er  das  Op  fer  einer  Illusion  geworden  war. 

Jetzt  erst  reichte  er  schriftlich  die  Anzeige  bei  der  Staatsanwalt- 
schaft Allenstein  eint  und  diese  erstreckte,  weil  Brandstadter  immer 
wieder  behauptete,  Reinholz  das  letzte  Mai  am  27.  April  1928  in  Ge- 
genwart  des  Landjagermeisters  Schober  revidiert  zu  haben,  die  Unter- 
suchung nur  auf  diesen  Punkt.  Die  Zeitangabe,  ,, Hochsommer  1923", 
also  die  Zeit  „Ende  Juli  bis  Anfang  August",  ist  allein  ausschlag- 
gebend.  Reinholz  reichte  als  Beweis,  daB  der  Oberleutnant  ihn  auch 
nach  dem  27.  April  1928  revidiert  hatte,  seine  Dienstbucher  ein.  Unter 
dem  24.  Juni  1929  hat  der  Untersuchungsrichter  dies  auch  schrift- 
lich zu  den  Akten  vermerkt.  Dieses  Moment  ist  von  der  Staats- 
anwaltschaft niemals  beachtet  worden.  Untersuchungen  gehen  hin 
und  her,  das  Ende  vom  Liede  ist:  gegen  den  anzeigenden  Oberland- 
jager Reinholz  wurde  das  formliche  Disziplinarverfahren  mit  dem  Ziel 
der  Dienstentlassung  auf  Grund  von  allerlei  zusammengetragenem 
Material  anhangig  gemacht.  Reinholz  wehrt  sich  bis  zum  heutigen 
Tage  mit  einer  bewundernswerten  Kraft  gegen  dies  Unrecht. 

Die  Affare  Reinholz -Brandstadter  ist  ein  ungewohnlicher  Einzel- 
fall  in  der  preuBischen  Gendarmerie,  aber  sie  ist  syniptomatisch  dafiir, 
wie  man  einem  Beamten,  der  obendrein  als  Republikaner  verabscheut 
ist,   an   den  Kragen  geht.  .     ,       ' 

Oberleutnant  Brandstadter  verdankt  seine  Beforderung  vom 
Land j  agermeister  zum  Offizier  dem  verstorbenen  Landrat  v.  Mirbach, 
der  auch  deutschnationaler  Landtagsabgeordneter  gewesen  ist.  Brand- 
stadter, der  fniher  bei  der  Kavallerie  gestanden  hat,  wird  vielfach  als 
gewalttatiger  und  rechthaberischer  Vorgesetzter  bezeichnet.  Allgemein 
soil  er  durch  sein  rigoroses,  zum  Teil  sogar  brutales  Vorgehen  in  den 
Ruf  eines  schneidigen  Beamten  gekommen  sein  und  dadurch  bei  seinen 
Vorgesetzten  Eindruck  machen. 

Verscharfend  fallt  ins  Gewicht,  daB  Brandstadter  bereits  mehr- 
mals  in  den  Verdacht  der  Notzucht  geriet,  so  1920  im  Falle  einer 
Frau  Brothus   und   1924  eines  Fraulein  Kasparik. 

In  beiden  Fallen  ergab  sich  zwar  bei  der  Untersuchung  die  Halt- 
losigkeit  der  Behauptungen,  aber  mit  vollem  Recht  rugt  der  Rechts- 
vertreter  des  Reinholz,  der  berliner  Strafverteidiger  Doktor  Frey, 
die  Kraftlosigkeit,  mit  der   die  Untersuchung  gefiihrt  wurde. 

In  seiner  Beschwerdeschrift  vom  28.  Januar  1931  an  den  preu- 
Bischen Justizminister  fuhrt  Doktor  Frey  richtig  aus:  „Wer  die 
Akten  4  J  5526  der  Staatsanwaltschaft  Allenstein  mit  offenen  Augen 
liest,  der  sieht,  daB  es  sich  da  nicht  um  eine  haltlose  Beschuldigung 
handeln  kann,  sondern  daB  wirklich  erhebliche  Verdachtsgriinde  gegen 
den  Beschuldigten  vorliegen.  Typisch  ist,  daB  der  Beschuldigte  in 
der   gleichen  Weise    wie  in    der   vorliegen  den   Sache    Reinholz    vor- 

632 


gegangen  ist.  Das  am  SchluQ  der  Akten  befindliche  Schreiben  des 
General staatsanwalts  vom  6.  Juli  1926  zeigt,  daB  selbst  die  Staats- 
anwaltschaft  von  der  Moglichkeit,  daB  hier  ein  solches  Verbrechen 
vorlag,  ausgegangen  ist/' 

Eine  dritte  Notzuchtsanzeige,  sogar  von  der  Frau  eines  Unter- 
gebenen  eingereicht,  hatte  nunmehr  den  aufsichtfuhrenden  Behorden 
unbedingt  das  Gewissen  scharfen  mtissen,  Wie  konnte  die  Staats- 
anwaltschaft  in  Allenstein  und  der  Generalstaatsanwalt  in  Konigs- 
berg  zulassen,  daB  ihr  hochstes  Hilfsorgan  im  neidenburger  Kreise, 
soliten  auch  die  friihern  Anzeigen  gegen  Brandstadter  in  Dunst  auf- 
gegangen  sein,  den  Angeschuldigten  beim  dritten  Mai  nicht  wenig- 
stens  bis  zur  Klarung  vom  Amte  suspendierte.  Statt  dessen 
darf  der  Oberlandjager  Reinbolz  seit  Februar  1929  keinen  Dienst 
mehr  verrichten,  ja  viele  Monate  muBte  er  mit  lumpigen  98  Mark 
sein  Daseife  fristen  und  dazu  noch  zum  Gespott  aller  Leute  im  Kreise 
weiter  verbleiben.  Erst  die  sozialdemokratische  Abgeordnete  Wohl- 
gemuth hat  Reinholz  wieder  zu  seinem  vollen  Gehalt  verholfen. 

Es  ist  ein  unglaublicher  Skandal,  daB  man  Brandstadter  seinen 
Wohnsitz  nicht  anderweitig  aufzuschlagen  veranlaBt.  Jedermann  im 
Kreise  kennt  die  Affare.  Und  iiber  das  Weichbild  des  Kreises  hinaus 
kennt  die  ganze  Provinz'  OstpreuBen  den  „Fall  Reinholz". 

Eigentiimlich  muB  es  beriihren,  daB  dreimal  der  Oberleutnant  der 
Gendarmerie  der  Notzucht  angezeigt  wird.  Warum  gerat  ein  Nacht- 
wachter  nicht  in  solchen  Verdacht? 

Selbst  wenn  alle  Verdachtigungen  gegen  Brandstadter  nur  auf 
Tratsch  beruhen,  so  muB  dennoch  die  Behorde  Sorge  tragen,  daB  eine 
Personlichkeit  mit  so  umfassender  Exekutivgewalt,  wie  sie  einem  Gen- 
darmerieoffizier  zusteht,  sich  eines  einwandfreien  Renommees  erfreut. 
Zweifellos  spielt  in  OstpreuBen  der  Alkohol  eine  groBe  Rolle, 
und  so  kam  es  auch  dann  und  wann  vor,  daB  der  Oberlandjager 
Reinholz  als  nicht  sattelfester  Trinker  unangenehm  auffiel.  Dieser 
Beamte,  welcher  vorztigliche  Dienstzeugnisse  vorlegen  kann,  wird  von 
seinem  Oberleutnant  in  die  fur  einen  Polizeibeamten  ungeeignetste 
Unterkunft,  in  einer  Dorfkneipe,  einquartiert,  obwohl  genugend  andre 
Zimmer  vorhanden  waren.  Hier  nimmt  der  Konflikt  Reinholz-Brand- 
stadter  seinen  Ausgang.  Als  dann  Anfang  1928  die  Ehefrau  Rein- 
holz aus  Westfalen  nach  Skottau  nachfolgte,  meinte  sie  wahrend  einer 
Revision  der  Dienstwohnung  durch  den  Oberleutnant,  daB  ihr  Mann 
diese  Versetzung  dem  Minister  Grzesinski  verdanke.  Worauf  Herr 
Brandstadter  mehr  volkstiimlicb  als  respektvoll  entgegnete,  das  sei 
„so  ein  Polack,  das  sehe  man  doch  schon  aus  dem  Namen".  Kein 
Staatsanwalt  hat  sich  mit  dieser  Angabe  von  Reinholz  befaBt. 

Der  Oberleutnant  hat  in  der  Disziplinarsache  beschworen:  Rein- 
holz sei  ein  schlechter  Beamter  und  schwer  von  Begriff.  Auch  habe 
ihm  der  praktische  Arzt  Doktor  Jager  in  Neidenburg  kiirzlich  ge- 
sagt,  daB  er  Frau  Reinholz  fur  eine  vollstandig  unter  den  §  51  fal- 
lende  Frau  halte  und  Reinholz  mindestens  zu  drei  Vierteln  darunter 
falle,     Worauf  stiitzt  sich  diese  Aussage  des  Oberleutnants? 

Der  Untersuchungskommissar  hat  Reinholz  auf  seinen  Geistes- 
zustand  bcobachten  lassen.  Das  Gutachten  des  Kreisarztes  lautet 
klipp  und  klar,  daB  der  Oberlandjager  Reinholz  nicht  geisteskrank 
ist.  Reinholz  besitze  nur  eine  gewisse  Minderwertigkeit,  die  vielleicht 
durch  sein  sexuales  Unvermogen  infolge  einer  Kriegsverwun- 
dung  verursacht  oder  ungunstig  beeinfluBt  worden  sei.  Alles  dies 
muBte  der  Kreisleiter  der  Gendarmerie,  Major  Souffner  in  Allen- 
stein, wissen.  Trotzdem  wagt  er  esf  am  28.  Marz  1931  zu  Lyck  vor 
alien  Beamten  wiederum  auszusprechen,  daB  die  Ehefrau  Reinholz 
hundertprozentig  und  er  mindestens  sechzigprozentig  verriickt  sei. 
Er  ware  schon  langst  pensioniert  worden,  wenn  nicht  der  Kreisarzt 
zu  seinen  Gunsten  entschieden  hatte. 

633 


Wie  darf  ein  blutiger  Dilettant  das  medizimsche  Gutachten .  des 
gewifi  sorgfaitig  vorgegangenen  Kreisarztes,  nor  weif  es  ihm  nicht 
pafit,  vor  versammelter  Mannschaft  derartig  ins  Gegenteil  kehren? 

Wenn  der  Generalstaatsanwalt  in  Kdnigsberg  unter  dem  30,*  Sep- 
tember 1930  anffthrt,  dafi  die  Darstellung  der  Frau  Reinholz  itber  den 
Vorfall  sich  standig  geandert  hat,  so  1st  auch  das  fur  den  Psycholo- 
gen  nicht  unbegreiflich. 

Man  bedenke;  daB  das  Ehepaar  Reinholz  streng  katholisch  ist 
und  ganz  in  katholischen  Moralauffassungen  lebt,  Es  ist  daher  ein- 
leuchtend,  daB  die  Frau  sich  lange  geschamt  hat,  den  traurigen  Vor- 
fall ihm,  dem  Impotenten,  zu  schildern.  Man  erlebt  ja  bei  vielen 
grofien  Sittlichkeitsprozessen,  daB  die  weiblichen  Zeugen  sich  nicht 
raehr  erinnern  wollen.  Sie  ziehen  es  voir,  den  Tatef  straff rei  aus- 
gehen  zu  lassen,  weil  sie  sich  vor  den  Augen  der  OffeptHchkeit  scha- 
raen.  Was  sich  hier  abspielt,  ist  eine  stille  Hinkemanfe^rfiiodie,  Die 
Frau  hat  gewuBt,  wie  schrecklich  ihr  Mann  durch  e7ntj*5childerung 
des  an  ihr  begangenen  Verbrechens  verletzt  werden  wiirde,  Sie  hat 
deshalb  bis  zuletzt,  also  bis  zur  eidesstattlichen  Versicherung(  mit  der 
vollen  Wahrheit  zuruckgehalten. 

Recht  bezeichnend  ist,  wie  man  nicht  nur  den  Oberlandjager  und 
seine  Ehefrau  zur  Strecke  bringen  will.  So  hat  Brandstadter  auch 
gegen  den  verantwortlichen  Schriftleiter  der  tPreuBischen  Polizei- 
beamtenzeitung',  die  sich  mit  diesen  Dingen  beschaftigt  hat,  eine  Be- 
leidigungsklage  anhangig  gemacht.  Wichtig  genug  ist  die  Feststellung, 
daB  diese  Klage  unter  dem  Drucke  des  preuBischen  Innenministeriums 
erfolgt  ist,  um  den  haBHchen  Fall  auf  diesem  Wege  aus  der  Welt 
zu  schaffen.  Weiterhin  schwebt  ein  BeleidigungsprozeB  Brandstadters 
gegen  Reinholz  selbst  Bereits  am  13.  August  sollte  der  erste  Termin 
stattfinden.  Aber  in  letzter  Minute  setzte  ihn  das  neidenburger  Atnts- 
gericht  ab.  Man  geht  in  OstpreuBen  folgerichtig  gegen  Reinholz  vor: 
Hat  man  ihn  namlich  erst  als  Angeklagten  im  Beleidigungsprozesse 
erledigt,  kann  er  unmoglich  spater  in  der  eignen  Anzeige  mit  seiner 
Frau  als  Zeuge  zum  Eid  zugelassen  werden! 

Der  Polizeiminister  Severing  ist  uber  den  Fall  Reinholz  infor- 
miert.   Bei  ihm  liegt  es,  fiir  Abhilfe  zu  sorgen. 


Hegel  von  Hellmu th  Falkenf eld 

Zur  100,  Wieder kefir  seines  Todestages 

Ich  weiB,  so  ruft  der  Blinde,  dort  sind  Raume. 
Nur  seh  ich  nicht  in  ihneii  Haus  und  Hof.  — 
Ich  sehe  nur  Vernunft,  wo  ihr  sent:    Baume. 
So   spricht   der   hochgeehrte  Philosooh. 

Denn  die  Vernunft,  sie  laBt  die  Veilchen  sprieBen, 
Die  Walder,   Staaten,   Kriege  und  noch  mehr. 
Und  wenn  sich  drauBen  tot  die  Menschen  schiefien, 
Dann  larmt  —  nach  Hegel  —  nur  der  Weltgeist  sehr. 

Nun  sind  seit  damals  100  Jahr  yerflossen. 
Das  Gras,  das  druber  wuchs,  ward  rot  von  Blut, 
In   Kriegen  hunderttausendfach  vergossen, 
Und  dennocb  freut  der  Satz:  Was  ist,  ist  gut. 

Dem  Weltgeist  ist  nun  mal  nicht  beizukommen. 
Solch  ein  dogmatischer  Begriff  hats  gut. 
Mag  uns  die  Katastrophe  auch  nicht  frommen, 
Er  bleibt  gesund!     Wir  opfern  ihm  mit  Blut! 

634 


Rapprochement  von  Heinz  poi 

Aus  einem  demnachst  im  Adalbert  Scbultz-Verlag,  Berlin, 
erscheinenden  Roman  „Patrioten",  der  zur  Zeit  der  Pariser 
Sachverstandigen-Konferenz   spielt. 

Clsdt  die  Deutsche  Botschaft  als  das  offizielle  Vermittlungs- 
^*  bureau,  so  war  Ullmanns  Villa  die  schwarze  Borse  ftir  die 
Meinungen  der  Politiker  und  Sachverstandigen  aller  Lander. 
Und  wer  jetzt  wahrend  der  Konferenz  von  einflufireichen  Leu- 
teh,  ganz  gleieh  welcher  Art,  nach  Paris  kam  und  nicht  sofort 
seine  Karte  bei  Ullmann  abgab,  war  verloren  in  diesem  viel- 
sprachigen  Strudel,  der  schleusenlos  die  Stadt  uberflutete. 

Aji  diesem  Abend  verteilte  sich  die  gute  Gesellschaft  auf 
die  drei  Salons  des  Hauses  Ullmann.  Wie  stets,  hielt  sich  die 
Mehrzahl  der  Damen  im  letzten  und  hiibschesten  Zimmer  auf, 
um  hier  in  Ruhe  ihre  Bridge-Partien  an  den  kleinen  griinen 
Tischen  zu  spielen.  Die  beiden  andern  iiberhelLerleuchteten 
Salons,  die  im  Stil  der  Restaurationszeit  gehalten  waren,  wie- 
sen  eine  imponierend  groBe  Zahl  der  verschiedensten  Sitzgele- 
genheiten  auf,  die  an  die  Wand  geruckt  waren:  die  Mitte  des 
Zimmer s  wurde,  sowie  das  Diner  beendet  war,  stets  frei  ge- 
halten fur  die  Gruppen  der  sich  meist  stehend  unterhaltenden 
mannlichen  Gaste.  Ullmann  sah  es  als  eine  seiner  vornehm- 
sten  Aufgaben  an,  immer  wieder  neue  Gruppen  zu  arrangieren. 

Erst  im  zweiten  Zimmer  geWahrte  Edgar  in  einer  Herren- 
gruppe  den  korpulenten  Gastgeber,  seinen  Chef  und  den  un- 
scheinbaren  Herrn  Loser,  den  Vorsitzenden  der  Deutschen  In- 
dustriekammer  und  zweiten  Fuhrer  der  deutschen  Delegation, 
Den  Rest  bildeten  zwei  franzosische  Abgeordnete  und  einige 
andre,  deren  Gesichter  'Edgar  fremd  waren . . , 

Man  trat  zu  der  Gruppe,  Ullmann  begruBte  Edgar  mit 
einer  Flut  fetter  Schmeicheleien.  Er  hatte  aus  der  Praxis  ge- 
lernt,  da0  es  wichtiger  sei,  der  Freund  des  Privatsekretars  zu 
werden  als  der  des  Chefs.  Noch  wahrend  er  Edgar  beide 
Hande  schiittelte,  setzte  er  das  Gesprach  mit  einem  der  fran- 
zosischen  Gaste  fort.  Der  Franzose  war  ein  ehemaliger  Gene- 
ral, der  bei  FriedensschluB  seinen  Abschied  genommen  hatte 
und  nun  den  sehr  eintraglichen  Posten  eines  Ehrenmitgliedes 
der  nordfranzosischen  WiederaufbaugeseUschaft  bekleidete. 
Deren  Hauptsorge  war  es,  immer  wieder  neue  Gegenden  auf- 
zufinden,  die  wahrend  des  Krieges  zerstort  worden  waren,  wo- 
bei  sich  im  Laufe  der  Jahre  herausstellte,  dafi  die  Verwiistun- 
gen  von  der  Nordsee  bis  etwa  Bordeaux  sich  erstreckten. .. 

,,Wir  miissen  uns  doch  bald  ein  Dutzend  Jahre  kennen, 
mein  sehr  verehrter  Herr  Ullmann",  rief  der  General  droh- 
nend  aus.  ,,Ich  trug,  glaube  ich,  noch  die  Uniform,  als  Sie 
das  erste  Mai  Paris  beehrten.'1 

f,Stimmt,  stimmt,  damals  war  es  noch  etwas  ungemiitlich 
hier.  Ich  sprach  noch  schlecht  franzosisch,  zum  Gliick  hielt 
mich  das  Hotelpersonal  ftir  einen  Englander  oder  Russen.  DaB 
ein  ,Boche*  es  wagen  sollte,  sich  1919  in  Paris  aufzuhalten,  auf 
diese  Idee  kam  kein  Mensch,  Das  hat  sich  ja  grundlich  ge- 
andert."  In  der  Tat  war  Ullmann  der  vielleichtallererste  Deutsche, 

635 


der  knapp  nach  Unterzeichnung  des  Versailles  Vertrages  nach 
Paris  fuhr  und  dort  Geschafte  erledigte.  Allerdings  handelte 
es  sich  um  ein(  sehr  wichtiges  und,  wie  man  sich  auszudriicken 
beliebte,  l(halboffizielles"  Geschaft.  Ullmann  war  damalsAuf- 
sichtsratsmitglied  des  im  Kriege  groB  gewordcnen  dcutschen 
Chemietrusts.  Im  Juni  1919  bereits  bahntc  sich  ein  schrift- 
licher  Verkehr  zwischen  dem  dcutschen  Trust  und  der  ent- 
sprechenden  franzosischen  Chemie-Vereinigung  an.  Im  Okto- 
ber  fuhr  Ullmann  nach  Paris  und  schloB  dort  nach  vierzehn- 
tagiger  Verhandlung  einen  Vertrag  mit  dem  franzosischen 
Kriegsministerium  und  der  halbprivaten  Societe  d'Etude  de 
1*  Azote,  Nach  diesem  Vertrage  uberlieB  der  deutsche  Chemie- 
Trust  den  Franzosen  eine  Reihe  wichtiger  Farben-Patente.  In 
Deutschland  brauchte  man  Kapital,  und  da  sich  der  Trust  in 
dem  Vertrag  weiter  verpflichtete,  in  den  nachsten  ftinfzehn 
Jahren  keine  Konkurrenzfabrik  in  Frankreich  zu  errichten,  so 
bekam  er  als  Gegendienst  eine  Frankensumme,  mit  der  man 
den  Ausbau  des  Konzerns  in  Mitteldeutschland  sorgenlos  fort- 
setzen  konnte.  Allerdings  machte  die  Deputiertenkammer 
hinterher  nationale  Bedenken  geltend,  so  daB  der  Vertrag  no- 
minell  erst  im  Jahre  1923  in  Kraft  treten  konnte.  Dennoch 
waren  die  Anbahnung  der  Beziehungen  und  der  schlieBlich  zu- 
stande  gebrachte  Vertrag  allein  das  Werk  Ullmanns,  der  un- 
ermiidlich  Handedriicke  ausgetauscht  hatte.  Am  schwierigsten 
hatten  sicb  die  Endverhandlungen  gestaltet,  da  sie  ja  zeitlich 
grade  mit  der  Ruhrbesetzung  zusammenfielen.  Ullmann  machte 
eine  abenteuerliche  Fahrt  mit  dem  Flugzeug  uber  das  schwe- 
lende  Gebiet  des  passiven  Widerstandes.  Der  Apparat  wurde 
beschossen1  der  Flugzeugfiihrer,  ein  ehemaliger  Kampfflieger, 
weigerte  sich,  wieder  in  die  Maschine  zu  klettern,  als  er  bei 
der  Zwischenlandung  in  Krefeld  erfuhr,  wohin  die  Reise  gehen 
sollte.  Ullmann  muBte  ihm  beteuern,  daB  es  ich  um  eine  na- 
tionale Aktion  handele.  Wenn  sie  gelinge,  werde  der  Flug- 
zeugfiihrer hoch  belohnt  werden.  Spater  loste  Ullmann  sein 
Versprechen  ein:  der  Kampfflieger  bekam  einen  hochdotierten 
Ruheposten  in  einer  siiddeutschen  Farbenfabrik. 

Jetzt  sprach  Ullmann  iiber  diese  Erlebnisse,  speckig 
lachelnd  und  zwischendurch  die  Gaste  zum  Trinken  animie- 
rend.  Dann  wandte  er.sich  in  bester  Laune  an  Fahrenkamp: 
„Tempi  passati!  Heute  gibts  viel  wichtigere  Angelegenheiten, 
nicht  wahr?  Sie  haben  mir  zum  Beispiel  immer  noch  nicht 
auseinandergesetzt,  wieso  eigentlich  die  Verhandlungen  seit 
acht  Tagen  stocken."  Als  er  bemerkte,  daB  sich  die  Franzo- 
sen entfernten,  beugte  er  sich  mit  gewichtigem  Gesicht  vor; 
„Ich  sehe  sehrt  sehr  schwarz.  Die  Herren  vom  Comite  de 
Forges  sind  auBer  sich,  sie  verstehen  weder  die  erhohten  An- 
spriiche  noch  die  Verschleppungstaktik  der  Deutscheri/' 

Der  Generaldirektor  warf  einen  Blick  auf  die  beiden  Her- 
ren, die  zuriickgeblieben  waren  uiid  sich  den  Anschein  gaben, 
als  ob  sie  das  Gesprach  nicht  im  geringsten  interessierte.  Der 
kleinere  von  ihnen  hieB  Wertheim  und  war  der  Herausgeber 
einer  Wirtschaftskorrespondenz  in  Berlin.  Da  er  in  seinen  Ar- 
tikeln  die  grade  in  Mode  stehende  Forderung  nach  Wirtschafts- 
demokratie  verfocht,   erfreute  er  sich  eines  nicht  unbedeuten- 

636 


den  Einflusses  auf  die  Borsenkreise  und  gewisse  Regierungs- 
stellcn.  Als  einer  der  zahllosen  berliner  Journalisten  oster- 
reichischer  Schulc  war  er  iibcrall  dabei.  Nicht  ohnc  tiefere 
Berechtigung  hiclt  er  die  Gcselligkcit  fur  die  beste  Informa- 
tionsquelle. 

Fur  Fahrenkamp  war  die  Anwesenheit  Wertheims  in  Paris 
nicht  von  grofler  Wichtigkeit.  Ob  er  gegen  ihn  schrieb  oder 
nichti  Hefi  ihn  kalt.  Fahrenkamp  war  ein  Wirtschaftsfiihrer 
vom  alten  Schlage:  er  verachtete  die  Zeitungen  aus  tiefster 
Seele.  Aus  den  Erfahrungen  seiner  Jugend  hatte  er  gelernt, 
daB  die  Journalisten  Plane  und  Ideen  der  Industrie  wohl  auf- 
decken    und    angreifen,    aber    keineswegs    verhindern    konnen. 

Weit  bedeutungsvoller  schien  Fahrenkamp  die  Anwesen- 
heit des  zweiten  Herrn,  der  neben  Wertheim  stand.  Es  war 
Graf  Schulenburg,  friiherer  Botschafter  in  Rom  und  ehemaliger 
kaiserlicher  Staatssekretar. 

Solange  Schulenburg  unbeweglich  dem  Gesprach  zuhorte, 
muBte  Fahrenkamp  vorsichtig  seine  Worte  wahlen,  denn  die 
ganze  Delegation  wuBte  bereits,  daB  der  Graf  in  geheimem 
Auftrag  von  der  berliner  Regierung  nach  Paris  geschickt  wor- 
den  war,  Er  war  so  unvorsichtig,  die  ersten  acht  Tage  in  der 
Botschaft  zu  wohnen,  so  hatte  man  sofort  die  GewiBheit,  daB 
er  nicht  zum  Vergniigen  gekommen  war.  Schulenburg  war 
durch  die  Heirat  mit  der  Tochter  eines  Kohlenmagnaten  von 
Mitteldeutschland  zu  einem  wirtschaftlich  interessierten  Men- 
schen  geworden.  Der  Konzern  seines  Schwiegervaters  war 
einer  der  wenigen,  dessen  zahlreiche  Kohlengruben  und  Hiit- 
tenwerke  noch  immer  in  keinerlei  Verbindung  mit  der  Stahl- 
und  Eisentrust  A.  G.  standen,  sondern  betont  selbstandig  wirt- 
schafteten.  Die  geschaftlichen  Interessen  des  Schwiegervaters 
hatten  sich  in  den  letzten  Jahren  immer  mehr  RuBland  zuge- 
wandt,  hierbei  war  er  den  Absichten  des  Trusts  in  die  Quere 
gekommen,  der  auf  dem  Umwege  der  europaischen  MStahl- 
gemeinschaft"  RuBlands  Markt  zwangsweise  zu  erobern  hoffte. 
Diese  natiirliche  Gegnerschaft,  die,  wie  immer  im  Wirtschafts- 
leben,  aus  der  Gleichheit  der  Interessen  entsprang,  stempelte 
den  Grafen  Schulenburg  in  den  Augen  der  Regierung  zu  einem 
geeigneten  Objekt,  um  die  pariser  Regierungsstellen  moglichst 
vorsichtig  aufzuklaren.  Und  zwar  dariiber,  daB  alle  Wirt- 
schaftskreise  in  Deutschland  eine  schnelle  Losung  der  ganzen 
Kriegslastenfrage  ersehnten  und  deshalb  gewillt  seien,  den 
Widerstand  der  schwerindustriellen  Gruppe  zu  brechen.  Der 
ehemalige  Staatssekretar,  restlos  gliicklich,  endlich  wieder 
seine  diplomatischen  Talente  spielen  zu  lassen,  hatte  keinen 
Augenblick  gezogert,  den  heiklen,  aber  standesgemaBen  Auf- 
trag zu  iibernehmen. 

Vor  diesem  geheimen  Gesandten  also  muBte  Fahrenkamp 
seine  Zunge  im  Zaum  halten.  MNun/'  wiederholte  Doktor  Ull- 
mann,  t,Sie  wollten  uns  doch  aufklaren!  Man  erfahrt  ja  iiber- 
haupt  nichts  mehr  in  diesem  Paris!  Seit  drei  Tagen  schweigt 
alle  Welt,  lauft  mit  ernsten  Mienen  herum,  zuckt  die  Schul- 
tern  und  weigert  sich,  mehr  als  ein  Glas  Champagner  zu  trin- 
ken.  Man  konnte  fast  auf  den  Gedanken  kommen,  daB  Sie 
sich  geeinigt  haben." 

637 


„Machen  Sic  keine  Witze!"  sagte  Fahrenkamp  und  legte 
mit  Betonung  seine  Stirn  in  Falten. 

■«Ioh  ttiache  gar  keine  Witze!"  Ullmann  spielte  den  ehr- 
lich  Emporten.  „Aber  ich  habe  leider  Gottes  raehr  Konfe- 
renzen  mitmachen  miissen  als  Sie.  Ich  war  in  Genua  und  in 
Lausanne  und  in  London,  und  dreimal  bin  ich  jedes  Jahr  in 
Genf.  Ich  kenne  den  Rummel.  Eine  Einigung  kommt  immer 
nur  dann,  wenn  es  kurz  vorher  eine  Krise  gab  und  jeder  schon 
den  bertihmten  Koffer  gepackt  hat,  den  er  gar  nicht  mit- 
gehommen  hat,  Es  ist  immer  dasselbe  Theater.  Hier  sieht 
es  ja  nun  auch  wieder  so  aus,  als  ob  die  Schlafwagenplatze 
bereits  vorbestellt  sind.*1 

Ullmann  war  in  der  Tat  aufs  starkste  interessiert,  zu  er- 
fahren,  inwieweit  die  Geriichte  auf  der  pariser  Borse  stimtn- 
ten,   die   eine  ihm  sehr  peinliche  Baisse  hervorgerufen  hatten, 

Fahrenkamp  zuckte  die  Achseln.  ,,Vorhin  meinten  Sie, 
die  deutsche  Delegation  treibe  fVerschleppungstaktik\  Kein 
Vorwurf  ist  ungereohter  als  dieser."  Fahrenkamp  gewahrte 
rait  Vergnugen,  wie  Graf  Schulenburg  die  Ohren  spitzte.  (1Sie 
miissen  diese  Konferenz  nicht  mit  irgendeiner  der  politischen 
Konlerenzen  vergleichenf  die  Sie  ja  so  ausgezeichnet  zu  ken- 
nen  scheinen.  Die  Verantwortung,  die  wir  hier  als  Nicht- 
politrker  zu  tragen  haben,  ist  ungleich  schwerer,  am  schwer- 
sten  ist  sie  fur  die  deutsche  Delegation  selbst.  Wean  wir 
wirklich  jetzt  zogern  —  tatsachlich  aber  verhandeln  wir  unter- 
irdisch  weiter,  so  zogern  wir  nur  aus  einem  einzigen  Grunde, 
namlich  urn  im  Interesse  Deutschlands  zu  bessern  Bedingun- 
gen  zu  kommen/' 

MAlles  gut  und  schon."  Ullmann  wiegte  sich  in  den  Huf- 
ten.  „Aber  haben  Sie  vielleicht  auch  gelesen,  wie  Berlin  rea- 
giert?  Auf  der  pariser  Borse  sind  die  Baissiers  obenauf,  in 
Berlin  feiern  sie  Triumphe.  Gestern  war  dort  em  schwarzer 
Tag  wie  seit  Jahren  nicht  melir.  Grund:  die  Sachverstandigen- 
Verhandlungen.  Vielleicht  ist  man  in  Berlin  besser  unterrich- 
tet  als  in  Paris?"  Ullmann  gab  sich  so  schnell  nicht  geschla- 
gein,  er  muBte  sich  noch  an  diesem  Abend  entscheiden,  ob  er 
seine  Engagements  an  der  pariser  Borse  losen  sollte  oder 
nicht 

Edgar  blieb  bei  Ullmann  stehen,  man  zog  ihn  ins  Gesprach, 
vermied  aber  jetzt  Andeutungen  tiber  die  Konferenz,  da  man 
ja  wuflte,  daB  dieser  Sekretar  doch  nie  etwas  andres  sagen 
wiirde  als  sein  Chef.  Ullmann  sprach  unaufhorlich  weiter,  er 
erzahlte  von  den  grofien  Hauserkaufen  Deutscher  in  Paris.  Im 
selben  Atem  klagte  er  iiber  die  schlechten  Geschafte;  „Die 
Inflation  in  Frankreich  ist  zu  Ende,  iiberall  in  Europa  haben 
sich  die  Wahrungen  stabilisiert,  es  lohnt  sich  nicht  mehr, 
an  die  Borse  zu  gehen.  Wenn  diese  Depressionen  anhalteh, 
haben  wir  in  fiipf  Jahren  den  nachsten  Krieg.  Keine  Konfe- 
renz wird  ihn  aufhalten," 

Alles  laohte,  keiner  nahm  Ullmann  ernster  als  er  es  ver- 
langte.  Wenn  er  trotzdem  Wahrheiten  aussprach,  an  die  je- 
der insgeheim  glaubte,  war  es  angenehmer,  sie  wie  einen  faulen 
Witz  aufzunehmen. 

638 


Charakterdeutung  als  Wissenschaft 

von  Rudolf  Arnheira 
III 

CchlieBlich  ist  darauf  hinzuweisen,  daB  es  gegen  die 
^  Astrologie  und  die  Chirologie  noch  andre  Eihwande  gibt 
als  jcnen  rein  negativen,  daB  sich  bisher  noch  keine  reale  Be- 
ziehurig  zwischen  Gestirn  und  Mensch,  zwischcn  Handlinien 
und  Charakter  habe  aufzeigen  Iassen.  Denn  es  konnte  ja,  auch 
wenn  es  unwahrscheinlich  ist,  sein,  daB  ^eine  solche  Beziehung 
noch  gefunden  wtirde,  und  gegen  eine  rein  empirische  Erfor- 
schung  dieser  Gebiete  ware  damit  noch  nicht  vielgesagt,  LaBt 
sich  aber  zeigen,  daB  der  Glaube,  es  bestanden  solche  Be- 
ziehungen,  nicht  so  sehr  auf  Naturtatsachen  gesttitzt  ist  als 
sich  aus  Eigenschaf ten  unsres  Erkenntnisapparats  und  Bediirf- 
nissen  unsres  Gemutslebens  erklart,  so  ware  dieser  Glaube  da- 
mit recht  verdachtig  gemacht  und  die  Lust,  seine  Berechtigung 
nachzupruf en,  stark  vermindert. 

Bekanntlich  besteht  der  starkste  Beweis  gegen  das  Dasein 
Gottes  darin,  daB  man  sagt:  Die  Menschen  haben  ein  heftiges 
Bedtirfnis,  beschiitzt  und  gerecht  behandelt  zu  werden.  Die 
Projektion  dieses  Wunsches  in  eine  Gegend  der  Wirklichkeit, 
die  sich  unsern  Blicken  eiitzieht,  namlich  in  den  ,,Himmer* 
bzw.  in  die  Sphare  der  Unsichtbarkeit,  ergibt  Gott,  Und  die 
Eigenart  des  primitiven  Erkenntnisapparats,  alle  Dingc  und  Er- 
eignisse  der  Welt  nach  Analogic  des  Menschenlebens  zu  er- 
klaren,  ergibt  die  Theorie  vor  einem  ins  Erhabene  vergroBer- 
ten  Menschen  als  Weltschopfer,  der  die  Welt  auf  dieselbe 
Weise  konstruiert  hat,  wie  Menschen  Hauser  bauen,  Lehm- 
gefafle  formen  (Erschaffung  des  Menschen:  „ErdenkloB"!), 
Acker  bestellen.  Durch  solche  Einsicht  wird  die  Wahrschein- 
lichkeit,  daB  es.  einen  Gott  wirklich  gebe,  auBerst  gering,  Und 
ahnliqh  spricht  es  gegen  den  okkultistischen  Geisterglauben, 
daB  wir  in  ihm  die  uralte  menschliche  Besonderheit  wieder- 
treffen,  sich  nicht  mit  dem  Tode,  dem  Nichtmehrsein,  abfinden 
zu  k6nnen-  Der  aus  starken  Wunschbedurfnissen  und  der  Un- 
vollkommenheit  friiher  Erkenntnisse  stammende  Glaube  an  das 
Leben  nach  dem  Tode,  bisher  ein  religioses  Dogma,  soil  nun 
„wissenschaftlich"  bewiesen  werden.  Kommt  hinzu,  daB  man 
gla'ubt,  sich  mit  etwas  Geistigem  zu  beschaf tigeri,  wenn  man 
sich  mit  Oeistern  befaBt.  Dieser  Irrtum  beruht  auf  der  Dop- 
pelbedeutung  des  Wortes  „Geist"  und  ist  ein  Beitrag  zu  der 
Verwechslung  des  Begriffspaars  „materiell  —  psychischM  mit 
dem  durchaus  andern  „materialistisch  —  idealistisch'1  einem 
besonders  in  Deutschland  beliebten  Gesellschaftsspiel, 

Daher  scheint  es  so  plausibel,  die  okkultistischen  Pha- 
riomene  als  durchaus  nicht  metaphysische  Auswirkurig  noch 
unentdeckter  menschlicher  Krafte  zu  erklaren.  Denn  so  wird 
das,  was  gegen  die  Geistertheorie  spricht,  nun  positiv  zur  Er- 
klarung  herangezogen:  daB  die  Menschen  daztt  neigen,  Psychi- 
sches,  vor  allem  Erwiinschtes,  nach  auBett  zu  projizieren,  zu 
nmaterialisieren*1! 

Ahnliche  Argumente  nun  sprecnen  gegen  Astrologie  und 
Chirologie.     DaB  beide  Betatigungen  so  alt  sind,  braucht  nicht 

639 


zu  bedeuten,  in  der  Dingwelt  seien  dringliche  Hinweise  auf  sic 
vorhanden.  Sondcrn  es  braucht  nur  zu  bedeutent  daB  sic  aus 
ewigen  Bediirfnissen  des  Gemiits  bzw.  aus  Eigenarten  der  pri- 
mitivcn  Erkenntnis  stammen, 

Der  allumfassende  Egozentrismus,  durch  den  das  primitive 
Wcltbild  (des  Kindes  wic  des  Naturmenschen)  charakterisiert 
ist,  fiihrt  dazu,  daB  der  Mensch  sich  nicht  vorstellen  kann, 
irgendwo  in  der  Welt  konne  von  anderm  gehandelt  werden 
als  eben  von  ihm  und'  seinen  Bediirfnissen.  Er  glaubt,  daB  die 
Tiere,  die  Pflanzen,  die  Elemente  nur  ihm  zuliebe  oder  ihm 
zuleide  handeln,  und  es  gehort  zu  den  schmerzhaftesten  und 
wichtigsten  Erfahrungen  der  phylogenetischen  wie  der  onto- 
genetischen  Entwicklung,  daB  es  Gesetze  und  Aktionen  in  der 
Welt  gibt,  die  nicht  auf  den  Menschen  (resp.:  diesen  Men- 
schen)  zielen,  auch  wenn  sie  auf  ihn  wirken!  Aus  demselben 
Grunde  glaubt  der  primitive  Mensch  sich  und  sein  Schicksal 
iiberall  dort  abgebildet,  wo  den  Erscheinungen  nicht  strikt  ein 
leicht  einsehbarer  Zweck  zukommt-  So  wie  er  der  Bahn  des 
Vogelfluges  Nachrichten  iiber  die  Zukunft  entnimmt,  so  hangt 
sich  sein  Wissensdrang  an  die  Bahnen  der  Gestirne  und  der 
Handlinien,  die  fur  ihn  nicht  anderweitig  an  irgend  einen  Sinn 
gebunden  sind.  Es  kann  auch  der  Kaffeegrund  sein  oder  das 
Eingeweide  eines  geschlachteten  Opfertiers  —  iiberall  wo  selt- 
same  Form  ohne  Sinn  sich  anbietett  ergreift  er  die  Gelegenheit, 
sich  selbst  zu  ergrunden.  Diese  Beziehungen,  die  er  da  zwi- 
schen  sich  und  den  Dingen  herstellt,  stammen  nicht  aus  seiner 
physikalischen  Einsicht  sondern  aus  seiner  psychischen  Kon- 
stitution,     Und  das  hindert  uns,  sie  fiir  verifizierbar  zui  halten. 

Bezeichnend  fiir  den  Weg  der  Erkenntnis  ist  weiter,  daB 
sie  vom  Sinneseindruck  zum  Wesen  der  Dinge  vordringt.  Das 
ptolemaische  System  ist  das  geschichtlich  fnihere,  weil  es  be- 
ruht  auf  der  naiven  Gesichtsvorstellung,  gegen  die  dann  Ko- 
pernikus  ankampfen  muB.  Die  Astrologie  nun,  deren  Grund- 
begriffe  ja  aus  sehr  alter  Zeit  stammen,  ist  voll  von  Dingen,  die 
nur  im  subjektiven,  nicht  mehr  im  objektiven  Weltbild  Geltung 
haben  konnen.  Ober  dasf  was  auf  Erden  eben  geboren  wird, 
entscheidet,  wie  Robert  Henseling  in  der  .Literarischen  Welt* 
sagt,  das,  was  am  Himmel  grade  „geboren '  wird,  indem  es 
fiir  den  gegebenen  Horizont  aufgeht.  Nun  ist  aber  der 
Horizont  zwar  eine  sehr  wichtige  Markierung  fiir  den 
Augenschein,  jedoch  diese  rein  perspektivische  Verdek- 
kung  eines  Gestirns  ist  zweifellos  kein  Faktor  von  realer, 
physikalischer  Wirksamkeit.  Ebenso  steht  es  mit  der  per- 
spektivischen  Projektion  der  Planeten  auf  den  Himmelshinter- 
grund,  die  Himmelsrichtungen  der  Tierkreiszeichen,  Die  Bahn 
eines  Planeten  am  subjektiven  Himmel  ist  eine  vollig  schiefe, 
uncharakteristische  Abbildung  seiner  wirklichen  Bewegung  im 
Sonnensystem,  die  allein  doch  von  Bedeutung  fiir  jenen  hypo- 
thetischen  EinfluB  der  Planetenbahnen  auf  den  Menschen  sein 
konnte,  und  ebenso  ist  die  gesamte  Gestirnkonstellation,  nach 
der  das  Horoskop  gestellt  wird,  ein  subjektiv-sinnliches,  ptole- 
maisches  Zerrbild.  Was  wir  hier  meinen,  wird  besonders  deut- 
lich,  wenn  man  hort,  dafi  der  mit  der  groBten  Beweglichkeit 
am  Himmel  wandernde  Planet  (Merkur)  die  beweglichsten  Gei- 

640 


ster  machen  soil  —  wie  ebenfalls  Henseling  raitteilt  — ,  wah- 
rend  der  scheinbar  iangsamste,  sonnenfernste  (Saturn)  die  be- 
dachtigsten  macht.  Es  wird  also  nicht  die  objektive  Geschwin- 
digkeit  der  Planeten  sondern  die  durch  den  irdischen  Beob- 
achter  subjektiv  modifizierte  verwendet.  DaB  es  verschwen- 
dete  Miihe  ware,  auf  solcher  Grundlage  nach  realen  Beziehun- 
gen  zwischen  Mensch  und  Gestirn  zu  suchen,  Iiegt  wohl  auf 
der  Hand.  Was  soil  man  dazu  sagen,  daB  im  Horoskop  Vater 
und  Mutter  durch  Sonne  und  Mond  vertreten  werden,  zwei 
Gestirne  also,  die  nur  fur  den  rohesten  Augenschein  ein 
MPaar"  sind,  in  Wirklichkeit  aber  allerverschiedenste  Funktion 
im  System  haben! 

So  wie  der  primitive  Mensch  sich  verleiten  laBt,  per- 
spektivisch  verzerrte  Verhaltnisse  fiir  echte  zu  nehmen,  so  halt 
er  auch  die  auBere  Ahnlichkeit  von  Dingen  fiir  eine  reale  Be- 
ziehung.  Dies  ist  wahrscheinlich  die  uberhaupt  friiheste  Form 
begrifflicher  Gruppierung,  und  erst  mit  dem  Fortschreiten  der 
Erkenntnis  wird  sie  ersetzt  durch  Einteilungsprinzipien,  die 
sich  auf  das  Wesen,  nicht  auf  das  Aussehen  der  Dinge  zu  griin- 
den  versuchen.  Doktor  ReiBmann  sagt:  ,,DaB  die  Rohmasse 
unsrer  Erfahrungen  nicht  nur  nach  kausalen  Ablaufen  sondern 
auch  nach  symbolischen  Gleichsetzungen  sich  ordnen  laBt,  ist 
heute  kein  Geheimnis  mehr.  Alle  alten  Volker  haben  sym- 
bolisch  gedacht,  die  Naturvolker  und  die  Traumenden  tun  es 
noch  heute.  Heterogene  Begriffe  wie  Eisen,  Feuer,  Leiden- 
schaft,  rote  Farbe,  die  Zahl  1iinf,  Fieber,  Trennung  und  so  fort, 
die  bei  uns  ganz  verschiedenen  Ordnungsbereichen  angehoren, 
gehoren  im  symbolischen  Denken  zusammen  und  subsumieren 
sich  etwa  unter  dem  Symbol  des  Planeten  Mars*  Auf  solchen 
—  fiir  den  Kausaldenkenden  wirklich  nicht  einsichtigen  —  Be- 
ziehungsketten  griindet  sich  das  astrologische  Denken."  Nun 
besteht  aber  doch  eigentlich  kein  Grund,  Naturvolker  und 
Traumende  als  Vorbilder  fiir  den  rechten  Weg  zur  Natur- 
erkenntnis  zu  nehmen.  Wenn  einer  im  Traum  Zigarre,  Zeppe- 
lin und  Phallus  koordiniert,  so  verstehen  wir  die  psycho- 
logische  Bedingtheit  dieser  Beziehung,  aber  werden  wir  sie  als 
einen  Faktor  realer  Verwandtschaft  in  unser  Weltbild  aufneh- 
men  ?  Die  symbolische  Beziehung  zwischen  Leidenschaf  t, 
Feuer  und  roter  Farbe  ist  bei  den  Dichtern  gut  aufgehoben; 
als  Erkenntnisprinzip  kann  sie  uns  nicht  wohl  mehr  gelten,  und 
sie  wird  durch  ihr  Alter  nicht  richtiger.  Denn  daB  diese 
Augenscheins-Symbolik  fiir  jedes  primitive  Weltbild  charakte- 
ristisch  ist  und  sich  auch  in  heutigen  Gehirnen  auBerhalb  der 
Verstandesregionen  noch  findet,  hat  einen  rein  psychologischen 
Grund  und  ist  fiir  die  Wirklichkeit  nicht  verbindlich.  Wer  sich 
trotzdem  einer  solchen  Methode  bedient,  zum  Beispiel  fiir  die 
Zwecke  der  Astrologie,  kann  nicht  yerlangen,  ernstgenommen 
zu  werden. 

Gegen  Astrologie  und  Chirologie  spricht  also,*  daB  sie  ge- 
wisse  Fehlerquellen  enthalten,  die  auf  Beschranktheiten  des 
subjektiven  Erkenntnisapparats  zuriickgehen.  Solange  diese 
Atavismen  nicht  aus  dem  Grundansatz  entfernt  sind,  wird  man 
auch  von  der  reinen  Tatsachenforschung  auf  diesen  Gebieten 
nicht  viel  erhoffen  konnen. 

641 


Fabian  und  die  Sittenrichter  von  Erich  Kastner 

Die  folgenden  Ausfuhrtmgen  waren  urspriinglich  als 
.  Nachwort  zu  dem  soeben  in  der  Deutschen  Veflags-Anstalt, 
Stuttgart,  erscfaienenen  Roman  von  Erich  Kastner  „Fabian,  Die 
Gescbichte  eines  Moralisten"  gedacht,  Bei  der  Drucklegung  des 
Bucbes  mufite  dieses  Nachwort  und  ebenso  ein  zweites  „An  die 
Kunstrichter"  wegfallen. 

F\ieses  Buch  ist  nichts  fur  Konfirmanden,  ganz  gleich,  wie 
^  alt  sie  sind.  Der  Autor  weist  wicdcrholt  auf  die  anato- 
mische  Verschiedenheit  der  Geschlechter  hin.  Er  laBt  in  ver- 
se hiedenen  Kapitem  vollig  unbekleidete  Damen  und  andre 
Frauen  herumlaufen.  Er  deutet  wiederholt  jenen  Vorgang  an, 
den  man,  temperamentloserweise,  Beischlaf  nennt.  Er  tragt 
nicht  einmal  Bedenken,  abnorme  Spielarten  des  Geschlechts- 
lebens  zu  erwahnen.  Er  unterlaBt  nichts,  was  die  Sittenrich- 
ter zu  der  Bemerkung  veranlassen  konnte:  Dieser  Mensch  ist 
ein  SchweinigeL 
'     Der  Autor  erwidert  hierauf;  Ich  bin  ein  Moralist! 

Durch  Erfahrungen  am  eignen  Leibe  und  'durch  sonstige 
Beobachtungen  unterrichtet,  sah  er  ein,  daB  die  Erotik  in 
seinem  Buch  betrachtlichen  Raum  beanspruchen  muBte.  Nicht, 
weil  er  das  Leben  photographieren  wollte,  denn  das  wollte 
und  tat  er  nicht,  Aber  ihm  lag  auBerordentlich  daran,  die 
Proportionen  des  Lebens  zu  wahren,  das  er  darstellte.  Sein 
Respekt  vor  dieser  Aufgabe  war  moglicherweise  ausgepragter 
als  sein  Zartgefiihl.  Er  findet  das  in  Ordnung.  Die  Sitten- 
richter, die  mannlichen,  weiblichen,  sachlichen,  sind  wieder 
einmal  sehr  betriebsam  geworden.  §ie  rennen,  zahllos  wie 
die  Gerichtsvollzieher,  durch  die  Gegend  und  kleben,  psycho- 
analytisch  geschult,  wie  sie  sind,  ihre  Feigenblatter  iiber  jedes 
Schliisselloch  und  auf  jeden  Spazierstock.  Doch  sie  stolpern 
nicht  nur  lib  er  die  sekundaren  Geschlechtsmerkmale.  Sie  wer- 
den  dem  Autor  nicht  nur  vorwerfen,  er  sei  ein  Pornograph. 
Sie  werden  auch  behaupten,  er  sei  ein  Pessimist,  und  das  gilt 
bei  den  Sittenrichtern  samtlicher  Parteien  und  Reichsver- 
bande  fur  das  Argste,  was  man  einem  Menschen  nachsagen 
kann. 

Sie  wollen,  daB  jeder  Burger  seine  Hoffnungen  im  Topf 
hat.  Und  je  leichter  diese  Hoffnungen  wiegen,  um  so  mehr 
suchen  sie  ihm  davon  zu  liefern.  Und  weil  ihnen  nichts  mehr 
einfallt,  was,  wenn  die  Leute  daran  herumkochen,  Bouillon 
gibt,  und  weil  ihnen  das,  was  ihnen  friiher  einfiel,  von  der 
Mehrheit  langst  auf  den  Misthaufen  der  Geschichte  geworfen 
wurde,  fragen  sich  die  Sittenrichter;  Wozu  haben  wir  die  An- 
gestellten  der  Phantasie,  die  Schriftsteller? 

Der  Autor  erwidert  hierauf:  Ich  bin  ein  Moralist! 

Er  sieht  eine  einzige  Hoffnung,  und  die  nennt  er,  Er  sieht, 
daB  die  Zeitgenossen,  storrisch  wie  die  Esel,  riickwarts  latifen, 
einem  klaffenden  Abgrund  entgegen,  in  dem  Platz  fur  samt- 
liche  Volker  Europas  ist.  Und  so  ruft  er,  wie  eine  Reihe 
Andrer  vor  ihm  und  auBer  ihm:  Achtung!  Beim  Absturz 
lmke  Hand  am  linken  Griff! 
642 


Wenn  die  Menschen  nicht  gescheiter  werden  (und  zwar 
jeder  hochstselber,  nicht  immer  nur  der  Andre)  und  wenn  sie 
es  nicht  vorziehen,  endlich  vorwarts  zu  marschieren,  vom  Ab- 
grund  fort,  der  Vernunft  entgegen,  wo,  urn  alles  in  der  Welt  ist 
dann  noch  eine  ehrliche  Hoffnung?  Eine  Hoffnung,  bei  der 
ein  anstandiger  Kerl  ebenso  aufrichtig  schworen  kann  wie 
beim  Haupt  seiner  Mutter? 

Der  Autor  Iiebt  die  Offenheit  und  verehrt  die  Wahrheit, 
Er  hat  mir  der  von  ihm  geliebten  Offenheit  einen  Zustand  ge- 
schildert  und  er  hat,  angesichts  der  von  ihm  verehrten  Wahr- 
heit, eine  Meinung  dargestellt.  Darum  sollten  sich  die  Sitten- 
richter,  ehe  sie  sein  Buch  im  Primareffekt  erdolchen,  dessen 
erinnern,  was  er  hier  wiederholt  versicherte. 

Er  sagte,  er  sei  ein  Moralist, 


VerSCfllOSSeneS  Gold  von  Bernhard  Citron 

Ceitdem  die  Bank  von  England  von  ihrem  Piedestal  herab- 
gestiegen  ist,  seitdem  der  Ehrfurcht  gebietende  Wahr- 
spruch  „Safe  like  the  Bank  of  England"  fast  zum  Witzwort  er- 
niedrigt  wurde,  entgehen  auch  die  groBten  Zentralnotenbanken 
nicht  mehr  ubelwollendeni  Geriichten.  Das  Schicksal  der 
deutschen  Kreditbanken  lockt  zum  Vergleich.  Wer  hatte  vor 
einem  Jahr  gewagt,  Zweifel  an  einer  der  groBen  Vier  in  der 
BehrenstraBe  laut  werden  zu  lassen?  Die  SchalterschlieBung 
der  Danatbank  nahm  diese  Scheu.  Teils  mit  Recht,  teils  mit 
Unrecht  sind  seitdem  noch  andre  Institute  ins  Gerede  gekom- 
men.  Ahnlich  geht  ^s  heute  den  Zentralnoteninstituten.  Man 
spricht  von  den  Schwierigkeiten  der  Federal  Reserve  Bank  wie 
fruher  von  denen  der  Staatsbank  in  Angora.  Der  Glaube  an 
das  Hochste,  was  dem  Kapitalismus  heilig  war,  an  den  Dollar, 
ist  erschiittert  worden.  Wie  soil  unter  solchen  Umstanden  das 
Vertrauen  zur  Reichsbank  erhalten  bleiben?  Bei  der  Betrach- 
tung  der  Lage  in  den  verschiedenen  Notenbanken  darf  nicht  iiber- 
sehen  werden,  daB  die  Motive,  die  zur  Aufhebung  des  Gold- 
standards  in  England  und  Skandinavien  gefuhrt  Haben,  ganz 
andre  sind  als  die  Befiirchtungen,  die  fiir  die  Sicherheit  der 
Mark  oder  des  Dollars  gehegt  werden.  Die  Aufhebung  der 
Goldeinlosung  durch  die  Bank  von  England  war  eine  vorwie- 
gend  wahrungspolitische  MaBnahme,  wahrend  der  Kampf  urn 
die  Stabilitat  der  amerikanischen  und  der  deutschen  Wahrung 
auf  dem  Schlachtfelde  der  Kreditpolitik  ausgetragen  wird.  Die 
Federal  Reserve  Bank  hatte  Gold  genug,  um  Frankreich  voll 
auszuzahlen,  aber  die  GroBbanken  konnten  den  StoB,  der  ihnen 
durch  einen  derartigen  Kreditorenschwund  versetzt  wurde, 
kaum  mehr  ertragen. 


Eine  maBgebende  Personlichkeit  der  Reichsbank  meinte 
zu  dieser  amerikanischen  Tragodie,  daB  man  in  den  U.S.A. 
nieht  genug  Erfahrung  in  Stiitzungsaktionen  hatte,  sonst  wurde 
man  sich  iiber  solche  Vorgange  wie  die  gegenwartigen  weniger 

643 


Sorge  machen.  Die  Rcichsbank  besitzt  dicse  Erfahrung  aller- 
dings  in  ausreichendem  Mafic,  bei  ihr  ist  nur  die  Frage,  ob  die 
Stutzungen  durchgehalten  werden  konnen.  Dahinter  tritt  die 
wahrungstechnische  zuriick.  Nicht  jedes  Devisenloch  ist  ver- 
stopft,  aber  der  groBe  Strom,  der  das  Gold  aus  Deutschland 
hinaustrug,  ist  zum  Stillstand  gekommen.  Die  Abzugsmoglich- 
keiten,  die  das  Stillhalteabkommen  noch  offengelassen  hat, 
sind  zwar  nicht  restlos  ausgeschopft,  der  Ausfall  von  Export- 
devisen  infolge  der  Aktivitat  der  Handelsbilanz  kann  aber 
schlieBlich  auf  die  Dauer  nicht  ausbleiben,  Die  Reichsbank 
halt  trotz  alien  entgegengesetzten  Vermutungen  und  Behaup- 
tungen  an  der  Ansicht  fest,  daB  die  Stabilitat  der  Wahrung  atif- 
recht  erhalten  werden  kann  und  muB.  Urn  die  Richtigkeit  die- 
ser  Stellung  zu  priifen,  muB  die  Deckung  der  Noten  nicht  nur 
durch  Gold  und  Devisen,  sondern  auch  durch  Inlandswechsel 
Benicksichtigung  finden.  Die  Gold-  und  Devisendeckung  hat 
ihren  bisher  niedrigsten  Stand  erreicht,  ist  aber  anscheinend 
im  Augenblick  nicht  weiter  bedroht,  Interessanter  ist  die  Be- 
antwortung  der  Frage,  wie  es  urn  die  zusatzlichen  Deckungs- 
mittel  der  Reichsbank  in  Form  von  Inlandswechseln  bestellt 
ist.  Schacht  behauptete  auf  der  Harzburger  Tagung,  daB  die 
groBere  Halfte  des  Wechselportefeuilles  der  Reichsbank  aus 
Finanzwechseln  bestehe;  nach  Angaben,  die  uns  von  durchaus 
verlaBlicher  Seite  gemacht  wurden,  betragen  die  Finanzwech- 
sel  etwa  ein  Drittel  des  Wechselbestandes,  Auch  dieser  Betrag 
—  ungefahr  700  Millionen  —  ist  noch  aufiergewohnlich  hoch, 
zumal  auch  die  von  der  Reichsbank  weiterbegebenen  Wechsel, 
die  das  Giro  der  Akzept-  und  Garantiebank  tragen,  noch  kein  Ri- 
siko  fur  das  deutsche  Zentralnoteninstitut  darstellen<  Dennoch 
darf  man  annehmen,  daB  die  Reichsbank  den  Anforderungen,  die 
aus  der  Wirtschaft  bisher  an  sie  gestellt  wurden,  vorlaufig  ge- 
wachsen  bleibt.  Zweifelhaft  ist  nur,  ob  etwa  neu  hinzukom- 
mende  Subventionen  noch  den  Weg  iiber  das  Wechselporte- 
feuille  der  Reichsbank  nehmen  konnen.  Man  kennt  nicht  die 
genaue  Hohe  der  bereits  gewahrten,  geschweige  denn  das  Aus- 
maB  der  kiinftigen  Unterstiitzungen.  Grundsatzlich  steht  man 
in  der  Wilhelm-  und  der  JagerstraBe  auf  dem  Standpunkt,  daB 
der  Wirtschaft  geholfen  werden  muB,  soweit  nur  irgend  ge- 
holfen  werden  kann.  Die  gegenwartige  Krise  ist  nach  Ansicht 
der  Reichsbank  kein  Reinigungs-  sondern  ein  Vernichtungs- 
prozeB,  der  Gerechte  und  Ungerechte,  Gesunde  und  Kranke 
gleichmaBig  trifft.  Das  ist  gewiB  richtig,  denn  jeder  Geschafts- 
mann,  jede  Firma,  die  selbst  in  solidem  Rahmen  unternehmend 
gewesen  istT  kann  von  der  Krise  erf  afit  werden,  die  anscheinend 
nur  die  verkalkten  und  ruckschrittlichen  Unternehmer  schont, 
Unter  diesen  Umstanden  glaubt  auch  die  Reichsbank,  ihre 
liberale  Kreditpolitik  fortf iihren  zu  miissen.  Das  mag  zu  recht- 
f ertigen  sein,  obwohl  die  5f f entlichkeit  durch  Geheimhaltung 
eines  Teiles  der  bisherigen  Subventionen  kein  klares  Urteil 
gewinnen  kann.  Der  Vorwurf,  der  gegen  Reichsregierung  und 
Reichsbank  erhoben  werden  muB,  bezieht  sich  indessen  auf 
die  Zeit  vor  dem  13.  Juli.  Als  der  Hooverplan  verkiindet 
wurde,  glatibte  auch  Doktor  Luther,  der.  Gipfel  der  Krise  sei 
(iberwunden,  und  die  am  Tage  zuvor  angekiindigten  scharfen 

644 


RestriktionsmaBnanmen  wurden  plotzlich  wicdcr  zuriickgenom- 
men.  Es  ist  allgemein  bekannt,  daB  an  dcr  Borse  in  jenen  Ta- 
gen  einc  „HooverhausseM  zum  Ausbruch  kam,  der  die  GroB- 
banken  —  vor  allem  auch  die  damals  bereits  ruinierte  Danat- 
bank  —  schmunzelnd  zusahen,  ohne  die  nie  wiederkehrende 
giinstige  Verkaufsgelegenheit  zu  ergreifen.  Die  Reichsbank 
hatte  in  dem  Augenblick  durch  RestriktionsmaBnahmen  —  so 
paradox  das  auch  klingen  mag  —  die  Liquiditat  der  Banken 
erhoht. 


In  einer  Volksversammlung  der  Vorkriegszeit  wurde  dem 
Redner,  der  sich  um  die  Kandidatur  zum  Reichstag  bewarb, 
zugerufen:  (,Sie  Bimetallistl"  Der  Zwischenruf  verfehlte  seine 
Wirkung  nicht,  denn  die  meisten  der "  Anwesenden  glaubten, 
daB  Bimetallisi  etwas  Ahnliches  wie  Bigamist  sei.  Trotz  aller 
Erfahrungen  der  Nachkriegsjahre  ist  die  Wahrungstechnik 
heute  erne  Geheimkunst  wie  ehedem,  GroBe  Sachverstandige 
von  internationalem  Ruf  legten  in  wissenschaftlich  fundierten 
Artikeln  die  Griinde  dar,  die  dem  Golde  den  Weg  nach  den 
Vereinigten  Staaten  wiesen;  Europa  miisse  —  so  hieB  es  vor 
noch  nicht  langer  Zeit  —  in  immer  starkerm  MaBe  von  den 
ILS.A.  abhangig  werden.  Das  erklarte  man,  bis  eines  schonen 
Tages  das  Gold  seine  Richtung  anderte  und  wieder  aus  Ame- 
rika  nach  Europa  zuriickfloB.  Die  hervorragenden  Experten 
lief erten  auch  den  biindigen  Beweis  fur  die  Tatsache,  daB  Sil- 
ber  aufgehort  habef  Wahrungsmetall  zu  sein,  und  heute  wird 
wiederum  von  groBen  Kapazitaten  erklart,  die  Wahrung  der 
Zukunft  werde  aus  Gold  und  Silber  zusammengesetzt  sein* 
Werden  nicht  alle  diese  wahrungstechnischen  Momente  iiber- 
schatzt?  VergiBt  man  nicht  in  der  ganzen  kapitalistischen 
Welt  vollkommen,  daB  es  nicht  darauf  ankommt,  ob  eine  Zen- 
tralnotenbank  Gold,  Silber  oder  Kaurimuscheln,  die  bei  den 
Polynesiern  die  Miinzen  ersetzen,  in  ihren  Kellern  verstaut 
hat,  und  daB  allem  wichtig  ist,  ob  das  Kreditsystem  eines  Lan- 
des  auf  festen  FtiBen  steht? 

Ein  europaischer  *  Staat  besaB  nach  den  Ausweisen  seiner 
Notenbank  einen  ho  hen  Goldvorrat.  Dieses  Gold  wurde 
krampfhaft  zuriickgehalten,  Gesetze  und  Bestimmungen  verbo- 
ten  die  Ausfuhr.  Da  sank  die  Wahrung  dieses  Landes  immer 
tiefer,  weil  das  Gold  statt  der  Stutzung  des  Wechselkurses  zu 
dienen,  nutzlos  in  den  Kellern  der  Bank  ruhte,  Allmahiich  aber 
bildete  sich  eine  Legende,  die  das  Geheimnis  dieser  Wahrung 
zu  entschleiern  suchte.  Geheimnisvoll  fliisterte  man  sich  zu, 
daB  die  Bank  von  .  < .  gar  nicht  das  Gold  besitze,  das  nach 
ihren  Ausweisen  vorhanden  sein  miiBte.  Heute  kann  die  Un- 
wahrheit  dieses  Geriichtes  als  erwiesen  angesehen  werden, 
ebenso  erwiesen  allerdings  ist  auch  die  Unfahigkeit  der  damals 
leitenden  Manner  des  Finanzministeriums  und  der  Staatsbank, 
die  glaubten,  daB  der  Besitz  des  Goldes  die  Wahrungsstabilitat 
unter  alien  Umstanden  garantieren  mufite.  Das  Gold  hinter 
SchloB  und  Riegel  hat  den  gleichen  Wert  wie  das  Scheckbuch 
von  Morgan  auf  einer  einsamen  InseL  Frankreich,  das  durch 
Sparsamkeit  und  Vorsicht,   durch  Poincar6s   Energie  und  die 

645 


"ZurCickhaltung  —  nicht  Riickstandigkeit  —  seiner  Wirtschafts- 
organe  zum  Fels  inmitten  allgemeinen  Wahrungsverfalls  ge- 
worden  ist,  steht  vor  einer  verantwortungsvollen  Aufgabe.  Von 
den  Amerikanern  heute  hohere  Zinsen  zu  verlangen,  ist  sein 
gates  Recht,  selbst  wenn  es  sich  dabei  in  den  Augen  derWelt 
in  eine  Shylockrolle  hineinspielen  sollte,  die  man  in  Paris 
^vor  fiinf  Jahren  den  ILS.A,  zugedacht  hatte.  Viel  schlimmer 
ware  es,  wenn  die  franzosische  Regierung  und  der  President 
der  Vereinigten  Staaten  iiber  Wahrungstechnik  und  Goldver- 
schiffungen  die  Gesundung  der  Weltwirtschaft  und  die  Wieder- 
lierstellung  des  internationalen  Kredites,  das  Fundament  der 
Geldstabilitat,  vergessen  sollten.  Die  gegenwartige  Krise,  die 
vor  keinem  noch  so  groBen  und  noch  so  gut  gepanzerten  Tresor 
Halt  macht,  ist  kein  ausschlieBliches  Wahrungsproblem,  son- 
dern  wurde  erzeugt  dutch  den  Zusammenbruch  des  internatio- 
nalen Kreditsystems. 


An  das  Baby  von  Theobald  Tiger 

A  He  stehn  um  dich  herum: 

Photograph  und  Mutti 
und  ein  Kasten,  schwarz  und  stumm, 
Felix,  Tante  Putti ... 

Sie   wackeln  mit   dem   Schliisselbund, 

frdhlich  quiet scht  ein  Gummihund. 

„Baby,  lach  mall"  ruft  Mama, 

„Guck",  ruft  Tante,  „eiala!" 
Aber  du,  mein  kleiner  Mann, 
siehst  dir  die  Gesellschaft  an . . » 
Na,  und  dann  —  was  meinste? 

Weinste. 

Spater  stehn  um  dich  herum 
Vaterland  unci  Fahnen; 
Kirche,  Ministerium, 
Welsehe  und  Germanen. 

Jeder  stiert  nur  unverwandt 

auf  das  eigne  kleine  Land. 

Jeder  kraht  auf  seinem  Mist, 

weifi  genau,  was  Wahrheit  ist, 
Aber  du,  mein  guter  Mann, 
siehst  dir  die  Gesellschaft  an  . . . 
Na,  und  dann  —  was  machste? 

Lachste, 

Dies  ist  das  Einleitungsgedicht  zu  dem  Sammelband  Kurt  Tucholskys 
t,Lerne  lachen  ohne  zu  weinen",  der  soeben  im  Verlag  Ernst  Rowohlt, 
Berlin,  erschienen  ist. 
•646 


Bemerkungen 

Gegen  die  Bonzen  des  Aeskulap 

Llaben  in  dem  allgemeinen  Zu- 
■'■  *  sammenbruch  von  Wirtschaft, 
Demokratie  und  Kultur  MStan- 
desfragen"  iiberhaupt  noch  einc 
Berechtigung? 

Antworten  sollen  geben:  abge- 
baute  Junglehrer,  die  im  Kohlen- 
pott  schuften,  Philologen,  die  sich 
den  Unterhalt  als  Aufwascher  ver- 
dienen,  Architekten,  die  als  An- 
streicher  gehen,  das  Heer  der 
Studenten,  das  Karren  schiebt 
und  Zeitungen  verkauft,  Schrift- 
steller,  die  sich  vom  Wiirstchen- 
handel  ernahren,  kurz  alle  die 
sollen  antworten,  die  infolge  der 
kapitalistischen  Krise  fvir  immer 
ihren  „StandM  verloren  haben. 
Hierunter  gehoren  nicht  zuletzt 
auch  die  Jungarzte,  denen  die  ein- 
zig  mogliche  Existenzgrundlage, 
die  Kassenpraxis,  vorenthalten 
wird,  Sie  alle  pfeifen  auf  die 
Standesehre,  die  ihnen  nicht  ein- 
mal  das  Salz  zum  Brot  gibt.  So 
unglaublich  es  allerdings  klingt, 
so  wahr  ist  es  leider,  Inmitten 
einer  Welt  zusammenkrachender 
Vorurteile  und  Standesprivilegien 
beweisen  uns  die  Bonzen  des  Aes- 
kulap, daB  es  in  unsrer  garenden 
Zeit  immer  noch  Leute  gibt,  die 
unberiihrt  und  unbeschwert  von 
der  Not  ringsum  von  ihren  golde- 
nen  Sesseln  herab  das  hohe  Lied 
der  Standesehre  floten,  Es  sind 
dies  jene  papstlichen  Wtirden- 
trager  der  Arzteorganisation,  die 
anlafilich  der  Anfang  November 
stattfindenden  berliner  Arztekam- 
merwahl  das  Dogma  vom  „freien" 
■a 


Arztberuf  als  Patentlosung  pre- 
digen,  Zu  diesen  Standesaposteln 
gesellen  sich  neuerdings  die  Ha- 
kenkreuzarzte,  die  zum  Standes- 
diinkel  noch  den  Antisemitismus 
zulegen.  Erfreulicherweise  gibt  es 
aber  wie  in  jedem  andern  Berufe 
unter  den  Arzten  eine  fortschritt- 
liche  Bewegung,  die  auf  radikaler 
weltanschaulicher  und  politischer 
Grundlage  nicht  nur  die  Standes- 
fragen  negiert.  sondern  positiv 
durch  ihren  Anschlufi  an  die 
freien  Gewerkschaften  die  Ge- 
meinsamkeit  der  okonomischen 
und  politischen  Interessen  aller 
Hand-  und  Kopfarbeiter  praktisch 
betatigt.  Dieses  Bundnis  beseitigt 
nicht  nur  Standesvorurteile  son- 
dern hebt  auch  den.  verhangnis- 
vollen  Gegensatz  zwischen  Arzt 
und  Kassenmitgliedern  auf.  Die 
freigewerkschaftlich  organisierten 
Arzte  kampfen  nicht  auf  dem 
Boden  historisch  uberholter  An- 
schauungen  fiir  die  Erhaltung  des 
freien  Arztberufes.  Sie  treten  mit 
der  groCen  Oberzeugungskraft,  die 
ihnen  ihre  sozialistische  Welt- 
anschauung verleiht,  fur  die  So- 
zialisierung  des  gesamten  Heil- 
wesens  ein.  Das  heiBt  die  Losung 
der  arztlichen  Berufs-  und  Wirt- 
schaftsfragen  vom  Standpunkt  der 
Allgemeinheit  aus.  Wenn  Bernard 
Shaw  in  seiner  Vorrede  zum 
„Arzt  am  Scheidewege*'  bereits 
vor  einem  Menschenalter  forderte, 
daB  Harveystreet  (Sitz  der  arzt- 
lichen Autoritaten)  in  ein  stadti- 
sches  Amt  verwandelt  werde  und 
dafi  die  Nation  fiir  die  arztliche 
Betreuung     der   Schulkinder    und 


Professor  Mathilde  Vaerting 

Wahrheit  und  Irrfum  in  der 
Geschlechterpsychologie 

Steif  kartoniert  5,80  RM. 
In  diesem  Werk,  werden   die   Irrtumer  der  bisherigen 
Geschlechterpsychologie  aufgewiesen,  sodaB  das  ge- 
samte  Fundament  der  geltenden  Anschauungen  uber 
Mann  und  Weib  ins  Wanken  kommt.       „         ,    „  . 

Vossische  Zeitung 

ERICH  LICHTENSTEIN  VERLAG  WEIMAR 

647 


der  Erwachsenen  aufkommen 
milsse,  so  kann  man  hieran  er- 
mcssen,  wie  unendlich  trage  die 
Entwicklung  in  dieser  Richtung 
verlauft,  Nicht  die  arztliche  Ein- 
sicht,  nur  der  revolutionare 
Kampf  der  arbeitenden  Klasse  hat 
seit  1918  die  Frage  der  Soziali- 
sierung  des  Heilwesens  auf  die 
Tagesordnung  gestellt.  Die  Ver- 
gangenheit  beweist,  dafi  jeder 
Fortschritt  auf  dem  Gebiet  der 
Kommunalisierung  auch  im  Heil- 
wesen  nur  gleichzeitig  im  Zu- 
sammenbang  mit  den  politischen 
Errungenscbaften  der  Arbeiter- 
klasse  erreicht  werden  kann.  Die 
Vertreibung  der  Arbeiter  aus  den 
in  der  Revolution  eroberten 
Schiitzengraben  durch  die  Offen- 
sive der  Konterrevolution  trifft 
grade  das  Gesundbeitswesen  be- 
sonders  hart..  Die  Entkommunali- 
sierung  auf  diesem  Gebiete 
scbreitet  liber  die  elementarsten 
Lebensinteressen  der  nichtbe- 
sitzenden  Bevolkerungsschichten 
binweg.  Die  Arztekammer,  deren 
Bedeutung  als  Standesparlament 
angesicbts  des  Artikel  48-Regimes 
noch  fragwurdiger  ist  als  ehedera, 
wird  von  der  fortscbrittlichen 
Arztescbaft  trotz  alledem  benfitzt 
zum  Kampf  gegen  den  Abbau  der 
sozialen  Fursorgeeinrichtungen, 
der  Entkommunalisierung  des 
Heilwesens,  gegen  die  reaktionare 
Strafrechtsreform,  insbesondere 
fur  die  Aufbebung  des  §  218, 
andrer  unhaltbarer  Sexualpara- 
graphen,  der  Todesstrafe  etcetera. 
Die  freigewerkscbaftliche  Arzte- 
liste,  die  uberparteilicbe  Liste  der 
sozialistischen  Arzteschaft,  ver- 
tritt  in  diesem  Wablkampf  gegen- 
iiber  den  reaktionaren  Standes- 
listen  die  Interessen  der  Volks- 
gesundheit,  das  heifit  die  Inter- 
essen der  Allgemeinheit. 

Minna  Flake 


Zu  Schniizters  Tod 

Vurtickdenkend  an  Arthur 
"  Schnitzler  und  an  die  Freu- 
denf  die  er  uns  ein  Menscbenalter 
hindurch  erleben  liefl,  uberfallt 
mich  die  Trauer:  was  wird  mit 
Osterreich?  Es  ist  nicht  die  ge- 
peinigte  kleine  Zwangsrepublik, 
nicht  die  Doppelmonarchie,  die, 
es  ist  "eine  allgemeine  Weisheit, 
auch  fur  die  meisten  Bewohner 
ein  Zwangsstaat  war,  was  ich 
meine,  fur  das  zu  fiirchten,  urn 
das  zu  trauern  ware,  —  es  ist  der 
Geist  Osterreichs.  „Das  ist  kein 
Staat,  das  ist  ein  Zustand",  hat 
ein  Osterreicher  gesagt,  naturlich 
voll  Bitterkeit  hat  er  es  gesagt, 
als  eine  Verurteilung  des  Staats 
wie  des  Zustands.  Da  der  eine 
vergangen,  der  andre  im  Verge- 
hen  ist,  versteht  man  nicht  mehr 
die  bittere  Selbstverurteilung. 
Denn  was  bleibt,  auch  bei  den 
Osterreichern?  Heimatliebe  ohne 
Gleichen  und  die  schmerzende 
Sehnsucht  nach  der  Vergangen- 
heit. 

Immer  haben  Nicht-Osterrei- 
cher,  „gelernte  Osterreicher"  ge- 
reenter  geurteilt  und  sich  offener 
zu  jenem  Geist  bekannt,  —  wenn 
sie  ihn  nicht  schlechthin  verwar- 
fen  und  verdammten.  Die  das 
taten,  waren  meist  Preufien,  die 
mit  ihrem  Ideal  Bismarck  den 
Bayern  „den  Ubergang  vom  Men- 
schen  zum  Osterreicher"  nannten. 
Fur  das  Nicht- Verstehen  Andrer 
sind  sie  nicht  ohne  Grund  be' 
ruhmt, 

Vom  Anatol  und  dem  siiBen 
Madel,  dem  Leutnant  Gustl,  dem 
Fabrikanten  Reithofer  und  dem 
Professor  Bernhardi  die  unuber- 
sehbare  Reihe  von  Frauen  und 
Mannern,  Bankiers,  Dichter, 
Schauspieler,  Aristokraten,  Arzte, 
Beamte,   Offiziere  —   alle   Oster- 


ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCHICHTE 

in  700  Bildern.  1910— 1930.  Einleitung  von' FrtedrichSieburg.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter  nfcht  die  gelstlge  MUhe  ersparen,  die  im 
Lesen  Hegt  Die  zueammenfassende  Betrachtung  derletzten  17  oder 
20  Jahre,  ohne  daB  die  Tatsachen  durch  eine  Deutung  verhQIlt  oder 
gef&rbt  wtlrden,  mag  elnen  neuen  Weg  welsen  odererkennen  laseen. 

TRANSHARE_VERLAG  A.-0.,  BERilN  W  10 

648 


Lelnen 

5.80  RM 


reicher,  Osterreicher,  nur  gedacht, 
nur  denkbar  in  dem  seltsamen 
Staatsgebilde,  das  zusammener- 
obert  und  -geheiratet,  inhomogen 
im  Nationalen  wie  im  Kulturel- 
len,  endlich  doch  eine  Mittel- 
schicht  erzeugt  hatte,  die  nur  hier 
und  so  sein  konnte  und  die,  wie 
sie  war,  weit  mehr  gute,  liebens- 
wurdige,  treffliche  Eigenschaften 
hatte,  als  Fehler.  Spanisches  Hof- 
zeremoniell  und  ostliche  Juden- 
scbaft  hatten,  sie  zu  bilden  ge- 
holfen,  alpines  Deutschtum,  ma- 
gyarisches  Talent,  siid-  und  west- 
slawische  Bauernschlichtheit,  Ge- 
nerate und  Abenteurer  aus  Irland 
und  Frankreich,  siiddeutsche  und 
italienische  Einfliisse,  Rumanen, 
Albanier,  Tiirken,  Katholizismus 
und  Freigeisterei,  Absolutismus 
und  Sozialdemokratie,  Gelehrtheit 
und  Anal  phabe  ten  turn,  —  zum 
Schlufi  aber  grade  ehe  ihr  Nahr- 
boden  zerrissen  ward,  stand  sie 
fest,  zwar  undefinierbar  aber  fur 
das  Gefiihl,  fremdes  wie  eignes, 
unverkennbar.  Und  wenn  nicbts 
ihre  Existenz  und  Eigenheit  be- 
wiese,  so  ware  sie,  als  abgegrenzte 
Erscbeinung,  dargetan  dadurch, 
daB  sie  ihre  Dichter  fand,  daB 
sie  Stoff  ward  fiir  Kunstwerke. 
Ob  sie  aber  die  Dichtung,  die  sie 
hervorbrachte,   uberleben  >wird? 

Arthur  Schnitzler  betrauerte 
einmal  eine  Tote.  Zu  einem,  der, 
verzweifelt  wegen  desselben  Ver- 
lustes,  zu  ihm  kam,  sagte  er  tro- 
stend:  „Nun,  da  ihr  Korper  nicht 
mehr  lebt,  wird  ihr  Geist  immer 
lebendiger  werden".  Aber  das 
Band  zwischen  den  beiden  Trau- 
ernden,  das  die  Freundschaft  fur 
eine  Frau  kniipfte,  war  zerrissen. 
Daran  muflte  ich  denken,  als  ich 
jetzt  las,  wie  sehr  Schnitzler  auf 
die  Zukunft  gerechnet  hat.  Der 
zeitlebens   nie    ohne    Todesfurcht 


war,  hat  unter  andern  hinter- 
lassenen  Manuskripten  eines  zur 
Veroffentlichung  „in  funfzig  Jah- 
ren"  bestimmt.  Er  glaubte  an  das 
Weiterleben  im  Geist,  er  wollte 
mit  aller  Geistesmacht  daran 
glauben. 

Der  ich  wehmiitig  zuruckdenke 
an  die  Welt,  in  der  Arthur 
Schnitzler  wuchs,  die  er  innig  ran- 
fafite,  die  er  neu  erschuf,  ich 
zweifle.  Ich'  habe  mich  nicht  ge- 
wundert,  daB  des  Dichters  letzte 
Stiicke  an  einem  Theater  und 
dann  nicht  mehr  gegeben  wurden, 
daB  seine  friihern  viel  bewahrten 
keine  Reprisen  mehr  fanden,  Wer 
weiB  noch  von  dem  alten  Oster- 
reich,  wer  kennt  es  noch?  Ver- 
standen  haben  es  auch  friiher  we- 
nige,  aber  es  war  ihnen  als  Reali- 
tat  bewuBt,  sie  nahmen  es,  oft 
widerwillig,  hin.  Da  es  als  Staat 
zerschlagen  ist,  wird  es  auch  als 
Zustand  hinfallig, 

Wie  stark  es  war,  wie  fesselnd, 
wie  vielfaltig,  wie  bind  end,  zwin- 
gend,  das  zeigt  das  Epos,  das  ein 
Jungerer,  Robert  Musil,  mit  ibm 
erfullte:  „Der  Mann  ohne  Eigen- 
schaften",  von  dem  ein  Band  mit 
tausend  Seiten  vor  einem  Jahr  er- 
schien,  ein  zweiter  starkerer  be- 
yorsteht.  Hier  schillert,  glitzert, 
spiegelt  sich,  hier  verdunkelt  sich, 
sinkt  ab  und  fallt  dahin;  Oster- 
reich,  ein  groBesf  machtiges  und 
schwaches,  elastisch  -  zahes  und 
zerf allendes,  vielgespalten  -  ein- 
heitliches  Gebilde,  feindlich  in 
sich  zerrissen  und  doch  von  einem 
Geist*  Ich  kann  die  alten  Ge- 
nerate und  Grafen  gut  verstehen, 
die  den  Narren-Putsch  des  Pfri- 
mer  mitmachten,  weil  sie  meinen, 
man  miisse  nur  wollen,  so  werde 
das  Alte  neu  erstehen,  Und  ich 
kenne  deutschnationale  Sozialde- 
mokraten,       die      mitmarschieren 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON 

Das  Elend  kommt  von  dertragischen  Befllssenheit,  den  Bock  derZeiten  zu  melkentob 
er  Milch  geben  kann  Oder  nicht.  Niemand  weiS,  wohin  die  Mensch- 
heit  steuertj  ob  sie  leben  oder  sterben  will;  gewiS  ist  nur,  daB  sie 
das  nicht  will,  was  Ihr  die  Obertehrer  der  QIQokseligkeit  zudenken. 

TRANSMARE  VERIjAa  A.-0.v  BERLIN  W  10 


Kartoniert 

3.— RM 

649 


wiirden,    verbote    ihnen    Erkennt- 
nis  nicht  dieselbe  Meinung. 

Abcr  ich  glaube:  Osterreich 
geht  dem  Ende  zu.  Es  hat  sich 
gelohnt,  fur  den  Anschlufi  zu 
kampfen,  weil  zu  hoffen  war, 
Osterreichs  .  Gcist  werde  eine 
gliickliche  Synthese  eingehen  mit 
dem  andern  Deutschtum,  werde 
sich  crhalten  im  groBern  Deutsch- 
land,  werde  es  mildern  und  sich 
an  ihm  starken,  werde  PreuBen 
Europa  naher  bringen.  Nun  ist 
der  Anschlufi,  vorher  schon  un- 
wahrscheinlich  genug,  durch  die 
frivole  Leichtfertigkeit  der  Zoll- 
unionserklarung  auf  unabsehbare 
Zeit  vertagt.  Und  die  Franzosen 
wollen  nicht  verstehen,  was 
Osterreichs  Geist  an  Pazifizierung 
des  Preufientums  bringen  konnte. 
Ihre  Generale  rechnen  mit  dem 
Rechenstift    Rekrutenzahlen    nach. 

Die  Gedanken  bei  Arthur 
Schnitzlers  Tod  sindf  iiber  den 
Todesfall  hinaus,  tnibe.  Es  gab 
eine  Spielart  europaischen  Den- 
kens  in  deutscher  Sprache,  die 
melancholisch-heiter  war,  resig- 
niert-frohherzig,  bescheiden,  lei- 
se,  melodisch,  Von  Harmonie  be- 
wegt,  ein  Zustand,  dem  Geist  der- 
preuBischen  Armee  kontrar:  Oster- 
reich, 

Aber  kann  Geist  allein  leben? 
Der  stete  Zustrom  aus  den  Win- 
keln  des  Reichs  versiegt,  die  Kre- 
ditanstalt  ist  sozialisiert,  Roth- 
schild bankrott,  die  Universitat 
vernazit,  das  Burgtheater  vor  der 
Schliefiung,  Arthur  Schnitzler 
ward  begraben. 

Rudolf  Olden 


Das  da  ist  ein  Komma.  So 
wenig  man  es  als  t)ber- 
schrift  verwerten  kann,  so  wenig 
kann  man  es,  wie  wir  gleich  sehn 
werden,  an  einer  andern  Stelle 
gebrauchen.  Kommen  Sie  mit  auf 
die  Kommajagd  — ? 

Deutsche  Interpunktion  ist, 
wenn  jeder  macht,  was  er  will. 
Zum  Beispiel  bei  einem  der  besten 
Obersetzer  aus  dem  franzosischen, 
bei  Ferdinand  Hardekopf,  so: 
„Der  Alkohol  verheert  schlei- 
chend  das  Land,  und  zwar  in 
weit  hoherem  Mafie,  als  die,  nur 
den  Konsum  der  offentlichen 
Schankstatten  erfassenden  Sta- 
tistiken  es  erkennen  HeBen." 
Falls  es  eine  Gottheit  gibt,  die 
sich  mit  der  Interpunktion  be- 
fafit,  so  wird  sie  gebeten,  ihr 
Antlitz  zu  verhullen.  Man  lese 
sich  den  Satz  mit  dem  Komma 
vor,  und  man  wird  die  Spitze 
hinter  „die"  fuhlen.  Und'  der 
von  mir  hochverehrte  Hardekopf 
steht  mit  diesem  Komma  nicht 
allein  da.  Irgend  eine  Akademie- 
groBe  interpungiert  auch  so  —  es 
ist   herzzerreifiend. 

„Meine,  neben  diesen  aufier- 
lich  robusten  Bauerngestalten 
fast  schmachtige  Figur  . .  /'  aber 
warum  muB  denn  noch  dem  Auge 
und  dem  Atem  ausdriicklich  kund 
und  zu  wissen  getan  werden,  dafi 
dieses  dem  Substantiv  gehorige 
Adjektiv  noch  einen  Zusatz  hat! 
Es  geht  doch  bei  solchen  in  der 
deutschen  Sprache  nicht  immer 
vermeidbaren  Langen  sehr  gut 
auch     ohne     Komma,     wie     diese 


d&      • 


Qjin&  *ti£&(/^ 


bat  jeder  Kenner  zu  seiner 

ABDULLA  Nr.  1 6 

o\M.  und  Gold  Stuck  10  Pfg. 
Abdulla  &  Co.  •  Kairo  /  London  /  Berlin 
650 


Beispiele  hier  zeigen!  1st  unser 
Satzbau  noch  nicht  verzwickt  ge- 
nug?  Bei  Doblin  haben  die 
Kommata  die  Masern,  sie  bleiben 
daher  alle  zu  Hause,  Bei  Harde- 
kopf  wieder  hat  einer,  Hm  das 
Polgarsche  Bild  zu  gebrauchen, 
den  Text  mit  der  Komma-Buchse 
bestreut,  und  jetzt  stocken  Auge 
und  Atem.  Dabei  wird  das 
nicht  einmal  konsequent  gehand- 
habt.  Hardekopf  schreibt  zum 
Beispiel  richtig:  ,,die  meiner  Ver- 
waltung  anvertratite  Bewohner- 
schaft",  wobei  denn  offenbar  der 
bestimmte  Artikel  nicht  durch 
ein  Komma  vom  Zusatz  abge- 
trennt  wird,  wohl  aber  das  besitz- 
anzeigende  Fiirwort.  Nein,  es  ist 
wirklich  nicht  schon.  Ich  warne 
nur  deshalb  dav&r,  weil  es  keine 
Sprachdummheit  gibt,  die  sich 
nicht  sofort,  einer  Grippe  gleich, 
ansteckend  verbreitet.  So  hat 
Doblin  etwas  Schones  angerich- 
tet*.  weite  Strecken  mancher  Lite- 
ratur  haben  den  Kommata -FraJ3 
und    die   Interpunktionsraude. 

Mit    allem    schuldigen    Verlaub. 
In  diesen  bewegten  Zeiten.    Weil 
wir  sonst  keine  Sorgen  haben. 
Peter    Panter 
Spruche 

YV7irklich  kriegerische  Naturen 
w  tun  gut  daran,  sich  offent- 
lich  zum  Pazifismus  zu  bekennen. 
Mit  keiner  andern  Weltanschau- 
ung gelingt  die  Provokation  der 
ganzen  Welt  so  griindlich.  Wer 
also  seiner  Natur  nach  Kampfe 
braucht,  findet  unter  Pazifisten 
den  geeigneten  Platz, 

Gott  ist  tot,  es  leben  die 
Cotter!  Nietzsche  hatte  sich  das 
Jubilieren  liber  Gottes  Tod  uber- 
legt,  hatte  er  seine  Nachf olger 
und  Erben  vorausgeahnt. 


Vielleicht  ist  es  eine  Art  boses 
Gewissen,  das  die  Menschen  ver- 
anlafit,  besonders  gut  iiber  die- 
j  enigen  Eigenschaf ten  zu  reden, 
die  man  in  der  Praxis  am  selten- 
sten  zu  Wort  kommen  laflt.  So 
geht  es  mit  der  Vernunft!  Sie  ist 
in  aller  Munde,  wird  aber  von 
jedem  angstlich  aus  dem  Bereich 
des  taglichen  Lebens  verwiesen. 
Niemals  kommt  ein  Mensch  durch 
unverniinftige  Taten  so  leicht  in 
den  Ruf  unzurechnungsfahiger 
Uberspanntheit  als  wenn  er  ver- 
sucht,  im  Namen  der  Vernunft 
schadliche  oder  schandliche  Ge- 
wohnheiten  der  Welt  abzuschaf- 
fen,  Denn  Vernunft  ist  ein 
schones  Wort,  aber  niemals  ein 
Argument,  Sie  ist  ein  ^Schmucke 
Dein  Heim,  aber  Gott  bewahre 
kein  Gebrauchsgegenstand,  Man 
mufi  schon  arg  exaltiert  sein,  um 
Gebote  der  Vernunft  realisieren  zii 
wollen. 

* 

Nichts  reizt  so  zur  Nachahmung 
wie   abschreckende  Beispiele, 

Evelyn  Futo 
Neue  Arbeiterchflre 

r\  ie  Arbeitersangerbewegung,  ur- 
*-*  sprunglich  entstanden  aus  Ge- 
selligkeitsbediirfnis  und  Bildungs- 
streben,  ist  heute  zu  dem  wichtig- 
sten  Kampfplatz  geworden,  auf 
dem  die  soziologischen  und  asthe- 
tischen  Musikfragen  unsrer  Zeit, 
endlich  befreit  aus  der  papierneh 
Enge  j  ournalistischer  Diskussio- 
nen,  ausgetragen  und  entschieden 
werden.  Die  grofie  Musik- 
revolution,  die  wir  in  den  Nach- 
kriegs  j  ahren  erlebt  haben,  hat 
sich  zumindest  vorlaufig  in  einer 
klaren  Schichtung  unsres  Musik- 
lebens  ausgewirkt.  Die  immer 
noch  grofie  Zahl  der  traditions- 
yerbundenen  Horermasse  mag 
in  den  reprasentativen  Orchester- 


Soeben  erschienenl  in    alien    Buchhandlungen    erhaltlichl 

STALIN  &  CO. 

von  R.  N.  Coudenhove-Kalergl 

Ein  Blitzstrahl  am  Rande  des  Abgrundes  ist  diese 
neueste  Schritt  Coudenhoves.  Sie  beleuchtet 
Rufilands  Machtstellung  und  Europas  Macht- 
zerrUttung.      Ein    Weckruf    in    zwfilfter    Stunde 


S4  Seiten    —   90  Pfennig 


PANEUROPA  VERLAG,  LEIPZIG-WIEN 


651 


konzerten,  in  der  Staatsoper,  vor 
allem  jcdoch  wieder  in  der  (hof- 
fentlich  endgultig!)  von  dilettan- 
tischem  Schlendrian  gereinigten 
Stadtischen  Oper  bei  ihrer  altbe- 
kannten,  bestens  bewahrten  Mu- 
sik  den  Genufi  finden,  den  sie 
sucht.  Der  Rundfunk  kann  gegen- 
wartig  infolge  der  Oberempfind- 
lichkeit  seines  technischen  Ober- 
tragungsapparates  lediglich  An- 
r.egungen  fiir  eine  grundlegende 
Revision  unsrer  kiinstlerischen 
Aufftihrungspraxis  vermitteln  — 
als  Pionier  neuer  musikalischer 
Formen  bleibt  er  vorlaufig  auf 
den  von  der  Zensur  gesteckten 
Rahmen  beschrankt  (und  ver- 
schreibt  sich  inzwiscben  fiir  seine 
musikalischen  Horspiel-Versuche 
den  substanzlosen  Reimeschmied 
Robert  Seitz), 

Was  die  Arbeitersanger  zu  sa- 
gen  und  zu  singen  haben,  das 
zeigten  sie  kiirzlich  bei  zwei  Ver- 
anstaltungen,  in  denen  j  e  ein 
neues  Chorwerk  zur  Auffuhrung 
gelangte;  Tiessens  flAufmarschM 
bei  dem  Jubilaumsfest  des  sozial- 
demokratiscben  Kulturbundes  in 
der  Volksbiibne  und  das  Kollek- 
tivwerk  lfSolidaritat"  bei  der 
Feier  des  zebnjahrigen  Bestebens 
der  LA.H.  im  Sportpalast.  Soli- 
daritat  —  das  ist  fiir  den  kommu- 
nistischen  Arbeiter  kein  leerer 
Begriff,  keine  hohle  Phrase,  kein 
blofies  agitatorisches  Schlagwort, 
binter  dem  keine  Realitat  steckt 
—  Solidarity  das  ist  das  hun- 
gernde  Volk  in  RuBland  zu  den 
Zeiten  nach  der  Macbtergreifung, 
das  sind  die  streikenden  Britder 
im  Ruhrrevier,  das  ist  der  chi- 
nesische  Kuli  in  den  iiber- 
scbwemmten  Gebieten,  fiir  die  er 
seinen    letzten    Groschen    herge- 


geben  hat,  Der  Mythos  von  der 
proletariscben  Solidaritat  wirkte 
hier  zusammen  mit .  dem  Mythos 
RuBland,  urn  ein  von  denr  San- 
gern  selbst  durch  verbindende 
Worte  zusammengestelltes  Chor- 
werk entsteben  zu  lassen,  dessen 
mitreittender  Eindruck  nicht  zu- 
letzt  auf  der  Scblagkraft  der  ein- 
zelnen  Chore  beruhte  (neben 
Vollmers  ,,Drei-Millionen-Meer" 
und  Eislers  IAH-Lied  vor  allem 
„Der  heimliche  Aufmarsch  gegen 
die  Sowjetunion"  von  Wladimir 
Vogel). 

Dagegen  wirkte  der  „Auf- 
marsch"  von  Tiessen,  nocb  dazu 
eingeleitet  durch  schulmeisterlich 
selbstgefallige  Worte  eines  Bil- 
dungsfunktionars  der  SPD,  aka- 
demisch,  blutleer,  unwirklieh. 
Tiessens  kompositionelles  Konnen 
zerschellt  an  dem  liberalistischen 
Phrasenschwall  eines  wertlosen 
Textes: 

DaB  die  Welt  vollkommen  sei, 
stehen  wir  zusammen  . , . 
Und  in  der  Wfiste  der  Zeit 
nabrte  uns  alle 
das  Brot  der  Hoffnung 

Sind  dies  die  letzten  geistigen 
Reserven  der  SPD  fiir  ihre  offi- 
ziellen  Parteiveranstaltungen? 

.  Otto  Mayer 
Zwlschenstufen 

GroBe  Naziveranstaltung.  An 
der  Kasse  ein  biederer  Pg. 
Alles,  was  zu  der  „herrlichen  Be- 
wegung"  gehort,  erhalt  verbilligte 
Eintrittskarten,  Kommen  da  drei 
Jungfrauen,  zwei  mit  dem  Ab- 
zeichen  des  Luisenbundes  ge- 
schmuckt,  Der  rauhe  Krieger 
grunzt:  ,,Zwei  Luisenbund  und 
einmal  normal'*. 


Wollen  Sie  welter  schuften 

nur  urn  zur  Not  am  SchluB  zu  einem  besseren  Begrabnis  zu  kommen, 
oder  wollen  Sie  hier  auf  Erden  schon  Ihr  Kraftekapital  in  f  estverzinslichen 
Werten  der  Ewigkeit  anlegen?  Sie  glauben  nicht  an  diese  Ewigkeit?  Wie 
aber,  wenn  Hunderttausende  in  aller  Welt  heute  schon  langst  zur  Gewifi- 
beit  kamen,  daS  sie  bereits  mitten  im  ewigen  Leben  stehen?  Der  im 
Yerborgenen  lebende  Mann,  dessen  Schiller  diese  Hunderttausende  sind, 
ist  Bd  Yin  Ea,  dessen  Originalbiicher  in  deutscher  Sprache  wir  verlegen. 
l>ie  Broschiire:  „Weshalb  B6  Yin  Ra?a  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin, 
die  Sie  kostenfrei  von  uns  erhalten,  wird  Ihnen  Naheres  sagen.   Kober'sche 

Yerlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 
652 


Der  Konflikt  Liebe  WelibObtie 

rs  hatte  cinmal  ein  Konflikt  A^s    das  berliner  Lessing-Theater 

sich  selber  in    sich   selbst  verstrickt  ^^   vor     kurzem      ,.Junge     Liebe" 

^ VM1  spielte,  ein  Lustspiel    unter    zwei 

„Es  bleibt  mir  ke,ne  andrc  Wahl",  Ehepaaren,  die  den  Partner  wech- 

8o  dacht  cr  in  Erstickuntfsqual.  sel„(      allerdings      nur      voriiber- 

„Ich  fliege  zum  Planetcn  Erde,  gehend,    wurde    eines    Tages    der 

auE  dafi  mir  striktc  Heilung  werde."  Direktor  Klein  am  Telephon  ver- 

Iangt. 
Auf  seinem  Herzcn  diese  Bitte,  TT.  _      .    -.     ,  ,  v       it 

u  *  u        -v.       i.  d      a      mi*  ,.riier     Bankdirektor     A,     rierr 

begab  cr  sich  nach  Preuflen-Mitte.  ,-.  ',  .       T,,    .    «    *        i 

Doktor  Klein?  Ja  alsof  wir  waren 

Und  so  ist  der  Konflikt  im  frommen,  gestern  in   ,Junge  Liebe',   ein  Ge- 

tnsbesondere  unter  die  Deutschen  schaftsfreund  und  ich.    Reizendes 

gekommen.  Stiick.     Blofi    eins  war  uns  nicht 

Margarete  Voss  "ar.   Und  da  haben  wir  ganz  ein- 

fach    gewettet.     Und    letzt    sagen 

Trotzdem  ^ie   uns   *"ttc:    nat  die  Mosheim 

M_,     f    .  ,  .      ,        ,  mit  dem  Homolka    oder    hat    sie 

it     Riicksicht    auf     das     hart-  nicht r ' 
nackige     Leugnen     und     die  p  u  D  D  k  RJ  in. 

A   rJl°Sdet  A        £ZaI         l  -Wie  hoch    haben    Sie   denn    ge- 

Angeklagten,     der,     trotzdem     er  "    ,,  ,-„  & 

verheiratet  war,    ein  Sittlichkeits-  we 
verbrechen     beging,     muflte    uber  „Tausend  Mark. 

die  Mindeststrafe   hinausgegangen  Doktor  Klein;  t)  Wenn  Sie  mich 

werden.  mit     fiinfzi'g     Prozent     beteili&en, 

Aus  einer  Urteilsbegriindung  sage  ich  es   Ihnen." 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 


Deutscher  Lyceumsclub,  Liitzowpfotz  15.  Freitag,  20.  10;  Das  Verhaltnis  der  Geschlechter 
in  seiner  Bedeutung  fiir  das  politiscbe  Gleichgewicht,  Mathilde  Vaerting. 

Internationale  Ausstellung  Frauen  in  Not.  Plalz  der  Republik  4.  Sonnabend  19.00: 
Autorenabend.    Es  sprechen:  Maria  Leitner  und  Anna  Seghers. 

Hamburg-Altona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifistcn.  Dienstag  (.'.11.)  Volksheim,  EichenstraOe.  30.00:  Die 
Parteien  und  der  Kampf  gegen  den  Krieg. 

Bficher 

Max  Brod:  Stefan  Rott  oder  Das  J&hr  der  Entscheidung.    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Josef  Conrad:  Die  Rettung.    S.  Fischer,  Berlin. 

Karl  Jakob  Hirsch :  Katserwetter.    S.  Fischer,  Berlin. 

Joseph  Kastein:  Eine  Geschichte  der  Juden.    Ernst  Rowohlt,  Berlin 

Erich  Kastner;   Fabian.    Die    Geschichte    eines    Moralisten.     Deutsche  Verlagsanstalt, 

Stuttgart. 
Will:  Munzenberg:  Solidaritat.    Neuer  Deutscber  Verlag,  Berlin. 
Liam  CTFlaherty:  Verdammtes  Gold.    S.  Fischer,  Berlin. 
Franz  Werfel :  Die  Geschwister  von  Neapel.     Paul  Zsolnay,  Wien. 
Hier  schreibt  Paris.   Herausgeber:  Alfred  Wolfenstein    Internationale  Bibliothek,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Langenberg  18.00:  G  W.  Pijet  liest.  —  Leipzig  19.00:  Forum  der  jungen 
Generation.  —  Berlin  19.10:  Schauspieler  in  Not,  H.  Nerking  und  Herbert  Jhering.  — 
Breslau  21.40:  Hermann  Kesser  liest.  —  Mittwoch.  MOhlacker  19.05:  T.  G  Masaryk, 
Hermann  Wendel  —  Berlin  19.45:  Ganz  alltagliche  Ballade  von  Alice  Ekert-Roth- 
holz.  —  Donnerataff.  Berlin  17.30:  Leo  Lama  liest  —  19.35:  Die  FranzSsische  Re- 
volution und  das  alte  Europa,  Prof.  Fritz  Hartung.  —  Langenberg  20,00i  Figaros 
Hochzeit  von  Mozart.  —  Mfinchen  20.30*.  Dantons  Tod  von  Btichner.  —  Frcitstjr. 
Leipzig  17.30:  Die  Wahrhett  ttber  Nietzsche,  Ludwig  Marcuse.  —  Berlin  17.40:  Prof. 
Otto  Hoetsch  spricht  uber  ..Der  rote  Handel  lockt"  von  Knickerbocker.  —  Sonn- 
abend. Berlin  16.30:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Franz  Blei.  —Frankfurt  18.40:  Die 
heutige  Lage  des  Schriftstellers,  Hermynia  zur  Muhlen,  Alfons  Paquet,  Otto  Schwa- 
nn und  Ernst  Schoen.  —  Leipzig  20.00:  Egmont  von  Goethe.  —  Breslau  21.10: 
Claire  Waldoff  singt  Chansons.  —  Sonniag:  Leipzig  18.C0:  Der  Unbekannte  von 
Collegnd  (der  Fall  Bruneri-Canella),  Horspiel  von  Walther  Franke-Ruta. 

653 


Antworten 


Peter  Lennis-  Sie  schreiben:  „In  einer  k&tholischen  Kirche  in 
Schoneberg  stcht  gleich  nebcn  dem  Weihbecken  ein  Tisch  mil  frisch 
gebackener  katholischer  Literatur.  Da  ist  eine  Broschiire  mit  dem 
klagenden  Titel:  pollen  die  Wiegen  leer  bleiben?'  Mit  sanftem 
Pathos  setzt  sich  hier  der  Georg  Plohowich  fur  den  vielumstrittenen 
Paragraphen  218  ein.  ,Du  sollst  nicht  toten!  Horst  du  es,  Frau  und 
werdende  Mutter?!'...  ,Sotl  der  Fluch  der  Stinde,  der  taglichen  Ver- 
brechen  in  Erfiillung  gehen  und  ein  Volk,  eine  ganze  Rasse  vernichtet 
werden?1  steht  am  Ende  des  ersten  Kapitels.  An  alien  gegebenen 
Tatsachen  gehen  diese  Frommen  voriiber.  ,Wie  gleichgiiltig,  ja  aus  ihren 
geschminkten,  vom  Laster  gezeichneten  oder  von  Gier  gebrandmarkten 
Gesichtern  grinsend,  lassen  diese  Mutter  furchtbaren  Mord  gesche- 
heh.'  MuB  man  dem  frommen  Mann  wirklich  erst  erklaren:  Die  Ge- 
sichter  dieser  Tausenden  von  Arbeiter-  und  Biirgerfrauen,  die  keinen 
Platz  mehr  im  Zimmer  und  kein  Brot  im  Hause  haben,  um  noch  ein 
Kind  zu  ernahren,  sind  nicht  vom  , Laster'  gezetchnet,  wie  sich  der 
kleine  Pater  Moritz  das  vorstellt,  sondern  vom  Hunger!  Wichtiger  als 
daB  ,die  Wiegen-  leer  sind'  ist  heute,  daB  der  Brotkorb  leer  ist.  Aber 
auch  dafiir  hat  der  Autor  einen  Trost:  Er  ruft  uns  einen  weisen  Satz 
aus  dem  Volksmund  zu:  ,Schickt  der  Herr  das  Haserl,  gibt  er  auch 
das  Graserl!'  Aber  Hochwiirden  wiirden  wohl  seinen  Volks-Mund  und 
Nase  aufsperren,  wenn  man  ihn  bate,  all  die  satt  zu  machen,  die  kein 
,Graseii'  haben.  Als  letzten  Ausweg  fiir  die,  die  schon  sechs  oder  sieben 
Kinder  haben  und  ,ein  achtes  wirklich  nicht  mehr  ernahren  konnen',  rat 
er  Enthaltsamkeit.  (Unbegreiflich  ist  es  nur,  warum  der,  in  dessen 
Naracn  dieser  Ei frige  zu  sprechen  glaubt,  nicht  gleich  die  Halfte  aller 
Menschen  als  Eunuchen  geschaffen  hat.)  In  einem  andern  Buch  am 
gleichen  Platze  ,Die  scheme  Zeit  der  jungen  Liebe,  Fur  Jungmannen!' 
fin  den  wir  weitere  Anleitungen  zu  diesem  Thema,  ,Von  der  Stirne 
heiB  rinnen  muB  der  SchweiB,  soil  das  Werk  den  ^leister  loben.  — 
Aber  ganze  Arbeit  gemacht!  Dem  Geschlechtstrieb  nichts  nachgeben! 
Gebandigt  muB  er  werden  wie  ein  feuriges  Rofi!'  Sicher  ware  es  dem 
StH.des  Autors  dienlicher  gewesen,  er  hatte  sich  mehr  der  Bandigung 
seines  allzu  feurigen  Pegasus  gewidmet  als  dem  des  Geschlechtstrie- 
bes.  Doch  das  ist  seine  Sache.  Aber:  ,Da  sind  Manner  —  wenn  ich 
sie  so  nennen  darf  —  die  der  Menschheit  vorheulen:  Es  geht  nicht, 
der  Trieb  ist  zu  machtig.  Fauler  Zauber.  So  denken  Sklaven,  so  reden 
Wichte,  so  quaken  solche,  denen  es  zu  gut  im  Sumpf  gefallt.  Wenn 
die  auf  wahres  Menschentum  verzichten  wollen,  mogen  sie  es  verant- 
worten.  Aber  eins  verbitten  wir  uns,  daB  sie  der  Jugend  vorlugen, 
alle  waren  so  wie  sie,  es  gabe  keine  Manner  mehr,  die  vor  dem  Gotzen 
Geschlechtstrieb  aufrechtstanden',  so  schreibt  Stephan  Berghoff,  der 
es  den  Jungmannen  wahrscheinlich  vorgeraacht  hat,  das  feurige  RoB 
zu  bandigen.  Das  ist  die  Literatur  am  Weihbecken.  Schwarzeste  Re- 
aktion.  Die  Krafte  der  Jugend  sollen  von  den  lebendigen  Fragen 
ihrer  Daseins  abgelenkt  und  im  Kampfe  mit  dem  eignen  Organismus 
verzehrt  werden,  Herr  Berghoff  ist  ein  stumperhafter  Skribent,  des- 
halb  enthiillt  er  offen  die  Absichten:  .Mochtest  du,1  so  fragt  er  den, 
der  nicht  bis  zur  Ehe  gewartet  hat,  .mochtest  du  dann  als  gemeiner 
Revolutionar,  als  ehrloser  Verfiihrer  dastehen?'  " 

Manuskripte  sind  qui  an  die  Redaction  dor  Weltbunna,  CharLottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  soost  keine  Ruck  send  ung  erfoljjeo  kann. 
Das  Auf  fuhrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  de*  Film*,  die"  muslk- 
mecttanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radlovortragen 
bleiben   fur   alle  in  der  Weltbtthne  enckeinenden  Beltrage  auidruckltcH  vorbehalten. 

Die  Weltbuhac  wurde  begriindet  voo  Siegfried  Jacobsoba  und  wird  voo  Carl  v.  Oasietzky 
untei  Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  geleitet.  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ossietzky,    Berlin; 

Vertag  der   Weltbuhne.  Siegfried    lacobsohn  4  Co*  Charlottenborg. 

Telephon     C  1.  Steinpfatz  7757    -  Postscheckkonto:  Berlin  119  5a 
Baakkonto      Daraistiidter    u.    Nationalbank,       Deposttenkasse    Charlottenburar,     tCantatr.    112 


XXVII.  Jahrgang  3.  November  1031  Namner  44 

Billow  und  Schleicher  von  cari  v.  ossietzky 

MaoDonalds  trauriger  Sieg  iiber  seine  eigne  Partei  sollte 
"*  trotz  seinem  unerhorten  Umfang  den  Blick  fiir  die  wirk- 
liche  Bedeutung  der  Geschehnisse  nicht  verdunkeln.  Der  Eng- 
lander  beschwert  sich  in  der  Politik  nicht  mit  Prinzipien,  er 
verheiratet  sich  nicht  mit  einer  Partei,  er  erwartet  von  ihr 
keine  Stillung  metaphysischer  Sehnsucht  sondern  nur  die  Lo- 
sung  einiger  besonders  dringlicher  Fragen.  Obrigens  sind  die 
englischen  Tories  nicht  unsrer  deutschen  Reaktion  gleichzu- 
stellen.  Neben  unsern  staatsparteilichen  Nachtlichtern  nimmt 
sich  der  bornierteste  Ulsterjunker  noch  immer  wie  ein  rot- 
leuchtendes  Fanal  der  Demokratie  aus.  So  diirfte  die  innere 
Wandlung,  die  England  jetzt  erfahren  wird,  kaum  erheblich 
sein.  Desto  lebendiger  aber  wird  seine  AuBenpolitik  werden, 
desto  intensiver  seine  Wirtschaftspolitik  in  Form  von  Zollen 
und  Kampf  gegen  den  Export  -andrer  Industrielander. 

Es  eriibrigt  sich,  die  Frage  aufzuwerfen,  wie  wir  dagegen 
geriistet  sind.  Unsre  Wirtschaft  ist  nicht  viel  mehr  als  eine 
redselige  Desorganisation,  die  den  Sackel  des  Staates  fiir  sich 
beansprucht  und  ihre  Pleiten  auf  die  Gesamtheit  abwalzt.  Und 
unsre  AuBenpolitik?  Zur  Zeit  ruht  sie  bei  dem  Reichskanzler 
hochstselbst,  der  sich  hier  plotzlich  auf  ein  Terrain  versetzt 
sieht,  wo  es  keine  Notverordnungen  gibt, 

Der  Ausgang  der  washingtoner  Besprechungen  zwischen 
Hoover  und  Laval  hat  selbst  unsern  argsten  Schwarmern  fiir 
auBenpolitische  Aktivitat  fiir  einen  Moment  den  Atem  stocken 
lassen.  Frankreich  hat  nicht  weniger  umfassend  gesiegt  als  die 
englischen  Tories.  Es  wiirde  Herbert  Hoover  gewiB  nicht  miB- 
iallen,  so  schrieb  Jules  Sauerwein  beim  Beginn  der  Be- 
sprechungen, „von  seinem  Sinai  des  WeiBen  Hauses  ein  neues 
Evangelium  der  Abriistung  oder  der  Reparationen  zu  offen- 
baren."  Hatte  Hoover  solches  vor,  so  sind  die  Tafeln  noch 
vor  der  Verkiindung  zerbrochen.  Frankreich  hat  von  seinem 
Verlangen  nach  Sicherheit  nichts  preisgegeben.  Frankreich  hat 
durchgesetzt,  daB  vor  Februar  nachsten  Jahres  nicht  iiber  die 
Abriistung  diskutiert  wird.  Und  Frankreich,  das  iiber  das 
starke  Druckmittel  der  kurzfristigen  Kredite  verfiigt,  wird  auf 
diese  Weise  sogar  der  ausschlaggebende  Drahtzieher  der 
amerikanischen  Finanzpolitik. 

Deutschland  steht  mit  Frankreich  allein,  das  ist  die  Moral 
von  der  Geschichte.  Das  ist  die  diirre  Realitat,  die  jetzt  bald 
auch  die  Diimmsten  begreif en  sollten.  Das  finanzielle  und  macht- 
politische  Obergewicht  Frankreichs  kann  nicht  mehr  bezweifelt 
werden.  Aber. auch  Frankreich  betrachtet  seine  neue  Prapon- 
deranz  nicht  ohne  Nachdenklichkeit.  Sauerwein,  noch  immer 
der  zuverlassigste  Offiziosus,  schreibt  in  dem  obenerwahnten 
Artikel:  „Da  aber  Frankreich  stark  ist,  muB  es  auch  vernunftig 
sein.  Es  weiB  nicht,  was  nach  einigen  Monaten  gesche'hen 
kann.  Was  ist  die  moralische,  militarische  und  finanzielle 
Macht,  wenn  man  sie  in  der  heutigen  Epoche  dahinschmelzen 

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sieht,  wie  man  in  den  letztcn  Tagen  den  Abstieg  dcs  Sterlings 
oder  die  Lahmlegung  der  englischen  Flotte  durch  ekie  Meuterei 
gesehen  hat.  Das  sind  Ereignisse,  die  zur  Lehre  dienen 
konnen/' 

Da  aber  Deutschland  schwach  ist,  hat  es  noch  mehr  Grund, 
verniinftig  zu  sein.  Vernunft  heiBMn  diesem  Falle:  freiwilliger 
Verzicht  auf  das,  was  auch  nicht  mit  Gewalt  wiedergeholt 
werden  kann.  Der  Reichskanzler  Briining  hat  zweimal  in 
diesem  Jahre  dem  franzosischen  Ministerprasidenten  gegenuber 
erklart,  daB  eine  Garantie  fur  Deutschlands  Haltung  in  den 
nachsten  Jahren  nicht  iibernommen  werden  konnte.  Ob  Frank- 
reich  nicht  in  absehbarer  Zeit  einmal  in  direkter  Aussprache 
iiber  die  Revision  der  Friedensvertrage  mit  sich  reden  lassen 
wirdt  steht  dahin.  Aber  eines  ist  gewiB:  niemals  wird  Frank- 
reich  das  unter  dem  Druck  des  deutschen  Nationalismus  tun, 
niemals  unter  der  Vormundschaft  eines  Dritten. 

Die  deutschen  Nationalisten  haben  es  als  einen  Erfolg  be- 
jubelt,  daB  der  bissige  alte  Borah  dem  franzosischen  Gast  ein 
paar  Unliebenswiirdigkeiten  ins  Gesicht  sagte  und  fur  eine  Re- 
vision der  deutschen  Ostgrenzen  eintrat.  Der  Senator  von 
Idaho  ist  ein  erprobter  alter  Faustkampfer,  doch  diesmal  hat 
er  nicht  den  Gegner  getroffen  sondern  nur  das  eigne  Porzellan. 
Ohne  das  Intermezzo  mit  Borah  waren  die  Besprechungen 
wahrscheinlich  ergebnisvoller  ausgefallen.  Der  amerikanische 
Kapi talis mus,  an  der  franzosischen  Leine  vergeblich  zerrend, 
versucht,  die  territorialen  Streitigkeiten  Europas  auf  seine 
Weise  auszunutzen.  Wir  sollten  es  in  den  zwolf  Jahren  seit 
1919  endlich  erfahren  haben,  daB  die  schonen  Worte  fur  das 
deutsche  Recht,  von  den  jeweiligen  Gegnern  Frankreichs  ge- 
braucht,  nicht  mehr  bedeuten  alsSpekulation  auf  deutsche  Lands- 
knechtsdienste,  Auch  Mussolini  schreit  wieder  nach  Revision 
derVertrage,  Warum  beginnt  er  nicht  in  Sudtirol  zu  revidieren? 
Warum  hat  Italien  vor  alien  andern  und  am  heftigsten  der  Zoll- 
union  widersprochen?  Borah  gibt  den  polnischen  Korridor  zu- 
riick,  englische  Politiker  versprechen  Kolonien  als  Belohnung 
fur  deutsche  Gefaliigkeiten.     Timeo  danaos  et   dona  ferentes! 

In  dieser  Schicksalsstunde  ist  Herr  Staatssekretar  v.  Biilow 
der  Leiter  des  Auswartigen  Amtes.  Herr  v,  Biilow  hat  es 
durchgesetzt,  daB  Herr  Ministerialdirektor  Ritter,  der  Vater 
der  Zollunion,  zum  Generalsekretar  der  deutsch-franzosischen 
Wirtschaftsverhandlungen  ernannt  worden  ist,  durch  diese  Per- 
sonenwahl  schon  seine  Sympathie  fiir  die  Vertreter  von  akti- 
vistischen  Improvisationen  unterstreichend.  Herr  v.  Biilow 
hat  als  Dirigent  der  Volkerbundsabteilung  im  Auswarti- 
gen Amt  vor  neun  Jahren  ein  dickes,  kompilatorisches 
Buch  iiber  den  Volkerbund  geschrieben,  das  in  seinen 
hauptsachlichen  Pointen  sich  als  ein  einziges  Pamphlet 
gegen  den  Volkerbund  darstellt  (B.  W.  v.  Biilow:  Der 
Versailler  Volkerbund.  W.  Kohlhammer,  Stuttgart  1923.) 
Dieser  Betreuer  unsrer  genfer  Angelegenheiten  von  damals 
konstatierte,  daB  es  keinen  groBern  Widersinn  gabe,  „als  wenn 
das  ungliickliche,  betrogene  undr  vergewaltigte  Deutschland 
seine  Haltung  zum  Volkerbund  von  Traumgesichten  und  ver- 

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schwommenen  Ideal-en  bestimmen  liefle,"  deshalb  warnt  er 
audi  vor  der  Mitgliedschaft  in  einem  so  suspekten  Verein: 

Der  Versailler  Volkerbund  hat  vielleicht  eine  groBe  Zukunft. 
Moglicherweise  steht  er  aber  auch  an  der  Schwelle  seines  letzten  Le- 
bensjahres.  Solange  er  lebt,  sieht  sich  Deutschland  dauernd  vor  der 
Frage,  ob  und  wann  es  eintreten  soli.  1st  es  Mitglied  geworden,  so 
steht  es  wieder  vor.  der  Frage,  ob  es  dies  bleiben  oder  austreten  soil. 
Standig  muB  man  sich  deshalb  daruber  klar  sein,  was  der  Volker- 
bund wirklich  ist  und  was  er  zu  leisten  vermag.  Wir  mussen  bereit 
sein,  bei  unserm  Eintritt  dieselben  Opfer  an  Unabhangigkeit  und 
Souveranitat  zu  bringen,  wie  die  andern  Staaten  auch  —  aber  nicht 
mehr.  Niemals  durfen  wir  als  Preis  der  Aufnahme  auf  irgend  eine 
Moglichkeit  verzichten,  unsre  Freiheit  wieder  zu  erlangen  und  den 
Versailler  Vertrag  mit  friedlichen  Mitteln  zu  revidieren.  Wir  mussen 
unser  Eintrittsgeld  so  bemessen,  daB  wir  seinen  Verlust  — r  wenn  der 
Erfolg  ausbleibt  —  verschmerzen  konnen.  Denn  schlieBlich  ist  dieser 
Volkerbund  nur  ein  Versuch, 

Man  mochte  auch  fragen,  ob  der  heutige  Staatssekretar, 
in  dessen  Handen  das  kiinftige  Schicksal  der  deutsch-franzo- 
sischen  Beziehungen  liegt,  seine  damalige  Meinung  iiberFrank- 
reich  noch  immer  auf  reenter  halt: 

Die  Lehren  der  Geschichte  scheinen  ganz  vergessen.  Auch  die 
Versammlung  in  Genf  wuBte  nicht  mehr,  welches  die  Traditionen 
Frankreichs  von  jeher  gewesen  sind.  Sie  hat  noch  nicht  erkannt,  daB 
wir  jetzt  eine  Wiederkehr  der  Zeiten  Ludwigs  XIV.  und  der  beiden 
Napoleon  erleben.  Jahrelang  ist  der  Welt  der  Popanz  des  deut- 
schen  Militarismus  vorgehalten  worden,  so  daB  sie  ihn  noch  heute 
fiirchtet.  GewiB  war  die  Politik  Bismarcks  hart,  und  die  Wilhelms  II. 
unbestandig  und  larmend.  Deutschland  hat  aber,  solange  es  stark 
war,  den  franzosischen  Imperialisms  niedergehalten.  In  dem  Men- 
schenalter  nach  dem  Frankfurter  Frieden  lebtc  es  sich  in  Europa  ganz 
gut  und  friedlich.  Seitdem  die  Welt  vom  „deutschen  Drucke"  befreit 
wurde,  ist  sie  dem  Terror  des  franzosischen  Militarismus  ausgesetzt. 
Der  Tag  ist  nicht  mehr  allzu  fern,  an  dem  Europa  einsehen  wird,  daB 
es  einen  schlimmen  Tausch  gemacht  hat.  Ein  der  Deutschfreundlich- 
keit  ganz  unverdachtiger  berliner  Diplomat  faBte  1922  diese  Erkennt- 
nis  in  die  Worte  zusammen:  Les  Francais,  ce  sont  Ies  boches  de 
demain. 

Gut,  nehmen  wir  an,  das  waren  alles  vergangene  Dinge,  und 
Herr  v.  Biilow  hatte  am  Tag  von  Locarno  oder  am  Tag  der 
Rheinlandraumung  mit  sich  gerungen,  ob  es  nicht  besser 
sei,  dies  iiberholte  Buch  einstampfen  zu  lassen,  und  er  hatte  sich 
damals  entschlossen,  es  nur  als  Beleg  dafiir  zu  erhalten,  was  f iir 
Verwiistung  zeitliche  Wirren  in  einem  sonst  gut  aufgeraumten 
Kopfe  anrichten  konnen,  nehmen  wir  das  zugunsten  des  Herrn 
Verfassers  an  —  ein  Grundstoff  bleibt  doch,  der  den  Wandel 
der  Zeitlaufte  iiberdauert  und  aus  dem  jede  neue  Meinung  sich 
bildet.  Das  ist  in  diese m  Fall  die  erhabene  Anschauung,  die 
Herr  v.  Biilow  von  dem  diplomatischen  Beruf  bekundet: 

Sollte  iibrigens  einmal  Deutschland  in  dieser  Versammlung  ver- 
treten  sein,  so  wird  es  gut  tun,  einen  Vertreter  zu  entsenden,  der  ein 
Kenner  der  Feindbundpsychologie  und  tiichtiger  Phrasenschmied  ist. 
Sonst  wiirde  er  unliebsam  auf  fallen.  Seit  der  Glanzzeit  der  Kriegs- 
propaganda  gehort  der  Heiligenschein  zu  den  Requisiten  der  auswar- 
tigen  Politik.  Der  Diplomat  wiirde  in  Genf  ebensowenig  daran  denken, 
ihn  abzulegen,  wie  seinen  Kragen  oder  seine  Beinkleider  auszuziehen. 
Herr  v.  Biilow  mag  ruhig  die  Beinkleider  anbehalten,  man  kann 
mit  dem  Gesicht  ahnliche  Wirkungen  erzielen.    Aber  begreift 

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man  vor  diesem  Bekenntnis  eines  deutschen  Diplomatcn  nicht 
endlich,  warum  unsre  AuBenpolitik,  selbst  wenn  sic,  mit  Feind- 
bundpsychologie  und  Phrasen  rcichlick  ausgestattet,  hinaus- 
gezogen  ist,  urn  moralische  Eroberungen  zu  machen,  jcdcsmal 
zerbeult   und   zerschunden   zuriickgcschleppt    werden    muBte? 


Ob  die  auBenpolitische  Verstandigung  bei  Hcrrn  v.  Biilow 
in  besten  Handen  ist,  bleibe  dahingestellt,  abcr  die  innenpoli- 
tische  Verstandigung  macht  rapide  Fortschritte.  Es  gibt  jetzt 
ein  Chequers  nach  dem  andern.  Am  Tage  vor  Harzburg  er- 
halt  Adolf  Hitler  Audienz  beim  Reichsprasidenten,  und  nun 
stellt  es  sich  heraus,  daB  der  nationalsozialistische  Fiihrer  in- 
zwischen  auch  den  General  von  Schleicher  zweimal  besucht 
hat.  Herr  von  Schleicher  ist  der  groBmachtige  Mann  im  Reichs- 
wehrministerium,  wahrscheinlich  auch  bald  im  Reichsinnen- 
ministerium,  falls  Herr  Groner  auch  weiterhin  dessen  Ressort- 
politik  auf  die  Standortaltesten  stiitzen  sollte.  Das  Reichs- 
wehrministerium  erklart  mit  der  ihm  eignen  militarischen 
Gradheit,  es  habe  sich  bei  der  Zusammenkunft  nur  urn  dienst- 
liche  Gesprache  gehandelt.  Hitler  sei  gefragt  worden,  ob  seit 
dem  ulmer  ProzeB  noch  irgendwelche  Versuche  zur  politischen 
Beeinflussung  der  Reichswehr  gemacht  worden  sind.  Das  habe 
Hitler  verneint  und  zugleich  betont,  er  wiirde  niemanden  in 
seiner  Organisation  und  Partei  dulden,  der  sich  irgendwie 
illegal  betatige.  Es  war,  wie  gesagt,  nur  eine  angenchme 
Unterhaltung  beim  Fruhstiick,  deshaib  verbot  Herrn  von 
Schleicher,  dem  Gastgeber,  die  Hofiichkeit,  starker  pointiert 
zu  fragen  oder  etwa  das  Gesprach  auf  die  bewufiten  Kopfe  zu 
bringen,  die  doch  gewiB  etwas  aiis  der  Legalitat  rollen.  Ein  so 
erfahrener  Politikus  wie  der  Herr  General  weiB  auch,  daB  Hit- 
ler keine  giiltigen  Legalitatsbeteuerungen  abgeben  kann,  denn 
Hitler  selbst  ist  doch  die  verkorpertc  Iliegalitat,  namlich  ein 
Auslander,  der  sich  politisch  betatigt.  Was  ist  sonst  ein  Nicht- 
naturalisierter,  der  sich  aktiv  und  gerauschvoll  in  die  Ge- 
schicke  des  Landes  mengt,  das  ihm  Gastfreundschaft  gewahrt? 
Ein  Objekt  der  Fremdenpolizei,  mehr  nicht.  Herr  von  Schlei- 
cher ist  ein  viel  zu  liebenswiirdiger  Wirt,  um  den  notablen 
Auslander,  der  bei  ihm  speiste,  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
und  man  kann  ihn  nicht  einmal  tad  ein,  denn  andre  haben  es 
auch  nicht  getan.  Sollten  aber  die  Besuche  Hitlers  bei  Herrn  von 
Schleicher  nur  die  bessere  Urteilsbildung  durch  personliche 
Bekanntschaft  ermoglichen,  denn,  wie  behauptet  wird,  hat  auch 
Severing  da  von  gewuBt,  wobei  allerdings  verschwiegen  wird, 
ob  durch  direkte  Mitteilung  oder  durch  die  Politische  Polizei, 
dann  muB  auch  gefragt  werden,  wann  endlich  der  Besuch 
von  Heinz  Neumann  fallig  wird.  Denn  auch  Herr  Neumann  hat 
noch  von  seiner  chinesischen  Tatigkeit  her  die  beste  Ubung 
im  Umgang  mit  politisierenden  Generalen,  und  auBerdem  ist 
er,  im  Gegensatz  zu  Hitler,  einwandfreier  Reichsdeutscher. 
Bei  Go  ebb  els  im  ,  An  griff  macht  man  sich  natiirlich  iiber 
harmlose  Deutungsversuche  der  Besprechungen  zwischen  Hit- 
ler und  Schleicher  lustig.  „0berall  muB  man  sich  mit  der 
unumstoBlichen   Tatsache    nahe   bevjorstehenden   Veranderun- 

658 


gen  vertraut  machen/'  Die  ,Deutsche  Allgemeine  Zeitung*  ist 
davon  weniger  entziickt,  sie  wittert  eine  Intrige  zur  Zerset- 
zung  des  Bundnisses  Hugenberg-Hitler,  aber  auch  sie  meint, 
daft  beim  Zentrum  Starke  Bediirfnisse  mitwirken,  den  „real- 
politischen  Tatsachen  der  Rechtsentwicklung  im  Volke  in 
einer  noch  zu  bestimmenden  Form  Rechnung  zu  tragen."  Da£ 
Brtining  das  Zusammengehen  mit  Hitler  wiinscht,  hat  er  im 
Reichstag  off  en  zugestanden.  DaB  er  aber  die  diplomatische  Vor- 
bereitung  des  kommenden  Bundnisses  den  Reichswehrgenera- 
len  iiberlaBt,  ist  eine  selbstzerstorerische  Torheit,  die  tins 
kal't  lieBe,  wenn  es  sich  dabei  nur  urn  Bnining  handelte. 

So  nimmt  das  Geschick  seinen  Lauf,  so  frtihstiicken  sich 
die  bisher  feindlichen  Parteien  immer  naher  heran,  Bald  wird 
ganz  Deutschland,  zum  Tranchieren  fertig,  vor  ihnen  liegen. 
Die  armen  Sozialdemokraten,  deren  Zentralorgan  der  unerbitt- 
Iiche  Groner  jetzt  gerichtlich  verfolgen  laBt,  sehen  der  Ent- 
wicklung  beunruhigt  aber  tolerant  zu.  Der  gebildete  Doktor 
Breitscheid  konnte  jetzt  Shakespeare  zitieren:  „Juckend  sagt 
mein  Daumen  mir,  etwas  Boses  naht  sich  hier .  . ." 


Internationale  Gesprache  Hanns-Erkh  Kaminski 

p^as   Ergebnis  der   Aussprache   zwischen  Hoover   und   Laval 

hat  die  Welt  urn  eine  Enttauschung  reicher  gemacht.  Jetzt 
wird  noch  Grandi  nach  Washington  fahren.  Und  damit  wird 
die  Period e  der  internationalen  Gesprache  hoffentlich  zu  Ende 
sein,  und  die  Regierungen  werden  anfangen,  ernsthaft  zu  ver- 
handeln. 

DaB  die  Besuche,  die  sich  die  Minister  der  verschiedenen 
Lander  in  den  letzten  Monaten  gemacht  haben,  erfolgreich  ge- 
wesen  waren,  wird  niemand  behaupten  konnen/  Nirgends  isf 
ein  Programm  oder  auch  nur  eine  Idee  sichtbar  geworden.  Die 
Communiques  wiederholten  nur  mit  wichtigtuerischer  Eintonig- 
keit:  die  Staatsmanner  hatten  eingesehen,  daB  die  Krise  eine 
Weltkrise  sei  und  daB  sie  allein  durch  eine  gemeinsame  An- 
strengung  der  ganzen  Welt  behoben  werden  konne,  Eine  Fest- 
stellung,  urn  derentwillen  ja  nun  eigentlich  kein  Mensch  mehr 
von  einer  Hauptstadt  in  die  andre  zu  fahren  braucht. 

Zum  Trost  wtirde  den  Volkern  jedes  Mai  mitgeteilt,  die 
Minister  hatten  sich  in  freundschaftlichem  Geist  unterhalten 
und  als  unsichtbarer  Schutzengel  sei  das  Vertrauen  dabei- 
gewesen,  das  die  Voraussetzung  kiinftiger  Zusammenarbeit 
bilde.  Leider  ist  es  schon  ein  biBchen  spat,  um  Voraussetzun- 
gen  zu  schaffen. 

Diese  Besuche,  die  einen  fahlen  Festglanz  iiber  verelen- 
dcte  Lander  warfen,  waren  gut  gewesen  fur  ruhige  Zeiten.  Es 
ist  gewiB  ein  Vorieil,  wenn  sich  die  Minister  und  erst  recht 
die  Staatssekretare,  die  bleiben,  wahrend  ihre  Chefs  wechseln, 
kennen  lernen.  Gute  Bekannte  verhandeln  leichter  miteinan- 
der  als  Fremde,  die  die  Furcht,  jedes  Wort  des  Partners  konnte 
eine  Falle  sein,  zu  vorsichtiger  Zuruckhaltung  notigi  Aber 
solche  wertvollen  Freundschaften  konnten  schon  Iruher  in 
Genf   geschlossen  werden.     Sagten   uns   nicht   alle   Offiziosen, 

2  659 


diese  personliche  Fiihlungnahme  sei  die  beste  und  sogar  die 
einzige  Rechtfertigung  des  Volkerbundes?  In  jedem  Fall  ist 
jetzt  keinc  Zeit  mehr  fur  die  Schaffung  ciner  besondern  Atmo- 
sphare.  Ob  die  Atmosphare  nun  gut  odcr  schlccht  ist,  die 
Krise  erfordert  konkrete  MaBnahmen.  Und  tatsachlich  woll- 
ten  ja  auch  die  reisenden  Minister  mehr  als  Hoflichkeiten  mit 
ihren   Kollegen  austauschen. 

Wenn  all  ihre  Zusammenkunrte  ohne  positive  Ergebnisse 
geblieben  sind,  so  liegt  das  auch  keineswegs  daran,  daB  es 
ihnen  an  gutem  Willen  fehlte,  Nicht  der  Wille,  die  Methode 
der  neuen  Wochenenddiplomatie  hat  versagt. 

Es  wirkt  freilich  sympathised  wenn  Minister  glauben,  sie 
brauchten  sich  mit  dem  Nachbarn  nur  einmal  auszusprechen, 
damit  alle  Streitigkeiten  ein  Ende  hatten.  Nur  fiihrt  dieser 
naive  Optimismus  meist  zu  unnotigem  Zeitverlust  und  bereitet 
den  Volkern  Enttauschungen,  die  schmerzlich  sind,  doppelt 
schmerzlich  in  einer  Zeit  wie  dieser,  in  der  die  Hof fnung  sich 
an  jeden  Strohhalm  klammert. 

Entstanden  ist  die  neue  Diplomatic  aus  dem  berechtigten 
MiBtrauen  gegen  die  Berufsdiplomaten,  die  nicht  imstande  wa- 
ren,  den  Krieg  zu  verhindern,  und  der  Erfinder  der  neuen  Me- 
thode diirfte  wo'hl  Lloyd  George  sein,  der  allerdings  in  einem 
Land,  wo  die  Improvisation  ein  natidnales  Talent  ist,  eine  Art 
Genius  der  Improvisation  darstellt.  Die  Politik  der  KonEeren- 
zen  hat  jedoch  eine  Niederlage  nach  der  andern  erlitten,  Schon 
bei  den  Friedensverhandlungen  von  Brest-Litowsk,  wo  sich  die 
Vertreter  des  deutschen  Kaisers  bemiihten,  die  AlKiren  der 
Demokratie  zu  kopieren,  muBte  die  Otfentlichkeit  der  Ver- 
handlungen  bald  zugunsten  „privater  Zusammenkunfte1'  preis- 
gegeben  werden,  weil  offentliche  Verhandlungen  eben  wechsel- 
seitige  Deklamationen  tmd  nicht  Verhandlungen  sind.  In  Ver- 
sailles erlebte  dann  Wilson,  der  ein  Dilettant  und  ein  Doktri- 
nar  dazu  war,  sein  Fiasko,  und  auf  der  Konferenz  von  Genua 
muBte  Lloyd  George  selbst  die  Unzulanglichkeit  seiner  Methode 
erkennen,  Auch  der  Volkerbund,  der  urspriinglich  als  eine 
sich  periodisch  wiederholende  interna tionale  Konferenz  ge- 
dacht  war,  hat  sich  sehr  rasch.  zu  einer  altmodischen  Botschaf- 
terkonferenz  entwickelt,  auf  der  die  Regierungschefs  und  so- 
gar  die  AuBenminister  nur  die  Paradereden  fiir  die  Offentlich- 
keit   halten. 

Nachdem  jahrelang  die  Berufsdiplomatie  wieder  obenauf 
war,  haben  wir  nun  eine  Neuauflage  der  Amateurdiplomatie 
erlebt,  und  das  Resultat  ist  noch  klaglicher  als  in  den  Jahren, 
in  denen  die  Minister  der  Entente  unter  Fiihrung  Lloyd  Geor- 
ges alle  paar  Monate  in  einem  andern  Badeort  zusammen- 
kamen.  Jetzt  besuchten  sich  die  Mitglieder  der  verschiede- 
nen  Regierungen  in  ihren  Hauptstadten,  und  wenn  man  sieht, 
mit  welcher  Ignoranz  und  welchem  Dilettantismus  da  i,Ver- 
handlungen"  gefiihrt  wurden,  bekommt  man  beinahe  Sehnsucht 
nach  der  alten  Geheimdiplomatie, 

Bezeichnend  war  schon  die  Ankiindigung  „Wir  werden 
iiber  alles  sprechen'*,  die  all  diesen  Besuchen  vorausging.  In 
der  Tat,  man  hatte  nicht  einmal  ein  genaues  Programm  iiber 
die  Gegenstande  der  Unterhaltung  aufgestellt.    So  kam  es,  daB 

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Briining  nach  Rom  und  Grandi  nach  Berlin  rciste,  ohne  daB 
ein  Mensch  wuBte,  zu  welchem  Zweck.  So  kam  es,  daB  Laval 
vierzehn  Tage  unterwegs  war,  urn  schlieBlich  gemeinsam  mit 
Hoover  festzustellen,  daB  Amerika  zu  einem  SchuldennachfaB 
nur  tim  den  Preis  der  Abriistung  bereit  ist,  und  daB  Frankreich 
nur  abrtisten  will,  wcnn  es  durch  die  Zusage  amerikanischer 
Kriegshilfe  seine  Sicherheit  erhohen  kann,  was  seit  zwolf 
Jahren  bekannt  ist. 

Und  dann  der  Verlauf  dieser  Besuche;  feierlicher  Empfang, 
Kartenabgabe,  Friihstuck,  Besichtigung  der  lokalen  Sehenswiir- 
digkeiten,  Ausflug  ins  Griine,  groBes  Bankett  mit  Toasten  „auf 
das  Gedeihen  Ihres  schonen  Landes  und  der  hervorragenden 
Manner,  die  es  regieren".  Fiir  die  Verhandlungen  war  grade 
von  elf  bis  zwolf  und  von  vier  bis  sieben  Zeit,  denn  die 
Herren  muBten  .sich  ja  rechtzeitig  zum  Essen  umziehen.  Zwi- 
schendurch  aber  muBten  auch  noch  Gruppenaufnahmen  ge- 
macht  und  Interviews  gegeben  werden.  So  verliefen  friiher 
die  Staatsbesuche  der  Monarchen,  mit  dem  Unterschied  jedoch, 
daB  die  begleitenden  Minister  dabei  MuBe  fanden,  sich  unge- 
stort  auszuspre'chen,  wahrend  die  Konige  reprasentierten. 

Heutz^utage  ziehen  sich  die  Minister  zu  intimen  Unterhal- 
tungen  zuriick,  an  denen  nur  noch  die  Dolmetscher  und  even- 
tuell  der  Vorsitzende  des  feudalen  Klubs,  der  sein  Heim  zur 
Verfugung  gestellt  hat,  teilnehmen,  Wenn  es  hoch  kommt, 
wird  dabei  erwahnt,  welche  Gegensatze  nun  eigentlich  zu 
uberbriicken  sind,  und  dann  muB  noch  das  Communique  auf- 
gesetzt  werden,  wozu  mehr  Zeit  gebraucht  wird  als  fiir  die 
ganzen  sogenannten  Verhandlungen. 

Ich  bin  —  da  ich  an  dieser  Stelle  schreibe,  brauche  ich 
es  vielleicht  nicht  erst  zu  sag  en  —  kein  Verteidiger  der  Vor- 
kriegsdiplomatie.  Die  Routine  der  Berufsdiplomaten,  die,  nach 
einem  Wort  von  Bismarck,  nicht  mehr  als  „intelligente  Brief- 
trager"  sein  sollen,  reicht  in  groBen  Krisen  nicht  aus,  und  es 
ist  schon  richtig,  daB  sich  die  Minister  dann  selbst  an  den  Ver- 
handlungstisch  setzen.  Aber  bei  derartigen,  notwendigerweise 
kurzen  Zusammenkiinften  konnen  Verhandlungen  lediglich  ab- 
geschlossen  werden.     Zunachst  mussen  sie  vorberettet  werden. 

Es  ist  eben  nicht  so,  daB  die  Gegensatze  zwischen  den 
Staaten  nur  auf  MiBverstandnissen  beruhen,  die  dtirch  wohl- 
meinende  Leute  jeden  Augenblick  aus  der  Welt  geschafft  wer- 
den konnen.  Leider  sind  die  feindlichen  Interessen  und  die 
feindlichen  Ressentiments,  die  ebenfalls  eine  Realitat  sind,  in 
der  Welt  so  groB,  daB  an  eine  allgemeine  Losung  samtlicher 
Fragen  auch  nicht  im  entferntesten  zu  denken  ist.  Die  wich- 
tigste  Voraussetzung  fiir  internationale  Verhandlungen  ist 
darum,  unter  Vermeidung  alles  Prinzipiellen,  eine  Verstandi- 
gung  auf  konkreten,  eng  umgrenzten  Gebieten  zu  suchen. 

Besonders  fiir  Deutschland  ist  die  Situation  sehr  eindeu- 
tig.  Wir  brauchen  Geld,  und  Geld  kann  uns  nur  Frankreich 
geben.  Folglich  mufi  die  d^utsche  Regierung  die  franzosische 
fragen,  unter  welchen  Bedingungen  sie  dazu  bereit  ist.  Ober 
diese  Bedingungen  kann  man  dann  verhandeln,  Alles  iibrige 
ist  Zeitverltist  und  Leerlauf. 

661 


Der  Fall  des  Doktor  Engel  von  Alfred  a Pfei 

Anno  1920  lieB  sich  Doktor  Leo  Engel  als  praktischer  Arzt 
^^  in.  dem  Stadtchen  Neustadt  bei  Coburg  nieder.  Bei  der 
Landbevolkerung  war  cr  sehr  beliebt;  die  Sprechstunde  war 
bald  iiberfiillt.  Die  Kollegen  waren  ihm  nicht  gewogen.  Eines 
Tages  brach  das  Verhangnis  uber  ihn  herein. 

Fiinf  Jahre  ist  es  her,  daB  die  Bauernmagd  Maria  W.  ihre 
Stellung  kiindigte,  weil  der  Dienstherr  ein  Verhaltnis  mit  ihr 
ankntipfen  wollte.  Als  sie  die  Ktindigung  aussprach,  erhielt 
sie  Priigel.  Sie  kam  in  eine  neue  Stellung  bei  einem  verheira- 
teten  Landwirt,  von  dem  sie  schwanger  wurde.  Als  dieser 
Zustand  ihr  heftige  Schmerzen  verursachte,  suchte  sie  zu- 
nachst  einen  Arzt  in  Monchrode  und  spater  einen  Sanitatsrat 
in  Oeslau  auf,  die  ihr  Arzheimittel  verordneten.  Die  Schmer- 
zen lieBen  nicht  nach.  Sie  ging  mit  ihrer  Schwester  zu  Doktor 
Engel  nach  Neustadt,  Etwa  vierzehn  Tage  spater  hatte  sie, 
wie  es  in  der  dortigen  Amtssprache  heiflt,  einen  Abgang  und 
wurde  in  das  Krankenhaus  Neustadt  gebracht.  Im  Fruhjahr 
1931  erstattete  sie  Strafanzeige  gegen  ihren  neuen  Dienstherrn, 
der  sie  geschlagen  hatte.  Der  fuchtelte  auf  der  Gendarmerie- 
station  wild  herum  und  rief:  Die  W.  solle  die  Gosche  halten, 
die  hat  zwei  Flaschen  ausgesoffen  und  ihre  Frucht  abtreiben 
lassen.  Darauf  laBt  sie  der  Station  mitteilen,  daB  sie  die  An- 
zeige  zuriicknehme.  Deswegen  miisse  sie  zur  Polizei  kommen, 
sagt  man  dem  *Boten.  An  einem  Sonntag  erscheint  sie.  Sie 
gibt  die  Rucknahme  der  Anzeige  zu  Protokoll  und  wendet  sich 
zum  Gehen.  Halt!  wie  steht  es  mit  der  Abtreibung?  Nichts 
ist  abgetriebenf  war  die  Antwort,  Auch  nicht  von  Doktor 
Engel?  Nein!  Man  sperrt  sie  ein.  (Nachher  in  der  Hauptver- 
handlung  entschuldigt  sich  der  Hauptwachtmeister,  daB  er  doch 
Mittag  habe  essen  miissen  und  was  habe  er  inzwischen  mit  der 
Magd  anfangen  sollen?)  Sie  gesteht  nicht.  Sie  wird  wieder  ein- 
gesperrt.  Herein,  heraus,  herein,  heraus.  SchlieBlich  legt  sie 
ein  Gestandnis  ab,  daB  der  Doktor  Engel  vor  fiinf  Jahren  einen 
MEingriff"  bei  ihr  gemacht  habe.  Aber  das  Gestandnis  niitzt 
nichts,  sie  wird  in  Haft  behalten. 

Bericht  der  Gendarmeriestation  an  den  Coburger  Staats- 
anwalt: 

Doktor  Engel  steht  diesseits  schon  langere  Zeit  im  Verdacht  der 
gewerbsmaBigen  Abtreibung.  Zurzeit  wird  auch  hier  ein  Fall  behan- 
delt,  bei  welchem  aber  noch  nicht  einwandfrei  feststeht,  ob  Engel  in 
Anspruch  genommen  wurde,  da  die  Polizei  schon  vor  dem  Eingriff 
Kenntnis  erhielt  und  sofort  vorbeugend  eingriff. 

Im  Falle  W.  ware  angezeigt,  wenn  die  Beschuldigte  in  Haft  ge- 
nommen wurde,  weil  Verdunklungsgefahr  gegeben  ist  und  die  Staats- 
anwaltschaft  entscheiden  diirfte,  ob  nicht  auch  Engel  sofort  in  Haft 
zu  nehmen  sei.  Zur  Aufklarung  weiterer  Falle  diirfte  unter  Beiziehung 
eines  Arztes,  eventuell  des  Landgerichtsarztes,  eine  Durchsuchung  nach 
Beweismaterialien  zuriickliegender  Falle  von  Erfolg  sein,  da  doch  die 
Polizei  in  den  facharztlichen  Ausdriicken  und  Aufzeichnungen  nicht 
bewandert  ist. 

Doktor  Engel  wird  zur  Polizei  zitiert,  Er  bestreitet  ent- 
schieden,    eine   Abtreibung   vorgenommen  zu  haben.     Er  habe 

662 


lediglich  das  Madchen  im  Krankenhaus  Neustadt  behandelt 
und  die  angewachsene  Nachgeburt  dort  entfernt.  Vorher  sei 
er  in  die  Wohnung  ihrcr  Schwester  gcrufen  worden  und  habc 
von  dort  die  Oberfuhrung  ins  Krankenhaus  angeordnet.  Friiher 
habe  er  einmal  Maria  W.  und  lange  Zeit  ihre  Schwester  wegen 
schwerer  Geschlechtskrankheiten  behandelt. 

Man  halt  ihn  fest  und  transportiert  ihn  nach  Coburg  ins 
Landgerichtsgefangnis.  Vollig  verzweifelt  sieht  er  seine 
Existenz  vernichtet  Er  hatte  kurz  vorher  bei  einem  Bank- 
zusammenbruch  sein  ganzes  Vermogen  verloren.  Auf  dem 
Transport  faselt  er  wirres  Zeug  durcheinander,  zum  Beispiel, 
ob  man  ihn  wohl  in  ein  dunkles  Loch  sperren  werde.  Hilfe- 
suchend  klammert  er  sich  an  den  Kriminalwachtmeister,  der 
ihn  vernommen  und  der  ihm  in  den  letzten  Wochen  wiederholt 
freundlich  erzahlt  hatte,  daB  der  §  218  sicherlich  bald  fallen 
werde.  Der  Wachtmeister  hatte  schon  der  W.  beim  Transport 
nach  Coburg  dringend  eingescharft,  daB  sie,  was  auch  kommen 
moge,  immer  bei  dem  Gestandnis  bleiben  solle,  das  sie  vor  ihm 
abgelegt  habe*  Und  ebenso  riet  er  Doktor  Engelt  er  moge  doch 
seine  Aussage  vor  dem  Richter  in  Obereinstimmung  mit  der- 
jenigen  der  W.  machen;  dann  liege  doch  keine  Verdunkelungs- 
gefahr  mehr  vor  und  man  miisse  ihn  laufen  lassen.  Nach  einer 
grausigen  Nacht  wird  Doktor  Engel  vom  Amtsrichter  vernom- 
men und  erklart  sofort,  daB  er  vor  fiinf  Jahren  bei  Maria  W. 
abgetrieben  habe.  Das  Gestandnis  hatte  nicht  den  erhofften 
Erfolg;  es  wird  Haftbefehl  verkundet.  Er  laBt  sich  wieder  vor- 
fiihren,  widerruft  sein  Gestandnis  und  erklart,  warum  er  ge- 
standen  habe.  Nutzlos.  Die  Voruntersuchung  wird  eroffnet. 
Die  Wohnung  wird  durchsucht;  die  Papiere  werden  beschlag- 
nahmt.  Der  Gerichtsarzt  erklart  im  Handumdrehen,  ohne 
irgendwelche  Untersuchung,  ohne  Riicksprache  mit  dem  ver- 
hafteten  Kollegen,  daB  in  achtundzwanzig  Fallen  der  Verdacht 
des  VerstoBes  gegen  den  §  218  vorliege.  Doktor  Engel  verfallt 
in  eine  schlimme  Haftpsychose,  Er  tobt,  er  klagt  an,  dann 
jammert  und  winselt  er,  kurz,  er  verliert  jegliche  Contenance. 
Es  folgt  die  typische  Voruntersuchung  des  modernen  deutschen 
Abtreibungsprozesses,  Der  Fall  Wolf-Kienle  en  miniature.  Das 
Geschlechtsleben  der  Patientinnen  wird  durchstobert.  Die 
Gendarmen  werden  in  Bewegung  gesetzt  und  vernehmen 
sporenklirrend  die  armen  Frauen,  die  zitternd  und  bebend  vor 
ihnen  sitzen.  Und  Doktor  Engel  tut  einen  Schritt,  den  nur  be- 
greifen  kann,  wer  weiB,  was  Untersuchungshaft  bedeutet.  Er 
bittet  den  Untersuchungsrichter,  ihm  Zellengenossen  zu  geben, 
da  er  die  Einsamkeit  einiach  nicht  mehr  ertragen  konne.  Seine 
Bitte  wird  erfiillt.  Man  legt  zwei  Gefangene  mit  langen  Vor- 
strafenregistern  zu  ihm,  und  die  berichten  dauernd  tiber  angeb- 
liche  Gestandnisse,  die  Engel  vor  ihnen  abgelegt  habe,  tiber 
seine  angeblichen  Versuche,  Kassiber  durch  sie  hinauszu- 
schmuggeln.  Sie  nahmen  Rache  fur  alles,  was  die  Justiz  ihnen 
je  angetan  hatte,  und  jagten  mit  ihren  Denunziationen  den  Unter- 
suchungsrichter und  die  Gendarmen  durch  den  Bezirk.  Im  Haft- 
prufungstermin,  der  nicht,  wie  es  das  Gesetz  vorschreibt,  vor 
dem  Untersuchungsrichter  stattfand,  sondern  gleich  vor  der 
vollbesetzten  Strafkammer,  wird  der  Haftentlassungsantrag  mit 

663 


kalter  Schultcr  abgelehnt,  wobei  die  Aussage  der  bciden 
Zellengenossen  cine  entscheidende  Rollc  spielt. 

In  diesem  Stadium  iibernahm  ich  die  Verteidigung  Engels. 
Ich  fand  einen  Mandanten  vor,  der  nur  ein  Wrack  seiner  selbst 
war,  Ich  fand  eine  einheitlich  geschlossene  Stimmung  gegen 
ihn  vor,  Ich  iand  ferner  eine  nationalsozialistische  Presse  vor, 
die  mit  Enthiillungen  iiber  das  Vorleben  des  Mandanten 
drohte.  Ein  wenig  Trost  schopfte  ich  nur  beim  Studium  der 
Akten,  die  mich  in  die  typische  Atmosphare  des  Abtreibungs- 
prozesses  versetzten  mit  seinem  Gemisch  von  Klatsch,  Denun- 
ziantentum,  Kollegenneid,  mit  den  graBlichen  Vernehmungen 
durch  ungeschulte  Gendarmen,  mit  Gestandnissen  und  Wider- 
rufen.  Es  war  aber  sofort  zu  erkennen,  da8  das  Gutachten 
des  Gerichtsarztes  unhaltbar  war,  und  die  Anklage  schrumpfte 
schlieBlich  auf  fiinf  Falle  zusammen.  Da  driickten  nun  im 
Spatsommer  dieses  Jahres  fiinf  bedauernswerte  Frauen,  eine 
Bauernmagdf  eine  Fabrikarbeiterin,  eine  Stutze,  eine  Korb- 
warenfabrikantentochter  und  eine  Stanzersehefrau  wegen  Ver- 
gehens  der  Abtreibung,  weiter  ein  Gast-  und  Landwirt  wegen 
Anstiftung,  und  eine  Giefiersehefrau  wegen  Beihilfe  das  Arm- 
siinderbankchen  des  coburger  Schwurgerichtssaales,  An  der 
Spitze  saB  Doktor  Engel^  dem  die  Anklage  vorwarf,  durch- 
schnittlich  Honorare  von  achtzig  bis  hundert  Mark  genommen 
zu  haben.  Die  Geschworenenbank  bestand  neben  den  drei 
Berufsrichtern  aus  einem  feekannten  nationalsozialistischen 
Fiihrer,  General  a.  D,,  aus  drei  katholischen  Biirgermeistern, 
aus  einem  Schreiner-  und  aus  einem  Backermeister.  Mit  un- 
durchdringlichen  Mienen  saBen  sie  drei  Tage  lang  da;  kein 
Laut  kam  wahrend  der  ganzen  Verhandlung  iiber  ihre  Lippen. 
Ebenso  schweigend  verhielten  sich  die  juristischen  Beisitzer, 
die  nur  eine  einzige  nebensachliche  Frage  stellten. 

Die  5ffentHchkeit  wurde  ausgeschlossen,  was  vollig  sinn- 
los  war,  da  man  tags  zuvor  die  Namen  der  angeklagten  Mad- 
chen  mit  genauer  Adresse  den  Zeitungen  bekanntgegeben 
hatte.  Vor  AusschluB  der  OHentlichkeit  fand  man  aber  noch 
Zeit,  hervorzuheben,  daB  mein  Mandant,  ehe  er,  naturalisiert 
worden  war,  auf  den  Vornamen  Chaim  gehort  habe.  Das  deckte 
sich  mit  den  drohenden  Andeutungen  der  Nazipresse.  Man 
muB  sich  vorstellen,  was  es  heiBt,  in  einer  Stadt,  in  der  die 
Fiihrer  der  Linken  nur  unter  VorsichtsmaBregeln  abends  aus- 
zugehen  wagen,  als  geborener  Ostjude  angeprangert  zu  werden. 

Am  ersten  Vormittag  der  Verhandlung  beschaf tigte  man 
sich  mit  den  Ablehnungsantragen,  die  die  Verteidigung  gegen 
diejenigen  Richter  vorgebracht  hattef  die  bereits  bei  dem 
Haitpriifungstermin  wichtige  untersuchungsrichterliche  Funk- 
tionen  ausgeiibt  hatten  und  daher  kraft  Gesetzes  von  der 
Mitwirkung  bei  der  Schwurgerichts verhandlung  ausgeschlbssen 
waren.  Bei  der  winzigen  Richterzahl  des  coburger  Land- 
gerichts,  wo  es  nur  eine  Strafkammer  gibt,  und  bei  der  da- 
durch  hervorgerufenen  besonders  engen  Milieuverbundenheit 
der  Justizfunktionare  ist  der  einmal  wahrend  der  Vorunter- 
suchuntf  und  zumal  nach  personlicher  Vernehmung  begriindete 
Verdacht  der  Schuld  des  Angeklagten,  zumal  bei  einem  fur  die 
dortigen  Verhaltnisse   sensationellen  Fall,  nicht   vor  der   Ge- 

664 


fahr  sicher,  am  laufenden  Band  weitergeleitet  zu  werden.  Die 
Antrage  wurden  abgelehnt,  Der  Verkehrston  zwischen  dem 
Vorsitzenden  und  der  Verteidigung  war  rauh  aber  herzlich. 
Der  Vorsitzende,  ein  alter,  sehr  knorriger  bajuvarischer  Herr, 
machte  aus  seinem  Herzen  keine  Mordergrube.  Bei  der  Ur- 
teilsverkiindung  sagte  er,  daB  es  sich  bei  diesem  ProzeB  darum 
gehandelt  habe,  alle  moralischen  Krafte  im  Volke  zu  heben 
und  nicht  darumf  den  niedrigen  Instinkten  recht  zu  geben. 
Jedenfalls  sei  die  Rechtsprechung  nicht  geneigt,  hierzu  eine 
Handhabe  zu  bieten.  Typisch  war  sein  Verhalten  bei  der  Ver- 
nehmung  verschiedener  Gendarmen,  die  die  Angeklagte  W. 
zum  Gestandnis  gebracht  hatten.  Der  zuerst  vernommene 
Gendarm  wollte  vor  Gericht  den  Eindruck  erwecken,  als  ob 
sie  ihr  Gestandnis  freiwillig  gemacht  habe.  Die  Angeklagte 
springt  erregt  auf  und  ruft;  ^Das  ist  nicht  wahrf  Sie  haben 
mich  zu  den  AuBerungen  gedrangt  und  mich  wiederholt  in  die 
Haftzelle  eingesperrt."  Der  Zeuge  gibt  zogernd  zu,  dafi  er  sie 
eingeschlossen  habe.  Hier  ist  selbst  der  Vorsitzende  verwun- 
dert  und  bezeichnet  das  als  eine  ganz  ungewohnliche  Hand- 
habung.  Daraui  erklart  der  Gendarm,  daB  er  doch  die  W.  aus- 
driioklich  darauf  aufmerksam  gemacht  habe,  sie  solle  die  Ein- 
sperrung  nicht  als  eine  Haft  betrachten.  Ich  bat,  die  Aussage 
zu  protokollieren.  Der  Vorsitzende  lehnt  den  Antrag  ab.  Eine 
strafbare  Handlurg  komme  nicht  in  Frage.  ,,Bei  uns  wird  halt 
derber  zugefaBt  als  bei  Ihnen,"  meinte  er  jovial.  Noch  nied- 
licher  wird  es  bei  der  Vernehmung  des  zweiten  Kriminalwacht- 
meisters,  vori  dem  Doktor  Engel  behauptet,  daB  er  sich  will- 
fahrig-  zum  Agenten  der  Vernichtungswunsche  seiner  Kon- 
kurrenz  gemacht  habe.  Er  muB  zugeben,  daB  er  schon  vpr  dem 
Verhor  Engels  die  Anregung  gegeben  habe,  ihn  zu  verhalten. 
Er  mtiB  zugeben,  daB  er  total  sinnlos  und  an  den  Haaren  her- 
beigezogen  eine  Anzeige  wegen  widernatiirlicher  Unzucht 
gegen  Doktor  Engel  erstattet  habe.  Er  muB  zugeben,  dafi  er 
ihm  zum  Gestandnis  vor  dem  Richter  geraten  habe.  Er  muB 
aber  auch  die  Frage  uber  sich  ergehen  lassen,  ob  gegen  ihn 
selbsl  ein  Disziplinarverfahren  schwebt,  in  dem  ihm  der  Vor- 
wurf  gemacht  wird,  in  andern  Fallen  unrichtige  Protokolle  an- 
gefertigt  zu  haben,  und  in  dem  auch  die  Behauptung  aufgestellt 
worden  ist,  daB  er  selbst  als  verheirateter  Mann  nachts  heim- 
lich  in  die  Wohnting  eines  unbescholtenen  Madchens  einge- 
drungen  sei.  Die  Herbeiziehung  der  Akten  wird  abgelehnt. 
Der  Zeuge  wird  fur  glaubwiirdig  erklart  und  vereidigt,  Ich  be- 
komme  noch  obendrein  den  Riiffel,  daB  ich  nicht  den  notigen 
Respekt  vor  einem  bayrischen  Gendarm  fiihlte  und  die  Grenzen 
der  Verteidigung  unangemessen  uberschritten  hatte.  Nun  wird  mir 
die  Sache  zu  bunt.  Ich  erklare,  daB  ich,  falls  dieser  Vorwurf 
nicht  zuriickgenommen  werde,  die  Verteidigung  niederlegen 
mtisse.  Tableau.  Ich  mache  den  Vermittlungsvorschlag,  daB 
ich  ebenso  offen  dem  Vorsitzenden  meine  Meinung  iiber  seine 
Verhandlungsfuhrung  sagen  diirfe.  Ich  erklare,  daB  ich  noch  sel- 
ten  eine  solche  Voreingenommenheit  eines  Vorsitzenden  vom 
ersten  Moment  der  Verhandlung  an  erlebt  habe  wie  in  diesem 
Fall  „Nun  haben  Sie  sich  aber  revanchiert,"  war  die 
Antwort      des    Vorsitzenden.      Man      fiihlte      wahrend      der 

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ganzen  Verhandlung  nur  allzu  dcutlich  die  Stammtisch- 
atmosphare,  in  dcr  der  Fall  scit  Wochcn  durchgehechelt 
war.  Nicht  der  leiseste  Versuch  wurde  gemacht,  die 
Griinde  fur  den  Zusammenbruch  meines  Mandanten,  fiir  sein 
ganzes  Verhalten  auch  ntir  oberflachlich  zu  durchforschen.  Als 
ich  schlieBlich,  nachdem  allenfalls  der  Verdacht  (wohlgemerkt 
nur  der  Verdacht!)  eines  einzigen  Abtreibungsfalles  tibrig  ge- 
blieben  war,  durch  Benennung  von  dreiBig  wohlhabenden 
Frauen  den  Beweis  erbringen  wollte,  daB  Doktor  Engel  diesen 
zur  Austragung  der  Leibesfrucht  dringend  zugeraten  habe,  daB 
also  die  Forme!  von  seiner  schnoden  Geldgier  nicht  ziehe,  wird 
das  als  unbeachtlich  abgetan,  oder,  wie  wir  Juristen  sagen,  „als 
wahr  unterstellt/1  Die  Abtreibungsanklage  brach  fast  restlos 
zusammen,  Der  Privatdozent  Doktor  Dyroff,  der  in  letzter 
Stunde  von  Amts  wegen  geladen  war,  iibrigens  ein  iiberzeugter 
Anhanger  des  §  218,  erklarte  die  Vornahme  einer  Abtreibung 
in  vier  von  den  ftinf  zur  Aburteilung  stehenden  Fallen  fiir  nicht 
diskutabel.  Lediglich  in  dem  einen  Fall  der  MagdW,  bleibe 
die  Moglichkeit,  aber  nicht  die  GewiBheit  offen,  daB  eine  Ab- 
treibung vorgenommen  worden  sei.  Der  Sachverstandige  gab 
weiter  seiner  Oberzeugung  Ausdruck,  daB  die  Gestandnisse 
einiger  Angeklagten  bei  der  Vernehmung  durch  die  ortlichen 
Gendarmen  dadurch  zu  erklaren  seien,  daB  sie  aneinander  vor- 
beigeredet  hatten.  So  sei  es  eine  bekannte  Tatsache,  daB  die 
untersuchungfiihrenden  Personen  unter  dem  Wort  t,Eingriff" 
den  Tatbestand  des  §  218  begriffen,  daB  aber  unerfahrene 
Madchen  unter  diesem  Wort  lediglich  eine  einfache  iibliche 
gynakologische  Untersuchung  verstanden.  In  fast  alien  Ab- 
treibungsprozessen  erweist  sich  die  Vernehmung  durch  Polizei- 
beamte  und  Gendarmen,  die  hierfur  nicht  besonders  vorgebildet 
sind,  als  ein  Grundiibel. 

Fiir  mich  war  der  Clou  der  Verhandlung  das  Gutachten  des 
beamteten  Gerichtsarztes.  DaB  er  den  Typus  jenes  Sachver- 
standigen  darstelltf  der  sich  als  verlangerter  Arm  des  Staats- 
anwalts  auffiihrt,  w'uBte  man  aus  seinem  libera  us  diirftigen 
schriftlichen  Gutachten.  Was  er  aber  in  der  Verhandlung  dar- 
bot,  iibertraf  die  kiihnsten  Erwartungen.  Nach  einem  Lobes- 
hymnus  auf  den  §  218  erklarte  er  kategorisch,  wenn  einige  der 
Madchen  im  Vorverfahren  Gestandnisse  abgelegt  hatten,  miisse 
man  ohne  weiteres  das  Vorliegen  eines  Abtreibungsversuchs 
annehmen.  Dann  geht  es  weiter:  Er  sei  leider  durch  das  arzt- 
liche  Berufsgeheimnis  gegenuber  meinem  Mandanten  gebun- 
den,  so  daB  er  nicht  frei  reden  konne;  wenn  er  aber  reden 
konnte . . .  Unterbrechung  durch  die  Verteidigung:  Doktor 
Engel  erinnert  sich  nicht,  Sie  jemals  arztlich  konsuitiert  zu 
haben.  Verlegenes  Schweigen.  Doktor  Engel  entbindet  ihn 
vom  Berufsgeheimnis.  SchlieBlich  erzahlt  er,  Doktor  Engel  habe 
sich  ihm  nach  seiner  Einlieferung  im  Gefangnis  anvertraut  und 
sich  an  ihn  geklammert.  Ich  wollte  die  Dinge  nicht  iiber- 
spitzen  und  zog  aus  der  unwahren  Berufung  auf  das  arztliche 
Geheimnis  keine  andern  Konsequenzen,  als  daB  ich  ihm  ledig- 
lich vorhielt:  Sie  sind  nie  Arzt  meines  Mandanten  gewesen, 
also  war  Ihre  Berufung  auf  das  arztliche  Berufsgeheimnis  un- 
erhort.     Wenn  Sie  sich  aber  als  Arzt  betrachtet  haben,  dann 

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war  Ihre  Andeutung,  daB  Doktor  Engel  Ihnen  belastende  Mit- 
teilungen  gemacht  habe,  wohl  eines  der  starksten  Stiicke,  das 
sich  je  ein  deutscher  Arzt  vor  Gcricht  gelcistet  hat.  Selbst- 
verstandlich  wurde  nunmehr  der  Antrag  auf  Ablehnung  des 
Sachverstandigen  wegen  Befangenheit  eingebracht,  Der  Vor- 
sitzende  hielt  mir  vor,  ich  sci  zu  scharf  gcgen  den  Obermedi- 
zinalrat.  SchlicBlich  kam  das  Gcricht  mit  folgendem  BeschluB 
heraus,  zu  dessen  Verstandnis  man  noch  wissen  muB,  daB  mein 
Mandant  immer  und  immer  bchauptet  hat,  daB  der  Sachver- 
standige  eines  Tages  zu  ihm  ins  Gefangnis  gekommen  sei  und 
ihm  dringend  geraten  habe,  doch  ein  bis  zwei  Falle  zuzugeben, 
damit  man  den  ganzen  Fall  in  einer  kleinen  Verhandlung  still 
erledigen  konne: 

Die  Wiirdigung  der  Gestandnisse  der  Angeklagten  B,  und  E. 
durch  den  Sachverstandigen  geht  iiber  die  Grenzen  des  zu  erstattenden 
Gutachtens.  Eine  Befangenheit  des  Sachverstandigen  ist  dadurch 
nicht  begrtindet. 

Es  erscheint  die  Angabe  der  Verteidigung,  daB  Doktor  B.  zu  dem 
Angeklagten  Doktor  E.  gesagt  hatte :  „Ich  muB  zugeben,  daB  man 
Ihnen  nicht s  nachweisen  kann",  als  widerlegt. 

Die  Angabe  des  Sachverstandigen,  daB  auch  Abtreibungen  mit 
dem  Finger  vorkommen,  ist  eine  gutachtliche  AuBerung,  auf  welche 
eine  Ablehnung  nicht  gesttitzt  werden  kann* 

Die  Andeutung  des  Landgerichtsarztes  in  seinem  Gutachten,  daB 
er  private  Mitteilungen  des  Angeklagten  auf  Grund  seines  Berufs* 
geheimnisses  als  Arzt  nicht  verwenden  durfe,  ging  iiber  die  Grenzen 
des  Gutachtens,  begrtindet  aber  nicht  den  Verdacht  der  Befangenheit* 

Das  Verhalten  des  Landgerichtsarztes  gegeniiber  dem  Angeklagten 
Engel  wahrend  des  ganzen  Strafverfahrens  lafit  auch  eine  etwaige  sub- 
jektive  Meinung  des  Angeklagten  Engel  iiber  die  Befangenheit  des 
Landgerichtsarztes  nicht  fur  berechtigt  erscheinen. 

Es  bedarf  kaum  noch  der  Erwahnung,  daB  im  Urteil  die  be- 
lastenden  Aussagen  des  gerichtlichen  Sachverstandigen  ver- 
wertet,  daB  hingegen  die  entlastenden  Aussagen  des  erlanger 
Privatdozenten  iiberhaupt  nicht  erwahnt  wurden, 

Der  Leser  wird  eine  Steigerung  nicht  mehr  fur  moglich 
halten.  Ein  falscher  Glaubel  Die  Gipfelleistung  erklomm  ein 
Mitverteidiger,  der  wahrend  seines  Plaidoyers  plotziich  mit  der 
Behauptung  herausplatzte,  daB  er  bezweifle,  ob  Doktor  Engel 
iiberhaupt  Arzt  sei.  Warum,  weshalb,  wieso?  Er  habe  doch  so 
merkwiirdig  unsichere  medizinische  Antworten  auf  4ie  Fragen 
der  Sachverstandigen  gegeben.  Doktor  Engel  erwacht  endlich 
aus  seiner  Lethargie  und  schleudert  dem  Herrn  Anwalt  ins  Ge- 
sicht:  Warum  sind  Sie  dann  mein  Patient  gewesen?  Warum 
haben  Sie  denn  bisher  mit  mir  freundschaftlich  verkehrt  und 
meine  Eigenschaft  als  Arzt  nicht  bezweifelt,  solange  ich  Ihnen 
Prozesse  iibergab? 

Ich  muBte  mich  wahrend  der  Gerichtsverhandlung  oft 
fragen:  Ist  dies  ein  Traum?  Ist  dies  Wirklichkeit?  Bin  ich  Zu- 
schauer  bei  einem  iibertreibenden  Theaterstiick?  Die  armen 
Frauen  wanden  sich  in  furchtbarsten  Qualen  auf  der  Anklage- 
bank.  Kein  menschliches  Wort,  nur  unerbittliche  niichterne  Fra- 
gen drangen  an  ihr  Ohr.  Sie  widersprachen  sich  in  einem  fort  und 
fanden  sich  schlieBlich  selber  nicht  mehr  heraus  aus  dem,  was 
sie  gesagt  hatten.  Zweien  gelang  es  noch  schnell,  wahrend  der 
Gerichtsverhandlung  einen  Privatarzt  zu  finden,  der  ihnen  be- 
3  667 


scheinigte,  daB  sie  wahrschcinlich  nie  schwanger  gewesen  seien, 
Kurz,  es  war  ein  groBes  Durcheinander.  Die  Hauptsache  aber 
war;  Von  den  achtundzwanzig  Fallen  des  Gerichtsarztes  blieb 
nur  einer  als  eventuell  verdachtig  iibrig. 

Am  letzten  Verhandlungstage  hielt  der  Staatsanwalt,  der 
sich  iibrigens  durchaus  korrekt  verhalten  hatte,  seine  Anklage- 
rede,  Er  beantragte  nur  Verurteilung  wegen  eines  Abtrei- 
bungsfalles.  In  einem  Falle  beantragte  er  Freispruch.  In 
einem  dritten  Falie  stellte  er  die  Entscheidung  dem  Gericht 
anheim  und,  nachdem  er  erklart  hatte,  daB  die  Verhandlung 
ein  fur  die  Anklagebehorde  nicht  erfreuliches  Ergebnis  gehabt 
habe,  erhob  er  plotzlich  wegen  der  beiden  iibrigbleibenden 
Falle  Betrugsanklage,  indem  er  argumentierte,  daB  allerdings 
keine  Schwangerschaft  vorgelegen  habe,  daB  man  dann  aber 
annehmen  miisse,  der  Angeklagte  habe  den  Madchen  eine 
solche  vorgetauscht,  um  entsprechende  Honorare  zu  nehmen. 

Ich  bat  um  Aussetzung  der  Verhandlung,  zum  mindesten 
um  Vertagung  auf  kurze  Frist,  da  die  Verteidigung  nur  auf 
einen  Abtreibungs-  und  nicht  auf  einen  BetrugsprozeB  einge- 
richtet  sei.  Vergebens,  Der  Antrag  wurde  abgelehnt  mit  dem 
wohl  mysteriosesten  BeschluB,  mit  dem  je  iiber  einen  Beweis- 
antrag  von  einem  deutschen  Gericht  entschieden  worden  ist. 
Man  dekretierte  wortlich  wie  folgt:  f,Der  Antrag  wird  abge- 
wiesen,  da  infolge  der  Veranderung  der  Sachlage  eine  weitere 
Vorbereitung  der  Verteidigung  nicht  erforderlich  erscheint." 
'  Ich  glaube  iibrigens  nicht,  daB  das  Reichsgericht  schon  oft  eine 
Revisionsschrift  entgegennehmen  muBte,  in  der  solch  zahlreiche 
VerstoBe  gegen  die  StrafprozeBordnung  festgestellt  worden  sind, 

Mein  Mandant  fand  nicht  mehr  die  Kraft,  am  SchluB  der 
Verhandlung  zu  dem  Gericht  zu  sprechen.  Er  stammelte  nur 
noch,  daB  ihm  an  seinem  Schicksal  nichts  mehr  liege  und  daB 
er  mit  dem  Rest  seiner  Kraft  bitte,  seine  Patientinnen  zu 
schonen.  Er  war  vollig  erledigt.  Die  lange  Haft,  die  Vernich- 
tung  seiner  materiellen  Existenz,  die  Verhandlungsmethoden, 
der  Andrang  zum  Gerichtsgebaude,  die  polizeilichen  Eskorten, 
die  Hervorkehrung  seiner  Abstammung  in  diesem  Milieu-  — 
Grund  genug,  die  Nerven  zu  verlieren,  Man  verurteilte  ihn 
wegen  eines  einzigen  Abtreibungsfalles  zu  einem  Jahr  drei  Mo- 
naten  Gefangnis,  Fiir  die  angeblichen  Betrugsfalle  erhielt  er 
noch  weitere  drei  Monate.  Die  Madchen  bekamen  samt  und 
sonders  Freiheitsstrafen  von  drei  bis  sechs  Wochen. 

Die  Verurteilung  wegen  Betruges  ist  ein  Justizirrtum,  um 
mich  milde  auszudnicken.  Ich  bin  fest  davon  uberzeugt,  daB 
mein  Mandant  nach  der  \Aufhebung  des  Urteils  durch  das 
Reichsgericht,  woran  kaum  zu  zweifeln  sein  diirfte,  sehr 
schnell  diese  Feststellung  des  Urteils  widerlegen  kann, 
allerdings  nur  unter  der  Voraussetzung,  daB  er  die  neue 
Verhandlung  noch  erlebt.  Es  ist  unbegreiflich,  daB  man  diesen 
Mann  nicht  aus  der  Haft  herauslaBt  Fluchtverdacht  sei  ge- 
geben,  so  sagt  man,  weil  er  sich  ja  in  seine  friihere  Heimat,  zu 
der  er  nicht  mehr  die  entfernteste  Beziehung  hat,  begeben 
konne.  Es  ware  begruBenswert,  wenn  ein  paar  Arztekollegen 
und  mitleidige  Menschen  sich  dieser  gebrochenen  Existenz  an- 
nehmen  wollten. 

668 


London  in  rot  und  gran  von  Mice  Ekert-Rothboiz 

Hafendirne  spricht  zu  Musik: 

T    ondon ,  ist  eine  Stadt  mit  tausend  Stadten. 
Und  die  Farben  sind  rot  und  sind  grau. 
In  Piccadilly  sind  rote  Moneten 
Und  die  Nebel  von  Poplar  sind  grau. 
Die  Hummer  bei  Sweetings  sind  wieder  rot . . , 
Und  in  Poplar  gibts  graue  Steine  statt  Brot. 

Singt: 

Wir  sind  die  Hafenmause! 
Der  ganze  Dock  mit  Mann  und  Maus  geht  untern  Unterrock. 
Wir  haben  nur  Sehnsucht  und  Lause. 
Und   schlaft  man  im  Schiffsgehause 

mit  Johnny  oder  Billie 
Ist  man  zu  zwein  und  doch  allein 
Denn  die  Liebe  reicht  immer  soweit  wie  das.  Bein , . . 
Und   ihr  Kopfkissen  ist  aus   grauem   Stein 
mit  Johnny  oder  Billie. 
Wenn  die  Tur  aber  kracht  und  das  Herz  aber  kracht 

sind  die  Docks   schwarz  wie  Teer  ohne  Billie . . . 
Und  zur  gleichen  Stunde  stromt  Licht  durch  die  Nacht 
In  London  Piccadilly  f 

Marschrhythmus: 

In   Piccadilly    marschieren     die    Herrn,     die    Herrn    mit    grauem 

Zylinder 
In  Piccadilly  marschieren  die  Herrn,  die  Herrh  mit  rotem  Gesicht. 

In  Piccadilly  rauscht  abends   das  Licht 

Und  die  Herren  mit  Zylinder  und  rotem  Gesicht 
verursachen  Liebe  und  Kinder  . . . 
Ein  Gentleman  tragt  auch  im  Bett  den  Zylinder  I 

Er  treibts  nicht  wie  John  oder  Billie , . . 
Und   seine  Kinder   sind   seidene  Kinder 

Achtung!    „Made  in   Piccadilly!" 

Spricht  wie  oben  zur  Musik: 

London  ist  eine  Stadt  mit  tausend  Stadten. 
Und  die  Farben  sind  rot  und  sind  grau. 
In  Piccadilly  wehn  rote  Moneten 
und  die  Nebel  in  Poplar  wehn  grau. 

In  Piccadilly  rauscht  abends  das  Licht 

Da  tritt  man  auf  Roastbeef  und  merkt  es  nicht . , . 

Drei  Haus  weiter  wirst  Du  getreten! 
Mensch,  deck  nen  Zylinder  tibers  Gesicht 
Da  sieht  man  die  grauen  Falten  nicht 
Kauf  Dir  die  roten  Moneten  f 

Mach   einen  Bogen  urns   Armengericht! 
Mach  lieber  den  Gentleman  abends  im  Licht! 
Sonst  krepierst  Du  in  grofien  Stadten  I 

Aus  einem  unveroffentlichten  Buknenituck  „Kominche  Legended 

669 


Lenin  und  der  Materialismus  von  Kurt  inner 

Wie  man  die  materialistische  Theorie  auch  deuten  mag: 
fiir  den  wirklichen  Klassenkampf  fehlt  in  ihr  jeder  logische  Ort. 
Leonard  Nelson  (,Die  bessere  Sicker heit',  1927,  Seite  17). 
Won  Dcm,  was  ich  als  Jiingling  gelernt,  werde  ich  selbst  als 
Grcis  Eines  nicht  vergessen:  daB  dcr  abgestempelten 
Autoritat  nicht  blind  geglaubt  zu  werden  braucht;  daB  ihrc 
Thesen  und  Lehren,  sogar  ihre,  auf  ihren  Wahrheitsgehalt  zu 
priif  en  einem  freicn  Geist,  einem  unabhangigen  Gewissen  er- 
laubt  sein  muB,  ja  Pflicht  sein  muB;  daB  kein  Lebendiger  (auch 
kcin  Gestorbner)  Gott  ist,  keiner  die  Verkorperung  der  Er- 
kenntnis,  keiner  die  Allweisheit;  und  daB  man  einem  GroBen 
die  GroBe  nicht  abstreitet,  wenn  man  ihm,  wo  er  irrt,  wider- 
spricht  —  wo  er  irrt,  will  sagen:  wo  die  eigne,  auBer  an  ihm 
noch  an  andern,  ihm  partiell  iiberlegnen  Autoritaten  geschulte 
Oberzeugung  ohne  Schwanken  Irrtum  feststellt.  Wir  lacheln, 
wenn  Menschen  der  konservativen  Hemisphere  uns  versichern, 
ihr  Glaubensfiihrer,  so  er  ex  cathedra  spreche,  sei  unfehlbar; 
da  konnen  wir,  ohne  selbst  belachelnswert "  zu  werden,  den 
GroBmeister  der  Revolution  nicht  zum  Papst  machen.  Und 
mogen  wir  uns  dem  Lacheln  eines  Klerikers  gerne  aussetzen 
—  unertraglich  ware  unsres  geistigen  Gewissens  BiB,  der  Vor- 
wurf,  selber  pfaffisch  geworden  zu  sein;  als  un-uberpriifende 
Qbernehmer  von  „Wahrheiten"  eines  Heiligen,  eines  vor  jeder 
Kritik  gefeiten  Offenbarers.  Diktatur,  Disziplin,  intellektueller 
Gehorsam;  eine  gute  Sache,  die  wir  gegen  allerhand  Liberti- 
nismen  verteidigen  werden;  aber  eine  Pflicht  hier  entsteht 
erst  durch  Gleichheit  des  Standpunkts;  Pflicht  zur  Gleichheit 
des  Standpunkts  —  fiir  dieses  Dogma  danken  wir,  Fiihrer- 
tum,  Gefolgschaft:  ja!  Aber  die  Kritizitat  des  Achtzehnten 
Jahrhunderts  erst  recht!  Wir  sind  Sozialistenj  schlossen  So- 
zialismus  und  Selbstdenken  einander  aus,  dann  pfiffen  wir  auf 
den  Sozialismus.  HeiBt  Selbstdenken  f,IndividualismusM,  wie 
ihr  zischt,  Ottern  der  Unterordnung,  so  wollen  wir  in  des 
Teufels  Namen  „  Individualist  en'1  sein.  Amicus  Marx,  magis 
arnica  veritafc.  Tatsachlich  sind  sozialistische  Zielsetzung  und 
der  Individualismus  geistiger  Gewissenhaftigkeit  durchaus  ver- 
einbar;  Vergesellschaftung  der  Produktionsmittel,  globale  Plan- 
produktion  und  -verteilung,  klassenloser  Staat,  Erdstaat  der 
Arbeitenden  —  dies  alles  schliefit  den  Fortgang  der  Philo- 
sophic nicht  aus;  es  verbiirgt  ihn  eher.  Quelle  aller  Philoso- 
phic blcibt  aber  fiir  cwige  Zeiten  das  personliche  Gewissen; 
mag  auch  der  Inhalt  des  Philosophierens  so  unprivat  wie  mog- 
lich  sein.  Das  Selbstdenken  und  die  sich  aus  ihm  ergebenden 
Anspriiche  ,,liberalistisch''  *zu  schelten,  sei  das  Vorrecht  na- 
tionaler  Gallertenkoche,  reaktionaren  Kollektiefsinns;  revolu- 
tionarer  Kollektivismus  sollte  das  Denken  nicht  verbieten, 
Schon  deshalb  nicht,  weil  es  in  einer  durch-kollektivisierten 
Gesellschaft  das  einzige  Gegengift  ware  gegen  bureaukratische 
Erstarrung,  gegen  geheime  Despotie  und  Tamerlanerei.  Wir 
sind,  theoretisch,  iiber  den  Liberalismus  hinaus;  aber  bisweilen 
hat  es  den  Anschein,  als  ob  wir  praktisch  im  Begriff  sind,  ganz 
gehorig  hinter  ihn  zuruckzurutschen.    „Autoritat,  nicht  Majori- 

670 


tat!"  —  ja;  aber  in  einem  Neo-Sinn  (auf  hoherer  Windung 
der  Spirale):  die  Autoritat  darf  nicht  oktroyiert,  sie  muB  er- 
lebt  sein,  Es  gibt  Autoritaten  fur  mich;  ich  erlebe  in  mir 
Ehrfurcht;  der  Subalternen-Zweifel  an  der  stark  en  Personlich- 
keit  widert  mich  an;  das  alles  zwingt  mich  aber  nicht,  kritik- 
los  hinzunehmen,  was  Einer  lehrt,  und  mag  er  heiBen  wie  auch 
immer. 

Betrachtungen  dieserart,  welche  in  kritizistischeren,  pro- 
testantischeren,  meinethalben  1tindividualistischeren"  Zeiten 
(wo  es  zum  gut  en  Ton  gehort,  auf  keines  Meisters  Worte  zu 
schworen)  etwas  Selbstverstandliches  hatten,  wollen  heute 
vorausgeschiokt  seinf  wenn  Einer  das  Wagnis  vorhat,  Lenin 
anzugreifen,  Genauer:  wenn  Einer,  der  Zielgenosse  Lenins 
und,  was  den  Weg  anlangt,  in  Vielem  sein  Schiiler  ist,  gleich- 

wohl  dies  wagt. 

* 

Sooft  ein  sozialistischer  Dualist  den  Historischen  Materia- 
lismus  ritzt,  gibt  es  auBer  dem  Gebriill  der  orthodoxen  Gro- 
biane  ein  satirisches  Gezirp  neunmalweiser  Grillen  und  Bril- 
len,  das  besagt;  ffDu  triffst  nicht  den  echten  Materialismus, 
sondern  den  falschen.  Du  triffst  eine  Karikatur  von  Materia- 
lismus, einen  Kaffernmaterialismus,  wie  er  freilich  bei  . . ., 
bei . . ,,  bei  . . .  vorkommt;  aber  diese  Autoren  sind  langst  iiber- 
wunden.  Man  steht  heute  woanders;  du  teilst  Lufthiebe  aus/' 
Nun  muB  ich  zugeben,  bei  der  Ergriindung  Dessen,  was  Histo- 
rischer  Materialismus  sei,  mich  bisher  nur  auf  Marx,  Engels, 
Franz  Mehring,  Kautsky,  Max  Adler,  Radek  gestiitzt  zu  ha- 
ben,  wozu  zwar  noch  ein  Schock  marxistischer  Leitartikler 
kam,  wahrend  immerhin  ein  Haufe  Theoretiker  fehlte  mit  viel- 
leicht  neunhundert  neuen  Nuancen.  Es  gibt  eb en  in  streng- 
stem  Sinne  uberhaupt  nicht  den  Materialismus,  sondern  die 
Materialismen.  Und  hat  man  wirklich  einmal  einen  Aal  ge- 
packt  und  ruft:  „Hurra,  jetzt  hab  ich  den  Aal!",  dann  ent- 
windet  er  sich  dialektisch  unter  Oberreichung  der  Note:  „Ich 
bin  nicht  Der  Aal;  ich  bin  einer."  Trotzdem  ist  alien  Aalen 
Etwas  gemein;  sollte  sich  herausstellen,  daB  jene  Typik  des 
Materialismus,  wie  unsereins  sie  stets  sah,  sich  just  bei  Lenin 
findet,  dann  sprache  diese  Tatsache  ja  wohl  dafur,  daB  unser 
Blick   nicht   getriibt  war- 

Unter  dieser  Optik  erscheint  es  besonders  verdienstvoll, 
daB  der  „Verlag  fur  Literatur  und  Politik",  Wien,  unlangst 
ein  monographisches  Bandchen  (in  sehr  anstandiger  Uber- 
setzung  und  sehr  anstandiger  Ausstattung,  fiir  nur  neunzig 
Pfennige)  herausgebracht  hat:  W.  L  Lenin  „Ober  den  Histori- 
schen Materialismus",  Das  Biichlein  enthalt  zwei  Essays,  die 
Lenin  als  Vierundzwanzigjahriger  verfaBt  hat  (1894);  der  ano- 
nyme  Einleiter  versichert,  es  seien  „die  beiden  ausfiihrlichsten 
und  wichtigsten  Arbeiten  Lenins  iiber  den  historischen  Ma- 
terialismus". Da  hatten  wir  also  zu  dieser  fundamentalen 
Frage  kanonische  Worte  der  hochsten  marxistischen  Autori- 
tat seit  Marx.  Es  sind  Streitschriften,  mit  Wut  und  Wissen 
geladene,  unvolkstiimliche,  giftig-verwickelte,  gegen  die  Po- 
lito-Theoretiker  N.  K,  Michailowski  und  Peter  Struve.  Lenin 
expliziert,   was   er  zu   lehren  hat,    nicht   didaktisch,    sondern 

671 


sarkastisch:  am  Objckt  seines  Opfers;  ist  diese  Methode  jiing- 
lingisch,  dann  blieb  Lenin  Jiingling  bis  zum  Tode.  Michai- 
lowski  (1842  bis  1904),  welchen  er  in  jenem  Tone  anfahrt,  der 
fur  die  Leninuleinchen  der  deutschen  Kommunistenblatter  so 
vorbildlich  geworden  ist,  muB  —  nach  den  Zitaten  zu  urtei- 
len  —  ein  simmelhafter  Prazisionsdenker,  eigensinnig-gutig, 
ein  ganzer  Prachtkerl  gewesen  seinj  selten  hab  ich  durch  ein 
Pamphlet  das  Angriffsziel  des  Pamphlets  so  lieben  lernen. 
(Er  war  Narodnik  ?  Wie  unerheblich !)  Ubrigens  erwahnt 
Lenin  hier  Simmel  einmal;  bekennend,  daB  er  ihn  nicht  kenne. 
Ob  er  ihn  spater  gelesen  hat?     Ich  furchte,  nein.     Schade! 

Welche  Thesenrosinen  diirfen  wir  uns  nun  aus  diesem 
polemischen  Kuchen  klauben?  Ich  werde  die  ansehnlichsten 
der  Reihe  nach  auf  den  Teller  legen. 

Lenin  applaudiert  dem  Ausspruch  imVorwort  zum  fKapi- 
tal\  wonach  Marx  f!die  Entwicklung  der  okonomischen  Ge- 
sellschaftsformation  als  einen  naturgeschichtlichen  ProzeB  auf- 
fafit'*.  Das  nBewegungsgesetz  der  Gesellschaft'*  sei  „ein  Na- 
turgesetz'\  Nun  kann  man  die  Phanomene  des  Geistes,  des 
Vernunftwillens,  des  bewuBten  Willens  iiberhaupt,  der  ,Kul- 
tur'  in  den  Begriff  der  ,Natur*  hineinnehmen;  dann  verliert 
die  Behauptung,  das  Bewegungsgesetz  der  Gesellschaft  sei 
ein  Naturgesetz,  jeden  Sinn:  weil  es  andre  Bewegungsgesetze 
als  Naturgesetze  dann  nicht  geben  kann.  Alle  Gesetze  des 
Geschehens,  einschlieBlich  des  Kulturgeschehens,  sind  ja  dann 
^Naturgesetze";  sie  stehen  gegeniiber  einzig  den  Gesetzen  des 
Seinsollenden.  LaBt  man  aber  den  menschlichen  Willen  aus 
dem  ,Natur'-Begriff  heraus,  dann  bedeutet  die  Deutung  der 
Gesellschaftsentwicklung  als  eines  naturgeschichtlichen  Pro- 
zesses,  ihres  Bewegungsgesetzes  als, eines  Naturgesetzes,  nichts 
andres  als  den  Lehrsatz,  daB  bewuBter  Wille,  Vernunft,  Geist 
an  der  Gestaltung  der  Gesellschaft  unbeteiligt  seien;  daB  sich 
das  dynamische  Prinzip  der  Menschengeschichte  in  nichts 
unterscheide  von  dem  dynamischen  Prinzip  der  Tiergeschichte, 
der  Pflanzengeschichte,  der  Steingeschichte.  Mensch  =  Materie. 

Lenin  lehrt  „die  Abhangigkeit  der  Entwicklung  der  Ge- 
danken  von  der  Entwicklung  der  DingeM;  diese  These  ((allem" 
stehe  ^im  Einklang  mit  der  wissenschaftlichen  Psychdlogie'\ 
Ist  Psychologie  die  Instanz,  vor  die  solche  Frage  gehort?  Die 
Priifung  der  -Richtigkeit  eines  Gedankens  ist  etwas  vollig 
andres  und  nach  andrer  Methode  zu  Vollziehendes  als  die 
Erforschung  der  Herkunft  eines  Gedankens;  Ursache  ist  nicht 
Grund;  denkt  man  aber  ursachlich,  so  erweisen  sich  iiberdies 
„die  Dinge"  in  ihrer  Entwicklung  als  von  1tden  Gedanken" 
ebenso  abhangig^  wie  „die  Gedanken"  in  ihrer  Entwicklung 
von  „den  Dingen",  (Der  junge  Marx —  Thesen  iiber  Feuer- 
bach,  besonders  These  3  —  hatte  um  diese  Wechselwirkung 
gewufit.) 

Lenin  unterschreibt  den  Lehrsatz,  daB  die  Entwicklung 
einer  gegebenen  gesellschaftlichen  Formation  ^ausschlieBlich" 
aus  den  Produktionsverhaltnissen  heraus  erklart  werden 
konne;  alles  andre  sei  nur  „Uberbau'\  Er  verengt  das  Welt- 
geheimnis  des  menschlichen  Handelns;  zugleich  laBt  er  die 
Frage  of  fen,  wie  denn  die  Produktionsverhaltnisse  zu  erklaren 

672 


seien;  wie  ihr  Wandel.  Er  erklart  ein  X  durch  ein  Y,  als  be- 
diirfte  dieses  nicht  auch  der  Erklarung.  Alles,  was  fiber  den 
Materialismus  hinausgeht,  zahlt  er  zur  „ausweglosen  Meta- 
physik".  Nur  ,tdas  Studium  der  Tatsachen"  laBt  er  gelten.  Und 
die  Expropriation  der  Expropriateure,  die  Diktatur  des  Pro- 
letariats? Sind  das,  zumindest  bis  1917,  t,Tatsachen"  oder 
nicht  vielmehr  ,,aprioristische,  dogmatische,  abstrakte  Kon- 
struktionen",  namlich  Sollsatze,  Ideen,  Forderungen,  Ziele? 

Hiervon  will  Lenin  nichts  wissen.  Die  materialistische 
,tTheorie  erhebt  denAnspruch,  einzig  und  allein  die  kapitali- 
stische  Gesellschaftsorganisation,  keine  andre,  erklart  zu  haben". 
Namlich  nicht  „die  ganze  Vergangenheit  der  Menschheit". 
Schon.  Aber  die  jungste  doch  nur  ,, erklart'1  zu  haben;  nichts 
als,  ,, erklart"!  Ursachenforschung,  keine  Zielsetzung.  Kon- 
templation,  kein  Kampf.  Welch  schriller  Widerspruch  zur 
kommunistischen  Praxis! 

Schfass  fotgt 

SchnipSel   von  Peter  Panter 

Chaw.     So  ernst,  wie  der  heiter  tut,  ist  er  gar  nicht. 
***  t* 

Der  englische  Schriftsteller  William  Gerhardi  sprach  einst:  „Wenn 
eine  Frau  sagte,  sie  sei  genau  wie  alle  Frauen  —  die  ware  anders/' 

* 

Es  war  einmal  ein  Vertrag  zwischen  einer  Filmgesellschaft  und 
einem  Autor,  der  wurde  von  der  Gesellschaft  anstandig  und  sauber 
erfiillt.     Das  war  kurz  vor  Erfindung  der  Photographic 

* 

Nichts  kommt  dem  Gerechtigkeitsgefiihl  gleich,  das  einen  deut- 
schen  Republikaner  befall tt  wenn  er  gegen  einen  Stahlhelmer  vor- 
gehn  soil.  Wie  peinlich  genau  er  dann  die  Paragraphen  abwagt . .  A 
Aber  es  ist  gar  kein  Gerechtigkeitsgefiihl:  es  ist  Feigheit  und  zutiefst 
eine  innere  Sympathie. 

Da  gab  es  einen  englischen  General,  der  war  so  unmusikalisch, 
daB  er  nur  zwei  Musikstiicke  erkennen  konnte,  Eins  davon  war  God 
save  the  King. 

* 

Golf,  sagte  einmal   jemand,  ist  ein  verdorbener  Spaziergang. 

* 
Segen  des  Rundfunks,  Die  alte  Frau  Runkelstein  pflegte  sich 
abends  im  Lehnstuhl  die  Kopfhorer  anzuschnallen,  die  Musik  ertonte, 
und  dann  schlief  sie  ein.  Wenn  das  Programm  aber  zu  Ende  war, 
dann  wachte  sie  vor  Schreck  auf.  Und  dann  ging  sie  schlafen.  Siehe 
die  Uberschrift. 

* 

„Wenn  ich  so  viel  Geld  hatte",  sagte  Joachim  Ringelnatz,  „und 
so  viel  Macht,  dafi  ich  alles  auf  der  Welt  andern  konnte,  dann  liefie 
ich  alles  so,  wie  es  ist." 

* 

Wenn  ein  Franzose  einen  Vertrag  unterschrieben  hat,  dann  halt 
er  ihn.  Doch  bevor  er  ihn  unterschreibt,  macht  er  unendliche  Ge- 
schichten,  in  Veilauf  derer  man  junge  Hunde  kriegen  kann,  Und 
dann  unterschreibt  er  ihn  nicht,     Es  sind  kleine  Leute,  wie? 

Wenn   ein   Deutscher   einen   Vertrag  unterschrieben   hat,    ist   der 

673 


Vorfall  fur  ihn  erledigt,  und  er  ist  hochst  erstaunt,  wenn  er  ihn  nua 
aucb  noch  erfiillen  soil.  Dann  gibt  es  ein  grofies  Lamento  und  vicl 
Geschrei  der  Rechtsanwalte,  Aber  er  unterschrcibt  jeden  Vertrag. 
Es  sind  gro&ziigige  Leute. 

* 

Es  gibt  so  wenig  brauchbare  Buch-Kritiken,  weil  jeder  Schrift- 
stcllcr  falschlich  annimmt,  er  konne,  weil  er  Schriftsteller  ist,  aucb 
Kritiken  schreiben. 

Bei  den  grofien  Scbneidern  liegen  manchmal  Empfeblungen  von 
Schustern   und  Hemdenmachern  herum.    So   sehn  unsre  Buchkritiken 


Wenn  die  geliebte  Frau  mit  einem  andern  Mann  flirtet,  erscheint 
sie  uns  leise  lacherlich.  Die  Steine  des  Kaleidoskops,  das  wir  so  gut 
kennen,  geben  ein  neues  Bild;  wir  sebn  sie  zum  ersten  Mai  gewisser- 
mafien  von  der  Seite,  Eifersucht  macbt  kritisch.  Wenn  Manner  mit 
einer  fur  sie  neuen  Frau  beschaftigt  sind,  gilt  das  naturlicb  alles 
nicht. 

* 

Nahme  man  den  Zeitungen  den  Fettdruck  — :  um  wieviel  stiller 
ware  es  in  der  Welt  — ! 

* 

Es  gibt  eine  Frage,  die  stellt  nur  ein  Deutscher.  Wenn  dich  die 
Leute  besuchen,  dann  nimmt  dicb  jener  unter  den  Arm,  raucht  einraal 
an  seiner  Zigarre  und  sagt:  „Sagen  Sie  mal  —  was  zablen  Sie  bier 
eigentlich  Miete?" 

Ist  doch  aucb  interessant. 

* 

Die  Presse  ware  viel  weniger  unaussteblich,  wenn  sie  sicb  nicbt 
so   grauslich  wichtig  nahme. 

* 

Wenn  ein  Kommunist  arm  ist,  dann  sagen  die  Leute,  er  sei  nei- 
disch.  Gebort  er  dem  mittleren  Biirgertum  an,  dann  sagen  die  Leute, 
er  sei  ein  Idiot,  denn  er  handele  gegen  seine  eignen  Interessen,  1st 
er  aber  reich,  dann  sagen  sie,  seine  Lebensfuhrung  stehe  nicht  mit 
seinen  Prinzipien  im  Einklang. 

Worauf  denn  zu  fragen  ware:  Wann  darf  man  eigentlich  Kommu- 
nist sein  — ? 

TeilS  teller,  teilS  gUt  von  Rudolf  Anmeim 

r\er  Ufapalast  hattc,  wenn  man  das  von  einem  Palast  sagen 
*^  kann,  eine  Pechstrahne.  Er  bot  einmal  Afrika,  einmal 
Wien,  beidemal  Langeweile.  Als  der  Expeditionsfilm  ^Trader 
Horn",  von  W.  S.  van  Dyke  und  Clyde  de  Vinna  mit  viel  Miihe 
und  viel  Geld  'hergestellt,  eine  halbe  Stunde  gelaufen  war,  ging 
ein  freudiges  Rauschen  durchs  Publikum,  denn  zum  erstenmal 
war  ein  Satz  des  Dialogs  deutlich  zu  verstehen  gewesen.  MDer 
Lowe  ist  namlich  ein  bifichen  blod"  —  nun,  das  fiel  in  dieser 
Umgebung  nicht  auf.  Im  tibrigen  murmelten  die  Schauspieler 
mit  den  afrikanischen  Gewassern  um  die  Wette,  und  als  der, 
Wasserfall  in  Funktion  trat,  herrschte  minutenlang  ein  Kracb 
wie  auf  dem  tempelhofer  Flughafen.  Scherzhaft  imitierte  Tier- 
stimmen  tonten  um  das  Lagerfeuer,  zwei  Herren  in  Tropen- 
hiiten  wanderten  rastlos  wie  das  jiidische  Volk  durch  die 
Steppe,  alle  paar  Sekunden  blieb  der  eine  stehen,  packte  den 
andern  an  der  Schulter  und  rief:  ..Ha,  was  ist  dies?",  und  dann 

674 


murmclte  der  andrc  Brehmzitate  in  das  verschnupfte  Mikro- 
phon:  „Dies  ist  dcr  sogenannte  Wasserhirsch,  auch  genannt 
die  Antilopengazelle;  er  halt  sich  in  niedrigem  Gebtisch  auf 
und  dient  dcm  Tiger  zur  Speise."  Und  dann  schoB  er  oder 
war!  einen  Stein  in  die  lehrreiche  Tierwelt.  Eine  betrachtliche 
Anzahl  von  Raubtieren  und  Wiederkauern,  die  sich  freund- 
licherweise  zur  Verfiigung  gestellt  hatten,  zerfleischten  ein- 
ander,  bis  sie  als  Leichen  vor  der  Kamera  lagen,  ein  Nashorn 
spuckte  in  naturalistischer  Weise  Blutklumpen  und  starb, 
einem  Lowen  wurde  ein  Speer  ins  Auge  geworfen,  und  unter 
den  Kannibalen  tauchte  als  verschlepptes  weiBes  Weib  ein 
verschminktes  nacktes  Girl  mit  reichondulierter  Wasserstoff- 
mahne  auf.  „Jat  siehst  du,  das  ist  Afrika'Y  stieB  der  Trader 
Horn  miihselig  unter  s  ein  em  Helm  hervor.  Er  irrte.  Es  war 
bestenfalls   Hollywood. 

Kaum  war  die  BildHache  von  den  miBhandelten  Tieren 
und  Negern  gesaubert,  da  bevolkerte  sie  sich  mit  vielen  hun- 
dert  wienerisch  bekleideten  Statisten,  die  mit  einer  Ausfiihr- 
lichkeit  Walzer  zu  tanzen  begannenf  als  handle  es  sich  um  die 
Propagierung  einer  neuen  Kunstform.  Angetrunkene  Personen 
beiderlei  Geschlechts  wiegten  zur  Musik  viertelstundenlang  den 
Oberkorper  hin  und  her,  und  dieser  einformige  Pendelverkehr 
schlug  immer  neue  Breschen  in  den  guten  Willen  des  Zu- 
schauers,  der  mit  Vergniigen  gekommen  war,  um  Erik  Charells 
erste  Filmarbeit  zu  betrachten.  Zweieinhalb  bis  vier  Millionen 
soil  dieser  Film  der  Pommer-Produktion,  ,,Der  KongreB  tanzt", 
gekostet  haben  —  die  Angaben  schwanken;  jedenfalls  ist  er  der 
teuerste  deutsche  Film  seit  Jahren.  Und  einer  der  diirftigsten. 
Zu  Charells  Ungliick  hatte  einen  Tag  vorher  ein  andrer  Thea- 
termann  sein  Filmdebut  gefeiert,  Fritz  Kortner.  Welcher  Un- 
terschiedl  Bei  Kortner  ein  iiberwaltigender  Reichtum  an  Ein- 
fallen,  die  den  Film  so  unter  Druck  setzten,  daB  er  zu  zersprin- 
gen  drohte,  der  schone  Eifer  eines  temperamentvollen  Anfan- 
gersf  eine  jahrelang  aufgestaute  Regiekraft,  der  plotzlich  das 
Schleusentor  aufgezogen  wurde  und  die  wie  eine  Springflut 
auf  Max  Pallenbergs  Regenschirm  und  auf  den  atemlosen  Zu- 
schauer  niederging.  Erik  Charells  erster  Film  wirkt  wie  sein 
fiinfzigster:  nichts  von  Frische,  nichts  von  Eigenwilligkeit.  Die- 
ser neue  Regisseur  ist  durch  den  Wolf  der  Industriebelange  ge- 
dreht,  noch  ehe  man  ihn  recht  hineingeworfen  hat.  Der  Pro- 
duktionsleiter  darf  fur  ihn  Gefiihle  hegen  wie  der  Klassenleh- 
rer  fur  den  Primus.     Welch  sanfter  Most. 

Schweigen  wir  davon,  daB  der  Film  einen  historisch-poli- 
tischen  Stoff  behandelt.  Er  ist  seinem  Gegenstand  so  meilen- 
fernf  daB  sich  der  Vergleich  nur  mit  Gewalt  herbeiziehen  laBt. 
Dieser  Zarf  dieser  Metternich  sind  nicht  schlechtgetroffene 
Masken  geschichtlicher  Figuren,  sie  haben  vielmehr  nicht  das 
leiseste  mit  ihnen  zu  tun.  Und  der  KongreB,  der  da  tanztf  ist 
noch  nicht  einmal  ein  TanzerkongreB.  Denn  das  ist  das  Auf- 
falligste  an  diesem  Film:  er  ist  noch  nicht  einmal  leicht,  be- 
schwingt,  choreographisch  reizvoll.  Man  besehe  sich  die  Lieb- 
lingsszene  der  Hersteller:  Lilian  Harvey  fahrt,  endlose  Minuten 
lang,  an  einer  tonenden  Wandeldekoration  voriiber  —  ein  Ein- 
fall,   der   von   Lubitsch   ausgeliehen    und    dann    gehorig    aus- 

675 


gepumpt  worden  ist,  .auf  daB  der  Film  nicht  zu  billig  werde. 
Man  sehe,  wie  die  Schauspielerin  in  dieser  Szene  in  stofihaften 
Zappelbewegungen  mit  den  Sprungfedern  der  Kutsche  wett- 
eifert.  Dazu  ein  Tanzregisseur?  Man  sehe  die  eintonige  Lohe- 
land-Gymnastik,  mit  der  sie  eine  mehrstockige  Villa  im  Tanz- 
schritt  besichtigt.  Selten  habe  ich  die  Gliedmafien  eines  Men- 
schen  in  so  heftiger,  anhaltender  Bewegung  gesehen  wie  bei 
dieser  bedauernswerten  Schauspielerin,  von  der  wir  doch  wis- 
sen,  dafi  sie  reizend  und  begabt  ist-  Jener  Folterknecht  mit 
dem  Acht-Millimeter-Rohrstock,  dessen  Bekanntschaft  wir 
einem  geschmacklosen  Einfall  d«r  Autoren  Falk  und  Liebmann 
verdanken,  scheint  dauernd  hinter  ihr  her  gewesen  zu  sein,  auf 
daB  sie  Grazie  zeige.  (Programmheft:  ,,Christel  kommt  ins 
Kittchen  und  soil  25  Schlage  bekommen  auf  den  sanft  gerun- 
deten  Korperteil,  auf  dem  sie  zur  Freude  aller  Handschuh- 
kaufer  immer  so  zierlich  und  kokett  gesessen  hat.")  Und  die 
Komparsenregimenter,  die  immer  wieder  in  den  StraBen  Wiens 
fur  Charell  demonstrieren?  Sie  schwenken  freundlich  die 
Arme,     Dazu  ein  Tanzregisseur? 

Man  hat  den  Charme  auf  Lastwagen  nach  Babelsberg 
transportiert.  Man  laBt  Spitzenhoschen  zappeln.  Man  hat  das 
Organ  des  Schauspielers  Paul  Horbiger  auf  eine  penetrante 
Blechstimmung  gebracht.  Willy  Fritsch,  der  doch  lebendige 
Menschen  spielen  kann,  versagt.  Die  Sandrock  versagt.  Lil 
Dagover  weiB  vor  Raffinement  nicht  aus  noch  ein.  Conrad 
Veidt  kaut  Geback  und  steht  ohne  Text  in  der  Dekoration  her- 
um,  Ein  Schaden  fiir  die  Schauspieler,  ein  Jammer  urns  Geld. 
Und  da  bricht  man  denn  unwillkurlich  in  die  Worte  aus,  die 
der  Kritiker  der  ,Lichtbildbuhne'  fiir  diesen  Film  gefunden  hat: 
1fSo  ist  eine  Konfiture  entstanden,  die  den  unbekannten  Million 
nen,  denen  dieser  Film  gewidmet  ist,  munden  wird  wie  himm- 
lisches   Manna," 

Die  Konfiture  ist  ein  Gummibonbon.  Jedes  Motiv  ist  un- 
ertragiich  zerdehnt.  Da  ist  der  Doppelganger-Einfall:  Zar 
Alexander  laBt  sich  in  gefahrlichen  und  langweiligen  Situatio- 
nen  von  einem  Double,  einem  stumpfsinnigen  Herrn  Uralskyt 
vertreten.  Das  Motiv  wird  zu  Tode  gehetzt  und  ist  zugleich 
filmisch  ganz  unausgenutzt.  Ein  Vogel  stoBt  einen  Sirenen- 
pfiff  aus,  wahrend  Lilian  Harvey  ihren  Strumpf  anzieht  —  aber 
er  tuts  gleich  viermal.  Wenn  Conrad  Veidt  sich  ein  Glas 
Wasser  eingieBt,  so  kann  man  Wetten  abschlieBen,  daB  er  im 
nachsten  Augenblick  das  Wasser  vor  Oberraschung  uber  den 
Rand  flieBen  lassen  wird-  Und  zum  SchluB,  ich  liige  nicht, 
schiebt  sich  ein  Pappschiff  wie  Lohengrins  Schwan  vor  den 
Vollmond,  und  drauf  steht  Napoleons  Silhouette  mit  ver- 
schrankten  Armen. 

