MEDICAL SCHOOL
LlffiTRAMY
E£cccc£
EX L1BKIS K
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by IU(
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
DEUTSCHE ZEITSCHRUT
FUR
NERVENHEILKUN DE
UNTER MITWIRKUNO
der Herren Prof. Edinger-Frankfurt a. M., Prof. Poorster-Breslau,
Prof. v. Frankl-Hoohwart-Wien, Prof. J. Hoffinann-Heidelberg,
Prof. v. Monakow-Zurich, Prof. Nonne-Hamburg, Prof. Oppen-
heim-Berlin, Prof. Quinoke-Kiel, Prof. A. Baenger-Hamborg.
HERAUSOEGEBEN
VON
Prof. Wilh. Erb Prof. L. Lichtheim
«mer. Direktor der med. Klinik in Heidelberg, emer. Direktor der med. Klinik in Kftnigsberg.
Prof. Fr. Schultze Prof. A. v. Strumpell
Direktor der med. Klinik in Boon. Direktor der med. Klinik in Leipzig.
REDIGIERT VON
A. STRt'JMPELL.
Offizielles Organ der „Gesellschaft deutscher NervenSrzte".
SIEBENUNDFUNFZIGSTER BAND.
(Mit 21 Abbildongen im Text.)
LEIPZIG,
VERLAG VON F.C.W. VOGEL.
Digitized by
Go gle
1917.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Druck von August Pries in Leipiig.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Inhalt des siebenundfunfzigsten Bandes.
Erstes nnd zweites (Doppel-)Heft.
(Ausgegeben am 14. August 1917.)
Seite
Oppenheim, Hermann, Zur Kenntnis der Veronalyergiftung und der
funktionellen Formen der Sehstorung. (Mit 5 Abbildungen). ... 1
(Aus der medizinischen Universitiitspoliklinik Rostock. Direktor: Prof.
Dr. Hans Curschmann.)
Boenheim, Felix, Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Po-
tenzstorung“. (Mit 4 Abbildungen).36
(Aus dem Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt [iiussere Abteilung]).
Werther, Uber Liquoruntersuchungen und Liqnorbehandlungen bei Sy-
philitischen.61
(Aus der medizinischen Klinik der Universitat Leipzig. (Direktor: Geh.-
Rat v. Strumpell.)
Stephan, Richard, Zur Kenntnis und Atiologie der unter dem Bild
eines Tumors verlaufenden Erkrankungen der Cauda equina ... 87
Auerbach, Siegmund, Zur Lehre von den Liihmungstypen .... 101
fAus der chirurgischen Abteilung Dr. A. Zawadskis des Pragahospitals
in Warschau.)
Higier, Heinrich, Uber rnanche Komplikationen der Hartelschen Al-
koholbehandlung des Ganglion Gasseri bei schweren Trigeminusneu-
ralgien. 103
Besprechung:
Stertz, Georg, Typhus und Nervensystem.109
Zeitschrifteniibersicht.115
Literaturverzeichnis ..117
Gesellschaft Deutscher Nerveniirzte.148
Drittes bis fflnftes (Doppel-)Heft.
(Ausgegeben am 5. Oktober 1917.)
Bolten, G. C., Uber Hypothyreoidie.119
Bolten, G. C., Epilepsie und Tetanie.160
Aus der inneren Abteilung des stadtischen Krankeuhauses Augsburg.
(Oberarzt: Prof. Fr. Port.)
Giitermann, F., Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung mit gleieh-
zeitigen Missbildungen am Thorax und an der rechten oberen Ex¬
tremist. (Mit 3 Abbildungen).. 203
tj
Digitized by
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
IV
Inhalt des siebenundliintzigsten Bandes.
' Seite
Aus der Klinik und Poliklinik fur psychische und Nervenkranke in Bonn.
(Geh. Bat Westphal.)
Hiibner, A. H., Uber Myotonie.227
Aus der Netvenabteilung des k. u. k. Reservespitals Nr. 1 Lemberg.
(Spitalkoramandaut: Oberstabsarzt Dr. Julius Reich.)
Rothfeld, J., Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertro-
phica. (Mit 3 Abbildungen).242
Go Id maun, R., Der Menieresohe Symptomenkornplex als Spiitfolge des
Kopftraumas.258
(Aus der psychiatrisch-nenrologischen Klinik in Groningen, Holland.)
Kooy, F. H, Uber einen Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell,
bei Zwillingen.267
(Aus dem k. und k. Augusta-Barackenspital. Kommandanfc: Oberstabsarzt
I. KI. Dr. O. Byk.)
Donath, J., Uber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit nacli Operationen
an kontinuitatsgetrennten Nerven.275
Zeitschrifteniibersicht.291
Sechstes Heft
(Ausgegeben am 25. Oktober 1917.)
Aus dem Hauptfestungslazarett Posen. (Chefarzt: Stabsarzt d. R. a. D.
Med.-Rat Dr. Clauss.)
v. Dziembowski, Sigismund, Zur Kenntnis der Pseudosklerose und
der Wilsonschen Krankheit. (Mit 4 Abbildungen).295
Aus der medizinisclien Universitiitsklinik in Rostock. (Direktor: Gelieim-
rat Prof, Dr. Marti us.)
Queckenstedt, Uber Veriinderuugen der Spinalfliissigkeit bei Erkran-
kungen peripherer Nerven, insbesondere bei Polyneuritis und bei
Ischias.316
Aus der Militiir-Nervenklinik des 7. A.-K. „Mariahilf“ in Crefeld.
Baake, F., und Voss, G., Uber fortschreitenden Muskelschwund mit
myotonoiden Symptomen. (Mit 2 Abbildungen).330
Besprechungen:
1, Mikroskopischer Atlas des menschlichen Gehirns. (A. Strumpell) 343
2. Schweizcr Archiv fiir Neurologie und Psychiatrie. (A. Strumpell) 313
Zeitschrifteniibersicht.344
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Yeronalyergiftimg und der fnnktionellen
Formen der Sehstornng.
Von
Hermann Oppenheim.
(Mit 5 Abbildungen.)
Wabrend meiner Lazarettatigkeit hatte icb Gelegenheit, einen
Fallal beobacbten, der mein Interesse wahrend eines Jahres fesselte.
Ich hoffe, dass seine Mitteilung auch den Facbgenossen einiges Lehr-
reiche bieten wird. —
Leutn. d. Res. H., 19 J.. Res.-Offiz. (Abiturient). Erste Untersuchung
in meiner Wohnang am 7. X. 1915.
Seit April 1915 im Feld. Ende Mai auf Lorettohohe kurze Zeit ver-
scbtlttet, war lange Zeit dort im Trommelfeuer, wurde dann von Unrube,
Schlaflosigkeit, Herzbeschwerden befallen; ferner stelltc sich Hyperidrosis
eim Am 7. Juni kam er ans dem Felde ins Feldlazarett, war dort bis
zum 7. Juli, dann bis 1. Oktober 1915 in ambulanter Behandlung in
Hannover.
Status: Lebbafte Taehykardie, schnellschlagiges Zittern, Zunge sehr
trockeu; Sehnenphanomene crhOlit. Keine Verflnderungen am Herzen nach-
weisbar. Neurasthenie. Aufnahme in landlicbes Lazarctt empfohlen.
24. I. 1916. Zweite lvonsultation in der Sprechstunde: Er kommt
aus Salzuffeln; hat dieselben Beschwerden: Zittern in den Knien, Ermttd-
barkeit, Herzklopfen, Schlafmangel, Abmagerung, Kopfschmerz (Blutandrang
nacb dem Kopfe). Er kOnne nicht dagegen an, fftrchtet, die Rube vor
den Mannschaften zu verlieren.
. P. 120, lebhafter Tremor, Augen glanzend, ganz leichte Vergrdsserung
der Schilddrflse.
Er gebraucht Veronal und Opium.
Hyperthyreoidismus ?
Aufnahme ins Offizierslazarett des R.-L. Kunstgewerbemuseum emp¬
fohlen.
Vorlaufig Antithyreoidin.
Die Aufnahme ins Lazarett erfolgte am 16. II. 1916.
Anamnese: Kam vom Gymnasium als Freiwilliger ins Feld am 12.
X. 1914, machte dann im Februar 1915 einen Offizierkursus durch und
kehrte Ende April 1915 als Offizier ins Feld zurttck.
Ende Mai 1915 wurde er auf der Lorettohohe verschtlttet, nur kurze
Deutsche Zeitschrift f. Ncrvenheilkunde. Bd.57. 1
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
•)
Oppenheim
Digitized by
Zeit. Besonders aber wurde er durch das Trommelfeuer erregt. Starkes
Herzklopfen, andauernde Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, allgemeine Kdrper-
schwacke stellten sich ein. Er liatte damals besonders Neigung zum
Weinen, w&hrend jetzt Neigung und Zwang zum Lachen besteht: er muss
lacheo, ohne dass ein Grund vorhanden ist, und kann sich dabei nicht be-
herrschen. Damals trat besonders ein Zittern in den Knien beim Mar-
sehieren liervor, beim Sitzen hdrte es auf. Er empfand Atemstdrungen
beim Tragen des Tornisters und wenn er aufhorte, zu marschieren (?).
Jetzt besteht ein schmcrzhaftes GefQhl im Rttcken, das or nicht genau
beschreiben kann, er wache davon auf. Der Schmerz ziehe den ganzen
RQcken herunter.
Potus und Lues negatur. Wie sich spater kerausstellte, raucht er
stark Zigaretten.
FrQher war er nie krank, nur liatte er 2mal im Jahre Perioden von
Kopfschmerzen, die regelm&ssig wiederkehrten. Sie sassen im Hinterkopf
und schwanden nach 2—3 Wochen Dauer von selbst.
Im allgemeinen ist er gut in der Schule mitgekommen, war gut in
der Mathematik.
Keiue Nervenkrankheiten in der Familie.
Gegenwartipe Klagen: 1. Kopfschmerzen, besonders beim lauten Sprechen
(Kommandieren).
2. Zittern, wenn er einige Zeit gegangen ist.
3. Sckweissausbruch beim Gehen und bei dcr geringsten Tatigkeit.
4. Kopfschmerz beim Erwachen.
5. Schlechter Schlaf, storende Traume.
6. Herzklopfen, besonders beim Schreiben, Lesen und langeren Gehen. —
Keine wesentliche Abmagerung.
17. II. 1916. Kein Exophthalmus, leichtes Lidmuskelzucken. Augen-
bewegungen frei. Kein Nystagmus, kein Grafesches Symptom. Oplitlial-
moskopischer Befund normal.
Die seitlichen SchilddrQsenlappen sind vielleicht etwas vergrdssert.
Puls ganz ruhig, 17—18 in 1 i i M. Audi nach schncllem Aufstehen
aus der RQckenlage bleibt der Puls ganz ruhig.
In den ausgestreckten Handen kein Zittern.
Sehnenpkanomene von gewOhnlicher Starke.
Hautreflexe normal.
Kein Schwanken bei Augcnschluss.
Facialis und Hypoglossus frei.
Keine Schreckhaftigkcit.
GefQhl fQr BerQhrungen und Nadelstiche am ganzen Ktirper erhalten.
Diagnose: Zurzeit nur subjektive Beschwerden von neurasthenischem
bezw. hy8teroneurasthenischem CJiarakter. Die frQhere ambulante Unter-
suchung* hatte den Verdacht des Hyperthyreoidismus erweckt, die ent-
sprechenden Erscheinungen sind vielleicht durch die Therapie zurQck-
gebracht worden. Verordnung: Kiihle Halbbader.
22. II. 1916. P. 25 in i ! i M.; nach dem Ersteigen einer Treppe
geht der Puls auf 30. Herztone rein.
Keine nennenswerte Vergrosserung der SchilddrOse.
Nur geringes Zittern in den Handen.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenutnis der Veronal vergiftung usw.
3
Leichte angeborene Verkrttmmung an dem 4. und 5. Finger der
rechten. Hand.
Beim Bttcken keine ungewbhnlichen Kongestionserscheinangen.
Die Sensibilitat war (nach meinen Aufzeichnnngen) iramer normal.
29. II. 1916. Patient ist heute frQh 9 V 4 Uhr aus tiefem Schlaf
schwer zu erwecken, lallt schlaftrunken. gibt an, dass er gestern un-
beholfen gewcsen sei, alles was er in den Handen hatte, fallen Hess. Er
will nicht viel getrunken haben. Puls ganz ruhig. Nach Angabe der
Kameraden, die mit ihm das Zimmer teilen, soil der Schlaf des Patienten
immer sehr tief und er schwer aus demselben zu erwecken sein. Es be-
darf aber noch der weiteren Klarstellung der Sachlage.
Wie spater ermittelt wird, hatte er — angeblich wegen der Schlaf-
losigkcit — in den letzten Nachten viel gebummelt, stark geraucht, sich
Schlafmittel (s. u.) in grossen Mengen verschafft und war spat in der
Nacht nach Hause gekommen.
1. III. 1916. Patient liegt schlafsflchtig und somnolent da, er
macht mit den Armen lialb unwillkQrliche Bewegungen, die aber nicht
gerade krampfhaften Charakter haben. Er soli gestern keinenUrin ge-
lassen haben. Die Nahrungsaufnahme war sehr mangelhaft. Puls von
gewOhnlicher Frequenz.
Pupillenreaktion schien im ersten Augenblick nicht vorhanden zu sein,
kehrte dann aber gleich wieder.
Auf Bespritzen mit Wasser reagiert Patient.
Auf Befragen, was ihm sei, klagt er Qber Mhdigkeit. Die Woche vor
dem Eintritt des gegenwartigen Zustandes soli er liber auffallend wenig
Schlafbedflrfnis geklagt haben. Er bietet jetzt das Bild extremer
Schlaftrunkenheit, manchmal spricht er lachelnd ein paar Worte.
Beiderseitige Ptosis. Es besteht ein Nystagmus verticalis sowie an-
scheinend eine starkc Blickbeschr&nkung.*
Kniephanomen von gewohnlicher Starke, Hautreflexe normal.
Beim Lacben verzieht sich der Mund etwas nach links.
Ein typischer Fressreflex ist nicht vorhanden.
Ein Bauchreflex ist nicht hervorzubringen.
Er trinkt einen Schluck Milch, dann f&llt der Kopf mode auf die
Seite. Nachher trinkt er die Tasse aus, koramt aber dabei ins Husten
(verschluckt sich).
Aufgefordert, seinen Namen zu nennen, nennt er nur den Vornamen,
und es macht sich dann eine typische Perseveration bemerklich.
Respiration selten. Kcin Stokessches Atmen.
Er l&clielt fast andauernd, spricht dann auch ein paar Worte lallend
vor sich hin.
Diagnose: Der Zustand ist nicht als hysterische Narkolepsie zu
deuten; es ist auch nicht wahrsckeinlich, dass es ein einfacher Er-
scbdpfungszustand ist dureh Insomnie. Entweder liegt ein toxisches
Koma vor oder ein organisches Zerebralleiden (Tumor?).
Er soil gestern keinen Urin gelassen haben.
Es wird jetzt etwa 1 j 2 Liter eines hochgestellten Urins entleert..
2. III. 1916. Er ist gestern abend schon etwas freier gewesen, hat
auch mehr Nahrung zu sich genommen. Heute morgen muss er wieder
aus tiefem Schlaf geweekt werden, aber es gelingt doch leichter.
1 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
4
Oppenheim
Digitized by
Die gestern geschilderten Erscheinungen an den Angen (d. b. Ptosis,
Nystagmus und Blickl&hmung) bestehen nnverftndert fort.
Es haben sich grOssere Quantitaten Veronal bei ihm gefunden und
es ist nicht ausgescblossen, dass er eine grOssere Menge dieses Mittels ge-
nommen hat. Es bleibt allerdings die lange Dauer des Komas und der
gescbilderte Augenbefund auffallend.
Er phantasiert jetzt fortwfthrend: Schwester Frieda soli zu iliin
kommen usw.
Er soil schon am Tage vor Eintritt des Scblafzustandes unsicber und
auch schon einmal schlaftrunken gewesen sein, so dass die Kameraden, mit
denen er draussen zusammentraf, sich nach seinem Befinden erkundigten;
er habe auch gebeten, man solle ihn nach Haus bringen, was man fftr
einen Scherz hielt. Am Abend vor Eintritt des Komas habe er sich aber
im Belt noch ganz gut unterhalten.
3. III. 1916. Das Sensorium hat sich inzwiscben aufgehellt, doch ist
die Verwirrung noch nicht ganz geschwunden, es besteht eine gewisse Un-
ruhe und Jaktation. Die Ptosis und der Nystagmus sind zurQckgegangen.
Die Temperatur ist andauernd eine subnorraale.
Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass es sich urn eine Intoxikation,
vorwiegend mit Veronal, gehandelt hat; er scheint auch noch mit anderen
Mitteln, wie Bromosan (?) gewirtschaftet zu haben (daftlr hat sich aber
kein Beweis bringen lassen).
Zur Durchfdhrung der Entziehung ist eine Verlegung erforderlich, die
aber auf Schwierigkeiten stOsst.
4. HI. 1916. Die Augen wcrden jetzt gut geOffnet, aber die seit-
lichen Bewegungen werden noch nicht ausgefQhrt. GrObere Nystagmus-
zuckungen sind jetzt nicht nachzuweisen. Es besteht eine Insuffizienz der
Recti interni. Puls 50—60 in der Minute. Temperatur noch sub¬
normal.
Respiration ist nicht mehr verlangsamt.
Es ist ganz sicher, dass die Labmung der Augenmuskeln eine echte
ist, denn er bewegt, auch wenn er automatisch zur Seite blicken will,
nicht die Bulbi, sondern den Kopf.
5. III. 1916. Die seitlichen Blickbewegungen sind noch aufgehoben;
es besteht auch noch Strabismus divergens.
Es ist noch nicht klar, welche Art von SehstOrung vorliegt. Er
will auch grosse Gegenstande, selbst das Gesicht nicht sehen, behauptet,
nur den Umkreis des Gesichtes 4—5 mal zu sehen, auch mit jedem ein-
zelnen Auge.
Ausser der Diplopie und event. Akkommodationsl&hmung muss auch
noch eine zentrale SehstOrung im Spiele sein.
Handbewegungen scheinen vorwiegend in den rechten Gesichtsfeld-
halften wahrgenommen zu werden (?). Der Puls ist noch verlangsamt.
Im ganzen ist das Bewusstsein heute frei.
In den Beinen alle Funktionen (in der Rtlckenlage) normal.
Cornealreflex beiderseits erhalten.
Uber die Sensibilitat ist zwar in dem Krankenblatt niclits enthalten,
es geht aber aus meinen persOnlichen Aufzeichnungen hervor, dass sie
ttberall erhalten war.
12 . III. 1916. Er will nur eine schwarze Linie sehen, weder den
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw.
5
KSrper noch die Hand des Untersuchenden. Auch grosse Gegenstknde
werden nicht erkannt. Er macht merkwQrdige Angaben: er sehe nur cin
paar Striche, die zusamroenlaufen. — Puls 60 in der Minute, regelm&ssig.
Es scheinen auch optische Sinnestauschungen vorzuliegen.
Ophthalmoskopischer Befund und Pupillenreaktion immer normal.
13. III. 1916. Im Urin ist viel Veronal gefunden worden.
16. III. 1916. Er hilt die Augen geschlossen wegen Oberempfind-
lichkeit gegen Licht.
Handbewegungen werden nur zentral gesehen.
Pupillenlichtreaktion lebhaft. Augenbewegungen, besonders die seit-
lichen, sehr begrenzt.
Puls jetzt von normaler Frequenz.
Patient kommt in der Ernkhrung herunter, weil er fast nur Tee trinkt
und wenig isst. Er steht nur mit doppelseitiger UnterstQtzung.
Beim Gehen hochgradige Cerebellarataxie und Asynergie, nament-
lich auffallende Dysmetrie, indem er ganz ungewQhnlich grosse — ge-
radezu kolossale — Schritte macht.
An den Handen ist die Dysmetrie weniger auffallend. Er fQhrt aller-
dings den Loffel ungeschickt zum Munde, ger&t in die Umgebung desselben.
Keine Adiadochokinesis.
In der ROckenlage keine Ataxie in den Beinen (s. jedoch unten). Es
ist ihm aber nicht mOglich, mit dem Bein einen Kreis in die Luft zu be-
schreiben.
In den letzten Nkchten ist der Schlaf besser.
Die Amnesie ist immer noch ziemlich vollkommen fQr die Zeit vor
dem Anfall.
Der Sehnerv ist ganz normal.
21. III. 1916. Sehen unverkndert. Schlaf und Appetit unvollkommen.
24. III. 1916. Heute frflh in heissem Bade Verwirrungsanfall und
Weinkrampf. Jetzt wirft er sich noch hin und her, reagiert nicht auf
Anruf, knirscht mit den Zahnen, lasst sich dann aber durch Bespritzen
mit heissem Wasser so weit bringen, dass er die Augen Offnet, die Zunge
zeigt und etwas spricht. Es handelt sich offenbar um einen hysterischen
Anfall. Wahrend der Untersuchung stellt sich ein Weinkrampf ein,
Temperatur normal.
Im ganzen ist die Verwirrung noch‘gross.
Er macht allerhand Grimassen.
27. III. 1916. Der Anfall hat 1—2 Stunden gedauert. Seitdem ist
das Bewusstscin wieder klar. Er hat auch keine klare Erinnernng an
den Anfall. Handbewegungen sieht er an einigen Stellen des
Gesichtsfeldes, hauptsachlich zentral. Puls von gewOhnlichcr Fre¬
quenz, eher etwas beschleunigt.
Er halt die Lider fQr gewOhnlich geschlossen wegen Blendungsschmerz.
Ophthalmosk. normal.
31. III. 1916. Gefassreaktion (Prof. C. Weber). Bei lokaler
Muskelarbeit tritt eine Starke umgekehrte Gefassreaktion ein. Die Ver-
haltnisse liegen also so wie bei einer schweren Vergiftung des Blutes,
durch das die Ernahrung der betr. Hirnzentren schwer geschadigt ist odor
durch die ein schadlicher Reiz auf sie ausgeQbt wurde, dessen Folgen noch
erkennbar sind.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
6
Oppenheim
Digitized by
81. III. 1916. Er klagt ttber Brennen in den Angen nnd ttber ein
Augentrftnen, das auch nachweisbar ist Wenn er die Angen dem Fenster
zuwendet, hat er infolge der Blendung durch das helle Licht zunttchst gar
keine Gesichtswahrnehmung. Sowie er dann aber die schwarze Brille auf-
setzt, erkennt er, dass es sich um 3 Fenster handelt, er sieht auch
die Querbalken, erkennt auch, wenn ein Vorhang zugezogen wird. Ein
starkes Konvexglas, das augenblicklich nur zur Verfttgung steht, befOrdert
das SehvermOgen nicht. Aufgefordert, nach seiner eigenen Hand zu sehen,
bringt er dieselbe vor die Augen und stellt auch den Kopf ein, aber die
Bnlbi werden nicht eingestellt. Er kann seiner Hand mit den Augen
jetzt sowohl nach r. wie nach 1. folgen, dagegen nicht nach oben. Es be-
steht noch die Blicklahmung nach oben. Es kommt nur zu einem weiten
Aufreissen der Augen. Die Blickbewegung nach abwttrts ist jedoch vor-
handen. Sehr oft entstehen auf der Haut des Gesichtes, Halses und
Rumpfes rote Flecke, die schnell wieder verschwinden. Auf eine schnelle
Annaherung der Hand an das Gesicht zuckt er lebhaft zusammen. Er
weiss nicht, ob es der Lufthauch gewesen oder das Gerausch oder der
Gesichtseindruck, der das lebhafte Blinzeln hervorruft. Er hat auch bei
geschlossenen Augen fortw&hrend optische Halluzinationen.
Namentlich nachts, in der Dunkelheit, will er viele Bilder vor den
Augen haben.
Er klagt ttber andauerndes Jucken, besonders in der Gesichtshaut.
Seine Angaben in bezug auf das Verhalten des Sehens sind ganz konstant:
Er sieht in der Innenh&lfte des Gcsichtsfeldes Handbewegungen,
wie es scheint unter betr&chtlicher Einengung des Gesichts-
feldes.
Aufgefordert, nach bestimmten Richtungen zu sehen, benutzt er zwar
wesentlich die Kopfeinstellung, vcrsucht aber auch die Augiipfol in der
Richtung einzustellen. ,
Der vorgestern zugezogene Geheimrat X. hat das Leiden fttr eine
hysterische Amaurose erkliirt, und zwar besonders deshalb, weil Pat. bei
der Untersuchung die Augen auch nicht auf Objekte, deren Lage im Raum
ihm bekannt sein musste, wie seine eigene Hand einzustellen schien. Das
deute auf einen psychischen Vorgang.
Mit den H&nden ftthrt Pat. fortdauernd spielende, pflttckende Be-
wegungen aus.
Das Gesicht ist immer stark gerOtet.
Die Nahrungsaufnahme ist noch eine unvollkommene und ungleich-
mttssige.
Die diaphoretische Kur soli wieder aufgenommen werden.
Er kann jetzt etwas sicherer stehen, auch ohne Untersttttzung. Beim
Gehen ist es genau das frtther beschriebene Bild, und es verdient Beachtung,
dass sich trotz des langen Zwischenraumes zwischen den beiden Gehver-
suchen der Charakter der Storung ganz gleich erhalten hat. Dor Gang
sieht zunachst so grotesk aus, dass man unhedingt an psychische Momente
als Grundlage denken mQsste, wenn jede andere Erklarungsmoglichkeit
mangelte. Einmal ist die Schrittlitnge in ganz maBloser Woise vermehrt.
Er nimmt ungefiihr einen Schritt, als ob er ttber einen Bach hinwegsetzen
wolle, bleibt aber dann eine Weilc mit dem Fuss in der Luft und setzt
ihn darauf regellos nieder, dabei knickt der Rumpf zusammen. und es ist
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
7
die Synergie der Rumpf- and Beinbewegungen vollkommen aufgehoben.
Wenn man ihn cncrgisch auffordert, kleinere Schritte zu machen, so wird
es allmahlich wohl etwas besser, aber es fehlt ihm jedes Bewusstsein der
Scbrittliinge, so dass er z. B. das Schwungbein direkt neben das Stand-
bein oder binter dasselbe setzt. Jedenfalls weickt die Gehstdrung durch
den maximalen Grad der Dysmetrie wesentlich von jeder bekannten ab.
Sie lasst sich aber doch durch die Annahme einer ungewOhnlich betrficht-
lichen StOrung bestiminter Kleinhirnfunktionen erklfiren.
In der Rfickenlage ist die Bewegungsataxie nur angedeutet oder zeigt
nur einen schwachen Grad. Koine Adiadochokinesis.
1 . IV. 1916. Der Pupillarlichtreflex ist eher etwas abnorm lebhaft.
Durch Konvexglfiser lasst sich ein Ausgleich der SehstOrung nicht
herbeifQhren.
Es besteht noch die Insuffizienz der Recti intcrni.
Beim Vorhalten eines blauen Glases erklart er sofort, dass ihn das
Licht nicht mehr so blendet.
8 . IV. 1916. Um mit Sicherheit die Zufuhr von Giften zu verhQten.
wird Pat. unter standiger Bewachung isoliert.
5. IV. 1916. Er vermag heute die Augen, ohne dabei zu fixieren,
nacb alien Richtungen fast in die Endstellungen zu bringen, wenn man
ihn auffordert, nach rechts, links usw. zu sehen.
Nahrungsaufnahme etwas bosser.
6 . IV. 1916. Beim spontanen Zeigeversuch fahrt cr mit dem Zeige-
finger weit fiber das Ziel hinaus, aber die Richtung wird dabei korrekt
innegehalten. Dysmetrie ahnlich wie bei den Bewegungen der Beine.
Er habe das Geffihl, als ob das Bett in seitlicher Richtung hin and
her schwanke.
Er macht hfiufig pflfickende Bewegungen mit den Handen auf der
Bettdecke.
9. IV. 1916. Beim spontanen Zeigeversuch erhebliche Dysmetrie, in¬
dent die Hand ohne Deviation weit fiber das Ziel hinausschiesst
Augenbewegungen jetzt erheblich gebessert, nur nach oben etwas be-
schrfinkt.
12. IV. 1916. Es ist im Laufe der letzten Tage wiederholt zu
Temperatursteigerungen bis fiber 38,2° gekommen. Einigemal schien
sich diese Steigerung an eine kfirperliche Leistung anzuschliessen. Grosse
Unruhe in den Handen. Der Strabismus divergens besteht noch. Der
LichtQberempfindlichkeit entspricht ein besonders lebhafter
Reflex sowie eine starke Trfinensekretion.
Die Gehstdrung ist genau noch so wie sie gewesen ist, ebenso hoch-
gradig und von demselben Charakter. Es ist, als ob ihm jede Kenntnis
und jede Abschatzung der Bewegung der Beine beim Gehen fehle und als
ob es des extremsten AusmaBes der Bewegungen bedflrfe, um ihm fiber-
haupt ein Geffihl davon zu verschaffen, dass er die Beine bcwegt. Es
fehlt ihm ferner dabei jeder Halt im Rumpfe, so dass er schon beim Stehen
der doppelseitigen Unterstfitzung bedarf. Er knickt soust vOllig in sich
zusammen. Er macht dann mit dem Schwungbein zunachst einen unsicher
tastenden Schritt, der entweder sofort flbermfissig gross ausffillt oder erst
bei dem zweiten Versuch. Und zwar ist es dann, als ob er fiber eine
grosse Barriore hinwegsetzen wollte. Beim Niedersetzen des Beins wird
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
S Oppenhelm
dieses dann im Kniegelenk abnorm durchgedrflckt. Ebe er das Standbein
vom Boden bringt, vergebt oft eine Weile; dabei koramt es auch vor, dass
der Fuss sich am anderen verhakt and dass er mit der Rttckfl&che der
Zehen den Boden berflbrt.
Sehen unver&ndert.
Im Sitzen Schwindel, schwankende Bewegungen des Kopfes und
Rumpfes.
Die Rewegungsataxie der Beine im Liegen ist eine ganz unerhebliche,
nur beim Erheben und Niederlassen kommen ein . paar unregelmassige
Schwankungen vor, und er legt nicht das eine Bein neben das andero,
sondern streift damit das ruhende Oder legt den einen Fuss ttber den
andern. Er kann aber auch auf Aufforderung das Bein ein oder zwei
Fuss hoch erheben, einen Kreis in die Luft beschreiben, der allerdings
eckig ausfallt.
Die Unruhe in den Handen kennzeichnet sich teils als Zittern, teils
als' Zucken.
25. IV. 1916. Inzwischen hat Pat. an einer Gesichtsrose gelitten, die
abgeheilt ist.
Die motorische Unruhe in Handen und Fflssen ist noch sehr ausge-
sprochen.
Von einer Zitrone, die in ziemlich grosser Entfernung vom Auge ge-
halten wird, erkennt er die gelbe Farbe,' ebenso die rote Farbe eines
Buches.
Handbewegungen sieht er jetzt auf die ganze Entfernung
des Zimmers. Bei alien diesen Angaben ist er exakt und ver-
wickelt sich niemals in Widerspriiche. Er ist sehr schreckhaft, und
im Anschluss an den Schreck nimmt die Bewegungsunruhe zu.
Die seitlichen Augeneinstellungen sind jetzt ziemlich vollkommene,
wahrend die Blicklahmung nach oben noch nicht ,ganz zurflckgegangen ist,
26. IV. 1916. Er ist in den letzten Tagen von grosser Erregthcit;
behauptet, dass die Schwester ihn schlecht bchandelc; er verlangt die
ausserste Schonung, es darf sich im Zimmer nichts rtthren. Die moto¬
rische Unruhe hat sich gesteigert.
27. IV. 1916. Von seiner Schrittlange will er keine Empfindung
haben. Er kOnne jetzt unterscheiden, ob er eine Krankcnschwester oder
einen Soldaten vor sich babe. Die Empfindlichkeit gegen Licht hat sich
verringert, nur die grelle Sonne bereitet ihm Scbmerzen. Die GehstOrung
hat noch denselben Charakter. Im Sitzen vermag er aber auf Aufforderung
Schrittbewegungen im kleinen Umfang auszuftthren. Macht er aber im
Stehen Schrittbewegungen, so tritt die Inkoordination wieder zutage.
Er hat im Sitzen das Gefflhl des Schwankens, als ob ihm der Boden
unter den Fflssen fehle. Er ist beim Sitzen darauf angewiesen, sich mit
den Handen an der Stuhllehne festzuhalten. Auffallend ist noch, dass
die spontanen Blickbewegungen ganz fehlen. Wahrend er sitzt,
besteht ein leichtes Hin- und Herschwanken des Rumpfes.
1. V. 1916. Er kann nur unterscheiden, ob er viel oder wenige
Finger sieht, aber die Zahl nicht angeben.
5. V. 1916. Die Nahrungsaufnahme ist jetzt eine bessere, seitdem cr
taglich 3 Zigaretten erhalt. (das Rauchen war ihm vorher verboten worden).
12. V. 1916. Er ist seit einiger Zeit wieder in dem gcmeinschaft-
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenutais der Veronalvergiftung usw.
9
lichen Offizierzimmer. Er wnrde heate nacht am Boden gefunden; wie er
hingekommen, ist nicht festznstellen; er hat dann noch eine Stunde lang
hallaziniert von einem Mann mit, schwarzen FlOgeln, der ihn verfolge.
Heute frOh ist er wieder klar. Er macht immer daranf anfmerksam, dass
er nur die sich bewegenden Gegenst&nde sehe, nicht die ruhenden. Es
wird ein HOrrohr vor scinen Augen bewegt, und dann ein Blumenstrauss
in einer Vase. Er erkennt an dem letzteren die grOne Farbe und auch,
dass er weit grosser ist als das HOrrohr.
15. V. 1916. Harn ei weiss- und zuckerfrei. Auch ist Veronal nicht
mehr nachweisbar.
20 . V. 1916. Die Schlaflosigkeit ist wieder stfirker und hartniickiger.
GegenstOnde wie eine Uhr werden noch nicht erkannt.
Die GehstOrung ist entschieden geringer geworden. Er macht zwar
noch die Riesenschritte, aber es fehlt die vollkommene Asynergie. Er
hakt nicht mehr mit dem einen Fuss an dem andern fest usw. Erst nach-
dem er cinmal durch* das Zimmer gegangen, kommt — wohl als Er-
mttdungssymptom ■— die GehstOrung in frOherer Intensitflt wieder.
Augenhintergrund normal.
Vom Gesicht kann man durch Beklopfen jeder Stelle einen starken
Lidrcflex auslOsen.
26. V. 1916. Eine Besserung dcs SehvermOgens hat sich in der
letzteren Zeit darin zu crkennen gegeben, dass er zum erstenmal die
weisse Tasse auf seinem Tisch (also einen ruhenden Gegenstand) gesehen
hat. An einem vorgehaltenen HOrrohr, welches in Bewegung gesetzt wird,
greift er zunftchst immer nach rechts vorbei, erst nach und nach gelingt
es ihm, den Gegenstand sofort zu erfassen, namentlich wenn man ihn etwas
schneller bewegt.
16. VI. 1916. In der Nacht vom 13. zum 14. war er auf die Toilette
gebracht worden, wo er Erbrechen hatte. Als er wieder im Bett war,
stellte sich ein Zittern am ganzen KOrper ein mit Bewusstlosigkeit, indem
er nach Aussage der Schwester gar nicht auf Anruf reagierte. Am
nachsten Morgen wu3ste er von dem ganzen Vorgang in der Nacht nichts;
er meinte nur, dass er sehr schlecht geschlafen und getrfiumt habe, er
fflhle sich am Morgen besonders mtlde und abgespaunt. Er wird seit dem
14. Juni am Kopf galvanisiert; er gibt an, keine Lichtblitze vor
den Augen dabei zu haben.
20. VI. 1916. In der Nacht vom 19. zum 20. Juni soli er plOtzlich
aus dem Bett gesprungen und blitzschnell zur TOr, die etwa 3—4 Meter
vom Bett entfernt ist, gelaufen sein. Die TOr soli er aufgerissen haben,
dann fiel er um, so dass der OberkOrper ausserhalb des Zimmers, der Unter-
kOrper im Zimmer lag. Er schrie laut und schlug um sich, war ganz
steif am KOrper. Der Anfall dauerte ca. *l 4 Stunde. Nachdem er zu Bett
gebracht war, machten sich noch starke Zuckungen bemerkbar. Nach
*/ 2 Stunde schlief er ein.
Er hat sich am andern Morgen nicht nach diesen Vorgftngen er-
kundigt, war nur sehr mode und besonders schlafbedOrftig. Das Laufen
vom Bett zur TOr hat der KrankenwOrter beobachtet, der bei ihm Nacht-
wache hat. Die Mitteilung stammt teils von ihm, teils von der Schwester,
die herbeigerufen wurde. Die TOr soli sicher nicht aufgestanden haben,
so dass er irgcndwie die Klinke geOffnet haben muss.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
10
Oppenheih
Digitized by
23. VI. 1916. Er lernt jetzt allein zu stehen, indem er sick init
den Handen am Bettrand festhalt, er vermag sich dann auf den Stuhl, der
hinter ihm steht, zu setzen und wieder aufzustehen, indem er sich in
gleicher Weise mit den Handen am Bett festhalt. Das Sehen hat sick
wohl kaum gebessert, der Allgemeinznstand ist aber ein besserer geworden.
— Er wird jetzt bei sckOnem Wetter taglich far 1 Stande in den Garten
getragen.
5. VII. 1916. Die Gehstdrung hat noch denselben Charakter. Es
fallt als ein nenes Moment dabei das starke HintenOberlegen des Kumpfes
auf. Wenn Patient, wie der Warter angegeben, einmal vom Bett bis an
die Tttr gelaufen ist, so wttrde daraus bcstimmt hervorgehen, dass die
Gehstdrung eine hysterische ist.
Gegenwartig beim Sitzen ein andauerndes Wippen des Rumpfes.
Im Gehstuht dieselben Stdrungen wie beim Gehen mit UnterstQtzung.
26. VII. 1916. Klagt viel ttber Kopfschmerz. Besonders gebessert
habe sich das Farbenerkennen, so dass er selbst.auf wcite Entfernung
Blumen sehe, das Abendrot des Himmels usw. in dem Reflex des Fensters.
Die ruhende Hand des Untersuchenden sieht er auch in unmittelbarer Nahe
nicht, dagegen wohl die sich bewegende. Sein Vcrhalten bei der Seh-
prttfung entspricht durchaus dem bei organiscker Amblyopie. Es besteht
immer noch ein leichter Strabismus divergens; er kann aber jetzt die
Augen nach alien Richtungen einstellen, Dur macht er darauf aufmerksam,
dass es nach oben langsamer geht als nach unten, ebenso nach links ctwas
langsamer und unvollkommener als nach recbts.
Beim Gehen sei ihm jede Ffthigkeit, die Schrittlangc abzuscbatzen, ab-
handen gekommen.
Ophthalmoskopisch absolut normal, ebenso Pupillenreaktion.
25. VIII. 1916. Patient wurde heute in unserem (Oppenhcim,
Kalischer und Dr. LOwenstein) Beisein von dem Augenarzt Prof. S.
untersucht. Er nahm eine genaue Untersuchung des Augenhintergrundes
sowie eine eingehende Sehprttfung vor. Dabei war Patient in alien seinen
Angaben durchaus exakt und verwickelte sich in keiner Weise in Wider-
sprQche.
Es zeigte sich, dass er Handbewegungen ttberall erkannte,
wenn auch unter einer m&ssigcn Einengung des Gesichtsfeldes.
Finger vermochte er annahernd richtig zu zahlen oder er unter-
schied wenigstens, ob es raehrere oder einzelne waren. GrOssere
Gegenstande lokalisierte er im Gesichtsfeld, erkannte auch
beim Vorhalten einer Uhr, dass es ein gelber Gegenstand, z. B.
ein Ring sei. Messer erkannte er nicht, Streichholzschachtel am Geriiusch.
Bei dieser Untersuchung sah man, wie er das Gesichtsfeld mit den
Augen abtastete.
Prof. S. kam zu dem Ergebnis, dass sicher keine orgauisch bc-
dingte Sehstdrung vorliege, aber ebensowenig eine simulierte oder ein-
gebildcte. Am ehesten liesse sich der Zustand der uramischen Amau-
rose vergleichen, es sei eine funktionelle StOrung im Sehzentrum anzu-
nehmen.
Er wurde dann auf die Schrift bzw. die Art des Schreibens des
Patienten aufmerksam gemacht, die allerdings (s. die abgebildete Probe, Fig. 1)
etwas Uberraschendcs hatte. Seit den letzten Wochen schreibt Patient
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw.
11
n&mlich ziemlich flott and geschickt, indem er mit dem Daumen der linken
Hand den Rand des Papieres abtastet and aaf diese Weise den Anfang
sowie die richtige Distanz zwischen den Zeilen bestimmt. Dabei sind die
Unregelmassigkeiten in der Linienfdbrung auffallend gering.
Als Prof. S. sich davon ttberzeugte, war er zunSchst geneigt, anzu-
nebmen, dass Patient doch mehr sehe als er glaube, und es wtlrde dadurch
doch wieder der Verdacht einer hysterischen Amaurose nahegelegt werden.
Nun warde das Experimentum Crucis gemacht: es wurden dem Patienten
die Augen verbunden und es zeigte sich, dass er mit verschlossenen Augen
in derselben Weise schrieb wie mit geOffneten. So wurde der Verdacht
der hysterischen Amaarose wieder hinf&llig and das ursprflngliche Urteil
aufrecht erhalten.
at CA. LflyvkU*
M '*Laa0^'Aa & *^4- vi (kA'i *1 qAa _
Olaa. W* UaT- Ca
Fig. 1.
Prof. S. erwahnte noch, er babe schon beim Hereinkommen an dem
Blick des Patienten an der Divergenz der Augapfel und dem ganzen
Verhalten erkannt, dass eine wirkliche SehstOrung vorlage.
30. VIII. 1916. Auf einer Photographie, die vor seiner Aufnahme
in das hiesige Lazarett gemacht sein soli, ist der Strabismus divergens
anscheinend schon angedeutet, so dass dieses Moment fflr die Beurteilung ,
der Sehstdrung vielleicht in Wegfall kommt. Auf einer anderen, die allerdings
weniger deutlich ist, tritt das nicht kervor.
Beim Stehen — ohne Sttttze — fallt er sofort hintenftber und gibt
als Erkiarung, er wisse gar nicht, wo er den Hebei ansetzen solle. Er
klammert sich dabei mit den Handen an und hat das Geftthl der Unsicher-
heit und dass ihm alles vor den Augen verschwimme. Dabei starkes
Herzklopfen, Pulsfrequenz 40 in der Quart, Puls klein.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
12
Oppenheim
Es ist ihm mitgeteilt worden, dass er vor einigen Wochen einmal
nachts im Tranm zar Tttr gegangen sei. Er sagt, er kdnne sich das nicht
erklaren, aber er erinnere sich, dass er von einem Brande getraumt habe.
Die Art der GehstOrung ist vollkommen unverftndert.
10. X. 1916. Von Farben wird hente grttn nicht erkannt.
Die vorgehaltenen H&nde sieht er nnd unterscheidet auch,
ob es eine Oder zwei sind, aber nur wenn sie bewegt werden.
Vor einer Woche wurde er im Fabrstuhl in den Konzertsaal herunter-
gefahren. Dabei trat ein OhnmachtsgefQhl und Verwirrung ein, nachher
Ubelkeit und Brechreiz. An einem der nkchsten Abende hat sich das
wiederholt. Seitdem hat er das Bett nicht mehr verlassen.
17. X. 1916. Er klagt darQber, dass beim Liegen auf der rechten
Seite das rechte, beim Liegen auf der linken Seite das linke Auge tr&ne.
Puls augenblicklich normal.
Seit 4 Tagen raucht er nicht mehr auf Wunsch des Arztes, meint
aber, er sei seither unruhiger geworden.
23. X. 1916. Er klagt aber ein Gefahl der Eiskfilte in den FQssen,
nachdem er l&ngere Zeit aufgewesen.
Auf die Aufforderung, seine Kriegserlebnisse schriftlich zu schildern,
erwidert er, das ginge leider nicht, er habe es schon versucht, er werfe
aber alles durcheinander. Die Desorientierung beziehe sich sowohl auf
Zeit wie auf Ort.
Das optische VorsteHungsvermOgen soli gut sein. Auch seine mathe-
matische Fahigkeit und Gedachtnis haben keine StOrung evlitten.
Er versucht jetzt, bei einer Pflegerin italienisch zu lernen.
Bericht iiber den weiteren Verlauf von Prof. Kalischer.
Im November 1916 war keine wesentliche Anderuug eingetreten.
Anfang Dezember wurde eine suggestive Behandlung mit Hilfe
starkerer faradischer StrOme begonnen. Es war dem Patienten vor-
her gesagt worden, dass die Behandlung etwas schmerzhaft sein wttrde,
dass aber jetzt der Zeitpnnkt eingetreten sei, in welchem es mOglich ware,
ihm das Stehen und Gehen ohne Hilfe und UnterstQtzung wiederzugeben.
Der ROcken wurde kurze Zeit mit der faradischen BOrste elektrisiert.
Der Patient machte lebhafte Schmerzensausserungen. Ubrigens war die
Starke des angewandten Stromes durchaus nicht dem Kaufmannschen
Verfahren entsprechend, der Strom war nicht starker, als dass ihn jeder
willenskraftige Mensch ohne jede Schmerzensausserung aushalten konnte.
Die Behandlung wurde an ca. 5 Tagen zur AusfQhrung gebracht. Un-
mittelbar nach dem Elektrisieren wurden Gehversuche unternommen, die
von Tag zu Tag besser ausfielen. Zunachst wurden die Sckritte kleiner.
Er vermochte — allerdings unter lebhaftem Schwanken des OberkOrpers —
einen Augenhlick allein, sich nur wenig mit den Handen am Tisch fest-
haltend, zu stehen. Dann begann er im Laufstulil zu gehen, die Besserung
"ing jetzt schnell vorwarts. Anfang Januar 1917 vermochte er schon mit
UnterstQtzung zweier StOcke (vorher mit Hilfe zweier KrQcken) zu gehen.
Die Sicherheit nahm weiter zu, so dass er etwa von Mitte Januar an —
mit 2 StOcken — die Treppe herauf- und heruntergehen konnte.
Februar 1917. Er vermag jetzt auch ohne StOcke etwas zu gehen;
hat dabei noch das Gefahl der Unsicherheit, ebenso beim Stehen ohne
StOcke, wobei es zu einem leichten Schwanken des OberkOrpers kommt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung u9w. 13
Status (3. II. 1917). Sehnenphanomene an den Beinen leicht erhbkt.
Keine spastischen Reflexe, kein Patellar- oder Fussklonus.
Geftthl far Bertthrungen und Nadelstiche ungestdrt bis auf leickte
LagegeftlhlsstOrung in beiden grossen Zehengelenken, insbesondere wird die
Dorsalflektion derselben nicht richtig gewertet.
Es besteht ohne Zweifel noch eine Ataxie in den Beinen: der Knie-
backenversuch sowie das Herunter- und Herauffahren des Fusses auf der
Tibiakante wird unter wackelnden Bewegungen ausgeftthrt, ja es kommt
vielfach noch zu weiter ausfahrenden Bewegungen, auch wenu man diese
Versuche langer fortsetzt, um eine Ubung herbeizuftthren. Lagegefttbls-
stttrung in den grossen Gelenken der Beine besteht nicht; jede Stellung
des einen Beins wird mit dem andern richtig wiedergegeben. Bauch-
decken- und Kremasterreflex beiderseits gleich und lebhaft.
In den Handen bzw. oberen Extremit&ten keine Stdrung, insbesondere
keine Ataxie.
Die Hande werden ruhig gehalten; Flockenlesen u. dgl. besteht
nicht mehr.
Augenhintergrund normal. Keih Nystagmus. Farben werden besser
wie frtther erkannt. Er vermag besser wie frtther, Gegenstanden, die vor
ihm bewegt werden, mit den Augen zu folgen.
Beim Blick geradeaus werden die Gegenstande zumeist einfach ge-
sehen, beim Blick nach links und rechts besteht Doppelsehen, und zwar
stehen beim Blick nach links die Bilder ttbercinander, beim Blick nach
rechts nebeneinander. Doch ist das Verhalten kein ganz gleichmassiges.
Auch beim Blick geradeaus bestand dfters Doppelsehen.
Im ganzen hat man den Eindruck, dass der binokulare Sehakt (die
Vereinigung der Bilder) fehlt.
Er vermag Obrigens noch keinen Gegenstand zu erkennen;
er kann nur aussagen, ob er glanzend ist, welche Farbe er hat,
und auch das nur mit Fehlern.
Sein Tastgeftthl und sein GehOr ist ungemein fein geworden.
Um ihn dazu zu veranlassen, den Gesichtssinn zu gebrauchen und zu ttben
und sich nicht vom GehOr leiten zu lassen, ist in letzter Zeit begonnen
worden, die GehOrgttnge mittels geeigneter Apparate zu verschliessen, so
dass er sich durch feinere Ger&usclie nicht mehr leiten lassen kann (auf
Grund von K.s tierexperimentellen Erfakrungen).
Es war frtther schon aufgcfallen, dass er bei Galvanisation des Kopfes
nie Lichtempfindungen hatte. Diese Erscheinung ist auch bisher nicht ein-
getretcn.
Die Herztatigkeit ist eine ruhigere geworden.
Wahrend noch bei Beginn der Geh- und Stehversuche eine ziemlich
erffeblicbe Tachykardie eintrat, ist dieselbe jetzt nicht mehr vorhanden.
Die Stimmung ist jetzt eine weit bessere und gleichm&ssigere wie
frtther. Erregungszustande hat er nicht mehr gehabt. Sein Appetit ist
besser wie frtther.
Von Interesse ist es, dass er trotz eifrigen Bemtthens und immer
wiederkolter Versuche es frtther nicht fertiggebracht hat, schwimmen zu
lernen. Ob sein Gleichgewichtszentrum — ganz allgemein ausgedrttckt —
von vornherein nicht auf der HOhe stand, und damit gleichsam eine ge-
wisse Disposition zur Erkrankung bzw. grOssere Labilitat desselben be-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
14
Oppeniieim
stand, in ahnlicher Weise vrie man das Befallensein des Gesichtssinns auf
eine Disposition zur Erkrankung infolge des ttberm&ssigen Nikotingenusses
zurfickftlhren kSunte?
Bauchreflexe jetzt lebhaft.
Der 19jahrige H. kam im Oktober 1914 als Kriegsfreiwilliger
von der Schule ins Feld, machte im Februar 1915 einen Offizierknrsus
durcb, kehrte dann im April wieder an die Front zuriick, war an der
Lorettohohe dem Trommelfeuer ausgesetzt, erlitt Ende Mai eine Ver-
schiittung von nur kurzer Dauer. Danacb stellten sicb nervose Be-
schwerden ein: Kopfschmerz, Unrobe, Schaflosigkeit, Herzklopfen.
Bei den ersten ambulanten Untersucbungen hatte icb den Eindruck,
t dass ein leichter Hyperthyreoidismus vorliege; spater lautete die
Diagnose Neurasthenie oder Hysteroneurasthenie. Nacb erfolg-
loser Bebandlung mit Antithyreoidin und Luftkur erfolgt am 16. II.
1916 die Aufnabme in die Nervenstation des Res.-L. Kunstgewerbe-
museum.
Scbon langere Zeit vorber batte die Schlaflosigkeit Anlass zu un-
kontrolliertem Veronalgebrauch gegeben. Wie gross die ange-
wandten Mengen waren, ist nicht festzustellen. Ausserdem hat der
Patient iibermassig stark geraucht (Zigaretten) und — angeblicb weil
er nicbt schlafen konnte — in letzter Zeit nachts lange gebummelt,
obne jedoch stark zo trinken.
Ab und zu fiel an ihm eine gewisse Schlaftrunkenheit auf, sowie
eine Unsicherheit in den Bewegungen (nachtraglicbe Angaben der
Kameraden, die mit ihm das Zimmer teilten). Am 2S. Marz hat er
dann eine grosse Menge Veronal auf einmal eingenommen *); es konnte
das freilicb nur aus den Folgeerscheinungen und besonders aus dem
Befunde grosser Veronalmengen im Urin erscblossen werden. Ausser¬
dem fanden sich bei ihm leere Veronalgefasse. Dass der Missbrauch
ein starker gewesen, ging auch aus der langen Dauer der Veronal-
ausscbeidung, die sich wenigstens auf einige Wochen erstreckte, hervor.
Als unmittelbare Folgen der Veronalintoxikation— die^als
Kombination des chroniscben Missbrauchs mit der akuten Vergiftung
angeseben werden muss — fanden sich die nachstehenden Symptome:
Soporoser Zustand von ca. dreitiigiger Dauer. Es ist moglich,
dass das erste Stadium, das nicbt zur arztlichen Wahrnehmung ge-
langte, durch ein tieferes Koma gekennzeichnet war. Dann folgte ein
1) Ob eine selbstmbrderische Absieht dabei vorgelegen oder ol» ein Ver-
wirrungszuatand beatanden hat, konnte nickt ermittelt werden.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
15
Zustand, der sich als tiefer Scblaf und schwere Schlaftrunkenheit
charakterisierte. Durch heftiges Schfitteln, Anscbreien, Bespritzen usw.
konnte er voriibergebend soweit geweckt werden, dass er lallend ein
paar Worte sprach, auch etwas Flfissigkeit zu sich nahm, aber sich
doch dabei verschluckte, um sofort wieder in tiefen Schlaf zu ver-
sinken. Sein Lacheln und« einzelne Ausserungen der nachsten Tage
deuteten auf Traume bzw. Delirien heiteren Inbalts. In dieser Peri-
ode waren alle Keflexe (speziell auch die Pupillenreaktion, die nur im
ersten Moment des Erwachens zu fehlen schien) bis auf den Bauch-
reflex erhalten. Zu den krankhaften Erscheinungen gehorten: Oli-
gurie, subnormaie Temperatur, relative Pulsverlangsamung
und, sobald das sich aufhellende Sensorium eine Priifung gestattete:
Nystagmus, Ptosis, Augenmuskellahmung. Die Diagnose
schwankte anfangs zwischen Intoxikation und Tumor cerebri, bis der
Nachweis der Veronalurie schnell jeden Zweifel beseitigte.
Mit dem langsamen Weichen der Somnolenz am dritten Tage
tritt dieNeigung zur Verwirrtheit und zn leichten DeErieren deutlicber
zutage. Die anderen Erscheinungen bestehen fort. Die Ptosis und
der Nystagmus treten vom vierten Tage ab zuriick, aber es bleibt die
Augenmuskellahmung, die sich als Beschrankung der Blickbewegungen
nach den Seiten und nach oben und besonders als Insuffizienz der
Recti interni mit Strabismus divergens kennzeichnet. Ein leichter
Grad der Insuffizienz scheint nach einer Photographic schon friiher
bestanden zu haben, doch ist das nicht sicher.
Vorfibergehend treten unklare und unkontrollierbare Angaben
fiber Diplopie hervor und dann als das nun hervorstechendste und
hartnackigste Symptom eine der Amaurose nahekommende Am-
blyopie.
Das zweite in dcr Folgezeit die Symptomatologie beherrschende
Zeichen ist eine ungewohnliche Form der Gehstorung bzw. der
Gleichgewiehtsstorung.
Ehe ich mich der naheren Betrachtung dieser beiden Erschei¬
nungen, die sich als uberaus hartnackig erweisen, zuwende, will ich
das Wesen und die Grundlage der bisher angefuhrten Symptome zu
erlautern versuchen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass das bei unserem Patienten
am 29. Februar 1916 und in den folgenden Tagen hervorgetretene
Symptombild im wesentlichen auf die Veronalvergiftung zurfick-
zuffihren ist. Daffir spricht nicht nur der sichere Nachweis derselben,
sondern vor allem auch der Symptomenkomplex selbst. Wenn man
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
16
Oppenheim
Digitized by
von den Fallen schwerster Vergiftnng, besonders den todlich ver-
lanfenen, absieht, in welchen tiefes Koma bestand und wahrend des-
selben alle Reflexe and Sehnenphanomene (selbst dann nicht immer
die Papillenreaktion) erloschen war, bandelte es sich in der Regel
wie bei nns um einen Zustand, der dem des tie fen Scblafes ahnlich
war, wie das besonders die Zusammenstel^ung and die Ausfuhrungen
von Steinitz *) lehren. Er unterscheidet sich von dem physiologischen
einmal durch seine lange Dauer, dann dadurch, dass der Kranke nicht
vollig zu erwecken, sehr schlaftranken ist und gleich wieder wie. im
schweren Rausch in den Schlaf zuriickfallt. Dabei machen sich oft
entsprechend unserer Beobachtung heitere Delirien bemerklich,'wie
das schon von Laudenheimer 1 2 ) und besonders in mebreren Fallen
von Steinitz festgestellt worden ist. Zu den weiteren Merkmalen
dieses Stadiums gehort die Oligurie und oft auch die Temperatur-
storung. Wie bei unserem Patienten, so trat die erstere in den von
Hald 3 ), Morchen 4 ), Laudenheimer, Nienhaus 5 ), Steinitz u. a.
beschriebenen Fallen in die Erscheinung. Beziiglich des Verhaltens
der Eigenwarme entsprechen einige der vorliegenden Erfahrungen
den in unserem Falle beobachteten Tatsachen, indem anfangs eine
subnormale Temperatur bestand, wahrend es spater wiederholentlich
zu Steigerungen kam. Untertemperatur (35,4—35,5) wurde von Um¬
ber 6 ) wahrend der ersten 24 Stunden, femer von Geiringer 7 ) sowie
besonders in mehreren Fallen von Weitz 8 ) (T. 35,0°, 33.8°, 35,1°)
nachgewiesen, ausserdem experimentell am Tier von Kleist 9 ), Stei¬
nitz, Jacoby 10 ), (und Romer) und von Grober 11 ) festgestellt.
In den klinischen Beobachtungen ist das Verhalten ofter dadurch
verwischt worden, dass sich gerade in den schweren Fallen Sckluck-
pneumonie oder ein anderer fiebererregender Zustand entwickelte.
Aber auch abgesehen davon kam es mehrfach zur Hyperthermie. Man
1) /ur Symptomatologie, Prognose und Therapic der akuten Veronalver-
giftungen. Therap. d. Geg. 1908.
2) Therap. d. Geg. 1904.
3) Zentr. f. Nerv. 1904.
4) Therap. Monatschr. 1906, Nr. 4.
5) Korresp. f. Sehweizer Arzte 1907.
6) Uher Veronal und Veronalvergiftung. Med. Kliuik 1906, Nr. 48.
7) Wien. klin. Wochensehr. 1905.
8) Vier Falle von Veronalvergiftung. Festschrift. Das allgem. Kranken-
haus &t. Georg in Hamburg 1912.
9) Therap. d. Geg. 1904.
10) Arch. f. exp. Pharm. 1911 (ref. Therap. Monatschr. 12).
11) Biochem. Zeitschr. 1911.
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw.
17
kann also sagen, dass durch die Ver onalintoxikation das die Eigen-
warme regulierende Zentrnm aus dem Gleichgewicht gebracht wird.
Die Pulsverlangsamnng entspricbt der Hypothermie, doch ist fiber
diesen Punkt der Literatar wenig za entnebmen.
Aach die Neigung za motoriscber Unruh'e (Jaktation usw.)
und vasomotorischen Storungen, wie sie bei unserem Patienten zu-
tage traten und verhaltnismassig lange Zeit fortdauerten, ist von
Anderen (Schneider 1 ), Klausner 2 ), Steinitz und besonders Wol-
ters 3 )) beschrieben worden. Am konstantesten scheint darunter die
Zvanose des Gesichts zu sein. Bei unserem Patienten handelte es
sicb um eine diffuse Rotung des Gesichts, sowie um eine Neigung zu
fleckformiger Rotung an anderen Korperstellen, verbunden mit Juck-
reiz, wie sie fibrigens auch sonst bei Neuropatben baufig yorkommt.
Aucb die gastriscben Symptome, besonders die Anorexie und das
Erbrecben, sind dem Bilde der Veronalintoxikation nicht fremd.
In bezug auf die Sensibilitat deckt sicb unsere Beobachtnng
mit alien fibrigen insofern, als sie sicb in alien Stadien als intakt er-
wies (abgesehen von einer einmal nachgewiesenen unbedeutenden Sto-
rung des Lagegefiihls).
Auf das Verbalten der Reflexe habe icb noch einmal zuriickzu-
kommen.
Steinitz fand im komatosen Stadium den Komealreflex erloschen
und erblickt darin ein charakteristiscbes Zeichen. Das dtirfte wohl
nur ffir die scbwersten Falle Gfiltigkeit haben. Bei uns ist erst am
funften Tage, also gleich nach Ablauf des ersten Stadiums, in der
Krankengeschichte angefuhrt, dass der Komealreflex erhalten ist. Icb
balte es zwar ffir wabrscbeinlicb, dass der Reflex scbon im soporosen
Zustand geprtift und nicht erheblich abgeschwacht gefunden ist, aber
icb kann das nicbt behaupten. Von Interesse ist das Fehlen des
Bauchreflexes bei einem jungen Menscben mit straffen Bauchdecken.
Und zwar erhalt dieses Symptom dadurch Bedeutung, dass es aucb
von Weitz (1. c.) sogar in mehreren Fallen nachgewiesen worden ist.
Es wird kunftig darauf zu achten sein, ob wir es hier mit einem
typischen Merkmal zu tun haben und wie lange es bestehen bleibt.
Ich komme nun zu den Erscheinungen am Augenmuskel-
apparat, die ein besonderes Interesse beanspruchen: der Ptosis, dem
Nystagmus und der Lahmung der Bulbusmuskulatur. Das Symptom
1) Prager med. Wochenschr. 1907.
2) Fortsckr. d. Med. 1910.
3) Uber Veronal und Veronalexantheme. M. Kl. 1908. S. auch Ziehen,
D. m. W. 1908.
Deutsche Zcitsclirift f. Nervcnheilkunde. Bd. 57. “
Digitized! by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
IS
Oppenheim
der Ptosis ist zwar bei einem schlaftrunkenen Menschen schwer zu
konstatieren; die Beurteilung bezog sicb aber auf die Momente des
Erwachens, ausserdem zeugte die Anspannung der Frontales fur die
Ecbtheit der Ptosis. In iiberzeugender Deutlichkeit ausgesprochen war
der Nystagmus, der besonders in vertikaler Richtung erfolgte.
Die Augenmuskellahmung kennzeiehnete sich als Beschrankung
der Blickbewegungen ip der seitlicben Richtung und beim Blick
nacb oben. War die Feststellung dieses Zeichens auch im Stadium
der Somnolenz erscbwert und unsicher, so hat doch die weitere Be-
obachtung jeden Zweifel beseitigt, zumal gerade diese Storung
Wochen, ja z. T. wahrend der ganzen Leidenszeit bestand, wahrend
die Ptosis und der Nystagmus sich scbon innerbalb weniger Tage
zuriickbildete.
0ber dieses Syndrom an der Augenmuskulatur ist in der vor-
liegenden Literatur wenig Tatsachliches entbalten. A us den Be-
obachtungen und der Zusammenstellung von Steinitz gebt wohl her-
vor, dass Diplopie und „Sehstorung“ hier und da fliichtig erwahnt
ist. „Auch Sehstorungen massigen Grades sind wahrscheinlich etwas
ganz Regelmassiges, konnten aber meist leicht der Aufmerksamkeit
entgehen, weil die Kranken wahrend der Rekonvaleszenz wohl keine
Lesversuche machten.“ 'Nienhaus 1 ) berichtet iiber Doppelsehen und
Caro in einer Diskussionsbemerkung iiber nicht naher beschriebene
Sehstorung ... In Steinitz’ Beobachtungen ist zweimal davon die
Rede, dass das Lesen gewohnlicher Schrift einige Tage lang unmog-
lich war. DerAutor denkt dabei an Schwache des Akkommodations-
rauskels.
Mit diesen wenigen Notizen ware kaum etwas anzufangen, wenn
nicht eine bemerkenswerte Beobachtung von Weitz vorlage, die sich
fast vollkommen mit der unsrigen deckt. In bezug auf das Verhalten
der Augenmuskulatur heisst es:
„Augenlider halb gesenkt, werden nur mit offeubarer An-
strengung beim Blick nach oben gehoben. An beiden Augen beim
Blick gradaus starker Nystagmus, der beim Versuche, nach oben,
unten oder seitwarts zu blicken, stark zunimmt. Beim Blick seit-
warts beiderseits eine gewisse Abducensschwache und am rechten
ausserdem Internusschwache; es besteht vollstandige Unfahigkeit zu
konvergieren, dabei weicht stets das rechte Auge ab. Pupillenver-
engung bei Akkommodationsversuch fehlt“ usw.
1) Der Autor erwahnt nur die subjektive Beschwerde, die 3 Tage lang
bestand, ohne dass er jedoch das Verhalten der Augenmuskulatur gepruft hat.
Auch bei Klieneberger (Munch, ined. Wochenschr. 1905, Nr. 32) ist von
„Doppelsehen“ die Rede ohne jede niihere Angabe.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvorgiftnng usw.
19
Der Zafall bracbte es, dass ich fast gleichzeitig mit der ge-
schilderten Beobachtung zu einem andern Fall yon Veronalintoxi-
kation (akut, in selbstmorderiseher Absicht) hinzugerufen wurde, in
welchem ich ebenfalls einen echten Nystagmus feststellen konnte.
Bei der grossen Seltenheit dieses Befundes ist es yon Interesse,
sich die Frage vorzulegen, ob nocb andere Schadliehkeiten eingewirkt
haben, die den Einfiuss des Veronals gest'eigeit haben und fur die
Besonderheit der Symptomatologie verantwortlich gemacht werden
konnten.
Unser Patient war ein Neuropath, sein Neryensystem war be-
sonders dnrch die Kriegsschadlichkeiten beeintrachtigt worden; ausser-
dem hatte er namentlich in den letzten Monaten einem Abusns
Nicot. gehuldigt.. Dieses Moment erhalt erst seine Bedeutung da-
durch, dass es in dem yon Weitz mitgeteilten Falle in gleicher
Weise eingewirkt hat. Sein Pat. war ebenfalls ein starker Ziga-
rettenraucher (30—40 St. pro die). Dazu kam, dass er fast 14 Tage
nichts gegessen, dagegen taglich 1 l j 2 —2 Flaschen Sekt getrunken
hatte.
Wenn es auch nach der Entwicklung, der Gesamtsymptomatologie
und dem raschen Ablauf der Erscheinungen. in beiden Fallen nicht
zu bezweifeln ist, dass die wesentliche Ursache des Krankheitszu-
standes in der Veronalvergiftung zu suchen ist, so halte ich es doch
fur recht wahrscheinlich, dass der Nikotin- und yielleicht auch der
Alkoholmissbrauch (bei dem Pat. Weitz’) an der Gestaltung des
Symptomenkomplexes beteiligt gewesen und dass speziell die Ent-
stehung der okularen Symptome durch diese Gifte begiinstigt wor¬
den ist. —
Ebe ich nun den weiteren Krankheitserscheinungen, die ganz aus
dem Rahmen des Bekannten heraustreten, nachgehe, mochte ich die
Frage erortern, wo der Sitz des Krankheitsprozesses bei dieser Form
der Vergiftung zu suchen ist.
Bei oberflachlieher Betrachtung weist das Hauptsymptom: der
Sopor, auf die Hirnrinde. Beriicksichtigt man aber den gesamten
Komplex der Erscheinungen: die Schlafsucht, die Temperatureroie-
drigung, die vasomotorischen Symptome, die Pulsverlangsamung, die
Oligurie, das Erbrechen, und ganz besonders die okulomotorischen
Symptome (Ptosis, Nystagmus und Augenmuskellabmung), so wird
man dazu gedrangt, an eine Schadigung der grauen Substanz im
Zwischen- und Mittelhirn zu denken. Es ist ausser der toxischen
Atiologie die auffallige Ahnlichkeit mit dem Symptombild der Polio¬
encephalitis haemorrhagica superior (und inferior), die uns
zu dieser Annahme hinfiihrt. Ich will, um das zu yeranschaulichen,
2 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
20
Oppenheim
die Darstellung wiedergeben, die ich im Anschluss an Wernicke,
Thomsen u. a. in meinem Lehrbuch der Nervenkrankheiten von
der Symptomatology dieser Affektion gegeben habe: „Das Leiden setzt
akut ein und nimmt in der Regel einen akuten Verlauf.
stellt sich eine Bewusstseinstriibung unter dem Bilde des Deliriums
oder eine einfache Somnolenz mit Unrube ein. Seltener wurde
Apathie und Schlafsucht konstatiert. Gleichzeitig entwickeln
sich Lahmungserscheinungen an den Augenmuskeln — ofter
assoziierte Lahmung —, die sich bis zu einer fast totalen Ophthal¬
moplegic steigern konnen, doch sind baufig einzelne Musk ein, wie
der Levator palpebrae superioris und besonders der Sphincter iridis ver-
schont. Auch eine an die zerebellare Ataxie erinnemde
Gehstorung bildet ein gewohnliches Merkmal dieses Leidens.
Die Sehnenphanomene sind normal oder gesteigert, sie fehlen nur aus-
nahmsweise. Die Temperatur ist fast immer normal oder subnormal.
Fieber ist ungewohnlich. Der Puls ist meist beschleunigt.
„Eine starke Herabsetzung des Blutdrucks konstatierte Bing
in einem unserer Falle.“
Diese Tatsache fuhre ich deshalb an, weil zu den experimentell
erzeugten Erscbeinungen der Veronalvergifkung auch die Herabsetzung
des Blutdrucks gehort.
Wir finden somit eine weitgehende Obereinstimmung der Sympto-
motologie, so dass es wohl berechtigt ist, als den Hauptangriffsort
der Veronalvergiftung das Grau des Zwischen- und Mittel-
hirnes anzusehen, wobei im Hinblick auf die vasomotorischen
Storungen, die Oligurie, die Hypothermie usw. auch an den Boden des
III. Ventrikels, das Tuber cinereum, die Regio subthalamica (Kar-
plus-Kreidel 1 ), Aschner u. a.) zu denken ist.
Freilich darf man das Zeichen der Oligurie nicht zu hoch be-
werten, wenn man bedenkt, dass diese Individuen doch 1—2 x 24
Stunden oder langer liegen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Von
Polyurie ist nur einmal die Rede (bei Klieneberger), und sie scheint
hier kaum pathologischen Charakter gehabt zu haben. —
Zu den Krankheitszeichen, durch welche das Krankheitsbild der
Veronalintoxikation in enge Beziehung zur Polioencephalitis haemorr-
hagica Wernickes tritt, rechneten wir auch die Ataxia cere-
bellaris.
Es ist nun an der Zeit, auseinanderzusetzen, welche Rolle diese
Erscheinung in unserem Falle gespielt hat.
1) Arch. f. d. ges. PhysioL Bd. 129 (1909), 135 (1910) usw.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw,
21
In der vorliegenden Literatur ist oft von dem taumelnden Gang
die Rede, ohne dass eine weitere Beschreibung dargeboten'), obne
dass die Stoning genauer analysiert wird. So wirft sicb nun die
Frage auf, inwieweit die bei meinem Patienten beobachteten Erschei-
nungen auf dem Gebiete der Koordination sicb den bekannten Er-
fahrungen anreiben. Um sie zu beantworten, soli die Scbilderuog
noch einmal wiedergegeben werden: Zum erstenmal ist am 16. 111.,
also ca. 2 Wochen nach Ablauf des komatosen Stadiums, von der
Gleichgewichtsstorung die Rede. Ich nebme an, dass yorher Ver-
suche, ihn aus dem Bett zu nebmen, nicht gemacbt worden sind. Es
wird nun berichtet: „Er steht nur mit doppelseitiger Unterstiitzung.
Beim Geben hochgradige Zerebellarataxie und Asynergie, namentlich
auffallende Dysmetrie, indem er ganz ungewohnlich grosse — geradezu
kolossale — Schritte macht.“
In der Riickenlage wurde zunachst keine grobere Storung in den
Bewegungen der Beine konstatiert, docb ist diese Angabe spater etwas
modifiziert worden.
Am 31.111. beisst es: „Er kann jetzt etwas sicherer stehen, auch
ohne Unterstiitzung. Beim Geben ist es genau das friiher bescbriebene
Bild, und es yerdient Beachtung, dass sicb trotz des langen Zwischen-
raums zwischen den beiden Gehyersuchen der Charakter der Storung
ganz gleicb erbalten bat. Der Gang sieht zunachst so grotesk aus,
dass man unbedingt an psycbiscbe Momente als Grundlage denken
miisste, wenn jede andere Erklarungsmoglicbkeit mangelte. Einmal
ist die Schrittlange in ganz mabloser Weise vermehrt: er nimmt
ungefahr einen Scbritt, als ob er tiber einen Bach hinwegsetzen
wolle, bleibt aber dann eine Weile mit dem Fuss in der Luft und
setzt ihn darauf regellos nieder, knickt im Rumpf zusammen, und
es ist die Synergie der Rumpf- und Beinbewegungen yollkommen
aufgeboben. Wenn man ihn energisch auffordert, kleinere Schritte zu
machen, so wird es allmablicb wohl etwas besser, aber es fehlt ibm
jedes Bewusstsein der Schrittlange, so dass er z. B. das Schwungbein
direkt neben das Standbein oder hinter dasselbe setzt. Jedenfalls
weicht die Gehstorung durch den maximalen Grad der Dysmetrie
wesentlich yon jeder bekannten ab. Sie lasst sich aber doch durch
die Annahme einer ungewohnlich betrachtlichen Storung bestimmter
Kleinbirnfunktionen erklaren. In der Riickenlage ist die Bewegungs-
ataxie nur angedeutet oder zeigt nur einen schwachen Grad.
1) Nur in der Selbstbeobachtung von Topp (Therap. Monatschr. 1907)
wird die zerebellare Ataxie mit Neigung nach rechts zu fallen usw. etwas be¬
stimmter gekenDzeichDet.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNb
22
Oppenheim
Digitized by
Keine Adiadochokinesis.
Der spontane Zeigeversuch erwies sich als normal. Nur machte
sich auch dabei in den Handen eine Dysmetrie bemerklich . . .
Subjektive Empfindungen des Schwankens auch im Sitzen und
Liegen.“
Am 12. IV. wird angefiihrt: „Die Gehstorung ist genau noch so
wie sie gewesen ist, ebenso hochgradig und von demselben Charakter.
Es ist, als ob ihm jede Kenntnis und jede Abschatzung der Bewegung
der Beiue beim Gehen fehlt und als ob es des extremsten AusmaCes
der Bewegungen bediirfe, um ihm iiberhaupt ein Gefiihl davon zu
verschaffen, dass er die Beine bewegt. Es fehlt ihm ferner dabei jeder
Halt im Rumpfe, so dass er schon beim Stehen der doppelseitigen
Unterstiitzuug bedarf, er knickt sonst vollig in sich zusammen. Er
macht dann mit dem Schwungbein zunachst einen unsicher tastenden
Schritt, der entweder sofort iibermassig gross ausfallt oder erst bei
dem weiteren Versuch. Und zwar ist es dann, als ob er tiber eine
grosse Barriere hinwegsetzen wollte. Beim Niedersetzen des Beins
wird dieses dann im Kniegelenk abnorm durcbgedriickt. Ehe er das
Standbein vom Boden bringt, vergeht oft eine Weile; dabei kommt
es auch vor, dass der Fuss sich am andern verhakt uni dass er mit
der Riickflache der Zehen den Boden beruhrt... Im Sitzen Schwin-
del, schwankende Bewegungen des Kopfes und Rumpfes. Die Be-
wegungsataxie der Beine im Liegen ist eine ganz unerhebliche; nur
beim Erheben und Niederlassen kommen ein paar unregelmafiige
Schwankungen vor und er legt nicht das eine Bein neben das andere,
sondern streift damit das ruhende oder legt den einen Fuss tiber den
andern. Er kann aber auch auf Aufforderung das Bein einen oder
zwei Fuss hoch erheben (d. h. seine Bewegung richtig abschatzen),
einen Kreis in die Luft beschreiben, der allerdings eckig ausfallt. 14
In der Beurteilung der gescbilderten Erscheinung babe ich mich
nicht sicher gefiihlt. Da unser Pat. ein Neuropath war und zweifel-
los hysterische Symptome bot, lag ja nichts naher, als auch diese
Gehstorung schon wegen ihres grotesken Charakters einfach als eine
psychogene zu deuten.
Ich habe mich nun immer und besonders auch wieder in der
Kriegszeit von dem Grundsatz leiten lassen, dass die Diagnose Hysterie
per exclusionem zu stellen und immer erst der Versuch zu machen
ist, die Krankheitserscheinungen auf andere, von der Vorstellung und
dem Willen des Patienten unabhangige Moments zuriiekzufuhren.
Dieses Prinzip hat sich mir friiher bewahrt. Manche Tatsache aus
dem Symptomenbereich der multiplen Sklerose und anderer organischer
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronal vergiftung U9W. 23
Nervenkrankheiten, der Anteil, den ick an der Aufstellung der Lehre
von der Dystonia progresiva habe, das und manche3 andere ware der
Wissenschaft nicht gewonnen worden, wenn ich mir nicht diese Vor-
sicht und Beschrankung in der Annahme der Hysterie auferlegt hatte,
die sich mir besonders auch am Krankenbett bewahrt bat. Aber
icb gebe gewiss zu, dass gegeniiber dem Massenaufgebot an Hysterie,
das der Krieg im Laufe der Zeit hervorgebracht bat, mein Prinzip
versagt bat, besonders auch deshalb, weil es den Anschein hat, als ob
unsere friiheren Vorstellungen von dem Wesen. dieser Neurose von
den Tatsachen vielfach iiberrannt worden seien.
Ich habe lange Zeit geschwankt, ob die Annahme berechtigt
sei, dass hier das vulgare Symptom der „Veronalataxie“ durch
die be3ondere Disposition des Nervensystems (neuropathische Dia-
these mit Neigung zum Hyperthyreoidismus) eine ungewohnliche
Steigerung und Ausartung erfahren habe oder ob es sich um die
psychogene bzw. hysterische Uberschreitung und Fixation der sonst
fliichtigen und geringfiigigen Storung handele.
Zugunsten der letzteren Annahme spricht einmal der ausser-
gewohnlich hohe Grad und die Hartnackigkeit der Erscheinung, be¬
sonders wenn man erwagt, dass die typischen Folgen der Intoxikation
sich verhaltnismassig rasch zuruckbilden und auch hier zuriickgebildet
haben. Ferner der Umstand, dass nur gewisse Kleinhirnfunktionen
in dieser schwersten Weise geschadigt waren, wahrend sich andere
kaum beeintrachtigt zeigten: d. h. es lag eine maximale Asynergie
und Dysmetrie beim Gehen vor, wahrend die Diadachokinesis und
der spontane Zeigeversuch sich (abgesehen von der Dysmetrie beim letzten)
als unbeschadigt erwiesen. Die schnelle Riickbildung des Nystagmus
verdient in dieser Hinsicht auch Beachtung.
Gegen die psychogene Grundlage schien die Tatsache zu spre-
chen, dass das Zeichen doch nicht aus dem Rahmen der Intoxika-
tions-Symptomatologie herausfiel, dass es in konsequenter Weise
durcbgefiihrt wurde, ohne dass Pat. jemals in Widerspruch mit sich
selbst geriet, dass eine Beziehung zum Vorstellungsleben zunachst in
keiner Weise erkannt werden konnte, dass es auch durchaus gegen
das Interesse des Kranken war, ans Zimmer und ans Bett gefesselt
zu sein, wodurch ihm die Moglichkeit des Lebensgenusses genommen,
auch die Beschaffung von Schlafmitteln unmoglich gemacht war. Dazu
kam, dass jede §uggestivbehandlung an der Hartnackigkeit des Sym-
ptomes abzuprallen schien.
Da kam das Ereignis von 20. VI. 1916. Nach der Beobachtung
eines Waiters sprang Patient, der sonst beim Stehen und Gehen auf
frerade Hilfe angewiesen war, in einem Traum-, Dammer- oder Yer-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNL
24
Oppknheiii
wirrungszustande aos dem Bett and gelangte bis zu der wenigstens
3—4 Meter weit entfemten Tiir, in der er zu Boden fiel. Es war
also damit erwiesen, dass er im Zustande aufgehobenen oder einge-
engten Bewusstseins, wenn auch nur fur Sekunden seinen Koordina-
tiousapparat beherrscht hatte, und daraus folgte, dass das zerebellare
Syndrom in einer Abhangigkeit yon der Psyche stand — und damit
war die Grundbedingung fur die Annahme ihres hysterischen Charak-
ters erfullt.
Die Zuverlassigkeit der Angaben des Waiters konnte wohl inso-
weit in Frage gezogen werden, als Pat. sich bis zur Tiir auf alien
Vieren geschleppt haben konnte (denn dass er bis dahin gelangt war,
stand fest). Ich war also immer noch etwas skeptisch, bis das von
Prof. Kalischer im Dez. 1916 angewandte modifizierte Kauf-
mannsche Verfahren zwar nicht einen Augenblickserfolg, aber doch
eine rasch fortschreitende Besserung brachte: „Unmittelbar nach dem
Elektrisieren wurden Gehversuche unternommen, die von Tag zu Tag
besser ausfielen. Zunachst wurden die Schritte kleiner. Er ver-
mochte — allerdings unter lebhaftem Schwanken des Oberkorpers —
einen Augenblick allein, sich ein wenig mit den Handen am Tisch
festhaltend, zu stehen. Dann begann er im Laufstuhl zu gehen, die
Besserung ging jetzt schnell vorwarts. Anfang Januar 1917 ver-
mochte er schon mit Unterstutzung zweier Stocke zu gehen usw. nsw.“
Entspricht diese Art der Riickbildung eines Krankheitssymptomes
auch nicht ganz dem Wesen der Suggestivheilung, so ist es doch eine
zugunsten der Diagnose Hysterie sprechende Tatsache, dass erst
mit der Einleitung dieses Verfahrens ein Umschwung in dem Befin-
den und der Beginn der Riickbildung des bis da so renitenten
Symptomes eintrat. Auch ist es gewiss moglich, dass mit einer
Briiskierung des Patienten im Sinne Eaufmanns ein weit rascherer
Erfolg erzielt worden ware.
Nach alledem halte ich es wenigstens fiir wahrscheinlicb,
dass die urspriinglich toxisch bedingte Erscheinung auf
psychogenem (unterbewusstem) Wege einen starken Auf-
trieb und eine Fixation erfahren hat.
Damit komme ich nun zu dem schwierigsten Punkte der Be*
trachtung: zur Deutung der Amblyopie, die auch heute — nach
mehr als einjahriger Dauer des Leidens — noch in fast unverandertem
Grade fortbesteht.
Es ist zunachst hervorzuheben, das diese hochgradige, fast einer
Amaurose nahekommende Amblyopie mit dauernd normalem ophthal-
moskopischen Befunde und mit normaler, eher — namentlich voruber-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
25
gehend — abnorm lebhafter Pupillenreaktion einherging. Damit wird
erwiesen, dass die Storung ihren Sitz weder im Optikus, Cbiasma,
Traktus noch in den primaren optiscben Zentren bat, sondern jen-
seits derselben, d. b. in den optiscben Leitnngsbahnen bzw. in den
optiscben Rindengebieten zu suchen ist. Anf die Lokalisation in den
letzteren deutet die Kombination mit optiscben Halluzinationen,
welche auch bei einem Patienten von Steinitz registriert wor-
den sind.
Wenn icb somit liber die nicbtorganische bzw. fnnktionelle
Natur der Sehstorung keinen Augenblick im Zweifel gewesen bin,
so waren fur mich die Schwierigkeiten der Entscheidung, ob es sich
bier um eine somatisch oder psychisch bedingte Form der Amaurose
handele, doch undberwindlicbe. lbre Entwicklung im nnmittelbaren
Anschluss an die Veronalvergiftung drangte zunachst zu der An-
nabme, dass es sich um eine toxische Form der Sehstorung handele,
die etwa in Analogic zu der uramischen Amaurose ’) gebracbt wer-
den konne. Dagegen sprach jedoch die vorliegende Erfahrung. Ge-
wiss ist von „Sehstorung" bier und da in der Kasuistik der Veronal-
intoxikation die Rede, aber immer handelte es sich nur um ein
fliichtiges Symptom und in keinem Falle ist klar zu erkennen, dass
eine Amaurose bzw. Amblyopie bestanden hat, yielmehr lasst sich
die Storung durch die Annahme einer Scbwache des Akkommodations-
muskels wohl immer erklaren. Ich bebaupte keineswegs, dass nicht
zentrale Sehstorungen bei Veronalvergiftung vorkommen, ich kon-
statiere nur, dass keine einwandfreie Beobachtung dieser Art vorliegt.
Das bat mir auch Uhthoff in einer Zuschrift bestatigt. Aucb in
demvonihm bearbeiteten Abschnittdes Graefe-Saemischschen Hand*
buches (2. Aufl., Bd. XI, 1901) ist in dem Kapitel: Uber die Augen-
storungen bei Vergiftungen, das Veronal iiberhaupt nicht angefiihrt.
Ebenso findet sich in der griindlichen Bearbeitung der Frage von
Wilbrand-Saenger keine einzige entsprechende Erfahrung mit-
geteilt. —
Zu der Diagnose einer dauernden Amaurose durch Veronalver¬
giftung wiirde man sich jedenfalls nur dann berechtigt halten diirfen,
wenn jede andere Erklarungsmoglichkeit fehlte.
Besitzt nun die in unserem Falle festgestellte Sehstorung die
Charaktereigenschaften der hysterischen Amaurose bzw. Am¬
blyopie?
1) Die Ahnlichkeit der Veronalvergiftung mit dem uramischen Zustand be-
tont Nienhaus. Vergl. ferner zu dieser Frage besonders Wilbrand-Saenger,
Die Neurologic des Auges, UI. Bd., 2. Halfte, Wiesbaden 1906.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
26
Ofpenheih
Zugunsten dieser Auffassung spricht zunachst die Personlichkeit,
bei der sicb das Leiden entwickelte. Es handelt sich um einen Neu-
ropathen, bei dem einzelne Erscheinungen, wie die Krampf- und
Verwirrungsanfalle sowie die .Gehstorung, das Geprage der hysteri-
schen Symptome batten. Ferner steht damit im Einklang die Tat-
sache, dass der Augenbintergrund dauernd norpiale Verhaltnisse bot
und die Pupillarlicbtreaktion nicht allein erhalten, sondern zeitweilig
sogar abnorm lebhaft war und dass die starke Herabsetzung des
Sehvermogens sogar mit Licbtscheu und gesteigertem Blinzelreflex
einherging. Sind diese letzteren Erscheinungen nicht direkt fur
Hysterie beweisend? Das konnte auf den ersten Blick so scheinen
und es ist ein derartiges Verhalten aucb einigemal in der Kasuistik
der Amaurosis hysterica angefiihrt worden. *) Aber es hat durcliaus
keine Berechtigung, in den bezeichneten Erscheinungen einen Beweis
fur die hysterische Natur der Sehstorung zu erblicken. Denn es
liegt kein Widerspruch zu den bekannten Tatsachen darin, dass bei
einem kortikalen Funktionsaustall die subkortikalen Reflexe nicht allein
erhalten, sondern sogar gesteigert sind. Ich erinnere besonders an
den von mir 1 2 ) beschriebenen Fressreflex sowie an die gesteigerte
akustikomotorische Reaktion bei Krankheitsprozessen in den mo-
torischen Rindengebieten, die zu einer bilateralen Lahmung fiihren usw.
Nun konnte man erwidern, dass es sich ja nicht nur bier um eine
Steigerung subkortikaler Reflexe, sondern auch um ein erhohtes
Blendungsgefuhl handelte; in dieser gesteigerten Lichtempfindlichkeit
bei hochgradiger Amblyopie lage dann ein Widerspruch, der sich nur
durch die Annahme eines psychischen Vorganges erklaren liesse.
Ich bin aber nicht der Ansicht, dass die Hyperasthesie als eine er-
hohte Sinnesempfindung, d. h. als ein sensorischer Akt (in der opti-
schen Sphare) zu deuten ist. Es waren vielmehr die aus der ver-
starkten Sphinkterkontraktion und der vermehrten Tranensekretion
entspringenden Unlu3tgefiihle, die dem Patienten zum Bewusstsein
kamen. Dass er den Vorgang selbst auf die Belichtung bezog, hatte
nichts Auffalliges, da er ja jederzeit Hell und Dunkel unterscheiden
konnte. —
Das Fehlen von hemianopischen Defekten hat wohl kaum etwas
Auffalliges, da es sich ja nicht wie bei organischen Prozessen um die
vollkommene Ausschaltung eines Zentrums, sondern nur um eine
schwere Funktionsherabsetzung handelte, abgesehen davon, dass der
betrachtliche Grad der Sehstorung eine genauere Gesichtsfeldmessung
1) S. z. B. Pansier, Amaurose hyst^rique. Annales d’oculist. 1897.
2) M. f. P. XIV u. B. kl. W. 1904.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronal vergiftung usw.
27
gar nicht gestattete. Dass unter diesen Verhaltnissen nicbt nor ecbte
Hemianopsien sondem aucb Hemiamblyopien (also auch doppel-
seitige Hemiamblyopien) vorkommen, ist durch eine besondere Prii-
fdngsmethode von mir, Pick nnd Medea nachgewiesen worden.
Es war natiirlich erforderbch, * die Literatur der bysteriscben
Amaurose zu Rate zu zieben, aber die Erkenntnis, die man aus dieser
gewinnt, ist leider eine wenig befriedigende. Neben den yerstreuten
Einzelbeobacbtungen warden die zasammenfass^nden Darstellungen
yon Pansier 1 ), Binswanger 2 ), Kron 3 ), Wilbrand-Sdenger 4 ),
Uhthoff 5 ) und Wissmann 6 ) zu Rate gezogen. Von der letzteren
als der modernsten hatte icb besonders viel Aufschluss erwartet, aber
sie bat micb in den Punkten, auf die es mir ankam, in Stich ge-
lassen.
Wie die Lebre der okularen Hysterie iiberhaupt noch yiel
Unklarheit birgt, besonders bezdglich der Augenmuskellahmung and
der Papillarsymptome, so macbt sich dieser Mangel ganz besonders
auf dem Gebiet der bysteriscben Amaurose geltend 7 ). Und zwar
ist es einmal das Verbalten der Pupillen, das bier ein ungemein
wechselndes ist 8 ) und der Deutung oft die grossten Schwierigkeiten
bereitet, andererseits entsteht eine gewisse Verwirrung dadurch, dass
Simulation, psycbogene Blindbeit und noch unerforschte Formen
transitoriscber Amaurose zu einer Einheit zusammengefasst werden.
Ich konnte nicht die ganze Literatur revidieren — wenngleich das
jetzt eine recht lohnende Aufgabe sein wiirde —, ich konnte aus der Ka-
suistik nur Stichproben herausgreifen und micb schon dabei iiberzeugen,
dass die Lehre von der hysterischen Amaurose noch ein an Wider-
apriichen und Unklarheit reicbes Gebiet ist. Nehmen wir z. B. den
Fall von Adamiik 9 ), den dieser Autor nur zogernd der Hysterie
zurecbnet, der aber in den zusammenfassenden Abhandlungen ihr ohne
1) Amaurose hysWrique. Annal. d’oculist. 1897 und Les manifest, ocul.
de l’Hystdrie. These de Montpellier 1892.
2) Die Hysterie. Nothnagels Handbuch, Bd. XII. Wien 1901.
3) Uber hyster. Blindbeit. N. C. 1902.
4) Die Neurologic des Auges, Bd. HI, 2. Heft, 1906.
5) Grafe-Samisch, Hess, Handbuch der ges. Augenheilk., Bd. XI,
Abt. 2B. Leipzig 1916.
6) Die Bedeutung von Augensymptomen bei Hysterie. Sammlg. zwanglos.
Abhandl. usw. Halle 1916.
7) Das wird von Binswanger, Wissmann, Wilbrand-Saenge’r u. a.
namentlich beziiglich der doppels. hyster. Amaurose hervorgeboben und trilft,
wie wir sehen werden, auch gerade fur diese besonders zu.
8) Vergl. die Zusaramensteilung bei Kron und Wilbrand-Saenger.
9) Zur Kasuistik der Amaurosis transitoria. Arch. f. Augenheilk. XXII.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
28
Oppenheim
weiteres eingereiht wird, so sprieht hier nichts ftir diese Grund-
lage als der plotzliche Eintritt, die plotzliche Riickbildung und der
Mangel eines ophthalmoskopischen Befundes. Die Pupillen zeigten sieh
wahrend der Erblindung von mifctlerer Weite, dabei vollig unbeweg-
lich, sowohl bei Belichtung wie bei alien Stellungen der Bulbi. Auch
iiber den weiteren Verlauf ist nichts bekannt. Der Verfasser denkt
an die Moglichkeit eines spastischen Zustandes in den Wandungen
der Arteriae cerebri profandae bzw. ihrer Aste fur den Lob. occipitalis
und Thalamus usw. Jedenfalls sollte man in einem derartigen Falle
durchaus zuriickhaltend sein mit der Annahme der Hysteric als
Grundlage der Amaurose.
Zu den durchaus zweifelhaften Fallen rechne ich auch die von
Woinow (Jahresber.f.Ophthalm. 1871), Barkon, Emmert (Arch. f.
Aug. u. Ohr. 1876), Magnus (Kl. M. f. Aug. 1886), Wolffberg
(Woch. fttr Therap. u. Hygien. d. Aug. 1898), Spiller (Philad. med.
and surg. Journal 1899) beschriebenen. In der Heilung der Amaurose
durch Strychnininjektionen kann ich auch kein sicheres Zeichen fur
ihre hysterische Natur erblicken (vgl. z. B. Mandelstamm, Petersb.
med. Woch. 1878, Saemann bei Wilbrand-Saenger u. a.).
Betrachten wir demgegeniiber die Falle, die das Geprage der
Hysterie deutlich zur Schau tragen. Daliin gehort einmal ein
grosser Teil der unilateralen, namentlich derjenigen, bei denen
es gelungen ist, durch AppUkation von Prismen, durch Prufung des
stereoskopischen Sehens zu beweisen, dass der Patient mit dem fiir
ihn blinden Auge unbewusst Gesichtseindriicke aufnimmt. Unter diesen
Verhaltnissen kann es sich nur noch darum handeln, den Beweis zu
fiihren, dass nicht einfache Simulation im Spiele ist. Und das ist in
der Mehrzahl der in der Literatur niedergelegten Beobachtungen
gegluckt *).
Eine weitere Stiitze erhalt die Diagnose der hysterischen Amau¬
rose und Amblyopie (und zwar der einseitigen wie der doppelseitigen)
durch die hysterische Natur der ubrigen Erscheinungen am Augen-
apparat. Ich gehe nicht so weit zu sagen: durch den Nachweis
hysterischer Symptoms iiberhaupt. Denn die Hysterie ist so ver-
breitet und die Kombination organischer mit hysterischen Symptomen
eine so haufige, dass wir zu bedenklichen Missgriffen in der Diagnose
kommen, wenn wir einfach auf Grund eines Zeichens das ganze
Krankheitsbild in diesem Sinne deuten. Das sind ja fast Selbstver-
standlichkeiten. Aber die Erblindung kann sich durch die Art ihrer
1.) Dass es aber oft schwer ist, beweisen viele Erfahrungen, vgl. Harlan,
E. Mendel, Zeitschr. f. prakt. Med. 1874, Nr. 47.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
29
Entstehung und dutch ihre Begleiterscheinungen als eine hysterische
Storung kennzeichnen. Schliesst sie sich an einen hysterischen
Kramp fan fail an (wie das fur einen grossest Teil der beschriebenen
Falle zutrifft) oder wird sie in entsprechender Weise yon einem echt
hysterischen Symptom abgelost, so hat die Diagnose damit eine
starke Sttitze gewonnen. Das gleiche gilt fur die Eombination der
Erblindung mit Erscheinungen am Augenmuskelapparat, die sich
als hysterische charakterisieren.
Die Literatur ist reich an solchen Beispielen. Typische Falle
dieser Art sind z. B. die von mir 1 , Hitzig 2 und Eron 3 ) mitge-
teilten. Die begleitende Ptosis und der Erampf der Recti interni,
welche die Bulbi in der Eonvergenzstellung festhielten, hatten hier
etwas durchaus Bezeichnendes. Es war keine Pseudoptosis spastica,
aber auch nicht die durch die sekundare Anspannung der Frontales
gekennzeichnete echte Ptosis, sondern die Lider hingen einfach tief
herab, d. h. das natiirliche Bestreben, den die Augen deckenden
Vorhang zu liiften, fehlte diesen Patienten, darin trat das seelische
Moment zutage. Nicht weniger liess der Eonvergenzspasmus die
hysterische Natur erkennen.
Von Hitzig ist auch der Nachweis geliefert worden, dass in
der beginnenden Narkose der Erampf schwand, die Augenbewegungen
und auch die Pupillenreaktion normal wurden. — Man darf aber die
Erscheinung, dass nur die willkiirliche Einstellung der Bulbi fehlt,
wahrend Augenbewegungen unwillkurlich erfolgen, nicht ohne weiteres
im Sinne der Hysterie yerwerten.
Schwieriger war es, in diesen Fallen doppelseitiger Amblyopie
und Amaurose in den Angaben iiber das Sehen selbst Widerspriiche
zu finden, die entweder die bewusste Vortauschung oder die unbe-
wusste Selbsttauschung an den Tag brachten. Immerhin ist es einige-
mal gelungen, durch Glaser jedweder Art das Sehvermogen erheblich
zu beeinflussen und damit die Psychogenese festzustellen. Dahin gehort
z. B. eine Beobachtung yon A. Pick 4 ). Hier und da ist angefiihrt
worden, dass die an typischer Amaurose leidenden Individuen sich
besser im Raume orientieren, sich freier bewegen wie die wirklich
Blinden. Wenn sich das sofort nach Entstehung des Leidens bemerk-
lich macht, kann es sich gewiss um ein so auffalliges Verhalten handeln,
1) Lehrbuch d. Nerv. im Kapitel Hysterie.
2) Uber einen durch Strabismus und andere Augensymptome gekenn-
zeichneten Fall von Hysterie. Berl. klin. Wochenschr. 1897, 7.
3) L c.
4) Uber die Kombination hysterisch und organisch bediugter Storungeu
in' den Funktionen des Auges. Wien. klin. Wochenschr. 1892, Nr. 31—33.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
30
Oppenheim
da3S daraus der psychogene Ursprung ohne weiteres erhellt. Bei
langerem Bestande der Amanrose spielt aber die individuell^ An-
passung nnd Kompensation l ) (durch das Tastgefiihl und Gehor) eine
derartige Rolle, dass man hier mit seinen Schlussen ausserst vor-
sichtig sein muss.
So bot bei der von mir und Kron beobachteten Patientin, die
zweifellos an einer hysterischen Amaurose litt, die Art wie sie sich
durchs Zimmer bewegte, nichts von dem Verhalten anderer Blinden
Abweichendes. Andererseits zeigt so recht, wie zuriickhaltend man
mit der Verwertung derartiger Momente sein muss, eine Beobachtung
Picks 2 ). „Auffallig erschien, dass sich die Kranke trotz die3er be-
deutenden Herabsetzung der Sehscharfe in ihrer Fahigkeit der Orien-
tierung selbst am fremden Orte nicht gestort erwies.“ Dnd wie klarte
sich der Fall auf? Die Sektion zeigte Thrombose der Art. basilaris,
der Art. cerebri posterior und ausgedehnte Erweichungsherde in den
Lobi occipitales, in den Seh- und Vierhiigeln.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich die hysterische Am-
blyopie einigemale zu kongenitaler Sehstorung (Pick u. a.) gesellte
oder dass sich anderweitige Entwicklungsanomalien, wie markhaltige
Nervenfasern(Manz 3 ), Moore 4 )), an der Papille fanden. Man lasse
aber nicht aus3er acht, dass die in dieser Weise Veranlagten auch
eine starkere Disposition fur Sehstorungen organischen Ursprungs,
z. B. die sklerotischen, besitzen (Oppenheim, Bernhardt u. a.).
Es gibt gewiss noch andere Momente, die zum mindesten den
Verdacht begriinden, dass die Amaurose einen hysterischen Ursprung
hat. Dahin gebort die Entstehung im unmittelbaren Anschluss an
ein leichtes, oberflachliches Trauma oder an eine unbedeutende Er-
regung, z. B. einen Arger. Ich mochte aber nicht so weit gehen,
die Schreckamaurose generaliter fur eine hysterische zu erklaren, da
bei dem macbtigen Einfluss des psychischen Shocks auf die vaso-
motorische Spbare mit Funktionsstorungen zu rechnen ist, die ihre
Grundlage nicht in der Vorstellungssphare haben.
Gelingt es, bei angeblicher Amaurose durch Vorfiihrung von
Bildern oder Gegenstiinden Ausserungen bzw. psychische Reaktionen
irgendwelcher Art auszulosen, die in eindeutiger Weise optische Be-
ziehungen zu dem Reizobjekt erkennen lassen, so ist natiirlich an
1) -S. zu dieser Frage Heller, fiber Verfeinerung derSinne usw. Wundts
Philos. Stud. XI und Wilbrand-Saenger S. 671 (Bd. 3).
2) 1. c.
3) Berl. klin. Wochenechr. 1880, Nr. 2.
4) New York med. Journ. 1888.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
31
dem typischen Charakter der Stornng (falls Simulation ausgeschlossen
werden kann) nicht zu zweifeln.
Die Literatur enthalt aber iiberaus wenig Mitteilungen ent-
sprechender Art. Handelt es sich um eine Amblyopic, so kann die
Sehpriifung nach yerschiedenen Methoden, in verschiedenen Ent-
fernungen usw. Widerspriiche hervortreten lassen, die sich durch die
Annabme einer reeUen Sehschwache nicht erklaren lassen, sondern
auf den ideogenen Ursprung hinweisen 1 2 ). So gut die entsprechenden
Priifungsmetboden fur die unilateral Blindheit ausgearbeitet sind, fur
die bilaterale yermisse ich genauere Angaben und Anweisungen, gebe
aber zu, dass ich nicht alle Monograhpien und Abhandlungen iiber den
Nachweis der Simulation von Blindheit durchgesehen habe '■*). In ihnen
wird gewiss noch manches Brauchbare fur die Feststellung der
hysterischen Amaurose enthalten sein. Aber ich muss immer wieder
betonen, dass man sich durch das Erhaltensein der einfachen opti-
schen Reflexe nicht irrefiihren lassen darf.
Wir wollen nun versuchen, an der Hand der angefiihrten Kri-
terien die Natur der Sehstorung unseres Falles klarzustellen. Dass
es sich urn einen funktionellen Typus handelt, bedarf nicht mehr der
Erorterung. Aber konnen wir auch entscheiden, ob eine seelische
oder korperliche Grundlage anzunehmen ist?
Der Charakter der Personlichkeit legt die Annahme der hysteri¬
schen Grundlage nahe; wahrend die Art der Entstehung: im An¬
schluss an einen Intoxikationszustand, sie zwar nicht ausschliesst, aber
doch nicht zu ihren Gunsten entscheidet, da sich in der Mehrzahl
der bekannt gewordenen Falle die hysterische Amaurose im Anschluss
an Krampfanfalle, Traumen und Gemiitsbewegungen oder aus einer
bereits vorhandenen konzentr. G. F. E. heraus entwickelt hat. Auch
der Umstand, dass sich die Sehstorung schon in dem Stadium, in
dem die Somnolenz noch nicht ganz gewichen ist, einstellt, spricht
nicht gerade fur die psychogene Entstehung. Betrachten wir nun
das Symptom selbst, sein Wesen, seine Ausserungen.
Da konnte zunachst wohl die Angabe etwas verdachtig erschei-
nen, die er im Beginn gemacht hat, dass er namlich den Umkreis
1) Dass aber in der Verwertung dieses Faktors giosse Vorsicht geboten
ist, lehrt z. B. eine Ausfiihrung Gronauers (Uber Intoxikationsamblyopie,
Arch. f. Opht., Bd. 38) iiber die widerspruchsvollen Resultate der Sehpriifung
nach verschiedenen Methoden und in verschiedenen Entfernungen bei der In-
toxikationsamblyopie.
2) S. za der Frage: Carl Specht, Eine kritische Zusammenstellung der
Verfahren, durch welche Simulation usw. Inaug.-Diss. Bonn 1891.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
32
Oppenheim
Digitized by
des Gesichtes 4—5mal sehen wollte, auch mit jedem Auge allein.
Das konnte auf die Polyopia hysterica monocularis hinweisen.
Aber es darf nicht ausser acht gelassen werden, dass das nur
im ersten Stadium (am 5. III.) einmal vorgekommen ist, als die
Somnoleuz eben zu weichen begann, wahrend er noch von optischen
Hailuzioationen beherrscht war, auch bei Augenschluss bzw. im Dun-
kel allerhand Bilder vor den Augen sah. Es ist durchaus wahr-
scheinlicb, dass er die subjektiven Phanomene mit den Objekten der
Aussenwelt verwechselte uud dass daraus diese Angaben erwuchsen.
Spater habe ich nie bei ihm eine monokulare Diplopie nachweisen
konnen.
Nach Ablauf dieser ersten Tage bleibt die Sehstorung wahrend
eines ganzen Jahres in annahernd gleichmassiger Weise bestehen,
wenn man davon absieht, dass sie allmalich eine gewisse Besserung
erfahrt. Sie kennzeichnet sich als eine der Amaurose nahekommende
hochgradige Amblyopie mit einer anfangs starkeren, spater geringeren
Einengung des Gesichtsfeldes. Dass er bei dem hohen Grad der
Amblyopie Handbewegungen zentral am besten erkannte, lasst nicht
den Schluss auf eine typische konzentr. G. F. E. zu. Zuerst erkennt
er die Fenster, die sich in etwa 8—10 m Entfernung von seinera Bett
befinden, sieht auch, dass sie Querbalken haben, unterscheidet, ob die
Vorhange vorgezogen sind oder nicht (ob es heller oder dunkler ist).
Dann erkennt er Handbewegungen vor den Augen und spater in
grosserer Entfernung. Dass er sie dabei bald mehr in dieser, bald
in jener Partie des Gesichtsfeldes wahrnimmt und am besten zentral,
hat gewiss bei eiuer so groben Storung nichts Auffalliges. Auch in
der Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem bewegten und dem
ruhenden Objekt hier besonders ausgesprochen war, kann ich nichts
(Jberraschendes erblicken, es bedurfte einmal einer Summation der
Reize, ferner kann derUmstand eine Rolle spielen, dass bald dieser,
bald jener Teil des Sehzentrums starker ermiidet war und dass es
der Erregung verschiedener Teile bedurfte, um einen Gesichtsein-
druck zu erwecken. Erst mit dem Eintritt der Besserung werden
auch grossere Objekte erkannt, ohne dass sie bewegt werden miissen,
aber noch inkonstant. Befremdender war es fur mich, dass sich im
weiteren Verlauf der Farbensinn verhaltnismassig gut erhalten zeigte,
insofern als er an bewegten grosseren Objekten (Uhr, Zitrone, BIu-
menstrauss in einer Vase) die Farbe erkannte in einem Stadium, in
dem er den ruhenden Gegenstand selbst noch nicht sah (wohl aber
den bewegten). Das diirfte aber gerade bei einer kortikalen Am¬
blyopie dem Verstandnis keine Schwierigkeiten bereiten, wenn auch
gewiss bei den organischen Affektionen des Sehzentrums meist das
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Veronalvergiftung usw.
33
umgekehrte Verhalten zu konstatieren ist. (Tbrigens war auch der
Farbensinn keineswegs intakt, da er selbst spater bei einer Pnifung
aus den Wollproben, also bei kleinen Objekten, die griine nicht er-
kannte. 1m weitern Verlanf vermochte er dann auch zu unterschei-
den, ob sich ein oder mebrere Finger vor seinen Augen bewegten,
ob es sich um einen grosseren Oegenstand (Blumenstrauss) oder einen
Fig. 2.
kleineren (Horrohr) bandele. Zu dieser Zeit werden Farben an grosse¬
ren Objekten auf die ganze Entfernung des Zimmers wahrgenommen.
lm Dez. 1916 trat dann mit der leicbten Besserung des Sehver-
mogens die Diplopie wieder hervor, die aber naturgemass bei der
groben Sehstorung keine wesentliche Rolle spielte und nur auf be-
Fig. 3.
Versuch I (mein eigener Versuch, mit geschlossenen Augen zu schreiben).
sondere Anfrage angegeben wurde. — Das Fehlen des galvanischen
Licbtblitzes steht mit der Annahme der zentralen Amaurose durchaus
im Einklang, ohne dass icb an der Hand der Literatur und der eigenen
Erfahrung beweisen kann, das9 dies Merkmal der hysterischen
Amaurose nicht zukommt.
Ich vermochte also weder selbst in den Ergebnissen der Seh-
prufung Anhaltspunkte fur den psychogenen Charakter zu finden,
noch gelang das dem hinzugezogenen Ophthalmologen Prof. S. t der
bei einer eingehenden Pnifung zu dem Ergebnis kam, dass eine funk-
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilktinde. Bd. 57. 3
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
34
Oppenheim
Digitized by
tionelle Form der Amaurose vorliege, die am ehesten der uramischen
zu vergleichen sei. Nur wurde er stutzig, als er darauf aufmerksam
gemacht wurde, wie Patient schrieb (vgl. Fig. 1 S. 11).
Die Art, wie er Wort an Wort reihte, Zeile unter Zeile setzte,
erweckte bei ihm den Verdacbt, dass Patient doch sahe, ohne sich
Fig. 4.
VerBUch II.
dessen bewusst zu werden. Aber da ergab sieh, dass er bei ver-
bundenen Augen in ganz derselben Weise schrieb.
Nachtraglich habe ich dann selbst derartige Proben bei mir
(Fig. 3—5) und anderen (s. Fig. 2) angestellt und war iiberrascht, dass das
A*
Fig. 5.
Versuch III.
verhaltnismassig gut ging und namentlich in Anbetracht der fehlen-
den Cbung durchaus nicht so ungeordnet ausfiel, wie ich voraus-
gesetzt hatte. Was die Ubung da macht, zeigen schon meine drei
hintereinander ausgefvihrten Versuche.
Gerade der Umstand, dass unser Patient sein Gefiihl und Gehor
so fein ausbildete, wie wir es von den wirklich Blinden wissen,
spricht gegen die Annahme einer psychogenen Amaurose, bei der das
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis tier Veronalvergiftung usw.
35
unbewusste Sehen die Ausbildung der Ersatzfunktionen, soweit wir
wissen, nicbt erforderlich macht.
Auch der vollige Misserfolg jeder Suggestivbehandlung macht die
psychogene Grundlage unwahrscheinlich, ohne jedoch einen sicheren
Gegenbeweis zu bilden. Die Frage, ob Patient Motive hatte, bewusst
oder unterbewusst gerade die Amaurose zu fixieren, ist gewiss nicht
bestimmt zu beantworten. Man kann nur sagen, dass es fur einen
jungen, dem Lebensgenuss ergebenen Menschen geradezu die trau-
rigste und verhangnisvollste Storung ist, die er sich hatte aussinnen
konnen. Aber die Verirrungen der kranken Psyche sind oft so wun-
derbar, dass wir ihre Ratsel nicht losen konnen. Auch die Ver-
mutung, dass der Timor belli unterbewusst wirkte, hat wenig fur sich,
da er ja schon durch seine absolute Abasie vollkommen gesichert war.
Aber es ist durchaus moglich, dass wir mit den gangbaren
Theorien der Hysterie langst nicht alles erfassen, und dass es Zu-
stande dieses Charakters gibt, die ganz anders begriindet und ver-
mittelt werden.
Wir konnen also zum Schluss beziiglich der Amaurose nur so-
viel sagen, dass hier eine nichtorganisch bedingte Form
vorliegt, deren psychogene Grundlage sich nicht hat be-
weisen lassen, die auch von den bekannten Typen der hy-
sterischen Sehstorung sich in vielen Punkten unterschei-
det. Die Moglichkeit aber, dass der weitere Verlauf doch
noch die hysterische Wurzel aufdeckt, muss offengelassen
werden.
Jedenfalls tun wir aber gut, im Auge zu behalten bzw. damit
zu rechnen, das3 es ausser den hysterischen andere Formen
der funktionellen Amaurose, die auf einem mehr oder weniger
vollkommenen Lahmungszustand der optischen Zentren beruhen, gibt.
Vor kurzem hat K. Mendel 1 ) den Versuch gemacht, einen solchen
Typus abzugrenzen und als Ermiidungserscheinung zu charakterisieren.
Erst die weitere Erfahrung kann zeigen, ob ihm dieser Versuch ge-
gluckt ist.
1) Intermittiereiides Blindwerden. Neurol. Zentralbl. 1916.
3 *
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(Aus der medizinisehen Universitatspoliklinik Rostock. Direktor: Prof.
Dr. Hans Curschmann.)
Uber die topische Bedentnng der „dissoziierten Potenz-
stSrang".
Von
Dr. Felix Boenheim,
Asaiatenz&rzt.
(Mit 4 Abbildungen.)
Obgleich man sich seit einigen Dezennien eifrig mit der Differen-
tialdiagnostik der Cauda- und Eonnserkrankungen beschaftigt, ist es
doch in schwierigen Fallen oft noch unmoglich, intra yitam die
topische Diagnose zu stellen. Um so merkwiirdiger ist es, dass ein
recht typisches topiscbes Symptom nocb nicht die ihm zukommende
Beachtung gefunden hat, obgleich ausdriicklich auf dasselbe hinge-
wiesen worden ist. Es ist dies das Symptom der „dissoziierten
Potenzstorung", wie es Hans Curschmann genannt hat. Wenn-
gleich diese Potenzstorung in einigen grosseren Spezialwerken im
theoretischen Teil abgehandelt wird, so findet man es doch nur selten
in den mitgeteilten Krankengeschichten verwertet. V r on den Autoren,
die es nennen, seien Ed. Muller und L. R. Muller erwahnt, yon
denen der letztere schreibt, dass es bei Konuserkrankungen im An¬
schluss an ein Trauma einige Zeit nach dem Unfall wohl zur Erek-
tion, nicht aber zur Ejakulation komme, „meist“ unter Ausbleiben
der sensiblen Eindriicke und des Orgasmus. Hingegen bespricht
Oppenheim in seinem Lehrbuch das Verhalten der Friktion und des
Orgasmus bei Konuserkrankungen nicht, sondern begniigt sich mit
dem Satz, dass „die Libido sexualis und Erektionsfahigkeit erhalten
sein kann bei fehlender Ejaculatio seminis 11 .
Deshalb sei es gestattet, drei Krankengeschichten mitzuteilen und
an der Hand derselben die topische Bedeutung der dissoziierten
Potenzstorung zu untersuchen.
Beobachtung 1.
F. G., Arbeiter, 55 Jahre.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutnng der „di8soziierten PotenzstSrung". 37
Anamnese: Patient gibt an, dass er bis vor drei Jahren immer ge-
snnd gewesen sei. Er hat seinerzeit aktiv als Soldat gedient. Vor drei
Jahren sncbte er die hiesige Klinik wegen rbeumatischer Beschwerden aof
und lag hier einige Wochen wegen Arthritis rheumatica. Am Nerven-
system wurde damals ein krankhafter Befnnd nicht erboben, ebensowenig
am Urogenitalsystem. Jetzt ftthren ihn Blasenbeschwerden in die poli-
klinische Sprechstunde.
Aus der Familienanamnese sei bemerkt, dass seine Eltern an unbc-
kannter Erankheit gestorben sind, dass seine Fran gesund ist und nie
eine Fehlgeburt hatte. Seine fttnf Kinder sind gesund.
Uber die Blasenfunktion macht er folgende Angabe: Im April hahe
er bemerkt, dass das Wasser ihm von selbst abging, und zwar „babe er
nacbts ins Bett gepisst u . Aucb am Tage sei es ihm unbewusst abge-
gangen. Er babe es erst bemerkt, wenn es ihm an den Beinen entlang
gelaufen sei. Der Abgang sei ohne GefQhl gewesen. Es sei bis jetzt,
i. e. Oktober, schlimmer geworden, was er besonders daran merke, dass
er frtther nur zweimal nacbts durch das nasse Bettzeug aufgewacht sei,
w&hrend es jetzt dreimal geschehe. Das Ftthlen irgendeines Dranges zum
Urinieren stellt er entschieden in Abrede.
Uber seine Mastdarmfunktion erhalten wir die folgenden Angaben:
Er habe zwar 1914 einmal drei Tage lang Durchfalle gehabt; aber er habe
den Stuhldrang immer rechtzeitig gemerkt, so dass er den Abtritt erreichen
konnte, obne sich zu beschmutzen. Jetzt sei die Verdauung vollst&ndig in
Ordnung. Er babe 1—2 Entleerungen taglich. Irgendeine VerSnderung
gegen frtther sei nicht eingetreten.
Was sein.e Geschlechtsfuuktionen anbelangt, so konnten wir folgendes
eruieren: Am 6. X. gab er an, seit drei bis vier Wochen keinen Beischlaf
mehr ausgetkbt zu haben, da ihm „das GefQhl fehle“. Diese Angabe er-
gftnzte er am 21. X. dahin, dass er den letzten Koitus in der letzten
Woche ausgettbt habe. Das Glied ware steif geworden, aber er
habe kein Geftthl dabei gebabt. Wahrend er frtther 2mal wochent-
lich den Beischlaf ausgeftthrt habe, nehme er ihn jetzt nur noch etwa
alle 6 Wochen vor. Dieses Nachlassen datiert or 2 Jahre zurttck. Zwar
ware der Penis damals steif geworden, aber „es ware nicht so doll ge¬
laufen". Auch ware sein GefQhl schon damals abgestumpft gewesen.
Erektionen habe er auch heute noch, selbst wenn er nicht bei einer Frau
sei. Beim Beischlaf aber fehle ihm jedes Friktionsgeftthl, und
es komme nicht zu eigentlichen Ejakulationen, wie es sich aus
seinen Worten ergibt, er „ftthle mit dem Finger, wie es tropfenweise" ab-
gehe. Auch jede Spur von Orgasmus fehlt. Ausdrttcklich sei noch
erwahnt, dass er keine Kreuzschmerzen hat, ebensowenig wie Rttcken-
schmerzen oder Schmerzen im Gesass. Ein Trauma ist nicht festzustellen.
Schliesslich sei noch aus der Anamnese nachgetragen, dass er fiber
grossen Durst klagt, besonders nachts.
Status: Es handelt sich um einen mittelgrossen Mann, dessen Musku-
latur gut entwickelt ist, und zwar gleichmftssig am ganzen Kttrper. Nir-
gends bestehen Atrophien. Die Gesichtsfarbe ist gelblich. Die Gelenke
sind frei beweglich. Keine Exantheme, keine Odeme, keine Drttsen-
schwellungen.
Blutkreislauf: Da9 Herz reicht nach rechts bis zum rechten Rand
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
38 Boenheim
ties Sternums, nach links bis etwas ausserhalb der Mamillarlinie. Uber
der Spitze hdrt man ein systolische8*Gerausch, das fortgeleitet auch tlber
den anderen Ostien zu hOren ist. Der 2. Pulmonalton ist akzentuiert.
Uber der Aorta ist die Diastole unrein. Das Arterienrohr ist hart. Die
Pulsfrequenz betragt 72. Der Puls ist etwas schnellend und voll. Blut-
<lruck nach Riva-Rocci: 90:150.
Die Lungen sind perkutorisch und auskultatorisch frei von patho-
logischem Befund.
Bauchorgane: Leber palpabel, von normaler Konsistenz. Milz nicht
zu fQhlen.
Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker, hat das spezifische Ge-
wicht 1005. Beim gleich darauf vorgenommenen Eatheterisieren werden
670 ccm Urin entleert. Bei einer 2. Untersuchung betrug der Resturin
sogar 910 ccm, zeigte aber sonst denselben Befund.
Nervensystem: Die Pupillen reagieren auf Licht und Konvergenz.
Die Reflexe der oberen Extremitaten sind regelrecht. Die Untersuchung
der Hirnnerven ergibt keinen pathologischen Befund. Die Patellarreflexe
sind gesteigert, der rechte starker als der linke. Die Achillessehnenreflexe
fehlen. Die Bauchdeckenreflexe sind rechts normal, links stark abge-
schwacht, und zeigen eine leichte Ermtldbarkeit. Der Kremasterreflex fehlt
rechts. Skrotalreflex regelrecht. Analreflex vorhanden.
BerQhrungen werden am ganzen KOrper gleich empfunden, ebenso
werden Bewegungen in den Gelenken richtig lokalisiert. Dagegen zeigt
der Temperatursinn, und zwar der fttr Ealte, StOrungen. Am rechten
Hodensack, auf der rechten Seitc des Penis, um die inneren FussknSchel
beiderseits und am linken ausseren, ferner in einem schmalen Bezirk der
Fhsse vorne und hinten wird Ealte nicht gefOhlt. Spitz und stumpf
werden hier ttberall richtig unterschieden. Jedoch gibt es links oben und
auseen vom Anus ein kleines Gebiet, wo die Empfindung ftlr Unterscheidung
dieser beiden Qualitaten fehlt. Daneben besteht hier noch eine deutliche
Herabsetzung des Schmerzgeftthls, die auf der rechten Seite noch ausge-
pragter ist, am grOssten aber an der rechten Skrotalhaut, die man durch-
stechen kann, ohne dass Schmerz geaussert wird. Der Hodenschmerz ist
rechts stark gesteigert, links normal (s. Fig. 1).
Die rektale Untersuchung ergibt folgendes: sie verlauft abuorm
schmerzlos. Der untersuchende Finger wird geftthlt, hat auch einen ge-
wissen Widerstand am Sphincter externus zu Qberwinden. Man ffthlt eine
mftssig vergrOsserte Prostata.
Beim Eatheterisieren, das ohne jede unangenehme Sensation verlauft,
hat man am Orificium externum keinen Widerstand zu Qberwinden.
Blut: Wassermann negativ.
Das ROntgenbild der unteren Wirbels&ule ergab keinen pathologischen
Befund.
Bei einer spateren Vorstellung am 17. XI. war der rechte FussrOcken
geschwollen und fOhlte sich kalt an.
Epikrise: Bei einem 55jahrigen Mann findet sich also 1. eine
Sphinkterlahmung der Blase mit Aufhebung der Sensibilitat fur den
Urindrang, sowie verminderte Sensibilitat der Harnrohre, 2. eine ver-
minderte Sensibilitat und Hvpotonie im Bereich des Anus, 3. eine
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
fiber die topiscbe Bedeutung der „di8soziierten PoteDZst6rung“. 39
Storung aller sensiblen Koraponenten des Koitus: Frik-
tionsgefiihl und Orgasmus feblen bei verlangsamter Ejaku-
lation und erhaltener Libido und Erektion, 4. dissoziierte Emp-
findungslahmung im Bereich des 2.-4. Sakralsegmentes.
Wir haben uns nun zunachst die Frage vorzulegen, ob es sich
bier um eine Erkrankung der Cauda oder des Konus handelt. Fur
eine Eaudaerkrankung konnte man das langsame Entstehen an-
ftibren, sowie die geringe Asymmetrie der sensiblen Ausfallserschei-
nungen. Besonders ware zu beaehten, dass die ersten Storungen
Dunkles Gebiet = kalte Beriihrungen werden nicht empfundeo; schraffiertes Ge-
biet = Unterscheidung fiir spitz und stumpf fehlt; punktiertes Gebiet =■ Her-
absetzung des SchmerzgefiihlB.
kurze Zeit nach einem Gelenkrbeumatismus aufgetreten sind, so dass
man im Analogon an die Hirnhautmeningitis rbeumatica vielleicht eine
Meningitis rheumatica spinalis annebmen konnte. Fiir eine Er¬
krankung des Konus spricht das Fehlen von sensiblen Reizer-
scheinungen, die allerdings nach neueren Anschauungen bisweilen auch
bei extramedullaren Tumoren vermisst werden, wie es in letzter Zeit
noch Schultze betont. Diese Tumoren haben oft ein sehr langsames
Wachstura. Schultze gibt auch eine Erklarung fiir die Schmerz-
losigkeit, indent er die Hypothese aufstellt, dass die zentripetale
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
40
Bo£NH£IM
Weiterleitung des Schmerzes durch die Kompression der schmerz-
leitenden Bahnen unterbrochen ist, eine Anschauung, die aber nicbt
unwidersprocben geblieben ist. Dass das Krankheitsbild von moto-
rischen Erscheinungen beherrscht wird, passt wieder in die Sympto-
matologie der Konnserkrankungen. Unser Patient suchte ja auch
seiner Blasenstorungen wegen die Klinik auf. Es ist bei Erkrankungen
des Riickenmarks im unteren Teil die Regel, dass die motoriscben
Lahmungen nur innere Organe betreffen, die unteren Extremitaten
aber freilassen. Femer spricht sebr fur einen Sitz im Konus die
Dissoziation der Empfindung, namlich eine Storung des Kaltegefuhls
(und an anderer Stelle des Schmerzgefiibls) bei erhaltenem Beriihrungs-
gefiihl, worauf besonders Raymond und Minor und Lahr Wert
legen. Vor allem aber spricht gegen eine Cauda- und fiir eine Konus-
erkrankung die Verschiedenheit der Storungen der einzelnen
Urogenitalfunktionen, worauf weiter unten im Zusammenhang
eingegangen werden soil.
