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Full text of "Dtsch Zschrft Nervenheilkunde 1917 57"

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DEUTSCHE ZEITSCHRUT 

FUR 

NERVENHEILKUN DE 

UNTER MITWIRKUNO 

der Herren Prof. Edinger-Frankfurt a. M., Prof. Poorster-Breslau, 
Prof. v. Frankl-Hoohwart-Wien, Prof. J. Hoffinann-Heidelberg, 
Prof. v. Monakow-Zurich, Prof. Nonne-Hamburg, Prof. Oppen- 
heim-Berlin, Prof. Quinoke-Kiel, Prof. A. Baenger-Hamborg. 

HERAUSOEGEBEN 

VON 

Prof. Wilh. Erb Prof. L. Lichtheim 

«mer. Direktor der med. Klinik in Heidelberg, emer. Direktor der med. Klinik in Kftnigsberg. 

Prof. Fr. Schultze Prof. A. v. Strumpell 

Direktor der med. Klinik in Boon. Direktor der med. Klinik in Leipzig. 

REDIGIERT VON 

A. STRt'JMPELL. 

Offizielles Organ der „Gesellschaft deutscher NervenSrzte". 

SIEBENUNDFUNFZIGSTER BAND. 

(Mit 21 Abbildongen im Text.) 



LEIPZIG, 

VERLAG VON F.C.W. VOGEL. 



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1917. 


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Druck von August Pries in Leipiig. 


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Inhalt des siebenundfunfzigsten Bandes. 
Erstes nnd zweites (Doppel-)Heft. 

(Ausgegeben am 14. August 1917.) 

Seite 

Oppenheim, Hermann, Zur Kenntnis der Veronalyergiftung und der 

funktionellen Formen der Sehstorung. (Mit 5 Abbildungen). ... 1 

(Aus der medizinischen Universitiitspoliklinik Rostock. Direktor: Prof. 

Dr. Hans Curschmann.) 

Boenheim, Felix, Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Po- 


tenzstorung“. (Mit 4 Abbildungen).36 

(Aus dem Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt [iiussere Abteilung]). 
Werther, Uber Liquoruntersuchungen und Liqnorbehandlungen bei Sy- 

philitischen.61 

(Aus der medizinischen Klinik der Universitat Leipzig. (Direktor: Geh.- 
Rat v. Strumpell.) 

Stephan, Richard, Zur Kenntnis und Atiologie der unter dem Bild 

eines Tumors verlaufenden Erkrankungen der Cauda equina ... 87 


Auerbach, Siegmund, Zur Lehre von den Liihmungstypen .... 101 
fAus der chirurgischen Abteilung Dr. A. Zawadskis des Pragahospitals 
in Warschau.) 

Higier, Heinrich, Uber rnanche Komplikationen der Hartelschen Al- 
koholbehandlung des Ganglion Gasseri bei schweren Trigeminusneu- 


ralgien. 103 

Besprechung: 

Stertz, Georg, Typhus und Nervensystem.109 

Zeitschrifteniibersicht.115 

Literaturverzeichnis ..117 

Gesellschaft Deutscher Nerveniirzte.148 


Drittes bis fflnftes (Doppel-)Heft. 

(Ausgegeben am 5. Oktober 1917.) 


Bolten, G. C., Uber Hypothyreoidie.119 

Bolten, G. C., Epilepsie und Tetanie.160 


Aus der inneren Abteilung des stadtischen Krankeuhauses Augsburg. 
(Oberarzt: Prof. Fr. Port.) 

Giitermann, F., Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung mit gleieh- 
zeitigen Missbildungen am Thorax und an der rechten oberen Ex¬ 
tremist. (Mit 3 Abbildungen).. 203 




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IV 


Inhalt des siebenundliintzigsten Bandes. 


' Seite 

Aus der Klinik und Poliklinik fur psychische und Nervenkranke in Bonn. 

(Geh. Bat Westphal.) 

Hiibner, A. H., Uber Myotonie.227 

Aus der Netvenabteilung des k. u. k. Reservespitals Nr. 1 Lemberg. 

(Spitalkoramandaut: Oberstabsarzt Dr. Julius Reich.) 

Rothfeld, J., Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertro- 

phica. (Mit 3 Abbildungen).242 

Go Id maun, R., Der Menieresohe Symptomenkornplex als Spiitfolge des 

Kopftraumas.258 

(Aus der psychiatrisch-nenrologischen Klinik in Groningen, Holland.) 

Kooy, F. H, Uber einen Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell, 

bei Zwillingen.267 

(Aus dem k. und k. Augusta-Barackenspital. Kommandanfc: Oberstabsarzt 
I. KI. Dr. O. Byk.) 

Donath, J., Uber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit nacli Operationen 

an kontinuitatsgetrennten Nerven.275 

Zeitschrifteniibersicht.291 


Sechstes Heft 

(Ausgegeben am 25. Oktober 1917.) 

Aus dem Hauptfestungslazarett Posen. (Chefarzt: Stabsarzt d. R. a. D. 

Med.-Rat Dr. Clauss.) 

v. Dziembowski, Sigismund, Zur Kenntnis der Pseudosklerose und 

der Wilsonschen Krankheit. (Mit 4 Abbildungen).295 

Aus der medizinisclien Universitiitsklinik in Rostock. (Direktor: Gelieim- 
rat Prof, Dr. Marti us.) 

Queckenstedt, Uber Veriinderuugen der Spinalfliissigkeit bei Erkran- 
kungen peripherer Nerven, insbesondere bei Polyneuritis und bei 


Ischias.316 

Aus der Militiir-Nervenklinik des 7. A.-K. „Mariahilf“ in Crefeld. 

Baake, F., und Voss, G., Uber fortschreitenden Muskelschwund mit 

myotonoiden Symptomen. (Mit 2 Abbildungen).330 

Besprechungen: 

1, Mikroskopischer Atlas des menschlichen Gehirns. (A. Strumpell) 343 

2. Schweizcr Archiv fiir Neurologie und Psychiatrie. (A. Strumpell) 313 

Zeitschrifteniibersicht.344 


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Zur Kenntnis der Yeronalyergiftimg und der fnnktionellen 
Formen der Sehstornng. 

Von 

Hermann Oppenheim. 

(Mit 5 Abbildungen.) 

Wabrend meiner Lazarettatigkeit hatte icb Gelegenheit, einen 
Fallal beobacbten, der mein Interesse wahrend eines Jahres fesselte. 
Ich hoffe, dass seine Mitteilung auch den Facbgenossen einiges Lehr- 
reiche bieten wird. — 

Leutn. d. Res. H., 19 J.. Res.-Offiz. (Abiturient). Erste Untersuchung 
in meiner Wohnang am 7. X. 1915. 

Seit April 1915 im Feld. Ende Mai auf Lorettohohe kurze Zeit ver- 
scbtlttet, war lange Zeit dort im Trommelfeuer, wurde dann von Unrube, 
Schlaflosigkeit, Herzbeschwerden befallen; ferner stelltc sich Hyperidrosis 
eim Am 7. Juni kam er ans dem Felde ins Feldlazarett, war dort bis 
zum 7. Juli, dann bis 1. Oktober 1915 in ambulanter Behandlung in 
Hannover. 

Status: Lebbafte Taehykardie, schnellschlagiges Zittern, Zunge sehr 
trockeu; Sehnenphanomene crhOlit. Keine Verflnderungen am Herzen nach- 
weisbar. Neurasthenie. Aufnahme in landlicbes Lazarctt empfohlen. 

24. I. 1916. Zweite lvonsultation in der Sprechstunde: Er kommt 
aus Salzuffeln; hat dieselben Beschwerden: Zittern in den Knien, Ermttd- 
barkeit, Herzklopfen, Schlafmangel, Abmagerung, Kopfschmerz (Blutandrang 
nacb dem Kopfe). Er kOnne nicht dagegen an, fftrchtet, die Rube vor 
den Mannschaften zu verlieren. 

. P. 120, lebhafter Tremor, Augen glanzend, ganz leichte Vergrdsserung 
der Schilddrflse. 

Er gebraucht Veronal und Opium. 

Hyperthyreoidismus ? 

Aufnahme ins Offizierslazarett des R.-L. Kunstgewerbemuseum emp¬ 
fohlen. 

Vorlaufig Antithyreoidin. 

Die Aufnahme ins Lazarett erfolgte am 16. II. 1916. 

Anamnese: Kam vom Gymnasium als Freiwilliger ins Feld am 12. 
X. 1914, machte dann im Februar 1915 einen Offizierkursus durch und 
kehrte Ende April 1915 als Offizier ins Feld zurttck. 

Ende Mai 1915 wurde er auf der Lorettohohe verschtlttet, nur kurze 

Deutsche Zeitschrift f. Ncrvenheilkunde. Bd.57. 1 


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Oppenheim 


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Zeit. Besonders aber wurde er durch das Trommelfeuer erregt. Starkes 
Herzklopfen, andauernde Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, allgemeine Kdrper- 
schwacke stellten sich ein. Er liatte damals besonders Neigung zum 
Weinen, w&hrend jetzt Neigung und Zwang zum Lachen besteht: er muss 
lacheo, ohne dass ein Grund vorhanden ist, und kann sich dabei nicht be- 
herrschen. Damals trat besonders ein Zittern in den Knien beim Mar- 
sehieren liervor, beim Sitzen hdrte es auf. Er empfand Atemstdrungen 
beim Tragen des Tornisters und wenn er aufhorte, zu marschieren (?). 

Jetzt besteht ein schmcrzhaftes GefQhl im Rttcken, das or nicht genau 
beschreiben kann, er wache davon auf. Der Schmerz ziehe den ganzen 
RQcken herunter. 

Potus und Lues negatur. Wie sich spater kerausstellte, raucht er 
stark Zigaretten. 

FrQher war er nie krank, nur liatte er 2mal im Jahre Perioden von 
Kopfschmerzen, die regelm&ssig wiederkehrten. Sie sassen im Hinterkopf 
und schwanden nach 2—3 Wochen Dauer von selbst. 

Im allgemeinen ist er gut in der Schule mitgekommen, war gut in 
der Mathematik. 

Keiue Nervenkrankheiten in der Familie. 

Gegenwartipe Klagen: 1. Kopfschmerzen, besonders beim lauten Sprechen 
(Kommandieren). 

2. Zittern, wenn er einige Zeit gegangen ist. 

3. Sckweissausbruch beim Gehen und bei dcr geringsten Tatigkeit. 

4. Kopfschmerz beim Erwachen. 

5. Schlechter Schlaf, storende Traume. 

6. Herzklopfen, besonders beim Schreiben, Lesen und langeren Gehen. — 

Keine wesentliche Abmagerung. 

17. II. 1916. Kein Exophthalmus, leichtes Lidmuskelzucken. Augen- 
bewegungen frei. Kein Nystagmus, kein Grafesches Symptom. Oplitlial- 
moskopischer Befund normal. 

Die seitlichen SchilddrQsenlappen sind vielleicht etwas vergrdssert. 

Puls ganz ruhig, 17—18 in 1 i i M. Audi nach schncllem Aufstehen 
aus der RQckenlage bleibt der Puls ganz ruhig. 

In den ausgestreckten Handen kein Zittern. 

Sehnenpkanomene von gewOhnlicher Starke. 

Hautreflexe normal. 

Kein Schwanken bei Augcnschluss. 

Facialis und Hypoglossus frei. 

Keine Schreckhaftigkcit. 

GefQhl fQr BerQhrungen und Nadelstiche am ganzen Ktirper erhalten. 

Diagnose: Zurzeit nur subjektive Beschwerden von neurasthenischem 
bezw. hy8teroneurasthenischem CJiarakter. Die frQhere ambulante Unter- 
suchung* hatte den Verdacht des Hyperthyreoidismus erweckt, die ent- 
sprechenden Erscheinungen sind vielleicht durch die Therapie zurQck- 
gebracht worden. Verordnung: Kiihle Halbbader. 

22. II. 1916. P. 25 in i ! i M.; nach dem Ersteigen einer Treppe 
geht der Puls auf 30. Herztone rein. 

Keine nennenswerte Vergrosserung der SchilddrOse. 

Nur geringes Zittern in den Handen. 


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Zur Kenutnis der Veronal vergiftung usw. 


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Leichte angeborene Verkrttmmung an dem 4. und 5. Finger der 
rechten. Hand. 

Beim Bttcken keine ungewbhnlichen Kongestionserscheinangen. 

Die Sensibilitat war (nach meinen Aufzeichnnngen) iramer normal. 

29. II. 1916. Patient ist heute frQh 9 V 4 Uhr aus tiefem Schlaf 
schwer zu erwecken, lallt schlaftrunken. gibt an, dass er gestern un- 
beholfen gewcsen sei, alles was er in den Handen hatte, fallen Hess. Er 
will nicht viel getrunken haben. Puls ganz ruhig. Nach Angabe der 
Kameraden, die mit ihm das Zimmer teilen, soil der Schlaf des Patienten 
immer sehr tief und er schwer aus demselben zu erwecken sein. Es be- 
darf aber noch der weiteren Klarstellung der Sachlage. 

Wie spater ermittelt wird, hatte er — angeblich wegen der Schlaf- 
losigkcit — in den letzten Nachten viel gebummelt, stark geraucht, sich 
Schlafmittel (s. u.) in grossen Mengen verschafft und war spat in der 
Nacht nach Hause gekommen. 

1. III. 1916. Patient liegt schlafsflchtig und somnolent da, er 
macht mit den Armen lialb unwillkQrliche Bewegungen, die aber nicht 
gerade krampfhaften Charakter haben. Er soli gestern keinenUrin ge- 
lassen haben. Die Nahrungsaufnahme war sehr mangelhaft. Puls von 
gewOhnlicher Frequenz. 

Pupillenreaktion schien im ersten Augenblick nicht vorhanden zu sein, 
kehrte dann aber gleich wieder. 

Auf Bespritzen mit Wasser reagiert Patient. 

Auf Befragen, was ihm sei, klagt er Qber Mhdigkeit. Die Woche vor 
dem Eintritt des gegenwartigen Zustandes soli er liber auffallend wenig 
Schlafbedflrfnis geklagt haben. Er bietet jetzt das Bild extremer 
Schlaftrunkenheit, manchmal spricht er lachelnd ein paar Worte. 
Beiderseitige Ptosis. Es besteht ein Nystagmus verticalis sowie an- 
scheinend eine starkc Blickbeschr&nkung.* 

Kniephanomen von gewohnlicher Starke, Hautreflexe normal. 

Beim Lacben verzieht sich der Mund etwas nach links. 

Ein typischer Fressreflex ist nicht vorhanden. 

Ein Bauchreflex ist nicht hervorzubringen. 

Er trinkt einen Schluck Milch, dann f&llt der Kopf mode auf die 
Seite. Nachher trinkt er die Tasse aus, koramt aber dabei ins Husten 
(verschluckt sich). 

Aufgefordert, seinen Namen zu nennen, nennt er nur den Vornamen, 
und es macht sich dann eine typische Perseveration bemerklich. 

Respiration selten. Kcin Stokessches Atmen. 

Er l&clielt fast andauernd, spricht dann auch ein paar Worte lallend 
vor sich hin. 

Diagnose: Der Zustand ist nicht als hysterische Narkolepsie zu 
deuten; es ist auch nicht wahrsckeinlich, dass es ein einfacher Er- 
scbdpfungszustand ist dureh Insomnie. Entweder liegt ein toxisches 
Koma vor oder ein organisches Zerebralleiden (Tumor?). 

Er soil gestern keinen Urin gelassen haben. 

Es wird jetzt etwa 1 j 2 Liter eines hochgestellten Urins entleert.. 

2. III. 1916. Er ist gestern abend schon etwas freier gewesen, hat 
auch mehr Nahrung zu sich genommen. Heute morgen muss er wieder 
aus tiefem Schlaf geweekt werden, aber es gelingt doch leichter. 

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Oppenheim 


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Die gestern geschilderten Erscheinungen an den Angen (d. b. Ptosis, 
Nystagmus und Blickl&hmung) bestehen nnverftndert fort. 

Es haben sich grOssere Quantitaten Veronal bei ihm gefunden und 
es ist nicht ausgescblossen, dass er eine grOssere Menge dieses Mittels ge- 
nommen hat. Es bleibt allerdings die lange Dauer des Komas und der 
gescbilderte Augenbefund auffallend. 

Er phantasiert jetzt fortwfthrend: Schwester Frieda soli zu iliin 
kommen usw. 

Er soil schon am Tage vor Eintritt des Scblafzustandes unsicber und 
auch schon einmal schlaftrunken gewesen sein, so dass die Kameraden, mit 
denen er draussen zusammentraf, sich nach seinem Befinden erkundigten; 
er habe auch gebeten, man solle ihn nach Haus bringen, was man fftr 
einen Scherz hielt. Am Abend vor Eintritt des Komas habe er sich aber 
im Belt noch ganz gut unterhalten. 

3. III. 1916. Das Sensorium hat sich inzwiscben aufgehellt, doch ist 
die Verwirrung noch nicht ganz geschwunden, es besteht eine gewisse Un- 
ruhe und Jaktation. Die Ptosis und der Nystagmus sind zurQckgegangen. 

Die Temperatur ist andauernd eine subnorraale. 

Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass es sich urn eine Intoxikation, 
vorwiegend mit Veronal, gehandelt hat; er scheint auch noch mit anderen 
Mitteln, wie Bromosan (?) gewirtschaftet zu haben (daftlr hat sich aber 
kein Beweis bringen lassen). 

Zur Durchfdhrung der Entziehung ist eine Verlegung erforderlich, die 
aber auf Schwierigkeiten stOsst. 

4. HI. 1916. Die Augen wcrden jetzt gut geOffnet, aber die seit- 
lichen Bewegungen werden noch nicht ausgefQhrt. GrObere Nystagmus- 
zuckungen sind jetzt nicht nachzuweisen. Es besteht eine Insuffizienz der 
Recti interni. Puls 50—60 in der Minute. Temperatur noch sub¬ 
normal. 

Respiration ist nicht mehr verlangsamt. 

Es ist ganz sicher, dass die Labmung der Augenmuskeln eine echte 
ist, denn er bewegt, auch wenn er automatisch zur Seite blicken will, 
nicht die Bulbi, sondern den Kopf. 

5. III. 1916. Die seitlichen Blickbewegungen sind noch aufgehoben; 
es besteht auch noch Strabismus divergens. 

Es ist noch nicht klar, welche Art von SehstOrung vorliegt. Er 
will auch grosse Gegenstande, selbst das Gesicht nicht sehen, behauptet, 
nur den Umkreis des Gesichtes 4—5 mal zu sehen, auch mit jedem ein- 
zelnen Auge. 

Ausser der Diplopie und event. Akkommodationsl&hmung muss auch 
noch eine zentrale SehstOrung im Spiele sein. 

Handbewegungen scheinen vorwiegend in den rechten Gesichtsfeld- 
halften wahrgenommen zu werden (?). Der Puls ist noch verlangsamt. 

Im ganzen ist das Bewusstsein heute frei. 

In den Beinen alle Funktionen (in der Rtlckenlage) normal. 

Cornealreflex beiderseits erhalten. 

Uber die Sensibilitat ist zwar in dem Krankenblatt niclits enthalten, 
es geht aber aus meinen persOnlichen Aufzeichnungen hervor, dass sie 
ttberall erhalten war. 

12 . III. 1916. Er will nur eine schwarze Linie sehen, weder den 


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Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw. 


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KSrper noch die Hand des Untersuchenden. Auch grosse Gegenstknde 
werden nicht erkannt. Er macht merkwQrdige Angaben: er sehe nur cin 
paar Striche, die zusamroenlaufen. — Puls 60 in der Minute, regelm&ssig. 

Es scheinen auch optische Sinnestauschungen vorzuliegen. 

Ophthalmoskopischer Befund und Pupillenreaktion immer normal. 

13. III. 1916. Im Urin ist viel Veronal gefunden worden. 

16. III. 1916. Er hilt die Augen geschlossen wegen Oberempfind- 
lichkeit gegen Licht. 

Handbewegungen werden nur zentral gesehen. 

Pupillenlichtreaktion lebhaft. Augenbewegungen, besonders die seit- 
lichen, sehr begrenzt. 

Puls jetzt von normaler Frequenz. 

Patient kommt in der Ernkhrung herunter, weil er fast nur Tee trinkt 
und wenig isst. Er steht nur mit doppelseitiger UnterstQtzung. 

Beim Gehen hochgradige Cerebellarataxie und Asynergie, nament- 
lich auffallende Dysmetrie, indem er ganz ungewQhnlich grosse — ge- 
radezu kolossale — Schritte macht. 

An den Handen ist die Dysmetrie weniger auffallend. Er fQhrt aller- 
dings den Loffel ungeschickt zum Munde, ger&t in die Umgebung desselben. 
Keine Adiadochokinesis. 

In der ROckenlage keine Ataxie in den Beinen (s. jedoch unten). Es 
ist ihm aber nicht mOglich, mit dem Bein einen Kreis in die Luft zu be- 
schreiben. 

In den letzten Nkchten ist der Schlaf besser. 

Die Amnesie ist immer noch ziemlich vollkommen fQr die Zeit vor 
dem Anfall. 

Der Sehnerv ist ganz normal. 

21. III. 1916. Sehen unverkndert. Schlaf und Appetit unvollkommen. 

24. III. 1916. Heute frflh in heissem Bade Verwirrungsanfall und 
Weinkrampf. Jetzt wirft er sich noch hin und her, reagiert nicht auf 
Anruf, knirscht mit den Zahnen, lasst sich dann aber durch Bespritzen 
mit heissem Wasser so weit bringen, dass er die Augen Offnet, die Zunge 
zeigt und etwas spricht. Es handelt sich offenbar um einen hysterischen 
Anfall. Wahrend der Untersuchung stellt sich ein Weinkrampf ein, 
Temperatur normal. 

Im ganzen ist die Verwirrung noch‘gross. 

Er macht allerhand Grimassen. 

27. III. 1916. Der Anfall hat 1—2 Stunden gedauert. Seitdem ist 
das Bewusstscin wieder klar. Er hat auch keine klare Erinnernng an 
den Anfall. Handbewegungen sieht er an einigen Stellen des 
Gesichtsfeldes, hauptsachlich zentral. Puls von gewOhnlichcr Fre¬ 
quenz, eher etwas beschleunigt. 

Er halt die Lider fQr gewOhnlich geschlossen wegen Blendungsschmerz. 
Ophthalmosk. normal. 

31. III. 1916. Gefassreaktion (Prof. C. Weber). Bei lokaler 
Muskelarbeit tritt eine Starke umgekehrte Gefassreaktion ein. Die Ver- 
haltnisse liegen also so wie bei einer schweren Vergiftung des Blutes, 
durch das die Ernahrung der betr. Hirnzentren schwer geschadigt ist odor 
durch die ein schadlicher Reiz auf sie ausgeQbt wurde, dessen Folgen noch 
erkennbar sind. 


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Oppenheim 


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81. III. 1916. Er klagt ttber Brennen in den Angen nnd ttber ein 
Augentrftnen, das auch nachweisbar ist Wenn er die Angen dem Fenster 
zuwendet, hat er infolge der Blendung durch das helle Licht zunttchst gar 
keine Gesichtswahrnehmung. Sowie er dann aber die schwarze Brille auf- 
setzt, erkennt er, dass es sich um 3 Fenster handelt, er sieht auch 
die Querbalken, erkennt auch, wenn ein Vorhang zugezogen wird. Ein 
starkes Konvexglas, das augenblicklich nur zur Verfttgung steht, befOrdert 
das SehvermOgen nicht. Aufgefordert, nach seiner eigenen Hand zu sehen, 
bringt er dieselbe vor die Augen und stellt auch den Kopf ein, aber die 
Bnlbi werden nicht eingestellt. Er kann seiner Hand mit den Augen 
jetzt sowohl nach r. wie nach 1. folgen, dagegen nicht nach oben. Es be- 
steht noch die Blicklahmung nach oben. Es kommt nur zu einem weiten 
Aufreissen der Augen. Die Blickbewegung nach abwttrts ist jedoch vor- 
handen. Sehr oft entstehen auf der Haut des Gesichtes, Halses und 
Rumpfes rote Flecke, die schnell wieder verschwinden. Auf eine schnelle 
Annaherung der Hand an das Gesicht zuckt er lebhaft zusammen. Er 
weiss nicht, ob es der Lufthauch gewesen oder das Gerausch oder der 
Gesichtseindruck, der das lebhafte Blinzeln hervorruft. Er hat auch bei 
geschlossenen Augen fortw&hrend optische Halluzinationen. 

Namentlich nachts, in der Dunkelheit, will er viele Bilder vor den 
Augen haben. 

Er klagt ttber andauerndes Jucken, besonders in der Gesichtshaut. 

Seine Angaben in bezug auf das Verhalten des Sehens sind ganz konstant: 

Er sieht in der Innenh&lfte des Gcsichtsfeldes Handbewegungen, 
wie es scheint unter betr&chtlicher Einengung des Gesichts- 
feldes. 

Aufgefordert, nach bestimmten Richtungen zu sehen, benutzt er zwar 
wesentlich die Kopfeinstellung, vcrsucht aber auch die Augiipfol in der 
Richtung einzustellen. , 

Der vorgestern zugezogene Geheimrat X. hat das Leiden fttr eine 
hysterische Amaurose erkliirt, und zwar besonders deshalb, weil Pat. bei 
der Untersuchung die Augen auch nicht auf Objekte, deren Lage im Raum 
ihm bekannt sein musste, wie seine eigene Hand einzustellen schien. Das 
deute auf einen psychischen Vorgang. 

Mit den H&nden ftthrt Pat. fortdauernd spielende, pflttckende Be- 
wegungen aus. 

Das Gesicht ist immer stark gerOtet. 

Die Nahrungsaufnahme ist noch eine unvollkommene und ungleich- 
mttssige. 

Die diaphoretische Kur soli wieder aufgenommen werden. 

Er kann jetzt etwas sicherer stehen, auch ohne Untersttttzung. Beim 
Gehen ist es genau das frtther beschriebene Bild, und es verdient Beachtung, 
dass sich trotz des langen Zwischenraumes zwischen den beiden Gehver- 
suchen der Charakter der Storung ganz gleich erhalten hat. Dor Gang 
sieht zunachst so grotesk aus, dass man unhedingt an psychische Momente 
als Grundlage denken mQsste, wenn jede andere Erklarungsmoglichkeit 
mangelte. Einmal ist die Schrittlitnge in ganz maBloser Woise vermehrt. 
Er nimmt ungefiihr einen Schritt, als ob er ttber einen Bach hinwegsetzen 
wolle, bleibt aber dann eine Weilc mit dem Fuss in der Luft und setzt 
ihn darauf regellos nieder, dabei knickt der Rumpf zusammen. und es ist 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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die Synergie der Rumpf- and Beinbewegungen vollkommen aufgehoben. 
Wenn man ihn cncrgisch auffordert, kleinere Schritte zu machen, so wird 
es allmahlich wohl etwas besser, aber es fehlt ihm jedes Bewusstsein der 
Scbrittliinge, so dass er z. B. das Schwungbein direkt neben das Stand- 
bein oder binter dasselbe setzt. Jedenfalls weickt die Gehstdrung durch 
den maximalen Grad der Dysmetrie wesentlich von jeder bekannten ab. 
Sie lasst sich aber doch durch die Annahme einer ungewOhnlich betrficht- 
lichen StOrung bestiminter Kleinhirnfunktionen erklfiren. 

In der Rfickenlage ist die Bewegungsataxie nur angedeutet oder zeigt 
nur einen schwachen Grad. Koine Adiadochokinesis. 

1 . IV. 1916. Der Pupillarlichtreflex ist eher etwas abnorm lebhaft. 

Durch Konvexglfiser lasst sich ein Ausgleich der SehstOrung nicht 
herbeifQhren. 

Es besteht noch die Insuffizienz der Recti intcrni. 

Beim Vorhalten eines blauen Glases erklart er sofort, dass ihn das 
Licht nicht mehr so blendet. 

8 . IV. 1916. Um mit Sicherheit die Zufuhr von Giften zu verhQten. 
wird Pat. unter standiger Bewachung isoliert. 

5. IV. 1916. Er vermag heute die Augen, ohne dabei zu fixieren, 
nacb alien Richtungen fast in die Endstellungen zu bringen, wenn man 
ihn auffordert, nach rechts, links usw. zu sehen. 

Nahrungsaufnahme etwas bosser. 

6 . IV. 1916. Beim spontanen Zeigeversuch fahrt cr mit dem Zeige- 
finger weit fiber das Ziel hinaus, aber die Richtung wird dabei korrekt 
innegehalten. Dysmetrie ahnlich wie bei den Bewegungen der Beine. 

Er habe das Geffihl, als ob das Bett in seitlicher Richtung hin and 
her schwanke. 

Er macht hfiufig pflfickende Bewegungen mit den Handen auf der 
Bettdecke. 

9. IV. 1916. Beim spontanen Zeigeversuch erhebliche Dysmetrie, in¬ 
dent die Hand ohne Deviation weit fiber das Ziel hinausschiesst 

Augenbewegungen jetzt erheblich gebessert, nur nach oben etwas be- 
schrfinkt. 

12. IV. 1916. Es ist im Laufe der letzten Tage wiederholt zu 
Temperatursteigerungen bis fiber 38,2° gekommen. Einigemal schien 
sich diese Steigerung an eine kfirperliche Leistung anzuschliessen. Grosse 
Unruhe in den Handen. Der Strabismus divergens besteht noch. Der 
LichtQberempfindlichkeit entspricht ein besonders lebhafter 
Reflex sowie eine starke Trfinensekretion. 

Die Gehstdrung ist genau noch so wie sie gewesen ist, ebenso hoch- 
gradig und von demselben Charakter. Es ist, als ob ihm jede Kenntnis 
und jede Abschatzung der Bewegung der Beine beim Gehen fehle und als 
ob es des extremsten AusmaBes der Bewegungen bedflrfe, um ihm fiber- 
haupt ein Geffihl davon zu verschaffen, dass er die Beine bcwegt. Es 
fehlt ihm ferner dabei jeder Halt im Rumpfe, so dass er schon beim Stehen 
der doppelseitigen Unterstfitzung bedarf. Er knickt soust vOllig in sich 
zusammen. Er macht dann mit dem Schwungbein zunachst einen unsicher 
tastenden Schritt, der entweder sofort flbermfissig gross ausffillt oder erst 
bei dem zweiten Versuch. Und zwar ist es dann, als ob er fiber eine 
grosse Barriore hinwegsetzen wollte. Beim Niedersetzen des Beins wird 


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S Oppenhelm 

dieses dann im Kniegelenk abnorm durchgedrflckt. Ebe er das Standbein 
vom Boden bringt, vergebt oft eine Weile; dabei koramt es auch vor, dass 
der Fuss sich am anderen verhakt and dass er mit der Rttckfl&che der 
Zehen den Boden berflbrt. 

Sehen unver&ndert. 

Im Sitzen Schwindel, schwankende Bewegungen des Kopfes und 
Rumpfes. 

Die Rewegungsataxie der Beine im Liegen ist eine ganz unerhebliche, 
nur beim Erheben und Niederlassen kommen ein . paar unregelmassige 
Schwankungen vor, und er legt nicht das eine Bein neben das andero, 
sondern streift damit das ruhende Oder legt den einen Fuss ttber den 
andern. Er kann aber auch auf Aufforderung das Bein ein oder zwei 
Fuss hoch erheben, einen Kreis in die Luft beschreiben, der allerdings 
eckig ausfallt. 

Die Unruhe in den Handen kennzeichnet sich teils als Zittern, teils 
als' Zucken. 

25. IV. 1916. Inzwischen hat Pat. an einer Gesichtsrose gelitten, die 
abgeheilt ist. 

Die motorische Unruhe in Handen und Fflssen ist noch sehr ausge- 
sprochen. 

Von einer Zitrone, die in ziemlich grosser Entfernung vom Auge ge- 
halten wird, erkennt er die gelbe Farbe,' ebenso die rote Farbe eines 
Buches. 

Handbewegungen sieht er jetzt auf die ganze Entfernung 
des Zimmers. Bei alien diesen Angaben ist er exakt und ver- 
wickelt sich niemals in Widerspriiche. Er ist sehr schreckhaft, und 
im Anschluss an den Schreck nimmt die Bewegungsunruhe zu. 

Die seitlichen Augeneinstellungen sind jetzt ziemlich vollkommene, 
wahrend die Blicklahmung nach oben noch nicht ,ganz zurflckgegangen ist, 

26. IV. 1916. Er ist in den letzten Tagen von grosser Erregthcit; 
behauptet, dass die Schwester ihn schlecht bchandelc; er verlangt die 
ausserste Schonung, es darf sich im Zimmer nichts rtthren. Die moto¬ 
rische Unruhe hat sich gesteigert. 

27. IV. 1916. Von seiner Schrittlange will er keine Empfindung 
haben. Er kOnne jetzt unterscheiden, ob er eine Krankcnschwester oder 
einen Soldaten vor sich babe. Die Empfindlichkeit gegen Licht hat sich 
verringert, nur die grelle Sonne bereitet ihm Scbmerzen. Die GehstOrung 
hat noch denselben Charakter. Im Sitzen vermag er aber auf Aufforderung 
Schrittbewegungen im kleinen Umfang auszuftthren. Macht er aber im 
Stehen Schrittbewegungen, so tritt die Inkoordination wieder zutage. 

Er hat im Sitzen das Gefflhl des Schwankens, als ob ihm der Boden 
unter den Fflssen fehle. Er ist beim Sitzen darauf angewiesen, sich mit 
den Handen an der Stuhllehne festzuhalten. Auffallend ist noch, dass 
die spontanen Blickbewegungen ganz fehlen. Wahrend er sitzt, 
besteht ein leichtes Hin- und Herschwanken des Rumpfes. 

1. V. 1916. Er kann nur unterscheiden, ob er viel oder wenige 
Finger sieht, aber die Zahl nicht angeben. 

5. V. 1916. Die Nahrungsaufnahme ist jetzt eine bessere, seitdem cr 
taglich 3 Zigaretten erhalt. (das Rauchen war ihm vorher verboten worden). 

12. V. 1916. Er ist seit einiger Zeit wieder in dem gcmeinschaft- 


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Zur Kenutais der Veronalvergiftung usw. 


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lichen Offizierzimmer. Er wnrde heate nacht am Boden gefunden; wie er 
hingekommen, ist nicht festznstellen; er hat dann noch eine Stunde lang 
hallaziniert von einem Mann mit, schwarzen FlOgeln, der ihn verfolge. 
Heute frOh ist er wieder klar. Er macht immer daranf anfmerksam, dass 
er nur die sich bewegenden Gegenst&nde sehe, nicht die ruhenden. Es 
wird ein HOrrohr vor scinen Augen bewegt, und dann ein Blumenstrauss 
in einer Vase. Er erkennt an dem letzteren die grOne Farbe und auch, 
dass er weit grosser ist als das HOrrohr. 

15. V. 1916. Harn ei weiss- und zuckerfrei. Auch ist Veronal nicht 
mehr nachweisbar. 

20 . V. 1916. Die Schlaflosigkeit ist wieder stfirker und hartniickiger. 

GegenstOnde wie eine Uhr werden noch nicht erkannt. 

Die GehstOrung ist entschieden geringer geworden. Er macht zwar 
noch die Riesenschritte, aber es fehlt die vollkommene Asynergie. Er 
hakt nicht mehr mit dem einen Fuss an dem andern fest usw. Erst nach- 
dem er cinmal durch* das Zimmer gegangen, kommt — wohl als Er- 
mttdungssymptom ■— die GehstOrung in frOherer Intensitflt wieder. 

Augenhintergrund normal. 

Vom Gesicht kann man durch Beklopfen jeder Stelle einen starken 
Lidrcflex auslOsen. 

26. V. 1916. Eine Besserung dcs SehvermOgens hat sich in der 
letzteren Zeit darin zu crkennen gegeben, dass er zum erstenmal die 
weisse Tasse auf seinem Tisch (also einen ruhenden Gegenstand) gesehen 
hat. An einem vorgehaltenen HOrrohr, welches in Bewegung gesetzt wird, 
greift er zunftchst immer nach rechts vorbei, erst nach und nach gelingt 
es ihm, den Gegenstand sofort zu erfassen, namentlich wenn man ihn etwas 
schneller bewegt. 

16. VI. 1916. In der Nacht vom 13. zum 14. war er auf die Toilette 
gebracht worden, wo er Erbrechen hatte. Als er wieder im Bett war, 
stellte sich ein Zittern am ganzen KOrper ein mit Bewusstlosigkeit, indem 
er nach Aussage der Schwester gar nicht auf Anruf reagierte. Am 
nachsten Morgen wu3ste er von dem ganzen Vorgang in der Nacht nichts; 
er meinte nur, dass er sehr schlecht geschlafen und getrfiumt habe, er 
fflhle sich am Morgen besonders mtlde und abgespaunt. Er wird seit dem 
14. Juni am Kopf galvanisiert; er gibt an, keine Lichtblitze vor 
den Augen dabei zu haben. 

20. VI. 1916. In der Nacht vom 19. zum 20. Juni soli er plOtzlich 
aus dem Bett gesprungen und blitzschnell zur TOr, die etwa 3—4 Meter 
vom Bett entfernt ist, gelaufen sein. Die TOr soli er aufgerissen haben, 
dann fiel er um, so dass der OberkOrper ausserhalb des Zimmers, der Unter- 
kOrper im Zimmer lag. Er schrie laut und schlug um sich, war ganz 
steif am KOrper. Der Anfall dauerte ca. *l 4 Stunde. Nachdem er zu Bett 
gebracht war, machten sich noch starke Zuckungen bemerkbar. Nach 
*/ 2 Stunde schlief er ein. 

Er hat sich am andern Morgen nicht nach diesen Vorgftngen er- 
kundigt, war nur sehr mode und besonders schlafbedOrftig. Das Laufen 
vom Bett zur TOr hat der KrankenwOrter beobachtet, der bei ihm Nacht- 
wache hat. Die Mitteilung stammt teils von ihm, teils von der Schwester, 
die herbeigerufen wurde. Die TOr soli sicher nicht aufgestanden haben, 
so dass er irgcndwie die Klinke geOffnet haben muss. 


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23. VI. 1916. Er lernt jetzt allein zu stehen, indem er sick init 
den Handen am Bettrand festhalt, er vermag sich dann auf den Stuhl, der 
hinter ihm steht, zu setzen und wieder aufzustehen, indem er sich in 
gleicher Weise mit den Handen am Bett festhalt. Das Sehen hat sick 
wohl kaum gebessert, der Allgemeinznstand ist aber ein besserer geworden. 
— Er wird jetzt bei sckOnem Wetter taglich far 1 Stande in den Garten 
getragen. 

5. VII. 1916. Die Gehstdrung hat noch denselben Charakter. Es 
fallt als ein nenes Moment dabei das starke HintenOberlegen des Kumpfes 
auf. Wenn Patient, wie der Warter angegeben, einmal vom Bett bis an 
die Tttr gelaufen ist, so wttrde daraus bcstimmt hervorgehen, dass die 
Gehstdrung eine hysterische ist. 

Gegenwartig beim Sitzen ein andauerndes Wippen des Rumpfes. 

Im Gehstuht dieselben Stdrungen wie beim Gehen mit UnterstQtzung. 

26. VII. 1916. Klagt viel ttber Kopfschmerz. Besonders gebessert 
habe sich das Farbenerkennen, so dass er selbst.auf wcite Entfernung 
Blumen sehe, das Abendrot des Himmels usw. in dem Reflex des Fensters. 
Die ruhende Hand des Untersuchenden sieht er auch in unmittelbarer Nahe 
nicht, dagegen wohl die sich bewegende. Sein Vcrhalten bei der Seh- 
prttfung entspricht durchaus dem bei organiscker Amblyopie. Es besteht 
immer noch ein leichter Strabismus divergens; er kann aber jetzt die 
Augen nach alien Richtungen einstellen, Dur macht er darauf aufmerksam, 
dass es nach oben langsamer geht als nach unten, ebenso nach links ctwas 
langsamer und unvollkommener als nach recbts. 

Beim Gehen sei ihm jede Ffthigkeit, die Schrittlangc abzuscbatzen, ab- 
handen gekommen. 

Ophthalmoskopisch absolut normal, ebenso Pupillenreaktion. 

25. VIII. 1916. Patient wurde heute in unserem (Oppenhcim, 
Kalischer und Dr. LOwenstein) Beisein von dem Augenarzt Prof. S. 
untersucht. Er nahm eine genaue Untersuchung des Augenhintergrundes 
sowie eine eingehende Sehprttfung vor. Dabei war Patient in alien seinen 
Angaben durchaus exakt und verwickelte sich in keiner Weise in Wider- 
sprQche. 

Es zeigte sich, dass er Handbewegungen ttberall erkannte, 
wenn auch unter einer m&ssigcn Einengung des Gesichtsfeldes. 
Finger vermochte er annahernd richtig zu zahlen oder er unter- 
schied wenigstens, ob es raehrere oder einzelne waren. GrOssere 
Gegenstande lokalisierte er im Gesichtsfeld, erkannte auch 
beim Vorhalten einer Uhr, dass es ein gelber Gegenstand, z. B. 
ein Ring sei. Messer erkannte er nicht, Streichholzschachtel am Geriiusch. 

Bei dieser Untersuchung sah man, wie er das Gesichtsfeld mit den 
Augen abtastete. 

Prof. S. kam zu dem Ergebnis, dass sicher keine orgauisch bc- 
dingte Sehstdrung vorliege, aber ebensowenig eine simulierte oder ein- 
gebildcte. Am ehesten liesse sich der Zustand der uramischen Amau- 
rose vergleichen, es sei eine funktionelle StOrung im Sehzentrum anzu- 
nehmen. 

Er wurde dann auf die Schrift bzw. die Art des Schreibens des 
Patienten aufmerksam gemacht, die allerdings (s. die abgebildete Probe, Fig. 1) 
etwas Uberraschendcs hatte. Seit den letzten Wochen schreibt Patient 


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Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw. 


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n&mlich ziemlich flott and geschickt, indem er mit dem Daumen der linken 
Hand den Rand des Papieres abtastet and aaf diese Weise den Anfang 
sowie die richtige Distanz zwischen den Zeilen bestimmt. Dabei sind die 
Unregelmassigkeiten in der Linienfdbrung auffallend gering. 

Als Prof. S. sich davon ttberzeugte, war er zunSchst geneigt, anzu- 
nebmen, dass Patient doch mehr sehe als er glaube, und es wtlrde dadurch 
doch wieder der Verdacht einer hysterischen Amaurose nahegelegt werden. 
Nun warde das Experimentum Crucis gemacht: es wurden dem Patienten 
die Augen verbunden und es zeigte sich, dass er mit verschlossenen Augen 
in derselben Weise schrieb wie mit geOffneten. So wurde der Verdacht 
der hysterischen Amaarose wieder hinf&llig and das ursprflngliche Urteil 
aufrecht erhalten. 



at CA. LflyvkU* 

M '*Laa0^'Aa & *^4- vi (kA'i *1 qAa _ 

Olaa. W* UaT- Ca 


Fig. 1. 


Prof. S. erwahnte noch, er babe schon beim Hereinkommen an dem 
Blick des Patienten an der Divergenz der Augapfel und dem ganzen 
Verhalten erkannt, dass eine wirkliche SehstOrung vorlage. 

30. VIII. 1916. Auf einer Photographie, die vor seiner Aufnahme 
in das hiesige Lazarett gemacht sein soli, ist der Strabismus divergens 
anscheinend schon angedeutet, so dass dieses Moment fflr die Beurteilung , 
der Sehstdrung vielleicht in Wegfall kommt. Auf einer anderen, die allerdings 
weniger deutlich ist, tritt das nicht kervor. 

Beim Stehen — ohne Sttttze — fallt er sofort hintenftber und gibt 
als Erkiarung, er wisse gar nicht, wo er den Hebei ansetzen solle. Er 
klammert sich dabei mit den Handen an und hat das Geftthl der Unsicher- 
heit und dass ihm alles vor den Augen verschwimme. Dabei starkes 
Herzklopfen, Pulsfrequenz 40 in der Quart, Puls klein. 


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Es ist ihm mitgeteilt worden, dass er vor einigen Wochen einmal 
nachts im Tranm zar Tttr gegangen sei. Er sagt, er kdnne sich das nicht 
erklaren, aber er erinnere sich, dass er von einem Brande getraumt habe. 
Die Art der GehstOrung ist vollkommen unverftndert. 

10. X. 1916. Von Farben wird hente grttn nicht erkannt. 

Die vorgehaltenen H&nde sieht er nnd unterscheidet auch, 
ob es eine Oder zwei sind, aber nur wenn sie bewegt werden. 

Vor einer Woche wurde er im Fabrstuhl in den Konzertsaal herunter- 
gefahren. Dabei trat ein OhnmachtsgefQhl und Verwirrung ein, nachher 
Ubelkeit und Brechreiz. An einem der nkchsten Abende hat sich das 
wiederholt. Seitdem hat er das Bett nicht mehr verlassen. 

17. X. 1916. Er klagt darQber, dass beim Liegen auf der rechten 
Seite das rechte, beim Liegen auf der linken Seite das linke Auge tr&ne. 
Puls augenblicklich normal. 

Seit 4 Tagen raucht er nicht mehr auf Wunsch des Arztes, meint 
aber, er sei seither unruhiger geworden. 

23. X. 1916. Er klagt aber ein Gefahl der Eiskfilte in den FQssen, 
nachdem er l&ngere Zeit aufgewesen. 

Auf die Aufforderung, seine Kriegserlebnisse schriftlich zu schildern, 
erwidert er, das ginge leider nicht, er habe es schon versucht, er werfe 
aber alles durcheinander. Die Desorientierung beziehe sich sowohl auf 
Zeit wie auf Ort. 

Das optische VorsteHungsvermOgen soli gut sein. Auch seine mathe- 
matische Fahigkeit und Gedachtnis haben keine StOrung evlitten. 

Er versucht jetzt, bei einer Pflegerin italienisch zu lernen. 

Bericht iiber den weiteren Verlauf von Prof. Kalischer. 

Im November 1916 war keine wesentliche Anderuug eingetreten. 

Anfang Dezember wurde eine suggestive Behandlung mit Hilfe 
starkerer faradischer StrOme begonnen. Es war dem Patienten vor- 
her gesagt worden, dass die Behandlung etwas schmerzhaft sein wttrde, 
dass aber jetzt der Zeitpnnkt eingetreten sei, in welchem es mOglich ware, 
ihm das Stehen und Gehen ohne Hilfe und UnterstQtzung wiederzugeben. 

Der ROcken wurde kurze Zeit mit der faradischen BOrste elektrisiert. 
Der Patient machte lebhafte Schmerzensausserungen. Ubrigens war die 
Starke des angewandten Stromes durchaus nicht dem Kaufmannschen 
Verfahren entsprechend, der Strom war nicht starker, als dass ihn jeder 
willenskraftige Mensch ohne jede Schmerzensausserung aushalten konnte. 
Die Behandlung wurde an ca. 5 Tagen zur AusfQhrung gebracht. Un- 
mittelbar nach dem Elektrisieren wurden Gehversuche unternommen, die 
von Tag zu Tag besser ausfielen. Zunachst wurden die Sckritte kleiner. 
Er vermochte — allerdings unter lebhaftem Schwanken des OberkOrpers — 
einen Augenhlick allein, sich nur wenig mit den Handen am Tisch fest- 
haltend, zu stehen. Dann begann er im Laufstulil zu gehen, die Besserung 
"ing jetzt schnell vorwarts. Anfang Januar 1917 vermochte er schon mit 
UnterstQtzung zweier StOcke (vorher mit Hilfe zweier KrQcken) zu gehen. 
Die Sicherheit nahm weiter zu, so dass er etwa von Mitte Januar an — 
mit 2 StOcken — die Treppe herauf- und heruntergehen konnte. 

Februar 1917. Er vermag jetzt auch ohne StOcke etwas zu gehen; 
hat dabei noch das Gefahl der Unsicherheit, ebenso beim Stehen ohne 
StOcke, wobei es zu einem leichten Schwanken des OberkOrpers kommt. 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung u9w. 13 

Status (3. II. 1917). Sehnenphanomene an den Beinen leicht erhbkt. 
Keine spastischen Reflexe, kein Patellar- oder Fussklonus. 

Geftthl far Bertthrungen und Nadelstiche ungestdrt bis auf leickte 
LagegeftlhlsstOrung in beiden grossen Zehengelenken, insbesondere wird die 
Dorsalflektion derselben nicht richtig gewertet. 

Es besteht ohne Zweifel noch eine Ataxie in den Beinen: der Knie- 
backenversuch sowie das Herunter- und Herauffahren des Fusses auf der 
Tibiakante wird unter wackelnden Bewegungen ausgeftthrt, ja es kommt 
vielfach noch zu weiter ausfahrenden Bewegungen, auch wenu man diese 
Versuche langer fortsetzt, um eine Ubung herbeizuftthren. Lagegefttbls- 
stttrung in den grossen Gelenken der Beine besteht nicht; jede Stellung 
des einen Beins wird mit dem andern richtig wiedergegeben. Bauch- 
decken- und Kremasterreflex beiderseits gleich und lebhaft. 

In den Handen bzw. oberen Extremit&ten keine Stdrung, insbesondere 
keine Ataxie. 

Die Hande werden ruhig gehalten; Flockenlesen u. dgl. besteht 
nicht mehr. 

Augenhintergrund normal. Keih Nystagmus. Farben werden besser 
wie frtther erkannt. Er vermag besser wie frtther, Gegenstanden, die vor 
ihm bewegt werden, mit den Augen zu folgen. 

Beim Blick geradeaus werden die Gegenstande zumeist einfach ge- 
sehen, beim Blick nach links und rechts besteht Doppelsehen, und zwar 
stehen beim Blick nach links die Bilder ttbercinander, beim Blick nach 
rechts nebeneinander. Doch ist das Verhalten kein ganz gleichmassiges. 
Auch beim Blick geradeaus bestand dfters Doppelsehen. 

Im ganzen hat man den Eindruck, dass der binokulare Sehakt (die 
Vereinigung der Bilder) fehlt. 

Er vermag Obrigens noch keinen Gegenstand zu erkennen; 
er kann nur aussagen, ob er glanzend ist, welche Farbe er hat, 
und auch das nur mit Fehlern. 

Sein Tastgeftthl und sein GehOr ist ungemein fein geworden. 
Um ihn dazu zu veranlassen, den Gesichtssinn zu gebrauchen und zu ttben 
und sich nicht vom GehOr leiten zu lassen, ist in letzter Zeit begonnen 
worden, die GehOrgttnge mittels geeigneter Apparate zu verschliessen, so 
dass er sich durch feinere Ger&usclie nicht mehr leiten lassen kann (auf 
Grund von K.s tierexperimentellen Erfakrungen). 

Es war frtther schon aufgcfallen, dass er bei Galvanisation des Kopfes 
nie Lichtempfindungen hatte. Diese Erscheinung ist auch bisher nicht ein- 
getretcn. 

Die Herztatigkeit ist eine ruhigere geworden. 

Wahrend noch bei Beginn der Geh- und Stehversuche eine ziemlich 
erffeblicbe Tachykardie eintrat, ist dieselbe jetzt nicht mehr vorhanden. 

Die Stimmung ist jetzt eine weit bessere und gleichm&ssigere wie 
frtther. Erregungszustande hat er nicht mehr gehabt. Sein Appetit ist 
besser wie frtther. 

Von Interesse ist es, dass er trotz eifrigen Bemtthens und immer 
wiederkolter Versuche es frtther nicht fertiggebracht hat, schwimmen zu 
lernen. Ob sein Gleichgewichtszentrum — ganz allgemein ausgedrttckt — 
von vornherein nicht auf der HOhe stand, und damit gleichsam eine ge- 
wisse Disposition zur Erkrankung bzw. grOssere Labilitat desselben be- 


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stand, in ahnlicher Weise vrie man das Befallensein des Gesichtssinns auf 
eine Disposition zur Erkrankung infolge des ttberm&ssigen Nikotingenusses 
zurfickftlhren kSunte? 

Bauchreflexe jetzt lebhaft. 


Der 19jahrige H. kam im Oktober 1914 als Kriegsfreiwilliger 
von der Schule ins Feld, machte im Februar 1915 einen Offizierknrsus 
durcb, kehrte dann im April wieder an die Front zuriick, war an der 
Lorettohohe dem Trommelfeuer ausgesetzt, erlitt Ende Mai eine Ver- 
schiittung von nur kurzer Dauer. Danacb stellten sicb nervose Be- 
schwerden ein: Kopfschmerz, Unrobe, Schaflosigkeit, Herzklopfen. 
Bei den ersten ambulanten Untersucbungen hatte icb den Eindruck, 
t dass ein leichter Hyperthyreoidismus vorliege; spater lautete die 
Diagnose Neurasthenie oder Hysteroneurasthenie. Nacb erfolg- 
loser Bebandlung mit Antithyreoidin und Luftkur erfolgt am 16. II. 
1916 die Aufnabme in die Nervenstation des Res.-L. Kunstgewerbe- 
museum. 

Scbon langere Zeit vorber batte die Schlaflosigkeit Anlass zu un- 
kontrolliertem Veronalgebrauch gegeben. Wie gross die ange- 
wandten Mengen waren, ist nicht festzustellen. Ausserdem hat der 
Patient iibermassig stark geraucht (Zigaretten) und — angeblicb weil 
er nicbt schlafen konnte — in letzter Zeit nachts lange gebummelt, 
obne jedoch stark zo trinken. 

Ab und zu fiel an ihm eine gewisse Schlaftrunkenheit auf, sowie 
eine Unsicherheit in den Bewegungen (nachtraglicbe Angaben der 
Kameraden, die mit ihm das Zimmer teilten). Am 2S. Marz hat er 
dann eine grosse Menge Veronal auf einmal eingenommen *); es konnte 
das freilicb nur aus den Folgeerscheinungen und besonders aus dem 
Befunde grosser Veronalmengen im Urin erscblossen werden. Ausser¬ 
dem fanden sich bei ihm leere Veronalgefasse. Dass der Missbrauch 
ein starker gewesen, ging auch aus der langen Dauer der Veronal- 
ausscbeidung, die sich wenigstens auf einige Wochen erstreckte, hervor. 

Als unmittelbare Folgen der Veronalintoxikation— die^als 
Kombination des chroniscben Missbrauchs mit der akuten Vergiftung 
angeseben werden muss — fanden sich die nachstehenden Symptome: 
Soporoser Zustand von ca. dreitiigiger Dauer. Es ist moglich, 
dass das erste Stadium, das nicbt zur arztlichen Wahrnehmung ge- 
langte, durch ein tieferes Koma gekennzeichnet war. Dann folgte ein 

1) Ob eine selbstmbrderische Absieht dabei vorgelegen oder ol» ein Ver- 
wirrungszuatand beatanden hat, konnte nickt ermittelt werden. 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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Zustand, der sich als tiefer Scblaf und schwere Schlaftrunkenheit 
charakterisierte. Durch heftiges Schfitteln, Anscbreien, Bespritzen usw. 
konnte er voriibergebend soweit geweckt werden, dass er lallend ein 
paar Worte sprach, auch etwas Flfissigkeit zu sich nahm, aber sich 
doch dabei verschluckte, um sofort wieder in tiefen Schlaf zu ver- 
sinken. Sein Lacheln und« einzelne Ausserungen der nachsten Tage 
deuteten auf Traume bzw. Delirien heiteren Inbalts. In dieser Peri- 
ode waren alle Keflexe (speziell auch die Pupillenreaktion, die nur im 
ersten Moment des Erwachens zu fehlen schien) bis auf den Bauch- 
reflex erhalten. Zu den krankhaften Erscheinungen gehorten: Oli- 
gurie, subnormaie Temperatur, relative Pulsverlangsamung 
und, sobald das sich aufhellende Sensorium eine Priifung gestattete: 
Nystagmus, Ptosis, Augenmuskellahmung. Die Diagnose 
schwankte anfangs zwischen Intoxikation und Tumor cerebri, bis der 
Nachweis der Veronalurie schnell jeden Zweifel beseitigte. 

Mit dem langsamen Weichen der Somnolenz am dritten Tage 
tritt dieNeigung zur Verwirrtheit und zn leichten DeErieren deutlicber 
zutage. Die anderen Erscheinungen bestehen fort. Die Ptosis und 
der Nystagmus treten vom vierten Tage ab zuriick, aber es bleibt die 
Augenmuskellahmung, die sich als Beschrankung der Blickbewegungen 
nach den Seiten und nach oben und besonders als Insuffizienz der 
Recti interni mit Strabismus divergens kennzeichnet. Ein leichter 
Grad der Insuffizienz scheint nach einer Photographic schon friiher 
bestanden zu haben, doch ist das nicht sicher. 

Vorfibergehend treten unklare und unkontrollierbare Angaben 
fiber Diplopie hervor und dann als das nun hervorstechendste und 
hartnackigste Symptom eine der Amaurose nahekommende Am- 
blyopie. 

Das zweite in dcr Folgezeit die Symptomatologie beherrschende 
Zeichen ist eine ungewohnliche Form der Gehstorung bzw. der 
Gleichgewiehtsstorung. 


Ehe ich mich der naheren Betrachtung dieser beiden Erschei¬ 
nungen, die sich als uberaus hartnackig erweisen, zuwende, will ich 
das Wesen und die Grundlage der bisher angefuhrten Symptome zu 
erlautern versuchen. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass das bei unserem Patienten 
am 29. Februar 1916 und in den folgenden Tagen hervorgetretene 
Symptombild im wesentlichen auf die Veronalvergiftung zurfick- 
zuffihren ist. Daffir spricht nicht nur der sichere Nachweis derselben, 
sondern vor allem auch der Symptomenkomplex selbst. Wenn man 


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von den Fallen schwerster Vergiftnng, besonders den todlich ver- 
lanfenen, absieht, in welchen tiefes Koma bestand und wahrend des- 
selben alle Reflexe and Sehnenphanomene (selbst dann nicht immer 
die Papillenreaktion) erloschen war, bandelte es sich in der Regel 
wie bei nns um einen Zustand, der dem des tie fen Scblafes ahnlich 
war, wie das besonders die Zusammenstel^ung and die Ausfuhrungen 
von Steinitz *) lehren. Er unterscheidet sich von dem physiologischen 
einmal durch seine lange Dauer, dann dadurch, dass der Kranke nicht 
vollig zu erwecken, sehr schlaftranken ist und gleich wieder wie. im 
schweren Rausch in den Schlaf zuriickfallt. Dabei machen sich oft 
entsprechend unserer Beobachtung heitere Delirien bemerklich,'wie 
das schon von Laudenheimer 1 2 ) und besonders in mebreren Fallen 
von Steinitz festgestellt worden ist. Zu den weiteren Merkmalen 
dieses Stadiums gehort die Oligurie und oft auch die Temperatur- 
storung. Wie bei unserem Patienten, so trat die erstere in den von 
Hald 3 ), Morchen 4 ), Laudenheimer, Nienhaus 5 ), Steinitz u. a. 
beschriebenen Fallen in die Erscheinung. Beziiglich des Verhaltens 
der Eigenwarme entsprechen einige der vorliegenden Erfahrungen 
den in unserem Falle beobachteten Tatsachen, indem anfangs eine 
subnormale Temperatur bestand, wahrend es spater wiederholentlich 
zu Steigerungen kam. Untertemperatur (35,4—35,5) wurde von Um¬ 
ber 6 ) wahrend der ersten 24 Stunden, femer von Geiringer 7 ) sowie 
besonders in mehreren Fallen von Weitz 8 ) (T. 35,0°, 33.8°, 35,1°) 
nachgewiesen, ausserdem experimentell am Tier von Kleist 9 ), Stei¬ 
nitz, Jacoby 10 ), (und Romer) und von Grober 11 ) festgestellt. 

In den klinischen Beobachtungen ist das Verhalten ofter dadurch 
verwischt worden, dass sich gerade in den schweren Fallen Sckluck- 
pneumonie oder ein anderer fiebererregender Zustand entwickelte. 
Aber auch abgesehen davon kam es mehrfach zur Hyperthermie. Man 


1) /ur Symptomatologie, Prognose und Therapic der akuten Veronalver- 
giftungen. Therap. d. Geg. 1908. 

2) Therap. d. Geg. 1904. 

3) Zentr. f. Nerv. 1904. 

4) Therap. Monatschr. 1906, Nr. 4. 

5) Korresp. f. Sehweizer Arzte 1907. 

6) Uher Veronal und Veronalvergiftung. Med. Kliuik 1906, Nr. 48. 

7) Wien. klin. Wochensehr. 1905. 

8) Vier Falle von Veronalvergiftung. Festschrift. Das allgem. Kranken- 
haus &t. Georg in Hamburg 1912. 

9) Therap. d. Geg. 1904. 

10) Arch. f. exp. Pharm. 1911 (ref. Therap. Monatschr. 12). 

11) Biochem. Zeitschr. 1911. 


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Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw. 


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kann also sagen, dass durch die Ver onalintoxikation das die Eigen- 
warme regulierende Zentrnm aus dem Gleichgewicht gebracht wird. 
Die Pulsverlangsamnng entspricbt der Hypothermie, doch ist fiber 
diesen Punkt der Literatar wenig za entnebmen. 

Aach die Neigung za motoriscber Unruh'e (Jaktation usw.) 
und vasomotorischen Storungen, wie sie bei unserem Patienten zu- 
tage traten und verhaltnismassig lange Zeit fortdauerten, ist von 
Anderen (Schneider 1 ), Klausner 2 ), Steinitz und besonders Wol- 
ters 3 )) beschrieben worden. Am konstantesten scheint darunter die 
Zvanose des Gesichts zu sein. Bei unserem Patienten handelte es 
sicb um eine diffuse Rotung des Gesichts, sowie um eine Neigung zu 
fleckformiger Rotung an anderen Korperstellen, verbunden mit Juck- 
reiz, wie sie fibrigens auch sonst bei Neuropatben baufig yorkommt. 

Aucb die gastriscben Symptome, besonders die Anorexie und das 
Erbrecben, sind dem Bilde der Veronalintoxikation nicht fremd. 

In bezug auf die Sensibilitat deckt sicb unsere Beobachtnng 
mit alien fibrigen insofern, als sie sicb in alien Stadien als intakt er- 
wies (abgesehen von einer einmal nachgewiesenen unbedeutenden Sto- 
rung des Lagegefiihls). 

Auf das Verbalten der Reflexe habe icb noch einmal zuriickzu- 
kommen. 

Steinitz fand im komatosen Stadium den Komealreflex erloschen 
und erblickt darin ein charakteristiscbes Zeichen. Das dtirfte wohl 
nur ffir die scbwersten Falle Gfiltigkeit haben. Bei uns ist erst am 
funften Tage, also gleich nach Ablauf des ersten Stadiums, in der 
Krankengeschichte angefuhrt, dass der Komealreflex erhalten ist. Icb 
balte es zwar ffir wabrscbeinlicb, dass der Reflex scbon im soporosen 
Zustand geprtift und nicht erheblich abgeschwacht gefunden ist, aber 
icb kann das nicbt behaupten. Von Interesse ist das Fehlen des 
Bauchreflexes bei einem jungen Menscben mit straffen Bauchdecken. 
Und zwar erhalt dieses Symptom dadurch Bedeutung, dass es aucb 
von Weitz (1. c.) sogar in mehreren Fallen nachgewiesen worden ist. 

Es wird kunftig darauf zu achten sein, ob wir es hier mit einem 
typischen Merkmal zu tun haben und wie lange es bestehen bleibt. 

Ich komme nun zu den Erscheinungen am Augenmuskel- 
apparat, die ein besonderes Interesse beanspruchen: der Ptosis, dem 
Nystagmus und der Lahmung der Bulbusmuskulatur. Das Symptom 

1) Prager med. Wochenschr. 1907. 

2) Fortsckr. d. Med. 1910. 

3) Uber Veronal und Veronalexantheme. M. Kl. 1908. S. auch Ziehen, 
D. m. W. 1908. 

Deutsche Zcitsclirift f. Nervcnheilkunde. Bd. 57. “ 


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IS 


Oppenheim 


der Ptosis ist zwar bei einem schlaftrunkenen Menschen schwer zu 
konstatieren; die Beurteilung bezog sicb aber auf die Momente des 
Erwachens, ausserdem zeugte die Anspannung der Frontales fur die 
Ecbtheit der Ptosis. In iiberzeugender Deutlichkeit ausgesprochen war 
der Nystagmus, der besonders in vertikaler Richtung erfolgte. 

Die Augenmuskellahmung kennzeiehnete sich als Beschrankung 
der Blickbewegungen ip der seitlicben Richtung und beim Blick 
nacb oben. War die Feststellung dieses Zeichens auch im Stadium 
der Somnolenz erscbwert und unsicher, so hat doch die weitere Be- 
obachtung jeden Zweifel beseitigt, zumal gerade diese Storung 
Wochen, ja z. T. wahrend der ganzen Leidenszeit bestand, wahrend 
die Ptosis und der Nystagmus sich scbon innerbalb weniger Tage 
zuriickbildete. 

0ber dieses Syndrom an der Augenmuskulatur ist in der vor- 
liegenden Literatur wenig Tatsachliches entbalten. A us den Be- 
obachtungen und der Zusammenstellung von Steinitz gebt wohl her- 
vor, dass Diplopie und „Sehstorung“ hier und da fliichtig erwahnt 
ist. „Auch Sehstorungen massigen Grades sind wahrscheinlich etwas 
ganz Regelmassiges, konnten aber meist leicht der Aufmerksamkeit 
entgehen, weil die Kranken wahrend der Rekonvaleszenz wohl keine 
Lesversuche machten.“ 'Nienhaus 1 ) berichtet iiber Doppelsehen und 
Caro in einer Diskussionsbemerkung iiber nicht naher beschriebene 
Sehstorung ... In Steinitz’ Beobachtungen ist zweimal davon die 
Rede, dass das Lesen gewohnlicher Schrift einige Tage lang unmog- 
lich war. DerAutor denkt dabei an Schwache des Akkommodations- 
rauskels. 

Mit diesen wenigen Notizen ware kaum etwas anzufangen, wenn 
nicht eine bemerkenswerte Beobachtung von Weitz vorlage, die sich 
fast vollkommen mit der unsrigen deckt. In bezug auf das Verhalten 
der Augenmuskulatur heisst es: 

„Augenlider halb gesenkt, werden nur mit offeubarer An- 
strengung beim Blick nach oben gehoben. An beiden Augen beim 
Blick gradaus starker Nystagmus, der beim Versuche, nach oben, 
unten oder seitwarts zu blicken, stark zunimmt. Beim Blick seit- 
warts beiderseits eine gewisse Abducensschwache und am rechten 
ausserdem Internusschwache; es besteht vollstandige Unfahigkeit zu 
konvergieren, dabei weicht stets das rechte Auge ab. Pupillenver- 
engung bei Akkommodationsversuch fehlt“ usw. 

1) Der Autor erwahnt nur die subjektive Beschwerde, die 3 Tage lang 
bestand, ohne dass er jedoch das Verhalten der Augenmuskulatur gepruft hat. 
Auch bei Klieneberger (Munch, ined. Wochenschr. 1905, Nr. 32) ist von 
„Doppelsehen“ die Rede ohne jede niihere Angabe. 


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Zur Kenntnis der Veronalvorgiftnng usw. 


19 


Der Zafall bracbte es, dass ich fast gleichzeitig mit der ge- 
schilderten Beobachtung zu einem andern Fall yon Veronalintoxi- 
kation (akut, in selbstmorderiseher Absicht) hinzugerufen wurde, in 
welchem ich ebenfalls einen echten Nystagmus feststellen konnte. 

Bei der grossen Seltenheit dieses Befundes ist es yon Interesse, 
sich die Frage vorzulegen, ob nocb andere Schadliehkeiten eingewirkt 
haben, die den Einfiuss des Veronals gest'eigeit haben und fur die 
Besonderheit der Symptomatologie verantwortlich gemacht werden 
konnten. 

Unser Patient war ein Neuropath, sein Neryensystem war be- 
sonders dnrch die Kriegsschadlichkeiten beeintrachtigt worden; ausser- 
dem hatte er namentlich in den letzten Monaten einem Abusns 
Nicot. gehuldigt.. Dieses Moment erhalt erst seine Bedeutung da- 
durch, dass es in dem yon Weitz mitgeteilten Falle in gleicher 
Weise eingewirkt hat. Sein Pat. war ebenfalls ein starker Ziga- 
rettenraucher (30—40 St. pro die). Dazu kam, dass er fast 14 Tage 
nichts gegessen, dagegen taglich 1 l j 2 —2 Flaschen Sekt getrunken 
hatte. 

Wenn es auch nach der Entwicklung, der Gesamtsymptomatologie 
und dem raschen Ablauf der Erscheinungen. in beiden Fallen nicht 
zu bezweifeln ist, dass die wesentliche Ursache des Krankheitszu- 
standes in der Veronalvergiftung zu suchen ist, so halte ich es doch 
fur recht wahrscheinlich, dass der Nikotin- und yielleicht auch der 
Alkoholmissbrauch (bei dem Pat. Weitz’) an der Gestaltung des 
Symptomenkomplexes beteiligt gewesen und dass speziell die Ent- 
stehung der okularen Symptome durch diese Gifte begiinstigt wor¬ 
den ist. — 

Ebe ich nun den weiteren Krankheitserscheinungen, die ganz aus 
dem Rahmen des Bekannten heraustreten, nachgehe, mochte ich die 
Frage erortern, wo der Sitz des Krankheitsprozesses bei dieser Form 
der Vergiftung zu suchen ist. 

Bei oberflachlieher Betrachtung weist das Hauptsymptom: der 
Sopor, auf die Hirnrinde. Beriicksichtigt man aber den gesamten 
Komplex der Erscheinungen: die Schlafsucht, die Temperatureroie- 
drigung, die vasomotorischen Symptome, die Pulsverlangsamung, die 
Oligurie, das Erbrechen, und ganz besonders die okulomotorischen 
Symptome (Ptosis, Nystagmus und Augenmuskellabmung), so wird 
man dazu gedrangt, an eine Schadigung der grauen Substanz im 
Zwischen- und Mittelhirn zu denken. Es ist ausser der toxischen 
Atiologie die auffallige Ahnlichkeit mit dem Symptombild der Polio¬ 
encephalitis haemorrhagica superior (und inferior), die uns 
zu dieser Annahme hinfiihrt. Ich will, um das zu yeranschaulichen, 

2 * 


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20 


Oppenheim 


die Darstellung wiedergeben, die ich im Anschluss an Wernicke, 
Thomsen u. a. in meinem Lehrbuch der Nervenkrankheiten von 
der Symptomatology dieser Affektion gegeben habe: „Das Leiden setzt 

akut ein und nimmt in der Regel einen akuten Verlauf. 

stellt sich eine Bewusstseinstriibung unter dem Bilde des Deliriums 
oder eine einfache Somnolenz mit Unrube ein. Seltener wurde 

Apathie und Schlafsucht konstatiert. Gleichzeitig entwickeln 

sich Lahmungserscheinungen an den Augenmuskeln — ofter 
assoziierte Lahmung —, die sich bis zu einer fast totalen Ophthal¬ 
moplegic steigern konnen, doch sind baufig einzelne Musk ein, wie 
der Levator palpebrae superioris und besonders der Sphincter iridis ver- 

schont. Auch eine an die zerebellare Ataxie erinnemde 

Gehstorung bildet ein gewohnliches Merkmal dieses Leidens. 

Die Sehnenphanomene sind normal oder gesteigert, sie fehlen nur aus- 
nahmsweise. Die Temperatur ist fast immer normal oder subnormal. 
Fieber ist ungewohnlich. Der Puls ist meist beschleunigt. 

„Eine starke Herabsetzung des Blutdrucks konstatierte Bing 
in einem unserer Falle.“ 

Diese Tatsache fuhre ich deshalb an, weil zu den experimentell 
erzeugten Erscbeinungen der Veronalvergifkung auch die Herabsetzung 
des Blutdrucks gehort. 

Wir finden somit eine weitgehende Obereinstimmung der Sympto- 
motologie, so dass es wohl berechtigt ist, als den Hauptangriffsort 
der Veronalvergiftung das Grau des Zwischen- und Mittel- 
hirnes anzusehen, wobei im Hinblick auf die vasomotorischen 
Storungen, die Oligurie, die Hypothermie usw. auch an den Boden des 
III. Ventrikels, das Tuber cinereum, die Regio subthalamica (Kar- 
plus-Kreidel 1 ), Aschner u. a.) zu denken ist. 

Freilich darf man das Zeichen der Oligurie nicht zu hoch be- 
werten, wenn man bedenkt, dass diese Individuen doch 1—2 x 24 
Stunden oder langer liegen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Von 
Polyurie ist nur einmal die Rede (bei Klieneberger), und sie scheint 
hier kaum pathologischen Charakter gehabt zu haben. — 

Zu den Krankheitszeichen, durch welche das Krankheitsbild der 
Veronalintoxikation in enge Beziehung zur Polioencephalitis haemorr- 
hagica Wernickes tritt, rechneten wir auch die Ataxia cere- 
bellaris. 

Es ist nun an der Zeit, auseinanderzusetzen, welche Rolle diese 
Erscheinung in unserem Falle gespielt hat. 

1) Arch. f. d. ges. PhysioL Bd. 129 (1909), 135 (1910) usw. 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw, 


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In der vorliegenden Literatur ist oft von dem taumelnden Gang 
die Rede, ohne dass eine weitere Beschreibung dargeboten'), obne 
dass die Stoning genauer analysiert wird. So wirft sicb nun die 
Frage auf, inwieweit die bei meinem Patienten beobachteten Erschei- 
nungen auf dem Gebiete der Koordination sicb den bekannten Er- 
fahrungen anreiben. Um sie zu beantworten, soli die Scbilderuog 
noch einmal wiedergegeben werden: Zum erstenmal ist am 16. 111., 
also ca. 2 Wochen nach Ablauf des komatosen Stadiums, von der 
Gleichgewichtsstorung die Rede. Ich nebme an, dass yorher Ver- 
suche, ihn aus dem Bett zu nebmen, nicht gemacbt worden sind. Es 
wird nun berichtet: „Er steht nur mit doppelseitiger Unterstiitzung. 
Beim Geben hochgradige Zerebellarataxie und Asynergie, namentlich 
auffallende Dysmetrie, indem er ganz ungewohnlich grosse — geradezu 
kolossale — Schritte macht.“ 

In der Riickenlage wurde zunachst keine grobere Storung in den 
Bewegungen der Beine konstatiert, docb ist diese Angabe spater etwas 
modifiziert worden. 

Am 31.111. beisst es: „Er kann jetzt etwas sicherer stehen, auch 
ohne Unterstiitzung. Beim Geben ist es genau das friiher bescbriebene 
Bild, und es yerdient Beachtung, dass sicb trotz des langen Zwischen- 
raums zwischen den beiden Gehyersuchen der Charakter der Storung 
ganz gleicb erbalten bat. Der Gang sieht zunachst so grotesk aus, 
dass man unbedingt an psycbiscbe Momente als Grundlage denken 
miisste, wenn jede andere Erklarungsmoglicbkeit mangelte. Einmal 
ist die Schrittlange in ganz mabloser Weise vermehrt: er nimmt 
ungefahr einen Scbritt, als ob er tiber einen Bach hinwegsetzen 
wolle, bleibt aber dann eine Weile mit dem Fuss in der Luft und 
setzt ihn darauf regellos nieder, knickt im Rumpf zusammen, und 
es ist die Synergie der Rumpf- und Beinbewegungen yollkommen 
aufgeboben. Wenn man ihn energisch auffordert, kleinere Schritte zu 
machen, so wird es allmablicb wohl etwas besser, aber es fehlt ibm 
jedes Bewusstsein der Schrittlange, so dass er z. B. das Schwungbein 
direkt neben das Standbein oder hinter dasselbe setzt. Jedenfalls 
weicht die Gehstorung durch den maximalen Grad der Dysmetrie 
wesentlich yon jeder bekannten ab. Sie lasst sich aber doch durch 
die Annahme einer ungewohnlich betrachtlichen Storung bestimmter 
Kleinbirnfunktionen erklaren. In der Riickenlage ist die Bewegungs- 
ataxie nur angedeutet oder zeigt nur einen schwachen Grad. 


1) Nur in der Selbstbeobachtung von Topp (Therap. Monatschr. 1907) 
wird die zerebellare Ataxie mit Neigung nach rechts zu fallen usw. etwas be¬ 
stimmter gekenDzeichDet. 


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Oppenheim 


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Keine Adiadochokinesis. 

Der spontane Zeigeversuch erwies sich als normal. Nur machte 
sich auch dabei in den Handen eine Dysmetrie bemerklich . . . 

Subjektive Empfindungen des Schwankens auch im Sitzen und 
Liegen.“ 

Am 12. IV. wird angefiihrt: „Die Gehstorung ist genau noch so 
wie sie gewesen ist, ebenso hochgradig und von demselben Charakter. 
Es ist, als ob ihm jede Kenntnis und jede Abschatzung der Bewegung 
der Beiue beim Gehen fehlt und als ob es des extremsten AusmaCes 
der Bewegungen bediirfe, um ihm iiberhaupt ein Gefiihl davon zu 
verschaffen, dass er die Beine bewegt. Es fehlt ihm ferner dabei jeder 
Halt im Rumpfe, so dass er schon beim Stehen der doppelseitigen 
Unterstiitzuug bedarf, er knickt sonst vollig in sich zusammen. Er 
macht dann mit dem Schwungbein zunachst einen unsicher tastenden 
Schritt, der entweder sofort iibermassig gross ausfallt oder erst bei 
dem weiteren Versuch. Und zwar ist es dann, als ob er tiber eine 
grosse Barriere hinwegsetzen wollte. Beim Niedersetzen des Beins 
wird dieses dann im Kniegelenk abnorm durcbgedriickt. Ehe er das 
Standbein vom Boden bringt, vergeht oft eine Weile; dabei kommt 
es auch vor, dass der Fuss sich am andern verhakt uni dass er mit 
der Riickflache der Zehen den Boden beruhrt... Im Sitzen Schwin- 
del, schwankende Bewegungen des Kopfes und Rumpfes. Die Be- 
wegungsataxie der Beine im Liegen ist eine ganz unerhebliche; nur 
beim Erheben und Niederlassen kommen ein paar unregelmafiige 
Schwankungen vor und er legt nicht das eine Bein neben das andere, 
sondern streift damit das ruhende oder legt den einen Fuss tiber den 
andern. Er kann aber auch auf Aufforderung das Bein einen oder 
zwei Fuss hoch erheben (d. h. seine Bewegung richtig abschatzen), 
einen Kreis in die Luft beschreiben, der allerdings eckig ausfallt. 14 

In der Beurteilung der gescbilderten Erscheinung babe ich mich 
nicht sicher gefiihlt. Da unser Pat. ein Neuropath war und zweifel- 
los hysterische Symptome bot, lag ja nichts naher, als auch diese 
Gehstorung schon wegen ihres grotesken Charakters einfach als eine 
psychogene zu deuten. 

Ich habe mich nun immer und besonders auch wieder in der 
Kriegszeit von dem Grundsatz leiten lassen, dass die Diagnose Hysterie 
per exclusionem zu stellen und immer erst der Versuch zu machen 
ist, die Krankheitserscheinungen auf andere, von der Vorstellung und 
dem Willen des Patienten unabhangige Moments zuriiekzufuhren. 
Dieses Prinzip hat sich mir friiher bewahrt. Manche Tatsache aus 
dem Symptomenbereich der multiplen Sklerose und anderer organischer 


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Zur Kenntnis der Veronal vergiftung U9W. 23 

Nervenkrankheiten, der Anteil, den ick an der Aufstellung der Lehre 
von der Dystonia progresiva habe, das und manche3 andere ware der 
Wissenschaft nicht gewonnen worden, wenn ich mir nicht diese Vor- 
sicht und Beschrankung in der Annahme der Hysterie auferlegt hatte, 
die sich mir besonders auch am Krankenbett bewahrt bat. Aber 
icb gebe gewiss zu, dass gegeniiber dem Massenaufgebot an Hysterie, 
das der Krieg im Laufe der Zeit hervorgebracht bat, mein Prinzip 
versagt bat, besonders auch deshalb, weil es den Anschein hat, als ob 
unsere friiheren Vorstellungen von dem Wesen. dieser Neurose von 
den Tatsachen vielfach iiberrannt worden seien. 

Ich habe lange Zeit geschwankt, ob die Annahme berechtigt 
sei, dass hier das vulgare Symptom der „Veronalataxie“ durch 
die be3ondere Disposition des Nervensystems (neuropathische Dia- 
these mit Neigung zum Hyperthyreoidismus) eine ungewohnliche 
Steigerung und Ausartung erfahren habe oder ob es sich um die 
psychogene bzw. hysterische Uberschreitung und Fixation der sonst 
fliichtigen und geringfiigigen Storung handele. 

Zugunsten der letzteren Annahme spricht einmal der ausser- 
gewohnlich hohe Grad und die Hartnackigkeit der Erscheinung, be¬ 
sonders wenn man erwagt, dass die typischen Folgen der Intoxikation 
sich verhaltnismassig rasch zuruckbilden und auch hier zuriickgebildet 
haben. Ferner der Umstand, dass nur gewisse Kleinhirnfunktionen 
in dieser schwersten Weise geschadigt waren, wahrend sich andere 
kaum beeintrachtigt zeigten: d. h. es lag eine maximale Asynergie 
und Dysmetrie beim Gehen vor, wahrend die Diadachokinesis und 
der spontane Zeigeversuch sich (abgesehen von der Dysmetrie beim letzten) 
als unbeschadigt erwiesen. Die schnelle Riickbildung des Nystagmus 
verdient in dieser Hinsicht auch Beachtung. 

Gegen die psychogene Grundlage schien die Tatsache zu spre- 
chen, dass das Zeichen doch nicht aus dem Rahmen der Intoxika- 
tions-Symptomatologie herausfiel, dass es in konsequenter Weise 
durcbgefiihrt wurde, ohne dass Pat. jemals in Widerspruch mit sich 
selbst geriet, dass eine Beziehung zum Vorstellungsleben zunachst in 
keiner Weise erkannt werden konnte, dass es auch durchaus gegen 
das Interesse des Kranken war, ans Zimmer und ans Bett gefesselt 
zu sein, wodurch ihm die Moglichkeit des Lebensgenusses genommen, 
auch die Beschaffung von Schlafmitteln unmoglich gemacht war. Dazu 
kam, dass jede §uggestivbehandlung an der Hartnackigkeit des Sym- 
ptomes abzuprallen schien. 

Da kam das Ereignis von 20. VI. 1916. Nach der Beobachtung 
eines Waiters sprang Patient, der sonst beim Stehen und Gehen auf 
frerade Hilfe angewiesen war, in einem Traum-, Dammer- oder Yer- 


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Oppknheiii 


wirrungszustande aos dem Bett and gelangte bis zu der wenigstens 
3—4 Meter weit entfemten Tiir, in der er zu Boden fiel. Es war 
also damit erwiesen, dass er im Zustande aufgehobenen oder einge- 
engten Bewusstseins, wenn auch nur fur Sekunden seinen Koordina- 
tiousapparat beherrscht hatte, und daraus folgte, dass das zerebellare 
Syndrom in einer Abhangigkeit yon der Psyche stand — und damit 
war die Grundbedingung fur die Annahme ihres hysterischen Charak- 
ters erfullt. 

Die Zuverlassigkeit der Angaben des Waiters konnte wohl inso- 
weit in Frage gezogen werden, als Pat. sich bis zur Tiir auf alien 
Vieren geschleppt haben konnte (denn dass er bis dahin gelangt war, 
stand fest). Ich war also immer noch etwas skeptisch, bis das von 
Prof. Kalischer im Dez. 1916 angewandte modifizierte Kauf- 
mannsche Verfahren zwar nicht einen Augenblickserfolg, aber doch 
eine rasch fortschreitende Besserung brachte: „Unmittelbar nach dem 
Elektrisieren wurden Gehversuche unternommen, die von Tag zu Tag 
besser ausfielen. Zunachst wurden die Schritte kleiner. Er ver- 
mochte — allerdings unter lebhaftem Schwanken des Oberkorpers — 
einen Augenblick allein, sich ein wenig mit den Handen am Tisch 
festhaltend, zu stehen. Dann begann er im Laufstuhl zu gehen, die 
Besserung ging jetzt schnell vorwarts. Anfang Januar 1917 ver- 
mochte er schon mit Unterstutzung zweier Stocke zu gehen usw. nsw.“ 

Entspricht diese Art der Riickbildung eines Krankheitssymptomes 
auch nicht ganz dem Wesen der Suggestivheilung, so ist es doch eine 
zugunsten der Diagnose Hysterie sprechende Tatsache, dass erst 
mit der Einleitung dieses Verfahrens ein Umschwung in dem Befin- 
den und der Beginn der Riickbildung des bis da so renitenten 
Symptomes eintrat. Auch ist es gewiss moglich, dass mit einer 
Briiskierung des Patienten im Sinne Eaufmanns ein weit rascherer 
Erfolg erzielt worden ware. 

Nach alledem halte ich es wenigstens fiir wahrscheinlicb, 
dass die urspriinglich toxisch bedingte Erscheinung auf 
psychogenem (unterbewusstem) Wege einen starken Auf- 
trieb und eine Fixation erfahren hat. 

Damit komme ich nun zu dem schwierigsten Punkte der Be* 
trachtung: zur Deutung der Amblyopie, die auch heute — nach 
mehr als einjahriger Dauer des Leidens — noch in fast unverandertem 
Grade fortbesteht. 

Es ist zunachst hervorzuheben, das diese hochgradige, fast einer 
Amaurose nahekommende Amblyopie mit dauernd normalem ophthal- 
moskopischen Befunde und mit normaler, eher — namentlich voruber- 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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gehend — abnorm lebhafter Pupillenreaktion einherging. Damit wird 
erwiesen, dass die Storung ihren Sitz weder im Optikus, Cbiasma, 
Traktus noch in den primaren optiscben Zentren bat, sondern jen- 
seits derselben, d. b. in den optiscben Leitnngsbahnen bzw. in den 
optiscben Rindengebieten zu suchen ist. Anf die Lokalisation in den 
letzteren deutet die Kombination mit optiscben Halluzinationen, 
welche auch bei einem Patienten von Steinitz registriert wor- 
den sind. 

Wenn icb somit liber die nicbtorganische bzw. fnnktionelle 
Natur der Sehstorung keinen Augenblick im Zweifel gewesen bin, 
so waren fur mich die Schwierigkeiten der Entscheidung, ob es sich 
bier um eine somatisch oder psychisch bedingte Form der Amaurose 
handele, doch undberwindlicbe. lbre Entwicklung im nnmittelbaren 
Anschluss an die Veronalvergiftung drangte zunachst zu der An- 
nabme, dass es sich um eine toxische Form der Sehstorung handele, 
die etwa in Analogic zu der uramischen Amaurose ’) gebracbt wer- 
den konne. Dagegen sprach jedoch die vorliegende Erfahrung. Ge- 
wiss ist von „Sehstorung" bier und da in der Kasuistik der Veronal- 
intoxikation die Rede, aber immer handelte es sich nur um ein 
fliichtiges Symptom und in keinem Falle ist klar zu erkennen, dass 
eine Amaurose bzw. Amblyopie bestanden hat, yielmehr lasst sich 
die Storung durch die Annahme einer Scbwache des Akkommodations- 
muskels wohl immer erklaren. Ich bebaupte keineswegs, dass nicht 
zentrale Sehstorungen bei Veronalvergiftung vorkommen, ich kon- 
statiere nur, dass keine einwandfreie Beobachtung dieser Art vorliegt. 
Das bat mir auch Uhthoff in einer Zuschrift bestatigt. Aucb in 
demvonihm bearbeiteten Abschnittdes Graefe-Saemischschen Hand* 
buches (2. Aufl., Bd. XI, 1901) ist in dem Kapitel: Uber die Augen- 
storungen bei Vergiftungen, das Veronal iiberhaupt nicht angefiihrt. 
Ebenso findet sich in der griindlichen Bearbeitung der Frage von 
Wilbrand-Saenger keine einzige entsprechende Erfahrung mit- 
geteilt. — 

Zu der Diagnose einer dauernden Amaurose durch Veronalver¬ 
giftung wiirde man sich jedenfalls nur dann berechtigt halten diirfen, 
wenn jede andere Erklarungsmoglichkeit fehlte. 

Besitzt nun die in unserem Falle festgestellte Sehstorung die 
Charaktereigenschaften der hysterischen Amaurose bzw. Am¬ 
blyopie? 


1) Die Ahnlichkeit der Veronalvergiftung mit dem uramischen Zustand be- 
tont Nienhaus. Vergl. ferner zu dieser Frage besonders Wilbrand-Saenger, 
Die Neurologic des Auges, UI. Bd., 2. Halfte, Wiesbaden 1906. 


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Ofpenheih 


Zugunsten dieser Auffassung spricht zunachst die Personlichkeit, 
bei der sicb das Leiden entwickelte. Es handelt sich um einen Neu- 
ropathen, bei dem einzelne Erscheinungen, wie die Krampf- und 
Verwirrungsanfalle sowie die .Gehstorung, das Geprage der hysteri- 
schen Symptome batten. Ferner steht damit im Einklang die Tat- 
sache, dass der Augenbintergrund dauernd norpiale Verhaltnisse bot 
und die Pupillarlicbtreaktion nicht allein erhalten, sondern zeitweilig 
sogar abnorm lebhaft war und dass die starke Herabsetzung des 
Sehvermogens sogar mit Licbtscheu und gesteigertem Blinzelreflex 
einherging. Sind diese letzteren Erscheinungen nicht direkt fur 
Hysterie beweisend? Das konnte auf den ersten Blick so scheinen 
und es ist ein derartiges Verhalten aucb einigemal in der Kasuistik 
der Amaurosis hysterica angefiihrt worden. *) Aber es hat durcliaus 
keine Berechtigung, in den bezeichneten Erscheinungen einen Beweis 
fur die hysterische Natur der Sehstorung zu erblicken. Denn es 
liegt kein Widerspruch zu den bekannten Tatsachen darin, dass bei 
einem kortikalen Funktionsaustall die subkortikalen Reflexe nicht allein 
erhalten, sondern sogar gesteigert sind. Ich erinnere besonders an 
den von mir 1 2 ) beschriebenen Fressreflex sowie an die gesteigerte 
akustikomotorische Reaktion bei Krankheitsprozessen in den mo- 
torischen Rindengebieten, die zu einer bilateralen Lahmung fiihren usw. 
Nun konnte man erwidern, dass es sich ja nicht nur bier um eine 
Steigerung subkortikaler Reflexe, sondern auch um ein erhohtes 
Blendungsgefuhl handelte; in dieser gesteigerten Lichtempfindlichkeit 
bei hochgradiger Amblyopie lage dann ein Widerspruch, der sich nur 
durch die Annahme eines psychischen Vorganges erklaren liesse. 
Ich bin aber nicht der Ansicht, dass die Hyperasthesie als eine er- 
hohte Sinnesempfindung, d. h. als ein sensorischer Akt (in der opti- 
schen Sphare) zu deuten ist. Es waren vielmehr die aus der ver- 
starkten Sphinkterkontraktion und der vermehrten Tranensekretion 
entspringenden Unlu3tgefiihle, die dem Patienten zum Bewusstsein 
kamen. Dass er den Vorgang selbst auf die Belichtung bezog, hatte 
nichts Auffalliges, da er ja jederzeit Hell und Dunkel unterscheiden 
konnte. — 

Das Fehlen von hemianopischen Defekten hat wohl kaum etwas 
Auffalliges, da es sich ja nicht wie bei organischen Prozessen um die 
vollkommene Ausschaltung eines Zentrums, sondern nur um eine 
schwere Funktionsherabsetzung handelte, abgesehen davon, dass der 
betrachtliche Grad der Sehstorung eine genauere Gesichtsfeldmessung 


1) S. z. B. Pansier, Amaurose hyst^rique. Annales d’oculist. 1897. 

2) M. f. P. XIV u. B. kl. W. 1904. 


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Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw. 


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gar nicht gestattete. Dass unter diesen Verhaltnissen nicbt nor ecbte 
Hemianopsien sondem aucb Hemiamblyopien (also auch doppel- 
seitige Hemiamblyopien) vorkommen, ist durch eine besondere Prii- 
fdngsmethode von mir, Pick nnd Medea nachgewiesen worden. 

Es war natiirlich erforderbch, * die Literatur der bysteriscben 
Amaurose zu Rate zu zieben, aber die Erkenntnis, die man aus dieser 
gewinnt, ist leider eine wenig befriedigende. Neben den yerstreuten 
Einzelbeobacbtungen warden die zasammenfass^nden Darstellungen 
yon Pansier 1 ), Binswanger 2 ), Kron 3 ), Wilbrand-Sdenger 4 ), 
Uhthoff 5 ) und Wissmann 6 ) zu Rate gezogen. Von der letzteren 
als der modernsten hatte icb besonders viel Aufschluss erwartet, aber 
sie bat micb in den Punkten, auf die es mir ankam, in Stich ge- 
lassen. 

Wie die Lebre der okularen Hysterie iiberhaupt noch yiel 
Unklarheit birgt, besonders bezdglich der Augenmuskellahmung and 
der Papillarsymptome, so macbt sich dieser Mangel ganz besonders 
auf dem Gebiet der bysteriscben Amaurose geltend 7 ). Und zwar 
ist es einmal das Verbalten der Pupillen, das bier ein ungemein 
wechselndes ist 8 ) und der Deutung oft die grossten Schwierigkeiten 
bereitet, andererseits entsteht eine gewisse Verwirrung dadurch, dass 
Simulation, psycbogene Blindbeit und noch unerforschte Formen 
transitoriscber Amaurose zu einer Einheit zusammengefasst werden. 
Ich konnte nicht die ganze Literatur revidieren — wenngleich das 
jetzt eine recht lohnende Aufgabe sein wiirde —, ich konnte aus der Ka- 
suistik nur Stichproben herausgreifen und micb schon dabei iiberzeugen, 
dass die Lehre von der hysterischen Amaurose noch ein an Wider- 
apriichen und Unklarheit reicbes Gebiet ist. Nehmen wir z. B. den 
Fall von Adamiik 9 ), den dieser Autor nur zogernd der Hysterie 
zurecbnet, der aber in den zusammenfassenden Abhandlungen ihr ohne 

1) Amaurose hysWrique. Annal. d’oculist. 1897 und Les manifest, ocul. 
de l’Hystdrie. These de Montpellier 1892. 

2) Die Hysterie. Nothnagels Handbuch, Bd. XII. Wien 1901. 

3) Uber hyster. Blindbeit. N. C. 1902. 

4) Die Neurologic des Auges, Bd. HI, 2. Heft, 1906. 

5) Grafe-Samisch, Hess, Handbuch der ges. Augenheilk., Bd. XI, 
Abt. 2B. Leipzig 1916. 

6) Die Bedeutung von Augensymptomen bei Hysterie. Sammlg. zwanglos. 
Abhandl. usw. Halle 1916. 

7) Das wird von Binswanger, Wissmann, Wilbrand-Saenge’r u. a. 
namentlich beziiglich der doppels. hyster. Amaurose hervorgeboben und trilft, 
wie wir sehen werden, auch gerade fur diese besonders zu. 

8) Vergl. die Zusaramensteilung bei Kron und Wilbrand-Saenger. 

9) Zur Kasuistik der Amaurosis transitoria. Arch. f. Augenheilk. XXII. 


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Oppenheim 


weiteres eingereiht wird, so sprieht hier nichts ftir diese Grund- 
lage als der plotzliche Eintritt, die plotzliche Riickbildung und der 
Mangel eines ophthalmoskopischen Befundes. Die Pupillen zeigten sieh 
wahrend der Erblindung von mifctlerer Weite, dabei vollig unbeweg- 
lich, sowohl bei Belichtung wie bei alien Stellungen der Bulbi. Auch 
iiber den weiteren Verlauf ist nichts bekannt. Der Verfasser denkt 
an die Moglichkeit eines spastischen Zustandes in den Wandungen 
der Arteriae cerebri profandae bzw. ihrer Aste fur den Lob. occipitalis 
und Thalamus usw. Jedenfalls sollte man in einem derartigen Falle 
durchaus zuriickhaltend sein mit der Annahme der Hysteric als 
Grundlage der Amaurose. 

Zu den durchaus zweifelhaften Fallen rechne ich auch die von 
Woinow (Jahresber.f.Ophthalm. 1871), Barkon, Emmert (Arch. f. 
Aug. u. Ohr. 1876), Magnus (Kl. M. f. Aug. 1886), Wolffberg 
(Woch. fttr Therap. u. Hygien. d. Aug. 1898), Spiller (Philad. med. 
and surg. Journal 1899) beschriebenen. In der Heilung der Amaurose 
durch Strychnininjektionen kann ich auch kein sicheres Zeichen fur 
ihre hysterische Natur erblicken (vgl. z. B. Mandelstamm, Petersb. 
med. Woch. 1878, Saemann bei Wilbrand-Saenger u. a.). 

Betrachten wir demgegeniiber die Falle, die das Geprage der 
Hysterie deutlich zur Schau tragen. Daliin gehort einmal ein 
grosser Teil der unilateralen, namentlich derjenigen, bei denen 
es gelungen ist, durch AppUkation von Prismen, durch Prufung des 
stereoskopischen Sehens zu beweisen, dass der Patient mit dem fiir 
ihn blinden Auge unbewusst Gesichtseindriicke aufnimmt. Unter diesen 
Verhaltnissen kann es sich nur noch darum handeln, den Beweis zu 
fiihren, dass nicht einfache Simulation im Spiele ist. Und das ist in 
der Mehrzahl der in der Literatur niedergelegten Beobachtungen 
gegluckt *). 

Eine weitere Stiitze erhalt die Diagnose der hysterischen Amau¬ 
rose und Amblyopie (und zwar der einseitigen wie der doppelseitigen) 
durch die hysterische Natur der ubrigen Erscheinungen am Augen- 
apparat. Ich gehe nicht so weit zu sagen: durch den Nachweis 
hysterischer Symptoms iiberhaupt. Denn die Hysterie ist so ver- 
breitet und die Kombination organischer mit hysterischen Symptomen 
eine so haufige, dass wir zu bedenklichen Missgriffen in der Diagnose 
kommen, wenn wir einfach auf Grund eines Zeichens das ganze 
Krankheitsbild in diesem Sinne deuten. Das sind ja fast Selbstver- 
standlichkeiten. Aber die Erblindung kann sich durch die Art ihrer 


1.) Dass es aber oft schwer ist, beweisen viele Erfahrungen, vgl. Harlan, 
E. Mendel, Zeitschr. f. prakt. Med. 1874, Nr. 47. 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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Entstehung und dutch ihre Begleiterscheinungen als eine hysterische 
Storung kennzeichnen. Schliesst sie sich an einen hysterischen 
Kramp fan fail an (wie das fur einen grossest Teil der beschriebenen 
Falle zutrifft) oder wird sie in entsprechender Weise yon einem echt 
hysterischen Symptom abgelost, so hat die Diagnose damit eine 
starke Sttitze gewonnen. Das gleiche gilt fur die Eombination der 
Erblindung mit Erscheinungen am Augenmuskelapparat, die sich 
als hysterische charakterisieren. 

Die Literatur ist reich an solchen Beispielen. Typische Falle 
dieser Art sind z. B. die von mir 1 , Hitzig 2 und Eron 3 ) mitge- 
teilten. Die begleitende Ptosis und der Erampf der Recti interni, 
welche die Bulbi in der Eonvergenzstellung festhielten, hatten hier 
etwas durchaus Bezeichnendes. Es war keine Pseudoptosis spastica, 
aber auch nicht die durch die sekundare Anspannung der Frontales 
gekennzeichnete echte Ptosis, sondern die Lider hingen einfach tief 
herab, d. h. das natiirliche Bestreben, den die Augen deckenden 
Vorhang zu liiften, fehlte diesen Patienten, darin trat das seelische 
Moment zutage. Nicht weniger liess der Eonvergenzspasmus die 
hysterische Natur erkennen. 

Von Hitzig ist auch der Nachweis geliefert worden, dass in 
der beginnenden Narkose der Erampf schwand, die Augenbewegungen 
und auch die Pupillenreaktion normal wurden. — Man darf aber die 
Erscheinung, dass nur die willkiirliche Einstellung der Bulbi fehlt, 
wahrend Augenbewegungen unwillkurlich erfolgen, nicht ohne weiteres 
im Sinne der Hysterie yerwerten. 

Schwieriger war es, in diesen Fallen doppelseitiger Amblyopie 
und Amaurose in den Angaben iiber das Sehen selbst Widerspriiche 
zu finden, die entweder die bewusste Vortauschung oder die unbe- 
wusste Selbsttauschung an den Tag brachten. Immerhin ist es einige- 
mal gelungen, durch Glaser jedweder Art das Sehvermogen erheblich 
zu beeinflussen und damit die Psychogenese festzustellen. Dahin gehort 
z. B. eine Beobachtung yon A. Pick 4 ). Hier und da ist angefiihrt 
worden, dass die an typischer Amaurose leidenden Individuen sich 
besser im Raume orientieren, sich freier bewegen wie die wirklich 
Blinden. Wenn sich das sofort nach Entstehung des Leidens bemerk- 
lich macht, kann es sich gewiss um ein so auffalliges Verhalten handeln, 

1) Lehrbuch d. Nerv. im Kapitel Hysterie. 

2) Uber einen durch Strabismus und andere Augensymptome gekenn- 
zeichneten Fall von Hysterie. Berl. klin. Wochenschr. 1897, 7. 

3) L c. 

4) Uber die Kombination hysterisch und organisch bediugter Storungeu 
in' den Funktionen des Auges. Wien. klin. Wochenschr. 1892, Nr. 31—33. 


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Oppenheim 


da3S daraus der psychogene Ursprung ohne weiteres erhellt. Bei 
langerem Bestande der Amanrose spielt aber die individuell^ An- 
passung nnd Kompensation l ) (durch das Tastgefiihl und Gehor) eine 
derartige Rolle, dass man hier mit seinen Schlussen ausserst vor- 
sichtig sein muss. 

So bot bei der von mir und Kron beobachteten Patientin, die 
zweifellos an einer hysterischen Amaurose litt, die Art wie sie sich 
durchs Zimmer bewegte, nichts von dem Verhalten anderer Blinden 
Abweichendes. Andererseits zeigt so recht, wie zuriickhaltend man 
mit der Verwertung derartiger Momente sein muss, eine Beobachtung 
Picks 2 ). „Auffallig erschien, dass sich die Kranke trotz die3er be- 
deutenden Herabsetzung der Sehscharfe in ihrer Fahigkeit der Orien- 
tierung selbst am fremden Orte nicht gestort erwies.“ Dnd wie klarte 
sich der Fall auf? Die Sektion zeigte Thrombose der Art. basilaris, 
der Art. cerebri posterior und ausgedehnte Erweichungsherde in den 
Lobi occipitales, in den Seh- und Vierhiigeln. 

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich die hysterische Am- 
blyopie einigemale zu kongenitaler Sehstorung (Pick u. a.) gesellte 
oder dass sich anderweitige Entwicklungsanomalien, wie markhaltige 
Nervenfasern(Manz 3 ), Moore 4 )), an der Papille fanden. Man lasse 
aber nicht aus3er acht, dass die in dieser Weise Veranlagten auch 
eine starkere Disposition fur Sehstorungen organischen Ursprungs, 
z. B. die sklerotischen, besitzen (Oppenheim, Bernhardt u. a.). 

Es gibt gewiss noch andere Momente, die zum mindesten den 
Verdacht begriinden, dass die Amaurose einen hysterischen Ursprung 
hat. Dahin gebort die Entstehung im unmittelbaren Anschluss an 
ein leichtes, oberflachliches Trauma oder an eine unbedeutende Er- 
regung, z. B. einen Arger. Ich mochte aber nicht so weit gehen, 
die Schreckamaurose generaliter fur eine hysterische zu erklaren, da 
bei dem macbtigen Einfluss des psychischen Shocks auf die vaso- 
motorische Spbare mit Funktionsstorungen zu rechnen ist, die ihre 
Grundlage nicht in der Vorstellungssphare haben. 

Gelingt es, bei angeblicher Amaurose durch Vorfiihrung von 
Bildern oder Gegenstiinden Ausserungen bzw. psychische Reaktionen 
irgendwelcher Art auszulosen, die in eindeutiger Weise optische Be- 
ziehungen zu dem Reizobjekt erkennen lassen, so ist natiirlich an 


1) -S. zu dieser Frage Heller, fiber Verfeinerung derSinne usw. Wundts 
Philos. Stud. XI und Wilbrand-Saenger S. 671 (Bd. 3). 

2) 1. c. 

3) Berl. klin. Wochenechr. 1880, Nr. 2. 

4) New York med. Journ. 1888. 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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dem typischen Charakter der Stornng (falls Simulation ausgeschlossen 
werden kann) nicht zu zweifeln. 

Die Literatur enthalt aber iiberaus wenig Mitteilungen ent- 
sprechender Art. Handelt es sich um eine Amblyopic, so kann die 
Sehpriifung nach yerschiedenen Methoden, in verschiedenen Ent- 
fernungen usw. Widerspriiche hervortreten lassen, die sich durch die 
Annabme einer reeUen Sehschwache nicht erklaren lassen, sondern 
auf den ideogenen Ursprung hinweisen 1 2 ). So gut die entsprechenden 
Priifungsmetboden fur die unilateral Blindheit ausgearbeitet sind, fur 
die bilaterale yermisse ich genauere Angaben und Anweisungen, gebe 
aber zu, dass ich nicht alle Monograhpien und Abhandlungen iiber den 
Nachweis der Simulation von Blindheit durchgesehen habe '■*). In ihnen 
wird gewiss noch manches Brauchbare fur die Feststellung der 
hysterischen Amaurose enthalten sein. Aber ich muss immer wieder 
betonen, dass man sich durch das Erhaltensein der einfachen opti- 
schen Reflexe nicht irrefiihren lassen darf. 

Wir wollen nun versuchen, an der Hand der angefiihrten Kri- 
terien die Natur der Sehstorung unseres Falles klarzustellen. Dass 
es sich urn einen funktionellen Typus handelt, bedarf nicht mehr der 
Erorterung. Aber konnen wir auch entscheiden, ob eine seelische 
oder korperliche Grundlage anzunehmen ist? 

Der Charakter der Personlichkeit legt die Annahme der hysteri¬ 
schen Grundlage nahe; wahrend die Art der Entstehung: im An¬ 
schluss an einen Intoxikationszustand, sie zwar nicht ausschliesst, aber 
doch nicht zu ihren Gunsten entscheidet, da sich in der Mehrzahl 
der bekannt gewordenen Falle die hysterische Amaurose im Anschluss 
an Krampfanfalle, Traumen und Gemiitsbewegungen oder aus einer 
bereits vorhandenen konzentr. G. F. E. heraus entwickelt hat. Auch 
der Umstand, dass sich die Sehstorung schon in dem Stadium, in 
dem die Somnolenz noch nicht ganz gewichen ist, einstellt, spricht 
nicht gerade fur die psychogene Entstehung. Betrachten wir nun 
das Symptom selbst, sein Wesen, seine Ausserungen. 

Da konnte zunachst wohl die Angabe etwas verdachtig erschei- 
nen, die er im Beginn gemacht hat, dass er namlich den Umkreis 

1) Dass aber in der Verwertung dieses Faktors giosse Vorsicht geboten 
ist, lehrt z. B. eine Ausfiihrung Gronauers (Uber Intoxikationsamblyopie, 
Arch. f. Opht., Bd. 38) iiber die widerspruchsvollen Resultate der Sehpriifung 
nach verschiedenen Methoden und in verschiedenen Entfernungen bei der In- 
toxikationsamblyopie. 

2) S. za der Frage: Carl Specht, Eine kritische Zusammenstellung der 
Verfahren, durch welche Simulation usw. Inaug.-Diss. Bonn 1891. 


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Oppenheim 


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des Gesichtes 4—5mal sehen wollte, auch mit jedem Auge allein. 
Das konnte auf die Polyopia hysterica monocularis hinweisen. 

Aber es darf nicht ausser acht gelassen werden, dass das nur 
im ersten Stadium (am 5. III.) einmal vorgekommen ist, als die 
Somnoleuz eben zu weichen begann, wahrend er noch von optischen 
Hailuzioationen beherrscht war, auch bei Augenschluss bzw. im Dun- 
kel allerhand Bilder vor den Augen sah. Es ist durchaus wahr- 
scheinlicb, dass er die subjektiven Phanomene mit den Objekten der 
Aussenwelt verwechselte uud dass daraus diese Angaben erwuchsen. 
Spater habe ich nie bei ihm eine monokulare Diplopie nachweisen 
konnen. 

Nach Ablauf dieser ersten Tage bleibt die Sehstorung wahrend 
eines ganzen Jahres in annahernd gleichmassiger Weise bestehen, 
wenn man davon absieht, dass sie allmalich eine gewisse Besserung 
erfahrt. Sie kennzeichnet sich als eine der Amaurose nahekommende 
hochgradige Amblyopie mit einer anfangs starkeren, spater geringeren 
Einengung des Gesichtsfeldes. Dass er bei dem hohen Grad der 
Amblyopie Handbewegungen zentral am besten erkannte, lasst nicht 
den Schluss auf eine typische konzentr. G. F. E. zu. Zuerst erkennt 
er die Fenster, die sich in etwa 8—10 m Entfernung von seinera Bett 
befinden, sieht auch, dass sie Querbalken haben, unterscheidet, ob die 
Vorhange vorgezogen sind oder nicht (ob es heller oder dunkler ist). 
Dann erkennt er Handbewegungen vor den Augen und spater in 
grosserer Entfernung. Dass er sie dabei bald mehr in dieser, bald 
in jener Partie des Gesichtsfeldes wahrnimmt und am besten zentral, 
hat gewiss bei eiuer so groben Storung nichts Auffalliges. Auch in 
der Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem bewegten und dem 
ruhenden Objekt hier besonders ausgesprochen war, kann ich nichts 
(Jberraschendes erblicken, es bedurfte einmal einer Summation der 
Reize, ferner kann derUmstand eine Rolle spielen, dass bald dieser, 
bald jener Teil des Sehzentrums starker ermiidet war und dass es 
der Erregung verschiedener Teile bedurfte, um einen Gesichtsein- 
druck zu erwecken. Erst mit dem Eintritt der Besserung werden 
auch grossere Objekte erkannt, ohne dass sie bewegt werden miissen, 
aber noch inkonstant. Befremdender war es fur mich, dass sich im 
weiteren Verlauf der Farbensinn verhaltnismassig gut erhalten zeigte, 
insofern als er an bewegten grosseren Objekten (Uhr, Zitrone, BIu- 
menstrauss in einer Vase) die Farbe erkannte in einem Stadium, in 
dem er den ruhenden Gegenstand selbst noch nicht sah (wohl aber 
den bewegten). Das diirfte aber gerade bei einer kortikalen Am¬ 
blyopie dem Verstandnis keine Schwierigkeiten bereiten, wenn auch 
gewiss bei den organischen Affektionen des Sehzentrums meist das 


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Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw. 


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umgekehrte Verhalten zu konstatieren ist. (Tbrigens war auch der 
Farbensinn keineswegs intakt, da er selbst spater bei einer Pnifung 
aus den Wollproben, also bei kleinen Objekten, die griine nicht er- 
kannte. 1m weitern Verlanf vermochte er dann auch zu unterschei- 
den, ob sich ein oder mebrere Finger vor seinen Augen bewegten, 
ob es sich um einen grosseren Oegenstand (Blumenstrauss) oder einen 






Fig. 2. 


kleineren (Horrohr) bandele. Zu dieser Zeit werden Farben an grosse¬ 
ren Objekten auf die ganze Entfernung des Zimmers wahrgenommen. 

lm Dez. 1916 trat dann mit der leicbten Besserung des Sehver- 
mogens die Diplopie wieder hervor, die aber naturgemass bei der 
groben Sehstorung keine wesentliche Rolle spielte und nur auf be- 





Fig. 3. 

Versuch I (mein eigener Versuch, mit geschlossenen Augen zu schreiben). 

sondere Anfrage angegeben wurde. — Das Fehlen des galvanischen 
Licbtblitzes steht mit der Annahme der zentralen Amaurose durchaus 
im Einklang, ohne dass icb an der Hand der Literatur und der eigenen 
Erfahrung beweisen kann, das9 dies Merkmal der hysterischen 
Amaurose nicht zukommt. 

Ich vermochte also weder selbst in den Ergebnissen der Seh- 
prufung Anhaltspunkte fur den psychogenen Charakter zu finden, 
noch gelang das dem hinzugezogenen Ophthalmologen Prof. S. t der 
bei einer eingehenden Pnifung zu dem Ergebnis kam, dass eine funk- 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilktinde. Bd. 57. 3 


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Oppenheim 


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tionelle Form der Amaurose vorliege, die am ehesten der uramischen 
zu vergleichen sei. Nur wurde er stutzig, als er darauf aufmerksam 
gemacht wurde, wie Patient schrieb (vgl. Fig. 1 S. 11). 

Die Art, wie er Wort an Wort reihte, Zeile unter Zeile setzte, 
erweckte bei ihm den Verdacbt, dass Patient doch sahe, ohne sich 









Fig. 4. 
VerBUch II. 


dessen bewusst zu werden. Aber da ergab sieh, dass er bei ver- 
bundenen Augen in ganz derselben Weise schrieb. 

Nachtraglich habe ich dann selbst derartige Proben bei mir 
(Fig. 3—5) und anderen (s. Fig. 2) angestellt und war iiberrascht, dass das 









A* 


Fig. 5. 
Versuch III. 


verhaltnismassig gut ging und namentlich in Anbetracht der fehlen- 
den Cbung durchaus nicht so ungeordnet ausfiel, wie ich voraus- 
gesetzt hatte. Was die Ubung da macht, zeigen schon meine drei 
hintereinander ausgefvihrten Versuche. 

Gerade der Umstand, dass unser Patient sein Gefiihl und Gehor 
so fein ausbildete, wie wir es von den wirklich Blinden wissen, 
spricht gegen die Annahme einer psychogenen Amaurose, bei der das 


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Zur Kenntnis tier Veronalvergiftung usw. 


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unbewusste Sehen die Ausbildung der Ersatzfunktionen, soweit wir 
wissen, nicbt erforderlich macht. 

Auch der vollige Misserfolg jeder Suggestivbehandlung macht die 
psychogene Grundlage unwahrscheinlich, ohne jedoch einen sicheren 
Gegenbeweis zu bilden. Die Frage, ob Patient Motive hatte, bewusst 
oder unterbewusst gerade die Amaurose zu fixieren, ist gewiss nicht 
bestimmt zu beantworten. Man kann nur sagen, dass es fur einen 
jungen, dem Lebensgenuss ergebenen Menschen geradezu die trau- 
rigste und verhangnisvollste Storung ist, die er sich hatte aussinnen 
konnen. Aber die Verirrungen der kranken Psyche sind oft so wun- 
derbar, dass wir ihre Ratsel nicht losen konnen. Auch die Ver- 
mutung, dass der Timor belli unterbewusst wirkte, hat wenig fur sich, 
da er ja schon durch seine absolute Abasie vollkommen gesichert war. 

Aber es ist durchaus moglich, dass wir mit den gangbaren 
Theorien der Hysterie langst nicht alles erfassen, und dass es Zu- 
stande dieses Charakters gibt, die ganz anders begriindet und ver- 
mittelt werden. 

Wir konnen also zum Schluss beziiglich der Amaurose nur so- 
viel sagen, dass hier eine nichtorganisch bedingte Form 
vorliegt, deren psychogene Grundlage sich nicht hat be- 
weisen lassen, die auch von den bekannten Typen der hy- 
sterischen Sehstorung sich in vielen Punkten unterschei- 
det. Die Moglichkeit aber, dass der weitere Verlauf doch 
noch die hysterische Wurzel aufdeckt, muss offengelassen 
werden. 

Jedenfalls tun wir aber gut, im Auge zu behalten bzw. damit 
zu rechnen, das3 es ausser den hysterischen andere Formen 
der funktionellen Amaurose, die auf einem mehr oder weniger 
vollkommenen Lahmungszustand der optischen Zentren beruhen, gibt. 

Vor kurzem hat K. Mendel 1 ) den Versuch gemacht, einen solchen 
Typus abzugrenzen und als Ermiidungserscheinung zu charakterisieren. 
Erst die weitere Erfahrung kann zeigen, ob ihm dieser Versuch ge- 
gluckt ist. 

1) Intermittiereiides Blindwerden. Neurol. Zentralbl. 1916. 


3 * 


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(Aus der medizinisehen Universitatspoliklinik Rostock. Direktor: Prof. 

Dr. Hans Curschmann.) 

Uber die topische Bedentnng der „dissoziierten Potenz- 

stSrang". 

Von 

Dr. Felix Boenheim, 

Asaiatenz&rzt. 

(Mit 4 Abbildungen.) 

Obgleich man sich seit einigen Dezennien eifrig mit der Differen- 
tialdiagnostik der Cauda- und Eonnserkrankungen beschaftigt, ist es 
doch in schwierigen Fallen oft noch unmoglich, intra yitam die 
topische Diagnose zu stellen. Um so merkwiirdiger ist es, dass ein 
recht typisches topiscbes Symptom nocb nicht die ihm zukommende 
Beachtung gefunden hat, obgleich ausdriicklich auf dasselbe hinge- 
wiesen worden ist. Es ist dies das Symptom der „dissoziierten 
Potenzstorung", wie es Hans Curschmann genannt hat. Wenn- 
gleich diese Potenzstorung in einigen grosseren Spezialwerken im 
theoretischen Teil abgehandelt wird, so findet man es doch nur selten 
in den mitgeteilten Krankengeschichten verwertet. V r on den Autoren, 
die es nennen, seien Ed. Muller und L. R. Muller erwahnt, yon 
denen der letztere schreibt, dass es bei Konuserkrankungen im An¬ 
schluss an ein Trauma einige Zeit nach dem Unfall wohl zur Erek- 
tion, nicht aber zur Ejakulation komme, „meist“ unter Ausbleiben 
der sensiblen Eindriicke und des Orgasmus. Hingegen bespricht 
Oppenheim in seinem Lehrbuch das Verhalten der Friktion und des 
Orgasmus bei Konuserkrankungen nicht, sondern begniigt sich mit 
dem Satz, dass „die Libido sexualis und Erektionsfahigkeit erhalten 
sein kann bei fehlender Ejaculatio seminis 11 . 

Deshalb sei es gestattet, drei Krankengeschichten mitzuteilen und 
an der Hand derselben die topische Bedeutung der dissoziierten 
Potenzstorung zu untersuchen. 

Beobachtung 1. 

F. G., Arbeiter, 55 Jahre. 


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Uber die topische Bedeutnng der „di8soziierten PotenzstSrung". 37 

Anamnese: Patient gibt an, dass er bis vor drei Jahren immer ge- 
snnd gewesen sei. Er hat seinerzeit aktiv als Soldat gedient. Vor drei 
Jahren sncbte er die hiesige Klinik wegen rbeumatischer Beschwerden aof 
und lag hier einige Wochen wegen Arthritis rheumatica. Am Nerven- 
system wurde damals ein krankhafter Befnnd nicht erboben, ebensowenig 
am Urogenitalsystem. Jetzt ftthren ihn Blasenbeschwerden in die poli- 
klinische Sprechstunde. 

Aus der Familienanamnese sei bemerkt, dass seine Eltern an unbc- 
kannter Erankheit gestorben sind, dass seine Fran gesund ist und nie 
eine Fehlgeburt hatte. Seine fttnf Kinder sind gesund. 

Uber die Blasenfunktion macht er folgende Angabe: Im April hahe 
er bemerkt, dass das Wasser ihm von selbst abging, und zwar „babe er 
nacbts ins Bett gepisst u . Aucb am Tage sei es ihm unbewusst abge- 
gangen. Er babe es erst bemerkt, wenn es ihm an den Beinen entlang 
gelaufen sei. Der Abgang sei ohne GefQhl gewesen. Es sei bis jetzt, 
i. e. Oktober, schlimmer geworden, was er besonders daran merke, dass 
er frtther nur zweimal nacbts durch das nasse Bettzeug aufgewacht sei, 
w&hrend es jetzt dreimal geschehe. Das Ftthlen irgendeines Dranges zum 
Urinieren stellt er entschieden in Abrede. 

Uber seine Mastdarmfunktion erhalten wir die folgenden Angaben: 
Er habe zwar 1914 einmal drei Tage lang Durchfalle gehabt; aber er habe 
den Stuhldrang immer rechtzeitig gemerkt, so dass er den Abtritt erreichen 
konnte, obne sich zu beschmutzen. Jetzt sei die Verdauung vollst&ndig in 
Ordnung. Er babe 1—2 Entleerungen taglich. Irgendeine VerSnderung 
gegen frtther sei nicht eingetreten. 

Was sein.e Geschlechtsfuuktionen anbelangt, so konnten wir folgendes 
eruieren: Am 6. X. gab er an, seit drei bis vier Wochen keinen Beischlaf 
mehr ausgetkbt zu haben, da ihm „das GefQhl fehle“. Diese Angabe er- 
gftnzte er am 21. X. dahin, dass er den letzten Koitus in der letzten 
Woche ausgettbt habe. Das Glied ware steif geworden, aber er 
habe kein Geftthl dabei gebabt. Wahrend er frtther 2mal wochent- 
lich den Beischlaf ausgeftthrt habe, nehme er ihn jetzt nur noch etwa 
alle 6 Wochen vor. Dieses Nachlassen datiert or 2 Jahre zurttck. Zwar 
ware der Penis damals steif geworden, aber „es ware nicht so doll ge¬ 
laufen". Auch ware sein GefQhl schon damals abgestumpft gewesen. 
Erektionen habe er auch heute noch, selbst wenn er nicht bei einer Frau 
sei. Beim Beischlaf aber fehle ihm jedes Friktionsgeftthl, und 
es komme nicht zu eigentlichen Ejakulationen, wie es sich aus 
seinen Worten ergibt, er „ftthle mit dem Finger, wie es tropfenweise" ab- 
gehe. Auch jede Spur von Orgasmus fehlt. Ausdrttcklich sei noch 
erwahnt, dass er keine Kreuzschmerzen hat, ebensowenig wie Rttcken- 
schmerzen oder Schmerzen im Gesass. Ein Trauma ist nicht festzustellen. 

Schliesslich sei noch aus der Anamnese nachgetragen, dass er fiber 
grossen Durst klagt, besonders nachts. 

Status: Es handelt sich um einen mittelgrossen Mann, dessen Musku- 
latur gut entwickelt ist, und zwar gleichmftssig am ganzen Kttrper. Nir- 
gends bestehen Atrophien. Die Gesichtsfarbe ist gelblich. Die Gelenke 
sind frei beweglich. Keine Exantheme, keine Odeme, keine Drttsen- 
schwellungen. 

Blutkreislauf: Da9 Herz reicht nach rechts bis zum rechten Rand 


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38 Boenheim 

ties Sternums, nach links bis etwas ausserhalb der Mamillarlinie. Uber 
der Spitze hdrt man ein systolische8*Gerausch, das fortgeleitet auch tlber 
den anderen Ostien zu hOren ist. Der 2. Pulmonalton ist akzentuiert. 
Uber der Aorta ist die Diastole unrein. Das Arterienrohr ist hart. Die 
Pulsfrequenz betragt 72. Der Puls ist etwas schnellend und voll. Blut- 
<lruck nach Riva-Rocci: 90:150. 

Die Lungen sind perkutorisch und auskultatorisch frei von patho- 
logischem Befund. 

Bauchorgane: Leber palpabel, von normaler Konsistenz. Milz nicht 
zu fQhlen. 

Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker, hat das spezifische Ge- 
wicht 1005. Beim gleich darauf vorgenommenen Eatheterisieren werden 
670 ccm Urin entleert. Bei einer 2. Untersuchung betrug der Resturin 
sogar 910 ccm, zeigte aber sonst denselben Befund. 

Nervensystem: Die Pupillen reagieren auf Licht und Konvergenz. 
Die Reflexe der oberen Extremitaten sind regelrecht. Die Untersuchung 
der Hirnnerven ergibt keinen pathologischen Befund. Die Patellarreflexe 
sind gesteigert, der rechte starker als der linke. Die Achillessehnenreflexe 
fehlen. Die Bauchdeckenreflexe sind rechts normal, links stark abge- 
schwacht, und zeigen eine leichte Ermtldbarkeit. Der Kremasterreflex fehlt 
rechts. Skrotalreflex regelrecht. Analreflex vorhanden. 

BerQhrungen werden am ganzen KOrper gleich empfunden, ebenso 
werden Bewegungen in den Gelenken richtig lokalisiert. Dagegen zeigt 
der Temperatursinn, und zwar der fttr Ealte, StOrungen. Am rechten 
Hodensack, auf der rechten Seitc des Penis, um die inneren FussknSchel 
beiderseits und am linken ausseren, ferner in einem schmalen Bezirk der 
Fhsse vorne und hinten wird Ealte nicht gefOhlt. Spitz und stumpf 
werden hier ttberall richtig unterschieden. Jedoch gibt es links oben und 
auseen vom Anus ein kleines Gebiet, wo die Empfindung ftlr Unterscheidung 
dieser beiden Qualitaten fehlt. Daneben besteht hier noch eine deutliche 
Herabsetzung des Schmerzgeftthls, die auf der rechten Seite noch ausge- 
pragter ist, am grOssten aber an der rechten Skrotalhaut, die man durch- 
stechen kann, ohne dass Schmerz geaussert wird. Der Hodenschmerz ist 
rechts stark gesteigert, links normal (s. Fig. 1). 

Die rektale Untersuchung ergibt folgendes: sie verlauft abuorm 
schmerzlos. Der untersuchende Finger wird geftthlt, hat auch einen ge- 
wissen Widerstand am Sphincter externus zu Qberwinden. Man ffthlt eine 
mftssig vergrOsserte Prostata. 

Beim Eatheterisieren, das ohne jede unangenehme Sensation verlauft, 
hat man am Orificium externum keinen Widerstand zu Qberwinden. 

Blut: Wassermann negativ. 

Das ROntgenbild der unteren Wirbels&ule ergab keinen pathologischen 
Befund. 

Bei einer spateren Vorstellung am 17. XI. war der rechte FussrOcken 
geschwollen und fOhlte sich kalt an. 

Epikrise: Bei einem 55jahrigen Mann findet sich also 1. eine 
Sphinkterlahmung der Blase mit Aufhebung der Sensibilitat fur den 
Urindrang, sowie verminderte Sensibilitat der Harnrohre, 2. eine ver- 
minderte Sensibilitat und Hvpotonie im Bereich des Anus, 3. eine 


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fiber die topiscbe Bedeutung der „di8soziierten PoteDZst6rung“. 39 

Storung aller sensiblen Koraponenten des Koitus: Frik- 
tionsgefiihl und Orgasmus feblen bei verlangsamter Ejaku- 
lation und erhaltener Libido und Erektion, 4. dissoziierte Emp- 
findungslahmung im Bereich des 2.-4. Sakralsegmentes. 

Wir haben uns nun zunachst die Frage vorzulegen, ob es sich 
bier um eine Erkrankung der Cauda oder des Konus handelt. Fur 
eine Eaudaerkrankung konnte man das langsame Entstehen an- 
ftibren, sowie die geringe Asymmetrie der sensiblen Ausfallserschei- 
nungen. Besonders ware zu beaehten, dass die ersten Storungen 



Dunkles Gebiet = kalte Beriihrungen werden nicht empfundeo; schraffiertes Ge- 
biet = Unterscheidung fiir spitz und stumpf fehlt; punktiertes Gebiet =■ Her- 

absetzung des SchmerzgefiihlB. 

kurze Zeit nach einem Gelenkrbeumatismus aufgetreten sind, so dass 
man im Analogon an die Hirnhautmeningitis rbeumatica vielleicht eine 
Meningitis rheumatica spinalis annebmen konnte. Fiir eine Er¬ 
krankung des Konus spricht das Fehlen von sensiblen Reizer- 
scheinungen, die allerdings nach neueren Anschauungen bisweilen auch 
bei extramedullaren Tumoren vermisst werden, wie es in letzter Zeit 
noch Schultze betont. Diese Tumoren haben oft ein sehr langsames 
Wachstura. Schultze gibt auch eine Erklarung fiir die Schmerz- 
losigkeit, indent er die Hypothese aufstellt, dass die zentripetale 


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Bo£NH£IM 


Weiterleitung des Schmerzes durch die Kompression der schmerz- 
leitenden Bahnen unterbrochen ist, eine Anschauung, die aber nicbt 
unwidersprocben geblieben ist. Dass das Krankheitsbild von moto- 
rischen Erscheinungen beherrscht wird, passt wieder in die Sympto- 
matologie der Konnserkrankungen. Unser Patient suchte ja auch 
seiner Blasenstorungen wegen die Klinik auf. Es ist bei Erkrankungen 
des Riickenmarks im unteren Teil die Regel, dass die motoriscben 
Lahmungen nur innere Organe betreffen, die unteren Extremitaten 
aber freilassen. Femer spricht sebr fur einen Sitz im Konus die 
Dissoziation der Empfindung, namlich eine Storung des Kaltegefuhls 
(und an anderer Stelle des Schmerzgefiibls) bei erhaltenem Beriihrungs- 
gefiihl, worauf besonders Raymond und Minor und Lahr Wert 
legen. Vor allem aber spricht gegen eine Cauda- und fiir eine Konus- 
erkrankung die Verschiedenheit der Storungen der einzelnen 
Urogenitalfunktionen, worauf weiter unten im Zusammenhang 
eingegangen werden soil. 

Wir hatten uns nunmebr mit der Frage nach der Hohe des 
Herdes zu beschaftigen. Es steben uns drei Wege zur Lokalisation 
zur Verfiigung. Wir konnen erstens aus den Zentren der Blasen-, 
Mastdarm- und Qeschlechtsfunktionen und ibren Lasionen auf den 
Sitz schliessen. Zweitens geben uns die Reflexe dariiber Aufschluss 
und drittens die sensiblen Ausfallserscheinungen. 

Aus den Angaben unseres Patienten geht hervor, dass wir eine 
Storung der Blase und der Ejakulation baben, nicbt aber eine des 
Mastdarms und der Erektion. Da nun bekannt ist, dass das Ejaku- 
lations- und das Blasenzentrum im 3. bzw. 4. Sakralsegment zu 
suchen sind, so miissen wir bier mit Herden rechnen. Diese Lokali¬ 
sation ist aber durchaus nicbt unbestritten. L. R. Miiller, der in 
seiner friiheren Arbeit auch diese Segmentierung angab, verlegt in 
einer neueren Arbeit, die er zusammen mit Dahl veroffentlicbte, das 
Zentrum der Ejakulation ins Lumbalmark. Er stiitzt sicb dabei auf 
den Tierversuch, da es beim Hunde bei exstirpiertem Lumbal-, aber 
erhaltenem Sakralmark wobl zur Erektion, Dicht aber zur Ejakulation 
kommt. Die von uns angegebene Segmenthohe ist den uberein- 
stimmenden Angaben von Flatau, Kocher, Schlesinger u. v. 
a. m. entnommen. Von einem Zentrum ano-vesicale zu sprechen 
(Op pen beim), scheint uns nicbt mehr gerechtfertigt, da doch in einer 
Reihe von Krankengeschichten, z. B. in denen von Schiff, Zimmer, 
wie auch in der unsrigen, nur eine Storung der Blasenfunktion vor- 
liegt bei Intaktheit der Mastdarmtatigkeit. Auf die Streitfrage, ob 
man iiberhaupt fiir Blase und Mastdarm spinale Zentren annebmen 
soil, wie auch auf die, ob man aus der Angabe der erhaltenen Erek- 


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Uber die topische Bedeutung der „dis8oziierten Potenzstorung". 41 

tionen auf eine Intaktheit des 2. Sakralsegmentes, wo das Zentrum 
des spinalen Erektionsreflexbogens liegt, schliessen kann, komme ich 
waiter unten im Zusammenhang zuriick. Sicber ist, dass wjr eine 
Intaktheit des 5. Sakralsegmentes annehmen konnen, wo wir den Sitz 
des Mastdarmzentrums zu sucben haben. 

Als zweites topisches Diagnostikum steht uns das Verhalten der 
Reflex e zur Verfiigung. Allerdings sind bier die Unstimmigkeiten in 
der Literatur noch grosser. Wir haben zunachst gesteigerte Patellar- 
reflexe notiert. Diesen Zustand werden wir # nicht auf eine Unter- 
brecbung der bemmenden Fa3ern bezieben, sondern auf einen abnorm 
gesteigerten Erregungszustand, wie er sich als „Dissoziation des Re¬ 
flexes" leicht findet, wenn der nachsttiefere Reflex erloschen ist. In 
der Tat fehit ja dieser, der Achillessehnenreflex. Leider wird gerade 
das Zentrum dieses Reflexes sebr verscbieden angegeben. Wahrend 
Flatau es in L 5 verlegt, besonders aber in S 1 und 2, ware es nach 
Edinger in S 2, nach Sabli in S 3—5, nach v. StrumpelLin S 1 
und 2, nach Oppenheim in L 5 und S 1, vielleicht, auch mit S&rbo 
in S 1 und 2 zu suchen. Da der Sohlenreflex, der von v. Striimpell, 
Oppenheim und Flatau, um nur einige zu nennen, in S 1 und 2 
verlegt wird, bei unserem.Patienten erhalten ist, so werden wir uns, 
wenigstens in diesem Falle, der tieferen Lokalisation anschliessen. 
(Vgl. auch Krankengescbichte 17.) Eine Intaktheit des 5. Sakral¬ 
segmentes miissen wir annehmen, weil der Analreflex erhalten ist. 