Dieser  Film  verdient,  daB  wir  ihn  so  wichtig  nehmen,  Er 
geht,  mit  den  neuesten,  teuersten  Hilfsmitteln  hergestellt,  in 
franzosischer  und  englischer  Version  ins  Ausland.  Aus  den 
Zeitungen  sprudeln  die  Kritiken  wie  Champagner  empor.  Und 
das  Publikum?  Es  ist  schade,  daB  es  fiir  Kinobesucher  keine 
Doubles  gibt.  Ich  kann  mir  Leiite  den  ken,  die  in  diesen  Film 
gem.  den  dussligen  Uralsky  geschickt  hatten,  Dem  hatte  er 
gemundet  wie  himmlisches  Manna. 

676 


Charells  Film  ist  nicht  gedreht  sondern  geieiert,  Man  ver- 
gleiche  ihn  mit  dem  durchaus  nicht  groBartigen,  mit  vicl  weni- 
ger  Ambition  herausgebrachten  „Soir  de  Rafle"  (,,Eine  Razzia 
in  Paris").  Es  ist  fast  dilettantisch,  wie  in  der  ersten  Szene 
die  Atelier-Apachen  zwanglos  durcheinanderspazieren,  aber 
es  ist  fast  genial,  wie  der  Boxtrainer  sich  von  seinem  trottligen 
Schiiler  knock  out  schlagen  lafit,  um  ihm  einen  Scheck  abzu- 
listen.  Der  Regisseur  Carmine  Gallone  fiihrt  einen  gefahr- 
Hch  langen  Boxkampf  mit  ungewohnlichem  Geschick  durch,  er 
gibt  seinem  Schauspieler  Albert  Prejean  alle  notige  Sicherheit; 
und  durch  die  unansehnlich  photographierten  Bilder  leuchtet 
das  Gesicht  der  wunderschonen  Annabella  wie  die  Sonne  an 
einem  miBgelaunten  Novembertag. 

Der  „Brave  Sunder"  aber,  Fritz  Kortners  erster  Film, 
Alfred  Polgars  erster  Film,  Max  Pallenbergs  erster  Film,  gehort 
zum  Besten,  was  in  deutschen  Ateliers  seit  vielen  Jahren 
geschaffen  worden  ist.  Soviel  Humor,  soviel  Klugheit,  soviel 
konzentrierter  FleiB  und  soviel  Talent  sind  lange  nicht  an  einen 
Film  gewendet  worden.  Er  hat  die  liebenswurdigsten,  begluk- 
kendsten  Fehler,  die  ein  Erstlingswerk  haben  kann:  alles  Sarin 
schaumt  iiber,  und  vor  der  Fiille  der  Moglichkeiten  entschlieBt 
man  sich  fiir  keine  ganz.  Dieser  Film  ist  gestopft  wie  eine 
Mastgans;  gestopft  wie  ein  Strumpf;  die  Faden  sind  immer 
wieder  kreuz  und  quer,  dicht  durcheinander  gezogen,  bis  ein 
festes,  etwas  undurchsichtiges  Gespinst  entstand  —  erst  wenn 
man  diesen  betaubenden,  verwirrenden  Film  zum  zweiten  Mai 
gesehen  hat,  wiirdigt  man  recht,  wie  fanatisch  durchgearbeitet 
er  ist,  wie  das  kleinste  Motiv  vorbereitet,  gestiitzt,  begriindet 
wird.  Bewundernswert,  wie  die  Zusammenarbeit  eines  so  ei- 
genwilligen  Regisseurs  und  eines  so  eigenwilligen  Schauspie- 
lers  gegliickt  ist.  (Der  Manuskriptautor,  der  ja  nach  den  Ge- 
wohnheiten  des  heutigen  Filmbetriebs  im  Atelier  zu  schweigen 
hat  wie  das  Weib  in  der  Kirche,  diirfte  von  den  Beiden  ein 
wenig  an  die  Wand  gedriickt  worden  sein.) 

Kortners  Phantasie  ist  malerisch  und  iibersprudelnd,  Pol- 
gars  Epigramme  iibersteigen  durchaus  den  Gesichtskreis  oster- 
reichischer  Oberkassierer,  und  Pallenberg  ist  Clown  im  schon- 
sten  Sinne  des  Wortes.  Deshalb  wirken  Bureau  und  Aktien- 
gesellschaft  als  peinlicher  Erdenrest.  Ein  durchaus  iiberirdi- 
sches  Spiel  entsteht.  Der  Kassierer  redet  mit  Zungen,  mit  wie 
vielen  Zungen,  die  Wirtshausszene  mit  dem  vermeintlichen 
Raubmorder  wird  zu  einem  hinreiBenden  Zirkus,  biedre  Ge- 
haltsempfanger  toben  durchs  Lokal,  kriechen  untern  Tisch,  be- 
lecken  einander  in  etfrigem  Tuscheln,  die  Kamera  tanzt  iiber 
ihren  Kopfen  wie  der  Kniippel  aus  dem  Sack.  Ein  Hut  saust 
durch  eine  Regenlandschaft,  ein  Telephondraht  fesselt  wie  Lao- 
koons  Schlange  den  Bureaulowen,  und  wenn  nach  gliicklicher 
Losung  des  Knotens  die  Glocken  lauten  und  der  Unterkassie- 
rer  spricht:  „Man  konnte  fromm  werdenl",  dann  antwortet  ihm 
Pallenberg:  „Wittek,  warum  gleich  ins  Extreme  stiirzen?"  Das 
ist  hinreifiend,  das  ist  bestes  Oesterreich,  und  von  dieser  Me- 
lodie  aus  hatte  der  ganze  Film  gemacht  werden  miissen.  Statt 
dessen  ist  der  Grundstoff  des  Manuskripts  adalbertisch:  trok- 

677 


ken,  alltaglioh,  unpoetisch,  „Bureau>  ist  ein  innerer  Zustand" 
aber  nicht  der  dieser  drei  Filmkiinstler. 

Die  Bar-  und  Traumszcncn  gehoren  zum  Hiibschesten, 
was  je  auf  einer  Leinwand  zu  sehen  war.  Wie  da  schon  Traum 
ist,  wo  noch  Wirklichkeit  ist;  wic  noch  Wirklichkeit,  wo  schon 
Traum,  Wic  sich  im  Scheinwerferlicht  ein  irdischer  Raum  auf- 
lost  in  ein  gespenstisches  Flackern,  wie  ein  durchaus  glaubwiir- 
diges  Tanzlokal  zur  Holle  wird,  wo  die  kleinbiirgerlichen  Sym- 
bole  des  Lasters  und  des  Verbrechens  Korper  gewinnen  — 
,,eine  sinnliche  Tauschung,  eine  Sinnes  tauschung",  wie  Pallen- 
berg  stammelt.  Die  nackte  Negerin  tanzt,  Messer  sausen  in 
die  heilige  Aktentasche,  und  ganz  sachte  verschwimmt,  in  ge- 
schickten  Spiegel-  und  Zeitlupenaufnahmen,  die  Welt,  ganz 
sachte  wird  sie  Traum,  der  schonste  Traum,  den  die  Filmkunst 
hervorgebracht  hat,  Weder  in  den  ^Geheimnissen  einer  Seele" 
noch  in  „Narkose"  ist  annahernd  solches  erreicht  worden.  Hier 
herrscht  nicht  Phantasterei  und  nicht  Kunstgewerbe;  die 
exakte  Unlogik  des  echten  Traums  holt  jedes  Motiv  aus  der 
Wirklichkeit,  verquickt  Unzusammengehoriges,  weicht  die  re- 
alen  Relationen  auf,  Als  Orgelchoral  ertont  das  Leitmotiv  der 
Defraudation,  das  Lieblingslied  des  betrugerischen  Direktors, 
und  leichenhafte  Stuckengel  blasen  Posaune.  Die  spielerischen 
Einfalle  der  franzosischen  Avantgardisten  sind  hier  zum  ersten- 
mal  in  einen  strengen  Sinn  eingespannt,  Dieser  Traum,  Fritz 
Kortner,  bedeutet  Gliick! 

Der  Film  ist  nicht  leicht,  er  ist  schwer,  Er  hat  einen  un- 
heimlichen,  bosen  Humor.  Manchmal  erklingt  stroheimisches 
Gelachter.  Er  ist  sehr  deutsch.  Wer  eine  zierliche  Kost  er- 
wartet,  wird  sich  den  Magen  verderben.  Gegen  diese  Schwere 
des  Gehalts  ist  nichts  zu  sagen,  wohl  aber  gegen  die  Schwere 
der  Form.  Kortner  wird  in  seinen  nachsten  Filmen  ganz  von 
selbst  eine  losere  Hand  bekommen,  seinen  Einfallen  mehr 
Platz,  mehr  Nahrboden  verschaffen,  so  daB.sie  einander  nicht 
tiberwuchern.  Und  er  wird  ihnen  jene  gewisse  Schlamperei 
und  Lassigkeit  des  Wirklichen  geben,  damit  sie  um  so  starker 
wirken:  diesmal  steht  der  Boy  der  Engelbar  noch  eine  Nuance 
zu  deutlich  vorm  Spiegel,  der  Regen  failt  zu  plotzlich,  der 
Familienkrach  setzt  wie  ein  Leierkasten  ein,  das  Gruppenpor- 
trat  iiberm  Sofa  erscheint  auf  Kommando,  und  der  Direktor 
trallert  mit  zu  absichtlicher  Unabsichtlichkeit  seine  Melodie. 
Noch  wirkt  das  Gewollte  nicht  wie  Zufall,  noch  lauern  die 
Pointen  auf  ihr  Stichwort.  Und  Pallenberg  wird,  vielleicht, 
einsehen,  daB  er  nicht  dann  am  besten  ist,  wenn  er  Schlager- 
Einlagen  bringt,  Text  und  Musik  von  Pallenberg,  wenn  er 
Phonomontagen  zertriimmerter  Satze  ausspuckt,  wenn  er  in 
Monologen  Gehortes  und  Gelesenes  schubweise  laut  verdaut 
(„wieso  irrsinnig  —  wieso  irrsinnig?"),  sondern  dann,  wenn  er 
gar  nic?hts  sagt,  wenn  er  traurig  die  Augen  rollt,  wenn  er 
nichts  ist  als  ein  verschlamptes,  stilles  Stuck  Mensch,  den 
Kneifer  als  bombastische  Bastion  auf  der  Nase,  und  Schnurr- 
bart,  Lippe  und  Kinn  unordentlich  herunterhangend  wie  ein 
schlechtgebundner  Schlips.  Er  braucht  keinen  schiefen  Zylin- 
der  und  keine  rutschenden  Unterhosen,  keine  Auftritte  und 
keine  Abgange  —  es  geniigt,  daB  er  da  ist. 

678 


Der  Theaterdichter  Schnitzler  von  Alfred  p0igar 

17  r  hatte  als  Dramatiker  eine  so  sichere  wie  wcichc  Hand* 
"  Die  voile  Plastik  gelang  ihm  weniger  gut,  als  das  formen- 
zarte  Relief. 

Er  war  ein  romantischer  Skeptiker.  In  seinen  Dramen 
w  end  en  die  Versuche,  des  eignen  Schicksals  Schmied  zu  sein, 
als  ohnmachtig,  die  schrullenhafte  Ordnungt  in  der  das  irdische 
Geschehen  abrollt,  als  undurchschaubar  erkannt,  und  iiber  Tod 
und  Leben,  GroBe  un<l  Kleinheit,  Wollen  und  Konnen  das 
Zeichen   eines   wehmiitig   fatalistischen  Lachelns   gesetzt, 

* 

Auch  das  Bittere  und  Bose  in  seinen  Stiicken  ist  unroh 
dargestellt.  Auoh  wo  Anklage  erhobcn  wird,  geschieht  dies 
mit  dem  merkbaren  Vorbehalt,  daB  der  Kreatur,  schon  weil  sie 
dies  ist,  mildernde  Umstande  zuzubilligen  sind,  Selbst  das 
Tragische  bei  Schnitzler  hat  eine  Art  von  Sanftheit,  Langsam 
offnet  sich  die  Hand  der  Nacht  und  laBt  das  Finstre  frei.  Das 
Unheil  kommt  auf  Zehenspitzen. 

In  den  Dramen  dieses  Wieners  scheint  das  Schwarze  noch 
wie  konzentriertestes  Blau. 

* 

Schnitzlers  Theaterfiguren  haben  Neigung,  in  sich  selbst 
zu  schauen,  aus  Kellern  ihres  BewuBtseins  Versenktes  ans 
Tageslicht  zu  fordern.  (Ich  schrieb  einmal  respektlos,  er  fiihre 
seine  Figuren  „innerln'\)  Es  sind  geistgepflegte  Menschen,  fein 
und  verhalten,  die  auf  gepflegten  Lebenspfaden  lust-  oder 
trauerwandeln,  Ihr  Vethangnis  ist,  daB  sie,  was  sie  tun,  zu  spat 
oder  zu  friih  tun.  So  ist  iiberhaupt  das  Leben  im  Schnitzler- 
schen  Spiegel:  nichts  kommt  rechtzeitig,  aber  gewiB  kommt 
der  Tod.     Und  vor  ihm  die  groBe  Einsamkeit. 

* 

Zwischen  den  Lebenden  flieBt  ein  Dunkles,  sie  reichen 
daruber  hin  die  Hand,  aber  kaum  ihre  Fingerspitzen  beriihren 
einander.  Wie  ein  Kunstlaufer  zieht  das  Schicksal  gewagte 
Kurven,  die  sich  schon  und  sinnvoll  ineinander  schlingen,  Be- 
ziehungen  verschwinden  spurlos,  wirken  unterirdisch  weiter, 
tauchen  iiberraschend  wieder  ans  Tageslicht,  Parallelen  gehen 
lange  nebeneinander,  bis  sie  erkennen,  daB  sie  sich  erst  in  der 
Unendlichkeit  schneiden,  Sieger  werden  besiegt,  festeste  Bin- 
dungen  reiBen,  zarte  erweisen  sich  stark  wie  Eisenketten. 

In  Schnitzlers  dichterischem  Charakter  verschmeizen  Hei- 
terkeit  des  Herzens  und  Melancholie  des  Geistes.  Er  war 
mifitrauisch  gegen  diesen.  Den  Boden  seines  Werks  decken 
welke  Blatter  vom  Baum  der  Erkenntnis.  Er  verwertete  ihr 
Rascheln  musikalisch, 

* 

In  der  wienerisch  weichen  Luft  seiner  Biihnenspiele  hat 
noch  die  Satire  Genuit,  die  Langeweile  Anmut,  die  Gleich- 
giiltigkeit  Kultur;  und  alle  Oberflache  eine  Opalfarbe,  die  ver- 
hehlt,  ob  die  Stelle.  seicht  ist  oder  tief. 


679 


Auffallend,  wie  haufig  in  seinen  Theaterstticken  das  Pra- 
sens  vom  Perfcktum  crschlagcn  wird,  ein  gcwescncs  Drama 
ins  Gegenwartige  hineinspielt,  wie  oft  Gespenster  erscheinen, 
—  ,,revenants"  sagt  praziser  die  franzosische  Sprachc  — ,  um 
die  Lebenden  zu  verwirren.  Ibsen  in  Wienerwaldes  Luft. 
Immer  scheint  Schnitzler  bemiiht,  die  eherne  Folgerichtigkeit 
alles  Geschehens,  als  weltanschaulichen  Grundgedanken,  zur 
Geltung  zu  bringen.  „Man  muB  die  Zusammenhange  begreifen" 
meint,  im  ,,Ruf  des  Lebens",  Leutnant  Max. 

Fast  jede  seiner  dramatischen  (und  auch  epischen)  Arbei- 
ten  riihrt  an  das  Problem  des  Todes,  Das  ist,  unter  anderm, 
auch  ein  Kunstmittel:  im  Licht  der  untergehenden  Sonne 
werfen  selbst  kleine  Dinge  grofie  Schatten. 

* 

Schnitzlers  beruhmte  Verszeile  ,fWir  spielen  alle,  wer  es 
weiB,  ist  klug'*  gibt  den  Extrakt  seines  Weltgefuhls.  Auch 
was  Wahrheit  heiBt,  gait  ihm  nur  als  fragwurdiger  Sinn,  sol- 
chem  Spiel  —  einem  Vernunft-Bediirfnis  folgend  —  unter- 
legt,  ohne  dafi  es  dadurch  andres  wiirde  als  Spiel;  ein 
Spiel,  in  dem  der  Masken  mehr  sind  als  der  Gesichter,  der 
leidenschaftlichen  Gebarden  mehr  als  der  Leidenschaften,  und 
in  dem  die  Spieler  mehr  Blut  und  Geist  fatieren,  als  sie  haben. 

Er  blickte  auf  das  Leben  heiter,  weil  es  immerzu  wieder 
aus  dem  Tod  entspringt,  und  mit  Resignation,  weil  es  immerzu 
wieder  in  den  Tod  miindet,  Er  betrachtete  die  Welt  liebevoll 
und  gestaltete  liebevoll,  was  er  sah.  Aber  als  sie  ins  Wariken 
kam,  kamen  schlechte  Zeiten  fur  geruh-  und  empfindsame  Be- 
trachter,  und  im  Angst-  und  Wutgeschrei  einer  von  Panik  er- 
griffenen  Welt  verhallte  das  Wort  des  Dichters,  der,  trotzdem 
die  Konjunktur  so  dringend  dazu  riet,  nicht  aufhoren  mochte, 
einer  zu  sein. 


RiSSe  im  Sfahl-Konzem  von  Bernbard  Citron 

Cs  war  einmal  ein  Haus,  ganz  aus  Stahl,  ausgestattet  mit 
"  allem  Luxus  der  Gegenwart,  gewaltig  wie  kein  zweites  im 
Lande.  Die  ehernen  Wande  waren  undurchdringlioh,  jeder  Pfei- 
ler  stiitzte  sich  auf  einen  andern  von  gleicher  Gediegenheit.  Die 
Besitzer  riihmten  ihr  Haus  als  das  festeste,  das  sich  denken 
lieBe.  Da  eines  Tages  wankte  der  Koloss,  denn  er  stand  auf 
tonernen  FuBen.1*  Diese  Fabel,  die  kein  Marchen  ist,  spielt 
im  Jahre  1931,  in  ihrem  Mittelpunkt  stehen  die  Vereinigten 
Stahlwerke,  der  groBte  Montantrust  Europas. 

Als  sich  im  Jahre  1926  die  aus  den  Triimmern  des  Stinnes- 
krachs  gerettete  Rhein-Elbe-Union  (heute  Gelsenkirchen  Berg- 
werks  A,-G.)(  der  Phonix,  die  Rheinischen  Stahlwerke  und  die 
Thyssen-Werke  vereinigten,  da  war  ihr  Ziel  Kostenersparnis 
durch  Zusammenlegung  gleichartiger  Betriebe  sowie  durch  Zu- 
sammenarbeit  bisher  getrennter  Steinkohlenzechen  und  Koke- 
reien,  Eiseri-  und  Stahlwerke,  Hiitten  und  Erzf elder.     Die  fol- 

680 


gende  Periode  stand  im  Zeichen  der  Rationalisierung.  Wiedcr 
sollte  gespart  werden,  abcr  die  Abwicklung  dieses  „Sparpro- 
gramms"  hat  im  Laufe  der  letzten  ftinf  Jahre  fast  400  Millio- 
nen  Mark  verschlungen.  Indessen  ist  im  gleichen  Zeitraum  dei" 
Gesamtumsatz  um  etwa  40  Prozent  gesunken.  Nachdem  1928 
und  1929  der  Hohepunkt  mit  fast  IK  Milliarden  erreicht  war, 
begann  ein  rasches  Abgleiten  bis  auf  840  Millionen  in  dem  am 
30,  September  1931  beendeten  Geschaftsjahr.  Wie  Iassen  sich 
bei  einer  derartigen  Geschaftsschrumpfung  die  Rationalisie- 
rungsunkosten  herauswirtschaften,  wie  kann  das  zu  derartigen 
Zwecken  aufgenommene  Kapital  amortisiert  werden?  Im  Ge- 
schaftsbericht  fur  das  Jahr  1928/29  hiefi  es:  ,,Unterbleibt  diese 
grundsatzliche  Umstellung  (des  Finanz-  und  Steuersystems  mit 
dem  Ziel  verstarkter  Neubildung  von  Eigenkapital.  Der  Verfas- 
ser),  so  wird  die  mit  groBen  Mitteln  durchgefiihrte  mehrjahrige 
Rationalisierungsaktion  der  deutschen  Industrie  statt  der  er- 
warteten  Hebung  der  Wettbewerbsfahigkeit  im  Ergebnis  nur 
eine  erhohte  Verschuldung  der  Betriebe  der  deutschen  Wirt- 
schaft  und  vermehrte  Arbeitslosigkeit  bedeuten."  Da  es  sich 
bei  der  geforderten  ^Umstellung"  doch  nur  um  eine  rhetorische 
Floskel  handelte,  denn  auch  der  Stahlverein  konnte  nicht  er- 
warten,  daB  irgend  eine  deutsche  Regierung  auf  Steuern  und 
Sozialmafinahmen  verzichten  wird,  sah  man  fiir  die  Gesamt- 
wirtschaft  bereits  sehr  schwarz.  In  diesem  und  in  erhohtem 
MaBe  in  dem  Geschaftsberichte  1929/30  finden  wir  einen  auf- 
fallenden  Gegensatz  zwischen  dem  Pessimismus,  mit  dem  die 
allgemeine  Lage,  und  dem  Optimismus,  mit  dem  die  Situation 
bei  den  Vereinigten  Stahlwerken  geschildert  wird,  Wenn  von 
kostspieliger  Rationalisierung  und  Verschuldung  der  Wirtschaft 
die  Rede  ist,  dann  4en^t  man  im  stillen  an  sich  selbst,  ohne 
es  nach  auBen  hin  zuzugeben.  Die  deutsche  Industrie  hat  in 
den  Nachkriegsjahren  die  Sitte  angenommen,  vor  den  Geld- 
gebern  im  Pelz  und  vor  dem  Fiskus  in  Lumpen  zu  erscheinen. 
Rascher,  als  sie  es  selbst  geglaubt  haben,  behielten  die  Indu- 
striellen  mit  ihren  pessimistischen  Darstellungen,  die  vermutlich 
gar  nicht  immer  so  ernst  gemeint  waren,  recht,  Wie  die  Ver- 
waltung  der  Vereinigten  Stahlwerke  vor  zwei  Jahren  in  dem 
angefuhrten  Geschaftsbericht  selbst  erklarte,  ist  die  Rationali- 
sierung mit  Krediten  durchgefiihrt  worden.  Ztizugeben  ist  aller- 
dings,  daB  andre  nicht  zum  Stahltrust  zahlende  Industrieunter- 
nehmungen  in  dieser  Beziehung  noch  viel  weitherziger  gewesen 
sind.  Die  Kohlengewerkschaft  Ewald  hat  zum  Beispiel  ihre 
Stickstoffabrik  ausschlieBlich  mit  Bankkrediten  finanziert.  Die 
Vereinigten  Stahlwerke  haben  iiberwiegend  langfristige  Ver- 
pflichtungen,  aber  allein  das  Anleinekonto  von  einer  halben 
Milliarde  ist  nicht  leicht  in  einem  Jahre  zu  verzinsen,  in  dem 
eine  Rentabilitat  der  Betriebe  nicht  zu  erzielen  war.  Die  Still- 
legungen  nahmen  in  den  letzten  Monaten  einen  derartigen  Urn- 
fang  an,  daB  man  anscheinend  auf  jede  Kapazitatsausnutzung 
langst  verzichtet  hat  und  sich  auch  gar  nicht  mehr  um  die  Ren- 
tabilitat bemiiht,  sondern  das  einzige  Bestreben  hat,  die  Reser- 
ven  nach  Moglichkeit  zu  schonen.  Das  Vorgehen  der  Vereinig- 
ten Stahlwerke  gleicht  dem  Befehl  an  eine  verzweifelt  kamp- 
fende  Truppe,   trotz  feindlicher  Angriffe  Patronen  zu  sparen, 

681 


Den  groBten  Teil  ihrer  Anlagen  haben  die  Holdinggesell- 
schaften  des  Stahlvereins  am  Tage  des  Zusammenschlusses  ein- 
gebracht.  Sie  selbst  sind  mehr  oder  weniger  nur  noch  Finanz- 
gesellschaften,  Ihr  Hauptaktivum  stellt  der  Besitz  an  Vereinig- 
ten  Stahlwerke-Aktien  dar.  Wer  die  Holdinggesellschaften  be- 
herrscht,  beherrscht  den  Stahlverein,  Einem  Mann  gelang  es, 
allmahlich  auf  dem  Wege  iiber  die  Holdings  die  Macht  im  Stahl- 
verein  an  sich  zu  reiBen.  Dieser  Mann  heiBt  Friedrich  Flick- 
Da  er  als  Majoritatsbesitzer  der  mit  20  Millionen  Aktienkapi- 
tal  ausgestatteten  Charlottenhutte  und  als  erfolgreicher  Paket- 
handler  in  mittel-  und  ostdeutschen  Werten  ein  ansehnliches 
Vermogen  zusammen  zu  bringen  vermochte,  gelang  es  ihm,  in 
den  groBten  Stahlvereins-Holding  einzudringen,  das  Gelsen- 
kirchen  Bergwerk.  Dabei  half  inm  die  Bereitschaft  Voglers, 
den  Wiinschen  des  neuen  Mannes  willfahrig  zu  sein,  und  die 
Unterstutzung  der  Banken,  die  das  fehlende  Kapital  vorstreck- 
ten,  Gelsenkirchen  wiederum  erwarb  die  Phonix-Majoritat 
Dieser  beherrscht  seinerseits  die  Stahlwerke  Zypen  &  Wissen. 
Auch  hierbei  leisteten  die  Banken  —  vor  allem  die  Danat- 
bank  —  Helferdienste.  Die  Verpflichtungen  der  Flick-Gruppe 
festztistellen,  ist  nur  schwer  moglich.  Als  das  Projekt  einer  , 
Obernahme  der  Darmstadter  Bank  durch  die  Industrie  auf- 
tauchte,  hieB  es  allgemein,  dafi  es  sich  urn  eine  Rettungsaktion 
fur  den  Schuldner  Flick  handele.  Diese  Behauptung  wurde 
damals  energisch  dementiert.  Tatsachlich  diirfte  der  groBte  Teil 
seiner  Schulden  bei  einem  andern  Institut  liegen,  bei  dem  auch 
Otto  Wolff  seine  Stahlvereinsaktien  lombardiert  hat.  Von  einer 
dem  Beherrscher  des  Stahlvereins  nahestehenden  Seite  erfuhr 
ich  bereits  vor  einigen  Mjonaten,  daBes  zwar  ganz  selbstverstand- 
lich  sei,  dafi  ein  Mann  wie  Flick,  der  von  Hause  aus  verhaltnis- 
maBig  wenig  besaB,  seine  Position  nur  mit  Hilfe  von  Bankkredi- 
ten  erobern  konnte,  daB  aber  diese  Kredite  langfristig  seien, 
Der  Begriff  langfristig  hat  sich  in  dieser  kurzlebigen  Zeit  auBer- 
ordentlich  gewandelt,  man  hat  auch  die  63  Millionen  Mark  aus 
der  Dollaranleihe  der  Gelsenkirchen  Bergwerks  A.-GM  die  1934 
fallig  werden,  als  langfristigen  Kredit  bezeichnet.  Es  ist  kaum 
anzunehmen,  daB  die  unmittelbaren  Verpflichtungen  Flicks  eine 
langere  Laufzeit  haben,  eher  eine  kurzere. 

Betrachten  wir  nur  die  Flickschen  Interessen,  miissen  wir 
eine  merkwurdige  Feststellung  treffen.  Sowohl  Gelsenkirchen  als 
auch  Phonix  haben  noch  in  der  Bilanz  vom  31.  Marz  1931  den 
Besitz  an  Stahlvereins-Aktien  mit  100  Prozent  ausgewiesen, 
obwohl  der  Kurs  zur  Zeit  der  Bilanzveroffentlichung  etwa  50 
Prozent  betrug.  Der  letzte  bekanntgegebene  Kurs  war  20  Pro- 
zent, und  es  sei  verraten,  daB  der  gegenwartige  nicht  unwesent- 
lich  niedriger  ist.  Unter  den  364  Millionen  Beteiligungen  und 
Wertpapieren  in  der  letzten  Gelsenkirchen-Bilanz  befanden  sich 
330  Millionen  Stahlvereins-Aktien,  die  heute  fast  85  Prozent 
niedriger  sind  als  ihr  Bilanzwert.  Nehmen  wir  an,  daB  sich 
34  Millionen  sonstige  Beteiligungen  auf  20  Millionen  ermaBigt 
haben  und  stellen  wir  bei  dem  Stahlvereins-Besitz  einen  Riick- 
gang  auf  rund  50  Millionen  fest,  so  wurde  bei  ehrlicher  Bilan- 
zierung  das  Konto  Effekten  und  Beteiligungen  bei  Gelsenkir- 
chen von  364  auf  70  Millionen  gesunken  sein.    Die  Entschuldi- 

682 


gung,  daB  es  sich  bei  dem  Stahlvereinsbesitz  urn  cine  dauernde 
Anlage  handelt,  die  nicht  verauBert  werden  soil,  hat  unter  den 
heutigen  Verhaltnissen  keine  Giiltigkeit*  mehr.  Ahnlich  verhalt 
es  sich  beim  Phonix,  der  statt  228,5  jetzt  nur  noch  45  Millio- 
nen  Effekten  und  Beteiligungen  ausweisen  diirfte.  Fehlende 
Rentabilitat,  hohe  Schulden  und  entwertete  Aktiven  zeigen 
deutlich,  daB  sowohl  die  Vereinigten  Stahlwerke  als  auch  die 
Holdinggesellschaften  im  hochstem  Grade  illiquide,  sind.  Diese 
Feststellung  .mtiB  schon  vor  der  Bilanzpublikation  des  Stahl- 
vereins  getroffen  werden.  Verhangnisvoll  fur  unser  ganzes 
Wirtschaf tsleben,  besonders  aber  fiir  die  schwer  betrof f ene 
Arbeiterschaft,  ist  es,  daB  die  durch  Finanztransaktionen  erlit- 
tenen  Verluste  zu  Stillegungen  gefuhrt  haben  und  noch  weiter 
fiihren  sollen.  Es  fehlt  einfaoh  das  Geld  zur  regularen.  Fort- 
fiihrung  der  Betriebe.  In  dieser  Situation  hat  das  Reich  das 
Recht  und  die  Pflicht,  einzugreifen  und  nicht  erst  abzuwartent 
bis  es  um  finanzielle  Hilfe  angegangen  wird.  Wenn  die  gegen- 
wartigen  Machthaber  des  Stahlvereins  nicht  mehr  in  der  Lage 
sein  sollten,  die  Kapazitat  bis  zu  den  produktions-  und  absatz- 
technisch  bedingten  Grenzen  durchzufiihren,  dann  muB  noch 
vor  einer  etwaigen  MSozialisierung  der  Verluste"  das  Reich 
iiber  jene  fiir  Deutschlands  Wirtschaft  unentbehrlichen  Betriebe 
selbst  die  Kontrolle  ausiiben. 

Herbstnacht  in  Berlin  von  Erich  Kastner 

^"achts  sind  die  StraBen  so  leer. 

Nur  ganz   mitunter 
markiert  ein  Auto  Verkehr. 
Ein  Rudel  bunter 
raschelnder   Blatter   j[agt  hinterher. 

Die  Blatter   jagen   und   hetzen, 
Und  doch  weht  kein  Wind. 
Sie  rascheln  wie  Fetzen  und  hetzen 
und  folgen  geheimen  Gesetzen, 
obwohl   sie  gestorben   sind. 

Nachts  sind  die  StraBen   so   leer. 
Die   Lampen  brennen   nicht   mehr. 
Man  geht  und  mochte  nicht  storen. 
Man  konnte   das   Gras   wachsen  horen, 
wenn  Gras   auf  den  StraBen  war. 

Der  Himmel  ist  kalt  und  weit. 
Auf  der  MilchstraBe  hats  geschneit, 
Man  hort  seine  Schritte  wandern, 
als  waxen  es  Schritte  von  andern 
und  geht  mit  sich  selber  zu  zweit. 

Nachts  sind  die  StraBen  so  leer. 
Die  Menschen  legten   sich   nieder. 
Nun  schlafen  sie,   treu   und  bieder. 
Und  morgen  fallen  sie  wieder 
tibereinander  her. 

683 


Bemerkungen 

Persien  und  Preufien 

Die  Tatsache  der  literarischen 
Betatigung  einer  Gruppe  von 
oppositionellen  Persern  gegen 
ihren  Feind,  den  Schah  Risa 
Khan,  und  gegen  sein  Regierungs- 
system  hat  zu  einem  Konflikt 
Persiens  mit  dem  Reich  gefiihrt, 
der  fast  die  unabsehbare  Folge 
eines  Abbruchs  der  diplomati- 
schen  und  wirtschaftlichen  Be- 
ziehungen  gehabt  hatte.  Das 
Reich  hat  nachgegeben.  Persiens 
Gesandter,  Mohamed  Ali  Khan 
Farzine,  wird  ebensowenig  ab- 
reisen  wie  sein  deutscher  Kollege 
in  Teheran,  von  Blucher.  Alle, 
nur  Persien  nichtf  haben  nachge- 
geben. Auch  die  sozialdemo- 
kratische  PreuBenregierung  hat 
nachgegeben.  Auf  der  Strecke 
blieb  eines  der  vornehmsten  in- 
ternationalen  Gebote:  das  poli- 
tische  Asylrecht.  Man  verweigerte 
es  dem  Studenten  Alawi,  indem 
man  ihn  aus  PreuBen  auswies. 

Als  der  Unterzeichnete  vor  acht 
Monaten  die  Verantwortung  fur 
die  Herausgabe  der  persischen 
Oppositionszeitung  fPeykar*  iiber- 
nahm,  geschah  dies  unter  voller 
Verantwortung  und  in  der  fest- 
stehenden  Gewifiheit,  dafi,  wie  es 
1928  beinahe  schon  einmal  ge- 
schehen,  die  preufiische  Regierung 
der  persischen  Opposition  das 
Asylrecht  verweigern  werde,  falls 
die  Herausgabe  von  dieser  Seite 
aus  preBverantwortlich  geschehe. 
Aber  dieses  Meisterstiicks  hielt  er 
die  preufiischen  Behorden  denn 
doch  nicht  fur  fahig,  dafi  sie  mit 
einer     Ausweisung     gegen     einen 


Auslander  vorgehen  werde,  der 
preBgesetzlich  weder  als  verant- 
wortlicher  Redakteur  noch  als 
Herausgeber  fungierte.  Man  brach 
dem  Studenten  Alawi  gegenuber 
das  Asylrecht  mit  keiner  bessern 
Handhabe  als  einer  Denunziation 
aus  den  Kreisen  der  persischen 
Gesandtschaft,  und  man  brach 
fernerhin  deutsches  geltendes 
Presserecht.  Hiermit  sind  wir 
schon  nicht  mehr  in  Preufien,  son- 
dern  bereits  in  Persien  angelangt, 
Die  deutsche  Selbsterniedrigung 
vor  einem  auslandischen  Poten- 
taten  hat  damit  keineswegs  ihr 
Ende  gefunden.  Leute,  die  sich 
mit  Verfassungsfragen  abgeben, 
behaupten,  dafi  Deutschland  und 
Persien  eins  gemeinsam  haben : 
beide  wiirden  konstitutionell  re- 
giert,  Deutschland  unter  einem 
Reichsprasidenten,  Persien  von 
einem   Schah. 

Die  Zeitschrift,  in  der  Leo 
Matthias  seinen  Aufsatz  ,,Der 
Kaiser  ohne  Herkunft"  schrieb, 
soil  unter  dem  Druck  der  per- 
sischen Wirtschaftskriegserkla- 
rung  eine  Berichtigung  bringen, 
in  der  sie  de-  und  wehmiitig  von 
thremAutor  abruckt.  Persien  for- 
derte  mehr.  Persien  forderte  ein 
Verbot  der  Zeitschrift!  Herr  Le- 
gationsrat  Grobba  vom  Auswarti- 
gen  Amt  sah  leider  noch  keine 
Moglichkeit,  auf  das  bayrische  In- 
nenministerium  einzuwirken,  die 
ungeschriebenen  Teheran^r  Ge- 
setze  auf  die  fMunchner  Illustrierte 
Presse*  anzuwenden.  Wir  wollen 
aus  einer  deutschen  Veroffent- 
lichunrf   (Mitteilung   der  Deutsch- 


^    •^^  f         J&^P  ^  unbestedilidhen 

r-Aj^   / ) ^f *-$*./* ^s  S&B^^  Rauchers  kommt immer 

^^X  "^*%*^  vm^T^  zu  dem  gleichen  Urteil: 

„llbep  eine  ibdulla  geht  nichts!" 

Standard            .  .  o/M.  a.  Gold Stock    5  Pfg. 

Herrenformat  .  .  o/M.   ........  StoA    6  Pfg. 

Virginia  Wr.  7   .  .  o/M. Stock    8  Pfe. 

Egyptian  Nr.  16  .  o/M.  o.  Gold  .....  StOck  10  Pfg. 

Abdulla~Cigareitengeniefien  Weltrni! 

Abdnlla  &  Co.       •       Kairo      J       London      /       Berlin 

684 


Persischen  Gesellschaft,  1.  Okto- 
ber  1929)  und  nicht  atis  einer 
,,truben"  persischen  Quelle  einen 
Parallelfall  dazu  von  Dutzenden 
herausgreifen.  Am  25.  August 
1929  verwahrte  sich  ein  Herr  von 
Vassenhove  im  ,Messager  de  Te- 
heran' dagegen,  in  einem  Artikel 
vom  1.  August  1929  im  .Temps' 
beleidigende  Ausdrticke  ^  f.  gegen 
Persien  gebraucht  zu  haben.  Dies 
wurde  ihm  namlich  von  Teheran 
vorgeworfen.  Hatte  sich  Persien 
.mit  einem  Ersuchen  an  die  fran- 
zosische  Regierung  gewandt,  den 
♦Temps*  zu  verbieten,  es  hatte 
liochstwahrscheinlich  dieselbe  Ant- 
wort  erhalten  wie  kiirzlich,  als 
es  von  Frankreich  vergeblich  die 
Ausweisung  eines  Oppositionel- 
len  verlangte,  Nicht  einmal  Per- 
siens  in  Italien  bestellten  Kano- 
nenboote  und  sein  mit  dem  deut- 
schen  konkurrierender  Militar- 
etat  hatten  Laval  und  Briand  zur 
Nachgiebigkeit  gereizt! 

Grzesinski  hat  die  Halbmonats- 
schrift  ,Peykar'  auf  sechs  Monate 
verboten.  Nach  anfanglichen  Be- 
schlagnahmen  wegen  „beleidigen- 
der  AuCerungen  gegen  den  Schah" 
und  nach  einer  Praventiv- 
beschlagnahme  (so  hellhorig  war 
die  preuBische  Politische  Polizei  !■) 
bot  die  Schrift  fiinf  Monate  lang 
keine  Handhabe  zu  irgend- 
welchen  Zwangsverfiigungen,  da 
die  Schriftleitung  eine  gemaBigte 
Linie  einzuhalten  bestrebt  war. 

In  der  endgtiltigen  Verbots- 
begrundung  vom  23.  Oktober  1931 
steht  dagegen  die  Ungeheuerlich- 
keit,  daB  fortgesetzte  Beleidigun- 
gen  dazu  gefiihrt  hatten,  die  wirt- 
schaftlichen  Beziehungen  zwi- 
schen  dem  Persischen  Staat  und 
dem  Deutschen  Reich  wesentlich 
zu    beeintrachtigen.       „Damit     ist 


und  wird  zugleich  die  offentliche 
Sicherheit  und  Ordnung  ge- 
fahrdet/' 

Nicht  auszudenken,  wenn  die 
undisziplinierten  persischen  Op- 
positionellen  sich  auf  dem  Alex- 
anderplatz  verkehrsstorend  zu- 
sammenrotten  sollten,  urn,  im 
Angesicht  des  Polizeiprasidiums, 
im  Sprechchor  in  Schmahungen 
gegen   ihren   Schah  auszubrechen ! 

Damit  diirfte  der  letzte  Beweis 
daftir  erbracht  sein,  dafi  wir  in 
der  Tat  in  Persien  leben! 

Carl  Wehner 

Es  pafit  nicht  ins  Schema 

XVT  enn  groBe  Verbrechen  ge- 
"  schehen  und  groBe  Beloh- 
nungen  fur  ihre  Aufklarung  aus- 
gesetzt  werden,  so  erstickt  die 
Polizei  bekanntlich  in  einer  Fulle 
von  Mitteilungen,  Beobachtungen, 
Denunziationen.  95  Prozent  da- 
von  sind  unbrauchbar;  der  Krimi- 
nalbeamte  sondert  den  wichtigen 
Rest  aus  und  verfolgt  die  Spuren, 
die  zum  Ziele  fiihren  konnten. 
Selbstverstandlich  passiert  es 
auch  dem  Geschultesten,  daB  er 
einer  vollig  falschen  Spur  nach- 
jagt  oder  die  richtige  unbeachtet 
lafit.  Der  letztgenannte  Fall  hat 
sich  auch  bei  den  Eisenbahnatten- 
taten  von  Jiiterbog  und  Bia  Tor- 
bagy  ereignet,  und  zwar  — :  das 
ist  immerhin  bemerkenswert  —  er 
hat  sich  gleich  zweimal  ereignet: 
in  Ungarn  hat  eine  Frau  eine  An- 
zeige  gegen  Matuschka  '  gemacht, 
weil  seine  Sprengstoffeinkaufe  ihr 
verdachtig  waren,  und  in  Jiiter- 
bog hat  der  Besitzer  des  Hotels 
zur  Eisenbahn  Verdachtsmomente 
gegen  einen  Gast  zu  Protokoll 
gegeben,  die  unter  anderm  den 
ersten  Hinweis  auf  die  wirkliche 
Nationality   des   Attentaters  ent- 


DAS  PRIVATLEBEN 

DER  SCH3NEN  HELENA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Helena  vertritt  die  Frau  von  Troja  bis  heute,  hinraiBend  und  geffihrlich  !n  SchCn- 
heit,  Intuition  und  Oberzeugungskraft  Der  Lebensphllosoph  Erskine 


£Ibt  in  dem  heiteren  Rahmen  dieses  Buches  seine  Anslcht  Uber 
iebe  und  Ehe,  Konvention  und  Sitte  wieder.  % 

TRANSMARE  VERLAQ  A.-G.,  BERLIN  W  10 


Lelnen 

3.75  RM 


685 


hielten;  dcr  Gast  war  mit  Ma- 
tuschka  identisch.  Aber  jene  An- 
zeige  ist  nicht  weitergeleitet  und 
dieser  Hinweis  nicht  beachtet 
worden,    Warum  nicht? 

Offensichtlich,  weil  sie  nicht 
ins  Schema  gepaflt  haben.  Der 
ungarische  Gendarmeriewacht- 
meister  hielt  es  fur  ausgeschlos- 
sen,  dafi  ein  angesehener  Herr, 
cin  Gutsbesitzer,  mit  einem  sol- 
chcn  Verbrechen  in  Zusammen- 
hang  stehe;  er  befiirchtete  Unan- 
nehmlichkeiten  iibclster  Art, 
wenn  er  sich  iiberhaupt  mit  der 
Geschichte  befasse,  also  lieB  er 
die  Anzeige  lieber  ganz  unter  den 
Tisch  fallen;  das  steht  fest.  Man 
sieht  die  vermutlich  schnauzbar- 
tige  Zierde  der  magyarischen 
Obrigkeit  jetzt  formlich,  das 
Schwert  des  Disziplinarverf  ahrens 
,, iiber  dem  Nacken",  in  seiner 
dorflichen  Polizeistation  hocken 
und  die  Verzweiflungstone  Fa- 
ninals  skandieren:  Soo  — ei — nen 
Herrn  —  Soo  —  ei — nen  Herrn 
...!  Wodurch  hingegen  die  Pas- 
sivitat  der  Untersuchungskom- 
mission  von  Kloster  Zinna  ver- 
schuldet  wurde,  dartiber  liegen 
auch  heute  noch  keine  endgiilti- 
gen  Angaben  vor;  es  ist  lediglich 
ngenaueste  Untersuchung"  zuge- 
sagt,  Vielleicht  darf  man  den 
Herrn  durch  ein  kleines  Pri- 
vatissimum  in  Untertanenpsvcho- 
logie  ihre  Arbeit  etwas  erleich- 
tern? 

Die  Schlusse  drangen  sich 
namlich  ganz  von  selbst  aus  den 
Aussagen  des  j  iiterboger  Eisen- 
bahnwirts  auf.  Er  wurde  damals 
gefragt,  ob  er  seinen  Gast  der 
"Teilnahme  an  einer  kommunisti- 
schen  Versammlung  verdachtig  — 
Verzeihung;  fahig  —  balte  und 
bekundete  entschieden  das  Gegen- 
teil:  der  Gast  habe  den  Eindruck 
eines    friihern    Offizers    gemacht. 


Mit  dieser  Bemerkung,  so  muB 
befiirchtet  werden,  war  die  Aus- 
ssage  wertlos  geworden,  die  Spur 
brauchte  nicht  weiter  verfolgt  zu 
werden.  Es  soil  durchaus  nicht 
gradezu  behauptet  werden,  die 
preuOische  Kriminalpolizei  sehe 
einen  Mann,  der  wie  ein  friiherer 
Offizier  wirkt,  ein  fur  alle  Mai 
als  iiber  den  Verdacht  eines  je- 
den  Verbrechens  erhaben  an, 
Aber:  wie  war  doch  das  Schema, 
meinetwegen  die  Theorie,  die 
man  sich  damals  iiber  das  Atten- 
tat von  Jiiterbog  gebildet  hatte? 
HieB  sie  nicht  in  den  Anfangen 
der  Untersuchung  „Kommunisti- 
sche  Terroraktion  und  plumper 
Ablenkungsversuch  nach  der  Ge- 
genseite  durch  Hinlegen  des 
,Angriffs"'?  Denn  Kommunisten 
sprengen  Ziige  in  die  Luft, 
oder  auch  Nationalsozialisten, 
oder  Reichsbannerleute;  auf  je- 
den  Fall  Manner,  die  poli- 
tisch  aktiv  und  somit  verdach- 
tig sind.  Leiferde?  Das  hatten 
wir  fast  vergessen.  Arbeitslose 
tun  so  was  auch  gelegentlich, 
Aber  Gutsbesitzer  und  friihere 
Offiziere?  Das  ist  ausgeschlos- 
sen.  Da  miiCten  sie  ja  wahnsinni^ 
sein.  Das  ist  Matuschka  auch? 
Schade;  das  hatten  wir  ganz  ver- 
gessen, dafi  es  das  wirklich  gibt. 
Daran  ist  auch  blofi  Siegmund 
Freud  schuld. 

Aber  selbst  die  Theorie  „nur 
ein  Wahnsinniger  kann  die  Tat 
vollbracht  haben"  ware  falsch  ge- 
wesen,  sobald  man  ihr  zuliebe  alle 
andern  Moglichkeiten  a  priori 
ausgeschaltet  hatte.  Jede  Theorie 
ist  namlich  falsch,  die  ins  Schema 
entartetj  das  zeigt  sich  immer 
wieder.  Jeder  verniinftige  Mensch 
bemerkt  es,  die  Kriminalistik  hin- 
gegen scheint  eine  unausrottbare 
Anhanglichkeit  an  ihre  Scheu- 
klappen  zu  haben,    Sie  sollte  aus 


!ltllllH!!li!i!llilllli!ltlHill!lillllflll!!ll 


ADAM  UND  EVA 


Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Adam,  ein  wunderbarer  tolpatschiger  Burscho,  steht  immer  wieder  verblQfft  vor  den 
Wandelbarkeiten  der  beiden  Frauen:  Lilith  und  Eva,  der  Geliebten 
und  der  graBlich  Legitimen.    Alles,  was  zwischen  Mann  und  Frau 
existiert,  wird  in  diesem gelstreichen,  wltzigen Buche ausgesprochen. 


TRANSMARB  VERLAG  A.-Q.,  BERLIN  W  10 

6.86 


Leinen  , 

3.75  RM 


ihren  Fehlern  lernen  und  sich 
ohne  Vorurteil,  ohne  andre  als 
technische  Traditon,  ohne  tiber- 
kommene  Begriffe,  ohne  irgend 
ein  ,tso  etwas  gibt  es  nicht",  ohne 
Schema  also,  ihrer  Aufklarungs- 
arbeit  widmen, 

M.  M.  Gehrke 

„Die  schalkhafte  Witwe" 

I"Ve   Lindenoper    ist    wahrhaftig 

***  ein  beneidenswertes  Institut. 
Wahrend  wir  andern  alle  vor  der 
keineswegs  leichten  Aufgabe 
stehn,  uns  mit  dem  Jahre  1931 
auseinanderzusetzen,  werden  dort 
Fragen  der  Jahrhundertwende 
elegant  und  spielend  gelost, 
herrscht  dort  die  gute,  alte  Zeit 
und  der  chronische  Anachronis- 
mus.  Ihre  jiingste  Novitat  ist  eine 
komische  Oper  von  Wolf-Ferrari, 
die  wir  ein  Danaergeschenk 
nennen  wiirden,  ware  es  nicht  all- 
zu  unhoflich,  eine  schone  Vene- 
zianerin,,  eine  , .schalkhafte 

Wit  we"  gar,  als  trojanisches 
Pferd  anzusprechen.  Wir  konnen 
es  nicht  leugnen:  wir  stehen  eini- 
germafien  verbliifft  vor  dieser 
grande  dame  des  ancien  regime 
und  wissen  uns  nicht  so  recht  zu 
benehmen. 

Der  Text  ist  achtzehntes  Jahr- 
hundert,  Carlo  Goldoni,  von 
Ghisalberti  zugestutzt;  spielt  in 
Venedig,  Personen:'  Pantalon  und 
Colombine,  die  hier  Arlecchino, 
Marionette  heifien,  als  Diener  und 
als  Zofe,  uraltes  Erbgut  der  corn- 
media  dell'  arte;  verliebte  Ka- 
valiere,  gnmniert  um  eine  schone 
Frau,  die  jeder  haben  will:  der 
Lord,  der  Spanier,  der  lusterne 
Pariser  und  der  Italiener,  dieser 
selbstredend  Sieger  im  Wettstreit. 
Die  Handlung?  Sie  machen  Lie- 
besgestandnisse,   schreiben   Briefe, 


erhalten  Antworten,  werden  von 
der  verkleideten  Schonen  geprellt 
—  und  alles,  aber  auch  alles  ist 
so  sehr  vervierfacht,  dafi  es  einen 
schon  fast  wieder  stort,  wenn  es 
nur  drei  Duelle  gibt . .  Ghisalberti 
hatte  es  wissen,  Wolf  Ferrari  hatte 
es  bedenken  miissen:  aus  einem 
guten  Lustspiel  wird  nicht  not- 
wendig  eine  gute  opera  buffa,  das 
durch  die  Musik  verlangsamte 
Tempo  bri'ngt  vieles  urn,  Der 
harmlose  Stoff  hatte  in  andrer 
Gruppierung  und  Uberschneidung 
der  Szenen,  die  uns  in  schlichten 
Viererreihen  langweilenf  wir- 
kungsvoller  und  zundender  ge- 
staltet  werden  konnen. 

Und  die  Musik?  „La  vedova 
scaltra"  schrieb  ein  Poet  des  acht- 
zehnten  Jahrhunderts  im  Stil  sei- 
ner Zeit;  die  Musik  nun  hat  ein 
Komponist  des  zwanzigsten  in  der 
Haltung  des  achtzehnten  verfafit. 
£r  lafit  nicht  etwa  die  Stilidee 
jener  Zeit  in  s einem  personlichen 
Stil  sich  spiegeln,  um  sie  ent- 
sprechend  gebrochen  zu  reflektie- 
ren  —  nein,  er  verwendet  auch 
die  Mittel  jener  Zeit,  nicht  ach- 
tend  spaterer  Entwicklung.  Das 
kann  auf  Nachahmung  beruhen, 
ohne  dafi  wir  solchem  Verfahren 
prinzipielle  Verachtung  ange- 
deihen  lassen  wo  lien,  denn  jeder 
schreibt,  wie  er  mufi  und  kann; 
aller dings  sehen  wir  die  objektive 
Niitzlichkeit  solchen  Kopierens 
nicht  ein,  —  oder  aber:  der  Kom- 
ponist bejaht  als  schopferischer 
Mensch  nur  jene  Mittel,  derer  er 
sich  hier  bedient;  in  unserm  viel- 
leicht  zu  sehr  entwicklungsbeton- 
ten  und  fortschrittstolzen  Sinn 
ein  ziemlich  unverstandlicher 
Atavismus,  So  entsteht  fur  nicht 
allzu  harmlose  Zuhorer  ein  selt- 
sam    verworrener   und    verwirren- 


BoYinRa 

tritt  nicht  als  Redner  auf.  Er  lehrt  nur  durc^i  das  fest  gepragte  Wort 
gedruckter  Schrift;.  Christen  aller  Schattierung  schlieBt  er  ebensowenig 
aus  seinem  Schtilerkreis,  wie  Juden,  Moslim  und  Buddhist  en.  Naberes 
iiber  den  Mann  und  sein  Weik  finden  Sie  in  der  Einliihrungsschrift  von 
Dr.  Alfred  Kober-Staehelm,  kostenfrei  in  jeder  Buchhandlung  erhaltlich 
und  bei:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  Basel  und  Leipzig. 

687 


der  Eindruck:  Komische  Oper, 
Spiel  urn  des  Spieles,  auch  Musik 
urn  des  Spieles  willen,  Musik  als 
charakterisierendes,  parodieren- 
des  und  ironisierendes  Element, 
in  Haltung  und  Mitteln  in  die 
Sphare  des  achtzehnten  Jahrhun- 
derts  geruckt  und  doch  wieder 
nicht  etwa  stilreines  achtzehntes 
Jahrhundert,  nicht  nachgeahmt 
und  doch  nicht  echt,  nicht  geborgt 
und  doch  nicht  eigen:  ein  in  der 
Faktur  meisterliches  Werk  zwi- 
schen  den  Stilen  und  Zeiten  und 
ohne  die  undefinierbare  Kraft, 
einen  einheitlichen  Gesamtein- 
druck   zu   erzwingen. 

Man  fragt  sich  unwillkurlich: 
Wozu  ftihrt  die  Staatsoper  ein 
Werk  auf,  das,  ware  es  neunzehn- 
hundert  geschrieben  worden  und 
herausgekommen,  berechtigtes 

Interesse  erweckt  hatte;  und  das 
uns  heute  so  wenig  zu  sageh  hat? 
Mufi  man  immer  wieder  zusehen, 
wie  der  herrliche  Apparat  dieses 
Instituts  in  Bewegung  gesetzt 
wird,  damit  schliefilich  kreiCende 
Berge  ein  Mauslein  gebaren?  1st 
es  nicht  seltsam,  daB  sich  Berlins 
reprasentativste  Oper  —  nach 
dem  wiederum  vor  dreifiig  Jahren 
interessanten  und  heute  uns  alien 
weltenfernen  „Pfeifertag";  nach 
dem  schlecht  vorbereiteten  und 
qualvoll  zwiespaltigeri  f,Oberon'\ 
fiir  den  ein  Bruno  Walter  verant- 
wortlich  zeichnen  muBte;  und 
nach  diesem  Opus  Wolf-Ferraris 
Weills  f,Biirgschaft"  entgehn  lafit, 
weil  man  sich,  so  liest  man  es 
offiziell,  iiber  den  Premieren- 
termin  nicht  einigen  konnte?  Da- 
mit soil  das  Urteil  iiber  jenes 
Werk  durchaus  nicht  vorwegge- 
nommen,  es  soil  nur  die  merk- 
wiirdig  gegenwartsfremde  Haltung 
der  Lindenoper  charakterisiert 
werden.  In  Charlottenburg  wird 
man  die  Burgschaft  auffuhren  und 
wir  wtinschen  dem  Intendanten 
Ebert  Gliick  dazu,  wie  wir  ihn  zu 


Verdis  „Macbeth"  nur  begliick- 
wiinschen  konnten,  Gelegentlicb 
der  f,Boheme"-Inszenierung  Cur- 
jels  begannen  sich  angstliche  Ge- 
muter  vor  den  Krollgespenstern  in 
der  Stadtischen  Oper  zu  ftirchten; 
wir  hoffen,  Ebert  wird  ihnen  ein 
gastlicher  Hausherr  sein !  Ach, 
wenn  doch  einige  dieser  Gespen- 
ster  die  Linden  langlaufen  woll- 
ten,  statt  die  Charlottenburger 
Chausee! . , .  wir-  konntens  brau- 
chen , , .  Aber  sie  sind  klug,  die 
Gespenster,  und  fiirchten  sich  vor 
der  Lindenoper:  dort  brachte 
man  sie  zum  zweiten  Male  um, 
wenn  es   ginge, 

Arnold  Walter 

Der  Fall  M. 

1UT .,  Buchhalter  eines  Verlages 
*•**•  und  streng  national,  hatte 
ein  ebenso  schones  wie  rei- 
ches  Madchen  kennen  gelernt 
und  alsbald  geheiratet,  des- 
sen  Stiefvater  in  'Paris  eine  Fa- 
brik  besafi  und  ein  guter  Fran- 
zose  war,  was  den  alten  Herrn 
nicht  davon  abhielt,  eines  Tages 
in  die  ewigen  Jagdgrunde  iiberzu- 
siedeln.  Damit  das  der  Tochter 
vererbte  Unternehmen  nicht  in 
fremde  Hande ,  falle,  erwarb  M, 
die  franzosische  Staatsangehorig- 
keit,  ohne  deshalb  auf  die 
deutsche  zu  verzichten.  Das  ging 
eine  Weile  ganz  gut,  Dann  aber 
brach  zwischen  beiden  Landern 
der  obligate  Krieg  aus,  und 
unser  armer  M.  wuBte  nicht,  was 
er  tun  sollte.  Schliefilich  jagte  er 
sich  eine  neutrale  Kugel  durch 
den  Kopf  und  ersparte  sich  so- 
mit  eine  Beantwortung  der  nach- 
traglich  auftauchenden  Frage,  ob 
der  Deutsche  in  ihm  den  Fran- 
zosen  oder  der  Franzose  den 
Deutschen  erschossen  habe,  Die 
einen  war  fiir  das  andre,  und  die 
andern    fiir    das    eine,      Gott    fiir 

Hans  Reimann 


Rudolf  Arnnelm:  Sflmme  von  der  Golerie 

25  AufsStze:  Psychoanalyse,  Negersilnger,  Spiritismus,  Er- 
ziehung,  Boxkampf,  Oktoberwiese,  absolute  Malerei,  Greta 
Garbo,  Russeniilm,  Fritz  !.ang,  moderne  Moral  u.  a. 
Einleitung:  Hans  Reimann  —  Bilder:  KarlHoltz.  QU  n 


Zu  bezlehen  durch  Verlag  der  WeltbOhne 


688 


Kurzsichtig 

P\ie  Zeichnung  auf  die  neue 
*-^ .  Reichsbahn-Anleihe,  soweit 
sie  mit  der  Steueramnestie-Ver- 
ordnung  im  Zusammenhang  stand, 
ist  gestern  abgeschlossen  worden. 
Bei  der  Zusammenstellung  der 
Zeichnungsergebmsse  am  heutigen 
Vormittag  stellte  sich  bereits  her- 
aus,  dafl  bisher  mehr  als  100  Mil- 
lionen  Mark  gezeichnet  worden 
sind. 

Dieser  Betrag  iibersteigt  zwei- 
fellos  die  Erwartungen,  denn 
selbst  in  optischen  Kreisen  hatte 
man  nach  dem  Zeichnungsverlauf 
zunachst  nur  mit  einem  Ergebnis 
von  etwa  50  bis  60  Millionen 
Mark  gerechnet, 

,B.  Z.  am  Mittag 
16.  10.  31 

Wer  soil  sich  da  melden? 
/7J  ebildete,  solide,  aufrichtige, 
^*  alleinsteh.  Witwe,  Anfang  50, 
sucht  freundschaftlichen  Verkehr 
mit  ihresgleichen.  Briefe  u,  Li. 
1820  NLZ-FiL  Merseburger  Strafie 
Nr.  80  b, 


Trotzdem 
T^ie  Polizei  mufite  unter  Anwen- 
*^dung  der  Gummikniippel  und 
der  Seitenwaffen  eingreifen, 
Trotzdem  erlitten  zahlreiche  Per- 
sonen  Verletzungen, 

Badische  Presse  12,  10.  31 

Llebe  WeKbfihne! 
p  ine  junge  Schauspielerin  be- 
kam  allabendlich  feurige  Lie- 
besbriefe  von  einem  unbekannten 
Herrn.  Er  flehte,  sie  einmal  sehen 
zu  dtirfen,  Erfolglos,  bis  sie 
schliefilich  mtirbe  wurde  und 
eines  Abends  rief:  „Also  her  mit 
Herrn  Klingemann!"  Herr  Klinge- 
mann  erschien  in  der  Garderobe 
und  erwies  sich  als  Naturmensch 
mit  goldenen  Locken  und  haari- 
gen  Waden.  Verziickten  Gesichts 
trat  er  auf  die  Angebetete  zu, 
dann  aber  verfinsterte  sich  sein 
Blick  und  er  sprach:  „Sie  sind 
sehr  schon,  aber  ich  sehe  Harn- 
saure  in  Ihren  Augen!" 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  fiir  Menschenrechte.    Dienstag  Reichswirtschaftsrat,   Belle vuestraBe  15. 

20 JO*    Vor  einem  Krieg  zwischen  China  und  Japan?     Ea   sprechen:   Hsti  Dau-Lin, 

Tachun  Hsu,  Richard  Huelsenbeck  und  Lothar  Persius. 
Gcnsinschaft   freiheitlicher    Sozialisten.     Dienstag   20.00.     Haverlands  Festsale,    Neue 

FriedrichstraBe  35.   Die  gegenwartige  Krise  und  der  sozialistische  Ausweg,  Angelica 

Balabanoff. 
Gesellschaft  der  Freunde  des  neuen  RuBland.    Dienstag  20.00,    Singakademie :  14  Jahre 

Kulturaufbau  in  der  Sowjetunion,  A.  W.  Lunatscharski. 
Verein  sozialistischer  Aerzte.   Dienstag  20.15.    Zahnarzte-Haus,  BulowstraSe  104:  Soziale 

Not  und  Soziale  Psychotherapie,  Prof.  Arthur  Kronf eld ;  Zur  Lage  in  der  Aerzteschaf  t, 

Ernst  Haase,  Bruno  Cohn,  Annemarie  Bieber  und  Leo  Klauber. 

Bflcher 

Joseph  Hergesheimer:  Die  drei  achwarzen  Ponnys.    Ernst  Rowohlt,  Berlin, 

Bruno  Nelissen  Haken :  Arbeitslosen  Litanei.  Ein Totentanz  der  Lebendigen.  Chr.  Kaiser, 

Mtinchen. 
Arthur  Schnitzler:  Buch  der  Spriiche  und  Bedenken.    Phaidon-Verlag,  Wien. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  14.00:  JazzeinfluB  in  der  Kunstmusik  (Schallplatten).  —  15.40:  Der 
Aphorism  us  als  Kunstwerk,  Gerhart  Pol.  —  Muhlacker  19.05:  Die  Geneiation  von 
1859,  Axel  Eggebrecht.  —  Hamburg  19.30 :  Hermann  Kesser  liest.  —  Konigsberg 
19.30:  Zukunft  des  Hdrspiels,  Ernst  W.Freissler  und Markus Timmler.  —  Berlin  19.35: 
Franz  Werfel  liest.  -  Breslau  20.15:  Paul  Hindemith  geigt.  —  Berlin  20  30.  Welt 
von  unten  —  Welt  von  oben,  Rob.  Ad.  Stemmle.  —  Leipzig  21.40:  Der  Berg  von 
Arno  Schirokauer.  —  Mittwoch.  Berlin  17.50:  Annette  Kolb  liest.  —  Muhlacker  19  05: 
Eulogius  Schneider,  ein  Schicksal  aus  dei-Franzdsischen  Revolution ;  Hermann  Wendel. — 
K6nigsberg  19.25:  Edith  Hermstadt-Oettingen  liest  Dauthenday,  —  Hamburg  19.30: 
Marieluise  Fleisser  liest.  —  Leipzig  21.10:  Klabund.  —  Donnerstav.  Hamburg  19,30: 
Ungedruckte  Dichtungen.  —  Freitay.  Langenberg  18.20:  Die  Bedeutung  des  fran- 
zSsischen  Kapitalmarktes  in  der  Weltwirtschaftskrise,  Fritz  Sternberg.  —  Hamburg 
20.00:  Was  ihr  wollt  von  Shakespeare.  —  Berlin  20.10:  Friedrich  Huchs  Pitt  und 
Fox*  Friedrich  Burschell.  —  Sonnabend.  Kfinigsberg  19.35:  Kurzgeschichten  von 
Anton  Tschechow. 

689 


Antworten 


Schriftsteller.  Jakob  Schaffner  sendet  uns  zu  dem  Artikel  von 
David  Luschnat  „Schriftsteller-Schutzverband"  (Nr.  42)  unter  Be- 
rufung  auf  das  Pressegesetz  die  folgende  Berichtigung:  „1,  Ich  habe 
nie  an  Luschnat  geschrieben,  daB  Schendell  uad  Breuer  aus  dem 
Hauptvorstand  des  Schutzverbandes  Deutscher  Schriftsteller  unbedingt 
sollten  abberufen  werden,  wozu  fur  mich  kein  zwingender  Grund 
sicbtbar  war.  Ich  habe  diese  Forderung  der  Opposition  aber  als  ge- 
recht  angesehn  fur  den  Fall,  dafi  sich  die  Anklagen  gegen  die 
Kollegen  bestatigen  sollten.  Im  iibrigen  grtindet  sich  diese  Erklarung 
Luschnats  auf  einen  Vertrauensbruch,  denn  die  Briefe  waren  person- 
lich  und  zudem  von  ihm  veranlafit.  2.  Ich  habe  mich  niemals  fur  die 
Zensur  erklart,  sondern  ich  war  verfassungsmafiig  gezwungen,  eine 
von  der  Ortsgruppe  gewiinschte  Versammlung  gegen  die  Notverord- 
nung  aufzuhalten,  weil  die  Ortsgruppe  nicht  selbstandig  politisch 
vorgehen  kann.  Die  Behauptung,  dafi  der  Hauptvorstand  dem  neu- 
gebildeten  Kampfausschufi  den  Saal  entzogen  und  die  Polizei  gerufen 
habe,  ist  eine  Unwahrheit.  Ich  bin  und  bleibe  ein  Feind  der  Zensur. 
3.  Ich  bin  nicht  zum  Hauptvorstand  ,ubergegangen',  sondern  die 
Opposition  ist  zur  Obstruktion  ubergegangen.  Ich  stehe  noch  auf 
alien  Forderungen  der  Opposition  ohne  jeden  Abstrich  und  habe  sie 
bereits  genugend  offentlich  vertreten,  dafi  mir  niemand  eine  Meinungs- 
anderung  oder  einen  Verrat  vorwerfen  kann.  4,  Ich  habe  niemals  die 
Auflosung  der  Ortsgruppe  verlangt,  sondern  wer  die  Fahigkeit  be- 
sitzt,  richtig  zu  lesen,  ersieht  aus  dem  betreffenden  Aufsatz  im 
.Schriftsteller*,  dafi  ich  die  Mannschaften  der  Ortsgruppe  mittels  der 
Durchorganisierung  des  SDS  in  Fachgruppen  zur  gewerkschaftlichen 
Spitzengruppe  machen  will."  Wir  haben  dieser  Berichtigung  unge- 
kiirzt  Raum  gegeben,  obwohl  sie  im  Wesentlichen  nicht  Tatsachen 
richtigstellt  sondern  einer  hier  geaufierten  Ansicht  eine  andre  ent- 
gegensetzt.  Wir  haben  David  Luschnat  um  seine  Meinung  zu  den  vier 
Punkten  befragt.  Luschnat  legte  uns  einen  mit  Schaffners  Namens- 
zug  unterschriebenen  Antrag  auf  Einberufung  einer  aufierordentlichen 
Hauptversammlung  vor,  deren  Zweck  unter  anderm  ftAbberufung  des 
Hauptvorstandes  und  des  geschaftsfuhrenden  Direktors"  war,  Dar- 
iiber  hinaus  besagen  Stellen  aus  Schaffners  Briefen  sehr  deutlich,  dafi 
ihm  „der  ■  Riicktritt  des  gesamten  Vorstandes  unausweichlich"  er- 
schienen  ist.  Einen  Vertrauensbruch  hat  Luschnat  insofern  nicht  be- 
gangen,  als  die  betreffenden  Briefstellen  gegen  seinen  Willen  zur 
Verlesung  gebracht  wurden.  Auch  stammt  das  erste  personliche 
Schreiben  aus  dem  Briefwechsel  von  Schaffner,  worin  er  ein  von 
Luschnat  an  viele  Mitglieder  des  SDS  versandtes  unpersonliches 
Rundschreiben  beantwortete.  Als  die  Mitglieder  der  berliner  Orts- 
gruppe des  SDS  die  Kammersale  betreten  wollten,  in  denen  die  Pro- 
testkundgebung  gegen  die  Pressenotverordnung  stattfinden  sollte, 
wurde  ^ihnen  eroffnet,  dafi  die  Geschaftsleitung,  also  wohl  Werner 
Schendell,  den  Saal  abbestellt  habe,  aufierdem  war  ein  nicht  kleines 
Polizeiaufgebot  erschienen,  das  jede  Ansammlung  auf  der  Strafie  so- 
fort  zerstreute  und  den  Eingang  zum  Saal  besetzt  hielt.  Dafi  Schen- 
dell die  Polizei  gerufen  habe,  hat  Luschnat  nicht  behauptet.  Damals 
wurde  erklart,  dafi  Schaffner  die  Abhaltung  der  Versammlung  des- 
halb  fur  uberfliissig  halte,  weil  durch  die  vom  Hauptvorstand  er- 
lassene  Erklarung  zur  Notverordnung  alles  Notige  geschehen  sei.  Die 
Opposition  ist  nach  wid  vor  der  Ansicht:  wer  mit  dieser  lauen  Er- 
klarung einverstanden  ist,  die  nirgends  anzustofien  sich  bemtiht  und 
die  keinerlei  Protest  gegen  den  wichtigsten  Paragraphen  enthalt,  der 
Verbote  bis  zu  einem  halben  Jahr  vorsieht,  —  den  dtirfe  man  als 
Freund  der  Zensur  ansprechen.  Das  Kampfkomitee  fur  die  Freiheit 
des    Schrifttums   hat   sich  iibrigens   erst  konstituiert,   als  die  berliner 

690 


SDS-Mitglieder  nicht  in  den  Saal  konnten  und  iiber  diese  MaBnahme 
emport  waren.  Die  Geschaftsleitung  konnte  also  gar  nicht  dem  Kampf- 
ausschuB  den  Saal  entziehen,  sie  hat  ihn  den  Mitgliedern  der  Orts- 
gruppe  entzogen,  und  zwar  auf  Wunsch  des  ersten  Vorsitzenden,  der, 
ohne  seine  iibrigen  Vorstandskollegen  zu  fragen,  die  Versammlung 
abgeblasen  hat.  In  einer  Erklarung,  die  Jakob  Schaffner  der  Offent- 
lichkeit  unter  dem  Titel  „Der  AusschluS  der  Achtzehn"  ubergeben 
hat,  verschanzt  er  sich  hinter  die  angebliche  Statutenwidrigkeit  einer 
solchen  Ktmdgebung  und  dahinter,  daB  die  Rednerliste .  entgegen  der 
Vereinbarung  „rein  kommunistisch"  gewesen  sei.  Nutf  ist  von  den 
fiinf  damals  vorgesehenen  Referenten  —  Bernard  v.  Brentano,  Alfons 
Goldschmidt,  Walther  Karsch,  Johannes  K.  Koenig  und  Erich  Muh- 
sam  —  ein  einziger,  namlich  Koenig,  Kommunist,  Herr  Schaffner  ist 
also  zumindest  schlecht  orientiert.  Ob  Schaffner  zum  Hauptyorstand 
„ubergegangen"  ist  oder  die  Oppostion  zur  Obstruktion,  das  sind  An- 
sichtssachen,  die  man  unter  Berufung  auf  den  Paragraphen^  11  des 
Pressegesetzes  wirklich  nicht  richtigstellen  kann.  Die  Opposition  ist 
der  Ansicht,  daB  Schaffner  von  vornherein  nach  seiner  durch  sie  er- 
folgten  Wahl,  vorsichtig  ausgedriickt,  nichts  getan  hat,  sich  das  Ver- 
trauen  seiner  Wahler  zu  erhalten,  Er  verkehrte  zum  Beispiel  mit  der 
zweiten  Vorsitzenden  nur  iiber  die  Geschaftsstelle,  war  ftir  die  Oppo- 
sition nicht  zu  sprechen,  um  so  mehr  aber  fur  den  Hauptvorstand. 
DaB  sich  die  Opposition  von  Schaffner  verraten  fiihlt,  sollte  ihm 
nach  seinem  Verhalten  nicht  merkwiirdig  vorkommen,  Wenn  Schaff- 
ner friiher  erklart  hat,  er  werde  im  Hauptvorstand  die  Sache  der 
Opposition  vertreten,  selber  fiir  Abberufung  des  Vorstandes  einge- 
treten  ist  und  heute  in  demselben  Hauptvorstand  nach  seinen  eignen 
Worten  fordert,  wir  miissen  die  ganze  Opposition  hmaussetzen,  dann 
darf  doch  wohl  auch  der  unbefangene  Beobachter  auf  den  Gedanken 
kommen,  Schaffner  hat  die  Opposition  verlassen,  nicht  sie  ihn.  Was 
Luschnat  hier  aus  dem  ,Schriftsteller*  zitiert,  macht  auch  auf  tins  den 
Eindruck,  als  wolle  Schaffner  damit  die  Opposition  kaltstellen.  Wenn 
ers  so  nicht  gemeint  hat,  dann  hat  er  sich  eben  unklar  ausgedruckt. 
Achtzehn  sind  inzwischen  ausgeschlossen  worden,  einige  hat  der 
Vorstand  dadurch  entfernt,  daB  er  sie  wegen  Nichtbezahlung  ihrer 
Beitrage  gestrichen  hat,  eine  sehr  soziale  MaBnahme  in  dieser  wirt- 
schaftlich  so  rosigen  Zeit,  Eigentumlich  nur,  daB  die  Gestrichenen 
alle  zur  Opposition  gehoren,  von  Streichungen  andrer  MitgHeder 
haben  wir  bisher  nichts  gehort.  Vier  Antrage  auf  AusschluB  wurden 
abgelehnt  und  eine  ganze  Anzahl  lieB  man  einfach  ganz  nach  Gut- 
diinken  fallen.  Ein  etwas  merkwurdiges  Vorgehen,  das  doch  die  An- 
sicht zu  bekraftigen  scheint:  der  Vorstand,  der  sich  standig  auf  die 
Satzungen  beruft,  regiert,  ohne  sich  viel  um  das  geschriebene  Recht 
zu  kummern,  abgesehn  davon,  daB  es  loyal  gewesen  ware,  die 
Angeklagten  anzuhoren,  bevor  man  sie  verurteilte;  der  Hauptvorstand 
hat  die  Sunder  nicht  vorgeladen,  was  das  Statut  ihm  zwar  nicht  vor- 
schreibt,  was  aber  die  Moral  von  ihm  verlangt.  Gliicklicherweise  ist 
das  nicht  so  ganz  im  Stillen  abgelaufen,  die  Offentlichkeit  hat  durch 
die  Ruhrigkeit  der  Opposition  Kenntnis  von  der  Angelegenheit  be- 
kommen.  In  seinem  schon  vorhin  erwahnten  Rechtfertigungsbericht 
verbreitet  Schaffner  immer  wieder  die  Mar,  die  Opposition  sei  kom- 
munistisch. Das  ist  nicht  wahr,  maximal  sind  es  25  Prozent  der 
Opposition,  die  sich  zur  KPD  bekennen,  von  den  iibrigen  hat  so 
Mancher  seinen  StrauB  mit  den  Kommunisten  gehabt,  und  es  ist  dabei 
nicht  immer  sanft  zugegangen.  Jakob  Schaffner  weiB  das  entweder 
nicht  oder  will  es  nicht  wissen,  jedenfalls  suggeriert  er  der  Offent- 
lichkeit, die  Opposition  sei  kommunistisch.  Eigentumlich  nur,  dafi 
ihm  das  nicht  friiher  bekannjt  war,  als  er  sich  von  ihr  wahlen  lieB. 
Um  zu  beweisen,  dafi  sich  an  Veranstaltungen  der  Opposition  Nicht- 
mitglieder  des  SDS  beteiligt  haben,  fiihrt  Schaffner  an,  das  Kampf- 
komitee  sei  mit  ihr  identisch.    Auch  das  ist  nicht  wahr,  wofiir  allein 

691 


die  Tatsache  sprechen  mag,  daft  aus  dem  Komitee  wegen  Meinungs- 
verschiedenheiten  ausgetretene  Schriftsteller  heute  zur  Opposition  ge- 
horen  oder  zumindest  mit  ihr  sympathisieren,  was  sie  nicht  taten, 
waren  die  beiden  Gruppen  identisch.  Auch  davon  weifi  Schaffner 
nichts,  man  wird  den  Eindruck  nicht  los,  daB  er  vollig  ahnungslos 
und  unorientiert  seinen  Angriff  auf  die  Opposition  vorbereitet  hat, 
Schlimmeres  anzunehmen,  verbietet  uns  unser.  unerschutterlicher 
Glaube  an  das  Gute  im  Menschen.  Auch  dafi  er  eine  vom  Bund  pro- 
letarisch-revolutionarer  Schriftsteller  verfaBte  Resolution,  die  sich  in 
der  Urheberrechtsfrage  auf  den  russischen  Standpunkt  gegen  die 
deutsche  Auffassung  stellt,  der  Opposition  in  die  Schuhe  schiebt, 
zeugt  nur  davon,  daB  Schaffner  sich  nicht  die  geringste  Muhe  ge- 
geben  hat,  das  zu  uberprfifen,  was  er  behauptet.  Die  Opposition  hat 
sich  mit  dieser  Frage  iiberhaupt  noch  nicht  beschaftigt,  und  die  Mit- 
glieder des  Bundes  proletarisch-revolutionarer  Schriftsteller  gehoren 
zum  liberwiegenden  Teil  gar  nicht  zum  SDS.  So  steht  es  urn  die  Tat- 
sachen,  die  Schaffner  gegen  die  Opponenten  anzufiihren  hat.  Der 
ArbeitsausschuB  der  Opposition  wendet  sich  dieser  Tage  mit  einer 
eingehenden  Beantwortung  aller  Schaffnerschen  Behauptungen  an  die 
Offentlichkeit.  Diese  hat  bisher  weitgehende  Sympathie  bekundet, 
eine  Sympathie,  die  bis  zur  ,Deutschen  Allgemeinen  Zeitung*  reicht, 
von  der  Schaffner  schwerlich  wird  behaupten  konnen,  sie  schwarme 
fur  den  Kommunismus  oder  gar  sie  sei  kommunistisch.  Im  Reich  und 
in  Wien  verurteilen  die  Ortsgruppen  den  Hinauswurf,  eine  groBe  An- 
zahl  von  Schriftstellern  hat  die  hier  im  Heft  42  abgedruckte  Sym- 
pathieerklarung  weiterhin  unterzeichnet.  Der  Platz  reicht  nicht  aus, 
die  mehr  als  150  Namen  abzudrucken.  Dafiir  wollen  wir  zitieren,  wie 
Herr  Schaffner  diese  Solidaritatsaktion  beurteilt;  „Die  Opposition 
geht  nun  herum  und  schreit  iiber  Unrecht  und  Gewalt.  Sie  wirbt  Mit- 
ganger  im  ganzen  Verband  und  laBt  Sympathiekundgebungen  unter- 
schreiben,  fur  die  sie  Unterschriften  von  Menschen  findet,.  die  es  eilig 
haben,  immer  iiberall  dabei  zu  sein  und  keinen  AnschluB  zu  versaumert. 
Sie  unterschreiben  blind  begeistert  drauflos,  weit  es  wieder  mal  gegen 
.irgend  etwas'  geht,  weil  man  sich  wieder  einmal  im  Licht  des  unent- 
wegt  Protestierenden  zeigen  kann".  Die  Unterzeichner  der  Solidaritats- 
erklarung  wissen  nun,  was  ftir  eigentiimliche  Geister  sie  sind,  aber 
uns  scheint,  ihr  Instinkt,  der  sie  gegen  die  Hausknechtsmanieren  des 
SDS  protestieren  hieB,  war  richtiger  als  der  des  Herrn  Schaffner,  der 
glaubt,  durch  eine  solche  Verachtlichmachung  seinen  Kollegen  im 
Hauptvorstand  einen  Dienst  zu  erweisen.  Herr  Schaffner,  eine  groBe 
Anzahl  der  Sympathisierenden  sind  Mitglieder  des  SDS.  Sie  glauben, 
den  Protest  lacherlich  machen  zu  dtirfen.  Sie  geben  damit  also  zu, 
daB  sich  der  Hauptvorstand  einen  Schmarren  um  die  Meinung  seiner 
Mitglieder  kiimmert,  mogen  sie  heiBen,  wie  sie  wollen. 

Historiker.  Der  fAngriff  vom  30.  Oktober  bringt  unter  der  Ober- 
schrift  „General  Schleicher"  das  Bild  des  Generals  von  Hammerstein. 
Da  nicht  anzunehmen  ist,  daB  „Schleicher"  hier  nicht  als  Personen- 
name  sondern  als  Gattungsbegriff  gewahlt  worden  ist,  so  erhebt  sich 
die  ernste  Frage,  ob  Hitler  nicht  etwa  l>ei  dem  falschen  Herrn  gefrtih- 
stiickt  hat.  Um  der  Geschichte  keinen  Irrtum  zu  iibermitteln,  bitten 
wir  um  baldige  Klarstellung. 

Manuskripte  find  nui  an  die  Redaktion  d«r  Weitbtihae,  Chartottenburg,  iCaoUtt.  152,  zu 
richten;  w  wird  gebeten,  thnen  Rfickporto  beixulegen,  da  sonst  keine  Ruduendung  erfolgen  kann. 
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XXVU.  Jahrgang  10.  November  1931  Nammer45 

Braun  und  schwarz  von  can  v.  ossietzky 

TJ^ieder  sind  die  Besprechungen  zwischen  Zentrum  und  Na- 
w  tionalsozialistcni  ergebnislos  verlaufen,  Schon  einmal,  im 
Spatherbst  vorigcn  Jahres,  war  man  nahe  daran,  sich  zu  ver- 
standigen,  Hauptmann  Goehring  erschien,  wie  ietzt,  haufig  a)s 
Bote  in  der  Reichskanzlei.  Dann  machte  sich  Briining  auf  die 
Ostreise;  die  Pfiffe  der  Hakenkreuzler  begleiteten  ihn  von 
Konigsberg  bis  Beuthen.  So  zerschlug  sich  das  Geschaft. 
Wenn  auch  heute  keine  Einigung  erzielt  werden  konnte,  so 
hat  doch  das  Zentrum  bewiesen,  daB  es  zum  Verrat  bereit  ist, 
Auf  diese  Bereitschaft  kommt  es  an,  nicht  auf  den  mehr  oder 
weniger  grofien  Effekt  der  Biindnisverhandlungen. 

Heute,  wo  die  letzte  heilgebliebene  burgerliche  Partei  sich 
gewillt  zeigt,  die  Republik  an  den  Fascismus  auszuliefern  und 
nur  iiber  Formfragen  noch  nicht  mit  sich  im  reinen  ist,  fordere 
ich  Sie  auf,  verehrter  Leser,  mit  mir  einen  fluchtigen  Blick 
auf  jene  Zeit  zu  tun,  die  uns  so  mythisch  erscheint  wie  jener 
Tag,  da  Helena  in  Troja  einzog,  Ich  brauche  nicht  zu  sagen, 
daB  ich  vom  9,  November  1918  spreche,  dem  Geburtstag  der 
deutschen  Republik.  Philipp  Scheidemann  erzahlt  in  seinen 
Erinnerungen  ausfuhrlich,  wie  er  seinen  imponierenden  Wallen- 
steinkopf  im  Speisesaal  des  Reichstags  grade  uber  eine  dunne 
Wassersuppe  geneigt  hatte  und  wie  er  aufgefordert  wurde,  an 
die  Menge  vor  dem  Haus  eine  Ansprache  zu  halten.  Der  alte 
Fanfaron  wirft  sich  in  Positur,  er  spricht  von  der  Balustrade 
und  schlieflt  die  paar  kuhn  geschmetterten  Satze  mit  einem 
Hoch  auf  die  deutsche  Republik,  An  seinen  Tisch  zuriick- 
gekehrt,  findet  er  bei  seinen  Freunden  geringere  Begeisterung 
als  drauBen.  „Ebert  war  vor  Zorn  dunkelrot  im  Gesicht  ge- 
worden,  als  er  von  meinem  Verhalten  horte.  Er  schlug  mit 
der  Faust  auf  den  Tisch  und  schrie  mich  an:  Jst  das  wahr?' 
Als  ich  ihm  antwortete,  daB  ,es*  nicht  nur  wahr,  sondern  selbst- 
verstandlich  gewesen  sei,  machte  er  mir  eine  Szene,  bei  der 
ich  wie  vor  einem  Ratsel  stand.  ,Du  hast  kein  Recht,  die  Re- 
publik auszurufen.  Was  aus  Deutschland  wird,  Republik  oder 
was  sonst,  das  entscheidet  eine  Konstituante.'"  Das  war  die 
Geburtsstunde  der  deutschen  Republik.  BeschlieBen  wir  damit 
die  rote  Vision  des  9.  November.  Die  Gegenwart  tragt  andre 
Farben.     1931  geht  braun  und  schwarz. 

Das  Zentrum  erklart  jetzt  offiziell,  daB  an  eine  Koalition 
mit  Hitler  niemand  gedacht  hat.  Wirklich  nicht?  Warum 
dann  das  sehr  intensiv  gefiihrte  Frage-und  Antwortspiel  die- 
ser  letzten  Woche?  Es  ist  selbstverstandlich,  daB  das  Zen- 
trum sich  bei  diesen  Unterhaltungen  den  Riicken  zu  decken 
suchte  und  deshalb  eine  sehr  salbungsvolle  aber  auch  etwas 
hochmutige  Sprache  wahlte,  die  den  Nationalsozialisten  hart  an 
die  Nieren  ging.  Es  komme  darauf  an,  die  Hitlerpartei  „durch 
rechtzeitige  Einglfederung  in  die  deutsche  Staatsfuhrung"  un- 
schadlich  zu  machen,  die  Partei  miisse  auch  eine  „innere  Um- 
kehr"   erleben,  so  hieB  es-     Hatte  das  Zentrum  diese  Sprache 

1  693 


mit  Absicht  gewahlt,  urn  sich  beruhigen  zu  lassen,  so  hat  ihm 
der  Verhandlungspartner  diescn  Gefallen  nicht  getan.  „Eine 
unverfrorene  AnmaBung",  so  polterte  es  aus  dem  .Volkischen 
Beobachter',  und  Herr  Stohr,  der  neulich  so  bemerkenswerte 
Vorschlage  zur  Belebung  der  deutschen  Hanfseilindustrie  ge- 
macht  hat,  antwortete  ganz  unmiBverstandlich,  seine  Partei 
werde  legal  bleiben  „bis  zum  Tage  des  Sieges' \  Herr  Pralat 
Kaas,  ein  gebildeter  und  diplomatischer  Kleriker,  mag  die 
Hande  gerungen  haben  iiber  soviel  Tolpelei.  Aber  was  durfte 
er  denn  andres  erwarten?  Das  Zentrum  behauptet,  sich  mit 
dieser  Episode  nichts  vergeben  zu  haben.  „Eine  Diskussion 
mit  einem  Gegner  ist  nichts  als  eine  Frage  der  allgemeinen 
Klarung/*  schreibt  die  ,Germania\  Ob  an  der  N.S.D.A.P.  noch 
etwas  zu  klaren  ist,  bleibe  dahingestellt.  Aber  etwas  andres 
ist  ganz  gewiB  geklart  worden.  Ober  die  grundsatzliche  Be- 
reitwilligkeit  des  Zentrums,  mit  dem  Fascismus  zu  paktieren, 
besteht  auch  nicht  mehr  der  leiseste  ZweiieL  Wenn  die 
Koalition  iiicht  zustande  gekommen  ist,  so  sind  die  Griinde 
dafiir  in  keinem  prinzipiellen  Bereiche  zu  suchen/  Das  Zen- 
trum war  nur  um  eine  anstandige  Drapierung  verlegen.  Hitlers 
Inter essen  entspricht  eine  solche  Verkleidung  kaum.  Darum 
ging   der   Streit,  dariiber  wurde   man  sich  diesmal  nicht   einig, 

Es  ist  ein  gelinder  Unfug,  wenn  von  Zentrumsseite  der 
Versuch  unternommen  wird,  einen  Unterschied  zu  konstruieren 
zwischen  dem  Scharfmacher  Hugenberg  und  dem  ,,sozial 
denkenden"  Hitler.  Fallt  wirklich  jemand  auf  eine  so  schwach- 
sinnige  Machination  herein?  Hugenberg  gehort  direkt  zur 
Schwerindustrie,  er  ist  ein  Stuck  von  ihr.  Hitler  ist  ihr  mittel- 
bares  Werkzeug,  Aber  beide  agieren  fiir  die  gleichen  Kassen- 
schranke,  und  ein  Hitler,  der  heute  mit  den  GewerkschaUen 
zusammen  gegen  seine  alten  Freunde  und  Auftraggeber  Ar- 
beiterpolitik  machen  wollte,  tate  am  besten,  sofort  seia  Testa- 
ment aufzusetzen.  Wenn  auch  die  plastische  Kraft  der  deut- 
schen Schwerindustrie  ziemlich  erschopft  ist,  kaputt  machen 
kann  sie  noch  immer,  Ein  von  den  publizisttschen  Hetzhunden 
der  Schwerindustrie  in  die  Waden  gebissener  Hitler  hat  aber 
fur  das  Zentrum  nicht  viel  Wert,  das  braucht  fiir  seine  Zwecke 
den  groBen  Tribunen  in  moglichst  intaktem  Zustand.  Das 
Zentrum  braucht  Hitler  nicht  als  sozialen  Friedensfiirsten,  sen- 
der n  um  auBenpolitische  Verantwortung  mit  ihm  zu  teilen, 
Deutschland  ist  auf  franzosische  Hilfe  angewiesen.  Dank  der  im 
letzten  Jahre  entfalteten  auBenpolitischen  Aktivitat  und  dank 
der  ewigen  nationalistischen  Provokationen  wird  diese  Hilfe 
nur  unter  schwersten  finanziellen  .und  politischen  Garantien 
gewahrt  werden.  Fiir  diese  ungeheure  Last  sucht  das  Zentrum 
einen  Partner,  und  zwar,  was  nicht  reizlos  ist,  den  Fiihrer  der 
grofimauligsten  chauvinistischen  Partei.  Das  neue  Versailles 
soil  neb  en  der  Unterschrift  Briinings  die  Hitlers  tragen. 

Nun  scheint  gewiB  die  Frage  berechtigt,  ob  Hitler  wirk- 
lich dumm  genug  ist,  eine  komfortable  Oppositionshaltung  mit 
viel  Miihsal  und  Risiko  zu  vertauschen.  Wer  diesen  Ein- 
wurf  macht,  vergiBt,  daB  eine  so  ungeheuer  gewachsene  Partei 
wie  die  N.S.D.A.P.  nicht  dauernd  auf  der  Stelle  treten  kann. 
Sie  muB  ihren  Leuten  schlieBlich  doch  etwas  mehr  bieten  als 

694 


Skandal.  Hitler  muB  in  den  Staat,  schon  allein  deswegen,  weil 
die  finanzielle  Last  auf  die  Dauer  zu  grofi  wird  und  aus  der  In- 
dustrie kerne  wesentlichen  Zuschiisse  mehr  kommen,  Er- 
oberung  des  Staates,  das  heifit  die  Mittel  zur  Subventionierung 
in  die  Hand  bekommen,  das  heiBt  Stellen  und  Posten.  Und 
wenn  auch  zunachst  nur  ein  bescheidener  Prozentsatz  der  Ge- 
treuen  versorgt  werden  kann,  so  ist  doch  der  ungeheure  An- 
reiz  fur  die  andern,  fur  die  noch  Wartenden,  da.  Die  Kapi- 
tulation  vor  Frankreich  ist  natiirlich  sehr  bitter,  aber  da  lafit 
sich  schon  ein  Dreh  finden.  Hitler  wird  eine  auch  noch  so 
defaitistische  AuBenpolitik  schlucken,  wenn  man  ihm  dafiir  den 
f,innern  Feind"  fur  leichte  Siege  zur  Verfiigung  stellt.  Verbot 
der  scharfsten  Konkurrenz,  der  K.P.D.,  Treibjagd  auf  Sozis, 
Pazifisten  und  Demokraten,  natiirlich  immer  legal,  straffer 
volkischer  Kurs  in  der  Kulturpolitik,  das  waren  so  die  Sur- 
rogate fur  die  weiter  zu  vertagende  Vernichtung  des  Erb- 
feindes,  Zu  alledem  braucht  man  keine  GewaltmaBnahmen, 
der  Autor  der  Notverordnungen  hat  bestens  vorgearbeitet,  und 
der  Staat  versteht  auch,  ein  Auge  zuzudriicken.  Seit  langem 
strengt  man  sich  doch  an,  der  unverhtillten  Rechtsdiktatur 
nicht  mehr  viel  zu  tun  iibrig  zu  lassen.  Herr  Groener 
zum  Beispiel  hat  seine  Tatigkeit  als  Reichsinnenminister  damit 
begonnen,  eine  von  seinem  Vorganger  geschaffene  Amtsstelle 
zur  Observation  der  Rechtsradikalen  aufzuheben.  Aus  Spar- 
samkeit  natiirlich.  Es  ist  erfreulich,  daB  Groener  als  Reichs- 
innenminister Gelegenheit  bekommt,  von  der  Tugend  der 
Sparsamkeit  Gebrauch  zu  machen.  Als  Wehrminister  muBte  er 
sie  sich  leider  verklemmen.  Was  fiir  Torturen  mag  der  Armste 
alljahrlich  vor  dem  Militaretat  ausgestanden  habcn? 

Es  sind  aber  nicht  nur  auBenpolitische  Motive  fiir  die  Tak- 
tik  des  Zentrums  bestimmend,  mindestens  in  gleichem  MaBe 
hat  die  Furcht  der  Kirche  vor  dem  Kommunismus  die  Fiihlung- 
nahme  mit  Hitler  begunstigt.  Diese  Furcht  wird  begreiflich,  wenn 
man  den  Fundus  der  Kirche  in  Betracht  zieht,  ihren  EinfluB 
auf  den  Staat,  den  sie  sich  mit  den  verschi«densten,  mit  den 
feinsten  und  grobsten  Mitteln  gesichert  hat.  In  der  ,Kolnischen 
Volkszeitung'  vom  31.  Oktober  wird  eine  sehr  umfangreiche 
Aufstellung  gebracht,  was  die  Kirche  in  Deutschland  an  Unter- 
richt,  Krankenpflege  und  Caritas  leistet  und  in<  welchem  MaBe 
der  Staat  dadurch  entlastet  wird,  i,Was  Ordensgesellschaften 
und  Kirche  fiir  diese  Zwecke  an  Geld  aufbringen,  erspart  der 
Staat,  ganz  abgesehen  davon,  daB  in  den  Ordensanstalten  tag- 
taglich  Leistungen  vollbracht  werden,  die  weiterhin  dem  Staate 
ungeheure  Summen  ersparen.  Die  Beschuhmg  von  rund 
30  000  Schiilerinnen  in  hohern,  von  Ordensschwestern  geleite- 
ten  Schulen  bringt  dem  Staat  und  den  Kommunen  eine  jahr- 
liche  Ersparnis  von  mindestens  8  bis  9  Millionen  Mark.  Jede 
eine  Ordensschule  besuchende  Schiilerin  kostet  den  Staat  im 
Durchschnitt  gerechnet  23,33  Mark,  wahrend  das  staatliche 
Beschulungsgeld  fiir  Volksschiiler  zur  gleichen  Zeit  rund 
40  Mark  betragt.  Die  Gesamtsumme,  die  der  Staat  an  den 
katholisclien  Krankenpflegeanstalten  und  andern  katholischen 
caritativen  Anstalten  spart,  betragt  jahrlich  120  bis  150  Mil- 
lionen.     Im    Dienste    dieser    Caritas    stehen    70  000   Ordens- 

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schwestern  und  3158  Briider  .  ..."  Audi  fur  Armenpflege  und 
Volksspeistmg  werden  imponierende  ZiHcrn  genannt,  und  ob- 
gleich  wir  nicht  verkennen,  daB  cine  warme  Suppe  ein  besseres 
Argument  ist  als  eine  theologische  Doktrin  una  obgleieh  wir 
nicnt  den  idealistischen  Schwung  der  namenloscn  Hclfcr  dieser 
Wcrkc  unterschatzen,  so  muB  doch  gesagt  werden,  daB  die 
Kirche  als  Institution  dcm  Staat  nur  Arbeit  und  Gefahren  ab- 
nimmt,  um  sich  desto  wanner  in  ihm  zu  betten.  Diese  katho- 
lische  Caritas  ist  eine  hochst  edle  Form  von  Propaganda,  aber 
doch  eben  Propaganda,  die  der  Festigung  irdischer  Giiter  und 
irdischer  Macht  client.  Beide  werden  durch  einen  Vormarsch 
der  Rot  en  bedroht,  um  diese  abzuwehren,  ist  jedes  auch  noch 
so  verschmahte  Mittel  recht,  und  Adolf  Hitler  mit  der 
Swastika  atif  der  heidnischen  Teutonenbrust,  gestern  noch  ein 
Wechselbalg  des  Teufels,  avanciert  schnell  zum  Knecht  Gottes 
und  zum  Defensor  der  sichtbaren  Kirche. 

Kalter  AbbaU  von  K.  L.  Gerstorff 

7  ur  ^eit  tobt  uberall  der  Kampf  um  die  neue  Festsetzung  der 
Tarifvertrage,  Die  Unternehmer  verlangen  einen  weitern 
Abbau  der  Lohne;  die  Vertreter  der  Arbeiterklasse  erklaren, 
daB  ein  solcher  ganz  unmoglich  sei,  daB  der  Arbeiter  schon 
heute  kaum  mehr  das  physiologische  Existenzminimum  ver- 
diene.  Dem  wird  aus  Unternehmerkreisen  widersprochen  und 
man  bringt  Statistiken,  die  zeigen  sollen,  daB  der  Tariflohn  „nur" 
um  zirka  fiinfzehn  Prozent  gesunken,  der  Lebenshaltungsindex 
aber  ebenfalls  schon  gefallen  sei.  Man  sucht  damit  zu 
beweisen,  daB  die  Arbeiterschaft  von  der  Krise  bisher  nicht 
sehr  betroffen  sei  und  daB  grade  die  starre  Tarifpolitik  eine 
,,elastischere"  Anpassung  an  die  Krisensituation  verhindere  und 
so  die  Krise  vertiefe.  Diese  Argumentation  des  Monopolkapi- 
tals  wird  dadurch  erleichtert,  daB  die  amtliche  deutsche  Lohn- 
statistik  noch  immer  sehr  im  Argen  liegt  und  so  die  Moglich- 
keiten  fur  zahlreiche  Tauschungsmanover  bietet  Es  heiBt  mit 
sehr  naiven  Lesern  rechnen,  wenn  die  Presse  der  Schwer- 
industrie  heute  unter  anderm  den  jetzigen  Tariflohn  des  be- 
schaftigten  Arbeiters  mit  dem  Tariflohn  in  der  Zeif  der  Kon- 
junktur  vergleicht,  um  dann  festzustellen,  dafi  eine  nur  geringe 
Lohnsenkung  eingetreten  sei.  In  Wirklichkeit  findet  aber  ein 
sechsfacher  Abbau  der  gesamten  Lohnsummen  statt,  die  die 
Arbeiterschaft  alles  in  allem  bekommt. 
Es  werden  1.  die  Tarif lohne  der  beschaftigten  Arbeiter  gesenkt, 
es  werden  2.  die  ubertariflichen  Akkordsatze  abgebaut, 
es  wird  3.  immer  starker  Kurzarbeit  geleistet, 
es   werden  4.   die  gesamten  Lohnsummen  dadurch  abgebaut,   daB  ein 

immer  groBerer  Teil  der  Arbeiter  unbeschaftigt  ist, 
cs  werden  5.  die  Arbeitslosensatze  direkt  abgebaut, 
es  findet  6.  ein  ,, kalter"  Abbau  der  Arbeitslosemintersttitzung  infolge 
der  langen  Dauer  der  Krise  dadurch  statt,  daB  ein  immer  ge- 
ringerer  Bruchteil  der  Arbeitslosen  die  Hochstsatze  erhalt. 
Wie  stark  neben  dem  direkten  Abbau  der  Tariflohne  die 
andern   Faktoren   wirken,    das   zeigen   besonders  plastisch   die 
letzten  Zahlen  aus  den  Vereinigten  Staaten.     Die  Vereinigten 
Staaten   haben  bisher   keirie  Arbeitslosenversicherung   gehabt, 

696 


so  daB  dort  von  einem  Abbau  der  Sozialpolitik  wahrend  der 
Krise  nicht  die  Rede  sein  kann  Es  wirken  in  Amerika 
also  nur  die  ersten  drei  Faktoren,  und  der  direkte 
Lohnabbau  spielte  mit  Ausnahme  der  letzten  Mo^ite  bisher 
keine  sehr  groBe  Rollet  weil  man  in  den  ersten  Ltappen  der 
Krise  nach  der  Hooverschen  Parole  zu  handeln  suchte,  die 
Lohne  der  Arbeiter  moglichst  wenig  herabzusetzen. 

Die  amerikanische  Statistik  kennt  einen  Faktor,  den  die 
deutsche  Statistik  bisher  niemals  exakt  berechnet  hat;  das 
sind  die  gesamten  an  die  Arbeiterschaft  ausgezahlten  Lohn- 
sumraen,  Setzt  man  diese  gesamten  Lohnsummen  fur  den  Durch- 
schnitt  des  Jahres  1929  mit  100,4  an,  so  betrugen  sie  in  den 
Sommermonaten  dieses  Jahres  59  Prozent,  das  heifit  in  den  Ver- 
einigten  Staaten  sind  die  insgesamt  ausgezahlten  Lohnsummen 
in  der  Krise  bisher  bereits  um  mehr  als  zwei  Fiinftel  zuruck- 
gegangen.  So  lagen  die  Dinge,  bevor  die  letzten  grofien  Lohn- 
senkungen  eintraten,  Seitdem  haben  die  amerikanischen  Stahl- 
werke  die  Lohne  ihrer  gesamten  Arbeiterschaft  um  zehn  Pro- 
zent gekiirzt,  ihnen  ist  General  Motors  gefolgt  und  die  andern 
Industrien  werden  nicht  lange  zuriickbleiben.  Heute  also  wer- 
den  die  amerikanischen  Lohne  im  Vergleich  zu  1929  um  fiinfzig 
Prozent  gefallen  sein,  wahrend  die  Preise  nur  um  zirka  fiini- 
zehn   Prozent  gesenkt  worden  sind, 

Der  enorme  Ruckgang  der  amerikanischen  Reallohne 
in  der  Krise  zeigt  ungefahr,  in  welcher  GroBenordnung  in 
Deutschland  die  Lohne  gesunken  sind.  Der  amerikanische  Ar- 
beiter hat  in  der  Krise  bereits  ein  Drittel  seines  Reallohnes 
verloren.  Beim  deutschen  Arbeiter  durfte  der  Ruckgang  noch 
groBer  sein.  Einmal  hat  der  Abbau  der  Lohne  in  Deutschland 
schon  in  einem  weit  fruhern  Zeitpunkt  eingesetzt.  Die  Welt- 
wirtschaftskrise  traf  den  amerikanischen  Kapitalismus  nach 
einer  Epoche  starkster  Expansion  und  Konjunktur,  Bei  uns 
war  das  anders.  Denn  bereits  vor  der  Weltkrise  waren  im  gan- 
zen  Jahr  1929  die  Stagnations-  und  Krisentendenzen  nicht  zu 
verkennen.  Im  gleichen  Zeitraum,  wo  man  in  den  Vereinigten 
Staaten  noch  mit  einer  kurzen  Dauer  der  Krise  rechnete,  wo 
man  in  der  Krise  nur  eine  kurze  Konjunkturunterbrechung  sah 
und  die  Lohne  kaum  kiirzte,  hat  man  in  Deutschland  bereits 
kraftig  abgebaut.  Dah«r  ist  der  Ruckgang  der  Lohne  hier  ins- 
gesamt bereits  groBer  als  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Dazu  kommt  aber  weiter  der  Abbau  der  gesamten  Sozial- 
politik, die  im  deutschen  Kapitalismus  eine  weit  grdBere  Rolle 
spielt.  Und  hier  ist  die  gleiche  verlogene  Argumentation  fest- 
zustellen  wie  beim  Abbau  der  Lohne.  Das  laBt  sich  am  deut- 
lichsten  an  der  Arbeitslosenunterstiitzung  zeigen.  Wir  brauchen 
auf  die  einzelnen  Etappen  ihres  Abbaus  nicht  mehr  einzugehen. 
Wenn  in  der  Unternehmerpresse  davon  die  Rede  ist,  dann  wer- 
den die  Dinge  so  dargestellt:  Der  Hauptuntersttitzungsempf an- 
ger bekam  bisher  so  viel  Unterstutzung,  jetzt  erhalt  er  einige 
Prozente  in  der  Woche  weniger,  und  das  gleiche  gilt  von  dem, 
der  durch  die  Krisenunterstiitzung  finanziert  wird.  Wenn  wir 
in  der  nachsten  Zeit  eine  neue  Herabsetzung  der  Unterstiit- 
zungssatze  bekommen,  werden  wir  eine  ahnliche  Begleitmusik 
horen.     Damit  wird  aber  der  Hauptpunkt  umgangen.     Denn 

2  '697 


neben  diesem  direkten  Angriff  auf  die  gesamte  Sozialpolitik 
erfolgt  schon  seit  Jahren  untcrirdisch  ein  indirekter.  Die  Ar- 
beitslosen mac  hen  bekanntlich  drei  Stadien  durch;  sie  sind 
zunachst  in  der  Arbeitslosen-Versicherung,  dann  in  der  Krisen- 
unterstiitzung  und  zuletzt  Wohlfahrtserwerbslose  beziehungs- 
weise  Nichtuntersttitzte,  Infolge  der  langen  Dauer  der  Krise 
geht  die  Zahl  derer,  die  in  der  Arbeitslosen-Versicherung  sind, 
prozentual  standig  zuriick  und  wachst  prozentual  die  Zahl 
derer,  die  in  der  Krisenunterstiitzung  oder  Wohlfahrtserwerbs- 
lose sind,    Es  waren 

von  alien  Arbeitslosen 

in  der                  in  der  Wohlfahrts- 

Arbeitsloscn-            Krisen-  erwerbslose  bzw. 

Versicherung  Unterstiitzung  Nicht-Unterstutstc 

Proz.                      Proz.  Proz. 

Januar    1929 81  5  14 

Januar   1930   .     .     .     ,  69  8  23 

Januar    1931 52  17  31 

Im  Januar  1931  stand  also  nur  noch  wenig  mehr  als  die 
Halfte  aller  Arbeitslosen  in  der  Arbeitslosen-Versicherung. 
Seitdem  hat  sich  die  Situation  noch  weiter  verschlechtert. 

Hatten  wir  schon  von  1929  bis  1931  auBerordentlich  stei- 
gende  Arbeitslosenziffern,  so  lageri  die  Arbeitslosenziffern 
im  Jahre  1931  bisher  im  Durchschnitt  um  1,3  Millionen  iiber 
den  Zahlen  von  1930,  Aber  die  Zahl  der  Hauptunterstiitzungs- 
emjpfanger  hat  im  Jahre  1931  gegeniiber  den  Zahlen  von  1930 
sogar  absolut  abgenommen,  weil  ihr  Prozentsatz,  der  im  Jahre 
1929  noch  reichlich  vier  Fiinftel  betrug,  jetzt  auf  zirka  ein 
Viertel  zuriickgegangen  ist,  Auf  der  andern  Seite  wachst  die 
Zahl  der  Wohlfahrtserwerbslosen  und  die  Zahl  derer,  die  iiber- 
haupt  keine  Unterstiitzung  mehr  bekommen,  auBerordentlich 
stark,  Sie  machen  heute  zirka  die  Halfte  aller  registrierten 
Erwerbslosen  aus.  Beriicksichtigt  man  diejenigen,  die  sich  iiber- 
haupt  nicht  mehr  registrieren  lassen,  so  wird  ihre  Zahl  heute 
schon  drei  Millionen  betragen.  Die  Hauptunterstutzungsemp- 
fanger  werden  vom  Staat  unterstiitzt;  die  Wohlfahrtserwerbs- 
losen, deren  Zahl  sich  standig  vermehrt,  von  den  Stadten. 
Durch  die  Dreiteilung  der  Arbeitslosenversicherung  hat  das 
Monopolkapital  so  nebenbei  noch  erreicht,  dafi  die  demokra- 
tische  Selbstverwaltung  der  Stadte  beseitigt  ist,  denn  die 
Finanzen  der  Stadte  sind  den  dauernd  steigenden  Wohlfahrts- 
ausgaben  nicht  mehr  gewachsen.  Die  Dreiteilung  der  Erwerbs- 
losen demonstriert  weiter  aufs  deutlichste,  dafi  durch  die  lange 
Dauer  der  Krise.  im  deutschen  Kapitalismus  sich  ein  fiinfter 
Stand  gebildet  hat,  Wir  haben  als  allgemeine  Erscheinung  zu 
konstatieren,  daB  die  Kapitalisten  nur  die  Arbeiter  einstellen, 
die  vor  nicht  allzu  langer  Zeit  noch  Arbeit  gehabt  haben,  Der 
Prozentsatz  der  Wohlfahrtserwerbslosen,  die  wieder  Arbeit 
finden,  ist  minimal.  So  hat  sich  also  das  Monopolkapital  in 
der  Krise  einen  iiinften  Stand  geschaffen,  dessen  Unterstut- 
zungssatze  so  gering  sind,  daB  sie  nicht  einmal  das  physiolo- 
gische  Existenzminimum  decken — ,  der  natiirlich  durch  seine 
Daseinsbediugungen  immer  starker  radikalisiert  wird,  aber  so 
labil  ist,  daB  er  auch  von  der  Konterrevolution  ausgespielt  wer- 

698 


den  kann.     Die  Statistik  tiber  die  Zahl  der  Erwerbslosen  bei 
den  SA.-Abteilungen  wurde  interessante  Aufschltisse  geben. 

Da  der  kalte  Abbau  der  Lohne  so  auBerordentlich  stark 
ist  und  der  kalte  Abbau  der  Sozialpolitik  so  auBerordent- 
lich tief  geht,  ist  in  der  Krise  die  Konsumtivkraft  der  breiten 
Massen  der  Arbeiterschaft  enorm  zuriickgegangen,  Der  Ruck- 
gang  diirfte  den  zweifachen,  den  dreifachen  Umfang  haben,  der 
sich  bei  einem  Vergleich  zwischen  den  Tariflohnen  der  Be- 
schaftigten  in  der  Zeit  vor  der  Krise  und  wahrend  der  Krise 
und  bei  einem  Vergleich  zwischen  den  Satzen  fur  die  Haupt- 
unterstutzungsempf  anger  von  1929  und  1931  ergeben  wiirde. 
Nichts  spricht  dafiir,  daB  hier  in  irgendeiner  absehbaren  Zeit 
ein  Umschwung  stattfindet;  im  Gegenteil,  alle  Anzeichen  deu- 
ten  darauf  hin,  daB  auch  in  nachster  Zeit  der  Abbau  der  Lohne 
wieder  ein  Abbau  der  Reallohne  sein  wird,  das  heiBt,  daB  er 
umfangreicher  sein  wird  als  der  Abbau  der  hauptsachlichen 
Preise.  Wir  haben  daher  eine  entscheidende  Veranderung  ge- 
geniiber  der  Situation  in  den  Krisen  der  Vorkriegszeit  festzu- 
stellen.  Damals  ist  die  Arbeitslosigkeit  wahrend  der  Krise  im 
Vergleich  zu  heutigen  Zahlen  gering  gewesen.  Damals  Helen 
die  Preise  starker  als  die  Lohne,  so  daB  in  der  Krise  die  Kauf- 
kraft  der  breiten  Massen  haufig  nicht  nur  stabil  blieb,  sondern 
stieg.  Professor  Hermberg  schreibt  dariiber  in  seiner  Bro- 
schiire:  „Krisenablauf  einst  und  jetzt'1: 

In  den  Zeiten  der  Konjunkturentfaltung  vor  1890,  1900,  1907  und 
1913  stieg  Sauerbecks  Index  der  GroBhandelspreise  urn  6,  23,  16  und 
abermals  16  Prozent,  Der  Lohnindex  der  Ministry  of  Labour  dag  eg  en 
nur  um  10,  14,  7  und  6  Prozent,  demnach  zeigt  also  nur  der  Auf- 
schwung  vor  1890  eine  Ausnahme  unsrer  RegeL  In  den  auf  die  Um- 
schwungsjahre  1882,  1900  und  1907  folgenden  Depressionsperioden 
sanken  nach  den  gleichen  MaCstaben  die  Preise  um  17,  15,  8  und 
9  Prozent,  wahrend  die  Lohnsatze  in  den  ersten  drei  Stockungen  nur 
um  4  und  in  der  letzten  nur  um  2  Prozent  nachgaben . . ,  Auch  ein 
von  dem  Statistiker  Bowley  korrigierter  Lohnindex  fiigt  sich  gut  in 
das  Bild  ein.  Er  zeigt  fur  die  erwahnten  Aufschwungsperioden  ein 
Anwachsen  yon  15,  13,  8  und  6  Prozent,  fin*  die  Stockungen  ein  Zu- 
ruckgehen  von  3,  0,  5  und  3  Prozent, 

Hermberg  zeigt  also  hier:  Bei  fruhern  Krisen  Helen  die 
Preise  schnefier  als  die  Lohne,  so  daB  der  Reallohn  der  be- 
schaftigten  Arbeiter  stieg.  Und  da  die  Arbeitslosigkeit  ver- 
haltnismaBig  nicht  sehr  groB  war,  konnten  die  gesamten  Lohn- 
summen  als  Reallohnsummen  sich  erhohen,  im  schlimmsten 
Fall  stabil  bleiben.  In  der  heutigen  Krise .  dagegen  sind  die 
Lohne  der  Beschaftigten  bereits  starker  gefallen  als  die  Preise, 
und  da  die  Arbeitslosigkeit  so  gigantische  Dimensionen  an- 
genommen  hat,  gehen  die  insgesamt  ausgezahlten  Lohnsummen 
und  damit  die   Gesamtkaufkraft   enorm  zuriick. 

Das  ist  der  Kreislauf,  in  dem  wir  uns  nun  seit  langer  Zeit 
befinden,  der  Kreislauf,  der  die  Widerspriiche  immer  weiter 
verscharft,  die  zur  Zeit  weder  nach  Innen  noch  nach  AuBen 
ein  Ventil  finden;  Widerspriiche,  die  die  konterrevolutionaren 
ebenso  wie  die  revolutionaren  Stromungen  steigern,  und  die 
konterrevolutionaren  augenblicklich  noch  schneller  als  die  re- 
volutionaren. 

699 


Der  rote  Handel  lOCkt  von  Johannes  Buckler 

F\ie    Titelj     die     der    amerikanische    Journalist    Hubert    H. 

Knickerbocker  seinen  Biichern  gibt,  sind  so  verlockend, 
daB  groBe  Tageszeitungen  sie  fur  ihre  Leitartikel  benutzen  und 
,  das  Buch  dieses  interessanten  Amerikaners  nur  ganz  nebenbei 
erwahnen.  Schon  sein  im  Friihjahr  erschienenes  Buch  MDer 
rote  Handel  droht",  das  hier  ausf (ihrlich  gewurdigt  wurde,  hat 
groBes  Aufsehn  erregt.  Seine  damals  sensationell  wirkenden 
Berichte  iiber  den  glanzenden  Stand  des  Funfjahrplans  sind 
vielfach  angezweifelt  worde'n.  Heute  beweist  Knickerbocker 
durch  sein  zweites  Buch  an  Hand  der  sichtbaren  Wirkungen 
des  Funfjahrplans  in  alien  europaischen  Landern,  daB  er  da- 
mals durchaus  richtig  gesehen  hat.  Und  diesmal  sind  sich  alle 
seine  Kritiker  dariiber  einig;  der  rote  Handel  lockt  viel  mehr 
als  er  droht.  Die  schiimmsten  politischen  Feinde  der  Sowjets 
reiBen  sich  darum,  mit  diesen  verfl . . .  Bolschewiken  Geschafte 
zu  machen. 

Die  reizvollsten  Kapitel  in  Knickerbockers  Buch  sind  in- 
folgedessen  die  Berichte  aus  England  und  Italien,  Seine  Schil- 
derung  der  Atmosphare  von  London  und  Manchester  —  mit 
ihrer  gefiihlsmaBigen  Stellung  gegenf  ihrer  portemonnaiemaBi- 
gen  fur  die  Sowjets  —  konnte  von  G.B.S,  sein,  auch  in  ihrem 
dramatischen  Aufbau.  Selbstverstandlich  sind  die  Interessen 
etwa  der  Maschinenfabrikanten  von  Manchester  andre  als  die 
der  Textilfabrikanten.  Die  Maschinenfabrikanten  fiihren  nach 
RuBland  aus,  und  hiergegen  hatten  auch  die  Textilleute  so 
lange  nichts  einzuwenden,  wie  sie  glaubten  -1—  eine  bisher  auch 
in  Deutschland  verbreitete  Ansicht  —  die  Russen  konnten  bei 
ihrer  ungelernten  Arbeiterschaft  mit  diesen  Maschinen  nicht 
viel  anfangen.  Aber  schon  hat  der  englische  Import  an  Textil- 
waren  aus  RuBiand  begonnen  und  droht  die  Arbeitslosigkeit  in 
Manchester  zu  steigern.  Im  allgemeinen  aber  liegt  doch  die 
Sache  vorlaufig  so,  daB  die  Einfuhr  russischer  Waren,  auch  in 
absehbarer  Zeit,  den  heimischen  Markt  in  den  europaischen 
Landern  kaum  trifft,  da  es  sich  um  Produkte  handelt,  die  in 
den  betreffenden  Landern  nicht  vorkommen.  Getroffen  wer- 
den  durch  den  russischen  AuBenhandel  in  erster  Linie  auBer- 
europaische  Lander  wie  die  Vereinigten  Staaten,  Kanada,  Ar- 
gentinien,  die  bisher  die  gleichen  Waren  nach  Europa  ein- 
fiihrten.  Ein  ZusammenschluB  der  europaischen  kapitalistischen 
Staaten  gegen  das  sogenannte  Sowjetdumping  ist  um  so  weni- 
ger  zu  erwarten,  als  es  ja  dem  Konsumenten  durchaus  gleich- 
giiltig  ist,  woher  die  Ware  kommt,  die  in  seinem  Land  nicht 
wachst  oder  produziert  wirdt  und  es  ihm  nur  angehehm  sein 
kann(  sie  billiger  als  bisher  zu  beziehen.  Es  kommt  nbch  hin- 
zu,  daB  die  Sowjets  von  Anfang  an  kein  Hehl  daraus  gemacht 
haben,  daB  sie,  um  die  bestellten  Waren  bezahlen  zu  konnen, 
exportieren  miissen,  DaB  also  logischerweise  nur  das  Land  die 
ersehnten  russischen  Auftrage  bekommt,  das  auch  russiscbe 
Waren  einfuhrt.  Knickerbocker,  der  ja  die  ganze  Angelegen- 
heit  durchaus  als  Amerikaner  betrachtet,  ist  sogar  davon  iiber- 
zeugt,  daB,  wenn  wider  Erwarten  ein  europaischer  Zusammen- 
schluB   gegen    RuBland    zustandekommen    sollte,     dieser    Zu- 

700 


sammenschluB  genau  so  gegen  Amerika  mit  seinen  ungeheuer- 
lichen  Zollschranken  gerichtet  sein  nriisse. 

Am  imponierendsten  sind  wohl  die  Zahlen  des  russischen 
Weizenexports.  Der  groBte  Getreidesilo  Europas,  der  Riesen- 
silo  von  Rotterdam,  der  zwei  Millionen  Scheffel  Getreide 
lagern  kann^  gehort  ..Export  Chleb",  dem  grofiten  Getreide- 
handler  aul  Erden.  Voraussichtlich  stehen  der  Sowjetunion  in 
dieser  Saison  377  Millionen  Scheffel  Weizen  zu  Exportzwecken 
zur  Verfiigung.  Dabei  ist  schon  das  Quantum  in  Rechnung  ge- 
stellt,  das  die  russische  Bevolkerung  fiir  den  eignen  Bedarf 
bendtigt.  Bekanntlich  ist  dies  bei  andern  Artikeln  nicht  der 
Fall:  es  werden  sehr  viele  lebensnotwendige  Dinge  ausgefiihrt, 
an  den  en  die  eigne  Bevolkerung  dringendste  Not  leidet. 
Aber  Brot  hat  jeder  Russe  so  viel  zur  Verftigung,  wie  er  essen 
kann.  Obwohl  in  RuBland  mehr  Roggen-  als  Weizenbrot  ge- 
gessen  wird,  hatte  im  vergangenen  Jahr  jeder  durchschnittlich 
dreihundert  Pfund  Weizen  zur  Verf iigung.  Am  erstaunlichsten 
beruhrt  wohl,  daB  Italien,  dies  klassische  Land  der  Makkaroni, 
afte  Sorten  von  Nudeln,  von  fingerdicken  bis  zu  haarfeinen 
Vermicelli,  aus  RuBland  einfiihrt.  Wie  ja  iiberhaupt  die  Han- 
delsfreundschaft  zwischen.  SowjetruBland  und  Fascioitalien 
sehr  dick  ist. 

Hochamusant  ist  die  Schilderung,  wie  russische  Wechsel 
diskontiert  werden.  Russische  Emigranten  in  Paris,  die  offiziell 
Von  Tag  zu  Tag  auf  den  Sturz  der  Sowjets  hoffen,  leben  nicht 
nur,  sondern  werden  reiche  Leute  an  diesen  bisher  nicht  ge- 
stfirzten  Sowjets-  Sie  zahlen  fur  einen  von  der  Sowjethandels- 
vertretung  gezogenen  Wechsel  iiber  100  000  Dollar  55  000 
Dollar,  legen  ihn  in.  ihren  Tresor  und  Ziehen  am  Ende  des  Jah- 
res  den  vollen  Bet  rag  zuztiglich  6  Prozent  Zinsen  ein,  ,  Jails 
nicht  inzwischen  die  Sowjetregierung  zuruckgetreten  und  mit 
grunen  Brillenglasern  maskiert  nach  Schweden  geflohen  ist". 
Eine  Bestatigung  dieses  patriotischen  Gebarens  erhielt  ich  in 
diesen  Tagen  durch  die  Tatsache,  daB  groBe  berliner  Getreide- 
handler,  die  seit  Jahren  vor  dem  Anmarsch  des  Bolschewismus 
zittern,  sich  zur  Zeit  in  Rotterdam  befinden,  um  von  dort  mit 
Hilfe  von  Sow  jet  getreide  den  zur  Zeit  anderweitig  sehr  flauen 
Markt  etwas  zu  eignem  groBen  Nutzen  zu  beleben. 

Seit  dem  Erscheinen  von  Knickerbockers  Buch  hat  sich 
besonders  fur  Deutschland  die  Situation  erheblich  verandert. 
Wahrend  fast  alle  Lander,  mit  denen  SowjetruBland  Handel 
treibt,  eine  staatliche  Garantie  fiir  die  Einlosung  der  Russen- 
wechsel  ubernommen  haben,  ist  der  Dreihundertmillionenkredit, 
der  den  Russen  von  Deutschland  eingeraumt  wurde,  ersohopft. 
Zur  Zeit  ist  die  Lage  so,  dafl  russische  Riesenauftrage  da  sind, 
die  die  Industrie  nicht  ausfiihren  will  ohne  die  bisherige  Ga- 
rantie des  Reichs  von  70  Prozent.  Ober  den  Stand  der  der- 
zeitigen  Verhandlungen  ist  genaues  nicht  zu  erfahren.  Die 
Russen  sind  sehr  optimistisch.  Die  deutsche  Presse  setzt  zum 
Teil  groBe  Zweifel  in  die  Zahlungsfahigkeit  der  Sowjets.  Aber 
selbst  ein  so  konservativer  Mann  und  ausgezeichneter  Kenner 
RuBlands  wie  Professor  Otto  Hoetzsch  halt  die  Befiirchtungen 
fiir  gegenstandslos,  GewiB  werden  die  russischen  Plane  stark 
durchkreuzt  durch  das  allgemeine  Sinken  der  Weltmarktpreise. 

701 


Der  russische  Export  mufite  also  quantitativ  stark  gesteigert 
werden,  um  die  zum  Gelingen  dcs  Fiinf jahrplans  angesetzte 
Summe  zu  erreichen.  Er  hat  also  das  allergroBte  Interesse  an 
der  Aufnahmefahigkeit  des  Marktes  der  kapitalistischen  Lan- 
der. Also  groteskerweise  auch  daran,  daB  die  Weltwirtschafts- 
krise  sich  nicht  verstarkt  und  die  theoretisch  ersehnte  Welt- 
revolution  nicht  friihzeitig  eintritt.  Auf  der  andern  Seite  er- 
gibt  sich  fur  das  Reich  die  Alternative,  entweder  einen  neuen 
Kredit  fur  RuBland,  bestehend  in  einer  siebzigprozentigen  Ga- 
rantie  fiir  die  Sowjetauftrage,  zu  bewilligen  oder  an  mehrere 
hunderttausend  neue  Erwerbslose  Unterstiitzungen  zu  zahlen. 
Denn  es  ist  kein  Geheimnis,  daB  in  bestimmten  groBen  Betrie- 
ben,  hauptsachlich  der  Maschinenindustrie,  50  bis  80  Prozent 
aller  Arbeiter  fur  das  russische  Geschaf t  arbeiten,  die  im  Falle 
der  Ablehnung  dieser  Auftrage  alle  arbeitslos  wiirden.  Es  ist 
anzunehmen,  daB  die  Regierung  nicht  die  Absicht  hat,  die  Krise 
im  eignen  Land  durch  Schaffung  von  neuen  Arbeitslosen  zu 
verscharfen. 

Ganz  abgesehn  davon,  daB  im  Fall  der  Ablehnung  Deutsch- 
lands  die  Auftrage  einfach  in  andre  Lander  gehen.  Denn  der 
rote  Handel  lockt  alle. 

Kaiser-Film  von  Dosio  Koffier 

Aus  einem  Film  1(Wilhelm  IL"  von  Dosio  Koffier, 
soeben  als  Buch  erschienen  im  Lucifer-Verlag,  Berlin,  Ob 
sich  eine  Filmgesellschaft,  ob  sich  ein  Regisseur  dafiir 
finden  wird  — ? 

Dei  dunkler  Leinwand  tragi  eine  Stimme  vor: 
*-*     t,Wilhelm  der  Zweite..." 

(Darauf  setzt  eine  Schreibmaschine  ein  und  tickt  ins  aufleuchtende 
Bild):      , 

1.  SCHREIBTISCH  DES  AUTORS 

Der    Autor    diktiert     der    Sekretarin     aus     dem     Manuskript 

weiter. 

„Ein  Film  in  drei  Teilen  von . . ." 

(Die  Schreibmaschine  beendet  den  Satz,  das  Klappern  hort  auf.) 

Sekretarin  unglaubig: 

„Ob  das  in  Deutschland  durchgeht  , . .?" 

Autor: 

„Nein,  ich  bin  davon  uberzeugt,  daB  diese  Republik  einen  republikani- 

schen  Film  nicht  zulassen  wird;  diese  Republik,  die  fiir  ihre  Reprdsen- 

iation  nichts  Geeigneteres  ausfindig  gemacht  hat  als  einen  Mann,  des- 

sen  markanteste  Eigenschaft  seine  monarchische  Gesinnung  ist  -— 

Sekretarin: 

„Wozu  dann  die  ganze  Arbeit?" 

Autor; 

,Jn  jedem   Fall  werde   ich  iiber  jenes  System  aufklaren,  das  dieser 

Staat  nicht  nur  nicht  beseitigt  hat,  sondern  fortsetzt  und  verieidigt 

und  dessen  Verbrechen  er  wegzuteugnen  sucht,  als  identifiziere  er  sich 

selber  mit  dem  alien  Sunder,  fiir  den  man  ihn  biiBen  laBt,'  Bleibt  dem 

Film  also  fur  die  Dauer  der  Bevormundung  die  Leinwand  versagt,  so 

702  V 


wird  er  sich  der  bis  auf,  Widerrut  noch  zuldssigen  Form  des  Buches 

bedienen  und  selbst  im  Druck  den  Ausspruch  Lenins  bekrdftigen:  J)ie 

Filmkunst  ist  meiner  Meinung  nach  von  alien  Kiinsten  die  wichtigsteV'4 

Sekretarin: 

„Wird  nicht  bei  einem  so  heikeln  Thema  Ihr  Radikalismus  den  Bogen 

uberspannen,  so  daft  grade  jener  Volksteil,  den  es  erst  zu  gewinnen 

gilt,  die  Gefolgschaft  verweigern  wird"" 

Alitor; 

„Nur  wenn  er  unehrlich  und  bbswitlig  ist!    Denn  die  hlstorischen  Per- 

sonen  lasse  ich  mit  ihren  eignen  Worten  und  Taten  vorbeiziehn,  und 

in  der  parallel  laufenden  Privathandlung  bekunde  ich  nur  die  Unmog- 

lichkeit,  die  historisch  verburgten  Tatsachen  durch  meine  Erfindungs- 

gabe  an  satirischer  Wirkung  zu  uberbieten.     Meine  Waffe  ist  Authen- 

tizitat  von  Worten  und  Ereignissen.     Dagegen  gibt  es  kein  Argument 

—  auBer:  weiBe   Mduse  und   die   entsprechende  Bereitschaft  republi- 

kanischer  Minister,  das  Ansehn  des  Deutschen  Kaiserreichs  nicht  ge- 

fiihrden  zu  lassen.    Sogar  das  Motto,  das  ich  diesem  Film  voransetze, 

entnehme  ich  einem  Gewahrsmann,  dem  auch  der  gliihehdste  Anbeter 

des  hier  entlarvten  Systems  die  Kompetenz  in  sqlchen  Dingen  nicht 

absprechen  wird.     Es  lautet: 

Er  schlagt  ein  Buch  auf,  zeigt  einc  Stelle  vor  und  liest: 

„. . .  Vberschwemmungen,  die  Lander  verwiisten;    der  Blitz,   der  Stddte 

einaschert;  die  Pest,  die  Provinzen  entvolkertt  sind  nicht  $o  schadlich 

wie  Motal  und  Leidenschatten  der  Konige!" 

Sekretarin   gespannt: 

„Wer  sagt  das?'4 

Autor: 

„Einer,  der  sich  darin  auskennt:  Friedrich  der  GroBe!    Also  schreiben 

Sie:  auf  der  Leinwand  erscheint ..." 

(Das  Diktat  und  das  Klappern  verklingen  wdhrend  der  Vberblendung 

ins  nachste  Bild.) 

Auf  der  Leinwand  erscheint: 

2.  DIE  ABBILDUNG  EINER  BUCHSEITE 

Die  Stelle  mit  erwahntem  Zitat.    Das  Blatt  wird  immer  durch- 

sichtiger. 

(Wdhrenddessen  tout  aus  den  dahinter  matt  aufddmmernden  Umrissen 

des  Schauplatzes  gleichsam  als  Ouverture  monotones  Picken  von  Aas- 

geierschndbeln  und  Gekriichz  von  Raben  heruber.) 

Nun  sieht  man  wie  durch   einen  durchleuchteten   Schleier  in 

ein  visionares  Bild: 

3.  WEITER  SOLDATENFRIEDHOF 

a)  Die  Aasgeier  und  Raben  schwarmen 
(unter  Fliigelschlagen  und  Gekreisch) 
aufgescheucht   davon.     Das  Bild  nahert   sich. 

(Das  Geheuider  Raubvogel  verhallt  in  der  Feme;  tiefe  Stille  folgt.) 
Das  nahegekommene  Bild  blendet  bis  auf  ein  Grab  zu: 

b)  Das  Soldatengrab,  von  unten  gegen  diistern  Horizont  auf- 
genommen, 

c)  PreuBische  Insignien  iiber  dem  Kreuz; 

d)  Kreuzinschrift:   ,,1870/71". 

703 


e)  Von  oben:  die  Rasendecke  des  Grabes.  Sie  klappt  steil 
hoch,  steht  senkrccht  vor  dem  Apparat,  schmilzt,  und  man 
schaul  wie  durch  Glas  ins  Innere. 

4.  IM  GRAB 

Aus    Staub,    aus    Fctzen    ciner    preuBischen    Grenadier  uniform 

wimmeln  Knochemiberreste,  reihen  sich  rimdum,   formen  sich, 

iiigen   sich   zur   Krone;   da   greift  eine   edelsteinbesetzte   Hand 

hinein,  packt  die  Krone,   ein  Ruck  und  — 

(in  die  Stille  hinein  plotzlich:  Kirchenglocken  in  Grabgeldut) 

ein  Trauerflor  senkt  sich  libers  Grab. 

(Das  Glockengelaut  schwillt  an,} 

Die   Hand   mit  der   Krone    am    Trauerflor   vorbei,    dreht    sicht 

verschwindet  im  Hintergrund,  leuchtet  dort  als  Punkt  auf. 

(Die  Glocken  schweigen.) 

Der  Punkt  lauft  auf  den  Apparat  zu  und  steht  davor  groB  als: 

5.  EIN  SCHADEL 

Halb  von  hinten,  halb  profil  aufgenommen;  dariiber  stulpt  die 
Hand  die  Krone,  bis  eine  hochgewichste  phantastische  Schnurr- 
bartspitze    seitwarts    an    den    Kronreif    hinanreicht;    der    Kopf 
wendet   sich;   Kronreif   iiber  zwei  Schnurrbartspitzen. 
Aufblenden;   Brustbild  Kaiser   Wilhelms   II.     Er   spricht: 
„. , .  daB  wir  unsre  Krone  nur  vom  Himmel  nehmenl'* 
Er  blickt  urn  sich-     Weiter  aufblenden:  urn  ihn  Runde  gebeug- 
ter  Riicken. 

a)  Der  Apparat  umkreist  die  Riicken  ringsum. 

b)  Kopf  <les  Kaisers;  er  spricht  weiter: 

„. . .  von  Gottes  Gnaden . . .  nicht  von  Parlamenten  und  Volks- 
beschlussen!" 


Lenin  und  der  Materialismus  von  Kurt  miier 

Schlafi 
Den  deutsch-franzosischen  Krieg  1870  erklart  Lenin  aus 
den  „sehr  realen  Interessen  der  Industrie-  und  Handelsbour- 
geoisie",  Es  laufe  „auf  eine  Vertuschung  des  Wesens  der 
Dinge"  hinaus,  „wenn  man  das  Nationalgefuhl  zum  selbstan- 
digen  Faktor  erhebt",  Und  der  Ehrgeiz  der  Dynasten,  der 
Generate,  der  Politikanten?  Die  psychagogisch  dauernd  ak- 
tive  Nationalmystik  der  Lehrenden?  Einer  uberwertigen 
Kausal-Idee  ,  zuliebe  werden  die  wirkenden  Krafte  der  Ge- 
schichte  verschoben,  verschroben, 

Gegen  die  Irradikalitat,  das  hochste  Heil  im  gerechten 
Giiteraustausch  zwischen  den  Nationen  zu  erblicken,  geht  Le- 
nin mit  Recht  vor;  aber  wie?  Zunachst,  indem  er  ngerecht" 
in  ironische  GansefiiBchen  steckt  (was  denBegriff,  nicht  seine 
verkehrte  Verwendung  treffen  soil),  sodann  durch  einen  Vor- 
stoB  gegen  das  angebliche  Philistertum,  das  Mnicht  begreift, 
daB  der  Austausch,  der  gerechte  wie  der  ungerechte,  stets 
die  Herrschaft  der  Bourgeoisie  voraussetzt  und  einschlieBt, 
und  daB  ohne  die  Vernichtung  der  auf  dem  Austausch  beruhen- 

704 


den  Wirtschaftsorganisation  das  Aufhoren  der  internationalen 
ZusammenstoBe  unmoglich  ist"  —  als  ob  es  nicht  auch  in.  einer 
sozialistischen  Welt  Austausch  der  Produkte  von  Volk  zu  Volk 
geben  wird  und  geben  muB.  Der  kapitalistische  Staat  ist  auf- 
zuheben;  nicht:  dcr  Staat,  Der  kapitalistische  Austausch  ist  zu 
vernichten;  nicht:  der  Austausch.  Lenin  verschiittet  hier,  an- 
archoid,  das  Kind  mit  dem  Bade. 

Aber  in  ein  leeres  Schimpfen  gerat  er,  wo  er  sich  gegen 
Michailowskis  Kritik  an  der  Marxischen  Lehre  von  der  MNot- 
wendigkeit"  der  sozialen  Revolution  wendet;  von  ihrer  Unaus- 
bleiblichkeit,  ihrem  naturgesetzlichen  Kommenmussen.  Was  in 
Deutschland  seit  funfunddreiBig  Jahren  Stammler,  Landauer, 
Vorlander,  Radbruch,  Nelson  gegen  diese  Lehre  ins  Feld  gefiihrt 
haben  —  driiben  scheint  ihnen  Michailowski  vorangegangen 
zu  sein.  Insonderheit  beschrieb  er  den  ,,Konflikt  zwischen  der 
Idee  der  historischen  Notwendigkeit  und  der  Rolle  der  per- 
sonlichen  Tatigkeit",  Nach  der  Notwendigkeitstheorie  seien 
die  Tatigen  bloBe  Objekte,  ,,Marionettenf  die  aus  geheimnis- 
vollem  Hintergrunde  durch  die  immanenten  Gesetze  der  histo- 
rischen Notwendigkeit  in  Bewegung  gesetzt  werden";  des- 
wegen  sei  die  Notwendigkeitstheorie  ,,fruchtlos"  und  „ver- 
schwommen".  Bravo,  Michailowski!  Aber  Lenin  nennt  dich 
um  dieser  Erkenntnis  willen  Hanswurst,  Schwatzer  und  Klaf- 
fer;  weil  Du  dich  gegen  den  gewaltigen  Marx  versiindigt 
hast  (den  alten;  der  junge  wuBte  es  besser),  zitiert  er  gegen 
dich   Krylow: 

Ei,  schaut  doch,   was    das   Mopschen   kann: 
Es  bellt   den  Elefanten  an! 

Und  ein  Konflikt  zwischen  Determinismus  und  Ethik  bestehe 
iiberhaupt  nicht;  1tHerr  Michailowski  hat  ihn  sich  ausgedacht". 
Lenin  will  nicht  wahrhaben,  daB,  wenn  die  Umwandlung  der 
kapitalistischen  GesellschaHsordnung  in  die  sozialistische  na- 
turnotwendig,  wenn  sie  unvermeidlich  ist,  kein  Mensch  sich 
anzustrengen  braucht,  sie  herbeizufuhren.  „Die  Idee  des  De- 
terminismus, die  die  Notwendigkeit  der  menschlichen  Hand- 
lungen  behauptet  und  das  unsinnige  Marchen  von  der  Wil- 
lensfreiheit  zuruckweist,  beseitigt  mitnichten  weder  die  Ver- 
nunft  noch  das  Gewissen  des  Menschen  noch  die  Bewertung 
seiner  Handlungen,  Ganz  im  Gegenteil,  die  deterministische 
Auffassung  allein  gestattet  eine  strenge  und  richtige  Bewer- 
tung statt  der  Abwalzung  aller  beliebigen  Dinge  auf  den 
freien  Willen.  Desgleichen  wird  auch  die  Rolle  der  Person- 
lichkeit  in  der  Geschichte  durch  die  Idee  der  historischen 
Notwendigkeit  in  keiner  Weise  geschmalert."  Also  Vernunft 
und  Gewissen  ohne  die  Willensfreiheit!  Bewertung  mensch- 
lichen Handelns,  ohne  es  dem  Handelnden  zuzurechnen!  Be- 
wertung unter  der  Perspektive  der  historischen  Notwendig- 
keit! Wie  denkt  Lenin  sich  das?  So:  „Die  Grundfragef  die 
bei  der  Bewertung  der  offentlichen  Tatigkeit  einer.  Person- 
lichkeit  in  den  Vordergrund  riickt,  lautet:  Unter  welchen  Be-" 
dingungen  ist  dieser  Tatigkeit  ein  Erfolg  gesichert?  Mit  andern 
Worten:  worin  besteht  die  Garantie  dafiir,  daB  diese  Tatig- 
keit keine  vereinzelte  Handlung  bleibt,  die  von  einem  Meer 
3  705 


entgegengesetzter  Handlungen  verschlungen  wird?'-'  Nach 
einem  Kriterium  solcherart  waVc  die  offentliche  Tatigkeit 
Christi  odcr  Karl  Licbknechts  mit  Minus,  die  offentliche  Ta- 
tigkeit Horthys  oder  Pilsudskis  mit  Plus  zu  bewerten.  Ob 
Hitler  zu  loben  oder  zu  verurteilen  ist(  bleibt  danach  eine 
offene  Frage,  ehe  nicht  feststeht,  ob  er  zur  Macht  durchstieB 
oder  fur  immer  ins  AuBenseiterische  zuriicksank.  Anbetung  des 
Erfolgs  : —  unter  alien  Maximen  gibt  es  keine  odere,  keine 
ungeistigere,  keine  ordinarere;  mir  scheint,  Lenin  hat  sich 
selber  falsch  gedeutet,  als  er,  urn  den  Materialismus  zu  recht- 
fertigen,  bis  zu  den  Argumenten  des  niedersten  SpieBertums 
hinabstieg, 

Mit  Recht  hebt  Michailowski  hervor,  daB  „der  okono- 
mische  Materialismus  das  Problem  von  Held  und  Masse  igno- 
riert  oder  falsch  beleuchtet".  (Wir  wiirden  heute  statt  ,Held* 
iFiihrer1  sagen.)  Lenin  degradiert  lhn  deshalb  zum  t,Lieb- 
haber  eincr  Philisterwissenscbaft"  und  seine  Argumente  zu 
tiinhaltlosen  Phrasen".  Es  liege  „keinerlei  Kritik  vor,  sondern 
lediglich.  leeres,  anmaOendes  Geschwatz",  Michailowski  habe 
nichts  gegen  die  Ansicht  vorgebracht,  „daB  die  Produktions- 
verhaltnisse  die  Grundlage  aller  andern  Verhaltnisse  bilden". 
Auch  der  Liebesverhaltnisse?     Ich  meine  die  Frage  ernst. 

Lenin:  „Jedermann  weiB,  ,daB  der  wissenschaftliche  So- 
zialismus  eigentliche  Zukunftsaussichten  nie  entworfen  hat;  er 
hatte  sich  auf  die  Analyse  der  modernen,  burgerlichen  Gesell- 
schaftsordnung,  auf  das  Studium  der  Entwicklungstendenzen 
der  kapitalistischen  Gesellschaftsorganisation  beschrankt  — 
und  nichts  weiter/'  Also:  Analyse,  Beschreibung  von  Ten- 
denzen,  Kausalbetrachtung,  Ontologie;  nicht  Synthese,  nicht 
Lancierung  von  Tendenzen,  nicht  Zielsetzung,  nicht  Utopie. 
Nein  zur  ,Idee';  daher,  vollig  mit  Recht,  der  Name  .Mate- 
rialismus'. „Ideale"  konnen,  nach  Lenin,  „nur  als  eine  ge- 
wisse  Widerspiegelung  der  Wirklichkeit  auftauchen";  nicht 
i,die  Tatsachen  prufen '  sollen  sie,  sondern  sie  sollen  „von  den 
Tatsachen  gepriift  werden".  Fiir  jeden  an  Kant  Geschulten 
grotesk!  An  der  Theorie  von  der  Bedingtheit  des  Ideals 
durch  die  Wirklichkeit  ist  doch  einzig  die  Platitude  wahr,  daB 
der  Schlaraffe  schwerlich  das  Ideal  entwickeln  wird,  gebratne 
Tauben  mochten  den  Menschen  ins  Maul  fliegen,  wahrend  dem 
ausgesteuerten  Erwerbslosen  die  Armut  kaum  rilkisch  als 
tfein  groBer  Glanz  von  inn  en'*  erscheinen  wird.  Auch  ware 
ohne  Kriege  der  Friede  kein  Ideal.  Ja;  Furwahr!  Aber  diese 
jedem  zehnjahrigen  Knaben  selbstverstandlichen  psychologi- 
schen  Bedingtheiten  hindern  nicht,  daB  zwischen  Dem,  was 
sein  soil,  und  Dem,  was  ist,  die  prinzipielle  kategoriale  Be- 
ziehung  des  Gegensatzes  klafft.  Ethik  contra  Physik  — 
wobei  .Physik*  im  weitesten  Sinne  wissenschaftliche  Erfah- 
rung  heiBt,  also  das  von  den  Materialisten  als  einziges  be- 
glaubigte  Erkenntnismittel;  daB  es  namlich  „im  Marxismus 
selbst  von  Anfang  bis  zu  Ende  kein  Gramm  Ethik  gibt",  ist 
eine  Behauptung  Sombarts,  deren  Richtigkeit  Lenin  in  die- 
ser  Schrift  ausdrucklich  anerkennt.  Wladirair  Iljitsch  lehnt  also 
nicht  nur,  wie  wir  Sozialisten  alle,    eine    inhaltlich   bestimmte 

706 


Ethik,  namlich  die  biirgerliche,  sondern  er  lehnt,  als  echtcr 
Materialist,  die  Ethik  als  Denkform,  die  Ethik  an  sich  ab. 

Querdurch  der  charmante  Widerspruch,  „daB  ein  Erfolg 
der  sozialistischen  Lehre  nur  dann  vorhanden"  sei,  „wenn 
sie  . . ;  an  die  materialistische  Analyse . , .,  an  die  Aufklarung 
der  Unvermeidlichkeit . ,. .  herantritt".  ,, Erfolg  der  Lehre" 
—  was  heiBt  „Lehre"  hier  Andres  als:  Idee,  Postulat,  Ziel- 
setzung?  Und  „Erfolg"  Andres  als  Verwirklichung?  Tatsachlich 
ist  der  Sozialismus  die  groBartigste  aller  modernen  Zielsetzun- 
gen,  und  der  Materialismus  sein  scharfster  Widersacher ...  als 
Monismus,  als  Geistnegation,  {Auch  der  „dialektische"?  „Dia- 
lektik"  ist  im  giinstigsten  Falle  verkriimmter,  verkrampfter 
Dualismus  —  verschamter,  der  sich  nicht  einzugestehn  wagt. 
nDialektischer  Materialismus",  wenn  wir  den  Begriff  entnebeln: 
ein  schneeweiBer  Rappe,  eine  bliihende  Wiiste,  ein  lebendiger 
Tod.) 

DaB  Personlichkeiten  die  Geschichte  machen,  nennt  Lenin 
„eine  hohle  Phrase";  trotzdem  hat  ihm,  an  der  Kreml-Mauer, 
sein  Volk  ein  Mausoleum  errichtet, 

Aus  einer  sehr  berechtigten  und  schonen  Dankbarkeit, 
die  jeder  ehrliche  Sozialist  teilen  muB.  Was  Lenin  als  Staats- 
zerstorer  und  -erbauer  geleistet  hat,  bleibt  Grund  zur  Freude, 
Bewunderung  und  Verehrung  auch  fiir  Den,  der  erkannt  hat, 
daB  dieser  GroBe  sich  hinsichtlich  der  philosophischen  Fun- 
dierung  seiner  Praxis  in  genau  dem  gleichen  SelbstmiBver- 
standnis  befunden  hat  wie  jeder  andre  politisch  aktive 
Materialist. 

Dem  war  so;  diese  Schrift  bestatigt  restlos,  was  wir  gegen 
den  Hisi(orischen  Materialismus  einwandten,  bevor  wir  sie 
kannten,     Gegen   ihn  spricht   zweierlei: 

Erstens  die  Einseitigkeit  seiner  Motivationslehre.  Der 
Mensch  handelt  nicht  bloB  aus  wirtschaftlichen  Beweggriin- 
denf  sondern  auch  aus  sexuellen,  aus  geltungstrieblichen  und 
aus  ideellen  (deren  Unterbau  keineswegs  der  Bauch  ist).  Was 
fiir  den  Einzelnen  giH,  gilt  fiir  die  Vielzahl,  die  Gruppe,  die 
Gesellschaft.  Die  Geschichte  ist  zwar,  unter  anderm,  ndie 
Geschichte  von  Klassenkampfen",  aber  sie  ist  noch  Etwas 
auBerdem.  Jedes  geschichtliche  Ereignis  ist,  wie  nach  Freud 
der  Traum,  ,,uberdeterminiert". 

Zweitens  und  vornehmlich  taugt  die  materialistische  Ge- 
schichtsauffassung  deshalb  wenig,  weil  sie  lediglich  Geschichts- 
auffassung  ist.  Eine  blofle  Geschichtsauffassung  liefert  keine 
Maximen  fur  das  politische  Verhalten.  Sie  ist  beschreibend, 
nicht  auch  fordernd.  Der  Materialismus  bleibt  eine  rein  kau- 
sale  Betrachtungsart;  er  untersucht  die  Ursachen  von  Wirkun- 
gen.  Es  kommt  aber  nicht  nur  darauf  an,  das,  was  geschieht, 
zu  erklaren  (der  Historische  Materialismus  erklart  zweifellos 
Manches  neuartig,  kuhn  und  fruchtbar;  er  ist  eine  iiitelligente, 
oft  schopferische  Hypo  these),  sondern  es  handelt  sich  auch 
und  vor  allem  datum,  Ziele  zu  setzen  und  Wfege  zu  weisen. 
nAnalysieren"  allein  tuts  nicht;  es  mufi  auch  postuliert  wer- 
den.  Neben  der  kausalen  Betrachtungsart  gibt  es  im  Men- 
schen  eine  finale;  ihr,  der  wichtigeren,  wird  der  Materialis- 
mus nicht   gerecht.     Er  geht   vor,   als  lieBe   das   Seinsollende 

707 


sich  aus  dem  Seienden  ableiten.  Als  sei  alles  Sollen  ohnmach- 
tig  vor  dem  Werden:  in  das  es  den  Eingriff  der  sittlichen  Ver- 
nunft  nicht  gibt.  Die  Praxis  des  Kommunismus  (Lenin!  Stalin!) 
steht  Dem  gliicklicherweise  schroff  entgegen;  aber  seine  Theo- 
rie,  eben  der  Historische  Materialismus,  lautet  so.  Soll-Lehre 
(Ethik)  grundsatzlich  ablehnend,  interpretiert  er  die  Welt  nur; 
es  kommt  aber,  nach  Marx  selber,  ,,darauf  an,  sie  zu  veran- 
dern".  Dies  involviert  eine  Zielidee.  Wohin  denn  verandern? 
Eine  Zielidee;  die  wertgetrankte  Vorstellung  von  etwas 
in  der  Welt  der  Erf ahrung  noch  nicht  Vorhandnem ;  das 
Utopie-Bild.  Lenin,  wahrhaftig,  lebte  aus  ihm.  Gleichwohl 
lehrte  er  tiber  die  denkerischen  Grundlagen  Falsches.  Er 
sprach,  als  Theoret,  der  ,,Gerechtigkeit"  Hohn  und  handelte 
doch  urn  der  Gerechtigkeit  willen ...  er,  der  Nichtprolet,  der 
Schulinspektorssohn.  nDie  logische  Kritik  solcher  Fehlwege 
des  Denkens,"  sagt  Simmel  einmal,  ,,ist  an  und  fur  sich  von  ge- 
ringem  Belang;  fruchtbar  ist  nur  die  Erkenntnis,  wie  so  groBe 
Denker  trotz  ihrer  Irrigkeit  an  ihnen  festhalten  konnten  und 
welche  Bedeutung  ihnen  trotz  dieser  zukommt."  Ich  glaube, 
da8  Lenin  zu  den  eminenten  Erfolgen,  die  er  als  revolutionarer 
Denker  und  Verwirklicher  aufzuweisen  hat,  nicht  kraft  sondern 
trotz  seiner  Grundlehre  gelangt  ist  (einer  (ibrigens  ja  nur  tiber- 
nommenen);  und  daB  der  Historische  Materialismus,  woriiber 
ein  ander  Mai  zu  reden  sein  wird,  eine  der  hauptsachlichsten 
Ursachen  der  Langsamkeit  ist,  mit  der  sich  —  zumal  in 
Deutschland  —  der  Sozialismus  durchsetzt.  DaB  unter  derart 
revolutionierenden  Bedingungen,  wie  die  heutige  Lage  sie 
liefert,  nicht  die  Spur  des  Schattens  einer  revolutionaren 
Situation  sichtbar  wird  ^revolutionierend',  ,revolutionar*:  so- 
zialistisch  verstanden),  widerlegt  den  Historischen  Materialis- 
mus in  einem  doppelten  Sinne. 

Parabel  von  Franz  Blei 

Dicse  Parabel  erzahlte  Oscar  Wilde  1900  in  Paris  im 
Cafe  Francois  I.     Sie  ist  niemals  gedruckt  worden. 

Am  Tage  nach  seiner  Auferweckung  saB  Lazarus  auf  der 
*^  Steinbank  vor  seinem  Hause  und  licB  sich  von  der  Sonne 
warmen.  Er  hatte  die  Augen  geschlossen  und  so  konnte  er 
nur  an  dem  ku'hlenden  Schatten  merken,  daB  jemand  vor  ihm 
stand.  Er  schlug  die  Augen  auf  und  erkannte  den  Herrn.  Er 
wollte  sich  gleich  erheben,  aber  der  Herr  hinderte.  ihn,  indem 
er  ihm  sanft  die  Hand  auf  die  Schulter  legte.  So  riickte 
Lazarus  ein  wenig  zur  Seite,  um  dem  Herrn  Platz  zu  machen. 

Und  Jesus  schwieg  eine  lange  Weile  und  so  sprach  auch 
Lazarus  nicht  aus  Ehrfurcht  vor  dem  Schweigen  des  Herrn. 
Der  wandte  sich  nun  nah  zu  Lazarus,  daB  er  fast  dessen  Ohr 
beriihrte.     Und  ganz  leise  kam  es  von  seinen  Lipperi: 

,,Du  muBt  das  wissen,  Lazarus.    Was-ist . .  .  jenseits?*' 

Und  ebenso  leise  sagte  Lazarus  darauf: 

„Nichts,  Herr." 

Und  da  wurde  die  Stimme  des  Herrn  zu  einem  Fhistern, 
als  sie  sagte; 

„Sprich  es  nicht  weiter,  o  Lazarus!" 

708 


Die  Frau  und  die  BehSrde  von  Lisa  Matthias 

YV/enn  einer,  und  er  hat  gar  kein  Geld  und  wohnt  in  einer  Miets- 
"  kaserne  im  aufiersten  Norden  von  Berlin,  sein  Kind  halbtot  prii- 
gelt,  es  einsperrt  und  nahezu  verhungern  laJ3tf  dann  begeben  sich 
vielleicht  endlich  einmal  mitleidige  Nachbarn  auf  die  Polizei,  machen 
Anzeige  und  werden  ans  Jugendamt  verwiesen.  Nehmen  wir  an,  dafi 
dieses  Amt  dann  sehr  bald  eine  Vertrauensperson  in  die  Proletarier- 
wohnung  schickt,  so  kann  es  doch  sehr  gut  vorkommen,  dafi  dieser 
Vertrauensperson  das  Kind  noch  nicht  geniigend  gefahrdet  erscheint, 
dafi  diese  Vertrauensperson  erst  einmal  langatmige  Erkundigungen 
einzieht  und  dafi  die  mitleidigen  Nachbarn  ihr  Mitleid  bald  bereuen, 
da  das  Kind  nicht  abtransportiert  wird.  Die  mitleidigen  Nachbarn 
werden  sogar  von  den  wiirdigen  Eltern  oder  dem  wiirdigen  Vater  gut 
und  reichlich  ob  ihrer  Einmischung  beschimpf t.  Solche  Ereignisse 
Hest  jeder  von  uns  taglich  in  der  Zeitung.  Manchmal  greift  im  aller- 
vorletzten  Moment  das  Jugendamt  ein  und  entreifit  das  gefahrdete 
Kind  seinen  Peinigern.  Ich  mochte  aber  nicht  nachforschen,  wieviel 
ungliickliche  Proletarierkinder  durch  Vernachlassigung  und  Miflhand- 
lung  ungeschiitzt  hinsiechen  miissen. 

Wenn  einer  aber  im  Westen  wohnt  und  gar  nicht  arfoeitet,  son- 
dern  seine  Frau  und  seinen  Schwieger vater  fur  sich  arbeiten  lafit  und, 
weil  er  alle  paar  Tage  Angriffe  auf  das  Leben  seiner  Frau  macht,  die 
Frau  dazu  treibt,  dafi  sie  ihr  glanzend  versorgtes  Baby  einen  Tag 
dem  rabiaten  Mann  und  dem  netten  Dienstmadchen  iiberlafit,  tun  sich 
nach  einer  kleinen  Spur  von  Recht  und  Hilfe  umzusehn,  wenn  die  ge- 
plagte  »Frau,  die  monatelang  ein  Martyrium  an  Mifihandlung  erleidet, 
nur  um  dem  Kind  nahe  zu  bleiben,  zwei  Tage  der  Wohnung  fern- 
bleibt,  die  ihr  Vater  bezahlt,  dem  Haushalt  fernbleibt,  den  wiederum 
ihr  Vater  und  sie  selbst  bestreitet,  dann  geschieht  folgendes;  Dem 
Ehemann,  einem  haltlosen,  hysterischen  Menschen,  der  nach  j  edem 
Wutanfall,  nach  jedem  Mordversuch  an  seiner  Frau  weinend  und 
fahneklappernd  zusammenbricht,  sagen  mysteriose  gute  Freunde: 
tfRuf  doch  einfach  das  Jugendamt  an,  lafi  das  Kind  abholen,  unter  der 
Motivierung,  die  Frau  vernachlassige  dein  Kind/'  Dann  ruft  der 
ehrenwerte  Burger,  der  sich  inzwischen  auf  gleichfalls  mysteriose 
Art  in  den  Besitz  von  Geld  gebracht  hat,  beim  Jugendamt  Wilmers- 
dorf  an.  Weinerlich  bittet  er  dort  nicht  etwa  —  wie  es  allgemein 
iiblich  ist  —  um  die  Adresse  eines  geeigneten  Kinderheimes  —  und 
moglichst  billig  soil  es  auch  sein  —  sondern  er  ersucht,  man  moge 
sein  ,fgefahrdetes  und  verwahrlostes"  Kind  umgehend  abholen,  Aus 
„seiner"  Wohnung,  wo  ihm  kein  Tisch  und  Stuhl  gehort,  wo  er  nichts 
bezahlt  und  wo  er  der  Frau,  der  er  ein  Greuel  geworden  ist,  standig 
nach  dem  Leben  trachtet,  so  dafi  das  Uberfallkommando  bereits  ein- 
greifen  mufite.  Was  tut  das  Jugendamt,  das  vortreffliche  wilmers- 
dorfer  Jugendamt?  Es  sendet  zu  dem  gefahrdeten  Burgerskind 
zween  Damen:  Fraulein  von  Dittfurt  und  eine  Art  von  Steno- 
typistin  oder  Helferin,  Fraulein  Obst.  Diese  beiden  Damen  erschei- 
nen  in  der  hiibschen  Neubauwohnung  des  ungliicklichen  Vaters, 
tranenuberstromt  zeigt  er  ihnen  einen  dicken  gesunden  Jungen  von 
fiinfzehn  Monaten.  Jammernd  und  schluchzend  ftihrt  er  die  beiden 
Damen  ins  Kinderzimmer,  in  dem  es  tadellos  sauber  und  adrett  aus- 
sieht,  schickt  den  dicken  Saugling  mit  dem  zuverlassigen  Madchen 
in  die  Kiiche,  fliistert  und  kramt  mit  den  edlen,  hilfreichen  Damen 
und  liefert  sein  strampelndes,  rosiges,  „verwahrlostesM  Kind  den 
beiden  Tanten  aus,  wahrend  er  das  Dienstmadchen  in  der  Wohnung 
einschliefit.  Die  beiden  Damen  von  Dittfurt  und  Obst  schieben  samt 
Kind  und  vollgepacktem  Koffer  voll  sauberer  Kindersachen  ab,  ob- 
wohl   in   dem  Kinderheim   Schaperstrafie   ausdriicklich   „keinerlei   mit- 

709 


gebrachte  Garderobe  der  Kinder  verlangt  und  getragen  wirdl  Und 
wo  Kinder  unter  achtzehn  Monaten  keine  Aufnahme  finden." 

Der  schwergepriifte  Vater  zahlt  gleich  fur  vierzehn  Tage  a  drei 
Mark  Pension  im  voraus,  daher  war  man  wohl  so  edel,  hilfreich  und 
gut  zu  ihm,  dann  bricht  er  erst  einmal  wieder  in  seinem  Heim,  das  er 
nicht  zahlt,  zusammen. 

Die  Frau,  die  inzwischen  erfahren  hat,  daB  ihr  Kind  heimlich 
weggeschafft  wurde,  die  aber  keine  Ahnung  hat,  wo  sich  das  Kind 
befindet,  die  Frau,  die  zwei  Tage  vorher  beinah  erwiirgt  worden  ist 
und  vom  Uberfallkommando  grade  noch  gerettet  wurde,  erbittet  poli- 
zeilichen  Schutz,  um  wenigstens  Eintritt  in  ihre  Wohnung  zu  erhalten: 
Sie  hat  nichts,  als  das,  was  sie  auf  dem  Leibe  hat  und  ein  paar  alte 
Pelzmantel,  die  sie .  im  letzten  Moment  aus  dem  Hause  geschaf ft  hatte. 
Die  Polizei  verweigert  jeden  Schutz  und  verweist  auf  den  Klageweg. 

Die  Polizei,  die  sich  um  keinen  Preis  der  Welt  in  „Privatange- 
legenheiten  einmischt",  sagt  der  Frau:  „Ihr  Mann  wird  schon  seine 
Griinde  haben,  daB  er  das  Kind  weggeschafft  hat,  wer  weiB,  was  Sie 
fur  Schuld  haben."  Erst  als  die  hochloblichen  Beamten  darauf  hinge - 
wiesen  werden,  daB  der  ehrenwerte  Ehemann  schon  zwei  allerdings 
miBgluckte  Selbstmordversuche  gemacht  hat  und  nach  jedem  Kollaps 
die  Gefahr  besteht,  daB  er  diese  Versuche  wiederholt,  bequemt  sich 
einer  der  Herren,  die  Frau  zu  begleiten.  Der  Ehemann,  der  im  Dun- 
keln  auf  dem  Balkon  gestanden  hat,  offnet  dem  Polizeibeamten.  Es 
erhebt  sich  ein  Gebriill  in  dem  feinen  Neubauhaus,  daB  die  dunnen 
Wande  wackeln.  Der  ehrenwerte  Ehemann  schwort  dem  Polizisten, 
daB  er  nicht  nur  Hausvorstand  sei,  daB  er  auch  die  Miete  und  die 
gesamten  Haushaltskosten  bestreite,  daB  ihm  die  Mobel  und  alles 
sonstige  Inventar  gehoren,  und  daB  er,  obwohl  er  selbst  beschnitten 
sei,  „sein  Kind  einem  erstklassigen  evangelischen  Heim"  uber- 
geben  habe. 

Tags  darauf.  Das  Kind  bleibt  verschwunden,  der  ehrenwerte 
Ehemann  bricht  vor  seiner  Frau  zusammen  und  gelobt,  das  Kind  zu- 
ruckzuholen,  wenn  die  Frau  die  ,,gestohlenen  Pelze"  zuruckbringt. 
Die  Frau  holt  die  Pelze  nicht,  bleibt  aber  in  der  Wohnung,  um  da- 
durch  zu  erreichen,  daB  der  ehrenwerte  Vater  das  Kind  zurtickbringt. 
Heimlich  verschwindet  der  Vater  am  andern  Tag,  heimlich  wird  er 
beobachtet,  und  es  stellt  sich  heraus,  daB  das  gut  gepflegte  Kind  in 
einem  Jugendheim  drei  Tage  untergebracht  war  und  keinerlei  Recher- 
chen  nach  der  Mutter  unternommen  wurden!  Die  Mutter  bekommt 
ein  rabiates,  wild  um  sich  schlagendes  Kind  zuriick,  das  keine  Nacht 
schlaft,  im  Schlaf  aufbrullt,  schlecht  iBt  und  jedem  ins  Gesicht  haul, 
der  sich  ihm  nahert,  Heimlich  geht  sie  in  das  Kinderheim,  stellt  fest, 
daB  das  Kind  fur  drei  Mark  taglich,  vierzehn  Tage  Vorauszahlung, 
mit  sieben  schreienden  Kindern  zusammengelegen  hat;  daB  das  Per- 
sonal muffig  und  besonders  unfreundlich  ist  und  ihr  jede  Auskunft 
verweigert.  Die  Mutter  geht  zum  Stadtrat  Kruger,  nachdem  die 
Damen  Dittfurt  und  Obst  naserumpfend  erklart  haben;  „Wer  weiB, 
was  Sie  getan  haben!"  Der  Stadtrat  Kruger  erklart:  „Jeder  Vater 
habe  das  alleinige  und  ausschlieBliche  Bestimmungsrecht  iiber  sein 
Kind  und  laut  §  XYZ  habe  das  Jugendamt  das  Recht  und  sogar  die 
Pflicht,  ein  gefahr detes  Kind  stantepede  unterzubringen/* 

Wir  leben  in  einem  Rechtsstaat,  Die  Mutter,  die  jeden  Groschen 
fur  ihr  Kind  verwendet,  die  sich  von  ihrem  nicht snutzigen  Gatten 
halbtot  schlagen  laBt,  hat  naturlich  auch  Rechte.  Vor  der  Verfassung 
sind  die  Geschlechter  gleich.  Sie  sind  es  nicht  vor  einem  Polizei- 
bureau  oder  vor  einer  JugendMrsorgerin.  Die  Frau  im  deutschen 
Rechtsstaat  —  das  ist  ein  dusteres  Kapitel,  das  tagtaglich  neu  auf- 
gerollt  wird.  Wissen  die  hohen  Lenker  unsrer  Geschicke,  was  der 
Staat  durch  die  Gleichgultigkeit  und  Herzenskalte  seiner  Behorden  an 
Ansehen  einbiiBt  — ? 

710 


Psychologie  des  Konfektionsfilms 

von  Rudolf  Arnheim 

Aus:    Rudolf  Arnheim   „Film  als  Kunst",  das  dieser 
Tage  im  Ernst  Rowohlt  Verlag,  Berlin,  erscheint, 
F\  as   Publikum   erzwingt   sich   die   Filme,    die   es   haben  will, 

Der  Industrielle  arbeitet  nach  dem  Diktat  der  Massen:  er 
ersieht  aus  den  Abrechnungen,  welche  Filme  ,,groB  gegangen" 
sind  und  welche  nicht,  und  danach  richtet  er  se.ine  Produk- 
tion  ein.     Was  fiir  Filme  will  nun.  die  Masse? 

Wir  sprechen  hier  nicht  vom  kiinstlerischen  Niveau  son- 
dern  allein  vom  Stoff.     Welche  Stoffe  wiinscht  die  Masse? 

Fast  alle  diese  Filme  enthalten  in  ihrer  story  bewuBt  oder 
unbewuBt  eine  bestimmte  Tendenz.  Nicht  daB  etwa  gepre- 
digt  wiirde  —  nein,  das  Gefahrliche  dieser  Tendenz  besteht 
darin,  daB  nichts  theoretisch  formuliert,  nichts  gefordert  wird, 
sondern  daB  nur  der  Standpunkt,  von  dem  aus  man  die  Dinge 
dieser  Welt  betrachtet,  die  Auswahl  der  Geschichten  und 
ihre   stillschweigende   SchluBmoral   einseitig  sind. 

Diese  Filme  bieten,  um  das  Publikum  zu  erfreuen,  zweier- 
lei:  sie  zaubern  das  Angenehme  und  Gute,  was  alle  Menschen 
sich  wiinschen,  herbei,  und  sie  zeigen  die  Bestrahing  des 
Schlechten.  Sie  operieren  dabeit  wie  sich  zeigen  wird,  mit 
sehr  spieBburgerlichen  WertmaBstajben,  DaB  sie  trotzdem 
eine  so  weltumspannende  Zustimmung  linden,  zeigt,  wie  ver- 
breitet  insgeheim  der  Geschmack  am  SpieBburgerlichen  und 
Riickstandigen  ist.  Es  gibt  viele  Menschen,  die  theoretisch, 
prinzipiell,  sehr  modern  und  sehr  revolutionar  sind,  im  prak- 
tischen  Fall  aber  versagen:  die  es  theoretisch  billigen,  daB 
ein  Madchen  sich  seinem  Geliebten  hingibt,  die  aber  die  Nach- 
barschaf t  wachbriillen  un4  sich  einen  Schlaganf all  zuziehen, 
wenn  die  eigne  Tochter  ein  uneheliches  Kind  gebiert;  die  es 
theoretisch  miBbilligen,  daB  bewaffnete  Soldaten  mit  freien 
Staatsbiirgern  nach  Belieben  umspringen  diirfen,  die  aber  im 
praktischen  Fall  ihr  Vergniigen  an  Keilerei  nicht  verhalten 
konnen,  wenn  im  Film  muskelstarke  Soldaten  oder  Polizisten 
ihr  rauhes  Wesen  treiben.  Denn  das  Schlechte  ist  dem  Men- 
schen Heb,  und  das  Dumme  ist  ihm  eingeboren,  und  so  muB 
einer,  der  den  Willen  hat,  die  Welt  zu  bessern,  diesen  Willen 
durchsetzen  nicht  nur  gegen  auBere  Widersacher  sondern  vor 
allem  gegen  sich  selbst.  Dies  Dumme  und  Schlechte  im  Men- 
schen streichelt  der  Konfektionsfilm;  er  sorgt  dafur,  daB  die 
Unzufriedenheit  sich  nicht  in  revolutionare  Tat  entlade  son- 
dern in  Traumen  von  einer  bessern  Welt  abklinge, 

Und  dies  eben  nicht  nur  deshalb,  weil  die  Filmproduktion 
zu  neunzig  Prozent  in  den  Handen  von  Leuten  ist,  die  ein 
Interesse  an  der  Stabilisierung  einer  Gesellschaftsordnung 
haben,  in  der  es  ihnen  gut  geht;  die  ein  Interesse  daran  haben, 
revolutionare  Energien  abzubiegen  und  auf  Puffer  laufen  zu 
lassen.  Es  ware  unmoglich,  eine  solohe  Filmproduktion  bei 
Millionen  von  Abnehmern  durchzusetzen,  wenn  nicht  deren 
eigner  Geschmack  ihr-  entgegenkame.  Der  Konfektionsfilm 
hatschelt  das  trage  Gewohnheitstier  im  Menschen.  Er  wirkt 
kulturfeindlich  und   fortschrittfeindlich,  indem  er  das,  was  in 

711 


jedem  Menschen  an  Kultur-  und  Fortschrittsfeindschaft  steckt, 
mit    fetter   Nahrung    futtert, 

Man  braucht  sich  nur  ein  paar  solcher  Filmgeschichten 
herauszugreifen  und  sie.  zu  analysieren,  und  sofort  zeigt  sich, 
wieviel  geheimes  Gift  in  scheinbar  so  harmloser  Unterhal- 
tungsware  steckt.  (Wir  zitieren  im  folgenden  Filmgeschich- 
ten wortlich  aus  Fachblattern,) 

„Franz    Rauchs    Manuskript    hat    keine    einheitliche    Linie,    die 

Fulle    der    Motive    ist    dramaturgisch   nicht    immer   bewaltigt.       Es 

wird  von  der  Liebe   des  plotzlich  verarmten  Grafen  zum  Biirgers- 

tochterchen    erzahlt.      Er    lernt   sie   kennen,    als    er   noch   bei   Ver- 

mogen  ist,  spater  lafit  ihn  ein  Filmzufall  Hauslehrer  bei  dem  Bru- 

der   des    Madchens,    das    sich    immer    uber    seine    Von-oben-herab- 

Alliiren   geargert    hat,   werden.     Uber   manche   Hindernisse   hinweg 

wendet  sich  dann  alles  zum  guten  und  frohlichen  Ende." 

GewiB,    das   ist    eine    lustige,    spannende    und    vielseitige    Ge- 

schichte,  aber  es  ist  mehr.     Ein  solcher  Franz  Rauch  vernebelt 

die   Gehirne. 

So  wie  sich  dem  Psychologen  aus  einer  belanglosen  Traum- 
geschichte  die  SeeUnkonstruktion  seines"  Patientejr  enthulleh 
kann,  so  bieten  diese  albernen  Filmgeschichten  Material  •  zu 
einer  Psychologie  -  des-  Durchschntttsmensehen.  Da  ist  der 
Arger  gegen  den  Hochmut  des  Reichen  und  Vornehmen.  Die- 
ser Hochmut  ist  ja  in  Wirklichkeit  unberechtigt,  der  Adels- 
schild  ist  ein  bunter  Unfug,  der  Reichtum  ist  erkauft  mit  dem 
Hunger  vieler  Tausender  —  also  sollte  der  Arger  dariiber 
zum  Antrieb  werden,  den  Reichtum  und  den  Adel  zu  sturzen, 
damit  es  besser  werde  auf  dieser  Welt.  Aber  neben  dem 
revolutionaren  Arger  schlummert  die  Bequemlichkeit,  die  die 
Unlust  atif  einem  angenehmeren  Wege  befriedigen  mochte. 
Das  Kino  ist  da  kein  ungeeignetes  Mittel.  Es  leitet  den  Arger 
uber  einen  allgemeinen  Obelstand  ab,  indem  es  ihn  in  einem 
Spezialfall  auf  unverbindliche  und  untypische  Weise  abstellt. 
Indem  es'  dem  Reichen  sein  Geld  nimmt  und  dem  Adligen 
seinen  Hochmut  brichtt  befriedigt  es  sein  Publikum  durch 
einen  Taschenspielertrick.  Dem  reichen  Grafen  ist  mit  seinem 
Sturz  recht  geschehen,  es  gibt  noch  Gerechtigkeit  auf  dieser 
Welt  —  und  das  macht  die  artnen  MiBvergniigten,  die  da  fur 
eine  Mark  ins  Kino  gegangen  sind,  vergniigt  Dies  Vergniigen 
ist  ihnen  die  Mark  wert,  und  drauBen  sind  die  Reichen  und 
die   Adligen  genau  so  hochmiitig  wie  vorher! 

,,Joe    Dallmann   hat   ein    leichtes  Manuskript    geschrieben    mit 
richtiger    Einschatzung  -  des    Geschmacks    der   breiten   Masse.      Ein 
alter    General   ist    in   schlechter   finanzieller   Lage,   daher   steht   er 
der   Werbung  eines   reichen   Juwelenhandlers  urn   die  Hand   seiner 
Tochter  sympathisch   gegentiber.     Einen  Tag   vor   der  Vermahlung 
kommt  der  Juwelenhandler  darauf,  dafi  seine  Braut  einen  andern 
liebt.  Diesen  schickt  er  am  Hochzeitstag  zurTrauung,  er  selbst  fiigt 
sich    ins    Unvermeidliche,    verzichtet   auf   die  Braut   und   reist   ab." 
Man  darf  annehmen,  daB  der  Juwelenhandler  vor  seiner  Ab- 
reise  aus  Liebe  zu  dem  Madchen  noch  schnell  einen  groBern 
Scheck    unterschrieben    hat.      Der    reiche    Mann    ist    hier    ein 
sympathischer  Mensch1  und  das  verborgene  Ressentiment   der 
Fabel  richtet  sich  nicht  gegen  ihn  sondern  gegen  seinen  Reich- 
tum.     Der    Reiche    bekommt    das    Madchen   nicht,    das   heiBt: 
Dir    ist    mit   deinem    Geld,    um  das   wir   dich   beneiden,   nicht 
712 


etwa  alles  errcichbar!  Und  das  paralysiert  den  Neid  der  Be- 
sitzlosen.  Die  Ungerechtigkeit,  daB  es  arme  und  reiche  Men- 
schen  auf  der  Welt  gibt,  wird  ausgeglichen  in  .einem  indivi- 
duellen  Fall,  der  dem  Reichen  ein  begehrtes  Gut  vorenthalt 
und  es  dem  Armen  schenkt.  Der  Trick  liegt  wieder  darin, 
daB  einem  typischen  Obelstand  durch  eine  untypische  Spezial- 
losung  abgeholfen,  daB  falschlich  pars  pro  toto  gesetzt  wird, 
Und  der  Arme  —  das  ist  das  Kurioseste  an  der  Geschichte  — 
erhalt  nicht  nur  das  Madchen  sondern  auch  Geld.  Denn  Geld 
ist  nicht  nur  verabscheuungswiirdig,  wenn  andre  Leute  es 
haben,  es  ist  auch  angenehm,  wenn  man  selbst  es  hat.  So  ein 
Film  nahrt  eben  nicht  die  revolutionary  sondern  die  ego- 
istische  Komponente  des  Ressentiments  gegen  den  Reichtum. 
SchlieBlich  braucht  man  nur  noch  auf  den  pikanten  Zug  hinzu- 
weisen,  daB  der  Vater  des  armen  Madchens  ein  General  ist, 
weil  namlich  Armut  schandet,  weil  aber  die  Heldin  des  Films 
durchaus  nicht  geschandet  werden  soil  und  weil  die  Offiziers- 
achselstiicke  hier  einen  Ausgleich  schaffen.  Nun  haben  wir 
alles  schon  beieinander:  den  Arger  uber  den  Reichtum  des 
Mannes  mit  den  Juwelen,  den  Akt  ausgleichender  Gerechtig- 
keit,  der  ihm  trotz  seines  Geldes  das  verwehrt,  was  er  am 
dringendsten  zu  besitzen  wiinscht,  womit  also  der.  Unwert  des 
Geldes  demonstriert  ist,  gleichzeitig  aber  die  Befriedigung  desr 
eignen  Hungers  nach  Wphlstand  und  die  Scham  und  Selbst- 
verachtung  wegen  der  eignen  Armut. _  Man  kann  nicht  sagen, 
daB  es  sehr  schone  Triebregungen  siriJ,  die  der  Film  da  bk>B- 
legt    und  nahrt. 

Ein  charakteristisches  Beispiel  ftir  die  Losung  allgemeiner 
Probleme  auf  dem  Personalwege  hat  die  Herzenspolitikerin 
Thea  von  Harbou  in  ,, Metropolis"  gegeben:  hier  wird  der  blu- 
tige  Kampf  zwischen  der  Unterwelt  der  Arbeitnehmer  und  der 
Oberwelt  der  Arbeitgeber  dadurch  gelost,  daB  der  Sohn  des 
Industriekonigs  mit  den  Arbeit ern  gut  Freund  wird'  und  nun, 
wahrend  die  Glocken  lauten,  die  Hande  des  Betriebsrats  und 
des  Chefs  ineinanderlegt.  So  wird,  unter  Umgehung  von  Ta- 
rifverhandlungen,  die  soziale  Frage  aus  der  Welt  geschafft. 

Sehr  lehrreich  ist  auch  die  amerikanische  Geschichte  vom 
,,Gottlosen  Madchen":  Da  ist  in  einem  Fursorgeheim  unter 
den  Zoglingen  ein  Streit  ausgebrochen,  ob  es  einen  Gott  gebe 
oder  nicht.  Beim  ZusammenstoB  der  beiden  Parteien  entsteht 
ein  Tumult,  ein  Treppengelander  bricht  ein,  ein  kleines  Mad- 
chen stiirzt  herunter,  liegt  unten  im  Sterben  und  fragt  in  To- 
desangst,  ob  es  nun  in  den  Himmel  komme  oder  ob  es  wirk- 
lich  keinen  lieben  Gott  gabe.  Dilemma  bei  den  Atheisten! 
Die  Spezialnote  eines  Kindes  werden  hier  also  geschickt  als 
Advokaten  fur  die  trostspendende  Kirche  angeheuert. 

Der?  Konfektionsfilm  starkt  nicht  nur  die  angestammte 
Gewohnung  an  Kirche  und  Kapitalismus,  er  wirbt  auch  fiir  das 
Sakrament  der  Ehe  und  fur  die  Heiligkeit  der  Familie. 

„Ein  junger  Graf  geht  seiner  Mutter  durch,  weil  er  seinen 
Stiefvater  haSt,  dem  er  im  Wege  ist.  Beim  Zirkus  wird  er  eine 
allererste  Nummer.  Nach  vielen  Jahren  kehrt  er,  den  man  tot 
glaubte,  nach  Europa  zuriick.  Hier  findet  er  das  Madchen  wie- 
der, das  mit  ihm  beim  Zirkus  aufgewachsen  war,  er  liebt  es  und 
heiratet  es.     Die  Ehe  seiner  Mutter  ist  sehr  unglucklich,  ihr  Mann 

713 


will  eine  Begegnung  mit  dem  Sohne  vermciden.     Aber  dcr  Mutter- 
Hebe  laBt  sich  nicht  gebieten,   Mutter  und  Sohn  finden  sich.    Da 
versucht   der  Stiefvater,   den   Sohn  zu  beseitigen,   er  fallt  aber  in 
die  Falle,   die  er   dem   Sohn   stellt,  selbst,   er  sturzt   vom   Schnur- 
boden  der  Zirkuskuppel  ab." 
Man   bemerke,    daB  es   kcin   richtiger   Vater   sondern  nur 
cin  Stiefvater  istf  <ler  den  Sohn  verfolgt,  so  daB  also  das  Axiom 
von  der  Liebe  der  Eltern  fur  ihre  Kinder  unangetastet  bleibt. 
DaB  eine  solche  ,,unmoralische"  Bosartigkeit  (iberhaupt  gezeigt 
wird,    liegt    daran,    daB,    grob    gesprochen,    eine    dramatische 
Handlung  immer  darin  besteht,  daB  etwas,  was  in  Unordnung 
geraten  ist,   wieder  ins  Geleise  gebracht  wird.     Das  Familien- 
leben  wird  gestort,  damit  der  Zerstorer  bestraft  werden  kann. 
Der  MiBton  ist  also  notig,   damit  der  SchluBakkord  eine  Har- 
monie   geben   kann,  die   befriedigt.     Die  ungliickliche  Ehe,   die 
der  Sunder  mit  seiner  Frau  fiihrt  und  die  einen  VerstoB  gegen 
die   Forderungen   des   Standesamts   darstellt,   wird   ini   Schnur- 
boden   der   Zirkuskuppel  geracht,   zugleich   mit   dem   unartigen 
Verhalten  gegen  den  Sohn,  dem  er  ein  Vater  sein  sollte.    Mut- 
ter und  Sohn,   die  Vertreter  des  Prinzips  der  Ruhe   und  Ord- 
nung,    hingegen  ernten  wohlverdientes  Gliick. 

„Der    Film    ist    vorziiglich  aufgebaut,   und   es    tut   ihm    keinen 
Abbruch,    daB   die   Romanhandlung  nicht  neu  ist.     Es  ist   die  Ge- 
schichte,    daB    ein    Mann    seinen   besten    Freund   mit   dessen  Frau 
betrugt,  unschuldigerweise,  da  er  die  Frau  nicht  kannte.    Erst  spa- 
ter  erkennt  der  Ehemann,  daB  der  Schuft  in  diesem  Ehebruch  nicht 
der   Freund   sondern   die   Frau  war.     Es   ist   auch   nicht  neu,   daB 
infolge    dieser    Ehetragodie    der    betrogene    Mann    sich  nicht    ent- 
schlieBen  kann,  die  Kameraden  im  gesunkenen  Unterseeboot  zu  ret- 
ten,  weil  der  Freund  unter  ihnen  ist,  an  dem  er  Rache  uben  will." 
Am  Ende  entschlieBt    er  sich  naturlich  doch.     Was  oben  das 
Fehlen    von    Blutsverwandtschaft   war,    ist    hier   die   Unkennt- 
nis    des    ehebrechenden   Freundes:    das   Verwerfliche    der   be- 
notigten   Freveltat   wird   hier   dadurch  abgeschwacht,   daB   sie 
unabsichtlich   geschieht.     Immerhin  hat   der  schuldige   Freund 
sein   Delikt   mit   stundenlangen   Qualen  im  gesunkenen  Unter- 
seeboot zu  biiBen  —  vergleichbar  den  Martern,  die,  nach  Mei- 
nung    der    Geistlichkeit,    Ehebrecher   in    der    Holle    erwarten. 
Wirklich,  dies  Unterseeboot  ist  nichts  als  eine  naive  Anleihe 
bei  der  HollenvorstelLung  der  Glaubigen.    Die  schuldige  Frau, 
an  der   librigens  der  Film   kein  gutes   Haar   laBt   sondern  die 
einzig   von  dem  Geliist  nach  Zigaretten,  Tanzmusik  und  Kus- 
sen    erfiillt   scheint,    bekommt    ihre    Strafe;    sie    bleibt    allein, 
wahrend  die  Freunde  umschlungen  abziehen. 

Im  Leben  behandeln  viele  Vater  ihre  Sohne  schlecht,  ohne 
daB  Gott  sie  deshalb  aus  der  Zirkuskuppel  in  die  Manege 
sturzt,  und  viele  Ehebruche  finden  statt,  die  nicht  im  Unter- 
seeboot gesuhnt  werden.  Der  Konfektionsfilm  aber  kennt 
keine  Bewahrungsfrist.  Das  happy  end  bringt  auf  diese  Weise 
nicht  nur  eine  asthetische  sondern  vor  allem  eine  moralische 
Katharsis.  Er  ist  niemals  nur  psychologisch-kausal  sondern 
immer  zugleich  ethisch  wertend.  Es  geniigt  ihm  nicht,  die 
Entwicklung  und  Losnng  eines  Kohflikts  zu  zeigen,  sondern 
er  muB  Partei  nehmen  und  darauf  halten,  daB  die  Entschei- 
dung  nicht  sinnlos  und  wahllos  falle  wie  unter  dem  Regime  der 
Mutter  Natur  sondern  weise  wie  unter  Konig  Salomo. 
714 


Klavier  auf  Platten  von  Hans  Reimann 

Im  Allgemeinen  sind  wir  in  den  letzten  drei  Jahren  nicht  vorwarts 
*  gekommen.  Viele  Orchester-Aufnahmen  von  heute  klingen,  als 
seien  sie  alt.  Chore  wirken  schauderhaft.  In  puncto  Klavier  haben  wir 
einen  gewissen  Fortschritt  zu  verzeichnen.  Es  war  das  Schmerzens- 
kind.  Der  von  Knappertsbusch  fiir  Lindstrom  dirigierte  Walzer  aus 
dem  , .Intermezzo"  unterscheidet  sich  nicht  erheblich  von  der  ehrwiir- 
digen,  unelektrischen  Aufnahme  —  aber  Whiteman  und,  Hyltbn  rich- 
tetea  sich  nach  dem  Mikrophon  und  ttiftelten  eine  besondere  Technik 
aus.  So  sind  seltsamerweise  die  jenigen  Aufnahmen  zumeist  die  besse- 
ren,  die  es  nicht  verdienten,  wohingegen  die  klassischen  oder  wert- 
vollen  modernen  Orchester-Stiicke  von  jedem  Schlager  in  den  Schat- 
ten  gestellt  werden;  was  die  Reproduktion  betrifft.  Mit  Klavierplatten 
verhielt  sichs  ahnlich.  Leichtes  Geklimper,  anmutige  Bagatellen,  nek- 
kische  Eintagsfliegen  wurden  aufs  Anmutigste  kredenzt,  und  Klavier 
bei  Lee  Sims  oder  Billy  Mayerl  oder  der  Raie  da  Costa  klang  wirk- 
lich  wie  Klavier.  Und  etwa  zur  selben  Zeit,  da  Stokowski  mit  seinen 
ersten,  bis  in  den  (angeblich  nach  der  Methode  Th6remine  verstarkten) 
tiefsten  BaB  klangsatten  und  opulenten  Orchesterplatten  auftauchtef 
uberraschte  die  Deutsche  Grammophon  mit  Klavierplatten  Brailows- 
kys  und  Rehbergs,  die  sich  vom  Original-Klang  nur  wenig  unterschie- 
den.  Allerdirigs  hatte  sich  das  Ohr  inzwischen  eingehort,  und  der  my- 
sterios  entstellte  Ton  eines  Fliigels  schmeckte  dem  Kenner  weniger  als 
der  naturgetreuef  den  man  als  Gegenbeispiel  daneben  zu  halten  ab- 
sichtlich  verschmahte,  Hier  hat  sich  allerhand  entwickelt.  Das  Kla- 
vier besteht  nicht  mehr  aus  einem  Magazin  mehr  oder  minder  rein 
abgestimmter  Tontopfe,  sondern  ahnelt,  ohne  Pedal  gebraucht,  dem 
Instrument  mit  den  vertrackt  schwingenden  Saiten.  Wenn  ich  im  Fol- 
genden  rucksichtslos  mit  Klavierplatten  der  letzten  Monate  verfahre, 
so  bin  ich  mir  dessen  wohl  bewuBt.  Leider  gibt  nicht  die  lobliche  Tat- 
sache  den  Ausschlag,  daB  gute  Musik  auf  Platten  gepreBt  wird,  son- 
dern die  betrtibliche,  daB  unser  Geldbeutel  zu  wichtigeren  Dingen  her- 
halten  muB  als  zum  Ankauf  von  Platten.  Ich  empfehle  also  lediglich 
solche  Aufnahmen,   die  den  hochsten  Anforderungen  standhalten. 

Beethoven  gehort  schmerzlicherweise  nicht  zu  ihnen.  Harold  Bauer 
spielt  die  (1804  in  Dobling  entstandene)  Appassionata  mit  verwisch- 
ten  Quinten,  in  der  Mittellage  karikiert,  Anfang  und  Ende  des  An- 
dante topfig  und  allenfalls  das  Allegro  genieBbar  (Electrola  DB  1293/ 
1294),  der  Schotte  Lamond  die  D-Moll-Sonate,  das  Adagio  wie  wat- 
tierte  Horner,  Bouillon  aus  Maggi-Wiirfeln,  kummerliches  Reiterge- 
trappel  im  Finale  (Electrola  EJ.  524/526),  Paderewski  den  ersten  Satz 
der  von  Rellstab  mit  dem  unpassenden  Namen  „MondscheinM-Sonate 
versehenen  Cis-Moll  maBig  trotz  gut  gemeinten  Akzenten  (Electrola 
DB  1090)  und  Backhaus  die  Path^tique  aus  wetter  Ferae  oder  wie  in 
einem  PUisch-Salon  (Electrola  DB  1031/1032).  Auf  Electrola  EJ.  507 
horen  wir  eine  Tarantella  (Liszt),  von  Lamond  offenbar  auf  zwei, 
manchmal  sogar  drei  verschiedenen  Instrumenten  gespieltf  eine  harte 
Sache,  deren  Gewurl  in  der  Tiefe  trotz  nicht  zu  leugnender  Einheit- 
lichkeit  wenig  ergStzt.  Michael  von  Zadora  (Grammophon  22  120)  ist 
sozusagen  fibers  Pedal  gestolpert:  die  beiden  Chopin- Walzer  schauen 
aus  dem  Aquarium  her  aus;  man  erlebt,  wie  die  Noten  einzeln  da  von- 
schwimmen,  und  nur  die  Laufe  halten  zusammen.  Andre  Chopin-Auf- 
nahmen.  Levitzki  auf  Electrola  EJ  553  riickt  der  Losung  naher:  das 
Scherzo  in  Cis-Moll,  laBt  sichs  von  oben  klar  dazwischen  rieseln* 
Drei  Etuden  werden  von  Claudio  Arrau  bravouros  hingelegt  (Elec- 
trola EH  386),  Das  groBe  Konzert  in  E-Moll  lost  sich  in  seine  Be- 
standteile  auf.  Der  zweite  Satz  erscheint  mager,  der  dritte  langweilig* 
Urn  so  trefflicher  geriet  der  erste  Satz,  drei  kleine  Platten  (Par- 
lophon  B   12  451/3)    in  idealer  Zusammenarbeit  von  Moriz  Rosenthal 

715 


und  dem  Orchester  unter  Doktor  WeiBmann.  Auf  Ultraphon  F  469 
tont  das  Klavier  unter  Rosenthals  Handen  zuweilen  wie  Klavicr,  doch 
alle  gehaltenen  Noten  sinken  in  Luftlocher,  absackend.  Von  feinhori- 
gen  Ohren  wird  das  als  leierkastenartig  empfunden.  Den  Wiener  Kar- 
neval  spielt  Rosenthal  auf  Parlophon  P  9542  schlechthin  brillant.  Die 
Platten  Brailowskys  sind  meist  ebenso  untadelig  wie  die  Gesangsplat- 
ten  des  Heinrich  Schlusnus,  Ob  er  Mendelssohn  (Scherzo  E-Moll)  und 
Schumann  (Traumeswirren  F-Dur)  auf  Grammophon  90  173  oder  Liszt 
(Gnomenreigen,  Fis-Moll)  und  das*  von  Liszt  kompliziert  gemachte 
Morgenstandchen  Schuberts  auf  90  175  oder  die  Ungarische  Rhapsodie 
Nr,  2  auf  95  424  wiedergibt:  der  Steinway  verstellt  sich  selten.  Brai- 
lowskys Starke  ist  Chopin,  und  den  bekommen  wir  auf  95  325  (Ballade 
G-Moll)  und  auf  66  753/6  (Klavier-Konzert  E-Moll)  geliefert.  Die 
,fTannhauser"-Ouverture  (95  419/20)  ist  mehr  kurios  als  schon,  und  die 
Maskerade  fur  Klavier  wird  auch  durch  das  wie  von  einem  vielhandi- 
gen  Buddha  bewerkstelligte  Abrackern  des  Pianisten  nicht  ertrag- 
licher.  Holzgeschnitzt  und  erquickend  saubcr  serviert  Karol  Szreter 
auf  Odeon  0-6819  den  waidwunden  „Hochzeitstag  auf  Troldhaugen" 
und,  ebenfalls  von  Grieg,  den  voruberziehenden  norwegischen  Hoch- 
zeitsmarsch.  Sehr  zierlich  und  nobel  spielt  Rachmaninoff  die  „Schlit- 
tenfahrt"  aus  Tschaikowskys  „Jahreszeiten"  und  eine  dem  eignen  Hu- 
mus entsprossene,  verzwickte  Polka  auf  Electrola  DB  1279.  Doch 
von  wirklichem  Klavier  ist  alles  dies  noch  weit  entfernt.  Vier  kleine 
Columbia-Platten  (DW  4010,  4011,  4015,  4016)  enthalten  neun  Lieder 
ohne  Worte,  und  Ignaz  Friedmann  hat  Kabinettstiickchen  draus  ge- 
schaffen.  Zwei  kleine  Electrola-Platten  (EG  1579  und  1787)  enthal- 
ten drei  Schubert-Lieder  und  Liszts  „Gnomenreigen" ;  Egon  Petri  ist 
dran  schuld,  da 6  man  nach  Beendigung  der  einzelnen  Seiten  bedauernd 
„SchadeI"  sagt,  was  man  eigentlich  stets  nach  einer  Plattenseite  sagen 
muBte,  so  gut  sollte  sie  geraten  sein,  Auf  Grammophon  21  886  spielt 
Lilly  Dymont  die  Malaguenja  und  von  Albeniz  und  Liadows  „Spiel- 
uhr"t  auf  23  576  das  Fruhlingslied  Mendelssohns  und  das  Gis-Moll- 
Prelude  Rachmaninoffs,  teils  zart  und  voller  Schmelz,  teils  rassig  und 
draufgangerisch,  aber  Klavier  ist  anders,  und  auch  was  Michael  von 
Zadora  auf  Electrola  EG  1656  (zwei  Zierstucke  von  Delibes),  Alfred 
Cortot  auf  Electrola  DA  1121  (Albeniz)  und  Friderike  Bucher  auf 
Homocord  4 — 3549  (Impromptu  B-Dur  von  Schubert)  leisten,  ist  char- 
mant,  anerkennenswert,  gekonnt  oder  sonst  was,  aber  nicht  das  Kla- 
vier personlich,  sondern  Klavierophon.  Mischa  Levitzki  (Electrola 
EJ  532)  erhebt  sich  iiber  den  Durchschnitt  und  befreit  Schuberts  Mi- 
litarmarsch  und  das  G-Moll -Prelude  Rachmaninoffs  von  entstellenden 
Schwingungen.  Walter  Rehberg  war  von  Anfang  an  dem  Klavier  auf 
der  Spur  und  spielte  so,  da 6  man  ihn  im  Nebenzimmer  personlich  iiber 
die  Tasten  jagen  wahnte.  Seine  jungsten  Platten,  die  Paraphrase  der 
ffFruhlingsstrmmen"  (Grammophon  23  737)  und  die  „Soiree  de  Vienne" 
(23  745)  bestatigen  das,  Die  Ultraphon,  die  angeblich  ihre  Wellen 
durch  einen  Nachhall-Raum  schickt  und  unheimlich  hautnahe  Effekte 
erzielt,  hat  zwei  Klavierduette  veroffentlicht,  das  eine  mit  Doktor 
Grosz  und  Walter  Kauffmann  (A  803),  das  andre  mit  Mackeben  und 
Haenizschel,  gewohniiche  Foxtrotts,  freilich  mit  Biigelfalte  und  in 
spritziger  Eleganz.  Der  bei  Electrola  (auf  EG  1754)  erschienene  Ne- 
gertanz  Cyril  1  Scotts  besitzt  auf  Ultraphon  A  438  mehr  Unmittelbar- 
keit  und  Warme,  Drei  wundervolle,  hauchzarte,  konigliche  Debussy- 
Platten  der  Grammophon  (Franz  Josef  Hirt  auf  95  134  und  95  205  und 
Godowsky  auf  73  031)  leiden  unter  dem  verdammten,  zuweilen  das 
Spiel  ertotenden  Nadelgeschleif,  Und  jetzt  endlich  sind  wir  bei  den- 
jenigen  Platten  angelangt,  deren  Besitz  das  Herz  erfreut.  Zunachst 
vier  grofie  Platten  der  (einen  Bltithner  bevorzugenden)  Lucie  Caffaret: 
Grammophon  66  641  (Mozart,  Rondo  D-Dur  und  F-Dur) ,  66  642  (Bach- 
Liszt,  Fuge  A-Moll),  95  050  (Impromptu  B-Moll,  Schubert)  und  das 
von  Mai   zu   Mai  sich   verschonende  Menuett  Maurice  Ravels:  95  051. 

716 


Alsdann  bedeutcn  einen  Gewinn  fiir  jede  gut  geleitete  Plattothek  die 
Aufnahme  zweier  Satze  aus  Mozarts  F-Dur-Sonate,  von  Alice  Ehlers 
ideal  auf  dem  Cembalo  gespielt  und  ebenso  von  der  Homocord  repro- 
duziert  (4 — 9053)  sowie  ein  Haydn-Menuett  und  ein  Schubert-Walzer, 
von  Charlotte  Kaufmann  meisterinnenhaft  auf  einem  Hammerklavier 
des  Jahres  1790  fur  Grammophon  (19  872)  geschlagen.  Drei  Electrola- 
Platten  (DB  1413/15)  bergen  Schumanns  Karneval-Suite,  eine  Glanz- 
leistung  Rachmaninoffs,  der  im  Bunde  mit  Fritz  Kreisler  die  C-Moll- 
Sonate  Edvard  Griegs  auf  Electrola  DB  1259/61  umibertrefflich  klang- 
voll  und  wohllautend  zu  Gehor  bringt.  Wem  die  Serie  zu  teuer  istt 
begmige  sich  mit  dem  schonsten  Satz,  dem  ersten.  Kein  Wort  des 
Lobes  ist  zu  hoch  fur  das  von  der  Electrola  (EJ  424/6)  aufgenommene 
und  von  Arthur  de  Greef  gespielte  Konzert  in  G-Moll  des  Saint-Saens. 
Und  zuguterletzt  die  drei  besten  Klavierplatten,  die  man  blindlings  er- 
werben  darf,  Eine  Toccata  Deb  ussy  s,  von  Brailowsky  gespielt  auf 
Grammophon  90  174;  die  Toccata  und  Fuge  D-Moll  Johann  Sebastian 
Bachs,  von  Winifred  Christie  gespielt  auf  Electrola  EH  661;  und  die 
unwahrscheinliche,  originalgetreueste,  zur  Zeit  einzige  vollkommen 
gegliickte  Klavier-Aufnahme,  ein  Wunder  der  Electrola  (DA  1160); 
die  von  Vladimir  Horowitz  gespielte  Paganini-Etude  in  Es-Dur. 

Die  Dame  schreibt  der  Dame  von  Erich  Kastner 

T^u  hast  es  gut.     Du  steckst  in  Cannes. 
^  Hier  in  Berlin  siehts  bose  aus, 
Wir  mtissen  sparen,  sagt  mein  Mann, 
und  essen  abends  meist  zu  Haus. 

-  Mir  scheint,  es  ist  nicht  ganz  geheuer. 
Erst  gestern  sprach  er  sorgenvoll, 
das  Auto  wtirde  ihm  zu  teuer. 
Da  wurde  mirs  denn  doch  zu  toll  I 

Ich  hab  geweint,  Ich  hab  geschrien. 
Max  sprach  in  einem  fort  von  Geld. 
Im  Bett  hab  ich  ihm  dann  verziehn. 
Er  schwur,  daB  er  den  Horch  behalt. 

Du  steckst  in  Cannes.     Du  hast  es  gut, 
Hier  ist  nun  Herbst.    Das  Laub  wird  welk. 
Max  sagt  bei  Allem,  was  sich  tut: 
HMein  Gold,  es  knistert  im  Gebalk." 

Es  steht  zum  Beispiel  nicht  mal  festt 
ob  das  Programm  der  Winterballe 
sich  regular  abwickeln  lafit! 
(Ich  habe  das  aus  sichrer  Quelle.) 

Ein  Kleid  brauch  ich  auf  jeden  Fall, 
ob  Max  nun  Geld  hat  oder  nicht. 
Wir  gehn  ja  doch  zum  Presseball, 
wenn  nicht  Revolution  ausbricht. 

Ich  denk  an  Grun.     Und  zwar  Chiffon, 
Es   ware  wirklich  unerhort, 
wenn  man  uns  diesmal  die  Saison 
durch  Streiks  und  StraCenkampfe  stortl 

Vielleicht  fangts  erst  im  Friihjahr  an? 
Es  steht  sehr  schlecht.    Doch  was  weiBt  du! 
Du  hast  es  gut.     Du  steckst  in  Cannes. 
Ich  nehme,  trotz  der  Sorgen,  zu  . , , 

717 


Brechung  der  Zinsknechtschaft  Bemharl  citron 

,P\ic  Nationalsozialisten  drangen  zur  Macht.  Auch  im  Lager 
**^  der  Linken  beginnt  man,  sich  mil  dieser  Tatsache  vertraut 
zu  machen.  Man  trostet  sich  mit  der  Hoffnung,  daB  die  Nazis 
als  Regierungspartci  an  der  Unerftillbarkeit  ihrer  Versprechun- 
gcn  zugrtmde  gehen  werden.  Aber  die  Kampfziele  der  Nazis 
sind  kautschukartig;  an  ihnen  kann  leichter  gedeutelt  wcrden 
als  am  Erfurter  Programm.  Gestern  noch  forderte  die  NSDAP. 
«,Brechung  der   Zinsknechtschaft",   und   heute  scheint  dies  Ziel 

bereits    der   Verwirklichung    nahe   zu  sein allerdings    ganz 

anders  als  von  Gottfried  Feder  uspriinglich  angenommen. 

Das   Verlangen   nach   einem   stabilen   Hochstzins   ist  heute 
mehr   als   die   romantische   Forderung   einer  radikalen  Gruppe, 
die    volkswirtschaftliche    Oberlegungen   nicht    anzustellen   ver- 
mag-    EinfluBreiche  Kreise  der  Wirtschaft  wiinschen  Zinsherab- 
setzung,   die   Gegenstand   ernsthafter  Erwagungen  im   vorlaufig 
noch  nazireinen  Kabinett  bildet.     Grundsatzlich  ist  es  gleich- 
giiltig,   ob   als   Hochstzins   4  Prozent  (programmatische  Forde- 
rung  der  NSDAP)  oder  6  Prozent  (Verlangen  der  Wirtschaft) 
ins  Auge  gefaBt  sind,    Ober  die  Bedenken,  die  vor  einem  Jahre 
jedem   einigermaBen  niichternen  Menschen  von  selbst  kamen, 
setzt  man  sich  heute  hinweg.     Die  Stimmen  der  Wissenschaft- 
ler,   die  im  Winter   1930  die  „Brechung  der  Zinsknechtschaft" 
ad  absurdum  fiihrten,  indem  sie  auf  die  Gefahr  sofortiger  Kiin- 
digung  aller  Auslandskredite  im  Falle  einer  Zinskonvertierung 
hinwiesen,  wiirden  heute  fast  ungehort  verhallen.   Da  die  deut- 
schen  Schuldner  das  vom  Ausland  geliehene  Kapital  sowieso 
nicht  zuriickzahlen,  diirfte  jene  Drohung  keinen  Eindruck  mehr 
machen.     DaB  wir  nicht  ewig  vom  internationalen  Geldverkehr 
abgeschnitten    bleiben  konnen,    wird    geflissentlich   ubersehen. 
Die  agrarischen  und  industriellen  Schuldner  bemuhen  sich 
seit  Monaten  um  die  Abwertung  ihrer  Verpflichtungen.  Die  In- 
flations- und  Devalvationsplane  sind  zu  friih  ans  Lichtder  Offent- 
lichkeit   gelangt,   als  daB  man  sie  im  Stillen  weiter  verfolgen 
konnte.   Also  ist  die  Zinskonvertierung  letzter  Trumpf ,  Die  Re- 
gierung  versucht  vorlaufig  einen  t,freiwilligen  Zinsverzicht"  der 
Glaubiger  zu  erreichen.     Dabei  ist   zuerst    an    die    variablen 
Zinsen,  die  sich  nach  der  Hohe  des  Reichsbankdiskonts  richten, 
gedacht   worden.     Auf   eine  kiirzlich  im   preuBischen  Landtag 
von  einem  deutschnationalen  Abgeordneten  eingebrachte  An- 
frage    erwiderte    der  Handelsminister:    „Die   Begrenzung    der 
Zinshohe  bei  Krediten  mit  variablem  ZinsfuB  ist  mit  der  Reichs- 
regierung   erortert  worden.     Die  Reichsregierung  hat   die   be- 
teiligten     Glaubigerverbande,     deren     Mitglieder     nach     ihrer 
Kenntnis   Kapitalbetrage    mit     variablem   ZinsfuB    ausgeliehen 
haben,  dringend  ersucht,  darauf  hinzuwirken,  daB  die  Zinssatze 
fiir  die  Datier  der  ungewohnlichen  Verhaltnisse  am  Geldmarkt 
angemessen  begrenzt  werden".     Es  wird  sehr  schwierig  sein, 
die     Konditionen    der    zahlreichen   GroBhandelsverbande,    die 
einen  variablen  Zinssatz  haben,  der  in  bestimmter  Relation  zum 
Reichsbankdiskont   steht,   zu   andern.     Ganz  uriwahrscheinlich 
aber  ist  ein  freiwilliger  Verzicht  auf  feste  Zinsen,  sofern  der 
Glaubiger  nicht  durch  die  Gefahrdung  seines  Schuldners  dazu 

718 


gezwungen  ist  Derartige  Zinsnachlasse  sind  von  den  Bankcn 
in  cinzelnen  Fallen  wie  Karstadt,  Toga  und  Wicking  Cement 
gewahrt  worden,  Hier  aber  hat  es  sich  eigentlich  um  nichts 
andres  als  einen  auBergerichtlichen  Vergleich  gehandelt,  der 
sachlich  dem  Verzicht  auf  einen  Teil  des  ausgeliehenen  Kapi- 
tals  infolge  einer  Zahlungseinstellung  gleichkommt.  Wenn  man 
nun  einige  Schritte  weitergeht  und  die  Zinsen  fiir  alle  Bank- 
schulden,*  Hypothekendarlehen,  Anleihen  und  Pfandbriefe  auf 
einen  bestimmten  Satz  ermafiigt,  dann  stellt  ein  solcher  Vorgang 
die  Erklarung  der  teilweisen  Zahlungsunfahigkeit  des  betreffen- 
den  Schuldners  dar.  Es  ist  wohl  moglich,  daB  man  auf  eine 
solche  MaBiiahme  verfallen  wird,  aber  mit  Sozialismus  hat  dies 
nichts  zu  tun.  Solange  der  Begriff  des  Geldes  existiert,  kann 
das  Kapital  nicht  seiner  zinstragenden  Eigenschaft  entkleidet 
werden.  Die  kapitalistischen  Freunde  der  Nationalsozialisten 
wissen  das  ganz  genau;  ihnen  kommt  aber  aus  materiellen 
Griinden   die^JBrechung    der  Zinsknechtschaft"   sehr    gelegen. 

Ernsthafter  Widerstand  gegen  die  Konvertierungsplane 
wird  nur  von  der  Reichsbank  geleistet,  die  auf  die  bewegliche 
Diskontschraube  als  eigentliches  Mittel  zur  Regulierung  der 
Gold-  und  Devisenbewegung  nicht  verzichten  mochte.  In  der 
Situation,  in  der  sich  das  Deutsche  Reich  augenblicklich  be- 
findet,  erfiillt  der  Diskont  allerdings  auch  nicht  mehr  seine  ur- 
sprunglichen  wahrungspolitischen  Aufgaben.  In  zunehmendem 
MaBe  sind  die  Valutaschwankungen  von  der  Hohe  des  Diskont- 
satzes  unabhangig  geworden.  Daher  ist  es  zweifelhaf t,  ob  die 
Reichsbank,  deren  EinfluB  bei  der  Zuriickweisung  der  In- 
flationsplane  groB  genug  war,  auch  die  Zinskonvertierung  ver- 
hindern  kann. 

Die  Nationalsozialisten  verstehen  allerdings  unter' 
,,Brechung  der  Zinsknechtschaft"  noch  etwas  ganz  andres  als 
nur  die  Herabsetzung  des  LandeszinsfuBes.  Das  hohere  Ziel  ist 
der  Kampf  gegen  das  „raffende"  an  der  Seite  des  „schaffen- 
den"  Kapitals,  Auch  hier  ist  Vorarbeit  geleistet  worden.  Die 
MEnteignung  der  Bank-  und  Borsenfiirsten"  hat  auch  ohne  ein 
entsprechendes  Gesetz  rasche  Fortschritte  gemacht.  Auch  die 
Bankinstitute  selbst  sind  bereits  zum  Teil  den  Weg  gegangen, 
den  die  Nazis  vorgeschrieben  haben.  Die  Dresdner  Bank  wird 
vom  Reich  beherrscht,  und  die  Danatbank,  gleichfalls  vom 
Reich  iibernommen,  soil  dem  „schaffenden  Kapital",  der  In- 
dustrie, uberlassen  werden.  Natiirlich  hat  die  Regierung  bisher 
nicht  die  Verstaatlichung  als  Zweck  sondern  nur  als  Mittel  zur 
Sicherung  der  Einlagen  gedacht.  Wenn  die  Nazis  die  Ziigel  in 
die  Hand  nehmefi  und  die  Kreditinstitute  das  letzte  Vertrauen 
einMBen,  dann  wird  vielleicht  auch  der  Rest  der  Banken  den 
gleichen  Weg  wie  Danat  und  Dresdner  Bank  gehen. 

So  hat  sich  niemand  die  Erfiillung  der  nationalsozialisti- 
schen  Forderungen  vorgestellt  Da  aber  die  Fiihrer  der  Be- 
wegung  von  Propaganda  erheblich  mehr  als  von  National- 
okonomie  verstehen,  muB  man  befiirchten,  daB  von  einem  kunf- 
tigen  nationalsozialistischen  Minister  unter  allgemeiner  Zustim- 
mung  verkiindet  werden  konnte:  „Wir  haben  die  Zinsknecht- 
schaft am  Tage  unsrer  Machtergreifung  gebrochen". 

719 


Bemerkungen 


Die  Vcrrater 

M  af  Verrater  eigentlich  nicht. 
*^  Ein  Verrater,  das  ist  doch 
ein  Mann,  der  hingeht  und  seine 
Freunde  dem  Gegner  auslief ert,  sei 
es,  in  dem  er  dort  Geheimnisse  aus- 
plaudert,  Verstecke  aufzeigt,  Lo- 
sungsworte  preisgibt . . .  und  das 
alles  bewufit...  nein,  Verrater 
sind  diese  da  nicht.  Die  Wirkung 
aber  ist  so,  als  seien  sie  welche, 
doch  sind  sie  anders,  ganz 
anders. 

Da  wird  man  vom  Vertrauen 
der  Parteigenossen  ausgesandt, 
mit  dem  bosen  Feind  zu  unter- 
handeln,  sozusagen  die  Arbeiter 
zu  vertreten,  die  ja  inzwischen 
weiterarbeiten  mtissen.  Und  die 
erste  Zeit  geht  das  auch  ganz  gut. 
Geld . . .  ach,  Geld . , .  wenn  die 
Welt  so  einfach  ware.  Geld  ist 
zunachst  gar  nicht  zu  holen. 
Der  Arbeiterfuhrer  bleibt  Arbei- 
terfuhrer; leicht  gemieden  yon 
den  Arbeitgebern,  merkwiirdiges 
Wort,  ubrigens.  Nein,  nein,  man 
bleibt  ein  aufrechter  Mann. 