Wir hatten uns nunmebr mit der Frage nach der Hohe des
Herdes zu beschaftigen. Es steben uns drei Wege zur Lokalisation
zur Verfiigung. Wir konnen erstens aus den Zentren der Blasen-,
Mastdarm- und Qeschlechtsfunktionen und ibren Lasionen auf den
Sitz schliessen. Zweitens geben uns die Reflexe dariiber Aufschluss
und drittens die sensiblen Ausfallserscheinungen.
Aus den Angaben unseres Patienten geht hervor, dass wir eine
Storung der Blase und der Ejakulation baben, nicbt aber eine des
Mastdarms und der Erektion. Da nun bekannt ist, dass das Ejaku-
lations- und das Blasenzentrum im 3. bzw. 4. Sakralsegment zu
suchen sind, so miissen wir bier mit Herden rechnen. Diese Lokali¬
sation ist aber durchaus nicbt unbestritten. L. R. Miiller, der in
seiner friiheren Arbeit auch diese Segmentierung angab, verlegt in
einer neueren Arbeit, die er zusammen mit Dahl veroffentlicbte, das
Zentrum der Ejakulation ins Lumbalmark. Er stiitzt sicb dabei auf
den Tierversuch, da es beim Hunde bei exstirpiertem Lumbal-, aber
erhaltenem Sakralmark wobl zur Erektion, Dicht aber zur Ejakulation
kommt. Die von uns angegebene Segmenthohe ist den uberein-
stimmenden Angaben von Flatau, Kocher, Schlesinger u. v.
a. m. entnommen. Von einem Zentrum ano-vesicale zu sprechen
(Op pen beim), scheint uns nicbt mehr gerechtfertigt, da doch in einer
Reihe von Krankengeschichten, z. B. in denen von Schiff, Zimmer,
wie auch in der unsrigen, nur eine Storung der Blasenfunktion vor-
liegt bei Intaktheit der Mastdarmtatigkeit. Auf die Streitfrage, ob
man iiberhaupt fiir Blase und Mastdarm spinale Zentren annebmen
soil, wie auch auf die, ob man aus der Angabe der erhaltenen Erek-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „dis8oziierten Potenzstorung". 41
tionen auf eine Intaktheit des 2. Sakralsegmentes, wo das Zentrum
des spinalen Erektionsreflexbogens liegt, schliessen kann, komme ich
waiter unten im Zusammenhang zuriick. Sicber ist, dass wjr eine
Intaktheit des 5. Sakralsegmentes annehmen konnen, wo wir den Sitz
des Mastdarmzentrums zu sucben haben.
Als zweites topisches Diagnostikum steht uns das Verhalten der
Reflex e zur Verfiigung. Allerdings sind bier die Unstimmigkeiten in
der Literatur noch grosser. Wir haben zunachst gesteigerte Patellar-
reflexe notiert. Diesen Zustand werden wir # nicht auf eine Unter-
brecbung der bemmenden Fa3ern bezieben, sondern auf einen abnorm
gesteigerten Erregungszustand, wie er sich als „Dissoziation des Re¬
flexes" leicht findet, wenn der nachsttiefere Reflex erloschen ist. In
der Tat fehit ja dieser, der Achillessehnenreflex. Leider wird gerade
das Zentrum dieses Reflexes sebr verscbieden angegeben. Wahrend
Flatau es in L 5 verlegt, besonders aber in S 1 und 2, ware es nach
Edinger in S 2, nach Sabli in S 3—5, nach v. StrumpelLin S 1
und 2, nach Oppenheim in L 5 und S 1, vielleicht, auch mit S&rbo
in S 1 und 2 zu suchen. Da der Sohlenreflex, der von v. Striimpell,
Oppenheim und Flatau, um nur einige zu nennen, in S 1 und 2
verlegt wird, bei unserem.Patienten erhalten ist, so werden wir uns,
wenigstens in diesem Falle, der tieferen Lokalisation anschliessen.
(Vgl. auch Krankengescbichte 17.) Eine Intaktheit des 5. Sakral¬
segmentes miissen wir annehmen, weil der Analreflex erhalten ist.
Was die Sensibilitatsstorungen anbelangt, so betreffen diese, wenn
wir der Kocherscben Segmentiernng folgen, S 3 und 4 rechts und
S 2 beiderseits. Das Verhalten der Motilitats- und der Sensibilitats¬
storungen, sowie das der Reflexe ergibt also einen ubereinstiramenden
Befund in bezug auf die Hohe der Erkrankung. Inwiefern die Po-
tenzstorungen fur die Hohendiagnose zu verwenden sind, dariiber
siehe weiter unten. Es bandelt sich also um eine Erkrankung mit
Herden in S 3 und 4 mit leichter Beteiligung von S 2.
Welcher Art ist nun die von uns angenommene Erkrankung?
Fur eine spezifisch syphilitische sind keinerlei Anhaltspunkte' vor-
handen. Abgesehen davon, dass der Patient jede Infektion glaub-
wiirdig negiert, spricht auch die Anamnese xiber seine Frau dagegen,
sowie der negative Ausfall der Wassermannschen Reaktion. Fur
Tuberkulose ist kein Anhaltspunkt vorhanden. Allerdings sind Soli-
tartuberkel im untersten Riickenmark beschrieben worden, z. B. von
L. R. Miiller. Fvir eine lokalisierte Konusmyelitis konnen wir uns
nicht entscheiden, da dazu der Beginn ein zu allmahlicher ist. Auch
soil es nach Henneberg keinen einzigen Obduktionsfall dieser Art
geben. Dies trifft zwar nicht fur die Hamatomyelie zu, die, wie aus
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
42
Boeniieim
Digitized by
den Zusammenstellungen von Oppenheim, Lewandowsky und
Dorr hervorgeht, sehr leicht zustande kommt und auch bei der Sek-
tion isoliert im Konus angetroffen ist. Wenn auch mit dieser Au-
nahme die Geringfiigigkeit der sensiblen Erscheinungen ihren Auf-
schluss finden konnte, so xniissen wir doch auch diese Annahme wegen
der langsamen Entwicklung des Leidens und wegen des Fehlens ernes
Traumas in der Anamnese ablehuen. Es bliebe an einen intramedul-
laren Tumor zu denken, wie er ja wiederholt beobachtet wurde. Aber
auch eine multiple Sklgrosis ist nicht auszuscheiden. Kommen doch
immer wieder neue Kombinationen der Symptome nach den ver-
schiedenen Sitzen der Herde vor. Oppenheim hat erst kiirzlicli
seine Auffassung dahin zusammengefasst, dass „es kein Riickenmarks-
leiden gibt, in dessen Gewand nicht die Sclerosis multiplex sich kleiden
konnte 1 *, und aus den Arbeiten von Oppenheim, Hans Cursch-
mann und Mendel wissen wir, dass auch Herde im Konus vor-
kommen. In Anbetracht des Alters und des Blutdrucks wird man
auch an eine atherosklerotische Erweichung denken miissen, wie sic
von Ed. Fischer auch durch Sektion im Konus bestatigt wird. Es
sei noch bemerkt, dass die Zabl der in der Literatur festgelegten
Falle, die sich im Anschluss an eine Erkaltung manifestierten, nicht
klein ist. Es sei nur an die Falle von Rabinowitsch, Rosenthal.
Raymond erinnert, besonders aber an den von B&lint und Bene¬
dict, der mit dem unsrigen viel Ahnlichkeit hat.
Fall 2. L. F., 22 Jahre alt, stud. jur.
Anamnese: Patient bekam im April 1916 einen Schuss durch den
linken Fuss. Als er hinter einer kleinen Erdwelle Deckung suchte, bekam
er einen Maschinengewehrschuss, dessen Einschuss rechts oberhalb der
Crista iliaca etwa in HOhe des 2. Lendenwirbels lag, und dessen Aus-
schuss einen Wirbel hdher in der hinteren Axillarlinie links lag. Er
hatte dabei das GefQkl, als wenn ihm ein grosser, melirere Zentner
schwerer Stein auf den Bhcken geworfen worden ware. Gleichzeitig
glaubte er an eine Yerletzung der ausseren Genitalien, die ihm wie abge-
storben schienen. Ein BerQhren des Gliedes und des Hodensackcs nahm
er nicht wahr; Patient verlor nicht die Besinnung.
Es trat nun in den folgenden Tagen ein Verhalten des Urins und des
Stuhls trotz haufigen Dranges dazu ein, das angeblich 3 Tage anhielt.
Dann kam es zu einem unwillkttrlichen gefQhllosen Abgang des Urins und
sp&ter auch des Stuhls. Da er den Durchtritt der Fazes nicht merkte.
beschmutzte er sich. Im Laufe der Zeit besserte sich dieses, so dass er
jetzt festen Stuhl zurftckhalten kann, nicht aber dfinnen und Winde.
Letztere gehen ebenso wie Wasscr auch jetzt noch bei Nicssreiz, Husten,
Lachen usw. ab, besonders auch wenn er sich vom Stuhl erhebt, wobei er
sich mit seinen Handen auf den Knien oder auf dem Tisch stfitzt All
diese Erscheinungen hatte er frtther nicht.
Was sein Geschlechtsleben anbclangt, so war dies bis zur Verwundung
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der ..dissoziierten Poteuzst6rung“. 43
normal; seitdem kommt es wohl nocli zu Erektionen, jedoch
nicht mehr zu SamenergGssen, die aach als Pollationen felilen.
FriktionsgefQhl and Orgasmus wfthrend des Koitus fehlen
ga nzlich. Die Libido sexualis ist jetzt fast vollst&ndig er-
loschen, was wir (und auch der Patient) als begreifliche Folge des Aus-
bleibens des Friktionsgefahls und des Orgasmus erklaren werden.
Status: Es handelt sich nm einen mittelgrossen, gut genahrten Mann
oboe Odeme, Exantheme und Drttsenschwellungen. Am linken Fuss fehlt
eine Zehe, die amputiert ist. Am Rftcken siebt man zwei Narben, die von
dem oben beschriebenen Schuss herrOhren.
Wagerecht schraffiertes Gebiet — Aufhebung der Empfindlichkeit fur warm
und kalt; dunkles Gebiet = Aufhebung der Empfindlichkeit fur warm; senkreeht
schraffiertes Gebiet = Hyperasthesie fur spitze Beruhrungen.
Die inneren Organc ergebcn normalen Befund. Der Urin ist bei einem
spezifiscben Gewicht von 1011 frei von Eiweiss und Zucker.
Was das Nervensystem anbelangt, so liegen keine Storungen von seiten
der Hirnnerven vor und auch nicht an den oberen Extremitaten.
Die Patellarreflexe sind regelrecht. Die Achillessehnenreflexe fehlen.
Die Bauchdeckenreflexe sind normal vorhanden. Kremaster- und Skrotal-
reflex sind regelrecht. wahrend der Analreflex fehlt.
Berlihrungen werden am ganzen KOrper ricbtig empfunden. Be-
wegungen in den Gelenken werden ricbtig lokalisiert. Dagegen bestehen
StOrungen des Temperatursinns, besonders f&r Wflrme. Auf der linken
Seite des Penis, am linken Hodensack, links vom Anus, am liuken innern
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
44
Boexheim
Digitized by
KnOchel, anf einem links gelegenen Gebiet der Fussohle und auf dem
rechteu Fussrflcken werden BerQhrungen mit warraen Gegenst&nden nicbt
als warm empfunden. Auf der reehten ausseren Fussohle und um den
rechtcn inneren KnOchel wird weder warm noeh kalt empfunden. Am
Skrotum und am Penis, sowie links vom Anus bcsteht einc Hyper&sthesic
fttr spitze Bertlhrungen; der Hodenschmerz ist normal (s. Fig. 2).
Das Katbeterisieren geht obne Uberwinden eines Widerstands am
Orificium internum vor sich. Dabei ist die Schleimhaut besonders emp-
findlich, dasselbe gilt auch von der Mucosa recti.
Das ROutgenbild der unteren Wirbelskule zeigt keine Verletzung der-
selben.
Epikrise: Wir weisen im einzelnen auf das bei Fail 1 Ausge-
fiihrte hin. in diesem Fall ist es ohne weiteres klar, dass es sich
nur um eine Hamatomyelie des Konus handeln kann im Anschluss an
die Schussverletzung. Samtliche Erscheinungen lassen sich bei einem
Sitz in S 3—4, vielleicht unter Beteiligung yon S 2, erklaren.
Als Fall 3 sei auszugsweise ein yon Herrn Prof. Curschmann
in Mainz beobachteter Fall mitgeteilt. Ich danke auch an dieser Stelle
Herrn Prof. Curschmann fiir seine Liebenswiirdigkeit, mir den Fall
zur Veroffentlichung zu uberlassen.
Es bandelt sich um einen 17jahrigen Mann mit multipier Sklerose
mit Herd im Konus. Neben Blasen- und MastdarmstOrungen, perisakraler
Reithosenlahmung und dissoziierter EmpfindungsstOrung, fand sich ein
Fehlen des Analreflexes. tlber die Geschlechtsfunktionen machte er
folgende Angaben: den Koitus hatte Patient noch nicht vollzogen, dagegen
masturbierte er. Als sich bei ihm nun eine Bein- und Blasenlahmung ein-
stellte, ging ihm das FriktionsgefQhl verloren. Erektionen waren
noch mOglicb, wahrend die Ejakulation „nicht plfltzlich und
krampfig" war. Der Samen ging nur noch tropfenweise ab. Orgas-
mus best and gar nicht mehr. Nur wenn er hinsah, bcmerkte er, dass
„er fertig war". Wegcn des fehlenden WollustgefQhls gab Patient dann
die Masturbation auf. Nachts kam es mitunter zu Erektionen und
auch zu Pollutionen; aber ohne Orgasm us unci ohne ent-
sprechende Traume. Dass zwei Monate spater der Orgasmus nahezu
wiedergekommen war, und dass infolgedessen der Patient wieder mastur¬
bierte, lindet seine Erklarung in den far multiple Sklerosen ebarakte-
ristischen Besserungen.
In der Einleitung wiesen wir auf die Schwierigkeiten der Diffe-
rentialdiagnose zwischen Cauda- und Konuserkrankung hin. Hier
wollen wir zusammenfassend zeigen, warum diese so schwer zu
stellen ist.
Unter Konus verstehen wir den untersten Abschnitt des Riicken-
marks nach Austritt des 2. Sakralneryen, wie es lieute wobl allgemein
angenommen wird. Deshalb muss bei einer isolierten Lasion dieses
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topiacbe Bedeutung der „diasoziierten Potenzatorung“. 45
Abschnittes in toto das Krankbeitsbild auch dasselbe sein wie im Falle
der ErkranknDg samtlicher Wurzeln der Cauda nach Abgang der
beiden oberen Sakralnerven Oder weiter oben unter Schonung der
lateral gelegenen. Das Bild wird dann immer sein: Blasen-Mastdarm-
gtdrungen, Ejakulationsstorung und Anasthesie des Perinetuns, der
Regio glutaea infer., der tiaut des Skrotums und des Penis, sowie einer
schmalen Zone an der Hinter- und Innenseite des Oberscbenkels bei
sonstiger Intaktbeit der Sensibilitat und Motilitat der unteren Extre¬
mist. Diese Uberlegung ist aber eine rein theoretische; denn da,
worauf aucb Braun und Lewandowsky besonders binweisen, selbst
bei umfangreicben Lasionen im Konus der eine oder andere Teil leicht
verschont wird, kommen hier die charakteristischen Dissoziationen
vor, wahrend wir bei Erkrankung der Cauda vegen„der engen Nach-
barschaft der Wurzeln mit einer gleichmassigen Dysfunktion des Uro-
genitalsystems rechnen miissen. „Potenz ist ebenso wie die Blasen-
und Mastdarmfunktion in gleicher Weise gelahmt", wie es L. B.
Muller ausdriickt, auf dessen Arbeiten zum grossen Teil unsere An-
scbauungen auf diesem Gebiet beruhen. Man konnte nun annehmen,
dass wir in der „Dissoziation- der Urogenitalfunktion“ ein
differentialdiagnostiscbes Mittel batten. L. R. Muller bat es denn
auch in der Tat in einer friiheren Arbeit erwahnt, ohne merkwiirdiger-
weise spater darauf zuriickzukommen. Dagegen spricht zunacbst der
Umstand, dass die anatomischen Verbaltnisse der Innervierung der
Blase noch umstritten sind, dass „die Frage nacb den Beziehungen
zwischen den vesikalen Funktionsstdrungen und dem Sitz der Riicken-
marksaffektion" (Oppenbeim) noch der weiteren Klarung bedarf.
Mit Rehfisch nebmen die meisten Autoren an, dass ein Teil der
die Blase versorgenden Nerven aus dem Lumbalmark stammt, das sie
als Nervi communicantes verlassen. Sie zieben zum lumbalen Anted
des Sympatbikus und dann als Nervi mesenteric! zum Ganglion mesen-
terici inf., von wo sie als Nervi hypogastrici in den gleichnamigen
Plexus ziehen, wo sie sich mit dem zweiten Anteil der Blasennerven,
die aus den oberen Sakralnerven hervorgehen, zum Nervus erigens
vereinigen. Fur L. R. Muller unterliegt es keinem Zweifel, dass die
letzten nervosen Zentren fur Blase und Mastdarm im sympatbischen
Nervensystem gelegen sind. Von sympathischen Ganglien aus geben
dann die Fasern durcb das Riickenmark ins Gebirn, durch die der
Erwachsene seine Blase beherrscht. Desbalb, bebauptet er weiter, sind
die Storungen der Blasen- und der Mastdarmfunktion auch dieselben,
gleicb wo der Herd im Riickenmark sitzt. Bei Sitz im Konus oder
in der Cauda haben wir dieselben Storungen, „wie sie sich im An¬
schluss an Querschnittsaffektionen im iibrigen Riickenmark ausbilden‘ ; .
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
46
fiOENHEIM
Digitized by
Wie aber schon Minkowski nacbgewiesen hat, stimmt seine Erkla-
rung nnr fiir die Falle, in denen zunacbst eine langerdauernde Re-
tentio vorliegt, nicht aber fur die, in denen es gleich zu dein Bilde
der atonischen Blasenlahmung mit paralytischem Harntraufeln kommt.
L. R. Muller gibt als typisches Bild der Dysfnnktion der Blase an:
zunachst Retentio urinae, dann unwillkiirlicher Harnabgang und
schliesslich spontane Entleerungen von annahernd gleicher Menge in
fast regelmassigen Zwischenraumen. Gegen die L. R. Miillersche
Anschauung kann aber nicht nur der von Minkowski gemachte Ein-
wand erhoben werden, sondern es spricbt aucb fol-
gendes noch dagegen: Wie ein Blick auf die schema-
tiscbe Zeicbnung (Fig. 3) zeigt, ware es dann sebr
jmwabrscheinlich, dass bei kaudalem Oder spinalera Sitz
einer Erkrankung eine isolierte Blasenstorung obne
Beteilignng des Mastdarms vorkame. Nun liegen
aber mehrere Krankheitsgeschicbten dieser Art vor,
und auch in unserem 1. Fall war nichts iiber eine Mast-
darmstorung zu eruieren. Eher konnte man diesen
Anschauungen nacb allein eine Storung in der Ent-
leerung des Mastdarms erwarten, namlich wenn das
Riickenmark Oder die Cauda nur in dem Teile er-
krankte, der unterbalb des Eintritts der Bahnen, die
den nervosen Anteil der Blase mit dem Gehirn verbin-
den, liegt. Einen solchen Fall fanden wir aber bei
Durchsicht der Literatur nicht. Bei Annahme der
L. R. Miillerschen Ansicbt miisste erlautert werden,
warum die Fasern, die die Blasenganglien mit dem
Him verbinden, leichter erkranken sollten, als die, die
die Verbindung des Mastdarms mit dem Him herstellen,
am die vorhin erwahnten Krankengeschichten mit iso-
lierter Blasenstorung bei Intaktheit der Mastdarm-
J J. f T • -U - UCUUUU” U
wirbei 2-5. funktion zu erklaren. Bei hoherem Sitz der Er¬
krankung sind ja auch in der Tat immer beide
Organe in gleicher Weise gestort. Aucb die oben nach Rehfisch
vorgetragene Anatomie spricht dagegen. Allerdings bestreitet
L. R. Muller, dass es beim Menschen zur Anastomose der
beiden obengenannten Nervengruppen kame. Wir glauben also,
dass sowobl theoretische Erwagungen (es sei aucb noch erwahnt, dass
Minkowski auf das Unwahrscbeinliche hinweist, das darin liegt,
dass die Fasern, die durcb das Riickenmark ziehcn, hier kein Zentrum
bilden sollten), als auch die klinische Beobachtung der Blasenstorungen
ohne Mastdarmstorungen gegen L. R. Muller sprechen. Wir konnen
Bl. = Blase.
M. = Mastdarm.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
liber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstoruug“. 47
abet auch nicht so weit gehen wie Braun und Lewandowsky, die
auf Grand verschiedener Tierversuche, besonders der von Roussy
und Rossi, zu dem Ergebnis kommen, dass es durch nichts erwiesen
sei, dass die sympathischen Ganglien als Reflexzentrum dienen. Roussy
und Rossi priiften namlich die Miillerschen Versuche an 6 Hunden
und 5 Katzen nach und fanden, dass nach Durcbtrennung der Cauda
durch Abtragung des Conus meduUaris dauernde Storungen der Mik-
tion und Defakation auftraten. Der Urin ging fast dauernd tropfen-
wdtse ab und konnte nicbt im Strahl entleert werden. Die Blase war
leicht kompressibel. Durchneidet man dagegen das Lumbalmark, so
wird der Urin im Strahl entleert. Nach einigen Tagen der Retentio
ist die Blase nur schwer kompressibel.
Dass es nach Zerstorung des Konus doch wieder zu einer ge-
wissen geregelten Blasenfunktion kommt, scheint doch dafiir zu
sprechen, dass es ein praformiertes extramedullares Blasenzentrum
gibt. Wir moehten also mit Oppenheim, Frankl-Hochwart,
Minkowski, Rothmann u. a. drei einander iibergeordnete Reflex-
bogen annehmen: einen sympathischen, einen spinalen und einen zere-
bralen. Hieraus geht nun aber scbon hervor, dass wir nicht hoffen
konnen, aus Blasenstorungen Schliisse auf den Sitz der Erkrankung
zu ziehen. Dasselbe gilt analog auch fur die Mastdarmfunbtion.
Wenn Oppenheim in seinem Kapitel iiber Myelitis transversa
schreibt, dass bei Sitz im Lumbal- oder im Lumbosakralmark die
Storungen von Blase und Mastdarm noch ausgepragter zu sein pflegen
als bei hoherem Sitz, so wird das doch in praxi oft im Stich lassen.
Dass L. R. Muller jeden Unterschied leugnet, haben wir ja schon
ausgefiibrt. Auch bei Cauda- und Konuserkrankung besteht kein
Unterschied. So gute Kenner wie v. Frankl-Hochwart und
Znckerkandl schreiben: „Eine typische schwere Verletzung des
Conus medullaris macht das Bild der Atonie der Blase . . . Dieses
Bild kann aber auch vorkommen bei Verletzung der Cauda equina."
Ahnlieh spricht sich Cassirer aus: „Es scheint nicht, als ob (die
Storung der analen, vesikalen und genitalen Funktion) bei kaudalem
oder medullarem Sitz eine differente ist.“ Und noch in neuester Zeit
kommt v. Eiselsberg, der die Frage an der Hand der zahlreichen
zur Operation kommenden Kriegsverletzten zu untersuchen Gelegen-
heit hatte, zu dem Resultat: bei der Entleerung der Blase „steht die
Art und der Sitz der Riickenmarkslasion mit der Form, Dauer und
Prognose dieser Blasonstorung in keinerlei Beziehung. Die Ver-
letzungen im Konus bieten diesbeziiglich dieselben Krankheitsbilder
wie hoher oben gelegene."
Also nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis zeigt, dass
Digitized by
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
48
Boenheim
Blase q- and Mastdarmstorungen zar Topik der Riickenmarkserkran-
kungen nicht vefwertet werden konnen.
Anders liegt es bei den Stbrungen der Funktion der (tnann-
lichen) Genitalien. Zunachst einmal besteht hier im grossen und
ganzen eine Ubereinstimmung in der Ansicht iiber die Innervation,
nachdem L. R. Muller in einer gemeinschaftlichen Arbeit mit Dahl
von seiner friiheren Ansicht, dass der Reflexbogen der Erektion rein
sjmpathisch ist, zuriickgekommen ist. Die inneren Genitalien werden
von Nerven versorgt, die zum Teil aus den oberen Lumbal-, zum Teil
aus den unteren Sakralnerven stammen. Diese beiden vereinigen sicli
in dem Nervengeflecht des kleinen Beckens.
Der pbysiologische Ablauf der Kohabitation ist an drei Faktoren
gebunden: an die Libido, die Erektion und die Ejakulation. Selbst-
verstandlich sind diese drei Komponenten voneinander abhangig.
Wenn wir z. B. von primarem Nachlassen der Libido horen, so wird
es eventuell noch zu Pollutionen kommen, nicht mehr aber zo Erek-
tionen und Ejakulationen im wachen Zustand. Umgekehrt wird die Impo-
tentia coeundi (insbesondere desOrgasmus und der Ejakulation), zumal bei
kultivierteren Menschen, auch zur sekundaren Schwachung der Libido
fiihren, wie in unserem 2. Fall. Von der Libido konnen wir hier
absehen, ohne die Streitfrage, ob es sich dabei um ein nicht lokali-
siertes Lustgefiihl handelt oder ob man fur die Libido ein kortikales
oder subkortikales Zentrum annehmen muss, zu diskutieren.
Was die Erektion anbetrifft, so werden im allgemeinen drei
Moglichkeiten des Zustandekommens derselben angenommen: erstens
eine psychisch bedingte. (Die Fasern, die in diesem Fall die Erektion
zur Auslosung bringen, verlassen das Ruckenmark im Lumbalteil.)
Zweitens gibt es einen Reflexbogen, der rein sympathisch verlauft
und der durch die gefiillten Samenblaschen und durch die Blase er-
regt wird. Ein dritter Reflexbogen, der an die Intaktheit des
2. Sakralsegments, also des Epikonus, gebunden ist, hat seinen zen-
tripetalen Ast im Nervus dorsalis penis, seinen zentrifugalen im Ner-
vus erigens. Muller-Dahl geben noch zwei weifcere Moglichkeiten
an. Sicherlich ist die innere Sekretion nicht bedeutungslos fiir das
Zustandekommen des zuerst angegebenen Reflexbogens und vor allem
nicht fiir die Libido, die dann erst sekundar den Reflex auslost. Sie
aber als selbstandiges Kausalmoment anzufiihren, dafur liegt wohl
keine Bereehtigung vor. Was ferner die Reizung des Zervikalmarks
als Ursache anbetrifft, so sind Erektionen und Ejakulationen hierbei,
z. B. bei Erhangten, ohne weiteres durch Unterbrechung der hem-
menden Fasern zu erklaren, analog der Steigerung der Sehnenreflexe
bei Unterbrechung der hemmenden Bahnen im Ruckenmark. Denn
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstorung". 49
es muss angenommen warden, dass auch fiir Erektion und Ejakula-
tion hemmende Bahnen im Riickenmark verlaufen, bei deren Unter-
brechung es zu Priapismus (und eventuell zu unfreiwilliger Ejakula-
tion) kommt, wenn auch gewisse Tierversuche, besonders die yon
Poliman, dagegen zu sprechen scheinen. Er fand namlich bei Schnitt
durcB das Riickenmark an der dorsalen und lumbalen Grenze in 9
von 12 Fallen, dass es weder zur Erektion noch zur Ejakulation
beim Hunde kommt. Auch manche Krankengeschichten lassen bei
hohen Rfickenmarksquerschnittslasionen Priapismus Yermissen. Aber
ein so guter Kenner wie K ocher hebt das Fehlen ausdriicklich her-
vor. Um nur einen typischen Fall dieser Art mitzuteilen, sei der Yon
Minor erwahnt, der bei Hamatomyelie in C 6 bis D 1 im Anschluss
an einen Unfall starken Priapismus und unfreiwillige Ejakulation be-
obachtete.
Erwahnt sei schliesslich noch, dass Miiller und Dahl derMeinung
sind, dass es allein durch Nachlassen des Tonus der Konstriktor-
fasern zur Erektion kommen konne; sie stiitzen sich dabei auf Kran-
kenbeobachtungen und auf die Lovenschen Versuche.
Das Wichtigste ist also, dass es neben dem spinalen auch einen
sympathischen Reflexbogen gibt, der bei Lasion des 2. Sakralsegments
in Funktion treten kann. Daher ist es auch nicht moglich, aus
dem Verhalten der Erektion Schliisse auf den Sitz der Er-
krankung zu ziehen. Es gibt Krankengeschichten, in denen an-
fangs eine Potenzstorung vorlag, spater aber nur eine Ejakulations-
storung. In solchen Fallen wird man annehmen, dass dann die
Erektion fiber den praformierten sympathischen Reflexbogen statt-
findet.
Der dritte Faktor im Ablauf der Kohabitation ist die Ejakula-
tion. Hier liegen in der Literatur verschiedene Ansichten Yor, was
man darunter verstehen soli. Wahrend die einen schon die Samen-
absonderung so bezeichnen, verlangen die anderen, wie uns scheint
mit Recht, die Ausschleuderung des Samens aus der Pars prostatica
der Urethra, d. h. die Kontraktion der Musculi bulbo- und ischio-
cavernosi.. Durch die glatten Fasern des Vas deferens, der Vesica
seminaria und der Prostata, die sympathischen Nerven unterstellt
sind, wird der Samen zunachst in die Pars prostatica befordert. Nun
setzt die eigentliche Ausschleuderung durch die genannten Muskeln
ein. Ist der Reflexbogen gestort, so fliesst der ergossene Samen nur tro-
pfenweise ab, statt dass er „ausgeschleudert“ wird. Dass es tiberhaupt
zu einer Entleerung desselben kommt, kann man sich wohl einfach
als eine Art des „Ablaufens“ vorstellen. Nattirlich ist in einem sol¬
chen Fall die Potentia generandi nicht aufgehoben, was ein selir
Deutsche Zeilschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 4
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
50
Boeniieim
interessantes Beispiel von L.R. Muller demonstriert, wo der Patient
trotz Ejakulationsstorung noeh zwei Kinder zeugte (Krankenge-
schichte 6).
Der Reflexbogen der Ejakulation wird wohl folgendermaCen aus-
gelost: nach einer Summation der sensiblen Reize, die das Friktions-
gefiibl verursachen, tritt eine Kontraktion der glatten Muskulatur 'der
inneren Qeschlechtsorgane ein. Dadurch wird der sezernierte Samen
in den hinteren Teil der Urethra befordert. Nun kommt es zur Aus¬
losung des spinalen Ejakulationsreflexes.
Mit der Samenentleerung ist ein Gefiihl der Wollust verbunden.
Es erhebt sich nun die Frage, wann und wo dieses Gefiihl ausgelost
wird. Fiirbringer meint, „die Erregung des in der Hirnrinde ge-
legenen Wollustzentrums, welches zugleicb Sitz der Libido ist, durch
die Muskelkontraktionen, welche ibrerseits reflektorisch durch den
Durchtritt von Sperma in die Harnrohre vermittelt werden, muss als
Grundbedingung (des Orgasmus) gelten.“ „Auch Ed. Muller sieht in
einer Unterbrechung des Reflexbogens der Ejakulation, und zwar in
einer peripher gelegenen, die Erklarung fur ein etwaiges Fehlen
des Orgasmus: „Spontane Steifungen des Gliedes mit kraftlosem
Samenabfluss sollen (bei Konuserkrankungen) noch moglich sein. Bei
Unterbrechung der zu- und abfukrenden Impulse, die von den unter-
geordneten syrapathischen Ganglien aus durch den Konus eilen, muss
naturlich bei solchen automatischen Vorgangen jeder Orgasmus fehlen.
Es muss schliesslich bei solchen Konuslasionen nicht nur die psy-
chische, sondern auch die reflektorische, durch Reizung der Genital-
gegend erfolgende Auslosung der Erektion verloren gehen. Den
primaren Einfluss von Sensibilitatsstorungen an den Geni-
talien darf man hierbei nicht unterschatzen 14 . 1 ) Dieser Modus
der Auslosung, der von den meisten Autoren angenommen wird,
wiirde in der Tat, ganz gleich ob man ein Zentrura im Gehirn an-
nimmt oder nicht, die Erscheinungen der Ejakulation erklaren. So
fehlen z. B. bei den nachtlichen Pollutionen die adaquaten sensiblen
Reize. Auch der eigentiimliche Fall, den Orlowski mitteilt, fande
hiermit seine Erklarung. Er beobachtete folgendes: bei einem Manne
kam es zu Kontraktionen der Mm. bulbo- und ischiocavernosi, die
vollkommen denen dieser Muskeln bei Ejakulationen entsprechen.
Dabei fehlte jede Samenabsonderung, wie auch jede geschlechtliche
Empfindung. Fiir die Anschauung, dass der Durchtritt des Samens
durch die Harnrohre den Orgasmus auslost, spricht auch folgender
von Orlowski angestellter Versuch: kokainisiert man den hinteren
1) Nicht von Ed. Muller hervorgehoben.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenzstorung".
51
Abschnitt der Urethra vor dem Koitus, so fehlt jeder Orgasmus. Er
nimmt deshalb an, dass der Orgasmus nur mit der Kontraktion glatter
Fasern zusammenhange. Es setzte dann also der Orgasmus kurze
Zeit vor der eigentlichen Ejakulation ein, eine Auffassung, die man
in den meisten Arbeiten findet. Sicher aber fallt der Hohepunkt mit
der eigentlichen Ejakulation zusammen. Sehr gut im Einklang mit
der angegebenen Theorie lasst sich die Erscheinung des Oberspringens
der Erregung auf das ganze vegeative System auf der Hohe der Er-
regnng bringen; denn die glatten Fasern der genannten Organe
unterstehen ja dem sympathischen System.
'Wichtig erscbeint uns, die Abbangigkeit des Orgasmus und
der Ejakulation voneiaander scharfer zu betonen, als es gewbhn-
lich geschieht. Wenn der sensible Reiz des durch den Ductus eja-
culatorius oder durch die Pars prostatica wandernden Samens ins
Riickenmarksgrau gelangt, so muss hier entweder analog dem ver-
bindenden Ast der Sehnenreflexe ein Uberspringen anf das motorische
Zentrum der Ejakulation stattfinden, oder aber der Reiz muss weiter
zerebral gefiihrt werden und dann ein dort anzunehmendes Ejakula-
tionszentrum erregen, bzw. ein anderes Zentrum, das dann seinerseits
das spinale Zentrum erregt. Wahrend dies nun eine Kontraktion
der Musculi bulbo- und ischiocavernosi herbeifiihrt, erreicht die
Summation der sensiblen Reize ihren Hohepunkt. Dann kommt es
sehr schnell zu einem Abfall. 1st nun die sensible Bahn, die von
den Genitalien zum Ruckenmark fiihrt, unterbrochen, so fehlt das
Friktionsgefiihl und der Orgasmus. Als eine sekundare Scha-
digung ist in solchen Fallen das Ausbleiben der Auslosung der
Ejakulation anzusehen. Orgasmus und Ejakulation sind gleich-
sinnig gestort. Umgekehrt werden wir aber auch in den Kranken-
geschichten, die eine Storung der Ejakulation angeben, eine Storung
des Orgasmus aunehmen. In den genau aufgenommenen Kranken-
geschichten findet sich fast standig bei sensiblen Storungen der
Kohabitation auch motorische-
Nunmehr kbnnen wir den Begriff der „dissoziierten Potenz¬
storung" definieren. Wir verstehen darunter das Fehlen des Or¬
gasmus bei erhaltener Libido und Erektion bei fehlender oder stark
verlangsamter, „tropfender“ Ejakulation. Da nun, wie oben aus-
einandergesetzt, im Konus nur das Ejakulationszentrum liegt, das fur
Erektionen aber hoher, so konnen wir sagen: bei krankhafter
Storung der Ejakulation liegt ein Herd, wenn er iiberhaupt
im Ruckenmark liegt, im Konus. Weiter kbnnen wir aus
der engen Zusammengehorigkeit der Ejakulation und des
Orgasmus folgern, dass auch dieser verandert sein wird,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Boenheim
d. h. dass eine disso%iierte Potenzstorung vorliegt. Wenn
auch theoretisch die Moglichkeit besteht, dass eine Caudaerkrankung
an gewisser Stelle (vgl. Fig. 4, an den bezeicbneten Stellen) die-
selben Erscheinungen macbt, wenn namlich nnr der 2. Sakralnerv
verschont ist, so handelt es sich bier um eine fast ausgescblossene
Moglichkeit. Wir baben in der Literatur aucb nur 2—3 Falle dieser
Art getroffen. Bei a musste die Lasion nnr die zentral gelegenen
Nerven treffen, was wohl bei der engen Nachbar-
schaft ganz ausgeschlossen sein diirfte. Bei einem
Herde bei b dagegen ist die. Wabrscheinlichkeit
grosser, dass wir eine dissoziierte Potenzstorung
anamnestisch feststellen. Allerdings wjrd ancb in
einem solchen Falle die Diagnose leicbter zu stellen
sein. Bei zwei der eben erwahnten Falle, bei denen
es sich um Tumoren bandelte, konnte denn auch schon
bei der Inspektion, bzw. bei der rektalen Unter-
suchung die Diagnose gestellt werden. (Vgl. Kranken-
geschichte 10 und 11.)
Bei der grossen Wichtigkeit, die demnach fur
unsere Betrachtung der Ejakulationsstorung zu-
kommt, woilen wir noch kurz die extramedullaren
Ursachen nennen, unter denen sie ebenfalls auftreten
kann. Die Ejakulation fehlt zunacbst bei erworbenem
oder angeborenem Aspermatismus, ferner wenn Atre-
sien, Strikturen oder Narben die Absonderung des
Samens in die Pars prostatica verhindern, und schliess-
lich bei funktionellen Storungen, die denen der
funktionellen Erektionsimpotenz. an die Seite zu stellen
holder Lendenwir- s j n j < Natiirlich fehlt die Ejakulation auch bei einer
= Kreozbein. Lahmung der Muskeln, sowie bei einer Unterbrechung
des zentripetalen Astes des Reflexbogens. Man sieht
also, dass es in der Kegel nicht schwer sein wird, diese Arten aus-
zuschliessen.
Das Bild der dissoziierten Potenzstorung kann aber auch Vor-
getauscht werden. Wenn namlich bei Sitz eines Herdes im Eonus
und im 2. Sakralsegment, d. h. unter Mitbeteiligung des Erektions-
zentrums, Erektion und Ejakulation zunachst darniederliegen, die
Erektion aber spater iiber dem praformierten sympathischen Reflex-
bogen zustande kommt, so hat man auch das Bild der dissoziierten
Potenzstorung. Daher wird man auch nur dann- bei dissoziierter
Potenzstorung an eine reine Konuserkrankung denken, wenn diese von
Anfang an vorhanden war oder doch wenigstens sehr bald, nachdem
Schomatische
Zeichnung.
L.W.2-6 = Gesamt-
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „di9soziierten Potenzstorung“.
53
eine etwaige Schockwirkung yerschwunden war. Schliesslich kann
eine dissoziierte Potenzstorung yon Anfang an natiirlich auch bei
Erkrankung des untersten Biickenmarks vorkommen, wenn zufallig
das Erektionszentrum yerschont ist.
Bevor wir die Falle mitteilen, sei erwahnt, dass die erste An-
gabe uber Veranderung der Ejaknlation bei erhaltener Erektion yon
Bernhardt gemacht worden ist, dass spater in einer seiner ersten
Arbeiten L. R. Muller kurz die „Dissoziation der Urogenitalfunktion"
nennt und dass Bans Curschmann darauf hinwies, dass es in
charakteristischer Form nur bei KonUserkrankung angetroffen werde,
wahrend Du four zwar schon 1896 das Bild theoretisch in seiner
Pariser Dissertation ausarbeitete, aber noch yon der theoretischen
Moglichkeit, es bei Caudaerkrankungen zu treffen, nicht abstrahierte.
Er schreibt dort namlich: „Quant aux fonctions genitaJes, l’erection
sera conservee, mais l’anesthesie de l’urethre amenera la diminution
de la sensation voluptueuse; l’ejaculation sera lente, ne s’effectuera
que goutte a goutte, par suite de la paralysie du bnlbo caverneux."
Aber auch bei einer Affektion der aus dem Konus austretenden Wur-
zeln habe man dasselbe Bild.
Wir lassen nunmehr einige Ausztige aus Krankengeschichten
folgen, um unsere Behauptung uber das Typische des Symptoms zu
erharten. Wennschon die Zahl der yorliegenden Obduktionsproto-
kolle isolierter Cauda- und Konuserkrankungen nicht sehr gross ist,
so wird die Zahl noch eingeschrankt dadurch, dass wir in yielen
Fallen, besonders in den beriihmten, alteren keine Angaben iiber das
Verhalten der Geschlechtsfunktionen in der Anamnese linden. In
einigen Fallen war es mir nicht moglich, die Originalarbeit ein-
zusehen.
Es seien zunachst einige obduzierte Falle mitgeteilt, von denen
die drei ersten Konusfalle sind.
Fall 1 (Gierlich).
Es bandelt sich um einen Mann, bei dem es nach anfanglicher Harn-
verhaltung und ausgedehnten Sensibilitats- und MotilitatsstOrungen zur
Anasthesie in Reithosenform kam mit Schwund der kleinen Fussmuskeln.
Spater kam es zu Automatismus der Blase und zu Stuhltragheit. Die
Libido und die Erektion waren erhalten bei Fehlen des Orgas-
mus und der Ejakulation. Drei Jahre nach dem Unfall trat der Exi-
tus ein. Die Sektion ergab eine traumatische Myelitis der grauen Sub-
stanz des Konus und des 2. Sakralsegments.
Fall 2 (Ed. Fischer).
Ein Mann fiel im Winter 1912/13 aufs Kreuz. Schon am nachsten
Tage hatte er keine Beschwerden mehr. Im Mai 1913 traten „rheu-
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
54
Boenheim
Digitized by
matische" Beschwerden auf, and seitdem feblt angeblich dieFacul-
tas coeundi. Immerhin erwfthnt die Krankengeschicbte am 11. VIII.,
dass Patient beim Lesen von Unterhaltungslektttre eine mftssige Erektion
gebabt habe. Die Sektion (Prof. Oberndorfer) ergab: „Auf dem Durch-
schnitt durch den Konus dcs RQckenmarks fallt im untersten Teil eine
auffallende Verwaschung der Zeichnung auf... i l 2 cm oberhalb der
Spitze des Konus ist das Rtlckenmark weicher als normal; die Zeichnung
wird hier verwaschen . . . Atherosklerose mit Endarteriitis obliterans,
besonders in den caudalen Teilen des RQckenmarks . . . Aus der mikro-
skopischen Untersuchung ergibt sich das Vorhandensein und die zirkum-
skripte Ausdehnung einer auf Gefassverschluss beruhenden Erweichung des
Conus medullaris. u
Fall 3 (Raymond und Cestan).
Bei einem Maurer, der von einer Hdhe von 10 m herabfiel, bestanden
nur unvollsthndige Erektionen mit langsamer Ejakulation obne
WollustgefQhl. Die spater ausgefllhrte Obduktion ergab ein ge-
sundes RQckenmark mit Ausnahme des Konus bis S 3 inklu-
sive, wo Atrophie vorlag. Nach den Methoden von Pal und Weigert
geferbte Schnitte zeigten, dass S 4 und 5 vollkommen entfarbt waren.
Im Zentrum bemerkt man eine Ependymproliferation. Die intramedull9ren
Gefftsse waren verdickt. Die unteren Sakralwurzeln waren grau, atro-
phisch bei vdlliger Intaktheit der Ubrigen Cauda.
In keinem der flrei Falle fehlte also eine dissoziierte Potenz-
storung, die allerdings im 2. Falle nicht so ausgepragt ist wie in den
beiden anderen. Es hatte, wohl durch Schockwirkung zu erklaren,
die Facultas coeundi gelitten. Aber auch hier kam es noch zu Erek¬
tionen, wie ausdriicklich in der Krankengeschicbte vermerkt ist, so-
gar schon bei Lektiire. Wenn in dem Fall von Gierlich von
Anfang an Erektionsmoglichkeit bestand, so kann man das, wie
schon ausgefuhrt, damit erklaren, dass nicht das ganze Segment S 2
erkrankt ist.
Wir lassen nunmehr einige Obduktionsfalle mit Sitz des Herdes
im untersten Teil des Riickenmarks folgen. Bis auf den letzten Fall
lag iiberall eine Stbrung der Erektion und der Ejakulation vor.
Warum der sympathische Reflexbogen nicht die Funktion der Erek¬
tion ermoglichte, ist nicht anzugeben. Fiir den vorletzten Fall
miissen wir dies annehmen, da hier eine vollige Zertriimmerung des
untersten Riickenmarks vorliegt.
Fall 4 (Zimmer).
Ein 19jabriger Arbeiter fiel beim Erklettern einer Fichte. In der
allerersten Zeit nach dem Unfall will er noch Erektionen und Ejaku-
lationen ,gehabt haben. Jedoch sind seine Angaben darQber unsicher. In
der Klinik sind wenigstens keine mehr beobachtet worden. Die Sektion
ergab eine totale traumatische Erweichung des Konus und der
oberen Sakralsegmentc.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „dissoziierten Potenz9t6rung“. 55
Fall 5 (Oppenheim).
Es bandelt sich am einen Mann, der einen Unfall erlitt. Seitdem ist.
der Penis danernd schlafF, and weder Erektionen noch Ejakula-
tionen findfen statt. Die Obduktion ergab eine sich auf den Sakralteil
beschrankende traumatische Myelitis uud Hamatomyelie. Die Warzeln
sind mitergriffen, aber nnr soweit sie den erkrankten Segmenten ange-
bOren.
Fall 6 (L. R. Mflller).
Es bestand vOllige Incontinentia urinae et alvi, wahrend die Ge- '
schlechtsfunktionen nicht erloschen waren. Patient zeugte nach
seinem Unfall noch 2 Kinder. Die Erektion war die ganze Zeit aber raOg-
lich, jedock war das Glied schlaffer als fraher. In den ersten Jahren nach
dem Unfall soli Patient noch Wollastgefahl beim Koitus gehabt haben,
das aber jetzt schon seit l&ngerer Zeit geschwunden ist. Niemals emp-
findet er den Samenabgang, der nicht ejakuliert wird, sondern nur lang-
sam und tropfenweise abfliesst. Die Sektion, die einige Jahre sp&ter aus-
gefahrt wnrde, ergab einen Bracb des 1. Lendenwirbels mit vollstftndiger
Zertrammerang des Rackenmarks vom 4. Lendensegment bis
zsm 4. Sakralsegment.
Ein interessantes Gegenbeispiel ist ein Fall, in dem es zu nor-
malen Ejakalationen, auch zu Pollutionen kam, wahrend die Erektio¬
nen schwacher warden.
Fall 7 (Andr6-Thomas and Jumentig).
Bei der erwShnten Anamnese der Gescblechtsfunktionen ergab die
Sektion folgendes: vom 4. Lendensegment bis inklasive 3. Sakral¬
segment erstreckte sich eine L&sion, und zwar in den verschiedenen
Segmenten in verschieden grossem Umfang. Der Haaptbefand war aber
ein Tumor in der H5he der unteren Anschwellung des Rackenmarks
zwischen der Cauda equina.
Hier war also im dritten Sakralsegment das Ejakulationszentrum
verschont.
Wie in den Fallen 4 und 5 finden sich auch in den folgenden,
wo es sich um primare oder sekundare Caudaerkrankung handelt,
immer eine gleichsinnige Storung der Erektion und der Ejakulation.
Auf das Besondere der drei letzten Falle gehe ich am Schluss dieses
Abschnittes ein.
Fall 8 (Poth, spftter auch von Jacobsohn verOffentlicht).
Bei einem Patienten fehlten nach einem Unfall die Libido und
die Potenz vOllig. Aus dem Sektionsprotokoll geht hervor, doss ein
Tumor die Caudawurzeln komprimierte.
Fall 9 (L. R. Mailer).
Bei einem Patienten, der keine Erektionen and Ejakalationen
hatte, wnrde inta vitam die Diagnose auf Myelitis im untersten Racken-
marksabschnitt gestellt. Bei der Sektion zeigte aber die mikroskopische
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
50
Boenheim
Digitized by
Untorsuchung, „dass sowohl das obere Sakralmark wie auch der eigent-
liche Conus medullaris vOllig norraale histologische Verhaltnisse darboten . . .
Deutliche und grobe Ver&nderungen-zeigten dagegen die das obere
Sakralmark und den Konus umgebenden Wurzeln der Cauda equina...
Kurz, wir hatten es in diesem Falle mit einer Entzflndung der Cauda
equina-Fasern zu tun,“
Unter den yielen ahnlichen Fallen seien die yon Oppenheim,
Oppenheim und Krause und von Soderbergh und Helling
genannt.
Fall 10 (L. R. Moller).
Ein 20 Jahre alter Gartner bekam plOtzlich reissende Schmerzen im
rechten Bein. Spate? wurde auch das linke Bein ergriffen, und es kam
zu den bekannten Blasen-MastdarmstOrungen. Erektionen waren wie
frtkher erhalten; aber bfei der Ejakulation „kommt dieNatur nur
bis in die HarnrOhre und kann dann nicht heraus". Die Gegend
des Kreuzbeins ist schon gegen leichten Druck empfindlich und ein wenig
vorgewOlbt. Bei der rektalen Untersucbung ftlhlt man einen an-
scheinend mit dem Kreuzbein verwachsenen Tumor, ein Befund, der dnrch
die Sektion bestatigt wird. Die Fasern des Plexus sacralis und die
unteren Fasern der Cauda sind von diesem Tumor vOllig um-
wachsen. Das Rflckcnmark selbst zeigt keinen pathologischen Befund.
Fall 11 (B&lint und Benedict).
Nachdem es bei einem 57jahrigen Hirten zu Schmerzen im Gesass
und RQcken, sowie zu Blasen- und Mastdarmbeschwerden gekommen war,
traten auch Veranderungen in den Geschlechtsfunktionen auf, die vorher
normal waren. Er hatte nur 1—2 mal Erektionen seitdem. Ein vorge-
nommener Koitus Hess Ejakulation und Orgasmus vermissen.
Bei der Inspektion dieses Patienten sah man an drei Stellen des Rllckens
eine Pulsation, die noch deutlicher beim Ffihlen war. Die Probepunktion
ergab reines Blut. Bei der rektalen Untersuchung ftlhlte man
einen allseitig pulsierenden Tumor. Die Darmbeinschaufel war
arrodiert. Es handelte sich um ein Aneurysma der A. hypogastrica
oder eines Astes derselben.
Als dritten Fall dicser Art kOnnte man den vonValentini ansehen.
Auch hier fanden Erektionen statt bei fehlendem Orgasmus. Den
Abgang von Samen bemerkte er nicht, obgleich er stattfand.
Diese drei Falle sind, soweit wir die Literatur uberseben, die
einzigen, bei denen sich eine dissoziierte Potenzstorung bei
kaudaler Erkrankung findet. Nun scheint es mir aber in dem
dritten Fall, der nicht durch die Obduktion gesichert wurde, nicht
klar zu sein, dass es sich dort wirklich um eine kaudale Erkrankung
handelt. Die mitgeteilten Symptome lassen auch eine andere Er-
klarung zu. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass natiirlich
auch eine Moglichkeit besteht, dass bei tiefem kaudalen Sitz der
Symptomenkomplex der dissoziierten Potenzstorung entsteht, und
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die topische Bedeutung der „di8soziierten Potenz8t6rung“.
57
weiter darauf, dass in solchen Fallen die topische Diagnose leicht zu
stellen sein diirfte. In der Tat war in einem der beiden eben mit-
geteilten Falle die Diagnose ja auch scbon durch die lnspektion, das
anderemal durch. die rektale Untersuchung zu stellen. In Anbe-
tracht dessen, dass sonst bei Caudaerkrankungen stets eine Potenz¬
storung vorlag, wird also der Wert der dissoziierten Potenzstorung
als topisches Symptom durch diese beiden Falle nicht gemindert.
Wir lassen nunmehr noch einige nicht obduzierte Falle folgen,
beschranken uns aber auf solche mit Sitz im Konus, bei denen das
Bild der dissoziierten Potenzstorung angegeben ist.
Fall 12 (Bernhardt).
Patient hatte am 10. I. einen Unfall. Die Anamnese ergab, dass er
nach diesem Unfall dann und wann Erektionen hatte, einmal auch
eine Pollution. Die Poteuz war bei erhaltcnem Orgasmus raOglich.
Jedoch waren keine Ejaknlationen, wie wir sie definierten, mOglicb.
Wenn man bedenkt, dass dies der erste Fall dieser Art ist, dass
die Anschauungen iiber die einzelnen Funktionen der Kohabitation
demzufolge noch wenig gesichert waren, dass Bernhardt selbst z. B.
aus dem Umstand, dass die eigentlicbe Ejakulation fehlte, auf eine
Impotentia generandi schliesst, so brauchen wir dem Verhalten des
Orgasmus und der Ejakulation, die hier nicht gleichsinnig gestort
waren, wie wir es erwarten wiirden, keine zu grosse Bedeutung bei-
zulegen.
Fall 13 (Schuster).
Er stelltc einen Patienten nach einem Unfall vor, bei dem er die
Diagnose auf Konuserkrankung stellte. Bei ihm lag ein dissoziiertes
Verhalten der Erektion und der Ejakulation vor.
Fall 14 (Ziegler).
Ein Patient stttrzte am 19. XI. 1890. Schon im Januar hatte er
nachtliche Pollutionen, und im Mai 1891 traten Ofters auch am Tage
Erektionen auf. Den Erektionen folgte sehr rasch der Abgang des
Samens, der ohne Ejakulation unter Schmerzgefftbl mit Urin vermischt
abgesondert wurde. Orgasmus fehlte vollkommen. „Versuchter Koi-
tus misslang wegen ungenttgender Erektion und vorzeitigem Samenabgang."
Ziegler nimmt eine Erkrankung des 3.—5. Sakralsegments an.
Die Angabe, dass der (anscheinend nur einmal versuchte) Koitus
misslang, diirfte ein Zufallsbefund gewesen sein, wohl psychisch be-
dingt. Denn da es zu anderen Zeiten zur Erektion kam, liegt kein
Grand vor, warum die Immisio penis nicht gelingen sollte. Bei dem
Samenabgang fehlte aber jeder Orgasmus!
Fall 15 (v. Frankl-Hochwart und Zuckerkandl).
Sie teilen einen Fall mit, in denen das Krankheitsbild von den be-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
58
Bojesheim
Digitized by
kannten Erscheinungen der StOrungen in der Urogenitalfnnktion beherrscht
wird. Seit Beginn der Erkrankung kommt es b&ufiger als frfiher za Erek-
tionen. Ein Kohabitationsversuch gelang quoad immissionem. Jedoeh
fehlte bei der Ejakulation jeder Orgasmus. Die Autoren nehmen
eine Konuserkraukung an, aber aus gewissen Grttnden, die bier Ober-
gangeu werden kdnnen, eine Mitbeteilignng hoherer Caudawurzeln.
Fall 16 (Hans Curschmann).
Bei einem Patienten mit multipier Sklerose mit Sitz des Herdes
irn Konus fehlte JedeSpur von Orgasmus" bei normaler Libido
und vOllig erhaltener Erektion.
Fall 17 (Biilint und Benedict).
Bei einem 42j4hrigen Landmann kam es im Anschluss an eine Er-
kflltung zu einer Krankheit, zu deren Symptomen Stflrungen der Blase, des
Mastdarms und der Genitalien gehflrten. In den erstcn l x / 2 Jahren seiner
Krankheit Qbte er den Koitus nicht aus. Als er sich dann verheiratete,
konnte er seinen ehelichen Pflichten nicht regelmhssig nachkomraen. Zwar
hatte er Erektionen, auch gelang ihm zuweilen die Immissio penis, doch
fehlten Ejakulationen, wahrend eine Absonderung des Samens statt-
fand. Das Wollustgeffthl fehlte vollkominen. Die Verfasser nehmen
eine Erkrankung des 3.-5. Sakralsegmentes an, auch eineAffek-
tion von S 1, weil die Achillessehnenreflexe fehlen (vgl. Epikrise zu Fall 1).
Da initiate Schmerzen bestanden, glauben sie auch an eine Mitbeteiligung
der Rtlckenmarkshaute, so dass die Diagnose Meningomyelitis sacralis
lautet.
Auf die Krankengeschichten von Bregman, Fischler, Zingerle,
Rabinowitschu. a., die in der uus interessierenden Frage ini grossen
und ganzen dieselben Angaben machen, sei nur hingewiesen.
Wir hoffen gezeigt zu haben, dass man leichter als aus Blasen-
oder Mastdarmstorungen aus Storungen der Genitalfunktionen einen
Schluss auf den Sitz einer Erkrankung ziehen kann, und zwar derart,
dass, wenn von Anfang an eine dissoziierte Potenzstorung vor-
liegt, es sicb um eine Erkrankung des Konus medullaris handelt
oder ganz ausnahmsweise um eine tiefe Caudaerkrankung, die aber
leicbt auszuscbliessen ist. Zu den schon bekannten Dissoziationen,
die man bei Kiickenmarkserkrankungen anzutreffen pflegt, narulich
zur Dissoziation der Sensibilitat und der Reflexe. kommt als dritte
die dissoziierte Potenzstorung. In den Dissoziationen liegt ein Cba-
rakteristikum der Riickenmarkserkrankungen.
Llteratur.
Balint u. Benedict, D. Z. f. N. Bd. 30.
v. Bechterew, Ref. N. Z. 1899.
Derselbe, Die Funktionen d Nervenzentr. 1908.
Bernhardt, B. klin. W. 1888
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
59
Uber die topische Bedeutung der „dis80ziierten Potenzstorung“.
Braun u. Lewandowsky, im Handb. d. Neurol.
Bregman, N. Z. 1897.
Bumke, im Handb. d. Nenrol.
Cassirer, D. Z. f. N. Bd. 30.
Hans Cnrschmann, N. Z. 1908.
D6rr, D. Z. f. N. Bd. 32.
Edinger, Einf. in d. Lehre v. Bau u. d. Verrichtungen d. Nervensyst.
1912.
v. Eiselsberg-Bruns, Beitr. zur klin. Chir. 1916.
Ellis, im Handb. d. Sexualwissenschaflten. 1912.
Ellis u. Moll, im Handb. d. Sexual wissenschaften. 1912.
Ed. Fischer, Dies. Munclien 1914.
Fischler, D. Z. f. N. Bd. 30.
Flatau, im Handb. d. Neurol.
Flatau u. Sterling, D. Z. f. N. Bd. 31.
Frankl-Hochwart u. Zuckerkandl, Die nerv&sen Erkrank. d. Blase.
1898.
For el, Die sexuelle Frage. 8.-9. Aufl. 1909.
Furbringer, Die Stdrnngen d. Geschlechtsfunktion d. Manues. 1895.
Furnrohr, D. Z. f N. Bd. 24.
Gierlich, N. Z. 1914
Henneberg, im Handb. d. Neurol.
Leo Jacobsobn, D. m. W. 1912.
Kocher, Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1896.
v. Kraft-Ebing, Psychopathia sexualis. 11. Aufl. 1901.
Kramer, im Handb. d. Neurol.
Lewandowsky, Handb. d. Neurol.
Malaisd, D. Archiv f. klin. Med. Bd. 80.
Minkowski, D. Z. f. N. Bd. 33.
Minor, Arch. f. Psych, u. Nerv. Bd. 28.
Minor n. Lahr, Handb. d. Neurol.
Ed. Mflller, im Handb. d. inneren Med; v. Mohr u. Stiihelin.
L. R. Mflller, D. Z. f. N. 14, 19, 30.
Derselbe, in Curschmanns Lehrb. d. Nerv. 1909.
L. R. Mflller-Dahl, D. Arch. f. klin. Med. Bd. 107.
Oppenheim, Lehrb. d. Nerv. 1913.
Derselbe, Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 15.
Derselbe, D. Z. f. N. Bd. 52.
Oppenheim*Krause, D. m. W. 1909.
Dies el ben, Grenzgeb. d. Med. n. Chir. Bd. 27.
Orlowski, N. Z. 1909.
Poliman, Arch, intemationale de Physiol. Bd. 6.
Poth, Diss. Leipzig. 1911.
Rabinowitsch, B. klin. W. 1908.
Raymond, Nouvelle Iconogr. de la Salp. 1902. Ref. N. Z. 1903.
Raymond u. Cestan, Gaz. des hdp. Ref. N. Z. 1903.
Rothmann, in Curschmanns Lehrb. d. Nerv. 1909.
Roussy n. Rossi, N. Z. 1909, 1911.
Sahli, Untersuchnngsmethoden. 5. Aufl.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
00 Boenheim, Uber die topisehe Bedeutung der „disaoziierten Potenzstbrung“.
Digitized by
Sarb6, Arch. f. Psych, u. Nerv. Bd. 25.
Schiff, Z. f. klin. Med. Bd. 30.
Schultze, D. m. W. 1912.
Schuster, N. Z. 1908.
SBderberg u. Helling, N. Z. 1912.
v. Strdmpell, Lehrb. d. inneren Med. 1912. 18. Aufl.
Andrd Thomas u. Jumenti£, N. Z. (ref.) 1913.
Valentini, Z. f. klin. Med. Bd. 22.
Vollhard, D. m. W. 1902.
Ziegler, Arch. f. klin. Chir. Bd. 43.
Zimmer, D. Z. f. N. Bd. 33.
Zingerle, Ref. N. Z. 1900.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus dem Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt (aussere Abteilung).
Uber Liquoruntersnchungen und Liquorbehandlungen bei
Syphilitischen.
Vortrag, gehalten in der Gesellschaft fair Natur- und Heilkunde,
Dresden, 3. Februar 1917.
Von
Professor Werther, dirigierendem Arzt.
Allgemeines iiber die Erkrankung des Zentralnervensystems
und deren Verlauf.
Durch die Salvarsanerfahrungen, besonders durch die Neuro-
rezidive, ist die Aufinerksamkeit auf die syphilitiscbe Friihmeningitis
gelenkt worden. Schon E. Lang in seinen Vorlesungen (1896, Me-
ningealirretation) u. a. baben sie gut gekannt. Allgemein beachtet
war sie nicht. Sektionsbefunde im friihen Stadium der Syphilis sind
ausserst selten: sie waren fur die Kenntnis der Friihmeningitis ebenso
-wie der Allgemeindurchseuchung sehr wichtig. Gelegentlich kommt
ein Fall vor: z. B. beschrieb Fahr 1914 einen Fall yon todlicher Me¬
ningitis luica, 9 Wochen nach dem Primaraffekt. Gegeniiber der nicht
selten anzutreffenden Ansicht, dass die Himlues eine Spaterkrankung sei,
sei an Naunyn erinnert, der schon feststellte: die Half'te aller syphiliti¬
schen Erkrankungen am Zentralnervensystem fallt in die ersten 3 Jahre.
Nonne sagt neuerdings: die meisten Falle von Himsyphilis fallen in
das erste Jahr. Auch die Heubnersche Endarterititis kommt in den
ersten 6 Monaten vor; so erlebte Kahler einen Erweichungsherd in
der Briicke, wo die Sklerose noch nicht abgeheilt war. Nach Gowers
fielen von 56 Halbseitenlahmungen in die ersten 2 Jahre!
Neue Einblicke in diese Frage haben die Tierexperimente und
die Lumbalpunktionen geschaffen. Von ersteren meine ich besonders
die von Jakob und Weygandt. Nach ihnen neigt auch die Tier-
syphilis zur Generalisierung des Virus. Das Nervensystem der Tiere
wird haufig und friihzeitig, und zunachst im Sinne einer Meningeal-
affektion, befallen. Die Halfte aller geimpften Tiere hatte patholo-
gische Veranderungen am Zentralnervensystem. Erstens: entziindliche
Infiltrationen in die Pia und in den perineuralen Scheiden der Riicken-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
62
Werther
marksneryen und deren Gefassen, zweitens: Gefassinfiltrationen mit
encephalitischen Prozessen in der Grosshimrinde and Herde im Nerven-
parenchym, drittens: toxische, nicht von Gefasserkrankungen abhangige
Parencbymdegeneration. Diese parenchymato-se Degeneration tritt dem-
nach bei den Tieren friiher auf als beira Menschen, vielleicht weil
der junge Tierkorper auf die Infektion keine ausreichenden reaktiven
Vorgange bildet.
lm wesentlichen sind diese Veranderungen am Zentralnerven-
svstem die gleichen wie beiin Menschen. Die Lues cerebrospinalis
weist folgende anatomische Veranderungen, sei es einzeln oder kom-
biniert, auf: Inhltration in die Meningen, die die benacbbarten Him-
und Riickenmarksnerven und die Rinde in Mitleidenscbaft ziehen,
Herde im Parenchym, Periarteriitis und Endarteriitis, letztere mit Zirku-
lationsstorungen und Erweichung. Bei der Paralyse baben wir neben
der Meningealerkrankung und den von ibr abhangigen entziindlichen
Prozessen in den Gefasscheiden die primare toxische Parencbym¬
degeneration. Die Pradilektionsstelle und Einbruchsstelle der Iufek-
tion ist das Vorderhirn. Bei der Tabes bricht der Prozess am andern
Pol des Zentralnervensystems ein: yon den Meningen auf die hinteren
Wurzeln ubergreifend und zur toxiscben Systementartung fubrend.
Jakob und Weygandt fanden, dass gleicbe Pallidastamme unter
sonst gleichbebandelten Tieren einen Teil nervenkrank machten,.den
andern an den Nerven verschonten, und dass ganz verschiedene Pal-
lidastamme zu gleichen Erkrankungen des Nervensystems fiibrten.
Sie konnten daher keinen Stamm mit besonderer Affinitat fur die
Nerven annehmen (Virus nervosum). Im Gegenteil miissen wir auch
beim Menschen annehmen, dass im friihen Sekundarstadium eine all-
gemeine Spirochatendurchseuchung statttindet und dabei die Meningen
nicht verschont bleiben. Jeder Syphilitische erkrankt zu dieser Zeit
an den Meningen, in vielen Fallen, ohne dass die Erkrankung klinisch
manifest wird.
Diese Tatsache baben die Lumbalpunktionen im Friihstadium ge-
lehrt. Die Erkrankung des Zentralnervensystems verlauft etwa wie
folgt: die Spirochaten gelangen durch die Lymphbahnen in den Dural-
raum. Ich erinnere an die Darstellung der Lymphgefasse durch Baum,
welcher zeigte, dass sie die peripheren Nerven bis in den Meningeal-
sack begleiten. Ehrmann (Wien) wies die Spirochaten zwischen den
Fibrillen der peripheren Nerven und in den Nervenscheiden nach. —
Es besteht eine Analogie zum Lepra- und Lyssaerreger, welche auch
den Nerven folgen. So ist auch erklarlich, dass die Infektion langsam
zum Zentralnervensystem vordringt, dass anderseits^ Infektionen, deren
Pforte an Lippe, Zunge, Gaumen, kurz am Kopf, sitzt, rascher und
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruuterauchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitisehen. $3
starker das Zentralnervensystem befallen als Infektionen mit Genital-
sitz. Die Anwesenheit der Spirochaten im Liquor wurde von Mulzer
nnd Steiner nachgewiesen: in 20 Fallen von Friihsyphilis verimpften
sie den Liquor auf Kanincbenboden und batten drei positive Erfolge.
Bei Neurorezidiven baben Nichols und Hough den Liquor mit posi-
tivem Erfolg ebenso verimpft. Nach Friihwald sind die meisten
positiven Spirochatenbefunde nach dem 3. Monat und iiberhaupt im
ersten Jahre vorhanden.
Die erste Veranderung, die der infektiose Reiz ausiibt, ist eine
Liquorvermehrung, die sich durch Drucksteigerung ausspricht. Die
Organe der Liquorausscheidung sind wohl in erster Linie die Gefasse
des Plexus chorioides. Jedoch ist die Herkunft noch nicht klar: er
ist kein reines Transsudat. Seine Bestandteile gehen nicht denen an-
derer Transsudate parallel. Vielleicht ist der Liquor auch ein Sekret
der Ependymzellen. In pathologischen Fallen, wo die Pia durchlassig
wird, mischen sich Produkte der Gehirnzellen bei.
Allmahlich siedeln'sich die Spirochaten an und wuchem. Die
Gewebe (Hirnhaute und Gefasscheiden) antworten mit Entziindung.
Es kommt zu Eiweissausscheidung in den Liquor. Das Eiweiss stammt
entweder aus dem Blutserum oder aus dem entziindeten Gewebe oder
aus aufgelosten Zellen. Wir unterscheiden zwischen Vermehrung des
Gesamtei weisses und Globulin vermehrung. Die letztere kann ohne die
erstere auftreten. Eine Gesamteiweissvermehrung betrachten wir als
vorhanden, wenn die Nisslsche Methode (Esbachzusatz und Zentri-
fugieren in graduierten Rohrchen) 0,35 "/ 00 und mebr anzeigt. Sie
wird mit dem Alter der Infektion haufiger und hat bei Paralyse die
hocbsten Grade. Wir baben meist das Gesamteiweis nach Brand-
berg bestimmt, welcher unter zunehmender Verdiinnung des Liquor
und Zusatz bestimmter Salpetersauremenge die Verdiinnungsgrenze
zwischen normaler und gesteigerter Eiweissmenge feststellt. Jedoch
haben wir aus Mangel an Salpetersaure 20proz. Sulfosalyzilsaure ge-
nommen. 0,1—0,4 nach Nissl entspricht 1:10—1:40, dariiber hinaus
entscheidet die Verdiinnungsmethode feiner als Nissl. Die Maximal-
werte sind 1:120.
Die Globuline werden mit gesattigter Ammoniumsulfatlosung aus-
gefallt und zwar analog Oswalds Methode zur Bestimmung der Harn-
eiweisskorper (M.M. W. 1904, H. 34). Bei gleichen Teilen von Liquor und
Keagens(Phase I)fallt eine Sumrne von Globulinen aus. Durch die Frak-
tionsreaktionen werden bei 40 Proz. Volumensattigung (0,5 Liquor +
M aq. dest. -}- 0,4 Iteagens) die Pseudoglobuline gefallt, welche nach
Kafka und Eicke bei chronischer Lues cerebrospinalis und Tabes
vorkoramen, mit 33 Proz. die Euglobuline, welche bei Paralyse auf-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
64
Werther
treten, mit 28 Proz. daa Fibrinogen und Fibrinoglobulin, welche bei
akuter und tuberkuldser Meningitis, also auch bei akut auftretenden
Steigerungen der syphilitischen Friihmeningitis (Ijei der sog. Herx-
heimerschen Reaktion) charakteristisch sind und nie bei Paralyse
vorkommen.
Als eine Kolloidreaktion zum Nachweis pathologischen Eiweiss-
gehaltes im Liquor sei die Mastixreaktion nach Emanuel genannt mit
Ubergehung der Goldsolreaktion, die wegen ibrer Unzuverlassigkeit
nicht fiir die Allgemeinheit taugt. Eine Mastixemulsion von bestimmter
Herstellung wird durch eine bestimmte Kochsalzlosung au 9 gefallt.
Normaler Liquor vermag sie vor dieser Fallung zu schiitzen, patho-
logischer Liquor dagegen nicht. Diese Reaktion hat verschiedene Vor-
ziige vor Goldsol und Phase I: sie wird durch kleine Blutbeimengungen
nicht hervorgerufen, was bei Phase I Irrtiimer hervorrufen kann.
Sie tritt friiher auf als Phase I und iiberdauert sie nicht selten. Sie
ist also ein feineres Reagens auf kranken Liquor. Sie ist endlich sehr
gut abzulesen, wahrend eine feine Ringbildung bei der Ammonium-
sulfatreaktion manchem Schwierigkeiten macht. Die Paralyse reagiert
bei dieser Probe am starksten, d. h. mit alien vier von Emanuel
angegebenen Graden.
Der Globulinvermehrung folgt die Zellausscheidung. Der pby-
siologische Grenzwert ist 10 Lymphozyten im Kubikmillimeter. 10—30
ist eine massige, 30—50 eine mittlere Lymphozytose (Pleozytose, wie
Nonne sagt), wie sie im^ Friihstadium haufig ist. Uber 50, bis 400
ausnahmsweise, ist eine starke Lymphozytose, die in den Stadien hoherer
Entwicklung der syphilitischen Entzundung vorkommt. Diese Zellen
stammen entweder von der infiltrativen Meningitis oder von den peri-
arteriitischen Herden ab. Sie konnen natiirlich nur dann im Liquor
auflreten, wenn die Erkrankungsherde nicht abgekapselt, wie z. B.
Infiltrationsherde in der Gehirnsubstanz, sondem so gelegen sind,
dass ihre Produkte abfliessen konnen. Abgekapselte Herde machen
nur Drucksteigerung. Lymphozytose kann ferner nur bei solcben
Erkrankungen des Zentralnervensystems auftreten, welche mit menin-
gealer oder periarteriitischer Infiltration kombiniert sind: Die friiben
paraneuralen Erkrankungen sind es stets, die Endarteriitis (nach Nonne)
und die toxischen Parenchymdegenerationen dagegen nicht stets. Bei
Erkrankungen wie Tabes und Paralyse ist diese Kombination das Be-
stimmende fiir den Liquorbefund: sie scheint bei Paralyse bis zum
Tode immer vorhanden, bei Tabes dagegen nicht immer vorhanden
zu sein. (Tber die Haufigkeit der Lymphozytose macht Nonne (Vor-
lesungen) folgende Angaben: bei Lues cerebrosp. in 76—80 Proz.,
bei Tabe3 und Paralyse in 97 Proz. Im allgemeioen ist sie hoher
Digitized by
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
fiber Liquoruntersuchungen uod Liquorbehandlungen bei Syphilitisehen. 55
bei Tabes und Paralyse als bei Laes cerebrospinalis. Bei Tabes feblt
sie gelegentlich! Bei sekundarer Lues ist sie iu 40 Proz. zu Auden,
nicht selten hochgradig, ebensooft bei abgeheilter Lues, dabei aber
imraer in massigem Grade.
Deuten nun vermehrte Lymphozyten und positive Globulinreaktion
anf einen entzundlichen Prozess bin, so wird die spezifiscb syphili-
tische Erkrankung — von den kliniscben Befunden abgeseben — nur
durch die positive Wassermannreaktion des Liquor bewiesen. Diese
weist Stoffe nach, welche niebt aus dem Blut transsudiert sind, denn
die Wassermannreaktionenim Liquor und im Serum verhalten sicb un-
abhangig voneinander, sondern solche, weicbe aus dem Zentralnerven-
system stammen: es sind die Stoffe, weicbe das Zentralnervfensystem
infolge der vom Syphilisgiffc ausgebenden Keizungen auf sein Gewebe
produziert,Reaktionsstoffe. Vorhaudensein geringer Mengen von Spiroch.
pallida veranlassen nicht die Bildung geniigend vieler Reaktionsstoffe
zur Erzielung einer positiven Reaktion. Diese Definition gibt Neisser
in seinem binterlassenen Bucb fiber die Gescblecbtskrankheiten (1916).
Nach Gennericb (1915) kojnmen die Reagine durch Zerfall der syphi-
fitischen Granulationen, die mit Auflosung der Lymphozyten verbunden
sind, zustande. Bei der Wassermannreaktion im Liquor ist die quanti¬
tative Auswertung nach Hauptmann notig: wir stellen damit die
geringste Dosis Liquor fest, bei der die Wassermannreaktion positiv
ausfallt. Positiv bei 0,2 zeigt die zehnfache Menge von Reaginen an
als + bei 2,0. Dabei entspricht 0,2 der Dosis Serum, die bei der
gewohnlichen Serumreaktion eingestellt wird.
Diese Reaktion auf die Spirochaten tritt sebr langsam auf. Sie
tritt zeitlich erst nach alien anderen Reaktionen im Liquor auf. Bei
den latenten Meningealaffektionen der Friih- und Spatperiode ist sie
nach meinenUntersuchungennurausnahmsweise positiv, bei denaktiven
mit Herdsymptomen in der Frfihzeit bei der Halfte der Falle, im
spaten Stadium etwa in s / 4 aller Falle, bei Tabes in der Halfte, bei
Paralyse in alien Fallen.
. Die Spirochaten geben, wie Gennerich hervorhebt, ihre Endo-
toxine nur sebr trage ab, im Gegensatz zu den pyogenen Krankheits-
erregern: deshalb treten die biologischen Reaktionen auch langsam
ein. Dazu gehoren natfirlich auch die V organge, welche die natfir-
lichen Abwehrmittel des Korpers darstellen. Sie dfirften bei der Be-
trftchtung des Verlaufes der Syphilis und der Liquorinfektion nicht
ausser acht gelassen werden.
Im ersten Jahre der Syphilis haben wir die Frfihmeningitis in
fast alien Fallen. Am anderen Ende der Krankheit haben wir ca.
10 Proz., die der Infektion des Zentralnervensystems erliegen. Die
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. 5
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Wektheh
06
anderen 90 haben sie uberwunden. Dreyfuss stellte 1914 im Friih-
stadiam 80 Proz. Liquorkranke, in spateren Stadien an friiher Infi-
zierten, die keine Symptome von seiten dee Nervensystems batten,
12 Proz. Liquorkranke fest. Diese Zahl stimmt uberein mit der von
Mattauschek und Pilcz an 4000 syphilitisch gewesenen Offizieren
katamnestisch erhobenen: 11 Proz. davon erkrankten an Lues cerebro-
spinabs, Paralyse und Tabes. Diese Zahlen wechseln iibrigens, je
nach Beobachtung und Material: Gennerich (1912) fand statt 11 Proz.
30 Proz.!
Wir seben also, dass nicbt jede Liquorinfektion zur Paralyse
fiihrt. Wir kbnnen aber mit Sicherheit annehmen, dass jede Para¬
lyse sicE schleichend aus der Friihmeningitis entwickelt. Dieser Ent-
wicklungsgang ist jabrelang nur am Lumbalpunktat zu erkennen,
nicbt aus kliniscben Symptomen.
Fur die Ausheilung der anderen Falle kommen die Bebandlung
nnd die Wirkung der Abwebrkrafte in Betracbt. Der giinstige Ein-
fluss der spezifischen Bebandlung auf Lues cerebrospinalis ist bekannt.
Aber er tritt nicbt in alien Fallen ein, und Tabes nnd Paralyse ent-
wickeln sicb haufig trotz energiscber Bebandlung. Auch die Liquor-
veranderungen bei sonst latenten Fallen konnen, wie Gennericb be-
merkt, 6—7 kombinierten Kuren widerstehen.
Wir mtissen zur Erklarung dafiir annebmen erstens, dass in sol-
cben Fallen die Spirochaten an einem Punkt sitzen, der far die in
den Blutstrom zirkulierenden spirochatentotenden Mittel nicbt zugangig
ist, z. B. wenn sie tief im Parenchvm, abseits der Gefasse sitzen, wie
Nogucbi bei Paralyse feststellte, oder dass die Blutgefasse des Plexns
chorioides fiir diese Mittel nicht durchgangig sind. Die Durcblassig-
keit der Blutgefasse ist individuell verscbieden.
Zweitens spielt die Virulenz der Spirocbaten eine Rolle. Gen¬
nericb macbt auf Virulenzunterscbiede aufmerksam, je nacbdem die
Infektion von einem Menscben mit hobem oder niederem Infektions-
alter stammt. Wer sich vor 10 Jabren infiziert bat and dann hei-
ratet, iibertragt auf seine Ebefrau weniger virulente oder durcb Anti-
korper mehr geschwacbte Spirocbaten als der, welcber sich 2 Jahre
vor der Ehe infiziert bat.
Nun kommen aber zweifellos Falle vor, die ohne Bebandlung
ausbeilen und aucb solcbe, die infolge einer ungenvigenden Bebandlung
noch kranker werden.
Hier gibt der dritte Faktor, der den Verlauf beeinflusst, die Er¬
klarung: das sind die durch die Allgemeininfektion angeregten Ab¬
webrkrafte. Die von den Spirocbaten langsam abgegebenen Endo-
toxine regen die Bildung von Antikorpern an. Mit dem Nacblassen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandl ungen bei Syphilitisehen. 67
der Allgemeininfektion lassfc auch dieser Prozess nach. lm infizierten
Korper bleiben Spirochatenreste hier und da zuriick, welche wuchern
und das Bestreben haben, sich von neuem auszubreiten und Riickfalle
zu zeitigen. Treten Riickfalle ein, welche eine zweite oder dritte
Uberschwemmung des Korpers mit Spirochaten, also eine Allgemein-
infektion mit einem universellen Exanthem, zeitigen, so regen sie von
neuem Antikbrperbildung an, Blut und Zellen werden von neuem mit
Spirochatenabwehrkraften ausgestattet.
Die Abwehrkrafte bilden sich sicher individuell in verschiedenem
Grade: im Fotus und Saugling nur gering; daher die ungehemmte
verhangnisvolle Spirochatendurchseuchung bei der kongenitalen Syphilis.
Daher auch die haufige Erkrankung des Zentralnervensystems bei den
jugendlichen Versuchstieren.
Eine Erhohunng der Abwehrkrafte tritt ein, wenn fieberhafte
Erkrankungen interkurrieren: der Praktiker erinnert sich gewiss giin-
stiger Remissionen, die bei Paralytikem unter solchen Umstanden,
z. B. im Anschluss an Influenza, eintreten. Bemerkenswert ist die
Feststellung MattaUscheks, dass unter seinen 4000 Offizieren die-
jenigen keine Erkrankung am Zentralnervensystem erlitten, welche
im Friihstadium eine interkurrierende fieberhafte Krankheit durch-
gemacht hatten. Ferner sah auchNeisser bei seinen Tierversuchen,
dass sich von Tieren, welche eine Infektionskrankheit anderer Art
ausser der Impfsyphilis hatten, keine positiven Oberimpfungen er-
zielen liessen.
Da nun fieberhafte Infektionskrankheiten meistens eine Leuko-
zytose und Lymphozytose des Blutes zeitigen, so kann man in diesen
die Hilfskrafte des Organismus im Kampfe gegen die Spirochaten sehen.
Eine allgemeine Lymphdriisenschwellung im Friihstadium ist daher
prognostisch giinstiger als ihr Fehlen. Ihr folgt durch Ausschwem-
mung eine Blutlymphozytose. Ausserdem werden in den Driisen die
Spirochaten auf ihrer Wanderung vom Infektionsort ins Blut durch Ab-
kapselung gehemmt.
Da in jeder Entziindung mit ihrer kleinzelligen Infiltration und
Leukozyteneinwanderung mit fermentativer Wirkung eine Entgiftungs-
vorrichtung zu sehen ist, so sind auch die Exantheme als solche zu
betrachten. Ein ausgiebiges Exanthem ist deshalb giinstig und ent-
lastet in diesem Sinne die inneren Organe.
Diejenigen Antikorper, welche aus dem Blutkreislauf durch den
Plex. chor. in den Liquor gelangen, sogenannte mobile Anti-
kdrper, konnen hier Spirochaten abtoten, auch ohne Mithilfe einer
Behandlung. Diese Spontanentseuchung findet im Friihstadium gewiss
5 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
68
Werther
haufig statt! In anderen Fallen bleibt die lnfektion in den Meningen
haften and entwickelt sich schleichend weiter!
Auch fur die Immunkorper ist die Durchl&ssigkeit der Gefasse
individuell verschieden, wie Kafka betreffs des hamolytischen Norma’-
ambozeptors gezeigt hat: in dem einen Falle sind ihnen die menin-
gealen Herde leichter zuganglich als in dem anderen. Unter Um-
standen bleiben daber die meningealen Herde virulenter als apdere
Herde!
Aos diesen Betrachtungen, die besonders von Gennerich in
seiner Arbeit: Uber Ursachen yon Tabes und Paralyse ausgesprochen
werden, geht hervor, dass diejenige Syphilis, welche im Friihstadium
mit mehreren Rezidiven und ausgiebiger Allgemeindurchseuchung
einhergeht, quoad prognosin giinstiger ist als eine im Friihstadium
milder verlaufende Syphilis mit wenig Rezidiven, weil erstere den
Organismus zu einer reicheren Antikorperbildung anregt.
Dass eine milde Friihsyphilis gefahrlich fur das Zentralnerven-
system ist, hatte schon Fournier an seinem Material bemerkt.
Gennerich durchdringt das Problem der Tabesentwicklung mit
neuen Gedanken: er weist darauf hin, dass die Pia infolge ihrer Er-
krankung nicht mehr ihre physiologische Funktion erfiille und das
Nervenparenchym vor Auslaugung durch den Liquor schiitze. Sie
wiirde durchlassig, ganz besonders bei Tabes. Die Auslaugung fiihrt
zu Degeneration!
Daraus miissen wir nun fur unser arztliches Handeln die Schliisse
ziehen: im primaren Stadium., bei — W. R., miissen wir Abtotung
der Spirochaten abortiv erzielen! Wo wir das nicht mehr kdnnen,
muss unsere Behandlung intermittierend die Sterilisation zu er-
reichen suchen. Die Salvarsanbehandlung soli die Allgemeindurch-
8euchung im sekundaren Stadium nicht briisk eindammen, weil
dann die Meningealherde das frbergewicht gewinnen und zu Neu-
rorezidiven fiihren, oder aber zu dem jahrelang latent bleibenden,
sog. histologischen Meningorezidiv, aus dem sich aQmahlich die Paralyse
entwickeln kann. Das Salvarsan muss von kleinen zu grossen Dosen
steigen! Die Gesamtdosis muss viel grosser sein, als sie in der Praxis
jetzt iiblich ist (viele Arzte glauben noch, dass eine Dosis geniige!),
und die zweite Salvarsankur muss 6—8 Woehen nach der ersten ein-
setzen, um die genannten Schaden zu verhiiten. Wiederholte un-
geniigende Salvarsankuren konnen ausserdem auch salvarsanfeste
Spirochatenstamme ziichten, wie Ehrlich gefunden hat. Man kann
daher sagen, dass eine ungeniigende Salvarsanbehandlung aus mehreren
Griinden schlechter ist als gar keine. Mit Recht sagt Gennerich:
,,Beiungeniigender oder falschaufgefasster Salvarsanbehandlung kommt
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liqaoruntereuchungen UDd Liquorbehandlnngen bei Syphilitischen. 09
es za Oberhandnehmen der meningealen Krankheitsvorgange and ge-
steigerter Progredienz des Verlaufes der Syphilis." Letzterer Vorgang
ist der, welchen ich friiher bier kurz mit Prakozierung der Lues be-
zeichnet babe.
Um nan aber die Falle beizeiten beranszufinden, welcbe mit
ihrem Zentralnervensystem gefahrdet sind und einer vorbeugenden
Behandlung zuzufubren, gibt es nar einen Weg: das ist die Lumbal-
punktion und Liquoruntersuchung. Die kliniscbe Untersuchung und
die Serum-Wassermannreaktion lassen hier im Stiche! Eine Liquor-
kontrolle am Ende des F riibstadiums, etwa im dritten Infektionsjahre,
ist desbalb bei jedem Syphilitiker dringend zu empfehlen, auch
wenn er gut bebandelt und im Serum Wassermann-negativ ist.
In dieser Aufspiirung der latenten Meningealaffektionen liegt die
nicbt zu unterschatzende Bedeutung der Metbode.
Man wird dies aus den Ergebnissen yon mebreren Hundert yon
Syphilitischen aller Stadien vorgenommenen Punktionen, iiber die icb
kurz berichten will, erst recht erkennen.
Ergebnis unserer Liquoruntersuchungen.
I. Unbehandelte Friihfalle.
Bei 27 unbebandelten Friihfallen mit Lues 1 und 11 yerschiedenen
Infektionsalters standen die pathologiscben Liquorreaktionen in fol-
gender Haufigkeitsreibe:
1. Drucksteigerung: massig 82 Proz. und mittel (150 u. m.)
2. Mastixfallung 52 „
3. Lymphozytose 48 meist massig, 17 Proz.
iiber 50 L.
4. Globulin, Phase I 35 „
5. Eiweissrermehrung 14 „
6. Wassermann-R. im Liqu. 4 „
In den Fallen mit nur einer krankbaften Veranderung war diese
meistens (75 Proz.) die Drucksteigerung. Bei zwei krankbaften Ver-
anderungen waren neben dieser Lymphozytose oder Mastixreaktion
vorhanden. Die Mastixreaktion tritt friiher und im Fruhstadium
haufiger als Phase I auf.
Ein Fall dieser Klasse, bei dem der Liquor in alien Richtungen (ausser
Wassermannreaktion) krauk war, war eine Lippensklerose mitNacken-,
Kopf- und Kreuzschmerzen, Driisen am Ohr und Hinterhaupt, also
ein Fall, bei dem der Weg des Virus von der Infektionspforte nacb
dem Gehirn besonders kurz ist. Ein anderer Fall mit gleichem Li-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
70
\VESTHER
quorbefund war eine in der Ehe angesteckte Ehefraa, bei der an*
geblich das Leiden im Mnnde begonnen batte. Die Sklerose war
nicbt mebr nachweisbar. Sie batte starkes Kopfweb, Leukoderma and
Alopecia, ein Symptom, welches anf Meningealaffektion bindeuten soli
(Gennerich). Ich glaube, dass die Drucksteigernng als erstes Zeicben
der meningealen Reizung zu bewerten ist, wie es auch Fleiscbmann
tat. Auf den Fallen mit Drucksteigerang beraben die hohen Zablen
dieser Rabrik. Es geht daraus herror, dass 82 Proz. der Friihfalle
nachweisbar am Zentralnervensystem krank sind, die Halfte schon mit
den Reaktionen der Entziindang.
Die Autoren haben hierfiir verschiedene Zahlen veroffentlicbt:
Fleischmann 85 Proz., Dreyfuss 80, Altmann 86, Wile und
Stokes 63, Frankel 30 Proz.
Nun mass noch bervorgehoben werden, dass die Panktionen
nur einen Moment aas dem Krankheitsverlauf herausgreifen. Falle,
die mebrmals, etwa mit 14tagigem Intervall, punktiert werden, zei-
gen, wie veranderlich der Liquorbefund ist. Haufig gehen die sub-
jektiven ■ Beschwerden (Kopfschmerz usw.) dem objektiven Befhnde
am Liquor voraus. Solche sind schon krank, obne dass die Reak¬
tionen es anzeigen. Mehrfache Panktionen des einzelnen im Friih-
stadium wiirden also nocb hohere Erkrankungsziffern aufdecken!
Der schon infektiose Liquor (Friihwald) kann histologiscb noch
normal sein! Die Meningitis praeroseolica ist uns dadurch bekannt
geworden, dass sie durch die erste wirksame Quecksilber- oder Sal-
varsandosis eine Prorokation erlitt und sich mit Brecbreiz, Nacken-
steifigkeit, Kernig usw. verriet (siebe spater unter Rerxheimerscher
Reaktion).
II. Bebandelte Friihfalle (16 Falle).
Die Liquorbefunde bei die3en Fallen zeigen, obgleicb schon
spezifische Behandlung stattgefunden hat, eine Znnabme der Ent-
ziindung (Lymphozytose und Globulinreaktion), wabrend die Haufig-
keit der Drucksteigerung etwas zuriickgegangen ist. Die Prozent-
zablen sind etwas hoher, aber die Reihenfolge die gleicbe wie bei den
Unbebandelten.
1. Drucksteigerung iiber 150 75 Proz.
2. Mastix -f- 60 „
3. Lymphozytose (maxim. 104) 50 „
4. Phase I 38 „
5. Eiweissvermehrang 14 „
6. Wassermannreaktion 14 „
(uber 200: 50 Proz.)
meist bis 50 (mittel)
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlungea bei Syphilitischen. 71
Wo nur eine krankhafte Veranderung sich fand, war es Mastix oder
Phase I oder Lymphozytose, wo zwei vorhanden waren, war die
Drucksteigerung die zweite.
Die starksten Veranderungen zeigte Fail S.: 10 Monate post
infect.: Lymphoz. 59, Mastix +, Phase I + , Gesnmteiweiss 1:60,
W.R. in Liqu. + 0,8. Klinisch Kopfschmerz und Gedachtnfc-
schwache.
Ein Fall (Sm.), der vor und nach der 1. Quecksilberkur lumbal-
pnnktiert worden war, zeigte im 2. Punktat Zunahme der Globuline
(erst + bei 50 Proz. A., dann auch bei 40 Proz.) und Verstarkung
der Mastixreaktion (erst I. Grades, dann IV. Grades).
III. Spatsyphilis.
Diese Gruppe umfasst 12 Falle, meist Gummata der Haut, aber
auch 2 Aortenerkrankungen mit einem Infektionsalter iiber 5 Jahre.
Sie waren alle Wassermann-positiv im Serum und — soweit unter-
sucbt — Wassermann negativ im Liquor.
50 Proz. aber hatten -j- Phase I. Also hat bei Lues III die
Halfte der Falle pathologiscben Liquor, eine Zabl, auf die auch
Gennerich kommt. Diese 50 Proz. hatten auch allgemein nervosa
Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Vergesslichkeit oder Verstimmt-
heit, die meist erst durch Befragen festgestellt wurden.
Bei 30 Proz. nur fand sich eine Lymphozytose, und zwar eine
massige. Diese ist also im Vergleich zu den Befunden der ersten
Gruppe im Riickgang und als das veranderlichere Symptom zu he-
trachten, wahrend Phase I sesshafter im Liquor ist.
Aus dem Vergleich mit der folgenden Gruppe werden wir sehen,
dass der Grad und die Haufigkeit der Lymphozytose mit der Aktivitat
des Prozesses parallel gehen. Die Abnahme bei den tertiaren Fallen
im Vergleich zu den Befunden der ersten Gruppe deutet also aut
Riickgang oder Spontanbeilnng der syphilitischen Liquorinfektion.
IV. Lues cerebrospinalis.
Bei den 23 Friihfallen von Lues cerebrospinalis Uberwiegen gegen-
iiber den 14 Spatfallen die meningitischen Formen uber die end-
arteriitischen (14:3), Gehirn- iiber Riickenmarkserkrankungen (17:4).
Bei den Spatfallen (14 Falle) finden wir mehr Endarteriitis als Me¬
ningitis (6:1), Gehirn- und Riickenmarkserkrankungen gleich haufig
( 7 : 7 ).
A. Bei den Friihfallen von Lues cer.-spin. wurde einmal nn-
veranderter Liquor gefunden. Wahrend in einem Falle (meningitische
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
72
Werther
Reizung) mittlerer Drucksteigerung (270 mm) und in einem andern
Falle (Meningitis) Phase I + bei Druck 180 als einzige pathologische
Veranderung festzustellen war, waren in den ubrigen Fallen stets
schwerere krankhafte Reaktionen da. Der Haufigkeit nach steht an
erster Stelle
1. die Lymphozytose: in 81 Proz., moistens (50 Proz.) stark,
maxim. 300.
2. Die Globulinreaktion: Phase I + in 80 Proz. Davon waren
30 Proz. anch bei 40 Proz. Ammoniomsalfat 10 Proz. bei
28 Proz. Die Mastixreaktion war in 60 Proz. positiv.
3. Drucksteigerung in 70 Proz., moistens (50 Proz.) mittel-
stark, d. h. iiber 200. 17 Proz. 300 u. m., maxim. 480.
4. Die Wassermannreaktion im Liquor war in 53 Proz. posi¬
tiv, davon die moisten (37 Proz ) schon bei 0,2.
5. Eiweissvermehrung in 43 Proz. (iiber 0,35 °/ 00 ). Dabei
waren wenig hohe Werte. Die Steigerung und Verminderung
gehen nicht der Globulinreaktion parallel.
Die Wassermannreaktion im Serum war bei den friihen Zentral-
erkrankungen in 53 Proz. negativ. 30 Proz. davon waren sowohl
im Liquor wie im Serum W.R. — negativ; einige davon wurden im
Laufe der Behandlung im Liquor +.
TJnter den zerebrospinalen Friihfallen sind alle Grade dieser viel-
seitigen Erkrankung vorhanden: die histologischen Meningorezidive
ohne klinische Symptome finden sich nicht hierbei. Hier habe ich
die Neurorezidive aufgenommen: ‘diese entstehen durch die un-
gleiche Eindammung der allgemeinen Durchseuchung, indem die
meningealen Herde schwerer von Salv. und Hydr. erreicht werden
als die der Haut und Schleimhaute. Von seiten der restierenden
Herde kommt es infolge des Wucherns der Spirochaten etwa 6 Wo-
chen nach der beendeten ersten Kur, also im Friihstadium, zu einem
Riickfall und Hirnsymptomen. Dass diese Erklarung richtig ist, be-
weisen 1. die erwahnten Uberimpfungen des Liquors, 2. die Reak¬
tionen des Liquors. In 4 solchen Fallen fand ich starke Lympho¬
zytose; in 2 weiteren starke Globulinreaktion. In 2 von diesen 6 -}-
W.R. im Liquor, Druck bis 300 und 350. Auch die sog. Herxheimersche
Reaktion von seiten desZentralnervensystems ist ohne vorherige
Meningeninfektion nicht zu erklaren: In einem Fall sah ich nach der
ersten Hydr.-Injektion eine Fazialislahmung auftreten. Der Kranke,
bei dem die Sklerose noch nicht abgeheilt war, hatte Lymphozytose
22 und W.R. + 0,6 im Liquor. Ein anderer Fall (Kn.) dieser Art
bekam nach der ersten Salvarsaninjektion einen epileptischen Anfall.
Der Liquor hatte 220 Druck und 13 Lymphoz., also geringe Ver-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruntereuchungen und Liquorbehandluugen bei Syphilitiseheu. 73
mehrung. Nach 4 wochentlicher Hydr.-Behandlung wurde er wieder
punktiert: jetzt war die W.R. im Liquor + geworden, und zwar bei 0,4.
Nun folgte eine 4 wochentliehe Salvarsanbehandlung obne jede Reaktion
seitens dea Zentralnervensystems. Die dritte Punktion ergab darauf
—W. R. 3. Beispiel: Die I8j. Fr. wurde mit Papeln, welche seit 3 Woeben
bestehen sollen, und Roseola aufgenommen. TV.R. + +. Patellar-
reflexe geateigert. Kein Kopfweh. Kein Krankheitsgefuhl. Nacb
2 balben Dosen Hg. salicyl. komplette Fazialislamung rechts. Liquor-
befund: Druck 410 mm. Geaamteiweiss 1:30. Globulin: H-.
Mastix H—|—1—h T Lymph. 33, "Wit. —1,0. Darnach kombinierte
Bebandlung. Nacb 5 Wochen ist die Fazialislahmung geheilfc und der
Liquor zeigt sich wie folgt: Druck 310 mm. Geaamteiweiss. 1:30. Glo¬
bulin: -)-, Mastix H-Lymph. 6.
Wir seben daraus, dass weder Quecksilber noch Salvarsan an
sich diese Hirnerkrankungen in Form der Neurorezidive oder Herx-
beimerschen Reaktion macben.
Ausser diesen leichteren Formen der friiben Lues cer. spin, sind
Erkrankungen der basalen Himnerven, Endarteriitis, Halbseiten-
labmung, Myelitis, isolierte Pupillenlahmung in dieser Rubrik auf-
genommen.
B. Aucb bei den 14 Spatfallen von Lues cer.-spin. wurde nor-
maler Liquor nie gefunden. Einmal wurde nur Phase I -f gefunden
(isolierte Pupillenstorung), einmal nur Phase 1 und Eiweissvermehrung
(Erbsche Spinalparalyse). Sonst waren stets mebr krankhafte Reak-
tionen vorhanden.
1. Die Lymphozytose steht aucb hier an erster Stelle in
92 Proz., und zwar bei 42Proz. mit starker Vermehrung, maxim.
477 und 540.
2. Die Drucksteigerung in 91 Proz., meistens (58 Proz.) massig,
d. h. 150—200 mm.
3. Die Globulinreaktion gab in 80 Proz. Phase I +. In 36 Proz.
auch -J- bei 33 Proz. Ammoniumsulfat.
Die Mastixreaktion war in 71 Proz. positiv.
4. Eiweissyermebrung war in 73 Proz. vorbanden. Die Maxima
(1:80) gingen dabei nicht etwa mit starker W.R. (+0,2)
einber, aber sie fanden sich bei den Fallen mit positiver
Euglobulinreaktion. Die Zunahme der Gesamteiweissmenge
nach Haufigkeit und Grad gegen die Friihfalle (43 Proz. :
73 Proz.) ist beachtenswert.
5. Die + Wassermannreaktion im Liquor steht bier an
letzter Stelle der Reihe, aber immerhin absolut nicht in ge-
ringer Zahl. 70 Proz. waren Liq. +, davon 4(1 Proz. bei 0,2.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
74
WfittTHER
Im Serum waren 21 Proz. negativ, im Serum und Liquor gleich-
zeitig 14 Proz.
Aus diesen Resultateu, besouders wenn man sie mit denen bei
Spatlues (111) vergleicht, gebt hervor, dass die Lymphozytose von
dem Friihstadium zum Spatstadium, d. h. ungefahr vora 1. bis zum
5. Jahre nach der Infektion, zunimmt, wenn die Liquorinfektion im
Frilbstadium nicbt zur Ausheilung, sondern zur Lues cer. spin, ftihrt.
Bei den Globulinfallungen treten bei den Friihfallen 10 Proz.
mit deT fur akute Meningitis charakteristischen Fallung hervor,
wabrend bei den spaten Fallen in 36 Proz. die Paralyseglobuline er-
scbeinen. Ein bedeutsamer Hinweis, wobin die Meningitis fiibrt.
V. Paralysis (14 Falle).
1. Die Wassermannreaktion im Liquor war in 100 Proz.
positiv. Davon in 82 Proz. schon bei 0,2.
Auch im Serum war in 100 Proz. + W.R.
2. Von der Globulinreaktion war Phase I in 1O0 Proz. +.
Bei 40 Proz. Volumensattigung fielen 79 Proz.,
,, 33 ,i ,, it 57 ,, aus,
wabrend mit 28 Proz. keine 4* Reacktion zu verzeichnen isr.
Auch die Mastixreaktion war in 100 Proz. positiv, ;n
90 Proz. in alien 4 Graden (nach Emanuel).
3. Die Lymphozytose zeigte Vermebrung in So Proz., in
54 Proz. iiber 50 im Kubikmm. (max. 380).
4. Das Gesamteiweiss war in 83 Proz. vermehrt (iiber 0,35).
in der Halfte (50 Proz.) stark, d. h. fiber 1:50, meist hohe Ei-
weisswerte (1:80—1:120).
5. Der Druck war in 64 Proz. fiber 200 mm: 73 Proz.
Die Paralyse zeicbnet sicb also vor alien Formen der syphiliti-
schen Zentralnervenerkrankungen durcb hobe Grade der Wasser¬
mannreaktion im Liquor aus. Bei ibr reagiert das Parencbym am
scbwersten auf die Spirochaten! Charakteristisch ist, dass aucb
im Serum die Wassermanrreaktion nie negativ aus fallt. Im Ge-
gensatz zu alien frfiheren Rubriken steht hier der starke Ausfall der
Mastixreaktion, was auch Emanuel hervorgehoben hat. Phase I
ist immer positiv, und die Zabl der fur Metalues charakteristi¬
schen Fraktionsreaktionen hat zugenommen. Die Lymphozytose ist
hoch, jedoch in der Haufigkeit etwas zurfickgegangen gegenfiber der
Lues cerebri im Spatstadium. Der entzundliche Prozess ist, wie daraus
zu schliessen ist, nicht in alien Paralysefallen so aktiv wie bei letzto
rer. Vielleicht kommt auch ein Lymphozytenzerfall in dieser Zahl
zum Ausdruck.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Vber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitiachen. 7;,
Das Gesamteiweiss hat in der Mebrzahl der Falle hobe Werte,
was auch Rebmbei P. konstatierte (in 75 Proz. fiber 0,5°/ 00 ). Bei
Betrachtung der Ubersichtstabelle ergibt sicb, dass das Gesamteiweiss
mit dem Alter der syphilitischen entzfindlichen Gehirnerkrankung zu-
nimmt. Da das Eiweiss ausser aus Zellen und entzfindeten Geweben
auch aus den Blutgefassen stammt und das Serumalbumin im Gesamt¬
eiweiss enthalten ist, so konnte man aus den hohen Gesamtwerten
bei der Paralyse auf eine der Paralyse oder aber den Paralytischen
eigne Durchgangigkeit der Blutgefasse schliessen, welche fibrigens
Kafka auch durch den Nachweis des hamolytischen Ambozeptors im
Liquor bewiesen zu haben glaubt.
Alles in allem ist die Paralyse in ihrem Liquorbild als eine Lues
des Zentralneryensystems yon hoher Dauer, aktiver infektioser Ent-
zfindung und schwerer Giftschadigung charakterisiert,
VI. Tabes.
Es wurden 32 Falle untersucht. Der Haufigkeit nach stehen die
krankhaften Reaktionen in folgender Reihe:
1. Globuline: Phase I + in 79 Proz. (bei 40 Proz. -j-: 24 Proz.
der Falle, bei 33 Proz. +: 10 Proz., bei 2S Proz. +:
3 Proz.).
2. Mastixreaktion: 73Proz. positiv (immer stark positiv).
3. Lymphozytose: 72 Proz. (massig 41 Proz.. stark 31 Proz.)
4. Druck war in 29 Proz. schwach, in 32 Proz. mittelstark, d. h.
fiber 200 mm (max. 300).
5. Wassermannreaktion im Liquor: 55 Proz. pos., bei
0,2 + : 23 Proz., erst bei hoheren Dosen 32 Proz.
6. Gesamteiweissvermehrung: 25Proz. yermehrt (18Proz.:
0.35—0,5 °/ 00 , 7 Proz. fiber 0,5 °/ 00 ).
Gharakteristisch ist, dass die Haufigkeit der Ph. 1 und Mastixreak¬
tion die der Lymphozytose bei Tabes tibertrifft, wahrend bei Lues
cerebrospinalis die letztere fiberwog und dass die Zahlen niedriger sind.
Besonders hervorzuheben ist, dass die Wassermannreaktion im Serum
bei 40 Proz. der Tabesfalle negativ war, eine wichtige Feststellung
gegenfiber der unter Arzten noch sehr verbreiteten Uberschatzung der
— W.R. in diagnostischer Beziehung. Man meint leider, wenn ein
Verdacht aufHirnlues oder Tabes vorliegt, dass mit Anstellung der Blut-
untersuchung die Angelegenheit geklart werde. Die im Serum negatiyen
S Falle waren komplette Tabesfalle. 5 yon diesen S waren auch im
Liquor Wassermannreaktion negatiy. Jedoch wiesen sie + Phase I und
Lymphozytose auf. Aber 2 yon ihnen batten ausserdem vollkommen, bez.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
76
W KltTHEIi
fast normalen Liquor. Sie waren nie antisyphilitisch behandelt wor-
den und wussten nichts von Infektion. In diesem Befunde spricht
sich m. E. ein spontaner Ablauf der Infektion aus, d. h. die eignen
Abwehrkrafte und Immunitatsvorgange der Kranken baben sie iiber-
wunden. Die Ausheilung hinterliess die toxische Degeneration der
Hinterstrange. Die beiden Falle sind folgende:
1. Bu., 48jahr. Mann. Im 20. Jahre wurde Tom Vater, welcher
Arzt war, Pupillendifferenz festgestellt. Seit 3 Jahren erscbwertes
Wasserlassen, inkomplette, zuletzt komplette Harnverhaltung. Kommt
deswegen 1915 zum Arzt. Pupillen eng,. iichtstarr, Patellarreflexe
und Bauchdeckenreflexe feblen. An der Fussoble wird spitz und
stumpf verwechselt. Keine Sprachstorung, kein Nystagmus, Angen-
hintergrund normal (Scbanz). Die Diagnose T. d. wird yon Herrn
Kollegen Ganser bestatigt. Liquorbefund: Druck 130, Gesaroteiweiss
1:15, Globoline-, Mastix-, Lymphozyten 5, W.R.
— (1,0). Pandy —.
2. Fall. Lo., 34jahr. Frau. Bis vor 0 Jahren gesnnd. Beginn
damals mit Kriebeln in den Handen. Seit 2 Jahren Schwindel, „durch-
jagende Schmerzen" in den Waden, Gefiihllosigkeit in den Handen.
Geht deshalb zum Nervenarzt, Geheimrat Ganser, der sie zur Liquor-
untersuehung iiberweist. Der Ehemann weiss nichts von Lues, ist
auch W.R. — im Serum. Pupillen gleichweit, reagieren auf Lich-
und Konvergenz. Patellar-, Achillessehnen-, Radiusperiostreflexe fehlen.
Bauchdecken-R. li = re vorhanden. Sensibilitat fiir kalt-warm, spitzt
stumpf an Handen und Fiissen gestort. Gang mit geschlossenen
Augen stark ataktisch. Hande auch ataktiscb. Liquor: Druck 260.
Gesamteiweiss 1:20 (Nissl 0,2), Globulin-, Mastix-, Lymphozyten 12,
W.R. — 1,0: also fast normaler Liquor!
Die imperfektsn Tabesfalle zeigten im allgemeinen dasselbe Liquor-
bild wie die perfekten. Dagegen verhalten sich die Falle von Tabo-
paralyse wie die paralytischen, z. B. folgende 3 Falle:
1. Sto.: Druck 250, Glob, -f-, Ges.E. 0: 3, Mast. + -|-,
Ly 227, Wi ,R. L -f 0,4 iS. -f).
2. He.: Druck 210, Glob. + + -|-, Ges.E. 1:50, Mast. + + -)—,
Ly 23, W.R. L -|- 0,2 (S. 4 ).
3. Je.: Druck 220, Glob. + + -|-, Ges.E. 1 : 80, Mast. + + -f- +,
Ly 50, ^V.R. L -j- 0,2 . -f - }.
Die Befunde bei Tabes und Paralyse sind recht verschieden. Bei
ersterer kommen vollstandig negative Liquorbefunde, bei letzterer nie
dergleichen vor. Bei den negativen Befunden kbnnen eine sehr kleine
Einbruchstelle, eine kleine Spirochatenmenge und glatte Spontau-
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
liber Liquornntersuchungen and Liqaorbehandlungen bei Syphilitischen, 77
heilung der Infektion zusammengekommen sein. Der Grad der toxi- •
scben Parenchymdegeneration braucbt der Virusmasse nicht parallel
za geben. Zu erwahnen ist aucb, dass Nogucbi beim Suchen nach
Spirochaten bei Tabes nur i mal in 12 Fallen mit vieler Miihc Er-
folg batte, wahrend er bei Paralyse in 25 Proz. miibelos massenhafte
Spirochaten fand. Andere Autoren (Jahnel) ebenso. Ausser der
Degeneration findet sicb bei Paralyse stets nocb entziindliche Infil¬
tration. Daher das verschiedene Liquorbild!
Differentialdiagnose.
Die gewonnenen Erfabrungen konnten fur die Differential¬
diagnose in folgenden Punkten benutzt werden:
Da der Liquorbefund bei Paralyse cbarakteristiscber ist als bei
Tabes, konnen wir einen Tabesverdacbt nie dnrch den Liquor-
befund ausscbliessen, dagegen recbt wohl einen Paralyseverdacbt: denn
negative Wassermannreaktion im Liquor, schwa che Grade der Lymph o-
zytose und der Gloublinreaktion sprechen dagegen. Wenn es sich
differentialdiagnostisch um Paralyse oder Lues cerebri handelt,
was baufig vorkommt, wo kliniscb eine Abtrennung nicbt moglich
ist, so spricht eine negative oder geringe (+ bei 1,0) Wassermann-
reaktion gegen die Paralyse.
Ein Eranker (L.) kam mit Tabes und Demenz zur Untersuchung:
er hatte 10 Jahre vorber psycbiscbe Storungen gehabt, anfallsweise
sich bexumgetrieben, alles versetzt, alle Riicksichten vergessen. Sein
liqnorbefund war W.R. — (im Serum + W.R.), Globuline bei
50 Proz. +, Lymphoz. 55. Er war vor der Untersuchung nicht
spezifisch bebandelt. Dieser Befund spricht gegen Dementia paralytica,
es war eine Lues cerebri.
Es ist klar, dass die spezifische Paralyse (neurasthenisches
Vorstadium) von einer Neurasthenie durch den Liqnorbefund richer
zu trennen ist. Denn scbon die beginnende Paralyse bat alle Merk-
male der organischen, infektios entzundlichen Erkrankung'in bohem
Grade.
Alle psychogenen Erkrankungen rind von syphilogenen psychi-
schen Erkrankungen mittels der L. P. zu trennen: besonders die
Hysterie kommt nicht selten in Konkurrenz. Ferner die Sypbilophobie,
besonders bei Leuten, die friiher einen Schanker unbestimmter Art
gehabt baben. Wenn der chronische Aikoholismus im Verbalten
der Pupillen, Reflexe, Augenmuskeln und Sprache Tabes oder Para¬
lyse vortauscht, so gibt die L. P. wertvollen Aufscbluss!
Neurasthenie mit funktionell-spinalen Beschwerden ist in der
Regel von einer beginnenden Tabes zu trennen. Doch ist bei solchcn
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
7S
Werthek
Neurasthenikern, die friiher Syphilis gehabt haben, der einmalige
negative Befond mit Vorsicht aufznnehmen: eine vorhandene Druck-
steigerung kann als Vorlaufer emsterer Erkrankung (Lues cerebri)
betrachtet werden. Eine zweite Punktion nach Monaten ergibt dann
u. U. Phase I oder Phase I und Lymphozvtose, z. B. Fall H. kam im
dritten Infektionsjahre za mir wegen rheumatischen Schmerzen, Krank-
heitsgefiihl und Gedachtnisabnahme. Wassermannreaktion im Serum + !
Der Kranke, von Beruf Brauer, hat friiher sehr viel Bier getrunken.
Die L. P. ergab ausser geringer Drucksteigerung (160) normalen Li*
quor. Keine korperlichen Symptome, welche fur Hirnlues sprachen.
ich sah daher als Ursache seiner Beschwerden den Alkoholismus an.
Unterzog ihn aber vorsichtshalber einer massigen spezifischen Be*
handlung. Nach 1 */ 2 Jahren waren Ohrensausen und rechtsseitige
Ertaubung hinzugetreten, die Patellarreflexe zeigten sich ungleich.
Der Liquor hatte + Phase 1, Lymphoz. 144, Gesamteiweiss 0,4 Proz.
bei — W.R. im Liquor und im Serum!
Mittels der Lymphozytose trennt man im allgemeinen entziind-
liche Hirnerkrankungen von den nicht entzundlichen. Die einfache
Atheromatose und die Tumoren liefern keine Lymphozytose, wie schon
Gerhardt hervorgehoben hat, ebensowenig die spastische Spinal-
paralyse, Syringomyelie, Meningitis serosa aseptica. Mittels der
Lymphozytose unterscheidet sich die Dementia paralytica von der
senilen, arteriosklerotischen, epileptischen und degenerativen Demenz,
wofiir Nissl Beispiele veroffentlicht hat.
Da die Lymphozytose bei der Spathirnlues im Vordergrund steht
als Zeuge des noch nicht zur Ruhe gekommenen Kampfes zwischen
Virus und Abwehrkraften, kann man im allgemeinen das Fehlen
einer solchen differentialdiagnostisch gegen eine aktive Spatlues des
Zentralnervensystems benutzen, wahrend starke Lymphozytose mit
Phase I dafiir spricht. Starke Lymphozytose nennen Nonne u. a. ein
Friihsvmptom der Tabes. Schon Erb (1907) gibt ihr den Ausschlag
flir die Diagnose Tabes, wenn sonst noch Verdacht vorliegt, z. B. Pu-
pillenstarre. Wahrend Pupillenstarre ohne Lymphozytose als nicht
syphilogen in der Regel anzusehen ist.
Eine Ausnahme von der Regel ist das Fehlen von Lymphozytose
bei syphilitischer Endarteriitis, wenn die Produkte solcher Herde nicht
in den Liquor abfliessen konnen. Falle dieser Art erwahnt Drey fuss:
die spezifische Therapie wirkte trotzdem giinstig.
Haufig schwankt die Diagnose zwischen Arteriosklerosis und Lues
cerebri, sei es bei Schwindelanfallen oder Halbseitenlahmung oder
Demenz. Nur die + W. R. im Liquor kann uns hier helfen. Die
— W.R. im Liquor ist in keiner Weise zu verwerten, sie ist, wie wir
Digitized by
Gck igle
Original frorri
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquorimtersuchungen und Liquorbehandluugen bei Syphilitischen. 79
festgestellt habeo, in 50 Proz. der friihen uad 30 Proz. der spaten Falle
von Lues cer. negativ. Das Gesamtbild der Liquorreaktionen bei
Endart. syph. ist uncharakteristisch. Zudem kann Phase I nach ab-
geheilter Syphilis noch bestehen und das Bild verwirren. Leidet der
Kranke infolge von Lues an friihzeitiger Arteriosklerose, so kann sogar
die Wassermannredktion im Serum positiv sein, und die Phase I im
Liquor niitzt uns nichts in differentialdiagnostischer Beziehung. Die
Diagnose beruht dann auf der klinischen Untersuchung und dew
Erfolg der Behandlung.
Z. B. die 69jahr. Sk. litt an Arteriosklerose, Incont. urin. und
postapoplektischer Halbseitenlahmung. W.R. im Serum-, Blut-
druck ISO mm Hg. Liquorbild:
Druck 280, Ges.E. 1:30, (0,3 ° 00 ), Glob. H-, Ly: 3,
W.R. i. L. — (1,0).
Die 60jahr. Sk. ist dement. W.R. im Serum-. Liquorbild:
Druck 240, Ges.E. 1:20, Glob. H-, —Ly 2. W.R. i. L. — (1,0).
Die massige Lymphozytose an sich ist uncharakteristisch:
erstens kann sie eine Restlymphozytose von ausgeheilter Lues sein.
Eine solcfae ist, wie schon Nissl hervorgehoben hat, storend fur die
Diagnose bei alien nichtsyphilogenen, organischen Krankheiten, wie
Tumor, multiple Sklerose, Apoplexia sanguinea. Die massige Lympho¬
zytose kann auch durch andere Infektionskrankheiten.erregt sein: so
kommt sie bei Herpes zoster vor, wie ich selbst mehrmals festgeatellt
habe. Aber auch bei Myalgie (Muskelrheumatismus) soli sie nach
A. Schmidt vorkommen. Femer ist die Punktion an sich imstande,
eine voriibergehende Lymphozytose zu veranlassen.
Eine massige Lymphozytose, kombiniert mit Phase 1, ist, wie
schon oben gesagt, das Signum der latenten syphilitischen Meningitis.
Phase 1 dokumentiert, wie allgemein angenommen wird, Entziindung.
z. B.: ein im Coma epilepticum eingelieferter Kranker hatte Phase I +
bei 180 mm Druck. Es handelte sich um einen friiher schon epilep-
tisch Gewesenen mit frischer Syphilis.
Z. B.: ein Kranker, der Lues verleugnete und wegen Schwindel-
anfallen und Absencen ins Krankenhaus kam, hatte neben Druck
270 mm, Lymphozytose 17, + Phase 1 und + Mastixreaktion. Dies
machte die Diagnose Lues fast sicher! Ein Fall von Schwindel mit
Ohrensausen (isolierte Vestibnlariserkrankung)mu3ste wegenj-f- Phase I,
+ Mastix, Lymphozytose 18 und vermehrtem Gesamteiweiss (0,5 °/ 00 )
als wahrscheinlich nicht arteriosklerotisch, sondern syphilitisch ange-
sehen werden.
Ein Fall mit Retentio urinae ohne sonstige Symptome, bei dem
Wassermannreaktion im Liquor und Serum negativ war, musste wegen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
80
Webther
Lymphozytose 68 and -f- Mastixreaktion (in alien 4 Graden) fur Lues
spinalis angesehen werden.
Nicht selten kommt die multiple Sklerose wegen der Vielgestal-
tigkeit des kliniscben Bildes, besonders da Blasen- und Mastdarm-
storungen und auch Pupillenstorungen bei ihr vorkommen, mit Lues
cerebrospinalis in diagnostische Konkurrenz.
Im allgemeinen sieht man die multiple Sklerose als nicbt infek-
tios an. Aber es ist zweifelhaft, ob mit Recht! Wabrscheinlich geht
dem Degenerationsprozess ein entziindlich-infektidser wie bei Tabes
voran.
Darauf deuten die Befunde von Phase I im Liquor bin, welcbe
Nonne erwahnt. Oppenbeim (Lehrbucb 1913) hat banfig mul¬
tiple Sklerose bei Syphilis geseben. Sie sind nach ibm unabhangig
voneinander. Phase I wiirde in solcben Fallen ein Rest der Syphilis
sein. Gerhardt und Ed. Muller erwahnten auch eine massige Pleo-
zytose in mancben Fallen von multipler Sklerose, die auf eine vorher-
gegangene Meningealaffektion zu bezieben ware.
Einige Falle dieser Art hatte icb zu beobaohten Gelegenheit:
1. Eoe. (39 jahrig) hatte mit 18 Jahren Syphilis, vor 4 Jahren eine
als Paralyse diagnostizierte Erkrankung. 1916 spastiscbe Triplegie,
Dementia, Sprachstorung, Wackeltremor bei intendierten Bewegungen.
Die Diagnose schwankte zwischen multipler Sklerose und Paralyse.
Die —W.R. im Blut und im Serum schlossen letztere aus, wahrend
die + Phase I, + Mastixreaktion bei Lymphozytose 2 nicht gegen
multiple Sklerose sprachen.
2. Ho., 37 Jahre: Epileptische Anfalle, Gedachtnisschwacbe, spa-
stische Lahmungen, Sprachstorung. Beide Optici sind temporal ab-
geblasst. Wegen gekreuzter Lahmung wifd ein Herd im Pons an-
genommen. Der Liquor war normal (auch Phase I negativ, Lympho¬
zytose 2) und die Diagnose multiple Sklerose dadurch bestatigt.
3. Po., 43 Jabre alt. Nach (jjahrigem Kranksein mit Lahmungen
und Remissionen jetzt Triplegie, teils spastisch, teils schlaff. Pupillen
ungleich und lichtstarr. Keine temporale Abblassung. Leichte Sprach¬
storung. Sensibilitatsstorung, Blasenlahmung.
Der Eranke bot das Bild einer kombinierten Hinterstrang* und
Seitenstrangerkrankung. Die Diagnose, zwischen Lues und multipler
Sklerose schwankend, neigte wegen des Liquorbefundes (— W. R.,
+ Phase I, + Mastixreaktion, Lymphozytose 2) zu multipler Skle¬
rose und wurde durch Sektion (Schmorl) bestatigt.
4. B. (Patient des Herrn Oberstabsarzt Dr. B.), Soldat mit spa-
stischer Parese der Beine. Liquor: Phase I sonst normal.
Von vier Fallen multipler Sklerose hatten also zwei + Phase L
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(Tbersicht der prozentualen Haafigkeit der Liqaorreaktionen
Uber Liquorontersuchungen und Liquorbehandlungen bei Syphilitischen. gi
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57.
6
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
82
Werther
In einem weiteren Fall, der fur eine zervikale Form multipier
Sklerose gehalten werden konnte, entschied die + W.R. im Liquor
und Serum fur die Diagnose: Pachymeningitis cerricalis syphilitica.
Intralumbale Behandlung.
Der Wert der Lumbalpunktion fur die Diagnose ist nach alledem
ein beschrankter. Sie soli die klinische (Jntersuchung nicht verdrangen,
soudern nur erganzen. Unbestreitbar aber ist, dass wir nur mit ihrer
Hilfe diejenigen Syphilitiker herausfinden, welche, ohne deutliche
klinische Symptome zu haben, doeh in ihrem zentralen Nervensystem
gefahrdet sind. Das Bestrebeu, diese herauszufinden und mit alien
Mitteln, die wir an der Hand haben, zu entseuchen, bezweckt nichts
geringeres, als Tabes und Paralyse zu verhuten. Die Metalues ent-
wickelt sich aus einer Meningealaffektion. Gehirn und Riickenmark
enthalten dabei noch Spirochaten. Daraus ergibfr sich die Notwendig-
keit, Tabes und Paralyse mit spirochatentotenden Mitteln zu behan-
deln. Neben der Allgemeinbehandlung ist man zur Lokalbehandlung
mittels Salvarsaneinflossungen in den Liquorsack geschritten. Das war
notwendig, weil die Allgemeinkuren leider bisweilen versagten und
die Liquoruntersuchungen uns zeigten, dass die im Blute kreisenden
Stoffe nur ausnahmsweise in den Liquor gelangen. Wie konuten sonst
die Wassermannreakfcionenim Serum undim Liquor sich so yerschieden
verhalten! Jaksch und sein Schuler Rotky haben nie den liber-
gang von Quecksilber oder Jodsalzen in den Liquor nachweisen konnen.