Was die Sensibilitatsstorungen anbelangt, so betreffen diese, wenn 
wir der Kocherscben Segmentiernng folgen, S 3 und 4 rechts und 
S 2 beiderseits. Das Verhalten der Motilitats- und der Sensibilitats¬ 
storungen, sowie das der Reflexe ergibt also einen ubereinstiramenden 
Befund in bezug auf die Hohe der Erkrankung. Inwiefern die Po- 
tenzstorungen fur die Hohendiagnose zu verwenden sind, dariiber 
siehe weiter unten. Es bandelt sich also um eine Erkrankung mit 
Herden in S 3 und 4 mit leichter Beteiligung von S 2. 

Welcher Art ist nun die von uns angenommene Erkrankung? 
Fur eine spezifisch syphilitische sind keinerlei Anhaltspunkte' vor- 
handen. Abgesehen davon, dass der Patient jede Infektion glaub- 
wiirdig negiert, spricht auch die Anamnese xiber seine Frau dagegen, 
sowie der negative Ausfall der Wassermannschen Reaktion. Fur 
Tuberkulose ist kein Anhaltspunkt vorhanden. Allerdings sind Soli- 
tartuberkel im untersten Riickenmark beschrieben worden, z. B. von 
L. R. Miiller. Fvir eine lokalisierte Konusmyelitis konnen wir uns 
nicht entscheiden, da dazu der Beginn ein zu allmahlicher ist. Auch 
soil es nach Henneberg keinen einzigen Obduktionsfall dieser Art 
geben. Dies trifft zwar nicht fur die Hamatomyelie zu, die, wie aus 


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Boeniieim 


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den Zusammenstellungen von Oppenheim, Lewandowsky und 
Dorr hervorgeht, sehr leicht zustande kommt und auch bei der Sek- 
tion isoliert im Konus angetroffen ist. Wenn auch mit dieser Au- 
nahme die Geringfiigigkeit der sensiblen Erscheinungen ihren Auf- 
schluss finden konnte, so xniissen wir doch auch diese Annahme wegen 
der langsamen Entwicklung des Leidens und wegen des Fehlens ernes 
Traumas in der Anamnese ablehuen. Es bliebe an einen intramedul- 
laren Tumor zu denken, wie er ja wiederholt beobachtet wurde. Aber 
auch eine multiple Sklgrosis ist nicht auszuscheiden. Kommen doch 
immer wieder neue Kombinationen der Symptome nach den ver- 
schiedenen Sitzen der Herde vor. Oppenheim hat erst kiirzlicli 
seine Auffassung dahin zusammengefasst, dass „es kein Riickenmarks- 
leiden gibt, in dessen Gewand nicht die Sclerosis multiplex sich kleiden 
konnte 1 *, und aus den Arbeiten von Oppenheim, Hans Cursch- 
mann und Mendel wissen wir, dass auch Herde im Konus vor- 
kommen. In Anbetracht des Alters und des Blutdrucks wird man 
auch an eine atherosklerotische Erweichung denken miissen, wie sic 
von Ed. Fischer auch durch Sektion im Konus bestatigt wird. Es 
sei noch bemerkt, dass die Zabl der in der Literatur festgelegten 
Falle, die sich im Anschluss an eine Erkaltung manifestierten, nicht 
klein ist. Es sei nur an die Falle von Rabinowitsch, Rosenthal. 
Raymond erinnert, besonders aber an den von B&lint und Bene¬ 
dict, der mit dem unsrigen viel Ahnlichkeit hat. 

Fall 2. L. F., 22 Jahre alt, stud. jur. 

Anamnese: Patient bekam im April 1916 einen Schuss durch den 
linken Fuss. Als er hinter einer kleinen Erdwelle Deckung suchte, bekam 
er einen Maschinengewehrschuss, dessen Einschuss rechts oberhalb der 
Crista iliaca etwa in HOhe des 2. Lendenwirbels lag, und dessen Aus- 
schuss einen Wirbel hdher in der hinteren Axillarlinie links lag. Er 
hatte dabei das GefQkl, als wenn ihm ein grosser, melirere Zentner 
schwerer Stein auf den Bhcken geworfen worden ware. Gleichzeitig 
glaubte er an eine Yerletzung der ausseren Genitalien, die ihm wie abge- 
storben schienen. Ein BerQhren des Gliedes und des Hodensackcs nahm 
er nicht wahr; Patient verlor nicht die Besinnung. 

Es trat nun in den folgenden Tagen ein Verhalten des Urins und des 
Stuhls trotz haufigen Dranges dazu ein, das angeblich 3 Tage anhielt. 
Dann kam es zu einem unwillkttrlichen gefQhllosen Abgang des Urins und 
sp&ter auch des Stuhls. Da er den Durchtritt der Fazes nicht merkte. 
beschmutzte er sich. Im Laufe der Zeit besserte sich dieses, so dass er 
jetzt festen Stuhl zurftckhalten kann, nicht aber dfinnen und Winde. 
Letztere gehen ebenso wie Wasscr auch jetzt noch bei Nicssreiz, Husten, 
Lachen usw. ab, besonders auch wenn er sich vom Stuhl erhebt, wobei er 
sich mit seinen Handen auf den Knien oder auf dem Tisch stfitzt All 
diese Erscheinungen hatte er frtther nicht. 

Was sein Geschlechtsleben anbclangt, so war dies bis zur Verwundung 


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Uber die topische Bedeutung der ..dissoziierten Poteuzst6rung“. 43 

normal; seitdem kommt es wohl nocli zu Erektionen, jedoch 
nicht mehr zu SamenergGssen, die aach als Pollationen felilen. 
FriktionsgefQhl and Orgasmus wfthrend des Koitus fehlen 
ga nzlich. Die Libido sexualis ist jetzt fast vollst&ndig er- 
loschen, was wir (und auch der Patient) als begreifliche Folge des Aus- 
bleibens des Friktionsgefahls und des Orgasmus erklaren werden. 

Status: Es handelt sich nm einen mittelgrossen, gut genahrten Mann 
oboe Odeme, Exantheme und Drttsenschwellungen. Am linken Fuss fehlt 
eine Zehe, die amputiert ist. Am Rftcken siebt man zwei Narben, die von 
dem oben beschriebenen Schuss herrOhren. 



Wagerecht schraffiertes Gebiet — Aufhebung der Empfindlichkeit fur warm 
und kalt; dunkles Gebiet = Aufhebung der Empfindlichkeit fur warm; senkreeht 
schraffiertes Gebiet = Hyperasthesie fur spitze Beruhrungen. 

Die inneren Organc ergebcn normalen Befund. Der Urin ist bei einem 
spezifiscben Gewicht von 1011 frei von Eiweiss und Zucker. 

Was das Nervensystem anbelangt, so liegen keine Storungen von seiten 
der Hirnnerven vor und auch nicht an den oberen Extremitaten. 

Die Patellarreflexe sind regelrecht. Die Achillessehnenreflexe fehlen. 
Die Bauchdeckenreflexe sind normal vorhanden. Kremaster- und Skrotal- 
reflex sind regelrecht. wahrend der Analreflex fehlt. 

Berlihrungen werden am ganzen KOrper ricbtig empfunden. Be- 
wegungen in den Gelenken werden ricbtig lokalisiert. Dagegen bestehen 
StOrungen des Temperatursinns, besonders f&r Wflrme. Auf der linken 
Seite des Penis, am linken Hodensack, links vom Anus, am liuken innern 


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Boexheim 


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KnOchel, anf einem links gelegenen Gebiet der Fussohle und auf dem 
rechteu Fussrflcken werden BerQhrungen mit warraen Gegenst&nden nicbt 
als warm empfunden. Auf der reehten ausseren Fussohle und um den 
rechtcn inneren KnOchel wird weder warm noeh kalt empfunden. Am 
Skrotum und am Penis, sowie links vom Anus bcsteht einc Hyper&sthesic 
fttr spitze Bertlhrungen; der Hodenschmerz ist normal (s. Fig. 2). 

Das Katbeterisieren geht obne Uberwinden eines Widerstands am 
Orificium internum vor sich. Dabei ist die Schleimhaut besonders emp- 
findlich, dasselbe gilt auch von der Mucosa recti. 

Das ROutgenbild der unteren Wirbelskule zeigt keine Verletzung der- 
selben. 

Epikrise: Wir weisen im einzelnen auf das bei Fail 1 Ausge- 
fiihrte hin. in diesem Fall ist es ohne weiteres klar, dass es sich 
nur um eine Hamatomyelie des Konus handeln kann im Anschluss an 
die Schussverletzung. Samtliche Erscheinungen lassen sich bei einem 
Sitz in S 3—4, vielleicht unter Beteiligung yon S 2, erklaren. 

Als Fall 3 sei auszugsweise ein yon Herrn Prof. Curschmann 
in Mainz beobachteter Fall mitgeteilt. Ich danke auch an dieser Stelle 
Herrn Prof. Curschmann fiir seine Liebenswiirdigkeit, mir den Fall 
zur Veroffentlichung zu uberlassen. 

Es bandelt sich um einen 17jahrigen Mann mit multipier Sklerose 
mit Herd im Konus. Neben Blasen- und MastdarmstOrungen, perisakraler 
Reithosenlahmung und dissoziierter EmpfindungsstOrung, fand sich ein 
Fehlen des Analreflexes. tlber die Geschlechtsfunktionen machte er 
folgende Angaben: den Koitus hatte Patient noch nicht vollzogen, dagegen 
masturbierte er. Als sich bei ihm nun eine Bein- und Blasenlahmung ein- 
stellte, ging ihm das FriktionsgefQhl verloren. Erektionen waren 
noch mOglicb, wahrend die Ejakulation „nicht plfltzlich und 
krampfig" war. Der Samen ging nur noch tropfenweise ab. Orgas- 
mus best and gar nicht mehr. Nur wenn er hinsah, bcmerkte er, dass 
„er fertig war". Wegcn des fehlenden WollustgefQhls gab Patient dann 
die Masturbation auf. Nachts kam es mitunter zu Erektionen und 
auch zu Pollutionen; aber ohne Orgasm us unci ohne ent- 
sprechende Traume. Dass zwei Monate spater der Orgasmus nahezu 
wiedergekommen war, und dass infolgedessen der Patient wieder mastur¬ 
bierte, lindet seine Erklarung in den far multiple Sklerosen ebarakte- 
ristischen Besserungen. 

In der Einleitung wiesen wir auf die Schwierigkeiten der Diffe- 
rentialdiagnose zwischen Cauda- und Konuserkrankung hin. Hier 
wollen wir zusammenfassend zeigen, warum diese so schwer zu 
stellen ist. 

Unter Konus verstehen wir den untersten Abschnitt des Riicken- 
marks nach Austritt des 2. Sakralneryen, wie es lieute wobl allgemein 
angenommen wird. Deshalb muss bei einer isolierten Lasion dieses 


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Uber die topiacbe Bedeutung der „diasoziierten Potenzatorung“. 45 

Abschnittes in toto das Krankbeitsbild auch dasselbe sein wie im Falle 
der ErkranknDg samtlicher Wurzeln der Cauda nach Abgang der 
beiden oberen Sakralnerven Oder weiter oben unter Schonung der 
lateral gelegenen. Das Bild wird dann immer sein: Blasen-Mastdarm- 
gtdrungen, Ejakulationsstorung und Anasthesie des Perinetuns, der 
Regio glutaea infer., der tiaut des Skrotums und des Penis, sowie einer 
schmalen Zone an der Hinter- und Innenseite des Oberscbenkels bei 
sonstiger Intaktbeit der Sensibilitat und Motilitat der unteren Extre¬ 
mist. Diese Uberlegung ist aber eine rein theoretische; denn da, 
worauf aucb Braun und Lewandowsky besonders binweisen, selbst 
bei umfangreicben Lasionen im Konus der eine oder andere Teil leicht 
verschont wird, kommen hier die charakteristischen Dissoziationen 
vor, wahrend wir bei Erkrankung der Cauda vegen„der engen Nach- 
barschaft der Wurzeln mit einer gleichmassigen Dysfunktion des Uro- 
genitalsystems rechnen miissen. „Potenz ist ebenso wie die Blasen- 
und Mastdarmfunktion in gleicher Weise gelahmt", wie es L. B. 
Muller ausdriickt, auf dessen Arbeiten zum grossen Teil unsere An- 
scbauungen auf diesem Gebiet beruhen. Man konnte nun annehmen, 
dass wir in der „Dissoziation- der Urogenitalfunktion“ ein 
differentialdiagnostiscbes Mittel batten. L. R. Muller bat es denn 
auch in der Tat in einer friiheren Arbeit erwahnt, ohne merkwiirdiger- 
weise spater darauf zuriickzukommen. Dagegen spricht zunacbst der 
Umstand, dass die anatomischen Verbaltnisse der Innervierung der 
Blase noch umstritten sind, dass „die Frage nacb den Beziehungen 
zwischen den vesikalen Funktionsstdrungen und dem Sitz der Riicken- 
marksaffektion" (Oppenbeim) noch der weiteren Klarung bedarf. 

Mit Rehfisch nebmen die meisten Autoren an, dass ein Teil der 
die Blase versorgenden Nerven aus dem Lumbalmark stammt, das sie 
als Nervi communicantes verlassen. Sie zieben zum lumbalen Anted 
des Sympatbikus und dann als Nervi mesenteric! zum Ganglion mesen- 
terici inf., von wo sie als Nervi hypogastrici in den gleichnamigen 
Plexus ziehen, wo sie sich mit dem zweiten Anteil der Blasennerven, 
die aus den oberen Sakralnerven hervorgehen, zum Nervus erigens 
vereinigen. Fur L. R. Muller unterliegt es keinem Zweifel, dass die 
letzten nervosen Zentren fur Blase und Mastdarm im sympatbischen 
Nervensystem gelegen sind. Von sympathischen Ganglien aus geben 
dann die Fasern durcb das Riickenmark ins Gebirn, durch die der 
Erwachsene seine Blase beherrscht. Desbalb, bebauptet er weiter, sind 
die Storungen der Blasen- und der Mastdarmfunktion auch dieselben, 
gleicb wo der Herd im Riickenmark sitzt. Bei Sitz im Konus oder 
in der Cauda haben wir dieselben Storungen, „wie sie sich im An¬ 
schluss an Querschnittsaffektionen im iibrigen Riickenmark ausbilden‘ ; . 


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fiOENHEIM 


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Wie aber schon Minkowski nacbgewiesen hat, stimmt seine Erkla- 
rung nnr fiir die Falle, in denen zunacbst eine langerdauernde Re- 
tentio vorliegt, nicht aber fur die, in denen es gleich zu dein Bilde 
der atonischen Blasenlahmung mit paralytischem Harntraufeln kommt. 
L. R. Muller gibt als typisches Bild der Dysfnnktion der Blase an: 
zunachst Retentio urinae, dann unwillkiirlicher Harnabgang und 
schliesslich spontane Entleerungen von annahernd gleicher Menge in 
fast regelmassigen Zwischenraumen. Gegen die L. R. Miillersche 
Anschauung kann aber nicht nur der von Minkowski gemachte Ein- 
wand erhoben werden, sondern es spricbt aucb fol- 
gendes noch dagegen: Wie ein Blick auf die schema- 
tiscbe Zeicbnung (Fig. 3) zeigt, ware es dann sebr 
jmwabrscheinlich, dass bei kaudalem Oder spinalera Sitz 
einer Erkrankung eine isolierte Blasenstorung obne 
Beteilignng des Mastdarms vorkame. Nun liegen 
aber mehrere Krankheitsgeschicbten dieser Art vor, 
und auch in unserem 1. Fall war nichts iiber eine Mast- 
darmstorung zu eruieren. Eher konnte man diesen 
Anschauungen nacb allein eine Storung in der Ent- 
leerung des Mastdarms erwarten, namlich wenn das 
Riickenmark Oder die Cauda nur in dem Teile er- 
krankte, der unterbalb des Eintritts der Bahnen, die 
den nervosen Anteil der Blase mit dem Gehirn verbin- 
den, liegt. Einen solchen Fall fanden wir aber bei 
Durchsicht der Literatur nicht. Bei Annahme der 
L. R. Miillerschen Ansicbt miisste erlautert werden, 
warum die Fasern, die die Blasenganglien mit dem 
Him verbinden, leichter erkranken sollten, als die, die 
die Verbindung des Mastdarms mit dem Him herstellen, 
am die vorhin erwahnten Krankengeschichten mit iso- 
lierter Blasenstorung bei Intaktheit der Mastdarm- 

J J. f T • -U - UCUUUU” U 

wirbei 2-5. funktion zu erklaren. Bei hoherem Sitz der Er¬ 
krankung sind ja auch in der Tat immer beide 
Organe in gleicher Weise gestort. Aucb die oben nach Rehfisch 
vorgetragene Anatomie spricht dagegen. Allerdings bestreitet 
L. R. Muller, dass es beim Menschen zur Anastomose der 
beiden obengenannten Nervengruppen kame. Wir glauben also, 
dass sowobl theoretische Erwagungen (es sei aucb noch erwahnt, dass 
Minkowski auf das Unwahrscbeinliche hinweist, das darin liegt, 
dass die Fasern, die durcb das Riickenmark ziehcn, hier kein Zentrum 
bilden sollten), als auch die klinische Beobachtung der Blasenstorungen 
ohne Mastdarmstorungen gegen L. R. Muller sprechen. Wir konnen 



Bl. = Blase. 

M. = Mastdarm. 


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liber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstoruug“. 47 

abet auch nicht so weit gehen wie Braun und Lewandowsky, die 
auf Grand verschiedener Tierversuche, besonders der von Roussy 
und Rossi, zu dem Ergebnis kommen, dass es durch nichts erwiesen 
sei, dass die sympathischen Ganglien als Reflexzentrum dienen. Roussy 
und Rossi priiften namlich die Miillerschen Versuche an 6 Hunden 
und 5 Katzen nach und fanden, dass nach Durcbtrennung der Cauda 
durch Abtragung des Conus meduUaris dauernde Storungen der Mik- 
tion und Defakation auftraten. Der Urin ging fast dauernd tropfen- 
wdtse ab und konnte nicbt im Strahl entleert werden. Die Blase war 
leicht kompressibel. Durchneidet man dagegen das Lumbalmark, so 
wird der Urin im Strahl entleert. Nach einigen Tagen der Retentio 
ist die Blase nur schwer kompressibel. 

Dass es nach Zerstorung des Konus doch wieder zu einer ge- 
wissen geregelten Blasenfunktion kommt, scheint doch dafiir zu 
sprechen, dass es ein praformiertes extramedullares Blasenzentrum 
gibt. Wir moehten also mit Oppenheim, Frankl-Hochwart, 
Minkowski, Rothmann u. a. drei einander iibergeordnete Reflex- 
bogen annehmen: einen sympathischen, einen spinalen und einen zere- 
bralen. Hieraus geht nun aber scbon hervor, dass wir nicht hoffen 
konnen, aus Blasenstorungen Schliisse auf den Sitz der Erkrankung 
zu ziehen. Dasselbe gilt analog auch fur die Mastdarmfunbtion. 

Wenn Oppenheim in seinem Kapitel iiber Myelitis transversa 
schreibt, dass bei Sitz im Lumbal- oder im Lumbosakralmark die 
Storungen von Blase und Mastdarm noch ausgepragter zu sein pflegen 
als bei hoherem Sitz, so wird das doch in praxi oft im Stich lassen. 
Dass L. R. Muller jeden Unterschied leugnet, haben wir ja schon 
ausgefiibrt. Auch bei Cauda- und Konuserkrankung besteht kein 
Unterschied. So gute Kenner wie v. Frankl-Hochwart und 
Znckerkandl schreiben: „Eine typische schwere Verletzung des 
Conus medullaris macht das Bild der Atonie der Blase . . . Dieses 
Bild kann aber auch vorkommen bei Verletzung der Cauda equina." 
Ahnlieh spricht sich Cassirer aus: „Es scheint nicht, als ob (die 
Storung der analen, vesikalen und genitalen Funktion) bei kaudalem 
oder medullarem Sitz eine differente ist.“ Und noch in neuester Zeit 
kommt v. Eiselsberg, der die Frage an der Hand der zahlreichen 
zur Operation kommenden Kriegsverletzten zu untersuchen Gelegen- 
heit hatte, zu dem Resultat: bei der Entleerung der Blase „steht die 
Art und der Sitz der Riickenmarkslasion mit der Form, Dauer und 
Prognose dieser Blasonstorung in keinerlei Beziehung. Die Ver- 
letzungen im Konus bieten diesbeziiglich dieselben Krankheitsbilder 
wie hoher oben gelegene." 

Also nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis zeigt, dass 


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Boenheim 


Blase q- and Mastdarmstorungen zar Topik der Riickenmarkserkran- 
kungen nicht vefwertet werden konnen. 

Anders liegt es bei den Stbrungen der Funktion der (tnann- 
lichen) Genitalien. Zunachst einmal besteht hier im grossen und 
ganzen eine Ubereinstimmung in der Ansicht iiber die Innervation, 
nachdem L. R. Muller in einer gemeinschaftlichen Arbeit mit Dahl 
von seiner friiheren Ansicht, dass der Reflexbogen der Erektion rein 
sjmpathisch ist, zuriickgekommen ist. Die inneren Genitalien werden 
von Nerven versorgt, die zum Teil aus den oberen Lumbal-, zum Teil 
aus den unteren Sakralnerven stammen. Diese beiden vereinigen sicli 
in dem Nervengeflecht des kleinen Beckens. 

Der pbysiologische Ablauf der Kohabitation ist an drei Faktoren 
gebunden: an die Libido, die Erektion und die Ejakulation. Selbst- 
verstandlich sind diese drei Komponenten voneinander abhangig. 
Wenn wir z. B. von primarem Nachlassen der Libido horen, so wird 
es eventuell noch zu Pollutionen kommen, nicht mehr aber zo Erek- 
tionen und Ejakulationen im wachen Zustand. Umgekehrt wird die Impo- 
tentia coeundi (insbesondere desOrgasmus und der Ejakulation), zumal bei 
kultivierteren Menschen, auch zur sekundaren Schwachung der Libido 
fiihren, wie in unserem 2. Fall. Von der Libido konnen wir hier 
absehen, ohne die Streitfrage, ob es sich dabei um ein nicht lokali- 
siertes Lustgefiihl handelt oder ob man fur die Libido ein kortikales 
oder subkortikales Zentrum annehmen muss, zu diskutieren. 

Was die Erektion anbetrifft, so werden im allgemeinen drei 
Moglichkeiten des Zustandekommens derselben angenommen: erstens 
eine psychisch bedingte. (Die Fasern, die in diesem Fall die Erektion 
zur Auslosung bringen, verlassen das Ruckenmark im Lumbalteil.) 
Zweitens gibt es einen Reflexbogen, der rein sympathisch verlauft 
und der durch die gefiillten Samenblaschen und durch die Blase er- 
regt wird. Ein dritter Reflexbogen, der an die Intaktheit des 
2. Sakralsegments, also des Epikonus, gebunden ist, hat seinen zen- 
tripetalen Ast im Nervus dorsalis penis, seinen zentrifugalen im Ner- 
vus erigens. Muller-Dahl geben noch zwei weifcere Moglichkeiten 
an. Sicherlich ist die innere Sekretion nicht bedeutungslos fiir das 
Zustandekommen des zuerst angegebenen Reflexbogens und vor allem 
nicht fiir die Libido, die dann erst sekundar den Reflex auslost. Sie 
aber als selbstandiges Kausalmoment anzufiihren, dafur liegt wohl 
keine Bereehtigung vor. Was ferner die Reizung des Zervikalmarks 
als Ursache anbetrifft, so sind Erektionen und Ejakulationen hierbei, 
z. B. bei Erhangten, ohne weiteres durch Unterbrechung der hem- 
menden Fasern zu erklaren, analog der Steigerung der Sehnenreflexe 
bei Unterbrechung der hemmenden Bahnen im Ruckenmark. Denn 


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Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstorung". 49 

es muss angenommen warden, dass auch fiir Erektion und Ejakula- 
tion hemmende Bahnen im Riickenmark verlaufen, bei deren Unter- 
brechung es zu Priapismus (und eventuell zu unfreiwilliger Ejakula- 
tion) kommt, wenn auch gewisse Tierversuche, besonders die yon 
Poliman, dagegen zu sprechen scheinen. Er fand namlich bei Schnitt 
durcB das Riickenmark an der dorsalen und lumbalen Grenze in 9 
von 12 Fallen, dass es weder zur Erektion noch zur Ejakulation 
beim Hunde kommt. Auch manche Krankengeschichten lassen bei 
hohen Rfickenmarksquerschnittslasionen Priapismus Yermissen. Aber 
ein so guter Kenner wie K ocher hebt das Fehlen ausdriicklich her- 
vor. Um nur einen typischen Fall dieser Art mitzuteilen, sei der Yon 
Minor erwahnt, der bei Hamatomyelie in C 6 bis D 1 im Anschluss 
an einen Unfall starken Priapismus und unfreiwillige Ejakulation be- 
obachtete. 

Erwahnt sei schliesslich noch, dass Miiller und Dahl derMeinung 
sind, dass es allein durch Nachlassen des Tonus der Konstriktor- 
fasern zur Erektion kommen konne; sie stiitzen sich dabei auf Kran- 
kenbeobachtungen und auf die Lovenschen Versuche. 

Das Wichtigste ist also, dass es neben dem spinalen auch einen 
sympathischen Reflexbogen gibt, der bei Lasion des 2. Sakralsegments 
in Funktion treten kann. Daher ist es auch nicht moglich, aus 
dem Verhalten der Erektion Schliisse auf den Sitz der Er- 
krankung zu ziehen. Es gibt Krankengeschichten, in denen an- 
fangs eine Potenzstorung vorlag, spater aber nur eine Ejakulations- 
storung. In solchen Fallen wird man annehmen, dass dann die 
Erektion fiber den praformierten sympathischen Reflexbogen statt- 
findet. 

Der dritte Faktor im Ablauf der Kohabitation ist die Ejakula- 
tion. Hier liegen in der Literatur verschiedene Ansichten Yor, was 
man darunter verstehen soli. Wahrend die einen schon die Samen- 
absonderung so bezeichnen, verlangen die anderen, wie uns scheint 
mit Recht, die Ausschleuderung des Samens aus der Pars prostatica 
der Urethra, d. h. die Kontraktion der Musculi bulbo- und ischio- 
cavernosi.. Durch die glatten Fasern des Vas deferens, der Vesica 
seminaria und der Prostata, die sympathischen Nerven unterstellt 
sind, wird der Samen zunachst in die Pars prostatica befordert. Nun 
setzt die eigentliche Ausschleuderung durch die genannten Muskeln 
ein. Ist der Reflexbogen gestort, so fliesst der ergossene Samen nur tro- 
pfenweise ab, statt dass er „ausgeschleudert“ wird. Dass es tiberhaupt 
zu einer Entleerung desselben kommt, kann man sich wohl einfach 
als eine Art des „Ablaufens“ vorstellen. Nattirlich ist in einem sol¬ 
chen Fall die Potentia generandi nicht aufgehoben, was ein selir 

Deutsche Zeilschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 4 


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Boeniieim 


interessantes Beispiel von L.R. Muller demonstriert, wo der Patient 
trotz Ejakulationsstorung noeh zwei Kinder zeugte (Krankenge- 
schichte 6). 

Der Reflexbogen der Ejakulation wird wohl folgendermaCen aus- 
gelost: nach einer Summation der sensiblen Reize, die das Friktions- 
gefiibl verursachen, tritt eine Kontraktion der glatten Muskulatur 'der 
inneren Qeschlechtsorgane ein. Dadurch wird der sezernierte Samen 
in den hinteren Teil der Urethra befordert. Nun kommt es zur Aus¬ 
losung des spinalen Ejakulationsreflexes. 

Mit der Samenentleerung ist ein Gefiihl der Wollust verbunden. 
Es erhebt sich nun die Frage, wann und wo dieses Gefiihl ausgelost 
wird. Fiirbringer meint, „die Erregung des in der Hirnrinde ge- 
legenen Wollustzentrums, welches zugleicb Sitz der Libido ist, durch 
die Muskelkontraktionen, welche ibrerseits reflektorisch durch den 
Durchtritt von Sperma in die Harnrohre vermittelt werden, muss als 
Grundbedingung (des Orgasmus) gelten.“ „Auch Ed. Muller sieht in 
einer Unterbrechung des Reflexbogens der Ejakulation, und zwar in 
einer peripher gelegenen, die Erklarung fur ein etwaiges Fehlen 
des Orgasmus: „Spontane Steifungen des Gliedes mit kraftlosem 
Samenabfluss sollen (bei Konuserkrankungen) noch moglich sein. Bei 
Unterbrechung der zu- und abfukrenden Impulse, die von den unter- 
geordneten syrapathischen Ganglien aus durch den Konus eilen, muss 
naturlich bei solchen automatischen Vorgangen jeder Orgasmus fehlen. 
Es muss schliesslich bei solchen Konuslasionen nicht nur die psy- 
chische, sondern auch die reflektorische, durch Reizung der Genital- 
gegend erfolgende Auslosung der Erektion verloren gehen. Den 
primaren Einfluss von Sensibilitatsstorungen an den Geni- 
talien darf man hierbei nicht unterschatzen 14 . 1 ) Dieser Modus 
der Auslosung, der von den meisten Autoren angenommen wird, 
wiirde in der Tat, ganz gleich ob man ein Zentrura im Gehirn an- 
nimmt oder nicht, die Erscheinungen der Ejakulation erklaren. So 
fehlen z. B. bei den nachtlichen Pollutionen die adaquaten sensiblen 
Reize. Auch der eigentiimliche Fall, den Orlowski mitteilt, fande 
hiermit seine Erklarung. Er beobachtete folgendes: bei einem Manne 
kam es zu Kontraktionen der Mm. bulbo- und ischiocavernosi, die 
vollkommen denen dieser Muskeln bei Ejakulationen entsprechen. 
Dabei fehlte jede Samenabsonderung, wie auch jede geschlechtliche 
Empfindung. Fiir die Anschauung, dass der Durchtritt des Samens 
durch die Harnrohre den Orgasmus auslost, spricht auch folgender 
von Orlowski angestellter Versuch: kokainisiert man den hinteren 

1) Nicht von Ed. Muller hervorgehoben. 


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Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstorung". 


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Abschnitt der Urethra vor dem Koitus, so fehlt jeder Orgasmus. Er 
nimmt deshalb an, dass der Orgasmus nur mit der Kontraktion glatter 
Fasern zusammenhange. Es setzte dann also der Orgasmus kurze 
Zeit vor der eigentlichen Ejakulation ein, eine Auffassung, die man 
in den meisten Arbeiten findet. Sicher aber fallt der Hohepunkt mit 
der eigentlichen Ejakulation zusammen. Sehr gut im Einklang mit 
der angegebenen Theorie lasst sich die Erscheinung des Oberspringens 
der Erregung auf das ganze vegeative System auf der Hohe der Er- 
regnng bringen; denn die glatten Fasern der genannten Organe 
unterstehen ja dem sympathischen System. 

'Wichtig erscbeint uns, die Abbangigkeit des Orgasmus und 
der Ejakulation voneiaander scharfer zu betonen, als es gewbhn- 
lich geschieht. Wenn der sensible Reiz des durch den Ductus eja- 
culatorius oder durch die Pars prostatica wandernden Samens ins 
Riickenmarksgrau gelangt, so muss hier entweder analog dem ver- 
bindenden Ast der Sehnenreflexe ein Uberspringen anf das motorische 
Zentrum der Ejakulation stattfinden, oder aber der Reiz muss weiter 
zerebral gefiihrt werden und dann ein dort anzunehmendes Ejakula- 
tionszentrum erregen, bzw. ein anderes Zentrum, das dann seinerseits 
das spinale Zentrum erregt. Wahrend dies nun eine Kontraktion 
der Musculi bulbo- und ischiocavernosi herbeifiihrt, erreicht die 
Summation der sensiblen Reize ihren Hohepunkt. Dann kommt es 
sehr schnell zu einem Abfall. 1st nun die sensible Bahn, die von 
den Genitalien zum Ruckenmark fiihrt, unterbrochen, so fehlt das 
Friktionsgefiihl und der Orgasmus. Als eine sekundare Scha- 
digung ist in solchen Fallen das Ausbleiben der Auslosung der 
Ejakulation anzusehen. Orgasmus und Ejakulation sind gleich- 
sinnig gestort. Umgekehrt werden wir aber auch in den Kranken- 
geschichten, die eine Storung der Ejakulation angeben, eine Storung 
des Orgasmus aunehmen. In den genau aufgenommenen Kranken- 
geschichten findet sich fast standig bei sensiblen Storungen der 
Kohabitation auch motorische- 

Nunmehr kbnnen wir den Begriff der „dissoziierten Potenz¬ 
storung" definieren. Wir verstehen darunter das Fehlen des Or¬ 
gasmus bei erhaltener Libido und Erektion bei fehlender oder stark 
verlangsamter, „tropfender“ Ejakulation. Da nun, wie oben aus- 
einandergesetzt, im Konus nur das Ejakulationszentrum liegt, das fur 
Erektionen aber hoher, so konnen wir sagen: bei krankhafter 
Storung der Ejakulation liegt ein Herd, wenn er iiberhaupt 
im Ruckenmark liegt, im Konus. Weiter kbnnen wir aus 
der engen Zusammengehorigkeit der Ejakulation und des 
Orgasmus folgern, dass auch dieser verandert sein wird, 


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Boenheim 


d. h. dass eine disso%iierte Potenzstorung vorliegt. Wenn 
auch theoretisch die Moglichkeit besteht, dass eine Caudaerkrankung 
an gewisser Stelle (vgl. Fig. 4, an den bezeicbneten Stellen) die- 
selben Erscheinungen macbt, wenn namlich nnr der 2. Sakralnerv 
verschont ist, so handelt es sich bier um eine fast ausgescblossene 
Moglichkeit. Wir baben in der Literatur aucb nur 2—3 Falle dieser 
Art getroffen. Bei a musste die Lasion nnr die zentral gelegenen 
Nerven treffen, was wohl bei der engen Nachbar- 
schaft ganz ausgeschlossen sein diirfte. Bei einem 
Herde bei b dagegen ist die. Wabrscheinlichkeit 
grosser, dass wir eine dissoziierte Potenzstorung 
anamnestisch feststellen. Allerdings wjrd ancb in 
einem solchen Falle die Diagnose leicbter zu stellen 
sein. Bei zwei der eben erwahnten Falle, bei denen 
es sich um Tumoren bandelte, konnte denn auch schon 
bei der Inspektion, bzw. bei der rektalen Unter- 
suchung die Diagnose gestellt werden. (Vgl. Kranken- 
geschichte 10 und 11.) 

Bei der grossen Wichtigkeit, die demnach fur 
unsere Betrachtung der Ejakulationsstorung zu- 
kommt, woilen wir noch kurz die extramedullaren 
Ursachen nennen, unter denen sie ebenfalls auftreten 
kann. Die Ejakulation fehlt zunacbst bei erworbenem 
oder angeborenem Aspermatismus, ferner wenn Atre- 
sien, Strikturen oder Narben die Absonderung des 
Samens in die Pars prostatica verhindern, und schliess- 
lich bei funktionellen Storungen, die denen der 
funktionellen Erektionsimpotenz. an die Seite zu stellen 
holder Lendenwir- s j n j < Natiirlich fehlt die Ejakulation auch bei einer 
= Kreozbein. Lahmung der Muskeln, sowie bei einer Unterbrechung 
des zentripetalen Astes des Reflexbogens. Man sieht 
also, dass es in der Kegel nicht schwer sein wird, diese Arten aus- 
zuschliessen. 

Das Bild der dissoziierten Potenzstorung kann aber auch Vor- 
getauscht werden. Wenn namlich bei Sitz eines Herdes im Eonus 
und im 2. Sakralsegment, d. h. unter Mitbeteiligung des Erektions- 
zentrums, Erektion und Ejakulation zunachst darniederliegen, die 
Erektion aber spater iiber dem praformierten sympathischen Reflex- 
bogen zustande kommt, so hat man auch das Bild der dissoziierten 
Potenzstorung. Daher wird man auch nur dann- bei dissoziierter 
Potenzstorung an eine reine Konuserkrankung denken, wenn diese von 
Anfang an vorhanden war oder doch wenigstens sehr bald, nachdem 



Schomatische 
Zeichnung. 
L.W.2-6 = Gesamt- 


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Uber die topische Bedeutung der „di9soziierten Potenzstorung“. 


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eine etwaige Schockwirkung yerschwunden war. Schliesslich kann 
eine dissoziierte Potenzstorung yon Anfang an natiirlich auch bei 
Erkrankung des untersten Biickenmarks vorkommen, wenn zufallig 
das Erektionszentrum yerschont ist. 

Bevor wir die Falle mitteilen, sei erwahnt, dass die erste An- 
gabe uber Veranderung der Ejaknlation bei erhaltener Erektion yon 
Bernhardt gemacht worden ist, dass spater in einer seiner ersten 
Arbeiten L. R. Muller kurz die „Dissoziation der Urogenitalfunktion" 
nennt und dass Bans Curschmann darauf hinwies, dass es in 
charakteristischer Form nur bei KonUserkrankung angetroffen werde, 
wahrend Du four zwar schon 1896 das Bild theoretisch in seiner 
Pariser Dissertation ausarbeitete, aber noch yon der theoretischen 
Moglichkeit, es bei Caudaerkrankungen zu treffen, nicht abstrahierte. 
Er schreibt dort namlich: „Quant aux fonctions genitaJes, l’erection 
sera conservee, mais l’anesthesie de l’urethre amenera la diminution 
de la sensation voluptueuse; l’ejaculation sera lente, ne s’effectuera 
que goutte a goutte, par suite de la paralysie du bnlbo caverneux." 
Aber auch bei einer Affektion der aus dem Konus austretenden Wur- 
zeln habe man dasselbe Bild. 

Wir lassen nunmehr einige Ausztige aus Krankengeschichten 
folgen, um unsere Behauptung uber das Typische des Symptoms zu 
erharten. Wennschon die Zahl der yorliegenden Obduktionsproto- 
kolle isolierter Cauda- und Konuserkrankungen nicht sehr gross ist, 
so wird die Zahl noch eingeschrankt dadurch, dass wir in yielen 
Fallen, besonders in den beriihmten, alteren keine Angaben iiber das 
Verhalten der Geschlechtsfunktionen in der Anamnese linden. In 
einigen Fallen war es mir nicht moglich, die Originalarbeit ein- 
zusehen. 

Es seien zunachst einige obduzierte Falle mitgeteilt, von denen 
die drei ersten Konusfalle sind. 

Fall 1 (Gierlich). 

Es bandelt sich um einen Mann, bei dem es nach anfanglicher Harn- 
verhaltung und ausgedehnten Sensibilitats- und MotilitatsstOrungen zur 
Anasthesie in Reithosenform kam mit Schwund der kleinen Fussmuskeln. 
Spater kam es zu Automatismus der Blase und zu Stuhltragheit. Die 
Libido und die Erektion waren erhalten bei Fehlen des Orgas- 
mus und der Ejakulation. Drei Jahre nach dem Unfall trat der Exi- 
tus ein. Die Sektion ergab eine traumatische Myelitis der grauen Sub- 
stanz des Konus und des 2. Sakralsegments. 

Fall 2 (Ed. Fischer). 

Ein Mann fiel im Winter 1912/13 aufs Kreuz. Schon am nachsten 
Tage hatte er keine Beschwerden mehr. Im Mai 1913 traten „rheu- 


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matische" Beschwerden auf, and seitdem feblt angeblich dieFacul- 
tas coeundi. Immerhin erwfthnt die Krankengeschicbte am 11. VIII., 
dass Patient beim Lesen von Unterhaltungslektttre eine mftssige Erektion 
gebabt habe. Die Sektion (Prof. Oberndorfer) ergab: „Auf dem Durch- 
schnitt durch den Konus dcs RQckenmarks fallt im untersten Teil eine 
auffallende Verwaschung der Zeichnung auf... i l 2 cm oberhalb der 
Spitze des Konus ist das Rtlckenmark weicher als normal; die Zeichnung 
wird hier verwaschen . . . Atherosklerose mit Endarteriitis obliterans, 
besonders in den caudalen Teilen des RQckenmarks . . . Aus der mikro- 
skopischen Untersuchung ergibt sich das Vorhandensein und die zirkum- 
skripte Ausdehnung einer auf Gefassverschluss beruhenden Erweichung des 
Conus medullaris. u 

Fall 3 (Raymond und Cestan). 

Bei einem Maurer, der von einer Hdhe von 10 m herabfiel, bestanden 
nur unvollsthndige Erektionen mit langsamer Ejakulation obne 
WollustgefQhl. Die spater ausgefllhrte Obduktion ergab ein ge- 
sundes RQckenmark mit Ausnahme des Konus bis S 3 inklu- 
sive, wo Atrophie vorlag. Nach den Methoden von Pal und Weigert 
geferbte Schnitte zeigten, dass S 4 und 5 vollkommen entfarbt waren. 
Im Zentrum bemerkt man eine Ependymproliferation. Die intramedull9ren 
Gefftsse waren verdickt. Die unteren Sakralwurzeln waren grau, atro- 
phisch bei vdlliger Intaktheit der Ubrigen Cauda. 

In keinem der flrei Falle fehlte also eine dissoziierte Potenz- 
storung, die allerdings im 2. Falle nicht so ausgepragt ist wie in den 
beiden anderen. Es hatte, wohl durch Schockwirkung zu erklaren, 
die Facultas coeundi gelitten. Aber auch hier kam es noch zu Erek¬ 
tionen, wie ausdriicklich in der Krankengeschicbte vermerkt ist, so- 
gar schon bei Lektiire. Wenn in dem Fall von Gierlich von 
Anfang an Erektionsmoglichkeit bestand, so kann man das, wie 
schon ausgefuhrt, damit erklaren, dass nicht das ganze Segment S 2 
erkrankt ist. 

Wir lassen nunmehr einige Obduktionsfalle mit Sitz des Herdes 
im untersten Teil des Riickenmarks folgen. Bis auf den letzten Fall 
lag iiberall eine Stbrung der Erektion und der Ejakulation vor. 
Warum der sympathische Reflexbogen nicht die Funktion der Erek¬ 
tion ermoglichte, ist nicht anzugeben. Fiir den vorletzten Fall 
miissen wir dies annehmen, da hier eine vollige Zertriimmerung des 
untersten Riickenmarks vorliegt. 

Fall 4 (Zimmer). 

Ein 19jabriger Arbeiter fiel beim Erklettern einer Fichte. In der 
allerersten Zeit nach dem Unfall will er noch Erektionen und Ejaku- 
lationen ,gehabt haben. Jedoch sind seine Angaben darQber unsicher. In 
der Klinik sind wenigstens keine mehr beobachtet worden. Die Sektion 
ergab eine totale traumatische Erweichung des Konus und der 
oberen Sakralsegmentc. 


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Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenz9t6rung“. 55 

Fall 5 (Oppenheim). 

Es bandelt sich am einen Mann, der einen Unfall erlitt. Seitdem ist. 
der Penis danernd schlafF, and weder Erektionen noch Ejakula- 
tionen findfen statt. Die Obduktion ergab eine sich auf den Sakralteil 
beschrankende traumatische Myelitis uud Hamatomyelie. Die Warzeln 
sind mitergriffen, aber nnr soweit sie den erkrankten Segmenten ange- 
bOren. 

Fall 6 (L. R. Mflller). 

Es bestand vOllige Incontinentia urinae et alvi, wahrend die Ge- ' 
schlechtsfunktionen nicht erloschen waren. Patient zeugte nach 
seinem Unfall noch 2 Kinder. Die Erektion war die ganze Zeit aber raOg- 
lich, jedock war das Glied schlaffer als fraher. In den ersten Jahren nach 
dem Unfall soli Patient noch Wollastgefahl beim Koitus gehabt haben, 
das aber jetzt schon seit l&ngerer Zeit geschwunden ist. Niemals emp- 
findet er den Samenabgang, der nicht ejakuliert wird, sondern nur lang- 
sam und tropfenweise abfliesst. Die Sektion, die einige Jahre sp&ter aus- 
gefahrt wnrde, ergab einen Bracb des 1. Lendenwirbels mit vollstftndiger 
Zertrammerang des Rackenmarks vom 4. Lendensegment bis 
zsm 4. Sakralsegment. 

Ein interessantes Gegenbeispiel ist ein Fall, in dem es zu nor- 
malen Ejakalationen, auch zu Pollutionen kam, wahrend die Erektio¬ 
nen schwacher warden. 

Fall 7 (Andr6-Thomas and Jumentig). 

Bei der erwShnten Anamnese der Gescblechtsfunktionen ergab die 
Sektion folgendes: vom 4. Lendensegment bis inklasive 3. Sakral¬ 
segment erstreckte sich eine L&sion, und zwar in den verschiedenen 
Segmenten in verschieden grossem Umfang. Der Haaptbefand war aber 
ein Tumor in der H5he der unteren Anschwellung des Rackenmarks 
zwischen der Cauda equina. 

Hier war also im dritten Sakralsegment das Ejakulationszentrum 
verschont. 

Wie in den Fallen 4 und 5 finden sich auch in den folgenden, 
wo es sich um primare oder sekundare Caudaerkrankung handelt, 
immer eine gleichsinnige Storung der Erektion und der Ejakulation. 
Auf das Besondere der drei letzten Falle gehe ich am Schluss dieses 
Abschnittes ein. 

Fall 8 (Poth, spftter auch von Jacobsohn verOffentlicht). 

Bei einem Patienten fehlten nach einem Unfall die Libido und 
die Potenz vOllig. Aus dem Sektionsprotokoll geht hervor, doss ein 
Tumor die Caudawurzeln komprimierte. 

Fall 9 (L. R. Mailer). 

Bei einem Patienten, der keine Erektionen and Ejakalationen 
hatte, wnrde inta vitam die Diagnose auf Myelitis im untersten Racken- 
marksabschnitt gestellt. Bei der Sektion zeigte aber die mikroskopische 


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Untorsuchung, „dass sowohl das obere Sakralmark wie auch der eigent- 
liche Conus medullaris vOllig norraale histologische Verhaltnisse darboten . . . 
Deutliche und grobe Ver&nderungen-zeigten dagegen die das obere 
Sakralmark und den Konus umgebenden Wurzeln der Cauda equina... 
Kurz, wir hatten es in diesem Falle mit einer Entzflndung der Cauda 
equina-Fasern zu tun,“ 

Unter den yielen ahnlichen Fallen seien die yon Oppenheim, 
Oppenheim und Krause und von Soderbergh und Helling 
genannt. 

Fall 10 (L. R. Moller). 

Ein 20 Jahre alter Gartner bekam plOtzlich reissende Schmerzen im 
rechten Bein. Spate? wurde auch das linke Bein ergriffen, und es kam 
zu den bekannten Blasen-MastdarmstOrungen. Erektionen waren wie 
frtkher erhalten; aber bfei der Ejakulation „kommt dieNatur nur 
bis in die HarnrOhre und kann dann nicht heraus". Die Gegend 
des Kreuzbeins ist schon gegen leichten Druck empfindlich und ein wenig 
vorgewOlbt. Bei der rektalen Untersucbung ftlhlt man einen an- 
scheinend mit dem Kreuzbein verwachsenen Tumor, ein Befund, der dnrch 
die Sektion bestatigt wird. Die Fasern des Plexus sacralis und die 
unteren Fasern der Cauda sind von diesem Tumor vOllig um- 
wachsen. Das Rflckcnmark selbst zeigt keinen pathologischen Befund. 

Fall 11 (B&lint und Benedict). 

Nachdem es bei einem 57jahrigen Hirten zu Schmerzen im Gesass 
und RQcken, sowie zu Blasen- und Mastdarmbeschwerden gekommen war, 
traten auch Veranderungen in den Geschlechtsfunktionen auf, die vorher 
normal waren. Er hatte nur 1—2 mal Erektionen seitdem. Ein vorge- 
nommener Koitus Hess Ejakulation und Orgasmus vermissen. 
Bei der Inspektion dieses Patienten sah man an drei Stellen des Rllckens 
eine Pulsation, die noch deutlicher beim Ffihlen war. Die Probepunktion 
ergab reines Blut. Bei der rektalen Untersuchung ftlhlte man 
einen allseitig pulsierenden Tumor. Die Darmbeinschaufel war 
arrodiert. Es handelte sich um ein Aneurysma der A. hypogastrica 
oder eines Astes derselben. 

Als dritten Fall dicser Art kOnnte man den vonValentini ansehen. 
Auch hier fanden Erektionen statt bei fehlendem Orgasmus. Den 
Abgang von Samen bemerkte er nicht, obgleich er stattfand. 

Diese drei Falle sind, soweit wir die Literatur uberseben, die 
einzigen, bei denen sich eine dissoziierte Potenzstorung bei 
kaudaler Erkrankung findet. Nun scheint es mir aber in dem 
dritten Fall, der nicht durch die Obduktion gesichert wurde, nicht 
klar zu sein, dass es sich dort wirklich um eine kaudale Erkrankung 
handelt. Die mitgeteilten Symptome lassen auch eine andere Er- 
klarung zu. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass natiirlich 
auch eine Moglichkeit besteht, dass bei tiefem kaudalen Sitz der 
Symptomenkomplex der dissoziierten Potenzstorung entsteht, und 


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Uber die topische Bedeutung der „di8soziierten Potenz8t6rung“. 


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weiter darauf, dass in solchen Fallen die topische Diagnose leicht zu 
stellen sein diirfte. In der Tat war in einem der beiden eben mit- 
geteilten Falle die Diagnose ja auch scbon durch die lnspektion, das 
anderemal durch. die rektale Untersuchung zu stellen. In Anbe- 
tracht dessen, dass sonst bei Caudaerkrankungen stets eine Potenz¬ 
storung vorlag, wird also der Wert der dissoziierten Potenzstorung 
als topisches Symptom durch diese beiden Falle nicht gemindert. 

Wir lassen nunmehr noch einige nicht obduzierte Falle folgen, 
beschranken uns aber auf solche mit Sitz im Konus, bei denen das 
Bild der dissoziierten Potenzstorung angegeben ist. 

Fall 12 (Bernhardt). 

Patient hatte am 10. I. einen Unfall. Die Anamnese ergab, dass er 
nach diesem Unfall dann und wann Erektionen hatte, einmal auch 
eine Pollution. Die Poteuz war bei erhaltcnem Orgasmus raOglich. 
Jedoch waren keine Ejaknlationen, wie wir sie definierten, mOglicb. 

Wenn man bedenkt, dass dies der erste Fall dieser Art ist, dass 
die Anschauungen iiber die einzelnen Funktionen der Kohabitation 
demzufolge noch wenig gesichert waren, dass Bernhardt selbst z. B. 
aus dem Umstand, dass die eigentlicbe Ejakulation fehlte, auf eine 
Impotentia generandi schliesst, so brauchen wir dem Verhalten des 
Orgasmus und der Ejakulation, die hier nicht gleichsinnig gestort 
waren, wie wir es erwarten wiirden, keine zu grosse Bedeutung bei- 
zulegen. 

Fall 13 (Schuster). 

Er stelltc einen Patienten nach einem Unfall vor, bei dem er die 
Diagnose auf Konuserkrankung stellte. Bei ihm lag ein dissoziiertes 
Verhalten der Erektion und der Ejakulation vor. 

Fall 14 (Ziegler). 

Ein Patient stttrzte am 19. XI. 1890. Schon im Januar hatte er 
nachtliche Pollutionen, und im Mai 1891 traten Ofters auch am Tage 
Erektionen auf. Den Erektionen folgte sehr rasch der Abgang des 
Samens, der ohne Ejakulation unter Schmerzgefftbl mit Urin vermischt 
abgesondert wurde. Orgasmus fehlte vollkommen. „Versuchter Koi- 
tus misslang wegen ungenttgender Erektion und vorzeitigem Samenabgang." 
Ziegler nimmt eine Erkrankung des 3.—5. Sakralsegments an. 

Die Angabe, dass der (anscheinend nur einmal versuchte) Koitus 
misslang, diirfte ein Zufallsbefund gewesen sein, wohl psychisch be- 
dingt. Denn da es zu anderen Zeiten zur Erektion kam, liegt kein 
Grand vor, warum die Immisio penis nicht gelingen sollte. Bei dem 
Samenabgang fehlte aber jeder Orgasmus! 

Fall 15 (v. Frankl-Hochwart und Zuckerkandl). 

Sie teilen einen Fall mit, in denen das Krankheitsbild von den be- 


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Bojesheim 


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kannten Erscheinungen der StOrungen in der Urogenitalfnnktion beherrscht 
wird. Seit Beginn der Erkrankung kommt es b&ufiger als frfiher za Erek- 
tionen. Ein Kohabitationsversuch gelang quoad immissionem. Jedoeh 
fehlte bei der Ejakulation jeder Orgasmus. Die Autoren nehmen 
eine Konuserkraukung an, aber aus gewissen Grttnden, die bier Ober- 
gangeu werden kdnnen, eine Mitbeteilignng hoherer Caudawurzeln. 

Fall 16 (Hans Curschmann). 

Bei einem Patienten mit multipier Sklerose mit Sitz des Herdes 
irn Konus fehlte JedeSpur von Orgasmus" bei normaler Libido 
und vOllig erhaltener Erektion. 

Fall 17 (Biilint und Benedict). 

Bei einem 42j4hrigen Landmann kam es im Anschluss an eine Er- 
kflltung zu einer Krankheit, zu deren Symptomen Stflrungen der Blase, des 
Mastdarms und der Genitalien gehflrten. In den erstcn l x / 2 Jahren seiner 
Krankheit Qbte er den Koitus nicht aus. Als er sich dann verheiratete, 
konnte er seinen ehelichen Pflichten nicht regelmhssig nachkomraen. Zwar 
hatte er Erektionen, auch gelang ihm zuweilen die Immissio penis, doch 
fehlten Ejakulationen, wahrend eine Absonderung des Samens statt- 
fand. Das Wollustgeffthl fehlte vollkominen. Die Verfasser nehmen 
eine Erkrankung des 3.-5. Sakralsegmentes an, auch eineAffek- 
tion von S 1, weil die Achillessehnenreflexe fehlen (vgl. Epikrise zu Fall 1). 
Da initiate Schmerzen bestanden, glauben sie auch an eine Mitbeteiligung 
der Rtlckenmarkshaute, so dass die Diagnose Meningomyelitis sacralis 
lautet. 

Auf die Krankengeschichten von Bregman, Fischler, Zingerle, 
Rabinowitschu. a., die in der uus interessierenden Frage ini grossen 
und ganzen dieselben Angaben machen, sei nur hingewiesen. 

Wir hoffen gezeigt zu haben, dass man leichter als aus Blasen- 
oder Mastdarmstorungen aus Storungen der Genitalfunktionen einen 
Schluss auf den Sitz einer Erkrankung ziehen kann, und zwar derart, 
dass, wenn von Anfang an eine dissoziierte Potenzstorung vor- 
liegt, es sicb um eine Erkrankung des Konus medullaris handelt 
oder ganz ausnahmsweise um eine tiefe Caudaerkrankung, die aber 
leicbt auszuscbliessen ist. Zu den schon bekannten Dissoziationen, 
die man bei Kiickenmarkserkrankungen anzutreffen pflegt, narulich 
zur Dissoziation der Sensibilitat und der Reflexe. kommt als dritte 
die dissoziierte Potenzstorung. In den Dissoziationen liegt ein Cba- 
rakteristikum der Riickenmarkserkrankungen. 


Llteratur. 

Balint u. Benedict, D. Z. f. N. Bd. 30. 
v. Bechterew, Ref. N. Z. 1899. 

Derselbe, Die Funktionen d Nervenzentr. 1908. 
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Aus dem Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt (aussere Abteilung). 

Uber Liquoruntersnchungen und Liquorbehandlungen bei 

Syphilitischen. 

Vortrag, gehalten in der Gesellschaft fair Natur- und Heilkunde, 
Dresden, 3. Februar 1917. 

Von 

Professor Werther, dirigierendem Arzt. 

Allgemeines iiber die Erkrankung des Zentralnervensystems 

und deren Verlauf. 

Durch die Salvarsanerfahrungen, besonders durch die Neuro- 
rezidive, ist die Aufinerksamkeit auf die syphilitiscbe Friihmeningitis 
gelenkt worden. Schon E. Lang in seinen Vorlesungen (1896, Me- 
ningealirretation) u. a. baben sie gut gekannt. Allgemein beachtet 
war sie nicht. Sektionsbefunde im friihen Stadium der Syphilis sind 
ausserst selten: sie waren fur die Kenntnis der Friihmeningitis ebenso 
-wie der Allgemeindurchseuchung sehr wichtig. Gelegentlich kommt 
ein Fall vor: z. B. beschrieb Fahr 1914 einen Fall yon todlicher Me¬ 
ningitis luica, 9 Wochen nach dem Primaraffekt. Gegeniiber der nicht 
selten anzutreffenden Ansicht, dass die Himlues eine Spaterkrankung sei, 
sei an Naunyn erinnert, der schon feststellte: die Half'te aller syphiliti¬ 
schen Erkrankungen am Zentralnervensystem fallt in die ersten 3 Jahre. 
Nonne sagt neuerdings: die meisten Falle von Himsyphilis fallen in 
das erste Jahr. Auch die Heubnersche Endarterititis kommt in den 
ersten 6 Monaten vor; so erlebte Kahler einen Erweichungsherd in 
der Briicke, wo die Sklerose noch nicht abgeheilt war. Nach Gowers 
fielen von 56 Halbseitenlahmungen in die ersten 2 Jahre! 

Neue Einblicke in diese Frage haben die Tierexperimente und 
die Lumbalpunktionen geschaffen. Von ersteren meine ich besonders 
die von Jakob und Weygandt. Nach ihnen neigt auch die Tier- 
syphilis zur Generalisierung des Virus. Das Nervensystem der Tiere 
wird haufig und friihzeitig, und zunachst im Sinne einer Meningeal- 
affektion, befallen. Die Halfte aller geimpften Tiere hatte patholo- 
gische Veranderungen am Zentralnervensystem. Erstens: entziindliche 
Infiltrationen in die Pia und in den perineuralen Scheiden der Riicken- 


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marksneryen und deren Gefassen, zweitens: Gefassinfiltrationen mit 
encephalitischen Prozessen in der Grosshimrinde and Herde im Nerven- 
parenchym, drittens: toxische, nicht von Gefasserkrankungen abhangige 
Parencbymdegeneration. Diese parenchymato-se Degeneration tritt dem- 
nach bei den Tieren friiher auf als beira Menschen, vielleicht weil 
der junge Tierkorper auf die Infektion keine ausreichenden reaktiven 
Vorgange bildet. 

lm wesentlichen sind diese Veranderungen am Zentralnerven- 
svstem die gleichen wie beiin Menschen. Die Lues cerebrospinalis 
weist folgende anatomische Veranderungen, sei es einzeln oder kom- 
biniert, auf: Inhltration in die Meningen, die die benacbbarten Him- 
und Riickenmarksnerven und die Rinde in Mitleidenscbaft ziehen, 
Herde im Parenchym, Periarteriitis und Endarteriitis, letztere mit Zirku- 
lationsstorungen und Erweichung. Bei der Paralyse baben wir neben 
der Meningealerkrankung und den von ibr abhangigen entziindlichen 
Prozessen in den Gefasscheiden die primare toxische Parencbym¬ 
degeneration. Die Pradilektionsstelle und Einbruchsstelle der Iufek- 
tion ist das Vorderhirn. Bei der Tabes bricht der Prozess am andern 
Pol des Zentralnervensystems ein: yon den Meningen auf die hinteren 
Wurzeln ubergreifend und zur toxiscben Systementartung fubrend. 

Jakob und Weygandt fanden, dass gleicbe Pallidastamme unter 
sonst gleichbebandelten Tieren einen Teil nervenkrank machten,.den 
andern an den Nerven verschonten, und dass ganz verschiedene Pal- 
lidastamme zu gleichen Erkrankungen des Nervensystems fiibrten. 
Sie konnten daher keinen Stamm mit besonderer Affinitat fur die 
Nerven annehmen (Virus nervosum). Im Gegenteil miissen wir auch 
beim Menschen annehmen, dass im friihen Sekundarstadium eine all- 
gemeine Spirochatendurchseuchung statttindet und dabei die Meningen 
nicht verschont bleiben. Jeder Syphilitische erkrankt zu dieser Zeit 
an den Meningen, in vielen Fallen, ohne dass die Erkrankung klinisch 
manifest wird. 

Diese Tatsache baben die Lumbalpunktionen im Friihstadium ge- 
lehrt. Die Erkrankung des Zentralnervensystems verlauft etwa wie 
folgt: die Spirochaten gelangen durch die Lymphbahnen in den Dural- 
raum. Ich erinnere an die Darstellung der Lymphgefasse durch Baum, 
welcher zeigte, dass sie die peripheren Nerven bis in den Meningeal- 
sack begleiten. Ehrmann (Wien) wies die Spirochaten zwischen den 
Fibrillen der peripheren Nerven und in den Nervenscheiden nach. — 
Es besteht eine Analogie zum Lepra- und Lyssaerreger, welche auch 
den Nerven folgen. So ist auch erklarlich, dass die Infektion langsam 
zum Zentralnervensystem vordringt, dass anderseits^ Infektionen, deren 
Pforte an Lippe, Zunge, Gaumen, kurz am Kopf, sitzt, rascher und 


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Uber Liquoruuterauchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitisehen. $3 

starker das Zentralnervensystem befallen als Infektionen mit Genital- 
sitz. Die Anwesenheit der Spirochaten im Liquor wurde von Mulzer 
nnd Steiner nachgewiesen: in 20 Fallen von Friihsyphilis verimpften 
sie den Liquor auf Kanincbenboden und batten drei positive Erfolge. 
Bei Neurorezidiven baben Nichols und Hough den Liquor mit posi- 
tivem Erfolg ebenso verimpft. Nach Friihwald sind die meisten 
positiven Spirochatenbefunde nach dem 3. Monat und iiberhaupt im 
ersten Jahre vorhanden. 

Die erste Veranderung, die der infektiose Reiz ausiibt, ist eine 
Liquorvermehrung, die sich durch Drucksteigerung ausspricht. Die 
Organe der Liquorausscheidung sind wohl in erster Linie die Gefasse 
des Plexus chorioides. Jedoch ist die Herkunft noch nicht klar: er 
ist kein reines Transsudat. Seine Bestandteile gehen nicht denen an- 
derer Transsudate parallel. Vielleicht ist der Liquor auch ein Sekret 
der Ependymzellen. In pathologischen Fallen, wo die Pia durchlassig 
wird, mischen sich Produkte der Gehirnzellen bei. 

Allmahlich siedeln'sich die Spirochaten an und wuchem. Die 
Gewebe (Hirnhaute und Gefasscheiden) antworten mit Entziindung. 
Es kommt zu Eiweissausscheidung in den Liquor. Das Eiweiss stammt 
entweder aus dem Blutserum oder aus dem entziindeten Gewebe oder 
aus aufgelosten Zellen. Wir unterscheiden zwischen Vermehrung des 
Gesamtei weisses und Globulin vermehrung. Die letztere kann ohne die 
erstere auftreten. Eine Gesamteiweissvermehrung betrachten wir als 
vorhanden, wenn die Nisslsche Methode (Esbachzusatz und Zentri- 
fugieren in graduierten Rohrchen) 0,35 "/ 00 und mebr anzeigt. Sie 
wird mit dem Alter der Infektion haufiger und hat bei Paralyse die 
hocbsten Grade. Wir baben meist das Gesamteiweis nach Brand- 
berg bestimmt, welcher unter zunehmender Verdiinnung des Liquor 
und Zusatz bestimmter Salpetersauremenge die Verdiinnungsgrenze 
zwischen normaler und gesteigerter Eiweissmenge feststellt. Jedoch 
haben wir aus Mangel an Salpetersaure 20proz. Sulfosalyzilsaure ge- 
nommen. 0,1—0,4 nach Nissl entspricht 1:10—1:40, dariiber hinaus 
entscheidet die Verdiinnungsmethode feiner als Nissl. Die Maximal- 
werte sind 1:120. 

Die Globuline werden mit gesattigter Ammoniumsulfatlosung aus- 
gefallt und zwar analog Oswalds Methode zur Bestimmung der Harn- 
eiweisskorper (M.M. W. 1904, H. 34). Bei gleichen Teilen von Liquor und 
Keagens(Phase I)fallt eine Sumrne von Globulinen aus. Durch die Frak- 
tionsreaktionen werden bei 40 Proz. Volumensattigung (0,5 Liquor + 
M aq. dest. -}- 0,4 Iteagens) die Pseudoglobuline gefallt, welche nach 
Kafka und Eicke bei chronischer Lues cerebrospinalis und Tabes 
vorkoramen, mit 33 Proz. die Euglobuline, welche bei Paralyse auf- 


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treten, mit 28 Proz. daa Fibrinogen und Fibrinoglobulin, welche bei 
akuter und tuberkuldser Meningitis, also auch bei akut auftretenden 
Steigerungen der syphilitischen Friihmeningitis (Ijei der sog. Herx- 
heimerschen Reaktion) charakteristisch sind und nie bei Paralyse 
vorkommen. 

Als eine Kolloidreaktion zum Nachweis pathologischen Eiweiss- 
gehaltes im Liquor sei die Mastixreaktion nach Emanuel genannt mit 
Ubergehung der Goldsolreaktion, die wegen ibrer Unzuverlassigkeit 
nicht fiir die Allgemeinheit taugt. Eine Mastixemulsion von bestimmter 
Herstellung wird durch eine bestimmte Kochsalzlosung au 9 gefallt. 
Normaler Liquor vermag sie vor dieser Fallung zu schiitzen, patho- 
logischer Liquor dagegen nicht. Diese Reaktion hat verschiedene Vor- 
ziige vor Goldsol und Phase I: sie wird durch kleine Blutbeimengungen 
nicht hervorgerufen, was bei Phase I Irrtiimer hervorrufen kann. 
Sie tritt friiher auf als Phase I und iiberdauert sie nicht selten. Sie 
ist also ein feineres Reagens auf kranken Liquor. Sie ist endlich sehr 
gut abzulesen, wahrend eine feine Ringbildung bei der Ammonium- 
sulfatreaktion manchem Schwierigkeiten macht. Die Paralyse reagiert 
bei dieser Probe am starksten, d. h. mit alien vier von Emanuel 
angegebenen Graden. 

Der Globulinvermehrung folgt die Zellausscheidung. Der pby- 
siologische Grenzwert ist 10 Lymphozyten im Kubikmillimeter. 10—30 
ist eine massige, 30—50 eine mittlere Lymphozytose (Pleozytose, wie 
Nonne sagt), wie sie im^ Friihstadium haufig ist. Uber 50, bis 400 
ausnahmsweise, ist eine starke Lymphozytose, die in den Stadien hoherer 
Entwicklung der syphilitischen Entzundung vorkommt. Diese Zellen 
stammen entweder von der infiltrativen Meningitis oder von den peri- 
arteriitischen Herden ab. Sie konnen natiirlich nur dann im Liquor 
auflreten, wenn die Erkrankungsherde nicht abgekapselt, wie z. B. 
Infiltrationsherde in der Gehirnsubstanz, sondem so gelegen sind, 
dass ihre Produkte abfliessen konnen. Abgekapselte Herde machen 
nur Drucksteigerung. Lymphozytose kann ferner nur bei solcben 
Erkrankungen des Zentralnervensystems auftreten, welche mit menin- 
gealer oder periarteriitischer Infiltration kombiniert sind: Die friiben 
paraneuralen Erkrankungen sind es stets, die Endarteriitis (nach Nonne) 
und die toxischen Parenchymdegenerationen dagegen nicht stets. Bei 
Erkrankungen wie Tabes und Paralyse ist diese Kombination das Be- 
stimmende fiir den Liquorbefund: sie scheint bei Paralyse bis zum 
Tode immer vorhanden, bei Tabes dagegen nicht immer vorhanden 
zu sein. (Tber die Haufigkeit der Lymphozytose macht Nonne (Vor- 
lesungen) folgende Angaben: bei Lues cerebrosp. in 76—80 Proz., 
bei Tabe3 und Paralyse in 97 Proz. Im allgemeioen ist sie hoher 


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fiber Liquoruntersuchungen uod Liquorbehandlungen bei Syphilitisehen. 55 

bei Tabes und Paralyse als bei Laes cerebrospinalis. Bei Tabes feblt 
sie gelegentlich! Bei sekundarer Lues ist sie iu 40 Proz. zu Auden, 
nicht selten hochgradig, ebensooft bei abgeheilter Lues, dabei aber 
imraer in massigem Grade. 

Deuten nun vermehrte Lymphozyten und positive Globulinreaktion 
anf einen entzundlichen Prozess bin, so wird die spezifiscb syphili- 
tische Erkrankung — von den kliniscben Befunden abgeseben — nur 
durch die positive Wassermannreaktion des Liquor bewiesen. Diese 
weist Stoffe nach, welche niebt aus dem Blut transsudiert sind, denn 
die Wassermannreaktionenim Liquor und im Serum verhalten sicb un- 
abhangig voneinander, sondern solche, weicbe aus dem Zentralnerven- 
system stammen: es sind die Stoffe, weicbe das Zentralnervfensystem 
infolge der vom Syphilisgiffc ausgebenden Keizungen auf sein Gewebe 
produziert,Reaktionsstoffe. Vorhaudensein geringer Mengen von Spiroch. 
pallida veranlassen nicht die Bildung geniigend vieler Reaktionsstoffe 
zur Erzielung einer positiven Reaktion. Diese Definition gibt Neisser 
in seinem binterlassenen Bucb fiber die Gescblecbtskrankheiten (1916). 
Nach Gennericb (1915) kojnmen die Reagine durch Zerfall der syphi- 
fitischen Granulationen, die mit Auflosung der Lymphozyten verbunden 
sind, zustande. Bei der Wassermannreaktion im Liquor ist die quanti¬ 
tative Auswertung nach Hauptmann notig: wir stellen damit die 
geringste Dosis Liquor fest, bei der die Wassermannreaktion positiv 
ausfallt. Positiv bei 0,2 zeigt die zehnfache Menge von Reaginen an 
als + bei 2,0. Dabei entspricht 0,2 der Dosis Serum, die bei der 
gewohnlichen Serumreaktion eingestellt wird. 

Diese Reaktion auf die Spirochaten tritt sebr langsam auf. Sie 
tritt zeitlich erst nach alien anderen Reaktionen im Liquor auf. Bei 
den latenten Meningealaffektionen der Friih- und Spatperiode ist sie 
nach meinenUntersuchungennurausnahmsweise positiv, bei denaktiven 
mit Herdsymptomen in der Frfihzeit bei der Halfte der Falle, im 
spaten Stadium etwa in s / 4 aller Falle, bei Tabes in der Halfte, bei 
Paralyse in alien Fallen. 

. Die Spirochaten geben, wie Gennerich hervorhebt, ihre Endo- 
toxine nur sebr trage ab, im Gegensatz zu den pyogenen Krankheits- 
erregern: deshalb treten die biologischen Reaktionen auch langsam 
ein. Dazu gehoren natfirlich auch die V organge, welche die natfir- 
lichen Abwehrmittel des Korpers darstellen. Sie dfirften bei der Be- 
trftchtung des Verlaufes der Syphilis und der Liquorinfektion nicht 
ausser acht gelassen werden. 

Im ersten Jahre der Syphilis haben wir die Frfihmeningitis in 
fast alien Fallen. Am anderen Ende der Krankheit haben wir ca. 
10 Proz., die der Infektion des Zentralnervensystems erliegen. Die 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. 5 


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Wektheh 


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anderen 90 haben sie uberwunden. Dreyfuss stellte 1914 im Friih- 
stadiam 80 Proz. Liquorkranke, in spateren Stadien an friiher Infi- 
zierten, die keine Symptome von seiten dee Nervensystems batten, 
12 Proz. Liquorkranke fest. Diese Zahl stimmt uberein mit der von 
Mattauschek und Pilcz an 4000 syphilitisch gewesenen Offizieren 
katamnestisch erhobenen: 11 Proz. davon erkrankten an Lues cerebro- 
spinabs, Paralyse und Tabes. Diese Zahlen wechseln iibrigens, je 
nach Beobachtung und Material: Gennerich (1912) fand statt 11 Proz. 
30 Proz.! 

Wir seben also, dass nicbt jede Liquorinfektion zur Paralyse 
fiihrt. Wir kbnnen aber mit Sicherheit annehmen, dass jede Para¬ 
lyse sicE schleichend aus der Friihmeningitis entwickelt. Dieser Ent- 
wicklungsgang ist jabrelang nur am Lumbalpunktat zu erkennen, 
nicbt aus kliniscben Symptomen. 

Fur die Ausheilung der anderen Falle kommen die Bebandlung 
nnd die Wirkung der Abwebrkrafte in Betracbt. Der giinstige Ein- 
fluss der spezifischen Bebandlung auf Lues cerebrospinalis ist bekannt. 
Aber er tritt nicbt in alien Fallen ein, und Tabes nnd Paralyse ent- 
wickeln sicb haufig trotz energiscber Bebandlung. Auch die Liquor- 
veranderungen bei sonst latenten Fallen konnen, wie Gennericb be- 
merkt, 6—7 kombinierten Kuren widerstehen. 

Wir mtissen zur Erklarung dafiir annebmen erstens, dass in sol- 
cben Fallen die Spirochaten an einem Punkt sitzen, der far die in 
den Blutstrom zirkulierenden spirochatentotenden Mittel nicbt zugangig 
ist, z. B. wenn sie tief im Parenchvm, abseits der Gefasse sitzen, wie 
Nogucbi bei Paralyse feststellte, oder dass die Blutgefasse des Plexns 
chorioides fiir diese Mittel nicht durchgangig sind. Die Durcblassig- 
keit der Blutgefasse ist individuell verscbieden. 

Zweitens spielt die Virulenz der Spirocbaten eine Rolle. Gen¬ 
nericb macbt auf Virulenzunterscbiede aufmerksam, je nacbdem die 
Infektion von einem Menscben mit hobem oder niederem Infektions- 
alter stammt. Wer sich vor 10 Jabren infiziert bat and dann hei- 
ratet, iibertragt auf seine Ebefrau weniger virulente oder durcb Anti- 
korper mehr geschwacbte Spirocbaten als der, welcber sich 2 Jahre 
vor der Ehe infiziert bat. 

Nun kommen aber zweifellos Falle vor, die ohne Bebandlung 
ausbeilen und aucb solcbe, die infolge einer ungenvigenden Bebandlung 
noch kranker werden. 

Hier gibt der dritte Faktor, der den Verlauf beeinflusst, die Er¬ 
klarung: das sind die durch die Allgemeininfektion angeregten Ab¬ 
webrkrafte. Die von den Spirocbaten langsam abgegebenen Endo- 
toxine regen die Bildung von Antikorpern an. Mit dem Nacblassen 


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Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandl ungen bei Syphilitisehen. 67 

der Allgemeininfektion lassfc auch dieser Prozess nach. lm infizierten 
Korper bleiben Spirochatenreste hier und da zuriick, welche wuchern 
und das Bestreben haben, sich von neuem auszubreiten und Riickfalle 
zu zeitigen. Treten Riickfalle ein, welche eine zweite oder dritte 
Uberschwemmung des Korpers mit Spirochaten, also eine Allgemein- 
infektion mit einem universellen Exanthem, zeitigen, so regen sie von 
neuem Antikbrperbildung an, Blut und Zellen werden von neuem mit 
Spirochatenabwehrkraften ausgestattet. 

Die Abwehrkrafte bilden sich sicher individuell in verschiedenem 
Grade: im Fotus und Saugling nur gering; daher die ungehemmte 
verhangnisvolle Spirochatendurchseuchung bei der kongenitalen Syphilis. 
Daher auch die haufige Erkrankung des Zentralnervensystems bei den 
jugendlichen Versuchstieren. 

Eine Erhohunng der Abwehrkrafte tritt ein, wenn fieberhafte 
Erkrankungen interkurrieren: der Praktiker erinnert sich gewiss giin- 
stiger Remissionen, die bei Paralytikem unter solchen Umstanden, 
z. B. im Anschluss an Influenza, eintreten. Bemerkenswert ist die 
Feststellung MattaUscheks, dass unter seinen 4000 Offizieren die- 
jenigen keine Erkrankung am Zentralnervensystem erlitten, welche 
im Friihstadium eine interkurrierende fieberhafte Krankheit durch- 
gemacht hatten. Ferner sah auchNeisser bei seinen Tierversuchen, 
dass sich von Tieren, welche eine Infektionskrankheit anderer Art 
ausser der Impfsyphilis hatten, keine positiven Oberimpfungen er- 
zielen liessen. 

Da nun fieberhafte Infektionskrankheiten meistens eine Leuko- 
zytose und Lymphozytose des Blutes zeitigen, so kann man in diesen 
die Hilfskrafte des Organismus im Kampfe gegen die Spirochaten sehen. 

Eine allgemeine Lymphdriisenschwellung im Friihstadium ist daher 
prognostisch giinstiger als ihr Fehlen. Ihr folgt durch Ausschwem- 
mung eine Blutlymphozytose. Ausserdem werden in den Driisen die 
Spirochaten auf ihrer Wanderung vom Infektionsort ins Blut durch Ab- 
kapselung gehemmt. 

Da in jeder Entziindung mit ihrer kleinzelligen Infiltration und 
Leukozyteneinwanderung mit fermentativer Wirkung eine Entgiftungs- 
vorrichtung zu sehen ist, so sind auch die Exantheme als solche zu 
betrachten. Ein ausgiebiges Exanthem ist deshalb giinstig und ent- 
lastet in diesem Sinne die inneren Organe. 

Diejenigen Antikorper, welche aus dem Blutkreislauf durch den 
Plex. chor. in den Liquor gelangen, sogenannte mobile Anti- 
kdrper, konnen hier Spirochaten abtoten, auch ohne Mithilfe einer 
Behandlung. Diese Spontanentseuchung findet im Friihstadium gewiss 

5 * 


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Werther 


haufig statt! In anderen Fallen bleibt die lnfektion in den Meningen 
haften and entwickelt sich schleichend weiter! 

Auch fur die Immunkorper ist die Durchl&ssigkeit der Gefasse 
individuell verschieden, wie Kafka betreffs des hamolytischen Norma’- 
ambozeptors gezeigt hat: in dem einen Falle sind ihnen die menin- 
gealen Herde leichter zuganglich als in dem anderen. Unter Um- 
standen bleiben daber die meningealen Herde virulenter als apdere 
Herde! 

Aos diesen Betrachtungen, die besonders von Gennerich in 
seiner Arbeit: Uber Ursachen yon Tabes und Paralyse ausgesprochen 
werden, geht hervor, dass diejenige Syphilis, welche im Friihstadium 
mit mehreren Rezidiven und ausgiebiger Allgemeindurchseuchung 
einhergeht, quoad prognosin giinstiger ist als eine im Friihstadium 
milder verlaufende Syphilis mit wenig Rezidiven, weil erstere den 
Organismus zu einer reicheren Antikorperbildung anregt. 

Dass eine milde Friihsyphilis gefahrlich fur das Zentralnerven- 
system ist, hatte schon Fournier an seinem Material bemerkt. 

Gennerich durchdringt das Problem der Tabesentwicklung mit 
neuen Gedanken: er weist darauf hin, dass die Pia infolge ihrer Er- 
krankung nicht mehr ihre physiologische Funktion erfiille und das 
Nervenparenchym vor Auslaugung durch den Liquor schiitze. Sie 
wiirde durchlassig, ganz besonders bei Tabes. Die Auslaugung fiihrt 
zu Degeneration! 

Daraus miissen wir nun fur unser arztliches Handeln die Schliisse 
ziehen: im primaren Stadium., bei — W. R., miissen wir Abtotung 
der Spirochaten abortiv erzielen! Wo wir das nicht mehr kdnnen, 
muss unsere Behandlung intermittierend die Sterilisation zu er- 
reichen suchen. Die Salvarsanbehandlung soli die Allgemeindurch- 
8euchung im sekundaren Stadium nicht briisk eindammen, weil 
dann die Meningealherde das frbergewicht gewinnen und zu Neu- 
rorezidiven fiihren, oder aber zu dem jahrelang latent bleibenden, 
sog. histologischen Meningorezidiv, aus dem sich aQmahlich die Paralyse 
entwickeln kann. Das Salvarsan muss von kleinen zu grossen Dosen 
steigen! Die Gesamtdosis muss viel grosser sein, als sie in der Praxis 
jetzt iiblich ist (viele Arzte glauben noch, dass eine Dosis geniige!), 
und die zweite Salvarsankur muss 6—8 Woehen nach der ersten ein- 
setzen, um die genannten Schaden zu verhiiten. Wiederholte un- 
geniigende Salvarsankuren konnen ausserdem auch salvarsanfeste 
Spirochatenstamme ziichten, wie Ehrlich gefunden hat. Man kann 
daher sagen, dass eine ungeniigende Salvarsanbehandlung aus mehreren 
Griinden schlechter ist als gar keine. Mit Recht sagt Gennerich: 
,,Beiungeniigender oder falschaufgefasster Salvarsanbehandlung kommt 


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Uber Liqaoruntereuchungen UDd Liquorbehandlnngen bei Syphilitischen. 09 

es za Oberhandnehmen der meningealen Krankheitsvorgange and ge- 
steigerter Progredienz des Verlaufes der Syphilis." Letzterer Vorgang 
ist der, welchen ich friiher bier kurz mit Prakozierung der Lues be- 
zeichnet babe. 

Um nan aber die Falle beizeiten beranszufinden, welcbe mit 
ihrem Zentralnervensystem gefahrdet sind und einer vorbeugenden 
Behandlung zuzufubren, gibt es nar einen Weg: das ist die Lumbal- 
punktion und Liquoruntersuchung. Die kliniscbe Untersuchung und 
die Serum-Wassermannreaktion lassen hier im Stiche! Eine Liquor- 
kontrolle am Ende des F riibstadiums, etwa im dritten Infektionsjahre, 
ist desbalb bei jedem Syphilitiker dringend zu empfehlen, auch 
wenn er gut bebandelt und im Serum Wassermann-negativ ist. 

In dieser Aufspiirung der latenten Meningealaffektionen liegt die 
nicbt zu unterschatzende Bedeutung der Metbode. 

Man wird dies aus den Ergebnissen yon mebreren Hundert yon 
Syphilitischen aller Stadien vorgenommenen Punktionen, iiber die icb 
kurz berichten will, erst recht erkennen. 


Ergebnis unserer Liquoruntersuchungen. 

I. Unbehandelte Friihfalle. 


Bei 27 unbebandelten Friihfallen mit Lues 1 und 11 yerschiedenen 
Infektionsalters standen die pathologiscben Liquorreaktionen in fol- 
gender Haufigkeitsreibe: 

1. Drucksteigerung: massig 82 Proz. und mittel (150 u. m.) 

2. Mastixfallung 52 „ 

3. Lymphozytose 48 meist massig, 17 Proz. 

iiber 50 L. 


4. Globulin, Phase I 35 „ 

5. Eiweissrermehrung 14 „ 

6. Wassermann-R. im Liqu. 4 „ 

In den Fallen mit nur einer krankbaften Veranderung war diese 
meistens (75 Proz.) die Drucksteigerung. Bei zwei krankbaften Ver- 
anderungen waren neben dieser Lymphozytose oder Mastixreaktion 
vorhanden. Die Mastixreaktion tritt friiher und im Fruhstadium 
haufiger als Phase I auf. 

Ein Fall dieser Klasse, bei dem der Liquor in alien Richtungen (ausser 
Wassermannreaktion) krauk war, war eine Lippensklerose mitNacken-, 
Kopf- und Kreuzschmerzen, Driisen am Ohr und Hinterhaupt, also 
ein Fall, bei dem der Weg des Virus von der Infektionspforte nacb 
dem Gehirn besonders kurz ist. Ein anderer Fall mit gleichem Li- 


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70 


\VESTHER 


quorbefund war eine in der Ehe angesteckte Ehefraa, bei der an* 
geblich das Leiden im Mnnde begonnen batte. Die Sklerose war 
nicbt mebr nachweisbar. Sie batte starkes Kopfweb, Leukoderma and 
Alopecia, ein Symptom, welches anf Meningealaffektion bindeuten soli 
(Gennerich). Ich glaube, dass die Drucksteigernng als erstes Zeicben 
der meningealen Reizung zu bewerten ist, wie es auch Fleiscbmann 
tat. Auf den Fallen mit Drucksteigerang beraben die hohen Zablen 
dieser Rabrik. Es geht daraus herror, dass 82 Proz. der Friihfalle 
nachweisbar am Zentralnervensystem krank sind, die Halfte schon mit 
den Reaktionen der Entziindang. 

Die Autoren haben hierfiir verschiedene Zahlen veroffentlicbt: 
Fleischmann 85 Proz., Dreyfuss 80, Altmann 86, Wile und 
Stokes 63, Frankel 30 Proz. 

Nun mass noch bervorgehoben werden, dass die Panktionen 
nur einen Moment aas dem Krankheitsverlauf herausgreifen. Falle, 
die mebrmals, etwa mit 14tagigem Intervall, punktiert werden, zei- 
gen, wie veranderlich der Liquorbefund ist. Haufig gehen die sub- 
jektiven ■ Beschwerden (Kopfschmerz usw.) dem objektiven Befhnde 
am Liquor voraus. Solche sind schon krank, obne dass die Reak¬ 
tionen es anzeigen. Mehrfache Panktionen des einzelnen im Friih- 
stadium wiirden also nocb hohere Erkrankungsziffern aufdecken! 

Der schon infektiose Liquor (Friihwald) kann histologiscb noch 
normal sein! Die Meningitis praeroseolica ist uns dadurch bekannt 
geworden, dass sie durch die erste wirksame Quecksilber- oder Sal- 
varsandosis eine Prorokation erlitt und sich mit Brecbreiz, Nacken- 
steifigkeit, Kernig usw. verriet (siebe spater unter Rerxheimerscher 
Reaktion). 


II. Bebandelte Friihfalle (16 Falle). 

Die Liquorbefunde bei die3en Fallen zeigen, obgleicb schon 
spezifische Behandlung stattgefunden hat, eine Znnabme der Ent- 
ziindung (Lymphozytose und Globulinreaktion), wabrend die Haufig- 
keit der Drucksteigerung etwas zuriickgegangen ist. Die Prozent- 
zablen sind etwas hoher, aber die Reihenfolge die gleicbe wie bei den 
Unbebandelten. 


1. Drucksteigerung iiber 150 75 Proz. 

2. Mastix -f- 60 „ 

3. Lymphozytose (maxim. 104) 50 „ 

4. Phase I 38 „ 

5. Eiweissvermehrang 14 „ 

6. Wassermannreaktion 14 „ 


(uber 200: 50 Proz.) 
meist bis 50 (mittel) 


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Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlungea bei Syphilitischen. 71 

Wo nur eine krankhafte Veranderung sich fand, war es Mastix oder 
Phase I oder Lymphozytose, wo zwei vorhanden waren, war die 
Drucksteigerung die zweite. 

Die starksten Veranderungen zeigte Fail S.: 10 Monate post 
infect.: Lymphoz. 59, Mastix +, Phase I + , Gesnmteiweiss 1:60, 
W.R. in Liqu. + 0,8. Klinisch Kopfschmerz und Gedachtnfc- 
schwache. 

Ein Fall (Sm.), der vor und nach der 1. Quecksilberkur lumbal- 
pnnktiert worden war, zeigte im 2. Punktat Zunahme der Globuline 
(erst + bei 50 Proz. A., dann auch bei 40 Proz.) und Verstarkung 
der Mastixreaktion (erst I. Grades, dann IV. Grades). 

III. Spatsyphilis. 

Diese Gruppe umfasst 12 Falle, meist Gummata der Haut, aber 
auch 2 Aortenerkrankungen mit einem Infektionsalter iiber 5 Jahre. 
Sie waren alle Wassermann-positiv im Serum und — soweit unter- 
sucbt — Wassermann negativ im Liquor. 

50 Proz. aber hatten -j- Phase I. Also hat bei Lues III die 
Halfte der Falle pathologiscben Liquor, eine Zabl, auf die auch 
Gennerich kommt. Diese 50 Proz. hatten auch allgemein nervosa 
Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Vergesslichkeit oder Verstimmt- 
heit, die meist erst durch Befragen festgestellt wurden. 

Bei 30 Proz. nur fand sich eine Lymphozytose, und zwar eine 
massige. Diese ist also im Vergleich zu den Befunden der ersten 
Gruppe im Riickgang und als das veranderlichere Symptom zu he- 
trachten, wahrend Phase I sesshafter im Liquor ist. 

Aus dem Vergleich mit der folgenden Gruppe werden wir sehen, 
dass der Grad und die Haufigkeit der Lymphozytose mit der Aktivitat 
des Prozesses parallel gehen. Die Abnahme bei den tertiaren Fallen 
im Vergleich zu den Befunden der ersten Gruppe deutet also aut 
Riickgang oder Spontanbeilnng der syphilitischen Liquorinfektion. 

IV. Lues cerebrospinalis. 

Bei den 23 Friihfallen von Lues cerebrospinalis Uberwiegen gegen- 
iiber den 14 Spatfallen die meningitischen Formen uber die end- 
arteriitischen (14:3), Gehirn- iiber Riickenmarkserkrankungen (17:4). 
Bei den Spatfallen (14 Falle) finden wir mehr Endarteriitis als Me¬ 
ningitis (6:1), Gehirn- und Riickenmarkserkrankungen gleich haufig 
( 7 : 7 ). 

A. Bei den Friihfallen von Lues cer.-spin. wurde einmal nn- 
veranderter Liquor gefunden. Wahrend in einem Falle (meningitische 


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72 


Werther 


Reizung) mittlerer Drucksteigerung (270 mm) und in einem andern 
Falle (Meningitis) Phase I + bei Druck 180 als einzige pathologische 
Veranderung festzustellen war, waren in den ubrigen Fallen stets 
schwerere krankhafte Reaktionen da. Der Haufigkeit nach steht an 
erster Stelle 

1. die Lymphozytose: in 81 Proz., moistens (50 Proz.) stark, 
maxim. 300. 

2. Die Globulinreaktion: Phase I + in 80 Proz. Davon waren 
30 Proz. anch bei 40 Proz. Ammoniomsalfat 10 Proz. bei 
28 Proz. Die Mastixreaktion war in 60 Proz. positiv. 

3. Drucksteigerung in 70 Proz., moistens (50 Proz.) mittel- 
stark, d. h. iiber 200. 17 Proz. 300 u. m., maxim. 480. 

4. Die Wassermannreaktion im Liquor war in 53 Proz. posi¬ 
tiv, davon die moisten (37 Proz ) schon bei 0,2. 

5. Eiweissvermehrung in 43 Proz. (iiber 0,35 °/ 00 ). Dabei 
waren wenig hohe Werte. Die Steigerung und Verminderung 
gehen nicht der Globulinreaktion parallel. 

Die Wassermannreaktion im Serum war bei den friihen Zentral- 
erkrankungen in 53 Proz. negativ. 30 Proz. davon waren sowohl 
im Liquor wie im Serum W.R. — negativ; einige davon wurden im 
Laufe der Behandlung im Liquor +. 

TJnter den zerebrospinalen Friihfallen sind alle Grade dieser viel- 
seitigen Erkrankung vorhanden: die histologischen Meningorezidive 
ohne klinische Symptome finden sich nicht hierbei. Hier habe ich 
die Neurorezidive aufgenommen: ‘diese entstehen durch die un- 
gleiche Eindammung der allgemeinen Durchseuchung, indem die 
meningealen Herde schwerer von Salv. und Hydr. erreicht werden 
als die der Haut und Schleimhaute. Von seiten der restierenden 
Herde kommt es infolge des Wucherns der Spirochaten etwa 6 Wo- 
chen nach der beendeten ersten Kur, also im Friihstadium, zu einem 
Riickfall und Hirnsymptomen. Dass diese Erklarung richtig ist, be- 
weisen 1. die erwahnten Uberimpfungen des Liquors, 2. die Reak¬ 
tionen des Liquors. In 4 solchen Fallen fand ich starke Lympho¬ 
zytose; in 2 weiteren starke Globulinreaktion. In 2 von diesen 6 -}- 
W.R. im Liquor, Druck bis 300 und 350. Auch die sog. Herxheimersche 
Reaktion von seiten desZentralnervensystems ist ohne vorherige 
Meningeninfektion nicht zu erklaren: In einem Fall sah ich nach der 
ersten Hydr.-Injektion eine Fazialislahmung auftreten. Der Kranke, 
bei dem die Sklerose noch nicht abgeheilt war, hatte Lymphozytose 
22 und W.R. + 0,6 im Liquor. Ein anderer Fall (Kn.) dieser Art 
bekam nach der ersten Salvarsaninjektion einen epileptischen Anfall. 
Der Liquor hatte 220 Druck und 13 Lymphoz., also geringe Ver- 


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Uber Liquoruntereuchungen und Liquorbehandluugen bei Syphilitiseheu. 73 

mehrung. Nach 4 wochentlicher Hydr.-Behandlung wurde er wieder 
punktiert: jetzt war die W.R. im Liquor + geworden, und zwar bei 0,4. 
Nun folgte eine 4 wochentliehe Salvarsanbehandlung obne jede Reaktion 
seitens dea Zentralnervensystems. Die dritte Punktion ergab darauf 
—W. R. 3. Beispiel: Die I8j. Fr. wurde mit Papeln, welche seit 3 Woeben 
bestehen sollen, und Roseola aufgenommen. TV.R. + +. Patellar- 
reflexe geateigert. Kein Kopfweh. Kein Krankheitsgefuhl. Nacb 
2 balben Dosen Hg. salicyl. komplette Fazialislamung rechts. Liquor- 

befund: Druck 410 mm. Geaamteiweiss 1:30. Globulin: H-. 

Mastix H—|—1—h T Lymph. 33, "Wit. —1,0. Darnach kombinierte 
Bebandlung. Nacb 5 Wochen ist die Fazialislahmung geheilfc und der 
Liquor zeigt sich wie folgt: Druck 310 mm. Geaamteiweiss. 1:30. Glo¬ 
bulin: -)-, Mastix H-Lymph. 6. 

Wir seben daraus, dass weder Quecksilber noch Salvarsan an 
sich diese Hirnerkrankungen in Form der Neurorezidive oder Herx- 
beimerschen Reaktion macben. 

Ausser diesen leichteren Formen der friiben Lues cer. spin, sind 
Erkrankungen der basalen Himnerven, Endarteriitis, Halbseiten- 
labmung, Myelitis, isolierte Pupillenlahmung in dieser Rubrik auf- 
genommen. 

B. Aucb bei den 14 Spatfallen von Lues cer.-spin. wurde nor- 
maler Liquor nie gefunden. Einmal wurde nur Phase I -f gefunden 
(isolierte Pupillenstorung), einmal nur Phase 1 und Eiweissvermehrung 
(Erbsche Spinalparalyse). Sonst waren stets mebr krankhafte Reak- 
tionen vorhanden. 

1. Die Lymphozytose steht aucb hier an erster Stelle in 
92 Proz., und zwar bei 42Proz. mit starker Vermehrung, maxim. 
477 und 540. 

2. Die Drucksteigerung in 91 Proz., meistens (58 Proz.) massig, 
d. h. 150—200 mm. 

3. Die Globulinreaktion gab in 80 Proz. Phase I +. In 36 Proz. 
auch -J- bei 33 Proz. Ammoniumsulfat. 

Die Mastixreaktion war in 71 Proz. positiv. 

4. Eiweissyermebrung war in 73 Proz. vorbanden. Die Maxima 
(1:80) gingen dabei nicht etwa mit starker W.R. (+0,2) 
einber, aber sie fanden sich bei den Fallen mit positiver 
Euglobulinreaktion. Die Zunahme der Gesamteiweissmenge 
nach Haufigkeit und Grad gegen die Friihfalle (43 Proz. : 
73 Proz.) ist beachtenswert. 

5. Die + Wassermannreaktion im Liquor steht bier an 
letzter Stelle der Reihe, aber immerhin absolut nicht in ge- 
ringer Zahl. 70 Proz. waren Liq. +, davon 4(1 Proz. bei 0,2. 


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74 


WfittTHER 


Im Serum waren 21 Proz. negativ, im Serum und Liquor gleich- 
zeitig 14 Proz. 

Aus diesen Resultateu, besouders wenn man sie mit denen bei 
Spatlues (111) vergleicht, gebt hervor, dass die Lymphozytose von 
dem Friihstadium zum Spatstadium, d. h. ungefahr vora 1. bis zum 
5. Jahre nach der Infektion, zunimmt, wenn die Liquorinfektion im 
Frilbstadium nicbt zur Ausheilung, sondern zur Lues cer. spin, ftihrt. 

Bei den Globulinfallungen treten bei den Friihfallen 10 Proz. 
mit deT fur akute Meningitis charakteristischen Fallung hervor, 
wabrend bei den spaten Fallen in 36 Proz. die Paralyseglobuline er- 
scbeinen. Ein bedeutsamer Hinweis, wobin die Meningitis fiibrt. 

V. Paralysis (14 Falle). 

1. Die Wassermannreaktion im Liquor war in 100 Proz. 
positiv. Davon in 82 Proz. schon bei 0,2. 

Auch im Serum war in 100 Proz. + W.R. 

2. Von der Globulinreaktion war Phase I in 1O0 Proz. +. 

Bei 40 Proz. Volumensattigung fielen 79 Proz., 

,, 33 ,i ,, it 57 ,, aus, 

wabrend mit 28 Proz. keine 4* Reacktion zu verzeichnen isr. 
Auch die Mastixreaktion war in 100 Proz. positiv, ;n 
90 Proz. in alien 4 Graden (nach Emanuel). 

3. Die Lymphozytose zeigte Vermebrung in So Proz., in 
54 Proz. iiber 50 im Kubikmm. (max. 380). 

4. Das Gesamteiweiss war in 83 Proz. vermehrt (iiber 0,35). 
in der Halfte (50 Proz.) stark, d. h. fiber 1:50, meist hohe Ei- 
weisswerte (1:80—1:120). 

5. Der Druck war in 64 Proz. fiber 200 mm: 73 Proz. 

Die Paralyse zeicbnet sicb also vor alien Formen der syphiliti- 
schen Zentralnervenerkrankungen durcb hobe Grade der Wasser¬ 
mannreaktion im Liquor aus. Bei ibr reagiert das Parencbym am 
scbwersten auf die Spirochaten! Charakteristisch ist, dass aucb 
im Serum die Wassermanrreaktion nie negativ aus fallt. Im Ge- 
gensatz zu alien frfiheren Rubriken steht hier der starke Ausfall der 
Mastixreaktion, was auch Emanuel hervorgehoben hat. Phase I 
ist immer positiv, und die Zabl der fur Metalues charakteristi¬ 
schen Fraktionsreaktionen hat zugenommen. Die Lymphozytose ist 
hoch, jedoch in der Haufigkeit etwas zurfickgegangen gegenfiber der 
Lues cerebri im Spatstadium. Der entzundliche Prozess ist, wie daraus 
zu schliessen ist, nicht in alien Paralysefallen so aktiv wie bei letzto 
rer. Vielleicht kommt auch ein Lymphozytenzerfall in dieser Zahl 
zum Ausdruck. 


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Vber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitiachen. 7;, 

Das Gesamteiweiss hat in der Mebrzahl der Falle hobe Werte, 
was auch Rebmbei P. konstatierte (in 75 Proz. fiber 0,5°/ 00 ). Bei 
Betrachtung der Ubersichtstabelle ergibt sicb, dass das Gesamteiweiss 
mit dem Alter der syphilitischen entzfindlichen Gehirnerkrankung zu- 
nimmt. Da das Eiweiss ausser aus Zellen und entzfindeten Geweben 
auch aus den Blutgefassen stammt und das Serumalbumin im Gesamt¬ 
eiweiss enthalten ist, so konnte man aus den hohen Gesamtwerten 
bei der Paralyse auf eine der Paralyse oder aber den Paralytischen 
eigne Durchgangigkeit der Blutgefasse schliessen, welche fibrigens 
Kafka auch durch den Nachweis des hamolytischen Ambozeptors im 
Liquor bewiesen zu haben glaubt. 

Alles in allem ist die Paralyse in ihrem Liquorbild als eine Lues 
des Zentralneryensystems yon hoher Dauer, aktiver infektioser Ent- 
zfindung und schwerer Giftschadigung charakterisiert, 

VI. Tabes. 

Es wurden 32 Falle untersucht. Der Haufigkeit nach stehen die 
krankhaften Reaktionen in folgender Reihe: 

1. Globuline: Phase I + in 79 Proz. (bei 40 Proz. -j-: 24 Proz. 

der Falle, bei 33 Proz. +: 10 Proz., bei 2S Proz. +: 

3 Proz.). 

2. Mastixreaktion: 73Proz. positiv (immer stark positiv). 

3. Lymphozytose: 72 Proz. (massig 41 Proz.. stark 31 Proz.) 

4. Druck war in 29 Proz. schwach, in 32 Proz. mittelstark, d. h. 
fiber 200 mm (max. 300). 

5. Wassermannreaktion im Liquor: 55 Proz. pos., bei 
0,2 + : 23 Proz., erst bei hoheren Dosen 32 Proz. 

6. Gesamteiweissvermehrung: 25Proz. yermehrt (18Proz.: 
0.35—0,5 °/ 00 , 7 Proz. fiber 0,5 °/ 00 ). 

Gharakteristisch ist, dass die Haufigkeit der Ph. 1 und Mastixreak¬ 
tion die der Lymphozytose bei Tabes tibertrifft, wahrend bei Lues 
cerebrospinalis die letztere fiberwog und dass die Zahlen niedriger sind. 
Besonders hervorzuheben ist, dass die Wassermannreaktion im Serum 
bei 40 Proz. der Tabesfalle negativ war, eine wichtige Feststellung 
gegenfiber der unter Arzten noch sehr verbreiteten Uberschatzung der 
— W.R. in diagnostischer Beziehung. Man meint leider, wenn ein 
Verdacht aufHirnlues oder Tabes vorliegt, dass mit Anstellung der Blut- 
untersuchung die Angelegenheit geklart werde. Die im Serum negatiyen 
S Falle waren komplette Tabesfalle. 5 yon diesen S waren auch im 
Liquor Wassermannreaktion negatiy. Jedoch wiesen sie + Phase I und 
Lymphozytose auf. Aber 2 yon ihnen batten ausserdem vollkommen, bez. 


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76 


W KltTHEIi 


fast normalen Liquor. Sie waren nie antisyphilitisch behandelt wor- 
den und wussten nichts von Infektion. In diesem Befunde spricht 
sich m. E. ein spontaner Ablauf der Infektion aus, d. h. die eignen 
Abwehrkrafte und Immunitatsvorgange der Kranken baben sie iiber- 
wunden. Die Ausheilung hinterliess die toxische Degeneration der 
Hinterstrange. Die beiden Falle sind folgende: 

1. Bu., 48jahr. Mann. Im 20. Jahre wurde Tom Vater, welcher 
Arzt war, Pupillendifferenz festgestellt. Seit 3 Jahren erscbwertes 
Wasserlassen, inkomplette, zuletzt komplette Harnverhaltung. Kommt 
deswegen 1915 zum Arzt. Pupillen eng,. iichtstarr, Patellarreflexe 
und Bauchdeckenreflexe feblen. An der Fussoble wird spitz und 
stumpf verwechselt. Keine Sprachstorung, kein Nystagmus, Angen- 
hintergrund normal (Scbanz). Die Diagnose T. d. wird yon Herrn 
Kollegen Ganser bestatigt. Liquorbefund: Druck 130, Gesaroteiweiss 

1:15, Globoline-, Mastix-, Lymphozyten 5, W.R. 

— (1,0). Pandy —. 

2. Fall. Lo., 34jahr. Frau. Bis vor 0 Jahren gesnnd. Beginn 
damals mit Kriebeln in den Handen. Seit 2 Jahren Schwindel, „durch- 
jagende Schmerzen" in den Waden, Gefiihllosigkeit in den Handen. 
Geht deshalb zum Nervenarzt, Geheimrat Ganser, der sie zur Liquor- 
untersuehung iiberweist. Der Ehemann weiss nichts von Lues, ist 
auch W.R. — im Serum. Pupillen gleichweit, reagieren auf Lich- 
und Konvergenz. Patellar-, Achillessehnen-, Radiusperiostreflexe fehlen. 
Bauchdecken-R. li = re vorhanden. Sensibilitat fiir kalt-warm, spitzt 
stumpf an Handen und Fiissen gestort. Gang mit geschlossenen 
Augen stark ataktisch. Hande auch ataktiscb. Liquor: Druck 260. 
Gesamteiweiss 1:20 (Nissl 0,2), Globulin-, Mastix-, Lymphozyten 12, 
W.R. — 1,0: also fast normaler Liquor! 

Die imperfektsn Tabesfalle zeigten im allgemeinen dasselbe Liquor- 
bild wie die perfekten. Dagegen verhalten sich die Falle von Tabo- 
paralyse wie die paralytischen, z. B. folgende 3 Falle: 

1. Sto.: Druck 250, Glob, -f-, Ges.E. 0: 3, Mast. + -|-, 

Ly 227, Wi ,R. L -f 0,4 iS. -f). 

2. He.: Druck 210, Glob. + + -|-, Ges.E. 1:50, Mast. + + -)—, 

Ly 23, W.R. L -|- 0,2 (S. 4 ). 

3. Je.: Druck 220, Glob. + + -|-, Ges.E. 1 : 80, Mast. + + -f- +, 

Ly 50, ^V.R. L -j- 0,2 . -f - }. 

Die Befunde bei Tabes und Paralyse sind recht verschieden. Bei 
ersterer kommen vollstandig negative Liquorbefunde, bei letzterer nie 
dergleichen vor. Bei den negativen Befunden kbnnen eine sehr kleine 
Einbruchstelle, eine kleine Spirochatenmenge und glatte Spontau- 


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liber Liquornntersuchungen and Liqaorbehandlungen bei Syphilitischen, 77 

heilung der Infektion zusammengekommen sein. Der Grad der toxi- • 
scben Parenchymdegeneration braucbt der Virusmasse nicht parallel 
za geben. Zu erwahnen ist aucb, dass Nogucbi beim Suchen nach 
Spirochaten bei Tabes nur i mal in 12 Fallen mit vieler Miihc Er- 
folg batte, wahrend er bei Paralyse in 25 Proz. miibelos massenhafte 
Spirochaten fand. Andere Autoren (Jahnel) ebenso. Ausser der 
Degeneration findet sicb bei Paralyse stets nocb entziindliche Infil¬ 
tration. Daher das verschiedene Liquorbild! 

Differentialdiagnose. 

Die gewonnenen Erfabrungen konnten fur die Differential¬ 
diagnose in folgenden Punkten benutzt werden: 

Da der Liquorbefund bei Paralyse cbarakteristiscber ist als bei 
Tabes, konnen wir einen Tabesverdacbt nie dnrch den Liquor- 
befund ausscbliessen, dagegen recbt wohl einen Paralyseverdacbt: denn 
negative Wassermannreaktion im Liquor, schwa che Grade der Lymph o- 
zytose und der Gloublinreaktion sprechen dagegen. Wenn es sich 
differentialdiagnostisch um Paralyse oder Lues cerebri handelt, 
was baufig vorkommt, wo kliniscb eine Abtrennung nicbt moglich 
ist, so spricht eine negative oder geringe (+ bei 1,0) Wassermann- 
reaktion gegen die Paralyse. 

Ein Eranker (L.) kam mit Tabes und Demenz zur Untersuchung: 
er hatte 10 Jahre vorber psycbiscbe Storungen gehabt, anfallsweise 
sich bexumgetrieben, alles versetzt, alle Riicksichten vergessen. Sein 
liqnorbefund war W.R. — (im Serum + W.R.), Globuline bei 
50 Proz. +, Lymphoz. 55. Er war vor der Untersuchung nicht 
spezifisch bebandelt. Dieser Befund spricht gegen Dementia paralytica, 
es war eine Lues cerebri. 

Es ist klar, dass die spezifische Paralyse (neurasthenisches 
Vorstadium) von einer Neurasthenie durch den Liqnorbefund richer 
zu trennen ist. Denn scbon die beginnende Paralyse bat alle Merk- 
male der organischen, infektios entzundlichen Erkrankung'in bohem 
Grade. 

Alle psychogenen Erkrankungen rind von syphilogenen psychi- 
schen Erkrankungen mittels der L. P. zu trennen: besonders die 
Hysterie kommt nicht selten in Konkurrenz. Ferner die Sypbilophobie, 
besonders bei Leuten, die friiher einen Schanker unbestimmter Art 
gehabt baben. Wenn der chronische Aikoholismus im Verbalten 
der Pupillen, Reflexe, Augenmuskeln und Sprache Tabes oder Para¬ 
lyse vortauscht, so gibt die L. P. wertvollen Aufscbluss! 

Neurasthenie mit funktionell-spinalen Beschwerden ist in der 
Regel von einer beginnenden Tabes zu trennen. Doch ist bei solchcn 


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7S 


Werthek 


Neurasthenikern, die friiher Syphilis gehabt haben, der einmalige 
negative Befond mit Vorsicht aufznnehmen: eine vorhandene Druck- 
steigerung kann als Vorlaufer emsterer Erkrankung (Lues cerebri) 
betrachtet werden. Eine zweite Punktion nach Monaten ergibt dann 
u. U. Phase I oder Phase I und Lymphozvtose, z. B. Fall H. kam im 
dritten Infektionsjahre za mir wegen rheumatischen Schmerzen, Krank- 
heitsgefiihl und Gedachtnisabnahme. Wassermannreaktion im Serum + ! 
Der Kranke, von Beruf Brauer, hat friiher sehr viel Bier getrunken. 
Die L. P. ergab ausser geringer Drucksteigerung (160) normalen Li* 
quor. Keine korperlichen Symptome, welche fur Hirnlues sprachen. 
ich sah daher als Ursache seiner Beschwerden den Alkoholismus an. 
Unterzog ihn aber vorsichtshalber einer massigen spezifischen Be* 
handlung. Nach 1 */ 2 Jahren waren Ohrensausen und rechtsseitige 
Ertaubung hinzugetreten, die Patellarreflexe zeigten sich ungleich. 
Der Liquor hatte + Phase 1, Lymphoz. 144, Gesamteiweiss 0,4 Proz. 
bei — W.R. im Liquor und im Serum! 

Mittels der Lymphozytose trennt man im allgemeinen entziind- 
liche Hirnerkrankungen von den nicht entzundlichen. Die einfache 
Atheromatose und die Tumoren liefern keine Lymphozytose, wie schon 
Gerhardt hervorgehoben hat, ebensowenig die spastische Spinal- 
paralyse, Syringomyelie, Meningitis serosa aseptica. Mittels der 
Lymphozytose unterscheidet sich die Dementia paralytica von der 
senilen, arteriosklerotischen, epileptischen und degenerativen Demenz, 
wofiir Nissl Beispiele veroffentlicht hat. 

Da die Lymphozytose bei der Spathirnlues im Vordergrund steht 
als Zeuge des noch nicht zur Ruhe gekommenen Kampfes zwischen 
Virus und Abwehrkraften, kann man im allgemeinen das Fehlen 
einer solchen differentialdiagnostisch gegen eine aktive Spatlues des 
Zentralnervensystems benutzen, wahrend starke Lymphozytose mit 
Phase I dafiir spricht. Starke Lymphozytose nennen Nonne u. a. ein 
Friihsvmptom der Tabes. Schon Erb (1907) gibt ihr den Ausschlag 
flir die Diagnose Tabes, wenn sonst noch Verdacht vorliegt, z. B. Pu- 
pillenstarre. Wahrend Pupillenstarre ohne Lymphozytose als nicht 
syphilogen in der Regel anzusehen ist. 

Eine Ausnahme von der Regel ist das Fehlen von Lymphozytose 
bei syphilitischer Endarteriitis, wenn die Produkte solcher Herde nicht 
in den Liquor abfliessen konnen. Falle dieser Art erwahnt Drey fuss: 
die spezifische Therapie wirkte trotzdem giinstig. 

Haufig schwankt die Diagnose zwischen Arteriosklerosis und Lues 
cerebri, sei es bei Schwindelanfallen oder Halbseitenlahmung oder 
Demenz. Nur die + W. R. im Liquor kann uns hier helfen. Die 
— W.R. im Liquor ist in keiner Weise zu verwerten, sie ist, wie wir 


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Uber Liquorimtersuchungen und Liquorbehandluugen bei Syphilitischen. 79 

festgestellt habeo, in 50 Proz. der friihen uad 30 Proz. der spaten Falle 
von Lues cer. negativ. Das Gesamtbild der Liquorreaktionen bei 
Endart. syph. ist uncharakteristisch. Zudem kann Phase I nach ab- 
geheilter Syphilis noch bestehen und das Bild verwirren. Leidet der 
Kranke infolge von Lues an friihzeitiger Arteriosklerose, so kann sogar 
die Wassermannredktion im Serum positiv sein, und die Phase I im 
Liquor niitzt uns nichts in differentialdiagnostischer Beziehung. Die 
Diagnose beruht dann auf der klinischen Untersuchung und dew 
Erfolg der Behandlung. 

Z. B. die 69jahr. Sk. litt an Arteriosklerose, Incont. urin. und 

postapoplektischer Halbseitenlahmung. W.R. im Serum-, Blut- 

druck ISO mm Hg. Liquorbild: 

Druck 280, Ges.E. 1:30, (0,3 ° 00 ), Glob. H-, Ly: 3, 

W.R. i. L. — (1,0). 

Die 60jahr. Sk. ist dement. W.R. im Serum-. Liquorbild: 

Druck 240, Ges.E. 1:20, Glob. H-, —Ly 2. W.R. i. L. — (1,0). 

Die massige Lymphozytose an sich ist uncharakteristisch: 
erstens kann sie eine Restlymphozytose von ausgeheilter Lues sein. 
Eine solcfae ist, wie schon Nissl hervorgehoben hat, storend fur die 
Diagnose bei alien nichtsyphilogenen, organischen Krankheiten, wie 
Tumor, multiple Sklerose, Apoplexia sanguinea. Die massige Lympho¬ 
zytose kann auch durch andere Infektionskrankheiten.erregt sein: so 
kommt sie bei Herpes zoster vor, wie ich selbst mehrmals festgeatellt 
habe. Aber auch bei Myalgie (Muskelrheumatismus) soli sie nach 
A. Schmidt vorkommen. Femer ist die Punktion an sich imstande, 
eine voriibergehende Lymphozytose zu veranlassen. 

Eine massige Lymphozytose, kombiniert mit Phase 1, ist, wie 
schon oben gesagt, das Signum der latenten syphilitischen Meningitis. 
Phase 1 dokumentiert, wie allgemein angenommen wird, Entziindung. 
z. B.: ein im Coma epilepticum eingelieferter Kranker hatte Phase I + 
bei 180 mm Druck. Es handelte sich um einen friiher schon epilep- 
tisch Gewesenen mit frischer Syphilis. 

Z. B.: ein Kranker, der Lues verleugnete und wegen Schwindel- 
anfallen und Absencen ins Krankenhaus kam, hatte neben Druck 
270 mm, Lymphozytose 17, + Phase 1 und + Mastixreaktion. Dies 
machte die Diagnose Lues fast sicher! Ein Fall von Schwindel mit 
Ohrensausen (isolierte Vestibnlariserkrankung)mu3ste wegenj-f- Phase I, 
+ Mastix, Lymphozytose 18 und vermehrtem Gesamteiweiss (0,5 °/ 00 ) 
als wahrscheinlich nicht arteriosklerotisch, sondern syphilitisch ange- 
sehen werden. 

Ein Fall mit Retentio urinae ohne sonstige Symptome, bei dem 
Wassermannreaktion im Liquor und Serum negativ war, musste wegen 


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Webther 


Lymphozytose 68 and -f- Mastixreaktion (in alien 4 Graden) fur Lues 
spinalis angesehen werden. 

Nicht selten kommt die multiple Sklerose wegen der Vielgestal- 
tigkeit des kliniscben Bildes, besonders da Blasen- und Mastdarm- 
storungen und auch Pupillenstorungen bei ihr vorkommen, mit Lues 
cerebrospinalis in diagnostische Konkurrenz. 

Im allgemeinen sieht man die multiple Sklerose als nicbt infek- 
tios an. Aber es ist zweifelhaft, ob mit Recht! Wabrscheinlich geht 
dem Degenerationsprozess ein entziindlich-infektidser wie bei Tabes 
voran. 

Darauf deuten die Befunde von Phase I im Liquor bin, welcbe 
Nonne erwahnt. Oppenbeim (Lehrbucb 1913) hat banfig mul¬ 
tiple Sklerose bei Syphilis geseben. Sie sind nach ibm unabhangig 
voneinander. Phase I wiirde in solcben Fallen ein Rest der Syphilis 
sein. Gerhardt und Ed. Muller erwahnten auch eine massige Pleo- 
zytose in mancben Fallen von multipler Sklerose, die auf eine vorher- 
gegangene Meningealaffektion zu bezieben ware. 

Einige Falle dieser Art hatte icb zu beobaohten Gelegenheit: 

1. Eoe. (39 jahrig) hatte mit 18 Jahren Syphilis, vor 4 Jahren eine 
als Paralyse diagnostizierte Erkrankung. 1916 spastiscbe Triplegie, 
Dementia, Sprachstorung, Wackeltremor bei intendierten Bewegungen. 
Die Diagnose schwankte zwischen multipler Sklerose und Paralyse. 
Die —W.R. im Blut und im Serum schlossen letztere aus, wahrend 
die + Phase I, + Mastixreaktion bei Lymphozytose 2 nicht gegen 
multiple Sklerose sprachen. 

2. Ho., 37 Jahre: Epileptische Anfalle, Gedachtnisschwacbe, spa- 
stische Lahmungen, Sprachstorung. Beide Optici sind temporal ab- 
geblasst. Wegen gekreuzter Lahmung wifd ein Herd im Pons an- 
genommen. Der Liquor war normal (auch Phase I negativ, Lympho¬ 
zytose 2) und die Diagnose multiple Sklerose dadurch bestatigt. 

3. Po., 43 Jabre alt. Nach (jjahrigem Kranksein mit Lahmungen 
und Remissionen jetzt Triplegie, teils spastisch, teils schlaff. Pupillen 
ungleich und lichtstarr. Keine temporale Abblassung. Leichte Sprach¬ 
storung. Sensibilitatsstorung, Blasenlahmung. 

Der Eranke bot das Bild einer kombinierten Hinterstrang* und 
Seitenstrangerkrankung. Die Diagnose, zwischen Lues und multipler 
Sklerose schwankend, neigte wegen des Liquorbefundes (— W. R., 
+ Phase I, + Mastixreaktion, Lymphozytose 2) zu multipler Skle¬ 
rose und wurde durch Sektion (Schmorl) bestatigt. 

4. B. (Patient des Herrn Oberstabsarzt Dr. B.), Soldat mit spa- 
stischer Parese der Beine. Liquor: Phase I sonst normal. 

Von vier Fallen multipler Sklerose hatten also zwei + Phase L 


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(Tbersicht der prozentualen Haafigkeit der Liqaorreaktionen 


Uber Liquorontersuchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitischen. gi 



Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. 


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Werther 


In einem weiteren Fall, der fur eine zervikale Form multipier 
Sklerose gehalten werden konnte, entschied die + W.R. im Liquor 
und Serum fur die Diagnose: Pachymeningitis cerricalis syphilitica. 


Intralumbale Behandlung. 

Der Wert der Lumbalpunktion fur die Diagnose ist nach alledem 
ein beschrankter. Sie soli die klinische (Jntersuchung nicht verdrangen, 
soudern nur erganzen. Unbestreitbar aber ist, dass wir nur mit ihrer 
Hilfe diejenigen Syphilitiker herausfinden, welche, ohne deutliche 
klinische Symptome zu haben, doeh in ihrem zentralen Nervensystem 
gefahrdet sind. Das Bestrebeu, diese herauszufinden und mit alien 
Mitteln, die wir an der Hand haben, zu entseuchen, bezweckt nichts 
geringeres, als Tabes und Paralyse zu verhuten. Die Metalues ent- 
wickelt sich aus einer Meningealaffektion. Gehirn und Riickenmark 
enthalten dabei noch Spirochaten. Daraus ergibfr sich die Notwendig- 
keit, Tabes und Paralyse mit spirochatentotenden Mitteln zu behan- 
deln. Neben der Allgemeinbehandlung ist man zur Lokalbehandlung 
mittels Salvarsaneinflossungen in den Liquorsack geschritten. Das war 
notwendig, weil die Allgemeinkuren leider bisweilen versagten und 
die Liquoruntersuchungen uns zeigten, dass die im Blute kreisenden 
Stoffe nur ausnahmsweise in den Liquor gelangen. Wie konuten sonst 
die Wassermannreakfcionenim Serum undim Liquor sich so yerschieden 
verhalten! Jaksch und sein Schuler Rotky haben nie den liber- 
gang von Quecksilber oder Jodsalzen in den Liquor nachweisen konnen. 
Wenn er stattfindet, so handelt es sich also nur um nicht nachweis- 
bare Mengen. Bei zahlreichen Fahndungen auf Jod im kranken Liquor 
hat meine Assistentin, Fraulein Dr. Gerson, noch nie einen positiven 
Befund gehabt. 

Die V T orversuclie fur die intralumbale Behandlung mussten die 
unschadliebe, aber wirksame Dosis feststellen. Zu grosse Dosen oder 
konzentrierte Lbsungeu machen nach Gennerich Querschnittsmyelitis. 
Berger stellte fest, dass Hunde 0,0001 Neosalv. in einer Losung von 
1:10000 ohne nachweisbare Veranderung vertragen. Bei 0,0005 traten 
kapillare Blutungen auf, 0,001 war todlich. Also nur bei kleinen Dosen 
in, diinner Losung blieb das Nervengewebe intakt. Affen bekamen 
bei 0,003 Lahmung beider hinteren Extremitaten (Swift und Ellis). 

Stiihmer behandelte Miiuse, die mit Naganatrypanosomen infi- 
ziert waren, einer cbronischen, der Syphilis analogen Spirochatose, mittels 
Salvarsanserums, das er von mit Salvarsan behandelten Kaninchen 
gewann. Er wies nach, dass dieses Serum heilende spirillozide Wir- 


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Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlnngen bei Syphilitischen. 83 


kung auf die mit todlicher Dosis infizierten Manse hat, dass diese 
Wirkung darch Inaktivieren des Serums (Oxydation?) gesteigert wird 
und dass verschwindend kleine Mengen noch wirksam sein konnen. 

1913 machten Swift und Ellis ihre Behandlung des Zentral- 
nervensystems mit intralumbaler Einspritzung von Salvarsanserum, 
gewonnen von dem zu behandelnden Kranken, bekannt. Es waren 
32 Falle. Die Lymphozytose, Globulinrektion und Wa3sermannreak- 
tion gingen meist zuriick. 41 Proz. wurden negativ, die andern meist 
gemindert, drei blieben unverandert. Eskuchen bestatigte diese Er- 
folge und hob hervor, dass auch die klinischen Symptome, z. B. Ataxie, 
gebessert wurden. Das Endziel ist, den pathologischen Liquor auf 
diesem Wege zur Norm zu bringen. Dieses Bestreben ist gewiss ge- 
xechtfertigt, wenn die gewohnliche Behandlung nicht zumZiel gefuhrt 
hat. Bei der Metalues ist leider einzuwenden, dass erstens die Be- 
riicksichtigung des Allgemeinbefundes zeitweise eine eingreifende anti- 
syphilitische Behandlung verbietet (Alter macht auf die mangelhafte 
Entgiffcung bei Paralytikern aufmerksam) und zweitens, dass man 
nicht weiss, ob die Degeneration trotz normalen Liquors noch fort- 
schreitet, drittens, dass die abgeschwachten Reaktionen wieder riick- 
fallig werden konnen. 

Aber im friihen Stadium ist eine intensive Thefapie auch lokal 
indiziert. Gennerichs Feststellungen uber unsere bisherigen Erfolge 
gegeniiber der latenten Friihmeningitis sind sehr zu beachten. Bei 
anderwarts vorbehandelten und von ihm wegen Rezidives untersuchten 
Fallen fand er, dass von den kombiniert Vorbehandelten noch 63 Proz. 
kranken Liquor hatten, von den mit Quecksilber Vorbehandelten und 
darauf kombiniert Behandelten 37 Proz., von im Anfangsstadium Un- 
behandelten und dann kombiniert Behandelten 25 Proz.! 

Diese Zahlen sind niederschmetternd. 

Gennerich empfahl die lokale Behandlung mit in Liquor ge- 
lostem Salvarsannatrium, beginnend mit der Dosis Vs m fi> &uf 30 
Liquor. Er behauptet mit seiner Methode, zu der eine planmaBige 
Nachuntersuchung des Liquors gehort, in 95 Proz. komplette Lues- 
sterilisation erreicht zu haben. Auf seine Technik und VorsichtsmalS- 
regeln will ich hier nicht eingehen. 

Ich selbst habe uber 15 Falle mit 59 Behandlungen nach Swift 
und Ellis und 12 Falle mit 51 Behandlungen nach Gennerich, in 
Summa 27 Falle mit 110 Behandlungen, zu berichten. Die hochste 
Zahl der Behandlungen fur einen Fall betrug 7. Bei diesen 27 Fallen, 
die ich nicht alle, so lange als es wiinschenswert gewesen ware, be- 
handeln konnte, habe ich nur viermal (3 Tabesfalle, 1 Paralyse) keine 
Veranderung des Liquors gesehen, wahrend in alien anderen Fallen alle 

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Beaktionen gemildert oder auch zur Norm gebracht warden. Der 
Paralysefall hat trotz der bestandigen Liqnorreaktionen sich aus einem 
amenten Zustande in einen erwerbsfahigen Menschen verwandelt. Die 
Remission halt schon 2 Jahre an. Besserung der Ataxie wurde wieder- 
holt beobachtet. Am ersten Tage nach der Behandlung traten Reiz- 
symptome (lanzinierende Schmerzen) haufig auf. In 2 Fallen war eine 
voriibergehende Provokation der Lymph ozytose, in 8 Fallen der Glo- 
bnlinreaktion im Sinne einer akuten meningealen Reizung (mit Falkm g 
bei 28 Proz. Ammoniumsulf. und mit der Goldsolreaktion) nachweis- 
bar: haufiger nach der Sernmbehandlung (6 unter 15 Fallen) als bei 
der Losung in Liquor (2:12). In 2 Fallen erlebte ich eine ernstere 
Provokation: der erste (Patient N. mit Tab. dors, und Lues cerebri) 
bekam einige Tage nach der ersten Einspritzung Ton 0,22 mg auf 
einem — iibrigens vorzeitigen Spaziergang — einen pseudoparalyti- 
schen AnfalL Bei der nachsten Punktion waren: Globuline, Gesamt- 
eiweiss und Lymphozytose verstarkt. lm Laufe der weiteren Behand- 
lung mit in Summa 7 intralumbalen Einfiossungen trat kein neuer Anfall 
auf, die Reaktionen gingen zuriick. Der zweite Fall (Patient K. mit 
Tabes) hatte eine erste Serie von 6 Salvarsanseruminjektionen erhalten 
und wahrend dieser eine Yoriibergehende Verstarkung yon Gesamt* 
eiweiss, Globulin und Wassermannreaktion gezeigt. Bei Beginn einer 
zweiten Kur, ein Halbjahr spater, erhielt er 0,4 Altsalvarsan (in der 
Regel habe ich Neosalvarsan benutzt) intravenos und nachfolgend eine 
Serumeinspritzung. Am Tage darauf bemerkte er am 4. und 5. Finger 
rechts einen Ausfall fur taktile Reize und fiinf Tage spater konnte er 
die gespreizten 4. und 5. Finger nicht adduzieren, also eine partielle 
Ulnarisparese. Es sind ihr Atrophie und Entartungsreaktion in den 
klginen Handmuskeln gefolgt. 

Diese beiden Provokationen von Krankheitssymptomen bei Tabes- 
kranken fordern zu noch kleineren Anfangsdosen, als ich sie ge- 
braucht habe und Gennerich angibt, auf. Man muss nicht vergessen, 
dass verschwindend kleine Dosen schon heilsam wirken konnen. Bei 
der Ausfiihrung ist zur Vermeidung von Dosisiiberschreitungen eine 
feine Pipette, welche 0,1 ccm in 100 Teile zu zerlegen gestattet, zu 
verwenden. 

lm ganzen bin ich nach meinen Erfahrungen an 110 Behand- 
lungen von der Berechtigung und Unschadlichkeit der Methode iiber* 
zeugt. Ihr Hauptgebiet ist aber nicht Tabes und Paralyse, sondern 
die Friihsyphilis der Meningen. In der Praxis ist sie leider nicht durch- 
fuhrbar, im Krankenhaus auch nur bescbrankt. 

Hoffentlich wird die fortschreitende Aufklarung auch das Kranken- 


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Uber Liquoruntersuchubgen und Liqaorbehandlungen bei Syphilitischen. $5 


hauspublikum mehr und mehr von der Wichtigkeit der Liquorpriifungen 
und Liquorbehandluugen iiberzeugen. 


Literatnr. 

Alter, Toxizitat des Salvarsan. M. m. W. 1914, Nr. 14. 

Berger, Neosalvarsan u. Zentralnervensystem. Z. f. gee. Neurol, u. Psych. 
1914, 23. Bd., S. 344 

Bruhns, Heranziehung d. L. P. uaw. f. d. Behaudluug der SpatsyphiliB. 
S.-A. 1910. 

Curechmann, Uber atyp. mult. Sklerose u. luetische Spinalleiden bei 
Heeresangehdrigen. M. m. W. 1915, S. 1061. 

Dreyfuss, Method, der Liquoruntersuchungen. M. m. W. 1912,8.2567. 
Derselbe, Lumbalpunktion. M. m. W. 1914, S.-A. 

Derselbe, Salvars. bei Nervensyph. u. Tabes. M. m. W. 1913, a-A. 
Dreyfuss u. Altmaun, Salv. u.’ Liquor cerebrospin. bei FrOhsyph. 
M. m. W. 1913. Nr. 9. 10. 

Eicke, Sero- u. Liquordiagnostik bei Syph. Derm. Zeitschr. 1914, 8. 911. 
Emanuel, Neue Reaktion z. Untersuchung des Liqu. cerebrospin. Berl. 
klin. W. . 1915, Nr. 30. 

Eskuchen, Behandlung der Syph. des Zentralnervensystems nach Swift 
u. Ellis. M. m. W. 1914, S. 747. 

Fruhwald u. Zaloziecki, Infektiositat des Liquor bei Syphilis. BerL 
klin. W. 1916, 1. 

Gerhardt, Diagn. u. therap. Bedeutung der Lumbalpunktiou. M. a. d. 
Grenzgebieten d. M. u. Ch. 13. Bd. 

Gennerich, Lokalbehandlg. der mening. Syph. M. m. W. 1915, Nr. 49. 
Derselbe, Ursachen von Tabes u. Paralyse. Derm. Zeitschr. 1915, Dez. 
Derselbe, Behandlungsfrage der frischen Luesstadien. M. m. W. 1916, 
S. 1269; Derm. Zeitschr. 1915, Nr. 12. 

Hauptmann, Auswertung des Liquors. D. Z. f. Nervenheilkde. 1911, 
Bd. 42. 

Kafka, Liquordiagnose. M. m. W. 1915, Nr. 4. 

Derselbe, Uber die Bedeutg. der Goldsolreaktion in der SpinalflQssig- 
keit usw. Derm. W. 1914, Erg.-H. 

Lange u. Wechselmann, Goldsolreaktion. Berl. klin. W. 1912. 
Lange, Ausflockung von Goldsol durch Liq. cerebrospin. Berl. klin. W. 
1912, Nr. 19. 

NeisBer, Wann soil die Spinalpnnktion bei negativer W.R. im Blut er- 
ganzeud hinzutreten? Berl. klin. W. 1915, S. 486. 

Nonne, Die vier Reaktionen. D. Z. f. Nervenheilkde. 1911, Bd. 42. 
Derselbe, Syphilogene Nervonkrankheiten, z. Problem d. Therap. Forth. 
Vortr. 1915. M. m. W. S. 259. 297. 

Nissl, Bedeutg. d. Lumbalpunktion f. d. Psychiatrie. Ztrbl. f. Nerven¬ 
heilkde. 1904. 