Aber  im  Laufe  der  Jahre,  nicht 
wahr,  da  sind  so  die  langen  Stun- 
den  der  gemeinschaftlichen  Ver- 
handlungen  an  den  langen 
Tischen:  man  kennt  einander,  die 
Gemeinsamkeit  des  Klatsches 
eint,  und  es  wird  ja  uberall  so 
viel  geklatscht.  Nun,  und  da  stellt 
sich  so  eine  Art  vertraulicher 
Feindschait  heraus. 

Kitt  ist  eine  Sache,  die  bindet 
nicht  nur ;  sie  halt  auch  die 
Steine  auseinander.  Zehn  Jahre 
Gewerkschaftsfuhrer;  zehn  Jahre 
Reichstagsabgeor  dneter ;  zehn 

Jahre  Betriebsratsvorsitzender  — 
das  wird  dann  fast  ein  Beruf. 
Man  bewirkt  etwas,  Man  erreicht 
dies  und  jenes.  Man  bildet  sich 
ein,  noch  mehr  zu  verhuten.  Und 
man  kommt  mit  den  Herren  Fein- 
den  ganz  gut  aus,  und  eines  Tages 
sind  es  eigentlich  gar  keine 
Feinde  mehr.  Nein.  Ganz  leise 
geht  das,  unmerklich.  Bis  jener 
Satz  fallt,  der  ganze  Reihen 
voller  Arbeiterfuhrer  dahingemaht 
hat,  dieser  infame,  kleine  Satz: 
„Ich  wende  mich  an  Sie,  lieber 
Brennecke,    weil    Sie  der  einzige 

720 


sind,  mit  dem  man  zusammen- 
arbeiten  kann.  Wir  stehen  in  ver- 
schie  denen  Lager n  —  aber  Sie 
sind  und  bleiben  ein  objektiver 
Mann . . ."  Da  steckt  die  kleine 
gelbe  Blume  des  Verrats  ihr 
Kopfchen  aus  dem  Gras  —  hier, 
an  dieser  Stelle  und  in  dieser 
Stunde.    Da  beginnt  es. 

Der  kleine  Finger  ist  schon 
druben;  der  Rest  lafit  nicht  mehr 
lange  auf  sich  warten.  „Genos- 
sen",  sagt  der  Geschmeichelter 
„man  mufi  die  Lage  von  zwei  Sei- 
ten  ansehn . . ."  Aber  die  Genos- 
sen  verstehen  nicht  recht  und 
murren:  sie  sehn  die  Lage  nur 
von  einer  Seite  an,  namlich  von 
der  Hungerseite.  Und  was  alles 
Geld  der  Welt  nicht  bewirkt 
hatte,  das  bewirkt  jene  perfide, 
kleine  Spekulation  auf  die  Eitel- 
keit  des  Menschen;  er  kann  doch 
die  vertrauensvollen  Erwartungen 
des  Feindes  nicht  enttauschen. 
Wie?  Plotzlich  hingehn  und  sa- 
gen:  Ja,  die  Kollegen  billigen  das 
nicht,  Krieg  mufi  zwischen  uns 
sein,  Krieg  und  Kampf  der  Klas- 
sen,  weil  wir  uns  ausgebeutet 
fuhlen...?  Unmoglich.  Man  kann 
das  unmoglich  sagen.  Es  ist  zu 
spat. 

Und  dann  geht  es  ganz  schnell 
hergab.  Dann  konnen  es  Ein- 
ladungen  sein  oder  Posten,  aber 
sie  mussen  es  nicht  sein  —  die 
schlimmsten  Verraterein  auf  die- 
ser Welt  werden  gratis  begangen. 
Dann  wird  man  Oberprasident, 
Minister,  Vizekonig  oder  Polizei- 
prafekt  —  das  geht  dann  ganz 
schnell.  Und  nun  ist  man  auch 
den  grollenden  Zuriickgebliebe- 
nen,  die  man  einmal  vertreten 
hat  und  nun  blofi  noch  tritt,  so 
entfremdet  —  sie  verstehen  nichts 
von  Realpolitik,  die  Armen.  Nun 
sitzt  er  oben,  gehort  beinah  ganz 
zu  jenen,  und  nur  dieses  kleine 
Restchen,  daB  sie  ihn  eben  doch 
nicht  so  ganz  zu  den  Ihren  zah- 
len  wollen,  das  schmerzt  ihn. 
Aber  sonst  ist  er  gesund  und 
munter,  danke  der  Nachfrage. 

Und  ist  hochst  erstaunt,  wenn 
man   ihnen    einen  Verrater  schilt.  • 
Verrater?     Er    hat    doch    nichts 


verraten!  Nichts  —  nur  sich 
selbst  und  eine  Klasse,  die  zahne- 
knirschend  dieselben  Erfahrungen 
mit  einem  neuen  beginnt. 

Ignaz  Wrobel 

Zur  Amerikalegende 

Ceit  drei  Jahren  werde  ich  nicht 
***  miide,  jedem,  dcr  mit  mir  tiber 
Amerika  spricht,  als  vollendetstes 
Buch  fiber  die  Vereinigten  Staa- 
ten  das  von  Andr£  Siegfried  zu 
empfehlen.  So  klar  und  kurzwei- 
lig  geschrieben,  wie  es  nur  ein 
Franzose  schreiben  kann,  dabei 
mit  dem  natiirlichen  Instinkt  die- 
ser  Rasse  fur  das  Wesentliche,  ist 
es  eines  der  erstaunlichsten  sozio- 
logischen  Biicher  iiberhaupt,  das 
nur  noch  von  Siegfrieds  neuem 
Buch  fiber  die  englische  Krisis 
erreicht  wird.  Jetzt  hat  dieses 
Amerikabuch  seinen  Welterfolg, 
dem  Verfasser  blieb  kein  Ruhm 
erspart,  nicht  einmal  der,  dati 
der  Kuklux-Klan  sein  Buch  sta- 
pelweise  verbrennt. 

Immerhin  —  von  dem  Buch, 
das  Charlotte  Ltitkens  unter  dem 
Titel  Staat  und  Gesellschaft 
in  Amerika  geschrieben  hat 
(Verlag  Mohr,  Tubingen) ,  weiB 
ich  nichts  Besseres  zu  sagen,  als 
dafi  es  auch  nach  der  Lekture 
Siegfrieds  fesselnd  und  aufklarend 
ist  Wem  noch  von  dem  Speichel- 
leckerton  ubel  ist,  der,  mit  weni- 
gen  Ausnahmen,  ziemlich  die  ganze 
deutsche  Literatur  fiber  Amerika 
beherrscht,  wird  die  freimutige 
und  kluge,  den  Dingen  auf  den 
Grund  gehende  Kritik  Lfitkens  als 
Erlosung      von    einer    hoffentlich 


fiber wundenen  Vergangenheit  be- 
grtiSen, 

Wie  bei  einer  guten  Sozialistin 
selbstverstandlich,  hat  Lfitkens 
nicht  ein  Buch  gegen  ein  Land 
oder  gegen  ein  Volk,  sondern 
gegen  Zustande  geschrieben.  Ihre 
Analyse  weist  nach,  was  sie  im 
Vorwort  verspricht,  daB  Hoffnung 
wie  Furcht  vor'dem  Amerikanis- 
mus  auf  einem  Mifiverstandnis  be- 
ruhen.  Der  amerikanische  Kapi- 
talismus  verftigt  zwar  zu  einem 
Teil,  aber  nur  zu  einem 
Teil  fiber  eine  technisch  hervor- 
ragende  Apparatus  Von  einer  Ra- 
tionalisierung  der  Wirtschaft,  die 
einer  Rationalisierung  der  Her- 
stellung  entsprechen  miifite,  war 
niemals  die  Rede.  Technisch  ist 
der  •  amerikanische  Kapitalismits 
zwanzigstes  Jahrhundert,  ideolo- 
gisch  zum  groBen  Teil  achtzehn- 
tes.  Er  ist  ein  falscher,  ein 
Pseudo-Spatkapitalismus,  der  sich 
furchtbar  liberal-demokratisch 

vorkommt,  aber  ein  Gefangener 
seiner  liberalistischen  Grund- 
satze  ist.  Seine  prosperity 
war  eine  typische  Ausbeuter- 
konjunktur  auf  Kosten  der 
Arbeiter,  der  Farmer  und  der 
Fremden.  Es  gehort,  sagt  Char- 
lotte Lfitkens,  der  ganze  opti- 
mistische  und  mechanistisch  libe- 
rate Fortschrittsglaube  euro- 
paischer  Betrachter  dazu,  auf  die 
Stabilitat  und  Vollendung  dieses 
Gesellschaftsbaues  noch  zu  ver- 
trauen,  nachdem  man  einen  Blick 
auf  die  tatsachliche  Lage  der 
Landwirtschaft  und  der  Arbeiter- 
schaft  geworfen  hat.  Trotzdem  hat 
die  amerikanische  Wirtschaft  noch 


o^i^€^ 


3i 


Standard  .  .  . 
Harrenformat  . 
Virginia  Nr.  7  . 
Egyptian  Nr.  II 


■  ■  .  .  zwei  Falctoren,  die  zur 
Vollendung  hSchster  Qualifa* 
unerlafjlich  sind.  Dadurch 
zoic h net  sich  auch  die  Voll- 
kommenheif  jeder  Abdulla- 
Cigarette  aut. 

o/M.  u.  Gold StDok    5  Pfg. 

o/M Stack    6  Pfg. 

o/M Stack    •  Pfg. 

o/M   u.  Gold    ......  Stflok  10  Pfg. 


Abdulla'Cigaretfen  geniefjen  Weltruf! 
Abdulla  &  Co.  •  Kalro  /  London  /  BorHn 

72! 


nicht  den  typisch  hochkapitalisti- 
schen  Gegensatz  zwischen  Kapital 
und  Arbeit  hervorgehracht;  die 
Wirtschaft  wird  noch  durch  den 
Gegensatz  Stadt  und  Land  und 
gleichzeitig  durcb  eine  Ideologic 
hinterwaldlich  vorsintflutlicben 
Cbarakters  beberrscht,  Ein  kor- 
ruptiver  Foderalismus  verhindert 
jede  wirtscbaftliche  soziale  MaB- 
nahme.  Jeder  Handler,  jeder  Ge- 
schaftsmann  kann  durcb  Klage 
beim  Obersten  Bundesgericht,  dem 
wahren  Herrn  der  Union,  Auf- 
hebung  von  sozialen  Gesetzen,  die 
seinen  Profit  beeintrachtigen,  als 
verfassungswidrig  beantragen  und 
durchsetzen,  Judikatur  und  Le- 
gislative durchkreuzen  sich  und 
heben  einander  auf.  Die  Ober- 
macht  des  Bundesgerichts  in 
U.S.A.  hatte  uns  auch  in  Deutsch- 
land  vor  den  Gefahren  warnen 
konnen,  mit  denen  Reichsgericht 
und  Staatsgerichtshof  den  Primat 
des  Parlaments  schon  vor  Jahren 
bedrohten. 

Die  Angst  vor  Amerika  ist  vor- 
bei,  seitdem  der  Yankee  nicht 
rnehr  verheimlichen  kann,  daB  es 
auch  bei  ihm  Pleiten,  Arbeitslose 
und  Uberproduktion  gibt,  Aber 
nicht  darum  handelt  es  sich  zu- 
letzt,  die  dubiose  Stellung  der  bis- 
her  fur  unerschiittert  gehaltenen 
Vormacht  Amerikas  nachzuweisen. 
Alles  dies  kann  nur  den  Zweck 
haben,  die  europaischen  Konti- 
nentalstaaten  davon  zu  tiberzeu- 
gen,  dafi  ihre  Befreiung  von  der 
angelsachsischen  Schiedsrichter- 
vormacht  nur  das  Werk  der  Kon- 
tinentalstaaten  selbst  sein  kann. 
Der  Glaube,  daB  die  Welt  in  ein 
amerikanisches  Zeitalter  eintritt, 
wie  es  einst  ein  babylonisches, 
agyptisches  oder  romisches  gab, 
ist  erledigt.  Daran  halten  nur 
noch  zwei  fest:  Babbitt  und  Graf 
Keyserling.     Frankreich   lieB   sich 


vom  Amerikanismus  keinen  Augen- 
blick  bluffen  und  ist  von  ihm 
innerlich  frei  geblieben.  Fiir 
Deutschland  ist  diese  innere  Be- 
freiung erst   zu  vollziehen. 

Felix  Stossinger 

Konzern-Schwachsinn 

Wir  haben  es  bisher  unter- 
lassen,  zu  den  auch  uber 
die  A.E.G.  umgehenden  Geruch- 
ten  Stellung  zu  nehmen,  weil  die 
Richtigstellung  unserioser  Mittei- 
lungen  uns  in  der  gegenwartigen 
Zeit  zwecklos  erscheint.  Nach- 
dem  jedoch  auch  seitens  des 
ernst  zu  nehmenden  Teiles  der 
deutschen  Presse  Anfragen  an 
uns  gerichtet  werden,  teilen  wir 
mit   . .-. 

, , ,  daB  die  Gesellschaft  von 
den  Scnwierigkeiten  der  berliner 
A.E.G.  nicht  beriihrt  wird.  Da 
die  danische  Gesellschaft  ganz 
selbstandig  ist,  wird  ihre  Stel- 
lung selbst  durch  den  etwaigen 
Zusammenbruch  der  deutschen 
Gesellschaft  nicht  beeinfluBt  wer- 
den." 

Was  ist  das?  Das  ist  erstens 
die  Einleitung  zu  einer  am  27.  Ok- 
tober  von  der  A.E.G.  abgegebe- 
nen  offiziellen  Erklarung  tiber 
ihre  Lage,  zweitens  der  Wortlaut 
einer  Erklarung,  die  von  der  ko- 
penhagener  A.E.G.  drei  Tage  spa- 
ter  der  danischen  Presse  uber- 
geben  wurde;  drittens  aber  ist  es 
eine  Schwachsinnshandlung,  die 
selbst  in  unsrer,  an  derartigen 
Erzeugnissen  der  Wirtschaft  nicht 
grade  armen  Zeit  durch  ihren 
ungewohnlichen  Grad  .  von  Be- 
nommenheit   auffallt. 

Es  interessiert  hier  nicht  so 
sehr,  wie  es  der  A.E.G.  wirklich 
geht.  Es  geht  ihr  wahrscheinlich 
ebenso  gut  wie  alien  GroBkon- 
zernen   der  deutschen  Wirtschaft, 


lllIllllllillllllllilillllEIIH 

ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCH1CHTE 

in  700  Bildern.  1910—1930.  Einleitung  von  Friedrich  Sieburg.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter  nicht  die  gelstige  MOhe  ersparen,  die  im 
Lesen  liegt  Die  zusammenfassende  Betrachtung  der  letzten  17  Oder 
20  Jahre,  ohne  daB  die  Tatsachen  durch  eine  Deutung  verhUllt  Oder 
gef&rbt  wUrden,  mag  einen  neuen  Weg  weisen  Oder  erkennen  lessen. 


TRANSMARE  VERLAG  A.-C,  BERLIN  W  10 

722 


Leinen 


S.80  RM 


also  schlecht,  Aber  wenn  es  noch 
eines  Beweises  daftir  bedurft 
hatte,  wie  vollig  desorganisiert  so 
ein  wirtschaftliches  Gebilde  ge- 
genwartig  ist,  und  wie  kopflos 
seine  Leitung,  so  wird  dieser  ne- 
ben  der  klassischen  Katzenellen- 
bogen-Erklarung  der  Commerz- 
und  Privatbank  biindig  geliefert 
durch  die  oben  zitierte  Erklarung 
der  danischen  A.E.G.  Die  Mut- 
tergesellschaft  bemiiht  sich  seit 
Monaten  darum,  den  wenig  er- 
freulichen  GerCichten  iiber  ihren 
Stand  entgegenzutreten.  Ob  mit 
Erfolg  oder  nicht,  ob  mit  Recht 
oder  nicht,  ist  gleichgiiltig,  jeden- 
falls  kann  man  es  ihr  nicht  ver- 
iibeln,  wenn  sie  sich  gegen  ihr 
nachteilige  Geriichte  zu  wehren 
sucht.  Die  danische  Tochter- 
gesellschaft  sagt  all  das,  was  von 
der  Muttergesellschaft  als  ,,un- 
serios"  bezeichnet  wird,  einige 
Tage  spater  mit  einer  Deutlich- 
keit,  derer  sich  bisher  auch  das 
,,unserioseste"  deutsche  Blatt 
nicht    schuldig    gemacht   hat. 

Die  Internationale  Solidaritat 
des  Kapitales  ist  heute  offenbar 
nicht  einmal  mehr  innerhalb  der 
Konzerne  selbst  vorhanden.  Die 
Panikstimmung,  die  fliese  So- 
lidaritat mehr  und  mehr  auflost, 
macht  auch  vor  solchen  Bindun- 
gen  nicht  mehr  halt,  die  friiher 
als  besonders  test  gefiigt  erschie- 
nen,  DaB  derartiges  passieren 
kann,  mitfite  eigentlich  fur  die 
Arbeiterschaft  eine  Hoffnung 
darstellen.  Wenn  ihr  Feind  im 
Klassenkampf  derartigen  Blod- 
sinn  macht,  und  zwar  aus  purer 
Kopflosigkeit,  so  zeigt  das  doch 
wohl,  dafi  er  sich  seiner  Positio- 
nen  nicht  mehr  sicher  fiihlen 
kann,  Auf  jeden  Fall  beginnt  er 
die  Nerven  zu  verlieren.  Das  ist 
immerhin  schon  etwas. 

Alfred  Kolmar 


Wahn-Europa  1934 

T  rgendwo  an  der  Grenze  zwi- 
*  schen  Albanien'  und  Siidslawien 
schiefit  ein  stidslawischer  Posten 
hinter  einem  Albanier  her,  der 
sich  iiber  die  Grenze  schmuggeln 
will.  Auf  heimischen  Boden  ver- 
endet  der  todlich  Getroffene. 
Fiinf  Tage  spater:  Frankreich  und 
Italien  sind  ein  einziger  Triim- 
merhaufen,  vom  Osten  her  kommen 
die  Russen,  um  die  Friichte  die- 
ses letzten  groflen  Volkermordens 
einzuheimsen.  Was  in  diesen  we- 
nigen  Tagen  geschieht,  wie  aus 
dem  unscheinbaren  Zwischenfall 
ein  Gewebe  wird,  in  dessen  Fa- 
den  und  Fadchen  sich  ganz  Eu- 
ropa  verstrickt,  wie  die  lang- 
gestaute  Rivalitat  zwischen  Rom 
und  Paris  an  diesem  winzigen 
Punkt  durch  die  allzuleichte 
Decke  eines  sogenannten  Frie- 
dens  bricht,  wie  Prestigefragen, 
imperialistische  Eroberungssucht, 
Interessenverkettung  und  ver- 
derbliche  Biindnispolitik,  Eitel- 
keit  und  Ehrgeiz,  Zufall  und 
boser  Wille,  Obereifer  und  Zag- 
haftigkeit  die  Ereignisse  mit 
grausiger  Folgerichtigkeit  auf  das 
von  alien  gefiirchtete  Ende,  den 
vernichtenden  Krieg,  zusteuern, 
und  wie  dazwischen  Einer,  Frank- 
reichs  AuBenminister  Leon  Brandt, 
mit  der  Kraft  seiner  Personlich- 
keit  und  der  Macht  seiner  Or- 
ganisation, der  internationalen 
Gewerkschaftsunion,  vergeblich 
alles  daransetzt,  das  Unheil  zu 
verhindern,  das  Unheil,  das  die 
ganze  zivilisierte  Welt  zu  ver- 
nichten  droht,  —  davon  erzahlt 
Hanns  Gobsch  in  seinem  „Wahn- 
Europa  1934"  (Fackelreiter-Ver- 
lag,  Berlin). 

Prall  von  Ereignissen  und  Sen- 
sationen,  durchsetzt  mit  klugen 
Bemerkungen,  rollt  dieses  Buch 
Faden    um   Faden    des    Gewebes 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON, 

Das  Elend  kommt  von  dertragischen  Beflissenheit,  den  Bock  derZeiten  zu  me1ken,ob 
er  Milch  geben  kann  oder  nicht.  Niemand  weiB.  wohin  die  Mensch- 
heit  steuert,  ob  sie  leben  oder  sterben  will;  gewiB  is'  nur,  da8  sie 
dae  nicht  will,  was  ihr  die  Oberlehrer  der  GlUckseligkeit  zudenken. 


TRANSMARE  VERLAG  A.-G.,  BERLIN  W  10 


Kartoniert 

3.—  RM 


723 


auf,  bis  sich  entsetzlich  „logisch" 
die  letzie  Konsequenz  ergibt:  der 
Krieg.  Diese  furchtbare  *„LogikM 
zu  zerstoren,  hat  Brandt  sich  zur 
Aufgabe  gesetzt,  Einst  Kampf - 
flieger,  der  sein  Damaskus  erlebt, 
dann  Pionier  des  Flugverkehrs, 
mit  29  Jahren  in  die  Politik  ver- 
schlagen,  Sozialist  ohne  Marxist 
zu  sein,  Anti-Diktaturist  aber 
kein  Anbeter  der  Masse,  ist  Ziel 
seiner  Tatigkeit  als  Aufienmini- 
ster:  jeder  Konflikt  zwischen  den 
einzelnen  Landern  soil  friedlich 
gelost,  unsre  gesamte  AuBenpoli- 
tik  einem  Umbau  unterworfen 
werden.  Er  stiitzt  sich  dabei  auf 
das  in  der  „Union"  geeinigte 
„europaische  Volk",  das  im 
Ernstfall  den        Regierungen 

Brandts  Willen  aufzwingen  soil. 
V6m  ersten  Augenblick  an,  da 
ihn  auf  dem  Flug  nach  Amerika 
zwischen  Ozean  und  Himmel  die 
Nachricht  von  dem  aufflackern- 
den  Brand  am  Balkan  erreicht, 
sturzt  er  sich  in  diesen  Entschei- 
dungskampf,  der  beweisen  soil, 
ob  es  den  Massen  moglich  ist, 
kriegerische  Losungen  durch  eine 
straffe  Internationale  Organisie- 
rung  fernerhin  auszuschalten, 
Funksprttche  fliegen  an  die  Regie- 
rungen Albaniens  und  Italiens 
(das  seine  albanischen  Interessen 
bedroht  sieht) ,  Sudlawiens  und 
Frankreichs  (das  sich  seinem 
Bundesgenossen  in  Belgrad  zur 
Seite  stellt) ;  seine  ganze  Kraft 
konzentriert  sich  darauf,  das 
Kabinett  von  der  Prestigepolitik 
abzubringen,  Vergebens,  er  mu6 
zuriicktreten,  und  nun  beginnt 
der  gigantische  Kampf  der  fran- 
zosischen  Unionisten,  Frank- 
reich  wird  durch  den  General- 
streik  lahmgelegt.  Italien  be- 
kommt  naturgemaB  Oberwasser, 
man  verhandelt  mit  Brandt,  ein 
ungltickseliger     Zwischenfall     be- 


raubt  ihn  eines  seiner  engsten 
Mitarbeiter,  schon  beginnt  in 
Italien  der  Aufmarsch,  als  Sud- 
slawiens  Konig  zuriickzuckt,  Ita- 
liens Herr,  Capponi,  triumphiert, 
aber  wie  ganz  Europa  so  atmet 
auch  er  befreit  auf,  —  da  hetzt 
Rhee  Landrux,  der  Teufel  der 
franzosischen  Sozialistcn,  wah- 
nend,  man  habe  Brandt  gefangen 
gesetzt,  die  Massen  auf  den  Stra- 
Ben  von  Paris  zum  Kampfe,  er- 
stiirmt  den  Eifelturm  und  funkt 
ein  bluttriefendes  Manifest  in  die 
Welt  hinaus,  unter  Mifibrauch 
von  Brandts  Namen  Italien  den 
Kampf  des  Proletariats  der  gan- 
zen  Welt  ankiindigend.  Italien 
greift  an,  der  einzige  Mensch,  der 
j  etzt  noch  Frankreichs  Massen 
in  der  Gewalt  hat,  Brandt,  muB 
die  Regierung  tibernehmen,  die 
Tragik  beginnt:  grade  er,  der  den 
Volkern  den  Frieden  bringen 
wollte,  muB  seine  eignen  Volks- 
genossen  zum  Kriege  ftihren,  wenn 
auch  nur  zu  einem  Verteidigungs- 
krieg.  Unter  den  Trummern  von 
Italien  und  Frankreich  liegen  er 
und  seine  Mit-  und  Gegenspieler 
begraben,  die  Flieger  haben  ganze 
Arbeit  geleistet 

Eine  grofie  Idee  hat  ihr  Fiasko 
erlitten.  Nur,  weil  kleine  Men- 
schen  sie  mifibrauchten  ?  Hier 
scheint  mir  der  entscheidende 
Fehler  dieses  nicht  genug  zu  lo- 
benden,  formal  und  inhaltlich 
gleich  guten  Buches  zu  liegen, 
Durch  eine  Massenkriegsdienst- 
verweigerung  und  einen  Massen- 
generalstreik  den  Regierungen 
ihre  gefahrlichste  Waffe,  die 
Kriegsbereitschaft,  aus  den  Han- 
den  zu  schlagen  — ,  dieser  groB- 
artige  Plan  scheitert,  wie  der 
Gang  der  Ereignisse  nachweist, 
an  zwei  Punkten:  an  der  Moglich- 
keit,  mit  ein  paar  tausend  bis  ins 
Letzte     ausgeriisteten    Flugzeugen 


Keine  Reklame 

wolleu  unsere  Ankundigaiigen  sein,  Eondern  nur  zeitgerechte  Form  der 
Bekanntgabe,  daB 

die  Bttcher  von  B6  Yin  Ra 

bei  una  erschienen  sind.  Jede  gute  Buchhandlung  halt  sie  vorr&tig. 
Binfilhrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin  kostenlos.  Der 
Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlang  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

724 


ein  ganzes  Land  innerhalb  weniger 
Stunden  zu  vernichten,  also  an 
dem  Fehlen  einer  totalen  Ab- 
riistung,  und  daran,  daft  sich  der 
Apparat  der  Staatsmacht  in  den 
Handen  von  Personen  befindet, 
fur  die  der  letzte  Ausweg,  die 
letzte  Losung  noch  immer  der  . 
Krieg  ist.  Der  Fehler  in  Brandts 
Rechenexempel  ist  der,  dafl  er 
glaubte,  seine  Idee  lasse  sich 
durchfiihren,  bevor  die  von  ihm 
gefiihrten  Massen  die  Macht  er- 
obert  haben,  Diese  Frage,  die 
von  selbst  auftaucht,  beantwortet 
Gobsch  nicht;  was  nicht  hindert, 
sein  Buch  zu  begriiBen  als  einen 
mutigen  Warnungsruf  an  die  Re- 
gierungen  und  Volker  Europas, 
nicht  erst  unsern  Erdteil  zu 
einem  Triimmerhaufen  werden 
zu  lassen,  bevor  sich  die  Vernunft 
durchsetzt. 

Walther  Karsch 

Anarch ie  in  Bayern 

T^er  friihere  Kronprinz  Rupp- 
*~*  recht,  von  ganz  rabiatenAlt- 
bayern  kurz  entschlossen  der 
Konig  genannt,  besuchte  eine  ent- 
legene  Kreisstadt.  Als  der  Zug 
die  Station  Oberdimpflharting 
passierte,  standen  die  Honoratio- 
ren  und  Veteranen  zwecks  Be- 
grCiBung  am  Bahnhof.  WeiBblaue 
Fahnen  wehten,  Boiler  verursach- 
ten  kraftbayrisches  Festgetose, 
das  weiiJgekleidete  Tochterchen 
des  Bezirksamtmanns  iiber'reichte 
einen  KornblumenstrauB.  Der 
blaue  Himmel  demonstrierte 
gleichfalls  unter  Vorfuhrung  einer 
leuchtend  weiBen  Wolke,  die  vor- 
schriftsmaflig  uberm  Bahnhof 
stand,  die  angestammten  Landes- 
farben. 


Alles  ging  gut.  Das  Toch- 
terchen des  Bezirksamtmanns 
sagte  seine  Verschen  ohne  Stok- 
kung  auf  und  nahm,  vom  Exkron- 
prinz,  respektive  Pratendenten 
beziehungsweise  Konig  auf  die 
Wange  getatschelt,  einen  Ein- 
druck  fiirs   Leben  mit. 

Der  hohe  Herr  zog  den  bar- 
tigsten  Veteranen  von  Siebzig  ins 
Gesprach.  Dafi  inzwischen  auch 
im  Weltkrieg  unter  der  militari- 
schen  Oberleitung  Seiner  HoheU 
ein  hiibsch  paar  Landeskinder 
ehrenvoll  demoliert  worde.i 
waren,  schien  nicht  in  Betracht 
gezogen  —  vielleicht  weil  di^. 
wehenden  Greisenbarte  im  Ge- 
gensatz  zu  den  neumodisch  glat- 
ten  Gesichtern  dekorativer  wirk- 
ten. 

Alles  erledigte  sich  ohne  Rei- 
bung  und  der  erhebende  Tag  ware 
alien  Beteiligten  wie  ein  ein- 
geweckter  Sonnenstrahl  im  Gemiit 
bewahrt  geblieben,  wenn   nicht . . . 

Wenn  nicht  im  letzten  Augen- 
blick,  als  der  Konig  beziehungs- 
weise Pratendent  respektive  Ex- 
kronprinz  bereits  wieder  Plats 
genommen  hatte  und  das  don- 
nernde  Hurra  zum  drittenmal  in 
der  klaren  Luft  verklungen  war, 
irgend  ein  Subjekt  mit  miBtonen- 
der  Stimme  gebnillt  hatte:  „Hoch 
die  Republik!" 

Unter-  allgemeiner  Verwirrung 
achzte   der   Zug   davon. 

Die  sofort  eingeleitete  Unter- 
suchung  fiihrte  lei  der  zu  keinem 
befriedigenden  Resultat. 

Wahrscheinlich  so  ein  Jud  aus 
PreuBen  — ! 

Peter  Scher 


Zum  9.  November  —  Sensationelle  Neuerscheinung: 


WILHELM  II. 


^  von  Dosio  Koffler 


Hier  fICichtet  ein  Film   vor  dem   Zensor  in  die  Buchform. 

Prels  2  Mark 

Lucifer-Verlag,  Berlin  W  30,  Landshuter  Str.  36 

Telephon:   B  ©  Cornelius  1569 

725 


Was  geschieht,  wenn  einer 
die  Verantwortung  tr&gt? 

A  Is  Western  das  britische  U-Boot 
**■  L  53  bei  Ubungen  in  der  Nahe 
der  Insel  Wight  untergetaucht 
war,  stellte  es  sich  heraus,  daft 
ein  Mann  der  Besatzung  ver- 
sehentlich  auf  dem  Deck  zuriick- 
gelassen  worden  war,  Der  Kom- 
mandant  liefi  das  U-Boot  sofort 
wieder  an  die  Oberflache  gelan- 
gen  und  mehrere  Stunden  an  der 
betreffenden  Stelle  kreuzen,  ohne 
von  dem  VermiBten  eine  Spur  zu 
entdecken,  Nach  Abhaltung  eines 
Gottesdienstes  kehrte  das  U-Boot 
in  seinen  Hafen  Portsmouth 
zuriick. 

Zeitungsnotiz 


ALBERT   DAMM 

* 

ZENTRALE   Ft)R 
BUCHHERSTELLUNG 
UND    BUCHVERTRIEB 


BERHN-WILMERSDORF 

KAISERALLEE   32 

H  2  *    UHLAND   8886 


Obernahme  aller  Verlagsarbeiten. 
Herstellung  und  Vertrieb  von  Werken, 
Katalogen,  Zeltsxhrlften,  Prospekten 
etc.  In  zeitgemafier  Ausstattung  far 
elgene  oder  fremde  Recbnung  zu 
billlgsten  Prelsen.  Entwttrfe  far  In- 
serate  und  Werbesdireiben.  Beauf- 
sichtigung  der  Drudclegung.  Korrek- 
turlesen.  Engl  is  die  und  franzdsisdie 
Cbersetzungen.  Budifuhrung.  Steuer- 
beratung.  Einriditung  und  Neu- 
organisatlon  von  Verlagsbetrieben. 
Verlagsauslieferungen. 

Erste  Referenzen. 
Mafiiges  Honorar!   1 


I  deal  e 

In  unsrer  Nummer  36  veroffent- 
*  lichten  wir  ein  Bild  des  japa- 
nischen  Generals  Nagaoka  mit 
der  Unterschrift:  MDer  Mann  mit 
dem  langsten  Schnurrbart  der 
Welt".  Wie  uns  ein  Leser,  Herr 
Wilhelm  Roleff,  mitteilt,  scheint 
hier  ein  bedauerlicher  Irrtumvor- 
zuliegen.  „Es  diirfte  Ihnen  nicht 
bekannt  sein",  heiBt  es  in  der  Zu- 
schrift,  „dafi  es  in  Koln  einen 
noch  langern  und  schonern 
Schnurrbart  gibt.  Wie  Sie  aus 
dem  beigefugten  Photo  ersehen, 
besitze  ich  den  langsten  Schnurr- 
bart der  Welt.  Derselbe  ist 
fiinfundfunfzig  Zentimeter  lang 
(fiinf  Zentimeter  langer  als  der 
des  Generals),  gut  gepflegt,  und 
ich  bin  heute  noch  stolz  darauf, 
denselben  als  alter  Soldat  und 
spaterer  Polizeihauptwachtmei  - 
ster  zu  tragen.  Aus  meinem  jetzi- 
gen  Schnurrbart  konnte  man 
zehn  jungen  Leuten  ein  jetzt  mo- 
dernes  Schnurrbartchen  machen. 
Ich  bitte  in  einer  Ihrer  nachsten 
Ausgaben  um  gefallige  Richtig- 
stellung." 
,Kolnische   lllusirierte   Zeitung 

Mit  Ahoi 
Wikinger  Jungenschaft 
J7s   liegt   Veranlassung    vor,   be- 
*-*    kannt  zu  geben,  dafi  ich  mich 
genotigt  sah,  vier  Fiihrer  aus  der 
W.J.    wegen    Treubruchs    auszu- 
schlieBen.      Die     Fiihrung     bleibt 
weiter    in    meinen    Handen. 
Mit    Ahoi! 

Heinz  Hoffmann 
,Die  Kommenden' 

Die  Wochenschau 

I m  ersten  Jahrgang  der  tonenden 
*  Fox-Wochenschau  waren,  wie 
der  ,FiIm-Kurier'  berichtet,  fol- 
gende  Themen  verwendet: 

Sportszenen  74mal.  Volksfeste 
und  Volksgebrauche  50mal.  Feier- 
lichkeiten  43mal.  Armee-  und 
Marineszenen  34mal.  Flugzeug- 
aufnahmen  25maL  Katastrophen 
und  Ungliicksfalle  21mal.  Tech- 
nische  Szenen  20mal.  Viehzucht, 
Dressur  19mal.  Personlichkeiten 
15mal.  Kunst,  Musik,  Tanz  11- 
mal.      Religion    10  mal.      Schule, 


726 


Padagogik  9mal.    Forschungsreisen 
7mal  etcetera. 

Das  ist,  wie  man  zugeben  wird, 
brennend  interessant.  Es  fehlt . 
nun  nur  noch  die  Statistik  uber 
diejenigen  Themen,  die  grund- 
satzlich  nullmal  in  der  Wochen- 
schau  behandelt  werden, 

Natur  und  Kunst 
T  Jnter  den  Hunderten  von  Tiro- 
^  iern,  die  in  Luis  Trenkers 
„Berge  in  Flammen"  die  Kaiser- 
jager  spieltent  waren  ein  GroB- 
teil  Manner,  die  im  Weltkrieg 
selbst  an  der  Front  gestanden 
waren,  heute  also  das  spielten, 
was  sie  vor  Jahren  selbst  erlebt 
hatten.  So  unerhort  echt  waren 
die  Filmszenen  gestellt,  daB 
viele  der  Leute,  besonders  bei' 
den  Nachtaufnahmen,  vergaBen, 
daB  das  alles  heute  ja  nur  Spiel 
war  und  bei  den  Nahkampf- 
Szenen  so  auf  den  „Feind"  los- 
gingen,  daB  die  bereitstehenden 
Sanitater  alle  Hande  voll  zu  tun 
hatten,  urn  die  verschiedenen 
Verletzungen  zu  verbinden.  Und 
was  den  Leuten  die  groBte 
Freude  machte,  war  das  Schie- 
Ben,  besonders  mit  den  Maschi- 
nengewehren,  Jeder1  wollte  mog- 
lichst  viel  der  kostbaren,  nur  un- 
ter  groBen  Schwierigkeiten  be- 
schafften  scharfen  Munition 
—  eine  andre  kam  wegen  der 
Echtheit  des  Tons  nicht  in 
Fratfe    —    verschieBen    und    der 


biedere  Tiroler,  der  am  Abend 
nach  der  „Schlacht"  mit  blitzen- 
den  Augen  und  kampfgerotetem 
Gesicht  atemlos  in  der  Wohn- 
Baracke  ankam  und  seinen  Ka- 
meraden  zurief:  M900  SchuB  hab' 
i  heut*  aussabollert  (hinaus- 
geschossen) ,  sakra,  sakra,  denen 
Walschen  (Italienern)  hab*  i's 
heut'  'zagt  (gezeigt) !"  wurde  wie 
ein  Held  bestaunt  und  beneidet. 
,RheinHlm-Magazin 

Liebe  Weltbuhne! 

Jeden  Tag,  den  Gott  werden 
laBt,  sendet  der  Bankier  Zacha- 
rias  ein  StoBgebet  zum  Himmel: 
MLieber  Herrgott,  wenn  Du  nach 
Deinem  unerforschlichen  Rat- 
schluB  schon  alle  Banken  vernich- 
ten  willst,  dann  tu  es  wenigstens 
nach  dem  Alphabet." 

Herbst  im  Flufi 

l^er  Strom  trug  das  ins  Wasser 
*^  gestreute 

Laub  der  Baume  fort.  — 
Ich  dachte  an  alte  Leute, 
Die  auswandern    ohne  ein  Klage- 
wort. 

Die  Blatter  treiben  und  trudeln, 
Gewendet  von  Winden  und    Stru- 

deln 
Geriigig,  und  sinken  dann  still.  — 

Wie  jeder,  der  Grofies  erlebte, 
Als  er  an  Groflerem  bebte, 
SchlieBlich  tief  ausruhen  will. 
Joachim  Ringelnatz 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Gruppe  kevolutionarer  Hazifisten.  Freitag  20.00.  Cafe  Adler  am  Donhoffplatz.  Oeffent- 
liche  Diskussion:  Die  Bedeutung  der  Sozialistischen  Arbeiter-Partei.  Es  sprechen : 
Karl  Frank  (KPO),  Walther  Karsch  und  Kurt  Werth.    Vorsitz:  Kurt  Hiller. 

Hamburg-Altona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Dienstag  (17.)  Volksheim  EichenstraBe.  20.00: 
Die  Parteien  und  der  Friede,  Kurt  Zornig. 

Bficher 

Maurice  Baring:  Daphne  Adeane.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Otto  Corbach :  Offene  Welt.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Otto  Lehmann-RuBbQldt:  Die  Revolution  des  Friedens.    E.  Laubsche  Verlagsbuchhand- 

lung,  Berlin. 
Arnold  Zweig:  Madchen  und  Frauen.    Gustav  Kiepenheuer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  18.20:  Erik  Reger  spricht  —  Frankfurt  19.05:  Dicbter,  Zeit  und  Rund- 
funk, Alfred  Wolf enstein.  —  Donnerstag.  Berlin  1 9.15 :  Walther  von  Hollander 
Hest.  —  21.10 !  Querschnitt  durch  Heinricb  v.  Kleist  von  Ernst  Bulowa,  Edlef 
Koppen.  —  Freitag.  Breslau  17.15:  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung,  W.  E.  Siiskind. 
—  Sonnabend.    Langenberg  18  20:  1st  eine  Weltsprache  moglich  ?  Johannes  Buckler. 

727 


Antworten 


Nationaler  Mann,  Ihre  .Deutsche  Zeitung*  entriistet  sich  iiber  die 
,WeltbUhne'  und  faselt  von  „judischer  Unverschamtheit",  weil  wir  in 
unserm  vorigen  Heft  wiedgr  einmal  die  Frage  aufgeworfen  haben,  wie 
es  moglich  ist,  daB  der  noch  immer  nicht  naturalisierte  Adolf  Hitler 
in  Deutschland  Politik  machen  kann,  Aufruhr  und  Biirgerkrieg  predi- 
gent  ohne  dafi  die  hohe  Obrigkeit  das  unerwiinschte  Element  endlich 
abschiebt.  Die  .Deutsche  Zeitung*  erhebt  darob  gereizt  ihre  Biiffel- 
horner.  Wir  brauchen  nicht  besonders  hervorzuheben,  dafi  wir  nicht 
daran  denken,  die  Sache  der  Fremdenpolizei,  die  ungezahlte  arme 
T  euf  el  schikaniert,  zu  f uhren,  aber  Hitler  gehort  nicht  zu  den  Un- 
seligen,  mit  denen  die  Polizei  so  lange  Schlitten  zu  fahren  pflegt,  bis 
sie  sie  endlich  bei  der  Grenzwache  des  Herrn  Nachbarstaates  abgibt. 
Warum  wir  im  Falle  Hitler  aufierste  Strenge  fordern,  ist  wohl  ganz  klar: 
diejenigen,  die  immer  Zucht  und  Disziplin  und  Unterwerfung  auch 
unter  die  rigorosesten  Gesetze  fordern,  sollen  selbst  einmal  das  vom 
Staate  spuren,  was  sie  gegen  andre  verlangen.  Die  .Deutsche  Zeitung', 
die  in  jeder  Nummer  zehnmal  den  Geist  des  Gehorsams  beschwort, 
hat  kein  Recht  aufzumucken,  wenn  bestehende  Gesetze  angewendet 
werden.  Dafi  man  sich  auf  der  Rechten  nicht  immer  so  tolerant  ver- 
halt  wie  im  Falle  Hitler,  beweist  ein  hafierfiillter  Ausfall,  den  Herr 
Paul  Fechter  in  der  ,E)eutschen  Allgemeinen  Zeitung'  jetzt  gegen  den 
Kleistpreistrager  Gdon  von  Horvath  unternommen  hat,  denn  Horvath 
ist  geborener  Ungar,  deshalb  hat  er  sich  nicht  um  deutsche  Dinge  zu 
kummern,  Der  tapf  ere  Fechter  hatte  seinen  deutschen  Zorn  an  eine  ihm 
naher  stehende  Stelle  verschwenden  konnen,  namlich  an  seinen  Chef- 
redakteur,  Herrn  Doktor  Klein,  der  in  Siebenburgen  geboren  ist  und 
trotzdem  nicht  fur  Ungarn  oder  Rumanien  sondern  fur  Deutschland 
optiert  hat.  Herr  Fechter  hat  das  bei  seinem  wiitenden  Ausfall  tiber- 
sehen,  aber  Herr  Doktor  Klein  durfte  wahrscheinlich  ohne  Vergniigen 
in  seinem  eignen  Blatt  gelesen  haben,  daB  ein  geborener  Ungar  kein 
Recht  hat,  sich  aktiv  am  deutschen  Schrifttum  zu  beteiligen. 

Marxistische  Arbeiterschule.  Der  Magistrat  Berlin  hat  euch  auf 
Anweisung  des  Provinzialschulkollegiums  samtliche  Schulraume  ent- 
zogen,  um  so  eure  Schulungs-  und  Aufklarungsarbeit  zu  sabotieren. 
Das  hat  euch  nicht  gehindert,  eure  Anstrengungen  zu  verdoppeln.  und 
ihr  habt  euch  ein  eignes  Schulhaus  in  der  Schicklerstrafie  6,  am 
Alexanderplatz,  eingerichtet.  Wer  Auskunft  iiber  eure  vielseitigen 
Kurse  haben  will,  wende  sich  an  das  Bureau,  das  taglich  aufier  Sonn- 
abend  von  10  bis  12  Uhr  und  von  17  bis  19  Uhr  geoffnet  ist, 

Dusseldorfer.  Im  Gegensatz  zu  den  berliner'  Kritikern,  die  den 
Film  ..Der  KongreB  tanzt"  leicht  beschwingt  und  tanzerisch  finden, 
hat  einer  eurer  Kinobesitzer  als  Vorreklame  fur  diesen  Film  zehn  — 
Elefanten,  gefiihrt  von  Husaren  in  zeitgenSssiscber  Uniform,  durch 
die  StraBen  trampeln  lassen.  Dies  zeigt,  dafl  der  gesunde  Sinn  fur 
Humor  und  Satire  im  deutschen  Volke  noch  nicht  ausgestorben  ist. 

Karlsruher.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Theodor  Clement, 
EbertstraBe  6,  Telephon  120,  der  regelmafiige  Zusammenkiinfte  der 
karlsruher  Weltbuhnenleser  in  die  Wege  leiten  will. 


Manuskripte  sind  our  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Chartottenburg,  Kantstr,  152,  zu 
richten:  es  wird  ?ebeten,  ihnen  Ruckporto  beizule^en,  da  sonst  kerne  Rfifksendung  erfol^eo  kann. 
Das  Auff  tihrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechaniscbe  wiedereabe  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rabmen  von  Radiovortr&gen 
bleiben   fUr   alle  in  der  Weltbttbne  sracheinenden  Beitr&ge  ausdracklicb  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrijndet  von  Siegfried  Jacobsobn  und  wird  von  Carl  v.  Ocsietzky 
unter   Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  jjeteitet  —  Veranrwortlich :    Cart  v.  Ossietzky,    Berlin; 

Verlaif  der  Weltbuhne,  Siegfried    Jacobsohn  &  Co..  Char lotten burjr. 

Telephon:    C  1,  Steinplatz  7757.   —  Postachedckonto    Berlin  119  58. 
Bankkooto      Darmstadler    u.    Nationalbank,       Depositee  kasse    Charlottenburg,     KaoLstr.    112 


XXVII.  Jahrgang  17.  November  1931  Nummer46 

Groener  funkt  dazwischen  von  can  v.  ossietzky 

D  eichsminister  Groener  hat  sich  iiber  eine  Rundfunkrede  des 
Reichsbannerfunktionars  Holtermann  zum  9.  November  ge- 
argert  und  eine  andre  Zusammensetzung  des  Oberwachungs- 
ausschusses  der  Funkstundc  verlangt.  Groener  bevorzugt  als 
Reichsinnenminister  einen  wehrhaften  Ton,  so  war  denn  Preu- 
Ben  schnell  auf  dem  Plan-  Es  hatte  wohl  einen  Konflikt  ge- 
geben,  wenn  nicht  der  Reichskanzler  schlichtend  dazwischen- 
getreten  ware,  Aber  es  ist  nur  ein  Waffenstillstand,  der  hier 
geschlossen  wurde. 

Ministerialrat  Scholz,  der  Vertreter  des  Reichs  im  Uber- 
wachungsausschuB,  ein  deutschnational  infizierter  Bureaukrat, 
hatte  in  dem  Vortrag  Holtermanns  ,,parteipolitischen  Charak- 
ter"  entdeckt,  eine  Meinung,  die  sein  Minister  eifrigst  auf- 
nahm  und  verfocht.  Da  das  ,Berliner  Tageblatt'  in  seiner 
Abendausgabe  vom  11.  November  die  inkriminierte  Rundfunk- 
rede in  der  Form,  wie  sie  gehalten  wurde,  abgedruckt  hat, 
sind  wir  in  der  Lage,  zu  prtifen,  was  Herrn  Groeners  iiberpar- 
teiliches  Gefiihlsleben  so  arg  verletzt  hat.  Wir  finden  auch 
bei  aufierster  Anstrengung  in  diesem  Vortrag  weder  viel  Poli- 
tik  noch  Charakter  und  schon  gar  keine  Parteipolitik,  dafiir 
aber  viel  von  jener  seLbstzufriedenen  Pathetik,  die  immer  mehr 
zum  alleinigen  Ausdruck  des  amtlichen  Republikanertums  ge- 
worden  ist  und  ihr  geruttelt  MaB  Schuld  tragt,  daB  den  jungen 
Leuten  von  heute,  um  mit  Herrn  Sklarek  zu  reden,  der  Kaffee 
hochkommt,  wenn  ein  OHiziosus  die  Republik  zu  besingen  be- 
ginnt.  Aber  das  sagen  wir  berufsmafiigen  Norgler,  fur  die  in 
Holtermanns  schwarzrotgoldener  Staatskonzeption  gewiB  nicht 
viel  Raum  ist,  was  aber  Herr  Groener  dagegen  einzuwenden 
hat,  bleibt  unerfindlich,  denn  er  selbst  hat  sich  dieser  Sprache 
oft  und  reichlich  bedient,  wenigstens  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo 
die  Fruhstucksunterhaltungen  zwischen  Hitler  und  General  von 
Schleicher  begannen.  Ob  uns  die  Rede  Holtermanns  gefallt 
oder  nicht,  es  bleibt  erstaunlich,  warum  der  Staat  gegen  einen 
Redner  einschreitet,  der  das  bisher  allein  als  staatserhaltend 
anerkannte  Idiom  so  gut  beherrscht.  Ware  unter  der  Monarchie 
die  Riiffelung  eines  Barden  moglich  gewesen,  der  sich  allzu 
breit  in  dynastischen  Hochgefiihlen  ergangen  hatte?  Heute, 
unter  dem  halbfascistischen  Regime,  empfindet  ein  Minister 
der  Republik  es  als  anstoBig,  wenn  ein  Festredner  sich  zu 
einer  republikanischen  Ideologie  bekennt,  und  sei  sie  selbst 
so  gezahmt  wie  die  des  Reichsbanners,  dessen  Aufgabe  es  ja 
nicht  ist,  Parteipolitik  zu  machen,  sondern  davon  abzulenken. 
Schadenfreude  ist  keine  politische  Regung.  Ware  Scha- 
denfreude unter  Verhaltnissen  wie  augenblicklich  erlaubt,  so 
miiBte  man  sich  allerdings  vor  Lachen  ausschiitten  iiber  das, 
was  die  Sozialdemokratie  und  das  ihr  attachierte  biirgerliche 
Republikanertum  als  Dank  fiir  die  Tolerierung  erntet.  Gegen 
Herrn  Klagges  in  Braunschweig  hat  der  Herr  Reichswehrmini- 
ster  des  Innern  nichts  untemommen,  nichts  ist  zur  Siihnung  des 

1  729 


braunschweiger  Mordsonntags  geschehen.  Statt  dessen  be- 
ginnt  der  Herr  Minister  aus  nichtigstem  AnlaB  Streit  mit  der 
preuBischen  Regierung,  dcren  Lcbcn  ohnehin  nur  noch  kurz 
befristct  ist.  Milde  dem  braunschweiger  Naziminister,  Uner- 
bittlichkeit  gegen  den  preuBischen  Braun.  Hat  das  Reichs- 
innenministerium  den  Ehrgeiz,  das  zu  vollbringen,  was  dem 
Volksentscheid  der  Rechtsparteien  nicht  gelang? 

Die  Sozialdemokratie  tut  jetzt  sehr  uberrascht,  daB  Groe- 
ner  ihren  Erwartungen  nicht  entspricht  und  sich  a  la  GeBler 
auftut,  Aber  wie  konnte  sie  nach  der  Entwicklung,  die  die- 
ser  Minister  seit  dem  Panzerkreuzerkonflikt  genommen  hat, 
auf  besseres  hoffen?  Es  ware  die  Pflicht  der  Partei  gewesen, 
ihren  Einspruch  zu  erheben,  als  Briining  vor  wenigen  Wochen 
dem  Reichswehrminister  das  Portefeuille  des  Innern  auslie- 
ferte.  Damals  nihrte  sich  die  Partei  nicht,  und  manche  ihrer 
Organe  bekundeten  bei  dieser  Gelegenheit  Groener  sogar  ihr 
besonderes  Vertrauen,  denn  der  Minister  werde  von  den  Na- 
tionalsozialisten  aufs  bitterste  gehaBt  Was  es  mit  diesem 
HaB  auf  sich  hat,  wissen  wir(  seit  der  General-Bureauvor- 
steher  von  Schleicher  als  Mittelsmann  zwischen  Zentrum  und 
Hitler  fungiert.  Die  Sozialdemokratie  hatte  die  Fortsetzung 
ihrer  Tolerierurig  auch  von  einer  sachgemaBen  Besetzung  des 
Innenministeriums  abhangig  machen  miissen,  Aber  die  Sozial- 
demokratie hatte  sich  damals  schon  so  viel  vergeben,  dafi  sie 
an  Bedeutung  hinter  der  Wirtschaftspartei  rangierte,  Es  wird 
von  manchen  Seiten  darauf  verwiesen,  daB  Herr  Groener  im 
Grunde  seiner  Seele  noch  immer  ein  guter  Demokrat  sei,  daB 
er  aber  aus  seiner  militaristischen  Haut  nicht  herauskonne.  Der 
psychologische  Tatbestand  Groener  interessiert  uns  wenig,  je- 
denfalls  hat  dieser  General  zurzeit  zuviel  Macht  in  den  Han- 
den,  als  daB  es  die  vornehmste  Aufgabe  der  Entmachteten 
ware,  fur  ihn  Plaidoyers  auszusinnen,  mildernde  Umstande  ins 
Treffen  zu  fuhren.  Die  Abtretung  der  gesamten  Exekutive  an 
einen  Militar  bedeutet  immer  seibstgewollte  Abdankung  des 
Verfassungsstaates.  Weil  die  deutsche  Linke  von  dem  Geist 
eines  konstitutionellen  Staates  keine  Ahnung  hat,  deshalb 
konnte  sie  den  Einzug  Groeners  ins  Reichsinnenministerium 
widerspruchslos  hinnehmen.  Wie  Groener  sein  Amt  auffaBt, 
hat  er  durch  seine  Nachsicht  gegeniiber  Klagges,  durch  seine 
Gereiztheit  bei  dem  Rundfunk-Zwischenfall  bewiesen,  falls 
noch  etwas  zu  beweisen  war. 

Diesmal  ist  der  Konflikt  noch  abgeblasen,  diesmal  ist  noch 
eine  verbindliche  Formel  gefunden  worden.  Dennoch  wird 
das  Gras,  das  iiiber  dieser  Affare  gepflanzt  wurde,  nicht  hoch 
wachsen.  Dennoch  laBt  sich  an  den  Fingern  abzahlen,  daB 
wir.  einer  hochst  dramatischen  innenpolitischen  Aera  entgeg^n- 
gehen.  Die  Rechte  wiinscht  nach  wie  vor  sehniichst  die  Er- 
oberung  Preufiens,  vielleicht  sehnlicher  als  die  des  Reiches- 
Eine  Reihe  langer  Wintermonate  trennt  uns  noch  von  den 
preuBischen  Wahlen,  uber  deren  Resultat  kein  Zweifel  be- 
steht.  Ein  Konflikt  zwischen  dem  Reich  und  PreuBen  kann 
die  Wartefrist  verkiirzen.  Meinungsverschiedenheiten  sind  in 
Fiille  vorhanden.  Seit'  Jahr  und  Tag  schreit  die  Rechtspresse 
zum  Beispiel,  daB  die  berliner  Funkstunde  in  Handen  der  Ro- 

730 


ten  sei  und  der  Marxismus  dort  namenlose  Greucl  veriibe.  Das 
ist  eine  gehorige  Ubertreibung,  denn  das  einzige  Rote  am  Rund- 
funk  ist  das  leuchtende  Haupthaar  des  Herrn  Heilmann,  der  im 
politischen  OberwachungsauschuB  nicht  grade  den  Radikalis- 
mus  fordert.  DaB  Groener  aber  gegen  diese  Zensurkommis- 
sion  vorging  und  neue  Zusammensetzung  und  andre  Direktiven 
verlangte,  beweist  doch,  daB  die  Klagen  der  beleidigten  Patrio- 
ten  auf  ihn  Eindruck  gemacht  haben.  Neuerdings  wird  von 
der  Rechten  mit  verdachtiger  Systematik  Material  gesammelt, 
aus  dem  sich  ergeben  soil,  daB  die  preufiische  Regierung  die 
Kommunisten  allzu  Hebenswiirdig  anfasse,  LaBt  sich  das  Reichs- 
innenministerium  auch  von  solchen  Stimmen  beeinflussen,  so 
wird  bald  der  schonste  Krach  da  sein.  Wenn  sich  Groeners 
Probeblitz  zunachst  auch  als  kalter  Schlag ,  erwiesen  hat,  so 
kann  doch  beim  nachsten  Mai  schon  die  Gewittermaschine  ge- 
schickter  gehandhabt  werden.  Wahrend  der  Rechtsradikalis- 
mus  immer  mehr  in  die  Breite  wachst,  seine  Sprache  immer 
larmender  wird,  seine  hochverraterischen  Absichten  immer 
unverhiillter  in  die  Welt  hinausgeschrien  werd  en,  empf indet 
der  Minister  das  harmlose  Elaborat  des  Herrn  Holtermann  als 
Bedrohung  des  innern  Friedens.  Wenn  der  Staat  die  Verkiin- 
dung  seiner  eignen  Ideologic  als  ,,parteipolitisch"  unterdriicken 
will,  so  haben  es  seine  Gegner  leicht,  so  braticht  der  Fascis- 
mus  sich  nicht  selbst  anzustrengen.  Der  reibungslose  Ubergang 
ist  garantiert. 

Wir  hoffen  auf  Wirtschaftswunder 

von  Jan  Bargenhusen 

Die  Frage,  ob  wir  durch  den  Winter  kommen,  glaubt  Diet- 
rich mit  Ja  beantworten  zu  konnen ... 

Bericht  der  ,Vossischen  Zeitung4  iiber  eine  Rede  des 
ReichsHnanzministers 
In  den  bessern  berliner  Salons,  also  dort,  wo  man  kaum  noch 
einen  jiidischen  Bankier  trifft,  sondern  Industrieleute,  Diplo- 
maten,  fortschrittliche  Reichsbeamte,  Militars  und  andre  zu- 
verlassig  nationalgesinnte  Herren,  in  diesen  Salons  kursiert 
eine  neue  trostliche  Formulierung.  Sie  lautet:  ,,Wir  gehen  eben 
mit  RuBIand  und  mit  den  Donaustaaten  zusammen,  wenn  es 
mit  Frankreich  und  den  U.S.A.  nicht  klappt.  Die  wirtschaft- 
liche  Seite  der  Sache  ist  bereits  geregelt." 

Und  Jeder,  der  es  hort,  freut  sich,  glaubt  es,  weil  es  ihn 
freut,  und  geht  hin,  und  erzahlt  es  weiter.  Der  Gedanke  ist 
fur  einen  Durchschnitts-Burger  ja  auch  allzu  verlockend.  Es 
gibt  da  welche,  so  hort  er  voll  Beruhigung,  die  haben  fiir  uns  vor- 
gesorgt;  die  haben  nicht  nur  eine  neue  Idee  sondern  auch  gleich 
fertig  ausgearbeitete  Plane  fur  eine  neue  Organisation.  „ Or- 
ganisation" —  das  ist  ja  bekanntlich  ein  Zauberwort  —  ein 
Schlussel  zum  deutschen  Herzen.  Den  Franzosen  und  den 
Amerikanern,  denen  werden  wirs  also  schon  zeigen,  so  heiBt 
es;  wenn  sie  nicht  nett  zu  uns  sind,  dann  machen  wir  einfach 
auf  dem  Absatz  linksherum  kehrt,  Gesicht  nach  dem  Osten, 
und  jene,  wenn  sie  uns  dann  noch  was  wollen,  dann  konnen- 

731 


sieunsmal . . .  Und  schlieBlich:  wcnn  wir  auf  ciner  ncucn 
„staatskapitalistischen"  Basis  mit  dem  Ostcn  und  dem  Siid- 
osten  zusammenarbeitcn,  dann  wird  das  anch  fiir  unsre  Kom- 
munisten  cine  hcilsame  Ablenkung  von  ihrcn  antikapitalisti- 
schen  Ideen  sein,  dann  ist  ihnen  ein  ordentlicher  Knochen  zum 
Knabbern  hingeworfen.  Also  auch  die  soziale  Frage,  soweit 
sie  eine  sozial-radikale  Frage  ist,  lost  sich  dann  spielend. 
Denn  die  deutschen  Kommunisten  konnen  unmoglich  einem 
Staat,  der  mit  der  Sowjetunion  verbiindet  ist,  innenpolitische 
Schwierigkeiten  machen.     Oder  — ? 

Lohnt  es  sich,  uber  jene  Ideen  zu  diskutieren?  Nein,  es 
lohnt  sich  nicht.  Dieser  Plan  ist  kein  Plan.  Wir  konnen 
unsre  Wirtschaft  nicht  so  von  heut  auf  morgen  von  der  west- 
europaisch-amerikanischen  Welt  t,abhangen'\  Wir  konnen 
nicht  die  Hafen  von  Hamburg  und  Duisburg-Miilheim  ,,eben*  ' 
mal  zumachen  und  dafiir  Konigsberg  und  Passau  groB  auf  neu 
etablieren.  Und  die  wirtschaftliche  Seite  der  Sache  mit  den 
Ost-  und  Siidost-Staaten  ist  weder  bereits  geregelt,  noch  ist 
sie  iiberhaupt  in  einer  fiir  Deutschland  halbwegs  befriedigen- 
den  Weise  zu  regeln. 

Also,  es  lohnt  sich  nicht,  daruber  zu  reden.  Immerhin 
ist  das  Faktum  festzuhalten,  daB  derartige  Ost-Sudost-Plane 
jetzt  ernstlich,  wenn  auch  nur  in  denkbar  vager  Form,  von  Leu- 
ten  diskutiert  v/erden,  die  eigentlich,  ihrer  Vorbildung  und 
ihrer  Stellung  im  praktischen  Leben  nach,  ernsthaft  uber  diese 
Dinge  urteilen  konnten  —  wahrend  bisher  nur  die  all-round- 
Politiker  der  ,Tat*  mit  der  von  ihnen  eigens  in  AuBenhandels- 
statistiken  liberaler  Aufmachung  eingewickelten  ,,Sudost- 
Losung*1  zu  hausieren  pflegten. 

* 

In  der  offiziellen  Wirtschaftspolitik  spielt  der  Ost-Siidost- 
Gedanke  vorlaufig  noch  keine  besondere  Rolle.  Als  ultima 
ratio  hochstens  werden  dort  solche  Phantasien  erwogen.  Die 
offizielle  Wirtschaftspolitik  namlich  hat  iiberhaupt  keinen 
Plan.  Man  laBt  den  Wirtschaftsbeirat  tagen,  und  hofft  darauf, 
daB  ein  Wunder  geschehen  soil.  Alles  muB  darauf  angelegt  wer- 
den, so  lautet  die  Maxime  der  WilhelmstraBe,  uber  die  nachsten 
Wochen  und  Monate  hinwegzukommen.  Dann  wird  sich  schon 
irgend  eine  Losung  finden.  Bis  dahin  heiBt  es:  beide  Augen 
fest  zu,  nur  nicht  viel  in  der  Offentlichkeit  reden,  dem  Volke 
muB  ein  Gefuhl  der  Sicherheit  gegeben  werden.  Durchhalten 
und  stilihalten  buten  und  binnen! 

Es  ist  ein  Zeichen  fiir  das  auBerordentliche  Beharrungs- 
vermogen,  das  der  kapitalistischen  Wirtschaft  trotz  alien 
Schlappen  noch  innewohnt,  daB  bei  einer  solch  phantasti- 
schen  Plan-  und  Ideenlosigkeit  der  sogenannten  Fuhrung  die 
Dinge  noch  weiterlauf en,  ja,  daB  sogar  so  etwas  wie  ein  klei- 
ner  Ansatz  zur  Konsolidierung  der  Verhaltnisse  zu  bemerken 
ist.  Die  Gold-  und  Devisenabziehungen  bei  der  Reichsbank 
haben  nachgelassen  und  sind  zeitweilig  zum  Stillstand  ge- 
kommen.  Die  besonders  gefahrliche  Situation  bei  den  Spar- 
kassen,  die  monatelang  unter  dauernden  Abhebungen  gelitten 

732 


haben  bis  zur  fast  volligen  Erschopfung  ihrer  mit  Reichsbank- 
hilfc  mehrfach  aufgebesserten  Liquiditat,  hat  sich  gebcssert. 
Einc  Ideologic  oder  gar  ein  Plan,  fur  die  radikale  Umgestaltung 
der  deutschen  Wirtschaftsverhaltnisse  fehlt  bei  den  Kommuni- 
sten  ebenso  wie  bei  den  Extremen  auf  der  Rechten,  ,,Kein 
Mensch  ist  wieder  mal  fertig",  so  hort  man  die  ehrlich  bekiim- 
merten  verhinderten  Revolutionare  von  links  und  rechts  ge- 
legentlich  sagen.  So  kann  sich  das  Beharrungsvermogen  des 
kapitalistischen  Apparates  auswirken,  trotz  den  defaitistischen 
Neigungen,  von  denen  die  Vollblutkapitalisten,  wie  sie  Sombart 
nannte,  fast  ausnahmslos  erfiillt  sind. 

Nun  hofft  man  also  auf  das  Wunder.  Vielleicht  kann  die 
deutsch-franzosische  Verstandigung,  die  ja  schlieBlich  doch  ein- 
mal  kommen  muB(  alles  zum  Guten  Wenden  — ?  Andre  mei- 
nen  wieder,  daB  die  neue  Rohstoff-Konjunktur,  die  in  Amerika 
angebrochen  ist,  und  die  sich,  trotz  manchen  Ruckschlagen,  bei 
Getreide,  Metallen,  Olsaaten  und  Textilien  zu  behaupten 
scheint,  zu  einem  Umschwung  fiihren  konne.  Ja,  wenn  nun 
doch  noch  ein  kleiner  handlicher  Krieg  in  der  Mandschurei 
entstehen  mochte,  mit  alien  Segnungen  der  Kriegskonjunktur 
fiir  Japan,  das  ware  natiirlich  eine  fast  ideale  Losung! 

* 

Die  Frage  ist  nur,  ob  die  psychologische  Ermutigung,  die 
aus  einer  deutsch-franzosischen  Verstandigung  erwachsen 
konnte,  zu  ausreichend  starken  Auftriebstendenzen  fiihren 
kann,  urn  auch  der  deutschen  Wirtschaft  einc  Oberwindung  des 
krampfartigen  Krisenzustandes  zu  ermoglichen.  Und  ebenso 
ist  es  fraglich,  ob  der  Preisanstieg  anf  den  Rohstoffmarkten, 
der  fiir  die  westeuropaischen  Lander  und  die  beiden  amerika- 
nischen  Kontinente  tatsachlich  eine  Erlosung  aus  der  Depres- 
sion bringen  kann,  fiir  Deutschland  mit  seiner  potenzierten 
Krise  noch  etwa  Hilfe  bringen  wird.  Je  mehr  der  unsubstan- 
tiierte  Optimismus  der  deutschen  Wirtschaftslenker  ins  Kraut 
schieBt,  jener  kaum  ertra\gliche  Optimismus  a  la  Hermann 
Dietrich,  um  so  skeptischer  muB  man  werden. 

Immer  noch  drohen  fiir  den  Bestand  der  Wahrung  die 
groBten  Gefahren,  Es  ist  fraglich,  ob  man,  trotz  dem  Teil- 
moratorium  im  Stillhalte-Abkommen,  den  Kurs  der  Mark  auf 
die  Dauer  erfolgreich  verteidigen  kann,  wenn  die  Exportmog- 
lichkeiten  durch  Antidumping-  und  SchutzzollmaBnahmen  des 
Ausiandes  geringer  werden,  wenn  die  Konkurrenz  der  Lander 
mit  „goldfreier"  Wahrung  starker  wirksam  wird,  und  .wenn 
die  billig  erworbenen  deutschen  Rohstoffvorratc  sich  einmal 
erschopfen.  Mit  den  bisher  angewandten  Methoden  zur  Preis- 
senkung  werden  auch  die  deutschen  Exportpreise  nicht  in 
dem  fiir  die  Devisenbeschaffung  erforderlichen  MaBe  weiter- 
hin  herabgepreBt  werden  konnen,  Gibt  man  aber  dem  Dran- 
gen  der  Landwirtschaft  nach  und  reglementiert  man,  um  De- 
visen  zu  „sparen",  die  Einfuhr,  dann  kbmmt  es  automatisch  zu 
Preissteigerungen  im  Inland,  damit  also  zur  Verringerung  der 
Exportmoglichkeiten. 

SchlieBlich  bleibt  trotz  alien  Devisen-Verordnungen  die 
,fErfassung"  der  deutschen  Exporterlose  hochst  unvollkommen* 
Ein  scharferes  Zufassen  der  Regierung  gegeniiber  dieser  neu- 

2  733 


sten  Art  von  Kapitalfhicht  unterblcibt  aber,  Warum,  das  weiB 
eigentlich  niemand.  Es  ist  zwar  richtig,  daB  der  Kampf  ge- 
gen  die  Kapitalfhicht  neuen  und  alten  Stils  eine  verfluchte 
Ahnlichkeit  mit  dem  Versuch  hat,  Wasser  in  einem  Sieb  fort- 
tragen  zu  wollen.  Aber  trotzdem  muB  die  Regierung,  wenn 
sie  schon  einmal  den  Kampf  um  die  Repatriierung  des  Flucht- 
kapitals  axifgenommen  hat,  dabei  lest  zufassen,  schon  um  das 
Gesicht  zu  wahren,  um  sich  im  Inland  einen  psychologischen 
Effekt  zu  sichern.  Zum  Beispiel:  warum  werden  nur  die  noch 
in  Deutschland  wohnenden  Besitzer  auslandischer  Guthaben 
zur  Anmeldung  und  Liquidierung  jener  Fluchtkapitalien 
gezwungen,  warum  nicht  atich  die  ins  Ausland  iiber- 
gesiedelten  Kapitalfluchtlinge?  Kein  hollandischer  oder 
schweizer  Bankmann  versteht  diese  verschiedenartige  Be- 
handlung  seiner  deutschen  Kundschaft.  Wollte  man  den 
Auswanderern,  die  sich  in  der  Nahe  ihrer  Bankkonten  und 
fern  von  den  deutschen  Finanzamtern  irgendwo  an  freundlichen 
Gestaden  angesiedelt  haben,  mit  dem  Verlust  der  deutschen 
Staatsangehorigkeit  und  mit  der  Anprangerung  ihrer  Namen 
drohen,  so  konnte  man  immerhin  einige  hundert  Millionen 
Mark  in  Devisenform  zuruckerhalten.  Wenn  natiirlich  auch 
hier  wieder  die  ganz  GroBen,  mit  ihren  gut  verschachtelten 
Konzernen,  nahezu  unangreifbar  waren.  Und  fiir  die  schwei- 
zerischen  und  hollandischen  Banken  ware  eine  solche  Drainage 
ihrer  uberfullten  Depots  noch  nicht  einmal  so  unangeriehm. 

Die  groBere  Gefahr  fiir  die  Erhaltung  der  Wahrung  droht 
freilich  nicht  vom  Ausland,  von  der  Devisenbilanz  her,  sondern 
von  der  inlandischen  Entwicklung.  Projekte  der  ,,Ankurbe- 
iung*'  und  ,,Kreditausweitung"  werden  heute  noch  in  den  Mi- 
nisterien  von  denselben  Sachverstandigen  ausgearbeitet,  die 
friiher  die  Beschaffung  von  Auslandskrediten  fiir  die  offent- 
liche  Hand  gar  nicht  genug  empfehlen  konnten;  der  Erfolg 
ihrer  Tatigkeit,  Fehlinvestitionen  und  unsolide  Finanzgebarung 
in  vielen  Kommunen,  hat  sie  noch  nicht  belehrt.  Aber  vielleicht 
ist  diese  Projektemacherei  noch  nicht  einmal  das  schlimmste, 
Akuter  ist  wohl  noch  die  Gefahr,  daB  in  immer  neuen 
Stiitzungsaktionen  fiir  notleidende  Teile  der  Wirtschaft  solange 
weitere  Garantien  und  Schatzwechselkredite  des  Reichs  und 
der  Lander  gegeben  werden,  bis  schlieBlich  einmal  bei  der  Be- 
anspruchung  der  Biirgschaften  und  bei  dem  Liquidemachen  der 
Schatzscheine  die  beriihmte  MAusweitung  des  Notenumlaufs'* 
eintritt.  Und,  in  ihrem  Gefolge,  die  inflationistische  Preis- 
steigerung,  die  Flucht  in  die  Waren  und  die  sonstigen  nSach- 
werte".  Dann  ade,  Diskontpolitik  und  Deflationsdruck,  adef 
Reichsmark! 

Will  man  diese  Gefahr  vermeiden,  so  muB  die  Preissenkung 
ernstlich  betrieben  werden.  -  Die  Hemmungen,  die  einem  Preis- 
abbau  entgegenstehen,  sind  aber  aufierordentlich  stark,  vor 
allem  deshalb,  weil  jede  weitere  Senkung  der  Erlose  fiir  immer 
mehr  Unternehmungen,  die  von  den  Gestehungskosten  und  den 
„fixen"  Vorbelastungen,  unter  denen  die  Zinsen  fiir  alte  Kre- 
dite  nachgerade  eine  betrachtliche  Rolle  spielen,  nicht  so  schnell 
herunterkommen,  das  Ende  bedeuten  muB.     Eine  Zinssenkung 

734 


Jaflt  sich  aber  nicht  dekrctiercn;  dariiber  bestehtnun  fast 
tiberall  Klarheit.  In  dieser  Lage  gewinnt  bei  sehr  verniinftigen 
und  ruhigdenkcnden  Leutcn  die  Meinung  mehr  und  mehr  Bo- 
den,  daB,  um  der  Scylla  „Preissteigerung"  und  der  Charybdis 
„Wirtschaftsschrumpfung"  zu  entgehen,  der  vermmftigste  Aus- 
weg  doch  noch  eine  Verkleinerung  der  Mark  ware,  eine  De- 
valvation  also,  etwa  nach  englischem  Muster  um  rund  zwanzig 
oder  funfundzwanzig  Prozent.  Die  neue  Reichsmark,  vier 
Fiinftel  oder  drei  Viertel  des  alten  Goldwertes  betragend,  und 
wieder  gleichwertig  dem  engiischen  Schilling,  konnte  freilich 
erst  nach  der  Stabilisierung  der  britischen  Wahrung  dekretiert 
werden.  Das  miiBte  dann  auch  mit  einem  Schlage  geschehen. 
Anders  in  England,  wo  man  den  Pfundkurs,  nach  der  Abhan- 
gung  vom  Goldstandard,  sich  erst  auf  einem  neuen  Gleichge- 
wicht  einpendeln  lieB,  weil  bei  freier  Kursbildung  die  Gefahr 
eines  weitern  Abgleitens  der  Mark  fiir  das  inflationskundige 
Deutschland  zu  groB  ware. 

Natiirlich  bedeutet  eine  solche  Losung  eine  Verringerung 
der  Zinsertrage  fiir  langfristig  angelegtes  Kapital.  Aber  diese 
partielle  „Enteignung"  des  Kapitalisten  und  des  Sparers  wiirde 
20  oder  25  Prozent  nur  dann  ausmachen,  wenn,  was  unwahr- 
scheinlich  ist,  die  Inlandspreise  schnell  auf  den  alten  Goldstand 
ansteigen  wiirden.  Die  allmahliche  Anpassung  der  Preise  (und 
Lohne!)  an  den  fruhern  Goldstand,  die  sich  auf  den  verschiede- 
nen  wirtschaftsgebieten  mit  verschiedenem  Tempo  vollzieht, 
auf  manchen  Gebieten  auch  fast  ganz  ausbleiben  wird,  schafft 
ja  eben  erst  die  erwiinschte  Atempause. 

* 

Einwand  Nummer  eins:  Die  auf  Goldwahrung  lautenden 
Auslandsschulden  werden,  nach  der  Verkleinerung  des  Reichs- 
markwertes,  um  so  schwerer  und  driickender. 

Einwand  Nummer  zwei:  Die  notwendig  werdende  Auf- 
hebung  der  Goldklauseln  bei  langfristigen  Inlandsschulden,  wo- 
bei  an  die  Hypotheken  auf  Feingoldbasis  zu  denken  ist,  zer- 
stort  Treu  und  Glauben,  bedeutet.  einen  Vertragsbruch. 

Einwand  Nummer  drei:  Die  Sparer  werden  demoralisiert; 
die  Kreditwirtschaft  in  Deutschland  stockt  vollig. 

Es  gibt  noch  mehr  Einwande.  Aber  wie  schwer  ist  ihr  Ge- 
wicht  in  einer  Situation,  wo  man  sich  sagen  muB,  daB  in  abseh- 
barer  Zeit  ganze  Kategorien  von  festverzinslichen  Papieren 
notleidend  werden,  weil  die  Zinsschuldner  nicht  mehr  zahlen 
konnen  und  die  Volistreckung  gegen  si'e  ergebnislos  bleibt,  daB 
also  die  partielle  Enteignung  der  Sparer  und  der  Kapitalisten 
und  der  Stillstand  in  groBen  Teilgebieten  der  Kreditwirtschaft 
ohnedies  droht?  Es  bleibt  nur  die  Wahl  des-kleinern  Obels. 
Ob  die  Devalvation  dies  Projekt,  iiber  das  heute  trotz  alien 
offiziosen  Dementis  sehr  ernstlich  gesprochen  wird,  tatsachlich 
das  kieinere  Obel  ist,  laBt  sich  schwer  sagen.  Aber  schlieBlich 
ist  es  vielleicht  doch  besser,  daB  iiberhaupt  etwas  geschieht, 
auch  eine  gefahrliche  Operation,  als  daB  man  die  Dinge  von 
Regierungs  wegen  unter  ewigen  Erorterungen  treiben  laBt, 
hoffend,  daB  noch  rechtzeitig  ein  Wunder  geschehe.  Man  ver- 
Jangt,  daB  Opfer  gebracht  werden?  Opfer  kann  nur  bringen, 
wer  noch  etwas  hat. 

735 


NachkriegS-KapltalismUS  von  Thomas  Tarn 

^achkriegs-Kapitalismus,  das  ist  die  Epoche,  in  der  der  Nie- 
dergang  des  gesamten  kapitalistischen  Systems  —  wenn 
auch  in  den  einzelnen  Landern  nicht  gleichmaBig  —  immer 
deutlicher  wird.  Nachkriegs-Kapitalismus  ist  die  Epoche,  in 
der  die  imperialistischen  Expansionsmoglichkeiten  immer  star- 
ker beschnitten  und  die  kapitalistischen  Widerspriiche  immer 
scharfer  werden.  Die  Epoche,  in  der  von  einer  Kohjunktur  im 
Vorkriegssinne  nicht  mehr  die  Rede  ist,  in  der  daher  die 
Krise  nicht  eine  vorubergehende  Unterbrechung  einer 
selbstverstandlichen  Aufwartsentwicklung  darstellt,  sondern  in 
der  sie  der  plastischste  Ausdruck  dafiir  ist,  daB  die  Wider- 
spriiche immer  schwerer  zu  iiberwinden  sind,  in  der  sie  immer 
mehr  das  gesamte  System  erfaBt  und  damit  zu  einer  politischen 
wird,  Kaum  jemals  zuvor  ist  der  Funktionszusammenhang  zwi- 
schen  Politik  und  Wirtschaft  so  stark  hervorgetreten. 

DaB  die  Krise  die  schwerste  ist,  die  den  Kapitalismus  seit 
hundert  Jahren  betroffen  hat,  muB  allmahlich  auch  von  der 
biirgerlichen  Wissenschaft  zugegeben  werden.  Da  man  den  Ver- 
fall  des  ganzen  Systems  natiirlich  nicht  zugeben  darf,  so  muB 
man  die  Erklarung  in  Erscheinungen  suchen,  fiir  die  nicht  der 
Kapitalismus  selbst  verantwortlich  ist  sondern  eine  Reihe 
andrer  Faktoren.  Unzahlige  Versuche  sind  in  dieser  Richtung 
unternommen  worden.  Einer  der  letzten  ist  eine  Untersuchung 
der  Handels-Redaktion  der  (Frankfurter  Zeitung*:  ,,Nachkriegs- 
Kapitalismus'*.  Es  soil  zu  dieser  Untersuchung  hier  prinzipiell 
Stellung  genommen  werden.  Daher  muB  schon  am  Eingang 
betont  werden,  was  diese.  Untersuchung  nicht  enthalt:  eine 
Analyse  des  Imperialismus  wird  nicht  vorgenommen,  das  Wort 
Imperialismus  kommt  nicht  einmal  vor;  und  das  ist  kein  Zu- 
fall.  Da  die  ganze  Untersuchung  dem  Nachweis  gewidmet  ist, 
daB  der  Kapitalismus  als  freie  Marktwirtschaft  gut  funktionie- 
ren  wiirde,  und  daB  nur  „auBer6konomische"  MaBnahmen,  Zoll- 
politik,  Subvention  und  Intervention  etcetera  an  der  schauri- 
gen  Lage  heute  schuld  sind,  daB  man  daher  diese  ihm  wesens- 
fremden  Bestandteile  beseitigen  rmisse,  damit  alles  gut  funk- 
tioniert,  so  laBt  man  den  Imperialismus  einfach  unter  den  Tisch 
fallen,  da  ja  jede  Analyse  des  Imperialismus  die  fiir  die  hetitige 
Epoche  des  Kapitalismus  notwendige  funktionale  Verkettung 
zwischen  Okonomie  und  Politik  aufweisen  wiirde. 

Vom  Imperialismus  ist  daher  nicht  die  Rede.  Aber  es  gab 
ja  einen  imperialistischen  Krieg,  von  dem  auch  die  frankfurter 
Zeitung*  behauptet,  daB  er  sehr  entscheidende  Konsequenzen 
fiir  den  Kapitalismus  habe.     Was  hat  man  dariiber  zu  sagen? 

Um  cine  Krise  des  Systems  konnte  es  sich  also  beim  Zusammen- 
bruch  von  alledem  hochstens  handeln,  wenn  man  das  Wettrusten  und 
den  Weltkrieg,  die  Kriegsschulden  und  die  Inflation,  die  K^jegswirt- 
schaft  und  ihre  Nachwirkungen,  die  Friedensvertrage  und  den  ganzen 
protektonistischen,  monopolistischen  und  interventionistischen  Wider- 
sinn  dieser  Nachkriegs epoche  ebenfalls  dem  Kapitalismus  in  die  Schuhe 
schieben  wollte  —  era  zwar  modernes,  aber  ungewohnlich  torichtes 
Verfahren,  denn  hat  es  nicht  in  friihern  Perioden,  in  denen  vom  Kapi- 
talismus noch  nicht  die  Rede  war,  ebenfalls  schwere  und  lange  Kriege 
•  •  -  gegeben? 
736 


Weil  es  vor  dem  Kapitalismus  Kriege  gegeben  hat,  darum 
hat  der  Kapitalismus  als  Imperialismus  nichts  Entscheidendes 
mit  dem  Krieg  zu  tun!  Und  das  ist  keine  zufallige  Entgleisung, 
denn  am  Ende  der  Untersuchung  heiBt  es: 

DaB  aber  der  Weltkrieg,  diese  Quelle  der  meisten  Ubel,  seinerseits 
wieder  nur  eine  logische  Folge  der  freien  Marktwirtschaft  gewesen 
seif  daB  die  Konkurrenz  am  Weltmarkt  ihre  wirtschaftlichen  Gegen- 
satze  schliefilich  mit  Waffen  hatte  austragen  miissen,  ist  und  bleibt  — 
trotz  des  politischen  Einflusses,  den  gewisse  Rustungsindustrielle  in 
mancben  Landern  ausgetibt  haben  mogen  —  ein  Ammenmarchen,  das 
durch  die  wirtschaftlichen  Note  auch  der  Sieger  zur  Gentige  widerlegt 
ist,  wenn  es  nicht  scbon  durch  den  Hinweis  auf  die  groBen  Kriege  vor- 
kapitalistischer  Zeit  hinreichend  gekennzeichnet  ware. 

Die  Naivitat  dieser  Art  von  Beweisfuhrung  kann  wirklich 
schwer  iibertroffen  werden.  Erst  wird  der  Vorkriegskapitalis- 
mus  identisch  mit  freier  Marktwirtschaft  gesetzt,  Er  war  aber 
keine  freie  Marktwirtschaft  sondern  ein  imperialistischer  Kapi- 
talismus, um  dessen  besondere  Merkmale  sich  diese  Unter- 
suchung herumdruckt.  Die  imperialistischen  Konkurrenz- 
kampfe  waren  der  entscheidende  Faktor  fur  den  Weltkrieg, 
der  den  Niedergang  des  gesamten  imperialistischen  Systems 
einleitete,  Und  wenn  es  im  unmittelbaren  AnschluB  an  dieser 
Stelle  heiBt:  MFur  kein  Wirtschaftssystem  sind  —  ganz  im  Ge- 
genteil  —  friedliche  Beziehungen  zwischen  den  Nationen  von 
so  vitaler  Bedeutung  wie  fiir  die  freie  Marktwirtschaft",  so 
sind  die  Kapitalisten  bisher  andrer  Meinung  gewesen.  Das  zeigt 
die  Aufriistungspolitik  in  alien  kapitalistischen  Staaten,  das 
zeigt  die  vollige  Bedeutungslosigkeit  des  Volkerbundes,  die  sich 
erst  jetzt  wieder  beim  Konflikt  zwischen  Japan  und  China  so 
deutlich  demonstrierte. 

Wenn  der  Imperialismus  uberhaupt  nicht  einmal  erwahnt 
wird,  da  die  Beziehungen  zwischen  Okonomie  und  Politik  vol- 
lig  im  Dunkeln  bleiben,  so  versperrt  sich  diese  Untersuchung 
auch  die  Moglichkeit,  etwas  zum  Krisenproblem  zu  sagen.  Man 
kann  nicht  verlangen,  daB  die  Marxsche  Krisentheorie  und 
ihre  Weiterbildung  den  Verfassern  der  Untersuchung  bekannt 
ist;  aber  dann  sollten  sie  daruber  wenigstens  den  Mund  halten. 
Nur  in  Volksversammlungen  kann  man  erklaren,  daB  Marx 
eine  „Zusammenbruchstheorie'*  aufgestellt  hat.  In  Wirklichkeit 
hat  grade  er  in  alien  seinen  Schriften  den  entscheidenden  Nach- 
druck  darauf  gelegt,  daB  die  okonomische  Krise  nur  durch  die 
politische  Tat  der  Arbeiterklasse  zum  Sturz  des  kapitalisti- 
schen Systems  fuhren  kann.     Zur  Krise  heiBt  es  weiter: 

Er  (der  aufkommende  Sozialismus)  hat  sich  mit  viel  Scharfsinn 
um  den  Nachweis  bemuht,  daB  periodische  Krisen  im  Kapitalismus  un- 
ausbleiblich  seien  und  daB  es  sich  gewissermaBen  um  einen  organischen 
Konstruktionsfehler  handle,  der  nicht  anders  als  durch  Ersetzung  des 
ganzen  Systems  geheilt  werden  konne,  Diese  Kritik  ist  spater  in  dem 
Grade  verstummt,  in  dem  die  Krisen  sich  abschwachten,  und  als 
schlieBlich,  wie  in  den  Depressionen  von  1902  und  1907,  die  Er- 
mattungsperioden  lediglich  dadurch  fuhlbar  wurden,  daB  die  Pro- 
duktion  zeitweise  weniger  sturmisch  ausgedehnt  wufde  als  in  Auf- 
schwungszeiten,  da  wurde  diese  Kritik  stiller,  und  man  sah  die  Krisen 
nicht  weiter  als  eine  dem  System  .immanente*  Erscheinung  an,  zumal 
da  die  fruhere  Beweisfuhrung  fur  diese  These  sich  als  wissenschaftlich 
unhaltbar  erwiesen  hatte. 

737 


Man  erstaunt  uber  die  Leichtfertigkeit,  mit  der  solche  Be- 
hauptungen  in  die  Welt  gesetzt  werden.  Die  marxistische  Kri- 
tik  am  Kapitalismus  ist  nicht  stiller  geworden,  als  in  der  Epoch e 
der  imperialistischen  Expansion  iiber  die  ganze  Welt  der  Kri- 
senzykkis  an  Hefiigkeii  abnahm,  Sondern  die  marxistische  Kri- 
tik  hat  bewiesen,  daB  und  warum  auf  dem  Wege  der  imperia- 
listischen Expansion  voriibergehend  die  Krisen  an  Heftigkeit 
abnehmen  konnten,  und  sie  hat  sich  grade  durch  diesen  Nach- 
weis  die  Voraussetzung  geschaffen,  um  die  heutige  Krisen- 
situation  zu  begreifen,  die  eine  Krise  eben  nicht  mehr  im  Auf- 
stieg  sondern  im  Niedergang  des  Systems  ist.  Wenn  es  in  der 
Untersuchung  der  .Frankfurter  Zeitung'  heiBt:  ,,Ob  die  jetzige 
groBe  Krise  eine  zulallige  historische  Einmaligkeit  darstellt 
oder  ob  sie  eine  aus  dem  System  folgende  naturnotwendige 
Storung  istf  deren  Wiederholurig  nicht  nur  moglich,  sondern 
auch  wahrscheinlich  ist,  das  ist  eine  Frage  fiir  sich,"  so  ist  das 
nicht  eine  Frage  fiir  sich,  sondern  es  ist  die  Grundfrage,  die 
zunachst  einmal  zu  behandeln  ist,  bevor  man  zu  irgend  einer 
konkreten  Frage  Stellung  nehmen  kann. 

Wir  konnten  uns  mit  diesen  prinzipiellen  Einwanden  be- 
gniigen,  wenn  nicht  in  dieser  Untersuchung  mit  <ler  Vertretung 
xiberlebter  liberaler  Lehrsatze  sehr  deutlich  eine  Vertretung 
der  brutalsten  Unternehmerinteressen  verbunden  ware,  Fiir 
die  besondere  Sohwere  der  deutschen  Krise  werden  die  „uber- 
hohten"  Lohne  verantwortlich  gemacht,  die  sich  nicht  aus  dem 
freien  Spiel  der  Krafte  ergeben  hatten  sondern  durch  die  staat- 
liche  Schlichtungspraxis.  Die  frankfurter  Zeitung'  ist  so  gii- 
tig  zu  schreiben:  ,,Naturlich  ist  nicht  unsre  gesamte  Arbeits- 
losigkeit  auf  Lohnubersteigung  zuriickzufiihren'*  —  das  heifit 
also:  ein  groBer  Teil  der  Arbeitslosigkeit  kommt  von  der  Lohn- 
steigerung,  Und  das  wagt  man  in  der  gleichen  Zeit  zu  schrei- 
ben, in  der  es  in  den  Vereinigten  Staaten  acht  bis  zehn  Millio- 
nen  Arbeitslose  gibt,  ohne  dafi  dort  jemals  ein  staatlicber 
Schlichter   eingegriffen   hatte. 

Mit  der  Vertiefung  der  Krise,  mit  der  riesenhaften  indu- 
striellen  Reservearmee  schlagt  die  okonomische  Krise  in  die 
politische  um,  werden  die  Reste  der  Demokratie  zu  Grabe  ge- 
tragen.  Was  hat  die  Untersuchung  der  ,Frankfurter  Zeitung' 
dazu  zu  sagen?  Sie  zitiert  zustimmend  ein  en  Satz  von  Mises 
aus  „Ursachen  der  Wirtschaftskrise*':  MDie  kapitalistische 
Marktwirtschaft  ist  eine  Demokratie,  in  der  jeder  Groschen 
eine  Wahlstimme  gibt.  Der  Reichtum  erfolgreicher  Geschafts- 
leute  ist  das  Ergebnis  eines  Plebiszits  der  Konsumenten.  Und 
nur  der  kann  einmal  erworbenen  Reichtum  bewahren,  der  ihn 
immer  wieder  aufs  neue  durch  Befriedigung  der  Wiinsche  der 
Konsumenten  erwirbt  Die  kapitalistische  Gesellschaftsord- 
nung  ist  mithin  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  Wirtschafts- 
demokratie."  Hier  hilft  keine  Polemik  mehr.  Gegen  die 
.Deutsche  Allgemeine  Zeitung*  kann  man  polemisieren.  Sie 
weiB,  daB  heute  Klasse  gegen  Klasse  stent.  Gegen  diese  Art 
des  Hberalen  Biirgertums  jedoch,  das  nicht  sehen  will,  wie  es 
mehr  und  mehr  den  Bo  den  unter  den  FiiBen  verliert,  ist  eine 
Polemik  nicht  mehr  moglich. 
738 


Die  Stehkragenfront  wankt  von  Hiide  waiter 

Als  vor  drci  Jahren  an  dieser  Stellc  von  der  Proletarisie- 
"  rung  der  dreieinhalb  Millionen  Angestellten  gesprochen 
wurde,  wuBte  man  noch  nicht,  welche  politische  Heimat  sich 
die  Mehrzahl  der  unorganisierten,  in  burgerlicher  Mittelstands- 
ideologie  befangenen  „Stehkragenproletarier"  aussuchen  wiir- 
den.  Seitdem  sind  es  vier  Millionen  Angestellte  geworden, 
von  denen  schon  Ende  August  dieses  Jahres  funfhunderttau- 
send  arbeitslos  waren.  Die  politisch  Heimatlosen  unter  ihnen 
haben  offenbar  inzwischen  unter  der  Hakenkreuzfahne  fur  be- 
vorzugte  Biirgerschaft  im  Dritten  Reich  optiert, 

Im  gleichen  MaBe,  wie  Lohn  und  Arbeitsbedingungen 
dieser  Schicht  ins  Bodenlose  absanken,  verfeinerten  sich  die 
Kampfmethoden  aller  Parteien  und  Interessentengruppen  um 
ihre  Seele  und  ihre  StimmzetteL  Eine  stattliche  Angestell- 
tenliteratur  ist  in  kiirzester  Zeit  entstanden.  Ernsthafte  so- 
ziologisohe  Untersuchungen,  gute  Romane  und  lacherliche 
Schmarren  beschaftigen  sich  mit  den  sozialen  Tatbestanden 
im  Leben  der  Angestellten,  Enqueteni  der  Berufsverbande 
bringen  das  schwer  erfaBbare  statistische  Material.  Beson- 
ders  das  Lebensschicksal  der  weiblichen  Angestellten  ist  un- 
gemein  literatur-  und  filmfahig  geworden,  weil  es  wenigstens 
in  der  Theorie  Moglichkeiten  fur  ein  happy  end-  bietet,  die 
allerdings  nach  bewahrtem  Courths-Mahler-Rez^pt  weniger 
durch  giinstige  Arbeitsvertrage  als  durch  lukrative  Verwen- 
dung  weiblichen  Charmes   erreicht  werden. 

Das  heftige  Liebeswerben  der  Rechtsparteien  und  der 
Unternehmer  um  die  politische  Gefolgschaft  der  Angestellten 
hat  aber  keineswegs  zu  einer  bevorzugten  Behandlung  bei  den 
Abbauaktionen  gefiihrt.  Man  hat  sogar  die  wichtigsten  Privi- 
legien  der  Angestellten,  die  ihnen  geringe  wirtschaftliche  Vor- 
teile  im  Vergleich  mit  der  Arbeiterschaft  brachten,  sehr  rigo- 
ros  beseitigt.  Zuerst  kamen  die  Gehaltsabziige  bei  Kurzarbeit 
ohne  Innehaltung  der  Kiindigungsfristen.  Der  erste  Schritt 
auf  dem  Weg  zur  Abschaffung  der  Monatsgehalter  und  zur  Ein- 
fiihrung  der  Stundenbezahlung.  Das  Reichsarbeitsgericht  hat 
die  Methode  gebilligt.  Dann  kam  die  Bestimmung  der  Not- 
verordnung,  daft  kein  Krankengeld  mehr  gezahlt  werden  darf, 
wenn  der  Angestellte  wahrend  seiner  Krankheit  Gehalt  be- 
zieht.  Wer  das  Risiko  der  Monatsgehalter  iiberhaupt  nicht 
mehr  tragen  wollte,  entliefi  seine  Angestellten  und  beschaftigte 
Aushilfen  im  Stunden-  oder  Tagelohn.  Der  stille,  irregulare 
Gehaltsabbau  durch  ungiinstige  Eingruppierung  im  Rahmen  der 
Tarifvertrage  ist  gar  nicht  zu  erfassen.  Jedenfalls  wird  der 
Verlust  an  der  Kaufkraft  der  Angestellten  durch  Erwerbslosig- 
keit  und  Gehaltsabbau  mit  drei  Milliard  en  im  Jahr  bewertet. 
-Mehr  als  ein  Viertel  aller  Angestellten  verdiente  schon  Ende 
vorigen  Jahres  weniger  als  hundert  Mark  monatlich,  fast  ein 
Drittel  zwischen  hundert  und  zweihundert. 

Trotzdem  haben  die  Angestellten  aiis  ihrer  wirtschaft- 
lichen  Situation  noch  immer  nicht  die  politischen  und  gewerk- 
^chaftlichen  Konsequenzen  gezogen.  Nur  1,337  Millionen  sind 
iiberhaupt  gewerkschaftlich  organisiertf   da  von  477  000  in  den 

739 


freigewerkschaftlichen  Afa-Verbanden.  Einc  halbe  Million 
folgt  den  deutschnationalen  Parolcn  des  Gesamtvcrbandes  der 
deutschen  Angestelltengewerkschaften,  360  000  den  burgerlich- 
dcmokratischen  des  G.DA,  Eine  echte  politische  Radikali- 
sierung  parallel  der  Entwicklung  unter  der  Arbeiterschaft  ist 
trotz  dem  unertraglichen  wirtschaftlichen  Druck  nicht  aui- 
gekommen,  denn  ein  ultralinker  Fliigel  im  Sinn  der  R.G.O. 
existiert  nur  in  schwachen  Ansatzen,  Der  Nationalismus  jeder 
Schattierung  ist  fur  die  verhinderten  Burger  viel  reizvoller  als 
die  Klassenkarnpftheorien  aller  sozialistischen  Parteien.  Trotz- 
dem  haben  die  freigewerkschaftlichen  Afa-Verbande  in  der 
Krise  ihre  Position  behauptet  und  ihre  Mitglieder  an  radikale 
wirtschaftspolitische  Stellungnahme  gewohnt.  Sie  haben  so- 
gar  eine  erstklassige  Avantgarde  herangebildet,  die  noch  viel 
starker  sein  konnte,  wenn  es  ihre  politischen  Verwandten  in 
der  Nachkriegszeit  besser  verstanden  und  sich  intensiver  be- 
miiht  hatten,  diese  wirtschaftlioh  proletarisierten  Schichten  mit 
sozialistischer  Ideologic  vertraut  zu  machen. 

Meuternde  Matrosen  von  Fritz  Ldwenthai 

Pjas  holtenauer  Lotsenhaus  an  der  Einmiindung  des  Nord-Ostsee- 
*-*  kanals  in  die  Kieler  Bucht  war  in  den  letzten  Oktobertagen  der 
Schauplatz  des  Schnellgerichts  gegen  die  Besatzungen  deutscher 
Schiffe,  die  im  Hafen  von  Leningrad  gestreikt  haben. 

Im  Verlaufe  des  dritten  Gesamtangriffs  der  Unternehmerschaft 
auf  Lohne  und  Lebenshaltung  der  deutschen  Arbeiter  und  Angestell- 
ten  hielt  der  Verband  deutscher  Reeder  in  der  zweiten  September- 
halfte  den  Augenblick  fiir  geeignet,  aufierordentlich  weitgehende  Ab- 
bauforderungen  aufzustellen.  Die  Heuersatze  der  Seeleute  sollten  bis 
zu  ftinfzig  Prozent,  die  der  Seeoffiziere  bis  zu  sechzig  Prozent  gesenkt, 
die  tagliche  Arbeitszeit  auf  zehn  bis  vierzehn  Stunden  erhoht,  der  Ur- 
laub  beseitigt,  die  bisherige  Uberstundenvergiitung  durch  Freizeit  auf 
Sec  ersetzt,  das  Verpflegungsgeld  wesentlich  verringert  werden.  Im 
Gegensatz  zur  Haltung  der  „freien"  Gewerkschaft,  deren  wirtschafts- 
friedliche  Bureaukratie  dem  Klassenkampf  von  oben  nicht  mit  gleichen 
Mitteln  begegnen  wollte,  gab  der  den  Kommunisten  nahestehende  Ein- 
heitsverband  die  Losung  aus:  Kampf  gegen  jeden  Lohnabbau,  gegen 
jede  Verschlechterung  der  Arbeitsbedingungen.  Als  ein  am  2,  Oktober 
gefallter  Schiedsspruch  eine  Lohnsenkung  von  13  %  Prozent  brachte, 
rief  der  Einheitsverband  den  Streik  aus,  Auf  zahlreichen  Schiffen  in 
den  deutschen  Hafen  wurden  die  Maschinen  gestoppt,  die  Feuer  her- 
ausgerissen.  In  Danzig  wurden  die  Seeleute  durch  einen  Streik  der 
Hafenarbeiter  unterstiitzt.  Auch  nach  verschiedenen  auslandischen 
Hafen  warf  die  Bewegung  ihre  Wellen,  besonders  nach  dem  Hafen 
von  Leningrad. 

Hier  lagen.am  5,  Oktober  33  deutsche  Schiffe  mit  Maschinen  und 
andern  Waren  vor  Anker.  Als  die  Besatzungen,  rund  fiinfhundert 
Mann,  ho r ten,  dafi  ihnen  durch  Schiedsspruch  unertragliche  Ver- 
schlechterungen  aufgezwungeh  werden  sollten,  beschlossen  sie  in  einer 
Versammlung  im  International  en  Seemanns-Klub  einmtitig  den  Streik. 
Die  gewahlte  Streikleitung  fuhr  am  nachsten  Morgen  auf  einer  Bar- 
kasse  im  ganzen  Hafen  herum  und  forderte  zur  Arbeitsniederlegung 
auf;  dieser  Vorgang  wurde  dann  durch  die  Presse  in  GewaltmaBnah- 
men  eines  „Rollkommandos"  umgefalscht.  Die  Mannschaften  gingen 
an  Land  und  kehrten  nur  zur  Ubernachtung  auf  die  Fahrzeuge  zurtick. 
Nach  Abbruch  des  Streiks  in  Deutschland  wurde  die  Arbeit  auch  im 
Hafen  von  Leningrad  in  groBter  Disziplin  wieder  aufgenommen,  die 
Schiffe  nahmen  Kurs  in  die  Heimat. 
740 


Jetzt  war  der  Zeitpunkt  fur  eine  Glanzleistung  der  deutschen 
Justiz  gekommen.  Seeflugzeuge  suchten  die  Ostsee  ab,  urn  die  heim- 
kehrenden  Schiffe  moglichst  fruhzeitig  zu  sichten.  Vor  der  Einfahrt 
in  die  Kieler  Bucht  wurden  sie  von  einer  Halbflottille  von  Kriegsfahr- 
zeugen  umkreist  und  zur  Reede  von  Holtenau  geleitet.  Noch  ehe  die 
Anker  niedergingen,  kam  ein  Staatsanwalt  mit  Schutzpolizei  an  Bord, 
eilig  wurden  Protokolle  aufgenommen,  die  Mannschaften  mit  Sack  und 
Pack  an  Land  geholt  und  ein  halbes  Stiindchen  spater  standen  die 
Schwerverbrecher  bereits   vor   dem   Schnellrichter   im  Lotsenhaus, 

Wahrend  Streik  an  Land  wenigstens  tbeoretisch  noch  ein  erlaub- 
tes  Mittel  im  Wirtschaftskampf  ist,  wird  er  nach  der  von  mittelalter- 
lichem  Untertanengeist  erfiillten  Seemannsordnung  von  1902  zur  See 
als  „Meuterei"  mit  schweren  Gefangnisstrafen  bedroht.  „Meuterei", 
das  gibt  es  sonst  nur  beim  Heer  und  im  Gefangnis.  DaB  Gehorsams- 
verweigerung  von  Seeleuten  '  mit  dem  gleichen  Ausdruck  gekenn- 
zeichnet  wird,  ist  mehr  als  ein  ZufalL 

Um  den  Aufenthalt  der  Schiffe  vor  Holtenau  moglichst  abzukiir- 
zen  und  den  Reedern  jeden  Zeitverlust  zu  ersparen,  arbeitete  das 
Schnellgericht  ununterbrochen:  Tag  und  Nacht,  Werktag  und  Sonntag, 
In  drei  Schichten  lost  en  sich  Richter  und  Staatsanwalte  ab.  SchlieB- 
lich  sollten  sogar  zwei  Schnellgerichtsgarnituren  nebeneinander  wir- 
ken,  zu  gleicher  Zeit  im  holtenauer  Lotsenhaus  und  im  Strafgericht 
am  Schutzenwall  zu  Kiel.  DaB  dieser  Hochbetrieb  nach  2K  Tagen 
vollig  abebbte,  lag  nicht  am  Diensteifer  der  Justiz  sondern  daran,  da6 
kein  „Material"  mehr  vorhanden  war.  Sturm  auf  der  Ostsee  verzogerte 
die  Ruckkehr  vieler  Schiffe  auBerordentlich. 

Die  Angeklagten  fiihlten  sich  gar  nicht  schuldbewufit,  sie  konnten 
nicht  verstehn,  dafi  ein  Streik  zur  Abwehr  eines  unerhorten  Angriffes 
auf  ihre  Lebenshaltung  strafbar  sein  sollte.  Mit  Stolz  bekannten  sie 
sich  zu  ihrem  Verhalten  und  erklarten,  sie  wurden  im  gleichen  Falle 
wieder  genau  so  handeln,  Ein  Schiffsoffizier,  der  sich  am  Streik  be- 
teiligt  hatte,  sagte  dem  Gericht,  er  habe  einsehn  gelernt,  da8  er  vom 
Reedereikapital  nicht  minder  ausgebeutet  werde  als  die  Mannschaft; 
ihr  Kampf  sei  daher  auch  sein  Kampf.  Eine  ganze  Anzahl  von  Kapi- 
tanen  sympathisierte  offenkundig  mit  den  Streikendenj  sie  schiitzten 
sie  vor  Strafe,  indem  sie  aussagten,  die  Leute  hatten  nur  gezwungen 
am  Streik  teilgenommen,  dafiir  konne  man  sie  nicht  zur  Verant- 
wortung  ziehen. 

Wahrend  die  Mannschaft  eines  Dampfers,  der  im  Hafen  von  K6- 
nigsberg  anlegte,  mit  Geldstrafen  von  vierzig  Mark  wegkam,  verhangte 
das  kieler  Gericht  Strafen  von  vierzehn  Tagen  bis  zu  vier  Monaten 
Gefangnis,  insgesamt  bei  etwa  85  Angeklagten  rund  zehn  Jahre  Ge- 
fangnis.  Berufung  einzulegen,  verbot  sich,  weil  in  alien  Fallen  sofort 
Haftbefehl  erlassen  wurde;  bis  zur  Verhandlung  zweiter  Instanz  hatte 
die  Untersuchungshaft  vermutlich  langer  gedauert  als  die  angefochte- 
nen  Strafen.  In  dieser  Hinsicht  und  namentlich  auch  durch  die  iiber- 
fallartige  Fixigkeit  des  Verfahrens  bildete  das  Schnellgericht  gegen 
die  Seeleute  schon  den  Obergang  zu  den  nach  jeder  Richtung  von  der 
Willkfir  der  Reichsregierung  abhangigen  Sonder  gericht  en,  deren  Bil- 
dung  in  der  Notverordnung  vom  6.  Oktober  1931  vorgesehen  ist.  Hatte 
nicht  die  Rote  Hilfe  sofort  drei  Verteidiger  gestellt,  so  waren  die  See- 
leute vollig  unvorbereitet  von  dem  Schnellgerichtsverfahren  ereilt 
worden.  Gegen  Bankdirektoren  und  andre  Wirtschaftsverbrecher  auf 
der  Unternehmerseite,  die  durch  Prospektfalschungen  und  sonstige 
Schiebungen  das  Volksvermogen  um  Dutzende  von  Millionen  ge- 
schadigt  haben,  greift  die  Staatsanwaltschaft  viel  behutsamer  ein,  wenn 
sie  sich  uberhaupt  zu  einem  Vorgehen  entschliefit, 

Im  Falle  der  streikenden  Seeleute  wollte  man  offenbar  ein  Exem- 
pel  statuieren.  Jene  GroBziigigkeit,  mit  der  man  in  England  vor  we- 
nigen  Wochen  die  meuternden  Matrosen  ungeschoren  lieB,  obwohl  man 

3  741 


nachtraglich  das  Versprechen  der  Straffreiheit  als  erpreBt  hatte  wider- 
rufen  konnen,  fand  bci  deutscben  Behorden  keine  Nachahmung.  Wenn 
in  Kiel,  dort,  wo  im  November  1918  zum  ersten  Male  die  rote  Flagge 
auf  deutschen  Kriegsfahrzeugen  wehte,  harte  Urteile  gefallt  wurden, 
so  konnte  darin  eine  spate  Raphe  der  damals  verjagten  und  mit 
Noskes  Hilfe  wieder  zur  Macht  gelangten  Schichten  erbiicki  werden. 
In  unsern  Tagen  des  kapitalistiscben  Zusammenbruchs  ist  das  ein  ge- 
fahrliches  Experiment, 

Ein  Ketzer  wird  gemacht  von  iheodor  Timpe 

F\  ie  Savonarolas  werden  selten,  seit  den  auf  fremden  Pfrunden 

sitzenden  Seelenhirten  unter  wackrer  Hilfe  der  Republik 
die  Lenden  schwellen.  Ein  voller  Bauch.  rebelliert  nicht  gern. 
Und  was  hinter  dicken  Klostermauern  an  groBen  und  kleinen 
Lutherepigonen  den  Oberri  das  Leben  sauer  macht,  wird  auf 
dem  dunklen  Weg  der  Anstaltsinstanzen  verhackstiickt  und 
abgewiirgt.  Was  dagegen  in  die  Offentlichkeit  kommt,  ist 
mager  genug  und  im  Szenenwechsel  der  Aktualitat  schnell  zu 
den  verstaubten  Requisiten  seliger  Kulturkampfzeiten  geworfen. 
Dem  ist  rechtens  so,  denn  wir  haben  wichtigere  Dinge  zu  tun. 
Auflerdem  hat  die  Kirche  einen  guten  Magen. 

An  „Macht  und  Geheimnis  der  Jesuit  en"  hat  sich  schon 
iriancher  die  Zahne  ladiert.  Man  weiB  um  ihre  Organisation, 
ahnt  ihren  Herrschaftsbereich,  wenn  man  ihre  Vertreter  in  den 
maBgebenden  vatikanischen  Amtern  trifft.  Man  kann  den  Er- 
folg  ihrer  kirchenpolitischen  Rankiine  zuweilen  an  den  Baro- 
metern  der  staatlichen  Beziehungen  ablesen.  Ihre  selten  er- 
freuliche  Wirksamkeit  ist  iiberall  mit  Handen  zu  greifen.  Aber 
die  tiefern  Einblicke  in  ihr  Organisationsgetriebe  sind  doch 
recht  selten.  Und  man  begruBt  es,  wenn  hin  und  wieder  ein 
Versprengter  anklopft  und  mit  dem  Biedermannseifer  des  Ver- 
argerten  die  Betriebsgeheimnisse  auspackt. 

ALs  kurz  vor  dem  KonkordatsabschluB  im  vorigen  Jahre 
die  liberale  ,K6lnische  Zeitung'  mit  einem  aufsehenmachenden 
Artikel:  ,,Ein  Justizskandal  in  Rom"  herauskam,  wo  in 
Dialogform  gar  Niedliches  und  Erbauliches  aus  dem  ProzeB 
eines  Jesuitenprofessors  mit  seiner  Gesellschaft  ausgeplauscht 
wTurde,  da  konnte  die  Meute  der  Zentrumspresse  die  fKolnische 
Zeitung*  nicht  laut  genug  als  Storenfried  der  Konkordatsver- 
handlungen  verbellen.  Sicherlich  kam  dem  vertragsgegne- 
rischen  Blatt  der  Beitrag  nicht  ungelegen.  Aber  iiber  den 
TagesanlaB  hinaus  erwartete  man  doch  von  dem  ungliicklichen 
ProzeBopfer  eine  eingehende  Darstellung  seiner  Sache.  Und 
die  liegt  jetzt  vor.  (Papst  und  Jesuitengeneral,  ein  unerhorter 
Justizskandal  und  seine  geistigen  Grundlagen.  Dargestellt  von 
Doktor  Franz  Ernst,  A.  Falkenroth-Verlag,  Bonn.) 

Gleich  der  erste  Satz  der  Broschiire  erklart,  daB  sich 
die  Kritik  nicht  gegen  Amt,  Lehre,  Recht  und  Gesetz  der 
Kirche  wende,  sondern  nur  eine  BloBstellung,  der  gegenwarti- 
gen  Machtverhaltniss  der  Jesuiten  und  der  Kirche  sein  wolle, 
Uns  interessiert  hier  nicht,  was  der  Herauisgeber  erreichen 
will,  sondern  was  er  zu  berichten  weiB.  Und  das  ist  allerhand. 
Der  Kirchenskandal  des  jetzt  sechzigjahrigen  Jesuitenpaters 
Professor  P.  H.  Bremer,  der  1902  in  die  Gesellschaft  Jesu  ein- 

742 


trat,  1908  bis  1912  Professor  des  Kirchenrechts  und  der  Moral 
am  Regionalmuseum  in  Lecce  (Unteritalicn)  war  und  dann 
wahrend  und  nach  dem  Kriege  im  Jesuitenkolleg  der  hollan- 
dischen  Grenzstadt  Valkenburg  beschaftigt  wurde,  begann,  wie 
das    haufig   vorkommt,    mit   Zensurstreitigkeiten. 

Bei  aller  Einigkeit  in  Dogmenfragen  befehden  sich  die 
kirchlichen  Schriftgelehrten  in  dem,  was  sie  ,,abweichende 
Lehrmeinung"  nennen,  mit  derselben  philosophischen  Akribie 
und  dem  gleichen  tierischen  Ernst,  die  den  Auseinandersetzun- 
gen  ihrer  profanen  Kollegen  einen  oft  so  erheiternden  Beige- 
schmack  geben.  Ober  die  Zwirnsfaden  erfinderischer  Kon- 
kurrenzlist  stolperte  auch  der  Pater  Bremer.  Eine  Abhandlung 
tiber  den  viel  diskutierten  „Probabilismus",  das  ist  die  Lehre 
von  der  Freiheit  des  menschilchen  Willens,  wie  sie  die  Je- 
suiten  verstanden  haben  wollen,  in  der  er  sich  in  deutlichen 
Wendungen  gegen  die  „herrschende  Lehrmeinung"  des  Ordens 
erging,  wurde  durch  die  Einheitsfront  seiner  wissenschaftlichen 
Gegner  von  der  Zensur  verworfen,  nachdem  die  erste  Auflage 
des  gleichen  Werkes  vergriffen  war  und  new  aufgelegt  werden 
sollte.  Die  Berufung  an  den.  Ordensgeneral  endete  damit,  daB 
dieser  entgegen  den  kanonischen  Vorschriften  die  Appellation 
auf  das  gesamte  Werk  ausdehnte  und  seinen  Inhalt  als  gegen 
die  allgemeingultige  Kirchenlehre  verstoBend  erklarte.  Ein 
Appell  an  das  romische  Offizium,  in  dem  der  Papst  den  Vor- 
sitz  fiihrt,  fand  iiberhaupt  keine  Erledigung,  auf  weitere  Schrei- 
ben  in  den  Jahren  1922  bis  1929  sowie  auf*  drei  personliche 
Brief e  an  den  Papst  blieb  gleichfalls  die  Antwort  aus.  Was  Wun- 
der,  daB  der  Beschwerdefiihrer  langsam  ungemiitlich  wurde. 

Mittlerweile  setzte  im  valkenburger  Kolleg  das  Geplankel 
gegen  den  unbequemen  Pater  ein.  Um  ihn  abzulenken,  ver- 
suchte  man  ihm  die  v^rschiedensten  Posten  anzudrehen.  Er 
lehnte  ab.  Ober  den  Halsstarrigen  wurde  verscharfte  Zensur 
verhangt.  Gelegenheitsarbeiten  fiir  theologische  Z«itschriften 
HeB  er  darauf  in  einem  fremden  Kolleg  mit  Erfolg  zensieren. 
Kaum  war  das  bekannt,  als  man  zur  Beschlagnahme  von  Auf- 
satzen  iiberging.  Beschwerden  an  den  Ordensgeneral  nutzten 
nichts,  Der  Pater  HeB  seine  Arbeiten  schlieBlich  ohne  Ge- 
nehmigung  drucken.  Darauf  wurden  in  einer  trierer  Zeitschrif- 
tenredaktion  die  Arbeiten  beschlagnahmt.  Der  valkenburger 
Hausobere  hatte  gute  Griinde  fiir  diesen  „Diebstahl  von  Ma- 
nuskripten".  Denn  er  hatte  seine  Kasse  durch  die  Zuriickbehal- 
tung  eines  Teils  von  MeBstipendien,  die  fiir  deutsche  Priester- 
seminare  bestimmt  waren,  aufgefrischt.  Und  das  hatte  der 
Pater  durch  die  Veroffentlichung  seiner  Arbeit  wenigstens  fiir 
die  Zukunft  verhindern  wollen.  Eine  gerichtliche  Klage  gegen 
den  Schriftleiter  verlief  im  Sande,  die  Beschwerde  beim  Pro- 
vinzial  endete  mit  der  „fauilen  Ausrede",  die  Manuskripte  seien 
vermutlich  verlorengegangen. 

Inzwischen  sind  die  Gemiiter  eingeheizt  und  in  die  Ausein- 
andersetzungen  flieBen  polemische  Tone  ein.  Bremer  wirft  dem 
valkenburger  Rektor  und  Provinzial  Liige,  Diebstahl,  Verleum- 
dung,  Dummheit  und  Beschranktheit  vor.  Die  Antwort  ist: 
,,Sie  sind  nicht  normal . , .  Wenn  Sie  nicht  parieren,  holen  wir 
den  Irrenarzt."     „Haben  Sie  noch  alle  fiinf  Sinne  zusammen", 

743 


schreibt  ihm  der  Ordensgeneral,  und  dcr  Pater  antwortct  prompt 
und  schlagend  mit  Zitatcn  aus  dem  Johannesevangelium,  die 
seiner  Quellenkenntnis  alleEhre  maclien.  Selbst  derPapst  spricht 
von  Bremer  in  seiner  Umgebung  nur  als  von  dem  ,,Matto", 
dem  Verriickten,  Dem  Armen  werden  neue  Verbote  einge- 
peitscht,  Dann  wieder  geht  ein  hornberger  SchieBen  mit  gegen- 
seitigem  Briefbombardement  los,  wobei  Bremer  ernsthaft  zum 
-Gegenangriff  iibergeht,  Au£  die  scharfsten  personlichen  An- 
griffe  gegen  die  Behorde  gibt  es  fur  ihn  Ruhe,  Zwei  Jahre 
lang.  Dann  wird  er  durch  Unterbindung  schrifts teller ischer 
Arbeit  en  aufs  neue  schikaniert,  Er  antwortet  durch  Klage- 
erhebung  gegen  den  General  beim  Vatikan.  Er  reitet  sich 
aber  immer  tiefer  in  die  Tinte,  Die  vollige  Brie£zensur  wird 
verlangt  Der  Pater  umgeht  sie.  Die  Post  wird  abgefangen, 
Empfangsbescheinigungen  werden  getalscht,  selbst  einge- 
schriebene  Briefe  an  ihn  bekommt  er  nie  zu  Gesicht.  Da  trifft 
der  Entscheid  der  Ordenskongregation  ein,  der  die  Eroffnung 
des  Prozesses  mitteilt,  Es  kommt  die  Zeit,  wo  das  romische 
Intermezzo  losgeht,  Bei  Nacht  und  Nebel  fahrt  der  Pater  mit 
gepumptem  Geld  und  verschabten  Kleidern  nach  Rom,  urn 
•  seine  Sache  zu  vertreten.  Vom  Germanikum  aus,  wo  man  ihn 
widerwillig  wohnen  laBt,  geht  der  Kampf  urn  die  Audienz  beim 
Papst  los.  Er  antichambriert  bei  einem  halben  Dutzend  hoher 
Wurdentrager.  Noch  bevor  sich  die  vatikanischen  Revisions- 
instanzen  der  Reihe  nach  fiir  inkompetent  erklart  haben,  hat 
der  verdutzte  Romfahrer  das  Entlassungsurteil  in  der  Tasche. 

Er  k-ehrt  nach  Valkenburg  zuriick.  Er  riskiert  sogar  den 
Herauswurf  durch  die  hollandische  Polizei.  Obdach-  und  brot- 
los  gehts  von  Kloster  zu  Kloster,  Nirgends  bleibt  er  lange,  da 
seine  Gesellschaft  alles  tut,  um  ihn  unmoglich  zu  machen.  Das 
maastrichter  Landgericht  erkennt  schlieBlich  in  einer  fiinfzigsei- 
tigen  Urteilstschrif t  die  Rechte  des  Klagers  an,  erklart  den  Ein- 
tritt  in  die  Gesellschaf  t  als  zweiseitig  bindenden  Vertrag,  bestrei- 
tet  nach  uimfangreichen  Kommentierungen  des  einschlagigen  Kir- 
chenrechts  irgendein  Vergehen  des  Klagers  und  verurteilt  den 
Orden  als  leistungspflichtig.  Es  ergibt  sich  also  der  sicherlich 
einzig  dastehende  Fall,  daB  ein  Ordensgeistlicher  von  alien 
kirchlichen  Instanzen  ausgeschlossen  ist,  der  Orden  aber  gleich- 
wohl  fur  ihn  aufkommen  muB. 

Die  Kirche  praktiziert  an  ihren  Haretikern  nicht  mehr 
Folter  und  Scheiterhaufen.  Ihre  Mittel  sind  auBerlich  humani- 
siert  worden  und  doch  von  gleicher  Wirkung  geblieben:  Kalt- 
stellung  um  jeden  Preis.  Diese  moderne  SpieLart  der  Inqui- 
sition wird  durch  den  Fall  Bremer  aus  dem  Katakomben- 
dunkel   ins  Licht  geriickt. 

GewiB,  die  Kirche  hat  sich  immer  durch  einen  starken 
autoritaren  Zentralismus  gegen  ihre  politischen,  kulturellen, 
ethischen  und  vor  allem  dogmatischen  Kritiker  aus  ihren  eig-, 
nen  Reihen  zu  schiitzen  verstanden.  Das  ist  ja  grade  die 
Starke  ihrer  festgefiigten  Organisation.  Nicht  jeder  hat  wie 
der  Pater  Bremer  die  Zivilkourage,  gegen  diese  lautlos,  aber 
exakt  kopfende  Apparatur,  deren  Schalthebel  von  einigen  We- 
nigen  bedient  werden,  vorzuprellen.  Die  meisten  wissen,  daB 
sie  sich  nur  die  Stirn  wundstoBen,  und  lassens  bleiben, 

744 


BeillS  von  Alexander  Lernet-Holenia 

p  awel,  Timofej,  Stepan,  Arkadij,  Iwan,  Wasil,  Sergej,  Dimitrij, 
Fedor,  Pjotr,  Boris  und  Wlaaimir  hieBen  die  Geschworenen, 
die  in  dem  1912  verhandelten  Beilis-ProzeB  daruber  zu  ent- 
scheiden  batten,  ob  dieser  B<eilis  eines  Ritualmordes  schuldig 
zu  sprechen  ware  oder  nicht. 

Die  .Geschworenen  waren  lauter  Bauern.  Intellektuelle 
'  jeder  Art  hatte  man,  vor  der  Auslosung,  aus  der  Geschworenen- 
liste  aus  prinzipielkn  Griinden  gestrichen.  Man  rechnete  nam- 
lich  damit,  dafi  die  Bauern  den  Beilis,  eher  als  Intellektuelle 
es  tun  wiirden,  zu  verurteilen  sich  entschlieBen  konnten,  Die 
russische  Regierung  wiinschte  die  Verurteilung  des  Beilis,  ob- 
wohl  sie  wuBte,  daB  der  Knabe  Juschtschinskij  gar  nicht  von 
Beilis  sondern  von  einer  Diebesbande,  der  auch  die  Mutter  des 
Kindes  angehorte,  war  ermordet  worden.  Das  wuBten  vor  allem 
die  Minister  Schtscheglowitow  und  Maklakow,  ja  sogar  der  Zar 
selbst  wuBte  es. 

Dennoch  ward  der  ProzeB  nicht  gegen  die  Diebe  sondern 
gegen  den  Beilis  angestrengt,  weil  man  einen  Beweis  dafiir  er- 
bringen  wollte,  daB  die  Juden  bei  der  Herstellung  ihrer  Oster- 
brote  Christenblut  verwenden,  und  weil  man  die  unzufriedene 
Bevolkerung  Rufilands  von  den  innern  Schwierigkeiten  ab- 
lenken  und  dazu  verleiten  wollte,  ihrer  Emporung  in  Juden- 
progrome  Luft  zu  machen, 

Im  Beilis-ProzeB  also  handelte  es  sich  letzten  Endes  nicht 
um  die  Schuld  oder  Nichtschuld  des  ganz  irrelevant  en  Beilis 
selbst  sondern  ,um  «in  Duell  zwischen  der  russischen  Regierung 
und  dem  Judentum  uberhaupt,  Der  Staatsanwalt  hieB  Wipper. 
Ein  Priester  naraens  Pronajtis  war  beauftragt,  vor  Gericht  die 
Existenz  von  Ritualmorden  nachzuweisen.  Dieser  Pronajtis 
eignete  sich  insofern  dazu,  als  seine  sehr  obskure  Vergangen- 
heit  ihn  fur  die  Rolle,  die  er  spielen  sollte,  kauflich  gemacht 
hatte,  er  eignete  sich  aber  insofern  nicht  dazu,  als  er  viel  zu 
wenig  gebildet  war,  um  die  jiidischen  Texte  so  lang  herumzu- 
drehen,  bis  daraus  ein  Beweis  fur  das  Vorhandensein  von  Ri- 
tualmorden hatte  abgeleitet  werden  konnen, 

Auch  der  Staatsanwalt  machte  seine  Sache  nicht  gut.  Be- 
letzkij,  der  Generaldirektor  des  Polizeideparfements,  erhielt 
daher  iiber  den  Gang  des  Prozesses  Berichte,  die  ihn  nicht  be- 
friedigten. 

„Wenn  der  Staatsanwalt  eine  Verurteilung  des  Beilis  nicht 
erzieten  kann",  befahl  er  infolgedessen,  ,,dann  muB  er  trachten, 
daB  die  Geschworenen  den  BeschluB  in  eine  solche  Form  klei- 
den,  daB  das  Bestehen  von  Ritualmorden  als  erwiesen  ange- 
nommen  wird,  wahrend  die  Teilnahme  des  Beilis  an  derartigen 
Morden  nicht  schlussig  dargetan  ist.  Einen  solchen  Freispruch 
wird  man  unmoglich  kassieren  konnen  und  die  Legende  von  der 
Verwendung  des  B lutes  durch  die  Juden  wird  auf  diese  Weise 
die  oifizielle  Sanktion  erlangt  haben." 

Die  Geschworenen  waren  standig  von  Leuten,  die  sie  aus- 
spionieren  wollten,  ^umgeben,  yon  Polizeidienern,  verkleideten 
Beamten  und  ahnlichen  Individuen,  die  die  Stimmung  der 
Bauern  erforschen  soil  ten,    jedoch    horte    man    aus    den    Ge- 

745 


sprachen,  die  die  zwolf  miteinander  fuhrten,  nichts,  was  dcr 
Regierung  sonderlich  hatte  angenehm  scin  konnen.  SchlieBlich 
machten  die  Geschworcncn,  in  ihrer  Bauernschlaue,  sich,  seit 
sie  merkten,  welchcn  Wert  man  hohern  Orts  auf  ihre  Meinun- 
gen  legte,  sogar  den  SpaB,  vor  Leuten,  die  sie  ftir  Spione  hiel- 
ten,  stets  so  unverstandliches  und  befremdliches  Zeug  daherzu- 
reden,  daB  Beletzki  und  die  andern  unmoglich  daraus  klug  wer- 
den  konnten.  Man  ahnte  nicht  mehr,  was  die  Bauern  von  dem 
ProzeB  hielten  und  was  sie  im  Sinne  haben  mochten,  Man  be- 
fiirchtete  sehr,  Beilis  konnte  freigesprochen  werden, 

Timofej  und  Pawel  waren  die  aufgewecktesten  unter  den 
Geschworenen,  und  es  war  anzunehmen,  daB  die  andern  keine 
separate  Meinung  haben  sondern  sich  ebenso  entschlieBen  wiir- 
den  wie  diese  beiden. 

Diese,  Pawel  also  und  Timofej,  saBen  an  einem  der  letzten 
Tage  des  Prozesses,  und  nachdem  wieder  endlos  lang  war  ver- 
handelt  worden,  gegen  Abend  in  einem  Teepavillon  und  tranken 
Tee.  Alsbald  trat  auch  ein  Infanteriemajor  in  einer  weiBen 
Leinenbluse  (denn  es  war  sehr  heifi  gewesen)  in  den  Pavilion 
ein,  warf  einen  Blick  auf  die  beiden  Bauern  und  setzte  sich  an 
den  Nebentisch. 

Die  zwei  blinzten  einand-er  zu, 

Der  Major  war  von  hoher  Gestalt,  hatte  em  schmales  Ge- 
sicht  mit  einem  kleinen  Bart  und  auffallig  lange  und  schone 
Hande,  an  denen  er  zwei  oder  drei  offenbar  kostbare  Ringe 
trug. 

Die  Beine  inf  wie  es  schien,  auBerordentlich  gut  gearbeite- 
ten  Stiefeln  hatte  er  ubereinandergeschlagen  und  sah  zu  den 
Bauern  hinuber,  bis  der  Kellner,  bei  dem  er  eine  Bestellung  ge- 
macht,  zuriickkam  und  eine  Flasche  Schnaps  und  ein  Glas,  das 
er  sogleich  anfiillte,  vor  ihm  hinstellte, 

Der  Major  trank  das  Glas  aus.  Dann  ziindete  er  eine  Zi- 
garette  an,  die  er  aus  einer  besonders  groBen  Dose. (denn  die 
Zigarette  hatte  ein  sehr  langes  Mundstiick)    genommen. 

Die  Bauern  waren  uberzeugt,  in  dem  Major  wiederum 
einen  jener  Spione  vor  sich  zu  haben,  die  sie  aushorchen  soil- 
ten,  sie  wagten  es  aber,  da  er  eine  eigentiimliche  und  ehrfurcht- 
gebietende  Art  hatte,  sie  anzusehen,  nicht,  die  gewohnten 
SpaBe  zu  machen,  mit  denen  sie  sonst  solche  Leute  zu  foppen 
pflegten. 

Der  Major  entschloB  sich  nach  einiger  Zeit,  die  Bauern  an- 
zusprechen. 

,,Nun",  sagte  er,  ,«ihr  beiden!*' 

Die  Bauern,  als  sie  angeredet  wurden,  nahmen  eine  re- 
spektvolle  Haltung  ein, 

,,Seid  ihr",  fuhr  der  Major  fort,  „auch  einmal  in  der  Stadt?" 

Timofej  nickte,  und  Pawel  sagte:  „Jawohl". 

,,Jawohl,  Euer  Wohlgeboren",  sagte  nun  auch  Timofej, 

„Nun",  meinte  der  Major,  ,,und  wie  stehts  mit  dem  Winter- 
anbau?    Seid  ihr  damit  schon  fertig?'1 

,fNein,"  erwiderte  Pawel. 

„Nicht?"  fragte  der  Major. 

,  Das  heiBt",  setzte  Timofej  hinzu,  »,wir  konnten  in  diesen? 
Jahr  liberhaupt  nicht  anbauen/' 

746 


,,Wieso  nicht?"  fragte  der  Major. 

„Weil  wir",  sagte  Timofej,  „in  die  Stadt  muBten." 

„So?"  meintc  der  Major.    „Warum?  Zu  welchem  Zweck?" 

„Wir  sind  ja  doch",  sagte  Pawel,  der  damit  andeiiten 
wollte,  daB  der  Major  es  ohnedies  schon  wuBte,  „Geschworene." 

„Ach!"  rief  der  Major,  ,,sieh  an!  Geschworene!  Offenbar 
im  Beilis-ProzeB!  Da  seid  ihr  ja  was!  Da  konnt  ihr  freilicrji 
nicht  anbauen!  —  Nun",  fuhr  er  fort,  ,,wenn  ihr  so  importante 
Personlichkeiten  seid,  da  muB  man  ja  den  Hut  vor  euch  ziehen. 
Kommt  her  und  trinkt  em  Glas  Schnaps  mit  mir!" 

Damit  gab  er  dem  Kellner  einen  Wink.  Die  Bauern  sahen 
einander  an. 

,tNa,  kommt  nurM,  befahl  der  Major. 

Die  Bauern  erhoben  sich  und  traten,  sich  verbeugend,  an 
den  Tisch  des  Majors,  und  der  Kellner  brachte  zwei  weitere 
Glaser. 

,,Wollt  ihr  vielleicht",  fragte  der  Major,  „Brotchen  haben 
oder  Ikra?"  Ikra  ist  eine  Art  billigen  Kaviars.  Die  Bauern  je- 
doch  dankten,  und  der  Kellner  stellte  einen  Teller  mit  Sonnen- 
blumenkernen  auf  den  Tisch.  Sich  zu  bedienen  vom  Major  auf- 
gefordert,  sagten  die  Bauern:  ,,Auf  Ihr  Wohl,  Herr  Major!"  und 
tranken,  und  dann  begannen  sie,  wie  sie  sichs  wahrend  der  Ge- 
richtsverhandlung  angewohnt,  die  Sonnenblumenkerne  zu  kauen, 
wie  es  in  SiidruBland  Brauch  ist;  Timofej  aber,  der  immer  noch 
an  den  Anbau  dachte  und  die  Sache  erklaren  wollte,  sagte: 

,,Angebaut  wird  bei  uns  inzwischen  von  den  Husaren." 

,,Von  wem?"  iragte  der  Major. 

,,Er  meint",  sagte  Pawel,  ,,es  sind  Husaren  zu  uns  auf  das 
Dorf  kommandiert  worden,  die  Feldarbeit  zu  leisten,  weil  wir 
selbst  sie  doch  nicht  besorgen  konnen." 

,,Meine  Frau11,  sagte  Timofej,  ,,war  gestern  herinnen  in  der 
Stadt  und  hats  uns  erzahlt.4' 

„Auf  alle  Felder  von  Bauern,  die  Geschworene  sind*',  sagte 
Pawel,  ,,ist  namlich  Kavallerie  kommandiert,  zu  einem  jeden 
von  uns  drei  oder  vier  Reiter." 

,,Und  auch  Saatgut",  sagte  Timofej,  „haben  sie  mitgebracht, 
wo  es  gefehlt  hat.  Denn  wir  waren  damit  schon  knapp  dran. 
Und  auch  sonst,  sagt  meine  Frau,  bauen  sie  gut  an,  die  Hu- 
saren, weil  wir  doch  jetzt  nicht  selbst  anbauen  konnen." 

,  ,,Na,  seht  ihr",  rief  der  Major,  ,,dafiir  seid  ihr  aber  auch 
verpflichtet,  als  Geschworene  eure  Pflicht  zu  tun,  wenn  fur 
euch  schon  so  gesorgt  wird!    Oder  nicht?" 

„Freilich"(  sagte  Timofej.    „Freilich.l§ 

„Ganz  RuBland",  fuhr  der  Major  fort,  „blickt  ja  jetzt  auf 
euch  und  rechnet  damit,  daB  ihr  diesen  Kerl  schuldig  sprechen 
werdet!"    Und  damit  sah  er  sie  befehlend  an. 

Es  entstand  sogleich  eine  Pause,  dann  aber  sagte  Timofej: 
(1Ja'f  das  ist  nicht  so  einfach." 

„Was  ist  nicht  so  einfach?"  rief  der  Major, 

„Nun  ja,  Herr",  sagte  Pawel,  „wie  konnen  wir  denn  iiber 
Beilis  urteilen,  wenn  sie  im  Gericht  gar  nicht  iiber  ihn 
sprechen?'1 

„Wieso  nicht  fiber  ihn  sprechen?" 

„Sehen  Sie,  Herr",  sagte  Pawel,  „wir  Bauern,  Timofej  und 

747 


ich  und  die  andern,  wir  sitzen  nun  schon  fast  zehn  Tage  als  Ge- 
schworenc  im  Gericht,  aber  iiber  den  Bcilis  haben  wir  im  gan- 
zen  kaum  zehn  Worte  zu  horen  bekommen,  immer  nur  iiber 
andre  Juden  ist  geredet  worden,  von  denen  einer  in  Astrachan 
ein  Kind  umgebracht  haben  soil,  und  ein  andrer  eines  in  Pskow, 
und  ein  drittei*  eines  in  Lublin,  sagt  der  Staatsanwalt.  Aber 
Zeugen  sind  keine  da.  Und  auch  gegen  den  Beilis  sind  keine 
Zeugen  da.  Wie  solleri  wir  nun,  wo  gegen  die  andern  keine 
Zeugen  da  sind,  den  Beilis  schuldig  sprechen,  gegen  den  iiber- 
haupt  keine  Zeugen  da  sind?" 

„Ah,  glaubt  ihr  vielleicht",  rief  der  Major,  ,fdaB  er  un- 
schuldig  ist!" 

,, Wir  wissen  es  eben  nicht,"  meinte  Timofej. 

„Es  sind  keine  wirklichen  Beweise  gegen  ihn  da,"  sagte 
Pawel. 

„Dann  muBt  ihr  eben",  rief  der  Major,  „besser  auf  das  acht- 
geben,  was  der  Priester  vorbringt,  und  euch  dahin  auBern,  daB 
zwar  dem  Beilis  personlich,  weil  er  ein  so  schlauer  Hund  ist, 
der  Mord  nicht  nachgewiesen  werden  kannt  daB  aber  andre 
Falle  von  solchen  Morden  bewiesen  worden  sind!" 

,,Die  sind  eben  nicht  bewiesen  worden,"  sagte  Pawel, 

,,Das  glaubt  ihr  aber  nur",  schnauzte  der  Major  ihn  an, 
„weil  ihr  die  Beweise  nicht  kapieren  konnt!" 

„Dann  hatte  man  eben",  meinte  Pawel,  „andre  Leute  zu 
Geschworenen  machen  sollen,  die  kliiger  sind  als  wir  Bauern. 
Denn  die  Schuld  des  Beilis  zu  erkennen,  sind  wir  jedenfalls  zu 
dumm." 

„Zu  dtimm  wohl  nicht",  schrie  der  Major,  „wahrscheinlich 
aber  verschlagen  genug,  mit  den  Juden  zu  sympathisieren,  wah- 
rend  sie  doch  alien  andern  Leuten  zuwider  sind!" 

„Sehen  Sie",  meinte  Pawel,  ,,warum  sollten  sie  uns  Bauern 
so  zuwider  sein  wie  den  vornehmen  Leuten,  den  OHizieren  und 
den  Gutsbesitzernf  die  an  sie  verschuldet  sind!  Wir  Bauern 
sind  ja  nicht  an  sie  verschuldet,  denn  wir  besitzen  zu  wenig, 
um  Schulden  zu  machen,  und  ein  Bauer  ist  nicht  geachteter  als 
ein  Jude,  und  ein  Jude  nicht  geachteter  als  ein  Bauer,  warum 
sollten  wir  also  die  Juden  verachten  und  was  sollten  wir  gegen 
sie  haben?" 

,,Pas,  was  auch",  fuhr  der  Major  ihn  an,  „die  andern,  die 
eure  Obrigkeit  sind,  gegen  sie  haben,  zum  Beispiel  sogar  Seine 
Majestat  der  Zar  selber,  der,  wie  ich  selbst  es  gesehen  habe, 
einem  Juden  nicht  die  Hand  gabe,  und  wenn  er  hundert  Mil- 
lionen  Rubel  besaOe!  Es  ist  im  Interesse  der  Majestat  und  des 
Landes,  daB  ihr  den  Beilis  schuldig  sprecht,  Ihr  s-eid  jetzt  die 
Vertreter  RuBlands  und  des  ganzen  russischen  Volkes,  und  ihr 
habt  zu  tun,  was  der  v  Zar  von  euch  wiinscht!  Denn  der  Zar  ist 
sehr  machtig.  Er  tragt  nicht  nur  die  Krone  von  Moskau,  son- 
dern  auch  die  Kronen  von  Wladimir,  Nowgorod,  Kasan  und 
Astrachan,  von  Polen  und  Sibirien,  er  befiehlt  iiber  tausend  Ba- 
taillone,  seine  Flotte  bedeckt  das  Meer  von  Kronstadt  bis 
Sankt  Petersburg,  ihm  gehorchen  die  Kubankosaken  und  die 
Orenburger  Kosaken,  die  vom  Don  und  vom  Ural,  er  gebietet 
iiber  die  Volker,  die  im  Norden  im  Eise  leben,  und  er  ist  der 
oberste  Herr  der  siidlichen  Cirkassier,  der  Gebirgsfursten,  der 

748 


Georgier  und  der  Emire  der  Turkmenen,  die  seidene  Banner 
haben  und  alle  im  Btigelschtth  stehn!" 

\,Ach  Gottf  ach  Gott",  meinte  Timofej  bewundernd,  Pawel 
aber  sagte;  „Wenn  der  Zar  so  machtig  ist,  warum  braucht  er 
dann  uns  arme  Bauern,  urn  einen  Juden  aus  dem  Weg  zu 
schaffen?" 

„Wie,  ihr  Schweine",  schrie  der  Major,  ganz  im  Gegensatz 
zu  seiner  fruhern,  poetischen  Ausdrucksweise,  „ihr  wollt  Seine 
Majestat  kritisieren!  Morgen  schon  werdet  ihr  tun,  was  er  euch 
befiehlt,  und  jenen  Menschen  schuldig  sprechen!" 

„Wir  konnen  es  nicht,"  sagte  Pawel 

,,Nein,  es  ware  eine  Siinde,"  sagte  Timofej. 

„Was,  Siinde!"  schrie  der  Major,  ,,Glaubt  ihr,  es  kame 
noch  auf  eure  Siinde  an,  wenn  es  sich  um  das  Wohl  und  Wehe 
des  Staates  handelt?  Ihr  miiBt  den  Beilis  schuldig  sprechen! 
Ihr  begreift  es  nicht,  aber  ich  sage  euch:  es  geht  um  das  Gliick 
von  RuBland!" 

Timofej  aber  zitierte; 

„Was  hiilfe  es  dem  Menschen,  wenn  er  die  ganze  Welt  ge- 
wonne,  und  nahme  doch  Schaden  an  seiner  Seele!" 

Der  Major,  mit  einem  Fluch,  stand  auf,  warf  ein  Geldstiick 
auf  den  Tisch  und  verlieB,  ohne  die  Bauern  auch  aur  noch  ein- 
mal  anzusehnt  den  Pavilion,  indem  er  die  Glastiir  zuschlug,  daB 
es  klirrte.  Die  Bauern  aber  waren  nicht  so  dumm,  wie  sie  es  von 
sich  selber  zusein  behauptet  hatten,$ie  stand  en  ebenialls  sogleich 
auf  und  gingen  heimlich  hinter  dem  Major  drein,  Der  bog  nur 
um  die  nachste  Ecke,  da  stand  schon  ein  fur  die  damalige  Zeit 
schwerer  Wagen  und  vier  Kosaken  warteten  abgesessen  da- 
ncben,  Aus  dem  Wagen  sprang  sogleich  ein  Adjutant,  riB  den 
Schlag  auf  und  der  angebliche  Major  stieg  ein. 

Die  Kosaken  warfen  fich  auf  die  Pferde,  das  Automobil 
fuhr  davon  und  die  Kosaken  jagten  im  Galopp  nach. 

Die  beiden  Bauern  sahen  einander  an, 

MDas  war",  sagte  Pawel,  „moglicherweise  ein  GroBfiirst." 

Trotzdem  sprachen  sie  und  die  andern  den  Beilis  am  nach- 
sten  Tage  frei; 

KHtik  alS  BerufSStorilllg  von  Peter  Panter 

A  tif  meinem  Nachttisch  lag  einmal  ein  Buch  von  O,  Henryr 
"'  das  hatte  Paul  Baudisch  iibersetzt.  Mir  gefiel  die  Ober- 
setzung  nicht,  ich  tadelte  sie,  und  Baudisch  erwiderte.  Von 
zwei  Seiten  kam  ihm  Rekurs,  beide  Male  von  Schriftstellern, 
deren  fachliche  Kenntnis  sie  dazu  berechtigten.  Stephan 
Ehrenzweig  erwiderte  im  (Tagebuch*,  mein  Rat  an  die  Ver- 
leger,  sich  hinfiirder  einen  andern  Cbersetzer  auszusuchen, 
ginge  etwas  weit,  f,weil  dieser  Rat  sozusagen  aus  der  jeder 
Erorterung  zuganglichen  beruf lichen  in  die  keiner  Erorterung 
zugangliche  geschaftliche  Sphare"  vorstieBe;  zum  andern  pro- 
testierte  brief lich  ein  von  mir  sehr  geschatzter  Dichter,  Hans 
Reisiger  aus  Miinchen,  der  schrieb,  es  ginge  doch  nicht  an, 
einem  hochbegabten  und  gewissenhaften  Obersetzer  mit  ein 
paar  allgemeinen  Worten  so  von  oben  her  das  Geschaft  zu 
verderben. 

749 


Ober  Paul  Baudisch  laBt  sich  diskutieren:  ich  glaube,  da- 
mals  an  Beispielen  gezeigt  zu  haben,  da8  cr  seine  Sache  nicht 
gut  gemacht  hat,  doch  la&se  ich  mich  da  gern  eines  Bessern 
belehren;  auch  weiB  ich,  daB  es  wesentlich  schlechtere  Ober- 
setzer  als  Baudisch  gibt.  Woriiber  sich  aber  gar  nicht  streiten 
laBt,  das  ist  die  Auffassung,  Kritik  diirfe  keine  Berufsschadi- 
gung  hervorrufen.     Das  ist  ein  ernstes  Kapitel. 

* 

Die  Industrialisierung  der  Literatur  ist  wie  die  aller 
Kiinste  nahezu  vollkommen  —  AuBenseiter  haben  es  sehr,  sehr 
schwer.  Was  die  deutsche  Buchkritik  anlangt,  so  ist  sie  auf 
einem  Tiefstand  angelangt,  der  kaum  unterboten  werden  kann. 
Das  Lobgehudel,  das  sich  iiber  die  meisten  der  angekiindigten 
Biicher  ergeuBt,  hat  denn  auch  zur  Folge  gehabt,  daB  die  Buch- 
kritik kaum  noch  irgend  eine  Wirkung  hervorruft:  das  Publi- 
kum  liest  diese  diirftig  verhiillten  Waschzettel  uberha-upt  nicht 
mehr,  und  wenn  es  sie  liest,  so  orientiert  es  sich  nicht  an 
ihnen.  Die  einzige  sichtbare  Wirkung,  die  wir  noch  ausuben, 
ist  die  Wirkung  auf  den  Kommissionar:  auf  den  Verleger.  Der 
wiederum  beachtet  die  Kritik,  von  der  er  doch  weiB,  wie  sie 
in  den  meisten  Fallen  zustande  kommt,  viel  zu  sehr,  er  lauh 
den  gelobten  Autoren  nach  und  den  getadelten  aus  dem  Wege, 
Die  unmittelbare  Wirkung  dieser  Kritiken  auf  den  Absatz  der 
Biicher  veranschlage  ich  nach  meinen  Erfahrungen  als  sehr  ge- 
ring:  ein  Reisebuch  von  mir  hat  eine  sehr  gute  Aufnahme  bei 
den  Kritikern  gefunden  und  geht  nicht,  und  das  Buch,  iiber  das 
die  meisten  meiner  Kritiker  wie  die  Wilden  hergefallen  sind, 
ist  einer  meiner  groBten  Erfolge. 

Ich  glaube  aber,  daB,  wenn  sich  Absatzwirkungen  zeigen, 
sie  dann  eben  Wirkungen  der  Kritik  sind,  die  mit  der  Be- 
sprechung  auf  das  innigste  zusammenhangen  und  von  leiden- 
schaftlichen  Kritikern  mit  vollem  Recht  beabsichtigt  werden, 
Der  Kritiker  will  eine  bestimmte  Literaturgattung  fordern,  also 
bearbeitet  er  Publikum  und  Verleger;  er  will  eine  andre  Gat- 
tung  schadigen,  dann  tadelt  er  sie.  Warum  also  soil  es  einem 
Kritiker  verwehrt  sein,  sich  auch  unmittelbar  an  denjenigen  zu 
wenden,  der  erfahrungsgemaB  seine  Kritiken  am  meisten  zu 
beachten  pflegt?    Ich  kann  darin  nichts  Unerlaubtes  sehn. 

Doch  sind  wir  leider  soweit  gediehn,  daB  Kritik  nur  noch 
als  Berufsforderung  oder  Berufsstorung  angesehn  wird,  und  so 
wird  denn  auch'  der  Kritiker  gewertet  Lobt  er,  ist  er  fur  den 
Belobten  ein  groBer  und  bedeutender  Kritiker;  tadelt  er,  so  ist 
er  fur  den  Getadelten  ein  Ignorant  und  taugt  nichts.  Besonders 
die  Schauspieler  haben  es  in  dieser  Kritik  der  Kritik  zu  einer 
groBen  Virtuositat  gebracht:  derselbe  Kritiker  gilt  ihnen  heute 
als  allererster  Meister  und  morgen,  weil  er  getadelt  hat,  als 
letzter  Murks, 

Die  Verfilzung  in  der  Literatur  ist  schon  groB  genug;  wir 
wollen  wenigstens  ein  paar  Inseln  beibehalten.  Die  Literatur- 
kritik  ist  sehr  oft  korrupt,  bestechlich  ist  sie  nicht<  Sie  gibt 
das  billiger. 

Die  Herren  Tadler  sirnd  noch  Lichtblicke  im  literarischen 
Leben.     Aber  die  Hudler  des  Lobes  . .  .  Ich  habe  mich  oft  ge- 

750 


Iragt,  was  denn  diese  Leute  bewegen  mag,  jcden  Quark  mit 
dem  Pradikat  Mbestes  Bitch  der  letzten  siebenundfiinfzig  Jahre" 
auszuzeichnen,     Ich  glaube,  einige  Griinde  gefunden  zu  haben. 

Es  ist  bei  den  meisten  eine  Art  Geltungstrieb,  der  sich  da 
bemerkbar  macht.  Fast  jeder  Kritiker  halt  sich  in  der  Viertel- 
stunde,  wo  er  seine  Kritik  aufpinselt,  fur  einen  kleinen  Herr- 
gott.  ELn  besonders  iibles  Exemplar  dieser  Gattung  hat  e initial 
gesagt:  ,,Ich  wollte  ja  die  Buchkritik  langst  aufgeben.  Aber  — " 
er  sprach  Dialekt  ,,aber  man  gibt  doch  nicht  gern  rs  Peitscherl 
aus  der  Hand!'*  Es  ist  der  Machttrieb.  Ich  habe  ihni  nie  be- 
griffen.  Was  ist  denn  das  ftir  ein  Caesarentum,  das  sich  darin 
sonnt,  wie  hundert  junger  Autoreh  gelaufen  kommen  und  um 
eine  Besprechung  bitten;  wie  sie  den  groBen  Meister,  dessen 
Werke  man  so  bewundere,  anflehen .  . .  und  die  ganze  tiirkische 
Musik.  Und  dann  also  setzt  sich  jener  hin  und  verleiht  kleine 
Nobelpreise,  «sehr  von  oben  herunter  —  er  nennt  das:  fordern. 

Der  Geltungstrieb  hat  auch  gesellschaftliche  Ursachen. 

Es  gibt  eine  Menge  von  Literatur-Kritikern,  die  mit 
<ien  in  Frage  kommenden  Autoren  gesellschaftlich  verkehren; 
es  ist  ja  so  schwer,  jemand  zu  verreiBen,  mit  dem  man  ofter  zu 
Abend  gegessen  hat.  Man  trifft  ihn  doch  wieder .  . .  Und  diese 
Kritiker  wollen  sich  durch  einen  VerriB  ihre  Salonkarriere 
nicht  verderben  —  sie  mochten  nun  einmai  dazu  gehoren,  sie 
wollen  dabei  sein,  eingeladen,  umschmeichelt  werden . . .  und 
so  lob  en  sie  denn  den  gewaltigsten  Quark,  wenn  ihn.  eine  wohl- 
habende  Frau  geschrieben  hat;  wenn  der  Autor  ein  Auto  hat; 
und  vor  allem:  wenn  er  Beziehungen  hat.  Und  hier  sitzt  das 
Grundiibel  der  literarischen  Verfilzung, 

Neulich  hat  sich  in  der  frankfurter  Zeitung'  ein  Verleger 
uber  den  Typus  des  Mittelsmanns  beklagt,  der  durch  seine 
Hin-  und  Hertragerei  zwischen  Autor  und  Verlag  Geld 
schlucke,  die  Autoren  verdreht  mache  und  tiberhaupt  viei  Un- 
heil  anrichte-  Tatsachlich  ist  die  industrialisierte  Literatur  ein 
grofier  Klub,  und  es  Hegt  im  Geschaftsinteresse  fast  jedes 
Autors,  dazu  zu  gehoren,  dabei  zu  sein,  mitgezahlt  zu  werden, 
Dem  kann  man  sich  nur  sehr,  sehr  schwer  entziehen,  dazu  ge- 
hort  viel  Unabhangigkeitssinn.  Die  meisten  haben  ihn  nicht. 
Ich  will  gar  nicht  einmai  von  den  Wanzen  des  literarischen 
Hotels  sprechen;  von  den  Leuten,  die  eine  Idee  haben  („Ich 
sage  bloB:  Lindbergh"),  und  die  nachher  furchtbar  kreischen, 
wenn  irgendwo  irgendwann  von  irgendwem  ein  Buch  iiber  Lind- 
bergh erscheint*  An  dieser  Borse  will  keiner  fehlen.  Und  um 
sich  zu  legitimieren,  lobt  er  —  wahllos,  unterschiedslos,  alles 
durcheinander,  und  es  ist  ein  Jammer,  wie  selbst  tuchtige 
Schriftsteller  dieser  Seuche  zum  Opfer  fallen.  Wobei  der 
freundliche,  kleine  Trick  erwahnt  sein  mag,  die  Freunde  der 
nahern  literarischen  Umgebung  oder  den  Autor  des  sonst  zu 
lobenden  Buchs  als  bereits  anerkannte  und  wichtige  GroBen 
so  zu  zitieren,  daB  sich  der  geangstigte  Leser  denken  muB: 
Und  diesen  offenbar  doch  weit  bekannten  2^iann  kenne  ich 
noch  nicht?  Eine  unmittelbare  Korruption  ist  in  solchen  Fallen 
niemals  nachzuweisen;  beweisen  Sie  einmai,  daB  der  Kritiker 
anders  geurteilt  hatte,  wenn  er  auf  seine  Beziehungen  nicht 
solchen  Wert  legte.     Das  kann  man  nicht  beweisen. 

751 


Und  da  meine  ich:  wenn  getadelt  wird,  dann  mag  jcdes 
Argument  gegen  den  Tadler  gelten:  du  hast  den  Autor  nicht 
verstanden;  du  hast  den  Ubersetzer  unterschatzt;  du  bist  nicht 
legitimiert,  zu  tadeln  —  alles,  alles.  Aber  ein  einziges  Argu- 
ment gilt  nun  mal  bestimmt  nicht:  deine  Kritik  kann  dem  Ge- 
tadelt en  wirtschaf tlich  schaden,  ja,  du  hast  gradezu  seine  Auf- 
traggeber  aufgefordert,  ihn  nicht  mehr  zu*  beschaftigen  —  er 
hat  aber  Frau  und  Kind  , , .  Also  das  geht  nicht.  Ich  will  dem 
Mann  schaden,  wenn  ich  ihn  tadele.  Ich  will  die  Leser  vor  ihm 
warnen  und  die  Verleger  auch  —  ich  will  aus  politischen,  aus 
asthetischen,  aus  andern  often  anzugebenden  Grunden  diese 
Sorte  Literatur  mit  den  Mitteln  unterdriicken,  die  einem  Kri- 
tik er  angemessen  sind.  Das  heiBt:  ich  habe  die  Leistung  zu 
kritisieren  und  weiter  nichts,     Aber  die  mit  aller  Scharfe, 

Hatte  mein  Lob  unmittelbare  wirtschaitlich  erireuliche 
Folgen  fur  den  Gelobten:  es  ware  mir  gleichgiiltig.  Das  ist 
eine  fur  jenen  angenehme  Folgeerscheinung.  Aber  schlieBlioh 
ist  ja  der  Kritiker  nicht  dazu  da,  der  Frau  des  Romanverfas- 
sers  Piepenbringk  die  Anschaffung  neuer  Schlafzimmervor- 
hange  zu  ermoglichen,  Lasset  uns  denn  weiterhin  unbeeinfluBt 
voni  der  Kliingelei  kleiner  Gruppen,  die  den  Salon  reicher 
Borseaner  fiir  einen  Salon  halten,  und  auBerhalb  jener  Lobes- 
versicherungsgesellschaften  auf  Gegenseitigkeit  das  sagen,  was 
wir  uber  die  Biicher  zu  sagen  haben. 

FilmOptimisten  von  Rudolf  Leonhard 

Vj^enn  die  Kunst  wirklich  Spiegel  und  konzentriertes  Abbild  ihrer 
w  Zeit  istf  und  wenn  der  Film  eine  Kunstform  ist,  dann  leben  wir 
in  einer  iiberaus  lustigen  Zeit.  So  was  von  tierischer  Heiterkeit  wie  in 
den  letzten  Gipfelwerken  der  europaischen  Filmkunst  ist  noch  nicht 
dagewesen,  Wie  iiberaus  belustigend  ist  es,  zum  Beispiel,  wenn  in 
einem  eben  herausgekommnen  Film,  in  dem  uberhaupt  das  Leben  der 
Matrosen  gemafi  der  allgemein  bekannten  Wirklichkeit  als  eitel  Gesang 
dargezeigt  wird  —  wenn  in  diesem  Film  auf  die  Ankiindigung,  daB 
eine  Stadt  bombardiert  werden  soil,  alle  Leute  nicht  bombardiert  zu 
werden  wunschen  und  aus  der  Stadt  fliehn,  wie  hochkomisch,  wie 
zwerchfellerschutternd!  An  dieser  —  als  der  einzigen  —  Stelle  lach- 
ten  einige  Zuschauer;  obschon  doch  das  vorgebliche  und  vorgegebne 
Publikum  sogar  immer  desto  mehr  und  desto  alberner  lacht,  je  weni- 
ger  es  zu  lachen  hat. 

Ich  habe  selbst  wirklich  sehr  herzlich  liber  einen  Film  gelacht,  den 
ich  nicht  gesehn  habe  und  nun  wohl  auch  nie  sehn  werde;  denn  so  er- 
heitern  kann  mich  der  Film  doch  nicht,  wie  mich  ein  vor  der  Urauf- 
fiihrung  gegebnes  Interview  seines  Regisseurs  erheitert  hat.  Der  Film 
heiBt  iibrigens  „Der  KongreB  tanzt",  und  der  Regisseur  Erik  GharelL 

Charell,  von  dem  mir  Freunde  versichert  haben,  daB  er  ein  ge- 
schmackvoller  Mann  sei,  hat,  laut  Zeitungstext,  gesagt:  „So  wie  mich 
am  ,WeiBen  RoBl*  nicht  das  Stuck  so  sehr  wie  die  Idee:  zuruck  zur 
Natur!  besonders  gereizt  hat..."  Das  hat  er  gesagt,  und  die  ganze 
Literaturgeschichte  kriegt  mit  einem  Male  ein  ganz  andres  Aussehn, 
Ich  habe  das  ,WeiBe  Rofil*  vor  vielen  Jahren  in  irgend  einer  Provinz 
gesehn,  und  erinnere  mich  nur  noch,  daB  ich  mich  entsetzlich  gelang- 
weilt  habe.  Aber  das  muB,  sehe  ich  nun,  an  mir  gelegen  haben;  ich 
muB  zu  dumm,  zu  unreif,  zu  ungebildet  oder  infolge  Verbildung  zu 
naturfern  gewesen  sein,  urn  zu  bemerken,  daB  in  diesem  bedeutenden 
Drama  eine  kongruente  Darstellung  Rousseauscher  Ideen  vorlag.     Die 

752 


ganze  Kunstgeschichte  sieht  anders  aus;  t,Doktor  Klaus"  ist  eine  Ver- 
nerrlichung  des  Familiengefuhls,  das  „Dreimaderlhaus"  bringt  einern 
erschfttterten  Publikum  die  Damonie  der  Kunst  nahe,  die  MDollar- 
prinzessin"  offenbart  geheime  wirtschaftliche  Zusammenhange,  und  in 
den  f,Memoiren  einer  Sangerin"  iiberwaltigt  den  Leser  die  Idee  der 
Liebe. 

Spafi  beiseite  —  meinen  und  den  des  Herrn  Charell  beiseite:  nie- 
mand  verargt  ihm,  daB  er  Geld  verdienen  will,  und  niemand  ist  ihm 
bose,  wenn  er  sogar  viel  Geld  verdienen  will.  Um  so  besser,  wenn  er 
es  wirklich  mit  Geschmack  zu  verdienen  versteht.  Seine  Sache,  wenn 
er  sich  dann  mit  dem  „Weifien  Rofil"  abfinden  kann.  Aber  uns  er- 
zahlen,  daB  er  das  aus  ideelichem  Drange  getan  hat  —  ist  das  noch 
seinem  Geschmack  ertraglich?    Unserm  nicht, 

Ich  hatte  gedacht,  das  f,Weifie  Rofil"  und  das  grofie  Schauspiel- 
haus  vereinigten  sich  nicht  in  geistiger  Ehe,  sondern  nach  den  Regeln 
des  Handelsrechts;  und  siehe  da,  es  handelt  sich  nicht  niir  um  die 
Kunst,  sondern  sogar  um  zentrale  Ideen. 

Der  konigliche  Kaufmann  sagt,  in  seinem  Film  habe  ihn  die  Idee 
gepackt  (er  sagt  wirklich  „Idee"  und  „gepackt"(),  „Glauben  an  das 
Gluck"  ins  Publikum  zu  tragen.  Da  sehn  wir  wieder,  wie  problematisch 
das  mit  den  Ideen  ist.  Wir  hatten  gedacht,  sie  seien  Sprengstoff;  und 
es  zeigt  sich,  daB  sie  eine  Sachertorte  sind.  „Wenn  ich  die  Fahrt  eines 
kleinen  glucklichen  wiener  Madchens  zeigen  konnte",  sagt  der  von  der 
Idee  getriebne  Kunstler,  „so  glaube  ich,  dafi  dies  wieder  so  und  so 
viele  Menschen  begliicken  kann".  Ach,  Herr  Kunstler  —  Sie  brauchen 
gar  nicht  den  Wiener  Kongrefi  zu  bemuhn.  Den  Leuten  fehlt  nicht 
das  Gliick  sondern  die  Voraussetzung  zum  Gliick.  Im  Augenblick  liegt 
ihnen  an  einer  Scheibe  Kalbsbraten  oder  sogar  einer  Schnitte  Brot 
mehr  als  an  den  Tanzen  andrer,  und  grade  von  diesen  Voraussetzun- 
gen  wollen  Sie  sie  ablenken!  Der  kunstlerische  Kaufmann  ist  vor  lau- 
ter  Ideenbesessenheit  zum  Historiker  geworden.  Hat  er,  als  er  bei  der 
Vorbereitung  des  Films  doch  wohl  einiges  las,  nichts  davon  erfahren, 
dafi,  wahrend  der  Kongrefi  tanzte,  Europa  von  grafilichem  Elend  — 
das  doch  nur  eine  schwache  Ahnung  des  heutigen  Elends  war  —  er- 
fiillt  war?  Dafi  der  Kongrefi  grade  auf  Kosten  der  gar  nicht  gliick- 
lichen  kleinen  Handschuhmacherinnen  tanzte?  Man  karin  auf  dem 
Standpunkt  stehn,  dafi  ein  sinnloser  Rausch  wie  der  des  Wiener 
Kongresses,  dessen  tanzende  Fiifie  wunderbare  Hoffnungen  zertraten, 
schon  und  bose  war;  man  kann,  von  einer  bosen  Philosophie  aus,  glau- 
ben,  dafi  er  schon  und  gut  war;  und  wenn  man  schon  das  blutige 
Schicksal  der  hungernden  Handschuhmacher  weglafit,  soli  man  wenig- 
stens  nicht  von  ihrem  Gliick  faseln. 

Metternich  und  Gentz  wufiten,  dafi  auf  dem  Kongrefi,  der  fur  mehr 
als  fiinfzig  Jahre  Europa  in  Eisen  legte,  nicht  das  Tanzen  das  Wich- 
tige  war.  Ich  glaube  gern,  dafi  Charell,  so  klug  er  sein  soil,  nicht 
weifi,  wessen  kaufmannische  Geschafte  er  kunstlerisch  fiihrt,  und  dafi 
ihm  der  bedeutende  Satz  „man  kann  durch  den  Tonfilm  unzahlige 
Menschen  beeinflussen"  entschliipft  ist,  ohne  dafi  er  seine  Tragweite 
ermafi. 

Auch  seine  Richtung,  seine  Tendenz  erkannte  er  wohl  selbst  dann 
nicht,  als  er  sagte;  „man  kann  sie  zum  Optimismus  erziehn".  Indem 
man  ihnen  zeigt,  wie  die  andern  tanzen!  Da  haben  wir  den  Grundsinn, 
da  haben  wir  die  Funktion  des  heutigen  Films. 

Und  hier  sehn  wir  wieder  die  wissenschaftlich  festgestellte  tiefe 
Zeitverbundenheit  der  Kunst.  Hier  beriihrt  sich  Charell  mit  Briining  — 
der  in  einem  Atem  sagte,  wir  wurden  im  Winter  sieben  Millionen  Ar- 
beitslose  haben,  und  er  sei  optimistisch. 

.Was  mufi  wohl  geschehn,  damit  Herr  Briining  und  Herr  Charell 
den  Optimismus  verlieren,  zu  dem  sie  uns  erziehn  wollen? 

Man  kann  durch  den  Tonfilm  dazu  erziehn,  Herr  Charell;  man 
kann,  aber  soil  nicht. 

753 


Die  Welt  von  unten  oder  Zweierlei  Oel 

von  Adolf  Behne 

1UT  agdeburger  StraBe  5,  im  Hoi,  im  Keller,  hat  Nierendorf  eine 
*  Ausstellung  aufgemacht.  ,,Die  Welt  von  unten"  steht  auf 
einem  Bogen  Packpapier  geschrieben.  Bilder  und  Zeichnungen 
von  Dix,  Grosz,  Ringelnatz,  Masereel,  Scholtz-Grotzingen, 
Werner  Scholz;  Bettler,  Zuhalter,  Dirnen,  Kriippel,  Selbst- 
morder.  Es  sind  starke  erschiitternde  Sachen  dabei,  und  wer 
mit  seinen  Nerven  so  weit  in  Ordnung  ist,  sollte  unbedingt 
hingehen.  Die  Stimmung  ist  ein  biBchen  romantisch,  Auf- 
machung  sozusagen  nicht  in  Perserteppichen,  sondern  in  Mau- 
sen.  ,tB*ingen  Sie  Hirer  Familie  einBlatt  von  Dix  mit"  lesen 
wir  an  der  Wand.  Diese  Blatter  von  Dix  sind  meist  Leichen 
im  Schiitzengraben  und  Huren.  Ich  muBte  an  den  Apachen- 
keller  „La  Bolle"  in  Paris  denken  , . ,  bekannt  als  eine  Sache 
zum  Gruseln  fur  ein  zahlungskraftiges  Publikum, 

Zille,  Kollwitz,  Nagel  f ehlen . .' .  ich  sage  das  nicht  aus 
NorgeleL  Aber  ich  hatte  sie  gern  hier  gesehen,  weil  ihre  An- 
wesenheit  in  dieser  etwas  dumpfen  Kellerluft  sozusagen  ein 
Fenster  aufgerissen  hatte*     ' 

Es  ist  namlich  so;  ich  bin  gegen  Kellerwohnungen,  Es  ist 
ein  Jammer  um  jedes  Proletarierkind,  das  in  so  einem  Keller- 
loch  aufwachsen  muB,  *und  eine  Schande,  daB  es  solche  Wohn- 
locher  unter  Tage  noch  bei  uns  gibt.  Aber  auch  fiir  die  Kunst 
halte  ich  Kellerlocher  nicht  fiir  wiinschenswert,  Wenn  diese 
herrliche  Gegenwart  einen  Kunsthandler  zwingt,  in  einen  Kel- 
ler zu  fliichten,  dann  sollte  er  es  mit  Protest  tun.  Nierendorf 
aber  —  und  das  gefallt  mir  eben  nicht  ganz . .  ,  paBt  sich  dem 
„ Milieu"  an,  mit  dem  Erfolge,  daB  die  biirgerliche  Presse  die 
Abwechslung  mal  ganz  reizend  findet.  Ich  zitiere  das  ,B-  T/: 
„Die  Dixschen  SpaBe  verderben  uns  nicht  den  Appetit,  die 
Ausgelassenheit  eines  George  Grosz  ergotzt .  - .  Sonst  aber  (bis 
auf  Werner  Scholz  namlich)  hat  ;der  Nierendorf-Keller  einen 
so  heitern  Anstrich,  daB  man  sich  in  solchem  Kreis  von  ge- 
malten  Zuhaltern  und  Matrosendirnen,  Lustmordern  und  Kupple- 
rinnen  schon  ein  Stiindchen  vergonnen  darf".  La  Bolle,  la 
Bolle!  Apachenkunst  fiir  Solche,  ,,die  mit  ihrer  Zeit  nichts 
anzufangen  wissen".  Mitternachts  konnte  ein  Chorus  steigen; 
„Liegt  eine  Leiche  im  Landwehrkanal,  reich  sie  mir  mal  her  ..." 
Aber  es  liegen  jetzt  ziemlich  oft  richtige  Leichen  drin.  Er 
flieflt  tibrigens  wirklich  hier  vorbei. 

*  Vor  zwei  Jahren  noch  war  Nierendorf  kein  Keller,  son- 
dern ein  Salon.  Am  Magdeburger  Platz  hochparterre  sehr 
nett  vom  Bauhaus  eingerichtet.  Nierendorf  hat  dort  manche 
couragierte  Ausstellung  gemacht.  Aber  er  muBte  umsiedeln 
in  einen  kleinen,  doch  sehr  hiibschen  Laden  zu  ebener  Erde  — 
und  jetzt  in  den  Keller  dicht  beim  Kauai. 

Gegeniiber,  am  andern  Ufer  des  Kanals,  steigt  ein  heller 
Wolkenkratzer  in  dieHohe:  „Ossag-Rhenania"  —  Palast  eines 
01-Trusts. 

01  ist  seit  fiinfhundert  Jahren  das  Farben-Bindemittel  der 
Malersleute.      Mit    seiner    Einfiihrung    war   eine    kiinstlerische 

754 


Revolution  verbunden;  der  Durchbruch  des  Naturalismus  in  der 
europaischen  Malerei.  Die  Besten  waren  nach  dieser  Re- 
volution dieselben  armcn  Teufel  wie  vorher. 

01  hat  in  zwanzig  Jahren  die  Technik  revolutioniert  und 
einige  Bankicrs  ungeheuerlich  bereichert,  01  mit  Kunst  wird 
tief  in  den  Keller  gedriickt.  01  mit  Aktie  turmt  helle  Wolken- 
kratzer.  (Nebenbei:  -dieser  Ossag-Mammut  ist  kiinstlerisch  von 
erschreckender  Diirftigkeit  und  stadtebaulich  ein  Malheur.. 
Was  hat  ausgerechnet  hier  ein  Wolkenkratzer  zu  suchen?) 

Wir  denken  gar  nicht  daran,  die  Kunst  in  Lochern  unter 
Tage  vegetieren,  sie  zu  einer  Kellerpflanze  verkiimmern  zu 
lassen.  Die  in  Kellern  wohnen,  sind  immer  wieder,  immer 
mehr,  immer  leidenschaftlicher  Gegenstand  der  Kunst,  Aber 
diese  Bilder,  wenn  sie  revolutionar  wirken  sollen,  miissen  aus 
den  Kellerlochern  heraus  genau  so  wie  die  Menschen,  Es  gibt 
hier  keine  Anpassung,  nur  Protest. 

Legende  von  den  Himmelsplagen 

von  Alice  Ekert-Rothholz 

f*l  ott  der  Herr  bekam  manchmal  die  ganz  grofie  Wut 
^"*       in  den  friihen  Regierungstagen 
Und  gefiel  ihm  ein  Konig  nicht  so  gut 

sandte  Gott  dementsprechende  Plagen. 

Konig  Pharao  saB  auf  gepolstertem  Thron 
und  aB  grad  belegtes  Brot . . . 

Da  meinte  er  plotzlich,  er  sahe  nicht  gut 

wo  er  hinsah,  war  alles  rot  in  rot! 

Doch  das  war  nicht  etwa  die  Revolution  — 
Das  war  die  Verwandlung  des  Wassers  in  Blut. 

Gott  der  Herr  sandte  Strafe  urn  Strafe. 

Er  entwarf  eine  Anzahl  Biester 
die  sandte  er  iiber  Kinder  und  Schafe 

sowie  iiber  die  Minister. 

Gott  strafte  die  Landwirtschaft  hinten  und  vorn 

Er  behagelte  Feld  und  Wiese. 
Und  Agypten  hatte  an  Stelle  von  Korn 

eine  wachsende  Wirtschaftskrise. 

Doch  die  Regierung  wollt  nicht  verstehn  . . , 

Sie  f  orderte  das  Gericht  raus  .  „ . 

Plotzlich  konnten  die  Herrn  von  der  Steuer  nichts  sehn 

In  Agypten  ging  das  Licht  aus! 

Kurz:  der  technische  Teil  des  Sundengerichts 

war  I  a  in  den  alten  Tagen. 
Doch  geandert  hat  sich  dadurch  fast  nichts 

Was  sich  andert,  sind  hochstens  die  Plagen! 

Gott  verwandelte  damals  das  Wasser  in  Blut . . , 

Doch  unsere  Herrn  Staatsverfasser 
Die  meinen  es  mit  dem  Volke  so  gut: 

Sie  verwandeln  den  Armen  das  blutarnae  Blut 
in  schones,  klares  Wasser, 

755 


Geschichten  aus  dem  Wiener  Wald 

von  Alfred  Polgar 

p  in  Volksstiick  und  die  Parodie  dazu,    Aber  es  kann  bei  der 

Herstellung  auch  umgekehrt  zugegangen  sein,  namlich  so, 
daB  zuerst  der  Ulk  war,  und  daB  der  Dichter,  6don  Horvath, 
ihn  erst  spater,  im  Zug  der  Arbeit,  verernstete.  WeiB  man 
denn,  wohin  die  Feder  rennt,  wean  sie  einmal  im  Laufen  ist? 
Und  in  was  fur  geistige  Abenteuer  man  beim  Dichten,  das  eine 
hazardeuse  Beschaftigung  ist  und  bleibt,  verstrickt  werden 
kann?  Horvath  (denke  ich)  ging  im  Wienerwald  so  fur  sich 
hin.  Auf  diesem  Spaziergangt  nichts  Tragisches  zu  suchen 
war  sein  Sinn,  fand  er  allerlei  Lustiges;  dann  aber  auch,  daB 
es  gut  oder  erforderlich  oder  aus  literarischen  Prestigegriinden 
angezeigt  ware,  sich  uber  das  Lustige  ernst  zu  machen. 

Wie  dem  auch  gewesen  sei:  es  entstand  eine  bedeutsam 
umdunkelte  Groteske,  deren  Schatten  iiber  das  Oester- 
reichische  hinaus  in  das  sogenannte  allgemein  Menschliche 
fallen. 

Wienerisch  an  den  ,, Geschichten  aus  dem  Wienerwald" 
ist  auBer  dem  Dialekt,  den  die  Figuren  sprechen,  die  viele  Zeit, 
welche  sie  haben,  und  daB  sie  bei  ihrem  Tun  und  Lassen  mehr 
lassen  als  tun.  Deshalb  kann  haufiger  Schauplatz  der  Vor- 
gange  die  StraBe  sein,  wo  die  dort  angesiedelten  Geschafts- 
leute,  zum  Zweck  d-es  Dialogs,  ofter  drauBen  vor,  als  drinnen 
hinter  ihrem  Laden  stehen.  Viennophobe  mogen  auch  die  Ver- 
manschung  von  Roheit  und  Gutmiitigkeit  im  Inwendigen  des 
vom  Dichter  beschaftigten  komodischen  Personals  als  echt 
lokalfarben  ansehen.  Zweifellos  wienerisch  an  den  Menschen 
des  Spiels  ist  ihr,  so  bose  wie  gut  gesehenes,  Gegeneinander- 
Miteinander,  ihre  Eintracht  auf  Basis  boshafter  Gering- 
schatzung,  ihre  enge,  liebe voile  Verbundenheit  durch  den  Kitt 
wechselseitiger  MiBachtung,  Was  sich  sonst  im  Stiick  begibt, 
konnte  audh  anderswo  als  im  osterreichischen  Seelen-Klima 
vorkommen,  Geschlechts-  und  Geldgier  sprechen  in  jeder 
Mundart  ziemlich  denselben  Text,  daB  der  Mensch  aus  Ge- 
meinem  gemacht  ist,  ist  keine  Besonderheit  der  wienerischen 
Kiiche,  und  im  skurrilen  Affentanz  dreht  sioh  das  Leben  nicht 
nur  nach  der  Musik  von  Johann  StrauB- 

Horvaths  mit  satirischem  Speck  dick  durchwachsenes 
Volksstiick  zeriallt  in  eine  lange  Reihe  von  Bildern.  Er  hatte 
sie  nach  Belieben  vermehren  konnen.  Es  sind  Querschnitte 
durch  die  Wechselbeziehungen  der  von  ihm  auf  die  Beine  ge- 
stellten  Menschengruppe,  und  solche  Schnitte  lassen  sich  in 
jeder  Zahl  und  Richtung  nach  Gutdunken  legen.  Es  geht,  wie 
im  Kabarett,  ernst  tind  heiter  gemischt  zu,  manche  Szene  hat 
reinen  Sketch-Charakter,  manche  tut  (zu  tragen  peinlich) 
dichterisch,  manche  ist  es;  wie  etwa  die  Szene  zwischen  der 
bosen  GroBmutter  und  dem  Strolch  von  Enkel,  dem  sie  ans 
Leben  mochte  wie  er  ihr,  und  dem  sie  zwischen  aller  HaB- 
Eruption  doch,  es  ist  starker  als  sie,  den  abgerissenen  Knopf 
an  den  Rock  naht.  Die  Altet  von  Frida  Richard  groBartig,  im 
saftigsten   Marchenhexen-Stil,    verkorpert,   ist   damonisch.    Er- 

756 


staunlich  fur  Kenner  der  Landschaft,  daB  in  dcr  Wachau,  an 
Burgen  und  Besoffenen  reich,  so  gruselige  GroBmiitterchen 
wachscn.  Dcr  Strolch  von  Enkel  (Peter  Lorre)  hat  eine  faule, 
weichliche  Brutalitat,  mit  der  man,  wie  das  Stiick  zeigt,  in  Wien 
arglose  Vorstadtmadchen  und  reif ere  Tabakfabrikantinnen 
fesselt. 

Das  ganze,  bizarre  Spiel  ist  von  einer  eiskalten  Witzigkeit, 
in  der  auch  das  biBchen  warmer  Atem,  das  gelegentlich  eine 
oder  die  andre  Figur  von  sich  gibt,  sofort  als  frostiger  Dampf 
niederschlagt.  Die  dramatische  Begabung  6don  Horvaths  er- 
weisen  seine  ,,Gesohichten  aus  dem  Wienerwald"  zwingend. 
Er  sieht  scharf  und  gestaltet  mit  knappster  Okonomie  der  Mit- 
tel.  Seine  Figuren  losen  sich  deutlich  ab  von  ihrem  mensch- 
lichen,  sozialen  Hintergrund,  ohne  dafi  dieser  jemals  aus  dem 
Spiel  verschwande.  Jeder  ist  Spiegel  fur  die  Art  des  andern, 
Wechsel  der  Belichtung  erzeugt  drollige  und  spukhafte  Schat- 
tenspiele.  DaB  in  solchert  aus  Bildern  locker  gefiigten,  hinter 
vielerlei  Ironien  verschanzten  Theaterarbeit  groBes  kiinstle- 
risches  Bemuhen  stecke,  ist  kaum  anzunehmen,  Vieles  hat  die 
Leichtigkeit  der  Improvisation,  und  manchmal  ist  es  so,  als 
ware  erst  von  den  Einfallen  das  dramatische  Ziel  bestimmt 
worden,  das  noch  nicht  gesetzt  war,  als  der  Dichter  jene  hatte. 

Eine  bezaubernd  bunte,  von  Heinz  Hilpert  mit  sic  hers  tern 
Dreiviertel-Taktgefuhl  geformte,  in  vielen  Angeln  hochst  be- 
wegliche  Auffiihrung.  Hans  Moser,  Paul  Horbigerf  Lucie  Hof- 
lich  in  erster  Reihe.  Und  Carola  Neher,  die  Leidtragende  des 
Spiels,,  die  von  Niedrigen  Erniedrigte,  iiber  die  das  lacherliche 
Getiimmel  hinweggeht,  und  mit  der  ihr  Dichter,  soweit  er  das 
iiber  sich  bringt,  ruhrende  Geschichten  aus  dem  Wienerwald 
macht.  Wunderschon  das  feine  Pathos  der  Einfachheit,  die 
strenge,  stille  Selbstverstandlichkeit,  mit  der  die  Neher,  ohne 
jeden  theatralischen  Aufwand,  Gefiihl  bekennt.  Ein  Heiligen- 
schein  aus  ^zartestem  Messing  —  anderes  Material  kam  bei 
solchem,  nie  das  Parodistische  verleugnenden  Spiel  nicht  in 
Frage  —  schimmert  um  das  Haupt  dieser  Madonna  aus  dem 
achten  wiener  Bezirk. 


Gelehrte 

pin  grofics  Licht  war  der  Mann  freilich  nicht,  wohl  aber  ein  groBer 
Leuchter  fur  andrer  Leute  Meinungen. 

Er  hing  noch  auf  der  dortigen  Universitat  wie  ein  schoner  Kron- 
leuchter,  auf  dem  aber  seit  zwanzig  Jahren  kein  Licht  mehr  ge- 
brannt  hatte. 

Diese  ganze  Lehre  taugt  zu  nichts,  als  dariiber  zu  disputieren, 

Er  sagte,  der  Teufel  hole  alle  Gelehrsamkeit,  und  dachte  und 
lernte  und  studierte  bestandig  und  war  vermutlich  ein  groBerer  Ge- 
lehrter  als  viele  von  den  Leuten,  die  er  und  die  ganze  Welt  so  nannte, 

Mit  groBerer  Majoritat  hat  noch  nie  ein  Verstand  stillgestanden. 

Lichtenberg 

757 


B° 


Bemerkungen 

Alsberg 

>onn  1902.  Wir  scharen  uns  um 
Zitelmann,  den  beriihmten 
Rechtslehrer.  Der  Andrang  der 
Studenten  ist  so  grofi,  daB  er 
nicht  alle  unsre  Arbciten  selbst 
korrigieren  kann.  Er  bedient  sich 
,  eincs  jungen  Assistenten,  den  wir 
mit  staunender  Ehrfurcht  betrach- 
ten.  Das  war  der  Referendarius 
Max  Alsberg,  von  dem  man  sich 
Wunderdinge  erzahlte.  Er  sei  ein 
Polyhistor,  hieB  es,  bewandert  in 
alien  Geisteswissenschaften,  gleich- 
bedeutend  als  Theoretiker  und 
Praktiker  des  Rechts.  Der  alte 
Eccius,  der  Priifungsleiter  der 
Assessorenkommission,  publizierte 
sogar  Alsbergs  wissenschaftliche 
Examenarbeit  wegen  ihrer  beson- 
dem  Qualitaten.  Bonn  bot  ihm 
einen  Lehrstuhl  an,  er  zog  es  aber 
vor,  Anwalt  in  Berlin  zu  werden. 
Er  hatte  sogleich  eine  gutgehende 
Zivilpraxis,  lugte  aber  immer  nach 
der  kriminalistischen  Seite,  da 
seine  Kunstlernatur  die  psycholo- 
gischen  Fragen,  vor  allem  .  die 
Rhetorik  des  Strafprozesses,  reiz- 
ten,  Er  brillierte  bald  im  gottin- 
ger  BankprozeB,  im  kolner  Korfu- 
Fall  und  in  einigen  grofienMord- 
verfahren.  Wahrend  des  Krieges 
baute  er  das  Preistreiberei-Straf- 
recht  aus,  wie  er  wohl  recht  eigent- 
lich  als  der  Schopfer  des  Wirt- 
schaftsstrafrechts  betrachtet  wer- 
den kann,  dessen  Systematik  und 
Ideen  hauptsachlich  auf  seinen 
Schriften  beruben.  Die  Kronung 
seiner  wissenschaftlichen  Leistun- 
gen  ist  das  Standardwerk  ,,Der 
Beweisantrag  im  StrafprozeB",  das 
ihm  die  berliner  Professur  ein- 
trug. 

Unter  seltsamen  Umstanden 
feiert   dieser   Mann   sein  funfund- 


zwanzigjahriges  Anwaltsjubilaum. 
Auf  der  Hohe  seines  Ruhmes 
wiirde  er  iiber  Nacht  in  das  skan- 
dalose  Nachspiel  des  Stinnes- 
prozesses  hineingezogen.  Ich  bin 
der  festen  Uberzeugung,  daB  die 
Untersuchung  mit  einer  glanzen- 
den  Rehabilitierung  Alsbergs 
enden  wird.  Es  ist  damit  zu  rech- 
nen,  dafi  binnen  kurzester  Frist 
erwiesen  sein  wird,  daB  Alsberg 
das  Opfer  eines  Erpressungs- 
manovers  werden  sollte.  Es  wird 
ein  toller  Kriminalroman  sein,  den 
man  demnachst  darbieten  kann. 
Man  wird  daraus  ersehen,  daB 
Behorden,  Presse  und  selbst 
Wohlmeinende  wochenlang  von 
ein  paar  skrupellosen  Menschen 
dupiert  worden  sind.  Ich  selbst^ 
und         hochangesehene  jour- 

nalistische  Freunde  gehorten  auch 
dazu.  Um  so  mehr  fiihle  ich  mich 
verpflichtet,  nunmehr  fur  Alsberg 
zu  zeugen  und  befinde  mich  hier- 
bei  in  der  Gesellschaft  wohl  aller 
Kenner  der  Tatbestande. 

Das  Groteske  aber  ist,  daB  Als- 
berg am  eignen  Leibe  erfahren 
muBte,  wie  alles,  was  er  eindring- 
lich  in  Wort  und  Schrift  gelehrt, 
bei  der  Behandlung  seines  eignen 
Falles  auBer  Acht  gelassen  wurde. 

Denn  grade  Alsberg  ist  es  ge- 
wesen,  der  stets  die  Notwendig- 
keit  betont  hat,  die  kriminalisti- 
schen Methoden,  nach  denen  bei 
uns  verfahren  wird,  von  Grund 
auf  zu  andern.  Immer  wieder  wies 
er  darauf  hin,  daB  es  abwegig  sei, 
das  Ubel  unsrer  kriminalistischen 
Tatbestandsfeststellung  in  einem 
Mangel  an  wissenschaftlicb- 
psychologischer  Vorbildung  unsrer 
Richter,  Staatsanwalte  und  Ver- 
teidiger  zu  erblicken,  daB  im  Ge- 
genteil  das,  was  von  der  wissen- 


B6  Yin  Ra 

hat  ein  Gesamtwerk  geschaffen,  das  als  Verkundigung  altester  Weisheit 
in  neuer  Form  wahrhaftig  Respekt  abnOtigt.  Aber  auch  als  Meister  seiner 
Muttersprache  ist  er  nicht  mehr  aus  dem  deutschen  Schrifttum  wegzu- 
denken.  Kaheres  fiber  ihn  und  sein  Werk  sagt  die  Einfuhrungsschrift  von 
Dr.  Alfred  Staehelin,  kostenlos  bei  jeder  Buchhandlung  zu  beziehen,  sowie 

beim  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  Basel  und  Leipzig. 
758 


schaftlichen  Psychologie  fur  den 
Kriminalisten  von  praktischem 
Wert  sein  konne,  eine  Kleinigkeit 
sei  neben  einem  andern,  vernach- 
lassigten  Grundelement  juristi- 
scher  Arbeit.  Juristen  miissen,  so 
meint  er,  nach  Methoden  arbeiten, 
die  man  nicht  erst  zu  erfinden 
braucht,  sondern  die  jedem  jungen 
Historiker  bekannt  sind.  Sie  miis- 
sen sich  daran  gewohnen,  nicht 
nur  mit  der  Intuition,  nicht  nur 
mit  vorhandener  oder  eingebilde- 
ter  Genialitat  an  die  Falle  heran- 
zugehen,  sondern  zunachst  einmal 
die  Quellen  zu  sichten,  zu  ver- 
gleichen,  die  Zusammenhange  zu 
durchdenken  und  sich  von  den  oft 
falschen  Umrissen  und  leuchten- 
den  Nebensachlichkeiten  eines 
Tatbestandes  freizumachen, 

Alsberg  ist,  und  meiner  Ansicht 
nach  mit  vollem  Recht,  davon 
tiberzcugt,  daB  bei  Anwendung 
seiner  Methoden  sich  binnen  weni- 
ger  Tage  die  gegen  ihn  erhobenen 
Vorwiirfe  als  unbegriindet  heraus- 
gestellt  hatten.  Gewifi  wird  man 
bald  nach  AbschluB  des  Verfah- 
rens  den  „FaIl  Alsberg",  von  ihm 
selbst  geschildert,  lesen  und  diese 
These  haarscharf  nachgewiesen 
bekommen.  Aus  AnlalJ  des  magde- 
burger  Falles  Haas  rief  Alsberg 
aus;  „Das  ist  das  Schreckliche* 
DaB  ein  jeder,  um  den  ein  echter 
oder  falscher  Sherlock-Holmes 
seine  Netze  spannt,  von  einer 
Stunde  zur  andern  aus  einem  Sub- 
jekt  des  Lebens  zu  einem  Objekt 
der  Strafrechtspflege  wird.  DaB 
es  keine  Konstruktion  einer  Ta- 
terschaft  gibt,  die  weltenfern  und 
geistesverblodet  genug  waref  um 
nicht  darauf  einen  '  .sichern 
Schuldbeweis'    aufzubauen,      DaB 


die  Manner,  die  eine  solche  Un- 
tersuchung  leiten,  von  einem 
Phantom,  dem  sie  nachgehen,  oft 
so  geblendet  sind,  daB  alles  und 
jedes,  was  sie  auf  die  richtige 
Fahrte  bringen  konnte,  ihrem 
Blick  verschlossen  bleibt." 

Alsberg  wird  hoffentlich  durch 
das  Erlebnis  der  letzten  Wochen 
darin  bestarkt  werden,  seinen 
Kampf  gegen  die  Institution  der 
Voruntersuchung  mit  noch  grofie- 
rer  Leidenschaft  fortzufuhren. 
Niemand  hat  wuchtiger  als  er  be- 
tont,  daB  der  Angeklagte  ein  hilf- 
loses  Objekt  der  Strafrechtspflege 
bleiben  wird,  solange  man  ihm 
nicht  die  Moglichkeit  gibt,  kontra- 
diktorisch  auch  schon  im  Vorver- 
fahren  zu  verhandeln. 

Nach  meiner  Uberzeugung 
konnte  in  wenigstens  der  Halfte 
aller  politischen  Prozesse  ein 
Freispruch  erf  ol  gen,  wenn  die 
Verteidigung  juristisch  exakter  ge- 
fiihrt  wiirde.  Die  Zahl  der  Richter 
und  Staatsanwalte,  die  nach  ju- 
ristischen  Brucken  zum  Freispruch 
in  ihnen  widerwartigen  politischen 
Prozessen  Ausschau  halten,  ist 
groBer  als  man  gemeinhin  an- 
nimmt.  Wenn  die  kleine  Phalanx 
der  durchgebildeten  Verteidiger, 
die  unermtidlich  gegen  die  Hoch- 
verratsjudikatur  des  Reichsge- 
richts  und  gegen  die  miBbrauch- 
liche  Benutzung  der  Strafgesetze 
zur  Unterdriickung  miBliebiger 
Gedanken  durch  die  Kapazitat 
eines  Alsberg  erweitert  werden 
wiirde,  konnten  viele  Niederlagen 
.  mutiger  Politiker  vermieden  wer- 
den. Es  steht  fest,  daB  sich  in  den 
meisten  Landern  die  groBen  Ver- 
teidiger vom  politischen  ProzeB, 
zumal  wenn    er    gegen   links    ge- 


Soeben  erschien 

der  III.  Roman 

der  Trilogie 

„Das  Erbe 

am  Rhein": 

DER  WOLF  in  der  HURDE 

KarL  6.50,  LeinenSKM  •  S.FISCHER  VERLAG  •  BERLIN 

759 


RENE 
SCHICKELE 


richtet  ist,  angstlich  fernhalten. 
Das  wird  den  dci  minorum  gen- 
tium uberlassen.  Wenn  sich  Als- 
berg  mit  dem  Glanz  seines  inter- 
nationalen  Ansehens  in  die  Pha- 
lanx der  politischen  Verteidiger 
einreihte,  so  wtirde  dies  beispiel- 
gebend  wirken. 

Alfred  Apfel 

Leben  der  Autos  und  polnische 
Diplomaten 

In  letzter  Zeit  wird  die  polnische 
*  Offentlichkeit  durch  Nachrich- 
ten  iiber  eigenartige  Automobil- 
unfalle  gradezu  elektrisiert,  Hohe 
Beamte  des  gegenwartigen  und 
vormaligen  Regimes  werden 
Opfer  solcher  Autokatastrophen. 
So  verungliickte  vor  einigen 
Wochen  der  ehemalige  polnische 
Aufienminister,  Graf  Skrzinski, 
ein  in  Polen  sehr  popularer  Di- 
plomat, Das  Auto,  von  der  Hand 
des  polnischen  Militarattaches  in 
Berlin  gelenkt,  wurde  zertrum- 
mert  aufgefunden,  Graf  Skrzinski 
ist  seinen  todlichen  Verletzungen 
erlerfen,  noch  bevor  er  ins  Kran- 
kenhaus  eingeliefert  wurde;  der 
Herr  Mili  tar  attache  dagegen  blieb 
vollig  unverletzt  und  hat  ktirzlich 
die  Absicht  geaufiert,  sich  in  ein 
Kloster  zurckzuziehen.  So  sehr 
hat  ihn  dieser  furchtbare  Auto- 
unf all  erschuttert,  daB  er  nur 
noch  zwischen  Klostermauern 
sein  seelisches  Gleichgewicht  wie- 
dererlangen  kann.  Das  war  der 
Sinn  der  Erklarung,  die  er  der 
polnischen   Presse   ubergab. 

Es  ist  kaum  ein  Jahr  her,  dafl 
der  Hauptmann  Zacwilichowski, 
der  Adjutant  und  Sekretar  des 
friihern  polnischen  Ministerprasi- 
denten  Bartel,  ebenfalls  das 
Opfer  eines  Autounfalls  wurde. 
Der   Lenker    des    Ungluckwagens 


war  Oberst  Tatara,  das  Mitglied 
einer  Sekte  der  fanatischen  An- 
han£er  Pilsudskis.  Jede  Funktion 
hat  ihre  Bedeutung. 

Anno  1926  gliicktc  der  Militar- 
putsch  Pilsudskis.  Zwei  Monate 
skater  ist  General  Zagurski  spur- 
los  verschwunden.  Unmittelbar 
vor  seinem  Verschwinden  wurde 
er  verhaftet  und  in  dem  Auto 
des  Hauptmanns  Zacwilichowski 
ins  Belvedere,  den  Wohnsitz  von 
Pilsudski,  transportiert.  Er  traf 
dort  ein  und  wurde  seitdem  nicht 
mehr  gesehen.  Hauptmann  Zacwi- 
lichowski aber  ist,  wie  schon  er- 
wahnt,  vor  einem  Jahr  das  Opfer 
eines  ebenso  seltsamen  wie  be- 
dauerlichen  Autounglucks  gewor- 
den. 

In  Belvedere,  in  dem  eine  eben- 
so strenge  Kontrolle  herrscht  wie 
einst  in  dem  Winterpalais  des 
Zaren,  in  demselben  Belvedere, 
in  dem  jede  Tur  und  jede  Treppe 
von  schwerbewaffneten  Soldaten 
bewacht  wird,  konnte  ein  Haftling 
von  der  Bedeutung  eines  General 
Zagurski  spurlos  verschwinden. 
Of f enbar  bef and  sich  zu  j  ener 
Zeit  Aladins  Wunderteppich  im 
Belvedere,  und  der  General  be- 
nutzte  ihn,  um  zu  fliehen.  In  die- 
ser Residenz  Pilsudskis  wurde 
fiinf  Tage  nach  der  „Flucht"  des 
Generals  der        Gendarmerie- 

Wachtmeister  Korysma  erschos- 
sen  aufgefunden.  Ein  Zufall 
wollte  es,  daB  er  grade  an  dem- 
selben Tage  im  Palais  Dienst  tat, 
an  dem  der  General  verschwand. 
Die  later,  die  den  Mord  an  dem 
Wachtmeister  auf  dem  Gewissen 
haben,  sind  bis  jetzt  noch  nicht 
ermittelt  worden. 

Nun  setzte  gradezu  eine  Hausse 
in  Automobilunfallen  ein.  Der 
Chauffeur    des    Hauptmann   Zac- 


ELIZABETH  RUSSELL  /  HOCHZEIT,  FLUCHT 
UND  EHESTAND  DER  SCHONEN  SALVATIA 

Roman. 

Diese  Geschichte  von  ein  em  weibllcheri  Parsifal  Ist  so  lustig,  wie  man  es  sich  nur 
wUnschen  kann.  Man  lacht  beim  tesen  oft  taut  auf.  Es  Ist  einer  jener  nicht  hSu- 
figen,  wirkllcrt  unterhaltenden  Romane,  fUr  den  man  dem  Ver- 
fasser  ebenso  dankbar  sein  muB  wie  Freunden.  die  uns  einen 
helteren,  sorgenlosen  Abend  bereitet  haben.      Literarlsche  Welt. 


TRANSMARE  VIRLAO  A.-G.,  BERLIN  W  10 

760 


Lei  n  en 


4.80  RM 


wilichowski  erlitt  das  gleiche 
Schicksal  wie  sein  Herr.  Er  war 
auch  der  Lenker  jcnes  Autos  ge- 
wesen,  das  den  General  Zagurski 
ins  Belvedere  beforderte.  Die 
Bremsen  des  Autos,  das  dieser 
Chauffeur  an  seinem  Ungliicks- 
tage  steuerte,  waren  von  un- 
bekannten  Tatern  zerstort  wor- 
den.  Die  Untersuchung  verlief 
negative 

Ein  gewisser  Siectzko,  Mitglied 
des  Regierungsblocks,  Zeuge  der 
Einlieferung  des  Generals  Za- 
gurski ins  Belvedere,  wurde  in 
seinem  Auto  erschossen  aufgeftm- 
den.  Leute,  die  in  irgendeiner 
Weise  in  die  Vorgange  von  Bel- 
vedere eingeweiht  waren,  ver- 
ungliickten.  Doch  die  Zahl  der 
lastigen  Mitwisser  schien  ins  Un- 
endliche  zu  gehen.  Der  namhafte 
fascistische  Dichter  Or-Ot  wurde 
in  der  Tatra  das  Opf er  eines 
Autoungliicks.  Er  hatte  eine  grofie 
Zukunft  vor  sich,  sein  Pech  war 
nur,  daB  er  „etwas"  wuBte,  Die 
Arztin  Doktor  Lewicka,  eine  hohe 
Beamtin  des  polnischen  Innen- 
ministeriums,  wurde  leblos  auf- 
gefunden.  Aber  diesmal  nicht  im 
Auto  sondern  in  der  eignen  Woh- 
nung,     Todesursache:    Herzschlag. 

Bei  den  Beisetzungsfeierlichkei- 
ten  aller  dieser  Ungliicklichen  hat 
sich  die  Regierung  nicht  lumpen 
lassen,  Zur  Beerdigung  stiftete 
sie  wahre  Berge  von  Kranzen, 
Regierungsvertreter  sprachen  vor 
dem  offenen  Grabe,  mit  militari- 
schen  Ehren  wurden  diese  Opfer 
seltsamer    Unglucksfalle    beerdigt, 

Eins  mochte  ich  zum  Schlufi 
nicht  unerwahnt  lassen.  Das 
Opfer  des  letzten  Autoungliicks, 
Graf  Skrzinski,  war  nicht  nur  ein 
Freund  des  verschwundenen  Ge- 
nerals Zagurski  sondern  auch  ein 
geschworener  Feind  •  von  Pil- 
sudski. 


Man  kann  es  nunmehr  ver- 
stehen,  daB  heute  selbst  beherzte 
polnische  Diplomaten  beim  An- 
blick  eines  Autos  die  Flucht  er- 
greifen. 

T.  N.  Hudes 

Deutsch  von  Norbert  Reich 

Unsre  fidelen  Gefangnlsse 

P  in  veritabler  Ministerialdirek- 
^-*  tor  hat  uns,  am  Mikrophon, 
neulich  mit  munterer  Bonhomie 
erzahlt,  Festungshaft  sei  gar 
keine  richtige  Strafe  sondern  eine 
Art  billiger  Sommerfrische.  Aus 
diesem  Grunde  wurden  in  Zu- 
kunft literarische  Hochverrater 
und  ahnliche  Elemente  in  richtige 
Gefangnisse  gesteckt  werden. 

Dariiber  erhob  sich  gedampftes 
Murren  bei  den  geistigen  Arbei- 
tern.  Warum  eigentlich?  Es  ist 
doch  durch  zahlreiche  Veroffent- 
lichungen  bekannt,  daB  es  auch 
in  unsern  Gefangnissen  tiberaus 
neuzeitlich  und  b%quem  hergeht. 
Kein  gequalter  Alltagsmensch 
kann  sich  in  diesem  unseligen 
Herbst  so  viel  Radio,  Bucher, 
Unterhaltungsstunden,  kurzum: 
Heitern  MiiBiggang  gestatten, 
wie  er  dort  offenbar  gang  und 
gabe  ist.  Hinein  in  diese  erhol- 
samen  Hauserl 

DaB  unsre  geschlossenen  An- 
stalten  allesamt  dem  aus  der 
Fledermaus  bekannten  fidelen 
Kafig  ahneln,  das  ist  nicht  etwa 
bbsartiger  Hohn  verstockter  re- 
aktionarer  BosnickeL  Grade  in 
den  groBen  Blattern  der  Linken 
f indet  man  seit  einiger  Zeit  in  auf- 
falliger  Menge  •  Artikel  und 
saubre  Bildberichte  iiber  das 
sonnige  Dasein  der  Gefangenen. 
Wie  trefflich  ist  das  Essen  dort, 
wie  hygienisch  die  Pflege,  wie 
prompt  sogar,  man  denke,  die 
Zahnbehandlung . 


IMMlllllllllllin 
ANTOON  THIRY 

DAS  SCHONE  JAHR  DES  CAROLUS 

Roman  aus  dem  Holiandischen.    Leinen  5,50  RM 

Dieser  Roman   des  Jugendfreundes  Felix  Tlmmermanns   gibt,   elnzigartig   in  Plastik 

und  Farbigkeit  der  Schilderung,  das  Bitd  einer  kleinen   hollSndischen  Stadt,  das 

Schicksal  Ihrer  Bewoh ner  und  ihres  stOrmischen  Helden. 

RANSMARE    VERLAG  A.-G.,    BERLIN    W    10 

761 


Wenn  das  alles  stimmt,  —  um 
so  besser.  Und  das  Propaganda- 
geschrei  iibcr  diese,  eigentlich 
selbstverstandlichen,  Dinge  ware 
dann  ganz  unnotig. 

Aber  stimmt  es,  immer  und 
uberall? 

Es  ist  doch  immerhin  sehr 
merkwiirdig,  daB  alle  Diejenigen 
andrer  Meinung  sind,  die  es  wis- 
sen  miissen:  Die  ehemaligen  In- 
sassen  der  Gefangnisse  und  Zucht- 
hauser.  Der  Kommunist  Holz, 
der  Nationalist  von  Salomon,  der 
biedere  alte  Professor  Fuchs 
(MWir  Zuchthausler"),  —  das 
sind  doch  wohl  unverdachtige, 
weil  grundverschiedene  Zeugen. 
Und  sie  alle  erzahlen  so  ganz, 
ganz  andre  Dinge :  Von  Unge- 
ziefer,  schlechtem  Essen,  von 
Kellerzellen,  von  seelischen  und 
leiblichen  Torturen,  von  den  tau- 
sendfachen  Formen,  in  denen 
arme,  kleine  Teufel  von  Beamten 
ihren  kummerlichen  Machtdunkel 
ausleben, 

Ist  das  nun  alles  Schwindel  ? 
Oder  haben  grade  Diese  alle  zu- 
fallig  das  Pech  gehabt,  nicht  in 
einer  der  gern  besichtigten  und 
oft  photographierten  Anstalten  zu 
sitzen? 

Iedenfalls  macht  sich  der  nach- 
denkliche  Laie  so  seine  Gedan- 
ken.  Vielleicht,  so  vermutet  er, 
ist  der  Fortschritt  unsres  Ge- 
f  angniswesens  ein'  so  aufierordent- 
licher,  daB  man  bereits  dazu 
ubergegangen  ist^  die  Straflinge 
auf  Dorfern  anzusiedeln,  die  den 
Namen  eines  popularen  alten 
russischen  Organisators  tragen. 
Axel  Eggebrecht 


Stefan  Rott 

Ctefan  Rott  oder  Das  Jahr  der 
„***  Entscheidung",  Max  Brods 
soeben  bei  Zsolnay  erschienener 
Roman  spielt  in  Prag  in  den 
letzten  Monaten  vor  Kriegsbeginn. 
Ein  siebzehn  j  ahriger  Gymnasiast 
ist  der  Held  des  Romans.  Ein 
komisches  Wort  iibrigens;  „Ro- 
manheld  \  In  den  meisten  deut- 
schen  Romanen  steht  entweder 
ein  Unheld  oder  ein  Unhold  im 
Mittelpunkt;  trotzdem  heifien  alle 
bedingungslos:  Romanheld.  Brods 
Gymnasiast  ist  ausnahmsweise 
wirklich  ein  Held.  Er  schlagt  sich 
tapfer  und  fanatisch  mit  Gott  und 
der  Welt  herum,  er  ringt  erbittert 
mit  den  Machten  des  Himmels 
und  der  Unterwelt,  beziehungs- 
weise  des  Unterleibs,  und  der  Le- 
ser,  in  atemloser  Spannung,  fragt 
sich  unaufhorlich:  Wer  wird  star- 
ker sein?  Es  ist  wichtig,  daB 
dieser  Roman  vor  dem  Krieg  in 
Prag  spielt,  denn  die  heute  schon 
ausgeraucherte  Damonie .  dieser 
Stadt,  in  der  seit  1918  statt  der 
Damonen  elegante  franzosische 
Militarattaches  und  dicke  ameri- 
kanische  Geschaftemacher  den 
Ton  angeben,  erklart  die  Ab- 
sonderlichkeit  der  Menschen,  die 
Brods  Buch  bevolkern.  Absonder- 
lich  sind  sie  alle;  der  siebzehn- 
jahrige  Stefan  Rott,  der  im  ver- 
fruhten  Kampf  um  eine  Welt- 
anschauung auf  dem  Umweg  iiber 
Thomas  von  Aquino  zu  Platons 
letzten  Weisheiten  gelangt;  der 
Religionsprofessor  Werder,  der 
seinen  Lieblingsschuler  allem  Ir- 
dischen     abspenstig      zu     machen 


vom  guten  Buch  ist  diegute 
Abdulla-Cigarette  -  sie  gtbt 
volkndeten  Genuftl 


Sfo«d«rd o/M.  u.  Gold Stack      %  Wg. 

Hcrrcaformaf m.  Gold  u.  Stroh/M StDoV     «  Wg. 

Virginia  Hr.  7       ....  o/M Stikk     %  Nf. 

tqypllan  Nr.  16   .     .     .     .  o/M.  u.  Gold SiOdc   10  Wig. 

Abdiilfa-Cigareffen    geniefjen  Welfruff 

Abdulla  £  Co.  Kairo       /       London  /       Berlin 
762 


trachtet,  em  finsterer  Mensch  aus 
dem  Mittelalter,  dessen  strenge 
und  eingeengte  Weisheit  mehr  als 
einen  Ausweg  aus  dem  selbstge- 
mauerten  Kerker  des  Ver- 
neinungsgeistes  kennt  und  ver- 
wirft;  die  schone  Frau  Phyllis,  die 
dem  jungen  Stefan  den  ersten 
Unterricht  in  den  Kiinsten  der 
Liebe  erteilt;  Stefans  Vater,  der 
sich  bei  einem  im  Salon  aufge- 
stellten  Fernrohr  von  den  An- 
strengungen  des  Bankgeschafts 
und  der  Ehe  erholt;  der  ver- 
kriippelte  Advokat  Doktor  Urban, 
der  Stefans  Geliebten  Phyllis 
horig  ist  und  den  Siebzehnjahri- 
gen  auf  den  Knien  urn  Mitleid  an- 
fleht;  der  Gymnasiast  Anton, 
Stefans  Freund  und  Sohn  der 
schonen  Frau  Phyllis,  der  mit 
Leib  und  Seele  Anarchist  ist. 
Nicht  nur  Stefan  Rott  —  alle 
diese  Menschen  erleben  Ungeheu- 
res.  Zwei,  drei,  vier  Monate  vor 
dem  Krieg.  Obwohl  damals  T,tie- 
fer  Friede"  war,  eine  Zeit  der 
angenehmen  Langeweile,  der  faden 
Sorglosigkeit,  der  ahnungslosen 
Wurstigkeit  in  alien  Bezirken  des 
Lebens  und  Denkens. 

Es  ist  eben  doch  alles  anders 
gewesen  als  man  sichs  heute  vor- 
stellt,  Wenigstens  in  Prag,  dessen 
Mysterien  keinem  tschechischen 
Dichter,  sondern  Max  Brod  auf- 
gegangen  sind.  Was  er  schildert, 
ist  die  merkwiirdigste  Vorahnung 
der  Ereignisse,  die  den  von  thm 
dargestellten  Spannungen  folgen 
muCten.  Traumhaft,  spukhaft 
bricht  der  Krieg  in  die  bewegte 
Stille  der  heimlich  langst  aufge- 
wuhlten  Stadt  ein.  Grofiartig 
schildert   Brod    das    Unwirkliche, 


Unglaubhafte  des  brutalen  Ein- 
bruchs  der  realen  Machte,  die 
den  Krieg  zutage  fordern.  Ohne 
Signal,  ohne  Voranmeldung 
brechen  sie  ein.  Die  Ermordung 
des  osterreichischen  Thronfolgers 
wird  unbesorgt,  beinahe  gleichgiil- 
tig,  mit  leiser  Schadenfreude,  zur 
Kenntnis  genommen;  niemand 
ahnt,  daB  nach  diesem  Attentat 
die  Erde  ins  Wanken  geraten  soli. 
Und  eines  Tags  ist  der  Krieg  da 
und  zerschneidet  alle  Entwicklun- 
gen,  bricht  alle  Kampfe  des 
Geistes  mit  einem  Schlag  .ab. 

Die  Kampfe  des  Geistes,  die 
der  Romanheld  besteht,  sind  Brod 
das  Wichtigste.  Ihretwegen  hat  er 
diesen  Roman  geschrieben.  Die 
groBen  bedeutenden  Kapitel,  die 
er  ihnen  widmet,  sind  ebenso 
spannend  wie  tief,  sie  zeigen  den 
Dichter  auf  der  Hphe  seiner  Ge- 
staltungskraft.  Es  darf  freilich 
nicht  verschwiegen  werden,  dafi 
es  manchen  Leserinnen  der  „Frauf 
nach  der  man  sich  sehnt"  nicht 
ganz  leicht  fallen  wird,  sich  mit 
den  schwierigen  Gedankengangen 
der  philosophischen  Duelle  zwi- 
schen  Werder  und  Stefan  zu  be- 
freunden,  Diese  Leserinnen 
konnen  sich  aber  an  die  sehr  un- 
gewohnliche  Liebesgeschichte  hal- 
ten,  die  von  Zeit  zu  Zeit  die 
„schweren"  Kapitel  unterbricht; 
sie  werden  auf  ihre  Rechnung 
kommen. 

Ludwig  Winder 

Lyonel  Feininger;      f 
Zwanzigtausend 

T\  ie  Zahl  diirfte  bis  zum  Er- 
*-^  scheinen  dieser  Zeilen  be- 
reits  erheblich  uberschritten  sein. 