Wenn er stattfindet, so handelt es sich also nur um nicht nachweis-
bare Mengen. Bei zahlreichen Fahndungen auf Jod im kranken Liquor
hat meine Assistentin, Fraulein Dr. Gerson, noch nie einen positiven
Befund gehabt.
Die V T orversuclie fur die intralumbale Behandlung mussten die
unschadliebe, aber wirksame Dosis feststellen. Zu grosse Dosen oder
konzentrierte Lbsungeu machen nach Gennerich Querschnittsmyelitis.
Berger stellte fest, dass Hunde 0,0001 Neosalv. in einer Losung von
1:10000 ohne nachweisbare Veranderung vertragen. Bei 0,0005 traten
kapillare Blutungen auf, 0,001 war todlich. Also nur bei kleinen Dosen
in, diinner Losung blieb das Nervengewebe intakt. Affen bekamen
bei 0,003 Lahmung beider hinteren Extremitaten (Swift und Ellis).
Stiihmer behandelte Miiuse, die mit Naganatrypanosomen infi-
ziert waren, einer cbronischen, der Syphilis analogen Spirochatose, mittels
Salvarsanserums, das er von mit Salvarsan behandelten Kaninchen
gewann. Er wies nach, dass dieses Serum heilende spirillozide Wir-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruntersuchungen und Liquorbehandlnngen bei Syphilitischen. 83
kung auf die mit todlicher Dosis infizierten Manse hat, dass diese
Wirkung darch Inaktivieren des Serums (Oxydation?) gesteigert wird
und dass verschwindend kleine Mengen noch wirksam sein konnen.
1913 machten Swift und Ellis ihre Behandlung des Zentral-
nervensystems mit intralumbaler Einspritzung von Salvarsanserum,
gewonnen von dem zu behandelnden Kranken, bekannt. Es waren
32 Falle. Die Lymphozytose, Globulinrektion und Wa3sermannreak-
tion gingen meist zuriick. 41 Proz. wurden negativ, die andern meist
gemindert, drei blieben unverandert. Eskuchen bestatigte diese Er-
folge und hob hervor, dass auch die klinischen Symptome, z. B. Ataxie,
gebessert wurden. Das Endziel ist, den pathologischen Liquor auf
diesem Wege zur Norm zu bringen. Dieses Bestreben ist gewiss ge-
xechtfertigt, wenn die gewohnliche Behandlung nicht zumZiel gefuhrt
hat. Bei der Metalues ist leider einzuwenden, dass erstens die Be-
riicksichtigung des Allgemeinbefundes zeitweise eine eingreifende anti-
syphilitische Behandlung verbietet (Alter macht auf die mangelhafte
Entgiffcung bei Paralytikern aufmerksam) und zweitens, dass man
nicht weiss, ob die Degeneration trotz normalen Liquors noch fort-
schreitet, drittens, dass die abgeschwachten Reaktionen wieder riick-
fallig werden konnen.
Aber im friihen Stadium ist eine intensive Thefapie auch lokal
indiziert. Gennerichs Feststellungen uber unsere bisherigen Erfolge
gegeniiber der latenten Friihmeningitis sind sehr zu beachten. Bei
anderwarts vorbehandelten und von ihm wegen Rezidives untersuchten
Fallen fand er, dass von den kombiniert Vorbehandelten noch 63 Proz.
kranken Liquor hatten, von den mit Quecksilber Vorbehandelten und
darauf kombiniert Behandelten 37 Proz., von im Anfangsstadium Un-
behandelten und dann kombiniert Behandelten 25 Proz.!
Diese Zahlen sind niederschmetternd.
Gennerich empfahl die lokale Behandlung mit in Liquor ge-
lostem Salvarsannatrium, beginnend mit der Dosis Vs m fi> &uf 30
Liquor. Er behauptet mit seiner Methode, zu der eine planmaBige
Nachuntersuchung des Liquors gehort, in 95 Proz. komplette Lues-
sterilisation erreicht zu haben. Auf seine Technik und VorsichtsmalS-
regeln will ich hier nicht eingehen.
Ich selbst habe uber 15 Falle mit 59 Behandlungen nach Swift
und Ellis und 12 Falle mit 51 Behandlungen nach Gennerich, in
Summa 27 Falle mit 110 Behandlungen, zu berichten. Die hochste
Zahl der Behandlungen fur einen Fall betrug 7. Bei diesen 27 Fallen,
die ich nicht alle, so lange als es wiinschenswert gewesen ware, be-
handeln konnte, habe ich nur viermal (3 Tabesfalle, 1 Paralyse) keine
Veranderung des Liquors gesehen, wahrend in alien anderen Fallen alle
6 *
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
84
W ESTHER
Beaktionen gemildert oder auch zur Norm gebracht warden. Der
Paralysefall hat trotz der bestandigen Liqnorreaktionen sich aus einem
amenten Zustande in einen erwerbsfahigen Menschen verwandelt. Die
Remission halt schon 2 Jahre an. Besserung der Ataxie wurde wieder-
holt beobachtet. Am ersten Tage nach der Behandlung traten Reiz-
symptome (lanzinierende Schmerzen) haufig auf. In 2 Fallen war eine
voriibergehende Provokation der Lymph ozytose, in 8 Fallen der Glo-
bnlinreaktion im Sinne einer akuten meningealen Reizung (mit Falkm g
bei 28 Proz. Ammoniumsulf. und mit der Goldsolreaktion) nachweis-
bar: haufiger nach der Sernmbehandlung (6 unter 15 Fallen) als bei
der Losung in Liquor (2:12). In 2 Fallen erlebte ich eine ernstere
Provokation: der erste (Patient N. mit Tab. dors, und Lues cerebri)
bekam einige Tage nach der ersten Einspritzung Ton 0,22 mg auf
einem — iibrigens vorzeitigen Spaziergang — einen pseudoparalyti-
schen AnfalL Bei der nachsten Punktion waren: Globuline, Gesamt-
eiweiss und Lymphozytose verstarkt. lm Laufe der weiteren Behand-
lung mit in Summa 7 intralumbalen Einfiossungen trat kein neuer Anfall
auf, die Reaktionen gingen zuriick. Der zweite Fall (Patient K. mit
Tabes) hatte eine erste Serie von 6 Salvarsanseruminjektionen erhalten
und wahrend dieser eine Yoriibergehende Verstarkung yon Gesamt*
eiweiss, Globulin und Wassermannreaktion gezeigt. Bei Beginn einer
zweiten Kur, ein Halbjahr spater, erhielt er 0,4 Altsalvarsan (in der
Regel habe ich Neosalvarsan benutzt) intravenos und nachfolgend eine
Serumeinspritzung. Am Tage darauf bemerkte er am 4. und 5. Finger
rechts einen Ausfall fur taktile Reize und fiinf Tage spater konnte er
die gespreizten 4. und 5. Finger nicht adduzieren, also eine partielle
Ulnarisparese. Es sind ihr Atrophie und Entartungsreaktion in den
klginen Handmuskeln gefolgt.
Diese beiden Provokationen von Krankheitssymptomen bei Tabes-
kranken fordern zu noch kleineren Anfangsdosen, als ich sie ge-
braucht habe und Gennerich angibt, auf. Man muss nicht vergessen,
dass verschwindend kleine Dosen schon heilsam wirken konnen. Bei
der Ausfiihrung ist zur Vermeidung von Dosisiiberschreitungen eine
feine Pipette, welche 0,1 ccm in 100 Teile zu zerlegen gestattet, zu
verwenden.
lm ganzen bin ich nach meinen Erfahrungen an 110 Behand-
lungen von der Berechtigung und Unschadlichkeit der Methode iiber*
zeugt. Ihr Hauptgebiet ist aber nicht Tabes und Paralyse, sondern
die Friihsyphilis der Meningen. In der Praxis ist sie leider nicht durch-
fuhrbar, im Krankenhaus auch nur bescbrankt.
Hoffentlich wird die fortschreitende Aufklarung auch das Kranken-
Digitized by
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Liquoruntersuchubgen und Liqaorbehandlungen bei Syphilitischen. $5
hauspublikum mehr und mehr von der Wichtigkeit der Liquorpriifungen
und Liquorbehandluugen iiberzeugen.
Literatnr.
Alter, Toxizitat des Salvarsan. M. m. W. 1914, Nr. 14.
Berger, Neosalvarsan u. Zentralnervensystem. Z. f. gee. Neurol, u. Psych.
1914, 23. Bd., S. 344
Bruhns, Heranziehung d. L. P. uaw. f. d. Behaudluug der SpatsyphiliB.
S.-A. 1910.
Curechmann, Uber atyp. mult. Sklerose u. luetische Spinalleiden bei
Heeresangehdrigen. M. m. W. 1915, S. 1061.
Dreyfuss, Method, der Liquoruntersuchungen. M. m. W. 1912,8.2567.
Derselbe, Lumbalpunktion. M. m. W. 1914, S.-A.
Derselbe, Salvars. bei Nervensyph. u. Tabes. M. m. W. 1913, a-A.
Dreyfuss u. Altmaun, Salv. u.’ Liquor cerebrospin. bei FrOhsyph.
M. m. W. 1913. Nr. 9. 10.
Eicke, Sero- u. Liquordiagnostik bei Syph. Derm. Zeitschr. 1914, 8. 911.
Emanuel, Neue Reaktion z. Untersuchung des Liqu. cerebrospin. Berl.
klin. W. . 1915, Nr. 30.
Eskuchen, Behandlung der Syph. des Zentralnervensystems nach Swift
u. Ellis. M. m. W. 1914, S. 747.
Fruhwald u. Zaloziecki, Infektiositat des Liquor bei Syphilis. BerL
klin. W. 1916, 1.
Gerhardt, Diagn. u. therap. Bedeutung der Lumbalpunktiou. M. a. d.
Grenzgebieten d. M. u. Ch. 13. Bd.
Gennerich, Lokalbehandlg. der mening. Syph. M. m. W. 1915, Nr. 49.
Derselbe, Ursachen von Tabes u. Paralyse. Derm. Zeitschr. 1915, Dez.
Derselbe, Behandlungsfrage der frischen Luesstadien. M. m. W. 1916,
S. 1269; Derm. Zeitschr. 1915, Nr. 12.
Hauptmann, Auswertung des Liquors. D. Z. f. Nervenheilkde. 1911,
Bd. 42.
Kafka, Liquordiagnose. M. m. W. 1915, Nr. 4.
Derselbe, Uber die Bedeutg. der Goldsolreaktion in der SpinalflQssig-
keit usw. Derm. W. 1914, Erg.-H.
Lange u. Wechselmann, Goldsolreaktion. Berl. klin. W. 1912.
Lange, Ausflockung von Goldsol durch Liq. cerebrospin. Berl. klin. W.
1912, Nr. 19.
NeisBer, Wann soil die Spinalpnnktion bei negativer W.R. im Blut er-
ganzeud hinzutreten? Berl. klin. W. 1915, S. 486.
Nonne, Die vier Reaktionen. D. Z. f. Nervenheilkde. 1911, Bd. 42.
Derselbe, Syphilogene Nervonkrankheiten, z. Problem d. Therap. Forth.
Vortr. 1915. M. m. W. S. 259. 297.
Nissl, Bedeutg. d. Lumbalpunktion f. d. Psychiatrie. Ztrbl. f. Nerven¬
heilkde. 1904.
Noguchi, Nachw. der Spir. p. bei Tab. u. Paralyse. M. m. W. 1913,
Nr. 14.
Payr, Meningitis seroBa. Med. Klin. 1916, 32. 33.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
86 Werther, Uber Liquoruntersuchuugen usw\
Pilcz, Fortschr. a. d. Geb. d. Lehre v. d. progr. Paral. Med. Klin. 1914,
Nr. 19.
Host, Liquornntersuchungen bei Syph. Derm. Z. 1916, H. 3.
Rotky, Durchlassigkeit der Meningen fur chemische Stoffe. Z. f. klin.
Med. 1912, S. 494.
Schmidt, Muskelrheumatismus (Myalgie). M. m. W. 1916, Nr. 17.
StGhmer, Salvarsanserum. M. m. W. 1914, S. 746. 1101.
Swift u. Ellis, Kombinierte lokale u. allgemeine Behandlung der Syph.
des Zentralnervensystems. M. m. W. 1913, Nr. 36. 37.
Tilmann, L — P z. Erkennung der Spatfolgen von Schadelschussen.
D. m. W. 1916, Nr. 12.
Wechselmann u. Dinkelacker, Beziehungen d. allg. nerv. Symptome
im Frflhstadium der Syph. z. d. Befunden dee Lumbalpunktates. M. m. W.
1914, S. 1392.
Weygandt u. Jakob, Warum werden Syphilitiker nervenkrank? Derm.
Wocb. 1914, Erg.-Nr.
Weygandt, Mitteilungen ub. eVp. Syph. des Nervensystems. M. m. W.
1913, S. 2037.
Wile u. Stokes, Liquoruntersuchung in bezug auf Beteiligung des
Nervensystems bei der sckundaren Syphilis. Derm. Woch. 1914.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(Aus der medizinischen Klinik der Universitat Leipzig.
Direktor: Geh.-Rat y. Strfimpell.)
Znr Kenntnis und Atiologie der nnter dem Bild eines
Tumors yerlanfenden Erkrankungen der Cauda equina.
Von
Dr. Richard Stephan,
Assistant der Klinik.
Nachdem H. Schlesinger') zuerst auf den umschriebenen Hy¬
drops der Riickenmarkshaute hingewiesen und Bruns 2 ) dessen Be-
deutung fur die Kenntnis der Differentialdiagnose gegeniiber dem
Tumor medullae spinalis betont batte, haben wir in einer sebr um-
fangreicben kasuistiscben Literatur Erfabrungen fiber diesen in der
Regel einen Tumor vortauschenden Prozess macben konnen. Die
relative Haufigkeit dieser Zustande, die gewohnlich unter dem atio-
logiscb indifferenten Namen der Meningitis spinalis serosa circum¬
scripta zusammengefasst werden, erhellt aus der Zusammenstellung
Krauses 3 ), der unter 45 Fallen, bei denen wegen Tumorverdacht der
Wirbelkanal operativ eroffnet wurde, llmal den umschriebenen
Hydrops der weicben Haute an Stelle der vermuteten Geschwulst
vorfand.
Als Ursacbe der lokalisierten Liquorstauung erwabnt Krause
Pachymeningitis externa, Tuberkulose der Wirbel, extradurale Exo-
stosen der Wirbelkorper, intradurale Entzfindungsprozesse und intra-
durale Geschwfilste, die aber in diagnostischer Hinsicht von den
Symptomen der Liquorstauung verdeckt werden. Zwei in Bezug auf
die Patbogenese ungeklarte, durcb Biopsie festgestellte Falle von um-
scbriebenem Hydrops werden von Krause als „Arachnitis fibrosa mit
Liquorstauung 1 ' bezeicbnet. Wir sind fiber ahnliche Prozesse an den
weichen Hauten des Gehiras durcb Oppenheim und Krause 4 )
unterrichtet worden und kennen das Krankheitsbild insbesondere aucb
1) Beitrage zur Kenntnis der Buckenmarkstumoren. Jena 1898.
2) Neurologisches Zentralblatt. 1907.
3) Chirurgie des Gehirns und Bdckenmarks. 1911. Bd. 2.
4) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin u. Chirurgie. Bd. 27.
Heft 3.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Stzphan
SS
durch Nonne J ), der es bekanntlich als Pseudotumor cerebri bezeicbnet
bat. Schliesslicb aber haben die Beobachtungen Oppenheims 1 2 ), die
aus den letzten Jahren datieren, sebr viel klarer sehen lassen. Oppen-
heim hat iiber derartige Befunde am Riickenmark ausfiihrlich be-
ricbtet und als erster auf die Haufigkeit chronisch-entziindhcher Pro-
zesse im Conus-Caudagebiet hingewiesen. Wir verdanken ihm die
ersten pathologisch-anatomiscben Untersuchungen, die den Krankheits-
prozess als Meningomyelitis spinalis chronica fibrosa charak-
terisieren und die auch die Pathogenese der bislang atiologisch dunklen
Erkrankungen zum Teil wenigstens zu klaren berufen sind. Eurz
zusammengefasst ergeben die Beobachtungen Oppenheims, dass am
Ruckenmark — in erster Linie im Conus-Caudagebiet — Krankheits-
zustande vorkommen, die sich symptomatologisch vorlaufig nicht yon
den Geschwiilsten dieses Gebietes differenzieren lassen und denen
pathologisch-anatomisch chronisch-entziindliche Prozesse des Conus,
der Cauda equina und der regionaren Partien der weichen Haute zu-
grunde liegen. Mit Bestimmtheit wurde in zwei Fallen ein Trauma,
in anderen Beobachtungen yermutungsweise Lues und Gicht als atio-
logischer Faktor erkannt. Ganz neuerdings hat Nonne 3 ) unsere
Kenntnis yon den Erkrankungen der Cauda equina erweitert durch
einen hoohst bemerkenswerten Fall mit negatiyem anatomischen Be-
fund. In Bezug auf die literarische Entwicklung der ganzen Frage
sei auf Nonnes ausfuhrliche Literaturubersicht hingewiesen; ich werde
spater auf Literaturangaben nur zunickkommen, soweit sie fur meine
eigene Beohachtung yon Bedeutung sind.
Der yon uns beobachtete Fall schliesst sich eng an die Veroffent-
lichungen Oppenheims an. Die Symptomatologie hatte zu der
Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Tumor caudae equinae gefuhrt. Der
Befund bei der Operation wies jedoch den Prozess zu der yon Oppen-
heim beschriebenen Krankheitsgruppe. Die symptomatologischen
Besonderheiten, vor allem aber die atiologischen Beobachtungen er-
scheinen uns yon besonderem Interesse und rechtfertigen die ausfuhr¬
liche Veroffentlichung.
Krankengeschichte:
Sch., Otto, 50 J., Handschuhschneider aus L., aufgenommen auf die
innere Station am 5. Mai 1913.
Anamnese: Der intelligente, lebhaft interessierte Patient gibt an,
1) Zeitschr, f. d. ges. Neurologie. Bd. 5. 1911 u. Monatsschr. f. Psych,
u. Neurologie. Bd. 33. 1913.
2) Neue deutsche Chirurgie. Bd. 12. Teil 2.
3) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1917.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zar Kenntnis and Atiologie der outer dem Bild eines Tumors usw. 89
aas ganz gesander Familie zu stammen. Ein Brader sei im spft-
teren Lebensalter an Lnngenschwindsacht erkrankt. Die Eltern and die
flbrigcn Geschwister waren stets gesund. In der Familie aach ins-
. beeondere keine Nervenleiden and keine Gicht.
Der Patient selbst ist frfiher immer ganz gesund gewesen. Als Kind
von 2 Jahren soil er nach Aussage seiner Matter ffir mehrere Wochen
blind gewesen sein. Etwas Naheres liess sich darOber nicht in Erfahrung
bringen. Er ist niemals gestQrzt, hat nie an Gelenkrheamatls-
mas Oder Gicht gelitten and vermng sich ftberhaapt aaf eine nennens-
werte Erkrankung nicht za entsinnen.
Er ist verheiratet, hat mehrere gesande Kinder. Frau and alle Kinder
leben. Keine Fehlgebarten der Fran. Er hat stets nur sehr massig ge-
trunken and wenig geraucht.
Geschlechtskrankheiten negiert.
Ungefahr November oder Dezember 1912 — also ca. 6 Mo-
nate vor der Krankenhansaufnahme — bemerkte er erstmals „Reissen“
im linken Oberschenkel and im linken Gesass, das bald heftiger,
bald weniger heftig war und zunachst „vom Wetter abhangig" za sein
schien. Im ROcken hat er niemals Schmerzen verspOrt. Das Ziehen
and Reissen im linken Oberschenkel war haaptsachlich auf der RQckseite
and zog sich bisweilen bis zur Kniekehle nach abwarts. Ganz frei ist er
seit Einsetzen der ersten Beschwerden nie mehr gewesen. In Blase and
Penis ist der Schmerz nie aasgestrahlt.
Im Janaar 1913 ungefahr trat ein bohrender, ziehender Schmerz aach
aaf der Oberflache des linken Fusses aaf. Erst im Beginn des Marz
1918 fOhlte er ganz ahnlich lokalisierte Schmerzen aach im rechten Ober¬
schenkel, hier bisweilen anfallsweise auftretend and oft mehrere Tage aus-
setzend.
Bis Ende Marz konnte der Patient noch leidlich, wenn aach hampelnd,
gehen; seit dieser Zeit aber zog sich innerhalb von wenigen Tagen das
linke Bein krumm, ohne dass er dagegen durch gewaltsame tJbungen and
passive Strecknngen angehen konnte. Seit ungefahr 8 Wochen ist der-
selbe Znstand auch im rechten Bein eingetreten, so dass er jetzt dauernd
ans Bett gebunden ist. Die Schmerzen bestehen unverandert weiter.
Wahrend der ganzen Erkrankungszeit war das Allgemeinbefinden un-
gestOrt. Er hat niemals Fieber gehabt und sich stets „ganz wohl“ gefQhlt.
Im Leib, im RQcken and in der oberen Extremitat bat er nie Schmerzen
gehabt. Verdauung normal. Niemals Tenesmcn, niemals Blasenbeschwerden.
An Gewicht hat er nicbts verloren.
Aach aaf eindringliches Befragen negiert er jede Betei-
ligang der Blase and des Mastdarms wahrend der ganzen Er-
kranknngszeit. Die sexuellen Fnnktionen sind ebenfalls intakt ge-
blieben: Libido, Erectio and Ejaculatio wie frOher.
Status bei der Aafnahme (5. V. 1913):
Sch. ist mittelgross, in gntem Ernabrungszustand. Er ist geistig ab-
solat angestOrt, von gutem ErinnerungsvermOgen und lebhafter Anfmerk-
samkeit in Bezug auf die Entwicklung seines Leidens. Er ist fieberfrei.
Er liegt in linker Seitenlage mit im Knie ungefahr recht-
winklig gebeugten Beinen and vermag sich ohne Hilfe im Bett
Digitized by
Gck tgle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
90
Stephan
Digitized by
rasch aufzurichten. Die Bauchdeckenmuskulatur spannt sich dabei
kr&ftig an.
Am Schadeldach keine Besonderheiten.
Beide Pupillen eng, rand, auf Licht und Konvergenz prompt rea-
gierend.
Im Gebiet der Hirnnervon keine StOrung.
Sehulter* und Armmuskulatur beiderseits dttrftig entwickelt,
schlaff. Besonders auffallend ist die Atrophie der kleinen Hand-
mask eln. Aktive und passive Bewegungen in den Sehulter-, Arm- und
Handmuskeln in normaler Weise und ohne Seitendifferenz ausffihrbar. In
den Unterarmmuskeln werden vereiirzelte fibriliare Zuckungen
wahrgenommen (auch bei spateren Untersuchungen Of ter beobacktet).
Periost- und Sehnenreflexe an den obecen Extremitaten lebhaft.
Rumpfmuskulatur krttftig, gut innerviert.
Bauchdecken- und Kremasterreflexe sehr lebhaft.
Die Muskulatur der uuteren Extremitaten relativ noch scklaffer
und dttrftiger als die der oberen. UmfangsmaBe zwischen rechts und
links an korrespondierenden Stellen gleichmOssig. Fibrillare Zuckungen
in der Muskulatur niemals wahrnehmbar.
Wirbelsdule verlauft gerade. Wirbel nirgends klopf- oder druck-
empfindlich. Keine Schalldampfung fiber der Lendenwirbelsaule. Die Pro¬
cessus spinosi II und 111 der Lendenwirbelsaule springen etwas starker
vor als die Qbrigen. Kein Staucliungsschmerz der Wirbelsaule.
Hoden und Penis o. B. Lebhafte Hodensensibilitfit. Anal-
reflex reckts = links, beiderseits sehr lebhaft. Guter Tonus des
Sphincter ani externus.
Das rechte Be in kann im Hflftgelenk aktiv und pnssiv ausgiebig
und in normaler Starke gebeugt und gestreckt werden. Ebenso ist die
Abduktion, Adduktion und Rotation ohne StOrung. Im Kniegelenk ist
aktive und passive Beugung und Streckung mOglich. Die Beugung ist
maximal ausffibrbar; die Streckung hingegen ist durch die Kon-
traktur in den Beugern nur etwa bis zu einem nach hinten
offenen Winkel von ca. 120°m5glich. Die Sebncn der Oberschenkel-
beuger spannen sich bei passiver Bewegung im Kniegelenk stark an.
Plantar- und Dorsalflexion des Fusses und der Zehen in
normaler Weise und Starke ausfflhrbar.
Am linken Bein finden sich im Hfiftgelenk in Bezug auf passive
und aktive Beweglichkeit dieselben Verhfiltnisse wie am rechten. ImVer-
lauf des Ischiadicus keine Druckpunkte.
Im Kniegelenk kann das linke Bein aktiv gut gebeugt und etwa
bis zu 90° gestrekt werdeu. Eine weitere Streckung istwegender
Kontraktur der Beuger nicht mOglich.
Der linke Fuss und die linken Zehen sind plantarflektiert
und kOnnen aktiv nicht dorsalflektiert werden. Die passive Dor-
salflexion dagegen ist gut ausfQhrbar. Der innere Fussrand kann
aktiv nicht gehoben werden.
Der ganze linke Fuss erscheint dicker als der rechte; die Haut ist
fiberall etwas gerOtet, wie gequollen, aber nicht OdematOs!
Die Gelenke der unteren Extremitat, wie auch die flbrigen
KOrpergelenke bieten einen normalen Befund.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis und Atiologie der unter dem Bild eines Tumors usw. 91
Reflexe der unteren Extremist:
Beuge- and Abduktorenreflexe sehr lebhaft, am rechten Bein
wesentlich schw&cher als links.
Patel arreflex beiderseits sehr lebhaft, rechts mehr als links, aber
auch hier gut auslosbar. Reflexogene Zone nicht erweitert.
Achillessehnenreflex beiderseits erloschen, anch mit Kunst-
griffen nicht zu erhalten.
Streichreflex an der rechten Fusssohle lebhaft, dabei Plantarflexion
der Zehen; an der linken Fusssohle: Abwehrbewegung, aber kein Reflex.
Kein Klonus im Fussgelenk.
Sensibilitat: In der Haut des Eopfes, des Stammes und der oberen
Extremitat normaler Befund.
Am rechten FussrOcken eine nicht scharf abgrenzbare ca. klein-
handtellergrosse Zone, innerhalb deren das GefQhl fQr Spitz und Stumpf.
sowie das fQr feinere BerQhrungen herabgesetzt ist. Sonst links keine
S Wrung.
Linkes Bein: An der Aussenseite des linken Unterschenkels,
nach unten Qbergreifepd auf den ganzen FussrQcken, sowie
auf dem vorderen Teile derPlanta eine nicht scharf abgesetzte
Zone, innerhalb deren alle Empfindungsqualitaten der Haut
erloschen sind. Auch der Gelenksinn ist nicht mehr intakt.
Das GefQhl fQr feine BerQhrungen ist in einem ausgedehnteren
Grade gestOrt als die Qbrigen Qualitaten.
Sonst (perianal usw.) keine sensiblen StOrungen.
Die Untersuchung der inneren Organe ergab keinen patho-
logischen Befund. Die peripheren Arterien zeigten an vielen Stellen skle-
rotische Einlagerungen. Der Blutdruck war normal (130 mm Hg nach
Riva-Rocci). Der Urin wurde in normaler Menge und gut konzentriert
entleert; im Sediment keine pathologischen Bestandteile. FQr Lues war
keinerlei Anhalt vorhanden. Die Wassermannsche Reaktion im
Blutserum war negativ. Die morphologische Blutuntersuchung ergab
normale Werte. Am Lidknorpel, an den Ohrknorpeln und an
sonstigen Kdrperstellen konnten keine tophiverd&chtigen Ver-
dickungen aufgefunden werden.
Die rOntgenologische Untersuchung der Lendeuwirbels&ule
und des Kreuzbeins ergab einen normalen Befund.
Die Lumbalpunktion misslang, scheinbar infolge des ungemein
geringen Zwischenraumes zwischen den Lendenwirbeln. (Eine Wiederholung
der Punktion lehnte der Patient sp&ter ab.)
Die PrQfung der elektrischen Erregbarkeit ergab partielle
EaR im Gebiet des Nervus peroneus sinister, sonst Qberall normale
Werte.
Epikrise: Bei einem bis dahin ganz gesunden, erblich nicht be-
lasteten Mann von 50 Jahren, bei dem keine Alkoholschadigung vor-
lag, trat ohne aussere Ursache znnachst eine hartnackigelschialgie
des linken Beines mit charakteristischer Lokalisation auf, die zunachst
wochenlang als einfache Ischias arztlicherseits aufgefasst wurde und
keine Ausfallserscheinungen im Gefolge hatte. Jede medikamentose
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
92
Stephan
and mechanische Therapie war erfolglos. Gegen die Annahme
einer einfachen lsehias rausste aber wohl schon damals das
Fehlen einzelner zeitlich abgegrenzter Schmerzattacken
sprechen. Die Schmerzen waren tagsiiber dauemd vorhanden and
traten gewohnlich auch nacbts sehr heftig auf. Nach mehrwochent-
licbem Krankheitsverlauf zeigten sich dieselben Symptom e am rechten
Bein, hier aber in ausgesprochener Periodizitat. Erst nach ca. 3 Mo-
naten, vom Beginn der ersten Schmerzen an gerechnet, wurde das
Gehen erschwert durch eine Schwachung im linken Fuss and darch
die ganz allmahlich sich yerschlimmernde Unfahigkeit, die Beine im
Kniegelenk zu strecken. Nach 14tagiger dauernder Bettlagerigkeit
war eine so hochgradige Kontraktur an den Beagem des Oberschenkels
beiderseits aufgetreten, dass die Beine im Knie nicht uber 100 0 mehr
gestreckt werden konnten. Wahrend der ganzen Zeit war die Blasen-,
Mastdarm- and die sexuelle Funktion ungestort. Uber den Zastand
der Reflexe, der Sensibilitat and der Motilitat wurde in * den ersten
Monaten arztlicherseits ein Befund nicht erhoben.
Nach ca. halbjahrigem Verlaufe des Leidens fand sich
objektiv: 1. Eine totale Anasthesie der Hant, der Muskeln und Ge-
lenke im unteren Drittel des linken Unterschenkels und am linken
Foss, die sich weder scharf als segmentaler, noch als peripher-neu-
ritischer Ausfall abgrenzen liess. Die taktile Anasthesie war etwas
weiter ausgebreitet als die der ubrigen Empfindungsqualitaten. Die
rechte untere Extremitat wies lediglich eine geringe Hypasthesie im
Gebiet des Fussriickens auf. 2. Totale, schlaffe Lahmung im Gebiet
des Nervus peroneus sinister. 3. Partielle EaR. im Gebiet des-
selben Nerven und des Tibialis posticus sinister. 4. Steigerung. der
Patellarreflexe, rechts mehr als links; Aufhebung des Achillessehnen-
und Plantarreflexes beiderseits. 5. Sekundare Kontraktur in den
Beugem des Ober- und Unterschenkels links, lediglich des Ober¬
schenkels rechts. 6. Nicht konstante fibrillare Zuckungen in der
Muskulatur der oberen Extremitat.
Im ubrigen ergab die Untersuchung des Nervensysteras
kein Abweichen von der Norm.
Die Lokalisation des chronischen Prozesses musste un-
bedingt zentral angenommen werden. Eine periphere Neuritis
konnte bei der relativen Symmetric, der wahrscheinlich segmentalen
Ausbreitung der Sensibilitatsstorungen, vor allem bei der gleichzeitigen
Lahmung des Nervus peroneus longus sinister (L5—Si) und dem
Fehlen des Achillessehnenreflexes beiderseits (S1—S 2) wohl mit
Sicherheit ausgeschlossen werden. Der Sitz der Erkrankung war beim
Fehlen der im 1. und 2. Sakralsegmente lokalisierten Reflexe und
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Znr Kenntnis and Atiologie der unter detn Bild eines Tumors usw. 93
beim Erhaltensein des Patellarreflexes zwischen dies'en Sakralsegmenten
und den Lumbalsegmenten II—IV, resp. den yon diesen Segmenten
ansgehenden Wurzeln, also oberhalb der Austrittsstelle der ersten
Sakralwarzeln, anzunehmen. Der Ausfall in der sensiblen Sphare be*
grenzte den Sitz des Prozesses anf die Segmente L5 and Si. Der
Beginn mit ausgesprochenen Wurzelsymptomen — heftige, im Verlauf
der Wurzeln aasstrablende Schmerzen und Lahmung im Oebiet der
Segmentinnervation — liess viel mehr an eine Wurzelaffektion, denn
an eine Erkrankung der betreffenden Segmente denken. Bei der Be- *
teiligung der bei den sensiblen Wurzeln und der motorischen Wnrzel
links — Lahmung im Gebiet des Nervus peroneus — durfte schliess-
lich ein Sitz in den betreffenden Segmenten selbst mit grosster Wahr-
scheinlicbkeit ausgescblossen werden. Es hatten sich bei den teilweise
absolution Ausfallserscbeinungen doch sonst zunacbst auch Storungen
in den tiefer gelegenen Segmentabschnitten, bei einer Kompression
event!, auch Symptome der Halbseitenlasion im Laufe der Entwicklung
des Prozesses nachweisen lassen musseU. Der Prozess wurde von
uns nach alien differentialdiagnostischen Erw&gungen als
Affektion der Cauda eqina angesprochen. Eine Beteiligung
y des Conus war beim Fehlen von Storungen in der ano-vesikalen und
sexuellen Sphare mit Sicherheit von der Hand zu weisen. Die lang-
same Entwicklung der Lahmung, das Hervortreten der „Wurzel*
schmerzen", die absolute, nicht partielle Empfindungslahmung, wie
auch das Erhaltensein der Analreflexe und des Tonus des Sphincter
ani extern us wurde zudem gegen eine solche Annahme sprechen.
Alle diese diagnostischen Erorterungen wiesen schliesslich
darauf hin, dass der mutmassliche Prozess eng umschrieben
sein musste und etwa in Hohe des 3.-4. Lendenwirbelkorpers zu
lokalisieren war.
Die anamnestischen Angaben und das monatelauge Be-
stehen heftiger Schmerzen machten von vornherein das
Vorliegen eines die Cauda komprimierenden Prozesses
wahrscheinlich. Differentialdiagnostisch war daher zu ent-
scheiden, ob eine Kompression durch Tumor oder durch chronisch-
entziindliche Prozesse, die an den Meningen zu supponieren gewesen
waren, anzunehmen war. Tuberkulose Prozesse an den Wirbeln oder
Hirnhauten durfben auf Grund des klinischen Allgemein- und des
negativen Rontgenbefundes mit Sicherheit negiert werden. Die gleichen
Unterlagen sprachen gegen eine vom Knochen ausgehende Geschwulst.
Fiir einen metastatischen Tumor fehlt jeder Anhalt. Und an eine
Teilerscheinung einer Neurofibromatosis universalis zu denken, dazu
lag kein greif barer Grund vor, obwohl solche Beobachtungen vor-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
94
Stephan
Digitized by
liegen, bei denen diese Allgemeinerkrankung zar Operation eines
„Caudatumors“ Veranlassung gab. Es erschien uns daher am
naheliegendsten, einen den weichen Hauten entstammenden,
umschriebenen Tumor zu vermuten und ihn zu lokalisieren
in eine Hohe, in der die Wurzeln des 4. Lumbalsegmentes
den Canalis spinalis schon verlassen haben.
In zweiter Linie war mit einem jener in ihrer Atiologie noch
ganz unklaren chronich-entziindlichen Prozesse der Cauda equina,
deren Kenntnis wir Oppenheim 1 ) verdanken, zu rechnen. Eine ein-
fache Meningitis chronica spinalis, wie sie insbesondere Horsley be-
schreibt, war unwabrscheinlich bei der absoluten Konstanz der Aus-
fallserscheinungen, insbesondere der Sensibilitatsstorungen. Fiir eine
luetische Atiologie einer Arachnitis chronica fibrosa fehlten die
serologischen und klinischen Anhaltspunkte. Freilich musste dabei
immer betont werden, dass die gerade in dieser Hinsicht so wichtige
Untersuchung des Liquor cerebrospinalis auch technischen Griinden
(s. o.) nicht moglich war.
Mit der Diagnose: Tumor der Cauda equina wurde der
Patient am 2. VI. 13 der chirurgischen Abteilung iiberwiesen
und am 10. VI. 13 von Herrn Geh.-Rat Prof. Payr operiert.
Operationsbericht 2 ): Nach Einspritznngen von ca. 200 ccm einer
LOsung von 8 Tropfen Snprarenin auf 100 ccm NaCl in die Muskulatur
seitlich der Lendenwirbel und zwar 2.—5. Wirbel wird ein Schnitt fiber
die Dornfortsatze dieser Wirbel bis zur H5he des 2. Sakralwirbels ge-
ffihrt. Die Muskulatur wird teils scharf mit dem Messer, teils mit dem
Elevatorium von den Proc. spinosi und transversi abpr&pariert. Nur mi¬
nimale Blutung, die auf Kompression steht. Nachdem die Proc. spin, und
transver. des 3. Lumbal- bis 2. Sakralwirbels freigelegt sind, werden mit
der Horsley-Zange die Proc. spinosi fortgeschnitten. Nach Entfernung
der WirbelbOgen mit der Luerschschen Zange quillt das epidurale Fett
vor. Nacli Entfernung des Fettes kommen die Rfickenmarkshaute, die
blaulichen Schimmer zeigen, zum Vorschein. Der Wirbelkanal ist
prall mit Liquor gcffillt. Der Rfickenmarkskanal, welcher
vielleicht 1—l 1 ^ cm breit ist, wird erOffnet. Liquor sprudelt
hervor. Durch ihn werden seitlich 5—6 korrespondierende Halteffiden
durch die Haute gelegt. Das Lendenmark wird in ganzer Ausdeknung
der Freilegung, d. h. vom 3. Lumbal- bis 2. Sakralwirbel, geOfFnet.
Die Wurzelfaden sehen blassrot aus; nur ein sensibler Wurzel-
faden sieht selir blass aus. Derselbe wird reseziert und zur Unter¬
suchung aufbewahrt. Dann wird noch ein sensibler Ast des 5. Lumbal-
segments reseziert. Die Wurzelfaden sind ziemlich fest untereiu-
ander und der weichen Rttckenmarkshaut verwachsen, so dass
1) 1. c. 1911.
2 ) Mitgeteilt mit der giitigen Einw’illigung von Herrn Geh.-Rat Payr.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntuie nnd Atiologie dor unter dem Bild eines Tumors usw. 95
ihre Isolierung Schwierigkeiten macbt. Dann wird noch der Brust-
wirbelkanal mit einer dicken Sonde sondiert, ebenso das
bleibende Ende des Sakralkanals. Nirgends etwas von Tumor
sicht- oder ffihlbar. Sorgfaltige Naht der Rackenmarksbaute mit
feinster Seidei Mebrere Katgutfaden werden durch die Muskulatur gelegt.
Hantnaht.
20- VI. Allgemeinbefinden gut. Operation gut Qberstanden. Patient
klagt fiber heftige Schmerzen im linken Fuss.
21. VI. Nichts Besonderes. Allgemeinbefinden gut.
25. VI. Leichte ziehende Schmerzen im linken Fuss.
26. VI. Verbandwechsel. Die Wunde ist an der Grenze zwischen
mittlerem und unterem Drittel etwas gerOtet, aus den Nabtstichen kommt
etwas trttb-serdse FlQssigkeit. An dieser Stelle wird die Wunde etwas
erweitert, wenig serOs-eitrige FlQssigkeit. Perubalsamverband. Auf beiden
Seiten ist die Haut in der Gegend des Trochanter major stark gerOtet.
30. VI. Die Wunde, die sonst gut aussieht, zeigt an der Grenze des
unteren Drittels etwas gerDtete Hautr&nder, die an der Stelle klaffen. Die
Wunde ist hier mit gelbem Belag bedeckt. Keine besondere Druckempfind-
licbkeit, keine wesentliche Scbwellung. Jodtinktur abtupfen. Perubalsam¬
verband. Seit einigen Tagen klagt der Patient wieder Gber Schmerzen im
linken Bein.
10. VII. Wunde siebt gut aus, heilt zu.
16. VII. Patient klagt dauernd Qber Schmerzen nach wie
vor. Keine Besserung im Befinden.
23. VII. Status idem. Wunde verheilt. Patient wird nach Baracke 12
zurttckverlegt.
Nach der Operation wurde der Patient auf die innere Station zurQck-
verlegt und dort bis zu seiner Entlassung am 15. IX. 1913 beobachtet.
Durch den Krieg verloren wir ihn sp^ter aus den Augen, ohne bis jetzt
die MQglichkeit gehabt zu haben, ihn noch einmal einer Nachuntersnchung
zu unterziehen. Nach einer kurzen brieflichen Mitteilung vom Sommer
1916 bat sich der Zustand bisber kaum verandert. Die Schmerzen be-
stehen unverandert fort und sollen auch auf den BeckengQrtel Gbergegriffen
haben. Neue Lahmungen sollen nicht aufgetreten sein. liber eine Ande-
rung in den Sensibilitatsverhaitnissen wusste der Patient begreiflicher
weise nichts zu schreiben.
Eine kurze Notiz iiber den Status ungefahr 4 Wochen nach der ‘
Operation sei hier angefiihrt: Die Veranderungen im Zustandsbild sind
auf Kosten der Operation zu setzen und bedeuten nicht etwa eine
Progression des entziindlichen Prozesses: Das linke Bein ist deutlich
atrophischer wie das rechte. Umfang des Oberschenkels links 37 cm,
rechts 41 1 j 2 cm, des Unterschenkels 20^ bzw. 21 */ 2 cm. Das rechte
Bein kann aktiv leidlich gestreckt und gebeugt werden. Im linken
Bein ist die rohe Kraft ausserst gering. Kontrakturen wie friiher.
Der linke Patellarreflex ist erloschen, der rechte sehr lebhaft.
Kein Babinski. 'Kein Klonus. Der rechte Analreflex ist er¬
loschen, der linke lebhaft. Tonus des Sphincter ani gering.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
96
Stkphan
Links findet sich eine perianale Anasthesie fur alle Qnali-
taten. Sonst Sensibilitat wie friiher. Die Operations wunde ist reak-
tionslos verheilt.
Die pathologisch-anatomische Untersuchung der resezier-
ten Wurzel ergab: Im frischen Zupfpraparat erscheint die Wurzel
ung^mein bindegewebsreich. Zerfallenes Neryengewebe, Myelinschollen,
Kornchenzellen nsw. sind nicht aufzofinden. In alkoholfixierten, nach
der Weigertscben Metbode und mit Hamotoxylineosin gefarbten
Praparaten erweist sich die Wurzel als aus dichten Bindegewebs-
flechten bestehend. Die Gefasse des Perineuriums sind nicbt erkenn-
bar yermehrt. Um die Gefasse finden sich Anhaufungen yon Zell-
komplexen, die im wesentlichen aus Fibroplasten und aus einkernigen
Kundzellen zusammengesetzt sind. Biesenzellen sind nirgends aufzu-
finden, ebenso aucb nirgends Harnsaurekristalle. In Osmiumpriipa-
raten findet sich im Langs- und Querschnitt keine Verfettung. — Der
bei der Operation aufgefangene Liquor cerebrospinalis batte einen
normalen Eiweissgehalt (unter 0,2 pro M.), er war wasserklar und obne
Zellvermehrung. Die Wassermannsche Beaktion im Liquor war
nach der Hauptmannschen Metbode negativ bis 0,8 ccm.
Zusammenfassend ergab also die pathologisch-anato-
mische Untersuchung einen cbroniscben Entziindungspro-
zess der Sakral- und Lumbalwurzeln, der im wesentlichen
im Perineurium lokalisiert war und zu einer sekundaren
Atrophie der Neryenfasern gefuhrt hatte.
Das klinische Bild, das unbedingt auf eine komprimierende Neu-
bildung binwies, hatte abo ebenso wie in Oppenbeims, sowie
Oppenbeims und Krauses Beobachtungen zu einer Fehldiagnose
verleitet. Es fand sich an Stelle der erwarteten Geschwulst eine
Arachnoperineuritis chronica serofibrosa mit Liquorstau-
ung. Der bioptbcbe Befund deckt sich in den Hauptpunkten so yoll-
kommen mit Oppenbeims und Krauses Fall 1, dass hier nicbt
naber darauf eingegangen zu warden braucbt. Vielleicbt hatte scbon
die Moglichkeit der Lumbalpunktion vor der Operation die Diagnose
eines Caudatumors unmoglich gemacbt. Ein hoher, rascb — d. b.
nach wenigen ccm — abfallender Druck eines cbemisch
und zellular normalen Liquors diirfte in kiinftigen Fallen
wohl immer ffir einen Entziindungsprozess und gegen einen
Tumor sprecben, wobei natiirlich Lues, Tuberkulose und andere
infektiose Noxen als Entziindungserreger auszusehliessen sind. Der
differentialdiagnostische Anhalt gilt nur fur jene atiologisch unklaren
chronischen Entziindungsprozesse im Gebiet des Conus und der Cauda
equina. Ob sie auch bei einem hoheren Sitz der Erkrankung Geltung
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis uad Atiologie der unter dem JBild eines Tumors usw. 97
hat, erscheint so lange unklar, als wir nicht davou nnterrichtet sind.
auf welches Oebiet die Liquorstauung ausgedehnt ist, d. h. ob sie
rtets von der obersten Qrenze der entziindliohen Affektion bis zur
Cauda hinabreicht oder ob auch raumlich eng tunschriebene Bezirke
von Liquorstauung bei diesen Prozessen existieren. Die letzte Ursache
fur die Stauung diirfte wohl die durch Einschrankung der Lymph-
spalten bedingte Zirkulationsbehinderung sein. Zu einem Abschluss
nach oben durch entziindliche Verklebungen war es jedenfalls in
unserem Falle, ebensowenig wie in fruheren Beobachtungen, nicht
gekommen. Das Fehlen jeder entziindlichen Liquorreaktion, sowohl
in zellularer wie chemischer Hinsicht, lasst daran denken, dass die
Meningen nur sekundar am Krankheitsprozesse teilnehmen und dass
der primare Ausgangspunkt in das Perineurium zu verlegen ist. Die
patbologisch-anatomischen Befunde entsprechen denen Oppenheims
(1. c. 1913), ohne dass in unserem Falle entschieden werden kann, ob
der Prozess weiter nach oben bis zum Conus reichte, ob er nur
wenige, oder ob er alle Wurzeln beteiligt hatte. Die Ausfallserschei-
nungen lediglich in zwei Wurzelgebieten sprechen nicht unbedingt
gegen diese Annahme. Der bioptische Befund im Verein mit den
fruheren Erfahrungen macht es vielmehr wahrscheinlich, dass ein
diffuser Prozess vorlag, und dass zunachst nur die am meisten ge-
schadigten Wurzeln zu klinischen Ausfallserscheinungen Veranlassung
gaben. Eine Myelitis kann so lange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen
werden, als es nicht moglich ist, den Conus autoptisch zu untersuchen.
Vielleicht darf auch im Sinne eines. ausgebreiteten Prozesses mit
einiger Vorsicht der Befund verwertet werden, dass auch in den
Muskelgruppen der oberen Extremitat ofter fibrillare Zuckungen be-
obachtet warden. Der Ausfall des Patellarreflexes links, des Anal-
reflexes rechts, sowie das Manifestwerden einer perianalen anasthe-
tischen Zone ca. 4 Wochen nach der Operation kann ebenfalls nicht
im Sinne eines Fortschreitens des Prozesses gedeutet werden. Unter
den beiden wahrend der Operation resezierten Wurzeln befand sich
zwar sicher keine des 2.—4. Lumbalsegments. Das Auftreten des
Westphalschen Phanomens links kann aber wohl auch durch die
Narbenbildung p<5st operationem bedingt gewesen sein. Jedenfalls
ergibt die ganze bisherige Beobachtung kein eindeutiges Bild von der
Progredienz oder dem Stillstand des Entzundungsprozesses. Die Tat-
sache, dass die Schmerzen durch den operativen Eingriflf in keiner
Weise gebessert wurden, widerrSt fur kiinftige Falle ein aktives
chirurgisches Eingreifen und beschrankt dieses ausschliesslich — im
Sinne Oppenheims — auf die Falle mit trauraatischer G.enese.
Ein besonderes lnteresse bot nach der Operation die
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 7
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
98
SfTEPHAN
weitere klinische Beobachtung in Bezng auf die Frage nach
der Atiologie der Arachnitis et Perinenritis chronica sero-
fibrosa. Das von Oppenheim in mehreren Fallen seiner Publi-
kation angeschuldigte Trauma konnte bei unserem Patienten mit
Sicherheit ansgeschlossen werden. Alkoholismns lag ebenfalls nicht
vor. Auch Lues musste mit Bestimmtheit verneint werden, nachdem
die Untersuchung des Liquor post operationem in Bezug auf Zell-,
sowie Eiweissgehalt normale Werte ergeben hatte, die Wasser-
mannsche Keaktion im Liquor negativ war und auch das mikrosko-
pische Bild der erkrankten Wurzeln nichts fiir Syphilis Charakte-
ristisches bot. Fiir Gicht, deren begiinstigende Bedeutung fiir die
Entstehung des Leidens ebenfalls von Oppenheim in Erwagung ge-
zogen wird, sprach zunachst nichts: Weder konnte eine familiare Be-
lastung nachgewiesen, noch ein anamnestiscber Anhalt fiir friiher
durchgemachte Gichtattacken gewonnen werden. Bei der in dieser
Hinsicht vorgenommenen Untersuchung des Urins zeigte sich uns zu¬
nachst einmal bei voller Kost — ohne Bestimmung des mit der Nah-
rung zugefiihrten Purinbasenstickstoffes — ein auffallend nied-
riger Wert der Harnsaureausscheidung, der in mehreren Be-
stimmungen in der Tagesmenge <>,08 in 100 ccm Urin niemals tiber-
schritt (gegeniiber 0,5—1,0 g beim Normalen und bei gemischter,
nicht allzu fleischreicher Kost 1 )). Eine Urin-Harnsaurebestimmung
bei vegetabilischer und purinfreier Ernahrung in einem Stoffwechsel-
versuch von 14tagiger Dauer ergab unter Ausserachtlassung der Vor-
periode die nachfolgenden Werte:
Urinmenge
in 24 Stdn.
j
Spoz. Gew.
1
Harnsaure
<n g
Andere Be-
merkungen
s. vm. 13 .
1700 ccm
i 1016
0,0433
i
•>> jy •
1200 „
1019
0,043S
i
1^. ,, ,, .
1200 „
1021
0,10512
i
i
11. •
• • • •
1100
1020
0,0657
; Am 12. VHI.
1
l )) M •
1100 „
1018
0,0401
werden 10 g
13. .. .. .
• • • «
1400 „
2017
0,0623
! Natrium nu-
?» v
1000 „
1016 .
0,0f36
icleinicumper
1«>. .
....
1400 „
[ 1017
0,0842
| os gegeben^
Es ergab sich also einmal
ein ausserordentlich niedriger
Wert der endogenen Harnsaureausscheidung bei purinfreier
1) Nach Magnus-Levy, zit. nach Gigon, in Mohr-Stahelins Hand-
burli der inneren Medizin.
Digitized by
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntuis und Atiologie tier unter dem Bild eines Tumors ubw. 99
Kost, entsprechend der von Brugsch and Schittenhelm *) unter
der Gruppe I zusammengefassten Werte der bei ihren Stoffwechsel-
versuchen festgestellten Normen; fernerhin eine unregelmassige Kurve
des endogenen Harnsaurewertes (Schwankungen zwischen 0,0136 bis
0,10512) und ausserdem eine ungewohnlich verschleppte Aus-
fuhr der wahrend der purinfreien Periode einmalig ge-
gebenen grosseren Purinbasendosis. Die Zufuhr yon 10 g
Natrium nucleinicum, die beim Normalen innerhalb 24 Stunden rest-
los zum Abbau gelangt, batte bei unserem Patienten iiberhaupt keine
sicher erkennbare Wirkung auf den endogenen Harnsaurewert. Die
Bestimmung der Blut-Harnsaure am 10. VIII. — am 9. Tage der purin¬
freien Ernahrung — ergab einen Wert von 6,4 mg auf 100 com
Plasma, also auch hier wiederum in der endogenen Urikamie einen
Faktor, der nach den neueren Forschungsergebnissen allgemein als
Symptom der gichtischen Diathese angesprochen werden muss. Wir
diirfen nach all diesen Ergebnissen daher wohl mit der grossten
Wahrscheinlichkeit annehmen, dass unser Patient ein Gichtiker ist,
dass aber bei ihm die Stoffwechselstorung bisher latent verlief und
noch nie zu der klinisch charakteristischen Manifestation der Arthritis
urica fiihrte. Unter Beriicksichtigung der Befunde Oppenheims,
der die seltene Caudaerkrankung der Arachnitis chronica serofibrosa
zweimal mit der klinisch manifesten Gicht vergesellschaftet fand, er-
schiene es gezwungen, in unserem Falle das Zusammentreffen des
chronischen Entziindungsprozesses der Cauda equina mit der gichti¬
schen Stoffwechselstorung als ein zufalliges, nicht ursachliches anzu-
sprechen. Wir glauben vielmehr, dass die Gicht als das pri-
mare auslosende Leiden in Frage kommt und dass die
Arachnitis und Perineuritis serofibrosa alsFolge der gich¬
tischen Diathese zu betrachten sind. Es ist bekannt, in welch
besonderer Weise die Gicht die Entwicklung vielfaltiger Nerven-
erkrankungen zu begiinstigen vermag: Neben den haufigen Neural-
gien sind auch echte Neuritiden beschrieben worden, ganz ahnlich
den Alkoholneuritiden, die Eichhorst 2 ) neuerdings in eine parenchy-
matose und eine endarteriitische Form trennt. Und schliesslich haben
Charcot und Cornil im Neurilemm der peripheren Nerven, Olli-
yier auf der Aussenseite der Dura mater Harnsaurekristalle nachge-
wiesen. Ob wir in unserem Falle eine solche primare Ablagerung
von Harnsaure im Neurilemm der Wurzeln oder lediglich einen auf
1 Brngsch und Schittenhelm, Der Nukleinetoffweehsel und aeine
Storungen. Gustav Fischer. 1910.
2) D. Arch. f. klin. Med. Bd. 120. 'Gelt 1—3. 1916. ' . -
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
100 Stephan, Zur Kenntnis and Atiologie usw.
dem Boden der Stoffwechselstorung entstandenen chronischen Ent-
ziindungsprozess annehmen miissen, bleibe dahingestellt; fur die atio-
logische Klarung ist diese Frage ohnehin ohne Belang.
Von praktischer Bedeutung wird der Nachweis der Stoff¬
wechselstorung kiinftighin dann werden, wenn die Differentialdiagnose
zwischen Tumor und entziindlicher Erkrankung der Cauda zu stellen
ist. Aus den bisherigen Ergebnissen lasst sich jedenfalls schon so viel
folgem, dass der einwandfreie Nachweis der gichtischen Diathese im
Stoffwechselyersuch zur grossten Vorsicht in Bezug auf die Diagnose
Tumor und die Operationsindikationsstellung mahnt. Es ist einerseits
selbstverstandlich, dass durcb den gewiss nicht gleichgiiltigen opera-
tiven Eingriff keine Besserung zu erzielen ist, und dass andererseits
eine spezielle diatetische und medikamentose Behandlung, die in erster
Linie die Beglung des Nukleinstoffwecbsels zum Ziel hat, versucht
werden sollte. Vielleicht lasst sich das Fortschreiten der Erkrankung
yerhiiten oder zunachst yerzogern. Bei der relatiy grossen Seltenheit
des Leidens werden die Erfahrungen tiber die therapeutische Beein-
flussung allerdings nur sebr sparlich zu erwarten sein.
Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Lehre yon den Lfthmungstypen.
Kurze Bemerkungen zu dem Aufsatz von D. Gerhardt
„Uber die Beeinflussung organischer L&hmungen durch funk-
tionelle Verhaltnisse". (Diese Zeitschrift, Bd. 55, S. 226.)
Von
Siegmnnd Auerbach-Frankfurt a. M.
Aus der Arbeit von D. Gerhardt, soweit sie sich auf die Mo-
tilitat erstreckt, gebt hervor, dass ihm meine Veroffentlichungen
fiber das von mir aufgestellte Gesetz der Lahmungstypen ganz ent-
gangen sind, obwohl zwei dieser Abhandlungen in dieser Zeitschrift 1 2 )
"• *) erscbienen sind. Ich bin uberzeugt, dass der geschatzte Autor
in der Deutnng der meisten der von ihm hervorgehobenen Erschei-
nungen keine Schwierigkeiten mehr finden wird, sobald er von meinen
Darlegungen Kenntnis genommen hat.
Gerhardt sagt (S. 226) ganz mit Kecht: „Edinger hat im
wesentlichen die individuellen Verhaltnisse im Auge, Krankheitsdispo-
sition bestimmter Teile infolge Oberanstrengung oder Schadigung
durch aussere Einfliisse. Daneben gibt es auch solche Disposition
aus inneren Grunden infolge verschiedener Widerstandsfahigkeit der
einzelnen Teile, Verhaltnisse, die z. T. auch individuell verschieden,
im ganzen aber doch bei den verschiedenen Menschen in ahnlicher
Weise sich gelteud machen, also mehr generelle Faktoren bedeuten.“
Diese generellen Faktoren, die fur die Bewertung der Einzel-
leistungen eines Muskels oder einer Muskelgruppe von grosster Be-
deutuug sind und die sich nach meinen Untersuchungen als gesetz-
massige herausgestellt haben, habe ich als qualitative zusammen-
geiasst; bei ihnen fallt jede Berucksichtigung der Haufigkeit der
Inanspruchnahme bei den verschiedenen Beschafbigungen, die man
als den quantitativen Faktor der Muskelfunktdon bezeichnen
kann, weg.
1) Zur Pathogenese der postdiphtberischen Akkomodationsliihmung. Bd. 49,
8. 94.
2) Die Aufbrauchtheorie und das Gesetz der Liihmungstypen. Bd. 53, S. 449.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
102
Auerbach, Zur Lehre von den Lahmungstypen.
Da ich alle diejenigen die Einzelfanktionen der Muskeln beein-
flussenden Momente in der sub 2 angefdhrten Arbeit erwahnt habe,
so mochte ich an dieser Stelle davon absehen, auf sie einzugehen.
Bezuglich der grosseren Geneigtheit der Peroneusgruppe zur
Erkrankung sowie des viel erorterten Unterschiedes ixn Befallen-
sein der Strecker und Beuger bei der cerebralen Hemiplegie und
ihrer Folge, der Kontraktur, mochte ich auf meine erste Arheit auf
diesem Gebiete verweisen 1 ), in der alle in der Neuropathologie vor-
kommenden Lahmungen von diesen Gesichtspunkten aus einer Ana¬
lyse unterzogen sind. Die Frage nach dem haufigeren Befallenwerden
der Peroneusgruppe gegenuber den vom N. tibialis innervierten Mus¬
keln habe ich ansserdem kiirzlich 2 ) noch besonders besprochen.
Meine Untersuchungen zeigen, dass man zur Erklarung dieser Lah-
mungsformen die „verminderte Widerstandsfahigkeit", die „grossere
Krankheitsbereitschaft“ oder „Krankheitsdisposition“ nicht mehr her-
anzuziehen braucht, die die Tatsachen nur umschreiben, das Kausal-
bediirfnis aber in keiner Weise befriedigen. Ich konnte nachweisen,
dass diese Lahmungstypen geradezu postuliert werden miissen, wenn
das von mir aufgestellte Gesetz zu Kecht besteht.
Auch bezuglich der Lahmungstypen bei den verschiedenen Formen
der Musk elatrophien wird Gerhardt in der sub lunten angefiihrten Ar¬
beit Aufklarung finden. Auch wird es ihm nicht schwer fallen, bei
sinngemasser Heranziehung der von mir geltend gemachten Faktoren
fur die Aussparung des Flexor carpi uln. eine befriedigende Erklarung
zu finden. Was endlich das Versckontbleiben derUnterschenkelbeuger
in den 3 Fallen von Riickenmarksverletzungen anbelangt, so ist zu
bedenken, dass, worauf ich auch wiederholt hingewiesen habe, bei
jedem Trauma bestimmte Fasern oder Wurzeln verschont bleiben
konnen. Hier kann man ohne bioptischen oder Obduktionsbefund
keine bestimmten Schliisse ziehen. Cberdies sind in den 3 Fallen
keine bestimmten Vergleichszahlen fiir die Kraftleistung der ver¬
schiedenen Muskelgruppen angegeben; sie scheint doch auch recht
gering gewesen zu sein. Auch ist nichts daruber mitgeteilt, ob die
Funktion der Kniebeuger im Stehen gepnift wurde.
1) Die Hauptursachen der hiiufigsten Lahmungatypen. Volkmanns Sarnia-
lung klinischer Vortriige Nr. 633 634. 1911.
2) Warum beobachtet man Liilimungen des N. peroneus viel hiiutiger als
solche des N. tibialis? Deutsche ined. Wochenschr. 1916, Nr. 40.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(Aus der ehirurgischen AbteilungDr. A.Zawadzkis des Pragahospitals
in Warschau.)
Cber einige Komplikationen der Hartelschen Alkoholbe-
handlnng des Ganglion Gasseri bei schweren Trigeminos-
nenralgien.
Von
Heinrich Hlgler-Warschau.
Ich hatte die Gelegenheit mehrere Falle von inveterierter Quintus-
neuralgie zu beobachten, die vom Kollegen A. Zawadzki in seiner
ehirurgischen Krankenabteilung arabulatorisch bebandelt wurden. Es
soil hier bei der Demonstration *) mancher dieser Falie viel mehr fiber
einzelne begleitende, anatomisch und physiologisch interessante Kom¬
plikationen berichtet werden, als fiber den Ausgang der Therapie,
insbesondere angesichts der Tatsache. dass fiber Dauerresultate in
einem par excellence chronischen Leiden man das Urteil erst nach
vieljabriger Erfahrung fallen lassen dfirfte.
Angewendet wurde die Alkoholisation des Gasserschen Gang¬
lions nach der Methode Bartels, die er in seiner grosseren Arbeit 1 2 ):
„Die Leitungsanasthesie und Injektionsbehandlung des Ganglion Gasseri
und der Trigeminusstamme" und in einer kleineren Abhandlung 3 ):
„Uber die intrakranielle Injektionsbehandlung der Trigeminusneural-
gie“ gemeinsam mit seinem Krankenmaterial schilderte.
Bekanntlich suchte man durch Alkoholisation die Eintrittsstellen
der einzelnen Trigeminusaste zu vernichten, sowohl in ihren peripheren,
distalen Eintrittsstellen in den Gesichtsschadei (Incisura supraorbitalis,
Canalis infraorbitalis, Foramen mentale), als in ihren proximal ge-
legenen Durchbohrungsstellen der Schadelbasis (Fossa pterygopalatina,
Foramen ovale, Foramen rotundum), wobei letztere im Dunkeln auf-
gesucht (Harris, Offerhaus, Ostwald) oder chirurgisch freigelegt
wurden (Wr-igth, Brissaud, Sicard). Sind vielleicht diese Me-
1) Nach einer in der AllgemeinsitzuDg des Warschauer Arztevereins am
6. Dezember 1916 stattgefundenen Demonstration.
2) F. Hart el, Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. 100. Heft 1.
:t) Derselbe, Medizinische Klinik. 1914. Nr. 14.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Higish
104
thoden bei der Lokalisation der Neuralgie in einem Aste rationell,
so nnd sie kaum zu empfehlen, wo es sich um Erkrankung samtlicher
Aste handelt. Da bleibt eben, insofern die medikamentosen und physi-
kalischen Methoden und die yerschiedenen peripheren chirurgischen
Eingriffe am Nerven selbst, resp. an der Nasen-, Mund- und Augen-
hohle bzw. den ihnen angrenzenden Sinushohlen gepriift sind, nur
noch die Aussohaltung des intervertebraien resp. interspinalen Gang¬
lions des sensiblen Gesichtsnerven ubrig, d. h. operative Entfemung
des im Meckelscben Intraduralraum der mittleren Schadelgrube ge-
lagerten Ganglion semilunare Gasseri oder Vemichtung desselben auf
chemisch-toxischem Wege.
Die schweren und eingreifenden chirurgischen Massnahmen am
Ganglion selbst (Krause, Dollinger) resp. an den Quintuswurzeln
unter dem Tentorium cerebelli involvieren immer eine direkte Lebens-
gefahr bei den heruntergekommenen, nnzureichend genahrten, meist
alteren Individuen wegen der notwendigen tiefen Narkose, der Nahe
der grossen Sinus (cavernosus und petrosus superior) und der
Moglichkeit einer konsekutiven Meningealinfektion.
Die auf dem Schlosserschnn Verfahren beruhende, vielfach
modifizierte und durch ausserst genaue anatomisch-topographische
Angaben ausgebesserte Methode Hartels besteht bekanntlich darin,
dass man zunichst nach Anlegung einer analgesierenden Quaddel an
der Wange — in Hohe des Alveolarrandes des zweiten oberen Molar-
zahnes — eine dicke nickelne, stumpf abgeschliffene Punktionskaniile
einsticht, die bis zum 6 cm tief liegenden Planum infratempo-
rale gefiihrt wird, wo tastend das Foramen ovale leicht aufzusuchen
ist. Durch das Foramen, oder richtiger, durch den 4x7 mm langen
Canalis ovalis wird die vom Einstichpunkt der Haut 1 l f 2 cm zuriick-
geschobene Nadel etwa 2 cm tief eingefiihrt, wo sie ohne weiteres das
Ganglion erreicht, was sofort durch intensiven plotzlichen Schmerz oder
Parasthesien in einem oder samtlichen Trigeminusasten erkennbar ist
Nach Ansetzen einer Recordschen Spritze wird langsam
1 ccm einer 2 proz. Novokain-Suprareninlosung injiziert und nach Er-
reichung der Gefiihllosigkeit 1 ccm 80 proz. Alkohollosung zur Zer-
storung des analgetisch gemachten Ganglions langsam und tropfen-
weise nachgeschickt. Diese Methode der Lokalanasthesie bedarf keiner
Narkose, kann ambulatorisch ausgefiihrt werden, setzt keine aussere
Verstiimmelung, verhindert Nebenverletzungen, soil aseptisch sein
und das sensible Ganglion in seiner Langsachse durchbohren. Sie ist
auch schon deswegen praktisch, dass bei derselben, wie Hartel an-
gibt, nur 1 mal auf 15 Falle das Ganglion aus topographischen Griinden
nicht erreichbar ist.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber einige Komplikationen der Hartelachen Alkoholbehandlung usw. K)5
In den 3 an Komplikationen reichen Fallen, die hier zur Demon¬
stration gelangen sollen, wurde die Hartelsche Injektion 4mal aus-
gefiihrt. «
Bei einer alteren Fran war auffallend das rhythmiscbe Erscheinen
von blutig gefarbten Tropfen cerebrospinaler Flussigkeit in der
Kaniile. Da es sicb bier um ein energiscberes, briiskes Einspritzen
einer etwas grosseren Menge Alkobol (2 cm statt der iiblicben i j 2 bis
1 cm) handelte, so liegt die Vermutung nahe des Durcbstechens bzw.
Berstens des nebenliegenden Subarachnoidalraumes, der Cyste der
binteren Schadelgrube, Cisterna pontis genannt.
Bei derselben Patientin stellte sicb wahrend der zweiten Injektion
eine komplette Lahmung des Oculomotorins in seinen ausseren
und inneren Asten ein, die am nacbsten Tage scbwand, jedoch nocb
nacb 3 Wocben eine deatlicbe Ptose mit Erweiterung der Pupille und
Reaktionslosigkeit derselben binterliess.
Entstebt zuweilen Abducensparese sicber infolge Diffusion der
Injektionsfiussigkeit in die Wand des Sinus cavemosus, in dessen
Nahe der Abducens verlauft, so ist die Lahmung des Oculomotorius
ein bei der Alkoholisation des Ganglions unbekanntes Ereignis und
kann hier als unschuldige Fernwirkung aufgefasst werden, bervor-
gerufen durcb allzu grosse Menge der injizierten Flussigkeit oder
durcb zu tiefes Eindringen der Nadel (bekanntlicb verlauft der Ocu¬
lomotorius in der lateralen Wand des Sinus).
Zweimal sab icb als Nebensymptom der Ganglionanasthesie so-
fortiges Auftreten einer Mydriase der betreffenden Pupille, die vor-
iibergebend war und beide Mai wahrscheinlich der mechanischen und
chemischen Wirkung der Adrenalin-Novokainlosung zuzuschreiben war.
In einem dieser Falle konnte icb einige Tage nacb der statt-
gefondenen Alkoholisation ausgesprocbenen Hornerschen Sympto-
menkomplex (Pseudoopbtbalmoplegia sympatbica) feststellen mit
gleicbzeitiger Verengerung der Lidspalte und der prompt auf Licht
reagierenden Pupille. Das Hornersche oder Nageotte-Babinski-
scbe Syndrom ist dasselbe, das wir zuweilen bei der unteren oder
Dejerine-Klumpkeschen Lahmung des Bracbialplexus, resp. der
letzten Hals- und ersten Brustwurzeln antreffen; dem wir zu begegnen
pflegen bei syringomyeliscben Prozessen am cervikodorsalen Riicken-
markssegment, wo das Budgescbe Zentrum ciliospinale liegt; ge-
legentlich bei Oblongataerkrankimgen linden, speziell bei der akut
sich einstellenden Bulbarparalyse auf dem Boden endarteristiscber
Thrombosen der Arter. cerebelli post, infer.
In unserem Falle hangt das Syndrom ab von der Lasion der-
jenigen sympathischen Babn, die vom Plexus caroticus sicb hinzieht
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
106
Hiuier
zum 1. Ast des Trigeminus (Radix sympathica) und im Ganglion
Gasseri gleichzeitig mit den sensiblen Fasern einer Zerstorung unter-
liegt, bevor sie zur Peripherie gelangt. Diese sympatbische Wurzel
versieht mit vegetativen Fasern sowohl den M. orbitalis und den M.
tarsi, als den dilatator pupillae und die sudoriferen und vasomoto-
rischen glatten Muskeln des Trigeminusgebietes. Samtliche Fasern
sind in unserem Falle in klassischer Weise betroffen worden, wie der
Enophthalmus, die Pseudoptose, die Myose, die Rotung des Gesicbts
usw. nacb der Alkoholisation beweisen.
Beacbtenswert ist die Angabe dieser Patientin mit Daueranalgesie,
wie einer anderen mit temporarer Analgesie,dass bei einem zufalligerweise
hinzugesellten akuten Nasenkatarrh die operierte Seite einen viel konsi-
stenteren Nasenschleim absonderte als die gesunde. Dass auch diese Er-
scbeinung von Affektion der sympathischen Fasern der Nasenschleimhaut
herriibrt, liegt auf der Hand und beruht wahrsckeinlich auf der be-
kannten antagonistischen Stellung des sympathischen und autonomen
Nervensystems, die sich klassisch kundgibt schon in den alten Ex-
perimenten mit verschiedenem Verhalten an morphotischen Elementen
und verschiedener Konsistenz des Sekrets der Speicheldriisen bei Rei-
zung der verschiedenen zufiihrenden Nerven. Ick will hier nicht
naher auf diese Frage eingehen und kann auf die ausfiihrliche Inter¬
pretation dieses Grundproblems in meiner liber den Sympathicus er-
schienenen Monographie hinweisen. M
Als ziemlich schwere Komplikation muss ich auffassen die Kera¬
titis neuroparalytica mit spateren entzundlicben Schmerzen und
Leukombildungen am Auge und intensiv herabgesetzter Sehkraft bei
einem alteren Proletarier, der es nicht verstand, das empfindungslos
gemachte, vermindert widerstandsfahige Auge sauber zu halten. Eine
solche Keratitis sah auch beim Menschen u. a. Harris. Leichte ln-
jektion der Skleralgefasse fand ich neben Areflexie der Hornhaut
in samtlicken Fallen von Alkoholisation. Anlegen eines schiitzenden
Uhrglases, wie es Hartel spater empfahl, hat bei unseren Kranken
nicht stattgefunden.
Auch ich fand, ahnlich Simons 2 !, in keinem der drei genauer
untersuchten Falle mit totaler resp. partieller Analgesie samtlicher
oder der zwei oberen Aste — die Gegend der Ohrmuschel, lateralen
Schlafe, seitlichen Wange, Parotis, am Kieferwinkel und Kinn — auf-
gehobene Sensibilitah An der Gefiihllosigkeit nahmen selbstverstand-
1) H. Higier, Vegetative oder viszerale Neurologie. 1912. Verlag von
G. Fischer, Jena.
2) A. Simons, Ober die Hiirtelsche Injektionsbehandlung usw. Zeit-
schrift f. g. N. u. P. 1913. Heft 4.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber einige Komplikationeu der Hartelscben Alkoholbekandlung usw.
lich teil samtliche zugehorige Schleimhaute und Haarwurzeln. Die
erste Wocbe fiel auch deutliche Herabsetzung des Geschmacks an
der anasthetisehen Zungenhalfte auf.
Bei einem Falle, der eine altere Frau betraf, zeigte sich eine
Woche nacb der Injektion am Mundwinkel ein schmerzloser Herpes
labialis, der uber 10 Tage anhielt. Ob er dem Novokain-Supra-
renin oder dem Alkohol zuzuscbreiben ist, lasst sich kaum entscbeiden.
Nach jedem dieser Mittel ist er beobachtet worden, nur soil er weniger
diffus beim Novokain sein. Infceressant ist, dass der ziemlich be-
schrankte Herpes am Mundwinkel auftrat, der nur temporare Anal-
gesie zeigte.
An diesem, einem physiologischen Experiments gleichenden Versuch
findet einigermassen eine Bestatigung die von Campbell und spater
yon Head verteidigte Theorie, der zufolge das anatomisch-patho-
logische Substrat des Herpes in der Regel zu sucben ist in einem
Entzundungszustand im intervertebralen Ganglion selbst oder in dessen
zentralem Ursprung an der hinteren grauen Substanz des Riicken-
marks.')
Auffallend ist jedenfalls, was mit Recht Krause, Hartel und
Simons akzentuieren, dass sowohl der Herpes mit Storungen der
Hautsensibilitat und Hautreflexibilitat, als die Keratitis mit intensiver
Affektion der vasomotorischen und trophischen Funktionen nach radi-
kaler operativer Exstirpation des Ganglions fast nicht beobachtet
werden, dagegen bei chemischer Zerstorung des Nervengewebes nicht
selten sind. Je eher es gelingt — vermutet Simons — das Gang¬
lion mit einem Schlage zu zerstoren, wodurch die Reizwirkung ein-
zelner Gangbenteile aufeinander fortfallt. um so weniger kann ein
Unterschied der trophischen Storung nach der Exstirpation und In¬
jektion bestehen.
Weist fielleicht der nachfolgende Herpes in unserem Fall auf
einen kunstlich geschaffenen Reizzustand im iiberlebenden Teil des
Ganglions, somit auf eine unyollstandige Zerstorung des Ganglion
semilunare hin, — wofiir schon die inkomplette Analgesie sprechen
diirfte —, so lasst sich dies von unserer Keratitis neuroparalytica nicht
behaupten, die bei vollstandiger Analgesie. im Trigeminusgebiet sich
einstellte: bier kamen somit zunachst in Betracht die Austrocknung,
Schmerzverlust und Areflexie der Hornhaut.
Am Schluss noch ein Wort iiber den therapeutischen Erfolg
li H. Higier, Zur Klinik der Schweissanomalien bei Poliomyelitis ante¬
rior (spinale Kinderlahmung) und posterior (Herpes zoster). Deutsche Zeit-
schrift f. Nervenheilkunde. 20. 426.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
108
Higiek, Uber einige Komplikarioneu usw.
der Operation in unseren Fallen. Dariiber soli Naheres berichten der
Chirurg, dem ein grosseres Material zur Verfiigung steht, zwar ohne
so vielfaltige Nebenerscheinungen und Mitwirkungen. Das soil spater
geschehen, wenn uns im Okkupantengebiet die sonstige europaische
mediziniscbe Literatnr leichter zur Verfiigung stebt.
Wiinschenswert. scheint mir bei der Bearteilnng des Erfolges der
Ganglieninjektion jedenfalls die Unterscheidung dauernden yon unmittel-
barem, oft temporarem Erfolg. Letzterer war ein iiberraschend gunstiger
und stimmte bei uns genau mit der Scbilderung Hart els. Wir haben die
schwersten und hoffnungslosesten Falle behandelt und stets einen
vollen Erfolg erzielt, derart, dass die Kranken, welche noch soeben
yon furchtbaren Attacken heimgesucht waren, denen selbst die yor-
sichtigen Massnahmen der Vorbereitung, die Desinfektion, das Fassen
in den Mund scbwere Anfalle auslosten, vom Moment der Injektion
an yollig schmerzfrei waren und starkes Reiben und Maltratieren der
Wange anstandslos ertrugen. Kranke, welche wochenlang nichts
Festes gegessen hatten, denen ein Schluck Wasser Qualen verursachte,
kauen sogleich nach der Injektion eine feste Brotrinde, offnen weit
den Mund. Meist Helen die Patienten kurz nach der Injektion in
tiefen Schlaf und hatten seit langer Zeit eine erquickende Nacht-
ruhe. Morphium wird sofort entbehrlich, Fahigkeit zur Berufsarbeit,
zum Lebensgenusse stellt sich wieder ein und das lebhaftere
Mienenspiel, die wieder mogliche Hautpflege, lassen die Kranken ver-
jiingt erscheinen.
Anders verhalt es sich mit den Dauerresultaten. Eine unserer
Patientinnen zeigt eine Daueranalgesie mit Schwinden der Neuralgie
schon uber 12 Monate, dagegen bei der alteren Frau hat die Anal-
gesie allmahlich nachgelassen und die neuralgischen Schmerzen sind'
trotz der 2mal stattgefundenen Injektion mit der friiheren Vehemenz
aufgetreten. Bemerkt sei, dass Hartel unter seinen 24 Fallen in
uber der Halfte gute Daueranasthesie erzielte, dass yon den Fallen
mit schlechter Daueranalgesie nur fiinf Rezidiyen aufwiesen und
auch diese Falle gelang es durch erneute lnjektionsbehandlung wieder
yollig schmerzfrei zu bekommen.
So yiel lasst sich schon aus unserem kleinen Material ersehen,
dass eine yollige Zerstorung des Ganglions erst nach langerer Zeit
anhaltender Analgesie diagnostiziert werden kann und sollte in der
Mehrzahl der Falle von vorubergehender Lahmung oder teilweiser
Zerstorung des Ganglions die Rede sein, die zwar hier und da ausreicht
zur vblligen Hebung der Neuralgie. Wo sich Rezidiye zeigen, treten sie
meist gleichzeitig mit Nachlass der Analgesie im Quintusgebiet ein.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Besprechung.
Typhus und N e r v e n sy s te in. Von Prof. Dr. Georg Stertz.
Oberarzt der psychiatrischen Klinik in Breslau. Verlag S. Karger,
Berlin.
Stertz hatte als Stabsarzt an dem grossen Genesungsheim in Spa in
Belgien eine selten reiche Gelegenheit, an von Typhus Genesenden klinische
Beobachtungen und Untersuchungen anzustellen. Als Frucht dieser Arbeit
legt er, der als Neurologe und Psychiater gleichmassig ausgebildet ist. uns
eine Oberaus grfindliche und von durchdringender Sachkenntnis zeugende
Studie vor, deren sehr beachtenswerte Resultate in die kommendeu Mono*
graphien oder die Neuauflagen der bestehenden Monographien liber die
typhosen Erkrankungen Aufnahme finden mfissen; denn der Kenner woiss,
dass in diesen Monographien bisher das Thema „Typhus und Nerven-
system" und insbesondere das Thema „Nervensystem in der Rekonvales-
zenz von Typhus" den ihm gebfihrenden Platz noch keineswegs gefunden
hat. Und das muss um so mehr befremden, als gerade das Agens jener
Gruppe von akuten Infektionskrankheiten, die wir unter dem Namen „Ty¬
phus" zusammenfassen, die grOsste Affinitat zum Nervensystem hat. Eine
gewisse, durch die Umstande gebotene Einseitigkeit betont Stertz gleich
am Eingang seiner Arbeit, n&mlich dass die wahrend des akuten Stadiums
auftretenden StOrungen nicht in ihrer ersten Entstehung, sondern erst, im
weiteren Verlauf von ihm beobachtet werden konnten. Hinzu kommt, dass
bei dem Soldatenmaterial von Spa eine kritische Abwagung stattfinden
musste zwischen den durch die Infektionskrankheit einerseits und den
durch die durchgemachten Strapazen verschiedenster Art andererseits ge-
setzten Schadigungen; das ist in sorgfaltigster Weise durch genaue Er-
hebung der Anamnesen geschehen.
Stertz berichtet zuerst fiber posttyphftsc neurasthenische
Schwachezustande und weist nach, dass solche fiberaus haufig sich
zeigten, und zwar waren sie in etwa 60—70 Proz. in den ersten beiden
Monaten der Rekonvaleszenz nachweisbar; in der grbsseren Halfte handelte
es sich um belastete bzw. disponierte Individuen. Von den Kranken-
geschichten seien besonderer Beobachtung empfohlen diejenigen, die als
Zeichen einer besonderen, bis zum zeitweisen Versagen gesteigerten Er-
schopfbarkeit zerebraler Funktionen Flimmerskotome, intermittierende Auf-
fassungsstfirung bzw. HbrstSrung. sowie eine eigenartige Orientierungs-
storung intermittierender Art boten.
Die Schilderung, die Stertz zusammenfassend von diesen posttyphosen
neurasthenischen Schwachezustftnden entwirft, zeigt den geschulten Psy-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
110
Besprecliuug.
Digitized by
chiater, der strong unterscheidet zwischcn somatogenen and psychogenen
Zustftnden, zwischen exogenen and endogenen Momenten, der die Yer-
schiedenheit der Prognose hieraas zu erklftren sucht and so schon hier
beim ersten Kapitel den Resnltaten, die frGhere einschlagige Arbeiten, die
sich fast durchweg mit den grob-organischen Folgeerscheinungeu am peri-
pheren und zenlralen Nervensystem and mit den eigentlichen Psychosen
befassten, Neues hinzufOgt and LOcken ausfollt. Stertz weist nach, dass
der Typhus in bezug auf das Hinterlassen postinfektiOser Schwachezustande
der von ihm geschilderten Art zwar keine Sonderstellung einnimmt, and
dass diese Zustande nichts gerade for den Typhus Spezifisches enthalten,
dass sie aber vom Typhus mit seiner langen Fieberdauer and der beson-
deren Affinit&t seiner Toxine zum Nervensystem in einer besonders prag-
nanten und zum Studium geeigneten Form hervorgebracht werden. Er
weist auf die nahen Beziehungen der Krankheitsbilder zu Krapelins
„postinfektiOsen Schwitchezustanden" und zu Bonhoeffers „hyperasthe-
tischen eraotionellen Schwhchezustanden" hin.
Auf die Hysterie Qbergehend, weist Verfasser an der Hand der
Krankengeschichten nach, dass einzelne hysterische Symptome oder Sym-
ptomgruppen in der Rekonvaleszenz zu beobachten sind, nicht dagegen die
degenerativen ZOgc, welche man als hysterischen Character zu bezeichnen
pflegt — wenn sie nicht schon vorher vorhanden waren. Der „post-
typhOse Schwachezustand" kann der Ausbildung hysterischer Symptome
Vorschub leisten: die bei weitem haufigste Form hysterischer Symptome
ist die der Ubcrlagerung gewisser organisch bedingter Reiz- und Ausfalls-
erscheinungen. Stertz beschreibt hysterische Arm- und Beinschwache,
hysterische Ataxie und Parese der Beine, hysterischen Tremor, hysterische
SchwerhOrigkeit und SprachstOrung, hysterische Anhsthesie, Zuckungen
und allgemeine Anfalle, hysterische Chorea.
Bei diesem Kapitel will ich erwahnen, dass die Therapie, wie sie sich
im Laufe des Krieges bis heute allmahlich durchgerungen hat, frOher nicht
for moglich gehaltene Triumphe feiert. Die modifizierte Kaufmannsche
Methode sowie die Anwendung der Suggestion in Hypnose bringt — das
darf man heute behaupten — in Ober 90 Proz. der Falle die hysterischen
Symptome zum Verschwinden; seitdem der Arzt wieder gelernt hat,
personlich zu behandeln, und zwar mit Einsetzung seiner Per-
sOnlichkeit selbst und mit Opfer von Zeit und eigener Nerven-
kraft, ist die Prognose der funktionellen und besonders der
hysterischen Neurosen toto coelo anders. und zwar durchaus
gQnstiger gcworden. Die Arbeit von Stertz in Spa lag noch vor der
Verbreitung dieser Erfahrungen.
Wichtig ist die Feststellung, dass eigentliche Psychosen, von
denen man mit einiger Sicherheit annehmen kOnnte, dass sie auf Grund-
lage des Typhus erwachsen seien, unter den Rekonvaleszenten nicht be-
obachtet warden. Stertz meint, dass die beim Typhus vorkommenden
GeistesstOrungen fast durchweg den Fieberstadien oder denen der Ent-
fieberung angehOren — und „darum naturgemftss von der tjberfohrung
nach Spa ausgeschlossen“ waren. Nicht ganz selten beobachtete Stertz,
dass einzelne Wahnvorstellungen vom Typhusdelirium auch nach Ablauf
der akuten Erscheinungen und nach Wiedereintritt der allgemeinen Ord-
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Besprechung. j j j_
nung des Gedankenablaufs und der Orientierung in die Genesungsperiode
hinfibergenommen warden.
Relativ hfiufig sah Stertz Falle von Residnalwabn, auch Falle von
paralyseahnlichem Krankheitsbild, bei dem eine leichte Lympho-
zvtose and schwache Phase I-Reaktion im Liquor auf einen chroniscben
Reizzustand der Meningen hinwies, ferner amnestiscbe Zustandsbilder
vom Typos des Korsakow. In einzelnen Fallen war die Differential-
diagnose zwischen postinfektibsem und hebephrenem Stupor nieht mit
Sicherheit zu stellen. Interessant ist ein Fall von Pseudodemenz nach
Typhus sowie von pathologiscber Alkoholreaktion bei einem Nicht-
alkobolisten. Falle von Depression traten als* gleichmassiger Zustand so-
wohl wie in Form von Anfallen auf, Stertz kommt aber zu dem Schluss,
dass die Auslbsung primarer Gemfitsverstimmungen ein sehr seltenes Vor-
kommnis ist, das gilt sowobl fur die depressiven als auch ffir die manischen
Zustande. In mehreren Fallen von Dementia praecox konnte die rela*
tive Unabhangigkeit der Psychose vom Typhus nachgewiesen werden,
wenngleich eine Verschlechterung der Krankheit bzw. ein Anstoss zur
Weiterentwicklung der Psychose durch den Typhus offer nicht zu ver-
kennen war.
Sehr interessant sind auch die Erfahrungen, die Stertz fiber das
Vorkommen spinaler, zerebrospinaler und zerebraler sowie
neuritischer Krankheitsbilder gemacht hat. Auch hier fibermittelt
er uns seine Erfahrungen in kurzen, knappen und das Wesentliche bringen-
den Krankengeschichten, die dem kritischen Leser eine objektive Prfifung
durchaus ermbglichen. Was Stertz fiber das Vorkommen inkompleter,
zum Teil auf einzelne Strangsysteme begrenzter Myelitis, von Resten von
multipler Enzephalomyelitis, von Kombination myelitischcr und neuritischer
Symptome, von Residuen zerebrospinaler Meningitis, von zerebraler Hemi-
plegie sagt, bereichert unsere bisherigen Kenntnisse nicht unwesentlich.
Dass multiple Sklerose durch Typhus entsteht, konnte St. mit Sicherheit
auch nach seinem ungewohnlich grossen Material nicht nachweisen; es ist
dies wichtig, weil auch dadurch die Annahme, dass in der Atiologie der
Sclerosis multiplex Infektionskrankheiten eine Rolle spielen, keineswegs
eine Stfitze erhalt; wir alle haben wohl schon lange den Eindruck gehabt,
dass der ursfichliche Zusammenhang zwischen multipler Sklerose und In¬
fektionskrankheiten mehr auf dem Papier der Lehrbttcher als in der Wirk-
lichkeit steht. Es kommt hinzu, dass es oft — meistens — intra vitam
nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, ob es sicli um akute Formen der
multiplen Sklerose Oder um multiple enzephalomyelitische Herde handelt.
Stertz kommt zu dem Schluss, dass die Beteiligung des Zentralnerven-
systems, soweit sie sicli in organischen Ausfallserscheinungen zu erkeunen
gibt, ein recht seltenes Ereignis darstellt, selbst wenn man erwfigt, dass
der eine oder andere Fall frflh zum Exitus gekommen ist oder bald einem
Heimatslazarett Oberwiesen wurde. Sicher ist, dass spinale Krankheits¬
bilder h&ufiger sind als zerebrale. Man darf annehmen, dass das Rficken-
mark am haufigsten in Form multipler, kleiner, regellos verteilter Herde
befallen wird. Ob das ein haufigeres Befallen werden des Rfickenmarks
bedeutet als des Gehirns, ist damit nicht entschieden, denn schon kleine
Herde kbnnen im Rfickenmark Symptome zeitigen, die im grossen Areal
des Hirns noch keine klinischen neurologischen Anzeichen zu gebon
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
112
Besprechung.
Digitized by
brauchen. Auffallend ist, dass Stertz das Bild der sogeuannten „allge-
tneinen akuten Ataxie“ (C. Westphal, Lenhartz, Nonne u. a.) nicht
sab; bekanntlich wurde dies klinische Bild zaerst gerade bei Typhus-
rekonvaleszenten beobacktet. Wahrend des Krieges babe icb, da ich nur
eine kleine Anzahl von Typbusrekonvaleszenten sah, es nicht weniger als
3mal bei solchen Kranken in ausgepragter Form gesehen.
Viel haufiger als das Zentralnervensystem bietet das peripbere
Nervensystem Zeichen von organischer Erkrankung. Man lese bei Stertz
die Falle von Neuritis des N. opticus, des N. abducens, N. olfactorius und
glossopharyngeus, des N. trigeminus, acusticus (cochlearis) auf dem Gebiet
der Hirnnerven nach. Auf dem Gebiet der Extremitatennerven kommen
die Falle von Neuritis des N. ulnaris, des N. peroneus, cutaneus femoris
externus, die Falle von isolierter Lahmung einzelner Muskeln im Schulter-
gebiet, von kombinierter Schulter-Armlahmung (Typus Erb), von neuri-
tischen Lahmungen im Beckenghrtel in Betracht. Es zeigte sich, dass der
N. ulnaris und peroneus auf motorischem bzw. „gemischtem“ Gebiet, der
N. cutaneus femoris externus auf rein sensiblem Gebiet „Pradilektions-
nerven“ sind. Unter den Schultermuskeln zeigte das Gebiet des N. supra-
scapularis eine besondere Disposition zur Erkrankung. Niemals sah Stertz
isolierte Lahmungen des N. radialis und medianus, niemals am Bein eine
solcbe des N. cruralis oder N. tibialis. Gegen die besondere Bedeutung der „ge-
scbfltzten Lage“ fttr das Freibleiben spricht die Tatsache, dass der expo-
nierte N. facialis niemals erkrankt gefunden wurde, wahrend der besonders
geschfltzt liegende N. acusticus verhaltnismassig oft erkrankt war. Da
auch die Edingersche Aufbrauchtheorie die Falle nicht crklaren
konnte, so greift auch Stertz zurflck auf die Annahme einer „elektiven
Wirkung".
Die Svmptome motorischer Schwache Qberwiegen die sensiblen Aus-
fallscrscheinungen — entsprechend den auch sonst bei peripherer Neuritis
langst gemachten Erfahrungen. Trophische Stbrungen finden sicli
nicht selten in Gestalt von Verlust von Nflgeln und Haaren und von
Knochenatrophie. Es handelte sich immer um infektiOse Erkrankungen,
nicht um Nachkrankheiten im Sinne der postdiphtherischen Lahmungen.
Die elektrische Erregbarkeit zeigte ganz vorwiegend nur partielle EaR.,
dementsprechend war die Prognose meistens gttnstig. Auffallend liartnackig
erwies sich hingegen die Bern bar dtsche Krankheit.
In einer Reilie von Fallen handelte es sich um eine echte Poly¬
neuritis; diese typliOse Polyneuritis war immer als Komplikation des
akuteu Leidens, nicht als Nachkrankheit anzusehen. Interessant ist auch
die Feststellung, dass bei ausserordentlich zahlreichen Dauerausscheidern
von Typhusbazillen nach eingetretener Rekonvaleszenz fast niemals erheb-
liche StOrungen seitens des Nervensystems auftraten.
In einzclnen Fallen musste man annehmen, dass die Polyneuritis in
der Rekonvaleszenz im Anschluss an eine Uberanstrengung zustande kam.
In den 22 Fallen ausgesprochener Polyneuritis und den 43 Fallen leichter
polyneuritischer Erscheinungen konnte Stertz irgendwelche ausgesprochene
EigentOmlichkeiten gegenOber den aus andern Ursachen entsteheuden Poly-
neuritiden nicht nachweisen. Die Hirnnerven beteiligten sich nur — selten —
in Form von SchwerhOrigkeit und Tachvkardie.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Besprechung.
113
Vasomotoriscbe, sekretorische and trophische Storungen sab Stertz
bei seinen Typhusrekonvaleszenten in Form von Akroparese, Hyper-
hidrosis, Polynrie, Basedowkomplex. Fflr den letzteren setzt Stertz
einen „posttyphOsen Heizzustand des Sympathikus“ voraus und „verzicbtet
ffir die Erklarung auf den Umweg Qber die tbyreogene Autointoxikation",
wenngleich er das Vorkommen basedowoider Erscheinungen in der Typhus-
rekonvaleszenz nicht in Abrede stellt. Der Haarverlust erstreckte sich
zuweilen auch anf die Bart- und KOrperhaare. Von sonstigen trophischen
Anomalien kam vollkommen reizloses Ausfallen von Nagelnsowie sonstige
Nagelstdrungen, langdauernde Hautabschuppung, Hyperkeratosis, Striae-
bildung der Haut als Ausdruck einer Dystrophic des elastischen Gewebes,
Quinckcsches Odem im Gesicht vor.
Als motorische Reizerscheinungen zeigten sich hier und da
schmerzhafte Krampfzustande in einzelnen Muskelgebieten, die gewdhnlich
— nicht immer — mit leichten rheuniatischen oder neuritischen Erschei¬
nungen verbunden waren.
Echte Neuralgie — Trigeminusneuralgie, Ischias — sind nach
Stertzs Erfahrungen sehr seltene Nachkrankheiten des Typhus; man muss
sich hQten vor ihrer Verwechslung mit schmerzhaften Erkrankungen der
Knochen oder des Periosts, besonders auch mit Wurzelschmerzen als Folge
von Erkrankungen der Wirbel.
Hingegen ist bei Typhusrekonvaleszenten besonders kaufig ein Tre¬
mor. Derselbe befailt weitaus am haufigsten Hande und Zunge, seltener
die unteren Extremitaten, und nur in schweren Fallen ganz selten Gesicht
und Sprechmuskulatur. Bei Fallen von universellera Tremor war fast immer
ein hysterisches Komponent mit ini Spiel.
In 2 Fallen wurde der Tetaniekomplex beobacbtet, und zwar in einer
Weise, dass man annehmen musste, dass dieser Komplex neben andern In-
fektionen und Intoxikationen auch dem Typhus seine Entstehung verdanken
kann. Man muss es olfen lassen, ob das Symptombild durch das Zwischen-
glied einer Erkrankung der Glandulae parathyreoideae zustande kommt.
Das Auftreten epileptisclier Anfalle nach Typhus bei Individuen,
bei denen epileptische Antezedentien nicht schon vorher vorhanden waren,
muss „als ein ausserordentlich seltenes Ereignis angesehen werden, so dass
ein innerer Zusammenhang zwischen Typhus und eigeutlicher Epilepsie
sich nicht daraus ableiten lasst.“
Die Falle von Spondylitis typhosa zeichnen sich durch geringe
Neigung zur Einschmelzung aus, und deshalb kommt es auch nicht zu
Kompressionsmyelitis; die bei ihr bestehenden neuralgischen Schmerzen sind
ein Ausdruck der gleichzeitigen Erkrankung des Wirbelperiosts, wodurch
die hinteren Wurzeln in Mitleidenschaft gezogen werden.
In einem Schlusskapitel betont Stertz. wie schwer es oft ist zu sagen,
ob bestimmte subjektive und objektive Symptome endogen oder exogen, ob
sie organischer oder funktioneller Natur sind. „Es gibt eineGrenze feineren
physisch-nervOsen Geschehens, bei welcher die Trennung endogener und
exogener Reaktionstypen versagt." „Eine grosse Anzahl der sogenannten
funktionellen Symptome, die wir in gleicher oder ahnlicher Form als Be-
gleiterscheinung endogener Neurosen auftreten sehen, kann organisch be-
dingt sein.“ „Dass die eigentlichen hirnpathologischen und rttckenmark-
pathologischen Ausfdlle verhaltnismassig selten sind, mag beruhen in einer
Deutsche Zeitschrift f. Nervcnheilkunde. Bd. 57. S
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
114
Besprecbung.
geringen Neigung der typhflsen Verfinderungen zur Einschmelzung des be-
fallenen Gewebes and zur Bildang von Eiterung."
Im allgemeinen kann man sagen, dass die Schwere der Infektion in
der grossen Mehrzahl der Faile in einem direkten Verhaltnis zu den Eom-
plikationen seitens des Nervensystems stebt. Stertz erwartet deshalb,
„dass die Impfung mit ihrem die allgemeine Erankbeitsschwere mildernden
Einfluss auch hinsichtlich der nervOsen Folgeerscheinungen gfinstige Re-
sultate ergibt."
In 105 Krankengeschichten belegt Verf. die oben in gedrangter Efirze
mitgeteilten Tatsachen and Ansicbten. Fast die ganze Pathologie des
Nervensystems zieht vor unserem Auge vorOber. Exakte Beobachtnng,
rnhige Eritik und grosse allgemeine klinische Erfahrung scbnfen eine
Monograpbie, die eine wertvolle Bereichernng nnserer Erfahrungen fiber
das Eapitel „Typhus nnd Nervensystem" darstellt.
M. Nonne (Hamburg'.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
ZeitschriftenUbersicht
Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologic.
Herausgegeben von Prof. Dr. K. Bon h offer.
Band 40, Heft 5 'November 1916).
G. Sever in-Rostock, Uber Adrenalinwirknng bel Schlzophrenen and
Gesanden. — Die Emptindlichkeit auf Adrenalin bei snbkataner Injektion
spielt vorlaufig bei den einzelnen Psychosen differeotialdiagnostisch noch keine
Rolle.
H. Sauer-Greifswald, Cber gehftufte klelne Anfftlle bei Kindern
(Pyknolepsie). — Es handelt sich nm solche Anfalle, die ein Intaktbleiben von
Intelligenz und Psyche, grosse Haufung der Anfalle, periodisclies An- und Ab-
schwellen sowie wahrscheinlich auch Sistieren um die Pubertatszeit zeigen.
Ein grosser Teil weist psychopathische Zuge auf.
Jul. Donath, Kriegsbeobachtnngen Uber hysterische Stimm-, Sprach-
nnd Horstorungen. — Sehnelle psychotherapeutisehe Heilung.
A. K utzinski-Berlin, Elnige Bemerkungen znr Psychopathologle der
sog. Intestinalneurosen im Anschluss an Erfabrungen bel Soldaten. — U. a.
erscheint die Iokale Therapie bei der nervbeen Dyspepsie unzweckmassig.
Band 40, Heft 6 (Dezember 1916).
P. Zimmermann-Hamburg, Uber den Alkallgehalt des Blntes bei
Geistesgesonden nnd Geisteskranken. — Es zeigt sich kaum ein Abweichen
von der Norm.
Hedwig Bumke-Rostock, Die Beschleunigung der Blutgerlnnangszeit
bet Dementia praecox. — Ein Fehlen der Beschleunigung spricht nicht gegen
Dementia praecox; sehr niedere Werte stutzen die Diagnose der Schizophrenic.
R. Weichbrodt-Frankfurt, Elne einfache Liquorreaktlon. — 3 Teile
einer 1 prom. Sublimatlosung werden zu 7 Teilen Liquor zugesetzt.
J. Gerstmann-Wien, Znr Kenntnls der Storungen des Kdrperglelch-
gevrlchts nach Schnssverletznngen des Stlrnblrns. — Die frontalen St&rungen
werden durch eine Affektion der kortikalen Ursprungsstation der Stimhlm-
BrUckenkleinhimbahn verursacht.
R. Ganter-Wormditt, Uber die Behandlnng der Epllepsle mlt salz-
srmer Kost nnd Sedobrol, nnd Sedobrol nnd Lnminal. — Die erBtere Be-
handlnng flbertrifft diejenige mit Brom.
M. Nonne, Ludwig Bruns, Nekrolog.
Band 41, Heft 1 (Januar 1917).
G. Bunnemann-Ballenstedt, Yerscbledene Betrachtungsweisen nnd die
Nenrosenfrage.
8 *
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
116
Zeitsehriftenubersicht.
Max Meyer-Frankfurt a. M., Znr Fnge der Adrenallnunempflndlich-
kelt bei Dementia praeeox. — Besteht in der Tat bei bestimmten Psychosen.
MSrchen-Wiesbaden, Znr Frage des Innenrationsschoks lm Krlege.
E. Licen, Znr Symptomatologie der Herderkrankungea der moto-
rischen Region bei Epileptikern.
K. Kleist-Rostock, Berichtigung zu meiner Arbeit *fiber Leitungsapha*
sie and grammatlscbe Stflrungen.
Band 41, Heft 2 (Febrnar 1917).
M. E. N aef -Leipzig-Miinchen, fiber Psychosen bei Chorea.
W. Horstmann-Stralsnnd, Qrnndlagen des Negativlsmns. — lm Ori¬
ginal zn studieren.
O. Bunnemann, Yerschiedene BetrachtnngsweisennnddieNenrosen-
frage (Schlnss).
G. C. Bo)ten, Bemerkungen zu dem Aufsatz der Frau Ph. H. Sauer,
fiber'gehknfte kleine infllje bei Kindern (Pyknolepsie.
Band 41, Heft 8 (Marz 1917).
B. Brouwer -Amsterdam, fiber die Sehstrahlnng des Mensehen. (Schluss
iolgt.)
Max L5wy, Znr Atlologle psyehiseher nnd nervSser Stflrungen der
Kriegsteilnehmer. — Zu kurzem Referat nicht geeignet.
J. A. van Hasselt, fiber Meningo*Encephalitis tuberculosa circum¬
scripta. — Dem Trauma wird die wahrscbeinliche Ursache fflr die Erkrankung
zugeschrieben.
Max Marc us e-Berlin, Ein Fall Ton periodisch-alternlerender Hetero-
Homosexnalitftt.
Schultze, Carl Pelman (Nekrolog).
Band 41, Heft 4 (April 1917).
Kraraer-Berlin, Schussrerletzung der peripheren Nerven. 111. Nervus
ulnaris. — Vorzugliche Kasuistik.
B. B rouwer, fiber die Sehstrablnng des Henschen. — Auf Grand von
zwei klinischen und autoptischen Befunden genaue anatomische Deduktionen.
K. Singer-Berlin, Kasuistische Mittell ungen.
Selma Meyer, fiber die Prognose der CtoburtsliUiniungea des Plexus
braohlalis.
Band 41, Heft 5 (Mai 1917).
A. Friedlaender-Hohe Mark, Kriegsmedizinisehe nnd psychologisehe
Bemerkungen.
E. Jentsch-Obernigk, fiber die klinlsche Bedentnng der Degenera-
tionsxelchen. — Ausgezeichnete klinische Studie, die sowohl fflr den Psychiater
als fflr den inneren Mediziner Behr wichtig ist.
Selma Meyer, Schluss des obigen Aufsatzes auf Grund einer grossen
Kasuistik.
Horstmann, Nachtrag. E. Ebstein.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Literaturtlbersicht.
W. H. Becker, Briefe an Angeh&rige von Geisteskranken. Berlin,
S. Karger. 1917. 83 S.
R. Bing, Kompendinm der topiechen Gebirn- und Ruckenmarksdiagnostik.
Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Wien and Berlin, Urban & Schwarzen-
berg. 1917. 235 S.
S. Freud, Zor Pavchopathologie des Alltagslebens. Fiinfte Auflage.
Berlin, S. Karger. 1917. 232 S.
K. Goldstein, Schemata zum Einzeicbnen von Kopf- und Gehirnver-
letzungen. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1916.
W. Hellpach, Die geophysischen Erscheinungen. Wetter, Klima und
LandBchaft in ihrem Einfluss auf das Seelenleben. Zweite Auflage. Leipzig,
W. Engelmann. 1917. 489 S.
Hezel, Marburg, Vogt uud Weygandt, Die Kriegsbeschadigungen
des Nervensystems. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 257 S.
Magnus Hirschfeld, Sexualpathologie. 1. Teil. Bonn, Marcus & Weber.
1917. 211 S.
Liebermeister, Uber die Behandlung von Kriegsneurosen. Halle a. S.,
Carl Marhold. 1917. 75 S.
O. Naegeli, Unfalls- und Begehrungsneurosen. (22. Bd. der neuen deut-
schen Chirurgie.) Stuttgart, F. Enke. 1917. 201 S.
_J. H. Schultz, S. Freuds Sexualpsychoanalyse. Kritische Einfuhrung
fflr Arzte und Laien. Berlin, S. Karger. 1917. 40 S.
E. Villinger, Gehim und Rfickenmark. Leitfaden fur das Studium der
Morphologie und des Faserverlaufs. 4. Auflage. Leipzig, W. Engelmann. 1917.
318 S. Mit 253 Figuren.
H. Vogt, Handbuch der Therapie der Nervenkrankheiten. Bd. 1. Die
Methoden. Bd. II. Krankheitsbilder und deren Behandlung. Jena, G. Fischer.
1916. 1239 S.
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Gesellschaft Deutscher Nervenarzte
Die
Neunte Jahresversammlung
der
Gesellschaft Deutscher NervenSrzte
wird am
Freitag, den 28. und Sonnabend, den 29. September 1917 in Bonn
stattfinden.
Programm.
Donnerstag, den 27. September,
naciim. 6 Uhr: Vorst andssitzung im Gasthof Kduigshof, Koblenzer
Strasse 11.
Freitag, den 28. September.
9 Uhr: Sitzung in dem Universitatsgebaude, II. Stock.
Erster Bericht: Symptomatologie und Therapie der peripherischen
LShmungen auf Grund der Kriegebeobachtungen.
Berichterstatter: Edinger-Frankfurt fttr den allgemeinen Teil.
Spielmeyer-MOnchen fttr pathologische Anatomie
und Symptomatologie.
Foerster-Breslau fttr die Therapie.
Daran auschliessend: Aussprache.
12 l l 2 —1' 2 Uhr: Frtthstttckspause.
1 r 2 —6 Uhr: Fortsetzung der Aussprache.
Sonnabend, den 29. September.
9 Uhr: Sitzung im Universitatsgebaude.
Zweiter Bericht: Die durch die Kriegsverletzungen bedingten Ver*
anderungen des optischen Zentralapparates.
Berichterstatter: S aen ge r- Hamburg.
Daran auschliessend: Aussprache. Zu derselben ist vorgemerkt:
Poppelreuter-Coln.
12V 2 —1 I; 2 Uhr: Frtthstttckspause.
1 >/ 2 —5 Uhr: Fortsetzung der Aussprache.
H. Oppenheim M. Nonne
I. Vorsitzender. II. Vorsitzender.
Berlin, Konigin-Augusta-Stra9se 28. Hamburg, Neuer Jnngfemstieg 23.
K. Mendel
Schriftfiihrer.
Berlin, Augsburger Strasse 43.
B. Finkelnburg und Hdbner
Bonn, Lenndstrasse 45. Bonn, Glnckstrasse 9.
fttr den Ortsausschuss.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
VERLAG VON F. C. W. VOGEL IN LEIPZIG
Vorlesungen fiber den Bau der nervosen Zentralorgane
dee Menschen und der Here. FurArzte und studierende
von Professor Dr. Ludwig Edinger, Direktor des neurologischen
Institutes in Frankfurt am Main.
I. Band: Das Zentralnervensystem des Menschen und der Skuge-
tiere. 8. umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage. Mit
398 Abbildungen und 2 'Bafeln. 1911.
Preis M. 18.—, gebunden M. 19 - 75 -
II. Band: Vergleichende Anatomie des Gehirns. 7. umgearbei¬
tete und vermehrte Auflage. Mit 283 Abbildungen. 1908.
Preis M. 15.—, gebunden M. 16.50.
EinfUhrung in die Lehre vom Bau und den Verrichtungen
d68 NervenSyStemS von Prof. Dr. Ludwig Edinger, Direktor
des neurologischen Institutes in Frankfurt am Main. Zweite,
vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 176 Abbildungen.
1911. Preis M. 6.—, gebunden M. 7.25.
Die Diagnose der Nervenkrankheiten von purves Stewart,
M. A., M. D., F. R. C. P., London. Nach der zweiten Auf¬
lage ins Deutsche iibertragen von Dr. Karl Hein, Bad Schon-
fliefi. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Eduard MUller,
Direktor der medizinischen Universitatspoliklinik zu Marburg.
Mit 208 Abbildungen im Text und 2 Tafeln.
Preis M. 10.—, gebunden M. 11.50.
Die Krankheiten des Nervensystems im Kindesalter. von
Prof. Dr. Martin Thiemich, Leipzig und Privatdozent Dr. Julius
Zappert, Wien. Mit Beitragen von Primarius Privatdoz. Dr.
W. Knopfelmacher, Wien und Prof. Dr. H. Pfister,
Berlin. Mit 1 Tafel und 53 Textfiguren.
Preis M. 12.—, in Halbfranz gebunden M. 14.50.
Nervositdt und Erziehung. Ein Vortrag fUr Erzieher, Arzte
und Nervose. Von Prof. Dr. A. von Striimpell, Direktor der
medizinischen Klinik an der Universitat Leipzig.
Preis M. 1.50.
Digitized b}
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
VERLAG VON F. C. W. VOGEL IN LEIPZIG
Digitized by
LEHRBDCH DER ALLGEMEINEN
DND SPEZIELLEN PSYCHIATRIE
*
ZUR KINFUHRUNG FOR STUDIKRENDK
UND ALS MERlvBUCH FUR IN DER ALL¬
GEMEINEN PRAXIS STEHENDK ARZTE
BEARBEITET VON
privatdozent Dr. ERWIN STRANSKY
IN WIEN
L ALLGEMEENER TEIL
MIT 11 ABBILDUNGEN, 1 FARBIGEN TAFEL UND
EINEM PHARMAKOLOGISCHEN ANHANG
BEARBEITET VON Dr. KARL FERI IN WIEN
Preis M. 8.— Gebunden M. 9.25
Jahresbericht fttr Neurologic und Psychiatric.
In dem Vorwort zu seinem Lehrbuch der allgemeinen Psychiatric betont
Stransky selbst, daB an guten Lehrbdchern der Psychiatric kein Mangel herrscht.
Ich bin iiberzeugt, daB sein Buch dennoch seinen Weg finden wird, weil es sich
besonderer Vorziige erfreut. Schon die ganze Darstellungsart ist eine so lebendige,
daB das Buch jeden jungen Mediziner fesseln wird. Stransky gibt Winke iiber
den Umgang mit Kranken, iiber die Art und Schwierigkeit der Exploration; der
Teil, der die Psvchologie behandelt, ist ubersichtlich und verstandlich geschrieben.
In der allgemeinen Atiologie beriicksichtigt der Verfasser alle Hereditatsfragen mit
der durchaus notwendigen Kritik. Hinsichtlich der Psychoanalyse erkennt er das
Verdienst Breuers und Freuds an, daB sie_ auf die Bedeutung der schadlichen
Wirkung der Affektverdrangung hingewiesen haben, weist aber alle Obertreibungen
mit Recht zuriick. Es ist nicht moglich, bei der Fiille des Materials, das Stransky
in seinem Buch darbietet, auf weitere Einzelheiten einzugehen. Ich mochte nur
als besonders wohlgelungen noch das Kapitel iiber ,,Lebensalter, Geschlecht, Rasse,
Milieu und Kultur 44 und das iiber ,, Allgemeine Therapie der Geist^skrankheiten;
Vorbeugung" erwahnen. Die neuesten Ergebnisse und Theorien der biologischen
Wissenschaft (innere Sekretion, Wassermannsche Reaktion, Abderhaldensche
Dialysierverfahren usw.) sind mit beriicksichtigt. In einem phartnakologischen
Anhang sind von Feri die Wirkungsweise und Anwendung der fur den praktischen
Psychiater wichtigen Arzneimittel besprochen.
Druck von August Pries in Leipzig.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
Von
Dr. 6. 0. Bolten (Haag, Holland).
Oswald, der bereits yor langerer Zeit nachgewiesen zu haben
meinte, dass der wirksame Bestandteil der Schilddriise das Thyreo¬
globulin ist, kommt in einer Mitteilung sehr jungen Datums auf dieses
Thema zuriick und behandelt dabei auch so nebenbei die Pathologie
dieses kleinen, doch trotzdem so ausserordentlich wichtigen Organs.
Laut Oswald gibt Hyperthyreoidismus Anlass zu Morbus Basedowii,
wahrend Hypofunktion der Schiddriise dieErscbeinungendesMyxodems
und des Eretinismus verursachen soli. Was die Problems chemischer
Art angeht, werden wir sehr kurz sein. Wie von Fiirth sehr mit
Recht bemerkt, ist die Schilddriise ein Organ, von dessen Chemie wir bis
jetzt wenig Freude erlebt haben. Er glaubt denn auch nicht, dass das
Thyreoglobulin (also eine Verbindung des Eiweisskorpers Globulin mit
Jodium) der essentielle Bestandteil der Tbyreoidea sei, da bei eben ge-
borenen Tieren, bei denen die Schilddriise doch ebenso lebenswichtig
ist als bei Erwachsenen, dieses Organ noch kein Jodium enthalt. Und
Thyreoidin ebenso wie Thyreojodin sind sicherlich Kunstprodukte, wie
u. a. aus den Tierversuchen von Asher und Flack u. a. sehr deutlich
hervorgeht.
Doch den Chemismus der Schildriise, ein noch so gut wie jung-
frauliches Feld, lassen wir hier weiter ausser Besprechung; hier
besteht nor die Absicht, einen kleinen Teil der Pathologic dieses
Organs zu besprechen. Und dann muss man voranstellen, dass dieses
wichtige Kapitel lange nicht so einfach ist, als Oswald es hinstellen
wilL Wohl sind zwar Eretinismus und Myxodem ohne Zweifel Ausse-
rungen von Hypothyreoidismus, doch daraus folgt noch keineswegs,
dass auch das Umgekehrte wahr ist, dass namlich Funktionsverringe-
rung der Schilddriise per se entweder zu Myxodem oder zum Ereti¬
nismus fiihrt. Die Schilddriise ist doch ein so wichtiges Organ und
ihre Funktion ist so ausserordentlich kompliziert und verschiedenartig
und macht sich so sehr in den allerfeinsten Unterteilen der Haushal-
tung unsere3 Organismus geltend, dass es allein dadurch schon
apriori nicht anzunehmen ist, dass Storungen eines Organs mit solchen
Deutsche Zeitschrift f. Xervenheilkunde. Bd. 57. 9
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
120
Bolten
besonders vielfaltigen und in den ganzen Stoffwecbsel eingreifenden
Funktionen sich per se nur in den genannten zwei Krankheitsbildern
aussern sollten. Wie sich wohl yon selbst versteht, bediirfen wir,
uni die Pathologie der Schilddruse begreifen zu konnen, einer mog-
lichst vollstandigen Einsicbt in die Physiologic dieses Organs, und ist
auch unsere Eenntnis dieses letzteren weit davon entfernt, vollstandig
zu sein, so verfiigen wir doch iiber ein hinreichendes, ziemlicb fest-
stehendes Tatsachenmaterial, das uns instand setzt, uns einigermaGen
einen Begriff von der sehr wichtigen und komplizierten Schilddriisen-
funktion zu bilden, sei es aucrb, dass yiele Tatsachen noch mehr oder
weniger undetailliert und ausschliesslich experimentell festgestellt sind,
wahrend das Feinere der Sache, besonders der Chemismus der Thv-
reoidea, noch stets in ein fast vollkommenes Dunkel gehiillt ist. Aus
zahlreichen Tierversuchen ist wohl mit grosser Sicherheit hervor-
gegangen, dass die Schilddruse in erster Linie der Regulator und
Akzelerator des gesamten Stoffwechsels ist; und dies wahrscheinlich
mit Hilfe des chromaffinen Systems und des infundibularen Teiles der
Hypophyse. Eppinger, Falta und Rudinger zeigten an, dass bei
schilddriisenlosen Tieren der Eiweissumsatz im Hungerzustand viel
niedriger ist als bei normalen hungernden Tieren; bei grossen Hun-
den geht diese Abnahrae, wenigstens wahrend der ersten Periode
nach der Thyreoidektomie (solange noch keine akzessorischen Driis-
chen vikariierend hypertrophiert sind), bis auf ungefahr die Halfte
des normalen Umsatzes herunter. Auch kann nach Thyreoidektomie
die Zufuhr von Kohlenhydraten und Fetten den Eiweissumsatz nicht oder
nahezu nicht erniedrigen, wahrend dieses bei normalen Verhaltnissen
wohl der Fall ist. Weiter verursacht Thyreoidektomie eine starke
Herabsetzung der Assimilationsgrenze fur Traubenzucker, so dass Ein-
spritzung einer 20proz. Zuckerlosung ( 5—7 Gramm Zucker per
Kilograram Tier) bei schilddriisenlosen Hunden eine starke und lang-
dauernde Glykosurie hervorruft. Die genannten Forscher schreiben
jedoch auf Grund ihrer Versuche diese Glykosurie nicht dem Fort-
fallen der Thyreoidfunktion zu, da die Erscheinung nicht nach reiner
Thyreoidektomie auftritt, doch nur nach der sogenannten kompletten
Thyreoidexstirpation, d. h. Entfernung der Schilddruse und der ge¬
samten Epithelkorperchen. Das Herabsinken der Assimilationsgrenre
fiir Traubenzucker wiirde also gebunden sein an das Fortfallen der
Parathyreoidfunktion. Ober diesen letzten Pnnkt besteht allerdings
noch keine vollkommene Sicherheit. Wohl steht fest, dass«ausser
dem Eiweiss- und Kohlenhydratstoffwechsel auch der Fett- und Salz-
stoffwechsel mehr oder weniger stark abnehmen nach Thyreoidekto¬
mie: die Magnesium-, Chlor- und Phosphatausscheidung im Ham wer-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
121
den geringer; gleichfalls die Kalkausscheidung in den Fazes. Wird
das Tier mit Thyreoidpraparaten gefiittert, so nehmen diese Aus-
scheidungen wieder zu und erreichen wieder die normale Hohe.
Ferner wies Magnus Levy nach, dass nach Thyreoidektomie der
Gaswechsel in den Lungen abnimmt, so dass auf diese Weise durch
Athyreodie der Stoffwecbsel verzogert wird.
Von sehr grossem Belang ist ausserdem, dass die Schilddriise,
die dnrch den Nervus sympathicns innerviert wird (und vielleicht
noch Zweige aus dem Nervus vagus empfangt), ausserdem auf den
letzteren zuriick wirkt und in ihm einen Tonus unterhalt. Thyreoidek-
tomie verursacht Sympathikushypotonie, die sich aussert in Zirkula-
tionsstorungen und in trophischen bzw. sekretorischen Storungen der
Haut usw. Laut einiger Forscher ist denn auch nach Thyreoidekto-
mie eine deutliche Herabsenkung des Blutdrucks wahrzunehmen und
es enthalt das Blutserum schilddriisenloser Tiere Substanzen, die, bei
andern Tieren eingespritzt, blutdruckerniedrigend wirken. Einerseits
wirkt also die Schilddriise akzelerierend auf andere Driisen mit innerer
Sekretion, u. a. auf das chromaffine System und den infundibularen
Teil der Hypophyse, doch dagegen hemmend auf andere Organe, z. B.
auf das Pankreas, wahrend andererseits die Thyreoidea und der Sym¬
pathies in Wirklichkeit eine Art gescklossenes System bilden, wo-
bei die eine tonisierend und akzelerierend auf die andere einwirkt:
der Sympathies innerviert die Schilddriise und befordert die sekre-
torische Funktion des Organs, wahrend gegenseitig die Schilddriise
einen tonisierenden Einfluss auf den Nervus sympathies ausiibt. Die
Schilddriisenfunktion kann also nicht als ganz selbstandig betrachtet
werden, doch bildet sie einen Unterteil eines sehr komplizierten
Systems, da die Thyreoidea zusammenarbeitet mit verschiedenen
anderen Driisen und mit dem Sympathies, und also ein wichtiges
regulierendes Zentrum des vegetativen Nervensystems bildet. Biedl
sagt dariiber folgendes: „Diese Organe (die Driisen mit innerer Sekre¬
tion) stehen in zweifachen Beziehungen zum vegetativen Nervensystem.
Einerseits wird jedes von ihnen durch einen bestimmten Teil des
vegetativen Nervensystems innerviert, und andererseits wirkt das
innere Sekret der Driise wieder auf den Tonus des entsprecbenden
Nerven ein. Die stoffwechselfordernde Gruppe hat eine sympathische
Innervation und erregt sympathische Fasern, wahrend sie gleichzeitig
die autonomen Nerven hemmt. Umgekehrt hesitzt die retardative
Gruppe eine autonome Innervation und wirkt autonom akzelerierend
und sympathisch hemmend. Besonders fiir die Schilddriise wird eine
doppelte Innervation, namlich eine autonome und eine sympathische,
angenommen, und eine Einwirkung des Schilddriisensekrets auf beide
9*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
122
Bolten
Anteile des yegetativen Nervensystems postuliert." So Biedl, aus
dessen Auffassung ganz deutlich hervorgeht der sehr innige Zusam-
menhang zwischen Schilddriise und Sympathicus, und besonders der
Einfluss, welcbe der letztere yon der ersteren erfahrt 1st also die
Schilddriise mehr oder weniger insuffizient, dann muss sich oder
kann sich wenigstens dieses abspiegeln in sekundaren Storungen im
sympathischen System. Dies ist fur die Pathologie yon besonders
grossem Belang, da wir, wie spater ausfiihrlich auseinandergesetzt
werden soil, oft die Hypothyreoidie herleiten (oder wenigstens ver-
muten) konnen aus den yorhandenen trophischen und anderen Sto-
rungen, die wir als Folge der Sympathikushypotonie auffassen.
Mehr oder weniger im Verbande mit dem akzelierenden Einflusse,
den die Schilddriise auf den gesamten Stoffwechsel ausiibt, stehen noch
verschiedene Tatsachen und Ergebnisse der Tierversuche. So weist
z. B. Mar be auf den yon der Schilddriise auf die Darmsaftsekretion
ausgeiibten Einfluss hin: bei Tieren trat nach Schilddriisenfutterung
eine starke Vermehrung der Darmsaftsekretion auf, selbst bis auf un-
gefahr das Doppelte der normalen Menge. H 5 rt die Schilddriisen-
fiitterung auf, so sinkt die Menge des Darmsekrets sogleich wieder
auf das Normale.
Ferner soil, laut Fassin, die Schilddriise die Bildung von Alexi-
nen befordern und die antibakterizide und hamolytische Kraft des
Blutes erbohen, so dass Hypothyreoidie zum Sinken der genannten
Eigenschaften leiten soil. Andere Forscher, u. a. Roger und Gar-
nier, Marbe u. a. ziehen aus ihren Ezperimenten den Schluss, dass
Hypothyreoidie zur Verminderung der Opsoninebildung im Blute Anlass
gibt. Schliesslich ist noch von Interesse die von Walter u. a. fest-
gestellte starke Verzogerung in der Regeneration der peripherischen
Neryen bei schilddriisenlosen Tieren.