Noguchi, Nachw. der Spir. p. bei Tab. u. Paralyse. M. m. W. 1913, 
Nr. 14. 

Payr, Meningitis seroBa. Med. Klin. 1916, 32. 33. 


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86 Werther, Uber Liquoruntersuchuugen usw\ 

Pilcz, Fortschr. a. d. Geb. d. Lehre v. d. progr. Paral. Med. Klin. 1914, 
Nr. 19. 

Host, Liquornntersuchungen bei Syph. Derm. Z. 1916, H. 3. 

Rotky, Durchlassigkeit der Meningen fur chemische Stoffe. Z. f. klin. 
Med. 1912, S. 494. 

Schmidt, Muskelrheumatismus (Myalgie). M. m. W. 1916, Nr. 17. 
StGhmer, Salvarsanserum. M. m. W. 1914, S. 746. 1101. 

Swift u. Ellis, Kombinierte lokale u. allgemeine Behandlung der Syph. 
des Zentralnervensystems. M. m. W. 1913, Nr. 36. 37. 

Tilmann, L — P z. Erkennung der Spatfolgen von Schadelschussen. 
D. m. W. 1916, Nr. 12. 

Wechselmann u. Dinkelacker, Beziehungen d. allg. nerv. Symptome 
im Frflhstadium der Syph. z. d. Befunden dee Lumbalpunktates. M. m. W. 
1914, S. 1392. 

Weygandt u. Jakob, Warum werden Syphilitiker nervenkrank? Derm. 
Wocb. 1914, Erg.-Nr. 

Weygandt, Mitteilungen ub. eVp. Syph. des Nervensystems. M. m. W. 
1913, S. 2037. 

Wile u. Stokes, Liquoruntersuchung in bezug auf Beteiligung des 
Nervensystems bei der sckundaren Syphilis. Derm. Woch. 1914. 


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(Aus der medizinischen Klinik der Universitat Leipzig. 

Direktor: Geh.-Rat y. Strfimpell.) 

Znr Kenntnis und Atiologie der nnter dem Bild eines 
Tumors yerlanfenden Erkrankungen der Cauda equina. 

Von 

Dr. Richard Stephan, 

Assistant der Klinik. 

Nachdem H. Schlesinger') zuerst auf den umschriebenen Hy¬ 
drops der Riickenmarkshaute hingewiesen und Bruns 2 ) dessen Be- 
deutung fur die Kenntnis der Differentialdiagnose gegeniiber dem 
Tumor medullae spinalis betont batte, haben wir in einer sebr um- 
fangreicben kasuistiscben Literatur Erfabrungen fiber diesen in der 
Regel einen Tumor vortauschenden Prozess macben konnen. Die 
relative Haufigkeit dieser Zustande, die gewohnlich unter dem atio- 
logiscb indifferenten Namen der Meningitis spinalis serosa circum¬ 
scripta zusammengefasst werden, erhellt aus der Zusammenstellung 
Krauses 3 ), der unter 45 Fallen, bei denen wegen Tumorverdacht der 
Wirbelkanal operativ eroffnet wurde, llmal den umschriebenen 
Hydrops der weicben Haute an Stelle der vermuteten Geschwulst 
vorfand. 

Als Ursacbe der lokalisierten Liquorstauung erwabnt Krause 
Pachymeningitis externa, Tuberkulose der Wirbel, extradurale Exo- 
stosen der Wirbelkorper, intradurale Entzfindungsprozesse und intra- 
durale Geschwfilste, die aber in diagnostischer Hinsicht von den 
Symptomen der Liquorstauung verdeckt werden. Zwei in Bezug auf 
die Patbogenese ungeklarte, durcb Biopsie festgestellte Falle von um- 
scbriebenem Hydrops werden von Krause als „Arachnitis fibrosa mit 
Liquorstauung 1 ' bezeicbnet. Wir sind fiber ahnliche Prozesse an den 
weichen Hauten des Gehiras durcb Oppenheim und Krause 4 ) 
unterrichtet worden und kennen das Krankheitsbild insbesondere aucb 

1) Beitrage zur Kenntnis der Buckenmarkstumoren. Jena 1898. 

2) Neurologisches Zentralblatt. 1907. 

3) Chirurgie des Gehirns und Bdckenmarks. 1911. Bd. 2. 

4) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin u. Chirurgie. Bd. 27. 
Heft 3. 


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Stzphan 


SS 

durch Nonne J ), der es bekanntlich als Pseudotumor cerebri bezeicbnet 
bat. Schliesslicb aber haben die Beobachtungen Oppenheims 1 2 ), die 
aus den letzten Jahren datieren, sebr viel klarer sehen lassen. Oppen- 
heim hat iiber derartige Befunde am Riickenmark ausfiihrlich be- 
ricbtet und als erster auf die Haufigkeit chronisch-entziindhcher Pro- 
zesse im Conus-Caudagebiet hingewiesen. Wir verdanken ihm die 
ersten pathologisch-anatomiscben Untersuchungen, die den Krankheits- 
prozess als Meningomyelitis spinalis chronica fibrosa charak- 
terisieren und die auch die Pathogenese der bislang atiologisch dunklen 
Erkrankungen zum Teil wenigstens zu klaren berufen sind. Eurz 
zusammengefasst ergeben die Beobachtungen Oppenheims, dass am 
Ruckenmark — in erster Linie im Conus-Caudagebiet — Krankheits- 
zustande vorkommen, die sich symptomatologisch vorlaufig nicht yon 
den Geschwiilsten dieses Gebietes differenzieren lassen und denen 
pathologisch-anatomisch chronisch-entziindliche Prozesse des Conus, 
der Cauda equina und der regionaren Partien der weichen Haute zu- 
grunde liegen. Mit Bestimmtheit wurde in zwei Fallen ein Trauma, 
in anderen Beobachtungen yermutungsweise Lues und Gicht als atio- 
logischer Faktor erkannt. Ganz neuerdings hat Nonne 3 ) unsere 
Kenntnis yon den Erkrankungen der Cauda equina erweitert durch 
einen hoohst bemerkenswerten Fall mit negatiyem anatomischen Be- 
fund. In Bezug auf die literarische Entwicklung der ganzen Frage 
sei auf Nonnes ausfuhrliche Literaturubersicht hingewiesen; ich werde 
spater auf Literaturangaben nur zunickkommen, soweit sie fur meine 
eigene Beohachtung yon Bedeutung sind. 

Der yon uns beobachtete Fall schliesst sich eng an die Veroffent- 
lichungen Oppenheims an. Die Symptomatologie hatte zu der 
Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Tumor caudae equinae gefuhrt. Der 
Befund bei der Operation wies jedoch den Prozess zu der yon Oppen- 
heim beschriebenen Krankheitsgruppe. Die symptomatologischen 
Besonderheiten, vor allem aber die atiologischen Beobachtungen er- 
scheinen uns yon besonderem Interesse und rechtfertigen die ausfuhr¬ 
liche Veroffentlichung. 

Krankengeschichte: 

Sch., Otto, 50 J., Handschuhschneider aus L., aufgenommen auf die 
innere Station am 5. Mai 1913. 

Anamnese: Der intelligente, lebhaft interessierte Patient gibt an, 


1) Zeitschr, f. d. ges. Neurologie. Bd. 5. 1911 u. Monatsschr. f. Psych, 
u. Neurologie. Bd. 33. 1913. 

2) Neue deutsche Chirurgie. Bd. 12. Teil 2. 

3) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1917. 


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Zar Kenntnis and Atiologie der outer dem Bild eines Tumors usw. 89 

aas ganz gesander Familie zu stammen. Ein Brader sei im spft- 
teren Lebensalter an Lnngenschwindsacht erkrankt. Die Eltern and die 
flbrigcn Geschwister waren stets gesund. In der Familie aach ins- 
. beeondere keine Nervenleiden and keine Gicht. 

Der Patient selbst ist frfiher immer ganz gesund gewesen. Als Kind 
von 2 Jahren soil er nach Aussage seiner Matter ffir mehrere Wochen 
blind gewesen sein. Etwas Naheres liess sich darOber nicht in Erfahrung 
bringen. Er ist niemals gestQrzt, hat nie an Gelenkrheamatls- 
mas Oder Gicht gelitten and vermng sich ftberhaapt aaf eine nennens- 
werte Erkrankung nicht za entsinnen. 

Er ist verheiratet, hat mehrere gesande Kinder. Frau and alle Kinder 
leben. Keine Fehlgebarten der Fran. Er hat stets nur sehr massig ge- 
trunken and wenig geraucht. 

Geschlechtskrankheiten negiert. 

Ungefahr November oder Dezember 1912 — also ca. 6 Mo- 
nate vor der Krankenhansaufnahme — bemerkte er erstmals „Reissen“ 
im linken Oberschenkel and im linken Gesass, das bald heftiger, 
bald weniger heftig war und zunachst „vom Wetter abhangig" za sein 
schien. Im ROcken hat er niemals Schmerzen verspOrt. Das Ziehen 
and Reissen im linken Oberschenkel war haaptsachlich auf der RQckseite 
and zog sich bisweilen bis zur Kniekehle nach abwarts. Ganz frei ist er 
seit Einsetzen der ersten Beschwerden nie mehr gewesen. In Blase and 
Penis ist der Schmerz nie aasgestrahlt. 

Im Janaar 1913 ungefahr trat ein bohrender, ziehender Schmerz aach 
aaf der Oberflache des linken Fusses aaf. Erst im Beginn des Marz 
1918 fOhlte er ganz ahnlich lokalisierte Schmerzen aach im rechten Ober¬ 
schenkel, hier bisweilen anfallsweise auftretend and oft mehrere Tage aus- 
setzend. 

Bis Ende Marz konnte der Patient noch leidlich, wenn aach hampelnd, 
gehen; seit dieser Zeit aber zog sich innerhalb von wenigen Tagen das 
linke Bein krumm, ohne dass er dagegen durch gewaltsame tJbungen and 
passive Strecknngen angehen konnte. Seit ungefahr 8 Wochen ist der- 
selbe Znstand auch im rechten Bein eingetreten, so dass er jetzt dauernd 
ans Bett gebunden ist. Die Schmerzen bestehen unverandert weiter. 

Wahrend der ganzen Erkrankungszeit war das Allgemeinbefinden un- 
gestOrt. Er hat niemals Fieber gehabt und sich stets „ganz wohl“ gefQhlt. 
Im Leib, im RQcken and in der oberen Extremitat bat er nie Schmerzen 
gehabt. Verdauung normal. Niemals Tenesmcn, niemals Blasenbeschwerden. 
An Gewicht hat er nicbts verloren. 

Aach aaf eindringliches Befragen negiert er jede Betei- 
ligang der Blase and des Mastdarms wahrend der ganzen Er- 
kranknngszeit. Die sexuellen Fnnktionen sind ebenfalls intakt ge- 
blieben: Libido, Erectio and Ejaculatio wie frOher. 

Status bei der Aafnahme (5. V. 1913): 

Sch. ist mittelgross, in gntem Ernabrungszustand. Er ist geistig ab- 
solat angestOrt, von gutem ErinnerungsvermOgen und lebhafter Anfmerk- 
samkeit in Bezug auf die Entwicklung seines Leidens. Er ist fieberfrei. 

Er liegt in linker Seitenlage mit im Knie ungefahr recht- 
winklig gebeugten Beinen and vermag sich ohne Hilfe im Bett 


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Stephan 


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rasch aufzurichten. Die Bauchdeckenmuskulatur spannt sich dabei 
kr&ftig an. 

Am Schadeldach keine Besonderheiten. 

Beide Pupillen eng, rand, auf Licht und Konvergenz prompt rea- 
gierend. 

Im Gebiet der Hirnnervon keine StOrung. 

Sehulter* und Armmuskulatur beiderseits dttrftig entwickelt, 
schlaff. Besonders auffallend ist die Atrophie der kleinen Hand- 
mask eln. Aktive und passive Bewegungen in den Sehulter-, Arm- und 
Handmuskeln in normaler Weise und ohne Seitendifferenz ausffihrbar. In 
den Unterarmmuskeln werden vereiirzelte fibriliare Zuckungen 
wahrgenommen (auch bei spateren Untersuchungen Of ter beobacktet). 

Periost- und Sehnenreflexe an den obecen Extremitaten lebhaft. 

Rumpfmuskulatur krttftig, gut innerviert. 

Bauchdecken- und Kremasterreflexe sehr lebhaft. 

Die Muskulatur der uuteren Extremitaten relativ noch scklaffer 
und dttrftiger als die der oberen. UmfangsmaBe zwischen rechts und 
links an korrespondierenden Stellen gleichmOssig. Fibrillare Zuckungen 
in der Muskulatur niemals wahrnehmbar. 

Wirbelsdule verlauft gerade. Wirbel nirgends klopf- oder druck- 
empfindlich. Keine Schalldampfung fiber der Lendenwirbelsaule. Die Pro¬ 
cessus spinosi II und 111 der Lendenwirbelsaule springen etwas starker 
vor als die Qbrigen. Kein Staucliungsschmerz der Wirbelsaule. 

Hoden und Penis o. B. Lebhafte Hodensensibilitfit. Anal- 
reflex reckts = links, beiderseits sehr lebhaft. Guter Tonus des 
Sphincter ani externus. 

Das rechte Be in kann im Hflftgelenk aktiv und pnssiv ausgiebig 
und in normaler Starke gebeugt und gestreckt werden. Ebenso ist die 
Abduktion, Adduktion und Rotation ohne StOrung. Im Kniegelenk ist 
aktive und passive Beugung und Streckung mOglich. Die Beugung ist 
maximal ausffibrbar; die Streckung hingegen ist durch die Kon- 
traktur in den Beugern nur etwa bis zu einem nach hinten 
offenen Winkel von ca. 120°m5glich. Die Sebncn der Oberschenkel- 
beuger spannen sich bei passiver Bewegung im Kniegelenk stark an. 

Plantar- und Dorsalflexion des Fusses und der Zehen in 
normaler Weise und Starke ausfflhrbar. 

Am linken Bein finden sich im Hfiftgelenk in Bezug auf passive 
und aktive Beweglichkeit dieselben Verhfiltnisse wie am rechten. ImVer- 
lauf des Ischiadicus keine Druckpunkte. 

Im Kniegelenk kann das linke Bein aktiv gut gebeugt und etwa 
bis zu 90° gestrekt werdeu. Eine weitere Streckung istwegender 
Kontraktur der Beuger nicht mOglich. 

Der linke Fuss und die linken Zehen sind plantarflektiert 
und kOnnen aktiv nicht dorsalflektiert werden. Die passive Dor- 
salflexion dagegen ist gut ausfQhrbar. Der innere Fussrand kann 
aktiv nicht gehoben werden. 

Der ganze linke Fuss erscheint dicker als der rechte; die Haut ist 
fiberall etwas gerOtet, wie gequollen, aber nicht OdematOs! 

Die Gelenke der unteren Extremitat, wie auch die flbrigen 
KOrpergelenke bieten einen normalen Befund. 


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Zur Kenntnis und Atiologie der unter dem Bild eines Tumors usw. 91 


Reflexe der unteren Extremist: 

Beuge- and Abduktorenreflexe sehr lebhaft, am rechten Bein 
wesentlich schw&cher als links. 

Patel arreflex beiderseits sehr lebhaft, rechts mehr als links, aber 
auch hier gut auslosbar. Reflexogene Zone nicht erweitert. 

Achillessehnenreflex beiderseits erloschen, anch mit Kunst- 
griffen nicht zu erhalten. 

Streichreflex an der rechten Fusssohle lebhaft, dabei Plantarflexion 
der Zehen; an der linken Fusssohle: Abwehrbewegung, aber kein Reflex. 
Kein Klonus im Fussgelenk. 

Sensibilitat: In der Haut des Eopfes, des Stammes und der oberen 
Extremitat normaler Befund. 

Am rechten FussrOcken eine nicht scharf abgrenzbare ca. klein- 
handtellergrosse Zone, innerhalb deren das GefQhl fQr Spitz und Stumpf. 
sowie das fQr feinere BerQhrungen herabgesetzt ist. Sonst links keine 
S Wrung. 

Linkes Bein: An der Aussenseite des linken Unterschenkels, 
nach unten Qbergreifepd auf den ganzen FussrQcken, sowie 
auf dem vorderen Teile derPlanta eine nicht scharf abgesetzte 
Zone, innerhalb deren alle Empfindungsqualitaten der Haut 
erloschen sind. Auch der Gelenksinn ist nicht mehr intakt. 
Das GefQhl fQr feine BerQhrungen ist in einem ausgedehnteren 
Grade gestOrt als die Qbrigen Qualitaten. 

Sonst (perianal usw.) keine sensiblen StOrungen. 

Die Untersuchung der inneren Organe ergab keinen patho- 
logischen Befund. Die peripheren Arterien zeigten an vielen Stellen skle- 
rotische Einlagerungen. Der Blutdruck war normal (130 mm Hg nach 
Riva-Rocci). Der Urin wurde in normaler Menge und gut konzentriert 
entleert; im Sediment keine pathologischen Bestandteile. FQr Lues war 
keinerlei Anhalt vorhanden. Die Wassermannsche Reaktion im 
Blutserum war negativ. Die morphologische Blutuntersuchung ergab 
normale Werte. Am Lidknorpel, an den Ohrknorpeln und an 
sonstigen Kdrperstellen konnten keine tophiverd&chtigen Ver- 
dickungen aufgefunden werden. 

Die rOntgenologische Untersuchung der Lendeuwirbels&ule 
und des Kreuzbeins ergab einen normalen Befund. 

Die Lumbalpunktion misslang, scheinbar infolge des ungemein 
geringen Zwischenraumes zwischen den Lendenwirbeln. (Eine Wiederholung 
der Punktion lehnte der Patient sp&ter ab.) 

Die PrQfung der elektrischen Erregbarkeit ergab partielle 
EaR im Gebiet des Nervus peroneus sinister, sonst Qberall normale 
Werte. 

Epikrise: Bei einem bis dahin ganz gesunden, erblich nicht be- 
lasteten Mann von 50 Jahren, bei dem keine Alkoholschadigung vor- 
lag, trat ohne aussere Ursache znnachst eine hartnackigelschialgie 
des linken Beines mit charakteristischer Lokalisation auf, die zunachst 
wochenlang als einfache Ischias arztlicherseits aufgefasst wurde und 
keine Ausfallserscheinungen im Gefolge hatte. Jede medikamentose 


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92 


Stephan 


and mechanische Therapie war erfolglos. Gegen die Annahme 
einer einfachen lsehias rausste aber wohl schon damals das 
Fehlen einzelner zeitlich abgegrenzter Schmerzattacken 
sprechen. Die Schmerzen waren tagsiiber dauemd vorhanden and 
traten gewohnlich auch nacbts sehr heftig auf. Nach mehrwochent- 
licbem Krankheitsverlauf zeigten sich dieselben Symptom e am rechten 
Bein, hier aber in ausgesprochener Periodizitat. Erst nach ca. 3 Mo- 
naten, vom Beginn der ersten Schmerzen an gerechnet, wurde das 
Gehen erschwert durch eine Schwachung im linken Fuss and darch 
die ganz allmahlich sich yerschlimmernde Unfahigkeit, die Beine im 
Kniegelenk zu strecken. Nach 14tagiger dauernder Bettlagerigkeit 
war eine so hochgradige Kontraktur an den Beagem des Oberschenkels 
beiderseits aufgetreten, dass die Beine im Knie nicht uber 100 0 mehr 
gestreckt werden konnten. Wahrend der ganzen Zeit war die Blasen-, 
Mastdarm- and die sexuelle Funktion ungestort. Uber den Zastand 
der Reflexe, der Sensibilitat and der Motilitat wurde in * den ersten 
Monaten arztlicherseits ein Befund nicht erhoben. 

Nach ca. halbjahrigem Verlaufe des Leidens fand sich 
objektiv: 1. Eine totale Anasthesie der Hant, der Muskeln und Ge- 
lenke im unteren Drittel des linken Unterschenkels und am linken 
Foss, die sich weder scharf als segmentaler, noch als peripher-neu- 
ritischer Ausfall abgrenzen liess. Die taktile Anasthesie war etwas 
weiter ausgebreitet als die der ubrigen Empfindungsqualitaten. Die 
rechte untere Extremitat wies lediglich eine geringe Hypasthesie im 
Gebiet des Fussriickens auf. 2. Totale, schlaffe Lahmung im Gebiet 
des Nervus peroneus sinister. 3. Partielle EaR. im Gebiet des- 
selben Nerven und des Tibialis posticus sinister. 4. Steigerung. der 
Patellarreflexe, rechts mehr als links; Aufhebung des Achillessehnen- 
und Plantarreflexes beiderseits. 5. Sekundare Kontraktur in den 
Beugem des Ober- und Unterschenkels links, lediglich des Ober¬ 
schenkels rechts. 6. Nicht konstante fibrillare Zuckungen in der 
Muskulatur der oberen Extremitat. 

Im ubrigen ergab die Untersuchung des Nervensysteras 
kein Abweichen von der Norm. 

Die Lokalisation des chronischen Prozesses musste un- 
bedingt zentral angenommen werden. Eine periphere Neuritis 
konnte bei der relativen Symmetric, der wahrscheinlich segmentalen 
Ausbreitung der Sensibilitatsstorungen, vor allem bei der gleichzeitigen 
Lahmung des Nervus peroneus longus sinister (L5—Si) und dem 
Fehlen des Achillessehnenreflexes beiderseits (S1—S 2) wohl mit 
Sicherheit ausgeschlossen werden. Der Sitz der Erkrankung war beim 
Fehlen der im 1. und 2. Sakralsegmente lokalisierten Reflexe und 


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Znr Kenntnis and Atiologie der unter detn Bild eines Tumors usw. 93 

beim Erhaltensein des Patellarreflexes zwischen dies'en Sakralsegmenten 
und den Lumbalsegmenten II—IV, resp. den yon diesen Segmenten 
ansgehenden Wurzeln, also oberhalb der Austrittsstelle der ersten 
Sakralwarzeln, anzunehmen. Der Ausfall in der sensiblen Sphare be* 
grenzte den Sitz des Prozesses anf die Segmente L5 and Si. Der 
Beginn mit ausgesprochenen Wurzelsymptomen — heftige, im Verlauf 
der Wurzeln aasstrablende Schmerzen und Lahmung im Oebiet der 
Segmentinnervation — liess viel mehr an eine Wurzelaffektion, denn 
an eine Erkrankung der betreffenden Segmente denken. Bei der Be- * 
teiligung der bei den sensiblen Wurzeln und der motorischen Wnrzel 
links — Lahmung im Gebiet des Nervus peroneus — durfte schliess- 
lich ein Sitz in den betreffenden Segmenten selbst mit grosster Wahr- 
scheinlicbkeit ausgescblossen werden. Es hatten sich bei den teilweise 
absolution Ausfallserscbeinungen doch sonst zunacbst auch Storungen 
in den tiefer gelegenen Segmentabschnitten, bei einer Kompression 
event!, auch Symptome der Halbseitenlasion im Laufe der Entwicklung 
des Prozesses nachweisen lassen musseU. Der Prozess wurde von 
uns nach alien differentialdiagnostischen Erw&gungen als 
Affektion der Cauda eqina angesprochen. Eine Beteiligung 
y des Conus war beim Fehlen von Storungen in der ano-vesikalen und 
sexuellen Sphare mit Sicherheit von der Hand zu weisen. Die lang- 
same Entwicklung der Lahmung, das Hervortreten der „Wurzel* 
schmerzen", die absolute, nicht partielle Empfindungslahmung, wie 
auch das Erhaltensein der Analreflexe und des Tonus des Sphincter 
ani extern us wurde zudem gegen eine solche Annahme sprechen. 
Alle diese diagnostischen Erorterungen wiesen schliesslich 
darauf hin, dass der mutmassliche Prozess eng umschrieben 
sein musste und etwa in Hohe des 3.-4. Lendenwirbelkorpers zu 
lokalisieren war. 

Die anamnestischen Angaben und das monatelauge Be- 
stehen heftiger Schmerzen machten von vornherein das 
Vorliegen eines die Cauda komprimierenden Prozesses 
wahrscheinlich. Differentialdiagnostisch war daher zu ent- 
scheiden, ob eine Kompression durch Tumor oder durch chronisch- 
entziindliche Prozesse, die an den Meningen zu supponieren gewesen 
waren, anzunehmen war. Tuberkulose Prozesse an den Wirbeln oder 
Hirnhauten durfben auf Grund des klinischen Allgemein- und des 
negativen Rontgenbefundes mit Sicherheit negiert werden. Die gleichen 
Unterlagen sprachen gegen eine vom Knochen ausgehende Geschwulst. 
Fiir einen metastatischen Tumor fehlt jeder Anhalt. Und an eine 
Teilerscheinung einer Neurofibromatosis universalis zu denken, dazu 
lag kein greif barer Grund vor, obwohl solche Beobachtungen vor- 


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Stephan 


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liegen, bei denen diese Allgemeinerkrankung zar Operation eines 
„Caudatumors“ Veranlassung gab. Es erschien uns daher am 
naheliegendsten, einen den weichen Hauten entstammenden, 
umschriebenen Tumor zu vermuten und ihn zu lokalisieren 
in eine Hohe, in der die Wurzeln des 4. Lumbalsegmentes 
den Canalis spinalis schon verlassen haben. 

In zweiter Linie war mit einem jener in ihrer Atiologie noch 
ganz unklaren chronich-entziindlichen Prozesse der Cauda equina, 
deren Kenntnis wir Oppenheim 1 ) verdanken, zu rechnen. Eine ein- 
fache Meningitis chronica spinalis, wie sie insbesondere Horsley be- 
schreibt, war unwabrscheinlich bei der absoluten Konstanz der Aus- 
fallserscheinungen, insbesondere der Sensibilitatsstorungen. Fiir eine 
luetische Atiologie einer Arachnitis chronica fibrosa fehlten die 
serologischen und klinischen Anhaltspunkte. Freilich musste dabei 
immer betont werden, dass die gerade in dieser Hinsicht so wichtige 
Untersuchung des Liquor cerebrospinalis auch technischen Griinden 
(s. o.) nicht moglich war. 

Mit der Diagnose: Tumor der Cauda equina wurde der 
Patient am 2. VI. 13 der chirurgischen Abteilung iiberwiesen 
und am 10. VI. 13 von Herrn Geh.-Rat Prof. Payr operiert. 

Operationsbericht 2 ): Nach Einspritznngen von ca. 200 ccm einer 
LOsung von 8 Tropfen Snprarenin auf 100 ccm NaCl in die Muskulatur 
seitlich der Lendenwirbel und zwar 2.—5. Wirbel wird ein Schnitt fiber 
die Dornfortsatze dieser Wirbel bis zur H5he des 2. Sakralwirbels ge- 
ffihrt. Die Muskulatur wird teils scharf mit dem Messer, teils mit dem 
Elevatorium von den Proc. spinosi und transversi abpr&pariert. Nur mi¬ 
nimale Blutung, die auf Kompression steht. Nachdem die Proc. spin, und 
transver. des 3. Lumbal- bis 2. Sakralwirbels freigelegt sind, werden mit 
der Horsley-Zange die Proc. spinosi fortgeschnitten. Nach Entfernung 
der WirbelbOgen mit der Luerschschen Zange quillt das epidurale Fett 
vor. Nacli Entfernung des Fettes kommen die Rfickenmarkshaute, die 
blaulichen Schimmer zeigen, zum Vorschein. Der Wirbelkanal ist 
prall mit Liquor gcffillt. Der Rfickenmarkskanal, welcher 
vielleicht 1—l 1 ^ cm breit ist, wird erOffnet. Liquor sprudelt 
hervor. Durch ihn werden seitlich 5—6 korrespondierende Halteffiden 
durch die Haute gelegt. Das Lendenmark wird in ganzer Ausdeknung 
der Freilegung, d. h. vom 3. Lumbal- bis 2. Sakralwirbel, geOfFnet. 
Die Wurzelfaden sehen blassrot aus; nur ein sensibler Wurzel- 
faden sieht selir blass aus. Derselbe wird reseziert und zur Unter¬ 
suchung aufbewahrt. Dann wird noch ein sensibler Ast des 5. Lumbal- 
segments reseziert. Die Wurzelfaden sind ziemlich fest untereiu- 
ander und der weichen Rttckenmarkshaut verwachsen, so dass 


1) 1. c. 1911. 

2 ) Mitgeteilt mit der giitigen Einw’illigung von Herrn Geh.-Rat Payr. 


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Zur Kenntuie nnd Atiologie dor unter dem Bild eines Tumors usw. 95 


ihre Isolierung Schwierigkeiten macbt. Dann wird noch der Brust- 
wirbelkanal mit einer dicken Sonde sondiert, ebenso das 
bleibende Ende des Sakralkanals. Nirgends etwas von Tumor 
sicht- oder ffihlbar. Sorgfaltige Naht der Rackenmarksbaute mit 
feinster Seidei Mebrere Katgutfaden werden durch die Muskulatur gelegt. 
Hantnaht. 

20- VI. Allgemeinbefinden gut. Operation gut Qberstanden. Patient 
klagt fiber heftige Schmerzen im linken Fuss. 

21. VI. Nichts Besonderes. Allgemeinbefinden gut. 

25. VI. Leichte ziehende Schmerzen im linken Fuss. 

26. VI. Verbandwechsel. Die Wunde ist an der Grenze zwischen 
mittlerem und unterem Drittel etwas gerOtet, aus den Nabtstichen kommt 
etwas trttb-serdse FlQssigkeit. An dieser Stelle wird die Wunde etwas 
erweitert, wenig serOs-eitrige FlQssigkeit. Perubalsamverband. Auf beiden 
Seiten ist die Haut in der Gegend des Trochanter major stark gerOtet. 

30. VI. Die Wunde, die sonst gut aussieht, zeigt an der Grenze des 
unteren Drittels etwas gerDtete Hautr&nder, die an der Stelle klaffen. Die 
Wunde ist hier mit gelbem Belag bedeckt. Keine besondere Druckempfind- 
licbkeit, keine wesentliche Scbwellung. Jodtinktur abtupfen. Perubalsam¬ 
verband. Seit einigen Tagen klagt der Patient wieder Gber Schmerzen im 
linken Bein. 

10. VII. Wunde siebt gut aus, heilt zu. 

16. VII. Patient klagt dauernd Qber Schmerzen nach wie 
vor. Keine Besserung im Befinden. 

23. VII. Status idem. Wunde verheilt. Patient wird nach Baracke 12 
zurttckverlegt. 

Nach der Operation wurde der Patient auf die innere Station zurQck- 
verlegt und dort bis zu seiner Entlassung am 15. IX. 1913 beobachtet. 
Durch den Krieg verloren wir ihn sp^ter aus den Augen, ohne bis jetzt 
die MQglichkeit gehabt zu haben, ihn noch einmal einer Nachuntersnchung 
zu unterziehen. Nach einer kurzen brieflichen Mitteilung vom Sommer 
1916 bat sich der Zustand bisber kaum verandert. Die Schmerzen be- 
stehen unverandert fort und sollen auch auf den BeckengQrtel Gbergegriffen 
haben. Neue Lahmungen sollen nicht aufgetreten sein. liber eine Ande- 
rung in den Sensibilitatsverhaitnissen wusste der Patient begreiflicher 
weise nichts zu schreiben. 

Eine kurze Notiz iiber den Status ungefahr 4 Wochen nach der ‘ 
Operation sei hier angefiihrt: Die Veranderungen im Zustandsbild sind 
auf Kosten der Operation zu setzen und bedeuten nicht etwa eine 
Progression des entziindlichen Prozesses: Das linke Bein ist deutlich 
atrophischer wie das rechte. Umfang des Oberschenkels links 37 cm, 
rechts 41 1 j 2 cm, des Unterschenkels 20^ bzw. 21 */ 2 cm. Das rechte 
Bein kann aktiv leidlich gestreckt und gebeugt werden. Im linken 
Bein ist die rohe Kraft ausserst gering. Kontrakturen wie friiher. 
Der linke Patellarreflex ist erloschen, der rechte sehr lebhaft. 
Kein Babinski. 'Kein Klonus. Der rechte Analreflex ist er¬ 
loschen, der linke lebhaft. Tonus des Sphincter ani gering. 


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Stkphan 


Links findet sich eine perianale Anasthesie fur alle Qnali- 
taten. Sonst Sensibilitat wie friiher. Die Operations wunde ist reak- 
tionslos verheilt. 

Die pathologisch-anatomische Untersuchung der resezier- 
ten Wurzel ergab: Im frischen Zupfpraparat erscheint die Wurzel 
ung^mein bindegewebsreich. Zerfallenes Neryengewebe, Myelinschollen, 
Kornchenzellen nsw. sind nicht aufzofinden. In alkoholfixierten, nach 
der Weigertscben Metbode und mit Hamotoxylineosin gefarbten 
Praparaten erweist sich die Wurzel als aus dichten Bindegewebs- 
flechten bestehend. Die Gefasse des Perineuriums sind nicbt erkenn- 
bar yermehrt. Um die Gefasse finden sich Anhaufungen yon Zell- 
komplexen, die im wesentlichen aus Fibroplasten und aus einkernigen 
Kundzellen zusammengesetzt sind. Biesenzellen sind nirgends aufzu- 
finden, ebenso aucb nirgends Harnsaurekristalle. In Osmiumpriipa- 
raten findet sich im Langs- und Querschnitt keine Verfettung. — Der 
bei der Operation aufgefangene Liquor cerebrospinalis batte einen 
normalen Eiweissgehalt (unter 0,2 pro M.), er war wasserklar und obne 
Zellvermehrung. Die Wassermannsche Beaktion im Liquor war 
nach der Hauptmannschen Metbode negativ bis 0,8 ccm. 

Zusammenfassend ergab also die pathologisch-anato- 
mische Untersuchung einen cbroniscben Entziindungspro- 
zess der Sakral- und Lumbalwurzeln, der im wesentlichen 
im Perineurium lokalisiert war und zu einer sekundaren 
Atrophie der Neryenfasern gefuhrt hatte. 

Das klinische Bild, das unbedingt auf eine komprimierende Neu- 
bildung binwies, hatte abo ebenso wie in Oppenbeims, sowie 
Oppenbeims und Krauses Beobachtungen zu einer Fehldiagnose 
verleitet. Es fand sich an Stelle der erwarteten Geschwulst eine 
Arachnoperineuritis chronica serofibrosa mit Liquorstau- 
ung. Der bioptbcbe Befund deckt sich in den Hauptpunkten so yoll- 
kommen mit Oppenbeims und Krauses Fall 1, dass hier nicbt 
naber darauf eingegangen zu warden braucbt. Vielleicbt hatte scbon 
die Moglichkeit der Lumbalpunktion vor der Operation die Diagnose 
eines Caudatumors unmoglich gemacbt. Ein hoher, rascb — d. b. 
nach wenigen ccm — abfallender Druck eines cbemisch 
und zellular normalen Liquors diirfte in kiinftigen Fallen 
wohl immer ffir einen Entziindungsprozess und gegen einen 
Tumor sprecben, wobei natiirlich Lues, Tuberkulose und andere 
infektiose Noxen als Entziindungserreger auszusehliessen sind. Der 
differentialdiagnostische Anhalt gilt nur fur jene atiologisch unklaren 
chronischen Entziindungsprozesse im Gebiet des Conus und der Cauda 
equina. Ob sie auch bei einem hoheren Sitz der Erkrankung Geltung 


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Zur Kenntnis uad Atiologie der unter dem JBild eines Tumors usw. 97 

hat, erscheint so lange unklar, als wir nicht davou nnterrichtet sind. 
auf welches Oebiet die Liquorstauung ausgedehnt ist, d. h. ob sie 
rtets von der obersten Qrenze der entziindliohen Affektion bis zur 
Cauda hinabreicht oder ob auch raumlich eng tunschriebene Bezirke 
von Liquorstauung bei diesen Prozessen existieren. Die letzte Ursache 
fur die Stauung diirfte wohl die durch Einschrankung der Lymph- 
spalten bedingte Zirkulationsbehinderung sein. Zu einem Abschluss 
nach oben durch entziindliche Verklebungen war es jedenfalls in 
unserem Falle, ebensowenig wie in fruheren Beobachtungen, nicht 
gekommen. Das Fehlen jeder entziindlichen Liquorreaktion, sowohl 
in zellularer wie chemischer Hinsicht, lasst daran denken, dass die 
Meningen nur sekundar am Krankheitsprozesse teilnehmen und dass 
der primare Ausgangspunkt in das Perineurium zu verlegen ist. Die 
patbologisch-anatomischen Befunde entsprechen denen Oppenheims 
(1. c. 1913), ohne dass in unserem Falle entschieden werden kann, ob 
der Prozess weiter nach oben bis zum Conus reichte, ob er nur 
wenige, oder ob er alle Wurzeln beteiligt hatte. Die Ausfallserschei- 
nungen lediglich in zwei Wurzelgebieten sprechen nicht unbedingt 
gegen diese Annahme. Der bioptische Befund im Verein mit den 
fruheren Erfahrungen macht es vielmehr wahrscheinlich, dass ein 
diffuser Prozess vorlag, und dass zunachst nur die am meisten ge- 
schadigten Wurzeln zu klinischen Ausfallserscheinungen Veranlassung 
gaben. Eine Myelitis kann so lange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen 
werden, als es nicht moglich ist, den Conus autoptisch zu untersuchen. 
Vielleicht darf auch im Sinne eines. ausgebreiteten Prozesses mit 
einiger Vorsicht der Befund verwertet werden, dass auch in den 
Muskelgruppen der oberen Extremitat ofter fibrillare Zuckungen be- 
obachtet warden. Der Ausfall des Patellarreflexes links, des Anal- 
reflexes rechts, sowie das Manifestwerden einer perianalen anasthe- 
tischen Zone ca. 4 Wochen nach der Operation kann ebenfalls nicht 
im Sinne eines Fortschreitens des Prozesses gedeutet werden. Unter 
den beiden wahrend der Operation resezierten Wurzeln befand sich 
zwar sicher keine des 2.—4. Lumbalsegments. Das Auftreten des 
Westphalschen Phanomens links kann aber wohl auch durch die 
Narbenbildung p<5st operationem bedingt gewesen sein. Jedenfalls 
ergibt die ganze bisherige Beobachtung kein eindeutiges Bild von der 
Progredienz oder dem Stillstand des Entzundungsprozesses. Die Tat- 
sache, dass die Schmerzen durch den operativen Eingriflf in keiner 
Weise gebessert wurden, widerrSt fur kiinftige Falle ein aktives 
chirurgisches Eingreifen und beschrankt dieses ausschliesslich — im 
Sinne Oppenheims — auf die Falle mit trauraatischer G.enese. 

Ein besonderes lnteresse bot nach der Operation die 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 7 


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SfTEPHAN 


weitere klinische Beobachtung in Bezng auf die Frage nach 
der Atiologie der Arachnitis et Perinenritis chronica sero- 
fibrosa. Das von Oppenheim in mehreren Fallen seiner Publi- 
kation angeschuldigte Trauma konnte bei unserem Patienten mit 
Sicherheit ansgeschlossen werden. Alkoholismns lag ebenfalls nicht 
vor. Auch Lues musste mit Bestimmtheit verneint werden, nachdem 
die Untersuchung des Liquor post operationem in Bezug auf Zell-, 
sowie Eiweissgehalt normale Werte ergeben hatte, die Wasser- 
mannsche Keaktion im Liquor negativ war und auch das mikrosko- 
pische Bild der erkrankten Wurzeln nichts fiir Syphilis Charakte- 
ristisches bot. Fiir Gicht, deren begiinstigende Bedeutung fiir die 
Entstehung des Leidens ebenfalls von Oppenheim in Erwagung ge- 
zogen wird, sprach zunachst nichts: Weder konnte eine familiare Be- 
lastung nachgewiesen, noch ein anamnestiscber Anhalt fiir friiher 
durchgemachte Gichtattacken gewonnen werden. Bei der in dieser 
Hinsicht vorgenommenen Untersuchung des Urins zeigte sich uns zu¬ 
nachst einmal bei voller Kost — ohne Bestimmung des mit der Nah- 
rung zugefiihrten Purinbasenstickstoffes — ein auffallend nied- 
riger Wert der Harnsaureausscheidung, der in mehreren Be- 
stimmungen in der Tagesmenge <>,08 in 100 ccm Urin niemals tiber- 
schritt (gegeniiber 0,5—1,0 g beim Normalen und bei gemischter, 
nicht allzu fleischreicher Kost 1 )). Eine Urin-Harnsaurebestimmung 
bei vegetabilischer und purinfreier Ernahrung in einem Stoffwechsel- 
versuch von 14tagiger Dauer ergab unter Ausserachtlassung der Vor- 
periode die nachfolgenden Werte: 



Urinmenge 
in 24 Stdn. 

j 

Spoz. Gew. 

1 

Harnsaure 

<n g 

Andere Be- 
merkungen 

s. vm. 13 . 


1700 ccm 

i 1016 

0,0433 

i 

•>> jy • 


1200 „ 

1019 

0,043S 

i 

1^. ,, ,, . 


1200 „ 

1021 

0,10512 

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11. • 

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1100 

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0,0657 

; Am 12. VHI. 

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0,0401 

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0,0623 

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0,0f36 

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1«>. . 

.... 

1400 „ 

[ 1017 

0,0842 

| os gegeben^ 

Es ergab sich also einmal 

ein ausserordentlich niedriger 


Wert der endogenen Harnsaureausscheidung bei purinfreier 


1) Nach Magnus-Levy, zit. nach Gigon, in Mohr-Stahelins Hand- 
burli der inneren Medizin. 


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Zur Kenntuis und Atiologie tier unter dem Bild eines Tumors ubw. 99 


Kost, entsprechend der von Brugsch and Schittenhelm *) unter 
der Gruppe I zusammengefassten Werte der bei ihren Stoffwechsel- 
versuchen festgestellten Normen; fernerhin eine unregelmassige Kurve 
des endogenen Harnsaurewertes (Schwankungen zwischen 0,0136 bis 
0,10512) und ausserdem eine ungewohnlich verschleppte Aus- 
fuhr der wahrend der purinfreien Periode einmalig ge- 
gebenen grosseren Purinbasendosis. Die Zufuhr yon 10 g 
Natrium nucleinicum, die beim Normalen innerhalb 24 Stunden rest- 
los zum Abbau gelangt, batte bei unserem Patienten iiberhaupt keine 
sicher erkennbare Wirkung auf den endogenen Harnsaurewert. Die 
Bestimmung der Blut-Harnsaure am 10. VIII. — am 9. Tage der purin¬ 
freien Ernahrung — ergab einen Wert von 6,4 mg auf 100 com 
Plasma, also auch hier wiederum in der endogenen Urikamie einen 
Faktor, der nach den neueren Forschungsergebnissen allgemein als 
Symptom der gichtischen Diathese angesprochen werden muss. Wir 
diirfen nach all diesen Ergebnissen daher wohl mit der grossten 
Wahrscheinlichkeit annehmen, dass unser Patient ein Gichtiker ist, 
dass aber bei ihm die Stoffwechselstorung bisher latent verlief und 
noch nie zu der klinisch charakteristischen Manifestation der Arthritis 
urica fiihrte. Unter Beriicksichtigung der Befunde Oppenheims, 
der die seltene Caudaerkrankung der Arachnitis chronica serofibrosa 
zweimal mit der klinisch manifesten Gicht vergesellschaftet fand, er- 
schiene es gezwungen, in unserem Falle das Zusammentreffen des 
chronischen Entziindungsprozesses der Cauda equina mit der gichti¬ 
schen Stoffwechselstorung als ein zufalliges, nicht ursachliches anzu- 
sprechen. Wir glauben vielmehr, dass die Gicht als das pri- 
mare auslosende Leiden in Frage kommt und dass die 
Arachnitis und Perineuritis serofibrosa alsFolge der gich¬ 
tischen Diathese zu betrachten sind. Es ist bekannt, in welch 
besonderer Weise die Gicht die Entwicklung vielfaltiger Nerven- 
erkrankungen zu begiinstigen vermag: Neben den haufigen Neural- 
gien sind auch echte Neuritiden beschrieben worden, ganz ahnlich 
den Alkoholneuritiden, die Eichhorst 2 ) neuerdings in eine parenchy- 
matose und eine endarteriitische Form trennt. Und schliesslich haben 
Charcot und Cornil im Neurilemm der peripheren Nerven, Olli- 
yier auf der Aussenseite der Dura mater Harnsaurekristalle nachge- 
wiesen. Ob wir in unserem Falle eine solche primare Ablagerung 
von Harnsaure im Neurilemm der Wurzeln oder lediglich einen auf 


1 Brngsch und Schittenhelm, Der Nukleinetoffweehsel und aeine 
Storungen. Gustav Fischer. 1910. 

2) D. Arch. f. klin. Med. Bd. 120. 'Gelt 1—3. 1916. ' . - 


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100 Stephan, Zur Kenntnis and Atiologie usw. 

dem Boden der Stoffwechselstorung entstandenen chronischen Ent- 
ziindungsprozess annehmen miissen, bleibe dahingestellt; fur die atio- 
logische Klarung ist diese Frage ohnehin ohne Belang. 

Von praktischer Bedeutung wird der Nachweis der Stoff¬ 
wechselstorung kiinftighin dann werden, wenn die Differentialdiagnose 
zwischen Tumor und entziindlicher Erkrankung der Cauda zu stellen 
ist. Aus den bisherigen Ergebnissen lasst sich jedenfalls schon so viel 
folgem, dass der einwandfreie Nachweis der gichtischen Diathese im 
Stoffwechselyersuch zur grossten Vorsicht in Bezug auf die Diagnose 
Tumor und die Operationsindikationsstellung mahnt. Es ist einerseits 
selbstverstandlich, dass durcb den gewiss nicht gleichgiiltigen opera- 
tiven Eingriff keine Besserung zu erzielen ist, und dass andererseits 
eine spezielle diatetische und medikamentose Behandlung, die in erster 
Linie die Beglung des Nukleinstoffwecbsels zum Ziel hat, versucht 
werden sollte. Vielleicht lasst sich das Fortschreiten der Erkrankung 
yerhiiten oder zunachst yerzogern. Bei der relatiy grossen Seltenheit 
des Leidens werden die Erfahrungen tiber die therapeutische Beein- 
flussung allerdings nur sebr sparlich zu erwarten sein. 



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Zur Lehre yon den Lfthmungstypen. 

Kurze Bemerkungen zu dem Aufsatz von D. Gerhardt 
„Uber die Beeinflussung organischer L&hmungen durch funk- 
tionelle Verhaltnisse". (Diese Zeitschrift, Bd. 55, S. 226.) 

Von 

Siegmnnd Auerbach-Frankfurt a. M. 

Aus der Arbeit von D. Gerhardt, soweit sie sich auf die Mo- 
tilitat erstreckt, gebt hervor, dass ihm meine Veroffentlichungen 
fiber das von mir aufgestellte Gesetz der Lahmungstypen ganz ent- 
gangen sind, obwohl zwei dieser Abhandlungen in dieser Zeitschrift 1 2 ) 
"• *) erscbienen sind. Ich bin uberzeugt, dass der geschatzte Autor 
in der Deutnng der meisten der von ihm hervorgehobenen Erschei- 
nungen keine Schwierigkeiten mehr finden wird, sobald er von meinen 
Darlegungen Kenntnis genommen hat. 

Gerhardt sagt (S. 226) ganz mit Kecht: „Edinger hat im 
wesentlichen die individuellen Verhaltnisse im Auge, Krankheitsdispo- 
sition bestimmter Teile infolge Oberanstrengung oder Schadigung 
durch aussere Einfliisse. Daneben gibt es auch solche Disposition 
aus inneren Grunden infolge verschiedener Widerstandsfahigkeit der 
einzelnen Teile, Verhaltnisse, die z. T. auch individuell verschieden, 
im ganzen aber doch bei den verschiedenen Menschen in ahnlicher 
Weise sich gelteud machen, also mehr generelle Faktoren bedeuten.“ 

Diese generellen Faktoren, die fur die Bewertung der Einzel- 
leistungen eines Muskels oder einer Muskelgruppe von grosster Be- 
deutuug sind und die sich nach meinen Untersuchungen als gesetz- 
massige herausgestellt haben, habe ich als qualitative zusammen- 
geiasst; bei ihnen fallt jede Berucksichtigung der Haufigkeit der 
Inanspruchnahme bei den verschiedenen Beschafbigungen, die man 
als den quantitativen Faktor der Muskelfunktdon bezeichnen 
kann, weg. 


1) Zur Pathogenese der postdiphtberischen Akkomodationsliihmung. Bd. 49, 
8. 94. 


2) Die Aufbrauchtheorie und das Gesetz der Liihmungstypen. Bd. 53, S. 449. 


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Auerbach, Zur Lehre von den Lahmungstypen. 


Da ich alle diejenigen die Einzelfanktionen der Muskeln beein- 
flussenden Momente in der sub 2 angefdhrten Arbeit erwahnt habe, 
so mochte ich an dieser Stelle davon absehen, auf sie einzugehen. 

Bezuglich der grosseren Geneigtheit der Peroneusgruppe zur 
Erkrankung sowie des viel erorterten Unterschiedes ixn Befallen- 
sein der Strecker und Beuger bei der cerebralen Hemiplegie und 
ihrer Folge, der Kontraktur, mochte ich auf meine erste Arheit auf 
diesem Gebiete verweisen 1 ), in der alle in der Neuropathologie vor- 
kommenden Lahmungen von diesen Gesichtspunkten aus einer Ana¬ 
lyse unterzogen sind. Die Frage nach dem haufigeren Befallenwerden 
der Peroneusgruppe gegenuber den vom N. tibialis innervierten Mus¬ 
keln habe ich ansserdem kiirzlich 2 ) noch besonders besprochen. 
Meine Untersuchungen zeigen, dass man zur Erklarung dieser Lah- 
mungsformen die „verminderte Widerstandsfahigkeit", die „grossere 
Krankheitsbereitschaft“ oder „Krankheitsdisposition“ nicht mehr her- 
anzuziehen braucht, die die Tatsachen nur umschreiben, das Kausal- 
bediirfnis aber in keiner Weise befriedigen. Ich konnte nachweisen, 
dass diese Lahmungstypen geradezu postuliert werden miissen, wenn 
das von mir aufgestellte Gesetz zu Kecht besteht. 

Auch bezuglich der Lahmungstypen bei den verschiedenen Formen 
der Musk elatrophien wird Gerhardt in der sub lunten angefiihrten Ar¬ 
beit Aufklarung finden. Auch wird es ihm nicht schwer fallen, bei 
sinngemasser Heranziehung der von mir geltend gemachten Faktoren 
fur die Aussparung des Flexor carpi uln. eine befriedigende Erklarung 
zu finden. Was endlich das Versckontbleiben derUnterschenkelbeuger 
in den 3 Fallen von Riickenmarksverletzungen anbelangt, so ist zu 
bedenken, dass, worauf ich auch wiederholt hingewiesen habe, bei 
jedem Trauma bestimmte Fasern oder Wurzeln verschont bleiben 
konnen. Hier kann man ohne bioptischen oder Obduktionsbefund 
keine bestimmten Schliisse ziehen. Cberdies sind in den 3 Fallen 
keine bestimmten Vergleichszahlen fiir die Kraftleistung der ver¬ 
schiedenen Muskelgruppen angegeben; sie scheint doch auch recht 
gering gewesen zu sein. Auch ist nichts daruber mitgeteilt, ob die 
Funktion der Kniebeuger im Stehen gepnift wurde. 

1) Die Hauptursachen der hiiufigsten Lahmungatypen. Volkmanns Sarnia- 
lung klinischer Vortriige Nr. 633 634. 1911. 

2) Warum beobachtet man Liilimungen des N. peroneus viel hiiutiger als 
solche des N. tibialis? Deutsche ined. Wochenschr. 1916, Nr. 40. 


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(Aus der ehirurgischen AbteilungDr. A.Zawadzkis des Pragahospitals 

in Warschau.) 

Cber einige Komplikationen der Hartelschen Alkoholbe- 
handlnng des Ganglion Gasseri bei schweren Trigeminos- 

nenralgien. 

Von 

Heinrich Hlgler-Warschau. 

Ich hatte die Gelegenheit mehrere Falle von inveterierter Quintus- 
neuralgie zu beobachten, die vom Kollegen A. Zawadzki in seiner 
ehirurgischen Krankenabteilung arabulatorisch bebandelt wurden. Es 
soil hier bei der Demonstration *) mancher dieser Falie viel mehr fiber 
einzelne begleitende, anatomisch und physiologisch interessante Kom¬ 
plikationen berichtet werden, als fiber den Ausgang der Therapie, 
insbesondere angesichts der Tatsache. dass fiber Dauerresultate in 
einem par excellence chronischen Leiden man das Urteil erst nach 
vieljabriger Erfahrung fallen lassen dfirfte. 

Angewendet wurde die Alkoholisation des Gasserschen Gang¬ 
lions nach der Methode Bartels, die er in seiner grosseren Arbeit 1 2 ): 
„Die Leitungsanasthesie und Injektionsbehandlung des Ganglion Gasseri 
und der Trigeminusstamme" und in einer kleineren Abhandlung 3 ): 
„Uber die intrakranielle Injektionsbehandlung der Trigeminusneural- 
gie“ gemeinsam mit seinem Krankenmaterial schilderte. 

Bekanntlich suchte man durch Alkoholisation die Eintrittsstellen 
der einzelnen Trigeminusaste zu vernichten, sowohl in ihren peripheren, 
distalen Eintrittsstellen in den Gesichtsschadei (Incisura supraorbitalis, 
Canalis infraorbitalis, Foramen mentale), als in ihren proximal ge- 
legenen Durchbohrungsstellen der Schadelbasis (Fossa pterygopalatina, 
Foramen ovale, Foramen rotundum), wobei letztere im Dunkeln auf- 
gesucht (Harris, Offerhaus, Ostwald) oder chirurgisch freigelegt 
wurden (Wr-igth, Brissaud, Sicard). Sind vielleicht diese Me- 

1) Nach einer in der AllgemeinsitzuDg des Warschauer Arztevereins am 
6. Dezember 1916 stattgefundenen Demonstration. 

2) F. Hart el, Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. 100. Heft 1. 

:t) Derselbe, Medizinische Klinik. 1914. Nr. 14. 


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Higish 




104 

thoden bei der Lokalisation der Neuralgie in einem Aste rationell, 
so nnd sie kaum zu empfehlen, wo es sich um Erkrankung samtlicher 
Aste handelt. Da bleibt eben, insofern die medikamentosen und physi- 
kalischen Methoden und die yerschiedenen peripheren chirurgischen 
Eingriffe am Nerven selbst, resp. an der Nasen-, Mund- und Augen- 
hohle bzw. den ihnen angrenzenden Sinushohlen gepriift sind, nur 
noch die Aussohaltung des intervertebraien resp. interspinalen Gang¬ 
lions des sensiblen Gesichtsnerven ubrig, d. h. operative Entfemung 
des im Meckelscben Intraduralraum der mittleren Schadelgrube ge- 
lagerten Ganglion semilunare Gasseri oder Vemichtung desselben auf 
chemisch-toxischem Wege. 

Die schweren und eingreifenden chirurgischen Massnahmen am 
Ganglion selbst (Krause, Dollinger) resp. an den Quintuswurzeln 
unter dem Tentorium cerebelli involvieren immer eine direkte Lebens- 
gefahr bei den heruntergekommenen, nnzureichend genahrten, meist 
alteren Individuen wegen der notwendigen tiefen Narkose, der Nahe 
der grossen Sinus (cavernosus und petrosus superior) und der 
Moglichkeit einer konsekutiven Meningealinfektion. 

Die auf dem Schlosserschnn Verfahren beruhende, vielfach 
modifizierte und durch ausserst genaue anatomisch-topographische 
Angaben ausgebesserte Methode Hartels besteht bekanntlich darin, 
dass man zunichst nach Anlegung einer analgesierenden Quaddel an 
der Wange — in Hohe des Alveolarrandes des zweiten oberen Molar- 
zahnes — eine dicke nickelne, stumpf abgeschliffene Punktionskaniile 
einsticht, die bis zum 6 cm tief liegenden Planum infratempo- 
rale gefiihrt wird, wo tastend das Foramen ovale leicht aufzusuchen 
ist. Durch das Foramen, oder richtiger, durch den 4x7 mm langen 
Canalis ovalis wird die vom Einstichpunkt der Haut 1 l f 2 cm zuriick- 
geschobene Nadel etwa 2 cm tief eingefiihrt, wo sie ohne weiteres das 
Ganglion erreicht, was sofort durch intensiven plotzlichen Schmerz oder 
Parasthesien in einem oder samtlichen Trigeminusasten erkennbar ist 

Nach Ansetzen einer Recordschen Spritze wird langsam 
1 ccm einer 2 proz. Novokain-Suprareninlosung injiziert und nach Er- 
reichung der Gefiihllosigkeit 1 ccm 80 proz. Alkohollosung zur Zer- 
storung des analgetisch gemachten Ganglions langsam und tropfen- 
weise nachgeschickt. Diese Methode der Lokalanasthesie bedarf keiner 
Narkose, kann ambulatorisch ausgefiihrt werden, setzt keine aussere 
Verstiimmelung, verhindert Nebenverletzungen, soil aseptisch sein 
und das sensible Ganglion in seiner Langsachse durchbohren. Sie ist 
auch schon deswegen praktisch, dass bei derselben, wie Hartel an- 
gibt, nur 1 mal auf 15 Falle das Ganglion aus topographischen Griinden 
nicht erreichbar ist. 


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Uber einige Komplikationen der Hartelachen Alkoholbehandlung usw. K)5 


In den 3 an Komplikationen reichen Fallen, die hier zur Demon¬ 
stration gelangen sollen, wurde die Hartelsche Injektion 4mal aus- 
gefiihrt. « 

Bei einer alteren Fran war auffallend das rhythmiscbe Erscheinen 
von blutig gefarbten Tropfen cerebrospinaler Flussigkeit in der 
Kaniile. Da es sicb bier um ein energiscberes, briiskes Einspritzen 
einer etwas grosseren Menge Alkobol (2 cm statt der iiblicben i j 2 bis 
1 cm) handelte, so liegt die Vermutung nahe des Durcbstechens bzw. 
Berstens des nebenliegenden Subarachnoidalraumes, der Cyste der 
binteren Schadelgrube, Cisterna pontis genannt. 

Bei derselben Patientin stellte sicb wahrend der zweiten Injektion 
eine komplette Lahmung des Oculomotorins in seinen ausseren 
und inneren Asten ein, die am nacbsten Tage scbwand, jedoch nocb 
nacb 3 Wocben eine deatlicbe Ptose mit Erweiterung der Pupille und 
Reaktionslosigkeit derselben binterliess. 

Entstebt zuweilen Abducensparese sicber infolge Diffusion der 
Injektionsfiussigkeit in die Wand des Sinus cavemosus, in dessen 
Nahe der Abducens verlauft, so ist die Lahmung des Oculomotorius 
ein bei der Alkoholisation des Ganglions unbekanntes Ereignis und 
kann hier als unschuldige Fernwirkung aufgefasst werden, bervor- 
gerufen durcb allzu grosse Menge der injizierten Flussigkeit oder 
durcb zu tiefes Eindringen der Nadel (bekanntlicb verlauft der Ocu¬ 
lomotorius in der lateralen Wand des Sinus). 

Zweimal sab icb als Nebensymptom der Ganglionanasthesie so- 
fortiges Auftreten einer Mydriase der betreffenden Pupille, die vor- 
iibergebend war und beide Mai wahrscheinlich der mechanischen und 
chemischen Wirkung der Adrenalin-Novokainlosung zuzuschreiben war. 

In einem dieser Falle konnte icb einige Tage nacb der statt- 
gefondenen Alkoholisation ausgesprocbenen Hornerschen Sympto- 
menkomplex (Pseudoopbtbalmoplegia sympatbica) feststellen mit 
gleicbzeitiger Verengerung der Lidspalte und der prompt auf Licht 
reagierenden Pupille. Das Hornersche oder Nageotte-Babinski- 
scbe Syndrom ist dasselbe, das wir zuweilen bei der unteren oder 
Dejerine-Klumpkeschen Lahmung des Bracbialplexus, resp. der 
letzten Hals- und ersten Brustwurzeln antreffen; dem wir zu begegnen 
pflegen bei syringomyeliscben Prozessen am cervikodorsalen Riicken- 
markssegment, wo das Budgescbe Zentrum ciliospinale liegt; ge- 
legentlich bei Oblongataerkrankimgen linden, speziell bei der akut 
sich einstellenden Bulbarparalyse auf dem Boden endarteristiscber 
Thrombosen der Arter. cerebelli post, infer. 

In unserem Falle hangt das Syndrom ab von der Lasion der- 
jenigen sympathischen Babn, die vom Plexus caroticus sicb hinzieht 


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106 


Hiuier 


zum 1. Ast des Trigeminus (Radix sympathica) und im Ganglion 
Gasseri gleichzeitig mit den sensiblen Fasern einer Zerstorung unter- 
liegt, bevor sie zur Peripherie gelangt. Diese sympatbische Wurzel 
versieht mit vegetativen Fasern sowohl den M. orbitalis und den M. 
tarsi, als den dilatator pupillae und die sudoriferen und vasomoto- 
rischen glatten Muskeln des Trigeminusgebietes. Samtliche Fasern 
sind in unserem Falle in klassischer Weise betroffen worden, wie der 
Enophthalmus, die Pseudoptose, die Myose, die Rotung des Gesicbts 
usw. nacb der Alkoholisation beweisen. 

Beacbtenswert ist die Angabe dieser Patientin mit Daueranalgesie, 
wie einer anderen mit temporarer Analgesie,dass bei einem zufalligerweise 
hinzugesellten akuten Nasenkatarrh die operierte Seite einen viel konsi- 
stenteren Nasenschleim absonderte als die gesunde. Dass auch diese Er- 
scbeinung von Affektion der sympathischen Fasern der Nasenschleimhaut 
herriibrt, liegt auf der Hand und beruht wahrsckeinlich auf der be- 
kannten antagonistischen Stellung des sympathischen und autonomen 
Nervensystems, die sich klassisch kundgibt schon in den alten Ex- 
perimenten mit verschiedenem Verhalten an morphotischen Elementen 
und verschiedener Konsistenz des Sekrets der Speicheldriisen bei Rei- 
zung der verschiedenen zufiihrenden Nerven. Ick will hier nicht 
naher auf diese Frage eingehen und kann auf die ausfiihrliche Inter¬ 
pretation dieses Grundproblems in meiner liber den Sympathicus er- 
schienenen Monographie hinweisen. M 

Als ziemlich schwere Komplikation muss ich auffassen die Kera¬ 
titis neuroparalytica mit spateren entzundlicben Schmerzen und 
Leukombildungen am Auge und intensiv herabgesetzter Sehkraft bei 
einem alteren Proletarier, der es nicht verstand, das empfindungslos 
gemachte, vermindert widerstandsfahige Auge sauber zu halten. Eine 
solche Keratitis sah auch beim Menschen u. a. Harris. Leichte ln- 
jektion der Skleralgefasse fand ich neben Areflexie der Hornhaut 
in samtlicken Fallen von Alkoholisation. Anlegen eines schiitzenden 
Uhrglases, wie es Hartel spater empfahl, hat bei unseren Kranken 
nicht stattgefunden. 

Auch ich fand, ahnlich Simons 2 !, in keinem der drei genauer 
untersuchten Falle mit totaler resp. partieller Analgesie samtlicher 
oder der zwei oberen Aste — die Gegend der Ohrmuschel, lateralen 
Schlafe, seitlichen Wange, Parotis, am Kieferwinkel und Kinn — auf- 
gehobene Sensibilitah An der Gefiihllosigkeit nahmen selbstverstand- 

1) H. Higier, Vegetative oder viszerale Neurologie. 1912. Verlag von 
G. Fischer, Jena. 

2) A. Simons, Ober die Hiirtelsche Injektionsbehandlung usw. Zeit- 
schrift f. g. N. u. P. 1913. Heft 4. 


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Uber einige Komplikationeu der Hartelscben Alkoholbekandlung usw. 

lich teil samtliche zugehorige Schleimhaute und Haarwurzeln. Die 
erste Wocbe fiel auch deutliche Herabsetzung des Geschmacks an 
der anasthetisehen Zungenhalfte auf. 

Bei einem Falle, der eine altere Frau betraf, zeigte sich eine 
Woche nacb der Injektion am Mundwinkel ein schmerzloser Herpes 
labialis, der uber 10 Tage anhielt. Ob er dem Novokain-Supra- 
renin oder dem Alkohol zuzuscbreiben ist, lasst sich kaum entscbeiden. 
Nach jedem dieser Mittel ist er beobachtet worden, nur soil er weniger 
diffus beim Novokain sein. Infceressant ist, dass der ziemlich be- 
schrankte Herpes am Mundwinkel auftrat, der nur temporare Anal- 
gesie zeigte. 

An diesem, einem physiologischen Experiments gleichenden Versuch 
findet einigermassen eine Bestatigung die von Campbell und spater 
yon Head verteidigte Theorie, der zufolge das anatomisch-patho- 
logische Substrat des Herpes in der Regel zu sucben ist in einem 
Entzundungszustand im intervertebralen Ganglion selbst oder in dessen 
zentralem Ursprung an der hinteren grauen Substanz des Riicken- 
marks.') 

Auffallend ist jedenfalls, was mit Recht Krause, Hartel und 
Simons akzentuieren, dass sowohl der Herpes mit Storungen der 
Hautsensibilitat und Hautreflexibilitat, als die Keratitis mit intensiver 
Affektion der vasomotorischen und trophischen Funktionen nach radi- 
kaler operativer Exstirpation des Ganglions fast nicht beobachtet 
werden, dagegen bei chemischer Zerstorung des Nervengewebes nicht 
selten sind. Je eher es gelingt — vermutet Simons — das Gang¬ 
lion mit einem Schlage zu zerstoren, wodurch die Reizwirkung ein- 
zelner Gangbenteile aufeinander fortfallt. um so weniger kann ein 
Unterschied der trophischen Storung nach der Exstirpation und In¬ 
jektion bestehen. 

Weist fielleicht der nachfolgende Herpes in unserem Fall auf 
einen kunstlich geschaffenen Reizzustand im iiberlebenden Teil des 
Ganglions, somit auf eine unyollstandige Zerstorung des Ganglion 
semilunare hin, — wofiir schon die inkomplette Analgesie sprechen 
diirfte —, so lasst sich dies von unserer Keratitis neuroparalytica nicht 
behaupten, die bei vollstandiger Analgesie. im Trigeminusgebiet sich 
einstellte: bier kamen somit zunachst in Betracht die Austrocknung, 
Schmerzverlust und Areflexie der Hornhaut. 

Am Schluss noch ein Wort iiber den therapeutischen Erfolg 


li H. Higier, Zur Klinik der Schweissanomalien bei Poliomyelitis ante¬ 
rior (spinale Kinderlahmung) und posterior (Herpes zoster). Deutsche Zeit- 
schrift f. Nervenheilkunde. 20. 426. 


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108 


Higiek, Uber einige Komplikarioneu usw. 


der Operation in unseren Fallen. Dariiber soli Naheres berichten der 
Chirurg, dem ein grosseres Material zur Verfiigung steht, zwar ohne 
so vielfaltige Nebenerscheinungen und Mitwirkungen. Das soil spater 
geschehen, wenn uns im Okkupantengebiet die sonstige europaische 
mediziniscbe Literatnr leichter zur Verfiigung stebt. 

Wiinschenswert. scheint mir bei der Bearteilnng des Erfolges der 
Ganglieninjektion jedenfalls die Unterscheidung dauernden yon unmittel- 
barem, oft temporarem Erfolg. Letzterer war ein iiberraschend gunstiger 
und stimmte bei uns genau mit der Scbilderung Hart els. Wir haben die 
schwersten und hoffnungslosesten Falle behandelt und stets einen 
vollen Erfolg erzielt, derart, dass die Kranken, welche noch soeben 
yon furchtbaren Attacken heimgesucht waren, denen selbst die yor- 
sichtigen Massnahmen der Vorbereitung, die Desinfektion, das Fassen 
in den Mund scbwere Anfalle auslosten, vom Moment der Injektion 
an yollig schmerzfrei waren und starkes Reiben und Maltratieren der 
Wange anstandslos ertrugen. Kranke, welche wochenlang nichts 
Festes gegessen hatten, denen ein Schluck Wasser Qualen verursachte, 
kauen sogleich nach der Injektion eine feste Brotrinde, offnen weit 
den Mund. Meist Helen die Patienten kurz nach der Injektion in 
tiefen Schlaf und hatten seit langer Zeit eine erquickende Nacht- 
ruhe. Morphium wird sofort entbehrlich, Fahigkeit zur Berufsarbeit, 
zum Lebensgenusse stellt sich wieder ein und das lebhaftere 
Mienenspiel, die wieder mogliche Hautpflege, lassen die Kranken ver- 
jiingt erscheinen. 

Anders verhalt es sich mit den Dauerresultaten. Eine unserer 
Patientinnen zeigt eine Daueranalgesie mit Schwinden der Neuralgie 
schon uber 12 Monate, dagegen bei der alteren Frau hat die Anal- 
gesie allmahlich nachgelassen und die neuralgischen Schmerzen sind' 
trotz der 2mal stattgefundenen Injektion mit der friiheren Vehemenz 
aufgetreten. Bemerkt sei, dass Hartel unter seinen 24 Fallen in 
uber der Halfte gute Daueranasthesie erzielte, dass yon den Fallen 
mit schlechter Daueranalgesie nur fiinf Rezidiyen aufwiesen und 
auch diese Falle gelang es durch erneute lnjektionsbehandlung wieder 
yollig schmerzfrei zu bekommen. 

So yiel lasst sich schon aus unserem kleinen Material ersehen, 
dass eine yollige Zerstorung des Ganglions erst nach langerer Zeit 
anhaltender Analgesie diagnostiziert werden kann und sollte in der 
Mehrzahl der Falle von vorubergehender Lahmung oder teilweiser 
Zerstorung des Ganglions die Rede sein, die zwar hier und da ausreicht 
zur vblligen Hebung der Neuralgie. Wo sich Rezidiye zeigen, treten sie 
meist gleichzeitig mit Nachlass der Analgesie im Quintusgebiet ein. 


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Besprechung. 

Typhus und N e r v e n sy s te in. Von Prof. Dr. Georg Stertz. 
Oberarzt der psychiatrischen Klinik in Breslau. Verlag S. Karger, 
Berlin. 

Stertz hatte als Stabsarzt an dem grossen Genesungsheim in Spa in 
Belgien eine selten reiche Gelegenheit, an von Typhus Genesenden klinische 
Beobachtungen und Untersuchungen anzustellen. Als Frucht dieser Arbeit 
legt er, der als Neurologe und Psychiater gleichmassig ausgebildet ist. uns 
eine Oberaus grfindliche und von durchdringender Sachkenntnis zeugende 
Studie vor, deren sehr beachtenswerte Resultate in die kommendeu Mono* 
graphien oder die Neuauflagen der bestehenden Monographien liber die 
typhosen Erkrankungen Aufnahme finden mfissen; denn der Kenner woiss, 
dass in diesen Monographien bisher das Thema „Typhus und Nerven- 
system" und insbesondere das Thema „Nervensystem in der Rekonvales- 
zenz von Typhus" den ihm gebfihrenden Platz noch keineswegs gefunden 
hat. Und das muss um so mehr befremden, als gerade das Agens jener 
Gruppe von akuten Infektionskrankheiten, die wir unter dem Namen „Ty¬ 
phus" zusammenfassen, die grOsste Affinitat zum Nervensystem hat. Eine 
gewisse, durch die Umstande gebotene Einseitigkeit betont Stertz gleich 
am Eingang seiner Arbeit, n&mlich dass die wahrend des akuten Stadiums 
auftretenden StOrungen nicht in ihrer ersten Entstehung, sondern erst, im 
weiteren Verlauf von ihm beobachtet werden konnten. Hinzu kommt, dass 
bei dem Soldatenmaterial von Spa eine kritische Abwagung stattfinden 
musste zwischen den durch die Infektionskrankheit einerseits und den 
durch die durchgemachten Strapazen verschiedenster Art andererseits ge- 
setzten Schadigungen; das ist in sorgfaltigster Weise durch genaue Er- 
hebung der Anamnesen geschehen. 

Stertz berichtet zuerst fiber posttyphftsc neurasthenische 
Schwachezustande und weist nach, dass solche fiberaus haufig sich 
zeigten, und zwar waren sie in etwa 60—70 Proz. in den ersten beiden 
Monaten der Rekonvaleszenz nachweisbar; in der grbsseren Halfte handelte 
es sich um belastete bzw. disponierte Individuen. Von den Kranken- 
geschichten seien besonderer Beobachtung empfohlen diejenigen, die als 
Zeichen einer besonderen, bis zum zeitweisen Versagen gesteigerten Er- 
schopfbarkeit zerebraler Funktionen Flimmerskotome, intermittierende Auf- 
fassungsstfirung bzw. HbrstSrung. sowie eine eigenartige Orientierungs- 
storung intermittierender Art boten. 

Die Schilderung, die Stertz zusammenfassend von diesen posttyphosen 
neurasthenischen Schwachezustftnden entwirft, zeigt den geschulten Psy- 


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110 


Besprecliuug. 


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chiater, der strong unterscheidet zwischcn somatogenen and psychogenen 
Zustftnden, zwischen exogenen and endogenen Momenten, der die Yer- 
schiedenheit der Prognose hieraas zu erklftren sucht and so schon hier 
beim ersten Kapitel den Resnltaten, die frGhere einschlagige Arbeiten, die 
sich fast durchweg mit den grob-organischen Folgeerscheinungeu am peri- 
pheren und zenlralen Nervensystem and mit den eigentlichen Psychosen 
befassten, Neues hinzufOgt and LOcken ausfollt. Stertz weist nach, dass 
der Typhus in bezug auf das Hinterlassen postinfektiOser Schwachezustande 
der von ihm geschilderten Art zwar keine Sonderstellung einnimmt, and 
dass diese Zustande nichts gerade for den Typhus Spezifisches enthalten, 
dass sie aber vom Typhus mit seiner langen Fieberdauer and der beson- 
deren Affinit&t seiner Toxine zum Nervensystem in einer besonders prag- 
nanten und zum Studium geeigneten Form hervorgebracht werden. Er 
weist auf die nahen Beziehungen der Krankheitsbilder zu Krapelins 
„postinfektiOsen Schwitchezustanden" und zu Bonhoeffers „hyperasthe- 
tischen eraotionellen Schwhchezustanden" hin. 

Auf die Hysterie Qbergehend, weist Verfasser an der Hand der 
Krankengeschichten nach, dass einzelne hysterische Symptome oder Sym- 
ptomgruppen in der Rekonvaleszenz zu beobachten sind, nicht dagegen die 
degenerativen ZOgc, welche man als hysterischen Character zu bezeichnen 
pflegt — wenn sie nicht schon vorher vorhanden waren. Der „post- 
typhOse Schwachezustand" kann der Ausbildung hysterischer Symptome 
Vorschub leisten: die bei weitem haufigste Form hysterischer Symptome 
ist die der Ubcrlagerung gewisser organisch bedingter Reiz- und Ausfalls- 
erscheinungen. Stertz beschreibt hysterische Arm- und Beinschwache, 
hysterische Ataxie und Parese der Beine, hysterischen Tremor, hysterische 
SchwerhOrigkeit und SprachstOrung, hysterische Anhsthesie, Zuckungen 
und allgemeine Anfalle, hysterische Chorea. 

Bei diesem Kapitel will ich erwahnen, dass die Therapie, wie sie sich 
im Laufe des Krieges bis heute allmahlich durchgerungen hat, frOher nicht 
for moglich gehaltene Triumphe feiert. Die modifizierte Kaufmannsche 
Methode sowie die Anwendung der Suggestion in Hypnose bringt — das 
darf man heute behaupten — in Ober 90 Proz. der Falle die hysterischen 
Symptome zum Verschwinden; seitdem der Arzt wieder gelernt hat, 
personlich zu behandeln, und zwar mit Einsetzung seiner Per- 
sOnlichkeit selbst und mit Opfer von Zeit und eigener Nerven- 
kraft, ist die Prognose der funktionellen und besonders der 
hysterischen Neurosen toto coelo anders. und zwar durchaus 
gQnstiger gcworden. Die Arbeit von Stertz in Spa lag noch vor der 
Verbreitung dieser Erfahrungen. 

Wichtig ist die Feststellung, dass eigentliche Psychosen, von 
denen man mit einiger Sicherheit annehmen kOnnte, dass sie auf Grund- 
lage des Typhus erwachsen seien, unter den Rekonvaleszenten nicht be- 
obachtet warden. Stertz meint, dass die beim Typhus vorkommenden 
GeistesstOrungen fast durchweg den Fieberstadien oder denen der Ent- 
fieberung angehOren — und „darum naturgemftss von der tjberfohrung 
nach Spa ausgeschlossen“ waren. Nicht ganz selten beobachtete Stertz, 
dass einzelne Wahnvorstellungen vom Typhusdelirium auch nach Ablauf 
der akuten Erscheinungen und nach Wiedereintritt der allgemeinen Ord- 


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Besprechung. j j j_ 

nung des Gedankenablaufs und der Orientierung in die Genesungsperiode 
hinfibergenommen warden. 

Relativ hfiufig sah Stertz Falle von Residnalwabn, auch Falle von 
paralyseahnlichem Krankheitsbild, bei dem eine leichte Lympho- 
zvtose and schwache Phase I-Reaktion im Liquor auf einen chroniscben 
Reizzustand der Meningen hinwies, ferner amnestiscbe Zustandsbilder 
vom Typos des Korsakow. In einzelnen Fallen war die Differential- 
diagnose zwischen postinfektibsem und hebephrenem Stupor nieht mit 
Sicherheit zu stellen. Interessant ist ein Fall von Pseudodemenz nach 
Typhus sowie von pathologiscber Alkoholreaktion bei einem Nicht- 
alkobolisten. Falle von Depression traten als* gleichmassiger Zustand so- 
wohl wie in Form von Anfallen auf, Stertz kommt aber zu dem Schluss, 
dass die Auslbsung primarer Gemfitsverstimmungen ein sehr seltenes Vor- 
kommnis ist, das gilt sowobl fur die depressiven als auch ffir die manischen 
Zustande. In mehreren Fallen von Dementia praecox konnte die rela* 
tive Unabhangigkeit der Psychose vom Typhus nachgewiesen werden, 
wenngleich eine Verschlechterung der Krankheit bzw. ein Anstoss zur 
Weiterentwicklung der Psychose durch den Typhus offer nicht zu ver- 
kennen war. 

Sehr interessant sind auch die Erfahrungen, die Stertz fiber das 
Vorkommen spinaler, zerebrospinaler und zerebraler sowie 
neuritischer Krankheitsbilder gemacht hat. Auch hier fibermittelt 
er uns seine Erfahrungen in kurzen, knappen und das Wesentliche bringen- 
den Krankengeschichten, die dem kritischen Leser eine objektive Prfifung 
durchaus ermbglichen. Was Stertz fiber das Vorkommen inkompleter, 
zum Teil auf einzelne Strangsysteme begrenzter Myelitis, von Resten von 
multipler Enzephalomyelitis, von Kombination myelitischcr und neuritischer 
Symptome, von Residuen zerebrospinaler Meningitis, von zerebraler Hemi- 
plegie sagt, bereichert unsere bisherigen Kenntnisse nicht unwesentlich. 
Dass multiple Sklerose durch Typhus entsteht, konnte St. mit Sicherheit 
auch nach seinem ungewohnlich grossen Material nicht nachweisen; es ist 
dies wichtig, weil auch dadurch die Annahme, dass in der Atiologie der 
Sclerosis multiplex Infektionskrankheiten eine Rolle spielen, keineswegs 
eine Stfitze erhalt; wir alle haben wohl schon lange den Eindruck gehabt, 
dass der ursfichliche Zusammenhang zwischen multipler Sklerose und In¬ 
fektionskrankheiten mehr auf dem Papier der Lehrbttcher als in der Wirk- 
lichkeit steht. Es kommt hinzu, dass es oft — meistens — intra vitam 
nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, ob es sicli um akute Formen der 
multiplen Sklerose Oder um multiple enzephalomyelitische Herde handelt. 
Stertz kommt zu dem Schluss, dass die Beteiligung des Zentralnerven- 
systems, soweit sie sicli in organischen Ausfallserscheinungen zu erkeunen 
gibt, ein recht seltenes Ereignis darstellt, selbst wenn man erwfigt, dass 
der eine oder andere Fall frflh zum Exitus gekommen ist oder bald einem 
Heimatslazarett Oberwiesen wurde. Sicher ist, dass spinale Krankheits¬ 
bilder h&ufiger sind als zerebrale. Man darf annehmen, dass das Rficken- 
mark am haufigsten in Form multipler, kleiner, regellos verteilter Herde 
befallen wird. Ob das ein haufigeres Befallen werden des Rfickenmarks 
bedeutet als des Gehirns, ist damit nicht entschieden, denn schon kleine 
Herde kbnnen im Rfickenmark Symptome zeitigen, die im grossen Areal 
des Hirns noch keine klinischen neurologischen Anzeichen zu gebon 


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112 


Besprechung. 


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brauchen. Auffallend ist, dass Stertz das Bild der sogeuannten „allge- 
tneinen akuten Ataxie“ (C. Westphal, Lenhartz, Nonne u. a.) nicht 
sab; bekanntlich wurde dies klinische Bild zaerst gerade bei Typhus- 
rekonvaleszenten beobacktet. Wahrend des Krieges babe icb, da ich nur 
eine kleine Anzahl von Typbusrekonvaleszenten sah, es nicht weniger als 
3mal bei solchen Kranken in ausgepragter Form gesehen. 

Viel haufiger als das Zentralnervensystem bietet das peripbere 
Nervensystem Zeichen von organischer Erkrankung. Man lese bei Stertz 
die Falle von Neuritis des N. opticus, des N. abducens, N. olfactorius und 
glossopharyngeus, des N. trigeminus, acusticus (cochlearis) auf dem Gebiet 
der Hirnnerven nach. Auf dem Gebiet der Extremitatennerven kommen 
die Falle von Neuritis des N. ulnaris, des N. peroneus, cutaneus femoris 
externus, die Falle von isolierter Lahmung einzelner Muskeln im Schulter- 
gebiet, von kombinierter Schulter-Armlahmung (Typus Erb), von neuri- 
tischen Lahmungen im Beckenghrtel in Betracht. Es zeigte sich, dass der 
N. ulnaris und peroneus auf motorischem bzw. „gemischtem“ Gebiet, der 
N. cutaneus femoris externus auf rein sensiblem Gebiet „Pradilektions- 
nerven“ sind. Unter den Schultermuskeln zeigte das Gebiet des N. supra- 
scapularis eine besondere Disposition zur Erkrankung. Niemals sah Stertz 
isolierte Lahmungen des N. radialis und medianus, niemals am Bein eine 
solcbe des N. cruralis oder N. tibialis. Gegen die besondere Bedeutung der „ge- 
scbfltzten Lage“ fttr das Freibleiben spricht die Tatsache, dass der expo- 
nierte N. facialis niemals erkrankt gefunden wurde, wahrend der besonders 
geschfltzt liegende N. acusticus verhaltnismassig oft erkrankt war. Da 
auch die Edingersche Aufbrauchtheorie die Falle nicht crklaren 
konnte, so greift auch Stertz zurflck auf die Annahme einer „elektiven 
Wirkung". 

Die Svmptome motorischer Schwache Qberwiegen die sensiblen Aus- 
fallscrscheinungen — entsprechend den auch sonst bei peripherer Neuritis 
langst gemachten Erfahrungen. Trophische Stbrungen finden sicli 
nicht selten in Gestalt von Verlust von Nflgeln und Haaren und von 
Knochenatrophie. Es handelte sich immer um infektiOse Erkrankungen, 
nicht um Nachkrankheiten im Sinne der postdiphtherischen Lahmungen. 
Die elektrische Erregbarkeit zeigte ganz vorwiegend nur partielle EaR., 
dementsprechend war die Prognose meistens gttnstig. Auffallend liartnackig 
erwies sich hingegen die Bern bar dtsche Krankheit. 

In einer Reilie von Fallen handelte es sich um eine echte Poly¬ 
neuritis; diese typliOse Polyneuritis war immer als Komplikation des 
akuteu Leidens, nicht als Nachkrankheit anzusehen. Interessant ist auch 
die Feststellung, dass bei ausserordentlich zahlreichen Dauerausscheidern 
von Typhusbazillen nach eingetretener Rekonvaleszenz fast niemals erheb- 
liche StOrungen seitens des Nervensystems auftraten. 

In einzclnen Fallen musste man annehmen, dass die Polyneuritis in 
der Rekonvaleszenz im Anschluss an eine Uberanstrengung zustande kam. 
In den 22 Fallen ausgesprochener Polyneuritis und den 43 Fallen leichter 
polyneuritischer Erscheinungen konnte Stertz irgendwelche ausgesprochene 
EigentOmlichkeiten gegenOber den aus andern Ursachen entsteheuden Poly- 
neuritiden nicht nachweisen. Die Hirnnerven beteiligten sich nur — selten — 
in Form von SchwerhOrigkeit und Tachvkardie. 


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Besprechung. 


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Vasomotoriscbe, sekretorische and trophische Storungen sab Stertz 
bei seinen Typhusrekonvaleszenten in Form von Akroparese, Hyper- 
hidrosis, Polynrie, Basedowkomplex. Fflr den letzteren setzt Stertz 
einen „posttyphOsen Heizzustand des Sympathikus“ voraus und „verzicbtet 
ffir die Erklarung auf den Umweg Qber die tbyreogene Autointoxikation", 
wenngleich er das Vorkommen basedowoider Erscheinungen in der Typhus- 
rekonvaleszenz nicht in Abrede stellt. Der Haarverlust erstreckte sich 
zuweilen auch anf die Bart- und KOrperhaare. Von sonstigen trophischen 
Anomalien kam vollkommen reizloses Ausfallen von Nagelnsowie sonstige 
Nagelstdrungen, langdauernde Hautabschuppung, Hyperkeratosis, Striae- 
bildung der Haut als Ausdruck einer Dystrophic des elastischen Gewebes, 
Quinckcsches Odem im Gesicht vor. 

Als motorische Reizerscheinungen zeigten sich hier und da 
schmerzhafte Krampfzustande in einzelnen Muskelgebieten, die gewdhnlich 
— nicht immer — mit leichten rheuniatischen oder neuritischen Erschei¬ 
nungen verbunden waren. 

Echte Neuralgie — Trigeminusneuralgie, Ischias — sind nach 
Stertzs Erfahrungen sehr seltene Nachkrankheiten des Typhus; man muss 
sich hQten vor ihrer Verwechslung mit schmerzhaften Erkrankungen der 
Knochen oder des Periosts, besonders auch mit Wurzelschmerzen als Folge 
von Erkrankungen der Wirbel. 

Hingegen ist bei Typhusrekonvaleszenten besonders kaufig ein Tre¬ 
mor. Derselbe befailt weitaus am haufigsten Hande und Zunge, seltener 
die unteren Extremitaten, und nur in schweren Fallen ganz selten Gesicht 
und Sprechmuskulatur. Bei Fallen von universellera Tremor war fast immer 
ein hysterisches Komponent mit ini Spiel. 

In 2 Fallen wurde der Tetaniekomplex beobacbtet, und zwar in einer 
Weise, dass man annehmen musste, dass dieser Komplex neben andern In- 
fektionen und Intoxikationen auch dem Typhus seine Entstehung verdanken 
kann. Man muss es olfen lassen, ob das Symptombild durch das Zwischen- 
glied einer Erkrankung der Glandulae parathyreoideae zustande kommt. 

Das Auftreten epileptisclier Anfalle nach Typhus bei Individuen, 
bei denen epileptische Antezedentien nicht schon vorher vorhanden waren, 
muss „als ein ausserordentlich seltenes Ereignis angesehen werden, so dass 
ein innerer Zusammenhang zwischen Typhus und eigeutlicher Epilepsie 
sich nicht daraus ableiten lasst.“ 

Die Falle von Spondylitis typhosa zeichnen sich durch geringe 
Neigung zur Einschmelzung aus, und deshalb kommt es auch nicht zu 
Kompressionsmyelitis; die bei ihr bestehenden neuralgischen Schmerzen sind 
ein Ausdruck der gleichzeitigen Erkrankung des Wirbelperiosts, wodurch 
die hinteren Wurzeln in Mitleidenschaft gezogen werden. 

In einem Schlusskapitel betont Stertz. wie schwer es oft ist zu sagen, 
ob bestimmte subjektive und objektive Symptome endogen oder exogen, ob 
sie organischer oder funktioneller Natur sind. „Es gibt eineGrenze feineren 
physisch-nervOsen Geschehens, bei welcher die Trennung endogener und 
exogener Reaktionstypen versagt." „Eine grosse Anzahl der sogenannten 
funktionellen Symptome, die wir in gleicher oder ahnlicher Form als Be- 
gleiterscheinung endogener Neurosen auftreten sehen, kann organisch be- 
dingt sein.“ „Dass die eigentlichen hirnpathologischen und rttckenmark- 
pathologischen Ausfdlle verhaltnismassig selten sind, mag beruhen in einer 

Deutsche Zeitschrift f. Nervcnheilkunde. Bd. 57. S 


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Besprecbung. 


geringen Neigung der typhflsen Verfinderungen zur Einschmelzung des be- 
fallenen Gewebes and zur Bildang von Eiterung." 

Im allgemeinen kann man sagen, dass die Schwere der Infektion in 
der grossen Mehrzahl der Faile in einem direkten Verhaltnis zu den Eom- 
plikationen seitens des Nervensystems stebt. Stertz erwartet deshalb, 
„dass die Impfung mit ihrem die allgemeine Erankbeitsschwere mildernden 
Einfluss auch hinsichtlich der nervOsen Folgeerscheinungen gfinstige Re- 
sultate ergibt." 

In 105 Krankengeschichten belegt Verf. die oben in gedrangter Efirze 
mitgeteilten Tatsachen and Ansicbten. Fast die ganze Pathologie des 
Nervensystems zieht vor unserem Auge vorOber. Exakte Beobachtnng, 
rnhige Eritik und grosse allgemeine klinische Erfahrung scbnfen eine 
Monograpbie, die eine wertvolle Bereichernng nnserer Erfahrungen fiber 
das Eapitel „Typhus nnd Nervensystem" darstellt. 

M. Nonne (Hamburg'. 


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ZeitschriftenUbersicht 


Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologic. 

Herausgegeben von Prof. Dr. K. Bon h offer. 

Band 40, Heft 5 'November 1916). 

G. Sever in-Rostock, Uber Adrenalinwirknng bel Schlzophrenen and 
Gesanden. — Die Emptindlichkeit auf Adrenalin bei snbkataner Injektion 
spielt vorlaufig bei den einzelnen Psychosen differeotialdiagnostisch noch keine 
Rolle. 

H. Sauer-Greifswald, Cber gehftufte klelne Anfftlle bei Kindern 
(Pyknolepsie). — Es handelt sich nm solche Anfalle, die ein Intaktbleiben von 
Intelligenz und Psyche, grosse Haufung der Anfalle, periodisclies An- und Ab- 
schwellen sowie wahrscheinlich auch Sistieren um die Pubertatszeit zeigen. 
Ein grosser Teil weist psychopathische Zuge auf. 

Jul. Donath, Kriegsbeobachtnngen Uber hysterische Stimm-, Sprach- 
nnd Horstorungen. — Sehnelle psychotherapeutisehe Heilung. 

A. K utzinski-Berlin, Elnige Bemerkungen znr Psychopathologle der 
sog. Intestinalneurosen im Anschluss an Erfabrungen bel Soldaten. — U. a. 
erscheint die Iokale Therapie bei der nervbeen Dyspepsie unzweckmassig. 

Band 40, Heft 6 (Dezember 1916). 

P. Zimmermann-Hamburg, Uber den Alkallgehalt des Blntes bei 
Geistesgesonden nnd Geisteskranken. — Es zeigt sich kaum ein Abweichen 
von der Norm. 

Hedwig Bumke-Rostock, Die Beschleunigung der Blutgerlnnangszeit 
bet Dementia praecox. — Ein Fehlen der Beschleunigung spricht nicht gegen 
Dementia praecox; sehr niedere Werte stutzen die Diagnose der Schizophrenic. 

R. Weichbrodt-Frankfurt, Elne einfache Liquorreaktlon. — 3 Teile 
einer 1 prom. Sublimatlosung werden zu 7 Teilen Liquor zugesetzt. 

J. Gerstmann-Wien, Znr Kenntnls der Storungen des Kdrperglelch- 
gevrlchts nach Schnssverletznngen des Stlrnblrns. — Die frontalen St&rungen 
werden durch eine Affektion der kortikalen Ursprungsstation der Stimhlm- 
BrUckenkleinhimbahn verursacht. 

R. Ganter-Wormditt, Uber die Behandlnng der Epllepsle mlt salz- 
srmer Kost nnd Sedobrol, nnd Sedobrol nnd Lnminal. — Die erBtere Be- 
handlnng flbertrifft diejenige mit Brom. 

M. Nonne, Ludwig Bruns, Nekrolog. 

Band 41, Heft 1 (Januar 1917). 

G. Bunnemann-Ballenstedt, Yerscbledene Betrachtungsweisen nnd die 
Nenrosenfrage. 

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Zeitsehriftenubersicht. 


Max Meyer-Frankfurt a. M., Znr Fnge der Adrenallnunempflndlich- 
kelt bei Dementia praeeox. — Besteht in der Tat bei bestimmten Psychosen. 

MSrchen-Wiesbaden, Znr Frage des Innenrationsschoks lm Krlege. 

E. Licen, Znr Symptomatologie der Herderkrankungea der moto- 
rischen Region bei Epileptikern. 

K. Kleist-Rostock, Berichtigung zu meiner Arbeit *fiber Leitungsapha* 
sie and grammatlscbe Stflrungen. 

Band 41, Heft 2 (Febrnar 1917). 

M. E. N aef -Leipzig-Miinchen, fiber Psychosen bei Chorea. 

W. Horstmann-Stralsnnd, Qrnndlagen des Negativlsmns. — lm Ori¬ 
ginal zn studieren. 

O. Bunnemann, Yerschiedene BetrachtnngsweisennnddieNenrosen- 

frage (Schlnss). 

G. C. Bo)ten, Bemerkungen zu dem Aufsatz der Frau Ph. H. Sauer, 

fiber'gehknfte kleine infllje bei Kindern (Pyknolepsie. 

Band 41, Heft 8 (Marz 1917). 

B. Brouwer -Amsterdam, fiber die Sehstrahlnng des Mensehen. (Schluss 
iolgt.) 

Max L5wy, Znr Atlologle psyehiseher nnd nervSser Stflrungen der 
Kriegsteilnehmer. — Zu kurzem Referat nicht geeignet. 

J. A. van Hasselt, fiber Meningo*Encephalitis tuberculosa circum¬ 
scripta. — Dem Trauma wird die wahrscbeinliche Ursache fflr die Erkrankung 
zugeschrieben. 

Max Marc us e-Berlin, Ein Fall Ton periodisch-alternlerender Hetero- 
Homosexnalitftt. 

Schultze, Carl Pelman (Nekrolog). 

Band 41, Heft 4 (April 1917). 

Kraraer-Berlin, Schussrerletzung der peripheren Nerven. 111. Nervus 
ulnaris. — Vorzugliche Kasuistik. 

B. B rouwer, fiber die Sehstrablnng des Henschen. — Auf Grand von 
zwei klinischen und autoptischen Befunden genaue anatomische Deduktionen. 

K. Singer-Berlin, Kasuistische Mittell ungen. 

Selma Meyer, fiber die Prognose der CtoburtsliUiniungea des Plexus 
braohlalis. 

Band 41, Heft 5 (Mai 1917). 

A. Friedlaender-Hohe Mark, Kriegsmedizinisehe nnd psychologisehe 
Bemerkungen. 

E. Jentsch-Obernigk, fiber die klinlsche Bedentnng der Degenera- 
tionsxelchen. — Ausgezeichnete klinische Studie, die sowohl fflr den Psychiater 
als fflr den inneren Mediziner Behr wichtig ist. 

Selma Meyer, Schluss des obigen Aufsatzes auf Grund einer grossen 
Kasuistik. 

Horstmann, Nachtrag. E. Ebstein. 


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Literaturtlbersicht. 


W. H. Becker, Briefe an Angeh&rige von Geisteskranken. Berlin, 
S. Karger. 1917. 83 S. 

R. Bing, Kompendinm der topiechen Gebirn- und Ruckenmarksdiagnostik. 
Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Wien and Berlin, Urban & Schwarzen- 
berg. 1917. 235 S. 

S. Freud, Zor Pavchopathologie des Alltagslebens. Fiinfte Auflage. 
Berlin, S. Karger. 1917. 232 S. 

K. Goldstein, Schemata zum Einzeicbnen von Kopf- und Gehirnver- 
letzungen. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1916. 

W. Hellpach, Die geophysischen Erscheinungen. Wetter, Klima und 
LandBchaft in ihrem Einfluss auf das Seelenleben. Zweite Auflage. Leipzig, 
W. Engelmann. 1917. 489 S. 

Hezel, Marburg, Vogt uud Weygandt, Die Kriegsbeschadigungen 
des Nervensystems. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 257 S. 

Magnus Hirschfeld, Sexualpathologie. 1. Teil. Bonn, Marcus & Weber. 
1917. 211 S. 

Liebermeister, Uber die Behandlung von Kriegsneurosen. Halle a. S., 
Carl Marhold. 1917. 75 S. 

O. Naegeli, Unfalls- und Begehrungsneurosen. (22. Bd. der neuen deut- 
schen Chirurgie.) Stuttgart, F. Enke. 1917. 201 S. 

_J. H. Schultz, S. Freuds Sexualpsychoanalyse. Kritische Einfuhrung 
fflr Arzte und Laien. Berlin, S. Karger. 1917. 40 S. 

E. Villinger, Gehim und Rfickenmark. Leitfaden fur das Studium der 
Morphologie und des Faserverlaufs. 4. Auflage. Leipzig, W. Engelmann. 1917. 
318 S. Mit 253 Figuren. 

H. Vogt, Handbuch der Therapie der Nervenkrankheiten. Bd. 1. Die 
Methoden. Bd. II. Krankheitsbilder und deren Behandlung. Jena, G. Fischer. 
1916. 1239 S. 


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Gesellschaft Deutscher Nervenarzte 


Die 

Neunte Jahresversammlung 

der 

Gesellschaft Deutscher NervenSrzte 

wird am 

Freitag, den 28. und Sonnabend, den 29. September 1917 in Bonn 

stattfinden. 

Programm. 

Donnerstag, den 27. September, 

naciim. 6 Uhr: Vorst andssitzung im Gasthof Kduigshof, Koblenzer 

Strasse 11. 

Freitag, den 28. September. 

9 Uhr: Sitzung in dem Universitatsgebaude, II. Stock. 

Erster Bericht: Symptomatologie und Therapie der peripherischen 
LShmungen auf Grund der Kriegebeobachtungen. 

Berichterstatter: Edinger-Frankfurt fttr den allgemeinen Teil. 

Spielmeyer-MOnchen fttr pathologische Anatomie 

und Symptomatologie. 
Foerster-Breslau fttr die Therapie. 

Daran auschliessend: Aussprache. 

12 l l 2 —1' 2 Uhr: Frtthstttckspause. 

1 r 2 —6 Uhr: Fortsetzung der Aussprache. 

Sonnabend, den 29. September. 

9 Uhr: Sitzung im Universitatsgebaude. 

Zweiter Bericht: Die durch die Kriegsverletzungen bedingten Ver* 
anderungen des optischen Zentralapparates. 

Berichterstatter: S aen ge r- Hamburg. 

Daran auschliessend: Aussprache. Zu derselben ist vorgemerkt: 

Poppelreuter-Coln. 

12V 2 —1 I; 2 Uhr: Frtthstttckspause. 

1 >/ 2 —5 Uhr: Fortsetzung der Aussprache. 

H. Oppenheim M. Nonne 

I. Vorsitzender. II. Vorsitzender. 

Berlin, Konigin-Augusta-Stra9se 28. Hamburg, Neuer Jnngfemstieg 23. 

K. Mendel 

Schriftfiihrer. 

Berlin, Augsburger Strasse 43. 

B. Finkelnburg und Hdbner 

Bonn, Lenndstrasse 45. Bonn, Glnckstrasse 9. 

fttr den Ortsausschuss. 


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VERLAG VON F. C. W. VOGEL IN LEIPZIG 


Vorlesungen fiber den Bau der nervosen Zentralorgane 

dee Menschen und der Here. FurArzte und studierende 
von Professor Dr. Ludwig Edinger, Direktor des neurologischen 
Institutes in Frankfurt am Main. 

I. Band: Das Zentralnervensystem des Menschen und der Skuge- 
tiere. 8. umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage. Mit 
398 Abbildungen und 2 'Bafeln. 1911. 

Preis M. 18.—, gebunden M. 19 - 75 - 

II. Band: Vergleichende Anatomie des Gehirns. 7. umgearbei¬ 
tete und vermehrte Auflage. Mit 283 Abbildungen. 1908. 

Preis M. 15.—, gebunden M. 16.50. 

EinfUhrung in die Lehre vom Bau und den Verrichtungen 

d68 NervenSyStemS von Prof. Dr. Ludwig Edinger, Direktor 
des neurologischen Institutes in Frankfurt am Main. Zweite, 
vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 176 Abbildungen. 
1911. Preis M. 6.—, gebunden M. 7.25. 

Die Diagnose der Nervenkrankheiten von purves Stewart, 

M. A., M. D., F. R. C. P., London. Nach der zweiten Auf¬ 
lage ins Deutsche iibertragen von Dr. Karl Hein, Bad Schon- 
fliefi. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Eduard MUller, 
Direktor der medizinischen Universitatspoliklinik zu Marburg. 
Mit 208 Abbildungen im Text und 2 Tafeln. 

Preis M. 10.—, gebunden M. 11.50. 

Die Krankheiten des Nervensystems im Kindesalter. von 

Prof. Dr. Martin Thiemich, Leipzig und Privatdozent Dr. Julius 
Zappert, Wien. Mit Beitragen von Primarius Privatdoz. Dr. 
W. Knopfelmacher, Wien und Prof. Dr. H. Pfister, 
Berlin. Mit 1 Tafel und 53 Textfiguren. 

Preis M. 12.—, in Halbfranz gebunden M. 14.50. 

Nervositdt und Erziehung. Ein Vortrag fUr Erzieher, Arzte 
und Nervose. Von Prof. Dr. A. von Striimpell, Direktor der 
medizinischen Klinik an der Universitat Leipzig. 

Preis M. 1.50. 


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VERLAG VON F. C. W. VOGEL IN LEIPZIG 


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LEHRBDCH DER ALLGEMEINEN 

DND SPEZIELLEN PSYCHIATRIE 

* 

ZUR KINFUHRUNG FOR STUDIKRENDK 
UND ALS MERlvBUCH FUR IN DER ALL¬ 
GEMEINEN PRAXIS STEHENDK ARZTE 

BEARBEITET VON 

privatdozent Dr. ERWIN STRANSKY 

IN WIEN 

L ALLGEMEENER TEIL 


MIT 11 ABBILDUNGEN, 1 FARBIGEN TAFEL UND 
EINEM PHARMAKOLOGISCHEN ANHANG 
BEARBEITET VON Dr. KARL FERI IN WIEN 


Preis M. 8.— Gebunden M. 9.25 

Jahresbericht fttr Neurologic und Psychiatric. 

In dem Vorwort zu seinem Lehrbuch der allgemeinen Psychiatric betont 
Stransky selbst, daB an guten Lehrbdchern der Psychiatric kein Mangel herrscht. 
Ich bin iiberzeugt, daB sein Buch dennoch seinen Weg finden wird, weil es sich 
besonderer Vorziige erfreut. Schon die ganze Darstellungsart ist eine so lebendige, 
daB das Buch jeden jungen Mediziner fesseln wird. Stransky gibt Winke iiber 
den Umgang mit Kranken, iiber die Art und Schwierigkeit der Exploration; der 
Teil, der die Psvchologie behandelt, ist ubersichtlich und verstandlich geschrieben. 
In der allgemeinen Atiologie beriicksichtigt der Verfasser alle Hereditatsfragen mit 
der durchaus notwendigen Kritik. Hinsichtlich der Psychoanalyse erkennt er das 
Verdienst Breuers und Freuds an, daB sie_ auf die Bedeutung der schadlichen 
Wirkung der Affektverdrangung hingewiesen haben, weist aber alle Obertreibungen 
mit Recht zuriick. Es ist nicht moglich, bei der Fiille des Materials, das Stransky 
in seinem Buch darbietet, auf weitere Einzelheiten einzugehen. Ich mochte nur 
als besonders wohlgelungen noch das Kapitel iiber ,,Lebensalter, Geschlecht, Rasse, 
Milieu und Kultur 44 und das iiber ,, Allgemeine Therapie der Geist^skrankheiten; 
Vorbeugung" erwahnen. Die neuesten Ergebnisse und Theorien der biologischen 
Wissenschaft (innere Sekretion, Wassermannsche Reaktion, Abderhaldensche 
Dialysierverfahren usw.) sind mit beriicksichtigt. In einem phartnakologischen 
Anhang sind von Feri die Wirkungsweise und Anwendung der fur den praktischen 
Psychiater wichtigen Arzneimittel besprochen. 


Druck von August Pries in Leipzig. 


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Uber Hypothyreoidie. 

Von 

Dr. 6. 0. Bolten (Haag, Holland). 

Oswald, der bereits yor langerer Zeit nachgewiesen zu haben 
meinte, dass der wirksame Bestandteil der Schilddriise das Thyreo¬ 
globulin ist, kommt in einer Mitteilung sehr jungen Datums auf dieses 
Thema zuriick und behandelt dabei auch so nebenbei die Pathologie 
dieses kleinen, doch trotzdem so ausserordentlich wichtigen Organs. 
Laut Oswald gibt Hyperthyreoidismus Anlass zu Morbus Basedowii, 
wahrend Hypofunktion der Schiddriise dieErscbeinungendesMyxodems 
und des Eretinismus verursachen soli. Was die Problems chemischer 
Art angeht, werden wir sehr kurz sein. Wie von Fiirth sehr mit 
Recht bemerkt, ist die Schilddriise ein Organ, von dessen Chemie wir bis 
jetzt wenig Freude erlebt haben. Er glaubt denn auch nicht, dass das 
Thyreoglobulin (also eine Verbindung des Eiweisskorpers Globulin mit 
Jodium) der essentielle Bestandteil der Tbyreoidea sei, da bei eben ge- 
borenen Tieren, bei denen die Schilddriise doch ebenso lebenswichtig 
ist als bei Erwachsenen, dieses Organ noch kein Jodium enthalt. Und 
Thyreoidin ebenso wie Thyreojodin sind sicherlich Kunstprodukte, wie 
u. a. aus den Tierversuchen von Asher und Flack u. a. sehr deutlich 
hervorgeht. 

Doch den Chemismus der Schildriise, ein noch so gut wie jung- 
frauliches Feld, lassen wir hier weiter ausser Besprechung; hier 
besteht nor die Absicht, einen kleinen Teil der Pathologic dieses 
Organs zu besprechen. Und dann muss man voranstellen, dass dieses 
wichtige Kapitel lange nicht so einfach ist, als Oswald es hinstellen 
wilL Wohl sind zwar Eretinismus und Myxodem ohne Zweifel Ausse- 
rungen von Hypothyreoidismus, doch daraus folgt noch keineswegs, 
dass auch das Umgekehrte wahr ist, dass namlich Funktionsverringe- 
rung der Schilddriise per se entweder zu Myxodem oder zum Ereti¬ 
nismus fiihrt. Die Schilddriise ist doch ein so wichtiges Organ und 
ihre Funktion ist so ausserordentlich kompliziert und verschiedenartig 
und macht sich so sehr in den allerfeinsten Unterteilen der Haushal- 
tung unsere3 Organismus geltend, dass es allein dadurch schon 
apriori nicht anzunehmen ist, dass Storungen eines Organs mit solchen 

Deutsche Zeitschrift f. Xervenheilkunde. Bd. 57. 9 


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besonders vielfaltigen und in den ganzen Stoffwecbsel eingreifenden 
Funktionen sich per se nur in den genannten zwei Krankheitsbildern 
aussern sollten. Wie sich wohl yon selbst versteht, bediirfen wir, 
uni die Pathologie der Schilddruse begreifen zu konnen, einer mog- 
lichst vollstandigen Einsicbt in die Physiologic dieses Organs, und ist 
auch unsere Eenntnis dieses letzteren weit davon entfernt, vollstandig 
zu sein, so verfiigen wir doch iiber ein hinreichendes, ziemlicb fest- 
stehendes Tatsachenmaterial, das uns instand setzt, uns einigermaGen 
einen Begriff von der sehr wichtigen und komplizierten Schilddriisen- 
funktion zu bilden, sei es aucrb, dass yiele Tatsachen noch mehr oder 
weniger undetailliert und ausschliesslich experimentell festgestellt sind, 
wahrend das Feinere der Sache, besonders der Chemismus der Thv- 
reoidea, noch stets in ein fast vollkommenes Dunkel gehiillt ist. Aus 
zahlreichen Tierversuchen ist wohl mit grosser Sicherheit hervor- 
gegangen, dass die Schilddruse in erster Linie der Regulator und 
Akzelerator des gesamten Stoffwechsels ist; und dies wahrscheinlich 
mit Hilfe des chromaffinen Systems und des infundibularen Teiles der 
Hypophyse. Eppinger, Falta und Rudinger zeigten an, dass bei 
schilddriisenlosen Tieren der Eiweissumsatz im Hungerzustand viel 
niedriger ist als bei normalen hungernden Tieren; bei grossen Hun- 
den geht diese Abnahrae, wenigstens wahrend der ersten Periode 
nach der Thyreoidektomie (solange noch keine akzessorischen Driis- 
chen vikariierend hypertrophiert sind), bis auf ungefahr die Halfte 
des normalen Umsatzes herunter. Auch kann nach Thyreoidektomie 
die Zufuhr von Kohlenhydraten und Fetten den Eiweissumsatz nicht oder 
nahezu nicht erniedrigen, wahrend dieses bei normalen Verhaltnissen 
wohl der Fall ist. Weiter verursacht Thyreoidektomie eine starke 
Herabsetzung der Assimilationsgrenze fur Traubenzucker, so dass Ein- 
spritzung einer 20proz. Zuckerlosung ( 5—7 Gramm Zucker per 
Kilograram Tier) bei schilddriisenlosen Hunden eine starke und lang- 
dauernde Glykosurie hervorruft. Die genannten Forscher schreiben 
jedoch auf Grund ihrer Versuche diese Glykosurie nicht dem Fort- 
fallen der Thyreoidfunktion zu, da die Erscheinung nicht nach reiner 
Thyreoidektomie auftritt, doch nur nach der sogenannten kompletten 
Thyreoidexstirpation, d. h. Entfernung der Schilddruse und der ge¬ 
samten Epithelkorperchen. Das Herabsinken der Assimilationsgrenre 
fiir Traubenzucker wiirde also gebunden sein an das Fortfallen der 
Parathyreoidfunktion. Ober diesen letzten Pnnkt besteht allerdings 
noch keine vollkommene Sicherheit. Wohl steht fest, dass«ausser 
dem Eiweiss- und Kohlenhydratstoffwechsel auch der Fett- und Salz- 
stoffwechsel mehr oder weniger stark abnehmen nach Thyreoidekto¬ 
mie: die Magnesium-, Chlor- und Phosphatausscheidung im Ham wer- 


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Uber Hypothyreoidie. 


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den geringer; gleichfalls die Kalkausscheidung in den Fazes. Wird 
das Tier mit Thyreoidpraparaten gefiittert, so nehmen diese Aus- 
scheidungen wieder zu und erreichen wieder die normale Hohe. 
Ferner wies Magnus Levy nach, dass nach Thyreoidektomie der 
Gaswechsel in den Lungen abnimmt, so dass auf diese Weise durch 
Athyreodie der Stoffwecbsel verzogert wird. 

Von sehr grossem Belang ist ausserdem, dass die Schilddriise, 
die dnrch den Nervus sympathicns innerviert wird (und vielleicht 
noch Zweige aus dem Nervus vagus empfangt), ausserdem auf den 
letzteren zuriick wirkt und in ihm einen Tonus unterhalt. Thyreoidek- 
tomie verursacht Sympathikushypotonie, die sich aussert in Zirkula- 
tionsstorungen und in trophischen bzw. sekretorischen Storungen der 
Haut usw. Laut einiger Forscher ist denn auch nach Thyreoidekto- 
mie eine deutliche Herabsenkung des Blutdrucks wahrzunehmen und 
es enthalt das Blutserum schilddriisenloser Tiere Substanzen, die, bei 
andern Tieren eingespritzt, blutdruckerniedrigend wirken. Einerseits 
wirkt also die Schilddriise akzelerierend auf andere Driisen mit innerer 
Sekretion, u. a. auf das chromaffine System und den infundibularen 
Teil der Hypophyse, doch dagegen hemmend auf andere Organe, z. B. 
auf das Pankreas, wahrend andererseits die Thyreoidea und der Sym¬ 
pathies in Wirklichkeit eine Art gescklossenes System bilden, wo- 
bei die eine tonisierend und akzelerierend auf die andere einwirkt: 
der Sympathies innerviert die Schilddriise und befordert die sekre- 
torische Funktion des Organs, wahrend gegenseitig die Schilddriise 
einen tonisierenden Einfluss auf den Nervus sympathies ausiibt. Die 
Schilddriisenfunktion kann also nicht als ganz selbstandig betrachtet 
werden, doch bildet sie einen Unterteil eines sehr komplizierten 
Systems, da die Thyreoidea zusammenarbeitet mit verschiedenen 
anderen Driisen und mit dem Sympathies, und also ein wichtiges 
regulierendes Zentrum des vegetativen Nervensystems bildet. Biedl 
sagt dariiber folgendes: „Diese Organe (die Driisen mit innerer Sekre¬ 
tion) stehen in zweifachen Beziehungen zum vegetativen Nervensystem. 
Einerseits wird jedes von ihnen durch einen bestimmten Teil des 
vegetativen Nervensystems innerviert, und andererseits wirkt das 
innere Sekret der Driise wieder auf den Tonus des entsprecbenden 
Nerven ein. Die stoffwechselfordernde Gruppe hat eine sympathische 
Innervation und erregt sympathische Fasern, wahrend sie gleichzeitig 
die autonomen Nerven hemmt. Umgekehrt hesitzt die retardative 
Gruppe eine autonome Innervation und wirkt autonom akzelerierend 
und sympathisch hemmend. Besonders fiir die Schilddriise wird eine 
doppelte Innervation, namlich eine autonome und eine sympathische, 
angenommen, und eine Einwirkung des Schilddriisensekrets auf beide 

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Anteile des yegetativen Nervensystems postuliert." So Biedl, aus 
dessen Auffassung ganz deutlich hervorgeht der sehr innige Zusam- 
menhang zwischen Schilddriise und Sympathicus, und besonders der 
Einfluss, welcbe der letztere yon der ersteren erfahrt 1st also die 
Schilddriise mehr oder weniger insuffizient, dann muss sich oder 
kann sich wenigstens dieses abspiegeln in sekundaren Storungen im 
sympathischen System. Dies ist fur die Pathologie yon besonders 
grossem Belang, da wir, wie spater ausfiihrlich auseinandergesetzt 
werden soil, oft die Hypothyreoidie herleiten (oder wenigstens ver- 
muten) konnen aus den yorhandenen trophischen und anderen Sto- 
rungen, die wir als Folge der Sympathikushypotonie auffassen. 

Mehr oder weniger im Verbande mit dem akzelierenden Einflusse, 
den die Schilddriise auf den gesamten Stoffwechsel ausiibt, stehen noch 
verschiedene Tatsachen und Ergebnisse der Tierversuche. So weist 
z. B. Mar be auf den yon der Schilddriise auf die Darmsaftsekretion 
ausgeiibten Einfluss hin: bei Tieren trat nach Schilddriisenfutterung 
eine starke Vermehrung der Darmsaftsekretion auf, selbst bis auf un- 
gefahr das Doppelte der normalen Menge. H 5 rt die Schilddriisen- 
fiitterung auf, so sinkt die Menge des Darmsekrets sogleich wieder 
auf das Normale. 

Ferner soil, laut Fassin, die Schilddriise die Bildung von Alexi- 
nen befordern und die antibakterizide und hamolytische Kraft des 
Blutes erbohen, so dass Hypothyreoidie zum Sinken der genannten 
Eigenschaften leiten soil. Andere Forscher, u. a. Roger und Gar- 
nier, Marbe u. a. ziehen aus ihren Ezperimenten den Schluss, dass 
Hypothyreoidie zur Verminderung der Opsoninebildung im Blute Anlass 
gibt. Schliesslich ist noch von Interesse die von Walter u. a. fest- 
gestellte starke Verzogerung in der Regeneration der peripherischen 
Neryen bei schilddriisenlosen Tieren. 

Zahlreiche Untersucher haben, wie bereits mitgeteilt ist, den kraftig 
akzelierenden Einfluss der Schilddriise auf den allgemeinen Korper- 
stoffwechsel festgestellt, und zwar durch den Nachweis, dass dieser 
letztere bei Hypo- und Athyreoidie sehr stark verzogert und verringert 
ist. Wichtige Untersuchungen von Juschtschenko haben unsere 
Kenntnis in dieser Hinsicht noch bemerkenswert erweitert. Er wies nach, 
dass die Bildung verschiedener wichtiger Fermente des intermediaren 
Stoffwechsels direkt von der Schilddriisenfunktion abhangig ist. Haupt- 
sachlich die Bildung von Nuklease und von Katalase liess nach Thyreoid- 
ektomie stark nach, um wieder auf die normale Hohe zu steigen, 
wenn das schilddriisenlose Tier mit Schilddriisenpraparaten gefiittert 
wurde. Bereits in einer friiheren Mitteilung hatte Juschtschenko 
auf den aktivierenden und akzelerierenden Einfluss gewiesen, den die 


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Uber Hypothyreoidie. 


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Schilddriise auf die Sekretion and Wirkung von Lipase und Peroxy- 
dase ausiibt. Er kommt also aof Grund seiner eingehenden Tier- 
experimente zam Schluss, dass die Schilddriise einen ausserordentlich 
wichtigen Einfluss, den man als fordernd and aktivierend bezeichnen 
kann, aof die Bildung and die Wirkung vieler (vie'lleicht selbst aller) 
Fermente des Tractus intestinalis und des intermediaren Stoffwecbsels 
ausiibt. 

Bereits friiher war von Levi and Rothschild auf Grand klini- 
scher Beobachtangen die Meinung aasgesprochen, dass die Schilddriise 
der allgemeine Regulator and der Akzelerator sowohl der ^Diastases 
de nutrition" als der „Diastases de defence" sein solle, welche letz- 
teren eine wichtige, schiitzende Rolle bei vielen Autoinfektionen spielen 
sollen. Auch Stepanoff hat auf diesen hervortretenden Teil der 
Schilddriisenfunktion gewiesen, namlich auf das Aktivieren und Ak- 
zelerieren der natiirlichen Abwehrmittel des Organismus. Alle diese 
genannten Forscher kommen also sowohl auf Grund experimenteller 
Untersuchungen oder auch auf Grund klinischer Beobachtungen zum 
Schlusse, dass die Schilddriise die Zentrale ist, in der alle fermen- 
tativen Prozesse des Organismus geregelt und gefordert werden. 

Auch dieser Teil der Schilddriisenfunktion ist von aussergewohn- 
licher Bedeutung: unser ganzer Haushalt, der gesamte Stoffwechsel 
und die zahllosen Prozesse des Auf- und Abbaus, die ununterbrochen 
in unserem Korper stattfinden, "das alles steht unter der direkten 
Verwaltung der Schilddriise. Und die zahllosen Fermente, die in 
alien unseren Korpersaften zu finden sind, und die von Claude- 
Bernard die „Lebenstrager“ genannt sind, sie alle sind von der Schild¬ 
driisenfunktion abhangig und ihr unterworfen. 

Dass diese wichtige Funktion der Thyreoidea, namlich das Akze- 
lerieren zahlreicher Fermentationsprozesse bei Insuffizienz des Organs, 
eine wichtige Abspiegelung in der Pathologic finden miisste, versteht 
sich wohl von selbst. Bei der Besprechung unserer Falle komme ich 
auf diesen Punkt nebenbei noch zuriick. 

Femer ist noch viel gesprochen und gestritten fiber die entgif- 
tende Wirkung, die die Schilddriise auf die in die Zirkulation ge- 
ratenen Toxine ausfiben soil (Notkin, Blum und viele andere). Be- 
sonders hat Trendelenburg auf chemischem Wege nachzuweisen 
versucht, dass bei Athyreoidie toxische Substanzen in die Blutbahn 
gelangen und dort durch die Azetonitrilreaktion chemisch nachzu¬ 
weisen sind. In der Tat erwecken die nach kompletter Thyreoidektomie 
auftretenden Erscheinungen stark den Eindruck, als beruhten sie auf 
einer Iutoxikation (epileptische und Tetanieanfalle usw.), wahrend die 
psychischen Storungen, die bei stark ausgesprochener Hypothyreoidie 


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wie beim Kretinismus und bei Myxodem vorkommen, gleichfalls nur 
als Intoxikationserscheinungen aufgefasst werden konnen. Doch daraus 
folgt noch meiner Meinung nach keineswegs, dass die Thyreoidea 
direkt auf die in die Zirkulation gelangten Toxine entgiftend ein- 
wirken soli. Es Scheint mir einfacher und zugleich rationeller, alle 
diese Erscheinungen (Anfalle von Tetanie und Epilepsie, psychische 
Storungen wie Schwindelgefiihl, Benommenheit, Demenz usw.) als die 
Folge von Intoxikation durch unvollkommen abgebaute Stoffwechsel- 
produkte zu betrachten, unter denen verschiedene, wie bekannt ist, die 
zu den vollkommen normalen Zwischenprodukfcen gehoren, giftig sind, 
so u. a. die Aminosaure und verschiedene andere Eiweissabbauprodukte. 
Nun ist es wohl wahr, dass (wenigstens vermutlich) bei Insuffizienz 
der Schilddriise diese giftigen Produkte in die Blutbahn geraten und 
also toxisch auf das Zentralnervensystem einwirken konnen, aber die 
Schilddriise wirkt nicht direkt auf diese Stoffe ein: funktioniert das 
Organ normal, dann werden diese Zwisehenprodukte mittels fermen- 
tativer Prozesse weiter abgebaut und also unschadlich gemacht, 
bevor sie Gelegenheit haben, in die Zirkulation zu geraten und 
sich also allmahlich im Zentralnervensystem anzubanfen. Dies gilt 
auch fur die endogenen Intoxikationen, die als Folge der Hypothy- 
reoidie anzusehen sind. Man muss jedoch zugeben, dass die Moglich- 
keit eines aktiven Eingreifens der Schilddriise bei exogenen Intoxi¬ 
kationen durchaus nicht ausgeschlossen ist. B i e d 1 erwahnt die Versuche 
von Reid Hunt, aus denen wohl unverkennbar hervorgeht, dass 
Mause, die mit geringen Mengen trockener Schilddriisenpraparate ge- 
fiittert waren, ein viel hoheres Widerstandsvermbgen gegen subku- 
tane Einspritzungen mit Methylzyan (CH S CN, Azetonitril) hatten; diese 
so behandelten Tiere konnten zwei- bis dreimal mehr Gift vertragen, 
als die nicht vorbehandelten. Eine derartige Erhdhung der Resistenz 
gegen Gifte bei Thyreoidfiitterung schien nur bei Mausen zu bestehen, 
und speziell bei Einspritzung von Azetonitril. Verschiedene andere 
Tiere zeigten bei Thyreoidfiitterung durchaus keine Erhohung der 
Resistenz gegen verschiedene Gifte, doch im Gegenteil eine vermin- 
derte Resistenz, unter anderm sehr deutlich gegeniiber Morphium. Doch 
diese Ergebnisse sind nicht feststehend; einige Forscher legen dar, 
dass die letale Dosis Morphium fur schilddriisenlose Ratten dieselbe 
ist wie fur normale Tiere. 

Gehen wir nun zur Pathologie der Schilddriise und zwar beson- 
ders zur Insuffizienz fiber. Dabei lassen wir diejenigen FaUe ausser 
Betracht, bei denen die Schilddriisenfunktion zu einem solchen Mini¬ 
mum gesunken ist, dass wir wohl von Athyreoidie sprechen konnen. 
Diese Falle zeigen die klinischen Erscheinungen von Kretinismus, 


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Uber Hypothyreoidie. 


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Myxodem, Cachexia strumipriva usw. Auch lassen wir ausser Be- 
sprechung die verschiedenen Formen der angeborenen oder in friihester 
Jagend aufgetretenen Schilddriiseninsuffizienz, wobei wir ziemlich 
auseinandergehende klinische Bilder zu selien bekommen konnen, wie 
Nanismus, Infantilismus, endemischer Kretinismus, kongenitales Myx¬ 
odem, Mikromelie und die verschiedenen Formen von Chondrodystrophie. 

Es ist unsere Absicht, uns auf die Falle der Hypothyreoidie der 
Erwachsenen zu bescbranken. Und dann muss zu allererst festgestellt 
werden, dass zwischen der normal funktionierenden Scbilddriise und 
den aussersten Graden der Insuf'fizienz (Myxodem, Kretinismus) sich 
eine sehr ausgedehnte Gruppe von mehr oder weniger leichter Funk- 
tionsverminderung befindet, die sich in sehr auseinandergehenden und 
uuahnlichen Storungen und Erscheinungen aussert. 

Es ist das grosse Verdienst Hertoghes gewesen, als erster die 
Aufmerksamkeit auf diese leichtere und darum gutartige Form der 
Schilddriiseninsuffizienz gelenkt zu haben, die er als „hypothyreoidie 
benigne chronique" betitelt. Levi und Rothschild, die man eben- 
falls zu den Bahnbrechern auf dem Gebiete der SchilddrUsenpatho*- 
logie rechnen kann (sie sind, meine ich, die ersten, welche bestimmte 
Formen der Migrane beschrieben haben als die Folge der Hypothyreoidie, 
und sie besprechen denn auch ausfiihrlich die „migraine tbyroidienne“), 
schlagen denn auch vor, vom „Hertogheschen Syndrom 44 zu sprechen. 
in der Tat ist diese kleine, dem Verdienste Hertoghes gewidmete 
Huldigung, von dem man meir.es Erachtens bis jetzt in der Schilddriisen- 
literatur zu wenig Kenntnis genommen hat, mit vollem Rechte ge- 
bracht. Unter dem Syndrom Hertoghes, wie er selbst es beschrieben 
hat, haben wir dann zu verstehen eine Kombination meist allgemeiner 
Erscheinungen, wie Lustlosigkeit, Schiittel- und Unwohlsgefiihl, Stuhl- 
verstopfung, A|)petitmangel, Haar- und Zahneausfall, Gelenkschmerzen 
und bei Frauen Metrorrhagie; meistens auch trockene Haut und bis- 
weilen sprode, leicht brechende Nagel. (In einigen der von Her- 
toghe angefuhrten Fallen darf man daran zweifeln, dass das Bild wohl 
ganz auf die Hypothyreoidie zuriickzufiikren ist, da unter den Er¬ 
scheinungen auch Varices und Ptosis gemeldet werden.) 

Doch in den ubrigen Fallen ist das Hertoghesche Syndrom meist 
wohl in ziemlich derselben Form vorhanden. Und dass hier in der 
Tat Hypothyreoidie im Spiel ist, halt Hertoghe durch die Therapie 
bewiesen: wurden diesen Kranken Schilddriisenpraparate eingegeben, 
so reagierten sie darauf mit sehr merkbarer Besserung und oftmals 
mit vollkommener Heilung. Dabei nimmt Hertoghe als feststehend 
an, dass Schilddriisenpraparate ausschliesslich bei Hypothyreoidie, aber 
bei keiner einzigen anderen Erkrankung giinstig wirken, so dass das 


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Ergebnis der Behandlung als ein yollkommen zuverlassiges Diagnosti- 
kum anzusehen ist. Diese Begriindung isfc, wie ich auf Grand der 
Ergebnisse meiner eigenen Untersuchungen annehmen darf, wohl 
richtig, docb soli sie m. E. nor als ein zeitliches Hilfsmittel dienen, das 
am liebsten so schnell wie moglich durch rein wissenscbaftliche Dia- 
gnostika ersetzt werden muss, welche man dnrch Laboratoriumsver- 
suche erhalt, und die yollkommen unabhangig yon den Ergebnissen 
der Behandlung sind. Doch das Aafspiiren und Feststellen der ge- 
wiinschten Angaben wird wohl noch sehr lange ein frommer Wunsch 
bleiben: erst wenn wir gut und sicher wissen, welche Substanzen (es 
seien chemische Korper, es seien Fermente) die Schilddriise durch 
innere Sekretion in die Blutbahn bringt, und wenn wir dann ausser- 
dem noch diese Substanzen quantitatiy im Blut (am liebsten in einer 
kleinen Menge) bestimmen konnen, erst dann und auch nicht eher 
werden wir auf yollkommen unumstosslicbe Griinde hin die Insuffi- 
zienz der Schilddriise und deren Grad feststellen konnen. Und hieriiber 
mache man sich keine lllusionen: bereits ist ja darauf gewiesen, dass 
yon Fiirth und andere Forscher keineswegs uberzeugt sind, dass das 
yon Oswald gefundene Jodothyreoglobulin in der Tat die Substanz 
ist, die durch die Schilddriise in die Zirkulation gebracht wird. Und 
hinsichtlich anderer Substanzen ist unser Zweifel noch yiel starker: 
Thyreoidin und Thyreojodin sind fest und gewis3 Kunstprodukte, die, 
wiewohl sie offenbar wohl teilweise den akzelerierenden Einfluss der 
Schilddriise ausiiben konnen, in mancher Hinsicht eine ganz andere 
Wirkung haben, als der frische Pressaft der Schilddriise. So wiesen 
Asher und Flack nach, dass es moglich ist, durch Bereitung yon 
Extrakten aus frischen, feingeriebenen Scbilddriisen die wirksamen 
Bestandteile zu erhalten, und dass diese gadz anders wirken als Thy¬ 
reoidin und Thyreojodin, da durch diese Substanzen keine Erhohung 
der Erregbarkeit des Nervus depressor und keine Verstiirkung der 
Adrenalinwirkung hervorgerufen werden, was durch die frischen 
Schilddriisenextrakte wohl zustande gebracht wird. Dagegen ver- 
anlassen diese letzteren keine Pulsbeschleunigung, und wie als allgemein 
bekannt angenommen werden kann, geben sowohl getrocknete Schild- 
driisentabletten wie auch Thyreoidin wohl dazu Anlass. Die Ergebnisse 
meiner Versuche schliessen sich dem yollkommen an: stets wandte 
ich frisch bereiteten Pressaft an (und dies ist zugleich % ein wassriger 
Extrakt, den ich durch langes Schiitteln feingeriebener Scbilddriisen 
mit Wasser yon 30 ° erhielt), und dabei ergab sich, dass es unmoglich 
ist, durch Eingabe dieses Pressaftes, selbst in sehr grosser Menge, 
Pulsbeschleunigung heryorzurufen. Auch Abmagerung, die doch fast 
immer bei lange dauerndem, sei es auch geringem Gebrauche getrock- 


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Uber Hypothyreoidie. 


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neter Schilddriisenpraparate eintritt, sowobl wie beim Gebrauch der 
genannten chemischen Praparate (auch bei Menscben, die durchaus 
nicht an Fettsucht leiden), sah icb niemals, selbst nicht nach jabre- 
langer An wend an g meines Pressaftes. 

Auch Weiss und Labee kommen zum Scblusse, dass die friscbe 
Schilddriise anders wirkt als die getrockneten Praparate: sie macbten 
ausftihrliche Untersucbungen bei Hunden binsicbtlich des Einflusses 
der Schilddriise auf den Gaswechsel in den Lungen. Sie schliessen 
aus ihren Versocben, dass die Eingabe frischer Scbilddriisen bei ihren 
Versuchstieren eine bemerkenswerte Zunahme des Gaswechsels in den 
Lungen yerursacht, wahrend diese nach Eingabe getrockneter Schild- 
driisenpraparate roll kommen ausblieb. Dasselbe war gleicbfalls Ton 
Jaquel und Svenson festgestellt, wahrend Magnus Levy behauptefc, 
dass bei einem linger fortgesetzten Gebrauch auch die getrockneten 
Praparate diese Erhohung des Gaswechsels zustande bringen. In 
jedem Fall jedoch fanden Weiss und Labee unter genau denselben 
Umstanden einen sehr deutlichen Unterschied zwischen der Wirkung 
der frischen und der getrockneten Schilddriise, einen Unterschied, den 
sie nicht erklaren konnen. 