Mlhtfm  WvtftmntUv  miigtett  Me  $dx\U 
itbcr  ben  f  o^f  mrammcttrriilagiett/* 

S  i  e  werden  nicht  so  besttirzt  sein,  derm  S  i  e  verstehen  die  junge  Frauengene- 
ration,  deren  Lebensautfassung  ihren  Ausdruck  findet  in  dem  Erstlingswerk  von 

IRMGARD  KEUN  /  Gilgi,  eine  von  uns 

In  biegsamem  Pappband  M  3,80;  in  Leinen  M  4,80 


UNIVERSITAS-VERLAG   /  BERLIN  W  50 


(Ift 


763 


So     viele    Menschen     haben     die 
Ausstellung  Lyonel  Feiningers  im 
Kronprinzenpalais   in    den   ersten 
paar  Wochen  besucht.    An  Sonn- 
tagen    sind   die   Raume    drangvoll 
von  einem  Publikum,  das  zu  den 
verschiedensten    Klassen,    Berufs- 
und       Einkommensschichten      ge- 
hort     Man   sieht  Arbeiter,   klein- 
burgerliche    Typen,    Intellektuelle 
und    Mondane    mit    der    gleichen 
Konzentration  in  die  Betrachtung 
dieser    Landschafts-     und    Archi- 
tekturvisionen  vertieft.  Ein  Publi- 
kum    von      der    guten    Mischung 
„Volk*\    die    man   sonst     nur    in 
Kinos,     bei    Sportereignissen     und 
allenfalls   in  der  Volksbtihne  an- 
trifft,      ist     ein     Herz     und     eine 
Seele    vor   Bildern,     die    zu    den 
reinsten    geistigen    Erscheinungen 
der  deutschen  Kunst  gezahlt  wer- 
den  mussen.     GewiB    hat    die   ro- 
mantische  Stimmung  dieser  Male- 
rei     viel     Bestechendes     an    sich. 
Ihre      monumentalen    Lichtraume 
sind     von     der     ewig     deutschen 
Sehnsucht  nach  dem  Unendlichen 
erf iil It,    Feininger  malt  eine  zau- 
berhafte    Verklarung    der    Wirk- 
lichkeit,    ein   idealistisches  Labsal 
fur     empfindsame    Gemiiter,      die 
von  der  Wirklichkeit  der  Notver- 
ordnungen      nichts      weniger      als 
sanft      angefafit     werden.       Real- 
kunstpolitiker  mogen    fiber'  diese 
Empfindsamkeit       erhaben       sein 
oder    sie   vor   andern    und    sogar 
vor  sich    selbst    als  unzeitgemaDe 
Schwache    verleugnen.       Die    Ge- 
wiBheit      einer     hohern    geistigen 
Ordnung    im    Dasein,    die   in    den 
Bildern    von   Feininger    ihren    ge- 
steigerten  Wiederhall   erlebtf  die- 
ser     von      Rationalisten,       Mate- 
rialisten  und  Militaristen  so  her- 
abgewiirdigte    menschliche,    wenn 


Ihr  wollt:  allzumenschliche  Trieb 
ist  auch  aus  dem  Helden  und 
Opfer  unsrer  guten  neuen  Zeit 
nicht  wegzuoperieren,  Er  mag 
heute  halb  und  halb  verschuttet, 
er  mag  seines  Gottesglaubens 
verlustig,  an  Substanz  armer  und 
diinner  geworden  sein.  Eben: 
stimmungshaft  und  romantisch. 
Aber  Feininger  kommt  dieser  Ro- 
mantik  keineswegs  auf  der  Linie 
des  geringsten  geistigen  Wider- 
standes  entgegen,  Beweis :  Nicht 
allein  das  grobe  MiBverstandnis, 
mit  dem  seine  Kunst  von  der  na- 
tionalsozialistischen  Kunstpolitik 
behandelt  wird.  Die  kristallklare 
Baugesetzlichkeit  seiner  Bilder 
ist  fur  die  impressionistische  Kri- 
tik  noch  heute  ein  Buch  mit  sie- 
ben  Siegeln.  Auch  ware  sie  von 
dem  gleichen  Publikum,  das  dem 
Sechzigj  ahrigen  heute  huldigt, 
vor  zehn  Jahren  noch  zumindest 
ratios   angestarrt  worden. 

Der  Erfolg  der  Ausstellung  von 
Feininger  ist  die  glanzende  Recht- 
fertigung  eines  Kunstlers,  der  zu 
den  viel  gelasterten  „Ismen"  ge- 
hort.  Expressionismus  —  Kubis- 
mus:  Was  vor  zehn  und  funfzehn 
Jahren  Burger-  und  Impressio- 
nistenschreck  war,  wird  heute  mit 
Liebe  und  Bewunderung  ange- 
nommen.  Wie  so  oft  schon,  hat 
wieder  einmal  das  vielumstrittene 
Neue  in  der  Kunst  recht  behal- 
ten.  Wieder  einmal  ein  Auflen- 
seiter,  ein  „asozialer  Formalist'4 
etcetera,  der  Auge  und  Herz  des 
grofien  Publikums  fur  sich  be- 
lt ehrt  hat.  Trostlich  fur  j  ene 
jungen  Maler  und  Bildhauer,  die 
den  ewigen  Phantasievorsprung 
der  Kunst  vor  neuem  zu  wahren 
wissen  und  dafiir  schief  angesehn 
werden  —  gewiB  auch  von  Augen, 


Die    Neagestaltung  der  gesellschaftlichen  Ordnung! 
GERHART  POHL: 

VORMARSCH  INS  XX.  JAHRHUNDERT 

Zerfall  und  Neubau  der  europ^ischen 
Gesellschaft    im   Spiegel    der   Literatur 

Kartoniert  nur  RM.  3.80. 

Erstmalig  wird  hier  entschlossen  und  konsequent 
SOzlologische  Literaturkritik  geirleben  statt  der 
bisher  Ublichen  fisthetischen. 

W.  R.  LINDNER  VERLAQ,  LEIPZIG  ■m^hmm 

764 


die  heute  Feininger  folgen,  nach- 
dem  sie  gestern  bis  Cezanne  und 
keinen  Schritt  welter  reichten. 
Daruber  hinaus  aber  darf  die  un- 
gewohnliche  Anziehungskraft  der 
Ausstellung  im  Kronprinzen- 
palais  vielleicht  als  Symptom  gel- 
ten  fur  eine  neue  geistige  Selbst- 
besinnung,  die  vielfach  auch  dort 
einkehren  mag,  wo  die  grellen 
Sensationseffekte  von  Technik, 
Sport,  Film  und  Reportage  alles 
andre  uberblendet  haben.  Auf 
jeden  Fall  ist  das  stumpfsinnige 
und  boswillige  Schlagwort  von 
der  Kunst,  „die  unsre  Zeit  nichts 
mehr  angehe",  durch  die  stille 
Demonstration  der  zwanzigtau- 
send  und  mehr  Besucher  Feinin- 
gers  aufs  griindlichste  widerlegt, 
Und  hinter  diesen  zwanzigtau- 
send  stehen  bestimmt  noch  Hun- 
derttausende,  denen  die  ganze 
zeitgemaBe  Betriebsamkeit  unsrer 
tiichtigen  Zivilisationspraktiker 
und  Weltkonfusionsrate  langst 
zum  Halse  heraushangt,  Hundert- 
tausende,  die  jenseits  von  der 
Kirche  aber  auch  vom  Freiden- 
kertum,  jenseits  von  mondsuchti- 
ger  Lebensuntauglichkeit,  aber 
auch  von  verkrampften  Aktivis- 
men  zu  einer  tiefern  Lebens- 
orientierung  drangen.  Die  Men- 
schen  brauchen  Kunst.  Man  mufl 
es  nur  verstehen,  die  Kunst  an 
sie  heranzubringen.  Man  darf 
sich  nur  nicht  einschuchtern  und 
entmutigen  lassen  von  dem  geist- 
feindlichen  Geschrei  jener,  die 
sich    als   einzig   autorisierte    Ver- 


treter  von  —  je  nach  dem  — 
f,Massen-"  oder  ,,Volksinteressen" 
aufspielen.  Ernst  Kdllai 

Ja»  warum  denn? 

\/orsitzender:  Warum  haben  Sie 
v  aber  zum  Beispiel  Gelder  fur 
politische  Zwecke  gegeben? 

Leo  Sklarek;  Das  haben  alle  ge- 
macht.  Warum  gibt  zum  Beispiel 
die  Behala  mit  ihrem  sozialdemo- 
kratischen  Direktor  Schiining  Gel- 
der an  die  Deutschnationalen? 

Vorsitzender:  Ja,  warum  denn? 

Leo  Sklarek:  Weil  es  ein  einge- 
fiihrtes  System  war,  das  unter 
Oberburgermeister  BoC  entstan- 
den  ist, 

Aus  dem  SklarekprozeB 

Wenn  das  so  weiter  geht 

rVie  Stadt  Berlin   neigt  meht   und   mehr 
*~*  Zu  provinziellen  Sitten, 
Nun  wird  uns  schon  der  Nahverkehr 
Ab  1 2  Uhr  nachts  beschnitten  : 

Wenn  das  so  weiter  geht, 

O  jeh,  O  jeh, 

Kann  uns  die  B.V.G.  am  Po— 

(Nicht  an  der  Spree  1) 

Den  vroflen  Brudern  Safl  gelang 
Der  Druck  von  Zehnmarkscheinen. 
Und  man  versteht  das,  denn  die  Bank 
Vcrsagt  schon  bei  uns  Kleinen. 

Wenn  das  so  weiter  geht, 

O  jeh,  O  jeh, 

Dann  bin  ich  auch  fur  das 

Import-monney. 

An  Halle  kann  man  wieder  sehn 
Wie  Adolf  Rex  sein  Heer  lenkt. 
Dort  rebelliert  man  gegen  dehn, 
Der  etwas  mehr  als  der  denkt. 

Wenn  das  so  weiter  geht, 

O  jeh,  O  jeh, 

Dann  wird  die  Wissenschaft 

Zum  Kabarett 

Werner  Finch 


Hlnweise  der  Redaktion 


Bucher 

Lion  Feuchtwanger:  Erfolg.    (Sonderausgabe)  Gustav  Kiepenheuer,  Berlin. 

Jean  Giono :  Ernte.    S.  Fischer,  Berlin. 

Arthur  Holitscher:  Ein  Mensch  ganz  frei.    S.Fischer,  Berlin. 

Anton  Kuh:  Physiognomik.    R.  Piper  &  Co.,  Mtinchen. 

Albert  Londres:  Jude  wohin?     Phaidon-Verlag,  Wien. 

Adam  Muller:  Vom  Geiste  der  Gemeinschaft    Alfred  Kroner,  Leipzig. 

Demokratie  und  Partei.    Herausgeber  P.  R.  Rohden.    L.  W.  Seidel  &  Sohn,  Wien. 

Rundfunk 

Diensta?.  Berlin  19.40:  Spuk  in  der  Villa  Stern  von  Friedrich  Hollander  —  Mittwoch. 
Langenberg  11.00:  Franz  Werfel  liest.  —  Berlin  14.00;  Totengespr&che  von  Fritz 
Mauthner.  —  Konigsberg  14.00:  Verse  und  Prosa  von  Walter  Bauer.  —  Konigswuster- 
hausen  14.00:  Pablo  Picasso,  Adolf  Behne.  —  Breslau  1930:  Ernst  Glaeser  liest.  — 
Mtthlacker  21.15:  Werden  —  Sein  —  Vergehen.  —  Donnersta?.  Breslau  18.30:  Kann 
eine  moderne  Kunsbetrachtung  die  Hegelschen  Grundbegriffe  entbehren?  Herbert 
Bahlinger  und  Werner  Milch.  -  Freitay.  Berlin  18.10:  Robert  Musilliest.  —  Leipzig 
20.40:  Der  Weiberkrieg,  nach  Aristophanes.  —  Berlin  21.10:  Gottfried  Benn  liest.  — 
Sonnabend.    Berlin  18.00:  Die  Err  ah  lung  der  Woche,  Arthur  Eloesser. 

765 


Antworten 

Arbeitsloser  Auslander.  Die  Stadtverwaltung  von  Gladbeck  hat 
*  deinen  dort  ansassigen  Leidensgenossen  einen  blauen  Brief  geschickt, 
in  dem  sic  ihnen  mitteilt,  dafi  sie  leider  gezwungen  ist,  die  Zahlung 
der  Erwerbslosenunterstiitzung  an  sie  ab  1 .  November  einzustellen. 
Dreihundert  liegen  so  ohne  jegliche  Mittel  auf  der  Strafle,  die  Stadt- 
vater  (,ersuchen"  sie  in  ihrem  „eignen  Interesse",  sich  in  ihre  Heimat 
zu  verfiigen.  Diese  freundliche  Aufforderung  kommt  einer  Ausweisung 
gleich,  die  durch  nichts  berechtigt  ist.  Und  davon  abgesehn  haben 
die  Betrof fenen  doch  Jahre  hindurch  aus  ihrer  Tasche  Beitrage  zur 
Erwerbslosenunterstiitzung  gezahlt,  und  nicht  nur  diese,  denn  sie  sind 
wie  alle  andern  Arbeitenden  der  Steuerpflicht  unterworfen  etcetera. 
Hier  gibt  es  doch  nur  zwei  Moglichkeiten,  entweder  befreit  man  alle 
Auslander  von  jeglicher  Zahlungspflicht,  dann  ist  man  ihnen  gegen- 
(iber  auch  zu  nichts  verpflichtet;  oder  man  steckt  das  Geld  ein  und 
laJBt  ihnen  die  durch  das  Geld  erworbenen  Rechte,  Eine  andre  Mog- 
lichkeit  gibt  es  nicht,  und  kein  Hinweis  auf  die  druckende  Nptlage  ver- 
fangt.  Es  verstofit  einfach  gegen  die  primitivsten  Gesetze  der  offent- 
Iichen  Moral,  einem  Menschen  jahrelang  Beitrage  zur  Arbeitslosenver- 
sicherung  abzuknopfen  und  ihm  dann,  wenn  er  selber  in  die  traurige 
Lage  versetzt  ist,  Erwerbslosenunterstiitzung  beziehen  zu  miissen, .  zum 
Teufel  zu  schicken  mit  dem  Hinweis,  wir  haben  nicht  mal  Geld  fur 
unsre  deutschen  Erwerbslosen. 

Neugieriger.  Der  LandesverratsprozeB  gegen  die  ,Weitbuhne' 
(Rubrum:  Kreiser  und  Ossietzky)  findet  am  17.  November  vor  dem 
,    IV,  Strafsenat  des  Reichsgerichts  statt. 

Walther  Victor-  Sie  haben  sich  nun  bereits  das  vierte  Mal  vpr 
den  Gerichten  wegen  einer  angeblichen  Gotteslasterung  zu  ver ant- 
worten gehabt.  Wir  referierten  bereits  mehrmals  daruber.  Die  jetzigen 
Richter  waren  so  gnadig,  Ihnen  statt  der  zuletzt  zudiktierten  vier  Mo- 
nate  Gefangnis  nur  noch  zwei  Wochen  aufzubrummen.  Sie  haben  Re- 
vision eingelegt,  Wann  wird  sich  endlich  auch  fur  Sie  das  Gericht* 
finden,    das   so   weise   ist  wie  die    Siegert-Kammer  im  Grosz-Prozefi? 

WirtschaHskorrespondenz  fiir  Polen.  Ihre  Beilage  „Buch-  und 
Kunstrevue"  feierte  in  diesen  Tagen  ihr  funfjahriges  Bestehen.  Von 
Kattowitz  aus  Verstandigungspolitik  zwischen  Polen  und  Deutschland 
zu  propagieren,  durfte  keine  leichte  Arbeit  sein,  und  wir  gratulieren 
Ihnen,  daB  Sie  mit  Erfolg  versucht .  haben,  Polen  mit  den  geistigen 
Produkten  Deutschlands  bekannt  zu  machen.  Wir  wunschen  Ihnen 
weiterhin  viel  Gltick, 

Danziger.  Wenn  Sie  Interesse  an  regelmafiigen  Zusammenkunften 
der  dortigen  Weltbuhnenleser  haben,  so  geben  Sie  Ihre  Adresse  an 
unter:  Danzig  1,  Schliefifach  150. 

Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospekt  des  Axia-Verlages,  Berlin,  bei, 
der  Uber  das  Schaffen  von  Salomon  Dembitzer  unterrichtet.  Wir  emp- 
fehlen  den  Prospekt  der  besonderen  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser. 

Manu&kripte  sind  nur  on  die  Redaktion  dor  Weltbiihne,  Charlottenburg,  Kantatr.  152,  zu 
rich  tea:  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruck  send  unj  erfolgen  kann. 
Das  Aufftihrungarecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiederjrabe  alter  Art  und  die  Verwertiing  im  Rahmen  von  RadiovortrSgen 
bleiben   ftlr   alle  in  der  Weltbtttme  erscheinenden  Beitrage  ausdrUcklicS  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begriindet  von  Siegfried  Jacob sohn  und  wird  von  Carl  v.  Ovsietzky 
unter  Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantwortlich:    Carl  v.  Ossietzky,    Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried    Jacobsoho  &  Co.,  Charlottenburjr. 

Telephon:    CI,  Steiriplatz  7757    -  PosUcheAkonto:  Berlin  119  58. 
Bankkonto.     D  arms  tad  ter    u.    Nationalbank,       Depositenkasse    Charlottenburg,     Kantstr.    11? 


Nach    RedaktionsschluB    diescr    Nummer    ist    das    nach- 
folgende 


Urteil 


des  Reichsgerichts  gegen  den  Herausgeber  der  .Weltbiihne*, 
Carl  von  Ossietzky,  und  den  Schrif tsteller  Walter  Kreiser  er- 
gangen: 

Die  Angeklagten  werden  wegen  Verbrechen  gegen  §  1  Ab- 
satz  2  des  Gesetzes  izber  Verrat  militarischer  Gekeimnisse  vom 
3.  Jttni  1914  ein  jeder  zu  1  Jahr  und  6  Monaten  Gefdngnis  und 
zur  Tragung  der.  Kosten  des  Verfahrens  verurteilt.  Die  Nr.  11 
der  tWeItbiihne4,  Jahr  gang  1929,  ebenso  wie  die  zu  ihrer  Her- 
steltung  notwendigen  Flatten  und  Formen  sind  unbrauchbar  zu 
machen. 

Fiir  die  Verkiindung  der  Urteilsbegrundung  hat  der  Senat 
des  Reichsgerichts  die  Oftentlichkeit  ausgeschlossen,  ,,da  die 
tatsachliche  und  rechtliche  Wiirdigung  des  inkriminierten  Ar- 
tikels  durch  das  Gericht  naturgemafi  nicht  erfolgen  konnte, 
ohne  die  in  Rede  stehenden  geheimen  Nachrichten  zu  erwagen 
und  zu  beleuchten". 

Dazu  haben  wir  im  Augenblick  nur  zu  sagen:  Die 
Arbeit  der  .Weltbuhne'  wird  fortgesetzt. 


Anlafllich  dieses  Urteils  veranstaltet  die  Deutsche  Liga  furMen- 
schenrechte  am  Freitag,  dem  27.  November,  um  8  Uhr  abends,  im 
Langenbeck-Virchow-Haus,   Luisenstr.   58,   eine  Protestkundgebung, 


XXVII.  Jahrgang  24.  November  1 93 1  Nararaer  47 


Wer  gegetl  Wen?  von  Carl  v.  Ossietzky 

r\  ie  Nationalsozialisten  haben  nun  audi  in  Hessen  die  biirger- 
^  lichen  Parteien  iiberrannt  und  die  Sozialdemokratie  stark 
ins  Hintertreffen  gebracht.  Die  Kommunisten  haben  viel  er- 
obert,  und  die  neue  Sozialistische  Arbeilerparlei  hat  trotz  un- 
guns  tigs  ten  Verhaltnissen  ein  M  and  at  gewinnen  konnen.  Von 
den  alten  Biirgerparteien  hat  sich  nur  das  Zentrum  mit  bestem 
Anstand  behauptet.  Die  Gruppen  Hugenberg,  Dingeldey,  Diet- 
rich und  einige  andre  liegen  zerschlagen  da.  Die  Massen  der 
enteigneten  Burger  fluchten  hinter  die  Palisaden  der  National- 
sozialistischen  Partei.  Angesichts  des  ungeheuren  Anwachsens 
dieser  Partei,  die  noch  vor  ein  paar  Jahren  erne  etwas  zweifel- 
hafte  Sekte  war,  verliert  die  Frage  fast  an  Bedeutung,  ob  und 
wann  sie  regieren  wird.  Schon  lange  kommt  die  Regierung 
Bruning  ihr  auf  alien  Wegen  entgegen.  Die  Notverordnungen, 
die  Militarisierung  des  Innenministeriums,  alles  das  sind  Mafi- 
nahmen,  die  den  Zustand  von  morgen  oder  tibermorgen  vor- 
wegnehmen.     Hitler  regiert  nicht,  aber  er  herrscht. 

Das  deutsche  Biirgertum  schwindet  politisch  in  dem 
MaBe,  wie  es  sozial  an  Boden  verliert.  Es  begreift  nicht  das 
uber  seine  Klasse  hereingebrochene  wirtschaftliche  Schicksal. 
Es  steht  einer  Revolution  gegeniiber,  die  es  mit  unbarmherzi- 
ger  Schnelle  aus  seinen  Vorrechten  jagt,  und  die  doch  weder 
Gestalt  noch  Gesicht  tragt.  Die  franzosischen  Adligen  sahen 
doch  die  rote  Miitze  ihrer  Gegner,  die  Spottverse  der  Ohne- 
hosen  heulten  ihnen  in  die  Ohren,  Qa  iraf  ca  ira,  les 
aristocrats  on  les  pendra.  Die  deutsche  Besitzerschicht  hat 
es  nicht  mit  Burger  Samson  zu  tun,  ihr  Nachrichter  ist  der 
hochst  korrekte  Gerichtsvollzieher.  Was  Generationen  er- 
worben  haben,  wandert  eines  Morgens  auf  den  kleinen  klapp- 
rigen  Wagen  vor  der  Tiir,  der  nachher  so  melancholisch.  durch 
die  StraBen  rumpelt  wie  Wilhelm  Raabes  Schtidderump.  Qa 
ira,  ca  ira,  celui  qui  s'eleve,  on  l'abaissera. 

Dieses  Millionenheer,  das  sich  dem  Fascismus  in  die  Arme 
wirft,  fragt  nicht,  weil  ihm  nichts  mehr  zu  fragen  iibrig  ge- 
blieben  ist.  Desperat  und  kritiklos  folgt  es  einer  bunten  und 
larmenden  Jahrmarktsgaukelei,  weil  nichts  schlimmer  werden 
kann  als  es  bereits  ist,  so  wie  ein  von  den  besten  Arzten  auf- 
gegebener  Patient  schlieBlich  den  Weg  zum  Kurpfuscher  findet, 
der  dem  Krebskranken  empfiehlt,  eine  WalnuB  in  der  Tasche 
zu  tragen.  Jeder  hofft,  niemand  fragt.  Darin  Hegt  das  Gliick 
des  Nationalsozialismus,  das  Geheimnis  seiner  Siege,  darin 
liegt  aber  auch  seine  Ohnmacht.  Seine  verschiedenartigen  Be- 
standteile  wachsen  nicht  zusammen,  die  Partei  bleibt  und 
bleibt  eine  kolossale  Anschwemmung  gebrochener  Existenzen, 
leidlich  gebunden  nur  durch  den  Glauben,  daB  der  Heilige  aus 
Braunau    im   Ernstfalle    doch  funktionieren    wird.     Aber    der 

i  •      767 


Heilige  denkt  nicht  ans  Funktionieren,  dieser  Prophet  der  Ger- 
man Science  —  man  muB  seinen  Mumpitz  so  nennen  —  macht 
sich  im  Braunen  Haus  wichtig;  kein  Gestalter,  jeder  Zoll  ein 
Dekorateur,  heute  Wilhelm  IL,  morgen  vielleicht  schon  Lud- 
wig  IL  Zweimal  hatte  die  Partei  marschieren  konnen.  Am 
14.  September  1930  und  am  Abend  von  Harzburg  war  Deutsch- 
land  sturmreif,  Aber  Hitler  marschiert  nicht;  denn  wenn  er 
auch  nicht  viel  weiB,  so  doch  eines:  daO  er  nur  ein  paar  seiner 
Mobilgarden  ausschwarmen  lassen  kann,  daB  aber  das  Gros 
keine  Bewegung  vertragt.  Und  im  Grunde  kalkuliert  er  nicht 
so  unrichtig.  Denn  was  Bruning  und  Groener  fiir  ihn  tun, 
braucht  er  selbst  nicht  zu  leisten.  Nochmals:  er  regiert  nicht, 
aber  er  herrscht.    Er  tut  nichts,  aber  andre  laufen  fiir  ihn. 

Auf  die  Dauer  kann  es  sich  aber  eine  noch  immer  wach- 
sende  Partei  nicht  so  bequem  machen.  An  dieser  Partei  ist 
nichts  originell,  nichts  schopferisch,  es  ist  alles  entlehnt.  Sie 
hat  kein  eignes  geistiges  Inventar,  keine  Idee;  ihr  Programm 
ist  in  aller  Welt  zusammengestoppelter  Unsinn.  Ihr  auBerer 
Habitus  und  ihr  Wortschatz  stammt  teils  von  den  Linksradi- 
kalen,  teils  von  Mussolini,  teils  von  den  Erwachenden  Ungarn. 
Nur  die  Vereinsparole  ,,Juda  verrecke!"  ist  wohl  in  eignerKul- 
tur  gezogen.  Diese  Millionenpartei  mit  den  fetten  Industrie- 
geldern  hat  bei  ihren  Ausfliigen  in  den  Geist  immer  nur  die 
argsten  und  altesten  Klamotten  aufgekault.  Was  ihre  Theore- 
tiker  Feder  und  Rosenberg  angeht,  so  ist  jede  Unterhaltung 
mit  ihnen  unmoglich,  wahrend  man  mit  einem  vifen  Praktiker 
wie  Goebbels  immerhin  noch  mit  den  Stiefelspitzen  diskutieren 
kann.  Alles  an  dieser  Partei  ist  Nachahmung,  alles  was  sie 
unternimmt  schlechtes  Plagiat.  Selbst  ihre  Zeitungen  sind  im 
Format  und  in  der  graphischen  Aufmachung  aufs  engste  an  ein- 
gefiihrte  Blatter  angelehnt,  ihnen  zum  Verwechseln  ahnlich  ge- 
macht.  Alles  in  und  an  der  Nationalsozialistischen  Partei  ist 
zusammengeklaut,  alles  Diebesgut,  alles  Sore;  Material  fiir 
stupide  Kopfe  aber  fertige  Finger.  Dennoch  waltet  auch  hier 
so  etwas  wie  eine  metaphysische  Gerechtigkeit:  die  Herren 
Fiihrer  haben  sich  ein  Stiick  zu  viel  gelangt.  Sie  haben  sich 
von  ganz  links  her  auch  die  soziale  Revolution  geholt  und 
unter  ihre  Leiite  geworfen.  Damit  hantieren  sie  nun  wie  der 
Affe  mit  dem  Rasiermesser,  und  damit  werden  sie  sich  am 
Ende  selbst  die  Gurgel  abschneiden. 

Hugenberg  hat  bekanntlich  gesagt,  wir  miiBten  alle  Prole- 
tarier  werdenf  ehe  es  wieder  besser  wird,  und  im  Grunde 
hat  auch  Karl  Marx  dasselbe  gesagt.  Heute  ist  dieser  Tat- 
bestand  so  ziemlich  erreicht,  es  kommt  nur  darauf  an,  was  fiir 
Schltisse  man  daraus  zieht.  Die  soziale  Differenzierung  wird 
schwacher  und  schwacher,  man  kann  es  sich  beinahe  ausrech- 
nen,  warm  Deutschland  von  .  einer  einzigen  verelendeten 
Masse  bewohnt  wird.  Bald  wird  es  nur  noch  eine  einzige  pro- 
letarische  Klasse  geben,  und  selbst  wer  heute  noch  arbeitet, 
sich  heute  noch  mit  Vermogensresten  in  etwas  Wohlhabigkeit 
sonnt,  tut  es  mit  schlechtem  Gewissen,  fiihlt  sich  im  Innern 
doch  nur  als  einstweilen  zuriickgestellte  Reserve  der  groBen 
Armee  unter  der  einen  grauen    Fahne.     Damit    werden    aber 

768 


auch  die  innern  Fraktionszwiste  schattenhaft,  die  historischen 
Parteien  selbst  gespenstisch,  weil  sie  nicht  der  wirklichen 
Sachlage  entsprechen,  weil  dahinter  nicht  mehr  die  natiirlichen 
Gruppeninteressen  stehen,  weil  Deutschland  anfangt,  eine  ein- 
zige  Klasse  zu  werden.  Die  Parteien  raufen  sich  wie  sonst, 
Warum?  Sie  sind  leer  gewordene  Hiilsen.  Die  verschiedenen 
Kokarden  fallen  auf  der  StraBe  iibereinander  her  und  zerschla- 
gen  sich  die  dahinter  befindlichen  Stirnen.  Warum?  Wer  steht 
gegen  wen?  Prolet  gegen  Prolet.  Habenichts  gegen  Habe- 
nichts.    Deutschland  gegen  Deutschland. 


Es  ist  also  eine  Situation  zum  Handeln  wie  geschaffen. 
Selten  stellt  das  Schicksal  der  Volker  das  Bild  einer  Nation 
so  einheitlich.  Die  biirgerlichen  Mittelparteien  sind  erledigt, 
das  zwar  immer  noch  intakte  Zentrum  ist  nur  eine  Partei  der 
taktischen  Defensive,  die  vor  jedem  Entscheidungskampf  ein- 
schwenkt  und  sich  mit  dem  wahrscheinlichen  Sieger  zu  ver- 
tragen  sucht.  Seine  Leute  gehn  nur  in  die  Wahlzelle,  nicht  auf 
die  StraBe.  Die  Entscheidung  kann  nur  von  den  Fascisten 
komraen  oder  von  den  Sozialisten. 

Unter  diesen  Umstanden  liegt  der  Gedanke  der  sozialisti- 
schen  Einigung  wieder  in  der  Luft.  Die  Gewerkschaften 
schrumpfen  in  der  allgemeinen  Pauperisierung.  Die  Sozial- 
demokratie  verliert  iiberall,  wo  gewahlt  wird.  Die  Kommu- 
nisten  gewinnen  zwar,  aber  zugleich  geraten  sie  mehr  und 
mehr  in  Isolierung;  ihre  Radikalitat  geht  auf  zu  viel  und  mufi 
im  tiefsten  Defaitismus  enden.  Ihr  Wachstum  zwingt  ihnen 
Aufgaben  und  Entschliisse  auf,  die  ihnen  nicht  nur  aus  innern 
Griinden  gefahrlich  werden  konnen,  Eine  so  groBe  Partei,  die 
standig  unter  dem  Schwerte  des  Verbots  lebt,  kann  leicht  un- 
sicher  werden.  AuBerdem  ist  die  KPD  durch  Programm  und 
Doktrin  an  eine  starre  Linientreue  gefesselt,  die  sie  an  der  Ent- 
faltung  ihrer  wahren  Kraft  hindert;  sie  kann  davon  nicht  ab- 
weichen,  ohne  in  schweren  innern  Zwiespalt  zu  kommen.  Es 
ist  mir  einmal  bei  der  Partei  bitter  vermerkt  worden,  daB  ich 
mich  iiber  Heinz  Neumanns  chinesische  Vergangenheit  mo- 
kierte.  Heute  will  ich  mich  gern  rektifizieren.  Es  ware  ein 
namenloser  Segen  fiir  die  ganze  KPD,  wenn  der  moskauer 
GroBherr,  der  fiir  Herrn  Neumann  viel  ubrig  haben  soil,  ihm 
mpglichst  bald  eine  neue  ehrenvolle  Mission  in  China  iiber- 
tragen  mochte,  Auch  unter  den  deutschen  Kommunisten  gibt 
es  zahllose,  die  die  Auffassung  vertreten,  daB  Herrn  Neumanns 
nicht  unbetrachtliche  Begabung  fiir  chinesische  Verhaltnisse 
wie  geschaffen  ist. 

Der  Biirgerkrieg  der  deutschen  Sozialisten  untereinander 
wird  immer  naturwidriger.  Der  Fundus,  um  den  sie  sich  schla- 
gen,  wird  immer  kleiner.  Dieser  Fundus  ist  die  deutsche  Re- 
publik.  Hat  der  Fascismus  eirnnal  gesiegt,  so  werden  die  So- 
zialdemokraten  ebenso  wenig  zu  melden  haben  wie  die  Kom- 
munisten.   Auch  hier  lautet  die  Frage:  Wer  gegen  wen?    Pro- 

769 


Ictarier  gegen  Proletarier.  Arbeiter  gegen  Arbeiter.  Dabei 
werden  die  Anhanger  beider  Parteien  immcr  ahnlicher  im 
Denken.  Die  kommunistischen  Arbeiter  verlieren  die  Geduld, 
auf  eine  Weltrevolution  zu  warten,  die  nicht  kommt,  obgleich 
die  okonomischen  Zustande  daftir  reif  zu  sein  scheinen.  Die 
sozialdemokratischen  Arbeiter  dagegen  verlieren  den  Glauben 
an  den  Opportunismus  ihrer  Fiihrer. 

Die  Sozialdemokratie  hat  durch  Rudolf  Breitscheid  die 
Moglichkeit  opera tiven  Zusammengehens  mit  den  Kommunisten 
zur  Erorterung  gestellt.  Das  war  verniinftig,  aber  das  schlechte 
Echo  bei  der  ,Roten  Fahne'  diirfte  sich  wohl  auch  durch  die 
Wahl  dieses  Friedensbotens  etwas  erklaren  lassen,  Es  gibt 
noch  genug  Sozialdemokraten,  die  dafiir  besser  geeignet  sind. 
Herr  Breitscheid  ist  eine  Bettschonheit,  er  verliert,  wenn  er 
aufsteht.  Es  heiBt  auch,  eine  Diskussion  schon  im  Anfang  ab- 
drosseln,  wenn  der  ^Vorwarts'  schreibt,  die  Kommunisten  nuiB- 
ten  es  sich  abgewohnen,  Briining — Groener  gleich  Hugenberg— 
Hitler  zu  setzen.  Es  kommt  nicht  auf  die  besondere  politisch- 
moralische  Einschatzung  dieser  Herren  an,  nicht  auf  ihre  Ab- 
sichten  sondern  auf  ihre  Wirkung.  Und  hier  muB  man  die 
Unterschiede  schon  mit  dem  Mikroskop  suchen, 

Es  ware  eine  Utopie  und  wiirde  der  Sache  nur  schaden, 
heute  bereits  die  gemeinsame  revolutionare  Front  aller  sozia- 
listischen  Parteien  und  ihrer  Sezessionen  zu  f ordern.  Das  ist  ein 
Wunschbild,  das  augenblicklich  an  den  sachlichen  und  perso- 
nalen  Differenzen  zerbricht<  Wenn  zunachst  nur  ein  taktisches 
Notprogramm  fruchtbar  gemacht  werden  konnte,  so  ware  das 
schon  ungeheuer  viel.  Ein  Programm  der  produktiven  Abwehr; 
Verteidigung  der  sozialen  Arbeit errechte  und  der  politischen 
Biirgerrechte  gegen  das  System  der  Notverordnungen  und  den 
Fascismus,  gegen  Briining  und  Groener,  Hugenberg  und  Hitler, 
Was  aber  Kir  alle  Falle  verhindert  werden  muB,  das  ist  die 
gleiche  abscheuliche  Gruppierung  wie  beim  preuBischen  Volks- 
entscheid.  Dieses  traurige  Schauspiel  darf  sich  nicht  wieder- 
holen,  sonst  erhalten  wir  im  nachsten  Friihjahr  mit  linksradi- 
kaler  Hilfe  einen  Reichsprasidenten  Hitler.  Es  ist  ein  Ungluck, 
daB  den  sozialistischen  Parteien  wirkliche  Mittler  fehlen,  daB 
die  Bureaugenerale  der  Zentralen  selbst  Tuchfiihlung  suchen 
mtissen  und  daB  sie  dabei  leicht  an  Widerstanden 
scheitern  konnen,  die  sie  selbst  geschaffen  haben.  Wie  viele 
Minuten  oder  Sekunden  vor  zwolf  es  schon  ist,  laBt  sich  nicht 
sag«n.  Periculum  in  mora.  Die  Herrschaften  miissen  sich  be- 
eilen, 

Bei  alledem  ist  es  dennoch  ein  Fortschritt,  daB  heute  wie- 
der  tiber  Derartiges  laut  gesprochen  werden  kann,  ohne  daB 
die  Ketzerrichter  solche  Stimmen  gleich  mit  dicken  Woll- 
kneb^ln  zu  ersticken  trachten.  Moglich,  dafi  wenig  dabei  her- 
auskommt,  aber  die  Zuversicht  wird  doch  wieder  rege,  dafi  der 
Fascismus  den  letzten  Gang  verlieren  wird.  Er  mag  Deutsch- 
land  iiberrumpeln,  er  wird  es  niemals  besitzen,  Er  wird  viel- 
leicht  noch  hoher  steigen,  aber  zu  keinem  andern  Zweck,  als 
um  so  tiefer  zu  fallen. 

770 


Rufiland  in  der  Wirtschaftskrise  K.L.oTrstorff 

PJie  Produktion  in  den  entscheidenden  Industriestaaten  ist  in 
*^  der  Weltwirtschaftskrise  um  ungefahr  ein  Drittel  zuriick- 
gegangen;  und  auch  der  WeitauBenhandel  hat  sich  in  seinem 
Volumen  auBerordentlich  verringert.  Im  erst  en  Halbjahr  1931 
ist  er  gegeniiber  dem  ersten  Halbjahr  1930  wertmaBig  um  etwa 
28  Prozent  zuriickgegangen.  Diese  Abnahme  ist  doppelt  so 
hoch  wie  die  im  ersten  Halbjahr  1930  gegeniiber  dem  ersten 
Halbjahr  1929.  Zur  Halfte  ungefahr  fallt  die  Abnahme  im 
WeitauBenhandel  auf  den  Riickgang  der  Umsatzmengen,  zur 
Halfte  auf  den  Riickgang  -der  Preise.  Wenn  man  den  Welt^ 
auBenhandel  im  ersten  Halbjahr  1928  mit  100  ansetzt,  so  stand 
er  im  ersten  Halbjahr  1931  auf  69,2,  MengenmaBig  ist  der 
Riickgang  geringer;  betrug  der  WeitauBenhandel  in  der  ersten 
Halfte  1928  100,  so  1931:  85,4.  Der  WeitauBenhandel  steht 
daher,  wenn  man  berucksichtigt,  daB  durch  die  vielen  neuen 
Grenzen  vielfach  als  AuBenhandel  erscheint,  was  fruher  Bin- 
nenhandel  war,  nicht  mehr  iiber  dem  Friedensniveau. 

Es  ist  selbstverstandiich,  daB  dieser  gigantische  Riickgang 
von  sehr  wichtigen  Konsequenzen  fiir  die  Verbundenheit' 
der  Wirtschaft  SowjetruBlands  mit  der  Weltwirtschaft  sein 
muBte.  Wir  stehen  im  dritten  Jahr  des  Funfjahrplans,  und  es 
ist  schon  heute  festzustellen,  daB  grade  durch  die  Weltkrise 
auch  der  groBe  Plan  stark  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird. 
Als  die  Russen  den  Plan  aufstellten,  und  in  diesen  Plan  natiir- 
lich  die  Entwicklung  ihres  AuBenhandels  einfiigten,  da  hatten 
sie  mit  einer  verhaltnismaBigen  Stabilitat  der  Weltwirtschaft 
gerechnet  und  damit  auch  mit  einer  Stabilitat  der  Preise  der 
entscheidenden  Produkte.  Es  ist  auBerordentlich  bezeichnend, 
daB  in  demselben  Jahre  1929,  in  dem  die  Russen  das  Zentral- 
Komitee  der  deutschen  kommunistischen  Partei  beschlieBen 
lieBen,  daB  eine  revolutionare  Situation  unmittelbar  bevorstehe, 
die  Russen  in  ihrem  Plan  die  herannahende  Weltwirtschafts- 
krise nicht  beriicksichtigten.  Kein  Wunder,  daB  die  Entwick- 
lung ihres  AuBenhandels  vollig  von  den  Voranschlagen  ab- 
wich.  Fiir  das  Jahr  1930  hatte  man  mit  einer  weitern  Export- 
steigerung  von  etwa  40  Prozent  gerechnet  und  hatte  auch 
dementsprechend  einen  Importplan  angesetzt.  Das  Jahr  1930 
brachte  aber  nicht  eine  Exportsteigerung  von  40  Prozent  son- 
dern  nur  von  14  Prozent.  Es  war  das  an  sich  noch  eine  er- 
;staunliche  Leistung.  Denn  verkennen  wir  nicht,  daB  im  selben 
Jahr  1930,  in  dem  die  Russen  ihren  Export  auch  wertmaBig 
noch  um  ein  Siebentel  steigerten,  der  WeitauBenhandel  einen 
wertmaBigen  Riickgang  um  mehr  als  15  Prozent  hatte.  Die 
-wertmaBige  Steigerung  der  russischen  Ausfuhr  um  etwa  ein 
Siebentel  war  begleitet  von  einer  viel  groBern  Steigerung  der 
russischen  Ausfuhrmengen.  Aber  es  zeigte  sich  in  der  Welt- 
wirtschaftskrise, daB  die  Preisgestaltung  auf  den  Weltmarkten 
;sich  sehr  zuungwisten  SowjetruBlands  auswirkte.    Warum? 

SowjetruBIand  fiihrt  im  wesentlichen  industrielle  Rohstoffe 
Hind  Agrarprodukte  aus:  Holzf  01,  Getreide,  Lebensmittel,  Felle 
etcetera.     In  manchen   Jahren  dominierten   in  der  russischen 

3  771 


Ausfuhr  die  industriellen  Rohstoffe  starker,  in  manchen  Jahren 
die  Agrarprodukte.  Die  Fertigwarenausfuhr  dagegeii  bildet 
innerhalb  der  gesamten  russischen  Ausfuhr  nur  einen  minimal ea 
Prozentsatz,  Nun  ist  in  dieser  Weltwirtschaftskrise  ein  Preis- 
fall  eingetreten,  der  insgesamt  bereits  groBer  ist  als  der  Preis- 
fall  in  friihern  Krisen.  Aber  die  Kartell-  und  Monppolpolitik 
wirkt  sich  darin  aus,  daB  der  Preisfall  der  kartellierten  Pro- 
dukte  und  damit  eines  groBen  Teiles  der  Fertigfabrikate  ver- 
haltnismafiig  geringfiigig  war,  wahrend  umgekehrt  der  Preis- 
fall  der  nichtkartellierten  Produkte,  der  Preisfall  der  in- 
dustriellen Rohstoffe  und  Agrarprodukte  vielfach  ein  gradezu 
katastrophaler  war.  Selbst  im  Jahre  1930  also,  in  dem  Sowjet- 
ruBland  in  seiner  Ausfuhr  mengenmaBig  den  Voranschlag  des 
Plans  erreichte,  war  der  Erlos  durch  diese  Ausfuhr  weit 
geringer,  als  man  angenommen  hatte,  so  daB  der  Importplan 
nicht  vollig  innegehalten  werden  konnte.  1931  aber  ist  noch 
weit  ungiinstiger  verlaufen.  Der  Exporterlos,  der  von  1929  auf 
1930  noch  gestiegen  war,  ist  von  1930  auf  1931  gefallen.  Auch 
dieses  Mai  ist  zwar  wieder  festzustellen,  daB  in  der  Weltkrise 
die  Entwicklung  des  russischen  AuBenhandels  weit  giinstiger 
verlauft  als  die  Entwicklung  des  AuBenhandels  in  den  hoch- 
kapitalistischen  Staaten,  aber  SowjetruBland  ist  von  der  Krise 
doch  so  stark  in  seinem  AuBenhandel  betroffen,  daB  wertmaBig 
die  Ausfuhr  gegeniiber  1930  zuriickgegangen  ist,  so  daB  in  den 
ersten  acht  Monaten  dieses  Jahres  ein  ImportiiberschuB  fest- 
zustellen ist,  der  die  fur  die  Russen  verhaltnismafiig  hohe 
Summe  von  etwa  100  Millionen  Dollar  ausmacht.  Ein  Import- 
iiberschuB in  dieser  Hohe  hat  aber  fur  die  Wirtschaft  Sowjet- 
ruBlands  sehr  bedeutsame  Konsequenzen.  Das  beruht  darauf, 
daB  RuBland  iiber  keine  Posten  der  sogenannten  unsichtbaren 
Zahlungsbilanz  verfiigt,  daB  es  vom  Ausland  keine  Zinsen  zu 
erhalten  hat,  daB  die  Bilanz  des  Frachtenverkehrs  eher  nega- 
tiv  als  positiv  ist,  daB  der  Touristenverkehr  bisher  keine  er- 
heblichen  Gelder  ins  Land  bringt.  RuBland  kann  daher  nur 
soviel  importieren  wie  es  exportiert,  und  wenn  die  Importe 
groBer  sind  als  die  Exporte,-so  geht  dies  nur  auf  dem  Kredit- 
wege.  Bisher  sind  aber  langfristige  Kapitalanlagen  in  bkono- 
misch  relevantem  Umfange  in  RuBland  nicht  investiert  worden, 
so  daB  die  Importuberscbiisse  im  wesentlichen  durch  verhalt- 
nismafiig kurzfristige  Warenkredite  ermoglicht  wurden.  Und 
zwar  ist,  wie  bekannt,  an  diesen  Warenkrediten  vor  allem  der 
deutsche  Kapitalismus  beteiligt.  Wie  prekar  die  Situation 
Deutschlands  auf  den  internationalen  Kapitalmarkten  ist,  dar- 
iiber  braucht  kein  Wort  verloren  zu  werden.  Die  Kredite  an 
RuBland  wurden  nicht  durch  eine  aktive  Bilanz  Deutschlands 
auf  den  internationalen  Kapitalmarkten  ermoglicht  sondern 
rtur  dadurch,  daB  der  deutsche  Kapitalismus  einen  Teil  des 
vom  Ausland  aufgenommenen  Kapitals  seinerseits  fur  Export- 
kredite  nach  RuBland  verwandte.  Es  ist  hier  ein  analoger  Vor- 
gang  zu  konstatieren  wie  im  Verhaltnis  Japans  zu  China  und 
der  Mandschurei,  Die  Kapitalien,  die  Japan  dort  investierte, 
stammten  zu  einem  sehr  erheblichen  Bruchteil  aus  Amerika, 
an  das  Japan  nicht  unbetrachtlich  verschuldet  ist.  Die  Ex* 
portkredite,  die  von  Deutschland  an  RuBland  gegeben  wurdent 

772 


haben  sich  fur  die  deutsche  Ausfuhr  sehr  gtinstig  ausgewirkt. 
Im  Gegensatz  zu  dcr  gesamten  dcutschen  Exportentwicklung 
zeigt  die  Ausfuhr  nach  RuBland  1931  eine,  stark  nach  oben 
gehende  Kurve.  Ob  aber  von  deutscher  Seite  in  absehbarer 
Zeit  iiber  das  bishcrige  Kreditvolumen  hinaus  noch  weitere 
Kredite  an  RuBland  gegeben  werden  konnen,  ist  sehr  fraglich. 
Bei  den  vielen  Fragent  die  zwischen  Laval  und  Briining  er- 
ortert  wurden,  scheint  die  Fragc  der  deutschen  Kredite  nach 
RuBland  eine  nicht  unerhebliche  Rolle  gespielt  zu  haben.  Eine 
Einigung  ist  bisher  nicht  erfolgt.  Den  Fall  gesetzt,  daB  Sow- 
jetruBland  keine  weitern  groBern  Kredite  mehr  erhalt,  imiBten 
die  russischen  Importe  stark  eingeschrankt  werden,  und  es  ist 
selbstverstandlich,  daB  diese  Einschrankung  erhebliche  Konse- 
quenzen  fur  die  weitere  Durchfiihrung  des  Funfjahrplans  haben 
wird.  Es  soil  ausdrucklich  bctont  werden;  Der  Plan  wird  da- 
durch  nicht  vereitelt,  aber  seine  Durchfiihrung  wird  sicher  ver- 
langsamt  werden,  Daraus  ergebenj  sich  sehr  wichtige  Konse- 
quenzen  fiir  die  Politik  RuBlands, 

Man  hatte  sich  driiben  bei  der  Aufstellung  des  Plans  die 
Dinge  etwas  zu  einfach  vorgestellt,  Man  hatte  ungef ahr  fol- 
gendermaBen  argumentiert:  ,,Wir  bauen  in  amerikanischem 
Tempo  in  ftinf  Jahren  die  russische  Industrie  auf,  wir  ent- 
wickeln  dabei  nicht  nur  die  Produktion  sondern  auch  den 
Konsum.  Wir  werden  in  den  fiinf  Jahren  den  Lebensstandard 
der  Arbeitermassen  in  RuBland  um  75  Prozent  steigern.  Da- 
rait  wird  der  russische  Arbeiter  nicht  nur  weit  besser  leben,  als 
er  im  Frieden  gelebt  hat,  damit  wird  er  so  gut  leben  wie  der 
westeuropaische  Arbeiter,  und  wir  werden  am  Ende  der  fiinf 
Jahre  den  westeuropaischen  Arbeitern  sagen  konnen:  Wir 
haben  in  einem  zuriickgebliebenen  Lande,  ohne  Kapitalisten 
und  Unteraehmer  die  Industrie  neu  aufgebaut  oind.  weit  iiber 
den  Friedensstandard  gebracht.  Wir  haben  einen  standig 
steigenden  Lebensstandard  der  Arbeiterschaft,  wir  haben  da- 
zu  keine  Arbeitslosenziffern.  Man  hatte  gehofft,  daB  Sowjet- 
ruBland  einfach  durch  seinen  realen  Bestand  ein  ^solch  de- 
monstrativer  Agitationsfaktor  auch  fiir  die  gesamte  west- 
europaische Arbeiterschaft  sein  wiirde,  daB  man  um  die  Ent- 
wicklung  zum  Sozialismus  dort  nicht  mehr  besorgt  zu  sein 
brauchte,  Auf  dieser  Gedankenbasis  wurde  alles  dem  Aufbau- 
werk  untergeordnet,  und  die  taktischen  Diff erenzen,  die  Stalin 
iiber  die  Methoden  des  Aufbaus  in  der  russischen  Partei  hatte, 
wurden  auf  die  iibrigen  kommunistischen  Parteien  iibertragen. 
Was  schadete  es  schliefilich,  wenn  beim  Gelingen  des  Aufbau- 
werks.  die  kommunistischen  Parteien  kein  selbstandiges  Leben 
mehr  hatten  sondern  bureaukratisch  von  Moskau  her  geleitet 
wurden?  Nun  hat  diese  ganze  Rechnung,  wie  wir  heute  deut- 
lich  sehen,  ein  betrachtliches  LocL  Die  Krise  hat  nicht  gewar- 
tet,  bis  Moskau  den  Plan  beendet  hatte,  sondern  sie  ist 
vorher  gekommen.  Auf  die  weltwirtschaftlichen  Konsequen- 
zen,  die  sie  fur  RuBland  hat,  sind  wir  bereits  eingegangen, 
Binnenwirtschaftlich  aber  hat  sie  die  Folgen,  daB  von  steigen- 
den Reallohnen  in  RuBland  in  letzter  Zeit  nicht  mehr  die  Rede 
ecin  kann,  daB  also  der  Abstand  zwischen  dem  Standard  des 
russischen  und  des  westeuropaischen  Arbeiters  nicht  mehr  viei 

773 


geringer  wurde,  Der  kommunistische  Funktionar  begreift 
diese  Schwierigkeiteti  fur  den  russischen  Aufbau,  begreift,  daB 
sie  nichts  gegen  den  sozialistischen  Aufbau  an  sich  besagen. 
Fur  die  Millionenmassen  der  westeuropaischen  Arbeit erschaft 
aber  ist  der  einfache  reale  Tatbestand  mafigebend,  daB  der 
russische  Arbeiter  heute  noch  schlechter  lebt  als  sie. 

Pa  so  der  sozialistische  Atifbau  RuBiands  durch  die  Welt- 
wirtschaftskrise  verlangsamt  wurde  und  infolgedessen  seine 
Wirkungen  auf  die  westeuropaischen  Arbeitermasseu  grade  in 
der  Krise  nicht  so,  stark  sind  wie  seinerzeit  beim  Beginn  des 
Plans  von  den  Russen  angenommen  wurde,  so  ist  die  bureau- 
kratische  Entartung  der  komtmjnistischen  Partei  in  Deutsch- 
land auf  der  andern  Seite  eine  viel  schwerere  Belastung.  In 
RuBland  konnte  man  1929  oft  genug  .  horen;  ein  gelungener 
sozialistischer  Aufbau  in  RuBland  bei  einer  schlecht  gefiihrten 
KPD  ist  noch  weit  besser  als  ein  miBlungener  Aufbau  in  RuB- 
land bei  einer  gut  gefiihrten  Partei  in  Deutschland.  Der  Auf- 
bau RuBiands  ist  durch  die  Krise  schwer  in  Mitleidenschaft 
gezogen  worden,  und  dazu  hat  man  eine  bureaukratisch  ent- 
artete,  auBerordentlich  schlecht  geftihrteKPD,  die  durch  ihre 
Taktik  keinen  grofiern  EinfluB  mehr  in  den  Betriebeh  besitzt. 
Der  Leitartikler  des  ,Berliner  Tageblatts*  tiber  russische  Fragen, 
Herr  ZM  hat  jungst  geschrieben,  daB  die  russische  AuBenpolitik 
iramer  auf  zwei  Gleisen  gefahren  sei,  auf  dem  Funfjahrplan 
und  auf  der  Komintern.  Wenri  dutch  die  Krise,  so  meinte  erf 
der  Plan  stark  gefahrdet  sei,  dann  konnte  es  leicht  kommen, 
daB  die  russische  Politik  starker  auf  dem  andern  Gleise  fahre. 

Das  ist  denn  doch  etwas  zu  mechanisch  gesehen.  Eine 
kommunistische  Partei,  die  so  bureaukratisch  entartet  ist  wie 
die  deutsche,  kann  nicht  all-in  durch  eine  Wendung  in  der 
Exekutive  wieder  aktiviert  werden,  und  es  ist  durchaus  be- 
zeichnend,  daB  Russen,  die  die  deutschen  Verhaltnisse  kennen, 
wie  zum  Beispiel  Karl  Radek  in  der  ,Prawda\  die  Kampfkraft 
der  deutschen  Arbeiter  zur  Zeit  nicht  sehr  hoch  einschatzen, 

Auf  der  andern  Seite  wachst  in  unsrer  deutschen  Arbei- 
terklasse  die  Erkenntnis,  daB  ihr  keine  Macht  der  Welt  die 
historische  Aufgabe  abnehmen  kann,  den  Ausweg  aus  der 
Krise  in  Deutschland    selbst  zu  organisieren. 

SpielzeUg  MenSCh  von  Walther  Karsch 

VV7as  einem  Mediziner  in  Deutschland  passiert,  wenn  er  nicht 
W  am  gleichen  Strange  zieht  wie  die  EinfluBreichen  unter 
seinen  Kollegen  sondern  diesen  ein  paar  unangenehme  Wahr- 
heiten  sagt,  das  bekam  vor  kurzem  der  Nervenarzt  Doktor 
Joseph  aus  Bochum  recht  drastisch  zu  spuren. 

Im  ,Korrespondent\  dem  Funktionarorgan  des  Reichsbun- 
des  der  Kriegsbeschadigten,  Kriegsteilnehmer  und  Kriegs- 
hinterbliebenen,  hatte  Joseph  die  Kriegsbeschadigten  davor 
gewarnt,  sich  „zu  wissenschaftlichen  Forschungen,  die  haufig 
zu  sadistischen  Spielereien  ausarten",  miBbrauchen  zu  lassen. 
Er  belegt  seine  nicht  grade  schmetchelhaften  Worte  tiber  die 
Experimentierwut  gewisser  Arzte  mit  authentischem  Material: 

774 


In  der  .Berliner  klinischen  Wochenschrift'  des  Jahres  1927  berichtet 
ein  Dr,  Z,,  daB  er,  troizdem  ihm  die  Gefahrlichkeit  eines  Mittels  be- 
kannt  war,  dennoch  ohne  jeden  Grand  das  Mittel  anwandte  und  da- 
durch  das  Leben  seiner  Patienten  in  Gefahr  brachte.  In  Nr.  33  des- 
selben  Jahrgangs  berichtet  ein  Arzt,  daB  er  die  Ruckenmarkflussigkeit 
von  schwangeren  und  nichtschwangeren  Frauen  nahm,  um  sie  bei  Rat- 
ten einzuspritzen,  Ganz  abgeaehen  davon,  daB  dieses  Verfahren  ohne 
Erlaubnis  verboten  istt  fragt  man  sicht  zu  welchem  wissenschaftlichen 
Zweck  diese  Spielerei  diente,  Ein  andrer  Arzt  veroffentlicht  in  der 
.Medizinischen  Wochenschrift'  vom  10,  Dezember  1927  seine  angeblich 
wissenschaftlichen  Heldentaten,  Er  nahm  das  Rachen-Waschwasser 
frisch  erkrankter  Kinder,  filtrierte  es  durch  Filter  und  pinselte  es 
anderen  Personen  aui.  In  der  .Deutschen  medizinischen  Wochen- 
scnrift' von  1927  berichtet  ein  andrer,  daB  er  Tuberkulosebazillen  in 
die  Haut  von  Patienten  eingeimpft  und  dabei  Todesfalle  gehabt  hatte. 
Er  gab  an,  daB  er  nicht  heilen   sondern  nur  experimentieren  wollte, 

la    den     wissenschaftlichen    Streit     um     die     Richtigkeit 
einer      bestimmten      Heilmethode      wollen      wir      Laien      uns 
gewifi     nicht     mischen,      aber      im     Fall      Joseph     geht      es 
ja     um      den      berechtigten     Vorwurf,      daB      Patienten*     be- 
sonders      wenn      sie      kriegsbeschadigt      und     mittellos      sind, 
gewisserniafien    zu    Experiinentierkunststucken    gepreBt  ,wer- 
den,    deren   Ausgang   mehr   als  zweifelhaft  ist,    Lubeck   bietet 
ein     grausiges    Exempel     dafiir,      Wenn     dort     die    Mediziner 
wirklich     einem    ,,wissenschaftlichen   Irrtum"     zum   Opfer    ge- 
fallen  sind,    dann  wird   man  ihnen   noch  immer   zum   Vorwurf 
machen    mtissen,    daB   sie   ihre   Versuche   mit    Calmette   gleich 
auf  eine  so  groBe  Zahl  von  Ktndern  ausdehnten.    Und  als  Einer 
die  Kiihnheit  besaB,  dorthin  zu  fahren,   um  mit  seinem  Mittel 
meist  schon  aufgegebene  Kinder  zu  retten,  da  muBte  er  erfah- 
ren,   was    es   heiBt,   andrer   Meinung   zu   sein   als    seine   Zunft- 
genossen,  die  keine   Rettung  mehr   fur  moglich  hielten.     Wie 
ihm  die  Clique  die  Arbeit  erschwerte,  daruber  hat  der  Bericht 
von  Doktor  Genters  Tatigkeit  in  Lubeck  {,Weltbiihne'  Nr,  42) 
Aufschlufl    gegeben.      Und   nun   wieder   das    Scharmutzel   zwi- 
schen  Doktor  Joseph  und  seiner  bochumer  Konkurrenz  — :  zu 
den  vielen  Fallen  em  neuer  Beweis,    daB    die   Majoritat    der 
Arzteschaft  von  einem  unertr&glichen  und  gefahrlichen  Kasten- 
geist  beherrscht  ist,  der  eifersfichtig  daruber  wacht,  daB  keiner 
die   ausgetretenen  Bahnen   verlaBt     und   vielleicht    auf    eigne 
Faust  Neuland  sucht  und  gar  findet  oder  auch  nur  wagt,  die 
Methoden  seiner  Kollegen  ein  wenig   zu  kritisieren. 

Schon  erhebt  sich.  einmutig  die  ganze  Gesellschaft,  und 
der  Apparat  beginnt  zu  spielen;  Rausschmifl  aus  dem  bochumer 
Arzteverein,  aus  dem  Hartmaim-Bund,  dem  Verband  der  Arzte 
Deutschlands,  was  den  Verlust  seiner  Kassenpraxis  und  da- 
mit  eine  schwere  Beeintrachtigung  seiner  wirtschaftlichen 
Existenz  zur  Folge  hat.  Die  rasenden  Medizinmanner  appellie- 
ren  an  das  „Ehrengericht",  dieses  ebenso  ehrwiirdige 
wie  unntitze  Fossil  aus  der"  Zeit  langst  illusorisch  gewordenen 
Standesbewufitseins:  dem  Sfinder  wird  ,  ein  Verweis  und  eine 
Geldstrafe  von  1500  Mark  zudiktiert.  Joseph  habe  den  Arzte- 
stand  verachtlich  machen  und  herabsetzen  wollen  und  seine 
Kollegen  „in  ihren  berufMchen  und  wirtschaftlichen  Interessen 
schwer  gesch&digt".  Und  das,  obwohl  er  sich  nur  gegen  Aus- 
wiichse  gewandt  und  atisdriicklich  betont  hat,  das  Experiment 

775 


an  sich  sei  natiirlich  notwendig.  Das  kiimmert  die  Meute  der 
Gekrankten  aber  nicht  im  geringsten,  ihr  klettenhaftes  Zusam- 
menhaltcn  versteigt  sich  sogar  dazu,  die  Motive  des  Anklagers 
zu  verdachtigen,  Es  heiBt  da  in  dem  Urteil  des  uEhren- 
gerichts": 

Wenn  es  dem  Angeschuldigteti  wirklich  darum  zu ,  tun  war,,  be- 
stehende  MiCstande  zu  riigen  und  auf  deren  Abstellung  hinzuwirken, 
so  hatte  er  die  Moglichkeit,  sich  zu  diesem  Zwecke  der  Fachpresse 
zu  bedienen.  Statt  dessen  wendet  er  sich  aber  an  eine  Leserschaft, 
die  in  ihrer  Mehrzahl  j  edenf alls  von  minderer  Urteilskraft  und  ge- 
ringerer  Auffassung  istf  an  eine  leichtglSubige  und  leicht  zu  beein- 
flussende  Menge.  Der  Angeschuldigte  hat  gar  nicht  den  Versuch  ge- 
macht,  die  Fachblatter  fur  seine  Veroffentlichungen  zu  gewinnen.  Der 
Angeschuldigte  hat  deshalb  verdachtigt  und  beleidigt,  um  im  Bereiche 
des  Bundes  der  Kriegsbeschadigteh  seinen  Patientenkreis  zu  er- 
weitern. 

Doktor  Joseph  wird  gewufit  haben,  daB  ihm  die  Fach- 
presse einen  solchen  Beitrag  nie  abnehmen  wtirde.  Und  des 
weitern  dokumentiert  dieser  ErguB  ein  erkleckliches  MaB  von 
Standeshochmut,  der  um  alles  in  der  Welt  dem  Laien  keinen 
Einblick  in  die  Geheimnisse  seiner  Wissenschaft  gewahren 
mochte.  Was  aber  den  ublen  Vorwurf  angeht, Doktor  Joseph 
habe  sich  bereichern  wollen,  so  erscheint  mir  die  Ansicht  des 
Korrespondenzblattes,  der  gaivze  Feldzug  gegen  ihn  sei  nur 
aus  Konkurrenzneid  gefuhrt  worden,  durchaus  berechtigt: 
dem  zu  Unrecht  Angegriffehen  Motive  zu  unterschieberi,  die 
den  Angreifer  selbst  leiten,  ist  eine  beliebte  Methode,  das 
schlechte  Gewissen  zu  beruhigeh. 

Wie  zur  Bestatigung  seiner  Warnung  an  die  Versuchs- 
kaninchen  erscheinen  grade  in  diesem  Augenblick  die  amt- 
lichen  f,Richtlinien  fur  neuartige  Heilbehandlung  und  fur  die 
Vornahme  wissenschaftlicher  Versuche  am  Menschen'V  Sic 
reden  eine  deutliche  Sprachef  der  Redaktor  des.  Entwurfs 
wird1  gewuBt  haben,  warum,  Vielleicht  ist  ihm  gar  bekannt  ge- 
wesen,  was  mir  just  vor  eiti  paar  Tagen  ein  besonders  giinsti- 
ger  Umstand  zugetragen  hat.  Da  erscheint  bei  Barth  in  Leip- 
zig ein  .Journal  fur  Psychologie  und  Neurologie',  in  dessen 
39,  Band,  Heft  3f  ein  Hans  StauB  aus  Frankfurt  am  Main  einen 
Aufsatz  veroffentlicht  hat,  der  den  gewichtigen  Titel  fuhrt: 
„Das  Zusammenschrecken.  Experimental-kinematographische 
Studie  zur  Physiologie  und  Pathophysiologic  der  Reaktiv- 
bewegungen",  Seite  113  schildert  StauB  seine  Methodik: 

Als  Versuchspersonen  dienten  auBer  Normalen  Kranke  mit  Be- 
wegungsstorungen,  Kranke  mit  verschiedenen  psycho-pathqlogischen 
Symptomen,   Schlafende  und  endlich  SaiigUnge, 

Als  Reiz  diente  stets  das  Abfeuerri  eines  Schusses  mit  Hilfe  eines 
SchreckschuB-Trommelrevolvers.  Die  Versuchspersonen*  waren  durch- 
weg  Patienten  der  KHnikf  deren  yerschiedenartige  Krankheit'  und  so- 
matopsychische  Konstitution  natutHch  bei :  Auswertung  der  Ergebnisse 
beriicksichtigt  werden  muBte.  Bei ;  alien  Versuqhen,  die  in  der  Arbeit 
verwertet  sind,  wurde  fur  den  ersten  SchuB  die  Bedingung  eingehal^ 
ten,  daB  die  Vp.  vor  dem  Schufi  nichts  davon  wufite,  daB  ein  solcher 
iiberhaupt  erfolgen  wurde.  Wir  uberzeugten  tins  stets  nach  dem  Ver- 
such da  von,  daB  dies  auch  zutraf. 

Praktisch  wurde  so  yerfahren,  daB  die  Vp.  in  das  Filmzimmer 
der  Klinik  gebracht  wurde,     Sie  wurde,  nur  mit  Badehose  bzw;  Bade- 

776 


anzug  bekleidct,  in  das  Aufnahmefeld  des  Apparates  gestellt,  das 
durch  zwei  zweipaarige  Jupiter-Bogenlampen  erhellt  war,  Es  wurde 
der  Vp.  dann  gesagt,  man  wolle  eine  Filmaufnahme  von  ihr  machen, 
sie  moge  die  ihr  erteilte  Ausgangsstellung  so  lange  beibehalten,  bis  sie 
eine  Auf  f  or.de.rung,  zu  den  Bewegungen  bekomme,  die  wir  f ilmen  woll- 
ten.  Dann  wurde  dem  Aufnahmeoperateur  ein  Zeichen  gegeben,  dafl 
er  mit  dem  Kurbeln  beginnen  solle  und  anschliefiend,  wahrend  die 
Vp,  noch  auf  die  Aufforderung  zu  der  Bewegung  wartete,  der  SchuB 
fur  sie  unsichtbar  gelost.  Dabei  muBte  stets  noch  so  vorgegangen 
werden,  dafi  der  Revolver  selbst  mit  aufgenommen  wurde,  damit  spa- 
ter  mit  Hilfe  des  auf  dem  Film  sichtbaren,  aus  dem  Revolver  aus- 
tretenden  Lichtblitzes  eine  zeitliche  Fixierung  des  Augenblicks  des 
Schusses  moglich  wurde. 

Entfernt  man  die  ganze  Wichtigtuerei,  dann  bleibt  als  ein- 
ziges  eine  sinnlose,  vollig  unverstandliche  Spielerei  mit  wehr- 
losen  Objekten  iibrig,  mit  Kranken,  die  man  dreist  und  zynisch 
beschwindelt.  Redet  uns  doch  nicht  ein,  dieser  ganze  Hum- 
bug sei  notwendig,  wir  Laien  verstiinden  nur  nichts  davon. 
Hinter  den  hochtrabenden  Worten  steht  doch  wirklich  kein  so 
erschiitterndes  Ergebnls.  Ich  wette,  es  ist  sicher  schon  an  die 
tausendmal  erreicht  worden.  Diese  Arzte,  die  sich  nicht 
scheuen,  schwer  kranke  Menschen  und  Sauglinge  einem  durch- 
dringenden  Schreck  auszusetzen,  nur  urn  ein  tausendmal  be- 
statigtes  Resultat  noch  einmal  bestatigen  zu  konnen,  kommen 
mir  vor  wie  die  kleinen  Kinder,  die  erst  selber  am  Schalter 
drahen  miissen,  ehe  sie  glauben,  daB  er  Licht  spendet.  Das 
Ganze  sieht  verdammt  nach  den  beriichtigten  Simulanten-Un- 
tersuchungen  der  Kriegszeit  aus,  die  haufig  genug  sadistischen 
Qualereien  glichen. 

Macht  endiich  SchluB  damit!  Es  ware  wirklich  mutiger, 
man  ktimmerte  sich  in  -den  Gremien  der  Mediziner  etwas  um 
die  Anklagen,  die  von  Joseph,  von  andern  Arzten  und  von 
vielen  Opfern  oft  ganzlick  zweckloser  Experimentiererei  er- 
hoben  werden,  statt  das  Richtschwert  zu  ziehen  und  den  An- 
greifer  hochst  unfair  wirtschaftlich  und  moralisch  zu  schadi- 
gen.  Die  Clique  hat  wieder  einmal  gesiegt.  Ob  zu  ihrem  Vor- 
teil,  scheint  zweifelhaft.  Die  Kluft  zwischen  ,,Medizin  und 
Publikum",  die  schon  tief  genug  ist,  wird  der  Fall  Joseph  ge- 
wi8  nicht  verkleinern. 


WerkSpiOnage  von  Johannes  Buckler 

C  ines  der  wichtigsten  Themen  des  36.  Deutschen  Juristentags, 
*"*  der  im  September  dieses  Jahres  in  Liibeck  stattgefunden 
hat,  war  der  sogenannten  Werkspionage  gewidmet.  Den  Be- 
ratungen  und  Vorschlagen  lag  der  „Regierungsentwurf  eines 
Gesetzes  zum  Schutz  von  Geschafts-  und  Betriebsgeheim- 
nissen"  zugrunde.  Dieser  Entwurf  sieht  im  wesentlichen  eine 
Verscharfung  der  bisher  geltenden  Gesetge  vor  und  sagt  in 
seiner  Begrundung  ausdriicklich:  ,,Die  Erfahrungen,  nament- 
lich  des  letzten  Jahrzehnts,  haben  gezeigt,  dafl  -die  bisherigen 
Strafvorschriften. , .  nicht  geniigen.  Die  bisher  vorgesehene 
Hohe  der  Strafdrohungen  reicht  daher  nicht  aus,  um  der  Wirt- 

777 


schaftsspionage    wirksam    entgegenzuwirken.      Namentlich    dcr 
Verrat  von  Geschaftsgeheimnissen  an  das  Ausland ..." 

Zu  diesem  Gcsetzcsvorschlag  lagen  dcm  Juristcntag  zahl- 
reiche  Gutachtcn  und  Gcgen-  rcspcktive  Erganzungsvorschlage 
namhaftester  dcutschcr  Juristen  (Isay,  Kohlrausch,  Eberhard 
Schmidt  etcetera)  vor,  die  sich  alle  darin  einig  sind,  dafi  eine 
Verscharfung  dringend  notwendig  ist.  Nur  iiber  das  AusmaB 
dieser  Verscharfung  schwanken  die  verschiedenen  Ansichten. 
Und  auch  dariiber,  ob  und  wie  lange  ein  Betriebsgeheimnis* 
auch  nach  dem  Ausscheiden  eines  Angestellten  aus  einem  Be- 
trieb  noch  zu  schiitzen  und  seine  Verletzung  strafbar  sein  soil. 
SchlieBlich  hat  man  sich  dann  zu  dieser  Frage  auf  ein  Kom- 
promiB  geeinigt,  das  immerhin  iiber  das  geltende  Recht  weit 
hinausgehende  Erschwerungen   vorsieht. 

Es  ist  ganz  selbstverstandlich,  daB  dem  in  Wahrheil 
schutzwiirdigen  Betriebsgeheimnis  durch  das  Gesetz  der  Schutz 
gegeben  werden  muB,  den  es  haben  soil.  Wie  aber  dieser 
Schutz  schon  nach  den  jetzt  geltenden  Bestimmungen,  die  von 
fachmannischer  Seite  ja  als  ungeniigend  angeseheh  werden,  in. 
der  Praxis  der  Gericjite  aussieht  und  nach  welcher  Richtung 
sie  ausgelegt  und  gehandhabt  werden,  dafiir  sollen  hier  einige 
Beispiele  gegeben  werden.  Wir  sehen  davon  abt  den  Fall 
Norma/Riebe  anzufiihren,  bei  dem  die  Angestellten  bestraft 
wurden,  die  beiden  Firmen  sich  jedoch  schmunzelnd  einigten. 

Die  hier  aufgefiihrten  Urteile  entnehmen  wir  im  wesent- 
lichen  den  Veroffentlichungen  des  berliner  Rechtsanwalts 
Doktor  Arno  Blum,  der  zu  den  wenigen  deutschen  Juristen  zu 
gehoren  scheint,  die  sich  aktiv  mit  der  Bekampfung  der  t)ber- 
spannung  des  Geheimnisschutzes  befassen,  und  der  mit  seinen 
Ausfiihrungen  in  Fachzeitschriften  und  auf  Tagungen  —  zu- 
letzt  bei  der  Hauptversammlung  deutscher  Cheriiiker  in  Wien 
im  Mai  dieses   Jahres  —  hervorgetreten  ist. 

Das  Gesetz  kennt  eine  Definition  des  Begriffes  „Geschafts- 
oder  Betriebsgeheimnis"  nicht.  Die  Auslegung  und  Abgren- 
zung  des  Begriffs  ist  daher  vollig  der  Rechtsprechung  iiber- 
lassen.  Man  sollte  meinen,  daB  das  ziemlich  einfach  ist,  Es 
muB  ein  Geschaftsbetrieb  da  sein  und  ein  damit  unmittelbar- 
zusammenhangendes  Geheimnis.  0  nein!  Es  braucht  sich 
weder  um  geschaftliche  Tatsachen  zu  handeln,  noch  miissen 
sie  wirklich  geheim  sein.  Ist  zum  Beispiel  Krankheit  des  Ge- 
schaftsinhabers  oder  die  Vorstrafe  eines  leitenden  Angestell- 
ten eine  geschaftliche  Tatsache?  Die  Gerichte  sehen  so  etwas 
als   Geschaftsgeheimnis  an. 

Ebenso  ist  es  mit  dem  Schutz  des  Betriebsgeheimnisses^ 
Man  sollte  meinen,  daB  das  Gesetz  in  erster  Linie  dazu  da 
ist,  eine  Firma  davor  zu  schiitzen,  daB  ihre  Geschaftsgeheim- 
nisse  von  der  Konkurrenz  ausgenutzt  werden.  Aber  da  sind 
zwei  noch  nicht  alte  Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  die 
folgendes  besagen: 

Fall  1:  Ein  Unternehmer,  der  die  Betriebsgeheimnisse 
einer  Konkurrenzfabrik  herausbekommen  wollte,  hatte  sich  an 
eineri  fruhern  Angestellten  dieser  Firma  gewandt  und  ihm  fiir 
778 


vieles  Geld  ein  Geheimnis  abgekauft.  Als  man  gegen  diesen 
Unternehmer  vorging,  mit  der  Begrundung,  sein  Vcrhaltcn  ver- 
stieBe  doch  gegen  die  guten  Sitten  und  die  Grundsatze  des 
lautern  Geschaftsverkehrs,  da  verneinte  das  Reichsgericht  die 
Sittenwidrigkeit. 

Dieser  krasse  Fall  von  Werkspionage  genieGt  also  nicht 
den   Schutz  des   Gesetzes. 

WohingegenFall2:  Ein  Optiker,  der  siebenunddreiBig  Jahre 
bei  einer  Firma  gearbeitet  hat,  macht  sich  selbstandig  und 
benutzt  nun  in  seinem  Geschaft  die  Erfahrungen  und  Auf- 
zeichnungen,  die  er  sich  in  den  langen  Jahren  angeeignet  hat. 
Obwohl  hier  von  einer  Werkspionage  nicht  die  Rede  sein 
kann,  verurteilte  ihn  das  Reichsgericht  wegen  Verletzung  des 
Betriebsgeheimnisses, 

Der  Schutz  richtet  sich  also  gar  nicht  gegen  die  unlautere 
Konkurrenz    sondern  gegen   die   eignen   Angestellten. 

Was  betrachtet  die  Rechtsprechung  bisher  als  schutz- 
wiirdiges  Betriebsgeheimnis?     Hier  die   Liste: 

«  Warenabsatz;  Einkaufsquellen;  Lieferanten-,  Kunden-,  Agenten- 
verzeichnisse;  Falligkeiten  von  Versicherungen;  Rabatte,  Verfahrens- 
vorschriften;  Rezeptbiicher;  Modelle;  Muster;  Kataloge;  Methoden  und 
Systeme;  Bilanzen;  geschaftliche  Vorverhandlungen;  dafi  zur  Herstel- 
lung  einer  Ware  nur  bekannte  und  nicht  wie  vermutet  auch  wertvolle 
Stoffe  benutzt  werden;  dafi  ein  Medikament  ekelerregende  Bestand- 
teile  enthalt;  Geld-  und  Freiheitsstrafen  des  Geschaftsinhabers  oder 
leitender  Angestellter;  Vorbereitung  von  Reklamefeldziigen;  Krankheit 
des  Geschaftsinhabers;  technische  Versuche;  Brandungluck;  Zahlungs- 
schwierigkeit ;  Vorbereitungen  zu  saisonmafiiger  Oberraschung ;  eine 
Liste  der  Handelsbezeichnungen,  welcher  die  Patentnummern  gegen- 
iibergestellt  sind;  Patentanmeldungen  vor  ihrer  Auslegung;  Skizzen- 
hefte  mit  besondern  MaBen  und  technischen  Einzelheiten;  Akkord- 
lohne  und  ihre  Berechnungsgrundlage;  Musterkarten;  Anzahl  der  her- 
gestellten  Maschinen  und  die  dabei  gezogenen  Reingewinne. 

In  dieser  bunten  Liste  sind  sehr  viele  Dinge,  die  zweifel- 
los  wichtige  Geschaftsgeheimnisse  darstellen  und  die  auf 
Schutz  Anspruch  haben.  Aber  wozu  die  laxe  Handhabung  des 
Begriffes  fiihrt,  sei  noch  an  einem  besonders  eklatanten  Bei- 
spiel  der  letzten  Zeit  demonstriert.  Es  handelt  sich  um  das 
Geschaftsgeheimnis  eines  Milchhandlers,  dessen  ProzeB  vor 
dem  Reichsarbeitsgericht  entschieden  wurde: 

Der  Angestellte  eines  Milchhandlers  erstattete  Anzeige 
bei  der  Gesundheitspolizei.  Daran  schloB  sich  ein  ProzeB,  in 
welchem  nun  in  drei  Instanzen  alien  Ernstes  behauptet  und 
schlieBlich  mit  scharfsinnigen  Argumenten  im  Urteii  widerlegt 
wurde,  daB  dieser  Angestellte  sich  mit  der  Anzeige  eines  straf- 
baren  Geheimverrats  schuldig  gemacht  habe.  Das  fragliche 
Geheimnis  bestand  aber  —  und  das  setzt  wohl  allem  die  Krone 
auf  —  in  der  Beimengung  von  Wasser. 

Die   Frechheit  des  Milchpanschers   wird   hier  bei   weitem 

ubertroffen  von  der  hanebuchenen  Wirklichkeitsfremdheit  und 

dem  vollkommenen  Fehlen  gesunden  Menschenverstandes  bei 

einem   weisen   Gericht. 

3  779 


Man  sieht  also,  wie  notig  es  ist,  die  Begriffsbestimmung 
dcs  Betriebsgcheimnisses  gcnau  festzulegen.  Nach  der  bis- 
hcrigcn  Praxis  ist  tatsachlich  jede  Auslegung  moglich.  Wenn 
zum  Beispiel,  wie  oben  zitiert,  Kundenlisten  Geschaftsgeheim- 
nissc  sind,  so  kann  kein  ,,gut  eingefiihrtcr  Rcisender"  sich  um 
cine  neue  Siellung  bewerben.  Denn  die  neue  Firma  nimmt 
ihn  nur  auf  Grund  seiner  Geschaftsverbindung  mit  einem  festen 
Kundenkreis, 

Mit  Recht  verlangt  daher  Professor  Eberhard  Schmidt, 
daB  ,,das  Gesetz  das  Unternehmen  nur  mit  einer  strafrecht- 
lich  geschiitzten  Geheimnissphare  umgeben  darf,  ohne  dadurch 
den  Angestellten  des  Unternehmens  die  fiir  ihr  Fortkommen 
und  ihre  Weiterbildung  notwendige  Benutzung  der  in  dem  Un- 
ternehmen erlangten  beruflichen  Kenntnisse,  Fertigkeiten  und 
Erfahrungen  zu  beeintrachtigen".  Er  verlangt,  daB  Mdie  An- 
gestellten nicht  der  Willkiir  der  Unternehmer  preisgegeben"  sind. 
Er  stellt  fest,  daB  ,,Betriebsgeheimnisse"  und  ,,Brauchenkennt- 
nisse"  verschiedene  Dinge  sind,  die  sich  von  einander  unter- 
scheiden  wie  „fremde  Sachen"  und  ,, eigne  Sachen", 

Auf  dem  lubecker  Juristentag  hat  auch  eine  besondere 
Rolle  die  Offentlichkeit  des  VerTahrens  gespielt.  Man  hat 
sich  vom  juristischen  Standpunkt  logischerweise  fiir  Ausschlie- 
Bung  der  Offentlichkeit  bei  Werkspionageprozessen  aus- 
gesprochen.  Denn:  wenn  es  sich  in  der  Tat  um  ein  schutz- 
bediirftiges  Betriebsgeheimnis  handelt,  so  wiirde  dies  bei  der 
Offentlichkeit  der  Verhandlungen  ja  der  gesamten  interessier- 
ten  Konkurrenz  preisgegeben,  Dieser  Standpunkt  ist  durchaus 
zu  verstehen.  Und  es  ware  hiergegen  nichts  einzuwendent 
wenn  man  nicht  wiiBte,  wie  schon  jetzt  versucht  wird,  sofern 
es  sich  namlich  um  den  Verrat  eines  Betriebsgeheimnisses 
an  eine  auslandische  Firma  handelt,  das  Delikt  als  ,,wirtschaft- 
lichen  Landesverrat"  zu  frisieren.  Wie  ein  solcher  ProzeB 
hinter  verschlossenen  Reichsgerichtsturen.  aussehen  wiirde,  das 
konnen  wir  uns  ganz  gut  ausmalen,  wenn  wir  an  den  Verlauf 
politischer  Landesverratsprozesse  denken.  Natiirlich  immer 
nur,  so  lange  es  sich  um  einen  Angestellten  handelt.  Betrifft 
die   Angelegenheit  den  Unternehmer,   sieht   die   Sache  so  aus: 

In  dem  soeben  erschienenen  Buch  „Charakter  eines  neuen 
Krieges"  (Verlag  Orell  Fiissli,  Zurich)  fiihrt  der  englische 
Major  Victor  Lefebure  folgendes  aus; 

Wenn  wir  die  Geschichte  des  Hauses  Krupp  oder  andrer  groBer 
Rustungsfirmen  studieren,  stoBen  wir  auch  da  wieder  auf  dasselbe 
allgemeine  Bestreben,  Neuerungen  international  zu  verbreiten,  statt 
sic  fiir  das  eigne  Land  geheimzuhalten.  Eine  einzige  merkwiirdige 
Tatsache  aus  der  Geschichte  der  Firma  Krupp  genugt  zur  Erlauterung 
der  ganzen  Angelegenheit,  Ein  kritischer,  wenn  nicht  der  kritischste 
Zeitpunkt  in  der  Entstehungsgeschichte  eines  neuen  Geschiitzes  oder 
schweren  Kampfmittels  ist  seine  Priifung  auf  ungeheuren  Versuchs- 
gelanden.  In  Ermangelung  von  Versuchen  im  Kriege  miissen  sich 
die  Generalstabe  an  solche  Versuche  halten.  Vom  dringenden  Wunsche 
getrieben,  die  verschiedenen  Arten  seines  Spezialstahls  auf  demWege 
der  Herstellung  von  Kriegsmaterial  geschaftlich  auszuniitzen,  brachte 
Krupp  die  deutsche  Regierung  dazu,  ihm  das  gewaltige  Versuchs- 
780 


gelande  von  Meppen  zu  tiberlassen.  Waren  die  Versuche  in  Meppen 
ausschlieCIich  auf  preuftische  oder  deutsche  Kampfmittel  beschrankt 
worden,  so  hatte  Deutschland  artilleristisch  bald  ausschlaggebende 
Vorteile  besessen  und  sich  damit  die  ttberlegenheit  als  Angreifer  so 
gut  wie  sichern  konnen.  Aber  in  Wirklichkeit  war  es  anders.  Krupp 
lud  die  Generalstabe  und  die  Artilleriefachleute  der  ganzen  Welt 
nach  Meppen  ein,  fubrte  dort  seine  Geschutze  zum  Verkauf  vor 
und  machte  sich  sogar  erbotig,  besondere  Fabriken  zu  errichten 
und  auf  diese  Weise  seine  teuersten  Geheimnisse  gegebenenfalls  aucb 
einem  kunftigen  Gegner  preiszugeben,  Um  uns  anders  auszudrucken, 
sagen  wir,  da£  bei  dieser  Art  privatgeschaft lichen  Gebarens  und 
kaufmannischer  Ausnutzuhg  alle  Lander  beziiglich  des  Besitzes  und 
der  Erwerbung  neuer  Kriegsmittel  einander  gleichgestellt  waren.  — 
(Zitiert  aus  Otto  Lehmann-RuBbuldt  „Die  Revolution  des  Friedens", 
Laubsche  Verlagsbuchhandlung,   Berlin   1931.) 

Dies  Verhalten  von  Krupp  ist  naturlich  kein  ,,wirtschaft- 
licher  Landesverrat",  Und  Richter  und  Staatsanwalte  wer- 
den  sich  hierfiir  viel  weniger  intcrcssicrcn  als  fur  das  ver- 
ratene  Betriebsgchcimnis  eines  Milchpanschers. 


Der  Troubadour  der  grofien  Dame 

von  Hanns-Erich  Kaminski 

In  Mccklcnburg-Strelitz  residiert  als  Staatsminister  der  So- 
*  zialdemokrat  Freiherr  Kurt  von  Reibnitz.  Der  ist  nicht  nur 
ein  aktiver  Staatsmann,  cr  ist  auch  Schriftsteller.  Ganz  wie 
Thiers,  Disraeli  und  Trotzki. 

Woriiber  schreibt  wohl  ein  sozialdemokratischer  Minister 
in1  den  Stunden,  in  denen  er  nicht  am  Regierungstisch  oder  auf 
der  Tribune  fur  die  Befreiung  des.  Proletariats  kampft?  Ver- 
teidigt  er,  Handelnder  und  Schilderer  zugleich,  seine  politische 
Leistung?  AuBert  er  sich  mit  den  Kenntnissen,  die  ihm  sein 
Amt  vermittelt,  und  mit  der  Menschlichkeit,  die  ihn  zweifellos 
zum  Sozialisten  gemacht  hat,  iiber  die  Zustande  in  Mecklen- 
burg-Strelitz,  Zustande,  bei  denen  die  Zeitgenossen  auto- 
matisch  an  Jakubowsky  denken?  Nimmt  er  Stellung  zu  den 
Problemen  der  Gegenwart,  zu  der  Krise,  die  wir  um  uns  und 
in  uns  als  RiB  zwischen  zwei  Welten  empfinden?  Oder  ist  er 
vielleicht  ein  Dichter,  der,  jenseits  der  Tagesfragen,  Tiefen 
enthullt,  die  wir  andern  nicht  sehen? . . .  Der  Freiherr  von 
Reibnitz  schreibt  iiber  Frauen. 

Aha,  denkt  der  Leser,  der  immer  noch  unbefangen  genug 
ist,  an  die  Bedeutung  jedes  Staatsministers  und  den  Sozialis- 
mus  jedes  Sozialdemokraten  zu  glauben,  also  ein  Buch  iiber 
Frauen,  die  fur  die  Emanzipation  ihres  Geschlechts  und  aller 
Unterdriickten  stritten,  Ja,  es  ware  verdienstvoll  und  lohnend, 
die  Verleumdeten  und  Verspotteten  von  Minna  Cauer  bis  Rosa 
Luxemburg  von  dem  Schmutz  zu  reinigen,  mit  <lem  ihr  An- 
denken  noch  befleckt  ist*  Aber  der  Herr  Baron  —  oder  hort 
er   die   Anrede    „Herr    Staatsminister"    lieber?   —   interessiert 

781 


sich  nicht  fiir  Frauen  aus  dem  Volkc.  Seine  Heldinnen  gehen 
nicht  zu  Zahlabenden  und  gar  ins  Geiangnis. 

Dieser  Sozialdemokrat  interessiert  sich  riur  fiir  Damen. 
Nicht  fiir  Damen  der  guten  oder  der  besten  Gesellschaft,  denn 
es  gibt  nur  eine,  die,  zu  der  ein  Freiherr  durch  Geburt  gehort, 
auch  wenn  er  einen  Ausfkg  in  die  SPD  gemacht  hat.  Das  Buch 
dieses  Genossen  —  wessen?  —  heiBt  denn  auch  „Die  groBe 
Dame",  mit  dem  reizvollen  Untertitel  „Von  Rahel  bis  Ka- 
thinka".  Um  Einwanden  vorzubeugen:  es  ist  im  Jahr  1931 
(bei  ReiBner)  erschienen.  Den  Waschzettel  konnen  alle  Geg- 
ner  der  Sozialdemokratie  in  Mecklenburg-Strelitz  fiir  ihre 
Wahlplakate  verwenden,  M. .  .  ein  Kenner,  der  in  der  Gesell- 
schaft vor  dem  Krieg  eine  bedeutsame  Rolle  nicht  minder 
spielte  als  heute  . .  ,  Vergangene  Jahrzehnte  erstehen  hier . .  - 
als  die  groBen  Damen  Hofwelt  und  Biirgertum  gesellschaftlich 
beherrschten . . .  alles,  was  Frauen  feingeistiger  Kultur  erleb- 
ten  und  fuhlten .  , .  Ein  Baedeker  durch  die  berliner  Gesell- 
schaft 

Der  Verfasser  zitiert  Bismarck,  der  das  Salonleben  ,, einen 
Zeitvertreib  fiir  ein  Zeitalter  ohne  Handlung"  nannte,  aber  der 
Staatsminister  von  Mecklenburg-Strelitz  ist  andrer  Meinung 
als  sein  Kollege.  Er  weint  bittere  Tranen  vor  den  Photo- 
graphien  der  groBen  Damen,  die  aussterben.  ,,Beschwingt- 
heit,  Anmut,  Lacheln  sind  fiir  die  groBe  Dame  unerlaBlich,  Im 
neuen  Deutschland  ist  kein  Platz  fiir  sie",   klagt  er. 

„Untrennbar  von  der  groBen  Dame  war  ihr  Salon,  die 
Basis  ihrer  gesellschaftlichen  Macht.'*  Der  Freiherr  von  Reib- 
nitz  sieht  sich  mit  dem  Blick  eines  Mannes,  der  wehmutig  Ab- 
schied  nimmt,  noch  einmal  um  in  diesen  Salons.  Und  sein 
Blick,  der  die  Wande  entlang  gleitet,  bleibt  an  einer  Tiir  haf- 
ten,  Es  ist  die  Tiir  zum  Schlafzimmer.  Der  freiherrliche 
Riicken  kriimmt  sich,  der  Baron  verbeugt  sich  vor  seinen 
Gottinnen,  die  alle  adlig  sind  oder  wenigstens  adlige  Manner 
geheiratet  haben,  und  gleichzeitig  sieht  er  durchs  Schlusselloch. 

Wir  erfahren,  wie  die  Liebhaber  der  Fiirstin  Billow  hieBen 
und  daB  ihre  Mutter  die  Jungfraulichkeit  der  Neunzehn- 
jahrigen  mit  einem  Meineid  beschwor.  ,,Sie  war  in  Deutsch- 
land groBe  Dame,  zwolf  Jahre  lang  des  Reiches  erste  Frau, 
deutsch,  Deutsche  ist  "sie  nie  gewesen",  riigt  das  Mitglied  der 
zweiten  Internationale.  Wir  erfahren,  an  wen  Frau  von  Hey- 
king  ihre  „Briefe,  die  ihn  nicht  erreichten"  richtete,  mit  wem 
die  Fiirstin  Lichnowsky  ihren  Mann  betrog  und  daB  die 
Fiirstin  Metternich  sagte:  ,,Mein  Mann  wird  mir  nicht  davon- 
fliegen,  ich  breche  ihm  jeden  Abend  und  jeden  Morgen  den 
Fliigel".  Auch  das  Telegramm,  das  Wilhelm  II.  der  Greisin 
zum  Geburtstag  schickte,  diirien  wir  im  Wortlaut  lesen. 
Weiter.  Man  hore  und  staune!  Die  Kaiserin  Friedrich  konnte 
nicht  Cercle  halten.  ,,Die  Leichtigkeit,  jedem  etwas  Liebens- 
wiirdiges  zu-  sagen,  —  die  Schwiegermutter  Kaiserin  Augusta 
besaB  die  Eigenschaft  in  hohem  Grade  —  war  ihr  nicht  ge- 
geben.  Eine  unuberwindliche  Schiichternheit  lahmte  sie  und 
machte  sie,  die  konigliche,  unkoniglich  —  verlegen."  Be- 
wunderung  verdient  dagegen  die  Grafin  Brockdorff,  die  als 
Oberhofmeisterin  der  Kaiserin  Auguste  Viktoria  auf  Hofballen 

782 


kontrollierte,  ob  jede  Dame  auch  richtig  dekolletiert  war  und 
die  Kaiserin  veranlaBte,  geschiedene  Frauen  nicht  zu  emp- 
fangen.  Fiir  sie  hatte  der  Hof  nur  die  Bedeutung  „eines  Rin- 
gzs  edler  Treue'\ 

Frau  von  Lebbin,  die  Freundin  Holsteins,  verehrt  der 
Freiherr  von  Reibnitz  besonders.  Von  der  Homosexualitat 
Holsteins  soil  sie  nichts  gewuBt  haben.  Dafiir  war  sie  iiber 
die  Borsenspekulationen,  rait  denen  sich  seine  Politik  verwobt 
unterrichtet,  behauptet  ihr  Verehrer.  Wir  horen  dann,  wie  sie, 
krank  und  arm,  auf  ihrem  Totenbett  Besuche  empfing.  „Ge- 
wiB,  es  kamen  manche  wohl  aus  Furcht.  Sie  wuBten,  dafl  Hol- 
steins NachlaB,  den  Helene  aufbewahrte,  Briefe  enthielt,  deren 
Veroffentlichung  schaden  konnte."  So  ein  Freund  ist  der 
Freiherr  von  Reibnitz!  Aber  man  nennt  das  ja  wohl  ,,medi- 
sance"  unter  groBen  Damen.  Und  fast  hatte  ich  es  vergessen: 
Auch  die  Paiva  begleiten  wir  „von  Moskaus  Ghetto  bis  zum 
FtirstenschloB  in  Neudeck,  welch  weiter,  steiler  Weg!  . . .  Ihr 
erster  Mann  war  Francois  Villoing,  ein,  Schneider,  ihr  letzter 
Guido  Graf  Henckel,  Fiirst  von  Donnersmarck,  PreuBens 
reichster  Magnat,  der  Freund  des  groBen  Kanzlers  und  des 
letzten  deutschen  Kaisers". 

Einmal  trifft  Reibnitz  die  Fiirstin  Mechthilde  Lichnowsky 
in  der  Eisenbahn.  t,Tapfer  und  treu  verteidigte  sie  heftig  des 
Fiirsten  Taktik  in  London  in  den  letzten  Friedensjahren/'  Sie 
verteidigte  sie,  der  sozialdemokratische  Staatsminister  griff  sie 
also  an!  Kein  Wun<Jer,  daB  ihm  von  alien  groBen  Damen  am 
schlechtesten  Lilly  Braun  gefallt.  Ihre  f,Memoiren  einer  So- 
zialistin"  nennt  der  harte  Kritiker  MKitsch'\  Und  von  ihren 
Kriegsvortragen  sagt  er:  nWundervoll  angezogenf  entziindete 
Lilly  durch  Leidenschaftlichkeit  und  Feuer  alle  Herzen.  Sie 
konnte  wirken,  sich  plakatieren,  war  restlos  gliicklich."  Wei* 
schimpft  nun  hier?  Der  Sozialdemokrat  iiber  die  Eleganz  oder 
der  Aristokrat  iiber  das  Gliick,  sich  plakatieren  zu  konnen? 

Der  sozialdemokratische  Freiherr  bleibt  miBtrauisch  gegen 
alle  groBen  Damen,  die  sich  schon  der  Linken  anschlossen,  als 
Sozialdemokraten  noch  nicht  Minister  werden  konnten.  Keine 
von  ihnen  vermochte  seiner  Meinung  nach,  die  Sehnsucht 
nach  der  Gesellschaft  vollig  zu  iiberwinden.  Freilich,  die 
Verschmelzung  von  Gesellschaft  und  proletarischem  Klassen- 
kampf,  die  der  Freiherr  von  Reibnitz  darstellt,  gibt  es  noch 
nicht  lange.  Zum  Gliick  braucht  er  sich  jedoch  nicht  ganz  dem 
Klassenkampf  zu  widmen,  auch  in  der  Republik  hat  die  Ge- 
sellschaft noch  eine  Saule;  „die  groBe  Dame  der  Republik", 
Katharina  von  Kardorff,  die  bis  vor  einigen  Jahren  von 
Oheimb  hieB,  kurz  „Kathinka"  genannt. 

In  ihrem  Salon  werden  Minister  gemacht,    Etwa  so: 

t,Auch  Stresemann  hat  diesen  feinen  klugen  Graf  en  gem, 
dazu  ein  Kanitz,  Reichsminister  in  seinem  Kabinett,  Blitz- 
schnell  durchrast  sein  Hirn  das  Fiir  und  Wider.  Dann  sagt  er 
ruhig  zu  Kathinka:  „Sehr  einiach,  Frau  von  Oheimb,  Grai  Ka- 
nitz legt  sein  Reichstagsmandat  nieder  und  tritt  aus  der 
Deutschnationalen  Partei  aus.  Dann  wird  er  Fachminister  — -\ 
Kathinka:  „Fachminister,  wird  die  SPD  das  tun?"  Die  Antwort 
Stresemanns;  „Wenn  Ebert  will,  nattirlich,  er  hat  die  Autoritat, 

783 


es  in  seiner  Fraktion  durchzusetzen."  Kathinka  wendet  sich 
zum  Graf  en.  ,tWtirden  Sie  das  tun,  was  Stresemann  tins  vor- 
schlagt,  lieber  Graf,  dann  telephoniere  ich  mit  Ebert."  Der 
Graf  nickt,  Kathinka  hebt  den  Horer  vom  Telephon,  das  auf 
einem  kleinen  Tischchen  vor  ihr  stent, 

Ein  Hin  und  Her  mit  Ebert,  dann  ist  er  einverstanden. 
Bald  danach  sagt  Stresemann  Adieu,  nur  Siegfried  Kardorff 
und  Gerti  Kanitz  bleiben.  Kathinka  laBt  Champagner  bringen 
und  trinkt  mit  Kardorff  auf  das  Wohl  des  neuen  Reichs- 
ministers. 

Die  beiden  gehen,  Kathinka,  vom  Erfolg  berauscht,  tod- 
rnude,  legt  sich  nieder  und  iiberfliegt  noch  schnell  die  Abend- 
zeitung.  Die  Tochter  huscht  ins  Zimmer,  setzt  sich  aufs  Bett, 
umarmt  die  Mutter,  flustert;  ,,Ist  Gerti  nun  Minister?'*  — 
t,Morgen,   mein  Kind," 

Per  junge  hiibsche  Graf  hatte  auch  sie  bezaubert." 

Und  das  ist  nun  wohi  wirklich  ein  Kulturdokument. 

Genug!  Auch  das  .Kleine  Journal'  findet  seine  Leser. 
Wenn  es  sich  nur  darum  handelte,  daB  einer  ein  Buch  iiber 
groBe  Damen  und  ihren  Unterleib  geschrieben  hatte,  es  lohnte 
sich  nicht,  ein  Wort  dariiber  zu  verlieren,  auch  dann  nicht, 
Wenn  der  Verfasser  die  Weltmacht  Mecklenburg-Strelitz  re- 
gierte.  Aber  daB  dieser  Mann  Sozialdemokrat  ist  —  das 
macht  sein  Buch  zu  einem  Fall. 

Nicht  zu  einem  Fall  des  Freiherrn  von  Reibnitz.  Dessen 
Seele  haben  wir  kennen  gelernt,  und  wenn  er  nicht  an  den 
Nordlandreisen  des  Kaisers  teilnahm,  so  vernrutlich  nur,  weil 
er  nicht  eingeladen  war,  Er  hatte  gut  in  den  Kreis  hinein- 
gepafit,  der  sich  alljahrlich  auf  der  „Hohenzollern"  zusammen- 
fand.  Aber  wie  kommt  er  zur  Sozialdemokratie,  und  welche 
groBe  Dame  hat  ihn  als  Vertreter  der  Partei  zum  Staats- 
minister  gemacht? 

Hier  wird  der  Fall  erst  ernst.  Denn  der  Freiherr  von 
Reibnitz  ist  kein  Einzelganger.  In  dem  November,  der  den 
Boden  neuer  Tatsachen  schuf,  kamen  viele  Mitglieder  der  Ge- 
sellschaft  zu  den  Gewinnern.  Die  Griitzner,  Soiling,  Waentig, 
der  ebenfalls  Minister  war,  haben  sich  inzwischen  schon 
wieder  auf  den  Boden  neuerer  Tatsachen  begeben,  und  andre 
werden  ihnen  f olgen,  Nach  diesen  leuchtenden  Vorbildern 
aber  richteten  sich  die  weniger  Arrivierten,  Wenn  die  ganz 
oben  fur  Salons  schwarmten,  wollten  die  Kieineren  wenigstens 
aus  Freundschaftspokalen  trinken  und  gute  Zigarren  rauchen. 

Es  ist  nicht  die  Zeit,  eine  Partei  anzugreifen,  die  im  Kon- 
kurs  der  Republik  der  letzte  Aktivposten  ist.  Aber  wenn  es 
so  weit  gekommen  ist,  so  liegt  die  Schuld  nicht  nur  an  den 
Verhaltnissenf  sie  liegt  auch  an  den  Menschen!  Die  Salon- 
spzialisten  und  ihre  Nachahmer  haben  viele  Niederlagen,  viele 
Verluste,  viele  Enttauschungen  verursacht.  Es  ist  kein  Hel- 
denstiick,  das  heute  auszusprechen,  doch  es  mufi  gesagt  wer- 
den. Konnen  denn  Leute  wie  der  Freiherr  von  Reibnitz  das 
deutsche  Proletariat  uberhaupt  gegen  den  Fascismus  fiihren? 
Sicher,  sie  konnen  es  nicht.  Das  ist  die  Tragik  der  Sozial- 
demokratie,  an  deren  Wiege  Manner  standen,  die  sich  ,,Sol 
daten  der  Revolution*  nannten  und  es  auch  waren, 

784 


WertherS  Leiden,  1931  von  Erich  Ebermayer 

Mie  wird  es  eine  Zeit  geben,  wie  auch  die  Welt  sich  wandeln 
mag,  die  ohne  Liebe  auskommen  kann.  Nie  vor  allem 
wird  Jugend  leben,  die  nicht  irgendwann  zum  ersten  Male 
das  W  under,  zu  lieben  und  geliebt  zu  werden,  erfahrt  und  die 
nicht  davon  besessen  ware,  dieses  Wunder  im  Wort  zu  ge- 
stalten,  das  Verschwommene  zu  bannen,  das  Dunkle  ans  Lichfc 
zu  holen,  durch  Aussprechen,  durch  den  Versuch  also,  zu 
f,schreiben".  Mogen  Jahrzehnte  des  Chaos  noch  vor  uns  lie- 
gen,  ehe  Neues  ungeahnt  sich  entfalten  wird  —  Lieben  und 
Geliebtwerden  junger  Menschen  wird  bleiben  trotz  Hunger 
und  Angst,  Not,  Verwirrung  und  Verhetzung.  Und  ebenso 
wird  bleiben  das  Liebesgedicht  des  Jiinglings,  die  erste  Beichte 
einer  ersten  Liebe,  also  das  Ruhrende,  Komische,  Gewaltige, 
das  wir  spater  zu  belacheln  und  zu  verleugnen  pflegen,  wah- 
rend  es  uns  in  der  Stunde  der  Entstehung  zum  Mittelpunkt 
der  Schopfung  macht,  urn  den  der  Kosmos  strahlend  kreist. 

Mit  diesem  schonen,  sicheren  Gefiihl,  daB  es  immer  Be- 
zirke  geben  wird,  wohin  die  Politik  nicht  dringt,  wo  die 
Phrase  kerne  Geltung  hat,  beendete  ich  gestern  das  Telepho- 
nat  mit  dem  Gymnasiasten  X.  Der  jutige  X,  mir  fliichtig  be- 
kannt  als  Jiingling  mit  offenem  Blick  und  guten  Manieren, 
hatte  mich  ans  Telephon  gebeten,  um  mir,  stockend,  zu  sagen, 
er  habe  eine  Novelle  geschrieben,  eine  Liebesgeschichte, 
sicher  kein  Meisterwerk,  aber  —  ob  er  sie  mir  schicken  durfe, 
ob  ich  sie  vielleicht  lesen  und  ihm  sagen  konne,  was  ich  da- 
von   halte ... 

Warum  nicht?  Ich  wuBte,  es  handelt  sich  um  keinen 
Schwatzer  und  Ignoranten  sondern  um  einen  sympathischen 
Jungen,  der  im  Leben  seinen  Mann  stehen  wird.  Also  gut... 
Wie  er  sprach  und  stockte,  hatte  er  verraten,  wessen  Liebes- 
geschichte es  sei,  die  er  da  erzahlt  hatte.  Heute  kam  das 
Manuskript.  Sauber  geschrieben,  mit  der  Hand,  zehn  Seiten. 
Wie  vorauszusehen:  Die  Geschichte  seiner  ersten  groBen  Liebe. 
Die  Lektiire  hat  mich  erschuttert.  Ich  bin  uberzeugt,  daB  last 
alle,  die  diese  Novelle  des  jungen  sympathischen  Mannes  lesen 
wiirden,  erschiittert  davon  waren  gleich  mir.  Und  ich  trage 
keine  Bedenken,  ja  ich  halte  es  fur  meine  Pflicht,  obwohl  es 
indiskret  scheinen  mag,  von  dieser  Novelle  zu  berichten,  aus 
ihr  zu  zitieren,  freilich  unter  Veranderung  der  Namen. 

Der  Stil   is-t  nicht   bemerkenswert,     Ein   klarer,   sauberer 
*  Primanerstil,  man  spurt  die  ,,gute"  Familie,  das  humanistische 
Gymnasium,  die  geordnete  Lektiire.     Kleine  Plumpheiten  fal- 
len eher  angenehm  auf,  als  daB  sie  storen.     Was  also  dann? 
Der  Inhalt?     Lassen  Sie  mich  erzahlen: 

„Carlos,  ein  groBer  schlanker  Mensch  voa  noch  nicht 
achtzehn  Jahren"  —  wer  wohl?  —  ist  iiber  die  Ferien  zu 
Freunden  seiner  Eltern  in  die  Nachbarstadt  eingeladen,  zu 
reichen  Leuten,  die  ein  Haus  in  der  Vorstadt  bewohnen,  mit 
Park  und  Wagen:  Vater,  Mutter,  Tochter.  Der  junge  Mann 
nahert  sich  im  Zuge  der  Stadt,    damit  setzt    die  Novelle  ein. 

785 


Er  weiB,  Mutter  und  Tochtcr  wcrden  ihn  am  Bahnhof  erwar- 
ten.  Wie  wird  er  sie  vorfinden,  von  der  ihm  sovicl  erzahlt 
wurde,  Rebekka,  diese  Tochtcr?  Sie  soil  sehr  schon  und 
klug  sein  (er  keiint  nur  die  Matter  bisher)  —  wird  sie  ihm 
gef  alien?  Er  freut  sich,  er  ist  in  gespannter  Erwartung,  in 
natiirlicher,  selbstverstandlicher  Bereitschaft  zum  ,,groBen"  Er- 
lebnis.  Der  Zug  fahrt  in  die  Halle  em,  Und  da  steht  schon 
der  erste  Satz,  den  ich,  aus  wohlwollend-Huchtiger  Lekture 
gerissen,  mehrmals  las,  ohne  daB  er  sich  verandert  hStte: 
„Um  keinen  Preis  ihr  freundschaftlich  irgendwie  nahertreten! 
Ein  Christ  und  eine  Jtidin!     Ware  ja  vollig  undenkbar." 

Es  kommt,  wie  es  kommen  mufi.  Den  Jungen  packt  eine 
sturmische  Liebe,  die  erste  seines  Lebens,  zu  dem  schonen 
MadeL  Er  ringt  mit  dieser  Liebe,  ernst,  leidenschaftlich,  ja 
groBartig.  Das  ist  der  Inhalt  der  Novelle.  Er  qualt  sich  un- 
sagbar  ab.  Er  rennt  nachts  allein  durch  den  Park,  sinkt 
schlieBlich  verzweifelt  auf  eine  Bank:  „Ich  bin  ein  Christ, 
sie  ist  eine  Judin.  Die  semitische  Rasse  ist  verpont,  infolge- 
dessen  ware  keine  Liebe  zwischen  uns  moglich,  Aber  ist  die 
Liebe  nicht  etwas  Cbermenschliches,  Volkerfeindschaft  Ober- 
briickendes?  ...  Meine  Zuneigung  zu  ihr  ist  energisch  ab- 
zulehnen  uiid  die  Liebe  zu  unterbinden ..."  (Die  Liebe  ist 
abzulehnen  und  zu  unterbinden...!  Das  konnen  die!  So  alt 
sind  wir  schon,  daB  wir  uns  daniber  aufregen,  daB  die  Sieb- 
zehnjahrigen  von  heute  das  konnen  .  . .) 

Der  junge  Mann  qualt  sich  noch  eine  Weile.  Er  traumt 
nachts  von  seiner  kleinen  Rebekka:  „Plotzlich  aber  sah  er 
seine  Vorfahren  an  sich  vorbeiziehen,  in  feierlicher  Prozession, 
mit  allem  Traditionsschmuck,  Ord'en  und  Ehrenbezeugungen 
verse  hen,  drohend  schwangen  die  Ahnen  ihre  Schwerter, 
naher  und  naher  kamen  sie,  machtig,  wie  eine  ungeheure 
Meerflut,  begannen  sie  ihn  zu  stechen  und  zu  stofien  ..." 

An  einem  schwiilen  Sommer abend,  in  der  Hangematte, 
kommt  es  zur  Katastrophe.  Sie,  hat  ein  Buch  unterm  Arm; 
Was  liest  Du?  Sie  gesteht,  daB  sie  Feuchtwanger  liest;  er 
wendet  sich  angeekelt  ab  und  ist  eine  Weile  nicht  iahigt  zu 
sprechen.  Dann  muB  er  aufs  Neue  in  das  geliebte  Gesicht 
blicken.  „Als  er  seinen  Mund  mit  dem  ihren  vereinen  wollte, 
erfaBt  ihm  noch  einmal  ein  gewisser  Rasseabscheu."  Dann 
tut  ers  doch.  „Der  erste  innige,  wolliistige  KuB  seines  Le- 
bens."  Aber  nur  einmal  und  nur  das.  Gleich  darauf  flieht 
er  bei  Nacht  und  Nebel  von  der  Gezeichneten  hinweg,  fort 
aus  dem  verruchten  Haus,  in  dem  er  wochenlang  gliicklich 
gewesen.  Als  Landstreicher  schlagt  er  sich  durch  bis  nach 
Haus.  Er  hat  sein  Schlcksal  gemeistert.  Ein  deutscher  Mann. 
51Meine  Zuneigung  zu  ihr  ist  energisch  abzulehnen  und  die 
Liebe  zu  unterbinden," 

So  erlebt  und  geschrieben  von  deutscher  Jugend  im 
Weinmond  des  Jahres  1931.  Sollen  wir  lachen  oder  weinen? 
SoUen  wir  stolz  sein  oder  —  uns  schamen?  (Wir  „Christen", 
meine  ich. . .) 

786 


Moralische  Prosa  von  Rudolf  Amhcim 

prich  Kastners  Begabung  ist  nicht  an  Verse  gebunden,  Ja 
"  sein  Gefiihl  fiir"  Wirksamkeit  und  Klang  der  Sprache  zeigt 
sich  fast  deutlicher  in  der  schwereren  Kunst  der  Prosa,  wo 
kem  Reimkorsett  ihn  zur  Form  zwingt.  Er  IaBt  sich  nicht 
gehen.  Mit  derselben  Disziplin  wie  in  seinen  Gedichten  macht 
er  die  Satze  durchsichtig,  damit  sie  das  Skelett  des  Gedan- 
kens  zeigen.  Und  ohne  die  Naivitat  des  Erzahlens  zu  ver- 
letzen,  streut  er  Hunderte  seiner  antithetischen,  ironischen 
Formulierungen  ein,  mit  denen  er  sich  gegen  die  Dummheit 
der  Welt  wie  mit  einem  Schlagring  verteidigt  In  seinem  Ro- 
man MFabian,  die  Geschichte  eines  Moralisten"  (Deutsche  Ver- 
lagsanstalt  Stuttgart)  herrscht  eine  ausgezeichnete  Einheit  zwi- 
schen  den  abstrakten  Thesen  und  dem  rein  Anekdotischen 
der  Handlung.  Denn  alle  diese  Handlungsmotive  sind  so  ge- 
klart,  es  haftet  ihnen  so  wenig  der  zeitgemaBe  Juchtengemich 
des  bloB  Wirklichen  an,  daB  sie  sich  wie  Fabeln  lesen  —  an- 
schauliche  Beispiele  fiir  die  wohlklingenden  Sprichworter,  die 
wir  aus  dem  Munde  des  Autors  und  seiner  Figuren  zu  horen 
bekommen. 

Und  doch  hat  das,  was  er  erzahlt,  nirgends  die  Armlich- 
keit  konstruierter  Schulbeispiele.  Vielmehr  sind  die  Situatio- 
nen,  die  er  zeichnet,  mit  einem  erstaunlichen  Blick  fiir  die 
Tiefenwirkung  des  Oberflachlichen  erfunden;  oft  chaplinhaft, 
so  in  der  Episode  des  Blinden  im  Cafe,  dessen  Frau  zugleich 
mit  ihm  und  dem  Mann  am  Nebentisch  kokettiert  DaB  sich 
alle  die  Einzelgeschichten,  aus  denen  der  Roman  zusammen- 
gesetzt  ist,  dem  Leser  so  zwanglos  als  Symbole  enthiillen,  liegt 
nicht  nur  am  Gegenstandlichen.  Sondern  auch  daran,  daB  alle 
Figuren  nicht  sprechen  wie  auf  der  StraBe  sondern  wie  der 
Autor.  Man  glaube  nicht,  daB  Kastner  nur  unfahig  sei,  unsem 
Alltagsjargon  festzuhalten.  Vielmehr  ist  die  stilisierte,  gleich- 
formige  Sprechweise,  in  der  sich  hier  Nutte  xind  Justizrat, 
Kellner  und  Kastner  zusammenfinden,  grade  das,  was  wir  Stil 
nennen  und  was  wir  bei  den  meisten  zeitgenossischen  Schrift^ 
stellern  so  heitig  vermissen.  In  keinem  Werk  der  groBen  Lite- 
ratur  haben  die  Menschen  jemals  so  gesprochen  ,,wie  im  Le- 
ben",  und  ,,Papierdeutscht*  entsteht  nicht  da,  wo  einer  unnatu- 
ralistisch  ist,  sondern  da,  wo  der  Sprachschatz  aus  der  Zeitung 
stammt,  statt  aus  einem  originellen  Kopf.  Die  nirgends  aus- 
setzende,  strenge  Besonderheit  von  Kastners  Sprache  ist  ge- 
rade  das  sicher'ste  Zeichen  fiir  seine  Begabung. 

Es  ist  schwer,  sich  selbst  ins  Gesicht  zu  sehen,  und  so  ist 
denn  auch  Fabian,  der  Zentralheld  des  Romans,  nicht  recht 
Fleisch  geworden.  Dies  liegt  vor  allem  daran,  daB  ihm  keine 
Funktion  zuteil  wird-  Er  sitzt  neben  dem  Leser  im  Publikum. 
Er  client  dazu,  die  Teilgeschichten  des  Buches  durch  das  lose 
Band  der  Personalunion  miteinander  zu  verkniipfen.  *  Fabian, 
hilfsbereit  und  jung,  sieht  mit  Erstaunen  eine  Welt,  die  er 
fticht  versteht  und  in  der  er  also  nicht  arbeiten  kann.  Eine 
Welt,  in  der  die  Irrsinriigen  in  stattlichen  Wohnungen  hausen, 
wahrend  man  die  Klugeh  ins  Irrenhaus  sperrt.     Eine  Welt  der 

787 


Betrunkenen  und  der  Traume,  Eine  Welt,  in  der  das  Unzu- 
sammengehorige  ineinanderflieBt:  aus  Mann  und  Weib  formen 
sich  groteske  Zwittergestalten,  Vater  und  Tochtcr  treffen  sich 
unversehcns  im  Abstcigcquartier,  die  Greisin  schminkt  sich  in 
die  Jugend  zurtick.  Eine  Welt,  in  der  das  Zusammengehorige 
durch  Ozeane  getrennt  ist:  das  Getreide,  das  in  Amerika  ver- 
brannt  wird,  wahrend  in  Europa  die  Leute  hungern;  Fabians 
Freundin  Cornelia,  die  sich  an  ein  en  Filmdirektor  „wie  an  die 
Anatomie"  verkauft,  weil  der  Freund  abgebaut  worden  ist  und 
kein  Geld  hat.  Mit  enzyklopadiscjher  Vollstandigkeit  be- 
schreibt  Kastner  alle  Stationen  des  Unsinns:  Stempelstellen, 
moblierte  Zimmer,  Mannerbordelle,  Bars,  Ateliers,  Familien, 
Kabaretts,  Schulen,  Sprechzimmer.  Das  alles  tragt  er  zu- 
s  a  mm  en,  Zu  einem  Scheiterhaufen  —  aber  das  muB  nicht 
jeder  Leser  merken.  Denn  Kastner  schwenkt  weder  eine  rote 
Fahne  noch  tragt  er  das  Kreuz  der  Bahnhofsmission  sichtbar 
an  der  Brust. 

Es  ist  daher  nicht  sicher,  ob  etwa  die  Sittenwachter,  die 
ja  Erich  Kastner  fur  eine  Art  Volkskommissar  des  Kultur- 
bolschewismus  halten,  merken  werden,  mit  welcher  Strenge 
cr  gegen  die  ScheuBlichkeiten  kampft,  die  er  schildert.  Indem 
er  sie  schildert;  denn  er  ist  von  temperamentswegen  kein  Urn- 
stiirzler,  aber  Erklaren  und  Aufzeigen  bringen  ja  den  wich- 
tigen  Auftakt  zum  Umsturz.  Die  Sittenwachter  mogen,  schon 
weil  er  ihrem  „Intelligenzalter"  —  wie  die  Kinderpsychologen 
sagen  —  besser  entspricht,  als  Erganzung  zum  nFabian'1  Kast- 
ners  neuen  Kinderroman  zuziehen.  „Punktchen  und  Anton", 
erschienen  im  Verlag  Williams  &  Co.,  Berlin-Grunewald,  diirhe 
selbst  den  organisierten  Erynnien  der  Keuschheit  ein  Lacheln 
auf  die  fleischlosen  Lippen  zaubern,  Denn  hier  hat  Kastner 
mit  seiner  ganzen  liebenswiirdigen  Verspieltheit,  Narrheit  und 
Warme  eine  schlichte  Geschichte  fur  die  Acht-  bis  Zehnjahri- 
gen  erzahlt,  die  nach  „Emil  und  die  Detektive"  schon  auf 
das  neue  Buch  warteten.  Wieder  macht  er  Berlin  zum  Mar- 
chenland.  Den  Teufel  gibt  ein  Einbrecher,  die  bose  Fee  ein 
bosartiges  Kinderfraulein,  und  wieder  bringen  zwei  mutige 
kleine  Kinder  die  unartige  Welt  zur  Raison.  Das  Buch  funkelt 
von  Lustigkeiten,  die  nicht  nur  fur  das  Kind  sondern  vom  Kinde 
aus  erdacht  sind,  und  so  ist  „Punktchen  und  Anton"  nicht  nur 
ein  Buch  fur  Kinder  sondern  iiber  Kinder.  Aber  nicht  des- 
halb  empfehlen  wir  es  den  nationalen  Frauenvereinen. 

Sondern  weil  dies  Buch  handgreiflicher  als  der  „Fabian" 
das  Moralische  in  Erich  Kastner  zeigt.  In  kleinen  Zwischen- 
betrachtungen,  mit  denen  er  die  spannende  Raubergeschichte 
geschickt  durchsetzt,  spricht  er  (iber  Pflicht,  gegenseitige  Hiife, 
echten  und  unechten  Mut,  Mitleid,  Riicksicht  und  Ehrlichkeit 
Ohne  das  anarchische  Lacheln  des  Zynikers  setzt  er  sich  fur 
diese  einfachen  Forderungen  ein;  es  ist  derselbe  Ton,  in  dem 
Fabian  zu  der  Freundin  sagt:  „Ich  glaube,  ich  warte  nur  auf 
die  Gelegenheit  zur  Treue,  und  dabei  dachte  ich  bis  gestern, 
ich  ware  dafiir  verdorben."  Wenn  er  das  Biirgertum  so  bitter 
verspottet,  so  eigentlich  nur  als  Anwalt  dieser  Forderungen, 
die  gerade  dort  in  den  Staub  des  moblierten  Zimmers  gezogen, 

788 


verdorben  und  sinnlos  gemacht  werden,  wo  man  sie  gepach- 
tet  zu  haben  glaubt.  Aber  er  bringt  gegen  das  Schlechte 
nicht  die  malerische  Beschworergeste  dcr  Lcute  auf,  fur  die 
das  Laster  zugleich  das  Objekt  lusterner  Wunschtraume  ist. 
Er  braucht  nicht  zu  traumen,  er  hat  alles  gesehen  und  es,  ohne 
viel  Larm  zu  machen,  als  zu  leicht  befunden.  Bei  ihm  tritt 
nicht  die  babylonische  Hure  auf,  mit  prachtvollem  Busen  und 
heiBem  Mund,  sondern  die  korpulente  Rechtsanwaltsgattin, 
die  sich  fremden  Mannern  im  Hechtsprung  an  den  Hals  wirft. 
Er  lehnt  das  Unmoralische  nur  deshalb  ab,  weil  es  diirftig  und 
verbogen  ist  und  niemandeh  gliicklich  macht.  ,,Sein  Sinn  fiir 
Moral  war  erne  Konsequenz  der  Ordnungsliebe",  und:  ,, Moral 
war  die  beste  Korperpflege".  Ein  Kosmetikum,  ohne  Vibrato 
angeboten,   aber  unentbehrlich. 

„Punktchen  und  Anton",  das  Kinderbuch,  hat  eine  kraf- 
tige  Handlung.  Denn  hier  greift  Kastner  aus  dem  groBen  Chaos 
einen  kleinen  Kosmos  heraus:  den  Schicksalskreis  von  ein  paar 
Einzelmenschen,  in  dem  trotz  aller  Wirtschafts-  und  Vernunft- 
krise  der  Gute  und  Tapfere  sich  ntitzlich  betatigen  und  das 
Bose  besiegen  kann.  Das  Fabian-Buch  hingegen  hat  keine 
Handlung,  weil  sein  Held  zu  klarsichtig  oder  —  wie  man 
will  —  zu  temperamentlos  ist,  um  gegen  die  machtigen  In- 
stanzen  der  Dummheit  anzurennen,  ,,Wir  sitzen  im  Warte- 
saal",  sagt  er  -und:  „Ich  mochte  helfen,  die  Menschen  anstandig 
und  verniinftig  zu  machen,  Vorlaufig  bin  ich  damit  beschaf- 
tigt,  sie  auf  ihre  diesbeziigliche  Eignung  hin  anzuschauen." 
Dies  ist  eine  kluge,  sympathische  Haltung,  nur  leider  kein 
Romanthema.  ,,Wissen  Sie  was,  kommen  Sie  mit!  Sehen 
Sie  sich  mal  unsern  Zirkus  an!"  sagte  der  Redakteur  zu  Fa- 
bian, und  er  geht  mit,  und  das  gibt  AnlaB  zu  einer  pracht- 
vollen,  konzentrierten  JSchilderung  des  Zeitungsbetriebes.  Und 
so  geht  Fabian  von  Zirkus  zu  Zirkus  und  sieht  sich  alles  an. 
Mit  blanken  Augen;  nur  eben:  ein  Roman  ist  kein  Rundfahrt- 
auto.  Fabian  schwingt  sich,  auf  der  letzten  Seite  seines  Ro- 
mans, in  plotzlichem  EntschluB,  obwohl  er  nicht  schwimmen 
kann,  uber  ein  Briickengelander,  um  einen  kleinen  Jungen  zu 
retten;  die  auf  dreihundert  Druckseiten  zerdehnte  Zeitlupen- 
aufnahme  dieses  Entschlusses  ware  ein  Romanstoff. 

DaB  man  im  Film  den  Kameramann,  der  gedreht  hat,  nicht 
zu  sehen  bekommt,  ist  in  Ordnung,  denn  er  spielt  nicht  mit, 
Und  aus  diesem  Grunde  ist  es  nicht  ganz  in  Ordnung,  daB 
Kastner  uns  mit  Fabian  bekannt  macht.  Denn  Fabian  spielt 
nicht  mit,  er  steht  an  der  Kamera.  Damit  hangt  zusammen  der 
andre,  noch  naherliegende  Einwand  gegen  die  Form  dieses 
Buches:  daB  namlich  die  einzelnen  Episoden  nur  in  systema- 
tischer,  nicht  in  historischer  Beziehung  zueinander  stehen. 
Kastner  selbst,  der  theoriekundig  ist,  wie  sich  das  fiir  einen 
Kiinstler  gehort,  hat  das  gesehen  und  wie  folgt  verteidigt: 

Dieses  Buch  hat  keine  Handlung.  AuBer  einer  mit  zweihundert- 
siebzig  Mark  im  Monat  dotierten  Anstellung  geht  nichts  verloren. 
Keine  Brief tasche,  kein  Perlenkollier,  kein  Gedachtnis,  oder  was  sonst 
im  Anfang  von  Geschichten  verloren  geht  und  im  letzten  Kapitel,  zur 
allgemeinen  Befriedigung,  wiedergefunden  wird.  Es  wird  nichts  wie- 
dergefunden.  Der  Autor  halt  den  Roman  keineswegs  fiir  eine  amorphe 

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Kunstgatiung,   und  trotzdem  hat   er,   hier  und  dieses   Mai,   die  Steine 
nicht  zum   Batten  verwandt. 

Man   konnte  beinahe  vermuten,   es   handle  sich  um   eine   Absicht. 

Es  treten  wichtige  Personen  auf  und  verschwinden  vor  der  Zeit. 
Es  kommen  unwichtige  Leute  daher  und  kehren  mit  einer  Heftigkeit, 
die  ihnen  gar  nicht  zukommt,  immer  wieder.  Ein  junger  Mann  er- 
schiefit  sich.  Ein  andrer  junger  Mann  ertrinkt.  Und  beide  Todes- 
falle  sind  auBerlich  so  wenig  gerechtfertigt,  beide  Herren  kommen 
derartig  aus  Versehen  urns  Leben,  daB  man  fragen  konnte:  Gab  es 
denn  keine  zwingenderen  Anlasse?  Warum  versagte  der  Autor  ihrem 
Tod   die   Notwendigkeit? 

Man  konnte  beinahe  vermuten,   es   handle  sich  um  eine  Absicht. 

Die  Zahl  der  Dachziegel,  die  dem  Menschen  aufs  Barhaupt  fal- 
len konnen,  wachst  von  Tag  zu  Tag.  Die  Dummheit  dessen,  was 
geschieht,  nimmt,  vom  zunehmenden  Tempo  des  Geschehens  an- 
gercgt,  imposante  AusmaBe  an,  Der  Zufall  regiert,  daB  samtliche 
verfiigbaren  Balken  knistern.  Das  Leben  ist  interessant,  das  ist  das 
einzige  gute  Haar  in  der  Suppe,  die  wir  auszuloffeln  die  Ehre  haben. 

Der  Zustand  lebt  mehr  denn  je  vom  Zufall.  Wovon,  so  fragte 
sich  der  Autor,  soil  die  Darstellung  des  Zustands  leben?  Jeder  Tag 
ist  fiir  den,  der  ihn  erlebt,  eine  Reise  im  verkehrten  Zug  ans  ,  falsche 
Ziel.  Weil  es.  viele  Moglichkeiten  gibt,  und  nur  eine  davon  kann 
Tatsache  werden,  verwirklicht  sich  das  Unwahrscheinliche.  Die  Ver- 
nunf t  ging  ins  ExiL  Der  verworrene  Zustand  und  der  ratlose  Mensch 
blieben  zuriick.  Wie  liefi  sich  beides  am  treffendsten  auf  den  Leser 
iibertragen?  Wie  konnte  es,  wenn  iiberhaupt,  gelingen,  den  Leser  so 
zu  mobilisieren,  daB  er  nach  der  Lektiire  womoglich  aufsprang  und 
auf  den  Tisch  schlug  und  ausrief:  Dieser  Zustand  mufl  anders  wer- 
denf 

Das  Buch  hat  keine  Handlung  und  keinen  architektonischen  Auf- 
bau  und  keine  sinngemaB  verteilten  Akzente  und  keinen  befriedigen- 
den  SchluB. 

Man  vermutet  richtig,  ob  man  es  nun  fur  richtig  halt  oder  nicht: 
Es  war  so  die  Absicht! 

Das  klingt  bcstechend,  ist  aber  doch  wohl  ein  TrugschluB. 
Und:  Absicht  schiitzt  vor  Fehlern  nicht.  Kastner  verwcchsclt 
die  Darstellung  des  Zufalls  mit  der  Zufalligkeit  der  Darstel- 
lung. Er  selbst  zeigt  im  MFabian"  an  hundert  glanzenden  Bei- 
spielen,  wie  man  den  Zufall  dadurch  darstellt,  daB  man  das 
Zufallige  mit  Notwendigkeit  nebeneinander  montiert.  Er  zeigt, 
wie  Kausalverbindungen  auftreten,  wo  keine  hingehoren,  und 
wie  sie  fehlen,  wo  sie  unentbehrlich-  waren  —  und  nur  das 
kann  tragischer  Zufall  heiBen,  Innerhalb  jeder  Handlungszelle 
ist  die  Sinnlosigkeit  und  Zufalligkeit  unsrer  Welt  mit  vorbild- 
licher  Strenge  geformt;  aber  die  Zellen  schlieBen  sich  zu  kei- 
nem  Korper  ztisammen    sondern  ordnen  sich  nur  zur  Tabelle. 

^Es  gibt  nur  einen  einzigen  in  unsrer  Generation,  der 
einen  besseren  Roman  hatte  schreiben  konnen  —  und  das  ist 
Erich  Kastner.  Er  hat  aufs  Neue  belegt,  was  wir  schon  wuB- 
ten:  die  gliickliche  Vollstandigkeit  seiner  Anlagen.  Er  ist  nicht 
nur  scharfsinnig  sondern  zugleich  scharf sichtig,  Sachlich  und 
verspielt.  Derb  und  zierlich.  Ernst  und  lustig.  Gut  und  bose, 
Diese  Mischung  gelingt  dem  lieben  Gott  nicht  oft. 

790 


DaS  RieSenSpielzeUg  von  Erich  Kfistner 

Es  gibt  eine  Million  jugendliche  Erwerbslose* 

pins  habt  ihr  leider  nicht  bedacht: 

dafl  Kinderhaben  auch  verpflichtet. 
Ihr  wart  auf  uns  nicht  eingerichtet, 
ihr  habt  uns  nur  zur  Welt'  gebracht 

Ihr  habt  uns  maricherlei   gelehrt, 
Latein  und  Griechisch,  bestenfalles, 
nun  sind  wir  grofi,  doch  das  ist  alles. 
Und  was  ihr  lehrtet,  ist  nichts  wert. 

Ihr  habt  uns  in  die  Welt  gesetzt. 
Wer  hatte  euch  dazu  erraachtigt? 
Wir  sind  nicht  existenzberechtigt 
und  fragen  euch:   Und  was  wird  jetzt? 

Schon  sind  wir  eine  Million! 

Wir  waren  fleiBig  und  gelehrig. 

Und  ihr?     Ihr  schickt  uns,  minder jahrig, 

furs  ganze  Leben   in  Pension. 

Wir  leben  wie  im  Krankenhaus 
und  lassen  uns  von  euch  verwalten. 
Wir  werden  von  euch  ausgehalten 
und  halten  das  nicht  langer  ausf 

Sind  wir  dehn  da,  um  nichts  zu  tun? 
Wir,  die  gebornen  Arbeitslosen, 
verlangen  Arbeit,  statt  Almosen 
und  fragen  euch:   Und  was  wird  nun? 

Einst  wufitet  ihr  noch  euren  Text, 
als  ihr  uns  noch  fur  Puppen  hieltet 
und  wie  mit  Spielzetig  mit  uns  spieltet, 
Doch  wir  sind  Spielzeug,  welches  wachst! 

Auf  eigne  Rechnung  und  Gefahr 
will  jeder,  was  er  lernte,  niitzen. 
Die  Tage  regnen  in  die  Pftitzen, 
und  jede  Pfiitze  wird  ein  Jahr. 

Die  Zeit  ist  blind  und  blickt  uns  an* 
Die  Sterne  ziehn  uns   an  den  Haaren. 
Das  ganze  Leben  ist  verfahren, 
noch  ehe  es  fur  uns  begann. 

Vernehmt  den  Spruch  des  Weltgerichts: 
Ihr  gabt  uns   seinerzeit  das  Leben, 
jetzt  sollt  ihr  ihm  auch  Inhalt  gebenl 
Dafi  ihr  uns  liebt,  das  niitzt  uns  nichts. 


792 


DezentralisatiOH  von  Bernhard  Citron 

A  Is  Marx  und  Engels  ihr  Kommunistisches  Manifest  schrie- 
ben,  also  vor  dreiundachtzig  Jahren,  rechneten  sie  nicht 
mehr  mit  der  Feudalwirtschaft  als  ernsthaftern  Zukunftsfaktor, 
sie  kampften  gegen  den  industriellen  und  finanziellen  Hoch- 
kapitalismus.  Sein  Gipfel  und  damit  auch  der  Abstieg  zur 
Ebene  des  Sozialismus  erschien  den  ersien  Sozialisten  nicht 
mehr  fern.  Indessen  war  der  Feudalismus  weder  politisch 
noch  okonomisch  erledigt,  und  der  moderne  Kapitalismus  stak 
noch  in  seinen  Anfangen.  Die  alteste  deutsche  GroBbank  im 
Gegenwartssinne  ist  die  Direktion  der  Discontogesellschaft, 
die  als  Aktiengesellschaft  vor  fiinfundsiebzig  Jahren  gegriindet 
wurde.  In  den  Jahren  zwischen  1850  und  1890  wurde  der 
Grundstein  zur  heutigen  Montanindustrie  gelegt.  1872  ent- 
stand  das  erste  gemischte  Kohlen-  und  Erzunternehment  die 
Dortmunder  Union,  die  den  Kern  der  Deutsch-Luxemburgi- 
schen  Bergwerksgesellschaft  und  damit  spater  auch  einen  der 
Grundsteine  der  Vereinigten  Stahlwerke  bildete.  Vor  kaum 
sechzig  Jahren  begann  die  Konzentrationsbewegung  in  der  In- 
dustrie, aber  erst  seit  den  neunziger  Jahren  bekam  sie  ihren 
groBen  Auftrieb,  der  immer  starker  wurde,  bis  er  seinen  H6he- 
punkt  in  der  Griindung  der  I.  G.  Farben-Industrie,  der  Ver- 
einigten Stahlwerke  und  der  Hapag-Lloyd- Union  erreichte. 

Langsam  stellten  sich  die  Gegentendenzen  ein.  Die  Kon- 
zerndammerung  zog  nicht  erst  in  der  Krise  dieses  Jahres  her- 
auf.  Hundertprozentig  gelang  noch  der  chemischen  Industrie, 
die  im  Farbentrust  vereinigt  ist,  die  Fusion.  Aber  schon  die ' 
Holdinggesellschaften  der  Vereinigten  Stahlwerke,  die  kaum 
mehr  iiber  nennenswerten  Eigenbesitz  verfiigen,  behielten  — 
als  Mantelunternehmungen  wenigstens  —  ein  Eigenleben.  Be- 
strebungen,  die  zu  einer  Vollfusion  fiihren  sollten,  waren  vor- 
handen;  jedoch  scheute  man  diese  letzte  Konsequenz.  Heute 
sind  die  fiihrenden  Leute  des  Stahlvereins  stolz  darauf,  daB  in 
ihrem  Konzern  eine  gewisse  Dezentralisation  herrscht,  die  den 
einzelnen  Betrieben  eine  beschrankte  Selbstandigkeit  unter 
der  Verantwortung  der  Werkdirektoren  bewahrt  hat.  Die  kiirz- 
liche  Zusammenfassung  der  Eisen-  und  Stahlerzeugung  bei  der 
Thyssenhutte  in  Hamborn  ist  als  voriibergehende  Sparmafi- 
nahme  infolge  der  radikalen  Einschrankung  der  iibrigen  Be- 
triebe  anzusehen.  Die  Hapag-Lloyd-Union,  der  letzte  groBe 
Wurf  Jacob  Goldschmidts,  der  auch  die  Entstehung  des  Stahl- 
vereins gefordert  hat,  gedieh  nicht  bis  zum  tatsachlichen  Zu- 
sammenschluB.  So  wird  es  ganz  deutlich,  daB  die  Konzentra- 
tionssucht  in  den  letzten  Jahren  an  Intensitat  nachgelassen  hat. 
Die  Banken  haben  sich  die  Fusionsneigung  am  langsten 
bewahrt.  Sie  waren  es,  die  in  der  Industrie  die  Konzen- 
trationsbewegung forcierten  und  die  sich  selbst  noch  bis  in  die 
letzte  Zeit  hinein  zusammenschlossen.  Commerz-  und  Privat- 
bank  -  Mitteldeutsche  Creditbank,  Deutsche  Bank  -  Disconto- 
gesellschaft, Gebruder  Arnhold  -  S.  Bleichroder  sind  derartige 
Zusammenschlusse.  Aller dings  war  es  in  den  letzten  beiden 
Fallen  keine  Vereinigung  gleich  starker  Krafte,  sondern 
die   Aufsaugung  des  schwacheren  Teiles  durch  den  starkeren. 

792 


Trotzdem  ist  ubrigens  im  Falle  Deutsche  Bank-Disconto- 
gesellschalt  der  EinfluB  der  ehemaligen  Discontbverwaltung 
sehr  bedeutend.  ■ 

Der  Ruf  nach  Dezentralisation,  nach  Zerschlagung  der 
Giganten  ist  laut  geworden.  Wenn  jetzt  geschieden  werden 
soil,  dann  ist  manchmal  eheliche  Untreue  der  Grand  oder  un- 
uberwindliche  Abneigung,  meist  die  Unmoglichkeit  des  Zusam- 
menlebens.  Reichsfinanzminister  Dietrich  soil  sich  in  diesen 
Wochen  fur  den  Gedanken  einer  Dezentralisation  im  Bank- 
gewerbe  interessiert  haben.  Den  Filialen  ,  der  Dresdner  Bank 
und  der  Darmstadter  und  Nationalbank  wollte  man  ihre  Selbr 
standigkeit  wiedergeben.  Anscheinend  ist  dieser  Gedanke 
vorlaufig  wieder  zuriickgestellt  worden.  Es  ist  sogar  moglich, 
daB  sich  GroBbanken  auch  noch  fusionieren.  Der  Block 
Commerzbank-Dresdner  Bank-Danatbank  konnte  heute  aus 
einer  gewissen  Zwangsiage  her  aus  erwachsen.  Aber  hier  han- 
delt  es  sich  nicht  mehr  um  eine  freiwillige  Aktion  der  kapi- 
talistischen  Wirtschaft  sondern  um  eine  zweckmaBige  Zusam- 
menfassung  von  Reichsinteressen.  Genau  so  wenig  ist  die 
Griindung  der  beiden  Autoblocks,  des  sachsischen  unter  Fuh- 
rung  der  Sachsischen  Staatsbank  und  des  siiddeutschen,  den 
die  Deutsche  Bank  zusammenbekommen  hat,  eine  freiwillige 
Vereinigung;  das  sind  ,,gemachte  Partien",  die  neuen  Gebilde 
sind  Kinder  der  Not  und  nicht  der  Liebe.  Die  Tendenz  ist 
Riickkehr  zu  kleinen,  von  der  Leitung  ganz  tibersehbaren  Ge- 
bilden.  Noch  mogen  neue  Interessengemeinschaften  in  der 
Bildung  begriffen  sein,  aber  innerhalb  der  Konzerne  wird 
zweifellos  bald  ein  AuflockerungsprozeB  vor  sich  gehen. 

Die  Auflosung  der  Latifundien  in  viele  kleine  Bauern- 
giiter  ist  ein  nicht  grade  neuer  Gedanke,  Schon  vor  hundert- 
zwanzig  Jahren  suchte  der  Freiherr  vom  Stein  ahnliche  Plane 
zu  verwirklichen.  Was  die  Steinschen  Reformen  und  die  Re- 
volutionen  von  1848  und  1918  nicht  vermochten,  beginnt  jetzt 
erst  in  ErHillung  zu  gehen  —  die  Aufteilung  des  GroBgrund- 
besitzes.  Kein  demokratisches,  kein  sozialistisches  Regime 
laBt  den  Grund  und  Boden-  fiir  gemeinwirtschaftliche  Zwecke 
vermessen,  Vielmehr  werden  durch  die  Oberschulduhg  zahl- 
reiche  Gutsbesitzer  gezwungen,  ihr  Besitztum  versteigern  zu 
lassen-  Alte  Familiengtiter  gehen  so  in  die  Briiche,  Aber 
hatte  man  das  nicht  schon  vor  hundert  Jahren  erwartet,  ist  es 
nicht  erstaunlich,  daB  sich  die  Finanzkraft  des  Feudalism  us 
noch  bis  vor  kurzem  ausgezeichnet  konserviert  hatte,  so  daB 
das  Durchschnittsvermogen  des  Industriellen  und  Finariz- 
mannes  vom  Agrarkapital  iibertroHen  wurde?  Wahrschein- 
lich  wird  der  landwirtschaftliche  Besitz,  der  die  Krise  iiber- 
dauert,  immer  noch  groBer  sein  als  das  Industrie-  und  Banken- 
kapital,  das  von  der  Katastrophe  verschont  bleibt.  Vernichtet 
ist  in  erster  Linie  die  Existenz  jener  hochadligen  Grund- 
besitzer,  die  sich  zu  Industriegeschaften  verleiten  lieBen, 
Reichsfreiherren  und  Erbgrafen,  die  seit  dem  Wiener  KongreB 
mediatisiert  sind,  suchten  an  Stelle  der  entschwundenen 
Herrschgewalt  uber  ihre  kleinen  Territorien  die  wirtschaftliche 
Beherrschung  groBerer  Gebiete,  Aber  das  Zeitalter  der  Stahl- 
konige    und  Kohlenbarone,    der  Linoleum-    und  Kunstseiden- 

'       793 


Monarchen    ging  voriibcr     wie    das    der    wirklichen    Kaiser, 
Konige  und  Grafen, 

Im  Interesse  ciner  neucn  kapitalistischen  odcr  sozialisti- 
schen  Acra  licgt  es  nicht.  die  Industrie-  und  Firianzkanzerne 
aufzulosen,  die  Phase  des  Hochkapitalismus  ungeschehen  zu 
machen.  Das  wird  nie  moglich  sein.  Zuriick  zum  ehrbaren 
Handwerk,  zum  selbstandigen  Mittelbetrieb  ware  eine  rdman- 
tische,  undurchfiihrbare  Forderung.  Die  Dezentralisation,  die 
erstrebt  wird,  muB  anders  aussehen.  Oberlebt  sind  die  groBen 
Kartelle,  die  solange  die  Preise  hielten,  bis  das  Inland  aus- 
gehungert  und  nicht  mehr  zahlungskraftig  war.  Die  Konzerne 
aber,  die  technisch  und  finanziell  geschlossenen  GroBbezifke 
der  Wirtschaft,  haben  sich,  wie  an  vielen  Beispielen  bewiesen 
werden  kann,  technisch  bewahrt,  wahrend  sie  finanziell  vollig 
versagten.  Im  Rahmcn  der  Konzerne  sollte  die  Selbstandig- 
keit  der  Einzelbetriebe  gefordert  werden,  Der  Einkauf  mag 
gemeinsam  vorgenommen  werden,  auch  die  technischen  Erfah- 
rungen  diirften  weiter  auszutauschen  sein,  aber  die  Finanz- 
gebarung  muB  unter  eigner  Verantwortung  der  Werkleitungen 
bleiben,  die  Konzerngesellschaften  tragen  nur  die  gegenseitige 
Haftung. 

In  dezentralisierten  Konzernen  wiirden  die  gesunden  Teile 
die  kranken  nicht  dauernd  alimentieren.  Auch  die  Beteiligun- 
gen  miifiten  nach  den  verschiedenen  technischen  Bediirfnissen 
auf  die  einzelnen  Betriebe  des  Konzerns  verteilt  werden.  Die 
reinen  Finanzbeteiligungen  sollten  in  eine  besondere  Holding* 
gesellschaft  eingebracht  werden,  jedoch  mit  der  Auflage,  diese 
Beteiligungen  moglichst  bald  zu  liquidieren.  Es  lieBe  sich  auch 
denken,  dafi  jedes  Werk  den  an  die  Aktionare  des  Gesamt- 
unternehmens  zu  verteilenden  Reingewinn  auf  ein  gemein- 
sames  Ertragniskonto  iiberweist,  aus  dem  eine  einheitliche 
Dividendenausschiittung  an  die  Aktionare  vorgenommen  wird. 
Besonders  wertvoll  ware  es  aber,  wenn  die  einzelnen  Kon- 
zerngesellschaften  wenigstens  auszugsweise  ihre  Betriebs 
bilanz  veroffentlichen  wiirden,  da  sich  auf  diese  Weise  der  Be- 
triebswert  der  einzelnen  Werke  am  deutlichsten  erkennen 
laBt.  Diese  Form  des  dezentralisierten  Konzerns  konnte  na- 
tiirlich  auch  auf  Kreditinstitute  Anwendung  finden.  Wenn 
allerdings  der  angebliche  Plan  des  Reichsfinanzministers,  der 
auf  ein  Zusammengehen  der  GroBbankfilialen  mit  Provinz 
banken  hinzielt,  in  die  Tat  umgesetzt  werden  sollte,  dann 
miiBte  nicht  nur  die  Moglichkeit  geschaff en  werden,  daB  die 
Filiale  eine  fremde  Firma  in  ihre  eigne  Interessenphare  zieht, 
sondern  auch  das  Provinzbankhaus  miiBte  sich  seinerseits  an  der 
GroBbankfiliale  beteiligen  konnen.  Hier  ware  ein  Umbau 
unsres  Aktienrechts,  das  den  dezentralisierten  Konzern  nicht 
kennt,  von  Noten,  Vielleicht  wird  man  einwenden,  daB  der 
Ruf  nach  Dezentralisation  nur  aus  einer  voriibergehenden  Ver- 
argerung  weiter  Kreise  iiber  das  zeitweilige  Versagen  der 
Konzerne  erhoben  werde.  Das  Ende  des  zentralisierten,  iiber- 
kapitalisierten  Industrie-  und  Bankentrusts  ist  aber  nicht  nur 
die  Forderung  der  kommenden  sondern  auch  die  Konsequenz; 
der   vergangenen    Jahrzehnte, 

794       * 


PolitiSChe  PrOZeSSe  von  Jonathan  Swift 

pin  andrer  Gclehrter  zeigte  mir  ein  groBcs  Werk  (iber.Vor- 
schriftcn  zur  Entdeckung  von  Verschworungen  und  An- 
zettelungen  gegen  die  Regierung.  Er  riet  bedeutenden  Staats- 
mannern,  sich  urn  die  Lebensweise  aller  verdachtigen  Leute  zu 
kumntern;  ihre  Essenszeit,  auf  welcher  Seite  sie  im  Bette  la- 
gen,  mit  welcher  Hand  sie  sich  den  Hintern  wischten,  ferner 
ihren  Auswurf  ganz  genau  zu  untersuchen  und  aus  Farbe,  Ge- 
ruch,  Geschmack,  Festigkeit,  Langsamkeit  oder  Beschleunigung 
der  Verdauung  sich  ein  Urteil  iiber  ihre  Gedanken  und  Plane 
zu  bilden;  denn  die  Menschen  waren  nie  so  ernst,  gedanken- 
voll  und  aufmerksam  wie  beim  Stuhlgang,  wie  er  durch  Er- 
fahrung  herausgefunden  habe;  denn  wenn  er  bei  solchen  An- 
lassen,  lediglich  zu  Versuchszwecken,  dariiber  nachgedacht 
habe,  welches  der  beste  Weg  sei,  den  Konig  umzubringen, 
dann  hatte  sein  Kot  jedesmal  eine  griine  Farbe  angenommenf 
eine  ganz  andre  aber,  wenn  er  nur  an  Erregung  von  Aufstan- 
den  oder  Einascherung  der  Hauptstadt  gedacht  habe. 

* 

Diese  Papiere  werden  einer  Gesellschaft  von  Kiinstlern 
iiberwiesen,  die  grofie  Geschicklichkeit  im  Auffinden  geheimer 
Bedeutungen  von  Worten,  Silben  und  Buchstaben  besitzeh, 
Sie  sind  imstande  zu  entdecken,  daB  ein  Nachtstuhl  einen  ge- 
heimen  Rat  bedeutet;  eine  Herde  Ganse  einen  Senat;  die  Pest 
ein  stehendes  Heer;  die  Gicht  einen  Hohenpriester;  ein  Galgen 
einen  Staatssekretar;  ein  Nachttopf  einen  AusschuB  hoher 
Wiirdentrager;  ein  Besen  den  Umsturz;  eine  grundlose  Tiefe 
einen  Staatsschatz;  ein  gebrochenes  Rohr  einen  Gerichtshof; 
ein  leeres  FaB  einen  Feldherrn;  eine  schwarende  Wunde  die 
Verwaltung  Jonathan  Swift:  Gullivers  Reisen,  III,  6 

BetriebSUIlfall   von  Theobald  Tiger 

Hat  eine  Katze  Ellenbogen? 
Nein. 
Hat  jemals  ein  Bankier  betrogen? 
Nein. 

Und  wenn  er  mal  und  hat  er  mal  und  fallt  er  schon  mal  rein; 
dann  kann  das  kein  Bankier  gewesen  sein, 

Liest  du  das  gern,  nachmittags  aufm  Sofa? 

Nein. 

Entschadigt  einer  SchultheiB-Patzenhofa? 

Nein- 

Und  setzt  auch  dem  der  Staatsanwalt  in  seinen  Pelz  ne  Laus: 

dann  holn  ihn  die  Verteidiger  wieder  raus. 

1st  das  nun  fur  die  Borse  sehr  betriiblich? 
Nein. 

1st  das  auch  bei  den  andern  iiblich? 
Ja, 

Ich  lese  still  den  Handelsteil,  und  seh  ich  so  den  Mist: 
man  weiB  nie,  was  noch  Tiichtigkeit  und  was  schon  Schiebung  is't. 

795 


Betnerkungen 

Wer  ist  beleidigt  worden? 

In  Schoneberg  lcbt  uns  ein  Theo- 
*  logiestudent,  der,  wie  es  den 
Idealen  der  christlichen  Kirche 
entspricht,  Mitglied  der  NSDAP. 
ist.  Der  junge  Mann  heiBt  Proch- 
now  und  ist  auf  die  echtnor- 
dischen  Namen  Hans  Joachim  ge- 
tauft.  Leider  hat  er  mehr  von 
dem  um  eine  Generation  alttesta- 
mentarischeren  und  demzufolge 
kriegerischeren  Jojakim  ab- 
gekriegt  als  vom  Geist  seines 
sanften  Sohnes,  des  Propheten 
Jochanaan.  Weswegen  er  denn 
am  1.  Februar  in  Drewitz  bei 
Potsdam  gelegentlich  einer  natio- 
nalsozialistischen  Versammlung 
einem  Zwischenrufer  antwortete, 
Herr  Grzesinski  sei  seiner  Ab- 
stammung  nach  Jude;  denn  seine 
,  Mutter,  eine  Hausangestellte,  sei 
seinerzeit  von  ihrem  judischen 
Dienstherrn  verfiihrt  worden. 

Man  muC  schon  zugeben,  da  13 
unser  berliner  Polizeiprasident  es 
nicht  leicht  hat;  zwischen  der  un- 
beliebtesten  Rasse  der  Erde  und 
der  miCliebigsten  Nation  Europas 
schwankt  sein  Charakterbild  in 
der  Versammlung.  Er  hat  es  satt 
und  klagt,  und  das  schoneberger 
Schoffengericht  versteht  die  Si- 
tuation und  verurteilt  den  Stu- 
diosus  der  Theologie  Prochnow 
wegen  Beleidigung  und  iibler 
Nachrede  zu  300  Reichsmark 
Geldstrafe.  Soweit  gut.  Aber: 
wer  ist  nun  eigentlich  beleidigt 
worden? 

Es  grassiert  bei  uns,  mehr  als 
anderwarts,  die  Krankheit  der 
Standesehre.  Aus  den  Zeiten 
des  Rittertums  ist  sie  herabgesun- 


ken  in  den  Bezirk  der  Backer- 
gesellen  oder  Gartenarchitekten 
oder  Scheuerfrauen,  die  sich  bei 
jeder  Gelegenheit  insgesamt,  als 
Stand  und  Corporation,  einer  fur 
alle,  alle  fur  einen  beleidigt  fixh- 
len.  Oder  geschadigt,  Wenn  eine 
Zeitung  schreibtt^Herr  Lustmor- 
der  Haarmann  habe  einige  Jahre 
in  der  Stadt  Hannover  unent- 
deckt  sein  Handwerk  treiben 
konnen,  so  fuhlt  sich  nicht  die 
Polizei  beleidigt,  sondern  die 
Stadt  Hannover  geschadigt;  und 
wenn  eine  andre  erwahnt,  Salz- 
burg habe  einen  grofien  Prozent- 
satz  an  Regentagen,  so  schreit, 
zu  schweigen  von  der  Festspiel- 
leitung,  ganz  Deutsch-Oesterreich. 
Dies  sei  eingeschaltet,  um  darzu- 
tun,  dafl  hier  durchaus  nicht  den 
ewig  Gekrankten  das  Wort  gere- 
det  werden  soil,  Denn  das  ein- 
zige  Wort,  das  gemeinhin  an  sie 
gerichtet  zu  werden  verdient,  ist 
der  leise  freundliche  berliner 
Zweisilber:    „. . ,  Schnauze  , , ,!" 

Im  vorliegenden  Fall  aber  hatte 
ein  rundes  Prozent  der  deutschen 
Volksgenossenschaft,  ein  Inter- 
essenverband  von  600  000  Mitglie- 
dern  Grund  und  Ursache,  sich 
beleidigt  zu  fuhlen  und  zum  Kadi 
zu  laufen;  namlich  die  gesamte 
deutsche  Judenschaft.  Denn  wenn 
die  Behauptung,  einer  sei  Jude, 
als  Beleidigung  betrachtet  und 
geahndet  wird;  wer,  so  schlieBt 
man  messerscharf,  ist  dann  belei- 
digt, wenn  nicht  die  Juden? 
Dieb,  Betruger,  Morder  sind 
Schimpfworte,  weil  sie  Gesetzes- 
verletzung  involvieren,  Bei  Feig- 
ling,    Ehrabschneider     und     Ahn- 


Q^^sJ^ 


gibt  eine  vortreffliche 
Abdulla-Cigarette  die 
beste  Anregung, 


Standard  .....  o/M.  u.  Gold    .    .  StOck    5  Ptg. 

Herrenformat  ....  o/M Stack    6  Ptq. 

Virginia  Nr.  7  .    .     .    .  o/M Stack    SPfg. 

Egyptian  Nr.  16    .    .    .  o/M    u.  Gold i=tQck  10  Pf§. 

AbduMa^Cigaretten  genieffen  Weltruf! 

AbcluIIa  &  Co.   •   Kalro   /  London   /  Berlin 

796 


lichem  liegt  der  Fall  schon 
schwieriger ;  es  muB  auf  das  so 
beliebte   allgemeine   Volksempfin- 

den  zuriickgegriffen  werden,  urn 
die  Beleidigung  zu  konstruieren. 
Aber  Jude? 

Jude  ist  leider  ein  Schimpf- 
wort,  da  das  allgemeine  Volks- 
empfinden  es  dafiir  halt.  Damit 
wird  man  nicht  heute  und  nicht 
morgen  fertig,  vielleicht  laBt  es 
sich  langsam  ausrotten,  vielleicht 
niemals,  Aber  solange  die  Reichs- 
verfassung  die  Burger  jederRasse 
und  Religion  als  gleich  betrach- 
tet,  solange  muB  auch  etwas  ge- 
schehen,  um  die  formalen  Un- 
geheuerlichkeiten  solcher  Urteile 
auszugleichen.  Kein  einziges  sol- 
ches  Urteil  diirfte  gefallt  werden. 
ohne  die  ausdriickliche  Feststel- 
lung,  dafl  die  in  Frage  kommende 
Behauptung  keine  Beleidigung 
enthalte  und  daB  nichts  gestraft 
werde  als  die  Absicht  der  Belei- 
digung und  —  die  Volksverhet- 
zung.  Keine  Veroffentlichung  des 
Urteils,  kein  Kommentar  und 
kein  Auszug  diirfte  erscheinen 
ohne  diesen  Zusatz. 

Also  noch  eine  Presse-Notver- 
ordnung?  Ach  ja;  wir  kdnnten 
schon  noch  einige  gebrauchen. 
BloB  muBten  es  die  richtigen 
sein. 

Hans '  Glenk 

Revolutlonsmusik 

P\as  Funkbild  des  berliner  Sen- 
***  ders  ist  aus  tausend  reizlo- 
sen  und  hundert  reizvollen  Ver- 
anstaltungen  zusammengesetzt,  in 
denen  Musik  noch  immer  das  Wert- 
vollste  ist.  Die  Bach-Kantaten  je- 
den  Sonntag  machen  die  Schande 
wett,  daB  ihr  groBter  Teil  noch 
nie  offentlich  gehort  wurde,  der 
Bruckner-,  der  Haydn-Zyklus 
setzen     ein    Werk     musikalischen 


Aufbaus  glucklich  fort,  Auch  der 
Plan,  das  groBe  Vierteljahrhun- 
dert  von  1789  bis  1815  von  alien 
Seiten  mit  dem  Mikropbbn  auf- 
zunehmen,  hatte  einen  Wurf  — 
oder  schien  ihn  zu  haben.  Von 
einigen  geistvollen  aber  isolierten 
Bemerkungen  der  Redner  ab- 
gesehen,  bleibt  zunachst  nur  die 
Bekanntschaft  mit  der  Musik  die- 
ser  Zeit  iibrig,  die  einige  erstaun- 
liche  und  eindrucksvolle  Begeg- 
nungen  vermittelt  hat,  Auf  die 
Hoffnung,  daB  das  auBenpolitische 
Vermachtnis  Napoleons:  die  Eini- 
gung  des  Kontinerits,  die  Horer 
durch  den  Rundfunk  aufrutteln  • 
wurde,  werden  wir  wohl  verzich- 
ten  imissen, 

Aber  die  Musik!  Sie  ist  eine 
wahrhafte  Entdeckung,  deswegen 
so  stark,  well  sie  ganz  auf  der 
Linie  der  Wiedergeburt  des  me- 
lodischen  klassischen  Musikstils 
liegt.  Die  Annahme,  daB  die 
Musik  dieser  Zeit  nur  aus  der 
deutschen  Klassik  bestand,  ist 
zweifellos  zu  streichen.  Wir  wuB- 
ten  zwar  stets,  daB  der  franzo- 
sische  EinfluB  auf  die  deutsche 
Musik  sehr  groB  ist.  Daher  auch 
die  deutsche  Musik  der  einzige 
Teil  des  Deutschtums  ist,  dem 
sich  Frankreich  ohne  Hemmung 
hingibt.  Weder  Bach  noch  Mo- 
zart, weder  Gluck  noch  Wagner 
sind  ohne  entscheidende  franzo- 
sische  Einwirkungen  ganz  zu  ver- 
stehen.  Hier  liegt  einmal  der 
Fall  vor,  daB  die  Anregung  grofi, 
das  Angeregte  grofier  ist.  Aber 
zwischen  Mozart  und  dem  spa- 
ten  Beethoven  liegt  eine  breite ' 
Periode,  in  der  der  klassische 
Formwille  die  Musik  des  Alltags, 
ja  sogar  die  Gebrauchsmusik  der 
Revolution  gepragt  hat.  Durch 
die  drei  Konzerte  dieses  Rund- 
lunkzyklus    £ing    eine    ergreifend 


iiiii(iiiillitili[iiii[i[i[iiiiii[iiiii(i!iiiiititfii!ii 
DAS  PRIVATUEBEN 

DER  SCHONEN  HELENA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erschernt  als  VOLKSAUSGABE 

Helena  vertritt  dip  Rau  von  Troja  bis  heute,  hinreiBend   und  gefahrlich  In  SchOn 

heit,  Intuition  und  Oberzeugungskraft    Der  Lebensphilosoph  Erskine    

gibt  in  dem  heiteren  Rahmen  dieses  Buches   seine  Ansicht   Ober 
Liebe  und  Ehe,  Konvention  und  Sitte  wi   der. 


TRANSMARE  VERLAG  A.  QM  BERLIN  W  10 


Lelnen 

3.75  RM 

797 


geschlossene  Formlinie,  von  der 
man  weifi,  .  wie  weit  t  sie  ins 
19.  Jahrhundert  reichcn  und  wie 
sic  schlieBlich  in  der  Klassizitat 
Strawinskys  wieder  auftauchen 
wir<L  Hier  merkte  man  wieder, 
wie  franzosisch  Gluck  istf  dessen 
deutsche  Musik  auf  seinen  fran- 
zosischen  Urtexten  so  viel  besser 
klingt  als  auf  den  tibersetzten. 
Die  Klassizitat  dieser  getragenen 
Musik  ist  eine  Obersetzung  von 
Racine  in  Tonen  und  eine  Vor- 
wegnahme  von  Ingres.  Namen  wie 
Kreutzer,  Rode,  Baillot,  Gaveaux, 
Gretry,  noch  mehr  aber  Mehul 
und  Cherubini  (ubrigens  fiir 
Beethoven  einer  der  groBten 
Komponisten)  miissen  durch 
diese  Konzerte  zu  einer  Wieder- 
geburt  gelangen.  Die  lahmende 
Eintonigkeit  unsrer  Musikpro- 
gramme  vertragt  solche  Bereiche- 
J*ung. 

Wie  schon  das  alles  asthetisch 
wirkte,  der  sonderbarste  Eindruck 
war  dabei  doch  die  Vorstellung, 
daB  diese  gemessene,  gebandigte 
Musik  die  Musik  der  franzosi- 
schen  Revolution  sein  sollte. 
Besser  als  durch  alle  Kommen- 
tierungen  hat  sie  uns  den  stren-1 
gen,  romischen  Stil  dieses  Viertel- 
fahrhunderts  enthullt.  Wir  wuB- 
ten  ja,  daB  aus  dem  Jakobiner- 
tum  der  groBe  napoleonische  — 
Fascismus  logisch  hervorgegan- 
gen  ist.  Aber  wie  diese  Strenge 
einer  Zeit,  deren  Vermachtnis 
noch  lange  nicht  erfullt  istf  selbst 
der  Gebrauchsmusik  einverleibt 
ist,  das  war  fiir  mich  eine  Ent- 
deckung,  eine  musikalische  und 
.zugleich   eine   geistige. 

Felix  Stossinger 

Die  Wahrung  tanzt 

Tm  Jahre  2031  wird  die  Premiere 

eines     plastischen     FarbengroB- 

tonfilms        stattfinden,  dessen 

Thema      der     historische    Besuch 


der  franzosischen  Minister  Laval 
und  Briand  in  Berlin  im  Jahre 
1931  ist.  Unter  dem  Titel  „Die 
Wahrung  tanzt"  wird  hier  in 
leichter,  gefalliger  Form,  aber 
doch  unter  Wahrung  strengster 
historischer  Treue  eine  Operette 
geboten,  die  dem  Geschmack  des 
groBen  Publikums  weitgehend 
entgegenkommt.  Ein  Film,  unter 
ungeheuren  Kosten  hergestellt, 
mit  den  beriihmtesten  Darstellern 
besetzt  und  wohl  geeignet,  im 
reizvoll  geschtirzten  Gewand 
einer  anspruchslosen  Abendunter- 
haltung  weitesten  Kreisen  einen 
volksbildenden  Einblick  in  histo- 
rische Zusammenhange  zu  ge- 
wahren.  Durch  giitiges  Entgegen- 
kommen  der  ruhrigen  .  Produk- 
tionsfirma,  die  auf  dem  Stand- 
punkt  steht,  daB  eine  gute  Vor- 
reklame  der  halbe  Erfolg  ist, 
sind  wir  schon  heute  in  der  Lage, 
unsern  Lesern  einen  Eindruck  in 
dies  Monumentalwerk  deutschen 
Kunstschaffens    zu    gewahren: 

Berlin  1931.  Durch  die  Not- 
verordnungen  des  listigen  Kanz- 
lers  Briming  angeregt,  nimrat  die 
Arbeitslosigkeit  rapide  ab.  Das 
Volk  erfreut  sich  steigenden 
Wohlstandes.  In  den  Strafien  der 
Reichshauptstadt  ergehen  sich 
lachende,  singende,  frohliche  Men- 
schen.  Eine  Anzahl  besonders 
Obermiitiger  umtanzt,  Hand  in 
Hand,  im  Reigen  die  Gedachtnis- 
kirche  und  singt  in  immer  tolle- 
rem  Wirbel  das  reizvolle  Schla- 
gerlied:  „Die  deutsche  Mark 
bleibt  unerschiittert,  solang  uns 
Lieb  im  Herzen  zittert."  Aus 
Autos,  Untergrundbahn  und 
Stadtbahn,  Luftschiffen  undFlug- 
zeugen  singen  und  winken  froh- 
liche Menschen.  Dennoch  ein  MiB- 
klang :  inf olge  der  Machenschaf - 
ten  des  galizischen  Wucherers 
Karfunkel  muB  eine  GroBbank 
ihre    Schalter    schlieBen.    In    hei- 


Politisch  klarsehen 

kbnnen   Sie   nur,    wenn  Sie    fiber  Ihre   eigene  Lebensaufgabe   selbst   im 
Klaren  sind.     Wenn  Sie  herauswollen  aus  aller  Unklarheit   dann  lesen  Sie 

die  Bucher  von  B6  Yin  Ra 

<Jie  nunmehr  in  jeder  gaten  Buchhandlnng  vorliegen.    Ebenso  beziehbar 
vom  Verlag  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel  und  Leipzig. 

798 


liger  Aufwallung  erstiirmt  dar- 
aufhin  eine  aufrechte  Schar  na- 
tionalgesinnter  Jtinglinge  einVer- 
gniigungslokal,  in  dem  die  schul- 
digen  Fremdstammigen  ihre  wu- 
sten  Prassereien  abhalten.  Die 
bei  dieser  Gelegenheit  sich  ent- 
wickelnden  urkomischenj  Priigel- 
szenen  versetzen  gleich  zu  An- 
fang  des  Films  durch  ihren  der- 
ben  aber  gesunden  Humor  das 
Publikum  in  ausgelassene  Stim- 
mung, 

Unterdes  treffen  Laval  und 
Briand  in  Berlin  ein,  um  die 
scbaukelnde  Mark  zu  stiitzen. 
Ungeheurer  Empfang  in  Berlin. 
An  den  Fenstern  scbaren  sich  die 
j  ubelnden  Menschen,  auf  den 
Dachern  wimmelt  es.  Musik, 
Fahnen,  Gesang,  Handeklatschen, 
Uniformen,  Militarmarsche,  BIu- 
men  und  Frohlichkeit.  Fiir  diese 
Szenen  wird  sich  die  gesamte 
berliner  Bevolkerung  in  uneigen- 
ntitziger  Weise  zur  Verfugung  , 
stellen.  Laval,  uriter  der  berliner 
Madchenjugend  langst  als  gefahr- 
licher  Don  Juan  verschrien,  macht 
noch  am  selben  Abend  einen  Bum- 
mel  durch  die  City,  verkleidet  als 
Besucher  der  Griinen  Woche,  mit 
Jagerhutchen  und  Gamsbart  ver- 
ftihrerisch  geschmuckt.  Nach  kur- 
zem  Aufenthalt  bei  Steinmeyer 
landet  er  auf  der  Rheinterrasse 
des  Hauses  Vaterland.  Wahrend 
dort  gerade  ein  kostspieliges  Ge- 
witter  sich  entladt,  sieht  Laval  in 
einer  Ecke  ein  ebenso  bildschones 
wie  trauriges  junges  Madchen  sit- 
zen.  Er  setzt  sich  zu  ihr  und  auf 
sein  gtitiges  Fragen  verrat  sie,  daB 
ihr  das  durch  die  schwankende 
Wahrung  so  ungewisse  Schicksal 
ihres  Vaterlandes  immer  starker 
zu  Herzen  gehe.  Er  trostet  sie, 
indem  er   erklart,      er   sei   durch 


gute  Beziehungen  bestens  iiber  die 
Lage  informiert  und  konne  ihr 
gradezu  versprechen,  daB  noch 
alles  gut  auslaufen  werde.  Auf 
ihre  schalkhafte  Frage:  ltSie  sind 
wohl  ein  machtig  hohes  Tier  ? ' ' 
antwortet  er  mit  einem  vielsagen- 
den  Rauspern:  „Ei,  das  mag  wohl 
sein."  Erna,  die  tagsuber  als 
schlichte  Verkauferin  in  einem 
Warenhause  tatig  istt  wird  dar- 
aufhin  wieder  frohlich.  Unter  Ab- 
singung  von  Rheinliedern  vergeht 
fur  Laval  und  Erna  der  Abend  im 
Fluge.  Die  ubrigen  Besucher  fal- 
len ein,  ebenso  die  Kellner,  der 
Geschaftsfuhrer  und  schlieBlich 
der  ganze  Potsdamer  Platz. 

Dem  listigen  Kanzler  Bruning, 
dessen  in  einem  verschlieBbaren 
Geheimtresor  untergebrachtes 

Arbeitszimmer  mit  zehn  Laut- 
sprechern  ausgestattet  ist,  kommt 
der  Besuch  der  franzosischen  Mi- 
nister ungelegen,  Daher  arran- 
giert  er  fiir  den  folgenden  Nach- 
mittag  in  einer  geraumigen  Zim- 
merflucht  des  Hotels  Adlon  ein 
zwangloses  Stelldichein  zwischen 
dem .  gefahrlichen  Laval  und  der 
verfuhrerischen  Darstellerin  Mar- 
lene  Dietrich,  die  alien  mann- 
Hchen  Berlinern  die  Kopfe  ver- 
dreht,  Es  gelingt  Marlene  durch 
den  ihr  eignen  schamlosen  Vor- 
trag  ebenso  sinnlich  wie  sonor 
dargebotener  und  auf  Wunsch 
franzosischer  Lieder  den  Minister 
derart  zu  bestricken,  daB  er  ihr 
verspricht,  die  deutsche  Wahrung 
ungesttitzt  zu  Iassen,  Mit  da- 
monischem  Lacheln  beobachtet 
Briining  auf  dem  Hotelkorridor 
diese  Szene  durch  das  Schlussel- 
loch.  Um  ihn  drangen  sich  die 
Geheimrate  Duisberg  und  Hutfen- 
berg.  sowie  andre  prominente  Per- 
sonlichkeiten    der    Industrie     und 


A.  DEMLINQ 

Die  berfUimte  Sdiansplelerln  Rufli  raorrer 


Roman.  296  Seiten.  Karton.  3,80,  Lein.  5  M. 
Ea  s!nd  die  kleinen  Szenen,  die  den  Reiz  des  Buches  bilden  und  in  Erlnnerung 
blelb  n.  Elne  groteske  Verg!ftungskom8die,  ein  knsppes  Rekontre  zweier  Rlvalinnen, 
ein  witz'ger  Dialog  Im  polltischen  Salon,  das  BMd  eines  jungen  franzflslschen 
Kommunisten.  Die  Llteratur. 

TOR-VERLAQ,    STUTTGART 

799 


Finanz,  und  fechten  einen  hcitcrn 
Kamp!  una  den  besten  Platz  am 
Schliisselloch  aus. 

Am  gleichen  Abend  finden  wir 
Laval  und  Erna  wieder  bei  Kem- 
pinski.  AIs  der  tagliche  Fernseh- 
Bildbericht  das  Portrat  Lavals 
sendet,  erkennt  Erna  jah  ihren 
Kavalier.  Nach       anfanglicher 

Schuchternheit  weiB  sie  ihn  so  zu 
nehmen,  dafi  er  ihr  trotz  des  Mar- 
lene  gegebenen  Versprechens  zu- 
sagt,  die  deutsche  Mark  endgtiltig 
zu  retten,  Sie  eilt  in  das  Gebaude 
der  Reichsbank,  um  den  dort  Tag 
und  Nacht  tagenden  Reichsbank - 
prasidenten  von  ihrem  Erfolg  in 
Kenntnis  zu  setzen.  Laval  folgt 
ihrem  Wagen  atemlos  auf  dem 
Motorrad.  Auf  das  nunmehr  iip- 
pig  schwellende  Devisenpolster 
hingestreckt,  erwartet  sie  ihren 
Laval.  Wahrend  Briining  initeiner 
schwarzen  Maske  vor  den  Augen 
ins  Ausland  flieht  und  Marlene 
sich    mit   einer    leichten    Migrane 


zu  Bett  legt,  erschallt  auf  der 
Strafie  allerorten  das  Lied: 
„Wenn  die  Fruhlingswinde  flti- 
stern,  dann  passiert  es  auch  Mi- 
nistern ..."     BeifalL 

Oktavius  Hill 

Allgemeinblldung 

Deim  juristischen  Staatsexamen 
*-*  werden  auch  Fragen  vorge- 
legt,  die  ein  Bild  von  dem  all- 
gemeinen  Bildungsniveau  des 
Priiflings  vermitteln  sollen.  Der 
Examinator:  „Aus  welchem  An- 
laB  spricht  man  zur  Zeit  standig 
von  Hegel,  Herr  Kandidat?"  Der 
Kandidat:  „Hegel  wurde  in  die- 
sen  Tagen  hundert  Jahre  alt." 
Der  Examinator:  „Dann  miiCte 
ich  ihn  also  noch  gekannt 
haben."  Er  wendet  sich  zu 
einem  andern  Priifling,  der,  da- 
durch  gewarnt,  prompt  ant- 
wortet:  „Hegel  war  ein  Natur- 
forscher   aus    dem   Mittelalter." 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Deutsche  Liga  fiir  Menschcnrechte.    Montag  20.30.    Reichswirtschaftsrat,  Bcllevuestr.  15: 

Natlonaler  Sozialismus.     Es  sprechen*-  Kurt  Caro,  Hanns  Erich  Kaminski,  Leo  Lania 

und  Erik  Reger. 
Akademische   Vereinigung   zum   Studium    sowjetrussischer    Probleme.      Di  ens  tag  20.15: 

Deutsche  Hochschule  fiir  Politik.    Richard  Oehriog:  Welt  dumping  und  Sowjethandel. 
Deutscher  Republikaoischer  Studcntenbund.  Dienstag  20.00,  Herrenhaus,  Leipziger  Str.  3. 

Sturm   fiber    Deutschland.    Aufbruch    oder  Verderben?     Es  sprechen;   Kurt  Bley, 

Walter  Kolb,  Hans  Muhle  und  Karl  Severing. 
Jugendheim  Charlottenburg,  Goethestr.  22.     Dienstag  20.00.    Hat   soziale  Arbeit   beute 

noch    einen    Sinn?      Es    sprechen:    Justus   Ehrhardt    und   Vertreter    der   Arbeits- 

gemeinschaft  marxistiscber  Sozialarbeiter. 
Rote    Studentengruppe,     MiHwoch    20.     Haverlands   Festsale,   Neue    Friedrichstr.   35 1 

Wofur  kampfen  die  Nationalsozialisten  ?  K.  A.  Wittlogel. 
Gesellschaft  der  Freunde  der  Sozialistischen  Monatshefte.    Montag  (30)  20.00.    Reichs- 
wirtschaftsrat. Belle vuestr.    5:    Der  Weg   aus    der   Krise.    Kontradiktorische  Dis- 

kussion  zwlschen  Verttetern  aller  Parteien. 
Internationale  Frauenliga  fiir  Fried  en  und  Freiheit     Montag   (30.)  20.00.    Klubhaus  am 

Knie,  Berliner  Str.  27    Geld  und  Gold,  Annie  H.  Friedlander  —  Hamburg-- Altonat 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.    Dienstag  (1.  12.)  20.00.    Volksheim  Eichenstr.  61 : 

Revolutionare  Kunst,  Hans  Romer. 


GRETA  QARBO  A, 

in  Yvonne     § 

Gloria  -Palast,  Berlin 

Metro    -   Goldwyn-Mayer 


800 


Antworten 

Freand  dcr  Weltbiihne.  Da  in  dem  ProzeB,  der  zurzeit  in  Leipzig 
gegen  unsern  Mitarbciter  Kreiser  und  mich  stattfindet,  zur  Stunde 
eine  Entscheidung  noch  nicht  gefallen  ist  und  ich  auch  sonst  aus 
eincm  bestimmten  Grundc  noch  nicht  in  der  Lage  bin,  Ihnen  etwas 
Neues  mitzuteilen,  mufi  ich  Sie  einstweilen  mit  einem  Artikel  ver- 
trosten,  der  am  17,  November  in  den  ,Bremer  Nachrichten'  erschie- 
nen  ist  und  zu  dem  Fall  in  hdchst  patriotischer  Eindringlichkeit 
Stellung  nimmt.  Leider  bin  ich  nicht  in  der  Lage  alles  abzudrucken, 
was  der  Verfasser,  Herr  Rene  Kraus,  sagt;  Was  ist  die  Weltbiihne? 
„AuBerhalb  eines  engen  Literaturkliingels  diirfte  man  diese  Gazette, 
die  sich  nicht  genieret,  kaum  dem  Namen  nach  kennen."  Wenn  das 
Reichswehrministerium  dennoch  gegen  die  .Weltbiihne'  vorgeht,  t,so 
hat  das  seinen  guten  Grund:  die  Nichtigkeit  ihrer  Verhetzung  und 
Verleumdung  wird  im  gegnerischen  Ausland  mafilos  aufgebauscht  und 
als  Material  gegen  Deutschland  verwendet!"  Wer  bin  ich?  #,Gentle- 
man-Verbrecher?  Ach,  der  kleine  Herr  von  Ossietzky,  Heraus- 
geber  der  fWeltbuhne*  —  der  sich  iibrigens  um  keinen  revolutiona- 
ren  Preis  der  Welt  von  seinem  Adelstitel  trennen  wurde  —  hat  so 
wenig  Ahnlichkeit  mit  den  unwiderstehlichen  Filmhochstaplern,  die 
einer  an  Kitsch  und  Fritsch  geschulten  Phantasie  als  Gentleman-Ver- 
brecher  erscheinen  mogen!  Von  der  Verraterromantik,  mit  der  dieser 
Typ  sich  gar  zu  gern  umgeben  mochte,  bleibt  schliefilich  doch  nur 
das  entschleierte  Bild  des  Denunzianten,  von  dem  die  alte  Spruch- 
weisheit  sagt:  Der  grofite  Schuft  im  ganzen  Land,  das  ist  und  bleibt 
der  Denunziant , . ."  Also  was,  in  Dreiteufelsnamen,  ist  nun  denun- 
ziert  worden?  „Diesmal  haben  sie  die  deutsche  Luftfahrt  denunziert, 
und  das  ist  die  ,kleine'  Unachtsamkeit,  die  sie  vor  das  Reichsgericht 
bringt."  Wer  hat  denunziert?  „Heinz  Jager  nannte  sich  der  Schwach- 
ling.  DaB  ein  ,wackerer*  Mann,  unerschrockener  Vorkampfer  des 
Vaterlandsverrats,  sich  hinter  einem  Pseudonym  verbirgt  und  erst 
durch  das  Ergebnis  polizeilicher  Haussuchungen  zum  Bekenntnis  zu 
seinem  eignen  Werk  gezwungen  werden  kann,  ist  —  nebenbei  be- 
merkt,  selbstverstandlich!  Dieser  angebliche  Heinz  Jager...  heiBt, 
wie  die  Vorermittiungen  ergaben,  Walter  Kreiser.  Er  gilt  in  seinen 
Kreisen  als  Flugsachverstandiger,  nachdem  er  eine  Zeitlang  in  Jo- 
hannistal  gearbeitet  hat.  Er  selbst,  der  Denunziant,  nennt  sich:  Etats- 
kritiker."  Was  hat  dieser  Mensch  nur  getan:  „Dieser  Walter  Kreiser 
also  unternimmt  es,  die  deutsche  Luftfahrt  zu  verzinken,  um  bei 
der  Ausdrucksweise  der  „Gentleman-Verbrecher"  zu  bleiben.  Seine 
Verleumdungen  strotzen  von  Ignoranz  und  sachlichem  Unwissen.  Das 
nebenbei.  Von  keinerlei  Kenntnissen  der  wirklichen  Vorgange  und 
Verhaltnisse  belastet,  wirft  er  der  Deutschen  Lufthansa  eine  Art 
Prestige-Wahn  und  Verkehrs-Imperialismus  vor,  Anwiirfe,  die  zu  gro- 
tesk  sind,  als  dafi  sie  iiberhaupt  einer  Entgegnung  bedurften.  Jeder 
Kundige  weifi,  selbst  wenn  er  nicht  grade  Finanzsachverstandiger  und 
Etatskritiker  von  Berufung  ist,  daB  die  Lufthansa  mit  ihren  viel  zu 
knapp  bemessenen  Mitteln  in  Wahrheit  auBerste  Sparsamkeit  zu 
pflegen  gezwungen  ist,  Wenn  sie  trotzdem  im  engen  Rahmen  ihrer 
Moglichkeiten  auBerdeutschen  Luftverkehr  unterhalt,  so  erfullt  sie  da- 
mit  nur  ihre  Pflicht,  sich  in  den  Dienst  der  deutschen  Weltwirtschaft 
zu  stellen.  Der  Pamphletist  wirft  ihr  vor,  sie  verzettele  ihre  Sub- 
ventionen  (also  deutsche  Steuergelder)  im  Ausland,  lediglich,  um 
die  deutsche  Flagge  in  der  Welt  zeigen  zu  konnen.  Abgesehen  von 
der  hundertfach  erwiesenen  Tatsache,  daB  die  deutsche  Flagge  in  der 
Welt  —  in  der  Luft  wie  auf  dem  Wasser  —  die  wirksamste  deutsche 
Industriepropaganda  bedeutet,  bleibt  sachlich  festzuhalten,  daB  die 
deutsche  Luftflagge  sich  nur  dort  zeigt,  wo  sie  den  Bediirfnissen  des 
deutschen  AuBenhandels  praktisch  dient.11  Die  wirksamste  deutsche 
Industriepropaganda   bleibt    die    Qualitat,    Tinneff    mit    der   Handels- 

801 


Gosch  wird  nicht  begehrt;  doch  das  nebenbei,  „Solche  Schmahungen, 
die  sich  der  Pamphletist  leistet,  stellen  aber  nur  eine  Art  Einleitung 
zu  jenem  literarischen  Landesverrat  dar,  dessentwegen  er  und  seine 
Spietigesellen  von  der  .Weltbuhne'  sich  nun  vor  dem  Reichsgericht  zu 
verantworten  haben.  Sie  behaupteten  ein  Zusammcnwirken  zwischen 
der  Lufthansa  und  gewissen  militarischen  Stellen,  das  gegen  das 
Diktat  von  Versailles  verstiefle.  Man  wiirde  den  ^Gentleman-Ver- 
brechern'  ruhig  den  Ruhm  der  Gralshiiter  von  Versailles  gonnen  —  um 
den  sie  mit  Herrn  Poincar6,  wenn  auch  durchaus  verschiedenen  Cha- 
rakters,  konkurrieren  — ,  ware  nicht  die  Gesamtheit  ihrer  angeblichen 
Enthiillungen  pure  Verleumdung  im  Dienste  des  Feindes.  Ober  diesen 
Komplex  soil  aus  begreiflichen  Grxinden  offentlich  nicht  gesprochen 
werden,  bevor  das  Reichsgericht  geurteilt  hat."  Und  da  schliefilich 
nicht  Alldeutschland  aus  Lesern  der  .Bremer  Nachrichten'  besteht,  so 
muC  vorbeugend  bemerkt  werden:  M£ine  Feststellung  aber  darf  sich 
die  Offentlichkeit  in  diesem  Zusammenhang  nicht  versagen:  die  Lan- 
desverrater  nehmen  nicht  allein  ein  vorgetauschtes  Recht  auf  Etats- 
kritik,  sondern  auch  ihr  Recht  auf  Meinungs-  und  Pressefreiheit  in 
Anspruch .  * .  Die  Zumutung,  uns  mit  den  Subjekten  von  Versailles, 
mit  unsauberen  Spitzeln  und  .Gentleman- Verbrechern'  des  Vaterlands- 
verrats  zu  solidarisieren,  weisen  wir  mit  Ekel  und  Entrtistung  zu- 
riick,  Wer  es  ernst  meint  mit  der  Presse-  und  Meinungsfreiheit,  kann 
nur  wunschen,  dafi  den  Gesellen,  die  diese  hohen  Kulturguter  kom- 
promittieren,  das  schmutzige  Handwerk  endgtiltig  gelegt  werde , , ," 
Ich  meine,  da6  dieser  lesenswerte  Artikel  eine  auBerbremensische 
Publizitat  verdient.  Zugleich  benutze  ich  die  Gelegenheit,  um  dem 
Herrn  Vertreter  der  Anklage  zu  diesem  Sekundanten  aufrichtig  zu 
gratulieren, 

Weltbuhnenleser  Koln.  Am  27,  November,  um  20  Uhr,  spricht  in 
der  Biicherstube  am  Dom,  Domhof  1  (Domhotel)  t  Ottwin  Rabe  tiber 
Villon  und  Rimbaud. 

Weitbiihnenleser  in  Bremen.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  die  So- 
ziologische  Studiengemeinschaft,  WiesenstraBe  13,  die  regelmaBige  Vor- 
trags-  und  Diskussionsabende  veranstaltet. 

.  Danziger.  Wenn  Sie  Interesse  an  regelmafiigen  Zusammenkunften 
der  dortigen  Weltbuhnenleser  haben,  so  geben  Sie  Ihre  Adresse  an 
unter;  Danzig  I,  Schliefifach  150, 

Es  set  besonders  darauf  hingewiesen,  daB  dieser  Nummer  ein 
Prospekt  der  ZeitschriH  „Die  Auslese"  beiliegt,  die  laufend  Artikel 
aus  den  Zeitschriften  der  ganzen  Welt  bringt. 


Maouskripte  aind  out  an  die  Redaction  dei  Weltbuhne,  Chariottenburg,  Kantstr.  152,  su 
ricbten  es  wird  ?ebeteo.  ihnen  Ruckporto  beizuletren.  da  sons*  keine  Rudtiendunff  erfolffeo  kann. 
Das  AuFf  Uhrunjprecbt,  die  Verwertunfr  von  Tfteln  u.  Text  im  Ratimen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  wiedergabe  aller  Art  and  die  Verwertunff  Im  Rahmen  von  RadiovortrSgan 
bleiben  fflr   alle  in  der  WeltbUhne  erschetnenden  Beitr&ge  auadrBckllcS  Torbebalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegtned  (aeobsobn  and  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
nntei  Mitwirkung    von  Kurl   Tucholskv  geleiteL  —  Verantwortlich     Carl  v    Ossietzky,    Berlin; 

Venae  der  Weltbfihne.  Siegtrted    laoobsohn  St  Co-  CharloHenbwg. 

Tetephon     CI.   Steinptatz  7757    —  Postscheckkonto    Berlin  U9  5& 
Bankkonto      Darm»tad*e»    u.    NaHonalbnnk        Oeoositenkflsne    Chariottenburg,     Kantstr.    112 

ADAM  UND  EVA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Adam,  ein  wunderbarer  totpatschiger  Burache,  steht  Immerwieder  verblUfft  vor  den 
Wandelbarkeiten  der  beiden  Frauen:  Lilith  und  Eva,  der  Geliebten 
und  der  gra'Biich  Legltimen.    Altes,  was  zwischen  Mann  und  Frau 
existiert,  wird  in  diesem  geistreichen,  wltzigen  Bucheausgesprochen. 


TRANSMARE  tf  ERLAG  A.-O..  BERLIN  W  10 


Lelnen 

3.75RM 


XXVII.  Jahrgang  I.  Dezember  1931  Nnmmer  48 

Der  Weltbfihnen-Prozefi  von  cari  v.  ouietzky 

An  einem  solchen  Nachmittag  sitzt  der  Lord-Oberkanzler 
da  mit  einer  Nebelglorie  um  das  Haupt,  eingehiillt  und  umge- 
ben   von   Scharlachtuch  ... 

Charles  Dickens,  Bleakhouse 

r\er  IV.  Strafscnat  des  Reichsgerichts  hat  am  23.  November 
*^  den  Schriftsteller  Walter  Kreiser  und  mich  als  verantwort- 
lichen  Leiter  der  ,Weltbtihne'  zu  einer  Gefangnisstrafe  von 
anderthalb  Jahren  verurteilt  wegen  Verbrechens  gegen  §  1 
Absatz  2  des  Gesetzes  iiber  den  Verrat  miiitarischer  Geheim- 
nisse.  Gegenstand  der  Anklage  war  der  Artikel  Kreisers  vom 
12.  Marz  1929  „Windiges  aus  der  deutschea  Luftfahrt",  Zwi- 
schen  dem  Verbrechen  und  der  Suhne  liegt  also  ein  Zeitraum 
von  zweieinhalb  Jahren.  In  dieser  Zeit  ist  das  Heft  mit  dem 
landesverraterischen  Artikel  nicht  einen  Tag  beschlagnahmt 
gewesen.  In  dieser  Zeit  hielt  sich  Kreiser,  gelernter  Flug- 
zeugtechniker  und  Konstrukteur,  beinahe  ein  Jahr  in  Amerika 
auf ,  um  in  Philadelphia  fiir  das  Pennsylvania  Airdraft  Syndicate 
zu  arbeiten.  In  dieser  Zeit  hat  Kreiser  unserm  Anwalt  Alfred 
Apfel  jede  Adressenanderung  mitgeteilt  und  ist  schliefilich  in 
dem  heitern  aber  unangebrachten  Vertrauen  zuriickgekehrt, 
daB  vor  der  Sagazitat  des  hochsten  Gerichtes  die  Anklage 
wie  eine  Seifenblase  zerplatzen  wurde. 

Diese  frohe  GewiBheit  habe  ich  niemals  geteilt,  wenn  ich 
auch  diesen  Ausgang  nicht  fiir  denkbar  halten  konnte.  Ich 
weiB,  daB  jeder  Journalist,  der  sich  kritisch  mit  der  Reichs- 
wehr  beschaftigt,  ein  Landesverratsverfahren  zu  gewartigen 
hat;  das  ist  ein  natiirliches  Berufsrisiko,  Dennoch  war  diesmal 
fur  eine  reizvolle  Abwechslung  gesorgt;  wir  verlieBen  den 
Saal  nicht  als  Landesverrater  sondern  als  Spione, 

Aus  begreiflichen  Griinden  muB  ich  davon  absehen,  auf 
das  innere  Thema  des  Prozesses  einzugehen.  Vor  den  Lesern 
der  .Weltbuhne*  ist  es  gewiB  unnotig,  Kreiser  und  mich  zu 
rechtfertigen,  aber  vor  jenem  Publikum,  das  uns  nicht  kennt 
und  seine  Meinungen  aus  den  Reservoiren  der  nationalisti- 
schen  Presse  empfangt,  sind  wir  diffamiert,  ohne  uns  zur 
Wehr  setzen  zu  konnen.  Hinter  verschlossenen  Tiiren  sind 
wir  abgeurteilt  worden,  militarische  Geheimnisse  Deutschlands 
an  auswartige  Regierungen  weitergeleitet  zu  haben.  Mit  Recht 
schreibt  die  .Frankfurter  Zeitung',  daB  arger  als  Gefangnis 
ein  solches  Odium  ist. 

Ich  weiB  mich  in  bester  Obereinstimmung  mit  Kreiser,  wenn 
ich  hier  erklare,  daB  Anklage  und  Urteil  an  unsern  Absichten 
glatt  vorbeitreffen,  daB  wir  noch  heute  zu  ihnen  stehen  und 
nichts  zu  widerrufen  haben.  Der  Artikel  Kreisers  befaBte  sich 
mit  Bedenklichem  aus  dem  Luftfahrtetat,  er  behandelte  Tarif- 
fragen  der  Piloten  und  Facharbeiter  auf  den  Flugplatzen,  er 
geiBelte  die  Vergeudung  von  Steuergeldern  in  einem  schlecht 
kontrollierten  Subventionswesen,  er  streifte  zum  SchluB  ganz 
episodisch   eine  militarische   Spielereif  die  bereits  durch   eine 

i  803 


Reichstagsdrucksache  den  politisch  Interessierten  zuganglich 
war,  Kreiser,  damals  stellvertretender  Abteilungsleiter  im 
Deutschen  Verkehrsbund,  ist  in  diesen  Fragen  sehr  sachver- 
standig.  Den  Spion  mochte  ich  seh.en,  der  seinen  Auftrag- 
gebern  eine  Information  zu  bringen  wagt,  die  bereits  seit  einem 
Jahr  im  Druck  vorliegt.  Er  wiirde  im  Gleitflug  vor  der  Tiir 
landen.  Aufierdem  hat  die  ,Weltbuhne'  iin  Laufe  der  Jahre 
geniigend  militarpolitische  Artikei  gebracht  und  dabei  aui 
Tarnung  verzichtet.  Die  .Frankfurter  Zeitung'  meint  zwar,  dafi 
wir  uns  haufig  im  Tone  zu  vergreifen  pflegten.  Eh  bien,  aber 
Hinterhaltigkeit  ist  uns  noch  niemals  vorgeworfen  wdrden. 

Nur  mit  einiger  Muhe  bin  ich  von  unsern  Verteidigern  zu- 
rtickgehalten  worden,  einen  Ablehnungsantrag  zu  stellen,  Ich 
hatte  zu  dies  em  Senat  nach  seiner  bestens  bekannten  Judika- 
tur  gegen  Pazifisten  und  Kommunisten  nur  ein  herabgemin- 
dertes  Vertrauen.  Jahrelang  hatte  ich  geschrieben,  dafi  der 
IV,  Strafsenat  nicht  das  Recht  der  Deutschen  Republik  spricht, 
sondern  durchaus  die  Gepflogenheiten  eines  Standgerichts  an- 
genommen  hat.  Sollte  der  Mann  von  der  ,Weltbuhne'  dort 
Objektivitat  erwarten?  Im  Herbst  1930  hatte  im  gleichen 
Saal  und  vor  dem  gleichen  Vorsitzenden,  Herrn  Reichsgerichts- 
rat  Baumgarten,  Adolf  Hitler  das  beriihmte  Wort  von  den 
„rollenden  Kopfen"  gesprochen,  und  damals  hatte  ich  ge- 
schrieben (.Weltbiihne*  1930,  Nr.  40):  „Man  vergleiche  die 
trockene  Abfertigung  des  Staatssekretars  Zweigeri,  des 
Mannes  der  Reichsregierung,  mit  der  entgegenkommenden 
Geste  ftir  Hitler  . , ,  Das  Reichsgericht  ahnt  den  Herrn  von 
morgen .  .  .  Was  Hitler  mit  einem  spinnwebdiinnen  Tuch  von 
Legalitat  umkleidet  vor  dem  hochsten  Gericht  verkundete, 
hiefie  bei  Politikern,  die  nicht  Koalitionsfreunde  des  Reichs- 
justizministers  sind;  Vorbereitung  zum  Mord.  Max  Holz  soil 
neulich  im  Sportpalast  gesagt  haben,  dafi  man  auch  in  Deutsch- 
land  eine  G.P,U.  brauche,  und  flugs  war  der  Arm  der  Gerech- 
tigkeit  lang  ausgestreckt.  Wenn  ein  Gericht  einen  hochver- 
raterischen  Plan,  wie  es  in  Leipzig  geschah,  mit  Achtung  an- 
hort,  anstatt  den  Mann  in  eine  Heilanstalt  zu  stecken  oder  als 
Verbrecher  in  Eisen  zu  legen,  so  ist  dies  ein  recht  deutliches 
Zeichen,  dafi  die  Vertreter  der  Staatsautoritat  entweder  arg 
erschopft  sind  oder  dafi  sie  schon  mit  schiichternen  Fufispitzen 
den  Boden  neuer  Tatsachen  zu  suchen  beginnen/' 

Ich  wollte  also  einen  Ablehnungsantrag  stellen.  Unsre 
Anwalte  jedoch  rieten  dringend  ab.  Nicht  nur  der  formalen 
Schwierigkeiten  halbert  neinf  wir  hatten  reiches  Material  zur 
Verfiigung,  um  den  Tatbestand  der  Anklage  zu  erschiittern, 
genug  Rechtsgriinde,  um  ihren  Geist  niederzuzwingen.  Wir 
wollten  argumentieren,  nicht  demonstrieren.  So  zogen  wir 
denn  aus  zur  Hermannsschlacht:  —  zwei  Angeklagte,  vier  Ad- 
vokaten.  Max  Alsberg,  Alfred  Apfel,  Rudolf  Olden,  Kurt  Ro- 
senfeld,  vier  Juristenkopfe,  die  eine  schwer  berechenbare 
Summe  ,von  Qualitat  verkorpern.  Als  wir  am  23.  November, 
nachmittags  13  Uhr  30  aus  dem  Gerichtssaale  kamen,  da  wufi- 
ten  wirs:  der  Angriff  der  Jurisprudenz  auf  den  IV.  Straf senat 
war  siegreich  abgeschlagen.  Und  als  wir  etwas  verdattert  iiber 
den  scheufilichen  steinernen  Korridor  gingen,  da  traien  wir  im 
804 


muntern  Plaudern  mit  unscrm  Anklager  einen  leicht  ergrau- 
tcnt  frisch  aussehenden  Herrn  von  untersetzter  Statur,  der 
sich,  nach  seiner  frohen  Miene  zu  schlieflen,  in  bestem  Einklang 
mit  Gott  und  der  Justiz  zu  befinden  schien.  Das  war  jener 
Prokurator  des  Reichs,  der  das  Dezernat  fiir  Hochverrat  und 
Spionage  inn  eh  at.    Das  war  Herr  Jorns. 

Anderthalb  Jahre  Freiheitsstrafe?  Es  ist  nicht  so  schlimm, 
denn  es  ist  mit  der  Freiheit  in  Deutschland  nicht  weit  her. 
Mahlich  verblassen  die  Unterschiede  zwischen  Eingesperrten 
und  Nichteingesperrten.  Jeder  Pubiizist,  der  in  bewegter  Zeit 
seinem  Gewissen  folgt,  weiB,  daB  er  gefahrdet  lebt.  Die  beste 
politische  Publizistik  wurde  stets  heimlich  in  Dunkelkammern 
geschrieben.  nachtlich  an  Mauern  geklebt,  wahrend  Denun- 
zianten  durch  die  StraBen  schlichen  und  auf  den  groBen 
Platzen  die  Soldaten  in  Karrees  standen.  Wer,  wie  der 
Schriftsteller,  an  die  immaterielle  Kraft  des  in  die  Welt  hin- 
ausgeschleuderten  Wortes  glaubt,  der  wird  also  nicht  jammern, 
wenn  dieses,  KSrper  geworden,  als  Gummikniippel  oder  Stahl- 
mantel  oder  Gefangnishaft  wieder  auf  ihn  zuriickprallt. 

GewiB,  die  Zeiten  sind  bewegt,  aber  die  Justiz  ist  es  gar 
nicht.  Die  politische  Justiz  namentlich  trottet  hinter  der  Zeit 
her,  so  weit  sie  nicht  mit  kiihnem  Sprung  iiber  die  Gegenwart 
sich  mit  den  Machthabern  von  morgen  gut  zu  stehen  sucht. 
Hoher  Senat,  Herr  Vorsitzender  — !  Wenn  das  vor  Jahr  und 
Tag  in  Deutschland  ausgegebene  Schlagwort  von  der  Justiz- 
krise  nicht  verstummen  will,  so  liegt  die  Verantwortung  dafiir 
vornehmlich  bei  Ihnen,  meine  Herren  Reichsgerichtsrate! 
Justizkrise,  damit  will  niemand  das  Amtsgericht  von  Kuh- 
schnappel  ahprangern,  das  sich  redlich  mit  seinen  Akten- 
stoBen  herumqualt,  auch  nicht  das  Kammergericht  zu  Berlin, 
von  dem  kaum  jemarid  spricht  und  gegen  das  keine  Broschuren 
geschrieben  werden.  Justizkrise,  die  findet  ihre  Verkorpe- 
rung  in  der  leipziger  Reichsanwaltschaft  und  in  dem  politischen 
Gerichtshof,  im  IV.  Strafsenat.  Dort  ist  jene  unselige  Staats- 
raison  entstanden,  die  alle  Gefahr  ausschlieBlich  links  sucht, 
die  jeden  roten  Funktionar  mit  Zuchthaus  bedroht,  die  den 
literarischen  Hochverrat  erfunden  hat  und  ihn  bis  auf  Kol- 
porteure  und  Setzerjungen  ausdehnt.  Dort  hat  die  Reaktion, 
als  Rechtsprechung  der  Republik  maskiert,  ihr  Hauptquartier 
aufgetan.  Wenn  heute  die  Kommunisten  der  demokratischen 
Republik  in  so  erbitterter  Feindschaft  gegeniiberstehen,  daB 
ihnen  der  offene  Fascismus  manchmal  passabler  scheint  als  der 
Staat  der  Weimarer  Verfassung,  so  ist  das  nicht  allein  partei- 
politische  Verwirrung,  so  ist  das  zu  einem  groBen  und  schlimmen 
Teil  Ihr  Werk,  meine  Herren  Reichsrichter!  Ihr  Senat  ist  der 
Staatsgerichtshof  der  Republik,  aber  Ihre  Tatigkeit  hat  sich  im 
ganzen  darauf  beschrankt,  dem  Reichswehrministerium  ge- 
legentliche  Unannehmlichkeiten  zu  ersparen;  was  Sie  sonst  zur 
Rettung  von  Sicherheit  und  Ordnung  unternommen  haben,  Gott 
verzeih  es  Ihnen  1 

Vor  diesem  Tribunal  hatten  wir  uns  also  zu  verantworten. 
Der  Reichsanwalt  ist  kein  Torquemada  sondern  ein  hSflicher 
jtingerer  Herr,  der  angenehmerweise  nicht  emphatisch  wird 
und  seine  schwerkalibrigsten  Argument e  so  leger  vortragt  wie 

805 


eine  Einladung  ins  Cafe  Felschc.  (Ich  hoffe,  damit  die 
Schweigepflicht  nicht  zu  verletzen.)  Der  Anklager  bleibt  tibri- 
gens  durchweg  sehr  reserviert.  Seine  Rolle  tibernimmt,  wie 
so  oft  bei  deutschen  Gerichten,  der  Herr  President.  Nichts 
gegen  Herrn  Baumgarten!  Er  besitzt  vollendete  Manieren,  er 
hat  eine  sehr  cavaliere  Art,  die  unvermeidlichen  Zwischen- 
falle  zu  behandeln.  Aber  sehr  bald  merken  wir,  daB  wir  bei 
diesem  so  liebenswurdigen  Herrn  recht  arg  ins  Hintertreffen 
kommen.  Er  holt,  zum  Beispiel,  zu  meiner  Kennzeichnung  das 
lange  durch  Amnestie  getilgte  Urteil  des  Femeprozesses  von  1927 
heraus.  Ein  politischer  TendenzprozeB,  der  in  erster  Instanz 
mit  einer  Gefangnisstrafe  endete,  die  in  der  Berufung  in  Geld- 
strafe  umgewandelt  wurde.  jetzt  erfahren  wir  auf  Grund  eines 
hochstgerichtlichen  Entscheides,  daB  auch  Amnestie  keinen 
Strich  unter  Vergangenes  bedeutet.  Jetzt  werden  die  Kon- 
klusionen  eines  offensichtlich  nationalistisch  und  militaristisch 
denkenden  Richters  verlesen,  aus  denen  sich  ergeben  muB,  daB 
ich  mit  der  Ehre  von  Offizieren  hochst  leichtfertig  umgehe.  So 
kehrt  ein  in  einem  politischen  ProzeB  ausgesprochenes  Urteil 
in  ganz  andrer  Zeit  und  unter  andern  Voraussetzungen  wieder. 
Eigentlich  existiert  es  nieht  mehr,  weil  die  Epoche,  in  der  es 
gefallt  wurde,  voriiber  ist,  weil  alle  politischen  Strafen  an  be- 
stimmte  Zeitlaufte  und  Entwicklungsphasen  gebunden  sind.  So 
dachten  wir  bisher,    aber   das  gilt    nicht    beim  Reichsgericht, 

Mit  eihigem  Schrecken  denke  ich  darant  wie  es  in  der  ge- 
fahrlich  hoflichen  Luft  dieses  Gerichtshofes  wohl  einem  un- 
beholfcnen  Proletarier  ergehen  mag,  der  so  viel  Verbindlichkeit 
gegeniiber  doch  denHaB,  der  ihm  auf  der  Zunge  brennt,  nicht 
bandigen  kann,  und  in  dessen  Herzen  trotzdem  eine  kleine  Hoff- 
nung  auf  Gerechtigkeit  zitternd  atmet.  ,Wir  haben  ihm  gegen- 
iiber den  Vorzug  der  Illusionslosigkeit,  Wir  haben  Distanz. 
Wir  regen  tins  ebenso  wenig  auf  wie  die  Herren  jenseits  des 
griinen  Tuchs.  Hier  werden  verschiedene  Sprachen  gesprochen, 
hier  hilft  kein  Toussaint-Langenscheidt,  kein  Esperanto.  Hier 
gilt,  was  Rudyard  Kipling  von  Europa  und  Asien  dichtete: 
,,Osten  ist  Osten  und  Westen  Westen,  und  niemals  werden 
sie   sich    trefferi/' 

Neben  mir  sitzt  mein  Mitangeklagter  Kreiser,  Ich  sehe 
sein  gutes  gebrauntes  Schwabengesicht;  ein  prachtvoller  Kerl, 
mit  dem  man  Pferde  stehlen  kann,  aber  keine  militarischen 
Geheimnisse.  Von  dem  wiirde  man  in  jeder  andern  Umgebung 
wissen,  daB  er  sein  innerstes  Wesen  in  den  offen  blickenden 
Augen  tragt,  wahrend  er  hier  in  grotesker  Transfiguration  ein 
ertappter  Spion,  Mitglied  einer  hochst  ehrenriihrigen  Branche 
wird.  Wie  unwirklich  ist  iiberhaupt  dies  Ganze!  Der  groBe 
Saal  mit  zwei  Emporen  liegt  leer  da  und  verdammert  langsam. 
Die  paar  Mitspieler  sitzen  vorn  zusammengedrangt,  die 
Stimmen  verhallen  hohl  im  Riesenraum.  Unheimlich,  so  ein 
Theater  ohne  Publikum,  Durch  die  hohen  bunten  Glasschei- 
ben,  die  mit  allegorischen  Damen  mehr  als  besetzt  sind,  fallt 
mit  dem  sinkenden  Tag  ein  griinliches  Licht  und  liegt  wie  Pa- 
tina auf  den  roten  Talaren.  Das  ist  die  Grundfarbe  von  Hoff- 
manns Erzahlungen.  Da  dringt  plotzlich  lautes  Kinderlachen 
in  den  Spuk.     DrauBen,  nur  durch  etwas  Stein  und  Glas  von 

806 


tins  getrennt,  spiclen  Kinder  und  tanzen  juchzend  iiber  die 
breite  Auffahrtrampe,  Es  gibt  also  doch  noch  etwas  andres. 
Es'hat  nur  ein  Stumper  an  der  Zeitmaschinc  hantiert  und  uns 
in  spaBhafter  Anwandlung  in  ein  Stuck  aus  der  Aera  Metter- 
nich  oder  dem  Sozialistengesetz  hineingeworfen.  Gleich  wird 
ein  verstandiger  Mensch  kommen  und  die  Geschichte  wieder 
regulieren,  Denn  ein  paar  Schritte  weiter  lachen  Kinder, 
rasseln  Autos  voriiber,     Dort  drauBen  ist  1931. 

Kehren  wir  also  in  dieses  deutsche  Jubeljahr  zuriick,  in 
dem  man  zwei  Schriftsteller  wegen  Verrates  militarischer  Ge- 
heimnisse  verurteilt,  weil  sie  vor  zweieinhalb  Jahren  auf  ein 
paar  kostspielige  budgetare  Kunststiicke  hingewiesen  haben, 
die  zu  Last  en  des  auch  damals  schon  genug  geplagten  deut- 
schen  Steuerzahlers  gefingert  worden  sind.  Ausspionieren 
kann  man  nur  ein  Geheimnis,  nur  etwas  Verborgenes,  und  hier 
war  hochstens  etwas  offentlich  Unbekanntes.  Hier  ruhte 
die  Sensation,  die  wir  verbrecherischerweise  an  fremde 
Regierungen  gelangen  lieBen,  schon  ein  Jahr  in  einer 
Reichstagsdrucksache.  Das  groBe  Geheimnis  war  auf  den 
Flugplatzen  Deutschlands  —  und  also  auch  des  Auslands  — 
wohlbekanni  Im  Friihjahr  1929  lebten  wir  noch  unter  den 
Nachwehen  des  Lohmannskandals,  und  bald  darauf  brach  im 
Reichstag  das  Unwetter  iiber  den  Luftfahrtetat  des  Herrn  Mi- 
nisterialdirigenten  Brandenburg  herein,  Eine  ungewohnliche 
Etatskiirzung  war  die  Folge.  In  dieser  Zeit  ist  der  Artikel 
Kreisers  geschrieben  worden,  Er  wandte  sich  gegen  die 
diistere  Betriebsamkeit  kommerziell  begabter  Offiziere,  die 
Millionen  von  Reichsmitteln  in  hoffnungslose  Unternehmungen 
gesteckt  hatten.  In  den  Zeiten  der  verblichenen  Schwarzen 
Reichswehr  wurden  militarische  Institutionen  zivil  getarnt. 
Daran  zu  tippen,  war  Landesverrat,  bis  schlieBlich.  das  groBe 
Ungliick  von  Kiistrin  passierte,  Herr  GeBler  seine  heimlichen 
Heerscharen  offentlich  als  ,,nationalbolschewistische  Haufen ' 
denunzieren  muBte  und  seine  legalen  Bataillone  gegen  seine 
illegalen  vorschickte.  In  der  Aera  Lohmann  lagen  die  Dinge  urn- 
gekehrt.  Damals  wurden  hochst  zivile,  hochst  mercantile 
Unternehmungen  militarisch  getarnt,  und  als  vaterlandische 
Heiligtiimer  erklart,  weil  darin  erwerbstiichtige  Offiziere  ihr 
Wesen  trieben. 