Zahlreiche Untersucher haben, wie bereits mitgeteilt ist, den kraftig
akzelierenden Einfluss der Schilddriise auf den allgemeinen Korper-
stoffwechsel festgestellt, und zwar durch den Nachweis, dass dieser
letztere bei Hypo- und Athyreoidie sehr stark verzogert und verringert
ist. Wichtige Untersuchungen von Juschtschenko haben unsere
Kenntnis in dieser Hinsicht noch bemerkenswert erweitert. Er wies nach,
dass die Bildung verschiedener wichtiger Fermente des intermediaren
Stoffwechsels direkt von der Schilddriisenfunktion abhangig ist. Haupt-
sachlich die Bildung von Nuklease und von Katalase liess nach Thyreoid-
ektomie stark nach, um wieder auf die normale Hohe zu steigen,
wenn das schilddriisenlose Tier mit Schilddriisenpraparaten gefiittert
wurde. Bereits in einer friiheren Mitteilung hatte Juschtschenko
auf den aktivierenden und akzelerierenden Einfluss gewiesen, den die
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
123
Schilddriise auf die Sekretion and Wirkung von Lipase und Peroxy-
dase ausiibt. Er kommt also aof Grund seiner eingehenden Tier-
experimente zam Schluss, dass die Schilddriise einen ausserordentlich
wichtigen Einfluss, den man als fordernd and aktivierend bezeichnen
kann, aof die Bildung and die Wirkung vieler (vie'lleicht selbst aller)
Fermente des Tractus intestinalis und des intermediaren Stoffwecbsels
ausiibt.
Bereits friiher war von Levi and Rothschild auf Grand klini-
scher Beobachtangen die Meinung aasgesprochen, dass die Schilddriise
der allgemeine Regulator and der Akzelerator sowohl der ^Diastases
de nutrition" als der „Diastases de defence" sein solle, welche letz-
teren eine wichtige, schiitzende Rolle bei vielen Autoinfektionen spielen
sollen. Auch Stepanoff hat auf diesen hervortretenden Teil der
Schilddriisenfunktion gewiesen, namlich auf das Aktivieren und Ak-
zelerieren der natiirlichen Abwehrmittel des Organismus. Alle diese
genannten Forscher kommen also sowohl auf Grund experimenteller
Untersuchungen oder auch auf Grund klinischer Beobachtungen zum
Schlusse, dass die Schilddriise die Zentrale ist, in der alle fermen-
tativen Prozesse des Organismus geregelt und gefordert werden.
Auch dieser Teil der Schilddriisenfunktion ist von aussergewohn-
licher Bedeutung: unser ganzer Haushalt, der gesamte Stoffwechsel
und die zahllosen Prozesse des Auf- und Abbaus, die ununterbrochen
in unserem Korper stattfinden, "das alles steht unter der direkten
Verwaltung der Schilddriise. Und die zahllosen Fermente, die in
alien unseren Korpersaften zu finden sind, und die von Claude-
Bernard die „Lebenstrager“ genannt sind, sie alle sind von der Schild¬
driisenfunktion abhangig und ihr unterworfen.
Dass diese wichtige Funktion der Thyreoidea, namlich das Akze-
lerieren zahlreicher Fermentationsprozesse bei Insuffizienz des Organs,
eine wichtige Abspiegelung in der Pathologic finden miisste, versteht
sich wohl von selbst. Bei der Besprechung unserer Falle komme ich
auf diesen Punkt nebenbei noch zuriick.
Femer ist noch viel gesprochen und gestritten fiber die entgif-
tende Wirkung, die die Schilddriise auf die in die Zirkulation ge-
ratenen Toxine ausfiben soil (Notkin, Blum und viele andere). Be-
sonders hat Trendelenburg auf chemischem Wege nachzuweisen
versucht, dass bei Athyreoidie toxische Substanzen in die Blutbahn
gelangen und dort durch die Azetonitrilreaktion chemisch nachzu¬
weisen sind. In der Tat erwecken die nach kompletter Thyreoidektomie
auftretenden Erscheinungen stark den Eindruck, als beruhten sie auf
einer Iutoxikation (epileptische und Tetanieanfalle usw.), wahrend die
psychischen Storungen, die bei stark ausgesprochener Hypothyreoidie
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
124
Boltex
wie beim Kretinismus und bei Myxodem vorkommen, gleichfalls nur
als Intoxikationserscheinungen aufgefasst werden konnen. Doch daraus
folgt noch meiner Meinung nach keineswegs, dass die Thyreoidea
direkt auf die in die Zirkulation gelangten Toxine entgiftend ein-
wirken soli. Es Scheint mir einfacher und zugleich rationeller, alle
diese Erscheinungen (Anfalle von Tetanie und Epilepsie, psychische
Storungen wie Schwindelgefiihl, Benommenheit, Demenz usw.) als die
Folge von Intoxikation durch unvollkommen abgebaute Stoffwechsel-
produkte zu betrachten, unter denen verschiedene, wie bekannt ist, die
zu den vollkommen normalen Zwischenprodukfcen gehoren, giftig sind,
so u. a. die Aminosaure und verschiedene andere Eiweissabbauprodukte.
Nun ist es wohl wahr, dass (wenigstens vermutlich) bei Insuffizienz
der Schilddriise diese giftigen Produkte in die Blutbahn geraten und
also toxisch auf das Zentralnervensystem einwirken konnen, aber die
Schilddriise wirkt nicht direkt auf diese Stoffe ein: funktioniert das
Organ normal, dann werden diese Zwisehenprodukte mittels fermen-
tativer Prozesse weiter abgebaut und also unschadlich gemacht,
bevor sie Gelegenheit haben, in die Zirkulation zu geraten und
sich also allmahlich im Zentralnervensystem anzubanfen. Dies gilt
auch fur die endogenen Intoxikationen, die als Folge der Hypothy-
reoidie anzusehen sind. Man muss jedoch zugeben, dass die Moglich-
keit eines aktiven Eingreifens der Schilddriise bei exogenen Intoxi¬
kationen durchaus nicht ausgeschlossen ist. B i e d 1 erwahnt die Versuche
von Reid Hunt, aus denen wohl unverkennbar hervorgeht, dass
Mause, die mit geringen Mengen trockener Schilddriisenpraparate ge-
fiittert waren, ein viel hoheres Widerstandsvermbgen gegen subku-
tane Einspritzungen mit Methylzyan (CH S CN, Azetonitril) hatten; diese
so behandelten Tiere konnten zwei- bis dreimal mehr Gift vertragen,
als die nicht vorbehandelten. Eine derartige Erhdhung der Resistenz
gegen Gifte bei Thyreoidfiitterung schien nur bei Mausen zu bestehen,
und speziell bei Einspritzung von Azetonitril. Verschiedene andere
Tiere zeigten bei Thyreoidfiitterung durchaus keine Erhohung der
Resistenz gegen verschiedene Gifte, doch im Gegenteil eine vermin-
derte Resistenz, unter anderm sehr deutlich gegeniiber Morphium. Doch
diese Ergebnisse sind nicht feststehend; einige Forscher legen dar,
dass die letale Dosis Morphium fur schilddriisenlose Ratten dieselbe
ist wie fur normale Tiere.
Gehen wir nun zur Pathologie der Schilddriise und zwar beson-
ders zur Insuffizienz fiber. Dabei lassen wir diejenigen FaUe ausser
Betracht, bei denen die Schilddriisenfunktion zu einem solchen Mini¬
mum gesunken ist, dass wir wohl von Athyreoidie sprechen konnen.
Diese Falle zeigen die klinischen Erscheinungen von Kretinismus,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
125
Myxodem, Cachexia strumipriva usw. Auch lassen wir ausser Be-
sprechung die verschiedenen Formen der angeborenen oder in friihester
Jagend aufgetretenen Schilddriiseninsuffizienz, wobei wir ziemlich
auseinandergehende klinische Bilder zu selien bekommen konnen, wie
Nanismus, Infantilismus, endemischer Kretinismus, kongenitales Myx¬
odem, Mikromelie und die verschiedenen Formen von Chondrodystrophie.
Es ist unsere Absicht, uns auf die Falle der Hypothyreoidie der
Erwachsenen zu bescbranken. Und dann muss zu allererst festgestellt
werden, dass zwischen der normal funktionierenden Scbilddriise und
den aussersten Graden der Insuf'fizienz (Myxodem, Kretinismus) sich
eine sehr ausgedehnte Gruppe von mehr oder weniger leichter Funk-
tionsverminderung befindet, die sich in sehr auseinandergehenden und
uuahnlichen Storungen und Erscheinungen aussert.
Es ist das grosse Verdienst Hertoghes gewesen, als erster die
Aufmerksamkeit auf diese leichtere und darum gutartige Form der
Schilddriiseninsuffizienz gelenkt zu haben, die er als „hypothyreoidie
benigne chronique" betitelt. Levi und Rothschild, die man eben-
falls zu den Bahnbrechern auf dem Gebiete der SchilddrUsenpatho*-
logie rechnen kann (sie sind, meine ich, die ersten, welche bestimmte
Formen der Migrane beschrieben haben als die Folge der Hypothyreoidie,
und sie besprechen denn auch ausfiihrlich die „migraine tbyroidienne“),
schlagen denn auch vor, vom „Hertogheschen Syndrom 44 zu sprechen.
in der Tat ist diese kleine, dem Verdienste Hertoghes gewidmete
Huldigung, von dem man meir.es Erachtens bis jetzt in der Schilddriisen-
literatur zu wenig Kenntnis genommen hat, mit vollem Rechte ge-
bracht. Unter dem Syndrom Hertoghes, wie er selbst es beschrieben
hat, haben wir dann zu verstehen eine Kombination meist allgemeiner
Erscheinungen, wie Lustlosigkeit, Schiittel- und Unwohlsgefiihl, Stuhl-
verstopfung, A|)petitmangel, Haar- und Zahneausfall, Gelenkschmerzen
und bei Frauen Metrorrhagie; meistens auch trockene Haut und bis-
weilen sprode, leicht brechende Nagel. (In einigen der von Her-
toghe angefuhrten Fallen darf man daran zweifeln, dass das Bild wohl
ganz auf die Hypothyreoidie zuriickzufiikren ist, da unter den Er¬
scheinungen auch Varices und Ptosis gemeldet werden.)
Doch in den ubrigen Fallen ist das Hertoghesche Syndrom meist
wohl in ziemlich derselben Form vorhanden. Und dass hier in der
Tat Hypothyreoidie im Spiel ist, halt Hertoghe durch die Therapie
bewiesen: wurden diesen Kranken Schilddriisenpraparate eingegeben,
so reagierten sie darauf mit sehr merkbarer Besserung und oftmals
mit vollkommener Heilung. Dabei nimmt Hertoghe als feststehend
an, dass Schilddriisenpraparate ausschliesslich bei Hypothyreoidie, aber
bei keiner einzigen anderen Erkrankung giinstig wirken, so dass das
Digitized by
Go. 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
126
Bolten
Ergebnis der Behandlung als ein yollkommen zuverlassiges Diagnosti-
kum anzusehen ist. Diese Begriindung isfc, wie ich auf Grand der
Ergebnisse meiner eigenen Untersuchungen annehmen darf, wohl
richtig, docb soli sie m. E. nor als ein zeitliches Hilfsmittel dienen, das
am liebsten so schnell wie moglich durch rein wissenscbaftliche Dia-
gnostika ersetzt werden muss, welche man dnrch Laboratoriumsver-
suche erhalt, und die yollkommen unabhangig yon den Ergebnissen
der Behandlung sind. Doch das Aafspiiren und Feststellen der ge-
wiinschten Angaben wird wohl noch sehr lange ein frommer Wunsch
bleiben: erst wenn wir gut und sicher wissen, welche Substanzen (es
seien chemische Korper, es seien Fermente) die Schilddriise durch
innere Sekretion in die Blutbahn bringt, und wenn wir dann ausser-
dem noch diese Substanzen quantitatiy im Blut (am liebsten in einer
kleinen Menge) bestimmen konnen, erst dann und auch nicht eher
werden wir auf yollkommen unumstosslicbe Griinde hin die Insuffi-
zienz der Schilddriise und deren Grad feststellen konnen. Und hieriiber
mache man sich keine lllusionen: bereits ist ja darauf gewiesen, dass
yon Fiirth und andere Forscher keineswegs uberzeugt sind, dass das
yon Oswald gefundene Jodothyreoglobulin in der Tat die Substanz
ist, die durch die Schilddriise in die Zirkulation gebracht wird. Und
hinsichtlich anderer Substanzen ist unser Zweifel noch yiel starker:
Thyreoidin und Thyreojodin sind fest und gewis3 Kunstprodukte, die,
wiewohl sie offenbar wohl teilweise den akzelerierenden Einfluss der
Schilddriise ausiiben konnen, in mancher Hinsicht eine ganz andere
Wirkung haben, als der frische Pressaft der Schilddriise. So wiesen
Asher und Flack nach, dass es moglich ist, durch Bereitung yon
Extrakten aus frischen, feingeriebenen Scbilddriisen die wirksamen
Bestandteile zu erhalten, und dass diese gadz anders wirken als Thy¬
reoidin und Thyreojodin, da durch diese Substanzen keine Erhohung
der Erregbarkeit des Nervus depressor und keine Verstiirkung der
Adrenalinwirkung hervorgerufen werden, was durch die frischen
Schilddriisenextrakte wohl zustande gebracht wird. Dagegen ver-
anlassen diese letzteren keine Pulsbeschleunigung, und wie als allgemein
bekannt angenommen werden kann, geben sowohl getrocknete Schild-
driisentabletten wie auch Thyreoidin wohl dazu Anlass. Die Ergebnisse
meiner Versuche schliessen sich dem yollkommen an: stets wandte
ich frisch bereiteten Pressaft an (und dies ist zugleich % ein wassriger
Extrakt, den ich durch langes Schiitteln feingeriebener Scbilddriisen
mit Wasser yon 30 ° erhielt), und dabei ergab sich, dass es unmoglich
ist, durch Eingabe dieses Pressaftes, selbst in sehr grosser Menge,
Pulsbeschleunigung heryorzurufen. Auch Abmagerung, die doch fast
immer bei lange dauerndem, sei es auch geringem Gebrauche getrock-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
127
neter Schilddriisenpraparate eintritt, sowobl wie beim Gebrauch der
genannten chemischen Praparate (auch bei Menscben, die durchaus
nicht an Fettsucht leiden), sah icb niemals, selbst nicht nach jabre-
langer An wend an g meines Pressaftes.
Auch Weiss und Labee kommen zum Scblusse, dass die friscbe
Schilddriise anders wirkt als die getrockneten Praparate: sie macbten
ausftihrliche Untersucbungen bei Hunden binsicbtlich des Einflusses
der Schilddriise auf den Gaswechsel in den Lungen. Sie schliessen
aus ihren Versocben, dass die Eingabe frischer Scbilddriisen bei ihren
Versuchstieren eine bemerkenswerte Zunahme des Gaswechsels in den
Lungen yerursacht, wahrend diese nach Eingabe getrockneter Schild-
driisenpraparate roll kommen ausblieb. Dasselbe war gleicbfalls Ton
Jaquel und Svenson festgestellt, wahrend Magnus Levy behauptefc,
dass bei einem linger fortgesetzten Gebrauch auch die getrockneten
Praparate diese Erhohung des Gaswechsels zustande bringen. In
jedem Fall jedoch fanden Weiss und Labee unter genau denselben
Umstanden einen sehr deutlichen Unterschied zwischen der Wirkung
der frischen und der getrockneten Schilddriise, einen Unterschied, den
sie nicht erklaren konnen.
Aus den genannten Griinden darf man denn als sicher annehmen,
dass wir von der chemischen Zusammensetzung der essentiellen Sub-
stanzen der Schilddriise noch nichts wissen; wie weit sind wir denn
nicht entfernt yon der qualitativen und quantitatiTen Gestimmung
dieser Stoffe im Blut! Nun sollte man, unter Hinweis auf die sehr
wichtigen Befunde Juschtschenkos, dass namlich der Gehalt yer-
schiedener Organe an bestimmten Fermenten, so u. a. Nuklease und
Katalase, direkt abbangig Ton und proportional zu der Schilddriisen-
funktion ist, yielleicht meinen konnen, dass man wenigstens einiger-
mafien eine Einsicht in die Schilddriisenfunktion erlangen konnte,
wenn man eine quantitatire Bestimmung dieser Fermente darstellte.
Doch auch in dieser Richtung stosst man unmittelbar auf grosse
Beschwerde: Katalase kommt im Blut Tor, doch die Methoden fur
quantitatire Bestimmung (auch das Abderhaldensche Verfahren) sind
noch so kompliziert und es kleben noch zu yiele Fehlerquellen daran,
als dass man es fur moglich halten kann, in einer kleinen Menge
Blut eine zurerlassige Katalasebestimmung darzustellen. Und mit
Nuklease befinden wir uns noch in riel ungiinstigeren Verhaltnissen:
das Ferment kommt in der Leber, dem Gehirn, der Milz, den Testikelu
und in den Nieren reichlich Tor, doch gerade das Herz und das Blut
sind an diesem Ferment sehr arm. Und nun moge es wahr sein,
dass man Ton einer ganzen Leber, feingerieben und in einem Liter
Wasser extrahiert, wie es Juschtschenko bei seinen Versuchstieren
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
128
Bolten
tun konnte, eine ziemlich zuverlassige Nukleasebestimmung ausrdhren
kann, aber eine geeignete Methode, die man in der Klinik anwenden
kann und die einwandfreie Ergebnisse liefert, besitzen wir bis jetzt
nocb nicht. Vorlaulig miissen wir uns also mit Hertoghes Anffassung
zufrieden stellen und annehmen, dass Thyreoidpraparate (am liebsten
in der Form des von uns angewandten frischen Pressaftes, da dies
die physiologische Schilddriisenfunktion genau nachmacht) nur giinstig
wirken in Fallen der Hypothyreoidie, und dass also alle Falle, bei
denen diese Bebandlung auffallend gute Ergebnisse zeitigt, als Insuf-
fizienz der Schilddriise angesehen werden miissen.
Bei einer solchen Methode ist es natiirlich immerhin moglich, dass
einige Falle, die als Hypotbyreoidie gebucht sind, in der Tat nicht
dazu gehoren. Ich babe denn aucb, aus Mangel an besserem, Her¬
toghes Begriindung befolgt und dabei soviel wie moglich Kontroll-
versuche vorgenommen, und zwar in dem Sinne, dass ich stets danach
getrachtet habe, auch auf anderem Wege dieselben therapeutischen
Ergebnisse zu erzielen. Besonders mit den anderen Driisen mit
innerer Sekretion habe ich sehr viel experimentiert, und nicht nur
die im Handel vorkommenden getrockneten Praparate angewandt,
sondern immer einen Pressaft aus frischen Organen verfertigt.
Nur die Falle, bei denen durch Schilddriiseneingabe Resultate erzielt
waren, die bei jeder anderen Therapie, welche aucli immer, ausge-
blieben, habe ich als die Folge der Hypotbyreoidie betrachtet. Nun
wird vielleicht Hertoghes ausfuhrliche Monographic auf manche den
Eindruck machen, dass er zuviel Erscheinungen als die Folge der
Hypothyreoidie ansieht, und auch andere Forscher haben zu diesern
Krankheitsbilde noch wieder ganz andere Erscheinungen als die der
„bypothyroidie benigne chronicjue“ Hertoghes gerechnet, so dass
Bauer denn auch in Verzweiflung gerat und sagt, dass augenblicklich
wohl fast keine Krankheitserscheinung zu denken ist, die nicht als
die Folge der Hypothyreoidie angesehen wird. Dabei weist er
darauf hin, dass die guten Ergebnisse der Thyreoidbehandlung nicht
ausschlaggebend zu sein brauchen, da sie ebensogut durch das in
den Schilddriisenpraparaten vorhandene und organisch gebundene
Jodium hervorgerufen sein konnen. Dieses Argument scheint mir
jedoch sehr schwach zu sein und ausserdem sehr leicht zu widerlcgen:
ware das gute Resultat dem organisch gebundenen Jodium zuzu-
schreiben, dann miisste man durch Kontrollversuche ganz leicht
nachweisen konnen, dass organische Jodpraparate ebenso gute Ergeb¬
nisse zeitigten wie Thyreoidpraparate. Ich habe aber niemals in den
Fallen, wo Schilddriiseneingabe offensichtliche Besserung erzeugte,
etwas mit organischen Jodverbindungen erreichen konnen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypotbyreoidie.
129
Wean ich auch gem zugeben mass, dass wir keine zuverlassigen
Mittel besitzen, um die Hypotbyreoidie unumstosslich festzustellen,
so bin ich doch fest davon iiberzeugt, dass das Gebiet dieser Er-
krankung nocb viel grosser ist, als Hertogbe angegeben hat, und
dass Bauers Klage liber die endlose Ausdehnung des Gebietes dieser
Erkrankung grosstenteils unbegriindet ist. Natiirlich gebe ich zu,
dass hin.und wieder Symptome zu unrecht ibr auf die Kechnung gesetzt
sind, aber trotzdem steht es fur mich fest, dass die Hypotbyreoidie
eine ausserordentlicli grosse Mannigfaltigkeit yon Erscheinungen
kervorrufen kann, und das darf uns, angesichts der besonders kom-
plizierten, wichtigen und vielseitigen Funktion der Schilddriise,
keineswegs venvundern. lmmerhin reguliert und akzeleriert die
Schilddriise den gesamten Stoffwechsel und macht sich also in alien,
selbst in den kleinsten Unterteilen unseres Haushaltes geltend; sie iibt
einen akzelerierenden Einfluss aus auf die Hypophyse und die Neben-
nieren, hemmt das Pankreas und unterhalt einen Tonus im sympa-
thischen System. An einer solchen besonders komplizierten Funktion
kann natiirlich selbstverstandlich in zahllosen Arten etwas defekt sein,
und dabei ist es sehr wahrseheinlich, dass, da ja die Schilddriise ver-
mutlieh verschiedeue Substanzen mit yerschiedenen Funktionen in die
Zirkulation bringt, bei der Hypothyreoidie einmal dieser, ein ander-
mal jener oder aber. ein drifter oder yierter Unterteil der Funktion
beschadigt ist. Wenigstens waren bei meinem Material Falle mit
ausschliessbch Sympathikusstdrungen, andere mit ausschliesslich Stoff-
wechselstorungen und wieder andere mit ausschliesslich Intoxikations-
erscheinungen (vermutlich aufzufassen als Folge von Hypofermentation
des intermediaren Stoffwechsels), so dass ich aus diesem Grunde zu
der Annahme veraulasst wurde, dass die Hypothyreoidie nicht immer
dieselbe Art der Funktionsstdrung mit ausschliesslich quantitativer
Verschiedenheit darstellt, sondern dass wir dabei annehmen miissen
die Mdglichkeit einer auch qualitativen Verschiedenheit in dem Sinne,
dass nicht immer dasselbe Sekretionsprodukt ungeniigend abgeschieden
wird, und also nicht immer die Funktion in denselben Unterteilen
beschadigt ist.
Wie bereits gesagt, betrachte ich das Gebiet der Hypothyreoidie
als.weit ausgedehnter, als es bis jetzt angenommen wurde, und rechne
ich auf Grund meiner therapeutischen Experimente verschiedene Er¬
scheinungen und Symptomenkomplexe, die bis jetzt nicht als thyreo-
genen Ursprungs bekannt sind, zu den Folgen der Hypothyreoidie,
wie aus dem hier folgenden Schema heryorgehen soil:
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
130
Bolten
Scheraatische Obersicht der Erscheinungen von chronischer,
benigner Hypothyreoidie der Erwachsenen.
A. Primare oder direkte Syndrome:
1. einfacbe Verminderung der Magen- und Darmsekretion
oder Hypofermentation des Tractas intestinalis ( w nerv6se
Dyspepsie").
2 . Stoffwechselstdrungen in der Form unvollkommener Abbaa,
oder aach unvollkommenen Salzstoffwechsels (zu geringe
Exkretion bestimmter Salze), Verzogerung des Stoffwe'chsels:
a) einige Formen von Gicht, gichtische Diathese, Iscbias usw.,
b) allgemeine konstitutionelle Fettsucht,
c) Dercumscbe Krankheit.
3 . Intoxikationserscheinungen (vermutlicb infolge von Hypo-
fermentation des intermediaren Stoffwechsels):
a) genuine (thyreogene) Migrane,
b) genuine (thyreo-paratbyreogene) Epilepsie,
c) nervose Storungen, die in das klinische Bild der Neur-
astbenie passen,
d) psycbiscbe Storungen, kurzweg anzudenten als leichte
Falle von Dementia praecox,
e) klimakteriscbe Storungen.
B. Sekundare oder indirekte Syndrome, zusammenzufassen
als Sympathikushypotonie:
a) tropbiscbe und zirkulatorische Storungen der Haut, der
Nagel und des subkutanen Zellgewebes (Form der
Raynaudschen Krankheit, Herpes gangraenosus usw.),
b) das zircum8kripte Hautodem,
c) verringertes oder aufgehobenes Regenerationsvermogen
der Haut.
C. Mischformen:
Hierunter ist m. E. unterzubringen * das Myxodem, das eine
Kombination der Erscheinungen B. b. und A. 3 . d. darstellt.
Wenn man dieses Schema, das wie alle anderen unvollstandig
und mangelhaft ist (da ja bald Falle gefunden werden konnten, die
in keine der vielen Facher dieses Schemas genau passen), betrachtet,
so fallt sogleicb die aussergewohnliche Verschiedenheit und die sehr
voneinander differierende Morpbologie der von mir als thyreogen
aufgefassten Erscheinungen und Syndrome auf, und es ist auch in
der Tat diese Verschiedenheit so gross, dass bei vielen ernster Zweifel
sich erheben wird, ob solche so differenten Krankheitsbilder wohl auf
Digitized by
Goi igle
Original from •
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ober Hypotbyreoidie.
131
dieselbe Ursache zuriickzufuhren seien, und ich bore bereits die An-
nahme aussern, dass ich yon Einseitigkeit befangen bin und die hete-
rogensten Syndrome nnter einen Hot zu bringen suche. Von vorn-
herein will ich diese Beschwerden gegen meine Auffassung widerlegen..
An erster Stelle rechtfertigt die grosse Vielseitigkeit der Funktion der
Thyreoidea die Annahme einer mindestens ebenso grossen Vielseitigkeit
der Funktionsstdrungen. Und an zweiter Stelle wiinsche ich nur zu
beweisen, dass alle im Schema angefiihrten Erkrankungen und Er-
scheinungen thyreogenen Ursprungs sein konnen, aber keineswegs
dass sie es per se immer sein miissen. Dabei gelangen wir von
selbst auf eine schwache Stelle in unserer Kenntnis der Pathologie:
wir sprechen immer yon Krankheiten, meinen aber in der Tat fast
immer Symptomenkomplexe, wahrend oft die eigentliche Krankheit,
d. h. die Art, das Wesen und das Entstehen der Erscheinungen, uns
Yollkommen entgeht. Vor allem finden wir dies in der Psychiatrie
sebr oft: allerlei Erscheinungen, die oft kombiniert auftreten, werden
als eine Krankheit beschrieben, wahrend meistens nicht einmal das
primarkranke Organ bekannt ist. Erst wenn wir ganz genau wissen,
welche Erscheinungen konstant bestimmten anatomischen und funk-
tionellen Lasionen eines bestimmten Organes (oder ernes Teiles des-
selben) entsprechen, erst dann diirfen wir yon einer Krankheit reden.
Und durch diese Lakune in unserer Kenntnis kommt es dann sehr
haufig Tor, dass Symptomengruppen, die morphologisch und also
ausserlich viel einander gleichen, als eine bestimmte „Krankheit“
beschrieben werden, wahrend in der Tat die Pathogenese in den ver-
schiedenen Fallen sehr yoneinander verschieden ist. Des ofteren
bereits habe ich darauf hingewiesen, dass das, was wir Epilepsie
nennen, keine Krankheit, doch nur ein Symptomenkomplex ist, der
bei einer ausserordentlich grossen Reihe yon Erkrankungen auftreten
kann. Jede Epilepsie ist denn auch symptomatisch oder sekundar;
zu den zahlreichen Alterationen, die den epileptischen Symptomen¬
komplex hervorrufen konnen, gehort auch die Hypothyreoidie. Diese
thyreogene Epilepsie stimmt denn mit dem iiberein, was man unter
genuiner Epilepsie yerstehen muss, namlich eine Krankheit ohne primare
Alterationen (welcher Art auch immer) im Gehirn. Was in der
Literatur als ^genuine" Epilepsie beschrieben wird, ist jedoch oft ein
Syndrom, das auf dieser oder jener zerebralen Ursache (meistens
Meningoenzephalitis) beruht. Es ist schade, dass diese Falle genuiner
(thyreoparathyreogener) Epilepsie numerisch weit in der Minderheit
sind: waren alle Epilepsien thyreogenen Ursprungs, dann wiirden sie
alle gut heilbar sein, wie es mit den wirklich genuinen Fallen in der
Tat der Fall ist. Und yon Migrane kann man genau dasselbe sagen:
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
132
Bolten
einige Falle beruhen, wie ich bereits ausfuhrlieh dargelegt babe, oline
Zweifel auf Hypothyreoidie; demgegenfiber steht jedoch, dass die
grosse Mehrzabl der Falle die Folge zahlloser anderer kausalen Mo-
mente ist (vieler organischen Gehirnerkrankungen, Krankheiten der
Nase und dessen Nebenhohlen, allerlei endogener und exogener Intoxi-
kationen usw.).
Dasselbe kann, meine icb, yon alien anderen im Schema genannten
Syndromen gesagt werden: sie konnen auf Hypothyreoidie beruhen,
doch sind keineswegs per se an diese gebunden, da sie ancb von
allerlei anderen Erkrankungen abhangig sein konnen. Speziell wie 5
icb darauf hin, dass ich die Neurasthenie und die Dementia praecox
durchaus nicht als thyreogenen Ursprungs betrachte. Im Gegenteil,
ich glaube, dass die meisten Falle von Neurasthenie nichts mit der
Hypothyreoidie zu tun haben, wahrend diese letztere nur in einigen
Fallen die Ursache eines Syndroms ist, das wir bis jetzt nicht aus
der grossen und heterogenen Gruppe der Neurasthenie absondern
konnen. Von der Dementia praecox gilt dasselbe. Wie sogleich aus
der Kasuistik sich ergeben wird, verfuge ich fiber einige Falle, die
klinisch den Eindruek einer leichten Dementia praecox machen und
die ich dann auch nicht anders bezeichnen kann. Doch dass fibrigens
die zweifellose Dementia praecox eine Folge von Insuffizienz der Schild-
drfise sein soil, ist gar nicht feststehend: einige Forscher, u. a. Lemei,
hatten sehr gfinstige Resultate mit Thyreoid behandlung der Dementia
praecox, doch ich selbst war mit diesen Resultaten niemals besonders
zufrieden. Andere, u. a. einige amerikanische Psychiater, meinen denn
auch im Gegenteil mit einer Hyper- oder Dysthyreoidie zu tun zu
haben und glauben denn auch gerade durch partielle Thyreoidektomie
gute Ergebnisse erzielt zu haben. Von Gicht gilt dasselbe: es scheint
nun wohl festzustehen, dass bestimmte Falle von Gicht — vielleicht
ist es richtiger von gichtischer Diathese zu sprechen — die Folge von
Hypothyreoidie sind, doch es scheint mir ebenso festzustehen, dass
Gicht ebensogut von anderen Storungen abhangig sein kann. Wahr-
scheinlich sollen wir unter den familiar auftretenden Fallen, wobei
also erbliche Faktoren eine grosse Rolle spielen und aussere Einflusse.
wie Alkoholismus, weniger in den Vordergrund treten, die meisten
Falle thyreogener Gicht antreffen. Ebenso hat sich otters heraus-
gestellt, dass thyreogene Migrane erblich ist. In diesem Zusammen-
hange darf erinnert werden an die Auffassung Trousseaus, dass
namlich Gicht einen wichtigen Platz einnimmt unter den Komplikationen,
die bei Migraneleidern auftreten konnen: „ Gicht und Migrane sind
Schwestern." Diesen Ausspruch unterschreibe ich vollkommen, in der
Bedeutung, dass eine bestimmte Form der Gicht (die thyreogene) mit
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
m
einer bestimmten Art Migrane, namlich der thyreogenen oder genuinen,
pathogenetisch nahe verwandt ist.
Nach dieser Erorterung wird es deutlich sein, dass alle genannten
Syndrome thyreogenen Ursprnngs sein konnen, es aber nicbt sein
miissen.
Gehen wir nan zu einer kurzeo Besprechung unseres Materials iiber.
1 . Einfache Herabsetzang der Magen- und Darmsekretion.
Fran X., 24 Jahre; ist seit eiu paar Jaliren verheiratet und hat ein
Kind von ungefahr 6 Monaten. War frflhor immer gut gesuud, und fo
weit es mOglich war, dies zu erfahren, nicht erblich belastet. Wochenbett
normal. War in letzter Zeit nervOs, vcrmutlich unter dein Einflusse aller-
lei Susserer Umstande. Allmfthlich wurde ihr Appctit gcringer, sie bekam
selbst einen Ekel gegen das Essen, und konnte vor allem kein Fleisch
mehr essen oder riechcD, wahrend sie dagegen frflher niemals einen Wider-
willen gehabt hatle. Gar bald musste Patientin dabei erbrechen, sogar
selbst so stark, dass sie fast nichts mehr im Magen behalten konnte,
sondern alles unmittelbar wieder ausbrach, so dass sie schnell und selir
stark abmagerte. Oft fiel dabei auf, dass die Nahrung — auch war sic ein-
mal viel langer in dem Magen geblieben — vollkommen unverdaut wieder
kerauskam; auch StOckchen gekochtes Eiweiss knmen unverandert zurOclr.
Eine Ofter angestellte Untersuchung des Mageninhalts naeli einem
ProbefruhstOck brachte zutage, dass niemals freie Salzsaure vorhanden
war. KOntgenogranime zeigten nichts, was an Ulkus, Stenose oder welche
anatomische Litsion auch (Dilatation, Pylorusspasmus) hatte denken lassen
kOnnen. Ferner keine schmerzhafton Druckpunkte, bei Palpation ist nichts
zu ftihlen von Tumor, Infiltration oder Vcrhartung. Diagnose: funktionelle
MagenstOrungen. Behandlung mit rektaler Einspritzung von SchilddrOsen-
pressaft brachte ziemlich schnell eine stets weitergehende Besserung.
In diesem Falle, der friiher hochst wahrscheinlich als „nervose
Dyspepsie" betitelt ware, haben wir also wahrscheinlich mit Hypo¬
thyreoidie zu tun, und ist der Gang der Geschehnisse wie folgt: Die
deutlich vorhandenen emotionellen Momente wirken auf das sympa-
thische System ungiinstig ein und diese wieder in demselben Sinne
auf die Thyreoidea; es entsteht Funktionsverminderung dieser letzteren
und dadurch starke Reduktion der Salzsaure- und Fermentsekretion
im MageD. Auch die wahrend der langdauernden Brechperiode vor-
handene Konstipation verschwand unter dem Einflusse der Thyreoid-
behandlung.
Auch die bei Kindern so oft auftretenden Dyspepsien sind,
wenigstens bei einem Teil der Falle, die Folge einer voriibergehenden
Hypothyreoidie. Es liegt wobl sehr auf der Hand, anzunehmen, dass
bei Kindern, yor allem wenn sie stark wachsen, wohl zeitweise hohe
Anforderungen an die Thyreoidea gestellt werden konnen, so dass
diese dann wahrend kiirzerer oder langerer Zeit leicht insuffizient
wird. Wenigstens ist es mir gelungen, in einigen Fallen, in denen
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
134
Boltex
trotz sehr sorgfaltiger Regelung der Diat und bei Abwesenheit tod
Infektionen doch mehr oder weniger periodische Magendarmstorungen
mit Darmfaulnis auftraten, diese durch regelmassige Thyreoideingabe
vollkommen zum Verschwinden zu bringen. Die in solchen Fallen
vielfach angewendete Behandlung, Eingabe yon sehr verdiinnter Salz*
saure per os, ist denn anch nur symptomatisch und irrationell und
kann darum besser durch Thyreoidbehandlung ersetzt werden. Was
die letzte betrifft, so babe icb immer dieselbe Bebandlung (zugleich
die m. E. ausschliesslicb rationelle) angewendet, namlicb: rektale Ein¬
gabe friscben Pressaftes.
Geben wir nun zur zweiten Gruppe iiber, namlicb zu denen, die
iiberwiegend oder ausscbliesslich Erscbeinungen zeigen, die wir als
Stoffwechselstorungen ausehen miissen. Natiirlich ist biermit nicbt
gemeint, dass in diesen Fallen die Hypothyreoidie yereinzelt Stoff¬
wechselstorungen verursacht, aber wohl, dass fur uns nur diese letzten
wahmebmbar sind, wahrend hocbst wahrscbeinlich andere Folgen der
Schilddriiseninsuffizienz unserer Andacht ganz entgeben.
Zu dieser grossen Rubrik mochte icb dann die Gicht recbnen
(yielleicht isb es richtiger von einer gichtischen Diatbese zu sprecben),
die konstitutionelle Fettsucht und die Dercumsche Krankheit.
Eine echte Stoffwechselkrankheit ist sicherlicb die Gicht, bei der
Harnsaure in alierlei Geweben angehauft wird; ich kann keineswegs
ein Urteil fallen, ob Gicht stets dieselbe Pathogenese hat und immer
die Folge von Hypothyreoidie ist. Ich hatte niemals Gelegenheit,
Falle mit vollstandigem klinischen Bilde, namlich mit den charak-
teristiscben Gicbttopbis und mit den eigenartigen Anfallen usw., zu
studieren. Doch ich habe wohl einige Falle beobachtet, bei denen
die Erscheinungen ganz und gar die Diagnose „leichte Form der
Gicht" rechtfertigten, und bei denen wir dann von einer gichtischen
oder Azidumurikum-Diathese sprechen. Dabei habe ich von einer
Bestimmung des Harnsauregehaltes des Blutes abgesehen, da fur eine
solche Untersuchung eine ziemlich grosse Menge Blutes notig ist, und
ein solcher Versuch bei Kranken, die poliklinisck behandelt werden,
wohl nicht moglich ist. Bei zwei der drei hier beschriebenen Falle
war, abgesehen von den Gichterscheinungen, ausserdem eine deutliche
Neigung zur Adipositas festzustellen.
Wie allgemein bekannt ist, gehbrt die Ischias zu einer der viel
vorkommenden Erscheinungen der Gicht; die Ischias ist die Folge
von Harnsaureanhaufungen in den Ligamenta ileo-sacrale long, et brev.
und deren Umgebung und beruht auf Zirkulationsstorungen und auf
leichtem Druck, der auf die Aste des Plexus sacralis ausgeiibt wird.
Die Ischias ist also die direkte Folge der Gicht und steht in einem
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ubcr Hypothyreoidie.
135
mittelbaren ursachlichen Verbande mit der Hypothyreoidie. Und wie
es wohl selbstverstandlich ist, beruhen yiele andere Falle yon Ischias
auf zablreichen ganz anderen Ursachen (dyskrasische und toxamische
Zustande, Neuritides, Riickenmarkserkrankungen, Knochen- und Ge-
lenkserkrankungen, Beckenfcumoren, Lues usw.), die mit der Hypo¬
thyreoidie weder direkt noch indirekt etwas zu tun haben.
Auch yon der Gicht fand icb bis jetzt nirgends rermeldet, dass
sie in bestimmten Fallen auf Hypothyreoidie beruhen solle. Doch
liegt diese Annahme im Hinblick auf den innigen Verband zwischen
Thyreoidea und Stoffwechsel auf der Hand.
Ein paar Beispiele mogen naher erlautern, welche Falle ich hier-
bei im Auge habe.
1. de M., 40 Jahre, Bauunternehmer. Kr&ftig gebauter Mann, mit
ausgezeichnct entwickeltem Muskel- und Knochensystem. Stammt aus einer
gesunden Familie, in der keine Gicht, aber wohl ein einziger Fall von
Migrhne vorkommt. Hat Anlage zur Adipositas, obwohl er niemals Alkobol
trinkt und Qbrigens vollkommen massig lebt. Seit vielen Jabren Klagen
liber webe Schmerzen im Steiss, im Geshss und in den Beinen, links starker
als rechts; ferner fortwahrendes Geftthl der MQdigkeit in den Beinen.
Objektiv ist wenig zu finden; die Rander des Sakrums sind immer ziem-
lich druckempfindlicb, links starker als rechts; im Gebiete des Nervus
cutaneus feraoris post. (3. Ast des Plexus sacralis) bestebt deutlich Hyp-
asthesie und Hypalgesie, im Ischiadikusgebiet hier und da herabgesetztes
TastgefQhl. Die Reflexe (sowohl Haut- als Sehnenreflexe) sind Qberall vor-
banden und etwa normal. Nur der Fersenreflex ist beiderseits selir niedrig.
Trophische Stbrungen der Haut, des subkutanen Zellgewebes und der Nagel
fehlen. Wohl hat Patient oft ein Kaltegefllhl in den Beinen; die Schweiss-
exkretion ist niedrig. Lues wurde geleugnet; Wassermann negativ; die
rohe Kraft ist Qberall sehr gut. Patient aussert seine Klagen bereits
viele Jahre, bat sehr viel gedoktert, bat immer fQr einen Neurastheniker
gegolten, bat dann auch reicblich Brom und zahllose andere Antineuralgika
geschluckt, dock alles ohne eine Spur bleibenden Resultates. Ehrlich will
ich bekennen, dass auch ich langdauernde therapeutische Versuche mit
ihm gemacht habe, doch eine lange fortgesetzte Behandlung mit Elektrizitat
(Faradisation, „haute frequence", Vierzellenbad), mit Massage und mit
heissen Badern lieferte sehr geringen Erfolg. Schliesslich brachte mich
seine Neigung zur Fettsucht, bei Qbrigens sehr einfacher Lebensweise, auf
dm Gedanken der 'SchilddrQseninsuffizienz, und die dabei passende Behand¬
lung hatte gar bald viel bessere Ergebnisse, als alle frhheren medikamen-
tosen und mechanisch-physischen Behandlungen.
2. W., 48 Jahre, Rechtsanwalt. Stammt aus einer Familie von Gich-
tikern; in der Familie seines Yaters kommt vielfach Gicht und konsti-
tutionelle Fettsucht vor, in der Familie seiner Mutter gleichfalls viel Gicht
und ein Fall von MigrQne; Neurosen und Psychosen kommen Qbrigens in
der Familie der Eltern uicht vor. Patient selbst war immer kerngcsund,
verfOgt Qber einen ausgezeichneten Intellekt und grosse Arbeitskraft, doch
hatte er wihrend seines langdauernden Aufenthaltes in Indien bei Qbrigens
Deutsche Zeitschrift t. Nervenheilkande. Bd. 57. 10
Digitized by
Goggle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
136
Bolten
Digitized by
sonst mftssiger Lebensweise viel unter Fettsucht zu leiden, die bisweilen
sehr stark and dadarch aasserordentlicb hinderlich war. Nor durcb „be-
stimmt, Hunger zu leiden“, wie Patient sich ausdrflckt, konnte er die Fett-
sucht einigermaBen im Zaum halten. Ferner bekam er in Indien auch
gar bald Gichtbeschwerden; er befolgte stets die ihm vorgeschriebene Difit,
doch krfinkelte er immer. Einige Karen in Karlsbad brachten ihm nur
zeitliche Besserung. Nun bat Patient vor allem Klagen fiber Ischias, die
hauptsfichlich rechts sitzt.
Patient ist ein krfiftig gebauter Mann, bei dem objektiv wenig zu
finden ist; er zeigt die bekannten schmerzhaften Druckpunkte der Isclfias,
die Rfinder des Os sacrum sind sehr druckempfindlich, ebenso wie die zwei
untersten Lendenwirbel. An den Haut- und Sehnenreflexen ist nichts be-
sonderes wahrzunehmen, Trophische StOrungen der Haut, der Haare, Nflgel
und des subkutanen Zellgewebes fehlen fiberall vollkommen. Lues wird
negiert; Wassermann negativ. Patient lokalisiert seine Schmerzen haupt-
s&chlich, doch nicht ausschliesslich im Ischiadikusgebiet; auch in Gebieten,
die vom Plexus lumbalis init Geffihlsfasern versehen werden, gibt Patient
spontane Schmerzen an; so u. a. in der vom N. cutaneus femoris ant. ext.
innervierten Hautpartie. W&hrend in der Regel Kranke mit Neuralgien
versichern, dass Wflrme einen angenehmen und erleichternden Einfluss aus-
fibt, gibt in diesem Falle Wftrme gerade immer Anlass zur Verschlimrae-
rung der Schmerzen.
Sorgfaltige Diatregelung und allerlei physische Behandlungen, u. a.
Massage und „haute frequence", geben nur eine teilweise, ziemlich bald
wieder verschwindende Besserung. Dagegen bringt Tbyreoidbehandlung
eine viel grOssere und ziemlich schnell auftretende bleibende Verminderung
der Beschwerden.
3. van W., 42 Jabre, Kontorbeamter. Stammt aus einer gesunden
Familie, in der keine Psychosen und Neurosen vorkommen; nur soli seine
Mutter ein wenig nervfls sein. Ist niemals schwerkrank gewesen und hat
von Kinderkrankheiten nur Maseru gehabt; keine Lues noch GonorrhOe.
Hat seit vielen Jahren Erscheinungen doppelseitiger Ischias und schraerz-
hafte Fosse; gegen das letztere Obel hat er bereits Plattfussohlen ge-
tragen, doch ohne irgendeinen Erfolg. Objektiv ist nicht viel zu finden:
Patient zeigt die bekannten schmerzhaften Druckpankte der Ischias, nie-
drige Fersenreflexe, keine GefOhlsstOrungen, keine StOrungen in der Moti-
litfit. Die Gelenke der Mittelfussknochen sind geschwollen und bei Druck
sehr schmerzhaft, die Beweglichkeit hat stark abgenommen; diese Erschei¬
nungen sind rechts deutlicher als links. Trophische StOrungen fehlen, nur
die Haut scheint etwas trocken; von Tabes und neuritjschen Prozessen ist
nichts zu finden, nervOse und psychische Erscheinungen nicht vorhanden.
In diesem Falle wurde viel schneller als im ersten die richtige Therapie
gefunden und an Hypothyreoidie gedacht. Die Schilddrfisenbehandlung
hatte sehr gute Ergebnisse: sowohl die Ischiaserscbeinungen als die arthri-
tischen (auch die objektiv wahrnehmbare Schwellung und die verringerte
Beweglichkeit) verschwanden schnell.
Hochst wahrscheinlich sind solche Falle gar nicht so selten;
wenigstens meldet Hertoghe bereits die Schwellung und Schmerz-
hafligkeit der Gelenke als eine sehr haufig vorkommende Erscheinung
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Cber Hvpothyreoidie,
137
der Hypothyreoidie. Wie sich jedoch wohl von selbst versteht, be-
ruben zahlreiche andere arthritische Storungen nicht auf Hypothyreoidie,
sondern auf allerlei Infektionen oder auf Intoxikationen mit Bak-
teriengifben. Mein bescheidenes Material hat mir kerne Gelegenheit
verschafft, zu untersucheu, welche klinischen Besonderheiteu uns in-
standsetzeu konnen, den thyreogenen Urspruug der Arthritis bereits
festzustellen, bevor die Ergebnisse der Thyreoidbehandlung uns zu
einem solchen Ausspruch ermachtigen.
Ferner werden allgemein die konstitutionelle Fettsucht und die
Dercumsche Krankheit zu den thyreogenen Stoffwechselstorungen
gerechnet. Was die erste betrifft, so komme ich ganz und gar zu
demselben Ergebnis. Nur will ich darauf hinweisen, dass der viel-
verkiindigte Ausspruch, dass die Thyreoidbehandlung (und damit wird
stets Eingabe getrockneter Schilddriisentabletten oder von Thyreojodin,
Thyreoidin usw. gemeint) nur die konstitutionelle Fettsucht beeinflusst
und nicht die erworbene Adipositas (infolge yon Diatfehlern), nicht
ganz richtig ist: zahlreiche Male hat sich mir ergeben, das3 Thyreoid-
tabletten bei langdauemdem, wenn auch sehr massigem Gebrauch
per se immer zur Pulsbeschleunigung und auch zur Abmagerung
Anlass geben, auch bei Personen, die keine Spur konstitutioneller
Fettsucht zeigen. So habe ich oftmals Kranken, bei denen ihrer
psychischen Storungen wegen eine lange fortgesetzte rektale Eingabe
yon Pressaft weniger gut durchzufiihren war, Schilddriisentabletten
(zu experimentellen Zwecken) eingegeben, docb auch bei sehr massigem
Gebrauch (1—2 Tabletten a 0,2 Gramm per Tag) trat auf die Lange
der Dauer doch immer einige Abmagerung und Pulsbeschleunigung
auf, Erscheinungen, die bei Eingabe frischen Pressaftes, selbst in
grossen Mengen, niemals zum Vorschein kamen. Wohl ergab sich,
dass der Pressaft sehr wirksam ist bei konstitutioneller Fettsucht;
trotz erhohten Appetite, der unter dem Einfluss der Behandlung sich
einstellte, wurde doch eine regelmassige Abnahme der Obesitas erreicht.
Falle der Adipositas dolorosa (Dercum) habe ich niemals behandeln
konnen; diese Erkrankung ist sehr selten, und darum kommt man
nicht leicht zu einer eigenen praktiscben Erfahrung in dieser Krankheit.
Wie bekannt, treten bei dieser eigenartigen Krankheit sowohl allge-
meine Adipositas wie zahlreiche zirkumskripte, subkutane und sehr
schmerzhafte Geschwiilste auf; weiter oftmals Glukosurie, Muskel-
schwache und bisweilen starke Apathie. Nur sehr wenige Falle sind
pathologisch-anatomisch untersucht; meistens wurden degenerative
Strukturveranderungen in der Schilddriise gefunden, und einige Male
ein Karzinom -der Hypophyse. Inwiefem in die3em letzten Falle
die Schilddriise von der Funktionsreduktion der Hypophyse gelitten
10 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
138
Bolten
hat, ist nicht za sagen. Wohl steht fest, dass die Hypophyse, die
Thyreoidea und das chromaffine System in engem funktionellem Zu-
sammenhang miteinander stehen. Auch ist bekannt, dass bei Hunden
nacb Hypophyseexstirpation regressive Veranderungen in der Schild-
driise auftreten. Schliesslicb ist nocb von Belang, dass oftmals bei
der Adipositas dolorosa durch Thyreoideingabe gute Ergebnisse erzielt
warden. Uber Resultate mit Hypophysepraparaten ist nirgends etwas
za linden.
Ubrigens gilt von der Fettsucht, wie von alien anderen hier be-
sprochenen Syndromen und Erscheinungen, dass sie nicht per se
thyreogenen Ursprangs zu sein braucht. Falta unterscheidet nicht
weniger als vier Arten von Fettsucht, die alle auf Storungen in der
inneren Sekretion beruhen sollen, namlich:
1 . die pankreatogene Form. Diese ist jedoch beiin Menschen
mit Sicherheit noch nicht festgestellt; allerlei Tatsachen and Wahr-
nehmungen weisen jedoch darauf hin, dass eine solche Form sehr
wahrscheinlich wohl besteht;
2 . die thyreogene Fettsucht. Falta sagt hieriiber, dass diese
Form durchaus nicht immer gleich leicht festzustellen ist, da andere
Erscheinungen der Hypothyreoidie oft vollkommen lehlen. Die Dia¬
gnose wird jedoch sicher, wenn, wie so oft geschieht, die Thyreoid-
therapie schnelle und auffallende Ergebnisse erzielt. Falta nennt
denn auch die Eingabe von Schilddriisenpraparaten eine Untersuchung
nach dem Stande der Thyreoidfunktion,
3 . die Dystrophia adiposo-genitalis. Diese beruht auf einer Hypo-
physeerkrankung, doch bei dem iunigen Zusammenhang zwischen
dem glandularen Teil der Hypophyse und der Thyreoidea konnte doch
auch diese letztere durch das Fortfallen der Hypophysefunktion funk-
tionell beschadigt sein. Doch spricht das gewohnlich sehr geringe
Ergebnis einer Thyreoidbehandlung bei dieser Form stark gegen den
sekundar-thyreogenen Ursprung;
4 . die epiphysare Fettsucht. Auch das Bestehen dieser Form ist
noch nicht absolut sicher, da bei den wenigen in der Literatur be-
sehriebenen Fallen auch bisweilen an die Moglichkeit einer Hypo-
physenbeschadigung gedacht werden muss. Diese Fettsucht tritt auf
u. a. bei Erwachsenen infolge Tumoren der Epiphyse.
Sehr wichtig fur die Eenntnis der Hypothyreoidie ist die dritte
Gruppe unseres Schemas, welche die Falle umfasst, in denen allerlei
Erscheinungen auftreten, die nicht anders betrachtet werden konnen
als die Folge chronischer Intoxikation, hervorgerufen durch die Thy-
reoidinsuffizienz. Als erstes Syndrom ist dabei die genuine (thyreo¬
gene) Migrane erwahnt. Schon Hertoghe, dessen grosse Verdienste
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
139
aaf dem Gebiete der Schilddriisenpathologie ich bereits gemeldet habe,
hat diese Form bescbrieben; nach ibm haben Levi und Rothschild
in ihrer bereits genannten interessanten Monographie ausfiihrliche Mit-
teilongen darfiber gemacht, und weiterhin haben andere, meistens
franzosische Forscher, von der „Migraine thyroidienne" Meldung ge¬
macht. Doch allgemein hat diese Auffassung sich nicht Bahn gebrochen;
Flatau macht nur so nebenbei davon Meldung und hat offenbar selbst
solche Falle nicht beobachtet, und e3 darf sicherlich Verwunderung
erwecken, dass Falta, mit Biedl einer der grossten Kenner der
Physiologic und Pathologic der inneren Sekretion, nichts fiber die
thyreogene Migrane meldet und auch in seiner Literaturangabe die
Mitteilungen Levis und Rothschilds nicht anfuhrt. Ich selbst ver-
ffige fiber verschiedene Falle rein thyreogener Migrane. Da ich diese
bereits anderswo bescbrieben habe und ich an derselben Stelle eine
ausfiihrliche Erklarung des Entstehens und des Wesens der thyreo-
genen Migrane gegeben habe, und zugleich auf den Parallelism us der
Pathogenese verschiedener Arten Migrane und verschiedener Arten
Epilepsie hingewiesen habe, soli hier nicht naher darauf eingegangen
werden.
Weiter weise ich auf die ursprfinglichen Mitteilungen von Her-
toghe, Levi und Rothschild u. a. bin. Nur will ich noch neben¬
bei die Andacht darauf lenken, dass das Nebeneinanderauftreten der
Migrane und der Gicht bereits ofter festgestellt ist. Dabei wird denn
oft als Erklarung vorausgesetzt, dass die Stoffwechselprodukte, die bei
Gicht eine Rolle spielen, die Ursache der Migrane sein sollen. Dies
ist m. E. nicht ganz rich tig: in den Fallen, bei denen Gicht und Mi¬
grane kombiniert vorkommen, haben wir es mit zwei Syndromen zu
tun, die beide 'die Folge derselben Erkrankung, namlich Hypothy¬
reoidie, sind.
Auch fiber die interessante chronische Autointoxikation, die wir
genuine Epilepsie nennen, wollen wir hier nicht sprechen, da ich
bereits frfiher ausfuhrlich dargelegt habe, dass eine bestimmte Form
der Epilepsie besteht, die ganz und gar mit dem Begriffe „genuine“
Epilepsie fibereinstimmt (im Sinne Reynolds und Binswangers),
die auf einem stark defekten Stoffwechsel infolge Hypothyreoidie (und
Hypoparathyreoidie) beruht. Und diese Form der Hypothyreoidie ist
m. E. die schwerste Ausserung der Intoxikation; infolge einer wahr-
scheinlich stark verringerten Intensitat allerlei fermentativer Prozesse,
sowohl im Darmtrakt als im intermediaren Stoffwechsel, werden viele
Zwischenprodukte des Nahrungsstoffwechsels und vermutlich ebenso-
sehr allerlei toxische Produkte unsere3 eigenen Zellstoffwechsels un-
vollkommen abgebaut und dadurch unzureichend entgiftet. Diese.
Digitized by
Gck igle
m Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
140
Bolten
Toxine baufen sich langsam in der Gehirnrinde an, und hat diese
Anhaufung ihr Maximum erreicht, so erfolgt die Entladung, der epi-
leptische Anfall. Bei genuiner Epilepsie finden wir also eine schwere
Intoxikation, die fast regelmassig, wenigstens bei sehr lange dauerndem
Bestehen, zur Demenz fiihrt. Wenn auch von dieser Regel ziemlicb
viele Ausnahmen yorkommen, so ist doch bei der thyreogenen (genu-
in en) Epilepsie die Intoxikation viel schwerer als bei der tbyreogenen
Migrane, da bei der letzteren wohl bin und wieder eine leicbte Be-
nommenbeit auftritt, docb niemals eine ecbte Demenz. Wie bereits
gesagt, ist thyreogene Epilepsie ziemlich selten im Vergleicb mit den
iibrigen Epilepsien, und bier sehen wir wobl am deutlichsten, dass
ein Syndrom, das thyreogenen Ursprungs sein kann, auch durcb allerlei
andere Erkrankungen verursacht werden kann. Die kliniscben Eigen-
tiimlicbkeiten eines solchen Symptomenkomplexes sind denn auch an
und fur sich selten oder niemals hinreicbend, den tbyreogenen Ursprung
festzustellen, und dies gilt ziemlicb wobl fur alle moglichen Er-
scbeinungen und Syndrome, die thyreogenen Ursprungs sein konnen.
Bei Gicbt werden ofter allerlei Nebenerscheinungen angetroffen,
z. B. in der Form vielerlei leichter trophischer Storungen der Haut,
sowie eines Ekzems, welche, wie wir gleich seben werden, auf Sym-
pathikushypotonie beruben und also indirekt die Folge der Bypothy-
reoidie sind, so dass solcbe trophischen Storungen eyentuell imstande
sind, uns einen Fingerzeig auf den Ursprung der gleicbzeitig vorhan-
denen Gicht zu schaffen. Bei genuiner Epilepsie dagegen sind diese
trophischen Storungen sehr selten: bei meinem Material genuiner
Epilepsie sab icb so gut wie niemals trophische Storungen der Haut,
Nagel, Haare usw., die da ein Vermuten auf Hypothyreoidie hiitten
erwecken konnen. Warum diese Storungen im einen Falle stark in
den Vordergrund treten, wahrend sie im anderen yollkommen fehlen,
iat vorlaufig schwer zu erklaren. Vermutlicb miissen wir die Hypo¬
thyreoidie als eine Ausserung kongenitaler Minderwertigkeit auffassen,
zu der ausser der Funktionsreduktion der Schilddriise noch eine
gleichfalls kongenitale Uberempfindlichkeit binzukommen kann, und
die3e letztere, die klinisch fur uns ein vollkommen unbekannter und
nicbt nachweisbarer Faktor ist, aussert sich wabrscbeinlich bei den
verscbiedenen Individuen auf die verschiedenste Weise: bei dem einen
ist die Gehirnrinde iiberempfindlicb, bei einem zweiten das sympa-
thische System, bei einem dritten ist nur der Stoffwechsel verzogert,
und ein yierter hat wieder einen anderen „Locus minoris resistentiae".
Ganz anderer Art sind hingegen die Vergiftungserscheinungen,
die bei einer dritten Gruppe auftreten, und bei denen namlich keine
periodischen Entladungen auftreten, wie bei der Migrane und der
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Cber Hypothyreoidie.
141
Epilepsie, sondern bei denen fortwahrend leicbte Storungen wahrzu-
nehmen sind, die wir zu den nervosen Erscbeinangen recbnen, and
die noch am besten in das Eader der Neurasthenic passen. Auch bier
lenke icb unmittelbar die Aufmerksamkeit darauf, dass icb keineswegs
bebanpten will, dass die Neurastbenie immer die Folge von Hypo-
thyreoidie sei; im Gegenteil, icb glanbe, dass die Mebrzabl der Falle
es nicht ist. Ich will denn auch nur zeigen, dass einige Falle, die,
was die Art ibrer Erscheinungen betrifft, wobl von jedem Kliniker
zu der Neurastbenie gerechnet werden wiirden, die Folge von Storungen
der Schilddrusenfunktion sein konnen. Das folgende Beispiel, das icb
fur das treffendste halte, mdge dies naher erklaren.
R., 42 Jahre, ostindischcr Haupt beam ter, ist schwer erblicb belastet:
seine beidcn Eltern waren. schwer ueuropathiscb, sein Bruder ist irrsinnig,
seine Schwestern leiden gleichfalls an NervenstOrungen. Patient hatte
stets einen ausgezeichneten Intellekt und bat auch flott seine akademischen
Studien vollendet nnd ist bald danach nach Indien abgefahren. Lebte
stets sehr mSssig: trank fast niemals Alkohol, rauchte nicht und war ancb
auf sexuellem Gebiete immer mfissig; bat niemals Lues oder GonorrkOe
gehabt. Arbeitete auch immer sehr regelmSssig und lebte ausserst hygie-
nisch und rubig; trotzdem hat Patient sein ganzes Leben lang gekrankelt.
Immer hat er an Kopfschmerzen gelitten, war schnell ermfidet und konnte
schlecht schlafen. Dabei war er ttberempfindlich gegen Larm und Gewfthl,
so dass er stets for sich lebte und sich so wenig wie mOglich in Gesell-
scbaft zeigte; lebhaftes Sprecken ermiidete ihn, er wurde dann scbwindlig,
kongestiOs, reizbar und scblief danach noch scblecbter als gewOhnlich.
Hinzu kam noch bereits seit vielcn Jahren eine deutliche Abnahme der
Potenz trotz seines stets sehr m&ssigen sexuellen Verkehrs. Nun vor zwei
Jahren rausste er von Indien fort: er konnte die Warme nicht mehr er-
tragen, wurde unruhig, angstlich. reizbar und benommen, so dass er seine
Arbeit nicht mehr tun konnte. (Patient hatte einen schwierigen Wirkungs-
kreis, durch den er fortdauernd mit der inlandischen BevOlkerung in Be*
rQhrung kam); auch sein Gedachtnis wurde schwacher. Ausserdem wurde
Patient in Indien stets scbnell korpulenter trotz einer sehr geeigneten Diat
und trotz vollkommener Alkoholabstinenz. Auf sein Verlangen wurde er
dann in eine Berggegend, also in ein ktlhleres Kliraa versetzt, und die
Fettteibigkeit verschwand dann ebenso rasch wie sie gekommen war.
Objektiv ist am Patienten sehr wenig wahrzunehmen. Er sieht bleich,
trttbe und in sich gekehrt aus; seine Haut ist einigermaBen dflrr und
trocken; sein Ausseres ein wenig verfallen. Die Klagen sind noch stets
dieselben: Schlechtschlafen, verringerter Appetit und leichte Impotenz,
Lustlosigkeit, scbnelle Ermttdung, Reizbarkeit, allgemeine Oberempfindlich-
keit usw. Herdsymptome sind nicht zu finden; Haut- und Seknenrcflexe
normal; Storungen im Intellekt, im Gedachtnis und in der Merkffihigkeit
sind objektiv nicht wahrnehmbar. Bisweilen klagt Patient fiber Ekzem und
starkes Jucken der Oberschenkel; in der Tat ist an den genannten Stellen
einige Rote mit urtikariaartigem Exanthem zu sehen.
Trotzdem mir Patient das erste Mai nichts von seiner schnell auf-
tretenden Adipositas in den Tropen (ohne dass Diatfekler gemacht waren)
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
142 Bolten
erzdhlte, brachten seine Beschwerden inicb auf den Gedauken, dass die/se
. Neurastbenie in einer Schilddi Oseninsuffizienz ibre Ursacbe finden mftssc.
Die zu dieser Annahrae passende Behandlung batte gar bald sehr gute
Ergebnisse: nach and nach besserten sich alle Erscheinungen sowohl sub-
jektiv wie objektiv: der Appetit, die Potenz und das Sehlafen wurden
besser, die Gesicbtsfarbe wurde friseber and gesunder, das Jacken and der
Hautansscblag verschwanden, ebenso wie die Reizbarkeit upd die allgemeiue
Oberempfiudlicbkeit usw.
Eine andere Gruppe Erscheinungen, die gleichfalls vom. zeutralep
Nervensystem herriihren und auf Hypothyreoidie beruhen, sind un-
moglich auf das Bild der Neurasthenic zuriickzufiibren. Sie gleicben
einigermaBen der.leicbten Form der Dementia praecox, und, ich kann
denn auch keinen anderen Namen dafvir finden, doch will sie iibrigens
durebaus niebt indentifizieren mit dem vollstandigen Bilde der De¬
mentia praecox. Im Gegenteil; ich babe bereits mitgeteilt, dass ich bei
zweifellosen und kompletten Fallen der. Dementia praecox so gut wie
keine merkbaren Resultate der- -Schilddriisentherapie sab. Und dies
im Gegensatz zu Lemei, der auffallend gute Resultate erzielt zu baben
meint. Meine Funde sebliessen sich vollkommen denen Scbnitzlers
an, der bei einer grossen Menge Falle der Dementia praecox niebt die
geringste Besserung durch Scbilddruseneingabe eintreten sah. Obwobl
meine Falle, wie sich ergebenwird, doch wobl einige Cbereinstimmung
mit einer leiebten Dementia praecox zeigen, mussen sie offenbar doch
als etwas ganz anderes betraebtet werden. Die zwei folgenden Falle
mbgen dies naher erlautern.
1. K., 32 Jahre, Mobeltischler, verheiratet. Soil au« einer leiclit neu-
ropathischen Familie staninien; sein Bruder sowie seine Schwestern sind
alle etwas nervOs, doch ausgesprochene Neurosen oder Psychosen komnieu
in der Familie ftberhaupt nicht vor. 1st immer gesund gewesen, konnte
in der Schule gut lernen und seine Arbeit als Mobeltischler stets sehr gut
verrichten. Ungefflhr vor einem Jahr fing Patient jedoeh ohne fiussere
nachweisbare Ursache an zu kr&nkeln. Er konnte seine Arbeit nicht mehr
verrichten, begriff nicht, was der Patron ihm auftrug, verpfuschte seine Ar¬
beit und hatte auch nicht die geringste Lust melir zum Arbeiten. Er
wurdc natQrlich entlassen, seine Familie geriet in grosse ArmutJ und alles,
selbst sein Handwerksgerat musste verkauft werden. Unter all diesen
Schlfigen blieb Patient doch geduldig; alles liess ihn kalt, er war sich
seines wahren Zustandes offenbar gar nicht bewusst und ausserdem war
sein affektives Leben stark abgestumpft; die Potenz hatte stark abgenommen.
Zu Hause war denn auch nichts mit ihm anzufangen, und er wurde darum
zur Observation in ein Krankenhaus gebracht. Er unterzog sich dort einer
Ruheknr, und objektiv war an ihm nichts wabrzunehmen, und Patient ver-
liess das Krankenhaus nach ein paar Monaten wieder und schien gebesswt.
Doch zu Hause ergab sich sehr bald, dass sein Zustand vollkommen uh-
veriindert geblieben war und also ebensowenig mit ihm anzufangen war,
Darauf kam Patient in meine Behandlung. Er ist cin langer junger Mann
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
143
mit gut entwickeltemKnochen- und Muskelsystem, doch von auffallend bleichem
Ausseren and mit sebr weiten Pupilleu. {Jbrigens 1st wenig zu finden,
kein einzigcs Herdsymptom nocli somatisclie Symptome, nocli irgendeine
Erscheinung von MyxOdem, nirgenrls tropbische Storungen. Jedoch sind
deutliche psychiscbe StOrungen vorbanden; der Intellekt hat abgenommen:
mit Kopfrechnen geht es schlecht, und zwar viel scblecbter als in seinen
Schuljahren; das Gedftchtnis bat nachgelasstn und aucb die Merkf&higkeit
ist deutlich geslOrt; ausserdem kann Patient seine Andacht schwierig
irgend worauf lenken; ein Buch kann er nicht. lesen, weil er das Gelesene
nicht begreift und nicht in sich anfnehmen und festhalten kann. Meistens
liegt er im Bett und starrt wesenlos vor sich hin. Yon seiner Umgebung
nimmt er sehr wenig Notiz, auch mit seiner Frau spricht er, wenn diese
zu Besuch kommt, nur sehr wenig. Er ftlhlt sich gar nicht wohl in seiner
Umgebung und will denn auch gern wieder nach Hause, obwohl er zu-
gibt, dass er doch nicht zum Arbeiten kommt. Appetit nicht gross,
schlafen unruhig und sehr abwechselnd. Obgleich keine bestimmten kata-
tonen Zustande wahrzunehmen sind, gleicht sein tagliches Tun und Lassen
dem doch sehr viel: er kann, wenn er ausser Bett ist, sehr lange in der-
selben Haltung sitzenbleiben (oder stehen), starrt vor sich hin, und
meistens ist ein ausserer Unistand nOtig, seine Haltung zu verandern.
Bei diesem Patienten wurde die ScliilddrQsenbebandluDg tatsachlich
rein experimentell eingesetzt, doch die Ergebnisse Obertrafen die Er-
wartungen: nach ein paar Monaten drang Patient selbst stark auf Ent-
lassung an; er war inzwischen viel besser und lebendiger geworden, konnte
eine Zeitung wieder lesen und eine vierstellige Zahl 3 Tage lang gut be-
halten usw. Und bald nach seiner Entlassung kam seine Frau und teilte
mir mit, dass ihr Mann nun wieder ganz der alte ware; er hatte sich $o-
gleich nach Arbeit umgesehen und diese gefundeD, tat seine Arbeit gut
und mit Lust, kurz es war an Patient nichts mehr zu bemerken.
Es ist schwierig, einer derartigen Zusammenhaufung zerebraler
Erscheinungen den richtigen Namen zu geben, und ich gebe zu, dass
n dementia-praecoxartige w Erscheihungen eine nicht ganz richtige Um-
schreibung ist, da daran viel von dem, was bei einer kompletten
Dementia praecox zu finden ist, mangelt. In jedem Fall jedoch miissen
wir feststellen, dass wir es hier mit einem organisch-zerebralen Pro-
zesse zu tun liaben, der im "VVesen nicht anders aufgefasst werden
kann als ein allgemeiner Abbauprozess, eine beginnende Demenz.
Von rein funktionellen Storungen kann dabei keine Rede sein: wahrend
seines Aufenthaltes im Krankenhause sind beim Patienten regelmassig
Antitrypsinenbestiihmungen des Blutes vorgenommen worden, und
dabei ergab sich die antitryptische Kraft des Blutserums standig als
viel zu hoch. Eine solche Erscheinung kommt bei rein funktionellen
Storungen niemals vor und deutet immer auf einen organischen Pro-
zess. Angesichts der Erscheinungen des Kranken und der vollkom-
menen Abwesenheit jeder anderen Krankheit oder Abweichung, die
zu einer Vermebrung der Blutantitrypsinen fiihren konnte, muss hier
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
144
Boltek
also der zerebrale Prozess wohl als ein Abbauprozess betrachtet werden.
Elinisch war also eine beginnende Demenz rorbanden, die jedoch
noch nicht weit genug fortgeschritten war, am, auch bei Beseitigung
der Ursacbe, noch wahrnehmbare Sparen za hinterlassen.
Der folgende Fall ist von uns nur poliklinisch behandelt and wird
darum sehr verkiirzfc mitgeteilt.
2. Fr. F., 45 Jahre. Ist immer gut gesund gewesen and seit ein
paar Jahren verheiratet, hat keine Kinder gebabt; zeigt nun beginnende
klimakterische Storungen: die Menstraation wurde unregelmAssig, and
Patientin ffthlte sich unwohl, lustlos, reizbar usw. In der letzten Zeit ist
sie jedoch auffallend benommen and gehemmt: sie kann nichts tun, nicht
denken, nichts behalten, nichts verarbeiten, kurz „sie hat den Kopf ganz
and gar nicht inehr beisammen“. In der Tat macht sie den Eindrock
grosser Benommenheit, and es sind der Intellekt, das Gedachtnis and die
Merkfohigkeit auch objektiv deatlich vermindert und gestOrt. Zeichen von
Myxddem fehlen vollkommen, ebenso wie Herdsymptome und somatische
Erscheinungen; Wassermann negativ. Die Gesichtsfarbe ist sehr bleich,
die Haut nicht auffallend trocken und nirgends gesehwollen oder mit tro*
phischen Storungen. Der Appetit ist verringcrt, der Schlaf ziemlich gut,
Patientin kann ihre kleine Haushaltung nicht wahrnehmen. Behandlung
mit Thyreoidprflparaten batten sehr guten Erfolg.
Nan liegt die Annahme nahe, dass eventuell im Klimakterium
auffcretende Storungen abhangig sein miissen von der verminderten
Ovarialfunktion, doch es scheint so, als ob dies nicht der Fall ist:
in dem hier beschriebenen Falle und in noch einem anderen, sogleich
zu meldenden, hatte die Eingabe von Ovarialtabletten (Merck) nicht
den geringsten Einfluss, auch nicht bei ziemlich langandauerndem
Gebrauche, wahrend die Schilddriisenbehandlung viel bessere Ergeb-
nisse lieferte.
Vielleicht miissen wir annebmen, dass die Geschlechtsdriise (so-
wohl die mannliche wie die weibliche) einen tonisierenden Einfluss
auf die Thyreoidea ausiibt, und dass also bei Verringerung der Ge-
schlechtsdriisenfunktion auch die Schilddriise dadurch in ungiinsti-
gem Sinne beeinflusst wird.
So behandele ich eine leicht neuropathische Dame, die sich
gleichfalls im Klimakterium befindet and dabei allerlei Storungen zeigte:
Kopfschmerzen, Obelkeit, Appetitmangel, schlechtes Schlafen, Schwindel
und dabei ein paarmal Ohnmachtsanfalle. Sie fiihlte diese Ohn-
macht ankommen, konnte sich gerade noch auf einen Stuhl setzen,
hatte dann einige Augenblicke das Gefiihl, als „sollte sie aus der Welt
gehn“ und kam dann wieder langsam za sich. Auch diese Frau habe
ich langere Zeit Ovarialtabletten gebrauchen lassen, doch ohne irgend-
einen Erfolg, wahrend dagegen die danach vorgenommene Schild-
driisenbehandlung gar bald viel bessere Ergebnisse lieferte.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
145
L’ber Hypothyreoidie.
Auch noch bei einer anderen Patientin mit nervbs-klimakterischen
Sidrungen (Herzklopfen, Schwindel, scHnelle Ermiidung, Riickenschmer-
zen, erregtes Gefiihl, scblechtes Schlafen usw.) hatte eine Thyreoid-
behandlung ziemlich schnell yiel bessere Ergebnisse, ala die Eingabe
Ton Ovarialpraparaten.
Einen sehr wichtigen Platz in den Folgen der Hypothyreoidie
nimmt die in unserem Schema znletzt genannte Grnppe ein, namlich
die sekundaren Storungen, welche anf Erscheinungen zuriickgefiihrt
werden miissen, die anf Sympathikushypotonie bernhen. Anch hierbei
sehen wir wieder das Merkwiirdige, dass in manchen Fallen noch
wohl einige andere Tatsachen zu finden sind, die schliesslich auch
anf Hypothyreoidie hinweisen konnen, wahrend in anderen Fallen
trophische Storungen oder auch eine nur unter bestimmten Umstanden
zutage tretende Abnahme de3 Regenerationsvermogens der Haut als
das einzig wahrnehmbare Zeicben der Reduktion der Sympathikus-
funktionen angesehen werden miissen. Und auf experimentellem Wege
stellt sicb dann wieder heraus, dass diese Sympathikushypotonie thy-
reogenen Ursprungs ist. Auch in diesen Fallen drangt sich stets
wieder die Bemerkung in den Vordergrund (und ich fiible sehr wobl
den Kern der Wahrheit, den sie enthalt), dass solch ein therapeutisches
Experiment doch nur eine Hilfsmethode ist, um auf Hypothyreoidie
schliessen zu konnen. Doch so lange wir nicht iiber bessere und
wissenschaftlichere Methoden verfugen, um einen Einblick in den
Stand der Tbyreoidfunktion zu bekommen, miissen wir uns wohl mit
den von uns angewendeten Methoden behelfen. Und kein Geringerer
als Falta nimmt diese Metbode in Scbutz, wenn er sagt, dass die
Erzielung oder Nichterzielung guter Ergebnisse durch eine Thyreoid-
behandlung eine zuverlassige Probe der Thyreoidfunktion ist. Vor-
laufig sind wir also yerpflichtet, durch therapeutische Versuche nach-
zugehen, ob die eventuellen Sympathikushypotonien die Folge einer
Hypothyreoidie oder aber anderer Ursachen sind, die, sei es langs
toxamischem "Wege, sei es durch anatomische Lasionen, die Sympatbikus-
funktionen beschadigen. Und auch bei dieser Gruppe Syndrome ver-
steht es sich wohl von selbst, dass in vielen Fallen die Sympathikus¬
hypotonie nicht auf Hypothyreoidie beruhen wird, doch auf vielerlei
anderen Ursachen. lmmerhin die trophischen Fasern der Haut miissen
wir in den sensiblen und vasomotorischen Nerven (siehe hieruber
Cassirer u. a.) suchen, und dass diese Nervenelemente auf zahlreicbe
Arten funktionell beschadigt werden konnen (endogene und exogene
Toxine, anatomische Lasionen usw.), ist wohl selbstverstandlicb.
Die hier gemeinte Sympathikushypotonie aussert sich in ver-
schiedener Art: einmal ist es eine allgemeine Rote der Haut mit
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
146
Bolten
leichter Atrophie des subkutanen Zellgewebes and allerlei anderen
Eigentiimlichkeiten, wie wir sie bei der neuritischen Glanzhaut („ Glossy
skin 1 *) antreffen, dann wieder sind es mebr schuppenartige, rotfarbige
„Plaques“, die aus verhartetem und zusammengeschrumpftem Epitbel
betehen, dann wieder finden wir einfache Atrophie mit sekretorischen
und vasomofcorischen Storungen (kalte und trockene Haut, einmal mit
Hyperhydrosis), und ein andermal ist es ein ziemlich scbarf begrenztes
(zirkumskript) Odem der Haut. Wieder in anderen Fallen finden
wir ekzemartige Erkrankungen, bisweilen deutliche Herpeseruptionen
und dann wieder eine ortliche Schwellung, und Zyanose der Haut,
eine pastose Verdickung der blauroten Haut der Finger mit starker Ab-
schalung, und also ein Bild, das auf den ersten Blick der Raynaud-
schen Krankheit gleicbt oder einem stark ausgesprochenen Fall yon
Frosthanden ahnelt. In sehr seltenen Fallen bestebt nur ein ver-
mindertes oder aufgehobenes Regenerafcionsvermogen der Haut.
Von dieser letzteren sebr merkwiirdigen Erscbeinung kann ich
ein sebr interessantes Beispiel mitteilen.
Frl. M., 20 Jabre, unverheiratet, Dienstmadchen; ist angenscheinlich
ein kerngesundes M&dchen, das niemals krank gewcsen ist und von Kinder*
krankheiten nur Masern gehabt hat. Kommt ins Haagschc Krankenhans,
weil eine kleine Hautwunde, die sie sicb am linken Oberschenkel durch
Stoss zugezogen hat, nicht heilen will. Die Wunde ist seit drei Monaten
unver&ndert und schliesst sicb nicht. W&hrend Patientin ganz ruliig im
Krankenhans liegt, bildet sich pldtzlich eine zweite, noch kleinere Wunde
oberbalb der ersten (in der GrOsse eines halben Guldens). Da diese voll-
kommen reaktionslos aussieht mit trockenen, ziemlich hochanfstebenden
Rfindern, werden diese RSnder fortgenommen. Darnach wird die Wunde
fortdauernd sorgfaltig behandelt und mit Nitras argenti eingepinselt, dock
jede Epithelbildung blieb ans. Nachdcm nun dann geraume Zeit allerlei
Mittel angewendet waren und sich nicht die geringste Besserung zeigte,
entschloss man sich zu einer plastischen Operation: ein aus dem rechten
Unterschenkel genommener gestielter Lappen wurde in die Hautwunde ge-
legt, und dieses Stack wuchs ganz normal fest. Alles schien ganz nach
Wunsch zu gehcn, bis es Zeit war den Lappenstiel durchzuscbneiden:
darnach schmolz das eingepflanzte Slttck alimahlich wie „Schnee vor der
Sonne“ weg, und gar bald war nichts mehr davon Qbrig, und die alte
Hautwunde, die inzwischen durch die bereits vermeldete Exzision ungef&hr
die Grflsse eines Reichstalers erhalten hatte, kam wieder in all ihrer
Nacktheit zum Vorschein, und ausserdem sass Patientin nun noch mit ihrer
kQnstlichen Wunde am rechten Bein, die gleichfalls keine Spur einer Reak-
tion zeigte. Darnach hat man monatelang alles versucht: Pinseln, Priess-
nitzumschlage, alle mOglichen reizenden Salben und Flhssigkeiten, die die
heutige Apotheke liefern kann, sehr langdauernde Behandlungen mit
„Ei'fluves“ von hoehfrequenten Wechselstrdmen, alles, zu viel um es zu
nennen, wurde versucht, doch alles vergebens. Die Wunde blieb reaktions¬
los und blutete ausserdem bei jedera Verbandwechsel ziemlich stark. Am
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ober Hypothyreoidie.
147
jBein selbst war nichts zu findon, was diese ungewfthnlichen Erscbeinungen
erklaren konnte: die Haut sieht Qberall vollkommen normal aas, es sind
weder trophische, noch sekretorische noch vasomotorische Stbrungen vor-
banden; wohl bcstehen kleine Varizes, doch diese kOnnen das verschwundene
Regenerationsvermdgen der Haut nicht erklftren. An Herz und Gefassen
ist nichts zu finden; Infektionskrankheiten sind niemals aufgetreten. NatOr-
lich wird an Lues gedacht, doch davon ist nichts zu spllren, und die Re-
aktion von Wassermann ist (Ofter vorgenommen) negativ. Es wird an
Hysterie gedacht, obwohl kein einziges Stigma zu finden ist, und Patientin
ausserdem in ihrem Tun und Lassen das Gegenteil einer Hysterica ist;
Gipsverbande, in denen sich Patientin unter keinen Umst&nden rtthren
kann, hndern auch nichts an der Sache. Die Wunden bleiben wie sie stets
waren, und ausserdem ist Patientin vom Regen in die Traufe gekommen,
denn auch die Wunde, die durch die Exzision der gestielten Lappen her-
vorgerufen wurde, wird so gut wie um nichts kleiner. Nachdem ver-
schiedene Spezialisten ihr Licht Ober diesen merkwQrdigcn Fall hatten
leucliten lassen— stets jedoch ohne zu irgendeinem Resultat zu gelangen —
kamen wir zu der Annahme, dass hier Insuffizienz der Thyreoidea im
Spiel sein kOnnte, und in der Tat stellte sich auch heraus, dass dies der
Fall war. Behandlung mit Tbyreoidpr¶ten brachte schnell und auf-
fallend gttnstige Ergebnisse, da innerhalb 6 Wochen alle Defekte voll¬
kommen ausgeheilt waren.
lch betrachte diesen Fall als sebr merkwiirdig, weil hier nur
eine zufallig an den Tag tretende und so gut wie vollstandige Auf-
hebung des Regenerationsvermogens der Haut die einzige uns erkenn-
bare Erscheinung der Hypothyreoidie war. Auch als einmal unsere
Ansicht in diese Richtung gelenkt war, konnte bei dieser Kranken
nichts entdeekt werden, was gleichfalls auf Schilddriiseninsuffizienz
hatte hinweisen konnen. Die meisten Kranken mit Hypothyreoidie
haben eine bleiche Oder fahle Gesichtsfarbe und eine mebr oder we-
niger diirre, trockene Haut, und nicht selten findet man einige Sym-
ptome, die wir im allgemeinen mit „nervos" andeuten, und auch ein
einziges Mai zeigte sich ein leichter Schwindel, Benommenheit, Kopf-
schmerz, Depressionsgefiihl, Apathie, leichte Gedachnisschwache usw.
Doch von alledem war nichts zu finden: Patientin hatte ein beson-
ders frisches und gesundes Ausseres, war stets sehr lebenslustig und
frohlich, ass, trank und schlief stets gut, zeigte keine einzige nervose
Erscheinung und sollte, hatte sie nicht die ausserst hartnackigen Haut-
defekte gehabt, als ein Urbild der Gesundheit angesehen werden konnen.
Darum war in diesem Falle die Diagnose so ausserordentlich schwierig
zu stellen, und aus dieser Mitteilung kann man denn wenigstens lernen,
dass wir bei einem derartigen aufgehobenen Regenerationsvermogen
der Haut bei nicht vorhandener Lues, Tabes und anderen etwaigen
Ursachen an die Moglichkeit einer Hypothyreoidie denken miissen.
Wie gesagt, dachte man hier auch an die Moglichkeit der Hysterie.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
14S
Boltex
Immerhin sind trophische Storungen der Haut in allerlei Formen wie
Eruptionen (vor allem Urticaria und Herpes, ferner Purpura, Pem¬
phygus usw.), (Mem und selbst Gan gran oft bei hysterischen Kranken
bescbrieben, yor allem durch die franzosische Schule u. a. yon Char¬
cot, Gilles de la Tourette, Pitres, Dutil, Tuffier u. a. (siehe
hieriiber Athanassio, Binswanger u. a.). Bei alien diesen trophisch-
neurotischen Storungen, worauf wir bier nicht naber eingeben werden,
muss an yier Moglichkeiten gedacbt werden: 1. sie sind reine Kunst-
produkte, also die Folge yon Selbstyerwundung oder Selbstmisshand-
lung; 2. sie beruben auf (hysterischen) Gefassstorungen (Konstriktoren-
krampf oder Vasodilatatorenlahmung); 3. sie entsteben langs auto-
suggestiyem Wege, wie sie ebenso aucb im hypnotischen Schlaf durch
Suggestion zum Vorschein gerufen werden konnen (Forel u. a.) und
4. diese trophiscben Storungen baben nicbts mit der Hysterie an sich
zu tun, sondern beruben auf einer anderen selbstandigen Erkrankung.
Von diesen yier Moglichkeiten konnen wir die erste und dritte un-
besprochen lassen, da in yielen Fallen ein derartiger Gang der Ge-
scbebnisse hinreichend nachgewiesen ist. Docb die zweite Moglichkeit
zur Erklarung dieser Hauterkrankungen ist yielleicht nicht unanfecht-
bar; es steht meines Erachtens durcbaus nicht fest, sondern es ist im
Gegenteil sehr unwahrscheinlich, dass die Hysterie als solche zu der-
artigen aussergewohnlich hartnackigen Storungen in der Gefassinner-
vation Anlass geben kann, dass dadurcb die yielen soeben bereits
genannten trophisch-neurotischen Hauterkrankungen entstehen sollten.
Immerhin, allerlei bysterische Erscbeinungen sieht man meistens wieder
einmal yerschwinden, bisweilen selbst sehr plotzlich, um spater, unter
dem Einfluss neuer psychischer Traumata, wieder ebenso plotzlich
zum Vorschein zu kommen. Aber die bier gemeinten Erscheinungen
der Haut sind ausserordentlich hartnackig, und trotz sorgfaltigster
Bebandlung und unter Bedingungen, die jede Moglichkeit einer Selbst*
verwundung oder Selbstraisshandlung ausschliessen, sieht man diese
Storungen selten oder niemals verschwinden, Darum glaube icb denn
auch, dass wir in diesen Fallen diese trophiscben Storungen nicht
der Hysterie als solcher zuschreiben diirfen, docb einer gleichzeitig
vorhandenen Hypotbyreoidie. Eine solche Kombination ist an und
fur sich bereits wahrscheinlich und als haufig vorkommend anzu-
nebmen, da beide, die Hysterie wie die Hypotbyreoidie, auf kongeni-
taler Minderwertigkeit beruhen, bei denen also erbliche Momente eine
grosse Rolle spielen. Und in diesem Zusammenhange muss darauf
hingewiesen werden, dass Pitres als eine Merkwiirdigkeit bei hyste¬
rischen Kranken das Ausfallen gesunder Zahne meldet, wahrend Her-
toghe diese Erscheinung gerade als eine Ausserung der Hypotbyreoidie
N
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
149
beschreibt. Dasselbe gilt vom Ausfallen (herdweise) der Haupt- and
Barth&are: diese Erscbeinung ist bei Hysterie beschrieben, wahrend
es gleichfalls zum Syndrom Hertogbes (hypothyroidie chroniqne
benigne) gehort. Es ist denn anch meine Oberzeugung, dass in solcben
Fallen der Hysterie gleicbfalls die Hypothyreoidie im Spiel ist. So
babe icb sehr lange Zeit einen Hystericus behandelt, der viele klassische
Erscbeinnngen der Hysterie zeigte und sich einmal den Puls zwischen
einer zuschlagenden Tiir klemmte. Die dadurch entstandene Haut-
verwundung beilte nicht aus bei polikliniscber Bebandlung, und da
an kiinstliches Offenbalten der Wunde gedacht wurde, scbickte man
ihn ins Krankenbaus, docb aucb dort blieb jedes Resultat aus. Trotz
aller moglicben Bebandlungen — zu viele, um sie zu nennen — wurde
der Hautdefekt keinen Millimeter kleiner; aucb Gipsverbande, die jede
Moglichkeit einer Selbstmissbandlung ausschlossen, anderten daraa
nicbts. Und dieser Eranke zeigte, wie ich spaterbin feststellen
mnsste — er ist seitdem gestorben und damals bin icb nicbt auf den
Qedanken gekommen — ein ziemlich vollstandiges Bild der Hypo-
thyreoidie: fable, bleicbe Haut, Gelenkscbmerzen, Beklemmungsgefiihl
auf der Brust, Apatbie, Lustlosigkeit, leichte Benommenbeit usw.
Habe icb nun also in diesem Falle nicbt den Beweis liefern konnen,
dass das aufgebobene Regenerationsvermogen der Haut auf Hypo-
thyreoidie beruht, so verfiige icb doch wohl fiber FMle trophiscber
Storungen „bei Hysterie“, die nicht als eine Erscheinung der Hysterie
an sich angemerkt werden konnen, doch als eine Ausserung einer
gleichzeitig vorhandenen Hypothyreoidie.
II., Brieftrflger, 28 Jahre, unverhciratet. 1st erblich belastet: seine
Matter ist sehr nervds, ebenso wie alle Geschwister des Patienten. In der
Schule konnte er gut lernen, doch begann er mit dem 21. Jahre zu krftnkeln:
er war weniger lebhaft, oft IrQbe gestimmt, sein Ged&chtnis und sein In-
tellekt liessen nach, und dies ist seitdem so geblieben. Auch jetzt noch
ist er sehr empfindlich gegen Larm; laqfen viele Menschen um ihn, dann
macht ihn das unruhig und unstet. Er Kann seine (sehr einfache) Arbeit
gut verrichten, doch kostet es ihm oft viel Anstrengung, und sein weniger
gutes Gedachtnis spiell ihm wohl noch einmal einen Streich. Ausserdem
zieht sich Patient sehr leicht etwas an: erzahlt jemand etwas von Krank-
heit Oder anderem Elend, dann muss er weggchen, sonst muss er weinen.
Ausserdem hat Patient seit sieben Jahren unter zwei ganz anderen Er-
scheinungen zu leiden: er hat AnfSlle von Beklemmung, die ganz unregel-
mfissig und unerwartet auftreten und bisweilen so heftig sind, dass er
„Dach seinem Atem schnappen muss", und weiter hat er an beiden Hflnden,
an der Streckseite, ausgedehnte, symmetrische, trophische StOrungen.
Wfthrend ca. sieben Jahren ist diese Hautkrankheit unverandert bestehen
geblieben, trotz feuchter Einpackungcn, Einpinselungen, Trockenverbande,
zahlloser reizender Salben, Arsenikgebrauch und was noch sonst alles.
Lues wird bestimrot geleugnet, Wassermann negativ.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
150
Bolten
Digitized by
Patient ist ein einigermassen bleicb aussehender, gut gebauter jnnger
Mann, der keine einzige Erscheinung von MyxOdem zeigt. Objektiv ist
wenig bei ihm zu finden: eine Spur Anisokorie ist vorhanden (rechte Pu-
pille etwas weiter als die linke; die Pupillen sind ziemlich weit und rea-
gieren prompt auf einfallcndes Licht und Konvergenz). Weiter sind einige
hysterische Stigmata da: es bestehen Pharynxanhsthesie, eine ziemlich
grosse Uberempfindliehkeit der Wirbelsftule (Spinalirritation) und viel
schmerzbafte Druckpunkte an der Brust und am Bauch (Ovarie usw.) Die
Rcflexe sind m&ssig lebhaft und ergeben nichts Besonderes. Zuffille hat
er niemals gehabt, wohl einmal Schwindelanf&lle; er schlaft ziemlich schlecbt
und trftumt oft schwer und unruhig. An der Haut beider Arme ist nichts
Bisonderes zu sehen; an der Streckseite der Handc ist die Haut und das
subkutane Zellgewebe atrophisch; die Haut ist etwas glatt und glanzend,
trocken und wenig elastisch: auf der oberen Handflache befindet sich,
beiderseits fast vollkommen symmetrisch, eine ungefahr talergrosse Partie
mit einer herpesartigcn Eruption: es gibt da viele, mit heller Flftssigkeit
gefQllte Herpesblftschen und dazwischen viele kleine nekrotische Stellen,
deren Epidermis verschwunden ist. Diese Stellen sehen wie Exkoriationen
aus (wie wir oft nach einem Trauma sehen). Es ist dort fast keine Granu¬
lation zu sehen. Diese kleinen nekrotischen Stellen sind fast niemals ge-
schlossen, und wenn sie doch einmal dicht granulieren, gehen sie bald
darnach wieder auf. Im Laufe von sieben Jahren hat sich diese Partie
mit den Herpesbliischen nicht an GrOsse Oder Umfang geandert. Weder
Temperatur noch Jahreszeit tlbte irgendeinen Einfluss darauf aus.
Diese trophischen Storungen erweckten bei uns die Vermutung, — da
irgendein anderer urs&chlicher Prozess, wie Neuritides, Syringomyelie
und andere organische Erkrankungen des Nervensystems nicht nachweisbar
waren — dass sie die Folge von Storungen der Thyreoidfunktion seien.
In der Tat batten Eingaben von SchilddrOsenpr¶ten auffallende Er-
gebnisse: innerhalb zwei Monaten waren die trophischen StOrungen ver¬
schwunden, und ausserdem batten sich des Patienten Gedhclitnis und In-
tellekt merklich gebessert; seine psychische Uberempfindliehkeit istjedoch
unverftndert geblieben.
Ohne Zweifel ist dieser Patient ein Hystericus, und die bei ihm
vorhandenen trophischen Storungen der Haut sind, sei es auch in
sehr verschiedenen Formen, bei der Hysterie oft beschrieben. Doch
wie Lewandowsky mit Recht bemerkt, sind diese trophischen
Storungen nicht die Folge der Hysterie als solcher, sondern von
binzukommenden, selbstandigen Faktoren (abgesehen natiirlich von den
sehr zahlreichen Fallen, in denen diese Storungen nichts anderes als
Kunstprodukte sind). Speziell der Herpes zoster gangraenosus (Kaposi),
die Hautgangran (Ehrl) und die hysterische, multiple, neurotische
Hautgangran will Lewandowsky, wie Cassirer, nicht als die Folgen
der Hysterie als solcher betrachtet sehen. Obwohl psychische Einfliisse
trophische Storungen verursachen konnen (Grauwerden der Haare
nach einem Schrecken, Ausfallen der Haare nach einem Unfall usw.),
sagt Lewandowsky mit Recht, dass die genannten trophischen
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Cber Hypothyreoidie.
151
Storungen nicht die Folge der Hysteric sein konnen, doch dass dafur
eine grosse Labilitat der Vasomotoren notig ist. Doch diese abnormal
grosse vasomotorische Labilitat konnen weder Lewandowsky noch
Cassirer erklaren, und darum wird ein Novum, die „hysterophile
Erkrankung" durch Lewandowsky aufs Tapet gebracbt. Doch diese
„hysterophile“ Erkrankung ist nur eine sinnlose Wortkombination, an
die iiberhaupt kein Begriff sich knupfen lasst. Immerbin, die grosse
Empfindiichkeit der Haut nnd die Neigung zu trophischen Storungen
sind, wie sowobl Cassirer als auch Lewandowsky betonen, keines-
wegs aus individueller Verschiedenheit der Vasomotoren zu erklaren,
und nimmt man auch das Bestehen von rein trophischen Nerven an,
so ist es doch nicht gut moglich, diese trophischen Hautveranderungen
bei der Hysterie einfach als Folgen psychogener Einfliisse auf die
trophischen Nerven' aufzufassen. Zur Erklarung der Tatsachen ist
also die „hysterophile Erkrankung" von keinem Werte, doch wohl
kann die Physiologie der Thyreoidea dabei grosse Dienste leisten:
die Schilddriise ist der „Tonisator“ des Sympathicus, so dass infolge
von Hypothyreoidie eine Sympathicohypotonie entsteht und auf diesem
•Wege und nicht anders sind die zahlreichen und sehr verschiedenen
trophischen Hautstorungen bei der Hysterie zu erklaren. Lewandowsky
sagt denn auch mit Recht: „die typischen Bilder der hysterischen
Hautgangran Jjrauchen eine besondere Disposition, die auch ohue
Hysterie vorkommt und auch ohne Hysterie zum Auftreten trophischer
Hauterkrankungen fuhren kann". In der Tat ist dies vollkommen
wahr, wenn wir nur ..Disposition" durch „Hypothyreoidie“ ersetzen:
diese letztere tritt oft selbstandig auf, doch ist sie auch oft mit der
Hysterie kombiniert, und in diesen letzten Fallen treffen wir dann die
verschiedenen hier gemeinten trophischen Storungen der Haut an.
Diese letzten sind dann jedoch die Folge der Hypothyreoidie und
haben mit der gleichzeitig vorhandenen Hysterie keinen direkten
kausalen Verband.
In der Tat sind solche trophischen Storungen der Haut, die auf
Schilddriiseninsuffizienz beruhen, auch bei Abwesenheit von Hysterie
nicht selten. Vielleicht kommen diese Storungen ziemlich viel bei
hohem Lebensalter vor, und dies wiirde von grossem Interesse sein
im Zusammenhang mit der von Horsley entwickelten Theorie, dass
die Ursache der senilen Involution in Schilddriiseninsuffizienz zu
suchen ist, ebenso wie die von Rum mo beschriebenen prasenilen Er-
scheinungen (..Geroderma genicodistrophico"). Von dieser senilen
Hypothyreoidie ein einziges Beispiel.
X., 85 Jahre; kerngesunder, intellektuell ausgezeichnet entwickeltcr
alter Herr, nicht erblich belastet. In der letzten Zeit klagt er Ober Kopf-
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 11
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
152
Bolten
Digitized by
and Gelenkschmerzen, ab and za ieichte Ged&cbtnisscbwftche and trophische
StOrangen an beiden Armen. Die Hant ist einigermassen dttrr and trocken;
beide Arme zeigen, symmetrisch and vor allem an der Streckseite, ein
Erytkem, mit einigen Herpesblascben, rotvioletten Flecken und hier and
da Schuppenbildung. Die Arme jucken gewaltig, Patient kann nicht durch-
schlafen and kratzt sich fortwfthrend die Haut auf. MedikaroentOse Be-
bandlung (Streupulver, feu elite Umschlage, allerlei Salben) hilft nichts; da-
gegen wird durch Eingabe von Thyreoidprftparaten ziemlich scbnell eine
sehr merkbare Besserung erzielt.
Vermutlich sind solche thyreogene trophische Storungen gar nicht
selten; njein Material ist jedoch nan noch nicht gross genug, urn
dariiber ein Urteil abgeben zu konnen. Dabei vergesse man nicht,
dass solche Kranken selten oder niemals sich an den Nenrologen,
sondern vielmehr an den Dermatologen wenden, so dass es ftir mich
schwierig ist, ein grosses Material dieser Art za sammeln.
Wohl kann ich noch einen interessanten Fall yon zirkamskriptem
Hautodem mitteilen, der sich gleichfalls als die Folge der Hypo-
thyreoidie heransstellte. Die (verkurzte) Krankheitsgeschichte laatet
wie folgt:
F., 28 Jabre, unverheiratet, Mineningenieur. Stammt von gesanden
Eltern, in dessen Familie keine Neurosen oder Psycbosen vorkommen.
Brflder und Schwestern des Patienten gleichfalls alle gesund. Bis zam
21. Jabre war Patient vollkommen gesund; ohne nachweipbarc Ursachen
bekam er dann Schwellungen der Weichteile des Gesichtes, besonders aber
der Nase und beider Wangen. Schmerzen hat er dabei niemals gehabt,
Fieber vermutlich ebensowenig; Umst&nde, die auf irgendeine (Ortliche
oder allgemeine) Infektion hinweisen kOnnten, konnte Patient nicht angeben.
Sein Intellekt und sein Gedftchtnis waren stets sehr gut, und daran hat
sich auch nichts geftndert. Beschwerden von dieser Erkrankung hatte er
wenig; hin undwieder erschienen herpesartige Eruptionen mit Krusten-
bildung und spkterer Abschaiung, doch diesc Eruptionen verschwanden
nach langerer oder kOrzerer Zeit wieder von selbst. Doch vom kosme-
tiseken Standpunkte war seine Erkrankung sehr hinderlich, da in der Tat
die geschwollenen Wangen und besonders die stark verdickte Nase und die
hier und da sich zeigenden Abschalungen mit roten Flecken sein Ausseres
sehr entstcllten. Patient konsultierte darum wfihrend des siebenjahrigen
Bestehens seiner Erkrankung eine ansehnliche Reihe Arzte, meistens be-
rtthmte Spezialisten aus Deutschland, Frankreich und Belgien. Dabei kam
Patient selbst za dem merkwGrdigen, obwohl keineswegs unerklarbaren
Ausspruch, dass die meisten Spezialisten eine Diagnose stellten, die voil-
kommen „ihren verschiedenen Gebieten der Heilkunde entsprechen": die
Hautarzte meinten fiberwiegend es mit Syphilis zu tun zu haben; andere
dachten an eine Ortliche Infektion oder an eine besondere Art Akne; ein
berQhmter Dermatologe meinte es selbst mit Akne rosacea zu tun zu baben.
Die Chirurgen dachten meistenteils, dass man hier mit Zahnzysten zu tan
hatte and rieten eine Operation an. Patient unterwarf sich dieser, and
die Folge war, dass „das Odem nicht schlimmer wurde“. Anlftsslich der
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
153
angenommenen Zahnzysten war Patient oft mit X-Strahlen untersucht
worden, and dies gab einem Haatarzt wieder Aniass, an eine ROntgen-
dermatitis zu denken. Verschiedene andere Chirurgen dacbten wieder an
eine Ortliche Infektion and rieten zahllose Behandlangen mit Salben,
feuchten Umschl&gen asw. an. Ein berQhmter Laryngologe suchte (was
natflrlich selbstverstfindlich ist) die Ursache in der Nase and erachtete
eine Operation in der Scheidewand fttr notwendig. Patient selbst war
glacklicherweise nicht von der Notwendigkeit einer neacn Operation Qber-
zeugt, and diese anterblieb daram. Verschiedene Nearologen dacbten an
trophische StOrnngen infolge von ErkrankaDg tropbiscber Nerven
(Neuritis), and viele andere meinten es mit einer EntzQndung der Lymph-
bahnen zu tun zn baben. Wieder andere suchten die Ursache in den
Nebennieren and gaben Patienten Adrenalin ein; aach dachte man an eine
Hypopbyseerkrankung, wahrend wieder ein .anderer hintereinander mit
alien mOglichen Organpraparaten behandeln wollte, besonders mit Hypo-
physe, Nebenniere and Schilddrdse. Scbliesslich konsaltierte Patient aach
Hertoghe in Antwerpen, welcher die Erscheinungen auf Hypothyreoidie
zurQckftlhrte; doch durch znfallige Umstande unterzog sich Patient nicbt
dieser Behandlung. Er gibt zu, dass es ibm unmOglich war, der riesen-
haften Menge Behandlangen sehr verschiedener Art za folgen; bei einigen
(vor allem bei denen mit Ortlicher Reizung dnrch Salben, Elektrizitat asw.)
masste er erkennen, dass sie den Zustand nur verschlimmerten.
Als Patient zn mir kam, war sein Zustand genau so wie die letzten
sieben Jahre; er ist ein gat gebauter j unger Maun mit aasserordentlich
gatem Intellekt und ist besonders lebhaft and gefasst beim Sprechen.
Ausser dem bereits genannten Odera an Nase und Wangen und der bleichen,
pastOsen, stark geschwollenen Haut mit schlechter Zirkulation and sehr
unebencr Oberflachc ist nichts an ibm wahrznnehmen. An den Reflexen
ist nichts Besonderes zn bemerken; an Haat, N&geln, Haaren and Zfthnen
sind, abgesehen von genanntem lokalen Odem, nirgends trophische Oder
vasomotorische Storungen wahrznnehmen. Die OdematOse Haut von Nase
und Wangen ist bleich, mit einigen roten Flecken and einigermassen
trocken; sie ffihlt sich kalt, wenig sacht und faltbar an. Von einer ROnt-
gendermatitis lasst das Bild absolut nichts erkennen; aach einer etwaigen
syphilitischen Erkranknng gleichen seine Hautsymptome durchaas nicht;
aasserdem ist die Wassermannsche Reaktion, wiederholentlich vorge-
nommen, stets negativ ausgcfallen. Durch seine grosse Lebhaftigkeit, sein
schnelles und gates Antworten und durch seine ausserordentliche intellek-
tuelle Beschaffenheit macht er ganz bestimmt nicht den Eindruck, als leide
er an MyxOdem: an Stelle des TrSgen, Lustlosen, Indolenten eines MyxOdcm-
kranken zeigt Patient gerade eine gewisse Unruhe und grosse Beweglich-
keit; er gibt denn auch zu, immer ein wenig uervbs gewesen zu sein. Es
war denn auch sehr schwierig, nach einer ersten Untersuchung bereits
einen Eindruck zu haben von der Richtung, die man einschlageu mtlsste,
um zu einer Diagnose zu gelangen. Patient teilte auch mir die endlose
Geschichte mit Qber die zahllosen von ihm konsultierten Arzte und deren
Aussprtlche. Anfanglich war ich denn auch am meisten der Meinung derer .
zagetan, die meinten, dass hier ein Ortlicher Entz&ndungsprozess der Lymph-
bahnen im Spiele war. Daram schlug ich eine Ortliche Behandlung mit
hochfrequenten WechselstrOmen vor, da dieses Mittel den Ortlichen Stoff-
11 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
154
Boi.ten
wechsel stark akzelerieren kann. Dock bald glaabte Patient mehr Ver-
schlimmerung als Besserung feststellen zu kOnnen, und darum wurde mit
dieser Behandlung nicht weiter fortgefahren. Die pastdse, bleiche, schlecht
genfthrte Haut mit den spftrlichen Eruptionen und Absch&lungen brachte
mich dann auf den Gedanken der Tbyreoidinsuffizienz; • und in der Tat
brachte eiRe darnacb eingefOhrte Tbyreoidbebandlnng ziemlich bald eine
sehr ansehnliche Besserung.
Um nicht allzu ausfiihrlich zu sein, werden wir uns mit den bis
jetzt gegebenen Beispielen von Hypothyreoidismus begniigen. Das
von uns gegebene Schema ist ohne Zweifel noch ausdehnungsfahig,
und es ist auch die da angegebene Einteilung und Gruppierung sicher
nicht iiber jede Kritik erhaben, da es ohne Zweifel oft vorkommen
wird, dass ein Kranker, der wegen seiner frappantesten Erscheinungen
in eine bestimmte Gruppe untergebracht werden miisste, auch Neben-
symptome zeigt, die ihn in eine andere Gruppe verweisen sollten.
An unserem Schema haften also Fehler, die an jedem Schema kleben.
So ist denn auch mit Absicht nur Meldung gemacht von den ver-
schiedenen Formen der Hypotbyreoidie bei Erwachsenen, doch es ist
wobl selbstverstandlich, dass eine bereits in der Jugend vorhandene
Thyreoidinsuffizienz spater noch zu neuen Erscheinungen Anlass geben
kann. So beschreibt Theunissen einen aussergewohnlich inter-
essanten Fall eines Jungen mit thyreogenem Infantilismus, der ausser
der tvpischen Verzogerung der Ossifikation auch Imbezillitat zeigte.
Ausserdem traten in den Pubertatsjahren zyklische Erscheinungen auf:
Perioden von Stupor wechselten mit solchen von Exaltation ab. Auf
Grund allerlei ausfiihrlich bescbriebener Untersuchungen glaubt Theu¬
nissen feststellen zu konnen, dass wahrend der stuporosen Periode
sicherlich eine Insuffizienz der Schilddriisenfunktion im Spiel war,
wahrend in der Periode grosser Aufgeregtheit eine normale, vielleicht
sogar eine leicht erhohte Schilddriisenfunktion vorhanden sein diirfte.
Trotzdem kann Theunissen wahrend der stuporosen Phase nur eine
sehr unbedeutende Besserung zustande bringen durch Eingabe von
Schilddriisenpraparaten (auch er zieht Eingabe frischer Schilddriise
vor). In diesem Zusammenbange weist Theunissen denn auch mit
Recht auf den grossen Einfluss bin, den die Schilddriise auf die iibrigen
Driisen mit innerer Sekretion ausiibt, so dass aus diesen Griinden
vielleicht mehr von eiuer kombinierten Organotherapie zu erwarten
ist. Ganz bestimmt steht fest, dass in diesem Falle, in dem zyklische
Erscheinungen auftraten, und bei dem eine bereits von Jugend auf
bestehende Schilddriiseninsuffizienz zweifellos vorhanden ist, trotzdem
ein direkter Zusammenhang zwischen diesen zyklischen Erscheinungen
und der Hypotbyreoidie sehwer nachzuweisen ist. Vielleicht ist dieser
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
155
Fall zu kompliziert, und bestehen ausser der Hypothyreoidie auch
noch andere Alterationen. Darum liegt m. E. die Annahme einiger-
mafien auf der Hand, das3 in unkomplizierten Fallen, bei denen
stuporose Zustande oder zyklische Erscheinungen auftreten, wobl eine
Schilddriiseninsaffizienz im Spiel ist, wenigstens wahrend des Stupors
Qnd wahrend der depressiven Perioden. Doch scheint dies nicht der
Fall zu sein: ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich bei
Dementia praecox, bei der so oft stuporose und katatonische Er¬
scheinungen auftreten, keine nennenswerte Ergebnisse mit Tbyreoid-
behandlung erzielen konnte.
Und mit der manisch-depressiven Psychose war es ebenso: zwar
meinte ich in einem (leichten) Falle wobl eine deutliche Besserung
durch die Thyreoidbehandlung feststellen zu konnen, doch in einigen
anderen und kompletten Fallen blieb jeder therapeutische Effekt voll-
kommen aus. Beachtet man, dass ich diesen Kranken immer mit
frischem Pressafte und nicht mit getrockneten Praparaten behandelte,
und geht man von Faltas Behauptung aus, dass eine Thyreoidbe¬
handlung zuverlassige Ergebnisse iiber den Stand der Schilddriisen-
funktion liefert, so miissen wir wobl annehmen, dass bei der manisch-
depressiven Psychose als auch bei katatonen und stuporosen Zustanden
bei der Dementia praecox keine Schilddriiseninsuffizienz im Spiel ist.
Daraus folgt jedoch noch nicht, dass depressive Zustande niemals auf
Hypothyreoidie beruhen: Middlemacs hat 5 Falle von Melancholie
mitgeteilt, die durch Thyreoidbehandlung ausgeheilt sind. Er geht
selbst so weit, zu bebaupten, dass die Thyreoidbehandlung einen
zuverlassigen Hinweis auf die Heilbarkeit einer Psychose gibt: hat
diese Behandlung kein Resultat, dann ist die Psychose unheilbar.
Doch dies ist gewiss nicht richtig, da ja doch unzweifelhaft heilbare
Psychosen bestehen, die nicht thyreogenen Ursprungs sind; man denke
nur an die vieten hysterischen Psychosen.
Aus den in diesem Aufsatze angefiihrten Tatsachen geht m. E. nach
ganz deutlich hervor, dass die Hypothyreoidie ein viel vorkommendes,
sehr wicbtiges Krankheitsbild mit enormer Verschiedenheit in den
klinischen Erscheinungen liefert, sei es auch, dass das Bild bis jetzt
einigermaBen vage und noch nicht scharf zu umgrenzen ist, speziell
gegeniiber anderen Bildern mit scheinbar analogen Erscheinungen,
die jedoch nicht thyreogenen Ursprungs sind. Und die gewiinschte
scharfe Umgrenzung und also das Verschwinden der Unbestimmtheit
konnen erst erreicht werden, wenn wir iiber einfache und zuverlassige
Reaktionen verfugen, die uns eine richtige Einsicht in die Thyreoid-
funktion verschaffen. Die durch Falta angegebene Methode kann
noch nicht diesem Bediirfnis entsprechen, und es steht ausserdem noch
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
156
Bolten
nicht fest, dass sie ganz gefahrlos ist, da dabei Einspritzungen mit
Pilocarpin und Adrenalin gemacht werden (bei Hypothyreoidie wnrde
subkutane Eingabe yon Pilocarpin keine SchweiBsekretion hervorrufen).
Dass das Bild der Schilddriiseninsuffizienz oft so nnbestimmt ist
und solch eine enorme Verschiedenheit der Erscbeinungen hervor-
bringemkann, ist begreiflich, wenn wir dabei denken an die gleichfalls
aussergewohnliche Kompliziertheit ibrer Fonktionen, nnd dabei sind
bei Funktionsreduktion Storungen verschiedenster Art nnd an den
yerscbiedensten Eerperstellen moglich. Die Thyreoidea ist ja ein
Organ, das in sehr hohem MaBe zur Bestimxnung der Konstitntion
des Individuums beitragt (siehe bieriiber n. a. de Josselin de Jong).
Wahrend wir bei Erkrankungen anderer Organe (Herz, Lunge, Magen,
Leber nsw.) uberwiegend Erscheinungen finden, die sich mehr oder
weniger im betreffenden Organ selbst aussern, ist dies bei Storungen
der Schilddriise, vor allem bei der hier besprocbenen chronischen
leichten Insuffizienz, nicht der Fall: bier werden wir gerade an alien
moglichen Stellen des Korpers sekundare Erscbeinungen finden konnen,
welche die Folge einer leichten Intoxikation, eines verzogerten Stoff-
wechsels, oder der Sympathicus-Hypotonie (trophische Storungen) usw.
sind, wie das in unserem Schema so gut wie moglich angegeben ist.
Hinzukommt noch ein Faktor, den man oft iibersieht, namlich der
Einfluss, den das zentrale Nervensystem yon alien andem Organen
und Systemen erfahrt: oft konnen wir beim Eranken nichts anderes
finden, als Erscheinungen, die wir betrachten als Folge yon Erkran¬
kungen des Zentralnervensystems, wahrend dies letztere in der Tat
nicht primar erkrankt ist, sondern auf einen abnormalen Reiz reagiert,
den es aus dem Stoffwechselprozess oder aus einer der Driisen mit
innerer Sekretion empfangt. Und gerade die Eenntnis der Schild-
driiseninsuffizienz bringt uns die Uberzeugung, dass yiele derartige
nervose, psychische und trophische Erscheinungen, die wir geneigt
sind als die Folge einer bis jetzt unbekannten primaren Erkrankung
des Zentralneryensystems anzusehen (Neurosen), in der Tat sekun-
darer Art sind.
Dass die Hypothyreoidie sich in so yerscbiedener Weise aussert,
wird wohl die Folge dayon sein, dass diese kongenitale Minder-
wertigkeit der Schilddriise gepaart geht mit einer gleichfalls konge-
nitalen, doch indiyiduell stark wechselnden Herabsetzung des Wider-
standsvermogens der verschiedenen Teile des Nervensystems: der eine
hat als Locus minoris resistentiae die Gehirnrinde (Epilepsie, Migrane),
ein zweiter den Sympathicus (trophische und sekretorische Storungen),
ein dritter den Putin- und Salzstoffwechsel (Gicht, Ischias) und
ein vierter den allgemeinen StofFwechsel (Fettsucht) usw.
ty Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Hypothyreoidie.
157
£s ist auch bereits darauf hingewiesen, dass die Hypothyreoidie
oft mit andern Konstitutionsveranderungen kombiniert angetroffen
wird. So fand Ohlmacher in Fallen genniner Epilepsie oft den
Status thymolymphaticus (persistierender Thymus, Hyperplasie des
follikularen Gewebes, enge Aorta usw.); de Groot fand bei Epilep-
tikern oftmals sekretorische Storungen des Magens, verbunden mit
Atonie usw.
Wenn wir daran denken, dass Cassirer in seinem vortrefflichen
Handbuch der yasomotorisch-trophischen Neurosen sehr ausfiihrlicb
die Gefasszentren in der Medulla oblongata und in derRinde beschreibt,
und gleichfalls ganz im einzelnen den Einfluss der sekretorischen
Nerven auf die Driisenfunktion bespricht, dock nirgends die Inner-
ration der Thyreoidea durch den Sympathicus anriihrt, noch den auf
den Sympathicus von der Thyreoidea ausgeiibten tonisierenden Einfluss,
und wenn wir ferner feststellen, dass Lewandowsky eine B bystero-
phile Erkrankung® notig hat, um die trophischen Storungen bei der
Hysterie zu erklaren, und dass sowohl Biedl als Falta, zwei der
grossten Kenner der Lehre yon der inneren Sekretion, kein einziges
der hier behandelten zahlreichen Bilder der Hypothyreoidie rermelden,
dann liegt der Schluss wohl klar auf der Hand, dass in den fast
20 Jahren, die yerflossen sind, seitdem Hertoghe seine ersten Mit-
teilungen iiber die „hypothyroidie benigne chronique" yeroffentlichte,
diesem doch so besonders wichtigen Krankheitsbilde ausserordentlich
geringe Aufmerksamkeit gewidmet ist. Und um des grossen Interesses
willen, das diese kongenitale Funktionsstorung fur die Erklarung
yieler Erscheinungen bat, deren Pathogenese bis jetzt dunkel war, ist
es dringend notwendig, dass dieser stiefmiitterlichen Behandlung ein
Ende gemacht wird. Verfasser dieses hofft hierdurch einen beschei-
denen Beitrag zu diesem Zwecke geliefert zu haben.
Literataryerzeichnis.
A. Oswald, Uber den Jodgehalt der Scbilddriise. Zeitschr. f. phya.
Chemie 1897, Bd. 23, S. 265.
Derselbe, Uber dieFnnktion derSchilddruse. Munch, med. Wochenschr.
1899, Nr. 33.
Derselbe, Die EiweisskSrper der Schilddrfise. Zeitschr. f. physiol.
Chemie 1899, Bd. 27.
Derselbe, Znr Theorie der Schilddrusenfunktion nnd der thyreogenen
Erkrankungen. Berl. klin. Wochenschr. 1915, Xr. 17.
O. v. Fflrth, Probleme der physiologischen und der pathologischen
Chemie 1912, Bd. 1, 8. 436.
L. Asher und M. Flack, Beitriige zur Physiologie der Driisen. Die
innere Sekretion dcr Schilddruse und die Bildung des inneren Sekretes unter
Digitized by Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
158
Bolten
Digitized by
dem Einfluss von Nervenreizung. Zeitschr. f. Biologie 1910, Bd. 55, Nr. 3,
4 nod 5.
H. Eppinger, W. Falta nod C. Rudinger, Uber den Einfluss der
Schilddrflse anf Stoffwechsel und Nervensystem. Neurol. Zentralbl. 1908, S. 439.
W. Falta, Die Erkrankungen der Blutdrfisen. Berlin 1913.
A. Magnus Levy, Uber den respiratorischen Gaswechsel und den Ein-
fluss der Thyreoidea. Berl. klin. Wochenschr. 1895.
A. Biodl, Innere Sekretion. Berlin und Wien 1913.
S. Marbd, Influence du corps thyroide sur la physiologic de l’intestin..
C. rend. d. 1. Soc. de Biol. 1911, Bd. 70, S. 1028.
Derselbe, Hypersensibilisation gdndrale thyroidienne etc. Ibid. 1910,
S. 351, 412, 468; 1911, 8. 181 und 357.
L. Fassin, Sur le pouvoir „alexigfene“ de la thyroide d£lipoid£e. Ibid.
1910, Bd. 69, S. 49R
H. Roger et M. Gamier, Recherches expdriraentales sur les injections
thyroidiennes. La Presse mdd. 1900 (.9. August).
F. K. Walter, Uber den Einfluss der Schilddrflse, auf die Regeneration
der peripheren, markhaltigen Nerven. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde.
1909, Bd. 38, S. 1.
A. Juschtschenko, Die Schilddruse und die fermentativen Prozesse.
Zeitschr. f. phys. Chemie 1911, Bd. 75, S. 141.
Derselbe, Zur Physiologic der Schilddrflse. Uber die lipolytischen und
oxydierenden Fermente der Schilddrflse usw. Archiv f. biologische Wissensch.
1910, Bd. 15, S. 171.
Ldopold L4vi et H. de Rothschild, Etudes sur la physio-pathologie
du corps thyroide et de l’hypophyse. Paris 1908.
Stdpanoff, Le corps thyroide et les defenses naturelles de l’organisme.
C. rend. d. 1. Soc. de Biol. 1909, Bd. 66, S. 296.
P. Trendelenburg, Uber den Nachweis toxischer Stoffe im Blute thy-
reoidektomierter Tiere. Biochem. Zeitschr. 1910, Bd. 29, S. 396.
E. Hertoghe, Hypothyroidie benigne chronique ou myxoedbme fruste.
Bulletin de l’Acad. royale de mddec. de Belgique 1899, IV, Bd. 13, S. 231.
Derselbe, Die Rolle der Schilddrflse bei Stillstand und Hemmung des
Wachstuins und der Entwicklung, und der chronische, gutartige Hypothyreoi-
disnius. Munchen 1900. (Deutsch von J. H. Spiegelberg.)
G. Weiss et M. Labb4, Etude des dchangeB respiratoires chez un obese,
soumis i la cure de reduction alimentaire et au traitement thyroidien. C. rend,
d. 1. Soc. de Biol. 1909, Bd. 67, S. 215.
E. Abderhalden, Lehrbuch der biochemischen Arbeitsmethoden.
Derselbe, Physiologisches Praktikum. Chemische und physikalische Me-
thoden. 1912.
J. Bauer, Fortschritte in der Klinik der Schilddrflsenerkrankungen.
Medizin. Klinik 1913, Bd. 9, Nr. 5.
A. J. Lem e i, Over de behandeling van dementia praecox. Nederl. Tijdschr.
v. Geneesk. 1914, II, S. 241.
E. Flatau, Die Migrane und ihre Abarten. Lewandowskys Handbucb.
Berlin 1914, Bd. 5, S. 342.
G. C. Bolten, Drei Aufsiitze fiber Epilepsie. Monatsschr. f. Psych, u.
Neurol. 1916, Bd. 39, S. 32, 134 und 237.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Bolten, Uber Hypothyreoidie. 159
Derselbe, Pathogenese and Therapie der genuinen Epilepsie. Ibid.
1913, Bd. 33, 8. 119.
J. G. Schnitzler, Mededeelingen over proeven van behandeling der de¬
mentia praecox met scbildklierpraeparaten. NederL. Tijdschr. v. Geneesk. 1916,
I, 8. 1179.
B. C assirer, Die vasomotorisch-trophischen Neurosen. Berliu 1912,
S. 138—143.
Athanasio, Des troubles fcrophiques dans l’hyst4rie. Thfese de Paris 1890.
O. Binswanger, Die Hysterie. Wien 1901. Nothuagels Handbuch,
S. 584—592.
M. LewandowBky, Die Hysterie. Lewandowskys Handbuch. Berlin
1914, Bd. 5, S. 705.
W. F. Teunissen, A case of infantilism with catatonous complex of
symptoms. Paychiatr. en Neurol. Biaden 1914, S. 453.
G. Middlemacs, On the treatment, of insanity by thyroid. Journ. of.
mental Science 1899, Nr. 1.
R. de Josselin de Jong, Nieuwere begrippen over de beteekenis der
constitute. Geneesk. Bladen 1913, Nr. 1.
A. P. Ohlmacher, The morbid anatomic evidences of the lymphatic
constitution in idiopathic epilepsy. Journ. of the Americ. med. Assoc. 1898,
Bd. 31, Nr. 1.
J. de Groot, Over afwijkingen in de maagfuncties bij epileptici. Medisch
Weekblad 1907 (30. Nov. und 7. Dez.).
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
Von
Dr. 6. 0. Bolten (Haag, Holland).