Aus den genannten Griinden darf man denn als sicher annehmen, 
dass wir von der chemischen Zusammensetzung der essentiellen Sub- 
stanzen der Schilddriise noch nichts wissen; wie weit sind wir denn 
nicht entfernt yon der qualitativen und quantitatiTen Gestimmung 
dieser Stoffe im Blut! Nun sollte man, unter Hinweis auf die sehr 
wichtigen Befunde Juschtschenkos, dass namlich der Gehalt yer- 
schiedener Organe an bestimmten Fermenten, so u. a. Nuklease und 
Katalase, direkt abbangig Ton und proportional zu der Schilddriisen- 
funktion ist, yielleicht meinen konnen, dass man wenigstens einiger- 
mafien eine Einsicht in die Schilddriisenfunktion erlangen konnte, 
wenn man eine quantitatire Bestimmung dieser Fermente darstellte. 
Doch auch in dieser Richtung stosst man unmittelbar auf grosse 
Beschwerde: Katalase kommt im Blut Tor, doch die Methoden fur 
quantitatire Bestimmung (auch das Abderhaldensche Verfahren) sind 
noch so kompliziert und es kleben noch zu yiele Fehlerquellen daran, 
als dass man es fur moglich halten kann, in einer kleinen Menge 
Blut eine zurerlassige Katalasebestimmung darzustellen. Und mit 
Nuklease befinden wir uns noch in riel ungiinstigeren Verhaltnissen: 
das Ferment kommt in der Leber, dem Gehirn, der Milz, den Testikelu 
und in den Nieren reichlich Tor, doch gerade das Herz und das Blut 
sind an diesem Ferment sehr arm. Und nun moge es wahr sein, 
dass man Ton einer ganzen Leber, feingerieben und in einem Liter 
Wasser extrahiert, wie es Juschtschenko bei seinen Versuchstieren 


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tun konnte, eine ziemlich zuverlassige Nukleasebestimmung ausrdhren 
kann, aber eine geeignete Methode, die man in der Klinik anwenden 
kann und die einwandfreie Ergebnisse liefert, besitzen wir bis jetzt 
nocb nicht. Vorlaulig miissen wir uns also mit Hertoghes Anffassung 
zufrieden stellen und annehmen, dass Thyreoidpraparate (am liebsten 
in der Form des von uns angewandten frischen Pressaftes, da dies 
die physiologische Schilddriisenfunktion genau nachmacht) nur giinstig 
wirken in Fallen der Hypothyreoidie, und dass also alle Falle, bei 
denen diese Bebandlung auffallend gute Ergebnisse zeitigt, als Insuf- 
fizienz der Schilddriise angesehen werden miissen. 

Bei einer solchen Methode ist es natiirlich immerhin moglich, dass 
einige Falle, die als Hypotbyreoidie gebucht sind, in der Tat nicht 
dazu gehoren. Ich babe denn aucb, aus Mangel an besserem, Her¬ 
toghes Begriindung befolgt und dabei soviel wie moglich Kontroll- 
versuche vorgenommen, und zwar in dem Sinne, dass ich stets danach 
getrachtet habe, auch auf anderem Wege dieselben therapeutischen 
Ergebnisse zu erzielen. Besonders mit den anderen Driisen mit 
innerer Sekretion habe ich sehr viel experimentiert, und nicht nur 
die im Handel vorkommenden getrockneten Praparate angewandt, 
sondern immer einen Pressaft aus frischen Organen verfertigt. 
Nur die Falle, bei denen durch Schilddriiseneingabe Resultate erzielt 
waren, die bei jeder anderen Therapie, welche aucli immer, ausge- 
blieben, habe ich als die Folge der Hypotbyreoidie betrachtet. Nun 
wird vielleicht Hertoghes ausfuhrliche Monographic auf manche den 
Eindruck machen, dass er zuviel Erscheinungen als die Folge der 
Hypothyreoidie ansieht, und auch andere Forscher haben zu diesern 
Krankheitsbilde noch wieder ganz andere Erscheinungen als die der 
„bypothyroidie benigne chronicjue“ Hertoghes gerechnet, so dass 
Bauer denn auch in Verzweiflung gerat und sagt, dass augenblicklich 
wohl fast keine Krankheitserscheinung zu denken ist, die nicht als 
die Folge der Hypothyreoidie angesehen wird. Dabei weist er 
darauf hin, dass die guten Ergebnisse der Thyreoidbehandlung nicht 
ausschlaggebend zu sein brauchen, da sie ebensogut durch das in 
den Schilddriisenpraparaten vorhandene und organisch gebundene 
Jodium hervorgerufen sein konnen. Dieses Argument scheint mir 
jedoch sehr schwach zu sein und ausserdem sehr leicht zu widerlcgen: 
ware das gute Resultat dem organisch gebundenen Jodium zuzu- 
schreiben, dann miisste man durch Kontrollversuche ganz leicht 
nachweisen konnen, dass organische Jodpraparate ebenso gute Ergeb¬ 
nisse zeitigten wie Thyreoidpraparate. Ich habe aber niemals in den 
Fallen, wo Schilddriiseneingabe offensichtliche Besserung erzeugte, 
etwas mit organischen Jodverbindungen erreichen konnen. 


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Uber Hypotbyreoidie. 


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Wean ich auch gem zugeben mass, dass wir keine zuverlassigen 
Mittel besitzen, um die Hypotbyreoidie unumstosslich festzustellen, 
so bin ich doch fest davon iiberzeugt, dass das Gebiet dieser Er- 
krankung nocb viel grosser ist, als Hertogbe angegeben hat, und 
dass Bauers Klage liber die endlose Ausdehnung des Gebietes dieser 
Erkrankung grosstenteils unbegriindet ist. Natiirlich gebe ich zu, 
dass hin.und wieder Symptome zu unrecht ibr auf die Kechnung gesetzt 
sind, aber trotzdem steht es fur mich fest, dass die Hypotbyreoidie 
eine ausserordentlicli grosse Mannigfaltigkeit yon Erscheinungen 
kervorrufen kann, und das darf uns, angesichts der besonders kom- 
plizierten, wichtigen und vielseitigen Funktion der Schilddriise, 
keineswegs venvundern. lmmerhin reguliert und akzeleriert die 
Schilddriise den gesamten Stoffwechsel und macht sich also in alien, 
selbst in den kleinsten Unterteilen unseres Haushaltes geltend; sie iibt 
einen akzelerierenden Einfluss aus auf die Hypophyse und die Neben- 
nieren, hemmt das Pankreas und unterhalt einen Tonus im sympa- 
thischen System. An einer solchen besonders komplizierten Funktion 
kann natiirlich selbstverstandlich in zahllosen Arten etwas defekt sein, 
und dabei ist es sehr wahrseheinlich, dass, da ja die Schilddriise ver- 
mutlieh verschiedeue Substanzen mit yerschiedenen Funktionen in die 
Zirkulation bringt, bei der Hypothyreoidie einmal dieser, ein ander- 
mal jener oder aber. ein drifter oder yierter Unterteil der Funktion 
beschadigt ist. Wenigstens waren bei meinem Material Falle mit 
ausschliessbch Sympathikusstdrungen, andere mit ausschliesslich Stoff- 
wechselstorungen und wieder andere mit ausschliesslich Intoxikations- 
erscheinungen (vermutlich aufzufassen als Folge von Hypofermentation 
des intermediaren Stoffwechsels), so dass ich aus diesem Grunde zu 
der Annahme veraulasst wurde, dass die Hypothyreoidie nicht immer 
dieselbe Art der Funktionsstdrung mit ausschliesslich quantitativer 
Verschiedenheit darstellt, sondern dass wir dabei annehmen miissen 
die Mdglichkeit einer auch qualitativen Verschiedenheit in dem Sinne, 
dass nicht immer dasselbe Sekretionsprodukt ungeniigend abgeschieden 
wird, und also nicht immer die Funktion in denselben Unterteilen 
beschadigt ist. 

Wie bereits gesagt, betrachte ich das Gebiet der Hypothyreoidie 
als.weit ausgedehnter, als es bis jetzt angenommen wurde, und rechne 
ich auf Grund meiner therapeutischen Experimente verschiedene Er¬ 
scheinungen und Symptomenkomplexe, die bis jetzt nicht als thyreo- 
genen Ursprungs bekannt sind, zu den Folgen der Hypothyreoidie, 
wie aus dem hier folgenden Schema heryorgehen soil: 


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Scheraatische Obersicht der Erscheinungen von chronischer, 
benigner Hypothyreoidie der Erwachsenen. 

A. Primare oder direkte Syndrome: 

1. einfacbe Verminderung der Magen- und Darmsekretion 
oder Hypofermentation des Tractas intestinalis ( w nerv6se 
Dyspepsie"). 

2 . Stoffwechselstdrungen in der Form unvollkommener Abbaa, 
oder aach unvollkommenen Salzstoffwechsels (zu geringe 
Exkretion bestimmter Salze), Verzogerung des Stoffwe'chsels: 

a) einige Formen von Gicht, gichtische Diathese, Iscbias usw., 

b) allgemeine konstitutionelle Fettsucht, 

c) Dercumscbe Krankheit. 

3 . Intoxikationserscheinungen (vermutlicb infolge von Hypo- 
fermentation des intermediaren Stoffwechsels): 

a) genuine (thyreogene) Migrane, 

b) genuine (thyreo-paratbyreogene) Epilepsie, 

c) nervose Storungen, die in das klinische Bild der Neur- 
astbenie passen, 

d) psycbiscbe Storungen, kurzweg anzudenten als leichte 
Falle von Dementia praecox, 

e) klimakteriscbe Storungen. 

B. Sekundare oder indirekte Syndrome, zusammenzufassen 
als Sympathikushypotonie: 

a) tropbiscbe und zirkulatorische Storungen der Haut, der 
Nagel und des subkutanen Zellgewebes (Form der 
Raynaudschen Krankheit, Herpes gangraenosus usw.), 

b) das zircum8kripte Hautodem, 

c) verringertes oder aufgehobenes Regenerationsvermogen 
der Haut. 

C. Mischformen: 

Hierunter ist m. E. unterzubringen * das Myxodem, das eine 
Kombination der Erscheinungen B. b. und A. 3 . d. darstellt. 
Wenn man dieses Schema, das wie alle anderen unvollstandig 
und mangelhaft ist (da ja bald Falle gefunden werden konnten, die 
in keine der vielen Facher dieses Schemas genau passen), betrachtet, 
so fallt sogleicb die aussergewohnliche Verschiedenheit und die sehr 
voneinander differierende Morpbologie der von mir als thyreogen 
aufgefassten Erscheinungen und Syndrome auf, und es ist auch in 
der Tat diese Verschiedenheit so gross, dass bei vielen ernster Zweifel 
sich erheben wird, ob solche so differenten Krankheitsbilder wohl auf 


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Ober Hypotbyreoidie. 


131 


dieselbe Ursache zuriickzufuhren seien, und ich bore bereits die An- 
nahme aussern, dass ich yon Einseitigkeit befangen bin und die hete- 
rogensten Syndrome nnter einen Hot zu bringen suche. Von vorn- 
herein will ich diese Beschwerden gegen meine Auffassung widerlegen.. 
An erster Stelle rechtfertigt die grosse Vielseitigkeit der Funktion der 
Thyreoidea die Annahme einer mindestens ebenso grossen Vielseitigkeit 
der Funktionsstdrungen. Und an zweiter Stelle wiinsche ich nur zu 
beweisen, dass alle im Schema angefiihrten Erkrankungen und Er- 
scheinungen thyreogenen Ursprungs sein konnen, aber keineswegs 
dass sie es per se immer sein miissen. Dabei gelangen wir von 
selbst auf eine schwache Stelle in unserer Kenntnis der Pathologie: 
wir sprechen immer yon Krankheiten, meinen aber in der Tat fast 
immer Symptomenkomplexe, wahrend oft die eigentliche Krankheit, 
d. h. die Art, das Wesen und das Entstehen der Erscheinungen, uns 
Yollkommen entgeht. Vor allem finden wir dies in der Psychiatrie 
sebr oft: allerlei Erscheinungen, die oft kombiniert auftreten, werden 
als eine Krankheit beschrieben, wahrend meistens nicht einmal das 
primarkranke Organ bekannt ist. Erst wenn wir ganz genau wissen, 
welche Erscheinungen konstant bestimmten anatomischen und funk- 
tionellen Lasionen eines bestimmten Organes (oder ernes Teiles des- 
selben) entsprechen, erst dann diirfen wir yon einer Krankheit reden. 
Und durch diese Lakune in unserer Kenntnis kommt es dann sehr 
haufig Tor, dass Symptomengruppen, die morphologisch und also 
ausserlich viel einander gleichen, als eine bestimmte „Krankheit“ 
beschrieben werden, wahrend in der Tat die Pathogenese in den ver- 
schiedenen Fallen sehr yoneinander verschieden ist. Des ofteren 
bereits habe ich darauf hingewiesen, dass das, was wir Epilepsie 
nennen, keine Krankheit, doch nur ein Symptomenkomplex ist, der 
bei einer ausserordentlich grossen Reihe yon Erkrankungen auftreten 
kann. Jede Epilepsie ist denn auch symptomatisch oder sekundar; 
zu den zahlreichen Alterationen, die den epileptischen Symptomen¬ 
komplex hervorrufen konnen, gehort auch die Hypothyreoidie. Diese 
thyreogene Epilepsie stimmt denn mit dem iiberein, was man unter 
genuiner Epilepsie yerstehen muss, namlich eine Krankheit ohne primare 
Alterationen (welcher Art auch immer) im Gehirn. Was in der 
Literatur als ^genuine" Epilepsie beschrieben wird, ist jedoch oft ein 
Syndrom, das auf dieser oder jener zerebralen Ursache (meistens 
Meningoenzephalitis) beruht. Es ist schade, dass diese Falle genuiner 
(thyreoparathyreogener) Epilepsie numerisch weit in der Minderheit 
sind: waren alle Epilepsien thyreogenen Ursprungs, dann wiirden sie 
alle gut heilbar sein, wie es mit den wirklich genuinen Fallen in der 
Tat der Fall ist. Und yon Migrane kann man genau dasselbe sagen: 


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einige Falle beruhen, wie ich bereits ausfuhrlieh dargelegt babe, oline 
Zweifel auf Hypothyreoidie; demgegenfiber steht jedoch, dass die 
grosse Mehrzabl der Falle die Folge zahlloser anderer kausalen Mo- 
mente ist (vieler organischen Gehirnerkrankungen, Krankheiten der 
Nase und dessen Nebenhohlen, allerlei endogener und exogener Intoxi- 
kationen usw.). 

Dasselbe kann, meine icb, yon alien anderen im Schema genannten 
Syndromen gesagt werden: sie konnen auf Hypothyreoidie beruhen, 
doch sind keineswegs per se an diese gebunden, da sie ancb von 
allerlei anderen Erkrankungen abhangig sein konnen. Speziell wie 5 
icb darauf hin, dass ich die Neurasthenie und die Dementia praecox 
durchaus nicht als thyreogenen Ursprungs betrachte. Im Gegenteil, 
ich glaube, dass die meisten Falle von Neurasthenie nichts mit der 
Hypothyreoidie zu tun haben, wahrend diese letztere nur in einigen 
Fallen die Ursache eines Syndroms ist, das wir bis jetzt nicht aus 
der grossen und heterogenen Gruppe der Neurasthenie absondern 
konnen. Von der Dementia praecox gilt dasselbe. Wie sogleich aus 
der Kasuistik sich ergeben wird, verfuge ich fiber einige Falle, die 
klinisch den Eindruek einer leichten Dementia praecox machen und 
die ich dann auch nicht anders bezeichnen kann. Doch dass fibrigens 
die zweifellose Dementia praecox eine Folge von Insuffizienz der Schild- 
drfise sein soil, ist gar nicht feststehend: einige Forscher, u. a. Lemei, 
hatten sehr gfinstige Resultate mit Thyreoid behandlung der Dementia 
praecox, doch ich selbst war mit diesen Resultaten niemals besonders 
zufrieden. Andere, u. a. einige amerikanische Psychiater, meinen denn 
auch im Gegenteil mit einer Hyper- oder Dysthyreoidie zu tun zu 
haben und glauben denn auch gerade durch partielle Thyreoidektomie 
gute Ergebnisse erzielt zu haben. Von Gicht gilt dasselbe: es scheint 
nun wohl festzustehen, dass bestimmte Falle von Gicht — vielleicht 
ist es richtiger von gichtischer Diathese zu sprechen — die Folge von 
Hypothyreoidie sind, doch es scheint mir ebenso festzustehen, dass 
Gicht ebensogut von anderen Storungen abhangig sein kann. Wahr- 
scheinlich sollen wir unter den familiar auftretenden Fallen, wobei 
also erbliche Faktoren eine grosse Rolle spielen und aussere Einflusse. 
wie Alkoholismus, weniger in den Vordergrund treten, die meisten 
Falle thyreogener Gicht antreffen. Ebenso hat sich otters heraus- 
gestellt, dass thyreogene Migrane erblich ist. In diesem Zusammen- 
hange darf erinnert werden an die Auffassung Trousseaus, dass 
namlich Gicht einen wichtigen Platz einnimmt unter den Komplikationen, 
die bei Migraneleidern auftreten konnen: „ Gicht und Migrane sind 
Schwestern." Diesen Ausspruch unterschreibe ich vollkommen, in der 
Bedeutung, dass eine bestimmte Form der Gicht (die thyreogene) mit 


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Uber Hypothyreoidie. 


m 


einer bestimmten Art Migrane, namlich der thyreogenen oder genuinen, 
pathogenetisch nahe verwandt ist. 

Nach dieser Erorterung wird es deutlich sein, dass alle genannten 
Syndrome thyreogenen Ursprnngs sein konnen, es aber nicbt sein 
miissen. 

Gehen wir nan zu einer kurzeo Besprechung unseres Materials iiber. 

1 . Einfache Herabsetzang der Magen- und Darmsekretion. 

Fran X., 24 Jahre; ist seit eiu paar Jaliren verheiratet und hat ein 
Kind von ungefahr 6 Monaten. War frflhor immer gut gesuud, und fo 
weit es mOglich war, dies zu erfahren, nicht erblich belastet. Wochenbett 
normal. War in letzter Zeit nervOs, vcrmutlich unter dein Einflusse aller- 
lei Susserer Umstande. Allmfthlich wurde ihr Appctit gcringer, sie bekam 
selbst einen Ekel gegen das Essen, und konnte vor allem kein Fleisch 
mehr essen oder riechcD, wahrend sie dagegen frflher niemals einen Wider- 
willen gehabt hatle. Gar bald musste Patientin dabei erbrechen, sogar 
selbst so stark, dass sie fast nichts mehr im Magen behalten konnte, 
sondern alles unmittelbar wieder ausbrach, so dass sie schnell und selir 
stark abmagerte. Oft fiel dabei auf, dass die Nahrung — auch war sic ein- 
mal viel langer in dem Magen geblieben — vollkommen unverdaut wieder 
kerauskam; auch StOckchen gekochtes Eiweiss knmen unverandert zurOclr. 

Eine Ofter angestellte Untersuchung des Mageninhalts naeli einem 
ProbefruhstOck brachte zutage, dass niemals freie Salzsaure vorhanden 
war. KOntgenogranime zeigten nichts, was an Ulkus, Stenose oder welche 
anatomische Litsion auch (Dilatation, Pylorusspasmus) hatte denken lassen 
kOnnen. Ferner keine schmerzhafton Druckpunkte, bei Palpation ist nichts 
zu ftihlen von Tumor, Infiltration oder Vcrhartung. Diagnose: funktionelle 
MagenstOrungen. Behandlung mit rektaler Einspritzung von SchilddrOsen- 
pressaft brachte ziemlich schnell eine stets weitergehende Besserung. 

In diesem Falle, der friiher hochst wahrscheinlich als „nervose 
Dyspepsie" betitelt ware, haben wir also wahrscheinlich mit Hypo¬ 
thyreoidie zu tun, und ist der Gang der Geschehnisse wie folgt: Die 
deutlich vorhandenen emotionellen Momente wirken auf das sympa- 
thische System ungiinstig ein und diese wieder in demselben Sinne 
auf die Thyreoidea; es entsteht Funktionsverminderung dieser letzteren 
und dadurch starke Reduktion der Salzsaure- und Fermentsekretion 
im MageD. Auch die wahrend der langdauernden Brechperiode vor- 
handene Konstipation verschwand unter dem Einflusse der Thyreoid- 
behandlung. 

Auch die bei Kindern so oft auftretenden Dyspepsien sind, 
wenigstens bei einem Teil der Falle, die Folge einer voriibergehenden 
Hypothyreoidie. Es liegt wobl sehr auf der Hand, anzunehmen, dass 
bei Kindern, yor allem wenn sie stark wachsen, wohl zeitweise hohe 
Anforderungen an die Thyreoidea gestellt werden konnen, so dass 
diese dann wahrend kiirzerer oder langerer Zeit leicht insuffizient 
wird. Wenigstens ist es mir gelungen, in einigen Fallen, in denen 


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Boltex 


trotz sehr sorgfaltiger Regelung der Diat und bei Abwesenheit tod 
Infektionen doch mehr oder weniger periodische Magendarmstorungen 
mit Darmfaulnis auftraten, diese durch regelmassige Thyreoideingabe 
vollkommen zum Verschwinden zu bringen. Die in solchen Fallen 
vielfach angewendete Behandlung, Eingabe yon sehr verdiinnter Salz* 
saure per os, ist denn anch nur symptomatisch und irrationell und 
kann darum besser durch Thyreoidbehandlung ersetzt werden. Was 
die letzte betrifft, so babe icb immer dieselbe Bebandlung (zugleich 
die m. E. ausschliesslicb rationelle) angewendet, namlicb: rektale Ein¬ 
gabe friscben Pressaftes. 

Geben wir nun zur zweiten Gruppe iiber, namlicb zu denen, die 
iiberwiegend oder ausscbliesslich Erscbeinungen zeigen, die wir als 
Stoffwechselstorungen ausehen miissen. Natiirlich ist biermit nicbt 
gemeint, dass in diesen Fallen die Hypothyreoidie yereinzelt Stoff¬ 
wechselstorungen verursacht, aber wohl, dass fur uns nur diese letzten 
wahmebmbar sind, wahrend hocbst wahrscbeinlich andere Folgen der 
Schilddriiseninsuffizienz unserer Andacht ganz entgeben. 

Zu dieser grossen Rubrik mochte icb dann die Gicht recbnen 
(yielleicht isb es richtiger von einer gichtischen Diatbese zu sprecben), 
die konstitutionelle Fettsucht und die Dercumsche Krankheit. 

Eine echte Stoffwechselkrankheit ist sicherlicb die Gicht, bei der 
Harnsaure in alierlei Geweben angehauft wird; ich kann keineswegs 
ein Urteil fallen, ob Gicht stets dieselbe Pathogenese hat und immer 
die Folge von Hypothyreoidie ist. Ich hatte niemals Gelegenheit, 
Falle mit vollstandigem klinischen Bilde, namlich mit den charak- 
teristiscben Gicbttopbis und mit den eigenartigen Anfallen usw., zu 
studieren. Doch ich habe wohl einige Falle beobachtet, bei denen 
die Erscheinungen ganz und gar die Diagnose „leichte Form der 
Gicht" rechtfertigten, und bei denen wir dann von einer gichtischen 
oder Azidumurikum-Diathese sprechen. Dabei habe ich von einer 
Bestimmung des Harnsauregehaltes des Blutes abgesehen, da fur eine 
solche Untersuchung eine ziemlich grosse Menge Blutes notig ist, und 
ein solcher Versuch bei Kranken, die poliklinisck behandelt werden, 
wohl nicht moglich ist. Bei zwei der drei hier beschriebenen Falle 
war, abgesehen von den Gichterscheinungen, ausserdem eine deutliche 
Neigung zur Adipositas festzustellen. 

Wie allgemein bekannt ist, gehbrt die Ischias zu einer der viel 
vorkommenden Erscheinungen der Gicht; die Ischias ist die Folge 
von Harnsaureanhaufungen in den Ligamenta ileo-sacrale long, et brev. 
und deren Umgebung und beruht auf Zirkulationsstorungen und auf 
leichtem Druck, der auf die Aste des Plexus sacralis ausgeiibt wird. 
Die Ischias ist also die direkte Folge der Gicht und steht in einem 


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Ubcr Hypothyreoidie. 


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mittelbaren ursachlichen Verbande mit der Hypothyreoidie. Und wie 
es wohl selbstverstandlich ist, beruhen yiele andere Falle yon Ischias 
auf zablreichen ganz anderen Ursachen (dyskrasische und toxamische 
Zustande, Neuritides, Riickenmarkserkrankungen, Knochen- und Ge- 
lenkserkrankungen, Beckenfcumoren, Lues usw.), die mit der Hypo¬ 
thyreoidie weder direkt noch indirekt etwas zu tun haben. 

Auch yon der Gicht fand icb bis jetzt nirgends rermeldet, dass 
sie in bestimmten Fallen auf Hypothyreoidie beruhen solle. Doch 
liegt diese Annahme im Hinblick auf den innigen Verband zwischen 
Thyreoidea und Stoffwechsel auf der Hand. 

Ein paar Beispiele mogen naher erlautern, welche Falle ich hier- 
bei im Auge habe. 

1. de M., 40 Jahre, Bauunternehmer. Kr&ftig gebauter Mann, mit 
ausgezeichnct entwickeltem Muskel- und Knochensystem. Stammt aus einer 
gesunden Familie, in der keine Gicht, aber wohl ein einziger Fall von 
Migrhne vorkommt. Hat Anlage zur Adipositas, obwohl er niemals Alkobol 
trinkt und Qbrigens vollkommen massig lebt. Seit vielen Jabren Klagen 
liber webe Schmerzen im Steiss, im Geshss und in den Beinen, links starker 
als rechts; ferner fortwahrendes Geftthl der MQdigkeit in den Beinen. 
Objektiv ist wenig zu finden; die Rander des Sakrums sind immer ziem- 
lich druckempfindlicb, links starker als rechts; im Gebiete des Nervus 
cutaneus feraoris post. (3. Ast des Plexus sacralis) bestebt deutlich Hyp- 
asthesie und Hypalgesie, im Ischiadikusgebiet hier und da herabgesetztes 
TastgefQhl. Die Reflexe (sowohl Haut- als Sehnenreflexe) sind Qberall vor- 
banden und etwa normal. Nur der Fersenreflex ist beiderseits selir niedrig. 
Trophische Stbrungen der Haut, des subkutanen Zellgewebes und der Nagel 
fehlen. Wohl hat Patient oft ein Kaltegefllhl in den Beinen; die Schweiss- 
exkretion ist niedrig. Lues wurde geleugnet; Wassermann negativ; die 
rohe Kraft ist Qberall sehr gut. Patient aussert seine Klagen bereits 
viele Jahre, bat sehr viel gedoktert, bat immer fQr einen Neurastheniker 
gegolten, bat dann auch reicblich Brom und zahllose andere Antineuralgika 
geschluckt, dock alles ohne eine Spur bleibenden Resultates. Ehrlich will 
ich bekennen, dass auch ich langdauernde therapeutische Versuche mit 
ihm gemacht habe, doch eine lange fortgesetzte Behandlung mit Elektrizitat 
(Faradisation, „haute frequence", Vierzellenbad), mit Massage und mit 
heissen Badern lieferte sehr geringen Erfolg. Schliesslich brachte mich 
seine Neigung zur Fettsucht, bei Qbrigens sehr einfacher Lebensweise, auf 
dm Gedanken der 'SchilddrQseninsuffizienz, und die dabei passende Behand¬ 
lung hatte gar bald viel bessere Ergebnisse, als alle frhheren medikamen- 
tosen und mechanisch-physischen Behandlungen. 

2. W., 48 Jahre, Rechtsanwalt. Stammt aus einer Familie von Gich- 
tikern; in der Familie seines Yaters kommt vielfach Gicht und konsti- 
tutionelle Fettsucht vor, in der Familie seiner Mutter gleichfalls viel Gicht 
und ein Fall von MigrQne; Neurosen und Psychosen kommen Qbrigens in 
der Familie der Eltern uicht vor. Patient selbst war immer kerngcsund, 
verfOgt Qber einen ausgezeichneten Intellekt und grosse Arbeitskraft, doch 
hatte er wihrend seines langdauernden Aufenthaltes in Indien bei Qbrigens 

Deutsche Zeitschrift t. Nervenheilkande. Bd. 57. 10 


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Bolten 


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sonst mftssiger Lebensweise viel unter Fettsucht zu leiden, die bisweilen 
sehr stark and dadarch aasserordentlicb hinderlich war. Nor durcb „be- 
stimmt, Hunger zu leiden“, wie Patient sich ausdrflckt, konnte er die Fett- 
sucht einigermaBen im Zaum halten. Ferner bekam er in Indien auch 
gar bald Gichtbeschwerden; er befolgte stets die ihm vorgeschriebene Difit, 
doch krfinkelte er immer. Einige Karen in Karlsbad brachten ihm nur 
zeitliche Besserung. Nun bat Patient vor allem Klagen fiber Ischias, die 
hauptsfichlich rechts sitzt. 

Patient ist ein krfiftig gebauter Mann, bei dem objektiv wenig zu 
finden ist; er zeigt die bekannten schmerzhaften Druckpunkte der Isclfias, 
die Rfinder des Os sacrum sind sehr druckempfindlich, ebenso wie die zwei 
untersten Lendenwirbel. An den Haut- und Sehnenreflexen ist nichts be- 
sonderes wahrzunehmen, Trophische StOrungen der Haut, der Haare, Nflgel 
und des subkutanen Zellgewebes fehlen fiberall vollkommen. Lues wird 
negiert; Wassermann negativ. Patient lokalisiert seine Schmerzen haupt- 
s&chlich, doch nicht ausschliesslich im Ischiadikusgebiet; auch in Gebieten, 
die vom Plexus lumbalis init Geffihlsfasern versehen werden, gibt Patient 
spontane Schmerzen an; so u. a. in der vom N. cutaneus femoris ant. ext. 
innervierten Hautpartie. W&hrend in der Regel Kranke mit Neuralgien 
versichern, dass Wflrme einen angenehmen und erleichternden Einfluss aus- 
fibt, gibt in diesem Falle Wftrme gerade immer Anlass zur Verschlimrae- 
rung der Schmerzen. 

Sorgfaltige Diatregelung und allerlei physische Behandlungen, u. a. 
Massage und „haute frequence", geben nur eine teilweise, ziemlich bald 
wieder verschwindende Besserung. Dagegen bringt Tbyreoidbehandlung 
eine viel grOssere und ziemlich schnell auftretende bleibende Verminderung 
der Beschwerden. 

3. van W., 42 Jabre, Kontorbeamter. Stammt aus einer gesunden 
Familie, in der keine Psychosen und Neurosen vorkommen; nur soli seine 
Mutter ein wenig nervfls sein. Ist niemals schwerkrank gewesen und hat 
von Kinderkrankheiten nur Maseru gehabt; keine Lues noch GonorrhOe. 
Hat seit vielen Jahren Erscheinungen doppelseitiger Ischias und schraerz- 
hafte Fosse; gegen das letztere Obel hat er bereits Plattfussohlen ge- 
tragen, doch ohne irgendeinen Erfolg. Objektiv ist nicht viel zu finden: 
Patient zeigt die bekannten schmerzhaften Druckpankte der Ischias, nie- 
drige Fersenreflexe, keine GefOhlsstOrungen, keine StOrungen in der Moti- 
litfit. Die Gelenke der Mittelfussknochen sind geschwollen und bei Druck 
sehr schmerzhaft, die Beweglichkeit hat stark abgenommen; diese Erschei¬ 
nungen sind rechts deutlicher als links. Trophische StOrungen fehlen, nur 
die Haut scheint etwas trocken; von Tabes und neuritjschen Prozessen ist 
nichts zu finden, nervOse und psychische Erscheinungen nicht vorhanden. 
In diesem Falle wurde viel schneller als im ersten die richtige Therapie 
gefunden und an Hypothyreoidie gedacht. Die Schilddrfisenbehandlung 
hatte sehr gute Ergebnisse: sowohl die Ischiaserscbeinungen als die arthri- 
tischen (auch die objektiv wahrnehmbare Schwellung und die verringerte 
Beweglichkeit) verschwanden schnell. 

Hochst wahrscheinlich sind solche Falle gar nicht so selten; 
wenigstens meldet Hertoghe bereits die Schwellung und Schmerz- 
hafligkeit der Gelenke als eine sehr haufig vorkommende Erscheinung 


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Cber Hvpothyreoidie, 


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der Hypothyreoidie. Wie sich jedoch wohl von selbst versteht, be- 
ruben zahlreiche andere arthritische Storungen nicht auf Hypothyreoidie, 
sondern auf allerlei Infektionen oder auf Intoxikationen mit Bak- 
teriengifben. Mein bescheidenes Material hat mir kerne Gelegenheit 
verschafft, zu untersucheu, welche klinischen Besonderheiteu uns in- 
standsetzeu konnen, den thyreogenen Urspruug der Arthritis bereits 
festzustellen, bevor die Ergebnisse der Thyreoidbehandlung uns zu 
einem solchen Ausspruch ermachtigen. 

Ferner werden allgemein die konstitutionelle Fettsucht und die 
Dercumsche Krankheit zu den thyreogenen Stoffwechselstorungen 
gerechnet. Was die erste betrifft, so komme ich ganz und gar zu 
demselben Ergebnis. Nur will ich darauf hinweisen, dass der viel- 
verkiindigte Ausspruch, dass die Thyreoidbehandlung (und damit wird 
stets Eingabe getrockneter Schilddriisentabletten oder von Thyreojodin, 
Thyreoidin usw. gemeint) nur die konstitutionelle Fettsucht beeinflusst 
und nicht die erworbene Adipositas (infolge yon Diatfehlern), nicht 
ganz richtig ist: zahlreiche Male hat sich mir ergeben, das3 Thyreoid- 
tabletten bei langdauemdem, wenn auch sehr massigem Gebrauch 
per se immer zur Pulsbeschleunigung und auch zur Abmagerung 
Anlass geben, auch bei Personen, die keine Spur konstitutioneller 
Fettsucht zeigen. So habe ich oftmals Kranken, bei denen ihrer 
psychischen Storungen wegen eine lange fortgesetzte rektale Eingabe 
yon Pressaft weniger gut durchzufiihren war, Schilddriisentabletten 
(zu experimentellen Zwecken) eingegeben, docb auch bei sehr massigem 
Gebrauch (1—2 Tabletten a 0,2 Gramm per Tag) trat auf die Lange 
der Dauer doch immer einige Abmagerung und Pulsbeschleunigung 
auf, Erscheinungen, die bei Eingabe frischen Pressaftes, selbst in 
grossen Mengen, niemals zum Vorschein kamen. Wohl ergab sich, 
dass der Pressaft sehr wirksam ist bei konstitutioneller Fettsucht; 
trotz erhohten Appetite, der unter dem Einfluss der Behandlung sich 
einstellte, wurde doch eine regelmassige Abnahme der Obesitas erreicht. 

Falle der Adipositas dolorosa (Dercum) habe ich niemals behandeln 
konnen; diese Erkrankung ist sehr selten, und darum kommt man 
nicht leicht zu einer eigenen praktiscben Erfahrung in dieser Krankheit. 
Wie bekannt, treten bei dieser eigenartigen Krankheit sowohl allge- 
meine Adipositas wie zahlreiche zirkumskripte, subkutane und sehr 
schmerzhafte Geschwiilste auf; weiter oftmals Glukosurie, Muskel- 
schwache und bisweilen starke Apathie. Nur sehr wenige Falle sind 
pathologisch-anatomisch untersucht; meistens wurden degenerative 
Strukturveranderungen in der Schilddriise gefunden, und einige Male 
ein Karzinom -der Hypophyse. Inwiefem in die3em letzten Falle 
die Schilddriise von der Funktionsreduktion der Hypophyse gelitten 

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hat, ist nicht za sagen. Wohl steht fest, dass die Hypophyse, die 
Thyreoidea und das chromaffine System in engem funktionellem Zu- 
sammenhang miteinander stehen. Auch ist bekannt, dass bei Hunden 
nacb Hypophyseexstirpation regressive Veranderungen in der Schild- 
driise auftreten. Schliesslicb ist nocb von Belang, dass oftmals bei 
der Adipositas dolorosa durch Thyreoideingabe gute Ergebnisse erzielt 
warden. Uber Resultate mit Hypophysepraparaten ist nirgends etwas 
za linden. 

Ubrigens gilt von der Fettsucht, wie von alien anderen hier be- 
sprochenen Syndromen und Erscheinungen, dass sie nicht per se 
thyreogenen Ursprangs zu sein braucht. Falta unterscheidet nicht 
weniger als vier Arten von Fettsucht, die alle auf Storungen in der 
inneren Sekretion beruhen sollen, namlich: 

1 . die pankreatogene Form. Diese ist jedoch beiin Menschen 
mit Sicherheit noch nicht festgestellt; allerlei Tatsachen and Wahr- 
nehmungen weisen jedoch darauf hin, dass eine solche Form sehr 
wahrscheinlich wohl besteht; 

2 . die thyreogene Fettsucht. Falta sagt hieriiber, dass diese 
Form durchaus nicht immer gleich leicht festzustellen ist, da andere 
Erscheinungen der Hypothyreoidie oft vollkommen lehlen. Die Dia¬ 
gnose wird jedoch sicher, wenn, wie so oft geschieht, die Thyreoid- 
therapie schnelle und auffallende Ergebnisse erzielt. Falta nennt 
denn auch die Eingabe von Schilddriisenpraparaten eine Untersuchung 
nach dem Stande der Thyreoidfunktion, 

3 . die Dystrophia adiposo-genitalis. Diese beruht auf einer Hypo- 
physeerkrankung, doch bei dem iunigen Zusammenhang zwischen 
dem glandularen Teil der Hypophyse und der Thyreoidea konnte doch 
auch diese letztere durch das Fortfallen der Hypophysefunktion funk- 
tionell beschadigt sein. Doch spricht das gewohnlich sehr geringe 
Ergebnis einer Thyreoidbehandlung bei dieser Form stark gegen den 
sekundar-thyreogenen Ursprung; 

4 . die epiphysare Fettsucht. Auch das Bestehen dieser Form ist 
noch nicht absolut sicher, da bei den wenigen in der Literatur be- 
sehriebenen Fallen auch bisweilen an die Moglichkeit einer Hypo- 
physenbeschadigung gedacht werden muss. Diese Fettsucht tritt auf 
u. a. bei Erwachsenen infolge Tumoren der Epiphyse. 

Sehr wichtig fur die Eenntnis der Hypothyreoidie ist die dritte 
Gruppe unseres Schemas, welche die Falle umfasst, in denen allerlei 
Erscheinungen auftreten, die nicht anders betrachtet werden konnen 
als die Folge chronischer Intoxikation, hervorgerufen durch die Thy- 
reoidinsuffizienz. Als erstes Syndrom ist dabei die genuine (thyreo¬ 
gene) Migrane erwahnt. Schon Hertoghe, dessen grosse Verdienste 


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Uber Hypothyreoidie. 


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aaf dem Gebiete der Schilddriisenpathologie ich bereits gemeldet habe, 
hat diese Form bescbrieben; nach ibm haben Levi und Rothschild 
in ihrer bereits genannten interessanten Monographie ausfiihrliche Mit- 
teilongen darfiber gemacht, und weiterhin haben andere, meistens 
franzosische Forscher, von der „Migraine thyroidienne" Meldung ge¬ 
macht. Doch allgemein hat diese Auffassung sich nicht Bahn gebrochen; 
Flatau macht nur so nebenbei davon Meldung und hat offenbar selbst 
solche Falle nicht beobachtet, und e3 darf sicherlich Verwunderung 
erwecken, dass Falta, mit Biedl einer der grossten Kenner der 
Physiologic und Pathologic der inneren Sekretion, nichts fiber die 
thyreogene Migrane meldet und auch in seiner Literaturangabe die 
Mitteilungen Levis und Rothschilds nicht anfuhrt. Ich selbst ver- 
ffige fiber verschiedene Falle rein thyreogener Migrane. Da ich diese 
bereits anderswo bescbrieben habe und ich an derselben Stelle eine 
ausfiihrliche Erklarung des Entstehens und des Wesens der thyreo- 
genen Migrane gegeben habe, und zugleich auf den Parallelism us der 
Pathogenese verschiedener Arten Migrane und verschiedener Arten 
Epilepsie hingewiesen habe, soli hier nicht naher darauf eingegangen 
werden. 

Weiter weise ich auf die ursprfinglichen Mitteilungen von Her- 
toghe, Levi und Rothschild u. a. bin. Nur will ich noch neben¬ 
bei die Andacht darauf lenken, dass das Nebeneinanderauftreten der 
Migrane und der Gicht bereits ofter festgestellt ist. Dabei wird denn 
oft als Erklarung vorausgesetzt, dass die Stoffwechselprodukte, die bei 
Gicht eine Rolle spielen, die Ursache der Migrane sein sollen. Dies 
ist m. E. nicht ganz rich tig: in den Fallen, bei denen Gicht und Mi¬ 
grane kombiniert vorkommen, haben wir es mit zwei Syndromen zu 
tun, die beide 'die Folge derselben Erkrankung, namlich Hypothy¬ 
reoidie, sind. 

Auch fiber die interessante chronische Autointoxikation, die wir 
genuine Epilepsie nennen, wollen wir hier nicht sprechen, da ich 
bereits frfiher ausfuhrlich dargelegt habe, dass eine bestimmte Form 
der Epilepsie besteht, die ganz und gar mit dem Begriffe „genuine“ 
Epilepsie fibereinstimmt (im Sinne Reynolds und Binswangers), 
die auf einem stark defekten Stoffwechsel infolge Hypothyreoidie (und 
Hypoparathyreoidie) beruht. Und diese Form der Hypothyreoidie ist 
m. E. die schwerste Ausserung der Intoxikation; infolge einer wahr- 
scheinlich stark verringerten Intensitat allerlei fermentativer Prozesse, 
sowohl im Darmtrakt als im intermediaren Stoffwechsel, werden viele 
Zwischenprodukte des Nahrungsstoffwechsels und vermutlich ebenso- 
sehr allerlei toxische Produkte unsere3 eigenen Zellstoffwechsels un- 
vollkommen abgebaut und dadurch unzureichend entgiftet. Diese. 


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Toxine baufen sich langsam in der Gehirnrinde an, und hat diese 
Anhaufung ihr Maximum erreicht, so erfolgt die Entladung, der epi- 
leptische Anfall. Bei genuiner Epilepsie finden wir also eine schwere 
Intoxikation, die fast regelmassig, wenigstens bei sehr lange dauerndem 
Bestehen, zur Demenz fiihrt. Wenn auch von dieser Regel ziemlicb 
viele Ausnahmen yorkommen, so ist doch bei der thyreogenen (genu- 
in en) Epilepsie die Intoxikation viel schwerer als bei der tbyreogenen 
Migrane, da bei der letzteren wohl bin und wieder eine leicbte Be- 
nommenbeit auftritt, docb niemals eine ecbte Demenz. Wie bereits 
gesagt, ist thyreogene Epilepsie ziemlich selten im Vergleicb mit den 
iibrigen Epilepsien, und bier sehen wir wobl am deutlichsten, dass 
ein Syndrom, das thyreogenen Ursprungs sein kann, auch durcb allerlei 
andere Erkrankungen verursacht werden kann. Die kliniscben Eigen- 
tiimlicbkeiten eines solchen Symptomenkomplexes sind denn auch an 
und fur sich selten oder niemals hinreicbend, den tbyreogenen Ursprung 
festzustellen, und dies gilt ziemlicb wobl fur alle moglichen Er- 
scbeinungen und Syndrome, die thyreogenen Ursprungs sein konnen. 

Bei Gicbt werden ofter allerlei Nebenerscheinungen angetroffen, 
z. B. in der Form vielerlei leichter trophischer Storungen der Haut, 
sowie eines Ekzems, welche, wie wir gleich seben werden, auf Sym- 
pathikushypotonie beruben und also indirekt die Folge der Bypothy- 
reoidie sind, so dass solcbe trophischen Storungen eyentuell imstande 
sind, uns einen Fingerzeig auf den Ursprung der gleicbzeitig vorhan- 
denen Gicht zu schaffen. Bei genuiner Epilepsie dagegen sind diese 
trophischen Storungen sehr selten: bei meinem Material genuiner 
Epilepsie sab icb so gut wie niemals trophische Storungen der Haut, 
Nagel, Haare usw., die da ein Vermuten auf Hypothyreoidie hiitten 
erwecken konnen. Warum diese Storungen im einen Falle stark in 
den Vordergrund treten, wahrend sie im anderen yollkommen fehlen, 
iat vorlaufig schwer zu erklaren. Vermutlicb miissen wir die Hypo¬ 
thyreoidie als eine Ausserung kongenitaler Minderwertigkeit auffassen, 
zu der ausser der Funktionsreduktion der Schilddriise noch eine 
gleichfalls kongenitale Uberempfindlichkeit binzukommen kann, und 
die3e letztere, die klinisch fur uns ein vollkommen unbekannter und 
nicbt nachweisbarer Faktor ist, aussert sich wabrscbeinlich bei den 
verscbiedenen Individuen auf die verschiedenste Weise: bei dem einen 
ist die Gehirnrinde iiberempfindlicb, bei einem zweiten das sympa- 
thische System, bei einem dritten ist nur der Stoffwechsel verzogert, 
und ein yierter hat wieder einen anderen „Locus minoris resistentiae". 

Ganz anderer Art sind hingegen die Vergiftungserscheinungen, 
die bei einer dritten Gruppe auftreten, und bei denen namlich keine 
periodischen Entladungen auftreten, wie bei der Migrane und der 


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Cber Hypothyreoidie. 


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Epilepsie, sondern bei denen fortwahrend leicbte Storungen wahrzu- 
nehmen sind, die wir zu den nervosen Erscbeinangen recbnen, and 
die noch am besten in das Eader der Neurasthenic passen. Auch bier 
lenke icb unmittelbar die Aufmerksamkeit darauf, dass icb keineswegs 
bebanpten will, dass die Neurastbenie immer die Folge von Hypo- 
thyreoidie sei; im Gegenteil, icb glanbe, dass die Mebrzabl der Falle 
es nicht ist. Ich will denn auch nur zeigen, dass einige Falle, die, 
was die Art ibrer Erscheinungen betrifft, wobl von jedem Kliniker 
zu der Neurastbenie gerechnet werden wiirden, die Folge von Storungen 
der Schilddrusenfunktion sein konnen. Das folgende Beispiel, das icb 
fur das treffendste halte, mdge dies naher erklaren. 

R., 42 Jahre, ostindischcr Haupt beam ter, ist schwer erblicb belastet: 
seine beidcn Eltern waren. schwer ueuropathiscb, sein Bruder ist irrsinnig, 
seine Schwestern leiden gleichfalls an NervenstOrungen. Patient hatte 
stets einen ausgezeichneten Intellekt und bat auch flott seine akademischen 
Studien vollendet nnd ist bald danach nach Indien abgefahren. Lebte 
stets sehr mSssig: trank fast niemals Alkohol, rauchte nicht und war ancb 
auf sexuellem Gebiete immer mfissig; bat niemals Lues oder GonorrkOe 
gehabt. Arbeitete auch immer sehr regelmSssig und lebte ausserst hygie- 
nisch und rubig; trotzdem hat Patient sein ganzes Leben lang gekrankelt. 
Immer hat er an Kopfschmerzen gelitten, war schnell ermfidet und konnte 
schlecht schlafen. Dabei war er ttberempfindlich gegen Larm und Gewfthl, 
so dass er stets for sich lebte und sich so wenig wie mOglich in Gesell- 
scbaft zeigte; lebhaftes Sprecken ermiidete ihn, er wurde dann scbwindlig, 
kongestiOs, reizbar und scblief danach noch scblecbter als gewOhnlich. 
Hinzu kam noch bereits seit vielcn Jahren eine deutliche Abnahme der 
Potenz trotz seines stets sehr m&ssigen sexuellen Verkehrs. Nun vor zwei 
Jahren rausste er von Indien fort: er konnte die Warme nicht mehr er- 
tragen, wurde unruhig, angstlich. reizbar und benommen, so dass er seine 
Arbeit nicht mehr tun konnte. (Patient hatte einen schwierigen Wirkungs- 
kreis, durch den er fortdauernd mit der inlandischen BevOlkerung in Be* 
rQhrung kam); auch sein Gedachtnis wurde schwacher. Ausserdem wurde 
Patient in Indien stets scbnell korpulenter trotz einer sehr geeigneten Diat 
und trotz vollkommener Alkoholabstinenz. Auf sein Verlangen wurde er 
dann in eine Berggegend, also in ein ktlhleres Kliraa versetzt, und die 
Fettteibigkeit verschwand dann ebenso rasch wie sie gekommen war. 

Objektiv ist am Patienten sehr wenig wahrzunehmen. Er sieht bleich, 
trttbe und in sich gekehrt aus; seine Haut ist einigermaBen dflrr und 
trocken; sein Ausseres ein wenig verfallen. Die Klagen sind noch stets 
dieselben: Schlechtschlafen, verringerter Appetit und leichte Impotenz, 
Lustlosigkeit, scbnelle Ermttdung, Reizbarkeit, allgemeine Oberempfindlich- 
keit usw. Herdsymptome sind nicht zu finden; Haut- und Seknenrcflexe 
normal; Storungen im Intellekt, im Gedachtnis und in der Merkffihigkeit 
sind objektiv nicht wahrnehmbar. Bisweilen klagt Patient fiber Ekzem und 
starkes Jucken der Oberschenkel; in der Tat ist an den genannten Stellen 
einige Rote mit urtikariaartigem Exanthem zu sehen. 

Trotzdem mir Patient das erste Mai nichts von seiner schnell auf- 
tretenden Adipositas in den Tropen (ohne dass Diatfekler gemacht waren) 


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erzdhlte, brachten seine Beschwerden inicb auf den Gedauken, dass die/se 
. Neurastbenie in einer Schilddi Oseninsuffizienz ibre Ursacbe finden mftssc. 
Die zu dieser Annahrae passende Behandlung batte gar bald sehr gute 
Ergebnisse: nach and nach besserten sich alle Erscheinungen sowohl sub- 
jektiv wie objektiv: der Appetit, die Potenz und das Sehlafen wurden 
besser, die Gesicbtsfarbe wurde friseber and gesunder, das Jacken and der 
Hautansscblag verschwanden, ebenso wie die Reizbarkeit upd die allgemeiue 
Oberempfiudlicbkeit usw. 

Eine andere Gruppe Erscheinungen, die gleichfalls vom. zeutralep 
Nervensystem herriihren und auf Hypothyreoidie beruhen, sind un- 
moglich auf das Bild der Neurasthenic zuriickzufiibren. Sie gleicben 
einigermaBen der.leicbten Form der Dementia praecox, und, ich kann 
denn auch keinen anderen Namen dafvir finden, doch will sie iibrigens 
durebaus niebt indentifizieren mit dem vollstandigen Bilde der De¬ 
mentia praecox. Im Gegenteil; ich babe bereits mitgeteilt, dass ich bei 
zweifellosen und kompletten Fallen der. Dementia praecox so gut wie 
keine merkbaren Resultate der- -Schilddriisentherapie sab. Und dies 
im Gegensatz zu Lemei, der auffallend gute Resultate erzielt zu baben 
meint. Meine Funde sebliessen sich vollkommen denen Scbnitzlers 
an, der bei einer grossen Menge Falle der Dementia praecox niebt die 
geringste Besserung durch Scbilddruseneingabe eintreten sah. Obwobl 
meine Falle, wie sich ergebenwird, doch wobl einige Cbereinstimmung 
mit einer leiebten Dementia praecox zeigen, mussen sie offenbar doch 
als etwas ganz anderes betraebtet werden. Die zwei folgenden Falle 
mbgen dies naher erlautern. 

1. K., 32 Jahre, Mobeltischler, verheiratet. Soil au« einer leiclit neu- 
ropathischen Familie staninien; sein Bruder sowie seine Schwestern sind 
alle etwas nervOs, doch ausgesprochene Neurosen oder Psychosen komnieu 
in der Familie ftberhaupt nicht vor. 1st immer gesund gewesen, konnte 
in der Schule gut lernen und seine Arbeit als Mobeltischler stets sehr gut 
verrichten. Ungefflhr vor einem Jahr fing Patient jedoeh ohne fiussere 
nachweisbare Ursache an zu kr&nkeln. Er konnte seine Arbeit nicht mehr 
verrichten, begriff nicht, was der Patron ihm auftrug, verpfuschte seine Ar¬ 
beit und hatte auch nicht die geringste Lust melir zum Arbeiten. Er 
wurdc natQrlich entlassen, seine Familie geriet in grosse ArmutJ und alles, 
selbst sein Handwerksgerat musste verkauft werden. Unter all diesen 
Schlfigen blieb Patient doch geduldig; alles liess ihn kalt, er war sich 
seines wahren Zustandes offenbar gar nicht bewusst und ausserdem war 
sein affektives Leben stark abgestumpft; die Potenz hatte stark abgenommen. 
Zu Hause war denn auch nichts mit ihm anzufangen, und er wurde darum 
zur Observation in ein Krankenhaus gebracht. Er unterzog sich dort einer 
Ruheknr, und objektiv war an ihm nichts wabrzunehmen, und Patient ver- 
liess das Krankenhaus nach ein paar Monaten wieder und schien gebesswt. 
Doch zu Hause ergab sich sehr bald, dass sein Zustand vollkommen uh- 
veriindert geblieben war und also ebensowenig mit ihm anzufangen war, 
Darauf kam Patient in meine Behandlung. Er ist cin langer junger Mann 


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Uber Hypothyreoidie. 


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mit gut entwickeltemKnochen- und Muskelsystem, doch von auffallend bleichem 
Ausseren and mit sebr weiten Pupilleu. {Jbrigens 1st wenig zu finden, 
kein einzigcs Herdsymptom nocli somatisclie Symptome, nocli irgendeine 
Erscheinung von MyxOdem, nirgenrls tropbische Storungen. Jedoch sind 
deutliche psychiscbe StOrungen vorbanden; der Intellekt hat abgenommen: 
mit Kopfrechnen geht es schlecht, und zwar viel scblecbter als in seinen 
Schuljahren; das Gedftchtnis bat nachgelasstn und aucb die Merkf&higkeit 
ist deutlich geslOrt; ausserdem kann Patient seine Andacht schwierig 
irgend worauf lenken; ein Buch kann er nicht. lesen, weil er das Gelesene 
nicht begreift und nicht in sich anfnehmen und festhalten kann. Meistens 
liegt er im Bett und starrt wesenlos vor sich hin. Yon seiner Umgebung 
nimmt er sehr wenig Notiz, auch mit seiner Frau spricht er, wenn diese 
zu Besuch kommt, nur sehr wenig. Er ftlhlt sich gar nicht wohl in seiner 
Umgebung und will denn auch gern wieder nach Hause, obwohl er zu- 
gibt, dass er doch nicht zum Arbeiten kommt. Appetit nicht gross, 
schlafen unruhig und sehr abwechselnd. Obgleich keine bestimmten kata- 
tonen Zustande wahrzunehmen sind, gleicht sein tagliches Tun und Lassen 
dem doch sehr viel: er kann, wenn er ausser Bett ist, sehr lange in der- 
selben Haltung sitzenbleiben (oder stehen), starrt vor sich hin, und 
meistens ist ein ausserer Unistand nOtig, seine Haltung zu verandern. 

Bei diesem Patienten wurde die ScliilddrQsenbebandluDg tatsachlich 
rein experimentell eingesetzt, doch die Ergebnisse Obertrafen die Er- 
wartungen: nach ein paar Monaten drang Patient selbst stark auf Ent- 
lassung an; er war inzwischen viel besser und lebendiger geworden, konnte 
eine Zeitung wieder lesen und eine vierstellige Zahl 3 Tage lang gut be- 
halten usw. Und bald nach seiner Entlassung kam seine Frau und teilte 
mir mit, dass ihr Mann nun wieder ganz der alte ware; er hatte sich $o- 
gleich nach Arbeit umgesehen und diese gefundeD, tat seine Arbeit gut 
und mit Lust, kurz es war an Patient nichts mehr zu bemerken. 

Es ist schwierig, einer derartigen Zusammenhaufung zerebraler 
Erscheinungen den richtigen Namen zu geben, und ich gebe zu, dass 
n dementia-praecoxartige w Erscheihungen eine nicht ganz richtige Um- 
schreibung ist, da daran viel von dem, was bei einer kompletten 
Dementia praecox zu finden ist, mangelt. In jedem Fall jedoch miissen 
wir feststellen, dass wir es hier mit einem organisch-zerebralen Pro- 
zesse zu tun liaben, der im "VVesen nicht anders aufgefasst werden 
kann als ein allgemeiner Abbauprozess, eine beginnende Demenz. 
Von rein funktionellen Storungen kann dabei keine Rede sein: wahrend 
seines Aufenthaltes im Krankenhause sind beim Patienten regelmassig 
Antitrypsinenbestiihmungen des Blutes vorgenommen worden, und 
dabei ergab sich die antitryptische Kraft des Blutserums standig als 
viel zu hoch. Eine solche Erscheinung kommt bei rein funktionellen 
Storungen niemals vor und deutet immer auf einen organischen Pro- 
zess. Angesichts der Erscheinungen des Kranken und der vollkom- 
menen Abwesenheit jeder anderen Krankheit oder Abweichung, die 
zu einer Vermebrung der Blutantitrypsinen fiihren konnte, muss hier 


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Boltek 


also der zerebrale Prozess wohl als ein Abbauprozess betrachtet werden. 
Elinisch war also eine beginnende Demenz rorbanden, die jedoch 
noch nicht weit genug fortgeschritten war, am, auch bei Beseitigung 
der Ursacbe, noch wahrnehmbare Sparen za hinterlassen. 

Der folgende Fall ist von uns nur poliklinisch behandelt and wird 
darum sehr verkiirzfc mitgeteilt. 

2. Fr. F., 45 Jahre. Ist immer gut gesund gewesen and seit ein 
paar Jahren verheiratet, hat keine Kinder gebabt; zeigt nun beginnende 
klimakterische Storungen: die Menstraation wurde unregelmAssig, and 
Patientin ffthlte sich unwohl, lustlos, reizbar usw. In der letzten Zeit ist 
sie jedoch auffallend benommen and gehemmt: sie kann nichts tun, nicht 
denken, nichts behalten, nichts verarbeiten, kurz „sie hat den Kopf ganz 
and gar nicht inehr beisammen“. In der Tat macht sie den Eindrock 
grosser Benommenheit, and es sind der Intellekt, das Gedachtnis and die 
Merkfohigkeit auch objektiv deatlich vermindert und gestOrt. Zeichen von 
Myxddem fehlen vollkommen, ebenso wie Herdsymptome und somatische 
Erscheinungen; Wassermann negativ. Die Gesichtsfarbe ist sehr bleich, 
die Haut nicht auffallend trocken und nirgends gesehwollen oder mit tro* 
phischen Storungen. Der Appetit ist verringcrt, der Schlaf ziemlich gut, 
Patientin kann ihre kleine Haushaltung nicht wahrnehmen. Behandlung 
mit Thyreoidprflparaten batten sehr guten Erfolg. 

Nan liegt die Annahme nahe, dass eventuell im Klimakterium 
auffcretende Storungen abhangig sein miissen von der verminderten 
Ovarialfunktion, doch es scheint so, als ob dies nicht der Fall ist: 
in dem hier beschriebenen Falle und in noch einem anderen, sogleich 
zu meldenden, hatte die Eingabe von Ovarialtabletten (Merck) nicht 
den geringsten Einfluss, auch nicht bei ziemlich langandauerndem 
Gebrauche, wahrend die Schilddriisenbehandlung viel bessere Ergeb- 
nisse lieferte. 

Vielleicht miissen wir annebmen, dass die Geschlechtsdriise (so- 
wohl die mannliche wie die weibliche) einen tonisierenden Einfluss 
auf die Thyreoidea ausiibt, und dass also bei Verringerung der Ge- 
schlechtsdriisenfunktion auch die Schilddriise dadurch in ungiinsti- 
gem Sinne beeinflusst wird. 

So behandele ich eine leicht neuropathische Dame, die sich 
gleichfalls im Klimakterium befindet and dabei allerlei Storungen zeigte: 
Kopfschmerzen, Obelkeit, Appetitmangel, schlechtes Schlafen, Schwindel 
und dabei ein paarmal Ohnmachtsanfalle. Sie fiihlte diese Ohn- 
macht ankommen, konnte sich gerade noch auf einen Stuhl setzen, 
hatte dann einige Augenblicke das Gefiihl, als „sollte sie aus der Welt 
gehn“ und kam dann wieder langsam za sich. Auch diese Frau habe 
ich langere Zeit Ovarialtabletten gebrauchen lassen, doch ohne irgend- 
einen Erfolg, wahrend dagegen die danach vorgenommene Schild- 
driisenbehandlung gar bald viel bessere Ergebnisse lieferte. 


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L’ber Hypothyreoidie. 

Auch noch bei einer anderen Patientin mit nervbs-klimakterischen 
Sidrungen (Herzklopfen, Schwindel, scHnelle Ermiidung, Riickenschmer- 
zen, erregtes Gefiihl, scblechtes Schlafen usw.) hatte eine Thyreoid- 
behandlung ziemlich schnell yiel bessere Ergebnisse, ala die Eingabe 
Ton Ovarialpraparaten. 

Einen sehr wichtigen Platz in den Folgen der Hypothyreoidie 
nimmt die in unserem Schema znletzt genannte Grnppe ein, namlich 
die sekundaren Storungen, welche anf Erscheinungen zuriickgefiihrt 
werden miissen, die anf Sympathikushypotonie bernhen. Anch hierbei 
sehen wir wieder das Merkwiirdige, dass in manchen Fallen noch 
wohl einige andere Tatsachen zu finden sind, die schliesslich auch 
anf Hypothyreoidie hinweisen konnen, wahrend in anderen Fallen 
trophische Storungen oder auch eine nur unter bestimmten Umstanden 
zutage tretende Abnahme de3 Regenerationsvermogens der Haut als 
das einzig wahrnehmbare Zeicben der Reduktion der Sympathikus- 
funktionen angesehen werden miissen. Und auf experimentellem Wege 
stellt sicb dann wieder heraus, dass diese Sympathikushypotonie thy- 
reogenen Ursprungs ist. Auch in diesen Fallen drangt sich stets 
wieder die Bemerkung in den Vordergrund (und ich fiible sehr wobl 
den Kern der Wahrheit, den sie enthalt), dass solch ein therapeutisches 
Experiment doch nur eine Hilfsmethode ist, um auf Hypothyreoidie 
schliessen zu konnen. Doch so lange wir nicht iiber bessere und 
wissenschaftlichere Methoden verfugen, um einen Einblick in den 
Stand der Tbyreoidfunktion zu bekommen, miissen wir uns wohl mit 
den von uns angewendeten Methoden behelfen. Und kein Geringerer 
als Falta nimmt diese Metbode in Scbutz, wenn er sagt, dass die 
Erzielung oder Nichterzielung guter Ergebnisse durch eine Thyreoid- 
behandlung eine zuverlassige Probe der Thyreoidfunktion ist. Vor- 
laufig sind wir also yerpflichtet, durch therapeutische Versuche nach- 
zugehen, ob die eventuellen Sympathikushypotonien die Folge einer 
Hypothyreoidie oder aber anderer Ursachen sind, die, sei es langs 
toxamischem "Wege, sei es durch anatomische Lasionen, die Sympatbikus- 
funktionen beschadigen. Und auch bei dieser Gruppe Syndrome ver- 
steht es sich wohl von selbst, dass in vielen Fallen die Sympathikus¬ 
hypotonie nicht auf Hypothyreoidie beruhen wird, doch auf vielerlei 
anderen Ursachen. lmmerhin die trophischen Fasern der Haut miissen 
wir in den sensiblen und vasomotorischen Nerven (siehe hieruber 
Cassirer u. a.) suchen, und dass diese Nervenelemente auf zahlreicbe 
Arten funktionell beschadigt werden konnen (endogene und exogene 
Toxine, anatomische Lasionen usw.), ist wohl selbstverstandlicb. 

Die hier gemeinte Sympathikushypotonie aussert sich in ver- 
schiedener Art: einmal ist es eine allgemeine Rote der Haut mit 


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leichter Atrophie des subkutanen Zellgewebes and allerlei anderen 
Eigentiimlichkeiten, wie wir sie bei der neuritischen Glanzhaut („ Glossy 
skin 1 *) antreffen, dann wieder sind es mebr schuppenartige, rotfarbige 
„Plaques“, die aus verhartetem und zusammengeschrumpftem Epitbel 
betehen, dann wieder finden wir einfache Atrophie mit sekretorischen 
und vasomofcorischen Storungen (kalte und trockene Haut, einmal mit 
Hyperhydrosis), und ein andermal ist es ein ziemlich scbarf begrenztes 
(zirkumskript) Odem der Haut. Wieder in anderen Fallen finden 
wir ekzemartige Erkrankungen, bisweilen deutliche Herpeseruptionen 
und dann wieder eine ortliche Schwellung, und Zyanose der Haut, 
eine pastose Verdickung der blauroten Haut der Finger mit starker Ab- 
schalung, und also ein Bild, das auf den ersten Blick der Raynaud- 
schen Krankheit gleicbt oder einem stark ausgesprochenen Fall yon 
Frosthanden ahnelt. In sehr seltenen Fallen bestebt nur ein ver- 
mindertes oder aufgehobenes Regenerafcionsvermogen der Haut. 

Von dieser letzteren sebr merkwiirdigen Erscbeinung kann ich 
ein sebr interessantes Beispiel mitteilen. 

Frl. M., 20 Jabre, unverheiratet, Dienstmadchen; ist angenscheinlich 
ein kerngesundes M&dchen, das niemals krank gewcsen ist und von Kinder* 
krankheiten nur Masern gehabt hat. Kommt ins Haagschc Krankenhans, 
weil eine kleine Hautwunde, die sie sicb am linken Oberschenkel durch 
Stoss zugezogen hat, nicht heilen will. Die Wunde ist seit drei Monaten 
unver&ndert und schliesst sicb nicht. W&hrend Patientin ganz ruliig im 
Krankenhans liegt, bildet sich pldtzlich eine zweite, noch kleinere Wunde 
oberbalb der ersten (in der GrOsse eines halben Guldens). Da diese voll- 
kommen reaktionslos aussieht mit trockenen, ziemlich hochanfstebenden 
Rfindern, werden diese RSnder fortgenommen. Darnach wird die Wunde 
fortdauernd sorgfaltig behandelt und mit Nitras argenti eingepinselt, dock 
jede Epithelbildung blieb ans. Nachdcm nun dann geraume Zeit allerlei 
Mittel angewendet waren und sich nicht die geringste Besserung zeigte, 
entschloss man sich zu einer plastischen Operation: ein aus dem rechten 
Unterschenkel genommener gestielter Lappen wurde in die Hautwunde ge- 
legt, und dieses Stack wuchs ganz normal fest. Alles schien ganz nach 
Wunsch zu gehcn, bis es Zeit war den Lappenstiel durchzuscbneiden: 
darnach schmolz das eingepflanzte Slttck alimahlich wie „Schnee vor der 
Sonne“ weg, und gar bald war nichts mehr davon Qbrig, und die alte 
Hautwunde, die inzwischen durch die bereits vermeldete Exzision ungef&hr 
die Grflsse eines Reichstalers erhalten hatte, kam wieder in all ihrer 
Nacktheit zum Vorschein, und ausserdem sass Patientin nun noch mit ihrer 
kQnstlichen Wunde am rechten Bein, die gleichfalls keine Spur einer Reak- 
tion zeigte. Darnach hat man monatelang alles versucht: Pinseln, Priess- 
nitzumschlage, alle mOglichen reizenden Salben und Flhssigkeiten, die die 
heutige Apotheke liefern kann, sehr langdauernde Behandlungen mit 
„Ei'fluves“ von hoehfrequenten Wechselstrdmen, alles, zu viel um es zu 
nennen, wurde versucht, doch alles vergebens. Die Wunde blieb reaktions¬ 
los und blutete ausserdem bei jedera Verbandwechsel ziemlich stark. Am 


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Ober Hypothyreoidie. 


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jBein selbst war nichts zu findon, was diese ungewfthnlichen Erscbeinungen 
erklaren konnte: die Haut sieht Qberall vollkommen normal aas, es sind 
weder trophische, noch sekretorische noch vasomotorische Stbrungen vor- 
banden; wohl bcstehen kleine Varizes, doch diese kOnnen das verschwundene 
Regenerationsvermdgen der Haut nicht erklftren. An Herz und Gefassen 
ist nichts zu finden; Infektionskrankheiten sind niemals aufgetreten. NatOr- 
lich wird an Lues gedacht, doch davon ist nichts zu spllren, und die Re- 
aktion von Wassermann ist (Ofter vorgenommen) negativ. Es wird an 
Hysterie gedacht, obwohl kein einziges Stigma zu finden ist, und Patientin 
ausserdem in ihrem Tun und Lassen das Gegenteil einer Hysterica ist; 
Gipsverbande, in denen sich Patientin unter keinen Umst&nden rtthren 
kann, hndern auch nichts an der Sache. Die Wunden bleiben wie sie stets 
waren, und ausserdem ist Patientin vom Regen in die Traufe gekommen, 
denn auch die Wunde, die durch die Exzision der gestielten Lappen her- 
vorgerufen wurde, wird so gut wie um nichts kleiner. Nachdem ver- 
schiedene Spezialisten ihr Licht Ober diesen merkwQrdigcn Fall hatten 
leucliten lassen— stets jedoch ohne zu irgendeinem Resultat zu gelangen — 
kamen wir zu der Annahme, dass hier Insuffizienz der Thyreoidea im 
Spiel sein kOnnte, und in der Tat stellte sich auch heraus, dass dies der 
Fall war. Behandlung mit Tbyreoidpr&paraten brachte schnell und auf- 
fallend gttnstige Ergebnisse, da innerhalb 6 Wochen alle Defekte voll¬ 
kommen ausgeheilt waren. 

lch betrachte diesen Fall als sebr merkwiirdig, weil hier nur 
eine zufallig an den Tag tretende und so gut wie vollstandige Auf- 
hebung des Regenerationsvermogens der Haut die einzige uns erkenn- 
bare Erscheinung der Hypothyreoidie war. Auch als einmal unsere 
Ansicht in diese Richtung gelenkt war, konnte bei dieser Kranken 
nichts entdeekt werden, was gleichfalls auf Schilddriiseninsuffizienz 
hatte hinweisen konnen. Die meisten Kranken mit Hypothyreoidie 
haben eine bleiche Oder fahle Gesichtsfarbe und eine mebr oder we- 
niger diirre, trockene Haut, und nicht selten findet man einige Sym- 
ptome, die wir im allgemeinen mit „nervos" andeuten, und auch ein 
einziges Mai zeigte sich ein leichter Schwindel, Benommenheit, Kopf- 
schmerz, Depressionsgefiihl, Apathie, leichte Gedachnisschwache usw. 
Doch von alledem war nichts zu finden: Patientin hatte ein beson- 
ders frisches und gesundes Ausseres, war stets sehr lebenslustig und 
frohlich, ass, trank und schlief stets gut, zeigte keine einzige nervose 
Erscheinung und sollte, hatte sie nicht die ausserst hartnackigen Haut- 
defekte gehabt, als ein Urbild der Gesundheit angesehen werden konnen. 
Darum war in diesem Falle die Diagnose so ausserordentlich schwierig 
zu stellen, und aus dieser Mitteilung kann man denn wenigstens lernen, 
dass wir bei einem derartigen aufgehobenen Regenerationsvermogen 
der Haut bei nicht vorhandener Lues, Tabes und anderen etwaigen 
Ursachen an die Moglichkeit einer Hypothyreoidie denken miissen. 

Wie gesagt, dachte man hier auch an die Moglichkeit der Hysterie. 


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Boltex 


Immerhin sind trophische Storungen der Haut in allerlei Formen wie 
Eruptionen (vor allem Urticaria und Herpes, ferner Purpura, Pem¬ 
phygus usw.), (Mem und selbst Gan gran oft bei hysterischen Kranken 
bescbrieben, yor allem durch die franzosische Schule u. a. yon Char¬ 
cot, Gilles de la Tourette, Pitres, Dutil, Tuffier u. a. (siehe 
hieriiber Athanassio, Binswanger u. a.). Bei alien diesen trophisch- 
neurotischen Storungen, worauf wir bier nicht naber eingeben werden, 
muss an yier Moglichkeiten gedacbt werden: 1. sie sind reine Kunst- 
produkte, also die Folge yon Selbstyerwundung oder Selbstmisshand- 
lung; 2. sie beruben auf (hysterischen) Gefassstorungen (Konstriktoren- 
krampf oder Vasodilatatorenlahmung); 3. sie entsteben langs auto- 
suggestiyem Wege, wie sie ebenso aucb im hypnotischen Schlaf durch 
Suggestion zum Vorschein gerufen werden konnen (Forel u. a.) und 
4. diese trophiscben Storungen baben nicbts mit der Hysterie an sich 
zu tun, sondern beruben auf einer anderen selbstandigen Erkrankung. 
Von diesen yier Moglichkeiten konnen wir die erste und dritte un- 
besprochen lassen, da in yielen Fallen ein derartiger Gang der Ge- 
scbebnisse hinreichend nachgewiesen ist. Docb die zweite Moglichkeit 
zur Erklarung dieser Hauterkrankungen ist yielleicht nicht unanfecht- 
bar; es steht meines Erachtens durcbaus nicht fest, sondern es ist im 
Gegenteil sehr unwahrscheinlich, dass die Hysterie als solche zu der- 
artigen aussergewohnlich hartnackigen Storungen in der Gefassinner- 
vation Anlass geben kann, dass dadurcb die yielen soeben bereits 
genannten trophisch-neurotischen Hauterkrankungen entstehen sollten. 
Immerhin, allerlei bysterische Erscbeinungen sieht man meistens wieder 
einmal yerschwinden, bisweilen selbst sehr plotzlich, um spater, unter 
dem Einfluss neuer psychischer Traumata, wieder ebenso plotzlich 
zum Vorschein zu kommen. Aber die bier gemeinten Erscheinungen 
der Haut sind ausserordentlich hartnackig, und trotz sorgfaltigster 
Bebandlung und unter Bedingungen, die jede Moglichkeit einer Selbst* 
verwundung oder Selbstraisshandlung ausschliessen, sieht man diese 
Storungen selten oder niemals verschwinden, Darum glaube icb denn 
auch, dass wir in diesen Fallen diese trophiscben Storungen nicht 
der Hysterie als solcher zuschreiben diirfen, docb einer gleichzeitig 
vorhandenen Hypotbyreoidie. Eine solche Kombination ist an und 
fur sich bereits wahrscheinlich und als haufig vorkommend anzu- 
nebmen, da beide, die Hysterie wie die Hypotbyreoidie, auf kongeni- 
taler Minderwertigkeit beruhen, bei denen also erbliche Momente eine 
grosse Rolle spielen. Und in diesem Zusammenhange muss darauf 
hingewiesen werden, dass Pitres als eine Merkwiirdigkeit bei hyste¬ 
rischen Kranken das Ausfallen gesunder Zahne meldet, wahrend Her- 
toghe diese Erscheinung gerade als eine Ausserung der Hypotbyreoidie 

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Uber Hypothyreoidie. 


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beschreibt. Dasselbe gilt vom Ausfallen (herdweise) der Haupt- and 
Barth&are: diese Erscbeinung ist bei Hysterie beschrieben, wahrend 
es gleichfalls zum Syndrom Hertogbes (hypothyroidie chroniqne 
benigne) gehort. Es ist denn anch meine Oberzeugung, dass in solcben 
Fallen der Hysterie gleicbfalls die Hypothyreoidie im Spiel ist. So 
babe icb sehr lange Zeit einen Hystericus behandelt, der viele klassische 
Erscbeinnngen der Hysterie zeigte und sich einmal den Puls zwischen 
einer zuschlagenden Tiir klemmte. Die dadurch entstandene Haut- 
verwundung beilte nicht aus bei polikliniscber Bebandlung, und da 
an kiinstliches Offenbalten der Wunde gedacht wurde, scbickte man 
ihn ins Krankenbaus, docb aucb dort blieb jedes Resultat aus. Trotz 
aller moglicben Bebandlungen — zu viele, um sie zu nennen — wurde 
der Hautdefekt keinen Millimeter kleiner; aucb Gipsverbande, die jede 
Moglichkeit einer Selbstmissbandlung ausschlossen, anderten daraa 
nicbts. Und dieser Eranke zeigte, wie ich spaterbin feststellen 
mnsste — er ist seitdem gestorben und damals bin icb nicbt auf den 
Qedanken gekommen — ein ziemlich vollstandiges Bild der Hypo- 
thyreoidie: fable, bleicbe Haut, Gelenkscbmerzen, Beklemmungsgefiihl 
auf der Brust, Apatbie, Lustlosigkeit, leichte Benommenbeit usw. 
Habe icb nun also in diesem Falle nicbt den Beweis liefern konnen, 
dass das aufgebobene Regenerationsvermogen der Haut auf Hypo- 
thyreoidie beruht, so verfiige icb doch wohl fiber FMle trophiscber 
Storungen „bei Hysterie“, die nicht als eine Erscheinung der Hysterie 
an sich angemerkt werden konnen, doch als eine Ausserung einer 
gleichzeitig vorhandenen Hypothyreoidie. 

II., Brieftrflger, 28 Jahre, unverhciratet. 1st erblich belastet: seine 
Matter ist sehr nervds, ebenso wie alle Geschwister des Patienten. In der 
Schule konnte er gut lernen, doch begann er mit dem 21. Jahre zu krftnkeln: 
er war weniger lebhaft, oft IrQbe gestimmt, sein Ged&chtnis und sein In- 
tellekt liessen nach, und dies ist seitdem so geblieben. Auch jetzt noch 
ist er sehr empfindlich gegen Larm; laqfen viele Menschen um ihn, dann 
macht ihn das unruhig und unstet. Er Kann seine (sehr einfache) Arbeit 
gut verrichten, doch kostet es ihm oft viel Anstrengung, und sein weniger 
gutes Gedachtnis spiell ihm wohl noch einmal einen Streich. Ausserdem 
zieht sich Patient sehr leicht etwas an: erzahlt jemand etwas von Krank- 
heit Oder anderem Elend, dann muss er weggchen, sonst muss er weinen. 
Ausserdem hat Patient seit sieben Jahren unter zwei ganz anderen Er- 
scheinungen zu leiden: er hat AnfSlle von Beklemmung, die ganz unregel- 
mfissig und unerwartet auftreten und bisweilen so heftig sind, dass er 
„Dach seinem Atem schnappen muss", und weiter hat er an beiden Hflnden, 
an der Streckseite, ausgedehnte, symmetrische, trophische StOrungen. 
Wfthrend ca. sieben Jahren ist diese Hautkrankheit unverandert bestehen 
geblieben, trotz feuchter Einpackungcn, Einpinselungen, Trockenverbande, 
zahlloser reizender Salben, Arsenikgebrauch und was noch sonst alles. 
Lues wird bestimrot geleugnet, Wassermann negativ. 


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Patient ist ein einigermassen bleicb aussehender, gut gebauter jnnger 
Mann, der keine einzige Erscheinung von MyxOdem zeigt. Objektiv ist 
wenig bei ihm zu finden: eine Spur Anisokorie ist vorhanden (rechte Pu- 
pille etwas weiter als die linke; die Pupillen sind ziemlich weit und rea- 
gieren prompt auf einfallcndes Licht und Konvergenz). Weiter sind einige 
hysterische Stigmata da: es bestehen Pharynxanhsthesie, eine ziemlich 
grosse Uberempfindliehkeit der Wirbelsftule (Spinalirritation) und viel 
schmerzbafte Druckpunkte an der Brust und am Bauch (Ovarie usw.) Die 
Rcflexe sind m&ssig lebhaft und ergeben nichts Besonderes. Zuffille hat 
er niemals gehabt, wohl einmal Schwindelanf&lle; er schlaft ziemlich schlecbt 
und trftumt oft schwer und unruhig. An der Haut beider Arme ist nichts 
Bisonderes zu sehen; an der Streckseite der Handc ist die Haut und das 
subkutane Zellgewebe atrophisch; die Haut ist etwas glatt und glanzend, 
trocken und wenig elastisch: auf der oberen Handflache befindet sich, 
beiderseits fast vollkommen symmetrisch, eine ungefahr talergrosse Partie 
mit einer herpesartigcn Eruption: es gibt da viele, mit heller Flftssigkeit 
gefQllte Herpesblftschen und dazwischen viele kleine nekrotische Stellen, 
deren Epidermis verschwunden ist. Diese Stellen sehen wie Exkoriationen 
aus (wie wir oft nach einem Trauma sehen). Es ist dort fast keine Granu¬ 
lation zu sehen. Diese kleinen nekrotischen Stellen sind fast niemals ge- 
schlossen, und wenn sie doch einmal dicht granulieren, gehen sie bald 
darnach wieder auf. Im Laufe von sieben Jahren hat sich diese Partie 
mit den Herpesbliischen nicht an GrOsse Oder Umfang geandert. Weder 
Temperatur noch Jahreszeit tlbte irgendeinen Einfluss darauf aus. 

Diese trophischen Storungen erweckten bei uns die Vermutung, — da 
irgendein anderer urs&chlicher Prozess, wie Neuritides, Syringomyelie 
und andere organische Erkrankungen des Nervensystems nicht nachweisbar 
waren — dass sie die Folge von Storungen der Thyreoidfunktion seien. 
In der Tat batten Eingaben von SchilddrOsenpr&paraten auffallende Er- 
gebnisse: innerhalb zwei Monaten waren die trophischen StOrungen ver¬ 
schwunden, und ausserdem batten sich des Patienten Gedhclitnis und In- 
tellekt merklich gebessert; seine psychische Uberempfindliehkeit istjedoch 
unverftndert geblieben. 

Ohne Zweifel ist dieser Patient ein Hystericus, und die bei ihm 
vorhandenen trophischen Storungen der Haut sind, sei es auch in 
sehr verschiedenen Formen, bei der Hysterie oft beschrieben. Doch 
wie Lewandowsky mit Recht bemerkt, sind diese trophischen 
Storungen nicht die Folge der Hysterie als solcher, sondern von 
binzukommenden, selbstandigen Faktoren (abgesehen natiirlich von den 
sehr zahlreichen Fallen, in denen diese Storungen nichts anderes als 
Kunstprodukte sind). Speziell der Herpes zoster gangraenosus (Kaposi), 
die Hautgangran (Ehrl) und die hysterische, multiple, neurotische 
Hautgangran will Lewandowsky, wie Cassirer, nicht als die Folgen 
der Hysterie als solcher betrachtet sehen. Obwohl psychische Einfliisse 
trophische Storungen verursachen konnen (Grauwerden der Haare 
nach einem Schrecken, Ausfallen der Haare nach einem Unfall usw.), 
sagt Lewandowsky mit Recht, dass die genannten trophischen 


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Cber Hypothyreoidie. 


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Storungen nicht die Folge der Hysteric sein konnen, doch dass dafur 
eine grosse Labilitat der Vasomotoren notig ist. Doch diese abnormal 
grosse vasomotorische Labilitat konnen weder Lewandowsky noch 
Cassirer erklaren, und darum wird ein Novum, die „hysterophile 
Erkrankung" durch Lewandowsky aufs Tapet gebracbt. Doch diese 
„hysterophile“ Erkrankung ist nur eine sinnlose Wortkombination, an 
die iiberhaupt kein Begriff sich knupfen lasst. Immerbin, die grosse 
Empfindiichkeit der Haut nnd die Neigung zu trophischen Storungen 
sind, wie sowobl Cassirer als auch Lewandowsky betonen, keines- 
wegs aus individueller Verschiedenheit der Vasomotoren zu erklaren, 
und nimmt man auch das Bestehen von rein trophischen Nerven an, 
so ist es doch nicht gut moglich, diese trophischen Hautveranderungen 
bei der Hysterie einfach als Folgen psychogener Einfliisse auf die 
trophischen Nerven' aufzufassen. Zur Erklarung der Tatsachen ist 
also die „hysterophile Erkrankung" von keinem Werte, doch wohl 
kann die Physiologie der Thyreoidea dabei grosse Dienste leisten: 
die Schilddriise ist der „Tonisator“ des Sympathicus, so dass infolge 
von Hypothyreoidie eine Sympathicohypotonie entsteht und auf diesem 
•Wege und nicht anders sind die zahlreichen und sehr verschiedenen 
trophischen Hautstorungen bei der Hysterie zu erklaren. Lewandowsky 
sagt denn auch mit Recht: „die typischen Bilder der hysterischen 
Hautgangran Jjrauchen eine besondere Disposition, die auch ohue 
Hysterie vorkommt und auch ohne Hysterie zum Auftreten trophischer 
Hauterkrankungen fuhren kann". In der Tat ist dies vollkommen 
wahr, wenn wir nur ..Disposition" durch „Hypothyreoidie“ ersetzen: 
diese letztere tritt oft selbstandig auf, doch ist sie auch oft mit der 
Hysterie kombiniert, und in diesen letzten Fallen treffen wir dann die 
verschiedenen hier gemeinten trophischen Storungen der Haut an. 
Diese letzten sind dann jedoch die Folge der Hypothyreoidie und 
haben mit der gleichzeitig vorhandenen Hysterie keinen direkten 
kausalen Verband. 

In der Tat sind solche trophischen Storungen der Haut, die auf 
Schilddriiseninsuffizienz beruhen, auch bei Abwesenheit von Hysterie 
nicht selten. Vielleicht kommen diese Storungen ziemlich viel bei 
hohem Lebensalter vor, und dies wiirde von grossem Interesse sein 
im Zusammenhang mit der von Horsley entwickelten Theorie, dass 
die Ursache der senilen Involution in Schilddriiseninsuffizienz zu 
suchen ist, ebenso wie die von Rum mo beschriebenen prasenilen Er- 
scheinungen (..Geroderma genicodistrophico"). Von dieser senilen 
Hypothyreoidie ein einziges Beispiel. 

X., 85 Jahre; kerngesunder, intellektuell ausgezeichnet entwickeltcr 
alter Herr, nicht erblich belastet. In der letzten Zeit klagt er Ober Kopf- 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 11 


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and Gelenkschmerzen, ab and za ieichte Ged&cbtnisscbwftche and trophische 
StOrangen an beiden Armen. Die Hant ist einigermassen dttrr and trocken; 
beide Arme zeigen, symmetrisch and vor allem an der Streckseite, ein 
Erytkem, mit einigen Herpesblascben, rotvioletten Flecken und hier and 
da Schuppenbildung. Die Arme jucken gewaltig, Patient kann nicht durch- 
schlafen and kratzt sich fortwfthrend die Haut auf. MedikaroentOse Be- 
bandlung (Streupulver, feu elite Umschlage, allerlei Salben) hilft nichts; da- 
gegen wird durch Eingabe von Thyreoidprftparaten ziemlich scbnell eine 
sehr merkbare Besserung erzielt. 

Vermutlich sind solche thyreogene trophische Storungen gar nicht 
selten; njein Material ist jedoch nan noch nicht gross genug, urn 
dariiber ein Urteil abgeben zu konnen. Dabei vergesse man nicht, 
dass solche Kranken selten oder niemals sich an den Nenrologen, 
sondern vielmehr an den Dermatologen wenden, so dass es ftir mich 
schwierig ist, ein grosses Material dieser Art za sammeln. 

Wohl kann ich noch einen interessanten Fall yon zirkamskriptem 
Hautodem mitteilen, der sich gleichfalls als die Folge der Hypo- 
thyreoidie heransstellte. Die (verkurzte) Krankheitsgeschichte laatet 
wie folgt: 

F., 28 Jabre, unverheiratet, Mineningenieur. Stammt von gesanden 
Eltern, in dessen Familie keine Neurosen oder Psycbosen vorkommen. 
Brflder und Schwestern des Patienten gleichfalls alle gesund. Bis zam 
21. Jabre war Patient vollkommen gesund; ohne nachweipbarc Ursachen 
bekam er dann Schwellungen der Weichteile des Gesichtes, besonders aber 
der Nase und beider Wangen. Schmerzen hat er dabei niemals gehabt, 
Fieber vermutlich ebensowenig; Umst&nde, die auf irgendeine (Ortliche 
oder allgemeine) Infektion hinweisen kOnnten, konnte Patient nicht angeben. 
Sein Intellekt und sein Gedftchtnis waren stets sehr gut, und daran hat 
sich auch nichts geftndert. Beschwerden von dieser Erkrankung hatte er 
wenig; hin undwieder erschienen herpesartige Eruptionen mit Krusten- 
bildung und spkterer Abschaiung, doch diesc Eruptionen verschwanden 
nach langerer oder kOrzerer Zeit wieder von selbst. Doch vom kosme- 
tiseken Standpunkte war seine Erkrankung sehr hinderlich, da in der Tat 
die geschwollenen Wangen und besonders die stark verdickte Nase und die 
hier und da sich zeigenden Abschalungen mit roten Flecken sein Ausseres 
sehr entstcllten. Patient konsultierte darum wfihrend des siebenjahrigen 
Bestehens seiner Erkrankung eine ansehnliche Reihe Arzte, meistens be- 
rtthmte Spezialisten aus Deutschland, Frankreich und Belgien. Dabei kam 
Patient selbst za dem merkwGrdigen, obwohl keineswegs unerklarbaren 
Ausspruch, dass die meisten Spezialisten eine Diagnose stellten, die voil- 
kommen „ihren verschiedenen Gebieten der Heilkunde entsprechen": die 
Hautarzte meinten fiberwiegend es mit Syphilis zu tun zu haben; andere 
dachten an eine Ortliche Infektion oder an eine besondere Art Akne; ein 
berQhmter Dermatologe meinte es selbst mit Akne rosacea zu tun zu baben. 
Die Chirurgen dachten meistenteils, dass man hier mit Zahnzysten zu tan 
hatte and rieten eine Operation an. Patient unterwarf sich dieser, and 
die Folge war, dass „das Odem nicht schlimmer wurde“. Anlftsslich der 


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Uber Hypothyreoidie. 


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angenommenen Zahnzysten war Patient oft mit X-Strahlen untersucht 
worden, and dies gab einem Haatarzt wieder Aniass, an eine ROntgen- 
dermatitis zu denken. Verschiedene andere Chirurgen dacbten wieder an 
eine Ortliche Infektion and rieten zahllose Behandlangen mit Salben, 
feuchten Umschl&gen asw. an. Ein berQhmter Laryngologe suchte (was 
natflrlich selbstverstfindlich ist) die Ursache in der Nase and erachtete 
eine Operation in der Scheidewand fttr notwendig. Patient selbst war 
glacklicherweise nicht von der Notwendigkeit einer neacn Operation Qber- 
zeugt, and diese anterblieb daram. Verschiedene Nearologen dacbten an 
trophische StOrnngen infolge von ErkrankaDg tropbiscber Nerven 
(Neuritis), and viele andere meinten es mit einer EntzQndung der Lymph- 
bahnen zu tun zn baben. Wieder andere suchten die Ursache in den 
Nebennieren and gaben Patienten Adrenalin ein; aach dachte man an eine 
Hypopbyseerkrankung, wahrend wieder ein .anderer hintereinander mit 
alien mOglichen Organpraparaten behandeln wollte, besonders mit Hypo- 
physe, Nebenniere and Schilddrdse. Scbliesslich konsaltierte Patient aach 
Hertoghe in Antwerpen, welcher die Erscheinungen auf Hypothyreoidie 
zurQckftlhrte; doch durch znfallige Umstande unterzog sich Patient nicbt 
dieser Behandlung. Er gibt zu, dass es ibm unmOglich war, der riesen- 
haften Menge Behandlangen sehr verschiedener Art za folgen; bei einigen 
(vor allem bei denen mit Ortlicher Reizung dnrch Salben, Elektrizitat asw.) 
masste er erkennen, dass sie den Zustand nur verschlimmerten. 

Als Patient zn mir kam, war sein Zustand genau so wie die letzten 
sieben Jahre; er ist ein gat gebauter j unger Maun mit aasserordentlich 
gatem Intellekt und ist besonders lebhaft and gefasst beim Sprechen. 
Ausser dem bereits genannten Odera an Nase und Wangen und der bleichen, 
pastOsen, stark geschwollenen Haut mit schlechter Zirkulation and sehr 
unebencr Oberflachc ist nichts an ibm wahrznnehmen. An den Reflexen 
ist nichts Besonderes zn bemerken; an Haat, N&geln, Haaren and Zfthnen 
sind, abgesehen von genanntem lokalen Odem, nirgends trophische Oder 
vasomotorische Storungen wahrznnehmen. Die OdematOse Haut von Nase 
und Wangen ist bleich, mit einigen roten Flecken and einigermassen 
trocken; sie ffihlt sich kalt, wenig sacht und faltbar an. Von einer ROnt- 
gendermatitis lasst das Bild absolut nichts erkennen; aach einer etwaigen 
syphilitischen Erkranknng gleichen seine Hautsymptome durchaas nicht; 
aasserdem ist die Wassermannsche Reaktion, wiederholentlich vorge- 
nommen, stets negativ ausgcfallen. Durch seine grosse Lebhaftigkeit, sein 
schnelles und gates Antworten und durch seine ausserordentliche intellek- 
tuelle Beschaffenheit macht er ganz bestimmt nicht den Eindruck, als leide 
er an MyxOdem: an Stelle des TrSgen, Lustlosen, Indolenten eines MyxOdcm- 
kranken zeigt Patient gerade eine gewisse Unruhe und grosse Beweglich- 
keit; er gibt denn auch zu, immer ein wenig uervbs gewesen zu sein. Es 
war denn auch sehr schwierig, nach einer ersten Untersuchung bereits 
einen Eindruck zu haben von der Richtung, die man einschlageu mtlsste, 
um zu einer Diagnose zu gelangen. Patient teilte auch mir die endlose 
Geschichte mit Qber die zahllosen von ihm konsultierten Arzte und deren 
Aussprtlche. Anfanglich war ich denn auch am meisten der Meinung derer . 
zagetan, die meinten, dass hier ein Ortlicher Entz&ndungsprozess der Lymph- 
bahnen im Spiele war. Daram schlug ich eine Ortliche Behandlung mit 
hochfrequenten WechselstrOmen vor, da dieses Mittel den Ortlichen Stoff- 

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wechsel stark akzelerieren kann. Dock bald glaabte Patient mehr Ver- 
schlimmerung als Besserung feststellen zu kOnnen, und darum wurde mit 
dieser Behandlung nicht weiter fortgefahren. Die pastdse, bleiche, schlecht 
genfthrte Haut mit den spftrlichen Eruptionen und Absch&lungen brachte 
mich dann auf den Gedanken der Tbyreoidinsuffizienz; • und in der Tat 
brachte eiRe darnacb eingefOhrte Tbyreoidbebandlnng ziemlich bald eine 
sehr ansehnliche Besserung. 

Um nicht allzu ausfiihrlich zu sein, werden wir uns mit den bis 
jetzt gegebenen Beispielen von Hypothyreoidismus begniigen. Das 
von uns gegebene Schema ist ohne Zweifel noch ausdehnungsfahig, 
und es ist auch die da angegebene Einteilung und Gruppierung sicher 
nicht iiber jede Kritik erhaben, da es ohne Zweifel oft vorkommen 
wird, dass ein Kranker, der wegen seiner frappantesten Erscheinungen 
in eine bestimmte Gruppe untergebracht werden miisste, auch Neben- 
symptome zeigt, die ihn in eine andere Gruppe verweisen sollten. 
An unserem Schema haften also Fehler, die an jedem Schema kleben. 
So ist denn auch mit Absicht nur Meldung gemacht von den ver- 
schiedenen Formen der Hypotbyreoidie bei Erwachsenen, doch es ist 
wobl selbstverstandlich, dass eine bereits in der Jugend vorhandene 
Thyreoidinsuffizienz spater noch zu neuen Erscheinungen Anlass geben 
kann. So beschreibt Theunissen einen aussergewohnlich inter- 
essanten Fall eines Jungen mit thyreogenem Infantilismus, der ausser 
der tvpischen Verzogerung der Ossifikation auch Imbezillitat zeigte. 
Ausserdem traten in den Pubertatsjahren zyklische Erscheinungen auf: 
Perioden von Stupor wechselten mit solchen von Exaltation ab. Auf 
Grund allerlei ausfiihrlich bescbriebener Untersuchungen glaubt Theu¬ 
nissen feststellen zu konnen, dass wahrend der stuporosen Periode 
sicherlich eine Insuffizienz der Schilddriisenfunktion im Spiel war, 
wahrend in der Periode grosser Aufgeregtheit eine normale, vielleicht 
sogar eine leicht erhohte Schilddriisenfunktion vorhanden sein diirfte. 
Trotzdem kann Theunissen wahrend der stuporosen Phase nur eine 
sehr unbedeutende Besserung zustande bringen durch Eingabe von 
Schilddriisenpraparaten (auch er zieht Eingabe frischer Schilddriise 
vor). In diesem Zusammenbange weist Theunissen denn auch mit 
Recht auf den grossen Einfluss bin, den die Schilddriise auf die iibrigen 
Driisen mit innerer Sekretion ausiibt, so dass aus diesen Griinden 
vielleicht mehr von eiuer kombinierten Organotherapie zu erwarten 
ist. Ganz bestimmt steht fest, dass in diesem Falle, in dem zyklische 
Erscheinungen auftraten, und bei dem eine bereits von Jugend auf 
bestehende Schilddriiseninsuffizienz zweifellos vorhanden ist, trotzdem 
ein direkter Zusammenhang zwischen diesen zyklischen Erscheinungen 
und der Hypotbyreoidie sehwer nachzuweisen ist. Vielleicht ist dieser 


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Uber Hypothyreoidie. 


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Fall zu kompliziert, und bestehen ausser der Hypothyreoidie auch 
noch andere Alterationen. Darum liegt m. E. die Annahme einiger- 
mafien auf der Hand, das3 in unkomplizierten Fallen, bei denen 
stuporose Zustande oder zyklische Erscheinungen auftreten, wobl eine 
Schilddriiseninsaffizienz im Spiel ist, wenigstens wahrend des Stupors 
Qnd wahrend der depressiven Perioden. Doch scheint dies nicht der 
Fall zu sein: ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich bei 
Dementia praecox, bei der so oft stuporose und katatonische Er¬ 
scheinungen auftreten, keine nennenswerte Ergebnisse mit Tbyreoid- 
behandlung erzielen konnte. 

Und mit der manisch-depressiven Psychose war es ebenso: zwar 
meinte ich in einem (leichten) Falle wobl eine deutliche Besserung 
durch die Thyreoidbehandlung feststellen zu konnen, doch in einigen 
anderen und kompletten Fallen blieb jeder therapeutische Effekt voll- 
kommen aus. Beachtet man, dass ich diesen Kranken immer mit 
frischem Pressafte und nicht mit getrockneten Praparaten behandelte, 
und geht man von Faltas Behauptung aus, dass eine Thyreoidbe¬ 
handlung zuverlassige Ergebnisse iiber den Stand der Schilddriisen- 
funktion liefert, so miissen wir wobl annehmen, dass bei der manisch- 
depressiven Psychose als auch bei katatonen und stuporosen Zustanden 
bei der Dementia praecox keine Schilddriiseninsuffizienz im Spiel ist. 
Daraus folgt jedoch noch nicht, dass depressive Zustande niemals auf 
Hypothyreoidie beruhen: Middlemacs hat 5 Falle von Melancholie 
mitgeteilt, die durch Thyreoidbehandlung ausgeheilt sind. Er geht 
selbst so weit, zu bebaupten, dass die Thyreoidbehandlung einen 
zuverlassigen Hinweis auf die Heilbarkeit einer Psychose gibt: hat 
diese Behandlung kein Resultat, dann ist die Psychose unheilbar. 
Doch dies ist gewiss nicht richtig, da ja doch unzweifelhaft heilbare 
Psychosen bestehen, die nicht thyreogenen Ursprungs sind; man denke 
nur an die vieten hysterischen Psychosen. 

Aus den in diesem Aufsatze angefiihrten Tatsachen geht m. E. nach 
ganz deutlich hervor, dass die Hypothyreoidie ein viel vorkommendes, 
sehr wicbtiges Krankheitsbild mit enormer Verschiedenheit in den 
klinischen Erscheinungen liefert, sei es auch, dass das Bild bis jetzt 
einigermaBen vage und noch nicht scharf zu umgrenzen ist, speziell 
gegeniiber anderen Bildern mit scheinbar analogen Erscheinungen, 
die jedoch nicht thyreogenen Ursprungs sind. Und die gewiinschte 
scharfe Umgrenzung und also das Verschwinden der Unbestimmtheit 
konnen erst erreicht werden, wenn wir iiber einfache und zuverlassige 
Reaktionen verfugen, die uns eine richtige Einsicht in die Thyreoid- 
funktion verschaffen. Die durch Falta angegebene Methode kann 
noch nicht diesem Bediirfnis entsprechen, und es steht ausserdem noch 


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nicht fest, dass sie ganz gefahrlos ist, da dabei Einspritzungen mit 
Pilocarpin und Adrenalin gemacht werden (bei Hypothyreoidie wnrde 
subkutane Eingabe yon Pilocarpin keine SchweiBsekretion hervorrufen). 

Dass das Bild der Schilddriiseninsuffizienz oft so nnbestimmt ist 
und solch eine enorme Verschiedenheit der Erscbeinungen hervor- 
bringemkann, ist begreiflich, wenn wir dabei denken an die gleichfalls 
aussergewohnliche Kompliziertheit ibrer Fonktionen, nnd dabei sind 
bei Funktionsreduktion Storungen verschiedenster Art nnd an den 
yerscbiedensten Eerperstellen moglich. Die Thyreoidea ist ja ein 
Organ, das in sehr hohem MaBe zur Bestimxnung der Konstitntion 
des Individuums beitragt (siehe bieriiber n. a. de Josselin de Jong). 
Wahrend wir bei Erkrankungen anderer Organe (Herz, Lunge, Magen, 
Leber nsw.) uberwiegend Erscheinungen finden, die sich mehr oder 
weniger im betreffenden Organ selbst aussern, ist dies bei Storungen 
der Schilddriise, vor allem bei der hier besprocbenen chronischen 
leichten Insuffizienz, nicht der Fall: bier werden wir gerade an alien 
moglichen Stellen des Korpers sekundare Erscbeinungen finden konnen, 
welche die Folge einer leichten Intoxikation, eines verzogerten Stoff- 
wechsels, oder der Sympathicus-Hypotonie (trophische Storungen) usw. 
sind, wie das in unserem Schema so gut wie moglich angegeben ist. 
Hinzukommt noch ein Faktor, den man oft iibersieht, namlich der 
Einfluss, den das zentrale Nervensystem yon alien andem Organen 
und Systemen erfahrt: oft konnen wir beim Eranken nichts anderes 
finden, als Erscheinungen, die wir betrachten als Folge yon Erkran¬ 
kungen des Zentralnervensystems, wahrend dies letztere in der Tat 
nicht primar erkrankt ist, sondern auf einen abnormalen Reiz reagiert, 
den es aus dem Stoffwechselprozess oder aus einer der Driisen mit 
innerer Sekretion empfangt. Und gerade die Eenntnis der Schild- 
driiseninsuffizienz bringt uns die Uberzeugung, dass yiele derartige 
nervose, psychische und trophische Erscheinungen, die wir geneigt 
sind als die Folge einer bis jetzt unbekannten primaren Erkrankung 
des Zentralneryensystems anzusehen (Neurosen), in der Tat sekun- 
darer Art sind. 

Dass die Hypothyreoidie sich in so yerscbiedener Weise aussert, 
wird wohl die Folge dayon sein, dass diese kongenitale Minder- 
wertigkeit der Schilddriise gepaart geht mit einer gleichfalls konge- 
nitalen, doch indiyiduell stark wechselnden Herabsetzung des Wider- 
standsvermogens der verschiedenen Teile des Nervensystems: der eine 
hat als Locus minoris resistentiae die Gehirnrinde (Epilepsie, Migrane), 
ein zweiter den Sympathicus (trophische und sekretorische Storungen), 
ein dritter den Putin- und Salzstoffwechsel (Gicht, Ischias) und 
ein vierter den allgemeinen StofFwechsel (Fettsucht) usw. 


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Uber Hypothyreoidie. 


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£s ist auch bereits darauf hingewiesen, dass die Hypothyreoidie 
oft mit andern Konstitutionsveranderungen kombiniert angetroffen 
wird. So fand Ohlmacher in Fallen genniner Epilepsie oft den 
Status thymolymphaticus (persistierender Thymus, Hyperplasie des 
follikularen Gewebes, enge Aorta usw.); de Groot fand bei Epilep- 
tikern oftmals sekretorische Storungen des Magens, verbunden mit 
Atonie usw. 

Wenn wir daran denken, dass Cassirer in seinem vortrefflichen 
Handbuch der yasomotorisch-trophischen Neurosen sehr ausfiihrlicb 
die Gefasszentren in der Medulla oblongata und in derRinde beschreibt, 
und gleichfalls ganz im einzelnen den Einfluss der sekretorischen 
Nerven auf die Driisenfunktion bespricht, dock nirgends die Inner- 
ration der Thyreoidea durch den Sympathicus anriihrt, noch den auf 
den Sympathicus von der Thyreoidea ausgeiibten tonisierenden Einfluss, 
und wenn wir ferner feststellen, dass Lewandowsky eine B bystero- 
phile Erkrankung® notig hat, um die trophischen Storungen bei der 
Hysterie zu erklaren, und dass sowohl Biedl als Falta, zwei der 
grossten Kenner der Lehre yon der inneren Sekretion, kein einziges 
der hier behandelten zahlreichen Bilder der Hypothyreoidie rermelden, 
dann liegt der Schluss wohl klar auf der Hand, dass in den fast 
20 Jahren, die yerflossen sind, seitdem Hertoghe seine ersten Mit- 
teilungen iiber die „hypothyroidie benigne chronique" yeroffentlichte, 
diesem doch so besonders wichtigen Krankheitsbilde ausserordentlich 
geringe Aufmerksamkeit gewidmet ist. Und um des grossen Interesses 
willen, das diese kongenitale Funktionsstorung fur die Erklarung 
yieler Erscheinungen bat, deren Pathogenese bis jetzt dunkel war, ist 
es dringend notwendig, dass dieser stiefmiitterlichen Behandlung ein 
Ende gemacht wird. Verfasser dieses hofft hierdurch einen beschei- 
denen Beitrag zu diesem Zwecke geliefert zu haben. 


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Bolten 


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Epilepsie und Tetanie. 

Von 

Dr. 6. 0. Bolten (Haag, Holland). 

In den letzten zebn Jabren baben sicb viele Forscber mit dem 
, Nebeneinandervorkommen von Epilepsie und Tetanie bei ein und dersel- 
ben Person beschaftigt; alle Forscher legen den Nachdruck darauf, 
dass in diesen Fallen nicbt die Rede ist von einem zufalligen Zu- 
sammentreffen dieser beiden Syndrome, sondern dass wobl in Wirklicbkeit 
eine sebr enge atiologische und kausale Verwandtschafi zwiscben beiden 
angenommen werden muss. Uber dieses gleichzeitige Vorkommen von 
Epilepsie und Tetanie sind verschiedene Erklarungen gegeben, wobei 
. einige Auffassungen sicb den unsrigen sebr naberten. Doch muss 
dabei bemerkt werden, dass verschiedene Forscher, die grosse Neigung 
haben einen Kausalverband zwischen den genannten Symptomen-Kom- 
plexen anzunehmen, dafiir keine binreicbenden Argumente aus den 
von ibnen mitgeteilten Fallen schopfen konnen, aucb meinen sie das 
Gegenteil. Immerhin muss zuerst festgestellt werden, dass dem Worte 
„Epilepsie u keineswegs ein scharf umgrenzter Begriff mit konstanter 
Pathogenese und Atiologie entsprieht. Im Gegenteil, was wir Epilepsie 
nennen, ist nur ein Symptomenkomplex, der von vielen und sebr 
verschiedenen Ursachen abbangig sein kann. An erster Stelle ist Epi¬ 
lepsie doch die Folge einer sebr grossen Reibe primar-organischer 
Erkrankungen des Gebirns, unter denen die Meningo-enzephalitis mit 
ihren vielen Schattierungen, Ubergangen und Folgezustanden die am 
meisten vorkommende Ursacbe ist. An zweiter Stelle kann Epilepsie 
die Folge einer grossen Anzahl exogener Vergiftungen sein, und einer 
gleichfalls grossen Anzabl Erkrankungen und Alterationen, die zu 
endogener Intoxikation Anlass geben. Hierunter siud zu rechnen: 
Diabetes, Nephritis, Azetonamie, Arteriosklerose, Stokes-Adamssche 
Krankheit usw. Und an dritter Stelle besteht eine Gruppe, weniger 
zahlreich vCrtreten als die grosse Hauptgruppe der organischen (zere- 
bralen) Epilepsie, doch sehr interessant wegen ihrer Pathogenese, 
namlicb die genuine Epilepsie, die auf Hypothyreoidismus und Hypo- 
parathyreoidismus beruht. (Siehe hieriiber friihere Mitteilungen.) 


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Epilepsie und Tetanie. 


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n Epilepsie“ will also nichts anderes sagen, als eine bestimmte Gruppe 
von Erscheinungen, die jedoch aus sehr verschiedenen Ursachen nnd 
Krankheiten hervorgehen konnen. Und von Tetanie muss m. E. das- 
selbe gesagt werden, namlich, dass diese ein Syndrom ist mit keines- 
wegs einbeitlicher Pathogenese nnd mit sehr verschiedenen atiologi- 
schen Momenten. Wenn also Biedl sagt, dass „Epilepsie sich mit 
alien atiologischen Unterarten der Tetanie kombinieren kann glaube 
ich, dass dieser Ansspruch richtiger ware, wenn er lautet: „Jede Art 
Epilepsie kann mit jeder Art Tetanie kombiniert auftreten“. Hierbei 
muss noch darauf hingewiesen werden, dass zwischen Biedl’s Auf- 
fassung und der meinen ein prinzipieller Unterschied bestebt: Biedl 
spricht von „ Unterarten" der Tetanie und entwickelt den Lehrsatz, 
dass schliesslicb alle Tetanien parathyreogenen Ursprungs sind, und 
dieses balte ich nicht nur fur vollkommen unbewiesen, sondern sogar 
fur sehr unwahrscheinlich. Nach den sehr ausfuhrlichen und ein- 
gehenden Untersuchnngen von Erdheim, Yanase, Eschericb, 
Jeandelize, Haberfeld, Konigstein, Petersen, Benjamins u.a. 
darf als feststehend angesehen werden, dass die Kindertetanie bzw. 
die Spa3mophilie, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch zum grdssten 
Teile parathyreogenen Ursprungs ist; doch bei verschiedenen anderen 
Formen der Tetanie, wie u. a. der Tetanie nach Infektionskrankheiten, 
der endemisch-epidemischen, der graviditats- und der gastro-intestinalen 
Tetanie scheint mir so etwas sehr unwahrscheinlich. Biedl fiihlt viel 
fiir die Auffassung von Fuchs, dass namlich die Arbeitertetanie (die 
epidemisch-endemiscbe), die in bestimmten Orten, z. B. Wien und 
Heidelberg sehr viel vorkommt, und wohl hauptsachlich im Friihling 
und im Herbst, in der Tat nichts anderes als eine leichte Sekalever- 
giftung ist. Fuchs hat diese Theorie mit sehr guten Argumenten 
verteidigt: an erster Stelle sind alle Symptome des Ergotismus con- 
vulsivus bei der Tetanie zuriickzufinden (intermittierende, tonische 
Krampfe bei freiem Bewusstsein, der typische Stand von Handen 
und Fiissen, die trophischen Storungen der Haut, Nagel und Haare 
usw.). Ausserdem fand Fuchs den Sekalegehalt des Roggenmehls stets 
hober als das vom Priifungsamt zugelassene Maximum von 0,1 Proz.; 
schliesslicb kommt in Gegenden, wo Roggenbrot als Volksnahrung 
nicht gebraucht wird, Tetanie nicht vor. So ist bekannt, dass in 
Frankreich, speziell in Paris, kein Roggenbrot, sondern ausschliesslich 
Weissbrot zur Volksnahrung dient, und in Paris kommt denn auch 
iiberhaupt keine Arbeitertetanie vor. Demgegeniiber wird in Oster- 
reich-Ungam, Rumanien und Russland sehr viel Roggenbrot gegessen 
(in diesem letzteren Reich kommen sogar ernstliche Epidemien von 
sogenannter Kriebelkrankheit [ErgotismusJ vor), und in alien diesen 


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Land era ist die Tetanie eine sebr haufige Krankheit. Und auch allerlei 
andere Umstande, wie das friihere Auftreten epidemiscber Tetanie in 
Russland, konnte Fuchs erklaren, weil in Russland der Roggen eber 
gemahlen und gegessen wird, wabrend der Teil der Ernte, der nacb 
Osterreich- Ungarn ausgefiibrt wird, erst viel spater dort ankommt 
und also erst auch viel spater verwendet werden kann. Auch konnte 
Fuchs feststellen, dass die Arbeitertetanie in Wien vor allem in be- 
stimmten Stadtbezirken auftritt, wo viele Heimarbeiter wobnen, die 
ausschliesslich auf kleine Backereien in ihrer nachsten Umgebung an- 
gewiesen sind. Zum Schlusse gelang es Fuchs durch Verschreibung 
mehlfreier Kost die Tetaniekrampfe moistens ziemlich rasch zum Ver- 
scbwinden zu bringen. Alle diese Argumente werden noch erganzt 
durch die Feststellung von Aminobasen im Mutterkorn; Aminobasen, 
die identisch sind mit Eiweissabbauprodukten, die auch im normalen 
Stoffwecbsel vorkommen, namlich mit /?-Imidazolylathylamin, das man 
durch Garung aus Histidin erbalten kann. Und von dieser giftigen 
Aminobase, die das vermutliche toxische Agens bei der epidemiscben 
Arbeitertetanie darstellt, nimmt Biedl dann weiter an, dass sie auf 
die Parathyreoideae einwirken und diese insuffizient machen wiirde. 
Der Scbluss, den Biedl dann daraus zieht, ist an und fur sicb logisch: 
„Aus dem hier Mitgeteilten geht wohl uberzeugend heryor, dass die 
prinzipiell iibereinstimmende patbologische Auffassung aller Tetanie- 
formen des Menschen, namlich die parathyreogene Genese, unanfecht- 
bar ist; eine Auffassung, die heute von alien hervorragenden Klinikern 
vertreten wird. Aufgeklart braucht nur noch die Atiologie zu werden, 
also die ursachlichen Momente, die zur Bescbadigung der Epithel- 
korperchen und ihrer Funktionsreduktion fiihren." Trotz Biedl’s 
sehr grosser Autoritat in dieser Hinsicht kann ich seiner Auffassung 
nicbt beipflichten. Immerbin, die sehr logisch begriindeten Auf- 
fassungen von Fuchs mogen sebr wahr sein (was ich in der Tat an- 
nehme), und die Aminobasen mogen wirklich das postulierte Gift der 
Arbeitertetanie sein, so folgt aber doch daraus noch keineswegs, dass 
diese Substanzen schadigend auf die Epitbelkorperchen einwirken. 
Zuallererst sind noch niemals deutliche Veranderungen in den Epi* 
thelkorperchen bei der Arbeitertetanie pathologisch-anatomisch nacb- 
gewiesen, und an zweiter Stelle ist es sebr unwahrscbeinlich, dass die 
vieien und sehr verschiedenen exogenen Toxine, die zur Tetanie Ver- 
anlassung geben konnen, schadigend auf dieEpithelkorperchen einwirken 
sollten. Dies Argument tritt vor allem in den Vordergrund bei der 
epidemischen Arbeitertetanie. Es ist doch bekannt, dass diese Form 
der Tetanie sebr gutartig ist, und dass in den Gegenden, wo diese 
Erkrankung endemisch auftritt, viele Arbeiter im Laufe der Jahre 


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sehr oft von Tetanie ergriffen werden and meistens wieder ganz aus- 
heilen; letal verlaufende Falle kommen doch so gut ~wie gar nicbt 
vor. Wie kann man dies nun mit einer ernsten Beschadigung der 
Epithelkorperchen reimen? Wie aus zahlreichen Tierversuchen und 
auch aus der Klinik der Eindertetanie (Spasmophilie) iiberzeugend 
hervorgeht, muss die Funktionsreduktion der Parathyreoideae erheblich 
sein, bevor Tetanie zum Vorschein kommt; bei Herbivoren sowohl als 
bei Kamivoren kann man die Halfte aller Epithelkorpercheu entfernen 
(bei Herbivoren selbst 3 / 4 ), ohne dass irgendeine einzige Erscheinung 
von bleibender, manifester Tetanie auftritt. Stellt man dies vorauf, 
so ist es sebr schwierig, ja selbst unmoglich, anzunehmen, dass jedes- 
mal, wenn bei ein und derselben Person Erscbeinungen der sogenann- 
ten Arbeitertetanie auftreten, die Epithelkorperchen so ernstlich be* 
schadigt werden, dass eine parathyreogene Tetanie davon die Folge 
sein sollte, und vor allem, dass diese ernstliche Beschadigung voll- 
kommen wieder verschwinden sollte, ohne weiter irgendeine Spur zu 
hinterlassen. Wahrend doch die Tetanien unzweifelhaft parathy- 
reogenen Ursprungs, wie die Eindertetanie, die postoperative Tetanie 
und die experimentelle Tiertetanie, oft letal verlaufen, ist die Arbeiter¬ 
tetanie sehr gutartig und verlauft niemals todlich; auch- aus diesen 
Griinden ist es mir nicht moglich anzunehmen, dass die Arbeitertetanie, 
die ausserdem meistens oft rezidiviert, parathyreogenen Ursprungs 
sein sollte. 

' Ein gleiches Argument liefert die Schwangerschaftstetanie; wie 
Faas mit einer reichliohen Easuistik nachweist, rezidiviert auch diese 
Tetanieform sehr oft, und zwar bei einigen Schwangeren mit einer 
gewissen Regelmassigkeit; meistens tritt die Tetanie in der zweiten 
Halfte der Graviditat auf und verschwindet einige Zeit nach der Ge- 
burt. Auch Eehrer gibt eine sehr gute Ubersicht ttber die Tetanie- 
falle wahrend der Graviditat und der Laktationsperiode und meldet 
gleichfalls, dass Rezidive nicht selten vorkommen. Nun haben zwar 
Adler und Thaler experimentell nachgewiesen, dass die Parathy¬ 
reoideae auf die Graviditatstoxine eingestellt sind: besorgten sie nicht 
schwangeren Tieren eine voriibergehende paiathyreoprive Tetanie 
(partielleParathyreoidektomie), dann trat die Tetanie bei alien Schwanger- 
schaften wieder auf; Tiere, deren Epithelkorperchen nur an einer 
Seite entfernt waren, und die darauf nicht mit Tetanie reagiert batten, 
bekamen bei Graviditat wohl Erscheinungen der Tetanie. Dass also 
die Parathyreoideae auf die Graviditatstoxine entgiftend einwirken, 
ist wohl sicher, doch daraus folgt noch keineswegs, dass auch das 
Umgekehrte wahr ist, namlich, dass die Graviditatstoxine Funktions- 
beschadigung bzw. organische Lasionen der Epithelkorperchen ver- 


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ursachen. lm Gegenteil, auch hier sind der gutartige Verlauf und 
das nicht selten bei jeder Schwangerschaft Rezidivieren der Tetanie 
Argumente, am anzanehmen, dass die Schwangerschaftstoxine, wenn 
sie auch so zahlreich sind, dass sie durch die Parathyreoideae nicht 
ganz entgiftet werden konnen, direkt toxisch auf das Nervensystem 
einwirken, ohne erst die Epithelkorperchen zu beschadigen. Noch 
deutlicher wird diese Auffassung unterstiitzt durch die Ergebnisse der 
Tetaniefalle, die die Folge yon allerlei Intoxikationen sind, wie die 
gastrointestinale Tetanie, die bei yerschiedenen Storungen des Tractus 
intestinalis auftritt, hauptsachlich bei abnormalen Garun gsprozessen, 
bei Magenatonie und Magendilatation u. a. durch Tumoren des Pylorus 
usw. In den letzten Fallen stagniert der Mageninhalt, und es treten 
dadurch Garungsprozesse im Magen und allgemeine sekundare In- 
toxikation auf. Weiter bei Appendizitis, bei malignen Tumoren des 
Darmkanals, bei chronischer Enteritis, bei Karzinom des Pankreas 
usw. So beschreibt Rosenfeld einen Fall von Tetanie bei Pylorus- 
stenose; durch reichliche Wassergabe verschwand die Tetanie, so dass 
Rosenfeld, auch auf Grund seiner Erfahrung mit einer Gabe einer 
Glykoselosung (aus Versehen), die ein Wiederauftreten der Tetanie 
zur Folge hatte, diese letztere dem Fliissigkeitsverlust des Blutes 
zuschreibt. 

Wexberg beschreibt Tetanie, die da auftritt, nachdem bereits 
viele Jahre regelmassig Erbrechen stattgefunden hatte, wahrend Rod man 
Tetanie bei einem Kranken mit Ulcus duodeni und Magendilatation 
auftreten sah. Im letzten Falle war es sehr merkwiirdig, dass die 
Tetanie erst 11 Tage nach giinstig verlaufener Operation auftrat. In- 
teressante Mitteilungen iiber Tetanie bei enteritischen Prozessen macht 
ferner Lowy, der bei vielen Fallen von Dysenterie (sowobl schwere 
als leichte Falle mit grosser Verschiedenheit hinsicbtlich der Defakation) 
Erscheinungen der Tetanie (meistens Krampfe in den untersten Extre- 
mitaten) wahrnehmen konnte. Alle seine Tetaniekranken litten, meistens 
seit geraumer Zeit, an Diarrhoe; nur einer tat dies nicht, doch dieser 
hatte auch bereits friiher Erscheinungen der Tetanie gezeigt. 

Auch Grahe beschreibt zwei Falle von Tetanie bei chronischen 
Magenbeschwerden (im ersten Fall Gallensteine mit Mageubeschwerden, 
im zweiten Magenschmerzen und Erbrechen seit einem Jahre), wahrend 
Gebhard einen interessanten Fall mitteilt von Abschliessung des 
Diinndarms (durch ein grosses Ovarialkystom), infolgedessen Fakal- 
erbrechen auftrat und schliesslich auch Tetanieanfalle zum Vorschein 
kamen. Gebhard weist auf die yerschiedenen atiologischen Momente, 
die hierbei in Betracht kommen, hin, namlich die Faulnis, die im ab- 
geschlossenen Diinndarm auftritt und der sehr grosse Fliissigkeitsverlust 


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Epilepsie and Tetanie. 


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des Organismus infolge des fortdauernden Erbrechens. Gebhard 
glaubt, dass diese Faktoren die Parathyreoidfunktion bescbadigen, 
wahrend die Faulnisprodukte auf, das zentrale Nervensystem einwirken; 
durch diese Faktoren wurde dann die Tetanie verursacht (m. M. nach 
ist dazn die toxische Einwirkung der Faulnisprodukte auf das zentrale 
Neryensystem bereits binreicbend). 

Brncks hat einen Fall von Magentetanie mitgeteilt (Pylorospas- 
mus mit sebr starker Magendilatation), bei dem er zugleich den sta- 
gnierenden Mageninhalt chemisch untersuchte; er fand darin: Buttersaure, 
Albumosen und Spuren von Milchsaure, doch keine freie Salzsaure 
und keine Amidosauren. Alkoholische sowohl wie wasserige Extrakte 
des Mageninhalts iibten eine sebr toxische und oft eine todliche Wir- 
kung aus auf Versuchstiere (Mause), die oft Lahmungserscheinungen 
zeigten. Brucks ist denn auch, und meiner Meinung nach mit Recht. 
iiberzeugt, dass in solchen Fallen die Tetanie durch Toxine aus dem 
stagnierenden Mageninhalt verursacht wird. Gastroenterostomie ist 
denn auch die geeignete Therapie, auch hinsichtlich der Tetanie. 
Ebenso ist im Falle Goodrichs ein sehr deutlicher Verband zwischen 
Tetanie und gastrointestinaler Autointoxikation vorhanden: Bei einer 
19jahrigen Frau trat (nach groben Diatfehlern) Appendizitis und bald 
danach Tetanie auf; schon einige Stunden nach der Appendektomie 
verschwanden die Tetanieerscheinungen allmahlich vollkommen. 

Ausser bei den hier nur kurz angefuhrten Formen vod Auto¬ 
intoxikation gastrointestinalen Ursprungs kommt Tetanie hin und 
wieder auch bei anderen Autointoxikationen vor. So beschreibt Bauer 
einen Fall von Tetanie bei chronischer Nephritis, wobei auch bereits 
uramische Erscheinungen aufgetreten waren. 

Feraer ist von sehr grossem Belang, dass ausser endogenen auch 
exogene Intoxikationen Anlass zur Tetanie geben konnen: Wirth 
. meldet einen Fall von Phosphorvergiftung, bei der die Tetanie die 
Vergiftungserscheinungen einleitete. Erwahnenswert ist noch dabei, 
dass, als die Krankheitserscheinungen ihren Hohepunkt erreicht batten 
und auch die Tetaniekrampfe am heftigsten waren, Azeton und Diazet- 
saure im Harn nachzuweisen waren. Also auch in diesem Falle spielen 
krampferweckende Toxine eine grosse Rolle. Und v. Voss wies 
darauf hin, dass in St. Petersburg sehr viele Falle von Tetanie vor- 
kommen bei Handwerkern, die mit Blei umgehen; vermutlich spielt 
also Blei bier dieselbe Rolle wie das Ergotin bei der epidemischen 
Tetanie. 

Ebenso weisen auch einige amerikanische Forscher auf die grosse 
Rolle der Intoxikation hin; so teilt Morgan zwei Falle mit und be- 
spricht danach die Atiologie, Pathologie usw. Er halt von alien 


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Boi.tkn 


Theorien iiber die Pathogenese die der Autointoxikation am kraftigsten 
durch die klinischen Erfahrungen bestatigt. Und Morse, der eioe 
ganze Reihe Falle beschreibt, bespricht gleichfalls die Atiologie und 
die Pathogenese und lenkt die Andacht darauf, dass Ton einem ein- 
heitlichen atiologischen Faktor nicht die Rede sein kann; bei den 
meisten seiner Falle waren Storungen des Traetus intestinalis im Spiel. 
Morse sucht denn auch die Ursache der Tetanie in toxischen Pro- 
dukten, die sich voneinander in chemischer Zusammensetzung sehr 
unterscheiden konnen und die ihren Ursprung in sehr verschiedenen 
Krankheitszustanden, meistens des Intestinaltrakts, finden. Diese Toxine 
sollen durch Resorption ins Blut gelangen und danach auf das Zen- 
tralnervensystem einwirken. Auch bier treffen wir also den m. E. 
logischeren Gedankengang, dass allerlei Toxine, von sehr verschiedener 
Art und verschiedenen Ursprungs, in die Zirkulation gelangen konnen 
und durch bestimmte chemische Eigentiimlichkeiten der Ganglienzellen- 
substanz auf das zentrale Nervensystem einwirken, ohne dabei yon 
vornherein einen schadigenden Einfluss auf die Glandulae parathyreoi- 
deae auszuiiben. Und Gibb meldet den Fall einer sehr bejahrten Frau, 
die an Alkoholismus litt und die Erscheinungen yon Tetanie zeigte. 
Weiter teilt Wirth mit, dass ausser der bereits yon ihm mitgeteilten 
Phosphorvergiftung auch yerschiedene andere Toxine Tetanie hervor- 
rufen konnen; so sollen Erscheinungen yon Tetanie aufgetreten sein 
nach Einspritzungen mit Ergotin (das bestatigt also einigermassen 
die Auffassung yon Fuchs), mit Spermin und selbst mit Morphium. 
Auch die heute so yiel angewendete Stovain-Lumbalanasthesie soil zu 
Tetanieerscheinungen Anlass gegeben haben. 

Bircher und Hughes melden gleichfalls Falle yon Tetanie bei 
Prozessen mit starker Intoxikation; Bircher speziell bei Peritonitis, 
und zwar hauptsachlich bei schweren Perforationsperitonitiden (wah- 
rend er ganz im Gegensatz zu den soeben genannten Forschem selten 
Tetanie sah bei malignen Magenerkrankungen; zwischendurch ist die 
gastrointestinale Tetanie durchaus nicht selten). Hughes nahm, eben- 
so wie Goodrich, Tetanie wahr bei eitriger Appendizitis; nach der 
Operation schnelle Besserung der Tetanie. 

Auch Quosig glaubt, dass die chronische Autointoxikation eine 
grosse Rolle spielt bei der gastrointestinalen Tetanie; bei seinem Kranken 
traten bereits langere Zeit periodisch Diarrhoen auf, die bisweilen 
wochenlang anhielten und fast immer (und das wahrend yieler Jahre) 
von Tetaniekrampfen begleitet waren. 

Nun ist es merkwiirdig, dass, wahrend in den Fallen der Kinder- 
tetanie und Spasmophilie, wenigstens bei einem erheblichen Teil, wohl 
anatomische Alterationen in den Parathyreoideae gefunden sind, dies 


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Epilepsie und Tetanie. 


167 


aber bei der Tetanie der Erwachsenen (der Arbeitertetanie, der Tetanie 
bei Infektionskrankheiten, der Graviditats- und Laktationstetanie, der 
gastrointestinalen Tetanie u. a.) fast niemals der Fall ist. So konnten 
Erdheim und auck Schonborn in vielen Fallen yon Tetanie bei 
Erwachsenen in den Gl. parathyreoideae keine bistologischen Verande- 
rungen finden; bei Erdheim waren es drei Falle yon Magentetanie 
infolge schwerer Magen : Darmerkrankungen und in einem Falle war 
zugleich ein Zerebellartumor vorhanden; in alien vier Fallen war in 
den Epithelkorperchen nichts zu finden. Schonborn findet selbst 
die Sparsamkeit der pathologisch-anatomischen Befunde auffallend: 
weiter meldet er Falle von Tetanie bei Morphinisten, bei denen also 
auch wieder das Moment der exogenen Intoxikation in den Vorder- 
grund tritt. Auch Ourschmann bezweifelt stark, dass die verschie- 
denen Formen der Tetanie bei Erwachsenen wohl auf einen einheit- 
lichen parathyreogenen Ursprung zuriickzubringen seien, da so viele 
atiologische und pradisponierende Momente eine Rolle spielen. 

Fischl, der das Besteben einer parathyreogenen Tetanie durch- 
aus nicht leugnen will, ist gleichfalls keineswegs von der einheitlichen 
parathyreogenen Pathogenese aller Tetaniefalle uberzeugt, vor allem, 
da eine so grosse Verschiedenheit in den atiologischen Momenten 
vorhanden ist* So beschreibt er den Fall eines lOjahrigen JungeD, 
der im Wachstum zuriickgeblieben war, doch von sehr gutem Intellekt, 
und der einen Anfall mit vollkommener Bewusstlosigkeit und danach 
Tetanieerscheinungen zeigfce; ausserdem war auch lndikanurie vorhan¬ 
den (vielleicht ist in diesem Falle die Darmfaulnis, wovon die Indi- 
kanurie derHinweis ist, die Ursache sowohl des epileptischen — Fischl 
spricht von eklamptischen—Anfalls als der Tetanie). Fischl ist denn 
auch uberzeugt, dass ausser Parathyreoidbeschadigung auch noch 
andere Momente als Ursache der Tetanie in Betracht kommen miissen. 

Sternberg und Grossmann meinen, auf Grund ihrer Erfahrun- 
gen, dass wenigstens die Arbeitertetanie eine endemische Krankheit 
ist, die an Wohnungszustande und an allerlei andere soziale Verhalt- 
nisse gebunden ist. Nebenbei ist bereits darauf hingewiesen, dass 
vor allem bei der Tetanie der Erwachsenen noch so gut wie niemals 
deutliche Veranderungen in den Parathyreoideae gefunden sind; in 
drei Fallen Wirths, bei denen Erdheim, der sich sehr um die path. 
Anatomie der Epithelkorperchen verdient gemacht hat, die mikrosko- 
pische Untersuchung vorgenommen hat, wurden in den Parathyreoideae 
Veranderungen gefunden, die es ermoglichten, eine Insuffizienz anzu- 
nehmen. Doch diesen positiven (oder zweifelhaften) Befunden stehen 
viel zahlreichere negative gegeniiber, vor allem bei der Tetanie der 
Erwachsenen. So fand Erdheim in Fallen von Magendilatation mit 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunie. 13d. 67* 12 


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Bolten 


Tetanie normale Epitb elkorper ch en. Doch auch bei der Kindertetanie, 
bei der haufig Blutungen und Hypoplasien angetroffen warden in den 
Parathyreoideae, sind die Ergebnisse bisweilen negative So konnte 
Bliss auf Grand seiner mikroskopischen Untersuchungen keinen kon- 
stanten Zusammenhang zwischen Kindertetanie und Parathyreoidblu- 
tungen feststellen. Stuckenberg bericbtet fiber einenFall chroniscber 
Tetanie, wobei sie Gelegenbeit hatte drei Epithelkorperchen bistologiscb 
zu untersucben; das Resultat war, dass keinerlei Veranderungen zo 
linden waren. Auch Schiffer konnte bei einem Fall der Kinder* 
tetanie (die ffinf Kinder aus einer Familie und von gesunden Eltern 
warden alle von Tetanie befallen, und drei davon starben) die Epitbel- 
korperchen untersucben; er fandjedoch keine Blutungen und iibrigens 
vollkommen normale Verhaltnisse. 