Man  darf  sich  von  Prozessen  dieser  Art,  so  infamierend 
die  Anklage  auch  sein  mag,  nicht  bluffen  lassen.  Das  Ausland 
ist,  wie  jeder  Kundige  weiB  und  jeder  Unkundige  durch  Zei- 
tungsstudium  erfahren  kann,  bestens  unterrichtet,  und  zwar 
nicht  aus  der  deutschen  Presse,  die  sich  musterhaft  diskret 
verhait,  sondern  durchweg  aus  dem  Geschwatz  von  intim  Be- 
teiligten,  die  das  Maul  nicht  halten  konnen,  Auch  unsre  chau- 
vinistische  und  militarfromme  Presse  packt  oft  in  re- 
nommistischer  Laune  die  tollsten  Dinge  aus,  ohne  daB  es  der 
Reichsanwaltschaft  einfiele,  hier  ein  Wort  der  Ordnung  zu 
spreohen,  Es  ist  uberhaupt  die  Frage,  welchem  Zweck 
diese  Landesverratsprozesse  dienen:  sollen  sie  dasWissendes 
Auslandes  oder  das  des  Inlandes  verhindern?  In  all  den  Jah- 
ren, wo  urn  solche  und  ahnliche  Dinge  gestritten  worden  ist, 

2  807 


hat  es  sich  gezeigt,  daB  bestimmte  Stellen  in  der  Reichswehr 
die  Neugier  des  deutschen  Steuerzahlers  mindestens  in  glei- 
chem  MaBe  fiirchten  wic  den  Geheimdienst  des  franzosischen 
oder  englischen  Generalstabs.  Der  Feind,  vor  dem  etwas  ver- 
steckt  werden  soil,  sitzt  meistens  nicht  in  Paris  oder  Genf 
sondern  im  HaushaltsauschuB  des  Deutschen  Reichstags, 

Es  fehlt  in  Deutschland  sehr  an  jener  Budgetredlichkeit,  die 
das  englische  Regierungssystem  auszeichnet.  Es  fehlt  der  Sinn 
f ur  demokratische  Kontrolle,  f iir  die  unbedingte  Hochachtung  vor 
dem  aus  Steuergroschen  zusammengeflossenen  Staatsgeld.  Be- 
greif  t  man  nicht  heute  nach  dem  Zusammenbruch  der  deut- 
schen Finanzen,  daB  es  nicht  nur  politisch  richtig  war  sondern 
auch  von  moralischer  Gewissenhaftigkeit  zeugte,  schon  im  Marz 
1929  auf  fehlgeleitete,  schlecht  angewandte  Subventionen  zu 
verweisen?  Wo  mit  Reichsmitteln  heimliche  Griindungen  statt- 
gefunden  haben,  die  sich  der  Beaufsichtigung  entziehen,  da  muB 
eine  Sphare  von  Korruption  entstehen,  in  die  hineinzuleuch- 
ten  nicht  Landesverrat,  nicht  Spionage  bedeutet  sondern  Ver- 
dierist  um  die  Offentlichkeit, 

.  Es  steht  in  unserm  Falle  nicht  zur  Debattef  ob  es  im  wohl- 
verstandenen  Interesse  der  Allgemeinheit  licgt,  auch  wirklich 
vorhandene  militarische  Riistungen,  die  den  Friedensver- 
tragen  widersprechen,  offen  aulzudecken,  weil  eine  vernunf- 
tige  Gesamtpolitik  durch  eine  geldfressende  und  in  der  Praxis 
nutzlose  Soldatenspielerei  immer  wieder  durchkreuztr  wird.  Das 
steht  hierf  wie  gcsagt,  nicht  zur  Debatte.  Hier  handelt  es  sich 
nur  um  die  Frage,  ob  der  Ressortpatriotismus  des  Reichswehr- 
ministeriums  zum  nationalen  Schibboleth  werden  soil  Wir 
haben  nur  ein  kleines  Heer  aber  einen  groBen  Militarismus.  Wir 
sind  allzu  sehr  gewohnt,  uns  vor  Generalen  zu  ducken,  die  mit 
der  Faust  auf  den  Tisch  schlagen.  Ober  die  Stellung  der  Mili- 
tars  im  demokratisch-republikanischen  Staat  hat  Georges  Cle- 
menceau,  der  letzte  groBe  Jakobiner  Frankreichs,  in  seiner  Ver- 
teidigungsrede  fur  Emile  Zola  Endgiiltiges  gesagt:  MDas  Prin- 
zip  der  biirgerlichen  Gesellschaft  ist  das  Recht,  die  Freiheit, 
die  Gerechtigkeit,  Das  Prinzip  der  militarischen  Gesellschaft 
ist  die  Diszipli^  der  Befehl,  der  Gehorsam . . ,  Die  Soldaten 
haben  nur  Daseinsberechtigung,  weil  sie  das  Prinzip  verteidi- 
gen,  das  die  biirgerliche  Geseflschaft  darstellt/*  Diese  Grund- 
satze,  die  nach  Auffassung  deutscher  Offiziere  gewifl  an  Hoch- 
verrat  grenzen,  hat  Clemenceau  in  Frankreich  zur  Anwendung 
gebrachtt   mit   ihnen  hat   er  den  Krieg  gewonnen, 

Immer  wieder  ist  in  diesen  Tagen  von  deutschen  und 
auslandischen  Blattern  gefragt  worden,  wie  es  denn  moglich 
gewesen  sei,  daB  die  Reichsregierung  diesen  ProzeB  tiber- 
haupt  stattfinden  lassen  konnte.  Nicht  der  Artikel  Kreisers 
ist  dem  Wohle  des  Reichs  abtraglich  gewesen,  sondern  dieser 
leipziger  ProzeB  und  sein  Ausgang.  wenn  im  Dritten  Reich 
erst  einmal  nach  der  Plattform  von  Boxheim  regiert  werden 
wird,  dann  werden  Verrater  wie  Kreiser  und  ich  ohne  Auf- 
hebens  fiisiliert,  Wir  sind  noch  nicht  ins  SA.-Paradies  eingegan- 
gen,  wir  wahren  noch  das  Dekorum  des  Rechtsverfahrens,  wenn 
auch  nicht  vollig  seinen  Geist  Da  man  in  Leipzig  gegen  uns 
hinter  verschlossenen  Tiiren  verhandelt  hatt  ware  es  nur  kon- 

808 


sequent  gewesen*  nicht  nur  die  Urteilsbegriindung,  sondern 
auch  den  Urteilsspruch  selbst  geheimzuhaiten,  damit  nichts 
davon  in  die  Welt  dringe.  So  aber  steht  die  deutsche  AuBen- 
politik  jetzt,  kurz  vor  der  Erdffnung  der  Abriistungskonferenz, 
vor  arger  Schadigung  und  lastigem  Verdacht.  Und  was  selbst 
im  Lande  verhindert  werden  sollte,  die  offentliche  Erorterung, 
sie  ist  da.  Die  sozialdemokratische  Reichstagsfraktion  hat 
soeben  die  folgende  Interpellation  eingebracht  Sie  ist  in  vie- 
len  Blattern  abgedruckt  worden; 

„Am  23.  November  1931  hat  das  Reichsgericht  zwei 
Schriftsteller  wegen  Verbrechens  gegen  §  1  Absatz  2  des  Ge~ 
setzes  iiber  Verrat  militarischer  Geheimnisse  zu  je  1  Jahr 
6  Monaten  Gefangnis  verurteilt. 

Dem  Verfahren,  das  zu  dieser  Verurteilung  gefiihrt  hat, 
liegt  ein  Aufsatz  mit  der  Oberschrift  „Windiges  aus  der  deut- , 
schen  Luftfahrt"  zugrunde,  der  in  Nummer  11  der  Zeitschrift 
,Die  Weltbiihne'  vom  12.  Marz  1929  erschienen  war.  In  die- 
sem  Aufsatz  sind  keine  Geheimnisse  enthalten,  sondern  nur 
Dinge  erwahnt  worden,  die  entweder  in  einer  breitern  5f- 
fentlichkeit  bekannt  oder  sogar  im  Protokoll  der  312.  Sitzung 
des  Ausschusses  fur  den  Reichshaushalt  vom  3.  Februar  1928 , 
gedruckt  zu  lesen  waren.  Nicht  nur  in  dem  ProzeB,  der  zu 
der  Verurteilung  der  beiden  Angeklagten  gefiihrt  hat,  son- 
dern auch  fur  die  Verkundung  der  Urteilsbegriindung  war  die 
Off entlichkeit  ausgeschlossen,  da  angeblich  eine  Gefahrdung 
der  Staatssicherheit  zu  besorgen  war.  Dariiber  hinaus  hat  der 
zustandige  Senat  des  Reichsgerichts  es  fiir  notwendig  gehal- 
ten,  alien  Beteiligten  unbedingte  Schweigepflicht  iiber  alle 
wahrend  des  Prozesses  zu  ihrer  Kenntnis  gelangenden  Umstande 
aufzuerlegen,  k 

Wir  fragen  die  Reichsregierung: 

1.  Ist  sie  bereit,  iiber  die  nahern  Umstande,  die  zur  £in- 
leitung  des  Verfahrens  gefiihrt  haben,  Auskunft  zu  geben  und 
insbesondere  dariiber,  weshalb  der  ProzeB  erst  zweieinhalb 
Jahre  nach  dem  Erscheinen  des  betreffenden  Artikels  statt- 
gefunden  hat? 

2.  Ist  es  wahr,  daB  die  Bearbeitung  der  Anklage  in  die- 
sem  ProzeB  in  demReferat  des  Reichsanwalts  Jorns  erfolgt  ist? 

3.  Ist  die  Reichsregierung  bereit,  die  Urteilsbegriindung 
bekanntzugeben? 

4.  Halt  die  Reichsregierung  ein  Geheimverfahren,  wie  es 
bei  diesem  ProzeB  vom  Reichsgericht  geiibt  wurde,  fiir  ge- 
eignet,  das  Vertrauen  des  deutschen  Volkes  in  die  deutsche 
Rechtsprechung  zu.  starken? 

5.  Ist  die  Reichsregierung  der  Meinung,  daB  durch  die 
Art,  in  der  der  ProzeB  vor  dem  Reichsgericht  gefiihrt  wor- 
den ist,  im  Ausland  nicht  viel  falschere  Auffassungen  wegen 
angeblicher  deutscher  Geheimriistungen  entstehen  konnen,  als 
sie  vor  der  Durchfiihrung  des  Prozesses  bestanden  haben?  Ist 
dies  vielleicht  die  Meinung  des  Auswartigen  Amtes  gewesen? 
War  die  Verzogerung  des  Prozesses  darauf  zuriickzufuhren,  daB 
das  Auswartige  Amt  aus  auBenpolitischen  Griinden  die  Durch- 
fiihrung des  Verfahrens  fiir  falsch  hielt? 

809 


6.  1st  die  Reichsregierung  bereit,  alle  Schritte  zu  tun,  urn 
die  Vollstreckung  dieses  Urteils  des  Reichsgerichts  zu  ver- 
hindern?" 

Die  sozialistische  Interpellation  prazisiert  die  Fragen 
durchaus  richtig.  Findet  das  Weltbuhnen-Urteil  Nachfolge,  so 
wird  der  Rest  der  Pressefreiheit  in  Deutschland  der  schnelleri 
Vernichtung  ausgesetzt  sein.  Wenn  die  Priiiung  eines  dunklen 
Etatpostens  als  zuchthauswurdiges  Verbrechen  bewertet  wer- 
den  kann,  dann  ist  die  akute  Gefahr  vorhanden*  daB  jede 
kritische  AuOerung  und  daB  schlieBlich  auch  das  gesamte  Nach- 
richtenwesen  unter  die  Tyrannei  des  Spionageparagraphen  ge- 
rat.  Diese  sehr  gefahrliche  Moglichkeit  hat  unser  ProzeB  deut- 
lich  aufgezeigt. 

Er  bietet  aber  auch  einen  hellern  Aspekt.  Seit  Jahren 
hat  sich  die  Judikatur  des  IV.  Strafsenats  auf  die  Parteigan- 
ger  des  Linksradikalismus  beschrankt,  gelegentlich  wurden  zur 
Belefrung  des  gleichformigen  Bildes  auch  ein  paar  Pazifisten 
hinzugezogen.  Die  Protestbewegung  arbeitete  ausschlieBlich 
links  von  der  Sozialdemokratie,  von  einigen  AuBenseitern  ab- 
gesehen,  Der  Protest  ist  ebenso  Parteisache  geworden,  wie 
es  die  Pflicht  jedes  Kommunisten  istt  mutig  in  sein  Schicksal 
zu  gehen,  Der  Weltbuhnen-ProzeB  deutet  aui  eine  hoffnungs- 
volle  Erweiterung  der  Arbeitsphare  des  Reichsgerichts  hin. 
Die  OHentlichkeit  ist  aufgescheucht,  die  Blicke  richten  sich 
wieder  nach  Leipzig,  Es  wachst  die  Erkenntnis  fur  das  vom 
Reichsgericht  in  langen  Jahren  angestellte  Ungliick.  Ich  spreche 
den  heiBen  Wunsch  aus,  daB  die  Emporung,  die  unser  ProzeB 
verursacht  hat,  auch  den  rruhera  Opfern  der  leipziger  reichs- 
gerichtlichen  Justiz  zugute  kommen  moge,  daB  sie  sich  vor 
allem  den  proletarischen  Opfern  zuwenden  moge,  die  unbeachtet 
in  den  Gefangnissen  verschwunden  sind,  daB  eine  Volksbewe- 
gung  daraus  wachse,  die  dieser  poiitisierten  Justiz,  die  mit 
Politik  noch  weniger  zu!  tun  hat  als  mit  Justiz,  endlich  den 
Abschied  gebe.  So  schon  und  ehrenvoll  die  Sympathiekund- 
gebungen  liir  Kreiser  und  mich  sind,  sie  diirfen  nicht  in  der 
individuellen  Sphare  bleiben.  Die  Protestationen  miissen  in 
den  Bereich  des  politischen  Kampfes  gegen  die  machtvoll  or- 
ganisierte  Konterrevolution  getragen  werden, 

Wir  stehen  an  einem  schicksalsvollen  Wendepunkt.  In 
absehbarer  Zeit  schon  kann  der  offene  Fascismus  ans  Ruder 
kommen.  Dabei  ist  ganz  gleichgiiltig,  ob  er  sich  seinen  Weg 
mit  sozusagen  legalen  Mitteln  freimacht  oder  mit  sole  hen, 
wie  sie  der  Henkerphantasie  eines  hessischen  Gerichtsasses- 
sors  entstiegen  sind.  Das  Wahrscheinliche  diirfte  eine  Zu- 
sammenfassung  von  beiden  Methoden  sein;  eine  Regie- 
rung,  die  beide  Augen  zudruckt,  wahrend  die  StraBe  der 
Hooligan-  und  Halsabschneiderarmee  der  SA-Kommandeure 
ausgeliefert  bieibt,  die  jede  Opposition  als  „Kommune"  blutig 
unterdriicken.  Noch  ist  die  Moglichkeit  der  Zusammenfassung 
aller  anti-fascistischen  Krafte  vorhanden.  Noch!  Republika- 
ner,  Sozialisten  nud  Kommunisten,  in  den  groBen  Parteien  Or- 
ganisierte  und  Versprengte  —  lange  werdet  ihr  nicht  mehr 
die  Chance  haben,  eure  Entschliisse  in  Freiheit  zu  f assen  und 

810 


nicht  vor  der  Spitze  der  Bajonette!  Die  Zeit  dcr  isoliertcn 
Aktionen  geht  zu  Ernie,,  der  Burgerkrieg  dcr  Sozialisten  wird 
seinen  eifrigsten  Kombattantea  plotzlich  fragwtirdig.  In  die- 
sen  ganz  groBen  Dingen  spielt  der  Weltbuhnen-ProzeQ  nur 
eine  bescheide'ne  Rolle,  aber  die  Bewegung,  die  er  im  Ge- 
i olge  hat,  gibt  doch  wieder  eine  feme  Vision  von  der  Macht 
kameradschaftlichen  Abwehrwillens,  der  sich  nicht  nur  schiit- 
zend  vor  einzelne  Personen  stellt,  sondern  eine  Sache  groB 
auf  die  Fahne  schreibt.  Wir  wollen  mit  dem  starken  Wort 
von  der  Roten  Einheitsfront  keinen  vorschnelleri,  die  natur- 
liche  Entwicklung  schadigenden  Unfug  treiben,  Es  ist  noch 
lange  nicht  so  weit,  noch.  sind  die  Hemmnisse  zu  groB.  Noch 
kampft  die  deutsche  Arbeiterschaft  gegen  Wind  und  Sonne. 
Aber  es  ist  heute  die  begltickende  Tatsache  zu  verzeichnen,  dafl 
der  Sinn  fur  das  wieder  wachst,  was  der  groBte  deutsche  Frei- 
heitsdichter  etwas  zn  pathetisch  aber  doch  mit  einem  Feuer 
ausgedriickt  hat,  das  auch  in  unsrer  harter  und  sachlicher  ge- 
wordenen  Zeit  noch  brennt:  „Es  ist  ein  Feind,  vor  dem  wir 
alle  zittern,  und  eine  Freiheit  macht  uns  alle  frei!'* 


Fragen  and  Meinungen 


Der  Weltbuhnen-Prozefi  hat  in  dcr  auslandischen  Presse  em 
Echo  gefunden,  das  den  verantwortlichen  Leitern  unsrer  Aufien- 
politik  zu  denken  geben  sollte.  Wir  lassen  hier  zwei  angelsachsische 
Stimmen  folgen,  die  um  so  bemerkenswerter  sind,  weil  sich  die 
englische  und  amerikanische  Presse  in  solchen  Dingen  oft  von  der 
franzosischen  Beurteilung  distanziert. 

,The  Times',  vom  25.  November 

In  den  letzten  Tagen  haben  deutsche  Gerichte  zwei  beun- 
ruhigende  Urteile  gefallt.  Am  Frei  tag  verurteilte  das  Ober- 
landesgericht  Breslau  ein  en  Auslander,  gegen  den  unter  Aus- 
schluB  der  Cffentlichkeit  verhandelt  wurde,  zu  sechs  Monaten 
Gefangnis  wegen  versuchten  Landesverrats.  Name  und  Natio- 
nalist des  Angeklagten  wurden  of fentlich  nicht  bekanntgegeben, 
aber  das  gut  infonnierte  ,Berliner  Tageblatt*  hat  festgestellt, 
daB  er  Pole  ist  und  angeklagt  war,  seiner  Regierung  von  den 
Vorgangen  bei  -der  groBen  Stahlhelmparade  berichtet  zu  haben, 
die  vor  dem  fruhern  Kronprinzen  von  PreuBen  in  Breslau,  nahe 
der  polnischen  Greftze,  am  31.  Mai  1931  abgehalten  wurde  .  .  * 
Die  Ziele  des  Stahlhelms  sind:  Waederbelebung  des  kriege- 
rischen  Geistes  in  Deutschland  und  Aaifhebung,  mehr  als  Re- 
vision, des  Versailler  Vertrages,  Aber  der  Stahlhelm  ist  in 
keinem  Sinne  eine  offizielle  Korperschaft.  Die  Reichsregierung, 
welche  die  Stahlhelmbewegung  im  Jahre  1922  zu  unterdriicken 
versuchte  und  gewuBt  haben  muB,  daB  die  PreuBische  Regie- 
rung  sie  im  Jahre  1929  zeitweise  im  Rhe inland  und  in  Westfalen 
unterdruckt  hat,  begegnete  einem  polnischen  Protest  gegen  den 
breslauer  Au&narsch  und  gegen  die  provozierenden  Reden,  die 
dort  gehalten  wurden,  mit  der  Antwort,  daB  der  Stahlhelm  eine 
private  Vereinigung  von  ehemaligen  Soldaten  ohne  „militarische 
Ziele'*  sei.      Unser   berliner  Korrespondent    weist   darauf   hin, 

811 


wenn  die  durch  die  Reichsregietung  gegebene  Erklarung  uber 
den  StahLhelm  korrekt  ist,  daB  dann  dieLage  eines  Auslanders, 
der  seinen  Aufrnarschen  zusah,  derjenigen  eines  deutschen  Be- 
suchers '  in  England  gleich  kame,  der  einem  Aufmarsch  der 
Britischen  Legion  beiwohnte.  Die  breslauer  Polizei . . .  iind  der 
Gerichtshof  . . .  nehmen  oHensichttich  eine  andre  Stellung  zu  der 
Wichtigkeit  dieser  militarischen  Organisation  ein,  tind  ihre 
Handlungen  starken  unausbleiblich  die  durch  die  heftigen  Wi- 
derspriiche  in  der  deutschen  Politik  hervorgeriifenen  Befurch- 
tungen  andrer  Lander. 

Diese  MiBstimmung  wird  verstarkt  durch  den  Spruch  von 
achtzehn  Monaten  Gefangnis,  den  das  Reichsgericht  in  Leipzig 
gegen  den  Herausgeber  einer  deutschen  radikalen  Zeitschrift 
und  den  Autor  eines  Artikels  iiber  deutsche  LuftschiHahrt,  den 
er  in  dieser  Zeitschrift  veroHentlicht  hatte,  fallte.  Man  sprach 
sie  des  Verrats  militarischer  Geheimnisse  schuldig.  Vor  Be- 
griindung  des  Urteils  schloB  das  Reichsgericht  die  Offentlichkeit 
aus,  da  die  Bezugnahmen  auf  den  inkriminierten  Artikel  und 
die  amtlichen  Geheimnisse,  die,  wie  man  £and,  in  ihm 
enthalten  sind,  offentlich  nicht  verlesen  werden  konnten, 
ohne  die  nationale  Sicherheit  zu  gefahrden.  VCfiederum  stehen 
hier  fremde  Machte  einer  seltsamen  Divergenz  zwischen  den 
offiziellen  deutschen  Erklarungen  und  dem  Urteil  eines  deut- 
schen Gerichts  gegenuber.  Der  Vertrag  von  Versailles  ver- 
bietet  Deutschland,  militarische  Luftstreitkrafte  zu  unterhalten. 
Der  Autor  des  beanstandeten  Artikels,  der  selbst  Pilot  war,  hat 
die  enorme  Aufwendung  offentlicher  Gelder  <fur  die  Aviatik 
kritisiert  und  darauf  hingewiesen,  daB  ein  Teil  dieser  Ausgaben 
eher  zu  militarischen  als  zu  zivilen  Zwecken  verwandt  wiirde. 
(Die  demokratische  Presse  Deutschlands  ist  durch  den  Angriff  auf 
die  Pressefreiheit  auBerordentlich  iiber rascht  und  bestiirzt  iiber 
die  unausbleibliche  Wirkung  dieses  Urteils  auf  die  Meinung 
des  Auslandes.  Die  ,Vossische  Zeitung'  und  andre  einfluBreiche 
Zeitungen  meinen,  daB  diese  schwere  Verurteilung  im  Auslande 
die  Vorstellung  erwecken  muB,  das  Reich  habe  wichtige  mili- 
tarische Geheimnisse  zu  verbergen.  Ihre  Kritik  ist  durchaus 
berechtigt.  Nach  dem  breslauer  Spruch,  der  den  Ein d ruck  aui- 
kommen  laBt,  als  sei  der  Stahlhelm  eine  Art  von  Hilfsarmee, 
die  sich  der  geheimen  Unterstutzung  durch  die  Regierung  des 
cntwaffneten  Reiches  erfreut,  kommt  nun  dieses  Urteil  mit  seiner 
Andeutung,  daB  das  deutsche  ZiviHlugwesen,  wenn  es  auch  nicht 
eine  camouflierte  ^uftttotte  ist,  doch  wenigstens  zu  einer  schnel- 
len  Umwandlung  fiir  militarische  Zwecke  bestimmt  ist.  Zwei- 
fellos  gibt  der  Kontrast  zwischen  diesen  Urteilen  und  der  stan- 
digen  allzu  sehr  aufgebauschten  Klage,  daB  Deutschland  durch 
seine  Treue  zu  dem  Entwaffnungsvertrag  jetzt  unverteidigt 
zwischen  den  bewaffneten  Nationen  stehe,  viel  zu  denken.  Aber 
dieser  Kontrast  versieht  andre  Machte  rait  dem,  was  ihre 
Freunde  gute  Griinde  und  ihre  Kritiker  gute  Entschuldiguagen 
fiir  die  Aufrechterhaltung  ihrei*  gegenwartigen  iRtistungen  nen- 
nen  werden. 

Die  Abriistungskonferenz  nahert  sich.  Ihr  Erfolg  wird  groB- 
teriteils  von    dem  Vertrauen    abhangen,    das  die   Nachbarn   in 

812 


>Deutschlands  guten  Willen  setzen.  In  einem  von  den  ,Times 
am  11.  Juli  veraffentlichten  Brief  Sir  Austen  Chamberlains 
bittet  dieser,  die  deutsche  Regierung  und  das  deutsche  Volk 
„damit  aufzuhoren,  Hindernisse  in  den  Weg  der  Friedensmacher 
zu  werfen,  und  eras thaft  bemiiht  zu  bleiben,  die  agents  provo- 
cateurs, die  in  Deutschlands  Mitte  tatig  gewesen  sind,  zu  ent- 
mutigen  und  in  Europa  das  Vertrauen  zu  ihrem  guten  Willen 
und  ihrer  Treue  wieder  herzustellen,  das  Ereignisse  der  letzten 
Zeit  so  sehr  zerstort  haben". 

Die   Urteile  von  Breslau   und  Leipzig  konnen  seine    Bitte 
nur   verstarken, 

*  . 
tNew  York  Evening  Post',  vom  24.  November 

Deutschland  hat  durch  das  heutige  Reichsgerichtsurteil  seine 
Stellung  auf  der  bevorstehenden  Abriistungskonferenz  erheb- 
lich  geschwacht.  Denn  das  Urteil  bestatigt,  daB  die  Organi- 
sation der  Zivilfiotte  eine  Umgehung  des  Versailler  Vertrages 
ist  und  die  Basis  fur  eine  schnelle  Umwandlung  in  eine  Mili- 
tarflotte  bildet.  Das  Vergehen  des  Landesverrats  wird  in 
einem  Artikel  der  liberalen  Wochenschrift  fDie  Welt- 
buhne*  vom  Marz  1929  erblickt,  Nichts  hat  sich  seitdem  an 
den  Tatsachen  geandert,  die  ohnehin  jedem  auslandischen  Be- 
obachter  in  Deutschland  bekannt  waren.  Das  Gericht  verur- 
teilte  den  Herausgeber  der  fWeltbiihne\  Carl  von  Ossietzky, 
und  den  Verfasser  des  Artikels,  Walter  Kreiser,  zu  achtzehn 
Monaten  Gefangnis  wegen  Landesverrats  und  gibt  so  still- 
schweigend  zu,  daB  der  Artikel  auf  Wahrheit  beruht.  Denn 
wenn  keine  Geheimnisse  da  waren,  konnte  auch  keines  ver- 
raten  werden.  In  zweierlei  Hinsicht  ist  das  Urteil  auBeror- 
dentlich  bemerkenswert. 

Erstens:  es  ist  das  harteste  Urteil,  das  j  em  a  Is  iiber  einen 
nicht-kommunistischen  Publizisten  verhangt  wurde,  und  es  ist  ty- 
pisch  fiir  die  rigorose  Behandlung,  die  deutsche  Gerichte  jetzt 
jedem  zuteil  werden  lassen,  der  mit  einer  Riickkehr  zum 
Vorkriegsmilitarismus  in  Deutschland  nicht  einverstanden  ist. 
Zweitens  sollte  man  annehmen,  daB  die  Regierung  oder  wenig- 
stens  das  Auswartige  Amt  dieses  Urteil  nicht  billige,  denn  es 
lenkt  die  Aufmerksamkeit  der  ftffentlichkeit  auf  Vorgange, 
die  sonst  vielleicht  Iangst  vergessen  oder  iibersehen  worden 
waren.  Deutschland,  dessen  Argumentation  vor  der  Ab- 
riistungskommission  immer  darauf  hinaus  ging,  daB  der  Ver- 
sailler Vertrag  erfiillt  sei  und  es  ganzlich  abgeriistet  habe,  wird 
sich  jetzt  erneut  gegen  den  Vorwurf  verteidigen  miissen,  daB  es 
eine  verbotene  Lufftflotte  unterhalte.  Kritiker  werden  sich  in 
Zukunft  weniger  auf  den  Weltbiihnen- Artikel  berufen  als  auf 
das  Reichsgericht,  das  dies  en  Artikel  fur  so  gefahrlich  hielt, 
daB  es  ihn  mit  achtzehn  Monaten  Gefangnis  bestrafte.  Es 
gibt  keine  Bertifung  und  Ossietzky . . .  muB  diese  lange  Strafe 
antreten.  Charakteristisch  fur  die  Tendenz  deutscher  Ge- 
richte ist,  daB  nationalsozialistische  Verrater  immer  milder, 
meistens  mit  Festung  verurteilt  werden,  wahrend  ein  Iiberaier 
Kritiker  des  Militarismus  mit  gemeinen  Verbrechern  zusam- 
men  eingesperrt  wird. 

813 


Hitlers  Vorlailfer   von  Hellmat  v.  Gerlacta 

T^  ic  uberwaltigendcn  Wahlerf olgc  der  Nationalsozialisten  fin- 

den  naturlich  ihre  Erklarung  nicht  nur  negativ  in  dem  Ver- 
sagen  andrer  Parteien  und  in  den  wirtschaftlichen  Verhaltnis- 
sen  Deutschlands.  Sie  mussen  auch  sozusagen  positive  Griinde 
haben. 

Zwei  machtige,  einander  widerstreitende  Stromungen 
durchziehen  die  Welt:  Nationalismus  und  Sozialismus.  Adolf 
Hitler  hatte  die  je4en  niichternen  Menschen  phantastisch  an- 
mutende  Idee,  beide  in  einer  Synthese  zusammenzufassen. 

Das  ist  naturlich  ein  Versueh  mit  untauglichen  Mitteln. 
Sozialismus  und  Nationalismus  sind  eine  Antinomic,  Der  So- 
zialismus  ist,  wenn  liberhaupt,  nur  international  zu  verwirk* 
lichen.  Darum  ist  jeder  Versueh  einer  Realisierung  des  soge- 
nannten  Programms  der  Nationalsozialisten  von  vornherein 
zum   Scheitern  verdammt, 

Jeder  logisch  denkende  Mensch  sieht  das  ein,  Aber  die 
Logiker  sind  nicht  in  der  Mehrheit,  Darum  bekam  Hitler 
im  September   1930  sechseinhalb  Millionen  Stimmen, 

Die  Patentlosung  Adolf  Hitlers  ist  iibrigens  kein  Original- 
produkt  seines  Geistes.  Auch  dieser  Messias  hat  seine  Vor- 
laufer  gehabt. 

In  gewissem  Sinn  ikaun  sogar  Friedrich  Naumann  als 
solcher  bezeichnet  werden.  Naumann  begriindete  1896  den 
Nationalsozialen  Verein,  um  die  Versohnung  von  Demokratie 
und  Kaisertum  anzustreben.  Er  glaubte,  die  Arbeiter  fur  den 
bestehenden  Staat  gewinnen  zu  konnen,  wenn  er  Wilhelm  II. 
fur  radikale  Sozialpolitik  und  konsequente  Demokratie  ge- 
wonne, 

Trotzdem  tut  man  dem  Andenken  Naumanns  UnrechtP 
wenn  man  ihn  mit  Hitler  in  einem  Atem  nennt.  Hitler  ist 
unkritischer  Demagoge,  Naumann  war  kritischer  Denker  und 
darum  gefeit  gegen  Demagogic  Er  war  so  wenig  Demagoge, 
daB  er  nie  Massen  fiir  sich  gewann,  sondern  nur  eine  Ober- 
schicht  ihm  allerdings  leidenschaftlich  ergebener  Intellektuel- 
'  ler.  Als  er  1903  den  Nationalsozialen  Verein  zur  Auflosung 
brachte,  hatten  die  Wahlen  seiner  Partei  ein  einziges  Mandat 
erbracht. 

Der  wahre  Vorlaufer  Adolf  Hitlers  war  der  Hofprediger 
Adolf  Stocker,  ein  Demagoge  ganz  groBen  Formats. 

Als  Stocker  Ende  der  siebziger  Jahre  mit  seiner  christlich- 
sozialen  Propaganda  an  die  Of i entlichkeit  trat,  leitete  ihn 
sicher  im  UnterbewuBtsein  ehrgeiziger  Machtwille,  Aber  nie- 
mand,  der  ihm  nahgestanden  hat,  wird  ihm  starkste  sachliche 
Beweggriinde  absprechen  konnen, 

Er  war  ein  leidehschaftlicher  Vertreter  der  ecclesia  mili- 
tans.  Als  protestantischen  Orthodoxen  schmerzte  es  ihn  bren- 
nend,  daB  die  katholische  Kirche  ungeschwacht  die  Massen 
des  katholischen  Volksteils  beherrschte,  wahrend  die  breiten 
Schichten  der  evangelisch  getauften  Arbeiter  sich  vom  Evan- 
gelium  Christi  lossagten  und  zu  dem  von  Karl  Marx  bekehr- 
ten.     Er  war  klug  genug,  zu  wissen,  daB  man  diese  Entwick- 

£14 


lung  'nicht    mit    Predigten     sondern    nur    mit    sozialen    Tatcn 
bremsen  konne. 

^  Darum  wollte  er  dem  Marxismus  die  christliche  Sozial- 
politik  entgegenstellen.  Ihn  berauschte  der  Gedanke:  dem 
Kaiser,  dessen  Hofprediger  er  war,  ein  von  der  Sozial- 
demokratie  befreites  und  der  Kirche  Christi  wiedergewonne- 
nes  Berlin  zu  Fufieri  legen  zu  konnen. 

Um  die  Arbeiter  ging  es  ihm,  darum  nannte  er 
seine  Partei  zunachst  Christlich-Soziale  Arbeiterpartei.  Darum 
behandelte  er  in  seinen  ersten  Vortragen  fast  ausschlieBlich 
Arbeiterfragen. 

Aber  die  Arbeiter  trauten  ihm  nicht.  Sie  hatten  mit  der 
evangelischen  Staatskirche,  dem  geistlichen  Leibregiment  der 
Hohenzollern,  zu  lible  Erfahrungen  gemacht.  Sie  witterten 
unter  dem  Staatsbrot,  das  Stocker  zu  beschaffen  versprach, 
einen  Angelhaken.  Er  bekam  in  seine  Christlich-Soziale  Ar- 
beiterpartei  keine  Arbeiter.  Wenn  doch  ein  paar  kamen, 
so  waren  es  entweder  verdachtige  „Gelbe"  oder  geistig  trage 
Pietisten  oder  gar  Leute  so  wurmstichiger  Aft  wie  jener 
Schneider  Griineberg,  der  ein  paar  Monate  von  Stocker  als 
die  erste  Arbeiterschwalbe  gefeiert  wurdef  bis  er  unter  pein- 
lichen  Begleitumstanden  von  der  Bildflache  verschwinden 
mufltc. 

Was  Stockers  Versammlungen  fullte,  das  waren  die  Mas- 
sen  desselben  Mittelstandes,  der  heute  zu  Hitler  stromt.  Das 
waren  Studenten,  die  unter  dem  Banne  der  in  der  Tat  auBer- 
gewohnlichen  Redegabe  des  Hofpredigers  standen.  Das  waren 
altere  junge  Madchen,  zum  groBen  Teil  adligen  Gebluts,  die 
fur  ihn  als  Seelenarzt  schwarmten.  Alle  moglichen  Elemente 
waren  vertreten.     Nur  die  Arbeiter  —  vacat! 

Kurz  entschlossen  taufte  Stocker  seine  Christlich-Soziale 
Arbeiterpartei  in  Christlich-Soziale  Partei  um/  Und  paBte  sich 
seinem  Publikum  an.  Wenn  die  Arbeiter  nicht  zum  rropheten 
kommen,  dann  geht  der  Prophet  zu  den  Burgern. 

Diese  Kleinbiirger  aber,  die  das  Gros  der  Stockerschen 
Anhangerschaft  bildeten,  reagierten  auf  nichts  lebhafter  als 
auf  antisemitische  Redensarten.  Die  sozialen  Note  der  breiten 
Masse,  die  Stocker  in  die  politische  Arena  getrieben  hatten, 
waren  dem  politisch  ungebildeten  Mittelstande  ganz  gleichgul- 
tig.  Wenn  Stocker  sie  noch  hie  und  da  behandelte,  so  hflrten 
die  St8ckerianer  respektvoll,  aber  gelangweilt  zu.  Lebendig 
wurden  sie  erst,  wenn  antisemitische  Witze  kamen.  Geistig  zu 
trage,  um  uber  die  wirtschaftlichen  Grtinde  der  Notlage  des 
selbstandigen  Mittelstandes  nachzudenken,  waren  sie  heilfroh, 
einen  Siindenbock  gefunden  zu  haben,  Der  Jude  ist  schuldf 
Das  ist  eine  so  bequeme  Formel.  Da  braucht  man  das  eigne 
Kopfchen  nicht  weiter  anzustrengen. 

Stocker  war  durchaus  kein  Antisemit  im  volkischen  Sinne. 
Das  verbot  ihm  seine  Bibelglaubigkeit,  Dazu  war  er  auch  zu 
klug.  Aber  er  hatte  keine  sittlichen  Bedenken,  sich  die  antise- 
miti^chen  Instinkte  weiter  Volkskreise  nutzbar  zu  machen. 
Wie  er  denn  iiberhaupt  sehr  oft  den  Zweck  das  Mittel  heili- 
gen  HeB.     Er  wollte  rednerische  Erfolge  haben.     Und  weil  sie 

3  815 


am  sicherstcn  bei  antisemitischcn  Matzchen  sich  einstellten, 
so  wurdc  er  immer  mehr  aus  einem  ernsthaften  Sozialpolitikcr 
zu  einem  seichten  Nichts-als-Rhetoriker. 

Ubrigens  ging  es  ihm  auch  in  einem  andern  Punkt  ahnlich 
wie  Hitler;  Die  Rticksicht  auf  die  Geldgeber  spielte  eine  liber- 
ragende   Rolle. 

Nicht  etwa,  daB  er  Geld  fin*  seine  Person  angenom- 
men  oder  auch  nur  gebraucht  hatte.  Er  stand  sich  pekuniar 
glanzend,  da  seine  Frau  aus  reicher  Familie  stammte.  Wohl 
aber  brauchte  er  sehr  viel  Geld  fur  seine  kirchliche  Tatigkeit, 
besonders  seine  Stadtmission.  Die  Geldgeber  daftir  waren 
streng  kirchliche  Kreise  mit  konservativer  und  darum  durch- 
aus  antisozialer  Grundhaltung.  Diese  Kreise  waren  gewohnt, 
Almosen  geben  als  christlicne  Pflicht  anzusehen.  Ihnen  wider- 
strebte  aber  jede  Behandlung  der  Arbeiter  als  eines  gleich- 
berechtigten  Faktors  und  darum  jede  Gesetzgebung,  die  Rechte 
fur  die  Arbeiter  statuierte. 

So  dampfte  Stocker  seine  ursprunglich  sozial-radikalen 
Forderungen,  genau  wie  Hitler  das  auch  getan  hat  —  man 
braucht  sich  daruber  nur  bei  s  einem  friihern  Kampfgenossen 
Otto  StraBer  zu  erkundigen.  Nur  daB  Stocker  sich  seine  Geld- 
geber fur  die  Stadtmission  erhalten  wollte,  wahrend  Hitler  sich 
seine  Geldquellen  fiir  seine  Partei  nicht  verstopfen  mochte. 
Die  flieBen  aber  naturlich  nicht  fiir  irgendeinen  Sozialismus,  auch 
nicht  fiir  einen  sogenannten  nationalen,  sondern  nur  fur  eine 
Bewegung,  von  der  sich  die  Hintermanner  Spaltung  der  Arbei- 
terschaft  und  damit  Lahmlegung  der  Arbeiterbewegung  ver- 
sprechen. 

Hitler  hat  seit  September  1930  ungeheure  Wahlerfolge  zu 
verzeichnen  gehabt.  Stocker  sind  auch  nur  annahernd  ahn- 
liche  Erfolge  nie  beschieden  gewesen,  Warum  dieser  auffal- 
lige  Unterschied,  obwohl  doch  Stocker  der  weitaus  bedeuten- 
dere  Redner  war? 

Weil  Hitler  ein  organisatorisches  Genie  ist,  wahrend  Stok- 
ker  fur  Organisationsiragen  uberhaupt  kein  Verstandnis  und 
kein  Interesse  hatte. 

Stocker  hat  nie  begriff en,  daB  tausend  applaudierende  Ver- 
sammlungsbesucher  fiir  eine  Bewegung  viel  weniger  bedeuten 
als  zehn  organisierte  Mitglieder.  Wo  er  sprach,  und  er  sprach 
fast  taglich,  hatte  er  uberfiillte  Versammlungen.  Aber  ihn 
beschaftigte  nur  die  Saat,  nicht  die  Ernte.  Ihm  geniigte  die 
ZuStimmung.     Die  Mitgliederbewegung  war  ihm  gleichgultig. 

So  blieb  seine  Christlich-Soziale  Partei  immer  eine  Un- 
betrachtlichkeit,  wahrend  Hitler  den  Kern  erfaBt  hat:  der  Bei- 
fall  ist  Nebensache,  die  Bildung  von  straff  organisierten  Cadres 
und  Zellen  ist  die  Hauptsache. 

Man  tate  Stocker  unrecht,  wenn  man  zum  Vergleich  mit 
Hitler  nur  ihn  herausgriffe.  Der  Gesamtkomplex  der  antise- 
mitischen  Bewegung  der  achtziger  und  neunziger  Jahre  mutt 
mit  dem  Nationalsozialismus  in  Parallele  ge<stellt  werden. 

In  diesem  Gesamtkomplex  war  Stocker  nicht  bloB  der  be- 
gabteste  sondern  auch  der  relativ  anstandigste  Vertreter.  Als 
sein  Gegenpol  kann  jener  Rektor  Ahlwardt  genannt  werden, 
816 


der  es  mit  seiner  skrupellosen  Demagogic  sogar  fertig  brachte, 
bei  der  Reichstagswahl  in  Neustettin  iiber  Stocker  als  seinen 
Gegenkandidaten  zu  siegen. 

Ahlwardt  war  Rektor  a.  D„  was  seine  Anhanger  deute- 
ten:  Rektor  aller  Deutschenf  Er  war  nur  Demagoge  und  des- 
halb  reiner  Antisemit,  obne  jedes  hemmende  Beiwerk  eines 
positiven  oder  wcnigstens  scheinpositiven  Programms. 

Als  er  Neustettin,  so  ziemlich  den  ruckstandigsten  hinter- 
pommerschen  Wahlkreis,  erobern  wollte,  hielt  er  abends  immer 
Volksversammlungen  ab.  Am  Tage  aber  besuchte  er  mit  sei- 
nem  Sekretar  die  einzelnen  Bauerngehofte,  Von  jedem  Bauern 
lieB  er  sich  die  GroBe  seines  Besitzes  und  die  Ziffer  seines, 
Viehbestandes  nennen.  Dann  diktierte  er  in  Gegenwart  des 
Bauern  seinem  Sekretar;  „Bauer  A.  hat  hundert  Morgen,  zwei 
Pferde,  sechs  Stuck  Rindvieh,  acht  Schweine.  MuB  haben: 
vier  Pferde,  zehn  Stuck  Rindvieh,  zwanzig  Schweine/'  Und 
die  Bauern  glaubten,  wenn  sie  Ahlwardt  wahlten,  wurde  er 
dafiir  sorgen,  daB  ihr  Viehstand  durch  Gesetzgebungsakt  ent- 
sprechend  aufgefiillt  werde, 

Ahlwardt  war  beruhmt  geworden  durch  zwei  Broschiiren. 
Die  eine  hieB  f,Judenflinten"  und  stellte  die  Behauptung  auf, 
Isidor  Lowe  haben  einen  Teil  der  deutschen  Armee  mit  un- 
brauchbaren  Flinten  beliefert.  Die  andre  behandelte  den  an- 
geblichen  „Meineid  eines  Juden".  Der  angegriffene  Jude  war 
Bleichroderj  der  Bankier  Bismarcks, 

Naturlich  enthielten  beide  Schriften  nur  erlogenen  Unsinn. 
Aber  sie  wirkten  zunachst.  Ein  paar  Jahre  hindurch  war  Ahl- 
wardt der  zugkraftigste  Volksredner  Deutschlands,  dem  es  ge- 
lang,  in  zwei  Wahlkreisen  zugleich  gewahlt  zu  werden. 

Als  ein  gemaBigter  Antisemit,  der  Doktor  v*  Dallwitz,  ein- 
mal  Ahlwardt  aufsuchte,  um  sich  von  ihm  sein  Material  vor- 
legen  zu  lassen,  fand  er  dies  Material  durchaus  unzureichend. 
Er  machte  Ahlwardt  darauf  aufmerksam.  Dieser  entgegnete 
lachelnd:  „Wenn  ich  etwas  nicht  beweisen  kann,  behaupte  ich 
es  eben." 

Hitler  ist  eine  Mischung  von  Stocker  und  Ahlwardt.  Nur 
eins  kommt  bet  ihm  und  seiner  Bewegtmg  dem  Vorkriegsanti- 
semitismus  gegeniiber  als  vollig  neu  hinzu:  die  Propaganda 
der  Gewalttatigkeit,  Stocker  kampfte  gegen  die  angeblichen 
Auswuchse  des  Judentums.  Ahlwardt  forderte  Ausnahme- 
gesetze  gegen  die  Juden.  Selbst  der  extremste  Antisemit  hatte 
vor  dem  Kriege  nicht  die  Parole  auszugeben  gewagt:  „Kopfe 
mfissen  rollenl" 

Das  ist  das  schauerliche  Neue  an  dem  Antisemitismus  von 
heute,  Der  Krieg  hat  das  Menschenleben  um  seinen  Wert  ge- 
bracht.  Man  begniigt  sich  nicht  mehr,  den  politischen  Gegner 
zu  widerlegen.  Man  versucht,  ihn  niederzulegen.  Fruher  be- 
schrankte  sich  der  Demagoge  auf  Schimpfen  und  Verleumden. 
Heute  bereitet  er  planmafiig  die  physische  Vernichtung  derer 
vor,  die  anders  wollen  oder  anders  denken  als  er. 

flDer  Mensch  ist  dumm,"  uberschrieb  Charles  Richet  ein 
denkwurdiges.  Biichlein. 

Durch  den  Krieg  ist  die  Dummheit  der  Menschen  nicht 
kleiner,  ihre  Gemeinheit  aber  erheblich  groBer  geworden, 

817 


Ober  den  Schutzverband  ?o«  Robert  Breoer 

Wir  geben  hier  aus  Grunden  der  Loyalitat  aie  iuisicht 
Robert  Breuers  fiber  den  Konflikt  im  Schutzverband  wieder, 
ohne  uns  mit  seinen  Ausftihrungen  zu  identifizieren. 
P  s  ist  Zeit,  daB  der  Schutzverband  Deutscher  Schriftsteller 
wieder  Raum  und  Kraft  bekommt,  die  Interessen  der  deut- 
schen  Schriftsteller  gegeniiber  den  Arbeitgebern  wahrzuneh- 
men.  Die  wirtschaftliche  Lage  der  deutschen  Schriftsteller 
hat  sich  derartig  verschlechtert,  dafi  kein  Augenblick  mehr  ge- 
zogert  werden  darf(  urn  durch  sofortiges  Einsetzen  aller  or- 
ganisatorischen  Kraft  des  SDS  einer  weitern  Schrumpfung  des 
Arbeitsmarktes,  einem  weitern  Sturz  der  Honorare,  nicht  zu-* 
letzt  auch  dem  standig  zunehmenden  Verfall  der  Arbeitsbedin- 
gungen  entgegenzutreten.  Die  immer  schlimmer  werdenden 
Folgen  der  Wirtschaftskrise  mtissen  dazu  dienen,  die 
Bagatelle  einer  Verbandskrise  zu  iiberwinden.  Hierbei  diirfen 
weder  Sentiments  noch  Personenfragen  irgendeine  Rolle  spie- 
len.  Aber  ebensowenig  diirfen  kiinftighin  abseitige  Interessen, 
deren  sinnlose  Wahrnehmung  zu  den  Konflikten  innerhalb  des 
Verbandes  gefiihrt  hat,  noch  geduldet  werden.  Wenn  die  un- 
erfreulichen  Ereignisse  der  letzten  Monate  dazu  beigetragen 
haben  sollten,  zu  zeigen,  daB  der  SDS  nicht  in  Gruppen  zer- 
fallen  darf(  sondern  geschlossen  seine  gewerkschaftliche  Auf- 
gabe  zu  erfiillen  hat,  wird  auch  all  der  Larm,  der  verursacht 
worden  ist,  wird  all  die  Verwirrung,  die  angerichtet  wurde, 
schlieBlich  Klarung  und  Festigung  bedeuten. 

Zwei  Legenden  sind  auszuraumen,  eine  nebensachliche  und 
eine  beachtliche.  Nebensachlich  ist  die  Breuer-Legende;  aber 
es  muB  einmal  festgestellt  werden,  daB  die  „geheime  Diktatur" 
dieses  einen  Mannes  schlechthin  nicht  vorstellbar  ist.  Der 
Hauptvorstand  besteht  aus  mehr  als  zwei  Dutzend  Schrift- 
stellern  und  Schriftstellerinnen,  aus  selbstandigen  Kopfen,  die 
den  verschiedensten  Weltanschauungen  und  politischen  Lagern 
angehoren,  die  auch  keineswegs  gewillt  sind,  sich  vergewalti^ 
gen  zu  lassen.  Die  Mehrheitsbildung  innerhalb  dieses  Vor- 
standes  ist  keineswegs  leicht;  es  geschieht  selbstverstandlich 
nichts  und  es  kann  auch  nichts  geschehen,  was  nicht  durch 
MehrheitsbeschluB  geschieht.  Die  beachtliche  Legende  ist  die, 
daB  Kommunisten  im  SDS  nicht  geduldet  seien.  Das  war  nie- 
mals  die  Meinung  der  Mehrheit  und  war  im  besonderen  nie 
die  meine.  Richtig  ist  nur,  daB  die  Mehrheit  den  Standpunkt 
vertritt:  es  sei  keine  kommunistische  Sondergruppe,  iiberhaupt 
keine  politisch  oder  weltanschaulicb  gekennzeichnete  Sonder- 
gruppe  innerhalb  des  SDS  berechtigt,  Es  hat  audi  nie  eine 
andre  als  eben  die  kommunistische  Gruppe  gegeben. 

Unbegreiflich  ist,  was  diese  kommunistische  Sondergruppe 
eigentlich  erstrebt;  man  sollte  meinen,  dafl  es  ein  leichtes  sein 
miifite,  ihr  klarzumachen,  wie  wenig  es  sich  verlohne,  den  SDS 
zu  erobern.  Das  war  vielleicht  eine  Aufgabe  von  vorgestern; 
aber  das  ist  doch  unmoglich  noch  heute  sinnvoll. 

Tatsache  bleibt,  daB  jene  kommunistische  Sondergruppe 
es  verstanden  hat,  sich  zum  Kern  einer  Opposition  zu  machen; 
es  haben  sich  ihr  mannigfache,  berechtigt  oder  unberechtigt  un- 

818 


zufriedene  Gruppen,  Gruppchen  und  auch  Einzelpersonen  an- 
geschlossen.  Diese  Vereinigung  abcr  lebt  niir  vom  Negativen; 
sie  beharrt  nicht  im  Positives  Sehr  viele  Kollegen  und 
Kolleginnen,  die  sich  zur  Opposition  rechnen,  vcrtretcn  keinc 
kommunistischen  Forderungen;  das  weifi  die  zahlenmaBig  nur 
geringe  kommunistische  Zelle.  Und  so  ergibt  sich  die  Moglich- 
keit,  daB  die  spezifisch  kommunistischen  Forderungen  schlecht- 
hin  verdunsten;  vollzieht  sich  diese  Wandlung,  dann  haben  die 
Kommunisten  zwar  nicht  das  erreicht,  was  sie  gern  mochten* 
a'ber  sie  haben  sich  vielleicht  davon  tiberzeugt,  daB  fur  ihre 
Spezialwiinsche  keinerlei  Mehrheit  zu  finden  ist. 

Es  kann  im  SDS  nur  eine  Opposition  geben,  namlich  die, 
die  dem  Vorstand  und  dem  Geschaftsfuhrer  zu  geringe  Aktivi- 
tat  bei  der  Wahrnehmung  der  Wirtschaftsinteressen  der  Mit- 
glieder  vorwirft.  Eine  solche  Opposition  muB  und  wird  es 
immer  geben;  ihr  EinfluB  wird  um  so  groBer  sein,  je  besonne- 
ner  ihre  Forderungen  sind  und  je  klarer  sie  erkennt,  was  mog- 
lich  und  was  unmoglich  ist. 

Der  AusschluB  von  achtzehn  Mitgliedern  sollte  also  nicht 
Kommunisten  treffen,  noch  sonst  irgendwelche  Weltanschau- 
ung, •  sondern  allein  die  Unfahigkeit,  sich  in  eine  Organisation 
einzngliedern,  zugleich  die  Unfahigkeit,  im  Geiste  der  Organi- 
sation fruchtbare  Opposition  zu  sein.  Man  kann  mit  dem  SDS 
nicht  die  Notverordnungspolitik  der  Regierung  Briining  be- 
kampfen;  dazu  reicht  weder  die  Macht  noch  die  Bedeutung  des 
Verbandes  aus.  Man  kann  selbstverstandlich  protestieren, 
aber  man  muB  sich  dariiber  klar  sein,  daB  es  sich  bei  diesen 
Protesten  nur  um  dekorative  Gesten  handelt,  Jedenfalls,  alles, 
was  in  dieses  Kapitel  gehort,  ist  verhaltnisinaBig  nebensach- 
lich.  Entscheidend  bleibt  der  Wirtschaftskampf,  den  der  SDS 
fur  den  Einzelnen  und  zugleich  fiir  die  Gesamtheit  ftihren  muB. 
Wobei  die  Erkenntnis  nottut,  ,  daB  die  beste  wirtschaf tliche 
Sicherung  des  Schriftstellers  zugleich  die  beste  Sicherung  sei- 
ner geistigen  Freiheit  ist. 

Das  war  der  Standpunkt  des  SDS  vom  Tage  seiner  Grtin- 
dung  an;  auch  ich  habe  nie  einen  andern  Standpunkt  ver- 
treten,  dariiber  lesef  wer  sich  dafiir  interessiert,  die  Rede,  die 
ich  im  Jahre  1913  in  der  noch  nicht  ganz  vergessenen  Nacht- 
versammluhg  gehalten  habe  und  die  in  der  letzten  Nummer  des 
,Schriftstellers'  noch  einmal  abgedruckt  ist, 

Wer  zwanzig  Jahre  lang  in  der  gewerkschaftlichen  Arbeit 
steht  —  oder  in  etwas,  was  dem  immerhin  ahnlich  sieht;  denn 
der  SDS  ist  keine  vollkommene  Gewerkschaft  und  kann  keine 
sein  — ,  hat  keine  besonderen  Ehrgeize  mehr,  hat  viel- 
mehr  langst  die  Grenzen,  die  durch  die  harte  Welt  der  Tat- 
sachen  gesetzt  sind,  erkannt,  auch  die  der  personlichen  Wider- 
stande,  Solch  Zwanzigjahriger,  im  BewuBtsein  nichts  als  ein 
Funktionar,  hat  nur  eine  Sorge,  namlich  die,  daB  die  Organi- 
sation gefahrdet  oder  gar  zerstort  werden  konnte.  Hat  er  die 
GewiBheit,  daB  die  Organisation  gesichert  ist,  wird  er  keinen 
Augenblick  zogern,  den  Weg  fiir  neue  und  jiingere  Ideen  frei- 
zugeben.  So  denke  nicht  nur  ich,  so  denken  alle  unsre  Zwan- 
zigjahrigen,  und  deren  gibt  es  unter  denFunktionaren  undVor- 
standsmitgliedern   nicht   wenige.     Schutzverband  . . .    vorwarts! 

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Der  FHeger  kOtntnt!  von  Hermann  Kesser 

Ort:  Keller- Kaschemme 

Gastwirf  {hinter  dem  Biifett;  beteuernd):  Der  FHeger  kommt  an  I 
Euch  beeden  jesagt! 

Chauffeur:   Auch   bei   die    schlechte   Witterung? 

Monieur  fmiirrisch  fur  sich). 

Gastwirt:  In  der  internationalen  -  Metropol-Zeitung  stehtt  die 
neuen   Viktoria-Motoren   konnen   alles! 

Chauffeur:  Wat  sagt  denn  der  Rundfunk? 

Gastwirt:  Is  alle.  Jeht  nich  mehr,  Haben  heute  direkte  Be- 
lieferung  aus   die  Luft. 

Monteur:  Is  auch  jescheiter,  Du  besiehst  Dir  den  Zimmt  aus 
der  Nahel 

Chauffeur:  Wir  haben  schon  vor  ner  halben  Stunde  absitzen 
mussen!  Nirgends  keen  Durchkommen  nich  mehr!  Aile  machen  sie 
blaul    Alle  wollen   dabei  sein  I    Kost  ja  keen  Eintritt  nichl 

Gastwirt:  Will  eben  jeder  sein  Teil  fiirs  Jemiit! 

Chauffeur:  Wenn  son  Luftschiff  oder  sone  eiserne  F liege  am 
Himmel  stent,  da  hab  ich  eenfach  meine  Freude  im  Bauch! 

Gastwirt:  Jawolll  Det  streicht  mir  warm  ubers  Herz.  Da  is 
man  'n  Anderer,  Da  kommt  mer  raus  ausm  Keller.  (Auf  den 
Monteur):  Un  da  kann  mir  keener  dagegen  nischt  anhaben! 

Monteur  (zum  Wirt;  hohnisch,  irinkend):  Auf  deine  Bejeistrung 
und  auf  deinen  Verstehstel 

Chauffeur:  Ne  halbe  Stunde  von  ^Copenhagen  bis  da  —  da  is  man 
doch  platt!  Det  is  doch  wirklich  ne  Sache!  Da  mochts  eenem  ordent- 
lich  feucht  in  die  Oogen  kommen!  (Zum  Gastwirt):  Jehn  mer  noch 
immer  nich  rauf? 

Gastwirt:  Die  Alte  is  oben!    Die  kommt  uns  holenl 

Monteur:  Steht  seit  Stunden  uffm  Pflaster  mit  die  Weiber  vom 
janzen  Quartier  und  guckt  in  die  Wolkenl 

Chauffeur:  Dreihundertzwanzig  Kilometer  in  die  Stunde  machts 
aus,  wenn  mans  jenau  rechnet  — 

Gastwirt  (leise;  er griff ene  Stimme):  Dreihundertzwanzig  Kilo- 
meter — 

Chauffeur:  Det  schreibt  sich  mit  Buchstaben  aus  'm  groBen 
Alphabet  in  die  Jeschichte,  (Zum  Monteur):  Und  da  stehste  mit  fm 
Rucken   dazu? 

Monteur:  Nu  sei  schon  endlich  still  du  Dusell  Wat  meenste  — 
wirste  dir  besser  stehn,  wenn  de  nachstens  dreihundertzwanzig  Kilo- 
meter in  der  Stunde  fahrst? 

Chauffeur:    Ick?    Ick  —  besser  stehn?    Wees  ick  nich. 

Gastwirt  (auf  die  IMZ.  klopfend;  vorlesend):  «,  ,Gala-Vorstellung* 
der  nationalen  Flugtechnik  in  den  Ltiften,  auf  die  alle  Volksgenossen 
AnlaQ   haben   stolz   zu   sein"  —   steht   feschrieben! 

Monteur:  Et  steht  jeschrieben:  Als  Jesus  die  Lohne  derFahrer  und 
Beifahrer  sah,  jing  er  hinaus  und  weinte  bitterlich!  Und  von  seiner 
Begeisterung  iiber  die  Jeschwindigkeit  steht  nischt  1  Und  es  steht  je- 
schrieben: Sie  fuhren  auf  einer  Rutschbahn  immer  jeschwinder  in  Ar- 
beitslosigkeit,  Pleite  und  Hunger  hinein  —  und  wufiten  es  nich! 

Chauffeur:  Besser  steh  ick  mir  nich,  seit  wir  immer  jeschwinder 
fahren.  Det  is  wahr!  Morjen  stehn  sie  noch  mit  der  Stoppuhr  und 
rechnen  uns  die  Sekunden.  Heute  jehts  schon  nach  halben  Minuten, 
Wenn  de  krumm  jefahren  bist,  muBt  dus  holen!  Von  funf  Minuten 
an  is  Abzug  an  freie  Zeit! 

Gastwirt:  Det  jibt  sich  schon* 

Monteur:   Nischt    jibt   sichl 

Gastwirt:  Du  bist  eenfach  jejen  Maschinen! 

820 


Monteur  fbrUltend):  Ick  bin  fur  Maschinen!  Bin  selber  von  die 
Maschinel 

Exmittierter  (stiirzt  die  Kellertreppe  hemnter;  kracht  ein  Biindei 
mit  Habseligkeiten  zu  Boden;  legt  sich  iiber  den  Tisch;  verbirgt  das 
Gesicht). 

Gasfwirt  und  Monteur:  Magdeburgerl 

Monteur  ftritt  zu  ihm;  riittelt  ihn  hoch):  Hamse  dir  rausgesetzt? 

Exmittierter  (verkrampft;   erbittert):   Sone   Jemeinbeit ... 

Gastwirt  fstellt  ein  Glas  Bier  vor  ihn  hin):  Nimm  erst  mal 
eenen  druff! 

Exmittierter:  Jemeinheit!    Jemeinbeit  f 

Chauffeur:  Nu  schrei  doch  nicb  so!    Wat  is  denn  jewesen? 

Monteur:  Menscbf  Zieh  deine  Schrauben  zusammenf  (Ironisch): 
Se  baben  dir  rausjesetzt!  Det  muC  doch  so  sin.  Un  da  wunderst 
du  dir? 

Exmittierter:  Det  is  nicb  allesf 

Alle:   Nu   red   schon! 

Exmittierter:  Die  Frau  war  schon  weg.  Seit  drei  Tagen!  Is 
mitm  Kind  zur  Schwester  jejangen.  Ipk  hab  ja  gewuBt,  dafi  es  heut 
sein  muBte.  Die  Klamotten  waren  noch  da.  'N  Bett(  ne  Komode,  drei 
Sttihle  und  ne  Wiege.  Der  Gerichtsvollzieher  kommt  mit  seinem 
Fetzen  Papier.  Ick  sag,  ick  hab  keen  Geld  nich  ftirn  Mobelwagen. 
Er  jebt  raus.  Jeht  auf  die  StraBe.  Kommt  mit  zwei  Burschen.  Sie 
jrinsen  mir  an  und  tragen  mir  die  Klamotten  raus  —  uf'n  Hof.  Un 
wie  sie  jebn  sagen  se:  Dank  ooch,  Herr  Kollegef  Ick:  Wat  heefit 
det?  Sie  sagen:  Wir  sind  ja  im  gleichen  Spital  krank.  Wir  sind 
ooch  nur  zwei  Arbeitslose  un  rausgesetzt.  Jetzt  jebn  mer  sehn,  wo 
*n  Gerichtsvollzieher  ins  Haus  jeht  und  helfen  mitraussetzen  — 

Chauffeur:  So  weit  sin  mer  glticklich,  dafi  die  Arbeitslosen  von 
die   andern  Arbeitslosen   Arbeit  kriejen  miissenl 

Exmittierter  fwirft  sich  wieder  iiber  den  Tisch  und  schaut  nicht 
mehr  auf). 

Chauffeur:  Det  verstehste  nich.  Det  is  eben  die  neue  Ratio - 
nalisierung.     Det   is   das   laufende   rutscbende   Band. 

Gastwirt:  Mit  dem  laufenden  Band  bat  das  nischt  zu  tun  un 
ooch  nischt  mit  die  Rationalisierung.  Ihr  habt  nur  nich  jelesen, 
wat  der  Mister  Mangan  aus  die  vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika  auf  dem  internationalen  KongreB  zur  Untersuchung  gegen 
die  Arbeitslosigkeit  alles  Scheenes  jesagt  hat!  Ihr  konnt  det  alles 
nich   begreifen. 

Monteur  (schlcgt  ihm  die  Zeitung  aus  der  Hand):  Aber  du  hastn 
Begriffl  Wo  du  dir  durcb  das  Zeug  aus  der  Quasselmaschine  immer- 
weg  anschwindeln  lafitl 

Gastwirt:  Un  du  hast  en  Vogel  mit  deinem  Jehetz  gegen  Ma- 
schinen un  alles,  was  mit  die  Maschinen  is  I 

Monteur:  Ick  bin  schon  fttr  die  Maschinen!  Aber  nich  fur 
die  Maschinen,  die  uns  weiter  ins  Pech  fabren!  Un  nich  fiir  neue 
Maschinen  zum  Geldabknoppenf  Un  nich  fur  Maschinen  zum  Schrau- 
ben und  Pressen!  Soil  uns  doch  besser  jehn,  je  mehr  erfunden,  je 
mehr  Zeit  erspart  und  je  schneller  jefahren  wird!  Sonst  pfeif  ick 
auf   alle  Maschinen! 

Chauffeur:    Det    is  wahr!      Dagegen    kann    keiner   nischt    sagen! 

Monteur:  Die  nageln  uns  noch  'n  Rollschemel  unter  die  Fiifle, 
den  wer  nich  mal  in  der  Klappe  abnehmen  durfen!  Un  wers  nich 
aushalt,   wird   abjebautf 

Gastwirt:  Hat  alles   nischt   mit   dem  Flieger  zu  schaffen! 

Dieb  ftritt  ein;  Stimmung;  Begeisterung):  Nen  Helles!  Man  zu! 
So  en  Augenblick,  der  mufl  doch  jefeiert  wer  den! 

Gastwirt  fschenkt   ein):   Det   sag   ick   ooch! 

Monteur:  Jefeiert,   daB   de  aus  der   Haut   fahrst! 

821 


Dieb  (schluckweise  trinkend):  Wenn  ick  bei  sowat  dabei  bin,  dann 
bin  ick  einfach  stolz  darauf ,  jeboren  zu  seint  Da  geht  mer  . 'n 
Feuer  in'  Hals  I  Dat  darf  dann  wat  kostenl  Da  kommts  mer  oochuff 
en  zweites  Helles  nich  an  I  (Er  reicht  dem  Gastwirt  das  Glas;  laBt 
sich    nochmals    einschenken). 

Gastwirt  (etnschenkend):.  So  hab  ichs  jern.  Man  wird  sich 
doch  noch  iiber  was   freuen  durfen! 

Gastwirtsfrau  (  Papier  fahnchen  in  der  Hand;  mit  dem  sie  fort- 
ivahrend  winkt;  auf  der  obersten  Stufe  der  Kellertreppe;  ohne  her- 
unterzukommen;  schreit  entziickt):  Er  ist  da!  Sie  lauten  die  Glocken! 
Sie  singen!  Oberali  spielt  die  Musikel  (Einfallt  Lindbergh-Platte; 
Grammophon-Aufnahme  von  Lindberghs  Ankunft  in  New  York} 
Hurra!  Hurra!  Hurra!  (Sie  stiirzt  wieder  hinaut  auf  die  StraBe). 
Alte  sehen  sich  an. 

Gastwirt   (lauft    ihr    zuerst    nach). 

Ldrm  schwillt  an. 

Monteur  (wilt  den  Chauffeur  am  Arm  festhalten). 
IMrm  schwillt  weiter  an. 

Chauffeur   (schiittelt   den   Monteur  ab;   lauft  nach   oben). 

Monteur  (ein  paar  Schritte   hinter  ihm  her,  um  ihn  zuriickzuhal- 
ten;   bleibt   unter   der   Tiire   wiitend   und  wegwerfend   stehen). 
AuBen  maBloser  Begeisterungsldrm. 

Dieb  (hat  inzwischen  nur  darauf  gelauertt  ob  der  Exmittierte  den 
Kopf  hebt;  ist  am  Biifett,  seitlich  im  Schatten,  stehen  geblieben). 

Exmittierter  (hebt  langsam  den  Kopf;  hbrt  auf  den  Ldrm). 

Monteur  (ist  vor  die  Tiir  getreten;  schaut  zu  Boden;  mit  beiden 
Armen    den   Beifall    niederwinkend). 

Exmittierter  (steht  auf;  geht  langsam  zur  Tiire;  rasch  am  Mon- 
teur vorbei;  zieht  ein  schmutziges  Tuch,  und  lauft  mit  dem  Tuch 
winkend,    nach   oben  hinaus). 

Monteur  (zuerst  starr;  kopfschUttelnd;  setzt  sich  geschlagen  mit 
dem   Riicken   zur  Kaschemme   nieder). 

Dieb  (stiirzt  sich  auf  die  Kasse  im  Biifett;  leert  die  Kasse  aus; 
steckt  sich  die  Taschen  voll  und  verschwindet,  wdhrend  der  Ldrm 
auf  der  StraBe  immer  noch  wachstt  durch  eine  Seitentiire). 


MarattlOn-TanZ  von  Hans  Reimann 

Jutta  sagte,  wir  muBten  Mantel  anziehen,  und  Stefan  fiigtc 
hinzut  lctzte  Nacht  seien  unten  im  Garten  samtliche  Dah- 
lien  erfroren.  Ich  erwiderte,  so  arg  werde  es  nicht  sein,  denn 
Hagenbeck  habe  bestimmt  geheizt.  Aber  es  war  trotzdem 
ziemlich  kalt  im  Zirkus.  Nachmittagsvorstellung,  beangsti- 
gende  Fulle.  Wir  groBmoglig  in  eine  Loge  ganz  vorn.  Aller- 
dings  am  Eingang.  Dicht  neben  uns  ein  armseliges  Wesen 
ohne  Hande  und  Beine  im  Rollstuhl.  Oberhaupt  merkwiirdig 
viele  Kruppel  auf  den  teueren  Platzen.  Offenbar  Freikarten. 
Sehr  nett  von  Hagenbeck.  Ausgezeichnete  Dressuren,  Eine 
atemraubende  Luftnummer.  Romische  Gladiatoren.  Stefan 
barst  vor  Lachen,  als  sie  auftauchten,  Stefan  ist  vierzehn. 
Gymnasiast,  Jutta  und  ich  wurden  angesteckt  von  seiner 
Heiterkeit.  Na,  sowas  von  Gladiatoren.  Bestimmt  aus  Plauen 
Der  eine  Gladiator  wurde  bose  und  schoB  immerzu  giftige 
Blicke  nach  uns.  Unser^Gekicher  steckte  rundum  die  Zu- 
schauer  an.  Die  Nummer  versandcte  in  einer  Lachwelle.  Der 
Rumpf  neben  uus  im  Rollstuhl  war  begeistert  und  schrie  bravo. 
Applaudieren   konnte   er   ja  leider   nicht,     Dann   eine   Clown- 

822 


Szene.  Unter  den  Clowns  war  einMifigettim;  halb  Kopff  halb 
Mensch,  genau  fifty  zu  fifty..  Ich  kann  bci  dergleichen  keine 
Mienc  verziehen.  Aber  das  arme  Wesen  im  Rollstuhl  schrie 
sich  kaput t  iibcr  den  verungliickten  Zwerg.  Andre  Clowns 
kamen  dazu.  Mit  Eiern.  Mit  richtigen  Eiern.  Die  klatschten 
sie  sich  gegenseitig  auf.  die  Schadel,  und  das  sollte  nun  toll 
komisch  sein.  Manchen  schien  es  zti  gefallen.  Jutta  sagte  mit 
sozialem  Ton  in  ihrer  elfjahrigen  Kehle:  „Die  sind  doch  zum 
Essen!"  Natiirlich  sind  sie  zum  Essen;  Eier  sind  immer  zum 
Essen.  Mit  Ding  en,  die  zum  Essen  sind,  darf  man  heutzutage 
nicht  Schindluder  treiben.  Na  ja(  die  Eier  verschwanden,  und 
das  MiBgetum  verschwand  ebenfaJIs  mit  seinen  Kollegen.  Wir 
froren  wie  die  Schneider.  Jutta  bibberte  in  ihrem  dimnen 
Mantelchen.  Auf  einmal  fragt  mich  Stefan:  „Ob  der  noch  auf 
der  Fahnenstange  sitzt?"  Ich  frage  zuriick:  ,,Wer  auf  dcr 
Fahnenstange  sitzt?"  Stefan  und  Jutta,  gleichzeitig:  „Der  an 
der  Festhalle!"  Ich:  „Wer  an  der  Festhalle?"  Also,  kurz  und 
gut:  an  der  Festhalle  sitzt  einer  auf  der  Fahnenstange,  und 
in  der  Festhalle  ist  Marathontanz. 

Abends  war  ich  dort,  selbstverstandlich.    Gegen  neun. 

Tatsachlich,  da  safl  einer  auf  der  Fahnenstange.  Ted 
Stanley  nennt  er  sich.  Es  regnete,  und  kalt  wars  obendrein. 
Ted  saB  den  zehnten  Tag  auf  der  Fahnenstange  gegen  eine 
Gage  von  fiinfzig  Mark  pro  Tag.  Von  grellen  Scheinwerfern 
bestrahlt.  Und  durch  ein  Telephon  mit  der  Welt  verbunden. 
Mit  der  Welt?  Nur  mit  Frankfurt  am  Main.  (Vision.  Stanley 
junior  kommt  zur  Schule.  Der  Lehrer;  ^Nun,  mein  Junge,  was 
ist  denn  dein  Vater?"  Der  Kleine,  schwarmerisch:  ,tFabnen- 
stangensitzer,  Herr  Lehrerl"  GroCaufnahme:  der  Lehrer  sinkt 
in  Ohnmacht.  Abblenden.)  Kein  Mensch  kiimmert  sich  um  den 
Marathonsitzer.  Er  sitzt  so  fiir  sich  dahin.  Im  Regengeniesel. 
Vermittels  einer  Miniaturdrahtseilbahn  wird  ihm  des  Leibes 
Notdurft  hinaufgeleiert.  Hornhaut  umwuchert  ihn.  Zehnmal 
fiinfzig  macht  funfhundert  abziiglich  Agenturprovision  und 
Steuer. 

Ich  lose  eine  Karte.  Fiir  den  Marathontanz,  veranstaltet 
von  der  Ross  Amusement  Co.  und  betrete  die  Festhalle. 
Totenstille.  Wie  im  Grabeloch.  Kein  Laut.  Ich  schleiche  auf 
Zehenspitzen  naher.  Wo  sonst  die  Rennfahrer  st  ramp  ein, 
haben  sie  ein  Podium  errichtet.  Dutzende  von  Topfen  knallen 
ihr  Licht  auf  die  erhohte  Tanzflache.  Die  liegt  leer.  Bis  auf 
vier  Matratzengriifte.  In  den  vier  Matratzengriiften  schnarchen 
vier  Menschen,  zu  Klumpen  geballt.  Ich  halte  Umschau.  Am 
Kopfende  des  Podiums:  ein  Mikrophon,  eine  Kapelle;  weiter 
unten  zwei  Zelte,  eins  fiir  Herren,  eins  fiir  Damen.  Dariiber 
eine  riesige  Uhr.  Und  immer  noch  Totenstille.  Ich  erwerbe 
ein  Programm.  Und  lese:  ^Internationale  Dauer-Marathon- 
Tanz-Meisterschaft.  Sieger  der  Meisterschaft  ist  das  Paar,  das 
zuletzt  auf  dem  Tanzparkett  verbieibt.  Die  24  Teilnehmer 
tanzen  schon  iiber  250  St  linden.  Jeder  Besucher  ist  erstaunt 
uber  die  Ausgelassenheit  und  den  Humor  der  Paare,  die  all- 
abendlich  durch  ihre  Solovortrage  das  Haus  zu  Lachstiirmen 
hinreiBen . . .  Wie  lange  werden  sie  noch  tanzen?  Es  kann  jetzt 

823 


jeden  Tag  endcn,  da  die  mcisten  Tanzer  sehr  ermudet  sind. 
Kommcn  Sic,  und  spornen  Sie  unsre  Paare  zu  GroBleistungen 
an!"  Alles  schlaft,  einsam  wacht.  Totenstille.  Unheimlich. 
Ich  lese  weiter.  Die  offiziellen  Regeln:  „1,  Die  Teilnehmer 
miissen  sich  45  Minuten  in  der  Stunde  in  Tanzbewegung  hal- 
ten,  wahrend  die  iibrigen  15  Minuten  zum  Ausruhen  oder 
Schlafen  bestimmt  sind.  2.  Samtliche  Teilnehmer  sollen  stets 
ein  gesellschaftlich  wiirdiges  Aussehen  bewahren.  Die  Herren 
miissen  stets  rasiert  sein.  3.  Die  konkurrierenden  Paare  miis- 
sen die  Fiifie  wahrend  der  ganzen  Tanzdauer  in  Bewegung 
haben,  und  eine  Hand  des  einen  Partners  muB  immer  aui  dem 
Andern  ruhen.  4.  Tanzer,  die  wahrend  der  Tanzzeit  die 
Toiletten  aufsuchen  miissen,  erhalten  3  Minuten  Freizeit,  wo- 
fiir  sie  jedoch  wahrend  der  Ruhepause  5  Minuten  weiter  zu 
tanzen  haben.  The  -Ross  Amusement  Co."  Ich  mufl  mich 
setzen,  um  mein  gesellschaftlich  wiirdiges  Aussehen  zu  be- 
wahren. Mit  andern  Worten:  ich  trinke  einen  doppelten 
Kirsch,  Das  Fraulein,  das  mir  den  Schnaps  reicht,  sieht  aus 
wie  die  Tochter  yon  Grieneisen.  Ich  fuhle  mich  elend,  so 
mutterseelenallein  und  verlassen.  Ich  hocke  mich  hin  und 
sinne*  Wahrenddem  geht  die  Pause  zu  Ende.  Eine  schrille 
Pfeife  ertont,  aus  zahllosen  Lautsprechern  quakt  eine  Stimme, 
um  mich  herum  johlts  und  larmt  es,  ich  hore  Schreie  und 
gellendes  Gequiek,  ich  starre  ins  Dunkel  iiber  mir:  Tausende 
hocken  da,  Kopf  an  Kopf,  die  Range  gepflastert  mit  Publikum, 
haibdunkel  und  verschwommen,  ein  Albdruck.  Ich  tappe  eine 
Treppe  hinauf.  Da  hocken  sie.  Sie  haben  sich  hauslich 
niedergelassen  und  dem  schabigen  Leben  Valet  gesagt.  Sie 
glupschen  wie  wilde  Tiere  und  grunzen  vor  Wollust.  Meines- 
gleichen,  deinesgleichen.  Ich  schame  mich.  Bekannte  winken. 
Ich  tue  keB  und  winke  fidel  zuriick.  Die  Kapelle  schmettert. 
Der  Conferencier  quatscht.    Und.  auf  dem  Podium? 

Auf  dem  Podium  schleichen  Lemuren,  ineinander  verhakt, 
zermiirbte  Gestalten  —  in  grauenerregendem  Widerspruch  zur 
ubermiitig  aufpeitschenden  Musik.  Sie  schieben,  taumelni 
glotzen  apoplektisch,  kleben  schleimig  zusammen,  die  Weiber 
in  wollenen  Jumpern  und  mit  nackten,  diirren  Beinen  und 
schwappenden  Busen,  die  Herren  wie  gedemutigte  Strizzis,  in 
der  treien  Hand  eine  Zigarette,  die  hin  und  wieder  zu  einem 
Lungenzug  herhalten  muB ...  so  schlurfen  sie,  Blasen  an  den 
FiiBen  und  keimenden  Wahnsinn  im  Hirn,  schlapp  und  mat- 
schig,  elend,  siech,  verfallen,  aus  dem  Leim  gegangene  Eben- 
bilder  Gottes ...  so  wanken  sie  numeriert  dahin  und  sind  vor 
Abgespanntheit  dermaBen  blod,  daB  sie  gar  nicht  auf  den  Ein- 
fall  kommen,  einen  Tanzschritt  zu  tun.  Was  sind  das  fur 
welche?  Das  Programm  gibt  Auskunft:  „264.  Stunde.  Sar- 
toris,  Italien  —  Sartoris,  England  —  beide  Tanzer  sind  wieder 
sehr  miide,  Farrudgia,  Spanien  —  Moulis,  Spanlen  —  die  Form 
dieses  Paares  ist  nicht  gut.  Neidhart,  Deutschland  —  Irma  War- . 
zelhan,  Deutschland  —  bei  Fraulein  Warzelhan  haben  sich  die 
FuBbeschwerden  gebessert,  Rene  Ray,  Belgien  —  Loulon  Rycke- 
waert,  Frankreich  —  die  Tanzerin  leidet  an  FuBbeschwerden. 
Max,  Ruflland — Nina,  RuBland  —  die  Form  dieses  Paares  bleibt 
gut.  Kaledjian,  Armenien — Erna,  Deutschland  —  Erna  war  in 
824 


letzter  Nacht  sehr  matt  infolge  der  ofteren  Stiitzung  ihres 
Tanzers.  Bill  Mc  Daniel,  Amcrika — Zette,  Frankreich  —  die 
schlechte  Form  des  Tanzers  halt  an.  Henri  Cesar,  Belgien — 
Trocme\  Frankreich  —  das  Paar  bleibt  eine  Oberraschung  in- 
folge des  steten  Durchhaltens.  Kurt  Bliindauer,  Deutschland — 
Lydia  Rosselet,  Deutschland  —  der  Tanzer  ist  sehr  miide  ge- 
worden.  Leon  Lee,  RuBland— Sainte-Marie,  Frankreich  —  die 
Tanzerin  zeigt  Ermudungserscheinungen.  Rostaing,  Frankreich — 
Hamlet,  Frankreich  —  das  Paar  scheint  auf  ein  gutes  End- 
ergebnis  hinzuarbeiten.  Danille,  Belgien — Keyta  Piitz,  Deutsch- 
land —  Danille  isCin  den  fruhen  Morgenstunden  au  13 erst  miide, 
und  seine  Partnerin  muB  ihn  sehr  aufmuntern.'*  Achtzehn 
Paare  sind  bereits  ausgeschieden,  die  meisten  mit  dem  Zusatz 
„Deutschland'\  Harold  J.  RoB  fungiert  als  Hauptrichter, 
Hans  Broich  als  Conferencier  VerheiBen  werden  als  erster 
Preis  zweitausend,  als  zweiter  tausend  und  als  sechster  hun- 
dertfiinfundzwanzig  Mark.  Unversehens  flammt  ein  Blitzlicht  auf, 
und  der  Conferencier  verkiindet,  die  Firma  Ickelsheimer  in  der 
GoethestraBe  habe  der  besten  Tanzerin  einen  Kodak  gestiftet. 
Daraufhin  reiBen  sich  zwei,  drei  Paare  hoch  und  tanzen  wie 
verzweifelt,  um  sich  aus  ihrer  Starre  zu  befreien.  Und  auch 
wegen  der  Pramie.  Eine  Dame  spendet  ftinf  Mark.  Das 
Sport  ha  us  Knodelmann,  Neue  Mainzer  LandstraBe*  betei- 
ligt  sich  mit  einer  Rodelausriistung.  Fraulein  Zette  legt  einen 
Solotanz  hin  und  geizt  nicht  mit  Temperament.  Die  restlichen 
dreiundzwanzig  Marathonisten  setzen  der  Zeitlupe  die  Krone 
auf.  Fraulein  Zette  wird  geknipst.  Es  folgt  ein  Rumba,  immer 
noch  vorteilhafter  als  Weltkrieg,  aber  idiot isch  genug.  Aus 
den  Lautsprechern  quackert  die  Stimme  des  Conferenciers. 
Elf  Paare  schwanken  im  Schneckentempo  voriiber,  das  zwolfte 
hupft  he  rum,  als  gelte  es  die  Seligkeit,  Von  Rang  und  Galerie 
hagelt  der  Beifall.  Trillerpfeife.  FiLnfzehn  Minuten  Pause.  Der 
Conferencier  bittet  um  auBerste  Ruhe.  Vier  vorher  ausge- 
wahlte  Tanzerinnen  durfen  droben  bleiben,  die  ubrigen  ver- 
schwinden  in  ihre  Zelte  wie  ins  Mausoleum. 

Die  vier  jedoch  sinken  auf  die  Matratze,  eine  mit  dem  Ge- 
sicht  in  die  Kiss  en,  eine  verquer,  die  dritte  mit  den  Beinen 
fibers  Kopfende,  die  vierte  halb  daneben.  Pflegerinnen  be- 
freien die  sofort  Eingeschlafenen  von  Schuhen  und  Sockchen, 
mummen  sie  ein  in  dicke  Decken  und  legen  kalte  Kompressen 
auf  ihre  Stirn.  Die  Kapelle  schweigt,  der  Conferencier 
schweigt,  das  Publikum  schweigt.  Nur  in  der  Feme  schimpft 
Harold  J.  RoB  auf  echt  Amerikanisch,  Langsam  riickt  der 
Uhrzeiger.  Niemand  riihrt  sich.  Dreizehn  Minuten.  Vierzehn  Mi- 
nuten.  Ftinfzehn  Minuten.    Trillerpfeife, 

Und  nun  der  Clou,  die  Sensation,  der  GipfeL  Das  Publi- 
kum stiert  mit  freBliisternen  Augen.  Rang  und  Galerie  kn  is  tern 
vor  GenuBsucht.  Tausende  halt  en  erwartungsgeil  den  At  em  an. 
Die  vier  armseligen  Geschopfe  werden  geweckt.  Sie  sind  nicht 
zu  wecken.  Aber  sie  mussen  geweckt  werden.  Also  werden 
sie  geweckt,  geknufft,  vom  Lager  gezerrt,  auf  die  saueren 
Beine  gestellt  —  und  schmelzen  im  Nu  zu  klaglichen  Haufen 
zusammen.  Die  Menge  wiehert  vor  Wonne.  Die  Haufchen 
werden   aufgerichtet   und  wie   Sacke  geschiittelt.    Die  Menge 

825 


trampelt  und  rast  vor  Begeisterung,  Die  PHegerinnen  stieben 
da  von.  Drei  von  den  Frauenzimmern  liegen  wie  hingehext  auf 
ihren  Betten.  Gott  mag  wissen,  wie  sie  dahin  gelangt  sind. 
Eben  noch  standen  sie  startbereit  am  Rande  der  Tanzmanege. 
Schon  traumen  sie  wieder.  Die  iibrigen  Herrschaften  werden 
hereingetrieben.  Wie  Vieh,  das  Opium  genascht  hat/  Rang 
und  Galerie  johlen  und  grohlen.  Etliche  Zeitgenossen  fiihlen 
sich  erfolgreich  in  ihre  Militarzeit  zuriickversetzt  und  kom- 
mandieren  wie  Feldwebel  das  Aufstehn*  Der  Conferencier 
mischt  sich  hinein*  Von  der  Kapclle  wird  ein  Foxtrott  her- 
untergefetzt.  Lakaien  der  Amusement-Gesellschaft  raumen  die 
Lagerstatten  fort.  Drei  Weiber,  miflratene  Briefbeschwerer, 
schlummern  hingestreekt  am  Boden,  Die  Partner  treten  m 
Tatigkeit,  winden  die  Damen  hoch  und  schrauben  sie  am  eige- 
nen  Korper  fest.  Eine  verliert  den  Halt  und  plumpst  lange- 
tang  hin.  Eine  Orgie  von  Hollengelachter  brandet  durchs 
Haus.  Hutsalon  Lobl  schickt  eine  Pelzkappe  als  Pramie,  Es 
wird  weiter  geschlichen,  geschwitzt,  gefroren,  gedost,  getanzt. 

454  Stunden  dauerte  die  Veranstaltung.  Erster  Preis: 
Rostaing — Hamlet;  zweiter:  Sartoris — Sartoris;  dritter:  Cesar — 
Tforocme.  Wunschgemafi  sanken  die  Paare  zu  Boden,  und  dann 
schritt  die  Polizei  dazwischen.  Hundertzehntausend  Personen 
haben  dem  Marathonfest  beigewohnt  und  haben  Beifall  gezollt 
und  Pramien  geopfert,  haben   gewiehert   und  gehohnt. 

Denn  der  Mensch  stammt  keineswegs  vom  unrasierten  und 
dennoch  gesellschaftlich  wtirdigen  Affen  ab,  sondern  von  der 
Hyane. 

Sie,  ZUihm  von  Theobald  Tiger 

Ich  hab   dir  alles  hingegeben: 

*  mich,  meine  Seele,  Zeit  und  Geld. 

Du  bist  ein  Mann   —  du  bist  mein  Leben, 
du  meine  kleine  Unterwelt. 

Doch  habe  ich  mein  Gliick  gefunden, 
seh  ich  dir  manchmal  ins  Gesicht; 
Ich  kenn  dich  in  so  vielen  Stunden  — 
nein,  zartlich  bist  du  nicht. 

Du  kufit  recht  gut.     Auf  manche  Weise 
zeigst  du  mir,  was  das  isti  Genufi. 
Du  horst  gem  Klatsch.     Du  sagst  mir  leise, 
wann  ich  die  Lippen  nachziehn  muB. 

Du  bleibst  sogar  vor  andern  Frauen 

in  gut  gespieltem  Gleichgewicht; 

man  kann  dir  manchmal  sogar  trauen . . . 

aber  zartlich  bist  du  nicht. 

O  warst  du  zartlich! 

Meinetwegen 
kannst   du   sogar  gefuhlvoll   sein. 
Mensch,  wie  ein  warmer  Fruhlingsregen 
so  hullte  Zartlichkeit  mich  ein! 

Warst  du  der  Weiche  von  uns  beiden, 

warst  du  der  Dumme,    Bube  sticht. 

Denn  wer  mehr  liebt,  der  mufl  mehr  leiden. 

Nein,    zartlich  bist    du    nicht. 
826 


EinertnufigeschlachtetwerdenljanBargenhoseii 

r\er  ReSchskanzler  hat  eine  Bataille  verloren.  Das  ist,  nach 
^  dem  diirftigen  Ergebnis  der  Axbeiten  dcs  von  hoher  Hand 
feierlich  eingesetzten  Wirtschaftsbcirats,  nicht  im  geringsten 
mehr  strittig.  Fraglich  bleibt  nur:  ist  auch  heute  wieder  Riihe 
die  crste  Biirgerpilicht  — ? 

Ganz  so  schlecht,  wie  es  die  Historie  gemacht  hat,  ist 
jenes  Wort  von  der  ersten  Pflicht  —  der  Pflicht,  die  Nerven 
in  Zucht  zu  halten  —  ja  nicht.  Aber  es  gibt  Zeiten,  es  gibt 
Augenblicke,  in  denen  es  die  hohere  Vcrnunft  erfordert,  in 
Zorn  und  Eifer  aufzubegehren  und  dazwischen  zu  schlagen;  e& 
gibt  Konstellationen,  in  denen  nur  jener  den  Kopf  nicht  ver- 
liert,  der  nie  einen  besessen  hat.  Gabe  es  in  Deutschland  ein 
Biirgertum,  das  das  Bild  seiner  Zukunft  aus  dem  seiner  Ver- 
gangenheit  gewinnen  konnte,  gabe  es  noch  Leutej  die  ehrlicb 
an  die  Dauer  der  privatkapitalistischen  Wirtschaftsorgani- 
sation  glaubten,  so  miiBten  sie  heute  voller  Emporung  gegen 
das  nichtssagendie  und  obendrein  schlecht  stilisierte  Dokument 
protestieren,  das  sich  „Leitsatze  des  Beirats''  nennt. 

Aber  es  gibt  keine  solchen  Proteste.  Es  gibt  nur  eine 
,,schlechte  Presse".  Das  Biirgertum,  der  Trager  und  Nutz- 
nieBer  der  siech  gewordenen  Wirtschaftsform,  emport  sich 
nicht  iiber  die  miserable  Art,  in  der  seine  Beauftragten  die 
Geschafte  ftihren.  Es  sieht  noch  nicht  einmal,  welch  unge* 
heure  Chance  hier  gegeben  war:  daB  in  einer  Stunde,  in  der 
alle  gegnerischen  Krafte  unschliissig  und  planlos  den  Gegen- 
stoB  verzogern,  die  hochste  Autoritat  der  Republik  zur  Ver- 
teidigung  des  bestehenden  Zustandes  in  tatkraftiger  Reform- 
arbeit  aufgerufen  hat.  Welche  Krafte  will  man  denn  noch: 
mobilisieren,  um  den  Verfall,  das  Absinken  in  abenteuerliche 
Experimente,  Autokratie  und  Inflation,  zu  verhiiten  —  auf 
welche  Wunder  wartet  man  dcnn  noch?  War  es  denn  wirklich 
so  ganz  unmoglich,  den  braven  Mannern  des  Beirats  ein  paar 
schlagkraftige  Formulierungen  in  den  Mund  zu  legen,  die  den 
Willen  zur  wiederherstellung  von  Treu  und  GJauben  zugleicb 
dokumentierten  und  starkten? 

Nichts  davon  ist  geschehen.  Trocken  und  ohne  Oberzeu- 
gungskraft  sind  diese  „Leitsatze'\  Den  nationalsozialistischen 
Schaumschlagern  iiberlaBt  man  das  Feld.  Sie  konnen  beides, 
sie  schmeicheln  der  Hoffnung  auf  eine  bessere  Zukunft,  wenn 
auch  nur  mit  den  vagen  Konstruktionen  einer  neuen  „Planung'Y 
und  sie  kommen  gleichzeitig  den  im  Volke  versteckten  Sehn- 
siichten  entgegen,  die  eine  Riickkehr  zur  Rechtschaffenheit,  zu 
gerechtern  und  anstandigeren  Formen  der  Wirtschaft  wunschen*. 

* 

Es  ist  wirklich  schwer  verstandlich,  warum  die  Arbeiten 
des  Beirats  nur  ein  solch  diirftiges  Ergebnis  gebracht  haben. 
Die  Vertreter  der  Gewerkschaften  waren  zu  wirklichen  Opfern 
bereit.  Sie  hatten  einer  Rekonstruktion  des  „freien"  kapi- 
talwirtschaftlichen  Mechanismus  zugestimmt,  einer  volligeri 
Ausschaltung  des  staatlichen  Eingreifens,  selbst  durch  Verzicht 
auf  den  „politischen  Lohn",  auf  die  staatliche  Schlichtertatig- 

82T 


keit  bei  der  Festsetzung  des  Arbeitsverdienstes,  Unter  einer 
Voraussetzung  freilich  nur:  daB  dann  auch  die  politischen. 
Prcisc  fallen  miiBten,  namlich  der  Rechtsschutz  fiir  die  groBen 
Kartelle    und  der  Zollschutz  fiir  die  kartellgebundenen  Preise. 

Aber  hier  widersprach  die  Schwerindustrie,  das  Monopol- 
kapital.  Speziell  die  Herren  von  Kohle  und  Eisen.  Sie  wollen 
das  System  der  politisch  geschutzten  Preise  nicht  aufgeben, 
auch  nicht  urn  den  Preis  der  freien  Lohngestaltung.  (Vielleicftt 
mit  dem  Hintergedanken,  daB  mit  der  geforderten  und  zuge- 
standenen  ,fgr6Bern  Elastizitat  in  der  Tariflohnpolitik"  ein 
Lohnabbau  bis  zur  Grenze  des  politisch  uberhaupt  Moglichen 
auch  ohne  Gegenleistung  erreicht  werden  konne,)  So  wird  der 
einzig  mo g lie  he  und  sinnvolle  Preisabbau  auf  industriellem  Ge- 
biet  (von  den  Lebensmittelpreisen  wird  gleich  noch  zu  reden 
sein)  ein  halber  Kram  bleiben,  namlich  der  Abbau  der  kar- 
tellierten  Eisen-  und  Kohlenpreise.  Fiir  die  tibrigen  Industrie- 
waren  —  ein  paar  ausgenommen:  Zement,  Ziegel,  Glas,  Kali, 
Stickstoif,  Phosphorsaure,  Benzol  Papier  —  lohnt  sich  eine 
Preisabbauaktion  nicht,  hochstens  eine  Zollsenkung  ist  notig, 
denn  dort  herrscht  mehr  oder  weniger  doch  der  freie  Markt, 
und  nicht  der  Kartellpreis, 

Nun  wird  also  der  Druck  der  wirtschaftswidrig  uberhohten 
Kohlen-  und  Eisenpreise  weiter  lahmend  auf  der  gesamten 
Wirtschaft  lasten.  Warum  eigentlich?  Nicht,  damit  die  Ge- 
winne  des  Kapitals,  die  Dividenden,  weiter  HieBen  —  liber 
diesen  Zustand  sind  wir  lange  hinaus.  Sondern  nur  deshalb, 
damit  ein  paar  Montankonzerne,  die  innerlich  langst  kaputt 
sind,  in  ihrer  Scheinexistenz  weiter  bestehen  —  damit  die 
GroBbanken  nicht  gezwungen  sind,  die  aus  der  Oberschuldung 
jener  Konzerne  resultierenden  Verluste  offenzulegen  —  damit 
die  Beherrscher  jener  Konzerne  noch  eine  Weile  geschont 
werden  konnen.  Vielleichtt  daB  sie  doch  noch  ein  paar  Mil- 
lionen  mehr  ins  Ausland  verschieben  konnen,  ehe  der  Bankroit 
offensichtlich  wird.  Vielleicht,  daB  neben  dem  bereits  ge- 
schaftlich  interessierten  amerikanischen  nun  doch  nocht  in 
letzter  Minute,  auch  das  politisch  interessierte  franzosische 
Kapital  herangezo^en  werden  kann,  damit  sich  so  ein  volliges 
Debakel  vermeiden  laBt . , ,  Auch  in  den  Burgen  an  der  Ruhr 
hofft  man  auf  Wirtschaftswunder. 

* 

Weil  es  korrupte  Elemente  in  der  deutschen  Handels- 
journalistik  gibt,  die  sich  nicht  —  was  allenfalls  vertretbar  ist 
—  damit  begniigen,  die  schlimmsten  Wahrheiten  vorlaufig  noch 
vor  der  groBen  Offentlichkeit  zu  verschweigen,  um  so  eine 
Panik  zu  vermeiden  —  weil  es  solche  Elemente  gibt,  die  wider 
besseres  Wissen  Schonfarberei  betreiben:  deshalb  ist  es  notig, 
einmal  Fraktur  zu  reden.  Es  muB  gesagt  werden,  daB  Fried- 
rich  Flick,  der  Beherrscher  des  Stahlvereins  —  trotz  seinem 
angeblich  1(krisenfesten"  Besitz  im  Siegerland  —  in  einer 
vollig  iiberschuldeten  Position  siizt  (was  Bernhard  Citron  neu- 
Uch  nier  schon  im  Einzelnen  ausgefiihrt  hat)  und  daB  die  Angst 
der  Banker^  bei  seinem  Sturze  zu  viel  zu  verlieren,  heute  sein 
wichtigstes  Aktivum  ist.     Es  muB  weiter  gesagt  werden,  daB 

828 


derselbe  Friedrich  Flick  fiir  die  langfristigen  Erzlieferungsver- 
trage  vcrantwortlich  ist,  die  von  den  deutschen  Eisenprodu- 
zenten  mit  der  schwedischen  Grangesberj-Gesellschaft  abge- 
schlossen  worden  sind  —  und  daB  diese  Vertrage  es  sind,  die, 
mehr  als  die  stets  beklagten  ,,hohen  Lohn-  und  Sozialkosten", 
die  Eisenerzeugung  zur  Unrentabilitat  verdammen.  Diese  Ver- 
trage, -die  den  Schweden  fur  die  Mehrzahl  der  Lieferungen 
einen  vollig  ungerechtfertigten  Gewinn  aus  der  Entwertung  des 
englischen  Pfundes  und  der  schwedischen  Krone  (oder,  anders 
ausgedriickt,  aus  der  relativen  Oberbewertung  der  hoch- 
valutarisch  und  „goldwertig"  gebliebenen  Mark}  in  den  SchoB 
werfen,  weil  sie  keine  verniinftige  Preissenkungs-  oder  Valuta- 
klausel  enthalten,  verdammen  uns  zur  Aufrechterhaltung  der 
uberhohten  Eisenpreise. 

Will  man  wirklich  den  Preisabbau  —  der  notwendig  ist, 
im  bittersten,  wortlichen  Sinne  des  Wortes  —  tind  will  man 
ihn  nicht  iiber  den  Ausweg  der  Inflation,  der  praktisch  nicht 
gangbar  ist,  und  auch  nicht  mit  Hilfe  des  riskanten  Kunstgriffs 
der  Devalvation,  dann  muB  man  sich  dariiber  klar  sein,  daB 
es  ohne  eine  radikale  Abwertung  der  in  der  Schwerindustrie 
investierten  Kapitalien  nicht  abgeht.  Dieser  Kapitalschnitt 
wird  eine  Operation  auf  Tod  und  Leben  sein  —  ein  Kaiser- 
schnitt,  urn  neue,  lebensfahige  Wirtschaftsgebilde  aus  dem  von 
Krisenwehen  geschiittelten  Korpus  der  Montanindustrie  zu 
entbinden,  Und  urn  so  besser,  wenn  bei  dieser  Operation 
gleichzeitig  ein  paar  der  recht  bosartig  gewordenen  General- 
direktoren-Tumore    mit   herausgeschnitten    werd'en! 


Wie  man  eine  Kapitalabwertung  in  der  Praxis  durchfiihrt 
—  namlich  durch  Abschreibung  ertragloser  Kapitalien,  durch 
Beseitigung  nicht  mehr  einzutreibender  Schuldforderungen  — 
dafiir  bietet  die  letzte  Osthilfe-Notverordnung  ein  ganz  hiib- 
sches  Beispiel.  Ihr  Vater,  der  letzternannte  Reichsminister 
und  Ostkommissar  Schlange-Schoningen,  ist  zwar,  bei  aller 
Fixigkeit  des  Handelns,  ein  iiberlegsamer  Mann,  er  wird  sich 
aber  doch  schwerlich  im  Moment  seiner  Aktion  bereits  klar 
dariiber  gewesen  sein,  was  er  nun  eigentlich  angerichtet  hat. 

Der  ProzeB  der  Abwertung  fiktiver  Kapitalien,  einmal  be- 
gonnen,  laBt  sich  weder  beim  Gutsbesitzer  noch  an  der  Elb- 
Linie  abstoppen;  er  muB  weiterlaufen,  sein  Beispiel  muB,  ganz 
von  selbst,  anderswo  nachgeahmt  werden:  beim  Handel,  bei 
den  Banken,  den  Genossenschaften  und  Sparkassen,  schlieB- 
lich  bei  der  Industrie.  Das  wird  ira  Osten  anfangen  und  an 
der  franzosischen  Grenze  aufhoren  —  vielleicht  geht  es  auch 
iiber  die  deutschen  Grenzen  hinaus;  in  dem  Zwang,  auch  die 
deutschen  Auslandsverpflichtungen  teilweise  abzuwerten,  Mit 
neuen  Schatzanweisungen  des  Reichs  und  mit  Erleichterung 
der  Kreditfazilitaten  durch  die  Reichsbank  laBt  sich,  wenn  es 
jetzt  mit  der  Offenlegung  der  Kapitalverluste  Ernst  wird,  die 
Geschichte  diesmal  nicht  verkleistern,  die  Illiquiditat  nicht  be- 
heben.  Denn  wenn  man  damit  anfangen  wollte,  die  Verpflich- 
tungen  bankrotter  Schuldner  auf  die  offentliche  Hand  und  auf 

829 


die  Reichsbank  zu  tibertragen,   dann  wiirde  man  bald  sehen, 
was  das  bedeutet.     Inflation  namlich. 

Der  HaushaltsausschuB  des  Reichstags,  der  die  Osthilfe- 
Verdrdnung  durchberaten  und  ein  wenig  korrigiert  hat,  ist  frei- 
lick  nicht  soweit  gekommen,  von  den  Konsequenzen  zu  reden. 
Es  wurde  da  zumeist  leeres  Stroh  gedroschen;  der  Reichs- 
finanzminister  a.  D.  Doktor  Hilferding  beispielsweise  hielt 
eine  Rede,  in  der  er,  ungemein  geistreich,  die  ,,entschadigungs- 
lose  Enteignung"  der  Glaubiger  beklagte  und  die  Osthilfe-Rege- 
lung  mit  sowjetrussischen  Methoden  verglich.  Wobei  er  nur 
dem  Hansabund-Fischer  das  Stichwort  zu  einem  auf  den 
gleichen  Ton  gestimmten  ^Protest"  gegen  Schlange-Sehonin- 
.  gens  Werk  gab.  DaB  das  Osthilfeverfahren  der  kapitalisti- 
schen  Logik  entspricht,  auch  grade  darin,  daB  es  die  bloB  noch 
formalen  Rechtsbindungen  zwischen  Glaubiger  und  Schuldner 
als  quantite  negligeable  beiseite  schiebt  („germanisches  Rechts- 
empfinden  gegen  starres  romisches  Schuldrecht"  —  wer  sagte 
doch  das  noch?).  Davon  wissen  die  Troubadoure  des  Ka- 
pitalismus  kein  Lied  zu  singen.  Und  sie  sehen  gleichfalls  nicht, 
daB  mit  der  Befreiung  von  den  „iiberhangenden"  und  nicht 
mehr  von  der  ,,Substanz"  und  der  Rente  gedeckten  Kapital- 
und  Schuldverpflichtungen  der  Weg  zur  Preissenkung  auch  in 
der  Landwirtsohaft  frei  wird.  Die  Oberkapitalisierung  und 
Oberschuldung  war  das  Korrelat  kiinstiicher,  politisch  iiber- 
hohter  Preise.  Mit  der  Abwertung  kommt  die  vernunftige 
Preisentwicklung,  und  mit  dem  Preiszusammenbruch  kommt 
die  Abwertung.     Das  sind  nur  zwei  Seiten  einer  Sache. 

Der  SchmelzprozeB,  dem  die  Preise  in  aller  Welt  unter- 
worfen  sind,  hat  ebenso  die  Rente  und  die  Substanz,  die  In- 
karnatioh  der  Rente,  erfafit.  Die  auf  feste  Nominalbetrage 
lautende  kapitalmaBige  Bewertung  der  Substanz  wird  in  die- 
sen  ProzeB  mit  hineingezogen;  auch  das  Kapital  schmilzt  zu- 
sammen,  gleichgiiltig,  ob  es  als  Fremdkapital  oder  als  Eigen- 
kapital  in  den  Unternehmungen  steckt.  Dieser  ProzeB  tut 
schrecklich  weh,  und  besonders  schmerzlich  ist  er  fur  die 
Mittelsleute  der  Kapitalwirtschaft,  die  Banken  aller  Art.  DaB 
da  guter  Rat  teuer  ist,  hat  auch  der  Wirtschaftsbeirat  der 
Reichsregierung  zu  verspuren  bekommen, 

Aber  schliefilicii  hat  der  Kapitalismus  schon  mehr  solcher 
Tanze  durchgemacht.  Was  ein  rechter  Kapitalist  ist,  der  weiii 
sich  schon  zu  helfen;  noch  immer  hat  sich  irgendeiner  gefun- 
den,  der  den  Lowenanteil  der  Zeche  fiir  ihn  bezahlte.  Dies- 
mal  geht  es  hart  auf  hart;  Einer  muB  geschlachtet  werden! 
Der  Arbeiter?  Der  ist  zu  mager,  und  auBerdem  ist  das  ange- 
sichts  der  Macht  der  Massenparteien  zu  riskant;  schlachten 
kann  man  ihn  nicht,  wenn  er  auch  Haare  lassen  muB.  Der 
Bankier,  der  Sparer,  der  Industrielle,  der  Landwirt  —  uberall 
ist  es  die  gleiche  dumme  Sache;  fett  ist  keiner  mehr  von 
ihnen,  und  der  Erfolg  bleibt  immer  unsicher.  Ich  bin  dafiirr 
diesmal  den  Schwerindustriellen  zu  schlachten,  Der  wirtschaft- 
liche  Luxus,  in  viberdimensionierten  Anlagen  viel  zu  viel  und 
viel  zu  teuer  Eisen  und  Stahl  zu  produzieren,  ist  noch  am 
ehesten   entbehrlich 

830 


Bemerknngen 

Ein  kleiner  Volksschullehrer 

TVTenn  sich  die  Schwache  auf 
"  die  Starke  sturzt,  tun  von 
ihr  zu  profitieren,  also  auf 
deutsch:  wenn  sie  Biographien 
schreiben,  dann  fangt  die  Lebens- 
beschreibung  oft  so  an:  „X.  war 
damals  ein  kleiner  Volksschul- 
lehrer . , ,"     Halt. 

Warum  klein  — ?  1st  ein 
Volksschullehrer  allemal  klein  — ? 
Es  gibt  doch  unter  diesen,  wie 
unter  den  Mkleinen  Angestellten", 
solche  und  solche;  so  wenig  etwa 
jeder  Volksschullehrer  ein  grofter 
Mann  ist,  was  ja  wohl  auch  dieun- 
erbittlichste  Interessenvertretung 
dieser  Manner  nicht  wird  behaupten 
wollen,  so  wenig  schmeckt  uns 
das  Attribut  klein/  Ein  kleiner 
Angestellter  . . .?  Hat  Gott  den 
Mann  auf  diesen  Platz  geweht? 
Arbeitet  sich  vielleicht  j  eder 
empor,  der  es  verdiente,  oben  zu 
sein?  Davon  ist  doch  bei  der  tie- 
fen  Illoyalitat  dieses  Lebens- 
kampfes  keine  Rede.  Polgar  hat 
einmal  so  formuliert:  wenn  schon 
das  Leben  ein  Rennen  sein  soil, 
dann  macht  wenigstens  den  Start 
fur  alle  gleich.  Na,  und  ist  er 
das  vielleicht  — ? 

Er  ist  so  ungleich  wie  moglich. 
Der  eine  hat  eine  kleine  Rente 
oder  die  Unterstiitzung  seiner  Fa- 
milie,  um  uber  die  entscheidenden 
Jahre  jedes  Menschenlebens  glatt 
hinwegzukommen:  er  kann  also 
in  Ruhe  etwas  fur  seine  Ausbil- 
dung  tun,  ohne  sie  durch  eine 
Nebenarbeit  gefahrden  zu  mtissen. 
Solche  Nebenarbeit  kann  fordem, 
sie  kann  aber,  je  nach  dem  Be- 


ruf(  erheblich  ablenken.  Nichts 
ist  manchmal  so  wichtig,  wie  in 
Ruhe  aufnehmen  zu  konnen,  ohne 
dabei  geben  zu  mtissen.  Hat 
diese  Ruhe  jeder?  Die  hat  nicht 
jeder. 

Und  wenn  der  Volksschullehrer 
klein  ist:  ist  der  Ministerialrat 
grofi?  Ich  kenne  der  Ministerial- 
rate  manche,  die  dumm  sind  wie 
das  Monokel  Fritz  Langs,  und 
groB  sind  sie  gar  nicht.  Sie  sind 
nur  routiniert;  reifit  man  sie  aus 
ihrer  Routine,  so  versagen  sie 
klaglich.  Zum  Beispiel  allemal  im 
Ausland,  wo  man  ihren  Titel 
kaum  aussprechen  kann,  und  wo 
sie  nur  das  gelten,  was  sie  wert 
sind. 

Und  die  Kapitane  der  Wirt- 
schaft  — ?  Das  ist  doch  wohl 
nicht   euer  Ernst. 

Es  scheint  mir  nun  aber  aller- 
hochste  Zeit,  eine  Sache  nicht  mit 
denen  zu  verwechseln,  die  von  ihr 
profitieren.  Sehr  viel  dummer  als 
diese  Wirtschaftskapitane  kann 
man  sich  nicht  gut  anstellen.  Seit 
1914  Niederlage  auf  Niederlage, 
Blamage  auf  Blamage,  falsche 
Voraussage  auf  falsche  Voraus- 
sage  — alles  dummes  Zeug.  Und 
die  sollen  uns  etwa  als  grofi  hin- 
gestellt  werden?  Ausverkaufl 
Ausverkauff 

Nein,  es  ware  hfibscher,  wenn 
sich  die  Biographiker  und  ahn- 
liche  Leute  dieses  Ausdrucks  vom 
kleinen  Volksschullehrer  enthal- 
ten  wollten  —  es  ist  ein  schlech- 
tes  Klischeewort.  Denn  es  gibt  to- 
richte  und  innerlich  verwachsene 
Volksschullehrer,       und     es     gibt 


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Dieser  Roman  schlldert  mlt 
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lichk-lt  einen  Tag  Mittelalter. 
Eine  ganze  Zaitepyche  wird 
in  den  24  Stund.  dies.  „letzien 
Tages"  greifbare  Wirklichkeit 


831 


grofie  Padagogen;  es  gibt  weit- 
schauende  Verwaltungsbeamte, 
und  es  gibt  hochbesoldete  Esel. 
Denn  man  kommt  ja  nicht  immer 
von  unten  her  zu  den  groBen 
Stellungen  —  man  kann  auch  hin- 
eingesetzt  werden,  man  kann  hin- 
einheiraten,  man  kann  erben.  Und 
diese  guten  Partien  und  diese  Er- 
ben wollen  uns  nachher  erzahlen, 
sie  seien  bedeutend,  weil  alles 
vor  ihnen,  die  Stellen  zu  verge- 
ben  haben,  katzbuckelt? 

Sagen  wir  nicht  mehr:  er  war 
zu  Beginn  seiner  Laufbahn  ein  — 
kleiner  Volksschullehrer.  Sagen 
wir;    Volksschullehrer. 

Ignaz  Wrobet 

Imagtnare  Schdnheitskonkunerz 
T  Tnlangst,  bei  leichter  Grippe, 
^    tat   ich  was  folgt: 

Ich  nahm  mir  Kiirschners 
Handbuchlein  .Deutscher  Reichs- 
tag* vor  und  durchblatterte  es 
von  Seite  26  bis  Seite  636;  das 
sind  die  wesentlichen,  die  Photo- 
Seiten.  Jeden  Abgeordnetenkopf 
betrachtete  ich  ohne  Ansehung 
der  Partei,  im  wahrsten  Sinne 
des  Worts  Hohne  Ansehung"; 
ich  vermied  namlich  geflissent- 
lich  und  mit  Erfolg,  die  unter 
dem  Bild  befindlichen  Angaben 
zu  lesen.  Von  verschwindenden 
Ausnahmen  abgesehen  (beruhmt 
sind  untei  den  577  Gesichtern 
ja  nur  wenige),  wufite  ich  also 
im  Blattern  Seite  ftir  Seite  zu- 
nachst  nicht,  wen  ich  vor  mir 
hatte  —  mein  Gefuhls-Urteil 
iiber  die  Physiognomien,  meine 
charakterologische  Diagnose  blieb 
unbefangen,  von  Voreingenommen- 
heiten  ungetriibt,  denkbar  sach- 
lich,  Ich  priifte  kuhl  vor  je- 
dem  Bilde,  ob  Ztige  besondern 
Seelen-  und  Geistesadels  sichtbar 


wurden  oder  Zuge  besondrer 
Roheit,  Gemeinheit,  Subalterni- 
tatt  Duramheit,  Ein  zu  subjek- 
tives  Verfahren?  Wir  Skeptiker 
wissen,  was  von  den  Mobjektiven" 
Methoden  zu  halten  ist;  in  wel- 
chem  Grade  sie  Umsetzung  von 
Sub  j  ektivitaten,  von  Irrationali- 
taten  sind,  Und  die  Irrefuhrung 
durch  ein  mifilungnes  Konterfei, 
durch  tible  Reproduktion?  Eine 
Fehlerquelle,  gewiB;  aber  sie 
flieBt  schmal.  Ich  machte  mir  alle 
diese  Einwendungen,  sie  hinder- 
ten  mich  nicht,  das  Experiment 
durchzufuhren,  Hatte  ich  von  je- 
dem  Bilde  mein  Resultat,  dann 
erst  ergriindete  ich  Namen  und 
Partei , . ,  und  notierte.  In  drei 
Kolonnen :  Wert-Typen,  Durch- 
schnitts-Typen  und  Unwert-Ty- 
pen.  Zuletzt  brachte  ich  die  Zif- 
fern,  die  sich  ergaben,  in  emVer- 
haltnis  zur  Mitgliederzahl  der 
Fraktionen:  ich  rechnete  alles 
in  Prozent  um,  Das  Ende  dieser 
Schonheitskonkurrenz  war  nicht 
vollig  ohne   Staunen  . , , 

Heraus  stellte  sich,  daB  mit 
dem  dicksten  Prozentsatz  an 
Durchschnittsgesichtern  die  Frak- 
tion  der  Wirtschaftspartei  gesegnet 
war:  mit  70  Prozent  ihrer  Mit- 
gliedschaft;  der  dunnste  fand  sich 
bei  der  Staatspartei:  43  Prozent; 
dazwischen  lagen  mit  57  bis 
61    Prozent   die   andern    Parteien. 

Dierelativ  grofite  Anzahl  „Un- 
wert-Typen",  also  intellektuell- 
charakterlich  minderwertige  Vi- 
sagen,  wies  die  Deutschnationale 
Partei  auf  (41  Prozent),  wahrend 
die  Bayerische  Volkspartei  (37 
Pirozent) ,  die  Sozialdemokraten 
(32  Prozent),  die  Deutsche 
Volkspartei  (30  Prozent) ,  das 
Zentrum  (29  Prozent),  die  Wirt- 
schaftspartei (26  Prozent)  und 
die   gemaBigt-nationalen   Gruppen 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON 

Das  Elend  kommt  von  dertragischen  Befllssenheit.den  Bock  derZettenzu  melken,  ob 

er  Milch  geben  kann  Oder  nlrht.  Niemand  wei6,  wohin  die  Mensch-    

heit  steuert,  ob  sie  teben  oder  sterben  will;  gewiB  is*  nur,  daB  sie 
das  nicht  will,  was  Ihr  die  Oberlehrer  der  GlUckseltgkeitzudenken. 


TRANSMARE  VERLAQ  A.-QM  BERLIN  W  10 

832 


Kartoniert 

3 — rm 


(21  Prozent)  ein  freundlicheres 
Ergebnis  erzielten,  das  freund- 
lichste:  National  sozialist  en, 

Staatspartei  tind  Kommunisten 
(je  19  Prozent).  Ich  stelle  das 
ohne  Ironie  und  Hintergedanken 
rein   sachlich-experimenttreu   fest. 

Am  verhaltnismafiig  meisten 
hochwertige  Kopfe  zeigte  die 
Staatspartei  (38  Prozent),  es 
folgten  die  Kommunisten  (22 
Prozent) ,  die  Nationalsozialisten 
(21  Prozent),  die  gemaBigt-natio- 
nalen  Gruppen  (18  Prozent) , 
Zentrum  und  Volkspartei  (je  13 
Prozent) ,  SPD  (10  Prozent) , 
Bayerische  Volkspartei  (5  Pro- 
zent), Wrrtschaftspartei  (4  Pro- 
zent), zuletzt  die  Deutschnatio- 
nalen  (2  Prozent). 

Am  besten  schnitten  im  Gan- 
zen  mithin  Staatspartei,  Kommu- 
nisten, Nationalsozialisten  ab ; 
am  schlechtesten:  Deutschnatio- 
nale,  Wirtschaftspartei,  Bayern 
und  SPD.  Die  Minus-Resultate 
leuchten  sofort  ein;  die  Plus- 
Resultate  erzeugen  Nachdenklich- 
keit.  Kommunisten  und  Natio- 
nalsozialisten: Parteien  der  Un- 
bedingtheit,  der  Jugend,  des  ex- 
tremistiscben  Pathos,  des  Opfer- 
muts  (Charakteristika,  die  zumin- 
dest  auf  Einen  Typ  zutreffen,  auf 
einen  in  beiden  Lagern  stark  ver- 
tretenen,  einen  urgesunden,  kern- 
haften)  —  dafi  hier  die  Philistro- 
sitatsquote  am  niedrigsten,  die 
Qualitatsquote  am  hocbsten  sei: 
dieser  Meinung,  unbeschadet  al* 
ler  programmatischen  undDenk- 
stildifferenzen,  war  ich  Iangst. 
Jener     Scharfmacher-Stumpfsinn, 


der  in  den  Kommunisten  den 
,fP6berf  jener  ,Dialektiker4-Kre- 
tinismus,  der  in  den  Hakenkreuz- 
lern  nicbts  als  „Lumpenproleta- 
riat"  vermutet,  bat  ja  wohl  kaum 
noch  Horer. 

Aber  die  Staatspartei,  die 
Staatspartei!  Eine  Partei,  die 
unsereiner  doch  nur  von  der 
Witzseite  zu  nehmen  gewohnt 
war  —  wie  kommt  sie  zu  diesem 
ehrlichen  Punktsieg?  Seinetwe- 
gen  schamt  man  sich  fast,  fiber 
das  Experiment  zu  bericbten. 
Docb  grade!  Keinem  Vorurteil, 
keinem  publizistischen  Komment 
zuliebe  soil  hier  das  Walten  des 
Irrationalen  verfalscht  werden. 
Schon  aus  Mitleid  gonne  ich  der 
Staatspartei  diesen  Triumph,  und 
ich  erklare  ihn  mir  sor  Immerhin 
bleibt  sie,  objektiv,  die  Vertre- 
tung  der  verhaltnismafiig  human- 
sten,  verhaltnismafiig  freibeitlich- 
sten,  verhaltnismafiig  intellek- 
tuellsten  Teile  des  Btirgertums, 
das  Asyl  seiner  verhaltnismafiig 
kultiviertesten  Kopfe;  nein  wirk- 
lich,  so  ists  doch;  und  je  scharfer 
die  Substanz  dieser  Partei 
schmolz,  desto  strenger  ward  na- 
tiirlich  in  ihr  die  Auslese.  Unser 
Hohn . . .  grade  hier  wird  er  sich 
zwanglos  als  enttauschte  Liebe 
deuten  lassen :  zu  einer  Partei, 
deren  Mission  war  und  der  en 
Funktion  hatte  sein  konnen,  das 
heilige  Feuer  des  Personalismus, 
des  ewigen  revolutionaren  Indi- 
vidualismus,  den  rebellischen 
Freisinn  des  Zeitalters  zwischen 
Voltaire,  Borne  und  Ibsen  hin- 
iiberzuretten    in    eine    Aera,    die 


Zwei  Deutsche     Ein  Faschist 
Ein  Franzose        Ein  Bolschewist 
Ein  Englander       Ein  Katholik 
schildern  VorzUge  und 
Nachteile  von 


Dem<* 


"**^  nantcnhlanrt  —  i 


Soeben  erschlenen: 


>^^  in     (TrtnlanH 


in  England 

S.  A.  —  Frankreich 

Oeutschland  —  im  Bolschewismus 

Faschismus  -  Katholizismus 

und  ihre  Wirkung  auf  Weltpolitik  und  Weltwirtschaft. 

Einfach  gebunden  RM.  9.60,  in  Lefnen  gebunden  RM.  11.40. 
Auch  In  Einzelheften  &  RM.  1.80. 

VERLAG   LW.SEIDEL&SOHN,  WIEN   I 


833 


nur  noch  sauerlichen  Kollekti- 
vismus  kennt:  den  sauerlich-vol- 
kischen,  den  sauerlich-kirchlichen 
und  den  als  Organisationsprin- 
zip  heilsamen,  ndtigen,  durchzu- 
setzenden,  dennoch  (und  wenn 
ihr  mich  steinigt!)  gleichfalls 
nicht  unsauerlichen  proletari- 
schen  Kollektivismus,  welcher, 
zum  Beispiel,  aus  dcm  Kultus- 
minister  Grimme  sprach,  als  er 
unlangst  den  Geist  als  „Privat- 
intellekt"  verachtlich  machte 
und  ihm  jene  Wirklichkeit  gegen- 
uberstellte,  die  nach  Hegel  ver- 
niinftig  ist. 

Mein  Experiment:  ein  halb- 
fiebriger  Grippe-Einfall;  ihn  aus- 
zufuhren,  gewifi  palmstromhaft; 
sein  Effekt  gleichwohl  mir  lehr- 
reich  —  gewohnte  Meinungen 
teils  bestatigend,  teils  zurecht- 
riickend;  deutlich  weisend  auf 
das  Morsche,  deutlich  auch  auf 
das   Lebenstrachtige. 

Kurt   Hiller 

Eloessers  zweiter  Band 

Je  bewegter  eine  Zeit  istt  um  so 
gewalttatiger  pflegt  sie  mit  der 
Geschichte  umzugehen.  Der  Wis- 
senstrieb  verkiimmert,  wo  der 
Selbsterhaltungstrieb  herrscht. 

Und  so  benutzt  man  die  Vergan- 
genheit  als  Beweismaterial;  sucht 
sie  ab  nach  Beispiel  und  Gegen- 
beispiel,  nach  Vorbild  und  War- 
ming, 

Diese  tendenziose  Methode 
laBt  dite  historischen  Gestalten 
sehr  schnell  zu  Plakatfiguren  ge- 
rinnen.  Die  Jugend,  stets  eine 
gelehrige  Schulerin  ihrer  Zeit,  be- 
wertet  und  klassifiziert  die  Men- 
schen  und  die  Geschehnisse  der 
Vergangenheit,  noch  ehe  sie  sie 
kennenlernt.  Dies  ist  in  der  Li- 
teraturgeschichte    ebenso    arg    wie 


in  der  Weltgeschichte.  Und  des- 
halb  ist  es  gut,  dafi  Arthur  Eloes- 
ser  in  seinem  Werk  TIDie  deut- 
sche  Literatur  vom  B  a  rock  bis 
zur  Gegenwart",  dessen  zweiter, 
letzter  Band  soeben  bei  Bruno 
Cassirer,  Berlin,  erschienen  ist, 
uns  einmal  wieder  ganz  unbefan- 
gen  vor  die  Originate  ftihrt. 

Es  ist  wie  bei  den  Rontgen- 
durchleuchtungen,  die  man  neuer- 
dings  an  klassischen  Genial  den 
vornimmt,  Alle  tauschenden  Ober- 
malungen  fallen  weg.  Wo  jahr- 
zehntelang  vor  aller  Augen  eine 
malerische  Figur  gestanden  hat, 
ist  plotzlich  keine  mehr  zu  se- 
henf  Und  dafiir  taucht  irgendwo 
im  Hintergrund,  von  Meisterhand 
gezeichnet,  eine  ganz  neue  auf. 
Dabei  spielt  Eloesser  weder  den 
Richter  noch  den  Konstrukteur. 
Sein  Buch  ist  zu  gut,  als  daB 
man  daraus  entnehmen  konnte, 
ob  ein  beruhmter  Schriftsteller 
„gut"  oder  „schlecht"  sei.  Was 
in  .  diesen  sechshundert  Seiten 
schwarz  auf  weiB  steht,  das  ent- 
halt  in  Wirklichkeit  alle  Nuancen 
zwischen  schwarz  und  weiB;  so- 
wohl  der  Beschreibung  wie  der 
Bewertung,  Dies  beweist  sich  be- 
sonders  an  schwankenden  Gestal- 
ten wie  Heine,  Hebbel,  Freytag, 
Eloesser  halt  sich  ganz  an  die 
Erscheinung,  und  ohne  viel  Sor- 
ge  um  den  Hauptnenner  zeich- 
net  er  Charakterbilder  von  er- 
staunlicherf  manchmal  verwirren- 
der   Lebendigkeit, 

Nach  Eloessers  Buch  kann  man 
also  nicht  pauken.  Es  eignet  sich 
nicht  fur  Leute,  die  aus  gesell- 
schaftlichen  Grtinden  im  Schnell - 
kurs  nachholen  wollen,  was  sie 
in  der  Deutschstunde  verschlafen 
haben.  Eloesser  gibt  keine  For- 
meln.     Aber  er  gibt  Formulierun- 


BdYinRa 

hat  Tausende  durch  seine  Bticher  zu  glttcklichen  Menschen  gemacht. 
Wir  halten  es  darum  fur  Pflicbt,  auf  diese  Biicber  hinzuweisen.  Naheres 
fiber  ihn  und  sein  Werk  sagt  die  Einftihrungsschrift  von  Dr.  Alfred  Kober- 
Staehelin,  kostenfrei  von  jeder  Buchhandlung  zu  beziehen  sowie  vom 
Verlag:  Kober'sche  Verlagsbachbandlung,  Basel  und  Leipzig. 

834 


gen.  Vierzig  Jahre  Tagesschrift- 
stellerei  haben  seine  Hand  so 
leicht  geraacht,  dafi  er  einen 
Walzer  von  Lexikonformat  bis  an 
den  Rand  anfullen  kann  mit 
zierlichen,  kraftigen,  weltklugen, 
ironischen  Satzen  und  mit  einem 
Humor,  der  nur  ein  andres  Wort 
ist  fur  Weisheit,  Von  Fontane 
sagt  er  einmal:  „Er  machte  mit 
auBerordentlichem  Assoziations- 
vermogen  von  dem  schonen  Recht 
des  Theaterkritikers  Gebrauch, 
vom  Hundertsten  auf  das  Tau- 
sendste  kommend  Salzkorner  der 
Erfahrung  auszustreuen,"  Diese 
Salzkorner  der  Erfahrung  sind 
es,  diese  erstaunlichen  Kennt- 
nisse  uber  die  Menschenseele,  die 
Eloesser  befahigen,  auch  den 
seltsamsten  Gesellen  gerecht  zu 
werden,  und  seine  schriftstelle- 
rischen  Fahigkeiten  erlauben  ihm, 
das  —  wenn  notig  —  in  ein  paar 
Zeilen  zu  tun,  Statt  vollstandig 
zu  sein,  erpickt  er  im  Fluge  das 
charakteristische  Kornchen,  be- 
leuchtet  durch  eine  knappe  Brief- 
stelle,  eine  Aufierung  von  Zeit- 
genossen,  eine  biographische  Epi- 
sode die  ganze  Figur, 
"  Dem  Fachgelehrten  vom  Ham- 
stertyp  ist  das  Historische  Selbst- 
zweck.  Bei  Eloesser  steckt  in  je- 
dem  , , So  war  dieser  Mensch f " 
das  „So  sind  die  Menschen!"  — 
„Sein  Vater  war  der  Kaufmann 
Samson  Heine,  dem  es  wie  vielen 
Juden  an  der  kaufmannischen 
Veranlagung  mangelte."  Oder: 
„Wedekinds  Glaubige  schauder- 
ten,  wenn  er  die  schwarze  Messe 
aller  Perversitaten  zelebrierte, 
aber  Teufelsdienst  ist  nicht  in- 
teressanter  als  Gottesdienst,  und 
er  war  Gott  gewifi  naher,  als  sie 
ihm  zutrauten."  Wenn  unter 
Weisheit  zu  verstehen  ist,  dafi 
jemand  die  ungeschriebenen  Na- 
turgesetze   des   Lebens     kennt,   so 


hat  Eloesser  ein  weises  Buch  ge- 
schrieben,  Er  kennt  die  Zusam- 
menhange,  er  weiB,  was  Arzte, 
Schlesier,  Trilogien  generaliter 
fiir  Eigensohaften  zu  haben  pfle- 
gen. 

Eloessers  Sprache  ist  trotz 
ihres  schonen  Bilderreichtums 
schlicht  und  ganz  sachdienlich. 
Niemals  prunkt  er  als  Stilist,  Die 
groBen  Schriftsteller,  von  denen 
er  berichtet,  sind  seine  Lehrer, 
seine  Genossen.  Er  spricht,  in 
i  edem  Sinne,  ihre  Sprache.  Er 
lebt  mit  ihnen.  Er  tut  ihnen  die 
Ehre,  sie  fiir  lebendig  zu  nehmen; 
sie  sind  ihm  zu  gut  fiir  einen 
Kult,  bei  dem  der  Opferrauch 
das     Altarbild     vernebelt,  Er 

nennt  das  Kind  der  Muse  beim 
Namen.  Es  ist  jene  anschauliche, 
handwerkliche,  manchmal  burschi- 
kose  Art,  liber  Kunst  zu  reden, 
wie  man  sie  in  den  Briefen  und 
Unterhaltungen  von  Kunstlern 
findet.  Oft  schwer  verstandlich, 
denn  auch  ohne  Fachjargon  wird 
hier  ein  ziinftiger  Schatz  von 
Erfahrungen  vorausgesetzt,  iiber 
den  der  primitive  Leser  nicht  ver- 
fiigt.  Man  erwarte  von  Eloesser, 
trotz  Plauderkunst  und  Humor, 
kein  leichtes  Buch.  Er  ist  nicht 
aus  Wien,  wo  dieBehendigkeit  der 
Hand  das  Hirn  anzustecken 
pflegt.  Er  hat  genug  Respekt  und 
Verstandnis,  urn  dem  Schweren 
seine  Schwere  zu  lassen.  Und 
die   Kunst   ist   ihm  keine   Hetz. 

Eloesser  wird  sich  die  j  uhgen 
Menschen,  die  er  sich  vor  alien 
zu  Lesern  wunscht,  durch  seine 
sachliche  Niichternheit  erobern, 
Er,  der  Berliner,  hat  eine  sehr 
feine  Nase  fur  falsche  Pracht, 
Er  hebt  nicht  die  Faust,  aber  er 
lachelt  und  gibt  in  einem  Neben- 
satz  zu  verstehen,  dafi  es  alles 
nicht  so  doll  sei.  Weil  er  alles 
unwahre    Pathos    wegiatet,    bleibt 


REISEM  MIT  DR.  UBEDALL 


Der  durch  den  Run^funk  wsltbekannte 
Dr.  O  be  rail  erzShlt  hler  spannend  klar 
und  leicht  faSlich  von  Technik,  fremden 
Landern  und  peisen  zum  Mond.  Mit  vielen 
FotosundZeichnungen  UIRI  A  Qf\  h/\ 
in     bester    Ausstattung  nDL.  *f,OU  I VI - 


S  &  CO.  VERL4G.  BEQCIN-ORUNEWAlD 


835 


das  wahre  urn  so  eindringlicher 
stehen.  Das  Urgestein.  Da  klopft 
er  an;  das  bringt  er  zum  Tonen. 
Zumal  den  jungen  Schriftstel- 
lern  sei  dies  Buch  empfohlen. 
Nicht  nur  weil  sie  darin  —  als 
ein  Gegengewicht  gegen  das  im- 
mer  gefahrlicher  werdende  Ge- 
schwatz  der  Bucbkritiker  —  Mafi- 
stabe  und  saubere  Begriffe  finden 
sondern  auch  weil  es,  wie  ein  le- 
bendiges  Fachgesprach,  zum 
Schreiben  anregt.  Und  das  muB 
nicht  immer  ein  Scbaden  sein, 
Rudolf  Arnheim 

Das  Wort  der  Stunde 
f^ieser  Sabel  ist  der  schonste 
W*--'  Tag  meines  Lebens.  Ich 
nehme  ihn  an  —  und  wenn  ich 
j  emals  an  der  Spitze  eurer 
Schlachtreihen  stehe,  so  werde 
ich  mich  desselben  bedienen,  um 
unste  Errungenschaften  zu  ver- 
teidigen  und  -»-  wenn  notig  — 
sie  abzuschaffen." 

Henry  Monnier 
f  Joseph    Prudhomme" 

Justiz 

Bei  den  Verhandlungen  gegen 
Leute,  die  «ines  Verbrechens 
wider  den  Staat  angeklagt  sind, 
ist  das  Verfahren  viel  kurzer  und 
ldblicher;  der  Richter  schickt  erst 
zu  denen,  die  im  Besitz  der  Macht 
sind,  urn  sie  zu  sondieren,  und 
dann  kann  er  den  Verbrecher 
leicht  unter  strenger  Beobachtung 
aller  gehdrigen  Rechtsformen  han- 
gen  oder  retten. 

Jonathan  Swift 
t,Gullivers  Reisen" 

Prima  Zeugnisse 

Inmitten  dieses  Getriebes  bemer- 
ken  wir  eine  derbe,  einfache  Ge- 
stalt,  ein  sozialistischer  Arbeiter 
und  Gewerkschafter  —  Noske, 
Von  der  sozialistischen  Regierung 
zum     Landesverteidigungsminister 


ernannt  und  von  ihr  mit  diktatori- 
scher  Gewalt  ausgeriistet,  ent- 
tauschte  er  das  deutsche  Volk 
keineswegs.  Eine  auslandische 
Ansicht  tiber  deutsches  Helden- 
tum  muB  notwendigerweise  sehr 
abstrakt  bleiben  und  kann  nur 
*  schuchtern  vorgebracht  werden: 
aber  in  der  langen  Reihe  von  K5- 
nigen,  Staatsmannern  und  Kriegs- 
helden,  die  sich  vott  Friedrich  dem 
GroGen  bis  Hindenburg  erstreckt, 
mag  auch  Noske  seinen  Platz  fin- 
den —  ein  Sohn  des  Volkes,  der 
inmitten  allgemeiner  Wirrnis 
furchtlos  fur  die  Sache  seines  Vol- 
kes  eintrat, 

„Nach  dem  Kriege" 
Churchill 

Lfebe  Weltbuhne! 

T*\er  Herrscher  eines  exotischen 
*^  Landes  weilte  zur  Kolonial- 
ausstellung  in  Paris.  Von  den 
europaischen  Gepflogenheiten  in- 
teressierten  ihn  vor  allem  die 
Methoden  der  Rechtspflege,  be- 
sonders  der  Strafvollzug.  Da  die 
franzosische  Regierung  auf  gute 
Beziehungen  mit  ihm  Wert  legte, 
wurden  ihm  die  verschiedenen  In- 
stitutionen  gezeigt,  und  als  ein 
Todesurteil  vollstreckt  werden 
sollte,  wurde  Seine  Maiestat  ein- 
geladen,  der  Hinrichtung  beizu- 
wohnen.  Der  Herrscheru  der  alle 
Vorbereitungen  genau  beobachten 
wollte,  stellte  sich  in  der  N&he 
des  Fallbeils   auf. 

Als  der  Verurteilte  erschien 
und  die  Gehilfen  des  Henkers 
ihn  ergriffen,  um  seine  Hande 
auf  den  Rucken  zu  binden  und 
ihn  unter  das  Fallbeil  zu  legen, 
rief  plotzlich   der  Herrscher  aus: 

„Nein,  nein,  nicht  diesen.  Ich 
mochte  den  andern  hingerichtet 
sehen." 

Der  andre  war  Deibler,  der 
Hetiker  von  Paris. 


H  AUS  GODAL,  LUBOCHN  A,  TATRA 

Zum  Wintersport  Pauschalfahrt  in  die  Tatra  Incl.  Reise, 
hln  und  zuruck,  voile  Pension  Cerstklass,  KOche,  alle 
Zlmmer  fileSend  kaltes  und  warmes  Wasser},  Bedle- 
nung,  Sporttaxe,  Vs  taglge  SchMttenausflQge,  unentgelt- 
llche  Sklkurse. 

Ab  Berlin  14Tage  165.—    20  Tage  200.— . 
Ab   Breslau  14  Tage  132.—,    20  Tage  165,—. 
Auskunft  fur  Berlin  Pfalzburg  7657,  sonst  dlrekt. 

836 


Der  Arbeitsmann  Adaptierung  fflr  heute 

VW^ir  haben  ein  Bctt,  wir  habeo  ein  Kind,  \Y/'r  haben  kein  Geld,  wir  haben  ein  Kind, 

mein  Weib  !  "    mein  Weib. 

Wir  haben  audi  Arbeit  und  gar  zu  zweit,  Wir  mussen  feiern  und  gar  zu  zweit, 

und  haben  die  Sonne  und  Regen  und  Wind  und  mufiig  sehn,  wie  der  Tag  verrinnt 

und  uns  fehlt  nur  eine  Kleinigkeit,  und  haben  nur  eine  Kteinigkeit, 

urn  so  frei  zu  sein,  wie  die  Vogel  sind:  um  ao  frei  zu  sein,  wie  die  Vogel  sind: 

Nur  Zeit.  nur  Zeit. 

Wenn   wir  Sonntags  durch   die  Felder  gehn,  Wenn  wirSonn-oderWerktagsapazierengehn, 

mein  Kind  mein  Kind. 

und  fiber  die  Aehren  weit  und  breit    *  (denn  Arbeit  gibt's  keine  weit  und  breit), 

das  blaue  Schwalbenvolk  blitzen  sehn:  dann  wollen  wir  nicht  nadi  den Schwalben  sehn: 

oh,  dann  fehlt  uns  nicht  das  bifichen  Kleid,  Oh,  wir  haben  ja  nicht  mal  das  bifichen  Kleid, 

um  so  sch5n  zu  sein,  wie- die  Vogel  sind:  um  so  schon  zu  sein  wie  die  Vogel  sind: 

Nur  Zeit.  nur  Zeit. 

Nur  Zeit  I  wir  wittern  Gewitterwind,  Nur  Zeit  I  Die  haben  wir  ubergenug, 

wir  Volk.  wir  Volk. 

Nur  eine  kleine  Ewigkeit;  Schon  eine  kleine  Ewigkeit; 

uns  fehlt  ja  nichts,  mein  Weib,  mein   Kind,  Sonst  haben  wir  merits,  mein  Weib.  mein  Kind 

ais  all  das,  was  durch  uns  gedeiht,  und  nichts,  das  uns  vom  Nichts  befreit 

um  so  kuhn  zu  sein,  wie  die  Vogel  sind,  und  uns  trostet,  dafi  wir  am  Leben  sind: 

nur  Zeit!  nur  Zeitl 

Richard  Dehmel 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten  und  Gruppe  Sozialrevolutionarer  Nationaliiten. 
Freitag  20.00.  Cafe  Adler  am  Donhof  fplatz :  Oeffentliche  Diskussion;  Friede  und 
Nation.    Eg  sprechen:  Eugen  Brehm  und  Karl  O.  Paetel.    Vorsitz:  Kurt  Hiller. 

Bacher 

Rudolf  Arnheimt  Film  ais  Kunst.     Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Ernst  Fischer:  Krise  der  Jugend.    HeB  &  Co.,  Wien. 

Marieluise  Fleisser;  Mehlreisende  Frieda  Geier.    Gustav  Kiepenheuer,  Berlin. 

Leonhard  Frank:  Von  drei  Milliohen  drei.    S.Fischer,  Berlin. 

Andre  Gide:  Europ&ische  Betrachtungen.     Deutsche  Verlagsanstalt,  Stuttgart. 

Ernst  Glaeser  und  F.  C.  Weiskopf :    Der  Staat   ohne  Arbeitslose.    Gustay  Kiepenheuer, 

Berlin. 
Walt  her  von  Hollander:  Komodie  der  Liebe.    Deutsche  Verlagsanstalt,  Stuttgart. 
Oedon  Horvath:  Geschichten  aus  dem  Wiener  Wald.    Propyl  Sen- Verlag,  Berlin. 
Ludwig  Marcuse;  Heinrich  Heine.    Ernst  Rowoblt,  Berlin. 
Axel  Munthe:  Das  Buch  von  San  Michele.     Paul  List,  Leipzig. 
Einst  Ottwalt:  Deutachland  erwachel    HeB  &  Co.,  Wien. 
Wolfgang  Petzet:  Verbotene  Filme.    Societats-Verlag,  Frankfurt- Main. 
Carlo  Sforza:  Europaische  Diktaturen.    S.Fischer,  Berlin. 
Adam  Scharrer:  Der  groBe  Betrug.    Agis-Verlag,  Berlin. 
Lytton  Strachey:  Geist  und  Abenteuer.    S.Fischer,  Berlin. 
Kurt  Tucholsky:   Rheiosberg.    (Mit   einem   neuen  Vorwort   zum  100.  Tausend.)    Josef 

Singer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  -  Langenberg  18.20 :  Gegenwartsfragen  der  Kunst,  Paul  Westheim.  —  Berlin 
18.30.  Karl  Jakob  Hirsch  spricht  fiber  seinen  Roman  nKaiserwetteru.  —  MQhl- 
acker  20  45:  Frankreich  in  seiner  Kunst,  Querschnitt.  —  Berlin  21.10:  Ein  Mensch 
mit  Buchern  und  Schallplatten,  Armin  T.  Wegner.  —  Mittwocb.  Langenberg 
18.20:  s.  Dienstag.  —  20.00:  Kleists  Fried  rich  von  Homburg.  —  Donnerstag. 
Langenberg  18.20:  s.  Dienstag.  —  Freitag.  Berlin  21.10:  Anabasis  von  Ernst  Glaeser 
und  Wolfgang  Weyrauch. 

837 


Antworten 


Das  leipziger  Urteil  gegen  Walter  Kreiser  und  mich  hat  uns  bei- 
den  und  dcr  (Weltbuhne*  nicht  weniger  eine  Fiillc  von  Sympathie  und 
Bercitschaft  zu  tatiger  Hilfe  gebracht,  Wenn  ich  an  dieser  Stelle 
Allen,  die  sich  mit  uns,  solidarisch  erklart  haben,  den  Kampf  fiir  die 
Meinungsfreiheit  weiterzukampfen,  unsern  herzlichsten  Dank  ausspreche, 
so  bin  ich  mir  bewufit,  daB  darin  ein  Versprechen  an  die  Zukunft 
liegt,  das  gehalten  werden  muB,  Wir  werden  unsre  Tribune,  das  von 
Siegfried  Jacobsohn  ubernommene  Erbe,  nicht  zerschlagen  und  noch 
weniger  durch  Konzessionen  entwerten  lassen.  In  dieser  Woche  vor 
funf  Jahren,  am  3.  Dezember  1926,  starb  S.  J,  Die  heutigen  Heraus- 
geber  der  ,Weltbuhne'  haben  die  schwere  Erbschaft  unter  Gefiihlen 
des  Schwankens  und  des  Zweifels  in  die  eigne  Berufung  iibernommen. 
Seitdem  sind  fiinf  Jahre  dahingegangen,  von  denen  mindestens  die 
letzten  beiden  Kriegsjahre  gewesen  sind.  Wir  haben  eine  Idee  und 
eine  Linie  iibernommen,  und  da  die  ,Weltbuhne'  heute  wieder  gehaBt 
und  verfolgt  wird,  so  wissen  wir,  daB  wir  ihrem  Geist  nicht  untreu 
geworden  sind.  Die  ,Weltbuhne*  steht  wieder  im  Kampfe  wie  einst. 
Sie  lebt  also. 

Nationaler  Mann.  Sie  haben  in  der  ,Deutschen  Corpszeitung'  die 
folgende  Geburtsanzeige  veroffentlicht:  „Zwanzig  Millionen  Deutsche 
zuviel"  (Clemenceau).  Die  gliickliche  Geburt  ihres  achten  Kindes  und 
vierten  Knaben  Horst  Richard  zeigen  stolz  und  bocherf reut  an  Dr. 
phil.  Richard  Grun,  Saxoniae  Jena,  und  Frau  Atti,  geb  Pasow, 
Dtisseldorf.  „Siegreich  wolln  wir  Frankreich  schlagen!"  —  Wahr- 
scheinlich  haben  Sie  gedacht,  die  franzosische  Presse  wird  zerplatzen 
ob  Ihrer  heldenhaften  Ankiindigung.  Sie  irren.  Obergeschnappte  Na- 
tionalisten  von  der  Gegenseite  behandelt  man  dort  anders  als  man 
es  bei  uns  tut,  Der  ,Matin*  vom  20.  November  bemerkt  zu  Ihrer 
„reizenden  und  kriegerischen  Geburtsanzeige":  „Der  Vorname  des 
Neugeborenen  ist  besonders  anmutig  und  bestechend,  denn  Horst  heiBt 
,Nest  der  Raubvogel',  Atti  hinwiederum  ist  wohl  die  Abkurzung 
von  Attila."  Da  konnen  unsre  Nationalisten  noch  was  lernen,  Wie 
wiirden  die  in  einem  solchen  Fall  das  Maul  aufreiBen  und  prompt 
sich  lacherlich  machen   statt   dent   der  es  verdient. 

Neugieriger.  Die  in  dieser  Nummer  abgedruckte  Szene  von  Her- 
mann Kesser  stammt  aus  dem  Drama  ,, Rotation",  Sie  ist  in  die  bei 
Zsolnay   in   Wien   erschiene   Buchausgabe   nicht  aufgenommen. 

Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospekt  bei,  der  tiher  die  Neuerschei- 
nungen  des  S.  Fischer-Verlages  Auskunft  gibt,  Wir  empfehlen  die 
Beilage  der  besonderen  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser. 


r^ieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*S  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fiir  das  L  Viertelfahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10,  Januar  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manuskripte  sind  nut  an  die  Kedalrtion  dec  Weltbubne,  Cbarlottenburg.  Kantstr.  15%  xu 
ricfaten  •*  wird  g-ebeten.  ihoeo  Rflckporto  betzule^en.  da  9onst  Iceioc  Ruckgendun;  erfol?eo  kann- 
Das  AaffUhrungirecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanlsche  wiedervabe  alter  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radio vortT&gen 
faleiben   fOr    alle  in  der  WelrbOHne  erscheinenden  Beitrdjje  ausdrQcklich  rorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  be;rundei  vod  Sieg-tried  Jacob  sobo  and  wird  «>n  Carl  v.  Ossietxky 
unlet  Mttwirkung    voo  Kurt    luchoisley   sjeieitet.   —  Verantwortlich      Carl  v.   Ossietzky,    Berlin; 

Ven.ae  dei    Weltbuhnel  Siegtned    jacobsoho  &  Co..  Chariot*  en  bur  jf. 

Teiephon     C  I  Steinplatz  77  57    -  Postsche^kooto    Berlin  119  58*. 
Bankkonto;     Darmstadt  or    u.    Nationatbank,       Dapositeokasse    Charlotlenbufff,    Kantstr.'  112 


XXVII.  Jahrgang  8.  Dezember  1931  Nummer  49 

Off  ener  Brief  an  ReichswehrministerGroener 

von  Carl  v.  Ossietzky 

LJochverehrter  Herr  Minister!  Sie  ha'ben  am  29.  Novem- 
*  *  ber  unter  dem  Titel  „Staatsverleumdung"  in  der  ,D.A.Z/ 
eincn  Artikcl  veroffentlicht,  in  dem  Sie  Ihre  alte  Forderung 
nach  einem  Sondergesetz  gegen  Pazifisten  neu  entwickeln.  In 
diesem  Artikel  erwahnen  Sie*  auch  den  Weltbuhnen-ProzeB, 
und  da  Sie  Ihr  Verlangen  nach  einem  Antipazifisten-Gesetz 
vornehmlich  auf  unsern  ProzeB  stutzen,  so  muB  ich  Ihre  miB- 
launige  und  gereizte  und  aus  diesem  Qrunde  nicht  sehr  iiber- 
zeugende  Publikation  gradezu  als  Antwort  auf  die  Proteste 
empfinden,  die  unsre  Verurteilung  hervorgerufen,  hat,  Sie 
werden  es  daher  verstehen,  wenn  ich  Ihnen  an  dieser  Stelle 
und  im  Rahmen  meiner  zurzeit  gesetzlich  beengten  Moglich- 
keiten  entgegne. 

Erlauben  Sie  zunachst,  Herr  Minister,  Ihnen  mein  Er- 
slaunen  auszudriicken,  daB  Sie  als  Tribune  ein  Blatt  gewahlt 
haben,  dessen  vollfascistischer  Charakter  auch  durch  einige 
Tupfen  wirtschaftlichen  Liberalismus  nicht  geschwacht  wird,. 
Kurz  vorher  hatte  dies  Ihr  Publikationsorgan  noch  versucht, 
die  hessischen  Terroristen  weiBzuwaschen  und  unter  der  hei- 
tern  Oberschrift  ,,t)er  Oberreichsanwalt  und  Hitler  gegea  Se- 
vering" gegen  diejenigen  scharf  zu  mac  hen,  die  gegen  das 
Arrangement  einer  deutschen  Bartholomausnacht  einige  amt- 
liche  Einwendungen  erhoben  haben.  In  der  gleichen  Num- 
mer,  in  der  Sie  die  Staatsverleumder  infamieren,  macht  sich 
der  Hausdichter  der  Zeitung  in  Versen,  deren  Niedertracht 
nicht  durch  eine  scheme  Form  artistisch  geadelt  wird,  iiber 
die  Erregung  lustig,  die  durch  die  Blutphantasien  der  politischen 
Freunde  seines  Chefredakteurs  hervorgerufen  wurde. 

Wer   insgchcim   durch   faule  Zicken 

versucht  die  Menschheit  zu  begliicken, 

der   seh'   sich   seinen   Nachbar   an, 

ob  er  den  Schnabel  halten  kann. 
In   der    ,D.A.Z/   ist   man    nur    unangenehm   beruhrt,    daB   einer 
gepetzt   hat.     Alles  andre  ist  Bagatelle: 

DaB  sich  zwei  Jungens  anvertrauten, 

daB  sie  den  Dritten  gern  verhauten, 

und  einer   dann   die  Lust  verlor, 

das  kam  schon  in  der  Sexta  vor. 
Ich   fiirchte,   Herr   Reichswehrminister,    Ihr   Kollege,    der   Herr 
Reichsinnenminister,   der  Hiiter  der  Verfassung  und  des  repu- 
blikanischen   Zeremoniells,   wird   iiber  Ihre   falsch  ausgesuchte 
Plattform   recht   ungehalten   gewesen  sein. 

Ich  weiB  nicht,  ob  Ihr  Wunsch,  eine  „Lex  Groener"  zu 
erreichen,  inzwischen  in  Erfiillung  gegangen  ist,  Wahrend 
diese  Zeilen  geschrieben  werden,  sind  im  Reichsjustizmini- 
sterium  noch  einige  Widerstande  vorhanden,  die  gesamte  Mei- 
nungsfreiheit  in  Deutschland  dem  diskretionaren  Ermessen  der 
Militars  zu  unterstellen.  Diese  Widerstande  haben  Sie  sehr 
verargert,    und    nicht   zum   mindesten   daraus    erklart   sich   der 

839 


gereizte  Ton  Ihres  Artikcls.  Sie  redenj  von  ^sagenannten 
Pazifisten',  Sic  setzen  ohne  Versuch  eincr  Graduierung  „Pa- 
zifist"  glcich  nDenunziant".  Sic  nehmen  sogar  Stresemanns  un- 
gluckliches  Wort  von  den  ^Lumpen"  wieder  auf  und  gebrauchen 
cs  so,  daB  sich  jcdcr  Friedensfreund  davon  betroffen  fuhlen 
kann,  Es  ist,  nach  Ihrer  Meinung,  bisher  noch  lange  nicht 
oft  genug,  nicht  hart  genug  bestraft  worden.  ,,Undwenn  heute 
einmal  cine  solche  Verleumdungstat  ihre  Siihne  gefunden  hat, 
so  zeigt  schon  die  Tatsachc,  daB  es  2%  Jahre  gedauert  hat, 
bis  sie  endlich  zur  Verhandlung  kam,  daB  die  alten  Bestim- 
mungen  der  heutigen  Lage  nicht  mehr  entsprechen."  Wenn 
unser  ProzeB  beinahe  drei  Jahre  gedauert  hat,  so  lag  das 
nicht  an  den  Angeklagten,  die  Herren  Ihres  Ressorts  konnen 
Ihnen  iiber  die  Griinde  der  Verzogerung  biindige  Auskunft 
geben.  Aber  auch  sonst  scheint  mir  hier  ein  ernstes  deut- 
sches  Manneswort  am  Platze  zu  sein,  Herr  Minister. 

Zu  meinem  Bedauern  kann  ich  nicht  verhehlen,  daB  Ihre 
Bezugnahme  aul  unsern  ProzeB  von  herzlich  wenig  Noblesse 
zeugt.  Ein  kampfender  Skribent  meiner  Sorte  hat  ein  sehr 
ausgepragtes  Ehrgetiihl,  das  dem  eines  alten  Soldaten  nicht 
nachsteht.  Der  leipziger  ProzeB  hat  im  Dunkeln  stattgefun- 
den.  Deshalb  nicht  zum  geringsten  die  Sensation,  die  er  uber- 
all  erregt  hat.  Die  Offentlichkeit  weiB  nur  das  Faktum  der 
Verurteilung,  die  Begriindung  bleibt  ihr  vorenthalten,  von  dem 
Gegcnstand  des  Vertahrens  kennt  sie  kaum  verschwontmene 
Umrisse.  Und  diesen  in  der  Dunkelkammer  exekutierten  Pro- 
zeB nehmen  Sie  zum  besondern  AnlaB,  nicht  nur  um  ein  Ge- 
setz  zu.fordern,  das  die  gesamte  Presse  unter  Kuratel  bringt, 
sondernJauch  aim  die  Verurteilten,  die  schweigen  miissent  die 
kaum  mit  der  linken  Hand  techten  konnen,  als  hochst  dubiose 
Figuren  hinzustellen.  Sehen  Sie,  Herr  Minister,  ich  bin  im 
Laule  dieser  Woche  auf  verschiedene  Ihnen  gesinnungsmaBig 
Nahcstehende  gestoBen,  die  sich  beim  Lesen  Ihres  Artikels 
aufrichtig  fur  Sie  geschamt  haben.  Ist  schon  dieser  hochnot- 
peinliche  GeheimprozeB  kein  politisch  wichtiges  Argument, 
sondern  ein  MiBtrauen  erregendes  Kunstgebilde  aus  Juristerei 
und  Politik,  so  wird  vollends  in  einem  unpolitischen  Bezirk 
kein  gerecht  Denkender  Ihren  offentlichen  Fingerzeig  auf  die 
Verurteilten,  denen  selbst  der  IV.  Strafsenat  nicht  die  Ehre 
der  Oberzeugungstaterschaft  abzusprechen  gewagt  hat,  als 
gentlemanlike  empfinden.  Ich  beklage  es,  Herr  Minister,  mich 
hier  bei  solchen  Selbstverstandlichkeiten  aufhalten  zu  mus- 
sen.  Ich  beklage  es,  daB  man  grade  einen  alten  Offizier,  also 
einen  traditionellen  Spezialisten  des  point  d'honneur,  erst  am 
Portepce  fassen  muB,  um  ihn  auf  ein  so  naturliches  Gebot 
mcnschlichen  Zusammenlebens   aufmerksam  zu  machen. 

Ihre  Art  der  Polemik  ist  iiberhaupt  etwas  zu  primitiv. 
Um  Ihre  pazifistischen  Gegner  zu  kennzeichnen,  zitieren  Sie 
selbst  Ihre  Reichstagsrede  vom  19.  Marz,  worin  Sie  behaup- 
ten,  daB  das  Ausland  sein  Material  zum  groBten  Teil  yon 
Deutschen  bezieht,  „deren  Triebfeder  entweder  fanatischcr 
HaB  gegen  alles  Militarische  oder  Gewinnsucht  ist".  Was 
mich  angeht,  so  bin  ich  weder  fanatisch  noch  gewinnsxichtig 
und  nenne  den  einen  schlechten  Friedensfreund,  der  einem 
840 


iremden  Militarismus  einen  Gcfallen  tut.  Aber,  generell  ge- 
sprochen,  ich  habe  noch  keinen  Antimilitaristen  gesehn,  der 
dabci  fet.t  geworden  ware.  Der  Krieg  ist  ein  besseres  Ge- 
schaft  als  der  Friede.  Ich,  habe  noch  niemanden  gekannt,  der 
sich  zur  Stillung  seiner  Geldgier  auf  Erhaltung  tind  Forderung 
des  Friedens  geworfen  hatte.  Die  beutegierige  Canaille  hat 
von  eh  und  je  auf  Krieg  spekuliert. 

Sie  haben  es  sich  zu  einfach  gemacht,  Herr  Minister,  sie 
setzen  Pazifismus  gleich  Vaterlandsverrat.  Aber  etwas  andres 
als  der  Pazifismus  steht  hier  zur  Debatte,  namlich  die  Frage, 
ob  die  Deutsche  Republik  burgerlich  oder  militarisch  regiert 
werden  soil.  In  den  engen  Kreis  seiner  beschworenen  Pflich- 
ten  gebannt  zu  sein,  das  ist  das  besondere-  berufliche  Schick- 
sal  des  Soldaten,  der  Verzicht  auf  bestimmte  biirgerliche  Be- 
tatigung  seine  besondere  Ehre.  Bricht  er  dagegen  aus  diesem 
Kreise,  dringt  er  selbst  Subordination  heischend  in  das  zivile 
Regiment  ein,  erklart  er  seine  Kasteninteressen  fur  die  vor- 
nehmsten  der  ganzen  Nation,  so  sieht  es  allemal  um  einen  Staat 
ubel  aus.  Es  gibt  kein  grofieres  Ungliick  fiir  die  Allgemein- 
heit  als  den  politisierenden  Militar. 

Brauche  ich  Sie  an  den  Dreyfus-Prozefl  zu  erinnern?  Oder 
an  Zabern?  Oder  an  die  Tragikomodie  des  Generals  Luden- 
dorff?  Oder  an  Primo  de  Rivera,  den  Totengraber  der  spani- 
schen  Monarchic?  Ich  wahle  ein  Beispiel,  das  naher  liegt. 
Ich  verweise  Sie  nur  auf  den  murrisch  und  neidisch  hinter 
den  Ereignissen  herjagenden  Greis,  der  noch  gestern  der  iiber- 
legene,  der  sphinxhaft  lachelnde  General  von  Seeckt  gewesen 
ist,  um  Ihnen  nahezuriicken,  wieweit  Politik  einen  begabten 
Soldaten  demolieren  kann.  In  all  den  Jahren,  wo  ich  mich 
mit  der  Reichswehr  kritisch  befassen  muBte,  hat  mich  nicht 
nur  ein  pazifistisches  Motiv  geleitet;  sondern  mehr  noch  die 
staatsbiirgerliche  Eipsicht,  dafi  nichts  verheerender  fiir  unser 
Land  ist  als  ein  dilettantisches  Militarregiment,  als  die  Omni- 
potenz  der  Generalitat.  Sehr  gemaBigte  Politiker  haben  nicht 
anders  gedacht  und  gehandelt.  Graf  Bernstorff,  zum  Beispiel, 
hat  einmal  im  Reichstag  eine  bittere  Rede  gehalten  gegen  die 
„unselige  Soldatenspielerei,^  die  den  deutschen  Diplomaten 
die  Arbeit  so  erschwere.  Und  als  Stresemann  in  Locarno  ver- 
handelte,  da  tat  sich  in  Berlin  eine  kleine  militarische  Neben- 
regierung  auf,  die  auf  eigne  Faust  AuBenpolitik  trieb  und  die 
Schritte  der  verantwortlichen  Regierung  zu  konterkarieren 
suchte.  Stresemann  ist  wiederholt  aufs  harteste  der  Generali- 
tat iiber  Plane  und  Mundwerk  gefahren.  Wie  ware  es  mit  einem 
Landesverratsverfahren  post  mortem? 

„StaatsverIeumdung!M  rufen  Sie,  Herr  Minister,  und  die- 
ser  Begriff  ist  so  weit  gefaBt,  daB  jede  Kritik  damit  getroffen 
werden  kann,  jede  Bemuhung,  eine  Dummheit  subalterner 
Wichtigmacher  und  blindwiitiger  Organisierhengste  zu  brem- 
sen.  Sogar  die  Wahrheit  kann  als  „Verleumdung"  verfolgt  wer- 
den, wenn  sie  militarischen  Ressortgeheimnissen  widerspricht, 
deren  Aufdeckung  der  auBenpolitischen  Vernunft  dienlicher 
sein  kann  als  ihre  Vertuschung,  Und  was  schlieBlich  die  all- 
jahriichen     Schlagereien     um      das     Reichswehr-Budget      an- 

belangt L'etat    c'est    moi!    sagen    Sie    und    fibersetzen 

841 


das,  vom  Branch  ctwas  abweichend:  Der  Etat  bin  ich!  Was 
diese  kleine  Abweichung  bedeutet,  hat  unser  ProzeB  gezeigt. 

,(Staatsverleumdiing  — "?  Es  HeBe  sich  daruber  mit 
Ihnen  diskutieren,  Hcrr  Minister,  wcnn  nicht  ungliicklicher- 
weisc  der  Staat  fur  Sie  und  Ihre  Herren  identisch  ware  mit 
den  Interessen  Ihres  Ressorts.  Sie  schreiben:  „Der  Gesetz- 
geber,  der  vor  Jahren  den  strafrechtlichen  Schutz  des  Staates 
gegen  Angriffe  auf  seine  Stellung  nach  aufien  zu  schaffen 
hatte,  konnte  noch  nicht  die  Bedeutung  kennen,  die  die  of- 
fentliche  Propaganda  fiir  die  auBenpolitische  Stellung  eines 
Staates  erlangen  wiirde,  i  und  er  konnte  allerdings  auch  nicht 
glauben,  daB  eines  Tages  ein  organisiertes  Denunziantentum 
einen  so  unheilvollen  EinfluB  auf  die  Entwicklung  wichtiger 
politischer  Fragen  nehmen  wiirde."  Und  diese  fiirchterliche 
Charakteristik  soil  auf  die  armen  versprengten  Haufen  der 
Pazifisten  zutreffen?  Wie  sind  Sie  schlecht  unterrichtet,  Herr 
Minister!  Wenn  Sie  eine  Ahnung  etwa  von  der  Deutschen 
Friedensgesellschaft  hatten,  so  wiirden  Sie  wissen,  daB  in 
Deutschland  Organisation  und  Pazifismus  diametrale  Gegen- 
satze  sind.  Nein,  es  gibt  ein  andres  organisiertes  Denunzian- 
tentum, das  nichts  mit  den  Friedensfreunden  zu  tun  hat.  Seit 
zwolf  Jahren  treiben  die  Rechtsparteien  nichts  andres  als 
Staatsverleumdung.  Seit  zwolf  Jahren  lassen  sie  keine  Ge- 
legenheit  voriibergehen,  ohne  in  der  ganzen  Welt  die  Deutsche 
Republik  als  korrupt,  als  verlottert,  als  einen  Staat,  in  dem 
die  Arbeiterschaft  auf  Kosten  der  Gesamtheit  faulenzt,  zu 
denunzieren.  Hat  nicht  Herr  Schacht  in  Harzburg  die  deutsche 
Wahrung  ruinieren  wollen?  Hat  nicht  der  hypernationali- 
stische  Industriemagnat  Fritz  Thyssen  vor  Wochen  erst  mit 
falschenj  Zahlen  die  iamerikanische  offentlichkeit  iiber  den 
wirklichen  Stand  der  deutschen  Sozialpolitik  zu  dupieren  ver- 
sucht?  Hat  nicht  Herr  Hugenberg  einmal  in  Amerika  einen 
gewisseh  Brief  verbreitet,  der  auch  von  Leuten,  die  ihm  poli- 
tisch  nahestehen,  als  landesverraterisch  bezeiehnet  wurde? 
Und  muB  ich  Ihnen  wirklich  ins  Gedachtnis  zuruckrufen,  unter 
was  fiir  einem  Trommelfeuer  von  Verleumdung  alle  deutschen 
AuBenminister,  von  Simons  bis  Curtius,  zu  leiden  hatten,  wenn 
sie  Deutschland  drauBen  zu  vertreten  hatten?  Auch  das  war 
Staatsverleumdung  tausendfach  und  hat  trotzdem  nicht  die  be- 
scheidenste  Kanzlistenfeder  bei  der  Reichsanwaltschaft  in  Be* 
wegung  gebracht. 

Ich  verstehe  nicht,  daB  ein  so  erfahrener  Politiker  wie  Sie 
sich  selbst  zu  so  viel  Simplizitat  verurteilen  kann,  ganz  Deutsch- 
land in  zwei  Gruppen  zu  teilen:  in  die  Guten,  das  sind  die 
nWehrfreudigen",  die  alles  bewilligen,  was  der  Herr  Kriegs- 
minister  wiinscht,  und  die  Andern,  die  Bosen,  die  zu  semen 
Wiinschen  nein  sagen.  Der  aktuelle  Schnitt  durch  Deutschland 
lauft  anders! 

Es  hat  eine  2^eit  gegeben,  Herr  Minister,  wo  Sie  bei  den 
Leuten,  die  Ihnen  heute  verdachtig  laut  zujubeln,  noch  nicht 
so  beliebt  gewesen  sind-  Sie  haben  seit  1918  wiederholt  in 
das  deutsche  Schicksal  entscheidend  eingegriffen  Nicht  immer 
gliicklich,  aber  Sie  haben  zweimal  in  tragischen  Situationen  die 
Partei  der  Vernunft  gegen  die  Partei  eines  sinnlosen  Mili- 
842 


tarismus  zum  Siege  gefuhrt.  Sie  haben  1918  als  Nachfoiger 
Ludendorffs  dessen  Kurs  liquidiert,  Sie  haben  das  zu  einer 
Zeit  getan,  als  der  Pazifist  Rathenau  noch  hoffmmgslos  ver- 
wirrt  das  verhttngerte  und  ausgeblutete  Land  zur  levee  en 
masse  aufrief.  Und  Sie  haben  ira  Juni  1919,  als  die  Nationalver- 
sammlung  zogerte,  die  Zustimmung  zur  Unterzeichnung  des 
Versailler  Vertrags  zu  erteilen,  als  Offiziere  des  alten  Heeres* 
sttirmisch  den  letzten  Verzweiflungskampf  forderten,  mit  Auf- 
gebot  aller  Oberzeugungskraft  den  Herren  deutlich  gemacht, 
warum  es  ein  Wahnsinn  sei,  zur  angeblichen  Rettung  der  Waf- 
fenehre  einen  hoffnungslosen  Gang  zu  wagen.  Das  war  in  jenen 
Tagen,  als  Scheidemanns  Hand  verdorren  wollte,  als  altgediente 
Pazifisten  Widerstand  bis  zum  Letzten  predigten.  Es  ist  das 
historische  Verdienst  des  Generals  Groener,  in  diesen  Schick- 
salsstunden  „Defaitist"  gewesen  zu  sein.  Sie  blieben  mitten  in 
allgemeiner  Kopflosigkeit  Realist,  Sie  wurden  damals  und 
spater  von  der  militaristischen  Reaktion  mit  Ausdriicken  be- 
dacht,  die  sich  nicht  viel  von  jenen  unterscheiden,  mit  denen 
sie  heute  die  Pazifisten  bederiken,  deren  Nero  oder  Diocle- 
tian Sie  leider  werden  mochten.  Es  ist  keine  schone  Aus- 
sicht,  als  Vater  einer  Zuchthausvorlage  in  die  Geschichte  ein- 
zugehen,  als  Unterdriicker  des  freien  Worts  der  Presse.  Ich 
bin  Ihr  Gegner,  aber  kein  ungerechter,  und  deshalb  drangt  es 
mich,  angesichts  der  gefahrlichen  Entscheidung,  die  Sie  auf  sich 
genommen  haben,  ein  Stuck  aus  Ihrer  Vergangenheit  lebendig 
zu  machen,  das  Ihren  Namen  freundlicher  strahlen  laBt  als 
Ihre  neuern  Taten  es  vermogen, 

Es  ist  eine  etwas  komische  Vorstellung,  daB  in  dieser 
Zeit,  wo  in  Deutschland  alles  mit  Messer  oder  Kniippel  ge- 
macht wird,  die  paar  Manner,  die  noch  eine  Ehre  darin  sehen, 
mit  der  Feder  zu  kampfen,  zuerst  unschadlich  gemacht  wer- 
den sollen.  ,,Epargnez  la  tete!",  rief  jener  pariser  Aristo- 
krat,  der  den  jungen  Voltaire  von  seinem  Lakaien  verbleuen 
lieB.  Schont  den  Kopf!  In  Deutschland  gibt  es  nur  auf  den 
Kopf^  das  scheint  hierzulande  Gesetz  zu  sein,  und  es  stimmt 
nicht  trostlicher,  daB  diesmal  das  Gesetz  von  einem  Manne 
verhangt  wird,  der  sich  als  guter  Republikaner  vorstellt.  ,,Die 
Freiheit,  die  wir  besingen  und  erstreben,  ist  Opfer  wert." 
So  schreiben  Sie.  Wir  sind  beide  Republikaner,  Herr  Mini- 
ster, aber  ich  fiirchte,  wir  meinen  nicht  die  gleiche  Freiheit, 
und  wir  singen  auch  nicht  in  der  gleichen  Stimmlage.  Wahr- 
scheinlich  singen  wir  auch  alle  beide  nicht  sehr  schon,  wobei 
Sie  allerdings  den  Vorzug  haben,  von  einem  Militarorchester 
begleitet  zu  sein. 

*  Ich  glaube  nicht,  daB  wir  uns  leicht  einigen  werden,  Herr 
Reichswehrminister.  Als  Ioyaler  Gegner  mochte  ich  Ihnen  in- 
dessen  anbieten,  auf  diesen  offenen  Brief  ebenso  of  fen  an  die- 
ser Stelle  zu  antworten.  Da  Sie  die  Vollblutfascisten  der 
tD.A.  Z/  nicht  gestort  haben,  dort  Ihre  Meinung  zu  vertreten, 
glaube  ich  hoff en  zu  durfen,  daB  Sie  auch  an  den  liebenswiirdi- 
gen  Petroleuren  der  ,Weltbuhne'  keinen  AnstoB  nehmen 
werden. 

Genehmigen    Sie,    Herr    Minister,    den    Ausdruck    meiner 
vorztiglichsten  Hochachtung  . . , 
*'  843 


Zentrum  und  Fascistnus  vohk.  l.  Gerstorft 

V\  ie  Koalitionsgesprache  zwischen  dem  Zentrum  und  den 
Nazis  werden  an  den  verschiedensten  Stellen  gefiihrt;  bis* 
her  ist  noch  keine  endgiiltige  Entscheidung  getroffen  worden. 
Das  hat  nicht  zum  wenigsten  seinen  Grund  in  der  Lage  des 
Zentrums  selbst.  Wenn  wir  uns  die  Ergebnisse  der  letzten 
Wahlen  ansehen,  so  ist  festzustellen,  daB  das  Zentrum  bisher 
die  einzige  biirgerliche  Partei  gewesen  ist,  die  sich  gegenuber 
dem  Ansturm  der  Nazis  voll  behauptet  hat.  Es  hat  sogar  in 
Hessen  einige  Tausend  neuer  Wahler  gewonnen,  das  heiBt,  es 
hat  seinen  prozentualen  Anteil  an  den  Wahlern  behaupten 
konnen.  Die  burgerlichen  Parteien  rechts  und  links  vom  Zen- 
trum sind  durch  den  Nationalsozialismus  fast  vollig  zermurbt 
worden.  Die  Arbeiterparteien  zusammengenommen  behaupten 
sich  im  Kern;  ein  wenig  ist  allerdings  ihr  prozentualer  Anteil 
gesunken,  was  unter  anderm  auch  daher  kommen  mag,  daB 
einTeil  der  jungen Wahler,  die  noch  nie  im  ProduktionsprozeB 
gestanden  haben,  den  Nazis  seine  Stimmen  gibt.  Wenn  wir  heute 
in  PreuBen  Wahlen  hatten,  so  wiirden  die  Ergebnisse  voraus- 
sichtlich  denen  in  Hessen  entsprechen.  Die  Nazis  allein  hatten 
sicherlicti  keine  Majoritat,  dagegen  moglicherweise  eine  mit 
dem  Zentrum.  Die  Nazis  allein  werden  nicht  starker  sein  als 
die  Arbeiterparteien  zusammen. 

Es  sind  sehr  entscheidende  Erwagungen,  die  das  Zentrum 
bisher  von  einer  Koalition  mit  Hitler  abgehalten  haben,  ent- 
scheidende Erwagungen,  von  denen  aber  ausdrucklich  gesagt 
werden  muB,  daB  sie  taktischer  Natur  sind  und  bereits  in  der 
nachsten  Zeit  bei  dem  augenblicklichen  Tempo  der  Entwick- 
lung  uberholt  sein  konnen.  Die  Situation  auf  den  internatio- 
nalen  Kapitalmarkten  hat  sich  in  letzter  Zeit  nicht  sehr  ver- 
andert;  in  den  nachsten  Monaten  wird  man  versuchen,  die  Ver- 
handlungen  liber  die  Regelung  der  Younglasten  und  uber 
die  der  kurzfristigen  deutschen  Verschuldung  zu  einem,  wenn 
auch  nur  vorlaufigen  AbschluB  zu  bringen,  Der  entscheidende 
Partner,  mit  dem  der  deutsche  Kapitalismus  dabei  zu  tun  hat, 
ist  Frankreich.  Und  der  Kanzler  Briining  hat  im  Reichstag  mit 
Recht  betont,  daB  die  Bedingungen  des  franzosischen  Kapi- 
talismus bei  einer  nationalsozialistischen  Regierungsbeteili- 
gung  wahrscheinlich  noch  schwerer  sein  werden  als  sie  es 
ohnehin  schon  sind.  Das  Monopolkapital  hat  daher,  was  die 
auBenpolitische  Situation  Deutschlands  anbelangt,  kein  Inter- 
esse  daran,  vor  dem  AbschluB  dieser  Verhandlungen  den  Ein- 
tritt  Hitlers  in  die  Regierung  zu  beschleunigen.  Und  es  ist 
charakteristisch,  daB  bei  all  den  Ministerlisten,  die  bis 
heute  zirkulierten,  die  Nationalsozialisten  niemals  auf 
den  Posten  des  AuBenministers  Anspruch  erhoben  haben; 
den  wollen  sie  gern  dem  Zentrum  uberlassen.  Aber  es  ist  na- 
tiirlich,  daB  die  Nazis  sich  vor  der  auBenpolitischen  Verant- 
wortung  nicht  werden  driicken  konnen;  und  das  ist  eine  nicht 
unbetrachtliche  Sorge  fur  sie.  Hitler  fallt  eine  „Umstellung'* 
auch  in  diesem  Punkte  nicht  sehr  schwer.  Wie  er  einst  die  Be- 
freiung  Siidtirols  glatt  aus  dem  Programm  gestrichen  hat,  als 
Mussolini    etwas    ungnadig    wurde,    so    werden    er    und    sein 

844 


engerer  Stab  sich  auch  mit  den  franzosischen  Natio- 
nalisten  verstandigen.  Aber  damit  Hitler  iiir  das  Monopol- 
kapital  ein  wesentlicher  Bundesgenosse  werden  konnte,  mufite 
er  eine  groBe  Bewegung  entfachen.  Er  hat  sie  entfacht.  Er 
hat  hunderttausende  von  deklassierten  Kleinburgern,  die  durch 
das  Monopolkapital  proletarisiert  wurden,  politisiert,  er  hat  sie 
auf  die  StraBe  gebracht  unter  der  Parole:  Gegen  den  Marxis- 
mus  —  Fur  den  Nationalisms  Aber  grade  bei  diesen  Massen 
geniigte  ein  abstrakter  Nationalisms  nicht;  er  muBte  vielmehr 
konkretisiert  werden,  und  der  konkrete  Gegner  war  in  alien 
nationalsozialistischen  Reden  oind  Schriften  immer  Frankreich. 
Den  Hunderttausenden  am  Tage  vor  der  Machtergreifung  zu  er- 
klaren:  siegreich  wollen  wir  Frankreich  schlagen,  urn  ihnen  am 
Tage  danach  auseinanderzusetzen:  Wir  miissen  Kredite  von 
Frankreich  haben — das  ist  eine  Frage,  die  fur  die  Nationalsozia- 
listen  nicht  ganz  einfach  zu  losen  sein  wird.  Und  wenn  Hitler  bei 
alien  Widerstanden  in  der  eignen  Partei  diese  Schwenkung 
vollziehen  wird,  so  muB  und  wird  er  dafur  von  Briining  ein 
Aequivalent  verlangen,  ein  Ventil  fur  seine  aktivsten  Anhan- 
ger;  und  dieses  Ventil  kann  nur  der  scharfste  Terror  im  Innern 
sein.  Man  soil  sich  da  keinen  Illusionen  hingeben  und  nicht 
etwa  glaoiben,  daB  die  Nationalsozialisten  hier  sehr  bescheiden 
sein  werden;  sie  konnen  sich  doch  beim  Regierungseintritt 
nicht  mit  dem  Postministerium  begniigen,  sondern  miissen 
versuchen,  die  realen  Machtpositionen  zu  besetzen.  Sie  wer- 
den sich  nicht  mit  dem  Verbot  der  KPD  und  einiger  linksradi- 
kaler  Zeitschriften  bescheiden,  sie  werden  die  Zerschlagung  der 
Sozialdemokratie,  die  Zerschlagung  der  Gewerkschaften,  die 
Zerschlagung  samtlicher  Arbeiterorganisationen  verlangen.  Also 
ist  es  eine  groteske  Illusion,  die  leider  noch  in  vielen  Arbeiter- 
hirnen  spukt,  dal}  man  die  Nationalsozialisten  nur  ans  Ruder 
lassen  solle,  sie  wurden  schon  in  kurzer  Zeit  abwirtschaften.  Ge- 
wiB  werden  sie  abwirtschaften,  wenn  damit  gesagt  wird, 
daB  sie  die  okonomische  Krise  nicht  liquidieren  werden;  aber 
grade  weil  sie  so  die  groBen  Massen  der  Bauern,  der  Klein- 
handler,  Handwerker  und  Angestellten  enttauschen  werden 
und  enttauschen  miissen,  so  werden  sie  zum  scharfsten  Terror 
greifen,  urn  die  wirkliche  Front  der  Gegner,  die  Arbeiterschaft, 
zu   zermurben,   ja,   wenn  moglich,   zu   zertriimmern. 

Und  hier  stockt  das  Zentrum,  stockt  wenigstens  bisher. 
Das  Zentrum  und  die  Bayrische  Volkspartei  haben  im  deut- 
schen  Nachkriegskapitalismus  bisher  auBerordentiich  starke 
Machtpositionen  gehabt.  Und  doch  waren  es  nur  ungefahr 
16  Prozent  der  deutschen  Wahler,  die  Zentrum  wahlten.  Die 
Machtpositionen  des  Zentrums  basierten  daratif,  daB  es  eine 
Partei  der  Mitte  war,  daB  es  je  nach  Bedarf  nach  rechts  zu 
den  Deulschnationalen  optieren  konnte  und  nach  links  zu  den 
Sozialdemokraten,  daB  es,  solange  die  Deutschnationalen  exi- 
stierten,  sogar  gleichzeitig  mit  rechts  im  Reichstag  und  mit 
links  in  PreuBen  regieren  konnte.  Wenn  das  Zentrum  mit  den 
Nationalsozialisten  cine  Koalition  bildet  und  dabei  duldet,  daB 
sie  die  Arbeiterorganisationen  zerschlagen,  dann  ist  das  Zen- 
trum eben  nicht  mehr  eine  Partei  der  Mitte,  sondern  der  linke 
Schwanz  einer  nationalsozialistischen  Regierung,  und  das  Zen- 

845 


trum  hat  in  letzter  Zeit  Erfahrungen  genug  gemacht,  wie  die 
Nazis  mit  ihrcn  friihern  Bundesgenossen  iimgehen.  Hatten  in 
Harzburg  Hugenbcrg  und  Hitler  noch  gemeinsam  ein  Manifest 
erlassen  und  erklart,  dafi  -die  nationale  Opposition  zusammen 
bis  zumSieg  und  nacK  dem  Sieg  kampfen  werde,  so  war  wenige 
Wochen  nach  Harzburg  die  nationale  Opposition  zerf  alien,  und 
Hitler  hatte  nicht  die  mindesten  Bedenken,  bei  den  Verhand- 
lungen  mit  Briining  Hugenberg  zoi  opfern.  1st  das  Zentrum  also 
der  linke  Schwanz  einer  nationalsozialistischen  Regierung,  so 
befiirchtet  Briining,  daB  es  ihm  in  der  Regierung  mit  Hitler  bald 
so  ergehen  konnte,  wie  Hugenberg  vorher,  und  daB  der  Zen- 
trumspartei  als  Ganzem  das  Schicksal  bereitet  werden  wiirde, 
das  Mussolini  den  katholischen  Popolari  in  Italien  bereitet  hat. 

Das  Zentrum  ist  bisher  die  einzige  biirgerliche  Partei  ge- 
wesen,  die  sich  gegeniiber  dem  Ansturm  von  rechts  gehalten 
hat,  die  den  biirgerlichen,  den  bauerlichen  und  den  Arbeiter- 
fliigel  zusammengehalten  hat.  Das  Zentrum  befiirchtet  grade 
bei  einer  Koalition  mit  den  Nazis  als  Partei  zerschlagen  zu 
werden.  Und  es  ist  in  diesem  Zusammenhang  nicht  unwesent- 
lich,  daB  der  Fuhrer  der  Christlichen  Gewerkschaften  im  Rhein- 
lande  jiingst  erklarte;  wenn  es  hart  auf  hart  ginge,  wiirden  die 
Christlichen  Gewerkschaften  gemeinsam  mit  den  Freien  Ge- 
werkschaften gegen  die  Nazis  kampfen. 

Man  soil  die  taktischen  Gegensatze,  die  zwischen  den 
Nazis  und  dem  Zentrum  heute  noch  vorhanden  sind,  nicht 
unterschatzen,  Man  soil  sie  aber  auch  nicht  uberschatzen.  Die 
Nazis  und  das  Zentrum  agieren  ja  nicht  im  Himmel  sondern  auf 
der  platten  Erde,  sie  sind  beide  letzthin  ausfuhrende  Organe  des 
Kapitals.  Und  die  internationale  Situation  des  Kapitalismus 
hat  sich  in  der  letzten  Zeit  gewiB  nicht  verbessert.  Internatio- 
nal ist  von  einer  Besserung  jedenfalls  nichts  z,u  spiiren.  Alle, 
die  von  der  Erhohung  der  Getreidepreise  in  Chicago  die  Er- 
holuntf  der  Rohstoffmarkte  erwarteten,  einen  Anstieg  der 
amerikanischen  Wirtschaftsbelebung,  einen  Silberstreifen  auch 
fiir  den  europaischen  Kapitalismus,  alle  diese  Illusionisten  sind 
wieder  urn  eine  Hoffnung  armer  geworden.  Die  amerikanische 
Produktion  ist  in  der  letzten  Zeit  wieder  zuriickgegangen,  und 
kein  Mensch  in  USA.  erwartet  fiir  absehbare  Zeit  einen  An- 
stieg. Zugleich  wird  die  Situation  auf  den  internationalen  Ka- 
pitalmarkten  immer  unsicherer,  die  Entwertung  des  englischen 
Pfundes  schreitet  fort,  es  zeigt  sich  selbst  bei  einem  Kapitalis- 
mus, der  solche  Reserven  hat  wie  der  englische,  mit  aller 
Deutlichkeit,  daB  man  den  Anfang  einer  Inflation  in  der  Hand 
nat,  aber  nicht  mehr  das  Ende.  In  Frankreich  ist  die  Krise 
tiefer  geworden,  es  ist  nicht  mehr  das  Land  ohne  Arbeitslose, 
und  der  Sieg  der  Tories  mit  der  Verwirklichung  der  englischen 
Schutzzollplane  hat  die  D'eroutierung  der  Weltwirtschaft  noch 
weiter  verstarkt.  In  der  ganzen  Welt  steigen  die  Zollmauern, 
und  so  werden  auch  die  Schwierigkeiten  fiir  die  deutsche  Ex- 
portindustrie,  deren  gunstige  Bilanz  bisher  noch  der  einzige 
Lichtpunkt  war,  immer  groBer.  Die  neue  Notverordnung  wird 
wahrscheinlich  einen  weitern  rigorosen  Abbau  der  Beamten- 
gehalter  und  der  ,  Sozialversicherung .  bringen,  wir  stehen 
vor  einem  neueri,  riesenhaften  konzentrischen  Anjgriff  des  Mo- 
846 


nopolkapitals  auf  den  Lebensstandard  der  deutschen  Arbeiter- 
schaft; vor  einem  Angriff,  dessen  Brutalitat  sclbst  fur  die  Ge- 
werkschaftsvertreter  so  schwer  zu  verteidigen  ist,  daB  der 
,Freie  Angestellte',  das  Organ  des  Zentraiverbandes  der  An- 
gestellten,  gezwungen  ist  zu  schreiben:  ,tDie  Wirtschaftspolitik 
dieses  Unternehmerprogramms  der  Regierung  Briining  tole- 
rieren  —  hieBe  einen  neuen  Schritt  zum  Fascismus  tun." 

Zentrum  und  Fascismus  agieren  nicht  im  Himmel  sondern 
auf  der  platten  Erde.  Das  Monopolkapital  hat  es  bei  der  bis- 
herigen  Situation  fiir  taktisch  opportun  gehalten,  getrennt  zu 
marschieren,  um  vereint  zu  schlagen  und  durch  die  Drohung 
mit  Hitler  die  sozialdemokratische  Partei  und  die  Gewerk- 
schaften  zu  alien  Konzessionen  zu  notigen,  Wenn  das  Tempo 
der  Krise  noch  zunimmt,  so  kann  es  das  Monopolkapital  bald 
fiir  opportun  halten,  nicht  mehr  getrennt  zu  marschieren  und 
vereint  zu  schlagen,  sondern  bereits  vereint  zu  marschieren. 
Die  gesamte  Arbeiterschaft  mufi  das  wissen,  Sie  muB  weiter 
wissen,  daB  man  den  Eintritt  Hitlers  in  die  Regierung  nicht 
durch  parlamentarische  Abstimmungen  verhindert;  die  Atem- 
pause,  die  die  Tolerierung  der  Briiningregierung  seiner  Zeit  ge- 
schaffen  hat,  hat  nicht,  wie  wohl  heute  keiner  bestreiten  kann, 
dazu  beigetragen,  die  Positionen  der  Arbeiterschaft  zu  star- 
ken,  sondern  allein  die  Hitlers.  Was  heute  nottut,  ist  also, 
angesichts  des  Fascismus  einen  auBerparlamentarischen 
Kampf  der  Arbeiterklasse  an  alien  Frontabschnitten  zu  organi- 
sieren,  sowohl  gegeniiber  der  direkten  Kapitaloffensive  und  den 
brutalen  Lohnabbauplanen  der  Unternehmer,  wie  gegeniiber 
den  immer  scharfer  werdenden  Terroraktionen  der  National- 
sozialisten.  In  der  Arbeiterschaft  wachst  spontan  der  Abwehr- 
wille,  und  notwendig  ist,  daB  dieser  Abwehrwille  rechtzeitig 
organisiert  wird,  das  heiflt  nicht  erst  dann,  wenn  die  Fasci- 
sten,  unabhangig  vom  Parteibuch,  samtliche  Arbeiter  terrori- 
sieren  —  sondern  heute  muB  ihrem  konzentrischen  Angriff 
die  konzentrische  Abwehrfront  gegenubergestellt  werden. 


Coudenhove  blamiert  Europa  Feiix  stdnssinger 

C  in  europaisches  Komitee  der  besten  Namen  hat  im  norwegi- 
L*  schen  Storthing  den  Organisator  der  paneuropaischen  Be- 
wegung,  Coudenhove-Kalergi,  fiir  den  Friedenspreis  der  Nobel- 
stiftung  vorgeschlagen,  Wenn  damit  der  Idee  des  Vereinig- 
ten  Europaischen  Kontinents  eine  Reverenz  erwiesen  werden 
soil,  dann  konnen  sich  uber  diese  Kandidatur  auch  die  Kon- 
tinentalpolitiker  der  ,Sozialistischen  Mcnatshefte'  freue^  die 
die  Konzeption  der  fiinf  Weltimperien  bereits  gepragt  und  pro- 
pagiert  haben,  als  Coudenhove  noch  auf  der  Schulbank  safl. 
Trotzdem  ist  es  nicht  wenig  erheiternd,  die  Namen  der  An- 
tragsteller  zu  lesen.  Mit  Ausnahme  von  Benesch,  der  langer 
als  Coudenhove  Kontinentalpolitik  kennt  und  treibt,  und  mit 
vielleicht  noch  zwei  oder  drei  Ausnahmen,  gehoren  die  mei- 
sten  Antragsteller  zu  den  Gruppen,  die  den  ZusammenschluB 
Europas  bisher  nicht  gefordert  sondern  sabotiert  haben  und 
deshalb  die  wirklichen  Kontinentalpolitiker  nicht  gern  Unter 
den   Linden   oder  in   der  Wilhelm-StraBe   griiBen.      Auch   bei 

847 


dieser  Aktion  ist  es  Coudenhove  wieder  gelungen,  ohne  Sinn 
fur  geistige  oind  politische  Distanz  ein  Komitee  zu  bilden,  ein 
richtiges  Abbild  des  Krethi  und  Plethi,  das  sich  in  der  deut- 
schen  Sektion  Paneuropas  eingenistet  hat  und  sic  als  Asyl  be- 
nutzt,  in  dem  deutsche  Rcvisionspolitik  gcgen  Frankrcich  und 
englische  Schiedsrichtcrpolitik  gegen  Europa  untcr  jener  fal- 
schen  Flagge  geschmuggelt  wird,  die  Coudenhovc  wohl  nicht 
erfunden  hat,   um  Konterbande  gcgen  Europa  zu  exportieren. 

In  der  Praxis  ist  das  aber  leider  der  Fall.  Und  zwar  nur 
durch  Coudenhoves  eigne  Schuld.  Es  ist  deshalb  im  Interesse 
des  europaischen  Zusammenschlusses  nicht  langer  moglich, 
Coudenhove  ungeschoren  zu  lassen.  Er  gilt  im  Ausland  als 
deutscher  Exponent  der  Idee  Europa;  der  Miflbrauch,  den  er 
mit  ihr  in  seinem  Buch  Stalin  &  Co  getrieben  hat,  fallt  auf  uns 
alle  zuriick. 

Es  gibt  Ideen,  deren  GroBe  cine  klare  Aussprache  not- 
wendig  macht,  und  die  ein  diplomatisches  Getuschel  aus- 
schlieBen.  Keine  Politik  ist  ohne  Taktikt  ja  nicht  einmal  ohne 
Kompromisse  denkbar.  Aber  man  muB  auch  wissen,  welchen 
Teil  dcs  Ganzen  man  dem  KompromiB  voriibergehend  opfern 
kann,  ohne  damit  sich  selbst  zu  opfern.  Coudenhove  weiB  ge- 
nauf  daB  Europa  ein  Imperium  fair  sich  selbst  ist  und  England 
ein  Teil  des  britischen.  Er  veroffentlicht  ja  selbst  in  jedem 
Heft  seiner  Zeitschrift  cine  Landkarte,  in  der  genau  nach  den 
Angaben  der  Kontinentalpolitik  der  .Sozialistischen  Monats- 
heftc*  die  bcilaufigen  Abgrcnzungen  der  fiinf  Impenen  einge- 
zeichnet  sind.  Mit  dieser  kartographischen  Deklarierung  halt 
Coudenhove  seine  Pflicht  fur  getan.  Im  taglichen  Kampf  die 
englischen  Storungen  der  deutsch-franzosischen  Zusammen- 
arbeit,  die  Sabotage  dcs  Europakomitees  durch  MacDonald, 
die  ZerreiBung  dcs  Genfer  Pakts  durch  Chamberlain  als 
Schlage  gegen  Europa  entlarven,  —  dieses  Vergniigen  iiberlaBt 
er  uns.  Coudenhove  glaubt  namlich  ganz  im  Ernst,  die  Eng- 
lander  werden  mit  der  Zeit  tleinsehen",  daB  sic  nicht  zu 
Europa  gehoren,  und  dann  ist  alles  in  Butter.  Dieses  Kindi 
Als  ob  die  Englander  nicht  schon  langer  als  Coudenhove  wiiB- 
ten,  daB  sic  nicht  zu  Europa  gehoren.  Deswegcn  geben  sie 
ihre  Schiedsrichter-  und  Ausbeuterstellung  in  Europa  cbenso- 
wenig  auf  wie  Kapitalisten  auf  die  Wegnahme  dcs  Mehrwerts 
verzichten,  weil  sie  „cinsehen ',  daB  er  nicht  ihnen  gehort.  Ober 
Englands  Stellung  zum  Kontinent  ist  cben  nicht  England, 
sondern  Deutschland  aufzuklarcn.  Diese  Aufklarungspflicht 
hat  Coudenhove  groblich  verletzt,  und  alle  Reaktionarc  der 
AuBenpolitik,  die  die  Kontinentalpolitik  fliehen,  weil  sie  mit 
Europa  ernst  macht  und  daher  Front  nimmt  gegen  die  Storer 
Europas,  iliichtcn  sich  zu  ihm,  ohne  einen  Blick  auf  seine 
Landkarte  zu  werfen,  von  der  sie  wissen,  daB  sie  niemanden 
stort  Taktiker  wie  Coudenhove  vcrgesscn  mit  der  Zeit,  was 
sie  einmal  gewuBt  haben,  und  durch  eine  solchc  Fehlleistung 
verriet  sich  Coudenhove,  als  cr  einmal  als  zukiinftige  Ver- 
kehrssprachc  Europas   ausgerechnct  cnglisch  vorschlug. 

Coudenhoves  Schweigen  iiber  England,  war  immcr  schlimm. 
Sein  Aufruf  an  Europa,  sich  gegen  RuBland  zusammenzu- 
schlicBcn,  ist  aber  der  Verfall. 

848 


Stalin  &  Co.  ist  das  erfolgreichste  deutsche  Buch  gegen  die 
Bolschewistcn.  Nach  Angabe  des  Verlagjes  werden  taglich  tausend 
Excmplare  vcrkauf t.  Das  sind  taglich  tausend  Biicher  gegen 
Paneuropa,  gegen  Kontinentalpolitik,  gegen  die  Reinheit  der 
Idee  des  imperialen  Zusammenschlusses  und  fur  die  Ver- 
hetzung  der  Imperien.  Wenn  das  audi  praktisch  iiberhaupt 
nicht  moglich  ist,  so  bedeutet  es  doch  eine  solche  Kompro- 
mittierung  der  Idee,  dafl  kein  Wort  dagegen  zu  schade  ist. 

Es  war  die  Spezialitat  der  dummsten  Gegner  der  Konti- 
nentalpolitik,  uns  vorzuwerfen,  wir  f,verhinderten"  die  Eini- 
gung  der  Welt  (die  offenbar  vor  der  Tiir  stand),  indem  wir 
eine  neue  Bundnispolitik  „gegen"  j  em  and,  namlich  gegen  Eng- 
land, richteten.  Das  war  vor  all  em  der  Vorwurf  von  Poli- 
tikern,  die  eine  Politik  gegen  Frankreich  damals  wie  heute 
selbstverstandlich  finden.  Inzwischen  ist  wohl  schon  bekannt 
geworden,  daB  die  Kontinentalpolitik  gegen  kein  Volk, 
kein  Land,  keine  Staats-  und  keine  Wirtschaftsform  gerichtet 
ist  (deren  Anderung  niemals  Sache  der  AuBenpolitik  sein  kann) 
und  dafl  unsre  AuBenpolitik  nur  imperialistische  Anspniche 
einer  jeden  Macht  gegen  eine  andre,  eines  Imperiums  gegen 
das  andre  zuriickweist,  das  allerdings  griindlich,  weswegen 
unsre  Gegner  behaupten,  wir  waren  ,,manisch"  gegen  England, 
wo  es  doch  in  Deutschland  nur  gestattet  ist,  manisch  gegen 
Versailles,  Frankreich,  Polen  oder  fur  RuBland,  England, 
Amerika  zu  sein.  Die  Kontinentalpolitik  ist  eben  iiberhaupt 
keine  Politik  anti,  sondern  nur  eine  Politik  pro,  und  begriiBt 
daher  in  alien  Landern  der  Welt  jede  Kraft,  welcher  Partei 
auch  immer,  die  driiben  fur  den  eignen  imperialen 
Ausbau  wirkt.  Die  Kontinentalpolitik  will  alien  Volkern 
und  Landern  die  ungestorte  Entwicklung  ihrer  eignen  Pro- 
duktionskrafte  sichern  und  alle  Hindernisse,  imperialistische 
und  kapitalistische,  beseitigen,  die  diese  unverauBerlichen  Men- 
schenrechte  schmalern.  Deswegen  ist  die  Kontinentalpolitik 
sozialistische  Politik,  und  deswegen  ist  es  ihre  vollige  Umkeh- 
rung,  wenn  ein  Coudenhove  Europa  aufruft,  sich  zu  einer  de- 
fensiven  Intervention  gegen  die  russische  Oberproduktion  zu- 
sammenzuschlieBen.  Coudenhove  zeigt  damit,  daB  er  den 
schopferischen  Gedanken  der  Imperienbildung  iiberhaupt  nicht 
begriffen  hat,  da  sie  nicht  die  Produktivkrafte  der  andern 
unterbinden,  sondern  befreien  wilL 

Gegen  diesen  Antibolschewismus  Coudenhoves,  der  die 
Hysterie  verkrachter  europaischer  Kapitalisten  in  Dienst  stellt, 
miissen  vor  allem  wir  als  Vertreter  eines  sozialistischen  inte- 
gralen  Antibolschewismus  Stellung  nehmen.  Nur  weil  wir 
uberzeugt  sind,  daB  der  Bolschewismus  die  wirkliche  Pro- 
duktionskraft  unterbindet,  bekampfen  wir  ihn. 

Wie  aber  die  verangstigteri  Kapitalisten  Europas  bei  der 
Ankunft  eines  jeden  Schiffes  des  roten  Handels  iiber  den 
Untergang  des  Kapitalismus  klonen,  so  ist  fur  Coudenhove  der 
Stalmismus  jetzt  schon  eine  Macht,  groBer  als  Papst  plus 
Hoover  plus  Morgan.  (Der  Vergleich  ist  iibrigens  durch  die 
Drucklegung  tiberholt,  da  ja  auch  amerikanische  Firmen  einen 
Beigeschmack  von  Kreditanstalt  auf  der  Zunge  hinterlassen.) 
An  Stelle   des   Gespensts   vom   bolschewisiischen   Elend,    das 

849 


nach  mciner  Ansicht  real  istt  setzt  Coudenhovfi  das  Gespenst  von 
der  bolschewistischen  Prosperitat!  Untcr  dicser  Parole  Europa 
zur  Einigkeit  aufzurufen,  ist  frcilich  ein  unfreiwillig  komisches 
da  capo  der  Praambel  zum  Kommunistischen  Manifest.  Unser 
Europa  steht  unter  der  Idee  des  Schaffens;  trotzdem  liegt  uns 
jeder  Versuch  fern,  auBenpolitisch  die  Wirtschaftsform  eines 
andern  Landes  zu  bekampfen,  Europa  aber  zu  mobilisieren 
gegen  die  Schaffenskraft  irgend  eines  Teiles  der  Welt  —  an 
dessen  Prosperitat  man  glaubt  — ,  das  heiBt  die  europaische 
Idee    in   Trummer  schlagen. 

Coudenhove  begann  jung  und  war  schon  durch  seinen 
Enthusiasmus.  Er  schloB  sich  spontan  einer  Idee  an,  die  er 
fand  und  die  ihm  gefiel,  Fur  diese  Idee  hat  er  seitdem  so 
viel  getan,  daB  er  keine  Zeit  mehr  fand,  sie  zu  verstehn.  Ober 
das  Formale  ist  er  nie  hinausgekommen,  Alle  seine  Feh- 
ler  sind  nicht  boser  Wille,  sondern  eine  Wesensfremdheit  der 
Sache  gegeniiber.  Das  mag  ihn  personlich  entschuldigen  aber 
nicht  politisch,  Ein  Hindernis  mehr  fur  den  Aufbau  des  Ver- 
einigten  Europaischen  Kontinents  —  das  ist  sein  Paneuropa. 


Manabendra  Nath  Roy  von  Asiatics 

Am  21,  Juli  um  5  Uhr  morgens  hat  die  Polizei  in  Bombay  ein  jahre- 
**  lang  vergeblich  verfolgtcs  und  gehetztes  Wild  zur  Strecke  ge- 
bracht.  Es  ist  Manabendra  Nath  Roy,  nach  dem  Polizeibericht  f,the 
notorious   Indian  revolutionary  and  communist  of  international  fame". 

Am  gleichen  Tage  sind  in  Bombay  zehn  Inder  unter  der  Anklage 
der  Beherbergung  M.  N,  Roys  verhaf tet  worden,  Es  sind  dies  die  Fiihrer 
des  Allindischen  Gewerkschafts-Kongresses,  des  linken  Flugels  im 
National -KongreBf  der  revolutionaren  Jugend-  und  Studentenorgani- 
sationen.  Eine  Riesenversammlung,  einberufen  vom  Allindischen  Ge- 
werkschafts-Kongrefi  und  von  den  Gewerkschaften  der  Textilarbeiter, 
Eisenbahner,  StraBenbahner,  Lederarbeiter  und  der  Arbeitslosen- 
Assoziation,  erklarte  in  ihrer  EntschlieBung,  daB  die  Verhaftungen 
Meine  groB  angel  eg  te  Offensive  gegen  die  revolutionare  Bewegung  dcr 
Massen  Indiens  fur  nationale  Freiheit  und  einen  Angriff  auf  die  Ar- 
beiter-  und  Gewerkschaftsbewegung"  darstellen.  Von  den  genannten 
Organisationen  wurde  auch  ein  Verteidigungskomitee  fiir  M.  N.  Roy 
gebildetf  dem  sich  namhafte  Rechtsanwalte  und  Fiihrer  des  Indischen 
National-Kongresses  freiwillig  anschlossen.  Dies  Komitee  hat  zu 
solidarischen  Protestaktionen  in  Indien  und  der  Internationale  auf- 
gerufen.  Dank  seiner  Initiative,  die  auch  in  Europa  und  Amerika 
einen  starken  Widerhall  gefunden  hat,  ist  gegenwartig  in  Indien  eine 
stetig  wachsende  Massenbewegung  unter  der  Losung  „Save  Roy!"  im 
Gange,  die  von  der  Kolonialjustiz  mit  dem  hermetischen  AbschluB 
Roys  von  der  AuBenwelt  und  zuletzt  auch  mit  der  Verhaftung  seines 
Verteidigers   beantwortet  wurde. 

Nach  den  Berichten  der  englischen  Presse  lautet  die  Anklage 
gegen  M,  N.  Roy  auf  „ waging  war  against  the  King"  (Kriegfuhrung 
gegen  den  Konig),  Nach  dem  indischen  Strafgesetzbuch  steht  darauf 
Todesstrafe  oder  lebenslangliche  Deportation.  Die  Verhaftung  erfolgte 
indessen  unter  Berufung  auf  Artikel  121  A  „wegen  Verschworung  und 
Verbrechens  gegen  den  Staat",  begangen  durch  die  angebliche  Urheber- 
schaft  am  Auf  stand  in  Cawnpore  1924.  Auf  Grund  des  Steckbriefes 
ist  M.  N.  Roy  nach  der  Verhaftung  in  das  Gefangnis  von  Cawnpore 
eingeliefert  worden,  wo  seit  dem  12.  November  sein  ProzeB  stattfin- 
det,  fur  den  eine  einmonatliche  Dauer  vorgesehen  ist,  Schuldig  in  die- 
850 


sem  Falle  bedeutet  die  Verurteilung  zu  lebenslanglicher  Deportation 
oder  zu  Gefangnis  nicht  unter  zehn  Jahren.  Die  Untersuchung  wird 
aber  auch  noch  auf  andre  Falle  ausgedehnt.  So  soil  nach  englischen 
Pressemeldungen  M,  N,  Roy  „als  lei  tend  es  Mitglied  der  moskauer  In- 
ternationale verantwortlich  fiir  die  kommunistische  Propaganda  und 
Agitation  in  Indien"  sein.  Ferner  soil  er  im  Auslande  „Verschwdrun- 
gen  gegen  die  Integritat  des  Britischen  Reiches"  angezettelt  haben. 
Nach  der  .North  China  Daily  News'  soil  er  im  Jahre  1927  als  Ver- 
treter  der  Kommunistischen  Internationale  in  China  „indische  Sol- 
daten  und  Polizisten  zur  Meuterei  veranlafit  und  gemeinsam  mit  Boro- 
din die  Propaganda  gegen  die  britische  Regierung  geleitet  haben." 

Das  Niveau  der  Polizeiberichte  in  den  kolonialen  Landern  ist  noch 
viel  tiefer  als  in  Europa.  Es  ist  nur  plumpe  Polizeiabsicht  oder  Stu- 
piditat,  wenn  sie  M,  N.  Roy  als  Verschworer  hinstellen.  Sein  wirk- 
licher  „Krieg  gegen  den  Konig"  bestand  und  besteht  darin,  dafi  er 
ein  Vorkampfer  der  Unabhangigkeit  Indiens  und  der  markanteste 
Ftihrer  der  jungen  indischen  Arbeiterbewegung  ist.  Als  solcher  ist  er 
auch  zu  groBerm  EinfluB  innerhalb  der  kolonial-revolutionaren  und 
der  internationalen  Arbeiterbewegung   gelangt. 

Das  Dynamit  dieses  „Verschworers"  gegen  die  britische  Herrschaft 
iiber  Indien  konnte  fast  ein  Jahrzehnt  lang  nur  aus  seiner  politischen 
und  literarischen  Arbeit  in  der  Emigration  bestehen.  Wenn  nun  der 
britische  Imperialismus  M.  N.  Roy  als  den  Verantwortlichen  fiir  „Ver- 
schworungen  und  Aufstande"  zur  Richtstatte  fiihren  will,  so  muB  sich 
dagegen  gemeinsam  mit  der  Kampffront  fur  die  indische  Befreiung, 
mit  den  indischen  Gewerkschaften  und  der  revolutionaren  Jugend  die 
ganze  internationale  Welt  der  Arbeit  und  des  wirklichen  Fortschritts 
erheben, 

* 

>In  Heft  41  der  ,Weltbuhne'  hat  Alfons  Goldschmidt  das  zehn- 
jahrige  Bestehen  der  Internationalen  Arbeiterhilfe  gewurdigt  und  be- 
sonders  ihr  groBes  Werk  der  internationalen  und  iiberparteilichen 
Solidaritat  gefeiert.  In  engster  Verbindung  mit  dieser  Organisation 
steht  bekanntlich  auch 'die  Liga  gegen  Imperialismus  und  fiir  natio- 
nal Unabhangigkeit.  Wie  ist  es  zu  erklaren,  daB  diese  beiden  Or- 
ganisationen  bisher  mit  keinem  Wort  offentlich  zu  der  Verhaftung 
Roys  Slellung  genommen  haben?  Die  Internationale  Rote  Hilfe,  die 
vorzugsweise  eine  Organisation  zum  Schutze  der  proletarischen  poli- 
tischen Gefangenen  und  Verfolgten  ist,  schweigt  ebenfalls  und  schlieBt 
kurzerhand  die  Mitglieder  aus,  die  nicht  schweigen  wollen.  Noch 
mehr.  Die  Organisationen  wie  auch  die  Presse  der  Kommunistischen 
Internationale  stehen  mit  in  dieser  Front  des  Schweigens,  obwohl  die 
Anklage  gegen  M,  N.  Roy  wegen  „Kriegfiihrung  gegen  den  Konig"  sich 
zum  grofiten  Teil  auf  sein  Wirken  im  Auftrage  derselben  Kommu- 
nistischen Internationale  stiitzt  Warum  wird  M.  N.  Roy  die  elemen-' 
tarste  proletarische  Solidaritat   versagt? 

M.  N.  Roy  ist  vor  ,  etwa  drei  Jahren  wegen  taktischer  Streit-" 
fragen,  wegen  seiner  Kritik  an  den  Fehlern,  die  von  der  gegenwarti- 
gen  kommunistischen  Fiihrung  wahrend  der  chinesischen  Revolution 
begangen  wurden,  sowie  wegen  der  Kritik  an  ihrer  Politik  in  Indien 
und  in  der  gesamten  Internationale  ausgeschlossen  worden,  Der  bri- 
tische Imperialismus  richtet  aber  M,  N.  Roy  nicht,  um  diese  Fiihrung 
von  einem  unbequemen  Kritiker  zu  befreien,  sondern  uin  den  in- 
dischen Freiheitskampf,  um  den  Emanzipationskampf  der  Werktatigen 
in  den  Kolonien  zu  treffen.  Selbst  wenn  die  Fiihrung  der  Kommur 
nistischen  Internationale  in  dem  Streit  mit  M,  N.  Roy  recht  hatte, 
selbst  dann  miiBte  sie  alles,  was  in  ihrer  Kraft  steht,  aufbieten,  um 
den  Anschlag  der  britischen  Reaktion  zu  vereiteln.  Denn  hier  geht  es 
nicht  allein  um  eine  Person  sondern  um  den  Kampf  des.  britischen 
Imperialismus  gegen  die  indische  Revolution. 

3  851 


Und  die  Internationale  Arbeiterhilfe,  die  Anti-Imperialistische 
Liga,  die  Internationale  Rote  Hilfe  —  beginnt  fur  diese  Organisationen 
die  Pflicht  zur  Hilfe  und  Solidarity  erst  mit  der  restlosen  Zustim- 
mung  zu  den  Beschlussen  der  Koramunistischen  Internationale,  mit 
der  Anerkennung  der  Unfehlbarkeit  der  heutigen  Fiihrung?  Wir 
richten  die  offene  Anfrage  an  Alfons  Goldschmidt,  den  Vorsitzenden 
der  Internationalen  Arbeiterhilfe,  und  an  Klara  Zetkin,  die  Vor- 
sitzende  der  Internationalen  Roten  Hilfe:  Soil  das  Schweigen  Ihrer 
Organisationen  urn  den  ProzeB  gegen  M,  N.  Roy  auch  weiterhin  ein 
beschamendes  Beispiel  bureaukratischer  Mifiachtung  der  unbedingt 
vorliegenden  Pflicht  zur  Solidaritat  bieten?  Soil  der  Hilfeschrei  aus 
Indien  hier  ungehort  verhallen?  Sollen  sich  Ihre  Organisationen  in 
diesem  Konflikt  zwischen  dem  britischen  Imperialismus  und  der  in- 
dischen  Revolution  durch  Schweigen  auf  die  Seite  des  ersteren  stellen? 

Diese  Anfragen  sollen  nichts  andres  sein  als  ein  Appell  an  die 
wirkliche  internationale  proletarische  Solidaritat,  Wie  sich  einst  die 
Welt  aufbaumte,  als  der  Dollarimperialismus  Saccos  und  Vanzettis 
Leben  forderte,  so  soil  die  Solidaritat  der  Ausgebeuteten  und  Unter- 
druckten  den  Opfern  des  britischen  Imperialismus  in  Indien,  so  soil 
sie  auch  M.  N.  Roy  beistehen.  Nach  den  letzten  Nachrichten  droht 
Roy  die  Deportation  fur  10  Jahre,  wenn  nicht  lebenslanglich  nach  der 
Andaman-Insel  im  Indischen  Ozean.  MuB  man  dann  noch  beweisen, 
daB  hier  taktischer  Streit  verstummen  mufi,  dafi  antiimperialistische 
und  proletarisch-revolutionare  Organisationen  den  Kampf  um  die 
Rettung  von  M.  N.  Roy  vor  der  ihm  drohenden  physischen  Vernich- 
tung  ftihren  miissen? 


Das  Dritte  Reich  im  Bild  von  Ernst  Kdiiai 

TUI  an  ist  keineswegs  nur  auf  die  nationalsozialistischen  Dar- 
bietungen  in  der  Hedemannstrafie  angewiesen,  wenn  man 
erfahren  will,  wie  das  Konterfei  des  volkischen  Heils  aussieht. 
Alle  deutschen  Kunstausstellungen  und  -zeitschriften  wimmeln 
von  dieser  nicht  nur  der  Reichsnumerierung  gemaB  dritten 
Sorte  Kunst.  Die  Ideologie  der  Hitlerpartei  hat  von  der  Seele 
der  deutschen  Malerei  und  ihrer  Kritik  im  weiten  Urhfang  Be- 
sitz  ergriffen  —  schon  zu  einer  Zeit,  als  die  Nazi-Bewegung 
sich  noch  in  schwachen  Anfangen  befand. 