In den letzten zebn Jabren baben sicb viele Forscber mit dem
, Nebeneinandervorkommen von Epilepsie und Tetanie bei ein und dersel-
ben Person beschaftigt; alle Forscher legen den Nachdruck darauf,
dass in diesen Fallen nicbt die Rede ist von einem zufalligen Zu-
sammentreffen dieser beiden Syndrome, sondern dass wobl in Wirklicbkeit
eine sebr enge atiologische und kausale Verwandtschafi zwiscben beiden
angenommen werden muss. Uber dieses gleichzeitige Vorkommen von
Epilepsie und Tetanie sind verschiedene Erklarungen gegeben, wobei
. einige Auffassungen sicb den unsrigen sebr naberten. Doch muss
dabei bemerkt werden, dass verschiedene Forscher, die grosse Neigung
haben einen Kausalverband zwischen den genannten Symptomen-Kom-
plexen anzunehmen, dafiir keine binreicbenden Argumente aus den
von ibnen mitgeteilten Fallen schopfen konnen, aucb meinen sie das
Gegenteil. Immerhin muss zuerst festgestellt werden, dass dem Worte
„Epilepsie u keineswegs ein scharf umgrenzter Begriff mit konstanter
Pathogenese und Atiologie entsprieht. Im Gegenteil, was wir Epilepsie
nennen, ist nur ein Symptomenkomplex, der von vielen und sebr
verschiedenen Ursachen abbangig sein kann. An erster Stelle ist Epi¬
lepsie doch die Folge einer sebr grossen Reibe primar-organischer
Erkrankungen des Gebirns, unter denen die Meningo-enzephalitis mit
ihren vielen Schattierungen, Ubergangen und Folgezustanden die am
meisten vorkommende Ursacbe ist. An zweiter Stelle kann Epilepsie
die Folge einer grossen Anzahl exogener Vergiftungen sein, und einer
gleichfalls grossen Anzabl Erkrankungen und Alterationen, die zu
endogener Intoxikation Anlass geben. Hierunter siud zu rechnen:
Diabetes, Nephritis, Azetonamie, Arteriosklerose, Stokes-Adamssche
Krankheit usw. Und an dritter Stelle besteht eine Gruppe, weniger
zahlreich vCrtreten als die grosse Hauptgruppe der organischen (zere-
bralen) Epilepsie, doch sehr interessant wegen ihrer Pathogenese,
namlicb die genuine Epilepsie, die auf Hypothyreoidismus und Hypo-
parathyreoidismus beruht. (Siehe hieriiber friihere Mitteilungen.)
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
161
n Epilepsie“ will also nichts anderes sagen, als eine bestimmte Gruppe
von Erscheinungen, die jedoch aus sehr verschiedenen Ursachen nnd
Krankheiten hervorgehen konnen. Und von Tetanie muss m. E. das-
selbe gesagt werden, namlich, dass diese ein Syndrom ist mit keines-
wegs einbeitlicher Pathogenese nnd mit sehr verschiedenen atiologi-
schen Momenten. Wenn also Biedl sagt, dass „Epilepsie sich mit
alien atiologischen Unterarten der Tetanie kombinieren kann glaube
ich, dass dieser Ansspruch richtiger ware, wenn er lautet: „Jede Art
Epilepsie kann mit jeder Art Tetanie kombiniert auftreten“. Hierbei
muss noch darauf hingewiesen werden, dass zwischen Biedl’s Auf-
fassung und der meinen ein prinzipieller Unterschied bestebt: Biedl
spricht von „ Unterarten" der Tetanie und entwickelt den Lehrsatz,
dass schliesslicb alle Tetanien parathyreogenen Ursprungs sind, und
dieses balte ich nicht nur fur vollkommen unbewiesen, sondern sogar
fur sehr unwahrscheinlich. Nach den sehr ausfuhrlichen und ein-
gehenden Untersuchnngen von Erdheim, Yanase, Eschericb,
Jeandelize, Haberfeld, Konigstein, Petersen, Benjamins u.a.
darf als feststehend angesehen werden, dass die Kindertetanie bzw.
die Spa3mophilie, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch zum grdssten
Teile parathyreogenen Ursprungs ist; doch bei verschiedenen anderen
Formen der Tetanie, wie u. a. der Tetanie nach Infektionskrankheiten,
der endemisch-epidemischen, der graviditats- und der gastro-intestinalen
Tetanie scheint mir so etwas sehr unwahrscheinlich. Biedl fiihlt viel
fiir die Auffassung von Fuchs, dass namlich die Arbeitertetanie (die
epidemisch-endemiscbe), die in bestimmten Orten, z. B. Wien und
Heidelberg sehr viel vorkommt, und wohl hauptsachlich im Friihling
und im Herbst, in der Tat nichts anderes als eine leichte Sekalever-
giftung ist. Fuchs hat diese Theorie mit sehr guten Argumenten
verteidigt: an erster Stelle sind alle Symptome des Ergotismus con-
vulsivus bei der Tetanie zuriickzufinden (intermittierende, tonische
Krampfe bei freiem Bewusstsein, der typische Stand von Handen
und Fiissen, die trophischen Storungen der Haut, Nagel und Haare
usw.). Ausserdem fand Fuchs den Sekalegehalt des Roggenmehls stets
hober als das vom Priifungsamt zugelassene Maximum von 0,1 Proz.;
schliesslicb kommt in Gegenden, wo Roggenbrot als Volksnahrung
nicht gebraucht wird, Tetanie nicht vor. So ist bekannt, dass in
Frankreich, speziell in Paris, kein Roggenbrot, sondern ausschliesslich
Weissbrot zur Volksnahrung dient, und in Paris kommt denn auch
iiberhaupt keine Arbeitertetanie vor. Demgegeniiber wird in Oster-
reich-Ungam, Rumanien und Russland sehr viel Roggenbrot gegessen
(in diesem letzteren Reich kommen sogar ernstliche Epidemien von
sogenannter Kriebelkrankheit [ErgotismusJ vor), und in alien diesen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
162
Bolten
Land era ist die Tetanie eine sebr haufige Krankheit. Und auch allerlei
andere Umstande, wie das friihere Auftreten epidemiscber Tetanie in
Russland, konnte Fuchs erklaren, weil in Russland der Roggen eber
gemahlen und gegessen wird, wabrend der Teil der Ernte, der nacb
Osterreich- Ungarn ausgefiibrt wird, erst viel spater dort ankommt
und also erst auch viel spater verwendet werden kann. Auch konnte
Fuchs feststellen, dass die Arbeitertetanie in Wien vor allem in be-
stimmten Stadtbezirken auftritt, wo viele Heimarbeiter wobnen, die
ausschliesslich auf kleine Backereien in ihrer nachsten Umgebung an-
gewiesen sind. Zum Schlusse gelang es Fuchs durch Verschreibung
mehlfreier Kost die Tetaniekrampfe moistens ziemlich rasch zum Ver-
scbwinden zu bringen. Alle diese Argumente werden noch erganzt
durch die Feststellung von Aminobasen im Mutterkorn; Aminobasen,
die identisch sind mit Eiweissabbauprodukten, die auch im normalen
Stoffwecbsel vorkommen, namlich mit /?-Imidazolylathylamin, das man
durch Garung aus Histidin erbalten kann. Und von dieser giftigen
Aminobase, die das vermutliche toxische Agens bei der epidemiscben
Arbeitertetanie darstellt, nimmt Biedl dann weiter an, dass sie auf
die Parathyreoideae einwirken und diese insuffizient machen wiirde.
Der Scbluss, den Biedl dann daraus zieht, ist an und fur sicb logisch:
„Aus dem hier Mitgeteilten geht wohl uberzeugend heryor, dass die
prinzipiell iibereinstimmende patbologische Auffassung aller Tetanie-
formen des Menschen, namlich die parathyreogene Genese, unanfecht-
bar ist; eine Auffassung, die heute von alien hervorragenden Klinikern
vertreten wird. Aufgeklart braucht nur noch die Atiologie zu werden,
also die ursachlichen Momente, die zur Bescbadigung der Epithel-
korperchen und ihrer Funktionsreduktion fiihren." Trotz Biedl’s
sehr grosser Autoritat in dieser Hinsicht kann ich seiner Auffassung
nicbt beipflichten. Immerbin, die sehr logisch begriindeten Auf-
fassungen von Fuchs mogen sebr wahr sein (was ich in der Tat an-
nehme), und die Aminobasen mogen wirklich das postulierte Gift der
Arbeitertetanie sein, so folgt aber doch daraus noch keineswegs, dass
diese Substanzen schadigend auf die Epitbelkorperchen einwirken.
Zuallererst sind noch niemals deutliche Veranderungen in den Epi*
thelkorperchen bei der Arbeitertetanie pathologisch-anatomisch nacb-
gewiesen, und an zweiter Stelle ist es sebr unwahrscbeinlich, dass die
vieien und sehr verschiedenen exogenen Toxine, die zur Tetanie Ver-
anlassung geben konnen, schadigend auf dieEpithelkorperchen einwirken
sollten. Dies Argument tritt vor allem in den Vordergrund bei der
epidemischen Arbeitertetanie. Es ist doch bekannt, dass diese Form
der Tetanie sebr gutartig ist, und dass in den Gegenden, wo diese
Erkrankung endemisch auftritt, viele Arbeiter im Laufe der Jahre
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsia and Tetanie.
163
sehr oft von Tetanie ergriffen werden and meistens wieder ganz aus-
heilen; letal verlaufende Falle kommen doch so gut ~wie gar nicbt
vor. Wie kann man dies nun mit einer ernsten Beschadigung der
Epithelkorperchen reimen? Wie aus zahlreichen Tierversuchen und
auch aus der Klinik der Eindertetanie (Spasmophilie) iiberzeugend
hervorgeht, muss die Funktionsreduktion der Parathyreoideae erheblich
sein, bevor Tetanie zum Vorschein kommt; bei Herbivoren sowohl als
bei Kamivoren kann man die Halfte aller Epithelkorpercheu entfernen
(bei Herbivoren selbst 3 / 4 ), ohne dass irgendeine einzige Erscheinung
von bleibender, manifester Tetanie auftritt. Stellt man dies vorauf,
so ist es sebr schwierig, ja selbst unmoglich, anzunehmen, dass jedes-
mal, wenn bei ein und derselben Person Erscbeinungen der sogenann-
ten Arbeitertetanie auftreten, die Epithelkorperchen so ernstlich be*
schadigt werden, dass eine parathyreogene Tetanie davon die Folge
sein sollte, und vor allem, dass diese ernstliche Beschadigung voll-
kommen wieder verschwinden sollte, ohne weiter irgendeine Spur zu
hinterlassen. Wahrend doch die Tetanien unzweifelhaft parathy-
reogenen Ursprungs, wie die Eindertetanie, die postoperative Tetanie
und die experimentelle Tiertetanie, oft letal verlaufen, ist die Arbeiter¬
tetanie sehr gutartig und verlauft niemals todlich; auch- aus diesen
Griinden ist es mir nicht moglich anzunehmen, dass die Arbeitertetanie,
die ausserdem meistens oft rezidiviert, parathyreogenen Ursprungs
sein sollte.
' Ein gleiches Argument liefert die Schwangerschaftstetanie; wie
Faas mit einer reichliohen Easuistik nachweist, rezidiviert auch diese
Tetanieform sehr oft, und zwar bei einigen Schwangeren mit einer
gewissen Regelmassigkeit; meistens tritt die Tetanie in der zweiten
Halfte der Graviditat auf und verschwindet einige Zeit nach der Ge-
burt. Auch Eehrer gibt eine sehr gute Ubersicht ttber die Tetanie-
falle wahrend der Graviditat und der Laktationsperiode und meldet
gleichfalls, dass Rezidive nicht selten vorkommen. Nun haben zwar
Adler und Thaler experimentell nachgewiesen, dass die Parathy¬
reoideae auf die Graviditatstoxine eingestellt sind: besorgten sie nicht
schwangeren Tieren eine voriibergehende paiathyreoprive Tetanie
(partielleParathyreoidektomie), dann trat die Tetanie bei alien Schwanger-
schaften wieder auf; Tiere, deren Epithelkorperchen nur an einer
Seite entfernt waren, und die darauf nicht mit Tetanie reagiert batten,
bekamen bei Graviditat wohl Erscheinungen der Tetanie. Dass also
die Parathyreoideae auf die Graviditatstoxine entgiftend einwirken,
ist wohl sicher, doch daraus folgt noch keineswegs, dass auch das
Umgekehrte wahr ist, namlich, dass die Graviditatstoxine Funktions-
beschadigung bzw. organische Lasionen der Epithelkorperchen ver-
Digitized b"
■V Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
164
Bolten
ursachen. lm Gegenteil, auch hier sind der gutartige Verlauf und
das nicht selten bei jeder Schwangerschaft Rezidivieren der Tetanie
Argumente, am anzanehmen, dass die Schwangerschaftstoxine, wenn
sie auch so zahlreich sind, dass sie durch die Parathyreoideae nicht
ganz entgiftet werden konnen, direkt toxisch auf das Nervensystem
einwirken, ohne erst die Epithelkorperchen zu beschadigen. Noch
deutlicher wird diese Auffassung unterstiitzt durch die Ergebnisse der
Tetaniefalle, die die Folge yon allerlei Intoxikationen sind, wie die
gastrointestinale Tetanie, die bei yerschiedenen Storungen des Tractus
intestinalis auftritt, hauptsachlich bei abnormalen Garun gsprozessen,
bei Magenatonie und Magendilatation u. a. durch Tumoren des Pylorus
usw. In den letzten Fallen stagniert der Mageninhalt, und es treten
dadurch Garungsprozesse im Magen und allgemeine sekundare In-
toxikation auf. Weiter bei Appendizitis, bei malignen Tumoren des
Darmkanals, bei chronischer Enteritis, bei Karzinom des Pankreas
usw. So beschreibt Rosenfeld einen Fall von Tetanie bei Pylorus-
stenose; durch reichliche Wassergabe verschwand die Tetanie, so dass
Rosenfeld, auch auf Grund seiner Erfahrung mit einer Gabe einer
Glykoselosung (aus Versehen), die ein Wiederauftreten der Tetanie
zur Folge hatte, diese letztere dem Fliissigkeitsverlust des Blutes
zuschreibt.
Wexberg beschreibt Tetanie, die da auftritt, nachdem bereits
viele Jahre regelmassig Erbrechen stattgefunden hatte, wahrend Rod man
Tetanie bei einem Kranken mit Ulcus duodeni und Magendilatation
auftreten sah. Im letzten Falle war es sehr merkwiirdig, dass die
Tetanie erst 11 Tage nach giinstig verlaufener Operation auftrat. In-
teressante Mitteilungen iiber Tetanie bei enteritischen Prozessen macht
ferner Lowy, der bei vielen Fallen von Dysenterie (sowobl schwere
als leichte Falle mit grosser Verschiedenheit hinsicbtlich der Defakation)
Erscheinungen der Tetanie (meistens Krampfe in den untersten Extre-
mitaten) wahrnehmen konnte. Alle seine Tetaniekranken litten, meistens
seit geraumer Zeit, an Diarrhoe; nur einer tat dies nicht, doch dieser
hatte auch bereits friiher Erscheinungen der Tetanie gezeigt.
Auch Grahe beschreibt zwei Falle von Tetanie bei chronischen
Magenbeschwerden (im ersten Fall Gallensteine mit Mageubeschwerden,
im zweiten Magenschmerzen und Erbrechen seit einem Jahre), wahrend
Gebhard einen interessanten Fall mitteilt von Abschliessung des
Diinndarms (durch ein grosses Ovarialkystom), infolgedessen Fakal-
erbrechen auftrat und schliesslich auch Tetanieanfalle zum Vorschein
kamen. Gebhard weist auf die yerschiedenen atiologischen Momente,
die hierbei in Betracht kommen, hin, namlich die Faulnis, die im ab-
geschlossenen Diinndarm auftritt und der sehr grosse Fliissigkeitsverlust
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie.
165
des Organismus infolge des fortdauernden Erbrechens. Gebhard
glaubt, dass diese Faktoren die Parathyreoidfunktion bescbadigen,
wahrend die Faulnisprodukte auf, das zentrale Nervensystem einwirken;
durch diese Faktoren wurde dann die Tetanie verursacht (m. M. nach
ist dazn die toxische Einwirkung der Faulnisprodukte auf das zentrale
Neryensystem bereits binreicbend).
Brncks hat einen Fall von Magentetanie mitgeteilt (Pylorospas-
mus mit sebr starker Magendilatation), bei dem er zugleich den sta-
gnierenden Mageninhalt chemisch untersuchte; er fand darin: Buttersaure,
Albumosen und Spuren von Milchsaure, doch keine freie Salzsaure
und keine Amidosauren. Alkoholische sowohl wie wasserige Extrakte
des Mageninhalts iibten eine sebr toxische und oft eine todliche Wir-
kung aus auf Versuchstiere (Mause), die oft Lahmungserscheinungen
zeigten. Brucks ist denn auch, und meiner Meinung nach mit Recht.
iiberzeugt, dass in solchen Fallen die Tetanie durch Toxine aus dem
stagnierenden Mageninhalt verursacht wird. Gastroenterostomie ist
denn auch die geeignete Therapie, auch hinsichtlich der Tetanie.
Ebenso ist im Falle Goodrichs ein sehr deutlicher Verband zwischen
Tetanie und gastrointestinaler Autointoxikation vorhanden: Bei einer
19jahrigen Frau trat (nach groben Diatfehlern) Appendizitis und bald
danach Tetanie auf; schon einige Stunden nach der Appendektomie
verschwanden die Tetanieerscheinungen allmahlich vollkommen.
Ausser bei den hier nur kurz angefuhrten Formen vod Auto¬
intoxikation gastrointestinalen Ursprungs kommt Tetanie hin und
wieder auch bei anderen Autointoxikationen vor. So beschreibt Bauer
einen Fall von Tetanie bei chronischer Nephritis, wobei auch bereits
uramische Erscheinungen aufgetreten waren.
Feraer ist von sehr grossem Belang, dass ausser endogenen auch
exogene Intoxikationen Anlass zur Tetanie geben konnen: Wirth
. meldet einen Fall von Phosphorvergiftung, bei der die Tetanie die
Vergiftungserscheinungen einleitete. Erwahnenswert ist noch dabei,
dass, als die Krankheitserscheinungen ihren Hohepunkt erreicht batten
und auch die Tetaniekrampfe am heftigsten waren, Azeton und Diazet-
saure im Harn nachzuweisen waren. Also auch in diesem Falle spielen
krampferweckende Toxine eine grosse Rolle. Und v. Voss wies
darauf hin, dass in St. Petersburg sehr viele Falle von Tetanie vor-
kommen bei Handwerkern, die mit Blei umgehen; vermutlich spielt
also Blei bier dieselbe Rolle wie das Ergotin bei der epidemischen
Tetanie.
Ebenso weisen auch einige amerikanische Forscher auf die grosse
Rolle der Intoxikation hin; so teilt Morgan zwei Falle mit und be-
spricht danach die Atiologie, Pathologie usw. Er halt von alien
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
166
Boi.tkn
Theorien iiber die Pathogenese die der Autointoxikation am kraftigsten
durch die klinischen Erfahrungen bestatigt. Und Morse, der eioe
ganze Reihe Falle beschreibt, bespricht gleichfalls die Atiologie und
die Pathogenese und lenkt die Andacht darauf, dass Ton einem ein-
heitlichen atiologischen Faktor nicht die Rede sein kann; bei den
meisten seiner Falle waren Storungen des Traetus intestinalis im Spiel.
Morse sucht denn auch die Ursache der Tetanie in toxischen Pro-
dukten, die sich voneinander in chemischer Zusammensetzung sehr
unterscheiden konnen und die ihren Ursprung in sehr verschiedenen
Krankheitszustanden, meistens des Intestinaltrakts, finden. Diese Toxine
sollen durch Resorption ins Blut gelangen und danach auf das Zen-
tralnervensystem einwirken. Auch bier treffen wir also den m. E.
logischeren Gedankengang, dass allerlei Toxine, von sehr verschiedener
Art und verschiedenen Ursprungs, in die Zirkulation gelangen konnen
und durch bestimmte chemische Eigentiimlichkeiten der Ganglienzellen-
substanz auf das zentrale Nervensystem einwirken, ohne dabei yon
vornherein einen schadigenden Einfluss auf die Glandulae parathyreoi-
deae auszuiiben. Und Gibb meldet den Fall einer sehr bejahrten Frau,
die an Alkoholismus litt und die Erscheinungen yon Tetanie zeigte.
Weiter teilt Wirth mit, dass ausser der bereits yon ihm mitgeteilten
Phosphorvergiftung auch yerschiedene andere Toxine Tetanie hervor-
rufen konnen; so sollen Erscheinungen yon Tetanie aufgetreten sein
nach Einspritzungen mit Ergotin (das bestatigt also einigermassen
die Auffassung yon Fuchs), mit Spermin und selbst mit Morphium.
Auch die heute so yiel angewendete Stovain-Lumbalanasthesie soil zu
Tetanieerscheinungen Anlass gegeben haben.
Bircher und Hughes melden gleichfalls Falle yon Tetanie bei
Prozessen mit starker Intoxikation; Bircher speziell bei Peritonitis,
und zwar hauptsachlich bei schweren Perforationsperitonitiden (wah-
rend er ganz im Gegensatz zu den soeben genannten Forschem selten
Tetanie sah bei malignen Magenerkrankungen; zwischendurch ist die
gastrointestinale Tetanie durchaus nicht selten). Hughes nahm, eben-
so wie Goodrich, Tetanie wahr bei eitriger Appendizitis; nach der
Operation schnelle Besserung der Tetanie.
Auch Quosig glaubt, dass die chronische Autointoxikation eine
grosse Rolle spielt bei der gastrointestinalen Tetanie; bei seinem Kranken
traten bereits langere Zeit periodisch Diarrhoen auf, die bisweilen
wochenlang anhielten und fast immer (und das wahrend yieler Jahre)
von Tetaniekrampfen begleitet waren.
Nun ist es merkwiirdig, dass, wahrend in den Fallen der Kinder-
tetanie und Spasmophilie, wenigstens bei einem erheblichen Teil, wohl
anatomische Alterationen in den Parathyreoideae gefunden sind, dies
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
167
aber bei der Tetanie der Erwachsenen (der Arbeitertetanie, der Tetanie
bei Infektionskrankheiten, der Graviditats- und Laktationstetanie, der
gastrointestinalen Tetanie u. a.) fast niemals der Fall ist. So konnten
Erdheim und auck Schonborn in vielen Fallen yon Tetanie bei
Erwachsenen in den Gl. parathyreoideae keine bistologischen Verande-
rungen finden; bei Erdheim waren es drei Falle yon Magentetanie
infolge schwerer Magen : Darmerkrankungen und in einem Falle war
zugleich ein Zerebellartumor vorhanden; in alien vier Fallen war in
den Epithelkorperchen nichts zu finden. Schonborn findet selbst
die Sparsamkeit der pathologisch-anatomischen Befunde auffallend:
weiter meldet er Falle von Tetanie bei Morphinisten, bei denen also
auch wieder das Moment der exogenen Intoxikation in den Vorder-
grund tritt. Auch Ourschmann bezweifelt stark, dass die verschie-
denen Formen der Tetanie bei Erwachsenen wohl auf einen einheit-
lichen parathyreogenen Ursprung zuriickzubringen seien, da so viele
atiologische und pradisponierende Momente eine Rolle spielen.
Fischl, der das Besteben einer parathyreogenen Tetanie durch-
aus nicht leugnen will, ist gleichfalls keineswegs von der einheitlichen
parathyreogenen Pathogenese aller Tetaniefalle uberzeugt, vor allem,
da eine so grosse Verschiedenheit in den atiologischen Momenten
vorhanden ist* So beschreibt er den Fall eines lOjahrigen JungeD,
der im Wachstum zuriickgeblieben war, doch von sehr gutem Intellekt,
und der einen Anfall mit vollkommener Bewusstlosigkeit und danach
Tetanieerscheinungen zeigfce; ausserdem war auch lndikanurie vorhan¬
den (vielleicht ist in diesem Falle die Darmfaulnis, wovon die Indi-
kanurie derHinweis ist, die Ursache sowohl des epileptischen — Fischl
spricht von eklamptischen—Anfalls als der Tetanie). Fischl ist denn
auch uberzeugt, dass ausser Parathyreoidbeschadigung auch noch
andere Momente als Ursache der Tetanie in Betracht kommen miissen.
Sternberg und Grossmann meinen, auf Grund ihrer Erfahrun-
gen, dass wenigstens die Arbeitertetanie eine endemische Krankheit
ist, die an Wohnungszustande und an allerlei andere soziale Verhalt-
nisse gebunden ist. Nebenbei ist bereits darauf hingewiesen, dass
vor allem bei der Tetanie der Erwachsenen noch so gut wie niemals
deutliche Veranderungen in den Parathyreoideae gefunden sind; in
drei Fallen Wirths, bei denen Erdheim, der sich sehr um die path.
Anatomie der Epithelkorperchen verdient gemacht hat, die mikrosko-
pische Untersuchung vorgenommen hat, wurden in den Parathyreoideae
Veranderungen gefunden, die es ermoglichten, eine Insuffizienz anzu-
nehmen. Doch diesen positiven (oder zweifelhaften) Befunden stehen
viel zahlreichere negative gegeniiber, vor allem bei der Tetanie der
Erwachsenen. So fand Erdheim in Fallen von Magendilatation mit
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunie. 13d. 67* 12
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
168
Bolten
Tetanie normale Epitb elkorper ch en. Doch auch bei der Kindertetanie,
bei der haufig Blutungen und Hypoplasien angetroffen warden in den
Parathyreoideae, sind die Ergebnisse bisweilen negative So konnte
Bliss auf Grand seiner mikroskopischen Untersuchungen keinen kon-
stanten Zusammenhang zwischen Kindertetanie und Parathyreoidblu-
tungen feststellen. Stuckenberg bericbtet fiber einenFall chroniscber
Tetanie, wobei sie Gelegenbeit hatte drei Epithelkorperchen bistologiscb
zu untersucben; das Resultat war, dass keinerlei Veranderungen zo
linden waren. Auch Schiffer konnte bei einem Fall der Kinder*
tetanie (die ffinf Kinder aus einer Familie und von gesunden Eltern
warden alle von Tetanie befallen, und drei davon starben) die Epitbel-
korperchen untersucben; er fandjedoch keine Blutungen und iibrigens
vollkommen normale Verhaltnisse.
Aucb Grosser und Betke kommen zum Scbluss, dass Tetanie
sowobl bei Erwacbsenen ala bei Kindern durchaus nicbt per se parathy-
reogenen Ursprungs zu sein braucbt, da aus ibren bistologischen
(Jntersuchungen bervorgebt, dass selbst bei den scbwersten Fonnen
der Tetanie bisweilen vollkommen unversehrte Epithelkorperchen ge-
funden werden. Zu demselben Ergebnis kommt Jfirgensen, der bei
einer ziemlich grossen Anzahl Tetaniekranker dumb bistologiscbe
Untersuchungen feststellen konnte, dass selbst in der Mehrzahl der
Falle die Epithelkorperchen vollkommen normal waren, oder aber so
unbedeutende Veranderungen zeigten, dass dadurcb unmoglich eine
starke funktionelle Storung zu erklaren ware, lbnen schliesst sich
Auerbach so ziemlich an; er nahm bei einer grossen Anzahl Saug-
linge mikroskopiscbe Untersuchungen der Epithelkorperchen vor und
fand ofter Blutungen bei Tetaniekranken, docb auch ofter bei Sang*
lingen, bei denen keine Tetanieerscheinungen wahrgenommen werden
konnten, und aucb das Umgekehrte kam vor: Tetaniekranke ohne
Paratbyreoidveranderungen; er halt denn auch den Zusammenhang
zwiscben Kindertetanie und Parathyreoideae nicht hinreichend be-
wiesen.
Als ein Hinweis, dass nicbt alle Tetaniefalle paratbyreogenen
Ursprungs sind, kann nocb die Tatsache getten, dass bei einigen Fallen
vonTetanie subkutanelnjektionvonParathyreoidextrakt sich wirkungslos
zeigte, wie Gerstenberger mitteilt; bei experimenteller parathyreo-
priver Tetanie (bei Tieren) ist jedoch, wie aus Verebelys Versuchen
bervorgebt, die Eingabe friscben Parathyreoidextrakts oft genfigend,
um die Erscheinungen zu verringern. Naeb Analogic der prompten
Resultate der Thyreoidbehandlung bei thyreogenen Krankheitszustan-
den darf man, m. E., erwarten, dass parathyreogene Erkrankungen
ebenso prompt auf Paratbyreoidemgaben reagieren sollten. Im Aus-
Digitized b'
v Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetnnie.
169
bletben der Besultate liegt ein stichhaltiges Argument gegen. die
Theorie der konstanten parathyreogenen Pathogenese der verschie¬
denen, klinisch so differenten Tetanieformen.
Stoeltzner meint selbst auf Grand yon Uoterschieden (in den
kiinischen Erseheinungen) zwischen experimenteller Tiertetanie und
Kindertetanie, dass diese letztere nichts mit dem Wegfallen der Para-
thyreoidfunktion zu tun babe. Dieser letzte Ausspruch scheint mir
yiel zu weit zu gehen, da an erster Stelle pathologisch-anatomisch
festgestellt ist, dass viele Falle der Kindertetanie (Spasmophilie) in der
Tat auf schweren Lasionen der Gl. paratbyreoideae berahen, namlich
moistens Blutungen, sekundaren Kysten und Hypoplasien, Tuberkuiose
(wie z. B. in dem Fall von W internitz) usw. Und an zweiter Stelle darf
man nicht annehmen, dass eine Krankheit beim Menscben vollkommen
kofigruent sei mit einem Symptomenkomplex, das experimented, also
unter ganz anderen Bedingungen und Verhaltnissen wie sie beim Men-
schen im Spiel sind, beim Versuehstier zum Vorschein gerufen ist.
Doch sind auch yiele Falle der Kindertetanie parathyreogenen
Ursprungs, bei weitem die meisten Falle der verschiedenen Tetanien
der Erwacbsenen 'sind das ganz gewiss nicbt. Dies wird m. E. durch
die iiberwiegend negativen Befunde der path.-anatomischen Unter-
sucbungen erwiesen und ausserdera sebr wahrscheinlich gemacht durch
die ganz gewaltige Verschiedenbeit der atiologischen Momente und
durch den grossen Unterschied zwischen Kindertetanie und den an¬
deren Formen dieser Krankheit hinsichtlich der Prognose, des Ver-
laufes und der kiinischen Erseheinungen.
Nach den hier mitgeteilten Auffassungen der verschiedenen For-
scher muss es deutlich sein, dass die von Biedl angenommene ein-
heitliche parathyreogerie Pathogenese aller Tetanieformen bei weitem
nicht bewiesen und selbst sogar sehr unwahrscheinlich ist. Ausserdem
scheint es mir, dass nicht, wie Biedl sagt, die meisten Kliniker seine
Auffassung teilen, doch dass gerade die grosse Mehrzahl von dieser
einheitlichen Pathogenese nichts wissen will. Ich kann denn auch
Phleps vollkommen zustimmen, wenn er sagt: „Ubereinstimmende
Ergebnisse, die geeignet waren, das gesamte klinische Krankheitsbild
mit seinem eigenartigen Verlauf pathologisch-anatomisch zu stiitzen,
fehlen noch so gut wie vollkommen." In der Tat spricht m. E. auf
Grand obengenannter Arguments alles dafiir, dass die Tetanie ein
Syndrom ist, das, ebenso wie die Epilepsie, eine sehr wechselnde Patho¬
genese hat, und das von sehr verschiedenen Ursachen abhangig
sein kann.
Die Epilepsie ist, pathogenetiscb, in die vier folgenden Haupt-
gruppen zu verteilen:
12 *
Digitized by Goggle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
170
Boltex
. a) Zerebrale Epilepsie (infolge zahlloser primar-zerebraler Erkran-
kungen, unter denen die haufigste die Meningo-Enzephalitis ist),
b) Epilepsie infolge endogener lntoxikationen (Azetonamie bei Kin*
dem, Nephritis, Diabetes, Stokes-Adamssche Krankheit usw.),
c) Epilepsie infolge exogener lntoxikationen (Blei, Alkohol,
Tribrojnkampfer, Absinth, Santonin; weiter Pellagra),
d) Genuine Epilepsie (Insuffizienz der Thyreoideae und Parathy-
reoideae).
Betrachten wir dieses Schema, so sehen wir, dass wir fiir die
verschiedenen Tetanieformen eine gleiche Verteilung machen konnen.
Nur fallt dann die erste Gruppe fort, da es nicht bekannt (und zu-
gleich sehr unwahrscheinlich) ist, dass Tetanie, ein Syndrom, das durch
Krampfanfalle, aber niemals durch Bewusstseinsstorungen gekenn-
zeichnet ist, durch primar*zerebrale Erkrankungen oder primare Kiicken-
markslasionen verursacbt werden kann. Wir bekommen dann folgen-
des Schema:
a) Tetanie infolge endogener lntoxikationen: Azetonamie bei Kindern
infolge von Magen-Darmstdrungen; maligne Geschwiilste vom Tractus
intestinalis, Paukreas, Leber usw. Pylorusstenose mit sekundarer Sta¬
gnation und Garung des Mageninhalts; Appendizitis, Peritonitis, cbro-
nische und akute Enteritis, Dysenterie, Ileus, Typhus usw.; weiter bei
chronischer Nephritis (Uramie) und schliesslich bei Graviditat,
b) Tetanie infolge exogener lntoxikationen: Blei, Phosphor, Alkohol.
Stovain, Morphium, Chloroform, Spermin usw. flochstwahrscheinlich
gehort zu dieser Gruppe die sogenannte Arbeiter- (epidemische, en-
demische) Tetanie, und zwar infolge chronischer Ergotinvergiftung,
c) parathyreogene Tetanie: Viele Falle von Kindertetanie und
Spasmophilie; die postoperative Tetanie (nach Strumektomie) und die
experimentelle Tetanie bei Tieren.
Es wiirde uns hier zu weit fiihren, wenn wir unsere Auffassung
ausfuhrlich verteidigen wollten; darum nur ein kurzes Wort hieriiber.
Phleps, Biedl, Falta und verschiedene andere Forscher halten an
der einheitlichen parathyreogenen Pathogenese aller Tetaniefalie fest
und setzen also zugleich voraus, dass bei den obengenannten Gruppen
a) und b) die Toxine (welcher Art und welchen Ursprungs auch) nur
eine nebensachliche Rolle spielen und schadigend auf die Parathy-
reoideae einwirken; sind diese letzteren dann infolge der Intoxikation
insuffizient geworden, so tritt die Tetanie auf. Doch dann nimmt man
an, dass alle diese Toxine sehr stark schadigend auf die Parathy-
reoideae einwirken, und das ist keineswegs bewiesen und wird sogar
durch die soeben zitierten zahlreichen negativen Ergebnisse der patho-
logisch-anatomischen Untersuchung sehr unwahrscheinlich gemacht.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie.
171
Sind auch die Epithelkorperchen polyvalent und also auf zahlreiche
Gifbe einwirkend, so ist doch an erster Stelle nicht anzunebmen, dass
sie die zahllosen exogenen Gifte obne Ausnahme angreifen, und an
zweiter Stelle ist niemals nacbgewiesen, dass diese Toxine die Para-
thyreoideae beschadigen. Dagegen ist durcb die sebr wichtigen Un-
tersuchungen von Guillain und Larocbe, wie durcb die von Gold-
scheider und Flatau unzweifelhaft nacbgewiesen, dass die verschie-
denen Teile des zentralen Nervensystems eine sehr grosse Affinitat
fur zabllose Gifbe besitzen, und sowobl fur exogene, wie fur endogene.
Doch diese Affinitat ist fiir die verschiedenen Teile des Zentralnerven-
systems nicht dieselbe: der eine Teil bat eine Affinitat fur bestimmte
Toxine, andere Teile aber fiir ganz andere. Dieses festgestellt, scheint
es mir viel rationeller anzunebmen, dass die Epithelkorperchen viele
Toxine ganzlich oder teilweise entgiften konnen, doch dass diese letz-
teren, wenn sie in iibergrosser Menge oder mit zu grosser lntensitat
auftreten, nicht (oder nur teilweise) entgiftet werden, und dadurcb
Gelegenheit finden, sich an bestimmte Teile des Zentralnervensystems
zu binden, z. B. in die motorischen Ganglienzellen in den Vorder-
hornera des Riickenmarkes. Denn in diesen Zellen sind, wie wir
spater noch kurz melden werden, histologische Veranderungen gefun-
den, die nach Goldscheider und Flatau' die Widerspiegelung
chemischer Prozesse sind, namlich die Bindung von Toxinen an die
Ganglienzellensubstanz. Bei diesen unseren Auffassungen, die doch
durch verschiedene Tatsachan gestiitzt sind,- ist also bei mehreren
Tetanieformen eine Beschadigung, Hypofunktion oder Insuffizienz der
Parathyreoideae ausgeschlossen. Immerhin wird wohl durch die Epi¬
lepsie bestatigt, dass es sehr gut moglich ist, dass ein bestimmtes
Syndrom, trotz einer ziemlich grossen klinischen Gleichformigkeit (die
bei der Tetanie jedoch nicht besonders gross ist) von ganz verschiedenen
Ursachen und Krankheiten abhangig sein kann. Niemand nimmt jetzt
an, dass alle Falle und Formen der Epilepsie auf eine einheitliche
Pathogenese, welche auch immer es sei, zunickzufiihren waren, und
m. E. gilt dasselbe auch fiir das Syndrom Tetanie.
Ich glaube also berechtigt zu sein, Biedls Auffassung folgender-
massen zu modifizieren: Alle Arten der Epilepsie konnen sich mit
alien Arten der Tetanie kombinieren. Diese Tatsache ist von grossem
Interesse und ist die Ursache, dass wir viele Kombinationsfalle beider
Syndrome, wie sie in der. Literatur zu finden sind, sehr kritisch und
zugleich skeptisch betrachten mtissen. Alle Forscher legen ja den
Nachdruck darauf, dass wir in diesen Fallen es nicht mit einem zu-
falligen Zusammentreffen zweier verschiedenen Erkrankungen bei der-
selben Person zu tun haben, doch dass wir die Kombination der beiden
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
172
Boltex
Syndrome ala berahend auf denselben oder wenigstens aui sebr mit-
einander verwandten kausalen Momenten betrachten miissen. Doch
dies letzte isfc bei einem grossen Teile der Falle sicherlich nicht wafer.
Die grosse Mebrzabl aller Epilepsien beruht doch auf primar, orga-
niseh-zerebralen Erkrankungen; usd dass bei einem solcben Falle zere-
braler Epilepsie allerlei Formen der Tetanie auftreten konnen, ist
unbestreitbar, doch keineswega interessant, da in diesen Fallen die
Epilepsie steta von einer anderen Ursache abhangen muss ala die
Tetanie (zu welcher Form die letztere auch immer gehort), da eine
zerebrale Ursache der Tetanie nicht vorhanden ist. So soil in Wien
ein Kranker mit zerebraler Epilepsie (die infolge einer in der Jngend
iiberstandenen Meningo-Enzepbalitis aufgetreten ist) genaa dieselben
Moglichkeiten haben wie Nichtepileptiker, von endemischer (Arbeiter-)
Tetanie befallen zu werden. Und auch umgekehrfc konnen spasmophile
Kinder, sei es, dass die Spasmophilie geheilt ist, sei es, dass sie latent
wird, spater infolge des einen Oder anderen zerebralen Prozesses epi-
leptisch werden. Doch in all diesen Fallen, zu denen sich noch leicht
eine ganze Reihe anderer Kombinationen konstruieren lasst, kann man
unmoglich sagen, dass die Tetanie und die Epilepsie in ursaehlicbem
Zusammenhange miteinander stehen konnen. So beschreibt Nolen
einen interessanten Fall der Kombination von epileptischen mit teta-
nischen Erscheinungen, aber iiber den ursachlichen Zusammenhang
der beiden Syndrome bekommen wir keine definitiven Angaben. Es
betrrfft ein 7jahriges Madchen, nicht erblich belastet, die da vermut-
lich bereits seit geraumer Zeit an Laryngospasmus leidet; dabei in
letzter Zeit geistiger Ruckschritt und grosse Reizbarkeit. Auf Grand
dieser letzten Erscheinungen nimmt Nolen an, dass wir es mit Epi¬
lepsie zu tun haben, obwohl nichts von Petit mal oder von vollstan-
digen Krampfanfallen mit Bewusstseinsverlust gemeldet wird. (Die
Anfalle des Laryngospasmus traten namlich stets bei vollem Bewusst-
sein auf.) Bei dieser Kranken bestand latente Tetanie (Trousseau,
Chvostek und Erb positiv). Und nehmen wir auch an, dass hier in
der Tat Epilepsie vorbanden ist, dann ist dadurch noch keineswegs
festgestellt, dass zwischen den beiden Grappen von Erscheinungen
irgendeine kausale Verwandtschaft besteht: Die Epilepsie ist vermut-
lich zerebralen, die Tetanie parathyreogenen Ursprungs. Nolen nimmt
einen innigen Verband zwischen den beiden Syndromen an, doch seine
Argumente sind nicht hinreichend; er nennt, einige Falle aus der
Literatur und sagt dann: „Diese Beobachtungen zeigen also bereits mit
Sicherheit, dass ein enger Verband zwischen Tetanie und Epilepsie
bestehen muss." Diese Begriindung ist nicht zutreffend. Dass bei
einer gewissen Anzafel Epileptiker (und diese Zahl ist verhaltnismassig
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
173
gering) Tetanie anffcritt, beweist nicht, dass zwischen beiden Syndro-
inen kansale Verwandtschaft bestebt: In Osterreich, wo die epidemiscb-
endemische oder Arbeitertetanie sehr haufig vorkommt, werden obne
Zweifel viele Epileptiker Erscheinungen der Tetanie zeigen, vor allem,
wenn sie sich unter denselben sozialen und hygienischen Verhaltnisaen
befinden, die die Arbeitertetanie verursachen oder sie befordern. Docb
in Holland, wo die epidemische Tetanie yollkommen unbekannt ist
(rerrautlich well in Holland Roggenbrot ein weniger allgemeines Volks-
nahrungsmittel ist ira Vergleicb zu Osterreich; vielleicht auch enthalt
der hollandiscbe Roggen viel weniger Ergotin als der osterreicbische
oder der russiscbe), sieht man auch nur sebr selten bei Epileptikern
Erscheinungen von Tetanie.
Ans dergleichen Griinden sind viele Falle der Literatnr fiir die
kausale Verwandtschaft, die weitaus die meisten Forscher zwischen
Epilepsie und Tetanie annelimen, wertlos. An erster Stelle nimmt
man noch viel zu wenig in Bstracht, dass „Epilepsie“ nur eine Gruppe
von Erscheinungen darstellt, deren ursachliche Momente grosse Ver-
schiedenheit zeigen; einige sprechen denn auch nur von „ Epilepsie"
ohne nahere Angabe; andere sprechen von „genuiner“ Epilepsie, doch
aus der Bescbreibung ihrer Falle geht nicht selten hervor, dass man
es unzweifelhaft mit zerebraler Epilepsie zu tun hat. Und, wie schon
gesagt, hat die Kombination einer zerebralen Epilepsie mit der einen
oder anderen Form der Tetanie nicbts Besonderes, lieferfc auch keinen
einzigen Grund fur eine ursachliche Verwandtschaft zwischen den
beiden Syndromen und muss ganz und gar auf eine Linie gesetzt
werden mit der Kombination zerebraler Epilepsie mit Tbc, Magen-
karzinom oder w'elcher anderen Krankheit auch immer. 1m Falle
von Saiz z. B. ist von einer Psychose die Rede, and zngleich von
Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie; Saiz ist geneigt die
psychischen Storungen von der Tetanie abhangig zu macben; ein
deutlicher Verband zwischen dieser letzteren und der Epilepsie wird
jedoch nicht ins Licht gesetzt.
Auch in der ersten ausfiihrlichen Abhandlung von v. Frankl-
Hochwart kommt die Beschreibung zweier Patienten vor, bei denen
beide Syndrome auftraten. Die Beschreibungen sind jedoch nicht
voltstandig genug, um festzusteUen, mit welcher Form der Epilepsie
wir es zu tun haben. Der erste Fall betrifft einen 24jahrigen
Schuhraacber, der in seinem 17. Lebensjahre typische Tetanieanfalle
bekam und in seinem 24. Lebensjahre zugleich an epilep-
tischen Anfallen litt. Der zweite Fall zeigt dieselbe Reihenfolge:
18jShriger Kleidermacher, der bereits viele Jahre Tetanieanfalle bat
undplotzlichzwei epileptische Zufalle zeigt. Ferner erwahnt v.Frankl-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
174
Bolten
Hochwart einen Fall von Friedmann, und dieser Fall lasst an
Deutlichkeit nichts za wiinschen iibrig: 20jahriger Seminarist, bis jetzt
vollkommen gesund, bekommt aus Anlass eines scbweren Schlages
auf den Kopf typische epileptiscbe Krampfe bei langdauerader Be*
wusstlosigkeit; spater stellte es sich noch heraus, dass er anch noch
an latenter Tetanie litt. In diesem Falle ist also deutlicb, dass bei
ein und demselben Kranken zerebrale (traumatische) Epilepsie und
latente Tetanie vorbanden waren (was von geringer Bedeutung ist).
Von vie! grosserem Interesse ist denn auch, was v. Frankl-Hoch-
wart danach iiber die postoperative Epilepsie-Tetanie sagt: ^Beson-
ders interessant ist, dass Personen, die bis zu der von ihnen iiber-
standenen Schilddnisenexstirpation vollkommen krampffrei waren, nach
dieser Operation an Tetanie und Epilepsie erkrankten. Gerade diese
Beobachtungen sind es, die es mir wahrscheinlich machen, dass d*
nicbt von zufalliger Koinzidenz die Bede'ist, sondern ein in der Natar
der Krankheit begrundetes Zusammentreffen vorliegt. Es ist sicherlich
nicbt iiberfliissig darauf hinzuweisen, dass Hunde nach der Thy-
reoidektomie nicbt nur die typischeu Tetanieanfalle bei f’reiem Sensorium
zeigen sollen, doch nicht selten zugleich echte epileptische Krampf-
anfalle bekommen." Und auch weist v. Frankl-Hochwart auf einen
von ibm bereits angefiihrten Fall von Gottstein, wobei nach Strum-
ektomie Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie aufgetreten sind.
Hier legt v. FrankUHochwart den Nachdruck auf eine ausser-
ordentlich wichtige Tatsache: Nach Strumektomien treten nicht selten
bei Kranken, die bis dahin noch niemals irgendeine Erscheinung von
Krampfen gezeigt hatten und auch nicht erblich belastet sind, Sym-
ptome sowohl der Tetanie als der Epilepsie auf. Und in solchen Fallen
ist es in der Tat nicht moglich am sehr innigen kausalen Zusammen-
hang der beiden Syndrome zu zweifeln, da sie beide durch die Thyreo-
Parathyreoidektomie hervorgerufen sind.
Durch diese Mitteilungen v. Frankl-Hochwarts sind wir also
plotzlich in eine ganz andere Kategorie von Fallen geraten, namlich
die postoperativen Falle, bei denen plotzlich und mehr oder weniger
gleichzeitig, und zwar speziell nach einem besonderen chirurgischen
Eingriff, Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie eintreten. Und
diese Gruppe, der sich die experimentellen Tetanie-Epilepsieu der Ver>
sucbstiere vollkommen anschliessen, isb denn auch, wie verschiedene
Kliniker anerkennen, die allerwichtigste und, wie ich zugleich noch
hinzufiigen muss, die einzige Gruppe, die die absoluten Beweise fur
eine unverkennbare und innige ursachliche Verwandtschaft zwischen
einer bestimmten Form von Epilepsie und einer bestimmten Form
von Tetanie mit sich bringt. Diese weitaus wichtigste Kategorie wer-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
175
den wir sogleich ausfuhrlich besprechen, Erst noch jetzt ein kurzer
Bericht' fiber andere, nicht operative Falle, wie diese in der Literatur
zn finden sind.
Auch der von Luger beschriebene Fall macbt nicht den Eindrack,
dass wir es hier in der Tat mit zwei Syndromen zu tun baben, die
pathogenetisch miteinander verwandt sind: Sein 23 jahriger Kranker
leidet an Tetanie und an Epilepsie; wahrend der interparoxysmalen
Perioden sind die verschiedenen Air Tetanie charakteristischen Erschei-
nungen nachzuweisen; wahrend des epileptischen Anfalls sind Facia-
lisparese und Babinskireflex zu konstatieren. Auf Grand dieser letz-
teren Besonderbeiten muss m. E. eine zerebrale Ursache der Epilepsie
als wahrscheinlich angenommen werden. Daraus folgt dann zugleich,
dass die Epilepsie und die Tetanie in ihren ursachlichen Momenten
qualitativ ganz voneinander verschieden gewesen sein miissten.
Dasselbe kann von den moisten der von Bedlich erwahnten
Fall© gesagt werden. Redlich, der eine sehr interessante und aus-
ffihrliche Ubersicht fiber diese Frage gibt, hat auch viele Falle aus
der Literatur gesaromelt und grappiert. Verwundern muss man sicb,
dass Redlich wohl die Tetanie, aber nicht die Epilepsie grappiert.
Berficksichtigt man jedoch, dass Redlich ein ttberzeugter Verfechter
der zerebralen Pathogenese aller Epilepsien (auch der genuinen) ist,
so ist wohl begreiflich, dass er alle Epilepsien als gleichwertig be*
trachtet. Nur am Schlusse seiner fibrigens sehr interessanten Ab-
handlung sagt Redlich, dass bei einigen der von ihm und anderen
beschriebenen Falle Hinweise auf eine primar-organische Gehirn-
erkrankung bestanden, und obwohl er solches nicht deutlich zugibt,
fallt es ihm in diesen Fallen doch schwer eine Verwandtschaft zwischen
den kausalen Momenten einer zerebralen Epilepsie und einer para-
thyreogenen (oder nicht parathyreogenen) Tetanie anzunehmen. Red¬
lich unterscheidet dann folgende Gruppen: a) Epilepsie, bereits viel
frfiher aufgetreten, eventuell chronische Epilepsie mit hin und wieder
Anfallen von Tetanie; b) parathyreoprive Tetanie, bei der sicli Er-
scheinungen von Epilepsie zeigen; c) endemisch-epidemische (soge-
nannte Arbeiter-)Tetanie mit Epilepsie; d) infantile Tetanie-Epilepsie;
e) Graviditats-, Puerperal- und Laktationstetanie mit Erscheinungen
von Epilepsie und f) sogenannte Magentetanie (gastrointestinale Tetanie),
bei der zugleich Epilepsie auftritt. Redlich halt auch die zweite
Gruppe, das sind also die postoperativen und die experimentellen Epilep-
sie-Tetanien, bei weitem fiir die wichtigsten und begrfindet dies in voll-
kommen klarer Weise: „Ohne Zweifel ist diese Gruppe fur uns die
wichtigste, weil hier die sehr enge atiologisch-pathogenetische Ver-
wandtscbaft der beiden Krampfformen am allerdeutlicbsten zum Vor-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
176
Bolten
schein kommt; die Reihenfolge des Auftretens der.Erscheinungen and
die Entwicklung des Kraakheitsbildes sind meist akat und gleichformig;
atiologisch-pathogenetisch ist in der Regel nichts anderes zu finden
als die Entfernung der Epithelkorperchen, die, wie wir nan wissen,
Tetanie zur Folge bat. Hinzu kommt noeb, dass anch bei der experi¬
me ntellen Entfernung der Epithelkorperchen bei Tieren oftmais das
Aaftreten epileptiformer Anfalle wabrgenommen ist." Dazu muss eine
kleine Bemerkung gemacht werden: Redlich spricht von der(opera-
tiven oder wohl experimentellen) Entfernung der Epithelkorperchen,
doch er batte sagen miissen: Die Entfernung der Schilddrtise und der
Epithelkorperchen, da in den postoperativen Fallen stets von Strum-
ektomie die Rede ist, und bei den Tierversuchen stets von der kompletten
Thyreo-Parathyreoidektomie. Dies macbt doch noch einen grossen
Unterscbied, aber Redlich scheut sicb offenbar in den bier genannten
Fallen dem Wegfall der Schilddrfisenfunktion eine wichtige Rolle
zuzuschreiben, da er wiederhoientlich wohl fiber die Parathyreoid-
funktion und deren Verband mit der Tetanie spricht, doch der Thy-
reoidea selbst fibrigens sehr wenig Andacht schenkt. Spater, bei der
Erklarung der kombinierten Tetanie- und Epilepsieerscheinungen,
kommen wir hierauf noch zurfick. Bewahren wir die von alien
Forschern als die wichtigste Gruppe betracbteten Falle der postopera¬
tiven Epilepsie-Tetanie bis zuletzt, und besprechen wir nun sehr flfichtig
die Falle der Epilepsie, die kombiniert sind mit endemischer, Gravi-
ditats-, Laktations- und Magen-Darm-, sowie mit Kinder-Tetanie.
Alle diese Falle sind wenig interessant, da in keinem einzigen
Falle deutlich hervorgeht, dass wirklich eine gemeinsame Ursache
ffir die beiden Krampfformen vorhanden ist bzw. dass die beiden
Ursachen der beiden Syndrome miteinander qualitative Ubereinkunft
oder Verwandtschaft zeigen. Und diese Bedingungen konnen doch
nur dann erffillt werden, wenn bewiesen wird, dass dieselbe Noxe zu
den beiden Syndromen Anlass geben; doch dieser Beweis wurde nie-
mals geliefert: Bei der grossen Gruppe der Arbeitertetanie ist hochst-
wahrscheinlich Ergotinvergiftung die Ursache der Tetanie, aber diese
kann niemals die Ursache der eventuellen Epilepsie sein, da diese
letztere niemals auftritt, selbst nicht bei schweren und weitverbreiteten
Epidemien von Kriebelkrankheit (Egotinvergiftung), wie sie so viel
in Osteuropa vorkommen. Und andererseits ist in den meisten Fallen
der Literatur aus den Erscheinungen wohl mit Bestimmtheit abzu-
leiten, dass die Epilepsie rein zerebralen Ursprungs ist. Und dann
ist natfirlich jede Verwandtschaft mit der bei demselben Kranken
auftretenden Tetanie ausgeschlossen, da diese letztere niemals zere¬
bralen Ursprungs sein kann. Was alle Kliniker zu beweisen wfin-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanic.
177
scben, namlich die innige Verwandtschaft in den atiologiseh-kausalen
Momenten der Tetanie nnd der Epilepsie, wtirde nur- nachzuweisen
sein bei der Kombination von fchyreogener (genuiner) Epilepsie mit
parathyreogener Tetanie. Meiner festen Uberzeugung nach bestehen
diese Falle ohne Zweifel, sei es auch in nicht zu grosser Anzahl. Die
Diagnose „genuine” Epilepsie ist jedoch noch nicbt mit vollkommener
Sieherheit zu stellen und die von parathyreogener Tetanie ebenso-
wenig (wenigstens laut unserer Auffassung, dass namlich bei weitem
nicht jede Tetanie parathyreogenen Ursprungs ist). Doch ist vielleicht
die Stoffwechselchemie bald so weit fortgeschritten, dass wir dnrch die
Blutuntersncbang usw. die Diagnose genuine Epilepsie mit Sieherheit
stellen konnen, und nicbt erst durcb die negativen Ergebnisse der
pathologiscb-anatomischen Gehirnuntersuchung zu der gewiinschteLi
diagnostischen Sieherheit gelangen. Doch, so lange die Stoffwechsel¬
chemie uns dazu nicht instand setzt, haben wir diese absolute Sicher-
heit nicht, uud konnen wir also nicht mit Bestimmtheit sagen, dass
in einem gewissen Falle genuine Epilepsie mit parathyreogener Tetanie
kombiniert ist. (Der Bequemlichkeit wegen spreche ich yon genuiner —
thyreogener Epilepsie; gemeint ist dann tatsacblich thyreo-parathyreo-
gene Epilepsie.) Und wie bereits gesagt ist, betreffen die meisten
Falle der Literatur Falle zerebraler Epilepsie, kombiniert mit einer
oder anderer Form der Tetanie; diese Kombination ist rein zufallig
und in jedem Falle vom atiologisch-pathogenetischen Standpunkte voli-
kommen wertlos. Jeder urteile selbst (Falle ron Redlich): In einem
Falle beginnen die epileptischen Krampfe stets am linken Arm, in
einem zweiten Falle sind gleichfalls unilateral Erscheinungen vor-
handen (Steigerung der Sehnenreflexe, Babinski), wiihrend bei einer
ganzen Reihe anderer Kranker gleichfalls deutliche Zeichen zerebraler
LSsionen yorhanden sind in der Form von Stauungspapille, Parese
eines Beines, Fazialisparese, einseitige Spasmen mit Babinski, eic-
seitige Krampfe usw. Wieder ein anderer Kranker ist schwachsinnig
(vermutlich Enzephalitis in der Jugend), ein zweiter leidet an Lues
cerebri, ein dritter hat in seiner Jugend Konvulsionen gehabt und
also wohl hochstwahrsclieinlich eine Meningoenzephalitis durchgemacht.
In alien diesen Fallen ist es also absolut sicher, dass die Epilepsie
einer zerebralen (organischen) Erkrankung zugeschrieben werden muss;
in anderen Fallen ergibt sich dies nicht deutlich, doch auch das
Gegenteil stellt sich nicht heraus, da in verschiedenen Fallen nichts
von Fraisen in der Jugend gemeldet wird. (Da Fraisen fast imiuer
ein Symptom einer organischen Gehirnlasion, wie Meningitis, Enze¬
phalitis, Hydrozephalus internus, Lues cerebri usw. sind, miissen alle
Falle ron Epilepsie, bei denen Konvulsionen (Fraisen) in der Anamnese
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
178
Bolten
vorkommen — und das sind sehr viele — als vermutlich zerebralen
Ursprungs angesehen werden. (Doch leider wird der pathogenetischen
Verschiedenheit der Epilepib and den atiologischen Momenten, die uns
indiesem diagnostischen Chaos denWeg zeigen konnen, in der Literatur
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.) Wegen der hier oben genannten
Griinde sind in der Literatur keihe Falle von Epilepsie-Tetanie zu finden
(ausser naturlich den postoperativen Fallen), die den Eindruck machen,
dass sowohl die Epilepsie als auch die Tetanie thyreo-parathyreogenen
Ursprungs sind. Abgesehen davon, dass, wie bereits gesagt, diese
Falle klinisch noch nickt mit vollkommener Sicherheit von der grossen
Masse der organischen Epilepsien abzusondern sind, findet man in
der Literatur selbst keine Falle angegeben, bei denen wenigstens so
sorgfaltig wie moglich festgestellt ist, dass weder klinische Erschei-
nungen einer organischen Gehirnlasion, noch anamnestisch-atiologische
Angaben, die eine solche Lasion wabrscheinlich machen wiirden, vor-
handen sind. Dagegen ist in vielen Fallen die primar-organische Ge¬
hirnlasion wohl nachweisbar, so dass von den zahlreichen Fallen der
hier behandelten Kombination, die in der Literatur zu finden sind,
nur die postoperativen iibrig bleiben. Alle anderen Kategorien bieten
nicht die allergeringste Sicherheit, dass dabei in der Tat pathogene-
tischer Zusammenhang zwischen der Epilepsie und der Tetanie besteht.
Aber um so mehr Sicherheit dariiber haben wir in den von v. Frankl-
Hochwart, Pineles, Redlich und vielen anderen als sehr wichtig
gestempelte Falle, bei denen nach operativer Entfemung der Thyreoidea
und der Parathyreoideae die beiden Syndrome aufgetreten sind. Und
in dieser Gruppe gehen die menschliche Pathologie und das Tier-
experiment vollkommen parallel. Was wir nach mit zu wenig Scho-
nung vorgegenommenen Strumektomien beim Menschen sehen, das
sehen wir auch bei der experimentellen Parathyreoidektomie bei
Tieren, sowohl bei Kamivoren als bei Herbivoren. Kocher, einer der
ersten, der in zahlreichen Fallen die Strumektomie vornahm, war
auch einer der ersten, der beim Menschen die schadlichen Folgen
einer zu reichlichen Entfernung der Schilddrtise, wobei dann die
Epitbelkorperchen unwillkiirlich vollkommen oder grosstenteils mit
entfernt wurden, feststellte. Anfanglich teilte Kocher Wolflers
Auffassung, dass namlich „die totale Exstirpation der Schilddriise
durch den Menschen so gut vertragen wird, dass nach der Ope¬
ration keinerlei Ausfallssymptome auftreten, so dass die Operation und
ihre Folgen uns nichts fiber dieses Organ und dessen physiologische
Wirkung lehren." Doch bald kam Kocher zu einer ganz anderen
Einsicht. Nicht nur, dass verschiedene Kranke, die von vornherein
als geistig vollkommen normal betrachtet werden mfissten, allmahlich
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsia und Tetanie.
179
allerart Erscheinungen der „Kachexia strumipriva" zeigten, sondern
Kocher sah auch nach der Stramektomie oftmals Anfalle von Tetanie und
von Epilepsie auftreten. Dass ubrigens so viele Falle sogenannter kom-
pletter Thyreoidektomie ganz obne ernste Ausfallssymptome verliefen,
muss wohl dem zugescbrieben werden, dass die Tbyreoidea in der
Tat nicht vollkommen entfernt wurde, so dass noch funktionierendes
Schilddriisengewebe iibrig blieb; daher, dass Kocher in einigen Fallen
kompletter Thyreoidektomie mehr oder weniger bald nach der Opera¬
tion Rezidiv der Struma auftreten sab. Und dann bescbreibt Kocher
-den Fall eines Madchens, bei dem, vier Monate nach der Strum-
ektomie, plotzlich heftige Krampfe in den Armen bei intaktem Bewusst-
sein auftraten. Diese Anfalle zeigten sich wahrend vierJPagen, dock
verschwanden wieder nach dem Gebrauch warmer Bader. Darauf
traten jedoch auch echte epileptische Krampfe auf, mit zwar kurz-
dauemder, aber doch vollkommener Bewusstlosigkeit. Ubrigens sind
Kochers Mitteilungen so kurz gefasst, dass wir wenig daran haben
fiir die Kenntnis der weiteren Besonderheiten, der Dauer und des
weiteren Verlaufs der postoperativen Tetanie-Epilepsie. So meldet er
von seinem Falle 55 nur „ wieder holt epileptische Zufalle“, doch iiber
den weiteren Verlauf und iiber Tetanie horen wir nichts; im P'alle 64
heisst es: „kraftiger Tetanieanfall", doch nahere Besonderheiten werden
vorenthalten.
Und gerade diese Falle, bei denen nach Thyreo-Parathyreoid-
ektomie Erscheinungen von Epilepsie und Tetanie auftreten, sind fiir
die Pathogenese der beiden Syndrome von allerhochstem Interesse.
Immerhin handelt es sich hier, wenigstens in der iibergrossen Mehr-
zahl der io der Literatur beschriebenen-Falle, um Personen, die nicht
erblich belastet sind, und die vor der Operation als geistig vollkommen
gesund angesehen werden mussten, die auch niemals Erscheinungen
weder der Tetanie, noch der Epilepsie gezeigt batten, und welche
nun plotzlich nach dem betreffenden chirurgischen Eingriff die beiden
Syndrome zeigen. Dass in diesen Fallen also ein sehr inniger Zu-
sammenhang zwischen der Operation und den beiden Krampfformen
bestehen muss, steht. ausser jedem Zweifel. Und dadurch ist zugleick
auch der kausale Zusammenhaug zwischen den beiden Syndromen
festgestellt. Biedl sagt dariiber: Fiir die innere Zusammengehorigkeit
von Tetanie und Epilepsie sprechen: 1. das Auftreten der epileptischen
Anfalle gleichzeitig mit der Tetanie oder im Verlaufe derselben; 2. die
Frequenz und die Heftigkeit der epileptischen Anfalle geht vollkommen
auf und nieder mit denselben Eigenschaften der Tetanieanfalle und
3. das nicht seltene Verschwinden der epileptischen Anfalle gleich¬
zeitig oder kurz nach dem Verschwinden der Tetanieerscheinungen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
iso
Boltex
Id der Tat sind in den Fallen Ton Tetanie-Epilepsie nach Strumektomie
alle Faktoren vorhanden, die notig sind znm Beweise der Verwandi-
scbaft der Pathogenese der Tetanie and jener der Epilepsie, w<enig-
stens in dieser speziellen Kategorie.
Redlich konnte'in der Literatur 20 Falle von Epilepsie-Tetanie
nach Strnmektomie sammeln, und fiigt dieser Kasuistik einen inter-
essanten, von ihm wahrgenommenen Fall hinzu. Es betrifft eine
54jahrige Frau, die 14 Jahre vorher wegen Struma operiert wnrde
und wabrend all dieser Zeit (von der Operation an) Anfalle von Te¬
tanie und von Epilepsie gezeigt hatte. Der genaue Zeitpunkt, von.
dem an, nach der Strumektomie, die ersten Erscbeinungen der Tetanie-
Epilepsie aijfgetreten sind, ist nicht mehr festzustellen, docb laut Mit-
teilungen der Familie muss dies ziemlich bald nach der Operation
gesobehen sein. Die Zufalle sollen sowobl nachts wie fiber Tag auf-
treten, ungefahr einmal in drei Monaten; vollkommene Bewusstlosig-
keit und Zungenbiss traten dabei immer auf. Ferner zeigte sie noch
verscbiedene Symptome der Tetanie, u. a. sehr deutlich Trousseau,
weiter Chvostek und Schultze. Als Tetanieerscheinung wird weiter be-
riicksicbtigt ein ziemlich weit fortgescbrittener Katarakt (der in der
Tat, ebenso wie die in Reihen stehenden Defekte des Zahnschmelzes bei
parathyreopriver Tetanie oft angetroffen wird). Bei den epileptischen
Zufallen sind keine Herderscheinungen, auch kein Babinski wahrzu-
nehmen. Durch allerlei ungfinstige soziale Verhaltnisse kommt Pa-
tientin psychisch herunter, ist angstlich und unruhig und muss in eine
Anstalt gebracht werden.
Ausser von Kocher, Pineles und Redlich sind solche Falle
postoperativer Epilepsie-Tetanie durch v. Mikulicz, v. Eiselsberg,
Westphal, Hochgesand, Erdheim, Kronlein, Ehrhardt und
einigen anderen mitgeteilt worden.
Was bei diesen Fallen der Epilepsie-Tetanie auffallt, ist das Miss-
verhaltnis zwischen der Zahl der Manner und der Frauen. Bei alien
Statistiken fiber postoperative Tetanie sind die Manner sehr stark in
der Minderheit. Es ist nicht mit Sicherheit bekannt, ob die Struma
( die verschiedenen Arten zusammengezahlt) haufiger bei Frauen als
bei Mannern vorkommt (nur von der Basedowstruma steht es ganz
bestimmt test, dass sie viel mehr bei Frauen als bei Mannern vor¬
kommt, doch von den vielen anderen Kropfformen ist dies nicht be¬
kannt); doch es darf wohl angenommen werden, dass die Strumektomie
aus kosmetischen Grtinden viel mehr bei Frauen als bei Mannern an-
gewendet wird, und dadurch ist also leicht zu erklaren, dass die post¬
operative Epilepsie-Tetanie gleichfalls viel ofter bei Frauen als bei Man¬
nern vorkommt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie.
lSt
Die Tetanieanfalle treten gewdhnlich ziemlich bald nacb der Ope-
lation auf, meistens am 2.-3. Tage, bisweilen etwas spater, z. B. am
4 . —7. Tage, nur in wenigen Fallen noch spater. Die epileptiscben
Anfalle kommen gewohnlich erst spater zum Vorschein, meistens in
der zweiten oder dritten Woche, bisweilen jedoeb aucb viel spater, wie
in einem der Falle Kochers, und ineinem Fall von Pineles sogar sebr
spat, namlich erst nacb einem balben Jabre. Und einige Male sollten
nur epileptische Anfalle anftreten und keine der Tetanie. Angenom-
men, dies sei wabr, so konnen sich dabei noch verscbiedene Moglich-
keiten ergeben: die Tetanieanfalle sind viel kiirzer, weniger auffallend
und einfacher als die epileptiscben und werden also leicbter iibersehen.
Weiter ist es moglich, dass die Tetanie nur in latenter'Form vorbanden
war, so dass ihre Eigenarten erst bei einer Untersuchung angetroffen
werden, und schliesslich ist es moglich, dass die epileptiscben Anfalle
sebr in den Vordergrund treten, z. B. in der Form eines Status epi-
lepticus, so dass dadurch die Tetanieanfalle sicb der Wahrnehmung
entzieben.
Was den weiteren Verlauf der postoperativen Epilepsie-Tetaniefalle
betrifft, so sind die Mitteilungen dariiber in der doch bereits be-
schrankten Literatur sehr sparsam. So meldet Kocher nichts iiber
den weiteren Verlauf der drei von ihm selbst beobachteten Falle von
Epilepsie-Tetanie nach Strumektomie. In jedem Falle geht jedoch aus
den Mitteilungen hervor, dass der weitere Verlauf sebr verschieden
sein kann. Dementsprecbend konnten wir drei Gruppen unterscheiden:
Bei der ersten vermindern sich die Anfalle, nachdem sie anfanglich
an Intensitat und Frequenz zugenommen batten, wieder allmahlicb,
nm schliesslich ganz zu verschwinden, ohne irgendeine Spur zu
hinterlassen. Bei der zweiten Gruppe werden die Erscheinungen chro-
nisch und es entwickelt sich ein Zu9tand chroniscber Epilepsie mit
alien Besonderheiten und Eigentiimlichkeiten davon: Langsam auf-
tretende Charakterveranderungen (grossere Reizbarkeit, Tragbeit im
Denken und Handeln, immer einengende Interessensphare, erhohter
religioser Sinn usw.) und zum Scbluss psychiscbe Storungen, deren
Ende die epileptische Demenz ist. Aucb die Tetanie wird dann chro-
pisch. Psychische Storungen kommen also in dieser Gruppe vielfacb
vor: sowobl im Falle Redlichs als bei einem der zwei Kranken
Westphals trat schliesslich eine Psychose auf. Bei der dritten Gruppe
nehmen die Erscheinungen gar bald einen sturmiscben Verlauf, die
epileptischen Anfalle, die anfanglich mit mehr oder weniger deutliehem
Intervalle auftraten (in dem das Bewusstsein sicb wieder einstellte),
folgen allmahlicb immer schneller aufeiflander, nach Verlauf kurzer
Zeit (bisweilen einige Stunden, manchmal langer, z. B. ein paar Tage)
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
182
Bolten
kommt das Bewusstsein nicht mehr zariick, es entwickelt sich ein
Status epilepticus uud in diesem tritt der Exitns letalis ein. Schliess-
lich gibt es auch einige Falle, die in keine dieser drei Gruppen passen,
und bei denen namlich nur wenige Tetanieanfalle und ein einziger
epileptiscber Insult auftreten und danach alle Erscbeinungen ganz
yerscbwinden. Verschiedene Forscher lenken besonders die Andacht
darauf, dass meistens die Tetanieanfalle zuerst auftreten und gewohn-
lich zuletzt verschwinden, und dass die Erscbeinungen der Epilepsie
fast itnmer in Haufigkeit und Intensitat usw. sebr regelmaBig mit
denen der Tetanie auf- und niedergehen.
Schliesslicb ist nocb von grossem Interesse, dass bei der iiber-
grossen Mehrzabl der Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie keine erb-
liche Belastung im Spiel ist, so dass die Kranken vor der Operation
als geistig vollkommen normal betracbtet werden miissten und (mit
einer seltenen Ausnabme) keine einzige Erscbeinung von Epilepsie
oder Tetanie gezeigt hatten vor der Strumektomie. „In der grossen
Mehrzahl der Falle fehlt denn auch“, wie Bedlich sagt, „jedes atio-
logische Moment fur die epileptischen Anfalle; als solcbes kann man
nur die Entfernung der Schilddriise bzw. der Epithelkorper-
chen und die dadurch hervorgebrachte Tetanie betrachten."
Die postoperativen Epilepsie-Tetaniefalle sind selten, das ist wohl
sicber. Nimmt man auch an, dass verschiedene Falle nicht veroffent-
licbt sind, zumal in der Zeit, wo man die Schilddriise noch nicht als
ein lebenswichtiges Organ betrachtete und also noch viele komplette
Thyreoidektomien vornahm, so ist eine Zahl von 20 Fallen immerhin
eine sehr armselige Ernte. Und in der Zukunft sollen diese Falle stets
seltener werden^ seitdem allgemein bekannt geworden ist, dass man
die Thyreoidea und die Parathvreoideae nicht entbehren kann (in dem
Sinne, dass von der Thyreoidea mindestens ein Drittel des funktio-
nierenden Gewebes iibrig bleiben muss und von den Epithelkorperchen
mindestens die Halfte), trachten alle Chirurgen stets eine hinreichende
Menge normalen Gewebes iibrig zu lassen, und wenden sie dann auch
nur unilaterale Resektionen, partielle Amputationen usw. an. Um nun
eine Ubersicht iiber die Haufigkeit der hier gemeinten Falle zu be-
kommen, habe ich mich mit einer Rundfrage an die hollandischen
Chirurgen gewandt; aus den vielen ausfiihrlichen Antworten, die ein-
kamen (und fur die ich hierbei meinen herzlichen Dank bezeuge), geht
ganz deutlich hervor, dass die postoperativen Epilepsie-Tetanien jetzt
fast gar nicht vorkommen. Mehrere Chirurgen, einige sogar mit
einem sehr grossen Material^ hatten niemals irgendeine Erscheinung
von Tetanie oder Epilepsie wahrgenoramen; ein anderer hatte unter
140 Strumektomien nur zwei Falle voriibergehender, massig schwerer
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie.
183
Tetanie, einige andere batten nur ein einziges Mai sehr leichte Tetanie-
erscheinungen gesehen, und vor allem waren epileptische Anfalle offen-
bar sehr selten. Bei dem Gesamtmaterial der hollandischen Chirurgen,
das doch sicherlich viele hunderte Strumektomien umfasst, ergeben
sich nnr zwei Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie.
Die sehr kurz wiedergegebenen Krankheitsgeschichten dieser zwei
Falle lanten wie folgt:
1. Madchen V., 14 Jahre (aus der chirargischen Universitatsklioik
in Groningen; Prof. Koch). Hat seit ungefahr 3 Monaten eine langsam
wachsende Geschwulst der Schilddrflse, doch keine Basedowerscheinungen.
Die Geschwnlst geht bis an, doch nicht bis nnter das Sternum. In der
Struma keine Gefassgerausche; keine Urinbefunde. Hat frhher niemals an
Krampfen gelitten. Wegen Atembeschwerden wurde zur Operation ge-
schritten.
Am 20. Januar 1915 wurde in Narkose der rechte Lappen der Thy-
reoidea reseziert und ausserdem die Arteria thyreoidea links unterbunden.
Es trat pldtzlich Atmungsstillstand ein, darum Tracheotomie und Sauer-
stoffeinblasung. Patientin begann wieder zu atmen und ist am Abend sehr
gut, hat nur beim Schlucken ein wenig Scbmerzen, doch sonst keine Be-
schwerden.
Am folgenden Tage treten tonische und klonische Krampfe in Armen
und Beinen auf; dabei vollkommener Bewusstseinsverlust. Die tonischen
Krampfe treten sehr in den Hintergrund. Chvostek sowohl wie Trousseau
nicht vorhanden. Die Anfalle der klonischen Krampfe wiederholen sich
den ganzen Tag, doch noch kein Status epilepticus; dabei sind schliess-
lich alle Muskeln mit in Tatigkeit; Zungenbiss kommt nicht dabei vor,
wohl HarnlOsung. Darauf bekommt Patientin Thyreoidtablctten a 50 rag,
3 mal taglicb, eine Tablette. Dadurch verschwinden die Anfalle klonischer
Krampfe mit Bewusstlosigkeit vollkommen. Auch wurde 2 mal taglich
200 mg Chlorkalzium eingegeben. Durch die Eingabe von Thyreoid trat
anfanglich eine grosse Besserung ein: die Patientin blieb fortdauernd
compos mentis, ass und trank hin und wieder und die Krampfe blieben
vollkommen fort; doch es zeigten sich Erscheinungen von Pneumonic und
am 4. Tage nach der Operation verschied Patientin.
Bei der Obduktion wurde eine doppelseitige Pneumonic, sonst aber
nichts anderes gefunden.
2. Frau B., 47 Jahre (chirurgische Klinik des stadtischen Kranken-
hauses im Haag, Dr. Schoemaker). Patientin lttdet seit ungefahr 6 Jahren
an einer allmahlich grosser werdenden Struma und stammt aus einer echten
„Kropffamilie": ihre Mutter hatte eine sehr chronische Struma und ist an
„Kropftod“ gestorben, und ihre beiden Schwestern haben gleichfalls grosse
KropfgeschwQlste. Patientin, die frtther stets gut gesund war und die
niemals irgendeine psychische StOrung Oder irgendeine Erscheinung von
Epilepsie oder Tetanie gezeigt bat, ist in letzter Zeit stark abgemagert
und soil sich darum operieren lassen. Am 14. Juni 1915 Strumektomie,
die ganz ohne Stdrungen und hinzukommende Besonderheiten verlief. Be-
reits einige Stunden nach der Operation bekam Patientin Anfalle von Te¬
tanie: bei vollkommen intaktem Bewusstsein traten sehr schmerzhafte,
Deutsche ZeUschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. IB
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
184
Bolten
Digitized by
heftige, tonische KrSmpfe in den oberen Extremit&ten anf, wobei die Hftnde
and Finger in den typischen Gebartshelferstand gebracht warden. Bereits
am selben Abend traten dabei epileptische Anfalle anf; anfangs waren es
typiscbe Anfalle tonischer und klonischer Kr&mpfe, die in den Mnskeln
des Gesichtes, des Rumples and der GliedmaBen auftraten; Znngenbiss nnd
UrinlOsung kjjmen dabei ein einziges Mai vor; Herdsymptome und Babinski
warden dabei nicht wnhrgenommen. Zwischen den Anfallen stellte sich
das Bewusstsein wieder her, doch allmahlich kamen die Anfalle dichter
hintereinander, und das Bewusstsein wurde mehr und mehr benommen.
Dabei wurde der epileptische Anfall oft durch einen Tetanieanfall einge-
leitet, doch dieser letztere gingen schliesslich vollkommen verloren in den
stets schwerer auftretenden epileptischen Erscheinungen; ein einziges Mai
trat zwischen den epileptischen Konvulsionen und bci fortwahrender tiefer
Bewusstlosigkeit noch ein Tetanieanfall mit typisebem Stande von Handen
nnd FOssen auf. Doch des Nachts wurden die epileptischen Anfalle viel
schwerer and haafiger; alle angewendeten Mittel blieben erfolglos, und
bald trat ein heftiger and langdauernder Status epilepticus auf, in dem
Patientin verschied, am Tage nach der Operation. Die Sektion konnte
nicht ausgefohrt werden.
An diese Falle postoperativer Epilepsie-Tetanie schliessen sich die
Ergebnisse der Tierversuche vollkommen an. Bereits v. Frankl-
Hochwart wies darauf bin, dass bei Hunden nach Thyreo-Parathy-
reoidektomie nicht nar Tetanie, sondern anch nicht selten Erschei¬
nungen der Epilepsie auftraten; Erdheim konnte dasselbe bei Ratten
feststellen. Bei diesen letzten Tieren traten in Wirklichkeit keine
gut abgerundeten epileptischen Anfalle auf, sondern vielmehr lang-
dauernde epileptische Krampfe, die mit sehr kurzen Intervallen unge-
fahr 1 V 2 Stunden dauerten, selbst einigemale 3—12 Stunden anhielten,
und bei denen das Tier vollstandig bewusstlos war. Erdheim konnte
bei ungefahr einem Drittel seiner Versucbstiere nach kompletter Thy-
reoidektomie Erscheinungen von Epilepsie wahrnehmen; diese Epilepsie
stimmt jedoch nicht in allerlei Besonderbeiten mit der menschlichen
iiberein, da beim Versuchstier oft schlaffe Lahmungen in den Extre-
mitaten auftraten, ausserdem starke Erschiitterun gen und Niederstiirzen,
Beben der GliedmaBen usw. In der Regel gingen die Erscheinungen
der Tetanie denen der Epilepsie voran; traten diese letzteren mehr
in den Vordergrund, dann verschwanden zeitlich die Tetanie-Sym-
ptome.
Pinoles experimentierte mit Affen. Nach Thyreo-Parathyreoid-
ektomie sah er gar bald Erscheinungen von Tetanie und von Kachexie
auftreten. Diese verschwanden allmahlich vollkommen, doch langere
Zeit spater traten wieder isolierte Anfalle der Epilepsie-Tetanie auf.
Redlich hat gleicbfalls dieses Zuriickgehen der parathyreopriven
Tetanie gesehen, die dann spater wieder viel intensiver auftrat: eine
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
185
junge Katze, an der komplette Thyreo-Parathyreoidektomie vorge-
nommen .wurde, zeigte unmittelbar darnach schwere Tetanie-Anfalle.
Diese warden jedoch allmahlich leichter and verschwanden schliesslich
ganz; es trat dann jedoch ein deutlicher Kretinismus alif, der aber
nach subkutaner Thyreoidineingabe wieder verschwand. Ungefahr
l l l 2 Jahre nach der Operation starb das Tier unter gehauften, sehr
schweren epileptischen Anfallen.
Boldyreff konnte feststellen, dass die Thyreoidea auf die Warme-
regulierung Einfluss ausiibt, und dass nach kompletter Thyreoidekto-
mie wiHkiirlich Krampfanfalle hervorgerufen werden konnen, wenn
die Koipertemperatur erhoht wird. Durch Abkiihlnng des Tieres
wnrde dann ein solcher Anfall (auch der spontan auftretende) wieder
zum Stillstand gebracht. Karelkin konnte dies bestatigen: Wenn er
bei seinen Versuchstieren, an denen Thyreo-Parathyreoidektomie vor-
genommen war, die Korpertemperatur erhohte (z. B. durch Einspritzung
salzsauren Kokains), traten oft fibrillare Kontraktionen und bisweilen
allgemeine Krampfe auf. Diese Tatsachen weisen darauf hin, dass
das Auftreten der Krampfe parallel geht mit der Intensitat des Stoff-
wechsels: erwarmt man das Tier und erhoht man also den Stoff-
wechsel, so treten epileptische Konvulsionen auf; kiihlt man das Tier
ab und setzt also den Stoffwechsel herab, so verschwinden diese
Krampfe. Bedlich hat es dahin gebracht die Bedingungen naher zu
bestimmen, unter denen sich bei Katzen nach kompletter Thyreoid-
ektomie die Erscheinungen der Tetanie und Epilepsie entwickeln. Er
ging dabei von dem auch von vielen anderen, z. B. Biedl und Kreidl,
eingenommenen Standpunkt aus, dass eine Narbe in der Gehirnrinde
das Auftreten epileptischer Zufalle befordert. Bei einer Katze wurde
also die rechte motorische Zone exstirpiert und drei Wochen spater
beiderseits ein Epithelkorperchen entfernt. Darauf traten leichte
Tetanieerscheinungen auf, die durch Eingabe von Kokain und Mor-
phium und durch Athernarkose schlimmer wurden. Unter dem Ein¬
fluss dieser Gifbe traten zagleich Erscheinungen der Epilepsie auf.
Bei einer zweiten Katze wurde gleichfalls die rechte motorische Zone
entfernt und in zwei Tempos ebenso die Schilddriise und alle Epithel-
korperchen. Nach der letzten Exstirpation unmittelbar Erscheinungen
schwerer Tetanie mit starken kortikalen Ausfallssymptomen, doch
ohne Erscheinungen von Epilepsie. Athernarkose verursacht schwere
Tetanieanfalle. Die Erscheinungen bleiben sehr stiirmisch; Parathy-
reoidtabletten haben kein Resultat; Exitus letalis nach vierzehn Tagen.
Bei zwei anderen Katzen verliefen die Erscheinungen auf genau
dieselbe Weise; nur die fiinfte Katze zeigte viel vollstandigere Er¬
scheinungen. Exstirpation der rechten motorischen Zone und von drei
13*
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
186
Bolten
Epithelkorperchen ergibt nor kortikale Ausfallssymptome, doch keine
Tetanie. Exstirpation des yierten Epithelkorperchens jedoch verursacht
bereits nach 24 Stunden Erscheinungen der Tetanie (links dentlicher
als rechts), die im Laufe von 24 Stunden noch stark zonebmen.
Ausserdem traten drei deutliche epileptische Anfalle anf, die jedocb
keinen einseitigen Charakter zeigten. Dorch Athernarkose kann man
diese epileptischen Anfalle bervorrufen. Allmahlich und gleichzeitig
nebmen diese beiden Arten Anfalle an Intensitat nnd Haufigkeit ab;
nach ein paar Monaten sind sie ganzlich verschwunden und dann auch
durch Athernarkose nicht mehr zum Vorschein zu rufen. Red lie h
lenkt nocb die Andacbt darauf, dass bei diesem letzten Versucbstier,
ebenso wie bei der mensebliehen postoperativen Epilepsie-Tetanie, die
Erscheinungen der Epilepsie und Tetanie gleichzeitig zunehmen, gleich¬
zeitig ihren Hohepunkt erreichen, und in derselben Weise wieder
abnehmen und verschwinden. Auch weist er darauf hin, dass bei
diesem Versuchstier nach dem Vornehmen der Rindenlasion keine
einseitigen Krampfe auftraten, auch nicht nach der partiellen Para-
tbyreoidektomie.
Eine Bemerkung iiber den Wert dieser Versuche darf nicht unter-
bleiben: dass Kreidls Versuchstier bereits nach partieller Parathy-
reoidektomie mit Krampfen reagierte und im Falle Redlichs nicht,
be weist bereits, dass die Exstirpation der motorischen Zone nicht
immer auf dieselbe Weise krampferregend ist. Ausserdem muss
darauf hingewiesen werden, dass durch die Rinden-Exstirpation der
ganze Versuch getriibt wird. An erster Stelle wirken nun zwei Fak-
toren zusammen, so dass man nun niemals feststellen kann, ob ein
bestimmtes Resultat dem einen oder aber dem anderen Faktor zuzu-
schreiben ist. An zweiter Stelle wird Exstirpation der motorischen
Zone fur sich selbst schon hinreichen, um, wenigstens bei einem Teile
der Versuchstiere, epileptische Krampfe hervorzurufen. Dabei spielen
allerlei hinzukommende Faktoren eine wichtige Rolle: Tritt starke
Nachblutung auf, dann bildet sich ein subdurales Hamatom, was ohne
Zweifel epileptische Krampfe verursachen kann. Eine ziemlich grosse
Narbe in der Dura oder in der Rinde selbst kann gleichfalls Zufalle
hervorbringen, auch wenn die Thyreoidea und Parathyreoideae voll-
kommen intakt gelassen werden. Und auch eine rein einseitige Lasion
kann Anlass zu allgemeinen Krampfen geben. An dritter Stelle bilden
Exstirpation der motorischen Zone kombiniert mit Thyreo-Parathy-
reoidektomie Momente, die in der mensebliehen Pathologic wohl nie¬
mals auftreten werden, und daher sind also solche Versuche nicht
geeignet, zur Erklarung der beim Menschen nach Strumektomie auf-
tretenden Erscheinungen von Epilepsie-Tetanie beizutragen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie.
187
Wollen wir also Resultate erzielen, die znr Kenntnis der Aus-
fallssymptome der Thyreoidea and Paratbyreoideae beitragen konnen
und also etwas lebren fiber die Thyreoid- und die Parathyreoidfunk-
tion, so mfissen wir uns auf einfache Exstirpationsversuche beschran-
ken, wie diese bei sehr zahlreichen Versuchstieren yon Gley, einem der
hervorragendsten Grfinder des Bildes der Tetanie, und nach ibm yon
vielen anderen vorgenommen sind. Insofern die Ergebnisse dieser
Tierversaehe yon Interesse sind fur den hier behandelten Gegeustand,
werden wir bier in Kfirze davon Meldung macben. Langere Zeit ist
ziemlich allgemein angenommen worden, dass Herbiyoren nicbt an
Tetanie erkranken konnten, docb dass ausschliesslich bei Karniyoren
diese Erkrankung auftreten konnte. Verscbiedene Forscber jedoch
baben dies anders gelehrt. Verstraeten und van der Linden sahen
bei Kanincben nacb kompletter Thyreo-Parathyreoidektomie Erschei-
nungen der Epilepsie (starke Konvulsionen) und der Tetanie; weiter
kachektiscbe Erscbeinungen, die allmahlich'zum Tode ffihrten, und
psychische Storungen. Cadeac und Guinard sahen ungefahr das-
selbe: Zittern im Kopf und in den Gliedmassen, unterbrochen durcb
epileptische Krampfe, die bei 5 ihrer 9 Versuchstiere sebr intensiv
waren. Aucb Gley meldet, dass bei Kaninchen nach Thyreoparathy-
reoidektomie (die bisweilen in einem, bisweilen in zwei Tempos aus-
gefuhrt wurde) tetanische Krampfe mit klonischen und allgemeinen
Konvulsionen abwechseln. Diese letzteren treten oft schon langere
Zeit auf, bevor sie die Form eines mehr oder weniger abgerundeten,
epileptischen Insultes annehmen. Die Erscbeinungen der Tetanie
treten bisweilen sehr schnell nach der Operation auf (einige Stunden),
bisweilen dauert dies viel langer (7—9 Tage). Rouxeau bestatigt
die Befunde Gleys; er sah ebenso in vielen Fallen Tetanie und epilep¬
tische Krampfe; in der Regel treten, wie die meisten Forscher er-
klaren, die Erscheinungen der Tetanie zuerst auf und die epileptischen
Krampfe erst viel spater. Rouxeau sah jedoch einige Male die epi¬
leptischen Konvulsionen zuerst auftreten. Auch dieser Forscher lenkt
die Andacht darauf, dass bei Versuchstieren ausser der Tetanie-Epi-
lepsie auch ofter allerlei Erscheinungen der Paralyse sich zeigen, die
moistens in den Streckmuskeln anfangen und langsam progressiv sind.
Beim Menschen hat man dergleichen Erscheinungen der Paralyse nicht
wahrgenommen nach Strumektomien.
Nur Blumreich und Jacoby, und auch Munk kommen zu
ganz anderen Ergebnissen: sie finden nach Thyreo-Parathyreoidektomie
nur selten Erscheinungen von Tetanie. Munk stellt denn auch die
entgiftende Wirkung der Schilddrtise und auch die Kachexia tbyreo-
priva in Abrede; sie betrachten ausserdem die Schilddrtise nicht als
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1S8
Boltex
ein lebenswichtiges Organ, lbre negativen Ergebnisse sind obne
Zweifel ihrer mangelhaften Tecbnik znzuschreiben, durch die nicbt
die gesamte Thyreoidea und nicht alle Paratbyreoideae entfemt
warden.
Cornelis nahm sehr ausfuhrliche und eingehende Untersuchungen
mit Kaninchen vor. Er verrichtete stets die komplette Thyreo-Para-
thyreoidektomie. Auch er nahm, neben den jedesmaligen Erscbei-
nangen der Tetanie oft klonische Krampfe wabr, die bei ein and
demselben Versuchstier abwechselad stark aaftraten and meist mit
Opisthotonus gepaart gingen. Bisweilen trat ein schwerer Anfall all*
gemein-kloniscber Krampfe auf, der ungefahr eine Minute daoerte
und dem bald Dyspnoe und Exitus letalis folgten. Andere Male
danerten die epileptischen Konvulsionen, begleitet von Opisthotonus,
ungefahr drei Minuten. AUerlei mechanische Reize, z. B. das Aufnehmen
des Tieres, waren imstapde Tetanie-Anfalle zu erwecken. Die meisten
Versucbstiere zeigten nur Tetanie (mit hinzutretenden Lahmungser*
scheinungen). Bei 7 der 24 Kaninchen wurden auch epileptische Konvul*
sionen wabrgenommen (wobei bemerkt werden muss, dass einige
Kaninchen nicbt eines natiirlichen Todes starben, sondern aus ver-
schiedenen Griinden getotet wurden).
Aus dieser kurzen Zusammenfassung sehen wir also, dass auch
bei Herbivoren nach kompletter Thyreo-Paratbyreoidektomie, ebenso
wie bei Kamivoren, Erscheinungen der Tetanie und, in einem Teile
der Falle, auch epileptische Anfalle auftreten. Bei beiden Gruppen
traten die Erscheinungen auf, obne dass irgendeine Gehirnlasion
zugebracht war. Die von Biedl, Kreidl und Redlich angewendete
einseitige Exstirpation der motorischen Zone ist also in der Tat ganz
und gar iiberfliissig.
Cornelis hat schliesslich, ebenso wie verschiedene andere For-
scher, versucht patbologisch-anatomische Alterationen, besonders in
den Ganglienzellen der Vorderhorner des Ruckenmarks festzustellen
und vor allem zu untersuchen, ob solche eventuelle Veranderungen
spezifisch fur die Tetanie seien. Wahrend Kopp, Hofmeister, de
Quervain u. a. so gut wie nichts fanden, konnte Cornelis regel-
massig bistologiscbe Veranderungen feststellen, die einigermassen mit
den Befunden Blums und Alzheimers iibereinstimmen (Chromatolyse
und Schwellung der Zellen, Schwellung der Protoplasmafortsatze,
Verschwinden der Granulae, die in unregelmassigen Kornchen ausein-
anderfallen usw.). Cornelis fasst die Ergebnisse seiner mikroskopi-
schen Untersucbungen folgeudermassen zusammen:
1. „In alien Fallen von Tetania parathyreopriva beim Kaninchen
sind deutliche Veranderungen in den grossen motorischen Ganglien-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
189
zellen der Vorderborner des Ruckenmarks aufgetreten. Diese Veran-
derungen machen sich erkennbar durch eine meistens massige Chro-
matolyse, einmal mehr zentral, ein andermal mebr peripber oder diffus,
weiter durch eine meistens nur massige Schwellung der Nissl-Korper-
chen, scbliesslich vielleicht durch eine geringe Schwellung des
Achsenzylinders. In den Zwischensubstanzfortsatzen und im Kern
waren niemals deutliche Veranderungen wahrzunebmen; ebensowenig
war Schwellung der Zelle oder Versetzung des Kernes zu sehen. Das
Kemkorperchen zeigte bisweilen wohl ein etwas variierendes Vor-
kommen, aber konnte doch nicht als abnormal betracbtet werden.
2. In den Fallen mit kritischem Verlauf sind die Veranderungen
in der Regel etwas starker als in den Fallen mit lytischem Ende.
3. Bereits vor dem Auftreten der Tetanie sind deutliche Veran¬
derungen desselben Charakters nacbzuweisen (im Ruckenmark).
4. Bei Kachexia thyreopriva treten keine oder nur geringe Ver-
andernngen auf, die bereits vollkommen durch die Kachexie erklart
werden konnen."
Cornelis betrachtet, und zwar mit Recht, diese Veranderungen
als nicht s£ezifisch ftir die Tetanie, da sie bei allerlei anderen Intoxika-
tionsprozessen, wenn auch mit yerschiedenen kleinen Variationen oder
ohne dieselben, angetroffen sind. Ob diese Veranderungen primar
oder sekundar sind, lasst Cornelis im Ungewissen. Meiner Meinung
nach besteht jedoch kein Zweifel, dass diese Veranderungen, wie auch
bei allerlei anderen Intoxikationen, sekundar sind, da sie als die
Ausserung der Giftwirkung auf die Ganglienzellen angesehen werden
miis8en. Ebenso wie bei genuiner Epilepsie die diffuse Randgliose,
wie sie von Chaslin, Brener, Alzheimer und yielen anderen be-
schrieben ist, die Folge der Intoxikation ist und dann auch desto
deutlicher zum Vorschein tritt, je nach der Lange des Bestehens der
Autointoxikation, so sind auch bei der Tetanie die Veranderungen am
deutlichsten, wenn die Tetanie bereits einige Zeit bestanden hat,
wahrend sie in yiel geringerem Mafie vorhanden sind bei Tieren, die
einige Zeit nach der Thyreo-Parathyreoidektomie, doch noch vor dem
Auftreten der Tetanie, getotet sind. Auch Goldscheider und Flatau
beschreiben dergleichen leichte mikroskopische Veranderungen als
Folge der Intoxikation: „Die morphologische Alteration der Nerven-
zellen, wie diese sich in der Form einer Schwellung der Kernkorper-
chen und der Nisslschen Zellkorperchen zeigt, ist sicherlich der
Ausdruck eines chemischen Prozesses, und dieser letztere kann nicht
wohl etwas anderes sein als die chemische Bindung des Toxins an
die Nervenzellen. Die Ursache dieser Bindung ist offenbar darin
gelegen, dass in der Nervenzellensubstanz Atomgruppen vorhanden
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
190
JBolten
sind, die eine grosse Affinitat zu gewissen Atomgruppen des Tetanus-
toxins besitzen“ (Goldscheider und Flatau machten namlich aus-
fiihrliche Untersuchungen iiber die Einwirkung des Tetanusvirus aaf
das Riickenmark). „Eine weitere Folgerung dieser Auffassung ist,
dass der cbemische Prozess der Toxinbindung so lange fortdauert, bis
der in den Zellen vorhandene Vorrat an Affinitaten vollkommen ge-
sattigt ist. Sobald dies der Fall ist, kommt das Restitutionsbestreben
der Zellen zor Ausserung. Die vollstandige Riickbildung zum normalen
Zustand erfordert dann jedoch noch die notige Zeit.“ So Gold¬
scheider und Flatau, die also vollkommen derselben Ansicht sind
hinsichtlich der Strukturveranderungen der Zellen nach lntoxikation
und hinsichtlich der chemischen Affinitat der Nervenzelle fur bestimmte
Toxine, wie, ganz unabhangig von ihnen, Guillain und Laroche ver-
kiindet haben.
Jedenfalls haben also diese mikroskopischen Befunde, wie sie bei
derTetanie angetroffen sind, einen sehr besonderen Wert zur Erklarung
der Pathogenese, da sie, wie auch die Randgliose bei der Epilepsie,
die Folge sind der lntoxikation und der grossen Affinitat des Zentral-
nervensystems fiir sehr viele in die Zirkulation geratenen Toxine.
Diese histologischen Veranderungen sind denn auch bei der Tetanie
gewiss sekundarer Art und sind sehr wichtig zur Erklarung der
klinischen Erscheinungen, weil sie ein Kettenglied zwischen der Krank-
heitsursache (die lntoxikation) und den klinischen Erscheinungen
bilden.
Wir sehen also, dass bei Versuchstieren stets nach kompletter
Thyreo-Parathyreoidektomie Tetanie auftritt, und dass dabei in vielen
Fallen sich Erscheinungen der Epilepsie anschliessen. Dasselbe sehen
wir beim Menschen nach Strumektomie, besonders wenn die Thyreoidea
und die Parathyreoideae ganzlich oder fast vollstandig entfemt sind.
Rein zufallig kann das Auftreten der beiden Syndrome im Anschluss
an eine Strumektomie unmoglich sein. Verschiedene Forscher lenken
denn auch die Andacht darauf, dass in ihren Fallen vor der Strum¬
ektomie keine psychiscben Storungen und keine epileptischen Anfalle
aufgetreten sind, wahrend ebensowenig eine hereditare Belastung fur
Epilepsie vorlag. Nur die Strumektomie, und nichts anderes kann
denn auch fiir das Auftreten der Epilepsie-Tetanie verantwortlich ge-
macht werden, und in diesen Fallen ist also ein unverkennbarer
ursacblicher Verband zwischen Epilepsie und Tetanie vorhanden.
Schultze hat diese Ansicht schon im Jahre 1895 ausgesprochen,
v. Frankl-Hochwart im Jahre 1897; v. Mikulicz, Freund, Clark,
Kocher nnd viele andere schliessen sich dem an. Wie jedoch bereits
ausfuhrlich nachgewiesen ist, verteidigen verschiedene Forscher diese
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsia und Tetanie.
191
kausale Verwandtschaft zwischen Epilepsie und Tetanie auf Grand
▼on Fallen, die zum Beweise dieser Behauptung nichts beitragen: yon
alien nichtpostoperatiyen Fallen dieser Kombination ist niemals mit
absoluter Sicherheit festzustellen, mit welcher Form der Epilepsie und
mit welcher Form der Tetanie man zu tun hat. Die Epilepsie ist
meistens zerebralen Ursprungs, die Tetanie beraht oft auf endogenen
(gastrointestinal Tetanie) oder auf exogenen (Arbeitertetanie) Intoxi-
kationen und Infektionen, und dann ist. kein einziger Zusammenhang
zwischen den kausalen Momenten der beiden Syndrome moglich.
Naturlich gibt es auch Falle genuiner (thyreo-parathyreogener) Epi¬
lepsie, kombiniert mit parathyreogener Tetanie, die auf kongenitaler
Insuffizienz der betreffenden Organe berahen und also auch ohne
Strumektomie zur Ausserung kommen; doch diese Falle sind nun
noch nicht mit Bestimmtheit abzusondern yon den zahllosen Formen
der Epilepsie und Tetanie, die bis jetzt nichts anderes sind als eine
chaotische Sammlung sehr verschiedener Krankheiten, die ausserlich,
also was ihre Symptome betrifft, mebr oder weniger einander gleichen,
doch die iibrigens abhangig sind yon ganz verschiedenen Krankheits-
prozessen, und dadurch oft pathogenetisch nicht miteinander ver-
wandt sind.
Beschranken wir uns also auf das Brauchbare, d. h. die postope-
rativen Falle. Westphal und auch Ehrhardt trachten in diesen
Fallen die Pathogenese zu erklaren durch die Annahme, dass sowohl
die Tetanie als auch die Epilepsie Intoxikationserscheinungen infolge
pathologischer Stoffwechselprodukte sind. Diese Erklarung ist m. E.
Tollkommen richtig; nur mochte ich noch bemerken, dass diese Intoxi-
kation nicht durch pathologische, sondern durch normale, giftige
Abbauprodukte unserer Nahrungsstoffe und unseres eigenen Zellstoff-
wechsels stattfindet, toxische Produkte, die unter normalen Verhalt-
nissen durch die Thyreoidea und Parathyreoideae weiter abgebaut
bzw. entgiftet und unschadlich gemacht werden. Auch Curscbmann
nimmt einen Zusammenhang zwischen Thyreoidea und Parathyreoideae
einerseits und Epilepsie-Tetanie andererseits an. Er meint, dass durch
Wegfallen der Thyreoidfunktion Toxine gebildet werden, die auf die
Cortex und die Subcortex einwirken und dort Steigerung der Keiz-
barkeit hervorbringen. Doch, merkwtirdig genug, nimmt er in diesen
Fallen zugleich eine bereits bestehende Predisposition fur Epilepsie
an. Diese letzte Annahme ist unlogisch und unrich tig: wenn die
Schilddriisenfunktion ganzlich oder grosstenteils ausgefallen ist, tritt
reichliche Intoxikation auf; die Gehirnrinde sattigt sich, als Folge
ihrer grossen Affinitat fiir Toxine, mit diesen, und es folgt, wenn
diese Sattigung ihr Maximum erreicht hat, die Reaktion oder Ent-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
192
Bolten
ladung, namlich ein epileptischer Anfall. Doch eine Pradisposition
Oder eine bestimmte Belastung ist darum durchaus nicht notig: die
grosse Toxinaffinitat des Zentralnervensystems ist eine vollkommen
physiologische Erscbeinnng, bei der die Pradisposition keine oder in
jedem Falle nur eine sehr nebensachliche Rolle spielt.
Aucb Pineles halt in den postoperativen Fallen eine fur Epilepsie
vorhandene Disposition fur wabrscheinlich. Dabei sollte das „Tetanie-
gift“ die veranlassende Ursache sein, die die latente Disposition fur
Epilepsie in eine manifeste umsetzt. Auch solle das Tetaniegift orga-
nische Alterationen im Gebirn verursacben konnen, die dann wieder
in direktera Zusammenbang mit den epileptischen Anfallen stehen
sollten. Auch diese Begriindung eracbte ich als gezwungen und un¬
rich tig: an erster Stelle weisen viele Forscher darauf hin, dass in
diesen Fallen gerade nichts yon irgendeiner erblichen Belastung in
der Richtung der Epilepsie zu finden ist (aucb in unseren beiden
Fallen war nichts von irgendeiner hereditaren Pradisposition vorhan-
den). Und an zweiter Stelle verursacht das Tetaniegift keine organi-
schen zerebralen Veranderungen, die auch nur im entferntesten als
Ursache der Epilepsie betrachtet werden konnen.
Dass in diesen Fallen postoperativer Epilepsie-Tetanie irgendein
Verband zwischen den beiden Syndromen besteht, wird allgemein
angenommen. Biedl halt diesen Zusammenhang fur feststehend, weil
die epileptischen und die tetaniscben Erscheinungen gleichzeitig auf-
treten und regelmassig mit einander auf- und niedergehen. Ver-
schwinden die Tetanieanfalle, so bleiben, und meistens ziemlich gleich¬
zeitig, auch die epileptischen Krampfe zuriick, und wird die Tetanie
chronisch, so tritt in der Regel auch eine chronische Epilepsie ein,
mit alien ihren Eigenttimlichkeiten und sekundaren Storungen (Cha-
rakterabweichungen, sekundare Demenz, psvchische Storungen, wie in
den Fallen Redlichs und Westpbals). Redlich weist mit Nach-
druck auf das Fehlen irgendeiner Pradisposition fur Epilepsie hin, in
welcher Form sie auch immerhin auftrete, bei den meisten Kranken,
bei denen nach Sttumektomie Epilepsie und Tetanie aufgetreten sind.
Er kommt zu dera folgenden Ausspruch: „Es ist also unzweifelhaft,
dass in diesen Fallen, sowie beim Tierversuch, die Tetanie selbst die
epileptischen Anfalle bedingen muss. Freilich, eines scheint dazu
notwendig zu sein, namlich eine gewisse Zeitdauer dieser Einwirkung.
Bei den Tierversnchen hat sich ja herausgestellt, dass die epileptischen
Anfalle in der Regel erst einige Tage nach dem Erscheinen der Tetanie
auftreten, bisweilen noch viel spater, z. B. nach einer oder mehreren
Wochen. Unter diesen Umstanden ware es denkbar, dass nicht das
„Tetaniegift“ direkt, etwa durch Einwirkung auf das Grosshirn, die
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
193
epileptiscben Anfalle auslost, dass yielmehr durch die Entfernung der
Epithelk6rperchen, einer Druse mit innerer Sekretion, Anderungen
des Stoffwechsels oder in der Funktion anderer Driisen mit innerer
Sekretion ausgelost werden, die fiir das Auftreten der epileptiscben
Anfalle erst massgebend sind. Die Misch- und Obergangsformen
beider Arten von Anfallen wiirden in jedem Falle auf eine gewisse
Babnung der einen Krampfform durch die andere, auf gewisse Ge-
meinsamkeiten im Ablaufsmechanismus beider Krampfformen bin-
weisen.“ Es wird keine Verwunderung erwecken, wenn ich auch von
dieser Begriindung etwas abzudingen babe. Zuerst kann die eine
Krampfform nicht die Ursache einer anderen sein, aber wobl konnen
beide von derselben Ursache abhangen. Dass die Epilepsie spater als
die Tetanie auftritt (was allerdings nicht immer gescbieht), beweist
nur, dass die Sattigung des Riickenmarks mit den Tetanietoxinen und
die Entladung hiervon viel schneller vor sich geht als die Sattigung
der Gehirnrinde mit den Epilepsietoxinen. An zweiter Stelle werden
nicht nur durch die Exstirpation der Parathyreoideae, doch ebenso
sebr durch die Entfernung der Tbyreoidea wichtige Storungen im
Stoffwechsel und besonders in der Entgiftung der Abbauprodukte
bervorgebracht. Und an dritter Stelle sind Storungen in den iibrigen
Driisen mit innerer Sekretion nicht notwendig, um epileptiscbe Er-
scheinungen hervorzubringen. In der Begriindung Redlichs, ebenso
in der von Pineles, kommt immer das Streben zutage, doch stets
fiir Epilepsie primar-organische Lasionen im Gehirn anzunehmen.
Dass man beabsichtigt mit dem nichtssagenden Worte „Neurose“ einen
Begriff zu verbinden, der ein dem augenblicklichen Stande der Wissen-
scbaft entsprecbendes und scbarf umgrenztes Biid darstellt, istr' anzu-
erkennen, doch dass dabei stets primar-organische Strukturveran-
derungen des Gehirngewebes in den Vordergrund treten miissen, ist
docb wieder eine Auffassung, die infolge ihrer Einseitigkeit schadlich
ist. Immerhin, eine sebr hervorragende Rolle spielt die Intoxikation,
d. h. der von Goldscheider und Flatau und ebenso von Guillain
und Laroche bescbriebene chemische Prozess, der in der Bindung
von Toxinen durch Atomgruppen der Ganglienzellensubstanz besteht
und der auf einer sehr grossen Affinitat der letzteren zu den Toxinen
beruht. Und gerade dieser chemische Prozess spielt bei der thyreo-
parathyreogenen Epilepsie-Tetanie eine besondere Rolle. Ich betracbte
denn auch die thyreogene Epilepsie und die parathyreogene Tetanie
als zwar sebr verwandte, aber doch vollkommen selbstandige Syndrome
(Toxikosen), die eine parallel laufende Pathogenese mit vieler prin-
zipieller Cbereinstimmung mit einigen nichtqualitativen Unterschieden
zeigen. Dass die Epilepsie durch die Tetanie verursacht werden soil,
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
194
Bolten
ist denn auch unrichtig, wenn aach die Tetanieerscheinungen moistens
friiher auftreten als die epileptischen. Ich kann mich denn auch nicht
mit Phleps Ausspruch vereinigen, der da bei der Besprechung des
weiteren Verlautes einer grossen Anzahl Tetanieanfalle sagt: „Dauernde
Epilepsie, die in ihrer Entstehung auf Tetanie zuriickgefiihrt werden
muss, deren Latenzzeichen yiele Jahre nach Beginn der Erkrankung
noch nachweisbar waren, wurde in >17 Fallen wahrgenommen.“ Dass
ein Kind mit ausgeheilter Spasmopbilie viele Jahre spater Erscheinun-
gen zerebraler Epilepsie zeigt und inzwischen Symptome latenter
Tetanie behalt, ist sehr wohl moglich, aber in solchen Fallen hat man
doch kein Recht zu meinen, dass die spatere Epilepsie in ihrer Ent¬
stehung auf die fnihere Tetanie zuriickgefuhrt werden muss. Die
Tetanie kann niemals die Epilepsie verursachen, hochstens konnen
zwei sehr yerwandte Drsachen zwei gleichfalls sehr nah yerwandte
Syndrome zuwege bringen.
Fiir mich steht die Sache so: Epilepsie und Tetanie sind beide
Autointoxikationen, die die Folge sehr yerschiedener Ursachen sein
konnen. Viele dieser lntoxikationen lassen die Thyreoidea und die
Parathyreoideae vollkommen unberiihrt, doch wirken sie infolge der
chemischen Affinitat der Ganglienzellensubstanz direkt auf das Zentral-
nervensystem ein. Doch besteht auch eine Intoxikation, die durch
Fortfall der Entgifter, namlich der Parathyreoideae und der Thy¬
reoidea entstanden ist. 1st nur die Parathyreoidfunktion fortgefallen,
so entsteht Tetanie, sind dagegen Thyreoid- und Parathyreoidfunktion
ganz fortgefallen, so entstehen Epilepsie und Tetanie (die postopera-
tiyen Falle). Ist eine kongenitale Funktionsreduktion der Thyreoidea
und Parathyreoideae yorhanden, dann tritt nur Epilepsie (die genuine
Form) auf. Diese Behauptung ist noch nicht mit absoluter Sicherheit
zu beweisen, doch wohl in hohem MaBe wahrscheinlich zu machen.
So ist bis jetzt in ziemlich vielen Fallen yon Spasmophilie (Kinder-
tetanie) festgestellt, dass schwere Beschadigung der Epithelkorperchen
yorhanden war, hauptsachlich Blutungen, femer Kysten, Schrumpfungen,
Tumoren, Tuberkulose und Entwicklungsstorungen. Was nun die
klinischen Erscheinungen betrifft, so finden wir stets yermeldet Tetanie-
symptome (Karpopedalspasmen, Laryngospasmus usw.), doch niemals
epileptische Krampfe. Hieraus konnte man also herleiten, dass Tetanie
(wenigstens in den parathyreogenen Fallen) ausschliesslich gebunden
ist am Wegfallen der Parathyreoidfunktion, und dass umgekehrt
Parathyreoidbeschadigung zur Tetanie, aber nicht zur Epilepsie leiten
kann. Und dass diese letztere die Folge schwerer Funktionsstorung der
Thyreoidea und Parathyreoideae sein kann, habe ich experimentell nach-
gewiesen: langere Zeit habe ich ausschliesslich mit Presssaft frischer
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepaie und Tetanie.
195
Epithelkorperchen experimentiert and diesen in Fallen genuiner Epi-
lepsie rektal eingegeben, doeh die Resnltate waren nicht befriedigend.
Wohl wurden die Anfalle etwas weniger frequent und etwas weniger
schwer, aber der Intellekt klarte sich nicht auf, und alles blieb bei
einer nur geringen subjektiven und objektiven Verbesserung. (Der
Direktor des Schlachthauses in Leiden hat mir diese Versuche ermog-
licht, da er mir wahrend mindestens zwei Jahren wochentlich eine
ziemlich grosse Menge frischer Epithelkorperchen zukommen liess.)
Dagegen waren die Ergebnisse mit dem Gemisch von Schilddriisen-
und Epithelkorperchenpresssaft viel besser. Ausser dass sich die
Anfalle verringerten und yerschwanden, bes3erte sich der Kopfschmerz
und der Kranke erzahlte spontan, dass sein Intellekt sich aufklarte
und sein Gedachtnis viel besser wurde.
Die Tierversuche bringen uns hieriiber keine weitere Klarheit;
ich konnte namlich nirgends in der Literatur vermeldet linden, dass
bei der reinen kompletten Parathyreoidektomie ausschlie3slich Er-
scheinungen yon Tetanie, ohne irgendeine Erscheinung yon Epilepsie
auftreten sollten. Die meisten Forscher exstirpieren das gesamte
Schilddriisenorgan d. h. die Thyreoidea mit alien Parathyreoideae.
Biedl sagt: „Die Folgen der Exstirpation der Epithelkorperchen, bzw.
des ganzen Schilddriisenorgans sind einigermassen anders fur
die yerschiedenen Tierarten." Er halt also Exstirpation der Parathy-
reoideae fur ziemlich gleichwertig der totalen Tbyreo-Parathyreoid-
ektomie. Dies kann schliesslich nicht wahr sein: die Thyreoidea hat
solch eine wichtige und komplizierte Funktion, dass man sie nicht
als ein Organ betrachten darf, das man eyentuell ebensogut mitexstir-
pieren wie intakt lassen kann. Doch daruber gibt es noch yiel auf-
zuklaren, und es ist besonders gewiinscht zu versuchen herauszube-
kommen, in welcher Hinsicht die Thyreoid- und die Parathyreoid-
funktion iibereinstimmen, und in welcher Hinsicht sie sich unterschei-
den. Dass eine gewisse Ubereinstimmung in den beiden Funktionen
besteht, und dass diese bis zu einer erheblicben Hohe yikariierend
auftreten konnen, ist wohl absolut sicher, wenn auch die Schilddriise
und die Epithelkorperchen, was ihre embryologische Anlage und ihre
weitere Entwicklung betrifft, ganz yerschiedene Organe sind. Diese
Funktionsverwandtschaft geht ausfolgendenUmstanden heryor (Biedl):
1. Der giinstige Einfluss der Schilddriiseneingabe auf den Verlauf der
parathyreopriven Tetanie; 2. die mit Sicherheit festgestellte Hypertro-
phie der ausseren Epithelkorperchen, die nach Exstirpation der Thy¬
reoidea auftritt, und 3. die Hypertrophie der Thyreoidea, die nach
Exstirpation samtlicher Epithelkorperchen auftritt. Es besteht also
zwischen den beiden Systemen eine sehr deutliche Korrelation, die
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF ALIFORNIA
196
Bolten
sicb in einer unter bestimmten Umstanden aoftretenden vikariierenden
Wirkung aussert. Daher kommt es denn auch, dass reine Thyreoid-
ektomie, also mit sorgfaltiger Sparung der Epithelkbrperchen, bei
Tieren wohl die Erscheinnngen der tbyreopriven Kachexie, aber fast
niemals Krampfe hervorruft. Doch diese vik^riierende Wirkung ist
keineswegs vollstandig: wahrend offenbar die Epithelkorperchen die
Tbyreoidfunktion fast ganz ubernehmen konnen, ist dies umgekehrt
nicht der Fall. Es scheint mir denn ancb, dass sowohl die Tbyreoidea
wie die Parathyreoideae entgiftende Organe sind, d. b. dass sie die
pbysiologischen (normalen, aber toxiscben) Abbauprodukte unserer
Nahrung und unseres Zellstoffwechsels zu entgiften baben dnrcb
weiteren Abbau, durch Oxydation, Reduktion, oder auf welcbe Weise
denn aucb. Docb dabei ist hochstwahrscheinlich die Thyreoidea auf
andere Gruppen Toxine eingestellt als die Parathyreoideae; welcbe
Toxine das sind, liegt vorlaufig nocb ganz im Dnnkeln.
Immerhin, auch die parathyreoprive Tetanie macht ebenso wie
alle anderen Formen der Tetanie und wie der genuinen Epilepsie
stark den Eindruck eine Autointoxi kation, vielleicht eine Azidose
(Cooke, Morel) zu sein. So weist y. Fiirth darauf hin, dass allerlei
Faktoren, die den Stoffwechsel akzelerieren oder auch Toxine in die
Zirkulation bringen, eine latente parathyreoprive Tetanie (nach par-
tieller Parathyreoidektomie) manifest werden lassen konnen. Solche
Faktoren sind: der Ubergang von Milch- zur Fleischnahrung, Gravi-
ditat, die Eingabe allerlei Gifte, starke Ermudung usw. Demgegen-
iiber konnen allerlei andere Momente, die den Stoffwecbsel hemmen,
entweder verzogern oder das Auftreten von Toxinen verringern, eine
parathyreoprive Tetanie an Intensitat abnebmen lassen. Zu diesen
Umstanden gehoren: reine Milcbnahrung, Infusion physiologiscber
Kochsalzlosung, von Blut oder Blutserum, Hungerzustand usw. Alle
diese Umstande, in Verbindung mit den Eigentiimlicbkeiten der Ver-
anderungen der Riickenmarksnervenzellen bei der Tetanie, macben es
docb allerdings sehr wahrscheinlich, dass auch die Tetanie eine Auto-
intoxikation ist. Aucb Wiener hat zum Beweise dieser Behauptung
gute Argumente beigetragen: er spritzte das Serum von Tieren, die
seit einiger Zeit an parathyreopriver Tetanie litten, Tieren ein, bei
denen die Parathyreoideae eben entfernt waren, und sah dann, dass
bei diesen nun so behandelten Tieren die Erscheinungen der Tetanie
entweder ganz fortblieben oder viel weniger scbwer auftraten. Bei
den ersten Versuchstieren, die also einige Zeit scbon an Tetanie litten.
batten sicb vermutlicb Antistoffe gebildet, die hinreichend waren, um
durch Einspritzung bei den eben erst operierten Tieren diese letzteren
iiber die schlimmste Periode (das ist direkt nach der Parathyreoid-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
197
ektomie, denn danu sind noch keine Antistoffe gebiidet) hinweg zu
helfen. Danach bildet das letzte Tier selbst eine binreichende Menge
Antistoffe.
Sicherlich muss es Verwunderung erwecken, dass man bis jetzt
bei der Epilepsie (genuiner) wie bei der Tetanie so wenig Aufmerksamkeit
anf die Moglichkeit einer Autointoxikation gelenkt hat, und dass, mit
Ausndhme von Westphal und Ehrhardt, so viele Forscher eine so
unlogische und umstandliche Erklarung der Epilepsie-Tetanie nacb
Thyreo-Parathyreoidektomie geben (Notwendigkeit einer Predisposition
fur Epilepsie, organische Lasionen in zerebro, sekundare Veranderan-
gen in anderen Driisen mit innerer Sekretion us nr.). Bei dem augen-
blicklichen Stande unserer Kenntnis der Physiologic der Thyreoidea
und Parathyreoideae (wenn diese Kenntnis auch noch sehr unvoll-
kommen ist) werden wir zur Erklarung der Epilepsie-Tetanie nach
Strumektomie doch ganz und gar in die Richtung der Autointoxikation
gedrangt. Und selbst in einigen Laienkreisen hat sich die Auffassung
Bahn gebrochen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Intoxika-
tion (Epilepsie) und Thyreoidea-Parathyreoideae. So schrieb die Frau
eines meiner Kranken mir: „Mein Mann leidet an Epilepsie; als ich
vor Jahren einmal las, dass Menschen, bei denen die Schild-
druse ganz entfernt war, Vergiftungserscheinungen bekommen, die
sich in Krampfanfallen aussern, dachte ich, ob es bei ihm vielleicbt
auch durch eine Abweichung in der Schilddriise (dies ist bei ihm eine
familiare Erkrankung) kommen konnte usw.“
Wie bereits soeben gesagt, betrachte ich einen Teil der Tetanie-
falle, und zwar die Kindertetanie, die postoperative und die experi-
mentelle Tetanie als ein rein parathyreogenes Syndrom, und auf Grand
meiner Experimente, Epilepsie (genuiner Form) als eine Ausserung
der Thyreoid- und Parathyreoidinsuffizienz, wahrend bei fast vollstan-
digem Wegfallen der Thyreoid- und Parathyreoidfunktion die beiden
Syndrome auftreten, wie aus den postoperativen Fallen hervorgeht.
Und daraus ergibt sich von selbst, dass auch nicht operierte Falle
vorkommen konnen, bei denen thyreo-parathyreogene Epilepsie (ge¬
nuine) und parathyreogene Tetanie kombiniert auftreten, doch erst,
wenn die Stoffwechselchemie so weit fortgeschritten ist, dass sie uns
durch Blutanalysen (Nachweis der toxischen Abbauprodukte) instand
setzt die genuine Epilepsie und die parathyreogene Tetanie nachzu-
weisen, erst dann werden wir diese nichtpostoperativen Falle als Be-
weis fur die grosse Verwandtschaft zwischen einer bestimmten Form
der Epilepsie und einer bestimmten Form der Tetanie anwenden
konnen. Und in diesen Fallen ist dann vielleicht die Hypofunktion
der Thyreoidea und der Parathyreoideae sekundar und beruht auf
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
198
Bolten
Digitized by
Storungen des Nervus sympatbicus (oder dessen zerebralen Zentren),
der bestimmt die Thyreoidea und wahrscbeinlieh auch die Parathy-
reoideae innerviert. Docb vorlaufig sind fur uns nur die postopera*
tiven Falle ein wichtiger und unumstosslicher Beweis flir die bereits
friiher von uns aufgestellte Bebauptung, dass eine bestimmte Art
Epilepsie (die sogenannte genuine) die Folge chroniscber Autointoxi-
kation ist (die da berubt auf Hypofermentation des Tractus intestinalis
und des intermediaren Stoffwechsels). Diese Autointoxikation wird
durcb Hypo- bzw. Athyreoidismus und Hypoparathyreoidismus hervor-
gerufen. Dabei bestatigen diese Falle die bereits seit langer Zeit
feststehende Tatsache, dass Hypo- bzw. Aparathyreoidismus zur Te-
tanie fvihrt.
Literaturverzeichnis.
G. C. Bolten, Pathogenese and Therapie der genoinen Epilepsie.
Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1913, Bd. 33, Nr. 2.
Derselbe, Die Erklarung der Erecheinungen bei Epilepsie. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1914, Bd. 53, 8. 56.
Derselbe, Ober Wesen und Behandlung der sog. „genuinen“ Epilepsie.
Wien. klin. Wochenschr. 1914, Nr. 28.
J. Erdheim, Tetania parathyreopriva. Mitt. a. d. Grenzgeb. der M. a.
Ch. 1906, Bd. 16, 8. 632.
Derselbe, Tetania parathyreopriva. Wiener klin. Wochenschr. 1900.
Derselbe, Beitrage zur path. Anatoraie der. menschlichen EpithelkOrper-
chen. Zeitschr. f. Heilkde. 1904, Bd. 25.
J. Yanase, Uber Epithelkorperchenbefunde bei galvanischer Ubererreg-
barkeit bei Kindern. Jahrb. f. Kinderhkde. 1908, Erg.-Heft.
Th. Escherich, Die Tetanie der Kinder. Wien 1909 (A. Holder).
P. Jeandelize, Insuffisance thyroidienne et parathyroidienne. Etude
clin. et expdrim. Nancy 1902.