Aucb Grosser und Betke kommen zum Scbluss, dass Tetanie 
sowobl bei Erwacbsenen ala bei Kindern durchaus nicbt per se parathy- 
reogenen Ursprungs zu sein braucbt, da aus ibren bistologischen 
(Jntersuchungen bervorgebt, dass selbst bei den scbwersten Fonnen 
der Tetanie bisweilen vollkommen unversehrte Epithelkorperchen ge- 
funden werden. Zu demselben Ergebnis kommt Jfirgensen, der bei 
einer ziemlich grossen Anzahl Tetaniekranker dumb bistologiscbe 
Untersuchungen feststellen konnte, dass selbst in der Mehrzahl der 
Falle die Epithelkorperchen vollkommen normal waren, oder aber so 
unbedeutende Veranderungen zeigten, dass dadurcb unmoglich eine 
starke funktionelle Storung zu erklaren ware, lbnen schliesst sich 
Auerbach so ziemlich an; er nahm bei einer grossen Anzahl Saug- 
linge mikroskopiscbe Untersuchungen der Epithelkorperchen vor und 
fand ofter Blutungen bei Tetaniekranken, docb auch ofter bei Sang* 
lingen, bei denen keine Tetanieerscheinungen wahrgenommen werden 
konnten, und aucb das Umgekehrte kam vor: Tetaniekranke ohne 
Paratbyreoidveranderungen; er halt denn auch den Zusammenhang 
zwiscben Kindertetanie und Parathyreoideae nicht hinreichend be- 
wiesen. 

Als ein Hinweis, dass nicbt alle Tetaniefalle paratbyreogenen 
Ursprungs sind, kann nocb die Tatsache getten, dass bei einigen Fallen 
vonTetanie subkutanelnjektionvonParathyreoidextrakt sich wirkungslos 
zeigte, wie Gerstenberger mitteilt; bei experimenteller parathyreo- 
priver Tetanie (bei Tieren) ist jedoch, wie aus Verebelys Versuchen 
bervorgebt, die Eingabe friscben Parathyreoidextrakts oft genfigend, 
um die Erscheinungen zu verringern. Naeb Analogic der prompten 
Resultate der Thyreoidbehandlung bei thyreogenen Krankheitszustan- 
den darf man, m. E., erwarten, dass parathyreogene Erkrankungen 
ebenso prompt auf Paratbyreoidemgaben reagieren sollten. Im Aus- 


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Epilepsie and Tetnnie. 


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bletben der Besultate liegt ein stichhaltiges Argument gegen. die 
Theorie der konstanten parathyreogenen Pathogenese der verschie¬ 
denen, klinisch so differenten Tetanieformen. 

Stoeltzner meint selbst auf Grand yon Uoterschieden (in den 
kiinischen Erseheinungen) zwischen experimenteller Tiertetanie und 
Kindertetanie, dass diese letztere nichts mit dem Wegfallen der Para- 
thyreoidfunktion zu tun babe. Dieser letzte Ausspruch scheint mir 
yiel zu weit zu gehen, da an erster Stelle pathologisch-anatomisch 
festgestellt ist, dass viele Falle der Kindertetanie (Spasmophilie) in der 
Tat auf schweren Lasionen der Gl. paratbyreoideae berahen, namlich 
moistens Blutungen, sekundaren Kysten und Hypoplasien, Tuberkuiose 
(wie z. B. in dem Fall von W internitz) usw. Und an zweiter Stelle darf 
man nicht annehmen, dass eine Krankheit beim Menscben vollkommen 
kofigruent sei mit einem Symptomenkomplex, das experimented, also 
unter ganz anderen Bedingungen und Verhaltnissen wie sie beim Men- 
schen im Spiel sind, beim Versuehstier zum Vorschein gerufen ist. 

Doch sind auch yiele Falle der Kindertetanie parathyreogenen 
Ursprungs, bei weitem die meisten Falle der verschiedenen Tetanien 
der Erwacbsenen 'sind das ganz gewiss nicbt. Dies wird m. E. durch 
die iiberwiegend negativen Befunde der path.-anatomischen Unter- 
sucbungen erwiesen und ausserdera sebr wahrscheinlich gemacht durch 
die ganz gewaltige Verschiedenbeit der atiologischen Momente und 
durch den grossen Unterschied zwischen Kindertetanie und den an¬ 
deren Formen dieser Krankheit hinsichtlich der Prognose, des Ver- 
laufes und der kiinischen Erseheinungen. 

Nach den hier mitgeteilten Auffassungen der verschiedenen For- 
scher muss es deutlich sein, dass die von Biedl angenommene ein- 
heitliche parathyreogerie Pathogenese aller Tetanieformen bei weitem 
nicht bewiesen und selbst sogar sehr unwahrscheinlich ist. Ausserdem 
scheint es mir, dass nicht, wie Biedl sagt, die meisten Kliniker seine 
Auffassung teilen, doch dass gerade die grosse Mehrzahl von dieser 
einheitlichen Pathogenese nichts wissen will. Ich kann denn auch 
Phleps vollkommen zustimmen, wenn er sagt: „Ubereinstimmende 
Ergebnisse, die geeignet waren, das gesamte klinische Krankheitsbild 
mit seinem eigenartigen Verlauf pathologisch-anatomisch zu stiitzen, 
fehlen noch so gut wie vollkommen." In der Tat spricht m. E. auf 
Grand obengenannter Arguments alles dafiir, dass die Tetanie ein 
Syndrom ist, das, ebenso wie die Epilepsie, eine sehr wechselnde Patho¬ 
genese hat, und das von sehr verschiedenen Ursachen abhangig 
sein kann. 

Die Epilepsie ist, pathogenetiscb, in die vier folgenden Haupt- 
gruppen zu verteilen: 

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170 


Boltex 


. a) Zerebrale Epilepsie (infolge zahlloser primar-zerebraler Erkran- 
kungen, unter denen die haufigste die Meningo-Enzephalitis ist), 

b) Epilepsie infolge endogener lntoxikationen (Azetonamie bei Kin* 
dem, Nephritis, Diabetes, Stokes-Adamssche Krankheit usw.), 

c) Epilepsie infolge exogener lntoxikationen (Blei, Alkohol, 
Tribrojnkampfer, Absinth, Santonin; weiter Pellagra), 

d) Genuine Epilepsie (Insuffizienz der Thyreoideae und Parathy- 
reoideae). 

Betrachten wir dieses Schema, so sehen wir, dass wir fiir die 
verschiedenen Tetanieformen eine gleiche Verteilung machen konnen. 
Nur fallt dann die erste Gruppe fort, da es nicht bekannt (und zu- 
gleich sehr unwahrscheinlich) ist, dass Tetanie, ein Syndrom, das durch 
Krampfanfalle, aber niemals durch Bewusstseinsstorungen gekenn- 
zeichnet ist, durch primar*zerebrale Erkrankungen oder primare Kiicken- 
markslasionen verursacbt werden kann. Wir bekommen dann folgen- 
des Schema: 

a) Tetanie infolge endogener lntoxikationen: Azetonamie bei Kindern 
infolge von Magen-Darmstdrungen; maligne Geschwiilste vom Tractus 
intestinalis, Paukreas, Leber usw. Pylorusstenose mit sekundarer Sta¬ 
gnation und Garung des Mageninhalts; Appendizitis, Peritonitis, cbro- 
nische und akute Enteritis, Dysenterie, Ileus, Typhus usw.; weiter bei 
chronischer Nephritis (Uramie) und schliesslich bei Graviditat, 

b) Tetanie infolge exogener lntoxikationen: Blei, Phosphor, Alkohol. 
Stovain, Morphium, Chloroform, Spermin usw. flochstwahrscheinlich 
gehort zu dieser Gruppe die sogenannte Arbeiter- (epidemische, en- 
demische) Tetanie, und zwar infolge chronischer Ergotinvergiftung, 

c) parathyreogene Tetanie: Viele Falle von Kindertetanie und 
Spasmophilie; die postoperative Tetanie (nach Strumektomie) und die 
experimentelle Tetanie bei Tieren. 

Es wiirde uns hier zu weit fiihren, wenn wir unsere Auffassung 
ausfuhrlich verteidigen wollten; darum nur ein kurzes Wort hieriiber. 
Phleps, Biedl, Falta und verschiedene andere Forscher halten an 
der einheitlichen parathyreogenen Pathogenese aller Tetaniefalie fest 
und setzen also zugleich voraus, dass bei den obengenannten Gruppen 
a) und b) die Toxine (welcher Art und welchen Ursprungs auch) nur 
eine nebensachliche Rolle spielen und schadigend auf die Parathy- 
reoideae einwirken; sind diese letzteren dann infolge der Intoxikation 
insuffizient geworden, so tritt die Tetanie auf. Doch dann nimmt man 
an, dass alle diese Toxine sehr stark schadigend auf die Parathy- 
reoideae einwirken, und das ist keineswegs bewiesen und wird sogar 
durch die soeben zitierten zahlreichen negativen Ergebnisse der patho- 
logisch-anatomischen Untersuchung sehr unwahrscheinlich gemacht. 


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Epilepsie and Tetanie. 


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Sind auch die Epithelkorperchen polyvalent und also auf zahlreiche 
Gifbe einwirkend, so ist doch an erster Stelle nicht anzunebmen, dass 
sie die zahllosen exogenen Gifte obne Ausnahme angreifen, und an 
zweiter Stelle ist niemals nacbgewiesen, dass diese Toxine die Para- 
thyreoideae beschadigen. Dagegen ist durcb die sebr wichtigen Un- 
tersuchungen von Guillain und Larocbe, wie durcb die von Gold- 
scheider und Flatau unzweifelhaft nacbgewiesen, dass die verschie- 
denen Teile des zentralen Nervensystems eine sehr grosse Affinitat 
fur zabllose Gifbe besitzen, und sowobl fur exogene, wie fur endogene. 
Doch diese Affinitat ist fiir die verschiedenen Teile des Zentralnerven- 
systems nicht dieselbe: der eine Teil bat eine Affinitat fur bestimmte 
Toxine, andere Teile aber fiir ganz andere. Dieses festgestellt, scheint 
es mir viel rationeller anzunebmen, dass die Epithelkorperchen viele 
Toxine ganzlich oder teilweise entgiften konnen, doch dass diese letz- 
teren, wenn sie in iibergrosser Menge oder mit zu grosser lntensitat 
auftreten, nicht (oder nur teilweise) entgiftet werden, und dadurcb 
Gelegenheit finden, sich an bestimmte Teile des Zentralnervensystems 
zu binden, z. B. in die motorischen Ganglienzellen in den Vorder- 
hornera des Riickenmarkes. Denn in diesen Zellen sind, wie wir 
spater noch kurz melden werden, histologische Veranderungen gefun- 
den, die nach Goldscheider und Flatau' die Widerspiegelung 
chemischer Prozesse sind, namlich die Bindung von Toxinen an die 
Ganglienzellensubstanz. Bei diesen unseren Auffassungen, die doch 
durch verschiedene Tatsachan gestiitzt sind,- ist also bei mehreren 
Tetanieformen eine Beschadigung, Hypofunktion oder Insuffizienz der 
Parathyreoideae ausgeschlossen. Immerhin wird wohl durch die Epi¬ 
lepsie bestatigt, dass es sehr gut moglich ist, dass ein bestimmtes 
Syndrom, trotz einer ziemlich grossen klinischen Gleichformigkeit (die 
bei der Tetanie jedoch nicht besonders gross ist) von ganz verschiedenen 
Ursachen und Krankheiten abhangig sein kann. Niemand nimmt jetzt 
an, dass alle Falle und Formen der Epilepsie auf eine einheitliche 
Pathogenese, welche auch immer es sei, zunickzufiihren waren, und 
m. E. gilt dasselbe auch fiir das Syndrom Tetanie. 

Ich glaube also berechtigt zu sein, Biedls Auffassung folgender- 
massen zu modifizieren: Alle Arten der Epilepsie konnen sich mit 
alien Arten der Tetanie kombinieren. Diese Tatsache ist von grossem 
Interesse und ist die Ursache, dass wir viele Kombinationsfalle beider 
Syndrome, wie sie in der. Literatur zu finden sind, sehr kritisch und 
zugleich skeptisch betrachten mtissen. Alle Forscher legen ja den 
Nachdruck darauf, dass wir in diesen Fallen es nicht mit einem zu- 
falligen Zusammentreffen zweier verschiedenen Erkrankungen bei der- 
selben Person zu tun haben, doch dass wir die Kombination der beiden 


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Syndrome ala berahend auf denselben oder wenigstens aui sebr mit- 
einander verwandten kausalen Momenten betrachten miissen. Doch 
dies letzte isfc bei einem grossen Teile der Falle sicherlich nicht wafer. 
Die grosse Mebrzabl aller Epilepsien beruht doch auf primar, orga- 
niseh-zerebralen Erkrankungen; usd dass bei einem solcben Falle zere- 
braler Epilepsie allerlei Formen der Tetanie auftreten konnen, ist 
unbestreitbar, doch keineswega interessant, da in diesen Fallen die 
Epilepsie steta von einer anderen Ursache abhangen muss ala die 
Tetanie (zu welcher Form die letztere auch immer gehort), da eine 
zerebrale Ursache der Tetanie nicht vorhanden ist. So soil in Wien 
ein Kranker mit zerebraler Epilepsie (die infolge einer in der Jngend 
iiberstandenen Meningo-Enzepbalitis aufgetreten ist) genaa dieselben 
Moglichkeiten haben wie Nichtepileptiker, von endemischer (Arbeiter-) 
Tetanie befallen zu werden. Und auch umgekehrfc konnen spasmophile 
Kinder, sei es, dass die Spasmophilie geheilt ist, sei es, dass sie latent 
wird, spater infolge des einen Oder anderen zerebralen Prozesses epi- 
leptisch werden. Doch in all diesen Fallen, zu denen sich noch leicht 
eine ganze Reihe anderer Kombinationen konstruieren lasst, kann man 
unmoglich sagen, dass die Tetanie und die Epilepsie in ursaehlicbem 
Zusammenhange miteinander stehen konnen. So beschreibt Nolen 
einen interessanten Fall der Kombination von epileptischen mit teta- 
nischen Erscheinungen, aber iiber den ursachlichen Zusammenhang 
der beiden Syndrome bekommen wir keine definitiven Angaben. Es 
betrrfft ein 7jahriges Madchen, nicht erblich belastet, die da vermut- 
lich bereits seit geraumer Zeit an Laryngospasmus leidet; dabei in 
letzter Zeit geistiger Ruckschritt und grosse Reizbarkeit. Auf Grand 
dieser letzten Erscheinungen nimmt Nolen an, dass wir es mit Epi¬ 
lepsie zu tun haben, obwohl nichts von Petit mal oder von vollstan- 
digen Krampfanfallen mit Bewusstseinsverlust gemeldet wird. (Die 
Anfalle des Laryngospasmus traten namlich stets bei vollem Bewusst- 
sein auf.) Bei dieser Kranken bestand latente Tetanie (Trousseau, 
Chvostek und Erb positiv). Und nehmen wir auch an, dass hier in 
der Tat Epilepsie vorbanden ist, dann ist dadurch noch keineswegs 
festgestellt, dass zwischen den beiden Grappen von Erscheinungen 
irgendeine kausale Verwandtschaft besteht: Die Epilepsie ist vermut- 
lich zerebralen, die Tetanie parathyreogenen Ursprungs. Nolen nimmt 
einen innigen Verband zwischen den beiden Syndromen an, doch seine 
Argumente sind nicht hinreichend; er nennt, einige Falle aus der 
Literatur und sagt dann: „Diese Beobachtungen zeigen also bereits mit 
Sicherheit, dass ein enger Verband zwischen Tetanie und Epilepsie 
bestehen muss." Diese Begriindung ist nicht zutreffend. Dass bei 
einer gewissen Anzafel Epileptiker (und diese Zahl ist verhaltnismassig 


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Epilepsie und Tetanie. 


173 


gering) Tetanie anffcritt, beweist nicht, dass zwischen beiden Syndro- 
inen kansale Verwandtschaft bestebt: In Osterreich, wo die epidemiscb- 
endemische oder Arbeitertetanie sehr haufig vorkommt, werden obne 
Zweifel viele Epileptiker Erscheinungen der Tetanie zeigen, vor allem, 
wenn sie sich unter denselben sozialen und hygienischen Verhaltnisaen 
befinden, die die Arbeitertetanie verursachen oder sie befordern. Docb 
in Holland, wo die epidemische Tetanie yollkommen unbekannt ist 
(rerrautlich well in Holland Roggenbrot ein weniger allgemeines Volks- 
nahrungsmittel ist ira Vergleicb zu Osterreich; vielleicht auch enthalt 
der hollandiscbe Roggen viel weniger Ergotin als der osterreicbische 
oder der russiscbe), sieht man auch nur sebr selten bei Epileptikern 
Erscheinungen von Tetanie. 

Ans dergleichen Griinden sind viele Falle der Literatnr fiir die 
kausale Verwandtschaft, die weitaus die meisten Forscher zwischen 
Epilepsie und Tetanie annelimen, wertlos. An erster Stelle nimmt 
man noch viel zu wenig in Bstracht, dass „Epilepsie“ nur eine Gruppe 
von Erscheinungen darstellt, deren ursachliche Momente grosse Ver- 
schiedenheit zeigen; einige sprechen denn auch nur von „ Epilepsie" 
ohne nahere Angabe; andere sprechen von „genuiner“ Epilepsie, doch 
aus der Bescbreibung ihrer Falle geht nicht selten hervor, dass man 
es unzweifelhaft mit zerebraler Epilepsie zu tun hat. Und, wie schon 
gesagt, hat die Kombination einer zerebralen Epilepsie mit der einen 
oder anderen Form der Tetanie nicbts Besonderes, lieferfc auch keinen 
einzigen Grund fur eine ursachliche Verwandtschaft zwischen den 
beiden Syndromen und muss ganz und gar auf eine Linie gesetzt 
werden mit der Kombination zerebraler Epilepsie mit Tbc, Magen- 
karzinom oder w'elcher anderen Krankheit auch immer. 1m Falle 
von Saiz z. B. ist von einer Psychose die Rede, and zngleich von 
Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie; Saiz ist geneigt die 
psychischen Storungen von der Tetanie abhangig zu macben; ein 
deutlicher Verband zwischen dieser letzteren und der Epilepsie wird 
jedoch nicht ins Licht gesetzt. 

Auch in der ersten ausfiihrlichen Abhandlung von v. Frankl- 
Hochwart kommt die Beschreibung zweier Patienten vor, bei denen 
beide Syndrome auftraten. Die Beschreibungen sind jedoch nicht 
voltstandig genug, um festzusteUen, mit welcher Form der Epilepsie 
wir es zu tun haben. Der erste Fall betrifft einen 24jahrigen 
Schuhraacber, der in seinem 17. Lebensjahre typische Tetanieanfalle 
bekam und in seinem 24. Lebensjahre zugleich an epilep- 
tischen Anfallen litt. Der zweite Fall zeigt dieselbe Reihenfolge: 
18jShriger Kleidermacher, der bereits viele Jahre Tetanieanfalle bat 
undplotzlichzwei epileptische Zufalle zeigt. Ferner erwahnt v.Frankl- 


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Hochwart einen Fall von Friedmann, und dieser Fall lasst an 
Deutlichkeit nichts za wiinschen iibrig: 20jahriger Seminarist, bis jetzt 
vollkommen gesund, bekommt aus Anlass eines scbweren Schlages 
auf den Kopf typische epileptiscbe Krampfe bei langdauerader Be* 
wusstlosigkeit; spater stellte es sich noch heraus, dass er anch noch 
an latenter Tetanie litt. In diesem Falle ist also deutlicb, dass bei 
ein und demselben Kranken zerebrale (traumatische) Epilepsie und 
latente Tetanie vorbanden waren (was von geringer Bedeutung ist). 
Von vie! grosserem Interesse ist denn auch, was v. Frankl-Hoch- 
wart danach iiber die postoperative Epilepsie-Tetanie sagt: ^Beson- 
ders interessant ist, dass Personen, die bis zu der von ihnen iiber- 
standenen Schilddnisenexstirpation vollkommen krampffrei waren, nach 
dieser Operation an Tetanie und Epilepsie erkrankten. Gerade diese 
Beobachtungen sind es, die es mir wahrscheinlich machen, dass d* 
nicbt von zufalliger Koinzidenz die Bede'ist, sondern ein in der Natar 
der Krankheit begrundetes Zusammentreffen vorliegt. Es ist sicherlich 
nicbt iiberfliissig darauf hinzuweisen, dass Hunde nach der Thy- 
reoidektomie nicbt nur die typischeu Tetanieanfalle bei f’reiem Sensorium 
zeigen sollen, doch nicht selten zugleich echte epileptische Krampf- 
anfalle bekommen." Und auch weist v. Frankl-Hochwart auf einen 
von ibm bereits angefiihrten Fall von Gottstein, wobei nach Strum- 
ektomie Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie aufgetreten sind. 
Hier legt v. FrankUHochwart den Nachdruck auf eine ausser- 
ordentlich wichtige Tatsache: Nach Strumektomien treten nicht selten 
bei Kranken, die bis dahin noch niemals irgendeine Erscheinung von 
Krampfen gezeigt hatten und auch nicht erblich belastet sind, Sym- 
ptome sowohl der Tetanie als der Epilepsie auf. Und in solchen Fallen 
ist es in der Tat nicht moglich am sehr innigen kausalen Zusammen- 
hang der beiden Syndrome zu zweifeln, da sie beide durch die Thyreo- 
Parathyreoidektomie hervorgerufen sind. 

Durch diese Mitteilungen v. Frankl-Hochwarts sind wir also 
plotzlich in eine ganz andere Kategorie von Fallen geraten, namlich 
die postoperativen Falle, bei denen plotzlich und mehr oder weniger 
gleichzeitig, und zwar speziell nach einem besonderen chirurgischen 
Eingriff, Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie eintreten. Und 
diese Gruppe, der sich die experimentellen Tetanie-Epilepsieu der Ver> 
sucbstiere vollkommen anschliessen, isb denn auch, wie verschiedene 
Kliniker anerkennen, die allerwichtigste und, wie ich zugleich noch 
hinzufiigen muss, die einzige Gruppe, die die absoluten Beweise fur 
eine unverkennbare und innige ursachliche Verwandtschaft zwischen 
einer bestimmten Form von Epilepsie und einer bestimmten Form 
von Tetanie mit sich bringt. Diese weitaus wichtigste Kategorie wer- 


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Epilepsie und Tetanie. 


175 


den wir sogleich ausfuhrlich besprechen, Erst noch jetzt ein kurzer 
Bericht' fiber andere, nicht operative Falle, wie diese in der Literatur 
zn finden sind. 

Auch der von Luger beschriebene Fall macbt nicht den Eindrack, 
dass wir es hier in der Tat mit zwei Syndromen zu tun baben, die 
pathogenetisch miteinander verwandt sind: Sein 23 jahriger Kranker 
leidet an Tetanie und an Epilepsie; wahrend der interparoxysmalen 
Perioden sind die verschiedenen Air Tetanie charakteristischen Erschei- 
nungen nachzuweisen; wahrend des epileptischen Anfalls sind Facia- 
lisparese und Babinskireflex zu konstatieren. Auf Grand dieser letz- 
teren Besonderbeiten muss m. E. eine zerebrale Ursache der Epilepsie 
als wahrscheinlich angenommen werden. Daraus folgt dann zugleich, 
dass die Epilepsie und die Tetanie in ihren ursachlichen Momenten 
qualitativ ganz voneinander verschieden gewesen sein miissten. 

Dasselbe kann von den moisten der von Bedlich erwahnten 
Fall© gesagt werden. Redlich, der eine sehr interessante und aus- 
ffihrliche Ubersicht fiber diese Frage gibt, hat auch viele Falle aus 
der Literatur gesaromelt und grappiert. Verwundern muss man sicb, 
dass Redlich wohl die Tetanie, aber nicht die Epilepsie grappiert. 
Berficksichtigt man jedoch, dass Redlich ein ttberzeugter Verfechter 
der zerebralen Pathogenese aller Epilepsien (auch der genuinen) ist, 
so ist wohl begreiflich, dass er alle Epilepsien als gleichwertig be* 
trachtet. Nur am Schlusse seiner fibrigens sehr interessanten Ab- 
handlung sagt Redlich, dass bei einigen der von ihm und anderen 
beschriebenen Falle Hinweise auf eine primar-organische Gehirn- 
erkrankung bestanden, und obwohl er solches nicht deutlich zugibt, 
fallt es ihm in diesen Fallen doch schwer eine Verwandtschaft zwischen 
den kausalen Momenten einer zerebralen Epilepsie und einer para- 
thyreogenen (oder nicht parathyreogenen) Tetanie anzunehmen. Red¬ 
lich unterscheidet dann folgende Gruppen: a) Epilepsie, bereits viel 
frfiher aufgetreten, eventuell chronische Epilepsie mit hin und wieder 
Anfallen von Tetanie; b) parathyreoprive Tetanie, bei der sicli Er- 
scheinungen von Epilepsie zeigen; c) endemisch-epidemische (soge- 
nannte Arbeiter-)Tetanie mit Epilepsie; d) infantile Tetanie-Epilepsie; 
e) Graviditats-, Puerperal- und Laktationstetanie mit Erscheinungen 
von Epilepsie und f) sogenannte Magentetanie (gastrointestinale Tetanie), 
bei der zugleich Epilepsie auftritt. Redlich halt auch die zweite 
Gruppe, das sind also die postoperativen und die experimentellen Epilep- 
sie-Tetanien, bei weitem fiir die wichtigsten und begrfindet dies in voll- 
kommen klarer Weise: „Ohne Zweifel ist diese Gruppe fur uns die 
wichtigste, weil hier die sehr enge atiologisch-pathogenetische Ver- 
wandtscbaft der beiden Krampfformen am allerdeutlicbsten zum Vor- 


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schein kommt; die Reihenfolge des Auftretens der.Erscheinungen and 
die Entwicklung des Kraakheitsbildes sind meist akat und gleichformig; 
atiologisch-pathogenetisch ist in der Regel nichts anderes zu finden 
als die Entfernung der Epithelkorperchen, die, wie wir nan wissen, 
Tetanie zur Folge bat. Hinzu kommt noeb, dass anch bei der experi¬ 
me ntellen Entfernung der Epithelkorperchen bei Tieren oftmais das 
Aaftreten epileptiformer Anfalle wabrgenommen ist." Dazu muss eine 
kleine Bemerkung gemacht werden: Redlich spricht von der(opera- 
tiven oder wohl experimentellen) Entfernung der Epithelkorperchen, 
doch er batte sagen miissen: Die Entfernung der Schilddrtise und der 
Epithelkorperchen, da in den postoperativen Fallen stets von Strum- 
ektomie die Rede ist, und bei den Tierversuchen stets von der kompletten 
Thyreo-Parathyreoidektomie. Dies macbt doch noch einen grossen 
Unterscbied, aber Redlich scheut sicb offenbar in den bier genannten 
Fallen dem Wegfall der Schilddrfisenfunktion eine wichtige Rolle 
zuzuschreiben, da er wiederhoientlich wohl fiber die Parathyreoid- 
funktion und deren Verband mit der Tetanie spricht, doch der Thy- 
reoidea selbst fibrigens sehr wenig Andacht schenkt. Spater, bei der 
Erklarung der kombinierten Tetanie- und Epilepsieerscheinungen, 
kommen wir hierauf noch zurfick. Bewahren wir die von alien 
Forschern als die wichtigste Gruppe betracbteten Falle der postopera¬ 
tiven Epilepsie-Tetanie bis zuletzt, und besprechen wir nun sehr flfichtig 
die Falle der Epilepsie, die kombiniert sind mit endemischer, Gravi- 
ditats-, Laktations- und Magen-Darm-, sowie mit Kinder-Tetanie. 

Alle diese Falle sind wenig interessant, da in keinem einzigen 
Falle deutlich hervorgeht, dass wirklich eine gemeinsame Ursache 
ffir die beiden Krampfformen vorhanden ist bzw. dass die beiden 
Ursachen der beiden Syndrome miteinander qualitative Ubereinkunft 
oder Verwandtschaft zeigen. Und diese Bedingungen konnen doch 
nur dann erffillt werden, wenn bewiesen wird, dass dieselbe Noxe zu 
den beiden Syndromen Anlass geben; doch dieser Beweis wurde nie- 
mals geliefert: Bei der grossen Gruppe der Arbeitertetanie ist hochst- 
wahrscheinlich Ergotinvergiftung die Ursache der Tetanie, aber diese 
kann niemals die Ursache der eventuellen Epilepsie sein, da diese 
letztere niemals auftritt, selbst nicht bei schweren und weitverbreiteten 
Epidemien von Kriebelkrankheit (Egotinvergiftung), wie sie so viel 
in Osteuropa vorkommen. Und andererseits ist in den meisten Fallen 
der Literatur aus den Erscheinungen wohl mit Bestimmtheit abzu- 
leiten, dass die Epilepsie rein zerebralen Ursprungs ist. Und dann 
ist natfirlich jede Verwandtschaft mit der bei demselben Kranken 
auftretenden Tetanie ausgeschlossen, da diese letztere niemals zere¬ 
bralen Ursprungs sein kann. Was alle Kliniker zu beweisen wfin- 


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Epilepsie and Tetanic. 


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scben, namlich die innige Verwandtschaft in den atiologiseh-kausalen 
Momenten der Tetanie nnd der Epilepsie, wtirde nur- nachzuweisen 
sein bei der Kombination von fchyreogener (genuiner) Epilepsie mit 
parathyreogener Tetanie. Meiner festen Uberzeugung nach bestehen 
diese Falle ohne Zweifel, sei es auch in nicht zu grosser Anzahl. Die 
Diagnose „genuine” Epilepsie ist jedoch noch nicbt mit vollkommener 
Sieherheit zu stellen und die von parathyreogener Tetanie ebenso- 
wenig (wenigstens laut unserer Auffassung, dass namlich bei weitem 
nicht jede Tetanie parathyreogenen Ursprungs ist). Doch ist vielleicht 
die Stoffwechselchemie bald so weit fortgeschritten, dass wir dnrch die 
Blutuntersncbang usw. die Diagnose genuine Epilepsie mit Sieherheit 
stellen konnen, und nicbt erst durcb die negativen Ergebnisse der 
pathologiscb-anatomischen Gehirnuntersuchung zu der gewiinschteLi 
diagnostischen Sieherheit gelangen. Doch, so lange die Stoffwechsel¬ 
chemie uns dazu nicht instand setzt, haben wir diese absolute Sicher- 
heit nicht, uud konnen wir also nicht mit Bestimmtheit sagen, dass 
in einem gewissen Falle genuine Epilepsie mit parathyreogener Tetanie 
kombiniert ist. (Der Bequemlichkeit wegen spreche ich yon genuiner — 
thyreogener Epilepsie; gemeint ist dann tatsacblich thyreo-parathyreo- 
gene Epilepsie.) Und wie bereits gesagt ist, betreffen die meisten 
Falle der Literatur Falle zerebraler Epilepsie, kombiniert mit einer 
oder anderer Form der Tetanie; diese Kombination ist rein zufallig 
und in jedem Falle vom atiologisch-pathogenetischen Standpunkte voli- 
kommen wertlos. Jeder urteile selbst (Falle ron Redlich): In einem 
Falle beginnen die epileptischen Krampfe stets am linken Arm, in 
einem zweiten Falle sind gleichfalls unilateral Erscheinungen vor- 
handen (Steigerung der Sehnenreflexe, Babinski), wiihrend bei einer 
ganzen Reihe anderer Kranker gleichfalls deutliche Zeichen zerebraler 
LSsionen yorhanden sind in der Form von Stauungspapille, Parese 
eines Beines, Fazialisparese, einseitige Spasmen mit Babinski, eic- 
seitige Krampfe usw. Wieder ein anderer Kranker ist schwachsinnig 
(vermutlich Enzephalitis in der Jugend), ein zweiter leidet an Lues 
cerebri, ein dritter hat in seiner Jugend Konvulsionen gehabt und 
also wohl hochstwahrsclieinlich eine Meningoenzephalitis durchgemacht. 
In alien diesen Fallen ist es also absolut sicher, dass die Epilepsie 
einer zerebralen (organischen) Erkrankung zugeschrieben werden muss; 
in anderen Fallen ergibt sich dies nicht deutlich, doch auch das 
Gegenteil stellt sich nicht heraus, da in verschiedenen Fallen nichts 
von Fraisen in der Jugend gemeldet wird. (Da Fraisen fast imiuer 
ein Symptom einer organischen Gehirnlasion, wie Meningitis, Enze¬ 
phalitis, Hydrozephalus internus, Lues cerebri usw. sind, miissen alle 
Falle ron Epilepsie, bei denen Konvulsionen (Fraisen) in der Anamnese 


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Bolten 


vorkommen — und das sind sehr viele — als vermutlich zerebralen 
Ursprungs angesehen werden. (Doch leider wird der pathogenetischen 
Verschiedenheit der Epilepib and den atiologischen Momenten, die uns 
indiesem diagnostischen Chaos denWeg zeigen konnen, in der Literatur 
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.) Wegen der hier oben genannten 
Griinde sind in der Literatur keihe Falle von Epilepsie-Tetanie zu finden 
(ausser naturlich den postoperativen Fallen), die den Eindruck machen, 
dass sowohl die Epilepsie als auch die Tetanie thyreo-parathyreogenen 
Ursprungs sind. Abgesehen davon, dass, wie bereits gesagt, diese 
Falle klinisch noch nickt mit vollkommener Sicherheit von der grossen 
Masse der organischen Epilepsien abzusondern sind, findet man in 
der Literatur selbst keine Falle angegeben, bei denen wenigstens so 
sorgfaltig wie moglich festgestellt ist, dass weder klinische Erschei- 
nungen einer organischen Gehirnlasion, noch anamnestisch-atiologische 
Angaben, die eine solche Lasion wabrscheinlich machen wiirden, vor- 
handen sind. Dagegen ist in vielen Fallen die primar-organische Ge¬ 
hirnlasion wohl nachweisbar, so dass von den zahlreichen Fallen der 
hier behandelten Kombination, die in der Literatur zu finden sind, 
nur die postoperativen iibrig bleiben. Alle anderen Kategorien bieten 
nicht die allergeringste Sicherheit, dass dabei in der Tat pathogene- 
tischer Zusammenhang zwischen der Epilepsie und der Tetanie besteht. 
Aber um so mehr Sicherheit dariiber haben wir in den von v. Frankl- 
Hochwart, Pineles, Redlich und vielen anderen als sehr wichtig 
gestempelte Falle, bei denen nach operativer Entfemung der Thyreoidea 
und der Parathyreoideae die beiden Syndrome aufgetreten sind. Und 
in dieser Gruppe gehen die menschliche Pathologie und das Tier- 
experiment vollkommen parallel. Was wir nach mit zu wenig Scho- 
nung vorgegenommenen Strumektomien beim Menschen sehen, das 
sehen wir auch bei der experimentellen Parathyreoidektomie bei 
Tieren, sowohl bei Kamivoren als bei Herbivoren. Kocher, einer der 
ersten, der in zahlreichen Fallen die Strumektomie vornahm, war 
auch einer der ersten, der beim Menschen die schadlichen Folgen 
einer zu reichlichen Entfernung der Schilddrtise, wobei dann die 
Epitbelkorperchen unwillkiirlich vollkommen oder grosstenteils mit 
entfernt wurden, feststellte. Anfanglich teilte Kocher Wolflers 
Auffassung, dass namlich „die totale Exstirpation der Schilddriise 
durch den Menschen so gut vertragen wird, dass nach der Ope¬ 
ration keinerlei Ausfallssymptome auftreten, so dass die Operation und 
ihre Folgen uns nichts fiber dieses Organ und dessen physiologische 
Wirkung lehren." Doch bald kam Kocher zu einer ganz anderen 
Einsicht. Nicht nur, dass verschiedene Kranke, die von vornherein 
als geistig vollkommen normal betrachtet werden mfissten, allmahlich 


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Epilepsia und Tetanie. 


179 


allerart Erscheinungen der „Kachexia strumipriva" zeigten, sondern 
Kocher sah auch nach der Stramektomie oftmals Anfalle von Tetanie und 
von Epilepsie auftreten. Dass ubrigens so viele Falle sogenannter kom- 
pletter Thyreoidektomie ganz obne ernste Ausfallssymptome verliefen, 
muss wohl dem zugescbrieben werden, dass die Tbyreoidea in der 
Tat nicht vollkommen entfernt wurde, so dass noch funktionierendes 
Schilddriisengewebe iibrig blieb; daher, dass Kocher in einigen Fallen 
kompletter Thyreoidektomie mehr oder weniger bald nach der Opera¬ 
tion Rezidiv der Struma auftreten sab. Und dann bescbreibt Kocher 
-den Fall eines Madchens, bei dem, vier Monate nach der Strum- 
ektomie, plotzlich heftige Krampfe in den Armen bei intaktem Bewusst- 
sein auftraten. Diese Anfalle zeigten sich wahrend vierJPagen, dock 
verschwanden wieder nach dem Gebrauch warmer Bader. Darauf 
traten jedoch auch echte epileptische Krampfe auf, mit zwar kurz- 
dauemder, aber doch vollkommener Bewusstlosigkeit. Ubrigens sind 
Kochers Mitteilungen so kurz gefasst, dass wir wenig daran haben 
fiir die Kenntnis der weiteren Besonderheiten, der Dauer und des 
weiteren Verlaufs der postoperativen Tetanie-Epilepsie. So meldet er 
von seinem Falle 55 nur „ wieder holt epileptische Zufalle“, doch iiber 
den weiteren Verlauf und iiber Tetanie horen wir nichts; im P'alle 64 
heisst es: „kraftiger Tetanieanfall", doch nahere Besonderheiten werden 
vorenthalten. 

Und gerade diese Falle, bei denen nach Thyreo-Parathyreoid- 
ektomie Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie auftreten, sind fiir 
die Pathogenese der beiden Syndrome von allerhochstem Interesse. 
Immerhin handelt es sich hier, wenigstens in der iibergrossen Mehr- 
zahl der io der Literatur beschriebenen-Falle, um Personen, die nicht 
erblich belastet sind, und die vor der Operation als geistig vollkommen 
gesund angesehen werden mussten, die auch niemals Erscheinungen 
weder der Tetanie, noch der Epilepsie gezeigt batten, und welche 
nun plotzlich nach dem betreffenden chirurgischen Eingriff die beiden 
Syndrome zeigen. Dass in diesen Fallen also ein sehr inniger Zu- 
sammenhang zwischen der Operation und den beiden Krampfformen 
bestehen muss, steht. ausser jedem Zweifel. Und dadurch ist zugleick 
auch der kausale Zusammenhaug zwischen den beiden Syndromen 
festgestellt. Biedl sagt dariiber: Fiir die innere Zusammengehorigkeit 
von Tetanie und Epilepsie sprechen: 1. das Auftreten der epileptischen 
Anfalle gleichzeitig mit der Tetanie oder im Verlaufe derselben; 2. die 
Frequenz und die Heftigkeit der epileptischen Anfalle geht vollkommen 
auf und nieder mit denselben Eigenschaften der Tetanieanfalle und 
3. das nicht seltene Verschwinden der epileptischen Anfalle gleich¬ 
zeitig oder kurz nach dem Verschwinden der Tetanieerscheinungen. 


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iso 


Boltex 


Id der Tat sind in den Fallen Ton Tetanie-Epilepsie nach Strumektomie 
alle Faktoren vorhanden, die notig sind znm Beweise der Verwandi- 
scbaft der Pathogenese der Tetanie and jener der Epilepsie, w<enig- 
stens in dieser speziellen Kategorie. 

Redlich konnte'in der Literatur 20 Falle von Epilepsie-Tetanie 
nach Strnmektomie sammeln, und fiigt dieser Kasuistik einen inter- 
essanten, von ihm wahrgenommenen Fall hinzu. Es betrifft eine 
54jahrige Frau, die 14 Jahre vorher wegen Struma operiert wnrde 
und wabrend all dieser Zeit (von der Operation an) Anfalle von Te¬ 
tanie und von Epilepsie gezeigt hatte. Der genaue Zeitpunkt, von. 
dem an, nach der Strumektomie, die ersten Erscbeinungen der Tetanie- 
Epilepsie aijfgetreten sind, ist nicht mehr festzustellen, docb laut Mit- 
teilungen der Familie muss dies ziemlich bald nach der Operation 
gesobehen sein. Die Zufalle sollen sowobl nachts wie fiber Tag auf- 
treten, ungefahr einmal in drei Monaten; vollkommene Bewusstlosig- 
keit und Zungenbiss traten dabei immer auf. Ferner zeigte sie noch 
verscbiedene Symptome der Tetanie, u. a. sehr deutlich Trousseau, 
weiter Chvostek und Schultze. Als Tetanieerscheinung wird weiter be- 
riicksicbtigt ein ziemlich weit fortgescbrittener Katarakt (der in der 
Tat, ebenso wie die in Reihen stehenden Defekte des Zahnschmelzes bei 
parathyreopriver Tetanie oft angetroffen wird). Bei den epileptischen 
Zufallen sind keine Herderscheinungen, auch kein Babinski wahrzu- 
nehmen. Durch allerlei ungfinstige soziale Verhaltnisse kommt Pa- 
tientin psychisch herunter, ist angstlich und unruhig und muss in eine 
Anstalt gebracht werden. 

Ausser von Kocher, Pineles und Redlich sind solche Falle 
postoperativer Epilepsie-Tetanie durch v. Mikulicz, v. Eiselsberg, 
Westphal, Hochgesand, Erdheim, Kronlein, Ehrhardt und 
einigen anderen mitgeteilt worden. 

Was bei diesen Fallen der Epilepsie-Tetanie auffallt, ist das Miss- 
verhaltnis zwischen der Zahl der Manner und der Frauen. Bei alien 
Statistiken fiber postoperative Tetanie sind die Manner sehr stark in 
der Minderheit. Es ist nicht mit Sicherheit bekannt, ob die Struma 
( die verschiedenen Arten zusammengezahlt) haufiger bei Frauen als 
bei Mannern vorkommt (nur von der Basedowstruma steht es ganz 
bestimmt test, dass sie viel mehr bei Frauen als bei Mannern vor¬ 
kommt, doch von den vielen anderen Kropfformen ist dies nicht be¬ 
kannt); doch es darf wohl angenommen werden, dass die Strumektomie 
aus kosmetischen Grtinden viel mehr bei Frauen als bei Mannern an- 
gewendet wird, und dadurch ist also leicht zu erklaren, dass die post¬ 
operative Epilepsie-Tetanie gleichfalls viel ofter bei Frauen als bei Man¬ 
nern vorkommt. 


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Epilepsie and Tetanie. 


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Die Tetanieanfalle treten gewdhnlich ziemlich bald nacb der Ope- 
lation auf, meistens am 2.-3. Tage, bisweilen etwas spater, z. B. am 
4 . —7. Tage, nur in wenigen Fallen noch spater. Die epileptiscben 
Anfalle kommen gewohnlich erst spater zum Vorschein, meistens in 
der zweiten oder dritten Woche, bisweilen jedoeb aucb viel spater, wie 
in einem der Falle Kochers, und ineinem Fall von Pineles sogar sebr 
spat, namlich erst nacb einem balben Jabre. Und einige Male sollten 
nur epileptische Anfalle anftreten und keine der Tetanie. Angenom- 
men, dies sei wabr, so konnen sich dabei noch verscbiedene Moglich- 
keiten ergeben: die Tetanieanfalle sind viel kiirzer, weniger auffallend 
und einfacher als die epileptiscben und werden also leicbter iibersehen. 
Weiter ist es moglich, dass die Tetanie nur in latenter'Form vorbanden 
war, so dass ihre Eigenarten erst bei einer Untersuchung angetroffen 
werden, und schliesslich ist es moglich, dass die epileptiscben Anfalle 
sebr in den Vordergrund treten, z. B. in der Form eines Status epi- 
lepticus, so dass dadurch die Tetanieanfalle sicb der Wahrnehmung 
entzieben. 

Was den weiteren Verlauf der postoperativen Epilepsie-Tetaniefalle 
betrifft, so sind die Mitteilungen dariiber in der doch bereits be- 
schrankten Literatur sehr sparsam. So meldet Kocher nichts iiber 
den weiteren Verlauf der drei von ihm selbst beobachteten Falle von 
Epilepsie-Tetanie nach Strumektomie. In jedem Falle geht jedoch aus 
den Mitteilungen hervor, dass der weitere Verlauf sebr verschieden 
sein kann. Dementsprecbend konnten wir drei Gruppen unterscheiden: 
Bei der ersten vermindern sich die Anfalle, nachdem sie anfanglich 
an Intensitat und Frequenz zugenommen batten, wieder allmahlicb, 
nm schliesslich ganz zu verschwinden, ohne irgendeine Spur zu 
hinterlassen. Bei der zweiten Gruppe werden die Erscheinungen chro- 
nisch und es entwickelt sich ein Zu9tand chroniscber Epilepsie mit 
alien Besonderheiten und Eigentiimlichkeiten davon: Langsam auf- 
tretende Charakterveranderungen (grossere Reizbarkeit, Tragbeit im 
Denken und Handeln, immer einengende Interessensphare, erhohter 
religioser Sinn usw.) und zum Scbluss psychiscbe Storungen, deren 
Ende die epileptische Demenz ist. Aucb die Tetanie wird dann chro- 
pisch. Psychische Storungen kommen also in dieser Gruppe vielfacb 
vor: sowobl im Falle Redlichs als bei einem der zwei Kranken 
Westphals trat schliesslich eine Psychose auf. Bei der dritten Gruppe 
nehmen die Erscheinungen gar bald einen sturmiscben Verlauf, die 
epileptischen Anfalle, die anfanglich mit mehr oder weniger deutliehem 
Intervalle auftraten (in dem das Bewusstsein sicb wieder einstellte), 
folgen allmahlicb immer schneller aufeiflander, nach Verlauf kurzer 
Zeit (bisweilen einige Stunden, manchmal langer, z. B. ein paar Tage) 


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kommt das Bewusstsein nicht mehr zariick, es entwickelt sich ein 
Status epilepticus uud in diesem tritt der Exitns letalis ein. Schliess- 
lich gibt es auch einige Falle, die in keine dieser drei Gruppen passen, 
und bei denen namlich nur wenige Tetanieanfalle und ein einziger 
epileptiscber Insult auftreten und danach alle Erscbeinungen ganz 
yerscbwinden. Verschiedene Forscher lenken besonders die Andacht 
darauf, dass meistens die Tetanieanfalle zuerst auftreten und gewohn- 
lich zuletzt verschwinden, und dass die Erscbeinungen der Epilepsie 
fast itnmer in Haufigkeit und Intensitat usw. sebr regelmaBig mit 
denen der Tetanie auf- und niedergehen. 

Schliesslicb ist nocb von grossem Interesse, dass bei der iiber- 
grossen Mehrzabl der Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie keine erb- 
liche Belastung im Spiel ist, so dass die Kranken vor der Operation 
als geistig vollkommen normal betracbtet werden miissten und (mit 
einer seltenen Ausnabme) keine einzige Erscbeinung von Epilepsie 
oder Tetanie gezeigt hatten vor der Strumektomie. „In der grossen 
Mehrzahl der Falle fehlt denn auch“, wie Bedlich sagt, „jedes atio- 
logische Moment fur die epileptischen Anfalle; als solcbes kann man 
nur die Entfernung der Schilddriise bzw. der Epithelkorper- 
chen und die dadurch hervorgebrachte Tetanie betrachten." 

Die postoperativen Epilepsie-Tetaniefalle sind selten, das ist wohl 
sicber. Nimmt man auch an, dass verschiedene Falle nicht veroffent- 
licbt sind, zumal in der Zeit, wo man die Schilddriise noch nicht als 
ein lebenswichtiges Organ betrachtete und also noch viele komplette 
Thyreoidektomien vornahm, so ist eine Zahl von 20 Fallen immerhin 
eine sehr armselige Ernte. Und in der Zukunft sollen diese Falle stets 
seltener werden^ seitdem allgemein bekannt geworden ist, dass man 
die Thyreoidea und die Parathvreoideae nicht entbehren kann (in dem 
Sinne, dass von der Thyreoidea mindestens ein Drittel des funktio- 
nierenden Gewebes iibrig bleiben muss und von den Epithelkorperchen 
mindestens die Halfte), trachten alle Chirurgen stets eine hinreichende 
Menge normalen Gewebes iibrig zu lassen, und wenden sie dann auch 
nur unilaterale Resektionen, partielle Amputationen usw. an. Um nun 
eine Ubersicht iiber die Haufigkeit der hier gemeinten Falle zu be- 
kommen, habe ich mich mit einer Rundfrage an die hollandischen 
Chirurgen gewandt; aus den vielen ausfiihrlichen Antworten, die ein- 
kamen (und fur die ich hierbei meinen herzlichen Dank bezeuge), geht 
ganz deutlich hervor, dass die postoperativen Epilepsie-Tetanien jetzt 
fast gar nicht vorkommen. Mehrere Chirurgen, einige sogar mit 
einem sehr grossen Material^ hatten niemals irgendeine Erscheinung 
von Tetanie oder Epilepsie wahrgenoramen; ein anderer hatte unter 
140 Strumektomien nur zwei Falle voriibergehender, massig schwerer 


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Epilepsie and Tetanie. 


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Tetanie, einige andere batten nur ein einziges Mai sehr leichte Tetanie- 
erscheinungen gesehen, und vor allem waren epileptische Anfalle offen- 
bar sehr selten. Bei dem Gesamtmaterial der hollandischen Chirurgen, 
das doch sicherlich viele hunderte Strumektomien umfasst, ergeben 
sich nnr zwei Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie. 

Die sehr kurz wiedergegebenen Krankheitsgeschichten dieser zwei 
Falle lanten wie folgt: 

1. Madchen V., 14 Jahre (aus der chirargischen Universitatsklioik 
in Groningen; Prof. Koch). Hat seit ungefahr 3 Monaten eine langsam 
wachsende Geschwulst der Schilddrflse, doch keine Basedowerscheinungen. 
Die Geschwnlst geht bis an, doch nicht bis nnter das Sternum. In der 
Struma keine Gefassgerausche; keine Urinbefunde. Hat frhher niemals an 
Krampfen gelitten. Wegen Atembeschwerden wurde zur Operation ge- 
schritten. 

Am 20. Januar 1915 wurde in Narkose der rechte Lappen der Thy- 
reoidea reseziert und ausserdem die Arteria thyreoidea links unterbunden. 
Es trat pldtzlich Atmungsstillstand ein, darum Tracheotomie und Sauer- 
stoffeinblasung. Patientin begann wieder zu atmen und ist am Abend sehr 
gut, hat nur beim Schlucken ein wenig Scbmerzen, doch sonst keine Be- 
schwerden. 

Am folgenden Tage treten tonische und klonische Krampfe in Armen 
und Beinen auf; dabei vollkommener Bewusstseinsverlust. Die tonischen 
Krampfe treten sehr in den Hintergrund. Chvostek sowohl wie Trousseau 
nicht vorhanden. Die Anfalle der klonischen Krampfe wiederholen sich 
den ganzen Tag, doch noch kein Status epilepticus; dabei sind schliess- 
lich alle Muskeln mit in Tatigkeit; Zungenbiss kommt nicht dabei vor, 
wohl HarnlOsung. Darauf bekommt Patientin Thyreoidtablctten a 50 rag, 
3 mal taglicb, eine Tablette. Dadurch verschwinden die Anfalle klonischer 
Krampfe mit Bewusstlosigkeit vollkommen. Auch wurde 2 mal taglich 
200 mg Chlorkalzium eingegeben. Durch die Eingabe von Thyreoid trat 
anfanglich eine grosse Besserung ein: die Patientin blieb fortdauernd 
compos mentis, ass und trank hin und wieder und die Krampfe blieben 
vollkommen fort; doch es zeigten sich Erscheinungen von Pneumonic und 
am 4. Tage nach der Operation verschied Patientin. 

Bei der Obduktion wurde eine doppelseitige Pneumonic, sonst aber 
nichts anderes gefunden. 

2. Frau B., 47 Jahre (chirurgische Klinik des stadtischen Kranken- 
hauses im Haag, Dr. Schoemaker). Patientin lttdet seit ungefahr 6 Jahren 
an einer allmahlich grosser werdenden Struma und stammt aus einer echten 
„Kropffamilie": ihre Mutter hatte eine sehr chronische Struma und ist an 
„Kropftod“ gestorben, und ihre beiden Schwestern haben gleichfalls grosse 
KropfgeschwQlste. Patientin, die frtther stets gut gesund war und die 
niemals irgendeine psychische StOrung Oder irgendeine Erscheinung von 
Epilepsie oder Tetanie gezeigt bat, ist in letzter Zeit stark abgemagert 
und soil sich darum operieren lassen. Am 14. Juni 1915 Strumektomie, 
die ganz ohne Stdrungen und hinzukommende Besonderheiten verlief. Be- 
reits einige Stunden nach der Operation bekam Patientin Anfalle von Te¬ 
tanie: bei vollkommen intaktem Bewusstsein traten sehr schmerzhafte, 

Deutsche ZeUschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. IB 


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heftige, tonische KrSmpfe in den oberen Extremit&ten anf, wobei die Hftnde 
and Finger in den typischen Gebartshelferstand gebracht warden. Bereits 
am selben Abend traten dabei epileptische Anfalle anf; anfangs waren es 
typiscbe Anfalle tonischer und klonischer Kr&mpfe, die in den Mnskeln 
des Gesichtes, des Rumples and der GliedmaBen auftraten; Znngenbiss nnd 
UrinlOsung kjjmen dabei ein einziges Mai vor; Herdsymptome und Babinski 
warden dabei nicht wnhrgenommen. Zwischen den Anfallen stellte sich 
das Bewusstsein wieder her, doch allmahlich kamen die Anfalle dichter 
hintereinander, und das Bewusstsein wurde mehr und mehr benommen. 
Dabei wurde der epileptische Anfall oft durch einen Tetanieanfall einge- 
leitet, doch dieser letztere gingen schliesslich vollkommen verloren in den 
stets schwerer auftretenden epileptischen Erscheinungen; ein einziges Mai 
trat zwischen den epileptischen Konvulsionen und bci fortwahrender tiefer 
Bewusstlosigkeit noch ein Tetanieanfall mit typisebem Stande von Handen 
nnd FOssen auf. Doch des Nachts wurden die epileptischen Anfalle viel 
schwerer and haafiger; alle angewendeten Mittel blieben erfolglos, und 
bald trat ein heftiger and langdauernder Status epilepticus auf, in dem 
Patientin verschied, am Tage nach der Operation. Die Sektion konnte 
nicht ausgefohrt werden. 

An diese Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie schliessen sich die 
Ergebnisse der Tierversuche vollkommen an. Bereits v. Frankl- 
Hochwart wies darauf bin, dass bei Hunden nach Thyreo-Parathy- 
reoidektomie nicht nar Tetanie, sondern anch nicht selten Erschei¬ 
nungen der Epilepsie auftraten; Erdheim konnte dasselbe bei Ratten 
feststellen. Bei diesen letzten Tieren traten in Wirklichkeit keine 
gut abgerundeten epileptischen Anfalle auf, sondern vielmehr lang- 
dauernde epileptische Krampfe, die mit sehr kurzen Intervallen unge- 
fahr 1 V 2 Stunden dauerten, selbst einigemale 3—12 Stunden anhielten, 
und bei denen das Tier vollstandig bewusstlos war. Erdheim konnte 
bei ungefahr einem Drittel seiner Versucbstiere nach kompletter Thy- 
reoidektomie Erscheinungen von Epilepsie wahrnehmen; diese Epilepsie 
stimmt jedoch nicht in allerlei Besonderbeiten mit der menschlichen 
iiberein, da beim Versuchstier oft schlaffe Lahmungen in den Extre- 
mitaten auftraten, ausserdem starke Erschiitterun gen und Niederstiirzen, 
Beben der GliedmaBen usw. In der Regel gingen die Erscheinungen 
der Tetanie denen der Epilepsie voran; traten diese letzteren mehr 
in den Vordergrund, dann verschwanden zeitlich die Tetanie-Sym- 
ptome. 

Pinoles experimentierte mit Affen. Nach Thyreo-Parathyreoid- 
ektomie sah er gar bald Erscheinungen von Tetanie und von Kachexie 
auftreten. Diese verschwanden allmahlich vollkommen, doch langere 
Zeit spater traten wieder isolierte Anfalle der Epilepsie-Tetanie auf. 
Redlich hat gleicbfalls dieses Zuriickgehen der parathyreopriven 
Tetanie gesehen, die dann spater wieder viel intensiver auftrat: eine 


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Epilepsie und Tetanie. 


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junge Katze, an der komplette Thyreo-Parathyreoidektomie vorge- 
nommen .wurde, zeigte unmittelbar darnach schwere Tetanie-Anfalle. 
Diese warden jedoch allmahlich leichter and verschwanden schliesslich 
ganz; es trat dann jedoch ein deutlicher Kretinismus alif, der aber 
nach subkutaner Thyreoidineingabe wieder verschwand. Ungefahr 
l l l 2 Jahre nach der Operation starb das Tier unter gehauften, sehr 
schweren epileptischen Anfallen. 

Boldyreff konnte feststellen, dass die Thyreoidea auf die Warme- 
regulierung Einfluss ausiibt, und dass nach kompletter Thyreoidekto- 
mie wiHkiirlich Krampfanfalle hervorgerufen werden konnen, wenn 
die Koipertemperatur erhoht wird. Durch Abkiihlnng des Tieres 
wnrde dann ein solcher Anfall (auch der spontan auftretende) wieder 
zum Stillstand gebracht. Karelkin konnte dies bestatigen: Wenn er 
bei seinen Versuchstieren, an denen Thyreo-Parathyreoidektomie vor- 
genommen war, die Korpertemperatur erhohte (z. B. durch Einspritzung 
salzsauren Kokains), traten oft fibrillare Kontraktionen und bisweilen 
allgemeine Krampfe auf. Diese Tatsachen weisen darauf hin, dass 
das Auftreten der Krampfe parallel geht mit der Intensitat des Stoff- 
wechsels: erwarmt man das Tier und erhoht man also den Stoff- 
wechsel, so treten epileptische Konvulsionen auf; kiihlt man das Tier 
ab und setzt also den Stoffwechsel herab, so verschwinden diese 
Krampfe. Bedlich hat es dahin gebracht die Bedingungen naher zu 
bestimmen, unter denen sich bei Katzen nach kompletter Thyreoid- 
ektomie die Erscheinungen der Tetanie und Epilepsie entwickeln. Er 
ging dabei von dem auch von vielen anderen, z. B. Biedl und Kreidl, 
eingenommenen Standpunkt aus, dass eine Narbe in der Gehirnrinde 
das Auftreten epileptischer Zufalle befordert. Bei einer Katze wurde 
also die rechte motorische Zone exstirpiert und drei Wochen spater 
beiderseits ein Epithelkorperchen entfernt. Darauf traten leichte 
Tetanieerscheinungen auf, die durch Eingabe von Kokain und Mor- 
phium und durch Athernarkose schlimmer wurden. Unter dem Ein¬ 
fluss dieser Gifbe traten zagleich Erscheinungen der Epilepsie auf. 
Bei einer zweiten Katze wurde gleichfalls die rechte motorische Zone 
entfernt und in zwei Tempos ebenso die Schilddriise und alle Epithel- 
korperchen. Nach der letzten Exstirpation unmittelbar Erscheinungen 
schwerer Tetanie mit starken kortikalen Ausfallssymptomen, doch 
ohne Erscheinungen von Epilepsie. Athernarkose verursacht schwere 
Tetanieanfalle. Die Erscheinungen bleiben sehr stiirmisch; Parathy- 
reoidtabletten haben kein Resultat; Exitus letalis nach vierzehn Tagen. 

Bei zwei anderen Katzen verliefen die Erscheinungen auf genau 
dieselbe Weise; nur die fiinfte Katze zeigte viel vollstandigere Er¬ 
scheinungen. Exstirpation der rechten motorischen Zone und von drei 

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Epithelkorperchen ergibt nor kortikale Ausfallssymptome, doch keine 
Tetanie. Exstirpation des yierten Epithelkorperchens jedoch verursacht 
bereits nach 24 Stunden Erscheinungen der Tetanie (links dentlicher 
als rechts), die im Laufe von 24 Stunden noch stark zonebmen. 
Ausserdem traten drei deutliche epileptische Anfalle anf, die jedocb 
keinen einseitigen Charakter zeigten. Dorch Athernarkose kann man 
diese epileptischen Anfalle bervorrufen. Allmahlich und gleichzeitig 
nebmen diese beiden Arten Anfalle an Intensitat nnd Haufigkeit ab; 
nach ein paar Monaten sind sie ganzlich verschwunden und dann auch 
durch Athernarkose nicht mehr zum Vorschein zu rufen. Red lie h 
lenkt nocb die Andacbt darauf, dass bei diesem letzten Versucbstier, 
ebenso wie bei der mensebliehen postoperativen Epilepsie-Tetanie, die 
Erscheinungen der Epilepsie und Tetanie gleichzeitig zunehmen, gleich¬ 
zeitig ihren Hohepunkt erreichen, und in derselben Weise wieder 
abnehmen und verschwinden. Auch weist er darauf hin, dass bei 
diesem Versuchstier nach dem Vornehmen der Rindenlasion keine 
einseitigen Krampfe auftraten, auch nicht nach der partiellen Para- 
tbyreoidektomie. 

Eine Bemerkung iiber den Wert dieser Versuche darf nicht unter- 
bleiben: dass Kreidls Versuchstier bereits nach partieller Parathy- 
reoidektomie mit Krampfen reagierte und im Falle Redlichs nicht, 
be weist bereits, dass die Exstirpation der motorischen Zone nicht 
immer auf dieselbe Weise krampferregend ist. Ausserdem muss 
darauf hingewiesen werden, dass durch die Rinden-Exstirpation der 
ganze Versuch getriibt wird. An erster Stelle wirken nun zwei Fak- 
toren zusammen, so dass man nun niemals feststellen kann, ob ein 
bestimmtes Resultat dem einen oder aber dem anderen Faktor zuzu- 
schreiben ist. An zweiter Stelle wird Exstirpation der motorischen 
Zone fur sich selbst schon hinreichen, um, wenigstens bei einem Teile 
der Versuchstiere, epileptische Krampfe hervorzurufen. Dabei spielen 
allerlei hinzukommende Faktoren eine wichtige Rolle: Tritt starke 
Nachblutung auf, dann bildet sich ein subdurales Hamatom, was ohne 
Zweifel epileptische Krampfe verursachen kann. Eine ziemlich grosse 
Narbe in der Dura oder in der Rinde selbst kann gleichfalls Zufalle 
hervorbringen, auch wenn die Thyreoidea und Parathyreoideae voll- 
kommen intakt gelassen werden. Und auch eine rein einseitige Lasion 
kann Anlass zu allgemeinen Krampfen geben. An dritter Stelle bilden 
Exstirpation der motorischen Zone kombiniert mit Thyreo-Parathy- 
reoidektomie Momente, die in der mensebliehen Pathologic wohl nie¬ 
mals auftreten werden, und daher sind also solche Versuche nicht 
geeignet, zur Erklarung der beim Menschen nach Strumektomie auf- 
tretenden Erscheinungen von Epilepsie-Tetanie beizutragen. 


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Epilepsie and Tetanie. 


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Wollen wir also Resultate erzielen, die znr Kenntnis der Aus- 
fallssymptome der Thyreoidea and Paratbyreoideae beitragen konnen 
und also etwas lebren fiber die Thyreoid- und die Parathyreoidfunk- 
tion, so mfissen wir uns auf einfache Exstirpationsversuche beschran- 
ken, wie diese bei sehr zahlreichen Versuchstieren yon Gley, einem der 
hervorragendsten Grfinder des Bildes der Tetanie, und nach ibm yon 
vielen anderen vorgenommen sind. Insofern die Ergebnisse dieser 
Tierversaehe yon Interesse sind fur den hier behandelten Gegeustand, 
werden wir bier in Kfirze davon Meldung macben. Langere Zeit ist 
ziemlich allgemein angenommen worden, dass Herbiyoren nicbt an 
Tetanie erkranken konnten, docb dass ausschliesslich bei Karniyoren 
diese Erkrankung auftreten konnte. Verscbiedene Forscber jedoch 
baben dies anders gelehrt. Verstraeten und van der Linden sahen 
bei Kanincben nacb kompletter Thyreo-Parathyreoidektomie Erschei- 
nungen der Epilepsie (starke Konvulsionen) und der Tetanie; weiter 
kachektiscbe Erscbeinungen, die allmahlich'zum Tode ffihrten, und 
psychische Storungen. Cadeac und Guinard sahen ungefahr das- 
selbe: Zittern im Kopf und in den Gliedmassen, unterbrochen durcb 
epileptische Krampfe, die bei 5 ihrer 9 Versuchstiere sebr intensiv 
waren. Aucb Gley meldet, dass bei Kaninchen nach Thyreoparathy- 
reoidektomie (die bisweilen in einem, bisweilen in zwei Tempos aus- 
gefuhrt wurde) tetanische Krampfe mit klonischen und allgemeinen 
Konvulsionen abwechseln. Diese letzteren treten oft schon langere 
Zeit auf, bevor sie die Form eines mehr oder weniger abgerundeten, 
epileptischen Insultes annehmen. Die Erscbeinungen der Tetanie 
treten bisweilen sehr schnell nach der Operation auf (einige Stunden), 
bisweilen dauert dies viel langer (7—9 Tage). Rouxeau bestatigt 
die Befunde Gleys; er sah ebenso in vielen Fallen Tetanie und epilep¬ 
tische Krampfe; in der Regel treten, wie die meisten Forscher er- 
klaren, die Erscheinungen der Tetanie zuerst auf und die epileptischen 
Krampfe erst viel spater. Rouxeau sah jedoch einige Male die epi¬ 
leptischen Konvulsionen zuerst auftreten. Auch dieser Forscher lenkt 
die Andacht darauf, dass bei Versuchstieren ausser der Tetanie-Epi- 
lepsie auch ofter allerlei Erscheinungen der Paralyse sich zeigen, die 
moistens in den Streckmuskeln anfangen und langsam progressiv sind. 
Beim Menschen hat man dergleichen Erscheinungen der Paralyse nicht 
wahrgenommen nach Strumektomien. 

Nur Blumreich und Jacoby, und auch Munk kommen zu 
ganz anderen Ergebnissen: sie finden nach Thyreo-Parathyreoidektomie 
nur selten Erscheinungen von Tetanie. Munk stellt denn auch die 
entgiftende Wirkung der Schilddrtise und auch die Kachexia tbyreo- 
priva in Abrede; sie betrachten ausserdem die Schilddrtise nicht als 


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ein lebenswichtiges Organ, lbre negativen Ergebnisse sind obne 
Zweifel ihrer mangelhaften Tecbnik znzuschreiben, durch die nicbt 
die gesamte Thyreoidea und nicht alle Paratbyreoideae entfemt 
warden. 

Cornelis nahm sehr ausfuhrliche und eingehende Untersuchungen 
mit Kaninchen vor. Er verrichtete stets die komplette Thyreo-Para- 
thyreoidektomie. Auch er nahm, neben den jedesmaligen Erscbei- 
nangen der Tetanie oft klonische Krampfe wabr, die bei ein and 
demselben Versuchstier abwechselad stark aaftraten and meist mit 
Opisthotonus gepaart gingen. Bisweilen trat ein schwerer Anfall all* 
gemein-kloniscber Krampfe auf, der ungefahr eine Minute daoerte 
und dem bald Dyspnoe und Exitus letalis folgten. Andere Male 
danerten die epileptischen Konvulsionen, begleitet von Opisthotonus, 
ungefahr drei Minuten. AUerlei mechanische Reize, z. B. das Aufnehmen 
des Tieres, waren imstapde Tetanie-Anfalle zu erwecken. Die meisten 
Versucbstiere zeigten nur Tetanie (mit hinzutretenden Lahmungser* 
scheinungen). Bei 7 der 24 Kaninchen wurden auch epileptische Konvul* 
sionen wabrgenommen (wobei bemerkt werden muss, dass einige 
Kaninchen nicbt eines natiirlichen Todes starben, sondern aus ver- 
schiedenen Griinden getotet wurden). 

Aus dieser kurzen Zusammenfassung sehen wir also, dass auch 
bei Herbivoren nach kompletter Thyreo-Paratbyreoidektomie, ebenso 
wie bei Kamivoren, Erscheinungen der Tetanie und, in einem Teile 
der Falle, auch epileptische Anfalle auftreten. Bei beiden Gruppen 
traten die Erscheinungen auf, obne dass irgendeine Gehirnlasion 
zugebracht war. Die von Biedl, Kreidl und Redlich angewendete 
einseitige Exstirpation der motorischen Zone ist also in der Tat ganz 
und gar iiberfliissig. 

Cornelis hat schliesslich, ebenso wie verschiedene andere For- 
scher, versucht patbologisch-anatomische Alterationen, besonders in 
den Ganglienzellen der Vorderhorner des Ruckenmarks festzustellen 
und vor allem zu untersuchen, ob solche eventuelle Veranderungen 
spezifisch fur die Tetanie seien. Wahrend Kopp, Hofmeister, de 
Quervain u. a. so gut wie nichts fanden, konnte Cornelis regel- 
massig bistologiscbe Veranderungen feststellen, die einigermassen mit 
den Befunden Blums und Alzheimers iibereinstimmen (Chromatolyse 
und Schwellung der Zellen, Schwellung der Protoplasmafortsatze, 
Verschwinden der Granulae, die in unregelmassigen Kornchen ausein- 
anderfallen usw.). Cornelis fasst die Ergebnisse seiner mikroskopi- 
schen Untersucbungen folgeudermassen zusammen: 

1. „In alien Fallen von Tetania parathyreopriva beim Kaninchen 
sind deutliche Veranderungen in den grossen motorischen Ganglien- 


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Epilepsie und Tetanie. 


189 


zellen der Vorderborner des Ruckenmarks aufgetreten. Diese Veran- 
derungen machen sich erkennbar durch eine meistens massige Chro- 
matolyse, einmal mehr zentral, ein andermal mebr peripber oder diffus, 
weiter durch eine meistens nur massige Schwellung der Nissl-Korper- 
chen, scbliesslich vielleicht durch eine geringe Schwellung des 
Achsenzylinders. In den Zwischensubstanzfortsatzen und im Kern 
waren niemals deutliche Veranderungen wahrzunebmen; ebensowenig 
war Schwellung der Zelle oder Versetzung des Kernes zu sehen. Das 
Kemkorperchen zeigte bisweilen wohl ein etwas variierendes Vor- 
kommen, aber konnte doch nicht als abnormal betracbtet werden. 

2. In den Fallen mit kritischem Verlauf sind die Veranderungen 
in der Regel etwas starker als in den Fallen mit lytischem Ende. 

3. Bereits vor dem Auftreten der Tetanie sind deutliche Veran¬ 
derungen desselben Charakters nacbzuweisen (im Ruckenmark). 

4. Bei Kachexia thyreopriva treten keine oder nur geringe Ver- 
andernngen auf, die bereits vollkommen durch die Kachexie erklart 
werden konnen." 

Cornelis betrachtet, und zwar mit Recht, diese Veranderungen 
als nicht s£ezifisch ftir die Tetanie, da sie bei allerlei anderen Intoxika- 
tionsprozessen, wenn auch mit yerschiedenen kleinen Variationen oder 
ohne dieselben, angetroffen sind. Ob diese Veranderungen primar 
oder sekundar sind, lasst Cornelis im Ungewissen. Meiner Meinung 
nach besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Veranderungen, wie auch 
bei allerlei anderen Intoxikationen, sekundar sind, da sie als die 
Ausserung der Giftwirkung auf die Ganglienzellen angesehen werden 
miis8en. Ebenso wie bei genuiner Epilepsie die diffuse Randgliose, 
wie sie von Chaslin, Brener, Alzheimer und yielen anderen be- 
schrieben ist, die Folge der Intoxikation ist und dann auch desto 
deutlicher zum Vorschein tritt, je nach der Lange des Bestehens der 
Autointoxikation, so sind auch bei der Tetanie die Veranderungen am 
deutlichsten, wenn die Tetanie bereits einige Zeit bestanden hat, 
wahrend sie in yiel geringerem Mafie vorhanden sind bei Tieren, die 
einige Zeit nach der Thyreo-Parathyreoidektomie, doch noch vor dem 
Auftreten der Tetanie, getotet sind. Auch Goldscheider und Flatau 
beschreiben dergleichen leichte mikroskopische Veranderungen als 
Folge der Intoxikation: „Die morphologische Alteration der Nerven- 
zellen, wie diese sich in der Form einer Schwellung der Kernkorper- 
chen und der Nisslschen Zellkorperchen zeigt, ist sicherlich der 
Ausdruck eines chemischen Prozesses, und dieser letztere kann nicht 
wohl etwas anderes sein als die chemische Bindung des Toxins an 
die Nervenzellen. Die Ursache dieser Bindung ist offenbar darin 
gelegen, dass in der Nervenzellensubstanz Atomgruppen vorhanden 


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sind, die eine grosse Affinitat zu gewissen Atomgruppen des Tetanus- 
toxins besitzen“ (Goldscheider und Flatau machten namlich aus- 
fiihrliche Untersuchungen iiber die Einwirkung des Tetanusvirus aaf 
das Riickenmark). „Eine weitere Folgerung dieser Auffassung ist, 
dass der cbemische Prozess der Toxinbindung so lange fortdauert, bis 
der in den Zellen vorhandene Vorrat an Affinitaten vollkommen ge- 
sattigt ist. Sobald dies der Fall ist, kommt das Restitutionsbestreben 
der Zellen zor Ausserung. Die vollstandige Riickbildung zum normalen 
Zustand erfordert dann jedoch noch die notige Zeit.“ So Gold¬ 
scheider und Flatau, die also vollkommen derselben Ansicht sind 
hinsichtlich der Strukturveranderungen der Zellen nach lntoxikation 
und hinsichtlich der chemischen Affinitat der Nervenzelle fur bestimmte 
Toxine, wie, ganz unabhangig von ihnen, Guillain und Laroche ver- 
kiindet haben. 

Jedenfalls haben also diese mikroskopischen Befunde, wie sie bei 
derTetanie angetroffen sind, einen sehr besonderen Wert zur Erklarung 
der Pathogenese, da sie, wie auch die Randgliose bei der Epilepsie, 
die Folge sind der lntoxikation und der grossen Affinitat des Zentral- 
nervensystems fiir sehr viele in die Zirkulation geratenen Toxine. 
Diese histologischen Veranderungen sind denn auch bei der Tetanie 
gewiss sekundarer Art und sind sehr wichtig zur Erklarung der 
klinischen Erscheinungen, weil sie ein Kettenglied zwischen der Krank- 
heitsursache (die lntoxikation) und den klinischen Erscheinungen 
bilden. 

Wir sehen also, dass bei Versuchstieren stets nach kompletter 
Thyreo-Parathyreoidektomie Tetanie auftritt, und dass dabei in vielen 
Fallen sich Erscheinungen der Epilepsie anschliessen. Dasselbe sehen 
wir beim Menschen nach Strumektomie, besonders wenn die Thyreoidea 
und die Parathyreoideae ganzlich oder fast vollstandig entfemt sind. 
Rein zufallig kann das Auftreten der beiden Syndrome im Anschluss 
an eine Strumektomie unmoglich sein. Verschiedene Forscher lenken 
denn auch die Andacht darauf, dass in ihren Fallen vor der Strum¬ 
ektomie keine psychiscben Storungen und keine epileptischen Anfalle 
aufgetreten sind, wahrend ebensowenig eine hereditare Belastung fur 
Epilepsie vorlag. Nur die Strumektomie, und nichts anderes kann 
denn auch fiir das Auftreten der Epilepsie-Tetanie verantwortlich ge- 
macht werden, und in diesen Fallen ist also ein unverkennbarer 
ursacblicher Verband zwischen Epilepsie und Tetanie vorhanden. 
Schultze hat diese Ansicht schon im Jahre 1895 ausgesprochen, 
v. Frankl-Hochwart im Jahre 1897; v. Mikulicz, Freund, Clark, 
Kocher nnd viele andere schliessen sich dem an. Wie jedoch bereits 
ausfuhrlich nachgewiesen ist, verteidigen verschiedene Forscher diese 


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Epilepsia und Tetanie. 


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kausale Verwandtschaft zwischen Epilepsie und Tetanie auf Grand 
▼on Fallen, die zum Beweise dieser Behauptung nichts beitragen: yon 
alien nichtpostoperatiyen Fallen dieser Kombination ist niemals mit 
absoluter Sicherheit festzustellen, mit welcher Form der Epilepsie und 
mit welcher Form der Tetanie man zu tun hat. Die Epilepsie ist 
meistens zerebralen Ursprungs, die Tetanie beraht oft auf endogenen 
(gastrointestinal Tetanie) oder auf exogenen (Arbeitertetanie) Intoxi- 
kationen und Infektionen, und dann ist. kein einziger Zusammenhang 
zwischen den kausalen Momenten der beiden Syndrome moglich. 
Naturlich gibt es auch Falle genuiner (thyreo-parathyreogener) Epi¬ 
lepsie, kombiniert mit parathyreogener Tetanie, die auf kongenitaler 
Insuffizienz der betreffenden Organe berahen und also auch ohne 
Strumektomie zur Ausserung kommen; doch diese Falle sind nun 
noch nicht mit Bestimmtheit abzusondern yon den zahllosen Formen 
der Epilepsie und Tetanie, die bis jetzt nichts anderes sind als eine 
chaotische Sammlung sehr verschiedener Krankheiten, die ausserlich, 
also was ihre Symptome betrifft, mebr oder weniger einander gleichen, 
doch die iibrigens abhangig sind yon ganz verschiedenen Krankheits- 
prozessen, und dadurch oft pathogenetisch nicht miteinander ver- 
wandt sind. 

Beschranken wir uns also auf das Brauchbare, d. h. die postope- 
rativen Falle. Westphal und auch Ehrhardt trachten in diesen 
Fallen die Pathogenese zu erklaren durch die Annahme, dass sowohl 
die Tetanie als auch die Epilepsie Intoxikationserscheinungen infolge 
pathologischer Stoffwechselprodukte sind. Diese Erklarung ist m. E. 
Tollkommen richtig; nur mochte ich noch bemerken, dass diese Intoxi- 
kation nicht durch pathologische, sondern durch normale, giftige 
Abbauprodukte unserer Nahrungsstoffe und unseres eigenen Zellstoff- 
wechsels stattfindet, toxische Produkte, die unter normalen Verhalt- 
nissen durch die Thyreoidea und Parathyreoideae weiter abgebaut 
bzw. entgiftet und unschadlich gemacht werden. Auch Curscbmann 
nimmt einen Zusammenhang zwischen Thyreoidea und Parathyreoideae 
einerseits und Epilepsie-Tetanie andererseits an. Er meint, dass durch 
Wegfallen der Thyreoidfunktion Toxine gebildet werden, die auf die 
Cortex und die Subcortex einwirken und dort Steigerung der Keiz- 
barkeit hervorbringen. Doch, merkwtirdig genug, nimmt er in diesen 
Fallen zugleich eine bereits bestehende Predisposition fur Epilepsie 
an. Diese letzte Annahme ist unlogisch und unrich tig: wenn die 
Schilddriisenfunktion ganzlich oder grosstenteils ausgefallen ist, tritt 
reichliche Intoxikation auf; die Gehirnrinde sattigt sich, als Folge 
ihrer grossen Affinitat fiir Toxine, mit diesen, und es folgt, wenn 
diese Sattigung ihr Maximum erreicht hat, die Reaktion oder Ent- 


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Bolten 


ladung, namlich ein epileptischer Anfall. Doch eine Pradisposition 
Oder eine bestimmte Belastung ist darum durchaus nicht notig: die 
grosse Toxinaffinitat des Zentralnervensystems ist eine vollkommen 
physiologische Erscbeinnng, bei der die Pradisposition keine oder in 
jedem Falle nur eine sehr nebensachliche Rolle spielt. 

Aucb Pineles halt in den postoperativen Fallen eine fur Epilepsie 
vorhandene Disposition fur wabrscheinlich. Dabei sollte das „Tetanie- 
gift“ die veranlassende Ursache sein, die die latente Disposition fur 
Epilepsie in eine manifeste umsetzt. Auch solle das Tetaniegift orga- 
nische Alterationen im Gebirn verursacben konnen, die dann wieder 
in direktera Zusammenbang mit den epileptischen Anfallen stehen 
sollten. Auch diese Begriindung eracbte ich als gezwungen und un¬ 
rich tig: an erster Stelle weisen viele Forscher darauf hin, dass in 
diesen Fallen gerade nichts yon irgendeiner erblichen Belastung in 
der Richtung der Epilepsie zu finden ist (aucb in unseren beiden 
Fallen war nichts von irgendeiner hereditaren Pradisposition vorhan- 
den). Und an zweiter Stelle verursacht das Tetaniegift keine organi- 
schen zerebralen Veranderungen, die auch nur im entferntesten als 
Ursache der Epilepsie betrachtet werden konnen. 

Dass in diesen Fallen postoperativer Epilepsie-Tetanie irgendein 
Verband zwischen den beiden Syndromen besteht, wird allgemein 
angenommen. Biedl halt diesen Zusammenhang fur feststehend, weil 
die epileptischen und die tetaniscben Erscheinungen gleichzeitig auf- 
treten und regelmassig mit einander auf- und niedergehen. Ver- 
schwinden die Tetanieanfalle, so bleiben, und meistens ziemlich gleich¬ 
zeitig, auch die epileptischen Krampfe zuriick, und wird die Tetanie 
chronisch, so tritt in der Regel auch eine chronische Epilepsie ein, 
mit alien ihren Eigenttimlichkeiten und sekundaren Storungen (Cha- 
rakterabweichungen, sekundare Demenz, psvchische Storungen, wie in 
den Fallen Redlichs und Westpbals). Redlich weist mit Nach- 
druck auf das Fehlen irgendeiner Pradisposition fur Epilepsie hin, in 
welcher Form sie auch immerhin auftrete, bei den meisten Kranken, 
bei denen nach Sttumektomie Epilepsie und Tetanie aufgetreten sind. 
Er kommt zu dera folgenden Ausspruch: „Es ist also unzweifelhaft, 
dass in diesen Fallen, sowie beim Tierversuch, die Tetanie selbst die 
epileptischen Anfalle bedingen muss. Freilich, eines scheint dazu 
notwendig zu sein, namlich eine gewisse Zeitdauer dieser Einwirkung. 
Bei den Tierversnchen hat sich ja herausgestellt, dass die epileptischen 
Anfalle in der Regel erst einige Tage nach dem Erscheinen der Tetanie 
auftreten, bisweilen noch viel spater, z. B. nach einer oder mehreren 
Wochen. Unter diesen Umstanden ware es denkbar, dass nicht das 
„Tetaniegift“ direkt, etwa durch Einwirkung auf das Grosshirn, die 


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Epilepsie und Tetanie. 


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epileptiscben Anfalle auslost, dass yielmehr durch die Entfernung der 
Epithelk6rperchen, einer Druse mit innerer Sekretion, Anderungen 
des Stoffwechsels oder in der Funktion anderer Driisen mit innerer 
Sekretion ausgelost werden, die fiir das Auftreten der epileptiscben 
Anfalle erst massgebend sind. Die Misch- und Obergangsformen 
beider Arten von Anfallen wiirden in jedem Falle auf eine gewisse 
Babnung der einen Krampfform durch die andere, auf gewisse Ge- 
meinsamkeiten im Ablaufsmechanismus beider Krampfformen bin- 
weisen.“ Es wird keine Verwunderung erwecken, wenn ich auch von 
dieser Begriindung etwas abzudingen babe. Zuerst kann die eine 
Krampfform nicht die Ursache einer anderen sein, aber wobl konnen 
beide von derselben Ursache abhangen. Dass die Epilepsie spater als 
die Tetanie auftritt (was allerdings nicht immer gescbieht), beweist 
nur, dass die Sattigung des Riickenmarks mit den Tetanietoxinen und 
die Entladung hiervon viel schneller vor sich geht als die Sattigung 
der Gehirnrinde mit den Epilepsietoxinen. An zweiter Stelle werden 
nicht nur durch die Exstirpation der Parathyreoideae, doch ebenso 
sebr durch die Entfernung der Tbyreoidea wichtige Storungen im 
Stoffwechsel und besonders in der Entgiftung der Abbauprodukte 
bervorgebracht. Und an dritter Stelle sind Storungen in den iibrigen 
Driisen mit innerer Sekretion nicht notwendig, um epileptiscbe Er- 
scheinungen hervorzubringen. In der Begriindung Redlichs, ebenso 
in der von Pineles, kommt immer das Streben zutage, doch stets 
fiir Epilepsie primar-organische Lasionen im Gehirn anzunehmen. 
Dass man beabsichtigt mit dem nichtssagenden Worte „Neurose“ einen 
Begriff zu verbinden, der ein dem augenblicklichen Stande der Wissen- 
scbaft entsprecbendes und scbarf umgrenztes Biid darstellt, istr' anzu- 
erkennen, doch dass dabei stets primar-organische Strukturveran- 
derungen des Gehirngewebes in den Vordergrund treten miissen, ist 
docb wieder eine Auffassung, die infolge ihrer Einseitigkeit schadlich 
ist. Immerhin, eine sebr hervorragende Rolle spielt die Intoxikation, 
d. h. der von Goldscheider und Flatau und ebenso von Guillain 
und Laroche bescbriebene chemische Prozess, der in der Bindung 
von Toxinen durch Atomgruppen der Ganglienzellensubstanz besteht 
und der auf einer sehr grossen Affinitat der letzteren zu den Toxinen 
beruht. Und gerade dieser chemische Prozess spielt bei der thyreo- 
parathyreogenen Epilepsie-Tetanie eine besondere Rolle. Ich betracbte 
denn auch die thyreogene Epilepsie und die parathyreogene Tetanie 
als zwar sebr verwandte, aber doch vollkommen selbstandige Syndrome 
(Toxikosen), die eine parallel laufende Pathogenese mit vieler prin- 
zipieller Cbereinstimmung mit einigen nichtqualitativen Unterschieden 
zeigen. Dass die Epilepsie durch die Tetanie verursacht werden soil, 


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Bolten 


ist denn auch unrichtig, wenn aach die Tetanieerscheinungen moistens 
friiher auftreten als die epileptischen. Ich kann mich denn auch nicht 
mit Phleps Ausspruch vereinigen, der da bei der Besprechung des 
weiteren Verlautes einer grossen Anzahl Tetanieanfalle sagt: „Dauernde 
Epilepsie, die in ihrer Entstehung auf Tetanie zuriickgefiihrt werden 
muss, deren Latenzzeichen yiele Jahre nach Beginn der Erkrankung 
noch nachweisbar waren, wurde in >17 Fallen wahrgenommen.“ Dass 
ein Kind mit ausgeheilter Spasmopbilie viele Jahre spater Erscheinun- 
gen zerebraler Epilepsie zeigt und inzwischen Symptome latenter 
Tetanie behalt, ist sehr wohl moglich, aber in solchen Fallen hat man 
doch kein Recht zu meinen, dass die spatere Epilepsie in ihrer Ent¬ 
stehung auf die fnihere Tetanie zuriickgefuhrt werden muss. Die 
Tetanie kann niemals die Epilepsie verursachen, hochstens konnen 
zwei sehr yerwandte Drsachen zwei gleichfalls sehr nah yerwandte 
Syndrome zuwege bringen. 

Fiir mich steht die Sache so: Epilepsie und Tetanie sind beide 
Autointoxikationen, die die Folge sehr yerschiedener Ursachen sein 
konnen. Viele dieser lntoxikationen lassen die Thyreoidea und die 
Parathyreoideae vollkommen unberiihrt, doch wirken sie infolge der 
chemischen Affinitat der Ganglienzellensubstanz direkt auf das Zentral- 
nervensystem ein. Doch besteht auch eine Intoxikation, die durch 
Fortfall der Entgifter, namlich der Parathyreoideae und der Thy¬ 
reoidea entstanden ist. 1st nur die Parathyreoidfunktion fortgefallen, 
so entsteht Tetanie, sind dagegen Thyreoid- und Parathyreoidfunktion 
ganz fortgefallen, so entstehen Epilepsie und Tetanie (die postopera- 
tiyen Falle). Ist eine kongenitale Funktionsreduktion der Thyreoidea 
und Parathyreoideae yorhanden, dann tritt nur Epilepsie (die genuine 
Form) auf. Diese Behauptung ist noch nicht mit absoluter Sicherheit 
zu beweisen, doch wohl in hohem MaBe wahrscheinlich zu machen. 
So ist bis jetzt in ziemlich vielen Fallen yon Spasmophilie (Kinder- 
tetanie) festgestellt, dass schwere Beschadigung der Epithelkorperchen 
yorhanden war, hauptsachlich Blutungen, femer Kysten, Schrumpfungen, 
Tumoren, Tuberkulose und Entwicklungsstorungen. Was nun die 
klinischen Erscheinungen betrifft, so finden wir stets yermeldet Tetanie- 
symptome (Karpopedalspasmen, Laryngospasmus usw.), doch niemals 
epileptische Krampfe. Hieraus konnte man also herleiten, dass Tetanie 
(wenigstens in den parathyreogenen Fallen) ausschliesslich gebunden 
ist am Wegfallen der Parathyreoidfunktion, und dass umgekehrt 
Parathyreoidbeschadigung zur Tetanie, aber nicht zur Epilepsie leiten 
kann. Und dass diese letztere die Folge schwerer Funktionsstorung der 
Thyreoidea und Parathyreoideae sein kann, habe ich experimentell nach- 
gewiesen: langere Zeit habe ich ausschliesslich mit Presssaft frischer 


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Epilepaie und Tetanie. 


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Epithelkorperchen experimentiert and diesen in Fallen genuiner Epi- 
lepsie rektal eingegeben, doeh die Resnltate waren nicht befriedigend. 
Wohl wurden die Anfalle etwas weniger frequent und etwas weniger 
schwer, aber der Intellekt klarte sich nicht auf, und alles blieb bei 
einer nur geringen subjektiven und objektiven Verbesserung. (Der 
Direktor des Schlachthauses in Leiden hat mir diese Versuche ermog- 
licht, da er mir wahrend mindestens zwei Jahren wochentlich eine 
ziemlich grosse Menge frischer Epithelkorperchen zukommen liess.) 
Dagegen waren die Ergebnisse mit dem Gemisch von Schilddriisen- 
und Epithelkorperchenpresssaft viel besser. Ausser dass sich die 
Anfalle verringerten und yerschwanden, bes3erte sich der Kopfschmerz 
und der Kranke erzahlte spontan, dass sein Intellekt sich aufklarte 
und sein Gedachtnis viel besser wurde. 

Die Tierversuche bringen uns hieriiber keine weitere Klarheit; 
ich konnte namlich nirgends in der Literatur vermeldet linden, dass 
bei der reinen kompletten Parathyreoidektomie ausschlie3slich Er- 
scheinungen yon Tetanie, ohne irgendeine Erscheinung yon Epilepsie 
auftreten sollten. Die meisten Forscher exstirpieren das gesamte 
Schilddriisenorgan d. h. die Thyreoidea mit alien Parathyreoideae. 
Biedl sagt: „Die Folgen der Exstirpation der Epithelkorperchen, bzw. 
des ganzen Schilddriisenorgans sind einigermassen anders fur 
die yerschiedenen Tierarten." Er halt also Exstirpation der Parathy- 
reoideae fur ziemlich gleichwertig der totalen Tbyreo-Parathyreoid- 
ektomie. Dies kann schliesslich nicht wahr sein: die Thyreoidea hat 
solch eine wichtige und komplizierte Funktion, dass man sie nicht 
als ein Organ betrachten darf, das man eyentuell ebensogut mitexstir- 
pieren wie intakt lassen kann. Doch daruber gibt es noch yiel auf- 
zuklaren, und es ist besonders gewiinscht zu versuchen herauszube- 
kommen, in welcher Hinsicht die Thyreoid- und die Parathyreoid- 
funktion iibereinstimmen, und in welcher Hinsicht sie sich unterschei- 
den. Dass eine gewisse Ubereinstimmung in den beiden Funktionen 
besteht, und dass diese bis zu einer erheblicben Hohe yikariierend 
auftreten konnen, ist wohl absolut sicher, wenn auch die Schilddriise 
und die Epithelkorperchen, was ihre embryologische Anlage und ihre 
weitere Entwicklung betrifft, ganz yerschiedene Organe sind. Diese 
Funktionsverwandtschaft geht ausfolgendenUmstanden heryor (Biedl): 
1. Der giinstige Einfluss der Schilddriiseneingabe auf den Verlauf der 
parathyreopriven Tetanie; 2. die mit Sicherheit festgestellte Hypertro- 
phie der ausseren Epithelkorperchen, die nach Exstirpation der Thy¬ 
reoidea auftritt, und 3. die Hypertrophie der Thyreoidea, die nach 
Exstirpation samtlicher Epithelkorperchen auftritt. Es besteht also 
zwischen den beiden Systemen eine sehr deutliche Korrelation, die 


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sicb in einer unter bestimmten Umstanden aoftretenden vikariierenden 
Wirkung aussert. Daher kommt es denn auch, dass reine Thyreoid- 
ektomie, also mit sorgfaltiger Sparung der Epithelkbrperchen, bei 
Tieren wohl die Erscheinnngen der tbyreopriven Kachexie, aber fast 
niemals Krampfe hervorruft. Doch diese vik^riierende Wirkung ist 
keineswegs vollstandig: wahrend offenbar die Epithelkorperchen die 
Tbyreoidfunktion fast ganz ubernehmen konnen, ist dies umgekehrt 
nicht der Fall. Es scheint mir denn ancb, dass sowohl die Tbyreoidea 
wie die Parathyreoideae entgiftende Organe sind, d. b. dass sie die 
pbysiologischen (normalen, aber toxiscben) Abbauprodukte unserer 
Nahrung und unseres Zellstoffwechsels zu entgiften baben dnrcb 
weiteren Abbau, durch Oxydation, Reduktion, oder auf welcbe Weise 
denn aucb. Docb dabei ist hochstwahrscheinlich die Thyreoidea auf 
andere Gruppen Toxine eingestellt als die Parathyreoideae; welcbe 
Toxine das sind, liegt vorlaufig nocb ganz im Dnnkeln. 

Immerhin, auch die parathyreoprive Tetanie macht ebenso wie 
alle anderen Formen der Tetanie und wie der genuinen Epilepsie 
stark den Eindruck eine Autointoxi kation, vielleicht eine Azidose 
(Cooke, Morel) zu sein. So weist y. Fiirth darauf hin, dass allerlei 
Faktoren, die den Stoffwechsel akzelerieren oder auch Toxine in die 
Zirkulation bringen, eine latente parathyreoprive Tetanie (nach par- 
tieller Parathyreoidektomie) manifest werden lassen konnen. Solche 
Faktoren sind: der Ubergang von Milch- zur Fleischnahrung, Gravi- 
ditat, die Eingabe allerlei Gifte, starke Ermudung usw. Demgegen- 
iiber konnen allerlei andere Momente, die den Stoffwecbsel hemmen, 
entweder verzogern oder das Auftreten von Toxinen verringern, eine 
parathyreoprive Tetanie an Intensitat abnebmen lassen. Zu diesen 
Umstanden gehoren: reine Milcbnahrung, Infusion physiologiscber 
Kochsalzlosung, von Blut oder Blutserum, Hungerzustand usw. Alle 
diese Umstande, in Verbindung mit den Eigentiimlicbkeiten der Ver- 
anderungen der Riickenmarksnervenzellen bei der Tetanie, macben es 
docb allerdings sehr wahrscheinlich, dass auch die Tetanie eine Auto- 
intoxikation ist. Aucb Wiener hat zum Beweise dieser Behauptung 
gute Argumente beigetragen: er spritzte das Serum von Tieren, die 
seit einiger Zeit an parathyreopriver Tetanie litten, Tieren ein, bei 
denen die Parathyreoideae eben entfernt waren, und sah dann, dass 
bei diesen nun so behandelten Tieren die Erscheinungen der Tetanie 
entweder ganz fortblieben oder viel weniger scbwer auftraten. Bei 
den ersten Versuchstieren, die also einige Zeit scbon an Tetanie litten. 
batten sicb vermutlicb Antistoffe gebildet, die hinreichend waren, um 
durch Einspritzung bei den eben erst operierten Tieren diese letzteren 
iiber die schlimmste Periode (das ist direkt nach der Parathyreoid- 


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Epilepsie und Tetanie. 


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ektomie, denn danu sind noch keine Antistoffe gebiidet) hinweg zu 
helfen. Danach bildet das letzte Tier selbst eine binreichende Menge 
Antistoffe. 

Sicherlich muss es Verwunderung erwecken, dass man bis jetzt 
bei der Epilepsie (genuiner) wie bei der Tetanie so wenig Aufmerksamkeit 
anf die Moglichkeit einer Autointoxikation gelenkt hat, und dass, mit 
Ausndhme von Westphal und Ehrhardt, so viele Forscher eine so 
unlogische und umstandliche Erklarung der Epilepsie-Tetanie nacb 
Thyreo-Parathyreoidektomie geben (Notwendigkeit einer Predisposition 
fur Epilepsie, organische Lasionen in zerebro, sekundare Veranderan- 
gen in anderen Driisen mit innerer Sekretion us nr.). Bei dem augen- 
blicklichen Stande unserer Kenntnis der Physiologic der Thyreoidea 
und Parathyreoideae (wenn diese Kenntnis auch noch sehr unvoll- 
kommen ist) werden wir zur Erklarung der Epilepsie-Tetanie nach 
Strumektomie doch ganz und gar in die Richtung der Autointoxikation 
gedrangt. Und selbst in einigen Laienkreisen hat sich die Auffassung 
Bahn gebrochen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Intoxika- 
tion (Epilepsie) und Thyreoidea-Parathyreoideae. So schrieb die Frau 
eines meiner Kranken mir: „Mein Mann leidet an Epilepsie; als ich 
vor Jahren einmal las, dass Menschen, bei denen die Schild- 
druse ganz entfernt war, Vergiftungserscheinungen bekommen, die 
sich in Krampfanfallen aussern, dachte ich, ob es bei ihm vielleicbt 
auch durch eine Abweichung in der Schilddriise (dies ist bei ihm eine 
familiare Erkrankung) kommen konnte usw.“ 

Wie bereits soeben gesagt, betrachte ich einen Teil der Tetanie- 
falle, und zwar die Kindertetanie, die postoperative und die experi- 
mentelle Tetanie als ein rein parathyreogenes Syndrom, und auf Grand 
meiner Experimente, Epilepsie (genuiner Form) als eine Ausserung 
der Thyreoid- und Parathyreoidinsuffizienz, wahrend bei fast vollstan- 
digem Wegfallen der Thyreoid- und Parathyreoidfunktion die beiden 
Syndrome auftreten, wie aus den postoperativen Fallen hervorgeht. 
Und daraus ergibt sich von selbst, dass auch nicht operierte Falle 
vorkommen konnen, bei denen thyreo-parathyreogene Epilepsie (ge¬ 
nuine) und parathyreogene Tetanie kombiniert auftreten, doch erst, 
wenn die Stoffwechselchemie so weit fortgeschritten ist, dass sie uns 
durch Blutanalysen (Nachweis der toxischen Abbauprodukte) instand 
setzt die genuine Epilepsie und die parathyreogene Tetanie nachzu- 
weisen, erst dann werden wir diese nichtpostoperativen Falle als Be- 
weis fur die grosse Verwandtschaft zwischen einer bestimmten Form 
der Epilepsie und einer bestimmten Form der Tetanie anwenden 
konnen. Und in diesen Fallen ist dann vielleicht die Hypofunktion 
der Thyreoidea und der Parathyreoideae sekundar und beruht auf 


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Storungen des Nervus sympatbicus (oder dessen zerebralen Zentren), 
der bestimmt die Thyreoidea und wahrscbeinlieh auch die Parathy- 
reoideae innerviert. Docb vorlaufig sind fur uns nur die postopera* 
tiven Falle ein wichtiger und unumstosslicher Beweis flir die bereits 
friiher von uns aufgestellte Bebauptung, dass eine bestimmte Art 
Epilepsie (die sogenannte genuine) die Folge chroniscber Autointoxi- 
kation ist (die da berubt auf Hypofermentation des Tractus intestinalis 
und des intermediaren Stoffwechsels). Diese Autointoxikation wird 
durcb Hypo- bzw. Athyreoidismus und Hypoparathyreoidismus hervor- 
gerufen. Dabei bestatigen diese Falle die bereits seit langer Zeit 
feststehende Tatsache, dass Hypo- bzw. Aparathyreoidismus zur Te- 
tanie fvihrt. 


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Aus der inneren Abteilung des stadtischeu Krankenhauses Augsburg. 

(Oberarzt: Prof. Fr. Port.) 

Ein Fall Ton multipler Hirnnervenl&hmung mit gleich- 
zeitigen Missbildungen am Thorax und an der rechten 

oheren Extremitfit. 

Von 

Dr. F. Gfitermann. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Ein merkwiirdiges Zusammentreffen von angeborenen Defekten 
soil im folgenden bescbrieben werden. Einzeln sind dieselben schon 
oft beobachtet worden und wegen ihrer Haufigkeit gegeniiber anderen 
Missbildungen sowie wegen ihres Interesses in anatomischer und funk* 
tioneller Hinsicht zum Mittelpunkt einer reicben Literatur geworden. 
Docb gingen die Anscbauungen der Autoren liber die Atiologie der 
Missbildung nocb weit auseinander. Einer Besprecbung derselben 
schicke ich die eigene Beobacbtung voraus. 

Angeborener Beweglicbkeitsdefekt ini Gebiete der Hirn- 
nerven kombiniert mit Feblen der recbtsseitigen Brust- 
muskeln, Amastie dieser Seite, Schulterblattbochstand und 
Missbildung der recbten oberen Extremitat. 

A. E. wurde am 30. VI. 1916 geboren und steht seit 10. VII. in 
klinischer Beobachtung. Seine Mutter erzahlt, ein gleicbartigcs Leiden sei 
in ihrer Familie noch nie vorgekommen. Von erwfihnenswerten Krank- 
beiten sei nur zu berichten, dass der Grossvater des Patienten — liber 
80 Jahre alt — in geistigcr StOrung Selbstmord verflbt habe. Ihr eigener 
Vater sei in jungen Jabren an Lungenschwindsucht gestorben. Tuberkulose 
kam Afters in der Familie vor. Sie selbst sei wegen Blutspucken mehr- 
mals in Heilstattenbehandlung gewesen, eines ibrer Kinder sei an Hirn- 
hautentzQndung gestorben, ein anderes ertaubt. Patient bat 14 Geschwister, 
von denen 11 leben. Febl- und Totgeburten kamen nie vor. For Lues 
oder Alkoholismus liegt keinerlei Anhaltspunkt vor. Der Vater ist gesund 
und zurzeit im Felde. Die Schwangerschaft verlief ohne Stoning, die 
Geburt war schwer, doch ohne Kunsthilfe. Der Neugeborene wog 3250 g. 
Die Mutter merkte, dass Patient beim Anlegen nicht saugen konnte, doch 
schluckte er eingespritzte Milch ohne Schwierigkeiten. Bei ktlnstlicher 
Eru&brung gedieb Patient nicht und wurde in sehr herabgesetztem Kr&fte- 
zustand auf die Kinderabteilung gebracbt 


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Gutermaxn 


Bei seiner Aufnahme wog er 2850 g. Durch sachgemasse Ernahrung 
besserte sich langsam sein Befinden. Aus einem weichen, gut durchbohr- 
ten Sauger kann Patient ohne Schwierigkeiten trinken, wenn ihm die Milcb- 
flasche tief genug in den Mund gesteckt wird. Er nimmt seine Mahlzeiten 
regelmassig und vollstandig zu sich. Allerdings ist seine Entwicklung sehr 
langsam. Am 4. I. 1917 erjeichte er sein Hdchstgewicht von 4020 g, 
dann stOrte ein Abszess sein Betinden und am 8. II. (Tag der Unter- 
sucbung) wiegt Patient 3920 g. Er ist schwachlich und macht noch kei- 
nerlei geordnete Bewegungsversuche, doch reagiert er auf Schall- und 



Fig. 1. 


Gesichtseindrttcke, folgt bier und da mit dem Blick und schreit mit krfif- 
tiger Stimme und reichlichem Tranenerguss. Seine Lange betragt 58 cm. 

Das Gesicht ist glatt und starr. Die normalen Muskelfalten fehlen 
vdllig. Die Ffille ist nicbt wesentlich beeintrfichtigt, doch besteht wohl eine 
kleine Differenz zu ungunsten der recbten Seitc. Wangen und Kinn sind 
wohl ausgebildet. Die Haut des Gesicbtes ist dQnn, straff gespannt und 
scbeint besonders fiber der Stirn atrophisch; hier lfisst sich kaum eine Falte 
aufheben. Der Mund ist meist leicht geOfifnet, wobei der rechte Mundwinkel 
herunterhangt und Speichel abfliesst (Abbildung 3). Stirn, Wangen, Nasen- 
flfigel und Oberlippe sind bei dem Kind ganz unbeweglich; dagegen kann 
der linke Mundwinkel verzogen und die Unterlippe bewegt werden. Die 
Bewegungen der Muskeln dieser Gegend sind links augenscheinlich nicht 
eingeschrankt, doch wird auch die rechte Hfilfte der Unterlippe etwas mit- 


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Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 


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bewegt, so dass in bestimmter Stellung der Mund fast vdllig geschlossen 
werden kann, wie aus der Abbildung 2 ersichtlich ist. Beim Scbliessen der 
Angen wandern die Bulbi nach oben und die Oberlider senken sich, bis 
der Lidspalt etwa auf 4 mm eingeengt ist. Die unteren Lider bleiben 
unbewegt. 

Die Caruncula lacrymalis fehlt auf der linken Seite und ist rechts bis auf 
einen kleinen Rest verkftmmert. Auf beiden Seiten sind die inneren Lidwinkel 
von einem stark entwickelten Epicantbus Oberlagert. Die Augen sind in der 
Rube nach innen gerichtet (Abbildung 2). GewOhnlich ist eines in extremer 
Adduktion, das andere weiter nach aussen gewendet (Abbildung 3). Mitunter 
erreich?n sie gleicbzeitig die Mittelstellung, so dass die Augenachsen parallel 
steben, doch kommen Bewegungen seitlicb darQber binaus nie vor. Hebung und 
Senkung des Bulbus verlaufen ohne Besonderheiten. Die Lider werden in 
normaler Weise gehoben. Wenn es gelegentlich gelang, die Aufmerksam- 
keit des Kindes fOr einige Augenblicke an eine passend eingericbtete Ge- 



Fig. 2. Fig. 3. 


sichtswabrnehmung zu fesseln, so liess sich feststellen, dass die Konvergenz 
normal funktionierte und zum Blick nach der Seite der Kopf vbllig ge¬ 
wendet werden mQsste. Wenn Adduktion beobacbtet wurde, trat 
stets auch Vercngerung der Pupillen auf. Dieselben reagieren 
prompt auf Lichteinfall direkt, konsensuell und bei Konvergenz. Der 
Augenhintergrund ist von normaler Beschaffenheit. 

Bsi offenem Mund liegt die Zunge in leichter Krttmmung auf dem 
Mundboden, mit der Spitze nach rechts. Beim Vorstreckcn weicbt die 
Zungenspitze nach dieser Seite ab. Sie ist in ihrer rechten Halfte etwas 
atrophisch. Wenn das Kind schreit, so wird durch das Herabzieben des 
linken Mundwinkels das Gesicht der Symmetrie angenftbert. Es gelang 
mir nicht, Gaumen, Zapfchen und Rachen zu inspizieren. Der Wttrgreflex 
ist prompt auslOsbar. 

Ausser den Labmungen im Gebiete der Nn. VI, VII und XII ist das 
Nervensystem intakt, inbesoudere die Sensibilitat nicht gestOrt. Die Unter- 
sucbung mit dem elektrischen Strom ergibt normale Verhftltnisse ira Ge¬ 
biete der Muskeln um Mund und Unterkiefer links. Die tibrige Gesichts- 
muskulatur ist wcder direkt noch vom Nerven aus reizbar. Es besteht 


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keine Entartungsreaktion. tjber die Verhftltnisse am Platysma konnte ich 
mir wegen der Zartheit der Verk&ltnisse and der angezeigten Vorsicht 
gegenfiber dem kleinen Patienten keinen sicheren Aufschluss verschaffen. 

Bei Betrachtnng des Thorax fallt die Abflachung der recbten oberen 
Brustseite aaf. Hier liegen Rippen and Zwischenrippenraume fast bis zam 
Schlfisselbein unmittelbar unter der Haat. Von den Brastmaskeln ist aaf 
dieser Seite nar die Portio clavicalaris M. pect. maj. vorhanden. Die rechte 
Achselhoble ist nach vorn offen. Keinerlei Flughautbildang ist angedeatet. 
Die Haat fiber der rechten Brastseite ist dfinn and straff. Mamma and 
Mammilla fehlen vollstfindig. Bei der Betrachtnng von rfickwfirts siebt 
man,dass das rechte Schnlterblatt hOher steht als das linke,so dass die Schulter- 
linie verkfirzt and das Gelenk nach oben und innen verschoben erscheint 
(Abbildung 1). Das Schnlterblatt scheint im ganzen um den Angalus inferior 
nach innen rotiert. Der untere Rand des M. trapezius ist als feine Kontur 
beiderseits an symmetrischer Stelle sichtbar. Bei der Zartheit dieses Reliefs 
und dem Fehlen einer Beobachtung bei willkttrlicher, ausgiebiger Bewegung 
ist jedoch die Bearteilang schwierig and wir wissen aas Operationsbefun- 
den bei Schulterblatthochstand, welchen Irrtfimern auch die Untersuchungs- 
ergebnisse sehr erfabrener Beobachter an Erwachsenen aaf diesem Gebiet 
nusgesetzt waren. 

Die rechte obere Extremit&t erscheint schon dem freien Auge schwa- 
cher entwickelt als die linke. Die Messang zeigt jedoch, dass die Ver- 
kfirzung nur eine scheinbare ist. Sie erklfirt sich aus dem Hochstand des 
Schaltergelenkes. Bis za der Basis der Grandphalangen bestehen keine 
Langenuntersckiede, doch ist die Schwfiche der Weichteile deutlich. Der 
Umfang der oberen Extremitfiten betrSgt fiber der 

r. 1. 

Oberarmmitte 6,8 cm, 7,3 cm; 

Unter dem Ellenbogen 7,1 „ , 7,5 „ ; 

fiber dem Handgelenk 6,2 „ , 6,5 „ . 

Die FingerlSngen zeigen folgende Wachstumsdifferenzen: 



r. 

1. 

Daamen 

1,8 cm, 

2,0 cm; 

2. Finger 

2,4 „ , 

2,8 „ ; 

3. Finger 

2,5 „ , 

3,1 „ ; 

4. Finger 

2,3 n , 

2,8 „ ; 

5. Finger 

„ y 

2,2 „ ; 


gemessen auf der Streckseite vom Capitulum des Mittelhandknochens bis 
zur Fingerspitze. Zwischen den Grundphalangen des rechten 2. bis 5. 
Fingers spannen sich Schwimmhfiute, die knapp bis za den ersten Inter- 
phalangealgelenken reichen. Im Obrigen sind die Glieder wohlgebildet and 
von normaler Beweglichkeit. Bewegungsanomalien, fibrillflre Zackungen 
oder Krftmpfe fehlen vOllig in alien Gebieten. 

Der Leib des Patienten ist — abgesehen von einer kleinen Paraam- 
bilicalhernie — ohne Besonderheiten. Die inneren Organe sind gesnnd, 
die Geschlecktsorganc normal gebildet. Auch an den unteren Extremitfiten 
besteht keinerlei krankhafter Befund. Der Urin ist hellgelb, klar und 
schwach sauer. Das spezifische Gewicht betrfigt 1021. Eiweiss und Zucker 
fehlen. Im Sediment linden sich spfirlichc Harnsfturekristalle und harn- 
saures Natron. 


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Ein Fail von moitipler Hirnnervenlahmung usw. 


207 


Zusammenfassend lasst sich also sagen: 

Es handelt sich bei einem sieben Monate alten Knaben 
am eine Unwirksamkeit der Abduktion der Augen, um eine 
Lahmung beider Nn. faciales mit Ausnahme der fiir die 
Maskelii um Unterlippe und Kinn bestimmten Zweige, welche 
links intakt and rechts paretisch sind and um eine Parese 
des rechten N. hypoglossus zum wenigsten in seinem Zungen- 
anteile. Die Carancula lacrymalis ist auf beiden Seiten 
missbildet und von einem Epicantbus iiberlagert. Rechts 
fehlt die Portio sternocostalis M. peek maj. und der gesamte 
M. pect. min. Vollig ist auf dieser Seite der Mangel von 
Brnstwarze und Warzenhof. Die rechte Schulter steht hoch 
und der Arm ist in seinem distalen Teil in der Entwicklung 
zuriickgeblieben. Die Finger sind rechts durch Flughaute 
verbunden. 

Ein annahernd gleicher Befund ist nur einmal in der Literatur 
beschrieben worden: 

A. Schmidt 1 ) berichtet von einem sechsjfthrigen Enaben mit vOlliger, 
doppelseitiger Abducens- und Facialisl&hmung und Stdrungen im Gebiete 
des Hypoglossus, die linkerseits starker waren als rechts. Es fehlte ferner 
liuks der grosse und kleine Brustmuskel in der typiseben Weise; Mamma 
und Mammilla waren durch einen punktfdrmigen Fleck angedeutet. Eine 
Hautfalte spannte sich vom Knorpel der linken dritten Rippe zur Innen- 
seite der Oberarmmitte. Bewegungshinderung bestand aber nicht, wie 
ttberhaupt der Funktionsausfall durch die Defekte sehr gering war. Der 
Patient stammte aus einer vflllig gesunden Familie. Seine kdrperliche und 
geistige Entwicklung war im (tbrigen vOllig normal. 

Aus diesen in ihrer Kompliziertheit uberraschend gleichartigen 
Befunden seien einige Punkte besonders hervorgehoben und in der 
Beurteilung, die sie bisher erfahren haben, besprochen. 

Der angeborene Brustmuskeldefekt ist als einseitige, fast nie 
hereditare Entwicklungsstorung schon iiber 200 mal beschrieben 
worden. Von anatomischer Seite ist zuerst auf die seltene Raritat 
hingewiesen worden (Froriep, Hyrtl, Henle). Die erste klinische 
Beobachtung wurde bekanntlich von v. Ziemssen zum Studium der 
Funktion der Mm. intercostales bei der Atmung herangezogen. Die 
folgenden Arbeiten von Baumler, A. Eulenburg u. a. bewegten 
sich in derselben Richtung. Die Frage nach der Atiologie wurde zum 
erstenmal von Stintzing 2 ) beurteilt, nachdem er 15 hierher gehorige 

1) A. Schmidt, Angeborene multiple Hirnnervenlahmung mit BruBtmnskel- 
defekt. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk., Bd. 10, 1897. 

2) R. Stintzing, Der angeborene und erworbene Defekt der Brust- 
muskeln usw. Deutsches Arch. f. klin. Mcdizin, Bd. 45, 1889. 


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208 


Gutermann 


Falle zusammenstellen konnte. Stintzing unterschied als erster 
zwischen angeborenem und erworbenem Defekt, indem er jenem fol- 
gende Merkmale zuerkannte: Vorwiegend ist nur eine Seite durch 
den Mangel der Portio sternocostalis M. pect. maj. und des gesamten 
M. pect. min. betroffen. Gleichzeitig bestehen trophische Storungen 
des Integumentes und Abnormitaten an der benachbarten Extremitat. 
Sehr auffallend ist das Ausbleiben emer wesentlichen Funktionsstorung. 
Der Defekt ist nicht erblich noch familiar. Stintzing dachte an die 
Moglichkeit eines Zusammenhanges mit Erbs juveniler Form der 
progressiven Muskelatropbie. Erb 1 ) selber verkniipfte den angeboreneu 
mit dem erworbenen Defekt durch die Erwagung, ob ein Zusammen- 
bang nicbt insofern bestehen konne, als die kongenitalen Muskel- 
defekte das Eesultat einer fruhzeitig stationar gewordenen, rudimen- 
taren Form der Dystrophia musculorum progressiva sein konnten. 
Erb verlangte zur Entscheidung erstens, den Nachweis iiberein- 
stimmender histologischer Befunde in iibrig gebliebenen Teilen der 
defekten Muskeln und zweitens, die Beobachtupg von Fallen, in denen 
die sogenaunte kongenitale Defektbildung eine grossere Anzahl solcher 
Muskeln betrafe, die erfahrungsgemass von der Dystrophie mit Vor- 
liebe befallen werden. 

Seine eigene pathologisch-anatomische Untersuchung eines Falles 
von doppelseitigem Fehlen des M. eucullaris ermoglichte ihm keine 
Entscheidung dariiber, ob kongenitaler Mangel oder das Resultat eines 
spateren Prozesses vorliege. Er fand in dem iibrig gebliebenen 
oberen Biindel des linken M. cucull. eine starke, gleichmassige Faser- 
hypertrophie; die Querschnitte lagen dicht beisammen, polygonal mit 
abgerundeten Ecken. Die Querstreifung der Fasern war sehr fein und 
gut erbalten; viele Fasern zeigten feine Langsstreifung. Es bestand 
betrachtliche Kernvermehrung. Weniger vermehrt war das inter- 
stitielle Bindegewebe, dessen Kernreichtum etwas gesteigert war. 
Erb konnte diesen Befund vor allem mit dem bei Thomsenscher 
Krankheit und nur entfernter mit dem bei Dystrophie vergleichen. 
Die Hypertrophie lediglich auf die starke Beanspruchung der restie- 
renden Muskelportionen zuriickzufiihren, glaubt er ablehnen zu diirfen. 
Der von Erb angedeuteten Auffassung schloss sich Damsch 2 ) an, 
als er einen Fall von Brustmuskeldefekt und teilweisem Fehlen des 
gleichseitigen M. cucull. untersuchte. Die Veranderungen, die er 


lj Erb, Em Fall von doppelseitigem, fast vollstiindigem Fehlen des Muse, 
cucull. Neurolog. Zentralbl., Bd. 8, 1889. 

2) Damsch, Anatomische Befunde bei sogenannten kongenitalen Muskel- 
defekten. Verhandlungen des 10. Kongresses f. innere Med., 1891. 


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Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung usw. 209 

feststellte, liessen sich mit einera etwas vorgeschrittenen Fall einer 
rudimentaren Dystrophie gut in Einklang bringen. Neben erheblicheu 
Hypertrophien fand er auch Verlust der Querstreifung und Vakuolen- 
bildung. An den atropbischen Partien bestand Faserzerfall in Langs- 
streifen. Die noch vorhandenen Fasern waren in fettfiihrendes Binde- 
gewebe eingebettet, Die Gefasse waren zum Teil obliteriert. An den 
meist betroffenen Stellen waren die Muskelfasern von Fettzellen ersetzt, 
das Bindegewebe kemreich nnd vermehrt. Nach Dams oh bat 
Schlesinger 1 ) einen Fall von angeborenem Brustmuskeldefekt unter- 
sucbt und im iibriggebliebenen Gewebe vollig norm ale Verbaltnisse 
festgestellt. Er weist desbalb einen Zusammenhang mit Dystrophie 
von der Hand. Zu einem weiteren, andersartigen Resultat kommt 
Bing (5). In seinem Falle bestand in der Portio clavicularis gleich- 
massige Diinnheit der Muskelfasern und ein etwas iibernormaler 
Kernreichtum. Die feblenden Muskelpartien waren von fettigem Ge¬ 
webe ersetzt, das keine Spur von Faserresten enthielt. Der Brust- 
muskel der anderen Seite zeigte geringe Kernvermebrung und im 
iibrigen ein normales Verhalten. Dagegen waren die benachbarten 
Scbulter- und Armmuskeln hochgradig pathologisch verandert. lhre 
Fasern waren durch Diinnheit und Einlagerung von Fettgewebe aus- 
gezeichnet und zeigten ungleicbes, vorwiegend geringes Kabber. Das 
Bindegewebe war gewuchert und fettreich, die Kerne vermehrt. Die 
Querschnitte waren zum Teil scharf eckig, daneben aber fanden sich 
auch kreisrunde. Die Konturen waren unregelmassig. Moglicherweise 
handelte es sich bier um die Resultate einer interkurrierenden Nerven- 
krankbeit, die Patient durcbgemacbt batte. Nach Bing bericbtet 
H. Lorenz (6) iiber einen Fall von Brustmuskeldefekt kombiniert 
mit teilweisem Fehlen des M. cucull. mit Sektionsbefiind. Es fanden 
sich ausser der Hypertrophie einzelner Muskelfasern keinerlei weitere 
krankhafte Veranderungen. 

Noch weniger ergebnisreicb als die Untersuchung der Muskulatur 
waren die Erbebungen in den zugehorigen Riickenmarksabschnitten. 
Damsch fand degenerative Prozesse im zentralen Teil der Burdach- 
schen Strange der entgegengesetzten Seite, bei Schlesinger war auf 
der Seite des Defektes im 5., 6. und 7. Zervikalsegment die medial 
gelegene Gangliengruppe, die normalerweise sebr schwach entwickelt 
ist, fehlend. Auch auf der anderen Seite war sie sehr durftig ver- 
treten. Obersteiner 2 ) und Lorenz fanden in ihren Fallen aus- 

1) Schlesinger, Zur Lehre von angeborenem Pectoralis-Rippcndetekt. 
und dem Hochstand der Scapula. Wiener kiin. Wochenschr. 1900. 

2) H. Obersteiner, Ruckenmarksbefund bei Muskeldefekten. Wiener 
klin. Rundschau 1902, Xr. 10. 


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210 


Gutermaxn 


gedebnter, angeborener Muskeldefekte im Bereiche des Schultergiirtels 
gar koine Veranderungen im Mark und Bing erging es ebenso. An 
einem Neugeborenen konnte Riickert 1 ) feststellen, dass jedenfalls 
mangelhafte Gefassversorgung odor fbtalentziindliche Prozesse als 
Ursacbe nioht in Frage kamen. Die gennge Zabl dor pathologisch- 
anatomischen Untersuchungen bringt so widersprechende Bofunde, 
dass es nicbt sebr aussichtsyoll erscbeint, auf ihrer Basis anf die 
Atiologie der Muskeldefekte einen Schluss zu griinden. Vielleiobt 
rtihrt der Mangel an Ubereinstimmung daher, dass unsere kliniscbe 
Unterscheidung nocb nicbt verfeinert genug ist, um dem Anatomen 
Ahnliches von Ahnlichem getrennt zu liefern. 

In einer grosseren Arbeit wurde zuerst yon Bing die gesamte 
damalige Literatur von Skelettmuskeldefekten bearbeitet. Er fand in 
214 Fallen 102 mal die Brustmuskeln betroffen; an zweiter und dritter 
Stelle standen M. cuculL, der 18 mal, und M. serrat. antic, maj., der 
14 mal betroffen war. In 20 Fallen waren yerscbiedene Defekte der 
Scbultergiirtelmusknlatur kombiniert. Der Autor glaubt damit nacb- 
gewiesen zu baben, dass „kongenitale Muskeldefekte am haufigsten 
einige derjenigen Muskeln betreffen, die haufig und friilizeitig bei 
Dystrophie zugrunde zu geben pflegen". Er lasst — wie Bittorf 
(,25) herrorhebt — dabei zwei Eigenschaften der Dystrophie ganz 
unbeachtet, namlich Symmetric und Progression, obwobl ihm die 
Seltenbeit doppelseitiger Befunde bei angeborenen Defekten koines- 
wegs entgangen war. 

Neben seinen Feststellungen im Rahmen der Erbschen Frage- 
stellung (1. c.) fand Bing eine Reibe yon Koinzidenz^n des Brust- 
muskeldefektes mit anderen Missbildungen ofters beschrieben. Gerade 
diese Komplexe miissen aber wohl auf einer Grundlage entstanden 
sein, die nicht mit Dystrophie zusammenhaugt, denn man findet bier 
die Abkommlinge ganz anderer Anlagen mitbetroffen, deren Miss- 
bildung ihrerseits eigenartige atiologische Vorstellungen erweckt hat. 
Es fand sicb haufig die Mitbeteiligung der oberen Extremitat (Atrophie 
und Verkiirzung des Armes, Syndaktylie und Verkummerung der 
Phalangen, Anomalien der Scapula, Flughautbildung), ferner Knochen- 
defekte am Thorax. Regelmassig waren trophische Storungen des 
lntegumentes. In seltenen Fallen fand sicb das Herz medianwarts 
verlagert, Hemiatrophie des Gesichtes, iiberzahlige Muskeln, Storungen 
der Entwicklung des Gebirns und schwere Missbildungen des ganzen 
Korpers. Auch die anderen Skelettmuskeldefekte traten haufig in 


1) Ruckert, Uber angeborenen Defekt der Brustmuskeln. Miinch. med. 
Woehenschr. 1890. 


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Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 211 

Kombination mit den genannten Entwicklungsstorungen. Das Zu- 
sammentreffen mit Lasionen im Gebiet der Himnerven ist nur in 
wenigen Fallen angedeutet und ganz selten ausfiihrlicher bescbrieben 
[A. Schmidt, W. Kausch (Fall 2), 0. Berger (Fall 3) 1 )]. 

Im allgemeinen ist der Brustmuskeldefekt strong einseitig und 
nicht erblich. Nur Fiirstner 2 ) und Greif 3 ) berichten fiber Hereditat, 
ersterer bei zwei Briidern, dieser bei einem Vater und seinen beiden 
Sohnen. V. Noorden 4 ) und Wendel (8) beschreiben doppelseitige 
Defekte. Wendel erinnert, dass dieselben vielleicht als atavistische 
Bildungen angesehen werden konnen, wenn man bedenkt, dass bei 
anencephalen Foten die Beobachtung hanfiger ist (Shepherd 5 ), 
Le Double 6 ). Bei mancben Affen fehlt der grosse Brustmuskel 
regelmassig. Bei anderen treten die beiden Portionen als getrennte 
Muskelindividuen auf, oder es fehlt nur die eine von beiden 
'(Meckel 7 ), Broca 8 9 ), Hartmann"). Bei den moisten Raubtieren 
fehlt der M. pect. min. (Cuvier). 

Fiir die Dystrophic nimmt Bing (1. c.) nach Gowers Vorgang, 
an, dass sie eine angeborene Erkrankung sei, die dem Begriff der 
fehlerhaften Keimanlage nicht fern stehe. Angeborene Muskeldefekte 
und Dystrophie entstehen nach seiner Anschauung ohne miteinander 
durch irgendein Kausalitatsverhaltnis verkniipft zu sein auf der 
gleichartigen Basis endogener Keimschadigung und sind in diesem 
Sinne miteinander verwandt. Nur weitere anatomische Mitteilungen 
halt er noch fiir erwiinscht, um diese Auffassung zu bestatigen. 

Lorenz (6) hat in Nothnagels Handbucb eine Gruppierung der 
Muskeldefekte nach klinischen Gesichtspnnkten eingeleitet, in dem er 
jene Falle zusammenfasst, bei denen an charakteristischer Stelle 
mebrere Defekte zusammentreffen oder eine unmittelbare Kombination 
mit Dystrophie vorliegt. Auf diese Gruppe schrankt er die Giiltigkeit 
von Bings Theorie ein und neigt fiir die anderen Falle zu einer 


1) O. Berger, Virchows Arch., Bd. 72, 1878. 

2) Fiirstner, Kongenitale Muskeldefekte bei Geschwistem. Arch. f. 
Psych., Bd. 27, 1895. 

3) Greif, Drei Falle von kongenitalem Muskeldefekt. Inaug.-Diss., Greifs- 
wald 1890. 

4) v. Noorden, Zwei Falle von angeborenem Mangel der Pectoral- 
muskeln usw. Deutsche med. Wochenschr. 1885, Nr. 35. 

5) Shepherd, Joum. of anat. and physiol. 1889. 

6) Le Double, Variations du systhme musculaire del’homme. Paris 1897. 

7) Meckel, Anatomie compare. Paris 1838. 

8) Broca, L’ordre des primates p. 316. 

9) Hartmann, Les singes anthropoldes et l’homme p. 124. 


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212 


G&tbbkasn 


• Beurteilung, die wesentlieh naher liegt, wenn man den gesamten 
Symptomenkomplex, der hier in Betracht gezogen werden muss, be- 
riicksichtigt. Es ist dies die Annahme einer intrauterinen Defor- 
mierung durch Belastung, die mit Vorliebe in den V eroffentlichungen 
von Brustmuskeldefekten beriicksichtigt worden ist, die durch Extremi- 
tatenmissbildungen kompliziert waren. 

In einer Arbeit, die Schoedel 1 ) fast gleichzeitig mit Bings 
Monographic mitteilte, wird diese Theorie ausfuhrlich abgehandelt, 
Um in anamnestischer Hinsicht vollig sicher zu gehen, hebt Schoedel 
besondera die Falle mit auffallender Beteiligung der Extremitat in 
den Rahmen seiner Betrachtung. Hierbei steht er auf dem Standpunkt, 
dass eine mechanische Druckwirkung yon langerer Dauer als zu- 
reichende Erklarung fur die Entstehung der Missbildung beranzuziehen 
sei. Wenn sich das Amnion wegen epithelialer Verklebungen, Frucht- 
wassermangel oder entziindlicher Vorgange nicht rechtzeitig und aus- 
reichend abhebt, so wird der kindliche Kopf gegen die Brust gedruckt 
und hierbei auch die Extremitatenanlage gepresst und verandert. 
Diese Erklarung gilt nach Schoedel fur alle Verbildungen der Brust- 
wandung ausser den hereditaren. Seine Theorie ist schon yon Fro- 
riep 2 ), 1839, zum erstenmal angedeutet und yon Seitz 3 ) ausgebaut 
worden. Spater hat sich insbesondere Loening (28) mit ihr be- 
schaftigt. Loening erklart das Vorwiegen der Schadigung am 
distalen Teile der Extremitat durch den Emstand, dass der Druck 
insbesondere auf den Nerren- und Gefassapparat des Armes wirke, - 
wahrend die an der Streck- und Beugeseite angeordneten Muskeln 
sich in geschiitzterer Lage befinden. Falle, wie der yon Ritter und 
Eppinger 4 ), in welchen der in einen Finger auslaufende Arm un- 
mittelbar in den Brustwandungsdefekt des zehn Tage alten Sauglings 
hineinpasste, kennzeichnen die Berechtigung der Schoedelschen 
Auffassung fiir einzelne Falle. Wendel (1. c.) hat den yon Schoedel 
stammenden Erklarungsversuch einer Kritik unterzogen. Er meint, 
dass sich durch eine Druckschadigung wegen Ausbleiben der Ab- 
hebung des Amnions eine mediane Entwicklungsstorung durch den 
an den Thorax fixierten Eopf besser verstehen liesse, als eine seitliche. 
Er fragt ferner, warum an Kinn und Unterkiefer keine Deformitaten 
gefunden werden. Mag Schoedels Annahme in weitem Umfange 


1) J. Schoedel, Einseitige Bildungsfehler der Brustwandung und der 
entsprechendeu oberen GliedmaBen. Jahrbuch f. Kinderheilkde., Bd. 56, 1902. 

2) Froriep, Neuere Notizen Bd. 10, 1839. 

3 ) Seitz, Seltene Missbildung des Thorax. Virchows Arch., Bd. 98, 1884. 

4) Ritter und Eppinger, Osterr. Jahrbuch f. Padiatrik Bd. 7, 1876. 


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Em Fail von maltipler Himnervenlahmung usw. 213 

zotreffend sein oder nicht, jedenfalls miissen wir heute den Pectoralis- 
defekt mit Komplikationen von seiten dej Brnstwandang und Extre¬ 
mist klinisch abgrenzen gegentiber dem rein muskularen Defekt mit 
Veranderongen im motorischen Nerv-Muskelsystem. Bis in die neneste 
Zeit haben sich die meisten Autoren, die liber Brostwandungsdefekte 
berichten, Schoedels Ausfiihrungen angeschlossen. Durch die 
scbweren Storungen, die dnrcb Spaltbildungen am knocbernen Thorax 
hervorgerufen werden, kommen besonders die Chirargen mit diesen 
Missbildungen in Beriihrung. In diesem Zusammenbang verdient 
erwahnt zu werden, dass von Kiimmel 1 ) and Klaussner 2 ) anf die 
* Druckwirkong anch zur Erklarung von Strahl- und Spaltdefekten der 
Extremitat nacbdriicklich hingewiesen worden ist. 