Freilich  darf  man  die  kiinstlerischen  AuBerungen  der  Hit- 
lerei  nicht  etwa  nur  in  realistischen  oder  allegofischen  Darstel- 
lungen  ihres  politischen  Vormarsches  vermuten.  Kame  es  nur 
auf  diese  undiskutabel  kitschige  direkte  Tendenzmalerei  an, 
so  brauchte  von  einer  Nationalsozialisierung  der  deutschen 
Kunst  keine  Rede  zu  sein.  Gegen  diesen  Kitsch  ist  sie  selbst- 
verstandlich  gefeit.  Es  gibt  aber  auch  eine  unpolitisch  getarnte 
Ansteckung  durch  den  Hitlerbazill,  eine  Gemiitsinfektion,  deren 
malerischer  Ausschlag  weder  Hakenkreuze  noch  Braunjacken 
oder  sonstige  drohende  Symptome  sehen  laBt.  Ihre  Trager 
sind  an  alien  Wirkungsstatten  des  kiinstlerischen  Schaffens 
und  seiner  Kritik  anzutreffen.  Selbst  an  jenen,  die  politisch 
zur  Demokratie  oder  zum  Liiiksradikalismus  gehoren.  Es  sind 
die  Maler  und  kunstschriftstellerischen  Beisitzer  der  perspek- 
tivischen  Restauration,  der  Riickkehr  zu  altvaterlichen  Ein- 
grenzungen  und  impressionistischen  Umschmeichelungen  des 
Gegenstandes  im  Bilde,  mogen  diese  nun  empfindsamen  Heim- 

852 


und  Heimatkult,  Idyllen  der  Selbstgeniigsamkeit  oder  pathe- 
tischc  Heldenverehrung  und  verschwommene  Gottesanbetung 
bcdeuten.  Sie  sind  vom  selben  kleinbiirgerlichen  Weltempfin- 
dcn  bestimmt  wie  die  politischen  und  sozialen  Ideale  der  Hitler- 
partei.  DaB  sie  noch  keine  eigne  kiinstlerische  Front  unter 
dem  Protektbrat  dieser  Partei  bilden,  sondern  einstweilen  noch 
mit  der  (in  der  ,Weltbuhne*  schon  einmal  geschilderten)  groBen 
Kunstkoalition  aller  Richtungen,  Vereinigungen  und  Institute 
verfilzt  sind,  hat  seinen  einfachen  Grund.  .  Es  geht  auf  die 
typisch  kleinburgerliche  und  obendrein  noch  sehr  deutsche  An- 
schauung  zuriick,  dafi  Kunst  nur  in  die  gute  Seelenstube  ge- 
hore  und  mit  Politik  nichts  zu  schaffen  habe.  Wobei  aller- 
dings  der  politische,  wie  jeder  andre  Sinn  der  Kunst  auch( 
nur  im  Motiv  erblickt  und  gewertet  wird,  nicht  in  der  Gesamt- 
verfassung,  in  der  ge  is  tig-formal  en  Haltung  des  Kunstwerks. 
Selbst  Kiinstler,  die  sich  der  Inhalt-Form-Einheit  ihres  Schaf- 
fens  im  iibrigen  doch  ohne  weiteres  bewuBt  sind,  pflegen  in 
der  Selbstanalyse  nur  selten  bis  zu  den  realen  Wurzeln  und 
Bindungen  ihres  Stils  vorzudringen.  Am  seltensten  grade  zu 
seinen  politischen  Ordnern;  denn  diese  treten  zumeist  nur  in 
aufierst  verfeinerten,  vielfachen  Umdeutungen  zutage.  Es  gibt 
nicht  nur  verdrangte  Erotik,  auch  verdrangte  und  sublimierte 
Politik  im  Stil.  Der  Stil  symbolisiert  die  Stellung  des  Kiinst- 
lers  zu  alien  nackten  Tatsachen  der  Wirklichkeit,  also  auch  zu 
ihrer  Politik.  Die  kraftmeierische  Hitlerpolitik  hat  die  durch- 
aus  biedermeierlichen  Ziele  eines  braven  Kleinbiirgertums  auf 
eigner  Scholle,  mit  eigner  Werkstatt  und  eignem  Laden.  Und, 
versteht  sich,  mit  eignem  Herd  goldeswert,  mit  dem  schmuk- 
ken  Heim  Gliick  allein.  Es  geniigt,  die  Inserate  der  volkischen 
Zeitungen  zu  lesen,  die  allerlei  parteisinnfallig  geschmiickten 
Gemiitskleinkram  fiir  Sofa  und  Vertiko  feilbieten.  Der  gleiche 
Gemutskleinkram,  nur  in  andrer  Form  und  gehobener  Quali- 
tat,  erscheint  auf  den  Bildern  der  neuen  herzlichen  Gegen- 
standsfreunde,  wie  man  sie  als  Massengut  unsrer  Kunstaus- 
stellungen  und  -zeitschriften  allenthalben  antreffen  kann, 
freundlich-anheimelnd,  besinnlich-beschaulich. 

Dieses  Massengut  ist  zahlenmaBig  so  iiberlegen,  daB  seine 
kompakte  Zusammengehorigkeit  trotz  der  noch  bestehenden 
organisatorischen  Verfilzung  mit  andern  Erscheinungen  der 
groBen  eklektischen  Kunstkoalition  schon  heute  deutlich  zuer- 
kennen  ist.  Die  eigne  organisatorische  Zusammenfassung  sei- 
ner Hersteller  und  Propagandisten,  seine  Abgrenzung  gegen 
jeglichen  f,Kunstbolschewismus"  kann  nur  Frage  kurzer  Zeit 
sein.  Das  Gemunkel  von  der  Griindung  eines  neuen  Kiinstler- 
bundes,  das  vor  einiger  Zeit  durch  interessierte  Kreise  ging, 
wird  schon  stichhaltig  sein. 

Die  Griindung  eines  solchen  hitlerisch-nationaldeutsch 
,,leuchtendenM  Kiinstlerbundes  ware  nur  zu  begriiBen.  Sie 
konnte  den  AnstoB  zu  einer  klaren,  weltanschaulich-geistes- 
politischen  Gliederung  der  deutschen  Kunst  ergeben  und  dem 
leipziger  Allerlei  ihrer  Veranstaltungen  und  ihrer  Presse  ein 
langst  uberfalliges  Ende  bereiten,  Freilich  bliebe  immer  noch 
eine  ansehnliche  Menge  von  Eigenbrotlern  und  AuBenseitern 
zuriick,  die  lieber  zwischen  den  Stuhlen  sitzen.    Aber  es  ware 

853 


doch  cine  heilsame  Ermichterung  fur  viclc  Kiinstler  und  Kri- 
tiker,  die,  den  Grundsatz  befolgend,  daB  alle  Wege  der  Kunst 
recht  seien,  die  zur  Qualitat  fuhren,  in  ihrer  Koalitionsfreudig- 
keit  allzu  weitherzig  geworden  sind.  Es  wiirde  sich  da- 
mit  so  manche  reinliche  Trennung  vollziehen  —  vor  allem 
grade  im  Lager  und  im  Geiste  jener,  die,  obwohl  mit  der  kiinst- 
lerischen  Vorhut  marschierend,  in  den  letzten  Jahren  sich  den- 
noch  zu  mehr  oder  minder  tiefgehenden  und  offenen  Sympa- 
thien  mit  reaktionaren  Erscheinungen  verleiten  lie  Sen.  Ich 
weiB  aus  eigner  Erfahrung,  wie  nahe  solche  Sympathien  liegen 
konnen  —  aus  Grtinden  der  Entspannung,  der  Tragheit  und 
Kleinmut  des  Herzens,  denen  man  so  leicht  verfallt,  wenn 
geistige   Selbstpriifung   und   Selbstdisziplin  nachlassen, 

Mit  dem  Katzenjammer  der  verpfuschten  deutschen  Revo- 
lution und  der  Inflation  dazu,  kam  eine  Welle  beschrankter 
Ordnungsgeluste  hoch,  eine  empfindsam-pedantische  Sucht  nach 
Geborgenheit  und  Sammlung  im  Gemiit.  Die  ganze  kleinbtir- 
gerliche  Reaktion,  das  ganze  Dritte  Reich  in  der  Kunst  geht 
auf  diese  Einkapselung  zuriick.  Das  ist  ihre  gefahrliche  Ver- 
lockung,  der  auch  heute  noch  viele  erliegen,  die  solche  An- 
biederungen  an  das  kleine  Gliick  Seite  an  Seite  mit  den  Kiihn- 
heiten  und  Harten  der  neuen  Form  gelten  lassen,  Ergebnis:  ein 
Durcheinander  —  so  heillos  im  Geist,  menschlich  so  leicht  zu 
begreifen.  Denn  wer  unter  uns  ist  iiber  alle  Versuchungen  des 
Opportunismus  und  iiber  alle  Irrungen  des  kiinstlerischen  In- 
stinkts  erhaben,  in  einer  Zeit  wie  diese,  so  verwickelt  und  zer- 
spannt  durch  innere  Gegensatze  wie  selten  eine  andre  in  der 
Weltgeschichte.  Es  mag  in  diesem  grellen  Chaos  zunachst  so 
bestechend  sein,  wenn  Erscheinungen  der  Kunst  mit  der  Ge- 
barde  schlichter  Menschlichkeit  und  Natiirlichkeit  auf  uns  zu- 
kommen,  wie  gute  alte  Bekannte  gleichsam,  die  man  geistig 
ungewappnet,  in  jovialster  Gemiitsnachlassigkeit  empfangen 
kann,  in  einer  seelischen  Hausjacke  sozusagen  —  frei  von  alien 
Spannungen  neuer  BewuBtseins-  und  Formprobleme.  Man  ge- 
niefit  die  natiirliche  Gegenstandsnahe  der  reaktionaren  Male- 
rei  mit  dem  leicht  verdaulich-erbaulichen  Wohlbehagen  eines 
sonntaglichen  Spazierganges  oder  eines  Ferienaufenthaltes  auf 
dem  Lande.  Es  ist  nichts  gegen  Erholung  zu  sagen,  wenn  man 
ihr  die  notige  Grenze  setzt.  In  der  deutschen  Kunst-  und 
Kunstkritik  wird  sie  entschieden  zu  weit  getrieben. 

In  solchen  Bezirken  der  Abgeschiedenheit,  ,,fern  vora  Ge- 
triebe  der  GroBstadt",  der  bosen,  fern  auch  von  alien  schopfe- 
rischen  Grenzerweiterungen  des  Geistes,  erfiillt  sich  das  vol- 
kische  Ideal  der  Rassen-  und  Bodenstandigkeii  Alles  was 
iiber  diese  Grenze  geht,  bleibt  landfremder,  internationalisti- 
scher  Unfug.  Dabei  ist  die  moderne  Kunst  der  letzten  dreiBig 
Jahre  in  ihren  wesentlichen  Erscheinungen  so  deutschf  so 
franzosisch,  so  hollandisch  und  russisch,  wie  sie  von  Rassen- 
und  Heimatf anatikern  nur  irgend  gewiinscht  werden  konnte. 
Aber  die  beschrankte  Ideologie  der  NS-Kleinbiirger  vermag 
nicht  iiber  eine  Nasenlange  hinaus  zu  sehen.  Ihre  Perspektive 
ist  ihre  Welt.  Das  Dritte  Reich  im  Bild  —  es  hat  hiibsch  da- 
heim  zu  bleiben.  Klein,  aber  mein  . .  . 
854 


Jedeil  Tag:  Allktion!  von  Alice  Ekert-Rothholz 

W7er  friiher  sehn  wollte,  wie  sehr  groBe  Leute  wohnen 
w      miiBte  sie  besuchea  und  sich  mit  ihnen  langweilen  — 
Heut  besucht  man  ganz  einfach  ihre  Auktionen. 

Auf  den  groBen  Auktionen  versteigert  man  heute 

(Bitte  nicbt  alles  mit  Fettfingern  ansehenl) 
den  Glanz  und  die  Mobel  zehnzimmriger  Leute. 

Jeden  Tag:  Auktionf 
Der  Hausherr  ganz  in  Mahagoni  befindet  sich  im  ersten  Stock. 

In  der  Halle:  Oldruck  Wilhelms  und  andre  ScherzartikeL 

Darunter  feldgrauer  Soldatenrock. 

Und  das  Publikum  tobt  wie  zivile  Dragoner 

durch  die  Wigwams  der  Kurftirstendamm-Bewohner. 

(. . ;  nMensch,  sieh  mal:  seidenes  Klosettpapier!"} 
Was  bier  so  steht  zur  Auktion  und  zur  Beute 
sind  die  Wachtraume  viel  zu  reicher  Leute . ,  - 
Die  Welt  in  Bronze  und  Goldbrokat  schwimmt  hier  davon  — 

Jeden  Tag;  Auktion  1  —  Jeden  Tag:  Auktionf 

Ferner  landen  auf  diesen  groBen  Auktionen 

jene  Speiseservice  fur  180  Personen.., 

Aus  der  Gastemasse  werden  ausgeboten:  1  General,  1  Industriebaron. 

Jeden  Tag:  Auktion  1 
Freitag:    Versteigerung   des   auBergewohnlich  schonen  und  wertvollen 

Theaterdirektors  Claus  (alias  Cohn) 

In  der  Masse:  ein  Hausaltar  und  ein  Grammophon. 

Und  das  Publikum  streift  wie  die  Polizisten 
durchs  Revier  dieser  sterbenden  Kapitalisten. 

Jeden  Tag:  Auktionf 
Und  keiner  merkt,  wenn  die  Auktion  dann  beginnt, 
daB  hier  Schlachtfelder  ohne  Soldaten  sind. 
Klubsessel,  Schofihunde,  Teppichlaufer  — 

Alles  ist  da.    BloB  keine  Kaufer. 

Denn  die  Briider,  die  solche  Sachen  erwerben, 
liegen  selber  schief  oder  selber  im  Sterben. 

Jeden  Tag:  Auktionf 
Publikumf    Hut  ab  zum  Massengebetf 
Merkt  Ihr  nicht,  was  hier  vor  sich  geht? 
Auf  diesen  Auktionen  verkloppt  die  Zeit  unversohnlich 

Nicht  die  Mobel  — 
Sondern  den  Burger  persdnlich. 


Babys,  Jungen  und  Madchen  von  Rudolf  Amheim 

1^  indcr  sind1  bessere  Schauspieler  als  die  Erwachsenen,  so- 
lange  sic  noch  unbefangen  sind  wie  die  Tiere.  Sobald 
sie  1fspielen",  werden  sie  meist  stocksteiL  Aber  zwischen  dem 
vollig  ungehemmten  Singsangmonolog  des  Sauglings  vor  der 
Kamera  und  dem  ruhrenden  Pathos,  mit  dem  eine  Sextanerin 
in  der  Schulaula  die  Weihnachtsgeschichte  herbetet,  gibt  es 
alle  Stufen  der  Natxirlichkeit.  Kinder  als  Schauspieler  werden 
immer  und  auf  jedes  Publikum  wirken. 

855 


Mit  einer  List  und  Miihe,  wie  sie  sonst  nur  zur  Belauerung 
von  Raubtieren  aufgewendet  werden,  haben  Professor  Kurt 
Lewin  und  seine  Mitarbeiter  ungestellte  Bilder  aus  den  ersten 
sechs  Lebensjahren  des  Kindes  festgehalten:  „Das  Kind  und 
die  Welt*',  uraufgefiihrt  auf  des  riihrigen  Doktor  Eckardt  Kul- 
turfilmbiihne  ,,Kamera  Unter  den  Linden".  Da  der  Wert  die- 
ses Films  ganz  im  Dokumentarischen  liegt,  ist  er  dort  am 
besten,  wo  ohne  viel  Einstellungs-  und  Schnittkunst  lange 
Passagen  vorgefiihrt  werden,  in  denen  man  die  Kinder  ruhig 
beobachten  kann.  Sehr  lohnend,  das  zu  tun,  denn  vor  diesen 
erstaunlichen  Aufnahmen  wird  einem  zumute,  als  sahe  man 
zum  erstenmal  in  seinem  Leben  Kinder.  Erschreckend,  fast 
schamlos  wirkt  beim  Saugling  die  Hemmungslosigkeit  des 
Ausdrucks:  Miidigkeit  und  Unlust,  gieriges,  hingegebenes,  ge- 
walttatiges  Saugen,  Rakeln,  Sattheit,  Milchrausch  —  die  Seele 
liegt  noch  auBen,  der  ganze  Korper  bis  hinunter  zu  den  gesti- 
kulierenden  Zehen  ist  noch  Gesicht.  Eine  erstaunliche 
Ahnlichkeit  mit  guten  amerikanischen  Grotesken  —  beileibe 
nicht  mit  den  widerwartigen  Kindergrotesken:  Sommerspros- 
senkind,  Fettkind  und  Negerkind  —  drangt  sich  auf.  Da  ist 
die  groBe  Chaplinszene  der  Zweijahrigen,  die  auf  alien  Vieren 
die  Treppe  heraufkrabbeln  und  zugleich  den  Ball  festhalten 
will.  Dieser  schlicht  anschauliche  Kampf  mit  dem  Objekt, 
dies  Denken  mit  den  Gliedern,  dies  ernsthafte  HerumbeiBen 
an  einem  Ratscl,  dessen  Losung  ftir  die  iiberragende  Weisheit 
des  Zuschauers  so  simpel  ist  —  das  ist  ebenso  lustig  wie 
Chaplin  und  ebenso  unheimlich  gleichnishaft.  Sehr  geschickt 
hat  man  versucht,  nicht  nur  das  Kind  sondern  auch  seine 
Welt  zu  zeigen.  Das  noch  ungegenstandliche  Lichterzrucken, 
das  den  Saugling  aufregt,  die  herrlich  dunkle  Hohle  unter  den 
Sprungfedern  des  Sofas,  der  Hinterhof  der  Mietskaserne, 
voller  Schmutz  und  Gefahr,  aber  auch  voller  Herrlichkeiten: 
Katzen,  Leierkasten,  gluhendes  Eisen  in  der  Schmiede,  Brief- 
trager,  Teppichstange,  Kellerloch  und,  oh!,  nasser  Mortel  in 
einem  Maurertrog.  Es  ist  schade,  daB  die  Produktionsfirma, 
der  das  Zustandekommen  dieses  sehr  sehenswerten  Films  zu 
danken  ist,  es  sich  nicht  hat  verkneifen  konnen,  ihn  Mdem  Ge- 
schmack  des  groBen  Publikums  naher  zu  bringen"  durch  kostii- 
mierte  Wiegenliedersangerinnen,  einen  jah  durch  die  Zweige 
brechenden  Vollmond  und  eine  salbungsvoll  deklamierende 
Unsichtbare,   die   dem  Publikum  unbekannterweise  miBfiel. 

Ahnliches  durfte  man  befiirchten  fiir  die  Verfilmung  von 
Erich  Kastners  Kinderroman  „Emil  und  die  Detektive".  Wurde 
sich  der  Dieb  Grwndeis  nicht  als  der  ehemals  im  Zuchthaus 
verschollene  Vater  Emils  entpuppen  und  von  dem  Sohn  auf 
den  Weg  des  Gerechten  gefiihrt  werden?  Wiirde  nicht  die 
GroBmutter  in  eine  unerwiderte  Leidenschaft  zu  dem  Portier 
des  Hotels  Biedermann  verfallen?  Nichts  dergleichen  geschah. 
Die  Ufa,  der  Produktionsleiter  Stapenhorst,  der  Regisseur 
Lamprecht  und  der  Autor  Wilder  haben  einen  sauberen,  lusti- 
gen  Film  gemacht.  Emil  und  Pony  Hiitchen,  ganz  nach  MaB 
gearbeitet,  werden  keinen  der  jugendlichen  Leser  entta/uschen. 
Die    kleinen  Detektive   scheinen   sich   unter   den  Lampen   des 

856 


Onkel  Lamprecht  wic  zu  Hause  gefiihlt  zu  haben.  Und  dies 
Wohlbehagen  springt  iiber. 

Die  Jungen  haben  hiibsch  und  vergniigt  gespielt.  Der 
Madchenfilm  „Madchen  in  Uniform",  hergestellt  vom  Frohlich- 
studio,  gehort  zu  den  groBen  Ausnahmeleistungen  des  deut- 
schen  Films.  Ohne  ziu  verniedlichen,  ohne  durch  billige  Ten- 
denzeffekte  zu  verscharfen,  hat  man  die  heikle  Geschichte  aus 
dem  potsdamer  Madchenstift  verfilmt.  Mit  unglaublichem  Ge- 
schick  sind  die  Rollen  besetzt,  die  Figuren  herausgearbeitet 
(Regie;  Leontine  Sagan).  Dorothea  Wieck,  eine  wundervolle 
Erzieherinnenmischung:  warmes  Herz  und  kalte  Aussprache, 
schon  und  leise  Verkitscht,  preuBisch  mit  einem  SchuB  Wy- 
neken  und  hinreiBend  in  der  Bewegung.  Der  Lehrkorper,  pa- 
dagogische  Riesenechsen  aus  der  Steinzeit,  diirre  Gespenster 
und  doch  nicht  ohne  jene  wichtigen  Augenblicke,  in  denen  er- 
schreckend  und  peinlich  der  Gefiihlston  aus  der  Jungfer 
bricht.  Aufgeweicht  von  Tranen  und  Schwarmerei  und  in 
ihren  potsdamer  Treibhausgefuhlen  doch  keinen  Augenblick 
unecht  —  Hertha  Thiele,  Einen  kleinen  BlumenstrauB  fiir  das 
Madchen  Edelgard.  Aber  man  muB  sie  alle  loben.  Dieser 
Film  heiBt  nicht  nur  im  Programm  ein  „Gemeinschaftsfilm". 
Noch  im  kleinsten  Detail  wird  die  Solidaritat  aller  Beteiligten, 
der  kultivierte  Geist  dieser  hoffnungsvollen  Gruppe  deutlich. 
Ein  Film  ohne  Manner.  Vor  allem  ohne  Manner  aus  der 
FriedrichstraBe.  Ein  Film,  in  den  man  vermittels  Notverord- 
nung  alle  Filmgegner  treiben  sollte, 

Drei  Kinderfilme.    Drei  schone  Abende, 

Auf  dem  NachttiSCfl  von  Peter  Panter 

LJerr  Pietsch,  eines  von  Glasbreaners  himmlischen  Geschopfen,  geht 
**  aufierordentlich  besoffen  Unter  den  Linden  spazieren.  Und  ras- 
selt  mit  seinem  Stock  eine  Ladenjalousie  an.  „Det  kann  ick'*,  sagt 
Pietsch.     ,,Dafor  bin  ick  Mutter." 

Louise  Diel  „Ich  werde  Mutter"  (bei  Carl  Reifiner  in  Dresden 
erschienen).  Ja . . .  Es  hat  also  eine  Frau  die  Gefuhle  ihrer  Mutter- 
schaft  beschrieben.  Vierhundert  Seiten;  es  steht  alles  drin,  was  einer 
gebildeten  Frau  durch  den  Kopf  geht,  wenn  das  Kapitel  „Schwanger- 
schaft"  angeschlagen  wird,  Ich  habe  mich  bei  der  Lektiire  immerzu 
geschamt.  Kennen  Sie  das,  wenn  man  sich  schamt,  weil  einer  auf 
dem  Podium  stecken  bleibt?     Frau  Diel  bleibt  nicht  stecken. 

Das  Buch  ist  in  der  Empfindung  sauber,  an  keiner  Stelle  kokett. 
(Die  Frau  ist  verheiratet.  Ware  sie  es  nicht,  nie  hatte  sie  den  Mut 
besessen,  dieses  Buch  zu  schreiben.)  Die  dargestellten  Gefuhle  sind 
wahr,  genau  so  hat  die  Frau  sicherlich  gefiihlt.  Das  Buch  ist  durchaus 
anstandig  gemeint  Und  es  ist  von  einer  so  erschutternden  Durch- 
schnittlichkeit,  daB  das  Wort  Strindbergs  als  Motto  davorstehn  sollte: 
„Wahres  Muttergefiihl  kann  nur  ein  Mann  empfinden."  Was  wiederum 
Frau  Diel  nicht  verstehen  wird,  denn  sie  liebt  doch  ihren  kleinen  Jungen. 

Wir  werden  uns  rasch  klar  machen,  welche  Schicht  hier  spricht. 
wenn  wir  das  Buch  da  betrachten,  wo  es  lustig  sein  mochte.  Es  ist 
Geschmackssache:  mir  versucht  dieser  neckische  Familienhumor,  der 
den  Arzt  durch  vierhundert  Seiten  hindurch  MDoktorchen"  oder  „Dok- 
tor"  ohne  Artikel  nennt,  etwa  jene  Gefuhle,  uber  die  Schwangere  mit- 
unter  klagen.  Ich  habe  immerzu  nachgedacht,  warum  es  beim  Zu- 
sammenklang  meines  Nachttisches  und  dieser  Mama  einen  MiBklang 
gibt.     Jetzt  weiB  ich  es. 

857 


Muttergeffihle  mogen  restlos  gut  sein.  Die  Beziehung  dcr  Ge- 
schlechter  zueinander  ist  es  mitnichten.  Der  Partner,  sagt  ein  viel 
gelesener  Kitschfranzose  in  einem  Augenblick  der  Erleuchtung,  der 
Partner  in  der  Liebe  ist  immer  auch  der  Feind.  Nun  waren  zum  Bei- 
spiel  die  Untertanen  der  deutschcn  Landesmutter  aus  dem  Jahre  1910 
gewiB  keine  restlose  Freude  —  sie  bekamen  ihre  Kinder  durch  Zu- 
stellung  der  Geburtsurkunde  oder  durcb  Blutenstaub,  jedenfalls  nicbt 
auf  naturlichem  Wege,  was  man,  wenn  man  sie  sah,  auch  gut  verstehn 
konnte.  Dock  Gott  Dewahre  uns  vor  der  neuen  Ausgabe,  fur  die  das 
alles  frei,  naturlich,  erlaubt,  gdttlich,  menschlich  und  sonst  noch  aller- 
hand  istl  Das  ist  ganz  furchtbar.  Ftiblen  diese  Frauen  nicbt,  wie 
scbamlos  sie  sind?  Sie  ftiblen  es  nicht.  Es  stehen  in  diesem  Buch 
Dinge,  wie  zum  Beispiel  die  behaglich  angeschnittene  Frage,  ob  man 
auch  wahrend  der  Scbwangerschaft  Geschlechtsverkehr  pflegen  durfe . . . 
was  sagt  eigentlich  Herr  Diel  dazu?  Findet  er  das  schon,  daB  seine 
Frau  dergleichen  drucken  laBt?  Ich  weiB  schon:  dem  Reinen  ist  alles 
rein.  Siqherlich.  Und  dem  Flanellnen  ist  alles  Flanell,  was  gewiB 
nicht  auf  die  polizeilich  gemeldete  Frau  Louise  Diel  bezogen  werden 
soil.  Eine,  die  nicbts  ware  als  Hure,  wenn  die  ein  Kind  bekame,  das 
ginge  nicbt  gut.  Eine,  die  nichts  ist  als  Mutter,  wenn  die  liebt . . .  das 
geht  auch  nicht  gut.  Es  ist,  wie  wenn  jemand  mit  Dynamit  backe, 
backe  Kuchen  macht.  Ein  Amor,  dem  seine  Mama  einen  Wickel  um 
den  Hals  getan  hat,  damit  er  sich  nicht  erkaltct, 

Eines  hat  mir  einen  kleinen  Schlag  gegeben,  das  sind  die  Bild- 
beigaben  des  Buches.  Sie  stammen  von  Kaethe  Kollwitz.  Ich  kann 
gar  nicht  verstehn,  daB  sie  da  mitgetan  hat,  Immerhim  das  Buch 
wird  ein  beliebtes  Weihnachtsgeschenk  gebildeter,  aber  schwangerer 
Mittelstandsfrauen  abgeben. 

Uber  „Berlin,  Wandlungen  einer  Stadt"  von  Karl  Scheffler  (er- 
schienen  bei  Bruno  Cassirer  in  Berlin)  wollen  wir  rasch  binweggleiten. 
Sein  wunderschones  ,, Berlin,  ein  Stadtschicksal",  das  im  Jahre  1910 
erscbienen  ist,  bat  er  neu  bearbeitet,  aber  alles,  was  in  dem  alten  Buch 
zu  Ende  formuliert  und  mit  bester  Eindringlicbkeit  gesagt  wurde,  ist 
nicht  mehr  da.  Geblieben  ist  ein  Buch  uber  die  Museen  der  Stadt, 
tiber  ihre  Architektur . . .  nirgendwo  aber.  wirken  diese  Dinge  so  auf- 
geklebt  wie  in  Berlin.  Ich  habe  nie  verstanden,  daB  es  von  Wichtig- 
keit  sein  kann,  zu  untersuchen,  wieviel  Cezannes  dieses  Museum  hat 
und  wie  wenig  Liebermanner  jenes  —  das  Schefflersche  Buch  wirkt 
unendlich  vorgestrig,  was  der  Autor  keineswegs  ist,  Es  geht  allem, 
was  den  Berliner  von  heute  brennend  interessiert,  sorgfaltig  aus  dem 
Wege  und  wandelt  auf  Boskettwegen,  die  mir  auf  dem  Mond  zu  liegen 
scheinen.     Mit  Berlin  hat  das  Buch  nicht  viel  zu  tun. 

Drei  Kriegsbucher,  ein  ganzes  und  zwei  halbe. 

Das  ganze  heiBt  „Im  Sturm  urns  Niemandsland"  von  dem  iri- 
schen  General  Crozier  (erschienen  bei  Paul  Zsolnay  in  Wien).  Be- 
reute  Rohheit,  oder:   Nachstes  Mai  machen  wir  es  grade  so, 

Der  Herr  General  macbt  sich  und  uns  wenigstens  nichts  vor. 
„Auf  dem  Grunde  liegen  die  zwei  toten  Deutschen  im  Stahlhelm, 
noch  immer  unbegraben,  wahrend  zehn  Yard  entfernt  in  einem  saubern 
Grab  mit  grobem  Kreuz  und  friscber  Inscbrift  die  menschlichen  Ober- 
reste  des  letzten  britischen  Soldaten  der  119.  Infanteriebrigade  ruhen, 
der  ,im  Kriege  gefallen  ist,  den  Krieg  zu  enden'.  Wir  lesen  die  In- 
schrift:  Er  starb  fur  sein  Vaterland.  ,Was  soil  mit  den  zwei  Kerlen 
in  dem  Loch  da  geschehen?'  fragt  Andrews  leichthin,  ,ich  nehme  an, 
sie  starben  auch  fur  ihr  Vaterland.'  —  ,Das  schon  r  antworte  ich,  ,aber 
ungliicklicherweise  auf  der  falschen  SeiteV*  Das  ist  Europa,  und  wir 
haben  dem  nichts  hinzuzufugen. 

Hocbstens,    daB    die    britische  Nation    ihren    friihern  Welterfolg 
einem  schrankenlosen  Nationalismus  verdankt,  der  besonders  peinlich 
schmeckt. 
858 


Das  Buch  hat  alle  kriegerischen  Eigenschaften:  es  ist  stcllenwcise 
hochmiitig,  ungebildet  und  im  Grunde  ein  bifichen  dumm.  Wo  der 
Verfasser  Ironie  gibt,  ftihlt  er  das  nicht  einxnaL  Wenn  er  Douglas 
Haig  beschreibt,  wic  er  vorbeireitet,  „aufrecht  auf  seinem  Offiziers- 
pferd,  einen  Stahlhelm  und  eine  Gasraaske  zur  Vorsicht  mit  sich  fiih- 
rend",  weil  man  ja  nie  wissen  kann...  so  ahnt  er  nicht,  daB  er  hier 
die  Karikatur  dieser  sogenannten  Generale  aufgemalt  hat.  Ubrigens 
ist  das  Buch  schlecht  ubersetzt. 

Zwei  halbe  Kriegsbiicher;  eines  von  einem  schweizerischen  Sol- 
daten,  zu  lesen  braucht  man  es  nicht,  aber  anblattern  und  lachen  kann 
man  schon,  „Marsch  im  Jura  1916/17'*  von  Max  Oederlin  (erschienen 
bei  Grethlein  &  Co,  in  Zurich).  Das  Buch  ist  deshalb  so  unwider- 
stehlich  komisch,  weil  dieser  Herr  Soldat  gar  nicht  gefuhlt  hat,  wie 
nichtig  seine  Manover  und  Biwakabenteuer  neben  dem  Krieg  gewesen 
sind.  Wenn  er  noch  gute  Grenzschilderungen  gegeben  hatte!  Nichts 
davon.  Die  harten  Krieger,  die  naturlich  im  Ernstfall  genau  so  gute 
Soldaten  wie  die  Deutschen  gewesen  waren,  spielen  hier  schweiB- 
gebadet  Billard  und  trinken  manches  Glas  Bier. 

Wenn  schon  von  der  Schweiz  im  Kriege  die  Rede  ist,  dann  halte 
man  sich  an  andre  Zeitdokumente, 

„Grenzwachkompagnie  58/IIL  Lieber  Freundl  Vier  Wochen  lang 
lag  ich  bei  der  Ruine  Landskron,  Es  ist  in  der  Nahe  von  Basel.  Von 
dort  aus  kam  ich  ins  erste  Treffen,  weil  Franzosen  durch  das  Leimen- 
tal  nach  Basel  und  weiter  durch  die  Schweiz  marschieren  wollten.  Es 
kam  ihnen  bose  zu  stehn.  Du  kennst  meine  Ansicht  wie  ich  die  Deine. 
Leider  war  ich  grade  auf  Patrouille  und  war  der  erste,  der  die  roten 
Hosen  bemerkte.  Ich  hatte  nur  vier  Mann  bei  mir,  was  tun?  Ich 
straubte  mich  zu  schieBen,  so  rief  ich  die  Kerle  an,  zuruckzugehen. 
Erst  verstand  die  Bande  nicht  deutsch,  dann  kamen  sie  naher  und 
plotzlich  stoBen  sie  auf  uns.  Zwei  Kameraden  fielen,  mich  selbst 
wollte  die  Gesellschaft  lebendig  haben.  Ich  hatte  aber  keine  Lust  zum 
Mitgehen  und  Du  weiBt,  ich  habe  manche  Auszeichnung  im  SchieBen 
geholt.  Es  ist  allerdings  ein  bitteres  Gefuhl,  schieBen  zu  imissen.  Ich 
glaube  nicht,  daB  es  moglich  ist,  daB  die  ersten  Schusse  treffen 
konnen,  so  besudelt  ist  man.  Zudem  kommt  man  in  kalten  SchweiB 
und  erst  nach  und  nach  uberlegt  man  genau." 

Das  ist  zitiert  nach  den  „Kriegsdokumenten",  die  Eberhard  Buch- 
ner  gesammelt  hat  (erschienen  bei  Albert  Langen  in  Munchen,  zu  einer 
Zeit,  als  der  Verlag  noch  nicht  nationalistisch  war),  Diese  Bande  zu 
durchblattern,  das  ist  eine  sehr  nachdenkliche  Lekture,  Es  ware  mog- 
lich, beinah  neben  jede  Meldung  die  Wahrheit  zu  setzen;  das  Ganze 
wirkt  wie  das  mifitonende  Geschrei  aus  einem  Irrenhaus.  Eine  Fund- 
grube  fur  Zeitungsleute,  die  ihre  Sache  ernst  nehmen. 

Das  zweite  halbe  Kriegsbuch  spielt  im  sogenannten  Frieden  und 
behandelt  die  „Affare  Zabern".  Verfasser  ist  einer  der  Beteiligten: 
der  Sergeant  Hoflich  (erschienen  im  Verlag  fur  Kulturpolitik  in 
Berlin). 

Zabern  —  ist  das  lange  her!  Im  Jahre  1913  erlaubten  sich  einige 
Offiziere  Obergriffe  gegen  die  elsassische  Bevolkerung,  und  es  ging 
hoch  her:  die  Presse  schaumte,  der  Reichstag  drohnte,  und  die  Offi- 
ziere machten  Karriere.  Dann  zogen  alle  in  den  Krieg  und  hatten 
Zabern   vergessen,     Nicht  so   die   Elsasser, 

Was  der  Sergeant  in  durchaus  gemaBigtem  Tonfall  berichtet, 
wohlgeschult  an  kaiserlichen  und  republikanischen  oder  sagen  wir 
besser  •  nachkaiserlichen  Zeitungen,  das  zeigt,  wie  der  Apparat  immer 
starker  ist  als  alle  Vernunft.  Hier  war  nun  nicht  viel  Vernunft:  so, 
wenn  der  Oberst  von  Reuter,  sicherlich  nicht  einer  der  schlimmsten, 
einen  Verhafteten  anbriillt:  „Wollen  Sie  gefalligst  die  Mutze  abneh- 
men  vor  einem  preuBischen  Oberst  I"  —  wie  der  Leutnant  von  Forst- 

859 


ner  in  der  Instruktionsstunde  sagt . . ,  aber  das  war  schon  schwach- 
sinnig,  denn  grade  ein  patriotischer  Of fizier  diirfte  so  etwas  nicht 
sagen:  Der  Leutnant  hatte  gel'egentlich  einer  Instruktion  iiber  Deser- 
teure  geaufiert,  daB  solchen  Leuten  nichts  weiter  librig  bleibe,  als  in 
der  Fremdenlegion  Unterschlupf  zu  suchen.  Sie  haben  dann  keine 
andre  Ehre  mehr  als  unter  der  franzosischen  Fahne  zu  dienen,  Dann: 
„Auf  diese  Fahne  konnt  ihr  scheifien."  Man  sollte  das  auf  Fahnen 
nicht  tun. 

Der  Verfasser,  Sergeant  Hoflich,  hatte  die  Soldaten  aufgehetzt, 
„im  Falle  der  Notwehr"  sofort  von  der  Waffe  Gebrauch  zu  machen, 
als  sei  geschlagen  zu  werden  fiir  einen  Soldaten  schimpflicher  als 
fiir  einen  andern  Menschen  —  und  Forstner  hatte  hinzugesetzt:  „Wenn 
ihr  dabei  einen  solchen  Wackes  iiber  den  Haufen  stecht,  schadet  das 
auch  nichts,  ich  gebe  euch  dann  noch  zehn  Mark  Belohnungi"  Und 
Schersant  Hoflich  hinterher:  „Und  von  mir  noch  drei  Mark  dazu!" 
Soweit  die  kaiserliche  Instruktion, 

Man  kann  sich  denken,  was  das  im  ElsaB,  wo  die  moralischen 
Eroberungen  der  PreuBen  sowieso  etwas  diinn  aussahen,  fiir  einen 
Eindruck  machte.  „Boche"  horten  sie  dann  nicht  gern,  aber  einen 
Elsasser  „Wackes"  nennen  —  das  ist  ganz  etwas  andres.  Dann  gab 
es  den  ublichen  groBen  politischen  Klamauk,  aber  es  war  ein  deut- 
scher  Klamauk,  und  so  hatte  er  keine  Folgen.  Schant  Hoflich  driickt 
das  in  unnachahmlicher  Selbstverspottung,  deren  er  sich  bestimmt 
nicht  bewuBt  ist,  so  aus:  „DaB  Reichskanzler  und  Kriegsminister  — 
trotz  des  mit  iiberwaltigender  Mehrheit  ausgesprochenen  MiBtrauens- 
votums  —  auf  ihrem  Posten  bleiben  durf ten,  ging  uns  nichts  an  und 
war  Sache  des  deutschen  Volkes  und  des  Reichstages."  Und  so  war 
es   denn  auch. 

Was  ist  uns  das  heute  noch?  Der  ahnungsvolle  Verleger  merkte 
an,  es  seien  alle  Rechte  vorbehalten,  „auch  die  der  Ubersetzung,  der 
Verfilmung  und  Verwendung  fiir  den  Tonfilm . .  /*  Das  ist  es  uns 
heute. 

Ludwig  Bauer  ,(Morgen  wieder  Krieg'*  (erschienen  bei  Ernst  Ro- 
wohlt  in  Berlin), 

Das  Buch  hat  ein  merkwiirdiges  Schicksal:  soweit  ich  das  iiber- 
sehen  kann,  ist  es  fast  ganz  totgeschwiegen  worden.  Warum  wohl — ? 
„Emir\  sagt  ein  altes  berliner  Lied,  „Emil  mit  dem  Doppelkinn,  du 
pafit  in  keene  Wieje  nich  mehr  rin!"  Dieses  auBerordentlich  gescheite 
Buch  pafit  in  keine  der  heute  geltenden  Kategorien,  es  ist  namlich  mit 
dem   gesunden  Menschenverstand  geschrieben  worden. 

Der  kommt  nicht  nur  in  Sachen  Deutschland  zu  Folgerungen,  die 
nur  in  Deutschland  als  fiirchterliche  Ketzerein  gelten.  Ich  wunschte, 
eine  Hitlerregierung  erfiillte  wenigstens  eine  ihrer  dreitausend  Ver- 
sprechungen,  wenigstens  diese  eine.  Sie  rolle  die  Kriegsschuldfrage 
noch  einmal  auf.  Was  wird  sie  ernten?  Emporung?  Grimmigen 
Widerstand?  Innere  Einkehr  der  Feinde,  wie  diese  Nazis  glauben, 
die  von  Europa  nichts  kennen?  Sie  werden  auf  vollige  Verstandnis- 
losigkeit  stofien  —  es  wird  niemals  zu  ernsten  Verhandlungen 
kommen,  weil  es  diese  Frage  nicht  mehr  gibt.  Bauer  sagt:  „Nehmen 
wir  an,  es  geschahe  ein  Wunder,  es  wiirden  heute  zwei  Briefe  vom 
Zaren  und  Poincare  aufgefunden,  Anfang  Juli  1914  geschrieben,  darin 
stande  schwarz  auf  weiB:  wir  fallen  jetzt  tiber  Deutschland  her,  wir 
sind  gliicklich,  daB  endlich  diese  Gelegenheit  gekommen  ist,  wir  schie- 
ben  Deutschland  die  Verantwortlichkeit  zu  und  werden  so  erreichen, 
daB  alle  Welt  unser  Bundesgenosse  wird  —  nun  wohl,  was  wiirde 
dann  geschehn?  Nichts.  Es  gabe  eine  Sensation,  unendlichen  Larm, 
aber  die  Machte  wiirden  nicht  wieder  in  Paris  zusammenkommen,  die 
alten  Grenzen  neuerdings  herstellen,  die  Wiedergutmachungen  zuriick- 
erstatten,  die  Vertrage  zerreifien . . .  Denn  die  Staaten  sind  nun  so, 
wie   sie  geschaffen   wurden,    sie   tragen    in   sich    das    Recht    des  Be- 

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stehenden,  Der  deutsche  Unschuldsbeweis  ist  undenkbar,  weil  es 
eben  keine  deutsche  Unschuld  1914  gibt;  aber  sogar  wenn  er  unwider- 
leglich  erbracht  werden  konnte,  wtirde  er  nicht  mehr  bewirken  als 
ein  Achselzucken." 

Die  Vorschlage,  die  das  Buch  macht,  urn  dies  en  wahnwitzig  ge- 
wordenen  Kontinent  zu  retten,  diese  Vorschlage  erscheinen  mir  un- 
zureichend.  Eine  Propagandastelle  etwa  gegen  die  nationale  Luge  * .  * 
das  halte  ich  nicht  fur  durchfiihrbar.  Es  ist  alles  viel  zu  spat,  und 
man  wird  das  auch  niemals  tun.  Aber  die  Schilderung  des  Bestehen- 
den,  die  Schilderung  Europas,  so,  wie  es  nun  einmal  ist,  die  ist  gut 
gelungen.  Esgibt  einige  deutsche  Diplomaten,  die  wissen  Bescheid  — 
sehr  intelligent  ist  der  adlige  Durchschnitt  nicht,  aber  so  dumm  ist  er 
wieder  nicht,  um  nicht  einigermaBen  die  deutschen  Chancen  zu  sehn, 
Sie  wissen  es.  Es  gibt '  Rererenten  im  Auswartigen  Amt,  die  kennen 
ihre  Verhandlungspartner.  Aber  gestofien,  geknufft  und  umbrullt  von 
den  tobenden  Stammtischen  in  Prenzlau  und  Sangershausen,  in  Greiz, 
Gera  und  Weimar,  stehn  die  Vertreter  des  Deutschen  Reiches  im  Aus- 
land  da  wie  die  Hanswurste:  sie  sollen  etwas  erreichen,  was  niemand 
erreichen  kann.  Ludwig  Bauer  sieht,  was  kommen  wird,  erbarmungs- 
Ios  klar  —  fiir  wen  hat  er  das  geschrieben? 

Fiir  die  Majoritat  der  Deutschen  einmal  sicherlich  nicht. 

Fiir  die  haben  die  starkern  Bat  a  ill  one  recht,  so  sehen  sie  auch 
den  chinesisch-japanischen  Konflikt  an  —  immer  feste  druff!  Doch 
gilt  die  Theorie  von  den  starken  Bataillonen  dann  nicht,  wenn 
Deutschland  besiegt  wird  —  dann  ist  Krieg  bitterstes  Unrecht,  Krieg 
mufi  sein,  aber  nur,  wenn  Deutschland  siegt.  Wie  die  dummen  Jun- 
gen.    Und  sie  freuen  sich  so,  wenn  dieser  Volkerbund  versagt! 

Er  mufi  versagen,  denn  es  gibt  ihn  gar  nicht.  Bauer  setzt  aus- 
einander,  wie  gefahrlich  die  genfer  Komodie  ist:  sie  kompromittiert 
eine  gute  Idee.  Gibt  es  einen  Volkerbund?  Es  gibt  keinen.  Das 
glauben  nur  noch  so  brave  Pazifisten  wie  Hans  Wehberg  —  aber 
die  gibt  es  auch  nicht,  und  so  gleicht  sich  alles  im  Leben  aus.  Wir 
werden  uns   im  nachsten  Krieg  wiedersprechen. 

Der  Volkerbund  existiert  nicht,  weil  kein  Staat  auch  nur  auf  ein 
Partikelchen  seiner  absoluten  Souveranitat  verzichtet  hat  —  und  nur 
so  konnte  er  entstehen  und  bestehn.  Deutschland  hat  am  allerwenig- 
sten  das  Recht,  ihn  zu  kritisieren.  Wer  einen  so  barbarischen  Natio- 
nalismus  will  und  bejaht,  der  mache  seinen  Krieg  und  schweige,  wenn 
von  Pazifismus  die  Rede  ist. 

Ludwig  Bauer  aber  sei  alien  empfohlen,  die  sich  noch  ein  Rest- 
chen  jenes  Menschenverstandes  bewahrt  haben,  der  heute  als  Ratio- 
nalismus  und  Liberalismus  von  wild  gewordenen  Analphabeten  ange- 
prangert  wird. 

Wenden  wir  uns  zum  Schlufi  freundlicheren  Dingen  zu. 

Wenn  einer.  den  Schnupfen  hat  und  nicht  ausgehn  kann  oder  die 
Grippe  und  nicht  ausgehn  will  oder  er  ist  Mutter  und  kann  nicht  aus- 
gehn, dann  lese  er  den  „Prager  Pitaval"  von  Egon  Erwin  Kisch  (er- 
schienen  im  Verlag  Erich  Reifi  in  Berlin).  Das  ist  ein  herrlicher 
Schmokerl  Aus  alten  Scharteken,  aus  dem  Pitaval,  aus  eignen  Er- 
lebnissen  tiit  Kisch  hier  das,  was  er  am  besten  kann;  er  erzahlt. 
„Verzahl  uns  was!"  sagen  die  Kinder,  wenn  sie  sich  langweilen.  Es 
ist  zu  schon.  Pracht-  und  Mittelstiick  die  klassische  Darstellung  des 
Falles  Redl.  Sehr  gut,  da&  er  das  aufgenommen  hat  —  der  Band  ist 
einst  bei  der  seligen  t,Schmiede"  erschienen,  deren  Inhaber  fibrigens 
Schule  machen,  denn  es  gibt  allerhand  Verleger,  deren  Abrechnungen 
zu  wiinschen  iibrig  Iassen.  Was  tut  der  Schutzverband?  Er  ist  uneins 
miteinander,  und  so  vergeht  alien  Beteiligten  auf  das  schonste  die 
Zeit.    Nein,  wir  sind  keine  gefahrlichen  Arbeitnehmer. 

Auf.  dem  Nachttisch  liegt  noch  vielerlei.  Aber  der  Inhaber  hat 
sich  in  die  Kissen  zuruckgezogen  und  tut  was  — ?  Er  schmokert.  Er 
liest  E.  E.  Kisch. 

861 


Hoffmanns  Erzahlungen  von  Alfred  poigar 

f~\  ffenbachs  phantastische  Opert  durch  Kulissenzauber,  Ballett, 
^  musikalische  Zutaten,  wie  auch  durch  das  harte  Mittel  des 
Dialogs  zu  einem  pomposen  Schaustiick  gestreckt,  Machtig 
aufgebiasenes  Theater  (Reinhardt  hat  groBen  Atem).  Dem  Zu- 
schauer  bangt,  wie  beim  Straffblasen  eines  Luftballons,  der 
kritische  Punkt  konnte  tiberschritten  werden,  an  dem  die  Sache 
platzen  miiBte. 

In  den  Absichten  Reinhardts  lag  es  wohl,  ein  Theater- 
werk  herzustellen,  das  breitestem  wie  auch  sogenanntem  bes- 
seren  Publikum  behagen,  das  Massenabsatz  finden  und  doch 
hohem  Anspruch  geniigen  solh  Praktische  Erwagungen,  ge- 
brochen  durch  kunstlerische.      Oder  umgekehrt. 

Sehr  schon  sind  die  Dekorationen  von  Professor  Strnad, 
bewegliches  Riesenspielzeug,  an  dem  die  Erwachsenen  ihre 
kindliche  Freude  haben.  Den  Weinkeller  von  Lutter  und 
Wegner,  der  Intimitat  und  Enge  verlangt,  in  die  f urchtbare  Breite 
der  GroBen  Schauspielhaus-Buhne  einzupf lanzen,  war  nicht  leicht: 
links  wird  deshalb  der  Keller  von  einer  Schankstatte  flankiert, 
die  nur  da  ist,  urn  lastigen  Leerraum  zu  fiillen,  rechts  von 
einer  schragen  Schmal-Treppe,  iiber  die  im  bauschigen  Monstre- 
kostiim  hinab-  <und  hinanzuschweben  selbst  der  Grazie  von 
Fraulein  Schuster  Schwierigkeiten  macht  Nach  jeder  Er- 
zahlung  Hoffmanns  taucht  das  Kellerlokal  obstinat  wie  der  auf. 
Studenten  in  buntem  Wichs  beleben  es,  nach  alter  Operetten- 
weise,  mit  Gesang,  mit  Humpen  verschiedener  Form,  welche 
gehoben  werden,  und  tiberhaupt  mit  rauher  Burschenherrlich- 
keit.  RegelmaBig  erscheint  im  Keller  die  neu  ausgedichtete 
Figur  der  Stella,  eben  Fraulein  Schuster,  und  spricht  italisch 
gebrochenen  deutschen  Text,  der  fiir  den  Ablauf  des  Opern- 
geschehens  ohne  Bedeutung  ist.  Einmal  tragt  sie  auch,  be- 
zaubernd  liebenswiirdig,  ein  Liedchen  von  Offenbach  vor  (ich 
glaube,  aus  dem  „Madchen  von  Elizondo"),  dcssen  siiBe, 
zwischen  Wehmut  und  Obermut  schwingende  Zartheit  sich  ins 
Herz  schmeichelt.  Gleichfalls  hartnackig  anwesend  bei  Lutter 
und  Wegner  ist  Peter  Schlemihl,  der  hier  auch  im  dramatischen 
Sinn  keinen  Schatten  wirft,  und  in  der  Kneipe  immer  nach 
dem  Schlussel  verlangt,  von  Mai  zu  Mai  drangender.  Die  de- 
korativen  GroBiiberraschungen  des  Abends  bringt  die  Giulietta- 
Szene,  Hier  entfaltet  sich,  magisch  belichtet  und  bedunkelt, 
Venedig  („wie  wirklich"),  alles,  nicht  nur  die  Lagune,  fliefit, 
Hauser  und  Briicken  wandern  stumm,  der  Palazzo  inmitten, 
Architektur  in  LebensgroBe,  kreist  um  seine  eigne  Achse,  und 
die  Prunkgondel,  umrauscht  von  den  sanften  Wellen  der  Bar- 
carole, windet  sich  sachte  zwischendurch,  wie  tags  darauf  die 
Kritik,  leis,  leis,  mein  Gondolier,  durch  ihre  kiinstlerischen 
Einwande,  um  die  mit  unbeschadigtem  Enthusiasmus  herum- 
zukommen  wohl  schwer  gewesen  sein  mag,  Ein  feiner  Anblick 
ist  Spalanzanis  Haus,  schimmernd  im  matten  Dunstlicht  vieler 
illusionarer  Kerzen,  und  glanzend  von  Strnad  hinphantasiert  ist 
auch  das  letzte  Bild,  die  Biihne  der  alten  berliner  Oper  mit  Aus- 
blick  auf  bzw.  Einblick  in  den  Zuschauerraum,  in  dessen  Logen, 
vier  Etagen  hoch  gebaut,  Publikum  Publikum  agiert,  Es  ver- 
862 


laBt,  da  Hoffmann  seiner  geliebten  Stella  auf  der  Szene  eine 
solche  macht,  panikartig  das  Theater.  Dieses  Bild  ist  zur  Oper 
neu  hinzuerfunden,  ein  iippiger  letzter  Gang  des  iippigen 
Schmauses,  zu  dem  im  GroBen  Schauspielhaus,  das  mit  Gasten 
verschiedenen,  auch  unersattlichen  Geschmacks  rechnet,  ge-  - 
deckt  wurde.  Noch  ein  allerletzter  Gang  hatte,  wie  aus  dem 
Programm  ersichtlich  ist,  folgen  sollen,  eine  SchluB-Szene  auf 
dem  Opernplatz.  Dort  spielt  auch  die  erste  Szene.  Sie  kam 
durch  den  Wegfall  der  letzten  eigentlich  um  ihren  dramatur- 
gischen  Sinn,  steht  jetzt  da  wie  ein;  Klammer  geoffnet,  dem 
das  zugehorige:  Klammer  geschlossen  nicht  folgt.  Statt  jener 
frappanten  Mummer,  Krach  im  Opernhaus,  hatte  naturlich  auch 
etwas  andres  zur  szenisch-dekorativen  Bereicherung  des 
Werkes  diesem  aufgesetzt  werden  konnen,  etwa  ein  Erdbeben, 
ein  Feuerwerk,  ein  Empfang  Hoffmanns  in  der  Dichterakade- 
mie,  eventuell  auch  sein  AusschhiB  aus  dieser,  oder  sonst 
was  Erregendes.  Aber  Theater  im  Theater,  Theater  zum 
Quadrat,  ist  nun  einmal  ein  Lieblingsspiel  des  potenzierten  und 
potenzierenden  Theatermannes  Reinhardt. 

Ober  Offenbachs  noch  im  Schweren  geisterhaft  leichte, 
hier  auch  dunkle  Fittiche  regende  Hoffmann-Musik,  die  Lebens- 
fremdc  nicht  verneint,  aber  Lebensangst  bekennt,  halt  Leo 
Blech  die  schutzende,  abwehrende  Hand.  Er  macht  den  be- 
sonderen  Absichten  der  Neuinszenierung  ein  MindestmaB  an 
Zugestandnissen;  fast  hat  man  den  Eindruck,  als  ware  manch- 
mal,  um  der  Oper  zu  sichern,  was  der  Oper  ist,  sein  Taktstock 
dem  viel  zitiertenZauberstab  Reinhardts  in  die  Quere  gekom- 
men.  Zur  Gipfelhohe  gelangt  das  Musikalische  der  Auffiihrung  in 
der  Antonia-Szene,  da,  wo  es  auchimOeuv're  selbst  an  dieBezirke 
des  Ekstatischen  und  Tragischen  riihrt,  Hier  hat  auch  Reinhardt 
seine  beste  halbe  Stunde.  Hier  sind  seine  Sanger  schauspiele- 
risch  gelockert,  die  dramatische  Bewegung  groB,  in  steter 
Steigerung,  und  aus  dem  Geist  der  Musik  vollzieht  sich  Geburt 
der  Tragodie,  Schaden  erleidet  die  Unheimlichkeit  der  Szene 
durch  das  hell  belichtete  Portrat  von  Antonias  verstorbener 
Mutter,  das  sich,  im  Rahmen  seines  Rahmens,  am  Terzett  be- 
teiligt,  Ein  Portrat,  dessen  Busen  im  Gesange  wogt,  ver- 
scheucht  die  Spukgeister,  die  es  rufen  sollte.  Oberzeugende  ^ 
Wirkung  erzielt  die  Regie  auch  im  Giulietta-Bild,  mit  dem 
Gestalten-Zug,  der  an  Hoffmann  voriiber  gespenstert  und  so 
unwirklich  schreitet,  daB  der  Eindruck  geweckt  wird,  dieser 
Zug  konnte  wie  durch  Luft  auch  diurch  Mauern  gehen. 

Zweimal  tobt  sich,  die  Sache  und  der  genius  loci  wollen 
es,  Ballett  aus,  Einmal  sehr  apart,  im  wilden  Puppentanz  bei 
Spalanzani;  das  andre  Mai  bei  Giulietta  in  einem  gequalteri 
Bacchanal,  wo  es,  sowohl  was  Hiipf en  als  auch .  was  Springen 
anlangt,  entschieden  hoch  hergeht  und  von  dem  man  also 
rechtens  sagen  darf:  gehupft  wie  gesprungen. 

Hans  Fidesser,  mit  seinem  weichen,  warmen  Tenor,  ist  ein 
Hoffmann,  wie  er  in  den  Noten,  aber  nicht  wie  er,  als  von 
Gesichten  heimgesuchter,  phantasiegequalter  Dichter,  im  Buche 
steht.  Baklanoff  kommt  erst  als  Doktor  Mirakel  recht  zu 
Stimme  und  Teufelei.  Dem  Zauber  von  Jarmila  Nowotnas 
noblem,   empfindungssattem,  des  lyrisch-zarten  wie  des  hoch- 

863- 


drama  Lischen  Ausdrucks  gleich  fahigem  Singen  muB  unter- 
liegen,  wer  Musik  hat  in  ihm  sclbst.  Ihre  Erscheintung  ist 
Wohllaut  dem  Auge,  wie  cine  zwcitc  mclodische  Stimme 
schmiegen  Bcwcgung  und  Gebardenspiel  der  Linie  des  Ge- 
sangs  sich  an.  Paul  Graetz  crscheint  in  mannigfacher  Gestalt. 
Als  altbcrliner  Theaterdiener  gelallt  er  mir  am  besten,  Sein 
bittres  Puppenlied  sitzt  gut  in  jeder  Nuance,  und  als  kastrier- 
ter  Zwerg  (kaum  verstandlich  die  Schwache  Giuliettas  fur  die- 
sen)  treibt  er  es  sehr  unheimlich.  Aber,  wie  man  in  judisch-Wien 
sagt:  ich  hab*  schon  einen  grofieren  Zwerg  gesehen.  Niklaus, 
Hoffmanns  Freiund,  wurde,  daB  die  Figur  sich  riinde,  mit  Text- 
Stroh  ausgestopft.  Niklaus  hat  immer  wieder  nur  bestiirzt  zu 
sein  uber  des  Freundes  Mar ot ten  und  immer  wieder  ungedul- 
dig  zii  rufen:  ,,Komm  schon!*'  Es  ist  zubewundern,  wie  m«nsch- 
Uch  liebenswert,  fein  und  humorig  Hermann  Thimig  diese 
elende  Rolle  durchfuhrt,  mit  welchem  Takt  er  da  ist,  ohne  doch 
eigentlich  da  zu  sein. 

Das  Gespenstische,  Damonische,  Phantastische,  kurz,  die 
„ Hoffmanns  Erzahlungen"  zugehorigen  Attribute  kommen  in 
Reinhardts  Auffiihrung  zu  kurz.  Aber  sie  selbst  hat,  in  Zeit- 
lauften  wie  den  heutigen,  schon  ihr  Gespenstisches ! 

Formel  dieses  erstaunlichen  Theater-Abends,  dieser  bis 
zur  Verfettung  gefiillten  Open  Qualitat,  gemindert  durch 
Quantitat. 

Banken  der  Zukunft  von  Bernhard  Citron 

^[  icht  die  politische  Absicht  einer  herrschenden  Regierung, 
sondern  die  okonomische  Tendenz  einer  herrschenden 
Komjunktur  bestimmt  im  allgemeinen  die  Entwicklung  des 
Wirtschaf tssystems.  Die  politische  Haltung  der  ersten  Nach- 
kriegsregierung  war  zwar  keine  ausgesprochen  antikapita- 
listische,  aber  doch  auf  eine  Einschrankung  der  Machtstellung 
der  Privatwirtschaft  gerichtet;  dennoch  eilte  der  Hochkapita- 
lismus  seinem  Kulminationspunkt  entgegen.  Die  gegenwartige 
Regierung  ist  zweifellos  uber  jeden  Vorwurf  der  Kapitalfeind- 
lichkeit  erhaben,  aber  unter  Briinings  Kanzlerschaft  hat  die 
Sozialisierung  der  Banken  begonnen.  Selbst  der  allmachtige 
Diktator  Italiens  hat  nicht  die  Wirtschaf t  nach  seinem  Plan 
geformt,  sondern  seine  Plane  wurden  durch  die  wirtschaf tliche 
Entwicklung  beeinfluBt.  Die  Grundung  einer  halbstaatlichen 
Holding-Gesellschaft  der  italienischen  Industrie  durch  die  Um- 
bildung  der  Banca  Commerciale  Italiana  wurde  unprogramm- 
maBig  nur  durch  die  konjunkturelle  Entwicklung  diktiert. 

Von  den  fiinf  berliner  GroBbanken,  den  „Big  five"  der 
BehrenstraBe,  verdienen  heute  nur  noch  zwei  diesen  Namen: 
die  Deutsche  Bank  und  Disconto-Gesellschaft  sowie  die  Com- 
merz-  und  Privatbank.  Darmstadter  &  Nationaibank  und 
Dresdner  Bank  sind  Reichsinstitute,  und  die  Berliner  Handels- 
Gesellschaft  ist  nach  ihren  eignen  Angaben  uberhaupt  keine 
Grofifoank,  da  sie  wed'er  Filialen  noch  Depositenkassen  unter- 
halt,  sondern  eine  groBe  Privatbank,  Aber  auch  die  beideh 
auBerlich  noch  ganz  selbstandigen  GroBbanken  haben  ihr  Ge- 

864 


sicht  verandert.  Sic  besitzen  keinc  verbriefte,  aber  eine  tat- 
sachliche  Reichsgarantief  von  der  Gebrauch  ztu  machen  ihnen 
sichcrlich  erspart  bleiben  wird.  Aber  diese  auch  nach  Ansicht 
dcs  breiten  Publikums  vorhandene  stille  Garantie  des  Reichcs 
fur  samtliche  GroBbanken  hat  bewirkt,  daB  der  Kreditoren- 
schwund  nicht  so  rapide  Fortschritte  gcmacht  hat  wie  in  den 
sicben  Monaten  vom  14.  September  1930  bis  zum  13.  Juli  1931. 
Betrachtet  man  die  Monatsbilanzen  der  Banken  vom  31.  Ok- 
tober,  so  wird  man  bei  alien  Instituten  —  mit  und  ohne  un- 
mittelbare  Reichsinteressen  —  Parallelerscheinungen  sowohl 
auf  der  Aktiv-  als  auch  auf  der  Passivseite  feststellen.  Das 
Vertrauen  der  Offentlichkeit  zu  den  Banken  ist  eben  so  groB 
oder  gering  wie  das  Vertrauen  zum  Reich.  Bei  dieser  engen 
Verbundenheit  zwischen  offentlicher  Hand  und  privaten  Kre- 
ditinstituten  ist  es  ganz  natiirlich,  daB  die  Regierung  auch 
dort  EinfluB  besitzt,  wo  sie  bisher  weder  als  Garant  noch  als 
Majoritatsbesitzer  offiziell  zur  Erscheinung  gekommen  ist.  Bei 
der  Commerz-  und  Privatbank  ist  dieser  EinfluB  noch  vertieft 
worden  durch  das  personliche  Vertrauen,  das  Direktor  Fried- 
rich  Reinhart  beim  Reichskanzler  genoB.  Diese  Sympathien 
mogen  d/urch  die  Vorgange  bei  SchultheiB-Patzenhofer,  die 
Herrn  Reinhart  so  kompromittiert  haben,  daB  er  sein  Mandat 
im  Wirtschaftsbeirat  niederlegen  muBte,  etwas  abgekiihlt  wor- 
den sein.  Aber  die  Faden,  die  zwischen  Wilhelm-StraBe  und 
Commerzbank  laufen,  sind  bereits  so  engt  daB  man  sie  nicht 
mehr  losen  kann.  Der  Obergang  einiger  Herren  der  Commerz- 
und  Privatbank  in  die  Verwaltung  der  Dresdner  Bank  wurde 
bereits  vor  einem  Vierteljahr  als  Vorstufe  zu  einer  Vereini- 
gung  beider  Institute  angesehen.  Man  zogerte  wieder,  da  die/ 
Darmstadter  Bankf  deren  VerauBerung  an  die  Industrie  als  ge- 
scheitert  angesehen  werden  muBf  in  die  Kombination  ein- 
bezogen  werden  sollte.  Fast  jeder  Tag  bringt  einen  neuen 
Plan.  Einmal  sollen  alle  drei  Institute  miteinand'er  verschmol- 
zen  werden,  das  andre  Mai  soil  die  Genossenschaftsabteilung 
aus  der  Dresdner  Bank  herausgenommen  und  der  PreuBischen 
Zentralgenossenschaftskasse  angegliedert  werden,  dann  wieder 
ist  von  einer  Fusion  Dresdner  Bank-Commerzbank  die  Rede 
ohne  Einbeziehung  der  Danatbank,  die  ganz  zerschlagen  wer- 
den soil.  Umgekehrt  verlautet  plotzlich,  Danat-  und  Com- 
merzbank gehen  zoisamment  die  Dresdner  Bank  bleibt  in  ihrer 
gegenwartigen  Verfassung  bestehen.  Dann  wird  weiter  kom- 
biniert,  indem  man  die  Reichs-Kredit-Gesellschaft  in  eine  der 
genannten  Moglichkeiten  einbezieht.  Man  weist  darauf  hin, 
daB  Samuel  Ritscher,  das  Vorstandsmitglied  der  Reichs-Kredit- 
Gesellschaft,  sich  in  letzter  Zeit  sehr  aktiv  als  Mitglied  des 
Kreditausschusses  der  Dresdner  Bank  betatigt.  SchlieBlich 
sprach  man  eine  Zeitlang  sogar  davon,  daB  eine  Zusammen- 
legung  der  Filialen  stattfinden  sollte,  an  der  sich  auch  die 
Deutsche  Bank  und  Disconto-Gesellschaft  beteiligen  wurde. 
Vorlaufig  liegt  gerade  diese  Losung  noch  in  weitester  Feme, 
die  Deutsche  Bank  sieht  die  Bildung  eines  neuen  Blocks  neben 
sich  gar  nicht  gern,  sie  wird  freiwillig  kaum  bereit  sein,  diese 
Grundung  auch  noch  zu  fordern.  Die  letzte  Entscheidung  uber 
jede    Art    des    Zusammenschlusses  oder   auch   nur   karteliahn- 

865 


lichcr  Bindungen  liegt  beim  Reich.  Es  ist  selbstverstandlich, 
daB  jede  Regierung,  auch  wenn  sic  dcr  Privatwirtschaft  noch 
so  wohlwollend  gesinnt  ist,  Einf  hifi  auf  die  Bank  en  behalten 
will,  die  sie  garantiert  und  subventioniert  hat. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Auf gaben  den  Banken  kiinftig 
zufallen  sollen.  Da  sie  vom  Reich  in  einer  mehr  oder  weniger 
bestimmten  Form  garantiert  sind,  miissen  sie  die  sichersten 
Geschaftszweige,  die  im  Interesse  einer  normalen  Verkehrs- 
wirtschaft  liegen,  in  erster  Linie  pflegen.  Dahin  gehort  das 
Wechsel-,  Rembourse-  sowie  das  regulare  Konto-Korrent-  und 
Depositengeschaft.  Da  fur  die  privaten  Bankgeschafte,  die  fur- 
die  Allgemeinheit  keine  so  groBe  Bedeutung  wie  die  GroBban- 
ken  haben,  das  Reich  naturgemaB  niemals  garantieren  wtirde, 
haben  diese  iiberhaupt  kaum  noch  Kundenkreditoren.  Solche 
Firmen  brauchen  zwar  einen  Run  auf  ihre  Schalter  nicht  zu 
fiirchten,  sie  haben  aber  auch  nicht  die  Moglichkeit,  Geschafte, 
die  Kapital  erfordern,  zu  pflegen.  Ganz  von  selbst  ist  das 
private  Bankgeschaft  von  jenen  Sparten,  die  wir  als  die  eigent- 
lichen  Geschaftszweige  der  Banken  bezeichneten,  abgedrangt. 
Also  ergibt  sich  auf  sehr  naturliche  Weise,  daB  den  Bankiers 
eine  andre  Aufgabe  zufallen  muB,  die  fiir  die  halbstaatlichen 
Institute  nicht  mehr  in  Betracht  kommen  kann  —  das  eigent- 
liche  Borsengeschaft.  Die  Unterschiede  zwischen  kleinern 
Bankiers,  denen  wenig  Kundschaft  geblieben  ist,  und  groBen 
Maklerfirmen,  die  sich  grade  in  der  gegenwartigen  borsen- 
losen  Zeit  Privatkunden  zugelegt  haben,  sind  verwischt.  Sollte 
—  was  doch  schlieBlich  anzunehmen  ist  —  die  Borse  wieder 
einmal  ihre  Pforten  offnen,  so  wird  sich  an  diesem  Zustand 
wenitf  andern.  Es  ist  nicht  anzunehmen,  daB  die  Makler,  die 
Kundschaft  haben,  auf  diesen  Geschaftszweig  wegen  gewisser 
bestehender  Vertrage  mit  der  Bedingungsgemeinschaft  des 
Bankgewerbes  verzichten  werden.  Ebensowenig  darf  man  er- 
warten,  daB  die  Kund'en  in  hellen  Haufen  zum  Bankier  zuriick- 
kehren.  Es  entsteht  aiuf  diese  Weise  eine  neue,  aus  Maklern 
und  Bankiers  zusammengesetzte  Schicht  reiner  Borsenfirmen, 
die  das  Eigengeschaft  betreiben  und  in  beschranktem  MaBe 
auch  Borsenkundschaft  haben.  Vergleichbar  waren  diese  Fir- 
men  mit  den  englischen  Brokers.  Daneben  wird  der  Makler, 
der  im  Markt  steht,  Geld-  und  Brief  kurse  nennt,  und 
dessen  eigentlicher  Erwerb  im  Courtageverdienst  besteht,  er- 
halten  bleiben.  Dieser  Makler  ist  mit  dem  Jobber  der  eng- 
lischen  Borse   wesensverwandt. 

Welche  Rolle  werden  nun  die  GroBbanken  an  der  Borse 
spielen.  Bleiben  wir  weiter  bei  dem  englischen  Vorbild,  so 
miissen  wir  sagen  —  keine.  Ginge  es  nach  dem  Willen  man- 
cher  Bankiers1  dann  wtirde  den  Banken  der  Eintritt  in  die 
Borse  auf  ewige  Zeiten  verboten  sein.  So  rasch  wird  die  Ent- 
wicklung  in  Deutschland  nicht  vor  sich  gehen.  Die  Nischen 
in  der  BurgstraBe,  in  denen  die  GroBbanken  ihre  Platze  haben, 
werden  ihnen  vorlaufig  bleiben.  Aber  man  wird  bald'  sehen, 
daB  nicht  mehr  die  erste  Garni tur  der  Bankdirektoren  zur 
Borse  kommt.  Da  die  vom  Reich  ,kontrollierten  Institute  keine 
gewagten  Spekulationen  machen  diirfen,  wird  der  Besuch  der 
Borse    fiir    die    leitenden   Personlichkeiten    uninteressant    sein., 

866 


Bemerkungen 

Wenigstens  die  Schrelbmaschine 

p\er  Oberreichsauwalt  gab  den 
»  guten  Ratt  als  Beweismittcl 
wenigstens  die  Schreibmaschine 
des  Doktor  Best  zu  beschlagnah- 
men,  mit  der  das  Putsch-Doku- 
ment  hergestellt  wurde." 

Es  war  einmal  eine  Schreib- 
maschine. Sie  stand  im  Herren- 
zimmer  eines  hessischen  Guts- 
hofes,  Gerichtsassessor  Best . 
machte  auf  ihr  allerlei  lustige 
Schreibubungen,  Einige  Herren 
standen  her  una  nud  sahen  inter- 
essiert  zu.  Es  war  ein  netter 
Herrenabend. 

Als  die  Schreibubungen  des 
Herrn  Gerichtsassessors  Best  be- 
endet  waren,  verschloB  man  das 
harmlose  Schriftstiick  in  einem 
Geheimfach.  Dort  lag  das  Papier 
eine  gute  Weile  und  wartete  auf 
den  Sieg  des  Dritten  Reichs, 

Aber  statt  dessen  kam  diebose 
Polizei  und  nahm  die  unschuldi- 
gen  Schreibubungen  mit.  Die  Re- 
gierung  untersuchte  den  Inhalt 
und  fand,  dafi  dieser  Herren- 
abend eine  staatspolitische  Ver- 
schworung  sei ,  eine  unleugbare 
Offenbarung  des  Schreckensregi- 
ments.  Das  Dokument  zeigt  die 
Chaotiker  in  voller  Tatigkeit.  Es 
war  die  Enthiillung  eines  Wunsch- 
bildes:  So  werden  wir  handeln, 
egal  ob  legal  oder  illegal,  wenn 
die  Stunde  kommt.  Wer  nicht 
dem  Hakenkreuz  pariert,  wird 
erschossen. 

Die  Regierung  tragt  die  kleine 
Schriftprobe  brav  zum  obersten 
Gericht.  Der  Mann  im  roten  Ta- 
lar  setzt  die  Brille  auf,  besieht 
die  Eingabe  von  alien  Seiten, 
dreht  sie  um  und  um,  die  Brille 
lauft  an,  und  er  sagt:  Ich    kann 


nichts  finden,  aber  man  beschlag- 
nahme  sofort  die  Schreib- 
maschine. 

Dokument  hin  —  Dokument 
her;  die  Schreibmaschine,  die 
Schreibmaschine!  Der  Geist  des 
Dokuments  ist  egal:  die  Schreib- 
maschine, die  Schreibmaschine! 
Der  Verfasser  ist  legal,  aber  die 
Schreibmaschine,  die  Schreib- 
maschine ist  sofort  zu   verhaftenf 

Ein  hiibsches,  rundes  Beweis- 
mittel  erfreut  des  Juristen  Herz. 
Die  Schrift  ist  deutbar;  sie  unter- 
Hegt  den  Auslegekiinsten  des  For- 
malrechts.  Aber  der  Mensch  ist 
ein  Je-nachdem-Fall  des  Ge- 
richts.  An  Stelle  des  Menschen 
wird  dieMaschine  beschlagnahmt. 
Naturlich,  die  sechsundzwanzig 
Buchstaben  ihres  Alphabets  sind 
schuldig!  O  diese  bose  Schreib- 
maschine! Was  lafit  sich  aus 
ihren  sechsundzwanzig  Buchsta- 
ben nicht  alles  machen! 

Die  politische  Linke  allerdings 
schreibt  alles  mit  der  Hand  (zum 
Beispiel  so  verruchte  Dinge  wie 
eine  Kritik  am  Heeresetat);  und 
in  Ermangelung  der  Schreib- 
maschine wird  formal -logischer- 
weise  diese  Hand  selbst  gepackt 
und  gefesselt ... 
* 

Einige  Jahrzehnte  spater. 
Schauplatz:  ein  kulturhistorisch.es 
Museum. 

„Zur  Rechten  sehen  Sie,  meine 
Damen  und  Herren,  die  spanische 
Jungfrau  und  andre  Marterwerk- 
zeuge  des  dunklen  Mittelalters. 
Nunmehr  kommen  wir  in  die  Ab- 
teilung  des  Dritten  Reichs.  Da 
sehen  Sie  zunachst  eine  Schreib- 
maschine; aufierlich  wenig  auf- 
fallend,   ist   sie  als   Leihgabe   des 


Seien  Sie  unbesorgt 

denn  Sie  werden  mehr  erreichen,  als  Ihre  kuhnsten  Traume  Sie  erwarten 
lassen  kronen,  wenn  Sie  den  Anweisungen  folgen,  die  in  den  Buchern 
von  B6  Yin  R&  auch  Ihnen  dargeboten  sincfc  „Das  Geheimnis8,  „Das  Buch 
vom  lebendigen  Gotttf,  „Das  Buch  vom  Jenseits8  irnd  „Das  Buch  vom 
Menschen8  diirften  in  erster  Linie  fiir  Sie  in  Prage  kommen,  wenn  Sie  das 
Gesamtwerk  von  Bo  Yin  Ra  noch  nicht  kennen,  das  heute  in  alien  fttnf 
Weltteileh  seine  Verehrer  und  Schiiler  hat.  Verlangen  Sie  kostenfrei 
unsere  Broschiire  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staebelin :  ,  Weshalb  B6  Yin  R&  ?8 
Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

867 


Reichsgerichts  dennoch  bemer- 
kenswert.  Untcr  dem  Rost  und 
Aktenstaub,  den  sie  in  den  letz- 
ten  Jahren  angesetzt  hat,  erken- 
nen  Sie  noch  die  gotische  Frak- 
tur  der  Schriftzeichen,  Es  ist  die 
bertihmte  Schreibmaschine,  auf 
der  die  Diktatur  des  Totschlags 
gehammert  worden  ist.  Dank  der 
sinnigen  Vorsorge  des  Reichs- 
gerichts ist  der  Nachwelt  dieses 
Beweisstuck  aus  Deutschlands 
dunkelster    Zeit    erhalten    geblie- 

bcn'""  Nek 

Poientlel  de  guerre 

P\er  Hebe  Gott  ist  immer  bei  den 
*-^  starksten  Bataillonen,  hat 
schon  Friedrich  der  Grofle  gesagt 
und  hat  damit  das  gleiche  ge- 
meint,  was  der  Franzose  Paul- 
Boncour  mit  dem  vielumstrittenen 
Begriff  „Potentiel  de  Guerre"  be- 
zeichnet,  Nur  daB  mit  dem  Kriegs- 
potential  heute  nicht  mehr  die 
Starke  der  vorhandenen  Bataillone 
sondern  die  Fahigkeit,  einen  Krieg 
auszuhalten,  gemeint  ist.  Also  die 
Starke  eines  Landes  an  Eisenf 
Kohle,  Petroleum,  Gold,  Chemi- 
kalien,  Transportmitteln,  Lebens- 
mitteln  und  andrem.  Manbraucht 
also  nur  eine  genaue  Aufstellung 
dieser  Kriegskrafte  fur  alle  Lan- 
der zu  haben,  um  im  voraus  den 
Ausgang  jedes  kriegerischen  Kon- 
flikts  in  der  Welt  berechnen  zu 
konnen. 

Den  sozusagen  mathematischen 
Beweis  hierfiir  finden  wir  in  der 
soeben  erschienenen  neuen  Schrift 
von  Otto  Lehmann-RuBbiildt:  t,Die 
Revolution  des  Friedens*'  (Laub- 
sche  Verlagsbuchhandlung),  Nach 
den  dort  zum  erstenMalveroffent- 
lichten  ausgezeichneten  Conrad- 
schen  Tabellen  konnen  wir  uns 
zum  Beispiel  den  chinesisch-japa- 
nischen       Konflikt       zahlenmafiig 


vorstellen  und  je  nach  Ausgang 
die  neue  Konstellation  der  Machte 
und  die  daraus  drohenden  Folgen 
im  voraus  ausrechnen.  Das  Kriegs- 
potential  Chinas  ist  zur  Zeit  75,5, 
wahrend  das  Japans  38,4  betragt, 
Aber  grade  in  der  Mandschurei 
liegen  die  Bodenschatze,  die  das 
Verhaltnis  im  Falle  eines  japani- 
schen  Sieges  umkehren  wurden. 
Japan  benutzt  also  den  fur 
seine  Interessen  gunstigsten 
Augenblick  der  europaischen 
Zerkliiftung,  um  seine  Posi- 
tion im  Fernen  Osten  in  Hin- 
sicht  auf  eine  zukiinfti^e  groBe 
Auseinandersetzung  mit  den  Ver- 
eini^ten  Staaten  zu  verbessern.  Da 
aber  das  Potentiel  de  guerre,  von 
U.S.A.  nach  Lehmann-RuBbuldt 
509,8  betragt,  so  wird  diese  krie- 
gerische  Auseinandersetzung  erst 
dann  stattfinden,  wenn  Japan 
nicht  allein  gegen  Amerika  steht. 
Aber  „da  dammert  im  Rot  von 
Blut  und  Grauschwarz  von  Gift- 
gasen  aus  riesengroBen  Seeflug- 
zeugen  die  Auseinandersetzung 
England  und  Amerika  herauf  \ 

Alle  drohenden  Kriegsmoglich- 
keiten  fur  Europa  und  die  ubrige 
Welt  schalen  sich  klar  und 
plastisch  aus  dem  Lehmannschen 
Buch  heraus.  Sind  wir  gezwun- 
gen,  sie  fatalistisch  hinzunehmen? 
Nein!  Und  das  ist  das  Beste  an 
dem  Buch,  daB  es  den  Kriegs- 
machten  die  „Revolution  des 
Friedens",  der  Kriegsfront  einen 
„Dreijahresplan  der  Friedens- 
front"  gegenuberstellt. 

B  ei  einem  ger  ingen  Auf  wand 
von  Verstand,  Vernunft  und  gu- 
tem  Willen  sollte  es  nach  den 
Lehmannschen  Rezepten  moglich 
sein,  daB  die  Menschheit  sich 
selbst  vor  einer  grauenvollen  Zer- 
fleischung  bewahrt.  Wenn  sie  sich 
aber   dazu   nicht    mehr    aufraffen 


ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCHlCHTE 

in  700  Bildern.  1910—1930.  Einlditung  von  Friedrich  Sieburg.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter   nicht  die  gelstige  MUhe  ersparen,  die  im 
Lesen  liegt  Die  zusammenfa^sende  Betrachtung  der  letzten  17  oder    f 
20  Jahre,  onne  daB  die  Tatsachen  durch  eine  Deutung  verhOllt  oder 
get firbt  wUrden,  mag  einen  neuen  Weg  wetsen  oder  erkennen  tassen. 

TRANSMARE  VERLAQ  A.-O.,  BERLIN  W10k 

868 


1-elnen 

5.80  RM 


kann  und  will,  so  hatte  allerdings 
„die  menschliche  Dummheit  die 
Elementargewalt  angenominen,  die 
morderischer  einherschreitet  als 
das,  was  wir  von  Erdbeben, 
Feuersbrtinsten,  Seuchen,  Meeres- 
fluten,  Wirbelstiirmen  kennen." 
Johannes  Buckler 

Antnerkung 
I  n  der  vorletzten  Nummer  der 
*  ,Neuen  Montagszeitung*  wendet 
sich  Ernst  Glaeser,  sicherlich  mit 
Recht,  gegen  einen  Vortrag,  der 
in  der  berliner  Funkstunde  ge- 
halten  worden  ist.  Inhaltlich  ist 
alles  in  Ordnung.  Aber  seinAr- 
tikel  enthalt  diesen  Satz:  „Ihre 
Ideologic  stammt  aus  den  Kase- 
matten  langst  geschleifter  Forts. 
Aber  die  Distel,  die  zwischen  den 
gesprengten  Betonklotzen  tugend- 
geil  emporwachst,  hat  das  Gift 
einer  bosen  tlberredungskunst  in 
sich  und  den  Weihrauch  einer 
seelischen  Verschmutzung  in  ihren 
ausgetrockneten  Kelchen,"  Und 
dann  diesen:  „Wenn  der  Rund- 
funk  der  unfreien  Reichsstadt 
weiterhin  solche  Stimmen  zu  sen- 
den  das  Bediirfnis  hat,  dann  mus- 
sen  alle  Horer,  soweit  sie  noch 
Menschen  von  Fleisch  und  Blut 
und  von  geistigem  Anstand  sind, 
vergessen,  ihre  Antennen  zu  er- 
den,  damit  die  Blitze  der  empor- 
ten  und  beleidigten  Natur  die  tu- 
gendblaue  Zunge  dieser  nicht  von 
ungefahr  kommenden  Schwatzerin 
auslosche  wegen  Menschenlaste- 
rung."  Es  handelt  sich  hier  nicht 
um  stilistische  Kinkerlitzchen. 
Es    handelt    sich    uni    eine  Ver- 


schlammung  der  Sprache,  des 
Geschmacks  und  des  Denkens, 
die  ein  geschulter  Schriftsteller 
und  ein  Mensch  von  Fleisch  und 
Blut  und  geistigem  Anstand  nicht 
an  sich  dulden  darf.  Noch  nie- 
mals  hat  in  der  Literatur  der 
Zweck  das  Mittel  geheiligt.  Kei- 
ner  der  groflen  Polemiker  der 
Vergangenheit  Hest  sich  wie  ein 
geharnischtes  Wippchen.  Ernst 
Glaeser  hat  nicht  nur  eine  Sache 
sondern  auch  einen  Namen  zu  ver- 
teidigen,  Und:  wenn  das  Salz 
dumm  wird  . . . 

Rudolf  Arnheim 

Reisen  mit  Doktor  Ueberall 

P  ine  der  erfreulichsten  Tat- 
"  sachen  im  berliner  Rundfunk- 
programm  ist  die  tagliche  Jugend- 
stunde,  Und  es  gibt  Leute  —  je- 
den  Alters  —  die  diese  Jugend- 
stunden  lieber  horen  als  das 
ubrige  Programm,  Und  einmal 
fast  in  jeder  Woche  ist  der  Radio- 
apparat  von  der  ganzen  Familie 
umlagert,  von  der  Groflmutter  bis 
zum  Enkel  horen  alle  zu,  denn 
dann  spricht  der  Doktor  Uberall. 
Dieser  Doktor  Oberall  ist  nun  auch 
wirklich  ein  Erzahler,  wie  es  we- 
nige  gibt.  Man  kann  ihm  einen 
Brief  schreiben:  Bitte  erzahlen  Sie 
doch  mal  von  Raketenautos  oder 
von  Unterseebooten,  und  dann 
dauert  es  nicht  lange  und  Doktor 
Oberall  erzahlt  wirklich,  wie  ein 
Raketenauto  aussieht,  wie  seine 
Maschinen  gebaut  sind,  ob  es 
praktisch  ist  oder  unpraktisch,  ob 
es  viel  Geld  kostet  oder  billig  ist, 
ob  es  Zukunftsaussichten  hat  oder 


Soeben  erschlenen: 


pern® 


'*        nfiiitftnhlanH  — i 


t^^^  m     (Trmlariri 


Zwei  Deutsche     Ein  Faschist 
Ein  Franzose        Ein  Bolschewist 
Ein  Englander       Ein  Katholik 
schildern  VorzUge  und 
Nachteile  von 

in  England 

_  S.  A.  —  Frankreich 

Deutschland— im  Bolschewismus 

Faschismus  -  Katholizismus 

und  ihre  Wirkung  auf  Weltpolitik  und  Weltwirtschaft 

EJnfach  gebunden  RM.9.60,  in  Lelnen  gebunden  RM.  11.40, 

Auch  in  Einzelheften  &  RM.  1.80. 

VERLAQ  L.W.3EIDEL&SOHN,  WIEN   I 


869 


wertloser  Kram  ist.  Und  all  das 
wird  so  selbstverstandlich,  so  ab- 
solut  klar  und  ohne  alles  fach- 
mannische  Getue  vorgebracht,  dafi 
man  es  wirklich  versteht.  Doktor 
Oberall  schildert,  wie  er  sich 
selbst  hat  belehren  lassen.  Er  be- 
hauptet  gar  nicht,  so  viel  mehr  zu 
wissen  als  wir;  aber  er  hat  sich 
eben  erkundigt  und  hat  sich  alles 
genau  angesehen,  und  nachdem  er 
es  verstanden  hat,  kann  er  es  uns 
jetzt  erklaren.  Wenn  er  berichtet 
und  erzahlt,  so  merkt  man  ihm 
ein  ganz  junges  Staunen  an,  was 
es  alles  fur  sonderbare  Dinge  in 
der  Welt  gibt,  gute  und  schlechte, 
groBartige  und  bedauerliche.  Und 
weil  dieses  Staunen,  diese  Freude 
an  der  Vielfaltigkeit  der  Welt 
und  ihrer  Bewohner  so  echt  ist, 
iibertragt  sich  dieses  Staunen 
auch  auf  uns.  Wie  kompliziert, 
wie  fabelhaft  durchdacht  ist  ein 
Auto,  wie  duster  und  unheimlich 
muB  ein  Bergwerk  sein,  wie  appe- 
titlich  ein  Mittagessen  bei  den 
Samoanern  und  wie  aufregend  eine 
Eskimojagd!  Aber  wenn  man  gut 
zugehort  hat,  —  und  man  kann 
niemals  aufhoren  zuzuhoren,  wenn 
man  erst  angefangen  hat,  —  dann 
weiB  man  nachher  immer  wirklich 
iiber  ein  paar  Dinge  Bescheid,  die 
man  vorher  nicht  gewufit  oder 
sich  wenigstens  nicht  richtig  uber- 
legt  hatte.  Klarzumachen,  deut- 
lich  und  einfach,  das  versteht  der 
Doktor  Uberall,  und  doch  werden 
bei  ihm  die  Dinge  nie  schematisch 
oder  gleichgultig,  Sie  behalten 
ihre  Frische  und  ihren  Glanz  und 
werden  nur  noch  interessanter, 
seitdem  wir  sie  ein  biBchen  besser 
verstehn.    Deshalb  lieben  die  Kin- 


der diesen  Doktor  Uberall  auch  so 
wie  keinen  andern  Rundfunkred- 
ner,  Und  er  besitzt  die  dankbar- 
sten,  aufmerksamsten  und  regel- 
maBigsten  Zuhorer,  die  nur  je  ein 
Erzahler  haben  konnte.  Wenn 
aber  die  Kinder  doch  nicht  immer 
Gelegenheit  hatten,  dem  Doktor 
Uberall  zuzuhoren,  wenn  sie  fra- 
gen:  wie  ist  das  mit  den  Autos, 
warum  qualmt  ein  Schornstein, 
wie  kommt  ein  Erdbeben  zu- 
stande?,  dann  schenke  man  ihnen 
zu  Weihnachten  das  Buch  ,,Reisen 
mit  Doktor  Uberall",  erschienen 
im  Verlage  Williams  &  Co., 
Grunewald,  in  dem  all  diese  Fra- 
gen  und  noch  sehr  viele  mehr  auf 
eine  ebenso  einfache  wie  bezau- 
bernde  Art  beantwortet  sind. 

Wolf  Zucker 
Das  Unaufh&rlicne 

W/enn  Hindemith  sein  neuestes 
"  von  Klemperer  und  dem 
philharmonischen  Chor  uraufge- 
fiihrtes  Werk  ein  Oratorium 
nennt,  darf  man  das  nicht  allzu 
wortlich  nehmen  oder  gar  Mafi- 
stabe  fur  die  Beurteilung  daraus 
ableiten  wollen;  es  ist  eine  groB- 
angelegte  Komposition  fur  Soli, 
Chor  und  Orchester,  die  diese 
Bezeichnung  mehr  auBerlichen 
Gesichtspunkten  verdankt  und 
durchaus  nach  eignen  Gesetzen 
zu  werten  sein  wird,  mag  sie  nun 
einen  konventionellen  oder  apar- 
ten(  historisch  belasteten  oder 
frei  erfundenen  Namen  erhalten 
haben.  Gottfried  Benns  Text  ist 
voll  Abwechslung  im  Formalen 
und  reich  gegliedert,  ein  gltick- 
liches  Komplement  fiir  die  Ar- 
beit     des      Musikers;      inhaltlich 


Welhnachts- 
BOcher 

ffttr 

anspruchsvolle 

Leser 

Die  Neuer8chelnungen 

des  Verlages 
DER8UCHERKREIS 

GmbH.,   Berlin  SW  ei 
CKomm.F.Volckmar,Le>  pzig) 


Ramon  J.  Sender: 

IMAN   -  KAMPF  UM  MAROKKO 

Roman.    Aus  dem  Span.  Obersetzt  von  Q.  H,  Neuendorff. 
Mit  einer  Oberslchtskarte.    251  Seiten. 
„Senders  Buch  gegen  den   Krieg  ist  im  tiefsten  Sinne 
wahr.    In   ihm   Schzt  und  stfihnt  die  getretene  Kreatur." 

Julius  Deutsch,  Wien. 
Otto  Bernhard  Wend  lor: 

tAUSENKOLONIE    ERDENGLUCK 

Roman.  228  Seiten.  Ein  Roman  aus  der  Peripherie  der 
groBen  Stadt  und  aus  den  Grenzbezlrken  des  Proletariats. 
„Wendlers  Menschen  sind  blutwarm  und  lebendig,  sym- 
Dathi-ch  in  ihrer  Tragik  und  Komik,  befreiend  in  ihrem 
frechen  Humor."  tlBUcherstunde"i  Funkstunde,  Berlin. 
Jed.  Band  In  vorzUgt.  Ausstatt.  u.in  Ganzl.  nur  RM  -*,SO. 


870 


allerdings  ein  eigentiimliches 
Stuck.  Wenn  es  zunacbst  durch 
sprunghafte  Bilderfolgen  ver- 
bliifft,  voll  verwirrender  Kon- 
traste  und  philosophischen  Tief- 
sinns  zu  sein  scheint,  ist  die  la- 
pi  dar  konzentrierte,  (von  Nietz- 
sche beeinfluBte)  Sprache  viel 
daran  schuld;  eine  Sprache,  die 
fur  Leute,  denen  nicht  jede  Par- 
tikel  heilig  istt  die  nicht  j  ede 
Copula  als  ihr  gutes  Recht  zu 
vindizieren  gesonnen  sind,  immer- 
hin  viel  Schones  birgt  Sieht 
man  etwas  naher  zu  (hinter  das 
pathetische  Schleiergewebe  sozu- . 
sagen) ,  verkehrt  sich  der  erste 
Eindruck  allerdings  fast  in  sein 
Gegenteil:  die  inhaltlichen  Kon- 
traste  scheinen  zu  gering,  die 
Bilder  sehr  gleichfbrmig  (wenn 
auch  im  einzelnen  voll  dichteri- 
scher  Kraft)  —  und  die  gedank- 
liche  Belastung  ist  eigentlich  gar 
nicht  vorhanden,  Ein  Gefiihl  ist 
es,  das  hier  gestaltet  ist,  das 
sterbenstraurige,  fast  nihilistische 
Gefiihl:  alle  Kreatur  ist  todge- 
weiht.  Uralte  Ratselfragen  —  wie 
immer  ohne  Antwort,  „Eine  sehr 
groflartige  Losung  wird  sich  wohl 
nicht  finden  lassen"  ...  so  Benn 
in  seinem  Vorwort.  Wahrschein- 
1  ich  hat  er  Recht :  hier  jeden- 
falls,  hier  findet  sie  sich  nicht. 
Das  pantheistische  Brimborium 
der  letzten  Chore,  das  „Ringen- 
de",  das  hier  das  „immer  stre- 
bend  sich  bemuhen"  vertritt,  es 
loscht  das  Friihere  mit  keiner 
Silbe  aus.  Das  MUnaufhdrliche", 
das  abschiednehmende  BewuBt- 
sein  unaufhaltsamer  Verganglich- 
keit,  es  ist  keine  Philosophic,  und 
durchaus  kein  „universelles  Prin- 
zip"  (wie  es  der  Dichter  verstan- 
den  wissen  will)  —  es  ist  das 
pessimistische  Weltgefiihl  unter- 
jJangssehnsiichtiger  Kulturmensch- 
heit,  mtider   Rassen  und   Klassen, 


ist  etwas  andres,  ist  weniger 
und  mehr  als  das  zu  alien  Zei- 
ten  lebendige  Bewufitsein:  alles 
Fleisch  sei  wie  Gras  und  des 
Menschen  Herrlichkeit  wie  des, 
Grases  Blume  —  es  ist  narzisti- 
sche  Freude  an  kostbarer  Ver- 
einzelung,  dekadenter  Individu- 
alismus,  echt  romantische  Resig- 
nation. Fazit  der  Perspektiven  i 
Hier  ist  die  Atmosphare  von 
neunzehnhundertzehn . . . 

Die  Musik  ist  sehr  selbstherr- 
lich  und  geht  ihre  eignen  Wege; 
da  ihr  Wert,  ja  ihr  Sinn  uber- 
haupt  in  der  heterophonen  und 
polyphonen  Bezogenheit  der 
Stimmen  aufeinander,  im  Archi- 
tektonischen  zu  suchen  ist,  iiber- 
baut  sie  den  Text  in  musikeignen. 
Formen,  DaB  Hindemith  sich 
(wie  immer)  der  linearen  Poly- 
phonie  bedient,  dafi  er  die  har- 
monischen  Verhaltnisse  als  Re- 
sultate  der  Stimmfuhrung  sich. 
entwickeln  lafit,  besagt  an  sich 
nichts,  Nicht  der  Stil,  die  im 
Rahmen  dieses  Stils  gepragte 
Form  nur  ist  entscheidend.  Hier 
ist  nun  zu  sagen,  daft  uns  das 
Unaufhorliche  Hindemiths  reif- 
stes  Werk  zu  sein  scheint:  er  hat 
Vieles  in  gleicher  Meisterschaft 
der  Faktur  geschrieben,  nicht& 
aber  von  solcher  Kraft  der  Ein- 
fallskomplexe  (nicht  etwa  des 
einzelnen  melodischen  Einfalls, 
obzwar  auch  die  hier  starker  sind 
als  sonst).  Text  und  Musik  aller- 
dings laufen  sozusagen  parallel, 
ohne  jeraals  anders  eins  werdea 
zu  konnen  als  auf  dem  Umwe& 
iiber  irgendeine  Konstruktion, 
ohne  es  eigentlich  ganz  zu  wer- 
den,  da  ja  (wenn  wir  vomRhyth- 
mus  absehen  wollen)  alle  un- 
mittelbaren  Faktoren  ausgeschal- 
tet  und  durch  einen  mittelbaren 
Faktor  ersetzt  sind ;  die  Poly- 
phonie. 


Dieses  Kriegsbuch  wird  bleiben  — 

Wenn  man  nach  der  Hausse  in  KrfegsbUchern  die  engste  Auswahl 
treffen  wird.  (Berliner  Tageblatt). 

Die  Sinnloslgkeit  des  Krieges:  hier  1st  sie  ausgedrUckt,  in  diesem 
hinreiBenden  und  tief  berUhrenden  Buch.  (Gottfried  Benn.) 

EDLEF  K3PPEN,  HEERESBERICHT 

Geheftet  ©.— ,  Lelnen  o.— . 

HOREN-VERLAG  LEIPZIG 

87t 


Es  ist  machtvoll  klingende, 
grandiose,  aber  eiskalte  Architek- 
tur,  durch  die  an  wenigen  Stel- 
len  nur  Reflcxe  des  Lebens  zit- 
tern,  Wir  mtissen  uns  dariiber 
klar  sein,  dafi  auch  Hindemith 
kein  Anfang  ist,  kcin  Begninder 
neuen  Stils  odcr  gar  Pfadfinder 
neuer  Entwicklung,  wic  man  es 
einst  erhoffte:  auch  er.  ist  ein 
Ende,  vermag  sich  nur  iiber  den 
Umweg  einer  Artistik  mitzutei- 
len,  die  von  den  naiven  Kraft- 
quellen  seiner  Kunst  weltenfern 
ist;  und  so  ist  die  Verquickung 
dieses  Textes  und  dieser  Musik 
trotz  interessanter  Uberschnei- 
dung  ob j  ektiven  und  subj  ektiven 
Stils  nicht  so  unerklarlich,  wie 
es  im  ersten  Augenblick  scheinen 
mufite;  und  durchaus  auf  einen 
.gemeinsamen  Nenner  zu  bringen. 
Arnold    Walter 

Der  M-Stil 

F)er  M-Stil  ist  die  vom  V-Stii 
*~*  her  beeinfluBte  Synthese  von 
G-Stil  und  H-Stil.  Oder  falls  ihr 
das  nicht  genau  versteht:  der 
Morgen-Stil  ist  die  vom  Vor- 
gestern-Stil  her  beeinfluBte  Syn- 
these von  Gestern-  und  Heute- 
Stil.  Versteht  ihr  immer  noch 
nicht?    Also  das  ist  Aesthetik. 

Broder  Christiansen  betreibt 
diese  Luftballonasthetik  in  dem 
-Buch  „Das  Gesicht  unsrer  Zeit" 
(Felsen-Verlag  in  Baden),  Er  liest 
aus  dem  Itnpressionismus,  Ex- 
pressionismus  und  der  neuen 
Sachlichkeit  „stiliolgelogisch"  den 
Stil  von  morgen  abf  den  er,  damit 
wir  das  Wort  fur  alle  Falle  gleich 
zur  Hand  haben,  die  1(neue  Dyna- 
mik1'  nennt.  Ich  wiirde  stattdes- 
sen  „Dynamismus"  empfehlen, 
schon  deshalb,  weil  wir  so   lange 


nichts  mehr  auf  -ismus  gehabt  ha- 
ben. Dynamik  kann  fa  auch  jedes 
einzelne  stilbeliebige  Werk  haben, 
erst  Dynamismus  ist  der  richtige 
Anfasser,  die  neue  Schlagwort- 
fanfare;  auf  die  alle  Verleger  seit 
der  Abnutzung  der  neuen  Sach- 
lichkeit sehnsiichtig  warten 

Broder  Christiansen  ist  in  den 
einzelnen  asthetischen  Oberlegun- 
gen  durchaus  nicht  schlecht  (zum 
Beispiel  die  Wertneutralitat  von 
Stilen  oder  der  Zweifrontenkampf 
jedes  neuen  Stils  gegen  den  vor- 
hergehenden  Stil  und  gegen  das 
Philistertum).  Aber  er  gehort  zu 
jener  Sorte  von  Terminologen,  die 
erst  dann  zufrieden  sind,  wenn  je- 
des Ding  in  seinem  zugewiesenen 
Schubfach  liegt,  wenn  das  Schub- 
fach  seine  Chiffre  und  die  Chiffre 
ihren  Katalog  hat.  Die  Sorte 
scheint  auf  den  ersten  Blick  be- 
amtenhaft  und  ungefahrlich;  in 
Wirklichkeit  arbeitet  sie  den 
Waschzettelverfertigern  direkt  in 
die  Hande,  schafft  sie  die  zweifel- 
hafte  Basis  fur  Kunstschwatze- 
reien,  bei  denen  das  Ende  genau 
wie  der  Anfang  aussieht.  Wer  sti- 
listische  „Verwandtschaftsglei- 

chungen"  und  „Stildiagramme" 
ausarbeitet,  kommt  in  die  Nahe 
dessen,  was  Liliencron  einen 
Aesthetikax  nannte,  und  wer 
schon  den  Stil  von  morgen  mit 
einer  Etikette  beklebt,  mufi  sich 
nicht  wundern,  wenn  er  grade  de- 
nen zum  Evangelium  wird,  die  in 
Sachen  der  Kunst  schnell  und 
billig  mitreden  wollen, 

Nein,  solange  wir  nicht  wissen, 
ob  und  wie  wir  morgen  existieren, 
solange  kann  uns  Herr  Christian- 
sen mit  seinen  amtlichen  Stilvor- 
aussagen  im  Traume  begegnen. 
Gattamelata 


UBER  WEIHN ACHTEN  -  NEUJAHR, 

zum  Winter  sport,  Pauschalfahrt  in  die  Tatra  incl.  Reise  hir>  und 
zurilck,  voile  Pension  (erstklass.  KUche,  alte  Zimmer  fliefiend 
fcaltes  und  warmes  Wasser).  Bedienung,  Sporttaxe,  zwei  halb- 
tagige  SchlittenausflUge,  unentgeltliche  Skikurse. 

Ab  Berlin  14  Tage  165.—,  20  Tage  200.-. 
Ab  Breslau  14  Tage  132.—,  20  Tage  165.—. 
Auskunft  fUr  Berlin  Pfalzburg  7657,  sonst  direkt. 

HAUS  GODAL,  LUBOCHNA,  TATRA 

-872 


Ornament  Redslob  DRP.  Die  moralische  Anstalt 

D  eichskunstwart    Doktor    Reds-  T^  heater  in  der  KlosterstraBe 

*^   lob  antwortet  auf  unsre  Um-  *     ,,Die   Gartenlaube" 

frage:    ,tMit    oder  ohne  Ornament  Fur  Jugendliche  verboten! 

—  Was  halten  Sie  von  der  neuen  „Was    nattirlich    ist,    ist    keine 

Sachlichkeit?"  Schweinerei"    8-Uhr-Abendblatt. 

Sachlichkeit,  einN  klares  Wort  4   Uhn   Hansel   und  GreteL 

Lebrt:    laB    alien    Schnickschnack  Zeitangsanzeige 

fort! 

Jeder  Bau  und   jedes  Ding   *  Liebe  Weltbflhne! 

Ohne   Schnorkel    und   KlingHng!  p^urch  den  Festtrubel  eines  ber- 

Weil  die  Zeit  kem  Zierat  kennt:  l^liner  Balls  wandelt  mit  einer 

JEDER    SELBST    SEIN  riesigen   Aktenmappe    eine    hohe 

ORNAMENT!  Gestalt.      Ein     Neuling     aus,     der 

,Kultur  des  Heims  Provinz    fragt,    wer    das   sei,    und 
erfahrt,  es  sei  der  Zeichner  B.  F, 

Entwelscht  Dolbin.     „Und  was  hat  er  in  der 
komischen      Mappe?"          Darauf 

7ur   Urauffiihrung   gelangt:   Der  Harry   Kahn;    „Darin  hat   er   das 

^*  Herzog  von  Reichstadt.  Nach  Skizzenbuch,     in    dem   die    samt- 

^UAiglon"   von  Edmond  Rotland.  lichen   berliner   Prominenten   ver- 

Einladungskarte  zeichnet  stehen." 

Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  fur  Menschenrechte.    Montag  20.30.     Herrenhaus,   Leipziger  Str.  3:    Die 

Probleme   in   der  Furs  org  eerziehung.     Es  sprechen;   Kurt   Beck,    Wilhelm    Ehlers, 

Justus  Ehrhardt,  H.  Jacobi,  Georg  Loewenthal,  Karl  Wilker. 
Gesellschaft   der  Freunde    der  Sozialistischen  Monatshefte.     Montag  20.00.    Deutsche 

Gesellschaft,    Schadowstr.    7.      Kontradiktatorische    Aussprache:     Soztalistischer 

Aktivismus,  Bruno  Neumann. 
Sozialistische  Arbeiter-Partei.     Montag  19.30:     Haverlands  Festsale,    Neue  Friedrich- 

strafie  35:  Die  Aufgaben  der  Gewerkschaften  in  der  Krise,  Fritz  Sternberg  —  Die 

Lehren  des  breslauer  MetaHarbe,iterstreiks,  MdR  Ziegler. 
Internationale    Arbeiter-Hilfe.     Dienstag   20.00.      Nationalhof-Festsale,    Bfilowstr.  37: 

Kopfarbeiter,  was   bringt   euch   das    Dritte   Reich?     Es   sprechen:   Alfred  Apfel, 

Alfons  Goldschmidt,    Leo  Lania,   Klaus  Neukrantz,   Hein  Pol,   Stadtarzt  Schminke, 

Manes  Sperber,  Stadtbaurat  Wagner  und  Helene  Weigel, 
Abend  junger   berliner  Autoren.     Mittwoch   20.15:   Herrenhaus,   Leipziger  Str.  2*    Es 

lesen:    Hermann  W.  Anders,  Klaus  Hermann,  Erich  Kastner,  Hermann  Kesten   und 

Gerhart  Pohl. 
Internationale  Verlagsanstalt.    Freitag  20.00.    Spichernsale:  Der  Untergang  des  Juden- 

tums,  Otto  Heller.     Karten  in  der  Buchhandlung  Weidinger  Str.  9. 
Rote  Studentengruppe.    Sonntag  11.00.    Mozartsaal  am  Nollendorfplatz:  Rote  Kabarett- 

matinee.    Ernst   Busch,    Hans   Deppe,    Blandine  Ebinger,   Hans  Eisler,   Paul  Gratz, 

Trude  Hesterberg,  Kate  Kuhl,  Lotte  Lenja,  Agnes  Straub,  Kurt  Weill. 
Internationale  Frauenliga  fur  Frieden  und  Freiheit.     Montag  (14.)  Clubhaus   am   Knie . 

Berliner Str.27:  Frauenfrage  und  Arbeitslosigkeit  und  Bodenreform,  Adolf  Damaschke. 

Hambu'g-Altona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Dienstag  (15.)  20.00.  Volkeheim,  EichenstraBe  : 
Kriegsdienstverweigerung,  eine  der  Waffen  zur  Verhinderung  des  Krieges. 

B0  cher 

Carl  Dietrich  Carls:  Ernst  Barlach  —  das  plastiscbe.  graphische  und  dichterische  Werk. 

Rembrandt-Verlag,  Berlin. 
Gabriele  Tergit:  Kasebier  erobert  den  Kurfiirstendamm.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Rundfunk 

Diensta*.  Muhlacker  18.40:  Nationale  Wirtschaft  oder  Weltwirtschaft,  Arthur  Feiler.  — 
Berlin  18,55:  Alfred  Wolfenstein  liest  —  Leipzig  20.15:  Das  Lear-Motiv  in  der 
Weltliteratur.  —  Mittwoch.  Berlin  18.30:  Von  der  Franzosischen  Revolution  bis 
zum  Wiener  KongreB,  Valeria  Marcu.  —  Langenberg  1840:  Peter  Scher  Hest.  — 
Frankfurt  19.45:  Ein  Interview  mit  dem  Maschinenmenschen,  Arno  Schirokauer.  — 
Mahlacker  20.05:  Zwei  Szenen  von  Puachkin.  —  21.05;  Karl  Rostlin  spricht  fiber 
Roda  Roda.  —  Fretta?.  Breslau  17.15:  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung.  —  18.10: 
Geschichtsschreibung  in  der  Gegenwart,  Erich  Landsberg.  —  Berlin  21.15:  Paris 
um  1800,  Leo  Matthias  und  Edlef  Koppen. 

873 


Antworten 

Nobelpreiskomitee.  Mangels  zur  Pramiierung  geeigneter  Pazifisten 
schlagen  wir  Ihnen  einen  begabten  militarischen  Fachmann  und 
wirkungsvollen  Publizisten  wie  den  General  Ludendorff  vor,  der  nicht 
nur  den  Krieg  vorzeitig  verloren  und  sich  dadurch  um  denVolker- 
frieden  verdient  gemacht  hat,  sondern  der  auch  kiirzlich  mit  einer 
ausgezeichneten  Broschiire  iiber  die  Unmoglichkeit  eines  deutschen 
Revanchekrieges  gegen  Frankreich  hervorgetreten  ist.  Nehmen  Sie 
.  bitte  diesen  Vorschlag  so  ernst,  wie  er  gemeint  ist.  Ludendorff  ist 
noch  immer  ein  besserer  Kandidat  als  Coudenhove,  und  welchera 
Frieden  der  andre  Anwarter,  Adolf  Damaschke,  gedient  hat,  das 
vermag  iiberhaupt  niemand  zu  verraten  —  vielleicht  dem  hauslichen, 
aber   das  wird  doch  im .  allgemeinen   nicht  pramiiert. 

Greta  Garbo,  Deutsche  Schauspieler,  die  eine  Weile  in  Holly- 
wood gearbeitet  haben,  machen  sich  das  Vergmigen,  unwahre  Klatsch- 
geschichten  uber  Sie  zu  verbreiten.  Nun,  Hollywood  ist  weit,  und 
Sie  werden  die  Herrschaften,  um  die  es  sich  da  handelt,  schneller 
aus  dem  Gedachtnis  verloren  haben  als  uragekehrt.  Aber  wenn  es 
schon  Sie  nicht  argert,  so  argert  es  uns,  Denn  so  groB  ist  die  Aus- 
wahl  an  unantastbaren  Figuren  in  der  Filmproduktion  nicht,  Unsre 
weitgereisten  Plauderer  seien  also  gebeten,  sich,  schon  im  eignen  In- 
teresse,    ein    biflchen   vorsichtiger   auszudrucken. 

Rundfunkhorerin.  Das  Titelblatt  der  ,Funkstunde',  das  bekannt- 
lich  in  zwangloser  Folge  Darstellungen  aus  dem  intimen  Privatleben 
Alfred  Brauns  bringt,  bereitet  den  Freunden  des  Meisters 
eine  besondre  Uberraschung,  die  in  ihrer  Art  nicht  zu  iiber  - 
treffen  sein  diirfte.  Wir  sehen  gewissermafien  eine  •  Apotheose 
Alfred  Brauns,  Umgeben  von  Barden  und  Hellebarden  sowie  von  ver- 
schleierten  Orientalinnen  jeden  Alters  liegt  in  passendem  Abstaride 
vom  Mikrophon  auf  einem  gebliimten  Ruhebette  der  gottliche  Meister. 
Neben  ihm  hat  in  einem  verfuhrerischen  Morgenkleide  eine  Dame 
Platz  genommen,  die  ihm,  einen  starken  Quartband  in  den  Handen, 
aus  seinen  gesammelten  Rundfunkreportagen  vorliest.  Der  Meister  ist 
infolge  dessen  entschlummert.  Das  liebliche  Bild  ist  wie  immer  in 
bestem  Kupf  ertiefdruck  ausgeftihrt  und  wird,  geschmackvoll  gerahmt,  in 
jedem  berliner  Heim  zur  Gemutlichkeit  des  Empfangs  beitragen,  zu- 
raal  es  gegen  Vorlage  der  Rundfunkquittung  zum  halben  Preise  er- 
haltlich  ist. 

Dieser  Nummer  ist  ein  Prospekt  iiber  die  ffeuerscheinttngen  des 
Carl  ReiBner-Verlages,  Dresden,  beigefiigt.  Wir  empfehlen  die  An- 
lage  der  besonderen  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser. 

FVeser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  ftir  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*-^  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  L  Vierteljahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10,  Januar  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manuskripte  *ind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  CbarLottenburg,  Kaatsbr.  152»  s» 
ridbten:  m  wird  gebeten.  ihnea  Rfldeporto  beizulejen,  da  aonat  Veins  Rildksenduttg  erfolyen  bn. 
Das  Auf fahrunvsrecht,  die  Verwertung  von  Tlteln  u.  Text  Im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  wledergabe  slier  Art  und  die  Verwertung'  im  Rahmen  von  Radleyortrlgen 
bleibcn   ftlr   alio  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beltrage  ausdrQcklieh  TorbehaJten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrfindet  von  Siegfried  Jacobsohn  and  wird  von  Carl  v.  Ossietek} 
untei  Mitwirkung    von  Kurt  Tucholsky  geleitet.  —  Verant  wortlich .    Carl  v.  Ossietzky,    Berlin; 

Verta*  der  Weltbuhne,  Siegfried    Jacobsohn  &  Ox,  Charlottenbur?. 

Telephone    CI.  Steinplabt  7757    —  Postschedckonto:   Berlin  119  58. 
Bankkooto:     Darnutadter    n.    Nntionalbank.       Depositenkaue    Cbarlottenbury,     fCantstr.    11? 


XXVII.  JahrgaDg  15.  Dezember  1931  Nnmmer  50 

Kommt  Hitler  dOCh?  von  Carl  v.  Ossietzky 

rjas  waren  vier  Tage,  die  die  Nerven  der  Welt  erschiitter- 
**  ten.  Hitler  erlaflt  Botschaften  an  Alle,  apostrophiert  die 
auslandische  Presse;  sein  Herold  Rosenberg  aus  Riga  unter- 
nimmt  vordatierte  auBenpolitische  Schfitte,  Die  Reichsregie- 
rung  wird  nicht  sichtbar,  sie  scheint  schweigend  und  hastig  die 
Koffer  zu  packen.  Endlich  am  vierten  Tag  abends  erscheint  der 
schlichte  Star  des  Kabinetts  am  Mikrophon,  teils  um  ein  paar 
beschwichtigende  Worte  zu  sprechen,  teils  um  seine  Vierte 
Notverordnung  dem  Volke  menschlich  naher  zu  bringen. 

Und  jetzt  geschieht  ein  wirkliches  Wunder.  Die  allge- 
meine  Panik  weicht  kritikloser  Vertrauensseligkeit,  Jetzt 
nimmt  der  staatsparteiliche  Deputierte  wieder  aufatmend  sein 
Reisebesteck  heraus,  Kommerzienrats  Rasierpinsel  stent  wie- 
der auf  dem  gewohnten  Platz.  Was  hat  sich  denn  ereignet?  Sind 
die  Nazis  zersprengt?  Wachst  der  Regierung  ein  Kornfeld  auf 
der  flachen  Hand,  oder,  wichtiger  noch,  hat  sie  einen  Abneh- 
mer  dafiir  gefunden?  Nichts  von  alledem.  Der  Herr  Reichs- 
kanzler  hat  nur  eine  wenig  sagende,  farblose  Rede  gehalten, 
und  alles  erklart  sich  beruhigt.  Der  von  Oben  verordnete 
Weihnachtsfriede  kann  ausbrechen,  und  im  iibrigen  gab  es  in 
Berlin  allein  in  der  ersten  Nacht  unter  dem  Gesetze  zum 
Schutze  des  inncrn  Friedens  einen  To  ten,  vier  Blessierte. 

Diese  neue  Notverordnung  hat  eine  viel  bessere  Aufnahme 
gefunden  als  die  vorangegangenen,  weil  sie  dem  allgemeinen 
Wunsch  nach  „etwas  Durchgreifendem"  entgegenkommt.  Die 
Vierte  Notverordnung,  von  den  Vielen*  die  nach  der  befreien- 
den  Tat  rufen,  enthusiastisch  begriiBt,  ist  in  groBerm  Zusam- 
menhange  gesehn  nur  ein  besonderes  Stiick  der  heutigen  deut- 
schen  Zerstorungsspychose,  Sie  ist  ein  grobes  und  dilettan- 
tisches  Opus,  das  demolierend  durch  die  noch  intakt  gebliebe- 
nen  Teile  der  kapitalistischen  Apparatur  fegt,  ohne  ein  sozia- 
listisches  oder  auch  nur  soziales  Aquivalent  zu  bieten.  Sie 
verteilt  nicht  das  Brot  sondern  reglementiert  den  Hunger; 
nicht  Planwirtschaft  wird  geschaffen  sondern  Zwangswirtschaft. 
Was  nutzt  der  Zwang,  wo  es  nicht  eim  Oberquellen  zu  bandi- 
gen  heiBt  sondern  die  Schrumpfung?  Halt  man  die  fressende 
Energie  der  Auszehrung  auf,  indem  man  den  Patienten  in  eine 
eiserne  Corsage  steckt?  Nicht  ordnend  und  befruchtend  wer- 
den  diese  Dekrete  wirken  sondern  keimtotend  und  lahmend, 
und  ihre  einzelnen  Paragraphen  werden  bald  als  Grabkreuze 
auf  dem  nachsten  Massenfriedhof  der  Wirtschaft  ragen. 

Zinssenkung,  Mietsenkung,  Preissenkung,  Fluchtsteuer  — 
das  hort  sich  alles  kraftvoll  und  wohlbedacht  an  und  bleibt 
doch  hochst  problematisch.  Und  auch  der  Herr  Preisdiktator 
ist  da  —  Pfiiat  di  Gottl  —  und  erklart  sofort  mit  der  Anmut 
der  Bescheidenheit,  daB  er  kein  Wunderdoktor  seL  Wieviele 
Diktatoren  solcher  Art  hat  es  nicht  seit  Batocki  sel  schon  ge- 
geben?    Sie   bniten  Begliickungsplane  aus,   und  wenn  sie  aus 

875 


dem  Amtszimmer  kommfn,  sind  sic  nirgendwo  zustandig  und 
kehren  traurig  zu  ihrer  Sekretarin  zuriick.  Doch  da  ist  noch 
die  Lohnsenkung,  und  jetzt  verstarkt  sich  allerdings  dcr  Ein- 
druck,  daB  dies  das  einzig  Reale  aa  dcm  ausgedehnten  Kunst- 
bau  dcr  dekretierten  Wirtschaft  ist.  Das  ist  der  teste  Kern, 
der  kleine  aber  betonierte  Keller  inmitten  von  haushohen 
Fortifikationen  aus  Pappe,  die  schnell  zusammenfallen,  Doch 
halt,  jiicht  nur  die  Arbeiterschaft  wird  beriihrt,  so  einseitig, 
so  klasseneng  geht  die  Regierung  nicht  vor.  Durch  die  Um- 
satzsteuer  wird  auch  der  noch  mobile  Teil  der  Produktion 
angezapft,  auch  hier  wird  das  Leben  tropfenweis  versickcrn. 
Von  hier  droht  neuer  Bankrott,  neuc  Deroute.  Was  fur  ein 
System  regiert  bei  uns?  Kein  Liber alismus,  kein  Sozialismus, 
aber  ein  Fiskalismus,  der  ohne  Plan,  ohne  Idee  blindwiitig 
drauflos  verfiigt,  Dcr  Reichskanzler  verwahrt  sich  ausdriicklich 
dagegen,  ,,Staatskapitalismus"  zu  treiben.  Wenn  crs  nur  tate! 
Statt  dessen  wird  cine  Fiktion  von  freier  Wirtschaft  aufrechter- 
halten,  die  unter  dem  nachsten  Druck  zerplatzen  muB.  Was 
dann?  Fascismus,  Kommunismus?  Fiir  beides  muB  Masse  vor- 
handen  sein,  ein  Streitobjekt,  etwas,  das  es  zu  crobern  gilt. 
Es  ist  zu  furchten,  daB  grade  dies  unter  den  Handen  dcr  re- 
gulierendcn  und  registrierenden  Bureaukratie  hinschwinden 
wird,  und  dann  bleibt  nur  noch  Vegcticren,  langsames  Hin- 
sterben.  Vielleicht  sind  wir  darin  schon  weiter,  als  wir  selbst 
wissen,  und  die  Begeisterung,  mit  der  diese  Verordnungen  be- 
griiBt  werden,  bezeichnet  scnon,  die  Euphoric 

So  fahrt  Deutschland  weiter,  gebannt  an  den  Magnetberg 
dcr  Weltkrise.  Ein  Haufen  armer  desperater  Seelen  auf 
morschen  Planken  gefangen;   morgen  ein  Totenschiff. 


Die  gleichc  Not,  die  alle  schwacht,  ist  Hitlers  Starke.  Der 
Nationalsozialismus  bringt  wenigstens  die  letzte  Hoffnung  von 
Verhungernden:  den  Kannib  alismus.  Man  kann  sich  schlieBlich 
noch  gegenseitig  fressen.  Das  ist  die  fiirchterliche  Anziehungs- 
kraft  dieser  Heilslehre.  Sic  entspricht  nicht  nur  den  wachsen- 
den  barbarischen  Instinktcn  einer  Verelendungszeit,  sic  ent- 
spricht vor  allem  dcr  Geistessturheit  und  politischcn  Ahnungs- 
losigkcit  jener  versackenden  Kleinbiirgerklasse,  die  hintcr  Hit- 
ler marschiert.  Diese  Menschen  haben  auch  in  bessern  Zeitlauf- 
ten  nie  gefragt,  immer  nur  gegafft.  Fur  das  Schauspiel  ist 
gesorgt,  ebenso  fiir  ihr  Muschkotenbedurfnis,  die  Knochen 
zusammenzureifien,  vor  irgend  einem  Obermotzen  zu  „meLden". 

Vor  einer  Wochc  schien  es  fiir  Hitler  keinc  Hindcrnisse 
mehr  zu  geben.  „An  der  Schwelle  der  Macht'1,  schricben 
/Times'.  Rosenberg  fuhrwerkte  in  England  als  Diplomat 
herum;  eine  StraBenaufnahme  zeigt  den  Botschafter  des  Drit- 
ten  Reichs  freundlich  lachelnd  im  Gesprach  mit  einem  Ion- 
doner  Bobby,  der  im  Zweifcl  scheint,  ob  sein  Hebraiseh  fiir  die 
Unterhaltung  auslangt.  Auf  die  Tories  hat  Rosenberg  aber 
ohne  Zweifel  mehr  Eindruck  gemacht.  England  suchte  schon 
nach  einer  Formel,  sich.  mit  einem  nationalsozialistischen 
Deutschland  abzufinden.     Es   ist  schwer  zu  glauben,   daB  das 

876 


alles  erledigt  sein  soli,  nur  weil  Herr  Briining  wieder  einmal 
gesprochen  hat,  nur  weil  ein  Bimdel  frischcr  Vcrordnungcn 
herausgekommen  ist. 

Der  neue  Reichsminister  Schlange-Schoningen  hat  kiirz- 
lich  in  einem  Rundfunkvortrag  ein  paar  beach tliche  Gedanken 
geauBert:  „Wer  hat  heute  noch  das  Recht,  die  absolute  Un- 
antastbarkeit,  die  Heiligkeit  des  Privateigentums  zu  predigen? 
Wer  unternimmt  es,  dies  en  Begriff  heute  auch  nur  klar  zu  de- 
finieren?  Wird  nicht  auf  alien  Gebieten  der  Wirtschaft  Tag 
fur  Tag  am  Privateigentum  geriittelt?"  Das  ist  sehr  rich  tig 
gesehen,  Enteignet  wird  auf  alle  Falle,  es  fragt  sich  nur;  zu 
wessen  Gunsten? 

Es  gibt  in  dieser  Epoche  eines  beinahe  mechanisch 
berstenden  Privatbesitzes  zwei  Lo  sun  gen:  eine  sozialistische, 
die  das  Privateigentum  uberhaupt  aufbebt,  auf  neuer  Grund- 
lage  neu  beginnt,  ohne  zu  warten,  bis  die  letzten  Stiicke, 
gleichfalls  angekrankelt,  auseinanderfallen,  Und  es  gibt  eine 
zweite  Losung,  indem  das  ganze  Volk  einem  alles  aufsaugen- 
den  Indus triekapitalismus  tribut-  und  arbeitspflichtig  wird.  Fur 
die  Lebenshaltung  des  Einzelnen  mag  das  zu  Zeiten  durchaus 
dasselbe  sein,  aber  fiir  das  BewuBtsein  ist  es  nicht  gleichgiiltig, 
wer  das  Opfer  fordert.  Man  vergleiche  die  heroische  Haltung, 
die  RuBland  in  seinen  Entbehrungsjahren  gezeigt  hat,  mit  dem 
deutschen  Marasmus,  mit  diesem  verzweifelten  Lazzaronitum, 
das  sich,  grotesk  genug,  nach  auBen  hin  noch  zu  nationalisti- 
schen  Gebarden  aufreckt. 

Diese  zwei  Losungen  gibt  es  nur.  Die  der  Regierung  Brii- 
ning ist  keine.  Sie  nimmt  die  verwegensten  Operationen  vor, 
sie  stulzt  die  Wirtschaft  wie  eine  Taxushecke,  aber  sie  halt 
noch  immer  die  Illusion  hoch,  als  handle  es  sich  hier  um  etwas 
Voriibergehendes,  um  einen  unangenehmen  Riickweg  in  „npr- 
male  Zustande",  worunter  die  friihern  vollkapitalistischen  zu 
verstehen  sind.  Um  die  Folgen  des  unerhorten  Drucks  einer 
ex  cathedra  diktierten  Wirtschaft  zu  iiberwindeir,  dazu  ist  diese 
Regierung  zu  schwach.  Und  der  Staat  ist  auch  nicht  kraftig,  nicht 
geschlossen  genug,  um  die  GegenstoBe  eines  allgcmeinen  Auf- 
losungsprozesses,  der  sehr  rebellische  Form  en  annehmen  kann, 
zu  ertragen.  Dann  aber  kommt  die  Stunde  des  Fascismus,  dann 
wird  die  Hitlerarmee  endlich  etwas  zu  tun  haben.  Dann  wird 
auch  der  Sieg  des  monopolisierten  Kapitalismus  vollkommen 
sein.  Dann  wird  der  S.  A.-Landsknecht  die  Manneszucht  in 
den  Betrieben  schon  iibernehmen.  Dann  werden  die  Gewerk- 
schaften  zertriimmert  werden,  und  der  deutsche  Mann  wird, 
befreit  von  dem  unwiirdigen  Pariageist  der  gewerkschaft- 
lichen  Koalition  und  ihrem  judaisch-marxistischen  Tarifrecht, 
rank  und  schlank,  hei,  vor  seinen  Industrieherzog  treten  und 
ihm  hochgemut  seine  Dienste  als  Kaufmann,  Techniker  oder 
Lampenputzer  anbieten.  Unter  einer  alten  knorrigen  west- 
falischen  Eiche  wird  er  s einem  Lehnsherrn  den  Eid  leisten,  ihm 
allzeit  treu,  hold  und  gewartig  zu  sein,  und  wer  dann  noch 
Geld  sehen  will,  der  wird  erschossen. 


877 


Kommt  Hitler  also  doch?  Vor  acht  Tagen  war  der 
Schreckensruf  „Fascismus  ante  portas!"  Brtinings  Rede  hat 
ihn  nicht  verscheucht,  er  ist  nur  einstweilen  stehen  geblieben. 
GewiB  will  Bruning  vor  Hitler  weder  ruhmlos  abtreten  noch 
als  minderberechtigter  Partner  vor  ihm  kuschen.  Der  Reichs- 
kanzler  mag  sich  seine  eigne  Method e  ausgedacht  haben,  mit 
dem  Fascismus  fertig  zu  werden.  Aber  um  eine  Methode,  die 
man  nicht  kennt,  zu  tolerieren,  dazu  gehort  Vertrauen,  und 
dieses  Vertrauen  haben  wir  zu  Herrn  Briining  nicht ,  wie  wir 
das  hier  vom  ersten  Tage  seiner  Kanzlerschaft  an  betont 
haben.  Bruning  will  nur  die  AnmaBung  des  Fascismus,  seinen 
Anspruch  auf  Alleinherrschaft  brechen,  nicht  ihn  selbst. 

Neben  den  wirtschaftlichen  Bestimmungen  der  Notverord- 
nung  sind  die  politischen  in  der  offentlichen  Diskussion  ver- 
nachlassigt  worden.  Und  doch  verdienen  sie  liicht  mindere 
Beachtung,  Sie  geben  einen  wertvollen  Einblick,  wie  sich 
die  Regierenden  die  Abwehr  des  umstiirzlerischen  National- 
sozialismus  vorstellen.  Zunachst:  die  Herren  wollen  dieRepublik 
retten,  indem  sie  sich  Unterstutzung  durch  republikanische 
Krafte  verbitten  und  diese  unerwiinschte  Unterstutzung  unter 
Strafe  stellen.  Das  undifferenzierte  Versammlungsverbot, 
das  Verbot,  Uniformen  und  Abzeichen  zu  tragen,  trifft  ja  nicht 
nur  die  Nazis  sondern  viel  arger  die  von  links.  1st  es  der  Re- 
gierung  ernst  damit,  den  Verfassungsstaat  zu  verteidigen,  so 
kann  sie  auf  die  Mobilisation  aller  demokratisch-republikani- 
schen  Krafte  nicht  verzichten.  Die  res  publica  ist  die  offent- 
liche  Sache.  Der  Staatf  den  Bruning  und  die  Andern  ver- 
teidigen,  ein  Homunculus,  ein  Retortengeschopf.  Die  vorgeb- 
liche  Paritat  wird  in  der  Praxis  zum  schreiendsten  Unrecht. 
Denn  die  Organisation  des  Staates  selbst,  Militar,  Exekutive, 
Beamtentum  steckt  voll  von  unzuverlassigen  Elementen.  So  wie 
die  Justiz  durchweg  jeden  Rotfrontmann  bisher  harter  anfaBte 
als  einen  Nationalsozialisten,  so  wird  der  Mann  aus  dem  republi- 
kanischen  Verband  in  Zukunft  schlechter  dran  sein  als  der  vom 
Stahlhelm  oder  von  Hitler,  Aber  es  ist  schon  grotesk  genug, 
daB  Loyalitat  ebenso  bestraft  werden  soil  wie  Auflehnung. 

„Es  ist  schlimm  um  einen  Staat  bestellt,  der  seinen  Btit- 
gern  verbietet,  Abzeichen  in  seinen  Farben  zu  tragen,"  ruft 
der  Bundesvorstand  des  Reichsbanners.  Richtig,  richtig, 
richtig,  Doch  dann  heiBt  es;  ,,t)ber  eip,  kurzes,  dann  wird 
auch  diese  Regierung  einsehen  miissen . .  /'  Neinf  meine 
Herren,  diese  Regierung  wird  gar  nicht  einsehen.  Diese  Hoff- 
nung  ist  ebenso  t orient  wie  die  Parole:  Staat  greif  zu!  Wenn 
dieser  Staat  zugreift,  so  nimmt  er,  wie  er  es  immer  getan  hat, 
die  Republikaner  zuerst.  Ware  die  Regierung  wirklich  gewillt, 
gegeniiber  dem  Nationalsozialismus  Autoritat  zu  zeigen,  so 
hatte  sie  Hitler  an  dem  Tage,  wo  er  wie  der  Chef  einer  Ne- 
benregierung  im  Kaiserhof \  Parade  abhielt,  als  Hochverrater 
verhaften  lassen  miissen,  ebenso  wie  Rosenberg  bei  seiner 
Riickkehr  aus  London.  Dann  diirf te  auch  Herr  Gregor  StraBer 
nicht  mehr  frei  herumlaufen,  der  soeben  wieder  in  Stuttgart 
gedonnert  hat:  „Und  wenn  wir  bis  an  die  Knochel  im  Blut 
stehen  miissen  um  Deutschlands  willen,  so  haben  wir  es  haben 

878 


wollen."  Dann  diirfte  dieser  Oberreichsanwalt  sich  nicht  mehr 
auf  seinem  Posten  befinden,  der  —  nach  den  Worten  des  (Ber- 
liner Tageblatts'  —  fur  die  Verfasser  der  boxheimer  Mordplanc 
eine  Entlastungsaktion  vorgenommen  hat.  Und  dieser  Herr 
Werner,  der  langste  Arm  des  Staates,  soil  zupacken?  Armes 
Reichsbanner,  er  wird  dich  zuerst  haben  und  dich  nicht  so 
glimpflich  behandeln  wie  Best  und  seine  Bluthunde. 

Eine  Konzession  an  die  Linke  befindet  sich  allerdings  in 
der  Notverordnung:  Herrn  Groeners  Lieblingskind,  von  seinem 
Carlowitz  gepappelt  und  gewiegt,  die  ,fStaatsverleumdungl, 
fehlt.  Ich  gehe  wohl  nicht  fehl  in  der  Annahme,  daB  das  Ka- 
pitel  „Verstarkung  des  Ehrenschutzes"  den  einstweiligen  Er- 
satz darstellt,  um  der  lastigen  Kritik  den  Mund  zu  stopfen. 
In  diesen  fiinf  Paragraphen  blasen  die  Herren  Geheimrate  des 
Reichsjustizministeriums  die  Schicksalshorner  der  deutschen 
Pressefreiheit: 

§  1.  Steht  im  Falle  der  tiblen  Nachrede  (§  186  des  Strafgesetz- 
buchs)  der  Verletzte  im  offentlichen  Leben  und  ist  die  ehrenriihrige 
Tatsache  offentlich  behauptet  oder  verbreitet  worden  und  geeignet, 
den  Verletzten  des  Vertrauens  unwurdig  erscheinen  zu  lassen,  des- 
sert er  fur  sein  offentliches  Wirken  bedarf,  so  ist  die  Strafe  Ge- 
fangnis  nicht  unter  drei  Monaten,  wenn  der  Tater  sich  nicht  er- 
weislich  in  entschuldbarem  gutem  Glauben  an  die  Wahrheit  der 
AuBerung  befunden   hat, 

§  2,  Steht  im  Falle  der  Verleumdung  (§  187  des  Strafgesetz- 
buchs)  der  Verletzte  im  offentlichen  Leben  und  ist  die  ehrenriihrige 
Tatsache  offentlich  behauptet  oder  verbreitet  worden  und  geeignet, 
den  Verletzten  des  Vertrauens  unwurdig  erscheinen  zu  lassen,  dessen 
er  fur  sein  offentliches  >iJ/irken  bedarf,  so  ist  die  Strafe  Gefangnis 
nicht  unter  sechs  Monaten. 

§  3.  In  den  Fallen  der  §§  1,  2  kann  das  Gericht  neben  der 
Strafe  und  unabhangig  von  einer  nach  §  188  des  Strafgesetzbuchs 
zu  verhangenden  BuBe  auf  eine  an  die  Staatskasse  zu  entrichtende 
Bufie   bis   zu   einhunderttausend  Reichsmark   erkennen. 

§  4.  In  Strafverfahren  wegen  Beleidigung  bestimmt  das  Gericht, 
auch  wenn  die  Tat  auf  erhobene  offentliche  Klage  verfolgt  wird,  den 
Umfang  der  Beweisaufnahme,  ohne  hierbei  durch  Antrage,  Verzichte 
oder  friihere  Beschliisse  gebunden  zu  sein. 

§  5.  In  alien  Strafverfahren  wegen  Beleidigung,  in  denen  die 
Staatsanwaltschaft  die  Verfolgung  ubernimmt,  ist  das  Schnellverfah- 
ren  (§  212  der  Strafprozefiordnung)  auch  dann  zulassig,  wenn  der 
Beschuldigte  sich  weder  freiwillig  stellt  noch  infolge  einer  vorlaufigen 
Festnahme  dem  Gericht  zugefiihrt  wird. 

Ist  diese  grobe,  unnuancierte  Fassung  Unzulanglichkeit 
oder  Absicht?  Auch  Adolf  Hitler  „steht  im  offentlichen 
Leben",  auch  jene  seiner  Granden,  die  zur  Nacht  der  langen 
Messer  die  Eisen  wetzen  lassen  und  vor  fanatisierten  Ver- 
sammlungen  zur  Belebung  der  Hanfseilindustrie  praktische 
Vorschlage  machen.  Gelingt  es  dem  „Verletzten",  einem  Rich- 
ter,  der  durchaus  kein  braunschweigischer  zu  sein  braucht, 
klar  zu  machen,  daB  alles  legal  gemeint  sei,  natiirlich  nur  zur 
Abwehr  irgendeiner  ..Kommune",  die  die  streng  verfassungs- 
maBige  Naziregierung  bedroht,  so  ist  der  staatsloyale,  der  re- 
publikanische  Redakteur  geklappt,  Gefangnis  lafit  sich  er- 
tragen,  aber  eine  hohe  GeldbuBe  ruiniert  heute  jedes  Presse- 

879 


unternehmen.  GroBer  Manitou,  was  blcibt  dem  Publizisten 
iibrig,  als  von  der  Politik  zu  lassen  und  etwa  iiber  die  Liebc 
zu  schreiben,  falls  das  nicht  unter  das  Schund-  und  Schmutz- 
gesetz  falltf  Nachdem  hundert  Jahre  urn  die  Meinungsfreiheit 
gekampft  worden  ist,  geniigen  ein  paar  Paragraphcn,  um  sic 
still  zu  beseitigen.  So  treibt  Deutschland  in  Dunkelheit  dahin, 
Verwesungsdiinste  steigcn  auf.  Die  cine  Halfte  der  Nation 
bettelt  um  Almosen,  die  andre  mu6  es  verweigern,  weil  sie 
selbst  nichts  hat.  Das  ist  der  deutsche  Status  Weihnachten 
1931.  Ein  paar  Menschen  wird  es  noch  geben,  die  in  diesem 
mepnitischen  Gestank  verfaulender  Geister  nach  besserer 
Luft  verlangen.  Schlagt  sie  tot,  das  Reichsgericht  fragt  euch 
nach  den  Griinden  nicht! 

AktJVe  Abwetir  von  Erich  Muhsara 

F\ie  einzige  Kraft,  die  imstande  ware,  Hitlers  Machtergrei- 
_  fung  zu  verhindern,  ist  der  verbundene  Wille  der  vom 
Nationalismus  nicht  verwirrten  deutschen  Arbeiterschaft 
Dartiber  sind  sich  alle  Arbeiter,  die  sich  iiberhaupt  Gedanken 
machen,  einig.  Sie  wissen  auch,  daB  das  Mittel,  tiber  das  sie 
verfugen,  der  Generalstreik  ist.  Die  Abwehr  des  Kapp-Putsches 
durch  Anwendung  dieses   Mittels  ist  nirgends  vergessen. 

Fragt  einen  Arbeiter,  gleichviel  welcher  politischen  Partei 
er  angehortf  sei  er  gewerkschaftlich  organisiert  bei  den  Zen- 
tralverbanden,  bei  den_  Christen,  bei  den  Hirschen,  bei  der 
RGO,  bei  den  Syndikalisten  oder  gar  nicht,  ihr  werdet  immer 
dieselbe  Antwort  bekommen:  ja,  wenn  die  Einigkeit  zu  er- 
reichen  ware!  Und  das  Ende  solcher  Unterhaltungen  ist  immer 
das(  daB  die  Sozialdemokraten  auf  die  kommunistische  Fiih- 
rerschaft,  die  Kommunisten  auf  die  sozialdemokratische  Fiih- 
rerschaft  schimpfen  und  ihnen  die  Schuld  geben,  daB  das 
Proletariat  nicht  zu  gemeinsamen  Entschliissen  zu  bringen  ist. 

Wahr  ist,  daB  die  Einigkeit  der  Arbeiterschaft  ,tunter 
Fuhrung"  dieser  oder  jener  Partei,  Gewerkschaft,  Programm- 
verpflichtung  iiberhaupt  nicht  erreicht  werden  kann.  Wahr 
ist  leider  auch,  daB  keine  Fiihrerorganisation  den  Willen  hat, 
eine  Einigung  anders  herbeizufiihren  als  unter  Knebelung  jeder 
Meinung,  die  nicht  dem  eignen  Ladenvorteil  untergeordnet  ist< 
Wahr  ist  endlich,  und  das  ist  das  Traurigste,  daB  die  deutsche 
Arbeiterschaft  so  sehr  auf  „Vertrauen  zu  den  bewahrten  Fiih- 
rern"  und  auf  „proletarische  Disziplin"  in  der  Bedeutung  von 
Drill  und  Gehorsam  erzogen  ist,  daB  jede  selbstandige  Initiative 
von  unten  herauf  gelahmt  ist. 

Die  Frage,  was  denn  eigentlich  geschehen  soil,  wenn  der 
Tanz  des  Dritten  Reiches  losgeht,  wenn  die  Auflosung  aller 
Arbeiterkoalitionen  von  irgend  einem  Hitler,  Frick  oder 
anderm  Best  verhangt  ,wird,  wenn  die  standrechtlichen  Er- 
schieBungen,  die  Pogrome,  Pliinderungen,  Massenverhaftungen 
das  Recht  in  Deutschland  darstellen,  wird  nirgends  erortert, 
es  sei  denn  in  den  Kliingelverhandlungen  unbeaufsichtigter 
Funktionare.  Die  Arbeiter  trosten  sich  damit,  daB  sie  schon 
zur  rechten  Zeit  zum  Handeln  aufgerufen  werden. 

880 


Sie  werden  nicht.  Schlagen  die  Fascisten  zu,  damn  ist 
das  crste,  dafi  nach  langst  fertigen  Listen  alle  organisatorisch 
und  rednerisch  tatigen  Krafte,  alle  der  Fiihrerschaft  verdachti- 
gen  Personen  verhaftet  oder  noch  wirksamer  beiseite  geschafft 
werden.  Dann  steht  das  Proletariat  da,  angewiesen  auf  eigne 
Entschliisse,  aber  vollends  verhindert,  sich  noch  zur  Abwehr 
zu  verstandigen. 

Notwendig  ist  die  unmittelbare  Verstandigung  der  Werk- 
tatigen  an  den  Arbeitsstatten,  die  unverziigliche  Schaffung  von 
Aktionsausschiissen  innerhalb  der  Betriebe  und  deren  fode- 
rative  Verbindung  zu  dauernd  wachsamen  und  kampfbereiten 
Klassenorganen.  Diese  Ausschusse  und  Foderationen  diirfen 
nicht  „paritatisch"  nach  Parteizugehorigkeit  zusammengesetzt 
sein,  sonst  kame  wieder  Fiihrergewasch,  Parolenschusterei, 
Resolutionskram  und  Vereinsmeierei  heraus,  sonst  ginge  vor 
allem  die  Initiative  wieder  an  die  im  Dunkeln  wirkenden 
Zentralen  zuriick,  von  denen  die  Arbeiter  nicht  wissen,  welche 
vor  dem  Proletariat  verborgenen  Hintergrundinteressen  die 
Beschliisse  beeinflussen.  Die  aktiven  Krafte  der  Belegschaf- 
ten,  zumal  in  den  Mldbenswichtigen"  Betrieben,  sowie  ihnen 
von  den  Arbeitskollegen  unter  Zuriickstellung  alles  Organi- 
sationsegoismus  Umsicht,  Tatkraft,  Werkkenntnis,  Kamerad- 
schaftsgeist  und  das  Bewufitsein  der  Bedeutung  des  Augen- 
blicks  zugetraut  wird,  miissen  bestimmt  werden,  unter  stan- 
diger  Kontrolle  ihrer  Auftraggeber  alle  Vorbereitungen  zum 
Generalstreik  zu  treffen. 

An  dem  Tage,  an  dem  die  Hakenkreuzfahne  iiber  den 
offentlichen  Gebauden  erscheint,  lafit  sich  nicht  das  geringste 
mehr  organisieren  oder  anordnen,  Jeder  Arbeiter  muB  vor- 
her  wissen,  was  er  darin  zu  tun  und  zu  unterlassen  hat.  Soil- 
ten  aber  wirklich  die  Parteien  und  Gewerkschaften  ihreh  An- 
hangern  vorher  Weisungen  zugehn  lassen,  so  werden  sie  ein- 
ander  widersprechen  und  dadurch  die  einheitliche  Abwehr  der 
Gefahr  erst  recht  durchkreuzen.  Nur  der  rechtzeitig  gefaBte 
und  bis  ins  Kleinste  vorbereitete  EntschluB,  dem  Verfassungs- 
bruch  und  Staatsstreich  die  Lahmlegung  der  gesamten  Versor- 
gung  mit  Wasser,  Gas,  Elektrizitat,  die  Drosselung  des  Mark- 
tes  und  des  Verkehrs  entgegehzustellen,  kann  den  Massenmord 
und  die  vollstandige  Versklavung  der  deutschen  Arbeiterschaft 
verhindern. 

Die  Arbeiter  haben  jetzt  andres  zu  tun  als  sich  gegen- 
seitig  zu  beschimpfen  und  zu  verpriigeln  oder  schone  Reden 
anzuhoren  und  wohlklingende  Resolutionen  zu  fassen.  Es  ist 
Zeit,  hochste  Zeit  zu  handeln! 

Der  Vorschlag  des  Verfassers  umfaBt  nur  MaBnah- 
men  gegen  die  offenbar  illegale  Machtergreifung  durch 
die  Nationalsozialisten.  Nach  dem  boxheimer  Dokument 
bedeutet  das  die  „Komraune",  nach  der  heutigen  Staats- 
auffassung  Verteidigung  der  verfassungsmaBigen  Grund- 
lage,  Unterstiitzung  der  gesetzmafiigen  Abwehr.  In  Uber- 
einstimmung  mit  dem  Verfasser  betone  ich  gern,  daB 
diese  Mobilisierung  der  Abwehr  nicht  geheim  bleiben, 
sondern  den  verantwortlichen  Regierungsstellen  in  jedem 
Einzelfalle  mitgeteilt  werden  soil, 

881 


Ohnmachtiger  Pazifismus  von  Kurt  snier 

r\er  von  Walter  Dirks  klug  und  lebendig  geleitete  ,Frie- 
*"^  denskampf er\  das  Organ  jcncr  Katholischen  Friedens- 
bcwegung,  als  deren  interessantester  Kopf  der  Dominikaner- 
pater  Franziskus  M,  Stratmann  anzusprcchcn  ist,  ein  oft  vir- 
tuoser  Polemiker,  von  dem  manchcr  Heide  lernen  kann  (Vitus 
Heller  steht  uns  als  Antikapitalist  wohl  sachlich  naher,  aber 
ist  groberes  Garn},  berichtet  in  seinem  vorigen  Monatsheft 
fiber  eine  Friedenswoche  Marc  Sangniers  in  Baden.  Der  Ftih- 
rer  der  ^Internationalen  Demokratischen  Friedensaktion" 
hat  mit  Gesinnungsgenossen  aus  Frankreich,  England,  Spa- 
nien,  Deutschland  (darunter  Ludwig  Quidde),  herzlich  unter- 
stiitzt  durch  die  Badische  Regierung,  auch  durch  die  Stadt- 
oberhaupter  von  Freiburg  und  Konstanz,  „unter  breitester  An- 
teilnahme  der  Bevolkerung"  gemeetingt  und  KongreB  gemacht 
Baden,  zeigt  sich,  ist  nicht  Braunschweig;  der  gute  Ton  in 
Baden  bleibt  demokratisch . . ,  mit  klerikalem  Ttipf  el  aui 
dem  i.  Marc  Sangnier  und  die  badische  Offizialwelt  passen  vor- 
ziiglich  zueinander;  es  ist  in  der  Ordnung,  solche  Harmonie 
fiir  die  Propaganda  des  Friedens  auszunutzen, 

Blieb  diese  Propaganda  im  liblichen  Lyrismus,  im  viel- 
geliebten  ,fVerstandigungs"schlamm  stecken?  Nein.  Die  Ge- 
rechtigkeit  gebietet  anzuerkennen,  daB  nicht  Rapprochement 
geschwafelt,  sondern  daB  ein  Katalog  klarer  Forderungen  aus- 
gearbeitet  wurde,  klarer  und  guter  ( —  abgesehn  von  einer 
einzigen  unklaren  und  bosen,  iiber  die  noch  zu  sprechen  sein 
wird). 

Man  forderte,  als  Endziel  der  Arbeiten.  £iir  die  Ab- 
nistungskonferenz  (im  Februar;  oder  am  St,  Nimmerleinstag?): 
Vollstandige  Abriistung,    Auf  dem  Wege  zu  diesem  Endziel: 

Sofortiges  allgemeines  Verbot  aller  in  den  Friedensvertragen 
verbotenen  Kampfmittcl  und  Kriegsvorbereitungen,  einschlieBlich  der 
militarischen   Jugendausbildung; 

ernsthafte  Herabsetzung  der  Riistungen,  teils  direkt  durch  Be- 
schrankung  der  Kontingente,  der  Dienstzeit  und  des  Kriegsmaterials 
aller   Art,  teils   indirekt  au!  budgetarem  Wege; 

sofortige  Unterdruckung  der  gesamten  privaten  Rustungsindu- 
strien,  einschlieBlich  des  Waffenhandels,  und  internationale  Kontrolle 
uber   die  dann  noch  gestatteten  staatlichen  Industrien; 

dauernde  Kontrolle  uber  die  Durchfiihrung  der  Abriistung  durch 
eine  mit  alien  Vollmachten  ausgestattete  standige  internationale  Kotn- 
mission; 

Ausbau  des  Systems  der  obligatorischen  internationalen  Frie- 
denssicherung,  der  in  Verbindung  mit  einem  echten  Geist  interna- 
tionaler  Zusammenarbeit  die  entscheidende  Voraussetzung  fiir  die 
Abriistung   ist. 

Von  der  letzten  abgesehn,  vortreffliche  Thesen!  Aber 
glaubt  ein  Mensch,  auBerhalb  und  innerhalb  der  t, Internatio- 
nal en  Demokratischen  Friedensaktion",  daB  die  Abriistungs- 
konferenz  sie  zum  BeschluB  erheben  wird?  DaB,  tate  sies, 
auch  nur  Eine  Miiitarmacht  ihn  redlich  vollzoge?  Der  Pa- 
zifismus fordert  diese  Dinge  nicht  seit  gestern;  und  der  Im- 
perialisms beweist  durch  seine  Haltung  bis  heute,  daB  er  an 
derlei  MaBnahmen  nicht  im  Traume  denkt.     Man  kann    einen 

882 


Tiger  durch  Predigen  vielleicht  iiberreden,  auf  den  Gebrauch 
seiner  Pranken  und  seines  Gebisses  zu  verzichten;  das  mensch- 
liche  Raubzeug  nicht.  Das  menschliche  Raubzeug  muB  aus 
der  Macht  gestoBen  werden;  die  menschliche  Species,  die  das 
Abschlachten  der  Volker  ernstlich  nicht  will,  muB  sich  zur 
Macht  aufschwingen;  ohne  Vernichtung  des  internationalen 
Kapitalismus  gibt  es  keine  Vernichtung  des  Krieges.  Darum 
bedeutet,  was  die  Marc  Sangnier  und  die  Quidde  und  all  die 
andern  edlen  Evolutionisten  des  Friedens  seit  Jahren  trei- 
ben,  eine  Oper  der  Ohnraacht.  Wie  alt  werdet  Ihr  wohl  wer- 
den  miissen,  um  zu  begreifen,  daB  Ihr  nicht  in  die  geschicht- 
liche  Realitat  eingreift,  sondern  neben  der  geschichtlichen 
Realitat  handelt,  wenn  Ihr  den  Raubern,  denen  Ihr  Ethisches 
zumutet,  ihren  Machtbesitz  schiitzen  helft?  Ihr  ruft  dem 
Feuer  zu:  Hor  auf  zu  brennen!  und  giefit  statt  Wassers  Benzin 
hinein.  Kirche  und  burgerliche  Demokratie  —  die ,  stiitzen, 
was  ist;  noch  mit  ihrem  theoretischen  Nein  zu  Einigem,  was 
ist,  stiitzen  sies  praktisch;  denn  zum  Prinzip  Dessen,  was  ist, 
sagen  sie  Ja,  handeln  sie  Ja.  Es  gibt  keinen  innerhalb  prin- 
zipieller  Konservativitat  isolierten  Kampf  gegen  den  Krieg ; 
es  gibt  nur  den  Kampf  gegen  das  Organisationsprinzip  der  biir- 
gerlichen  Gesellschaft  —  er  enthalt  den  Kampf  gegen  den 
Krieg,  Prokirchlicher,  prokapitalistischer  Pazifismus:  Bel- 
canto  der  Ohnmacht, 

Oder  Schlimmeres.  Man  schaue  sich  die  letzte  These  an; 
die,  von  der  ich  anfangs  absah,  Ist  sie  klar?  Kaum.  Sie 
spricht  von  „obligatorischer  Friedenssicherung",  wahrend  tat- 
sachlich  nicht  die  Sicherung  obligatorisch  sein  kann,  sondern 
nur  dieses  oder  jenes  Mittel,  durch  das  man  den  Frieden 
glaubt  sichern  zu  konnen.  Welches  Mittel  mogen  sie  meinen? 
Das  obligatorische  Schiedsgericht?  GewiB,  und  rechtens,  Aber 
seine  Urteilsspriiche  wollen  exekutiert  sein.  Wie  macht  man 
das  unter  geriisteten  Staaten?  Was  heiBt  da  „Ausbau  des 
Systems"?  Exekutiert,  exekutiert  sein  wollen  die  Spriiche. 
So  spukt  hinter  der  schonen  Wortkulisse  von  der  „obligatori- 
schen  internationalen  Friedenssicherung"  der  obligatorische 
internationale  Exekutionskrieg.  Nicht  mehr  Krieg  zwischen  Staat 
und  Staat,  sondern  Krieg  aller  Staaten  gegen  den  Einen  — 
den  Friedensbrecher.  Falls  er  Verbiindete  hat:  Krieg  zwischen 
Staatenblock  und  Staatenblock  —  wie  einst  im  Mai.  Das  ist 
offenbar  unter  dem  „echten  Geist  internationaler  Zusammen- 
arbeit"  verstanden;  ein  Geist,  der  diese  Gattung  Krieg  als 
genau  so  grauenhaft  wie  die  andre  verwurfe,  ware  anschei- 
nend  „unechtM. 

Also  ein  volkerrechtlicher  Vertragf  der  jedem  Partner  die 
Teilnahme  an  Exekutions-,  an  Sanktionskriegen  zur  Pflicht 
macht,  soil  „die  entscheidende  Voraussetzung  fur  die  Ab- 
riistung"  sein.  Das  ist  die  These  Paul-Boncours  und  aller 
andern  pazifisteinden  Demo-Imperialisten.  Sie  fuhrt  nicht  vom 
Kriege  fort,  sie  fuhrt  zu  ihm  hin,  Sie  ist  die  ideologische 
Grundlage  noch  graulicherer  Gemetzel,  als  es  das  1914  begon- 
nene  war.  Statt  die  alte  Schande  zu  tilgen,  gibt  sie  ihr  einen 
neuen  Namen.  Man  wende  die  These  auf  eine  aktuelle  Si- 
tuation   an:    MandschureL     Weltkrieg    gegen    den    Friedens- 

883 


brecher!  Bleibt  Japan  isoliert,  dann  wird  es  die  Dinge  nicht 
so  wcit  treiben  lassen,  WeiB  es  sich  aber  cincs  odcr  einiger 
machtigen  Bundesgcnossen  sicher,  dann  habcn  wir  denWelt- 
krieg  II,  zwischen  zwci  Koalitionen,  als  „Sanktion."  etikettiert, 
als  Feldzug  dcr  Gerechtigkeit  —  ahnlich  dem  crsten!  Nimmt 
dies  Etikctt  dem  Abwurf  der  Brandbomben,  der  Brisanzbom- 
ben,  der  Giftgasbomben,  der  Bakterienbomben  auch  nur  em 
Quentchen  seines  apokalyptischen  Schreckens?  Haben  wir 
unsre  Erfahrungen  gemacht,  unser  Denken  gedacht,  urn  in 
solchem  Kriege  eine  . . .  ,,FriedenssicherungM  zu  sehn? 

Die  bose  These  stent  nicht  auf  dem  Papier,  aber  sie 
stent  hinter  den  salbungsvollen  Vokabeln,  die  auf  dem  Pa- 
piere  stehn  —  diesen  geflissentlich  unklaren,  dabei  durchaus 
eindeutigen  Wendungen.  Wer  in  Europa  will  denn  heute  den 
Krieg  -der  Volker  Enropas  gegen  Japan  und  seine  Verbiinde- 
ten?  Werf  so  ehrlich  er  den  japanischen  Militaristen  flucht, 
will  ihn?  Den  Chemiekrieg;  den  Krieg  mit  alien  Schikanen 
dieser  Zivilisation?  Wer  will,  daB  in  griiner  Wolke  der 
Millionenmord  iiber  die  Stadte  des  Gestirns  rast  ? 

Wer  diesen  Krieg  nicht  will;  wessen  Phantasie  ausreicht, 
sich  dessen  Greuel  halbwegs  vorzustellen  —  der  schule  ge- 
falligst  sein  Denken,  daB  es  aufhore,  ihn  zu  ,,Losungen*'  zu 
verfciihren,  die  nichts  sind  als  Ohnmacht  vor  der  Naturkraft, 
die  er  bandigen  mochte;  ML6sungen'\  deren  Praktizierung  den 
herabschauenden  Bewohner  eines  andern  Sterns  zwange,  unsre 
Erde  f iir  eine  Holle  rhythmisch  sich  wiederholenden  Kollektiv- 
selbstmords  zu  halten  oder  fiir  ein  kosmisches  Irrenhaus, 

Nicht  jenes  Protokoll  oder  jener  Pakt,  der  den  Sanktions- 
krieg  stipulieren  wiirde,  ware  ,,die  entscheidende  Voraus- 
setzung  fiir  die  Abriistung";  sondern  die  allgemeine  Abriistung 
ist  die  entscheidende  Voraussetzung  fiir  die  Sicherheit  der 
Nationen,  weil,  ist  sie  beendet,  kein  Volk  mehr  dem  andern 
den  Krieg  ins  Land  tragen  kann.  Ein  Kind  begreifts,  ein 
1,FriedensIreund"  nicht  allemal.  Fiir  manchen  gilt:  Der  ge- 
brannte  Pazifist  schiirt  das  Feuer. 

Weltecho  des  leipziger  Prozesses 

fVolkszeitung'  (Innsbruck)   vom  27.  November. 

Die  sozialdemokratische  Reichstagsfraktion  hat  eine  Interpellation 
wegen  des  Urteils  des  Reichsgerichts  gegen  die  fWeltbiihne'  einge- 
bracht.  Die  Untersuchung  hat  kein  andrer  gefuhrt  als  der  bekannte 
Reichsanwalt  Jorns,  Dieser  hatte  bekanntlich  den  Journalisten  Born^ 
stein  verklagt,  der  ihm  nachgesagt  hatte,  er  habe  als  Untersuchungs- 
fiihrer  des  Kriegsgerichtes  die  Morder  von  Karl  Liebknecht  und  Rosa 
Luxemburg  begiinstigt  und  dadurch  der  gebtihrenden  Strafe  entzogen. 
Der  Angeklagte  —  von  Paul  Levi  glanzend  verteidigt  —  war  wegen 
erbrachten  Wahrheitsbeweises  freigesprochen  worden.  Das  Reichs- 
gericht,  das  von  Jorns  angerufen  wurde,  hat  sich  gegen  die  sonstige 
Obung  nicht  damit  begnugt,  das  Verfahren  nachzuprufen,  sondern  sich 
mit  der  Sache  selbst  befaBt,  und  bei  der  Ruckverweisung  eine  solche 
Marschroute  gegeben,  daB  der  Angeklagte  in  der  neuen  Verhandlung 
verurteilt  werden  mufite,  Jetzt  ist  Jorns,  der  wahrend  der  langen 
Dauer  seiner  Prozesse  suspendiert  worden  war,  wieder  in  Amt  und 
Wtirden. 

884 


,Der  Wiener  Tag"    vom  24.  November 

Jetzt  horchen  sicher  alle  diejenigen  auf  die  hungrig  sind  nach 
deutschen  militarischen  Geheimnissen.  Was  Kreiser  in  seinem  Artikel 
geschrieben  hatte,  das  haben  die  Mil  itaratt  aches  der  in  Berlin  akkre- 
ditierten  Machte  alle  gewufit.  Was  —  so  miissen  sie  sich  angesichts 
der  leipziger  Geheimniskramerei  fragen  —  mochte  alles  hinter  den 
Kreiserschen  Harmlosigkeiten  doch  stecken.  Wenn  jemand  die  deutsche 
Staatssicherheit  gefahrdet  hatte,  so  ist  das  vielleicht  das  leipziger  Ge- 
richt . . ,  Vor  einigen  Tagen  hat  man  in  Breslau  einen  Menschen  als 
Spion  abgeurteilt,  weil  er  demAuslande  Nachrichten  iiber  den  letzten 
Stahlhelmaufmarsch  liefern  wollte.  Der  fruhere  englische  Aufien- 
minister  Chamberlain  hat  in  einem  Brief  an  die  ,Times*  dartiber  ge- 
schrieben:  Dies  und  andres  konnte  nicht  besser  ausgedacht  werden, 
wenn  der  ausgesprochene  Zweck  dabei  ware,  das  Vertrauen  zu 
Deutschlands  Ehrlichkeit  zu  zerstoren.  Was  wird  er  jetzt  nach  diesem 
leipziger   Gerichtsurteil  sagen? 

Das  Gesetz  verlangt  ausdriicklich  die  Feststellung  der  Vorsatz- 
lichkeit  als  Grundlage  fur  die  Verurteilung.  Ossietzky  und  Kreiser 
sind  die  dummsten  Spione,  die  die  Erde  getragen  hat.  In  einem  Zei- 
tungsartikel  machen  sie  dem  Feinde  ihre  gefahrlichen  Mitteilungen. 
Kreiser  spricht  von  40  Flugzeugen,  die  von  der  Abteilung  M  unter- 
halten  werden.  Frankreich  hat  7500  Flugzeuge.  Deutschlands  Sicher- 
heit  ist  gefahrdet,  weil  die  Franzosen  erfahren  haben,  dafi  ihre  7500 
nicht  ohne  Gegner  sind  , . . 

,Neue  Ziiricher  Zeitung'  vom  25.  November 

Es  ist  um  so  schwieriger,  dieses  Urteil  zu  verstehen,  als  das 
Reichsgericht  die  Begrundung  verheimlicht,  Aber  die  Frage  liegt 
nahe:  Wie  konnen  kritische  Ausfiihrungen  iiber  Material  aus  dem 
allgemein  zuganglichen  Etat  eines  Reichsministeriums  als  Nachrichten 
bewertet  werden,  deren  Geheimhaltung  im  Interesse  der  Landesver- 
teidigung  erforderlich  ist?  Inwiefern  wird  die  Sicherheit  des  Reiches 
durch  eine  derartige  Abjiandlung  gefahrdet?  Da  die  Urteil sbegriin- 
dung  nicht  veroffentlicht  wurde,  so  kann  man  nur  Vermutungen  an- 
stellen,  und  die  Vermutung  erscheint  nicht  abwegig,  dafi  das  Reichs- 
gericht ahnlich  argumentierte  wie  die  .Deutsche  Allgemeine  Zeitung', 
die  erklart:  MDas  Bedenkliche  und  Gefahrliche  des  Artikels  lag  darin, 
dafi  er  eine  Zusammenstellung  der  alten,  wiederholt  zuriickgewiesenen 
Behauptungen  in  einer  Form  anstrebte,  die  im  Ausland  eine  ent- 
sprechende  deutschfeindliche  Propagandawirkung  zu  erzielen  be- 
absichtigte/' 

Wie  aus  der  obenerwahnten  Anregung  des  Abgeordneten  Kriiger 
hervorgeht,  war  unter  Etatskennern  die  Ansicht  verbreitet,  dafi  die 
Etatsposten  der  MAbteilung  M'*  militarischen  Zwecken  dienten.  Die 
Reichsanwaltschaft,  das  Reichsgericht,  das  Reichswehrministerium  und 
andre  deutsche  Behorden  und  Patrioten  glauben  also,  dafi  durch  eine 
offentliche  Bekundung  oder  Andeutung  dieser  Ansicht  die  Sicherheit 
des  Reiches  gefahrdet  werde.  Als  ob  die  militarischen  Berater  frem- 
der  Machte  auf  Grund  ihrer  eignen  Etatsstudien  nicht  schon  lange 
zu  ganz  konkreten  Schliissen  gekommen  waren!  Sicherlich  konnen 
jene  Fachleute  durch  nichts  iiberrascht  oder  belehrt  werden,  was  der 
verwegendste  deutsche  Etatskritiker  herausfindet,  auch  wenn  es  sich 
andeutungsweise  um  Militarluftfahrt  handelt,  die  Deutschland  durch 
den  Versailler  Vertrag  verwehrt  ist, 

Dieser  Artikel    enthalt   eine   Nachschrift,  in   der  angebliche  Interna  aus  der  ge- 
schlossenen  Hauptverhandlung  mitgeteilt  werden. 

,Votksrecht*  (Zurich)  vom  3.  Dezember 

Das  Urteil  gegen  Ossietzky,  Herausgeber  der  Wochenschrift  ,Welt- 
biihne',  und  seinen  Mitarbeiter  Kreiser  ist  nicht  nur  aus  Rechts-  und 
Gerechtigkeitssinn    heraus    eine   Blamage,     Auch   die    aufienpolitische 

885 


Wirkung,  mag  sie  noch  so  verheerend  sein,  steht  weit  zuriick  hinter 
dem  Be  we  is  einer  bis  in  die  hochsten  Kreise  hineinreichenden  son- 
derbaren  deutschen  Kultur.  Wenn  es  fur  die  Gegner  Deutschlands 
eine  Moglichkeit  gab,  den  wahrend  des  Krieges  so  oft  erhobenen  und 
bestrittenen  Vorwurf,  die  Mentalitat  des  Deutschen  sei  die  des 
„boche",  postfestum  zu  rechtfertigen,  so  hat  der  Oberreichsanwalt 
Jorns  diese  Moglichkeit  durch  seine  Stellungnahme  den  jungsten  Er- 
eignissen  gegentiber  geschaffen. 

Friedrich  Bill  im  tPrager  Tagblatt'  vom  24.  November 

Carl  v.  Ossietzky,  der  Leiter  der  (Weltbuhne\  und  der  Schrift- 
steller  Walter  Kreiser  wurden  gestern  vom  Reichsgericht  zu  je  einem 
Jahr  und  sechs  Monaten  Gefangnis  verurteilt,  Tatbestand:  Mitteilung 
verhaltnismaBig  harmloser  und  sicherlich  jeder  Regierung  bekannter 
Tatsachen  iiber  die  deutsche  Luftschiffahrt.  Landesverrat  ist,  nach 
der  famosen  Judikatur  des  leipziger  Reichsgerichts,  die  Mitteilung 
iiber  internationals  Vertragsverletzungen  des  Deutschen  Reichs.  Zu 
den  Obeln  der  deutschen  Rechtspflege  gehoren  allem  Anschein  nach 
wie  bei  uns  und  aidern  zehn  Landern  die  Militarsachverstandigen,  die 
vom  heldischen  Standpunkt  der  Kadettenschule  zu  beurteilen  haben, 
was  dem  jeweiligen  Vaterland  frommt  und  was  ihm  schadet.  Nach 
dieser  Militarpfeife  tanzt  auch  die  deutsche  Justiz.  Es  kann  kein 
Zweifel  daruber  sein,  daB  Ossietzky  vom  ersten  politischen  Satz,  den 
er  schrieb,  das  „Wohl  des  Deutschen  Reichs",  das  er  geschadigt  haben 
soil,  sinnvoller,  kliiger  und  konsequenter  beschiitzt  hat  als  die  sach- 
verstandigen  Vaterlandsverteidiger  und  leipziger  Gerechtigkeits- 
beamten.  Die  Menschen  sind  nicht  mehr  sicher  vor  den  schutzbedurf- 
tigen  Vaterlandern! 

tPrager   Presse'   vom  25.  November 

Es  ist  eine  Lust,  ein  linksstehender  Publizist  in  der  deutschen 
Republik  zu  sein.  Wahrend  ein  Hitler  ungestraft  verkunden  darf, 
wenn  er  zur  Macht  gelange,  wurden  die  „Kopfe  rollen",  wird  ein 
Maximilian  Harden  von  zwei  nationalistischen  Mordbuben  —  die 
notabene  nie  eine  Zeile  von  ihm  gelesen  hatten  —  uberfallen  und  so 
zugerichtet,  daB  der  geschwachte  Organismus  in  kurzer  Zeit  einer 
Krankheit  erliegt.  Nun  ist  die  Reihe  an  Carl  v.  Ossietzky,  den  weit 
uber  die  Grenzen  Deutschlands  geschatzten,  unerschrockenen  Heraus- 
geber  der  berliner  .Weltbuhne*.  Ossietzky  hatte  die  Kiihnheit  be- 
sessen,  einen  Artikel  izu  ver  of  tent  lichen,  der  einiges  iiber  die  Reichs- 
wehrsubventionen  an  private  Luftfahrtgesellschaften  enthielt.  Wieso 
durch  die  Auf deckung  der  Zuwendungen  militarische  Geheimnisse  ver- 
letzt  worden  sein  sollen,  bleibt  dem  Uneingeweihten  ein  Ratsel.  Das 
leipziger  Reichsgericht  hat  allerdings  —  nach  geheimer  Verhandlung  — 
den  Angeklagten  schuldig  befunden,  Und  um  vorwitzigen  republi- 
kanischen  Journalisten  die  Lust  an  derartigen  Indiskretionen  ein  fur 
allemal  zu  benehmen,  hat  es  iiber  Ossietzky  gleich  die  drakonische 
Strafe  von  18  Monaten  Kerker  verhangt,  Eine  ganz  nette  Zeitspanne, 
um  iiber  die  Entwicklung  der  republikanischen  Justiz  in  Deutschland 
nachzudenken.  Dem  Ausland  liegt  es  fern,  sich  in  Angelegenheiten 
der  deutschen  Rechtspflege  einzumengen;  jedes  Land  hat  schlieBlich 
die  Justiz,  die  es  verdient.  Was  das  Ausland  interessiert,  ist  die 
Tatsache,  daB  augenscheinlich  eine  Kritik  am  Reichswehretat  in 
Deutschland  nunmehr  unter  die  strafbaren  Handlungen  fallt  und  daB 
pazifistische  Bestrebungen  an  Landesverrat  grenzen.  Das  Ausland 
quittiert  diese  Entwicklung,  die  in  der  Verurteilung  Ossietzkys  ein  so 
drastisches  Symbol  gefunden  hat,  mit  aufrichtiger  Besorgnis.  Nicht 
aus  Furcht,  denn  man  weiB,  wieviel  Unsicherheit  und  Ratlosigkeit  im 
Grunde  hinter  den  Kraftphrasen  Hitlers  steckt,  sondern  aus  Besorgnis 
um  die  Gestaltung  der  innerdeutschen  Verhaltnisse.  Das  Urteil  uber 
Ossietzky  zeigt,  wie  nahe  Deutschland  vor  dem  Hineingleiten  in  den 

886 


Hakenkreuzsumpf  steht.  Fur  die  deutsche  Linke  ist  es  ein  Alarm- 
signal,  das  sie  endlich  zu  geschlossener  Abwehr  zusammenfuhren 
sollte. 

.Manchester  Guardian*  vom  24.  November 

Der  inkriminierte  Artikel  war  eine  Kritik  der  deutschcn  Wehr- 
ausgaben,  besonders  der  militarischen  Luftfahrt;  Da  der  Prozefi  sich 
im  geschlossenen  Raum  abspielte,  weifl  niemand,  was  fiir  Geheimnisse 
enthtillt  wurden.  Aber  wieder  erhebt  sich  die  Frage  —  was  in 
Deutschland  verborgen  ist,  besonders  im  Hinblick  auf  die  militarische 
Luftfahrt:  was   ist   durch   den  Friedensvertrag  ^verboten? 

,The  Times'  vom  24.  November " 

Die  Urteile,  die  nach  deutschem  Brauch  ungewohnlich  streng  sind, 
haben  viel  Aufmerksamkeit  erregt,  und  der  Fall  ist  heftig  kritisiert 
worden  in  der  demokratischen  Presse,  weil  sie  das  zuxtehmende  Hin- 
schwinden  der  deutschen  Meinungsfreiheit  in  diesen  Tagen  zu  re** 
prasentieren  scheinen. 

tL'Echo  de  Paris'  vom  24.  November 

Vom  deutschen  Standpunkt  gesehen  ist  es  unentschuldbar,  dafi  die 
Akten  der  deutschen  Rustungen,  die,  wie  wir  hoffen,  in  Genf  in  vollem 
Umfang  geoffnet  werden,  jetzt  in  Leipzig  zur  Diskussion  gestellt  wor- 
den sind. 

Monde'  vom  5.  Dezember 

Die  Proteste  der  Intellektuellen  gegen  die  Verurteilung  von  Re- 
dakteuren  der  ,Weltbuhne*  haufen  sich  in  Deutschland  "  und  in 
der  ganzen  Welt . . .  Unter  dem  Vorwand  des  Verrats  will  man  toten, 
was  von  der  Freiheit  der  Presse  in  der  deutschen  Republik  noch 
tibrig   geblieben   ist, 

,Le  Temps'  vom  25.  November 

Nicht  Interpretation  sondern  Vergewaltigung  dieses  Paragraphen 
(des  Gesetzes  gegcn  den  Verrat  militarischer  Geheimnisse)  ist  es,  ihn 
auf  einen  Zeitungsartikel  anzuwenden,  Und  kann  ein  in  einer  deut- 
schen Zeitung  erschienener  Artikel  den  Verrat  eines  Geheimnisses  an 
eine  fremde  Regierung  bedeuten? 

Das  Tribunal  hat  auch  noch  entschieden,  dafi  die  Nummer  11  der 
,Weltbuhne*  von   1929  unschadlich  zu  machen   ist. 

Einen  Artikel  unschadlich  zu  machen,  der  vor  zweieinhalb  Jahren 
erschienen  ist,  den  alle  Welt  gelesen  hat,  und  der  ftbrigens  unsres 
Wissens  vergriffen  ist,  das  heiflt,  der  Bdsartigkeit  die  Groteske 
hinzufugen. 

,Le  Journal'  vom  24.  November 

Das  Urteil  des  Reichsgerichts  provoziert  eine  tiefgehende  Be- 
wegung  in  alien  Kreisen  der  deutschen  Linken. 

L Action  Francaise'  vom  26.  November 

Die  Bestrafung  erscheint  der  Presse  der  Rechten  naturlich  ge- 
rechtfertigt  und  der  der  Linken  allzu  hart.  Wir  konnen  das  heiselte 
lassen.  Aber  als  interessantes  Faktum  ist  zu  notieren,  da£  der  Ge- 
richtshof  vor  der  Verkundung  seines  Verdikts  den  AusschluS  der 
Offentlichkeit  fiir  die  Urteilsbegriindung  ausgesprocheh  hat,  die  der 
President  nicht  ohne  Gefahrdung  der  nationalen  Sicherheit  verlesen 
konnte. 

£e  Matin'  vom  24.  November 

Der  ProzeB  und  selbst  die  Verlesung  des  Urteil s  haben  hinter 
verschlossenen  Turen  stattgefunden. 

887 


JLa  Republique  vom  24.  November 

Diesc  brutale  Verurteilung  macht  glauben,  daB  ihre  (der  Ver- 
fasser)   Enthtillungen  wahr  sind, 

,La  Gauche'  vom  26.  November 

Gibt  es  cin  Recht,  die  Reichswehr  zu  kritisieren  — ?  ...  die  er- 
schreckende  Verurteilung  zu  achtzehn  Monaten  Gefangnis . .  .  wegen 
eines  Artikels  iiber  die  Subventionen  im  Etat  der  zivilen  Luftfahrt  ist 
ein  Beispiel  der  gefahrlichen  Lage,  in  der  sich  das  Reich  befindet, 

,Le  Progres  de  Lyon 

Die  Art,  wie  der  Prozefi  gefiihrt  wurde  und  die  Brutalitat  des 
Spruchs  erscheinen  liberalen  Kreisen  als  die  beste  Rechtfertigung  der 
Kampagne  der  beiden  verurteilten   Journalisten, 

,Loire  Republicaine'  (St.  Etienne)  vom  26.  November 

Man  muB  bemerken,  dai3  die  Herren  v.  Ossietzky  und  Kreiser 
nicht  wegen  Mversuchten  Landesverrates'1  sondern  wegen  „vollendeten 
Landesverrates"  verurteilt  worden  sind,  was  darauf  schlieBen  lafit, 
dafi  die  in  dem  inkriminierten  Artikel  der  .Weltbuhne'  enthaltenen 
Tatsachen  wahr   sind. 

tLe  Petit  Marseillais'  (Marseille)  vom  24.  November 

Der   Gerichtshof   hat   absolutes    Schweigen  verhangt . , . 

,La  Metropole'  (Antwerpen) 

* . .  und   die   Entscheidung  des  Gerichtshofs,   selbst   die  Veroffent- 

Hchung  des  Wichtigsten   zu   untersagen,    lafit  auf   eine   ernste   Schadi- 

gung    der    internationalen    Beziehungen    zu   Deutschland    schlieBen. 

fNiave  Rotterdamsche    Courant'   vom   23.   November 

Die  Urteilsbegriindung  wurde  hinter  verschlossenen  Turen  ver- 
lesen. 

,New  York  Times'  vom  24.  November 

.  . .  andrerseits  ist  zu  sagen,  dafi  der  in  Frage  stehende  Artikel  aus- 
schlieBlich  die  Behandlung  offentlicher  Mittel  durch  die  Regierung  an- 
griff  und  sich  innerhalb  des  Rechtes  offentlicher  Kritik  hielt.  Es  ist 
absurd  zu  denken,  daB  es  dabei  Geheimnisse  gibt,  die  wert  sind,  ver- 
raten  zu  werden,  diese  Tatsache  erklart,  was  immer  die  Richter  fur 
Griinde  gehabt  haben  mogen,  die  Angeklagten  des  Verrats  schuldig  zu 
linden,  daB  dies  Urteil  konfus  befunden  wird  und  in  der  Praxis  ge- 
eignet,  den  Eindruck  zu  erwecken,  daB  die  Minister  der  Reichswehr 
und  des  Verkehrs  etwas  zu  verdecken  haben. 

Ein   Protest-Telegramm   aus  New   York 

Acht  Redakteure  ,New  Republik'  .Survey'  ,Nation'  heute  Protest  an 
Briining  gekabelt  gegen  unglaubliche  Bestrafung  Verletzung  des 
Gemeinrechtes  der  Presse  iiberall  auf  Freiheit  und  Unabhangigkeit 
stop    Ausdriicke  Ihnen    herzlichste    Sympathie. 

Oswald  Villard 

Telegramme  an  die  Deutsche  Liga  fiir  Menschenrechte 

Roraain  Rolland  als  Ehrenprasident,  Georges  Pioch  als  Prasi- 
dent,  Victor  Meric  als  Generalsrekretar  der  Internationalen  Liga  der 
Friedenskampfer  und  Marcelle  Capy  sprechen  Ossietzky  ihre 
Sympathie  aus,  protestieren  scharfstens  gegen  unhaltbares  Urteil.  Es 
lebe  die  Volkerversohnung,   nieder   mit  der   Willktir. 

Oberzeugt  von  Einheitlichkeit  alien  Fortschrittstrebens  und  Vor- 
kampfer  geistiger  Unabhangigkeit  in  alien  Landern  erklaren  tiefe  Ent- 
tauschung  aller  wahren  Freunde  Deutschlands  und  Sympathie  fiir 
Ossietzky,  Henri  Barbusse 

888 


PoKzeiberichte    von  W.  Frank e 

F\er  Dienststellc  D  5  der  bcrliner  Kriminalpolizci  untcr  Lei- 
"  tung  von  Kriminalrat  Seinemiiller  gelang  es  gestern..." 
Immer  gelingt  es ,  der  Kriminalpolizei.  Jede  Woche  dreimal 
mindestens  ist  von  ihr  in  den  Zeitungen  zu  lesen,  wie  tiichtig. 
sie  ist  und  mit  welch  verbloiffender  Geschicklichkeit  sie  wieder 
den  Schwerverbrecher  SchieBegleich  zur  Strecke  gebracht  hat. 
Mit  genauer  Vorgeschichte  des  Falles  ist  das  zu  lesen  und  mit 
detailliertesten  Angaben  dariiber,  wie  die  Beamten  der  Dienst- 
stelle  D  5  es  fertig  bekommen  haben,  SchieBegleich  festzuneh- 
men,  nachdem  er  schon  dreimal  aus  den  verschiedensten  Ge- 
fangnissen  ausgebrochen  war.  Ja,  unsre  Kriminalpolizei!  Wenn 
wir  die  nicht  hatten!  Und  vor  allem,  wenn  wir  die  eingehen- 
den  Berichte  uber  ihre  Tiichtigkeit  nicht  hatten! 

Das  Merkwiirdigste  an  den  berliner  Polizeiberichten  ist, 
daB  sie  gar  nicht  von  der  Polizei  stammen.  Ifn  Presidium  gibt 
es  zwar  eine  Pressestelle,  aber  die  ist  mit  der  Anregung  von 
Zeitungsverboten  derart  beschaftigt,  daB  sie  alien  Kriminal- 
fallen  ahnungslos  gegenubersteht,  und  ein  Reporter,  der  sich 
auf  die  Auskiinfte  dieser  Stelle  verlieBe,  ware  langst  Versiche- 
rungsagent  oder  Inseratenakquisiteur.  Woher  aber  stammen 
die  iiberaus  liebenswiirdigen  und  gradezu  verdachtig  lobenden 
Berichte  iiber  die  Tatigkeit  unsrer  Kommissare?  Sie  stammen 
von  einem  Manne,  der  alle  Kriminalrate,  Kommissare  und 
Assistenten  kennt,  der  in  jedem  Winkel  am  Alexander-Platz 
Bescheid  weiB,  an  jedem  Tatort  weilt  und  trotzdem  ein  bei- 
nahe  unbekannter  Privatmann  ist:  Paul  Steinberg, 

Paul  Steinberg  ist  ein  tiichtiger  Mann.  Niemand  hat  eine 
Ahnung,  wie  er  es  fertig  bekommen  hat,  sich  ein  fast  undurch- 
brechbares  Monopol  fur  Kriminalnachrichten  zu  sichern.  Ob 
ein  Mord  begangen  wurde,  ob  ein  Betriiger  Kautionen  verlangt, 
ein  Klingelfahrer  gefaBt  wird  oder  Scotland  Yard  die  berliner 
Polizei  urn  Fahndung  nach  einem  Bilderfalscher  ersucht  — 
Paul  Steinberg  weiB  es  und  veroffentlicht  es  in  seiner  Korre- 
spondenz,  die  samtliche  Zeitungen  mit  Eifer  drucken  oder  doch 
wenigstens  abschreiben,  Paul  Steinberg  steht  sich  nicht 
schlecht  dabei.  Er  lebt  von  demf  was  er  im  Polizeiprasidium 
erfahrt,  recht  anstandig.  Und  eine  Liebe  ist  naturlich  der 
andern  wert< 

Die  berliner  Kriminalpolizei  verdankt  es  Paul  Steinberg, 
wenn  sie  ebenso  popular  ist  wie  die  Schutzpolizei  unpopular. 
Obwohl  ja  auch  bei  der  Kripo  nicht  alles  Gold  ist,  was  Paul 
Steinberg  glanzend  reibt.  Zum  Beispiel  sind  zwei  wichtige 
Kriminallalle  der  letzten  Zeit;  Madchenleiche  im  Wasser, 
Bankraub  in  Schoneberg  —  bisher  nicht  aufgeklart,  von  dem 
etwas  zuriickliegenden,  aber  noch  unvergessenen  Einbruch  bei 
der  Disconto-Gesellschaft  am  Wittenbergplatz  und  von  den  Ge- 
brudern  SaB  ganz  zu  schweigen.  Aber  wer  denkt  an  derartige 
MiBerfolge,  wenn  immer  und  immer  wieder  in  den  Zeitungen 
aller  Richtungen  —  denn  die  Kriminalpolizei  gilt  ja  als  sozusagen 
unpolitisch  —  berichtet  wird,  mit  welcher  Umsicht  Kriminal- 
kommissar  Wissigkeit  und  seine  Beamten  die  Ermittlungen  nach 
dem  later  gefiihrt  haben,  „bis  derselbe  sich  auf  dem  Polizei- 

4  889 


rcvicr  67  selber  st elite  und  sich  unter  der  Last  des  von  den 
Kriminalisten  zusammengetragenen  Beweismaterials  in  soviel 
Widerspriiche  verwickelte,  daB  an  seiner  Schuld  kein  Zweifel 
mehr  bestehen  kann."  Klassisches  Deutsch  ist  es  nicht,  das 
Steinberg  liefert,  aber  den  Berlinern  wird  taglich  unter  die 
Nase  gerieben,  wie  tiichtig  ihre  Kriminalpolizei  ist.  Zum  SchluB 
glauben  sie  es,  Steinberg  hat  nicht  umsonst  gearbeitet. 

Das  namlich.ist  sein  Geheimnis:  als  „unabhangiger"  Her- 
ausgeber  einer  Korrespondenz  Diener  der  Polizei  zu  sein, 
Diener  auch  der  Eitelkeit  der  Kommissare,  die  sich  beinahe 
so  gern  gedruckt  sehen  wie  die  Rechtsanwalte.  Steinberg  tut 
ihnen-  den  Gefallen.  Und  wenn  die  Redakteure  dreimal  den 
Namen  des  Kommissars  streichen  —  aber  wieso  eigentlich,  der 
Mann  ist  doch  so  tiichtig!  —  das  vierte  Mai  lassen  sie  ihn  aus 
Versehen  stehn.  Und  so  wird  von  Zeit  zu  Zeit  ein  groBer 
Kriminalist  geboren,  erzeugt  von  Paul  Steinberg,  gesaugt  und 
aufgepappelt  von  Paul  Steinberg,  dem  er  zum  Dank  fur  diese 
Dienste  natiirlich  ab  und  zu  ein  paar  nette  Sachen  erzahlen 
muB.  Selbstverstandlich  streng  privat,  so  streng,  daB  es 
friihestens  in  den  Abendblattern  stehen  kann. 

Die  Wirkung  des  Steinbergschen  Nachrichtenmonopols  ist, 
daB  die  Kriminalnachridhten  der  Zeitungen  alle  gefarbt 
sind.  Fortgesetzt  kommt  es  vor,  daB  Verhaftete  als  ganz 
groBe  Verbrecher  dargestellt  werden,  denn  je  gefahrlicher  der 
Festgenommene,  um  so  groBer  der  Ruhm  der  Polizei.  Wehren 
konnen  sich  die  Opfer  nicht,  sie  sitzen  ja.  Und  bis  zur  Ge- 
richtsverhandlung  vergeht  viel  Zeit,  dafiir  sorgt  schon  die  Vor- 
untef suchung.  In  dem  ProzeB  stellt  sich  dann  hautig  heraus, 
daB  der  Tater  gar  kein  so  groBer  Obeltater  sondern  ein  armer 
Mensch  ist,  der  unter  dem  Druck  von  seelischen  oder  mate- 
riellen  Gewalten  zu  seiner  Tat  gekommen  ist.  *Es  stellt  sich 
heraus,  daB  die  Polizeiberichte  falsch  oder  zumindest  stark 
tibertrieben  waren.  Warum  waren  sie  es?  Weil  die  Nachrich- 
ten  aus  der  Steinbergschen  Korrespondenz  stammen  und  es 
kaum  eine  Kontrolle  dieser  Meldungen  gibt.  Denn  was 
die  Kriminalkommissare  den  Reportern,  wenn  es  schon  gar 
nicht  anders  mehr  geht,  sagen,  das  ist  immer  viel  weniger  als 
Steinberg  von  ihnen  erfahren  hat,  und  da  alles,  was  Steinberg 
tut,  fur  die  Polizei  wohlgetan  ist,  sind  amtlich  fundierte  De- 
mentis gegen  die  Steinbergschen  Berichte  ausgeschlossen.  Nur 
manchmal,  wenn  eine  Zeitung  doch  irgend  einen  Zweifel  hegt 
und  die  Quelle  angibt,  aus  der  die  Nachricht  stammt  —  was 
meist  mit  der  Bezeichnung  geschieht:  „wie  eine  offiziose  Poli- 
zeikorrespondenz  berichtet"  —  regt  sichs  im  Polizeiprasidium 
und  man  legt  Wert  darauf,  zu  erklaren,  daB  Steinberg 
keineswegs  otfizios  sei.  Nein,  er  ist  ein  Privatmann,  und  die 
Polizei   ernahrt  ihn   seit  Jahren  um  seiner  schonen  Aug  en  willen* 

Sie  ernahrt  ihn  um  so  sicherer,  als  der  groBe  Sturm,  der 
iiber  Paul  Steinberg  kiirzlich  hereinzubrechen  drohte,  von  ihm 
mit  Erfolg  abgeschlagen  wurde.  Die  Wolken  zogen  auf,  als 
Doktor  Haubach  Pressechef  am  Alex  wurde.  Haubach .  stellte 
mit  Erstaunen  fest,  daB  die  Pressestelle  der  Polizei  ein  Amt 
ohne  Funktionen  war.  Man  schlief  in  ihr  den  Schlaf  des  Unin- 

890 


formierten,  wuBte  aufier  einigen  StraBenunfallen  meist  von 
gar  nichts.  Wenn  ein  in  diesen  Dingen  noch  unbewanderter 
Reporter  eine  Auskunft  verlangte,  wurde  ihm  nicht  selten  ge- 
antwortet:  „Wenden  Sie  sich  doch  an  Herrn  Steinberg."  Das 
war  erstens  bequemer,  zweitens  aber  auch  ungefahrlicher,  derm 
ein  ,, Privatmann"  kann  natiirlich  sagen,  was  er  will,  es  braucht 
nicht  zu  stimmen.  Diesen  Zustand  also  fand  Haubach  vor  und 
begann,  mit  eisernem  Besen  zu  kehren.  Der  Privatmann  Stein-, 
berg,  der  bis  dahin  sogar  ein  Zimmer  im  Prasidium  besessen 
hatte,  verlor  diesen  Raum,  und  ein  Kriminalkommissar  sollte 
eingesetzt  werden,  um  den  Reportern  alle  Auskiinfte  zu  ertei- 
len.  Inzwischen  hat  sich  Haubach  mehr  auf  die  politischen  An- 
gelegenheiten  geworfen,  die  er  nicht  immer  grade  gliicklich  er- 
ledigt.  So  stammt,  zum  Beispiel,  die  Nachricht,  daB  die  fest- 
genommenen  Morder  vom  Bulow-Platz  zu  99  Prozent  iiber- 
fiihrt  seien,  von  ihm,  Dem  Untersuchungsrichter  hat  dann  be- 
kanntlich  das  eine  fehlende  Prozent  zur  Entlassung  der  Inr 
haftierten  ausgereicht.  Jedenfalls  hat  der  Pressechef  des  Pre- 
sidiums keine  Zeit  mehr  gefunden,  den  Fall  Steinberg  weiter 
zu  bereinigen,  und  so  geht  der  Privatmann  Steinberg  weiter  im 
Prasidium  umher,  tritt  bei  den  Kommissaren  ein,  klopft  den 
Assistenten  auf  die  Schulter  und  studiert  die  Akten.  Aus 
ihrem  schlechten  Deutsch  macht  er  dann  kein  gutes,  aber  es 
steht  etwas  drin,  und  so  drucken  es  die  Zeitungen  eifrigst. 

Auf  diese  Weise  kommt  es,  daB  die  berliner  Kriminal- 
polizei  im  Rufe  grofiter  Tiichtigkeit  steht.  Auf  diese  Weise 
kommt  es,  daB  tagtaglich  liber  wehrlose  Verhaftete  schlimme 
Dinge  gesagt  werden,  die  sich  nachher  nicht  bestatigen,  Auf 
diese  Weise  kommt  es,  daB  es  eine  Kritik  an  den  Methoden 
der  Kriminalpolizei  in  Berlin  bis  weit  in  die  kommunistische 
Presse  hinein  iiberhaupt  nicht  gibt.  Die  Kriminalkommissare 
sind  alle  so  prachtig  wie  Sherlock  Holmes,  die  Zeitungen  haben 
eingehende  Berichte  daruber,  und  ein  Mann,  der  Bescheid 
weiB,  wird  reich  dabei.    Es  ist  also  alles  in  schonster  Ordnung. 

Stimme  des  Besiegten  von  Georges  Sand 

VY/ir  werden  die  Deutschen  um  ihrer  Siege  willen  ebenso  beklagen 
"  miissen,  wie  uns  um  unsrer  Niederlage  willen,  denn  fiir  sie  ist  es 
der  Anfang  ihrer  moralischen  Entwertung.  Die  Tragodie  ihres  Nieder- 
ganges  hat  begonnen,  und  da  sie  mit  eigner  Hand  daran  arbeiten. 
wird  er  schnell  fortschreiten.  All  diese  grofien,  materiell  gerichteten 
Organisationen,  in  denen  Recht,  Gesetz  und  Ehrfurcht  vor  der  Mensch- 
heit  verleugnet  werden,  sind  tonerne  Kolosse,  wir  haben  diese  Er- 
fahrung  teuer  bezahlt.  Aber  der  moralische  Niedergang  Deutsch- 
lands  bedeutet  nicht  das  kiinftige  Heil  Frankreichs,  und  wenn  wir  an 
der  Reihe  sein  werden,  wird  uns  seine  Vernichtung  kein  neues  Leben 
schenken.  Strome  von  Leben  konnen  noch  aus  der  Leiche  Frank- 
reichs entstehen,  aber  die  Leiche  Deutschlands  wird  der  Pestherd 
Europas  werden.  Ein  Volk,  das  sein  Ideal  verloren  hat,  kann  sich 
nicht  selber  erneuen.  Sein  Tod  wirkt  nicht  befruchtend;  alle,  die 
seine  giftigen  Ausdiinstungen  atmen,  werden  von  dem  todlichen  Ubel 
mitbetrcffen.  Armes  Deutschland,  Gott  schuttet  iiber  dich  wie  iiber 
uns  die  Schale  seines  Zornes  aus,  und  der  denkende  Geist  beweint 
dich  und  bereitet  deinen  Grabspruch  vor,  wahrend  du  frohlockst, 

Erschienen  am  3.  Oktober  1 871  in  ,Le  Temps'. 

891 


Mixed  Gdll  von  Rudolf  Arnheim 

Ein  Aertfebuch 

W/er  sich,  in  die  Abenteuer  des  Ungeistes  unfreiwillig  hineingezogen, 
"  noch  dtie  Lust  an  den  Abenteuern  des  Geistes  bewahrt  hat,  lese 
Rudolf  Thiels  Buch  „Manner  gegen  Tod  und  Teufel"  (Paul  Neff  Ver- 
lag,  Berlin).  Es  enthalt  die  Lebensgeschichten  beriihmter  Arzte,  von 
Vesalius  bis  Ernst  von  Bergmann.  Nicht  der  friedliche,  stille  Onkel 
Doktor  am  Krankenbett  wird  hier  gezeigt,  sondern  eine  Phalanx  ge- 
walttatiger  Besessener  larmt  durch  die  Jahrhunderte,  Landsknechte 
der  Ketzerei,  die  den  Staub  aus  den  Universitatsperiicken  klopfen, 
jeder  mit  einer  verlacbten  Schrulle  behaftet,  die  dann  nach  Jahrhun- 
derten  ein  solides  Instrument  der  Schulmedizin  wird.  In  keinem 
Fach  wirkt  der  Kampf  um  These  und  Antithese  dramatischerf  an- 
schaulicher;  denn  hier  flieBt  fiir  jeden  Irrtum  Blut,  und  jeder  gute 
Gedanke  bannt  den  Tod.  Wissenschaft  auf  hochster  Alarmstufe:  Pet- 
tenkofer  schluckt  Cholerabazillen,  um  eine  falsche  Theorie  zu  bele- 
gen,  Bergmann  kampf  t  mit  Mackenzie  um  den  Kehlkopfkrebs  Fried- 
richs  IIL,  Semmelweis  sucht  —  spannendstes  Kapitel!  —  in  tragi- 
scher  Blindheit  nach  der  Ursache  des  Kindbettfiebers,  t  bis  er  er- 
kennt,  dafi  er  durch  den  eignen  Forschungstrieb  Hunderte  von  Woch- 
nerinnen  getotet  hat,  indem  er  mit  seinen  Handen  das  Gift  sezierter 
Leichen  ubertrug.  Auenbrugger  trommelt  unter  dem  Spott  der  Kol- 
legen  auf  den  Patientenkorpern  herum  und  schreibt  dann  das  grund- 
legende  Werk  tiber  den  PerkussionsschalL  Und  wenn  Albrecht  von 
Haller  die  Pulsschlage  zahlt,  so  erscheint  das  den  Zeitgenossen  nicht 
sinnvoller,  als  wenn  heute  ein  Brief trager  die  Treppenstufen  jedes 
Hauses  zahlen  wollte.  Sehr  seltsam  verwischt  sich  fiir  uns  spate 
Beobachter  der  Unterschied  zwischen  gelerntem  und  ungelerntem  Arzt: 
Vesalius  studiert  an  der  gelehrten  Universitat  Padua  die  falsche 
Anatomie  des  Galenos,  und  es  kostet  ihn  dann  heftige  Kampfe,  auch 
mit  sich  selbst,  bis  er  sich  gegen  die  heilige  Autoritat  zu  dem  be- 
kennt,  was  er  am  Sektionstisch  auf  den  ersten  Blick  gesehen  hat;  um- 
gekehrt  steckt  der  ungebildete  Bauer  PrieBnitz,  unbekiimmert  um  die 
Anfeindungen  der  Zunftigen,  seine  Patienten  in  kaltes  Wasser,  griin- 
det  eine  Anstalt,  die  in.  alien  Einzelheiten  verdachtige  Ahnlichkeit 
mit  dem  Zeileis-Institut  hat,  und  schafft  der  Medizin  trotzdem  eine 
brauchbare  Heilmethode. 

Rudolf  Thiel  erzahlt  sehr  lebhaft  und  mit  einem  geschickten  Sinn 
fur  die  charakteristische  Anekdote.  Er  hatte  es  nicht  notig,  auf  eine 
etwas  altmodische,  an  Studentenlieder  und  Studienrathumor  gemah- 
nende  Art  malerisch  und  forsch  zu  "plaudern.  Wir  schatzen  fiir  solche 
Darstellungen  heute  eine  ktihlere,  mehr  dokumentarische  Erzahlungs- 
form.  Und  so  scheint  uns  besonders  packend  etwa  die  einfache  und 
ziemlich  ausfuhrliche  Schilderung  der  Experimente,  die  im  Jahre  1628 
William  Harvey  zu  der  tollkiihnen  Oberzeugung  brachten,  dafi  die 
Arterien  nicht  Luftgefafie  sondern  Blutgefafie  seien  und  dafi  das 
Blut    in    einem    geschlossenen    Kreislauf    durch    den    Korper  pulsiere. 

JSin  Photobuch 

Siebzigtausend  Photographien  sind  bei  den  Herausgebern  des 
Jahrbuchs  „Das  Deutsche  Lichtbild'1  (Verlag  Robert  &  Bruno  Schulz, 
Berlin  W  9)  diesmal  eingegangen*  „Etwa  zweitausend  photographisch 
einander  gleichwertige  Spitzehleistungen  kamen  in  die  Endrunde,  so 
dafi  aus  r£umlichen  Griinden  nur  knapp  ein  Zehntel  des  ausgesiebten 
Materials  Aufnahme  finden  konnte."  In  diese  Verlegenheit  ware  die 
Jury  eines  Gemaldewettbewerbs  sicherlich  nicht  gekommen.  Ein 
Zeichen  dafiir,   dafi   es  in  der  Photographie  nicht  wie  in   den  ubrigen 

892 


Kiinsten  eine  Wertpyramide  rait  sehr  schmaler  Spitze  gibt  sondern 
ein  breites  Plateau  untibertreffbarer  Qualitatsarbeit;  was  nicht  so  sehr 
fur  die  Photographen  als  gegen  die  Entwicklungsmoglichkeiten  der 
Bildphotographie  spricht.  Zweitausend  Spitzenleistungen  ergeben,  im 
aristokratischen  Reich  der  Kunst,  keine  Spitze.  Dazu  paBt,  daB  niai* 
schon  jetzt  von  Fortschritten  auf  diesem  Gebiet  kaum  noch  sprechen 
kann,  wobei  man  allerdings  nicht  vergessen  darf,  daB  die  Photo- 
graphen eben  dabei  sind,  die  Farbe  zu  erobern.  Schon  fiir  den 
nachsten  Jahrgang  kiindigt  das  ..Deutsche  Lichtbild"  Farbenphotos 
an,  und  wir  haben  erst  dieser  Tage  an  einem  farbigen  Tierfilm  der 
Ufa  gesehen,  daB  man  jetzt  Farben  mechanisch  reproduzieren  kann, 
ohne  daB  ein  gif tiger  Regenbogen,  eine  aufdringliche  Aofelbackigkeit, 
entsteht.  Innerhalb  des  Schwarz-Weifi  aber  gibt  es  —  in  der  Bild- 
photographie! —  wenig  Oberraschungen  mehr,  wenn  auch  viel  Freude. 
Der  Hang  zu  efczentrischen  Bildeinstellungen  und  -ausschnitten  hat 
sich  gelegt.  pie  Kamera  ist  nicht  mehr  so  nervos,  und  der  Gegen- 
stand  regiert.  Vorbildlich  Cami  Stones  Rastelli-Aufnahme,  bei  der 
die  Einstellung  von  oben  gar  nicht  als  solche  auf f all t,  weil  sie  eine 
sehr  iibersichtliche  und  bezeichnende  Ansicht  des  graziosen  Ballspie? 
Iers  bringt.  So  findet  man  auf  den  besten  Blattern  den  Gegenstand 
mit  photographischen  Mitteln  gedeutet,  ohne  daB  das  Mittel  un^ 
bescheiden  als  Zweck  auftrate.  Man  vergleiche  zwei  Aufnahmen  mit 
ahnlichem  Motiv:  Doktor  Heck  photographiert  eine  afrikanische  Land? 
schaft  mit  Leuten,  die,  wie  man  ohne  viel  Anteil  erkennt,  Neger  sindj 
daneben  ein  Bild  von  Martin  Munkacsi,  das  die  Schwarze  und  die 
federnde  Schlankheit  nackter.  Negerjungen  mit  plakathafter  Einfach- 
heit  vor  den  weifien  Hintergrund  schaumender  Meereswellen  stellt.  Die 
Photographie  kann  heute  nicht  mehr  sehr  stark  mit  dem  Reiz  fremd- 
artiger  Motive  rechnen:  die  marchenhaftesten  Morgenlander  haben 
wir  in  hundert  billigen  Magazinen  abgebildet  gesehen;  und  andrer- 
seits  sind  wir  abgestumpft  gegen  die  Verbluffung,  die  Oberflachen  all- 
tagiicher  Dinge  tauschend  reproduziert  zu  finden  —  wir  kennen  das 
von  Renger-Patzsch,  der  aber,  wie  sein  schones,  nicht  sehr  bekanntes 
Werk  iiber  die  nordische  Backsteingotik  (ein  Tip  fiir  Weihnachten!} 
beweist,  stets  mehr  als  die  Oberflache  gibt;  wir  kennen  das  von  Hel- 
mar  Lerskis  Riesenportrats  („K6pfe  des  Alltags",  Verlag  Reckendorf, 
Berlin),  die  allerdings  als  Haupteindruck  die  Erkenntnis  hinterlassen, 
wie  schlecht  doch  durchschnittlich  der  menschliche  Teint  ist.  Und 
so  gefallen  diesmal  im  „Deutschen  Lichtbild"  am  besten  einige  Blat- 
ter, die  nicht  einen  bestimmten  Typus  des  Photographierens  repra- 
sentieren  sondern  gelungene  —  teils  dem  Photographenf  teils  dem  Zu- 
fall  gelungene  Einzelleistungen  darstellen:  verschlungene  Olivenbaume 
von  Joachim  Fufi,  die  k  raft  voile,  vom  Rahmen  gut  aufgefangene  Be- 
wegung  von  Werner  Riehls  Portratkopf,  Paul  Ungers  gemordeter 
Frosch,  der  dem  Beschauer  wie  in  symbol ischer  Absicht  die  leichenr 
haft  bleiche  Bauchseite  weist,  und  Hugo  Erfurths  Wigman-Kopf,  so 
unmittelbar  aufschluBreich,  daB  man  mit  einem  „Pardon!"  zuklappen 
mochte,  als  sei  man  in  ein  fremdes  Badezimmer  getreten.  Schade, 
daB,  wie  die  Herausgeber  mitteilen,  die  Aktaufnahmen  aussterben; 
einmal,  weil  nackte  Madchen  das  Leben  verschonen,  und  zum  andern^ 
weil  der  sehr  formenreiche  Menschenkorper,  der  in  sich  kaum  Ton* 
akzente  bietet  und  daher  rein  vom  Licht  modelliert  werden  muB,  fiir 
den  Photographen  ebenso  wie  fiir  den  Maler  eine  hohe  Schule  ab- 
geben  kann.  Es  sei  noch  hingewiesen  auf  die  lehrreichen  technischen 
Anmerkungen  zu  j  eder  Photographie,  die  genaue  Auskunf t  iiber  das 
Plattenmaterial,  die  Belichtung,  den  Entwickler  etcetera  geben,  Nicht 
sehr  einladend  hingegen  ist  das  einleitende  Zwiegesprach  zwischen 
Bildredakteur  und  Kunstkritiker,  das  dem  zwischen  Faust  und  Wag- 
ner weniger  ahnelt  als  der  Verfasser,  Hugo  Sieker,  anzunehmen 
scheint, 

893 


Ein  Kinderbuch 

„Das  richtige  Himmelblau",  so  heiBt  ein  Band  Kinder  geschicht  en, 
den  Bela  Balazs  bei  Williams  &  Co,t  Berlin-Grunewald,  e,rscheinen 
lafit.  Das  richtige  Himmelblau  ist  gar  nicht  das  richtige  sondern 
ein  Farbstoff  fur  den  Tuschkasten,  aber  ein  wunderbarer;  denn  er 
bewirkt,  daB  iiber  dcr  gemalten  Landschaft  auf  dera  Blatt  Papier 
Mond  und  Sonne  leuchten  und  Wolken  ziehen,  Der  Filmmann  Balazs 
sieht  das  Wunderbare  da,  wo  ein  Abbild  Leben  gewinnt  und  in  die 
Wirklichkeit  eingreift:  die  gemalte  Sonne  warmt,  der  Mascbinenknabe 
Peter  kampft  gegen  den  wirklichen  Knaben  Peter,  der  kleine  Waren- 
hauseinbrecher  erstarrt,  urn  sich  vor  Entdeckung  zu  schiitzen,  zur 
Schaufensterpuppe,  und  die  Schaufensterpuppe  verscheucht  mit  erho- 
benem  Kniippel  den  Feind.  Man  kann  nicht  wissen,  wie  sich  die  Kin- 
der zu  diesem  Einbnich  des  Marchens  in  die  Wirklichkeit  stellen 
werden;  sie  staunen  iiber  Andersen,  sie  staunen  auch  iiber  eine  sehr 
irdische  Verbrechergeschichte,  aber  wenn  der  Schuldiener  ein  Feld 
romantischer  blauer  Blum  en  aus  der  Erde  stampft,  aus  denen  das 
Himmelblau  destilliert  wird,  so  konnte  das  den  Beckmesser  im  Kinde 
provozieren.  Balazs  zaubert  bezaubernd,  mit  einem  erstaunlicben  Auf- 
wand  an  bunten,  blitzenden  Requisiten,  aber  vielleicht  ein  bifichen 
zu  fingerfertig.  Vielleicht  werden  die  kleinen  Leser,  die  ja  viel  Ernst 
verlangen,  ihn  lehrerbaft  ermahnen:  „Eben  hast  du  wieder  gespielt. 
Ich  hab  es  wohl  gemerkt.  Ich  sehe  alles,"  Zweifellos  werden  sie  es 
billigen,  dafi  im  Zylinder  des  Lehrers  bei  feierlicher  Gelegenheit  ein 
Gewitter  losbricht,  so  dafi  ihm  Regenstrome  iibers  Gesicht  laufen. 
Aber  wenn  sie  horen,  daB  in  der  Fliegenschule  das  kleine  Einmaleins 
nicht  gelehrt  zu  werden  braucht,  weil  die  Fliegen  durch  ihre  Facetten- 
augen  jedes  Ding  vervielfacht  sehen,  so  werden  sie  nachdenken  und 
sich  erkundigen  und  dem  Autor  seinen  wunderhubschen  Einfall  als 
iible  Nachrede  ankreiden.  Kinder  sind  streng.  Wo  ubrigens  werden 
sie  sich  erkundigen?  Am  besten  bei  Professor  Richard  Goldschmidt, 
der  eine  „Einfiihrung  in  die  Wissenschaft  vom  Leben"  fur  Kinder  gg- 
schrieben  hat,  erschienen  1927  bei  Julius  Springer  —  bilderreich,  leb- 
haft,  fesselnd.  Ein  Buch,  das  geweckten  Kindern  heiBe  Kopfe  machen 
muB,  Denn  die  Natur  ist  der  groBte  Zauberer,  und  das  richtige  Him- 
melblau befindet  sich  halt  —  am  Himmel. 

Ein  Bufilandbuch 

Immer  wichtiger  wird  uns  RuBland.  Immer  notiger  brauchen  wir 
die  trostreiche  Uberzeugung,  daB  wenigstens  in  einem  der  Weltzentren 
die  Vernunft  kampft.  Und  so  schauen  wir  in  den  schonen  Bilder- 
atlas  „Der  Staat  ohne  Arbeitslose"  (Gustav  Kiepenheuer  Verlag,  Ber- 
lin), den  Ernst  Glaeser  und  F,  C.  Weiskopf  zusammengestellt  haben, 
wie  in  das  gelobte  Land,  265  gute  Photographien  sind  zu  einem 
systematischen  Bericht  vereinigt.  Es  hat  etwas  vom  Wunder  der 
Schopfungsgeschichte,  wenn  man  da  ein  beschriebenes  Blatt  Papier 
sieht:  Lenins  Entwurf  eines  Elektrifizierungsplans,  und  umblattert,  und 
schon  rauscht  das  Wasser  iiber  die  neuen  Staudamme,  schon  drehen 
sich  Riesenturbinen,  die  Gerippe  der  Autofabriken  und  des  moskauer 
.  Funkturms  ragen  in  die  Luft,  und  ein  unendliches  Rohr,  eine  Roh- 
dlleitung,  verbindet  das  Kaspische  mit  dem  Schwarzen  Meer,  Auf 
so  vielen  dieser  Photographien  reicht  der  abgebildete  Ge^enstand 
iiber  die  Bildgrenzen  hinaus:  Fabrikstadte  ohne  Ende,  neue  Eisen- 
bahnlinien,  Siedlungsblocks.  Das  neue  Stadtbild  bestimmen  die  Re- 
prasentationsgebaude  der  Arbeiterschaft;  in  den  groBfiirstlichen 
Parks  der  Krim  erholen  sich  Arbeiter  zwischen  Marmordenkmalern. 
Die  sportliche  Freude  am  Wettbewerb  fordert  das  Aufbauwerk:  wie 
auf  dem  Turfplatz  notiert  man  auf  grofien  Tafeln  die  Leistungen  der 
wetteifernden   Betriebe.     Das    anschauliche  Symbol,  der  Personenkult, 

894 


die  Freude  an  GleichmaU,  Marsch  und  Rhythmus  —  bei  uns  fur  die 
kapitalistischen  Zwecke  der  Kirchenreligion  und  des  Militarismus  miB- 
braucht,  dienen  dort  dem  neuen  Staat.  Roter  Militarismus,  rote  Reli- 
gion —  die  Lebensformen  sind  iiberall  dieselben,  aber  auf  den  Inhalt 
und  das  Ziel  kommt  es  an.  Wenn  Lenins  Standbild  auf  der  Moschee 
von  Samarkand  stent,  so  hat  ein  Gott  den  andern  abgelost,  GewiB, 
aber  die  Gesetzestafeln,  die  er  bringt,  sind  andrel  Wir  wissen,  dafi 
es  in  Rufiland  nicht  nur  das  gibt,  was  in,  diesem  Atlas  gezeigt  wird. 
Aber  wir  wissen,  daB  es  auch  das  gibt.  Und  wir  haben  nicht  den 
leisesten  Grund,   irgendwie  anspruchsvoll  zu  sein, 

Heg^Sl'ppe  Simon  von  Ignaz  Wrobel 

In  alien  Stadten  glaubt  man,  die  allgemeinen  Laster  und 
Obel  der  Menschen  und  der  menschlichen  Gesellschaft  seien 
grade  diesem  Ort  .eigentiimlich.  Ich  bin  niemals  irgendwo  ge- 
wesen,  wo  ich  nicht  gehbrt  hatte:  hier  sind  die  Weiber  eitel 
und  treulos,  sie  lesen  wenig  und  sind  schlecht  unterrichtet; 
hier  sind  die  Leute  neugierig  auf  alles,  was  einer  tut,  sie  schwat- 
zen  und  klatschen;  hier  vermogen  Geld,  Gunst  und  Laster  alles; 
hier  herrscht  der  Neid,  und  die  Freundschaften  sind  hier  wenig 
aufrichtig.  In  dieser  Art  geht  es  weiter,  als  ob  anderswo  diese 
Dinge  anders  waren.  Die  Menschen  sind  erbarmlich  aus  Nol- 
r  wendigkeit  und  glauben  hartnackig,  sie  seien  nur  aus  Zufall  so 
erbarmlich,  Leopardi 

F^ie  menschliche  Dumniheit  ist  international 

Waren  die  Dummen  friiher  konfessionslos  gefarbt,  so 
schimmern  sie  heute  in  alien  Farben  der  Nationalfahnen,  die 
den  Kontinent  bis  zur  Geistesschwachheit  verdummen.  Fran- 
zosische  Dumrnheit  schmeckt  anders  als  englische.  Zum  Bei- 
spiel  so: 

Wer  einen  einzelnen  Redakteur  mit  einer  falschen  Ein- 
sendung  hineinlegt,  macht  sich  einen  Spaft,  liberschatzt  aber 
die  Zeitung,  weil  er  sie  ernst  nimmt.  Aber  eine  ganze  Gruppe 
hineinzulegen . . .  Das  hat  im  Jahre  1913  der  inzwischen  ver- 
storbene  Journalist  Paul  Birault  gemacht.  Er  schrieb  an  die 
Abgeordneten  der  radikalen  Partei  Frankreichs  folgenden 
Zirkularbrief: 

„Sehr  geehrter  Herr  Abgeordneter! 