W. Haberfeld, Die EpithelkOrperchen bei Tetanie und bei einigen
anderen Erkrankungen. * Virchows Arch. 1911, Bd. 203.
H. Konigstein, Glykogene Degeneration der EpithelkOrperchen in zwei
Fallen von Tetanie. Wiener klin. Wochenschr. 1906, Nr. 50.
H. Petersen, Anatomische Studie fiber die Glandulae parathyreoideae
des Menschen. Virchows Arch. 1903, Bd. 174, 8. 413.
C. E. Benjamins, Uber die Glandulae parathyreoideae (EpithelkOrper¬
chen). Zieglers Beitrage 1902, Bd. 31, S. 143.
A. Fuchs, Zur Atiologie der epidemischen Tetanie. Zeitschr. f. d. ges.
Physiol, u. Path. d. Stoffw. 1911, Nr. 11, S. 441.
Derselbe, Analogien im Krankheitsbilde des Ergotismus und der Te¬
tanie. Wiener med. Wochenschr. 1911, Nr. 29, 30 u. 31.
J. Faas, Uber die Schwangerschaftstetanie. Inaugural-Dissertation. Er¬
langen 1913.
E. Kehrer, Die geburtshilflich-gyniikologische Bedeutung der Tetanie.
Arch. f. Gynak. 1913, Bd. 99, S. 372.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie und Tetanie.
199
L. Adler and H. Thaler, Experimentelle und klinische Studien uber
die Graviditatstetanie. Zeitschr. f. Geburtsh. 1G08, Bd. 62, S. 194. •
G. Rosenfeld, Beitrag zur Atiologie der Tetanie. Arch. f. Verdauungs-
krankh. 1914, Bd. 20, S. 617.
E. Wexberg, t)ber einen Fall von Spattetanie gastrischen Ursprungs.
Wiener klin. Wochenschr. 1914, S. 1427.
W. L. Rodman, Gastric tetany. The Joarn. of the Am. med. Assoc.
1914, Bd. 62, S, 590.
M. Lftwy, Tetaniesymptome nach und bei Dysenterie. Monatsschr. f.
Psych, u. Nenr. 1914, Bd. 36, S. 448.
K. Grake, Zwei eigonartige Falle von Tetanie. Med. Klinik 1914, Nr. 29,
S. 1221.
E. Gebhard, Uber Tetanie bei Diinndarmileus. Wiener klin. Rundschau
1914, S. 487.
F. Bracks, Zur Tetanie bei chronischer Dilatatio ventriculi. Beitr. z.
klin. Chir. 1908, Bd. 59, S. 229.
Ch. H. Goodrich, Appendicitis and tetany. Annals of Surgery. 1908,
8. 859.
J. Bauer, Zur Klinik der Tetanie und Osteomalazie. Wiener klin.
Wochenschr. 1912, Nr. 45.
K. Wirth, Tetanie bei Phosphorvergifcung. Wiener klin. Wochenschr.
1908, Nr. 38.
Derselb e. Die Tetanie und ihre Bedeutung fur die Chirurgie. Zentralbl.
f. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1910, Bd. 13, S. 769 u. 881.
Derselbe, Tetanie im hSheren Alter. Wiener klin. Wochenschr. 1910,
S. 1029.
G. v. Voss, Uber Tetanie und myotonische Storungeb bei dieser Er-
krankung. Monatsschr. f. Patch, u. Near. 1900, Bd. 8, S. 85.
W. G. Morgan, Gastric tetany with report of cases. Philadelph. med.
Journ. 1901, I, S. 970.
J. L. Morse, Some cases of tetany in infancy. Ibid. 1901, Bd. 7, S. 40.
J. A. Gibb, Tetany in the adult. Brit. med. Journ. 1908, II, S. 77.
E. Bircher, Zur Tetanie bei abdominellen Affektionen. Zentralbl. f.
Chir. 1913, S. 1659.
B. Hughes, Tetany in acute, suppurative appendicitis in an adult. Brit,
med. Journ. 1913, I, S. 879.
K. Quosig, Zur Kenntnis der Tetanie intestinalen Ursprungs. Munch,
med. Wochenschr. 1906, S. 457.
S. Schonborn, Kliniscbes zur menschlichen Tetanie im Anschluss an
41 FMle. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1910, Bd. 40, S. 319.
H. Curschman, Ober einige ungewohnliche Ursachen und Syndrome
der Tetanie der Erwachsenen usw. Ibid. 1910, Bd. 39, S. 36.
B. Fischl, Tetanie und tetanoide Zustande im Kindesalter. Klin.-therap.
Wochenschr. 1913, S. 101 u. 129. • *
M. Sternberg und E. Grossmann, Zwei bemerkenswerte Falle von
Arbeitertetanie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1910, Bd. 39, S. 403.
* R. W. Bliss, Die Untersuchung der Epithelkbrperchen mit besonderer
Berucksichtigung ihrer Beziehungen zur Sauglingstetanie. Zeitschr. f. Kinder-
heilkde. 1911, Nr. 6.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. B7. 14
Digitized! by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
200
Bolten
Digitized by
S. Stuckenberg, fiber einen Fall von chronischer Tetanie mit Epithel-
kdrpej)>efund. Inaugural-Dissertation. Berlin 1911.
F. Schiffer, fiber familiire cbronische Tetanie. Jahrb. f. Kinderheilkde.
1911, Bd. 73, S. 601.
P, Grosser nnd R. Betke, EpithelkOrperchennntersacbungen mit be-
sonderer Berficksichtigung der Tetania infantum. Zeitschr. f. Kinderheilkde.
1911, Bd. 1, S. 458.
G. J5rgensen, Ober die Bedentnng der pathologisch-anatomischen Ver- '
iinderungen der Glandulae parathyreoideae ffir die Pathogenese der infantilen
Tetanie. Monatsschr. f. Kinderheilkde. 1911, Bd. 10, S. 15k
P. Querbach, Epithelkbrperchenblutungen und ihre Beziehnngen znr
Tetanie hei Kindern. Jahrb. f. Kinderheilkde. 1911, Bd. 73, Erg.-Heft S. 193.
H. J. Gerstenberger, Clinical and experimental observations in a case
of prolonged infantile tetany. Cleveland med. Journ. 1909, Bd. 8, 8. 671.
T. v. Verebdly, Die postoperative Tetanie. Wiener med. Wochenschr.
1910, S. 20S9 u. 2163.
W. Hoeltzner, Kindertetanie (Spasmophilie) nnd EpithelkOrperchen.
Jahrb. f. Kinderheilkde. 1906, Bd. 64, 8. 482.
Winternitz, Tuberculosis of the parathyroid glands and its relation to
the occurence of tetany in tuberculous meningitis. Bulletin of the John Hop¬
kins Hospital 1909, Bd. 20, S. 269.
E. Phleps, Die Tetanie. Lewnndowskys Handbuch der Nenrologie Bd. 4.
G. Guillain et G. Laroche, La fixation des poisons sur le systfeme ner-
veux. La semnine m&l. 1911, No. 29, pag. 337.
A. Goldscheider und E. Flatau, Beitrfige zur Pathologic der Nerven-
zellen. Fortschritte der Med. 1897, Nr. 7.
Dieselben, Weitere Beitrfige znr Pathologic der Nervenzellen. Ibid.
1897, Nr. 16.
W. Nolen, Klinische voordrachten. Leiden 1901, Nr. 2, S. 48.
Saiz, Tetanie mit epileptiformen An fallen und Psycbose. Berl. klin.
Wochenschr. 1911, Nr. 6.
L. v. Frankl-Hochwart, Die Tetanie. Wien 1897 (Nothnagels Handbuch,
Bd. 11, II), S. Ill, 163 u. 164.
Derselbe, Die Tetanie. Wien 1907, 2. Aufl.
A. Luger, Ein Fall von Tetanieepilepsie. Wiener klin. Wochenschr.
1911, Nr. 17, 8. 604.
E. Redlich, Tetanie und Epilepsie. Monatsschr. f. Psych, u. Nonr. 1911,
Bd. 30, S. 439.
Derselbe, Die klinische Stellung der sogenannten genuinen Epilepsie.
1913. Berlin, (S. Karger).
F. Pineles, Zur Pathogenese der Tetanie. Deutsches Arch. f. klin. Med.
1906, Bd. 85, S. 491.
Derselbe, Tetanie und Epilepsie. Wiener klin. Ruudscb. 1909, 8. 760.
Th. Kocher, Uber Kropfexstirpationen und ihre Folgen. Arch. f. Chir.
1883, Bd. 29, S. 254.
Wdlfler, Weitere Beitrfige zur chirurgischen Behandlung des Kropfes.
Wiener med. Wochenschr. 1879. *
v. Mikulicz, Beitrfige zur Operation des Kropfee. Wiener med. Wochenschr.
18S6, S. 40.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Epilepsie and Tetanie. 201
A. v. Eiselsberg, C'ber Tetanie im Anschlaes an Kropfoperationen.
Wien 1890.
Derselbe, Zur Frage der dauemden Einheilung verpflanzter Schilddrfisen
and Nebenschilddrfisen; zagleich ein Beitragzar postoperativen Tetania para-
thyreopriva. Arch. f. kiin. Cbir. 1914, Bd. 106, S. 1.
A. Weetphal, Weiterer Beitrag zur Lehre yon der Tetanie. Berl. kiin.
Wochenschr. 1901, Nr. 83, S. 849.
Hochgesand, Die Kropfoperationen an der chirurgischen Klinik zn
Heidelberg in den Jahren 1878—1888. Brans’ Beitrage z. kiin. Chir. 1890, Bd. 6,
S. 647.
Kr&nlein, Klinische Untersnchungen fiber Kropf, Kropfoperationen and
Kropftod. Ibid. 1892, Bd. 9, S. 598.
O. Ehrhardt, Uber epileptiformes Auftreten der Tetania paratbyreopriva.
Mitt a. d. Grenzgeb. d. Med. n. Chir. 1902, Bd. 10, S. 225.
W. N. Boldyreff, Der Einiluss des Schilddrfisenapparates auf die Warme-
regoliernng bei Hunden. Arch. f. d. ges. Physiol. 1913, Bd. 154, 8. 470.
D. Karelkin, Der Einfluss von temperatarerh&henden und-herabsetzen-
den Sabstanzen auf Hunde, die der Schilddrfise beranbt warden. Zentralbl.
f. Physiol. 1914, Bd. 28, S. 619.
A. Biedl, Zur Atiologie der parathyreogenen Tetanie. Zeitschr. f. d. ges.
Phys. d. Stoffwech9. 1911, S. 444.
Derselbe, Innere Sekretion. Wien 1913, Bd. 1, S. 79—135.
Kreidl, Experiraentelle Untersuchungen fiber Tetanie. Wiener kiin.
Wochenschr. 1909, S. 869.
E. Gley, Effets sur la thyroidectomie chez le lapin. Archives da Phy¬
siologic 1892, pag. 135 et 664; 1893, pag. 467. S. a.: Comptes rendus de la
Socidtfi de Biologie 1911, Bd. 70, S. 9k).
Verstraeten et van der Linden, Etades sur les fonctions du eorps
thyroide. M4m. de l’Acad. royale de m6d. de Belgique. 1894.
Cad£ac et Guinard, Qaelcjues faits relatifs aux accidents de la thyro¬
idectomie. Comptes rendas d. 1. Soc. de Biologie 1894.
Rouxeau, Note sur 65 operations de thyroidectomie chez le lapin.
Comptes rendas d. 1. Soc. de Biol. 1895.
Derselbe, R4sultats de l’exstirpation isol£e des glandnles parathyroides
chez le lapin. Ibid. 1897.
Blnmreich and Jacoby, Experimentelle Untersuchungen fiber die Be-
dentnng der Schilddrfise nnd ihrer Nebendrfisen fur den Organismns. Pflfigers
Arch. 1896.
H. Mnnk, Zur Lehre von der Schilddrfise. Virchows Arch. 1897, Bd. 150,
S. 271.
F. G. Cornelis, Bijdrage tot de kennis van de gevolgen der experiment
teele thyreoidectomie. Inaugural-Dissertation. Rotterdam 1901.
Kopp, Veriinderungen im Nervensystem, besonders in den peripherischen
Nerven des Hundes nach Exstirpation der Schilddrfise. Virchows Arch. 1892.
Hofmeister, Zur Physiologie der Schilddrfise. Fortschr. d. Med. 1892.
de Quervain, Uber die Veriinderungen des Zentralnervensystems bei
experimenteller Kachexia thyreopriva der Tiere. Virchows Arch. 1893.
F. Blum, Die Schilddrfise als entgiftendes Organ. Ibid. 1899.
14*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
202 Bolten, Epileppie and Tetanie.
Schultze, Weitere Beitrage znr Lebre von der Tetanie. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1895, B<L 7, S. 397.
H. Freund, Tetanie und Erampfneurosen. Wiener med. Wochenechr.
1902, 8. 2176.
P. L. Clark, Tetanoid seizures in epilepsy. Americ. Journ. of Insanity.
1999, pag. 583.
H. Curschman, Cber einige ungewdhnliche Ursachen und Syndrome
der Tetanie der Erwachsenen, nebst Vorschlagen zu ibrer Behandlung. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1910, Bd. 39, S. 36.
V. Cooke, Metabolism after parathyroidectomy. The Am. Journ.* of the
med. Sc. 1910, Bd. 140, pag. 404.
L. Morel, Parathyroides et acidose. Comptes r. d. L Soo. de BioL 1911,
Bd. 70, pag. 871.
O. v. FOrth, Problems der physiologiscben und pathologischen Chemie.
Leipzig 1912, Bd. 1. S. 472.
H. Wiener, Uber die Art der Funktion der EpithelkOrperchen. Arch,
f, d. ges. Phys. 1910, Bd. 136, S. 107.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus der inneren Abteilung des stadtischeu Krankenhauses Augsburg.
(Oberarzt: Prof. Fr. Port.)
Ein Fall Ton multipler Hirnnervenl&hmung mit gleich-
zeitigen Missbildungen am Thorax und an der rechten
oheren Extremitfit.
Von
Dr. F. Gfitermann.
(Mit 3 Abbildungen.)
Ein merkwiirdiges Zusammentreffen von angeborenen Defekten
soil im folgenden bescbrieben werden. Einzeln sind dieselben schon
oft beobachtet worden und wegen ihrer Haufigkeit gegeniiber anderen
Missbildungen sowie wegen ihres Interesses in anatomischer und funk*
tioneller Hinsicht zum Mittelpunkt einer reicben Literatur geworden.
Docb gingen die Anscbauungen der Autoren liber die Atiologie der
Missbildung nocb weit auseinander. Einer Besprecbung derselben
schicke ich die eigene Beobacbtung voraus.
Angeborener Beweglicbkeitsdefekt ini Gebiete der Hirn-
nerven kombiniert mit Feblen der recbtsseitigen Brust-
muskeln, Amastie dieser Seite, Schulterblattbochstand und
Missbildung der recbten oberen Extremitat.
A. E. wurde am 30. VI. 1916 geboren und steht seit 10. VII. in
klinischer Beobachtung. Seine Mutter erzahlt, ein gleicbartigcs Leiden sei
in ihrer Familie noch nie vorgekommen. Von erwfihnenswerten Krank-
beiten sei nur zu berichten, dass der Grossvater des Patienten — liber
80 Jahre alt — in geistigcr StOrung Selbstmord verflbt habe. Ihr eigener
Vater sei in jungen Jabren an Lungenschwindsucht gestorben. Tuberkulose
kam Afters in der Familie vor. Sie selbst sei wegen Blutspucken mehr-
mals in Heilstattenbehandlung gewesen, eines ibrer Kinder sei an Hirn-
hautentzQndung gestorben, ein anderes ertaubt. Patient bat 14 Geschwister,
von denen 11 leben. Febl- und Totgeburten kamen nie vor. For Lues
oder Alkoholismus liegt keinerlei Anhaltspunkt vor. Der Vater ist gesund
und zurzeit im Felde. Die Schwangerschaft verlief ohne Stoning, die
Geburt war schwer, doch ohne Kunsthilfe. Der Neugeborene wog 3250 g.
Die Mutter merkte, dass Patient beim Anlegen nicht saugen konnte, doch
schluckte er eingespritzte Milch ohne Schwierigkeiten. Bei ktlnstlicher
Eru&brung gedieb Patient nicht und wurde in sehr herabgesetztem Kr&fte-
zustand auf die Kinderabteilung gebracbt
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
204
Gutermaxn
Bei seiner Aufnahme wog er 2850 g. Durch sachgemasse Ernahrung
besserte sich langsam sein Befinden. Aus einem weichen, gut durchbohr-
ten Sauger kann Patient ohne Schwierigkeiten trinken, wenn ihm die Milcb-
flasche tief genug in den Mund gesteckt wird. Er nimmt seine Mahlzeiten
regelmassig und vollstandig zu sich. Allerdings ist seine Entwicklung sehr
langsam. Am 4. I. 1917 erjeichte er sein Hdchstgewicht von 4020 g,
dann stOrte ein Abszess sein Betinden und am 8. II. (Tag der Unter-
sucbung) wiegt Patient 3920 g. Er ist schwachlich und macht noch kei-
nerlei geordnete Bewegungsversuche, doch reagiert er auf Schall- und
Fig. 1.
Gesichtseindrttcke, folgt bier und da mit dem Blick und schreit mit krfif-
tiger Stimme und reichlichem Tranenerguss. Seine Lange betragt 58 cm.
Das Gesicht ist glatt und starr. Die normalen Muskelfalten fehlen
vdllig. Die Ffille ist nicbt wesentlich beeintrfichtigt, doch besteht wohl eine
kleine Differenz zu ungunsten der recbten Seitc. Wangen und Kinn sind
wohl ausgebildet. Die Haut des Gesicbtes ist dQnn, straff gespannt und
scbeint besonders fiber der Stirn atrophisch; hier lfisst sich kaum eine Falte
aufheben. Der Mund ist meist leicht geOfifnet, wobei der rechte Mundwinkel
herunterhangt und Speichel abfliesst (Abbildung 3). Stirn, Wangen, Nasen-
flfigel und Oberlippe sind bei dem Kind ganz unbeweglich; dagegen kann
der linke Mundwinkel verzogen und die Unterlippe bewegt werden. Die
Bewegungen der Muskeln dieser Gegend sind links augenscheinlich nicht
eingeschrankt, doch wird auch die rechte Hfilfte der Unterlippe etwas mit-
L
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw.
205
bewegt, so dass in bestimmter Stellung der Mund fast vdllig geschlossen
werden kann, wie aus der Abbildung 2 ersichtlich ist. Beim Scbliessen der
Angen wandern die Bulbi nach oben und die Oberlider senken sich, bis
der Lidspalt etwa auf 4 mm eingeengt ist. Die unteren Lider bleiben
unbewegt.
Die Caruncula lacrymalis fehlt auf der linken Seite und ist rechts bis auf
einen kleinen Rest verkftmmert. Auf beiden Seiten sind die inneren Lidwinkel
von einem stark entwickelten Epicantbus Oberlagert. Die Augen sind in der
Rube nach innen gerichtet (Abbildung 2). GewOhnlich ist eines in extremer
Adduktion, das andere weiter nach aussen gewendet (Abbildung 3). Mitunter
erreich?n sie gleicbzeitig die Mittelstellung, so dass die Augenachsen parallel
steben, doch kommen Bewegungen seitlicb darQber binaus nie vor. Hebung und
Senkung des Bulbus verlaufen ohne Besonderheiten. Die Lider werden in
normaler Weise gehoben. Wenn es gelegentlich gelang, die Aufmerksam-
keit des Kindes fOr einige Augenblicke an eine passend eingericbtete Ge-
Fig. 2. Fig. 3.
sichtswabrnehmung zu fesseln, so liess sich feststellen, dass die Konvergenz
normal funktionierte und zum Blick nach der Seite der Kopf vbllig ge¬
wendet werden mQsste. Wenn Adduktion beobacbtet wurde, trat
stets auch Vercngerung der Pupillen auf. Dieselben reagieren
prompt auf Lichteinfall direkt, konsensuell und bei Konvergenz. Der
Augenhintergrund ist von normaler Beschaffenheit.
Bsi offenem Mund liegt die Zunge in leichter Krttmmung auf dem
Mundboden, mit der Spitze nach rechts. Beim Vorstreckcn weicbt die
Zungenspitze nach dieser Seite ab. Sie ist in ihrer rechten Halfte etwas
atrophisch. Wenn das Kind schreit, so wird durch das Herabzieben des
linken Mundwinkels das Gesicht der Symmetrie angenftbert. Es gelang
mir nicht, Gaumen, Zapfchen und Rachen zu inspizieren. Der Wttrgreflex
ist prompt auslOsbar.
Ausser den Labmungen im Gebiete der Nn. VI, VII und XII ist das
Nervensystem intakt, inbesoudere die Sensibilitat nicht gestOrt. Die Unter-
sucbung mit dem elektrischen Strom ergibt normale Verhftltnisse ira Ge¬
biete der Muskeln um Mund und Unterkiefer links. Die tibrige Gesichts-
muskulatur ist wcder direkt noch vom Nerven aus reizbar. Es besteht
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
206 Gctebmann
keine Entartungsreaktion. tjber die Verhftltnisse am Platysma konnte ich
mir wegen der Zartheit der Verk<nisse and der angezeigten Vorsicht
gegenfiber dem kleinen Patienten keinen sicheren Aufschluss verschaffen.
Bei Betrachtnng des Thorax fallt die Abflachung der recbten oberen
Brustseite aaf. Hier liegen Rippen and Zwischenrippenraume fast bis zam
Schlfisselbein unmittelbar unter der Haat. Von den Brastmaskeln ist aaf
dieser Seite nar die Portio clavicalaris M. pect. maj. vorhanden. Die rechte
Achselhoble ist nach vorn offen. Keinerlei Flughautbildang ist angedeatet.
Die Haat fiber der rechten Brastseite ist dfinn and straff. Mamma and
Mammilla fehlen vollstfindig. Bei der Betrachtnng von rfickwfirts siebt
man,dass das rechte Schnlterblatt hOher steht als das linke,so dass die Schulter-
linie verkfirzt and das Gelenk nach oben und innen verschoben erscheint
(Abbildung 1). Das Schnlterblatt scheint im ganzen um den Angalus inferior
nach innen rotiert. Der untere Rand des M. trapezius ist als feine Kontur
beiderseits an symmetrischer Stelle sichtbar. Bei der Zartheit dieses Reliefs
und dem Fehlen einer Beobachtung bei willkttrlicher, ausgiebiger Bewegung
ist jedoch die Bearteilang schwierig and wir wissen aas Operationsbefun-
den bei Schulterblatthochstand, welchen Irrtfimern auch die Untersuchungs-
ergebnisse sehr erfabrener Beobachter an Erwachsenen aaf diesem Gebiet
nusgesetzt waren.
Die rechte obere Extremit&t erscheint schon dem freien Auge schwa-
cher entwickelt als die linke. Die Messang zeigt jedoch, dass die Ver-
kfirzung nur eine scheinbare ist. Sie erklfirt sich aus dem Hochstand des
Schaltergelenkes. Bis za der Basis der Grandphalangen bestehen keine
Langenuntersckiede, doch ist die Schwfiche der Weichteile deutlich. Der
Umfang der oberen Extremitfiten betrSgt fiber der
r. 1.
Oberarmmitte 6,8 cm, 7,3 cm;
Unter dem Ellenbogen 7,1 „ , 7,5 „ ;
fiber dem Handgelenk 6,2 „ , 6,5 „ .
Die FingerlSngen zeigen folgende Wachstumsdifferenzen:
r.
1.
Daamen
1,8 cm,
2,0 cm;
2. Finger
2,4 „ ,
2,8 „ ;
3. Finger
2,5 „ ,
3,1 „ ;
4. Finger
2,3 n ,
2,8 „ ;
5. Finger
„ y
2,2 „ ;
gemessen auf der Streckseite vom Capitulum des Mittelhandknochens bis
zur Fingerspitze. Zwischen den Grundphalangen des rechten 2. bis 5.
Fingers spannen sich Schwimmhfiute, die knapp bis za den ersten Inter-
phalangealgelenken reichen. Im Obrigen sind die Glieder wohlgebildet and
von normaler Beweglichkeit. Bewegungsanomalien, fibrillflre Zackungen
oder Krftmpfe fehlen vOllig in alien Gebieten.
Der Leib des Patienten ist — abgesehen von einer kleinen Paraam-
bilicalhernie — ohne Besonderheiten. Die inneren Organe sind gesnnd,
die Geschlecktsorganc normal gebildet. Auch an den unteren Extremitfiten
besteht keinerlei krankhafter Befund. Der Urin ist hellgelb, klar und
schwach sauer. Das spezifische Gewicht betrfigt 1021. Eiweiss und Zucker
fehlen. Im Sediment linden sich spfirlichc Harnsfturekristalle und harn-
saures Natron.
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fail von moitipler Hirnnervenlahmung usw.
207
Zusammenfassend lasst sich also sagen:
Es handelt sich bei einem sieben Monate alten Knaben
am eine Unwirksamkeit der Abduktion der Augen, um eine
Lahmung beider Nn. faciales mit Ausnahme der fiir die
Maskelii um Unterlippe und Kinn bestimmten Zweige, welche
links intakt and rechts paretisch sind and um eine Parese
des rechten N. hypoglossus zum wenigsten in seinem Zungen-
anteile. Die Carancula lacrymalis ist auf beiden Seiten
missbildet und von einem Epicantbus iiberlagert. Rechts
fehlt die Portio sternocostalis M. peek maj. und der gesamte
M. pect. min. Vollig ist auf dieser Seite der Mangel von
Brnstwarze und Warzenhof. Die rechte Schulter steht hoch
und der Arm ist in seinem distalen Teil in der Entwicklung
zuriickgeblieben. Die Finger sind rechts durch Flughaute
verbunden.
Ein annahernd gleicher Befund ist nur einmal in der Literatur
beschrieben worden:
A. Schmidt 1 ) berichtet von einem sechsjfthrigen Enaben mit vOlliger,
doppelseitiger Abducens- und Facialisl&hmung und Stdrungen im Gebiete
des Hypoglossus, die linkerseits starker waren als rechts. Es fehlte ferner
liuks der grosse und kleine Brustmuskel in der typiseben Weise; Mamma
und Mammilla waren durch einen punktfdrmigen Fleck angedeutet. Eine
Hautfalte spannte sich vom Knorpel der linken dritten Rippe zur Innen-
seite der Oberarmmitte. Bewegungshinderung bestand aber nicht, wie
ttberhaupt der Funktionsausfall durch die Defekte sehr gering war. Der
Patient stammte aus einer vflllig gesunden Familie. Seine kdrperliche und
geistige Entwicklung war im (tbrigen vOllig normal.
Aus diesen in ihrer Kompliziertheit uberraschend gleichartigen
Befunden seien einige Punkte besonders hervorgehoben und in der
Beurteilung, die sie bisher erfahren haben, besprochen.
Der angeborene Brustmuskeldefekt ist als einseitige, fast nie
hereditare Entwicklungsstorung schon iiber 200 mal beschrieben
worden. Von anatomischer Seite ist zuerst auf die seltene Raritat
hingewiesen worden (Froriep, Hyrtl, Henle). Die erste klinische
Beobachtung wurde bekanntlich von v. Ziemssen zum Studium der
Funktion der Mm. intercostales bei der Atmung herangezogen. Die
folgenden Arbeiten von Baumler, A. Eulenburg u. a. bewegten
sich in derselben Richtung. Die Frage nach der Atiologie wurde zum
erstenmal von Stintzing 2 ) beurteilt, nachdem er 15 hierher gehorige
1) A. Schmidt, Angeborene multiple Hirnnervenlahmung mit BruBtmnskel-
defekt. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk., Bd. 10, 1897.
2) R. Stintzing, Der angeborene und erworbene Defekt der Brust-
muskeln usw. Deutsches Arch. f. klin. Mcdizin, Bd. 45, 1889.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
208
Gutermann
Falle zusammenstellen konnte. Stintzing unterschied als erster
zwischen angeborenem und erworbenem Defekt, indem er jenem fol-
gende Merkmale zuerkannte: Vorwiegend ist nur eine Seite durch
den Mangel der Portio sternocostalis M. pect. maj. und des gesamten
M. pect. min. betroffen. Gleichzeitig bestehen trophische Storungen
des Integumentes und Abnormitaten an der benachbarten Extremitat.
Sehr auffallend ist das Ausbleiben emer wesentlichen Funktionsstorung.
Der Defekt ist nicht erblich noch familiar. Stintzing dachte an die
Moglichkeit eines Zusammenhanges mit Erbs juveniler Form der
progressiven Muskelatropbie. Erb 1 ) selber verkniipfte den angeboreneu
mit dem erworbenen Defekt durch die Erwagung, ob ein Zusammen-
bang nicbt insofern bestehen konne, als die kongenitalen Muskel-
defekte das Eesultat einer fruhzeitig stationar gewordenen, rudimen-
taren Form der Dystrophia musculorum progressiva sein konnten.
Erb verlangte zur Entscheidung erstens, den Nachweis iiberein-
stimmender histologischer Befunde in iibrig gebliebenen Teilen der
defekten Muskeln und zweitens, die Beobachtupg von Fallen, in denen
die sogenaunte kongenitale Defektbildung eine grossere Anzahl solcher
Muskeln betrafe, die erfahrungsgemass von der Dystrophie mit Vor-
liebe befallen werden.
Seine eigene pathologisch-anatomische Untersuchung eines Falles
von doppelseitigem Fehlen des M. eucullaris ermoglichte ihm keine
Entscheidung dariiber, ob kongenitaler Mangel oder das Resultat eines
spateren Prozesses vorliege. Er fand in dem iibrig gebliebenen
oberen Biindel des linken M. cucull. eine starke, gleichmassige Faser-
hypertrophie; die Querschnitte lagen dicht beisammen, polygonal mit
abgerundeten Ecken. Die Querstreifung der Fasern war sehr fein und
gut erbalten; viele Fasern zeigten feine Langsstreifung. Es bestand
betrachtliche Kernvermehrung. Weniger vermehrt war das inter-
stitielle Bindegewebe, dessen Kernreichtum etwas gesteigert war.
Erb konnte diesen Befund vor allem mit dem bei Thomsenscher
Krankheit und nur entfernter mit dem bei Dystrophie vergleichen.
Die Hypertrophie lediglich auf die starke Beanspruchung der restie-
renden Muskelportionen zuriickzufiihren, glaubt er ablehnen zu diirfen.
Der von Erb angedeuteten Auffassung schloss sich Damsch 2 ) an,
als er einen Fall von Brustmuskeldefekt und teilweisem Fehlen des
gleichseitigen M. cucull. untersuchte. Die Veranderungen, die er
lj Erb, Em Fall von doppelseitigem, fast vollstiindigem Fehlen des Muse,
cucull. Neurolog. Zentralbl., Bd. 8, 1889.
2) Damsch, Anatomische Befunde bei sogenannten kongenitalen Muskel-
defekten. Verhandlungen des 10. Kongresses f. innere Med., 1891.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung usw. 209
feststellte, liessen sich mit einera etwas vorgeschrittenen Fall einer
rudimentaren Dystrophie gut in Einklang bringen. Neben erheblicheu
Hypertrophien fand er auch Verlust der Querstreifung und Vakuolen-
bildung. An den atropbischen Partien bestand Faserzerfall in Langs-
streifen. Die noch vorhandenen Fasern waren in fettfiihrendes Binde-
gewebe eingebettet, Die Gefasse waren zum Teil obliteriert. An den
meist betroffenen Stellen waren die Muskelfasern von Fettzellen ersetzt,
das Bindegewebe kemreich nnd vermehrt. Nach Dams oh bat
Schlesinger 1 ) einen Fall von angeborenem Brustmuskeldefekt unter-
sucbt und im iibriggebliebenen Gewebe vollig norm ale Verbaltnisse
festgestellt. Er weist desbalb einen Zusammenhang mit Dystrophie
von der Hand. Zu einem weiteren, andersartigen Resultat kommt
Bing (5). In seinem Falle bestand in der Portio clavicularis gleich-
massige Diinnheit der Muskelfasern und ein etwas iibernormaler
Kernreichtum. Die feblenden Muskelpartien waren von fettigem Ge¬
webe ersetzt, das keine Spur von Faserresten enthielt. Der Brust-
muskel der anderen Seite zeigte geringe Kernvermebrung und im
iibrigen ein normales Verhalten. Dagegen waren die benachbarten
Scbulter- und Armmuskeln hochgradig pathologisch verandert. lhre
Fasern waren durch Diinnheit und Einlagerung von Fettgewebe aus-
gezeichnet und zeigten ungleicbes, vorwiegend geringes Kabber. Das
Bindegewebe war gewuchert und fettreich, die Kerne vermehrt. Die
Querschnitte waren zum Teil scharf eckig, daneben aber fanden sich
auch kreisrunde. Die Konturen waren unregelmassig. Moglicherweise
handelte es sich bier um die Resultate einer interkurrierenden Nerven-
krankbeit, die Patient durcbgemacbt batte. Nach Bing bericbtet
H. Lorenz (6) iiber einen Fall von Brustmuskeldefekt kombiniert
mit teilweisem Fehlen des M. cucull. mit Sektionsbefiind. Es fanden
sich ausser der Hypertrophie einzelner Muskelfasern keinerlei weitere
krankhafte Veranderungen.
Noch weniger ergebnisreicb als die Untersuchung der Muskulatur
waren die Erbebungen in den zugehorigen Riickenmarksabschnitten.
Damsch fand degenerative Prozesse im zentralen Teil der Burdach-
schen Strange der entgegengesetzten Seite, bei Schlesinger war auf
der Seite des Defektes im 5., 6. und 7. Zervikalsegment die medial
gelegene Gangliengruppe, die normalerweise sebr schwach entwickelt
ist, fehlend. Auch auf der anderen Seite war sie sehr durftig ver-
treten. Obersteiner 2 ) und Lorenz fanden in ihren Fallen aus-
1) Schlesinger, Zur Lehre von angeborenem Pectoralis-Rippcndetekt.
und dem Hochstand der Scapula. Wiener kiin. Wochenschr. 1900.
2) H. Obersteiner, Ruckenmarksbefund bei Muskeldefekten. Wiener
klin. Rundschau 1902, Xr. 10.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
210
Gutermaxn
gedebnter, angeborener Muskeldefekte im Bereiche des Schultergiirtels
gar koine Veranderungen im Mark und Bing erging es ebenso. An
einem Neugeborenen konnte Riickert 1 ) feststellen, dass jedenfalls
mangelhafte Gefassversorgung odor fbtalentziindliche Prozesse als
Ursacbe nioht in Frage kamen. Die gennge Zabl dor pathologisch-
anatomischen Untersuchungen bringt so widersprechende Bofunde,
dass es nicbt sebr aussichtsyoll erscbeint, auf ihrer Basis anf die
Atiologie der Muskeldefekte einen Schluss zu griinden. Vielleiobt
rtihrt der Mangel an Ubereinstimmung daher, dass unsere kliniscbe
Unterscheidung nocb nicbt verfeinert genug ist, um dem Anatomen
Ahnliches von Ahnlichem getrennt zu liefern.
In einer grosseren Arbeit wurde zuerst yon Bing die gesamte
damalige Literatur von Skelettmuskeldefekten bearbeitet. Er fand in
214 Fallen 102 mal die Brustmuskeln betroffen; an zweiter und dritter
Stelle standen M. cuculL, der 18 mal, und M. serrat. antic, maj., der
14 mal betroffen war. In 20 Fallen waren yerscbiedene Defekte der
Scbultergiirtelmusknlatur kombiniert. Der Autor glaubt damit nacb-
gewiesen zu baben, dass „kongenitale Muskeldefekte am haufigsten
einige derjenigen Muskeln betreffen, die haufig und friilizeitig bei
Dystrophie zugrunde zu geben pflegen". Er lasst — wie Bittorf
(,25) herrorhebt — dabei zwei Eigenschaften der Dystrophie ganz
unbeachtet, namlich Symmetric und Progression, obwobl ihm die
Seltenbeit doppelseitiger Befunde bei angeborenen Defekten koines-
wegs entgangen war.
Neben seinen Feststellungen im Rahmen der Erbschen Frage-
stellung (1. c.) fand Bing eine Reibe yon Koinzidenz^n des Brust-
muskeldefektes mit anderen Missbildungen ofters beschrieben. Gerade
diese Komplexe miissen aber wohl auf einer Grundlage entstanden
sein, die nicht mit Dystrophie zusammenhaugt, denn man findet bier
die Abkommlinge ganz anderer Anlagen mitbetroffen, deren Miss-
bildung ihrerseits eigenartige atiologische Vorstellungen erweckt hat.
Es fand sicb haufig die Mitbeteiligung der oberen Extremitat (Atrophie
und Verkiirzung des Armes, Syndaktylie und Verkummerung der
Phalangen, Anomalien der Scapula, Flughautbildung), ferner Knochen-
defekte am Thorax. Regelmassig waren trophische Storungen des
lntegumentes. In seltenen Fallen fand sicb das Herz medianwarts
verlagert, Hemiatrophie des Gesichtes, iiberzahlige Muskeln, Storungen
der Entwicklung des Gebirns und schwere Missbildungen des ganzen
Korpers. Auch die anderen Skelettmuskeldefekte traten haufig in
1) Ruckert, Uber angeborenen Defekt der Brustmuskeln. Miinch. med.
Woehenschr. 1890.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 211
Kombination mit den genannten Entwicklungsstorungen. Das Zu-
sammentreffen mit Lasionen im Gebiet der Himnerven ist nur in
wenigen Fallen angedeutet und ganz selten ausfiihrlicher bescbrieben
[A. Schmidt, W. Kausch (Fall 2), 0. Berger (Fall 3) 1 )].
Im allgemeinen ist der Brustmuskeldefekt strong einseitig und
nicht erblich. Nur Fiirstner 2 ) und Greif 3 ) berichten fiber Hereditat,
ersterer bei zwei Briidern, dieser bei einem Vater und seinen beiden
Sohnen. V. Noorden 4 ) und Wendel (8) beschreiben doppelseitige
Defekte. Wendel erinnert, dass dieselben vielleicht als atavistische
Bildungen angesehen werden konnen, wenn man bedenkt, dass bei
anencephalen Foten die Beobachtung hanfiger ist (Shepherd 5 ),
Le Double 6 ). Bei mancben Affen fehlt der grosse Brustmuskel
regelmassig. Bei anderen treten die beiden Portionen als getrennte
Muskelindividuen auf, oder es fehlt nur die eine von beiden
'(Meckel 7 ), Broca 8 9 ), Hartmann"). Bei den moisten Raubtieren
fehlt der M. pect. min. (Cuvier).
Fiir die Dystrophic nimmt Bing (1. c.) nach Gowers Vorgang,
an, dass sie eine angeborene Erkrankung sei, die dem Begriff der
fehlerhaften Keimanlage nicht fern stehe. Angeborene Muskeldefekte
und Dystrophie entstehen nach seiner Anschauung ohne miteinander
durch irgendein Kausalitatsverhaltnis verkniipft zu sein auf der
gleichartigen Basis endogener Keimschadigung und sind in diesem
Sinne miteinander verwandt. Nur weitere anatomische Mitteilungen
halt er noch fiir erwiinscht, um diese Auffassung zu bestatigen.
Lorenz (6) hat in Nothnagels Handbucb eine Gruppierung der
Muskeldefekte nach klinischen Gesichtspnnkten eingeleitet, in dem er
jene Falle zusammenfasst, bei denen an charakteristischer Stelle
mebrere Defekte zusammentreffen oder eine unmittelbare Kombination
mit Dystrophie vorliegt. Auf diese Gruppe schrankt er die Giiltigkeit
von Bings Theorie ein und neigt fiir die anderen Falle zu einer
1) O. Berger, Virchows Arch., Bd. 72, 1878.
2) Fiirstner, Kongenitale Muskeldefekte bei Geschwistem. Arch. f.
Psych., Bd. 27, 1895.
3) Greif, Drei Falle von kongenitalem Muskeldefekt. Inaug.-Diss., Greifs-
wald 1890.
4) v. Noorden, Zwei Falle von angeborenem Mangel der Pectoral-
muskeln usw. Deutsche med. Wochenschr. 1885, Nr. 35.
5) Shepherd, Joum. of anat. and physiol. 1889.
6) Le Double, Variations du systhme musculaire del’homme. Paris 1897.
7) Meckel, Anatomie compare. Paris 1838.
8) Broca, L’ordre des primates p. 316.
9) Hartmann, Les singes anthropoldes et l’homme p. 124.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
212
G&tbbkasn
• Beurteilung, die wesentlieh naher liegt, wenn man den gesamten
Symptomenkomplex, der hier in Betracht gezogen werden muss, be-
riicksichtigt. Es ist dies die Annahme einer intrauterinen Defor-
mierung durch Belastung, die mit Vorliebe in den V eroffentlichungen
von Brustmuskeldefekten beriicksichtigt worden ist, die durch Extremi-
tatenmissbildungen kompliziert waren.
In einer Arbeit, die Schoedel 1 ) fast gleichzeitig mit Bings
Monographic mitteilte, wird diese Theorie ausfuhrlich abgehandelt,
Um in anamnestischer Hinsicht vollig sicher zu gehen, hebt Schoedel
besondera die Falle mit auffallender Beteiligung der Extremitat in
den Rahmen seiner Betrachtung. Hierbei steht er auf dem Standpunkt,
dass eine mechanische Druckwirkung yon langerer Dauer als zu-
reichende Erklarung fur die Entstehung der Missbildung beranzuziehen
sei. Wenn sich das Amnion wegen epithelialer Verklebungen, Frucht-
wassermangel oder entziindlicher Vorgange nicht rechtzeitig und aus-
reichend abhebt, so wird der kindliche Kopf gegen die Brust gedruckt
und hierbei auch die Extremitatenanlage gepresst und verandert.
Diese Erklarung gilt nach Schoedel fur alle Verbildungen der Brust-
wandung ausser den hereditaren. Seine Theorie ist schon yon Fro-
riep 2 ), 1839, zum erstenmal angedeutet und yon Seitz 3 ) ausgebaut
worden. Spater hat sich insbesondere Loening (28) mit ihr be-
schaftigt. Loening erklart das Vorwiegen der Schadigung am
distalen Teile der Extremitat durch den Emstand, dass der Druck
insbesondere auf den Nerren- und Gefassapparat des Armes wirke, -
wahrend die an der Streck- und Beugeseite angeordneten Muskeln
sich in geschiitzterer Lage befinden. Falle, wie der yon Ritter und
Eppinger 4 ), in welchen der in einen Finger auslaufende Arm un-
mittelbar in den Brustwandungsdefekt des zehn Tage alten Sauglings
hineinpasste, kennzeichnen die Berechtigung der Schoedelschen
Auffassung fiir einzelne Falle. Wendel (1. c.) hat den yon Schoedel
stammenden Erklarungsversuch einer Kritik unterzogen. Er meint,
dass sich durch eine Druckschadigung wegen Ausbleiben der Ab-
hebung des Amnions eine mediane Entwicklungsstorung durch den
an den Thorax fixierten Eopf besser verstehen liesse, als eine seitliche.
Er fragt ferner, warum an Kinn und Unterkiefer keine Deformitaten
gefunden werden. Mag Schoedels Annahme in weitem Umfange
1) J. Schoedel, Einseitige Bildungsfehler der Brustwandung und der
entsprechendeu oberen GliedmaBen. Jahrbuch f. Kinderheilkde., Bd. 56, 1902.
2) Froriep, Neuere Notizen Bd. 10, 1839.
3 ) Seitz, Seltene Missbildung des Thorax. Virchows Arch., Bd. 98, 1884.
4) Ritter und Eppinger, Osterr. Jahrbuch f. Padiatrik Bd. 7, 1876.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Em Fail von maltipler Himnervenlahmung usw. 213
zotreffend sein oder nicht, jedenfalls miissen wir heute den Pectoralis-
defekt mit Komplikationen von seiten dej Brnstwandang und Extre¬
mist klinisch abgrenzen gegentiber dem rein muskularen Defekt mit
Veranderongen im motorischen Nerv-Muskelsystem. Bis in die neneste
Zeit haben sich die meisten Autoren, die liber Brostwandungsdefekte
berichten, Schoedels Ausfiihrungen angeschlossen. Durch die
scbweren Storungen, die dnrcb Spaltbildungen am knocbernen Thorax
hervorgerufen werden, kommen besonders die Chirargen mit diesen
Missbildungen in Beriihrung. In diesem Zusammenbang verdient
erwahnt zu werden, dass von Kiimmel 1 ) and Klaussner 2 ) anf die
* Druckwirkong anch zur Erklarung von Strahl- und Spaltdefekten der
Extremitat nacbdriicklich hingewiesen worden ist.
Einen weiteren Beitrag zur Annahme dieaer Atiologie findet sich
im Zusammentreffen mit dem Schulterblatthochstand. Diese im Jahre
1881 zuerst von Sprengel 3 ) genauer beschriebene Lageanomalie des
Schulterblattes ist sicher — um sich des von Moebius in anderem
Zusammenhang verwendeten Ausdrucks zu bedienen — ein weniger
„gereinigtes JPraparat“ klinischer Beobachtung. Recht verschieden
lesen sich die Beschreibungen des Hochstandes, der bald durch ein-
fache proximale Verschiebung zustande kommt, bald durch Hebung
des Angulus superior, dann wieder durch Vorwiegen der Rotation
um den Gelenkteil, so dass der innere Rand des Schulterblattes mit
der Wirbelsaule einen nach unten offenen Winkel einschliesst. Ferner
bezeichnen manche Autoren den Hochstand nur dann als wohl
charakterisiert, wenn er isoliert vorkommt. Andere vergesellschaften
ibn insbesondere mit Muskeldefekten — oder dieselben werden als
der Beobachtung altererUntersucher entgangen angenommen. K au s ch 4 )
griindet auf diese Hypothese seine Theorie, den Hochstand als Folge
eines partiellen Cucullarisdefektes zu erklaren. Ihre Einseitigkeit ist
schon wiederholt gekennzeichnet worden, doch hat Kausch mit der
Feststellung eines gleichzeitigen Muskeldefektes jedenfalls einen wich-
tigen Schritt zur Erkenntnis vieler hierher gehoriger Falle getan.
Den verschiedenen Erscheinungsformen der Missbildung entsprecben
1) W. Kiimmel, Die Missbildungen der Extremitaten durch Defekt, Ver-
wachsung und Bberzabl. Bibliotheca medica, Kassel 1895.
2) Klaussner, Cber Missbildungen der menschlichen GliedmaBen. Wies¬
baden 1900. "*
3) Sprengel, Die angeborene Verschiebung des Schulterblattes nach
oben. Arch. f. klin. Chir., Bd. 42, 1891.
4) W. Kausch, Cucullarisdefekt als Ursache des kongenitalen Hoch¬
standes der Scapula. Mitteilungep a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 11,1902.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
214
Gutekmann
jedenfalls verschiedene Grundlagen. Ehrhardt (7) legte aus der
Zusammenstellung von 85 fallen angeborenen Hocbstandes fiir sein
Zustandekommen folgende Grundlagen fest:
1. Deformitat der Scapula durch intrauterine Belastung.
2. Muskeldefekt.
3. Knocherne oder bandartige Verbindungen der Scapula mit
der Wirbelsaule.
Wenn man sicb vor Augen bait, dass die Grenzen zwischen diesen
Gruppen fliessend sein mttssen und zum Beispiel aucb der Muskel¬
defekt die Folge einer intrauterinen Belastung und eine Knochenspange
zwischen Scapula und Wirbelsaule durch Keimverschiebung im Zu-
sammenhang mit einem deformierten Schulterblatt entstanden sein
kann, so ist die Ehrhardtsche Einteilung auf die meisten Falle
anwendbar. Doch wurden auch vereinzelt andere Anomalien am Skelett
des Thorax und seiner Muskulatur gefunden und ihrem Einfluss der
Schulterblatthochstand als Folge der auf ihn wirkenden Zug- und
Druckkrafte zugeschrieben [Cohn (26) u. a.]. In Fallen, die wie der
unsere am Schulterblatt selber keine pathologischen Veranderungen
zeigen und in welchen auch der knocherne Thorax normal gebildet
ist, muss nach einer pathologischen Muskelwirkung gesucht werden.
Einen derartigen Fall operierte Lameris (14) und fand einen harten
Strang zwischen den Proc. spin, vertebr. dors, und der medialen Seite
der Scapula ausgespannt, den er als veranderte und geschrumpfte
untere Portion des M. rhomboides auffasste. Er findet in den
Duchenneschen Experimenten iiber die Anderungen der Schulterblatt-
stellung je nach dem Oberwiegen der einzelnen Partien dieses
Muskels eine Erklarung fiir die Verschiedenartigkeit der Schulterblatt-
stellung beim Hochstand. Nach seinen Voraussetzungen miissen wir
die Unwirksamkeit der unteren Teile des M. rhomboides in unserem
Falle erwarten, in welchem die Verschiebung des Schulterblattes nach
oben und innen, dann durch die iiberwiegende Einwirkung der oberen
Portionen erklart ware.
In neuerer Zeit hat Reich (40) angenommen, gerade in der Zu-
sammenhanglosigkeit, welche die Verteilung der begleitenden Defekte
innerhalb der Muskelindividuen beherrscht, sei ein Merkmal zu er-
kennen, das gegen die Annahme einer einfachen Hemmungsmissbildung
beim Hochstand spricht. Er beruft sich auch auf Degenerations-
erscheinungen im Muskel und nimmt Storungen in den trophischen
Zentren des Zentralnervensystens im Sinne der krankhafben Anlage
an, die auch zu Syringomyelie fiihren kann [Schlesinger*). Die
1) Schlesinger, Die Syringomylie. 2. Aufl. 1902.
Digitized by
Gck >gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipler Hirnnervenliihmung usw.
215
Analogie dieses Gedankenganges mit den viel friiher bei der Beur-
teilung der Brustmnskeldefekte angestellten Erklarungsversuchen im
Zusammenhang mit der Dystrophie ist offenkundig and ich brauche
nur Steches Ein wand (21) zu yariieren, wenn ich erinnere, dass
unter Voraussetzung* der Annahme, dass Moskeldefekte und Schulter-
blatthochstand desselben Ursprungs sind, Storungen in motorischen
Zentren, jedenfalls nicht genugen, um die Falle, die mit einer Skelett-
missbildung einhergehen, zu erklaren. *
Ziemlich haufig ist zusammen mit dem Scbulterblatthochstand
Hemiatropbie oder Asymmetrie des Gesichtes zuungunsten der Seite,
die auch durch den Hochstand betroffen ist, beobachtet worden.
Serafini (29) entwickelte in diesem Zusammenhang den Gedanken,
dass wahrend des intrauterinen Lebens die geschadigten Teile (in
seinem Fall auch die gesamte atrophische Thoraxhalfte) durch die
infolge Sparlichkeit des Fruchtwassers nicht hinreichend ausgedehnten
Uteruswande komprimiert wordeD seien. Wir kommen damit wieder
zu der Annahme der Hemmungsmissbildung durch pathologische Be-
lastung, die so komplizierte Falle wie den uns vorliegenden unserem
Verstandnis am nachsten bringen.
Bei Betrachtung der Flughautbildung fiuden wir uns wohl etwas
geordneteren Kenntnissen gegeniiber, als liber viele andere hier zu
behandelnde Missgestaltungen bestehen. Die Annahme yon Basch 1 ),
dass Flughautbildung der Ausdruck einer r unvollkommenen Gliederung
ist, der sich von seiten der Nerven, Muskeln, Knochen eine Wachs-
tumshemmung zugesellt, alles infolge ausseren Widerstandes", hat
Tiir viele Falle eine grosse Wahrscheinlichkeit und wird fast regel-
massig zur Erklaruug herangezogen. Stets ist die Bildung mit
Muskeldefekten vergesellschattet, die nach Wilms’ Angabe 2 ) immer
zentral von der Flughaut gelegene Muskeln betreffen. Nach Bruns
und Kredel 3 ) wird durch versprengte Muskelteile intakte Haut zur
Flughaut vorgestiilpt. Fiir die ungemein seltenen hereditaren Falle
muss nach Ktimmel (1. c.) wohl endogene Entstehung in Anspruch
genommen werden, wobei der wichtigen Erinnerung Klaussners (19)
gedacht sei, dass die Mitteilungen liber Falle sich mehren, in denen
mechanisch erworbene Missbildungen vererbt werden. Stets muss
1) K. Basch,fibersogenannte Flughautbildungbeiin Menschen. Zeitschr.
f. Heilkde., Bd. 12, 1891.
2) Wilms, Flughautbildung in beiden Ellenbogcn bei Vater und Sohn.
Verhandl. d. med. Gesellsch. zu Leipzig 1902. Munehen 1903.
3) Bruns u. Kredel, Uber eiuen Fall von angeborenem Defekt mehrerer
Brustmuskeln mit Flughautbildung. Fortschr. d. Med., Bd. 8, Nr. 1.
Deutsche Zcitschrift f. Norvenheilkundc. Bd. 57 . 15
Digitized! by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
216
Guti'rmaxn
hier in Frage gestellt werden, was vererbt wird, die Entwicklungs-
stbrung oder Missverbaltnisse in der Gestaltung des Amnions.
Es drangt sich nun die Frage auf, ob der Epicanthus als Flug-
hautbildung gedeutet werden darf. Leider wissen wir iiber den
gleichzeitigen Zustand der Muskeln der Augen, wegen deren verdeckter
Lage, gewohnlich nicht viel. Das oft beobachtete Verschwinden des
Epicanthus beim Heranwachsen durch Entwicklung des Nasen- und
Orbitalskelettes* entspricht den Vorstellungen allgemeiner Art liber den
Zusammenhang zwischen Flughautbildung und Wacbstum jedenfalls
recht gut.
Ein besonders auffallendes Merkmal unseres Falles ist der vollige
Mangel von Brustwarze und Warzenhof. Storungen in der Entwick¬
lung dieser Gebilde sind ganz typisch mit dem Brustmuskeldefekt
kombiniert, doch ist das spurlose, einseitige Fehlen sehr selten und
bisher erst dreimal von Seitz 1 ), Loening (28) und Bittorf (30)
beschrieben worden. Im Fall von Schmidt ist mit der Andeutung
von Mamma und Mammilla durch einen punktformigen Fleck schon
eine sehr hochgradige Verbildung festgestellt. Gewohnlich best man,
Mamma und Mammilla seien auf der betroffenen Seite kleiner, hoher
gestellt und weiter nach innen verschoben als auf der gesunden, und
die Warze sei griibchenformig eingezogen. Damit ist ein Befund
beschrieben, der den normalen Verhaltnissen kurz vor der Geburt
entspricht. Mitunter ist auch der Unterschied zwischen den beideu
Seiten lediglich ein quantitativer und nur das Ausbleiben der Bildung
eines Driisenparenchyms weist darauf hin, dass die Anlage des Epithels
im Bereich des Drusenfeldes, des Mutterbodens der Milehdriise, ge-
stort ist. Das Fehlen lediglich der Brustdriise ist etwa 15mal be¬
schrieben worden.
Der Beurteilung dieser Missbildung ist von den Autoren bisher
weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden, vielleicht wegen der
geringeren klinischen Bedeutung. Jedenfalls sprechen die trophischen
Storungen des Integumentes nicht gerade fur den Zusammenhang,
der zwischen dem Brustmuskeldefekt und der Dystrophie konstruiert
worden ist, auch dann nicht, wenn man den Sitz der Schadigung in
das Riickenmark verlegt. Denn fur die Muskeln ist ebenso wie fur
die Haut die Unabhangigkeit vom Zentralnervensystem in trophischer
Hinsicht wabrend der embryonalen Entwicklung wiederholt durch
Befunde bei anencephalen Fbten sichergestellt worden. Die wabrend
des Lebens nach der Geburt bestehenden Verkniipfungen treten erst
viel spater auf. Bittorf halt den echten Missbildungscharakter der
1) Seitz, Virchows Arch., I!d. 98, 18S4.
Digitizes fry
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipler HirnnervenlabmuDg usw.
217
Anomalien aus den vorliegenden Beobachtungen fur bewiesen. Die
ganze Korperregion miisse schon im friibesten Embryonalleben
mangelhaft angelegt sein und je nach dem Dberwiegen der Storungen
in den verschiedenen Organsystemen mehr das Deckepithel, das
Mesoderm oder das Mesenchym geschadigt worden sein. Seine An-
schauung verscbiebt das Problem damit in eine Periode, iiber die wir
viel zu wenig wissen, um Y T erstandnis fur die in Frage kommenden
Einwirkungen zu haben. Weder auf den Gesamttypus der Miss-
bildung als einseitige, lokal auf eine bestimmte Region beschrankte
Lasion, noch auf den Mangel der Hereditat wird durcb die Annahme
einer endogenen Ursache Licht geworfen. Dagegen passt auf die
Falle hoehgradiger Entwicklungshemmung von Mamma und Mammilla
die Annahme der amniogenen Belastungsdeformitat recht gut. Fiir
die gewohnlich beschriebenen geringer gradigen Verbildungen hat auch
diese Annahme ihre Schwierigkeiten, denn die erste Anlage von Brust-
warze und Warzenhof tritfc erst am Ende des zweiten Monats in Ge¬
stalt einer verdickten Epithelleiste in Erscheinung und wir mfissen
deshalb annehmen, dass ein verzogertes Abheben des Amnions wegen
Fruchtwassermangels die Anlage von Mamma und Mammilla in ihren
friihesfcen Stadien betreffen muss. Je friiher ein Organ aber in seiner
Entwieklung gehemmt wird, desto ausgiebiger bleibt es defekt. Wo
eine geringere Missbildung des Integumentes mif ausgedehnten Muskel-
und Skelettanomalien einhergeht, bleibt in quantitativer Hinsicht wohl
ein gewisser Einwand gegen die betrachtete Theorie bestehen.
Wir wenden uns nun den Storungen im Hirnnervengebiet zu.
Unter dem Begriff des angeborenen Beweglichkeitsdefektes der
Augen, wie ihn Kunn gepragt hat, ist eine grosse Literatur vereinigt,
welche die hierzu gehorigen Krankheitsbilder klinisch und differential-
diagnostisch zieralich scharf umgrenzt und zu beurteilen gestattet.
Gleichzeitige Storungen in anderen HirnnerveDgebieten sind ofters
beobachtet worden und im allgemeinen in atiologischer Hinsicht mit
den Beweglichkeitsdefekten des Auges verkniipft worden. Storungen
auf geburtstraumatischer Basis scbeiden fiir unsere Betrachtungen von
vornherein aus. Zuerst griff Moebius (1) aus der schon damals nicht
geringen Zahl von Einzelbeobachtungen eine Reihe von Fallen heraus,
die er in Verbindung mit in friiher Jugend erworbenen Lahmungen
zu einer Gruppe als „Infantiler Kernschwund“ zusammenfasste. Mit
dieser Bezeichnung legte er seine Anscbauung fiber den primaren
Sitz und die Natur der zugrunde liegenden Schadigung fest, im Sinne
einer Vernichtung der motorischen Hirnnervenkerne im Fotalleben
oder kurz nach der Geburt etwa dnrch eine Art nukleotropes Gift.
Aus der von ihm benutzten Literatur und eigenen Beobachtungen
15*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
218
Gutermann
bildete er Gruppen yon angeborener oder in der Kindbeit entstandener
Ophthalmoplegia exterior, yon Abduzenslahmung mit and ohne Be-
teiligang des N. facialis, ferner ausserer Okulomotoriuslahmung and
Ptosis. Stets ist das Leiden stationer. Moebias spricbt dann die
Erwartung aus, es miissten sich Defektbildungen auf dem Gebiet der
anderen motorischen Gehirnnerven auch ohne Beteiligung der Augen-
muskelnerven beobachten lassen; eine Vermotung, die mittlerweile in
Erfiillung gegangen ist [Moll(45), Sterzing(44), u. a.].
Die Feststellung des Kernes als Sitz der Lasion gelang Moe-
bius yon rein klinischen Gesichtspunkten aus nach Beurteilang des
Zusammentreffens des Beweglichkeitsdefektes der Augen mit dem
regelmassigen Unyersehrtbleiben der inneren Muskeln, dem Resultat
der Funktionspriifung und dem Verhalten der Muskulatur des Fazalis-
gebietes. Auch unser Fall zeigt alle Symptome, die zur Feststellung
des Kernes als Ausgangspunkt des Leidens erforderlich sind. Das
Erlpschensein der elektrischen Erregbarkeit — Entartungsreaktion ist
bei dem stationaren Charakter der Schadigung gar nicht zu erwarten
— schliesst die zentralen Gebiete aus. Und man darf von dem Ver¬
halten der Gesichtsmuskulatur wohl einen Schluss auf gleiehes Ver¬
halten der Augenmuskeln tun. Ferner kommt Nerv und Muskel nicht
in Frage, um die doppelseitige assoziierte Blicklahmung zu erklaren
bei Fixation eines nach ausscn wandernden Objektes, wahrend *tlie
Konvergenz erhalten ist. Es bleiben nur die Kerne und die ihnen
benachbarten Zentren fur die seitliche Blickrichtung mit ihren gegen-
seitigen* Verkniipfungen zur Annahme des Sitzes der Affektion tibrig.
Nach y. Monakow 1 ) befindet sich eines dieser Zentren im distalen
Pons, nahe und frontal vom Abduzenskern. Es yerbindet den Abdu-
zens der einen Seite, der ungekreuzt bleibt, mit den Fasern des Okulo-
motorius, die den Pons gekreuzt verlassen und zum gegeniiberliegen-
den M. internus ziehen. Noch weiter frontal und in den hier be-
trachteten Fallen ungeschiidigt liegt das Zentrum fur Konvergenz, das
die beiden Interni verkniipft. Bernheimer 2 ) lehnt v. Monakows
Annahme ab und lasst das hintere Langsbiindel als Vermittler zwischen
Hirnzentren und motorischen Kernen fungieren. Die verbindenden
Fasern verlaufen auch nach seiner Anschauung vom Abduzenskern
frontalwarts zum Okulomotoriuskern zu den fur den andersseitigen
M. rect. med. bestimmten Zellen. Die Verbindungen zur Konvergenz
1) v. Monakow, Gehimpathologie. Wien 1897.
2) St. Bernheimer in Graefe-Siimischs Handbuch der gesamten Augen-
heilkunde, 2. Aufl., 39. Lfg., 1902.
Digitized by
Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
219
Eiu Fall von raultipler Himnervenlahmung usw.
bleiben erhalten, wahrend die den motorischen Kernen naher ge-
legenen Fasern getroffen werden.
An die Beteilignng des N. facialis hat sich in der Folge das
Stadium der Frage nach der Abgrenzung des Gebietes des N. VII
von dem des N. XII gekniipft, das insbesondere von Bernhardt (46)
bearbeitet worden ist. Haufiger ist ein Freibleiben der Maskulatur
um Mond and Unterkiefer bei nuklearen Fazialislahmungen dann be-
obachtet worden, wenn das Hypoglossusgebiet unbeteiligt war. Dagegen
wnrde bei einseitiger Hypoglossusparese Lahmung der gleichzeitigen
Mra. orb. oris, quadratus und triangularis menti gefunden. Es ent-
stand nun die Frage, ob hier die innervierenden Fasern aus dem N. VII
oder in letzter Linie aus dem N. XII stammten. Da in unserem Fall
neben der Parese des rechtsseitigen Mundfazialis jedenfalls auch eine
solche des Zungenhypoglossus dieser Seite besteht und links das Frei¬
bleiben der Muskeln um Mund und Unterkiefer mit einem normal
funktionierenden N. XII zusammentrifft, so diirfen wir hier auch einen
Befund erkennen, der fur einen derartigen Zusammenhang spricht.
Eine ahnliche Frage hat sich auch fur das Platysma ergeben, bei
welchem wohl individuelle Verschiedenheiten in Betracht kommen
durften (Remak, Bernhardt, A. Schmidt).
I>ie Erkenntnis der nuklearen Natur der Lahmungen durch Moe¬
bius hat sich als ungemein fruchtbar erwiesen, wenn auch nicht fur
alle klinisch hierher gehorenden Falle die Kernschadigung angenommen
werden kann. In der Folge hat sich die Kontroverse vor allem um
die Berechtigung die Art der Lasion als Schwund aufzufassen, gedreht.
Gewichtige Bedenken haben schliesslich auch Moebius veranlasst •),
einen vermittelnden Standpnnkt einzunehmen in der Beurteilung, ob es
sich rorwiegend um Schwund oder um angeborenen Defekt der Kerne
handle. Nach der Zusammenstellung der gesamten damals bekannten
Literatur von iiber 70 Fallen kongenitaler Beweglichkeitsdefekte der
Augen in Kunns Monographic (2) miissen wir annehmen, dass eher
• eine kongenitale Aplasie vorliegt. Kunn stiitzt seine Anschauung
besonders durch eine Reihe von Feststellungen, namlich das regel-
massige Fehlen der Sekundarkontraktur bei alien angeborenen Affek-
tionen. Bei Unwirksamkeit der Beweger nach einer Blickrichtung
findet man das Auge bald in Mittelstellung, bald in entgegengesetzter
Blickrichtung. Hierbei ist die Stellung des Bulbus in der Orbita
lediglich das Resultat seiner tonischen Gleichgewichtslage ohne Hin'zu-
treten einer starren Fixation durch das Oberwiegen eines kontrakten
1) Moebius, Nachtrag zu dem Aufsatze fiber infantilen Kernschwuml.
Neur. Beitrage. Leipzig 1894.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
220
Gutebmans
Muskels, wie sie bei spater erworbenen Lahmungen niemals ausbleibt.
Dem Bulbas bleibt in den meisten Fallen eine geringe Exkursions-
breite im geschadigten Beweglichkeitsgebiet erbalten. Ferner stellt
Kunn fest, dass das schon von Moebius beobachtete Vorkommen
der erhaltenen Konvergenz bei aufgehobener Seitenwendung nur den
angeborenen Defekten zukommt. Endlich fehlt bei angeborenen Lab-
mungen die sekundare Schielablenkung des anderen Auges. Erst die
Verkniipfung der Blickricbtung beider Augen zu binokularem Seben
schafft die Bahnen, welche bei erworbenen Lahmungen zu sekundaren
Ablenkungen fiihren. Es kommt nie zur Entstebung von Doppelbil-
dern, was nach dem Gesagten einleuchtend ist. Aus alien diesen
Griinden macht Kunn eine prinzipielle Trennung zwiscben alien an¬
geborenen und erworbenen Defekten. Er verweist viele in der Kind-
Jbeit festgestellte Lahmungen in die Reihe der angeborenen, indem er
an die geringe Auffalligkeit der Defekte erinnert. Tatsachlich be-
stehen hier dieselben Schwierigkeiten wie bei der Beurteilung mancher
anderer Fehler der Augen. Ich erinnere nur an die Cataracta peri-
nuclearis. Zu diesen Auseinandersetzungen von Kunn ist zu bemerken.
dass der entscheidende Augenblick eigentlich erst jener spatere Zeit-
punkt ist, in welehem das Kind assoziiertes binokulares Sehen gelernt.
hat. Und insofern besteht hier eine Annaherungsmoglichkeit an die
Moebiussche Anschauung, angeborene und in friiher Kindheit er-
worbene Prozesse fiir gleichartig zu halten, als wir erwarten miissen,
dass fur Beweglichkeitsdefekte, die das Kind vor dem Aneignen des
binokularen Sehaktes erworben hat, die Kunnschen Merkmale auch
zutreffen werden. Dass aber nicht fiir alle klinisch hierher gehorigen
Falle die Kernaplasie, wie Kunn sie annimmt, der jede weitere Grup-
pierung angeborener Defekte verwirft, zutreffend ist, konnten sehr
wirkungsvolf Axenfeld und Schiirenberg') nachweisen an einem
Fall von angeborener Unwirksamkeit des M. rect. ext. Es bestand
keine Schielstellung. Ausser der Abduktion nach ..links waren alle
Bewegungen — auch Konvergenz und Seitenwendung — intakt. Bei
einem operativen Eingriff wurde statt des Muskels ein ebenso breites.
kraftiges, gelbgraues Band von betracbtlicher Elastizitat gefunden.
Eine Entnahme zur histologischen Untersuchung unterblieb, um das
gute Gleichgewicht nicht zu storen. Wir sehen hier also die Kunn¬
schen Merkmale zutreffen und es liegt doch eine eigenartige periphere
Veranlassung vor.
Recht sparlich sind die anatomischen Mitteilungen, die uns vor-
1) Axenfeld uud Schurenberg, Beitriige zur Kenntnia der angeborenen
B •weglichkeitsdefekte der Augen. Klin. Mon.atsbl. f. Augenhcilkde., 1901.
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Em Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw.
221
liegen. Ein im Sinne der Kernaplasie oder des Kernschwundes be-
weisender Befund ist nur von Heubner 1 ) mitgeteilt worden. Bei
doppelseitiger Lahmung der Nn. faciales und abducentes, des linken
Okulomotorius und einseitiger Atrophie der Zunge fand sich beson¬
ders die linke Halfte der Medulla oblongata verkiimmerb und die be*
treffenden motorischen Kerne atrophiert, wahrend die sensiblen Kerne
intakt waren. Degenerationszeichen fehlten vollkommen. Uberall han-
delte es sich urn einen rein quantitativen Defekt. Der bei einem
l^jahrigen Kinde erhobene Befund sprach eher fur Aplasie als fur
Schwund, besonders wenn man beriicksichtigt, dass die Entwicklung
der sensiblen und motorischen Gebiete zeitlich ziemlich auseinander
liegt. 1m gleichen Sinn wie dieser Befund sind auch die von ange-
borenen Ptosen stammenden zu bewerten, die von Siemerling 2 ) und
Wilbrandt und Sanger(4) beschrieben wurden. Doch sind hier
die Erscheinungen durch spatere Prozesse verwischt und die Beobach-
tungen deshalb keineswegs schliissig. Ob es sich um Aplasie oder
Depression handelt, bleibt besonders in dem komplizierten Fall Sie-
merlings ungeklart. Bernhardt 3 ) berichtet iiber einen Augen-
muskeldefekt. bei welchem er die Kerne von normaler BeschafFenheit
i '
fand. Eine Erweichung im rechten Pons stand offenbar nicht im
Zusammenhang mit diesen Storungen. Spater haben noch Marfan
und A rman-Delille 4 ) und Rainy 5 ) anatomische Beitrage geliefert,doch
sind ihre Falle sehr kompliziert und scheinen mir iiberhaupt nicht eigent-
lich hierher gehorig. Bei Operationen kongenitaler Ophthalmoplegien
sind haufig fibrinose Degenerationen in den Muskeln gefunden worden.
Seltener ist das Fehlen und die geringere Entwicklung einzelner
Muskeln, Verwachsungen derselben untereinander und falsche In¬
sertion.
Nach Kunn haben die meisten Autoren einen vermittelnden
Standpunkt eingenommen, indem sie die Bedeutung der Kernaplasie
fur ausgebreitetere Ophthalmoplegien und hereditare Defekte aner-
1) O. Heubner, Ober nngeborenen Kernmamrel. Cbarit4-Annalen, 1900
und Deutsche med. Wochenschr., Bd. 26, 1900.
2) Sienuerling, Anatomischer Befund bei einseitiger kongenitaler Ptosis.
Arch. f. Psych., Bd. 23, 1892.
3) M. Bernhardt, Uber angeborene einseitige Trigeminus-, Abduzens-
und Fazialislahmung. Neur. Zentralbl., Bd. 11,1890.
4) Marfan und Arman-Delille, Paralysie faciale congenitale du cot6
droit. La Parole, 1902.
5) Rainy, Congenital Facial Diplegia due to nuclear lesion. Review of
Neurology, 1903.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
222
Gutermaxn
kennen und Einzelmissbildungen ihre Sonderstellung zuweisen. Je
weniger durch histologische Feststellungen hier eine Entscheidung zu
erreichen war, desto mehr mosste nach genauen klinischen Sonderungen
gestrebt warden. Gruppierungen, wie sie nach yerschiedenen Ge-
sichtspunkten yon Marina (3) and anderen Autoren und schliesslich
von Uthoff(3) unternommen wurden, sind die Marksteine auf dem
Wege yom Symptom enkomplex zum ursachlich einheitlichen Krank-
beitsbild, auf dessen Erkenntnis unser Streben gerichtet ist.
Marina unterscheidet in einer Arbeit, die gleicbzeitig und obne
Eenntnis der Kunnscben vollendet worden ist, in kliniscber Hinsicht,
erstens, die Labmungen einzelner Muskein und die unvollstandige ein-
fache Ophthalmoplegie. Ihr haufigster Vertreter ist die isolierte ein-
und doppelseitige Lahmung des M. rect. ext. Die zweite Gruppe
umfasst die einfache Ophthalmoplegia externa, eine stets doppelseitige
Affektion mit den verschiedensten quantitativen Abstufungen. Die
inneren Augenmuskeln sind stets intakt. Drittens fallt unter die an-
geborenen komplizierten Augenmuskellahmungen und die unvollstan-
digen komplizierten Ophthalmoplegien die Mitbeteiligung andererHirn-
nerven. Vor allem ist die doppelseitige Abduzens-Faziallabmung ein
zwar nicht haufiges, aber doch scbon wiederholt festgestelltes, typisches
Vorkommnis. Scbliesslich gebort zur vierten Gruppe die kompbzierte
angeborene Ophthalmoplegia externa totalis. Die Komplikation besteht
in der Starrheit der Gesichtsmuskeln, wie sie von Marina und von
Reckon 1 ) bescbrieben worden ist.
Uthoffs Stellungsnahme passt wohl am ungezwungensten zu den
Beobachtungen, die bisher gemacht werden konnten. Er trennt die
kongenitalen Lahmungen einzelner Augenmuskeln ab von den multiplen
angeborenen Beweglichkeitsdefekten. Ersteren konnen die verschieden-
artigsten Veranderungen der Muskein hinsichtlich ihres Baues und
der Insertion, ferner Strangbildung und andere mechanische Ursachen
zugrunde liegen. Bei letzteren rechtfertigt sich die Annahme einer
nuklearen Lasion, wenn die innere Augenmuskulatur intakt ist. Von
diesen einfachen isolierten Ophthalmoplegien sind zu sondera die-
jenigen, bei denen Hereditat in Betracht gezogen werden muss, und
die Falle, in denen weitere Komplikationen von seiten des Nerven-
systems vorliegen. Die Beteiligung des N. facialis steht an erster
Stelle. Demnachst wird einige Male von Storungen im motorischen
Trigeminus- und im Hypoglossusgebiet berichtet. Doch werden
1) Recken, ZurKasuistik und Lehre von den Augenmuskellfihmungen usw.
Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkde., Bd. 29, 1891.
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Em Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw. 223
auch andere Hirnnerven genannt (Moebius 1 ), Schapringer 2 ), Ga-
zepy 3 ) u. a.)
Aus diesen Unterscheidungen lasst sich jedenfalls entnehmen, dass
unsere Materie in ihrer Gesamtheit noch recht heterogene Bestand-
teile enthalt, denen hochstens eine gewisse symptomatische Qberein-
stimmung zuznerkennen ist. Die unternommenen Versuche, bier ein-
heitliche Krankheitsbilder aufzustellen, sind stets nur einem Teil des
Materials gerecht geworden und konnten der Priifung nach patho-
logiscben Grundsatzen nicbt standbalten. Erst wenn der Klinik Zu-
sammenhang und Trennung gegliickt sein wird, werden sicb iiber-
einstimmende anatomische Ergebnisse zeigen. Um das Streben nacb
diesem Ziel zu fordern, halte icb die hierher gehdrigen kasuistiscben
Mitteilungen auch weiterbin fiir berechtigt, wenn alle Hilfsmittel der
modernen kliniscben Diagtfostik ausgiebig berangezogen werden. Als
Beitrag in diesem Sinne sei auch meine Mitteilung gestattet
Wenden wir uns wieder unserem Falle zu, so wird es nach diesen
Ausfiihrungen begreiflich erscbeinen, wenn ich Vermutungen iiber die
Atiologie nur mit grosser Zuruckhaltung zum Ausdruck bringen mochte.
Fiir die Defekte an Thorax und Extremitat diirfen wir unter mehr
oder weniger hochgradiger Beteiligung einer „Anlage zu perversem
Wachstum“ (Bing) wohl vor allem eine Druckschadigung in utero
yon seiten des Amnions annehmen, wie sie in gelindester Form den
einfachen Brustmuskeldefekt bewirken kann, und ansteigend zu hoch-
gradigen Spaltbildungen der gesamten Brustwand und Verkiimmerung
der Extremitat fiihrt. Diese Einwirkung miissen wir in die 5. bis
9. Woche des Embryonallebens verlegen, zu welcher Zeit normaler-
weise das Abheben des Amnions eintritt. Vor der 5. Woche sind die
Finger noch nicht angelegt, nach der 9. sind sie in der ganzen Lange
entwickelt und die Schwimmhaute zuriickgetreten.
Bei der abschliessenden Beurteilung der Beweglichkeitsdefekte im
Hirnnervengebiet — wie sie unserem Falle zukommen — sei nur der
sicheren Befunde bei den bisher beobachteten angeborenen Abduzens-
Fazialislahmungen gedacht. Im Gegensatz zu den Ptosen waren sie
nie hereditar und fast stets mit Anomalien an anderen Organen ver-
gesellschaftet. Neben den Storungen, die sich den in unserem Falle
bestehenden annahern, werden auch andere erwahnt, die gewohnlich
mit Druckwirkung in utero in Zusammenhang gebracht werden. In
1) Moebius, Munch, med. Wochenschr. 1888, Nr. 7.
2) Schapringer, Ober angeboreDebeiderseitigePleuroplegie. New York,
med. Monatsschr., Dez. 1889.
3) Gaz6py, Deux cas d’ophthalmoplegie congdnitale externe. Arch,
cl’ophthalm., Bd. 14, 1894, Nr. 5.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
224
Gutermann
Kriegs Beobachtung') bestand hocbgradiger Hoblfuss, bei Scha-
pringer (1. c.) Trichterbrust. Nach Zuckerkandl und Ribbert
soli auch diese Deformierung infolge des Druckes durch das kind-
liche Kina gegen den Brasbkorb auftreten konnen. Von anatomischen
Befunden bezieht sich nur der bereits besprocbene von Heabner
vollig auf die Verhaltnisse, die aucb wir zu erwarten baben. Heubner
hat die Kernaplasie mit Sicberbeit festgestellt.
Leider gestattet uns die Entwicklungsgeschicbte noch kein Urteil
dariiber, ob wir fiir diese Schadigung aucb eine Druckwirkung als
letzte Ursache annehmen diirften. Die Betrachtung der Komplikationen
legt diesen Gedanken nahe, docb fiihrt seine weitere Verfolgung auf
sehr schwankenden Boden. Die unserem Falle am nachsten stehende
Beobachtung wird von Schmidt als Defektbildung beurteilt, indera
er betont, dass die Abduzens-Fazialislabmung, der Defekt der Zunges-
muskeln und der einseitige Mangel der Brustmuskeln als gleichwertig
aufzufassen seien. Auf eine nabere Erorterung der Umstande, die
eine derartige Missbildung herbeifiihren konnen, lasst sich Schmidt
nicht ein. Auch wir miissen vorlaufig hinsichtlich der Atiologie bei
einem „non liquet" bleiben, mit dem Ausblick, eine Klarung vor allem
von genauer kliniscber Untersucbung und Sichtung zu erwarten, nach-
dem die aus nabeliegenden Griinden recbt sparlichen anatomischen
Daten nur zeigen, dass unsere Erkenntnis hier noch kein Krankheits-
bild, sondern erst einen Symptomenkomplex erfasst hat.
1) P. Krieg, Ein Beitrag zu den angeborenen Beweglichkeitsdefekten
der Augen. Inaug.-Diss., Giessen 1896.
Literatur.
Die iiltere Literatur bis 1904 findet sich bei:
1. Moebius, Uber infantilen Kernschwund. Miinch. med. Abhdlg., 1S92,
Heft 22.
2. C. Kunn, Die angeborenen Beweglichkeitsdefekte der Augen. Beitr.
z. Augenheilkde., 1895.
3. A. Marina, Uber multiple Augenmuskelliihinungen. Leipzig u. Wien
isoa.
4. Wilbrandt u. Sanger, Die Neurologie des Auges. I. Teil. Wies¬
baden 1900.
5. It. Bing, Uber angeborene Muskeldefekte. Virchows Arch., Bd. 70,
1902.
(>. H. Lorenz, „Die Muskelerkranknngen" in Nothnagels Handb., Bd. 11,
III. Teil, 1901.
7. Ehrhardt, Uber angeborenen Schulterhochstand. Beitr. z. klin. Cliir.,
Bd. 44, 1901.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ein Fall von multipler Hirnnervenlahmung usw.
225
8. W. Wendel, fiber angeborene Brustinuskeldefekte. Mittlg. a. d. Grenz-
geb. d. Med. u. Obir., Bd. 14, 1905.
9. Uthoff, „Die Augenstorungen bei Vergiftungen, Erkrankungen des
Ruckenmarks uaw.“ in Graefea Handb., 2. Aufl., Bd. 11, 1911.
Weitere Literatur:
1904.
10. Aronheim, Ein Fall von linksseitigem, vollstiin digem, kongenitalem
Defekt des M. cucull. usw. Monatsscbr. f. Unfallbeilkde., Bd. 11.
11. Cramer, Ein Fall von Defekt des M. peet. maj. u. min. Zeitscbr. f.
ortbop. Chir., Bd. 13.
12. H. v. Haffner, Eine seltene doppelseitige Anomalie des Trapezius.
Intemat. Monatsscbr. f. Anat. u. Physiol., Bd. 20.
13. R. Johnson, Webbed arm and fingers with abcence of pectoralis
major. Transact of the clin. Soc. of London, Bd. 36.
14. Lamdris, Beitrag zur Kenntnia des angeborenen Schulterblatthoch-
standes. Arch. f. klin. Chir., Bd. 73.
15. O. E. Schulz: Uber einen Fall von angeborenen Defekt der Thorax-
muskulatur usw. Wiener klin. Wochenschr., Bd. 17.
16. F. v. Winckel, Uber menschliche Missbildungen usw. v. Volkmanns
Sammlung klin. Vortrage, Neue Folge, 373 u. 374, Leipzig.
1905.
17. Capelle, Ein Fall von Defekten der Schultergiirtelmuskulatur usw.
Inaug.-Diss. Munchen.
18. Gierlicb, Uber infantilen Kernschwund. Deutsche med. Wochenschr.
19. Klaussner, Uber Missbildungen der menschlichen Gliedmalien. Neue
Folge. Wiesbaden.
20. E. Rodhe, Fall af ensidig kongenital defekt af musculi pectorales.
Hygiea, Bd. 2.
21. O. Steche, Beitrage zur Kenntnis kongenitaler Muskeldefekte. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkde., Bd. 28.
22. Zesas, Angeborener Hochstand des Schulterblattes. Ortbop. Chir.,
23. A. Lieberknecht, Uber Rippendefekte und anderweitige Missbil¬
dungen bei Hochstand des Schulterblattes. Beitr. z. klin. Chir., Bd. 51.
24. E. Ranzi, fiber kongenitale Thoraxdefekte. Mittlg. a. d. Grenzgeb.
der Med. u. Chir., Bd. 16.
1907.
25. A. Bittorf, Der isolierte angeborene Defekt des M. serr. ant. maj.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde., Bd. 33.
26. M. Cohn, Zur anatomischen Grundlage und Erklarung des Schulter-
blatthochstandes. Allgem. med. Zentralzeitg. u. Berl. med. Gesellsch., 10. Juli.
27. Graetzer, Zur Atiologie des angeborenen Schulterblatthochstandes.
Mittlg. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., 3. Suppleraentbd.
28. F. Loening, fiber einen Fall von einseitigem kongenitalem Pectoral is-
defekt usw.“ Mittlg. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 17.
29. G. Serafini, Elevazioue congenita della scapola“. Arch. d’Ortapedia.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
226 GCtekmann , Ein Fall von multipier Hirnnervenlahmung usw.
Digitized by
1908.
30. A. Bit tor f, Uber angeborenen Brustinuskeldefekt. Deutsche Zeitechr.
f. Nervenheilkde., Bd. 34.
31. Pawlow-Silojanskie, Zur Frage der sogenannten hohen Schulter.
Chirurgia, Bd. 24.
1910.
32. K. Jeremias, lsolierter angeborener Defekt d. M. serr. ant. maj.
Deutsche Zeitechr. f. Nervenheilkde., Bd. 38.
33. H. Marcus, Zur Bewertung des angeborenen Pectoralisdefektes usw.
Deutsche med. Wochenschr., Bd. 34.
34. O. Orth, Beiderseitiger Spaltfuss and Spalthand, kombiniert mit par-
tiellen rechtsseitigen Pectoralisdefekt. Arch. f. klin. Chir., Bd. 91.
35. Beihlen, Einseitiges Fehlen der Portio sternocost. d. M. pect. Wurt-
temberg. Korrespondenzbl., Bd. 80.
30. E. Schwalbe, Missbildung und Variationslehre. Jena.
1911.
37. E. Ebstein, Ober angeborene familiar auftretende Missbildungen an
den Handen. Mittlg. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 22.
38. G. Muller, Ein Fall von angeborenen Defekt des rechten M. sterno-
cleidomast. usw. Med. Klinik, Bd. 7.
39. R. PQrckhauer, Zur Lehre vom Pectoralisdefekt und Schulterblatt-
hochstand. Munch, med. Wochenschr., Nr. 8.
40. J. Reich, Ein Fall von angeborenen Schulterblatthochstand usw.
Mittlg. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 23.
1912.
41. R. Bing, „Kongenitale, heredofamiliare und neuromuskulare Erkran-
kungen“ im Handb. v. Mohr u. Staehelin, Bd. 5.
42. Drenkhahn, Seltene Missbildungen. Deutsche militsirarztl. Zeitschr.,
Bd. 41.
43. H. A. Laan, Aangeboren defect der pectoralispieren. NederL Tijdschr.
voor Geneesk., Bd. 2.
44. P. Sterzing, Angeborener einseitiger Defekt samtlicher vom N. vago-
accessorius versorgter Muskeln (Kemaplasie). Neurol. Zentralbl., Nr. 10.
1913.
4... A. 31. Moll, A case of hypoglossal nuclei paralysis. Journ. of nerv.
and ment. Dis., Bd. 40.
1914.
46. M. Bernhardt, Beitriige zur Lehre von den partiellen Faszialislah-
mungen, spez. der Lahmungen die fur die Unterlippenmuskulatur bestimmten
Aste. 31ed. Klinik, Nr. 51.
47. A. de Castro, Angeborene Fazialislahmung. Neurol. ZentralbL, Nr. 23.
1915.
4S. T. Snowball, Zur Kasuistik der angeborenen doppelseitigen Abdu-
zeus-Fazialisliihmungen. Arch. f. Ophthalm., Bd. 90.
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus der Klinik und Polikliuik fur psychisch und Xervenkranke jn
Bonn. (Geh. Rat Westphal.)
ttber Myotonie.
Von
Prof. Dr. A. H. Hfibner,
Oberarzt der Klinik.
Uber Myotonie.
Die Lehre von der Myotonie ist in den letzten dreissig Jahren
nach drei Richtungen ausgebaut worden. Nachdem durch die Arbeiten
von Thomsen, Erb, Leyden n. a..die klassischen Falle bekannt
geworden waren, lernten wir die Paramyotonie (Eulenburg,
v. Solder, Hlawaczek u. a.) kennen. Hoffmann, F. Schnltze,
Steinert, Curschmann n. a. bracbten dann die Bescbreibung der
sog. atrophischen Myotonie. Schliesslich warden auch die Beziehungen
zu anderen Erkrankungen, namentlich zur Tetanie (Curschmann,
Flatau und Sterling, Orzechowski) Paralysis agitans (Roux,
Maillard),Syringomyelie (Rindfleisch) undHysterie (Peltz) erortert
Gerade die zitierte Arbeit von Peltz zeigt deutlich, dass die
atypiscben Formen der Myotonie noch weiteren Studiums bediirfen
und dass die bisher bekannt gewordene Kasuistik noch kein rechtes-
Bild von den vorkommenden Variationen gibt. Dieser Umstand recht-
fertigt die nachfolgenden Mitteilungen:
I. Atypische Myotonie.
Im Jahre 1886 beschrieb Eulenburg eine erblich vorkommende
Form der „Versteifung“, die unter dem Einfluss der Kalte ohne
Rucksicht auf intendierte Bewegungen auftrat, 1—2 Stunden,
bisweilen auch wohl noch langer anhielt und mit einem 12—24 Stun¬
den anhaltenden Schwachegefiihl endete.
Delprat berichtete iiber eine abnliche Familie. Er konnte gleich-
zeitig aber nachweisen, dass einzelne Mitglieder der Familie echte
Myotonie darboten.
Nach diesen beiden Autoren haben v. Solder, Hlawaczek,
Senator (?), Kiesewalter, Hollmann undFriis abnliche Beobach-
tungen gemacht.
Digitized by
Go>, >gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
22S
Hcbner
Digitized by
Immer handelte es sich dabei um Spannungszustande.
Eine weitere Gruppe von Fallen bofc das Gegenteil, namlich
lahmnngsartige Schwachezustande z. T. verbunden mit Plnmpbeit
und Verlangsamung der Bewegungen (Iwanow).
Schliesslich wurde dann eine dritte Spielart beschrieben, bei der
nacb intendierten Bewegungen eine zunebmende Spannung der in Be-
tracht kommenden Muskeln eintrat, so dass die Bewegungen immer
langsamer wurden, unterbrochen werden mussten und einer Schwache
Platz machten. Die letztgeschilderten Falle waren z. T. mit Muskel-
atrophien (Stiefler, Steinert) verbunden, z. T. feblten solche •
(Bumke).
Bumke hielt die Zugehorigkeit dieser von Jendrassik paradoxe
Myotonie genannten Storung zur Myotonie fur zweifelbaft und meinte,
die Klassifizierung konne erst durch Beibringung weiteren Materials
entschieden werden.
Der im folgenden zu beschreibende Fall ist vielleicht geeignet,
die Losung des Problems zu fordern.
P. E., geb. 12. Aug. 1897. Fabrikant.
An der gleichen Krankheit litt sekon die Mutter des Vaters. In deu
niichsten Generationen trat die Krankheit folgendermaBen auf:
Mutter des Vaters.
l.Sohnf 2.— 3.— 4. Tochterf 5.Vater d.Pat. r 6.— 7.— 8. Tochter v
unter 8 Kindern von 4Kindernhattees unter 7 Kindern
3 Sfihne und 1 Patient u. d. jftngste batten es 2 Sobne
Tochter. | Bruder. und 1 Tochter.
1 Sohn
Bei dem Bruder des Pat. ist die Diagnose Myotonie von Herrn Prof.
Oppenheim im vorigen Jahr gestellt worden.
Pat. selbst merkte die Krankheit schon in frtther Jugend daran, dass
ilirn beim Waschen mit kaltem Wasser die Augen „stehen blieben“. In
der Schule konnte er bei kfihler Witterung nicht ordentlich schreiben.
Turnen und Sport durfte er nicht treiben. Zum Schwimmunterricht wurde
er nicht zugelassen.. Er durfte Qberhaupt nicht kalt baden.
Als er einmal im Winter von der elektrischen Bahn im Fahren ab-
springeu wollte, konnte er die Hand vom Griff nicht loskriegen und wurde
8—10 Schritt weit mitgeschleift.
Beim Milithr ist ihm einmal das Gewehr aus der Hand gefallen.
Ausserdem blieb das eine Auge nach Zielubungen immer noch eine Weile
geschlossen.
Die gegenwiirtigen Klagen sind folgeude:
Bei warmer Witterung und dann, wenn er Anstrengungeu und ener-
gische Bewegungen vermeidet, geht es ihm ganz gut und er merkt fast
nichts. Er kann leichte Sttlckchen auf dem Klavier spielen. Auch Ma-
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Mvotonie.
229
schinensehreiben ging frQher ohne Beschwerden. Neuerdings bekommt er
nach eiustQndigem Schreiben Schmerzen (s. u.).
Eine Gangbeliinderung bestelit im allgemeinen nicht. Nur bei langerem
und schnellem Gehon und Bergsteigen ziehende and reissendc Schmerzen
iti den Gelenken. Beim plotzlichen Aafstehen kann er auch die Kuie nicht
durchdrllcken.
Wenn er sich im warmen Zimmer befindet, wenig Behinderung. In
kalter und feuciiter Luft hat er die erwithnten Gangbeschwerden. Ferner
erwahut er noch folgende Erscheinungen.
Wenn er in einem ktlhlen Raume isst, bleiben ihm die Kiefer stehen
und er kanu zunachst nicht kauen. Es kommt dann auch vor, dass der
ganze Kopf steif stehen bleibt. Beim Sprechen ist er seines Wissens nicht
behindert, dagegen tritt in kQhler Lul't oder beim Schlucken kalter Ge-
tranke der Krampf auf. Die Augenbewegungen sind ungestort. Wenn er
sich aber im kaltcn Zimmer mit kaltem Wasser wascht, dann kann er die
krampfhaft geschlossenen Augenlider erst nach einigen Sekunden Offnen.
Auf dem linken Auge soli das schlimmer sein als auf dem rechten.
Das Leiden soil, soweit es bis jetzt geschildert ist, von Jugend auf
in gleicher Starke bestanden haben. GemOtsbewegungen sollen keine
neunenwerte Steigerung der Erscheinungen bewirken.
Uutersuchungsbefund: Gut entwickelte, aber nicht hvpervoluminbse
Muskulatur. Guter Emailrungszustand.
Facies myopathica angedeutet. Leichte Protrusio bulborum r(>l,
Graefe angedeutet, keine Struma, Puls 100—120, Pat. schwitzt zeitweise
stark. Etvvas feinschlitgiges Handezittern.
An einem kalten Tage nach Waschen mit kaltem Wasser links krampf-
hafter Lidschluss, der sich allmahlich lost.
An einem regnerischen und windigen Tage trat in beiden Lidern
(aber auch winder l^>r) die gleiche Erscheinung auf, als Ref. mit dem
Pat. um eine zugige Ilausecke herumging. •
StOrungen des Schluckaktes wurden objektiv nicht beobachtet. Sprache
mancbmal langsam, namentlich, wenn Pat. zu sprechen beginnt. Zunge
nicht beteiligt. Dort bei Beklopfen keine deutliche Dellenbildung.
Pupillen + (keine myotonische Pupillenreaktion), keine Augenmuskel-
lahmungen, Bindehaut- und Hornhautreflexe, sowie Rachenrefl. -(-• Kein
Nystagmus, Chowstek negativ. Linker Supraorbitalis druckschmerzhaft.
Grobe Kraft und Motilitat der Arme und Beine, abgesehen von den
noch zu schildernden Erscheinungen, ungestort. Namentlich fallt an war-
men Tagen, wenn Pat. die geforderten Bewegungen ruhig und langsam
ausftlhrt, nichts Abnormes auf.
Veranlasst man den Pat. energisch die Hand zu schliessen und dann
zu Offnen, dann kann er letzteres zunachst nicht vollstandig. Nach mehr-
fachen Wiederholungen gelit es besser. Eine Steigerung erfahren die Er-
scheinungeu, nachdem er die Hande mit kaltem Wasser gewasehen hat.
An der 1. Hand scheinen die StOrungen starker ausgepragt zu sein
als rechts. Letzteres tritt z. B. besonders deutlich beim Kragenschliessen
an kalten Tagen hervor. Pat. musste deswegen mehrfach absetzen.
Beim Beklopfen des rechten Daumenballens mit dem Hammer tritt
deutliche Dellenbildung auf.
Weniger deutliche Dellenbildung im Biceps bdsts. und in der Waden-
muskulatur.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
2.‘>o
Hubner
Digitized by
Die Maskelzuckungen sind tr&ge, laufen langsam ab, werden nach
mehrfachem Klopfen anf dieselbe Stelle schneller.
Myotonische Reaktion wurde besonders deutlicb im Biceps bdsts. uad
ini Pectoralis major beobachtet.
Der Gang wies bei den 6 Untersuchungen, die ich mit dem Pat. vor-
nehmen konnte, keine ausgesprochene StOrung anf.
Die Kniesehnenreflexe waren bdsts. gleich von normaier Stftrke. Die
erste Znckung erfolgte nach EntblOssnng der Beine bei kalter Witterung,
kurz und ruckartig, die Kontraktion des Quadriceps lflste sich langsamer
als gewfihnlich.
Achillessehnen- und Soblenreflexe o. B.
Keine nachweisbaren Atrophien der Mnsknlatur.
Keine tetanischen Symptoine.
Psychisch ist Pat. nianchmal deprimiert und reizbar. Seinem Beruf
ist er psychisch gewachsen. Sozial ist er bisher nicht aufgefallen. Einige
Male klagte Pat. Qber linksseitige anfallsweise Kopfschmerzen.
Ausscr den bisher beschriebenen Erscheinungen berichtet E. nun noch
folgendes:
Wenn er bei kaltem Wetter lange Wege (2—4 Stunden) machen
muss, dann bekommt er, wenn er Uber den Anfang hinaus ist (der ihm
ubrigens bei einigermassen warmem Wetter keine grossen Schwierigkeiten
macht) nach etwa 1—1 J / 2 Std. heftige Scbmerzen in den Unter- und
Oberschenkeln und es tritt das GefQhl ein, als ob die Beine gelQhmt waren.
Hingefallen ist er in diesen Zustanden nicht. Es handelte sich um ein
GefQhl der Steifigkeit und Starrheit, das nun aber mit heftigen Scbmerzen,
..Qhnlich wie Pat. sie sich bei Rheumatismus vorstellt* 4 , verbunden ist.
Dieses GefQhl der Steifigkeit halt mindestens stunden-, manchmal sogar
tagelang an und der Pat. hat als Gegenmittel warme UinschlQge und
Waschungen, auch beisse Bader augewandt. Die letzteren so gibt er an,
waren das einzige, was dagegen hilft, Er habe sich danach auch ins Bett
legfcn mGssen.
Das GefQhl der Steifigkeit ist manchmal so ausgesprochen, dass der
Pat. das Fuss- und Kniegelenk bdsts. Qberhaupt nicht bew T egen kann, son-
dern sich nur unter Benutzung der HQftgelenke seitwarts tretend zum Bett
sehleppen muss, um sich niederzulegen.
Ohne vorangegangene kOrperliche Anstrengungen traten die Erschei¬
nungen bisweilen auch auf. So hat dcr Pat. z. B. einige Male beobachtet.
dass, wenn er in cinem ungeheizten Zimmer sich auf dem Sofa zum Sehla-
fen niederlegte, er mit heftigen Schmerzen und dem schon beschriebenen
SteifheitsgefQhl aufwachte und sich nicht selbst aufrichten konnte. Er
fing dann mit den Packungen und Fussbadern an und beseitigte auf diese
Weise den Zustand. Es soli vorgekommen sein, dass die Spannung bis zu
8 Tagen anhielt.
Nachdem er diese Erfahrung gemacht hat, vermeidet er die ZustQnde
dadurch, dass er sich auf dem Sota gut einpackt.
Ferner hat' er beobachtet, dass wenn er in ungeheiztem Zimmer an
einem Tisch sitzt und schreibt oder liest, dann kann er mitunter wegen
Steifigkeit im RQcken und Nacken nach einer Stunde nicht aufstehen.
Das geht aber nach kQrzerer Zeit vorQber.
In den Armen hat der Pat. die beschriebenen Erscheinungen vorwie-
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Myotome.
231
gend an der Schreibmaschine beobachtet. Wenn er im warmen Zimmer
sitzt, dann ist das Schreiben anfangs nicht besonders schwer, aber nach
1—2, hOchstens 3 stQndiger Arbeit treten Schmerzen ein und es folgt dann
das Klamm- und SteifigkeitsgefQhl. Das GefQhl halt */ 2 —1 Std. an und
bleibt mit Schmerzen verbunden. Die Schmerzen haben ihn in der Nacht
schon wach gemacht. Iu den Armen kommt das SteifigkeitsgefQhl ohne
aussere Veranlassung selten vor.
Der Pat. selbst unterscheidet scharf zwischen den typischen Erschei-
nungen der Myotonie bei den ersten energischep Handgriffen und dem, was
spater folgt, dem SteifigkeitsgefQhl. Bei den ersterwahnten Erscheinungen
sind Scbmerzen nicht vorhanden. Dieselben treten vielmehr erst spater
auf und verbinden sich dann mit dem SteifigkeitsgefQhl.
Die eben geschilderten Erscheinungen baben sich, wie E. angibt, im
Laufe der Jahre etwas verstarkt, sind weniger ausgeprQgt aber schon in
der Kindheit vorhanden gewesen.
Nach Angabe des Pat. hat sein Kind dieselben Erscheinungen der
Steifigkeit nur andeutungsweise, dagegen ein Bruder und der Vater sollen
sie ausgesprochen haben.
Als Pat. einmal (3. 10.16) bei regnerischem und kQhlem Wetter er-
schien, fand sich folgendes:
Die HQnde waren blau verfirbt, nicht besonders kQhl, aber feucht.
Die Finger batten eine Andeutung von Krallenhandstellung. Bei passiven
Bewegungen der unbedeckten Hande und Finger leichter Widerstand, an
den Qbrigen (bedeckten) Gelenken nicht.
Dellenbildung, Tragheit der Zuckungen und myotonische Reaktion be¬
sonders deutlich.
Beim Gehen in freier Luft Erschwerung beim Offnen der geschlosseneu
Augenlider.
Pat. wies selbst darauf hin, dass beim Offnen des Kragens sich die
allgemeine Steifigkeit der Hande, die schon seit morgens bestand, besonders
unangenehm bemerkbar machte.
Diese ZustQnde von Steifigkeit, von denen bisher die Rede war, treten
auf psychische EinflOsse allein nicht ein. Dagegen lost Kalte und Nasse,
wie schon gesagt wurde, sie aus. —
Was die Beteiligung der Korperhalften anlangt, so tritt eine Un-
gleichheit bei dem Pat. und seinem Sobn namentlich an den Augen inso-
fern hervor, als die 1. Seite starker befallen ist. An den Armen ist das-
selbe, aber weniger ausgesprochen der Fall.
Pat. berichtet von seinem Bruder, dass eine Ungleichheit der Beteili-
gung der Korperhalften nicht beobachtet wurde.
Er erwahnt schliesslich noch, dass er im Alter von 12 Jahren einmal
aus der Bank heraustreten sollte und das nicht konnte. Daraals seien die
GliedmaBen stnndenlang derart verkrampft gewesen, dass man die BQnke
habe auseinandernehmen mfissen, um ihn herauszubekommen. Man habe
ihn damals in die Wohnung des Schuldieners getragen und mit dem Wagen
nach Hause fahren mGssen. Um eine Ohnmacht habe es sich nicht ge-
handelt, wie der Pat. besonders betont. —
Der siebenjahrige Sohn des Pat. (das einzige Kind) ist in der
Schule bisher dadurch aufgefallen, dass er an kalten Tagen schlecht schrieb.
Er hat das Leiden auch in den Augenlidern, so dass er einmal in der
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57 . 16
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
232
Hubner
Scbule von Kameraden nmgerannt worden ist, weil er die Augen uicht
offnen konnte.
Bei ihm fehlte die * myotoniscbe Reaktion. Es konnte ancb Dellen-
bildnng nsw. beim Beklopfen der Muskulator nicht festgestellt werden.
Icb habe ibn nur einmal, an einem ziemlich warmen Tage untersuchen
kdnnen. Beim Versucb, die Hand energisch zn scliliessen und dann rasch
zu dffnen, bracbte er letzteres nicht vollst&ndig fertig. —
Dass die Falle eine Sonderstellung einnehmen, geht aus der kurzen
Beschreibung, welche ich von ihnen gegeben habe, obne weiteres
hervor. Trotzdem sind aie m. E. sebr geeignefc, die Frage’zu klaren,
ob die Paramyotonie und die paradoxe Muskelstarre ala eine beson-
dere Erkrankung anzuseben sind.
Als feststehend muss vorangestellt werden, dass durch Oppen-
heim bei einem Bruder des Pat. eine echte Myotonie nachgewiesen ist.
Die Erblichkeit der Krankheit in der Familie E. ist ausserdem
auch aus dem beigegebenen Stammbaum ersichtlicb. Hinzuzufiigen
ist dabei, dass der Pat. selbstverstandlieh nicbt behaupten wollte, dass
die bei ihm gefundenen Komplikationen ancb bei alien anderen Fa-
milienmitgliedern vorhanden waren. Nur von der Myotonie als solcher
vermochte er das zu sagen.
Bei ibm selbst findet sicb nun dreierlei nebeneinander, namlieh:
1. Ei ne echte Myotonie, von Jugend auf bestehend, durch das
charakteristische Verhalten der Muskulatur bei intendierten Bewegun-
gen, ferner durch Lokalisation in den Extremitaten, Augenlidern,
Scfhluckmuskeln, durch Abhangigkeit von der Temperatur, durch Be-
stehen der typischen, mechanischen und elektrischen Reaktion ge-
kennzeichnet.
2. Pararayotonische Erscheinungen, d. h. es entstehen bei
ihm — namentlich unter dem Einfluss der Kalte — ohne Rucksieht
auf intendierte Bewegungen, anfallsweise auftretend und Stunden bis
Tage anhaltend, Muskelversteifungen, die auch objektiv nachweis-
bar sind.
3. Paradox-myotonische Erscheinungen, namlieh bei gleich-
Tormigen, langere Zeit fortgesetzten Bewegungen (Marschieren, Scbrei-
ben) eine zunehmende, mit Sckmerzen verbundene Steifigkeit, zu der
sich labmungsartige Schwiiche gesellt.
Besonders bemerkenswert scheinen mir die bei den unter 2 und
3 geschilderten Symptomen auftretenden Schmerzen zu sein, die in
mancher Beziehung an die Schmerzen bei der Tetanie erinnern, ohne
dass sonstige tetanische Symptome vorhanden gewesen waren (s.
Stiefler).
Die Sonderstellung, w'elche der Fall einnimmt, liegt nun darin,
dass Paramyotonie und paradoxe Myotonie bei einem sicheren Myo-
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Myotonie.
233
toniker yorkommen. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit
erheblich, dass die beiden erstgenannten Leiden besondere Krankbeiten
darstellen. Wir haben es vielmehr bei ihnen wohl auch nur mit
Komplikationen der echten Myotonie zu tun. —
Von Interesse an dem Fall ist ferner die Verbindung mit der
Basedowschen- Krankheit und der sehr friihe Beginn (vor der
Schulzeit).
Die Bebauptung M. Kamps, dass die durch Sohne vererbte
Krankheit rascher erlischt, findet durch den von mir gelieferten
Stammbaum, der leider unvollstandig ist, weil einige Mitglieder der
Familie in Amerika leben, keine voile Bestatigung.
Auffallend ist ubrigens in unserem Falle, dass die erkrankten
Frauen an Zahl weit hinter den Mannern zuriickbleiben (5 F : 9 M.). —
Bei dem 7jahrigen Sohne meines Pat. bestehen die paramyotoni-
schen und paradox-myotonischen Erscheinungen nur andeutungsweise.
Bei E. selbst sind sie auch friih beobachtet worden, haben sich aber
im Laufe der Jahre verstarkt. Pat. fiihrt das auf seinen Beruf als
Fabrikant zuriick, in dem er viel zu gehen und zu schreiben hat. —
II. Psychische Storungen bei Myotonie.
fiber die psychischen Abweichungen, welche eine Myotonie be-
gleiten konnen, enthalt die Literatur wenig Angaben. Ausgesprochene
Psychosen scheinen selten vorzukommen.
Thomsen erwahnt die Scheu der Kranken, von ihren Leiden zu
sprechen und dasselbe zu zeigen.
Einer der Pat. von Peltz war debil und litt an depressiven
Verstimmungen.
Oppenheim fand Epilepsie und Hemikranie als Komplikationen
der Myotonie.
Stertz hat aus unserer Klinik im Jahre 1912 einen Fall vorge-
stellt, der mehrfach in Irrenanstalten gewesen war.
Dieser Kranke bekam plotzlich brutale Erregungszustande, denen
Depressionen vorausgingen oder folgten. Einige Male wurden auch
Anfaile beobachtet, die nach der Beschreibung epileptiformer Natur
waren. Verstimmungen mit Neigung zu Gewalttaten gegen die Um-
gebung und Nahrungsverweigerung wurden gleichfalls beobachtet,
ebenso wochenlange Verstimmungen mit Kopfschmerzen. Einmal
machte der Pat. einen Selbstmordversuch, bei dem er sich die Puls-
adern durchbeissen wollte.
Sozial war der Pat. im Laufe der Jahre sehr heruntergekommen.
Er reiste zu Demonstrationszwecken umher.
10*
Digitized by
Gck igle
Original from .
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
234
Hubner
In der Anstalt, in welcher die Psychose bebandelt wurde, hatte
man an eine progressive Paralyse gedacht, weil bei einer Untersachung
die Papillen trage reagierten (myotonische Pupillenreaktion?), die
Kniephanomene abgeschwacht waren und die Achillessehnenreflexe
feblten. —
In Wirklichkeit hat es sich aber wohl um eine- Epilepsie ge-
handelt. —
Bei dem von mir oben geschilderten Pat. bestand eine anfalls-
weise auftretende Hemikranie, voriibergehend auch Zustande von
Reizbarkeit und Depression.
Bei den sonstigen Myotonikern, welche icb gesehen babe, bestand
ein mehr oder minder ausgesprocbener Grad von Entartung, wahrend
hysterische Beimiscbungen nicht vorkamen.
Namentlich auf ethischem Gebiet fanden sich mehrfach erhebliche
Defekte. Einige von unseren Kranken waren infolgedessen auch so-
zial verkommen.
Zweimal konnte ich eine Debilitat feststellen.
Die eben geschilderten psychischen Abweichungen konnen, wie
ich oben gezeigt habe, zu diagnostischen Schwierigkeiten fiihren. Sie
sind aber vor allem theoretisch insofern von Interesse, als sie bewei-
sen, dass neben der Muskelerkrankung eine das Gebirn betreffende
Minderwertigkeit der Anlage bestebt (s. Hirschfeld), die sich in
manchen Fallen sogar spater weiter entwickelt, wie die epileptischen
Beimischungen erkennen lassen.
Von Interesse ist in diesem Zusammenhange auch der Umstand,
dass ebenso wie die epileptischen und epileptoiden Begleiterscheinun-
gen der Myotonie die paramyotonische Storung den Charakter des
anfallsartigen tragt.
Wie weit die eben angedeuteten Gesichtspunkte, wenn sie an
einem grosseren Material bestatigt werden sollten, geeiguet sind, die
bisherigen Auffassungen *) vom Wesen der Myotonie zu beeinflussen,
mag dabingestellt bleiben. Jedenfalls zeigen sie uns, dass man in
Zukunlt wohl auch den psychischen Abweichungen seine Aufmerk-
samkeit wird zuwenden miissen.
ill. Hysterische Pseudomyotonie.
Ich habe soeben darauf hingewiesen, dass bei den Fallen von
Myotonie, die ich untersuchen konnte, hysterische Begleitsymptome
nicht beobachtet worden sind.
1) Ich verweise auf die Arbeiten von Erb, Peltz, Orzechowski,
Rosenbloom und Cohoc, Knoblauch, Gregor und Schilder, Findley,
Skutetzkv, Stertz.
tv Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
fiber Myotonie.
235
Dagegen habe ich zweimal unter den vielen Hysterischen, die wir
zu sehen bekommen, „pseudomyotonische“ Symptome 1 ) gesehen.
Beide Male bandelte es sich um Madehen.
C. S., jetzt 23 Jahre alt Sichere Hysterica mit strumpffOrmigen
Anasthesien, Reflexsteigerungen, Tachykardie and auf psychischem Ge-
biete Pseudologie, derentwegen sie mehrfacb Beleidigungsprozesse hatte.
Mit 14 Jahren Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Hcrzklopfen und schraerz-
liafte „Krampfzustande w in den Armen, bisweilen in den Beinen.
Bei der Untersuchung damals: Ovarie, strumpffbrmige Analgesie am-
r. Bein, H&ndezittern, zeitweise hochgradige Blasse der Finger und Zehen..
Durch Druck auf den Sulcus bicipitalis interims wird in der gleich-
seitigen Hand und dem Vorderarm ein Krampf ausgelOst, bei dem die
Hand sckliesslich iu „Geburtshelferstcllung“ steht
Keine Steigerung der mechanischen Oder elektrischen Erregbarkeit der
motorischcn oder sensiblen Nerven, insbesondere kein FacialisphSnomen.
Daneben hatte nun die Pat. etwa ein Jahr lang bei pldtzlichem, kur-
zem und energischem Handschluss bdsts. die BewegungsstdruDg, welche far
die Myotonie charakteristisch ist. Sie konute die geschlossene Hand nur
ganz langsam und unter Ubenvindung eines Widerstandes Offnen. Dabei
keine myotonische Reaktion, keine Dellenbildung, kurz, keine Anderung
der mechanischen Oder elektrischen Erregbarkeit.
Ich habe den Fall als hysterische Pseudotetanie mit pseudomyo-
tonischen Erscheintmgen in den Handen aufgefasst Die tetanieahn-
lichen Symptome sollen noch heute gelegentlich auftreten, die pseu-
domyotonische Bewegungsstorung, welche sich nur auf die Hande
erstreckte, ist nach etwa einem Jahr geschwunden.
In dem zweiten Falle handelte es sich um ein 32j&hriges Madehen,
das wegen einer hysterischen GangstOrung mit ischiasahnlichen Schmerzen
einige Wochen in der Klinik behandelt wurde. Sie wurde gebessert ent-
lassen, stellte sich dann nach etwa 3 Monaten mit der Angabe wieder
vor, wenn sie einen Gcgenstand fest anfasse, kdnne sie ihn nicht sofort
loslassen.
In der Tat bestand, ziemlich deutlich ausgeprSgt, die charakteristische
StOrung, wie bei der Myotonie, lediglich auf die Hande beschrankt, unab-
hangig von der Aussentemperatur ohne Verhnderung der mechanischen und
elektrischen Erregbarkeit der Muskulatur. Auf Suggestivbehandlung mit
galvanischen StrOmen und Massage schwand das Symptom rasch. . Andere
hysterische Erscheinungen blieben bestehen.
Die beiden Falle beweisen, dass es Zustande gibt, die ausserlich
voriibergehend der Myotonie ahneln konnen, und doch hysterischer
Natur sind.
1) Blum hat anscheinend Ahnliches beobachtet. Die Arbeit war mir nicht
zuganglich.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
236
Hubmeb
Digitized by
Literatur.
In das nachfolgende Verzeichnis habe ich alle Publikationen fiber Myo¬
tome aufgenommen, welche seit dem Jahre 1907 erschienen sind, gleichgfiltig
ob sie zu meinen eigenen Ausfuhrungen in Beziehung stehen oder nicht. Ich
hoffe, dass das Verzeichnis ziemlich vollatandig ist. Es steilt die Fortsetznng
des in der Peltzschen Arbeit gegebenen dar.
1907.
Rindfleisch, W., Uber die Kombination von Syringomyelie mit Myo-
tonie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 33, H. 3—4, S 171.
Ffirnrohr, Wilb., Myotonia atrophica. Dtsch. Zeitschr. £ Nervenheilk.,
Bd. 33, H. 1-2, S. 25.
Kamp, A., Ein Beitrag zur Kenntnis der Myotonia congenita, sog. Thom-
sensche Krankheit. Dtsch. nied. Wochenschr., Nr. 25, S. 1005.
Mann, Fall von Myotonie. Vereinsbeil. d. Dtsch. med. Wochenschr.,
S. 486.
Pansini, La malattia di Thomsen: diagnostics differentials. Corriere
san. XVIII. 519—521.
Modena, Sur la myotonie. Soc. Medico-chir. Ainonitana. 9. Mars.
Pelz, A., t)ber atypische Formen der Thomsenschen Krankheit. (Myo¬
tonia congenita.). Archiv ffir Psych., Bd. 42, H. 2, S. 704.
1908.
Reyher und Helmholz, Demonstration von Myotonia congenita. Munch,
med. Wochenschr., S. 824 (Sitzungsbericht).
Bingel, Fall von Myotonie (Thomsenscbe Krankheit). Mfinch. med.
Wochenschr., S. 1717 (Sitzungsbericht).
Hunt, D. J. Ramsay, Myotonia atrophica. The Journ. of Nerv. and
Mental Disease, Vol. 35, p. 269 (Sitzungsbericht).
Knoblauch, A., Ein Fall von Thomsenscher Krankheit. Mfinch. med.
Wochenschr., S. 1903 (Sitzungsbericht).
Levi, Hugo, Myotonia congenita. Vereinsbeil. d. Dtsch med. Wochenschr.,
S. 486.
Schlager, Fall von Myotonie. Munch, med. Wochenschr., S. 2065
(Sizungsbericht).
Voss, G., Zur Frage der erworbenen Myotonien und ihrer Kombination
mit der progressiven Muskelatrophie und angeborenem Muskeldelekt. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 34, II. 5—6, S. 465.
1909.
Brissaud et Bauer, Sur les troubles de la motilitd dans la maladie de
Thomsen. Revue neurol., Nr. 10, p. 600.
Dieselben et Gy, Maladie de Thomsen. Ibidem, p. 364 (Sitzungs¬
bericht).
Chostek, Fr., Fall von Myotonia atrophica. Wiener klin. Wochenschr.,
S. 434 (Sitzungsbericht).
Derselbe, Myotonia associated with Muskular Atrophy and Myasthenie.
The Med. Press and Circ., Juli 7.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ober Myotonie. 237
Eulakoft', A. J., Myotonia congenita (Coltzens, Thomsen). Wratsch. Gaz.
XVI, 486—489.
Fnchs, Alfred, Fall von Myotonia acquisita. Wiener'klin. Wochenschr.,
S. 796 (Sitzungsbericht).
Rad, v., Fall von Myotonie mit sehr ausgedehntem Muskelschwund.
Mflnch. med. Wochenschr., S. 47 (Sitznngsbericht).
Steiner, W. R, Thomsens Disease: myotonia congenita. Mod. med.
(Osier), VI, 595-605.
Sulakow, A., Myotonia congenita. (Thomsensche Krankheit). Wratsche-
bnaja gazeta.
Batten, Frederic E., A Clinical Sntnre. On Myotonia atrophica. The
Lancet. II, p. 1486.
Stein ert, Hans, Myopathologische Beitrage. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heilk., Bd. 37, H. i-2, S. 58.
Orzechowski, Kasimir v., Die Tetanie mit myotoniscben Symptomen.
JahrbQcher f. Psych., Bd. 29, Heft 2—3, 8. 283.
Batten, Fred. E., and Gibb, H. P., Myotonia congenita. Brain, p. 187.
1910.
Roux, Johanny, De la myotonie dans la roaladie de Parkinson. Revue
nenrol. Nr. 4, p. 204.
Ashby, H. T., A Case of Congenital Myotonie. Arch, of Pcdiatr.
Bd. XXVII, p. 363.
Blnm, P., Un cas d’amolitl g£n£rale intermittente d’origine psychique
simnlant la maladie de Thomsen. Union m£d. du nord-est. Bd. XXXI,
p. 149—151.
Claude, Henri, Pseudo-myotonie ou asthdnie musculaire par crampes.
Revne nenrol. Part. H, p. 114 (Sitznngsbericht).
Erben, S., Ein Phthisiker mit myotonischer Symptomengruppe. Wiener
med. Wochenschr., Nr. 44, S. 2609.
Golowkoff, A., Zur Frage von der pathologischen Veranderung der
Mnskeln bei der Thomsenschen Krankheit. Arbeiten n. Sitznngsber. d. kais.
kankas. med. Ges., 46, S. 260.
Mager, Fall von Myotonia acquisita traumatica. Wiener klin. Wochenschr.,
S. 915 (Sitznngsbericht).
Steinert, Hans, Ein nener Fall von atrophischer Myotonie. Ein Naeh-
trag zu meiner Arbeit in Bd. 37 dieser Zeitschrift. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heUk., Bd. 39, H. 1-2, S. 16S.
Tnrney, H. G., Myotonia atrophica. Proc. of the Royal Soc. of Medi¬
cine. Vol. HI. Nr. 6. Clinical Section, p. 145.
1911.
Allavic, G. et Denfes, Reactions dlectriques dans la maladie de Thomsen.
Gaz. med. de Nantes, Nr. 31, p. 601—608.
Babonneix, L. et Lemaire, J., Un cas de maladie de Thomsen chez
une fillette de 10 ans. Ann. de m£d. et chir. inf. XV. 164—167.
Bumke, Oswald, Cber eine der myotoniscben Shnliche, familiar auf-
tretende Form von Intentionskrampfen. Zeitschr. f. die ges. Neurol, u. Psych.
Originate. Bd. IV, H. 5, S. 645.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
238
IIUBNER
Digitized by
Greenfield, J. G., Notea on a Family of „Myotonia atrophica" and
Early Cataract, with a Report of on Additional Case of „Myotonia atrophica".
Review of Neurol, and Paych,, IX, 169—181.
Grand, Georg, Zur Frage des Vorkommena erworbener Myotonie. Dtacli.
Zeitachr. f. Nervenheilk., Bd. 42, H. 1—2, S. 110.
Hirach, C., Typiacher Fall von Thomaenacher Krankheit. Vereinabeil.
d. Dtach. med, Wochenschr., S. 2402.
Hirachfeld, R., Myotonia atrophica. Zeitachr. f. die gea. Neurol, u.
Paych. Originale. Bd. V, H. 5, S. 682.
Hoffmann, J., Atrophiache Myotonie. Munch, med. Wochenachr., 1912,
S. 55 (Sitzungabericht).
Iwanow, F., Uber eine beaondere Form des neuro-muakultiren. Sym-
ptomenkomplexes mit Eracheinungen der angeborenen Myotonie (Myasthenia
familialis congenita vaaospaatica). Charkowsches med. Journ., 6, 311.
Jakobsohn, Leo, Toniache Krampfzuatande an den unteren Extremi-
taten auf funktioneller Grundlage. Berliner klin. Wochenachr., Nr. 44, S. 1985.
Pea me, Maladie de Thomsen. Arch, de mdd. et pharmacologic milit.,
LVHI, p. 113.
Reichmann, Thomsenache Krankheit kombiniert mit Dystrophia muscu¬
lorum progressiva. Munch, med. Wochenachr., S. 1108 (Sitzungabericht).
Salzberger, Max, Nachtragliche Notiz zu der Arbeit „{jber daa aym-
ptomatiache Vorkommen myotoniacher Storung bei entzundlichen Muskelpro-
zeaaen". Berliner klin. Wochenachr., Nr. 2, S. 100 (a. Jahrg. XIV, S. 730).
Steinert, Atrophiache VerJaufsform der Thomaenachen Krankheit. Ver-
einsbeil. d. Dtach. med. Wochenachr., S. 1629.
Brasch, W., Uber Muskeldyatrophie und Myotonie nach Unfall Munch,
med. Wochenachr., Nr. 12, S. 621.
1912.
Aszenzi, Odoardo, Uber Thomsenache Krankheit und Muskelatrophie.
Monatsschr. f. Paych., Bd. XXXI, Nr. 3, S. 201.
Cluzet, J., Froment, J., et.Mazel, A propos d’un cas de maladie de
Thomsen. Le syndrome 61ectrique myotonique. Lyon medical. T. CXIX, Nr. 52,
p. 1117.
Curschmann, Hans, Uber familiare atrophiache Myotonie. Dtsch.
Zeitschr. f, Nervenheilk., Bd. 45, H. 3, S. 161.
Fearnsides, E. G., Myotonia atrophica. Proc. of the Royal Soc. of Me¬
dicine. Vol. 5, Nr. 3, Neurol. Section, p. 77.
Findlay, Leonard, A Case of Thomsens Disease. The Quarterly Jour¬
nal of Medicine. Vol. 5, Nr. 20, p. 495.
Griffith, T. Wardrop, On Myotonia. The Quart. Journ. of Medicine.
Vol. 5, Nr. 18, p. 229.
Grand, Fnmilie mit atrophischer Myotonie. Neurol. Zentralbl., S. 1463
(Sitzungabericht).
Hoffmann, J., Atrophiache Myotonie ohne und mitKatarakt. Vereins-
beil. d. Dtach. med. Wochenachr., S. 1215.
Derselbe, Katarakt bei und neben Myotonie. Arch. f. Ophthalm.,Bd.81,
S. 521.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Myotome. 239
Flatau and Sterling, Tetanic mit myotonischen Erscheinungen. Neurol.
Polska, Bd II, H. P.
Jaksch, R. v* Myotonia congenita. Wiener kliD. Wochenschr. 1913, S. 87
l Sitzungsbericht).
Jastrowitz, H., Myotonie mit tetanischen Symptomen. Munch, med
Wochenschr., S. 726 (Sitzungsbericht).
Kramer, F. und Selling, L., Die myotonische Reaktion (myographische
Untersuchungen). Monatsschr. f. Psych., Bd. 32, H. 4, S. 283.
Ortleb, Wahrhold, Uber Thomsensche Krankbeit und ihre Beziehungen
zar Dystrophia musculorum progressiva. Inaug.-Dissert., Jena.