Einen weiteren Beitrag zur Annahme dieaer Atiologie findet sich 
im Zusammentreffen mit dem Schulterblatthochstand. Diese im Jahre 
1881 zuerst von Sprengel 3 ) genauer beschriebene Lageanomalie des 
Schulterblattes ist sicher — um sich des von Moebius in anderem 
Zusammenhang verwendeten Ausdrucks zu bedienen — ein weniger 
„gereinigtes JPraparat“ klinischer Beobachtung. Recht verschieden 
lesen sich die Beschreibungen des Hochstandes, der bald durch ein- 
fache proximale Verschiebung zustande kommt, bald durch Hebung 
des Angulus superior, dann wieder durch Vorwiegen der Rotation 
um den Gelenkteil, so dass der innere Rand des Schulterblattes mit 
der Wirbelsaule einen nach unten offenen Winkel einschliesst. Ferner 
bezeichnen manche Autoren den Hochstand nur dann als wohl 
charakterisiert, wenn er isoliert vorkommt. Andere vergesellschaften 
ibn insbesondere mit Muskeldefekten — oder dieselben werden als 
der Beobachtung altererUntersucher entgangen angenommen. K au s ch 4 ) 
griindet auf diese Hypothese seine Theorie, den Hochstand als Folge 
eines partiellen Cucullarisdefektes zu erklaren. Ihre Einseitigkeit ist 
schon wiederholt gekennzeichnet worden, doch hat Kausch mit der 
Feststellung eines gleichzeitigen Muskeldefektes jedenfalls einen wich- 
tigen Schritt zur Erkenntnis vieler hierher gehoriger Falle getan. 

Den verschiedenen Erscheinungsformen der Missbildung entsprecben 


1) W. Kiimmel, Die Missbildungen der Extremitaten durch Defekt, Ver- 
wachsung und Bberzabl. Bibliotheca medica, Kassel 1895. 

2) Klaussner, Cber Missbildungen der menschlichen GliedmaBen. Wies¬ 
baden 1900. "* 

3) Sprengel, Die angeborene Verschiebung des Schulterblattes nach 
oben. Arch. f. klin. Chir., Bd. 42, 1891. 

4) W. Kausch, Cucullarisdefekt als Ursache des kongenitalen Hoch¬ 
standes der Scapula. Mitteilungep a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 11,1902. 


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214 


Gutekmann 


jedenfalls verschiedene Grundlagen. Ehrhardt (7) legte aus der 
Zusammenstellung von 85 fallen angeborenen Hocbstandes fiir sein 
Zustandekommen folgende Grundlagen fest: 

1. Deformitat der Scapula durch intrauterine Belastung. 

2. Muskeldefekt. 

3. Knocherne oder bandartige Verbindungen der Scapula mit 
der Wirbelsaule. 

Wenn man sicb vor Augen bait, dass die Grenzen zwischen diesen 
Gruppen fliessend sein mttssen und zum Beispiel aucb der Muskel¬ 
defekt die Folge einer intrauterinen Belastung und eine Knochenspange 
zwischen Scapula und Wirbelsaule durch Keimverschiebung im Zu- 
sammenhang mit einem deformierten Schulterblatt entstanden sein 
kann, so ist die Ehrhardtsche Einteilung auf die meisten Falle 
anwendbar. Doch wurden auch vereinzelt andere Anomalien am Skelett 
des Thorax und seiner Muskulatur gefunden und ihrem Einfluss der 
Schulterblatthochstand als Folge der auf ihn wirkenden Zug- und 
Druckkrafte zugeschrieben [Cohn (26) u. a.]. In Fallen, die wie der 
unsere am Schulterblatt selber keine pathologischen Veranderungen 
zeigen und in welchen auch der knocherne Thorax normal gebildet 
ist, muss nach einer pathologischen Muskelwirkung gesucht werden. 
Einen derartigen Fall operierte Lameris (14) und fand einen harten 
Strang zwischen den Proc. spin, vertebr. dors, und der medialen Seite 
der Scapula ausgespannt, den er als veranderte und geschrumpfte 
untere Portion des M. rhomboides auffasste. Er findet in den 
Duchenneschen Experimenten iiber die Anderungen der Schulterblatt- 
stellung je nach dem Oberwiegen der einzelnen Partien dieses 
Muskels eine Erklarung fiir die Verschiedenartigkeit der Schulterblatt- 
stellung beim Hochstand. Nach seinen Voraussetzungen miissen wir 
die Unwirksamkeit der unteren Teile des M. rhomboides in unserem 
Falle erwarten, in welchem die Verschiebung des Schulterblattes nach 
oben und innen, dann durch die iiberwiegende Einwirkung der oberen 
Portionen erklart ware. 

In neuerer Zeit hat Reich (40) angenommen, gerade in der Zu- 
sammenhanglosigkeit, welche die Verteilung der begleitenden Defekte 
innerhalb der Muskelindividuen beherrscht, sei ein Merkmal zu er- 
kennen, das gegen die Annahme einer einfachen Hemmungsmissbildung 
beim Hochstand spricht. Er beruft sich auch auf Degenerations- 
erscheinungen im Muskel und nimmt Storungen in den trophischen 
Zentren des Zentralnervensystens im Sinne der krankhafben Anlage 
an, die auch zu Syringomyelie fiihren kann [Schlesinger*). Die 


1) Schlesinger, Die Syringomylie. 2. Aufl. 1902. 


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Ein Fall von multipler Hirnnervenliihmung usw. 


215 


Analogie dieses Gedankenganges mit den viel friiher bei der Beur- 
teilung der Brustmnskeldefekte angestellten Erklarungsversuchen im 
Zusammenhang mit der Dystrophie ist offenkundig and ich brauche 
nur Steches Ein wand (21) zu yariieren, wenn ich erinnere, dass 
unter Voraussetzung* der Annahme, dass Moskeldefekte und Schulter- 
blatthochstand desselben Ursprungs sind, Storungen in motorischen 
Zentren, jedenfalls nicht genugen, um die Falle, die mit einer Skelett- 
missbildung einhergehen, zu erklaren. * 

Ziemlich haufig ist zusammen mit dem Scbulterblatthochstand 
Hemiatropbie oder Asymmetrie des Gesichtes zuungunsten der Seite, 
die auch durch den Hochstand betroffen ist, beobachtet worden. 
Serafini (29) entwickelte in diesem Zusammenhang den Gedanken, 
dass wahrend des intrauterinen Lebens die geschadigten Teile (in 
seinem Fall auch die gesamte atrophische Thoraxhalfte) durch die 
infolge Sparlichkeit des Fruchtwassers nicht hinreichend ausgedehnten 
Uteruswande komprimiert wordeD seien. Wir kommen damit wieder 
zu der Annahme der Hemmungsmissbildung durch pathologische Be- 
lastung, die so komplizierte Falle wie den uns vorliegenden unserem 
Verstandnis am nachsten bringen. 

Bei Betrachtung der Flughautbildung fiuden wir uns wohl etwas 
geordneteren Kenntnissen gegeniiber, als liber viele andere hier zu 
behandelnde Missgestaltungen bestehen. Die Annahme yon Basch 1 ), 
dass Flughautbildung der Ausdruck einer r unvollkommenen Gliederung 
ist, der sich von seiten der Nerven, Muskeln, Knochen eine Wachs- 
tumshemmung zugesellt, alles infolge ausseren Widerstandes", hat 
Tiir viele Falle eine grosse Wahrscheinlichkeit und wird fast regel- 
massig zur Erklaruug herangezogen. Stets ist die Bildung mit 
Muskeldefekten vergesellschattet, die nach Wilms’ Angabe 2 ) immer 
zentral von der Flughaut gelegene Muskeln betreffen. Nach Bruns 
und Kredel 3 ) wird durch versprengte Muskelteile intakte Haut zur 
Flughaut vorgestiilpt. Fiir die ungemein seltenen hereditaren Falle 
muss nach Ktimmel (1. c.) wohl endogene Entstehung in Anspruch 
genommen werden, wobei der wichtigen Erinnerung Klaussners (19) 
gedacht sei, dass die Mitteilungen liber Falle sich mehren, in denen 
mechanisch erworbene Missbildungen vererbt werden. Stets muss 

1) K. Basch,fibersogenannte Flughautbildungbeiin Menschen. Zeitschr. 
f. Heilkde., Bd. 12, 1891. 

2) Wilms, Flughautbildung in beiden Ellenbogcn bei Vater und Sohn. 
Verhandl. d. med. Gesellsch. zu Leipzig 1902. Munehen 1903. 

3) Bruns u. Kredel, Uber eiuen Fall von angeborenem Defekt mehrerer 
Brustmuskeln mit Flughautbildung. Fortschr. d. Med., Bd. 8, Nr. 1. 

Deutsche Zcitschrift f. Norvenheilkundc. Bd. 57 . 15 


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Guti'rmaxn 


hier in Frage gestellt werden, was vererbt wird, die Entwicklungs- 
stbrung oder Missverbaltnisse in der Gestaltung des Amnions. 

Es drangt sich nun die Frage auf, ob der Epicanthus als Flug- 
hautbildung gedeutet werden darf. Leider wissen wir iiber den 
gleichzeitigen Zustand der Muskeln der Augen, wegen deren verdeckter 
Lage, gewohnlich nicht viel. Das oft beobachtete Verschwinden des 
Epicanthus beim Heranwachsen durch Entwicklung des Nasen- und 
Orbitalskelettes* entspricht den Vorstellungen allgemeiner Art liber den 
Zusammenhang zwischen Flughautbildung und Wacbstum jedenfalls 
recht gut. 

Ein besonders auffallendes Merkmal unseres Falles ist der vollige 
Mangel von Brustwarze und Warzenhof. Storungen in der Entwick¬ 
lung dieser Gebilde sind ganz typisch mit dem Brustmuskeldefekt 
kombiniert, doch ist das spurlose, einseitige Fehlen sehr selten und 
bisher erst dreimal von Seitz 1 ), Loening (28) und Bittorf (30) 
beschrieben worden. Im Fall von Schmidt ist mit der Andeutung 
von Mamma und Mammilla durch einen punktformigen Fleck schon 
eine sehr hochgradige Verbildung festgestellt. Gewohnlich best man, 
Mamma und Mammilla seien auf der betroffenen Seite kleiner, hoher 
gestellt und weiter nach innen verschoben als auf der gesunden, und 
die Warze sei griibchenformig eingezogen. Damit ist ein Befund 
beschrieben, der den normalen Verhaltnissen kurz vor der Geburt 
entspricht. Mitunter ist auch der Unterschied zwischen den beideu 
Seiten lediglich ein quantitativer und nur das Ausbleiben der Bildung 
eines Driisenparenchyms weist darauf hin, dass die Anlage des Epithels 
im Bereich des Drusenfeldes, des Mutterbodens der Milehdriise, ge- 
stort ist. Das Fehlen lediglich der Brustdriise ist etwa 15mal be¬ 
schrieben worden. 

Der Beurteilung dieser Missbildung ist von den Autoren bisher 
weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden, vielleicht wegen der 
geringeren klinischen Bedeutung. Jedenfalls sprechen die trophischen 
Storungen des Integumentes nicht gerade fur den Zusammenhang, 
der zwischen dem Brustmuskeldefekt und der Dystrophie konstruiert 
worden ist, auch dann nicht, wenn man den Sitz der Schadigung in 
das Riickenmark verlegt. Denn fur die Muskeln ist ebenso wie fur 
die Haut die Unabhangigkeit vom Zentralnervensystem in trophischer 
Hinsicht wabrend der embryonalen Entwicklung wiederholt durch 
Befunde bei anencephalen Fbten sichergestellt worden. Die wabrend 
des Lebens nach der Geburt bestehenden Verkniipfungen treten erst 
viel spater auf. Bittorf halt den echten Missbildungscharakter der 


1) Seitz, Virchows Arch., I!d. 98, 18S4. 


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Ein Fall von multipler HirnnervenlabmuDg usw. 


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Anomalien aus den vorliegenden Beobachtungen fur bewiesen. Die 
ganze Korperregion miisse schon im friibesten Embryonalleben 
mangelhaft angelegt sein und je nach dem Dberwiegen der Storungen 
in den verschiedenen Organsystemen mehr das Deckepithel, das 
Mesoderm oder das Mesenchym geschadigt worden sein. Seine An- 
schauung verscbiebt das Problem damit in eine Periode, iiber die wir 
viel zu wenig wissen, um Y T erstandnis fur die in Frage kommenden 
Einwirkungen zu haben. Weder auf den Gesamttypus der Miss- 
bildung als einseitige, lokal auf eine bestimmte Region beschrankte 
Lasion, noch auf den Mangel der Hereditat wird durcb die Annahme 
einer endogenen Ursache Licht geworfen. Dagegen passt auf die 
Falle hoehgradiger Entwicklungshemmung von Mamma und Mammilla 
die Annahme der amniogenen Belastungsdeformitat recht gut. Fiir 
die gewohnlich beschriebenen geringer gradigen Verbildungen hat auch 
diese Annahme ihre Schwierigkeiten, denn die erste Anlage von Brust- 
warze und Warzenhof tritfc erst am Ende des zweiten Monats in Ge¬ 
stalt einer verdickten Epithelleiste in Erscheinung und wir mfissen 
deshalb annehmen, dass ein verzogertes Abheben des Amnions wegen 
Fruchtwassermangels die Anlage von Mamma und Mammilla in ihren 
friihesfcen Stadien betreffen muss. Je friiher ein Organ aber in seiner 
Entwieklung gehemmt wird, desto ausgiebiger bleibt es defekt. Wo 
eine geringere Missbildung des Integumentes mif ausgedehnten Muskel- 
und Skelettanomalien einhergeht, bleibt in quantitativer Hinsicht wohl 
ein gewisser Einwand gegen die betrachtete Theorie bestehen. 

Wir wenden uns nun den Storungen im Hirnnervengebiet zu. 

Unter dem Begriff des angeborenen Beweglichkeitsdefektes der 
Augen, wie ihn Kunn gepragt hat, ist eine grosse Literatur vereinigt, 
welche die hierzu gehorigen Krankheitsbilder klinisch und differential- 
diagnostisch zieralich scharf umgrenzt und zu beurteilen gestattet. 
Gleichzeitige Storungen in anderen HirnnerveDgebieten sind ofters 
beobachtet worden und im allgemeinen in atiologischer Hinsicht mit 
den Beweglichkeitsdefekten des Auges verkniipft worden. Storungen 
auf geburtstraumatischer Basis scbeiden fiir unsere Betrachtungen von 
vornherein aus. Zuerst griff Moebius (1) aus der schon damals nicht 
geringen Zahl von Einzelbeobachtungen eine Reihe von Fallen heraus, 
die er in Verbindung mit in friiher Jugend erworbenen Lahmungen 
zu einer Gruppe als „Infantiler Kernschwund“ zusammenfasste. Mit 
dieser Bezeichnung legte er seine Anscbauung fiber den primaren 
Sitz und die Natur der zugrunde liegenden Schadigung fest, im Sinne 
einer Vernichtung der motorischen Hirnnervenkerne im Fotalleben 
oder kurz nach der Geburt etwa dnrch eine Art nukleotropes Gift. 
Aus der von ihm benutzten Literatur und eigenen Beobachtungen 

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Gutermann 


bildete er Gruppen yon angeborener oder in der Kindbeit entstandener 
Ophthalmoplegia exterior, yon Abduzenslahmung mit and ohne Be- 
teiligang des N. facialis, ferner ausserer Okulomotoriuslahmung and 
Ptosis. Stets ist das Leiden stationer. Moebias spricbt dann die 
Erwartung aus, es miissten sich Defektbildungen auf dem Gebiet der 
anderen motorischen Gehirnnerven auch ohne Beteiligung der Augen- 
muskelnerven beobachten lassen; eine Vermotung, die mittlerweile in 
Erfiillung gegangen ist [Moll(45), Sterzing(44), u. a.]. 

Die Feststellung des Kernes als Sitz der Lasion gelang Moe- 
bius yon rein klinischen Gesichtspunkten aus nach Beurteilang des 
Zusammentreffens des Beweglichkeitsdefektes der Augen mit dem 
regelmassigen Unyersehrtbleiben der inneren Muskeln, dem Resultat 
der Funktionspriifung und dem Verhalten der Muskulatur des Fazalis- 
gebietes. Auch unser Fall zeigt alle Symptome, die zur Feststellung 
des Kernes als Ausgangspunkt des Leidens erforderlich sind. Das 
Erlpschensein der elektrischen Erregbarkeit — Entartungsreaktion ist 
bei dem stationaren Charakter der Schadigung gar nicht zu erwarten 
— schliesst die zentralen Gebiete aus. Und man darf von dem Ver¬ 
halten der Gesichtsmuskulatur wohl einen Schluss auf gleiehes Ver¬ 
halten der Augenmuskeln tun. Ferner kommt Nerv und Muskel nicht 
in Frage, um die doppelseitige assoziierte Blicklahmung zu erklaren 
bei Fixation eines nach ausscn wandernden Objektes, wahrend *tlie 
Konvergenz erhalten ist. Es bleiben nur die Kerne und die ihnen 
benachbarten Zentren fur die seitliche Blickrichtung mit ihren gegen- 
seitigen* Verkniipfungen zur Annahme des Sitzes der Affektion tibrig. 
Nach y. Monakow 1 ) befindet sich eines dieser Zentren im distalen 
Pons, nahe und frontal vom Abduzenskern. Es yerbindet den Abdu- 
zens der einen Seite, der ungekreuzt bleibt, mit den Fasern des Okulo- 
motorius, die den Pons gekreuzt verlassen und zum gegeniiberliegen- 
den M. internus ziehen. Noch weiter frontal und in den hier be- 
trachteten Fallen ungeschiidigt liegt das Zentrum fur Konvergenz, das 
die beiden Interni verkniipft. Bernheimer 2 ) lehnt v. Monakows 
Annahme ab und lasst das hintere Langsbiindel als Vermittler zwischen 
Hirnzentren und motorischen Kernen fungieren. Die verbindenden 
Fasern verlaufen auch nach seiner Anschauung vom Abduzenskern 
frontalwarts zum Okulomotoriuskern zu den fur den andersseitigen 
M. rect. med. bestimmten Zellen. Die Verbindungen zur Konvergenz 


1) v. Monakow, Gehimpathologie. Wien 1897. 

2) St. Bernheimer in Graefe-Siimischs Handbuch der gesamten Augen- 
heilkunde, 2. Aufl., 39. Lfg., 1902. 


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Eiu Fall von raultipler Himnervenlahmung usw. 

bleiben erhalten, wahrend die den motorischen Kernen naher ge- 
legenen Fasern getroffen werden. 

An die Beteilignng des N. facialis hat sich in der Folge das 
Stadium der Frage nach der Abgrenzung des Gebietes des N. VII 
von dem des N. XII gekniipft, das insbesondere von Bernhardt (46) 
bearbeitet worden ist. Haufiger ist ein Freibleiben der Maskulatur 
um Mond and Unterkiefer bei nuklearen Fazialislahmungen dann be- 
obachtet worden, wenn das Hypoglossusgebiet unbeteiligt war. Dagegen 
wnrde bei einseitiger Hypoglossusparese Lahmung der gleichzeitigen 
Mra. orb. oris, quadratus und triangularis menti gefunden. Es ent- 
stand nun die Frage, ob hier die innervierenden Fasern aus dem N. VII 
oder in letzter Linie aus dem N. XII stammten. Da in unserem Fall 
neben der Parese des rechtsseitigen Mundfazialis jedenfalls auch eine 
solche des Zungenhypoglossus dieser Seite besteht und links das Frei¬ 
bleiben der Muskeln um Mund und Unterkiefer mit einem normal 
funktionierenden N. XII zusammentrifft, so diirfen wir hier auch einen 
Befund erkennen, der fur einen derartigen Zusammenhang spricht. 
Eine ahnliche Frage hat sich auch fur das Platysma ergeben, bei 
welchem wohl individuelle Verschiedenheiten in Betracht kommen 
durften (Remak, Bernhardt, A. Schmidt). 

I>ie Erkenntnis der nuklearen Natur der Lahmungen durch Moe¬ 
bius hat sich als ungemein fruchtbar erwiesen, wenn auch nicht fur 
alle klinisch hierher gehorenden Falle die Kernschadigung angenommen 
werden kann. In der Folge hat sich die Kontroverse vor allem um 
die Berechtigung die Art der Lasion als Schwund aufzufassen, gedreht. 
Gewichtige Bedenken haben schliesslich auch Moebius veranlasst •), 
einen vermittelnden Standpnnkt einzunehmen in der Beurteilung, ob es 
sich rorwiegend um Schwund oder um angeborenen Defekt der Kerne 
handle. Nach der Zusammenstellung der gesamten damals bekannten 
Literatur von iiber 70 Fallen kongenitaler Beweglichkeitsdefekte der 
Augen in Kunns Monographic (2) miissen wir annehmen, dass eher 
• eine kongenitale Aplasie vorliegt. Kunn stiitzt seine Anschauung 
besonders durch eine Reihe von Feststellungen, namlich das regel- 
massige Fehlen der Sekundarkontraktur bei alien angeborenen Affek- 
tionen. Bei Unwirksamkeit der Beweger nach einer Blickrichtung 
findet man das Auge bald in Mittelstellung, bald in entgegengesetzter 
Blickrichtung. Hierbei ist die Stellung des Bulbus in der Orbita 
lediglich das Resultat seiner tonischen Gleichgewichtslage ohne Hin'zu- 
treten einer starren Fixation durch das Oberwiegen eines kontrakten 


1) Moebius, Nachtrag zu dem Aufsatze fiber infantilen Kernschwuml. 
Neur. Beitrage. Leipzig 1894. 


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Gutebmans 


Muskels, wie sie bei spater erworbenen Lahmungen niemals ausbleibt. 
Dem Bulbas bleibt in den meisten Fallen eine geringe Exkursions- 
breite im geschadigten Beweglichkeitsgebiet erbalten. Ferner stellt 
Kunn fest, dass das schon von Moebius beobachtete Vorkommen 
der erhaltenen Konvergenz bei aufgehobener Seitenwendung nur den 
angeborenen Defekten zukommt. Endlich fehlt bei angeborenen Lab- 
mungen die sekundare Schielablenkung des anderen Auges. Erst die 
Verkniipfung der Blickricbtung beider Augen zu binokularem Seben 
schafft die Bahnen, welche bei erworbenen Lahmungen zu sekundaren 
Ablenkungen fiihren. Es kommt nie zur Entstebung von Doppelbil- 
dern, was nach dem Gesagten einleuchtend ist. Aus alien diesen 
Griinden macht Kunn eine prinzipielle Trennung zwiscben alien an¬ 
geborenen und erworbenen Defekten. Er verweist viele in der Kind- 
Jbeit festgestellte Lahmungen in die Reihe der angeborenen, indem er 
an die geringe Auffalligkeit der Defekte erinnert. Tatsachlich be- 
stehen hier dieselben Schwierigkeiten wie bei der Beurteilung mancher 
anderer Fehler der Augen. Ich erinnere nur an die Cataracta peri- 
nuclearis. Zu diesen Auseinandersetzungen von Kunn ist zu bemerken. 
dass der entscheidende Augenblick eigentlich erst jener spatere Zeit- 
punkt ist, in welehem das Kind assoziiertes binokulares Sehen gelernt. 
hat. Und insofern besteht hier eine Annaherungsmoglichkeit an die 
Moebiussche Anschauung, angeborene und in friiher Kindheit er- 
worbene Prozesse fiir gleichartig zu halten, als wir erwarten miissen, 
dass fur Beweglichkeitsdefekte, die das Kind vor dem Aneignen des 
binokularen Sehaktes erworben hat, die Kunnschen Merkmale auch 
zutreffen werden. Dass aber nicht fiir alle klinisch hierher gehorigen 
Falle die Kernaplasie, wie Kunn sie annimmt, der jede weitere Grup- 
pierung angeborener Defekte verwirft, zutreffend ist, konnten sehr 
wirkungsvolf Axenfeld und Schiirenberg') nachweisen an einem 
Fall von angeborener Unwirksamkeit des M. rect. ext. Es bestand 
keine Schielstellung. Ausser der Abduktion nach ..links waren alle 
Bewegungen — auch Konvergenz und Seitenwendung — intakt. Bei 
einem operativen Eingriff wurde statt des Muskels ein ebenso breites. 
kraftiges, gelbgraues Band von betracbtlicher Elastizitat gefunden. 
Eine Entnahme zur histologischen Untersuchung unterblieb, um das 
gute Gleichgewicht nicht zu storen. Wir sehen hier also die Kunn¬ 
schen Merkmale zutreffen und es liegt doch eine eigenartige periphere 
Veranlassung vor. 

Recht sparlich sind die anatomischen Mitteilungen, die uns vor- 

1) Axenfeld uud Schurenberg, Beitriige zur Kenntnia der angeborenen 
B •weglichkeitsdefekte der Augen. Klin. Mon.atsbl. f. Augenhcilkde., 1901. 


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Em Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 


221 


liegen. Ein im Sinne der Kernaplasie oder des Kernschwundes be- 
weisender Befund ist nur von Heubner 1 ) mitgeteilt worden. Bei 
doppelseitiger Lahmung der Nn. faciales und abducentes, des linken 
Okulomotorius und einseitiger Atrophie der Zunge fand sich beson¬ 
ders die linke Halfte der Medulla oblongata verkiimmerb und die be* 
treffenden motorischen Kerne atrophiert, wahrend die sensiblen Kerne 
intakt waren. Degenerationszeichen fehlten vollkommen. Uberall han- 
delte es sich urn einen rein quantitativen Defekt. Der bei einem 
l^jahrigen Kinde erhobene Befund sprach eher fur Aplasie als fur 
Schwund, besonders wenn man beriicksichtigt, dass die Entwicklung 
der sensiblen und motorischen Gebiete zeitlich ziemlich auseinander 
liegt. 1m gleichen Sinn wie dieser Befund sind auch die von ange- 
borenen Ptosen stammenden zu bewerten, die von Siemerling 2 ) und 
Wilbrandt und Sanger(4) beschrieben wurden. Doch sind hier 
die Erscheinungen durch spatere Prozesse verwischt und die Beobach- 
tungen deshalb keineswegs schliissig. Ob es sich um Aplasie oder 
Depression handelt, bleibt besonders in dem komplizierten Fall Sie- 
merlings ungeklart. Bernhardt 3 ) berichtet iiber einen Augen- 
muskeldefekt. bei welchem er die Kerne von normaler BeschafFenheit 

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fand. Eine Erweichung im rechten Pons stand offenbar nicht im 
Zusammenhang mit diesen Storungen. Spater haben noch Marfan 
und A rman-Delille 4 ) und Rainy 5 ) anatomische Beitrage geliefert,doch 
sind ihre Falle sehr kompliziert und scheinen mir iiberhaupt nicht eigent- 
lich hierher gehorig. Bei Operationen kongenitaler Ophthalmoplegien 
sind haufig fibrinose Degenerationen in den Muskeln gefunden worden. 
Seltener ist das Fehlen und die geringere Entwicklung einzelner 
Muskeln, Verwachsungen derselben untereinander und falsche In¬ 
sertion. 

Nach Kunn haben die meisten Autoren einen vermittelnden 
Standpunkt eingenommen, indem sie die Bedeutung der Kernaplasie 
fur ausgebreitetere Ophthalmoplegien und hereditare Defekte aner- 


1) O. Heubner, Ober nngeborenen Kernmamrel. Cbarit4-Annalen, 1900 
und Deutsche med. Wochenschr., Bd. 26, 1900. 

2) Sienuerling, Anatomischer Befund bei einseitiger kongenitaler Ptosis. 
Arch. f. Psych., Bd. 23, 1892. 

3) M. Bernhardt, Uber angeborene einseitige Trigeminus-, Abduzens- 
und Fazialislahmung. Neur. Zentralbl., Bd. 11,1890. 

4) Marfan und Arman-Delille, Paralysie faciale congenitale du cot6 
droit. La Parole, 1902. 

5) Rainy, Congenital Facial Diplegia due to nuclear lesion. Review of 
Neurology, 1903. 


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Gutermaxn 


kennen und Einzelmissbildungen ihre Sonderstellung zuweisen. Je 
weniger durch histologische Feststellungen hier eine Entscheidung zu 
erreichen war, desto mehr mosste nach genauen klinischen Sonderungen 
gestrebt warden. Gruppierungen, wie sie nach yerschiedenen Ge- 
sichtspunkten yon Marina (3) and anderen Autoren und schliesslich 
von Uthoff(3) unternommen wurden, sind die Marksteine auf dem 
Wege yom Symptom enkomplex zum ursachlich einheitlichen Krank- 
beitsbild, auf dessen Erkenntnis unser Streben gerichtet ist. 

Marina unterscheidet in einer Arbeit, die gleicbzeitig und obne 
Eenntnis der Kunnscben vollendet worden ist, in kliniscber Hinsicht, 
erstens, die Labmungen einzelner Muskein und die unvollstandige ein- 
fache Ophthalmoplegie. Ihr haufigster Vertreter ist die isolierte ein- 
und doppelseitige Lahmung des M. rect. ext. Die zweite Gruppe 
umfasst die einfache Ophthalmoplegia externa, eine stets doppelseitige 
Affektion mit den verschiedensten quantitativen Abstufungen. Die 
inneren Augenmuskeln sind stets intakt. Drittens fallt unter die an- 
geborenen komplizierten Augenmuskellahmungen und die unvollstan- 
digen komplizierten Ophthalmoplegien die Mitbeteiligung andererHirn- 
nerven. Vor allem ist die doppelseitige Abduzens-Faziallabmung ein 
zwar nicht haufiges, aber doch scbon wiederholt festgestelltes, typisches 
Vorkommnis. Scbliesslich gebort zur vierten Gruppe die kompbzierte 
angeborene Ophthalmoplegia externa totalis. Die Komplikation besteht 
in der Starrheit der Gesichtsmuskeln, wie sie von Marina und von 
Reckon 1 ) bescbrieben worden ist. 

Uthoffs Stellungsnahme passt wohl am ungezwungensten zu den 
Beobachtungen, die bisher gemacht werden konnten. Er trennt die 
kongenitalen Lahmungen einzelner Augenmuskeln ab von den multiplen 
angeborenen Beweglichkeitsdefekten. Ersteren konnen die verschieden- 
artigsten Veranderungen der Muskein hinsichtlich ihres Baues und 
der Insertion, ferner Strangbildung und andere mechanische Ursachen 
zugrunde liegen. Bei letzteren rechtfertigt sich die Annahme einer 
nuklearen Lasion, wenn die innere Augenmuskulatur intakt ist. Von 
diesen einfachen isolierten Ophthalmoplegien sind zu sondera die- 
jenigen, bei denen Hereditat in Betracht gezogen werden muss, und 
die Falle, in denen weitere Komplikationen von seiten des Nerven- 
systems vorliegen. Die Beteiligung des N. facialis steht an erster 
Stelle. Demnachst wird einige Male von Storungen im motorischen 
Trigeminus- und im Hypoglossusgebiet berichtet. Doch werden 


1) Recken, ZurKasuistik und Lehre von den Augenmuskellfihmungen usw. 
Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkde., Bd. 29, 1891. 


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Em Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 223 

auch andere Hirnnerven genannt (Moebius 1 ), Schapringer 2 ), Ga- 
zepy 3 ) u. a.) 

Aus diesen Unterscheidungen lasst sich jedenfalls entnehmen, dass 
unsere Materie in ihrer Gesamtheit noch recht heterogene Bestand- 
teile enthalt, denen hochstens eine gewisse symptomatische Qberein- 
stimmung zuznerkennen ist. Die unternommenen Versuche, bier ein- 
heitliche Krankheitsbilder aufzustellen, sind stets nur einem Teil des 
Materials gerecht geworden und konnten der Priifung nach patho- 
logiscben Grundsatzen nicbt standbalten. Erst wenn der Klinik Zu- 
sammenhang und Trennung gegliickt sein wird, werden sicb iiber- 
einstimmende anatomische Ergebnisse zeigen. Um das Streben nacb 
diesem Ziel zu fordern, halte icb die hierher gehdrigen kasuistiscben 
Mitteilungen auch weiterbin fiir berechtigt, wenn alle Hilfsmittel der 
modernen kliniscben Diagtfostik ausgiebig berangezogen werden. Als 
Beitrag in diesem Sinne sei auch meine Mitteilung gestattet 

Wenden wir uns wieder unserem Falle zu, so wird es nach diesen 
Ausfiihrungen begreiflich erscbeinen, wenn ich Vermutungen iiber die 
Atiologie nur mit grosser Zuruckhaltung zum Ausdruck bringen mochte. 
Fiir die Defekte an Thorax und Extremitat diirfen wir unter mehr 
oder weniger hochgradiger Beteiligung einer „Anlage zu perversem 
Wachstum“ (Bing) wohl vor allem eine Druckschadigung in utero 
yon seiten des Amnions annehmen, wie sie in gelindester Form den 
einfachen Brustmuskeldefekt bewirken kann, und ansteigend zu hoch- 
gradigen Spaltbildungen der gesamten Brustwand und Verkiimmerung 
der Extremitat fiihrt. Diese Einwirkung miissen wir in die 5. bis 
9. Woche des Embryonallebens verlegen, zu welcher Zeit normaler- 
weise das Abheben des Amnions eintritt. Vor der 5. Woche sind die 
Finger noch nicht angelegt, nach der 9. sind sie in der ganzen Lange 
entwickelt und die Schwimmhaute zuriickgetreten. 

Bei der abschliessenden Beurteilung der Beweglichkeitsdefekte im 
Hirnnervengebiet — wie sie unserem Falle zukommen — sei nur der 
sicheren Befunde bei den bisher beobachteten angeborenen Abduzens- 
Fazialislahmungen gedacht. Im Gegensatz zu den Ptosen waren sie 
nie hereditar und fast stets mit Anomalien an anderen Organen ver- 
gesellschaftet. Neben den Storungen, die sich den in unserem Falle 
bestehenden annahern, werden auch andere erwahnt, die gewohnlich 
mit Druckwirkung in utero in Zusammenhang gebracht werden. In 

1) Moebius, Munch, med. Wochenschr. 1888, Nr. 7. 

2) Schapringer, Ober angeboreDebeiderseitigePleuroplegie. New York, 
med. Monatsschr., Dez. 1889. 

3) Gaz6py, Deux cas d’ophthalmoplegie congdnitale externe. Arch, 
cl’ophthalm., Bd. 14, 1894, Nr. 5. 


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Gutermann 


Kriegs Beobachtung') bestand hocbgradiger Hoblfuss, bei Scha- 
pringer (1. c.) Trichterbrust. Nach Zuckerkandl und Ribbert 
soli auch diese Deformierung infolge des Druckes durch das kind- 
liche Kina gegen den Brasbkorb auftreten konnen. Von anatomischen 
Befunden bezieht sich nur der bereits besprocbene von Heabner 
vollig auf die Verhaltnisse, die aucb wir zu erwarten baben. Heubner 
hat die Kernaplasie mit Sicberbeit festgestellt. 

Leider gestattet uns die Entwicklungsgeschicbte noch kein Urteil 
dariiber, ob wir fiir diese Schadigung aucb eine Druckwirkung als 
letzte Ursache annehmen diirften. Die Betrachtung der Komplikationen 
legt diesen Gedanken nahe, docb fiihrt seine weitere Verfolgung auf 
sehr schwankenden Boden. Die unserem Falle am nachsten stehende 
Beobachtung wird von Schmidt als Defektbildung beurteilt, indera 
er betont, dass die Abduzens-Fazialislabmung, der Defekt der Zunges- 
muskeln und der einseitige Mangel der Brustmuskeln als gleichwertig 
aufzufassen seien. Auf eine nabere Erorterung der Umstande, die 
eine derartige Missbildung herbeifiihren konnen, lasst sich Schmidt 
nicht ein. Auch wir miissen vorlaufig hinsichtlich der Atiologie bei 
einem „non liquet" bleiben, mit dem Ausblick, eine Klarung vor allem 
von genauer kliniscber Untersucbung und Sichtung zu erwarten, nach- 
dem die aus nabeliegenden Griinden recbt sparlichen anatomischen 
Daten nur zeigen, dass unsere Erkenntnis hier noch kein Krankheits- 
bild, sondern erst einen Symptomenkomplex erfasst hat. 


1) P. Krieg, Ein Beitrag zu den angeborenen Beweglichkeitsdefekten 
der Augen. Inaug.-Diss., Giessen 1896. 


Literatur. 

Die iiltere Literatur bis 1904 findet sich bei: 

1. Moebius, Uber infantilen Kernschwund. Miinch. med. Abhdlg., 1S92, 
Heft 22. 

2. C. Kunn, Die angeborenen Beweglichkeitsdefekte der Augen. Beitr. 
z. Augenheilkde., 1895. 

3. A. Marina, Uber multiple Augenmuskelliihinungen. Leipzig u. Wien 

isoa. 

4. Wilbrandt u. Sanger, Die Neurologie des Auges. I. Teil. Wies¬ 
baden 1900. 

5. It. Bing, Uber angeborene Muskeldefekte. Virchows Arch., Bd. 70, 

1902. 

(>. H. Lorenz, „Die Muskelerkranknngen" in Nothnagels Handb., Bd. 11, 
III. Teil, 1901. 

7. Ehrhardt, Uber angeborenen Schulterhochstand. Beitr. z. klin. Cliir., 
Bd. 44, 1901. 


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Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 


225 


8. W. Wendel, fiber angeborene Brustinuskeldefekte. Mittlg. a. d. Grenz- 
geb. d. Med. u. Obir., Bd. 14, 1905. 

9. Uthoff, „Die Augenstorungen bei Vergiftungen, Erkrankungen des 
Ruckenmarks uaw.“ in Graefea Handb., 2. Aufl., Bd. 11, 1911. 

Weitere Literatur: 

1904. 

10. Aronheim, Ein Fall von linksseitigem, vollstiin digem, kongenitalem 
Defekt des M. cucull. usw. Monatsscbr. f. Unfallbeilkde., Bd. 11. 

11. Cramer, Ein Fall von Defekt des M. peet. maj. u. min. Zeitscbr. f. 
ortbop. Chir., Bd. 13. 

12. H. v. Haffner, Eine seltene doppelseitige Anomalie des Trapezius. 
Intemat. Monatsscbr. f. Anat. u. Physiol., Bd. 20. 

13. R. Johnson, Webbed arm and fingers with abcence of pectoralis 
major. Transact of the clin. Soc. of London, Bd. 36. 

14. Lamdris, Beitrag zur Kenntnia des angeborenen Schulterblatthoch- 
standes. Arch. f. klin. Chir., Bd. 73. 

15. O. E. Schulz: Uber einen Fall von angeborenen Defekt der Thorax- 
muskulatur usw. Wiener klin. Wochenschr., Bd. 17. 

16. F. v. Winckel, Uber menschliche Missbildungen usw. v. Volkmanns 
Sammlung klin. Vortrage, Neue Folge, 373 u. 374, Leipzig. 

1905. 

17. Capelle, Ein Fall von Defekten der Schultergiirtelmuskulatur usw. 
Inaug.-Diss. Munchen. 

18. Gierlicb, Uber infantilen Kernschwund. Deutsche med. Wochenschr. 

19. Klaussner, Uber Missbildungen der menschlichen Gliedmalien. Neue 
Folge. Wiesbaden. 

20. E. Rodhe, Fall af ensidig kongenital defekt af musculi pectorales. 
Hygiea, Bd. 2. 

21. O. Steche, Beitrage zur Kenntnis kongenitaler Muskeldefekte. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilkde., Bd. 28. 

22. Zesas, Angeborener Hochstand des Schulterblattes. Ortbop. Chir., 


23. A. Lieberknecht, Uber Rippendefekte und anderweitige Missbil¬ 
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Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde., Bd. 33. 

26. M. Cohn, Zur anatomischen Grundlage und Erklarung des Schulter- 
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27. Graetzer, Zur Atiologie des angeborenen Schulterblatthochstandes. 
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29. G. Serafini, Elevazioue congenita della scapola“. Arch. d’Ortapedia. 


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226 GCtekmann , Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung usw. 


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30. E. Schwalbe, Missbildung und Variationslehre. Jena. 

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37. E. Ebstein, Ober angeborene familiar auftretende Missbildungen an 
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39. R. PQrckhauer, Zur Lehre vom Pectoralisdefekt und Schulterblatt- 
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40. J. Reich, Ein Fall von angeborenen Schulterblatthochstand usw. 
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42. Drenkhahn, Seltene Missbildungen. Deutsche militsirarztl. Zeitschr., 
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44. P. Sterzing, Angeborener einseitiger Defekt samtlicher vom N. vago- 
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4... A. 31. Moll, A case of hypoglossal nuclei paralysis. Journ. of nerv. 
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1914. 

46. M. Bernhardt, Beitriige zur Lehre von den partiellen Faszialislah- 
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47. A. de Castro, Angeborene Fazialislahmung. Neurol. ZentralbL, Nr. 23. 


1915. 

4S. T. Snowball, Zur Kasuistik der angeborenen doppelseitigen Abdu- 
zeus-Fazialisliihmungen. Arch. f. Ophthalm., Bd. 90. 


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Aus der Klinik und Polikliuik fur psychisch und Xervenkranke jn 
Bonn. (Geh. Rat Westphal.) 

ttber Myotonie. 

Von 

Prof. Dr. A. H. Hfibner, 

Oberarzt der Klinik. 

Uber Myotonie. 

Die Lehre von der Myotonie ist in den letzten dreissig Jahren 
nach drei Richtungen ausgebaut worden. Nachdem durch die Arbeiten 
von Thomsen, Erb, Leyden n. a..die klassischen Falle bekannt 
geworden waren, lernten wir die Paramyotonie (Eulenburg, 
v. Solder, Hlawaczek u. a.) kennen. Hoffmann, F. Schnltze, 
Steinert, Curschmann n. a. bracbten dann die Bescbreibung der 
sog. atrophischen Myotonie. Schliesslich warden auch die Beziehungen 
zu anderen Erkrankungen, namentlich zur Tetanie (Curschmann, 
Flatau und Sterling, Orzechowski) Paralysis agitans (Roux, 
Maillard),Syringomyelie (Rindfleisch) undHysterie (Peltz) erortert 

Gerade die zitierte Arbeit von Peltz zeigt deutlich, dass die 
atypiscben Formen der Myotonie noch weiteren Studiums bediirfen 
und dass die bisher bekannt gewordene Kasuistik noch kein rechtes- 
Bild von den vorkommenden Variationen gibt. Dieser Umstand recht- 
fertigt die nachfolgenden Mitteilungen: 

I. Atypische Myotonie. 

Im Jahre 1886 beschrieb Eulenburg eine erblich vorkommende 
Form der „Versteifung“, die unter dem Einfluss der Kalte ohne 
Rucksicht auf intendierte Bewegungen auftrat, 1—2 Stunden, 
bisweilen auch wohl noch langer anhielt und mit einem 12—24 Stun¬ 
den anhaltenden Schwachegefiihl endete. 

Delprat berichtete iiber eine abnliche Familie. Er konnte gleich- 
zeitig aber nachweisen, dass einzelne Mitglieder der Familie echte 
Myotonie darboten. 

Nach diesen beiden Autoren haben v. Solder, Hlawaczek, 
Senator (?), Kiesewalter, Hollmann undFriis abnliche Beobach- 
tungen gemacht. 


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22S 


Hcbner 


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Immer handelte es sich dabei um Spannungszustande. 

Eine weitere Gruppe von Fallen bofc das Gegenteil, namlich 
lahmnngsartige Schwachezustande z. T. verbunden mit Plnmpbeit 
und Verlangsamung der Bewegungen (Iwanow). 

Schliesslich wurde dann eine dritte Spielart beschrieben, bei der 
nacb intendierten Bewegungen eine zunebmende Spannung der in Be- 
tracht kommenden Muskeln eintrat, so dass die Bewegungen immer 
langsamer wurden, unterbrochen werden mussten und einer Schwache 
Platz machten. Die letztgeschilderten Falle waren z. T. mit Muskel- 
atrophien (Stiefler, Steinert) verbunden, z. T. feblten solche • 
(Bumke). 

Bumke hielt die Zugehorigkeit dieser von Jendrassik paradoxe 
Myotonie genannten Storung zur Myotonie fur zweifelbaft und meinte, 
die Klassifizierung konne erst durch Beibringung weiteren Materials 
entschieden werden. 

Der im folgenden zu beschreibende Fall ist vielleicht geeignet, 
die Losung des Problems zu fordern. 

P. E., geb. 12. Aug. 1897. Fabrikant. 

An der gleichen Krankheit litt sekon die Mutter des Vaters. In deu 
niichsten Generationen trat die Krankheit folgendermaBen auf: 

Mutter des Vaters. 

l.Sohnf 2.— 3.— 4. Tochterf 5.Vater d.Pat. r 6.— 7.— 8. Tochter v 

unter 8 Kindern von 4Kindernhattees unter 7 Kindern 
3 Sfihne und 1 Patient u. d. jftngste batten es 2 Sobne 
Tochter. | Bruder. und 1 Tochter. 

1 Sohn 

Bei dem Bruder des Pat. ist die Diagnose Myotonie von Herrn Prof. 
Oppenheim im vorigen Jahr gestellt worden. 

Pat. selbst merkte die Krankheit schon in frtther Jugend daran, dass 
ilirn beim Waschen mit kaltem Wasser die Augen „stehen blieben“. In 
der Schule konnte er bei kfihler Witterung nicht ordentlich schreiben. 
Turnen und Sport durfte er nicht treiben. Zum Schwimmunterricht wurde 
er nicht zugelassen.. Er durfte Qberhaupt nicht kalt baden. 

Als er einmal im Winter von der elektrischen Bahn im Fahren ab- 
springeu wollte, konnte er die Hand vom Griff nicht loskriegen und wurde 
8—10 Schritt weit mitgeschleift. 

Beim Milithr ist ihm einmal das Gewehr aus der Hand gefallen. 
Ausserdem blieb das eine Auge nach Zielubungen immer noch eine Weile 
geschlossen. 

Die gegenwiirtigen Klagen sind folgeude: 

Bei warmer Witterung und dann, wenn er Anstrengungeu und ener- 
gische Bewegungen vermeidet, geht es ihm ganz gut und er merkt fast 
nichts. Er kann leichte Sttlckchen auf dem Klavier spielen. Auch Ma- 


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Uber Mvotonie. 


229 


schinensehreiben ging frQher ohne Beschwerden. Neuerdings bekommt er 
nach eiustQndigem Schreiben Schmerzen (s. u.). 

Eine Gangbeliinderung bestelit im allgemeinen nicht. Nur bei langerem 
und schnellem Gehon und Bergsteigen ziehende and reissendc Schmerzen 
iti den Gelenken. Beim plotzlichen Aafstehen kann er auch die Kuie nicht 
durchdrllcken. 

Wenn er sich im warmen Zimmer befindet, wenig Behinderung. In 
kalter und feuciiter Luft hat er die erwithnten Gangbeschwerden. Ferner 
erwahut er noch folgende Erscheinungen. 

Wenn er in einem ktlhlen Raume isst, bleiben ihm die Kiefer stehen 
und er kanu zunachst nicht kauen. Es kommt dann auch vor, dass der 
ganze Kopf steif stehen bleibt. Beim Sprechen ist er seines Wissens nicht 
behindert, dagegen tritt in kQhler Lul't oder beim Schlucken kalter Ge- 
tranke der Krampf auf. Die Augenbewegungen sind ungestort. Wenn er 
sich aber im kaltcn Zimmer mit kaltem Wasser wascht, dann kann er die 
krampfhaft geschlossenen Augenlider erst nach einigen Sekunden Offnen. 
Auf dem linken Auge soli das schlimmer sein als auf dem rechten. 

Das Leiden soil, soweit es bis jetzt geschildert ist, von Jugend auf 
in gleicher Starke bestanden haben. GemOtsbewegungen sollen keine 
neunenwerte Steigerung der Erscheinungen bewirken. 

Uutersuchungsbefund: Gut entwickelte, aber nicht hvpervoluminbse 
Muskulatur. Guter Emailrungszustand. 

Facies myopathica angedeutet. Leichte Protrusio bulborum r(>l, 
Graefe angedeutet, keine Struma, Puls 100—120, Pat. schwitzt zeitweise 
stark. Etvvas feinschlitgiges Handezittern. 

An einem kalten Tage nach Waschen mit kaltem Wasser links krampf- 
hafter Lidschluss, der sich allmahlich lost. 

An einem regnerischen und windigen Tage trat in beiden Lidern 
(aber auch winder l^>r) die gleiche Erscheinung auf, als Ref. mit dem 
Pat. um eine zugige Ilausecke herumging. • 

StOrungen des Schluckaktes wurden objektiv nicht beobachtet. Sprache 
mancbmal langsam, namentlich, wenn Pat. zu sprechen beginnt. Zunge 
nicht beteiligt. Dort bei Beklopfen keine deutliche Dellenbildung. 

Pupillen + (keine myotonische Pupillenreaktion), keine Augenmuskel- 
lahmungen, Bindehaut- und Hornhautreflexe, sowie Rachenrefl. -(-• Kein 
Nystagmus, Chowstek negativ. Linker Supraorbitalis druckschmerzhaft. 

Grobe Kraft und Motilitat der Arme und Beine, abgesehen von den 
noch zu schildernden Erscheinungen, ungestort. Namentlich fallt an war- 
men Tagen, wenn Pat. die geforderten Bewegungen ruhig und langsam 
ausftlhrt, nichts Abnormes auf. 

Veranlasst man den Pat. energisch die Hand zu schliessen und dann 
zu Offnen, dann kann er letzteres zunachst nicht vollstandig. Nach mehr- 
fachen Wiederholungen gelit es besser. Eine Steigerung erfahren die Er- 
scheinungeu, nachdem er die Hande mit kaltem Wasser gewasehen hat. 

An der 1. Hand scheinen die StOrungen starker ausgepragt zu sein 
als rechts. Letzteres tritt z. B. besonders deutlich beim Kragenschliessen 
an kalten Tagen hervor. Pat. musste deswegen mehrfach absetzen. 

Beim Beklopfen des rechten Daumenballens mit dem Hammer tritt 
deutliche Dellenbildung auf. 

Weniger deutliche Dellenbildung im Biceps bdsts. und in der Waden- 
muskulatur. 


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2.‘>o 


Hubner 


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Die Maskelzuckungen sind tr&ge, laufen langsam ab, werden nach 
mehrfachem Klopfen anf dieselbe Stelle schneller. 

Myotonische Reaktion wurde besonders deutlicb im Biceps bdsts. uad 
ini Pectoralis major beobachtet. 

Der Gang wies bei den 6 Untersuchungen, die ich mit dem Pat. vor- 
nehmen konnte, keine ausgesprochene StOrung anf. 

Die Kniesehnenreflexe waren bdsts. gleich von normaier Stftrke. Die 
erste Znckung erfolgte nach EntblOssnng der Beine bei kalter Witterung, 
kurz und ruckartig, die Kontraktion des Quadriceps lflste sich langsamer 
als gewfihnlich. 

Achillessehnen- und Soblenreflexe o. B. 

Keine nachweisbaren Atrophien der Mnsknlatur. 

Keine tetanischen Symptoine. 

Psychisch ist Pat. nianchmal deprimiert und reizbar. Seinem Beruf 
ist er psychisch gewachsen. Sozial ist er bisher nicht aufgefallen. Einige 
Male klagte Pat. Qber linksseitige anfallsweise Kopfschmerzen. 

Ausscr den bisher beschriebenen Erscheinungen berichtet E. nun noch 
folgendes: 

Wenn er bei kaltem Wetter lange Wege (2—4 Stunden) machen 
muss, dann bekommt er, wenn er Uber den Anfang hinaus ist (der ihm 
ubrigens bei einigermassen warmem Wetter keine grossen Schwierigkeiten 
macht) nach etwa 1—1 J / 2 Std. heftige Scbmerzen in den Unter- und 
Oberschenkeln und es tritt das GefQhl ein, als ob die Beine gelQhmt waren. 
Hingefallen ist er in diesen Zustanden nicht. Es handelte sich um ein 
GefQhl der Steifigkeit und Starrheit, das nun aber mit heftigen Scbmerzen, 
..Qhnlich wie Pat. sie sich bei Rheumatismus vorstellt* 4 , verbunden ist. 
Dieses GefQhl der Steifigkeit halt mindestens stunden-, manchmal sogar 
tagelang an und der Pat. hat als Gegenmittel warme UinschlQge und 
Waschungen, auch beisse Bader augewandt. Die letzteren so gibt er an, 
waren das einzige, was dagegen hilft, Er habe sich danach auch ins Bett 
legfcn mGssen. 

Das GefQhl der Steifigkeit ist manchmal so ausgesprochen, dass der 
Pat. das Fuss- und Kniegelenk bdsts. Qberhaupt nicht bew T egen kann, son- 
dern sich nur unter Benutzung der HQftgelenke seitwarts tretend zum Bett 
sehleppen muss, um sich niederzulegen. 

Ohne vorangegangene kOrperliche Anstrengungen traten die Erschei¬ 
nungen bisweilen auch auf. So hat dcr Pat. z. B. einige Male beobachtet. 
dass, wenn er in cinem ungeheizten Zimmer sich auf dem Sofa zum Sehla- 
fen niederlegte, er mit heftigen Schmerzen und dem schon beschriebenen 
SteifheitsgefQhl aufwachte und sich nicht selbst aufrichten konnte. Er 
fing dann mit den Packungen und Fussbadern an und beseitigte auf diese 
Weise den Zustand. Es soli vorgekommen sein, dass die Spannung bis zu 
8 Tagen anhielt. 

Nachdem er diese Erfahrung gemacht hat, vermeidet er die ZustQnde 
dadurch, dass er sich auf dem Sota gut einpackt. 

Ferner hat' er beobachtet, dass wenn er in ungeheiztem Zimmer an 
einem Tisch sitzt und schreibt oder liest, dann kann er mitunter wegen 
Steifigkeit im RQcken und Nacken nach einer Stunde nicht aufstehen. 
Das geht aber nach kQrzerer Zeit vorQber. 

In den Armen hat der Pat. die beschriebenen Erscheinungen vorwie- 


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Uber Myotome. 


231 


gend an der Schreibmaschine beobachtet. Wenn er im warmen Zimmer 
sitzt, dann ist das Schreiben anfangs nicht besonders schwer, aber nach 
1—2, hOchstens 3 stQndiger Arbeit treten Schmerzen ein und es folgt dann 
das Klamm- und SteifigkeitsgefQhl. Das GefQhl halt */ 2 —1 Std. an und 
bleibt mit Schmerzen verbunden. Die Schmerzen haben ihn in der Nacht 
schon wach gemacht. Iu den Armen kommt das SteifigkeitsgefQhl ohne 
aussere Veranlassung selten vor. 

Der Pat. selbst unterscheidet scharf zwischen den typischen Erschei- 
nungen der Myotonie bei den ersten energischep Handgriffen und dem, was 
spater folgt, dem SteifigkeitsgefQhl. Bei den ersterwahnten Erscheinungen 
sind Scbmerzen nicht vorhanden. Dieselben treten vielmehr erst spater 
auf und verbinden sich dann mit dem SteifigkeitsgefQhl. 

Die eben geschilderten Erscheinungen baben sich, wie E. angibt, im 
Laufe der Jahre etwas verstarkt, sind weniger ausgeprQgt aber schon in 
der Kindheit vorhanden gewesen. 

Nach Angabe des Pat. hat sein Kind dieselben Erscheinungen der 
Steifigkeit nur andeutungsweise, dagegen ein Bruder und der Vater sollen 
sie ausgesprochen haben. 

Als Pat. einmal (3. 10.16) bei regnerischem und kQhlem Wetter er- 
schien, fand sich folgendes: 

Die HQnde waren blau verfirbt, nicht besonders kQhl, aber feucht. 
Die Finger batten eine Andeutung von Krallenhandstellung. Bei passiven 
Bewegungen der unbedeckten Hande und Finger leichter Widerstand, an 
den Qbrigen (bedeckten) Gelenken nicht. 

Dellenbildung, Tragheit der Zuckungen und myotonische Reaktion be¬ 
sonders deutlich. 

Beim Gehen in freier Luft Erschwerung beim Offnen der geschlosseneu 
Augenlider. 

Pat. wies selbst darauf hin, dass beim Offnen des Kragens sich die 
allgemeine Steifigkeit der Hande, die schon seit morgens bestand, besonders 
unangenehm bemerkbar machte. 

Diese ZustQnde von Steifigkeit, von denen bisher die Rede war, treten 
auf psychische EinflOsse allein nicht ein. Dagegen lost Kalte und Nasse, 
wie schon gesagt wurde, sie aus. — 

Was die Beteiligung der Korperhalften anlangt, so tritt eine Un- 
gleichheit bei dem Pat. und seinem Sobn namentlich an den Augen inso- 
fern hervor, als die 1. Seite starker befallen ist. An den Armen ist das- 
selbe, aber weniger ausgesprochen der Fall. 

Pat. berichtet von seinem Bruder, dass eine Ungleichheit der Beteili- 
gung der Korperhalften nicht beobachtet wurde. 

Er erwahnt schliesslich noch, dass er im Alter von 12 Jahren einmal 
aus der Bank heraustreten sollte und das nicht konnte. Daraals seien die 
GliedmaBen stnndenlang derart verkrampft gewesen, dass man die BQnke 
habe auseinandernehmen mfissen, um ihn herauszubekommen. Man habe 
ihn damals in die Wohnung des Schuldieners getragen und mit dem Wagen 
nach Hause fahren mGssen. Um eine Ohnmacht habe es sich nicht ge- 
handelt, wie der Pat. besonders betont. — 

Der siebenjahrige Sohn des Pat. (das einzige Kind) ist in der 
Schule bisher dadurch aufgefallen, dass er an kalten Tagen schlecht schrieb. 
Er hat das Leiden auch in den Augenlidern, so dass er einmal in der 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57 . 16 


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232 


Hubner 


Scbule von Kameraden nmgerannt worden ist, weil er die Augen uicht 
offnen konnte. 

Bei ihm fehlte die * myotoniscbe Reaktion. Es konnte ancb Dellen- 
bildnng nsw. beim Beklopfen der Muskulator nicht festgestellt werden. 

Icb habe ibn nur einmal, an einem ziemlich warmen Tage untersuchen 
kdnnen. Beim Versucb, die Hand energisch zn scliliessen und dann rasch 
zu dffnen, bracbte er letzteres nicht vollst&ndig fertig. — 

Dass die Falle eine Sonderstellung einnehmen, geht aus der kurzen 
Beschreibung, welche ich von ihnen gegeben habe, obne weiteres 
hervor. Trotzdem sind aie m. E. sebr geeignefc, die Frage’zu klaren, 
ob die Paramyotonie und die paradoxe Muskelstarre ala eine beson- 
dere Erkrankung anzuseben sind. 

Als feststehend muss vorangestellt werden, dass durch Oppen- 
heim bei einem Bruder des Pat. eine echte Myotonie nachgewiesen ist. 

Die Erblichkeit der Krankheit in der Familie E. ist ausserdem 
auch aus dem beigegebenen Stammbaum ersichtlicb. Hinzuzufiigen 
ist dabei, dass der Pat. selbstverstandlieh nicbt behaupten wollte, dass 
die bei ihm gefundenen Komplikationen ancb bei alien anderen Fa- 
milienmitgliedern vorhanden waren. Nur von der Myotonie als solcher 
vermochte er das zu sagen. 

Bei ibm selbst findet sicb nun dreierlei nebeneinander, namlieh: 

1. Ei ne echte Myotonie, von Jugend auf bestehend, durch das 
charakteristische Verhalten der Muskulatur bei intendierten Bewegun- 
gen, ferner durch Lokalisation in den Extremitaten, Augenlidern, 
Scfhluckmuskeln, durch Abhangigkeit von der Temperatur, durch Be- 
stehen der typischen, mechanischen und elektrischen Reaktion ge- 
kennzeichnet. 

2. Pararayotonische Erscheinungen, d. h. es entstehen bei 
ihm — namentlich unter dem Einfluss der Kalte — ohne Rucksieht 
auf intendierte Bewegungen, anfallsweise auftretend und Stunden bis 
Tage anhaltend, Muskelversteifungen, die auch objektiv nachweis- 
bar sind. 

3. Paradox-myotonische Erscheinungen, namlieh bei gleich- 
Tormigen, langere Zeit fortgesetzten Bewegungen (Marschieren, Scbrei- 
ben) eine zunehmende, mit Sckmerzen verbundene Steifigkeit, zu der 
sich labmungsartige Schwiiche gesellt. 

Besonders bemerkenswert scheinen mir die bei den unter 2 und 
3 geschilderten Symptomen auftretenden Schmerzen zu sein, die in 
mancher Beziehung an die Schmerzen bei der Tetanie erinnern, ohne 
dass sonstige tetanische Symptome vorhanden gewesen waren (s. 
Stiefler). 

Die Sonderstellung, w'elche der Fall einnimmt, liegt nun darin, 
dass Paramyotonie und paradoxe Myotonie bei einem sicheren Myo- 


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Uber Myotonie. 


233 


toniker yorkommen. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit 
erheblich, dass die beiden erstgenannten Leiden besondere Krankbeiten 
darstellen. Wir haben es vielmehr bei ihnen wohl auch nur mit 
Komplikationen der echten Myotonie zu tun. — 

Von Interesse an dem Fall ist ferner die Verbindung mit der 
Basedowschen- Krankheit und der sehr friihe Beginn (vor der 
Schulzeit). 

Die Bebauptung M. Kamps, dass die durch Sohne vererbte 
Krankheit rascher erlischt, findet durch den von mir gelieferten 
Stammbaum, der leider unvollstandig ist, weil einige Mitglieder der 
Familie in Amerika leben, keine voile Bestatigung. 

Auffallend ist ubrigens in unserem Falle, dass die erkrankten 
Frauen an Zahl weit hinter den Mannern zuriickbleiben (5 F : 9 M.). — 
Bei dem 7jahrigen Sohne meines Pat. bestehen die paramyotoni- 
schen und paradox-myotonischen Erscheinungen nur andeutungsweise. 
Bei E. selbst sind sie auch friih beobachtet worden, haben sich aber 
im Laufe der Jahre verstarkt. Pat. fiihrt das auf seinen Beruf als 
Fabrikant zuriick, in dem er viel zu gehen und zu schreiben hat. — 


II. Psychische Storungen bei Myotonie. 

fiber die psychischen Abweichungen, welche eine Myotonie be- 
gleiten konnen, enthalt die Literatur wenig Angaben. Ausgesprochene 
Psychosen scheinen selten vorzukommen. 

Thomsen erwahnt die Scheu der Kranken, von ihren Leiden zu 
sprechen und dasselbe zu zeigen. 

Einer der Pat. von Peltz war debil und litt an depressiven 
Verstimmungen. 

Oppenheim fand Epilepsie und Hemikranie als Komplikationen 
der Myotonie. 

Stertz hat aus unserer Klinik im Jahre 1912 einen Fall vorge- 
stellt, der mehrfach in Irrenanstalten gewesen war. 

Dieser Kranke bekam plotzlich brutale Erregungszustande, denen 
Depressionen vorausgingen oder folgten. Einige Male wurden auch 
Anfaile beobachtet, die nach der Beschreibung epileptiformer Natur 
waren. Verstimmungen mit Neigung zu Gewalttaten gegen die Um- 
gebung und Nahrungsverweigerung wurden gleichfalls beobachtet, 
ebenso wochenlange Verstimmungen mit Kopfschmerzen. Einmal 
machte der Pat. einen Selbstmordversuch, bei dem er sich die Puls- 
adern durchbeissen wollte. 

Sozial war der Pat. im Laufe der Jahre sehr heruntergekommen. 
Er reiste zu Demonstrationszwecken umher. 

10* 


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234 


Hubner 


In der Anstalt, in welcher die Psychose bebandelt wurde, hatte 
man an eine progressive Paralyse gedacht, weil bei einer Untersachung 
die Papillen trage reagierten (myotonische Pupillenreaktion?), die 
Kniephanomene abgeschwacht waren und die Achillessehnenreflexe 
feblten. — 

In Wirklichkeit hat es sich aber wohl um eine- Epilepsie ge- 
handelt. — 

Bei dem von mir oben geschilderten Pat. bestand eine anfalls- 
weise auftretende Hemikranie, voriibergehend auch Zustande von 
Reizbarkeit und Depression. 

Bei den sonstigen Myotonikern, welche icb gesehen babe, bestand 
ein mehr oder minder ausgesprocbener Grad von Entartung, wahrend 
hysterische Beimiscbungen nicht vorkamen. 

Namentlich auf ethischem Gebiet fanden sich mehrfach erhebliche 
Defekte. Einige von unseren Kranken waren infolgedessen auch so- 
zial verkommen. 

Zweimal konnte ich eine Debilitat feststellen. 

Die eben geschilderten psychischen Abweichungen konnen, wie 
ich oben gezeigt habe, zu diagnostischen Schwierigkeiten fiihren. Sie 
sind aber vor allem theoretisch insofern von Interesse, als sie bewei- 
sen, dass neben der Muskelerkrankung eine das Gebirn betreffende 
Minderwertigkeit der Anlage bestebt (s. Hirschfeld), die sich in 
manchen Fallen sogar spater weiter entwickelt, wie die epileptischen 
Beimischungen erkennen lassen. 

Von Interesse ist in diesem Zusammenhange auch der Umstand, 
dass ebenso wie die epileptischen und epileptoiden Begleiterscheinun- 
gen der Myotonie die paramyotonische Storung den Charakter des 
anfallsartigen tragt. 

Wie weit die eben angedeuteten Gesichtspunkte, wenn sie an 
einem grosseren Material bestatigt werden sollten, geeiguet sind, die 
bisherigen Auffassungen *) vom Wesen der Myotonie zu beeinflussen, 
mag dabingestellt bleiben. Jedenfalls zeigen sie uns, dass man in 
Zukunlt wohl auch den psychischen Abweichungen seine Aufmerk- 
samkeit wird zuwenden miissen. 

ill. Hysterische Pseudomyotonie. 

Ich habe soeben darauf hingewiesen, dass bei den Fallen von 
Myotonie, die ich untersuchen konnte, hysterische Begleitsymptome 
nicht beobachtet worden sind. 

1) Ich verweise auf die Arbeiten von Erb, Peltz, Orzechowski, 
Rosenbloom und Cohoc, Knoblauch, Gregor und Schilder, Findley, 
Skutetzkv, Stertz. 


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fiber Myotonie. 


235 


Dagegen habe ich zweimal unter den vielen Hysterischen, die wir 
zu sehen bekommen, „pseudomyotonische“ Symptome 1 ) gesehen. 
Beide Male bandelte es sich um Madehen. 

C. S., jetzt 23 Jahre alt Sichere Hysterica mit strumpffOrmigen 
Anasthesien, Reflexsteigerungen, Tachykardie and auf psychischem Ge- 
biete Pseudologie, derentwegen sie mehrfacb Beleidigungsprozesse hatte. 

Mit 14 Jahren Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Hcrzklopfen und schraerz- 
liafte „Krampfzustande w in den Armen, bisweilen in den Beinen. 

Bei der Untersuchung damals: Ovarie, strumpffbrmige Analgesie am- 
r. Bein, H&ndezittern, zeitweise hochgradige Blasse der Finger und Zehen.. 

Durch Druck auf den Sulcus bicipitalis interims wird in der gleich- 
seitigen Hand und dem Vorderarm ein Krampf ausgelOst, bei dem die 
Hand sckliesslich iu „Geburtshelferstcllung“ steht 

Keine Steigerung der mechanischen Oder elektrischen Erregbarkeit der 
motorischcn oder sensiblen Nerven, insbesondere kein FacialisphSnomen. 

Daneben hatte nun die Pat. etwa ein Jahr lang bei pldtzlichem, kur- 
zem und energischem Handschluss bdsts. die BewegungsstdruDg, welche far 
die Myotonie charakteristisch ist. Sie konute die geschlossene Hand nur 
ganz langsam und unter Ubenvindung eines Widerstandes Offnen. Dabei 
keine myotonische Reaktion, keine Dellenbildung, kurz, keine Anderung 
der mechanischen Oder elektrischen Erregbarkeit. 

Ich habe den Fall als hysterische Pseudotetanie mit pseudomyo- 
tonischen Erscheintmgen in den Handen aufgefasst Die tetanieahn- 
lichen Symptome sollen noch heute gelegentlich auftreten, die pseu- 
domyotonische Bewegungsstorung, welche sich nur auf die Hande 
erstreckte, ist nach etwa einem Jahr geschwunden. 

In dem zweiten Falle handelte es sich um ein 32j&hriges Madehen, 
das wegen einer hysterischen GangstOrung mit ischiasahnlichen Schmerzen 
einige Wochen in der Klinik behandelt wurde. Sie wurde gebessert ent- 
lassen, stellte sich dann nach etwa 3 Monaten mit der Angabe wieder 
vor, wenn sie einen Gcgenstand fest anfasse, kdnne sie ihn nicht sofort 
loslassen. 

In der Tat bestand, ziemlich deutlich ausgeprSgt, die charakteristische 
StOrung, wie bei der Myotonie, lediglich auf die Hande beschrankt, unab- 
hangig von der Aussentemperatur ohne Verhnderung der mechanischen und 
elektrischen Erregbarkeit der Muskulatur. Auf Suggestivbehandlung mit 
galvanischen StrOmen und Massage schwand das Symptom rasch. . Andere 
hysterische Erscheinungen blieben bestehen. 

Die beiden Falle beweisen, dass es Zustande gibt, die ausserlich 
voriibergehend der Myotonie ahneln konnen, und doch hysterischer 
Natur sind. 


1) Blum hat anscheinend Ahnliches beobachtet. Die Arbeit war mir nicht 
zuganglich. 


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Hubmeb 


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Literatur. 

In das nachfolgende Verzeichnis habe ich alle Publikationen fiber Myo¬ 
tome aufgenommen, welche seit dem Jahre 1907 erschienen sind, gleichgfiltig 
ob sie zu meinen eigenen Ausfuhrungen in Beziehung stehen oder nicht. Ich 
hoffe, dass das Verzeichnis ziemlich vollatandig ist. Es steilt die Fortsetznng 
des in der Peltzschen Arbeit gegebenen dar. 

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Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Ref Bd. 13, S. 573. 


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Aias der Nervenabteilung des k. u. k. Reservespitals Nr. 1 Lemberg 
(Spitalkommandant Oberstabsarzt Dr. Julius Reich). 

Beitrag znr Kenntnis der Acroasphyxia chronica hyper¬ 
trophies 

Von 

Oberarzt Dr. Jakob Rothfeld, 

Assistent an der Nerrenklinik der Universitat Lemberg, derz. Leiter der 

Nerven abteilung. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Unter dem Namen Acroasphyxia chronica hypertrophica hat 
Cassirer 1 ) eine Reihe von Beobachtungen zusammengestellt, in 
welchen eine zunehmende, sich allmahlich entwickelnde Asphyxie der 
Extremitatenenden, mit dauernder Volumzunahme, das Uauptsymptom 
darstellt. Die Vergrosserung der Acra betrifffc nur die Weichteile, 
besonders das Unterhautgewebe, der Knochen bleibt dabei unveran- 
dert. Die Haut ist stark zyanotisch, die Verfarbung ist an den Han- 
den intensiver als auf den Fiissen, am Handriicken mehr ausgepragt, 
als an der Vola manus und verliert sich allmahlich an dem Vorderarm 
bzw. am Unterschenkel. Die betrofFenen Teile sind kiihler als normal. 
Die Haut ist weich, sukkulent, frei verschieblich, zeigt keine Veran- 
derungen, insbesondere sind keine trophischen Stdrungen vorhanden. 
Die Nagel sind normal. Schmerzen konnen vorkommen, sind jedoch 
nicht intensiv. Sensibilitatsstorungen wurdeu bisher nur in einigen 
Fallen beobachtet. Derartige Falle sind von Barker-Sladen 2 ), 
Gasne et Souques 3 ), Kartje 4 ), Pehu 5 ) u. a. beschrieben worden. 

Cassirer betont die nahe Verwandtschaft dieses Symptomkom- 
plexes mit der Raynaudschen Krankbeit, von welcher er sich jedoch 
durch das Fehlen von Paroxysmen, Schmerzen, trophischen Storungen, 
durch die allmahliche Entwickelung ‘ der Asphyxie und durch die 

1) Die vasomotoriBch-trophischen Neurosen. Berlin 1912. 

2) Journ. of nerv. and ment. disease 1907 (zit. nach Cassirer). 

3) Nouv. Icon. 1892 (zit. nach Cassirer). 

4) Arch. £ Kinderhkd. B. 53. 

5) Nouv. Icon. 1903. 


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Beitrag zur Kenntuis <ler Acroasphyxia chronica hypertrophies 243 

Volumzunahme onterscheidet. Differentialdiagnostisch kann auf Grand 
bisheriger Beobachtungen die Hysterie, die Syringomyelie, die Akro- 
megalie und die Osteopathie hypertropiante pneumique in Betracbt 
kommen. Was die Hysterie betrifft, so ist die Entscheidung niebt 
immer leiebt; die Aspbyxie kann namlich neben der Hysterie bestehen, 
so dass. die Feststellung bysteriseber Symptoine bei demselben Kran- 
ken noch nicht berechtigt, die Akroasphyxie als eine hysterische zu 
betrachten. Darauf hat Cassirer sowohl auf Grund eigener, wie 
auch der au3 der Literatur zusammengestellten Falle hingewiesen. 

Das Fehlen von Muskelatrophien, die normale elektrische Erreg- 
barkeit, das Fehlen dissoziierter Empfindungsstorungen werden eine 
Syringomyelie ansschliessen lessen. Mangel an Knochenveranderungen, 
besonders der Sella turcica, keine Vergrosserung des Unterkiefers, 
normales Gesicbtsfeld usw. wird gegen die Akromegalie, Fehlen 
trommelschlagelartiger Deformation der Finger, Fehlen von Knochen- 
reranderungen und Nageldeformitaten werden gegen die Mariesche 
Erkrankung spreeben. 

In den bisber beobachteten Fallen bandelte es sich um symme- 
trische Erkrankung an beiderseitigen Extremitaten, vorwiegend der 
Hande. Im nachstehenden will ich fiber bierher geborende Falle be- 
riebten, in welchen nur eine Hand betroffen. war, die zweite ganz 
gesund war oder geringe Storungen aufwies. 

Fall 1. Februar 1917. Sch., 33 Jahre alt. Im Zivil Kutscher. 
Bient beim Militar seit Marz 1915. Durch 8 Monate, bis zu seiner Er¬ 
krankung, an der Front. — Ende Winter 1915/1916 hat der Kranke an 
der Front in starker Kaite, im Schnee gearbeitet; die Deckung, in welcher 
er gescklafen hat, war kalt und feucht, das Scklaflager haufig nass. Zu 
der Zeit bemerkte zum erstenmal der Kranke, dass seine Hande und 
Fosse blau werden; nach einigen Wochen begannen die Hande ganz all- 
mahlich anzuschwellen, zuerst die linke, dann nach ca. 2 Wochen die 
rechte. Die linke Hand war mehr betroffen. Die FQsse waren nicht ge- 
schwollen. Abgefroren waren die Extremit&tenenden nicht. Der Kranke 
ist von der Front abgeschoben worden und in Spitalern des Etappenraumes, 
dann des Hinterlandes mit Badern, Elektrizitat und Massage behandelt. 
Der Zustand besserte sich nur insofern, dass die geringe Anschwellung 
der rechten Hand zurQckging; die linke Hand vergrOsserte sich jedoch 
immer mehr. Die Zyanose nahm zu; besonders verschlimmerte sich der 
Zustand in der Kaite, die Hand war dann mehr angeschwollen, die Haut 
war dunkelblau. In der Warme wieder Besserung, aber nie ist die 
Schwellung vollkommen zurQckgegangen. Eine 2monatliche Behandlung 
in Pdstyen von Ende November 1916 bis Ende Januar 1917 (Moorbader 
und Massage) blieb ebenfalls erfolglos. Der Kranke gibt an, dass auch in 
der letzten Zeit die linke Hand an Grosse zunimmt und dass die Schwel¬ 
lung sich allmahlich auf den linken Vorderarm erstreckt; eine plotzliche 
Vcrschlimmerung hat er nie bemerkt, der jetzige Zustand hat sich ganz 


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allm&hlich entwickelt. Die recbte Hand and die Fttsse haben die ursprttng- 
liche zyanotische Verfarbung bebalten obne anzusckwellen. Der Kranke 
betont immer wieder den ungttnstigea Einfluss der Kalte, in welcher die 
linke Hand inehr anschwillt, was mit dumpfen Schmerzen in der Hand 
verbunden ist. In der W&rme geht die Anschwellung wieder etwas zurttck, 
er empfindet dann ein starkes Jucken der Haut. Die rechte Hand and 
die Fttsse schwellen nie an, sie werden nur stark zyanotisch; in der Warme, 
besonders bei Nacbt, klagt Pat. ttber ein Jucken an den Fttssen. Ausser 
den soeben erwabnten dumpfen Schmerzen wahrend der Kalte treten Ofters 
Schmerzen in den Gelenken auf, besonders im rechten Scbultergelenk und 
in den Knien. In der letzten Zeit kann der Kranke die linke Hand nicht 
so gut bewegen wie die rechte, angeblich wegen Schmerzen im linken 
Handgelenke. Nie Synkope. 

Im Zivil war er immer gesund. Hat nie, auch zur Zeit der grdssten 
FrOste — der Kranke wohnt in Ostgalizien —, an Frost der Handc ge- 
litten. Wahrend des Milit&rdienstes an der Front traten zeitweise wahrend 
der Kalte BlasenstOrungen auf; er musste haufig urinieren und die Blase 
sofort entleeren als er den Harndrang verspttrte. Bettn&ssen in der Nacht 
ist einige Mai vorgekommen. Diese Storungen sipd in der Warme t zu- 
rQckgegangen. 

Status praesens. Die linke Hand ist grosser als die rechte; der 
Handrttcken links und die Finger dick, der vierte und fttnfte weniger 
als die anderen. Die Vergrosserung der Finger betrifft mehr die Grund- 
als Endphalanlagen; am Zeige- und Mitteltinger ist die Verdickung 
der Mittelphalange starker als die der ttbrigen Finger. Die Vola manus 
ebenfalls gepolstert, jedoch weniger als der Handrttcken. Die Volumzu- 
nahme betrifft nicht nur die Hand, sondern auch den distalen dritten Teil 
des Vorderarmes. Die Haut ttber der linken Hand und untcrem Teil des 
Yorderarmes stark zyanotisch, dunkelblau, im Laufe der Untcrsuchung in 
der Warme rotblau. tlber dem Daumen und ttber den Fingergelenken ist 
die blaue Verfarbung intensiver. Ungefahr in der Mitte des Vorderarmes 
verliert sich die intensive dunkelblaue Farbe, die Haut ist leicht zyano¬ 
tisch, marmoriert; an der ulnaren Seite der Vorderarme erstreckt sich die 
zyanotische Marmorierung bis zum Ellenbogen, welcher wieder etwas in¬ 
tensiver blau ist, jedoch nicht so stark wie die Hand. Die Vola manus 
ist bedeutend weniger verandert, die Finger sind an der Beugeseite inten¬ 
siver blau als die Handflache, jedoch geringer als am Handrttcken. An 
der Beugeseite des Handgelenkes ist die Zyanose wieder stark, verliert 
sich allm&hlich nach oben, so dass die Haut an der Ellenbogenbeuge be- 
reits normal erscheint. Die Haut ttber der linken Hand ist glatt, etwas 
gl&nzcnd, ein Druck auf die Haut liinterl&sst einen weissen Fleck und fine 
ganz geringe Dclle, welche sofort verschwinden. Die Nagel sind normal. 
Die Vola manus ist feucht.. 

Die rechte Hand ist ebenfalls stark zyanotisch, jedoch weniger als 
die linke und hat eine Beimengung rOtlicher Verfarbung. Diese Verfarbung 
der Haut erstreckt sich auf den Vorderarm ungefahr bis zur selben HOhe 
wie links. Sonst ist die Hand normal, nicht angeschwollen, die Zeichnung 
der Sehnen und Gef&sse tritt deutlich hervor. Der Druck auf die rechte 
Hand kinterl&sst einen weissen Fleck, welcher sofort verschwindet, keine 
Delle. Die Verfarbung der Hande wechsclt je, nach der Aussentemperatur, 


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Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. 245 

in der Kaite wird die Haut fast schwarzblau. Ebenso wechselt die Tem- 
peratar der Httnde, gewOhnlich ist die lioke ktthler als die rechte, manck- 
mal jedoch ist eher die linke Hand warmer, jedoch sind die Fingerspilzen 
der linken Hand immer kalt. 

SensibilitatsstOrungen: An der linken oberen Extremitat besteht in 
den zyanotischen Hauptpartien eine ganz geringe Hypalgesie; in denselben 
Bezirkcn eine distalwarts zunehmende Hypastkesie. Warmegeftthl im un- 
tei’en Drittel des Vorderarmes bis zum Handgelenke stark herabgesetzt, 
an der Hand selbst fast aufgehoben; KaltegefQhl aufgehoben, die StOrung 
reicht jedoch holier kinauf als die Warmeanttsthesie, so dass erst in der 
Mitte des Vorderarmes etwas Kaite gespttrt wird. Die oberen Grenzen 
dieser Sensibilitatsstfirung ziemlich scharf. An der rechten oberen Extre¬ 
mitat ist die Schmerzempfindung in den zyanotischen Partien normal, 
Nadelstiche werden etwas weniger gespttrt als an der gesunden Haut; Be- 
rQhrung normal. Kalt wird nicht gespttrt, Warmeempfinden herabgesetzt. 
Tiefe Sensibilitat beiderseits normal. 

Die Bewegung der linken Hand und der Finger in geringem Grade 
eingeschrankt. Die Bewegungen der Finger erfolgen etwas langsam. Bei 
Kraltanstrengung ziehende Schmerzen im Vorderarm. Keine Atrophien. 
Elektrische Erregbarkeit der Muskulatur und Herven beiderseits normal. 
Bewegungen der rechten Hand normal. 

Die Fttsse sind beiderseits am Fussrttcken und um das Sprunggelenk 
stark zyanotisch, jedoch nicht diffus; es sind dazwischen hellere Partieu 
normaler und rOtlich verfarbter Haut zn sehen. Die Zehen sind fast nor¬ 
mal, die Fusssohlen blass. Ein Druck auf die Haut lasst einen weissen 
Fleck zurttck, welcher sofort verschwindet; eine Delle entsteht nicht. Die 
zyanotisch rOtliche Verfttrbung verliert sich allmahlich, ca. 4 Querfinger 
oberhalb der Malleoli. In der Mitte der Unterschenkel ausgebreitete brttun- 
liche Pigmentation nach Geschwttren. Beide Knien sind zyanotisch mit 
kleinen rdtlichen Flecken. An den Oberschenkeln geringe Marmorierung 
der Haut. In den zyanotischen Hautpartien Herabsetzung der Kaite- uml 
Warmeempfindung bei erhaltener Bertthrung und Schmerzempfindung. 

Die Sehnenreflexe sind sowohl an den oberen wie auch unteren Ex- 
tremitaten lebhaft, beiderseits gleich. Keine Druckempfindlichkeit der 
peripheren Nervenstamme. Hautreflexe normal. Hirnnerven frei. Corneal- 
und Rachenreflexe lebhaft. Keine Einschrankung des Gesichtsfeldes. Gc- 
ringe angeborene Ptosis beiderseits. Abstehende Oliren. Dermographie 
gesteigert, gesteigertes Schwitzen, in der linken Axilla mekr als in der 
' rechten. Mechanisclie Muskelerregbarkeit nicht gesteigert. Mit Ausnahmc 
der Extremitatenenden ist die Sensibilitat am ganzen KOrper normal. In- 
terner Befund normal. In beiden Knie- und Schultergelenken, ebenso im 
linken Handgelenke deutliche Krepitation bei passiven Bewegungen. 

Wassermannsche Reaktion im Blute negativ. Die Rbntgenaufnahme 
der Httnde zeigt normale Struktur und keine Vergrdsserung der Knochen, 
jedoch eine Vergrosserung des Schattens der Weichteile an der linken 
Hand. 

Es handelfc sich in diesem FaUe um eine, im Anschluss an eine 
starke Kalteeinwirkung sich entwickelte Zyanose der Extremitaten¬ 
enden, welcher sich bald eine Schwellung, lediglich der Hande, an- 


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246 


Rothfeld 


schloss. Im weiteren Verlaufe ging die Schwellung der rechten Hand 
zuriick, es blieb hier, ahnlich wie auf den Fiissen, dauernd eine Zya- 
nose bestehen. Nur an der linken Hand entwickelte sich der Prozess 
weiter, die Volumzunabme der Hand bat trotz verschiedener Behand- 
lung Fortschritte gemacht und griff spater auch auf den Vorderarm 
iiber. Wahrend also an der rechten Hand nnd an beiden Fiissen der 
Krankheitsprozess sich auf eine Acroasphyxie beschrankte nnd auf 
dieser Stufe stationar blieb, sehen wir an der linken Hand eine Vo- 
lumzunahwe der Weichteile sich entwickeln; der Knochen ist, wie 
das JRSntgenbild zeigt, an der VergrSsserung der Hand nicht beteiligt. 
An der rechten Hand und an den Fiissen weisen neben der Zyanose 
die SensibilitatsstSrungen auf das Erkranktsein dieser Teile hin. Es 
hestanden nie starke Schmerzen; der Kranke klagt iiber Schmerzen 
in einzelnen Gelenken. Der objektiye Befund (Krepitation im linken 
Hand-, beiden Knie- und Schultergelenken) weist auf eine chronische 
Erkrankung der Gelenke hin. Nie bestand Synkope. 

Der Krankheitsyerlauf und das klinische Bild entspricht voll- 
kommen den yon Cassirer beobachten Fallen. Differentialdiagno- 
tisch kSnnte die Syringomyelic und die Hysterie in Betracht kommen. 
Gegen die Syringomyelie spricht das Fehlen von Muskelatrophien, die 
normale elektrische Erregbarkeit, das plStzliche Auftreten der Zyanose 
an alien yier Extremitaten im Anschluss an die Kalteeinwirkung und 
endlich die Art der SensibilitatsstSrungen. Zwar ist hier eine disso- 
zierte Sensibilitatsstorung angedeutet, jedoch ist diese Art der Ans- 
breitung, die scharfe Grenze an den Vorderarmen, die symmetrische 
Ausbreitung der SensibilitatsstSrungen an den Fiissen eine recht seltene 
Erscheinung bei der Syringomyelie. Bei chronischer Akroasphyxie 
sind derartige SensibilitatsstSrungen besonders von Cassirer be- 
obachtet worden. Barker und Sladen, Kartje fanden sie ebenfalls 
in ihren Fallen. Gegen die Hysterie spricht in unserem Falle das 
Fehlen hysterischer Symptome. 

Hervorzuheben ist die Differenz in der Intensitat der Krankheits- 
erscheinungen an einzelnen Extremitatenenden. Am meisten betroffen 
ist die linke Hand, weniger die rechte und am wenigsten die Fiisse, 
wo nicht nur die Zyanose aber auch die SensibilitatsstSrungen die 
geringsten sind. Diese Differenz kann in anderen Fallen noch bedeu- 
tender sein, wie das der nachste Fall zeigt. 

Fall 2. Februar 1917. K. 25 Jahre alt. Getreideh&ndler. In-der 
Kindheit Rhachitis, Diphterie, Scharlach mit OhreneutzQuduug, Masern. Mit 
11 oder 12 Jahren Kehlkopfkatarrh. Bis zum 15. bebensjahre Bettnasser, 
spater nur sehr selten BlasenstSrungen. Bis vor 3 J / 2 Jahren gesund, nur 
zeitweise Schmerzen im Unterleibe infolge einer Aulage zu einem Leisten- 


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Beitrag zur Kenntnis der Acro&sphyxia chronica hypertrophic*. 247 

brnch. Im April 1913, plOtzlich mit Fieber, Halzschraerzen and Schmer- 
zen in alien Gelenken erkrankt. Besonders schmerzhaft waren die kleinen 
Gelenke der H&nde, die Knie- und Sprunggelenke, welche auch ange- 
schwollen waren. Nach 6 Wochen Besserung unter Aspirin, Umschlfigen 
und Schwitzkur; der Eranke hat nach der Genesung dnrch drei Monate ge- 
arbeitet; bei schlechtem Wetter klagte er fiber Schmerzen in den Gliedern. 
Infolge einer Erkaltung Rezidive, war 4 Wochen krank. Seit der Zeit 
bestehen zeitweise rheumatische Schmerzen in den Extreraitfiten. Im Win¬ 
ter 1913/14, also nach der GelenksentzQndung, bemerkte der Eranke, dass 
seine Hande in der Ealte leicht anschwellen und blau werden; in der 
Warme girig der Zustand zurQck. Dieselben Erscheinungen traten im 
Winter 1914/15 auf, nur war die linke Hand mehr angeschwollen als die 
rechte; die Schwellung nahm ab, wenn er einige Tage im Zimmer blieb; 
an der linken Hand ging die Schwellung nie vollkommen zurQck, so dass 
sie auch im Sommer bemerkbar war. Ebenso nabm die blaue Verfarbung 
der Hand in Warme und im Sommer an Intensitat ab. Im Herbst und 
besonders im Winter 1915 Verschlimmerung an der linken Hand, welche 
allmQblich grosser wurde. Hie Schmerzen in den Handen. Die Beweglich- 
keit dcr Hande war erhalten, der Eranke hat sich jedoch der linken Hand 
wegen der Schwellung wenig bedient; sie war meistens verbunden. Im 
Herbst und im Winter 1916 hat sich der Zustand bedeutend verschlimmert; 
die Hand wurde noch grosser, die Zyanose starker und der Eranke konnte 
immer weniger die Finger der linken Hand bewegen. Mit der Zunabme 
der Schwellung haben sich vor ca. 2 Monaten die Finger allmahlich zu- 
sammeugezogen und der Eranke konnte die Hand nur mit Mfihe Offnen. 
Bei Bewegungen im Eilenbogengeienke spfirte er ein Ziehen im Vorderarm, 
jedoch keine Schmerzen. Er hat die Hand in einera Tuch aufgehangt 
getragen. Der Eranke wurde wahrend des Erieges zweimal wegen 
Hamorrhoidalknoten und Prolapsus ani superarbitriert; jetzt ist er von 
der Assentkommission zur Feststellung des l^idens an der Hand ins 
Spital geschickt worden. 

Status praesens (Februar 1917): Die linke Hand (Fig. 1) ist am 
Handrficken polsterartig vergrOssert, die Finger dick in alien Gelenken 
gebeugt, nur der Daumen liegt gestreckt dem Zeigefinger an. Die Haut 
ist zyanotisch, nur stellenweise liellere Hautpartien; der uaterste Teil des 
Vorderarmes, ca. 4—5 cm oberhalb des Handgelenkes, marmoriert. Die 
Zyanose nimmt nach oben allmahlich ab, so dass im oberen Drittel des 
Oberarmes die Haut fast normal ist. Die Haut fiber der linken Hand ist 
weich, glatt, matt, ohne irgendwelche trophische Ver&nderungen; auf Druck 
entsteht eine Delle und ein weisser Fleck, welche sofort verschwinden. 
Die Haut fiber den Gelenken der Hand ist schwarzblau. Die Nagel sind 
nicht verfindert. Pat kann die Hand spontan nicht Offnen. Passiv gelingt 
es zwar die Finger zu strecken, sie kehren aber bald wieder in die ur- 
sprttngliche Lage zurQck. Die Haut an der Vola manus und der Finger 
ist blass, feucht, warmer als die des Handrfickens, die Handflfiche ist 
polsterartig verdickt. Der distale dritte Teil des Vorderarmes ist deutlich 
verdickt, besonders auf der ulnaren Seite. Beim Herabh&ngen der linken 
Hand und in der Eftlte steigert sich die Cyanose, die Haut wird schwarz¬ 
blau, ebenso im kalten Wasser. Im warmen Wasser treten rote Flecke 
auf. Bewegungen im Handgelenke fast 0; bei passiven Bewegungen starker 

Deutsche ZeUschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. 17 


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248 


Rothfeld 


YViderstand. Ini Ellenbogengelenke langsame jedoch ausgiebige aktive Be- 
wegungen mbglicb; der Kranke klagt dabei fiber Scbmerzen im Vorderarm. 
Bei jeder Beugebewcgung der Yorderarme Luxation des N. ulnaris, obne 
dass der Kranke Par&stkesien im Gebiete dieser Nerven emptindet. 

Etivas unter der Ellenbogenbeuge eine nach unten zunehmende Hyp- 
algesie; am unteren Drittel des Vorderarmes und an der Hand, mit Ausnahme 
der. Beugeflfiche der Finger Analgesie. In denselben Greuzen und Inten¬ 
sity Aufhebung der Kalteempfindung; fttr Wfirme ist die Empflndung stark 
lierabgesetzt. Die obere Grenze dieser Sensibilitatsstdrungen ist scbarf; 
in den Partien der totalen Analgesie besteht eine m&ssige Hypfisthesir, 
deutlicher am HandrQcken als an der Yola manus; an der hypalgetischen 
Haut ist die BerOhrungsempfindung bereits normal. 

Die rechte Hand ist — was GrOsse betrifft — normal, die Haut ist 



Fig. I 


leicht zyanotisch, marmoriert, Nagel livid, jedoch ohne tropliische Verfinde- 
rungen. Auf Druck auf die Haut entsteht ein weisser Fleck, welcher so- 
fort verschwindet. Die Zyanose erstreckt sich auf den Vorderarm und 
gebt ungefahr in der Mitte des Vorderarmes in normale Farbe fiber. 
Nadelstichc werden Qberall gut gespfirt, wenn auch etwas schwacher als 
an den Obrigen Hautflfichen. Kalteempfindung bis zur Mitte des rechten 
Vorderarmes aufgehoben, obere Grenze scbarf, handschuhartig. 'Warme- 
empfindung lierabgesetzt, Berfibrung erbalten. Die Motilitat der rechten 
Hand vollkommen intakt. Keine Muskelatrophien an beiden oberen Extre- 
mitfiten. Elektrische Erregbarkeit normal. Reflexe an den oberen Extre- 
mitaten beiderseits lebhaft. 

Dermograpbie und mecbanische Muskelerregbarkeit nicht gesteigert. 
Gesteigertes Schwitzen bei normaler Zimmertemperatur. Hautreflexe nor¬ 
mal. Die Motilitat der unteren Ex-tremitfiten frei, die Reflexe lebhaft, 
beiderseits gleich. An den Ffissen keine abnorme Verfarbung. Sensibilitat 
am ganzen Ktirper normal. Hirnnerven frei, Pupillen reagieren gut. Re- 


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Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. 249 


flexe am Eopfe normal, Gesichtsfeld normal. Herz and Lange normal 
{Crepitation bei passiven Bewegangen in boiden Knien and Schalterge- 
lenken. ROntgenbefund der linken Hand, ebenso des Ellenbogengelenkes 
ergibt normale Verhaltnisse. Wassermannsche Reaktion im Blute negativ. 

Es entwickelte sich hier im Anschluss an einen akuten Gelenks- 
rhenmatismas eine Zyanose und dann allmahlich eine Schwellung 
beider Hande, welche an der rechten Hand bald zuriickging, an der 
linken hingegen immer mehr sukzessive zanabm. Wahrend im Anfang 
der Erkrankang gewisse Schwankungen in der Intensitat der Ver- 
farbung und in der Grosse der linken Hand vom Kranken beobachtet 
wurden, schritt dann die Volumenzunahme konstant fort. Mit der 
Verschlimmerung im Winter 1916/17 stellte sich eine Beweglichkeits- 
einschrankung ein, die zum jetzigen Zustand fuhrte. Was den Cha- 
rakter dieser Storung betrifft, so erinnert sie an die von Cassierer 
in einem Fall (Fall G.) notierte Fingerstellung, welche sich ausgleichen 
liess, bald aber wieder zuriickkehrte; eine ahnliche Stellungsanomalie 
der Hande und Finger ist im Falle W. von Cassirer verzeichnet. 
In unserem Falle konnte es sich um eine hysterische Kontraktur han- 
deln; gegen diese Annahme spricht jedoch das Fehlen anderer hyste- 
rischer Symptome; der Umstand, dass die Bewegungsstorungen erst 
nach ca. 2jahriger Dauer des Leidens erst mit der starkeren Ver- 
grosserung der Hand aufgetreten sind, macht diese Annahme unwahr- 
scheinlich. 

Im Gegensatz zum ersten Fall sind hier die unteren Extremitaten 
vollkommen frei; die rechte Hand zeigt, ahnlich wie im ersten Falle, 
bedeutend weniger Krankheitserscheinungen als die linke. In beiden 
Fallen ist es die Zyanose und die Sensibilitatsstorungen, welche auf 
eine Beteiligung der pseudogesunden Hand hinweisen. 

Es gibt jedoch Falle, in welchen nur eine Hand die Symptome 
einer Acroasphyxia chronica hypertrophica aufweist, die zweite Hand 
dagegen yollkommen intakt ist. 

Fall 3. Februar 1917. S., 24 Jahre alt. In der Kindheit Scharlach, 
vor 8 Jahren Bauchtyphus durchgcmacht. Die jetzige Krankheit begann 
vor 4 Jahren im Winter mit „einem unangenehmen Gefflhl“ in der linken 
Hand and linkem Vorderarm, es war ein TaubseingefOhl, dann wieder 
„als ob etwas herumkrieche". Keine Schmerzen. Gleichzeitig trat eine 
Ver&nderung der Hautfarbe an beiden Handen auf; sie waren dunkelblau 
verfftrbt, die linke Hand bedeutend mehr als die rechte. Eine Schwellung war 
nicht vorhanden, die linke war etwas aufgedunsen. Nach einigen Wochen 
traten Schmerzen im linken Vorderarm und in der linken Hand auf and nun 
bemerkte der Kranke, dass die linke Hand allmahlich anschwillt und immer 
mehr blau wird. — Die Schmerzen waren ziemlich stark, besonders bei 
Bewegungen, jedoch nicht anfallsweise. Der Zustand verschlimmerte sich 
spater, langsam und allmahlich. Im FrQhjahr geringe Besserung; bei 

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250 


Rothfeld 


schOnem und warmem Welter liessen die Schmerzen nach, die Schwellung 
nahm ebenfalls etwas ab, ist aber nie — auch nicht im Sommer — gSnz- 
lich zarQckgegangen. Nachsten Winter weitere VerschlimmeroDg, und 
zwar Zunahme der Schmerzen und der Schwellung. Der Kranke betont 
mehrmals, dass die Schmerzen parallel mit der Anschwellung sich ent- 
wickelten und dass im Anfang der Krankheit, mit vortibergehender Abnahme 
der Schwellung auch die Schmerzen geringer waren. Seit zwei Jahren ist 
der Zustand stationSr; nur scheinen die Schmerzen geringer zu sein. Die 
rechte Hand hat die im Beginn der Krankheit aufgetretene Zyanose be- 
halten, sonst bat der Kranke keine Ver&nderungen bemerkt. Das Leiden 
glaubt der Kranke von Kalte bekommen zu haben; er ist in Zivil Kohlen- 
handler und musste im Winter tagshber im Freien verbleiben. Bis jetzt 
einmal im Sommer 1914 in Iwonicz (jodhaltiges Mineralwasser und Bader) 



Fig. 2. 

behandelt, jedoch obne Erfolg. Pat. stannnt aus einer nervSsen Familie, 
der Vater scheint nach der Schilderung an einen Ructus hystericus zu 
leiden. — Dor Kranke ist von der Assentkommission ins Spital geschickt 
worden. 

% Status praesens: Die linke Hand (Fig. 2) ist bedeutend grdsser als 
die rechte. Die Handflache und besonders der Handrflcken polsterartig 
aufgetrieben, die Finger dick, mehr an den Grund- als an den Endphalan- 
gen, der Zeige- und Mittelfinger etwas mehr verdickt als die anderen. Die 
VergrOsserung bctrifft nur die Weichteile, die Knochen erscheinen im 
Rdntgenbilde unverandert. Die Haut ist glatt, am HandrOcken rdtlichblau, 
Ober den Gelenken schwarzblau, die Handflache ist feucbt und blasser als 
der HandrUcken. Die Zyanose reicht in derselben Intensitat bis ca. 5 cm 
oberhalb des Handgelenkes, verliert sich daun allmahlich ungcfahr in der 
Mitte des Oberarmes und ist an der Streckseite intensiver als auf der 
Beugeseite. Die linke Hand ist sehr kalt. Ein Druck mit dem Finger 
auf den Handrttcken hinterlasst eine kleine Delle und einen weissen Fleck, 


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Beitrag zur Kenntnis der Acroaspbyxia chronica hypertrophies. 251 


welche sofort verschwinden. Die Nftgel sind unver&ndert. — Im kalten 
Wasser wird die Hand schwarzblan, im heissen treten kleine hellrote Flecke 
anf. Die Kfilte des Wassers wird an der Hand gar nicht gespttrt; wird 
kaltes Wasser im massigen Strahl anf die Hand gegossen, so hat der 
Kranke keine K&lteeihpfindung; sie beginnt erst ca. 5—6 cm oberhalb des 
Handgelenkes und ist in der oberen Halfte des Vorderarmes fast ganz 
normal. Die Grenze der Kalteanastbesie ist eine scharfe, schneidet hand- 
scbnhartig ab. Heisses Wasser wird bei analogem Versnch erst am Yorderarm 
als lau, an der oberen Halfte des Vorderarmes als heiss gespOrt; an der Hand 
selbst fehlt die Warmeempfindung. Dasselbe Resultat. ergab die Kontroll- 
prflfung mit GlasrOhrchen mit kaltem und heissem Wasser. Von der 
Mitte des Vorderarmes Thermhypasthesie, die ca. 5—6 cm oberhalb des 
Handgelenkes in Thermanasthesie an der Hand tibergeht. In denselben 
Grenzen distalwarts znnebmende Hypalgesie, welche oberhalb des Handge- 
lenkse in eine Analgesie Obergeht nnd eine ebenfalls distalwarts zunehmende 
Hyp- bzw. Anasthesie. — Die BerUhrungsempfindung ist sehr stark ber- 
abgesetzt, jedoch nicht ganz aufgehoben. Die obere Grenze der totalen 
Anfhebung der Sensibilitat ist far alle Qualitaten eine scharfe, handschuh- 
artige. Die Beweglichkeit der linken Hand und der Finger ist zwar er- 
halten, jedoch erfolgen die Bewegungen sehr langsam und sind nicht aus- 
giebig. Der Kranke behauptet, die Anschwellung hindere die Bewegungen. 
Im Ellenbogen und Schultergelenke keine Einschrankung, aber auch hier 
erfolgen die Bewegungen langsamer, angeblich wegen Schmerzen im Vor- 
derarm. Diese StOrung der Motilitat hat sich allmahlich entwickelt, der 
Kranke hat im Beginn der Krankheit, als die Schmerzen intensiv waren, 
die Hand weniger bewegt. Keine Muskelatrophien. Keine Veranderung 
der elektrischen Erregbarkeit. 

Die recbte Hand ist bis ca. 5—6 cm oberhalb des Handgelenkes leicht 
rOtlichblau, jedoch nicht auffallend und zeigt sonst gar keine Veranderun- 
gen. Die Reflexe an den oberen Extremitaten normal. 

Hirnnerven frei. Corneal-, Rachen-, Ohren- und Nasenreflexe normal. 
Gesichtsfeld normal. Dermographie leicht gesteigert. Starkes Schwitzen 
bei ktthler Zimmertemperatur, in der linken Achselhdhle mehr als rechts. 
Untere Extremitaten frei, Sehnen- und Hautreflexe lebhaft, beiderseits 
gleich. Die FQsse sind leicht zyanotisch, jedoch nicht auffallend. Die 
Sensibilitat ist, mit Ausnahme der oben geschilderten, am ganzen Kflrper 
normal. Keine Druckempfindlichkeit der peripheren Nervenstamme. Der 
allgemeine Kdrperbau kraftig, innere Organe ohne pathologischen Befund. 
Im Urin kein Eiwei^s und kein Zucker. 

Es handelt sich in diesem Fall nm eine allmahlich zunehmende 
Asphyxie und Vergrosserung der linken Hand. Im Beginn des Lei- 
dens Parasthesien, dann mit zunehmender Schwellung und Zyanose 
traten Schmerzen in der Hand auf. Seit zwei Jahren ist das Leiden 
stationar. Ausser der Vergrosserung der Hand und der betrachtlichen 
Zyanose bestehen Sensibilitatsstorungen, welche handschuhartig am 
Oberarm abschneiden und eine Einschrankung der Beweglichkeit der 
linken Hand und der Finger, ohne Muskelatrophien, ohne Veranderung 
der elektrischen Erregbarkeit. Auch hier haben die Bewegungs- 


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Rotii feld 


storungen — ahnlich wie in den ersten zwei Fallen — keinen hyste- 
rischen Charakter, besonders, dass wir keine anderen Zeichen einer 
Hysterie feststellen konnen. Es bestehen ebenfalls keine Symptome 
einer Syringomyelie. Bemerkenswert ist, dass hier nur die linke 
Hand betroffen ist, dass an den ubrigen Extremitatenenden keine 
ahnlichen pathologischen Erscheinungen wahrzunehmen sind. Bis auf 
diese Differenz ist der Fall vollkommen typisch. 

Der nachste Fall ist mitRiicksicht auf die Atiologie bemerkenswert. 

Fall 4. Februar 1917. Sch. L., 21 Jabre alt, im Zivil Handelsange. 
stellter. Am 30. September 1915 beim Ersatz-Kader zwei Stunden laiig 
zar Strafe angebunden. Nach I,6sung der Schnur verspflrte der Krank e 



Fig. 3. 


einen Schmerz in beiden Achselhohlen und hat das GefQhl in der rechten 
Hand verloren. Er konnte die Hand nicht bewegen; die Hand war an- 
geblich blau und angeschwollen. Seit der Zeit besteht das jetzige Leiden. 
Ob der jetzt bestehende Zustand pldtzlich nach dem Anbinden entstanden 
ist, oder sich nachher allm&hlich entwickelte, will sich Pat. nicht erinnern 
kOnnen. In der letzten Zeit soil der Zustand sich nicht mehr verandert 
haben, er ist stationer. 

Status praesens: Die rechte Hand vergrOssert (Fig. 3), HandrQcken, 
Vola manus polsterartig verdickt, die Finger sind an den Grundphalangen 
mehr verdickt, als an den Endphalangen. Im Rdntgenbilde keine Ver- 
grOsserung der Knochen. Die Hand ist kalt, stark zyanotisch, dunkelblau. 
an der Vola manus weniger deutlich als am HandrOcken; die Haut ist 
auffallend trocken. Am Vorderarm reicht die Zyanose bis ungef&hr zur 
Mitte des Vorderarmes, wo nur eine Marmorierung der Haut besteht, die 
Streckseite ist mehr zyanotisch als die Beugeseite. Ein auf die zyano- 
tische Haut ausgetlbter Druck lasst einen weisscn Fleck und eine Delle 


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Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. . 253 

zarQck, welche sofort verschwindea. Die rechte Hand hftngt schlaff herab, 
alle Bewegnngen der Hand and der Finger vollkommen aufgehoben. Im 
EUenbogengelenk ist eine Streckung nur bei gewissen Stellungen des Armes 
mdglich, die Streckung ist auch dann eigentlich keine aktive, der Vorder- 
arm f&llt der Schwere nach herab. Bewegnngen im Schnltergelenke frei. 
Elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln normal. Beim Gehen 
h&ngt die rechte obere Extremit&t schlaff and ftthrt keine Pendelbewegungen 
aus. Von der Ellenbogenbeugc distalwiirts zuuehmende Hypalgesie, welche 
in der Mitte des Vorderarmes in eine vollkommene Analgesic tlbergeht; 

' in demselben ‘Bereiche Anfhebnng der Berflhrungs- and Temperataremp- 
findang. 

Die linke Hand vollkommen normal Pcrioet- and Sehnenreflexe an 
den oberen Extremitaten beiderseits lebhaft, rechts etwas schwkcher als 
links. Hirnnerven frei. Rachen-, Corneal-, Ohren-, Nasenreflexe beiderseits 
normal. .Gesichtsfeld normal. Leicbte Struma. Keine Sensibilit&tsstdrnn- 
gen am ganzen KOrper, mit Ausnahme der geschilderten an der rechten 
oberen Ertremitat — Untere Extremitaten frei. Haat- und Sehnenreflexe 

normal. Wassermannsche Reaktion im Blate negativ. 

» 

In diesem Falle entstand im Anschluss an eine zwei Stunden Iang 
dauemde Umschniirung eine chronische Akroasphjxie mit Hypertrophie 
der rechten Hand und eine schlaffe komplette Lahmung der Hand 
und des Vorderarmes. Die Schlaffheit, das Herabhiingen der Hand 
der Schwere nach, das Fehlen jeder Bewegungsintention bei normaler 
elektrischen Erregbarkeit und Fehlen yon Muskelatrophien sprfcbt 
fiir einen hysterischen Charakter der Lahmung, welche durch das 
Trauma hervorgerufen wurde. Was den Zusammenhang der Akro¬ 
asphjxie mit der Umschniirung betriffb, so lasst sich aus der Anamnese 
nichts Sicheres schliessen. Aus den Akten, die den Kranken betreffen, 
geht hervor, dass sich die Schwellung wahrscheinlich allmahlich, je- 
doch bald nach dem Trauma entwickelt hat. So ist in einem arzt- 
lichen Befunde yom 16. Okt. 1915 nur die motorische Lahmung des 
rechten Vorderarmes und der Hand yerzeichnet; in einem anderen 
yom 23. Noy. 1915 heisst es, dass die rechte Hand kalt ist, Beriih- 
rung mit einem Faden und Schmerzempfindung herabgesetzt, beson- 
ders an dem geschwollenen Handriicken. In einem weiteren Zeugnisse 
Yom 8. Febr. 1916 wird die starke Zyanose, die Schwellung und die 
Sensibilitatsstorungen betont. Es muss also angenommen werden, 
dass bereits Mitte November 1915, also ca. 6 Wochen nach der Um- 
schniirong deutliche Zeichen 'einer Acroasphyxia hypertrophica mit 
Sensibilitatsstorungen vorhanden war. Welche Umstiinde dafiir mass- 
gebend waren, dass die durch die Umschniirung hervorgerufene As- 
phyxie dauernd bestehen blieb und zu einer Hypertrophie der Weich- 
teile fuhrten, das kann vorlaufig nicht erklart werden. Moglicherweise 
handelt es sich um eine traumatische Schadigung der Gefasse. Dass 


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254 


Rothfeld 


eine chronische Akroasphyxie neben der Hysteria bestehen kann, ohne 
dass man die Asphyxie als eine hysterische bezeichnen miisste, darauf 
hat Cassirer und Gasne et Souques hingewiesen. 

Wenn wir nun die obigen Krankengeschichten zusammenfassen, 
so ergibt sich, dass es sich in alien yier Fallen um neuropathiscbe 
Indiyiduen handelt und dass in den drei ersten Fallen der rheum a- 
tische Einfluss, die Ealte das atiologische Moment fiir die Erkrankung 
der Extremitatenenden darstellt; in den ersten zwei Fallen bestehen 
noch jetzt Zeichen eines chronischen Gelenkrheumatismus. Die Erank- 
heit entwickelte sich in diesep Fallen langsam, sukzesive, begann mit 
einer Zyanose, der sich spater eine Vergrosserung der Hand anschloss. 
1m Fall 3 bestanden im Anfang des Leidens Parasthesien, spater 
Scbmerzen; beim Eranken Schr. (Fall 1) waren die SchmerZbn gering, 
am wenigsten klagte K. (Fall 2) iiber Scbmerzen. Die Schmerzen 
batten in alien Fallen einen ziehenden C'harakter; nie Anfalle von 
Schmerzen. Eeine* Synkope. 

Bemerkenswert ist die Assymmetrie in der Intensitat der Erschei- 
nungen. Die Verschiedenheit der Intensitat der Erankheitserschei- 
nungen, das starkere Befallensein der Hande als der Fiisse ist bereits 
von Cassirer. hervorgehoben worden. Es konnen aber ausserdem 
Differenzen in der Intensitat zwischen der rechten und linken Seite 
bestehen. lm Falle G. Cassirers war die Volumzunabme und die 
Verfarbung der linken Hand etwas starker ausgesprochen als der 
rechten; im Falle F. war die Verfarbung am rechten Fuss und linker 
Hand etwas starker. Im Falle Pehus war ebenfalls die Iinke Hand 
grosser, im erwahnten Fall Barker-Sladens war die Zyanose 
am rechten Fuss starker als am linken. In diesen Fallen scheint die 
Differenz nur eine quantitative gewesen zu sein. In unseren Fallen 
dagegen ist die Differenz zwischen der rechten und linken Hand eine 
qualitative. Wabrend die linke Hand in den ersten drei Fallen und 
die rechte im vierten Falle stark vergrossert ist, ist die zweite Hand, 
was die Grosse betrifft, normal Im ersten Fall ist am meisten die 
linke, weniger die rechte Hand, die Fiisse im geringeren Grad als die 
rechte Hand betroffen. Die Differenz zwischen der rechten und linken 
Hand bezieht sich hauptsachlich auf .die Volumenzunahme, weniger 
auf die Zyanose und die Sensibilitatsstorungen. Im zweiten Fall deu- 
ten nur die Sensibilitatsstorungen und eine geringe Zyanose auf eine 
Erkrankung der rechten Hand hin, sonst erscheint die Hand als nor¬ 
mal Die Fiisse sind frei. lm dritten Fall ist an der rechten gesun- 
den Hand und an den Fiissen nicbts Pathologisches festzustellen. Im 
vierten Fall, welcher mit Riicksicht auf die Atiologie nicht mit den 
ersteren ganz identisch ist, ist die linke Hand vollkommen gesund. 


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Beitrag zur Kenntnis tier Aeroaapbyxia chronica hypertrophica. 255 

Das Vorkommen yon Sensibilitatsstorungen bei cbronischer Akro¬ 
asphyxie ist besonders von Cassirer hervorgehoben worden; am 
meisten war die Kalte- und Warmeempfindung betroffen, weniger das 
Scbmerz- und Beriihrungsgefiihl. Ausserdem bebt Cassirer die Art 
der Ausbreitung hervor, das scharfe kreisformige Abschneiden der 
Sensibilitatsstorungen. Diese Art der Sensibilitatsstorungen hat 
Cassirer bei einem Fall yon chron. Akroasphyxie ohne Volumzu- 
nabme, in einem mit Hypertrophie der Weichteile und endlich in 
einem analogen Falle mit sklerodermatiscben Veranderungen be- 
obachtet. In dem yon Cassirer zur chronischen Akroasphyxie ge- 
zahlten Falle Notbnagels sind ebenfalls Sensibilitatsstorungen an 
den Handen verzeichnet. Im Falle Barker-Sladens bestanden sie 
an den Fussen, die zuerst und mehr betroffen waren; auch Kartje 
hat Sensibilitatsstorungen in seinem Fall gefunden. 

Cassirer weist darauf hin, dass derartige Storungen bei der 
Hysterie unbekannt sind und dass sie zwar bei der Syringomyelie 
vorkommen konnen, jedoch konne man trotzdem die Falle yon cbroni¬ 
scher Akroasphyxie nicht in der Syringomyelie aufgehen lessen. Die 
Acroasphyxia chronica konnte hochstens als Ubergang zwischen den 
vasomotorisch-trophischen Neurosen zur Syringomyelie aufgefasst 
werden. Vorlaufig lasst sich diese Frage nicht entscheiden und 
Cassirer halt es fur angezeigt, noch weitere Beobachtungen zu 
sammeln. 

Im ersten unserer Falle ist an der linken Hand die Kalteempfin- 
dung ganz erloschen, fur Warme stark, fur Schmerz und Beruhrung 
weniger herabgesetzt. Diese Differenz ist zwischen den einzelnen 
Qualitaten an der rechten Hand noch deutlicher: Kaltegefiihl erloschen, 
Warme etwas, Schmerz im minimalen Grade herabgesetzt, Beruhrung 
normal. Ganz identische Storungen finden wir ebenfalls an der we¬ 
niger betroffenen Hand des zweiten Falles. An der linken hypertro- 
phischen Hand dieses Kranken ist Kalte- und Schmerzempfindung 
aufgehoben, Warme und Beriihrung stark herabgesetzt. Im dritten 
und yierten Falle ist die Sensibilitat fur alle Qualitaten aufgehoben. 
An den Fussen besteht nur beim ersten Kranken eine Storung, nam- 
lich eine Hypasthesie fur kalt und warm und das ist der geringste 
Grad der Sensibilitatsstorung in unseren Fallen. Wenn man die In¬ 
tensity der Sensibilitatsstorungen mit der Zyanose und Volumenzu- 
nahme yergleicht, so hat man entschieden den Eindruck, dass sie mit 
der Hypertrophie parallel yerlaufen. Ich fiibre der Obersicht halber 
eine Tabelle an und beginne mit den geringsten Storungen der Sen- 
si bill tat. — 


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256 


Rothfeld 


Erkrankte Extremitat 


Art der Sensibilitats- 
stSrungen 


Zyanose u. Hypertrophie 


Fiisse im Falle 1 


Herabsetzang der Tem- 
peraturempfindung 


Starke Zyanose mit r5t- 
lichen and normalenHaat- 
partien, keine Hypertro¬ 
phie 


Rechte Hand im Falle 1 Kalt aufgehoben, warm Zyanose ohne Hyertro- 
und 2 herabgeSetzt, Schmerz phie; im Beginn des Lei- 


Linke Hand im Falle 1 


herabgeSetzt, Schmerz 
etwas herabgesetzt, Be- 
rfihrung normal 


S hie; im Beginn dea Lci- 
ens begann eineSchwel- 
lung, die dann zur&ck- 
g»ng 


Kalt aufgehoben, warm Hochgradige Zyanose mit 
stark herabgesetzt, massiger Hypertrophie 


stark Herabgesetzt, 
Schmerz nnd BerGhrung 
herabgesetzt 


Linke Hand im Falle 2 ! Kalte aufgehoben, warm I Starke Zyanose und starke 

stark herabgesetzt, Hypertrophie 

Sch merz aufgehoben, 6e- 
rfihrung herabgesetzt 

Linke Hand im Falle 3 Alle Qualitaten aufge- Sehr starke Zyanose und 

und rechte im Falle 4 hoben, nur ist die Be- hochgradigeHypertrophie 

ruhrungsempfindung im 
Falle 3 sehr stark ner- 
abgesetzt 


Wenn wir nun an der Hand dieser Tabelle die Sensibilitatssto- 
rongen mit der Zyanose einerseits und Volumenzunahme andererseits 
▼ergleichen, so scbeint die Hypertrophie und nicht die Zyanose fur 
die Sensibilitatsstdrungen massgebend zu sein. Den geringsten Grad 
der Sensibilitatsstdrungen zeigen die Fiisse im Falle 1, welche zwar 
stark zyanotisch sind, jedoch nie angeschwollen waren; einen hoheren 
Grad der Sensibilitatsstorung zeigt die rechte Hand im Falle 1 und 2, 
welche im Beginn des Leidens Torubergehend angeschwollen waren 
und jetzt bloss eine Zyanose aufweisen. Beweisend ist der Befund der 
linken Hand im Falle 1, hier ist die Zyanose am starksten entwickelt, 
die Sensibilitatsstdrungen und die Volumzunahme sind dagegen ver- 
haltnismassig gering; im Vergleiche mit dem Fall 1 ist in den Fallen 
3 und 4 die Zyanose weit geringer, dagegen sind die Hypertrophie und 
Sensibilitatsstdrungen bedeutend starker. Vergleicht man die Sym- 
ptome an den Fiissen des ersten Falles mit denen an der rechten 
Hand des Falles 1 und 2, so ist die Zyanose an den Fiissen starker 
als an den Handen der erwahnten Falle, die Sensibilitatsstdrungen je¬ 
doch wesentlich geringer. 

Es ergibt sich daraus, dass die Sensibilitatsstdrungen mit der 
grdsseren Volumenzunahme ausgepragter werden. Cassirer 


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Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophies. 257 

bat bereits die Vermutung ausgesprochen, dass die Sensibilitatsstorungen 
nicbt von der Zyanose abhangen, da er in einem Falle obne Zyanose 
Sensibilitatsstorungen feststellen konnte. Unsere Beobacbtungen bestati- 
gen die Annahme Cassierers und weisen darauf hin, dass yielleicht 
dieselben Faktoren flir die Hypertrophic der Weichteile wie auch fur 
die Storung der Sensibilitat ausscblaggebend sind. Es muss jedocb 
andererseits bemerkt werden, dass die Ausbreitung der Sensibilitats- 
storungen sich auffallend mit der Zyanose decfet, besonders gilt das 
fur die yollkommenen Aufhebungen der Sensibilitatsstorungen. Die 
Entscheidung dieser Frage bedarf nocb weiterer Beobacbtungen. 

Einer Erorterung bedarf aucb die Einschrankung der Beweglich- 
keit in unseren Fallen. Wenn wir die Krankengescbichten der zur 
chronischen Aspbyxie gehorigen Falle studieren, so scheint eine gewisse 
Jeichte Beeintrachtigung der Beweglichkeit nicht selten zu sein. So 
klagte der 42jahrige Kranke Cassirers, dass seine Hande unge- 
schickt werden, die I9jahrige Kranke, dass sie feine Bewegungen mit 
den Handen nicht au'sfuhren konnte; objektiy wurde eine Ungeschick- 
lichkeit der Finger festgestellt. Es handelte sich im letzten Fall um 
eine chronische Akroasphyxie obne Hypertrophie der Weichteile; die 
Haut war bloss etwas gedunsen und es bestand die oben erwahnte Art 
handschuh- bzw. strumpfartiger Ausbreitung der Sensibilitatsstorungen. 
Eine andere Patientin Cassirers (W.) gab an, dass die Hande 
wahrend der Zunabme der Zyanose auffallig schwacher und unge- 
scbickter wurden, so dass sie ihren Beruf als Klayierspielerin aufgeben 
musste; die Hande wichen ulnarwarts ab, der dritte und yierte Finger 
waren an beiden Handen im ersten Interpbalangengelenk etwas flek- 
tiert und in dieser Stellung fixiert. Die Motilitat war insofem gestort, 
„als die Beweguugen der Finger und Hande im allgemeinen etwas 
matt und kraftlos“ waren. Keine Lahmungen, die elektrische Erreg- 
barkeit normal, aucb die Interossei wirkten prompt, obwobl der erste 
Interossealraum beiderseits deutlich eingesunken war. Erwahnen 
mochte ich ebenfalls einen anderen Fall Cassirers (Fall 0.), in 
welcbem alle Finger im ersten Interphalangealgelenke flektiert und 
im ganzen etwas ulnar abduziert waren; die Stellungsanomalie liess 
sich ausgleichen, kehrte aber immer wieder zuriick. Es handelte sich 
in diesem Falle um eine chronische Akroasphyxie mit Volumzunahme 
der Weichteile bei einer Hysterica, uber den Charakter der Stellungs¬ 
anomalie der Finger finden wir keine Erklarung, ebenso aussert sich 
Cassirer nicbt uber die Ursacbe der Bewegungsstorungen in den 
oben erwahnten Fallen. 

Mit Ausnahme des yierten unserer Falle, in welchem die totale 
Lahmung einen bysterischen Charakter tragt, ist im Falle 1 und 3 


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258 Rothfeld, Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chron. hypertrophica. 

die Einschrankung der Beweglichkeit der Hand und der Finger keine 
hochgradige und zum Teil durch die Schimerzen erklarlich, welche bei 
den Bewegungen auftreten. Sicher ist es jedoch nicht die wesentliche 
Ursacbe der Motilitatseinschrankung. Die Eontraktur beim zweiten 
Fall ist bei der Besprecbung dieses Falles bervorgehoben worden. In 
alien Fallen — vom vierten abgesehen — ist die Storung erst nach 
langerem Bestehen der Asphyxie aufgetreten; im ersten fast nach 
einem Jabre, im zweiten nach zirka zwei Jabren, im dritten nach 
mebreren Monaten entwickelt. Die Storung entwickelte sich in alien 
Fallen langsam, allmahlich. Ob ein gewisser Grad von Motilitats- 
storungen zum Bilde der Acroasphyxia chronica hypertrophica gehort, 
muss 'vorlaufig dahingestellt werden. Die relative Hauhgkeit dieser 
Storung bei den bisher publizierten Fallen macht diese Annahme sehr 
naheliegend. Die Aufklarung dieser Frage muss weiteren Beobach- 
tuugen uberlassen werden. — 


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Der Menigresche Symptomenkomplex als SpEtfolge des 

Kopftraumas. 

Von 

Dr. Rudolf Goldmann, 

Oto-Laryngologe in Iglau, derzeit k. k. Oberarzt im Felde, bosn.-herz. Iof.-Reg. 

Nr. 2 — Feld post 369. 

Das Tbema der Schwindelanfalle nach Kopftraumen hat schon 
B&rfiny in seiner grnndlegenden Arbeit „Die Physiologie und Patho- 
logie des Bogengangapparates" S. 43 bearbeitet: „Von besonderer 
praktischer Wichtigkeit sind die Schwindelanfalle der Unfallskranken. 
Fast jeder Patient, welcher ein Schadeltrauma erlitten hat, klagt iiber 
Schwindel. Erheben wir die genaae Anamnese, so konnen wir sehr 
haufig schon dadnrch diese Falle in zwei Gruppen teilen. Die einen 
geben an, dass sie nnmittelbar nach dem Erwachen aus der Bewusst- 
losigkeit Schwindel hatten, der durch mehrere Tage anhielt, und bei 
jeder Kopfbewegung sich steigerte. Eine solche Anamnese ist charak- 
terisbisch fiir dieLabyrinthzerstdrungen,und bei der Untersuchung werden 
wir liier Taubheit und Unerregbarkeit des Vestibularapparates finden. 

Bei der zweiten Gruppe von Fallen horen wir sehr haufig die 
Angabe, dass die Patienten, solange sie im Bette lagen, keinen 
Schwindel hatten, dagegen bei Aufstehen aus dem Bette Schwindel 
Yerspiirten und dass dieser seither nicht aufgehort habe, sondem bei 
raschen Bewegungen, beim Aufstehen, beim Biicken und auch spon- 
tan in Anfallen ohne aussere Ursache auftrete. In diesen 
Fallen finden wir beim Ausspritzen und Drehen normale Erregbar- 
keit des Vestibularapparates. Ohrensausen ist sehr haufig, auch beider- 
seitige Schwerhorigkeit. Es gibt aber Falle, welche lediglich fiber 
Schwindel ohne gleichzeitige Erscheinungen yon seiten des Cochlear- 
apparates klagen. 

Auf die nahere Begrfindung des Zustandekommens der Schwindel¬ 
anfalle, als deren ausgesprochenster Typus der Menieresche %m- 
ptomenkomplex betrachtet werden kann, ist weder B&rdny noch auch 
die folgenden Autoren [Rhese 1 ) u. a.] eingegangen. 

1) Rhese, Uber die Beteiligung des inDeren Ohres bei Kopferschutterung. 
Z. f. 0. 1906. 


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Goi.duann 


Deshalb find© ich es nicht iiberflussig, zur Klarung der Frage 
nach dem tieferen Grande und der auslosenden Ureache des Meniere- 
schen Anfalles bei Kopfkraumatikern an der Hand der folgenden Falle 
einiges beizubringen. 

Fall 1. 

ZugsfQhrer J. E. erkrankt am 21. November 1916 pldtzlich ohne 
ausseren Grund untcr beftigem and wiederholtem Erbrechen, Schwindel, 
Kopfschmerz, Ohrensausen nnd allgemeiner Hinfalligkeit. 

Ungefahr acht Tage vorher kam er zur Marodenvisite mit den Er- 
scheinungen eines geringgradigen Ekzems des Gesicbtes, das vorwiegend 
die rechte Seite befallen batte. Damals bemerkte icb eine Hemihydrosis 
capitis der rechten Seite, die mich veranlasste sofort eine genane Unter- 
suchung des Nervensystems vorzunehmen. 

Anamnestisch konnte icb folgendes erheben: 

Vor 5 Jahren Sturz vom Pferde aufs Hinterhaupt, gefolgt von einer 
halbstGndigen Bewasstlosigkeit, Ohrensausen and Schwindel, die aber nach 
wenigen Tagen verschwanden. Sonst war der Patient niemals krank ge- 
wesen. 

Befund am 15. November 1916: 

Akates Ekzem vor allem der rechten Gesichtsh&lfte, besonders im 
Wangen- and Stirnteil. Dasselbe ist jedoch nicht nftssend and zeigt den 
Oharakter des Gletscherbrandes. Trotz der Kftlte ist die ganze rechte Ge¬ 
sichtshalfte von Schweissperlen bedeckt. 

Geruch normal. 

Angedenteter Nystagmus rotatorius bei Blick nach rechts. Die Qbrigen 
Augenbewegungen frei. 

Pupillen gleich weit and gut reagierend. 

Die Sensibilitat des Gesichtes, des ausseren Auges, GehOrganges and 
der MundhOhle ist rechts herabgesetzt. 

Das GehOrorgan ist bis auf eine geringf&gige Herabsetzong der 
Knochenleitung der rechten Seite normal. 

Die Qbrigen Gehirnnerven normal 

Beim Ausstrecken der Arme weicht der rechte untere Tremor nach 
rechts ab. 

Romberg normal. 

Am 22. November ergab sich nun folgender Befund: 

Der Patient, der auf der Feldtrage gebracht wird, macht den Eindruck 
eines Schwerkranken. Bei dem Versuche, ihn aufzusetzen, erfolgt sofortiges 
Erbrechen und kraftloses ZurQcksinken auf die Unterlage. Die Tempe- 
ratur, im Munde gemessen, betragt 87,8° (11 Uhr vormittags), Puls 
100 SchlQge in der Minute. 

Das halbseitige Schwitzen, das in den letzten Tagen verschwanden 
war, ist wieder deutlich vorhanden. 

Der Geruch ist rechterseits erloschen. Es besteht eine leichte Rhi¬ 
nitis. 


1) Rhese, Die traumatische Lasion der Vestibularisbahn. Z. f. O. 1914, 
Bd. 73. 


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Der Meniferesche Symptomenkomplex als Spatfolge des Kopftrauwas. 261 

Die Papillen reagieren trftge anf Lichteinfall and Konvergenz, die 
rechte erscheint ein wenig grosser als die linke. 

Bei Blick nach rechts besteht ziemlich heftiger rotatorischer 
Nystagmus vestibul&ren Cbarakters. 

Die Augenbewegungen sind sonst normal. 

Die Sensibilitfit des Gesichtes insbesondere der Cornea and Con¬ 
junctiva, der NasenhOhle, des ftusseren GebOrganges and des Racbens ist 
ebenso wie die der *ganzen recbten KOrperhftlfte fflr Berftbrung und Stich 
hochgradig herabgesetzt, an den meisten Stellen erloschen. 

Facialis ohne Besonderheit. 

Das Gehdr ist in Luft- and Enocbenleitang hochgradig lierab- 
gesetzt, der Ton der aufgesetzten Stimmgabel wird nach links verlegt. 

Gescbmack nicht geprflft. 

Die Zunge weicht etwas nach links ab. 

Der Fusssohlenreflex links fehlend, rechts vorhanden. 

Patellarreflex beiderseits lebhaft, rechts bis zam Clonas gesteigert. 

Fassclonas links angedeutet. 

Beim Ausstrecken der Arme Tremor des rechten, Herabsinken beider 
outer gleichzeitigem Abweichen nach rechts. 

Romberg nicht sicher zu prttfen. Spontanes Erheben der Beine un- 
raOglich, passiv erhoben, sinken sie sofort schlaff herab. 

Epikrise: Bei einem sonst gesunden Manne, der vor einigen 
Jahren ohne Hinterlassung yon sabjektiven and nur von geringfugigen 
Zeichen einer Lasion der Zentren in der Medulla oblongata, vorwiegend 
der rechten Seite, Bescbwerden durch ein Kopftrauma erlitten hat, stellt 
sich bei einem Schnnpfen halbseitiges Schwitzen und gleichzeitig mit 
dem Auftreten einer subfebrilen Temperatursteigerung ein tvpischer 
Menierescher Anfall ein. Derselbe zeigt im wesentlichen eine Ver- 
starkung der bereits vorher bestandeden nervosen Erscheinungen. 
Ober die Dauer derselben fehlen mir die Daten. 

lnteressant ist das Auftreten der Hemihydrosis gleichsam als Vor- 
bote der sehwerer Erkrankung oder ihr Aquivalent. Ihre Ursache 
kann wegen des Fehlens anderer Sympathikussymptome nur eine zen- 
trale, im Schweisszentrum gelegene sein. 