Dank  der  Freigebigkeit  eines  grofiherzigen  Spenders  sind 
die  Anhanger  Hegesippe  Simons  endlich  in  die  Lage  versetzt, 
fiber  die  Mittel  zu  verfiigen,  die  fur  die  Errichtung  eines  Denk- 
mals  benfitigt  werden.  Das  Denkmal  wird  diesen  Mann,  der 
seiner  Zeit  vorangeeilt  ist,  der  Vergessenheit  entreiBen. 

Von  dem  Wunsch  beseelt,  die  Jahrhundertfeier  dieses 
echt  demokratischen  Erziehers  mit  allem  biirgerlichen  Glanz 
zu  begehen  (Einfiigung  Ignaz  Wrobels;  entschuldigen  Sie* 
„civique"  gibts  im  Deutschen  nicht),  'bitten  wir  Sie  er- 
gebenst  um  die  Erlaubnis,  Ihren  Namen  in  die  Liste  der  Ehren- 
mitglieder  des  Comites   einzusetzen, 

Sollten  Sie  bei  der  Einweihungsfeier  das  Wort  ergreifen 
wollen,  werden  wir  Ihnen  das  gesamte  Material  zuganglich 
machen,  das  fur  Ihre  Rede  vonnoten  ist. 

Mit  den  besten  Empfehlungen 

Ihr  sehr  ergebener  . . ." 

895 


Die  Antworten  stromten  zu  Hauf. 

Ehrenmitglieder?  Das  wollten  sic  sein.  Eine  Rede  halten? 
Aber  mit  Wonne.  Ein  Abgeordneter  aus  den  Pyrenaen  bat 
sofort  urn  das  Material  fur  einen  Speech;  viele  andre  taten 
desgleichen, 

Nur  hatte  die  Sache  einen  kleinen  Haken.  Herrn  Hege- 
sippe  Simon  hat  es  nie  gegeben, 

Der  Journalist  hat  sicherlich  monatelang  an  diesem  Namen 
geknobelt,  und  fiir  ein  franzosisches  Ohr  ist  er  ihm  gradezu 
herrlich  gekingen.  Simon,  das  kann  man  leicht  behalten,  und 
Hegesippe,  das  klingt  etwas  altmodisch,  aber  nicht  zu  alt- 
modisch  , . ,  und  das  ganze  war  recht  vertrauenerweckend, 
etwa:  fortgeschrittner  Schuler  der  Ecole  Normale  Superieure. 
Und  so  fielen  sie  denn  in  Scharen  auf  diesen  Scherz  hinein. 
Der  SpaB  wurde  noch  ein  wenig  fortgesetzt,  Ort  und  Zeit  der 
Feier  wurden  bekanntgegeben,  und  es  strichen  denn  auch 
richtig  eine  ganze  Menge  Leute  zu  dieser  Stunde  in  je- 
nem  Park  umher  . .  . 

Geltungsbedtirfnis,  Eitelkeit  und  die  menschliche  Dumm- 
heit  der  Abgeordneten  hatten  sich  um  diesen  Kern  kristalli- 
siert,  den  Birault  ihnen  vorgeworlen  hatte. 

Dieser  Hegesippe  Simon  ist  in  Frankreich  sehr  bekannt; 
Sie  konnen  ihn  iiberall  zitieren,  den  verdienten  Mann,  Und 
das  lieB  nun  einen  andern  Journalist  en  nicht  schlafen, 

Man  unterschatzt  in  Deutschland  die  Intelligenz  der 
Action  -Francaise,  und  man  uberschatzt  ihren  Einflufi,  Die 
Franzosen  haben  einen  geistigen  Nationalismus,  der  nicht  in 
Mystizismus  verschwimmt,  etwas  bei  uns  ganz  und  gar  Un- 
vorstellbares.  Der  franzosische  Nationalismus  ist  auch  nicht 
otfensiv;  die  deutsche  Provinzpresse  liigt  systematisch,  wenn 
sie  das  behauptet,  was  ihr  diesbeziiglich  diktiert  wird.  Dieser 
Nationalismus  ist  auch  nicht  so  einfluBreich,  wie  die  jungen 
Franzosen,  die  mit  von  der  Partie  sind,  gern  behaupten;  ware 
es  so,  wie  sie  es  schildern,  dann  miiBten  wirklich  die.  ge- 
samte  Intelligenz  und  die  Majoritat  der  Studenten  Anhanger 
dieser  Gruppe  sein,  in  der  Maurras  den  Kopf  und  Daudet  das 
Maul  reprasentieren,  und  dann  gabe  es  heute  in  Frankreich 
keine  demokratischen  Verwaltungsbeamten  und  keine  links 
gerichteten  Lehrer  und  Richter  mehr.  Nun  ist  aber  ein  erheb- 
licher  Teil  der  Lehrer  auf  den  hohern  Schulen  demokratisch 
und  die  Majoritat  der  Volksschnliehrer  steht  einem  integralen 
Sozialismus  nahe,  der  in  Frankreich  gern  als  kommunistisch 
verschrien  wird,  .was  allerdings  eine  sanfte  Tauschung  dar- 
stellt.    Soweit  gut. 

Nun  hatte  die  Action  Francaise  da  einen  Mann  sitzen, 
Alain  Mellet    Der  dachte  sich  im  Jahre  1929  etwas  aus. 

Es  diirfte  vielleicht  bekannt  sein,  daB  der  Durchschnitts- 
Jranzose,  den  stammelnde  Obersetzer  gern  den  ,,mittlern  Fran- 
zosen" nennen,  keine  blasse  Ahnung  von  Geographic  hat,  Oslo, 
Koserow  und  Rio  de  Janeiro  ...  so  genau  kommt  das  bei  ihm 
nicht  drauf  an.  Diese  Schwache  wohl  kennend,  schickte  Herr 
Mellet  seinerseits  ein  Zirkular  in  die  Welt,  und  zwar  wandte 
er  sich  wieder  an  die  Abgeordneten  der  Linken.  (Dafi  ihm  die 

896 


Rechten  ebenso  auf  den  Leim  gegangen  waren,  ist  sicher;  er 
hatte  dann  nur  eine  andre  Leimsorte  wahlen  miissen.)  Der 
Brief  lautet  ein  wenig  gektirzt  so: 

„Hochverehrter  Herr  Abgeordneter! 

Wir  ruien  Ihr  Mitleid  und  Ihr  Gerechtigkeitsgefiihl  an, 
wenn  wir  Sie  bitten,  das  Folgende  mit  Aufmerksamkeit  zu 
lesen: 

In  diesem  unserm  zwanzigsten  Jahrhundert,  das  von  der 
lichtvollen  Idee  des  Rechts  erfiillt  ist,  seufzen  mehr  als  hun- 
derttausend  ungliickliche  Poldevianer  wie  die  Sklaven  unter 
dem  Joch  von  ein  paar  Dutzend  GroBgrundbesitzern. 

Wahrend  die  Manner  in  den  Fabriken  und  landwirtschaft- 
lichen  Betrieben  des  Auslands  arbeiten,  fiihren  die  Frauen, 
die  alten  Leute  und1  die  unmiindigen  Kinder  ein  Leben  wie  die 
Tiere.  Wir  sehn  keine  Hilfe  fur  sie,  es  sei  denn,  das  Welt- 
gewissen  nehme  sich  ihrer  an,  jenes  Gewissen,  das  wir  in 
Ihrem  Herzen,   verehrter  Herr  Abgeordneter,   anrufen. 

Wir  sind  naturlich  keine  Freunde  der  Sowjetrepublik, 
keine  Freunde  der  Ukraine,  durch  die  wir  zu  viel  gelitten 
haben,  aber  das  muB  doch  gesagt  werden:  solche  Greuel  waren 
selbst    dort,   heute,   nach   der   Revolution,  nicht   mehr   moglich. 

Und  darum  bitten  wir  Sie,  sehr  gee'hrter  Herr  Abgeordne- 
ter: helfen  Sie  uns!  Wir  wollen  von  Ihnen  keinen  Pfennig 
Geld,  sondern  etwas  viel  Wesentlicheres:  Ihre  moralische 
Unterstiitzung,  etwa  durch  ein  Schreiben,  das  wir  dann  im 
nachsten  Monat  der  dritten  Unterkommission  der  General- 
kommission  beim  Volkerbund  fiir  den  Schutz  der  nationalen 
Minderheiten  unterbreiten  konnen. 

Wir  danken  Ihnen  im  voraus,  sehr  geehrter  Herr  Ab- 
geordneter, fiir  Ihre  >Antwort,  die  wir  gleichzeitig  mit  den 
AuBerungen  Ihrer  Parlamentskollegen  aus  dem  groBen  Frank- 
reich  der  Revolution  nach  Genf  schicken  werden! 

Fur  das  poldevianische  Comite: 

Lyneczi  Stantoff.1     Lamidaeff/' 

Nun  hatten  die  Herren ,  Abgeordneten  nur  die  Unter- 
schriften  dieses  Hilfschreis  richtig  zu  lesen  brauchen:  die 
Action  Francaise  wird  in  Frankreich  kurz  ,LfA.F/  genannt, 
und  der  zweite  Mann  ware  also  nichts  als  ,L'ami  d'A.F/,  der 
Freund  der  Action  Francaise .  Der  erste  aber  heiBt,  wenn 
man  vorsichtig  boichstabiert:  Herr  Inexistantoff,  also  etwa: 
Herr  NichtvorhandowskL     AuBerdem  gibts  keine  Poldevianer, 

Doch  wuBten  die  Abgeordneten  dieses  alles  mitnichten, 
und  es  gab  einen  Hereinfall,  iiber  den  sich  Paris  monatelang 
amusierte. 

Sie  antworteten,  und  ob  sie  antworteten! 

Ein   sozialistischer  Abgeordneter  aus   den   Ardennen: 

„Ich  antworte  auf  Ihren  so  schmerzlich  bewegten  Appell, 
indem  ich  Ihnen  sage,  daB  ich  als  Sozialist  auf  Seiten  der  Opfer 
der  Unterdruckung  stehe,  MeinHerz  blutet  bei  dem  Gedanken, 
daB  sich  Menschen,  die  frei  und  glucklich  sein  sollten,  unter 
dem  Joch  der  Junker  kriimmen  und  seelisch  und  korper- 
lich  leiden." 

897 


„Es  ist  cine  Schande",  schrieb  ein  andrer,  „daB  in  unserm 
Jahrhundert  wiederum  Verbrcchen  begangen  werden,  die  die 
Idee  der  Menschheit  besudeln."  Dergleichen  fiel  ihnen  fix 
urid  fertig  aus  dem  Mund;  politische  Gedanken,  und  nun  gar 
erst  politische  Phrasen,  werden  ja  in  Serien  hergestellt,  und 
man  hat  sie  jederzeit  zur  Verfiigung,  Einer  fur  alte,  und  alle 
fur  keinen. 

Nun  klingt  doch  das  im  Franzosischen  so  schon,  es  rollt 
und  es  drohnt,  da  mufl  man  hineingetreten  sein: 

„Votre  cri  d'alarme  ne  peut  laisser  indifferent  un  membre 
du  Parlement  francais,  ancien  combattant  de  la  grande  guerre, 
descendant  de  ces  glorieux  ancetres  de  la  Revolution  qui  ont 
proclame  a  la  face  du  monde  les  droits  imprescriptibles  de 
l'homme  et  du  citoyen." 

Woriiber  wieder  jeder  seine  Witze  machen  darf,  jeder, 
nur  kein  deutscher  Nationalist,.  Weil  er  nicht  begreiftt  was 
denn  hier  so  dumm  karikiert  erscheint. 

Ajuch  ein  Kommunist  fehlt  nicht:  der  Genosse  Beron: 

„...  erlaube  ich  mir,  Ihnen  in  Erinnerung  zu  bringen,  da8 
die  kommunistische  Partei  der  Kammer  sich  mehr  als  einmal 
gegen  die  Unterdriickung  der  nationalen  Minderheiten  aus- 
gesprochen  hat,"    Gut.    Aber: 

„Mit  allem  Nachdruck  unterstreiche  ich  die  Stelle  inlhrem 
Brief,  in  der  Sie  sagen:  So  etwas  ware  bei  den  Russen  nach 
der  Revolution  nicht  moglich."     Wo  er  recht  hat,  hat  er  recht. 

* 

Fix  und  fertig.  Fix  und  fertig  liegen  die  Phrasen  in  den 
Gehirnfachern,  ein  kl einer  AnlaB,  ein  KurzschluB  der  Ge dan- 
ken,  und  heraus  flitzt  der  Funke  der  Dummheit. 

Wobei  noch  zu  bemerken  ware,  da6  man  vor  dem  Kriege 
fur  ein  Individuum  mobil  machen  konnte,  Heute  muB  es  schon 
ein  ganzes  Volk  sein. 

Die  Action  Francaise  hat  aus  diesem  SpaB  den  SchluB 
gezogen:  Da  seht  ihr  es  —  der  Parlamentarismus!  Nein,  sie  hat 
gar  nicht  verstanden,  was  sie  da  angerichtet  hat, 

Es  ist  wohl  so,  daB  die  Triebe  im  Menschen  schlummern, 
eine  dosende  Wache.  Anonym  sind  sie,  Wenn  sie  aber  ans 
Licht  treten,  nehmen  sie  einen  Namen  an,  Sehr  beliebt  ist 
heute;   Nationalismus, 

Der  Nationalismus  setzt  sich  aus  Motiven  zusammen,  die 
mit  ihm  nicht s  zu  tun  haben,    Er  heiBt  so.    Er  ist  keiner, 

DaS  Vierte  Reich  von  Bernhard  Citron 

l^Jrei  fundamentale  Widerspriiche  enthalt  diese  Notverord- 
*^  nung:  Sie  ist,  trotz  ihren  unpopularen  MaBnahmen  in  ge- 
wissem  Sinne  popular;  sie  soil  Schaden  einer  furchtbaren  Defla- 
tionskrise  heilen  und  bedient  sich  dabei  scharfster  deflationisti-. 
scher  Mittel;  sie  ist  der  letzte  Rettungsanker  des  kapitalisti- 
schen  Systems  und  hebt  die  wichtigsten  privatwirtschaftlichen 
Grundsatze  auf. 

Die  ,, Vierte1'  ist  zum  Begriff  geworden  wie  Beethovens 
,,Neunte"  —  von  Symphonie  kann  hier  allerdings  keine  Rede 

898 


sein.  Welches  Raunen  und  Raten  ging  durch  das  gauze  Volk, 
bevor  die  einschneidenden  Bestimmungen  erschienen.  Hier 
gab  es  Spannungsmomente,  die  ein  in  langwierigen  Parlaments- 
beratungen  durchgesprochenes  Gesetz  nicht  hervorrufen  kann. 
Als  der  Kanzler  ans  Mikrophon  trat,  die  Notverordnung  zu  er- 
lautern,  da  lauschte  gespannt  das  ganze  Volk,  als  horte  man  die 
SchluBrunden  des  Sechs-Tage-Rennens. 

Die  Krise,  unter  der  die  Welt,  vornehmlich  aber  die 
deutsche  Wirtschaft,  leidet,  ist  Schrumpfung  der  Warenpreise 
und  Verminderung  des  Arbeitseinkommens.  Tagiich  tauchen 
neue  Patentlosungen  auf.  Industrielle  Kreise  wtinschen  die 
deutsche  Inflation,  andre  die  Internationale.  Da  wird  eine 
neue  Renten-  oder  Binnenmark  empfohlen,  die  angeblich  nicht 
inflationistisch  wirken  soil,  die  Deflation  aber  beseitigen  will, 
Ein  Mann  vom  Rufe  Felix  Pinners  schlagt  Devalvation  vor 
und  stoBt  auf  den  Widerstand  aller  derjenigen,  von  denen  die 
Formel  Mark  gleich  Mark  zum  Dogma  erhoben  wurde.  Vor 
wenigen  Tagen  entwickelte  ein  Mann  von  Geist,  der  bekannte 
Rechtsanwalt  Doktor  Alfred  Friedmann,  seine  Abwertungs- 
theorie.  Er  mochte  die  Mark  an  den  amerikanischen  Weizen- 
preis  anhangen,  ein  Plan,  der  sich  von  der  Helff erichschen  Rog- 
genmark  nur  wenig  —  aber  noch  nicht  einmal  vorteilhaft  un- 
terscheidet,  Der  Mensch  denkt  und  Briining  lenkt.  Er  ver- 
sucht  den  Teufel  mit  dem  Beelzebub  auszutreiben,  die  Deflation 
mit  der  Deflation.  Merkwurdigerweise  klagt  zwar  der  Haus- 
besitzer  iiber  die  Mitsenkung,  der  Rentner  iiber  die  Zins- 
konversion,  der  Arbeitnehmer  iiber  Lohnkiirzung  und  der  Un- 
ternehmer  iiber  Preisabbau  —  aber  von  den  Millionen,  denen 
die  Deflationskrise  Quelle  alles  Unheils  zu  sein  scheint,  fiih- 
ren  die  Wenigsten  prinzipiell  Beschwerde  iibe^  die  Fortsetzung 
und  Vollendung  der  Deflationspolitik.  Warum  erschppft  sich 
die  Kritik  zumeist  in  Einzelheiten,  warum  geht  sie  nicht  aufs 
Ganze?  Man  hat  wohl  erkannt,  dafl  nicht  der  Deflationskurs 
an  sich,  sondern  nur  sein  unregelmaBiger  Weg  die  schweren 
wirtschaftlichen  Verheerungen  angerichtet  hat.  Die  Vierte 
Notverordnung  spielt  die  ausgleichende  Gerechtigkeit,  Ob  sie 
es  ist  und  sel^  kann,  wird  vorlaufig  eine  offene  Frage  bleiben. 

Das  Sonderbarste  aber  ist,  daB  eine '  mit  diktatorischen 
Vollmachten  ausgestattete  Regierung,  die  das  letzte  Hauflein 
des  alten  privatwirtschaftlich  denkenden  Biirgertums  vertritt, 
ihre  Macht  nicht  anders  zu  brauchen  weiB  als  durch  Anwen- 
dung  eines  sozialrevolutionaren  Programms,  das  alle  kapitali- 
stischen  Grundbegriffe  iiber  den  Haufen  wirft  Oberblicken 
wir  kurz  die  ausgesprochen  antikapitalistischen  Teile  der  Not- 
verordnung, Erster  Teil,  Kapitel  1,  enthalt  die  Bestimmungen 
iiber  .Anpassung  gebundener  Preise  an  die  veranderte  Wirt- 
schaftslage"*  Die  Preiskonventionen  werden  nicht  gebrochen 
aber  gelockert.  Die  gebundenen  Preise  sind  Erzeugnisse  des 
Hochkapitalismus,  dessen  Kartellwesen  gegen  die  Grundsatze 
des  Urkapitalismus,  gegen  das  Gesetz  von  Angebot  und  Nach- 
frage  verstoBt.  Hier  also  ist  nur  der  Versuch  gemacht  wor- 
den,  die  Folgen  dieses  Pseudokapitalismus  zu  mildern,  ohne 
allerdings  zu  dem  echten  fruhkapitalistischen  System  zuriick- 

899 


zukchren.  Kapitel  2  -soil  die  Bevolkerung  vor  Oberteuerung 
schiitzen.  Der  Preis-Diktator,  Oberbiirgermeister  Doktor  Gor- 
deler  aus  Leipzig,  soil  am  freien  Markt  eingrcif en,  die  Preis- 
festsetzung  lenken,  und  somit  eine  unkapitalistische  Zwangs- 
wirtschaf t  einfiihren.  Kapitel  3  behandelt  die  Zinssenkung.  Im 
ersten  Abschnitt  werden  die  Bestimmungen  iiber  den  Kapital- 
markt  getroffen,  die  Rechtsvertrage  einseitig  zugunsten  der 
Schuldner  aufheben.  Am  10.  November  schrieb  ich  in  der 
/Weltbuhne':  ,,Das  Verlangen  nach  einem  stabilen  Hochstzins 
ist  heute  mehr  als  die  romantische  Fordening  einer  ra- 
dikalen  Gruppe,  die  volkswirtschaftliche  Oberlegungen 
nicht  anzustellen  vermag,  EinfluBreiche  Kreise  der  Wirt- 
schaft wiinschen  Zinsherabsetzung,  die  Gegenstand  ernst- 
hafter  Erwagungen  im  noch  nazireinen  Kabinett  bildet. 
Grundsatzlich  ist  es  gleichgtiltig,  ob  als  Hochstzins  4  Pro- 
zent  (programmatische  Forderung  der  NSDAP.)  oder  6  Prozent 
(Verlangen  der  Wirtschaft)  ins  Auge  gefafit  ist/'  Einen  Monat 
spater  ist  dem  nur  hinzuzufiigen,  daB  den  Forderungen  der  Na- 
zis, und  den  Wiinschen  der  Wirtschaft  der  BeschluB  der  Regie- 
rung  gefolgt  isti  die  Herrschaft  'des  stabilen  ZinsfuBes  zu 
brechen,  Konnte  nicht  kraft  des  gleichen  Rechtes  eines  Tages 
iiberhaupt  jeder  Zinsendienst  abgeschafft  werden  oder  gleich 
das  Kapital  selbst  enteignet  werden?  Diese  durch  Notver- 
ordnung  zum  Gesetz  erhobene  Zinsenteignung  schielt  schon 
iiber  das  „Dritte  Reich"  hinweg  ins  „VierteM  hinein.  Der  zweite 
Abschnitt  des  dritten  Kapitels  iiber  den  Geldmarkt  stellt  einen 
verhaltnismaBig  sanf ten  Eingriff  in  die  Privatwirtschaft  dar.  Das 
Reich  errichtet  ein  Zwangskartell  fur  Kreditinstitute,  das  Soll- 
und  Habenzinsen  festsetzt,  um  eiherseits  den  Schuldner  vor 
Obervorteilung  zu  schiitzen  und  andrerseits  die  Gefahrdung  der 
Einleger  durch  tiberhohe  Zinsofferten  zu  verhindern. 

Im  Zweiten  Teil  der  Notverordnung,  der  von  der  Woh- 
nungswirtschaft  handelt,  wird  bereits  im  ersten  Kapitel  eine 
wichtige  privatwirtschaftliche  Bindung  aufgehoben.  Eine  zur 
Ablosung  der  Hauszinssteuer  neu  aufgenommene  Hypothek  ran- 
giert  vor  alien  andern.  GewiB  bessert  sich  der  Wert  des  Be- 
sitzes  durch  die  Beseitigung  der  Hauszinssteuer,  immerhin 
stellt  die  Bevorrechtigung  einer  zuletzt  hinzutretenden  Hypo- 
thek einen  sehr  bedeutsamen  Eingriff  in  das  Privatrecht  dar, 
Mietsenkung  und  Mietskiindigung,  die  in  den  Kapiteln  3  und  4 
vorzeitig  verfiigt  werden,  sind  nichts  andres  als  Aufhebung  giil- 
tiger  Rechtsvertrage.  Was  dem  Zweiten  Reich  recht  istf  mag 
dem  Dritten  bis  Vierten  billig  sein.  Vom  Mietzins  gilt  das 
Gleiche,  was  vom  Kapitalzins  gesagt  wurde:  zwischen  Zins- 
enteignung und  Kapitalbeschlagnahme  besteht  kein  grundsatz- 
licher  Unterschied.  Unter  Punkt  4  des  Agrarprogramms  der 
NSDAP.  vom  Marz  1930  findet  sich  auch  der  Satz;  „Verpfan- 
dung  von  Grund  und  Boden  an  private  Geldgeber  ist  verbo- 
ten."  Hitler  will  nicht ,  daB  der  „Geldwucherer"  auf  dem  Wege 
der  Subhastation  in  den  Besitz  des  deutschen  Bodens,  der 
,,keinen  Gegenstand  fiir  Finanzspekulationen  bilden  darf",  ge- 
langen  kann.  Die  Kautelen,  die  auf  Einschrankung  und  Aus- 
setzung  der  Zwangsvollstreckung  hinzielen,  finden  sich  im  Drit- 

900 


ten  Teil  der  Notverordnung.  Das  ist  also  eher  hitlerisch  als 
marxisch  gedacht.  Diese  nicht  neue  Idee  findet  sich  bercits 
im  3*  Buch  Mose,  Kapitel  25,  wo  von  dem  Jubeljahr  die  Rede 
ist.  Es  wird  dem  Volke  dort  aufgegeben,  sich  zu  unterstxitzen 
bei  der  Auslosung  verpfandeten  Grundeigentums.  „Wenn  aber 
jemand  keinen  Loser  hat,  und  kann  mit  seiner  Hand  so  viel 
zuwege  bringen,  daB  ers  lose,  so  soil  er  rechnen  von  dem  Jahre 
da  ers  hat  verkauft,  und  was  noch  iibrig  ist,  dem  Kaufer  wie- 
der  geben,  und  also  wieder  zu  seiner  Habe  kommen,"  Nicht 
ganz  so  radikal,  aber  ahnlich  wird  im  Dritten  Teil  der  Notver- 
ordnung bei  der  „Einstweiligen  Einstellung  von  Zwangsverstei- 
gerungen'*  verfahren,  indem  die  Zwangsversteigerung  eines 
Grundstiicks  sechs  Monate  ausgesetzt  werden  kann,  wenn  die 
Nichterfiillung  durch  die  wirtschaftliche  Gesamtlage  begriindet 
ist.    Es  ist  jetzt  halt  cin  Jubeljahr  fur  den  Schuldner. 

Man  mag  durch  unpopulares  Zupacken  popular  werden, 
auch  lieBe  sich  denken,  daB  eine  Deflationskrise  durch  die  De- 
flation selbst  heilbar  ist,  aber  die  Privatwirtschaft  mit  anti- 
kapitalistischen  Methoden  retten  zu  wollen,  das  ist  ein  Unter- 
fangen,  bei  dem  jede  Homoopathie  ein  Ende  hat.  Aus  dem 
Untergang  des  kaiserlichen  Deutschlands  wurde  jene  politische 
Scheinrevolution  von  1918  geboren,  aber  aus  dem  Untergang 
des  Kapitalismus  von  1931  erwachst  eine  soziale  Umwalzung, 
die  sich  unabhangig  zu  machen  beginnt  von  bestimmten  politi- 
schen  Tendenzen,  Briinings  Politik  hat  nicht  spontan,  sondern, 
zwangslaufig  das  Privatrecht  gebrochen.  Der  deutsche  Mensch 
ist  der  reine  Tor,  der  auf  dem  Gipfel  der  Not  den  heiligen  Gral 
des  Sozialismus  erblickt,  ohne  zu  fragen,  was  er  bedeutet.  Erst 
wenn  ihm  diese  Erkenntnis  kommt,  wenn  er  die  soziale  Revo- 
lution, in  der  er  lebt,  zu  erfassen  beginnt,  dann  wird  sich  der 
furchtbare  Zauber  des  Irrtums  losen,  der  ein  Volk  in  Not  und 
HaB  versinken  laBt. 

Media  in  Vita  von  Theobald  Tiger 

P\ie  lauft  rum,  die  mir  die  Augen  zudruckt: 
*^   eine  Krankenpflegerin. 

Ordnet  noch  die  Flaschchen  auf  dem  Nachttisch, 
wenn  ich  schon  hiniiber  bin. 

Leise  kreuzt  sie  meine  Hande  iibern  Bauch. 

Das  ist  ein  Beruf  wie  andre  auch. 

Jeden  Morgen,  wenn  ich  mich  rasiere, 
denk  ich  in  dem  Glanz   des  Lampenscheins, 
wahrend  ich  mich  voller  Seife  schmiere; 
jetzt  sinds  nur  noch  x  Mai  minus  eins, 

Und  da  steh  ich  voller  Schaum  und  Frommigkeit, 

und  ich  tu  mir  auBerordentlich  leid. 

Da,  wo  sich  die  Parallelen 

schneiden,  fliege  ich  dann  hin, 

Ach,  ich  werde  mir  doch  machtig  fehlen, 

wenn  ich  ein&t  gestorben  bin. 

Andern  auch  — ?     Wer  seine  Augen  aufmacht,  sieht: 

Sterben  ist,  wie  wenn  man  einen  Loffel  aus  dem  Kleister  zieht. 

901 


Bemerknngen 


J 


Im  Gefangnls  begrelft  man 

a,  Hebe  Genossen  und  Ge- 
nossinnen,  hicr  im  Gefang- 
nis  begreift  man  besser  als  drau- 
Ben,  wic  notwendig  die  Rote  Hilfe 
ist . . .  Aber  die  Ihr  draufien  seid, 
Ihr  habt  noch  die  Freiheit  — 
und  mancher  kann  nicht  sagen, 
wie  lange  noch  * . .  Euch  mochte 
icb  bitten  , . ." 

Da  mochte  ich  mitbitten. 

Die  zitierten  Satze  stammen  aus 
dem  ruhrenden  Brief  eines  Arbei- 
ters,  Georg  Keisinger;  die  „Rote 
Hilfe"  hat  ihn  veroffentlicht. 

Ober  meinem  Schreibtisch  hangt 
ein  Bild.  Drei  Straflinge  sind 
darauf  zu  sehn.  Und  darunter 
steht:  „Wir  erwarten,  daB  ihr  fiir 
uns  kampft,  wie  wir  fiir  euch  ge- 
k  amp  ft  haben," 

Sechstausend  sprechen  heute  so 
—  mehr  als  sechstausend.  Ich 
halte  es  einfach  fiir  eine  Dankes- 
schuld  an  diese  Manner  und 
Frauen,  daB  wir  helfen,  so  gut 
wir  konnen.  Hier  hilft  vor  allem 
Geld. 

Die  Rote  Hilfe  stellt  den  Leu- 
ten  Anwalte,  wenn  es  noch  nicht 
zu  spat  ist,  Sie  sendet  ihnen  Lie- 
besgaben  ins  Gefangnis.  Sie  hilft 
den  Familien  weiter,  die  von  die- 
sen  juristischen  VerwaltungsmaB- 
nahmen  am  schlimmsten  getrof- 
fen  werden.  Uber  manches  ware 
vielleicht  zu  streiten,  Aber  ich 
meine,  man  sollte  aus  einer  Soli- 
daritat  helfen,  die  da  bekundet: 

Was  ein  deutscher  Richter  an 
sogenannten  entehrenden  Strafen 
verhangt,  ist  fiir  uns  nicht  einmal 
eine   Ehre  —   es    ist   gleichgiiltig. 


Gleichgiiltig  seine  Meinung  iiber 
Landesverrat;  gleichgiiltig  seine 
feinen  Unterschiede  zwischen 
Oberzeugungsattentatern  und  ge- 
meinen  Verbrechern  — :  was  hier 
ausgefochten  wird,  ist  ein  Teil  je- 
nes  groBen  Kampfes,  der  heute 
quer  durch  die  Volker  geht.  Und 
zum  Kriegfiihren  gehort  Geld, 

Reich  sind  wir  alle  zusammen 
nicht.  Aber  hier  zehn  Mark  und 
da  zehn  Mark,  es  summiert  sich. 
Und  es  macht  die  besten  Vor- 
kampfer  unsrer  Sache  stark.  Die 
Geber  sind  in  Freiheit.  Wie  lange 
noch,  hat  der  Arbeiter  gefragt. 
Er  hat  ganz  recht;  wie  lange 
noch?  Bis  zur  nachsten  Notver- 
ordnung? 

Man  kann  fur  etwas  geben.  Man 
kann  aber  auch  gegen  etwas  ge- 
ben, Gebt  bitte  Mann  fiir  Mann 
und  Frau  fiir  Frau  ein  paar  Mark 
gegen  diese  Richter  und  fiir  unsre 
Gesinnungsf  reunde ! 

Die  Postschecknummer  der  Ro- 
ten  Hilfe  ist:  Berlin  109  676, 

Kurt  Tuckolsky 

Wunder  der  Wochenschau 

I  n  den  alten  „Fliegenden  Blat- 
*•  tern"  gab  es  das  Bild  vom  Ma- 
ler  Pinsel,  wie  er  den  Maler  Pin- 
sel  malt,  wie  er  den  Maler  Pinsel 
malt.  Es  war  also  ein  Selbst- 
portrat  des  Malers  Pinsel,  das  ihn 
zeigte,  wie  er  sich,  der  eben  sein 
Selbstportrat  malte,  malte,  Diesen 
dreimal  ineinander  geschachtelten 
Maler  Pinsel,  diesen  Pinsel  zur 
dritten  Potenz  sich  vorzustellen, 
ist  nicht  einfach.  Es  erzeugt  leich- 
tes  Schwindelgefuhl, 


Soeben  erschtenenl 


Fttr  den  Weihnacbtstlscht 


R.N.  Coudenhove-Kalergi's 

&tb0tt  bt§  £tbtu& 

enthalten  in  aphoristischer  Form  Coudenhove's  Lebensphilosophie 

Feinste  Geschenkausstattung  mit  einer  Portratzeichnung 

von  Olaf  Gulbransson 

Preis  M.  2.60 


KrMMtllch  in  alien 
Bachbandlansen  I 

902 


Poneuropa  verlag 

ieipiig/Wlen 


In  der  letzten  tonenden  Wo- 
chenschau  gibt  es  die  Reportage 
einer  Reportage.  Da  ist  Alfred 
Braun  zu  sehen,  wie  er(  als  Funk- 
Reporter,  eine  Probe  von  „Hoff- 
manns  Erzahlungen"  sieht.  In  to- 
nenden Bildern  wird  berichtet, 
wie  er  berichtete,  wir  konnen  ibm 
zuschaun  zuschaun,  werden  Zeuge, 
wie  er  Zeuge  der  Vorgange  ist,  zu 
deren  Zeugen  er  die  Radiohorer 
machte,  und  diirfen  miterleben,  wie 
er,  daB  (und  was)  er  sie  da  mit- 
erleben Iiefi,  miterlebt.  Unter 
anderm  horen  wir  auch  Max 
Reinhardt  vor  dem  Mikrophon 
und,  was  eine  besondre  Pikanterie 
ist,  doch  nicht  durch  dieses, 

Es  wird  hier  also,  ahnlich  wie 
beim  Maler  Pinsel,  die  Spiegel  ung 
der  Spiegelung  eines  Vorgangs  ge- 
geben. 

Aber  wenn  schon,  denn  schon. 
Warum  macht  man  bei  solcher 
Wiedergabe  der  Wiedergabe  eines 
Ereignisses  Halt  und  geht  nicht 
einen  interessanten  Schritt  weiter, 
namlich  den  zur  Wiedergabe  jener 
Wiedergabe  einer  Wiedergabe? 
Wie  kommen  der  Tonfilmope- 
r'ateur  und  seine  Heifer,  welche  die 
Reportage  iiber  die  Funkreportage 
fiir  die  Wochenschau  drehten,  da- 
zu,  unsichtbar  und  unhorbar  zu 
bleiben?  Man  konnte  doch,  da- 
mit  keiner  zu  kurz  komme,  die 
gewiS  sehenswerten  Hantierungen 
3es  Operateurs,  der  den  Funk- 
sprecher  aufnimmt,  aufnehmen  und 
zeigen,  wie  erf  indefi  er  tonfilmt, 
selbst  getonfilmt  (oder  sagt  man: 
tongefilmt?)  wird,  iiber  welchen 
Vorgang  dann  wieder  eine  Funk- 
reportage  zu  vernehmen,  ebenfalls 
nicht  schlecht  ware. 


Der  Mensch  ist  unersattlich  und 
die  Technik  grofl.  Da  sie  imstande 
ist,  alles,  was  geschieht,  inbegrif- 
fen  seine  Reproduktion,  zu  re- 
produzieren,  da  sie  es  ermoglicht, 
jedes  Ereignis  mitsamt  alien  Vor- 
gangen,  die  zu  seiner  Festhaltung 
in  Ton  und  Bild  dienen,  wie  eine 
Zwiebel  abzuhauten:  warum  nicht 
bis  zum  innersten  Kern  der  Zwie- 
bel vordringen?  DaB  es,  an  diesem 
Punkt  angelangt,  eine  furchter- 
liche  Enttauschung  geben  konnte, 
diese  Moglichkeit  besteht  aller- 
dings.  Aber  sie  besteht  schliefi- 
lich  bei  jedem  innersten  Kern. 
Deshalb  hutet  sich  auch  angst- 
lich,  wer  leben,  lieben,  den  Neben- 
menschen  ertragen  und  ins  Kino 
gehen  will,  den  Dingen  auf  den 
Grund  zu  kommen. 

Alfred  Polgar 

Hannoverscher  Roman 

r7\ir  Zeit  der  Romer  soil  man 
"  die  Wahrheit  lachend  gesagt 
haben.  Wer  hatte  gedacht,  diese 
gute  Eigenschaft  heute  bei  einem 
Hannoveraner  anzutreffen?  Karl 
Jakob  Hirsch,  friiher  Buhnenbild- 
ner  der  Volksbuhne,  stellt  in  sei- 
nem  ersten  Roman  („Kaiserwet- 
ter",  Verlag  S.  Fischer)  in  heiter- 
ster  Haltung  und  ernsthaftester 
Meinung  den  Inbegriff  einer  wil- 
helminischen  Stadt  vor  uns  hin. 
Da  rtihrt  sich  das  ganze  Theater 
eines  aufgeregten  Mittelstands  in 
der  Mitte  Europas,  der  seine 
Volkerwanderungszeiten  noch 

nicht  vergessen  hat.  Nun  wol- 
len  sie  andern  herrlichen  Zeiten 
entgegengefuhrt  werden.  Und  der 
Kaiser  kommt;  strahlend  von 
Hohenzollernwetter  nimmt   er  die 


Sie  werden  in  ieder  Branche 

Verkaufern  begegnen,  die  materialkundig  sind,  und  solchen,  die  ihre  Ver- 
kaufsobjekte  nur  von  aufien  her  kennen!  So  auch  im  Buchhandel!  Klaren 
Sie  selbst  Ihren  Buchhandler  auf  iiber 

die  B6  Yin  Rd-BQcher, 

wenn  Sie  merken,  daB  er  sie  noch  nicht  gelesen  hat. 

B6  'Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken  schreibt  keine  Unterhaltangslektiire, 
Seine  Bficher  sind  flir  Menschen,  die  seelisch  vorwarts  wollen! 

Weiteres  sagt  Ihnen  die  kostenlos  erhaltliche  Flugschrift  von  Dr.  jur. 
Alfred  Kober-Staehelin  „Weshalb  Bo  Yin  R&?a  Kober'sche  Verlagebuch- 
handlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

903 


Front  der  Strammen  und  der 
Gebiickten  ab.  Auch  ein  geisti- 
gcrer  Burger  der  Stadt,  jiidischer 
Rechtsanwalt,  wartet  lange  genug, 
bis  Ma  j  estat  vor  ihm  stehen 
bleibt  und  an  den  Mann  die 
Frage  aller  Fragen  richtet:  — 
Gedient  ?  Hirsch  gibt  Szenen 
von  kostlicher,  auch  trauriger  Ko- 
mik.  Allerhand  grofier  Kausal- 
zusammenhang  wird  im  Kleinen 
dargestellt,  Ein  Ameisenhaufen 
norddeutscher  provinzieller 

Schicksale.  Liebe  und  HaB  wech- 
seln  rasch,  Unzucht  und  Betrug 
flustern  hinter  dem  welfisch 
scharfen  Dialekt.  Dennoch  wird 
hier  mit  Interesse  noch  aus  dem 
letzten  Dummkopf  ein  Mensch 
gemacht.  Die  unheroischen  Hel- 
den  sind  ein  alternder  wollustiger 
Brieftrager  und  sein  auf  eine 
gleichmiitigere  Generation  vorbe- 
reitender  Sohn,  ein  schwermiiti- 
ger  Rechtsanwalt  und  sein  von 
vererbter  Musikalitat  unsicherer 
Sohn.  Dafi  Hirsch  den  christ- 
lichen  wie  den  jiidischen,  den 
proletarischen  wic  den  burger- 
lichen  Kreis  gleich  gut  darstel- 
len  kann,  beweist  eine  nicht  ge- 
wohnliche  Begabung.  Die  Schnitt- 
punkte  seiner  Kreise  wahlt  er 
mit  volkstiimlicher  Einfachheit, 
Zahllose  Liebesleute  erfiillen 
diese  Statten  von  der  Glocksee- 
straBe  bis  zu  den  Maschwiesen, 
denen  man  schon  am  Namen  die 
sprode  Wildheit  anhort;  Greise 
fliichten  aus  ihrem  Altersheim 
ins  Freudenhaus  zu  Kaffee  und 
Kuchen;  ein  morderisches  Paar 
steckt  seine  in  ein  Kabarett  ver- 
wandelte  alte  Muhle  in  Brand ; 
das  Leben  eines  Grundstiick- 
maklers  ergotzt  sich  zwischen 
Humor  und  Angst  an  der 
Schlechtigkeit  einer  Umwelt,  in- 
mitten  deren  er  sich  selbst  be- 
dauern  kann.  Die  vielen  ver- 
gniigten  oder  dunklen  Wellen 
dieser      Bewohnerschart       fangen 


sich  schliefilich  in  einem  grofien 
Strudelloch  ihrer  Stadt,  —  das 
ist  Haarmann,  Er  bildet  den  ge- 
heimen  Anziehungspunkt  einer 
Sedanfeier  auf  demFlufi,  in  des- 
sen  Tiefe  bald  die  Skelette  sei- 
ner Opfer  entdeckt  werden.  Nicht 
nur  ein  erlaubter  sondern  ein 
guter  Gedanke  des  Verfassers  ist 
es,  daB  er  die  Zeit  des  Massen- 
morders  schon  vor  dem  Kriege 
ansetzt.  Jener  gepflegte  Anwalt 
verteidigt  den  Haarmann,  er  er- 
kennt  die  Schuld  der  Gesellschaft 
an  ihren  Fruchten,  sie  geht  un- 
aufhaltsam  ihrem  Massengrabe  in 
Gasnebeln  entgegen.  Mit  fast  un- 
merklicher  Absicht  wird  an  den 
meisten  der  braven  Burger  und 
Beamten  ein  drohendes  Kains- 
zeichen  aufgedeckt,  sie  kommen 
nur  um  Haarbreite  an  irgend- 
einem  Verbrechen  in  ihrem  Le- 
ben vorbei.  Hirsch  erzahlt  das 
Mannigfaltige,  das  er  zu  sagen 
hat,  in  einer  reizvollen  Mosaik- 
form.  Die  Kapitel,  jedes  ein 
kleiner  Stein  fiir  sich  in  wieder- 
kehrenden  Farben,  haben  manch- 
mal  am  Ende  zuviel  AbschluB,  in' 
einer  umrandenden  Pointe.  Je- 
denfalls  ist  dies  ein  besonders 
witziges,  die  Vorkriegszeit  sicht- 
bar  machendes  Buch.^  Es  stellt 
bildhaft  stark  das  Heitere  ins 
Wiiste,  wie  in  dem  bezeichnenden 
Bilde  der  hubschen  Birke,  die 
fiber  die  Gefangnisraauer  zu  Han- 
nover ragt  und  den  Standort  des 
Schafotts  driiben  im  Hofe  angibt, 
Alfred    Wolfenstein 

Passionsmusik 

IWf  it  der  Zeit  kommt  alles,  selbst 
*■**  das,  was  man  sich  wiinscht. 
Dazu  gehort,  seitdem  es  eine  Bach- 
renaissance  gibtt  also  seit  fiinf- 
zehn  Jahren,  eine  Auffiihrung  der 
Matthaus-Passion  in  der  kleinen 
Besetzung,  die  unter  Bach  bei  der 
Enge      der     alten     Thomaskirche 


NIUI 

MAX  ERMERS 


VERLAG  DR.  H.  EPSTEIN 


VICTOR  ADLER 

AUFSTIEG  UND  GRdSSE  EINER 
SOZIALISTISCHEN  PARTE  I 

380  Seiten  Kart.  M  5.75,  Uelnen  M  7.25 


904 


selbstverstandlich  war.  Wir  kennen 
die  Zahl  der  Kopien  fiir  die 
Sanger  Bachs  und  wissen,  dafi 
hochstens  zwolf  bis  sechzehn  Stim- 
men  seine  Chore  gesungen  haben, 
die  wir  seit  Ochs,  Schumann,  Men- 
gelberg  von  zweihundert  bis  sechs- 
hundert  Stimmen  zu  horen  ge- 
wohnt  sind.  Welche  gotische 
Schonheit  miifite  eine  Auffuhrung 
der  Matthauspassion  enthiillen, 
die  mit  wenigen  erlesenen  Stim- 
men das  herrliche  Linienspiel  der 
Passionspolyphonie  mit  Ton  er- 
fiillt.  Die  Johannes -Passion  ist 
zwar  bereits  vom  alten  Stockhau- 
sen  mit  seinem  Schiilerchor  in  so 
kleiner  Besetzung  aufgefiihrt  wor- 
den,  aber  grade  sie  empfinden  wir 
heute  massenhafter:  als  das  groBe 
Drama  eines  religiosen  Aufruhrs, 
wie  es  Klemperer  voriges  Jahr 
grofiartig,  —  man  mufi  schon  sa- 
gen;  in  Szene  gesetzt  hat. 

Ganz  anders  ist  dagegen  die 
Passion  nach  Matthaus.  Der  alte 
Streit,  welche  der  beiden  Passio- 
nen  groBer  ist,  war  musikalisch 
niemals  zu  losen,  denn  wo  gibt  es 
in  der  einen  Passion  ein  Stuck, 
fiir  das  es  kein  gleichwertiges  Ge- 
genstiick  in  der  andern  gabe.  Da- 
gegen ist  es  moglich,  die  Werke 
nach  ihrer  Auffassung  zu  unter- 
scheiden,  und  da  ist  allmahlich 
die  Johannes-Passion  in  den  Vor- 
dergrund  geriickt.  Sie  ist  das 
Drama  eines  alttestamentarischen 
Prophetensturms,  wogegen  die 
nach  Matthaus  Bachs  grofite  Kan- 
tate  ist,  eine  protestantisch-pie- 
tistische  Musik  lyrischer  Verbun- 
denheit  mit  dem  Schicksal  eines 
milden  Martyrers.  Dagegen  ist 
die    H-moll-Messe,     wo    sie    am 


groBsten  ist,  katholisch.  In  Bachs 
Christentum  war  noch  einmal 
diese  ungeheure  Welt  alten, 
neuen  und  germanisierten  Chri- 
stentums  ganz  vorhanden,  die 
sonst  nur  noch  geteilt  moglich  ist. 
Von  der  Auffuhrung  der  Mat- 
thaus-Passion  als  Kammermusik- 
werk  erwartete  ich  aufier  der 
Reinheit  und  Individualbeseelung 
einer  jeden  Stimme  eben  dadurch 
die  Enthiillung  aller  jener  herr- 
lichen  Wundmale  der  Harmonik, 
an  der  grade  dieses  Bachwerk 
uberreich  ist.  Warum  war  nun  die 
Auffuhrung  am  Totensonntag  doch 
eine  Enttauschung?  Sie  in  die 
berliner  Petrikirche  gebracht  zu 
haben,  war  gewifi  ein  Verdienst 
mehr  der  Gemeinnutzigen  Vereini- 
gung  zur  Pflege  deutscher  Kunst; 
ihren  zweiten  Teil  auf  den  ber- 
liner Sender  zu  leiten,  war  gewiB 
das  eine  von  den  beiden  Ver- 
diensten  der  Funkstunde  urn  den 
Totensonntag.  Die  Enttauschung 
trat  aber  bereits  ein,  als  der 
magdeburger  Madrigal-Chor  in 
der  Starke  von  achtundzwanzig 
Stimmen  einsetzte,  statt  sich  mit 
den  sechzehn  Stimmen  Bachs  zu 
begniigen.  Achtundzwanzig  Stim- 
men —  das  ist  nicht  entfernt  das 
Verhaltnis  zwischen  groBem  Chor- 
werk  und  Kammerchorwerk,  wie 
wir  es  erwarteten.  Tm  Geiste  der 
alten  Thomaskirche  war.  der  Ver- 
zicht  auf  Solisten  eines  der  Ver- 
dienste  der  Auffuhrung.  Man 
hatte  aber  noch  einen  Schritt  wei- 
tergehen,  und,  wie  es  mit  groBer 
Wahrscheinlichkeit  der  Fall  war, 
einzelne  Soli  von  zwei  oder  drei 
Chorstimmen  singen  lassen  kon- 
nen.     Auch    dadurch    kame    noch 


Groszhammer  1  Uachitta  /  Karl ch en  Marx 
nOPlSChOSSC  WaffeninRot2^oM.  kart, 

Die  BomDe  ins  Goethe johr! 

„Voll  uncrhflrterWucht  derWelsheit  und  Explosion! 
Marx,  Nietzsche,  Tudiolsky,  Reimann,  Th.  Mann, 
der    Teufel,    Hltier    erkraxeln    die    Barrifcaden!" 

Verl.  BUCHERSTUBE  HANAU,  Main 

Auslief.  auch:  Komm.  G.  Brauns,  Leipzig 
und  Buchladen  Weidmann,  Frankfurt  a.  Ml 


905 


mehr  zum  Ausdruck,  dafi  die 
Matthaus-Passion  den  Charakter 
der  Totenfeier  eincr  pietistischen 
Katakombengemeinde  hat, 

Das  schmerzlichste  bei  den 
meisten  Bachauffuhrungen  ist  aber 
doch  immer  wieder,  wie  wenig 
religioser  Inbrunst  diese  nord- 
deutschen  Chore  fahig  sind.  Das 
singt  vom  Haupt  voll  Blut  und 
Wunden,  aber  weder  spurt  man, 
dafi  Blut  in  dem  Gesange  vergos- 
sen  wird,  noch  dafi  die  Wund- 
male  brennen.  Niemals  fiihle  ich 
so  stark  wie  bei  solchen  Aufftih- 
rungen,  was  doch  das  deutsche 
Volk  im  Grunde  fur  ein  ungetauf- 
tes  Volk  geblieben  ist,  Wirklich 
kein  Wunder,  dafi  einmal  in 
Deutschland  eine  politische  Partei 
Abstimmungstriumphe  erlebt,  die, 
wenn  sie  konsequent  ware,  am 
Tage  ihres  Sieges  am  Pariser 
Platz  den  ersten  Altar  fur  Thor 
wieder  herstellen  miiflte.  Getauft 
sein:  das  heifit  nicht  Kirchen- 
christ  sein,  das  heifit  Sinn  fur 
Humanitat,  fur  das  Leid  der  Welt, 
fur  dieAufopferung  haben.  Wahr- 
lich,  es  wird  noch  viel  Wasser 
aus  dem  Jordan  in  die  Elbe  flie- 
fien,  bis  die  verfehlte  Aktion 
Karls  des  Grofien  zum  Abschlufi 
kommt,  aus  magdeburger  Sachsen 
Christen  zu  machen. 

Felix  Stossinger 

Tekla  auf  der  Tour 

J^er    Glanz   ihrcr   Augen   verriet, 

dafi    der  Motor  ihres    Gehirns 

auf  hohen  Touren  war. 

Tekla  v.  Bodo 

Gepackschein  No.  1983 

Junkstunde*,  11.  November  1931. 


Der  wahre  Grund 

Gestatten  Sie  einem  ehemaligen 
aktiven  Offizier,  das  Wort  zu 
einer  Unsitte  zu  ergreifen,  welche 
schon  zahllose  Lacherlichkeit  im 
Ausland  in  bezug  auf  gewisse 
Deutsche  der  Nachkriegszeit  er- 
regt  hat,  namlich  des  kahlge- 
schorenen  Kopfes,  welchen  ganz 
oben  ein,  ich  mochte  sagen,  vollig 
mannbarer  Scheitel  ziert,  welcher 
sozusagen  ubergangslos  und  ohne 
tiefere  Begrundung  dem  milli- 
meterkurzen  Haar  entwachst. 
Diese  Unsitte,  soweit  es  sich  urn 
Zivilisten  handelt,  hatte  einst 
einen  tieferen  Sinn,  und  zwar  war 
es  uns  Of fizieren  verboten,  das 
Haar  anders  zu  tragen  als  nur 
wenige  Millimeter,  was  uns  ein 
gewisses  Problem  auferlegte, 
denn  man  war  ja  auch  nur  ein 
Mensch  und  wollte  hier  und  da 
die  Freuden  des  Daseins  im 
schlichten,  burgerlichen  Rock  ge- 
niefien.  Was  also  tun,  spricht 
Zeus?  ,  Man  beliefi  seinen  Schei- 
tel in  vorhandener  Ftille  und 
sorgte  daftir,  dafi  unterhalb  der 
Kopfbedeckung  (Helm,  Mutze) 
die  vorschriftsmafiige  Kurze  des 
Haares  zum  Vorschein  trat,  eine 
Frisur  also,  die  mehr  der  Not 
gehorchte  als  dem  innern  Triebe. 
Man  war  j  ederzeit  Offizier  und 
dennoch,  ohne  Kopfbedeckung, 
nicht  total  kahl  geschoren.  Dies 
der  wahre  Sachverhalt,  den  ich 
Sie  Ihren  Lesern  mitzuteilen 
bitte.  Dafi  diese  unsre  aktive 
Haartracht  heutzutage  ohne 
tiefere  Berechtigung  von  Burger- 
lichen  nachgeafft  wird,  fallt 
unserseits,  die  wir.  das  alte  Pa- 
nier  nach  wie  vor  hochhalten,  auf 
den  Boden  der  Verachtung  und 
wird  allseits  abgelehnt. 

Han&  Reimann 


Annette  Kolb  sdireibt;  Zu  den  anregendsten 
und  inter  ess  antesten  Badiern  des  Jahres  gehOrt 


P.       A. 

906 


B    R 


HEILIGE  UND  HEXER 

Glaube  und  Aberglaube  im  Land  des  Lamaismus. 
Nach  eigenen  Erlebnissen  in  Tibet  dargesteilt  von 

ALEXANDRA  DAVID-NEEL 

Mit  22Abbildungen.   Geh.  M  8.70,  Lein.  M  10.50. 
OCKHAUS        /        LEIPZIG 


Christen  unter  slch 

Bekanntlich  hatte  fur  Mittwoch 
abend  beim  Weifibrau  der  Penz- 
berger  Redner  Sommer  eine  Ver- 
sammlung  einberufen,  die  offen- 
sichtlich  den  Bibelforscherbestre- 
bungen  gait.  Im  Nebenzimmer  des 
Gasthofes,  das  zugleich  auch  Ver- 
einslokal  der  Fufiballabteilung  des 
Sportvereins  ist,  konnte  aber  die 
Versammlung  nicht  stattfinden,  da 
die  FuBballer  mit  Absicht  das 
Lokal  fur  sich  in  Anspruch  ge- 
nommen  hatten.  In  der  Gaststube 
war  ebenfalls  die  Abhaltung  der 
Versammlung  durch  die  demon- 
strative Anwesenheit  von  etwa 
30  Mann,  die  sich  aus  Mitgliedern 
aller  katholischen  Manner-  und 
Jungmannervereine  zusammensetz- 
ten,  unmoglich.  So  entschlofi  sich 
der  Redner,  ein  Fremdenzimmer 
zu  mieten  und  dort  seinen  „Jun- 
gern"  zu  predigen.  Er  erwartete 
sich  ihrer  etwa  60.  Aber  die  Mit- 
glieder  der  katholischen  Vereine 
ruhten  nicht  eher,  bis  die  Zahl 
der  Wissensdurstigen  auf  4  in 
Tolz  seit  Jahren  als  solche  be- 
kannte  Bibelforscher  und  2  Neu- 
gierige  zusammengeschmolzen  war. 
Alle  anderen  Interessenten  zogen 
wieder  ab.  Es  wan  somit  gelun- 
gen,  den  Erfolg  dieser  Bibelfor- 
scherattacke  rundweg  zu  vereiteln. 
Bei  kiinftigen  Gelegenheiten  rouB 
die  Beteiligung  der  katholischen 
Manner  an  solchen  Abwehr- 
aktionen  noch  durchschlagender 
sein.        Jdlzer  Kurier'  20.  11.  31 

Ein  bis  zwei  Stunden 
nach  dem  Tode 

SO,  S.!  —  Dieser  internatio- 
•  nale  Hilferuf  bittet  urn  Ret- 
tung  der  Seelen.  Wie  steht  es  nun 
mit  der  Seelenhilfe  bei  Rettungs- 


aktionen  fur  Verungluckte  und 
Hilfebediirftige?  Das  ,Korrespon- 
denzblatt  fur  den  kathol.  Klerus' 
(Wien)  bemerkt  richtig,  dafi  z.  B. 
bei  dem  furchtbaren  Eisenbahn* 
ungluck  bei  GoB  alle  moglichen 
Retiungsbeflissenen  zu  Hilfe  ge1 
rufen  wurden,  Rettungswagen, 
Feuerwehr,  Polizei,  Arzte;  nur  yon 
einem  Priester  horte  man  nichts! 
Konnten  nicht  auch  bei  uns,  wie 
es  kiirzlich  aus  Amerika  gemeldet 
wurde,  die  Rettungsanstalten  mit 
den  Pfarren  und  Klfistern  tele- 
phonisch  verbunden  werden,  da- 
mit  bei  Ungliicksfallen  auch 
Priester  verstandigt  wurden?  Wie 
mancher  Sterbende  k3nnte  noch 
die  heiligen  Sakramente  empfan- 
gen,  wie  mancher,  der  schon  fur 
tot  gehalten  wird,  noch  bedingt 
absolviert  werden,  da  doch  nach 
arztlichem  Urteil  bei  gewaltsam 
Getoteten  noch  nach  ein  bis  zwei 
Stunden  die  Anwesenheit  der 
Seele  angenommen  werden  kann, 
besonders  bei  Stromverungliickten 
oft  noch  nach  Stunden  das  Leben 
wieder  erwacht,  Konnten  nicht 
auch  —  naturlich  gutgesinnte  — 
Rettungsmannschaften  angel  eitet 
werden,  mit  Sterbenden  die  voll- 
kommene  Reue  zu  erwecken? 
Ware  es  nicht  auch  gut,  ofters 
iiber  das  Verhalten  bei  Ungliicks- 
fallen zu  predigen? 

,Das  Neue  Reich* 

Lfebe  Weltbuhne! 

Der  ehemalige  Kronprinz,  von 
Frau  Dodo  aufgeregt  befragt, 
wie  es  denn  mit  den  Juden  im 
Dritten  Reich  werden  und  ob  man 
sie  wirklich  ganzlich  kalt  stellen 
wiirde,  antwortete  begiitigend: 
„Aber  nein,  in  der  Musik  diirfen 
sie  bleiben!" 


Hinweise  der  Redaktion 

BOch^r 

Walter  Bauer:  Ein  Mann  zog  in  die  Stadt.  Bruno  Cassirer,  Berlin. 
Ernst  Ottwalt:  Denn  sie  wissen,  was  sie  tun.  Malik-Verlag,  Berlin. 
Arnold  Zweig    Junge  Frau  von  1914.    Gustav  Kiepenheuer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  15.20:  Jakob  Haringer  liest.  —  Langenberg  18.00:  Der  Kriminalroman* 
Hans  Reimann  —  Berlin  19.40:  Heutige  Dramaturgic  Alfred  Kerr.  —  20.30:  Worte 
in  Versen,  Karl  Kraus  —  Mittwoch.  Langenberg  2000:  Gestohlene  Musik,  Hans 
Reimann.  —  20.45:  Zeitgendssische  Dichtung.  —  Donnerstag.  Mtthlacker  21.(^0: 
Romantische  Improvisationen,  Willy  Haas  und  Hanna  Haas.  —  Munchen  15.40:  Be- 
gegnung  mit  Hamburg,  Carl  Zuckmayer.  —  Freitasr.  Breslau  17.20:  Die  Zeit  in  der 
jungen  Dichtung.  —  Berlin  21.00:  So  spricht  die  Zeit.  —  Sonn abend.  Berlin  19.35: 
Ich  komme  soeben  aus  der  Ttirkei,  Hellmut  v.  Gerlach. 

907 


Antworten 

Das  leipziger  Urteil  hat  tins  ncben  den  viclcn  personlichen  Schrei- 
ben  einc  Unzahl  Protestresolutionen  linker  Organisationen  eingebracht, 
fiir  die  wir  auch  an  dieser  Stelle  unsern  Dank  aussprechen.  Zwei 
dieser  Resolutionen  mogen  hier  folgen:  „Die  Ortsgruppe  Breslau  der 
Deutschen  Friedensgesellschaft  spricht  den  Schriftstellern  Carl 
von  Ossietzky  und  Walter  Kreiser,  die  fiir  die  Erfiillung  ihrer  jour- 
nalistischen  Pflicht  mit  Gefangnisstrafe  belegt  worden  sind,  ihre  Hoch- 
achtung  und  ihr  Vertrauen  aus.  Sie  ist  der  Ansicht,  dafi  das  Wohl 
des  deutschen  Volkes  am  besten  dadurch  gefordert  wird,  dafi  der  in 
Art.  148  der  Reichsverfassung  ausgesprochene  Grundsatz  der  Volker- 
versohnung  von  den  maBgebenden  Stellen  unter  alien  Umstanden  ver- 
treten  wird."  —  1tDie  in  Haverlands  Festsalen  am  Dienstag,  dem 
1.  Dezember  1931,  tagende  offentliche  Versammlung  der  KPD-Oppo- 
sition  sieht  in  der  Verurteilung  Ossietzkys  und  Kreisers  von  der  ,Welt- 
buhne1  einen  neuen  Vorstofi  gegen  die  Meinungsfreiheit.  Die  Verfol- 
gung  <Jer  kommunistischen  Presse  ist  in  Deutschland  zu  einer  alltag- 
lichen  Erscheinung  geworden.  Die  Verurteilung  der  Herausgeber  der 
♦Weltbiihne1  und  das  ergangene  Redeverbot  ist  ein  Beweis  fiir  die 
Fascisierung  der  Justiz,  Die  Versammelten  sprechen  den  Verurteilten 
ihre  Sympathie  aus  und  verlangen  die  sofortige  Zuriicknahme  des 
Redeverbots  und  Nichtvollstreckung  des  Urteils."  Von  den  Reden, 
die  auf  der  berliner  Protestversammlung  der  Deutschen  Liga  fiir  Men- 
schenrechte  gehalten  wurden,  ist  die  von  Alfred  Apfel  in  der  Nr.  11 
der  ,Menschenrechte\  des  Organs  der  Liga,  und  die  von  Manfred 
Georg  in  der  Nr.  88  der  .Chronik  der  Menschheit',  Schweidnitz  in 
Schlesien,  erschienen. 

Ernst  Toller.  Die  wiener  Mitglieder  der  „ Christian  Science" 
haben  das  Burgtheater  gebeten,  Ihr  Stiick  f,Wunder  in  Amerika",  das 
sich  mit  Mary  Baker-Eddie  befaBt,  nicht  zur  Auffiihrung  zu 
bringen,  Ahnliche  Proteste  hat  es  in  Berlin  gegeben.  Das 
hat  uns  eigentlich  noch  gefehlt;  was  der^  Kirche  recht  ist,  ist  dieser 
religiosen  Baker-Innung  billig,  Jeder  Mann  sein  eignes  Himmelreich. 
Das  Peinliche  an  diesen  Diktaturversuchen,  von  Moskau  tiber  das 
papstliche  und  f ascistische  Rom  bis  zum  Nationalismus,  ist  die  vor- 
getauschte  AusschlieBlichkeit  eines  Weltbildes,  dessen  Entstehung  man 
so  erzwingen  will,  Jeder  halt  das  seine  fiir  ()richtig",  und  keiner  duldet 
die  kleinste  Abweichung.  Was  eine  richtige  Ansicht  ist,  die  wird 
heute  sofort  zur  Religion.  Schade,  wir  werden  es  nicht  mehr  erleben: 
Freiheit  wird  einmal  sehr,  sehr  modern  werden.  Zur  Zeit  unterwirft 
sich  jede  Gruppe,  vor  Lust  stohnend,  den  Leitsatzen  eines  psycho - 
pathischen  Fiihrers  und  seiner  Burcauvorsteher,  Wie  sieht  ein 
Theaterstiidc  aus,  das  nirgends  mehr  aneckt?  Wie  die  zensurierten 
Filme. 


UBER  WEIHN ACHTEN  -  NEUJAHR, 

zum  Wintersport,  Pauschalfahrt  in  die  Tatra  incl.  Reise  hin  und 
zurUck,  voile  Pension  (erstklass.  KUche,  alle  Zimmer  flieBend 
kaltes  und  warmes  Wasser),  Bedienung,  Sporttaxe,  zwei  halb- 
tagige  SchlittenausflUge,  unentgeltliche  Skikurse. 

Ab  Berlin  14  Tag e  165.—,  20  Tage  200.—. 
Ab  Breslau  14  Tage  132.—,  20  Tage  165.—. 
Auskunft  fUr  Berlin  Pfalzburg  7657,  sonst  direkt. 

HAUS  GODAL,  LUBOCHNA,  TATRA 

908 


Verlag  Tradition,  Berlin.  Im  .Buchhandler-Borsenblatt'  vom  l,De- 
zember  veroffentlicht  ihr  eine  Ankiindigung  eures  neuen  Buches  t,Luft- 
krieg  1936'*  von  Major  Helders,  Das  Buch  schildere  die  „kommende 
Auseinandersetzung  zwischen  den  Machten  England  und  Frankreich", 
und  es  werde  „packend  und  mitreiBend  vorgefuhrt",  „wie  durch  die 
Tatkraft  eines  wirklichen  Mannes  —  des  Fuhrers  der  englischen  Luft- 
f lotte  —  Frankreich  auf  die  Knie  gezwungen,  Paris  in  einen  Trummer- 
haufen  verwandelt  wird".  Hier  jst  mal  wieder  der  Wunsch  der  Vater 
des  Gedanken,  oder  besser  gesagt;  der  Hafi  gegen  den  bosen  Erbfeind, 
England  siegt  und  damit  basta.  DaB  unter  einem  Luftkampf  beide 
Lander  gleich  stark  leiden,  ist  fur  einen  deutschen  Major  pazifistische 
Phantasterei.  Zu  welch  grotesken  Formen  sich  dieser  irre  HaB  ver- 
stergt,  davon  legen  die  besonders  fett  gedruckten  Zeilen  Zeugnis  ab: 
„Jeder  Deutsche  aber  wird  dies  Buch  lesen,  nachdenklich  und  er- 
griffen  mit  dem  heiBen  Wunsch  ,auf  den  Tag'  **.  Das  also  wird  der 
♦■Tag  der  Deutschen"  sein,  wenn  England  und  Frankreich  sich  in  die 
Haare  kriegen,  dieses  am  Boden  liegt,  und  der  Deutsche,  lachender 
Dritter,  dem  Besiegten  einen  FuBtritt  versetzt.  Feine  Helden  seid 
ihr  doch:  ihr  laBt  den  andern  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holen,  das 
ihr  vorher  ttichtig  geschiirt  habt. 

Braunhausler  Hitler.  Sie  wollen  nach  Rom?  Und  auch  andre 
Hauptstadte  Europas  wollen  Sie  besuchen?  Das  kann  Ihnen  gar  nichts 
schaden.  Wir  furchten  nur,  daB  Sie  auch  da  nur  unter  Ihresgleichen 
hocken  werden . . .  bleiben  Sie  zu  Hause. 

Strelitzer.  Zu  dem  Artikel  „Der  Troubadour  der  groBen  Dame* 
von  Hanns-Erich  Kaminski  in  Nummer  47  der  .Weltbuhne'  schreiben 
Sie  uns  eine  langere  Verteidigung  des  angegriffenen  Herrn  von  Reib- 
nitz,  Sie  betonen,  daB  sich  Herr  von  Reibnitz  in  Mecklenburg  groBe 
Verdienste  erworben  habe  und  daB  es  jetzt  dort  ganz  finster  werden 
wurde,  nachdem  ihn  die  Reaktion  zur  Strecke  gebracht  hat.  Aus 
Griinden  der  Gerechtigkeit  nehme  ich  von  Ihrem  Einspruch  gegen  die 
harte  Kritik  an  Herrn  von  Reibnitz  gern  Notiz.  Aber  von  dem,  was 
gegen  sein  Buch  gesagt  wurde,  ist  nichts  zuruckzunehmen.  Es  handelt 
sich  hier  nicht  nur  urn'  eine  politische  Frage,  sondern  auch  urn  eine 
solche  des  Geschmacks.  Herr  von  Reibnitz  hatte  sich  das  Buch  ver- 
kneifen  sollen, 

Leutnant  Scheringer.  Ihre  Mitverurteilten  befinden  sich  langst  in 
Freiheit.  Oberleutnant  Wendt,  der  zur  StraBer-Gruppe  gestoBen  ist, 
hat  seine  ganze  Haft  abgesessen,  wahrend  der  hitlertreue  Ludin  einige 
Zeit  vor  Ablauf  seiner  Strafe  vom  Reichsprasidenten  begnadigt  worden 
ist,  Sie  dagegen  hat  man  von  der  Festung  ins  Untersuchungsgefangnis 
gebracht  und  Ihnen  mehrere  Verfahren  angehangt.  Aus  dem  Bericht, 
den  Alexander  Stenbock-Fermor  und  Eugen  G,  Wewes  verfaBt  haben, 
geht  eindeutig  hervor,  daB  Sie  wegen  nichts  anderm  bestraft  werden 
sollen  als  wegen  Ihres  Ubertritts  zur  KPD,  denn  die  Anklagepunkte 
sind  mehr  als  hinfallig.  Wegen  Fluchtverdachts  und  Verdunkelungs- 
gefahr  werden  Sie  nicht  entlassen,  obwohl   Sie  bewiesen  haben,   daB 


ELIZABETH  RUSSELL  /  HOCHZEIT,  FLUCHT 
UND  EHESTAND  DER  SCHONEN  SALVATIA 

Roman. 

Diese  Geschichte  von  einem  weiblichen  Parsifal  1st  so  lustlg,  wie  man  es  sich  nur 
wUnschen  kann.  Man  lacht  beim  Lesen  oft  laut  auf.  Es  Ist  elner  jener  nicht  hSu- 
ftgen,  wirkllcn  unterhaltenden  Romane,  fur  den  man  dem  Ver- 
fasser  ebenso  dankbar  sein  muB  wie  Freunden.  die  uns  einen 
heiteren,  sorgenlosen  Abend  bereltet  haben.   .  Literarlsche  Welt, 


TRANSMARE  VERLAQ  A.G.,  BERLIN  W  10 


Lei  n  en 

4.80  RM 


909 


Sie  an  Flucht  nicht  denken,  und  obwohl  es  gar  nichts  zu  verdunkeln 
gibt.  Die  lacherlichsten  Kleinigkeiten  werden  Ihnen  als  Ausbruchsver- 
suche  angekreidet,  und  so  sitzen  Sie  denn  jetzt  in  einer  halbdunklen 
Zelle,  bekamen  sieben  Tage  Arrest  mit  „allen  zulassigen  Strafen", 
haben  Besuchssperre  undsoiort.  Man  bestraft  Sie  also  schon  jetzt, 
obwohl  man  Sie  wegen  der  angeblichen  Delikte  noch  gar  nicht  ab- 
geurteilt  hat,  man  bestraft  Sie  also  allein  wegen  Ihrer  Gesinnung. 
Denn  wenn  Sie  weiter  dem  Herrn  des  Braunen  Hauses  treu  geblieben 
waren,  hatte  sich  kein  Staatsanwalt  urn  Briefe  gekummert,  die  Sie  an 
Freunde  geschrieben  haben,  und  sicher  waren  auch  Sie  begnadigt 
worden. 

Theaterfrennd.  Die  zur  standigen  Einrichtung  gewordene  Krise 
im  wiener  Burgtheater  ist  wieder  einmal  „gelost".  Man  hat  Herrn 
Roebbeling,  den  Direktor  des  Deutschen  Schauspielhauses  in  Hamburg, 
zum  Burgtheaterdirektor  gemacht.  Geschaftsttichtig  soil  der  neue 
Mann  ja  sein,  aber  tiber  seine  kunstlerischen  Qualitaten  lafit  sich  zu- 
mindest  streiten.  Mercutio  Desbini  hat  in  der  Nr.  12  des  vorigen 
Jahres  bei  uns  einige  Aufklarungen  dariiber  gegeben,  die  wir  Ihrer 
nochmaligen  Lekttire  dringend  empfehlen, 

Palucca.  Bestimmt  wollten  Sie  in  der  Pauke,  die  zur  Begleitung 
Ihrer  Tanze  dient,  Handgranaten  nach  Polen  schmtiggeln.  Oder  auf- 
ruhrerische  Flugschriften.  Oder  der  Beifall  des  moskauer  Publikums, 
das  Sie  schon  bei  Ihrem  ersten  Auftreten  so  verdachtig  beklatscht  hat, 
hatte  Ruhe  und  Ordnung  gestort.  Oder  Pilsudski  ist  mehr  fur  Wig- 
man.  Oder  Ihr  Name  floBt  den  polnischen  Behorden  Mifitrauen  ein, 
weil  neulich  auf  Korsika  bei  dem  Dorfe  Palucca  Banditenunruhen 
stattgefunden  haben,  Oder  warum  hat  man  Ihnen  sonst  trotz  wochen- 
langer  Verhandlungen  und  trotz  der  Bemuhungen  der  polnischen  und 
der  deutschen  Gesandtschaft  in  letzter  Minute  das  Einreisevisum  ohne 
Angabe  von  Grunden  verweigert,  so  daB  Sie  die  ganze  polnische 
Tournee  absagen  mufiten?  Nicht  nur  in  den  groBen  Dingen  regiert 
der  Unsinn, 

Asiaticus.  In  der  ,Woche*  und  in  einer  ebenso  reaktionaren  Mo- 
natsschrift  sind  Artikel  veroffentlicht  worden,  deren  Verfasser  sich 
„Asiaticus"  nennt,  Sie  gebrauchen  dieses  Pseudonym  nun  schon  seit 
etwa  ftinf  Jahren  und  haben  auch  ein  Buch  unter  diesem  Namen  ver- 
fafit.  Da  Ihnen  eine  andre  Moglichkeit,  gegen  den  MiBbrauch  Ihres 
Namens  vorzugehn,  nicht  gegeben  ist,  stellen  $ie  hiermit  fest,  dafi  Sie 
nicht  das  geringste  mit  diesen  Artikeln  und  dem  Artikelschreiber  zu 
tun  haben, 

Karlsruher.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Theodor  Clement, 
Ebertstr.  6,  Telephon  120,  der  regelmaBige  Zusammenkiinfte  der  karls- 
ruher Weltbuhnenleser  in  die  Wege  leiten  will. 

Weltbuhnenleser  in  New  York  und  Umgebung,  die  Interesse  fur 
wirtschaftspolitische  Fragen  haben,  wollen  sich  bitte  in  Verbindung 
setzen  mit  Hans  R.  L.  Cohrssen,  4  West  90th  Street  New  York,  N.  Y. 
Phone:  Schuyler  4 — 8116. 


Manuskripte  stud  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Cbarlottenburjj,  Kantstr.  162,  zu 
richten;  es  wird  g-ebeten,  ihnen  Ruckporto  beizutegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auff  tthrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titelnu.  Text  im  Rahtnen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergnbe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortr&jren 
bleiben  fttr   alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitraye  ausdrlicklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantwortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin ; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  C  1,  Steinplatz  7757.   —  Postscheckkonto :  Berlin  11958. 
Baakkonto:    Darmstidter    u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVII.  Jahrgaog  22.  Dezember  1931  NonmerSI 

Trotzki  spricht  aus  Prinkipo  can  v.  ossietzky 

r\  cr  dicke  Chesterton  hat  eininal  in  bezug  auf  den  Rundf  unk 
■  den  herrlichen  Satz  geschrieben,  daB  Herr  Soundso,  wenn 
er  vom  Nordpol  her  spricht,  nicht  weniger  trivial  wirkt,  als 
wenn  man  ihm  aus  dem  Nebenzimmer  hort.  Da  die  hochst 
entwickelte  Technik  sich  vornehmlich  darauf  beschrankt,  tins 
gesprochene,  gedudelte  oder  gesungene  Idiotismen  zu  vermit- 
teln,  so  ist  es  also  nur  in  der  Ordnung,  dafi  der  Geist  den  alt  en 
Weg  iiber  das  Druckpapier  nehmen  and  ein  Genie  wie  Leo 
Trotzki  sich  in  einer  schmachtigen  Groschenbroschure,  fernab 
von  den  But  ten-  und  Halbifranz- Snobs  des  Weihnachtsmarkts, 
verstandlich  machen  muB.  Diese  Broschure  von  einem  Druck- 
bogen  ist  die  wichtigste  und  aktuellste  Schrift  dieser  Tage. 
(Leo  Trotzki:  MSoll  der  Fascismus  wirklich  siegen?"  zu  be- 
ziehen  durch  A.  Grylewicz,  Berlin-Neukoiln,  Brusendorfer 
StraBe  23.) 

Der  Verbannte  von  Prinkipo  hat  auch  heute,  wo  ihm  keine 
Suite  von  Politikern  und  Militars,  kein  Panzerzug  mehr  zur 
Verfiigung  stent,  seine  alte  Sprungkraft  nicht  eingebuBt,  Dieser 
Stil  blitzt,  wettert,  reifit  Wolkendecken  ein,  fahrt  zitternd 
Ungeduld  uber  eine  aufgepeitschte  Welt,  um  mit  pamphleti-* 
stischem  Elan  irgendwo  krachend  niederzusausen.  Trotzki 
wollte  eine  knappe,  skizzenhafte  Instruktion  fiir  seine  engern 
Anhanger  in  aller  Welt  schreiben  —  es  ist  ein  kleines  Welt- 
gericht  daraus  geworden. 

In  zwanzig  kurzen  thesenhaften  Abschnitten  mustert 
Trotzki  die  politische  Weltlage.  Nirgends  findet  er  die  Ar- 
beit erschait  ihrer  hist  oris  chen  Auf  gab  e  entsprechend  geriistet. 
Der  morbide  Kapitalismus  rafft  sich  im  Fascismus  noch  einmal 
zu  einer  letzten  blutigen  Abwehr  auf.  Es  steht  nicht  gut  um 
die  Sache  des  Kommunismus.  Da  ist  Spanien,  das  Land  der 
jiingsten  Revolution,  abet  die  Kommunistische  Partei  ist  machtlos 
und  bezieht  in  alien  Grundfragen  falsche  Position.  „Die  burger- 
liche  Revolution  wird  mehr,  als  siegegeben  hat,  nicht  geben  kon- 
nen.  In  bezug  auf  die  prole tarische  Revolution  hingegen  kann 
die  gegenwartige  innere  Lage  in  Spanien  vorrevolutionar  ge- 
nannt  werden,  aber  nicht  mehr  als  das."  Dann  eine  glanzende 
Auseinandersetzung  mit  England,  dessen  politischer  Oberbau 
hinter  den  Veranderungen  der  okonomischen  Basis  zuriickbleibt, 
das  bis  jetzt  weder  eine  revolutionare  noch  eine  fascistische 
Partei  kennt,  und  mit  Frankreich,  dena  ,,konservativsten  Lande 
nicht  nur  Europas,  sondern  wohl  der  ganzen  Welt".  Die  ver- 
haltnismaBige  Bestandigkeit  des  franzosischen  Kapitalismus 
erklart  Trotzki  aus  dessen  Riickstandigkeit,  aber:  „Der  Wi- 
derspruch  zwischen  Frankreichs  zweitrangi^er  Rolle  in  der 
Weltwirtschaft  und  seinen  ungeheuerlichen  Vorrechten  und 
Anspruchen  in  der  Weltpolitik  wird  sich  mit  jedem  Monat 
immer  deutlicher  offenbaren/'  Doch  fiir  den  Kommunismus 
sieht  Trotzki  einstweilen  keine  Chancen,  ebensowenig  wie  in 
den  Vereinigten  Staaten.     China  befindet  sich  in  einem  lan- 

1  911 


gen  UmwandlungsprozeB,  und  nur  Japan  kann  durch  sein 
mandschurisches  Abenteuer  in  cine  Revolution  gerissen  wer- 
den.  Die  Ereignisse  im  'Fernen  Osten  binden  Japan,  sichern 
die  $owjetunion  vor  akuten  Gelahren, 

Die  konkreten  Voraussetzungen  fiir  groBe  Umwalzungen 
findet  Trotzki  nur  in  Europa.  Vor  allem  in  Deutschland  liegt 
der  Schliissel  zur  internationalen  Lage,  ,,Die  okonomischen 
und  politischen  Widersprtiche  haben  hier  eine  unerhorte 
Scharfe  erreicht.  Die  Losung  riickt  heran.  Es  nahert  sich 
der  Moment,  wo  die  vorrevolutionare  Situation  umschlagen 
muB  in  die  revolutionare  oder  —  die  konterrevolutionare." 
Von  dem  Ausgang  wird  das  Schicksal  Europas,  ja  der  ganzcn 
Welt  abhangen.  Der  Fascismus  hat  seinen  Kulminationspunkt 
noch  nicht  erreicht;  er  ist  ein  Produkt  der  sozialen  Krise  und 
der  revolutionaren  Schwache  des  Proletariats,  die  sich  aus 
zwei  Elementen  zusammensetzt:  „Aus  der  besondern  histori- 
schen  Rolle  der  Sozialdemokratie,  dieser  allmachtigen  kapita- 
listischen  Agentur  in  den  Reihen  des  Proletariats  und  aus  der 
Unfahigkeit  der  zentristischen  Leitung  der  Kommunistischen 
Partei,  die  Arbeiter  unter  dem  Banner  der  Revolution  zu  ver- 
einigen/'  ,  Nun  beginnt  cin  polemisches  Ungewitter. 

Aui  die  KPD,  und  die  Komintern,  ihre  Patronin,  fallen 
dabei  die  Hiebe  hageldicht.  Die  KPD.  hat  mit  dem  Chauvinis- 
mus  gespielt,  den  echten  Fascismus  zum  Zwecke  marktschreie- 
rischer  Konkurrenz  nachgeahmt.  „Die  Kominternfiihrung  hat 
weder  etwas  vorauszusehen  noch  zu  hindern  vermocht  Sic 
reguliert  bloB  die  Niederlagen.  Ihre  Resolutionen  und  iibrigen 
Dokumente  sind,  leider,  nur  Photographien  des  Hinterteils  des 
geschichtlichen  Prozesses."  Welche  Stellung  gedenkt  die  Ko- 
mintern angesichts  der  heranruckenden  Entscheidung  einzu- 
nehmen?  Gar  keine.  Sie  will  erst  abwarten.  Denn  Konter- 
revolution  ist  bekanntlich  nicht  das,  „was  den  Weltimperialis- 
mus  befestigt,  sondern  das,  was  die  Verdauung  der  kommunisti- 
schen Beamten  stort".  So  kommt  man  mit  Warten  und  Aufschieben 
allgemach  der  Kapitulation  naher,  Schon  jetzt  wird  die  Formel 
vorbcreitet;  ,,Rechtzeitig  zuriickweichen,  die  revolutionaren 
Truppen  aus  der  Gefechtzone  herausfuhrep,  dem  Fascismus 
eine  Falle  stellen,  in  Form .  . .  der  Staatsmacht."  Und  jetzt 
fcolgen  diese  gewaltigen  Satze,  wie  mit  schrccklich  spitzen  Na- 
geln  in  das  Gewissen  der  russischen  Diktatorcn  getrieben: 
,,Wiirde  diese  Theorie  sich  in  der  Deutschen  Kommunistischen 
Partei  befestigen,  ihren  Kurs  in  den  nachsten  Monaten  bej- 
stimmen,  so  bedeutete  dies  seitens  der  Komintern  einen  Ver- 
rat  nicht  geringern  historischen  AusmaBes  als  der  Verrat  der 
Sozialdemokratie  vom  4.  August  1914,  dabei  mit  schrecklichern 
Folgen."     Moskau  ware  das  groBte  Opfer. 

Denn  der  Sieg  des  Fascismus  in  Deutschland  bedeutet 
den  Krieg  gegen  die  Sowjetunion.  Die  Niederringung  des  Pro- 
letariats wird  dem  Fascismus  auBenpolitisch  die  Handc  bin- 
den, er  wird  an  der  franzosischen  Reaktion  Halt  suchen  miis- 
sen.  „Hitler  wird  Pilsudski  ebenso  brauchen  wie  Pilsudski 
Hitler."  Und  der  deutsche  Biirgerkrieg  selbst?  Nebcn  dem 
deutschen  wiirde  sich  der  italienischc  Fascismus  ,,wahrschein- 

912 


lich  als  blasses  und humanes  Experiment  ausnehmen".  Des- 
halb  darf  es  kein  Zuriickweichen  geben.  „Fiihrer  und  Institu- 
tionen  konnen  zuriickweichen.  Einzelne  Persqnen  konnen  sich 
verbergen,  Aber  die  Arbeiterklasse  wird  angesichts  des  Fascis- 
mus  nirgends  zuriickweichen  und  nirgends  sich  verbergen 
konnen." 

Noch  ist  Widerstand  moglich.  Noch  hat  der  Fascismus 
nicht  die  Macht,  noch  hat  sich  ihm  der  Weg  zur  Macht  nicht 
geoffnet.  Deshalb  sind  alle,  die  das  „strategische  Zuriick- 
weichen"  predigen,  „unbewuBte  Agenten  des  Feindes  in  den 
Reihen  des  Proletariats",  Was  hat  der  Fascismus  hinter  sich? 
„Das  kleine  Handwerks-  und  Handelsvolk  der  Stadt,  Beamten, 
Angestellte-  und  technisches  Personal.  Intelligenz  und  her- 
untergekommene  Bauern."  Doch  Trotzki  warnt  vor  der  Ober- 
schatzung  des  Sthnmzettels,  denn:  ,,Auf  der  Wage  des  revo- 
lutionaren  Kampfes  stellen  tausend  Arbeiter  eines  GroBunter- 
nehmens  eine  hundertmal  groBere  Kraft  dar  als  tausend  Be- 
amte,  Kanzlisten,  ihre  Frauen  und  ,Schwiegermiitter.  Die 
Hauptmasse  der  Fascisten  besteht  aus  menschlichem  Staub." 
Hitler  versteht  sich  gewiB  aufs  Prahlen.  MAber  seine  Auf- 
schneiderei  wird  zu  einem  militarischen  Faktor  erst  im  Mp- 
mentf  wo  die  Kommunisten  ihm  Glauben  schenken,  Mehr  als 
alles  ist  augenblicklich  eine  reale  Krafteberechnung  notwen- 
dig.  Woriiber  verfiigen  die  Nationalsozialisten  in  den  Betrie- 
ben,  bei  den  Eisenbahnen,  in  der  Armee,  iiber  wieviel  organi- 
sierte  und  bewaffnete  Offiziere?  Eine  klare  soziale  Analyse 
des  Bestandes  b eider  Lager,  standiges  und  wachsames  Ober- 
rechnen  der  Krafte  —  das  sind  die  unf ehlbaren  Quellen  des 
,  revolutionaren  Optim.ismus."  Also  auch  in  der  innern  Politik 
gibt  es  das  potentiel  de  guerre. 

So  zeichnet  Trotzki  mit  schneidenster  Scharfe  die  Situa- 
tion vor  dem  Entscheidungskampf  mit  dem  Fascismus,  So 
spricht  er  dem  Proletariat  und  seinen  Parteien  Mut  ein.  Und 
an  Moskau  selbst  richtet  er  zum  SchluB  die  starkste  Beschwo- 
rung,  daB  es  bei  einer  Machtergreifung  des  Nationalsozialismus 
keine  Neutralist  geben  kann:  „Fiir  den  prole tarischen  Staat 
wird  es  hier  im  direktesten  und  mittelbarsten  Sinn  urn  die  re- 
volutionare  Selbstverteidigung  gehen.  Deutschland  ist  nicht 
bloB  Deutschland.  Es  ist  das  Herz  Europas.  Hitler  ist  nicht 
bloB  Hitler . . .  Aber  auch  die  Rote  Armee  ist  nicht  bloB  die 
Rote  Armee.  Sie  ist  —  die  Waffe  der  prolet  arisen  en  Welt- 
revolution/' 

Die  Sprache  Leo  Trotzkis  ist  hart  und  klarf  seine  For- 
derungen  sind  unerbittlich.  DieserNalte  Theoretiker  und  Tech- 
niker  sozialistischer  Machtpolitik  bringt  fur  nahende  Entschei- 
dungen  gradezu  den  sechsten  Sinn  mit,  Dabei  ist  es  leicht 
genug,  das  Bild  von  der  Komintern  und  ihren  Leuten,  das  die 
HaBliebe  dieses  VerstoBenen  ins  MaBlose  verzerrt,  zu  korri- 
gieren.  Es  ware  nicht  weniger  leicht,  die  Tatsache,  daB  Rufiland 
heute  durch  seinen  industriellen  Aufbau  weltpolitisch  ge- 
hemmt  ist,  als  Gegenargument  ins  Treffen  zu  fuhren.  Es  soil 
nicht  versucht  werden.  Wer  Leo  Trotzki  heiBt  und  diese  histo- 
rische  Leistung  hinter  sich  hat,  der  hat  auch  das  Recht  zu 
hassen.      Und    es    ware    auch  lacherlich,    in   diese   brennende 

913 


Leidenschaft,  die  zur  Tat  aufruft,  wo  alles  zur  Waffenstrek- 
kung  ziemlich  bercit  ist,  einen  Fingerhut  kaltcn  Wassers  gieBen 
zu  wollcn.  Die  deutschen  Sozialisten  leben  in  der  Panik.  Die 
Einen  haben  sich  im  Opportunismus  verrannt,  die  Andern  in 
der  Radikalitat.  Die  Stimme  aus  Prinkipo  weist  ihnen  den 
Weg  in  die  Handlungsfr  eiheit.  Gewifi  ist  dieser  Prophet  nicht 
bequem,  seine  bose  kritische  Veranlagung  bei  dem  politischen 
Kindervergniigen,  das  unsre  Parteihauptlinge  aufftihren,  nicht 
erwtinscht.  Seine  Polemik  ist  schrecklich,  aber  sie  kommt 
von  sehr  hoch.  Diese  Hiebe  sind  die  Schnabelhiebe  eines 
zornigen  Adlers. 

Paul-BOHCOUr  hat  ReCht!  von  Hellmut  v.  Gerlach 

Am  6.  Dezember  1925  erklarte  in  der  dritten  Sitzung  der 
*^  vorbereitenden  Abrustungskommission  des  Voikerbundes 
der  Vorsitzende  dieser  {Commission,  der  franzosische  Abgeord- 
nete  Paul-Boncour,  im  Namen  seiner  Regierung: 

Man  muB  auch  in  Betracht  ziehen  das  Potentiel  de  Guerre,  das 
heiBt  die  Macht,  die  irgend  ein  Staat  in  die  Wagschale  werfen  kann 
an  dem  Tage,  an  dem  er  sich  des  internationalen  Verbrechens  schul- 
dig  macht,  das  heute  der  Angriff  darstellt.  Urn  dies  Potentiel  de 
Guerre  zu  berechnen,  muB  man  in  Rechnung  stellen  gewisse  geo- 
graphische,  wirtschaftliche  und  soziale  Elemente, 
Es  ist  bisher  historisch  noch  nicht  festgestellt,  ob  Paul-Bon- 
cour der  Vater  oder  nur  der  Adoptiwater  des  inzwischen 
historisch  gewordenen  Wortes  vom  Potentiel  de  Guerre  ist. 
In  Deutschland  gilt  er  jedenfalls  als  sein  Vater  und  wird  des- 
halb  von  alien  deutschen  Militaristen  mit  dem  Hasse  verfolgt, 
mit  dem  sie  jeden  beehren,  der  sie  zur  Liiftung  ihrer  Tarn- 
kappe  notigt-  Natiirlich  erstreckt  sich  dieser  HaB  auch  auf 
jeden  Deutschen,  der  Paul-Boncours  These  auch  nur  fur  dis- 
kutabel  erklart. 

Wer  in  Deutschland  vom  Potentiel  de  Guerre  im  positiven 
Sinne  zu  sprechen  wagt,  wird  wie  ein  kleiner  Landesverrater 
angesehn. 

Das  wird  den  Herren  Militars  und  Militaristen  dadurch 
erleichtert,  daB  es  sich  um  einen  schwer  iibersetzbaren  fran- 
zosischen  Ausdruck  handelt.  Wer  ihn  anwendet,  erscheint 
schon  um  deswillen  als  ,,Franz6sling'\ 

Da  das  Potentiel  de  Guerre  auf  der  bevorstehenden  Ab- 
riistungskonferenz  eine  hervorragende  Rolle  spielen  wird, 
ware  es  zweckmaBig,  wenn  die  Deutschen  sich  zu  ihrem  natio- 
nalen  Gebrauch  auf  den  gemeinverstandlichen  Ausdruck 
1fKriegspotenz*'  einigten-  Purist  en  konnten  freilich  auch  diese 
Verdeutschung  beanstanden.  Aber  das  Volk  weifl,  was  es 
unter  Potenz  zu  verstehen  hat.  Die  mannliche  Potenz  ist  der 
Inbegrifl  der  Manneskraft.  Die  Kriegspotenz  ist  der  Inbegrif  1: 
der  Kraft,  die  ein  Volk  in  die  Wagschale  des  Krieges  zu 
werfen  hat 

Eine  Binsenwahrheit  ist  es  natiirlich,  dafi  die  Kriegsent- 
scheidung  nicht  bloB  durch  die  bei  Kriegsausbruch  vorhande- 
nen  Truppen  und  Waffen  herbeigefiihrt  wird.  Zur  Kriegsmacht 

914 


im  engern  Sinne  tritt  die  Kriegskraft  des  gcsamten  Volkes  und 
Staates.  Die  Verbindung  von  Khegsmacht  und  Kriegskraft 
ist  die  Kriegspotenz, 

Den  ungeheuren  Unterschied  zwischen  Kriegsmacht  und 
Kriegspotenz  haben  die  Deutschen  1914  bis  1918  sehr  schmerz- 
haft  kennen  lernen  miissen, 

Sie  miBachteten  das  „Kramervolk"  der  Englarider,  weii 
es  nur  ein  minimales  Soldnerheer  besaB.  Selbst  Bismarck 
hatte  einst  auf  die  Frage,  was  er  bei  einer  Landung  der  Eng- 
ender in  Schleswig-Holstein  machen  wiirde,  spottisch  er- 
widert:  MDann  lasse  ich  sie  verhaften,"  Im  Laufe  weniger 
Monate  stellte  sich  heraus,  daB  die  Kriegspotenz  Englands 
groB  genug  war,  um  auch  zu  Lande  den  Deutschen  recht  viel 
zu  schaffen  zu  machen.  Das  Soldnerheer  war  ebeh  binnen 
kurzem   in  ein  Volksheer   umgewandelt  worden. 

Trotz  dieser  Erfahrung  miBachteten  die  Deutschen  sogar 
die  Amerikaner.  AIs  die  Gefahr  des  Eingreifens  der  Ver- 
einigten  Staaten  infolge  der  deutschen  Kriegsmethoden  akut 
wurde,  hohnte  Minister  Hergt;  ,,Sie  konnen  nicht  schwimmen, 
sie  konnen  nicht  fliegen,  sie  konimen  nicht  heriiber."  Bald 
darauf  wurde  das  Schicksal  des  Krieges  durch  die  Amerikaner 
entschieden,  von  denen  zum  SchluB  jeden  Monat  eine  Viertef- 
million  heriiberkam.  Die  Kriegsmacht  Amerikas  in  Friedens- 
zeiten  war  lacherlich  klein  gewesen.  Die  Kriegspotenz  seiner 
hundertzwanzig  Millionen  Einwohner,  seiner  Industrie  und 
seiner  Finanzen  war  ungeheuer. 

Die  deutschen  Afcriistungs-  und  Riistungsinteressenten —  was 
manchmal  auf  dasselbe  herauskommt  —  wurden  es  am  lieb- 
sten  sehen,  wenn  die  Genfer  Abriistungskonferenz  nach  deni 
System  des  kleinen  Einmaleins  verfiihre  und  den  Siegerstaaten 
kurzerhand  eine  Verminderung  ihrer  Heeresstarke  und  ihrer 
Waffen  auferlegte,  die  sie  moglichst  nahe  an  den  Deutschland 
in  Versailles  auferlegten  Riistungsstand  heranbrachte.  Jedes 
andre  Ergebnis  nennen  so  manche  yon  ihnen  schon  im  vor- 
aus  kuhnlich  einen  Vertragsbruch.  Und  sie  behaupten,  daB 
ein  in  ihrem  Sinne  negatives  Resultat  Deutschland  die 
Riistungsfreiheit   wiedergebe. 

Mit  andern  Worten:  sie  meinen,  daB  dann  unter  inten- 
siver  Beteiligung  Deutschlands  der  Riistungswettkampf  wieder 
beginnen  konne,  der  1914  sich  so  segensvoll  fur  die  Mensch- 
heit  ausgewirkt  hat. 

Naturlich  ist  das  nicht  etwa  die  „deutsche  These".  Aber 
leider  ist  es  die  These  recht  vieler  und  recht  einfluBreicher 
Deulscher, 

Ihr  gegeniiber  steht  die  fast  von  der  Gesamtheit  der 
Franzosen  geteilte  These  Paul-Boncours;  Rustungsminderung 
darf  nur  erf olgen  unter  Berucksichtigung  der  Kriegspotenz! 

Nehmen  wir  den  unmoglichen  Fall  an:  Frankreich  ware 
bereit,  sein  Heer  auch  auf  hunderttausend  Mann  herabzu- 
setzen  und  auf  die  Deutschland  verbotenen  Waffenarten  zu 
verzichten.  Konnte  dann  der  Unparteiische,  wie  es  bei  stu- 
dentischen  Mensuren  iiblich  ist,  die  traditionelle  Formel  aus- 
sprechen:  die  Waffen  sind  gut  und  gleich? 

2  915 


Nein,  die  Waffen  waxen  ungleich.  Deutschland  ware 
Frankreich  weit  iiberlegen.  Zu  dieser  Feststellung  bediirfte 
es  gar  keiner  Untersuchung,  Die  bloBe  Tatsache,  daB  Deutsch- 
land 64,  Frankreich  nur  40  Millionen  Einwohner  hat,  sprache 
schon  deutlich  genug. 

Das  weiB  auch  der  einfachste  Franzose,  Er  ist  unbedingt 
friedliebend,  Aber  er  hat  Angst  vor  einer  neuen  Invasion,  zu- 
mal  er  die  von  vielen  Deutschen  anscheinend  vergessene 
Kleinigkeit  noch  nicht  vergessen  hat,  daB  Deutschland  es  wan 
das  1914  unter  einer  liigerihaften  Begrundung  an  Frankreich 
den  Krieg  erklarte. 

Darum  schwarmt  der  Durchschnittsfranzose  zwar  fur  die 
tjEgalite'*,  er  erblickt  sie  aber  nicht  in  der  mechanischen 
Gleichmacherei  der  Heeresprasenz  und  der  Waffen,  sondern 
hochstens   in  dem   Ausgleich  der   Kriegspotenzen. 

Die  Abriistungskonferenz  kann  auf  keinen  Fall  urn  die 
Beriicksichtigung  der   Kriegspotenz   herumkommen, 

Technisch  wird  es  freilich  ungemein  schwer  sein,  den  Be- 
griff  Kriegspotenz  zahlenmaBig  zu  erfassen.  Otto  Lehmann- 
Russbuldt  hat  in  seinem  verdienstvollen  Buche  ,, Die  Revolution 
des  Friedens"  den  Versuch  gemacht,  einen  Index  fur  die 
Kriegspotenz  aufzubauen.  Jeder  solche  Versuch  ist  niitzlich- 
Aber  vorlaufig  wird  man  sich  mit  der  Aufstellung  dreier 
grundsatzlicher  Forderungen  begniigen  miissen; 

Anerkennung  der  Notw«ndigkeit,  die  Kriegspotenz  bei  der 
rein  technischen  Rxistungsmind'erung  zu  beriicksichtigen; 

Anerkennung  der  Notwendigkeit,  trotz  der  noch  unge- 
klarten  Frage  der  Bemessung  der  Kriegspotenz  schon  auf  der 
Abriistungskonferenz  zu  einer  wesentlichen  Verminderung  der 
technischen  Riistung  (der  Kriegsmacht  an  Mann  und  Material) 
zu  gelangen; 

Anerkennung  der  Notwendigkeit,  zunachst  einen  bestimm- 
ten  Prozentsatz  fur  die  Minderung  der  Heeresbudgets  fest- 
zusetzen. 

Die  Einigung  auf  diese  drei  Grundsatze  wiirde  eine  Syn- 
thesc  der  deutschen  und  der  franzosischen  These  bedeuten. 

Die  Abriistungskonferenz  kann  nur  einen  Anfang  f tir  die 
Weltabriistung  bringen.  Die  Fortsetzung  mit  dem  Endziei  der 
Abschaffung  aller  nationalen  Heere  und  ihrem  Ersatz  durch 
eine  Internationale  Polizeimacht  hat  zur  Voraussetzung,  daB 
inzwischen  eine  Internationale  Verstandigung  iiber  Begriff  und 
Inhalt  der  Kriegspotenz  erfolgt  ist. 

Die  gewaltigen  Schwierigkeiten  einer  solchen  Verstandi- 
gung werden  jedem  klart  der  die  Protokolle  der  vorbereiten- 
den  Abriistungskonferenz  durchmustert.  Schon  den  Wortlaut 
des  Fragebogens  iiber  die  Kriegspotenz  festzulegen,  machte 
erhebliche  Miihe.  SchlieBlich  einigte  man  sich  auf  folgende 
Fassung: 

Nach  welchen  Grundsatzen  wird  es  moglich  sein,  einen  Vergleichs- 
maCstab  fur  die  Rustungsstarke  der  einzelnen  Lander  zu  finden,  wenn 
man  Rechnung  tragt: 

der  Einwohnerzahl; 

den  Hilfsmitteln; 

der  geographischen  Lage; 

916 


der  Lange  und  Art  der  Seeverbindungen; 
der  Dichtigkeit  und  Natur  der  Eisenbahnlinien; 
den  angreifbaren  Grenzen  und  den  lebenswichtigen  Zentren  in 
der  Nahe  der  Grenzen? 
In  den  Unterkommissionen  A  und  B  sind  diese  Fragen  griind- 
lich   gepriift   worden.     Das  Ergebnis  war  insofern  betrublich, 
als  sich   bei  jedem    einzelncn  Punkt    die  Relativitat    aller  ir- 
dischen  Dinge  als   das  Haupthindernis   fiir   einen  brauchbaren 
VergleichsmaBstab  herausst  elite. 

Man  braucht  nur  eine  einzige  Unterfrage  herauszugreifen: 
bedeuten  Kolonien  eine  Vermehrung  oder  Verminderung  der 
Kriegspoteriz? 

Die  Antwort  hangt  ganz  von  der  weitern  Frage  ab,  wie 
die  Kolonie  im  Augenblick  des  Kriegsausbruchs  zum  Mutter- 
lande  steht.  Steht  sie  gut,  so  steigert  sie  seine  Kriegspotenz, 
indem  sie  unter  andenn  auch  Hilfstruppen  stellt.  Steht  sie 
dagegen  schlecht,  so  bedeutet  sie  eine  Minderung  der  Kriegs- 
potenz, weil  sie  das  Mutterland  zwingt,  einen  Teil  seiner  eig- 
nen  Truppen  in  der  Kolonie  zu  Lassen, 

Schon  fiir  die  materiellen  Elemente  der  Kriegspotenz  ist 
ein  Index  nur  unter  Zurechnung  einer  sehr  groBen  Summe  von 
Fehlerquellen  zu  begninden.  Wie  steht  es  erst  mit  den  im- 
materiellen,  vor  allem  mit  der  Psyche  der  Volker?  Wie  will 
main  das  Gewicht  von  Imponderabilien  leststellen?  Die 
Kriegspotenz  von  einer  Million  Albaniern  ist  wahrscheinlich 
der  von  zehn  Millionen  Chinesen  noch  stark  iiberlegen. 

Alle  Schwierigkeiten  der  Verwirklichung  der  These  Paul- 
Boncours  zugegeben  —  grundsatzlich  ist  sie  mit  Recht  auf- 
gestellt  worden. 

Deutschland  wiirde  sich  vor  der  Welt  ins  Unrecht  setzent 
wenn  es  das  hartnackig  bestreiten  wollte. 

Frankreich  seinerseits  wiirde  sich  ins  Unrecht  setzen, 
wenn  es  demnachst  in  Genf  jede  Riistungsminderung  unter 
Bezugnahme  auf  die  noch  fehlende  Definition  und  Beriick- 
sichtigung  der  Kriegspotenz  ablehnte.  DaB  seine  heutige 
Riistung  iibermaBig  ist  und  durch  ihr  ObermaB  der  Agitation 
der  deutschen  Nationalisten  Vorschub  leistet,  sehen  auch  in 
Frankreich  weiteste  Kreise  der  Linken  ein. 

Die  erste  Abriistungskonferenz  mufl  eine  fiihlbare  Her- 
absetzung  der  Kriegsmacht  und  damit  der  Riistungskosten 
bringen. 

Bis  zur  zweiten  Abriistungskonferenz  muB  ein  Index  fiir 
die  Kriegspotenz  unter  der  Autoritat  des  Volkerbundes  ver- 
einbart  werden.  Er  wird  jeder  mathematischen  Genauigkeit 
entbehren,  er  wird  nur  Annaherungswerte  vergleichen  kon- 
nen.     Aber  er  ist  unentbehrlich. 

Es  gibt  keine  Abriistungsfrage,  iiber  die  sich  nicht  ehrliche 
Freunde  der  Abriistung  einigen  konnten. 

Die  Frage  ist  nur:  Wer  wird  in  Genf  den  Ausschlag  geben, 
die  ehrlichen  Abriistungsfreunde  oder  die  als  Abriistungs- 
freunde  getarnten  Militaristen,  Imperialisten  und  Interessenten 
der  Riistungsindustrie? 

917 


Hitlers  Fliegerei  von  Hans  Wieland 

T\  ie  alarmierende  Nachricht  uber  die  Nazi-Luf  tf lottc  hat  bei 
vielen  der  Luftfahrt  fernstehenden  Zeitungslesern  zunachst 
unglaubiges  Staunen  oder  Hciterkeit  hervorgerufen.  Wer  die 
technischen  Moglichkeiten  der  Luftfahrt  priift  und  wer 
gleichzeitig  ein  wcnig  Bescheid  wcifi,  wie  es  um  die  Gesinnung 
der  meisten  maBgeblichen  deutschen  Luftfahrer  bestellt  ist* 
der  wird  das,  was  seit  einiger  Zeit  im  deutschen  Luftreich  be- 
trieben  wird,  der  groBteri  Aufmerksamkeit  fiir  wert  halten. 

Alle  ,,mit  der  Flugwaffe  ausgebildeten"  Mitglieder  der 
NSDAP  haben  Hitlers  Befehl,  sich  fiir  die  ,,nationalsozialisti- 
schen  Fliegerkorps"  bereit  zu  halten.  Das  ist  auch  von  der 
Parteileitung  unbestritten  und  nur  naohtraglich  als  harmlose 
Spprtpropaganda  bagatellisiert  worden.  Also  Flugwaffen- 
sport,  der  statt  in  Vereinen  sich  in  Korps  gliedert! 

Wenn  Du  denkst,  hier  miifite  doch  Vorbereitung  zum 
Hochverrat  gegeben  seiri,  so  irrst  Du.  Wer  hier  Landesverrat 
treibt,  das  sagt  Dir  zur  Warnung  Hugenbergs  Luftkarape,  Herr 
Wentscher,  der  sich  unheildrauend  im  ,Lokal-Anzeiger#  zu  der 
peinlichen  Enthiillung  auBert: 

Aber  die  Sache  hat  ihre  ernstere  Seite.  Ist  zwischen  der  ,Welt- 
buhne'  und  ihrer  ,,Etatskritik"  und  diesen  Linksschlagzeilen  noch  ein 
groBer  Unterschied?  Dort  wie  hier  wer  den  keine  „Geheimnisse"  ver- 
raten,  aber  das  Herausposaunen  einer  nicht  vorhandenen  Nazi-f)Luft- 
Hotte",  eines  in  Bildung  begriffenen  „Fliegerkorps"  ist  in  unsrer 
heutigen  Lage  dicht  am  Landesverrat.  Die  Form  ist  mafigebend  — 
und  daB  wir  alle  den  Schwindel  in  Genf  bei  den  Abriistungsverhand- 
lungen   vorgesetzt  bekommen   werden. 

Hier  wird  also  mit  zynischer  Dreistigkeit  gefordert,  die 
gegen  die  jWeltbuhne1  so  wirksam  bewahrte  Reichsgerichts- 
praxis  zu  erweitern  und  jeden  Kritiker,  der  unangenehme 
Wahrheiten  festzustellen  hat,  zum  Landesverrater  zu  stempeln. 
Der  alte  Gaunertrick,  ,,Haltet  den  Dieb!"  zu  rufen,  wenn  man 
auf  frischer  Tat  ertappt  wird,  wird  uns  nicht  hindern,  die 
Frage    zu   stellen,    was    in    Hitlers  Fliegerlager   vorgeht. 

Hitlers  Adjutant  ist  bekanntlich  der  fruhere  Fliegerhaupt- 
mann  Goering,  ubrigens  guter  Freund  des  oben  zitierten  Lan- 
desverrats-Sachverstandigen  Wentscher.  Goering  strebt  bereits 
seit  einer  Reihe  von  Jahren  nach  einer  eignen  hakenkreuzge- 
schmiickten  Fliegertruppe.  Da  das  Volumen  seines  Organi- 
sationstalents  im  umgekehrten  Verhaltnis  zu  dem  seiner  wohl- 
genahrten  Erscheinung  steht,  die  fiir  diesen  Luftadmirai  ein 
eignes  schweres  und  nach  MaB  gemachtes  Flugzeug  erfordert, 
so  hat  er  bisher  wenig  eriolgreich  herumdilettiert.  In  diesem 
Jahr  ist  ihm  Jedoch  in  Herrn  Doktor  Ziegler  ein  sehr  zielbe- 
wufiter  Heifer  entstanden.  iDoktor  Ziegler  hat  sich  seine 
Sporen  bereits  als  Geschaftsfuhrer  bei  der  vom  Reich  finan- 
zierten  Deutschen  Verkehrs-Fliegerschule  in  Braunschweig 
und  friiher  in  Berlin  verdient.  Seine  vormarzliche  Arbeitgeber- 
praxis   pradestiniert   ihn  fiir  das  Dritte  Reich. 

Dieser  Doktor  Ziegler  hat  vor  einigen  Monaten  den  „Na- 
tionalen  Deutschen  Luftfahrtverband"  gegriindett  ein  aus- 
schlieBlich  nationalsozialistisches  Parteiinstrument,    Wenn  mart 

918 


weiB,  daB  bcreits  cin  Deutscher  Luftfahrtverband  aus  der  Vor- 
kriegszeit  besteht,  der  zumindest  so  ..neutral"  ist,  daB  sich 
Deutschnationale  und  nicht  allzu  aktivistische  Hakenkreuzler 
darin  noch  sehr  wohl  fiihlen  konnen,  so  wundert  man  sich  nicht, 
daB  seitens  der  fliegenden  heuen  Volksbegliicker  von  ,,Flug- 
waffe"  und  von  „Fliegerkorps"  geredet  wird,  Denn  nur  unter 
diesem  Motto  hat  die  Neugriindung  iiberhaupt  einen  Sinn. 

Die  Herren  verfiigen  iiber  reichliche  Mittel  und  sind  in  der 
Lage,  sich  in  kurzer  Zeit  mit  modernen  Motorflugzeugen  zu 
versorgen.  Da  man  sich  offenbar  doch  noch  nicht  so  ganz 
sicher  vor  etwaigem  Behordenzugriff  fuhlt,  so  kommen  die  Ma- 
schinen  nicht  als  Verbandseigentum  sondern  als  Privatbesitz 
zuverlassiger  Hakenkreuzler  zur  Erscheinung.  Aus  der  offent- 
lich  gefiihrten  amtlichen  Flugzeugstammrolle  stellt  man  mit  Er- 
staunen  die  Zunahme  der  privaten  Flugzeughalter  fest,  deren 
Vermogenslage  den  Ahkauf  und  die  Unterhaltung  -eines  Flug- 
zeugs  aus  privaten  Mitteln  hochst  unwahrscheinlich  maqht. 
Wenn  man  weiter  konstatiert,  daB  die  in  Frage  kommenden 
Apparate  iiberwiegend  von  einheitlichem  Typ  sind,  was  fur 
Geschwaderfliige  wichtig  ist,  daB  es  sogar  Privatbesitzer  von 
drei  Flugzeugen  gibt,  so  hat  man  genug  Anhaltspunkte, 

Demgegemiber  fallt  das  Dementi  der  groBen  Flugzeug- 
Serienbestellung  bei  Albatros  wenig  ins  Gewicht,  Ob  Albatros 
oder  Focke-Wulf  —  was  iibrigens  infolge  der  Fusion  beider 
Firmen  dasselbe  ist  — ,  ob  BFW  oder  Kkmm,  ob  Serienbestel- 
lung  oder  einzelne  Privatauftrage  —  fiir  die  Offentlichkeit  ist 
allein  ausschlaggebend,  daB  sich  hier  etwas  vollzieht,  was  w.eit 
iiber  propagandist ische  Zwecke  hinausreicht.  Wenn  man  be- 
denkt,  was  selbst  nur  eiri  Sportflugzeug  in  der  Hand  eines  enf- 
schlossenen  Terrorist  en  bedeutet,  so  wird  man  diese  bedroh- 
Hchen  Provokationen  nicht  leicht  nehmen. 

Liegt  hier  wirklich  kein  AnlaB  zum  Eingreifen  vor?  Das 
zustandige  Ministerium  verlautbart: 

Das  Ministerium  hat  nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt  dafiirt 
daB  die  nationalsozialistischen  2usaramenschlufiplane  militarischen 
Zwecken  dienen  sollen.  Die  Reichsregierung  wiirde  gegen  derartige 
Plane  selbstverstandlich  sofort   einschreiten. 

Gott  sei'  Dank,  du  liebes  treues  Ministerium.  Wir  wissen, 
wie  sehr  Du  um  den  Schutz  der  Republik  und  ihrer  Verfassung 
bangst,     Zwei  Beispiele  sollen  das  illustrieren. 

Der  republikanische  Flugverband  „Sturmvogel",  der  sich 
art  die  werktatigen  Kreise  wendet  und  eine  betont  staatstreue 
Linie  halt,  ist  vom  Reiehswehrminister  fiir  politisch  erklart 
worden.  Er  ist  bekannt  durch  seine  eindrucksvollen  und 
volkstiimlichen  Verfassungsfeiern.  Das  Tragen  seines  Sport- 
abzeichens  ist  deshalb  nach  der  Notverordnung  verboten, 

Der  Ring  der  Flieger,  eine  dem  Deutschen  Luf tfahrtverband 
zugehorige  Organisation,  die  von  Herrn  Goerings  Freund  Loer- 
zer  geleitet  wird,  darf  mit  dem  Stahlhelm  auf s  engste  zusam- 
mengchen,  mit  Herrn  Diisterberg  politische  Kundgebungen  ver- 
anstalten,  bei  seinen  Abenden,,  die  von  der  Reichswehr  be- 
sucht  und  gefordert  werdent  antirepublikanische  Machwerke 
verkaufen,  die  sich  iibrigens  auch  teilweise  gegen  den  Reiehs- 
wehrminister selbst  richten.    Derselbe  Herr  Loerzer  dient  auch 

919 


im  Dcutschen  Luftfahrtverband  als  vertrauter  Verbindungs- 
mann  zum  Hakenkreuz-Fliegerkorps,  das  ja  die  cdle  Absicht 
verfolgt,  die  nicht  unbetrachtlichen  fliegerischen  Mittel  des 
Dcutschen  Luftfahrtverbandes  durch  Majorisierung,  also  wie- 
derum  ganz  legal,  in  eignen  Besitz  zu  bringen.  Dieser  Ring 
der  Flieger,  der  keine  Verfassungsfeiern  veranstaltet,  dafur 
aber  Feste  zu  Exkaiscrs  Geburtstag,  ist  infolgedessen  ganzlich 
unpolitisch.  Seine  Abzeichen  diirfen  getragen  werden. 
Es  lebe  die  Republik! 

Der  Irrtum  der  Gewerkschaften  von  Thomas  Tarn 

Im  deutschen  Kapitalismus,  der  in  der  Kette  der  hochkapitali- 
stischen  Staaten  das  schwachste  Glied  darstellt,  ist  in  den 
letzten  Wochen  nicht  nur  eine  weitere  Vertiefung  der  Krise 
eingetreten,  sondern  auch  das  Tempo  in  der  weitern  Zuspitzung 
hat  sich  noch  verstarkt.  Das  Unternehmertum  hat  die  einzige 
Sorge,  daB  der  Lohnabbau  etwas  zuriickbleiben  konnte  hinter 
der  weitern  Vertiefung  der  Krise;  es  <begniigt  sich  daher  nicht 
mehr  damit,  einmal  die  .Lohne  der  Metailarbeiter,  der  Ge- 
meindearbeiter,  der  Textil-  und  Kohlenarbeiter  abzubauen, 
sondern  es  verlangt,  daB  mit  einera  Schlag  die  Lohne  der  ge- 
samten  Arbeiterschaft  gemindert  werden  sollen.  Die  neue  Not- 
verordnung  sieht  demgemaB  einen  Lohnabbau  vor,  der  die 
Lohne  auf  den  Stand  von  Anfang  1927  bringen  solL  Da  die 
Lohne  von  Anfang  1925  bis  Anfang  1927  nicht  gestiegen  sind< 
so  bedeutet  das  einen  Ruckgang  auf  den  Stand  von  An- 
fang 1925.  Und  da  zur  Zeit  noch  eineReihe  von  Tarif  vertragen 
laufen,  so  bedeutet  die  neue  Notverordnung  in  Wirklichkeit 
einen  Bruch  des  Tarifrechts. 

Wenn  aber  die  Lohne  auf  den  Stand  von  Anfang  1925  zu- 
riickgesetzt  werden,  so  heiBt  das  nicht  etwaf  daB  die  gesamte 
deutsche  Arbeiterschaft  soviel  verdient  wie  zu  diesem  Zeit- 
punkt,  Denii  damals  waren  Arbeitslosigkeit  und  Kurzarbeit 
minimal;  es  wurden  iibertarifliche  Akkordlohne  gezahlt.  Heute 
aber  imissen  die  Gewerkschaften  feststelien,  daB  nur  noch  die 
knappe  Halfte  ihrer  Mitglieder  voll  beschaftigt  ist,  daB  zirka 
55  Prozent  arbeitslos  oder  Kurzarbeiter  sind.  Das  heiBt,  der 
Lohn  der  gesamten  deutschen  Arbeiterklasse  wird  nach  der 
neuen  Notverordnung  weit  unter  dem  Niveau  von  1925  stehen. 
Und  wenn  das  Institut  fur  Konjunkturforschung  jiingst  einmal 
feststellte,  daB  die  gesamte  deutsche  Produktion  nicht  mehr 
groBer  ist  -  als  die  Produktion  um  die  Jahrhundertwende,  so 
ist  nach  dieser  Notverordnung  von  den  gesamten  Lohnsummen, 
die  an  die  Arbeiterschaft  gezahlt  werden,  zu  sagen,  daB  der 
deutsche  Arbeiter  weniger  verdient  als  um  1900. 

Angesichts  dieser  entsetzlichen  Lage  der  deutschen  Arbei- 
terschaft hatten  die  Gewerkschaften  scharfste  Aktionen  gegen 
eine  Methode,  den  Weg^aus  der  Krise  monopolkapitalistisch 
zu  organisieren,  einleiten  miissen.  Was  aber  taten  sie  in  Wirk- 
lichkeit? Die  Freien  Gewerkschaften  bemiihten  sich  bereits 
im  Wirtschaftsbeirat,  eine  gemeinsame  Erklarung  der  gesam- 
ten Gewerkschaften  gegenuber  den  Unternehmerforderungen 
920 


durchzusetzen.  Das  gluckte  ihnen  nicht.  Kurz  vor  der  Not- 
verordnung  aber  brachten  sic  eine  gemeinsame  Erklarung  der 
Freien  Gewerkschaften,  der  Christlichen  und  der  Hirsch- 
Dunckerschen  fertig.  Diese  gemeinsame  Erklarung  ist  ein 
volliger  Bankrott.  Sie  wagt  nicht,  zu  den  wirklichen  Ur- 
sachen der  Krise  Stellung  zu  nehmen,  und  gefallt  sich  in  Er- 
klarungen,  die  genau  so  gut  in  der  ,D.A.Z.'  stehen  konnten.  Das 
Monopolkapital  hat  ein  entscheidendes  Interesse  daran,  die 
Arbeitcrschaft  dariiber  hinwegzutauschen,  daB  das  kapitali- 
stische  System  der  wirkliche  Schuldige  an  der  heutigen  Krise 
ist.  Und  es  tauscht  die  Arbeiter  dariiber  hinweg,  indem  es 
ihnen  erklart,  nicht  der  Kapitalismus  sei  an  der  Krise  schuld 
sondern  der  Krieg  und  seine  direkten  und  indirekten  Folgen, 
vor  allem  die  Reparationen.  Sind  erst  einmal  die  MTribute" 
beseitigtt  braucht  Deutschland  keine  Reparationen  mehr  zu 
zahlen;  wird  es  von  der  „Young-SklavereiM  befreit,  dann  wiirde 
man  auch  zu  einem  Wiederanstieg  der  Wirtschaft  kommen 
und  dann  wiirde  es  auch  den  Arbeitern  besser  gehen,  DaB 
der  Degen  des  Monopolkapitalismus,  die  nationalsozialistische 
Bewegung,  so  argumentiert,  ist  klar.  Denn  diese  Verschleie- 
rung  der  wirklichen  Krisenursachen  ist  die  einzige  ideologische 
Waffe  gegen  die  Arbeiterklasse,  wenn  diese  das  kapitalistische 
System  verantwortlich  macht. 

Was  tun  aber  die  Gewerkschaften?  Sie  nehmen  in  ihrer 
Kundgebung  zu  den  wirklichen  Ursachen  der  Krise  iiberhaupt 
nicht  Stellung,  sondern  erwahnen  nur  die  Reparationsfrage.  Es 
heiBt  wortlich;  „In  wenigen  Tagen  tritt  in  Basel  der  Sonder- 
ausschuB  zur ,  Begutachtung  der  wirtschaftlichen  Lage  Deutsch- 
lands  zusanimen.  Seine  Pilicht  ist,  die  Folgerung  aus  der  Er- 
kenntnis  zu  ziehen,  daB  die  Deutschland  auferlegten  Repara- 
tions verpflichtungen  eine  der  wesentlichsten  Ursachen  fur  die 
weltwirtschaftlicheri  Storungen  der  Nachkriegszeit  geworden 
sind.  Die  Wiederherstellun^  des  Vertrauens  und  der  Wieder- 
aufbau  des  internationalen  Kredits  ist  die  zentrale  wirtschaft- 
liche  und  politische  Aufgabe."  Damit  wird  der  Arbeiterschaft 
Sand  in  die  Augen  gestreut  und  die  illusion  erweckt,  daB  nach 
Erledigung  dieser  ,,zentralen,  Aufgabe'\  das  heiBt  naeh  Rege- 
lung  des  Reparationsproblemst  ein  wiederanstieg  der  deut- 
schen  Wirtschaft  erfolgen  wiirde.  Und  diese  Illusion  ist  urn  so 
gefahrlicher,  als  sie  den  Nazis  Wasser  auf  die  Miihle  gibt,  Denn 
in  der  Parole  MBeseitigung  der  Yoixftg-Sklaverei"  konnen  die 
Gewerkschaften  natiirlich  nicht  mit  ihn^h  konkurrieren. 

Und  was  hat  die  Gewerkschaftserklarung  sonst  noch  zu 
sagen?  Sie  wendet  sich  gegen  den  volkszersetzenden  Bruder- 
kampf  und  verlangt  von  der  Regierung,  die  ganze  Autoritat  des 
Staates  einzusetzen,  um  zu  erreichen,  ndaB  die  innenpoliti- 
schen  Auseinandersetzungen  ausschlieBlich  mit  geistigen  Waf- 
fen  gefiihrt  fwerden '. 

Es  ist  charakteristisch,  daB  in  dieser  ganzen  Erklarung  von 
der  Lohnsenkung  nicht  die  Rede  ist,  und  daB  der  Vorsitzende 
der  Freien  Gewerkschaften,  Leipart,  in  einem  Brief  an  den 
Reichskanzler,  der  unmittelbar  vor  Erlafi  d«r  Notverordnung 
publiziert  wurde,  nichts  andres  zu  sagen  weiB,  als  daB  die  Ge- 

921 


werkschaften  die  Ve  rant  wort  ung  dafur  ablehnen.  Mit  dieser 
Redeiisart  ist  abcr  heute  nichts  mchr  zu  machcn.  Wcnn  die 
GewerkschaftsHihrung  zu  kcincr  Aktion  schrcitet,  dann  wird 
das  Monopolkapital  durch  seine  MaBnahmen  die  Krise  noch 
weiter  vertiefen.  Es  ergibt  sich  aus  der  Notverordnung  ganz 
cindeutig,  daB  sie  eine  Reallohnsenkung  bringen  wird,  denn 
die  Kartell-  wie  die  Landwirtschaftspreise  werden  nicht  in 
entscheidender  Weise  herabgesetzt  werden.  Wenn  die  Ge- 
werkschaften sich  nicht  vollig  von  Innen  heraus  aushohlen  las- 
sen  wollen,  so  werden  sie  gegen  diese  Lohnsenkung  kampfen 
miissen.  Die  Gewerkschaften  haben  im  letzten  Jahr  den  ge- 
ringsten  Teil  ihrer  Einnahmen  fur  den  Kampf  verwendet,  den 
groBten  Teil  fur  die  Unterstiitzung  ihrer  arbeitslosen  Mitglie- 
der.  Aber  selbst  dieses  Band,  das  bisher  noch  einen  erheb- 
lichen  Teil  der  Gewerkschaf tsmitglieder  an  ihre  Organisation 
nen  fesselte,  wird  immer  briichiger.  Die  Gewerkschaften  sind 
die  Organisation  der  Axbeiterschaft,  die  dazu  bestimmt  ist,  die 
Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  ihrer  Mitgliedschaft  zu  verbes- 
sern  und  ihnen  auch,  wenn  sie  arbeitslos  sind,  eine  gewisse 
Sicherung  zu  garantieren.  Bisher  haben  die  Gewerkschaften 
bei  ihren  Mitgliedern  die  Lohnherabsetzung  damit  zu  rechtfer- 
tigen  gesucht,  daB  es  in  der  Krise  nun  einmal  schlechter  ginge 
und  daB,  wenn  keine  Gewerkschaften  vorhanden  waren,  der 
Lohnabbau  dann  noch  starker  ware-  Wenn  sich  die  Gewerk- 
schaften aber  vollig  aus  den  Lohnverhandlungen  ausschalten 
lassen  und  auch  an  dieser  Stelle  nicht  kampfen,  dann  sanktio- 
nieren  sie  ihren  eigneti  Tod- 

In  immer  breitern  Kreisen  auch  der  Gewerkschaftsmitglie- 
der  wachst  die  Opposition  gegen  diese  Fiihrung,  Es  heiBt  nurr 
die  Opposition  in  die  richtigen  Bahnen  lenken.  Es  gilt  nichtt 
wie  die  Kommunisten  es  tun,  sinnlos  Einzelstreiks  zu  macheh, 
bei  denen  sich  nur  ein  verschwindender  Bruchteil  der  Arbei- 
terschaft  beteiligt.  Damit  wird  nicht  die  allgemeine  Aktivitat 
gef ordert,  sondern  damit  wird  den  Unternehmern  die  Moglich- 
keit  geschaffen,  die  Betriebe  kommunistenrein  zu  machen.  Es 
gilt  vielmehr,  innerhalb  der  Gewerkschaften  in  der  Richtung  zu 
arbeiten,  daB  an  Schlusselstellungen  der  Industrie,  das  heiBt 
an  den  Stellen,  wo  der  gewerkschaftliche  Kampf  am  ehesten 
in  den  politischen  umschlagen  kannf  Aktionen  unternommen 
werden,  Dann  wurde  das  Monopolkapital  spiiren,  daB  die  Ar- 
beiterschaft  sich  nicht  mehr  mit  Proklamationen,  mit  Briefen 
begniigtf  sondern  daB  sie  bereit  ist,  zu  kampfen.  Und  dann  gibt 
es  nur  zwei  Wege.  Entweder  der  gewerkschaftliche  Kampf 
gipfelt  in  den  politischen;  und  die  Zeit  wird  kommen,  wo  sich 
diese  Konsequenz  ergeben  mufi.  Oder  das  Monopolkapital 
.weicht  zuriick,  und  damit  wurde  die  Aktivitat  der  Arbeiter- 
klasse  eine  auBerordentliche  Steigerung  erfahren.  Die  Gewerk- 
schaften wandten  sich  in  ihrer  Erklarung  gegen  den  Krieg  im 
Innern.  Sie  wandten  sich  damit  vor  allem  gegen  den 
Fascismus.  Aber  es  muB  immer  wieder  betont  werdent  daB 
eine  Passivitat  gegen  den  Lohnabbau  dem  Fascismus  weiter 
die  Wege  ebnet.  Eine  wirklich  durchgefiihrte  Aktion  gegen 
den  Lohnraub,  das  ist  der  beste  Kampf  gegen  den  Fascismus- 

922 


KUflde  VOn  1936  von  Banns-Erich  Kaminski 

f  iebcr  Gesinnungsfreund,  nachdem  die  nationalc  Diktatur  nun 
bald  fiinf  Jahre  am  Ruder  ist,  scheint  es  mir  notwendig,  die 
Lage  einer  ekigehenden  Priifung  zu  unterziehen.  Das  Regime 
ist  heute  gesichert,  seine  Feinde  sind  zur  Machtlosigkeit  ver- 
urteilt,  Nunmehr  erhebt  sich  die  Frage,  was  geschehen  soil, 
damit  Deutschland  aus  dem  Terror  heraus  und  wieder  zu  nor- 
malen  Zustandeii  kommt.  DaB  unsre  Plane  nicht  den  Bestand 
der  Diktatur  gefahrden  diirfen,  versteht  sich  dabei  von  selbst. 

Wir  ha  ben  in  den  Tagen  der  nationalen  Revolution  gegen 
die  damals  vielleicht  unvermeidlichen  Gewaltakte  protestiert 
und  vor  der  gesamten  Offentlichkeit  feierlich  Verwahrung  da- 
gegen  eingelegt  DaB  unsre  Resolution  nicht  verbreitet  wer- 
den  konnte,  war  nicht  unsre  Schuld;  da  wir  alle  illegalen  Hand- 
lungen  ablehnen,  waren  wir  nicht  imstande,  unsre  Auffassung 
auflerhalb  eines  kleinen  Kreises  zur  Geltung  zu  bringen.  Spa- 
ter  haben  wir  uns  auf  den  Boden  der  Tatsachen  gestellt  und 
uns  der  Mehrheit  gefiigt,  obgleich  diese  Mehrheit  auf  eine  Art 
und  Weise  zustande  kam,  die  nach  der  damals  noch  giiltigen 
Verfassung  von  Weimar  gesetzwidrig  war.  Ich  darf  also  sagen, 
daB  wir  der  alten  Linken  gegeniiber  unsre  Pflicht  getan  und 
gleichzeitig  als  loyale  Staatsbiirger  gehandelt  haben, 

Niemand  kann  uns  nachsagen,  der  nationalen  Diktatur 
jemals  Opposition  gemacht  zu  haben.  Die  Bedenken,  die  wir 
hatten,  muBten  wir  im  Interesse  von  Volk  und  Staat  zuriick- 
stellen,  getreu  dem  Wort:  ,,Die  Herzen  der  Demokratie  sirid 
immer  dat  wo  die  Fahnen  des  Landes  wehen".  DaB  in  dieser 
Fahne  das  Hakenkreuz  steht,  konnte  uns  in  unsrer  Oberzeugung 
nicht  wank  end  machen. 

Wir  haben  die  Leistungen  der  Partei,  die  jetzt  mit  dem 
Staat  identisch  ist,  stets  anerkannt,  und  wir  blicken  bewun- 
dernd  zu  dem  genialen  Fiihrer  auf,  der  Deutschlands  Geschick 
mit  starker  Hand  leitet.  Soweit  es  uns  unter  den  obwalten- 
den  Umstanden  moglich  war,  sind  wir  den  boswilligen  Ver- 
leumdungen  der  Emigrantenpresse  und  des  Auslandes  entgegen- 
getreten.  Selbstverstandlich  sind  wir  uns  daruber  klar,  daB 
die  Diktatur  an  den  auBenpolitiscben  Verhaltnissen  und  an  den 
Folgen  der  Wirtschaftskrise  nichts  andern  konnte.  Die  Frage, 
ob  es  uns  wenigstens  etwas  besser  gehen  wurde,  wenn  manche 
Experimente  vermieden  worden  waren,  wollen  wir  dabei  auBer 
Acht  lassen.  Ein  Verdienst  des  Regimes  bleibt  es  in  jedem 
Fall,  das  NationalbewuBtsein  gehoben  zu  haben.  Der  Glaube 
an  den  alten  deutschen  Gott,  die  Verehrung  des  Fiihrers,  der 
Respekt  vor  der  nationalen  Miliz  sind  volkserzieherische 
Werte,  die  die  Mangel  unsrer  Justiz  und  Verwaltung  reichlich 
aufwiegen.  In  einer  Zeit,  in  der  die  Ketten  des  Schandfriedens 
von  Versailles  immer  noch  auf  uns  lasten,  ist  ja  die  geistige 
Wehrhaftigkeit  der  Nation  von  allerhochster  Bedeutuhg.  In 
diesem  Sinn  haben  auch  wir  uns  wiederholt  zu  der  heroischen 
Weltanschauung  bekannt,  die  heute  offiziell  ist. 

Unzweifelhaft  hat  der  Fiihrer  ein  System  von  imponieren- 
der  GroBe  und  Geschlossenheit  geschaffen.  Wer  sich  mit  offe1- 
nen   Augen    umsieht,    kann    trotzdem    nicht    verkennen,    daB 

3  923 


Deutschland  gegenwartig  schwacher  ist  als  je  zuvor.  AuBen- 
politisch  sind  wir  isoliert,  unsre  Wirtschaft  liegt  darnieder.  Das 
Schiimmste  aber  ist,  daB  es  der  Diktatur  nicht  gelungen  ist, 
die  Einhcit  dcr  Nation  hefzustellen,  Ein*  groBer  Teil  dcr  In- 
telligenz  lebt  auBer  Landes,  und  die  herrschende  Disziplin  kann 
nicht  dariiber  hinwegtauschen,  daB  Deutschland  in  zwei  Lager 
zerrissen  ist.  Iixsbesondre  die  Arbeit erschaft  steht  dem  neuen 
Staat  ablehnend  gcgeniibcr,  wenn  sie  auch  zum  Schweigcn  ver- 
urtcilt  ist  Die  Diktatur  hat  die  Opposition  unterworfen.  Jctzt 
kommt  cs  darauf  an,  sie  zu  versohnen. 

So  hoch  ich  auch  die  Fahigkeiten  des  Fuhrers  schatze:  daB 
er  dazu  imstande  ist,  glaube  ich  nicht.  Die  Diktatur  kann 
kerne  Zugestandnisse  machen,  denn  dann  wiirde  sie  sich  selbst 
aufgeben,  und  iibrigens  wiirden  auch  ihre  Gegner  niemals  in 
die  zur  Versohnung  ausgestreckte  Hand  einschlagen,  Deutsch- 
land muB  aber  wieder  in  ein  ruhigeres  Fahrwasser,  gesteuert 
werdenf  die  Gef  angnisse  miissen  endlich  geleert,  die  Zwangs- 
maBnahmen  abgebaut  werdcn, 

Ein  offener  Kampf  gegen  das  Regime  kann  fur  uns  nicht 
in  Frage  kommen.  Da  er  legal  nicht  moglich  ist,  miiBten  wir 
illegale  Mittel  anwenden.  Das  wiirde  folgerichtig  auf  die  Vor- 
bereitung  einer  Revolution  hinauslaufen,  die  von  neuem  namen- 
loses  Ungltick  iiber  unser  Land  bringen  und  alle  Errungen- 
schaf  ten  der  Diktatur  zunichte  machen  wiirde,  Auf  gab  e  ist 
also,  die  Diktatur  auf  legalem  Wege  zu  normalisieren.  Das  kann 
nur    durch   die    Wiederherstellung   der    Monarchic    geschehen. 

Nur  als  Monarchie  vermag  Deutschland  die  Leistungen  der 
Diktatur  zu  bewahren  und  weiter  zu  entwickeln  und  gleich- 
zeitig  ihre  Gegner  mit  dem  Staat  zu  versohnen,  Historisch  ge- 
sehen,  ist  die  Diktatur  und  erst  recht  die  Person  des  Diktators 
im  Leben  der  Volker  doch  immer  etwas  Vergangliches,  die 
Monarchie  dagegen  etwas  Bleibendes,  Der  Monarch  wird  stets 
an  seine  Dynastie  denken;  schon  aus  diesem  Grunde  muB  er 
auf  Popularitat  Wert  leg  en  und  MaBnahmen  vermeiden,  die, 
wenn  nicht  gegen  ihn  selbst,  so  doch  gegen  seinen  Sohn  oder 
seinen  Enkel  ausschlagen  konnten,  Eine  Monarchie  ist  ohne 
ein  gewisses  Gleichgewicht  aller  nationalen  Krafte  uberhaupt 
undenkbar,  und  grade  das  ist  es,  was  Deutschland  braoicht. 

Eine  Agitation  fiir  die  Wiedereinfiihrung  der  Monarchie 
diirfte  in  den  Kreisen,  auf  die  es  allein  ankommt,  verhaltnis- 
maBig  geringe  Widerstande  hervorrufen.  Viele  bedeutende 
Mitglieder  der  nationalen  Partei  und  sogar  der  nationalen  Re- 
gierung  sind  Monarchisten  oder  wenigstens  keine  Gegner  der 
monarchischen  Staatsform.  Andre  konnte  man  durch  die 
Pfriinden  und  Ehren  locken,  die  die  Monarchie  ihnen  sichern 
wiirde.  Emporkommlinge  atmen  gern  Hofluft,  und  auBerdem 
wissen  diese  Leute  gaiiz  genau,  daB  sie  bei  einem  gewaltsamen 
Ende  der  Diktatur  alles  zu  verlieren  haben.  Vielleicht  konnte 
man  den  Fiihrer  selbst  dazu  bringen,  die  Rolle  zu  iibernehmen, 
die    Monk    in    der    glorreichen   englischen  Revolution   spielte. 

Wer  soil  nun  I^iser  werden?  Das  Andenken  der  Hohen- 
zollern  ist  unlosbar  verkniipft  mit  der  Niederlage  Deutsch- 
lands  im  Weltkrieg,  sie  konnten  nur  durch  einen  siegreichen 
Krieg  rehabilitiert  werden,  und  einen  Krieg  konnen  wir  schon 
924 


a  us  innerpoiitischen  Griinden  nicht  riskieren.  Die  Riickkehr 
zu  den  Hohenzollern  wiirde  fcrner  ein  Bekeantnis  zuin  Legiti- 
mitatsprinzip  bedeuten,  man  wiirde  damit  die  Rechte  aller  ehe- 
maligen  Bundesfiirsten  anerkennen.  Die :  Schwierigkeiten,  auf 
die  eine  solche  allgemeine  Restauration  stoBen  miiBte,  liegen 
auf  der  Hand* 

Uber  das  Legitimitatsprinzip  konnen  wir  jedoch  hinweg- 
gehen.  In  den  letzten  Jahrzehnten  ist  so  viel  Legitimes  zer- 
stort  worden,  daB  sich  das  deutsche  Volk  langst  daran  gewohnt 
hat.  Am  besten  ware  est  wenn  der  neue  Kaiser  wie  ein  Presi- 
dent gewahlt  werden  wiirde.  Das  wiirde  dem  Volk  schmeicheln 
und  die  Monarchic  auf  eine  demokratische  Basis  stellen.  Wie 
man  es  anstellt,  damit  ein  Plebiszit  den  gewiinschten  Erfolg 
hat,  haben  wir  ja  unter  der  nationalen  Diktatur  gelernt. 

Der  geeignete  Mann  fur  den  Thron  nun  ist  meiner  Mei- 
nung  nach  der  ehemalige  Kronprinz  von  Bayern.  Er  entstammt 
einem  Hause,  dessen  Angehorige  schon  im  heiligen  romischen 
Reich  die  Kaiserkrone  getragen  haben,  ex  ist  mit  samtlichen 
Dynastien  Europas  verwandt,  und  da  er  katholisch  ist,  besitzt 
er  die  besten  Beziehungen  zum  Vatikan  und  zu  den  franzosi- 
schen  Klerikalen.  Unter  einem  Wittelsbacher  konnte  Deutsch- 
land  also  auf  die  Unterstiitzung  des  Papstes  rechnen  und  die 
Annaherung  an  Frankreich  erreicheo,  die  der  nationalen  Dik- 
tatur trotz  alien  Zugestandnissen  nicht  gelungen  ist.  Die  Main- 
linie  wurde  durch  diese  Losung  endgultig  aufgehoben  werden, 
besonders  Bayern  wiirde  enger  als  je  ans  Reich  gebunden  wer- 
den, selbst  die  AnschluBfrage  Oesterreichs  wiirde  ein  andres 
Gesicht  erhalten,  wenn  Deutschland  von  einem  Furs  ten  regiert 
werden  wiirde,  dessen  Vorfahr  als  Mitglied  des  Rheinbundes 
Napoleons  treuester  fiundesgenosse  war.  Die  preuBischen  Pro- 
test ant  en  wiirden  freilich  Widerstande  erheben,  aber  sie  wiir- 
den  ihre  Bedenken  wohl  zuriickstellen,  wenn  ihre  ftihrende 
Schicht  wieder  die  gleiche  Stellung  wie  iin  Hohenzollernreich 
erhiclte.  Schlimmstenfalls  miiBte  man  eben  auch  die  Wieder- 
herstellung  des  Dreiklassenwahlrechts  in  Kauf  nehmen.  Was 
schliefilich  die  bei  den  Wittelsbachern  haufig  auftretende  Gei- 
steskrankheit  anbelangt,  kann  ich  darin  kein  Hindernis  fur  die 
(Jbernahme  der  Kaiserwurde  sehen. 

Ja,  lieber  Freund,  wer  hatte  im  Jahre  1931  gedacht,  daB 
wir  heute  die  Monarchie  herbeisehnen  wurden!  Damals  glaub- 
ten  wir  noch  an  den  Bestand  der  Republik  oder  waren  doch 
uberzeugt,  d&Q  eine  Diktatur  rasch  abwirtschaften  und  dann 
von  neuem  der  Demokratie  oder  gar  dem  Bolschewismus  Platz 
machen  miiBte.  Die  Zeiten  haben  sich  sehr  geandert,  und  unsre 
ehemaligen  Parteifreunde,  die  immer  noch  an  den  alten  Ideen 
hangen,  werden  sagen:  wir  auch.  Vielleicht  haben  sie  nicht 
ganz  unrecht,  Wir  wollen  uns  trotzdem  nicht  von  unserm 
Wege  abbringen  lassen  und  mit  unsrer  ganzen  Oberzeugungs- 
kraft  fiir  die  wittelsbachische  Monarchie  eintreten,  die  gleich- 
zeitig  national,  demokratisch  und  sozial  sein  wiirde.  In  diesem 
Sinne:  Hie  gut  Wittelsbach  allerwege! 
In  alter  Treue 

(Die  Unter schrift  mag  sich  jeder  Leser  selbst  ausdenken.) 

925 


Werfel  theoretisiert  von  waither  Karsch 

Am  Biilowplatz,  in  der  Volksbiihne,  hat  faei  der  Schnitzlerfeier  dcr 
^*  Dichter  Franz  Werfel  die  Jugend  der  „Hordengesinnung"  be- 
schuldigt,  Dieser  Hordengesinnung  riickt  er  in  seiner  Rede  „Realis- 
mus  und  Innerlichkeit"  zu  Leibe.  Sie  liegt,  bei  Zsolnay  in  Wien  er- 
schienen,  vor:  Werfels  Beitrag  zur  Krise  unsrer  Tage;  eine  Verteidi- 
gung  der  Innerlichkeit,  die  das  wahrhaft  Schopferische  im  Menschen 
sei,  gegen  die  verderbliche  Realgesinnung,  die  an  der  Katastrophe 
dieser.  Zeit  schuld  habe. 

Sich  in  den  Werfelschen  DenkprozeB  einzuarbeiten,  stoBt  auf 
Schwierigkeiten,  weil  dieser  DenkprozeB  standig  durch  die  Aus- 
schweifungen  der  dichterischen  Phantasie  gestort  wird.  Was  seiner 
Uberzeugung  nach  kein  Fehler  sein  mag,  da  es  ja  der  unintellektuelle 
Mensch,  der  „musische"  sein  soil,  der  die  neue  Welt  schaffen  wird. 
Darum  wird  Werfel  auch  die  Methode  der  kritischen  Durchleuch- 
tung  seiner  Gedanken  mit  dem  Hinweis  abtun:  „Der  Geist  ist  so  be- 
schaffen,  daB  es  unmoglich  ist,  seine  Wahrheiten  intellektuell-de- 
duktiv  zu  erfassen"  —  aber  schlieBlich  handelt  es  sich  hier  nicht  um 
eine  religiose  Offenbarung,  sondern  um  den  Versuch,  das  Gesicht 
dieser  Zeit  zu  deuten  und  ihr  den  Weg  in  die  Zukunft  zu  weisen,  also 
um   Philosophie,   um  Kulturphilosophie. 

Ich  habe  gelernt,  daB  Philosophie  da  beginnt,  wo,  wie  Simmel 
sagt,  das  Denken  „versucht,  sich  jenseits  von  Voraussetzungen  iiber- 
haupt  zu  stellen".  Wohlgemerkt:  „versucht",  denn  „die  vollkommene 
Voraussetzungslosigkeit  ist  freilich  unerreichbar".  Werfel  geht  aber 
mit  dieser  Einschrankung  etwas  sehr  souveran  um:  „Wenn  das  Leben 
ein  uferloser  Strom  ist . . ."  Wo  steht  geschrieben,  daB  das  Leben 
wirklich  ein  uferloser  Strom  ist?  Man  macht  sich  die  Argumentation 
etwas  leicht,  wenn  man  mit  einer  Behauptung  beginnt,  die  anschei- 
nend  axiomatischen  Charakter  haben  soil.  Solange  Werfel  es  also 
unterlaBt,  die  Richtigkeit  dieser  Voraussetzung  zu  demonstrieren,  muB 
es  erlaubt  sein,  die  Folgerung  stark  in  Zweifel  zu  ziehn,  wonach  „selbst 
das  erleuchtetste  Atom  dieses  BewuBtseins"  (des  auf  dem  Strom 
tanzenden  GesamtbewuBtseins  der  Menschen)  „sich  iiber  alles  Mog- 
liche  Meinungen  bilden"  kann,  „nur  nicht  iiber  die  Richtung  seines 
Weges,  womit  Begriffe  wie  Fortschritt,  Evolution,  Entwicklung  usw. 
erkenntnismaBig  erledigt  sind".  Ein  typisches  Beispiel  fiir  die  ganze 
Rede  Werfels.  Er  versagt,  wo  es  sich  nicht  darum  handelt,  Erlebtes, 
Gef unites  und  Visionelles  umzuschmelzen  zu  /einem  idichterischen 
Gebilde,  sondern  darum,  die  Vorgange  in  der  AuBenwelt,  die  Dinge 
und  Menschen  nicht  nur  in  ihrer  innern  Realitat  zu  erfassen,  son- 
dern diese  Realitat  auch  moglichst  obfektiv,  ohne  Einwirkung  des 
dichterischen  Umformungsprozesses  wiederzugeben.  Der  Dichter  iiber - 
windet  den  Philospphen.  Der  Vorsatz,  philosophisch  zu  denken,  schei- 
tert  an  dem  standigen  Einbruch  der  Eigenwilligkeit  und  Eigengesetz- 
lichkeit    der    uneindammbaren    kunstlerischen  Phantasie. 

„Das  unmittelbare  Verhalten  der  Menschen  zu  dem  Dinge  des 
Lebens,  die  vorurteilsloseste  Art  seiner  Beziehung  zur  Natur,  ungetrtibt 
durch  religiose,  politische  und  andre  Abstraktionen"  —  diese  De- 
finition vom  Realismus  legt  er  seiner  Betrachtung  zugrunde,  um  fest- 
zustellen,  daB  wir  trotz  aller  Realgesinnung  in  einer  vollig  irrealen 
Welt  leben.  So  sei  die  Wanderung  Mdie  realste  Art,  ein  Stuck  Welt 
kennenzulernen.  Die  Eisenbahnfahrt  entrealisiert  die  Strecke  und 
der  Flug  hebt  die  Wirklichkeit  der  uberflogenen  Gegend  vollig  zu 
einem  filmhaften  Schwarz-WeiBeindruck  auf"  —  eine  geistreiche 
Assoziation,  mehr  nicht,  denn  um  ein  Stuck  Welt  wirklich  kennen- 
zulernen, werden  wir  weiterhin  wandern,  wahrend  Eisenbahn  und 
Flugzeug  uns  doch  nur  schnellstens  von  einem  Ort  zum  andern  brin- 
gen  sollen,  wobei  uns   das  durchfahrene  oder  iiberflogene  Stuck  Erde 

926 


nur    sehr    wenig   interessiert;    jcdenfalls   es   kennenzulernen,    ist   nicht 
der  Zweck  einer  solchen  Reise, 

Hier  wie  uberall  wehrt  sich  Werfel  gegen  den  Vorwurf,  ein  Re- 
aktionar  zu  sein,  der  etwa  „der  Postkutsche  das  Wort"  redet.  Aber 
was  ist  es  denn  andres  als  Reaktion,  wenn  man  den  politischen,  wirt- 
schaftlichen  und  geistigen  Gesamtzustand  der  Zeit  im  Vergleich  zu 
dem  vergangener  Epochen,  etwa  des  Mittelalters,  mit  Minus  bewertet? 
Wenn  man  zum  Beispiel  das  Endergebnis  der  in  RuBland  und 
Amerika  geplanten  Ausschaltung  der  bauerlichen  Kleinwirtschaft  nur 
unter  der  Perspektive  sieht,  daB  damit  Mder  letzte  Rest  der  Erdver- 
bundenheit"  verschwande  und  „die  Pan-Nomadisierung  der  Mensch- 
heit  durchgefiihrt"  sei,  —  der  Frage  aber,  ob  dies  nicht  eine  Ver- 
besserung  der  Produktion  gewahrleiste,  mit  dem  Hinweis  ausweicht: 
man  konne  das  nicht  tlbeurteilen"?  GewiB  verlangt  keiner  von 
Werfel  bis  ins  Einzelne  gehende  nationalokonomische  Kenntnisse, 
aber  die  russischen  Sozialisierungsplane  sind  keine  Mystik,  und  man 
darf  erwarten,  dafi  jemand,  der  so  scharfe  Worte  gegen  dieses  Rufi- 
land,  gegen  den  Kommunismus,  den  „eingeborenen  legitimen  Sohn  des 
Kapitalismus",  findet,  sich  wenigstens  die  Miihe  macht,  den  Sozialis- 
mus  da  zu  ergrtinden,  wo  er  sein  eigentliches  Betatigungsfeld  hat: 
im  Wirtschaftlichen.  Statt  dessen  fallt  Werfel  iiber  gewisse  sehr 
unsympathische  Begleiterscheinungen  eines  falsch  angewandten  Kol- 
lektivismus  her,  denen  er  den  Stempel  „bolschewistische  Eschato- 
logie"  aufdriickt,  urn  dann  kiihn  zwischen  der  absoluten  Gefiihlsleere 
des  Amerikanismus  und  diesen  Kinderkrankheiten  des  Bolschewismus 
die  Parallele  zu  ziehn.  Er  verwechselt  die  Gefahren  des  Kollektivis* 
mus  mit  seinem  wirklichen  Sinn.  Auch  der  Gegner  oder  Halbgegner 
der  materialistischen  Doktrin  muB  sie  vor  falschen  Deutungen  in  Schutz 
nehmen,  wenn  er  sich  mit  den  Vertretern  dieser  Doktrin  im  Ziel 
einig  weiB,  Werfel  hangt  dem  Bolschewismus  an,  was  dem  Kapitalis- 
mus in  seiner  letzten  Entwicklungsphase  eignet,  .  nur  weil  der  Bol- 
schewismus noch  mit  Schlacken  aus  der  vorbolschewistischen  Zeit  be- 
haftet  ist.  Er  erschwert  sich  seinen  berechtigten  Kampf  gegen  die 
Seelenarmlichkeit,  in  die  uns  das  wirtschaftliche  Chaos  gefuhrt  hat, 
indem  er  Denen,  die  erst  einmal  Ordnung  in  dieses  Chaos  bringen 
wollen  und  dabei  leicht  einer  Uberschatzung  des  Wirtschaftlichen  ver- 
fallen,  vorwirft,  sie  strebten  ebenfalls  die  „Aufopferung  des  seelischen 
Individuums"  an.  Aber  sogar  die  grauenhafte  Anarchie  unsres  Wirt- 
schaftszustandes  fiih.lt  man  sich,  paradoxer  Weise,  veranlafit,  in 
Schutz  zu  nehmen,  wenn  Werfel  den  Aufstieg  der  burger  lichen  Ge- 
sellschaft  damit  verunglimpft,  daB  er  die  Schaffung  der  allein  giilti- 
gen  „Leistungsmorar'f  der  Moral,  wonach  nur  die  Arbeit  einen  Wert 
besitzt,  und  die  Verneinung  des  „heroisch-ritterIichenM  und  des  „as- 
ketisch-religiosen"  Ideals  als  Abreagierung  eines  „invertierten  Min- 
derwertigkeitsgeftihls"  bezeichnet,  das  die  biirgerliche  Gesellschaft 
gegeniiber  den  vergangenen  Epochen  empfand.  Die  Herren  dieser 
Epochen  arbeiteten  nicht,  dafiir  waren  sie  „Kapitalisten  an  Innerlich- 
keit",  wie  der  „Lazzaroni,  der  auf  dem  Misthaufen  Iiegt  und  pfeift": 
aber  hat  Werfel  nie  davon  gehort,  daB  sie  von  der  Arbeit  der  Andern, 
der  Namenlosen  lebten?  Es  lafit  sich  leicht  den  musischen  Dingen 
nachgehn,  wenn  der  Bauch  keine  Sorgen  hat.  Solange  der  aber 
knurrt,  dtirfte  dies  die  einzige  Musik  seines  Besitzers  sein.  Der 
Lazzaroni  ist  da  kein  sehr  gliickliches  Beispiel.  Diese  falsche  Vaga- 
bunden-  und  Arme-Leute-Romantik:  mit  dem  Koder  hat  man  schon 
immer  versucht,  die  Besitzlosen  zu  locken,  Wir  sind  froh,  daB  diese 
endlich  zum  BewuBtsein  ihrer  Lage  gekommen  sind  und  den  Ratten- 
fangern  der  Schicksalsergebenheit,  gleich  welcher  Couleur,  nicht 
mehr  nachlaufen,  Es  zeugt  von  bedauerlicher  Kurzsichtigkeit,  den 
Sowjets  vorzuwerfen,  sie  machten  ihr  ganzes  Volk  zu  „Lohnsklaven* 
und   boten  zum   Ersatz   ihrer   „Partei    (einer  Art  Streikbrechergarde) 

927 


den  Fusel  einer  Ideologic,  die  sich  nicht  von  ihrer  falschen  Mathe- 
matik  nahrt,  sondern  vom  abgestandenen  Pathos  langst  verrauschter 
heroischer  Revolutionsepochen".  Dafi  uns  vielleicht  wirklich  ein  „Le- 
bensmilitarismus"  droht,  wie  Werfel  sagt,  ist  nicht  ganz  von  der 
Hand  zu  weisen,  aber  wir  wollen  doch  nicht  vergessen,  welchem  Ziel 
dieser  Fanatismus  „Nur  Arbeit,  Arbeit  um  jeden  Preis"  dient.  Auf 
dieses  Ziel  kommt  es  an. 

Werfel  hat  recht,  wenn  er  den  starren  Oekonomismus  angreift 
und  zum  Beispiel  dagegen  wettert,  dafi  dieser  die  Entstehung  des 
Christentums  „auf  die  Verelendung  der  Massen  im  spatrbmischen 
Orient"  zuruckfuhrt.  Aber  er  fallt  in  den  entgegengesetzten  Fehler, 
wenn  er  alle  grofien  nistorischen  Bewegungen  allein  aus  dem  Impuls 
der  sie  entfesselnden  Menschen  herleitet. 

Was  will  denn  nun  Werfel  an  die  Stelle  des  gelasterten  Sach- 
glaubens,  der  uns  in  die  vollige  Irrealitat  gefiihrt  habe,  setzen?  Eine 
Frage:  ebenso  berechtigt  wie  schwer  zu  beantworten.  Er  verkundet 
-  die  ^Revolution  des  Lebens",  die  von  dem  „musischen  Menschen"  ge- 
tragen  werde,  Sie  ist  uberhaupt  die  einzige  Revolution,  weil  sie 
„ewig"  ist,  denn:  „Wer  sich  damit  zufrieden  gibt,  dafi  seine  Gruppe 
zur  Macht  gelangt,  und  dann  klassen-  oder  parteimafiig  unterkriecht, 
der  ist  ein  saturierbarer  Interessent,  aber  kein  Revolutionar".  Das 
hort  sich  sehr  heroisch  an,  aber  es  steckt  doch  etwas  sehr  Gefahr- 
liches  dahinter.  Hat  es  doch  schon  manche  Revolution  gegeben,  die 
an  ihrer  eignen  Mafilosigkeit  zugrunde  ging,  weil  sie  nicht  rechtzeitig 
liquidiert  wurde.  Rufiland  hat  den  gegebenen  Zeitpunkt  abgepafit, 
das  Frankreich  von  1789  nicht,  dort  frafi  die  Revolution  ihre  eignen 
Kinder  auf.  Eine  Werfel  gegenuber  nicht  angebrachte  Betrachtungs- 
weise?  Weil  seine  Revolution  ja  nicht  zu  aufierer  Macht  strebe? 
Falsch:  jede  Revolution  will,  ganz  gleich  von  welchen  Voraussetzun- 
gen  sie  ausgeht,  etwas  Neues  an  die  Stelle  des  Alten  setzen,  und  da 
jede  Revolution  alle  Lebensgebiete  umfafit  einschliefilich  des  poli- 
tischen,  so  ergibt  sich  notwendigerweise,  dafi  sie  auch  im  politischen 
Sinne  die  Macht  erobert.  Man  kann  deshalb  Denen,  die  nach  der 
Eroberung  der  Macht  mit  dem  Aufbau  beginnen,  nicht  Saturierbarkeit 
vorwerfen,  und  es  ist  Zeichen  eines  unertraglichen  Hochmuts,  diesen 
Willen  zum  Aufbau  als  „Unterkriechen"  zu  verdachtigen.  Der 
„ewige"   Revolutionar:   welch  billiges  Ideal! 

Was  ist  denn  der  greifbare  Inhalt  einer  solchen  Revolution  des 
Lebens?  Werfel  sagt  hieriiber  so  gut  wie  nichts,  wie  ja  uberhaupt 
das  Konkrete  in  erschreckender  Weise  zu  kurz  kommt.  Nichts  ist 
daf  woran  man  sich  halten,  an  dem  man  sich  orientieren  konnte. 
Horen  wir  seine  Grundmaxime:  MDas  Leben  ist  ein  Bewufitseins- 
phanomen  und  die  Dinge,  sofern  sie  von  uns  wirklich  erlebt  werden, 
sind  extraprojizierte  Innerlichkeiten*'.  Das  ist  die  genaue  Umkeh- 
rung  dessen,  was  der  Materialismus  sagt.  Nicht  die  Dinge  sind  das 
Mafi  des  Menschen,  sondern  der  Mensch  ist  das  Mafi  aller  Dinge, 
nichts  ist  ohne  den  Menschen.  Einen  schlechten  Dienst  erweist  da 
Werfel  Denen,  die  mit  aller  philosophischen  Leidenschaftlichkeit 
gegen  den  Oekonomismus  der  gultigen  sozialistischen  Theorie  an- 
rennen,  die  nachzuweisen  bemtiht  sind,  dafi  zwischen  Mensch  und 
Ding  Wechselwirkungen  bestehen,  dafi  der  Mensch  mit  seinem  Wollen 
ebenso  abhangig  ist  von  den  Zustanden  wie  die  Weiterentwicklung 
dieser  Zustande  abhangig  ist  von  dem  sie  vorwartstreibenden  Wollen 
des  Menschen,  dafi  die  Einseitigkeit  der  materialistischen  Theorie 
schuld  ist  an  ihrem  Versagen  in  der  Praxis.  Es  ist  sehr  einfach, 
einer  iiberspitzten  These  eine  ebenso  uberspitzte  Antithese  entgegen- 
zusetzen.  1st  fur  den  Vollblut-Materialisten  Voraussetzung  alien 
Glucks  das  okonomische,  so  gibt  es  fiir  Werfel  „kein  anderes  Gluck 
als   das    erotische,    musische    und    geistige    im    weitesten   Verstande4' 

928 


In  dem  Kampf  dieser  Extreme  wird  Der  noch  zerrieben  werden,  der 
um  die  Richtigkeit  der  Synthese  weifi. 

Werfel  wird  es  erleben,  daB  er  durch  seine  eigne  Schuld  im  re- 
aktionaren  Lager  endet.  Er  verkiindet  gegen  Atheismus  Meta- 
physik,  und  stutzt  sich  dabei  au!  die  katholische  Kirche;  er  reitet 
wilde  Attacken  gegen  die  moderne  Wissenschaft,  gegen  den  Intellekt, 
zugunsten  einer  nur  „asthetischen  Grundposition"  des  Menschen;  er 
sieht  als  des  Menschen  eigentliches  Lebensgebiet  das  „im  weitesten 
Sinne'*  „Musikalische"  an.  Mit  einem  Wort:  er  will  die  Menschen  yon 
der  gewifi  zu  bekampfenden  ausschlietilichen  Fixierung  auf  wirt- 
schaftliche  Fragen  zu  sich  selbst  zuruckfuhren,  er  vergiBt  aber  dabei, 
daB  damit  die  Sphare  der  Wirtschaft  aus  der  Realitat  nicht  entfernt 
ist.     Sie  ist  da,  sie  will  beherrscht  sein.     . 

Franz  Werfel,  die  Machtigen  dieser  Erde  haben  den  Geistigen 
immer  mit  Vergnugen  die  Welt  der  Innerlichkeit  uberlassen;  um  so 
besser  gelang  es  ihnen,  sich  die  Welt  der  Wirtschaft  unterzuordnen, 
Wir  wollen  in  diese  Welt  einbrechen,  sie  umformen,  mithelien  an  der 
gerechten  Giiterverteilung.  Die  aesthetische  Grundposition  zu  be- 
ziehen,  heiBt  sich  um  den  wilden  Kampf,  der  die  Welt  in  zwei  Teile 
zerreiBt,  driicken,  Sie  haben  es,  neulich  im  Rundfunk,  vorgezogen, 
Schreibtisch,  Bucherschrank  und  Klavier  des  Hausherrn  wahrend  der 
Zeit  der  Aufraumungsarbeiten  im  Haushalt  bedeckt  zu  Iassen.  Es 
werde  sich  erweisen,  daB  die  Kuche  um  dieser  Gegenstande  willen 
da  sei,  nicht  umgekehrt.  Welch  materialistische  Denkweisef  Ist 
doch  damit  gesagt,  daB  diese  Gegenstande  nur  dann  funktionieren, 
wenn  die  Umgebung  in  Ordnung  ist.  Das  wollten  Sie  gewifi  nicht 
behaupten.  Was  hindert  Sie  also,  vom  Schreibtisch,  vom  Bucher- 
schrank, vom  Klavier  aus  mitzuhelfen,  daB  der  Haushalt  bald  in 
Ordnung  gebracht  werde?  Die  Kunst  sei  privat?  Sie  war  es  nie, 
sie  war  immer  Ausdruck  ihrer  Zeit,  auch  die  Ihre  ist  es.  Die  Zeit 
befruchtet  die  Kunst,  und  die  Kunst .  befruchtet  die  Zeit.  DaB  der 
grdfite  Teil  unsrer  Zeitproduktion  einen  erschreckenden  Mangel  an 
kunstlerischer  Gestalt  aufweist,  sagt  dagegen  gar  nichts.  Wer  das 
benutzt,  um  sich  auf  das  „Private"  zuruckzubegeben,  entzieht  sich 
selbst  den  Bod  en,  auf  dem  er  steht. 


Kleiner  Seitenhieb  von  waiter  Mehring 

A  uch  Literaten  haben  heute  Sorgcn! 
**■   Zum  Beispiel  solchc: 

Ein  junger  Mann  aus  gutcm  Hausc,  der  es  rasch  vom 
Sport-  zum  Theaterkritiker,  dann  zu  pekuniar  einfluBreicher 
Position  in  einer  berliner  Vormittagszeitung  gebracht  hatte, 
geriet  durch  erne  schicksalsreiche  Begegnung  auf  einen  gei- 
stigen Standard,  der  ihn  zwang,  weit  iiber  seine  kritischen 
Verhaltnisse   zu   leben. 

Karl  Kraus,  Schriftsteller,  Nestroy-  und  Offenbachtext- 
Bearbeiter,  Herausgeber  der  .Fackel',  orthodoxer  BuBprediger 
gegen  die  Presse,  gegen  jedes  ihrer  Erzeugnisse,  gegen  jeden 
ihrer  Vertreter,  empfand  eine  Schwache  fiir  das  junge  Mitglied 
einer  Zeitung,  die  bis  in  den  Annoncenteil  alle  von  der  ,Fak- 
kel'  so  fanatisch  verdammten  Schonheitsfehler  zeigt. 

Es  ist  nur  menschJich,  daB  solche  Hterarischen  Mesallian- 
cen  seltsame  Kritikfriichte  zeitigen  miissen. 

929 


Nicht  nur  die  Grundsatze  dcs  BuBpredigers,  sich  jedcr 
Pressepropaganda  zu  enthalten,  litt.en  darunter,  Auch  der 
Jiinger  crlag   der  Versuchung. 

In  seinem  blinden  Eifcr,  seinem  Mcistcr  zu  niitzen,  be- 
gann  er  nun  alles  zu  bekampfen,  was  seinem  Meister  nicht  in 
den  Kram  paBte  — ■  mit  einer  Voreingenommenh«itt  die  der 
Meister  andern  Presse-Sterblichen  als  Todsiinde  angerechnet 
hatte. 


Das  war,  traun!  ein  pathetischer  Anfang!  Nun  wollen  wir 
mal  eine  andre  Tonart  anschlagen!  Die  Offenbachische,  wenns 
geht! 

Karl  Kraus  hat  zwei  Monopole:  Nestroy  und  Offenbach! 
Wehe  jedem  armen  Schreiber  ohne  Jagdschein,  der  ihm  da  ins 
Gehege  kommt!  Auf  dem  Nestroyboden  hat  sich  einmal  der 
Anton  Kuh  getummelt!  Da  hat  ihn  der  Krausjiinger  Niirnberg 
dabei  betroffen  und  jammerlich  verrissen!  Das  war  einZufall! 
Und  als  mich  nun  Karl  Heinz  Martin  beauftragte,  die  t1GroB- 
herzogin  von  Gerolstein"  fur  die  Volksbuhne  zu  renovieren, 
da  , ,  .  mit  einem  Wort;  ich  halte  von  Zuf alien  nichts,  und 
deshalb  teilte  ich  meine  Zufallsbedenken  dem  ersten  Kritiker 
der  Zwolfuhrzeitung  mit!  ,,Aber  nein!"  sagte  er.  ,,Der  Nurnr 
berg  wird  nicht  schreiben!  Der  ist  befangen!1'  Und  das  fand 
ich  sehr  loyal! 

Und  bei  der  Premiere  saB  auch  richtig  der  erste  Kritiker 
im  Parkett!  Doch  er  schrieb  nicht!  Aber  am  zweiten  Abend 
saBen  in  der  ersten  Reihe  nebeneinander  der  BuBprediger  und 
sein  Jiinger!  Dem  BuBprediger  gefiel  meine  Bearbeitung 
nicht!  Das  war  sein  gutes  Recht!  Der  BuBprediger  storte 
die  Vorstellung  durch  Zurufe  auf  die  Biihne!  Das  war  weni- 
ger  fein,  denn  man  spielte  ja  die  Arbeit  eines  Konkurrenten! 

Nun  spielte  der  Zufall!  Als  die  Schauspieler  mir  be- 
richteten,  daB  dem  Vor-Bearbeiter  meine  Bearbeitung  zufallig 
auffallig  miBfiele,  da  auBerte  ich  gleich:  Eine  dumpfe  Ahnung 
sagt  mir,  daB  die  Vorstellung  auch  dem  Jiinger  in  der  Mor- 
genkritik  miBf alien  wird!     Also   geschah  «s! 

Es  geschah  in  einer  fanatischen,  ja  man  konnte  fast  mei- 
nen:  unsachlichen  Art,   die  mit  dieser  Verleumdung  anhob: 

Als  Bert  Brecht  vor  langerer  Zeit  nachgewiesen  wurde,  daB  er 
in  seiner  prachtigen  Bearbeitung  der  „Dreigroschenoper"  einige  Verse 
der  eingelegten  Balladen  einer  Obersetzung  entnommen  hatte,  brach 
ein  Sturm  los,  daB  man  annehmen  mufite,  die  literarische  Welt  sei 
in  ihren  Grundfesten  erschuttert.  Mehring  tut  doch  wohl  nichts 
andres,  wenn  man  in  seiner  Bearbeitung  hier  und  da  Verse  der  be- 
wahrten  Ubersetzung  des  Julius  Hopp  findet,  Ihm  diirfte  weniger 
geschehen,  da  er  bei  weitem  nicht  so  unbeliebt  wie  Bert  Brecht  ist,  des- 
sen  hinreiBendes  neues  Werk:  Die  heilige  Johanna  der  Schlachthofe 
viel  eher  auf  die  Buhne  des  Volkes  gehorte  als  diese  salz-  und  kraft- 
lose  Offenbachbearbeitung,  Aber  ein  Mann  wie  Mehring,  der  doch 
sicherlich  den  Kreisen  nahesteht,  die  damals  Brecht  so  scharf  ver- 
urteilten,  sollte  schleunigst  daftir  sorgen,  daB  der  Name  Hopp  auf 
dem  Theaterzettel  erscheint,  obwohl  dann  die  Gefahr  besteht,  daB 
man  den  alten  Hopp  wiederum  fiir  einige  der  schlechten  Verse  des 
jungen   Mehring   verantwortlich  macht. 

930 


Was  nicht  auszudenken  ware! 

Zufaliig  schloB  diese  Kritik  mit  eincr  Hymne  auf  Karl 
Kraus, 

* 

Nun  ist  dcm  Junger  noch  ein  zweiter  Freundschaftsdienst 
passiert,  der  wieder  kein  Freundschaftsdienst  ist,  namlich: 
die  Erwahnung  Bert  Brechts,  dessen  Fall  er  kurzweg  einen 
Fall  Mehring    nachkonstruiert. 

Was   aber   nicht   zugunsten  Bert   Brechts  ausfallt! 

Brecht  —  vom  Meister  lange  tief  verachtet,  doch  kurz- 
lich  sanktioniert  —  Brecht  hatte  die  Autoren  Villon,  Rimbaud,' 
Verlaine  und  ihren  Obersetzer,  deren  Arbeiten  er  in  die  eige- 
nen  eingefiigt  hatte,  zu  nennen  vergessen. 

Ich  habe  den  Erst-Obersetzer  der  Offenbachoperette 
nicht  genannt.  Im  Klavierauszug  steht  kein  Name!  Auf  dem 
deutschen  Libretto  steht  kein  Name!  Im  Musikkatalog  steht 
kein  Name!  Henseler,  der  die  umfangreichste  Biographie 
Otfenbachs  schrieb  ,  nennt  keinen  Namen!  Der  deutsche  Ver- 
leger  Offenbachs  erklarte,  nach  Durchsicht  der  Archive,  der 
Name  des  ersten  Obersetzers  stehe  nicht  fest  und  konne  nicht 
genannt   werden! 

Ich  lieB  fiinfzehn  Zeilen  Chor  und  Duett,  dreieinhalb 
Zeilen  Rezitativ  —  die  Halbzeilen  zusammengerechnet  —  so, 
wie  ich  sie  im  Klavierauszug  fand!  Ich  habe  keine  fremden 
Autoren  bemuht!  Fast  alle  Lieder  schrieb  ich  neu  —  die  an- 
dern  iibersetzte  ich  neu!  Und  formulierte  auf  dem  Theater- 
zettel:  ,,Nach  dem  Franzosischen  der  Halevy  und  Meilhac  in 
freier  Bearbeitung  mit  neuen  Gesangstexten . ,  ."  DaB  ich 
der  Handlung  eine  nque  Wendung  gab,  werden  mir  Meister 
und  Junger  zugestehen  mtissen!  DaB  ich  neue  Gesangstexte 
schrieb,   werden   sie   nicht   leugnen  konnen! 

Ihre  Pietat  hat  mich  herzlich  geriihrt!  Sie  haben  zufal- 
lig nebeneinander  gesessen,  und  da  ist  auf  mythischem  Wege 
der  bewahrte  Hopp  voh  dem  Hirne  des  einen,  der  sich  immer 
sehr  anfechtbarer  Medien  bedient,  in  den  Kopf  des  andern  ge- 
drungen.  Und  dann  ist  in  diesem  Kopf  der  Wunsch  ents tan- 
den,  mich  Hopp  zu  nehmen. 

Aber  der  bewahrte  Hopp  hat  sich  gar  nicht  bewahrt! 

Weder   als   Obersetzer   noch  als  Plagiatsvorwurf! 

(Fur  Literarhistoriker:  Hopp  ist  der  Autor  der  wiener 
Bearbeitung,   nicht   der   im   Klavierauszug   enthaltenen!) 


Lieber  Leser,  sei  mir  nicht  bose,  daB  ich  Wichtigerem  so 
viel  Platz  wegnahm!  Ich  wehrte  nur  einen  Plagiatsvorwurf 
ab,  der  nichts  ist  als  der  Versuch  einer  frommen  Gemein- 
schaft,  unliebsame  Konkurrenten^  madig  zu  machen.  Einer 
ulkigen  Sekte,  die  aileinseligmachende  Stil-Traktatchen  ver- 
treibt  und  iiberali  Verleiimdungen  verbreitet! 

Und  die  mich  einmal  in  die  Verlegenheit  brhtgt,  die  langst 
abgetane  Affare  des  Dichters  Brecht,  dessen  Arbeiten  ich 
aufrichtig   schatze,   einzubeziehen. 

Wenden  wir  uns  wieder  gegen  die  wirklichen  Feinde! 

931 


StH  Und  Stumpfsinn  im  Film  von  Rudolf  Arnbeim 

P*tir  die  Beurteilung  von  Filmen,  viclleicht    von  Kunstwerken 

liberkaupt,  gibt  es  eine  merkwiirdige  Kegel:  sckleekte 
Filme  werdea  besser  behandelt  als  gute.  Vor  dem  scbleckten 
Film  sitzt  der  Besucker  froklick  und  duldsam,  mit  einem 
imagtnareri  Zigarrenstummel  im;  Mundwinkel;  er  teilt  seine 
Aufmerksamkeit  zwiscben  der  Leinwand  und  seiner  Beglei- 
terin,  und,  eingehakt  in  diese,  verlaBt  er  nach  SchluB  der 
Vorstellung,  einen  fadenscheinigen  Schlager  auf  den  Lippen, 
angeregt  das  Kinoi  um  den  angebrochenen  Abend  anderswo 
zu  beenden.  Uber  den  guten  Film  hingegen  sitzt  der  Be- 
sucker  im  Parkettsessel  zu  Gericht.  Er  lackt  mir,  wenn  es 
unbedingt  sein  muB;  er  miBbilligt  es,  wenn  die  Nachbarin  ins 
Tasckentucb  sckluckzt  —  er  miBt  mit  JakrkundertmaBstaben. 
Auf  der  Leinwand  ersckeint  der  Angeklagtet  um  den  Best  en 
seiner  Zeit  genug  zu  tun,  und  weke,  wenn  er  den  Weltrekord 
um  ein  Bruckteilcken  unterbietet.  Es  ist,  als  sckimpfte  je- 
mand  vom  Funkturm  herunter,  daB  man  da  oben  so  bitter 
niedrig  stande  —  nur  weil  der  Eiffelturm  nock  koker  ist. 

Aber  dies  Auf-  und  Absckweben  der  MaBstabe  ist  nickt 
der  einzige  Grund  fur  dast  wovon  kier  die  Rede  sein  solL 
Namlick  dafiir,  daB  die  gebildeten  Leute,  wenn  sie  aus  einem 
neuen  Chaplinfilm,  Lubitscbfilm,  Russenfilm  kommen,  den 
Mund  verzieken  und  sagen;  „Ack,  das  kennt  man  ja  nun 
sckon!  Immer  dasselbe",  Sie  sagen  das  immer  dana,  wenn 
sick  die  seltene  Gelegenkeit  bietet,  so  etwas  wie  eineh  Stil 
in  der  jungen  Filmkunst  zu  konstatieren. 

Dies  berilbrt  sekr  merkwiirdig,  wenn  man  bedenkt,  daB 
bei  der  Bewertung  andrer  Kunstwerke  vor  allem  auf  die 
Stileinkeit  geacktet  wird.  Was  man  an  Rubens,  Beetboven, 
Knut  Hamsun  so  scbatzt,  ist  die  kervorsteckende  Eigenart, 
die  Gescklossenkeit  des  Oeuvres,  die  das  Besondre  jedes  Ein- 
zelwerks  stark  tiberdeckt.  Vergleicbt  man  zwei  Mickelan- 
gelos,  eine  Madonna  und  einen  Medizaer,  so  wird  man  die 
Aknlickkeit  der  Form  auffalliger  finden  als  die  Versckieden- 
keit  des  Gegenstandes.  Gekt  einer  ins  Konzert,  um  eine  ikm 
nock  unbekannte  Beetboven-Sinfonie  zu  koren,  so  wird  er 
nickts  erwarten  als  ein  neues  Beispiel  einer  ikm  eng  vertrau- 
ten  Musikform.  Gekt  er  aber  ins  Kino  zu  einem  neuen 
Ckaplinfilm  und  findet  er  dort  Ckaplin,  so  ist  er  enttausckt. 

Nun  darf  man  allerdings  beim  Film  eine  gewisse  Einfor- 
migkeit  der  Mackart,  die  sick  einf ack  aus  den  Materialbedin- 
giingen  dieser  Kunsttecbnik  kerleitet,  nickt  mit  sckopferi- 
sckem  Stil  verweckseln.  In  alien,  auck  in  scbleckten  Filmen 
findet  man  eine  gewisse  Art,  eine  Szene  aus  Total-  und  GroB- 
aufnakmen  zusammenzusetzen,  eine  Liedstropke  durck  Bild- 
wandel1  aufzulockern,  einen  SckoBkund  oder  ein  Telepkon  als 
episodisckes  Handlungsmotiv  zu  verwenden.  Das  gesckiekt, 
weil  es  bequem  und  praktisck  ist.  Es  sind  gangige  Dolmet- 
sckermetkoden  fiir  die  Obersetzung  von  Wirklickkeit  in  Film. 
Aber  diese  Formmittel  sind  so  blafi,  inkonsequent  und  ober- 
flacklick  verwendet,  daB  sie  keinen  Stil  ergeben.  Nur  ganz 
wenigen  Filmkiinstlern  ist  es  bisker  gelungen,  die  Gestaltungs- 
932 


mdglichkeiten,  die  der  Film  bietet,  zu  ciner  eignen  „Palette" 
zu  verdichten,  'Nur  dort.finden  wir,  was  der  einzige  Sinn 
jedcs  Kunstwerks  ist:  die  Welt  von  einem  bestimmten  Ge- 
sichtswinkel  aus  gedeutet,   gesichtet,   vorgestellt. 

Warum  mm  erregt  das  Argernis  statt  Freude?  Nun 
eben,  weil  cine  so  stark  und  durchgangig  formbetonte  Arbeit 
in  der  Filmkimst  noch  etwas  sensationell  Seltenes,  etwas 
ganz  aus  dem  Rahmen  Fallendes  ist.  In  den  iibrigen  Kunsten 
pflegen  auch  schkchte  un<i  mittlere  Werke  bestimmten  Form- 
gruppen  anzugehoren.  Man  kann  sie  danach  sortieren.  „Eine 
miBverstandene  Kokoschka-Landschaft  mit  Picasso -Figuren/* 
—  „Ein  versiiBter  Chopin  mit  Richard-StrauB-Orchester."  Die 
schlechten  Werke  sind  blasse  Abziige,  Promenadenmischun- 
gen  der  gut  en.  Nicht  so  beim  Film,  teils  weil  er  noch  fast 
ganz  ohne  Formtradition,  teils  weil  er  eine  so  naturnahe 
Kunsttechnik  ist,  Eine  Zeichnung,  eine  literarische  Beschrei- 
bung  oder  gar  ein  Musikstiick  muB  schon  deshalb  viel  mehr 
Form  zeigen,  weil  die  Arbeit  vom  Materia^  nicht  vom  Ge- 
genstand  her  ihren  Ausgang  nimmt.  Die  Photographie  eines 
Hauses  wird  zumeist  nicht  viel  mehr  bieten,  als  eben  das  Ge- 
genstandliche;  wer  aber  ein  Haus  zeichnen  will,  hat  ein  lee- 
res  Papier  und  einen  Bleistift  vor  sich  und  muB  das  Haus  mit 
Formmitteln,  die  er  zu  wahlen  hat,  schaffen.  Deshalb  sind 
die  meisten  Durchschnittsfilme  nichts  als  diirftig  erzahlte 
Geschichten,  bei  denen  sich  das  Formal e  auf  die  gelaufigen 
Handwerkskniffe  beschrankt.  Und  deshalb  heben  sich  die 
stilbetonten  Filme  so  verdachtig,  so  penetrant  heraus;  als 
etwas  der  Art  nach,  nicht  nur  dem  Grade  nach  Andres,  Und 
man  halt  leicht  fur  manieriert,  was  doch  eine  natiirliche  und 
notwendige  Eigenart  jedes  Kunstwerks  ist! 

Grade  in  letzter  Zeit  haben  wir  ubrigens  auch  manchmal 
typische  Epigonenfilme  gesehen.  Und  diese  zeigen  nun  deut- 
lich  den  Unterschied  zwischen  Manier  und  Stil.  Die  Stil- 
mittel  der  GroBen,  die  der  Epigone  ubernimmt,  wirken  in 
seiner  Arbeit  oberflachlich  und  als  Fremdkorper.  So  etwa 
in  „Wer  nimmt  die  Liebe  ernst?"  das  Chaplinhiitchen  auf 
dem  Kopf  des  ganz  unchaplinhaften  Schauspielers  Max  Hansen 
und  einige  streng  stilisierte,  fast  choreographische  Grotesk- 
szenen  in  diesem  sonst  naturalistischen  Film.  In  „Der  Kon- 
greB  tanztM  ist  das  Spalier  der  singenden  Menschen  von  Lu- 
bitsch  iibernommen  und  derart  ausgespielt,  daB  es  seine  Wir- 
kung  verliert.  Hingegen  finden  wir  im  HBraven  Sunder"  ein 
Motiv,  das  aus  Feyders  flNeuen  Herren"und  letztlich  aus  der 
Traumszene  in  Chaplins  ,,Kid*'  stammt:  die  fliegenden  Engel. 
Jedoch  steckt  dieser  Einfall  in  Kortners  Film  so  organisch,  er 
folgt  so  naturlich  und  richtig  aus  der  Situation  und  paBt  so 
in  die  j.Palette",  daB  man  hier  nicht  von  manieristischer 
Nachahmung  sprechen  kann.  Es  laBt  sich  also  auch  im  Film 
notwendige  Form  von  bloB  entlehnter  Form  gut  unterscheiden. 

Deshalb  muB  gefordert  werden,  daB  man  bei  den  wenigen 
wirklich  formschaffenden  Filmkiinstlern,  die  wir  haben,  nicht 
fur  Monotonie  halte,  was  Stil  ist,  nicht  fur  Manier,  was 
Eigenart  ist.     Auch  bei  Chaplin,  auch  bei  den  Russen  gibt  es 

933 


gelegentlich  leere  Wiederholungen.  In  eincr  jungen  Kunst 
schlaft  Homer  haufiger  als  in  einer  alten.  Aber  man  halte 
sich  nicht  an  solche  Ausnahmen.  Man  sehe  die  Monotonie 
dort,  wo  sie  wirklich  ist:  in  der  physiognomielos,  stillos  her- 
untergedrehten    Durchschnittsware    der    Vergnugungsindustrie. 


StfinipSel   von  Peter  Panter 


VJ^enns  gut  geht,  wirft  sich  der  Unternehmer  in  die  Brust;  sein  Ver- 
w  dienst  beruht  auf  seinem  Verdienst,  und  weil  er  das  Risiko  ge- 
tragen  hat,  will  er  auch  den  Hauptanteil  des  Gewinnes  fur  sich, 

Wenns  schief  geht,  sind  die  Umstande  daran  schuld.  Dann  mufi 
der  Staat  einspringen  und  das  Defizit  decken,  denn  Kohlengruben, 
Stahlwerke  und  die  Landwirtschaft  diirfen  nicht  Not  leiden.  Und  sie 
leiden   auch  keine  Not,  weil  sie  notleidend  sind. 

Auf  alle  Falle  aber  kann  der  Unternehmer  nichts  dafiir,  er  tragt 
die  Verantwortung,   und  wir  tragen  ihn. 

* 

Um  wie  viel  stiller  ginge  es  in  tnanchen  Familien  zut  wenn  sich 
alle  Frauen  Manner  kaufen  konnten! 

* 

Bei  einem  franzosischen  Zeitungsartikel  mufi  man  sich  immer 
fragen:   „Was  will  der  Mann?"  und:  „Wcr  hat  ihn  dafiir  bezahlt?" 

Bei  einem  deutschen  Zeitungsartikel  mufi  man  sich  fragen:  „Was 
verschweigt  er?"  und:  „Wer  hat  ihn  dafiir  auf  die  Schulter  geklopft?" 

* 

Mit   dem  Tode  ist   alles  aus.    Auch  der  Tod  — ? 

Neben  manchem  anderm  sondern  die  Menschen  auch  Gesprochnes 
ab.     Man  mufi  das  nicht  gar  so  wichtig  nehmen. 

* 

Kleine  Nachricht.     Die  Ausreisegebiihr  aus  den  hamburger  Zucht- 

<hausern  ist  um  40  Mark  erhoht  worden. 

* 

Ist  es  ein  Zufall,   dafi  die  Vertreter  der  wildesten  Gewaltlehren, 

Nietzsche,  Barres,  Sorel,  keine  zwanzig  Kniebeugen  machen  konnten? 

Es   durfte  kein  Zufall  sein, 

* 

Schade,  dafi  es  nicht  im  Himmel  einen  Schalter  gibt,  bei  dem  man 
sich  erkundigen  kann,  wie  es  unten  nun  wirklich  gewesen  ist, 

* 

„Er  wufite  um  die  Geheimnisse  des  Seins ..."  solche  Wendungen 
sollte   man  auf  Gummistempel   schneiden  und  dann  verbrennen. 

* 

Max  Liebermann  ware  auch  ohne  Hande  ein  grofier  Bankier  ge- 
worden. 

Wenn   ein  Mann   weifi,    dafi   die   Epoche  seiner   starksten  Potenz 

nicht  die  ausschlaggebendste  der  Weltgeschichte  ist  — :   das  ist  schon 

sehr  viel. 

* 

Er  war  hochmutig  wie  der  Sohn  einer  zweiten  hamburger  Fa- 
milie,    aber   etwas   gebildeter. 

Dieses   Madchen  ist   hoflich-sinnlich, 

* 
Der   Schriftsteller   Fulop -Miller   ist  grundlich  oberflachlich. 

•* 
Was   sagte  wohl  ein  Wirtschaftsfiihrer,  wenn  wir  ihm  s einen  Be- 
trieb  so  schilderten,  wie  er  ihn  zwei  Jahre  spater  im  Prozefi  schildern 

934 


wird?  Wean  wir  also  sagten:  nDu  weifit  gar  nicht,  was  hier  vorgeht, 
oder  du  willst  es  nicht  wissen;  urn  dich  herum  wird  betrogen;  du  bist 
geistig  nicht  auf  der  Hbhe,  fast  in  der  Nahe  des  Paragraphen  ein- 
undfunfzig;  urn  dich  herum  wird  bestochen!"  Das  alles  darf  aber  erst 
ausgesprochen  werden,  wenn  der  Kerl  tausend  Unschuldige  in  seine 
Pleite  hineingezogen  hat* 

Es  gibt  skeptische  Arzte  und  Arzte  mit  Bart.  Oaruber  darf  man 
aber  nicht  vergessen:  es  gibt  auch  skeptische  Patienten  und  solche 
mit  Bart.  Zeileis  ist  unter  anderm  ein  Wunschbild  seiner  Kranken. 
Bart  will  Bart. 

Kurzer  Hinweis  auf  Zehnsassa  von  Helmut  Kiaffke 

Vehnsassa  ist  ein  FuBball,  dessen  Hauptbeschaftigung  darin  besteht, 
"'  sich  auszuruhn,  wenn  nicht  mit  ihm  gespielt  wird.  Man  spielt  je- 
doch  unausgesetzt  mit  ihm,  Er  ist,  obwohl  FuBball  von  Gebliit,  nicht 
ohne  Zeichen  verdrieBender  Entartung:  sobald  die  FuBspitzen  der 
Spieler  in  sein  Leder  knallen,  empfindet  er  neben  unvermitteltem 
korperlichem  Schmerz  bescheidenes  Unbehagen  des  Verknaultseins, 
der  richtunglosen  Bewegung  nach  einem  Gesetz,  das  sich  aus  dem 
Gegeneinander  verschiedener  Willens-  und  Kraftstarken  fiir  ihn  ergibt; 
ja  —  sein  Unbehagen  steigert  sich  zu  aufrichtiger  Trauer,  wenn  er  — 
vielleicht  bei  einem  1 1-Meter-Schu8  —  unverbliimt  ins  Tor  gezielt 
wird  und  nur  —  wie  stets  —  mit  plotzlich  von  seiner  Oberflache  nach 
innen  zusammenstiirzenden  Empfindungen  hart  auf  die  Kante  des 
Torpfostens  schmettert;  er  rollt  dann  blutleer  still  beiseite  und  fuhlt 
aus  ubergroBer  Entfernung,  wie  die  Spieler  mit  gesenkten  K  op  fen  zu- 
sammentreten  und  sich  ernsthaft  fragen,  ob  er  eigentlich  fiir  das  Spiel 
tauge,  ob  man  nicht  zuviel  Hoffnung  in  ihn  gelegt  habe  oder  —  diese 
Frage  jedoch  wird  schon,  ehe  man  sie  stellt,  durch  entschiedenes 
Kopfschutteln  verneintt —  ob  er  gar  kein  FuBball  sei?  Soviet  ist 
sicher;  man  hat  noch  nie  ein  Tor  mit  ihm  geschossen, 

Sein  Leder,  urspriinglich  adlig  glanzend  wie  gelackt,  ist  weich 
und  nur  von  matter  Farbe:  er  wirkt  im  ganzen  wie  ein  SaffianfuB- 
ball,  und  da  alle  seine  Nahte,  soweit  man  das  von  auBen  beurteilen 
kann,  fest  sitzen  und  sogar,  wenn  man  sie  gegen  das  rechte  Licht 
halt,  wie  frisch  gewachst  leuchten,  gibt  man  alle  Bedenken  auf  und 
spielt  weiter. 

Zehnsassa  steht  still  mit  eingebogenen  Knien,  darait  er  nicht  nach 
Anpfiff  unerwartet  aus  senkrechter  Haltung  gehoben  werde  —  er  ist 
entartet,  aber  gleichermaBen  wie.  sein  Leder  weicher  und  empfind- 
licher  wird  und  die*  Enden  seines  naturgemaB  ungeahnten  Nerven- 
systems  sich  freilegen,  erstarkt  sein  Wille  und  seine  Klugheit  im 
Kleinen:  er  weiB  schliefilich  einen  Unterschied  zu  machen,  ob  der 
Stiefel,  weicher  ihn  schiefit,  frisch  gewichst  oder  vernachlassigt  ist, 
und  an  wiederholten  Beobachtungen  solcher  'Art  wird  er,  da  ihm  die 
blankgeputzten  Stiefel  bisweilen  in  der  Mehrzahl  scheinen,  infolge 
der  sich  daraus  ergebenden  moralischen  Befriedigung  zu  einem  erfreu- 
lichen  Lebensbejaher. 

tfbrige  Anmerkung:  Zehnsassas  Alter  und  Tod  betretfend 
Sie  halt  en  ihn  fiir  jung.  Verglichen  Sie  aber  die  Entfernung 
jener  von  ihrem  Tode,  welche  sich  alt  nennen,  mit  seiner  Entfernung 
von  seinem  Tode,  so  konnte  vielleicht  gesagt  werden:  er  ist  der  Alte- 
sten  einer.  Es  ist  moglich,  daB  er  sich  einmal  das  Leben  nehmen 
wird,  und  ich  glaube  nicht,  daB  er  dazu  sehr  viel  uberwinden  muB: 
was  an  Lebenshoffnungen  verloren  scheint,  kehrt  als  Todeshoffnung 
wieder;  er  gleitet  leise  in  einen  Zustand  hinein,  aus  dem  heraus  der 
Tod   sein  letztes  Gliick  bedeutet, 

935 


SctlUltheifi-KuliSSen  von  Rolf  Horney 

W/enn.  ein  Kaufmann  bunder  tt  a  usend  Mark  verlorcn  -hat  und 
seinem  stillen  Teilhaber  (oder  Glaubiger  gefalscbte  Bilanzen 
vorlegt,  so  bemiiht  man  sich,  diesen  Tatbestand  fcstzustellen, 
der  Mann  verschwindet  aui  einige  Zeit  hinter  SchloB  und  Rie- 
gel,  und  die  Sache  ist  erledigt.  Geschieht  genau  dasselbe  in 
dcr  Prcislagc  von  zchn  Millionen  Mark  aufwarts,  in  der  die 
stillen  Teilhaber  Aktionare  heiBen,  so  ist  das  eine  Affare.  Eine 
Affare  aber  ist  langst  nicht  in  erster  Linie  juristischer  Tat- 
bestand, Vor  allem  andern  ist  sie  Kampfobjekt.  Ein  Akt  des 
Wirt sch aft skampfes  oder  auch  der  Politik  ist  schon  ihre  Auf- 
deckung,  wenn  es  sich  nicht  grade  um  schlechterdings  unver- 
meidlich  gewordene  Riesenzusammenbriiche  handelt,  wie  bei 
der  Frankfurter  Allgemeinen  Versicherung  und  beim  Nord- 
wolle-Konzern.  In  dem  frankfurter  ProzeB  gegen  die  Favag- 
Direktoren  bemiiht  man  sich  nun  schon  seit  Woe  hen,  mit  einem 
Zeugenaufmarsch  der  Hereingefallenen  und  Blamierten  die 
Jahre  zuriickliegenden  Vorgange  zu  durchleuchten,  und  das  ein- 
zige  Licht,  das  dem  ermiideten  Zeitungsleser  dabei  auf  gehen 
konnte,  ist  die  Feststellung,  daB  offenbar  alle  Beteiligten  be- 
miiht sind,  das  Interesse  in  einer  Wolke  von  Material  und 
Langerweile  zu  ersticken.  Ganz  anders  aber  liegen  die  Dinge 
im  SchultheiB-Fall. 

iDie  SchultheiB-Brauerei  ist  nicht  zusammengebrochen,  EHe 
Glaubiger,  die  bei  den  Krachs  in  Frankfurt  und  in  Bremen  urn 
riesige  Million ensumm en  geschadigt  worden  sind,  verlieren  bei 
SchuIiheiB  nicht  einen  Pfennig.  EHe  Aktionare  behalten  ihr 
Unternebmen  —  ein  Unternehmen,  das  um  teinen  imposanten 
achtstelligen  Betrag  armer  ist,  als  man  ihnen  in  Bilanzen  und 
Prospekten  gesagt  hat,  das  aber  die  phantastische  Kraft  und 
Rentabilitat  besitzt,  diesen  AderlaB  verhaltnismaBig  gesund  zu 
uberstehen.  Die  f aulen  Posten  werden  abgeschrieben,  die  Schul- 
den  langsam  abgedeckt,  kurz  -die  Dinge  gehen  den  Weg,  den 
sie  gehen  muBten,  und  der  im  Oktober  auch  schon  hatte  be- 
schritten  -werden  -konnen,  wenn  man  die  Bereinigung  so  schnell 
und  entschlossen  in  die  Hand  genommen  hatte  wie  in  Fallen, 
die  man  nicht  zur  ,,  Affare"  hat  werden  lassen,  Aiber  nicht 
der  Zusammenbruch  der  Frankfurter  Allgemeinen,  der  erste 
groBe  Aktienskandal  in  der  Serie,  nicht  das  betrugerische 
Debakel  des  bremer  Nazi-Finanziers  Lahusen,  der  groBte  und 
krasseste  Fall,  -ward  die  Sensationsaffare  dieser  Krise  sondern 
ScrmltheiB,  der  am  wenigsten  folgenschwere  Vorgang.  Hier 
hat  das  Gegen  einander  der  Beteiligten  fur  Spannung  und  Auf- 
ma cluing  gesorgt,  und  hier  stent  im  Mittelpunkt  ein  Mann  mit 
dem  einpragsamen  und  des  Natior.alsozialismus  nicht  verdach- 
tigen  Namen  Katzenellenbogen,  der  nooh  dazu  mit  einer  Schau- 
spielerin  verheiratet  ist  und  das  Bolschewiken-Theater  Pisca- 
tors  finanziert  hat. 

Was  bei  SchultheiB  vor  sich  ging  und  noch  vor  sich  geht, 
ist  in  Wahrheit  eine  Sehlacht  in  dem  groBen  Kampf  unter  den 
deutschen  GroBbanken,  und  nach  dem  Wunsche  der  Angreifer 
soil  es  die  letzte  und  entscheidende  Sehlacht  sein.  Um  die 
936 


SchultheiB-Affare  als  das  verstehen  zu  konnen,  was  sie  ist  —  in 
erster  Lime  als  ein  Stuck  aus  der  Geschichte  der  deutschen 
Hochfinanz  und  erst  in  letzter  als  ein  Kriminalfall  —  muB  man 
etwas  zuriickgreifen.  Jahrelang  jag  ten  die  Deutsche  Bank, 
schon  in  der  Vorkriegszeit  die  groBte  der  GroBbanken,  und 
die  erst  nach  dem  Kriege  aus  der  Fusion  der  Darmstadter 
Bank  mit  der  Nationalbank  ebenbiirtig  gewordene  Danatbank 
einander  die  Geschafte  ab.  Manche  Industrie-Kombination 
dankt  ihr  Zustandekommen  oder  ihr  Scheitern  dem  Wettlauf 
der  beiden  Banken  oder  ihrer  Unfahigkeit  zur  Zusammenarbeit, 
Als  die  Danatbank  unter  der  ehrgeizigen  und  ideenreichen 
Fuhrung  des  verhaltnismaBig  jungen  Jacob  Goldschmidt  sich 
in  den  Vordergrund  gespielt  hatte,  erfolgte  der  groBe  Schlag 
der  Deutschen  Bank,  die  Fusion  mit  der  Disconto-Gesellschaft, 
die  ihr  die  Hegemonie  in  der  deutschen  Finanz  sicherte. 

Mit  dem  13.  Juni  dieses  Jahres  wendete  sich  das  Kriegs- 
gKick.  Die  Danatbank  und  Goldschmidt  lagen  am  Boden,  aber  sie  • 
lebten  noch  und  machten  Versuche,  sich  wieder  zu  erheben. 
Mit  Hilfe  eines  Indus triekonsorti urns  suchte  der  zahe  Gold- 
schmidt ihr  eine  neue  Arbeitsbasis  zu  geben,  allerdings  nicht 
ohne  Vorfinanzierung  durch  das  Reich.  Endlich  schien  die 
rettende  Aktion  vor  dem  AbschluB,  da  kam  ein  neuer  StoB 
gegen  das  Prestige  ihres  Urhebers:  die  SchultheiB-Affare. 

* 

Das  schien  noch  einmal  die  groBe  Gelegenheit.  Es  stellte 
sich  heraus,  daB  die  SchultheiB-Direktion  an  der  Borse  eigne 
Aktien  hatte  aufkaufen  lassen  und  die  Engagements  in  den 
Bilanzen  und  Berichten  verschwiegen  hatte.  So  etwas  war 
anderwarts  zwar  auch  schon  vorgekommen,  aber  bei  Schult- 
heiB  waren  die  Kaufe  ^>esonders  groB  und  besonders  teuer  ge- 
wesen.  Es  lag  ein  Verlust  von  runden  dreiBig  Millionen  auf 
dem  Geschaft,  und  zudem  hatte  man  es  nicht  nur  der  Offent- 
iichkeit  sondern  atich  dem  eignen  Aufsichtsrat  verheimlicht. 
Vor  allem  aber  waren  die  Kaufe  durch  die  Danatbank  und 
die  Commerzbank  erfolgt,  wahrend  die  Deutsche  Bank  un- 
beteiligt  war.  Die  Vertreter  der  an  den  Kaufen  beteiligten 
Banken  hatten  gleichfalls  im  Aufsichtsrat  geschwiegen,  in  dem 
anscheinend  iiberhaupt  nicht  viel  gesprochen  worden  istf  und 
nun  konnte  es  losgehen.  Die  Pressestelle  der  Deutschen  Bank, 
hier  einmal  Presseabwehrkanone  genannt,  bekam  Offensiv- 
order.  Stuckweise,  iiber  Tage  verteilt,  tauchten  Informationen 
iiber  die  Vorgange  bei  SchuitheiB  in  der  Presse  auf.  Die 
Handelspresse  wurd-e  zum  Hilfsdienst  gezwungen,  Der  Jour- 
nalist muB  bringen,  was  man  ihm  gibt,  sonst  hat  es  die  Kon- 
kurrenz;  macht  er  nicht  mit,  so  schadet  er  sich,  ohne  Jeman- 
dem  zu  niitzen.  Als  der  Aufsichtsrat  von  SchuitheiB  zusam- 
mentrat,  waren  nicht  nur  aus  Katzenellenbogen  sondern  auch 
aus  den  Vertretern  der  Danatbank  und  der  Commerzbank  im 
Aufsichtsrat  schon  Angeklagte,  aus  dem  Fall  die  Affare  ge- 
worden.  Der  Weg  zu  einer  schnellen  sachlichen  und  perso- 
nellen  Bereinigung  war  veriest,  erst  muBte  untersucht  wer- 
den,  und  unter  dem  Druck  der  allgemeinen  Stimmung  konnte 
Herr   von    StauB,    der    Vertreter   der   Deutschen    Bank,    einen 

937 


PrufungsausschuB  durchsetzen,  in  dem  unter  drci  Hcrren 
auch  der  Notar  der  meisten  bei  d«r  Deutschen  Bank  abgehal- 
tenen  Generalversammlungen,  Justizrat  Meidinger,  saB.  Wer- 
dcn  politische  Wahlen  auf  ahnliche  Wcisc  gemacht,  so  nennt 
man  sie  seit  Biilow  Hottentottenwahien.  Wenn  man  bei 
SchultheiB  vom  Hottentotten-Ausschufi  spricht,  so  soil  damit 
also  weder  die  Reinrassigkeit  noch  der  Glaube  der  drei  Her- 
ren  an  ihre  eigne  Obj  ektivitat  angezweif  elt  werden. 

Erst  nach  ihrer  Wahl  jedoch  rundete  sich  das  BUd  der 
Affare.  Es  st elite  sich  heraus,  daB  noch  groBere  Verluste  als 
auf  den  Aktiengeschaften  mit  <der  Danat-  und  der  Commerz- 
Bank  in  der  jahrelang  falsch  aufgestellten  Bilanz  der  Ostwerke 
lagen,  einer  erst  vor  kurzem  mit  SchultheiB  fusionierten  Kon- 
zerngesellschaft;  und  im  Aufsichtsrat  der  Ostwerke  hat  zwar 
nicht  Herr  Goldschmidt  gesessen,  wohl  aber  Herr  von  StauB, 
In  diese  Bilanz  hatte  man  rund  20  Millionen,  Mark  Bankgut- 
haben  hineingefalscht,  und  der  zweite  Vorsitzende  des  Auf^ 
sichtsrates,  der  Bankdirektor  von  StauB,  scheint  nie  gefragt 
zu  haben,  wo  diese  Bankguthaben  lagen,  obwohl  bei  seiner 
Bank  nur  einige  lumpige  Hunderttausend  Mark  standem.  Hat 
der  Deutschen  Bank  an  den  Millionen  nichts  gelegen?  Das 
ist  mehr  als  die  Polizei  wad  jedenfalls  mehr  als  eine  Bank- 
direktion  einem  ihrer  Mitglieder  erlauben  sollte.  Herrn  Gold- 
schmidt wurde  mit  Recht  vorgeworfen,  daB  er  im  SchultheiB- 
Aufsichtsrat  nach  der  Fusion  mit  den  Ostwerken  nicht  fest- 
gestellt  habe,  wie  weit  die  durch  seine  Bank  vorgenommenen 
Aktienkaufe  die  Gesellschaft  belasten  und  wie  weit  sie  auf 
Rechnung  angeblich  andrer  Konsorten,  also  praktisch  Katzen- 
eLlenbogens,  gingen.  Ober  diese  Kaufe  aber  wurde  laufend  an 
der  Borse  gesprochen  und  in  der  Handelspresse  berichtet.  Be,i 
der  (Deutschen  Bank  hat  man  sich  jedoch  gleichfalls  nicht  da- 
fur  interessiert,  fiir  wen  gekauft  wurde,  obwohl  bei  ihr  Katzen- 
ellenbogen schon  mehrere  Millionen  Schulden  hatte.  Der  Ver- 
dacht,  daB  die  Gesellschaft  mit  Stutzungen  zu  stark  belastet 
wercle,  muBte  hier  also  mindestens  so  nahe  liegen  wie  bei  der 
Konkurrenz.  Diese  Schulden  Katzenellenbogens  bei  der  Deut- 
schen Bank  sind  dann  auf  eine  Tochter gesellschaft  von  Schult- 
heiB uibertragen  worden,  und  Herr  von  StauB  hat  das  Pech,  daB 
die  Staatsanwaltschaft  grade  diesen  bei  der  Deutschen  Bank 
durchgefuhrten  und  ihm  als  einzigem  Mitglied  des  Aufsichts- 
rats  bekannten  Akt  zum  Hauptgegenstand  der  Anklage  gegen 
Katzenellenbogen  gemacht  hat.  Die  Danat-  <und  die  Commerz- 
bank  haben  versaumt,  fiir  die  Aufnahme  der  von  ihnen  durch- 
gefuhrten Aktiengeschafte  in  einen  Barsenprospekt  zu  sorgen, 
und  werden  fur  diese  Schluderei  vielleicht  zahlen  miissen.  von 
Herrn  von  StauB  aber  liegt  eine  Aktennotiz  vor,  nach  der 
ein  Abkommen  zwischen  ihm  und  Katzenellenbogen  mit  der 
ausgesprochenen  Absicht  getroffen  worden  ist,  eine  Burgschaft 
nicht  in  diesen  Prospekt  zu  bringen.  Es  ist  etwas  viel  Pech  in 
einer  Sache,  die  man  als  Triumphator  begonnen  hat. 

Inzwischen  hat  der  „Hottentotten-AusschuBM  berichtet,  Er 
gcht  scharf  zu  Gericht  mit  Katzenellenbogen  und  der  Direktion, 
und  was  er  iiber  die  Art  sagt,  in  der  hier  Geschaf te  gemacht 
und  bilanziert  wurden,  soil  ten  sich  eine  ganze  Reihe  von  In- 

938 


dustriefiihrern  hinter  die  Ohren  schreiben.  Er  sagt  iiber  die 
Danatbank  dieses  und  jenes,  darunter  auch  einiges  Unsinnige. 
So  heiBt  es,  d'afi  eine  formale  Umwandlung  des  Aktiengeschafts 
zu  Anfang  des  Jahres  1931  seiner  Verheimlichung  dienen  sollte, 
obwohl  die  Bilanz,  in  der  es  verheimlicht  worden  ist,  damals 
langst  veroffentlicht  war.  Die  Deutsche  Bank  dagegen  wird 
entlastet.  Das  geht  nicht  ohne  eine  Exculpierung  Katzenellen- 
bogens  wegen  der  Obertragung  seiner  Schulden  bei  der  Deut- 
s'cben  Bank  auf  die  Effektenkonsortium-G.<  m,  b.  H.f  in  der 
Staatsanwaltschaft  und  Untersuchungsrichter  eine  aktienrecht- 
liche  Untreue  sehen  wollen.  Der  ProzeB  wird  entscheiden,  aber 
der  AusschuB  geht  auch  hier  bis  zum  offenbaren  Unsinn.  Bei 
einem  Aktienverkauf  Katzenellenbogens  an  die  Effektenkon- 
sortium-G.  m.  b.  H.,  der  zu  200  Prozent  eriolgt  ist,  als  der  Kurs 
170  stand,  macht  man  —  das  ist  in.  dem  veroffentlichten  Aus- 
zug  aus  dem  Bericht  nicht  enthalten  —  eine  Obertragung  unter 
dem  Tageskurs.  Wie  das  moglich  ist?  Man  faBt  den  Verkauf 
einfach  mit  einer  friiheren  Obertragung  im  Tausch  gegen 
G,  m.  b.  H,-Anteile  zusammen,  einen  gar  nicht  vergleichbaren 
Vorgang,  und  rechnet  so  einen  angeblichen  „Durchschnittskurs" 
yon  150  aus.  Hatte  man  das  in  den  Presseauszug  aufgenom- 
men,  so  ware  der  Lacherfolg  sicher  gewesen. 

Das  ist  heute  der  Stand  der  „Affare".    Der  ProzeB  Katzen- 
elienbogen  wird  der  nachste  Kampfschauplatz  sein. 

Heiliger  Abend  von  Erich  Kastner 

Canft    und   leise 
**"  sinken  die  Preise. 
Es  tut  kaum  weh. 

Es  sinken  die  Ldhne. 

Nun   sinkt   auch    der   schone 

weifie   Schnee. 

Das   Fallen   der   Preise   und   Lohne   erzeugt 

Gerausche,   die   etwas   storen. 

Und  wer  sich  nachts  aus  dem  Fenster  beugt, 

Kann   die   Miete   fallen   horen. 

Die   Schuldner   schweigen. 
Die    Schulden    steigen. 
Das  Geld   wird  alt. 

Es    kann   kaum   noch   laufen. 
Was  soil  ich  dir  kaufen 
bei  diesem   Gehalt? 

Kein  Christbaum  brennt  im  Hinterhaus, 
Gib   mir   die   Hand! 

Mein  liebes   Kind,  das.  Geld   stirbt   aus. 
Vater  hats   noch  gekannt, 

Schau  doch  mal  in  die  Kammer  hinuber. 
Der   Junge   schreit. 
O  du  frohliche,  o  du  selige 
schadenbringende   Weihnachtszeit  1 

939 


Bemerkungen 

Basel 

C\  as  empf  inde  ich  jedesmal, 
*^_  wenn  ich  durch  Basel  komme, 
aber  es  hat  noch  keiner  geschrie- 
ben . . .  keiner. 