Rouget, Maladie de Thomsen. Gazette des hOpitaux, p. 938 (Sitzungs¬
bericht).
Stertz, Myotonie mit Muskelatrophien und psychischen StSrungen.
(Myotonia atrophica). Vereinsbeil. d. Dtsch. med. Wochenschr., S. 2435.
Bourgonignon, G., Huet, E., et Langier, H., Nouvelles reactions
electriques des muscles dans la myopathic. Compt. rend. Soc. de Biologie.
T. LXXII, Nr. 7, p. 246.
Maillard, Des troubles d’apparence myotonique dans la maladie de Par¬
kinson. L’Enc5phale 1912, Nr. 12, p. 433.
1913.
Brannoell, Edwin, and Addis, W. R., Myotonia atrophica. Edinbourgh
Med. Journ. N. S. Vol. XI, Nr. 1.
Bychowski, Z., Zwei Schwestern mit Thomsenscber Krankheit. Neurol,
psych. Sekt. d. Warschauer med. Ges. 21. Juni.
Cluzet, J. et Froment, J., Etude du syndrome 61ectrique myotonique.
Spasme myotonique par excitation des norfs. Ann. dMlectrobiol. Jg. 16, 145.
Engelhardt, Thomsensche Krankheit. Vereinsbeil. d. Dtsch. med.
Wochenschr., S. 1021.
Flatau, E. und Sterling, W., t)ber symptomatische Myoklonie bei or-
ganischen Affektionen des zentralen Nervensystems bei Kindern. (Nebst Be-
merkungen fiber das Phanomen des Blinzeln-Nystagmus). Zeitschr. f. die ges.
Neurol, u. Psych., Bd. 15, R. 1—2, S. 143.
Gildemeister, Elektrophysiologische Untersuchung fiber Myotonia con¬
genita (Thomsensche Krankheit). Neurol. Zentralbl., S. 1060 (Sitzungsbericht).
Gregor, A. und Schilder, P., Zur Theorie der Myotonie. (Vorlaufige
Mitteilung). Neurol. Zentralbl., Nr. 2, S. 85.
Dieselben, Zur Theorie der Myotonie. Zeitschr. f. die ges. Neurol, u.
Psych., Bd. 17, H. 2-3, S. 206.
Grund, Ober atrophische Myotonie. Mfinch. med. Wochenschr., Nr. 16
bis 17, S. 863, 923.
Hirsch-Tabor, Atypische Myotonie. Mfinch. med. Wochenschr., S. 670
(Sitzungsbericht).
Hofmann, F. B., Ergographische Versuche an einem Falle von Myoto¬
nia congenita. (Thomsen). Med. Klinik, Nr. 25, S. 990.
Huet et Loug-Landry, Mme. Un cas de Myotonie atrophique. Revue
neurol., Nr. 6, p. 433 (Sitzungsbericht).
Roshewnikoff, A. M., Zur Frage des Verhaltens der Haut- und Sehnen-
Digitized by
Gck igle
Origins it>m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
240
Hubner
Digitized by
reflexe bei Thomsenscher Krankheit. (Myotonia congenita). Neurol. Bots
(rues.), 20,607.
Kramer, Atrophisqhe Myotonie. Berl. klin. Wocbenachr., S. 650 (Sitzungs-
bericht).
Schmidt, Otto, Beitrag zur Kenntnis der ThomsSnschen Krankheit.
Inaug.-Diesert, Giessen.
Skutetzky, Alexander, Zur Klinik der Myotonia congenita, der soge-
nannten Thomsenschen Krankheit. Med. Klinik, Nr. 25, 8. 986.
Stewart, Purves,Progressiver Myotonusbei einer myoklonischen Kranken.
Neurol. Zentralbl, Nr. 5, S. 288.
Strumpell, v., Zwei Bruder mit Myotonie und ausgedehnten Muskel-
atrophien. MQnch. med. Wochenschr., S. 727 (Sitzungsbericht).
Derselbe, Thomsensche Krcnkheit. Vereinsbeil. d. Dtsch. med.
Wochenschr., S. 1387.
Willich, Fall von Myotonia acquisita mit Muskelatropbie. Milnch. med.
Wochenschr., S. 2025 (Sitznngsbericht).
Tetzner, Rudolf, Myotonia atrophica nach Trauma. Dtsch. Zeitschr. f.
Nervenheilk., Bd. 46, H. 6, S. 436.
1914.
Fflrnrohr, Uber Myotonia congenita. Munch, med. Wochenschr., S. 2884
(Sitzungsbericht).
Koppe, H. H., Thomsens Disease — Myotonia congenita. Ibidem. Nr. 16.
Koschewnikoff, A. M., Ober Haut- und Sehnenreflexe bei der Thom¬
senschen Krankheit. Neur. Wjestnik, XX, H. 3.
- Lehndorff, Fall von Myotonia congenita. Wiener klin. Wochenschr.,
S. 451 (Sitzungsbericht).
Lohlein, W., Fruhkatarrh bei atrophischer Myotonie. Klin. Monatsschr.
f. Augenheilk., MarzApril, S. 453.
Mendel, K., Myotonia atrophica. NeuroL Zentralbl, S. 859 (Sitzungs-
bericht).
Saenger, Fall von Myotonia congenita. Neurol. Zentralbl., S. 592
(Sitzungsbericht).
Schuster, tiber Thomsensche Krankheit. Hiinch. med. Wochenschr.,
S. 1256 (Sitzungsbericht).
Skoog, A. L., Myotonia congenita. Bericht zweierFiille in einer Familie.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 27, S. 357.
Aim6, Henri, Considerations histo-pathog£niques sur la myotonie atro-
phique. L'Enc^phale, Nr. 6, p. 503.
Beco, Lucien, Un cas de myotonie acquise. Ann. de la Soc. m4d.-chir.
de Li^ge. Janv. p. 2.
Boot, G. W., A Case of Congenital Myotonia. The Joum. of the Arner.
Med. Assoc. 1913, Vol. LXI, Nr. 25, p. 2237.
B ram well, F., and Addis, W. R., Myotonia atrophica. The Edinbonrgh
Med. Joum. 1913, N. 8., Vol. XI, Nr. 1.
Bullowa, J. G., Myotonia atrophica. Medical Record. Vol. 86, p. 131
(Sitzungsbericht).
Casamajor, Louis, Case of Myotonia atrophica. The Journ. of Nerv.
and Mental Disease. Vol. 41, p. 594 (Sitzungsbericht).
Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Myotonic.
241
Conos, B., Cas de maladie de Thomsen. Grfece m4dicale Nr. 15-17.
Carschmann, Hans, Beobachtungen andUntersuchungen bei atrophischer
Myotonie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 53, H. 1—3, S. 114.
Olof f, Myot. Konvergenzreaktion der Pupille. Monatsschr. f. Angenheilk.,
S. 493.
1915.
Aronade, Myotonia concenita. V.-B. d. Dtsch. med. Wochenschr. 1916,
42, 467.
Erben, Siegmund, Falle von Myotonie. Wiener klin. Wochenschr., S. 278
(Sitzungsbericht).
Johnson, W. and Marshall, G., Congenital Myotonia. Thomsens
Disease. Quart. J. of M. Jan.
Jones, W. A., Myotonia congenita. The J. of the Am. M. Ass. 6',
(7), 615. (Beschreibong eines Falles bei einer 41jahrigen Fran.)
Lehndorff, Arno, Demonstration eines Falles von Myotonia congenita.
Fortechr. d. Med., Nr. 40/41, S. 999 (nichts Wesentliches).
Lewandowsky, Familiare Kaltelahmung. Neurol. Zentralbl. 1916, S',
58 (Sitzungsbericht).
Michaud, Cas de maladie de Thomsen. Korr.-Bl. f. Schweizer Arzte,
S. 919 (Sitzungsbericht).
Stiefler, Georg, Cber einen seltenen Fall von Myotonia congenita mit
myatrophischen and myasthenischen Erscheinungen. Jb. f. Psych., 35 (23), 173.
Stocker, Akquirierte Myotonia atrophica. V.-B. d. Dtsch. m. Wochenschr.,
Scharpff, Myotonia congenita mit Ophthalmoplegia externa. Monatsschr.
f. Psych., Bd. 39, S. 307.
Loeb, Myotonia congenita. Psych.-neurol. Wochenschr., Bd. 18, S. 79.
Huet et Franjais, Myotonie acquiBe. Rev. neur. 33, S. 911. Ref.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Ref Bd. 13, S. 573.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aias der Nervenabteilung des k. u. k. Reservespitals Nr. 1 Lemberg
(Spitalkommandant Oberstabsarzt Dr. Julius Reich).
Beitrag znr Kenntnis der Acroasphyxia chronica hyper¬
trophies
Von
Oberarzt Dr. Jakob Rothfeld,
Assistent an der Nerrenklinik der Universitat Lemberg, derz. Leiter der
Nerven abteilung.
(Mit 3 Abbildungen.)
Unter dem Namen Acroasphyxia chronica hypertrophica hat
Cassirer 1 ) eine Reihe von Beobachtungen zusammengestellt, in
welchen eine zunehmende, sich allmahlich entwickelnde Asphyxie der
Extremitatenenden, mit dauernder Volumzunahme, das Uauptsymptom
darstellt. Die Vergrosserung der Acra betrifffc nur die Weichteile,
besonders das Unterhautgewebe, der Knochen bleibt dabei unveran-
dert. Die Haut ist stark zyanotisch, die Verfarbung ist an den Han-
den intensiver als auf den Fiissen, am Handriicken mehr ausgepragt,
als an der Vola manus und verliert sich allmahlich an dem Vorderarm
bzw. am Unterschenkel. Die betrofFenen Teile sind kiihler als normal.
Die Haut ist weich, sukkulent, frei verschieblich, zeigt keine Veran-
derungen, insbesondere sind keine trophischen Stdrungen vorhanden.
Die Nagel sind normal. Schmerzen konnen vorkommen, sind jedoch
nicht intensiv. Sensibilitatsstorungen wurdeu bisher nur in einigen
Fallen beobachtet. Derartige Falle sind von Barker-Sladen 2 ),
Gasne et Souques 3 ), Kartje 4 ), Pehu 5 ) u. a. beschrieben worden.
Cassirer betont die nahe Verwandtschaft dieses Symptomkom-
plexes mit der Raynaudschen Krankbeit, von welcher er sich jedoch
durch das Fehlen von Paroxysmen, Schmerzen, trophischen Storungen,
durch die allmahliche Entwickelung ‘ der Asphyxie und durch die
1) Die vasomotoriBch-trophischen Neurosen. Berlin 1912.
2) Journ. of nerv. and ment. disease 1907 (zit. nach Cassirer).
3) Nouv. Icon. 1892 (zit. nach Cassirer).
4) Arch. £ Kinderhkd. B. 53.
5) Nouv. Icon. 1903.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntuis <ler Acroasphyxia chronica hypertrophies 243
Volumzunahme onterscheidet. Differentialdiagnostisch kann auf Grand
bisheriger Beobachtungen die Hysterie, die Syringomyelie, die Akro-
megalie und die Osteopathie hypertropiante pneumique in Betracbt
kommen. Was die Hysterie betrifft, so ist die Entscheidung niebt
immer leiebt; die Aspbyxie kann namlich neben der Hysterie bestehen,
so dass. die Feststellung bysteriseber Symptoine bei demselben Kran-
ken noch nicht berechtigt, die Akroasphyxie als eine hysterische zu
betrachten. Darauf hat Cassirer sowohl auf Grund eigener, wie
auch der au3 der Literatur zusammengestellten Falle hingewiesen.
Das Fehlen von Muskelatrophien, die normale elektrische Erreg-
barkeit, das Fehlen dissoziierter Empfindungsstorungen werden eine
Syringomyelie ansschliessen lessen. Mangel an Knochenveranderungen,
besonders der Sella turcica, keine Vergrosserung des Unterkiefers,
normales Gesicbtsfeld usw. wird gegen die Akromegalie, Fehlen
trommelschlagelartiger Deformation der Finger, Fehlen von Knochen-
reranderungen und Nageldeformitaten werden gegen die Mariesche
Erkrankung spreeben.
In den bisber beobachteten Fallen bandelte es sich um symme-
trische Erkrankung an beiderseitigen Extremitaten, vorwiegend der
Hande. Im nachstehenden will ich fiber bierher geborende Falle be-
riebten, in welchen nur eine Hand betroffen. war, die zweite ganz
gesund war oder geringe Storungen aufwies.
Fall 1. Februar 1917. Sch., 33 Jahre alt. Im Zivil Kutscher.
Bient beim Militar seit Marz 1915. Durch 8 Monate, bis zu seiner Er¬
krankung, an der Front. — Ende Winter 1915/1916 hat der Kranke an
der Front in starker Kaite, im Schnee gearbeitet; die Deckung, in welcher
er gescklafen hat, war kalt und feucht, das Scklaflager haufig nass. Zu
der Zeit bemerkte zum erstenmal der Kranke, dass seine Hande und
Fosse blau werden; nach einigen Wochen begannen die Hande ganz all-
mahlich anzuschwellen, zuerst die linke, dann nach ca. 2 Wochen die
rechte. Die linke Hand war mehr betroffen. Die FQsse waren nicht ge-
schwollen. Abgefroren waren die Extremit&tenenden nicht. Der Kranke
ist von der Front abgeschoben worden und in Spitalern des Etappenraumes,
dann des Hinterlandes mit Badern, Elektrizitat und Massage behandelt.
Der Zustand besserte sich nur insofern, dass die geringe Anschwellung
der rechten Hand zurQckging; die linke Hand vergrOsserte sich jedoch
immer mehr. Die Zyanose nahm zu; besonders verschlimmerte sich der
Zustand in der Kaite, die Hand war dann mehr angeschwollen, die Haut
war dunkelblau. In der Warme wieder Besserung, aber nie ist die
Schwellung vollkommen zurQckgegangen. Eine 2monatliche Behandlung
in Pdstyen von Ende November 1916 bis Ende Januar 1917 (Moorbader
und Massage) blieb ebenfalls erfolglos. Der Kranke gibt an, dass auch in
der letzten Zeit die linke Hand an Grosse zunimmt und dass die Schwel¬
lung sich allmahlich auf den linken Vorderarm erstreckt; eine plotzliche
Vcrschlimmerung hat er nie bemerkt, der jetzige Zustand hat sich ganz
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
244
Rothfeld
Digitized by
allm&hlich entwickelt. Die recbte Hand and die Fttsse haben die ursprttng-
liche zyanotische Verfarbung bebalten obne anzusckwellen. Der Kranke
betont immer wieder den ungttnstigea Einfluss der Kalte, in welcher die
linke Hand inehr anschwillt, was mit dumpfen Schmerzen in der Hand
verbunden ist. In der W&rme geht die Anschwellung wieder etwas zurttck,
er empfindet dann ein starkes Jucken der Haut. Die rechte Hand and
die Fttsse schwellen nie an, sie werden nur stark zyanotisch; in der Warme,
besonders bei Nacbt, klagt Pat. ttber ein Jucken an den Fttssen. Ausser
den soeben erwabnten dumpfen Schmerzen wahrend der Kalte treten Ofters
Schmerzen in den Gelenken auf, besonders im rechten Scbultergelenk und
in den Knien. In der letzten Zeit kann der Kranke die linke Hand nicht
so gut bewegen wie die rechte, angeblich wegen Schmerzen im linken
Handgelenke. Nie Synkope.
Im Zivil war er immer gesund. Hat nie, auch zur Zeit der grdssten
FrOste — der Kranke wohnt in Ostgalizien —, an Frost der Handc ge-
litten. Wahrend des Milit&rdienstes an der Front traten zeitweise wahrend
der Kalte BlasenstOrungen auf; er musste haufig urinieren und die Blase
sofort entleeren als er den Harndrang verspttrte. Bettn&ssen in der Nacht
ist einige Mai vorgekommen. Diese Storungen sipd in der Warme t zu-
rQckgegangen.
Status praesens. Die linke Hand ist grosser als die rechte; der
Handrttcken links und die Finger dick, der vierte und fttnfte weniger
als die anderen. Die Vergrosserung der Finger betrifft mehr die Grund-
als Endphalanlagen; am Zeige- und Mitteltinger ist die Verdickung
der Mittelphalange starker als die der ttbrigen Finger. Die Vola manus
ebenfalls gepolstert, jedoch weniger als der Handrttcken. Die Volumzu-
nahme betrifft nicht nur die Hand, sondern auch den distalen dritten Teil
des Vorderarmes. Die Haut ttber der linken Hand und untcrem Teil des
Yorderarmes stark zyanotisch, dunkelblau, im Laufe der Untcrsuchung in
der Warme rotblau. tlber dem Daumen und ttber den Fingergelenken ist
die blaue Verfarbung intensiver. Ungefahr in der Mitte des Vorderarmes
verliert sich die intensive dunkelblaue Farbe, die Haut ist leicht zyano¬
tisch, marmoriert; an der ulnaren Seite der Vorderarme erstreckt sich die
zyanotische Marmorierung bis zum Ellenbogen, welcher wieder etwas in¬
tensiver blau ist, jedoch nicht so stark wie die Hand. Die Vola manus
ist bedeutend weniger verandert, die Finger sind an der Beugeseite inten¬
siver blau als die Handflache, jedoch geringer als am Handrttcken. An
der Beugeseite des Handgelenkes ist die Zyanose wieder stark, verliert
sich allm&hlich nach oben, so dass die Haut an der Ellenbogenbeuge be-
reits normal erscheint. Die Haut ttber der linken Hand ist glatt, etwas
gl&nzcnd, ein Druck auf die Haut liinterl&sst einen weissen Fleck und fine
ganz geringe Dclle, welche sofort verschwinden. Die Nagel sind normal.
Die Vola manus ist feucht..
Die rechte Hand ist ebenfalls stark zyanotisch, jedoch weniger als
die linke und hat eine Beimengung rOtlicher Verfarbung. Diese Verfarbung
der Haut erstreckt sich auf den Vorderarm ungefahr bis zur selben HOhe
wie links. Sonst ist die Hand normal, nicht angeschwollen, die Zeichnung
der Sehnen und Gef&sse tritt deutlich hervor. Der Druck auf die rechte
Hand kinterl&sst einen weissen Fleck, welcher sofort verschwindet, keine
Delle. Die Verfarbung der Hande wechsclt je, nach der Aussentemperatur,
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. 245
in der Kaite wird die Haut fast schwarzblau. Ebenso wechselt die Tem-
peratar der Httnde, gewOhnlich ist die lioke ktthler als die rechte, manck-
mal jedoch ist eher die linke Hand warmer, jedoch sind die Fingerspilzen
der linken Hand immer kalt.
SensibilitatsstOrungen: An der linken oberen Extremitat besteht in
den zyanotischen Hauptpartien eine ganz geringe Hypalgesie; in denselben
Bezirkcn eine distalwarts zunehmende Hypastkesie. Warmegeftthl im un-
tei’en Drittel des Vorderarmes bis zum Handgelenke stark herabgesetzt,
an der Hand selbst fast aufgehoben; KaltegefQhl aufgehoben, die StOrung
reicht jedoch holier kinauf als die Warmeanttsthesie, so dass erst in der
Mitte des Vorderarmes etwas Kaite gespttrt wird. Die oberen Grenzen
dieser Sensibilitatsstfirung ziemlich scharf. An der rechten oberen Extre¬
mitat ist die Schmerzempfindung in den zyanotischen Partien normal,
Nadelstiche werden etwas weniger gespttrt als an der gesunden Haut; Be-
rQhrung normal. Kalt wird nicht gespttrt, Warmeempfinden herabgesetzt.
Tiefe Sensibilitat beiderseits normal.
Die Bewegung der linken Hand und der Finger in geringem Grade
eingeschrankt. Die Bewegungen der Finger erfolgen etwas langsam. Bei
Kraltanstrengung ziehende Schmerzen im Vorderarm. Keine Atrophien.
Elektrische Erregbarkeit der Muskulatur und Herven beiderseits normal.
Bewegungen der rechten Hand normal.
Die Fttsse sind beiderseits am Fussrttcken und um das Sprunggelenk
stark zyanotisch, jedoch nicht diffus; es sind dazwischen hellere Partieu
normaler und rOtlich verfarbter Haut zn sehen. Die Zehen sind fast nor¬
mal, die Fusssohlen blass. Ein Druck auf die Haut lasst einen weissen
Fleck zurttck, welcher sofort verschwindet; eine Delle entsteht nicht. Die
zyanotisch rOtliche Verfttrbung verliert sich allmahlich, ca. 4 Querfinger
oberhalb der Malleoli. In der Mitte der Unterschenkel ausgebreitete brttun-
liche Pigmentation nach Geschwttren. Beide Knien sind zyanotisch mit
kleinen rdtlichen Flecken. An den Oberschenkeln geringe Marmorierung
der Haut. In den zyanotischen Hautpartien Herabsetzung der Kaite- uml
Warmeempfindung bei erhaltener Bertthrung und Schmerzempfindung.
Die Sehnenreflexe sind sowohl an den oberen wie auch unteren Ex-
tremitaten lebhaft, beiderseits gleich. Keine Druckempfindlichkeit der
peripheren Nervenstamme. Hautreflexe normal. Hirnnerven frei. Corneal-
und Rachenreflexe lebhaft. Keine Einschrankung des Gesichtsfeldes. Gc-
ringe angeborene Ptosis beiderseits. Abstehende Oliren. Dermographie
gesteigert, gesteigertes Schwitzen, in der linken Axilla mekr als in der
' rechten. Mechanisclie Muskelerregbarkeit nicht gesteigert. Mit Ausnahmc
der Extremitatenenden ist die Sensibilitat am ganzen KOrper normal. In-
terner Befund normal. In beiden Knie- und Schultergelenken, ebenso im
linken Handgelenke deutliche Krepitation bei passiven Bewegungen.
Wassermannsche Reaktion im Blute negativ. Die Rbntgenaufnahme
der Httnde zeigt normale Struktur und keine Vergrdsserung der Knochen,
jedoch eine Vergrosserung des Schattens der Weichteile an der linken
Hand.
Es handelfc sich in diesem FaUe um eine, im Anschluss an eine
starke Kalteeinwirkung sich entwickelte Zyanose der Extremitaten¬
enden, welcher sich bald eine Schwellung, lediglich der Hande, an-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
246
Rothfeld
schloss. Im weiteren Verlaufe ging die Schwellung der rechten Hand
zuriick, es blieb hier, ahnlich wie auf den Fiissen, dauernd eine Zya-
nose bestehen. Nur an der linken Hand entwickelte sich der Prozess
weiter, die Volumzunabme der Hand bat trotz verschiedener Behand-
lung Fortschritte gemacht und griff spater auch auf den Vorderarm
iiber. Wahrend also an der rechten Hand nnd an beiden Fiissen der
Krankheitsprozess sich auf eine Acroasphyxie beschrankte nnd auf
dieser Stufe stationar blieb, sehen wir an der linken Hand eine Vo-
lumzunahwe der Weichteile sich entwickeln; der Knochen ist, wie
das JRSntgenbild zeigt, an der VergrSsserung der Hand nicht beteiligt.
An der rechten Hand und an den Fiissen weisen neben der Zyanose
die SensibilitatsstSrungen auf das Erkranktsein dieser Teile hin. Es
hestanden nie starke Schmerzen; der Kranke klagt iiber Schmerzen
in einzelnen Gelenken. Der objektiye Befund (Krepitation im linken
Hand-, beiden Knie- und Schultergelenken) weist auf eine chronische
Erkrankung der Gelenke hin. Nie bestand Synkope.
Der Krankheitsyerlauf und das klinische Bild entspricht voll-
kommen den yon Cassirer beobachten Fallen. Differentialdiagno-
tisch kSnnte die Syringomyelic und die Hysterie in Betracht kommen.
Gegen die Syringomyelie spricht das Fehlen von Muskelatrophien, die
normale elektrische Erregbarkeit, das plStzliche Auftreten der Zyanose
an alien yier Extremitaten im Anschluss an die Kalteeinwirkung und
endlich die Art der SensibilitatsstSrungen. Zwar ist hier eine disso-
zierte Sensibilitatsstorung angedeutet, jedoch ist diese Art der Ans-
breitung, die scharfe Grenze an den Vorderarmen, die symmetrische
Ausbreitung der SensibilitatsstSrungen an den Fiissen eine recht seltene
Erscheinung bei der Syringomyelie. Bei chronischer Akroasphyxie
sind derartige SensibilitatsstSrungen besonders von Cassirer be-
obachtet worden. Barker und Sladen, Kartje fanden sie ebenfalls
in ihren Fallen. Gegen die Hysterie spricht in unserem Falle das
Fehlen hysterischer Symptome.
Hervorzuheben ist die Differenz in der Intensitat der Krankheits-
erscheinungen an einzelnen Extremitatenenden. Am meisten betroffen
ist die linke Hand, weniger die rechte und am wenigsten die Fiisse,
wo nicht nur die Zyanose aber auch die SensibilitatsstSrungen die
geringsten sind. Diese Differenz kann in anderen Fallen noch bedeu-
tender sein, wie das der nachste Fall zeigt.
Fall 2. Februar 1917. K. 25 Jahre alt. Getreideh&ndler. In-der
Kindheit Rhachitis, Diphterie, Scharlach mit OhreneutzQuduug, Masern. Mit
11 oder 12 Jahren Kehlkopfkatarrh. Bis zum 15. bebensjahre Bettnasser,
spater nur sehr selten BlasenstSrungen. Bis vor 3 J / 2 Jahren gesund, nur
zeitweise Schmerzen im Unterleibe infolge einer Aulage zu einem Leisten-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acro&sphyxia chronica hypertrophic*. 247
brnch. Im April 1913, plOtzlich mit Fieber, Halzschraerzen and Schmer-
zen in alien Gelenken erkrankt. Besonders schmerzhaft waren die kleinen
Gelenke der H&nde, die Knie- und Sprunggelenke, welche auch ange-
schwollen waren. Nach 6 Wochen Besserung unter Aspirin, Umschlfigen
und Schwitzkur; der Eranke hat nach der Genesung dnrch drei Monate ge-
arbeitet; bei schlechtem Wetter klagte er fiber Schmerzen in den Gliedern.
Infolge einer Erkaltung Rezidive, war 4 Wochen krank. Seit der Zeit
bestehen zeitweise rheumatische Schmerzen in den Extreraitfiten. Im Win¬
ter 1913/14, also nach der GelenksentzQndung, bemerkte der Eranke, dass
seine Hande in der Ealte leicht anschwellen und blau werden; in der
Warme girig der Zustand zurQck. Dieselben Erscheinungen traten im
Winter 1914/15 auf, nur war die linke Hand mehr angeschwollen als die
rechte; die Schwellung nahm ab, wenn er einige Tage im Zimmer blieb;
an der linken Hand ging die Schwellung nie vollkommen zurQck, so dass
sie auch im Sommer bemerkbar war. Ebenso nabm die blaue Verfarbung
der Hand in Warme und im Sommer an Intensitat ab. Im Herbst und
besonders im Winter 1915 Verschlimmerung an der linken Hand, welche
allmQblich grosser wurde. Hie Schmerzen in den Handen. Die Beweglich-
keit dcr Hande war erhalten, der Eranke hat sich jedoch der linken Hand
wegen der Schwellung wenig bedient; sie war meistens verbunden. Im
Herbst und im Winter 1916 hat sich der Zustand bedeutend verschlimmert;
die Hand wurde noch grosser, die Zyanose starker und der Eranke konnte
immer weniger die Finger der linken Hand bewegen. Mit der Zunabme
der Schwellung haben sich vor ca. 2 Monaten die Finger allmahlich zu-
sammeugezogen und der Eranke konnte die Hand nur mit Mfihe Offnen.
Bei Bewegungen im Eilenbogengeienke spfirte er ein Ziehen im Vorderarm,
jedoch keine Schmerzen. Er hat die Hand in einera Tuch aufgehangt
getragen. Der Eranke wurde wahrend des Erieges zweimal wegen
Hamorrhoidalknoten und Prolapsus ani superarbitriert; jetzt ist er von
der Assentkommission zur Feststellung des l^idens an der Hand ins
Spital geschickt worden.
Status praesens (Februar 1917): Die linke Hand (Fig. 1) ist am
Handrficken polsterartig vergrOssert, die Finger dick in alien Gelenken
gebeugt, nur der Daumen liegt gestreckt dem Zeigefinger an. Die Haut
ist zyanotisch, nur stellenweise liellere Hautpartien; der uaterste Teil des
Vorderarmes, ca. 4—5 cm oberhalb des Handgelenkes, marmoriert. Die
Zyanose nimmt nach oben allmahlich ab, so dass im oberen Drittel des
Oberarmes die Haut fast normal ist. Die Haut fiber der linken Hand ist
weich, glatt, matt, ohne irgendwelche trophische Ver&nderungen; auf Druck
entsteht eine Delle und ein weisser Fleck, welche sofort verschwinden.
Die Haut fiber den Gelenken der Hand ist schwarzblau. Die Nagel sind
nicht verfindert. Pat kann die Hand spontan nicht Offnen. Passiv gelingt
es zwar die Finger zu strecken, sie kehren aber bald wieder in die ur-
sprttngliche Lage zurQck. Die Haut an der Vola manus und der Finger
ist blass, feucht, warmer als die des Handrfickens, die Handflfiche ist
polsterartig verdickt. Der distale dritte Teil des Vorderarmes ist deutlich
verdickt, besonders auf der ulnaren Seite. Beim Herabh&ngen der linken
Hand und in der Eftlte steigert sich die Cyanose, die Haut wird schwarz¬
blau, ebenso im kalten Wasser. Im warmen Wasser treten rote Flecke
auf. Bewegungen im Handgelenke fast 0; bei passiven Bewegungen starker
Deutsche ZeUschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 57. 17
‘Digitized
ty Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
248
Rothfeld
YViderstand. Ini Ellenbogengelenke langsame jedoch ausgiebige aktive Be-
wegungen mbglicb; der Kranke klagt dabei fiber Scbmerzen im Vorderarm.
Bei jeder Beugebewcgung der Yorderarme Luxation des N. ulnaris, obne
dass der Kranke Par&stkesien im Gebiete dieser Nerven emptindet.
Etivas unter der Ellenbogenbeuge eine nach unten zunehmende Hyp-
algesie; am unteren Drittel des Vorderarmes und an der Hand, mit Ausnahme
der. Beugeflfiche der Finger Analgesie. In denselben Greuzen und Inten¬
sity Aufhebung der Kalteempfindung; fttr Wfirme ist die Empflndung stark
lierabgesetzt. Die obere Grenze dieser Sensibilitatsstdrungen ist scbarf;
in den Partien der totalen Analgesie besteht eine m&ssige Hypfisthesir,
deutlicher am HandrQcken als an der Yola manus; an der hypalgetischen
Haut ist die BerOhrungsempfindung bereits normal.
Die rechte Hand ist — was GrOsse betrifft — normal, die Haut ist
Fig. I
leicht zyanotisch, marmoriert, Nagel livid, jedoch ohne tropliische Verfinde-
rungen. Auf Druck auf die Haut entsteht ein weisser Fleck, welcher so-
fort verschwindet. Die Zyanose erstreckt sich auf den Vorderarm und
gebt ungefahr in der Mitte des Vorderarmes in normale Farbe fiber.
Nadelstichc werden Qberall gut gespfirt, wenn auch etwas schwacher als
an den Obrigen Hautflfichen. Kalteempfindung bis zur Mitte des rechten
Vorderarmes aufgehoben, obere Grenze scbarf, handschuhartig. 'Warme-
empfindung lierabgesetzt, Berfibrung erbalten. Die Motilitat der rechten
Hand vollkommen intakt. Keine Muskelatrophien an beiden oberen Extre-
mitfiten. Elektrische Erregbarkeit normal. Reflexe an den oberen Extre-
mitaten beiderseits lebhaft.
Dermograpbie und mecbanische Muskelerregbarkeit nicht gesteigert.
Gesteigertes Schwitzen bei normaler Zimmertemperatur. Hautreflexe nor¬
mal. Die Motilitat der unteren Ex-tremitfiten frei, die Reflexe lebhaft,
beiderseits gleich. An den Ffissen keine abnorme Verfarbung. Sensibilitat
am ganzen Ktirper normal. Hirnnerven frei, Pupillen reagieren gut. Re-
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. 249
flexe am Eopfe normal, Gesichtsfeld normal. Herz and Lange normal
{Crepitation bei passiven Bewegangen in boiden Knien and Schalterge-
lenken. ROntgenbefund der linken Hand, ebenso des Ellenbogengelenkes
ergibt normale Verhaltnisse. Wassermannsche Reaktion im Blute negativ.
Es entwickelte sich hier im Anschluss an einen akuten Gelenks-
rhenmatismas eine Zyanose und dann allmahlich eine Schwellung
beider Hande, welche an der rechten Hand bald zuriickging, an der
linken hingegen immer mehr sukzessive zanabm. Wahrend im Anfang
der Erkrankang gewisse Schwankungen in der Intensitat der Ver-
farbung und in der Grosse der linken Hand vom Kranken beobachtet
wurden, schritt dann die Volumenzunahme konstant fort. Mit der
Verschlimmerung im Winter 1916/17 stellte sich eine Beweglichkeits-
einschrankung ein, die zum jetzigen Zustand fuhrte. Was den Cha-
rakter dieser Storung betrifft, so erinnert sie an die von Cassierer
in einem Fall (Fall G.) notierte Fingerstellung, welche sich ausgleichen
liess, bald aber wieder zuriickkehrte; eine ahnliche Stellungsanomalie
der Hande und Finger ist im Falle W. von Cassirer verzeichnet.
In unserem Falle konnte es sich um eine hysterische Kontraktur han-
deln; gegen diese Annahme spricht jedoch das Fehlen anderer hyste-
rischer Symptome; der Umstand, dass die Bewegungsstorungen erst
nach ca. 2jahriger Dauer des Leidens erst mit der starkeren Ver-
grosserung der Hand aufgetreten sind, macht diese Annahme unwahr-
scheinlich.
Im Gegensatz zum ersten Fall sind hier die unteren Extremitaten
vollkommen frei; die rechte Hand zeigt, ahnlich wie im ersten Falle,
bedeutend weniger Krankheitserscheinungen als die linke. In beiden
Fallen ist es die Zyanose und die Sensibilitatsstorungen, welche auf
eine Beteiligung der pseudogesunden Hand hinweisen.
Es gibt jedoch Falle, in welchen nur eine Hand die Symptome
einer Acroasphyxia chronica hypertrophica aufweist, die zweite Hand
dagegen yollkommen intakt ist.
Fall 3. Februar 1917. S., 24 Jahre alt. In der Kindheit Scharlach,
vor 8 Jahren Bauchtyphus durchgcmacht. Die jetzige Krankheit begann
vor 4 Jahren im Winter mit „einem unangenehmen Gefflhl“ in der linken
Hand and linkem Vorderarm, es war ein TaubseingefOhl, dann wieder
„als ob etwas herumkrieche". Keine Schmerzen. Gleichzeitig trat eine
Ver&nderung der Hautfarbe an beiden Handen auf; sie waren dunkelblau
verfftrbt, die linke Hand bedeutend mehr als die rechte. Eine Schwellung war
nicht vorhanden, die linke war etwas aufgedunsen. Nach einigen Wochen
traten Schmerzen im linken Vorderarm und in der linken Hand auf and nun
bemerkte der Kranke, dass die linke Hand allmahlich anschwillt und immer
mehr blau wird. — Die Schmerzen waren ziemlich stark, besonders bei
Bewegungen, jedoch nicht anfallsweise. Der Zustand verschlimmerte sich
spater, langsam und allmahlich. Im FrQhjahr geringe Besserung; bei
17*
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
250
Rothfeld
schOnem und warmem Welter liessen die Schmerzen nach, die Schwellung
nahm ebenfalls etwas ab, ist aber nie — auch nicht im Sommer — gSnz-
lich zarQckgegangen. Nachsten Winter weitere VerschlimmeroDg, und
zwar Zunahme der Schmerzen und der Schwellung. Der Kranke betont
mehrmals, dass die Schmerzen parallel mit der Anschwellung sich ent-
wickelten und dass im Anfang der Krankheit, mit vortibergehender Abnahme
der Schwellung auch die Schmerzen geringer waren. Seit zwei Jahren ist
der Zustand stationSr; nur scheinen die Schmerzen geringer zu sein. Die
rechte Hand hat die im Beginn der Krankheit aufgetretene Zyanose be-
halten, sonst bat der Kranke keine Ver&nderungen bemerkt. Das Leiden
glaubt der Kranke von Kalte bekommen zu haben; er ist in Zivil Kohlen-
handler und musste im Winter tagshber im Freien verbleiben. Bis jetzt
einmal im Sommer 1914 in Iwonicz (jodhaltiges Mineralwasser und Bader)
Fig. 2.
behandelt, jedoch obne Erfolg. Pat. stannnt aus einer nervSsen Familie,
der Vater scheint nach der Schilderung an einen Ructus hystericus zu
leiden. — Dor Kranke ist von der Assentkommission ins Spital geschickt
worden.
% Status praesens: Die linke Hand (Fig. 2) ist bedeutend grdsser als
die rechte. Die Handflache und besonders der Handrflcken polsterartig
aufgetrieben, die Finger dick, mehr an den Grund- als an den Endphalan-
gen, der Zeige- und Mittelfinger etwas mehr verdickt als die anderen. Die
VergrOsserung bctrifft nur die Weichteile, die Knochen erscheinen im
Rdntgenbilde unverandert. Die Haut ist glatt, am HandrOcken rdtlichblau,
Ober den Gelenken schwarzblau, die Handflache ist feucbt und blasser als
der HandrUcken. Die Zyanose reicht in derselben Intensitat bis ca. 5 cm
oberhalb des Handgelenkes, verliert sich daun allmahlich ungcfahr in der
Mitte des Oberarmes und ist an der Streckseite intensiver als auf der
Beugeseite. Die linke Hand ist sehr kalt. Ein Druck mit dem Finger
auf den Handrttcken hinterlasst eine kleine Delle und einen weissen Fleck,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acroaspbyxia chronica hypertrophies. 251
welche sofort verschwinden. Die Nftgel sind unver&ndert. — Im kalten
Wasser wird die Hand schwarzblan, im heissen treten kleine hellrote Flecke
anf. Die Kfilte des Wassers wird an der Hand gar nicht gespttrt; wird
kaltes Wasser im massigen Strahl anf die Hand gegossen, so hat der
Kranke keine K<eeihpfindung; sie beginnt erst ca. 5—6 cm oberhalb des
Handgelenkes und ist in der oberen Halfte des Vorderarmes fast ganz
normal. Die Grenze der Kalteanastbesie ist eine scharfe, schneidet hand-
scbnhartig ab. Heisses Wasser wird bei analogem Versnch erst am Yorderarm
als lau, an der oberen Halfte des Vorderarmes als heiss gespOrt; an der Hand
selbst fehlt die Warmeempfindung. Dasselbe Resultat. ergab die Kontroll-
prflfung mit GlasrOhrchen mit kaltem und heissem Wasser. Von der
Mitte des Vorderarmes Thermhypasthesie, die ca. 5—6 cm oberhalb des
Handgelenkes in Thermanasthesie an der Hand tibergeht. In denselben
Grenzen distalwarts znnebmende Hypalgesie, welche oberhalb des Handge-
lenkse in eine Analgesie Obergeht nnd eine ebenfalls distalwarts zunehmende
Hyp- bzw. Anasthesie. — Die BerUhrungsempfindung ist sehr stark ber-
abgesetzt, jedoch nicht ganz aufgehoben. Die obere Grenze der totalen
Anfhebung der Sensibilitat ist far alle Qualitaten eine scharfe, handschuh-
artige. Die Beweglichkeit der linken Hand und der Finger ist zwar er-
halten, jedoch erfolgen die Bewegungen sehr langsam und sind nicht aus-
giebig. Der Kranke behauptet, die Anschwellung hindere die Bewegungen.
Im Ellenbogen und Schultergelenke keine Einschrankung, aber auch hier
erfolgen die Bewegungen langsamer, angeblich wegen Schmerzen im Vor-
derarm. Diese StOrung der Motilitat hat sich allmahlich entwickelt, der
Kranke hat im Beginn der Krankheit, als die Schmerzen intensiv waren,
die Hand weniger bewegt. Keine Muskelatrophien. Keine Veranderung
der elektrischen Erregbarkeit.
Die recbte Hand ist bis ca. 5—6 cm oberhalb des Handgelenkes leicht
rOtlichblau, jedoch nicht auffallend und zeigt sonst gar keine Veranderun-
gen. Die Reflexe an den oberen Extremitaten normal.
Hirnnerven frei. Corneal-, Rachen-, Ohren- und Nasenreflexe normal.
Gesichtsfeld normal. Dermographie leicht gesteigert. Starkes Schwitzen
bei ktthler Zimmertemperatur, in der linken Achselhdhle mehr als rechts.
Untere Extremitaten frei, Sehnen- und Hautreflexe lebhaft, beiderseits
gleich. Die FQsse sind leicht zyanotisch, jedoch nicht auffallend. Die
Sensibilitat ist, mit Ausnahme der oben geschilderten, am ganzen Kflrper
normal. Keine Druckempfindlichkeit der peripheren Nervenstamme. Der
allgemeine Kdrperbau kraftig, innere Organe ohne pathologischen Befund.
Im Urin kein Eiwei^s und kein Zucker.
Es handelt sich in diesem Fall nm eine allmahlich zunehmende
Asphyxie und Vergrosserung der linken Hand. Im Beginn des Lei-
dens Parasthesien, dann mit zunehmender Schwellung und Zyanose
traten Schmerzen in der Hand auf. Seit zwei Jahren ist das Leiden
stationar. Ausser der Vergrosserung der Hand und der betrachtlichen
Zyanose bestehen Sensibilitatsstorungen, welche handschuhartig am
Oberarm abschneiden und eine Einschrankung der Beweglichkeit der
linken Hand und der Finger, ohne Muskelatrophien, ohne Veranderung
der elektrischen Erregbarkeit. Auch hier haben die Bewegungs-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
252
Rotii feld
storungen — ahnlich wie in den ersten zwei Fallen — keinen hyste-
rischen Charakter, besonders, dass wir keine anderen Zeichen einer
Hysterie feststellen konnen. Es bestehen ebenfalls keine Symptome
einer Syringomyelie. Bemerkenswert ist, dass hier nur die linke
Hand betroffen ist, dass an den ubrigen Extremitatenenden keine
ahnlichen pathologischen Erscheinungen wahrzunehmen sind. Bis auf
diese Differenz ist der Fall vollkommen typisch.
Der nachste Fall ist mitRiicksicht auf die Atiologie bemerkenswert.
Fall 4. Februar 1917. Sch. L., 21 Jabre alt, im Zivil Handelsange.
stellter. Am 30. September 1915 beim Ersatz-Kader zwei Stunden laiig
zar Strafe angebunden. Nach I,6sung der Schnur verspflrte der Krank e
Fig. 3.
einen Schmerz in beiden Achselhohlen und hat das GefQhl in der rechten
Hand verloren. Er konnte die Hand nicht bewegen; die Hand war an-
geblich blau und angeschwollen. Seit der Zeit besteht das jetzige Leiden.
Ob der jetzt bestehende Zustand pldtzlich nach dem Anbinden entstanden
ist, oder sich nachher allm&hlich entwickelte, will sich Pat. nicht erinnern
kOnnen. In der letzten Zeit soil der Zustand sich nicht mehr verandert
haben, er ist stationer.
Status praesens: Die rechte Hand vergrOssert (Fig. 3), HandrQcken,
Vola manus polsterartig verdickt, die Finger sind an den Grundphalangen
mehr verdickt, als an den Endphalangen. Im Rdntgenbilde keine Ver-
grOsserung der Knochen. Die Hand ist kalt, stark zyanotisch, dunkelblau.
an der Vola manus weniger deutlich als am HandrOcken; die Haut ist
auffallend trocken. Am Vorderarm reicht die Zyanose bis ungef&hr zur
Mitte des Vorderarmes, wo nur eine Marmorierung der Haut besteht, die
Streckseite ist mehr zyanotisch als die Beugeseite. Ein auf die zyano-
tische Haut ausgetlbter Druck lasst einen weisscn Fleck und eine Delle
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophica. . 253
zarQck, welche sofort verschwindea. Die rechte Hand hftngt schlaff herab,
alle Bewegnngen der Hand and der Finger vollkommen aufgehoben. Im
EUenbogengelenk ist eine Streckung nur bei gewissen Stellungen des Armes
mdglich, die Streckung ist auch dann eigentlich keine aktive, der Vorder-
arm f&llt der Schwere nach herab. Bewegnngen im Schnltergelenke frei.
Elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln normal. Beim Gehen
h&ngt die rechte obere Extremit&t schlaff and ftthrt keine Pendelbewegungen
aus. Von der Ellenbogenbeugc distalwiirts zuuehmende Hypalgesie, welche
in der Mitte des Vorderarmes in eine vollkommene Analgesic tlbergeht;
' in demselben ‘Bereiche Anfhebnng der Berflhrungs- and Temperataremp-
findang.
Die linke Hand vollkommen normal Pcrioet- and Sehnenreflexe an
den oberen Extremitaten beiderseits lebhaft, rechts etwas schwkcher als
links. Hirnnerven frei. Rachen-, Corneal-, Ohren-, Nasenreflexe beiderseits
normal. .Gesichtsfeld normal. Leicbte Struma. Keine Sensibilit&tsstdrnn-
gen am ganzen KOrper, mit Ausnahme der geschilderten an der rechten
oberen Ertremitat — Untere Extremitaten frei. Haat- und Sehnenreflexe
normal. Wassermannsche Reaktion im Blate negativ.
»
In diesem Falle entstand im Anschluss an eine zwei Stunden Iang
dauemde Umschniirung eine chronische Akroasphjxie mit Hypertrophie
der rechten Hand und eine schlaffe komplette Lahmung der Hand
und des Vorderarmes. Die Schlaffheit, das Herabhiingen der Hand
der Schwere nach, das Fehlen jeder Bewegungsintention bei normaler
elektrischen Erregbarkeit und Fehlen yon Muskelatrophien sprfcbt
fiir einen hysterischen Charakter der Lahmung, welche durch das
Trauma hervorgerufen wurde. Was den Zusammenhang der Akro¬
asphjxie mit der Umschniirung betriffb, so lasst sich aus der Anamnese
nichts Sicheres schliessen. Aus den Akten, die den Kranken betreffen,
geht hervor, dass sich die Schwellung wahrscheinlich allmahlich, je-
doch bald nach dem Trauma entwickelt hat. So ist in einem arzt-
lichen Befunde yom 16. Okt. 1915 nur die motorische Lahmung des
rechten Vorderarmes und der Hand yerzeichnet; in einem anderen
yom 23. Noy. 1915 heisst es, dass die rechte Hand kalt ist, Beriih-
rung mit einem Faden und Schmerzempfindung herabgesetzt, beson-
ders an dem geschwollenen Handriicken. In einem weiteren Zeugnisse
Yom 8. Febr. 1916 wird die starke Zyanose, die Schwellung und die
Sensibilitatsstorungen betont. Es muss also angenommen werden,
dass bereits Mitte November 1915, also ca. 6 Wochen nach der Um-
schniirong deutliche Zeichen 'einer Acroasphyxia hypertrophica mit
Sensibilitatsstorungen vorhanden war. Welche Umstiinde dafiir mass-
gebend waren, dass die durch die Umschniirung hervorgerufene As-
phyxie dauernd bestehen blieb und zu einer Hypertrophie der Weich-
teile fuhrten, das kann vorlaufig nicht erklart werden. Moglicherweise
handelt es sich um eine traumatische Schadigung der Gefasse. Dass
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
254
Rothfeld
eine chronische Akroasphyxie neben der Hysteria bestehen kann, ohne
dass man die Asphyxie als eine hysterische bezeichnen miisste, darauf
hat Cassirer und Gasne et Souques hingewiesen.
Wenn wir nun die obigen Krankengeschichten zusammenfassen,
so ergibt sich, dass es sich in alien yier Fallen um neuropathiscbe
Indiyiduen handelt und dass in den drei ersten Fallen der rheum a-
tische Einfluss, die Ealte das atiologische Moment fiir die Erkrankung
der Extremitatenenden darstellt; in den ersten zwei Fallen bestehen
noch jetzt Zeichen eines chronischen Gelenkrheumatismus. Die Erank-
heit entwickelte sich in diesep Fallen langsam, sukzesive, begann mit
einer Zyanose, der sich spater eine Vergrosserung der Hand anschloss.
1m Fall 3 bestanden im Anfang des Leidens Parasthesien, spater
Scbmerzen; beim Eranken Schr. (Fall 1) waren die SchmerZbn gering,
am wenigsten klagte K. (Fall 2) iiber Scbmerzen. Die Schmerzen
batten in alien Fallen einen ziehenden C'harakter; nie Anfalle von
Schmerzen. Eeine* Synkope.
Bemerkenswert ist die Assymmetrie in der Intensitat der Erschei-
nungen. Die Verschiedenheit der Intensitat der Erankheitserschei-
nungen, das starkere Befallensein der Hande als der Fiisse ist bereits
von Cassirer. hervorgehoben worden. Es konnen aber ausserdem
Differenzen in der Intensitat zwischen der rechten und linken Seite
bestehen. lm Falle G. Cassirers war die Volumzunabme und die
Verfarbung der linken Hand etwas starker ausgesprochen als der
rechten; im Falle F. war die Verfarbung am rechten Fuss und linker
Hand etwas starker. Im Falle Pehus war ebenfalls die Iinke Hand
grosser, im erwahnten Fall Barker-Sladens war die Zyanose
am rechten Fuss starker als am linken. In diesen Fallen scheint die
Differenz nur eine quantitative gewesen zu sein. In unseren Fallen
dagegen ist die Differenz zwischen der rechten und linken Hand eine
qualitative. Wabrend die linke Hand in den ersten drei Fallen und
die rechte im vierten Falle stark vergrossert ist, ist die zweite Hand,
was die Grosse betrifft, normal Im ersten Fall ist am meisten die
linke, weniger die rechte Hand, die Fiisse im geringeren Grad als die
rechte Hand betroffen. Die Differenz zwischen der rechten und linken
Hand bezieht sich hauptsachlich auf .die Volumenzunahme, weniger
auf die Zyanose und die Sensibilitatsstorungen. Im zweiten Fall deu-
ten nur die Sensibilitatsstorungen und eine geringe Zyanose auf eine
Erkrankung der rechten Hand hin, sonst erscheint die Hand als nor¬
mal Die Fiisse sind frei. lm dritten Fall ist an der rechten gesun-
den Hand und an den Fiissen nicbts Pathologisches festzustellen. Im
vierten Fall, welcher mit Riicksicht auf die Atiologie nicht mit den
ersteren ganz identisch ist, ist die linke Hand vollkommen gesund.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis tier Aeroaapbyxia chronica hypertrophica. 255
Das Vorkommen yon Sensibilitatsstorungen bei cbronischer Akro¬
asphyxie ist besonders von Cassirer hervorgehoben worden; am
meisten war die Kalte- und Warmeempfindung betroffen, weniger das
Scbmerz- und Beriihrungsgefiihl. Ausserdem bebt Cassirer die Art
der Ausbreitung hervor, das scharfe kreisformige Abschneiden der
Sensibilitatsstorungen. Diese Art der Sensibilitatsstorungen hat
Cassirer bei einem Fall yon chron. Akroasphyxie ohne Volumzu-
nabme, in einem mit Hypertrophie der Weichteile und endlich in
einem analogen Falle mit sklerodermatiscben Veranderungen be-
obachtet. In dem yon Cassirer zur chronischen Akroasphyxie ge-
zahlten Falle Notbnagels sind ebenfalls Sensibilitatsstorungen an
den Handen verzeichnet. Im Falle Barker-Sladens bestanden sie
an den Fussen, die zuerst und mehr betroffen waren; auch Kartje
hat Sensibilitatsstorungen in seinem Fall gefunden.
Cassirer weist darauf hin, dass derartige Storungen bei der
Hysterie unbekannt sind und dass sie zwar bei der Syringomyelie
vorkommen konnen, jedoch konne man trotzdem die Falle yon cbroni¬
scher Akroasphyxie nicht in der Syringomyelie aufgehen lessen. Die
Acroasphyxia chronica konnte hochstens als Ubergang zwischen den
vasomotorisch-trophischen Neurosen zur Syringomyelie aufgefasst
werden. Vorlaufig lasst sich diese Frage nicht entscheiden und
Cassirer halt es fur angezeigt, noch weitere Beobachtungen zu
sammeln.
Im ersten unserer Falle ist an der linken Hand die Kalteempfin-
dung ganz erloschen, fur Warme stark, fur Schmerz und Beruhrung
weniger herabgesetzt. Diese Differenz ist zwischen den einzelnen
Qualitaten an der rechten Hand noch deutlicher: Kaltegefiihl erloschen,
Warme etwas, Schmerz im minimalen Grade herabgesetzt, Beruhrung
normal. Ganz identische Storungen finden wir ebenfalls an der we¬
niger betroffenen Hand des zweiten Falles. An der linken hypertro-
phischen Hand dieses Kranken ist Kalte- und Schmerzempfindung
aufgehoben, Warme und Beriihrung stark herabgesetzt. Im dritten
und yierten Falle ist die Sensibilitat fur alle Qualitaten aufgehoben.
An den Fussen besteht nur beim ersten Kranken eine Storung, nam-
lich eine Hypasthesie fur kalt und warm und das ist der geringste
Grad der Sensibilitatsstorung in unseren Fallen. Wenn man die In¬
tensity der Sensibilitatsstorungen mit der Zyanose und Volumenzu-
nahme yergleicht, so hat man entschieden den Eindruck, dass sie mit
der Hypertrophie parallel yerlaufen. Ich fiibre der Obersicht halber
eine Tabelle an und beginne mit den geringsten Storungen der Sen-
si bill tat. —
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
256
Rothfeld
Erkrankte Extremitat
Art der Sensibilitats-
stSrungen
Zyanose u. Hypertrophie
Fiisse im Falle 1
Herabsetzang der Tem-
peraturempfindung
Starke Zyanose mit r5t-
lichen and normalenHaat-
partien, keine Hypertro¬
phie
Rechte Hand im Falle 1 Kalt aufgehoben, warm Zyanose ohne Hyertro-
und 2 herabgeSetzt, Schmerz phie; im Beginn des Lei-
Linke Hand im Falle 1
herabgeSetzt, Schmerz
etwas herabgesetzt, Be-
rfihrung normal
S hie; im Beginn dea Lci-
ens begann eineSchwel-
lung, die dann zur&ck-
g»ng
Kalt aufgehoben, warm Hochgradige Zyanose mit
stark herabgesetzt, massiger Hypertrophie
stark Herabgesetzt,
Schmerz nnd BerGhrung
herabgesetzt
Linke Hand im Falle 2 ! Kalte aufgehoben, warm I Starke Zyanose und starke
stark herabgesetzt, Hypertrophie
Sch merz aufgehoben, 6e-
rfihrung herabgesetzt
Linke Hand im Falle 3 Alle Qualitaten aufge- Sehr starke Zyanose und
und rechte im Falle 4 hoben, nur ist die Be- hochgradigeHypertrophie
ruhrungsempfindung im
Falle 3 sehr stark ner-
abgesetzt
Wenn wir nun an der Hand dieser Tabelle die Sensibilitatssto-
rongen mit der Zyanose einerseits und Volumenzunahme andererseits
▼ergleichen, so scbeint die Hypertrophie und nicht die Zyanose fur
die Sensibilitatsstdrungen massgebend zu sein. Den geringsten Grad
der Sensibilitatsstdrungen zeigen die Fiisse im Falle 1, welche zwar
stark zyanotisch sind, jedoch nie angeschwollen waren; einen hoheren
Grad der Sensibilitatsstorung zeigt die rechte Hand im Falle 1 und 2,
welche im Beginn des Leidens Torubergehend angeschwollen waren
und jetzt bloss eine Zyanose aufweisen. Beweisend ist der Befund der
linken Hand im Falle 1, hier ist die Zyanose am starksten entwickelt,
die Sensibilitatsstdrungen und die Volumzunahme sind dagegen ver-
haltnismassig gering; im Vergleiche mit dem Fall 1 ist in den Fallen
3 und 4 die Zyanose weit geringer, dagegen sind die Hypertrophie und
Sensibilitatsstdrungen bedeutend starker. Vergleicht man die Sym-
ptome an den Fiissen des ersten Falles mit denen an der rechten
Hand des Falles 1 und 2, so ist die Zyanose an den Fiissen starker
als an den Handen der erwahnten Falle, die Sensibilitatsstdrungen je¬
doch wesentlich geringer.
Es ergibt sich daraus, dass die Sensibilitatsstdrungen mit der
grdsseren Volumenzunahme ausgepragter werden. Cassirer
Digitized by
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chronica hypertrophies. 257
bat bereits die Vermutung ausgesprochen, dass die Sensibilitatsstorungen
nicbt von der Zyanose abhangen, da er in einem Falle obne Zyanose
Sensibilitatsstorungen feststellen konnte. Unsere Beobacbtungen bestati-
gen die Annahme Cassierers und weisen darauf hin, dass yielleicht
dieselben Faktoren flir die Hypertrophic der Weichteile wie auch fur
die Storung der Sensibilitat ausscblaggebend sind. Es muss jedocb
andererseits bemerkt werden, dass die Ausbreitung der Sensibilitats-
storungen sich auffallend mit der Zyanose decfet, besonders gilt das
fur die yollkommenen Aufhebungen der Sensibilitatsstorungen. Die
Entscheidung dieser Frage bedarf nocb weiterer Beobacbtungen.
Einer Erorterung bedarf aucb die Einschrankung der Beweglich-
keit in unseren Fallen. Wenn wir die Krankengescbichten der zur
chronischen Aspbyxie gehorigen Falle studieren, so scheint eine gewisse
Jeichte Beeintrachtigung der Beweglichkeit nicht selten zu sein. So
klagte der 42jahrige Kranke Cassirers, dass seine Hande unge-
schickt werden, die I9jahrige Kranke, dass sie feine Bewegungen mit
den Handen nicht au'sfuhren konnte; objektiy wurde eine Ungeschick-
lichkeit der Finger festgestellt. Es handelte sich im letzten Fall um
eine chronische Akroasphyxie obne Hypertrophie der Weichteile; die
Haut war bloss etwas gedunsen und es bestand die oben erwahnte Art
handschuh- bzw. strumpfartiger Ausbreitung der Sensibilitatsstorungen.
Eine andere Patientin Cassirers (W.) gab an, dass die Hande
wahrend der Zunabme der Zyanose auffallig schwacher und unge-
scbickter wurden, so dass sie ihren Beruf als Klayierspielerin aufgeben
musste; die Hande wichen ulnarwarts ab, der dritte und yierte Finger
waren an beiden Handen im ersten Interpbalangengelenk etwas flek-
tiert und in dieser Stellung fixiert. Die Motilitat war insofem gestort,
„als die Beweguugen der Finger und Hande im allgemeinen etwas
matt und kraftlos“ waren. Keine Lahmungen, die elektrische Erreg-
barkeit normal, aucb die Interossei wirkten prompt, obwobl der erste
Interossealraum beiderseits deutlich eingesunken war. Erwahnen
mochte ich ebenfalls einen anderen Fall Cassirers (Fall 0.), in
welcbem alle Finger im ersten Interphalangealgelenke flektiert und
im ganzen etwas ulnar abduziert waren; die Stellungsanomalie liess
sich ausgleichen, kehrte aber immer wieder zuriick. Es handelte sich
in diesem Falle um eine chronische Akroasphyxie mit Volumzunahme
der Weichteile bei einer Hysterica, uber den Charakter der Stellungs¬
anomalie der Finger finden wir keine Erklarung, ebenso aussert sich
Cassirer nicbt uber die Ursacbe der Bewegungsstorungen in den
oben erwahnten Fallen.
Mit Ausnahme des yierten unserer Falle, in welchem die totale
Lahmung einen bysterischen Charakter tragt, ist im Falle 1 und 3
Digitized by
Goi igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
258 Rothfeld, Beitrag zur Kenntnis der Acroasphyxia chron. hypertrophica.
die Einschrankung der Beweglichkeit der Hand und der Finger keine
hochgradige und zum Teil durch die Schimerzen erklarlich, welche bei
den Bewegungen auftreten. Sicher ist es jedoch nicht die wesentliche
Ursacbe der Motilitatseinschrankung. Die Eontraktur beim zweiten
Fall ist bei der Besprecbung dieses Falles bervorgehoben worden. In
alien Fallen — vom vierten abgesehen — ist die Storung erst nach
langerem Bestehen der Asphyxie aufgetreten; im ersten fast nach
einem Jabre, im zweiten nach zirka zwei Jabren, im dritten nach
mebreren Monaten entwickelt. Die Storung entwickelte sich in alien
Fallen langsam, allmahlich. Ob ein gewisser Grad von Motilitats-
storungen zum Bilde der Acroasphyxia chronica hypertrophica gehort,
muss 'vorlaufig dahingestellt werden. Die relative Hauhgkeit dieser
Storung bei den bisher publizierten Fallen macht diese Annahme sehr
naheliegend. Die Aufklarung dieser Frage muss weiteren Beobach-
tuugen uberlassen werden. —
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Menigresche Symptomenkomplex als SpEtfolge des
Kopftraumas.
Von
Dr. Rudolf Goldmann,
Oto-Laryngologe in Iglau, derzeit k. k. Oberarzt im Felde, bosn.-herz. Iof.-Reg.
Nr. 2 — Feld post 369.
Das Tbema der Schwindelanfalle nach Kopftraumen hat schon
B&rfiny in seiner grnndlegenden Arbeit „Die Physiologie und Patho-
logie des Bogengangapparates" S. 43 bearbeitet: „Von besonderer
praktischer Wichtigkeit sind die Schwindelanfalle der Unfallskranken.
Fast jeder Patient, welcher ein Schadeltrauma erlitten hat, klagt iiber
Schwindel. Erheben wir die genaae Anamnese, so konnen wir sehr
haufig schon dadnrch diese Falle in zwei Gruppen teilen. Die einen
geben an, dass sie nnmittelbar nach dem Erwachen aus der Bewusst-
losigkeit Schwindel hatten, der durch mehrere Tage anhielt, und bei
jeder Kopfbewegung sich steigerte. Eine solche Anamnese ist charak-
terisbisch fiir dieLabyrinthzerstdrungen,und bei der Untersuchung werden
wir liier Taubheit und Unerregbarkeit des Vestibularapparates finden.
Bei der zweiten Gruppe von Fallen horen wir sehr haufig die
Angabe, dass die Patienten, solange sie im Bette lagen, keinen
Schwindel hatten, dagegen bei Aufstehen aus dem Bette Schwindel
Yerspiirten und dass dieser seither nicht aufgehort habe, sondem bei
raschen Bewegungen, beim Aufstehen, beim Biicken und auch spon-
tan in Anfallen ohne aussere Ursache auftrete. In diesen
Fallen finden wir beim Ausspritzen und Drehen normale Erregbar-
keit des Vestibularapparates. Ohrensausen ist sehr haufig, auch beider-
seitige Schwerhorigkeit. Es gibt aber Falle, welche lediglich fiber
Schwindel ohne gleichzeitige Erscheinungen yon seiten des Cochlear-
apparates klagen.
Auf die nahere Begrfindung des Zustandekommens der Schwindel¬
anfalle, als deren ausgesprochenster Typus der Menieresche %m-
ptomenkomplex betrachtet werden kann, ist weder B&rdny noch auch
die folgenden Autoren [Rhese 1 ) u. a.] eingegangen.
1) Rhese, Uber die Beteiligung des inDeren Ohres bei Kopferschutterung.
Z. f. 0. 1906.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
260
Goi.duann
Deshalb find© ich es nicht iiberflussig, zur Klarung der Frage
nach dem tieferen Grande und der auslosenden Ureache des Meniere-
schen Anfalles bei Kopfkraumatikern an der Hand der folgenden Falle
einiges beizubringen.
Fall 1.
ZugsfQhrer J. E. erkrankt am 21. November 1916 pldtzlich ohne
ausseren Grund untcr beftigem and wiederholtem Erbrechen, Schwindel,
Kopfschmerz, Ohrensausen nnd allgemeiner Hinfalligkeit.
Ungefahr acht Tage vorher kam er zur Marodenvisite mit den Er-
scheinungen eines geringgradigen Ekzems des Gesicbtes, das vorwiegend
die rechte Seite befallen batte. Damals bemerkte icb eine Hemihydrosis
capitis der rechten Seite, die mich veranlasste sofort eine genane Unter-
suchung des Nervensystems vorzunehmen.
Anamnestisch konnte icb folgendes erheben:
Vor 5 Jahren Sturz vom Pferde aufs Hinterhaupt, gefolgt von einer
halbstGndigen Bewasstlosigkeit, Ohrensausen and Schwindel, die aber nach
wenigen Tagen verschwanden. Sonst war der Patient niemals krank ge-
wesen.
Befund am 15. November 1916:
Akates Ekzem vor allem der rechten Gesichtsh&lfte, besonders im
Wangen- and Stirnteil. Dasselbe ist jedoch nicht nftssend and zeigt den
Oharakter des Gletscherbrandes. Trotz der Kftlte ist die ganze rechte Ge¬
sichtshalfte von Schweissperlen bedeckt.
Geruch normal.
Angedenteter Nystagmus rotatorius bei Blick nach rechts. Die Qbrigen
Augenbewegungen frei.
Pupillen gleich weit and gut reagierend.
Die Sensibilitat des Gesichtes, des ausseren Auges, GehOrganges and
der MundhOhle ist rechts herabgesetzt.
Das GehOrorgan ist bis auf eine geringf&gige Herabsetzong der
Knochenleitung der rechten Seite normal.
Die Qbrigen Gehirnnerven normal
Beim Ausstrecken der Arme weicht der rechte untere Tremor nach
rechts ab.
Romberg normal.
Am 22. November ergab sich nun folgender Befund:
Der Patient, der auf der Feldtrage gebracht wird, macht den Eindruck
eines Schwerkranken. Bei dem Versuche, ihn aufzusetzen, erfolgt sofortiges
Erbrechen und kraftloses ZurQcksinken auf die Unterlage. Die Tempe-
ratur, im Munde gemessen, betragt 87,8° (11 Uhr vormittags), Puls
100 SchlQge in der Minute.
Das halbseitige Schwitzen, das in den letzten Tagen verschwanden
war, ist wieder deutlich vorhanden.
Der Geruch ist rechterseits erloschen. Es besteht eine leichte Rhi¬
nitis.
1) Rhese, Die traumatische Lasion der Vestibularisbahn. Z. f. O. 1914,
Bd. 73.
\
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Meniferesche Symptomenkomplex als Spatfolge des Kopftrauwas. 261
Die Papillen reagieren trftge anf Lichteinfall and Konvergenz, die
rechte erscheint ein wenig grosser als die linke.
Bei Blick nach rechts besteht ziemlich heftiger rotatorischer
Nystagmus vestibul&ren Cbarakters.
Die Augenbewegungen sind sonst normal.
Die Sensibilitfit des Gesichtes insbesondere der Cornea and Con¬
junctiva, der NasenhOhle, des ftusseren GebOrganges and des Racbens ist
ebenso wie die der *ganzen recbten KOrperhftlfte fflr Berftbrung und Stich
hochgradig herabgesetzt, an den meisten Stellen erloschen.
Facialis ohne Besonderheit.
Das Gehdr ist in Luft- and Enocbenleitang hochgradig lierab-
gesetzt, der Ton der aufgesetzten Stimmgabel wird nach links verlegt.
Gescbmack nicht geprflft.
Die Zunge weicht etwas nach links ab.
Der Fusssohlenreflex links fehlend, rechts vorhanden.
Patellarreflex beiderseits lebhaft, rechts bis zam Clonas gesteigert.
Fassclonas links angedeutet.
Beim Ausstrecken der Arme Tremor des rechten, Herabsinken beider
outer gleichzeitigem Abweichen nach rechts.
Romberg nicht sicher zu prttfen. Spontanes Erheben der Beine un-
raOglich, passiv erhoben, sinken sie sofort schlaff herab.
Epikrise: Bei einem sonst gesunden Manne, der vor einigen
Jahren ohne Hinterlassung yon sabjektiven and nur von geringfugigen
Zeichen einer Lasion der Zentren in der Medulla oblongata, vorwiegend
der rechten Seite, Bescbwerden durch ein Kopftrauma erlitten hat, stellt
sich bei einem Schnnpfen halbseitiges Schwitzen und gleichzeitig mit
dem Auftreten einer subfebrilen Temperatursteigerung ein tvpischer
Menierescher Anfall ein. Derselbe zeigt im wesentlichen eine Ver-
starkung der bereits vorher bestandeden nervosen Erscheinungen.
Ober die Dauer derselben fehlen mir die Daten.
lnteressant ist das Auftreten der Hemihydrosis gleichsam als Vor-
bote der sehwerer Erkrankung oder ihr Aquivalent. Ihre Ursache
kann wegen des Fehlens anderer Sympathikussymptome nur eine zen-
trale, im Schweisszentrum gelegene sein.
Fall 2.
Leutnant St., 27 Jahre alt, erkrankt (pldtzlicb) beim Ausmarsch seiner
Abteilung nach karzem Lauf um 7 Uhr morgens am 23. April 1916: PlOtz-
liches Unwohlsein mit Schwindel, Ohrensausen und Kopfschmerz und Fall-
neigung, so dass er den n&chsten Baum als Sttttze suchen muss, und Er-
brechen. Am nftchsten Morgen bemerkte er Blutanterlaufensein der Binde-
haut des recbten Auges.
Am 25. April wiederholte sich der Anfall mit nachfolgender Suffusion
des linken Auges. Der Anfall dauert wie der erste bis zum Abend.
Die Untersuchung nach dem Anfall ergibt jedesmal die folgenden
Erscheinungen: Suffusion der Bindehaut anterhalb der Cornea (23. April
rechterseits, 25. April linkerseits).
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
262
Goldmanx
Digitized by
Druck- and Elopfempfindlichkeit des Hinterhaaptes, besonders links.
Nystagmus rotatorius in seitlicher Blickendstellang beiderseits, jedes-
roal starker nach der Seite der Blutunterlaufang, am 25. April anch bei
Blick nach oben.
Hocbgradige VerkOrzung der Knochenleitang, besonders linkerseits, bei
nur gering gestOrtem GebOr in Laftleitang.
Der Gerach ist linkerseits deutlich herabgesetzt.
Sehscharfe links ca. 2 3 . Augenbintergrund ohne' Besonderheit.
Die Empfindlichkeit der Hornhaut links bochgradig herabgesetzt,
ebenso die dcr NasenhOhle and des ausscren GebOrganges,
Angenbewegungen bis auf den Nystagmus normal.
Leichte Parese des Mundfcaialis links.
Geschmack nicht geprttft.
Bei Angenscbluss im Sitzen fallt Patient nach rechts, beira Steben
nach binten. Tremor der ausgestreckten Arme, Vorbeizeigen im linken
Arm in alien Gelenken nach aossen and oben, im rechten nar im Scbalter-
gelenk nach innen.
Das Lagegefflhl ist in der linken oberen Extremitat wesentlich gestOrt.
(Subjektiv Schmerzen vom Ellbogen bis in die HandknOchel.) Im geringen
Grade auch im Bein, besonders im Knie dieser Seite.
Patellarreflex beiderseits gesteigert, Fussclonus rechterseits.
Oberflachliche Reflexe beiderseits erhalten.
In der Nacht vom 6. auf 7. April neuerlicher Anfall mit starkem
Erbrechen, in der Nacht vom 7. auf 8. ein vierter ohne Erbrechen. Die
ursprQnglich in den Hinterkopf and Nacken verlegten Schmerzen werden
mehr nach vom projiziert.
Befund am 8. April bietet folgende neue Erscheinungen:
Tremor bei Ausstrecken der Arme nur rechterseits.
Der recbte Arm zeigt bochgradig gesteigerte Muskelerregbarkeit.
Die Sensibilitat des linken Beins wesentlich herabgesetzt. Plantarrcflex
nicht ausldsbar. Der Kitzelreflex des GehOrgangs ist links erloschen.
Nystagmus rotatorius nur bei Blick nach links und oben.
Am 10. April unstillbarer Kopfschmerz in der vorderen Scheitel-
gegend, der durch 14 Stunden anhalt. Hierbei kein Nystagmus und kein
Romberg. Erbrechen auch bei subkutaner Morphiuminjektion. Puls 60.
Nach Abklingen des Anfalls wieder Nystagmus in Blickendstellung
beiderseits. Pals 72.
Zum Ycrstandnis des Falles diene folgende Yorgeschichte:
, Im Marz des Jabres 1915 erlitt der Patient infolge Granatexplosion
einen Sturz aufs Hinterhaupt mit kurzer Bewusstlosigkeit In der Folge
wurde er wegen seiner Beschwerden: Kopfschmerz, Ohrensausen, Schwindel,
Zittern in den Handen, leichte Erregbarkeit, Vergcsslichkeit, Mangel der
Konzentration, unruhiger, traumerfQllter Schlaf als „nervds“ behandelt.
Die erste Untersucbung durch mich am 1. Marz 1916 ergibt:
Allgemeines Aussehen. ohne Besonderheit. Intelligenz and Arbeits-
kraft im Berufe bis auf leichte Erregbarkeit gut.
Tremor der ausgestreckten Hande, leicht gestortes LagegefQhl der
oberen, beides auch in den anteren ExtremitQten.
Kein deutliches Vorbeizeigen.
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Menieresche Syraptomenkomplex als Spatfolge des Kopftraunias. 263
Sensibilitat des Gesichtes links leicht herabgesetzt. Knochenleitung
beiderseits verkQrzt. GehOr fast normal.
Epikrise: Bei diesem Kranken, der nacb einem Kopftrauma deut-
liche, wenn auch geringe Spuren am Nervensystem darbiefcet, stellen sich
mehrere in karzen Zwischenraumen aufeinanderfolgende, langdauernde
und schwere Scbwindelanfalle ein, die im wesentlichen den Meniere -
schen Typus einhalten. Daran andert aucb nicbts eine gewisse Ver-
scbiedenheit der subjektiven und objektiven Begleiterscbeinungen der
einzelnen Anfalle. Gemeinsam bleibt ihnen subjektiv der Kopfschmerz,
das Obrensausen, besonders linkerseits,. der Scbwindel und mit einer
einzigen Ausnabme das Erbrechen; objektiv die Funktionsstorung des
Olfactories, Trigeminus und Facialis der linken, der Nystagmus, be¬
sonders zur linken, Fallneigung zur recbten Seite und das Vorbei-
zeigen des linken Armes nach aussen und oben, die Herabsetzung der
Sensibilitat (der oberflachlichen und tiefen, ebenfalls der linken Seite).
Fall 3.
ZugfQhrer P. J., 28 Jabre alt, erkrankt plOtzlich nach einem be-
quemen einst&ndigen Gange mit Schwindel, zweimaligem Erbrechen nnd
Obrensausen linkerseits, durch zwei Stunden anhaltend. Bei der am
14. November 1916, das ist am Tage nach der Erkranknng, vorgenommenen
Untersuchung ergab sich:
Temperatur: 37,8°, Puls 100 Schlage in der Minute.
Es besteht ein leichter Schnupfen.
Da mir diese Erscheinungeu znm Yerstindnis der Erkranknng nicht
genGgten, erganzte ich die Untersuchung durch einen genauen Nerven-
status 1 ), wozu ich folgende Anamnese erhob:
Patient, seinem Friedensberuf nach Maurer, war im Mai 1913 von
einem drci Meter hoheu GerQst herabgest&rzt und hierbei noch von einem
Ziegelstein auf den Scheitel getroffeu worden. Darnach war er kurze Zeit
bewusstlos; seitdem litt er Ofters an Zittern in den Armen.
Geruch rechts ziemlich gut, links nur fttr Starke Heize empfindlich.
Sehscharfe: rechts 5 / 6 , links 4 / 5 .
Pupillen auffallend weit, auf Lichteinfall gut, auf Akkommodation trftge
reagierend. .
Nystagmus rotatorius in Blickendstellung rechts von einigen Schlagen.
Augenbewegungen sonst frei.
Die Sensibilitat beiderseits, besonders rechterseits abgeschwhcht.
Die Conjunctivalreflexe beiderseits aufgehoben, der Cornealreflex hoch-
gradig abgeschwacht.
Facialis: Stirn- und Mundteil links deutlich paretisch.
1) Dass der beschriebene Nervenzustand bereits frflher bestanden hat, da-
fiir gpricht nicht nur die Anamnese, sondern auch der von mir mit Bucksicht
auf das Zittern des Mannes, das sich besonders bei intendierten Bewegungen
bemerkbar machte, bereits am 5. September erhobene Befand, der sich mit dem
erwahnten vollstandig deckt.
Deulscho Zeitschritl t. Ncrvcnheilkunde. Bd. 67. 18
Digitized! by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
204
Goldmann
Digitized by
Bei normalem otoskopischen Befund und fast normaiem Gehfir ist die
Knochenlcitung links bedeutend herabgesetzt.
Geschmack: beiderseits vorhanden.
Vagus, Accessorius ohne Besonderheit. — Die gerade vorgestreckte
Zunge zeigt im ganzen lebhaftes Flimmern.
Ausstrecken der Arme: Abweichen beiderseits nach aussen unter leb*
haftem Tremor besonders linkerseits, wobei der Arm gleicbzeitig nacli
unten sinkt.
Zeigeversuch: Vorbeizeigen in beiden Armen, starker linkerseits im
Schulter-, EUbogcn- und Handgelenk in Pro* und Supination nach aussen.
Bei seitlicher Bewegung wird linkerseits in alien Gelenkeu nach unten
vorbeigezeigt.
Beim Ausstrecken der Beine im Sitzen sinkt das linke alsbald herab.
Romberg: deutliche Fallneigung nach links und vorn.
Die Sensibilitftt ftlr Berflhrung und Schmerzempfindung ist linkerseits
vollstSndig aufgehoben, rechts bedeutend herabgesetzt. Das bezieht sich
auch auf die Schleimhfiutc der Nasen-, Mund- und RachenhOhle. Dem-
cntsprechend sind die samtlieheu oberflachlichen Reflexe linkerseits voll-
stSndig, rechterseits nahezu aufgehoben. Der Patellarreflex ist beiderseits,
besonders links herabgesetzt.
Diesen Befund konnte ich nach zwei Wochen vollauf bestatigen.
Epikrise: In diesem Falle, der nach einem Kopftrauma die.deut-
lichen Zeichen einer Gehirnlasion mit vorziiglicher Beteiligung der
Sensibilitat und der Koordination der Bewegungen der oberen und
unteren Extremitat und hinlanglich ausgesprochener Funktionsstbrung
des Olfactorius, Opticus, Oculomotorius, Trigeminus, Facialis und
Hypoglossus darbietet, bewirkt eiu leichtes Unwohlsein mit kaum
merklicher, eintagiger Temperatursteigerung den Anlass zu einem von
mir allerdings nicht beobachteten, immerhin nach der zuverlassigen
Schiiderung des intelligenteD Krankeu typischen Schwindelanfall vom
Meniereschen Typus.
Fall 4 .
Infanterist F. Vr., erkrankt plOtzlich mit heftigem Erbrechen, das sich
in den folgenden drei Tagen bei energischem Lagewechsel, besonders Auf-
richten im Bette, sofort erneuert, mit Schwindel und Sausen im linken Ohre.
Die zu Beginn der Erkrankung am 1. Mai 1915 vorgenommene Unter-
suchung ergab einen leichten Magenkatarrh.
Bereits im Jahre 1914 war der Kranke von mir wegen Schwerhdrig-
keit untersucht worden. Dieselbe fQbrte er auf einen Sturz von einem
Wagen zurtiek, den or vor ungefahr drei Jahren erlitten hatte. Seitdem
leide er ouch an geringem Schwindel und Kopfschmerz.
Die damalige Untersuchung hatte die Zeichen einer Ltision des inneren
Ohres, besonders der linken Seite ergeben, ausserdem bestand Vorbeizeigen
in beiden Armen und Fallneigung nach links.
Der Obrige Nervenzustand wurde damals nicht untersucht.
Bei der neuen Erkrankung ergab sich nun folgender Befund:
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Meniisresche SymptomeDkomplex als Spatfolge dee Kopftrauuias. 263
Lebhafter Nystagmus rotatorius bei Blick nach rechts, der sofort
heftigen Schwindel und Brechneigung hervorruft.
Beim Aufsitzen fallt der Kranke, sobald er die Augeu schliesst, sofort
nach links.
Die ausgestreckten Arme weichen unter heftigem Tremor nach links ab.
Die Sensibilitat des Gesichtes und der Schleimhaute des Eopfes ist
links bis zur Reflexlosigkcit aufgehoben, ebenso auch die Sensibilitftt der
tibrigen Haut.
Der Patellarreflex ist links deutlich gesteigert.
Die tibrigen Gehirnnerven zeigen keine Besonderheiten.
Epikrise: Bei einem kraftigen Manne erzeugt eine unansehn-
liche Magenverstimmung einen Schwindelanfall von mehrtagiger Dauer
mit vorziigliehen Erscheinungen einer linksseitigen Labmung des linken
Vestibularis, welehe bereits friiher als Folgezustand eines Kopftrauruas
in geringerem Grade bestanden haben.
Den angefiihrten Fallen, denen ich eine Anzahl mebr oder weniger
gut ausgesprochener hinzufiigen kann, ist gemeinsam, dass die plotz-
licbe Erkrankung unter dem Bilde des Meniereschen Symptomen-
komplexes mit einmaligem oder wiederholtem Auftreten des typischen
Anfalles sich an verhaltnismassig geringfiigige Anlasse, wie sub-
febrile Temperatursteigerung infolge Schnupfens, leicbter Magenkatarrh
oder wie im zweiten Falle ein rascheres Gehen, anschliesst. Ander-
seits bieten samtliche Falle die objektiven Zeichen einer Ge-
hirnlasion, welcbe mit Bestimmtheit oder allergrosster Wahrschein-
lichkeit auf ein Kopftrauma zuriickgefuhrt werden kann.
Die augenscheinlicbe Disposition der Unfallkranken mit
ausgesprocbenen Erscheinungen einer Gehirnlasion ist
offenbar in einem labilen Zustande der Nervenzentren, be-
dingt durch den Ausfall von Hemmnngen und das gestorte
Gleichgewicht symmetrischer Zentren, gelegen.
Es geniigen scbon geringgradige Reize, sei es toxiscber (Fall 1
und 3), vasomotorischer, vielleicht (wie in Fall 4) aucb reflektoriscber
Natur, um das miibsam erbaitene (Fall 4) Gleichgewicht der Nerven¬
zentren zu zerstbren. Mit dem Uerschwinden der Ursache stellt es
sich wieder her, bis sich wieder eine neue oder die gleiche Ursache
einfindet.
Zur Erklarung des zweiten Falles diirfte mit Riicksicht auf die
subkonjunktivale Suffusion, wenn wir dieselbe nicht auf die den Brech-
akt begleitende Blutdrucksteigerung beziehen wollen und mit Riick-
sicht auf den Wechsel der Erscheinungen und besonders auf das
Fortschreiten des Kopfschmerzes vom Nacken gegen den Scheitel eine
rezidivierende, intrakranielle Blutung, am wahrscheinlichsten
18 *
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
266
Goldman x, Der Meni&resche Symptomenkomplex usw.
zwischen den Meningen der hinteren Schadelgrube anzunebmen seien.
Der Ort der Blatung ware durch die urspriingliche Lasion infolge
des Kopftraumas gegeben, die aucb nach erfolgter Heilung wahr-
scheinlich in Form eines Aneurysmas dem Blutdruck gegenuber einen
locus minoris resistentiae darbietet.
Wenn wir das gewonnene Ergebnis auch auf die anderen Ur-
sacben anwenden, die einen abnlicben Nervenzustand herbei-
zufuhren vermogen wie das Kopftrauma, wie die Lues cerebri,
besonders die hereditare, die Meningitis cerebrospinalis und alle
anderen lnfektionskrankbeiten, sobaid sie sich .auf die Meningen bzw.
die Cerebrospinalfliissigkeit und dadurch auf das zentrale Hoblengrau
besonders des vierten und dritten Ventrikels erstrecken, dann bleibt
fur die urspriinglicb angenommene bamorrbagiscbe Atiologie des
Menierescben Symptomenkomplexes nur ein bescheidenes Platzchen
iibrig.
Mag diese Erkenntnis fur die Bebandlung nur in seltenen Fallen
nutzbringend sein — bandelt es sich ja docb zumeist um Zustande
nach abgelaufenen Prozes3en —, so gibt sie im gegebenen Falle die
Beruhigung, dass . die alarmierenden Symptome nur einen
Yoriibergehenden Reizzustand bedeuten, und befreit den Arzt
von den Sorgen einer intrakraniellen Blutung (ausgenommen das
seltene Vorkoramnis in Fall 2).
Prophylaktisch ergibt sich uns die Notwendigkeit, denPatienten
Yon allem abzuhalten, was den labilen Gleichgewichtszustand des
Nerrensystems zu storen imstande ist, wie iibermassige korperlicbe
und geistige Anstrengung, die Blutuberfiillung des Kopfes, sei es
durch den Genuss von Alkohol oder durch Erwarmung (Insolation!),
u. a. die Zirkulation und damit die Ernahrung des Gehirns Yoruber-
gehend oder dauernd schadigenden Einfliisse, welche die Labilitat noch
steigern, so dass schon ein geringer Anlass geniigt, um das Gleich-
gewicht aufzuheben.
Ob es mbglich ist, auf diesen labilen Gleichgewichtszustand, den
eigentiichen Grund der Erkrankung, durch Starkung der gesunden
Nerrenzentren und -bahnen einzuftirken, ist bei bescheidenen An-
sprvichen von Fall zu Fall wohl eines Versuches wert.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(Aus der psychiatrisch-neurologischen Klirtik in Groningen, Holland.)
liber einen Fall yon Heredodegeneratio, Typns Strllmpell,
bei Zwillingen.
Von
Dr. F. H. Kooy.
Im Nachsommer 1916 kam in die Groninger Klinik fur Nerven-
krankheiten eine Matter mit ihren 20jakrigen Zwillingstochtern
J. und H. D., welche die folgende genaue Anamnese abstattete:
Anamnese. Die Zwillinge stammen aus der Ehe mit ihrem ersten,
an Tuberkulose leidenden Mann. Familienverwandtschaft kommt weder
bei den Eltern noch bei den Grosseltern vor; in der Aszendenz findet sich,
sowohl von mlitterlicher wie von vaterlicher Seite, keine einzelne Nerven-
krankheit, namentlich keine GehstOrung. Alkohoiismus wird ebenfalls ver-
neint; for Annahme von Syphilis ist kein Anhaltspunkt vorhanden.
Aus der ersten Ehe sind ausser denPatientinnen noch 8 gesunde Kinder ge-
boren, von denen 1 an Bluterbrechen, im Alter von 14 Monaten, gestorben istf.
Aus der zweiten Ehe stammen drei vollkommen gesunde Kinder, wah-
rend, durch einen Abortus im sechsten Monat, noch Zwillinge geboren
wurden, die gleich gestorben sind. Die beiden Patientinnen kamen sechs
Wochen zu frOli zur Welt; erst wurdc J. mittels forcipaler Extraktion
geboren, sie schrie sogleich tOchtig; dann H. ohne Zange, sie war aber
wahrend der ersten Minuten etwas zyanotisch.
Die beiden Kinder entwickelten sich alsdann kdrperlich vollkommen
normal, waren aber geistig ihrem Alter immer etwas zurflck.
Ausser den gewOhnlichen Kinderkrankheiten, Masern und Keuchhusten,
waren sie niemals krank, namentlich hatten sie niemals irgend einige
Krampfe. In der Schule lernten sie etwas lesen and scbreiben, konnten
aber nur sehr mangelhaft rechnen.
Bis an der Pubertat beteiligten sich die Kinder an alien jugendlichen
Spielen ohne jede MQhe, kOrperlich unterschieden sie sich in keiner Hin-
sicht von ihren Zeitgenossen.
Ungefahr von der Zeit der ersten Menstruation datiert bei beiden der
Anfang ihrer GehstOrung (+14—15 J.), die, wieder bei beiden im unge-
ffthr gleichen MaBe, progredient war. Sie fingen an immer steifer zu geben,
die Fttsse streiften dabei den Boden, die Beine berdhrten sich mit den
Knien. Um das eine Bein vor das andere stellen zu kOnnen, machten sie
eine wackelnde Bewegung mit den HQften, was ihnen den Spottnamen
„BeinchenhOpf“ zuzog. Die jdngste der zwei klagte dann und wann aber eine
geringe Meigung zu Inkontinenz; ttbrigens hatten sie gar keine Beschwerden.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
268
Kooy
Digitized by
Status praescns. Die beiden M&dcben sind cinander vollkommen
Ahnlich; die GraviditAt der H. hat ihr Autlitz etwas geAndert and so die
Ahnlichkeit mit der Schwester verringert; vorher waren sie nur an ver-
schiedenfarbigen HaarbAndern zu erkennen.
Auch der weitere KOrperbau ist fast genau derselbe und zeigt bei
beiden die gleichen Degenerationszeicben: das verwachsene ObrlAppchen,
den za boben Gaumen, die kurzen plumpen ExtremitAten, eine Andeutung
von SchwimmbAuten.
Die MAdchen zeigen einen sebr guten ErnAhrungsznstand, sind eigent-
lich etwas zu fett, die SchlcimhAute sind normal blutreich.
Bei beiden sind in den Lungen, am Herz und an den Bauchorgapen
keine Abweichungen festzustellen; Ham und Blut warden mehrmals uuter-
sticht und imroer normal befunden.
Es mdge jetzt in kurzem der neurologiscke Status der beiden Patien-
tinnen absonderlich folgen:
Neurologischer Status der J. D. Kopf. An den Aagen keine
Abweichungen (Pupillen rund, gleich gross, reagieren normal; kein Nysta¬
gmus, keine AugenmuskellAhmungen; kein Strabismus; Visus an beiden
Augen %; Fundus, vom Augenarzt kontrolliert, normal), Gescbmack, Ge-
ruch, Gehdr normal. Ubrige Ilirnnerven normal. Sprache normal.
Arme. An den Armen ist die MotilitAt vOllig intakt, die Kraft ist
rechts und links gleich gross. Keine Atiophien.
Die Reflexe sind etwas boch, links viclleicht etwas bdher als rechts;
/■ auch der Tonus scheint links ein wenig erhdht.
Links eine leicbte Ataxie; bei der Finger-Nasen-Probe Intentionstremor.
^ Die SensibilitAt ist, wie im Antlitz, vdllig uugestdrt.
Rumpf. Die Bauchdecken sind ein wenig gespannt, die Bauchreflexe
sind beiderseits deutlich anwesend. MotilitAt und SensibilitAt vdllig intakt.
Die WirbelsAule ist vollkommen frei.
Beine. Bie Beine sind spastiscb, namentlich sind die Adduktoren,
v der Quadriceps und die Wadenmuskeln liypertonisch.
Keine Paralyse; die Kraft ist R = L und ziemlicb gross. Nur die
Hebung des lateraleu Fussrandes gescbiebt weniger krAftig, ohne LAbmung
jedocb der Mm. peronaei und ohne elektrische VerAnderungen (die elek-
trische Untersuchuug ergibt Qberhaupt keine Stdrung).
Keine statische Oder lokomotorische Ataxie.
..— Keine einzige SensibilitAtsstorung (wie an den Armen wurde Tast-,
Scbmerz- und Temperatursinn und die tiefe SensibilitAt untersacht).
Die Reflexe sind sebr boch, rechts und links ist Patellar-und Fuss-
clonus vorhanden.
Bab inski und StrQmpells PhAnomene beiderseits sehr deutlich po-
. sitiv, Oppenbeim angedeutet.
Ileim Stehen keine zerebellAre Ataxie, Romberg negativ.
Der Gang ist sebr spastisch mit Neigung der Ffisse zu equinovarem
Stand. Beim Gehen berQbren sicb die Knie, die Patientiu schaukelt mit
den Httften, am das eine Bein vor das audere stellen zu konnen, wie es
die Mutter beschrieb.
Neurologischer Status der H. D. Kopf. Augen. Pupillen rund.
gleich gross, reagieren normal; deutlicher scbnellschlAgiger horizontaler
Nystagmus beim Sehen nach rechts und links, an beiden Augen; keine
AugenmuskellAhmungen, kein Strabismus, V. 0. D. 6 (;n , V. 0. S. 6 fl . Am
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber einem Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell, bei Zwillingen. 269
rechten Auge besteht ein myopischer Astigmatismus von ungefahr 4 D, von
einigen weissen Flecken, den Besten alter Pldyktanen, verursacbt. Der
sehlechte Visus hat also mit dera Nervensystem nichts zu tun; der
Fundus ist n&mlich vdllig normal (vom Augenarzt konstatiert).
Geschmack, Geruch, GekOr normal. Ubrige Hirnnerven normal.
Sprache normal.
Arme. An den Armen ist die Motilitftt vOllig intakt, die Kraft ist
R — L. Keine Atrophien. Reflexe etwas boch, R = L.
Tonus normal.
Keine Ataxie, kein Intentionsbeben.
Sensibilitat in alien Qualitaten ungestOrt.
Rumpf. Tonus der Bauchdecken wegen derGraviditat nicbt zu prttfen.
Reflexe vorhanden, R = L.
Motilitat und Sensibilitat sind intakt.
Die Wirbelsaule weist nichts Abnormales auf.
Beine. Fdr die Beine genttgt es nach dem Status der Zwilling-
' sehwester zu verweisen. Nur ist der Spasmus etwas geringer, sonst ist
der Befund genau derselbe.
Auch beim Stehen und Gehen zeigt die H. D. genau dasselbe Bild
wie die erst besprochene Patientin; eine Beschreibung wQrde nur eine
Wiederholung sein.
Bei beiden Patientinnen wurde die Wassermannsche Reaktion aus-
gefQhrt am Seram und an der Zerebrospinalflflssigkeit; sie war jedesmal
uegativ.
Psychischer Status. Die psychische Untersuchung ergab:
J. D.
0 rientierung: oline Fehler
ReizwOrter: Gebrauchs- und Begriffsassoziationen,Reak-
tionszeit etwas zu gross
P^bbinghaus: sehr viele Fehler, langsam
Konzentration: .T. etwas mehr Felder als H. in ungefahr
(Anstreichen be- derselben Zeit (annahernd normal)
stimmter Ziffern)
Schulkenntnisse: minimal
H. D.
dasselbe
dasselbe
dasselbe
dasselbe
da«selbe
Bi not-Si in on:
6 J.
+
+
8 J. -*■ +
9 J. -J- +
It) .1. - 1 - +
5 “
12 J. +
5 .
15 J. 0 +
Zusammengezahlt 3 2 8 .
(nach Binet): '
-j-
5 '
3j/ 2
5 +
3
5
D
4 -
i
+
+
8
0 -h
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
270
Kooy
i
Digitized by
Es ist sebr anffallend, wie genau die Proben bei den beiden Mfidcben
zusammentreffen. Wie die spinale Erkrankung ist aoch der Intellektsdefizit
bei beiden genan derselbe. Man sieht hieraus mal wieder, dass mit der
Binetschen Methode rccht gute Resultate, wenigstens fQr die jftngereu
Altersstufen, zu bekommen sind; wegen der Fehler, die vor alien den Pro-
ben der hOheren Altersstufen anhaften, wird das ursprQngliche grosse
Verdienst Binets etwas zu viel ausser acht gelassen.
Die psychiscbe Abweichung besteht bei den Madchen von der Geburt
an und hat sich sp&ter, auch nacli der Pubertat, nicbt verscblimmert. Da-
gegen ist der kQrperliche Prozess inimer, d. h. von seinem Anfang im fftnf-
zehnten Jabre der Zwillinge an, progredient gewesen; wfihrend der Monate,
in welcben wir die Patientinnen kennen, ist der Zustand jedoeb ungefabr
stationdr.
Diagnose. Und jetzt, wie muss die Diagnose lauten?
Wir haben zu tun mit zwei, wahrscheinlich eineiigen Zwillingen,
die geistig in gleichem MaBe immer etwas zuriickgeblieben sind, kor-
perlich aber vollkommen normal waren bis an der Pubertat, als sich
bei beiden die gleicbe, exquisit spastische, Gehstorung entwickelte.
Der Status praesens ergibt bei beiden eine im Vordergrund
stehende symmetrische Pyramidenbahnerkrankung, an den Beinen
lokalisiert und bei der einen (J. D.) vielleicht auf die oberen Extremi-
taten iibergebend. Weiter fanden wir bei der J. einen Intentions-
tremor am spastischen Arme, bei der H. einen Nystagmus und viel¬
leicht eine geringe Inkontinenz.
Ausser multipier Sklerose und gewissen Formen der Littleschen
Krankheit ist jede sekundare Degeneration der Pyramidenbahn —
sowohl durch Erkrankung der beinigen Umhiillung als auch des Zentral-
nervensystems — von vornherein durch den oben beschriebenen Verlauf
und Befund ausgeschlossen.
Beim Horen von der Friihgeburt, der forcipaleu Extraktion der
J., den spastischeu Beinen und der Imbezillitat, kommt der Gedanke
an die Littlesche Krankheit gleich auf. Diese kann aber, streng
genommen, nicht in Betracht kommen; man tut doch gut, dazu nur die
angeborenen Affektionen zu rechnen. Die spater auf’tretenden Pyramiden-
bahnerkrankungen sind ja eigentlich nur infantile Formen von der
spastischen Spinalparalyse und ihre Trennung von den der Erwachse-
nen kann nur eine kiinstliche sein. Aber auch dennoch bleibt der
Littlesche Symptomenkomplex, wie er in der Literatur vorkommt,
zu gross fiir eine selbstandige Krankheit. Wenigstens miissen die
Herdprozesse (Trauma vor, bei Oder nach der Geburt; Entziindung)
von der primaren Agenesie (Aplasie) gescbieden bleiben. 1 )
1) Wenn man wenigstens nicht mit Jendrassik (1897) das Bestehen
dieser agenetischen nud aplastischen Formen abstreitet uml auch bei den glatt
verlaufenden Friihgeburten ein Trauma (z. B. I'teruskontraktionen) annimmt.
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber einen Fall von Heredodegeneratio, Typus Strumpell, bei Zwillingen. 271
Nun haben wir hier vod einem zerebralen Herd kein einziges
Zeicben; die Krankheit ist eine symmetrische, Reizsymptome fehlen
ganz, das Leiden bat ausserdem im spateren Leben angefangen und
ist progredient.
Auch eine bald nach der Geburt sich bemerkbar machende Py-
ramidenbahnerkrankung, znfolge einer Entwicklungshemmung durcb
die Frtihgeburt, ist bier ausgesehlossen. Die Kinder haben bis an der
Pubertat keine Beschwerden gehabt und wenn die insuffizienz dieser
Bahn spater an den Tag tritt, rechnet man die Krankheit, auch
wenn die Anamnese Friihgeburt angibt, besser zur spastischen Spinal-
para lyse.
Somit bleibt in unserem Falle nur noch die Differentialdiagnose
zwischen multipler Sklerose und familiarer spastischer Spinalparalyse
iibrig.
Die. familiare Form der Sclerosis multiplex ist mindestens sehr
selten; auch klinisch wird sie selten beschrieben und ein unanfecht-
barer anatomischer Befund feblt uns fast ganz. Marburg (1911)
aussert sich dariiber in Lewandowskys Handbuch folgendermassen:
„Trotz alledem maDgelt es bisher an absolut einwandfreien hereditaren
Fallen multipler Sklerose". Hoffmann (1913) nennt den Fall von
Collier die einzigste anatomische Bestatigung vom familiaren Auf-
treten der multiplen Sklerose und Dobrochotow (1913), der vor der
gleichen Differentialdiagnose steht, schliesst die multiple Sklerose aus,
unter anderem weil das familiare Vorkommen noch niemals patholo-
gisch-anatomisch festgestellt ware. Natiirlich ist a priori ein familiares
Auftreten, namentlich wenn man die _primare Gliawucherung Strtim-
pells annimmt, wozu ich nach Studierung der Xiteratur neige, nicht
vefwerflich; aber ein so genau gleichartiges klinisches Bild ist bis
jefzt, soweit ich sehe, nicht beschrieben und bei multiplen Herden
auch nicht zu erwarten. Zweitens ist hier die Multilokalisation sehr
geringfiigig, nur der Nystagmus bei der einen, das Intentionsbeben
bei der andern Patientin weisen darauf hin. Die leichte Inkontinenz
der H., von der die Pflegerinnen nichts bemerkt haben, muss bei dem
wenig iutelligenten Madchen mit Vorsicht in Betracht genommen wer-
den. Dieser Intellektsmangel selber hat natiirlich mit einer eventuel-
len multiplen Sklerose nichts zu tun. Dagegen sind die Bauchreflexe
bei den beiden Madchen rechts und links gleich deutlich vorhanden.
Bekanntlich kommt es oft genug vor, dass eine spastische Spinalpara¬
lyse oder besser eine Pyramidenbahnerkrankung, eine multiple Sklerose
maskiert, aber man wtirde dann am Ende mit einer Kombination von
Ausnahmen zu tun haben. Dazu wtirde diese Maskierung schon seehs
Digitized by
Gck >gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
272
Kooy
Jahre stattfinden, wahrend der Verlauf langsam progredient, ohne jede
Wechslung gewesen ist. ,
1st also die multiple Sklerose sowieso unwahrscheinlich, am so
mehr neigen wir zu der familiaren spastischen Spinalparalyse, seit
wir durch die Arbeiten Jendrassiks (1897, 1898, 1902, 1911), Kol-
larits (1906,1908) u. a. wissen, dass diese familiare oder hereditare spa-
stische Spinalparalyse eigentiich besser aufgefasst wird als die spastisehe
Form von der grossen Gruppe der Heredodegenerationen, von denen
die von Striimpell (1886, 1893, 1*901, 1904) und Newmark (1904,
1906, 1911) beschriebenen Falle nur die am sauberst spastischen siod.
Von diesen fiihren die verschiedensten Zwischenforinen zu den atakti-
scben Krankbeiten iiber; der scbonste Beweis fiir die Einheit der
ganzen Gruppe wird gerade von dem anatomischen Befund in den
klinisch rein-spastiscben Fallen geliefert, denn auch da sind ausser der
Pyramidenbahn die Kleinhirnseitenstrangbahn und die Gollschen
Strange mehr oder weniger mitbeteiligt.
Die Kombinationen von Spasmus und Nystagmus, Zittern und
Demenz (die Komplikationen unserer Falle) sind von mebreren Autoren
beschrieben worden. So komplizierte der Nystagmus die Pyramiden-
babnerkrankung in den Fallen von Dobrocbotow (1913); Nystagmus
und Tremor (ausserdem Dystropbie) in den von Jendrassik (1902)
und Kollarits (1906); Demenz war neben der spastischen Spinalpara¬
lyse vorhanden, z. B. in dem Falle Pribams (1895). Dass unsere
Zwillinge die einzigsten Erkrankten aus der ganzen Familie sind,
macbt die Diagnose urn nichts unsicherer. Selbstverstandlich muss
hier und da ein Fall von Heredodegeneratio vereinzelt auttreten;
Striimpell und Jendrassik wiesen schon darauf bin; und iiber dies,
der Keimschaden steht in diesem Falle natiirlich vollkommen fest.
Jendrassik macbt darauf aufmerksam, dass wir dergleichen allein-
stebende Falle gerade an den komplizierenden Degenerationszeieheu
erkennen konnen; auch die von ibm aufgestellten Regeln fiir die
Heredodegenerationes: Homologie, Homochronismus, Progressivitat
iinden wir in unserem Falle vorhanden. Somit scheint mir hier die
Diagnose, aus den oben ausfiihrlich mitgeteilten Erwagungen, ziemlich
wohl gesichert, ich mochte deshalb diesen Fall als eine Heredodegene¬
ratio, Typus Striimpell, beschreiben.
Das Vorkommen bei Zwillingen ist so ssltsam, dass eine kasuisti-
scbe Mitteilung m. E. gerechtfertigt. ist. Schliesslich betone ich
nochmals das Zusammengeben der mangelbaften Intellektsentwicklung
mit der vorliegenden spinalen Erkrankung. Die Uberzeugung, dass Aas
pbylogenetisch Junge weniger widerstandsfahig ist, bzw. ofter insuffi-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber einen Fall vod Heredodegeneratio, Tvpus Strumpell, bei Zwiliingen. 273
zient angelegt wird, drangfc sich in der Klinik der Psychiatrie und
Neurologie dem Untersucher unwiderstehlich auf. Die Psychopatbo-
logie ist ja eigentlich grosstenteils die Krankheitslehre des phylo-
genetisch Jungen. Aber diese Auffassung ware auch mit vielen Bei-
spielen ans der Neurologie zu bestatigen; gerade die Haufigkeit der
Pyramidenbahnerkrankung muss fiir jeden Neurologen sehr auffallend
sein.
Es scheint mir, auch in diesem Falle wieder die Insuffizienz
der Pyramidenbahn und der Mangel an hoheren (id est jiingeren)
Intellektsqualitaten das obengenannte biologiscbe Gesetz zu bestatigen.
LiteratYir.
Dobrochotow, M., Ein Fall von hereditarer Familieuerkrankung vom
Ubergangstypus zwischen spastischer Spinalparalyse und Friedreiehscher Krank-
beit. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 49, 1913.
Hoffmann, J., Klinischer Beitrag zur Kenntnis der familiaren (heredi¬
taren) spastischen Spinalparalyse. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 47, 18,
1913.
Jendrassik, E., Uber Paralysis spastica und fiber die vererbten Nerven-
krankheiten im allgemeinen. Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 58, 1897.
Derselbe, Zweiter Beitrag zur Lehre von den vererbten Nervonkrank-
heiten. Dtsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 01, 189S
Derselbe, Beitriige zur Kenntnis der hereditaren Krankheiten. * (Dritte
Mitteilung.) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenlieilk., Bd. 22, 1902.
Derselbe, Die. hereditaren Krankheiten. Handbuch der Neurologie,
herausgegeben vou M. Lewandowsky, 1911.
Kollarits, J., Beitriige zur Kenntnis der vererbten Nervenkrankheiten.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 30, 1906.
Derselbe, Weitere Beitriige zur Kenntnis der Heredodegeneration.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 34, 1908.
Marburg, 0., Multiple Sklerose. Handbuch der Neurologie, herausge-
geben vou M. Lewandowsky, 1911.
Newmark, L., IJber die familiiire spastische Paraplegie. Dtsch. Zeitschr.
f. Nervenheilk., Bd. 27, 1904.
Derselbe, Pathologisch-anatomischer Befund in einem weitereu Falle
von familiarer spaatischer Paraplegie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 31,
1906.
Derselbe, Klinischer Bericlit iiber den siebenten Fall von spastischer
Paraplegie in einer Famiiie und Ergebnis der dritten Autopsie aus derselben
Familie. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 41, 1911.
Pribam, Neurol. Zentralbl. ls95.
Digitized by
Go i igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
274 Kooy, tJber einen Fall von Heredodegeneratio usw.
Strumpell, A., (Jber eine bestimmte Form der primaren kombinierten
Systemerkrankung des Ruckenmarka. Arch. f. Psych., Bd. 17, 1886.
Derselbe, Uber die hereditare spaatische Spinalparalyae. Dtach. Zeitschr.
f. Nervenheilk., Bd. 4, 1895.
Derselbe, Uber hereditare spaatische Spinalparalyse. Neurol. Zentralbl.
1901.
Derselbe, Die primare Seitenstrangsklefose (spastische Spinalparalyse*.
Disch. Zeitschr. f. Nervenheilk., B1. 27, 1904.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus dem k. und k. Augusta-BarackenspitaL Kommandant: Ober-
stabsarzt I. Kl. Dr. 0. Byk.)
Uber die Wiederkehr der Mnskelt&tigkeit nach Operationen
an kontinuitatsgetrennten Nerven.
Von
Prof. Dr. Jnlins Donath,
Chefarzt der Nervenabteilung,
und
Regimentsarzt Dr. Andreas Makai,
Chefarzt der chirnrgischen Abteilnng.
Bei der ungeheuren Menge von Nervenverletzungen in diesem
Kriege gibt es kaum einen Chirurgen, der keine Qelegenheit hatte,
eine grosse Reihe hierher gehoriger Falle zu beobacbten nnd zu ope-
rieren. Jedoch beschaftigt sich der iiberwiegende Teil der Mitteilungen
mit Kasuistik, Statistik, Operationsverfahren, mit. den verschiedenen
Methoden zum Ersatz der Nervendefekte, woraus nur in praktiscber
Ricbtung Schliisse gezogen werden, aber sie entbalten sich zumeist,
der prinzipiell wichtigsten Frage naher zu treten, ob wir tatsach-
lich imstande sind, die Nervenleitung mitt els unserer
operativeu Verfahren wieder herzustellen.
Dass der durch Narbengewebe komprimierte, strangulierte Nerv,
dessen Fasern tiefergehende Veranderungen nicht zeigen, nach seiner
Befreiung die aufgehobene Funktion wieder aufnimmt, dies ist un-
scbwer zu verstehen. Auders verhalt es sich bei dem durchschnittenen
Nerven. Unsere pathologischen Kenntnisse machen uns a priori skep-
tisch gegeniiber den in diesen Fallen zu erreichenden Resultaten. Das
Hochste, was wir hier leisten konnen, ist das Aneinanderbringen der
Nervenstiimpfe und deren Vereinigung durch die Naht. Letzteres geht
selbstverstandlich mit der unvermeidlichen neueren Lasion der zen-
tralen und peripheren Stiimpfe einher. 1st es nun denkbar, dass die
Nervensubstanz, als das differenzierteste Gewebe und zwar hier die
Nervenfaser, den Reiz wie ein Metalldraht v^rmittelt, der nach seinem
Zerreissen durch einfaches Zusammenbringen wieder den elektrischen
Strom weiterleitet? Konnen wir daran glauben, wenn wir uns das
mikroskopische Bild des Nervenquerschnittes vor Augen halten, dass
nach dem Zusammenbringen des Querschnittes aus dem Labyrinth
der tausendfachen Nervenfasem ein jedes zentrale Stumpfchen das ihm
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
270
Duxatu und Makai
entsprechende periphere unfehlbar auffmdet? Die Frage ist viel kom-
plizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint und durcb Tierver-
suche schwer zu losen. Die mikroskopische Untersuchung der Nerven-
fasern nach der Vereinigung zeigt nur das morphologische Verhalten
der Gewebe und Zellen, wobei aber zumeist ausser acht gelassen wird,
dass aus der Strukfcur der Nervenfaser keine Sehlussfolgerung be-
ziiglich der physiologischen Funktion abgeleitet werden kann. Urn
nur ein bekanntes Beispiel anzufiihren, kann die Vermebrung der
Zellenkerne der Schwanschen Scheide darauf hinweisen, dass die
gesamten Zellen des distalen Nervenfaseranteils nicht zugrunde ge-
gangen, nicht nekrotisiert sind? Sie kann eventuell als das Zeichen
einer reparativen Zellentatigkeit aufgefasst werden, aber damit ist
nicht bewiesen, dass der betreffende Faseranteil die Leitungsfahigkeit
auch wirklicb wieder erlangt bat oder wieder erlangen wird. Mit
anderen Worten, es ist nicht ausgescblossen, dass die strenge Gesetz-
massigkeit der Wallerscben Degeneration dann ihre Giiltigkeit ver-
liert, wenn der distale Nervenfaseranteil mit dem zentralen in un-
mittelbare Beriihrung tritt; aber der Mangel oder der geringere Grad
der Gewebsveranderungen zeigt nocb nicht an, dass die Nervenfaser
den Reiz an der Lasionsstelle wirklich weiterleitet. Dasselbe gilt von
den frisch entstandenen Nervenfibrillen. Wenn diese auf mikroskopi-
sehen Durchschnitten auch nacbgewiesen werden konnen, so ist damit
ihre Fahigkeit zur Aufnahme oder Leitung des Nervenreizes noch
nicht dargetan. JSin Analogon ware das histologische Bild der gelben
Leberatrophie, bei welcher gewohnlich eine machtige Wucherung des
Epithels der Gallenwege auf den mikroskopischen Schnitten gefunden
wird; darf man daraus folgern, dass diese vikariierende Wucherung
imstande sei, die Funktion der Leberzellen zu iibernehmen oder zu
ersetzen? Das Verhalten gegeniiber der elektrischen Reizung lasst
ebensowenig eine sichere Folgerung zu; denn der aneinander gefiigte
Nerv kann die Elektrizitat auch physisch weiterleiten und auf diese
Weise die Kontraktion des Muskels bewirken, ohne dass er den homo-
logen Nervenreiz auch physiologisch leiten konnte. Die Wiederher-
stellung der elektrischen Reizleitung kann einfach nach Narbenexzision
und Naht durch Verbesserung der physikalischen Leitung erklart werden.
Bei oberflachlicher Uberlegung scheint es am logischsten und ein-
tachsten, das Kriterium anzunehmen, dass wir die Wiederherstellung
der Nervenleitung aus der Wiederkehr der Funktion erschliessen.
Verebely und Ranschburg scheinen die ersten zu sein, die sich
mit der Frage eingehender befasst haben, ob die nach Nervenope-
rationen wiederkehrende Funktion eine wirkliche oder nur eine schein-
bare ist, und in der Erkenntnis der prinzipiellen Wichtigkeit dieses
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit naeh Operationeu usw. ‘277
Problems fordern sie die strengste Beurteilung bei der Feststellung,
ob die Herstellung der Funktion tatsachlich die Folge der Leitungs-
restitution im getrennten und durch Operation vereinigten Nerven ist.
Wir begegnen schon einem ganzen Komplex yon verwickelten
Erscheinungen, wenn wir eine ausgefallene oder wiederhergestellte
Bew'egang analysieren, bzw. die Ursachen und Umstande ihrer Wieder-
berstellung erforschen wollen. Vor allem ist der Anteil der einzelnen
Muskeln an dem Zustandebringen der entsprechenden Bewegung — so
seltsam die3 erscbeinen mag — noch immer nicht ganz klar gestellt.
Die verschiedenen Phasen derselben Bewegung konnen durch die
Zusammenziehung, bzw. Tonusanderung yerschiedener Muskelgruppen
zustande kommen; es geniigt, auf die wohlbekannte Rolle der Anta-
gonisten hinzuweisen. Auch konnen Bewegungen unter der Einwir-
kung der Schwerkraft erfolgen, ohne dass es einer Muskelkontraktion,
bzw. der Inneryation des betreffenden Muskels bediirfte. Auch konnten
Muskelgruppen, deren Bedeutung sonst bei der Erzielung gewisser
Bewegungen untergeordnet ist, durch Ubung in ihrer Wirkung ver-
starkt werden; wieder andere Muskeln konnen durch Narbenbildungen
oder sonstige Krankheitsprozesse neue oder veranderte Stiitzpunkte
erhalten.
Eine weitere Komplikation der Frage wird durch die Innervation
gegeben. Es ist im allgemeinen nicht leicht festznstellen, von w r elchem
Nerven die motorischen Fasern zum Muskel, bzw. Muskelanteil ab-
gehen. Die Feststellung der Muskelinnervation erfordert die feinste
anatomische Praparationstechnik und bei den Nervenoperationen sehen
wir haufig genug den Austausch von haarfeinen Nervenfasern zwischen
den Nervenbiindeln, dass wir fuglich im Zweifel sein konnen, ob diese
in der mehr oder weniger eingetrockneten Leiche iiberbaupt erkennbar
sind. Frohse und Fraenkel, welche neuestens behufs Erforschung
der Muskelinnervation sehr sorgfaltige Praparationen vollfiihrt haben,
bewiesen fiir viele Muskeln des Oberarmes, dass ihre Innervation
durchaus nicht so konstant ist, wie dies allgemein angenommen wird.
Zahlreiche Muskeln sind diploneural, d. h. sie werden von zwei,
eventuell auch von drei Nerven versorgt, und die Zahl anatomischer
Varietaten ist keine geringe.
Die Frage der anatomischen Varietaten, welche das Lieblings-
thema der alteren Anatomen war, ist heutzutage unseres Erachtens,
in Hinsicht auf die Beurteilung der Nervenverletzung, sehr aktuell
geworden. Wabrend die neueren anatomischen Werke deren Vor-
handensein nicht geniigend berucksichtigen, konnen wir aus den alte¬
ren zahlreiche interessante Daten schopfen. So ist z. B. naek Hyrtl')
1) Lehrbuch der Anatomie. 1884. 17. Aufl.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
27S
Doxath und Makai
die Anastomose zwischen dem N. ulnaris und dem N. radialis, bzw.
deren Riickenasten „nicht konstant u , was jedenfalls darauf hinweist,
dass sie nicht selten ist.
Bei der Beurteilung der Ergebnisse von Nervenresektionen konnen
sich Irrtiimer ergeben beziiglich der Herstellung der Empfindung, ein-
fach durch die Suggestibility der Kranken; die Herstellung der Be-
wegung aber kann durch die Aktivierung anderer Muskelgruppen
vorgetauscht und somit die vorhandene Labmung dissimuliert werden.
Dies gilt vor allem fiir die Oberextremitat, aber auch bei den Resek-
tionen an den Nerven der Unterextremitat sind Irrtiimer nicht ganz
ausgeschlossen. Da die Muskeln des Unterschenkels und Fusses nach
unseren bisherigen anatomischen Kenntnissen die gesamten motoriscben
Nerve n vom Ischiadicus erbalten, sind die Verhaltnisse sozusagen sche-
matisch, so dass die Resekfion dieses Nerven fiir die Entscheidung
der Kardinalfragen allein als geeignet erscheint. Sowohl auf Grand
literarischer Daten, wie der Falle, welche der eine von uns (Makai)
selbst beohacbtet hat, kann mit Bestimmtheit behauptet werden, dass
in einem Teile der resezierten und genahten Ischiadici der Nervenimpuls
tatsachlich in die bis dahin gelahraten Muskeln gelangte. Ob aber der Reiz
tatsachlich durch die regenerierten oder, sagen wir, wieder leitungsfahig
gewordenen Fasern vermittelt wurde, ist noch nicht als bewiesen zu
betrachten. Dieser einfachen und bequemen Auffassung gegeniiber
ist aber die Unberechenbarkeit und das Schwankende der Heilergebnisse
hochst auffallend. Diese konnen durch individuelle Disposition, oder
andere individuelle Verhaltnisse nicht leicht erklart werden. Wir
diirfen nicht vergessen, dass die Kriegsverletzungen ein so einheit-
liches Material bieten — einheitlich in Beziehung auf Geschlecht,
Lebensalter, Ernahrung, Lebensverhaltnisse — und in diesem grossen
Material haben wir beziiglich der Zeit, Form und des Ablaufes
der Verletzung so viele einander gleichende Falle, wie wir sie bei
der Beurteilung sozusagen keiner anderen Operation zur Verfiigung
haben.
Es ist unverstandlich, dass die Leitung bei bestimmten Nerven
nach der Resektion verhaltnismassig haufiger, bei anderen wieder seU
tener zustande kommt. Noch merkwiirdiger ist es, dass die Leitung
in genahten Nerven nur in gewissen Fasergruppen des Querscbnittes
wiederkehrt, wahrend sie in den daneben laufenden Nervenfaden
standig ausbleibt. Ist es nun verstandlich, dass nur in einem gewissen
Segment des genahten Querschnittes das Verwachsender Achsenzylinder
erfolgt, fiir das andere unter denselben Verhaltnissen befindliche Seg¬
ment aber ausbleibt?
Die Vergleichung der Heilergebnisse der verschiedenen Autoren
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operatiouen usw. 279
iat schon deshalb erscbwert, weil die Falle mit verschieden genauer
UntersQchungsmethode und mit ungleich strenger Kritik beurteilt
werden. Aber selbsfc bei einem und demselben Autor kommen viele
Falle nicbt zur Heilung, viele nach verschieden langer Zeit und auch
dann nicbt mit gleicher Vollkommenheit. Friihe Heilungen sind ausser-
ordentlich selten, sind aber zweifellos beobacbtet worden.
So liegt bereits eine Reihe von Kriegsbeobacbtungen vor uber
ausserordentlich rasche Wiederkehr der Bewegungen nach Nerven-
resektionen. Sie betreffen meist den N. ulnari*, jedoch nicht aus-
schliesslich. So hat Mann 1 ) 9 Falle von Ulnarisdnrchschneidung
initgeteilt, wo die Operation 3—11 Monate nach der Verwundung
erfolgte und die Funktion nach 1, bzw. 8, 24 Stunden bis 3 Wochen
wiederkehrte. Hierher gehort ein von L&ng 2 ) schon friiher mitge-
teilter Fall von Radialisresektion, wo der 6 cm lange Defekt des
dnrchschossenen Nerven in der Weise ersetzt wurde, dass der proxi¬
mate und der distale Stumpf mittels keilformiger Inzisionen in den
N. musculo-cutaneus gepfropft wurden. Die ersten Zeichen der Ner-
venleitung zeigten sich bereits 24 Stunden nach der Operation und
nach 3 Wochen war die Funktion fast vollkommen hergestellt.
Nach Lorentz ist es unmoglich, die hierher gehorigen Falle
ernster Beobachter, wie Kennedy, Fleman alle zu verwerfen oder
als durch nicht ganz genaue Untersuchungen zu erklaren. Aber auch
ein einziger Fall, mit dem geringsten Zeichen einer friih herge-
stellten Nervenleitung ist geniigend, um unsere Auffassung uber Ziel
und Wesen der Nervenoperationen griindlich umzugestalten.
Der eine von uns (Makai) hatte Gelegenheit, in zwei Fallen nach
der Naht des Ischiadicus die leichte Bewegung der Zehen zu beob-
achten, und zwar am 2. bzw. 3. Tage. Es muss aber hervorgehoben
werden, dass die Funktion in den iibrigen Musk ein sich im Laufe
der weiteren Beobachtung nicht hergestellt hat und die rasch wieder-
gekehrte, aber unvollstandig gebliebene Funktion sich nicht gebessert
hat, bzw. einen weiteren Fortsehritt nicht gezeigt hat.
In einem von uns beiden beobachteten Falle von Verletzung des
N. ulnaris, wo die doppelte Implantation nach Wolfler-Hofmeister
ausgefiihrt wurde, zeigte sich so friih ein funktionelles Resultat, dass
wir denselben im folgenden mitteilen mochteu.
1) Uber rasche Wiederkehr der motorischen Funktion nach Uinarisdurch-
schneidungen. Wanderversammlung der sudwestdeutschen Neurologen u. Psy¬
chiater. Baden-Baden, 3.—4. Juni 1916. Ref. Neurol. Zentralbl. 1916, Nr. 17.
2) Ad. L&ng, Behandlung einer ausgedehnten Nervenzerstorung mit
doppeltcr Implantation in einen gesunden Nerven. Orvosi Hetilap, 1915, Nr. 35.
Deutsche Zeitschrift l. Nervenheilkunde. Bd. 67. 19
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
280
Don'.vth und Makai
Digitized by
Gy. Sch., 38j&hr. Homed, erlitt am 13. Januar 1916 im untereu
Drittel des rechten Oberarmes einen Durchschuss, welcher glatt abheilte.
Er wurde am 25. September 1916 auf die chirurgische Abteilung des k.
und k. Augusta-Barackenspitals aufgenommen. Der rechte Ring- und Klein-
finger waren im Metacarpophalangealgelenke gestreckt und in 'den Inter-
phalangealgelenken gebeugt. Diese beiden Finger waren aktiv unbeweglich.
Der Nervenbefund war folgender: Gewehreinsckussstelle an der Hinter-
fl&che des rechten Oberarmes, Ausschussstelle liber dem N. ulnaris, im
unteren Viertel des Oberarmes. Diese Narbe ist sehr druckschmerzhaft.
Der 4. und 5. Finger waren gebeugt, konnten nicht gestreckt werden.
Der Kranke hatte ein stumpfes GefOhl am Ulnarrande des Vorderarmes,
angefangen vom unteren Viertel entlang dem 4. und 5. Finger. Auf die-
sem Ulnarisgebiete bestand An&stkesie fQr alle Empfindungsarten. Die
elektrodiagnostische Untersuchung ergab Entartungsreaktion im Ulnaris¬
gebiete derart, dass der Nerv auf keine Slromart reagierte, w&hrend der
M. flexor carpi ulnaris auf den faradischen Strom gleichfalls nicht reagierte,
aber auf den galvanischen Strom ziemlich gut ansprach und Kathoden-
scbliessungszuckung starker war als Anodenschliessungszuckung. Der 31.
flexor digit, prof, reagierte auf beide Stromarten. Die Diagnose lautete:
Laesio n. ulnaris supra cubitum und es wurde die sofortige Frei-
legung der Nerven beschlossen.