Fall 2. 

Leutnant St., 27 Jahre alt, erkrankt (pldtzlicb) beim Ausmarsch seiner 
Abteilung nach karzem Lauf um 7 Uhr morgens am 23. April 1916: PlOtz- 
liches Unwohlsein mit Schwindel, Ohrensausen und Kopfschmerz und Fall- 
neigung, so dass er den n&chsten Baum als Sttttze suchen muss, und Er- 
brechen. Am nftchsten Morgen bemerkte er Blutanterlaufensein der Binde- 
haut des recbten Auges. 

Am 25. April wiederholte sich der Anfall mit nachfolgender Suffusion 
des linken Auges. Der Anfall dauert wie der erste bis zum Abend. 

Die Untersuchung nach dem Anfall ergibt jedesmal die folgenden 
Erscheinungen: Suffusion der Bindehaut anterhalb der Cornea (23. April 
rechterseits, 25. April linkerseits). 


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262 


Goldmanx 


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Druck- and Elopfempfindlichkeit des Hinterhaaptes, besonders links. 

Nystagmus rotatorius in seitlicher Blickendstellang beiderseits, jedes- 
roal starker nach der Seite der Blutunterlaufang, am 25. April anch bei 
Blick nach oben. 

Hocbgradige VerkOrzung der Knochenleitang, besonders linkerseits, bei 
nur gering gestOrtem GebOr in Laftleitang. 

Der Gerach ist linkerseits deutlich herabgesetzt. 

Sehscharfe links ca. 2 3 . Augenbintergrund ohne' Besonderheit. 

Die Empfindlichkeit der Hornhaut links bochgradig herabgesetzt, 
ebenso die dcr NasenhOhle and des ausscren GebOrganges, 

Angenbewegungen bis auf den Nystagmus normal. 

Leichte Parese des Mundfcaialis links. 

Geschmack nicht geprttft. 

Bei Angenscbluss im Sitzen fallt Patient nach rechts, beira Steben 
nach binten. Tremor der ausgestreckten Arme, Vorbeizeigen im linken 
Arm in alien Gelenken nach aossen and oben, im rechten nar im Scbalter- 
gelenk nach innen. 

Das Lagegefflhl ist in der linken oberen Extremitat wesentlich gestOrt. 
(Subjektiv Schmerzen vom Ellbogen bis in die HandknOchel.) Im geringen 
Grade auch im Bein, besonders im Knie dieser Seite. 

Patellarreflex beiderseits gesteigert, Fussclonus rechterseits. 

Oberflachliche Reflexe beiderseits erhalten. 

In der Nacht vom 6. auf 7. April neuerlicher Anfall mit starkem 
Erbrechen, in der Nacht vom 7. auf 8. ein vierter ohne Erbrechen. Die 
ursprQnglich in den Hinterkopf and Nacken verlegten Schmerzen werden 
mehr nach vom projiziert. 

Befund am 8. April bietet folgende neue Erscheinungen: 

Tremor bei Ausstrecken der Arme nur rechterseits. 

Der recbte Arm zeigt bochgradig gesteigerte Muskelerregbarkeit. 

Die Sensibilitat des linken Beins wesentlich herabgesetzt. Plantarrcflex 
nicht ausldsbar. Der Kitzelreflex des GehOrgangs ist links erloschen. 

Nystagmus rotatorius nur bei Blick nach links und oben. 

Am 10. April unstillbarer Kopfschmerz in der vorderen Scheitel- 
gegend, der durch 14 Stunden anhalt. Hierbei kein Nystagmus und kein 
Romberg. Erbrechen auch bei subkutaner Morphiuminjektion. Puls 60. 

Nach Abklingen des Anfalls wieder Nystagmus in Blickendstellung 
beiderseits. Pals 72. 

Zum Ycrstandnis des Falles diene folgende Yorgeschichte: 

, Im Marz des Jabres 1915 erlitt der Patient infolge Granatexplosion 
einen Sturz aufs Hinterhaupt mit kurzer Bewusstlosigkeit In der Folge 
wurde er wegen seiner Beschwerden: Kopfschmerz, Ohrensausen, Schwindel, 
Zittern in den Handen, leichte Erregbarkeit, Vergcsslichkeit, Mangel der 
Konzentration, unruhiger, traumerfQllter Schlaf als „nervds“ behandelt. 

Die erste Untersucbung durch mich am 1. Marz 1916 ergibt: 

Allgemeines Aussehen. ohne Besonderheit. Intelligenz and Arbeits- 
kraft im Berufe bis auf leichte Erregbarkeit gut. 

Tremor der ausgestreckten Hande, leicht gestortes LagegefQhl der 
oberen, beides auch in den anteren ExtremitQten. 

Kein deutliches Vorbeizeigen. 


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Der Menieresche Syraptomenkomplex als Spatfolge des Kopftraunias. 263 

Sensibilitat des Gesichtes links leicht herabgesetzt. Knochenleitung 
beiderseits verkQrzt. GehOr fast normal. 

Epikrise: Bei diesem Kranken, der nacb einem Kopftrauma deut- 
liche, wenn auch geringe Spuren am Nervensystem darbiefcet, stellen sich 
mehrere in karzen Zwischenraumen aufeinanderfolgende, langdauernde 
und schwere Scbwindelanfalle ein, die im wesentlichen den Meniere - 
schen Typus einhalten. Daran andert aucb nicbts eine gewisse Ver- 
scbiedenheit der subjektiven und objektiven Begleiterscbeinungen der 
einzelnen Anfalle. Gemeinsam bleibt ihnen subjektiv der Kopfschmerz, 
das Obrensausen, besonders linkerseits,. der Scbwindel und mit einer 
einzigen Ausnabme das Erbrechen; objektiv die Funktionsstorung des 
Olfactories, Trigeminus und Facialis der linken, der Nystagmus, be¬ 
sonders zur linken, Fallneigung zur recbten Seite und das Vorbei- 
zeigen des linken Armes nach aussen und oben, die Herabsetzung der 
Sensibilitat (der oberflachlichen und tiefen, ebenfalls der linken Seite). 

Fall 3. 

ZugfQhrer P. J., 28 Jabre alt, erkrankt plOtzlich nach einem be- 
quemen einst&ndigen Gange mit Schwindel, zweimaligem Erbrechen nnd 
Obrensausen linkerseits, durch zwei Stunden anhaltend. Bei der am 
14. November 1916, das ist am Tage nach der Erkranknng, vorgenommenen 
Untersuchung ergab sich: 

Temperatur: 37,8°, Puls 100 Schlage in der Minute. 

Es besteht ein leichter Schnupfen. 

Da mir diese Erscheinungeu znm Yerstindnis der Erkranknng nicht 
genGgten, erganzte ich die Untersuchung durch einen genauen Nerven- 
status 1 ), wozu ich folgende Anamnese erhob: 

Patient, seinem Friedensberuf nach Maurer, war im Mai 1913 von 
einem drci Meter hoheu GerQst herabgest&rzt und hierbei noch von einem 
Ziegelstein auf den Scheitel getroffeu worden. Darnach war er kurze Zeit 
bewusstlos; seitdem litt er Ofters an Zittern in den Armen. 

Geruch rechts ziemlich gut, links nur fttr Starke Heize empfindlich. 

Sehscharfe: rechts 5 / 6 , links 4 / 5 . 

Pupillen auffallend weit, auf Lichteinfall gut, auf Akkommodation trftge 
reagierend. . 

Nystagmus rotatorius in Blickendstellung rechts von einigen Schlagen. 

Augenbewegungen sonst frei. 

Die Sensibilitat beiderseits, besonders rechterseits abgeschwhcht. 

Die Conjunctivalreflexe beiderseits aufgehoben, der Cornealreflex hoch- 
gradig abgeschwacht. 

Facialis: Stirn- und Mundteil links deutlich paretisch. 


1) Dass der beschriebene Nervenzustand bereits frflher bestanden hat, da- 
fiir gpricht nicht nur die Anamnese, sondern auch der von mir mit Bucksicht 
auf das Zittern des Mannes, das sich besonders bei intendierten Bewegungen 
bemerkbar machte, bereits am 5. September erhobene Befand, der sich mit dem 
erwahnten vollstandig deckt. 

Deulscho Zeitschritl t. Ncrvcnheilkunde. Bd. 67. 18 


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Goldmann 


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Bei normalem otoskopischen Befund und fast normaiem Gehfir ist die 
Knochenlcitung links bedeutend herabgesetzt. 

Geschmack: beiderseits vorhanden. 

Vagus, Accessorius ohne Besonderheit. — Die gerade vorgestreckte 
Zunge zeigt im ganzen lebhaftes Flimmern. 

Ausstrecken der Arme: Abweichen beiderseits nach aussen unter leb* 
haftem Tremor besonders linkerseits, wobei der Arm gleicbzeitig nacli 
unten sinkt. 

Zeigeversuch: Vorbeizeigen in beiden Armen, starker linkerseits im 
Schulter-, EUbogcn- und Handgelenk in Pro* und Supination nach aussen. 

Bei seitlicher Bewegung wird linkerseits in alien Gelenkeu nach unten 
vorbeigezeigt. 

Beim Ausstrecken der Beine im Sitzen sinkt das linke alsbald herab. 

Romberg: deutliche Fallneigung nach links und vorn. 

Die Sensibilitftt ftlr Berflhrung und Schmerzempfindung ist linkerseits 
vollstSndig aufgehoben, rechts bedeutend herabgesetzt. Das bezieht sich 
auch auf die Schleimhfiutc der Nasen-, Mund- und RachenhOhle. Dem- 
cntsprechend sind die samtlieheu oberflachlichen Reflexe linkerseits voll- 
stSndig, rechterseits nahezu aufgehoben. Der Patellarreflex ist beiderseits, 
besonders links herabgesetzt. 

Diesen Befund konnte ich nach zwei Wochen vollauf bestatigen. 

Epikrise: In diesem Falle, der nach einem Kopftrauma die.deut- 
lichen Zeichen einer Gehirnlasion mit vorziiglicher Beteiligung der 
Sensibilitat und der Koordination der Bewegungen der oberen und 
unteren Extremitat und hinlanglich ausgesprochener Funktionsstbrung 
des Olfactorius, Opticus, Oculomotorius, Trigeminus, Facialis und 
Hypoglossus darbietet, bewirkt eiu leichtes Unwohlsein mit kaum 
merklicher, eintagiger Temperatursteigerung den Anlass zu einem von 
mir allerdings nicht beobachteten, immerhin nach der zuverlassigen 
Schiiderung des intelligenteD Krankeu typischen Schwindelanfall vom 
Meniereschen Typus. 

Fall 4 . 

Infanterist F. Vr., erkrankt plOtzlich mit heftigem Erbrechen, das sich 
in den folgenden drei Tagen bei energischem Lagewechsel, besonders Auf- 
richten im Bette, sofort erneuert, mit Schwindel und Sausen im linken Ohre. 

Die zu Beginn der Erkrankung am 1. Mai 1915 vorgenommene Unter- 
suchung ergab einen leichten Magenkatarrh. 

Bereits im Jahre 1914 war der Kranke von mir wegen Schwerhdrig- 
keit untersucht worden. Dieselbe fQbrte er auf einen Sturz von einem 
Wagen zurtiek, den or vor ungefahr drei Jahren erlitten hatte. Seitdem 
leide er ouch an geringem Schwindel und Kopfschmerz. 

Die damalige Untersuchung hatte die Zeichen einer Ltision des inneren 
Ohres, besonders der linken Seite ergeben, ausserdem bestand Vorbeizeigen 
in beiden Armen und Fallneigung nach links. 

Der Obrige Nervenzustand wurde damals nicht untersucht. 

Bei der neuen Erkrankung ergab sich nun folgender Befund: 


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Der Meniisresche SymptomeDkomplex als Spatfolge dee Kopftrauuias. 263 

Lebhafter Nystagmus rotatorius bei Blick nach rechts, der sofort 
heftigen Schwindel und Brechneigung hervorruft. 

Beim Aufsitzen fallt der Kranke, sobald er die Augeu schliesst, sofort 
nach links. 

Die ausgestreckten Arme weichen unter heftigem Tremor nach links ab. 

Die Sensibilitat des Gesichtes und der Schleimhaute des Eopfes ist 
links bis zur Reflexlosigkcit aufgehoben, ebenso auch die Sensibilitftt der 
tibrigen Haut. 

Der Patellarreflex ist links deutlich gesteigert. 

Die tibrigen Gehirnnerven zeigen keine Besonderheiten. 

Epikrise: Bei einem kraftigen Manne erzeugt eine unansehn- 
liche Magenverstimmung einen Schwindelanfall von mehrtagiger Dauer 
mit vorziigliehen Erscheinungen einer linksseitigen Labmung des linken 
Vestibularis, welehe bereits friiher als Folgezustand eines Kopftrauruas 
in geringerem Grade bestanden haben. 

Den angefiihrten Fallen, denen ich eine Anzahl mebr oder weniger 
gut ausgesprochener hinzufiigen kann, ist gemeinsam, dass die plotz- 
licbe Erkrankung unter dem Bilde des Meniereschen Symptomen- 
komplexes mit einmaligem oder wiederholtem Auftreten des typischen 
Anfalles sich an verhaltnismassig geringfiigige Anlasse, wie sub- 
febrile Temperatursteigerung infolge Schnupfens, leicbter Magenkatarrh 
oder wie im zweiten Falle ein rascheres Gehen, anschliesst. Ander- 
seits bieten samtliche Falle die objektiven Zeichen einer Ge- 
hirnlasion, welcbe mit Bestimmtheit oder allergrosster Wahrschein- 
lichkeit auf ein Kopftrauma zuriickgefuhrt werden kann. 

Die augenscheinlicbe Disposition der Unfallkranken mit 
ausgesprocbenen Erscheinungen einer Gehirnlasion ist 
offenbar in einem labilen Zustande der Nervenzentren, be- 
dingt durch den Ausfall von Hemmnngen und das gestorte 
Gleichgewicht symmetrischer Zentren, gelegen. 

Es geniigen scbon geringgradige Reize, sei es toxiscber (Fall 1 
und 3), vasomotorischer, vielleicht (wie in Fall 4) aucb reflektoriscber 
Natur, um das miibsam erbaitene (Fall 4) Gleichgewicht der Nerven¬ 
zentren zu zerstbren. Mit dem Uerschwinden der Ursache stellt es 
sich wieder her, bis sich wieder eine neue oder die gleiche Ursache 
einfindet. 

Zur Erklarung des zweiten Falles diirfte mit Riicksicht auf die 
subkonjunktivale Suffusion, wenn wir dieselbe nicht auf die den Brech- 
akt begleitende Blutdrucksteigerung beziehen wollen und mit Riick- 
sicht auf den Wechsel der Erscheinungen und besonders auf das 
Fortschreiten des Kopfschmerzes vom Nacken gegen den Scheitel eine 
rezidivierende, intrakranielle Blutung, am wahrscheinlichsten 

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Goldman x, Der Meni&resche Symptomenkomplex usw. 


zwischen den Meningen der hinteren Schadelgrube anzunebmen seien. 
Der Ort der Blatung ware durch die urspriingliche Lasion infolge 
des Kopftraumas gegeben, die aucb nach erfolgter Heilung wahr- 
scheinlich in Form eines Aneurysmas dem Blutdruck gegenuber einen 
locus minoris resistentiae darbietet. 

Wenn wir das gewonnene Ergebnis auch auf die anderen Ur- 
sacben anwenden, die einen abnlicben Nervenzustand herbei- 
zufuhren vermogen wie das Kopftrauma, wie die Lues cerebri, 
besonders die hereditare, die Meningitis cerebrospinalis und alle 
anderen lnfektionskrankbeiten, sobaid sie sich .auf die Meningen bzw. 
die Cerebrospinalfliissigkeit und dadurch auf das zentrale Hoblengrau 
besonders des vierten und dritten Ventrikels erstrecken, dann bleibt 
fur die urspriinglicb angenommene bamorrbagiscbe Atiologie des 
Menierescben Symptomenkomplexes nur ein bescheidenes Platzchen 
iibrig. 

Mag diese Erkenntnis fur die Bebandlung nur in seltenen Fallen 
nutzbringend sein — bandelt es sich ja docb zumeist um Zustande 
nach abgelaufenen Prozes3en —, so gibt sie im gegebenen Falle die 
Beruhigung, dass . die alarmierenden Symptome nur einen 
Yoriibergehenden Reizzustand bedeuten, und befreit den Arzt 
von den Sorgen einer intrakraniellen Blutung (ausgenommen das 
seltene Vorkoramnis in Fall 2). 

Prophylaktisch ergibt sich uns die Notwendigkeit, denPatienten 
Yon allem abzuhalten, was den labilen Gleichgewichtszustand des 
Nerrensystems zu storen imstande ist, wie iibermassige korperlicbe 
und geistige Anstrengung, die Blutuberfiillung des Kopfes, sei es 
durch den Genuss von Alkohol oder durch Erwarmung (Insolation!), 
u. a. die Zirkulation und damit die Ernahrung des Gehirns Yoruber- 
gehend oder dauernd schadigenden Einfliisse, welche die Labilitat noch 
steigern, so dass schon ein geringer Anlass geniigt, um das Gleich- 
gewicht aufzuheben. 

Ob es mbglich ist, auf diesen labilen Gleichgewichtszustand, den 
eigentiichen Grund der Erkrankung, durch Starkung der gesunden 
Nerrenzentren und -bahnen einzuftirken, ist bei bescheidenen An- 
sprvichen von Fall zu Fall wohl eines Versuches wert. 


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(Aus der psychiatrisch-neurologischen Klirtik in Groningen, Holland.) 

liber einen Fall yon Heredodegeneratio, Typns Strllmpell, 

bei Zwillingen. 

Von 

Dr. F. H. Kooy. 

Im Nachsommer 1916 kam in die Groninger Klinik fur Nerven- 
krankheiten eine Matter mit ihren 20jakrigen Zwillingstochtern 
J. und H. D., welche die folgende genaue Anamnese abstattete: 

Anamnese. Die Zwillinge stammen aus der Ehe mit ihrem ersten, 
an Tuberkulose leidenden Mann. Familienverwandtschaft kommt weder 
bei den Eltern noch bei den Grosseltern vor; in der Aszendenz findet sich, 
sowohl von mlitterlicher wie von vaterlicher Seite, keine einzelne Nerven- 
krankheit, namentlich keine GehstOrung. Alkohoiismus wird ebenfalls ver- 
neint; for Annahme von Syphilis ist kein Anhaltspunkt vorhanden. 

Aus der ersten Ehe sind ausser denPatientinnen noch 8 gesunde Kinder ge- 
boren, von denen 1 an Bluterbrechen, im Alter von 14 Monaten, gestorben istf. 

Aus der zweiten Ehe stammen drei vollkommen gesunde Kinder, wah- 
rend, durch einen Abortus im sechsten Monat, noch Zwillinge geboren 
wurden, die gleich gestorben sind. Die beiden Patientinnen kamen sechs 
Wochen zu frOli zur Welt; erst wurdc J. mittels forcipaler Extraktion 
geboren, sie schrie sogleich tOchtig; dann H. ohne Zange, sie war aber 
wahrend der ersten Minuten etwas zyanotisch. 

Die beiden Kinder entwickelten sich alsdann kdrperlich vollkommen 
normal, waren aber geistig ihrem Alter immer etwas zurflck. 

Ausser den gewOhnlichen Kinderkrankheiten, Masern und Keuchhusten, 
waren sie niemals krank, namentlich hatten sie niemals irgend einige 
Krampfe. In der Schule lernten sie etwas lesen and scbreiben, konnten 
aber nur sehr mangelhaft rechnen. 

Bis an der Pubertat beteiligten sich die Kinder an alien jugendlichen 
Spielen ohne jede MQhe, kOrperlich unterschieden sie sich in keiner Hin- 
sicht von ihren Zeitgenossen. 

Ungefahr von der Zeit der ersten Menstruation datiert bei beiden der 
Anfang ihrer GehstOrung (+14—15 J.), die, wieder bei beiden im unge- 
ffthr gleichen MaBe, progredient war. Sie fingen an immer steifer zu geben, 
die Fttsse streiften dabei den Boden, die Beine berdhrten sich mit den 
Knien. Um das eine Bein vor das andere stellen zu kOnnen, machten sie 
eine wackelnde Bewegung mit den HQften, was ihnen den Spottnamen 
„BeinchenhOpf“ zuzog. Die jdngste der zwei klagte dann und wann aber eine 
geringe Meigung zu Inkontinenz; ttbrigens hatten sie gar keine Beschwerden. 


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Kooy 


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Status praescns. Die beiden M&dcben sind cinander vollkommen 
Ahnlich; die GraviditAt der H. hat ihr Autlitz etwas geAndert and so die 
Ahnlichkeit mit der Schwester verringert; vorher waren sie nur an ver- 
schiedenfarbigen HaarbAndern zu erkennen. 

Auch der weitere KOrperbau ist fast genau derselbe und zeigt bei 
beiden die gleichen Degenerationszeicben: das verwachsene ObrlAppchen, 
den za boben Gaumen, die kurzen plumpen ExtremitAten, eine Andeutung 
von SchwimmbAuten. 

Die MAdchen zeigen einen sebr guten ErnAhrungsznstand, sind eigent- 
lich etwas zu fett, die SchlcimhAute sind normal blutreich. 

Bei beiden sind in den Lungen, am Herz und an den Bauchorgapen 
keine Abweichungen festzustellen; Ham und Blut warden mehrmals uuter- 
sticht und imroer normal befunden. 

Es mdge jetzt in kurzem der neurologiscke Status der beiden Patien- 
tinnen absonderlich folgen: 

Neurologischer Status der J. D. Kopf. An den Aagen keine 
Abweichungen (Pupillen rund, gleich gross, reagieren normal; kein Nysta¬ 
gmus, keine AugenmuskellAhmungen; kein Strabismus; Visus an beiden 
Augen %; Fundus, vom Augenarzt kontrolliert, normal), Gescbmack, Ge- 
ruch, Gehdr normal. Ubrige Ilirnnerven normal. Sprache normal. 

Arme. An den Armen ist die MotilitAt vOllig intakt, die Kraft ist 
rechts und links gleich gross. Keine Atiophien. 

Die Reflexe sind etwas boch, links viclleicht etwas bdher als rechts; 
/■ auch der Tonus scheint links ein wenig erhdht. 

Links eine leicbte Ataxie; bei der Finger-Nasen-Probe Intentionstremor. 
^ Die SensibilitAt ist, wie im Antlitz, vdllig uugestdrt. 

Rumpf. Die Bauchdecken sind ein wenig gespannt, die Bauchreflexe 
sind beiderseits deutlich anwesend. MotilitAt und SensibilitAt vdllig intakt. 
Die WirbelsAule ist vollkommen frei. 

Beine. Bie Beine sind spastiscb, namentlich sind die Adduktoren, 
v der Quadriceps und die Wadenmuskeln liypertonisch. 

Keine Paralyse; die Kraft ist R = L und ziemlicb gross. Nur die 
Hebung des lateraleu Fussrandes gescbiebt weniger krAftig, ohne LAbmung 
jedocb der Mm. peronaei und ohne elektrische VerAnderungen (die elek- 
trische Untersuchuug ergibt Qberhaupt keine Stdrung). 

Keine statische Oder lokomotorische Ataxie. 

..— Keine einzige SensibilitAtsstorung (wie an den Armen wurde Tast-, 
Scbmerz- und Temperatursinn und die tiefe SensibilitAt untersacht). 

Die Reflexe sind sebr boch, rechts und links ist Patellar-und Fuss- 
clonus vorhanden. 

Bab inski und StrQmpells PhAnomene beiderseits sehr deutlich po- 
. sitiv, Oppenbeim angedeutet. 

Ileim Stehen keine zerebellAre Ataxie, Romberg negativ. 

Der Gang ist sebr spastisch mit Neigung der Ffisse zu equinovarem 
Stand. Beim Gehen berQbren sicb die Knie, die Patientiu schaukelt mit 
den Httften, am das eine Bein vor das audere stellen zu konnen, wie es 
die Mutter beschrieb. 

Neurologischer Status der H. D. Kopf. Augen. Pupillen rund. 
gleich gross, reagieren normal; deutlicher scbnellschlAgiger horizontaler 
Nystagmus beim Sehen nach rechts und links, an beiden Augen; keine 
AugenmuskellAhmungen, kein Strabismus, V. 0. D. 6 (;n , V. 0. S. 6 fl . Am 


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Uber einem Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell, bei Zwillingen. 269 


rechten Auge besteht ein myopischer Astigmatismus von ungefahr 4 D, von 
einigen weissen Flecken, den Besten alter Pldyktanen, verursacbt. Der 
sehlechte Visus hat also mit dera Nervensystem nichts zu tun; der 
Fundus ist n&mlich vdllig normal (vom Augenarzt konstatiert). 

Geschmack, Geruch, GekOr normal. Ubrige Hirnnerven normal. 
Sprache normal. 

Arme. An den Armen ist die Motilitftt vOllig intakt, die Kraft ist 
R — L. Keine Atrophien. Reflexe etwas boch, R = L. 

Tonus normal. 

Keine Ataxie, kein Intentionsbeben. 

Sensibilitat in alien Qualitaten ungestOrt. 

Rumpf. Tonus der Bauchdecken wegen derGraviditat nicbt zu prttfen. 

Reflexe vorhanden, R = L. 

Motilitat und Sensibilitat sind intakt. 

Die Wirbelsaule weist nichts Abnormales auf. 

Beine. Fdr die Beine genttgt es nach dem Status der Zwilling- 
' sehwester zu verweisen. Nur ist der Spasmus etwas geringer, sonst ist 
der Befund genau derselbe. 

Auch beim Stehen und Gehen zeigt die H. D. genau dasselbe Bild 
wie die erst besprochene Patientin; eine Beschreibung wQrde nur eine 
Wiederholung sein. 

Bei beiden Patientinnen wurde die Wassermannsche Reaktion aus- 
gefQhrt am Seram und an der Zerebrospinalflflssigkeit; sie war jedesmal 
uegativ. 

Psychischer Status. Die psychische Untersuchung ergab: 


J. D. 

0 rientierung: oline Fehler 

ReizwOrter: Gebrauchs- und Begriffsassoziationen,Reak- 

tionszeit etwas zu gross 

P^bbinghaus: sehr viele Fehler, langsam 

Konzentration: .T. etwas mehr Felder als H. in ungefahr 

(Anstreichen be- derselben Zeit (annahernd normal) 
stimmter Ziffern) 

Schulkenntnisse: minimal 


H. D. 
dasselbe 

dasselbe 

dasselbe 


dasselbe 

da«selbe 


Bi not-Si in on: 


6 J. 


+ 


+ 


8 J. -*■ + 

9 J. -J- + 

It) .1. - 1 - + 
5 “ 

12 J. + 
5 . 

15 J. 0 + 

Zusammengezahlt 3 2 8 . 

(nach Binet): ' 


-j- 


5 ' 

3j/ 2 
5 + 


3 

5 



D 


4 - 

i 

+ 

+ 


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Kooy 


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Es ist sebr anffallend, wie genau die Proben bei den beiden Mfidcben 
zusammentreffen. Wie die spinale Erkrankung ist aoch der Intellektsdefizit 
bei beiden genan derselbe. Man sieht hieraus mal wieder, dass mit der 
Binetschen Methode rccht gute Resultate, wenigstens fQr die jftngereu 
Altersstufen, zu bekommen sind; wegen der Fehler, die vor alien den Pro- 
ben der hOheren Altersstufen anhaften, wird das ursprQngliche grosse 
Verdienst Binets etwas zu viel ausser acht gelassen. 

Die psychiscbe Abweichung besteht bei den Madchen von der Geburt 
an und hat sich sp&ter, auch nacli der Pubertat, nicbt verscblimmert. Da- 
gegen ist der kQrperliche Prozess inimer, d. h. von seinem Anfang im fftnf- 
zehnten Jabre der Zwillinge an, progredient gewesen; wfihrend der Monate, 
in welcben wir die Patientinnen kennen, ist der Zustand jedoeb ungefabr 
stationdr. 

Diagnose. Und jetzt, wie muss die Diagnose lauten? 

Wir haben zu tun mit zwei, wahrscheinlich eineiigen Zwillingen, 
die geistig in gleichem MaBe immer etwas zuriickgeblieben sind, kor- 
perlich aber vollkommen normal waren bis an der Pubertat, als sich 
bei beiden die gleicbe, exquisit spastische, Gehstorung entwickelte. 

Der Status praesens ergibt bei beiden eine im Vordergrund 
stehende symmetrische Pyramidenbahnerkrankung, an den Beinen 
lokalisiert und bei der einen (J. D.) vielleicht auf die oberen Extremi- 
taten iibergebend. Weiter fanden wir bei der J. einen Intentions- 
tremor am spastischen Arme, bei der H. einen Nystagmus und viel¬ 
leicht eine geringe Inkontinenz. 

Ausser multipier Sklerose und gewissen Formen der Littleschen 
Krankheit ist jede sekundare Degeneration der Pyramidenbahn — 
sowohl durch Erkrankung der beinigen Umhiillung als auch des Zentral- 
nervensystems — von vornherein durch den oben beschriebenen Verlauf 
und Befund ausgeschlossen. 

Beim Horen von der Friihgeburt, der forcipaleu Extraktion der 
J., den spastischeu Beinen und der Imbezillitat, kommt der Gedanke 
an die Littlesche Krankheit gleich auf. Diese kann aber, streng 
genommen, nicht in Betracht kommen; man tut doch gut, dazu nur die 
angeborenen Affektionen zu rechnen. Die spater auf’tretenden Pyramiden- 
bahnerkrankungen sind ja eigentlich nur infantile Formen von der 
spastischen Spinalparalyse und ihre Trennung von den der Erwachse- 
nen kann nur eine kiinstliche sein. Aber auch dennoch bleibt der 
Littlesche Symptomenkomplex, wie er in der Literatur vorkommt, 
zu gross fiir eine selbstandige Krankheit. Wenigstens miissen die 
Herdprozesse (Trauma vor, bei Oder nach der Geburt; Entziindung) 
von der primaren Agenesie (Aplasie) gescbieden bleiben. 1 ) 

1) Wenn man wenigstens nicht mit Jendrassik (1897) das Bestehen 
dieser agenetischen nud aplastischen Formen abstreitet uml auch bei den glatt 
verlaufenden Friihgeburten ein Trauma (z. B. I'teruskontraktionen) annimmt. 


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Uber einen Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell, bei Zwillingen. 271 

Nun haben wir hier vod einem zerebralen Herd kein einziges 
Zeicben; die Krankheit ist eine symmetrische, Reizsymptome fehlen 
ganz, das Leiden bat ausserdem im spateren Leben angefangen und 
ist progredient. 

Auch eine bald nach der Geburt sich bemerkbar machende Py- 
ramidenbahnerkrankung, znfolge einer Entwicklungshemmung durcb 
die Frtihgeburt, ist bier ausgesehlossen. Die Kinder haben bis an der 
Pubertat keine Beschwerden gehabt und wenn die insuffizienz dieser 
Bahn spater an den Tag tritt, rechnet man die Krankheit, auch 
wenn die Anamnese Friihgeburt angibt, besser zur spastischen Spinal- 
para lyse. 

Somit bleibt in unserem Falle nur noch die Differentialdiagnose 
zwischen multipler Sklerose und familiarer spastischer Spinalparalyse 
iibrig. 

Die. familiare Form der Sclerosis multiplex ist mindestens sehr 
selten; auch klinisch wird sie selten beschrieben und ein unanfecht- 
barer anatomischer Befund feblt uns fast ganz. Marburg (1911) 
aussert sich dariiber in Lewandowskys Handbuch folgendermassen: 
„Trotz alledem maDgelt es bisher an absolut einwandfreien hereditaren 
Fallen multipler Sklerose". Hoffmann (1913) nennt den Fall von 
Collier die einzigste anatomische Bestatigung vom familiaren Auf- 
treten der multiplen Sklerose und Dobrochotow (1913), der vor der 
gleichen Differentialdiagnose steht, schliesst die multiple Sklerose aus, 
unter anderem weil das familiare Vorkommen noch niemals patholo- 
gisch-anatomisch festgestellt ware. Natiirlich ist a priori ein familiares 
Auftreten, namentlich wenn man die _primare Gliawucherung Strtim- 
pells annimmt, wozu ich nach Studierung der Xiteratur neige, nicht 
vefwerflich; aber ein so genau gleichartiges klinisches Bild ist bis 
jefzt, soweit ich sehe, nicht beschrieben und bei multiplen Herden 
auch nicht zu erwarten. Zweitens ist hier die Multilokalisation sehr 
geringfiigig, nur der Nystagmus bei der einen, das Intentionsbeben 
bei der andern Patientin weisen darauf hin. Die leichte Inkontinenz 
der H., von der die Pflegerinnen nichts bemerkt haben, muss bei dem 
wenig iutelligenten Madchen mit Vorsicht in Betracht genommen wer- 
den. Dieser Intellektsmangel selber hat natiirlich mit einer eventuel- 
len multiplen Sklerose nichts zu tun. Dagegen sind die Bauchreflexe 
bei den beiden Madchen rechts und links gleich deutlich vorhanden. 
Bekanntlich kommt es oft genug vor, dass eine spastische Spinalpara¬ 
lyse oder besser eine Pyramidenbahnerkrankung, eine multiple Sklerose 
maskiert, aber man wtirde dann am Ende mit einer Kombination von 
Ausnahmen zu tun haben. Dazu wtirde diese Maskierung schon seehs 


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Jahre stattfinden, wahrend der Verlauf langsam progredient, ohne jede 
Wechslung gewesen ist. , 

1st also die multiple Sklerose sowieso unwahrscheinlich, am so 
mehr neigen wir zu der familiaren spastischen Spinalparalyse, seit 
wir durch die Arbeiten Jendrassiks (1897, 1898, 1902, 1911), Kol- 
larits (1906,1908) u. a. wissen, dass diese familiare oder hereditare spa- 
stische Spinalparalyse eigentiich besser aufgefasst wird als die spastisehe 
Form von der grossen Gruppe der Heredodegenerationen, von denen 
die von Striimpell (1886, 1893, 1*901, 1904) und Newmark (1904, 
1906, 1911) beschriebenen Falle nur die am sauberst spastischen siod. 
Von diesen fiihren die verschiedensten Zwischenforinen zu den atakti- 
scben Krankbeiten iiber; der scbonste Beweis fiir die Einheit der 
ganzen Gruppe wird gerade von dem anatomischen Befund in den 
klinisch rein-spastiscben Fallen geliefert, denn auch da sind ausser der 
Pyramidenbahn die Kleinhirnseitenstrangbahn und die Gollschen 
Strange mehr oder weniger mitbeteiligt. 

Die Kombinationen von Spasmus und Nystagmus, Zittern und 
Demenz (die Komplikationen unserer Falle) sind von mebreren Autoren 
beschrieben worden. So komplizierte der Nystagmus die Pyramiden- 
babnerkrankung in den Fallen von Dobrocbotow (1913); Nystagmus 
und Tremor (ausserdem Dystropbie) in den von Jendrassik (1902) 
und Kollarits (1906); Demenz war neben der spastischen Spinalpara¬ 
lyse vorhanden, z. B. in dem Falle Pribams (1895). Dass unsere 
Zwillinge die einzigsten Erkrankten aus der ganzen Familie sind, 
macbt die Diagnose urn nichts unsicherer. Selbstverstandlich muss 
hier und da ein Fall von Heredodegeneratio vereinzelt auttreten; 
Striimpell und Jendrassik wiesen schon darauf bin; und iiber dies, 
der Keimschaden steht in diesem Falle natiirlich vollkommen fest. 
Jendrassik macbt darauf aufmerksam, dass wir dergleichen allein- 
stebende Falle gerade an den komplizierenden Degenerationszeieheu 
erkennen konnen; auch die von ibm aufgestellten Regeln fiir die 
Heredodegenerationes: Homologie, Homochronismus, Progressivitat 
iinden wir in unserem Falle vorhanden. Somit scheint mir hier die 
Diagnose, aus den oben ausfiihrlich mitgeteilten Erwagungen, ziemlich 
wohl gesichert, ich mochte deshalb diesen Fall als eine Heredodegene¬ 
ratio, Typus Striimpell, beschreiben. 

Das Vorkommen bei Zwillingen ist so ssltsam, dass eine kasuisti- 
scbe Mitteilung m. E. gerechtfertigt. ist. Schliesslich betone ich 
nochmals das Zusammengeben der mangelbaften Intellektsentwicklung 
mit der vorliegenden spinalen Erkrankung. Die Uberzeugung, dass Aas 
pbylogenetisch Junge weniger widerstandsfahig ist, bzw. ofter insuffi- 


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Uber einen Fall vod Heredodegeneratio, Tvpus Strumpell, bei Zwiliingen. 273 

zient angelegt wird, drangfc sich in der Klinik der Psychiatrie und 
Neurologie dem Untersucher unwiderstehlich auf. Die Psychopatbo- 
logie ist ja eigentlich grosstenteils die Krankheitslehre des phylo- 
genetisch Jungen. Aber diese Auffassung ware auch mit vielen Bei- 
spielen ans der Neurologie zu bestatigen; gerade die Haufigkeit der 
Pyramidenbahnerkrankung muss fiir jeden Neurologen sehr auffallend 
sein. 

Es scheint mir, auch in diesem Falle wieder die Insuffizienz 
der Pyramidenbahn und der Mangel an hoheren (id est jiingeren) 
Intellektsqualitaten das obengenannte biologiscbe Gesetz zu bestatigen. 


LiteratYir. 

Dobrochotow, M., Ein Fall von hereditarer Familieuerkrankung vom 
Ubergangstypus zwischen spastischer Spinalparalyse und Friedreiehscher Krank- 
beit. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 49, 1913. 

Hoffmann, J., Klinischer Beitrag zur Kenntnis der familiaren (heredi¬ 
taren) spastischen Spinalparalyse. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 47, 18, 
1913. 

Jendrassik, E., Uber Paralysis spastica und fiber die vererbten Nerven- 
krankheiten im allgemeinen. Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 58, 1897. 

Derselbe, Zweiter Beitrag zur Lehre von den vererbten Nervonkrank- 
heiten. Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 01, 189S 

Derselbe, Beitriige zur Kenntnis der hereditaren Krankheiten. * (Dritte 
Mitteilung.) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 22, 1902. 

Derselbe, Die. hereditaren Krankheiten. Handbuch der Neurologie, 
herausgegeben vou M. Lewandowsky, 1911. 

Kollarits, J., Beitriige zur Kenntnis der vererbten Nervenkrankheiten. 
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 30, 1906. 

Derselbe, Weitere Beitriige zur Kenntnis der Heredodegeneration. 
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 34, 1908. 

Marburg, 0., Multiple Sklerose. Handbuch der Neurologie, herausge- 
geben vou M. Lewandowsky, 1911. 

Newmark, L., IJber die familiiire spastische Paraplegie. Dtsch. Zeitschr. 
f. Nervenheilk., Bd. 27, 1904. 

Derselbe, Pathologisch-anatomischer Befund in einem weitereu Falle 
von familiarer spaatischer Paraplegie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 31, 
1906. 

Derselbe, Klinischer Bericlit iiber den siebenten Fall von spastischer 
Paraplegie in einer Famiiie und Ergebnis der dritten Autopsie aus derselben 
Familie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 41, 1911. 

Pribam, Neurol. Zentralbl. ls95. 


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274 Kooy, tJber einen Fall von Heredodegeneratio usw. 

Strumpell, A., (Jber eine bestimmte Form der primaren kombinierten 
Systemerkrankung des Ruckenmarka. Arch. f. Psych., Bd. 17, 1886. 

Derselbe, Uber die hereditare spaatische Spinalparalyae. Dtach. Zeitschr. 
f. Nervenheilk., Bd. 4, 1895. 

Derselbe, Uber hereditare spaatische Spinalparalyse. Neurol. Zentralbl. 

1901. 

Derselbe, Die primare Seitenstrangsklefose (spastische Spinalparalyse*. 
Disch. Zeitschr. f. Nervenheilk., B1. 27, 1904. 


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Aus dem k. und k. Augusta-BarackenspitaL Kommandant: Ober- 
stabsarzt I. Kl. Dr. 0. Byk.) 

Uber die Wiederkehr der Mnskelt&tigkeit nach Operationen 
an kontinuitatsgetrennten Nerven. 

Von 

Prof. Dr. Jnlins Donath, 

Chefarzt der Nervenabteilung, 
und 

Regimentsarzt Dr. Andreas Makai, 

Chefarzt der chirnrgischen Abteilnng. 

Bei der ungeheuren Menge von Nervenverletzungen in diesem 
Kriege gibt es kaum einen Chirurgen, der keine Qelegenheit hatte, 
eine grosse Reihe hierher gehoriger Falle zu beobacbten nnd zu ope- 
rieren. Jedoch beschaftigt sich der iiberwiegende Teil der Mitteilungen 
mit Kasuistik, Statistik, Operationsverfahren, mit. den verschiedenen 
Methoden zum Ersatz der Nervendefekte, woraus nur in praktiscber 
Ricbtung Schliisse gezogen werden, aber sie entbalten sich zumeist, 
der prinzipiell wichtigsten Frage naher zu treten, ob wir tatsach- 
lich imstande sind, die Nervenleitung mitt els unserer 
operativeu Verfahren wieder herzustellen. 

Dass der durch Narbengewebe komprimierte, strangulierte Nerv, 
dessen Fasern tiefergehende Veranderungen nicht zeigen, nach seiner 
Befreiung die aufgehobene Funktion wieder aufnimmt, dies ist un- 
scbwer zu verstehen. Auders verhalt es sich bei dem durchschnittenen 
Nerven. Unsere pathologischen Kenntnisse machen uns a priori skep- 
tisch gegeniiber den in diesen Fallen zu erreichenden Resultaten. Das 
Hochste, was wir hier leisten konnen, ist das Aneinanderbringen der 
Nervenstiimpfe und deren Vereinigung durch die Naht. Letzteres geht 
selbstverstandlich mit der unvermeidlichen neueren Lasion der zen- 
tralen und peripheren Stiimpfe einher. 1st es nun denkbar, dass die 
Nervensubstanz, als das differenzierteste Gewebe und zwar hier die 
Nervenfaser, den Reiz wie ein Metalldraht v^rmittelt, der nach seinem 
Zerreissen durch einfaches Zusammenbringen wieder den elektrischen 
Strom weiterleitet? Konnen wir daran glauben, wenn wir uns das 
mikroskopische Bild des Nervenquerschnittes vor Augen halten, dass 
nach dem Zusammenbringen des Querschnittes aus dem Labyrinth 
der tausendfachen Nervenfasem ein jedes zentrale Stumpfchen das ihm 


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Duxatu und Makai 


entsprechende periphere unfehlbar auffmdet? Die Frage ist viel kom- 
plizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint und durcb Tierver- 
suche schwer zu losen. Die mikroskopische Untersuchung der Nerven- 
fasern nach der Vereinigung zeigt nur das morphologische Verhalten 
der Gewebe und Zellen, wobei aber zumeist ausser acht gelassen wird, 
dass aus der Strukfcur der Nervenfaser keine Sehlussfolgerung be- 
ziiglich der physiologischen Funktion abgeleitet werden kann. Urn 
nur ein bekanntes Beispiel anzufiihren, kann die Vermebrung der 
Zellenkerne der Schwanschen Scheide darauf hinweisen, dass die 
gesamten Zellen des distalen Nervenfaseranteils nicht zugrunde ge- 
gangen, nicht nekrotisiert sind? Sie kann eventuell als das Zeichen 
einer reparativen Zellentatigkeit aufgefasst werden, aber damit ist 
nicht bewiesen, dass der betreffende Faseranteil die Leitungsfahigkeit 
auch wirklicb wieder erlangt bat oder wieder erlangen wird. Mit 
anderen Worten, es ist nicht ausgescblossen, dass die strenge Gesetz- 
massigkeit der Wallerscben Degeneration dann ihre Giiltigkeit ver- 
liert, wenn der distale Nervenfaseranteil mit dem zentralen in un- 
mittelbare Beriihrung tritt; aber der Mangel oder der geringere Grad 
der Gewebsveranderungen zeigt nocb nicht an, dass die Nervenfaser 
den Reiz an der Lasionsstelle wirklich weiterleitet. Dasselbe gilt von 
den frisch entstandenen Nervenfibrillen. Wenn diese auf mikroskopi- 
sehen Durchschnitten auch nacbgewiesen werden konnen, so ist damit 
ihre Fahigkeit zur Aufnahme oder Leitung des Nervenreizes noch 
nicht dargetan. JSin Analogon ware das histologische Bild der gelben 
Leberatrophie, bei welcher gewohnlich eine machtige Wucherung des 
Epithels der Gallenwege auf den mikroskopischen Schnitten gefunden 
wird; darf man daraus folgern, dass diese vikariierende Wucherung 
imstande sei, die Funktion der Leberzellen zu iibernehmen oder zu 
ersetzen? Das Verhalten gegeniiber der elektrischen Reizung lasst 
ebensowenig eine sichere Folgerung zu; denn der aneinander gefiigte 
Nerv kann die Elektrizitat auch physisch weiterleiten und auf diese 
Weise die Kontraktion des Muskels bewirken, ohne dass er den homo- 
logen Nervenreiz auch physiologisch leiten konnte. Die Wiederher- 
stellung der elektrischen Reizleitung kann einfach nach Narbenexzision 
und Naht durch Verbesserung der physikalischen Leitung erklart werden. 
Bei oberflachlicher Uberlegung scheint es am logischsten und ein- 
tachsten, das Kriterium anzunehmen, dass wir die Wiederherstellung 
der Nervenleitung aus der Wiederkehr der Funktion erschliessen. 
Verebely und Ranschburg scheinen die ersten zu sein, die sich 
mit der Frage eingehender befasst haben, ob die nach Nervenope- 
rationen wiederkehrende Funktion eine wirkliche oder nur eine schein- 
bare ist, und in der Erkenntnis der prinzipiellen Wichtigkeit dieses 


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Uber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit naeh Operationeu usw. ‘277 

Problems fordern sie die strengste Beurteilung bei der Feststellung, 
ob die Herstellung der Funktion tatsachlich die Folge der Leitungs- 
restitution im getrennten und durch Operation vereinigten Nerven ist. 

Wir begegnen schon einem ganzen Komplex yon verwickelten 
Erscheinungen, wenn wir eine ausgefallene oder wiederhergestellte 
Bew'egang analysieren, bzw. die Ursachen und Umstande ihrer Wieder- 
berstellung erforschen wollen. Vor allem ist der Anteil der einzelnen 
Muskeln an dem Zustandebringen der entsprechenden Bewegung — so 
seltsam die3 erscbeinen mag — noch immer nicht ganz klar gestellt. 
Die verschiedenen Phasen derselben Bewegung konnen durch die 
Zusammenziehung, bzw. Tonusanderung yerschiedener Muskelgruppen 
zustande kommen; es geniigt, auf die wohlbekannte Rolle der Anta- 
gonisten hinzuweisen. Auch konnen Bewegungen unter der Einwir- 
kung der Schwerkraft erfolgen, ohne dass es einer Muskelkontraktion, 
bzw. der Inneryation des betreffenden Muskels bediirfte. Auch konnten 
Muskelgruppen, deren Bedeutung sonst bei der Erzielung gewisser 
Bewegungen untergeordnet ist, durch Ubung in ihrer Wirkung ver- 
starkt werden; wieder andere Muskeln konnen durch Narbenbildungen 
oder sonstige Krankheitsprozesse neue oder veranderte Stiitzpunkte 
erhalten. 

Eine weitere Komplikation der Frage wird durch die Innervation 
gegeben. Es ist im allgemeinen nicht leicht festznstellen, von w r elchem 
Nerven die motorischen Fasern zum Muskel, bzw. Muskelanteil ab- 
gehen. Die Feststellung der Muskelinnervation erfordert die feinste 
anatomische Praparationstechnik und bei den Nervenoperationen sehen 
wir haufig genug den Austausch von haarfeinen Nervenfasern zwischen 
den Nervenbiindeln, dass wir fuglich im Zweifel sein konnen, ob diese 
in der mehr oder weniger eingetrockneten Leiche iiberbaupt erkennbar 
sind. Frohse und Fraenkel, welche neuestens behufs Erforschung 
der Muskelinnervation sehr sorgfaltige Praparationen vollfiihrt haben, 
bewiesen fiir viele Muskeln des Oberarmes, dass ihre Innervation 
durchaus nicht so konstant ist, wie dies allgemein angenommen wird. 
Zahlreiche Muskeln sind diploneural, d. h. sie werden von zwei, 
eventuell auch von drei Nerven versorgt, und die Zahl anatomischer 
Varietaten ist keine geringe. 

Die Frage der anatomischen Varietaten, welche das Lieblings- 
thema der alteren Anatomen war, ist heutzutage unseres Erachtens, 
in Hinsicht auf die Beurteilung der Nervenverletzung, sehr aktuell 
geworden. Wabrend die neueren anatomischen Werke deren Vor- 
handensein nicht geniigend berucksichtigen, konnen wir aus den alte¬ 
ren zahlreiche interessante Daten schopfen. So ist z. B. naek Hyrtl') 

1) Lehrbuch der Anatomie. 1884. 17. Aufl. 


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27S 


Doxath und Makai 


die Anastomose zwischen dem N. ulnaris und dem N. radialis, bzw. 
deren Riickenasten „nicht konstant u , was jedenfalls darauf hinweist, 
dass sie nicht selten ist. 

Bei der Beurteilung der Ergebnisse von Nervenresektionen konnen 
sich Irrtiimer ergeben beziiglich der Herstellung der Empfindung, ein- 
fach durch die Suggestibility der Kranken; die Herstellung der Be- 
wegung aber kann durch die Aktivierung anderer Muskelgruppen 
vorgetauscht und somit die vorhandene Labmung dissimuliert werden. 
Dies gilt vor allem fiir die Oberextremitat, aber auch bei den Resek- 
tionen an den Nerven der Unterextremitat sind Irrtiimer nicht ganz 
ausgeschlossen. Da die Muskeln des Unterschenkels und Fusses nach 
unseren bisherigen anatomischen Kenntnissen die gesamten motoriscben 
Nerve n vom Ischiadicus erbalten, sind die Verhaltnisse sozusagen sche- 
matisch, so dass die Resekfion dieses Nerven fiir die Entscheidung 
der Kardinalfragen allein als geeignet erscheint. Sowohl auf Grand 
literarischer Daten, wie der Falle, welche der eine von uns (Makai) 
selbst beohacbtet hat, kann mit Bestimmtheit behauptet werden, dass 
in einem Teile der resezierten und genahten Ischiadici der Nervenimpuls 
tatsachlich in die bis dahin gelahraten Muskeln gelangte. Ob aber der Reiz 
tatsachlich durch die regenerierten oder, sagen wir, wieder leitungsfahig 
gewordenen Fasern vermittelt wurde, ist noch nicht als bewiesen zu 
betrachten. Dieser einfachen und bequemen Auffassung gegeniiber 
ist aber die Unberechenbarkeit und das Schwankende der Heilergebnisse 
hochst auffallend. Diese konnen durch individuelle Disposition, oder 
andere individuelle Verhaltnisse nicht leicht erklart werden. Wir 
diirfen nicht vergessen, dass die Kriegsverletzungen ein so einheit- 
liches Material bieten — einheitlich in Beziehung auf Geschlecht, 
Lebensalter, Ernahrung, Lebensverhaltnisse — und in diesem grossen 
Material haben wir beziiglich der Zeit, Form und des Ablaufes 
der Verletzung so viele einander gleichende Falle, wie wir sie bei 
der Beurteilung sozusagen keiner anderen Operation zur Verfiigung 
haben. 

Es ist unverstandlich, dass die Leitung bei bestimmten Nerven 
nach der Resektion verhaltnismassig haufiger, bei anderen wieder seU 
tener zustande kommt. Noch merkwiirdiger ist es, dass die Leitung 
in genahten Nerven nur in gewissen Fasergruppen des Querscbnittes 
wiederkehrt, wahrend sie in den daneben laufenden Nervenfaden 
standig ausbleibt. Ist es nun verstandlich, dass nur in einem gewissen 
Segment des genahten Querschnittes das Verwachsender Achsenzylinder 
erfolgt, fiir das andere unter denselben Verhaltnissen befindliche Seg¬ 
ment aber ausbleibt? 

Die Vergleichung der Heilergebnisse der verschiedenen Autoren 


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Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operatiouen usw. 279 

iat schon deshalb erscbwert, weil die Falle mit verschieden genauer 
UntersQchungsmethode und mit ungleich strenger Kritik beurteilt 
werden. Aber selbsfc bei einem und demselben Autor kommen viele 
Falle nicbt zur Heilung, viele nach verschieden langer Zeit und auch 
dann nicbt mit gleicher Vollkommenheit. Friihe Heilungen sind ausser- 
ordentlich selten, sind aber zweifellos beobacbtet worden. 

So liegt bereits eine Reihe von Kriegsbeobacbtungen vor uber 
ausserordentlich rasche Wiederkehr der Bewegungen nach Nerven- 
resektionen. Sie betreffen meist den N. ulnari*, jedoch nicht aus- 
schliesslich. So hat Mann 1 ) 9 Falle von Ulnarisdnrchschneidung 
initgeteilt, wo die Operation 3—11 Monate nach der Verwundung 
erfolgte und die Funktion nach 1, bzw. 8, 24 Stunden bis 3 Wochen 
wiederkehrte. Hierher gehort ein von L&ng 2 ) schon friiher mitge- 
teilter Fall von Radialisresektion, wo der 6 cm lange Defekt des 
dnrchschossenen Nerven in der Weise ersetzt wurde, dass der proxi¬ 
mate und der distale Stumpf mittels keilformiger Inzisionen in den 
N. musculo-cutaneus gepfropft wurden. Die ersten Zeichen der Ner- 
venleitung zeigten sich bereits 24 Stunden nach der Operation und 
nach 3 Wochen war die Funktion fast vollkommen hergestellt. 

Nach Lorentz ist es unmoglich, die hierher gehorigen Falle 
ernster Beobachter, wie Kennedy, Fleman alle zu verwerfen oder 
als durch nicht ganz genaue Untersuchungen zu erklaren. Aber auch 
ein einziger Fall, mit dem geringsten Zeichen einer friih herge- 
stellten Nervenleitung ist geniigend, um unsere Auffassung uber Ziel 
und Wesen der Nervenoperationen griindlich umzugestalten. 

Der eine von uns (Makai) hatte Gelegenheit, in zwei Fallen nach 
der Naht des Ischiadicus die leichte Bewegung der Zehen zu beob- 
achten, und zwar am 2. bzw. 3. Tage. Es muss aber hervorgehoben 
werden, dass die Funktion in den iibrigen Musk ein sich im Laufe 
der weiteren Beobachtung nicht hergestellt hat und die rasch wieder- 
gekehrte, aber unvollstandig gebliebene Funktion sich nicht gebessert 
hat, bzw. einen weiteren Fortsehritt nicht gezeigt hat. 

In einem von uns beiden beobachteten Falle von Verletzung des 
N. ulnaris, wo die doppelte Implantation nach Wolfler-Hofmeister 
ausgefiihrt wurde, zeigte sich so friih ein funktionelles Resultat, dass 
wir denselben im folgenden mitteilen mochteu. 


1) Uber rasche Wiederkehr der motorischen Funktion nach Uinarisdurch- 
schneidungen. Wanderversammlung der sudwestdeutschen Neurologen u. Psy¬ 
chiater. Baden-Baden, 3.—4. Juni 1916. Ref. Neurol. Zentralbl. 1916, Nr. 17. 

2) Ad. L&ng, Behandlung einer ausgedehnten Nervenzerstorung mit 
doppeltcr Implantation in einen gesunden Nerven. Orvosi Hetilap, 1915, Nr. 35. 

Deutsche Zeitschrift l. Nervenheilkunde. Bd. 67. 19 


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280 


Don'.vth und Makai 


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Gy. Sch., 38j&hr. Homed, erlitt am 13. Januar 1916 im untereu 
Drittel des rechten Oberarmes einen Durchschuss, welcher glatt abheilte. 
Er wurde am 25. September 1916 auf die chirurgische Abteilung des k. 
und k. Augusta-Barackenspitals aufgenommen. Der rechte Ring- und Klein- 
finger waren im Metacarpophalangealgelenke gestreckt und in 'den Inter- 
phalangealgelenken gebeugt. Diese beiden Finger waren aktiv unbeweglich. 

Der Nervenbefund war folgender: Gewehreinsckussstelle an der Hinter- 
fl&che des rechten Oberarmes, Ausschussstelle liber dem N. ulnaris, im 
unteren Viertel des Oberarmes. Diese Narbe ist sehr druckschmerzhaft. 
Der 4. und 5. Finger waren gebeugt, konnten nicht gestreckt werden. 
Der Kranke hatte ein stumpfes GefOhl am Ulnarrande des Vorderarmes, 
angefangen vom unteren Viertel entlang dem 4. und 5. Finger. Auf die- 
sem Ulnarisgebiete bestand An&stkesie fQr alle Empfindungsarten. Die 
elektrodiagnostische Untersuchung ergab Entartungsreaktion im Ulnaris¬ 
gebiete derart, dass der Nerv auf keine Slromart reagierte, w&hrend der 
M. flexor carpi ulnaris auf den faradischen Strom gleichfalls nicht reagierte, 
aber auf den galvanischen Strom ziemlich gut ansprach und Kathoden- 
scbliessungszuckung starker war als Anodenschliessungszuckung. Der 31. 
flexor digit, prof, reagierte auf beide Stromarten. Die Diagnose lautete: 
Laesio n. ulnaris supra cubitum und es wurde die sofortige Frei- 
legung der Nerven beschlossen. 

Operation am 2. Oktober 1916 in Athernarkose. Inzision vom un¬ 
teren Teil des Condylus intern, des Oberarmes bis zur 3Iitte des Sulcus 
bicipitalis internus. Da der Nerv im Narbengewebe des Schusskanals nicht 
aufzufinden war, wird derselbe im Sulcus n. uluaris aufgesucbt, bald auf- 
gefunden uud proximal verfolgt. Es zeigt sich, dass die ungefsihr 4 cm 
betragende Partie sich in einem kleinnussgrossen, narbigen Gewebe ver- 
liert; der proximale Stumpf ist an dieser Stelle nicht auffindbar, weshalb 
oberhalb der Plex. brachialis freigelegt wird, wo die Arterie mit den bei¬ 
den Venen unterschieden werden kOnnen, sowie der N. medianus, welcher 
anfangs vor der Arterie, dann aussen von ihr herablauft. Die Freilegung 
des N. ulnaris gelingt nur nach mOhseliger PrOparation ziemlich hoch oben, 
da er durch das Narbengewebe, in welches er eingebettet war, stark mc- 
dialwarts disloziert ist. Der proximale Teil des Nerven ist fast kleinfinger- 
dick (8—9 mm), also mindestens dreimal so dick wie der N. medianus 
und der distale Stumpf. Nach Aufwartsverfolgung des proxiinalen Stumpfes 
zeigt es sicb, dass er in 4 cm Entfernung vom distalen Teile in starkem, 
derbem Narbengewebe endet. Es muss ein ungef&hr 7 cm langes Stock 
vom proximalen Nervenstumpf geopfert werden, bis wir zu einem Quer- 
schnitt gelangen, aus welchem die halbflOssige, normale Nervensubstanz 
herausquillt. Ebenso muss ein 3 cm langes Stock vom distalen Stumpf 
reseziert werden, bis eine normale SchnittflOche zum Vorschein kommt. 
Es ergibt sich nun eine 14 cm lange Dehiszenz zwischen den aufgefrisch- 
ten Nervenstflmpfen und obgleich dieselben mehrere Zentimeter auf- und 
abwOrts prapariert werden, ist es unmdglich, dieselben zusammenzubringen. 
Da ein geeigneter Nervenersatz uns nicht zu Gebote stand, wird die Ner- 
venimplantation ausgefflhrt. In den lateral vom N. ulnaris liegendeu N. 
cutaneus antibrachii medialis, dessen Durchmesser ungefahr 2 mm betrug, 
wird nach einer Inzision von 1 cm LOnge in das Perineurium der Quer- 
scbnitt des proximalen Ulnarisstumpfes end to side mit 8 feinsten perinea- 


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Ubcr die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operationen usw. 281 

ralen Seidennahten implantiert. In der Gegend des distalen N. ulnaris 
ldst sich der N. cutaneus antibracbii medialis scbon in mehrere Zweige 
aof und in das Operationsgebiet fallen 6 derselben; von diesen werden m8g- 
lichst tief die beiden am meisten medial liegenden Zweige durchschnitten 
und end to end mit dem distalen Ulnarisstumpf mittelst 4 feinen perineuralen 
Nahten vereinigt. Exakte Blutstillung. Fortlaufende Hautnaht. Heilung 
per primam intentionem. 

Am Tage nacb der Operation, innerhalb 24 Stunden, wurde konstatiert, 
dass der Kranke den 4. und 5. Finger in jeder Phalange, also aucli 
in der basalen beugen und strecken kann. In denselben Fingern 
ist auch die Tast- nnd Schmerzempfindung zurtlckgekehrt. 
Ubrigens hat der Kraoke selbst an diesem Morgen, also 20 Stunden nach 
der Operation, die Bewegungsfahigkeit des 4. und 5. Fingers, sowie auch 
die Wiederkehr der Empfindung wahrgenommen und darauf den Arzt auf- 
merksam gemacht. 

Die am 20. Okt. vorgenommene elektrische Untersuchung ergab auch 
die Besserung der elektrisehen Erregbarkeit, insofern sowohl der N. ulnaris 
am Oberarm, als der M. flex. carp, ulnaris auf beide Stromarten etwas 
trftge Reaktion zeigten und am Muskel KSZ > ASZ war. Auf faradische, 
wie galvanische Beizung der Interossei erfolgt die Beugung samtlicher 
Phalangealgelenke des 2.—4. Fingers, aber nicht die Ab- und Adduktion 
der Finger. Aktiv werden samtliche Phalangen der Finger gebeugt und 
gestreckt. Der Daumen vollfQhrt alle Bewegungen. Auch das an&sthe- 
tische Gebiet zeigt sich verringert, insofern es jetzt bcim Carpus beginnt. 

Wrr stehen also der Tatsache gegenuber, dass der Verletzte durch 
9 Monate die beiden Finger nicht bewegen konnte, sie am Tage nach 
der Operation entschieden zu bewegen und nach drei Tagen sozusagen 
tadellos zu gebrauchen vermochte. 

Gegen den Einwand, dass die Lahmung der beiden Finger viel- 
leicht hjsterischer Natur war und die Heilung unter der suggestiven 
Einwirkung der Operation erfolgte, spricht 1. die schwere anatomische 
Veranderung des Nervenj 2. die Entartungsreaktion der betreffenden 
Muskeln, 3. selbst angenommen, dass die Kontinuitat des Nerren yor 
der Operation nicht unterbrochen war, so wurde doch der Nerv bei der 
Operation tatsachlich durchschnitten, 4. die Besserung der elektrisehen 
Reizleitung nach der Operation, und 5. der Umstand, dass der Kranke, 
obgleich wir jeden vor der Operation immer entschieden darauf auf- 
merksam machen, dass die Heilung nur langsam, nach Monaten, zu 
erwarten ist, er schon am folgenden Tage selbst die eingetretene Be¬ 
wegungsfahigkeit zur Kenntnis braebte. 

Dieselben Erwagungen haben Geltung jenem Einwurf gegenuber, 
dass der Verletzte nach der Operation mittelst anderer Muskeln die 
Tatigkeit der eigentlich gelabmt gebliebenen Muskeln ersetzt. Es ist 
nicht denkbar, dass wahrend 9 Monate die Einiibung dieser Dissimu¬ 
lation der Lahmung nicht erfolgt und erst am Tage nach der Opera¬ 
tion sofort gelungen sei. 

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Donath und Makai 


Ausder Vergleichung des Status vor und nach der Operation beben 
wir neuerdings hervor, dass der 4. nnd 5. Finger f wie er fiir die 
Ulnarislahmung typisch ist, im Metacarpo-phalangialgelenk gestreckt 
und in den Interphalangealgelenken gebeugt waren. Bekanntlich ist 
die Wirkung der Interossei und Lumbricales die Beugung der 1. und 
die Streckung der 2. und 3. Phalangen. Der Verletzte streckte nach 
der Operation die Mittel- und Nagelphalange — wenn auch nicht 
vollstandig — so doch entschieden aus der Klauenstellung, und-es 
blieben hochstens 50—20° von der vollstandigen Streckung zuriick. 
Wenn man nocb den Einwand macben wollte, dass eine derartige 
Streckung auch aus der Erschlaffung der Beuger der 2. und 3. Pha¬ 
langen entsteben konnte, so muss man fragen, warum der Kranke 
seine Muskeln nicht vor der Operation entspannen konnte? Diese 
Frage ist umso berechtigter, weil der den M. flex, digit, profundus 
versorgende N. ulnaris, welcber die Beugung der Nagelphalangen be- 
wirkt, vor der Operation gelahmt war, die Erschlaflung der Beuger 
der Endphalangen also umso plausibler gewesen ware. 

Es war also nach der Operation die Beugung der Basalphalange, 
welche durch die vom N. ulnaris versorgten Mm. lumbricales und 
interossei bewirkt wird, vollstandig. Wenn wir die Beugung der 
Basalphalangen so erklaren wollten, dass die Mm. flex, digit, subli- 
mis und profundus bei ihrer Beugung der Mittel- und Nagelphalange 
die Basalphalange mit sich ziehen, so konnte der Patient die Basal- 
phalange nicht vollstandig beugen bei der — wenn auch unvollstan- 
digen — Streckung der Mittel- und Nagelphalange. (jbrigens konnte 
man auch hier wieder die Frage aufwerfen, warum zog der voll¬ 
standig innervierte Flexor digit, sublimis auch vor der Operation die 
Basalphalange nicht mit sich. Jedoch muss’zugegeben werden, dass 
die Ab- und Adduktion der Finger nicht ausfiihrbar war und es noch 
lieute, 40 Tage nach der Operation, nicht ist, aber ein Teil der 
Funktion ist tatsachlich zuriickgekehrt. 

Auf Grund jiieser Auseinandersetzungen glauben wir bei Anwen- 
dung der strengsten Kritik mit Bestimratheit aussprechen zu konnen, 
dass die Herstellung der beobachteten Ulnarisfunktion — die Voll- 
standigkeit oder nur Andeutung derselben ist vom prinzipiellen Stand- 
punkt aus wohl irrelevant — tatsachlich die Wirkung der Operation 
als soleber ist. 

Wenn wir dies annehmen, dann kanri man sich das Resultat der 
Hofmeisterschen doppelten Nervenimplantation in zweierlei Weise 
vorstellen: die eine Moglichkeit ist die, dass der eingeschaltete Nerv, 
in unserem Falle der N. subcutan. antibrachii medialis, als richtung- 
gebendes Interpositum figuriert. Selbst wenn wir hinsichtlich des 


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Uber die Wiederkehr der Muskeltlitigkeit nach Operationen usw. 2S3 

Auswachsens des zentralen Nerventeils einen in Betracht zu ziehenden 
Neurotropismus annebmen, konnen wir uns nicbfc vorstellen, dass der 
zentrale Nervenanteil in weniger als einem Tage 14 cm gewachsen 
sei. Es bliebe also die zweite Moglichkeit, dass der eingescbaltete 
Nerv zu unmittelbarer Weiterleitung des Reizes geeignet sei. Wenn 
wir aucb dies annehmen wollten, dann wairen diese nur so begreif- 
lich, dass an der Beriihrungsstelle sowobl des proximalen, als des 
distalen Stumpfes mit dem hospitierenden Nerven die prima reunio 
gleichzeitig erfolgte. 

In unserem konkreten Falle tauchen bei der Annalime dieser 
Anffassung noch folgende Schwierigkeiten auf: 1. Zur Weiterleitung 
des motorischen Impulses haben wir einen sensiblen Nerven ver- 
wendet; 2. der Impuls muss in der der gewohnten Leitung entgegen- 
gesetzten Richtung befordert werden (obgleich der bekannte Ratten- 
schwanzversuch diesen Einwurf gewisserinassen entkraftet); 3. der diinne 
N. cutan. antibrachii kann keinesfalls die dem macbtigen N. ulnaris 
entsprechende Anzabl von Nervenfaden enthalten; 4. nur ein geringer 
Teil der viel dunneren Nervenfaden wurde zur Reizleitung verwendet, 
weil zentralwarts nur die durcb die Langsspaltung des Perineuriums 
frei gewordenen Nervenfaden zur Geltung kommen und distalwarts 
nur ein kleiner Teil der sicb verzweigenden Nervenfaden mit dem 
N. ulnaris end to end vereinigt wurde. 

Alles in allem konnen wir so viel sagen, dass die vor der Opera¬ 
tion untatigen Muskeln in Tatigkeit gerieten, obgleich die Herstellung 
der Nervenleitung weder durch Auswachsen noch durch Ubertragung 
der Reizleitung mit irgendeiner Wahrscheinlicbkeit angenommen 
werden kann. 

Erst jiingst hatten wir Gelegenheit, noch einen Fall zu beobachten, 
in welchem nach Naht des Medianus und Ulnaris die friihe Riickkehr 
der Funktion festgestellt werden konnte. 

J. B., 23jahr. Honved, erlitt am 5. Juli 1916 am unteren Drittel des 
rechten Oberarmes eine Schussverletzung. Er kam am 24. Februar 1917 
in das Augusta-Barackenspital mit ausgesprochener L&hmung des Medianus 
und Ulnaris. Die lieurologiscke Untersuchung ergab: 

Oberarm wird ziemlicli gut gehoben, Ellbogen gut gebeugt; aktive 
und passive Streckung bis 130° wegcn Kontraktur des Gelenkes. Hand 
wird etwas gestreckt, besser gebeugt. Mftssige Kontraktur des Handge- 
lenkes. 2.—5. Finger werden in den Basalphalangen im be- 
schriinkten MaBe gebeugt und gestreckt; Mittel- und Nagelphalan- 
gen werden minimal gestreckt, dock zicmlich gut gebeugt. Daumen in 
alien Richtungen ziemlich gut beweglich. Atrophie der Vorderarmmusku- 
latur, besonders der Beuger; starke Atrophie der Interossei, des Thenars 
und Antithenars. Die Sensibilitfttsstdrung (Anftsthesie, Analgesie, Therm- 


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284 


Donath und Makai 


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und Kryan&sthesie) betraf auf der rechten Hand die ganze Volarfl&che, 
sowie die Dorsalflachen des 2.—5. Fingers. Nur am 2. nnd 3. Finger 
zeigten die basalen Pbalangen auf der DorsaWache Hypftsthesie und Hyp* 
algesie. 

Die elektrodiagnostische Untersuchung ergab schwere Entartungsreak- 
tion (die Muskeln reagierten auch auf den galvaniscben Strom nicbt) ini 
Gebiete des N. medianus und ulnaris. 

Die Diagnose lautete: Laesio n. ulnaris et in minore gradn 
n. mediani supra cubitum 1. d. (Mit RQcksicht auf die scbwache gal- 
vaniscbe Erregbarkeit des N. medianus wurde eine geringere Lfision in 
diesem Nerven angenommen.) Es wurde die sofortige Freilegung des Ul¬ 
naris und Medianus fiber dem Ellbogengelenk beschlossen. 

Operation am 17. Marz 1917: Inzision von der Mitte des Oberarmes. 
im Sulcus bicipitalis internus, gegen den Condylus medialis von 10 cm 
Lange. Mit einem schiefen Schnitt wird zunachst der Ulnaris freigelegt. 
Das Herauspraparieren des oberen intakten Anteiles ergibt, dass der Nerv 
sich in einem lillhnereigrossen, gleichartig derben Narbengewebe verliert. 
In Verfolgung des unteren Anteils dieses Narbengewebes wird alsbald auch 
der distale Nervenanteil gefunden. Das narbige Zwischenstttck des Nerven 
wird bis zur Gewinnung eines normalen Querschnittes reseziert. Trotz der 
5 cm betragenden Dehiszenz kann die Vereinigung mit zebn feinen para- 
neuralen Nahten bewirkt werden. 

Nun wird zur Praparation des Medianus geschritten. Die Zurecht- 
findung in dem daumendicken, derben Strange ist ausserordentlich er- 
sebwert. Die darin verlaufende A. bracbialis ist auf ein Kaliber vor kaum 
3 mm zusammengedrUckt. Lateralwarts derselben wird der N. medianus 
mit grosser MOhe freigelegt, der sich aber alsbald in dem starren Narben¬ 
gewebe verliert. Nachdem es auch durch Auffaserung nicht gelingt, Ner- 
venfaden des Medianus in die Narbe zu verfolgen, wird derselbe in einer 
Ausdehnung von 5 cm reseziert und die Stflmpfe mit zwdlf feinen para- 
neuralen Nahten vercinigt. 

Auf Querschnitten des extirpierten Narbengewebes sind zwei feine 
Nervenfaden wahrzunehmen, aber diese sind mit der Umgebung so zu- 
sammengebacken, dass sie selbst am Praparat nicht zu isolieren sind. 

Am nachsten Tage nach der Operation bemerkt der Eranke, 
dass er die Finger etwas besser beugt. Tatsachlich werden 
samtliche Finger in den Metacarpophalangealgelenken (kleine 
Handmuskeln), ausserdem die Mittel- und Nagelphalange des 
5. Fingers ziemlich betrachtlich gebeugt. Weniger, jedoch ent- 
schieden, die Mittel- und Nagelphalange des 2. Fingers, sowie die Daumen- 
phalangen (Flex, digit, prof, und subl). Die genannten Phalangen des 
2. und 5. Fingers werden auch dann gebeugt, wenn die Basalphalangen 
fixiert werden; dasselbe gilt auch fQr den Daumen. Die massige Klauen- 
stellung besteht noch. 

Wir haben gesehen, wie wechselnd die Heilergebnisse bei dem- 
selben Autor sind, selbst bei dem denkbar gleicbartigsten Material. 
Viele Falle beilen iiberhaupt nicht, viele nur nacb langer Zeit und 
auch dann nicbt vollstandig. Friihzeitige Heilung ist ube.raus selten, 
doch entschieden beobachtet. Auch seben wir, dass bei einzelnen 


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Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operatiouen usw. 2So 

Nerven die guten Eesultate auffallig baufig sind — besonders beziehen 
sich die raschen Heilungen auf den N. ulnaris — andere wieder ver- 
halten sich renitenter nach der Operation. 

Es bleibt nach alledem nur die eine Moglichkeit iibrig, dass es 
an der anatomischen Pradisposition liegt, ob die Funktion des in 
seiner Kontinuitat unterbrochenen Nerven nach der Operation wieder 
hergestellt wird and in welchem MaBe. Wir verweisen hier auf den Fall 
von Goldmann 1 ), wo trotz Resektion des N. ulnaris kein Funktions- 
fall erfolgte. Eine ahnliche Beobachtung hat Nonne 2 ) bezuglich des 
N. medianus gemacht. Diese anatomische Pradisposition kann nur 
darin bestehen, dass die einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen ausser 
den in den Lehrbiichern beschriebenen Nerven auch von anderen 
Stellen innerviert werden. Wir weisen diesbeziiglich auf die Unter- 
suchungen von Frohse und Frankel, sowie Ranschburg hin. 
Wahrscheinlich sind diese Varietaten haufiger und ausgebreiteter, als 
im allgemeinen angenommen wird. Selbst fur den N. ischiadicus ist 
es nicht ausgeschlossen, dass er in seinem Verlaufe auch aus anderen 
-Nervenstammen Anschliisse erhalt. So erwahnt Hyrtl: „Von den 
fiir den Adductor magnus bestimmten Muskelzweigen des N. obtura- 
torius sah ich offers einen Faden abgehen, welcher den genannten 
Muskel nach hinten durchbohrt, in die Eniekehle gelangt und auf 
der Arteria poplitea weiter herabgeht." Es liegt also die Annahme 
nabe, dass von der Gegenwart solcher akzessorischen Innervationen 
nnd deren mehr oder weniger starken Entwicklung der Erfolg der 
Operationen, dessen Grad und teilweise der Zeitpunkt des Eintrittes 
desselben abhangig ist. 

Den einen von uns (Makai) fiihrte die bekannte Erfolglosigkeit 
der Peroneusnahte in der Gegend des Wadenbeinkopfchens zur An¬ 
nahme der Kollateraltheorie. Es fiel ihm auf, dass sowobl bei der 
Unterbindung der A. poplitea Ernahrungsstorungen viel haufiger in 
der Unterextremitat auftreten, als wenn wir mehr oben oder unten 
die Gefasse unterbinden, ebenso die hoher oben ausgefiihrten Nerven- 
nahte erfolgreicher sind, als wenn wir dieselben an der genannten 
Stelle machen. Anders kann diese Beobachtung kaum erklart werden, 
als dass unterhalb dieser Stelle keine Anastomosen mehr zum Nerven- 
faden treten. Es bliebe nur die Frage ungelost, warum diese Ersatz- 
innervationen nicht sofort nach der Verletzung des Hauptstammes in 


1) Goldmann, "Ober das Fehlen von Funktionsstorungen nach der Resek¬ 
tion der peripheren Nerven. Boitr. z. klin. Chir., Bd. 51, 1906, S. 183. 

2) Nonne, Arztlicher Verein von Hamburg, Sitzung voin 3. November 
1914. Ref. Neurol. Zentralbl. 1915, Nr. 1. 


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2SG 


Donath und Makai 


Wirksamkeit treten und auf welche Weise wir durch unsere Opera- 
tionen sozusagen die Einschaltung dieser Ersatznerven erreichen. 

Es ist zweifellos, dass zahlreiche, neurologisch durch Monate, 
selbst Jahre vergebliok bebandelte Kranke auf die Operation eine 
auffallige, sogar rasche Heilung aufweisen konnen. Diese Heilung 
ist in Berucksichtigung der obigen Auseinandersetzungen so zu er- 
klaren, dass durch den operativen EingrifF bestimmte Hemmungen 
ausgesehaltet werden, welche bis dahin die Tatigkeit der kollateralen 
Bahnen verhindert haben. Diese Theorie ist von dem einen yon uns 
(Makai) 1 ) im Jahre 1915 in der Budapester konigl. Gesellschaft der 
Arzte des naheren entwickelt worden, uud spater, unabhaugig von 
ibm, schloasen sich ihr anch Bethe und Becker im Jahre 1916 in 
der Wanderversammlung der Siidwestdeutschen Neurologen und Psy¬ 
chiater an. 2 ) 

Die Ausschaltung der Hemmungen konnen wir uns etwa folgender- 
maCen vorstellen: Bekannt ist der Brondgeestsche physiologische 
Versuch, bei dem die Durchschneidung des N. ischiadicus oder der 
hinteren Riickenmarkswurzeln am Frosch Atonie des Beines hervor- 
ruft. Dabei ist die Streitfrage von keiner prinzipiellen Bedeutung fur 
die Reflexnatur des Muskeltonus, ob die fortwahrend von der Peri¬ 
pherie zu den Vorderhornganglienzellen geleiteten Reize ihren Ur- 
sprung von der Haut oder bloss vom Muskel (Starlings propriozep- 
tives System) nehmen. Eine klinische Bestatigung dieses pbysiologi- 
schen Experimentes ist die Hypotonie bei Tabes, wo sowohl oberflachlicbe, 
als tiefe (Muskel-)Sensibilitatsstoruug vorhanden und die Empfindungs- 
leitung infolge der HinterstraDgsklerose behindert ist. In unserem 
Falle konnen wir annehmen, dass die Zerstorung im Verlaufe des Nerven 
und die darauf folgende Entzundung, sodann die nach Ablauf dieges 
Prozesses entstehende Narbe und deren Druck einen standig erhohten 
Reiz bildet, welcher die Zellen des peripheren (Riickenmarks-)Neu- 
rons der entsprechenden motorischen Babnen — mitinbegriffen die 
Kollateralbahnen — so sebr erschopft, dass sie die vom zentralen 
(Hirn-)Neuron ausgehenden motorischen Bewegungsreize zu verarbeiten 
und weiter zu befordern ausserstande sind. Diese Momente fehlten 
in den Fallen von Goldmann und Nonne und so ist das Erhalten- 
sein der Funktion verstandlich. Wenn wir bei der Operation die 
Narbe ausschneiden und durch die Heilung per primam ein weiteres 
Irritament ausgeschlossen wird, dann hort langsamer oder schneller 
die Ermiidung der Ganglienzellen des Vorderhornes auf und die Ver- 

1) Anzeiger der Budapester konigl. Gesellschaft der Arzte 1915, Nr. 14. 

2) Ref. Neurol. Zentrnlbl. 1916, Nr. 17. 


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Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operationen uaw. 287 

raittlung erfolgt, da die Hauptbahn unfcerbroehen bzw. nicbt herge- 
stellt ist, in der Koilateralbabn. 

Das Experimentum crucis dieser Theorie ist eine solche Opera¬ 
tion, bei welcber ausser der Aufhebung des durch den Narbendruck 
verursachten Irritamentes nichts weiter gescbieht, die Nervenstiimpfe 
nicht vereinigt werden, und das durch den resezierten Nerven ver- 
sorgte Gebiet Anzeichen der Funktion darbietet. Durch ein Ungefahr 
konnten wir in der jiinsten Zeit eine solche Beobachtung machen: 

J. B.., 40jfihr. Infanterist, erlitt^ am 3. Juli 1916 eine destruierende 
Schussverletzung am linken Oberarm und wurde bald darauf, am 11. Juli, 
in unsere Krankenanstalt aufgenommen. Der Yorderann hing mit einem 
kaum zweitingerbreiten inneren Hautlappen und entsprechendem Muskel- 
anteil am Oberarm, der einen mebrfadheu Splitterbruch erlitten hatte und 
einen zweitingerbreiten Substanzverlust aufwies. Es gelang auf konserva- 
tivem Wege den Vorderarm zu erhalten. Die A. brachial is, der N. 
medianus und ulnaris waren unversehrt. 

Der neurologische Befund vor der Operation war: Linker Oberarm 
wird zicmlich gut gehobeu. Aktive und passive Bewegung des Ellbogens 
minimal wegen Versteifung des (ielenkes. Die Hand kann dorsal nicht 
flektiert werden, Streckung der Finger minimal, dagegen werden Hand und 
Fiuger ziemlich gut gebeugf. 

Biceps, Tricepsreflex (3: radialer Periostreflex vorhanden. Carpalreflexe 
links 0, rechts minimal. Die elektrodiagnostische Untersuchung ergab 
Entartungsreaktiou im linken Radialisgebiete. Diagnose: Laesio N. 
radialis sin. in humero. Therapie: Freilegung des Nerven. 

Operation am 8. Marz 1917. Spirale Inzision vom oberen Drittel 
der Streckflache des .Oberarmes durch das machtige Narbengewebe bis zur 
FJlbogengrube. Das Narbengewebe dringt jenseits der Hautuarbe, sowohl 
proximal- als distalwarts, weit in die Muskulatur, so dass die Prfiparierung 
des Nerven grossen Schwierigkeiten begegnet. Nach Eindringen durch den 
intakten Anted des Triceps gelingt es endlich, den 4 mm starken N. ra¬ 
dialis am Knochen aufzutinden, der, in distaler Richtung verfolgt, sich als- 
bald iu ganz gleichartigem derben Narbengewebe verliert. Danach wird 
nach rnfihseligem Praparieren in der Ellenbeuge, entsprecheud dem Sulcus 
bicipitalis externus, der distale Stumpf aufgefnnden, der aber 1 cm fiber 
der Teilung sich schon im Narbengewebe verliert. Nach tunlicher Befrei- 
ung der beiden Nervenstiimpfe zeigt sich, auch bei Einrechnung des narbig 
verfinderten Anteiles, noch immer eine 15 cm betrageude Lficke. Nun war 
in der Nflhe kein Nerv vorhanden, in welchen eine Hofmeistersche Im¬ 
plantation hatte beweikstelligt werden konnen, und ein Ilerfiberziehen des 
oberen Nervenstumpfes auf die Beugetlache schien nicht ratsam, weil dann 
Nebenfiste batten geopfert werden mfissen; auch eine entsprechende Pro- 
these stand uns nicht zur Verffigung, dieselbe aber auch nichts genfltzt 
hatte, weil sic nur in Narbengewebe eingebettet werden konnte: aus diesem 
Orunde entschlossen wir uns, die Nervenstflinpfe wic bei Amputationen 
nach vorne zu ziehen und im Oesunden durchzuschneiden, wodurch der 
Nerv sich ins Muskelgewebe zurtickzieht. 

11. Mfirz. (icstern 7 Uhr morgens meldet Pat. der Schwester, das> 


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•288 


Doxath und Makai 


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er vorgesiern gegen 6 Uhr abends, also 30 Stnnden nach der Opera¬ 
tion, die Hand etwas strecken konute and dass in der Nacht 
anf dem HandrQcken die Empfindung zurQckgekehrt war. Der 
Kranke berichtete dies von selbst, obglcick der eine von uns (Makai) 
ihn am Tage nach der Operation aufmerksam gemacht hatte, dass eine 
Wiederkelir der Funktion nicht zu erwarten sei, nackdem die Nerven nicht 
zusammengenQkt werden konnten und fQgte nock hinzu, dass wenn spater, 
selbst nack Jakren, die fiesserung erfolgeu sollte, dann mdge er auf Kosten 
des Arztes nack Budapest komrnen. Suggestive Einwirkungen Qrztlicher- 
seits oder durch die Operation wurden also strenge vermieden. 

Die Untersuckung ergab: Dorsalflexion um mindestens 10°; 
die im Metacarpophalangealgelenke gebeugten Finger konnen 
um 40° gestreckt werden. Die Beugung in den Interpkalangealgelen- 
ken ist vollstQndig. Samtliche Bewegungen des Daumens etwas besckrankt, 
mit Ausnahme der Abduktion. Die Tasterapfindung auf der RQck- 
flache der Finger ist vollstandig, auf der RQckfl&che der Hand 
ist HypQsthesie vorhanden. Pinsel wird stellenweise, aber entschie- 
den und namentlich auf der ganzen RQckflache und dem I Metacarpus; Stiel 
Qberall empfunden. Schmerzempfindung ist sowohl auf der RQckflache der 
Finger als der Hand vorhanden, auf dem Daumen zeigt sich gegen die ge- 
sunde Seite kaum ein Unterschied; auf der RQckflache des Vorderarmes 
ist dieselbe sckwach vorhanden. Wegen des Verbandes konnte an der 
proximalen Halfte keine Untersuckung gemacht werden. 

15. Marz. Wie Pat. aufmerksam macht, hat sich die Streckung der 
Hand, sowie die Empfindung des HandrQckens verringert. Tatsachlick er¬ 
gab die Untersuchung eine geringere Dorsalflexion der Hand, doch ist sie 
entschieden vorhanden. Auf der RQckflache samtlicher Finger ist die 
Tastempfindung (PinselberQkrung) ebenso gut, als auf der gesunden Seite. 
Auf der RQckflache des 1. und 2. Metacarpus, sowie der unteren Halite 
des Vorderarmes Hypfistkesic fQr alle Empfindungsqualitaten. FQhlt seit 
der Operation spontane stechende Schmerzen in der RQckflache des Vorder¬ 
armes. Pat. findet jetzt den ganzen Arm beweglicher als vor der Operation. 

Mit dieser Theorie aber konnen samtliche Problems der Nerven- 
operation in befriedigender Weise erklart werden. In den nicht 
gelungenen Fallen sind wahrscheinlich nicht geniigende kollaterale 
Baknen praformiert. Bei den sehr selten erfolgenden friihzeitigen 
Heilungen stehen geniigend Seitenbahnen zur Verfugung, welche nach 
Aufhoren der Reflexhemmung die Reizleitung in kurzer Zeit iiber- 
nehmen konnen. Der Fall, wo die Funktionsherstellung nur fur einen 
gewissen Teil des Querscbnittes des genahten Nerven erfolgt, kann 
leicht dadurch erklart werden, dass nur die diesem Querschnitt ent- 
sprechenden Musketgruppen kollaterale Nervenbahnen besitzen. 

Es ist nicht unmoglich, dass diese kollateralen Bahnen vor der 
Operation Impulse zur Muskeltatigkeit wohl nicht bekomraen, aber doch 
soviet Reize leiten, als zurVerhinderung des ganzlichen Unterganges des 
Muskels notwendig ist. Es ist bekannt, wie renitent die kurzen 
Fingermuskeln nach Medianus- und Ulnarisnahten sind. Verebely 


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tJber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit nach Operatiouen usw. 289 

erklart dies mit dem friiheren Untergang und der Vernarbung der 
kleinen Handmuskulatur; uns erseheint es wahrscheinlich, dass eben 
weil die kleinen Muskeln der kollateralen Innervation entbehren, des- 
halb gehen sie leichter in Vernarbung fiber und kehrt ihre Funktion 
nach der Nervennaht nicbt zurfick. Wenn nach der Nervennabt spater 
aus irgsndeinem Grande’ ein neues Irritament am genahten Nerven 
entsteht, dann kann natfirlich die bereits eingetretene Funktion wieder 
rfickgangig werden. Dies und vielleicht die Uberbiirdung der frisch 
funtionierenden Muskeln mag es verscbulden, wenn nach anfanglichen 
Besserungen mitunter wieder Verscblimmerungen eintreten. So sah 
Gaugele 1 ) in zwei Fallen von Ulnarisoperation die anfanglich sebr er- 
heblicbe Besserung nach einigen Wochen wieder verloren gehen, so 
dass die nach der Operation verschwundene Krallenstellung bald 
nachher wieder in Erscheinung trat. 

Es ist bekannt, dass im allgemeinen, je frfiher die Nervennaht 
nach der Verletzung vollffihrt wird, die Heilung umso frfiher und 
vollkommener erfolgt. Jedoch sind auch solche Falle bekannt, wo 
nach langerer Zeit ausgeffihrte Operationen frtihzeitig die Heilung 
erfolgte, wahrend umgekehrt in frischen Fallen sie genug oft erst 
nach langerer Zeit sich kundgibt. In welchem MaBe die kollateralen 
Bahnen blockiert sind, mag von der Zeitdauer der Irritation des zen- 
tralen Stumpfes abhangen, ferner aber auch von der Intensitat des 
Beizes, welche durch die an den zentripetalen Bahnen angehauften 
Narbenbildungen und Entzfindungsprodukte gegeben sind; eine wei- 
tere Rolle spielt die Ausdebnung der praformierten Kollateralen, ferner, 
in welchen Muskelgruppen sie enden und wieweit das betreffende 
Individuum disponiert ist, diese Bahnen einzufiben. 

So wie auch bei der Blutzirkulatibn nur nach einer gewissen 
Zeit die Seitenbahnen genfigend werden, um den Kreislauf abzu- 
wickeln, ebenso kann angenommen werden, dass auch die Nerven- 
kollateralen nur nach individuell verschieden lang andauernder Reiz- 
leitung imstande sind, ganz oder teilweise die Nervenimpulse aufzu- 
nehmen und weiterzuleiten. Dies wfirde die verschiedene Zeitdauer 
der Heilung nach Nervennahten erklaren. 

Schlussfolgerungen. 

1. Wenn nach Kontinuitatstrennung peripherer Nerven zuweilen 
die Muskelfunktion tatsachlich erhalten bleibt, so ist dies auf die 
fortdauemde Tatigkeit von kollateralen Nervenbahnen zu beziehen. 

1) V. Gaugele, Ober Nervenverletzungen im Kriege. Zeitschr. f. ortho¬ 
pad. Chir., XXXV, 1915, Heft 3. 


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290 Dojjath und Makai, Cber die Wiederkehr det Muskeltatigkeit uaw. 

2. Eine Reihe yon Beobachtungen nach operativen Eingriffen an 
kontinuitatsgetrennten Nerven kann durch die Annahme eines ein- 
fachen Zusammenwachsens, bzw. einer Wiederhersteilung der Leitongs- 
bahn des genahten Nerven nicht erklart werden. 

3. Die hierher gehorigen Erscheinungen sind dnrch die Annahme 
von Kollateralbahnen, welche erst nach Ansscbaltang bemmender 
Reize mittelst des operativen Eingriffes zur Geltnng kommen, restlos 
zu erklaren. 

4. Histologische Bilder allein oder die Leitang des elektrischen 
Stromes sind keine einwandfreien Beweise dafiir, dass die tatsach- 
liche Leitang eines genahten Nerven auch fur die nervosen Impulse 
hergestellt ist. 

5. Es muss dahingesteilt sein, ob und unter welchen Umstanden 
eine tatsachliche Nervenreizleitung durch den genahten Nervenab- 
schnitt besteht. 

6. Die angefiihrten Beobachtnngen berechtigen noch nicht zu 
praktischen Sehliissen. Die Naht der Nervenstiimpfe ist, wo nur 
irgendwie technisch moglich, uberall auszufiihren. 


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Zeitschriftenttbersiclit. 


Archiv fUr Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 

Redigiert von E. Siemerling. Berlin 1917. 

Band 57, Heft 1. 

Serologische Untersuchungen bel Geisteskrankhelten, insbesondere 
bel Paralyse. Von Dr. P. Kirchberg-Frankfurt a. M. Ausgedehnte Unter- 
suchungen fiber Wassermannreaktion, Hamolysinreaktion, Abderhalden, Gold- 
sol, Mastix u. a. — Cber Hermann LInggs Krankheit. Von Dr. E. Jentsch- 
Obernigk. Nosographie. Es handelte sich urn eine depressive Neuropathie. — 
Znr neurologiscben Kasnistik der Kleinhirnverletzungen. Von Dr. Frieda 
Reich mann-Konigsberg i. Pr. — Hysterisehe Halbseltenlbsion nach Ein- 
wirknng sch&dliclier Gnse. Von Prof. Raeeke-Frankfurt a. M. — Cber 
psychische Stornngen bei Schnssverletzong beider Frontallappen. Von 
Prof. Rosenfeld. Katatonischer Stupor mit nachfolgender frontaler Ataxie.— 
Cber den Wert der Luetinreaktlon in differenlialdiagnostischer Bezlehung. 
Von Dr. Konig-Bonn. Die Luetinreaktion ist bei Lues cerebri etwas haufiger, 
als bei der Paralyse. Rehr gross ist ihr diagnostiseher Wert nicht. — Cber 
die Bebandlungsresullate der Kriegsverletzungen peripheristher Xerven. 
Von Dr. A. Pelz-Konigsberg i. Pr. Ausfuhrliche Arbeit. Die Erfolge der 
operativen Behandlung dfirfen nicht uberschatzt werden. — Hysterisehe Er- 
kranknngen bei Kriegsteilnehmern. Von J. Bauer-Stuttgart. — Cber kon- 
genitale Lues. Von Prof. A. H. Hfi bner-Bonn. Eingehende Studien zur 
Beantwortuug der Frage, wie weit die kongenitale Lues von EinfluBS ist auf 
die Entstehung spaterer Nerven- und Geisteskrankheiten. — Cber die Ent- 
stehnng von Grossenideen. Von Dr. Weichbrodt-Frankfurt a. M. — Cber 
die Frage der Dienstbeschttdlgung bei den Psychosen. Von E. Meyer- 
K^nigsberg i. Pr. — Cbir Kriegsncurosen, ihre Prognose nnd Behandlnng. 
Von Prof. Roaenfeld. — Eine psychogene Hassenerkranknng zu Regens¬ 
burg 1m Jahre 1519 nnd 1520. Von Dr. H. Schoppler. 

Band 57, Heft 2. 

Eine familiftre Trophonenrose der onteren Extremit&ten. Von R. Go- 

bel 1 und W. Itunge-Kiel. Sehr interessante Mitteilung fiber eine eigentum- 
liche trophoneurotische Erkrankung an den Ffissen und Zehen, die seit drei 
Generationen an raannliehen Mitgliedem einer Familie beobachtet wurde. Das 
Leiden beginnt etwa im 8. bis 10. Lebensjahr mit Schmerzen in den Zehen, 
Abfallen der Nagel und scblecbt heilenden Geschwfiren. Spiiter treten Blasen- 
bildungen, ausgedehnte Gangriineszierungen und Sensibilitiitsstorungen hinzu. 
Sekundiire Entzfindungen machten wiederholt eine Amputation notig. Die 
Verf. glauben, dass eine Erkrankung des Rfickenmarks dem Leiden zugrunde 
liegt. Ob es sich um Syringomyelie handelt, ist aber mindestens zweifelhaft. 


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292 


Zeitachriftenubersicht. 


Ahnliche Beobachtungen in geringer Zahl Bind schon von Bruns, Oehlecker, 
Bramann u. a. veroffentlieht worden. — Zur katatoneu Form der progres- 
siren Paralyse* Von G. Maeltzer-Lubeck. Ausfiikrliche klinische Angaben 
uber die unter dem Bilde einer Katatonie verlaufende Form der Paralyse. — 
Stndien fiber die progressive Paralyse. Von F. Jahnel-Frankfurt a. M. 
Ausfuhrliche Angaben uber die Spirochatenbefuude in den Gehirnen von Para- 
lytikern. — Der Inhalt der Psychose. Von Prof. Raecke. Polemik gegen 
einen gleichbetitelten Vortrag von E. Jung in Zurich. — Beitrag zur Kenut- 
nis der Kleinhirnagenesie. Von W. Tintemann-Osnabriick. Klinisch: 
Ataxie, Sprachstorung und Idiotie. Anatomisch : Agenesie des Kleinhims, Ver- 
kummerung der Olivenformation. Mangelhafte Entwicklung der Groasbirn- 
rinde. — fiber Bezielmngen zwisehen klinischem und histopathologischem 
Befnnd bei einer famili&ren Erkranknng des kindliehen motorisohen Sy¬ 
stems. Von G. Heilig-Kosten. Drei Schwestern im kindliehen Alter mit 
den Erscheinungen spastischer Spinalparalyse. Die anatomische Untersuchung 
ergab kombinierte Systemerkrankuug im Ruekenmark. Weitere Einzelheiten 
der interessanten Beobachtung s. im Original. — fiber Dissimulation. Von 
Dr. Flora Boenheim-Konigsberg i. Pr. Die D. ist praktisch wichtig be- 
sonders bei Depressionszustanden. — fiber zwei F&lle von Mitbewegungen 
bei intaktem Nervensystem. Von Dr. Lackner-KSnigsberg i. Pr. Mit¬ 
bewegungen in symmetrischen Muskeln an nicht gelahmten Gliedern. Aus¬ 
fuhrliche Beschreibung eines hierher gehdrigen Falles. — Neurosenheiluugen 
nach der Kanfmann-Methode. Von M. Raether-Bonn. Verf. erzielte in 
97 Proz. Heilung, meist in einer Sitzung. Heilung ist meist aueh dauernd, 
wenn die Kranken in der Heiinat bleiben konnen. — Zur Bebandlung hyste- 
risoher Storungen. Von R. Weichbrodt-Frankfurt a. M. Suggestivbehand- 
lung und Dauerbad. — Nekrologe auf Heinrich Sehfile (Moeli), Karl Pelman 
(A. Westphal) und Ludwig Bruns (R. Wollenberg). A. Strfimpell. 


Zeitschrift fUr die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 

Red. von Gaupp u. Lewandowsky. 

Berlin 1916. 


Baud 35, Heft 1 uud 2. 

Vaganten (Arbeitswanderer, Wanderarbeiter, Arbeitameider). 
Von M. Tramer-Munsingen in der Schweiz. Ausftihrliche statistische, klinische 
und psychologische Untersuchungen uber die zahlreiche Klasse der Vaganten. — 
Beitrag zur Kenntnis der schweren Migrftneformen. Von Dr. Schob-Dres- 
den. Bei einera schwer belasteten Mann, der seit der Schulzeit an Migrane- 
anfallen leidet, traten mit zunehmendem Alter immer sehwerere Erscheinungen 
im Anfall auf: psychische Storungen, Bchwere Bensorische Aphasie, Illusionen 
und Halluzinationen, Erregungszustande, vasomotorische Erscheinungen u. a. — 
Der sensorisch-motorlsche Dualtsmus Grie singers als funktiouelle Grund- 
lage geistiger Erkrankungsformen. Von Dr. Mollweide-Rufach. 

Baud 35, Heft 3. 

Psychische Nachwirkungen von Prof. Wiersma-Groningen. Psycho- 
logische Versuche an Schulkindern fiber Ubung und Gedachtnis. — GefUss- 


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Zeitschriftenubersicht. 


293 


und Jiervenverletzungen. Von M. Lewandowsky. Ausfiihrliche Mitteilong 
fiber schwere vasomotorische Erscheinungen, welche bei gleichzeitigen Gefiiss- 
und Nervenverletzungen auftreten. — fiber multiple Sklerose im Kriege. Von 
W. Mayer-Tubingen. Kasuistik fiber Falle multipier Sklerose bei Kriegs- 
teilnehmern. Die Kriegsstrapnzen spielen vielleicht eine ausldsende Rolle. — 
Krankheitsbeurusstsein und Krankheitseinsieht bei der Dementia praecox. 
Von Dr. O. Hinrichsen-Friedmatt-Basel. 

Band 35, Heft 4. 

Beobachtungen zur itiologle. Von M. Lewandowsky. Kaauistische 
Mitteilungen: Thomsenscbe Krankheit nacb Typhus, Verschliramerung einer 
alten spinalen Kinderliihmung durcb fortgesetzte Kalteeinwirkung, Entstebung 
einer zerebralen Hemiparese mit Epilepsie durcb starke korperliche Anstreng- 
ungen auf dem Boden einer anscheinend vollig geheilten Eozephalitis. — Neu - 
rologlsche TJntersncbnngen bei frlschen Gehlrn- und Itfickenmarksrer* 
lelzungen. Von Prof. H Berger-Jena. — Zur Symptomatologie und Pro¬ 
gnose der selteneren Formen epldemischer zerebrospinaler Meningitis. 
Von H. Higier-VVarschau. Zahlreiche lebrreiche Angaben fiber eine grfissere 
Anzahl genau beobacbteter Fiille. — Beitrbge znm Formenrelchtum der mul- 
tlplen Sklerose. Von H. Curschmann-Rostock. Verf. bespricbt die be- 
nignen Formen, die mit Remissionen verlaufen, ferner das familiare Auftreten 
der multiplen Sklerose, den lumbosakralen Typus mit Fehlen der Sehnen- 
reflexe und Mnskelatrophie, weiterhin Fiille mit dein Symptomenkomplex des 
intermittierenden Hinkens, mit einer atropbischen Gaumensegelliihmung, mit 
halbseitiger Zungenatropbie, mit gekreuzten Pons- nnd Pedunculuslahmungen, 
mitBasedow*Syinptomen,mitMilcbsekretion ohneZusamraenbang mit Scbwanger- 
scbaft und Wocbenbett — kurzum eine Fiille lebrreicher Beobacbtungen. — 
fiber die psyehogenen Ursaohen der essentiellen Enuresis noctnrna infan¬ 
tum. Von Dr. J. Kliisi-Zfiricb. 

Band 35, Heft 5. 

fiber Kllnlk und Theraple der Meningitis cerebrospinalis epidemlco. 

Von Dr. M. Goldstein-Halle. Beobachtungen aus einem Feldlazarett. Gute 
Erfolge der intralumbalen Serumtherapie. — Uber die Beurteilung and neuere 
Behandlnng der psycbomotorischen Storungen. Von Dr. Rieder und Dr. 
Leeser. Behandlung nach der sog. Kaufmannschen Methode. — DerNerren- 
schussschmerz. Von Dr. Schloessmann-Tubingen. Ausfuhrliche, reich- 
baltige Arbeit fiber Nervenschussverletzungen, insbesondere die dabei auf- 
treteuden Neuralgien. — Pupillenreaktion im bewusstlosen Zustande von 
Dr. Zsako. Auch bei vollstandiger Bewusstlosigkeit reagiert zuweilen die 
Pupille noch auf Licbt. — Eine Versohiebung im MischungsverhUtnls Albu¬ 
min und Globulin im Blutserum von Dementia praecox-Patlenten. Von 
B. Krause. Vorliiufige Mitteilung. 

Band 86, Heft 1 und 2. 

Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen von Dr. Kehrer-Frei- 
burg i. B. — fiber Reizung der sensiblen Nervenfasern bei Operationen an 
den peripheren Nerven. Von M. Lewandowsky. Beim ltadialis, Peroneus 
und Ischiadicus scheinen sensible und motorische Fasern ziemlich gesondert 


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Zeitschriftenubersicht. 


za verlaufen, bairn Ulnaris und Medianus findet eine weitgehende Vermischung 
der Fasern statt. — Zor Analyse und Brbandlnng der Kriegsuenrosen. Von 
Dr. W. Sauer-Mfinchen. — Krlegsnenrosen im Felde. Von Dr. Ernst Jo- 
lowicz. — Die stolsche Philosophic ala Mlttel psyehlscher Beeinflassnag 
Stotterer. Von K. C. Rothe-Wien. Dem Stoiker ist das Stottern eine Prfi- 
fung des Schicksals, der er sich dnrch Bewaltignng wfirdig erweisen muss! — 
Beltrag znm antitryplschen Index nnd dem Torkommen von Eiwetss bei 
delsteskranken. Von Dr. R. Zimmermann. Bei Geisteskranken lasst sich 
ein vermehrter Eiweisszerfall haufig nachweisen. Bei Epileptikern findet sich 
nach den Anfiillen hiiufij Albuminurie. — Von den Trlebfedern des nenro* 
tischen Persfinlichkeitstypns. Von Dr. A. 8torch. — fiber eine familllre 
Blutdrlisencrkrankung. Von E. Kretsehmer-Tfibingen. Familiare Er- 
krankung mit den Zeichen einer Hoden- und Hypophysenanomalie (Ennuchis- 
mus and Akromegalie), Intelligenzstfirungen, Arthropathien, Muskeldystrophie, 
vasomotorische Storungen. — liber elnen eigenartlgen Typns der psychlscben 
Spaltang. Von M. Bornstein. — Zur Dlfferentiaidiagnose der Stupor- 
and ErregungszustSnde. Von Dr. E. Herzig. — liber Meningoencephalitis 
and die Magnns-de-Kleynsehen Reflexe. Von Dr. Brouwer-Amsterdam. 
Drehungen des Kopfes und passive Bewegungen des Rumpfes bewirken ge- 
setzmassige Anderungen in der Haltung der Arme und im Muskeltonns, ent- 
sprechend iihnlichen Reflexen bei Tieren mit Himdurchschneidung in der Hobo 
der Corpora quadrigemina. 

Band 86, Heft 8 and 4. 

t)ber Epilepsie im Llehte der Kriegserfalirnngen. Von Dr. A. Haupt- 
mann-Freiburg i. B. Ausfuhrliehe Mitteilungen fiber das Verhalten der Epi- 
lepsie bei Kriegsteilnehmern. Zahlreiche interessante Einzelheiten. Mit einer 
Zunahme der Epilepsie durch den Krieg iiaben wir nicht zu rechnen. — Erhte 
and Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). Von Dr. K. Singer. Die Anfalle 
echter Schlufsucht gehoren weder zur Epilepsie noch zur Hysterie. Es gibt 
auch eine Pseudo-Narkolepsie, die hysterischer Natur ist. — fiber einige seltene, 
im Verlaufe ein?s Gehirntuniorralles beobachtetc Symptoms. Von E. Her- 
inan-Lodz. H-imatemesis, Albuminurie, umschriebenes Muskelzittern. Keine 
Autopsie. — Ffinf Fiille sogenannter Hysterie. Von J. van derTorren.— 
Atypiscbe Athetosis. Von Dr. G. Flatau. Ahnlichkeit mit der Distorsions- 
neurose. — Kontraktiirbildnng In gelilhmten Muskeln nach Nervenver- 
letzuug. Von M. Lewandowsky. Kasuistisehe Mitteilung. — Entoptische 
'Wahrnehmung des reliualcn Pigmentepithels im MigrUneanfall. Von Dr. H. 
Klien-Leipzig. Subjektive Wahinehmung eines hexagoualeu Mascliensystems, 
gedeutet nls entop‘isehe Wahrnehmung des Pigmentepithels. — fiber das Vor- 
kommen von SpiroehHten im Kleinhirii bei der progressiven Paralyse. 
Von F. Jahncl-Frankfurt a. M. — Erfnhrungen mit der von Weichbrodt 
angegebenen einfachen Liqnorreaktion. Von Dr. K. Hope-Hauiburg-Eppen- 
<lorf. Die Reaktion hat keine besonderen Vorzflge. A. 8trfimpell. 


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Aus detn Hauptfestungslazarett Po3en. (Chefarzt: Stabsarzt d. R. a. D. 

Med.-Rat Dr. Clauss.) 

Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen 

Krankheit 

Von 

Dr. Sigisinund t. Dziembowski. 

(Mit 4 Abbildungen.) 

Die Kenntnis der Pathogenese, der pathologisehen Anatomie so- 
•wie der Symptomatologie der Pseudosklerose und Wilsonschen Krank¬ 
heit ist eine Errungenschaft der neueren Zeit. Zwar diirfte ein be- 
reits von Frerichs bescbriebener Fall (Klinik der Leberkrankheiten 
Bd. 2, 1861, Beobachtung S) mit eigentiimlichen Symptomen von sei- 
ten des Nervensystems und schweren Veranderungen an der Leber 
sicher hierher zu rechnen sein, jedoch die grundlegenden Arbeiten und 
Beschreibungen stammen von v. Striimpell und Westphal sowie 
dem Englander Kinnier Wilson. Die beiden ersteu deutschen 
Forscher nannten das charakteristische, von ihnen in mebreren Fallen 
beobachtete Krankheitsbild mit Riicksicht auf eine gewisse klinische 
Ahnlichkeit mit der multiplen Sklerose Pseudosklerose. Wilson 
brachte dagegen seinen Symptomenkomplex vom klinischen Standpunkte 
aus in Beziehung zur Paralysis agitans und wahlte den Namen: Dege- 
neratio lenticularis progressiva, mit Riicksicht auf die von ihm gefun- 
denen pathologisch-anatomischen Veranderungen. Eine Anzahl Forscher, 
wie Alzheimer, Fleischer, v. Frankl-Hoch wart, Hosslin, 
Oppenh eim, Volsch, A. Westphal u. a. haben ihrerseits 
durch Forschungen und Beobachtungen zur Klarung des Krankheits- 
bildes beigetragen. Ganz besouders wurde aber seine Kenntnis durch 
v. Striimpell gefordert, welcher auf Grund eigener Beobachtungen 
und Zusammenstellungen von andererseits beschriebenen Fallen zu 
dem Schlusse gekommen ist, dass das unter dem Namen Pseudoskle¬ 
rose (Striimpell, Westphal) bekannte Krankheitsbild mit der 
Wilsonschen Paralysis agitans juvenilis identiseh ist. Beide Krank- 
heitsbilder sind namlich durch zirrhotische Veranderungen an der 
Leber, Milzvergrosserung sowie durch den von dem Forscher selbst 
ao benannten amyostatischen Symptomenkomplex charaklerisiert. 

Deutsche Zcitschrift (. Nervenhcilkunde. Bd.57. 20 


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v. Dziembowski 


Dieses Haaptsymptom, der amyostatische Symptomenkomplex, ist 
die Folge einer Storung der normalen Antagonistentatigkeit. Die rich- 
tige Koordination der Antagonisten ist unbedingt zur Ausfubrung ge- 
ordneter Bewegungen notwendig, ferner bedarf es ihrer aber aucb 
zur geniigenden statischen Fixation der nicht bewegten, aber frei ohne 
Unterstiitzung gebaltenen Gelenke. Fixiert man namlich ein Gelenk 
in mittlerer Stellung ohne jede aussere Unterstiitzung, so ist eine 
tonische Spannung, ein Zusammenarbeiten der entgegengesetzt wirken- 
den Antagonisten erforderlich. v. Striimpell nimmt besondere ner- 
vose Apparate an, welcbe die antagonistische Koordination aufrecht 
erhalten, bestandig regeln und deren Funktionsausfall sich hauptsacb- 
lioh in zweierlei Weise aussert. Entweder wirken dann die antago- 
nistischen Muskeln nicht mehr gleicbzeitig toniscb in koordinierter 
Weise, sondern werden kloniscb, ungleichzeitig nacheinander innerviert, 
wodurch aus der rnhigen, tonischen Antagonistenkontraktion ein An¬ 
tagonisten wack ein und -zittern entsteht; oder es bleibt die Gleichzeitig- 
keit der Kontraktion als solche unge3tort, aber die intensitat derselben 
wird erhoht. Im ersteren Falle tritt ein Zittern und Wackeln auf, 
welches bei mittleren Fixationsstellungen der frei gehaltenen, nicht 
unterstiitzten Gelenke sowie bei komplizierten Bewegungen am heftig- 
sten ist, da hier an die Koordination der Antagonistentatigkeit beson- 
ders hohe Anspruche gestellt werden. Bei extremer Beugung oder 
Streckung der Gelenke, bei der nur eine Antagonistengruppe ange- 
spannt wird, die andere aber erschlafft, hbrt das Zittern und Wackeln 
auf. Im zweiten Falle tritt im Gegenteil zu dem Wackeln und Zittern 
verstarkte Fixation der betreffenden Gelenke und Muskelgebiete auf; 
denn die erbohte Intensitat der sonst gleichzeitigen Kontraktionen 
bedingt gleichsam eine Hypertonie und Rigiditat der Muskeln. Die- 
selbe ist aber mit der spastischen Hypertonie und Rigiditat nicht zu 
vergleichen, die spastischen Phanomene, wie Reflexsteigerung, positi- 
ver Babinskireflex und klonische Erscheinungen sind in diesen Fallen 
nicht vorhanden. 

Diesen interessanten Symptomenkomplex nebst den sonstigen fur 
Pseudosklerose und Wilsonsche Krankheit charakteristischen Sym- 
ptomen babe ich bei drei Briidern zu beobachten Gelegenheit gehabt. 
Da iiber die Atiologie, Pathogenese, pathologische Anatomie und auch 
die Symptomatologie dieser interessanten Krankheitsbilder noch nicht 
voile Klarheit herrscht und meine Falle in mancherlei Hinsicht lehr- 
reich sind, halte ich ihre Veroffentlichung fiir angezeigt. 

Es handelt sich um die drei Briider Waclaw, Stefan und Kasimir 
Kochanski aus Posen. Die Eltern derselben sind angeblich stets ge- 
sund gewesen. Der Vater ist im hohen Alter angeblich an einem 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankkeit. 297 


Magenkrebs gestorben, die Mutter lebt und ist gesund. Sie hat 
mehrere Fehlgeburten gehabt; die Wa.R. ist im Blute negativ, krank- 
hafte Veranderungen sind bei ibr nirgends festzustellen. 


Fall 1. Waclaw K., 22 Jahre alter Schlosser, wurde Anfang April 
1914 auf die innere Stat. des Stadtkrankenhauses Posen (damaliger leiten- 
der Arzt Prof. Dr. Korach f) eingeliefert. 

Vorgeschichte: Angeblich stets gesund gewesen, hat in der Schale gat 
gelernt und machte auch anfangs als Lehrling in seinem Handwork gate 
Fortschritte. Angeblich erst seit einigen Monaten fiel es aber der Urage- 
bung auf, dass er immer stiller wurde und viel regungslos kerumsass. - 
Sein Gesicht wurde immer starrcr und regungsloser, sein Gang wurde 
immer unsicherer. Immer hhufiger kam es vor, dass er beim Vorw&rts- 
gehen nach vorn umfiel, als ob er sich nicht anhalten kdnne. Seine Sprache 
wurde auffallend abgehackt, er begann sich oft zu verschlucken. Am mei- 
sten fiel aber die zunehmende Bewegungslosigkeit auf. 

Untersuchungsbefund: Kraftiger, gut gebauter junger Mann im guten 
Ern&hrungszustande. Farbe der Haut und der sichtbaren Sckleimhaute 
regelrecht. 

Die Untersuchung der Sinnesorgane ergibt: 

Am Rande der Hornhaut sieht man in der Substanz derselben 
einen Pigmentring von braunlich-grtinlicher Farbe und reichlich 1 ram Breite. 
Bei Lupenbetrachtung lflsst sich feststellen, dass derselbe aus feinsten, 
braunlich-grttnlichen PigmentkOrnchen besteht. Im Qbrigen ist die Seh- 
scharfe regelrecht, der Augenhintergrund ohne krankbaften Befund, die 
Augenbewegungen sind frei. Die Olirenuntersuchung ergibt nichts Krank- 
haftes. • 


. Von vornherein fill It der Gesichtsausdruck des Pat. auf, der auf An- 
hieb mit der Parlcinsonschen Maske verglichen werden kann. Der Gesichts¬ 
ausdruck ist (lberaus starr und oline jeglicbe mimischc Bewegung. Der 
Mund ist andauernd halb offen, der Speicbel fliesst andauernd zu beiden 
Mundwinkeln heraus. An der Stirn sieht man mehrere transversale Falten, 
tlber der Nasenwurzel mehrere vertikale Furchen. Die Augen 'sind an¬ 
dauernd weit geOffnet. Infolgedessen macht auch das Gesicht den Eiudruck 
des sogenannten versteinerten Erstaunens. Aufgefordert macht er die 
Augen und den Mund langsam und gleichsam mit MQhe zu. Die Bewe- 
gungen des Gaumens und der Zunge sind ebenfalls Oberaus langsam. Der 
Speichelfluss ist offenbar durch das Fehlen der spontanen Schluckbewegun- 
gen verursacht. Das Schlucken der Speisen geht n&mlick tlberaus langsam 
und mQhselig vor sich. Er verschluckt sich haufig, worauf langsam nach- 
einander folgende HustenstSsse erfolgen. Die Sprache ist ausserst langsam 
und skandierend; seinen Namen spricht er folgendermaBen aus: K . . . 
ochch . . . cha ... a ... an ... sk ... i. Es ist dies auch das einzige 
Wort, welches er herausbringt. Schon beim Aussprechen dcsselben, erst 
recht aber beim Versuch andere Worte auszusprechen, tritt eine Erscheinung 
auf, w’elche mir zuerst als Zwangslachen imponierte. Es ist dies jedoch 
kein eigentliches Zwangslachen, sondern eine Reihe unregelmassig aufein- 
ander folgender gequetschter Schreie und krahender Inspirien. Eine Parese 
der Gesichts-, Gaumen- und Kehlkopfmuskeln ist dabei nicht vorhanden. 
Alle Bewegungen werden, wenu auch verlangsamt und gleichsam mtthselig, 


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v. Dziembowski 


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so doch in vollem Umfange ausgefQhrt El. Entartnngsreaktion, Atrophie 
usw. sind nirgends nachzuweisen. 

Anch an den Extremitaten fallt eine recht hochgradige Bewegungs- 
armnt auf. Spontane Bewegungen dec Extremitaten erfolgen so gut wie gar 
nicht, die passiv beigegebenen Stellungen werden sekr lange Zeit hindurch 
beibehalten. Besonders deutlich ist das am passiv dorsal flektierten Fnsse 
zu sehen; man kann hier ohne jeden Zweifel von einem positiven C. West- 
phalschen Symptom, der sogenannten paradoxen Kontraktion sprechen. 
Fordert man den Pat zu aktiven Bewegungen auf, so erTolgeh dieselben 
ftusserst langsam und mQksclig. Dies beziebt sich auf alle Muskeln und 
Gelenke der Extremitaten und ebenso auck auf alle Muskeln des Rumpfes, 
des Schulter- und des BeckengQrtels. Dabei ist aber die robe Kraft der 
Bewegungen so gut wie gar nicht kerabgesetzt; der Pat. fixiert die Gelenke 
in den extremen Beuge- und Streckstellungen ganz gut. Bei passiven Be¬ 
wegungen fdllt eine leicbte, gleichmQssige Rigidit&t der Muskeln auf. 
Zeitweise tritt aber bei mittlerer Fixation der Gelenke der oberen Extre¬ 
mitaten ein leichtes Wackeln in diesen Gelenken ein. Komplizierte Be¬ 
wegungen kdnnen infolge der aussersten Verlangsamung der Bewegungen 
gar nicht ausgeffihrt werden, auch das oben erw&hntc Wackeln ist hierbei 
hinderlicb. 

Aufrechtes Steben ist mSglich; l&sst man aber den Pat. einige Sckritte 
vor- und rQckwftrts gehen, so tritt eine selten stark ausgesprocbene und 
charakteristische Pro- bzw. Retropulsion auf. 

Im Obrigen ergibt die Untersuckung des Zentralnervensystems keine 
krankhaften Ver&nderungen. Die PrQfung samtlicber oberflitchlicher und 
auch tiefer Reflexe ergibt ein vOllig regelrecbtes Verhalten derselben. 
Pa^sen sind nirgends nachweisbar, die PrQfung auf Ataxie ergibt abge- 
sehen von leicbten, lediglicb durck das Wackeln bedingten StOrungen 
vollst&ndiges Fehlen jeglicher ataktiscber Symptome. Die Sensibilitats- 
prQfung ergibt desgleicben ein vfillig regelrecbtes Resultat. Das Vorhan- 
densein einer Demenz ist infolge der vorhandenen schweren SprachstOrung 
nicht mit Sicherheit festzustellen, jedenfalls liegt aber kein erheblicher 
Intelligenzdefekt vor, da der Kranke offenbar orient ert ist, das um ihn 
vor sich Gehende versteht und sich dafQr interessiert. Die Stimmung ist 
liberaus wecbselnd. Mitunter ist er auffallend reizbar, meist ist er aber 
hochgradig apathisch. 

Die Lumbalpunktion ergibt eine dcutliclie Steigerung des Druckes der 
ZerebrospinalflQssigkeit, im Qbrigen ist aber der Liquor klar und ohne 
nachweisbare krankhafte Veianderuugen, die Wa. R. im Punktate ist nega- 
tiv, ebenso Noune-Apelt u-\v. 

Die LympbdrQsen, Schilddrttsen und die tlbrigen Halsorgane weisen 
bei dem Pat. keine krankhaften Veranderungen auf. Keine Thymusper- 
sistenz feststellbar. 

Herz und Lunge o. B. 

Die Leberdampfung i-t auffallend klein, der Leberrand ist beim tiefen 
Inspirium unter dem Ripiten^aum zu ftiblen, er ist scharf, hart und un- 
eben. Die Milz ist ganz deutlich ftthlbar und auch perkutorisch entschie- 
den vergrflssert. 

Im Urin sind Eiweiss und Zucker nicht nachweisbar. Urobilin stark 
positiv. Die PrQfung auf alimentare Lavulosurie und Galaktosurie fallt 
positiv aus. 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilaonschen Krankheit. 299 

Die Blutuntersuchung ergibt: Wa. R. im Blute negativ. Hamoglobin 
60 Proz., Erythrozytenzahl regelrecht. Leichte Anisocytose, vereinzelte 
Ring- und Pessarformen. 

Leukozyten 3000—4000; davon 35—40 Proz. Lymphozyten, im Obrigen 
weisses Blutbild o. B. Tkrombozytenzahl auffallend niedrig, im Durch- 
schnitt lOOOOO: 

Im Qbrigen ergibt die Uutersuchung keinen krankhaften Befund. 

Der Pat. lebte mit diesen oben beschriebenen Symptomen, welche un- 
verandert blieben, noch etwa 6 Wochen im Krankenhause. Am 24. V. 1914. 
Exitus letalis infolge einer Bronchopneumonie. 



Fig. 1. (Fall 2.) 

Die Sektion wurde am 25. V. 1914 im Patliolog. Institut zu Posen 
von Herrn Prof. Winkler vorgenommcn. Ich fQhre die zur Beurteilung 
des Falles wichtigen Punkte aus dem mir in liebenswdrdiger Weise flber- 
lassenen Sektionsprotokoll an. 

Die Hals-, Rachen- und Brustorgane sind frei von krankhaften Ver- 
anderungen, nur an den Lungen sind zahlreiche bronchopneumonische Herde 
festzustellen, die offenbar auf stattgehabte Aspirationen zuruckzufUhren sind. 

Die Milz ist erheblich vergrbssert, ihr Gewicht betragt 305 g. Sie 
ist weich, blaurot, die Zeichnung ist regelrecht. Mikroskopisch keine Be- 
sonderheiten. 

Die Leber ist schwer verandert, das Gewicht betriigt 1460 gr. Die 
Farbe ist braungelb. Die Oberflache ist Qberall ausserst uneben, nirgends 
ist eine auch noch so kleiuc glatte Partie vorhanden. Die Unebenheit ist 


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300 


v. Dziembowski 


durch kleine kalbkugelige Knoten von 3—10 ram Durchmesser kervorge- 
rufen. Auch auf dera Durchschnitt zeigen sich diese Knoten von eben 
derselben GrOsse nnd kugeliger Gestalt. Zwischen den Knoten, welcke 
durchweg das Ausseben von Lebcrgewebe haben, siebt man nur scbmale 
FaserzOge. Die Pfortader und ihre Aste sind weicb and frei von makro- 
skopischen und mikroskopisch nachweisbaren krankbaften Verfinderungen, 
ebenso auch die Gallenblase und die Gallenwege. 

Histologisch konnte die Lebererkrankung als eine ungewdhnliche diffuse 
JZirrhQse gedeutet werden. Das zurflckgebliebene Lebergewebe wies deutliche 
regenerative Tatigkeit auf. Die schon makroskopisch sichtbaren Knoten sind 



Fig. 2. (Fall 2.) 

durcb Proliferationsvorgitnge an den Leberzellen entstanden, wahreud von 
eiuer Wucherung der Gallengbnge nichts festzustelleD ist. Die acindse 
Zeichnung ist gar nicht nachzuweisen. Die durcb das lockre, gefftssrcicke, 
stark vermekrte Bindegewebe abgegrenzten Lebergewebsbezirke weisen in 
sich ebenfalls keine regelrechte, acinOse Zeichnung auf; auch ist von der 
radiftren Anordnung der Leberzellbalken nichts zu sehen. 

Die Schadelkuochen sind auffallend stark verdickt (8 mm im Durck- 
messer). Die Gehirnsektion ergibt leicbtes Odem der Pia und einen deut- 
lichen Hydrocephalus interims. Die Gehirnventrikel sind alle auf das 
2—Sfache vergrossert. Im ilbrigen wurde aber das Gehirn makroskopisch 
und mikroskopisch ganz und gar frei von Yeranderungen gefunden. Auch 
an den grossen Ganglien und besonders am Linsenkern konnten krankhafte 
Yeranderungen absolut nicht nachgewicsen werden. 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsouschea Krankheit. 301 



Der beschriebene Fall stellt eine charakteristische Paralysis agitans 
juvenilis vom Wilsonschen Typus dar. Die wichtigsten Symptome 
waren die Pigmentierung am Hornhautrande, die Leber- und Milzver- 
anderungen sowie auch der Symptomenkomplex der Amyostasie. Die 
sehr stark ausgesprochenen Veranderungen an der Milz und Leber 
knnnten intra vitam diagnostiziert werden. Die Ersckeinung der ver- 
starkten Fixation der Gelenke und Muskelgebiete durch die gesteigerte 

allseitige Antagonistenspannung ausserte _ 

sich in der mimiscben Starre und allge- 
meinen Bewegungsarmut und war ganz be- 
sonders ausgepragt. Ieb mochte noch an 
dieser Stelle erwahnen, dass die Pro- und 
Retropulsion sich natiirlich durch die 
Striimpellsche Deutung der Amyostasie 
ebenfalls erkliiren lassen. Der Kbrper des 
Amyostatikers hat eben die Neigung in Rfl 
der einrnal dem Kbrper beigegebenen Po¬ 
sition zu w verharren und die Antagonisten- Hr 
spannung, mit anderen Worten die ab- 

norme Fixation der Geleuke uud Muskelge- Bj p j n 

biete, hiudert ihu an einer Stellungsande- KH t Wm J gk 

rung. Haben nun die Muskelgebiete die 

zur Herstellung des zum Gehen erforder- 

lichen Gleichgewichtes notwendige Stel- 

lung einrnal eingeuommen, so hindert sie 

die allgemeine Antagonistenspannung daran, 

zu andern, damit 


rechtzeitig die Stellung 
das zum Haltmachen erforderliche Gleich- H 
gewicht er/.ielt wird. Auch das beirn 
Sprechen auftretende, an Zwangslachen er- 
innernde Plianomen gehbrt zu dem amyo- 
statischen Symptomenkomplex. Allerdings IH 
handelt es sich hierbei nicht nur um Rigi- Fi"'3 (Fall ;) ) 

ditat der Muskeln, sondern auch um 

Wackelbewegungen, welche von den beim Sprechen tatigen Muskeln 
bei den komplizierten, zum Sprechen erforderlichen Aktionen ausgefuhrt 
werden. Sehr wichtig ist die Tatsache, dass in dem beschriebenen 
Falle mit den so iiberaus stark ausgesprochenen Symptomen Veran¬ 
derungen am Zentralnervensystem und speziell auch in den Zentren, 
welche nach Ansicht einzelner Autoren der Koordination der Antago- 
nistentatigkeit iibergeordnet sind, nicht zu finden waren. Dieses Feh- 
len von nachweisbaren kraDkhaften Veranderungen in diesen der 


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302 


v. Dziembowski 


Koordination der Antagonists anscheinend iibergeordneten Zentren 
in einem Falle mit so ausgepragter Funktionsstorung derselben legi 
den Gedanken an eine toxische Beeinflnssung jener Zentren nahe. 
Andererseits ist aber diese Beobachtnng auch insofern lehrreich, als 
ja bekanntlicb die bisher beschriebenen Veranderungen am Zentral- 
nervensystem in den einzelnen Fallen quantitatiy sehr verschieden sind. 
Daber konnte es wohl moglich sein, dass in einzelnen Fallen die 
krankhaften Veranderungen nur sehr geringfiigig und eben nicht 
nacbweisbar sind. Auf diesen, sowie auf andere Punkte werde ich 
bei einer gemeinsamen Besprecbung samtlicber drei Falle noch einmal 
zuriickkommen. 

Fall 2. Stefan K., 26 Jabre alt, ist als hilfsdienstpflichtiger Arbeiter 
am Hanptfestnngslazarett tfttig und ist auf diese Weise in meine Beband- 
lung gekommen. Er war bis zum 18. Lebensjabr stets gesund gewesen. 
Im 18. Lebensjahr trat ganz plOtzlich eine Labmjmg der ganzen rechten 
^Orperhaifte auf. Die rechte Gesichtsseite, der rechte Arm und das rechte 
Bein waren vollstandig gelahmt. Die Labmung ging aber recht rasch zu- 
rttck, und in wenigen Woclien war die Funktion der gelSfimten Gliedef 
so gut wie ganz wiederhergestellt; die noch bestehende Schwache wurde 
rasch durcb Elektrisieren in einem Berliner Krankenbause beboben. Etwa 
im 20. Lebensjabr traten Krampfanfalle auf. Regelmassig alle vier Wochen 
karti ein solcher AnfaTiy der Pat. wurde dabei vollkomraen bewusstlos, 
zog sicb beira Fallen mebrfacb Verletzungen am Kopfe zu und liess Urin 
und Stuhl in die Kleider. Nach einem Jabre vergingen aber die Krampfe 
wieder und er bat sie seit etwa ftknf Jabren nicht mehr an sich beobachtet. 
Allmahlich traten aber in der nachsten Zeit die ttbrigen jetzt nachweis- 
baren Symptome auf. Er begann immer mehr und haufi ger zu zittern , 
ftkblte sich matt und schwach. Dabei bemerkte er, dass ? seine Sprache 
immer abgehackter und undeutlicher wurde,. auch verschluckte sich oft 

beim Essen undjTrmkeih * ' 

s ^.-. >.- 

Die angestellten Nacbforschungen haben ergeben, dass St. K. guter 
Schuler und auCh anfangs ein tUchtiger Arbeiter war. Erst allmahlicb, 
ungefahr in seinem 16. und 17. Lebensjahr, verbnderte er sich auffallend 
zu Ungunsten. Er wurde im Jahre 1910 und 1912 mehrfach wegen Un- 
terscblagung, KOrperverletzung und Zuhalterei mit Gefangnis bestraft. Sein 
Lebenswandel ist auch z. Zt. schlecht; er gibt sich sehr viel mit Dirnen 
ab, und mehrere Verge hen im Dienst haben seine Entlassung aus dem 
Hilfsdienst erforderlich gemacht, 

Untersuchungsbefund: Pat. sieht etwas blass aus, der Ern8hrungezu- 
stand ist dOrftig. Er sieht nicht wie ein Ober 25 Jabre, sondern wie ein 
hflehstens 20 Jahre alter Mann aus. Die Behaarung der Genitalgegend 
ist dfirftig, in der Achselhohle fehlen die Haare fast vollstandig, ebenso 
die Bart- und Schnurrbarthaare. 

Augenbefund: Urn die Cornea zieht am ausseren Rande^derselben ein 
deutlicher, braunlich-grtfnllcher Pigmentring herum. Derselbe sTtzf~firder 
Substanz der Corriea^wird zentralwarts zarter und setzt sich aus feinsten 
PigmentkOrnchen 'zusammen, was man mittcls Lupe feststellen kann. Beim 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 303 

Blick nach den Seiten beiderseits leichte nystagmische Zuckungen. Augen- 
hintergrand o. B. Sehschirfe regelrecht. Ohrcnbefund regelrecht. 