Der  vollkommene  Wahnwitz 
des  Krieges  muB  doch  jedem  auf- 
gegangen  sein,  der  da  etwa  im 
Jahre  1917  auf  diesem  Bahnhof 
gestanden  hat.  Da  klirrten  die 
Fensterscheiben;  da  murrten  die 
Kanonen  des  Krieges  heriiber ; 
wenn  du  aber  auf  diesem  Bahn- 
hof einem  Beamten  auf  den  FuB 
tratest,  dann  kamst  du  ins  Kitt- 
chen.  Hier  durftest  du  nicht. 
Dort  muBtest  du.  Und  wer  dieses 
Murren  der  Kanonen  horte,  der 
wuCte:  da  morden  sie.  Da  schla- 
gen  sie  sich  tot.  Ein  halbes 
Stundchen  weiter  —  da  tobte  der 
Mord.  Hier  nicht.  Das  hat  kei- 
ner geschrieben,  merkwiirdig, 

Ich  weifi  ja  nicht,  wie  sie  das 
gemacht  haben,  dafi  die  Kugeln 
der  beiderseitigen  Vaterlander 
nicht  auf  schweizer  Gebiet  abge- 
irrt  sind,  und  manchmal  sind  sie 
ja  wohl,  und  wenn  ich  nicht  irre, 
hat  es  auch  dadurch  auf 
schweizer  Seite  einen  Toten  ge- 
geben  oder  zwei.  Es  steht  da  von 
dem  groBen  englischen  Grotesk- 
Zeichner  W.  Heath  Robinson  in 
„Some  Frightful  War  Pictures'* 
ein  grandioses  Blatt:  (tEin 
schweizer  Schafer  sieht  einer 
Schlacht  an  der  Grenze  zu,"  Da 
sitzt  also  der  Schafer  inmitten 
seiner  Bahbah-Schafe  und  raucht 
eine  Friedenspfeife,  hinter  sich 
hat  er  einen  Topf  mit  schweizer 
Milch  stehn,  und  auf  dem  benach- 
barten  Berge  steht  eine  Sennerin 


mit  etwas  Ziege,  und  ein  kleiner 
Mann  jodelt  Noten  in  die  Luft . . . 
Die  Grenze  aber  ist  ein  scharfer, 
punktierter  Strich.  Und  hinter 
dieser  Grenze,  da  gehn  sie  auf- 
einander  los,  die  Deutschen  und 
die  Englander,  immer  ganz  genau 
an  der  Grenze  entlang,  und  selbst 
die  heruntergefallenen  Mutzen 
bleiben  artig  im  Kriegsgebiet  lie- 
gen  und  oben  am  Himmel  ist  ein 
wildes  Gewimmel  von  Zepps  und 
Flugzeugen,  aber  immer  hiibsch 
an  der  Wand  lang  und  keinen 
Millimeter  druber.  Und  der  Scha- 
fer raucht. 

So  ahnlich  wird  es  ja  wohl  ge- 
wesen  sein. 

Schade,  daB  das  keiner  ge- 
schrieben hat.  Dieses  Grausen, 
dieses  Herzklopfen  auf  der  einen 
Seite  —  und  die  strenge  Absper- 
rung  auf  der  andern . . .  nichts  ist 
ja  schrecklicher,  als  eine  Mordtat 
zu  horen,  die  man  nicht  sehn 
kann.  Und  an  diesen  Wahnwitz 
denke  ich  immer,  wenn  ich  auf 
dem  Bahnhof  zu  Basel  stehe. 

Ignaz  Wrobe! 

Der  dsterreichische  Remarque 

Tinte  vergieBt  das  Volk 
Stromweise  noch  immer  umsonst. 
Zahllos  mehren  sich  Biicher, 
Die  scbon  im  Druck  sich  erdrucken, 

Diesen  alten  Vers  braucht  man 
nicht  als  Abwehr  gegen  die  Flut 
bedruckten  Papiers  zu  zitieren, 
wenn  man  wieder  ein  gutes  Anti- 
Kriegsbuch  vor  sich  hat.  Dieses 
hier  heiBt:  Der  Marsch  ins  Chaos 
(bei  Hans  Epstein  und  im  Pha- 
donverlag,  Wien).  Sein  Verfasser 
ist    Josef   Hofbauer,   der   Heraus- 


Zur  Erholung  und  xum  Wintersport  in  dieTatra 

Pauschalfahrt  incl.  Reise  hin  und  zurllck,  voile  Pension  (erst- 
klass.  KUche,  alle  Zimmer  flieflend  kaltes  und  warmes  Wasser), 
Bedienung,  Sporttaxe,  zwei  halbtagige  SchlittenausflUge,  unent- 
geltliche  Skikurse. 

Ab  Berlin  14  Tage  165.-,  20  Tage  200.-. 
Ab  Breslau  14  Tage  132.—,  20  Tage  165.—. 
Auskunft  fUr  Berlin  Pfalzburg  7657,  sonst  direkt. 

HAUS  GODAL,  LUBOCHNA,  TATRA 


940 


geber  der  .Tribune',  Prag,  des  Mo- 
natsorgans  der  deutschen  Sozial- 
demokraten  in  der  Tschechoslo- 
wakei.  Dieser  deutsch-oster- 
reichische  Einschlag  macht  sich 
9chon  dadurch  bemerkbar,  daB 
der  Verfasser  nicht  nach  deutsch- 
preuBischem  Rezept  alles ,  was 
deutsch  heiBt,  uber  alles  in  der 
Welt  stellt,  So,  wenn  er  lobend 
beim  Einbruch  in  ein  italienisches 
Dorf  berichtet,  daB  fast  in  jedem 
Hause  eine  Danteausgabe  zu  fin- 
den  .war.  Die  Kameraden  des 
Kaufmanns  und  Landsturmmannes 
Dorniger,  der  im  Mittelpunkt  der 
Geschehnisse  steht,  wtinderten 
sich  daruber,  denn  „Gab  es  ein 
deutsches  Dorf,  in  dem  jedes  Haus 
Bucher  der  grofien  deutschen 
Dichter  barg?" 

Wenn  man  an  Frontbticher  den 
MaOstab  anlegt,  daB  recht  oft 
ein  derbes  Wort  darin  vorkommt, 
so  genugt  dieser  dsterreichische 
Remarque  nicht  ganz  alien  in  die- 
ser Richtung  verwohnten  An- 
spriichen.  Einmal,  als  dem  Ur- 
lauber  sein  Turnvereins-Heimkrie- 
ger  die  ubliche  patriotische  Pre- 
digt  halt,  schreit  ihn  der  Gequalte 
an:  Leckmiamarsch. 

Es  ist  gut,  daB  das  Buch  jetzt 
nicht  in  Deutschland  erschienen 
ist,  denn  sonst  wurde  der  so 
schwarmerisch  gefeierte  kulturelle 
AnschluC  unter  der  Einwirkung 
der  etwa  tausendsten  Notverord- 
nung  Brtinings  zu  dem  KurzschluB 
eines  Verbots  gefiihrt  haben.  So 
despektierlich  spricht  dieser  Hof- 
bauer  uber  alles,  was  dem  Deut- 
schen Religion  sein  sollte:  uber 
den  Patriotismus.  Dornigers  Frau 
sagt  das  kiirzer:  „Die  Politik 
macht  die  Leute  blbd'\ 

Sonst  ist  alles  so  gediegen  er- 
zahlt  wie  in  andern  erlebten 
Btichern  gegen  den  Krieg.  Hier 
noch  kompliziert  durch  den  Na- 
tionalitatensalat      aus      des    ver- 


krachten  habsburger  Kaisers 
MLandergeschaft". 

Bemerkenswert  ist  der  Epilog, 
der  einen  Schriftsteller  mit  dich- 
terischen  Qualitaten  verrat.  Man 
sollte  meinen,  daB  ein  intellek- 
tueller  Beamter  einer  Partei  als 
sogenannten  Helden  eine  Gestalt 
zeichnen  wurde,  die  in  die  Partei - 
farbe  echt  eingefarbt  ist.  Das  tut 
Hofbauer  nicht.  Er  zeichnet  den 
Normalbiirger.  Sein  Dorniger  ist 
ein  einfacher  Mensch.  Unter  dem 
vielfachen  Atmospharendruck  des 
Krieges  wird  er  zwar  wilder  Anti- 
militarist  und  beinahe  knallrot, 
Als  er  aber  nach  zehn  Jahren 
wohlsituierter  Prokurist  gewor- 
den  ist,  denkt  er  mit  steigender 
Genugtuung  daran  zuriick,  wie  er 
die  ,,Katzelmacher"  besiegt  hatte. 
Auf  der  StraBe  marschiert  zwar 
tschechisches  Militar  „Grad  so 
wie  damals,  nur  die  Gewehre  tra- 
gen  sie  anders  . . ." 

DaB  aber  der  Verfasser  diesen 
so  lebenswahren  SchluB  nicht  aus 
seiner  Seele  geschrieben  hat  und 
doch  dadurch  seine  Seele  verrat, 
grade  das  macht  ihn  zum  Ktinst- 
ler  und  nicht  bloB  zu  ein  em  Li- 
teraten,  der  Schriftsteller  ist,  weil 
er  eine  Schrift  zusammenstellt 
Otto  Lekmann-RuBbiildi 

Die  Attrappe 

Tn  den  Schaufenstern  der  Kondi- 
*  toreien  gedeiht  die  unverderb- 
liche  Ware,  Der  Strohhalm  steckt 
tief  bis  zum  Hals  in  der  brau- 
nen  Eisschokolade,  und  die 
Schlagsahne  quillt  weifi  uber  den 
Rand.  Man  fiirchtet,  sie  muBte 
am  glitzernden  Becher  entlang 
ins  UntertaBchen  hinabtraufeln, 
aber  sie  steht  treu  und  fest  wie 
die  Wacht  am  Rhein  in  antiqua- 
rischen'  Schullesebiichern.  Sie 
stiirzt  also  nicht  in  den  Abgrund. 
Und  die  von  Feuchtigkeit  und 
Frische   strotzende  Mandelcreme- 


NIU! 

MAX  ERMERS 


VICTOR  ADLER 


AUFSTIE6  UND  GROSSE  EINER 
SOZIALISTISCHEN  PARTEI 
VERLA6  DR.  H.  EPSTEIN     380  Selten  Kart.  M  5.75,  Lelnen  M  7.25 


941 


torte,  lockt  schon  scit  vicrzehn 
Tagen  unter  Glas  in  der  Sonne, 
aber  sie  schmilzt  nicht.  Und  auch 
der  grofie  Schokoladenberg  mit 
dem  ewigen  Schnee  glanzt  fett, 
seine  treue  braune  Haut  lacht 
uns  an,  in  der  geftillten  Tasse 
funkelt  der  Milchkaffee,  er  zieht 
keine  Haut,  krauselt  sich  nicht, 
die  ewige  Jugend  ist  im  Schau- 
fenster  ausgebrochen.  In  der 
Ecke  fur  unsre  lieben  Kleinen, 
sofern  sie  sauber  und  aus  „gu- 
tem  Hause"  sind,  glitzert  das 
Knusperhauschen  vor  lauter  eitel 
Marzipan  und  Zucker,  gelbe 
Creme  schaumt  im  unverwelk- 
baren  Blatterteig,  die  Phantasi<e 
zaubert  Mokkaduft  und  Back 
stubenwarme  in  die  Nase.  Wir 
riechen  die  Attrappe  nicht,  der 
Tragant  bleibt  nicht  in  unsren 
Zahnen  kleben,  das  Glyzerin, 
mit  dem  diese  Konditorkunst  uns 
prellt,  traufelt  echte  Tranen  der 
Ruhrung  in  unsre  Augen,  Grobe 
Tauschung  mit  Stearin  kodert 
den  Gaumeri,  die  giftfreie  Farbe, 
rait  der  zu  einem  imaginaren  Ge- 
burtstag  ein  „Herzlicher  Gltick- 
wunsch"  aufgespritztf  ist,  bleibt 
frisch  und  neu  auf  dem  Papier- 
macheteig  des  Gebur  tstags  - 
kuchens. 


Die  republikanische  Hofkondi- 
torei  hat  in  sinniger  Weise  zur 
Eroffnung  der  parlamentarischen 
Notsaison  ein  in  Backerkreisen 
vielfach  bewundertes  Modell  des 
Reichstagsgebaudes  in  ihrem 
Schaufenster  ausgestellt.  Die 
Aufschrift  ,,Dem  deutschen 
Volke"  ist  in  der  oben  schon 
erwahnten   giftfreien   Farbe  ange- 


bracht  und  macht  einen  durch- 
aus  wurdigen  Eindruck.  Der 
Reichstag  selbst  ist  ein  mit  Mar- 
zipan tiberzogenes,  durch  Draht 
zusammengehaltenes  Gestell  aus 
Pappe  mit  bengalischer  Fenster- 
beleuchtung,  und  der  republika- 
nischen  Hofkonditorei  mu6 
durchaus  attestiert  werden,  dafi 
ihre  Imitation  der  Naturtreue 
verbliiffend  nahekommt.  In-  und 
auslandischen  Fachmannern 

diirfte  die  Verwendung  von 
Blechformen  auf  Wunsch  gerne 
eingehender  erlautert  werden. 
AuBerordentlich  sinnig  beriihren 
auch  die  aus  Gummi  hergestell- 
ten  Figuren  der  in  den  Reichstag 
stromenden  Abgeordneten,  kleine 
putzige  Mannchen,  die  ebenfalls 
einen  tauschend  echten  Eindruck 
hervorrufen.  Uberhaupt  der  gauze 
Reichstag,  bei  dem  auch  noch 
an  Stearin  und  Glyzerin  in  kei- 
ner  Weise  gespart  wurde,  bietet 
in  dieser  erschutternd  lebens- 
echten  Wiedergabe  eine  fiir  alle 
Zuckerbacker  erstrebenswerte 

Schaufensterauslage  und  diirfte 
bestimmt  unter  den  Attrappen 
dieses  Jahrhunderts  eine  euro- 
paische    Sensation    werden. 

Friedrich    Raff 

Schmock  definiert 

DewuBt  oder  unbewufit,  gewollt 
*-*  oder  ungewollt,  liegt  alien 
reprasentativen  Kampfen  deut- 
scher  und  franzosischer  Teams 
ein  gewisses  „Etwas"  zugrunde, 
das  jeder  fiihlt,  ein  Fluidum, 
dessen  Charakteristikum  eben 
sein  Vorhandensein  ist. 

,12-Uhr-Blatf. 
12,    November    1931 


Leisetreteit  verbietet  sich 

wo  kommende  Generationen  uns  verachten  muBten,  wiirden  wir  nicht  mit 
aller  CTeberzeugung  zum  Ausdruck  bringen,  dafl  wir 

die  B6  Yin  Rd-Biicher 

fur  das  menschheitswichtigste  literarische  Dokument  unserer  Zeit  halten, 
B6  Yin  R&  J,  Schneiderfranken  lebt  selbst  in  stillster  Zuriickgezogenheit, 

was  aber  nicht  hindert,  dafi  seine  Biicher  (auch  bereits  in  mehrere  Sprachen 

ubersetzt)  liber  die  ganze  Welt  hin  unzahlige  Schiiler  fanden. 

Naheres  sagt  die  kostenfrei  erhaltliche  SchrHt  von  Dr.  jur.  Alfred 

Kober-Staehelin :  „Weshalb  B6  Yin  Ra?"  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung 
(gegr.  1816)  Basel-Leipzig, 

942 


Staatenrelgen 
vor  dem  Weihnachtsbaum 

Deutschland: 

Wir  aind  das  klassitche  Land  der  Not. 
Wir  stehen  auf  Du  und  Du  mit  dem  Tod. 
Die  Notverordnunff  1st  unser  Panier, 
Denn  die  Not  wie  die  Ordnun;  kennt  keiner 
wie  wir. 
Deutsth-Oesterreich  : 
Stets  beffinnt  bei  una  der  Rutsch, 
Krforerisch  oder  friedlich. 
1st  der  Anschlufi  heut  auch  futsch, 
Stirbt  sich*  doch  gemutlich. 

It  alien: 
Wir  sind  der  Schwachea  Protektoren 
Und  kampfen  fur  der  Armen  Wohl, 
Fur  die,  die  Geld  und  Land  verioren  t 
Doch  schweigt  beim  Thema:  Sudtirol. 

Spanien: 
Wir  haben  —  ohne  Kriey  —  gelernt, 
Wie  man  die  Monarchic  entfernt. 
Jetzt  lafit  una  schutzen  unser  Land 
Vor  ichlauer  Jesuiten  Hand. 

Frankreieh: 

Gewpnnener  Krie?,  geatapeltes  Gold, 
Wir'  stehn  doch  auf  tonernen  Fufien. 
A  brushing,  welche  wir  immer  gewollt, 
Lafit  nach  nSicherheita  erst  uns  beschltefien. 

England: 
bt  die  Winning1  nicht  normal, 
Dana  regiert  man  national. 
Und  du  Pfund  wird  sich  nicht  rucken, 
Wenn  die  Arbeiter  wir  d  rucken. 

Polen : 
Juden,  Deutsche,  Korridor, 
Machen  viel  Verdrufi. 
Nehmt  den  Friedenstext  mal  vor. 
Drin  steht:  Deutschland  mufil 

Rujitand:  t 

Die  kapitaHstische  Nachbarwelt 
1st  heute  volliy  zerfahren, 
Ihr  fehlts  an  allem,  so?ar  an  Geld. 
Wir  schaffen  es  in  funf  Jahren. 

China: 
O  Volkerbund,  o  Volkerbund, 
Schick  nicht  blofl  Teleyramme, 
Wir  winseln  nach  Dir  wie  ein  Hund, 
Wien  Kind  nach  seiner  Amme. 

Japan: 

Dem  Volkerbunde  wir  restlos  vertraun. 
Wir  sind  ja  mit  ihm  sehr  liiert 
Doch  mussen  wir  erst  mal  China  verhaun, 
Eh  der  Volkerbund  interveniert. 

U.S.A.: 

Machtig  ist  der  Krise  Lauf, 

Und  doch  hort  sie  einmal  auf. 

Wenn  jeder  namlich,  der  heute  rumlungert, 

Im  eigenen  billig-en  Auto  verhungert. 

Ernst  Moritz  Haufig 


Llebe  Weltbflhne! 

Meine  Freundin  Grete  Wal- 
fisch  erzahlt: 

Frau  Thommsen  und  Frau 
Pomraer  gehn  in  Hamburg  bei 
Karstadt  einkaufen.  Und  wie 
sie  nun  so  drei  Stunden  bet  Kar- 
stadt eingekauft  habert,  da  muB 
Frau  Thommsen  miteins..,,  ja, 
und  da  muB  Frau  Pommer  denn 
naturlich  auch. 

Und  wie  sie  denn  auf  Toilette 
kommen,  da  ist  man  nur  ein  Sitz. 
Frau  Thommsen  gent  zuerst,  und 
wie  sie  wieder  rauskommt,  da 
sagt  die  Frau  mit  dem  Tuch: 

„Soll  ich  nochmal  uberwischen 
oder   sind  die  Damen  bekannt?" 

Ein  Liebling  der  deutschen  Musen 

In  einem  Brief  an  den  Verlag 
schreibt  Rudolf  G.  Binding 
iiber  Martha  Saalfeld:  Martha 
Saalfeld  —  rheinisch-pfalzi- 
scher  Erde  und  Luft  angehorig, 
wo  Acker  strotzen  und  der  Wein 
gluht  —  ist  schon  von  ihren  An- 
fangen  an  eine  leidenschaftliche 
Erfiillerin  des  Sonetts.  Die 
Spannung  des  Sonetts,  seine 
Kurve,  sein  Wurf,  seine  Ge- 
drungenheit  und  Unerbittlichkeit 
sind  ihr  Element,  Sie  erftillt  die- 
ses Element  mit  Leidenschaft,  mit 
ihrer  Leidenschaft,  SUB  und  herb, 
weich  und  hart,  gnadig  und  grau- 
sam  stofien  sich  darin,  Eine 
innere,  groBe,  bittersuBe,  fast 
religiose  Tragik  —  wie  die  einer 
Gesangesschwangeren  —  bricht 
von  jeher  aus  ihren  Versen,  die 
fiir  manche  schwer  zuganglich 
nur  den  gleich  ernst  und  erftillt 
Empfindenden  den  Zugang  zu 
einer  reichen,  scheuen  und  sehr 
starken,  von  dem  Ruf  zur  Dich- 
tung  wahrhaft  besessenen  Dich- 
ternatur   erschlieBen. 

Inserat 


ANTOON  THIRY 

DAS  SCHONE  JAHR  DES  CAROLUS 

Roman  aus  dem  HollMndiechen.    Leinen  5,50  RM 

Dieser  Roman  des  Jugendfreundes  Felix  Timmermannft  gibt,  elnzigartig  in  Plastik 

und  Farblgkeit  der  Schilderung,  das  Bild  einer  klelnen   hollandischen   Stadt,  das 

Schlcksal  ihrer  Bewohner  und  ihres  stllrmischen  Helden. 

TRANSNARE    ViRLAQ   A.  -  0.,    BERLIN    W    10 

943 


Sftchsisches 

In  Leipzig  zur  Messezeit.  Vater 
*  liegt  im  Sterben,  es  ist  funf 
Minuteri  vor  sechs,  Aui  cinmal 
rochelt  er:  „Aber,  dafi  ihr  mir 
mei  Bett  bis  um  sieben  ooch  an 
eenen  Messefremden  vermietet 
habt!" 


In  Dresden  wundert  sich  ein 
Fremder,  dafi  es  so  wenig  Buch- 
handlungen  gibt,  worauf  ihm  ein 
Eingeborener  stolz  entgegnet; 
„Nu,  ja,  Biecber  ham  wer  ja  we- 
nich,  aber  dafor  sind  wir  ne 
Kunststadt." 


bruar  spatcstens  den  Thrdn  be- 
steigen  werde  und  daB  ihm  viel 
daran  liege,  schon  jetzt  mit  den 
Prominenten  unter  seinen  Unter- 
tanen  in  Fiihlung  zu  kommen. 

Neulich  verlangte  Majestat  in 
der  Pause,  einem  beruhmten 
Schauspieler  vorgestellt  zu  wer- 
den,  Doch  der  Kunstler,  der  nicht 
gut  gelaunt  war,  lehnte  das,  ob- 
gleich  er  an  diesem  Abend 
Schiller  spielte,  mit  einem  unver- 
kennbaren  Goethezitat  ab, 

Herr  Goering  sah  sehr  ungliick- 
lich  aus.  Es  ist  kein  Vergnugen, 
Hofmarschall  zu  sein.  . 


Eine  will  ein  Zimmer  mieten 
und  fragt  die  Wirtin  nach  dem 
Bad,  nNu,  freilich,  e  Badezim- 
mcr  habch,  da  is  es  Eingemachte 
drinne."  ,iNa,  und  wann  kann 
man  denn  da  baden?"  „Einmal 
in  der  Woche,  da  wird  se  frei- 
gemacht"  „Aber  ich  ,  mochte 
doch  jeden  Tag  baden/*  „Jeden 
Tag  — ?  An  Kokotten  vermiete 
ich  nich." 

Unser  Adolf 

J\  dolf  I.  halt  sich  ofter  in  Ber- 
**  lin  auf ,  um  seine  kiinf tige 
Residenz  nailer  kennen  zu  lernen. 
Sein  Intimus,  Herr  Hauptmann 
Goering,  schiebt  neuerdings  seine 
Falstaff-Figur  durch  die  schma- 
len  Tapetenturen  von  Theater- 
garderoben,  um  beliebten  Schau- 
spielerinnen  zu  erzahlen,  daB 
sein  gar  leutseliger  Herr   im  Fe- 


Hitler  hat  sich,  als  Kammer- 
Secretarius  den  Dichter  Hanns 
Johst  beigelegt,  Der  schreibt  ihm 
seine  Artikel,  Proklamationen 
und  Reden.  Hitler  selbst  steuert 
nichts  bei  als  den  Schaum  vor 
dem   Munde, 

Grauli 

Schaukel-Redslob 

I  ch    hab    ein    Schaukelfpierdchen. 

■"-  Ich  wunsche  mir  dazu 
Ein  kleines  Schaukelhauschen, 
Eine  Schaukelmukuh 
Und  viele  Schaukelbaume. 
Wie  lustig  ware   das. 
Das   gibt   ein   Schaukelwaldchen, 
Das  macht  mir  groBen  SpaB. 
Bruderchens    Schaukelstuhlchen. 
GroBpapas  Schaukelsitz 
Und  ein  Schaukelwindmuhlchen, 
Ein   Schaukel-Alter-Fritz. 

Reichskunstwart  Redslob 


Hinweise  der  Redaktion 

Mannheim. 

Stadtische  Kunsthalle :  Wie  der  Kunstlcr  die  Kunst  sieht.  v 

Bficher 

Henri  Barbussei  Die  Schutzflehenden.    Rascher  &  Co.,  Zurich. 
Georg  Kaiser:  Es  ist  genug.    Transmare-Verlag,  Berlin. 
Heinz  Pol:  Patrioten.    Agis-Verlag,  Berlin. 
Sergej  Tretjakow:  Feld-Herren.    Malik- Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Hamburg  19.30:  Station  3,  Ernst  Johannsen  und  H.  G.  Marek.  —  Muhlacker 
20.25:  Hans  Reimann,  Ferry  Dietrich.  —  Mittwoch.  Muhlacker  19.05:  Ludwig  Mar- 
cuse  liest.  —  Freitagr.  Berlin  12.15:  Ernst  Blafi  liest  —  Breslau  15.30:  Hermann 
Gaupp  liest  Alexander  Graf  Stenbock-Fermor.  —  Sonnabend.  Langenberg  12.15: 
Der  echte  Radikalismue,  Walther  v.  Hollander.  —  Berlin  16.00:  Hans  Siemsen 
spricht. 


944 


Antworten 

Mopr-Verlag,  Berlin.  In  den  letzten  Wochen  hat  man  auf  Grund 
der  Notverordnungen  eine  ganze  Anzahl  proletarischer  Biicher  ver- 
boten.  Uber  zwei  dieser  MaBnahmen,  die  den  t,IHustrierten  Arbeiter- 
Kalender"  und  die  Gedichtsammlung  „Rote  Signale"  betreffen,  wird 
hier  noch  zu  sprechen  sein.  Sie  geben,  als  Schutzwall  gegen  die  Ver- 
seuchung  der  Proletarierwohnungen  mit  der  billigen  Schundliteratur, 
seit  einiger  Zeit  kleine  Heftchen  mit  Erzahlungen  aus  der  Arbeiter- . 
bewegung  heraus.  Die  Polizeiprasidenten  von  Stuttgart  und  Chemnitz 
haben  nun  dieser  Tage  fur  ihren  Bereich  den  Vertrieb  des  zweiten 
Heftchens  mit  einer  Erzahlung  von  Kobayashi  „Der  15.  Marz"  verbo- 
ten.  Besonders  grotesk  ist  die  stuttgarter  Begriindung;  „In  der  ver- 
herrlichenden  Schilderung  eines  Vorfalls  aus  der  Geschichte  der  ille- 
galen  kommunistischen  Partei  Japans,  wird  der  ungesetzliche  Kampf 
der  japanischen  Kommunisten  als  ein  nachahmenswertes  Beispiel  ge- 
feiert.  Dadurch  sollen  auch  die  deutschen  Leser  und  ,Klassengenos- 
sen*  zum  Ungehorsam  gegen  Gesetze  und  rechtsgiiltige  Verordnungen 
angereizt  werden."  DaB  diese,  iibrigens  ganz  ruhig  und  unrevoluzzerisch 
vorgetragenef  Erzahlung  darstellt,  wie  Verhaftete  ungesetzlich  in  der 
Polizeiwache  festgehalten  und  geprtigelt  werden,  scheint  eine  Tat- 
sache  zu  sein,  deren  Bekanntgabe  von  deutschen  Polizeiprasidenten 
auf  jeden  Fall  unterdruckt  werden  muB.  Die  Internationale  Solidari- 
ty der  Polizeiamter  auf  der  ganzen  Erde  funktioniert  ausgezeichnet, 
Wie  lacherlich  das  alles  ist  und  wie  wenig  dies  Verbot  auch  nur 
mit  einem  Schein  von  Recht  zu  umgeben  ist,  zeigt,  daC  die  Skizze  in 
Japan,  also  da,  wo  sie  spielt,  nicht  verboten  ist,  Hoffentlich  sind  die 
Herren  in  andern  Stadten  und  Landern  einsichtiger  und  machen  ihren 
Kollegen  aus  Stuttgart  und  Chemnitz  diesen  Unfug  mit  der  Berufung 
auf  die  hier  ganz  und  gar  unangebrachte  Notverordnung  nicht  nach. 

Redakteur.  Der  Kollege  Franz  Hollering  ist  seines  Postens  als 
Chefredakteur  der  ,B.  Z.  am  Mittag'  Knall  und  Fall  enthoben  wor- 
den.  Das  RWM.  hat  beim  Verlag  interveniert,  weil  ihm  die  groBe 
Aufmachung  der  Meldung  tiber  Hitlers  Fliegerkorps  unerwunscht 
war-  Der  Verlag  hat  hackenknallend  nachgegeben.  Die  grofien  Blat- 
ter schweigen.  Was  sagen  Sie  dazu?  Was  sagt  Ihre  Organisation? 
Soil  die  Presse  auf  diesem  Wege  fascisiert,  militarisiert  werden?  Will 
das  RWM.,  das  seine  „StaatsverIeumdung"  nicht  in  die  Notverord- 
nung hat  hineinbringen  kdnnen,  auf  dem  Weg  liber  nachgiebige  Zei- 
tungsverlage  sein  Ziel  erreichen?     Periculum  in  mora. 

Mediziner.  Sie  teilen  uns  zu  den  hier  in  Nummer  47  im  Artikel 
t,Spielzeug  Mensch"  von  Walther  Karsch  charakterisierten  Experi- 
mentiermethoden  an  physisch  oder  psychisch  Schwerkranken  und 
Sauglingen  mit,  daB  diese  Versuche  in  der  Universitats- 
klinik  fiir  Nerven-  und  Gemiitskranke  zu  Frankfurt  am  Main 
ausgefiihrt  worden  sind,  und  fugen  hinzu:  „Und  jetzt  fin- 
den  wir  frankfurter  Arzte  auch  erneut  bestatigt,  daB  unser 
uniiberwindliches  Mifitrauen  gegen  diese  Universitatsklinik  be- 
rechtigt  ist.  Wir  mochten  unsre  Kranken  so  gern  gut  untergebracht, 
gut  behandelt  und,  wenn  moglich,  geheilt  wissen,  statt  dessen  wer- 
den sie  als  Versuchspersonen  mit  Schussen  erschreckt,  damit  daraus 
ein  wissenschaftliches  Geseiche  entsteht.  Solange  wir  irgend  kdnnen, 
mussen  wir  daher  bestrebt  sein,  unsre  Kranken  vor  diesem  SchieB- 
institut  zu  bewahren,  trptz  der  Pracht  des  Neubaus  und  den  ehrlichen 
Bemiihungen  des  arztlichen  Direktors,  der  aber  offensichtlich  diese 
SchieBereien  zum  Zwecke  des  Zusammenschreckens  der  Kranken  er- 
laubt  und  wissenschaftlich  gefordert  hat.  Dafiir  also  geben  sich  Kli- 
niken  und  wissenschaftliche  Journale  her."  Diese  wissenschaftlichen 
Joumale,  deren  Wert  gewiB  nicht  unterschatzt  werden  soil,  geben 
sich  noch  zu  ganz  andern  merkwurdigen  Dingen  her.    In  der  ,Medizi- 

945 


nischen  Welt'  vom  10.  Oktober  veroffentlicht  zum  Beispiel  cin  Mini- 
sterialrat  Doktor  Franz  Hermann  sogenannte  „Acta  Comica",  das  ist 
eine  Zusammenstellung  von  Bittgesuchen  Strafgefangener.  Diese.  in 
ihrer  Art  gewifi  manchmal  recht  eigentiimlichen  Dokumente  sollten 
dem  Herrn  Ministerial  rat  eher  AnlaB  zum  Nachdenken  als  zur  Be- 
lachlung  sein.  Er  nennt  sie  eine  Fundgrube  fiir  den  Psychologen  und 
den  Psychiater,  was  sie  zweifellos  auch  sind.  Aber  der  ernsthafte 
Wissenschaftler  wird  sicherlich  andre  Worte  zur  Kommentierung  fin- 
den,  als  der,  ach,  so  witzige  Herr  Ministerialrat,  dessen  ganze  Weis- 
heit  sich  zum  Beispiel  darin  erschopft,  tiber  einen  Brief,  der  von 
Gatten-  und  Vaterpflichten,  unschuldigen  Kindern  etcetera  spricht, 
zu  sagen,  es  lage  nicht  unmittelbar  auf  der  Hand,  dafi  der  Schreiber 
dieser  Zeilen  grade  wegen  Blutschande  mit  der  eignen  Tochter  ver- 
urteilt  ist.  Welche^  Phantasielosigkeit,  das  nur  komisch  zu  nehmen! 
Selbst  wenn  diese  Xufierungen  fast  alle  ihren  Ur sprung  in  einer  ver- 
standlichen  Heuchelei  haben,  ist  das  doch  nocb  kein  Grund,  diese  meist 
recht  unbeholfenen  Gesuche  den  Lesern  der  .Medizinischen  Welt*  zur 
„Unterhaltung*\  wie  diese  Sparte  heifit,  zu  servieren.  Nicht  etnmal 
vor  aufreizenden  Geschmacklosigkeiten  schreckt  der  Spafimacher  zu- 
riick.  Er  spricht  von  den  MiBverstandnissen,  die  manchem  Bittstel- 
ler  unterlaufen.  „Ein  Gliick,  dafi  wenigstens  der  nachstehende  Pe- 
tent  seinen  Irrtum  nbch  rechtzeitig  bemerkt  hat:  ,In  meiner  gestri- 
gen  Eingabe  ist  mir  ein  Versehen  unterlaufen,  Es  soil  nicht  heifien: 
Ich  bitte  urn  Destillierung,  sondern;  Ich  bitte  urn  SterilisierungV 
Sehr  ulkig,  nicht  wahr,  Herr  Ministerialrat?  Da  will  sich  so  ein  ar- 
mes  Luder  kastrieren  las  sen,  sicher  weil  er  es  nicht  mehr  aushalten 
kann,  und  schreibt:  er  bittet  um  Destillierung.  Ober  einen  solchen 
Bildungsmangel  muJ3  man  ja  gradezu  lachen.  Die  Tr  ago  die  des  un- 
scheinbaren  Menschen  wird  Ihren  Schlaf  sicher  nicht  storen,  Herr 
Ministerialrat,    Sie   machen   lieber    „Acta    Comica"    daraus. 

Kunstireund.  Gestehen  Sie,  Sie  waren  lange  nicht  in  einer  Kunst- 
ausstellung.  Nun,  das  liegt  nicht  nur  an  Ihnen,  Aber  augenblicklich 
sind  Sie  drauf  und  dran,  etwas  Seltenes  und  Schones  zu  versaumen: 
die  altamerikanische  Ausstellung  in  der  Akademie  am  Pariser  Platz. 
Die  Graberfunde  aus  dem  alten  Peru  und  Mexiko  haben  eine  ganz 
groBe  Kunst  zutage  gefordert,  herrlich  geformte  Keramiken,  bemalt 
mit  bunten  Figuren,  deren  Sinn  auch  den  Forschern  kaum  bekannt 
ist,  die  aber  eine  wundervolle  Ornamentik  abgeben;  ktihne  Portrat- 
kopfe,  zierliche  Goldarbeiten,  Mosaiken  aus  bunten  Vogelfedern  — 
alles  trotz  seiner  Fremdartigkeit  so  unmittelbar  ansprechend,  so  reine 
Verkorperung  hochsten  handwerklichen  Kunstsinns,  so  Mmodern",  weil 
so  tiberzeitlich,  dafi  Sie  eine  groBe  Freude  haben  und  viel  zulernen 
werden. 

Neugieriger.  Nein,  Herr  Groener  hat  auf  den  Offenen  Brief  in 
Nummer  49  nicht  geantwortet.     Gedulden  Sie  sich  noch  etwas. 

F\ieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf  der 
*-^  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  I.  Viertelfahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10.  Januar  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht. 

Manuskripte  sind  nur  ah  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenbiirg,  Kantstr.  152,  ru 
richten ;  ea  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruckseodung  erfolgen  kann. 
Du  Auf  fUhrungarecbtf  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wtedernbe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrftgen 
bleiben  fur  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdruckllch  vorbehaltcn. 

Die  Weltbuhne  wurde  be?rundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkun;  von   Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantworttich :  Carl  v.  Ossietzky,  Berlin; 

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XXVII,  Jahrgang  29.  Dezember  1931  Nuraraer  52 

Tabllla  rasa  von  Carl  v.  Ossietzky 

rjas  Jahr   1931   war  das  Ungkicksjahr  des  deutschen  Biirger- 

turns.  Wenn  seine  Aufienwerke  schon  vorher  demoliert 
waren,  so  verkrachten  in  diesem  Jahre  seine  Hauptstellungen. 
Hatte  die  Krise  in  ihren  Anfangen  nur  Triebsand  erfaBt,  Spe- 
kulationsunternehmen  umgeblasen  oder  Altgewordenem  den 
Rest  gegeben,  so  drang  sie  1931  in  die  Zentren  des  Wirtschafts- 
korpers  und  warf  urn,  was  durch  organisierte  Macht  oder 
durch  altererbte  Respektabilitat  auch  im  argsten  Feuer.  ge- 
hartet   schien, 

Mit  diesen  okonomischen  Grundiagen  des  Biirgertums  sinkt 
auch  der  biirgerliche  Geist.  Der  fragwiirdiig  gewordene  Be- 
sitzbiirger,  der  wenigstens  noch  das  Gesicht  zu  wahren  ver- 
sucht,  wird  als  Ci-devant  verspottet  wie  vor  hundert  Jahren 
ein  entwurzelter  Feudaler,  der  noch  von  der  Zopfzeit 
schwarmte.  Losgelost  von  Besitz  und  Erbe  und  von.  der  Mog- 
lichkeit  neu  zu  erwerben,  torkelt  dfer  burgerliche  Mensch 
herum,  anarchisiert  und  proletarisiert,  unfahig,  seine  besten 
traditionellen  Eigenschaften  an  veranderten  Zeitlauften  zu  er- 
proben.  Der  burgerliche  Geistf  der  hundertfunfzig  Jahre  lang 
Deutschland  beherrscht  iund  einen  groBartigen  Kulturstandard 
geschaffen  hat,  wenn  -auch  keine  eigne  politischeForm  —  die- 
ser  Geist  wird  jetzt  plotzlich  primitiv,  reizlos,  knotig.  Es 
ist  kein  Wtunder,  wenn*  die  Ganzradikalen,  die  Fascisten  und 
Kommunisten  ihr  Urteil  iiber  die  burgerliche  Gesellschaft  von 
heute  dahin  zusammenfassen;  Hier  sieht  man  ihre  Trummer 
rauchen,  d'er  Rest  ist  nicht  mehr  zu  gebrauchen!  Auf  diesen 
Trummerhaufen  aber  gedeiht  eine  ganz  eigne  Romantik.  Dort 
haben  die  Propheten  und  Sibyllen  Platz  genommen  und  weis- 
sagen   von   der   Auferstehung  des  iBiirgertums. 

Der  Dichter  Hans  Grimm,  der  Verfasser  des,  erfolgreichen 
Romans  ,,Volk  ohne  Raum",  hat  kiirzlich  in  Berlin  einen 
Vortrag  gehalten,  der  sich  im  Titel  MVon  der  biirgerlichen  Ehre 
und  biirgerlichen  Notwendigkeit"  eng  an  altere  romantische 
Vorbilder  anlehnt,  imd!  den  die  .D.A.Z/  jetzt  ihren  Lesern  zum 
Christfest  schenkt.  *  Hans  Grimm  sieht  mit  einigem  Schrecken 
Fascismus  und  Kommunismus  dem  gleichen  Effekt  zustreben: 
der  Zerstorung  .aller  biirgerlichen  Werte  und  der  Errichtung 
eines  Staates,  der  ausschlieBlich  auf  der  Autoritat  eines  par- 
teibestallten  Funktionarstium  ruht.  Und  daB  grade  die; 
,D.A,Z/  es  fiir  notig  halt,  diesen  Vortrag  in  acht  langen  Zei- 
tungsspalten  wiederzugeben,  zeugt  wohl  auch  davon,  daB  ihr 
Chefredakteur,  der  den  deutschen  Fascismus  erst  richtig  hoch- 
gepappelt  hat,  jetzt  wenigstens  seiner  Hypertrophic  mit  einer 
Injektiori  lauwarmer  Milch  entgegenwirken  mochte. 

Hans  Grimm  ist  ein  sauberer  Schrifts teller  ohne  Macht 
der  Imagination  oder  des  Wortes,  Er  wird  einen  Gegner  im- 
mer  von  seiner  Lauterkeit  uberzeugen,  niemals  von  seinem 
Intellekt.      Er    hat    eine    Lehrzeit    in   Afrika    hinter    sich   und 

947 


wohnt  heute  in  einem  schonen  alten  Klosterhaus  an  der  We- 
ser,  d!as  er  sich  erschrieben  hat.  Ein  tiichtiger  Mann;  dieses 
Wort,  das  ihn  ehrt,  zeichnet  auch  seine  Grenzen.  Grimm 
spinnt  nicht  einen  originalen  Gedankenfaden,  und  was  er  vom 
Burgertum  zu  retten  sucht,  das  ist  nicht  der  Geist,  sondern  der 
hochst   sterbliche   Habitus   und  die  zeitbedingten   Vorurteile. 

Grimm  predigt  das  besondere  fTHerrentum"  des  deutschen 
Volkes,  Deutschland  ist  „adlig",  ist  auserlesen  zu  erhabenem 
geschichtlichen  Beruf.  Die  VerheiBung  Fichtes  oder  die  der  eksta- 
tischen  alten  Juden  vom  Jordan,  wenn  man  will  Den  Sozialis- 
mus  verachtet  Grimm  als  asiatisches  Sklavenideal:  „Der  Paria 
will  den  Sozialismus  vom  Sklaven  aus,  es  ist  seine  Art:  Weil 
er  sich  schwach  fiihlt,  mochte  er(  daB  Schwache  Recht  wird 
vor  Kraft,  mit  der  Folge  dies  allgemeinen  Elends  und  der  all- 
gemeinen  Verlumpung/* 

Hans  Grimm  will  demgegeniiber  den  Individualismus,  aber 
nicht  als  Willkiir,  sondern  als  „Recht  des  jeweils  Besten".  Als 
ob  jemals  ein  System,  ob  individualistisch  oder  kollektivistisch 
auf  die  Steigerung  der  Leistung  verzichtet  hatte!  Verlangen 
denn  nicht  auch  die  alten  Demokratien  von  ihren  Mannern 
das  AuBerste?  Und  sucht  nicht  das  kommunistische  Rufiland 
bei  der  Durchiuhrung  seines  Industrieplans  jeden  Betrieb,  je- 
den  Arbeiter  zur  hochsten  Einzeltat  anzuspornen?  Proleta- 
rier  ist  fur  Hans  Grimm,  wer  ,,die  Armut  aller  will,  um  den 
eignen  Lebensbankrott  zu  rechtfertigen."  Hier  redet  aus  dem 
Seher  vernehmlich  und  recht  pharisaisch  der  erfolgreiche  Biir- 
ger,  der  Mann,  d"er  mit  einem  schonen  Wohnhaus  sein  eignes 
Raumproblem  zufriedenstellend  gelost  hat.  Wie  liberalistisch- 
manchesterlich  ist  es  d'och,  Hans  Grimm,  das  soziale  Schick- 
sal  leugnen  zu  wollen  und  a'lles  auf  die  Tiichtigkeit  oder  das 
Versagen  des  Einzelnen  zu  walzenj  Wie  ungeheuerlich  ist 
es,  das  Individuum  allein  gegen  die  anonymen  Gewalten 
der  Wirtschaft  zu  stellen  und  den,  der  besiegt  wirdl,  Paria 
zu  schelten! 

Es  ist  keine  Entschuldigung,  daB  dieses  ganze  Vokabular 
nicht  von  Hans  Grimm  selbst  stammtt  sondern  in  seiner  letz- 
ten  Anwendung  von  Moeller  van  den  Bruck,  der  es  von  Hou- 
ston Stewart  Chamberlain  ubernommen  hat,  dieserwieder  von 
dem  alten  Bayreuther  Kreis  und  dieser  wieder  von  dem  Sohn 
des  Farbers  Simon  Gobineau.  Diese  Entwicklungsreihe  zeigt 
zugleich  in  tragischer  Weise  die  Etappen  der  innern  Ver- 
armung  des  deutschen  Burgertums  an,  wie  kummerlich  und 
sektiererisch  dlas  geworden  ist,  was  bei  Nietzsche  berauschen- 
des  Wort,  bei  Wagner  betorend'e  Musik  war.  Die  Kontra- 
bassc  und  Oboen  sind1  verstiummt,  aus  dem  leeren  Orchester 
von  Bayreuth  redet  ein  matter  Epigone,  gelegentlich  von 
einem.  gespenstischen  Paukenschiag  interpungiert  Der  Par- 
sifal von  heute   wohnt   im  Braunen  Haus. 

Auch  fur  Hans  Grimm  ist  der  Nationalsozialismus  ,,die 
erste  und  bisher  einzige  echte  demokratische  Bewegung  des 
deutschen  Volkes".  Nationalsozialismus  bedeutet  ihm  nicht 
Gleichheit     sondern    „GemaBheit",   und    das    heiBt,    „sich    zur 

948 


Ftihrerschaft  der  jeweils  Besten  zu  bekennen",  wodurch  ftganze 
Deutschheit"  dafgetan  wird.  Aber  auch  Grimm  sieht  er- 
sehreckt,  wie  der  Nationalsozialismus  taktische  Konzessionen 
an  die  breite  Masse  macht,  wie  er  das  Burgertum  kaum  noch 
zur  Verschrottung  gut  genug  halt,  wie  er  die  herkommlichen 
Begriffe  vom  Eigentutn  als  iiberlebt  abtut.  „t)ber  das  Eigen- 
tum  fiihrt  der  Weg  zair  Herrengesinnung",  doziert  Grimm; 
er  straubt  sich  dagegen,  daft  man1  dias  Kind  mit  dem  Bade,  den 
Kapitalismus  mit  den  Juden  in  die  Senkgrube  schtittet.  Marx- 
istische  Falscherstiicke  dringen  in  die  reine  Lehre  ein,  Bur? 
gertum  wird  mit  Bourgeoisie  zusammengeworfen,  der  „Gegen- 
satz  vom  national  en  Haben  im  ibttrgerlichen  und  vom  inter- 
nationalen  Haben  im  Borsensirine  mit  erfolgreichem  FleiBe 
verwischt."  Angesichts  dieser  grausigen  Vorstellunig  reckt 
sich  Grimm  ziur  ganzen  GroBe  eines  noch  halbwegs  intakten 
Konteninhabers  auf  und  ruit  aus:  „In  eurem  neuen  Gemein- 
schaftsgefuhle  steckt  eine  ungeheure  Gefahr,  daB  ihr  auf  einem 
hur  umstandlicheren  andern  Wege  dem  asiatischen  Pariaideale 
selibst  zuschreitet."  So  end'et  der  stolze  nationale  Bauch- 
schwiung.  Einer  der  ersten  und  wirksamsten  Kunder  des  deut- 
schen  Nachkriegsnationalismus  klappt  zusammen,  weil  die  von 
ihm  mitgenahrte  Bewegung  in  der  Agitation  auf  ein  paar  so- 
zialrevolutionare  Grolltone  nicht  verzichten  mag.  Weil  tiber- 
haupt  keine  Bewegung,  die  heute  wirken  will,  an  der  leiblichen 
Not  der  alten  oder  neuen  Proletarier  voriibergehen  kann. 
Auch  ein  ,,adliges  Volk"  im  Sinne  Hans  Grimms  mochte  sich 
gelegentlich   sattessen. 

Es  ist  indessen  nicht  der  Zweck  dieser  Zeilen,  gegen  Hans 
Grimm  zu  polemisieren  sondern  ihn  zu  beruhigen.  Hitler  ist 
und  bleibt  der  Condottiere  des  Indus  triekapitals.  Nichts  konnte 
bisher  den  Verdacht  starken,  Hitler  und  seine  Granden  wollten 
im  Grunde  dasselbe  wie  -die  Roten.  Das  GraBlichste  an  Hans 
Grimms  herzlich  magern  Vision  vom  Dritten  Reich  ist  doch 
eben,  daB  es  ziemlich  so  kommen  wird,  wenn  Hitler  wirklich 
das  Regiment  ergreifen  sollte.  Da  auch  dieser  sakulare  Komo- 
diant  kein  Zauberer  ist  und  nicht  mehr  Nahrung  geben  kann 
als  vorhanden  ist,  so  wird  er  eben  statt  Brot  mit  Phrasen  und 
Spielen  aufwarten  mxissen.  Diese  Spiele  werden  vielleicht 
blutig  sein,  aber  sie  werden  immer  nur  die  Unfahigkeit  ver- 
decken  miissen,  daB  sich  im  Grunde  nichts  geandert  hat,  nicht 
wandeln  wird.  Wir  gehen  gjanz  sicher,  daB  der  deutsche  Fas- 
cismus  das  Eigenfcum  so  euergisch  schiitzen  wird,  wie  es  Hans 
Grimm  verlangt,  vorausgesetzt,  daB  bis  dahin  unter  dem 
schrumpfenden  Hauch  der  Krise  die  Reste  nicht  mikroskopi- 
sches  Format  angenommen  haben  werden.  Hans  Grimms  Sor- 
gen  sind  ganz  uberfliissig,  seine  Nerven  sind  seinem  hohen 
Apostolat  nicht  gewachsenr  seine  Verstandeskrafte  nicht  dem 
Augurengrinsen  der  Eingeweihten,  wenn  das  Wort  Sozialismus 
fallt.  Es  ist  uberhaupt  etwas  merkwiirdig  bestellt  urn  diese 
Literaturbarden  des  Nationalsozialismus.  Ihnen  alien  schwebt, 
vielleicht  unbewuBt,  Gabriele  d'Annunzio  vor,  wie  er  seine  be- 
ruhmten  VerheiBungen  an  jltalieni  richtete  und  diamit  sein  Volk  in 
den  Hollenkessel  am  Isonzo  rift,     Wenn  Hans  Grimm  die  Na- 

949 


tion  zur  Tat  aufruft  und  ihr  adiiges  Vorrecht  proklamiert, 
wird  der  solchermaBen  nobilisicrtc  Burger  nicht  gleich  wie 
der  Romer  zum  Schwert  greifen,  sondern  zunachst  einmal 
sein  Dienstmadchen  anschnauzen,  um  sein  Herrentiim  zu  be- 
st at  igcn.  Die  Wirkung  ist  also  nicht  so  groBwie  die  d'Annun- 
zios,  dafur  aber  weit  harmloser.  Abcr  auf  die  GroBe  kommt 
es  Herrn  Grimm  doch  an. 


Illusionen  fiber  Hitler  von  k.  l.  Gerstorff 

J)ie  Frage  dcr  Regierungsbeteiligung  der  Nationalsozialisten 
stent  in  diesen  Wochen  nicht  unmittelbar  auf  der  Tages- 
ordnung.  In  manchen  Kreisen  wird  direkt  bedauert,  daB  es 
bis  her  noch  zu  keiner  Koalition  Briininig-Hitler  gekommen  ist. 
Und  man  argumentiert  so:  Hitler  ist  nur  in  der  Opposition  eine 
standig  steigende  Macht  geworden.  Die  Millionen  der  natio- 
nalsozialistischen  Wahler  haben  mit  der  Abgabe  ihres  Stimm- 
zettels  nicht  ihr  Einverstandnis  mit  dem  nationalsozialistischen 
Programm  demonstrieren  wollen  sondern  lediglich  ihre  Oppo- 
sition gegen  die  heutigen  Zustande.  Der  Einiritt  der  National- 
sozialisten in  die  Regierung  wiirde  an  der  katastrophalen  wirt- 
schaltlichen  Situation!  nichts  antdern,  die  Nationalsozialisten 
wurden  also  schnell1  aibwirtschaften,  und  grade  durch  ihren  Ein- 
tritt  in  die  Regierung  wurden  sie  diese  von  dem  unertraglichen 
Druck  befreien,  den  ste  heute  in  der  Opposition  ausuben. 

Diese  These  von  der  „AbwirtschaftungM  der  Nationalsozia- 
listen ist  weit  verbreitet,  auch  bis  tief  in  die  Arbeitermassen 
spielt  sie  eine  Rolle. 

Sie  kann  jedoch  nicht  scharf  genug  bekampft  werden. 
Denn  sie  hat  zur  Folge,  dafi  die  Arbeiterschaft,  die  heute  der 
einzige  antifascistische  (Block  ist,  zu  leicht  passiven  Stromun- 
gen  nachgibt  und  den  Kampf  gegen  den  Fascismus  auf  die 
Zeit  nach  der  Machtergreifung  vertagt,  auf  die  Zeit,  wo  die 
Nazis  in  der  Regierung  „abwirtschaften".  Sicherlich  ist  cs 
danri  aber  bereits  zu  spat.  Der  Fascismus  wird  die  Krise 
nicht  liquidieren.  Denn  da  sie  der  deutlichste  Ausdruck  fur 
die  Widerspriiche  des  kapitalistischen  Systems  ist  und  die 
Fascisten  ausftihrendes  Organ  des  kapitalistischen  Systems,  so 
konnen  sie  an  den  entscheidienden  Ursachreihen  der  Krise 
nichts  andern. 

DaB  dies  so  ist,  sagt  Mussolini  mit  alier  Deutlichkeit.  Als 
die  Nationalsozialisten  in  Deutsohland  den  Mittelschichten  er- 
zahlten,  wenn  sie  ans  Ruder  kamen  und  Deutschland  von  den 
Younglasten  befreit  ware,  dann  wiirde  die  Krise  liquidiert 
werden  und  alien  wiirde  es  besser  gehen,  da  hielt  Mussolini 
eine  Rede,  in  der  er  erklarte,  man  dtirfe  doch  dem  Fascismus 
nicht  die  Schuld  an  der  italienischen  Krise  in  die  Schuhe  schie- 
ben,  denni  von  der  Krise  wurden  ja  auch  Staaten  wie  England 
und  Amerika  betroff en,  die  bisher  nicht  fascistisch  regiert  wur- 
den. Aber  Mussolini  erklarte  noch  mehr.  Er  sagte  weiter, 
Italien  wiirde  viel  schneller  als  andre  kapitalistische  Lander 
950 


aus  der  Krise  herauskommen,  weii  die  italienischen  Arbeit er 
gewohnt  seien,  sich  nur  einmal  am  Tage  satt  zu  essen.  Mus- 
solinis  Programm  ist  Hitlers  Programm.  Der  Fascismus  wird 
den  Lohnraub  in  verscharftestem  Umfange  durchfiihren,  um  so 
die  Atempause  fiir  das  Monopolkapital  zu  verlangern.  Die  Mil- 
lionenmassen  der  Bauern,  der  Handwerker  und  der  Kleinhand- 
ler,  der  Angestellten  und  Beamten,  also  die  Millionenmassen 
der  Mittelschichten,  werden  zu  spiiren  bekommen,  daB  es  ihnen 
im  fascistischen  Monopolkapitalismus  noch  schlechter  geht  als 
in  dem,  der  noch  auf  eine  Regierungsform  mit  demokratischen 
Klammern  Wert  legt.  Aber  damit  hat  sich  der  Fascismus 
nicht  abgewirtschaftet;  wer  das  behauptet,  hat  noch  immer 
nicht  begriffen,  daB  der  Fascismus  kcine  selbstandige  Bewe- 
gung,  sondern  der  Degen  des  Monopolkapitals  ist.  Und  grade 
weil  die  Nationalsozialisten  mit  dem  Regierungseintritt  die 
breiten  Massen  der  Mittelschichten  enttauschen  werden  und 
enttauschen  miissen,  grade  darum  werden  sie  aus  der  Regie- 
rung  nicht  mehr  herausgehen.  Legal  eintreten  kann  Hitler  in 
die  Regierung,  legal  herausgehen  kann  er  nicht  Die  Antwort 
des  Fascismus  auf  die  Enttauschung  der  Mittelschichten  wird 
eine  immer  brutalere  Verstarkuhg  des  Terrors  sein. 

Geht  der  Fascismus  nicht  nur  legal  in  die  Rsgierung,  son- 
dern bliebe  er  auch  in  der  Regierung  legal,  was  ware  die 
Folge?  Was  ware  die  Folge  vor  allem,  wenn  die  groBen  Ar- 
beit erorganis  at  ionen  dann  noch  intakt  war  en?  Samtliche  Wahl- 
resultate  haben  gezeigt,  daB  den  Nazis  der  Einbruch  in  die 
„marxistische"  Front  nicht  gegliickt  ist.  Vierzig  Prozent  der 
Wahler  blieben  den  Axbeiterparteien  treu.  Vor  allem  ist  den 
Fascisten  der  Einbruch  in  die  Betriebsarbeiterfront  nicht  ge- 
gliickt. Bei  den  Betriebsratewahlen  bekamen  die  Nazis  nur 
etwa  0,5  Prozent  der  'Mandate,  also  eine  ganz  versohwindende 
Minoritat.  Dem  d'eutschen  Nationalsozialismus  ist  die  soziolo- 
gische  Aufgabe  zugewiesen,  die  verarmten  Mittelschichten 
vom  gemeinsamen  Kampf  mit  der  Arbeiterschaft  gegen  das 
Monopolkapital  abzuhalten.  Sie  haben  in  der  Opposition  diese 
Aufgabe  gelost.  Wenn  nun  aber  wahrend  einer  Koalitions- 
regierung  mit  den  Nazis  die  Angestellten  weiter  abgebaut 
werden,  die  Bauern  weiter  verarmen  und  die  Zwangsvoll- 
streckungen  zunehmen,  wenn  die  stadtischen  Mittelschichten 
proletarisiert  werden,  und  wenn  in  dieser  Situation  die  Arbei- 
terorganisationen  noch  da  sind,  dann  wird  das  Lager  der  Ar- 
beiterschaft nicht  mehr  nur  die  vierzig  Prozent  der  Arbeiter- 
wahler  umfassen,  dann  werden  die  Millionen  der  Mittelschich- 
ten, von  den  Nazis  enttauscht,  zu  ihnen  stoBen,  dann  werden 
Proletariat  und  Mittelschichten  —  und  das  sind  zusammen 
mehr  als  neunzig  Prozent  —  gegen  das  Monopolkapital  stehen. 
Der  Sieg  der  Linken  w,urde  unvermeidJich  sein.  Grade  weil 
die  Nazis  okonomisch  abwirtschaften  werden,  abwirtsohaften 
miissen,  durfen  sie  fiir  das  Monopolkapital  nicht  politisch  ab- 
wirtschaften, grade  weil  sie  dann  ihren  Masseneinflufi  nicht 
behalten  werden,  nicht  behalten  konnen,  denn  die  Millionen 
der  Mittelschichten  werden  ihnen  weglaufen,  —  grade  darum 
durfen  keine  gegnerischen  Organisationen  vorhanden  sein,  die 
diese  Millionen  auffangen.  Grade  weil  der  Nationalsozialis- 
2  "   951 


mus  der  Dcgen  des  Monopolkapitals  istt  muB  scin  Terror  nach 
der  Machtergreifung  starker  werden,  muB  er  dahin  tendieren, 
die  gesamten  gegnerischen  Organisationen,  die  gesamten  Ar- 
beit erorganisationen  zu  zerschlagen.  Und  es  muB  atisdriick- 
lich  betont  werden,  daB  der  Terror  dann  weit  grauenvoller 
sein  wird  als  in  It  alien, 

Aus  zwei  Reihen  von  Griinden.  Wann  entwickeite  sich 
der  Fascismus  in  Italien?  Es  sind  jetzt  neun  Jahre  seit  dem 
Marsch  auf  Rom  vergangen.  Der  Fascismus  siegte  in  Italien 
zil  einer  Zeit,  als  der  Weltkapitalismus  einen  gewissen  Auf- 
schwung  nahm.  Oberall  nahm  die  Produktion  zu,  die  welt- 
wirtschaftlichen  Beziehungen  verstarkten  sich,  die  Zahl  der 
beschaftigten  Arbeiter  wuchs,  die  Lohne  stiegen,  und  wenn 
auch  niemals  mehr  das  Aufstiegstempo  der  Vorkriegszeit  er- 
reicht  wurde,  so  war  doch  ein  zwar  etwas  gebremster  Auf- 
stieg  nicht  zu  verkennen.  In  Italien  schrieb  sich  dam  als  der 
Fascismus  diiesen  Aufstieg  zu.  Er  hatte  damit  seinen  Anhan- 
gern  etwas  zu  bieten.  Und  die  mittelstandischen  Massen,  die 
sioh  hinter  den  Fascismus  gestellt  hatten,  wurden  somit  nach 
der  Machtiibernahme  nicht  gleich  enttauscht.  Im  deutschen 
Kapitalismus  liegt  dies  im  entscheidenden  Punkte  anders.  Die 
Nationalsozialisten  drangen  zur  Macht  in  einer  Zeit,  wo  der 
Weltkapitalismus  im  Niedergang,  ist,  wo  der  deutsche  Kapita- 
lismus im  (besonders  schnellen  Tempo  niedergeht.  Das  neueste 
Heft  der  Institutes  fur  Konjunkturforschung  zeigt  wieder  ein- 
malt  wie  tief  die  Krise  in  Deutschland  ist.  Es  zeigt,  daB  die 
deutsche  Produktion  nicht  mehr  hoher  ist  als  um  die  Jahrhun- 
dertwende,  daB  der  Lohnabbau  bereits  vor  der  Notverordnung 
vierzig  Prozent  erreicht  hatte,  nach  der  Notverordnung  also 
bald  fiinfzig,  daB  der  Preisfall  ungefahr  doppelt  so  stark  ist 
wie  jemals  in  einer  Krise  der  letzten  sechzig  Jahre,  und  daB 
in  irgendeiner  absehbaren  Zeit  kein  Umschwung  zu  erwarten 
ist,  denn  nicht  irgendeine  solidarische  Handlung  war  die  Ant- 
wort  der  kapitalistischen  Staaten  auf  die  immer  scharfere  Zu- 
spitzung  der  Situation,  sondern  erhohte  Schutzzolle  —  beson- 
ders  nach  dem  Wahlsieg  der  Tories  in  England  — ,  Forcierung 
der  Ausfuhr,  Drosselung  der  Einfuhr,  weitere  Deroutierung  der 
Weltwirtschaft,  so  daB  der  WeltauBenhandel  bereits  unter  dem 
Friedensniveau  liegt,  Der  Kapitalverkehr  der  kapitalistischen 
Lander  untereinander  ist  immer  weiter  zuriickgegangen,  und 
im  dritten  Viertel  dieses  Jahres  sind  von  den  entscheidenden 
Auslandsmachten  auslandische  Anleihen  nur  nochj  in  einer 
monatlichen  Hohe  von  nicht  einmal  hundert  Millionen  aus- 
gegeben  worden,  Im  Weltkapitalismus  zeigt  sich  kein  oko- 
nomischer  Silberstreifen,  im  deutschen  Kapitalismus  noch  we- 
niger;  nicht  nur  die  Krise,  auch  ihr  Tempo  nimmt  zu, 

Wenn  in  diesem  Zeitpunkt  die  Nationalsozialisten  in  die 
Regierung  gehen,  so  find  en  sie  eine  vollig  andre  Situation  vor 
als  seinerzeit  die  italienischen  Fascisten.  Sie  miissen  die  Mil- 
lionenmassen  ihrer  Mitlaufer  weit  starker,  weit  schneller  ent- 
tauschen  als  die  italienischen  Fascisten,  und  sie  werden  ledig- 
lich  die  zehn  Tausende  halten  konnent  denen  sie  Stellungen 
verschaffen,   und   die   Zweihunderttausend   ihrer   Soldnerarmee. 

952 


Die  Millionenmassen  dag e gen  werden  ihnen  auBerordentlich 
schnell  davonlaufen.  Schon  damit  verscharft  sich  die  Situa- 
tion gegeniiber  der  italienischen  ganz  auBerordentlich. 

Dazu  kommt  noch  eine  zweite  Faktorenreihe:  -die  Ver- 
schiedenartigkeit  der  Berufszusammensetzung  in  It  alien  und  in 
Deutschland.  In  Italien  fast  sechzig  Prozent  landwirtschaftlich 
tatige  Bevolkerung  und  dazu  vier  Millionen  Arbeiter.  Nach- 
dem  der  Fascismus  gesiegt  hatte  und  den  Mittelschichten*eini- 
ges  bieten  konnte,  nachdem  ein  groBer  Teil  der  italienischen 
Landwirtschaft  nicht  sehr  stark  in  den  kapitalistischen  Nexus 
einbezogen  war,  brauchte  sein  Terror  gegen  die  Arbeiter- 
organisationent  der  schon  grausam  genug  war,  ein  gewisses 
MaB  nicht  zu  iiberschreiten.  Im  deutschen  Kapitalismus  aber 
umfaBt  die  Landwirtschaft  nicht  wie  in  Italien  drei,  sondern 
nur  ein  reichliches  Ftinftel  der  Gesamtbevolkerung,  die  Ar- 
beiterschait  nicht  vier,  sondern  fiinfzehn  Millionen;  eine  Ar- 
beiterschaft,  die  etwa  die  Halite  der  Bevolkerung  ausmacht, 
eine  Arbeit erschaft,  die  die  bestorganisierte  Europas  ist,  eine 
Arbeiterschaft,  der  en  Gewerkschaften  und  politische  Organi- 
sationen  eine  Tradition  von  Generationen  ha  ben.  In  Deutsch- 
land  stent  also  die  Klassenschichtung  auf  des  Messers 
Schneide,  Wenn  der  Fascismus  den  Kampf  zur  Zerschlagung 
der  Arbeit erorganisationen  aufnimmt,  dann  wird  der  Terror 
unendlich  blutiger  sein  als  in  Italien,  weil  er  diesen  Kampf  zu 
einer  ungiinstigereh  Stunde  beginnt  und  einen  Gegner  zu  zer- 
schlagen  hat,  der  ungleich  starker  ist  als  seinerzeit  die  italie- 
nische  Arbeiterschalt. 

Urn  den  Kampf  gegen  den  Fascismus  kommt  die  Arbeiter- 
schaft nicht  herum;  denn  Fascismus,  das  ist  ja  nur  der  vor- 
geschobene  Posten  des  Monopolkapitals,  der  die  politischen 
Voraussetzungen  dafur  zu  schaffen  hat,  den  Ausweg  aus  dieser 
schrecklichsten  Krise  noch  einmal  monopolkapitalistisch  zu 
organisieren.  Nicht  einmal  der  ,Vorwarts*  nimmt  an(  daB  sich 
die  neue  Notverordnung  in  einer  Abschwachung  des  Krisen- 
tempos  auswirken  wird.  Denn  wenn  auch  die  Gewerkschaften 
sich  weiter  mit  dem  Preiskommissar  Goerdeler  zusammen- 
setzen  werden,  so  geniigt  dies  nicht,  um  die  Preise  der  land- 
wirtschaft lichen  Produkte  zu  senken.  Sie  spielen  beim  Arbei- 
terhaushalt  heute  eine  entscheidende  Rolle.  Je  geringer  mit 
jedem  neuen  Lohnabbau  das  Einkommen  des  Arbeiters  ist, 
um  so  groBer  wird  der  Prozentsatz  d  ess  en,  was  er  fur  Lebens- 
mittel  ausgibt.  An  eine  Senkung  der  Lebensmittelpreise  aber 
ist  iiberhaupt  nicht  zu  denken.  Es  war  durchaus  charakteri- 
stisch,  daB  die  drei  Vertreter  der  Landwirtschaft  im  Wirt- 
schaftsbeirat  diesen  nicht  darum  vorzeitig  verlieBen,  weil  Brii- 
ning  ihnen  einen  Abbau  der  Zolle  und  damit  einen  Abbau  der 
landwirtschaftlichen  Preise  zumutete  sondern  weil  er  nicht 
in  ein  Moratorium  fur  samtliche  Schulden  der  Junker  ein- 
willigen  wollte,  Wenn  aber  die  Preise  der  landwirtschaft- 
lichen Produkte  nicht  gesenkt  werden,  dann  bedeutet  dies, 
daB  der  neue  Lohnabbau  zum  groBten  Teil  ein  Abbau  nicht 
nur  der  Nominallohne  sondern  sogar  der  Reallohne  ist,  daB 
er  eine  weitere  Zusammenschrumpfung  des  Binnenmarktes  be- 
wirkt.      Bei    dem    enormen    Produktionsriickgang    in   Deutsch- 

^53 


land,  der  wcit  groBer  ist  als  in  England  und  Frankreich,  ja  so- 
gar  groBer  als  in  den  Vereinigten  Staaten,  war  bfsher  f est- 
zustellen,  daB  der  Ruckgang  in  den  Prodnktionsindustrien,  so 
in  der  Schwerindustrie,  in  Eisen  und  Stahl,  weit  starker  war 
als  in  den  Konsumindustrien.  Wenn  durch  den  neuen  Loha- 
abbau  die  Kaufkraft  der  breiten  Massen  noch  weiter  zuruck- 
gehen  wird,  dann  wird  sich  auch  der  Absatz  der  Konsumindu- 
strien stark  verringern.  Ein  Ausgleich  aber  ist  nicht  da,  weil 
bei  der  ungeheuren  Oberkapazitat  der  Produktion,  die  nicht 
einmal  in  der  Kortjunktux  die  Maschinen  voll  ausnutzen  konnte, 
bei  der  absoluten  Unsicherheit  des.  deutschen  Kapitalismus  im 
Weltkapitalismus  niemand  mehr  groBere  Investitionen  zti  un- 
ternehmen  wagt,  Brxining  bezeichnete  die  Vierte  Notverord- 
nung  als  die  letzte,  er  sprach  dann  weiter  davon,  daB  der  Lohn 
nun  nicht  noch  weiter  gesenkt  werden  durfte.  Im  Rahmen  des 
kapitalistischen  Systems  liberhaupt  wird  diese  Vierte  Notver- 
ordnung  sicher  nicht  die  letzte  sein,  wohl  aber  solange  es 
noch  parlamentarisch-demokratische  Reste  besitzt,  Eine  neue 
Notverordnung  wiirde  das  System  sprengen.  Das  Monopol- 
kapital  weiB  das,  aber  in  die  Arbeitermassen  ist  diese  Er- 
kenntnis  noch  wenig  eingedrungen.  Zwar  steht  im  ,Vorwarts\ 
daB  das  Friihjahr  den  endlgultigen  Kampf  gegen  den  Fascismus 
bringen  miisse,  und  im  Aufruf  des  ADGB  zur  Notverordnung 
wird  erklart,  daB  sich  die  Arbeiterschaft  zur  Fuhrung  aktiver 
Kampfe  bereit  halten  mussc,  die  ab  April  1932  einsetzen  konn- 
ten,  weil  dann  der  Schlichter  Schiedsspriiche  nicht  mehr  fur 
verbindlich  erklaren  wiirde.  Aber  wahrend  man  fxir  das  Friih- 
jahr Aktivitat  proklamiert,  wahrend  die  SPD  und  der  ADGB 
heute  in  Versammlungen  Aktivitat  gegen  den  Fascismus  pro- 
klamieren,  starkt  man  ihn  gleichzeitig  durch  Tolerierung  der 
neuen  Notverordnung. 

Man  muB  in  immer  breitere  Arbeiterkreise  die  Erkenntnis 
tragen,  daB  sie  dem  Kampl  mit  dem  Fascismus  nicht  aus  dem 
Wcge  gehen  konnen.  Immer  weitere  Kreise  miissen  mit  dem 
Gedanken  erftillt  werdien,  dafi  die  Abwehr  gegen  den  drohen- 
den  Fascismus  vor  der  Machtergreifung  der  Nationalsozialisten 
vorbereitet  werden  muB.  Sind1  die  Fascisten  einmal  an  der 
Macht,  haben  sie  erst  einmal  den  Vorsprung  gewonnen,  so 
wird  die  Arbeiterschaft  den  Kampf  nur  mit  viel  schwerern 
Opfern  fiihren  konnen,  so  wird  der  Fascismus  sich  durch  ein 
Blutmeer  an  der  Macht  zu  halten  suchen,  so  wird  die  Ent- 
wicklung  leicht  fur  einen  langern  Zeitraum  verschiittet  wer- 
den konnen.  Der  Weltkapitalismus  ist  im  Abstieg,  der 
deutsche  Kapitalismus  ist  zur  Zeit  sein  schwachstes  Glied, 
die  Weltgeschichte  wird  ihr  Zentrum  in  nachster  Zeit  in 
Deutschland  haben.  Von  der  Entwicklung  bei  uns  wird  es  ab- 
hangen,  ob  in  der  ganz^n  Welt  der  Fascismus  siegen  und  ob 
damit  in  der  ganzen  Welt  die  finsterste  Reaktion  herrschen 
wird,  oder  ob  die  Ketten  des  Kapitalismus  an  ihrem  entschei- 
denden  Glied  durchbrochen  werden.  Bisher  marschierte  der 
Fascismus  noch  schneller  als  die  Sammlung  der  Linken.  Die 
Arbeiterschaft  miuB  dafiir  sorgen,  daB  die  drohende  Macht- 
ergreifung des  Fascismus  verhindert  wird.  _ 

954 


Generate  and  Demokratie  von  Feiix  stossinger 

C  rinnerungen  an  den  Krieg  gehoren  zu  den  Ding  en,  von  denen 
"  niemand  mehr  in  Deutschland  etwas  wissen  will.  In  andern 
Landern  spielen  sie  noch  immer  eine  groBe  Rolle,  besonders  in 
Frankreich.  Das  kommt  nicht  daher,  daB  sich  die  franzosischen 
Leser  bei  der  Lektiire  an  ihren  Siegen  sonnen  wollen,  sondern 
von  dem  eminent  historischen  Interesse  der  Nation*  Die  Stel- 
lung,  die  der  Tradition  im  Aufbau  der  Kulttir  eingeraumt  wird, 
hat  naturgemaB  eine  besondere  Rangstellung  der  Geschichte 
zur  Folge,  und  damit  auch  der  Literatur  von  Erinnerungen, 
Brief  en  und  Gesprachen.  Fur  ein  Volk,  das  geschichtlich 
denkt,  bleibt  die  Geschichte  ein  Lehrmeister  der  Politik  und 
des  gesellschaftlichen  Handelns.  Das  gilt  nicht  nur  fur  die  Kon- 
timiitat  der  AuBenpolitik  und  ihre  allmahliche  Entwicklung, 
durch  die  sie  niemals  von  der  Vergangenheit  vollig  abgeschnit- 
ten  wird;  das  gilt  vielmehr  noch  fur  die  innere  Auseinander- 
setzung  der  Demokratie.  In  Frankreich  schlieBt  der  politische 
Kampf  nicht  mehr  Machtfragen  zwischen  Militar  und  Zivil  ein. 
Die  Grenzlinie  zwischen  beiden  Gewalten  ist  langst  gezogen, 
und  war  selbst  im  Weltkrieg  uniiberschreitbar.  DaB  dabei  die 
Verteidigungskraft  des  Volkes  nicht  gelitten,  dafi  die  Zivilkraft 
sie  vielmehr  gewaltig  gestarkt  hat,  bedarf  keiner  Versicherung 
mehr.  Das  Heer  braucht  sich  daher  auch  nicht  in  Frankreich 
gegen  die  Kritik  der  Linken  zu  verteidigen,  weil  nicht  nur  die 
Linke,  sondern  das  gauze  Land,  ohne  Unterschied  der  Parteien, 
eine  Kritik  und  Analyse  der  Heeresverhaltnisse  als  unverauBer- 
liches  Recht  eines  jeden  Burgers  betrachtet.  Der  Burger  in 
Uniform,  mag  er  durch  die  eimjahrige  Armeepflicht  oder  durch 
Berui  und  Tradition  Soldat  sein,  fiigt  sich  als  Demokrat  jeder 
Kritik  der  parlamentarischen  Kontrolle.  Noch  heute  beschaf- 
tigen  sich  die  Erinnerungen  aus  der  Kriegszeit  mit  einzelnen 
Fallen,  in  denen  Generale  die  Grenzlinie  zwischen  Militar  und 
Zivil  respektierten  oder  aber  zu  tiberschreiten  versuchten.  Die 
Generale  betrachteten  den  regierenden  AusschuB  des  Parla- 
ments  als  ihre  vorgesetzte  Stelle,  von  der  sie  jeden  Befehl  ent- 
gegenzunehmen  hatten.  Wie  in  Amerika  Wilson,  in  England 
Lloyd  George,  so  hielt  in  Frankreich  Clemenceau  die  Preroga- 
tive der  Demokratie  iiber  der  Generalitat  mit  eiserner  Kraft 
fest.  Jeden  Versuch  der  Generate,  der  siegreichen  Generale, 
sich  in  die  Politik  zu  mischen,  schlug  er  nieder. 

Auch  in  Frankreich  hatten  einige  Generale  Lust,  Ptflitik 
auf  eigne  Faust  zu  machen.  Sie  sind  daran  griindlich  gehin- 
dert  worden.  Wie  in  der  Strategic,  war  auch  in  der  Demo- 
kratie Joffre  stark  durch  Passivitat;  Foch  durch  Aktivitat. 
Joffre  lehnte  jeden  Versuch,  ihn  in  die  Politik  hineinztiziehen, 
ab.  Foch  war  der  Versuchung  nicht  gewachsen  und  benutzte 
seine  Stellung,  urn  militarische  Ansichten,  die  aber  unzweif el- 
haft  ins  politische  Gebiet  ubergriffen,  durchzudriicken,  Als  er 
sich  in  die  Friedensverhandlungen  mischte,  muBte  er  sich  Zu- 
riickweisungen  gefaUen  lassen,  die  demiitigend  waren.  Weil 
Joffre  grade  die  Versuchungen,  die  an  ihn  herantraten,  poli- 
tischen  EinfluB  zu  nahmen,  ablehnte,  genieBt  er  heute  beim 
franzosischen  Volk  eine  Verehrung,  durch  die  die  Anerkennung 

955 


noch  gehoben  wird,  die  man  ihm  als  dem  cigcntlichen  Sieger 
der  ersten  Marneschlacht  zollt,  wahrend  das  Bild  von  Foch 
durch  die  Streitigkeiten  mit  Clemenceau  und1  dem  Obersten 
Rat  von  manchen  polemischen  Auseinandersetzungen  beschat- 
tet  wird1. 

Erst  jetzt  ist  bekannt  geworden,  wie  stark  der  Druck  ge- 
wisser  Kreise  wahrend  der  Friedensverhandlungen  war,  auch 
Joffre  fiir  eine  Beeinflussung  des  Obersten  Rats  und  der  Frie- 
densbedingungen  zu  gewinnen.  Der  Divisionsgeneral  und  be- 
kannte  Miiitarschriftsteller  Mordacq  (iibrigens  ein  ungetaufter 
Jude,  dessen  Name  die  franzosische  Form  von  Mordechei  ist) 
erzahlt  in  seinen  Erinnerungen  an  Joffre,  die  jetzt  in  der  ,Re- 
vue  de  Paris'  fortlaufend  erscheinen,  wie  viele  Versuchungen 
an  Joffre  herantraten,  sich  den  Beschliissen  des  Rats  der  vier 
zu  widersetzen.  Aber  Joffre  hatte  alien  Versuchern  ,,avec  son 
bon  sens  habitue!  et  son  esprit  discipline'1  schlicht  geantwortet, 
bevor  er  Marschall  geworden  sei,  sei  er  Soldat  gewesen,  und 
infolgedessen  wiirde  er  seine  Meinung  nur  abgeben,  wenn  der 
Ministerprasident  ihn  danach  fragte.  Es  ist  Sache  der  Gene- 
rale,  fiigt  er  hinzu,  die  militarischen  Operationen  zu  leiten,  aber 
es  obliegt  den  Regierungen  und  den  Diplomaten,  tiber  die  Frie- 
densvertrage  zu  verhandeln. 

Die  revolutionare  Demokratie  verbietet  den  Generalen, 
einen  Krieg  zu  verlieren,  aber  sie  gestattet  dem  Sieger  nicht, 
in  die  Politik  einzugreifen.  Auf  dieser  ideologischen  Grund- 
lage  fanden  die  Auseinandersetzungen  zwischen  Clemenceau 
und  Foch  statt,  die  mit  der  Demission  des  Marschalls  hatten 
endigen  miissen,  wenn  nicht  auch  er  die  Subordination  des 
ersten  Soldaten  von  Frankreich  unter  den  Prasidenten  des  Mi- 
nisterrates  anerkannt  hatte.  In  diesen  scharfen  Auseinander- 
setzungen hat  niemand  Fochs  Haltung  Clemenceau  gegenuber 
in  Schutz  zu  nehmen  gewagt,  Niemand  hat  dem  siegreichen 
Marschall  das  Recht  eingeraumt,  sich  auf  Grund  seiner  mili- 
tarischen Autoritat  eine  politische  anzumafien,  Neben  Cle- 
menceau haben  sich  Wilson  und  Lloyd  George  nicht  geniert, 
gegen  Foch  Stellung  zu  nehmen,  Auch  fiir  sie,  Reprasentanten 
einer  parlamentarischen  Demokratie,  war  die  Einmischung 
eines  Generals  in  die  Politik,  sein  Versuch,  privaten  politischen 
Meinungen  durch  seine  militarische  Stellung  Gewicht  zu  ver- 
leihen,  indiskutabeL 

Die  erste  Differenz  zwischen  Foch  und  der  zivilen  Gewalt 
ergab  sich,  als  der  Marschall  der  ,Daily  Mail'  ein  Interview 
iiberlieB,  in  dem  er  sich  gegen  die  Absichten  der  Alliierten 
wendete,  die  er  von  seinem  militarischen  Standpunkt  aus  un- 
gemigend  fand.  Kaum  hatte  Clemenceau  von  diesem  Interview 
erfahren,  als  er  es  sofort  durch  die  Zensur  verbieten  lieB.  Die 
Zensur  war  also  ein  Organ  der  franzosischen  Demokratie  aber 
nicht  des  Militars.  Wilson  und  Lloyd  George  machten  Cle- 
menceau, wie  dieser  in  seinem  Buch  „GroBe  und  Tragik  eines 
Siegs"  mitteilt,  heftige  Vorwurfe,  daB  seine  Duldsamkeit 
dem  Marschall  die  Moglichkeit  gabe,  sich  widerrechtlich  in  die 
Geschafte  der  Zivilgewalt  einzumischen.  Clemenceau  ver- 
langte  von  Foch  eine  Aufklarung,   die  dieser    gab,    wobei    er 

956 


offenbar  wie  ein  auf  einem  Fehler  Ertappter,  urn  sich  zu  recht- 
fertigen,  nicht  ganz  bei  der  Wahrheit  blieb.  Um  die  Situation 
nicht  zu  verscharfen,  verzichtete  Clemenceau  auf  einc  Klar- 
stellung  nicht  ohne  zu  bemerken,  ttda*B  in  England  einc  der- 
artige  Verfehlung  streng  bestraft  worden  ware",  {Im  gleichen 
Buch,  S.  91.) 

Nachdem  es  schon  in  den  letzten  Kriegsmonaten  zu  Rei- 
bungen  zwischen  Clemenceau  und  Foch  tfekommen  war,  folgte 
wahrend  der  Friedensverhandlungen  ein  Zwischenfall,  der  fast 
zu   einem  militarischen  Verfahren  gegen  Foch  und  zu  seiner  Ab- 
setzung  gefiihrt  hatte.    Im  April  1919  erhielt  der  Marschall  den 
Auftrag,   die  Einladung   der  deutschen  Delegierten  nach  Ver- 
sailles auf  die  vorgesenene  militarische  Weise  zu  veranlassen. 
Foch  hat  diesen  Auftrag  nicht  ausgefiihrt,  obwohl  es  ein  Befehl 
war,  da  atich  der  Marschall  von  Frankreich  dem  Kriegsminister 
untersteht,    Das  war  die  offene  Sabotage  eines  Befehls  und  zu- 
gleich  ein  Versuch,  gegen  die  Politik  des  Obersten  Rates  zu 
protestieren.     Foch  wurde  im  Ganzen  zweimal  zu  den  Sitzun- 
gen  der  Regierungen  zugezogen,  um  als  Sachverstandiger  sein 
Urteil  iiber  den  Vertragsentwurf  abzugeben.     Wie  man  weiB, 
war  es  ein   Privatvergniigen  Fochs,    vom  Fried  ens  vertrag    die 
verhiillte  Loslosung   des  Rheinlands  von  Deutschland   zu  for- 
dern.    Man  horte  Foch,  wie  Tardieu  in  seinem  Buch  (fLa  Paix" 
berichtet,  an,  lehnle  aber  einmutig  seine  Einwande  ab.     Nie- 
mand    war  ein   scharferer    Gegner   einer   Annexion   deutschen 
Gebietes  durch  Frankreich  als  der  Jakobiner  Clemenceau.  Da 
wagte  es  Foch  nun,  diese  Ablehnung  mit  einer  lassigen  Erledi- 
gung    des    Befehls    vom     Obersten  Rat    zu    beantworten.     Er 
fiihrte  den  Auftrag  zunachst  nicht  durch.    Niemand  hatte  Be- 
denken,     die     Entrusting    der     Friedenskonferenz    demselben 
Manne  ztun  Ausdruck  zu   bringen,   den  man  als  den  strategi- 
schen   Sieger   des   Weltkriegs  gleichzeitig  feierte.    Wilson  er- 
klarte:    „Ich   werde  das   amerikanische   Heer  keinem   General 
weiter  anvertrauen,  der  seiner  Regierung  nicht  gehorcht".  Die 
Stunde   der   Unruhe    ob  dieses   Verhaltens   nennt   Clemenceau 
Mfurchterlich".     Alle  wufiten,  was   auf  dem  Spiele  stand:  der 
Vorrang  der  zivilen  Gewalt  vor  der  militarischen.    Man  durfte 
in  diesem  Augenblick  keinen  Zoll  nachgeben,  ohne  die  Demo- 
kratie    selbst    zu   gefahrden.     Das   Verhalten    des  Marschalls 
wurde,   obwohl   es  nur   einen  formalen  VerstoB  darstellte,   als 
Versuch     eines     , .militarischen     Aufstands"     behandelt,       Cle- 
menceau traf  nunmehr  alle  MaBnahmen,    um  zu  zeigen,    daB 
auch  fiir  den  Marschall  von  Frankreich  das  Gesetz  militarischer 
Disziplin  besteht.    Die  zivilen  Vorgesetzten  Fochs  waren  ehe- 
malige   Journalisten,  ein   wallisischer   Winkeladvokat   und   ein 
Philosophieprofessor.     Um  ihren  Befehlen  Geniige  zu  tun,  HeB 
man  zunachst  einige  Tage  der  Beruhigung  eintreten,  die,  man 
hore  nur,   (,der  Reue  bestimmt  sein  sollten".     Hierauf  wurde 
im   Fall    einer   notwendig   werdenden   Absetzung   beschlossen, 
Marschall  Petain  als  Nachfolger  Fochs  bereit  zu  halten.    Dann 
HeB  sich  Clemenceau  von  den  andern  Mitgliedern  des  Obersten 
Rates  ermachtigen,  Foch  auf  seinem  Posten  zu  behalten,  wenn 
er,  dies  sollte  die  Siihne  fur  seine  Eigenmachtigkeit  sein,  ,,auf 
Ehrenwort  versprache,  derartige  Handlungen  fortan  zu  unter- 

957 


lassen",     Foch  ging  dicse  Verpflichtung  ein,  deren  Versagung 
seinen  Sturz  zur  Folge  gehabt  hatte. 

Die  Eifersucht,  mit  der  die  Trager  des  demokratischen 
Prinzips  auch  einem  General  gegeniiber  auftraten,  dem  die 
Welt  -den  Ruhm  des  Siegers  im  Weltkrieg  offiziell  einraumte, 
(and  ihre  Grenzen  beim  Recht  des  Marscballs  innerhalb  seiner 
Befugnisse,  seine  Entscheidungen  zu  treffen,  auch  im  Gegen- 
satz  zu  den  Wunschen  des  Zivils.  Es  bleibt  das  historische 
Verdienst  Fochs,  fur  das  ihm  Deutschland  Dank  scbuldet,  daB 
er  gegen  die  Anspruche  der  amerikanischen  Generale  und  auch 
des  Obersten  Edward  Mandell  House,  des  Vertreters  von  Wilson 
in  Europa,  eine  Weiterfuhrung  des  Krieges  gegen  Deutschland 
im  Augenblick  unsres  militarischen  Zusammenbruchs  a'blehnte. 
Den  Amerikanern  gegeniiber,  die  zum  Siegen  zu  spat  gekom- 
men  waren  und  deshalb  in  Berlin  einziehen  wollten,  verwehrte 
Foch  mit  eiserner  Energie  jeden  weitern  Bhitstropfen  mit  dem 
Wort:  „Ich  fiihre  nicht  Krieg  um  des  Krieges  willen'\  Be- 
denkt  man,  daB  eine  alliierte  Offensive  fur  den  14  November 
vorbereitet  war,  die  der  deutschen  Armee  in  einem  Cannae 
einen  Blutverlust  bereitet  hatte,  bei  dessen  Vorstellung  uns 
noch  nachtraglich  schaudert,  dann  haben  wir  wohl  alien  An- 
laB  zur  Feststellung,  daB  Foch,  wie  er  es  auch  in  seiner  Schrift 
uber  Napoleon  und  in  seinen  Kriegserinnerungen  (deutsch  bei 
Kohler*  Leipzig)  verkiindet,  das  Recht  des  Besiegten  auf  Leben 
hoher  stellt  als  den  Triumph  eines  nicht  mehr  notigen  Sieges. 
Auch  bei  den  Waffenstillstandsverhandlungen  wehrte  Foch  po- 
litische  Ubergriffe  ab,  wie  er  sie  in  den  Seekriegs-Waffenstill- 
standsbedingungen  „gewisser  Verbundeter"  fand.  Er  verhin- 
derte,  daB  England  durch  iibertriebene  Flottenforderungen 
Deutschland  die  Annahme  des  Waffenstillstands  unmoglich 
machte. 

Im  ubrigen  hatten  die  Auseinandersetzungen  zwischen 
Clemenceau  und  Foch  nicht  immer  die  formale  Ruhe,  wie  sie 
in  der  nachtraglichen  Retouche  der  Memoiren  erscheinen. 
Clemenceau  hat  den  Marschall,  wenn  es  notwendig  war,  an- 
gefahren  wie  ein  berliner  Bureauvorsteher  einen  neuen  Stift, 
Als  General  Weygand  einmal  ohne  Erlaubnis  im  Obersten  Rat 
reden  wollte,  fuhr  Clemenceau  Foch  als  den  Vorgesetzten 
Weygands  an:  „Sie  haben  nicht  das  Recht,  von  sich  aus  hier- 
her  zu  kommen,  Sie  sind  nur  hier,  um  Rede  zu  stehen,  wenn 
man  Sie  zu  Rate  zieht.  Sorgen  Sie  wenigstens  dafiir,  daB  das 
geschieht/'  So  Clemenceau  vor  den  Ohren  des  Auslands 
gleich  zu  zwei  Generalen. 

Ober  die  Stellung  des  Militars  in  der  Demokratie  entschei- 
den,  .wie  diese  Tatsachen  zeigen,  nicht  die  Krafte  des  Militars 
sondern  der  Demokratie.  Ein  Sieger  wie  Foch  mit  politischen 
Besorgnissen  uber  die  Schlappheit  des  Zivils  ware  in  einem 
andern  Lande  dessen  Diktator.  Die  Demokratie,  und  tiber- 
haupt  alle  politischen  Machte,  besitzen  stets  so  viel  Gewalt, 
als  sie  in  Aispruch  zu  nehmen  die  Kraft  haben.  DaB  die  De- 
mokratie die  Wehrkralt  des  Volkes  nicht  schwacht  sondern 
starkt,  hat  grade  der  Weltkrieg  bewiesen.  Die  Annahme,  daB 
es  zur  Wehrstarkung  eines  Volkes  der  Ersetzung  der  Demo- 
kratie durch  eine  Diktatur  bedarf,  wird  durch  die  Erfahrungen 
958 


des  Krieges  widerlegt.  Deutschland  fiihrte  den  Krieg  nach 
strategischen  Planen,  denen  alle  politischen  Entscheidungen 
untergeordnet  werden  muBten.  Das  war  der  innere  Grund1  fiir 
das  Versagen  der  deutschen  Strategic  Sie  diente  keiner 
Politik,  sondern  war  Selbstzweck.  Auch  den  entscheidenden 
Personlichkeiten  der  deutschen  Politik  waren  die  deutschen 
Aufmarschplane,  deren  Durchfuhrung  politische  Entscheidun- 
gen  oktroyierte,  unbekannt,  wahrend  ganz  im  Gegensatz  dazu 
selbst  das  militarische  Hochgeheimnis  des  strategischen  Auf- 
marschs  dem  HeeresausschuB  der  franzosischen  Kammer  unter- 
breitet  wird.  Nicht  die  Starkung  der  militarischen  sondern 
der  demokratischen  Prerogative  hebt  den  militarischen  Wert 
einer  Nation.  In  der  rucksichtslosen  Kontrolle  der  Demokratie 
besaBen  die  Heere  der  Entente  in  Wirklichkeit  ihre  starkste 
Waffe.  Das  ist  auch  der  letzte  Grund  <kfiir,  warum  in  keinem 
der  Siegerlander  aus  dem  Vorrang  des  Militarischen  in  der 
Zeit  der  Kriegsfiihrung  ein  Umschlag  in  eine  Militardiktatur 
nach  Beendigung  des  Krieges  erfolgt  ist.  Die  Kontrolle  des 
Militars  durch  die  Demokratie  ist  ein  Potentiel  de  guerre,  auf 
dessen  Erwerb  Deutschland  nicht  verzichten  kann. 


Rote  Slgnale  von  Ignaz  Wrobel 

T  Jnter  diesem  Titel  ist  im  Neuen  Deutschen  Verlag  zu  Berlin 
^  ein  illustriertes  Heftchen  Gedichte  erschienen.  Es  sind 
Beitrage  aus  der  A.I.Z.,  die  bei  Miinzenberg  herauskommt. 

Die  deutsche  Propagandadichtung  hat  noch  nicht  ihren  Stil 
gefunden;  sie  wird  ihn  aber  finden.  Noch  tastet  sie.  Manches 
in  diesem  Bandchen  ist  zu  trocken,  zu  abstrakt,  zu  sChr  aus 
der  Photo  abgeschrieben,  unter  der  das  Gedicht  abgedruckt 
stent,  und  also  ohne  Bild  nicht  recht  wirksam.  (Auch  mein 
>Freund  Theobald  Tiger  verfallt  oft  in  diesen  Fehler.  Und  das 
ist  ein  Fehler,  wenn  es  sich  um  Vortragsstiicke  handelt.)  Ein  paar 
Gedichte  sind  glatt  verhauen,  Manches  poltert;  Erich  Weinert 
hat  auch  leise  Tone,  von  denen  man  hier  nicht  viel  hort.  Pras- 
selnder  Versammlungsbeifall  ist  gut;  kiinstlerische  Wirksamkeit 
kann  besser  sein. 

Was  absterben  sollte,  ist  die  blanke  Elendsschilderung.  Die 
Proletarier  und  Angestellten  wissen,  daB  es  ihnen  schlecht  geht 
und  wie  schlecht  es  ihnen  geht.  Zu  zeigen  sind  Auswege. 
Und  nun  wieder  nicht,  wie  die  KPD  in  ihrer  Verranntheit  oft 
gemeint  hat,  gereimte  Parteithesen,  die  viel,  viel  unwirksamer 
sind  als  die  Funktionare  glauben.  Gewifi  muB  man  die  Linie  inne- 
halten,  das  ist  schon  richtig.  Doch  was  wollen  diese  Gedichte? 
Den  deutschen  Grundfehler  wiederhol en?  Schon  Bekehrte  be- 
kehren?  Das  ist  iiberfliissig.  Wer  das  Parteibuch  bereits  hat, 
will  zwar  gestarkt  werden  —  der  Schwerpunkt  aber  liegt  an- 
derswo. 

Er  liegt  in  der  politischen  Beeinflussung  der  Schwanken- 
den.  Und  auf  deren  Seelenzustand  ist  Riicksicht  zu  neh- 
men.  Missionare  miissen  indianisch  lernen  —  mit  lateinisch 
bekehrt  man  keine  Indianer. 

3  959 


Das  Bandchen  ist  ein  Versuch;  es  ist  em  Weg  aufwarts 
spiirbar.  Seltsam  ist  nur,  wie  wenig  Arbeit er  unter  den  Ver- 
fassern  vertreten  sind;  jeder  Redakteur  dieser  Richtung  weiB 
ja,  wie  kleinbiirgerlich  fast  alle  von  Proletariern  eingesandten 
Verse  sind,  wie  wenig  urspriingiich,  wie  angelesen,  Schade  — 
hier  ware  ein  Feld. 

Hoffentlich  schaffen  es  die  Agitproptruppen.  Das  beste 
Gedicht  scheirit  mir  aus  deren  Bereich  jene  „Proletarische 
Selbstkritik"  von  Willi  Karsch  zu  sein;  ein  Volltreffer.  Das 
sitzt.     Erste  Strophe: 

Vier  Treppen  links  im  Hinterhause 

als  Oberhaupt  und  Haustyrann 

herrscbt   der    Familienvater    Krause 

und  sieht  sich  seine  Bude  an: 

Een  Haufen  Nipps,  —  der  Schonheit  wejen  — 

zwee  Engel  uberm  Ehebett 

mit  joldbesticktem  Morjensejen 

und  eene  Venus  im  Klosett. 

Und  neben  Militarandenken 

mit  schonem  schwarzweiBrotem  Band 

und  Hochzcits-  und  Vereinsjeschenken 

hangt  einsam  Lenin  an  der  Wand. 

BloC  wenn  er  an  der  Theke  steht, 

ist   Krause    Sozialist; 

da  schwitzt  er  Klassenkampfertum 

und  schimpft  uff  Burgermist. 

Sonst  frifit  er  sich  ne  Plauze  ran, 

ist  iromm  und  gottergeben , . . 
Doch  kommts  nicht  auf  die  Schnauze  an, 
ihr  miiBt  auch  danach  lebenl 

Es  gibt  keinen  Erfolg  ohne  Frauen,  Das  Bandchen  wendet 
sich  endlich  auch  an  sie,  und'  wenn  ihr  einem  oder  einer  eine 
kleine  Weihnachtsfreude  machen  wollt . . . 


Soweit  war  diese  Kritik  gediehen,  als  dem  Neuea  Deut- 
schen  Verlag  ein  Zettelgen  ins  Haus  ilatterte:  atif  dem  stan- 
den  gar  viele  Zahlen.  Es  war  aber  kein  Kurszettel,  sondern 
ein  Schreiben  des  berliner  Polizeiprasidiums,  das  die  „Roten 
Signale"  beschlagnahmt  hat. 

„.  ..weil  die  Regierung  nind  die  Justiz  und  die  Religions- 
gesellschaften  und-  ihre  Einrichtungen  beschimpft  und  boswillig 
verachtlich  gemacht  werden,  und  weil  aufler  diesen  Stellen 
die  gjanze  Tendenz  der  Druckschrift  dahin  geht,  die  Leser  der 
Druckschrift  aufzuhetzen  und  fur  einen  politischen  Umsturz 
reif  zu  machen."    Und  ich  hatte  geglaubt,  das  tate  der  Hunger. 

Ilhistrierter  Beobachter,   ein  Naziblatt: 

,tS.A.  marschiert.  Sturmbann  VII/5  bei  der  Arbeit."  Da- 
zu  Bilder: 

,fSturmbannerfuhrer  R.  —  Besichtigung  des  Radtahrer- 
sturms  durch  seinen  Ftihrer.  —  Besichtigung  durch  den  Stan- 
dartenfiihrer  in  Neustadt  i.  Sa^  —  Bild  links:  Vereidigung  des 
Sturmbannes  VII/5." 

960 


Was  ist  das  — ? 

Das  ist  em  harmloser  Radfahrerverein,  und  dcr  wird  er- 
laubt.    Und  Rotfront  ist  verboten. 

Beleidige  die  „Breslauer  Judea",  du  kannst  es  ungestraft 
tun.  Kritisiere  „SoldatenM  —  du  kannst  es  nicht  tun.  Sag: 
Schwangere  werden  gequalt,  Gefangene  geschunden;  nicht 
immer  sind  alle  schuldig,  die  da  schuldig  gesprochen  werden  — 
du  darfst  es  nicht  sagen.  Sag:  „Die  Reichswehr . . .",  und  du 
bist  auf  alle  Falle  schuldig;  sei  es,  daB  du  sie  pazifistisch 
nennst,  sei  es,  daB  du  sie  nicht  pazifistisch  nennst  —  du  sollst 
den  Namen  deines  Gottes  uberhaupt  nicht  nennen,  und  dieser 
Satz  ist  nun  wahrscheinlich  eine  Gotteslasterung. 

Der  Regierungsrat,  der  das  hier  mit  zusammengekniffnen 
Lippen  urtd  einem  fiskalischen  Bleistift  in  der  bezaubernden 
Hand  liest,  er  senke  den  Bleistift.  Unsre  Arbeit  ist  getan. 
Niemand  braucht  mehr  aufgehetzt,  niemand  fiir  den  politischen 
Umsturz  reif  gemacht   zu  werden. 

—  „K6nnte  man  da  nicht . . .?" 

Nein,  Herr  Regierungsrat,  man  kanrt,  aber  man  konnte 
nicht.     Ich  babe  nichts  gesagt.     Haben  Sie  was  gesagt? 

Einheitsfront  der  Arbeit  er  und  Anges  tell  ten  —  wo  bist 
du  — ? 


Esperanto  von  Johannes  Stickler 

Dieser  am  Westdeutschen  Rundfunk  gehaltene  Vor- 
trag  hat  einen  Protest  von  Esperantisten  erregt.  Wir 
bitten  diese,  auf  den  letzten  Satz  zu  achten:  Der  Ver- 
fasser  wurde  sich  selbstverstandlich  als  ehrlicher  Demo- 
krat  dem  Abstimmungsergebnis  ftigen. 

Jeder,  der  internationalen  Kongressen  beigewohnt  hat,  weiB, 
wie  unangenehra  zeitraubend  und  langweilig  es  ist,  die 
gleiche  Rede  dreimal  hintereinander  zu  horen.  Einmal  vom 
Originalredner,  zweimal  von  verschiedenen  Obersetzern,  Man 
hat  sich  deshalb  schon  so  ztt  helfen  versucht,  daB  man  in 
letzter  Zeit  die  Rede  gleichzeitig  durch  Dolmetscher  vermittels 
Kopfhorer  iibertragen  lieB.  Das  kann  immer  nur  ein  unvoll- 
kommener  Notbehelf  sein,  Ganz  abgesehn  da  von,  daB  es  fast 
unmoglich  ist,  einen  Satz  in  eine  andre  Sprache  zu  iibertragen 
und  gleichzeitig  den  nachsten  zu  horen,  Wenn  man  aber  die 
Schwierigkeiten  kennt,  die  es  manchmal  schon  unmoglich 
machen,  daB  Bewohner  des  gleichen  Landes  sich  verstandigen, 
wie  zum  Beispiel  die  Flamen  und1  Wallonen  Belgiens,  die 
Tschechen,  Deutschen  und  Ungarn  in  der  Tschechoslowakei, 
so  muB  man  unbedingt  dafiir  sein,  daB  es  eine  allgemein  an- 
erkannte  internationale  Sprache  gibt.  Um  so  mehr  als  die  na- 
tionalen  Sprachen  durchaus  nicht  die  Tendenz  haben,  sich  zu 
verringern,  im  Gegenteil;  sie  vermehren  sich.  Sprachen,  die 
schon  verschwtmden  schienen,  leben  wieder  neu  auf.  Das 
Norwegische  trennt  sich  gewaltsam  vom  Danischen,  das  alte 

961 


Irisch,  Katalonisch,  Hebraisch,  Ukrainisch  wird  mit  einem  wah- 
ren  Fanatismus  wieder  gepflegt,  Estnisch,  Lcttisoh  und  Li- 
iauisch  werden  zu  neucn  Kultursprachen  erhoben,  Aus  alle- 
dcm  ergibt  sich  die  absolute  Notwendigkeit,  eine  bestimmte 
Sprache  als  international  festgelegtes  Verstandigungsmittel 
fur  bestimmte  Zwecke  anzuerkennen, 

Wohl  verstanden:  nur  fur  bestimmte  Zwecke,  Beileibe 
nicht,  urn  irgend  eine  lebende  Sprache  zu  ersetzen  oder  zu 
verdrangen.  Wer  sich  wirklich  fiir  die  Kultur  und  das  soziale 
Leben  eines  Volkes  interessiert,  mochte  in  Paris  sein,  ohne 
franzosisch,  in  Florenz  ohne  italienisch  zu  verstehen?  Aber  dafi 
es  eine  ,, internationals  Hilfssprache"  geben  muB,  daruber  sind 
wir  uns  alle  einig.  Die  Volker  werden  sich  dieser  ,,zweiten 
Sprache"  ebenso  bedienen,  wie  sich  bereits  alle  Nationen  des 
Abendlandes  der  gleichen  arabischen  Ziffern  und  der  gleichen 
Notenschrift  bedienen. 

Ohne  sich  in  die  Streitigkeiten  einzumischen,  die  die  Ver- 
fechter  der  verschiedenen  kiinstlichen  Systeme  untereinander 
auskampfen,  muB  zugegeben  werden,  daB  das  Esperanto  und 
sein  Ableger,  das  Id'o,  den  Sieg  dlavongetragen  haben.  Und 
es  muB  ferner  zugegeben  werden,  daB  von  diesen  beiden  Espe- 
ranto durch  die  grofie  Zahl  seiner  Anhanger,  deren  Aktivitat 
und  die  Existenz  esperantistischer  Zeitungen  und  Literatur 
allein  ernsthaft  zur  Diskussion  steht, 

Zugegeben  auch,  daB  Esperanto  die  grammatikalischen 
Schwierigkeiten  einer  Sprache  auf  ein  Minimum  reduziert  hat. 
Ein  Wortschatz,  bei  dem  alle  Substantive  auf  of  alle  Adjekti've 
auf  a,  die  Mehrzahl  immer  mit  j,  die  Infinitive  mit  i  enden,  wo 
die  Zeiten  der  Verben  sich  auf  vier  beschranken,  alle  mit  der 
gleichen  Endung,  wo  auBerdem  Substantive,  Adjektive  und 
Verben,  die  zusammengehoren,  alle  den  gleichen  Stamm  ha- 
ben, bietet  gegenuber  alien  leb enden  Sprachen  einen  riesigen 
Vorteil.  Ein  normal  begabter  Mensch  kann  die  Regeln  des 
Esperanto  in  einer  Stunde  kapieren.  Die  Grammatik  ist  also 
leichter  als  die  der  englisohen  Sprache,  die  schon  auBerordent- 
lich  einfach  ist. 

Ich  erkenne  also  die  Vorteile  des  Esperanto  durchaus  an, 
ebenso,  daB  die  Esperantisten  theoretisch  die  Schlacht  schon 
gewonnen  haben,  und  daB  sie  auch  tatsachlich  schon  eine  feste 
Position  einnehmen.  Ich  glauibe  nur,  daB  sie  in  ihrem  beinahe 
religiosen  Fanatismus  ihr   Wirkungsgebiet  weit   iiberschatzen. 

Das  Esperanto  konnte  dazu  dienen,  ein  wissenschaftliches 
Werk,  das  in  einer  nur  Wenigen  gelaufigen' Sprache  erschienen 
ist,  dlen  Gelehrten  aller  Sprachen  zuganglich  zu  machen,  ohne 
dafi  es  in  zehn  oder  mehr  Sprachen  iibersetzt  wird.  Es  konnte 
bei  der  internationalen  Geschaftskorrespondenz,  in  Katalogen, 
die  fur  die  ganze  Welt  bestimmt  sind,  angewandt  werden.  Es 
konnte  auch  gute  Dienste  leisten  bei  internationalen  Fahrpla- 
nen,  in  durchgehenden  Ziigen,  auf  Grenzbahnholen,  in  interna- 
tionalen Hafenstadten,  Reisefiihrern  etcetera, 

Aber  schon  bei  internationalen  Kongressen  ist  eine  Rede 
in   Esperanto   in  keiner   Weise  mit  einer  solchen  in  lebender 

962 


Sprache    zu    vergleichen.      Professor    Th.   Ruyssen,    der    seit 
zehn  Jahren  alien  Volkerbundsversammlungen  beigewohnt  hat, 
schreibt  iiber  seine  Eindriicke:  „Die  Redner  beim  Volkerbund 
sprechen  meistens  franzosisch  oder  englisch.     Jede  Redef   die 
in    einer   dieser   beiden   Sprachen  gehalten   wird,   muB  in   die 
andre  iibersetzt  werden.  Und  wenn  sie  in  einer  dritten  Sprache 
gehalten  wird,   muB  sie  in  beide  Sprachen  iibersetzt  werden* 
Es  ist  furchtbar,  alles  dfeimal  zu  horen!     Wie  oft  habe  ioh  da 
den   verzweifelten  Ruf   gehort:    Wann   wird   man   sich  endlich 
zu  einer  allgemein  verstandlichen  Sprache  entschlieBen?    Eine 
gute     Reklamegelegenheit     fiir     Esperantisten.      Aber      nach 
menschlicher  Voraussicht  hat  dieses   Ideal   keine    Chance   auf 
Verwirklichung.     Warum?     Weil  die  Volkerbundsversammlung 
ein  lebendiges  Milieu  ist,  wo  lebende  Sprachen  allein  geeignet 
sind,    Gefiihle    und    Gedanken    lebendig    auszudriicken.       Und 
warum  drticken  sich   die  meisten  Redner  in  Genf,  die  weder 
Franzosen  noch  Englander  sind,  in  einer  der  beiden  Sprachen 
so  vollkommen  aus,   wie  man  es   manchem  Redner  im  Palais 
Bourbon  wunschen  mochte?    Weil  sie  den  Gebrauch  der  frem- 
den  Sprachen  unter  wirklichen  und  nicht  kiinstlichen  Bedin- 
gungen  gelernt  haben.     Weil  sie  die  Sprachen  von  Franzosen 
oder  Englandern  auf  Schulen  oder  Umversitaten  gelernt  haben 
oder  sogar   ihre  Ausbildung   in  Paris  oder  London  selbst   ge- 
nossen   haben,   wo   sie   mit    der    Sprache    die   Kultur   und  die 
Atmosphare   des   Landes   in   sich   aufgenommen   haben,"   ,  Ich 
selbst  erinnere  mich  lebhaft  an  einen  Neger  aus  Haiti,  der  auf 
einem    internationalen    KongreB    seine    Negerrepublik    vertrat 
und   das   schonste   und   kultivierteste   Franzosisch    sprach,    das 
—  einschlieBlich   der  sehr  vielen  anwesenden  Pariser  —  dort 
gesprochen  wurde.     Er  hatte  in  seinem  Land  die  franzosische 
Schule  besucht. 

Eine  kiinstliche  Sprache  wird  niemals  die  vielen  Nuancen 
hervorbringen  konnen,  die  im  Familien-  und  Volksleben  sich 
ge'bildet  haben. 

Die  Esperantisten  behaupten  gern,  die  kiinstliche  Sprache 
trage  zur  Volkerverstandigung  und  zur  Starkung  des  Frie- 
dens  bei.  Das  dlirfte  aber  nur  in  ganz  geringem  Mafi  der  Fall 
sein.  Die  Geschichte  zeigt,  daB  die  gleiche  Sprache  Englan- 
der und  Amerikaner  nicht  gehindert  hat,  sich  im  Unabhangig- 
keitskrieg  zu  zerfleischen,  noch  die  Nord-  und  Siiddeutschen, 
sich  bei  Koniggratz  zu  schlagen,  wahrend  das  Beispiel  der 
Schweiz  zeigt,  daB  man  sich  sehr  wohl  vertragen  kann,  auch 
wenn  man  vier  verschiedene  Sprachen  spricht. 

Man  uberschatze  aber  auBerdem  nicht  die  Leichtigkeit, 
mit  der  Esperanto  erlernbar  ist.  Die  Einfachheit  der  Sprache 
trifft  nur  auf  die  Grammatik  zu.  Das  Erlernen  der  Worter  ist 
nur  fur  die  lateinsprachigen  Volker  leicht,  also  nur  fiir  eine 
kleine  Minderheit  von  Volkern.  Selbst  ein  so  begeisterter 
Anhanger  des  Esperanto  wie  Charles  Richet  gibt  zu,  daB  von 
den  Wortern  95  Prozent  eine  lateinische  Wurzel  haben.  Es 
ist  daher  nur  natiirlich,  daB  zu  den  eifrigsten  Verfechtern  des 
Esperanto  Franzosen  gehoren.  Und  selbst  diese  kann  man  mit 
ihren  eignen   Beispielen  widerlegen.     Da   nimmt  zum  Beispiel 

963 


Antonelli  in  einer  Propagandaschrift  das  Wort  „Engel",  um  zu 
beweisen,  wie  leicht  es  fur  die  verschiedenen  Nationen  ist, 
Esperanto  zu  lernen.  Im  Franzosischen  ..angc'*,  im  Englischen 
„  angel",  im  Russischen  „  angel"  im  Esperanto  ebenfalls  „  angel". 
Aber  nun  kommt  der  springende  Punkt.  Wie  wird  das  Wort 
t,richtig"  esperantisch  ausgesprochen?  Jeder  nicht  Sprachen- 
kundige,  und  fiir  die  andern  ist  ja  eine  kiinstliche  Sprache 
iiberhaupt  nicht  no  tig,  wird  das  nach  seiner  Fasson  aussprechen, 
und  schon  hat  man  wieder  vier  verschiedene  Worter.  Man 
denke  nur  an  Latein,  das  Franzosen  und  Englander  anders  aus- 
sprechen als  Deutsche.  „Do minus  ssantiis"  sagt  der  Franzose 
und  behauptet  —  wahrscheinlich  mit  irgend  einer  wissenschaft- 
lichen  Begriindung  — ,  daB  die  alt  en  Romer  es  so  ausgesprochen 
hatten, 

Bleibt  noch  die  Moglichkeit,  zur  internationalen  Sprache 
eine  schon  bestehende,  entweder  tote  oder  lebende  Sprache 
zu  erheben.  Denjenigen,  die  sich  aus  asthetischen  Griinden  fur 
Latein  entschieden  hafoen,'  muB  entgegengehalten  werden,  daB 
es  im  Lateinischen  eine  ganze  Menge  Worte  unsres  taglichen 
Lebens  gar  nicht  gibt.  Man  iibersetze  zum  Beispiel  den  Satz; 
Ich  nehme  mein  Taschentuch  aus  der  Hosentasche!  Die  Ro- 
mer hatten  weder  Tasdhentuch,  noch^  Tasche,  noch  Hose. 
Bleibt  also  nur  noch  die  lebende  Sprache. 

Bei  der  Wahl  dieser  Sprache  kann  weder  rationales  Pre- 
stige noch  leider  die  Aesthetik  maBgebend  sein.  Die  Frage 
kann  nur  von  der  Praxis  entschieden  werden.  Welche  Sprache 
ist  die  am  leicht  est  en  erlernbare  und  gleichzeitig  am  weitesten 
verbreitete  der  Erde?  Die  englische.  Man  hat  ubrigens  schon 
in  Erwagung  gezogen,  ob  man  zu  diesem  Zweck  nicht  die  ein- 
zige  kleine  Schwierigkeit  im  Englischen,  die  unregelmaBigen 
Verben,  zu  regelmaBigen  machen  sollte.  Die  englische  Sprache 
ist  fiir  jeden,  der  nur  seine  eigne  Mutter  sprache  spricht,  leich- 
ter  zu,  erlernen   als  Esperanto. 

Im  tibrigen  mufl  wiederholt  werden;  daB  jede  internatio- 
nale  Sprache  immer  nur  einen  engbegrenzten  Zweck  hat,  sie 
wird  weder  die  sozialen  noch  die  politischen  Verhaltnisse  an- 
dern. Der  Kreis  der  Menschen,  die  sich  wirklich  fiir  inter- 
national Dinge  interessieren,  wird  immer  nur  sehr  beschrankt 
sein,  und  auch  die  zwangsweise  Einfuhrung  einer  internationa- 
len Sprache  in  den  Lehrplan  aller  Schulen  der  Welt  wird 
daran  leider  nicht  viel  andern.  Man  denke  nur  zum  Beispiel 
an  die  deutschen  Zwangsschulen  in  Oberschlesien  und  Posen. 
Acht  deutsche  Schuljahre  und  drei  Militarjahre  haben  nicht 
geniigt,  den  Einwohnern  jener  Landstriche  die  deutsche  Sprache 
beizubringen.  Man  denke  nur  an  Luxemburg  und  Belgien, 
wo  keine  einzige  Kultursprache  richtig  gesprochen  wird. 

Es  ist  sehr  schwer,  mit  den  Esperantisten  zu  verhandeln, 
weil  sie  so  oft  wirklichkeitsfremde  Fanatiker  sind.  Aber  ent- 
schieden werden  sollte  die  Frage  in  den  nachsten  Jahren.  Zur 
Diskussion  wird  wahrscheinlich  nur  Esperanto  und  Englisch 
steheri.  Die  Entscheidung  muBte  durch  Weltabstimmung 
fallen. 

964 


FilmwirtSChaft  von  A.  Kraszna-Krausz 

Dieser  Artikel  ist  vor  einigen  Wochen  entstanden,  als  der 
BeschluB  der  Filmindustrie  uber  den  Gagenabbau  eben  heraus 
war,  Inzwischen  hat  sich  das  Bild  der  Wirtschaft,  auch  das 
der  Filmwirtschaft,  bekanntlich  etwas  yerschoben.  Das  andert 
aber  nichts  am  Grundsatzlichen. 

Machts,  nachdem  sie  eben  das  Licht  geloscht  haben,  gestehen 
sich  wohl  auch  die  Herren  der  FriedrichstraBe  ein,  dafl 
ihre  Umgebung  einem  Irrenhaus  gleicht,  in  dem  jeder  die  Rolle 
spielen  darf,  die  er  sich  anmaBt,  und  jeweils  den  Stil,  den  er 
fur  wirksam  halt.  An  Sonn-  und  Feiertagen,  auf  internatio- 
nalen  Kongressen,  vor  den  Behorden  und  in  der  Presse  aller- 
dings  erklaren  sie  mit  erhobener  Stimme,  das,  was  sie  mac  hen, 
als  Kulturgut,  und  wie  sie  es  machen,  fiir  Kunst.  Werktags 
wieder,  hinter  dem  Schreibtisch,  wenn  das  Telephon  nervos 
Betrieb  markiert  und  Leute,  die  etwas  wollen,  unentwegt  „Herr 
Direktor"  sagen,  fuhlt  man  sich  diesbeztiglich  als  Industrieller. 

Die  Industrie,  die  unsre  Industrielle  betreuenf  unterschei- 
det  sich  von  andern  Indus trien  dadtirch,  daB  sie  Betrieb e  ftir 
den  einzelnen  Produktionsfall  erst  abmieten  muB,  auch  Be- 
triebsmittel  nur  leihweise  in  die  Hande  bekommt  und  Betriebs- 
krafte  auf  Tage  anstellt.  Der  groBte  Teil  dieser  Industrie  muB 
die  Ateliers,  in  denen  er  arbeitet,  die  Apparate,  die  er  be- 
notigt,  die  Leute,  die  seine  Werkzeuge  sind,  von  Fall  zu  Fall 
in  Anspruch  nehmen,  von  Fall  zu  Fall  neu  kalkulieren,  von 
Fall  zu  Fall  unter  andern  Bedingungen  einsetzen. 

Filme  werden  weder  gedichtet  noch  fabriziert,  FUme 
werden  Mgedreht".  An  Hand  eines  Inserates  und  mit  Hilfe  von 
Provinzreisenden.  F^nanziert  mit  Wechseln,  der  en  Valuta 
Heurigenmusik,  Schlagerzeilen  und!  Sexappealchen  sichern.  Oder 
eine  andre  Milieumode,  ein  andrer  Titelstii  und  ein  andrer 
Starname.  Die  Wechsel  gibt  der  Theaterbesitzer  dem  Ver- 
leiher  und  der  Verleiher  dem  Produzenten  weiter.  Der  MBt 
sie  diskontieren  mit  Miihe  und  Not  und  33  Prozent,  Dann  geht 
es  los,  und  man  wird  auch  fertig  —  solange  sich  die  Kalkula- 
tion  halt.  Andernfalls  finden  Unterbrechungen  statt.  Neue  Ver- 
mittler  jagen  nun  neuer  Kapitalhilfe  nach  und  stecken  neue 
Prozente  ein.  Wenn  alles  klappt  —  und  nicht  immer  klappt 
alles  — (  miissen  nur  einige  Szenenkomplexe  des  Manuskriptes 
gestrichen  und  die  AuBenaufnahmen  statt  an  der  Adria,  am 
Stolpchensee  beendet  werden.  Statt  in  zehn  Tagen,  in  drei. 
Der  Regisseur,  ein  Kameramann  und  vier  Schauspieler  diirfen 
nachher  ihrem  Gelde  bis  zum  Arbeitsgericht  nachlaufen.  Wenn 
auch  umsonst.  Die  Firma  hat  inzwischen  zugemacht,  das 
Negativ  des  Films  der  Verleiher  beschlagnahmt. 

Man  wird  sagen,  sowas  sei  ein  Ausnahmefall  und  konne 
ja  vorkommen.  Aber  es  ist  nicht  ein  Fall,  es  sind  manche 
Falle.  Viele.  In  ihrer  Geschichte  vielleicht  um  Nuancen  ver- 
schieden.  Bestimmt  bis  aufs  Haar  gleich  im  Endeffekt.  Wer 
das  nicht  glaubt,  der  kann  ja  in  den  Jahrgangen  der  Branchen- 
AdreBbiicner  nachblattern.  Kein  halbes  Dutzend  von  Firmen- 
namen  halt  sich  hier  1  anger  als  uber  eine  Saison  oder  zwei. 

965 


Und  solange  einer  sich  halt,  muO  er  aus  der  Offenen  Handels- 
gesellschaft  in  die  G.  m.  b.  H.(  aus  der  G.  m.  b-  H.  in  die  A-G. 
hiniibergerettet,  danach  wieder  das  Aktienkapital  vergroBert, 
bci  der  nachsten  Generalversammlung  hingcgen  zusammen- 
gelegt  werden,  und  im  Aufsichtsrat  thronen  allemal  neue  Leutc. 
Nur  Jcnef  die  hinter  den  gepolsterten  Tiircn  sitzen,  die  Ge- 
schafte  machen  und  bestimmt  Geschafte  machen,  Beziige  bis 
zu  funfstelligen  Zahlen  kassieren,  Auslandsreiseni  auf  Ver- 
trauensspesen  repetieren,  und  Prozente  auch  davon  bekom- 
men,  was  verlorenging,  Direktoren  von  Produktionsgesellschaf- 
tcn  und  Manager  von  Finanzkombinationen,  die  Herren  der 
Friedrichstadt,  vom  Bristol  bis  zum  Eden  —  die  bleiben.  Sie 
schliipfen  durch  komplizierte  Affairent  fallen  samtliche  Trep- 
pen  hinauf  und  dekretieren,  wenn  es  mal  mulmig  schmeckt, 
geschwind,  da8  es  so  nicht  weitergehen  kann,  man  Ordnung 
schaffen  muB,  rationalisiert  werden  solL    Ecco. 

Das  geschieht  diesmal  ausgerechnet  zu  einer  Zeit,  wo 
die  deutsche  Filmindustric  Millionenrekorde  fur  Ausstattungs- 
stiickcben  erschwingt,  alle  berliner  Ateliers  ausverkauft  sind, 
die  Provinz  immer  groBere  Lichtspielpalaste  eroffnet  und  nicht 
einmal  die  Arbeitslosenstadte  des  Ruhrgebiets  sich  iiber 
schlechten  Kinolbesuch  beklagen  konnen. 

Von  solchen  AuBerlichkeiten  sieht  aber  die  Organisation 
der  Fiknhersteller  gem  ab,  wenn  das  Wackeln  der  iibrigen 
Wirtschaft,  die  Abbaupsy chose  in  alien  Branchen,  die  schwach- 
liche  Sozialpolitik  des  Reiches  grade  die  giinstigste  Gelegen- 
heit  bieten,  jetzt  dabei  sein  zu  diirfen,  wenn  Diktatur  der  In- 
dustrie gespielt  wird:  als  Industrie  unter  den  andern  Industrien, 
gleichberechtigt,  ahnlich  serios  und  noch  kraf tiger.  Also  be- 
schloB  das  Konsilium  der  Fabrikanten:  „Die  Stargagen  sind 
auf  ein  verniinftiges  MaB  zuriickzufiihren.  Die  Schauspieler- 
gagen  sind  um  mindestens  20  Prozent  der  zuletzt  gezahlten 
Gagen  zu  verringern.  In  gleicher  Weise  miissen  abgebaut 
werden  die  Bezuge  des  technischen  und  technisch-kiinstleri- 
schen  Personals,  welche  in  keinem  Verhaltnis  zu  dem  in  an- 
deren  Wirtschaftszweigen  ublichen  Entgelt  stehen  . . ."  . 

Diese  Beschliisse  und  das  ganze  offizielle  Komm unique,  in 
dessen  Rahmen  sie  vor  kurzen  Wochen  veroffentlicht  worden 
sind,  umgehen  absichtlich  und  bewuBt  in  drei  groBen  Bogen 
die  Wahrheit  uber  die  Filmwirtschaft.  Erstens,  indem  sie  deri 
Anschein  zu  erwecken  suchen,  als  ob  an  der  MiBwirtschaft 
der  Industrie  einen  wesentlichen  Anteil  der  Honoraretat  haben 
wurde.  Zweitens,  indem  sie  die  Moglichkeit  vorgaukeln,  an 
den  Stargagen  andern  zu  konnen  oder  zu  wollen.  Drittens,  in- 
dem sie  das  eingefrorene  Marchen  iiber  die  rosigen  Einkiinfte 
aller  Filmschaffenden  wieder   aufwarmen.     Wahr  ist  dagegen; 

Von  dem  Geld,  das  durch  die  Kassen  der  Lichtspielhauser 
der  Filmindustrie  zuflieBt,  nimmt  vorneweg  der  Staat  10  Pro- 
zent fur  die  Lustbarkeitssteuer  ab.  Von  den  iibrigbleiben- 
den  90  Prozent  darf  der  Theaterbesitzer  55  bis  60  Prozent 
behalten,  30  bis  35  Prozent  gibt  er  dem  Verleiher  weiter.  Der 
Verleiher  teilt  mit  dem  Produzenten  in  der  Regel  fifty-fifty, 
auf  den  entf alien  demnach  von  dem  Umsatz  ungefahr  15  Pro- 
zent. Dreiviertel  dieses  Anteils  wird  durch  Kapitalbeschaffung, 

966 


Verwaltungsspesen,  Ateliermieten,  Materialkosten,  Apparat- 
lizenzen  und  Leihgebiihren  verschluckt,  das  letzte  Viertel  blcibt 
fiir  all  esamt  Jene  ubrig,  die  den  Film  gemacht  haiben.  3H  bis  4 
Prozent  vom  Inlandsumsatz.  Wenn  man  mit  dem  Gesamt- 
umsatz  den  Vergleich  zieht,  sogar  nur  2  bis  2  K  Prozent.  2  bis 
2K  Pfennige  von  jeder  Mark,  die  fiir  ein  Kinobillett  ausgege- 
ben  wird.  An  diesfen  2  bis  2 K  Pfennigen  soil  nun  rationiert, 
eingeschrankt,  gespart  werden.  Mind  est  ens  20  Prozent.  Eine 
Ersparnis  von  0,4  Pfennig  soil  die  Mark  des  Films  retten.  Das 
ist  gesunde  Wirtschaftspolitik. 

Die  Stars  kommen  zuerst  dran  —  erklart  der  Verbands- 
syndikus,  und  seine  Mitglieder  nicken  — ,  zumal  die  Stars  iiber- 
haupt  nicht  drankommen,  Sie  kommen  ausschlieBIich  in  urn- 
gekehrter  Richtung  dran:  wenn  sie  eine  Firma  der  andern  vor 
der  Nase  wegschnappt  und  ihre  Gagen  hoherhetzt.  Stars, 
wirkliche  Stars,  Namenfassaden  vor  einem  immer  hoher  ge- 
takelten  Reklamegerust  —  scheinen  namlich  die  einzigen  ver- 
trauenswiirdigen  Kalkulationsfaktoren  in  den  Kostenvoranschla- 
gen  der  meisten  Filmhandler  zu  sein,  Mit  ihnen  kann  man 
rechnen,  auf  sie  wird'  gebaut, 

Bequemer  bleibt  es,  den  Streit  mit  den  andern  zu  begin- 
nen.  Die  nur  wie  Stars  aussehen  und  keine  sind.  Die  Mitt- 
lern  und  Kleinen.  Dem  Konig  sagt  man  Schach,  und  den 
Bauern  schlagt  man.  Das  war  auch  beim  Film  noch  nie  an- 
ders.  Die  Stargagen  werden  diskutiert,  und  die  Statisten  ge- 
kiirzt.  Weil  eben  auch  sie,  wie  uberhaupt  alle,  alle  beim  Film, 
viel  zu  viel  verdienten  im  „Verhaltnis  zu  dem  in  andern  Wirt- 
schaftszweigen  iiblichen  Entgelt",     Wie  es  so  schon  heifit. 

Das  Verhaltnis  zu  andern  Erwerbszweigen  scheint  aller- 
dings  auch  etwas  ungewohnlich.  Im  Filmatelier  betragt  die 
eigentliche  Arbeitszeit  zwolf  bis  sechzehn  Stunden  —  ohne 
daB  die  Ubefarbeit  honoriert  wiirde.  Auf  einen  bezahlten  Ar- 
beitstag  entfallen  in  der  Regel  funf  Tage  unbezahlter  Arbeits- 
bereitschaft.  Funfundsiebzig  bis  achtzig  Arbeitstage  im  Jahr 
sind  das  Maximum  an  (Beschaftigung,  die  Filmschaffende  im 
Durchschnitt  erkampfen  konrien.  Nach  zehn  Jahren  Filmakti- 
vitat  werden  die  meisten  Leute  zum  alten  Eisen  geworfen.  Sie 
seien  verbraucht,  Infolge  der  Lauferei,  der  Brotjagd,  des  Anti- 
chambrierens,  der  Atelierluft,  des  Lampenfiebers,  der  Auf- 
regungen  und  der  Kunst. 

Es  diirfte  keinen  Berufskreis  von  Angestellten  einer  „In- 
dustrie"  in  Deutschland  geben,  der  so  unbeholfen,  ausgeliefert 
und  ratios  dastunde  wie  die  geistige,  kiinstlerische  und  tech- 
nische  Arbeiterschaft  des  Films.  Auch  von  der  abenteuer- 
lichen  Unsicherheit  der  ganzen  Atmosphare,  von  der  Unmog- 
lichkeit,  in  dieser  Gegend  eine  Lebensexistenz  zu  schaffen,  ab- 
gesehen.  Normalvertrage,  die  aus  paritatischen  Verhandlungen 
von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  entstehen  sollten,  hat 
die  Filmproduktion  in  alien  Instanzen  abgelehnt.  Dafiir  gibt 
der  „Verband  der  Filmindustriellen"  Einstellungsformulare  her- 
aus,  deren  Arbeitsbedingungen  einseitiger  und  diktatorischer 
sind  als  je  ein  Friedensvertrag  es  war.  Diese  Vertrage  pfeifen 
eins  auf  die  deutschen  Arbeitsgesetze  und  verweisen  jeden 
Streitfall  an  ein  teures  Schiedsgericht,  dessen  Vorsitzenden  ein 

967 


fur  allemal  der  Industriellenverband  bestellt.  Sie  schlagen 
grundsatzlich  kerne  cxakte  Begrenzung  der  Vertragsdauer  vor, 
an  die  sich.  der  Aribeitgeber  binden  miiBte,  und  verpflichten  den 
Arbeitnchmer  „voraussichtlichM  —  in  Wirklichkeit  unbegrenzt. 
Es  kiimmert  sie  kein  Arbeitszeitgesetz,  und  sie  zwingen  ihre 
Angestellten  fiir  jede  Dauer,  zu  jeder  Tages-  oder  Nachtzeit, 
gleich,  ob  an  Werk-  oder  an  Feiertagen,  zu  Verfiigung  zu 
stehen,  Sie  lassen  die  Filmschaffenden  auf  elementarste  Per- 
sonlichkeitsrechte  verzichtei^  wahrend  der  Fabrikant  nicht 
einmal  die  Verpflichtung  ubernimmt,  den  Inhalt  des ,  Vertrages 
in  bezug  auf  die  Ausfuhrung  einer  vereinbarten  Aufgabe  zu 
erfiillen.  Der  Fabrikant  iibt  auch  samtliche  Urheberrechte  aus 
und  macht  mit  dem  aibgeschlossenen  Werk  der  Kiinstler,  was 
er  will . ,  * 

Der  eine  Grund  da  fiir,  da  6  es  den  Filmkaufleuten  moglich 
bleibt,  diesen  Zustand  aufrechtzuerhalten,  liegt  in  der  Hetero- 
genitat  der  Elemente,  in  der  Vielheit  und  Kleinheit  der  Grup- 
pen,  die  am  Film  mitzuarbeiten  ha  ben.  Benachbarte  Sparten 
xeiben  sich  gegenseitig  wund  und  treffen  nicht  den  Takt  glei- 
cher  Marschschritte.  Dazu  kommt  —  was  bei  jungen  Schaffens- 
gebieten  nicht  selten  ist  — ,  daB  sich.  hier  kaum  einer  in  sei- 
nem  Berut  am  Ziele  fiihlt,  sondern  unentwegt  eine  Stufe  hoher 
will  und  —  a  conto  —  eine  Stufe  hoher  lebt.  Jeder  treibt 
den  Nachsten  zu  einem  Wettbewerb  an,  in  dem  man  sich  be- 
miiht,  Posituren  und  Manieren  vorzutauschen  —  wie  sie  Pro- 
pagandaleiter  der  Industrie  fiir  illustrierte  Zeitschriften  aus- 
denken,  Diese  Kulissen  mit  dem  neuen  Auto,  der  feudalen 
Strandvilla,  den  groBen  Auslandsreisen,  die  zu  99  Prozent 
cachiert,  gemalt,  gestellt  sind,  urn  das  Publikum  zu  kodern, 
wirft  nun  die  Industrie  dem  Koder  selbst  vor  und  ruft  das- 
selbe  Publikum  zum  Zeugnis  dafur  auf,  daB  dieser  Koder  viel 
zu  kostspielig  zubereitet  ist.  Der  Koder  aber  geniert  sich  und 
glaubt  sich  zu  schadigen,  wenn  er  eingesteht,  daB  man  ihn  nur 
von  AuBen  so  hubsch  glasiert  hat  und  Innen  nichts  ist. 

Da  aber  AuBen  alles  glanzt,  leicht  und  beschwingt  lockt, 
ebbt  der  tolle  Flug  der  Miicken  ins  Scheinwerferlicht  niemals 
ab.  Das  Oberangebot  an  Menschen  fiir  den  Film  war  schon 
phantastisch,  als  es  in  Deutschland  keine  MUlionen  von  Ar- 
beitslosen  gab.  Aus  der  Inflation,  einer  Zeit,  in  der  die  billige 
deutsche  Filmproduktion  und  der  leichte  deutsche  Filmexport 
plotzlich  die  Elephantiasis  abbekommen  haben,  blieb  ein  Reser- 
voir an  Arbeitskraften  zuriick,  deren  Reichtum  an  Abwechse- 
lungsmoglichkeit,  Schaffensdurst  und  Arbeitshunger,  kollegiale 
und  unkollegiale  Konkurrenz,  Drangeln  und  Bedrangtheit  der 
Industrie  urn  so  bequemer  wurden,  je  enger  sie  selbst  seither 
£eschrumpft  ist.  Ein  halbes  Dutzend  Krisen  haben  den  Boden 
des  deutschen  Films  inzwischen  immer  aufs  Neue  umgeschiit- 
tet.  Konzerne,  GroBunternehmungen,  Schwindelfirmen  stiirz- 
ien  zusammen  und  wurden  geschwacht  aufgebaut.  Der  Ton- 
film  kam,  hat  die  Arbeitstage  dezimiert  und  die  Arbeitsstun- 
den  verlangert.  Doch  nach  wie  vor  stehen,  warten,  hoffen  die 
Leute,  die  gleichen  Leute,  die  noch  die  Inflationsindustrie  her- 
anlockte,  weiterschaffen,  weiterverdienen,  weiterleben  zu  diir- 
fen.  Ein  Filmregisseur  wird  im  Hochstfall  jahrlich  drei  Mog- 
968 


lichkeiten  haben,  zu  arbeiten.  Auf  den  Architekten  entfallen 
im  Jahre  vielleicht  sechzig  Arbeitstage.  Auf  den  Kameramann 
im  Durchschnitt  fiinfzig.  Auf  einen  Schauspieler  im  mittlern 
Rollenkreis  dreiBig.    Wenn  es  gut  gehk    Sehr  gut  geht. 

Klassisch  bleibt  aber  das  Beispiel  der  Komparserie.  Die 
offizielle  Filmborse  verzeichnet  zweieinhalb  Tausend  Namen 
berufsmaBiger  Filmstatisten.  Auf  diese  zweieinhalb  Tausend 
entfallen  im  Jahr  etwa  funfzehntausend  Einzelengagements.  Das 
waren  pro  Kopf  secbs  Arbeitstage.  In  Wirklichkeit  aber 
findet  nur  ein  Bruchteil  der  Leute  Beschaftigung.  Die  Ge- 
schicktern,  die  mit  mehr  Gliick  und  feessern  Verbindungen. 
Wenige  ,fStars"  unter  den  Komparsen  bringen  es  sogar  jahr- 
lich  bis  zu  hundert  Arbeitstagen.  Die  iibrigen  bis  zu  fiinfzig. 
Den  Tag  —  wiederum  je  nach  Gelegenheit  und  Grad  —  mit 
acht  bis  zwanzig  Mark  und  elf  bis  fiinfzehn  Arbeitsstunden 
berechnet.  Oberstunden-Vereinbarungen  gibt  es  nur  auf  dem 
Papier.  Papier  bleibt  auch  der  Arbeitsgesetzparagraph,  daB 
auBerhalb  der  Borse  nicht  engagiert.  werden  darf.  Es  wird  zu 
40,  50,  60  Prozent  auBerhalb  der  Borse  engagiert.  Lieblinge,* 
Bekannte,  Barexistenzcn,  Kurfurstendammvolk,  Potsdamer  Ge- 
sellschaft,  Stahlhelmtruppen,  Doch  immer  ausschlieBlich  mit 
kunstlerischer  Riicksicht  auf  das  Sujet. 

Mag  sein,  daB  alle  diese  Dinge  halb  so  merkwiirdig  sind, 
wie  Leute  es  meinen  mochten,  die  von  ihnen  betroffen  wer- 
den. Mag'  sein,  daB  es  nur  wenig  interessant  ist,  ob  einige 
Tausend  kleine  Filmleute  in  ihrem  Beruf  halb  verhungern  oder 
zu  den  Millionen  von  Erwerbslosen  in  Deutschland  rechnen. 
Mag  sein,  daB  es  keinen  Menschen  mehr  iiberrascht,  daB  den 
Schaffenden  am  Film  vom  Ertrag  ihres  Werkes  nicht  mehr  ab- 
fallt  als  den  Arbeitern  einer  Fabrik  von  —  meinetwegen  — 
Staubsaugern,  Ganz  unwichtig  aber  kann  es  doch  nicht  sein, 
zu  wissen,  daB  bei  dieser  Wirtschaft  auch  der  Film  keine  Aus- 
nahme  ist, 

Zwolf  Uhr  nachtS  von  Rudolf  Arnheira 

M  eulich  geschah  es,  daB  in  einer  der  belebtesten  StraBen 
des  berliner  Westens  ein  Zeitungshandler  nachts  urn  Zwolf 
die  Mittagszeitung  ausrief.  Was  dabei  in  seiner  Seele  vorging, 
ist  nicht  leicht  zu  sagen.  Man  weiB,  daB  die  Zeitungen  den 
Ehrgeiz  haben,  ihrer  Zeit  vorauszueilen.  Die  Morgenzeitun- 
^en  erscheinen  gern  schon  am  Abend,  das  Abendbiatt  am 
Nachmittag.  Vielleicht  nun  fuhlte  jener  Hajndler,  daB  die 
Mittagszeitung  um  Mitternacnt  an  eine  aquatoriale  Grenze  ge- 
langt;  um  Punkt  Zwolf  erreicht  sie  den  Gipfelpunkt  lacher- 
lichster  Unaktualitat  und  springt  zugleich  tiber  zu  brennend- 
ster  Aktualitat,  erzielt  einen  Rekord  an  Promptheit  der  Be- 
richterstattung,  der  sich  auch  bei  hochster  Vervollkommnung 
der  Verkehrsmittel  nicht  wird  driicken  lassen*  Den  Punkt, 
an  dem  Spat  und  Friih  einander  ablosen  wie  Wachtposten, 
wird  auch  der  schnellste  Zeitungsfahrer  niemals  iiberrunden. 

Der  Zeitungshandler  eignet  sich  zum  Philosophen.  Die 
Umstande  seines  Berufes  bringen  das  mit  sich.  Wie  der  Philo- 
soph  steht  er  still,  wahrend  seine  Mitmenschen  geschaftig  vor- 

969 


iibereilen;  er  schaut  ihnen  zu  und  ruft  immer  dasselbe,  sein 
Leben  lang,  Tag  ftir  Tag,  und  im  besten.  Fall  geben  sie  ihm 
fur  scin  Papier  einen  Groschen.  Die  Ahnlichkeit  ist  offen- 
sichtlich.  Es  mag  also  sein,  daB  unser  Handler  aus  philoso- 
phischen  Betrachtungen  tiber  Zeit  und  Zeitung  diese  seltsame 
praktische  Nutzanwendung  gezogen  hat,  Moglich  auch,  wcnn- 
schon  fiir  uns  unergiebig,  daB  es  sich  urn  bloBen  Humor  oder 
urn  bloBe  Freude  am  Illegalen  gehandelt  hat.  Am  wahrschein- 
lichsten  aber  istt  daB  das  Licht  der  Schaufenster  und'  Licht- 
reklamen  ihn  zu  verfriihter  Betatigung  hervorgelockt  hat,  ahn- 
lich  den  Fruhlingsbltimen  und  Insekten,  die  ein  tiickisch  ein- 
geschmuggelter  Sonnentag  schon  im  Marz  zum  Leben  erweckt. 

So  muB  es  gewesen  sein;  denn  dazu  paBte  das  Benehmen 
der  Passanten.  Die  merkten  zuerst  gar  nichts.  Der  Ruf  des 
Zeitungshandlers,  der  dreimal  des  Tags  die  Unglaubigen  zur 
Andacht  ruft,  gehort  allzusehr  in  die  Gerauschkulisse  ihres 
Lebens,  als  daB  sie  ihm  hatten  Beachtung  schenken  sollen. 
Plotzlich  aber  knackte  es  in  ihnen,  als  ginge  die  Uhr  entzwei. 
Die  unsichtbare  Uhr,  die  jedermann  unterhalb  der  Westen- 
tasche  im  Herzen  tragt.  Sie  horten  einmal,  sie  horten  zwei- 
mal,  sie  blieben  stehen  und  blickten  vers  tort  um  sich.  Aber 
die  Orientierung  stieB  au£  Schwierigkeiten.  Nichts  deutete  auf 
eine  bestimmte  Tageszeit,  etwa  aui  die  Nacht,  hin.  Die  StraBe 
war  in  Licht  gebadet.  Die  Lampen  strahlten  mit  einer  Kraft, 
wie  sie  die  Sonne  nur  ganz  ausnahmsweise  aufbringt.  Hunderte 
von  leuchtenden  Sonnen  bedienten  die  Welt,  Ob  unter  ihnen 
auch  ein  Himmelskorper  war,  und  welch er,  war  schwer  fest- 
zustellen,  vor  allem  ; —  es  spielte  keine  Rolle,  Geputzte  und 
beschaftigte  Menschen  lief  en  laut  lachend  und  laut  rechnend 
ihren  Weg,  Nirgendwo  sah  man  geschlossene  Augen,-  ein  dunk- 
les  Eckchen,  gar  ein  Bett.  Selbst  die  blauen  Brillenglaser 
des  bettelnden  Blind'en  blink  ten  wach.  Selbst  die  Puppen  in 
den  Schaufenstern  spreizten  unermudet  die  Arme.  Der  Him- 
mel,  ein  subalterner,  wenig  auffalliger  Bestandteil  dieser  spek- 
takelnden  Lichtwelt,  war  unansehnlich  rosa  gefarbt.  Er  war 
weder  blau  noch  schwarz,  weder  dunkel  noch  hell  Vom  „ge- 
stirnten.  Himmel  liber  uns",  der  noch  Kant  zur  moralischen 
Navigation  gedient  hat,  keine  Rede.  Er  war  wie  durchgeses- 
sener  Samt  rosa,  von  irdischer  Lichtrekl'amen  Gnaden.  Ver- 
schossen.     Aus  der  Mode. 

Nein,  beim  Himmel  war  keine  Hilfe.  Die  Menschen  hat- 
ten  ihn  abgeschafft.  Sie  hatten  ihre  eignen  Gestirne,  ihre 
eigne  Navigation,,  ihre  eigne  Zeit,  und  wenn  in  dieser  Ordnung 
Anarchie  ausbrach,  so  niitzte  keine  himmlische  Berufungs- 
instanz.  Die  alten  Juden  hatten  die  Sonne  anhalten  miissen, 
als  sie  mit  Nacht sohicht  Krieg  riihren  wollten.  Seit  Edison 
brauchte  man  k einen  uberirdischen  Beistand  mehr.  Man  ging 
liber  die  Nacht  zur  Tagesordniung  uber. 

Die  Uhr  schlug  Zwolf.  Da  stand'  der  Zeitungshandler  im 
Licht  und  rief  die  Mittagszeitung  aus,  unbefangen,  als  sei  alles 
in  Ordnung.  Das  wichtigste  Ereignis  des  Mittags  war  piinkt- 
lich  zur  Stelle.  War  nun  also  Mittag?  Machte  die  Zeitung 
die  Zeit,  oder  machte  die  Zeit  die  Zeitung?  Wer  sollte  das 
so  genau  wissen?  Wer  wollte  es  auch  nur? 
970 


Die  Operette  rfistet  auf . . .  von  waiter  mehring 

(Aus  der  Neufassung  der  ..GroBherzogin  von  Gerolstein" — 
gesungen  von  Kathe  Dorsch) 
Die  GroBherzogin: 
Ach!     Wie 

Hebe  ich  die  Soldaten,  Hebe  ich 
die  Soldaten  I     Liebe  ich  die  Soldaten! 
Prall   das  siindige  Fleisch  gezugelt 
Wirkt   der  Mensch   wie  neugebiigeltf 
Ach!    Wie 

Hebe  ich  die  Soldaten 
Wahre  Mannlichkeit  verraten 
Unif ormen    allein ! 


Manner !    Manner !    reihenweis ! 
Ists  der  Mensch  —  ist  es  die  Masse? 
WeiB  nur,  dafi  ich  kalt  und  heifi 
Bis  ins  Innerste  erblasse! 

Ist  es  der  Mensch  —  die  Uniform? 
Ich'  weiB  nur  eins:  ich  lieb  enorm! 
Chor:  Sie  liebt  enorm!     Sie  liebt  enorm  I 
Sie  liebt  enorm, 

* 
Die   GroBherzogin: 
Ach!    Wie 

Hebe  ich  die  Soldaten 
Wahre  Mannlichkeit  verraten 
Unif  ormen   allein! 

.      * 

Folg  ich  Regungen  abnorm 

Stindigen  oder  vaterlandschen? 

Ists  der  Mensch  in  Uniform? 

Ists  die  Uniform  im  Menschen? 

Ist  es  die  Marschmusik  —  der  Takt? 

Lieb  sie  in  Wichs  —  und  lieb  sie  nackt! 
Chor;  Sie  liebt  sie  nackt! 

Sie  liebt  sie  nackt! 

Sie  liebt  sie  nackt! 
Die  GroBherzogin: 

Ja!    Ach  wie  liebe  ich  die  Soldaten! 
Jetzt  Jiegi  die  Biihne  in   tiefem   Dunkel  —  Scheinwerfer  beleuchten 
nur  die  Kanonenrohre,  die  Figar  der  GroBherzogin  und  den  Hinter- 
grund  wehender  Fahnen. 

Hort  her!/ 

Hortt   wohin   Ihr  wollt! 


Militar 
Und  wir 


ruft   zu   neuen  Kriegen! 


zahlen   seinen  Sold 
Aus  unsrer  Not  mit  Gold! 

Wenn  sie  heut  —  weit  und  breit  —  ihre  Fahnen 

schwenkenf    schwenken! 

Steht  alles  stramm  in  Positur! 

Ach,  konnt  Ihr  alles  Leid  ausdenken 

Das    ganze    Menschenleid    ausdenken 

wirklich   denken? 

Nein!  ,    '  . 

971 


Sie  denken  nicht  —  sie  singen  nur: 
Alles  in  Helle  —   Chorgirls,  ah  Soldaten  eingepuppt,  schwirren  an, 
singend 

Chor  der  Girls: 
Ach!  Wie 

Hebe  ich  die  Soldaten  1     Liebe  ich  die  Soldaten... 
Prall  das   siindige  Fleisch  geziigelt, 
Wirkt  der  Mensch  wie  neugebugelt! 
Ach!   Wie 

liebe  ich  die  Soldaten!  Liebe  ich  die  Soldaten... 

Billingers  „  Rauhnacht"  von  Alfred  poigar 

T"Vei  Stunden  untcr  Inntalern;  deren  Sitten  und  Gebrauche. 

Das  Dorf,  in  dem  Billingers  dramatische  Ballade  sich  ab- 
spielt,  wird  von  Gestalten  bevolkert,  die  entweder  innen  oder 
auBen  oder  sowohl  innen  wie  auBen  beschadigi  sind.  Sonder- 
linge,  Kriippel,  Monomane,  Verbogene,  Aufgeschwoliene,  Gro- 
tesk-Wesen,  Originale,  Leibes-  und  Geistesgestorte  bilden  cine 
unirohe  Gemeinschaft,  iiber  der  die  Sonne  nur  zu  scheinen 
scheint,  damit  man  sehe,  wie  finster  es  ist.  Wer  in  dieser 
Menschensiedlung  lebt,  ist  gewissermaBen  hierzu  verdammt. 
Gruppe  aus  dem  Inntaler  Tartarus.  Landiliches  GKick  erweist 
sich  hier  <als  sehr  fragwurdig,  vom  Herzensfrieden,  zu  dem, 
nach  Aussage  der  Rukoliker,  Beschaftigung  mit  Pflug  und  Vieh 
verhilft,  ist  kaum  etwas  zu  spiiren,  dier  Tag  geht  schicksals- 
schwer,  Dunkles  und  Boses  webt  zwischen  den  Inntalern,  deren 
seelische  Transpiration  die  Luft  dick  macht.  Nichts  Abgriin- 
diges  ist  ihnen  fremd.  Wir  GroBstadter  sind  doch  relativ 
bessre  Wilde! 

Die  Rauhnachte,  deren  es,  in  Billingers  Gegend,  um  die 
Weihnachtszeit  herum  mehrere  gibt,  lockern  das  Damonische 
der  Einwohner.  Es  steigt  in  solcher  Nacht,  die  mit  Rausch  und 
Trubel,  mit  Inbrunst  und  besonders  mit  Brunst  begangen  wird, 
herauf  aus  der  acherontischen  Tief  e,  die  auch  in  Oberoster- 
reichers  Seele  dumpft  und  dampf  t,  und,  wie  der.  See  zum  Bade, 
zur  Analjyse  ladet.  Von  diesem  Hochkommen  verdlrajngter  Liiste 
und1  Begierden,  von  diesem  ekstatischen  AuBersichgeraten 
sonst  so  langsamer,  gefiihlskarger  Landleute  gibt  Billingejs 
Rauhnacht  kraitige  Muster. 

Es  ist  ein  Mann  im  Dorf,  einheimisch  und  doch  f  remd,  um 
den  Geheimnis  wittert  und  ein  Ruch  von  Teufelei,  Obschon 
er  sich  sehr  still  benimmt,  spiiren  wir  doch  sogleich:  in  die- 
sem Ruhigen  schlummern  geiahrliche  Unruhen.  Er  war  einmal 
Missionar  in  Afrika.  •  Aber  dort  wurde  mehr  er  zum  Nege- 
rischen  bekehrt,  als  die  Neger  von  ihm  zum  Katholischen.  Nun 
sitzt  er,  sinnend  und  spinnend,  daheim,  mit  einer  Truhe  voll 
afrikanischer  ritueller  Gerate,  unter  den  en  ur-naturgemaB  die 
phallischen  eine  groBte  Rolle  spielen,  und  mit  woHig-wehen 
Erinnerungen  an  ibarbarische  Opfer-  und  Liebeskulte,  die  sei- 
nem  innersten  Ich  sehr  zugesagt  haben.  Zwischen  diesen  wil- 
dlen  Brauchen  und  den  hauebuchenen  Rauhnacht  smaskeraden 
der  Inntaler  besteht  (sagt  der  Mann,  bzw.  sagt  Billinger)  Ver- 
wandtschaft,  Auch  im  Oberosterreicher  leibt  Heidnisches,  nur 
ist   es   bei   ihm  ummauert   vom  Katholischen,      Bei   guter   Ge- 

972 


legenheit,  vor  allem  a  propos  der  Rauhnacht,  bricht  es  hervorr 
wie  die  Fratzen  aus  der  gotischen  Kirchenfassade.  Was  aber 
fur  die  Inntoler  gilt,  gilt  wohl  gleichermaBen  fur  die  Bewohner 
aller  Erdeataler  und  -hohen:  d'aB  namlich  der  Mensch  dem 
Menschen  ein  Wolf  ist,  und  unter  der  Taille  satanisch.  Wenn 
er  sich  nicht  geniert,  wenn  er  einen  Rausch  hat  oder  wenn 
Rauhnacht  ist,  bekennt  er  dieses  Satanische.  In  solcher  Nacht 
enthiillen  sich,  sich  vermummend,  die  Inntaler;  unter  der  Maske 
lassen  sie  die  Maske  fallen. 

Wunderlich  fromm-unfromm  durchdringen  einander  inBil- 
lingers  Schauspiel  Rauh-  und  Weihnacht.  Rauhnacht,  unhei- 
Tige  Nacht  und;  stiile  Nacht,  heiiige  Nacht  werden,  mit  ernstem 
Witz,   kontrapunktisch  gegeneinander   gefuhrt. 

Trotzdem  ware  vieJleicht  jener  ratselhafte  Heimkehrer 
aus  Afrika  kein  Lustmorder  geworden,  wenn  nicht  der  Krame- 
rin  lebfrisches  Tochterlein  ihn  in  diese  Funktion  gradezu  hin- 
eingelistet,  gelockt,  genotigt  hatte.  Das  Madchen,  auf  Ferien 
zu  Ha  use,  wird  zwar  bei  den  englischen  Fraulein  erzogen,  aber 
es  hat,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  den  Teufel  im  Leibe.  Und 
dieser  Teufel  wirkt  unwiderstehlich  attraktiv  auf  den  Teufel 
im  Exmissionar.  So  geschieht  das  Bose.  Es  bringt  Jammer 
iiber  die  Kramersfamilie,  die  dessen  schon  iibergenug  hat.  Die 
Mutter  trauert  zwei  Sohnen  nach,  die  in  einer  Rauhnacht,  auf 
den  dramatischen  Tag  genau  soundsoviel  Jahre  her  sind  es 
eben,  vor  dem  Feind  gefallen  sind.  Der  iiberlebende  Bruder 
hat  nur  einen  Arm  und  das  Antlitz  von  Kriegswunden  ent- 
stellt.  Er  ist  ein  miirrischer  Epileptiker,  dem  die  Weiber  mehr 
zu  Gesicht  stehen  als,  weil  dieses  verstiimmelt  ist,  er  ihnen. 
Dennoch  reift  in  der  jungen  Magd  ein  Kindchen  von  ihm,  sicht- 
lich  reift  es.  Die  alte  Magd  ist  von  Kopf  bis  FuB  eine  einzige 
Schrulle  (Frau  KoppenhcTer  spielt  das  herrlich).  Der  Grofi- 
vater,  er  sieht  aus  und  spricht  wie  der  alte  Huhn  in  „Pippa 
tanzt",  friBt  alles  FreBbare,  das  ihm  in  Reichweite  kommt,  und 
ist  schwachsinnig.  Aber  er  hat  lichte  Augenblicke.  Etwa  wenn 
er,  zum  VerdruB  der  Familie,  auf  das  Klosett  immer  grade  die 
heutige  Zeitung,  nicht  zur  Lektiire,  mitnimmt. 

Das  Tochterlein  aber,  beunruhigt,  wie  schon  erwahnt,  von 
Lebens-  und  Liebeslust,  tanzt  in  rauhnachtiger  Stunde  dem 
Tod  ins  Bett.  Sie  verftihrt  den  Exmissionar,  sie  zu  verfuhren. 
Warum  dieser  es  dabei  nicht  bewenden  laBt,  sondern  die  arme 
Creszenz  werwolfisch  zerfleischt,  wird  nicht  zwingend  klar... 
doch  muB  man  schon  sagen  (und  vielleicht  wollte  dies  auch  der 
Dichter  wahr  haben),  daB  die  Creszenz  das  heimliche  Unheim- 
liche  in  jenem,  das  latent  Lustmorderische  mit  einer  Zielsicher- 
heit  aufreizt,  als  wiinsche  ihr  UnterbewuBtsein  die  Schlachtung. 
Noch  selten  d^iirfte  sich  ein  Opfer  dem  Opferer  so  fast  zudring- 
lich  serviert,  ihm  das  Messer,  unter  dem  es  fallt,  so  unabweis- 
lich  in  die  Hand  geschmeichelt  haben. 

Louise  Uh-ich,  aus  Wien  versteht  sich,  macht  das  mit  uber- 
zeugend  echtem  sinnlich-kindlichem  Temperament.  Kein  fal- 
scher  Ton  in  ihrer  glitzerndien  Skala.  Der  Morder  ist  Werner 
KrauB.  Fur  derart  gefahrlic{i  umwetterleuchtete  Figuren  hat 
er  die  rechten  Spielfarben  und  -tone;  doch  notigt  ihn  die  Rolle, 
seine  Wirkting  mehr  aus  dem  Pantomimischen  als  aus  dem  Ge- 

973 


sprochenen  zu  holen.  Lothar  Miithel,  Maria  Mayer,  das  Fiink- 
chcn  gebende  Fraulein  Schwanda  (ausWien),  wie  iibcrhaupt 
die  Dars teller  der  ,,Rauhnacht"  lassen  d'em  Autor  reichlich  zu- 
kommen,  was  des  Autors  ist;  und  machen  ihrem  Staatstheater 
Ehre. 

Billingers  zeitf  ernes,  deshalb  aber  gar  nicht  gleichgiiltiges, 
Drama  ist,  -dariiber  sind  Zweifler  und  Begeisterte  einig:  dichte- 
risch. Dieses  hochwertende  Beiwort  hangt  sich  an  das  Stuck 
mit  der  Unmittelbarkeit  einer  Assoziation.  Warum  ist  Billin- 
gers Schauspiel  dichterisch?  Erstens,  weil  es  sprode,  zweitens, 
weil  es  schattentief  ist,  drittens,  weil  es  in  einer  personlichen, 
wenn  man  so  sagen  darf :  handgeschnitzten  Sprache  redet,  vier- 
tens,  weil  seine  Figuren  fest  im  dramatischen  Raum  steben, 
diesem  (wie  auch  utitereinander)  atmospharisch  verbunden, 
fiinftens,  weil  seine  Wirkung  aus  Quellen  kommt,  die  zugedeckt 
flieBen,  sechstens,  weil  der  Geist,  den  es  hat,  nichts  von  jenem 
Geist  hat,  dlen  die  Zeitungsleser  unter  Geist  verstehen,  sieb en- 
tens  undsoweiter,  weil  es  eben  dichterisch  ist  (was  sich  fast 
leichter  sein,   als  definieren  laBt). 

Eine  groBartige  Auffiihrung.  Jiirgen  Fehling  ist  Meister 
darin,  Nebel  zu  gestalten  und  zu  bewegen.  Wenn  auch  in 
Einzelheiten  verliebt  und  jede,  damit  sie  sich  voll  auswirke, 
langsam  um  die  eigene  Achse  kreisend  lassend:  in  solchem 
Zwischenreich  zwischen  wirklich  und  unwirklich,  wie  es  Billin- 
gers Schauspiel  aid  Ort  der  Handlung  dient,  ist  er  souveraner 
Herr.  Die  fcamera,  mit  der  Fehling  solch  geheimnisvoll  flic- 
Betide  Welt  aufnimmt,  hat  sozusagen  eine  besonders  zwielicht- 
starke  Linse. 

Morgan  Und  BorSlg  von  Bernhard  Citron 

Co  selten  wie  endemische  Krankheiten,,  die  in  abgelegenen 
*-*  Gebirgsdorfern  oder  unter  Negerstammen  herrschen,  sind 
lokale  Krisen.  Die  GeiBeln  der  Menschheit  sind  die  groBen 
Epidemien,  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Weltkatastro- 
phen,  Wie  rasoh  folgte  auf  den  Zusammenbruch  der  Oester- 
reichischen  Creditanstalt  der  Ruin  groBer  Bank  institute  in  der 
ganzen  Welt.  Der  Piundentwertung  schlossen  sich  die  nor- 
dischen  Staaten  und  Japan  an,  Jetzt  kommt  aus  Ungarn  die 
Nachricht,  daB  ein  Moratorium  fur  Anleihen  ausgesprochen 
werden  muB.  Man  wartet  in  der  internationalen  Finanzwelt 
bereits  auf  das  nachste  Land,  das  in  gleicher  Weise  verfahren 
wird.  Natiirlich  denkt  man  dabei  an  Deutschland,  ohne  sichere 
Anhaltspunkte  fur  diese  Vermutung  zu  haben.  Der  Kurs  der 
Dawes-  und  der  Young- Anleihe  weist  auf  den  Pessimismus 
des  Auslandes  hin.  Diese  beiden  Reichsanleihen  sind  auch 
die  einzigen,  von  denen  erhebliche  Betrage  im  Auslande  pla- 
ziert  wurdien,  Aber  auchr  die  groBen  privaten  Auslands- 
anleihen  zeigen  eine  riicklaufige  Bewegung.  Infolge  der  Ver- 
scharfung  der  Devisenbestimmungen  ist  es  fast  unmoglich  ge- 
worden,  diese  sogenannten  Dollarbonds  von  Deutschland  aus  zu 
erwerben.  Die  Gesellschaften  selbst  aber  erhalten  noch  nicht 
einmal  die  Erlaubnis,  iiber  pflichtmaBige  Amortisation  hinaus 
Riickkauie    ihrer    so   ungewohnlich   niedrig    stehenden  Obliga- 

974 


tionen   vorzunehmen.     Im   Auslande   hegt  man  Befurchtungen 
in   zweifacher    Hinsicht.      Erstens    nimmt   man   an,    daB     eine 
Reihc  von  Gescllschaften  iiber  kurz  oder  lang  mit  dler  Bezah- 
lung  ihrer  Verpflichtungen  in  Schwierigkeiten  gcraten  konnte, 
zweitens,   daB    eines   Tages   die   Regie  rung   aus   devisenpoliti- 
schen  Griinden  den  Transfer  auch  zum  Zwecke  der  Zinszah- 
lung  und  Amortisation  sperren  werde.     Wenn  man  grade  von 
seiten  des  Deutschen  Reiches  derartige   Handlungen  befurch- 
tet,  so  liegt  dies  nur  zu  einem  gewissen  Teil  an  dem  seit  der 
Julikrise  angewachsenen  MiBtrauen  gegen  die  deutsche  Wirt- 
schaft,  zum  andern  an  der  besondern  Art  unsrer  Verschuldung. 
Auch  andre  Staaten  haben  sich  ihreni  Verpflichtungen  ent- 
zogen,  indem  sie  ihre  Wahrung  vom  Goldstandard  losten.  Das 
Deutsche  Reich  wiirde  auf  diese  Weise  nichts  gewinnen,  denn 
die  Auslandskredite  sind  fast  alle  in  fremder  Wahrung  abge- 
schlossen   worden.     Anscheinend    hat   man  diese   Moglichkeit 
auBerhalb  Deutschlands  frliher  erwogen    als  im  Lande  selbst. 
Von  der  in  der  Vierten  Notverordnung  ausgesprochenen  Zins- 
senkung   wurden  die    Auslandsanleihen    mit    Vorbedacht    aus- 
genommen>     In  der  kurzen  Zeitspanne,  die  seitdem  verflossen 
ist,  scheinen  sich  die  Ansichten  geandert  zu  haben,     Man  ist 
heute  wohl  kaum  mehr  unbedingt  der  Meinung,  daB  Verzicht- 
leistungen,  die  dem  Inlander  zugemutet  werden,  vom  Auslande 
nicht  getragen  werden  konnen.     Die  Wandlung  diirfte  in  en- 
gem  Zusammenhang  mit  dem  Verlauf  der  Stillhalteverhandlun- 
gen  stehen.    Die  Gegensatze  sind  recht  groB,  da  sich  die  Glau- 
biger    iiber   die    deutsche    Zahlungsfahigkeit   und    Deutschland 
iiber   die  auslandische  Stillhaltebereitschaft   iibertriebenen   II- 
lusionen  hingegeben   haben,      Schuld   daran   tragen   vor   allem 
die  deutschen  Bankent  $ie  nicht  gerne  von  ihrer  eignen  Zah- 
lungsunfahigkeit  sprechen,   sondern  es  lieber  der  Reichsbank 
iiberlassen,  devisentechnische  Griinde  in  den  Vordergrund  zu 
schieben,     Eine  Volkerwanderung  des  Kapitals  droht,  das  bis- 
her  regierende  Weltwirtsohaftssystem  aus  den  Angeln  zu  he- 
ben.     Die  gewaltigsten  Reiche  im  Bezirk  der  Hochfinanz  wer- 
den zerstort     Der  Glanz  zweier  Namen,   die  im  neunzehnten 
und  im  zwanzigsten  Jahrhundert  Verkorperungen  der  Begriffe 
Reichtum    und    Wirtschaftsmacht    gewesen   sind,    ist   verblaBt. . 
Vor   Rothschild    zitterten    einst    Konige,    vor    Morgans    FiiBen 
lagen  die  Demokratien  der  Welt.  Nach  dem  Krach  der  Oester- 
reichischen  Creditanstalt  las  man  in  einer  wiener  Zeitung  die 
Anzeige   eines   kleinen  Kaufmanns,  der  auf  den  Namen  Rot- 
schild  hort,  sich  aber  von  den  groBen  Tragern  des  Namens 
durch  das  fehlende     „hM  und  den  gleichfalls  fehlenden  Adels- 
titel   unterscheidet.     Dieser  brave  Mann  le^gte   Wert  auf  die 
Feststellung,  daB  er  mit  dem  Baron  Rothschild  weder  identisch 
noch   verwandt  sei.     Wird  demnachst   der   Schauspieler   Mor- 
gan erklaren  lassen,  daB  er  nicht  Pierpont  sondern  Paul  jnit 
Vornamen  heiBt?     Das  Verhaltnis  Morgan-Frankreich  hat  sich 
im  Laufe  weniger  Jahre  von  Grund  auf  gewandelt*  Der  Glau- 
biger  wurde  zum  Schuldner,  und  der  Schuldner  zum  Glaubi- 
ger.      Wenn  Frankreich   das   in   den   Vereinigten   Staaten   in- 
vestierte  Kapital  zuriickforderte,   dann  miiBte   auch   Amerika 
ein  Stillhalteabkommen  schlieBen.     Da  die    eigne    Stillhaltung 

975 


die  U.S.A.  mehr  als  die  fremde  interessiert,  wird  am  Ende 
Frankreichs  Standpunkt  in  den  iberliner  und  baseler  Verhand- 
lungen  obsiegen.  Eine  Kontroverse  mit  der  Banque  de  France 
konnte  die  groBten  Hauser  in  Wall  Street  zusammenbrechen 
lassen. 

Deutschland  war  jahrelang  ein  getreuer  Schuler  Amerikas. 
Daher  ahnelt  die  deutsche  der  amerikanischen  Krise  so  sehr. 
Expansion  und  Rationalisierung  in  alien  Schattierungen  f  and  en 
sich  diesseits  und1  jenseits  des  pzeans.  Es  ist  auch  auf  beiden 
Kontinenten  dlas  gleiche  Bild  —  technisches  Gelingen  und 
f inanzieller  MiBerf  olg  der  Rationalisierung.  Vor  einiger  Zeit 
ging  die  Nachricht  durch  die  Presse,  daB  die  A.  Borsig 
G.  m,  b.  H.  in  Tegel  ihre  Zahlungen  eingestellt  habe.  Das 
Werk  befindet  sich  technisch  auf  der  Hohe.  Sogar  die  Kapa- 
zitatsausniitzung  war  in  diesem  Jahre  mit  75  Prozent  weit 
hoher  als  bei  den  meisten  Unternehmungen  derselben  Branche. 
Aber  man  hatte  sich  mit  Finanzgeschaften  behangt,  die  von 
vornherein  einen  iiberfHissigen  Ballast  darstellten  und  schlieB- 
lich  den  ganzen  Konzern  zu  Bod'en  driickten.  Die  Vereinigung 
Deutscher  Pumpenfabriken  G.  m.  b.  H.,  deren  Leiter  ein  wah- 
res  ,,Pumpgenie"  gewesen  sein  mufi,  verfiigte  zwar  nur  iiber 
fiinfhunderttausend  Mark  Eigenkapital,  aber  die  Verbindlich- 
keiten  und  Burgschaften  betrugen  mehrere  Millionen.  An  sich 
ist  es  erstaunlich,  daB  man  nicht  diese  G.  m.  b.  H.  zusammen- 
brechen lieB  und  wenigstens  A.  Borsig  rettete.  Aber  die  Bin- 
dungen  miissen  bereits  so  eng  gewesen  sein,  daB  Borsig  mit- 
gerissen  wurde.  Herr  von  Borsig  gait  als  Scharfmacher  vom 
schwersten  Kaliber.  Er  selbst  wollte  nicht  als  Sozialreaktionar 
angesehen  werden  und  meinte,  wenn  er  den  Vorsitz  im  Arbeit- 
geberverband  niederlegte,  dann  kame  eine  noch  viel  scharfere 
Richtung  ans  Ruder.  Unverkennbar  ist  die  MaBigung  der  poli- 
tischen  Tendenz  im  Hause  Borsig,  als  es  mit  der  Macht  und 
dem  Reichtum  zu  Ende  ging.  Der  Eintritt  des  jungen  Borsig 
in  die  Deutsche  Staatspartei  wurde  nicht  nur  von  den  Staats- 
parteilern,  die  ihn  als  Renommier-industriellen  betrachteten, 
sondern  auch  von  den  Borsigs,  die  so  ihre  demokratische  Ge- 
sinnung  kund  taten,  unterstrichen.  Die  Lahusenst  die  natiir- 
lich  in  moralischer  Beziehung  keinesfalls  mit  den  Borsigs  ver- 
glichen  werden  konnen,  setzten  auf  ein  andres  PferdL  Sie 
warteten  auf  den  Nationalsozialismus,  der  ihre  Schulden  annul- 
lieren  und  ihnen  das  Wollmonopol  bringen  sollte.  Aber  Hitler  rei- 
tet  nicht  so  schnell  wie  die  Pleite,  dlas  Ende  kam  zu  friih,  Der 
leicht  demokratische  Anstrich,  den  sich  Borsig  noch  vor  Tores- 
schluB  gab,  gemigte  vollauf,  um  ihm  eine  wohlwollende  Presse 
zu  sichern.  Die  Rechtspresse  greift  Industrielle  niemals  an,  so- 
lange  auch  nur  der  Hoffnungsschimmer  einer  Sanierung  vor- 
handen  ist,  die  biirgerliche  Linkspresse  war  diesmal  mildle  ge- 
stimmt.  Im  iibrigen  machen  auch  zusammengebrochene  In- 
dustriegesellschaften  und  verkrachte  Bankinstitute  von  der 
Dementiermaschine  gern  Gebrauch. 

Ober  Rechte  und  Pflichten  der  Publizistik  macht  man  sich 
in  Kreisen  der  Privatwirtschaft  iiberhaupt  sehr  merkwiirdige 
Vorstellungen.  Es  gibt  groBe  Montanunternehmungen,  die 
glauben,  daB  ein  Artikel  in  der  ,Bergwerks-Zeitung'  oder  in 
976 


*icr  ,Rheinisch-Westfalischen  Zeitung'  die  Stimme  der  offent- 
lichen  Meinung  darstellt.  Da£  zwischen  einer  derartigen 
Publikation  und  einer  Abhandlung  in  der  Werkzeitung  der  be- 
treffenden  Gesellschaft  kern  wesentlicher  Unterschied  besteht, 
iallt  diesem  Unternehmertyp  nicht  auf.  Die  berliner  Zeitungen 
—  mit  Ausnahme  weniger  Rechtsorgane  wie  der  ,B6rsen- 
Zeitung'  —  gelten  als  Skandalblatter,  die  man  moglichst  igno- 
rieren  mochte.  Wenn  den  rheinischen  Industriemagnaten  die 
Nationalsozialisten  aus  k«inem  andern  Grunde  sympathisch 
waren,  so  wiirde  man  sie  schon  wegen  ihrer  Kritiklosigkeit  in 
Wirtsohaftsfragen  schatzen.  Analphabeten  lassen  sich  leicht 
regieren,  und  in  einem  Lande,  in  dem  die  Wirtschaftskritik 
fehlt,  hat  die  Industrie  anfangs  leichtes  Spiel.  Dann  ist  das 
goldne  Zeitalter  der  Pressechefs  angebrochen,  die  nur  noch 
durckfertige  Communiques  auszugeben  haben.  Aber  am  Ende 
wiirden  die  Wirtschaftsfiihrer  selbst  die  Kritik  zuriicksehnen, 
denn  jedes  wirtschaftliche  Interesse  geht  verloren,  wenn  nicht 
diskutiert  und  polemisiert  wird,  wenn  nicht  Bilanzen  zerpfliickt 
und  Dividendenaussichten  prophezeit  werden.  Fade  Kost  ohne 
Pfeffer  und  Salz  regt  die  Funktionen  des  Magens  nicht  an. 
Eine  Krankheit  wiirde  im  deutschen  Wirtschaftskorper  ent- 
stehen,  die  wahrhaftig  einen  endemisohen  Charakter  triige. 
T  tali  en  laBt  sich  namlich  nur  von  einem  Mussolini  regieren; 
die  deutsche  offentliche  Meinung  lieBe  sich  aber  auf  Thyssen 
ebenso  wie  auf  Hitler  dressieren. 

Die  SeriOSen  von  Theobald  Tiger 

VVTenn  dir  ein  ernster  Kaufmann  spricht: 
"     so  hor  ihn  nicht!  so  hor  ihn  nicht  1 
Er  spricht  dir  von  den  schweren  Zeiten, 
von  Wirtschaft  und  Notwendigkeiten  . . . 

Erst  wird  er  fachlich.     Und  dann  krotig. 

Der  hats  notig  — 1 

Ja,  mit  gepumptem  Auslandsgeld, 
da  war  sie  schon,  die  deutsche  Welt. 
Da  rauchten  wirbelnd  alle  Essen, 
da  hatten  sie  die  groBen  Fressen. 

Das   Land   war  ihnen   sehr  erbotig 

Die  habens  notig. 

Das  Geld  ist  hin.    Die  Arbeit  knapp. 
Die  Konjunktur  sank  tief  herab  . . . 

Wer  sich  und  uns  derart  verwirrt  hat; 

wer  dauernd  sich  so  oft  geirrt  hat; 

wer  sich  in  alien  schweren  Tagen 

nur  Pleiten  holt  und  Niederlagen, 

ein  Heros  der  Finanz-Etappe  — : 

der  erzahle  uns  nichts,  sondern  halte  die  Klappe! 

1,  2,  3  — 

am  Zuchthaus  glatt  vorbeil 

3,  2,  1  - 

Was  du  dir  nimxnst,  ist  deinsl 
Von  Tag  zu  Tag  wird  stets  defekter 
der  Ruf  vom  Generaldirekter. 
Was  der  uns  predigt,  darauf  flot  ich. 

Der  hats  notig. 

977 


Bemerkungen 


Das  Andre  Polen 

Im  Brief tcil  einer  groBen  Tages- 
*  zeitung  wurde  kiirzlich  die 
Frage  aufgeworfen,  was  wir  von 
Polen  wtifiten,  und  damit  eine 
Frage  zur  Erorterung  gestellt, 
die  brennend  ist;  well  es  an  die- 
ser  Grenze  brennt  und  weil  es 
immer  noch  Gutgesinnte  auf  bei- 
den  Seiten  gibt,  die  willens  wa- 
ren,  die  schwelende  Glut  zu  er- 
sticken.  Willens  —  ob  auch 
fahig? 

GewiB  kann  man  die  Frage 
nicht  beantworten,  wenn  man  nur 
vierzehn  Tage  in  einein  Land  ge- 
wesen  ist.  Man  kann  nichts 
tun  als  ein  paar  Tatsachen  fest- 
stellen.  Das  seA  in  diesem  Zu- 
sammenhang  erlaubt. 

Die  Reise,  um  die  es  sich  han- 
delt,  wurde  im  September  1930 
von  einer  badiscben  Studien- 
gruppe  des  Scbutzverbandes 
Deutscher  Schriftsteller  unter- 
nommen.  Die  Gruppe  war,  das 
muB  betont  werden,  keineswegs 
von  der  polnischen  Regierung 
eingeladen  worden.  Aber  man 
stellte  ihr  einen  jungen  Kolle- 
gen,  Attache  des  warscbauer 
Auswartigen  Amtes,  zur  .Verfu- 
gungt  der  sie  an  der  Grenze  ab- 
holte,  begleitete  und  ihr  sprach- 
lich  weiterhalf ;  denn  von  uns 
konnte  keiner  Polnisch.  Wir  fin- 
gen  mit  Lodz  an,  dessen  Trost- 
losigkeit  nicht  beschrieben  zu  wer- 
den braucht,  wie  es  sich  denn  hier 
tiberhaupt  nicht  um  einen  nach- 
geholten  Reisebericht  handelt. 
Erwahnt  werde  lediglich,  daB 
frtih  um  sieben  in  der  Industrie- 
stadt  Lodz,  in  der  man  zweiTage 
zuvor  dem  deutschen  Konsulat 
auf  Grund  einer  bestimmten  Mi- 
nisterrede  die  Fenster  eingewor- 
fen  hatte,  die  Vertreter  der  dor- 
tigen  Presse  und  der  Wojwod- 
schaft  mit  RosenstrauBen  zur 
Einholung  der  deutschen  Kolle- 
gen  an  der  Bahn  bereitstanden. 
In  Warschau  hat  man  sich  ahn- 
lich  verhalten;  man  hat  uns 
Quartiere  in  dem  zum  Sejm  geho- 
rigen,  gleichzeitig  mit  ihm  fur 
die  Abgeordneten  erbauten,  Hotel 
978 


gegeben,  zu  einem  sehr  maBigen 
Preis  —  man  versuche  sich  den 
analogen  Fall  in  Deutschland  vor- 
zustellen.  Die  Instanz,  die  sich 
hauptsachlich  um  uns  kUmmertef 
war  der  polnische  P.E.N.-Klub, 
der  in  Polen  die  Schriftsteller  zu- 
sammenfaBt  und  reprasentiert. 
(Eine  dem  S.D.S.  genau  entspre- 
chende  Organisation  gibt  es  nicht,) 
Dieser  P.E.N.-Klub  nun  hat  uns 
einen  Begriff  des  flandern  Polen'* 
vermittelt;  er  gab  uns  in  Wilna 
einen  unvergeBlichen  Musikabend, 
dem  Rilkes  Freund  und  Uberset- 
zer  Hulewicz  prasidier te ;  seine 
Mitglieder  fuhrten  uns  durch  die 
wunderbaren  Schlosser  und  Kir- 
chen  von  Wilna,  Warschau,  Kra- 
kau,  den  Zeugnissen  einer  Kultur 
und  Geschichte,  von  der  wir  im 
Gegensatz  zu  unsern  Ahnen  vor 
hundert  Jahren  nichts  mehr  ah- 
nen. (Krakau;  eine  der  Stadte, 
zu  der  jahrlich  Hunderttausende 
pilgern  wfirden,  wenn  sie  in  Ita- 
lien  lage . . .)  Man  hat  uns  auch 
das  moderne  Polen  gezeigt;  die 
Arbeiter-,  Studenten-,  Ktinstler- 
siedlungen  in  Warschau;  das  gi- 
gantische  Experiment  von  Gedin- 
gen,  um  dessen  Hafen  in  zehn 
Jahren  eine  Stadt  von  iiber  vier- 
zigtausend  Einwohnern  entstan- 
den  ist  an  Stelle  eines  Fischer- 
dorfes  von  vierhundert.  Man  hat 
uns  in  Fabriken  und  Zeitungs- 
palaste  gefuhrt,  man  hat  versucht, 
uns  klarzumachen,  wie  unend- 
lich  schwer  es  das  neue  Polen 
hat,  den  Schutt  der  russischen 
und  osterreichischen  Vergangen- 
heit  wegzuraumen;  wie  es  noch 
litte  unter  den  Folgen  von  hun- 
dertftinfzig  Jahren  Fremdherr- 
schaft,  wahrend  der  jede  Erinne- 
rung  an  die  einstige  Selbstandig- 
keit  und  Grofie  gewaltsam  unter- 
drtickt  wurde,  Naturlich  hat  man 
uns  das  gezeigt,  was  wir  sehen 
sollten,  aber  —  niemand  hinderte 
uns,  auf  eigne  Faust  uns  zu  orien- 
tieren;  wir  war  en  ja  keine  offi- 
ziellen  Gaste,  trotzdem  uns  etwa 
in  Zakopane  in  der  Tatra,  wo  es 
keinen  P.E.N.-Klub  gibt,  am  er- 
sten  Tag  der  Woiwode  seinen  Be- 
such  machte. 


Man  hat  uns  reichlich  viel  Be- 
suchskarten  in  unsre  Hotels  ge- 
schickt,  und  wir  haben  entspre- 
chend  erwidert.  Die  einzige  Be- 
horde,  die  trotz  Kartenabwurl 
keine  Notiz  von  unsrer  Anwesen- 
heit  nahm,  war  —  man  ist  ver- 
sucht,  zu  sagen:  selbstverstand- 
Iichl  —  die  Deutsche  Gesandt- 
schaft  in  Warschau.  Denn  wir 
waren  bloB  Landsleute  und  bloB 
Schriftsteller,  urn  die  zu  kummern 
es  sich  nicht  lohnte.  Das  be- 
sorgten  die  Polen  ja  zur  Genuge. 

Stimmungsmacherei  ?  Billige 

Propaganda,  mit  der  man  Ur- 
teilslose  fangt?  Man  kann  es  so 
auffassen,  Aber  warum  soil  man 
schlieBlich  nicht  versuchen,  gei- 
stige  Vertreter  der  Nachbarnation 
fur  sich  zu  gewinnen,  indem  man 
ihnen  zeigt;  es  giht  dies  andre 
Polen*  Wir  sind  stolz  auf  unser 
neuerstandenes  Vaterland,  aber 
wir  sind  nicht  insgesamt  iden- 
tisch  mit  seinen  Gewaltmethoden, 
mit  seinem  Sabelgerassel,  mit 
seiner  nationalistischen  Uberreizt- 
heit.  Wir  Andern,  die  wir  ar- 
beiten  wollen  .  fur  Wohlstand  und 
die  Fortentwicklung  der  Kultur, 
haben  freilich  wie  uberall'  nicht 
viel  zu  sagen.  Aber  wir  sind 
doch  da,  und  ihr  sollt  uns  ken- 
nen,  ihr  Nachbarn,  mit  denen  wir 
verbunden  sind  durch  fiber  tau- 
send  Kilometer  gemeinsamer 
Grenze. 

Nationalistische  Uberreiztheit  ? 
Noch  ein  Faktum,  das  letzte;  wir 
fuhren  nachts  von  Gedingen  nach 
Krakau.  In  Posen  hielt  der  Zug 
lange,  um  die  Heimkehrer  von  der 
groSen  Sonntagsdemonstration  ge- 
gen  die  Reden  unsres  Ministers 
Treviranus  aufzunehmen.  Der  Zug 
war  iiberftillt,  wir  hat  ten  unsre 
Abteile  abgeschlossen,  Aufien 
hing  ein  polnisches  Schild:  Reser- 
viert  fur  die  deutsche  literarische 


Delegation.  Die  Demonstranten, 
die  Platzsuchten,  riittelten  auch 
an  unsren  Tiiren;  sie  lasen  das 
Schild,  sie  schlugen  nicht  die  Ttir 
oder  die  Scheiben  ein,  sie 
schimpften  nicht,  sie  gingen  ruhig 
weiter  und  suchten  sich  anderswo 
Platz. 

Diese  wenigen  Eindrucke  vom 
Andern  Polen  bedurfen  der  Of- 
fentlichkeit,  so  gut  wie  das  Wis- 
sen  vom  offiziellen  Polen,  Es 
stellte  sich  aber  —  damals,  vor 
einem  Jahr  —  heraus,  da6  nie- 
mand  es  wissen  wollte,  Ein  kur- 
zer,  sachlicher  Bericht  liber  die 
Studienfahrt  des  S.D.S.  wurde  in 
einer  einzigen  suddeutschen  Zei- 
tung  gedruckt;  die  ubrige  btirger- 
liche  Presse  fand,  daB  Polen 
nicht  interessiere  oder  dafi  ein 
neutraler,  gar  wohlwollender  Be- 
richt ,, nicht  opportun"  sei;  auch 
die  Kontrollinstanz  des  Rund- 
funks  war  dieser  Ansicht,  Und 
eben  hier,  in  dieser  Gleichgtiltig- 
keit  oder  gar  Tendenz  liegt  die 
Unterlassungssiinde  und  die  Ge- 
fahn  Denn  so  gut  wie  die  MiB- 
handlungen  und  die  Ungerechtig- 
keiten  registriert  werden,  so  gut 
haben  auch  die  Freundlichkeiten 
und  die  RosenstrauBe  ein  Recht 
auf  Publizitat,  Wie  es  sich  denn 
immer  wieder  zeigt,  daB  der 
groBere  Teil  der  Liigen  nicht 
durch  Worte  entsteht,  sondern 
durch  Verschweigen, 

M.  M.  Gehrke 

Dem  VDA  gewidmet 

VV7er  Gelegenheit  hat,  deutsch- 
"^  amerikanische  Zeitungen  zu 
durchblattern,  wird  sich  wundern, 
welch  seltsame  Wandlungen  die 
deutsche  Sprache  erfahrt,  wenn 
sie  den  groBen  Ozean  iiberquert 
und  langere  Zeit  in  andern  Lan- 
gengraden   ertont. 


NIUI 

MAX  ERMERS 


VERLA6  DR.  H.  EPSTEIN 


VICTOR  ADLER 

AUFSTIE6  UND  6R6SSE  EINER 

SOZIALISTISCHEN  PARTE  I 
380  Selten  Kart.  M  5.75,  Lelnen  M  7.25 


979 


Da  ladt  beispielsweise  in  der 
♦Deutschen  California  Staats  Zei- 
tung'  der  flFreimaurer-KlubM  zu 
seiner  Monatsversammlung  in  der 
Hermannssohne-Halle  ein  und 
teilt  mit:  „Wichtige  Sachen  kom- 
men  zur  Besprechung,  auch  ein 
Programm  ist  vorgesehen.  Plane 
fiir  das  Weihnachtsfest  werden 
deleft/'  Da  lachen  die  Hiihner. 
Auf  einem  deutschen  „Elks- 
Abend  in  Redondo  Beach"  wurde 
folgendes  an  Speisen  geboten; 
Sauerbraten,  Kartoffelklofie,  Rot- 
kohl,  Leberwurst,  Roggenbrot, 
Salami,  Limburger  Kase,  Pum- 
pernickel, Bier  und  Kaffee.  „Was 
kann  man  in  der  Adoptivheimat 
mehr  verlangen  ? ' '  Ftirwahr . 
Kein  Wunder  aber  auch,  dafi 
alles  genau  klappt,  wo  doch  mit 
deutscher  Organisationstuchtig~ 
keit  dafiir  gesorgt  wird,  dafi  fiir 
I  eden  Handgr  if  f  ein  Spezialist 
bereitsteht.  Bei  der  Beamten- 
wahl  des  „S.A.  Liederkranz" 
etwa  wurde  folgender  General- 
stab  gewahlt;  Ein  President,  ein 
Vizeprasident,  ein  prot.  Sekre- 
tar,  ein  Finanzsekretar,  ein 
Schatzmeister,  ein  Bummelschatz- 
meister,  ein  Archivar,  drei  Ver- 
waltungsrate,  vier  Personen  ins 
Wirtschaftskomitee,  vier  Personen 
ins  Musikkomitee,  ein  Dirigent,  ein 
Vizedirigent,  drei  Delegaten  zum 
Slid  Pacific  Sangerbund.  Auch 
Mitglieder  soil  der  Verein  haben. 

Was  ein  Funktionar  ist,  reibt 
sich  bekanntlich  immer  auf.  Das 
merkt  man  auch  beim  „Rotman- 
ner-Orden",  der  in  der  ,Califor- 
nia-Zeitung'  ankiindigt:  ,,Damit 
sich  alle  Besucher  groBartig  amii- 
sieren,  ist  die  Hauptaufgabe  des 
Komitees,  Lafit  die  .Sorgenhose* 
zuhause , ,  /'  Aber  zuweilen  wird 
auch  etwas  furs  Herz  geboten : 
„Am    Montag   Abend,    acht   Uhr 


funfzehn,  29.  Dezember,  halt  die 
bekannte  Opern-Dolmetscherin 
Margarete  Goetz,  im  Salon  ihres 
neuen  Studios,  au  902,  So, 
Alvarado,  einen  ihrer  bekannten 
Lichtbildervortrage  iiber  die  herr- 
liche  und  tiefgrundige  Wagner- 
Oper  ,fParsival",  Zusatzliche, 
noch  nie  vorher  von  ihr  gezeigte 
Lichtbilder  werden  vorgefuhrt. 
Bei  zwei  Europareisen  besuchte 
Margarete  Goetz  die  Parsival- 
Vorfiihrungen  in  Bayreuth  und 
sie  ist  eine  kompetente  Auslege- 
rin  der  Wagner-  und  anderen 
Opern.  Ihre  Vortrage  sind  stets 
rege  von  Musik-Freunden  und 
Wagner-Verehrern  besucht.  Eben- 
so  horen  Sie  Bayreuth-Rekorde 
von  Choren,  Solos,  Orchester." 
Was  kann  man  in  der  Adoptiv- 
heimat mehr  verlangen? 

Richard  Flock 

Haben  wir  einen  Reichstag? 

Wir  haben  einen  Reichstag! 
In  der  dusseldorfer  ,Volksparoie* 
*  ist,  wie  neulich  mitgeteilt,  ein 
Gedicht  Theobald  Tigers  „Die 
Ortskrankenkasse"  erschienen. 
Signiert  war  das  Plagiat  mit  dem 
bekannten    Nazinamen  MSchloch". 

Strafantrag  gegen  den  Verant- 
wortlichen,   SpaSes  halber. 

„Amtsgericht  Abteilung  28  . , , 
wird  mitgeteilt,  dafi  der  Beschul- 
digte  Mitglied  des  Reichstages  ist. 
Da  der  Reichstag  nicht  geschlos- 
sen,  sondern  lediglich  vertagt  ist, 
ist  gem.  Artikel  37  Reichsverfas- 
sung  die  Einleitung  eines  Straf- 
verfahrens   zurzeit  unzulassig." 

Und  du  hast  immer  geglaubt, 
die  Deutschen  machten  von  ihrer 
Verfassung  keinen  Gebrauchf 

Mutig  sind  die  Nazis.  Da  ist 
nichts  zu   sagen. 


innilll!llllitlll!ll!ll[||l!ll[l!ll!IIW 

ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCHICHTE 

in700Bildern.  1910—1930.  Einleitung  von  Friedrich  Sieburg.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter  nicht  die  gelstige  MOhe  ersparen,  die  im 
Lesen  llegt  Die  zusammenfassende  Betrachtung  der  letzten  17  Oder 
20  Jahre,  onne  daB  die  Tatoachen  durch  eine  Deutung  verhDIIt  Oder 
gefttrbt  wOrden,  mag  einen  neuen  Weg  welsen  oder  erkennen  lessen. 

TRANSMARE  VERLAO  A.-0.,  BERLIN  W  10 

980 


Lelnen 

5.80  RM 


Mahagonny 
A  n  diesem  Stuck  mit  dem  f  eier- 
**  lich  breitspurigen  Titel  „Auf- 
stieg  und  Fall  der  Stadt  Maha- 
gonny'* ist  vieles  unklar  und  ver- 
worren,  das  Unklarste,  Verwor- 
rcnstc  und  Verwirrendste  aber  ist 
wohl,  daB  die  Autoren  Brecht  und 
Weill  —  in  begreiflicher  Selbst- 
iiberschatzung  und  unbegreiflicher 
Unterschatzung  historischer  Be- 
dingtheiten  —  das  Ganze  als 
Oper  angesehn  wissen  mochten, 
obzwar  sie  grade  der  Oper  den 
Krieg  erklart  haben,  obwohl  sie 
nichts  fiir  anderungs-  und  neue- 
rungsbedurftiger  halten  als  sie 
(von  der  sie  nichts  halten),  ob- 
zwar sie  nichts  so  sehr  zu  iiber- 
winden  suchen  —  und  in  gewis- 
sem  Sinn  sogar  uberwinden  — 
wie  diese  Kunstform,  die  sie  in 
einem  wollen  und  nicht  wollen, 
be j  ahen  und  verneinen,  mit  der 
sie  ringen,  von  der  sie  nicht  las- 
sen:  ohne  daft  sie  endlich  geseg- 
net  wiirden . . .  Wenn  Brecht  be- 
hauptet,  die  Oper  ware  im  we- 
sentlichen  kulinarisch,  ,f  Maha- 
gonny" ware  es  auch  und  daher 
ebenfalls  eine:  so  ist  dies  nichts 
als  sophistische  Spiegelfechterei 
und  unerlaubte  Vereinfachung  der 
Sachlage  ...  „Kulinarisch"  ist  ja 
uberhaupt  ein  Schlagwort,  mit 
dem  sich  alles  und  nichts  bewei- 
sen  lafit;  grade  aber,  wenn  man 
sich  in  den  Gedankenkreisen  be- 
wegt,  deren  Exponent  dieser  un- 
gliickselige  Ausdruck  ist,  hat  man 
die  Pflicht,  Verwirrung  der  Be- 
griffe  wie  Verwirrung  der  Gefiihle 
nach  Tunlichkeit  zu  vermeiden. 
Grade  dann  darf  man  neuem 
Wollen  keine  alten  Namen  geben, 
darf  man  nicht  Oper  nennen,  was 
in  Wahrheit  keine  ist. 

Was    ist    es    denn  ?     Um    dies 
auseinanderzusetzen,  gibt  es  zwei 


Moglichkeiten:  sich  in  die  Lage 
eines  Mannes  zu  versetzen,  der 
ohne  asthetisches  und  soziologi- 
sches  Wissen  das  Ganze  mog- 
lichst  haiv  aufzunehmen  bereit 
und  imstande  ware  (aus  dem 
Werk  selbst  also  alles  zu  ent- 
wickeln),  oder  es  als  Ausdruck 
einer  bestimmten  Haltung  zu  wer- 
ten,  es  sozusagen  im  Scheinwer- 
ferlicht  bestimmter  Theorien  zu 
sehen,  die  einen  gemeinsamen  Ur- 
sprung  nicht  verleugnen,  die  welt- 
anschaulich  orientiert  sind. 

Das  von  uns  postulierte  naive  ^ 
Gemiit,  dem  daran  liegt,  die  Ge- 
setze  des  Werks  aus  ihm  selbst 
zu  begreifen,  wird  vor  allem  ein 
tlberwiegen  der  Handlung  im  ur- 
spriinglichen  Sinn  des  Wortes 
feststellen;  einer  Handlung,  die 
in  sich  selbst  sehr  uneinheitlich 
ist,  der  die  Konsequenz,  die  Not- 
wendigkeitf  die  MLogik  der  Un- 
logik"  fehlt.  Zu  Anfang  ist  es 
die  durchaus  uninteressante  Ge- 
schichte  einer  von  Huren  und  Ha- 
lunken  gegriindeten  Neppstadt 
irgendwo  im  wilden  Westen,  die 
sich  als  schlechtes  Geschaft  her- 
ausstellt;  spater  dann  wird  dieses 
selbe  Mahagonny  in  dem  man 
nach  der  Sturmnacht  „alles  diirfen 
darf",  solange  man  bezahlen 
kann  —  und  dem  Tod  verfallen 
ist,  sobald  man  kein  Geld  mehr 
hat,  Svmbol  der  kapitalistischen 
Welt  schlechtweg;  der  SchluB 
endlich  bringt  einen  im  Grunde 
durch  nichts  gerechtfertigten  Auf- 
ruhr,  der  scharfstes  Tendenzge- 
schiitz  auffahrt  und  sich  so  mit 
dem  unverbindlichen  und  spiele- 
rischen  Anfang  verdammt  schlecht 
vertragt.  Es  sind  im  Einzelnen 
oft  sehr  begabte,  im  Ganzen  aber 
schlecht  gearbeitete,  schlampig 
hingeworfene  Szenen,  in  denen 
Ernst     und    Scherz,     Pathos    und 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON 

Das  Elend  kommt  von  dertragischen  Beftiesenheit.den  Bock  derZetten  zu  mefken.ob 
er  Milch  geben  kann  Oder  nicht  Niemand  weiB,  wohin  die  Mensch-   — 
heit  steuert  ob  sie  teben  oder  eterben  will;  gewifi  ist  nur, daB  sie 
das  nicht  will,  was  ihr  die  Oberlehrer  der  GlOckseligkeitzudenken. 


TRANSMARE  VERLAQ  A.-0-,  BERLIN  W  10 


Kartoniert 

3.— RM 

981 


Parodie,  krasseste  Realitat  und 
sublimierte  Irrealitat  reichlich 
widerspruchsvoll  durcheinander 
gewirbelt  scheinen;  Szenen,  die 
sich  mit  Weills  Musik,  die  die 
Linie  der  Dreigroschenoper  inne- 
halt,  glanzend  gearbeitet,  aber 
nicht  so  einfallsreich  ist  wie 
diese,  zu  einem  Songspiel  ergan- 
zen,  das  seiner  Zusammensetzung 
nach  die  gemischtesten  Gefuhle 
auslost:  durchaus  aber  als  etwas 
Einmaliges  und  Neues  empfunden 
wird. 

Die  relative  Hilflosigkeit  der 
Beurteilung  hort  sofort  auf,  wenn 
man  weifi,  was  Brecht  eigentlich 
wollte.  Es  ging  darum,  den  „In- 
halt"  zu  einem  selbstandigen  Be- 
standteil  zu  machen,  ■  den  Zu- 
schauer  um  das  iibliche  „Erleb- 
nis"  zu  bringen,  ihm  die  Illusio- 
nen  zu  rauben,  Diskutierarbeit 
zuzumuten,  Auseinandersetzung 
aufzuzwingen  und  'so  die  Ande- 
rung  der  gesellschafttichen  Funk- 
tion  des  Theaters  ;einzuleiten. 
Es  soil  hier  durchaus/  nicht  gegen 
diesen  Einbruch  der  Theorie  in 
die  Region  der  reinen  Kunst  ge- 
wettert  werden:  die  Oper  ist  ja 
seinerzeit  selbst  als  Produkt  noch 
dazu  falscher  Theorien  entstan- 
den;  wir  wissen  zudem,  dafi  an 
bestimmten  Punkten  <ler  Entwick- 
lung  die  soziologischen  Faktoren, 
die  sich  immer  in  starkem  Wol- 
len  aufiern,  starker  sind  als  die 
kunsteignen  artistischen,  Ein  sol- 
cher  Punkt  dtirf  te  in  unsern  Ta- 
gen  erreicht  sein:  grade  deshalb 
hatten  wir  Brecht  gern  mit  etwas 
mehr  Verantwortungsgefuhl  bei 
der  Arbeit  gesehen,  Wenn  man 
schon  Neuland  sucht  und  die  Be- 
gabung  dazu  hat  —  wozu  die  Ba- 
sis der  alten  Oper  angreifen,  wo- 
zu, mit  Brecht  selbst  zu  reden, 
einen  alten  Ast  ansagen,  auf  dem 
man  sitzt,  statt  eine  neue  Basis 
.  zu  suchen  und  sich  auf  einen  neuen 
Ast  zu  setzen?  Hier  beifit  sich 
die  Schlange  in  den  Schwanz; 
man  kann  nicht  Oper  wollen  und 
alle  Voraussetzungen  der  Oper 
negieren,  es  geht  nicht  an,  die 
Illusion  zugunsten  eines  „Inhalts" 
auszuschalten,  der  dann  doch 
wieder  t,SpaBM  und  nicht  nur  Dis- 
kussionsbasis  sein  soil.  Oder  aber: 

982 


vielleicht  kann  man  das  alles,  es 
ware  nur  hier  beim  ersten  Ver- 
such    noch  nicht  gegltickt, 

Es  ist  nicht  leicht,  zu  einem  ab- 
schlieOenden  und  nur  einiger- 
maflen  gerechtem  Urteil  zu  kom- 
men.  Von  reiner  Kunst  im  bis- 
herigen  Sinn  ist  da  nicht  mehr  die 
Rede,  das  Kunstwerk  ist  im 
Aufierkunstlerischen  verankert, 
der  Kiinstler  ist  Soziologe  ge- 
worden,  der  sich  bemuht,  die  ge- 
sellschaftlichen  Zusammenhange 
zu  durchschauen  und  zunachst 
seine  eigne  Stellung  zu  fixieren, 
um  im  Sinn  seiner  Erkenntnisse 
zu  wirken;  theoretische  Irrtumer 
werden  die  Praxis  aufs  Entschei- 
denste  beeinflussen,  Andrerseits 
ist  dies  ein  gangbarer,  ein  not- 
wendig  zu  gehender  Weg;  darum 
miissen  wir  alien  Pionieren  Dank 
wissen,  die  ausziehen,  neue  Len- 
der der  Kunst  zu  erobern,  wenn 
sie  auch  manchmai  in  der  Wuste 
ihrer  Theorien  ein  wenig  stecken 
bleiben,  ohne  ihr  Ziel  ganz  zu  er- 
reichen. 

Trotz  den  Schwierigkeiten  der 
Beurteilung  und  der  Kompliziert- 
heit  aller  damit  zusammenhangen- 
den  Fragen  sind  wir  iiberzeugt, 
Brecht  hatte  da  Vieles  anders  und 
besser  machen  miissen  und  kon- 
nen;  auch  in  dieser  Form .  aber 
ist  Mahagonny  wertvoll:  als  ein 
Versuch,  ein  Obergang  und,  hof- 
fentlich,  ein   Versprechen. 

Arnold  Walter 

Sigilla  Veri,   ein  Juden-Lexikon 

fch  lese  fast  taglich  in  den 
»*  Sigilla  Veri.  Manche  Dinge 
wurden  mir  klart  die  ich  vorher 
nicht  verstand.  Alle  meine 
Freunde  kommen,  um  bei  mir  die 
drei  bisher  erschienenen  Bande 
einzusehen.  Am  Stammtisch  muB 
ich  mir  jedesmal  vier  bis  ftinf 
Fragen  notieren,  um  sie  am  nach- 
sten  Abend  zu  beantworten.  Ob 
es  sich  um  Auskunft  iiber  einen 
franzosischen,  deutschen  oder 
amerikanischen  Juden,  Juden- 
freund  oder  -gegner  handelt,  ob 
es  sich  um  ein  Wort  aus  der  Gau- 
nersprache  oder  ein  in  den  deut- 
schen Sprachgebrauch  ubergegan- 
genes  Wort  handelt,  stets  konnte 
ich  Auskunft  erteilen. 


Nur  eine  einzige  Beschwerde 
mochte  ich  anbringen:  Wenn  ich 
zum  Bcispiel  im  3.  Bandc  ctwas 
nachsehe,  zum  Beispiel  den  eng- 
Hschen  Erzbischof  Howard,  Senna 
Hoy,  Sir  Isaacs  Rufus,  Kerr,  Else 
Lasker-Schiiler  mit  ihren  typi- 
schen  Gedichten,  oder  Landesver- 
rat,  oder  einen  der  vielen  Laza- 
rus, Levi  mit  i  und  y,  Lewi  mit  i 
und  y,  oder  Leroy-Beaulieu  — 
(ich  erwahne  gerade  einige  der 
Namen,  die  wir  in  den  letzten 
Wochen  durchsprachen)  —  stets 
empfinde  ich  es  als  storend,  dai$ 
die  vielen  Abkurzungen  oder 
Zeichen  mir  nicht  gelaufig  sind. 
Da  mufl  ich  immer  erst  wieder 
aufstehn,  Band  1  holen  und  dort 
nachschlagen  auf  den  Seiten  109 
bis  111,  wo  die  Abkurzungen 
stehen, 

Konnte  der  Verlag  nicht  die 
Abkurzungen  und  Zeichen  auf 
einem  als  Lesezeichen  zu  benut- 
zenden  Bogen  nochmals  besonders 
drucken?" 

„Der  Verlag  dankt  fur  die  An- 
regung  und  f  reut  sich,  seinen 
Freunden,  Gesinnungsgenossen, 
Helfern  und  Beziehern  ein  sol- 
ches  Lesezeichen  iiberreichen  zu 
konnen, 

Auf    einem    Zettel    finden     sich 
nun    die   Abkurzungen;    darunter: 
das    dunkle    damonische    Drei- 
eck  mit   absteigender   Spitze: 
Bezeichnung    fur    Rassejuden 
jeder  ,Konfession\ 
das    helle     theonische    Dreieck 
mit  aufsteigender  Spitze:  Be- 
zeichnung    fur     nicht  judisch, 
Hinter    den    Namen     gestellt, 
bedeutet   es,   daB   der  Betref- 
fende     zwar    selber     nicht  jti- 
disch,  aber  judisch  verheiratet 
.  '       ist. 


Bei  Pseudonymen  (Deck-,  Lug- 
und  Trugnamen)  wird  durch  =r 
der  Urname  angegeben;  zum  Bei- 
spiel ,Berger,  Paul  =j  Ismar 
Boas',  das  heifit  Paul  Berger 
heifit  oder  hiefi  eigentlich  Ismar 
Boas. 

(. , .)  Diese  Klammern  enthal- 
ten  Bemerkungen,  Ansichten,  Zu- 
satze  etcetera,  der  Herausgeber, 
zum  Beispiel  ,Alexisf  Werner 
(Anklang  an  Willibald  Alexis!) 
=  Carl.  Ed.  Klopfer',  das  heifit; 
der  Jude  Klopfer  hat  einen  Deck- 
namen  gewahlt,  wodurch  er  mit 
dem  beriihraten  nicht  judischen 
Dichter  Willibald  Alexis  in  Be- 
ziehung  gebracht  oder  verwech- 
selt  werden  kann,  desh? 1  h  Vor- 
sicht!" 

Deutscher  Winter 

Auf  den  Strafien  schreit  der  Hunger, 
In  den  Hausern  stinkt  die  Not, 
In  den  Speicfaern  fault  die  Nahrung-, 
Bettler  fechten  ein  Stuck  Brot. 

Keinen  Sechser  in  der  Tasche, 
In  den  Banken  Hegt  das  Gold, 
Und  sie  sag-en,  diese  Ordnung 
Sei  vbm  lieben  Gott  jjewollt. 

An  der  Ecke  hockt  der  Blind e, 
Halt  zwei  Schachteln  Streichholz  feil, 
Feile  Weiber  pendeln  langsam, 
Machen  satte  Bauche  jje.il. 

Rauchlos  unter  kaltem  Himmel 
Stehn  Fabriken  leer  und  stumm 
Und  mit  abjjestorbnen  Hand  en 
Stehen  Arbeitslose  rum. 

Eine  Frau  halt  vor  dem  Fenster 

Voller  Waren  kunterbunt, 

Geht  nachhaus  und  steckt  zum  Nachtmahl 

Sich  den  Gasschlauch  in  den  Mund. 

Audi  der  Dichter,  der  dort  schlendert, 
Wichtig,  bleich  und  genial, 
Hat  nichts  in  der  Welt  verandert, 
Denn  das,  dunkt  ihm,  sei  banal. 

Und  der  Wind  fegt  wie  ein  Besen 
Eisig  kalt  die  ganze  Nacht, 
Fegt  die  Welt  zum  alien  Eisen, 
Und  die  neue  Zeit  erwacht. 

Hans  Reiser 


Wir  stehen  an  einer  Zeitwende! 

Wer  das  nicht  fiihlt,  dem  ist  nicht  zu  helfen,  und  wenn  er  auch  der  heste 
Mensch  ist,  wird  er  doch  ins  Hintertreffen  geraten.  In  solchen  Zeitwenden 
kam  immer  ein  Mensch,  der  die  kosmische  Verankerung  alien  erden- 
menschlichen  Daseins  aufzuzeigen  wufite.  Fiir  den  heutigen  europaisch- 
amerikanischen  Kulturkreis  ist  das  nur  B6  Vin  Ra,  der  heute  in  alien 
funf  Weltteilen  Hunderttausende  von  Schiilern  zahlt,  ohwohl  er  selbst  in 
volliger  Abgeschiedenheit  lebt.  Was  wir  von  ihm  wissen,  erfahren  Sie 
aus  der  Broschtire  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin:  „Weshalb  Bo  Yin 
Ra?a,  die  Sie  kostenfrei  von  Ihrer  Buchhandlung  oder  direkt  von  uns 
erhalten!     Kober'sche   Verlagsbuchhandlung   (gegr.  1816)  Basel-Leipzig 

983 


Antworten 


Wiener.  Der  junge  sozialdemokratische  Schriftsteller  Fritz  Bur- 
gel  hat  an  den  Rektor  Ihrer  Universitat  den  folgenden  Brief  ge- 
richtet:  „Eure  Magnifizenz!  Als  Kandidat  der  Philosophic  habe  ich 
bei  meiner  Promotion  das  Gelobnis  abgelegt,  das  den  Doktoren  meiner 
Fakultat  vorschreibt,  in  der  uneigenniitzigen  Bemuhung  fur  die  Wahr- 
heit  nicht  zu  erlahmen  und  danach  zu  streben,  dafi  ihr  Licht,  in  dem 
das  Heil  des  Mehschengeschlechtes  beschlossen  ist,  nur  urn  so  strah- 
lender  leuchte.  Die  letzten  Vorgange  an  der  Wiener  Universitat  ha- 
ben  mirt  wenn  ich  dieses  Beweises  noch  bedurft  hatte,  gezeigtt  daft 
die  Promotionsformel  jeden  Sinn  verloren  hat;  dafi  sich  in  den  An- 
schlagekasten,  ungehindert  vom  Rektorat,  eine  Gesinnung  breitmacht, 
die  weder  mit  den  Gesetzen  der  osterreichischen  Republik,  noch  mit 
den  Doktorgelobnissen  der  einzelnen  Fakultaten  vereinbar  ist.  Rek- 
tor und  Senat  mogen  iiber  diesen  Zwiespalt  hinwegkommen;  ich  fuhle 
mich  durch  mein  Gelobnis  verpflichtet,  einer  Universitat,  die  alle 
Gesetze  der  Humanitat  zwar  in  ihren  Promotionsformeln  fiihrt,  aber 
in  Wahrheit  fur  nichts  achtet,  mein  Diplom  als  Doktor  der  Philo- 
sophie  zerrissen  zuruckzugeben,  und  zu  ersuchen,  meinen  Namen  aus 
der  Doktorliste  jener  Institution,  die  sich  Alma  mater  Vindobo- 
nensis  Rudolfina  nennt,  zu  streichen.  Ihnen,  Herr  Rektor,  bleibt  es 
(iberlassen,  Ihre  Haltung  mit  dem  Gelobnis,  das  Sie  seinerzeit  abge- 
legt haben,  fiir  vereinbar  zu  halten."  Dies  Vorgehen  sei  zur  Nach- 
ahmung  empfohlen.  Wenn  das  an  den  Statten  der  Wissenschaft 
so  weitergeht,  werden  iiberhaupt  bald  gar  keine  Studenten  mehr  da 
sein,  denen  an  wirklicher  Arbeit  liegt.  Dann  wiirden  die  Her- 
ren  unter  sich  sein,  und  bald  konnten  alle  Professoren 
abgebaut  werden,  denn  von  den  Krawallmachern,  denen  der  Rek- 
tor auch  noch  den  „0rdnungsdienst"  iibertragen  hat,  lafit  sich  ja  doch 
keiner  in  den  Kollegs  sehn.  Das  ist  aber  auch  gar  nicht  notig.  Im 
Dritten  Reich  braucht  man  nur  noch  den  Nachweis  zu  erbringen,  dafi 
man  gut  pobeln  und  randalieren  kann.  sonst  darf  man  strohdumm  sein. 

Wir  setzen  unser  Abonnement  herab 

statt  vierteljahrlich  RM,  6.— 

„     5.40 

statt  monatlich  „     2. — 

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II.  Quartal  gut. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fiir  die  Abonnenten  bei,  aui 
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einzuzahlen,  da  am  10.  Januar  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt   und   unnotige   Kosten  verursacht, 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktfon  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  162,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Riickporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auff  uhrunesrecht,  die  Verwertnn?  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
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bleiben  fttr  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  BeltrSge  ausdrQcklich  vorbehalten. 

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unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky  geleitet.  —  Verant  wortlich :   Carl  v.  OssieUky,  Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

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