Mundorgane: Gebiss dQrftig, die Zahne baben Oberdies den angedeu- 
teten Charakter von Huntginsonschen Zahnen. 

Lymphdrflsen, SchilddrOse und die tibrigen Halsorgane o. B. Kein 
erhaltener Tbymusrest nachweisbar. 

Lungen- und Herzbefund: regelrecht. 

Bauchorgane: Unter dem Rippensaum fQhlt man deutlich den scharfen, 
harten, etwas unebenen Leberrand, die Leberdampfung ist dabei reckt klein. 
Die Milz ist deutlich ffthlbar, auch perkutorisch ist die Milz deutlich ver- 
grOsscrt. 



Fig. 4. (Fall 2.) 


Der Urin ist klar, frei von Eiweiss und Zucker. Die Urobilinprobe 
follt deutlich positiv aus, ebenso die Untersuchung auf alimentare La- 
vulosurie und Gnlaktosurie. 

Blutuntersuchung: Wa. R. negativ. 

Hamoglobin 60 Proz., Erythrozytenzahl regelrecht, ziemlich viel Ring- 
uud Pessarformen, leichte Anisocytose. Leukozytenzabl deutlich herabge- 
setzt, schwankt um 4000 herum. Polynukleare 60 Proz., Lymphozyten 
40 Proz., vereinzelte Grammononukleare und tjbergangszellen. Thrombo- 
zytenzahl wesentlich herabgesetzt, etwa 100000—150000. 

An den Fingernageln aller Finger beider Hande bestehen schwere 
Veranderungen. Die Nagelenden sind ganzlich abgeschflrft, so dass nur von 
kleinen Nagelresten die Rede sein kann; dieselben sind sehr sprode und 


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304 


v. Dzigmbowski 


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ausserst ranh. Die Haut an den Fingerspitzen ist ebenfalis sehr sprdde, 
hart, ranh and rissig. An den Beugeseiten s&mtlicher Finger and der 
Vola manos beiderseits bestehen deutliche Reste einer Psoriasis palmaris 
(s. Fig. 1 u. 4). ^ 

Von seiten des Zentralnervensystems bzw. Muskelsystems sind fblgende 
Symptoine nachweisbar. 

Am Gesicht fallt eine sehr aasgesprochene mimische Unbeweglichkeit 
and Starre auf, das Gesicht hat direkt ein maskenhaftes Aussefien, so dass 
es TffSt"ehenso lebliaft wie bei dcm verstorbenen Bruder an den masken- 
haften Gesichtsausdruck der Paralysisagitans-Kranken erinnert. Der Mond 
wird andaucrnd halb offen gehalten, and aus dem rechten Mundwinkel 
fliesst fast ununterbrochcn Speichel heraus (s. Fig. 2 u. 3). An der aus- 
gestreckten Zunge kein Tremor feststellbar. Gaumenbewegungen regel- 
recht, keine Parese nachweisbar. Beim Essen and Triuken verschluckt 
sich Pat. trotzdem Offers, beim raschen Trinken kommt die FlOsgigkeit 
dann mitunter zdr Nase heraus. 

Die Sprache ist hocbgradig skandierend, langsam, mtlhselig and nOselnd. 
Er spricht z. B. den Namen seines Vorgesetzten derart aus: H . .. He . . . 
er . . . U . . . Unt . . . e . . . er . . . o . . . ffi . . . zi . . . ier . . . 
B . . . B . . . e . . . d . . . na . . . rek (Herr Utffz. Bednarek). 

Der Gang ist recht auffallend. Der Kranke geht zwar ziemlich sicher, 
ohne wesentlich zu ermtlden, er geht aber breitbeinig und steif; der Kopf 
und Rumpf wackeln besonders, wenn er sich beeilt, ausgiebig nach ver- 
schiedenen Richtungen. Dasselbe beobachtet man auch, wenn der Pat. bei 
der Arbeit die Kurbel eines grosscn Triebrades stehend dreht. Beim 
Kehrtmachen und bei Schwenkungen wahrend raschen Gehens taumelt er 
etwas nach der ursprQnglichen Richtung des Ganges, es bestekt dann 
gleichsam eine angedeutete Lateropulsion. 

Beim Liegen mit voller Unterstdtzung des Kopfes und des ganzen 
KOrpers and ebenso beim Sitzen mit gutern Anlehnen des RQckens und 
des Kopfes besteht vollstSndige Ruhe ohne jegliches Wackeln des Kopfes, 
des Rumpfes und der Extremitaten. Lassen wir ihu aber ohne Lehne frei, 
ohne UnterstQtzen des Rumpfes und der Extremitfttetv z. B. auf einer 
Tischkante sitzen, wobei natttrlich die Rumpfmuskeln, Nackenmuskeln usw. 
innerviert werden mQssen, so tritt ein Wackeln des Kopfes und Rumpfes 
nach verschiedenen Richtungen auf. Dasselbe geschieht auch mit den Ex¬ 
tremitaten, wenn wir z. B. den Arm ausstrecken lassen oder bei horizon- 
taler Ruhelage ein Bein heben lassen. Das Wackeln' tritt dann entweder 
nur in den Muskeln des Schulter- bzw. BeckengOrtels oder auch in den 
distalen Teilen der oberen bzw. unteren Extremitaten auf. Und zwar 
wackelt nur der ganze Arm als solcher im Schultergelenk bin und her, 
wenn der Pat. den Arm ausgestreckt frei halt; soli aber ausserdem noch 
im Ellbogengelenk eine leichte Beugung ausgefilhrt werden, so tritt noch 
ein Hin- und Herwackeln des Unterarmes im Ellbogengelenk ein. Beson¬ 
ders lebhafte Wackelbewegungen kann man an den Extremitaten in alien 
Gelenken bei komplizierten Bewegungcn, also z. B. beim An- und Auszie- 
hen beobachten. Hingegen beim vollstandigen Beugen oder Strecken der 
Gelenke, also in den extremen Stellungen, hort das Wackeln ganz auf. 

Die^Zahl der Schwingungen des Kopfes und Rumpfes betr&gt 80—100 
in der Minute. Die Unterarme, Hande, Uuterschenkel und Fttsse wackeln 
rascher, die Zahl der Oszillationen betragt hier Qber 120. 


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Zur Kean to is der Pseadosklerose and der Wilsonschen Kr&nkheit. 305 

Im Qbrigen bestehen die noch nachweisbaren Reste der vor 8 Jahren 
apoplektiform entstandenen Hemiplegie. Am Gesicht kann man noch auf 
der rechten Seite die Reste einer alten Facialisparese feststellen; auch be- 
steht noch rechts eine allerdings sehr geringfQgige Schwitche der oberen 
and unteren Extremit&t im Vergleich zur andern Seite, besonders bei den- 
jenigen Bewegungen, welcbe mit den Hand- and Fassmuskeln ausgeftibrt 
werden. Auch sind bier nocb leichte spastiscbe und klonische Ph&nomenc 
nachweisbar. 

Sonst bestehen keine krankhaften Symptome, keine Ataxie, nur die 
durch das Wackeln bedingte StOrung bei den Zeigeversucben; kein Rom- 
bergsches Ph&nomen. Die Sensibilitat ist am ganzen KOrper vOllig regelrecht 
Der Konjunktiyal-, der Kornealreflex, sowie die samtlichen oberflachlichen 
und tiefen Reflexe sind in regelrecbter Starke ausldsbar. 

Ausgesprochene Deraenz fehlt, allerdings spricht Vergesslicbkeit und 
anffallende Gleichgtlltigkeit fQr einen bestebenden Intelligenzdefekt. Dabei 
neigt er auffallcnd zu obszOnen Redensarten und Witzen. 

Die durch Lumbalpnnktion gewonnene ZerebrospinalflQssigkeit weist 
abgesehen von einer .deutlichen Drucksteigerung keine krankhaften Bestand- 
teile auf. Pat. gibt an, sich nack der Lumbalpnnktion einige Tage lang 
sehr wohl gefQhlt zu haben. Kopfschmerzen, die ihn sonst oft plagen, hat 
er darauf langere Zeit hindurch gar nicht empfunden. Die Wa. R. im 
Lumbalpunktat fallt negativ aus, und ebenso ist auch das Ergeljnfs HSF 
Reaktion nach Nonhe^XpeTE Keine Zellvcrmehrung im Liquor nach¬ 
weisbar. 

In diesem 2. Falle liegfc somit eine in das Krankheitsbild der 
Pseudosklerose bzw. auch Wilsonschen Krankheit gehorende Erkran- 
kung vor. Ganz abgesehen davon, dass die charakteristischen, klinisch 
sichergestellten Veranderungen an der Leber und auch der charakte- 
ristische Pigmentring an der Cornea den Fall klaren, besteht auch 
der von v. Striimpell definierte amyostatische Symptomenkomplex. Die 
Motilitatsstorungen in unserem Falle konnen wir sehr wohl als Storung 
der Antagonistentatigkeit auffassen. Die von v. Striimpell als beson¬ 
ders wichtig hingestellte Tatsache, das3 das Wackeln bei vollstandiger 
Muskelruhe aufhort, bei aktiver Muskelspannung aber in den Gelenken 
auftritt, deren zugehorige Muskeln sich anspannen, ist bei unserem 
Pat. sehr auffallig. In absoluter Rube ohne jede Muskelinnervation, 
also bei vollig ruhiger horizontaler Lage und im Sitzen mit Anlehnen, 
herrscht vollstandige Rube. Ebenso verbalt es sich bei vollstandiger 
Strecknng und Beugung von Gelenken, da hier nur die eine Antago- 
nistengruppe stark angespannt wird, wahrend die andere erschlafft. 
Dagegen bei komplizierten Bewegungen, z. B. beim An- und Ausziehen, 
bei denen die Koordination der Agonisten- und Antagonistentatigkeit 
ganz besonders beansprucht wird, und ebenso auch bei mittleren Fixa- 
tionsstellungen der Gelenke ist das Wackeln besonders heftig. 

Die Wackelbewegungen, also die durch klonische, ungleichzeitige 


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306 v. Dzikmbowski 

Innervation bedingte Stoning der Antagonistenkoordination, stehen in 
diesem Falle Stefan bei weitem im Vordergrnnde. Deshalb erinnert 
dieser Fall sp^ziell an diejenigen Falle, welche nnter dem Namen 
Pseudosklerose beschrieben worden Bind. Aber auch die andere Art der 
Stornng, die abnorme Fixation der Muskelgebiete, ist vorhanden, was 
die charakteristische mimische Starre beweist. 

Die epileptiformen Anfalle und insbesondere der apoplektiforme 
Insult, dessen Reste bei dem Kranken noch nachweisbar sind, bediir- 
fen einer besonderen Erorterung. 

Fall 3. Kasimir K, 17 Jahre alt, Posthilfsbeamter. £r gibt an, bis 
jetzt stets gesund gewesen zu sein, hat nur zeitweise Anfalle von Herz- 
klopfen und Sticbe in der Herzgegend. Mitunter ftthlt er sich etwas 
schwindlig. Sonst weiss er keine krankhaften Erscheinnngen anzugeben. 
Er ist ein rQstiger Fussg&nger und ausgezeichneter Fnssballspieler. 

Untersuchungsbefund: Kraftig gebauter, gesund aussekender junger 
Mann. Das Aussehen, die geistige und kttrperliche Entwicklung und Kraft 
entspricht vollkommen dem Alter. 

Augenbefund: An der Cornea ist ein Pigmentring, wenn apch nur 
sehr zart, entschieden vorhanden. Im ttbrigeh kein krankhafter Befund. 

Die Brustorgane, insbesondere auch das Herz, sind ohne krankhafte 
Yeranderungen. 

Baucborgane: Der Leberrand ist beim tiefen Einatmen unter dem 
Rippensaum ftthlbar, er ftthlt sich scharf und hart an. Leberdampfung 
regelrecht, keine GrOssenveranderung perkuttorisch nachweisbar. Die Milz- 
dampfung ist deutlich vergrttssert und intensiv, auch ist die Milz deutlich 
palpabel. 

Ira Urin fttllt die Urobilinprobe deutlich positiv aus, ebenso auch die 
Prttfung auf alimentare Lavulosurie und Galaktosurie. Sonst enthalt der 
Urin keine krankhaften Bestandteile. 

Blutuntersuchung: Wa. R. im Blute negativ. Hamoglobinmenge und 
Zahl der roten Blutkttrperchen regelrecht, vereinzelte Ring- und Pessar- 
forraen sowie leichte Anisozytose fallen jedoch auf. Leukozytenzahl 
herabgesetzt 4000—5000, Lymphozytose von 85 Proz. vorhanden. Die 
Zahl der Thrombozyten ist erheblich herabgesetzt, betragt gegen 150000. 

Am Gesicht des jungen Mannes fallt auf jeden Fall mimische Bewe- 
gungslosigkeit auf; der Gesichtsausdruck ist entschieden etwas leblos.. Da- 
bei werden aber die Gesichtsmuskeln und ebenso auch alle anderen von 
den Hirnnerven innervierten Mnskeln willkttrlich richtig bewegt. Yon einer 
Parese ist nichts nachzuweisen. 

Beim Gehen, beim aufrechten Stehen fallt nichts Krankhaftes auf. 
Sttmtliche Bewegungen der ExtremitAten sind regelrecht, mitunter besteht 
aber etwas Zittern der Hande bei komplizierten Bewegungen, namentlich 
beim An- und Auszieheh. 

Eine leichte Andeutung von Retropulsion scheint auch vorhanden zn 
sein. Stttsst man namlich den mit geschlossenen Augen stehenden Pat. 
kraftig nach hinten, so taumelt cr nach hinten zurttck und es gelingt ihm 
nicht ganz so leicht wie einem normalen Menschen den Kttrper wieder zum 
aufrechten Stehen zu bringen. 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose and der Wilsonschen Krankheit. 3Q7 

Im Qbrigen fftllt nichts krankhaftes an nnserem Pat. auf, auch ergibt 
die spezielle Untersuchnng des Zentraluervensystems keine krankhaften 
Erscbeinnngen. Die Prtkfung dec Sensibilitftt der Reflexe and die Prflfang 
aaf ataktische StOrungen weisen regelrechtes Verbalten in jeder Hinsicbt auf. 

Dass auch in diesem Falle eine beginnende Erkranknng von 
demselben Charakter wie bei den alteren Briidem yorliegt, iat meines 
Erachtens ohne weiteres klar in Anbetracbt dessen, dass Veranderun- 
gen an der Leber nnd Milz bereits* mit aller Sicberheit diagnostiziert 
werden konnen. Die Palpation nnd Perkussion ergeben ganz sichere 
Anhaltspunkte fur das Bestehen einer Lebererkrankung und diese 
Tatsache sowie die positive Urobilinprobe zugleich mit der alimentaren 
Lavulosurie nnd Galaktosurie sprechen mit aller Bestimmtheit fur 
das Bestehen eines erheblichen Funktionsausfalles der Leber. Auch 
nnterliegt das Vorhandensein einer hochgradigen Alteration der Milz- 
funktion keinem Zweifel. Bei diesem Organ weisen ebenfalls die Pal¬ 
pation und Perkussion eine Vergrosserung derselben auf und ausser- 
dem muss hier der Blutbefund, die Leukopenie und Thrombopenie, 
-auf die ich spater nocb einmal zuriickkommen werde, als diagnosti- 
scher Hinweis ausgeniitzt werden. Neben diesen ausgesprochenen 
Symptomen einer Erkrankung der Leber und Milz bestehen aber eben 
angedeutete Erscheinungen des amyostatischen Symptomenkomplexes. 
Es bestehen offenbar bereits ganz leichte Koordinationsstorungen der 
Antagonistentatigkeit, welche einmal in dem zeitweise angedeuteten 
Wackeln bei komplizierten Bewegungen zutage treten, und auch 
zweifellos der Grand fur die leicht angedeutete Starre des Gesichts- 
ausdruckes und Retropulsion sind. 

Fassen wir nun meine saratlichen drei Falle in Bezug auf die 
Symptomatologie noch einmal zusaramen, so ergibt sich, abgesehen von 
der bekannten Pigmentierung der C' ornea und der Leberveranderun- 
gen als Hauptsyraptom der amyostatische Symptomenkomplex. Ich 
brauche nicht raehr auf das Charakteristische desselben zuriickzukom- 
men, da ich ihn bei der Schilderung der Falle schon geniigend prazi- 
siert habe. Wichtig ist es aber, dass in meinen Fallen beide Arten 
der Koordinationsstorung so ausgesprochen nebeneinander vorgekom- 
men sind. In den Fallen Waclaw und Stefan waren zu gleicher Zeit 
sowohl das Wackeln, also die durch ungleichzeitige klonische Inner¬ 
vation bedingfce Koordinationsstoryng der Antagonisten als auch die 
Muskelstarre, die durch abnorme Intensitat der Antagonistenspannung 
hervorgerufen wird, vorhanden. Zwar steht bei Stefan das Wackeln 
im Vordergrunde und umgekehrt war bei Waclaw die Muskelrigiditat 
das am meisten auffallende Symptom, jedoeh unterliegt es gar keinem 
Zweifel, dass es sich in beiden Fallen um ein und dasselbe, durch 


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308 


v. Dziembowskj 


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dieselbe Noxe patbogenetiseh bedingte Krankheitsbild handelt. Auf 
Grand dieser meiner Beobachtung moss ich ganz entschieden denjeni- 
gen Autoren beipflichten, welche die P seudosklerose ond das yon 
Kinnier Wilson besch riebene, "aucITParalysis, agitans juvenilis ge; 
^nannte Krankheitsbild fur identisch halten. 

Abgesehen yon dem amyostatischen Symptomenkomplex konnte 
ich nun noch andere Krankheitserscheinungen in den zwei schweren 
Fallen Waclaw und Stefan feststlllen, die einer besonderen Erwah- 
nung verdienen. In beiden Fallen, ganz besonders aber bei Stefan, 
waren Anzeichen einer psycbischen Storung vorhanden; uberdies 
waren beim Falle Stefan noch die Reste einer vor etwa 8 Jabren 
apoplektiform entstanden'en Hemiplegie nachweisbar, und schliesslich 
hatte dieser Pat. etwa 1 Jahr lang an epileptiformen Anfallen gelitten. 
Den Schilderungen nach zu urteilen, diirfte es sich auch nicht etwa 
um funktionelle, sondern am epileptiscben Anfallen gleichkommende 
Zustande gehandelt baben. 

Was die Alteration der Psyche anbetrifft, so halten einzelne 
Autoren dieselbe bekanntlich fur sehr wichtig und fur Pseudosklerose 
und Paralysis agitans juvenilis charakteristisch; v. Striimpell bat 
allerdings mebrere Falle gesehen, in denen Anzeichen einer psychi- 
schen Storung und insbesondere auch ein Intelligenzdefekt fehlten. 
Apathisches Verhalten, Wechsel von stuporosen und Erregungs-Zustan- 
den, ein abnormTreizbares, widerstrebendes, trotziges und misstraui- 
sches Wesen wird in zahlreichen Schilderungen der Krankheit tiber- 
einstimmend beschrieben. Bei Waclaw war sowohl Apathie als auch 
ein solcher Wechsel von Stupor und Erregung unverkennbar. Bei 
Stefan sprechen ‘seine Delikte, wie Korperverletzung, Zuhalterei und 
Unterschlagung, sowie die Neigung zu obszonen Witzen und Redens- 
arten fiir geistige Minderwertigkeit. Uberdies besteht Reizbarkeit. 
Neigung zu Widerspenstigkeit und entschieden auch eineTntelligenz- 
storung, welche sich in seiner Vergesslicbkeit und Gleichgiiltigkeit 
in jeder Hinsicht aussert. 

Hemiparesen, welche allmahlich oder auch akut apoplektiform 
entstehen, kommen bei dem Pseudosklerose genannten Krankheitsbild 
nicht allzu selten vor. Der Fall Stefan hatte vor etwa 8 Jahren einen 
solchen apoplektiformen Insult erlitten gehabt, der eine Hemiparese 
der rechten Korperhalfte liinterlassen hat. Auch in andern Fallen ist 
derartiges beobachtet worden und in verhaltnismassig vielen Fallen 
wurden Pyramidensymptome, wie leichte spastische Erscheinungen und 
Reflexsteigerungen, beobachtet. Ebenso verhalt es sich mit den epilep- 
tischen Anfallen, welche in einigen Beschreibungen erwabnt werden. 

Von grossem Interesse ware nun die Erforschung der pathologisch- 


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Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilaonschen Krankheit. 309 

anatomiscben Veranderungen, welche dem Hauptsymptom, dem amyo- 
statischen Symptomenkomplex, und dem Leiden iiberhaupt zugrunde 
liegen. Zur Klarung dieser Frage lassen sich die von mir beobach- 
teten Falle in folgender Weise verwerten. Bei der Sektion des Wac- 
law konnten am Zentralnervensystem krankhafte Veranderungen nicht 
festgestellt werden. Der bestehende Hydrocephalusinternus kommt 
ja als kausales Moment fur die Entstehung des klinischen Krankheits- 
bildes nicht in Frage. Dieser negative Befund bei einem klinisch so 
iiberaus ausgesprochenen Falle, bei dem nur amyostatiscbe Symptome 
und keine Nebensymptome, wie apoplektiforme Insulte, Pyramiden- 
symptome usw., vorhanden waren, ist immerhin etwas Bemerkenswertes. 
Wilson bebauptet, in seinen Fallen mit grosser Kegelmassigkeit 
krankhafte Veranderungen im Linsenkern, namentlich im Putamen 
gefunden zu haben. Das Gliagewebe war bier in seinen Fallen ver- 
mebrt, die Nervenfasern und Nervenzellen waren teilweise zugrunde 
gegangen. Es ist ja ohim weiteres zuzugeben, dass der amyostatische 
Symptomenkfomplex ganz gut in Beziebung zu einer Erkrankung des 
Linsenkerns gebracht werden konnte, ob aber die andern Symptome, 
insbesondere auch die Demenz, die hemiplegischen Insulte und die 
epileptiscben Anfalle durch diese orklart werden konnten, ist sebr 
zweifelhaft (v. Striimpell). Viel plausibler erseheint bier die An- 
nahme derjenigen Veranderungen, die vor allem Westphal und 
Alzheimer nachgewiesen haben. Die Autoren haben Veranderungen 
der Gliakerne, besonders in den grossen Ganglien des Grosshirns, im 
Nucleus dentatus des Kleinhirns und in geringerem MaBe auch* in 
der Grosshirnrinde an Grosse, Form und Chromatingehalt feststellen 
konnen. Auch kleine Blutungsherde wurden namentlich im Halsteil 
des Ruckenmarke9 gefunden. Die Annahme einer Noxe, welche das 
Zentralnervensystem mehr diffus, mit Bevorzugung bestimmter Zentren 
und zugleich auch die inneren Organe (Leber und Milz) schadigt, 
erseheint gerechtfertigt. Welcher Art diese Noxe ist, ist schwer zu 
sagen; ob hereditare Lue3 wohl dazu imstande sein diirfte, lasst sich 
auch nicht entscheiden. Man konnte jedenfalls auch annehmen, dass 
eine toxisehe Alteration des Zentralnervensystems das Krankheitsbild 
hervorrufen kann. Es wurde schon mehrfach in der Literatur hervor- 
gehoben, dass eine von der erkrankten Leber und Milz ausgehende 
AutointOxikation als kausales Moment anzusehen ist. In neuester Zeit 
ausserte sich Hillel in diesem Sinne; dieser Autor beruft sich dabei 
auf experimentelle Daten und erinnert an die Versuchsergebnisse von 
Maassen, Nencki und Pawlow, welche nach Anlegung der Eck- 
schen Fistel bei Hunden klonische und tetanische Krampfe, Bewusst- 
seinsverlust und kataleptische Zustande beobachtet haben. Es ware 


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310 


v. Dziembowski 


auch schliesslich moglich, dass Veranderungen an den Gliazellen der 
grossen Ganglien, wie sie von Westphal und Alzheimer beschrie- 
ben worden sind, und auch die Degeneration der nervosen Elemente 
des Linsenkerns, die von Wilson beobachtet worden ist, erst allmah- 
lich infolge der toxischen Schadigung sekundar entsteht. Batte der 
Fall Waclaw langer gelebt, so hatten sich nachweisbare degenerative 
Veranderungen in diesem Sinne vielleicht noch entwickelt. Nicht 
unwichtig ist es auch, dass ehe der charakteristische amyostatische 
Symptomenkomplex richtig zum Vorschein kommt, schon klinische 
unzweideutige Erscheinungen einer Leber- und Milzerkrankuug nach- 
weisbar sein konnen. Ein Beispiel hierfiir gibt der Fall Kasimir. 

Veranderungen an der Leber, die zu dem typischen Sektionsbe- 
fund gehoren, waren in meinen drei Fallen einwandsfrei' vorhanden. 
Bei Waclaw konnten dieselben auf Grand der klinischen Untersuchun- 
gen angenommen werden und eine Bestatigung dessen ergab die 
Sektion. Auch in den beiden anderen Fallen ist die Annahme einer 
Lebererkrankung ohne weiteres bereclitigt in Anbetracht des klinischen 
Befnndes und des mittels der bekannten Proben festgestellten Funk- 
tionsausfalles der Leber. Die bistologische Untersucbung ergab in 
dem sezierten Falle eine chroniscbe atrophische Zirrhose mit volligem 
Umbaa des Lebergewebes und deutlicher Neiguug zur Regeneration 
des zuriickgebliebenen Leberparencliyms. Dieser Betund ist charak- 
teristisch fur unser Krankheitsbild (Alzheimer, v. Hosslin, Anton, 
Westphal, Fleischer, Volsch, v. Striimpell) und man kann ja 
ohne weiteres annehmen, dass derselbeProzess auch bei den beiden andern 
Briidern vorliegt. Die Atiologie dieser Leberzirrhose lasst sich aber 
schwer deuten; fiir die Annahme, dass ihr eine hereditare Lues zu- 
grunde liegt, bestehen keine sicheren Anhaltspunkte, wenn auch der 
histologische Befund nicht gegen Lues spricht. Jedenfalls ist diese 
Erkrankung der Leber fiir unser Krankheitsbild uberaus charakteri- 
stisch und sie fehlt auch nie in typischen Fallen. Ich mochte hier 
nochmals auf den jiingsten Pat. Kasimir hinw r eisen, bei dem erst an- 
gedeutete Symptome von seiten des Zentralnervensystems bestehen. 
Dieser Fall lehrt, dass die Erkrankung der Leber sich friihzeitig ent- 
wickeln und den nervosen Erscheinungen vorausgehen kann. An 
dieser Stelle erinnere ich auch an die von Prym und anderen For- 
schern ausgesprochene Ansicht, dass eine in friihester Jugend, bzw. 
im Embryonalleben erfolgte Schadigung des Lebergewebes die Ursaebe 
der Lebererkrankung ist. 

Gelegentlich der Bespreehung der Leberveranderungen mochte 
ich darauf hinweisen, dass Anomalien des Kohlehydratstoffwechsels in 
Krankheitsfallen, welche iu dieses Gebiet gehoren, offenbar eine Rolle 


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Zur Kenntais der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 3H 

spielen. Glykosurie ist mehrfach beschrieben worden (Fleischer, 
Anton) und Fleischer hat seinerzeit in Anbetracht dessen und im 
Biublick auf die Pigmentierung der Cornea und die vorkommende 
braunliche Verfarbung der ianeren Organe, die Vermutung zum Aus- 
druck gebracht, da3s eine dem Brooze-Diabetes ahnliche Stoffwechsel- 
storung vorliegt. In meinen drei Fallen fiel die Untersuchung auf 
alimentare Lavulosurie und Galaktosurie positiv aus. Ich glaube, dass 
diese Untersuchungsmethode fiir die Diagnose derartiger Falle yon 
nicht zu unterschatzender Bedeutung ist. 

Nicht unberiicksichtigt mochte ich das Blutbild in meinen Fallen 
lassen, da es meiner Ansicht nac-h Beachtung verdient. In Bezug auf 
daa rote Blutbild waren abgesehen yon einer unbedeutenden Oligo- 
chromamie keine bemerkenswerten Veranderungen zu yerzeichnen. in 
alien drei Fallen fand ich aber Leukopenie mit relativer Lymphozytose 
und eine deutliche Thrombopenie. Diese Herabsetzung der Zahl der 
granulierten weisaen Blutzellen und der Blutplattchen, mit andern 
Worten der Abkommlinge der Megakariozyten des Knochenmarkes, 
bei einer mit Splenomegalie einhergehenden Erkrankung diirfte auf 
keinen Fall unwichtig sein. Wir wissen ja hauptsachlich durch die 
Arbeiten von E. Frank, dass Hypoleukie und Hypothrombie der 
Ausdruck einer durch abnorme krankhafte innere Sekretion der Milz 
bedingte Funktionsstorung des Knochenmarkes sind. Wenn auch 
das Bestehen der von Frank angenommenen Wechselbeziehungen 
zwiscben Milz und Knocbenmark noch nicht allgemein anerkannt und 
als geniigend bewiesen betrachtet wird, so steht es fest, dass bei einer 
grossen Reihe von Splenomegalien, so vor allem bei Kala-Azar, bei 
der splenomegalen Form der Ilodgkinschen Krankheit, beim Typhus 
abdominalis, bei Bantischer Krankheit, bei der Splenomegalie vom 
Typus Gaucher-Schlagenhaufer und auch bei luetischen Milztumorcn 
dieses aleukische Blutbild mit grosster Regel massigkeit vorkommt. 
Eine Vergrosserung der Milz ist nun bei den Fallen von Pseudoskle- 
rose und juveniler Paralysis agitans wohl ebenso haufig wie die zir- 
rhotischen Leberveranderungen. Die Veranderungen des Blutbildes 
weisen aber darauf bin, dass eine Storung der Milzfunktion insbeson- 
dere ihrer inneren sekretorischen Tatigkeit im Spiele ist. Soweit mir 
bekannt ist, hat man bisher auf die Blutplattchen in den beschrie- 
benen Fallen nicht geachtet, Leukopenie und Lymphozytose sind aber 
in eiuigen Fallen doch anscheinend angedeutet gewesen; auch auf 
Neigung zu Blutungen, welche auf bestehende Hypothrombie schliessen 
lassen, deuten die Vorgeschichten einiger Falle hia. Man darf 
jedenfalls behaupten, dass in meinen Fallen Symptome festgestellt 
werden konnten, welche auf eine krankhafte Beeinflussung des Stoff- 

DeuUche Zcitschrift f. Nervcnhcilkunde. 13d 57. -t 


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312 


v. Dziembowski 


wechsels durch Funktionsstorung der Leber und eine Alteration des 
Blatbildes durch Funktionsstorung der Milz scbliessen lassen. 

Was die Frage der Atiologie aubetrifft, so glaube ich, dass man 
meine Falle folgendermassen in atiologischer Hinsicbt deuten kann. 
Hereditare Lues, welche als kau3aler Faktor sicherlich in Frage 
kommt, wie das auch in der Literatur in erster Linie you Striimpell 
betont worden ist, diirfte in meinen Fallen vorliegeD. Die Familien- 
anamnese liefert ja keinen sicheren Beweis dafiir, jedoch erwecken die 
Fehlgeburten der Mutter immerhin Verdacht. Von nacbweisbaren 
Symptomen, welche auf hereditare Lues hinweisen, verdienen folgende 
einer besonderen Erwahnung. Die Sektion des verstorbenen W. K. 
ergab einen Hydrocephalus internus und eine erhebliche plankonvexe 
Verdickung der Schadelknochen. Der Hydrocephalus internus, der ja 
haufig durch kongenitale Lues hervorgerufen ist, kann sebr wobl auch 
in diesem Falle so gedeutet werden, zumal Anhaltspunkte fur eine 
andere Entstehungsursache nicht nachweisbar waren. Die Verdickung 
der Schadelknochen weist ebenfalls auf Lues hin (Virchow, Roki¬ 
tansky), zumal auch hier kein anderes kausales Moment nachgewie- 
sen werden konnte. Die Veranderungen an den Fingernageln und 
deren Umgebung”(Onychia et Paronychia syphilitica), sowie die Pso¬ 
riasis palmaris und die angedeuteten Huutginsonschen Zahne bei dem 
Falle Stefan sprechen ganz besonders fur das Bestehen hereditarer 
Lues. Ein Hydrocephalus internus scheint auch in diesem Falle vor- 
zuliegen, wofttr die deutliche Steigerung des Druckes, die bei der 
Lumbalpunktion festgestellt worden ist, und die danach subjektiv deutlich 
empfundene Erleichterung und Besserung der bestehenden Kopfschmer- 
zen spricht. Uberaus wichtig und erwahnenswert ist aber die recbts- 
seitige Hemiplegie, die in dem Falle Stefan vor etwa 8 Jahren 
apoplektiform entstanden ist und deren Reste lieute noch, wenn auch 
nur angedeutet, vorhanden sind. Es handelte sich um eine Hemi¬ 
plegie, die sich recht schnell und hochgradig gebessert hat, und die 
somit lebhaffc an die charakteristischen heraiplegischen Insulte bei 
progressiver Paralyse erinnert. Die Hemiplegie fallt ja doch gleich- 
sam aus dem Krankheitsbilde heraus, da sie plotzlich eingesetzh hat, 
wiihrend das Hauptsymptom, der amyostatische Symptomenkomplex, 
ganz chronisch sich entwickelt hat. Diese Tatsache legt den Gedan- 
ken, dass Gefassveranderungen syphilitischer Natur vorgelegen haben 
konnen, doch wohl nahe. Die voriibergehenden epileptiformen Er- 
scheinungen konnten aber auch in derselben Weise gedeutet werdeD. 
Dass die Veranderungen an der Leber und Milz sowohl in meinen 
Fallen wie auch iiberhaupt durch Lues bedingt sein konnten, bedarf 
keiner besonderen Erorterung an dieser Stelle. 


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Zur Kenntnie der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 313 

In Anbetracht der eben dargestellten Tatsachen glaube ich trotz 
des negativen Ausfalles der serologischen, cbemischen and mikro* 
skopischen Untersuchung der Zerebrospinalfliissigkeit, dass hereditare 
Lues in meinen Fallen vorliegt. Meine Beobachtung spricht also zu- 
gunsten der Annahme, dass hereditare Lues in atiologischer Hinsicht 
als kausaler Faktor eine bedeutsame Rolle spielt. 

Anf Grund der mir aus der Literatar bekannten und von mir 
beobachteten Falle glaube ich zu folgenden Schlussfolgerungen be- 
rechtigt zu sein: 

Das familiare. d urch Pigmentierung am Hornhautrande, Leber- 
schrumpFung und psychische und nervose Symptome charakterisierte 
Krankheitsbild diirfte ein einheitlickes sein. Eine Unterscheidung von 
Pseudosklerose und Paralysis agitans juvenilis erscheint nicht am 
Platze. Bei beiden Erkrankungsformen ist der amyostatische Sym- 
ptomenkomplex das Hauptmerkmal, er aussert sich allerdings in 
zweierlei Weise, entweder durch abnorme Rigiditat der Muskeln oder 
in Wackelbewegungen derselben. Bei ein und demselben Patienten 
konnen aber sehr wohl diese beiden Modifikationen auftreten und bei 
den Mitgliedern ein und derselben Familie kann bald die eine, bald 
die andere mehr ausgesprochen sein. 

Abgesehen von diesem Hauptsymptom ist bei den zu diesem Bilde 
gehorigen Fallen die Pigmentierung der Cornea eine iiberaus cbarak- 
teristische, sonst nirgends zu findende Erscheinung. Nur in Anbetracht 
der gelegentlich vorkommenden braunen Pigmentierung der inneren 
Organe und der gleichzeitigen Lebererkrankung mit Stoffwechsel- 
anomalien konnte man sie zu dem Bronze-Diabetes in gewisse Be- 
ziehung bringen. Jedenfalls ist sie diagnostisch iiberaus wertvoll. 

Ebenso verhalt es sich mit der Leberschrumpfung, der durch sie 
bedingten Storung des Kohlehydratstoffwechsels, welche klinisch durch 
die bekannten Proben nachweisbar ist, sowie der Milzvergrosserung 
und den durch die Blutuntersuchung feststellbaren Anomalien der 
Milzfunktion. In Kombination mit dem amyostatischen Symptomen- 
komplex und der Hornhautpigmentierung sind dieselben iiberaus 
charakteristisch und tragen dazu bei, dass das ganze Krankheitsbild 
eine besondere Stellung in der nosologischen Klassifizierung einnimmt. 
Natiirlich hat dann auch ihr Nachweis fur die Diagnose entscheiden- 
den Wert. 

Was die pathologisch-anatomische Ursache dieses einheitlichen, 
oben definierten Krankheitsbildes betrifft, so kann man sie wohl 
folgendermaBen prazisieren. Das Zentralnervensystem ist in der Regel 
frei von makroskopisch wahrnehmbaren Veranderungen; die histo- 

21 * 


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314 


v. Dziembowski 


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logische Untersuchung ergibt aber solche, namentlich an den grossen 
Ganglien des Gehirns. Wilson halt eine in erster Linie von ihm 
beobachtete Degeneration der nervosen Element© des Linsenkerns far 
die Ursacbe des Leidens, wahrend Westphal, Alzheimer und andere 
Antoren eigenartige Veranderungen an den Gliakernen der Gebirn- 
rinde, besonders aber der grossen Ganglien des Gehirns nnd des Nu¬ 
cleus dentatus des Kleinhirns beobachtet haben und diesen ursachliche 
Bedeutung zuschreiben. Jedenfalls scheinen in der Quantitat der Ver¬ 
anderungen grosse Schwankungen moglich zn sein und es kommen 
klinisch einwandsfreie weit vorgeschrittene Ealle vor, in denen die 
genannten Veranderungen vermisst werden. Weit charakteristischer 
sind dagegen die. Veranderungen an der Leber, an der histologisch 
eine hochgradige Zirrhose mit volligem Umbau des Lebergewebes 
nachweisbar ist. 

Was die Atiologie anbelangt, so diirfte wohl hereditare Lues aller 
Wahrscheinlichkeit nach als ursachliches Moment angesehen werden. 
Wenn auch die serologische Untersuchung sowie die chemische und 
mikroskopische Untersuchung der Zerebrospinalfliissigkeit bisber keinen 
sicheren Beweis dafiir erbracht haben, so sind mehrere Falle bekannt, 
in denen hereditare Lues auf Grund klinisch festgestellter wichtiger 
Anhaltspunkte angenommen werden konnte. 


Literaturttbersicht. 

1. C. Westphal, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, 1883, Bd. 14, 
Heft 1. 

, 2. v. Strumpell, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1898, Bd. 12. 
S 3. Derselbe, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1893, Bd. 14. 

1 4. Derselbe, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1900, Bd. 16. 

5. Kayser, Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkunde, 44. Jahrg., Bd. 2,1902. 

6. Fleischer, Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkunde, 41. Jahrg., Bd. 1. 
,-7. v. Frankl-Hochwart, Zur Kenntnis der Pseudosklerose. Wien 1903. 

8. Salus, Med. Klinik Nr. 14. 

9. Haitians, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, Bd. 24. 

10. Anton, Miinchner med. Wochenschrift, 1908, Nr. 46. 

11. Fleischer, Miinchner med. Wochenschrift, 1909, Nr. 22. 

12. Derselbe, Bericht fiber die 36. Versammlung der ophthalmologischen 
Gesellschaft in Heidelberg 1910. 

13. Volch, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 42, 1911. 

14. Hosslin u. Alzheimer, Zeitschrift f. d. gesamte Neurologie u. Psy¬ 
chiatrie, Bd. 8, 1911. 

,15. Fleischer, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1912, Bd. 44. 

16. A. Westphal, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, Bd. 51, 1913. 

17. Rumpel, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 44. 

• ' 18. Schfitte* Archiv f. Psychiatrie, 1913, Bd. 51. 


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v. Dziembowski, Zur Kenntnis der Pseudoskleroae usw. 


315 



19. StScker, Zeitachrift f. Neurologie a. Psychiatrie, fid. 15. 

20. Cassirer, Neurol. Zentralblatt, 1913, Heft 20. 

21. Lewy, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, Bd. 50, 8. 50. 

22. v. Strumpell u. Handmaun, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheil- 
Icunde, Bd. 50, 1914. 

23. Higier, Zeitachrift f. d. gesamte Neurologie u. Psychiatrie. 

24. Rausch u. Scbilder, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, Bd. 52, 
1914. 


25. Zaloziecki, Mdnchner med. Wocheuschrift, 1914. 

26. Boat5m, Fortschritte der Medizin, 1914, Nr. 8 u. 9. 

27. Kleiber, Breslauer Dissertation 1914 

28. v. Striimpell, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, 1915, Bd. 54. 

29. Hillel, Med. Klinik, 1916, Nr. 13. 

30. Kubitz u. Staemmler, Zieglers Beitrage zur pathologischen Anato- 
mie u. allgemeinen Pathologic, Bd. 60, Heft 1. 


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Aus der medizinischen Universitatsklinik in Rostock. (Direktor: Ge- 
heimrat Prof. Dr. Martius.) 

Dber Ver&nderungen der Spinalflflssigkeit bei Erkrankungen 
peripherer Nerven, insbesoDdere bei Polyneuritis und bei 

Ischias. 

Yon 

Privatdozent Dr. Queckenstedt, 

Oberarzt der Klinik. 

Bei Polyneuritis nach Diphtherie werden in der Lumbalfliissig- 
keit Veranderungen angetroffen, die erstmals von Rom he Id (Deutsche 
Zeitschrift fiir Nervenheilkunde, Bd. 36) beschrieben worden sind. 
Seither liegen nur wenig Mitteibmgen iiber diesen Gegenstand vor. 
Noch sparlicher finden sich in der Literatur Angaben iiber das Ver- 
balten der Spinalfliissigkeit bei anderen Formen von multipier Neu¬ 
ritis. Ferner scheinen einige Besonderheiten, die nach unseren Er- 
fahrungen dem Liquorbefund in diesen Fallen regelmassig zukommen, 
bis jetzt uberhaupt nicht erortert zu sein. Wir haben im Verlauf 
mehrerer Jahre eine grossere Anzahl hierher gehoriger Beobachtungen 
sammeln konnen und wurden durch gewisse, dabei auftauchende 
Fragen veranlasst, unsere Untersuchungen auch auf isolierte Er- 
krankungen peripherer Nerven auszudehnen. Die Ergebnisse sollen 
im folgenden bekannt gegeben und besprochen werden. 

Von metadiphtherischer Polyneuritis standen uns im ganzen 
zehn Falle sehr verschiedener Schwere zur Verfiigung. Wir priiften 
lediglich Zell- und Eiweissgehalt des Liquors, letzteren anfangs, wie 
damals noch iiblich, nur nach der Nisslschen Methode, spater auch 
qualitativ mit Hilfe der Nonne-Apeltschen Globulinreaktion. In 
den letzten Jahren stellten wir ausserdem grundsatzlich, wie bei alien 
Lumbalpunktionen, die Wassermannsche Reaktion mit steigenden 
Liquormengen an, um Komplikationen nach dieser Richtung nicht zu 
iibersehen; selbstrerstandlich wurde sie daneben auch immer mit dem 
Blutserum ausgefiihrt. Die Resultate sind in Tabelle I zusammen- 
gestellt. 


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Uber Veriinderungen der Spinalflussigkeit usw. 

Tab e lie 1. 


317 


| Datum Eiweiss 1 Nonne- 



1. Punk- Zellgehalt 1 
j tion ■ 

nach 

Nissl 

Apelfcsche 

Reaktion 

Bemerkungen 

l.S.,Arbeiter, 
3(3 J.,klinisch 
beob. 9. VIII. 
bis 29.IX. 1910 

10. VIII. normal 
1910 ! 

2 Teil- 
striche 


Beginn AnfangJuli 1910. 
Nur leichte Sensibili- 
tiitsstdrungen, Areflexie. 

2. G., 40 J., 
klinisch beob.! 

ll.II.bis6.lv. i 
1911 

1 

I 

1 

2. III. • normal 
' 1911 

1 

1 

i 

j ; 

3 Teil- | 
striche | 

l 

! 

! negativ 

i 

Beginn Mitte Januar 
1911. Schwere Erkran- 
kung, hochgradige Ata- 
xie und Parese auch in 
den oberen Extremitaten 
und im Rumpf. Wasser- 
mannsche Reaktion im 
Blut und Liquor negativ. 

3. R., Pferde- 
knecht, 17 J., 
klinisch beob. 1 
8. VI. bis 23. 
VI f. 190 J 

13. VI. DOrmal 
1909 

18. VII. normal 
1909 

' ! 

3—4 Teil- 
striche 

3—4 Teil- 
sfcriche 


Beginn Mitte Mai 1909. 
N urSchluck-undSprech- 
storung, Panisthesien, 
Areflexie. 

4.K.,Arbeiter, 
29 J., klinisch 
beob. 21. bis 
30. III. 1912 , 

25. III. i3 irn cmm 
1912 ; 

j 

, ) 

5 Teil- 
striche i 

schwacho 

Opal- 

eszenz 

Beginn Anfang Februar 
1912. Leichte motorische 
und sensible Parese, be- 
jreits in Riickbildung. 
|W.R. in B1 und L. neg. 

5. Sch., Mu¬ 
si ker, 20 J., 
klinisch beob. 
13. I. bis 21. 
II. 1913. 

15. I. 1 inti cmm 
1913 

] 

| 

5—6 Teil- 
striche 

Triibung 

i 

Beginn Mitte Dezember 
1912. Mittelschwerer 

Fall. Stehen und Gehen 
eben moglich, Sensibili- 
tiit, bes. Tiefenemptin- 
dung, stark gesturt. W.R. 
iu Bl. und L. neg. 

6. E., Zimmer- 
polier, 39 J., 
tlinisch beob. 
10. V. bis 3. VI. 
1911 

18. V. normal ! 

1911 , 

! i 

1 

5—6 Teil- 
striche 

i 

negativ | 

Beginn Mitte April 1911. 
Miissige Parese, gerihge 
Sensibilitatsstoningen. 
W.R. im Bl. und L. neg. 

7.A.,Arbeiter, 
24 J., klinisch j 
beob.l3.V. bis' 
21. VI. 1911 ; 

1H V. vermehrt? 
1911 

9 Teil- 
striche 

negativ 

Beginn Ende Miirz 1911. 
Mittelschwerer Fall. 

W.R. im L. neg. 

8. Sch.,Tisch- : 
lerlehrliug, 17 
J., klinisch 
beob. 20. 1. bis 
7. IV. 1909 

| 

27. I. normal 

1909 j 

5. IV. normal 

1909 ; 

I 

i 

! 

i 

10 Teil- 
striche 
7—8 Teil- 
striche 


Beginn Mitte Dezember 
1908. Mittelschwerer 

Fall, wahrend der Be- 
obachtung Zuuahme, 

1 Abasie,Zehen undFuss- 
igelenke fast unbeweg- 
lich. Bei Entlassung 
erheblich gebessert. 


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3 IS 


Queckenstedt 


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1 

! 

I Datum 

d. Punk- Zellgehalt 
tion 

! Eiweiss 
j nach 
Nissl 

Nonne- 

Apeltsche 

Reaktiou 

! 

BemerkiiDgen 

t 

I 

9. K., Maler, 
34 J., klinisch 

13. I. 
1910 

vermehrt ? 

12 Teil- 
striche 

? 

Beginn November 1909. 
Schwerer Fall, hoch- 

beob. 3.1. bis 
20. 11. 1910 

1 

19. II. 
1910 

vermehrt ? 

16 Teil- 
stricho 

positiv 

gradige ataktische Lah- 
mung auch der oberen 
iExtremitaten, inu»8 ge- 
■futtert werden. BeiEnt- 
Ussung Stehen und 
Gehen mriglich. Knie- 
reflexe angedeutet. 

10. M., Post¬ 

26. III. 

4 im cmm 

36 Teil- 

sofortige 

Schwerer Fall. W.R. in 

bote, 29 J. 

1914 


striche 

Triibung 

L. neg. 


Wie aus der Tabelle hervorgeht, war eine zweifellose Zell- 
vermehrung in keinem der untersuchten Falle vorhanden. Seit wir 
die Zahlkammer (nack Fuchs-Rosenthal) verwenden, haben wir 
selbst bei starkster Eiweissvermehrung (Fall 10) nie mehr als Tier 
Zellen im cmm gefunden. Doit wo letztere als vielleicht vermehrt 
bezeicbnet sind, wurde ibre Zahl noch oach der alten franzosischen 
Methode — zentrifugieren, abgiessen, ausspritzen des miniraalen 
Bodensatzes mit der Kapillarpipette auf den Objekttrager — be- 
urteilt. Dies Verfahren ist zu ungenau, um eine geringe Vermehrung 
von noch normalem Zellgehalfc geniigend sicher unterscheiden zu 
lassen, und wir baben nach den Ergebnissen der Karamerzahlung 
Grand zur Annahme, dass bei der Mebrzahl dieser Kranken eine 
Zell vermehrung in Wabrheit nicht bestanden bat; wenn doch, so war 
sie jedenfalls nur geringfiigig. 

Ganz anders verhielt sicb das Eiweiss des Liquors. Nur bei 
einem Kranken (Fall 1) war die Spinalfliissigkeit auch in dieser Hin- 
sichfc sicher vbllig normal; bier waren die klinischen Erscheinungen 
leicht. Andrerseits ist es fur die Auffassung der gefundenen Ver- 
anderungen wichtig, dass der Eiweissgehalt sich einmal aucb da 
(Fall 2) noch an der oberen Grenze des uormalen — drei Si rich nach 
Nissl — hielt, wo die Erkrankung an Schwere solchen mit hohen 
Eiweisswerten (vgl. Fall 9 u. 10) kaum etwas nachgab. Ferner kann 
das Eiweiss, wie wiederholte Punklionen bei demselben Kranken 
(Fall 9) lehrten, noch zunehmen, nachdem bereits eine erbeblicbe 
Besserung der klinischen Erscheinungen eingetreten ist. Direkte Be- 
ziehungen zur Starke des neuritischen Prozesses besteben also offen- 
bar nicht. Im ganzen lasst sich aber sagen, dass bei der 
Mehrzahl aller Falle von diphtherischer Neuritis in der 


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Uber VeranderuDgen der Spinalflussigkeit usw. 


319 


Lumbalfliissigkeit eine Eiweissvermehrung auftritfc, die er- 
hebliche Werte erreichen kann und der keine oder so gut 
wie keine Zellvermehrung entspricht. 

Ganz das gleiehe fand sich nun bei drei Kranken xnit Polyneu¬ 
ritis anderer Atiologie, deren Spinalflussigkeit, da sie monatelang in 
klioischer Beobachtung standen, z. T. mehrmals untersucht werden 
konnte. 


Tabelle II. 


| Datum j 1 Eiweiss 

d. Punk-iZellgehalt nach 
tion | Nissl 


Bemerkuugen 


11. K., Schweinef'iitterer, 
84 J., Polyneuritis ex 
causa iguota. Begin n 
Anfang Dezember 1908. 
Kliniscbe Beobachtung 
13. I. bis 27. Vir. 1909. 


12. B., Stellmncher, !>3 J., 
Polyneuritis nach „Lun- 
genentzundung“.Beginn 
Mitte Januar 190.». Kli- 
nische Beobachtung 14. 

II. bis 18. IX. 1909. 


13. St., Rentner, 07 J., 
Polyneuritis senilis. Be- 
ginn Ende Dezember 
1909. Klinische Be- 
obachtumr 11. III. bis 
27. VII. 1910. 


19. I. 
1909 

3. IV. 
1909 
19. V. 
1909 
20. VII. 
1909 


16. II. 
1909 


19. V. 
1909 


vermehrt? 


vermehrt? i 
normal ! 

i 

normal 


vermehrt? 


I 


vermehrt? 


I 


30 Teil- Hohepnnkt der Krank- 
striche | heit; vollige Lahmung 
1 der Beine, Atemparese 
15 Teil- : Beginnende Besserung 
striche I in den Armen. 

10 Teil- , Beginnende Funktion d. 
striche j Oberschenkelmuskeln. 

5—6 Teil-i Gehen und Stehen mog- 
striche j lich. Unterschenkehnus- 
keln noch vollig be- 
wegungslosC 

15 Teil- j Massige allgemeine Pa- 
striche ! rese und Ataxie; Gang 
leicht ataktisch-nare- 
tiach. Geringe Sensi- 
bilitiitsstorungen. Bis 
Mitte April srarke Zu- 
88 Teil- nahme der Schwache, 
stricho der elektrischen Ver- 
iinderungen u. der Emp- 
findung88chiidigung bes. 
im Gebiete der tiefen 
Sensibiljtat. Dann all- 
mahliche Besserung. 


15. IX. 
1P09 


24. III. 
1910 


vermehrt? 12 Teil- Bewegungen in den 
j striche , Fussgelenken noch stark 
geschwacht, Zehenbe- 
j l wegungen minimal. 

| Komplette E.R. in den 

kurzen Zeheustreckern, 
distnle Reste der £en- 
sibilitiitsstorung. 

vermehrt? j8—9 Teil- Hohepnnkt der Krank- 
striche i heit. W.R. im L. neg. 


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320 


Queckenstedt 


Bei diesen Patienten bandelte es sich am Erkraakangen schwerer 
bzw. schwerster Form. Uber ihren poljneuritiscben Charakter konnte 
kein Zweifel bestehen: Diese Lahmung entwickelte sich bei alien 
dreien in typischer Weise, ohne Storung des Allgem einbefin- 
dens und ohne Fieber allmahlich im Verlauf von Wochen, einmal 
(Fall 12) 1 1 2 Monate nach einer Lungenentziindung, zweimal aus un- 
bekannter Ursache heraus. Sie ergriff symmetrisch obere und untere 
Extremitaten und hob in jedem Falle die Gebfahigkeit fur langere 
Zeit auf; bei K. (Fall 11) waren die Beine wochenlang absolut be- 
wegungslos. Die Rumpfrauskulatur war immer mitbeteiligt, bei deiu 
Letztgenannten voriibergehend auch die Atmung stark beeintrachtigt. 
Stets zeigte die Lahmung in Verlauf und Verteilung distalen Typus: 
Sie begann und endete mit Parasthesien und Schwache in den peri- 
phersten Teilen der Extremitaten, betraf die unteren mehr als die 
oberen, fiihrte distal zur vollkommensten Lahmung, zu den hocbsten 
Graden von Atrophie und Entartungsreaktion und zu den ausgespro- 
chensten Sensibilitatsstoruugen, von welch letzteren die Schadigung 
der tiefen Empfindung regelmaliig am meisten hervortrat. Bei alien 
blieben Reste der zuletzt zuriickgehenden Peroneuslabraung lange Zeit 
nachweisbar; bei St. (Fall 13) waren sie 10 Monate, bei B. (Fall 12) 
1V 2 Jahre nach Beginn derErkrankung noch vorhanden, beiK. (Fall 11) 
selbst 4 Jahre spater nicht vollig geschwunden. 

Im Gegensatz zu den scbweren Veranderungen bei diesen Kranken 
steht der fast normale Liquorbefund bei einem vierzigjabrigen Potator 
W., dessen Erkrankung innerhalb zweier Wochen todlich endete. 
Hier war die Lahmung bereits nach sechs Tagen auf Atem- und Birn- 
nerven ubergegangen; um diese Zeit fand sich in der Lurabalfliissig- 
keit nur ein Eiweissgehalt von 3—4 Strich, ohne Zellvermebrung. 
lm ubrigen verlief das Leiden in charakteristischer Weise wie obeu 
beschricben, dauernd ohne Fieber, zuletzt unter psychischeu Erschei- 
nungen von Korsakoffschem Typus; im Bereich der Sensibilitat war 
wieder die Gelenkempfindung ganz unverbaltnismaliig stark gescha- 
digt, in den Beinen war sie fast aufgehoben. 

Umgekebrt wie hier im Beginn wurden auch im Riickbildungs- 
stadium einer sehr schweren Arseniklahmung (30jahriger Kammer- 
jager H.), acht Monate nach der akuten Vergiftung, ebenfalls nur ge- 
rade noch erkennbare Veranderungen, Erhohung des Eiweisses aut 
3—4 Striche nach Nissl, nacbgewiesen. 

Negativ war das Ergebnis bei den wenigen alkoholischen Neuri- 
tiden, die wir zu Gesicht bekamen. Allerdings handelte es sich durch- 
weg um Patienten mit schon langer bestehender und symptomarmer 


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liber Veranderungen der Spinalfliissigkeit usw. 


321 


Erkrankung: leicbten sensiblen Reiz- and Ausfallserscheinungen, 
Areflexie, geringen aiaktisch-paretischen Storungen. 

Alles in allem erscheint der Schluss gerechtfertigt, dass bei mul- 
tipler Neuritis, besonders solcher infektios-toxischen Ursprungs, Ver¬ 
anderungen der Spinalfliissigkeit nor selten wabrend der ganzen Dauer 
des Leidens ausbleiben diirften. Zu Beginn und im Riickbildungs- 
stadium konnen sie fehlen; auf der Hohe der Krankheit gehort selbst 
ein annahernd normaler Liquor offenbar zu den Ausnahmen. Die ge- 
fundenen Veranderungen zeigen durchweg einen besonderen Typus, 
der dadurcb gekennzeicbnet ist, dass bei erbohtem, oft sebr 
betrachtlich gesteigertem Eiweissgehalt die Zahl derZellen 
ganz oder nabezu normal bleibt. 

Dieses Verbalten steht im Yollkommenen Gegensatz zu dem, wie 
wir es bei entziindlichen Vorgangen in den Meningen, insbesondere 
aucb den luetiscben und metaluetiscben zu finden gewobnt sind, Bei 
diesen feblt die Zellvermebrung bekanntlich so gut wie nie und er- 
reicht gelegentlich scbon hobe Grade, wenn quantitative Veranderungen 
de'3 Liquoreiweisses noch nicht nachgewiesen werden konnen. Umge- 
kebrt baben wir eine Vermehrung desselben auf das funfzehn* bis 
zwanzigfache (vgl. Fall 10, 11, 12) z. B. bei Paralyse und selbst bei 
scbwerer zerebrospinaler Gefasslues kaum jemals geseben; solche Werte 
werden baufig nicht einmal bei akuter und subakuter (tuberkuloser) 
Meningitis erreicht. 

Bemerkenswert ist auch das Verhalten der GlobulinkOrper. Wall-* 
rend die Nonne-Apeltsche Heaktion bei Mctalues nicht gerade selten als 
irOhestes Symptom ebenfalls noch vor einer messbaren Eiweissvermehrung 
auftritt, wnrde sie hier mehrmals vermisst, obwolil (vgl. Fall 6 und 7 ) 
der Eiweissgehalt der Lumballlassigkeit sehr deutlich erhdht war. 

Die Liquorveranderungen bei Polyneuritis konnen somit in der 
Hauptsacbe nicht direkt durch entziindliche Vorgange bedingt sein 
und bediirfen einer besonderen Deutung. Sucbt man nach Analogien, 
so findet man die reine Eiweissvermehrung in ausgesprochenster 
Form bei den sogenannten Kompressionserkrankungen des Riicken- 
marks, in geringcrer Starke unter anderem bei Hirntumoren. Hier 
ist sie der Ausdruck einer venosen Stauung, die dem Liquor Odem- 
fliissigkeit beimischt. Bei der volligen Ubereinstimmung der Befunde, 
selbst iu quantitativer Hinsicht, wird man ahnliches auch fur die 
Polyneuritis annehmen miissen; auch hier diirfte die Spinalfliissigkeit 
ihre Beschaffenheit einfachen Zirkulationsstorungen und einem 
dadurcb bedingten, nicht-entziindlichen Odem der Meningen ver- 
danken. 


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322 


Qubckenstbdt 


Dass dieses Odem irgendwie zu parenchymatos-neuritischen Vor- 
gangen in Beziehnng steht, ist wohl yon vornherein nicht zweifelhaft. 
Schwerlich ist es eine direkte, der Neuritis lediglich koordinierte 
Folge der Grundkrankheit; bei nnkomplizierter Diphtherie (in 6 Fallen) 
fanden wir den Liquor stets normal. Ebensowenig kann es den bei 
Polyneuritis gelegentlich festgestellten Riickenmarksveranderungen ent- 
sprecben, da diese dazu viel zu geringfiigig sind; aussert sicb doch 
selbst der akut-entziindliche Prozess der Poliomyelitis oft fast gar 
nicbt und stets nur auf kurze Dauer in Veranderungen der Spinal- 
fliissigkeit. 

So fanden wir z. B. bei einem Kinde mit rasch tddlich verlaufender 
L&hmung normalen Liquor und stellten bei einem Soldaten, der an alien 
vier Extremitaten gelahmt war, auf der Hdbe der Erkrankung nur eine 
Eiweissvermehrung von 10 Strich nach Nissl fest. 

Man wird also den Sitz des Oedems in erster Linie in den Um- 
hiillungen der Wurzeln und' in den angrenzenden Gefassversor- 
guhgsgebieten des Riickenmarks annebmen diirfen, vielleicht ausserdem 
noch an der Dorsalflache des Riickenmarks, wo die Fortsetzungen der 
hinteren Wurzeln in kompakter Masse der Peripherie nabliegen. 

Jedenfalls deutet der Nachweis so ausgesprocbener Veranderungen 
im Stiitzgewebe auf eine erheblicbe Beteiligung der subduralen Wur¬ 
zeln an dem neuritischen Prozess. Sie legt direkt den Gedanken nahe, 
ob nicbt vielleicht die Erkrankung iiberhaupt von bier aus ihren Aus- 
gang nimmt, durch eine Vergiftnng der Nervenfasern vom Liquor her, 
wie etwa bei der Lumbalanasthesie. 

An sich ware die klinische Symptomatology mit einer solchen An- 
nahme durchaus vereinbar. Wenn die toxisch bedingte Schadigung der 
Wurzeln sich nach dem Gesetz der Nervendegcneration zentrifugal fort- 
pflanzt, so wird trophischer Einfluss und funktionelle Erregung das grftsste 
Dekrement in den langsten Fasern ebenso erleiden mQssen, wie wenn das 
Gift aus dem Blut aufgenommen und in jeder Streckeneinheit etwa gleich 
stark verankert wird; in beiden Fallen muss der charakteristische distale 
Labmungstypus zustande kommen. 

Es spricht jedoch zuviel gegen eine solche Entstehungsweise, 
als dass sie fur wahrscheinlich gelten konnte. Zu den Gegengriinden 
gehort nicbt die ausbleibende Miterkrankung des zentralen Nerven- 
systems, denn die bleibt auch bei hamatogener Entstehung zu erklaren. 
Dass gelegentlich Zeichen einer Beteiligung der Meningen fehlen, d. h. 
der Liquor ganz oder nahezu normal gefunden wird, sagt ebenfalls 
nicbt viel; die Schadigung des Parenchyma konnte deswegen doch vor- 
handen sein. Auch muss, nachdem letztere einmal eingetreten ist, 
der Ablauf der De- und Regeneration in der Hauptsache seinen eigenen 
Gesetzen folgen, und naturgemaB konnen so die Liqnorveranderungen 


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Uber Veriinderungen der Spinalflussigkeit usw. 


323 


den klinischen Erscheinungen nur ganz im allgemeinen parallel gehen. 
Wenn sie daher bei ansgedehnter, rasch todlich endender Vergiftung 
der Nervensubstanz gar nicht zur Entwicklnng kommen, so ist das 
ebensowenig verwunderiich, wie wenn bei langerer Dauer des Leidens 
ibre Riickbildung vor der der Lahmung vollendet ift. Auffalliger 
sind scbon die grossen Unterschiede bei Erkrankungen, die sich sonst 
in Ursache, Schwere nnd Entwicklungsstadium vollig gleichen. Ferner 
hat bekanntlich die Lumbalfliissigkeit im wesentlicben die Eigenschaften 
eines echten Sekrets, in das die Mehrzahl der korperfremden Sub- 
stanzen nicht iibergebt. Daselbe kann von vornherein fur Bakterien- 
gifte vorausgesetzt werden, und Rom held fanddenn anch tatsachlich in 
in seinem Fall weder Toxin noch Antitoxin vor. Da umgekehrt die 
Aufnahme von Toxin aua der Gewebsfliissigkeit in die peripheren 
Nerven -ausser jedem Zweifel steht — es braucht nur an die Gaumen- 
segellahmung, besonders die einseitige nach eiuseitiger Mandeldiph- 
therie erinnert zu werden — so konnte die Vergiftung der Wurzeln 
vom Liquor her bestenfalls als Teilerscheinung im Gesamtprozess 
der Polyneuritis in Betracht kommen. Im ubrigen ware dabei eine 
entziindliche Reaktion in den Meningen zu erwarten, wahrend die 
Tatsachen nur die Annahme einer Kapillarscbadigung zulassen, die 
etwa der bei der Nephritis entsprache, und diese fehlt wiedernm in 
aoderen Gefassgebieten. Endlich aber linden sich qualitativ ganz die 
gleichen Veranderungefi der Spinalfiiissigkeit bei Affektionen ein- 
zelner Nerven und Wurzeln, wo unter anderem schon der Einseitig- 
keit wegen von einer toxiscben Entstehung durch Einwirkung des 
Liquors keine Rede sein kann. 

Wir haben, seit uns die Befunde bei Polyneuritis bekannt sind, 
auch bei solchen Erkrankungen regelmaCig' die Lumbalpunktion aus- 
gefiibrt. Von Interesse ware das Verhalten der Spinalfiiissigkeit be¬ 
sonders bei rein extraduraiem Sitz der primaren Schadigung, etwa 
infolge von Verletzungen, Druck von Geschwiilsten u. dgl. Bisher standen 
unssolche Falle einwandfrei nicht zurVerfiigung.Bei einer totalenDruck- 
lahmung des Armplexus fanden wir den Liquor unverandert; doch 
beweist das wenig,da hier die Punktion kurz nach der Verletzung gemacht 
wurde. Auch mogen bei so hohem Sitz der Lasion geringfiigige Ab- 
weichungen durch Verdiinnung verwischt werden. Im Lumbal- 
sack unterliegt der Liquor aus physiologischen Griinden viel weniger 
einer Durchmischung mit dem ubrigen; der Nachweis krankhafter 
Vorgange im Bereich der unteren Extremitaten ist daher von vorn¬ 
herein am ehesten zu erwarten. Dementsprechend haben wir denn 
auch bei Ischias haufig Abweichungen vom normalen Lumbalbefund 
feststellen konnen, deren Zusammenstellung unten folgt. Da ange- 


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Queckenstedt 


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324 

Qommen werden kann, dass die Ischias grosstenteils durch extra¬ 
dural wirkende Schadlichkeiten zustande kommt, so ergeben sich fiir 
die Erklarung der Liquorveranderungen ganz bestimmte Vorstellungen, 
die ohne weiteres auf die multiple Neuritis vibertragen werden 
konnen. 


Tabelle III. 



- Datum 

id. Punk- Zellgehalt 
| tion 

Eiweiss 

naeh 

Nissl 

j Nonne- 
; Apeltsche 
| Reaktion 

Bemerkungen 

15. B., Arbei- 
ter, 44 Jahr 

18. IV. 
1910 

1 

normal 

2—3 Teil- 
st riche 

i 

Ischias rechts, erstmals 
vor einem Jahr, jetzt 
RezidivseitdreiWoehen, 
A.R., P.R. links > rechts. 

16. F., Strek- 

21. V. 

0 

1-2 Teil- 

negativ 

Ischias rechts. Seit 18 

kenarbeiter, 
67 Jahr 

1912 

1 ini c*mm 

! 

i 

striche 

Jahren haufig Rezidive. 
P.R. rechts herabgesetzt. 
W.R. in Bl. u. L. neg. 

17. G., 

Schraied, 66 
Jahr 

19. I. 
1909 

normal 

2 Teil- 
striche 


Ischias links, seit 4 Mo- 
naten. Parasthesien, 

AtrophiejReflexe gleich. 

18. Z., Arbei- 
ter, 47 Jahr 

7. IV. 
1911 

normal 

2—3 Teil- 
strich-3 

negativ 

Ischias links, seit 11 
Monaten. Atrophie, A.R. 
fehlt links, P.R. henib- 
gesetzt. W.R. in Bl. n. 
L. neg. 

19. 0.,Haus- 
verwalter, 46 
Jahr 

10. I. 
1909 

o 

1-2 Teil- 
striche 


IschiaB rechts, seit 2 Mo¬ 
naten. A.R. rechts her- 
abgesetzt. 

20. P., Arbei- 
ter, 27 Jahr 

19. III. : 
1909 ; 

vermehrt ? 

2—3 Teil- 
striche 

i 

Ischias rechts, seit 6 Mo¬ 
naten. Etwns Atrophie, 
herabgesetzter P.R. 

rechts. 

21. A., Arbi¬ 

129. VIII. 6 im cmin; 

2—3 Teil- 

I ? 

Ischias links, seit 6 Wo- 

ter, 44 Jahr 

] 1913 * 

i 

etwas ! 
Blutbei- ; 
mischung 

striche 

' 


chen. W.R, in Bl. u. L. 
neg. 

22. K., Depu- 
tatknecht, 41 
Jahr 

i 5. VII. 
1912 

normal 

2-3 Teil- 
' striche 

1 

negativ 

Ischias links, seit 9 Jah¬ 
ren rezidivierend. Atro¬ 
phie, P.R. links herab- 
gesetzt. 

23. B., Strek-1 
kenarbeiter, L 
57 Jahr 

1 

19. I. 
j 1911 

! 

| 

vermehrt ? 

2—3 Teil- 
striche 

1 

negativ 

Ischias rechts, seit 3 
Monaten, P.R. fehlt 
rechts. Schmerzhaftig- 
keit des Femoralis. 


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Uber Veranderungen der Spinalfliissigkeit usw. 


325 



i Datum 

d. Punk- Zellgehalt 
tion 

Eiweiss 

nach 

Nissl 

Nonne- 

Apeltsche 

Reaktion 

| Bemerkungen 

1 

24. St., Stadt- 
diener, 32 

Jahr 

6. VIII. 
1912 

7 :3 im 
cram 

2-3 Teil- 
striche 

negativ 

Ischias rechts, seit 8 
Monaten, seit 4 Wochen 
exazerbicrend.Parasthe¬ 
sien, Vasomotionssto- 
rungen. 

25. Ae., Mid¬ 
ler, G4 Jahr 

3. III. 
1909 

normal 

2-3 Teil- 
striche 


1 

Ischias links, seit 18 
Jahren. Parese und 
komplette E.R. im Ti- 
| bialis anticus. 

2d. B., Arbei- 
ter, 5S Jahr 

3. VII. 
1910 

normal 

3 Teil- 
atriche 


Ischias rechts, seit 4 
Wochen. 

27. D., Meier, 
41) Jahr 

13. VI. 
1913 

0:3 

im cmm 

3 Teil- 
atriche 

negativ 

Ischias links, seit G 
Wochen. Atrophie, A.R. 
fehlt. Parasthesien. W.U. 

] im L. neg. 

28. G., Arbei- 
ter, 43 Jahr 

19. I. 
1909 

vermehrt 

\ 

3 Teil* 
atriche 


Ischias rechts, etwa seit 
3 Monaten. Geringe 
Atrophie. P.R. herab- 
i gesetzt. 

29. H., Arbei- 
ter, 57 Jahr 

19. I. 
1911 

normal 

3 Teil- 
striche 

negativ 

; 

i 

(Ischias links, sei v 5 
j Monaten. Leichte Atro- 
phie. W.R. im L. neg. 

30. K., Vor-i 
sehnitter, 40; 
Jahr 

13. V. 
1912 

6: 3 im 

1 cmm 

i 

i 

3 Teil- 
striche • 

I 

negativ 

i 

Ischias rechts, seit G 
Monaten. Atrophie. AR., 

1 P.R. herabgesetzt. 

31. M.. Mon- 
teur, 33 Jahr 

3. VII. 
1910 

! 

1 normal 

j 

j 

3 Teil- 
striche 


Ischias rechts, seit 3 
Monaten. Parasthesien, 
Atrophie, Beteiligung 
! des Femoralisgebiets. 

32 B., Arbei- 
ter, 4L Jahr 

16. III. 
1911 

i normal 

1 

3-4 Teil- 
striche 

negativ 

! 

Ischias links, seit ca. 
G Monaten. Wade atro- 
! phi sch. 

33. S(*h. M, 
Knecht, 33 
Jahr 

14. XI. 
1911 

1:3 im 
cmm 

3-4 Teil- 
striche 

1 

positiv 

Ischias rechts, seit 3 
.Wochen. Atrophie A.R. 
abgeschwiicht. Zyanose. 
W.R. in Bl. u. L. neg. 

34. Sch. W., 
Knecht, 21 
Jahr 

3. VI. 
1912 

1:3 im 
cmm 1 

i 

3-4 Teil- 
striche 

po9itiv? 

Ischias links, seit 3 
Monaten. Atrophie. AR. 
abgeschwiicht. W.R. im 
Bl. neg. 

35. J., Forst- 
arbeiter, 40 
Jahr 

io. i. ; 

1913 

3:3 im 
cmm 

3-4 Teil- 
striche 

negativ 

Ischias rechts, seit 3 
j Monaten. A.R. fehlt. 


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326 


QUECKEN8TEI>T 


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Datum 
<1. Punk- 
tion 

Zellgehalt 

Eiweiss 

nach 

Nissl 

Nonne- 

Apeltsche 

Reaktion 

Bemerkungen 

36. B., Mau- 
rerpolier, til 
Jahr 

6. V. 
1910 

normal 

4 Teil- 
striche 


Ischias rechts, seit i* 
Wochen. Paristhesien, 
Atrophie. 

37. R, Arhei- 

S XI. 

6:3 im 

4 Teil- 

negativ 

Ischias rechts, seit 3 

ter, 4G Jahr 

1913 

cinm 

striche 

Monaten. Atrophie. W.R. 
in Bl. u. L. neg. 

38. H., Tag- 
lohner, 41 

Jahr 

IS XII. 1 iin emm 
1911 

4—5 Teil- 
striche 

positiv 

Ischias rechts, seit t> 
Wochen. x P.R. herab- 
gesetzt, W.R. in Bl. ir. 
L. neg. 

39. P .Heizer, 

9. VII. 

9:3 im 

5 Teil- 

scliwache 

Ischias rechts, seit 7 

42 Jahr 

1912 

i 

emm 

striche 

Opales- 

zenz 

Monaten,voriibergehend 
auch links. A. Rf rechts 
fehlend, Krafi in Fuss- 
u. Zehengelenken ab- 
gesehwiicht. W.R. in 
Bl. u. L. neg. 

40. R„ Spin¬ 

5. III. 

5 :3 im 

•>—6 Teil- 

l 

! schwache 

Ischias rechts, seit 3 

ner, 24 Jahr 

1912 

1 

1 

1 

cinm 

, striche 

Opales- 

zenz 

i 

j 

Monaten. Atrophie A.R. 
tehlt. In der Wade 
fibrillare Zuckungen. 
W.R. im Bl. neg. 

41. Sell, 0., 

15.1.1913 

9:3 im 

6—7 Tcil- 

Opales- 

Ischias rechts vor 1 1 2 

Mehlh-’indler, 
37 Jahr 

. 

ennn 

etriche 

• 

zenz 

Jahr, geringe Rest^; 
links seit 5 Wochen. 
A.R. nur rechts nach 
Babinski. W.R. in Bl. 
u. L. neg. 

42. W., A**bei- 

19. I. 

normal 

5-6 Teil- 

Opales- 

Ischias rechts seit An- 

ter, GO Jahr 

! 

1 

1911 

i 

Btriehe 

zenz 

fang September 1910. 
Beteiligung des Femo- 
ralisgebiets. Starke 

Atrophie, A.R.,P.R. her- 
abgesetzt. Zyanose. 


14. XI 
i 1911 

2 :3 

1—2 Teil- 
striche 

negativ 

A.R. noch heral^esetz^. 
Atrophie gebessert. 

Pariistliesien. 


Es fand sich also nur in 11 von 28 untersuchten Fallen ern 
vollig noriualer Eiweissgehalt. Sechsmal bevvegte er sich an der* 
oberen Grenze, elfmal wurde diese zum Teil erheblich iiberschritten. 


Zur Bcnvertung dcr mit clem Nisslschen Zentrifugiorverfahren aus- 
gefQhrten Bestimmungen sei hier noch benierkt, dass diese Metliode, ohne 
eiue exakt. quantitative Messung darzustellen, nach unsern Erfahrungen 
aucli eine geriuge ErliOhung ties Eiweissgebalts hinreichend zuvcrlasHg 
zu beurteilen gestattet. Voraussetzung ist dabei allerdings die exaktj 


Got igle 


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Uber Veranderungen der SpioaJflussigkeit usw. 


327 


Graduiernng and gleichm&ssige Weite der ZentrifagierrOhrchen, die manche 
Fabrikate vermissen lassen, und wichtig ist vor allem die richtige Daucr 
des Zentrifugierens, die jeder Untersacher for seine Zentrifnge erraitteln 
and so bestimmen muss, dass seine Resultate mit denen anderer Unter- 
sucher vergleichbar sind. Um diese Forderung zu erfdllcn, gentigt es, 
gerade so lange zu zentrifugieren, wie ausreicht, um die Eiweisssflule nor- 
maler Spinalfltlssigkeiten zu annflhernd konstantem Volumen zu bringen; 
bei unserer elektrischen Zentrifuge betrug diese Zeit 15 Minuten. Wir 
fanden, dass die Eiweisss&ule danu stets unter dem dritten Teilstrich blieb; 
dieses MaB mfissen wir daher als obere Grenze des normalen ansehen. 

Mit der Eiweissvermehrung war wiederum nur in einem Teil der 
Falle eine positive Nonne-Apeltsche Beaktion verbunden. Die Ei- 
weissbestimmung ist also hier die empfindlichere Methode, um geringe 
Abweichungen von der Norm zu erkennen. Es ist notwendig, dies 
zu bemerken, da mancherorts die Neigung besteht, sie einfach durch 
die Globulinreaktion zu ersetzen, in der Annahme, dass die Besultate 
bei beiden parallel geben. Letzteres ist nur im grossen und ganzen 
richtig. Daneben kommt, wie schon oben angedeutet, der Nonne- 
Apeltscben Beaktion eine gewisse selbstandige Bedeutung zu, die 
sich eben darin aussert, dass fur ihr Auftreten die Eiweissvermehrung 
weder notwendig noch hinreichend ist. 

Dass bei raebr als der Halfte aller Ischiaskranken die Spinal- 
fliissigkeit Abweichungen vom Normalen aufweist, bestatigt zunachst 
die durch audere klinische Tatsachen genugsam gestiitzte und wohl 
kaum noch bezweifelte Auffassung, welche in der Ischias keine Neuralgie 
im alten Sinne, sondern die Folge groborganischer, zentralwarts 
weit hinaufreichender Veranderungen sieht. Unmittelbarer Aus- 
druck eines neuritischen Prozesses in den Wurzelteilen der peripheren 
Nerven kann die Eiweissvermehrung aber auch hier wieder nicht sein. 
Ebenso wie bei multipier Neuritis wird bei Ischias eine 
Zellvermehrung vermisst; sonst unterscheiden sich die Befunde j 
nur quantitativ. Das Auftreten des erhdhten Eiweissgehalts scheint 
auch hier an ein. bestimmtes Entwicklungsstadium des Leidens ge- 
bunden zu sein: nach sehr langem Bestande findet er sich nicht mehr. 

So war bei Fall 42 die nach 4 Monaten festgestellte erhebliche Eiweiss¬ 
vermehrung nach weiteren 10 Monaten vollig normalem Verhalten 
gewichen, obwohl die neuritischen Symptome zwar gebessert, aber 
bei weitem nicht vollig zuriickgebildet waren. Wo es sich um Bezi- 
dive handelte, fanden wir regelmabig nichts, nicht einmal bei einem 
Patienten (Fall 25), der schwere Degeneration im Peroneusgebiet auf- 
wies. Entsprache die Eiweissvermehrung direkt dem jeweils anzu- 
nehmenden interstitiellen Entziindungsvorgange, so ware sie bei jedem 
Kezidiv von neuem zu erwarten. Ist sie die Folge von Zirkulations- 

Deutsche Zeilschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 22 


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328 


Queckenstedt 


storungen, so ist ihr dauemdes Verschwinden verstandlich, da jene 
durch Anpassung an die veranderten Verbaltnisse einen Ausgleich 
erfahren konnen, der auch durch eine Neuerkrankung nicht mehr ge- 
stort wird. 

Die G-leichartigkeit der Liquorveranderungen bei Poly¬ 
neuritis und lschias lasst erstere lediglich als Summationswirkung 
auffassen und zwingt dazu, das ibnen zugrunde liegende Odem durch 
Vorgange zu erklaren, wie sie sich aucb als Folge der Erkrankung 
einzelner Nervenwurzeln ergeben konnen. Der nachstliegende Ge- 
danke, es mochte sicb nur nm ein kollaterales Odem handeln, schei- 
tert an der schon oben erwahnten Tatsache, dass in dieser Hinsicht 
yiel intensivere Entziindungsprozesse, als sie in den Wurzeln statt- 
finden, so geringfugige Wirkungen ausiiben. Dann bleiben aber zur 
Erklarung nnr noch mechanische Ursachen oder Storungen der 
Vasomotion iibrig. Bei der lschias, wo infolge der wobl raeist 
lokal-traiimatischen Entstehung die Schadigung vasomotorischer Fasern 
von vornberein zu erwarten und oft auch klinisch nachweisbar ist, 
kommt die Mitwirkung des letzteren Moments noch am ehesten in 
Betracht. Viel geringere Wahrscheinlichkeit hat sie bei der infektios 
bedingten Neuritis, speziell nach Diphtherie, bei der ja erfahrungs- 
gemaB auch in schweren Fallen die Beteiligung der Getassnerven wie 
des vegetativen Systems iiberhaupt — yon der Schweisssekretion etwa 
abgesehen — anffallend gering ist. Hingegen wird die Annahme 
eines rein mechanisch bedingten Stauungsodems durch die ana- 
tomischen Verbaltnisse der Wurzeln besonders nahegelegt. Sie sind 
bei ihrem Austritt yon dem derben Gewebe der Dura umkleidet, das 
etwas oberhalb des Ganglions mit ihnen verwachst und sich als feste 
Scheide noch unterhalb desselben findet. In diesem eng umschlossenen 
Stiick muss, wie Injektionsversuche ohne weiteres bestatigen, eine auch 
nur geringfugige reaktiv-eutziindliche Exsudation das Gewebe unter 
erheblich hoheren Druck setzen als in jeder anderen Nervenstrecke. 
Dieser wird in erster Linie den Blutabfluss durch die Interspinalvenen 
beeintrachtigen; auch mag er yielleicht rein lokal die Vasomotion 
der Arterien storen. Nun kommt hinzu, dass nach den Erfahrungen 
bei den sogenannten Kompressionserkrankungen die interspinalen Ge- 
fasse gegen solche Schadigungen ofFenbar ganz besonders empfindlich 
sind und besonders leicht mit Odem in ihrem Versorgungsgebiet 
reagieren; sonst ware es nicht verstandlich, wie z. B. bei noch wenig fort- 
geschrittener Wirbeltuberkulose trotz der vorhandenen Kollateralen 
manchmal schon die Sperrung eines Venenpaares zum Odem des 
Kiickenmarks mit alien seinen Folgen fiihrt. 

Folgt man diesen Erwagungen, so wird der Eiweissgehalt der 


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Uber Veranderungen der Spinalflussigkeit usw. 


329 


Spinalfiiissigkeit davon abhangen, wie weit die Degeneration des 
Nervenparenchyms von reaktiven Vorgangen iiberhaupt begleitet ist 
und in welcher Starke im besonderen diese sich in den duraumschei- 
deten Wurzelstucken lokalisieren. Im allgemeinen wird beides mit 
umso grosserer Wahrscheinlichkeit eintreten, je sehwerer die Faser- 
degeneration ist. Da aber erfahrungsgemaB die Beteiligung des Inter- 
stitiums am neuritischen Prozess sehr verscbieden sein kann, so ist 
auch bei schweren Erkrankungen ein annahernd normaler Liquor 
moglich, und es erklaren sich zwanglos die oft erheblicben Differenzen 
bei sonst klinisch gleichartigen Erkrankungen. 

Wenn auch die Liquorveranderungen in der Hauptsache nur ak- 
zessorische Bedeutung haben, so sind doch vielleicht, und darauf mag 
zum Schluss noch hingewiesen werden, die ihnen speziell zugrunde 
liegenden pathologischen Vorgange fiir den Verlauf der bier bespro- 
chenen Krankheiten nicht ganz gleicbgiiltig. In den eingescbeideten 
Wurzelstucken miissen Ernahrungsstorungen leicbter als anderswo 
zustandekommen und diese Nervenstrecke zu einem besonderen Hindernis 
sowohl fur die Regeneration wie fiir die Leitung in den noch erhal- 
tenen Fasern macben. Am starksten wird diese Wirkung dort sein, 
wo das durale Perineurium am langsten und festesten ist, also an 
den lumbalen und sakralen Wurzeln. Dazu kommt, dass von diesen 
zentimeterlange Stiicke noch oberbalb der Verwachsungsstelle von 
rohrenformigen Durafortsatzen eng umhiillt sind und darin dauernd 
unter der Einwirkung einer fast unverdiinnten und ev. toxinhaltigen 
Odemfliissigkeit stehen. So erklart es sich vielleicht, warum beson- 
ders bei der Riickbildung neuritischer Lahmungen die unteren Ex- 
tremitaten gegeniiber den oberen nach Zeitdauer und Vollstandigkeib 
in einem Malie benachteiligt sind, das weder in der grosseren Weg- 
lange der Fasern, noch in der starkeren Muskelatrophie, die wahrend 
der langeren Leitungsunterbrechung naturgemaC eintritt, ausreichend 
begriindet ist. Endlich liegt wohl in jenen anatomischen Verhalt- 
nissen ein Teil der Ursachen dafiir, dass gerade bei der Ischias die 
Fortdauer selbst geringer Schadlichkeiten geniigt, um die vollige Aus- 
gleichung so ausserordentlich zu erschweren und dem Leiden die 
Hartnackigkeit zu verleihen, welche seine Behandlung haufig zu einer 
der undankbarsten Aufgaben des Arztes macht. 


oo * 


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(Aug der Militar-Neryenklinik des 7. A.-K. „Mariabilf“ in Crefeld.) 

liber fortschreitenden Mnskelschwund mit myotonoiden 

Symptomen. 

Von 

F. Baake und 6 . Toss. 

(Mit 2 Abbildungen.) 

Die ungewohnliche und eigenartige Kombination verschieden- 
artiger Storungen auf dem Gebiete des Muskelsystems recbtfertigt eine 
ausfiihrliche Mitteilung des yorliegenden Falles, der uns vom Sanitats- 
amt des VII. A. K. zur Begutacbtung zugewiesen wurde. 

Johann M., 32 Jahre alt, war angeblicb vor seiner aktiven Milit&r- 
zeit (1906—1908), von Kinderkrankheiten abgesehen, stets gesnnd. Wfth-, 
rend der Dienstzeit bemerkte er, namentlich beim Exerzieren, eine Schwache 
in beiden Unterschenkeln. Schleift seitdem beim Gehen mit den Fuss- 
spitzen, vor allem links, Ober den Boden; tritt mit der Ferse auf; scbnelles 
Gehen ist seit der Zeit unmOglich. 1910 gab er seinen Beruf als Schmied 
auf, weil er nicht genug verdiente, wurde Bergmann. Tagelohn betrug 
etwa 7 —8 Mark. Im Juli 1914 sollte er eine Ubung machen, wurde aber 
davon befreit, weil er wegen einer Furunkulose im Krankenhause lag. 

Am 2. VIII. 1914 wurde M. eingezogen, rttckte am 20. VIII. 1914 
als Kanonier aus. Eonnte seinen Dienst wohl verrichten; doch machte 
ihm das Heben und Tragen von Gesckossen Schwierigkeiten wegen einer 
bis dahin nicht bemerkten Schwfiche in den Armen. Im Januar 1915 kam 
er wegen eines Darmkatarrhs nach Speyer ins Lazarett. Rttckte, wieder- 
hergestellt, im Juni 1915 zum zweitcnmal ins Feld; es zeigte sich aber 
nach einiger Zeit eine dauernde Mattigkeit in den Beinen und eine zu- 
nehmende Schwiche in den Armen und H&nden, so dass er schliesslich 
kaum mehr etwas festhalten konnte. Im November 1915 wurde er in ein 
Feld-Lazarett in Peronne eingeliefert; weshalb, weiss er nicht. Vielleicht 
babe es damit in Zusammenhang gestanden, dass ihm ein Gelddiebstahl zur 
Last gelegt wurde. In Peronne sowohl als auch im Kriegslazarett in 
St. Qaentin stand er unter dauernder Bewachung. Von St. Quentin kam 
er auf 3 Monate in die Heilanstalt zu Bedburg-Hau. (Krankenbl&tter aus 
der Zeit fehlen; wiederholte Nachforschungen blieben ergebnislos, auch 
waren Versuche, von den verschiedenen Lazaretten genauere Angaben Ober 
die Art seiner damaligen Krankheit zu erhalten, ohne jeden Erfolg.) 

Am 1. III. 1916 wurde er von Bedburg-Hau zum Ersatz-Bataillon 
entlassen; 8 Tage spftter rttckte er zum drittenmal aus. Schon nach 


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Uber fortechreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 331 

einigen Tagen trat infolge der Anstrengungen die Kraftlosigkeit in den 
Beinen and Armen wieder hervor. Nach etwa 14 Tagen bekam er in 
einer Nackt 7 Ohnmachtsanfalle. Wenn er vom Pferde stieg, fiel 
er einige Sekunden darauf bin and kam erst ganz allmahlich wieder zu 
sicb. Auch in den nfichsten Tagen wiederholten sich die Anfalle; einmal 
glitt er dabei vom Pferde and verstaucbte sich die linke Hand. Am 31. 
III. 1916 wurde er wegen Yerdachtes auf Epilepsie in ein Feld-Lazarett 
zu Nonart eingeliefert, von wo er sofort nach Mfiblhausen (Thfiringen) 
transportiert wurde. Dort wurde zum ersten Male die Kraftlosigkeit der 
Hfinde flrztlich festgestellt. In M. batte er mebrere Anfalle. Was wShrend 
der Anfalle mit ihm geschab, wusste er nachher nicht mehr. Man erzablte 
ihm spater, dass er immer Russen oder Franzosen gesehen und auf sie 
gezeigt babe. Yon M. kam er in die Heilanstalt zu Pfafferode. Dort 
wurden keine derartigen Anfalle beobachtet. Als noch „revierkrank“ wurde 
er Mitte Juni 1916 zum Ers.-Bat. entlassen. In Karlsruhe, wo er beim 
Flakzug 36 war, traten nach einiger Zeit die Ohnmachtsanfalle wieder auf. 
Er wurde deshalb Ende Juli zur Beobachtung in das Res.-Laz. zu K. auf- 
genommen. Dort bekam er dieselben Anfalle wie in Mfiblhausen. Un- 
mittelbar nach dcm Anfall war die Erinnerung daran noch vorhanden, 
bald darauf aber schwand sie. Er konnte damals die kraftig zur 
Faust geballten Hande und den gescblossenen Mund nicht 
schnell 6ffnen. Ende August wurde in K. das D. U.-Verfahren einge- 
leitet und Mitte Oktober 1916 erfolgte seine Beurlaubung bis zur end- 
gflltigen Entlassung. Hat dann zu Hause auf dcm Bergwerk fiber Tag in 
einer Schmiede gearbeitet. 

In Essen wurde Anfang Januar ein zweites milit&rarztliches Zeugnis 
ausgcstellt und M. im Gcgensatz zum ersten Zeugnis, wo er als 25 Proz. 
erwerbsunfahig bezeichnet wurde, als 15 Proz. erwerbsunfahig begutachtet. 
Auf Befehl des Sanitatsamts VII. A.-K. wurde M. zur kommissarischen 
Begutachtung der Militarnervenklinik des VII. A.-K. zu Crefeld fiberwiesen. 
Am 21. II. 1917 erfolgte seine Aufnahme hierselbst. 

Klagen: Kraftlosigkeit in beiden Handen, die, festgeschlossen, nur 
mit Anstrengung geflffnet werden kOnnen. Bei krfiftigem Mundschluss 
ist das Offnen ebenfalls sehr erschwert. Mitunter Kopfschmerzen und 
Ohnmachtsanfalle, bei denen das Gesicht ganz blass wird und Brech- 
reiz und Stuhldrang eintritt. Schwache und Abmagerung beider Unter- 
schenkel. Schleppender Gang, dauernde allgemeine Mattigkeit. 

Befund. 

1,65 m grosser, ziemlich schmachtig gebauter Mann mit geringem 
Fettpolster. Gewicht 61,5 kg. 

Herz: Akzentuation des 2. Aortentons. Puls im Stehen 70 in der 
Minute. Lungen o. B. Verdauung in Ordnung bis auf Mastdarmvorfall. 
Blasentatigkeit regelrecht. Urin: frei von Eiweiss und Zucker. 

Die oberen Augenlider hangen herab, wodurch das Gesicht einen 
mfiden Ausdruck bekommt. Die unteren Augenlider stehen ebenfalls tiefer, 
so dass sich dauernd Tranenflfissigkeit ansammelt. Starres, maskenartiges 
Gesicht. Die Sprache ist naselnd, verwaschen; der Mund wird beim Spre- 
chen nur wenig geOffnef. Bei fest geschlossenem Mund fallt das Offnen 
schwer, es crfolgt langsam, geht jedoch bei mebrmaliger Wiederholung 


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Baakjs und Voss 


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leichter vor sich. Die linke Stirnb&lfte wird beim Sprechen dauernd hoch- 
gezogen. Der Schftdel ist etwas breit geformt, der Umfang betr&gt 57,5 cm. 
Scheitel and Stirnpartien auf Drack and Beklopfen leicht schmerzhaft. 
— Stirnglatze. — Abstehende Ohrlftppchen and hober steiler Gaamen. — 
Schlucken frei. 

Papillen rund, gleicb weit, reagieren gat aaf Lichteinfall and An- 
naherung. Augenbewegangen frei; leichte Einstellungszuckungen; Horn- 
hautreflexe beiderseits herabgesetzt. Keine vermehrte Tranenabsonderung. 
Kein Graefe. Zunge wird gerade vorgestreckt, ist belegt, zittert nicht. 
Zungenbewegangen frei, jedocb verlangsamt. HflrvermOgen: Flfister- 
spracbe recbts in 3 m, links aofgehoben. Gesichtsinnervation gleich- 
massig, docli ungeschickt. 

Chvosteksches Zeichen angedeutet. Kein Troasseaa. 

Fibrillare Zuckungen wnrden nicht objektiv festgestellt. Nach An- 
gabe des Kranken treten in der Ruhe an den Armen and Beinen, an der 
Gesass- and Schaltermaskalatar Zackangen aaf („als wenn ein Ball am 
Springen ware"). 

Beide Sternocleidomastoidei sind stark atrophiscb. Kraft und Wider- 
stand der Halsmaskulatar gering, der Nackenmuskulatur dagegen gat. 
SchilddrQse nicbt vergrdssert. Die Armmaskalatar, namentlich die der 
Vorderarme, ist stark abgemagert, sehr verdfinnt ist der Brachio- 
radialis. Hand- and Fingermuskulatnr dagegen ist nicht atrophiscb. 

(Fig. 1.) 

Umfang der Oberarme recbts 26, links 25 cm. 

Umfang der Unterarme beiderseits 22,5 cm- 

Kraft der Arme dem geringen Umfang.der Muskeln entsprechend, die 
Kraft der Scbalterblattmuskulatar ist erhalten. Handedrack beiderseits 
sehr schwach. Bewegungen in den grossen Gelenken frei; veranlasst man 
M., die Hand fest zur Faust zu schliessen, so failt ihm die Offnung schwer, 
sie erfolgt nur ganz langsam. Nach mehrfacher Wiederholung des Ver- 
suches geht die Bewegung leichter von statten. Die Arme werden enter 
leichtem Schwanken fiber 1 Minute gestreckt gehoben gehalten. Die Hande 
sind feucht und fflhlen sich kQbl an. Morgens nach dem Aafstehen be- 
steht meistens starke zyanotische Verfarbung der Nagelglieder samtlicber 
Finger, die stundenlang anhalf. 

MaBige Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme und der Waden. 
Linke Gesassbacke schwacher entwickelt. Schulterblattstellung normal. 

Leichtes Schwanken bei Fussaugenschluss. Steht nicht ganz sicher 
auf jedem Bein einzeln, desgleichen failt ihm das langere Stehen auf einem 
Fleck wegen beginnenden Schwindelgeftthls schwer. Der Gang ist behindert, 
M. streift mit den Fussspitzen besonders links den Boden, tritt mit den 
Fcrsen auf, der Fuss failt dann klappend herunter. Bei geschlossenen 
Augen verschlechtert sich der Gang nicht. Aufrichtcn auf die Fussspitzen 
ersebwert. Beide Beine werden im Liegen ohne -Zittern und Schwanken 
1 Minute lang gestreckt gehoben gehalten, M. klagt dabei nicht fiber Er- 
mfldung. Kraft und Widerstand der Obersehenkel mittelgut; Bewegungen 
im Kniegelenk frei; Dorsalflexion beider Fttsse unvollstfindig. Widerstand 
der Tibiales antici und Peronei sehr gering; Atrophie der Unterschenkel- 
muskelu: die Gegend des Tibialis ant. ist rechts stark eingefallen. (Fig. 2.) 
Beginnende Hohlfussbildung, besonders rechts. 


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Uber fortschreitenden Muskelsehwuud ruit myotonoiden Symptomen. 333 

Uinfang der Oberschenkel rechts 45, links 46,5 cm. (15 cm ober- 
liulb des Kuicscheibenrandes gemessen.) 

Uinfang der Waden beiderseits 32 cm. 

Zielbeweguugen der Arme und Beine sicher. Beide Fttsse fahlen 
sich kftbl’an und sind wachsartig weiss. Keine Skoliose Oder Lordose der 
WirbelsSule. 



Fig. 1. . Fig. 2. 

Aufrichten atis RQckenlage erschwert. Geschlechtstrieb vorlianden, 
elicr gesteigert Wassermanu im Blut negativ. 

Sehmerz, Tast- und Temperaturempfindung Qberall erbalten. Lage- 
verJinderungen der Finger uud Zebeu werden richtig wabrgenommen. 

Kniesclieibenreflexe wechsclnd, mitunter regelrecbt, al»er meist 
stark herahgesetzt, bei wiederholter Auslosung sicli erschOpfend. 
Iieclits meist starker herabgesetzt. 


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Baake and Voss 


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Achillesreflexe recbts dauernd nicbt auszuldsen, links stark herab- 
gesetzt, nur im Knien, bei herabh&ngender Fussspitze auslOsbar. 

Fusssohlenstreichreflexe vorhandcn, vorflbergehend Babin ski nnd 
Oppenheim rechts positiv. Rossolimo fehlt, Mendel-Bechterew dorsal. 
Cremasterreflexe trttge. Bauchdeckenreflexe wechselnd; meist rechts schwa- 
cher als links, biswcilcn waren die rechten unteren Reflexe nicbt nus- 
zulOsen. 

Biceps- nnd Tricepsreflexe rechts zuerst nicbt auszulOsen, spater 
angedentet, links vorhanden, aber herabgesetzt, besonders der Bizepsreflex. 
Radiusperiostreflex rechts nickt auszuldsen. 

Auf psychischem Gebiet bestelit Stumpfheit und Gedachtnisschwache. 
Bei Durchsicht der Akten failt anf, dass M. sich in seinen Ausserungen 
haufig widerspricht. Auf der Abteilung schliesst er sich an keinen seiner 
Kameraden an. Geht allein spazieren; mehrfach wurde beobachtet, dass 
er sich, obwohl verheiratet, mit jungen Madchen umhertrcibt. 

Elektrische :Untersuchung: Faradische Untersuclmng mit dem 
Dubois-Ray mondschen Schlittenapparat. 

Bei Reizung des N. radialis d. ext. sin. bei RA 120. stellt. sich eine 
im Lanfe von 12 Sek. langsam bis zum HOhepunkt steigende Kontraktion 
der zugehdrigen Muskeln ein, die nach Unterbrechung des Stromes in 
etwa 7 Sek. langsam wieder schwindet. 

MZ (Minimalzuckung) bei 132 beiderseits. 

MZ des N. ulnaris beiderseits bei 133. 

MZ des N. medianus d. bei etwa 127, des N. med. sin. bei etwa 130. 

Deltoideus: MZ beiderseits bei 130. 

Biceps: MZ beiderseits bei 145. 

Bei Reizung des Biceps mit RA 120 tritt zunachst cine kraftige 
Kontraktion ein. die bei Fortdauer der Reizung langsam nachlasst, aber 
ohne zu schwinden (Mya. Ra.). Bei Reizung des Biceps mit Einzelscblageu 
bei 110 im Rhythmus von ungefahr 2 Sek. tritt bis zu 50 Schlagen kein 
erheblicbes Naclilassen ein. 

Triceps: MZ bei 118. 

Fingerstrecker: MZ bei 115, deutliche allmahliche Zunahme und dann 
Naclilassen der Kontraktion. Hand- und Fingerbeuger: MZ bei 132 beider¬ 
seits. Daumenballen: MZ rechts bei etwa 112, links bei 115. Bei Reizung 
<les Daumenballens beiderseits mit 110 tritt im Laufe von 14 Sek. sehr 
langsam Steigerung der Kontraktion bis zum Hohepunkt ein. 

Interossei: MZ bei 118 (normal bei 135). 

MZ des N. femoralis beiderseits bei 125. 

MZ des N. peroneus beiderseits 123. 

Bei Dauerreizung des Vast. int. RA 125 erhalt man nach 20 Sek. deut- 
liches Nachlassen unter Wogen und Flimmern des Muskels. Nach 
40 Sek. noch starkeres Nachlassen der Kontraktion, die sich bei Unter¬ 
brechung des Stromes nach 1 Min. nur noch als ganz schwach erweist. 

Tibialis ant.: MZ beiderseits zwischen 110 und 112. 

Gastrocnemius: MZ rechts bei 120, links bei 115. 

MZ des Rectus abdom. links bei 120, rechts bei 130, auffftllig lang- 
same Erschlaffung. MZ des Obi. abd. extern, beiderseits bei 115. 

MZ des Facialis-Stamms auf beiden Seiten bei 133. 

MZ des obercn Astes beiderseits bei 134. 


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Uber fortschreitenden Mnskelschwund init myotonoiden Symptomen. 335 

MZ des unteren Astes beiderseits 138. 

Bei Reizang des R. ramus mentalis mit 145 tritt langsam Kontrak- 
tiou auch der linken Kinnmuskulatur ein. 

MZ des mittleren Astes beiderseits bei 125. 

MZ des Masseter bei 135. Bei Reizung des Masseter stellt sich zu- 
nfichst eine normale Eontraktion ein, die aber nach Unterbrechung des 
Stromes fortbesteht und sich im Laufe von annfihernd 15 Sek. unter 
Flimmern lost. 

MZ der Zunge auf beiden Seiten bei 155. Bei Reizung mit 120 
dauert die Eontraktion etwa 6 Sek. nach. 

MZ des N. accessorius beiderseits bei 133. 

MZ des Sternocleidomastoideus links bei 139, rechts bei 138. 

MZ des Trapezius beiderseits bei 140. 

Galvanische Untersuchung: 

N. radialis: MZ bei 2—3 MA, blitzartige Zuckung. 

N. ulnaris beiderseits: MZ bei 2 MA, blitzartige Zuckung. 

N. medianus beiderseits: MZ bei 8 MA, blitzartige Zuckung. 

Bei ESZ—MZ des Biceps bei 1—2 MA, blitzartige Zuckung, bei 
ASZ—MZ bei 3 MA, gleichzeitig ASTe beiderseits. 

Bei ESZ des Brachio-Radialis MZ beiderseits bei etwa 5 MA, fast gleich¬ 
zeitig auch Te; bei ASZ—MZ bei 7 MA und Te. 

Bei Reizung des Daumenballens mit 5—7 MA erhalt man eine lang¬ 
sam zunehmende ton i sc he Eontraktion des Opponens, die allmahlich auf 
die Flexoren dcr ttbrigeu Finger Obergeht, ebenso verhalt sich die Reak- 
tion der Interossei. 

MZ des N. femoralis beiderseits bei 2—3 MA. 

ESZ > ASZ, blitzartige Zuckung. 

MZj des N. peroneus beiderseits bei 2—3 MA, EAZ > ASZ, blitz¬ 
artige Zuckung. 

Quadriceps (Vast, int.) beiderseits MZ bei 2 MA, blitzartige Zuckung. 
Tibialis ant. MZ bei 10 MA, ASZ > ESZ, trage Zuckung. 

Bei 15 MA erhalt man eine langsam anschwellende Eontraktion, die 
wabrend des Durchtrilts des Stromes anhait und bei der Offnung massig 
rasch aber nicht blitzartig verschwindel. 

Gastrocnemius beiderseits MZ bei 7 MA, blitzartige Zuckung, ESZ 
> ASZ. 

Facialis-Stamm beiderseits MZ bei 7—8 MA, blitzartige 
Zuckung, ESZ > ASZ. 

MZ der Aste beiderseits bei 4—5 MA. 

MZ der Zunge bei 3—4 MA, blitzartige Zuckung. 

MZ des Accessorius beiderseits bei 2—3 MA, blitzartig. 

Sternocleidomastoideus MZ bei 2 MA beiderseits, ESZ > ASZ. Von 
einer 3 cm unterbalb seines Reizpunktes gelegenen Stelle erhalt man bei 
annahernd 4 MA—ES Te, vom Reizpunkt selbst aus ist kein Te zu 
erzielen. 

Im Trapezius beiderseits nicht ganz blitzartige Zuckung; MZ bei 
2—3 MA; bei starkeren StrOmen ist das langsame Ansclnvellen dcutlich 
zu sehen. 

Die von Professor Monckeberg-Strassburg vorgenommene mi- 


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Baake und Voss 


kroskopische Untersuchung exzidierter Muskelstiicke ergab folgenden 
fiefand: > 

1. Tibialis anticas: Schwere atropbische Ver&nderungen, namentlich 
Kaliberdifferenzen der Fasern und starke Kernvermehrung. Querstreifung 
ist stellenweise verloren gegangen. Degenerationen feblen. 

2. Deltoideus: Geringe Kaliberdifferenzen innerhalb normaler Grenzen. 
Querstreifung Qberall deutlich vorhanden. Keinerlei degenerative Vorgauge 
an den Muskelfasern, aber entschiedene Vermehrung der Muskelkerne. 

Zusammenfassung. 

32jahriger Mann, durch Tuberkulose erblich belasfcet; yon zwei 
jiingeren Briidern litt der eine an Idiotie, der andere an Schwachsinn 
mit fortschreitender Lahmung beider Beine und Klumpfussbildung. 
Seit der aktiven Militarzeit yor 10 Jahren leichte Schwache in beiden 
Unterschenkeln. Sonst kraftig und gesund (Hufschmied). Seit 1915 
allmahliche Abnahme der Kraft, auch der Hande, dazu seit Juli 1916 
Erschwerung der Hand- und MundofFnung (myotonische Spannung); 
seit Marz 1016 Ohnmacbtsanfalle. 

Befund: Starke Atrophie der Unterschenkel, Vorderarme und 
— weniger ausgepragt — der Halsmuskeln. Mechanisch und elek- 
trisch myotonische Beaktion. Herabsetzung der elektrischen Erreg- 
barkeit und Entartungsreaktion in einzelnen Muskeln. Andeutung yon 
myasthenischer Reaktion. Facies myopathica. Herabhangen der oberen 
und unteren Augenlider. Leicht verwaschene Sprache. Sehnenreflexe 
herabgesetzt, zum Teil fehlend, yoriibergehend Babinski und Oppen- 
heim positiv. Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme, Zyanose 
der Hande. 

Auf psychischem Gebiet Stumpfheit, Gedachtnisschwache, ethischer 
Defekt. Anfalle yon anbestimmtem Typus. 

Mikroskopisch in den Muskeln keine Hypertrophie der Primitiv- 
fasern, wohl aber atrophisehe Vorgange mit Vermehrung der Sarko- 
lemmakerne. 

Der hier geschilderte Fall reiht sich zwanglos jener Gruppe an, 
die man neuerdings als Myotonia atrophica zusammengefasst hat. 
Hoffmann, Pelz, Curschmann, Steinert und andere Forscher 
beschreiben das Krankheitsbild, dessen Hauptziige wir kurz dahiu 
zusammenfassen konnen: Myotonische Storungen der Willkurbe- 
wegungen, hauptsachlich beim Faustschluss, elektrisch und mechanisch 
myotonische Veranderung der Erregbarkeit in verschiedenen Muskel- 
gruppen, daneben myatrophische Erscheinungen im Gesicht, den 
Halsmuskeln, am starksten in der Vorderarm-, Hand-, Unterschenkel- 
und Fussmuskulatur. Auserdem aber wurden Storungen beobachtet, 


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fiber fortschreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 337 

die iiber den Rahmen der Myotonie and Dystrophie hinausgehen: friih- 
zeitiges Schwinden der Sehnenreflexe, auch in Mnskeln, die nicht er- 
heblich dystrophisch sind, in anderen Fallen spastische Erscheinungen 
(Babinskisches Zeichen). Ala Hinweis auf die spezifisch familiar-heri- 
ditare Grundlage lasst sich in manchen Fallen eine Befceiligung der 
Geschlechtsfunktion (Impotenz) mit Hodenatrophie, ferner Friibstar 
nachweisen. Von einigen Autoren wird auf die atiologischen Be- 
ziebungen zum innersekretoriscben System binge wiesen, die sicb in 
Erscbeinnngen von seiten der Scbilddrdse' usw. aussern (Graefesches 
Zeicben, Facialispbanomen, tropbiscbe Storungen). 

Die Mebrzabl der Forscber legt bei der Beschreibung des Krank- 
heitsbildes den Hanptnachdmck auf die myotonischen Symptome. 
Hauptmann, der neuerdings an der Hand einer eigenen Beob- 
achtung die Frage ausfiihrlich erortert hat, will in dem gescbilderten 
Krankeitsbild ein selbstandiges, zu den heredofamiliaren Erkrankungen 
gehorendes Leiden erblicken, das weder der Dystrophie angehort, 
nocb aucb als reine Myotonie mit binzutretenden atrophischen Er¬ 
scheinungen angeseben werden darf. 

Legen wir nns die Frage vor, inwieweit unser Fall mit den bis- 
herigen Schilderungen ubereinstimmt, so konnen wir in ibm fast alle 
typischen Erscheinungen wiederfinden. Er bestatigt die Berecbtigung 
der Aufstellung einer besonderen Gruppe durchaus. 

In erster Llnie steht die bereditare Belastung. Aus dem bei- 
gegebenen Stammbaum seben wir die unheilvolle Wirkung der Tu- 
berkulose, die vaterlicherseits in zwei Generationen der Erzeuger 
bestand. Drei Geschwister des M. leiden an eigentiimlichen Nerven- 
krankbeiten: ein jiingerer Bruder an Idiotie, ein zweiter ist an fort- 
schreitender Labmung der Beine mit Klumpfussbildung und Betei- 
ligung der Spbinkteren gestorben. Eine Scbwester hat merkwiirdige 
Schlafzustande durchgemacht, ist geistig und korperlich minderwertig. 

Im augenblicklicben Krankheitsbilde des M. finden wir die myo- 
tonische Storung der Willkiirbewegung und die abweicbende Form 
der Reaktion neben den atrophischen Erscheinungen, die Gesichts-, 
Hals-, Vorderarm- und Unterschenkelmuskeln in erster Linie betreffen. 

Es ist keinwesentlicher Unterschied gegeniiber den friiher be- 
scbriebenen Fallen, dass die Handmuskeln bisber unbeteiligt sind, 
wahrend die Vorderarm- und Unterschenkelmuskeln sehr erbebliche 
Abmagerung zeigen. 

Ebensowenig berechtigt das Schwinden der Sehnenreflexe unseren 
Fall von den bisberigen abzutrennen, bei denen Hinterstrangbeteiligung 
mebrfacb angenommen werden konnte. Weniger leicht einzuordnen sind 
die spastischen Erscheinungen, vor allem das —wenn auch nurvoriiber- 


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Baake und Voss 


gehend — sicher beobachtete Babinskische und Oppenheimsche 
Zeichen. Doch finden sich auch darauf Hinweise, in dem yon Stocker 
beschriebenen Fall, der neben Hinterstrangerscheinungen ebenfalls 
spastische Storungen aufwies. 

So sind wir mit der Einordnung unseres Falles in die yon den 
genannten Forschern geschaffene Sondergruppe durcbaus einverstanden. 
Wir mussen uns aber scharf gegen die Subsummierung unseres und 
der ibm ahnlichen Falle unter die myotonischen Erkranknngen wenden. 
Auch Hauptmann will nichts yon diesem nosologischen Zusammen- 
bang wissen, trotzdem behalt er die, wie uns scheint, irrefiihrende 
Bezeichnnng der „atrophischen Myotonie" bei. Was gibt dazu die 
Berecbtigung? Doch einzig und allein das Vorliegen der geringfugigen 
myotonischen Storungen, die nocb dazu meist nur den Faustschluss 
betreffen. Das Vorliegen der Myo. R. ist nicht an die Thomsensche 
Krankheit gebunden: sie kommt, ebenso wie die myotonische Stoning 
des Faustschlusses, rein symptomatisch yor. Ich erinnere an die 
Beobachtungen von Rindfleisch und Schlesinger, die bei Syringo- 
myelie ihr Vorkommen feststellten. Augenblicklich liegt auf meiner 
Abteilung ein Fall yon Syringomyelie mit Krallenhandbildung und 
deutlicher Myo. R. im Daumenballen. Kleist hat myotonische Er- 
scheinungen bei Kleinhirnerkrankungen gesehen und ihre Entstehung 
auf ein Ergriffensein der zerebellaren Systeme zuriickgefuhrt. Scbliess- 
licb sind auch bei Myelitis myotonische Erscheinungen beobachtet 
worden. 

Nun liegt in unserem Falle ein recht wohlcharakterisiertes Krank- 
heitsbild vor: Fehlten die myotonischen Symptome, so wiirde an seiner 
Zugehorigkeit zur Dystrophie kaum ein Zweifel auftauchen konnen. 
Gewiss ist die Verteilung der Atrophien ungewohnlich, doch erinnert 
sie an die neurale Form der Dystrophie, bei der bekanntlich Unter- 
schenkel und Vorderarme zunachst und am starksten erkranken. Auf 
die Beteiligung der Nervenstamme deutet auch die Druckschmerz- 
haftigkeit der Nervenstamme, die Herabsetzung der Erregbarkeit in 
den Nerven und die Ea. R. in den sehr atrophischen Streckern des 
Fusses. Auch das Vorkommen von Hinter- und Seitenstrangsymptomen 
kann zum Bilde der neuralen Formen gehoren; daher stammt die 
von Bernhardt vorgeschlagene Bezeichnung „spinal-neuritiscbe“ 
Muskelatrophie. In dem von Klieneberger beschriebenen Falle finden 
sich die neuritischen Storungen sehr deutlich ausgepragt, so dass er 
mit Recht von einer Mi sc hung der Dystrophie mit Neuritis spricht. 
Aus dem Rahmen dieser beiden Erkrankungen fallen beim Krankeu 
Klienebergers die Spontankontrakturen heraus, die ihn zu der 
Annahme eines Hinzutretens der Myotonie, allerdings ohne typische 


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Uber fortschreitenden Muskelschwund rait myotonoiden Symptomen. 339 


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Baake und Voss 


Myo. R., veranlassten. Das Auftreten dieser tonischen Spannungen 
erinnert sehr an die Beschreibung, die Stocker yon seinem Falle 
gibt. Wir mochten auch hier an die moglichen Beziehungen zu Sto- 
rnngen in der Kleinbirnfanktion erinnern. 

m 

Bei der echten Myotonie finden sich typische Veranderungen in 
den Mnskeln; eine hochgradige Vergrosserung der Primitiyfasern ist 
die Regel. Um unseren Fall auch nach dieser Richtung hin moglichst zu 
klaren, baben wir Muskelstucke aus dein Tibialis ant. und dem Deltoideus 
untersuchen lassen 1 ). Diese Muskeln warden gewahlt, da einerseits 
die Fassstrecker am starksten atrophiert waren, und andererseits der 
Deltoideus seinen Umfang anscheinend vollig bewahrt hatte. Der 
Gegensatz zwiscben dem Deltoideus und der Ober- und besonders der 
Vorderarmmuskulatur war so auffallig, dass von Vorgutacbtern die 
Schultermuskeln als hypertropbisch-myotonisch geschildert wur- 
den. Die mikroskopische Untersuchung ergab nun nicht die geringsten 
hypertrophischen Erscbeinungen; im Tibialis anticus bestand eine fortge- 
schrittene Atropbie mit starken Kaliberdifferenzen und Kernvermeh- 
rung ohne degenerative Vorgange, aber mit teilweisem Verlust der 
Querstreifung. Im Deltoideus fand sich keine Atrophie, wohl aber 
Kernvermebrung, die wohl als Beginn des Krankheitsprozesses ange- 
sehen werden darf. » 

So gibt uns auch der mikroskopische Muskelbefund nicht die 
geringsten Anhaltspunkte fur die Annahme echter myotonischer Ver¬ 
anderungen. Vielmehr bewegen sich die Abweichungen im Rahmen 
gewohnlicher atrophischer Prozesse im Muskel, wie wir sie in be- 
stimmten Stadien der progressiven Muskelatrophie zu finden pflegen. 

Vor allem aber spricht die Entwicklung der Krankheit gegen 
jede echt myotonische Grundlage. Wir sehen, dass die Erkrankung 
mit einer Schwache in den Unterschenkeln begann. Erst nach vielen 
Jabren gesellten sich die myotonischen Storungen binzu, obne einen 
grosseren Umfang oder einen hoheren Grad zu erreichen. Schon 
diese Beschrankung auf einzelne Muskelgruppen spricht gegen die 
Uberscbatzung ihrer nosologischen Bedeutung. Die myotonischen, 
vielleicht mit Higier besser als „myotonoid“ zu bezeichnenden, Sto¬ 
rungen scheineu besonders in jenen Muskeln aufzutreten, die physio- 
logisch unter starkerem Tonus stehen, wie die Beuger der Finger 
gegeniiber den Streckern. 

Wir wollen keinen besonderen Nachdruck darauf legen, dass die 

1) Fiir die Ausfuhrung der mikroskopischen Untersuchung sprechen wir 
Herm Professor Monckeberg-Strassburg unseren besten Dank aus. 


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Uber fortschreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 34 1 

echte Myotonie meist familiar auftritt. Die in unserem Falle vor- 
liegende Belastnng aussert sich mehr nacb der Richtung psychischer 
Abweichungen (Schwaehsinn) and fortschreitender Lahmung. Der eine 
Bruder des M. zeigte Lahmung mit Klumpfussbildang, die immer- 
hin an die neurale Form erinnert. 

Schliesslich ware noch auf die bei unseren Kranken beobachteten 
Anfalle hinzuweisen. Im Bilde der nenralen Moskelatrophie sind 
Anfalle beschrieben worden, deren Zugehorigkeit zum Krankheitsbilde 
Oppenheira allerdings nieht fur erwiesen halt. Auch wir sehen in 
ihnen nur einen Hinweis auf die schwere, erblich-degenerative Grund- 
lage der Erkrankung, die nicht als Affektion des Muskelsystems auf- 
zufassen ist, sondern als Ausdruck einer Minderwertigkeit des ge- 
samten Nervenapparates(Hirn, Riickenmark, periphere Nerven) m i t 
Einschluss des vegetativen Systems. Auf eine Beteiligung der en- 
dokrinen Driisen weisen die Storungen der Geschlechtstatigkeit(lmpo- 
tenz; in unserem Falle war eher eine Steigerung anzunebmen), die Te- 
taniesymptome (Chvostek), das Graefesche Zeichen, die trophischen 
und vasomotoriscben Storungen bin. Auf das Vorliegen einer Katarakt- 
bildung ist unser Fall leider nicht untersucht worden. Die Haupt- 
mannsche Arbeit karn uns erst nach Entlassung des M. zurKenntnis. 

Wir mbchten unsere Auffassung des vorliegenden und ahnlicher 
Falle dahin zusammenfassen: 

Es handelt sich um eine heredo-familiare Erkrankung, die der 
neuralen Form der Muskelatrophie nahestehen kann, ausserdem aber 
eine Beteiligung der Riickenmarks-(Hinterstrange) und hbherer Zentren 
(Kleinbirn, supranukleare Ganglien?) zeigt. Die mvotonischen Er- 
scheinungen treten rein symptomatisch in diesem Bilde auf; sie 
sind entweder im Sinne Jollys als ein besonderer Ausdruck der Ent- 
artung des Muskels, uder aber als Innervationsstorungen zentraler 
Natur (Kleinhirn — Kleist) aufzufassen. Mit der echten Myotonie 
baben diese brtlichen Erscheinungen nichts zu tun; die von Higier 
vorgesehlagene Bezeichnung „myotonoid“ ist durchaus angebracht, 
um den Gegensatz zu der Thomsenschen Krankheit hervozuheben. 
Wir lehnen daher die Bezeichnung „atrophische Myotonie 1 * fiir diese 
Erkrankung ab und schlagenvor, sie als „fortschreitenden Muskel¬ 
schwund mit myotonoiden Symptomen" der Gruppe der Dystro- 
phien zuzurechnen. 


Literatur. 

Hauptmann, Die atrophische Myotonie. Diese Zeitschr., Bd. ’>5 (atis- 
fiihrliche Beeprechung der letzten Arbeiten). 


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342 Baake und Voss, Uber fortschreitenden Muskelschwund usw. 

G. Voss, Zur Frage der erworbenen Myotonien und ihrer Kornbination 
wit der progressiven Muskelatrophie. Diese Zeitachr., Bd. 34. 

O. L. Klieneberger, Zur Frage der Kornbination der Muskeldystrophie 
mit anderen Muskelerkrankuugen. Arch. f. Psycbiatrie u. Nervenkrankheiten, 
Bd. 51. 

Higier, Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophischen 
Myotonie usw. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., Orig.-Bd. 32, 247. 

Stdcker, tjber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von 
Myotonie. Diese Zeitschr., Bd. 32, 337. 

Opponheim, Lehrbuch, 6. Aufl., Bd. I, 326. 


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Besprechungen. 

1. 

Mikroskopischer Atlas des menschlichen Gehirns. Herausgegeben 
von Prof. I)r. G. Fuse (Sendai in Japan) und Prof. Dr. C. v. Mona- 
kow (Zttrich). Verlag von Or ell Fussli in Zdricli. 1916. Liefe- 
ruiig 1. Preis 20 M. 

Die erste Lieferung dieses gross angelegten Tafelwerkes, welches 
unzweifelhaft das Vollkonimenste ist, das auf dem Gehietc der bildlichen 
Darstellung der feineren Verbiiltnisse des menschlichen Gehirns bisher ge- 
leistet worden ist, entlialt fftiif Abbildungen von Durcbscbnitten durch die 
Oblongata von der llOhc der Pyramidenkreuzung an bis zum Beginn der 
BrOcke. Die Tafeln sind 50:62 cm gross und geben ein vdllig natur- 
getreues Bild aller bei 40father VcrgrOsserung ini gefarbten Pr&parat 
sichtbaren Fasern und Zellen. Um die Fascrdctails in klarer Weise zur 
Darstellung zu bringen, wurden als Vorbilder Schuitte aus der Oblongata 
eines einjahrigen Kindes gewablt. Durch das genaue Studium der Pr&- 
parate und durch ibre Vergleicbung mit Praparaten von sekundaren De- 
generationen wurden auch versebiedene wichtige neue Einzelheiten gefunden, 
so insbesondere Ober den Seitenstrangkern, die Formatio reticularis die 
Substantia gelat. Rolandi, die verschiedenen Abscbnitte der Nucl. graciles 
und cuneati u. a. 

Das Werk ist ein ausgezeicbnetes Hilfsniittel bei patbologisch-ana- 
tomiseben Studien. Iloffentlich lasseu die weiteren Dieferungen niebt all- 
zulange auf sieli warten. A. StrQmpell. 


2 . 

Sclnveizer Arehiv fQr Neurologie und Psycbiatrie. Redigiert von 
C. v. Monakow. Bd. I. Heft 1. Zurich, Orell Fttssli. 1917. 

Dicse neu gegrQndete neurologisch-psycbiatrisebc Zeitscbrift soli das 
offizielle Organ der Sclnveizer. neurol. Ge«ellschaft sowie des Vereins 
sclnveizer. Irrcn&rzte sein. Sie ist ein Anzeicben daftlr, mit wie grossem 
Eifer und Erfolg die Neurologie und die Psycbiatrie in der Schweiz be- 
tricben werden. Entsprecbend der Zusammensetzung des Schweizer Volkes 
ist auch die Zeitscbrift in ihrem Titel und in ihrem Inhalt eine mebr- 
sprachige. Die Arbeiten kfinnen in deutseber, franzosiseber und italienischer 
Sprache verOffentlicbt werden. FQr den Wert der Arbeiten bflrgen die 
Namen des Ilerausgebers und seiner Mitredaktorcn (Bing-Basel, Min¬ 
kowski- ZOricb und Naville-Genf far den neurologiscben Teil, Weber- 
Genf und H. Maier-Ztlricb ftlr den psyebiatriseben Teil). Das vorliegende 
Deutsche Zeitscbrift f. Ncrvenheilkunde. Bd.57. 23 


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344 


Besprechungen. 


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Heft enthalt interessante Beitr&ge von Dubois (Somatogene ou psycho¬ 
gene), von Bleuler (McndelismuS bei Psychosen, speziell bei Schizophre¬ 
nic), von D ft ring (Etude anatomique d’une parapar6sie spastique congeni- 
tale), von Brun (Zur Kenntnis der Bildungsfehler des Klein hirns), von 
Egger (Le tonus statique et son role en pathologie nerveuse) und von 
Hisakiyo Uemura (Pathologisch-anatomische Untersuchungen hber die 
Verbindungsbahnen zwischen dera Kleinhirn und dem Hirnstamm). Den 
Schluss des Heftes bilden Versammlungsberichte und Referate. 

Das einffthrende Vorwort von v. Monakow enthalt die Satze: „il me 
semble de plus que ce sera a nous neutres qu’appartiendra apr£s la guerre 
le grand devoir d’essayer de renouer les liens scientifiques entre les nations 
que la guerre aura s6par£es. La position centrale de la Suisse semble 
l’indiqucr tout specialement pour l’accomplissement de cette belle oeuvre 
de reconciliation dans le domaine de la science." Moge diesem Wunsch 
ein guter Erfolg beschieden sein! A. Strftmpell. 


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Zeitschriftentlbersiclit. 


Archiv fUr Psychiatric und Nervenkrankheiten. 

Redigiert von E. Sieraerling. Berlin 1917. 

Band ®7 9 Heft 8* 

Die Bedeutung der Spirochfttenbefnnde im Gfehirn von Paralytikern. 

Von Prof. Dr. Raeckel. Nicht irgend welehe riitselhaften metasyphilitischen 
Toxine, sondern die Spirochiiten selbst bedingen die lokalen entziindlichen 
Veranderungen ira Gehirn, die der Paralyse zugrunde liegen. — Uber ange- 
borene Kleinhirnstorungen. Von Dr. W. Beyerman-Leiden. Ausffihrliche 
Krankengeschichte von 8 Fallen kongenitalen Kleinhirnraaugels. Keine Autop- 
aie, aber sehr genaue klinische Untersuchung. — Multiple Sklerose und Un¬ 
fall* Von Ernst Maschraeyer-Gottingen. Eingehende Erorterung der Frage 
auf Grand uml’assender Literaturstudien und eigener Erfahrungen (8 Fiille aus 
der Gottinger Nervenklinik, die ihr Leiden auf einen Unfall zuriickfuhrten). 
Im allgemeinen kommt Verf. zu einem inehr ablehnenden Ergebnis. In 
hfichstens 5—10 Proz. ajler Fiille von Scler. mult, liegt die entfernte Mbglich- 
keit eines Zusammenhangs zwischen Traumen und Krankheit vor. — Experi¬ 
mented Untersuchungen fiber die Assoziationen bei Gehirnverletzten. Von 
Dr. E rich Stern-Strassburg i. E. Eingehende Assoziationsversuche an 18 
Hirnverletzten und zum Vergleich hierzu an 6 Neurotikern und 6 Norinalen. 

— Cber psychogene „lscbias- u , „Rheumatismus“- und Wirbels&uleerkran- 
kungen. Von Dr. M. Raethel-Bonn. Zuriickweisung der Schanzschen „In- 
sufficientia vertebrae". Mitteilung zahlreicher Fiille hysterischer Erkrankung 
mit dem anscheinenden Krankheitsbilde einer Ischias Oder eines Muskelrheu- 
matismus, Meist rasche HeiluDg durch entsprechende psychische Behand- 
lung. — Die Krankheit Lenaus und Byrons. Von Dr. med. et phil. F. Kami* 
giesser-Braunfeld. Wahrscheinlich Paralyse. — Erschopfungspsychosen bei 
Kriegsteilnehmern mit besonderer Berficksichtigung der D&mnierzust&nde. 
Von Flelenefriederike Stelzner-Innsbruck. Verf. beobachtete ziemiich 
haufig reine psychotische Erscliopfungszustiinde in der Form von halluzina- 
torischer Verwirrtheit, tobsiichtigen Delirien, iingstlicher Melancholie und 
Dammerzustiinden. In reinen Fallen trat nach 2—12 Wocben vollige Heilung 
ein. Infektionen und Intoxikationen spielen zuweilen eine begleitende Rolle. 

— Studien fiber die progressive Paralyse* Von Dr, F. Jahnel. Mitteilung 

fiber die Technik des Spirochatennachweises. — Paul Flechslg zum 70. Ge- 
burtstag* Von E. Siemerling. A. Strfimpell. 


23* 


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346 


Zeitschriftenubersiclit. 


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Monatsschrift fUr Psychiatric und Neurologic. 

Herausgegeben von Prof. Dr. K. BonhOffer. 

Band 41,' Heft 6 (Jnli 1917). 

Seelert, Hans, Berlin, Untersnrhnng der Familienangehdrigen tom 
Paraljtikern und Tabikern auf Syphilis und damlt znsammenh&ngende 
nervose Slbrungen nnter besonderer Beriicksicbtigiing des Infektionster- 
mins dieser Pnraljtiker und Tabiker. An der Hand eines Materials von 
40 Kranken werden Sehlussfolgerungen gezogen, die im Original nachzu- 
lesen sind. 

Bimbauin, Karl, Berlin, Klinische Sclnvicrlgkeiten im Psycbogenle- 
gebiet. Zu kurzem Referat nicht geeignet. 

Kohnstamm, Oskar, Konigstein im Tan nils, C T ber das Krankheitsbild 

der retro-anterograden Amnesie und die Unterscbeidnng des spontaaen 
und des lernenden Merkens. 

Bonhoeft’er, K., Berlin, Uber die Abnahme des Alkoholismus w&hrend 
des Krieges. An der Hand der Berliner Krankengeschichten wird die Ab¬ 
nahme des Alkoholismus bestatigt. 

Forster, Berlin, Die staatllcheu Hell* und Pflegeanstalten sind docb 
nur bessere Strafanstalten nnd GefHngnisse (eine ofFentlioh ausgesprochene 
richterliche Ansicht). 

Band 42, Heft 1 (JuHH)l7). 

Gregor, A., Leipzig, Uber Yerwahrlosungstypen. Gregor stellt ver- 
schiedene Gruppen von Verwahrlosung auf und holft, dass das hier aufgestellte 
Themaden wesentliehcn Forderungen der Fiirsorgeerziehung entspreelien durfte. 

Siehert, II., Libau, Zur Klinlk der Geschwisterpsychosenanscheiuend 
exogenen Ursprungs. Zu kurzem Referat iiieht. geeignet. 

Bonlioeffer, K., Granatfernwirkung nnd Kriegshysterie. 

Jahnel, F., Frankfurt a. M„ Uber Spiroehtttenbefunde in den Stamm* 
ganglien bel Paralyse. Auf Grund von Fallen mit mikroskopischer Unter- 
suchung und mikrophotograpliisdien Aufnahmen. 

Band 42, Heft 2 (August 1917). 

De Crinis, Max, Graz, Uber die Indernng des Serumeiweissgehaltes 
unter uormalen und palhologiscben Yerhiiltnissen. Die genauen Schluss- 
folgerungen sind in der Arbeit selbst naelizulesen. 

Licen, E., Triest, BeitrUge zur Histopathologieder Schnssverletznngen 
des BQckenmarks. 

Engler, Bertha, Uber Analpbabetia partialis (kongeuitale Wort- 
blindhoit). E. Ebstein. 


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