Operation am 2. Oktober 1916 in Athernarkose. Inzision vom un¬
teren Teil des Condylus intern, des Oberarmes bis zur 3Iitte des Sulcus
bicipitalis internus. Da der Nerv im Narbengewebe des Schusskanals nicht
aufzufinden war, wird derselbe im Sulcus n. uluaris aufgesucbt, bald auf-
gefunden uud proximal verfolgt. Es zeigt sich, dass die ungefsihr 4 cm
betragende Partie sich in einem kleinnussgrossen, narbigen Gewebe ver-
liert; der proximale Stumpf ist an dieser Stelle nicht auffindbar, weshalb
oberhalb der Plex. brachialis freigelegt wird, wo die Arterie mit den bei¬
den Venen unterschieden werden kOnnen, sowie der N. medianus, welcher
anfangs vor der Arterie, dann aussen von ihr herablauft. Die Freilegung
des N. ulnaris gelingt nur nach mOhseliger PrOparation ziemlich hoch oben,
da er durch das Narbengewebe, in welches er eingebettet war, stark mc-
dialwarts disloziert ist. Der proximale Teil des Nerven ist fast kleinfinger-
dick (8—9 mm), also mindestens dreimal so dick wie der N. medianus
und der distale Stumpf. Nach Aufwartsverfolgung des proxiinalen Stumpfes
zeigt es sicb, dass er in 4 cm Entfernung vom distalen Teile in starkem,
derbem Narbengewebe endet. Es muss ein ungef&hr 7 cm langes Stock
vom proximalen Nervenstumpf geopfert werden, bis wir zu einem Quer-
schnitt gelangen, aus welchem die halbflOssige, normale Nervensubstanz
herausquillt. Ebenso muss ein 3 cm langes Stock vom distalen Stumpf
reseziert werden, bis eine normale SchnittflOche zum Vorschein kommt.
Es ergibt sich nun eine 14 cm lange Dehiszenz zwischen den aufgefrisch-
ten Nervenstflmpfen und obgleich dieselben mehrere Zentimeter auf- und
abwOrts prapariert werden, ist es unmdglich, dieselben zusammenzubringen.
Da ein geeigneter Nervenersatz uns nicht zu Gebote stand, wird die Ner-
venimplantation ausgefflhrt. In den lateral vom N. ulnaris liegendeu N.
cutaneus antibrachii medialis, dessen Durchmesser ungefahr 2 mm betrug,
wird nach einer Inzision von 1 cm LOnge in das Perineurium der Quer-
scbnitt des proximalen Ulnarisstumpfes end to side mit 8 feinsten perinea-
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Ubcr die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operationen usw. 281
ralen Seidennahten implantiert. In der Gegend des distalen N. ulnaris
ldst sich der N. cutaneus antibracbii medialis scbon in mehrere Zweige
aof und in das Operationsgebiet fallen 6 derselben; von diesen werden m8g-
lichst tief die beiden am meisten medial liegenden Zweige durchschnitten
und end to end mit dem distalen Ulnarisstumpf mittelst 4 feinen perineuralen
Nahten vereinigt. Exakte Blutstillung. Fortlaufende Hautnaht. Heilung
per primam intentionem.
Am Tage nacb der Operation, innerhalb 24 Stunden, wurde konstatiert,
dass der Kranke den 4. und 5. Finger in jeder Phalange, also aucli
in der basalen beugen und strecken kann. In denselben Fingern
ist auch die Tast- nnd Schmerzempfindung zurtlckgekehrt.
Ubrigens hat der Kraoke selbst an diesem Morgen, also 20 Stunden nach
der Operation, die Bewegungsfahigkeit des 4. und 5. Fingers, sowie auch
die Wiederkehr der Empfindung wahrgenommen und darauf den Arzt auf-
merksam gemacht.
Die am 20. Okt. vorgenommene elektrische Untersuchung ergab auch
die Besserung der elektrisehen Erregbarkeit, insofern sowohl der N. ulnaris
am Oberarm, als der M. flex. carp, ulnaris auf beide Stromarten etwas
trftge Reaktion zeigten und am Muskel KSZ > ASZ war. Auf faradische,
wie galvanische Beizung der Interossei erfolgt die Beugung samtlicher
Phalangealgelenke des 2.—4. Fingers, aber nicht die Ab- und Adduktion
der Finger. Aktiv werden samtliche Phalangen der Finger gebeugt und
gestreckt. Der Daumen vollfQhrt alle Bewegungen. Auch das an&sthe-
tische Gebiet zeigt sich verringert, insofern es jetzt bcim Carpus beginnt.
Wrr stehen also der Tatsache gegenuber, dass der Verletzte durch
9 Monate die beiden Finger nicht bewegen konnte, sie am Tage nach
der Operation entschieden zu bewegen und nach drei Tagen sozusagen
tadellos zu gebrauchen vermochte.
Gegen den Einwand, dass die Lahmung der beiden Finger viel-
leicht hjsterischer Natur war und die Heilung unter der suggestiven
Einwirkung der Operation erfolgte, spricht 1. die schwere anatomische
Veranderung des Nervenj 2. die Entartungsreaktion der betreffenden
Muskeln, 3. selbst angenommen, dass die Kontinuitat des Nerren yor
der Operation nicht unterbrochen war, so wurde doch der Nerv bei der
Operation tatsachlich durchschnitten, 4. die Besserung der elektrisehen
Reizleitung nach der Operation, und 5. der Umstand, dass der Kranke,
obgleich wir jeden vor der Operation immer entschieden darauf auf-
merksam machen, dass die Heilung nur langsam, nach Monaten, zu
erwarten ist, er schon am folgenden Tage selbst die eingetretene Be¬
wegungsfahigkeit zur Kenntnis braebte.
Dieselben Erwagungen haben Geltung jenem Einwurf gegenuber,
dass der Verletzte nach der Operation mittelst anderer Muskeln die
Tatigkeit der eigentlich gelabmt gebliebenen Muskeln ersetzt. Es ist
nicht denkbar, dass wahrend 9 Monate die Einiibung dieser Dissimu¬
lation der Lahmung nicht erfolgt und erst am Tage nach der Opera¬
tion sofort gelungen sei.
10 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
282
Donath und Makai
Ausder Vergleichung des Status vor und nach der Operation beben
wir neuerdings hervor, dass der 4. nnd 5. Finger f wie er fiir die
Ulnarislahmung typisch ist, im Metacarpo-phalangialgelenk gestreckt
und in den Interphalangealgelenken gebeugt waren. Bekanntlich ist
die Wirkung der Interossei und Lumbricales die Beugung der 1. und
die Streckung der 2. und 3. Phalangen. Der Verletzte streckte nach
der Operation die Mittel- und Nagelphalange — wenn auch nicht
vollstandig — so doch entschieden aus der Klauenstellung, und-es
blieben hochstens 50—20° von der vollstandigen Streckung zuriick.
Wenn man nocb den Einwand macben wollte, dass eine derartige
Streckung auch aus der Erschlaffung der Beuger der 2. und 3. Pha¬
langen entsteben konnte, so muss man fragen, warum der Kranke
seine Muskeln nicht vor der Operation entspannen konnte? Diese
Frage ist umso berechtigter, weil der den M. flex, digit, profundus
versorgende N. ulnaris, welcber die Beugung der Nagelphalangen be-
wirkt, vor der Operation gelahmt war, die Erschlaflung der Beuger
der Endphalangen also umso plausibler gewesen ware.
Es war also nach der Operation die Beugung der Basalphalange,
welche durch die vom N. ulnaris versorgten Mm. lumbricales und
interossei bewirkt wird, vollstandig. Wenn wir die Beugung der
Basalphalangen so erklaren wollten, dass die Mm. flex, digit, subli-
mis und profundus bei ihrer Beugung der Mittel- und Nagelphalange
die Basalphalange mit sich ziehen, so konnte der Patient die Basal-
phalange nicht vollstandig beugen bei der — wenn auch unvollstan-
digen — Streckung der Mittel- und Nagelphalange. (jbrigens konnte
man auch hier wieder die Frage aufwerfen, warum zog der voll¬
standig innervierte Flexor digit, sublimis auch vor der Operation die
Basalphalange nicht mit sich. Jedoch muss’zugegeben werden, dass
die Ab- und Adduktion der Finger nicht ausfiihrbar war und es noch
lieute, 40 Tage nach der Operation, nicht ist, aber ein Teil der
Funktion ist tatsachlich zuriickgekehrt.
Auf Grund jiieser Auseinandersetzungen glauben wir bei Anwen-
dung der strengsten Kritik mit Bestimratheit aussprechen zu konnen,
dass die Herstellung der beobachteten Ulnarisfunktion — die Voll-
standigkeit oder nur Andeutung derselben ist vom prinzipiellen Stand-
punkt aus wohl irrelevant — tatsachlich die Wirkung der Operation
als soleber ist.
Wenn wir dies annehmen, dann kanri man sich das Resultat der
Hofmeisterschen doppelten Nervenimplantation in zweierlei Weise
vorstellen: die eine Moglichkeit ist die, dass der eingeschaltete Nerv,
in unserem Falle der N. subcutan. antibrachii medialis, als richtung-
gebendes Interpositum figuriert. Selbst wenn wir hinsichtlich des
Digitized by Goo
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die Wiederkehr der Muskeltlitigkeit nach Operationen usw. 2S3
Auswachsens des zentralen Nerventeils einen in Betracht zu ziehenden
Neurotropismus annebmen, konnen wir uns nicbfc vorstellen, dass der
zentrale Nervenanteil in weniger als einem Tage 14 cm gewachsen
sei. Es bliebe also die zweite Moglichkeit, dass der eingescbaltete
Nerv zu unmittelbarer Weiterleitung des Reizes geeignet sei. Wenn
wir aucb dies annehmen wollten, dann wairen diese nur so begreif-
lich, dass an der Beriihrungsstelle sowobl des proximalen, als des
distalen Stumpfes mit dem hospitierenden Nerven die prima reunio
gleichzeitig erfolgte.
In unserem konkreten Falle tauchen bei der Annalime dieser
Anffassung noch folgende Schwierigkeiten auf: 1. Zur Weiterleitung
des motorischen Impulses haben wir einen sensiblen Nerven ver-
wendet; 2. der Impuls muss in der der gewohnten Leitung entgegen-
gesetzten Richtung befordert werden (obgleich der bekannte Ratten-
schwanzversuch diesen Einwurf gewisserinassen entkraftet); 3. der diinne
N. cutan. antibrachii kann keinesfalls die dem macbtigen N. ulnaris
entsprechende Anzabl von Nervenfaden enthalten; 4. nur ein geringer
Teil der viel dunneren Nervenfaden wurde zur Reizleitung verwendet,
weil zentralwarts nur die durcb die Langsspaltung des Perineuriums
frei gewordenen Nervenfaden zur Geltung kommen und distalwarts
nur ein kleiner Teil der sicb verzweigenden Nervenfaden mit dem
N. ulnaris end to end vereinigt wurde.
Alles in allem konnen wir so viel sagen, dass die vor der Opera¬
tion untatigen Muskeln in Tatigkeit gerieten, obgleich die Herstellung
der Nervenleitung weder durch Auswachsen noch durch Ubertragung
der Reizleitung mit irgendeiner Wahrscheinlicbkeit angenommen
werden kann.
Erst jiingst hatten wir Gelegenheit, noch einen Fall zu beobachten,
in welchem nach Naht des Medianus und Ulnaris die friihe Riickkehr
der Funktion festgestellt werden konnte.
J. B., 23jahr. Honved, erlitt am 5. Juli 1916 am unteren Drittel des
rechten Oberarmes eine Schussverletzung. Er kam am 24. Februar 1917
in das Augusta-Barackenspital mit ausgesprochener L&hmung des Medianus
und Ulnaris. Die lieurologiscke Untersuchung ergab:
Oberarm wird ziemlicli gut gehoben, Ellbogen gut gebeugt; aktive
und passive Streckung bis 130° wegcn Kontraktur des Gelenkes. Hand
wird etwas gestreckt, besser gebeugt. Mftssige Kontraktur des Handge-
lenkes. 2.—5. Finger werden in den Basalphalangen im be-
schriinkten MaBe gebeugt und gestreckt; Mittel- und Nagelphalan-
gen werden minimal gestreckt, dock zicmlich gut gebeugt. Daumen in
alien Richtungen ziemlich gut beweglich. Atrophie der Vorderarmmusku-
latur, besonders der Beuger; starke Atrophie der Interossei, des Thenars
und Antithenars. Die Sensibilitfttsstdrung (Anftsthesie, Analgesie, Therm-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
284
Donath und Makai
Digitized by
und Kryan&sthesie) betraf auf der rechten Hand die ganze Volarfl&che,
sowie die Dorsalflachen des 2.—5. Fingers. Nur am 2. nnd 3. Finger
zeigten die basalen Pbalangen auf der DorsaWache Hypftsthesie und Hyp*
algesie.
Die elektrodiagnostische Untersuchung ergab schwere Entartungsreak-
tion (die Muskeln reagierten auch auf den galvaniscben Strom nicbt) ini
Gebiete des N. medianus und ulnaris.
Die Diagnose lautete: Laesio n. ulnaris et in minore gradn
n. mediani supra cubitum 1. d. (Mit RQcksicht auf die scbwache gal-
vaniscbe Erregbarkeit des N. medianus wurde eine geringere Lfision in
diesem Nerven angenommen.) Es wurde die sofortige Freilegung des Ul¬
naris und Medianus fiber dem Ellbogengelenk beschlossen.
Operation am 17. Marz 1917: Inzision von der Mitte des Oberarmes.
im Sulcus bicipitalis internus, gegen den Condylus medialis von 10 cm
Lange. Mit einem schiefen Schnitt wird zunachst der Ulnaris freigelegt.
Das Herauspraparieren des oberen intakten Anteiles ergibt, dass der Nerv
sich in einem lillhnereigrossen, gleichartig derben Narbengewebe verliert.
In Verfolgung des unteren Anteils dieses Narbengewebes wird alsbald auch
der distale Nervenanteil gefunden. Das narbige Zwischenstttck des Nerven
wird bis zur Gewinnung eines normalen Querschnittes reseziert. Trotz der
5 cm betragenden Dehiszenz kann die Vereinigung mit zebn feinen para-
neuralen Nahten bewirkt werden.
Nun wird zur Praparation des Medianus geschritten. Die Zurecht-
findung in dem daumendicken, derben Strange ist ausserordentlich er-
sebwert. Die darin verlaufende A. bracbialis ist auf ein Kaliber vor kaum
3 mm zusammengedrUckt. Lateralwarts derselben wird der N. medianus
mit grosser MOhe freigelegt, der sich aber alsbald in dem starren Narben¬
gewebe verliert. Nachdem es auch durch Auffaserung nicht gelingt, Ner-
venfaden des Medianus in die Narbe zu verfolgen, wird derselbe in einer
Ausdehnung von 5 cm reseziert und die Stflmpfe mit zwdlf feinen para-
neuralen Nahten vercinigt.
Auf Querschnitten des extirpierten Narbengewebes sind zwei feine
Nervenfaden wahrzunehmen, aber diese sind mit der Umgebung so zu-
sammengebacken, dass sie selbst am Praparat nicht zu isolieren sind.
Am nachsten Tage nach der Operation bemerkt der Eranke,
dass er die Finger etwas besser beugt. Tatsachlich werden
samtliche Finger in den Metacarpophalangealgelenken (kleine
Handmuskeln), ausserdem die Mittel- und Nagelphalange des
5. Fingers ziemlich betrachtlich gebeugt. Weniger, jedoch ent-
schieden, die Mittel- und Nagelphalange des 2. Fingers, sowie die Daumen-
phalangen (Flex, digit, prof, und subl). Die genannten Phalangen des
2. und 5. Fingers werden auch dann gebeugt, wenn die Basalphalangen
fixiert werden; dasselbe gilt auch fQr den Daumen. Die massige Klauen-
stellung besteht noch.
Wir haben gesehen, wie wechselnd die Heilergebnisse bei dem-
selben Autor sind, selbst bei dem denkbar gleicbartigsten Material.
Viele Falle beilen iiberhaupt nicht, viele nur nacb langer Zeit und
auch dann nicbt vollstandig. Friihzeitige Heilung ist ube.raus selten,
doch entschieden beobachtet. Auch seben wir, dass bei einzelnen
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operatiouen usw. 2So
Nerven die guten Eesultate auffallig baufig sind — besonders beziehen
sich die raschen Heilungen auf den N. ulnaris — andere wieder ver-
halten sich renitenter nach der Operation.
Es bleibt nach alledem nur die eine Moglichkeit iibrig, dass es
an der anatomischen Pradisposition liegt, ob die Funktion des in
seiner Kontinuitat unterbrochenen Nerven nach der Operation wieder
hergestellt wird and in welchem MaBe. Wir verweisen hier auf den Fall
von Goldmann 1 ), wo trotz Resektion des N. ulnaris kein Funktions-
fall erfolgte. Eine ahnliche Beobachtung hat Nonne 2 ) bezuglich des
N. medianus gemacht. Diese anatomische Pradisposition kann nur
darin bestehen, dass die einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen ausser
den in den Lehrbiichern beschriebenen Nerven auch von anderen
Stellen innerviert werden. Wir weisen diesbeziiglich auf die Unter-
suchungen von Frohse und Frankel, sowie Ranschburg hin.
Wahrscheinlich sind diese Varietaten haufiger und ausgebreiteter, als
im allgemeinen angenommen wird. Selbst fur den N. ischiadicus ist
es nicht ausgeschlossen, dass er in seinem Verlaufe auch aus anderen
-Nervenstammen Anschliisse erhalt. So erwahnt Hyrtl: „Von den
fiir den Adductor magnus bestimmten Muskelzweigen des N. obtura-
torius sah ich offers einen Faden abgehen, welcher den genannten
Muskel nach hinten durchbohrt, in die Eniekehle gelangt und auf
der Arteria poplitea weiter herabgeht." Es liegt also die Annahme
nabe, dass von der Gegenwart solcher akzessorischen Innervationen
nnd deren mehr oder weniger starken Entwicklung der Erfolg der
Operationen, dessen Grad und teilweise der Zeitpunkt des Eintrittes
desselben abhangig ist.
Den einen von uns (Makai) fiihrte die bekannte Erfolglosigkeit
der Peroneusnahte in der Gegend des Wadenbeinkopfchens zur An¬
nahme der Kollateraltheorie. Es fiel ihm auf, dass sowobl bei der
Unterbindung der A. poplitea Ernahrungsstorungen viel haufiger in
der Unterextremitat auftreten, als wenn wir mehr oben oder unten
die Gefasse unterbinden, ebenso die hoher oben ausgefiihrten Nerven-
nahte erfolgreicher sind, als wenn wir dieselben an der genannten
Stelle machen. Anders kann diese Beobachtung kaum erklart werden,
als dass unterhalb dieser Stelle keine Anastomosen mehr zum Nerven-
faden treten. Es bliebe nur die Frage ungelost, warum diese Ersatz-
innervationen nicht sofort nach der Verletzung des Hauptstammes in
1) Goldmann, "Ober das Fehlen von Funktionsstorungen nach der Resek¬
tion der peripheren Nerven. Boitr. z. klin. Chir., Bd. 51, 1906, S. 183.
2) Nonne, Arztlicher Verein von Hamburg, Sitzung voin 3. November
1914. Ref. Neurol. Zentralbl. 1915, Nr. 1.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
2SG
Donath und Makai
Wirksamkeit treten und auf welche Weise wir durch unsere Opera-
tionen sozusagen die Einschaltung dieser Ersatznerven erreichen.
Es ist zweifellos, dass zahlreiche, neurologisch durch Monate,
selbst Jahre vergebliok bebandelte Kranke auf die Operation eine
auffallige, sogar rasche Heilung aufweisen konnen. Diese Heilung
ist in Berucksichtigung der obigen Auseinandersetzungen so zu er-
klaren, dass durch den operativen EingrifF bestimmte Hemmungen
ausgesehaltet werden, welche bis dahin die Tatigkeit der kollateralen
Bahnen verhindert haben. Diese Theorie ist von dem einen yon uns
(Makai) 1 ) im Jahre 1915 in der Budapester konigl. Gesellschaft der
Arzte des naheren entwickelt worden, uud spater, unabhaugig von
ibm, schloasen sich ihr anch Bethe und Becker im Jahre 1916 in
der Wanderversammlung der Siidwestdeutschen Neurologen und Psy¬
chiater an. 2 )
Die Ausschaltung der Hemmungen konnen wir uns etwa folgender-
maCen vorstellen: Bekannt ist der Brondgeestsche physiologische
Versuch, bei dem die Durchschneidung des N. ischiadicus oder der
hinteren Riickenmarkswurzeln am Frosch Atonie des Beines hervor-
ruft. Dabei ist die Streitfrage von keiner prinzipiellen Bedeutung fur
die Reflexnatur des Muskeltonus, ob die fortwahrend von der Peri¬
pherie zu den Vorderhornganglienzellen geleiteten Reize ihren Ur-
sprung von der Haut oder bloss vom Muskel (Starlings propriozep-
tives System) nehmen. Eine klinische Bestatigung dieses pbysiologi-
schen Experimentes ist die Hypotonie bei Tabes, wo sowohl oberflachlicbe,
als tiefe (Muskel-)Sensibilitatsstoruug vorhanden und die Empfindungs-
leitung infolge der HinterstraDgsklerose behindert ist. In unserem
Falle konnen wir annehmen, dass die Zerstorung im Verlaufe des Nerven
und die darauf folgende Entzundung, sodann die nach Ablauf dieges
Prozesses entstehende Narbe und deren Druck einen standig erhohten
Reiz bildet, welcher die Zellen des peripheren (Riickenmarks-)Neu-
rons der entsprechenden motorischen Babnen — mitinbegriffen die
Kollateralbahnen — so sebr erschopft, dass sie die vom zentralen
(Hirn-)Neuron ausgehenden motorischen Bewegungsreize zu verarbeiten
und weiter zu befordern ausserstande sind. Diese Momente fehlten
in den Fallen von Goldmann und Nonne und so ist das Erhalten-
sein der Funktion verstandlich. Wenn wir bei der Operation die
Narbe ausschneiden und durch die Heilung per primam ein weiteres
Irritament ausgeschlossen wird, dann hort langsamer oder schneller
die Ermiidung der Ganglienzellen des Vorderhornes auf und die Ver-
1) Anzeiger der Budapester konigl. Gesellschaft der Arzte 1915, Nr. 14.
2) Ref. Neurol. Zentrnlbl. 1916, Nr. 17.
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber die Wiederkehr der Muskeltatigkeit nach Operationen uaw. 287
raittlung erfolgt, da die Hauptbahn unfcerbroehen bzw. nicbt herge-
stellt ist, in der Koilateralbabn.
Das Experimentum crucis dieser Theorie ist eine solche Opera¬
tion, bei welcber ausser der Aufhebung des durch den Narbendruck
verursachten Irritamentes nichts weiter gescbieht, die Nervenstiimpfe
nicht vereinigt werden, und das durch den resezierten Nerven ver-
sorgte Gebiet Anzeichen der Funktion darbietet. Durch ein Ungefahr
konnten wir in der jiinsten Zeit eine solche Beobachtung machen:
J. B.., 40jfihr. Infanterist, erlitt^ am 3. Juli 1916 eine destruierende
Schussverletzung am linken Oberarm und wurde bald darauf, am 11. Juli,
in unsere Krankenanstalt aufgenommen. Der Yorderann hing mit einem
kaum zweitingerbreiten inneren Hautlappen und entsprechendem Muskel-
anteil am Oberarm, der einen mebrfadheu Splitterbruch erlitten hatte und
einen zweitingerbreiten Substanzverlust aufwies. Es gelang auf konserva-
tivem Wege den Vorderarm zu erhalten. Die A. brachial is, der N.
medianus und ulnaris waren unversehrt.
Der neurologische Befund vor der Operation war: Linker Oberarm
wird zicmlich gut gehobeu. Aktive und passive Bewegung des Ellbogens
minimal wegen Versteifung des (ielenkes. Die Hand kann dorsal nicht
flektiert werden, Streckung der Finger minimal, dagegen werden Hand und
Fiuger ziemlich gut gebeugf.
Biceps, Tricepsreflex (3: radialer Periostreflex vorhanden. Carpalreflexe
links 0, rechts minimal. Die elektrodiagnostische Untersuchung ergab
Entartungsreaktiou im linken Radialisgebiete. Diagnose: Laesio N.
radialis sin. in humero. Therapie: Freilegung des Nerven.
Operation am 8. Marz 1917. Spirale Inzision vom oberen Drittel
der Streckflache des .Oberarmes durch das machtige Narbengewebe bis zur
FJlbogengrube. Das Narbengewebe dringt jenseits der Hautuarbe, sowohl
proximal- als distalwarts, weit in die Muskulatur, so dass die Prfiparierung
des Nerven grossen Schwierigkeiten begegnet. Nach Eindringen durch den
intakten Anted des Triceps gelingt es endlich, den 4 mm starken N. ra¬
dialis am Knochen aufzutinden, der, in distaler Richtung verfolgt, sich als-
bald iu ganz gleichartigem derben Narbengewebe verliert. Danach wird
nach rnfihseligem Praparieren in der Ellenbeuge, entsprecheud dem Sulcus
bicipitalis externus, der distale Stumpf aufgefnnden, der aber 1 cm fiber
der Teilung sich schon im Narbengewebe verliert. Nach tunlicher Befrei-
ung der beiden Nervenstiimpfe zeigt sich, auch bei Einrechnung des narbig
verfinderten Anteiles, noch immer eine 15 cm betrageude Lficke. Nun war
in der Nflhe kein Nerv vorhanden, in welchen eine Hofmeistersche Im¬
plantation hatte beweikstelligt werden konnen, und ein Ilerfiberziehen des
oberen Nervenstumpfes auf die Beugetlache schien nicht ratsam, weil dann
Nebenfiste batten geopfert werden mfissen; auch eine entsprechende Pro-
these stand uns nicht zur Verffigung, dieselbe aber auch nichts genfltzt
hatte, weil sic nur in Narbengewebe eingebettet werden konnte: aus diesem
Orunde entschlossen wir uns, die Nervenstflinpfe wic bei Amputationen
nach vorne zu ziehen und im Oesunden durchzuschneiden, wodurch der
Nerv sich ins Muskelgewebe zurtickzieht.
11. Mfirz. (icstern 7 Uhr morgens meldet Pat. der Schwester, das>
Digitized by
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
•288
Doxath und Makai
Digitized by
er vorgesiern gegen 6 Uhr abends, also 30 Stnnden nach der Opera¬
tion, die Hand etwas strecken konute and dass in der Nacht
anf dem HandrQcken die Empfindung zurQckgekehrt war. Der
Kranke berichtete dies von selbst, obglcick der eine von uns (Makai)
ihn am Tage nach der Operation aufmerksam gemacht hatte, dass eine
Wiederkelir der Funktion nicht zu erwarten sei, nackdem die Nerven nicht
zusammengenQkt werden konnten und fQgte nock hinzu, dass wenn spater,
selbst nack Jakren, die fiesserung erfolgeu sollte, dann mdge er auf Kosten
des Arztes nack Budapest komrnen. Suggestive Einwirkungen Qrztlicher-
seits oder durch die Operation wurden also strenge vermieden.
Die Untersuckung ergab: Dorsalflexion um mindestens 10°;
die im Metacarpophalangealgelenke gebeugten Finger konnen
um 40° gestreckt werden. Die Beugung in den Interpkalangealgelen-
ken ist vollstQndig. Samtliche Bewegungen des Daumens etwas besckrankt,
mit Ausnahme der Abduktion. Die Tasterapfindung auf der RQck-
flache der Finger ist vollstandig, auf der RQckfl&che der Hand
ist HypQsthesie vorhanden. Pinsel wird stellenweise, aber entschie-
den und namentlich auf der ganzen RQckflache und dem I Metacarpus; Stiel
Qberall empfunden. Schmerzempfindung ist sowohl auf der RQckflache der
Finger als der Hand vorhanden, auf dem Daumen zeigt sich gegen die ge-
sunde Seite kaum ein Unterschied; auf der RQckflache des Vorderarmes
ist dieselbe sckwach vorhanden. Wegen des Verbandes konnte an der
proximalen Halfte keine Untersuckung gemacht werden.
15. Marz. Wie Pat. aufmerksam macht, hat sich die Streckung der
Hand, sowie die Empfindung des HandrQckens verringert. Tatsachlick er¬
gab die Untersuchung eine geringere Dorsalflexion der Hand, doch ist sie
entschieden vorhanden. Auf der RQckflache samtlicher Finger ist die
Tastempfindung (PinselberQkrung) ebenso gut, als auf der gesunden Seite.
Auf der RQckflache des 1. und 2. Metacarpus, sowie der unteren Halite
des Vorderarmes Hypfistkesic fQr alle Empfindungsqualitaten. FQhlt seit
der Operation spontane stechende Schmerzen in der RQckflache des Vorder¬
armes. Pat. findet jetzt den ganzen Arm beweglicher als vor der Operation.
Mit dieser Theorie aber konnen samtliche Problems der Nerven-
operation in befriedigender Weise erklart werden. In den nicht
gelungenen Fallen sind wahrscheinlich nicht geniigende kollaterale
Baknen praformiert. Bei den sehr selten erfolgenden friihzeitigen
Heilungen stehen geniigend Seitenbahnen zur Verfugung, welche nach
Aufhoren der Reflexhemmung die Reizleitung in kurzer Zeit iiber-
nehmen konnen. Der Fall, wo die Funktionsherstellung nur fur einen
gewissen Teil des Querscbnittes des genahten Nerven erfolgt, kann
leicht dadurch erklart werden, dass nur die diesem Querschnitt ent-
sprechenden Musketgruppen kollaterale Nervenbahnen besitzen.
Es ist nicht unmoglich, dass diese kollateralen Bahnen vor der
Operation Impulse zur Muskeltatigkeit wohl nicht bekomraen, aber doch
soviet Reize leiten, als zurVerhinderung des ganzlichen Unterganges des
Muskels notwendig ist. Es ist bekannt, wie renitent die kurzen
Fingermuskeln nach Medianus- und Ulnarisnahten sind. Verebely
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
tJber die Wiederkehr der Muskeltiitigkeit nach Operatiouen usw. 289
erklart dies mit dem friiheren Untergang und der Vernarbung der
kleinen Handmuskulatur; uns erseheint es wahrscheinlich, dass eben
weil die kleinen Muskeln der kollateralen Innervation entbehren, des-
halb gehen sie leichter in Vernarbung fiber und kehrt ihre Funktion
nach der Nervennaht nicbt zurfick. Wenn nach der Nervennabt spater
aus irgsndeinem Grande’ ein neues Irritament am genahten Nerven
entsteht, dann kann natfirlich die bereits eingetretene Funktion wieder
rfickgangig werden. Dies und vielleicht die Uberbiirdung der frisch
funtionierenden Muskeln mag es verscbulden, wenn nach anfanglichen
Besserungen mitunter wieder Verscblimmerungen eintreten. So sah
Gaugele 1 ) in zwei Fallen von Ulnarisoperation die anfanglich sebr er-
heblicbe Besserung nach einigen Wochen wieder verloren gehen, so
dass die nach der Operation verschwundene Krallenstellung bald
nachher wieder in Erscheinung trat.
Es ist bekannt, dass im allgemeinen, je frfiher die Nervennaht
nach der Verletzung vollffihrt wird, die Heilung umso frfiher und
vollkommener erfolgt. Jedoch sind auch solche Falle bekannt, wo
nach langerer Zeit ausgeffihrte Operationen frtihzeitig die Heilung
erfolgte, wahrend umgekehrt in frischen Fallen sie genug oft erst
nach langerer Zeit sich kundgibt. In welchem MaBe die kollateralen
Bahnen blockiert sind, mag von der Zeitdauer der Irritation des zen-
tralen Stumpfes abhangen, ferner aber auch von der Intensitat des
Beizes, welche durch die an den zentripetalen Bahnen angehauften
Narbenbildungen und Entzfindungsprodukte gegeben sind; eine wei-
tere Rolle spielt die Ausdebnung der praformierten Kollateralen, ferner,
in welchen Muskelgruppen sie enden und wieweit das betreffende
Individuum disponiert ist, diese Bahnen einzufiben.
So wie auch bei der Blutzirkulatibn nur nach einer gewissen
Zeit die Seitenbahnen genfigend werden, um den Kreislauf abzu-
wickeln, ebenso kann angenommen werden, dass auch die Nerven-
kollateralen nur nach individuell verschieden lang andauernder Reiz-
leitung imstande sind, ganz oder teilweise die Nervenimpulse aufzu-
nehmen und weiterzuleiten. Dies wfirde die verschiedene Zeitdauer
der Heilung nach Nervennahten erklaren.
Schlussfolgerungen.
1. Wenn nach Kontinuitatstrennung peripherer Nerven zuweilen
die Muskelfunktion tatsachlich erhalten bleibt, so ist dies auf die
fortdauemde Tatigkeit von kollateralen Nervenbahnen zu beziehen.
1) V. Gaugele, Ober Nervenverletzungen im Kriege. Zeitschr. f. ortho¬
pad. Chir., XXXV, 1915, Heft 3.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
290 Dojjath und Makai, Cber die Wiederkehr det Muskeltatigkeit uaw.
2. Eine Reihe yon Beobachtungen nach operativen Eingriffen an
kontinuitatsgetrennten Nerven kann durch die Annahme eines ein-
fachen Zusammenwachsens, bzw. einer Wiederhersteilung der Leitongs-
bahn des genahten Nerven nicht erklart werden.
3. Die hierher gehorigen Erscheinungen sind dnrch die Annahme
von Kollateralbahnen, welche erst nach Ansscbaltang bemmender
Reize mittelst des operativen Eingriffes zur Geltnng kommen, restlos
zu erklaren.
4. Histologische Bilder allein oder die Leitang des elektrischen
Stromes sind keine einwandfreien Beweise dafiir, dass die tatsach-
liche Leitang eines genahten Nerven auch fur die nervosen Impulse
hergestellt ist.
5. Es muss dahingesteilt sein, ob und unter welchen Umstanden
eine tatsachliche Nervenreizleitung durch den genahten Nervenab-
schnitt besteht.
6. Die angefiihrten Beobachtnngen berechtigen noch nicht zu
praktischen Sehliissen. Die Naht der Nervenstiimpfe ist, wo nur
irgendwie technisch moglich, uberall auszufiihren.
ty Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zeitschriftenttbersiclit.
Archiv fUr Psychiatrie und Nervenkrankheiten.
Redigiert von E. Siemerling. Berlin 1917.
Band 57, Heft 1.
Serologische Untersuchungen bel Geisteskrankhelten, insbesondere
bel Paralyse. Von Dr. P. Kirchberg-Frankfurt a. M. Ausgedehnte Unter-
suchungen fiber Wassermannreaktion, Hamolysinreaktion, Abderhalden, Gold-
sol, Mastix u. a. — Cber Hermann LInggs Krankheit. Von Dr. E. Jentsch-
Obernigk. Nosographie. Es handelte sich urn eine depressive Neuropathie. —
Znr neurologiscben Kasnistik der Kleinhirnverletzungen. Von Dr. Frieda
Reich mann-Konigsberg i. Pr. — Hysterisehe Halbseltenlbsion nach Ein-
wirknng sch&dliclier Gnse. Von Prof. Raeeke-Frankfurt a. M. — Cber
psychische Stornngen bei Schnssverletzong beider Frontallappen. Von
Prof. Rosenfeld. Katatonischer Stupor mit nachfolgender frontaler Ataxie.—
Cber den Wert der Luetinreaktlon in differenlialdiagnostischer Bezlehung.
Von Dr. Konig-Bonn. Die Luetinreaktion ist bei Lues cerebri etwas haufiger,
als bei der Paralyse. Rehr gross ist ihr diagnostiseher Wert nicht. — Cber
die Bebandlungsresullate der Kriegsverletzungen peripheristher Xerven.
Von Dr. A. Pelz-Konigsberg i. Pr. Ausfuhrliche Arbeit. Die Erfolge der
operativen Behandlung dfirfen nicht uberschatzt werden. — Hysterisehe Er-
kranknngen bei Kriegsteilnehmern. Von J. Bauer-Stuttgart. — Cber kon-
genitale Lues. Von Prof. A. H. Hfi bner-Bonn. Eingehende Studien zur
Beantwortuug der Frage, wie weit die kongenitale Lues von EinfluBS ist auf
die Entstehung spaterer Nerven- und Geisteskrankheiten. — Cber die Ent-
stehnng von Grossenideen. Von Dr. Weichbrodt-Frankfurt a. M. — Cber
die Frage der Dienstbeschttdlgung bei den Psychosen. Von E. Meyer-
K^nigsberg i. Pr. — Cbir Kriegsncurosen, ihre Prognose nnd Behandlnng.
Von Prof. Roaenfeld. — Eine psychogene Hassenerkranknng zu Regens¬
burg 1m Jahre 1519 nnd 1520. Von Dr. H. Schoppler.
Band 57, Heft 2.
Eine familiftre Trophonenrose der onteren Extremit&ten. Von R. Go-
bel 1 und W. Itunge-Kiel. Sehr interessante Mitteilung fiber eine eigentum-
liche trophoneurotische Erkrankung an den Ffissen und Zehen, die seit drei
Generationen an raannliehen Mitgliedem einer Familie beobachtet wurde. Das
Leiden beginnt etwa im 8. bis 10. Lebensjahr mit Schmerzen in den Zehen,
Abfallen der Nagel und scblecbt heilenden Geschwfiren. Spiiter treten Blasen-
bildungen, ausgedehnte Gangriineszierungen und Sensibilitiitsstorungen hinzu.
Sekundiire Entzfindungen machten wiederholt eine Amputation notig. Die
Verf. glauben, dass eine Erkrankung des Rfickenmarks dem Leiden zugrunde
liegt. Ob es sich um Syringomyelie handelt, ist aber mindestens zweifelhaft.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
292
Zeitachriftenubersicht.
Ahnliche Beobachtungen in geringer Zahl Bind schon von Bruns, Oehlecker,
Bramann u. a. veroffentlieht worden. — Zur katatoneu Form der progres-
siren Paralyse* Von G. Maeltzer-Lubeck. Ausfiikrliche klinische Angaben
uber die unter dem Bilde einer Katatonie verlaufende Form der Paralyse. —
Stndien fiber die progressive Paralyse. Von F. Jahnel-Frankfurt a. M.
Ausfuhrliche Angaben uber die Spirochatenbefuude in den Gehirnen von Para-
lytikern. — Der Inhalt der Psychose. Von Prof. Raecke. Polemik gegen
einen gleichbetitelten Vortrag von E. Jung in Zurich. — Beitrag zur Kenut-
nis der Kleinhirnagenesie. Von W. Tintemann-Osnabriick. Klinisch:
Ataxie, Sprachstorung und Idiotie. Anatomisch : Agenesie des Kleinhims, Ver-
kummerung der Olivenformation. Mangelhafte Entwicklung der Groasbirn-
rinde. — fiber Bezielmngen zwisehen klinischem und histopathologischem
Befnnd bei einer famili&ren Erkranknng des kindliehen motorisohen Sy¬
stems. Von G. Heilig-Kosten. Drei Schwestern im kindliehen Alter mit
den Erscheinungen spastischer Spinalparalyse. Die anatomische Untersuchung
ergab kombinierte Systemerkrankuug im Ruekenmark. Weitere Einzelheiten
der interessanten Beobachtung s. im Original. — fiber Dissimulation. Von
Dr. Flora Boenheim-Konigsberg i. Pr. Die D. ist praktisch wichtig be-
sonders bei Depressionszustanden. — fiber zwei F&lle von Mitbewegungen
bei intaktem Nervensystem. Von Dr. Lackner-KSnigsberg i. Pr. Mit¬
bewegungen in symmetrischen Muskeln an nicht gelahmten Gliedern. Aus¬
fuhrliche Beschreibung eines hierher gehdrigen Falles. — Neurosenheiluugen
nach der Kanfmann-Methode. Von M. Raether-Bonn. Verf. erzielte in
97 Proz. Heilung, meist in einer Sitzung. Heilung ist meist aueh dauernd,
wenn die Kranken in der Heiinat bleiben konnen. — Zur Bebandlung hyste-
risoher Storungen. Von R. Weichbrodt-Frankfurt a. M. Suggestivbehand-
lung und Dauerbad. — Nekrologe auf Heinrich Sehfile (Moeli), Karl Pelman
(A. Westphal) und Ludwig Bruns (R. Wollenberg). A. Strfimpell.
Zeitschrift fUr die gesamte Neurologie und Psychiatrie.
Red. von Gaupp u. Lewandowsky.
Berlin 1916.
Baud 35, Heft 1 uud 2.
Vaganten (Arbeitswanderer, Wanderarbeiter, Arbeitameider).
Von M. Tramer-Munsingen in der Schweiz. Ausftihrliche statistische, klinische
und psychologische Untersuchungen uber die zahlreiche Klasse der Vaganten. —
Beitrag zur Kenntnis der schweren Migrftneformen. Von Dr. Schob-Dres-
den. Bei einera schwer belasteten Mann, der seit der Schulzeit an Migrane-
anfallen leidet, traten mit zunehmendem Alter immer sehwerere Erscheinungen
im Anfall auf: psychische Storungen, Bchwere Bensorische Aphasie, Illusionen
und Halluzinationen, Erregungszustande, vasomotorische Erscheinungen u. a. —
Der sensorisch-motorlsche Dualtsmus Grie singers als funktiouelle Grund-
lage geistiger Erkrankungsformen. Von Dr. Mollweide-Rufach.
Baud 35, Heft 3.
Psychische Nachwirkungen von Prof. Wiersma-Groningen. Psycho-
logische Versuche an Schulkindern fiber Ubung und Gedachtnis. — GefUss-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zeitschriftenubersicht.
293
und Jiervenverletzungen. Von M. Lewandowsky. Ausfiihrliche Mitteilong
fiber schwere vasomotorische Erscheinungen, welche bei gleichzeitigen Gefiiss-
und Nervenverletzungen auftreten. — fiber multiple Sklerose im Kriege. Von
W. Mayer-Tubingen. Kasuistik fiber Falle multipier Sklerose bei Kriegs-
teilnehmern. Die Kriegsstrapnzen spielen vielleicht eine ausldsende Rolle. —
Krankheitsbeurusstsein und Krankheitseinsieht bei der Dementia praecox.
Von Dr. O. Hinrichsen-Friedmatt-Basel.
Band 35, Heft 4.
Beobachtungen zur itiologle. Von M. Lewandowsky. Kaauistische
Mitteilungen: Thomsenscbe Krankheit nacb Typhus, Verschliramerung einer
alten spinalen Kinderliihmung durcb fortgesetzte Kalteeinwirkung, Entstebung
einer zerebralen Hemiparese mit Epilepsie durcb starke korperliche Anstreng-
ungen auf dem Boden einer anscheinend vollig geheilten Eozephalitis. — Neu -
rologlsche TJntersncbnngen bei frlschen Gehlrn- und Itfickenmarksrer*
lelzungen. Von Prof. H Berger-Jena. — Zur Symptomatologie und Pro¬
gnose der selteneren Formen epldemischer zerebrospinaler Meningitis.
Von H. Higier-VVarschau. Zahlreiche lebrreiche Angaben fiber eine grfissere
Anzahl genau beobacbteter Fiille. — Beitrbge znm Formenrelchtum der mul-
tlplen Sklerose. Von H. Curschmann-Rostock. Verf. bespricbt die be-
nignen Formen, die mit Remissionen verlaufen, ferner das familiare Auftreten
der multiplen Sklerose, den lumbosakralen Typus mit Fehlen der Sehnen-
reflexe und Mnskelatrophie, weiterhin Fiille mit dein Symptomenkomplex des
intermittierenden Hinkens, mit einer atropbischen Gaumensegelliihmung, mit
halbseitiger Zungenatropbie, mit gekreuzten Pons- nnd Pedunculuslahmungen,
mitBasedow*Syinptomen,mitMilcbsekretion ohneZusamraenbang mit Scbwanger-
scbaft und Wocbenbett — kurzum eine Fiille lebrreicher Beobacbtungen. —
fiber die psyehogenen Ursaohen der essentiellen Enuresis noctnrna infan¬
tum. Von Dr. J. Kliisi-Zfiricb.
Band 35, Heft 5.
fiber Kllnlk und Theraple der Meningitis cerebrospinalis epidemlco.
Von Dr. M. Goldstein-Halle. Beobachtungen aus einem Feldlazarett. Gute
Erfolge der intralumbalen Serumtherapie. — Uber die Beurteilung and neuere
Behandlnng der psycbomotorischen Storungen. Von Dr. Rieder und Dr.
Leeser. Behandlung nach der sog. Kaufmannschen Methode. — DerNerren-
schussschmerz. Von Dr. Schloessmann-Tubingen. Ausfuhrliche, reich-
baltige Arbeit fiber Nervenschussverletzungen, insbesondere die dabei auf-
treteuden Neuralgien. — Pupillenreaktion im bewusstlosen Zustande von
Dr. Zsako. Auch bei vollstandiger Bewusstlosigkeit reagiert zuweilen die
Pupille noch auf Licbt. — Eine Versohiebung im MischungsverhUtnls Albu¬
min und Globulin im Blutserum von Dementia praecox-Patlenten. Von
B. Krause. Vorliiufige Mitteilung.
Band 86, Heft 1 und 2.
Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen von Dr. Kehrer-Frei-
burg i. B. — fiber Reizung der sensiblen Nervenfasern bei Operationen an
den peripheren Nerven. Von M. Lewandowsky. Beim ltadialis, Peroneus
und Ischiadicus scheinen sensible und motorische Fasern ziemlich gesondert
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
294
Zeitschriftenubersicht.
za verlaufen, bairn Ulnaris und Medianus findet eine weitgehende Vermischung
der Fasern statt. — Zor Analyse und Brbandlnng der Kriegsuenrosen. Von
Dr. W. Sauer-Mfinchen. — Krlegsnenrosen im Felde. Von Dr. Ernst Jo-
lowicz. — Die stolsche Philosophic ala Mlttel psyehlscher Beeinflassnag
Stotterer. Von K. C. Rothe-Wien. Dem Stoiker ist das Stottern eine Prfi-
fung des Schicksals, der er sich dnrch Bewaltignng wfirdig erweisen muss! —
Beltrag znm antitryplschen Index nnd dem Torkommen von Eiwetss bei
delsteskranken. Von Dr. R. Zimmermann. Bei Geisteskranken lasst sich
ein vermehrter Eiweisszerfall haufig nachweisen. Bei Epileptikern findet sich
nach den Anfiillen hiiufij Albuminurie. — Von den Trlebfedern des nenro*
tischen Persfinlichkeitstypns. Von Dr. A. 8torch. — fiber eine familllre
Blutdrlisencrkrankung. Von E. Kretsehmer-Tfibingen. Familiare Er-
krankung mit den Zeichen einer Hoden- und Hypophysenanomalie (Ennuchis-
mus and Akromegalie), Intelligenzstfirungen, Arthropathien, Muskeldystrophie,
vasomotorische Storungen. — liber elnen eigenartlgen Typns der psychlscben
Spaltang. Von M. Bornstein. — Zur Dlfferentiaidiagnose der Stupor-
and ErregungszustSnde. Von Dr. E. Herzig. — liber Meningoencephalitis
and die Magnns-de-Kleynsehen Reflexe. Von Dr. Brouwer-Amsterdam.
Drehungen des Kopfes und passive Bewegungen des Rumpfes bewirken ge-
setzmassige Anderungen in der Haltung der Arme und im Muskeltonns, ent-
sprechend iihnlichen Reflexen bei Tieren mit Himdurchschneidung in der Hobo
der Corpora quadrigemina.
Band 86, Heft 8 and 4.
t)ber Epilepsie im Llehte der Kriegserfalirnngen. Von Dr. A. Haupt-
mann-Freiburg i. B. Ausfuhrliehe Mitteilungen fiber das Verhalten der Epi-
lepsie bei Kriegsteilnehmern. Zahlreiche interessante Einzelheiten. Mit einer
Zunahme der Epilepsie durch den Krieg iiaben wir nicht zu rechnen. — Erhte
and Pseudo-Narkolepsie (Hypnolepsie). Von Dr. K. Singer. Die Anfalle
echter Schlufsucht gehoren weder zur Epilepsie noch zur Hysterie. Es gibt
auch eine Pseudo-Narkolepsie, die hysterischer Natur ist. — fiber einige seltene,
im Verlaufe ein?s Gehirntuniorralles beobachtetc Symptoms. Von E. Her-
inan-Lodz. H-imatemesis, Albuminurie, umschriebenes Muskelzittern. Keine
Autopsie. — Ffinf Fiille sogenannter Hysterie. Von J. van derTorren.—
Atypiscbe Athetosis. Von Dr. G. Flatau. Ahnlichkeit mit der Distorsions-
neurose. — Kontraktiirbildnng In gelilhmten Muskeln nach Nervenver-
letzuug. Von M. Lewandowsky. Kasuistisehe Mitteilung. — Entoptische
'Wahrnehmung des reliualcn Pigmentepithels im MigrUneanfall. Von Dr. H.
Klien-Leipzig. Subjektive Wahinehmung eines hexagoualeu Mascliensystems,
gedeutet nls entop‘isehe Wahrnehmung des Pigmentepithels. — fiber das Vor-
kommen von SpiroehHten im Kleinhirii bei der progressiven Paralyse.
Von F. Jahncl-Frankfurt a. M. — Erfnhrungen mit der von Weichbrodt
angegebenen einfachen Liqnorreaktion. Von Dr. K. Hope-Hauiburg-Eppen-
<lorf. Die Reaktion hat keine besonderen Vorzflge. A. 8trfimpell.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus detn Hauptfestungslazarett Po3en. (Chefarzt: Stabsarzt d. R. a. D.
Med.-Rat Dr. Clauss.)
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen
Krankheit
Von
Dr. Sigisinund t. Dziembowski.
(Mit 4 Abbildungen.)
Die Kenntnis der Pathogenese, der pathologisehen Anatomie so-
•wie der Symptomatologie der Pseudosklerose und Wilsonschen Krank¬
heit ist eine Errungenschaft der neueren Zeit. Zwar diirfte ein be-
reits von Frerichs bescbriebener Fall (Klinik der Leberkrankheiten
Bd. 2, 1861, Beobachtung S) mit eigentiimlichen Symptomen von sei-
ten des Nervensystems und schweren Veranderungen an der Leber
sicher hierher zu rechnen sein, jedoch die grundlegenden Arbeiten und
Beschreibungen stammen von v. Striimpell und Westphal sowie
dem Englander Kinnier Wilson. Die beiden ersteu deutschen
Forscher nannten das charakteristische, von ihnen in mebreren Fallen
beobachtete Krankheitsbild mit Riicksicht auf eine gewisse klinische
Ahnlichkeit mit der multiplen Sklerose Pseudosklerose. Wilson
brachte dagegen seinen Symptomenkomplex vom klinischen Standpunkte
aus in Beziehung zur Paralysis agitans und wahlte den Namen: Dege-
neratio lenticularis progressiva, mit Riicksicht auf die von ihm gefun-
denen pathologisch-anatomischen Veranderungen. Eine Anzahl Forscher,
wie Alzheimer, Fleischer, v. Frankl-Hoch wart, Hosslin,
Oppenh eim, Volsch, A. Westphal u. a. haben ihrerseits
durch Forschungen und Beobachtungen zur Klarung des Krankheits-
bildes beigetragen. Ganz besouders wurde aber seine Kenntnis durch
v. Striimpell gefordert, welcher auf Grund eigener Beobachtungen
und Zusammenstellungen von andererseits beschriebenen Fallen zu
dem Schlusse gekommen ist, dass das unter dem Namen Pseudoskle¬
rose (Striimpell, Westphal) bekannte Krankheitsbild mit der
Wilsonschen Paralysis agitans juvenilis identiseh ist. Beide Krank-
heitsbilder sind namlich durch zirrhotische Veranderungen an der
Leber, Milzvergrosserung sowie durch den von dem Forscher selbst
ao benannten amyostatischen Symptomenkomplex charaklerisiert.
Deutsche Zcitschrift (. Nervenhcilkunde. Bd.57. 20
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
296
v. Dziembowski
Dieses Haaptsymptom, der amyostatische Symptomenkomplex, ist
die Folge einer Storung der normalen Antagonistentatigkeit. Die rich-
tige Koordination der Antagonisten ist unbedingt zur Ausfubrung ge-
ordneter Bewegungen notwendig, ferner bedarf es ihrer aber aucb
zur geniigenden statischen Fixation der nicht bewegten, aber frei ohne
Unterstiitzung gebaltenen Gelenke. Fixiert man namlich ein Gelenk
in mittlerer Stellung ohne jede aussere Unterstiitzung, so ist eine
tonische Spannung, ein Zusammenarbeiten der entgegengesetzt wirken-
den Antagonisten erforderlich. v. Striimpell nimmt besondere ner-
vose Apparate an, welcbe die antagonistische Koordination aufrecht
erhalten, bestandig regeln und deren Funktionsausfall sich hauptsacb-
lioh in zweierlei Weise aussert. Entweder wirken dann die antago-
nistischen Muskeln nicht mehr gleicbzeitig toniscb in koordinierter
Weise, sondern werden kloniscb, ungleichzeitig nacheinander innerviert,
wodurch aus der rnhigen, tonischen Antagonistenkontraktion ein An¬
tagonisten wack ein und -zittern entsteht; oder es bleibt die Gleichzeitig-
keit der Kontraktion als solche unge3tort, aber die intensitat derselben
wird erhoht. Im ersteren Falle tritt ein Zittern und Wackeln auf,
welches bei mittleren Fixationsstellungen der frei gehaltenen, nicht
unterstiitzten Gelenke sowie bei komplizierten Bewegungen am heftig-
sten ist, da hier an die Koordination der Antagonistentatigkeit beson-
ders hohe Anspruche gestellt werden. Bei extremer Beugung oder
Streckung der Gelenke, bei der nur eine Antagonistengruppe ange-
spannt wird, die andere aber erschlafft, hbrt das Zittern und Wackeln
auf. Im zweiten Falle tritt im Gegenteil zu dem Wackeln und Zittern
verstarkte Fixation der betreffenden Gelenke und Muskelgebiete auf;
denn die erbohte Intensitat der sonst gleichzeitigen Kontraktionen
bedingt gleichsam eine Hypertonie und Rigiditat der Muskeln. Die-
selbe ist aber mit der spastischen Hypertonie und Rigiditat nicht zu
vergleichen, die spastischen Phanomene, wie Reflexsteigerung, positi-
ver Babinskireflex und klonische Erscheinungen sind in diesen Fallen
nicht vorhanden.
Diesen interessanten Symptomenkomplex nebst den sonstigen fur
Pseudosklerose und Wilsonsche Krankheit charakteristischen Sym-
ptomen babe ich bei drei Briidern zu beobachten Gelegenheit gehabt.
Da iiber die Atiologie, Pathogenese, pathologische Anatomie und auch
die Symptomatologie dieser interessanten Krankheitsbilder noch nicht
voile Klarheit herrscht und meine Falle in mancherlei Hinsicht lehr-
reich sind, halte ich ihre Veroffentlichung fiir angezeigt.
Es handelt sich um die drei Briider Waclaw, Stefan und Kasimir
Kochanski aus Posen. Die Eltern derselben sind angeblich stets ge-
sund gewesen. Der Vater ist im hohen Alter angeblich an einem
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankkeit. 297
Magenkrebs gestorben, die Mutter lebt und ist gesund. Sie hat
mehrere Fehlgeburten gehabt; die Wa.R. ist im Blute negativ, krank-
hafte Veranderungen sind bei ibr nirgends festzustellen.
Fall 1. Waclaw K., 22 Jahre alter Schlosser, wurde Anfang April
1914 auf die innere Stat. des Stadtkrankenhauses Posen (damaliger leiten-
der Arzt Prof. Dr. Korach f) eingeliefert.
Vorgeschichte: Angeblich stets gesund gewesen, hat in der Schale gat
gelernt und machte auch anfangs als Lehrling in seinem Handwork gate
Fortschritte. Angeblich erst seit einigen Monaten fiel es aber der Urage-
bung auf, dass er immer stiller wurde und viel regungslos kerumsass. -
Sein Gesicht wurde immer starrcr und regungsloser, sein Gang wurde
immer unsicherer. Immer hhufiger kam es vor, dass er beim Vorw&rts-
gehen nach vorn umfiel, als ob er sich nicht anhalten kdnne. Seine Sprache
wurde auffallend abgehackt, er begann sich oft zu verschlucken. Am mei-
sten fiel aber die zunehmende Bewegungslosigkeit auf.
Untersuchungsbefund: Kraftiger, gut gebauter junger Mann im guten
Ern&hrungszustande. Farbe der Haut und der sichtbaren Sckleimhaute
regelrecht.
Die Untersuchung der Sinnesorgane ergibt:
Am Rande der Hornhaut sieht man in der Substanz derselben
einen Pigmentring von braunlich-grtinlicher Farbe und reichlich 1 ram Breite.
Bei Lupenbetrachtung lflsst sich feststellen, dass derselbe aus feinsten,
braunlich-grttnlichen PigmentkOrnchen besteht. Im Qbrigen ist die Seh-
scharfe regelrecht, der Augenhintergrund ohne krankbaften Befund, die
Augenbewegungen sind frei. Die Olirenuntersuchung ergibt nichts Krank-
haftes. •
. Von vornherein fill It der Gesichtsausdruck des Pat. auf, der auf An-
hieb mit der Parlcinsonschen Maske verglichen werden kann. Der Gesichts¬
ausdruck ist (lberaus starr und oline jeglicbe mimischc Bewegung. Der
Mund ist andauernd halb offen, der Speicbel fliesst andauernd zu beiden
Mundwinkeln heraus. An der Stirn sieht man mehrere transversale Falten,
tlber der Nasenwurzel mehrere vertikale Furchen. Die Augen 'sind an¬
dauernd weit geOffnet. Infolgedessen macht auch das Gesicht den Eiudruck
des sogenannten versteinerten Erstaunens. Aufgefordert macht er die
Augen und den Mund langsam und gleichsam mit MQhe zu. Die Bewe-
gungen des Gaumens und der Zunge sind ebenfalls Oberaus langsam. Der
Speichelfluss ist offenbar durch das Fehlen der spontanen Schluckbewegun-
gen verursacht. Das Schlucken der Speisen geht n&mlick tlberaus langsam
und mQhselig vor sich. Er verschluckt sich haufig, worauf langsam nach-
einander folgende HustenstSsse erfolgen. Die Sprache ist ausserst langsam
und skandierend; seinen Namen spricht er folgendermaBen aus: K . . .
ochch . . . cha ... a ... an ... sk ... i. Es ist dies auch das einzige
Wort, welches er herausbringt. Schon beim Aussprechen dcsselben, erst
recht aber beim Versuch andere Worte auszusprechen, tritt eine Erscheinung
auf, w’elche mir zuerst als Zwangslachen imponierte. Es ist dies jedoch
kein eigentliches Zwangslachen, sondern eine Reihe unregelmassig aufein-
ander folgender gequetschter Schreie und krahender Inspirien. Eine Parese
der Gesichts-, Gaumen- und Kehlkopfmuskeln ist dabei nicht vorhanden.
Alle Bewegungen werden, wenu auch verlangsamt und gleichsam mtthselig,
20 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
298
v. Dziembowski
Digitized by
so doch in vollem Umfange ausgefQhrt El. Entartnngsreaktion, Atrophie
usw. sind nirgends nachzuweisen.
Anch an den Extremitaten fallt eine recht hochgradige Bewegungs-
armnt auf. Spontane Bewegungen dec Extremitaten erfolgen so gut wie gar
nicht, die passiv beigegebenen Stellungen werden sekr lange Zeit hindurch
beibehalten. Besonders deutlich ist das am passiv dorsal flektierten Fnsse
zu sehen; man kann hier ohne jeden Zweifel von einem positiven C. West-
phalschen Symptom, der sogenannten paradoxen Kontraktion sprechen.
Fordert man den Pat zu aktiven Bewegungen auf, so erTolgeh dieselben
ftusserst langsam und mQksclig. Dies beziebt sich auf alle Muskeln und
Gelenke der Extremitaten und ebenso auck auf alle Muskeln des Rumpfes,
des Schulter- und des BeckengQrtels. Dabei ist aber die robe Kraft der
Bewegungen so gut wie gar nicht kerabgesetzt; der Pat. fixiert die Gelenke
in den extremen Beuge- und Streckstellungen ganz gut. Bei passiven Be¬
wegungen fdllt eine leicbte, gleichmQssige Rigidit&t der Muskeln auf.
Zeitweise tritt aber bei mittlerer Fixation der Gelenke der oberen Extre¬
mitaten ein leichtes Wackeln in diesen Gelenken ein. Komplizierte Be¬
wegungen kdnnen infolge der aussersten Verlangsamung der Bewegungen
gar nicht ausgeffihrt werden, auch das oben erw&hntc Wackeln ist hierbei
hinderlicb.
Aufrechtes Steben ist mSglich; l&sst man aber den Pat. einige Sckritte
vor- und rQckwftrts gehen, so tritt eine selten stark ausgesprocbene und
charakteristische Pro- bzw. Retropulsion auf.
Im Obrigen ergibt die Untersuckung des Zentralnervensystems keine
krankhaften Ver&nderungen. Die PrQfung samtlicber oberflitchlicher und
auch tiefer Reflexe ergibt ein vOllig regelrecbtes Verhalten derselben.
Pa^sen sind nirgends nachweisbar, die PrQfung auf Ataxie ergibt abge-
sehen von leicbten, lediglicb durck das Wackeln bedingten StOrungen
vollst&ndiges Fehlen jeglicher ataktiscber Symptome. Die Sensibilitats-
prQfung ergibt desgleicben ein vfillig regelrecbtes Resultat. Das Vorhan-
densein einer Demenz ist infolge der vorhandenen schweren SprachstOrung
nicht mit Sicherheit festzustellen, jedenfalls liegt aber kein erheblicher
Intelligenzdefekt vor, da der Kranke offenbar orient ert ist, das um ihn
vor sich Gehende versteht und sich dafQr interessiert. Die Stimmung ist
liberaus wecbselnd. Mitunter ist er auffallend reizbar, meist ist er aber
hochgradig apathisch.
Die Lumbalpunktion ergibt eine dcutliclie Steigerung des Druckes der
ZerebrospinalflQssigkeit, im Qbrigen ist aber der Liquor klar und ohne
nachweisbare krankhafte Veianderuugen, die Wa. R. im Punktate ist nega-
tiv, ebenso Noune-Apelt u-\v.
Die LympbdrQsen, Schilddrttsen und die tlbrigen Halsorgane weisen
bei dem Pat. keine krankhaften Veranderungen auf. Keine Thymusper-
sistenz feststellbar.
Herz und Lunge o. B.
Die Leberdampfung i-t auffallend klein, der Leberrand ist beim tiefen
Inspirium unter dem Ripiten^aum zu ftiblen, er ist scharf, hart und un-
eben. Die Milz ist ganz deutlich ftthlbar und auch perkutorisch entschie-
den vergrflssert.
Im Urin sind Eiweiss und Zucker nicht nachweisbar. Urobilin stark
positiv. Die PrQfung auf alimentare Lavulosurie und Galaktosurie fallt
positiv aus.
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilaonschen Krankheit. 299
Die Blutuntersuchung ergibt: Wa. R. im Blute negativ. Hamoglobin
60 Proz., Erythrozytenzahl regelrecht. Leichte Anisocytose, vereinzelte
Ring- und Pessarformen.
Leukozyten 3000—4000; davon 35—40 Proz. Lymphozyten, im Obrigen
weisses Blutbild o. B. Tkrombozytenzahl auffallend niedrig, im Durch-
schnitt lOOOOO:
Im Qbrigen ergibt die Uutersuchung keinen krankhaften Befund.
Der Pat. lebte mit diesen oben beschriebenen Symptomen, welche un-
verandert blieben, noch etwa 6 Wochen im Krankenhause. Am 24. V. 1914.
Exitus letalis infolge einer Bronchopneumonie.
Fig. 1. (Fall 2.)
Die Sektion wurde am 25. V. 1914 im Patliolog. Institut zu Posen
von Herrn Prof. Winkler vorgenommcn. Ich fQhre die zur Beurteilung
des Falles wichtigen Punkte aus dem mir in liebenswdrdiger Weise flber-
lassenen Sektionsprotokoll an.
Die Hals-, Rachen- und Brustorgane sind frei von krankhaften Ver-
anderungen, nur an den Lungen sind zahlreiche bronchopneumonische Herde
festzustellen, die offenbar auf stattgehabte Aspirationen zuruckzufUhren sind.
Die Milz ist erheblich vergrbssert, ihr Gewicht betragt 305 g. Sie
ist weich, blaurot, die Zeichnung ist regelrecht. Mikroskopisch keine Be-
sonderheiten.
Die Leber ist schwer verandert, das Gewicht betriigt 1460 gr. Die
Farbe ist braungelb. Die Oberflache ist Qberall ausserst uneben, nirgends
ist eine auch noch so kleiuc glatte Partie vorhanden. Die Unebenheit ist
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
300
v. Dziembowski
durch kleine kalbkugelige Knoten von 3—10 ram Durchmesser kervorge-
rufen. Auch auf dera Durchschnitt zeigen sich diese Knoten von eben
derselben GrOsse nnd kugeliger Gestalt. Zwischen den Knoten, welcke
durchweg das Ausseben von Lebcrgewebe haben, siebt man nur scbmale
FaserzOge. Die Pfortader und ihre Aste sind weicb and frei von makro-
skopischen und mikroskopisch nachweisbaren krankbaften Verfinderungen,
ebenso auch die Gallenblase und die Gallenwege.
Histologisch konnte die Lebererkrankung als eine ungewdhnliche diffuse
JZirrhQse gedeutet werden. Das zurflckgebliebene Lebergewebe wies deutliche
regenerative Tatigkeit auf. Die schon makroskopisch sichtbaren Knoten sind
Fig. 2. (Fall 2.)
durcb Proliferationsvorgitnge an den Leberzellen entstanden, wahreud von
eiuer Wucherung der Gallengbnge nichts festzustelleD ist. Die acindse
Zeichnung ist gar nicht nachzuweisen. Die durcb das lockre, gefftssrcicke,
stark vermekrte Bindegewebe abgegrenzten Lebergewebsbezirke weisen in
sich ebenfalls keine regelrechte, acinOse Zeichnung auf; auch ist von der
radiftren Anordnung der Leberzellbalken nichts zu sehen.
Die Schadelkuochen sind auffallend stark verdickt (8 mm im Durck-
messer). Die Gehirnsektion ergibt leicbtes Odem der Pia und einen deut-
lichen Hydrocephalus interims. Die Gehirnventrikel sind alle auf das
2—Sfache vergrossert. Im ilbrigen wurde aber das Gehirn makroskopisch
und mikroskopisch ganz und gar frei von Yeranderungen gefunden. Auch
an den grossen Ganglien und besonders am Linsenkern konnten krankhafte
Yeranderungen absolut nicht nachgewicsen werden.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsouschea Krankheit. 301
Der beschriebene Fall stellt eine charakteristische Paralysis agitans
juvenilis vom Wilsonschen Typus dar. Die wichtigsten Symptome
waren die Pigmentierung am Hornhautrande, die Leber- und Milzver-
anderungen sowie auch der Symptomenkomplex der Amyostasie. Die
sehr stark ausgesprochenen Veranderungen an der Milz und Leber
knnnten intra vitam diagnostiziert werden. Die Ersckeinung der ver-
starkten Fixation der Gelenke und Muskelgebiete durch die gesteigerte
allseitige Antagonistenspannung ausserte _
sich in der mimiscben Starre und allge-
meinen Bewegungsarmut und war ganz be-
sonders ausgepragt. Ieb mochte noch an
dieser Stelle erwahnen, dass die Pro- und
Retropulsion sich natiirlich durch die
Striimpellsche Deutung der Amyostasie
ebenfalls erkliiren lassen. Der Kbrper des
Amyostatikers hat eben die Neigung in Rfl
der einrnal dem Kbrper beigegebenen Po¬
sition zu w verharren und die Antagonisten- Hr
spannung, mit anderen Worten die ab-
norme Fixation der Geleuke uud Muskelge- Bj p j n
biete, hiudert ihu an einer Stellungsande- KH t Wm J gk
rung. Haben nun die Muskelgebiete die
zur Herstellung des zum Gehen erforder-
lichen Gleichgewichtes notwendige Stel-
lung einrnal eingeuommen, so hindert sie
die allgemeine Antagonistenspannung daran,
zu andern, damit
rechtzeitig die Stellung
das zum Haltmachen erforderliche Gleich- H
gewicht er/.ielt wird. Auch das beirn
Sprechen auftretende, an Zwangslachen er-
innernde Plianomen gehbrt zu dem amyo-
statischen Symptomenkomplex. Allerdings IH
handelt es sich hierbei nicht nur um Rigi- Fi"'3 (Fall ;) )
ditat der Muskeln, sondern auch um
Wackelbewegungen, welche von den beim Sprechen tatigen Muskeln
bei den komplizierten, zum Sprechen erforderlichen Aktionen ausgefuhrt
werden. Sehr wichtig ist die Tatsache, dass in dem beschriebenen
Falle mit den so iiberaus stark ausgesprochenen Symptomen Veran¬
derungen am Zentralnervensystem und speziell auch in den Zentren,
welche nach Ansicht einzelner Autoren der Koordination der Antago-
nistentatigkeit iibergeordnet sind, nicht zu finden waren. Dieses Feh-
len von nachweisbaren kraDkhaften Veranderungen in diesen der
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
302
v. Dziembowski
Koordination der Antagonists anscheinend iibergeordneten Zentren
in einem Falle mit so ausgepragter Funktionsstorung derselben legi
den Gedanken an eine toxische Beeinflnssung jener Zentren nahe.
Andererseits ist aber diese Beobachtnng auch insofern lehrreich, als
ja bekanntlicb die bisher beschriebenen Veranderungen am Zentral-
nervensystem in den einzelnen Fallen quantitatiy sehr verschieden sind.
Daber konnte es wohl moglich sein, dass in einzelnen Fallen die
krankhaften Veranderungen nur sehr geringfiigig und eben nicht
nacbweisbar sind. Auf diesen, sowie auf andere Punkte werde ich
bei einer gemeinsamen Besprecbung samtlicber drei Falle noch einmal
zuriickkommen.
Fall 2. Stefan K., 26 Jabre alt, ist als hilfsdienstpflichtiger Arbeiter
am Hanptfestnngslazarett tfttig und ist auf diese Weise in meine Beband-
lung gekommen. Er war bis zum 18. Lebensjabr stets gesund gewesen.
Im 18. Lebensjahr trat ganz plOtzlich eine Labmjmg der ganzen rechten
^Orperhaifte auf. Die rechte Gesichtsseite, der rechte Arm und das rechte
Bein waren vollstandig gelahmt. Die Labmung ging aber recht rasch zu-
rttck, und in wenigen Woclien war die Funktion der gelSfimten Gliedef
so gut wie ganz wiederhergestellt; die noch bestehende Schwache wurde
rasch durcb Elektrisieren in einem Berliner Krankenbause beboben. Etwa
im 20. Lebensjabr traten Krampfanfalle auf. Regelmassig alle vier Wochen
karti ein solcher AnfaTiy der Pat. wurde dabei vollkomraen bewusstlos,
zog sicb beira Fallen mebrfacb Verletzungen am Kopfe zu und liess Urin
und Stuhl in die Kleider. Nach einem Jabre vergingen aber die Krampfe
wieder und er bat sie seit etwa ftknf Jabren nicht mehr an sich beobachtet.
Allmahlich traten aber in der nachsten Zeit die ttbrigen jetzt nachweis-
baren Symptome auf. Er begann immer mehr und haufi ger zu zittern ,
ftkblte sich matt und schwach. Dabei bemerkte er, dass ? seine Sprache
immer abgehackter und undeutlicher wurde,. auch verschluckte sich oft
beim Essen undjTrmkeih * '
s ^.-. >.-
Die angestellten Nacbforschungen haben ergeben, dass St. K. guter
Schuler und auCh anfangs ein tUchtiger Arbeiter war. Erst allmahlicb,
ungefahr in seinem 16. und 17. Lebensjahr, verbnderte er sich auffallend
zu Ungunsten. Er wurde im Jahre 1910 und 1912 mehrfach wegen Un-
terscblagung, KOrperverletzung und Zuhalterei mit Gefangnis bestraft. Sein
Lebenswandel ist auch z. Zt. schlecht; er gibt sich sehr viel mit Dirnen
ab, und mehrere Verge hen im Dienst haben seine Entlassung aus dem
Hilfsdienst erforderlich gemacht,
Untersuchungsbefund: Pat. sieht etwas blass aus, der Ern8hrungezu-
stand ist dOrftig. Er sieht nicht wie ein Ober 25 Jabre, sondern wie ein
hflehstens 20 Jahre alter Mann aus. Die Behaarung der Genitalgegend
ist dfirftig, in der Achselhohle fehlen die Haare fast vollstandig, ebenso
die Bart- und Schnurrbarthaare.
Augenbefund: Urn die Cornea zieht am ausseren Rande^derselben ein
deutlicher, braunlich-grtfnllcher Pigmentring herum. Derselbe sTtzf~firder
Substanz der Corriea^wird zentralwarts zarter und setzt sich aus feinsten
PigmentkOrnchen 'zusammen, was man mittcls Lupe feststellen kann. Beim
Digitized
bv Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 303
Blick nach den Seiten beiderseits leichte nystagmische Zuckungen. Augen-
hintergrand o. B. Sehschirfe regelrecht. Ohrcnbefund regelrecht.
Mundorgane: Gebiss dQrftig, die Zahne baben Oberdies den angedeu-
teten Charakter von Huntginsonschen Zahnen.
Lymphdrflsen, SchilddrOse und die tibrigen Halsorgane o. B. Kein
erhaltener Tbymusrest nachweisbar.
Lungen- und Herzbefund: regelrecht.
Bauchorgane: Unter dem Rippensaum fQhlt man deutlich den scharfen,
harten, etwas unebenen Leberrand, die Leberdampfung ist dabei reckt klein.
Die Milz ist deutlich ffthlbar, auch perkutorisch ist die Milz deutlich ver-
grOsscrt.
Fig. 4. (Fall 2.)
Der Urin ist klar, frei von Eiweiss und Zucker. Die Urobilinprobe
follt deutlich positiv aus, ebenso die Untersuchung auf alimentare La-
vulosurie und Gnlaktosurie.
Blutuntersuchung: Wa. R. negativ.
Hamoglobin 60 Proz., Erythrozytenzahl regelrecht, ziemlich viel Ring-
uud Pessarformen, leichte Anisocytose. Leukozytenzabl deutlich herabge-
setzt, schwankt um 4000 herum. Polynukleare 60 Proz., Lymphozyten
40 Proz., vereinzelte Grammononukleare und tjbergangszellen. Thrombo-
zytenzahl wesentlich herabgesetzt, etwa 100000—150000.
An den Fingernageln aller Finger beider Hande bestehen schwere
Veranderungen. Die Nagelenden sind ganzlich abgeschflrft, so dass nur von
kleinen Nagelresten die Rede sein kann; dieselben sind sehr sprode und
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
304
v. Dzigmbowski
Digitized by
ausserst ranh. Die Haut an den Fingerspitzen ist ebenfalis sehr sprdde,
hart, ranh and rissig. An den Beugeseiten s&mtlicher Finger and der
Vola manos beiderseits bestehen deutliche Reste einer Psoriasis palmaris
(s. Fig. 1 u. 4). ^
Von seiten des Zentralnervensystems bzw. Muskelsystems sind fblgende
Symptoine nachweisbar.
Am Gesicht fallt eine sehr aasgesprochene mimische Unbeweglichkeit
and Starre auf, das Gesicht hat direkt ein maskenhaftes Aussefien, so dass
es TffSt"ehenso lebliaft wie bei dcm verstorbenen Bruder an den masken-
haften Gesichtsausdruck der Paralysisagitans-Kranken erinnert. Der Mond
wird andaucrnd halb offen gehalten, and aus dem rechten Mundwinkel
fliesst fast ununterbrochcn Speichel heraus (s. Fig. 2 u. 3). An der aus-
gestreckten Zunge kein Tremor feststellbar. Gaumenbewegungen regel-
recht, keine Parese nachweisbar. Beim Essen and Triuken verschluckt
sich Pat. trotzdem Offers, beim raschen Trinken kommt die FlOsgigkeit
dann mitunter zdr Nase heraus.
Die Sprache ist hocbgradig skandierend, langsam, mtlhselig and nOselnd.
Er spricht z. B. den Namen seines Vorgesetzten derart aus: H . .. He . . .
er . . . U . . . Unt . . . e . . . er . . . o . . . ffi . . . zi . . . ier . . .
B . . . B . . . e . . . d . . . na . . . rek (Herr Utffz. Bednarek).
Der Gang ist recht auffallend. Der Kranke geht zwar ziemlich sicher,
ohne wesentlich zu ermtlden, er geht aber breitbeinig und steif; der Kopf
und Rumpf wackeln besonders, wenn er sich beeilt, ausgiebig nach ver-
schiedenen Richtungen. Dasselbe beobachtet man auch, wenn der Pat. bei
der Arbeit die Kurbel eines grosscn Triebrades stehend dreht. Beim
Kehrtmachen und bei Schwenkungen wahrend raschen Gehens taumelt er
etwas nach der ursprQnglichen Richtung des Ganges, es bestekt dann
gleichsam eine angedeutete Lateropulsion.
Beim Liegen mit voller Unterstdtzung des Kopfes und des ganzen
KOrpers and ebenso beim Sitzen mit gutern Anlehnen des RQckens und
des Kopfes besteht vollstSndige Ruhe ohne jegliches Wackeln des Kopfes,
des Rumpfes und der Extremitaten. Lassen wir ihu aber ohne Lehne frei,
ohne UnterstQtzen des Rumpfes und der Extremitfttetv z. B. auf einer
Tischkante sitzen, wobei natttrlich die Rumpfmuskeln, Nackenmuskeln usw.
innerviert werden mQssen, so tritt ein Wackeln des Kopfes und Rumpfes
nach verschiedenen Richtungen auf. Dasselbe geschieht auch mit den Ex¬
tremitaten, wenn wir z. B. den Arm ausstrecken lassen oder bei horizon-
taler Ruhelage ein Bein heben lassen. Das Wackeln' tritt dann entweder
nur in den Muskeln des Schulter- bzw. BeckengOrtels oder auch in den
distalen Teilen der oberen bzw. unteren Extremitaten auf. Und zwar
wackelt nur der ganze Arm als solcher im Schultergelenk bin und her,
wenn der Pat. den Arm ausgestreckt frei halt; soli aber ausserdem noch
im Ellbogengelenk eine leichte Beugung ausgefilhrt werden, so tritt noch
ein Hin- und Herwackeln des Unterarmes im Ellbogengelenk ein. Beson¬
ders lebhafte Wackelbewegungen kann man an den Extremitaten in alien
Gelenken bei komplizierten Bewegungcn, also z. B. beim An- und Auszie-
hen beobachten. Hingegen beim vollstandigen Beugen oder Strecken der
Gelenke, also in den extremen Stellungen, hort das Wackeln ganz auf.
Die^Zahl der Schwingungen des Kopfes und Rumpfes betr> 80—100
in der Minute. Die Unterarme, Hande, Uuterschenkel und Fttsse wackeln
rascher, die Zahl der Oszillationen betragt hier Qber 120.
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kean to is der Pseadosklerose and der Wilsonschen Kr&nkheit. 305
Im Qbrigen bestehen die noch nachweisbaren Reste der vor 8 Jahren
apoplektiform entstandenen Hemiplegie. Am Gesicht kann man noch auf
der rechten Seite die Reste einer alten Facialisparese feststellen; auch be-
steht noch rechts eine allerdings sehr geringfQgige Schwitche der oberen
and unteren Extremit&t im Vergleich zur andern Seite, besonders bei den-
jenigen Bewegungen, welcbe mit den Hand- and Fassmuskeln ausgeftibrt
werden. Auch sind bier nocb leichte spastiscbe und klonische Ph&nomenc
nachweisbar.
Sonst bestehen keine krankhaften Symptome, keine Ataxie, nur die
durch das Wackeln bedingte StOrung bei den Zeigeversucben; kein Rom-
bergsches Ph&nomen. Die Sensibilitat ist am ganzen KOrper vOllig regelrecht
Der Konjunktiyal-, der Kornealreflex, sowie die samtlichen oberflachlichen
und tiefen Reflexe sind in regelrecbter Starke ausldsbar.
Ausgesprochene Deraenz fehlt, allerdings spricht Vergesslicbkeit und
anffallende Gleichgtlltigkeit fQr einen bestebenden Intelligenzdefekt. Dabei
neigt er auffallcnd zu obszOnen Redensarten und Witzen.
Die durch Lumbalpnnktion gewonnene ZerebrospinalflQssigkeit weist
abgesehen von einer .deutlichen Drucksteigerung keine krankhaften Bestand-
teile auf. Pat. gibt an, sich nack der Lumbalpnnktion einige Tage lang
sehr wohl gefQhlt zu haben. Kopfschmerzen, die ihn sonst oft plagen, hat
er darauf langere Zeit hindurch gar nicht empfunden. Die Wa. R. im
Lumbalpunktat fallt negativ aus, und ebenso ist auch das Ergeljnfs HSF
Reaktion nach Nonhe^XpeTE Keine Zellvcrmehrung im Liquor nach¬
weisbar.
In diesem 2. Falle liegfc somit eine in das Krankheitsbild der
Pseudosklerose bzw. auch Wilsonschen Krankheit gehorende Erkran-
kung vor. Ganz abgesehen davon, dass die charakteristischen, klinisch
sichergestellten Veranderungen an der Leber und auch der charakte-
ristische Pigmentring an der Cornea den Fall klaren, besteht auch
der von v. Striimpell definierte amyostatische Symptomenkomplex. Die
Motilitatsstorungen in unserem Falle konnen wir sehr wohl als Storung
der Antagonistentatigkeit auffassen. Die von v. Striimpell als beson¬
ders wichtig hingestellte Tatsache, das3 das Wackeln bei vollstandiger
Muskelruhe aufhort, bei aktiver Muskelspannung aber in den Gelenken
auftritt, deren zugehorige Muskeln sich anspannen, ist bei unserem
Pat. sehr auffallig. In absoluter Rube ohne jede Muskelinnervation,
also bei vollig ruhiger horizontaler Lage und im Sitzen mit Anlehnen,
herrscht vollstandige Rube. Ebenso verbalt es sich bei vollstandiger
Strecknng und Beugung von Gelenken, da hier nur die eine Antago-
nistengruppe stark angespannt wird, wahrend die andere erschlafft.
Dagegen bei komplizierten Bewegungen, z. B. beim An- und Ausziehen,
bei denen die Koordination der Agonisten- und Antagonistentatigkeit
ganz besonders beansprucht wird, und ebenso auch bei mittleren Fixa-
tionsstellungen der Gelenke ist das Wackeln besonders heftig.
Die Wackelbewegungen, also die durch klonische, ungleichzeitige
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
306 v. Dzikmbowski
Innervation bedingte Stoning der Antagonistenkoordination, stehen in
diesem Falle Stefan bei weitem im Vordergrnnde. Deshalb erinnert
dieser Fall sp^ziell an diejenigen Falle, welche nnter dem Namen
Pseudosklerose beschrieben worden Bind. Aber auch die andere Art der
Stornng, die abnorme Fixation der Muskelgebiete, ist vorhanden, was
die charakteristische mimische Starre beweist.
Die epileptiformen Anfalle und insbesondere der apoplektiforme
Insult, dessen Reste bei dem Kranken noch nachweisbar sind, bediir-
fen einer besonderen Erorterung.
Fall 3. Kasimir K, 17 Jahre alt, Posthilfsbeamter. £r gibt an, bis
jetzt stets gesund gewesen zu sein, hat nur zeitweise Anfalle von Herz-
klopfen und Sticbe in der Herzgegend. Mitunter ftthlt er sich etwas
schwindlig. Sonst weiss er keine krankhaften Erscheinnngen anzugeben.
Er ist ein rQstiger Fussg&nger und ausgezeichneter Fnssballspieler.
Untersuchungsbefund: Kraftig gebauter, gesund aussekender junger
Mann. Das Aussehen, die geistige und kttrperliche Entwicklung und Kraft
entspricht vollkommen dem Alter.
Augenbefund: An der Cornea ist ein Pigmentring, wenn apch nur
sehr zart, entschieden vorhanden. Im ttbrigeh kein krankhafter Befund.
Die Brustorgane, insbesondere auch das Herz, sind ohne krankhafte
Yeranderungen.
Baucborgane: Der Leberrand ist beim tiefen Einatmen unter dem
Rippensaum ftthlbar, er ftthlt sich scharf und hart an. Leberdampfung
regelrecht, keine GrOssenveranderung perkuttorisch nachweisbar. Die Milz-
dampfung ist deutlich vergrttssert und intensiv, auch ist die Milz deutlich
palpabel.
Ira Urin fttllt die Urobilinprobe deutlich positiv aus, ebenso auch die
Prttfung auf alimentare Lavulosurie und Galaktosurie. Sonst enthalt der
Urin keine krankhaften Bestandteile.
Blutuntersuchung: Wa. R. im Blute negativ. Hamoglobinmenge und
Zahl der roten Blutkttrperchen regelrecht, vereinzelte Ring- und Pessar-
forraen sowie leichte Anisozytose fallen jedoch auf. Leukozytenzahl
herabgesetzt 4000—5000, Lymphozytose von 85 Proz. vorhanden. Die
Zahl der Thrombozyten ist erheblich herabgesetzt, betragt gegen 150000.
Am Gesicht des jungen Mannes fallt auf jeden Fall mimische Bewe-
gungslosigkeit auf; der Gesichtsausdruck ist entschieden etwas leblos.. Da-
bei werden aber die Gesichtsmuskeln und ebenso auch alle anderen von
den Hirnnerven innervierten Mnskeln willkttrlich richtig bewegt. Yon einer
Parese ist nichts nachzuweisen.
Beim Gehen, beim aufrechten Stehen fallt nichts Krankhaftes auf.
Sttmtliche Bewegungen der ExtremitAten sind regelrecht, mitunter besteht
aber etwas Zittern der Hande bei komplizierten Bewegungen, namentlich
beim An- und Auszieheh.
Eine leichte Andeutung von Retropulsion scheint auch vorhanden zn
sein. Stttsst man namlich den mit geschlossenen Augen stehenden Pat.
kraftig nach hinten, so taumelt cr nach hinten zurttck und es gelingt ihm
nicht ganz so leicht wie einem normalen Menschen den Kttrper wieder zum
aufrechten Stehen zu bringen.
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose and der Wilsonschen Krankheit. 3Q7
Im Qbrigen fftllt nichts krankhaftes an nnserem Pat. auf, auch ergibt
die spezielle Untersuchnng des Zentraluervensystems keine krankhaften
Erscbeinnngen. Die Prtkfung dec Sensibilitftt der Reflexe and die Prflfang
aaf ataktische StOrungen weisen regelrechtes Verbalten in jeder Hinsicbt auf.
Dass auch in diesem Falle eine beginnende Erkranknng von
demselben Charakter wie bei den alteren Briidem yorliegt, iat meines
Erachtens ohne weiteres klar in Anbetracbt dessen, dass Veranderun-
gen an der Leber nnd Milz bereits* mit aller Sicberheit diagnostiziert
werden konnen. Die Palpation nnd Perkussion ergeben ganz sichere
Anhaltspunkte fur das Bestehen einer Lebererkrankung und diese
Tatsache sowie die positive Urobilinprobe zugleich mit der alimentaren
Lavulosurie nnd Galaktosurie sprechen mit aller Bestimmtheit fur
das Bestehen eines erheblichen Funktionsausfalles der Leber. Auch
nnterliegt das Vorhandensein einer hochgradigen Alteration der Milz-
funktion keinem Zweifel. Bei diesem Organ weisen ebenfalls die Pal¬
pation und Perkussion eine Vergrosserung derselben auf und ausser-
dem muss hier der Blutbefund, die Leukopenie und Thrombopenie,
-auf die ich spater nocb einmal zuriickkommen werde, als diagnosti-
scher Hinweis ausgeniitzt werden. Neben diesen ausgesprochenen
Symptomen einer Erkrankung der Leber und Milz bestehen aber eben
angedeutete Erscheinungen des amyostatischen Symptomenkomplexes.
Es bestehen offenbar bereits ganz leichte Koordinationsstorungen der
Antagonistentatigkeit, welche einmal in dem zeitweise angedeuteten
Wackeln bei komplizierten Bewegungen zutage treten, und auch
zweifellos der Grand fur die leicht angedeutete Starre des Gesichts-
ausdruckes und Retropulsion sind.
Fassen wir nun meine saratlichen drei Falle in Bezug auf die
Symptomatologie noch einmal zusaramen, so ergibt sich, abgesehen von
der bekannten Pigmentierung der C' ornea und der Leberveranderun-
gen als Hauptsyraptom der amyostatische Symptomenkomplex. Ich
brauche nicht raehr auf das Charakteristische desselben zuriickzukom-
men, da ich ihn bei der Schilderung der Falle schon geniigend prazi-
siert habe. Wichtig ist es aber, dass in meinen Fallen beide Arten
der Koordinationsstorung so ausgesprochen nebeneinander vorgekom-
men sind. In den Fallen Waclaw und Stefan waren zu gleicher Zeit
sowohl das Wackeln, also die durch ungleichzeitige klonische Inner¬
vation bedingfce Koordinationsstoryng der Antagonisten als auch die
Muskelstarre, die durch abnorme Intensitat der Antagonistenspannung
hervorgerufen wird, vorhanden. Zwar steht bei Stefan das Wackeln
im Vordergrunde und umgekehrt war bei Waclaw die Muskelrigiditat
das am meisten auffallende Symptom, jedoeh unterliegt es gar keinem
Zweifel, dass es sich in beiden Fallen um ein und dasselbe, durch
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
308
v. Dziembowskj
\
Digitized by
dieselbe Noxe patbogenetiseh bedingte Krankheitsbild handelt. Auf
Grand dieser meiner Beobachtung moss ich ganz entschieden denjeni-
gen Autoren beipflichten, welche die P seudosklerose ond das yon
Kinnier Wilson besch riebene, "aucITParalysis, agitans juvenilis ge;
^nannte Krankheitsbild fur identisch halten.
Abgesehen yon dem amyostatischen Symptomenkomplex konnte
ich nun noch andere Krankheitserscheinungen in den zwei schweren
Fallen Waclaw und Stefan feststlllen, die einer besonderen Erwah-
nung verdienen. In beiden Fallen, ganz besonders aber bei Stefan,
waren Anzeichen einer psycbischen Storung vorhanden; uberdies
waren beim Falle Stefan noch die Reste einer vor etwa 8 Jabren
apoplektiform entstanden'en Hemiplegie nachweisbar, und schliesslich
hatte dieser Pat. etwa 1 Jahr lang an epileptiformen Anfallen gelitten.
Den Schilderungen nach zu urteilen, diirfte es sich auch nicht etwa
um funktionelle, sondern am epileptiscben Anfallen gleichkommende
Zustande gehandelt baben.
Was die Alteration der Psyche anbetrifft, so halten einzelne
Autoren dieselbe bekanntlich fur sehr wichtig und fur Pseudosklerose
und Paralysis agitans juvenilis charakteristisch; v. Striimpell bat
allerdings mebrere Falle gesehen, in denen Anzeichen einer psychi-
schen Storung und insbesondere auch ein Intelligenzdefekt fehlten.
Apathisches Verhalten, Wechsel von stuporosen und Erregungs-Zustan-
den, ein abnormTreizbares, widerstrebendes, trotziges und misstraui-
sches Wesen wird in zahlreichen Schilderungen der Krankheit tiber-
einstimmend beschrieben. Bei Waclaw war sowohl Apathie als auch
ein solcher Wechsel von Stupor und Erregung unverkennbar. Bei
Stefan sprechen ‘seine Delikte, wie Korperverletzung, Zuhalterei und
Unterschlagung, sowie die Neigung zu obszonen Witzen und Redens-
arten fiir geistige Minderwertigkeit. Uberdies besteht Reizbarkeit.
Neigung zu Widerspenstigkeit und entschieden auch eineTntelligenz-
storung, welche sich in seiner Vergesslicbkeit und Gleichgiiltigkeit
in jeder Hinsicht aussert.
Hemiparesen, welche allmahlich oder auch akut apoplektiform
entstehen, kommen bei dem Pseudosklerose genannten Krankheitsbild
nicht allzu selten vor. Der Fall Stefan hatte vor etwa 8 Jahren einen
solchen apoplektiformen Insult erlitten gehabt, der eine Hemiparese
der rechten Korperhalfte liinterlassen hat. Auch in andern Fallen ist
derartiges beobachtet worden und in verhaltnismassig vielen Fallen
wurden Pyramidensymptome, wie leichte spastische Erscheinungen und
Reflexsteigerungen, beobachtet. Ebenso verhalt es sich mit den epilep-
tischen Anfallen, welche in einigen Beschreibungen erwabnt werden.
Von grossem Interesse ware nun die Erforschung der pathologisch-
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnis der Pseudosklerose und der Wilaonschen Krankheit. 309
anatomiscben Veranderungen, welche dem Hauptsymptom, dem amyo-
statischen Symptomenkomplex, und dem Leiden iiberhaupt zugrunde
liegen. Zur Klarung dieser Frage lassen sich die von mir beobach-
teten Falle in folgender Weise verwerten. Bei der Sektion des Wac-
law konnten am Zentralnervensystem krankhafte Veranderungen nicht
festgestellt werden. Der bestehende Hydrocephalusinternus kommt
ja als kausales Moment fur die Entstehung des klinischen Krankheits-
bildes nicht in Frage. Dieser negative Befund bei einem klinisch so
iiberaus ausgesprochenen Falle, bei dem nur amyostatiscbe Symptome
und keine Nebensymptome, wie apoplektiforme Insulte, Pyramiden-
symptome usw., vorhanden waren, ist immerhin etwas Bemerkenswertes.
Wilson bebauptet, in seinen Fallen mit grosser Kegelmassigkeit
krankhafte Veranderungen im Linsenkern, namentlich im Putamen
gefunden zu haben. Das Gliagewebe war bier in seinen Fallen ver-
mebrt, die Nervenfasern und Nervenzellen waren teilweise zugrunde
gegangen. Es ist ja ohim weiteres zuzugeben, dass der amyostatische
Symptomenkfomplex ganz gut in Beziebung zu einer Erkrankung des
Linsenkerns gebracht werden konnte, ob aber die andern Symptome,
insbesondere auch die Demenz, die hemiplegischen Insulte und die
epileptiscben Anfalle durch diese orklart werden konnten, ist sebr
zweifelhaft (v. Striimpell). Viel plausibler erseheint bier die An-
nahme derjenigen Veranderungen, die vor allem Westphal und
Alzheimer nachgewiesen haben. Die Autoren haben Veranderungen
der Gliakerne, besonders in den grossen Ganglien des Grosshirns, im
Nucleus dentatus des Kleinhirns und in geringerem MaBe auch* in
der Grosshirnrinde an Grosse, Form und Chromatingehalt feststellen
konnen. Auch kleine Blutungsherde wurden namentlich im Halsteil
des Ruckenmarke9 gefunden. Die Annahme einer Noxe, welche das
Zentralnervensystem mehr diffus, mit Bevorzugung bestimmter Zentren
und zugleich auch die inneren Organe (Leber und Milz) schadigt,
erseheint gerechtfertigt. Welcher Art diese Noxe ist, ist schwer zu
sagen; ob hereditare Lue3 wohl dazu imstande sein diirfte, lasst sich
auch nicht entscheiden. Man konnte jedenfalls auch annehmen, dass
eine toxisehe Alteration des Zentralnervensystems das Krankheitsbild
hervorrufen kann. Es wurde schon mehrfach in der Literatur hervor-
gehoben, dass eine von der erkrankten Leber und Milz ausgehende
AutointOxikation als kausales Moment anzusehen ist. In neuester Zeit
ausserte sich Hillel in diesem Sinne; dieser Autor beruft sich dabei
auf experimentelle Daten und erinnert an die Versuchsergebnisse von
Maassen, Nencki und Pawlow, welche nach Anlegung der Eck-
schen Fistel bei Hunden klonische und tetanische Krampfe, Bewusst-
seinsverlust und kataleptische Zustande beobachtet haben. Es ware
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
310
v. Dziembowski
auch schliesslich moglich, dass Veranderungen an den Gliazellen der
grossen Ganglien, wie sie von Westphal und Alzheimer beschrie-
ben worden sind, und auch die Degeneration der nervosen Elemente
des Linsenkerns, die von Wilson beobachtet worden ist, erst allmah-
lich infolge der toxischen Schadigung sekundar entsteht. Batte der
Fall Waclaw langer gelebt, so hatten sich nachweisbare degenerative
Veranderungen in diesem Sinne vielleicht noch entwickelt. Nicht
unwichtig ist es auch, dass ehe der charakteristische amyostatische
Symptomenkomplex richtig zum Vorschein kommt, schon klinische
unzweideutige Erscheinungen einer Leber- und Milzerkrankuug nach-
weisbar sein konnen. Ein Beispiel hierfiir gibt der Fall Kasimir.
Veranderungen an der Leber, die zu dem typischen Sektionsbe-
fund gehoren, waren in meinen drei Fallen einwandsfrei' vorhanden.
Bei Waclaw konnten dieselben auf Grand der klinischen Untersuchun-
gen angenommen werden und eine Bestatigung dessen ergab die
Sektion. Auch in den beiden anderen Fallen ist die Annahme einer
Lebererkrankung ohne weiteres bereclitigt in Anbetracht des klinischen
Befnndes und des mittels der bekannten Proben festgestellten Funk-
tionsausfalles der Leber. Die bistologische Untersucbung ergab in
dem sezierten Falle eine chroniscbe atrophische Zirrhose mit volligem
Umbaa des Lebergewebes und deutlicher Neiguug zur Regeneration
des zuriickgebliebenen Leberparencliyms. Dieser Betund ist charak-
teristisch fur unser Krankheitsbild (Alzheimer, v. Hosslin, Anton,
Westphal, Fleischer, Volsch, v. Striimpell) und man kann ja
ohne weiteres annehmen, dass derselbeProzess auch bei den beiden andern
Briidern vorliegt. Die Atiologie dieser Leberzirrhose lasst sich aber
schwer deuten; fiir die Annahme, dass ihr eine hereditare Lues zu-
grunde liegt, bestehen keine sicheren Anhaltspunkte, wenn auch der
histologische Befund nicht gegen Lues spricht. Jedenfalls ist diese
Erkrankung der Leber fiir unser Krankheitsbild uberaus charakteri-
stisch und sie fehlt auch nie in typischen Fallen. Ich mochte hier
nochmals auf den jiingsten Pat. Kasimir hinw r eisen, bei dem erst an-
gedeutete Symptome von seiten des Zentralnervensystems bestehen.
Dieser Fall lehrt, dass die Erkrankung der Leber sich friihzeitig ent-
wickeln und den nervosen Erscheinungen vorausgehen kann. An
dieser Stelle erinnere ich auch an die von Prym und anderen For-
schern ausgesprochene Ansicht, dass eine in friihester Jugend, bzw.
im Embryonalleben erfolgte Schadigung des Lebergewebes die Ursaebe
der Lebererkrankung ist.
Gelegentlich der Bespreehung der Leberveranderungen mochte
ich darauf hinweisen, dass Anomalien des Kohlehydratstoffwechsels in
Krankheitsfallen, welche iu dieses Gebiet gehoren, offenbar eine Rolle
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntais der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 3H
spielen. Glykosurie ist mehrfach beschrieben worden (Fleischer,
Anton) und Fleischer hat seinerzeit in Anbetracht dessen und im
Biublick auf die Pigmentierung der Cornea und die vorkommende
braunliche Verfarbung der ianeren Organe, die Vermutung zum Aus-
druck gebracht, da3s eine dem Brooze-Diabetes ahnliche Stoffwechsel-
storung vorliegt. In meinen drei Fallen fiel die Untersuchung auf
alimentare Lavulosurie und Galaktosurie positiv aus. Ich glaube, dass
diese Untersuchungsmethode fiir die Diagnose derartiger Falle yon
nicht zu unterschatzender Bedeutung ist.
Nicht unberiicksichtigt mochte ich das Blutbild in meinen Fallen
lassen, da es meiner Ansicht nac-h Beachtung verdient. In Bezug auf
daa rote Blutbild waren abgesehen yon einer unbedeutenden Oligo-
chromamie keine bemerkenswerten Veranderungen zu yerzeichnen. in
alien drei Fallen fand ich aber Leukopenie mit relativer Lymphozytose
und eine deutliche Thrombopenie. Diese Herabsetzung der Zahl der
granulierten weisaen Blutzellen und der Blutplattchen, mit andern
Worten der Abkommlinge der Megakariozyten des Knochenmarkes,
bei einer mit Splenomegalie einhergehenden Erkrankung diirfte auf
keinen Fall unwichtig sein. Wir wissen ja hauptsachlich durch die
Arbeiten von E. Frank, dass Hypoleukie und Hypothrombie der
Ausdruck einer durch abnorme krankhafte innere Sekretion der Milz
bedingte Funktionsstorung des Knochenmarkes sind. Wenn auch
das Bestehen der von Frank angenommenen Wechselbeziehungen
zwiscben Milz und Knocbenmark noch nicht allgemein anerkannt und
als geniigend bewiesen betrachtet wird, so steht es fest, dass bei einer
grossen Reihe von Splenomegalien, so vor allem bei Kala-Azar, bei
der splenomegalen Form der Ilodgkinschen Krankheit, beim Typhus
abdominalis, bei Bantischer Krankheit, bei der Splenomegalie vom
Typus Gaucher-Schlagenhaufer und auch bei luetischen Milztumorcn
dieses aleukische Blutbild mit grosster Regel massigkeit vorkommt.
Eine Vergrosserung der Milz ist nun bei den Fallen von Pseudoskle-
rose und juveniler Paralysis agitans wohl ebenso haufig wie die zir-
rhotischen Leberveranderungen. Die Veranderungen des Blutbildes
weisen aber darauf bin, dass eine Storung der Milzfunktion insbeson-
dere ihrer inneren sekretorischen Tatigkeit im Spiele ist. Soweit mir
bekannt ist, hat man bisher auf die Blutplattchen in den beschrie-
benen Fallen nicht geachtet, Leukopenie und Lymphozytose sind aber
in eiuigen Fallen doch anscheinend angedeutet gewesen; auch auf
Neigung zu Blutungen, welche auf bestehende Hypothrombie schliessen
lassen, deuten die Vorgeschichten einiger Falle hia. Man darf
jedenfalls behaupten, dass in meinen Fallen Symptome festgestellt
werden konnten, welche auf eine krankhafte Beeinflussung des Stoff-
DeuUche Zcitschrift f. Nervcnhcilkunde. 13d 57. -t
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
312
v. Dziembowski
wechsels durch Funktionsstorung der Leber und eine Alteration des
Blatbildes durch Funktionsstorung der Milz scbliessen lassen.
Was die Frage der Atiologie aubetrifft, so glaube ich, dass man
meine Falle folgendermassen in atiologischer Hinsicbt deuten kann.
Hereditare Lues, welche als kau3aler Faktor sicherlich in Frage
kommt, wie das auch in der Literatur in erster Linie you Striimpell
betont worden ist, diirfte in meinen Fallen vorliegeD. Die Familien-
anamnese liefert ja keinen sicheren Beweis dafiir, jedoch erwecken die
Fehlgeburten der Mutter immerhin Verdacht. Von nacbweisbaren
Symptomen, welche auf hereditare Lues hinweisen, verdienen folgende
einer besonderen Erwahnung. Die Sektion des verstorbenen W. K.
ergab einen Hydrocephalus internus und eine erhebliche plankonvexe
Verdickung der Schadelknochen. Der Hydrocephalus internus, der ja
haufig durch kongenitale Lues hervorgerufen ist, kann sebr wobl auch
in diesem Falle so gedeutet werden, zumal Anhaltspunkte fur eine
andere Entstehungsursache nicht nachweisbar waren. Die Verdickung
der Schadelknochen weist ebenfalls auf Lues hin (Virchow, Roki¬
tansky), zumal auch hier kein anderes kausales Moment nachgewie-
sen werden konnte. Die Veranderungen an den Fingernageln und
deren Umgebung”(Onychia et Paronychia syphilitica), sowie die Pso¬
riasis palmaris und die angedeuteten Huutginsonschen Zahne bei dem
Falle Stefan sprechen ganz besonders fur das Bestehen hereditarer
Lues. Ein Hydrocephalus internus scheint auch in diesem Falle vor-
zuliegen, wofttr die deutliche Steigerung des Druckes, die bei der
Lumbalpunktion festgestellt worden ist, und die danach subjektiv deutlich
empfundene Erleichterung und Besserung der bestehenden Kopfschmer-
zen spricht. Uberaus wichtig und erwahnenswert ist aber die recbts-
seitige Hemiplegie, die in dem Falle Stefan vor etwa 8 Jahren
apoplektiform entstanden ist und deren Reste lieute noch, wenn auch
nur angedeutet, vorhanden sind. Es handelte sich um eine Hemi¬
plegie, die sich recht schnell und hochgradig gebessert hat, und die
somit lebhaffc an die charakteristischen heraiplegischen Insulte bei
progressiver Paralyse erinnert. Die Hemiplegie fallt ja doch gleich-
sam aus dem Krankheitsbilde heraus, da sie plotzlich eingesetzh hat,
wiihrend das Hauptsymptom, der amyostatische Symptomenkomplex,
ganz chronisch sich entwickelt hat. Diese Tatsache legt den Gedan-
ken, dass Gefassveranderungen syphilitischer Natur vorgelegen haben
konnen, doch wohl nahe. Die voriibergehenden epileptiformen Er-
scheinungen konnten aber auch in derselben Weise gedeutet werdeD.
Dass die Veranderungen an der Leber und Milz sowohl in meinen
Fallen wie auch iiberhaupt durch Lues bedingt sein konnten, bedarf
keiner besonderen Erorterung an dieser Stelle.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zur Kenntnie der Pseudosklerose und der Wilsonschen Krankheit. 313
In Anbetracht der eben dargestellten Tatsachen glaube ich trotz
des negativen Ausfalles der serologischen, cbemischen and mikro*
skopischen Untersuchung der Zerebrospinalfliissigkeit, dass hereditare
Lues in meinen Fallen vorliegt. Meine Beobachtung spricht also zu-
gunsten der Annahme, dass hereditare Lues in atiologischer Hinsicht
als kausaler Faktor eine bedeutsame Rolle spielt.
Anf Grund der mir aus der Literatar bekannten und von mir
beobachteten Falle glaube ich zu folgenden Schlussfolgerungen be-
rechtigt zu sein:
Das familiare. d urch Pigmentierung am Hornhautrande, Leber-
schrumpFung und psychische und nervose Symptome charakterisierte
Krankheitsbild diirfte ein einheitlickes sein. Eine Unterscheidung von
Pseudosklerose und Paralysis agitans juvenilis erscheint nicht am
Platze. Bei beiden Erkrankungsformen ist der amyostatische Sym-
ptomenkomplex das Hauptmerkmal, er aussert sich allerdings in
zweierlei Weise, entweder durch abnorme Rigiditat der Muskeln oder
in Wackelbewegungen derselben. Bei ein und demselben Patienten
konnen aber sehr wohl diese beiden Modifikationen auftreten und bei
den Mitgliedern ein und derselben Familie kann bald die eine, bald
die andere mehr ausgesprochen sein.
Abgesehen von diesem Hauptsymptom ist bei den zu diesem Bilde
gehorigen Fallen die Pigmentierung der Cornea eine iiberaus cbarak-
teristische, sonst nirgends zu findende Erscheinung. Nur in Anbetracht
der gelegentlich vorkommenden braunen Pigmentierung der inneren
Organe und der gleichzeitigen Lebererkrankung mit Stoffwechsel-
anomalien konnte man sie zu dem Bronze-Diabetes in gewisse Be-
ziehung bringen. Jedenfalls ist sie diagnostisch iiberaus wertvoll.
Ebenso verhalt es sich mit der Leberschrumpfung, der durch sie
bedingten Storung des Kohlehydratstoffwechsels, welche klinisch durch
die bekannten Proben nachweisbar ist, sowie der Milzvergrosserung
und den durch die Blutuntersuchung feststellbaren Anomalien der
Milzfunktion. In Kombination mit dem amyostatischen Symptomen-
komplex und der Hornhautpigmentierung sind dieselben iiberaus
charakteristisch und tragen dazu bei, dass das ganze Krankheitsbild
eine besondere Stellung in der nosologischen Klassifizierung einnimmt.
Natiirlich hat dann auch ihr Nachweis fur die Diagnose entscheiden-
den Wert.
Was die pathologisch-anatomische Ursache dieses einheitlichen,
oben definierten Krankheitsbildes betrifft, so kann man sie wohl
folgendermaBen prazisieren. Das Zentralnervensystem ist in der Regel
frei von makroskopisch wahrnehmbaren Veranderungen; die histo-
21 *
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
314
v. Dziembowski
Digitized by
logische Untersuchung ergibt aber solche, namentlich an den grossen
Ganglien des Gehirns. Wilson halt eine in erster Linie von ihm
beobachtete Degeneration der nervosen Element© des Linsenkerns far
die Ursacbe des Leidens, wahrend Westphal, Alzheimer und andere
Antoren eigenartige Veranderungen an den Gliakernen der Gebirn-
rinde, besonders aber der grossen Ganglien des Gehirns nnd des Nu¬
cleus dentatus des Kleinhirns beobachtet haben und diesen ursachliche
Bedeutung zuschreiben. Jedenfalls scheinen in der Quantitat der Ver¬
anderungen grosse Schwankungen moglich zn sein und es kommen
klinisch einwandsfreie weit vorgeschrittene Ealle vor, in denen die
genannten Veranderungen vermisst werden. Weit charakteristischer
sind dagegen die. Veranderungen an der Leber, an der histologisch
eine hochgradige Zirrhose mit volligem Umbau des Lebergewebes
nachweisbar ist.
Was die Atiologie anbelangt, so diirfte wohl hereditare Lues aller
Wahrscheinlichkeit nach als ursachliches Moment angesehen werden.
Wenn auch die serologische Untersuchung sowie die chemische und
mikroskopische Untersuchung der Zerebrospinalfliissigkeit bisber keinen
sicheren Beweis dafiir erbracht haben, so sind mehrere Falle bekannt,
in denen hereditare Lues auf Grund klinisch festgestellter wichtiger
Anhaltspunkte angenommen werden konnte.
Literaturttbersicht.
1. C. Westphal, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, 1883, Bd. 14,
Heft 1.
, 2. v. Strumpell, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1898, Bd. 12.
S 3. Derselbe, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1893, Bd. 14.
1 4. Derselbe, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1900, Bd. 16.
5. Kayser, Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkunde, 44. Jahrg., Bd. 2,1902.
6. Fleischer, Klin. Monatsbliitter f. Augenheilkunde, 41. Jahrg., Bd. 1.
,-7. v. Frankl-Hochwart, Zur Kenntnis der Pseudosklerose. Wien 1903.
8. Salus, Med. Klinik Nr. 14.
9. Haitians, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, Bd. 24.
10. Anton, Miinchner med. Wochenschrift, 1908, Nr. 46.
11. Fleischer, Miinchner med. Wochenschrift, 1909, Nr. 22.
12. Derselbe, Bericht fiber die 36. Versammlung der ophthalmologischen
Gesellschaft in Heidelberg 1910.
13. Volch, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 42, 1911.
14. Hosslin u. Alzheimer, Zeitschrift f. d. gesamte Neurologie u. Psy¬
chiatrie, Bd. 8, 1911.
,15. Fleischer, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, 1912, Bd. 44.
16. A. Westphal, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, Bd. 51, 1913.
17. Rumpel, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 44.
• ' 18. Schfitte* Archiv f. Psychiatrie, 1913, Bd. 51.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
v. Dziembowski, Zur Kenntnis der Pseudoskleroae usw.
315
19. StScker, Zeitachrift f. Neurologie a. Psychiatrie, fid. 15.
20. Cassirer, Neurol. Zentralblatt, 1913, Heft 20.
21. Lewy, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, Bd. 50, 8. 50.
22. v. Strumpell u. Handmaun, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheil-
Icunde, Bd. 50, 1914.
23. Higier, Zeitachrift f. d. gesamte Neurologie u. Psychiatrie.
24. Rausch u. Scbilder, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, Bd. 52,
1914.
25. Zaloziecki, Mdnchner med. Wocheuschrift, 1914.
26. Boat5m, Fortschritte der Medizin, 1914, Nr. 8 u. 9.
27. Kleiber, Breslauer Dissertation 1914
28. v. Striimpell, Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde, 1915, Bd. 54.
29. Hillel, Med. Klinik, 1916, Nr. 13.
30. Kubitz u. Staemmler, Zieglers Beitrage zur pathologischen Anato-
mie u. allgemeinen Pathologic, Bd. 60, Heft 1.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aus der medizinischen Universitatsklinik in Rostock. (Direktor: Ge-
heimrat Prof. Dr. Martius.)
Dber Ver&nderungen der Spinalflflssigkeit bei Erkrankungen
peripherer Nerven, insbesoDdere bei Polyneuritis und bei
Ischias.
Yon
Privatdozent Dr. Queckenstedt,
Oberarzt der Klinik.
Bei Polyneuritis nach Diphtherie werden in der Lumbalfliissig-
keit Veranderungen angetroffen, die erstmals von Rom he Id (Deutsche
Zeitschrift fiir Nervenheilkunde, Bd. 36) beschrieben worden sind.
Seither liegen nur wenig Mitteibmgen iiber diesen Gegenstand vor.
Noch sparlicher finden sich in der Literatur Angaben iiber das Ver-
balten der Spinalfliissigkeit bei anderen Formen von multipier Neu¬
ritis. Ferner scheinen einige Besonderheiten, die nach unseren Er-
fahrungen dem Liquorbefund in diesen Fallen regelmassig zukommen,
bis jetzt uberhaupt nicht erortert zu sein. Wir haben im Verlauf
mehrerer Jahre eine grossere Anzahl hierher gehoriger Beobachtungen
sammeln konnen und wurden durch gewisse, dabei auftauchende
Fragen veranlasst, unsere Untersuchungen auch auf isolierte Er-
krankungen peripherer Nerven auszudehnen. Die Ergebnisse sollen
im folgenden bekannt gegeben und besprochen werden.
Von metadiphtherischer Polyneuritis standen uns im ganzen
zehn Falle sehr verschiedener Schwere zur Verfiigung. Wir priiften
lediglich Zell- und Eiweissgehalt des Liquors, letzteren anfangs, wie
damals noch iiblich, nur nach der Nisslschen Methode, spater auch
qualitativ mit Hilfe der Nonne-Apeltschen Globulinreaktion. In
den letzten Jahren stellten wir ausserdem grundsatzlich, wie bei alien
Lumbalpunktionen, die Wassermannsche Reaktion mit steigenden
Liquormengen an, um Komplikationen nach dieser Richtung nicht zu
iibersehen; selbstrerstandlich wurde sie daneben auch immer mit dem
Blutserum ausgefiihrt. Die Resultate sind in Tabelle I zusammen-
gestellt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Veriinderungen der Spinalflussigkeit usw.
Tab e lie 1.
317
| Datum Eiweiss 1 Nonne-
1. Punk- Zellgehalt 1
j tion ■
nach
Nissl
Apelfcsche
Reaktion
Bemerkungen
l.S.,Arbeiter,
3(3 J.,klinisch
beob. 9. VIII.
bis 29.IX. 1910
10. VIII. normal
1910 !
2 Teil-
striche
Beginn AnfangJuli 1910.
Nur leichte Sensibili-
tiitsstdrungen, Areflexie.
2. G., 40 J.,
klinisch beob.!
ll.II.bis6.lv. i
1911
1
I
1
2. III. • normal
' 1911
1
1
i
j ;
3 Teil- |
striche |
l
!
! negativ
i
Beginn Mitte Januar
1911. Schwere Erkran-
kung, hochgradige Ata-
xie und Parese auch in
den oberen Extremitaten
und im Rumpf. Wasser-
mannsche Reaktion im
Blut und Liquor negativ.
3. R., Pferde-
knecht, 17 J.,
klinisch beob. 1
8. VI. bis 23.
VI f. 190 J
13. VI. DOrmal
1909
18. VII. normal
1909
' !
3—4 Teil-
striche
3—4 Teil-
sfcriche
Beginn Mitte Mai 1909.
N urSchluck-undSprech-
storung, Panisthesien,
Areflexie.
4.K.,Arbeiter,
29 J., klinisch
beob. 21. bis
30. III. 1912 ,
25. III. i3 irn cmm
1912 ;
j
, )
5 Teil-
striche i
schwacho
Opal-
eszenz
Beginn Anfang Februar
1912. Leichte motorische
und sensible Parese, be-
jreits in Riickbildung.
|W.R. in B1 und L. neg.
5. Sch., Mu¬
si ker, 20 J.,
klinisch beob.
13. I. bis 21.
II. 1913.
15. I. 1 inti cmm
1913
]
|
5—6 Teil-
striche
Triibung
i
Beginn Mitte Dezember
1912. Mittelschwerer
Fall. Stehen und Gehen
eben moglich, Sensibili-
tiit, bes. Tiefenemptin-
dung, stark gesturt. W.R.
iu Bl. und L. neg.
6. E., Zimmer-
polier, 39 J.,
tlinisch beob.
10. V. bis 3. VI.
1911
18. V. normal !
1911 ,
! i
1
5—6 Teil-
striche
i
negativ |
Beginn Mitte April 1911.
Miissige Parese, gerihge
Sensibilitatsstoningen.
W.R. im Bl. und L. neg.
7.A.,Arbeiter,
24 J., klinisch j
beob.l3.V. bis'
21. VI. 1911 ;
1H V. vermehrt?
1911
9 Teil-
striche
negativ
Beginn Ende Miirz 1911.
Mittelschwerer Fall.
W.R. im L. neg.
8. Sch.,Tisch- :
lerlehrliug, 17
J., klinisch
beob. 20. 1. bis
7. IV. 1909
|
27. I. normal
1909 j
5. IV. normal
1909 ;
I
i
!
i
10 Teil-
striche
7—8 Teil-
striche
Beginn Mitte Dezember
1908. Mittelschwerer
Fall, wahrend der Be-
obachtung Zuuahme,
1 Abasie,Zehen undFuss-
igelenke fast unbeweg-
lich. Bei Entlassung
erheblich gebessert.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
3 IS
Queckenstedt
Digitized by
1
!
I Datum
d. Punk- Zellgehalt
tion
! Eiweiss
j nach
Nissl
Nonne-
Apeltsche
Reaktiou
!
BemerkiiDgen
t
I
9. K., Maler,
34 J., klinisch
13. I.
1910
vermehrt ?
12 Teil-
striche
?
Beginn November 1909.
Schwerer Fall, hoch-
beob. 3.1. bis
20. 11. 1910
1
19. II.
1910
vermehrt ?
16 Teil-
stricho
positiv
gradige ataktische Lah-
mung auch der oberen
iExtremitaten, inu»8 ge-
■futtert werden. BeiEnt-
Ussung Stehen und
Gehen mriglich. Knie-
reflexe angedeutet.
10. M., Post¬
26. III.
4 im cmm
36 Teil-
sofortige
Schwerer Fall. W.R. in
bote, 29 J.
1914
striche
Triibung
L. neg.
Wie aus der Tabelle hervorgeht, war eine zweifellose Zell-
vermehrung in keinem der untersuchten Falle vorhanden. Seit wir
die Zahlkammer (nack Fuchs-Rosenthal) verwenden, haben wir
selbst bei starkster Eiweissvermehrung (Fall 10) nie mehr als Tier
Zellen im cmm gefunden. Doit wo letztere als vielleicht vermehrt
bezeicbnet sind, wurde ibre Zahl noch oach der alten franzosischen
Methode — zentrifugieren, abgiessen, ausspritzen des miniraalen
Bodensatzes mit der Kapillarpipette auf den Objekttrager — be-
urteilt. Dies Verfahren ist zu ungenau, um eine geringe Vermehrung
von noch normalem Zellgehalfc geniigend sicher unterscheiden zu
lassen, und wir baben nach den Ergebnissen der Karamerzahlung
Grand zur Annahme, dass bei der Mebrzahl dieser Kranken eine
Zell vermehrung in Wabrheit nicht bestanden bat; wenn doch, so war
sie jedenfalls nur geringfiigig.
Ganz anders verhielt sicb das Eiweiss des Liquors. Nur bei
einem Kranken (Fall 1) war die Spinalfliissigkeit auch in dieser Hin-
sichfc sicher vbllig normal; bier waren die klinischen Erscheinungen
leicht. Andrerseits ist es fur die Auffassung der gefundenen Ver-
anderungen wichtig, dass der Eiweissgehalt sich einmal aucb da
(Fall 2) noch an der oberen Grenze des uormalen — drei Si rich nach
Nissl — hielt, wo die Erkrankung an Schwere solchen mit hohen
Eiweisswerten (vgl. Fall 9 u. 10) kaum etwas nachgab. Ferner kann
das Eiweiss, wie wiederholte Punklionen bei demselben Kranken
(Fall 9) lehrten, noch zunehmen, nachdem bereits eine erbeblicbe
Besserung der klinischen Erscheinungen eingetreten ist. Direkte Be-
ziehungen zur Starke des neuritischen Prozesses besteben also offen-
bar nicht. Im ganzen lasst sich aber sagen, dass bei der
Mehrzahl aller Falle von diphtherischer Neuritis in der
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber VeranderuDgen der Spinalflussigkeit usw.
319
Lumbalfliissigkeit eine Eiweissvermehrung auftritfc, die er-
hebliche Werte erreichen kann und der keine oder so gut
wie keine Zellvermehrung entspricht.
Ganz das gleiehe fand sich nun bei drei Kranken xnit Polyneu¬
ritis anderer Atiologie, deren Spinalflussigkeit, da sie monatelang in
klioischer Beobachtung standen, z. T. mehrmals untersucht werden
konnte.
Tabelle II.
| Datum j 1 Eiweiss
d. Punk-iZellgehalt nach
tion | Nissl
Bemerkuugen
11. K., Schweinef'iitterer,
84 J., Polyneuritis ex
causa iguota. Begin n
Anfang Dezember 1908.
Kliniscbe Beobachtung
13. I. bis 27. Vir. 1909.
12. B., Stellmncher, !>3 J.,
Polyneuritis nach „Lun-
genentzundung“.Beginn
Mitte Januar 190.». Kli-
nische Beobachtung 14.
II. bis 18. IX. 1909.
13. St., Rentner, 07 J.,
Polyneuritis senilis. Be-
ginn Ende Dezember
1909. Klinische Be-
obachtumr 11. III. bis
27. VII. 1910.
19. I.
1909
3. IV.
1909
19. V.
1909
20. VII.
1909
16. II.
1909
19. V.
1909
vermehrt?
vermehrt? i
normal !
i
normal
vermehrt?
I
vermehrt?
I
30 Teil- Hohepnnkt der Krank-
striche | heit; vollige Lahmung
1 der Beine, Atemparese
15 Teil- : Beginnende Besserung
striche I in den Armen.
10 Teil- , Beginnende Funktion d.
striche j Oberschenkelmuskeln.
5—6 Teil-i Gehen und Stehen mog-
striche j lich. Unterschenkehnus-
keln noch vollig be-
wegungslosC
15 Teil- j Massige allgemeine Pa-
striche ! rese und Ataxie; Gang
leicht ataktisch-nare-
tiach. Geringe Sensi-
bilitiitsstorungen. Bis
Mitte April srarke Zu-
88 Teil- nahme der Schwache,
stricho der elektrischen Ver-
iinderungen u. der Emp-
findung88chiidigung bes.
im Gebiete der tiefen
Sensibiljtat. Dann all-
mahliche Besserung.
15. IX.
1P09
24. III.
1910
vermehrt? 12 Teil- Bewegungen in den
j striche , Fussgelenken noch stark
geschwacht, Zehenbe-
j l wegungen minimal.
| Komplette E.R. in den
kurzen Zeheustreckern,
distnle Reste der £en-
sibilitiitsstorung.
vermehrt? j8—9 Teil- Hohepnnkt der Krank-
striche i heit. W.R. im L. neg.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
320
Queckenstedt
Bei diesen Patienten bandelte es sich am Erkraakangen schwerer
bzw. schwerster Form. Uber ihren poljneuritiscben Charakter konnte
kein Zweifel bestehen: Diese Lahmung entwickelte sich bei alien
dreien in typischer Weise, ohne Storung des Allgem einbefin-
dens und ohne Fieber allmahlich im Verlauf von Wochen, einmal
(Fall 12) 1 1 2 Monate nach einer Lungenentziindung, zweimal aus un-
bekannter Ursache heraus. Sie ergriff symmetrisch obere und untere
Extremitaten und hob in jedem Falle die Gebfahigkeit fur langere
Zeit auf; bei K. (Fall 11) waren die Beine wochenlang absolut be-
wegungslos. Die Rumpfrauskulatur war immer mitbeteiligt, bei deiu
Letztgenannten voriibergehend auch die Atmung stark beeintrachtigt.
Stets zeigte die Lahmung in Verlauf und Verteilung distalen Typus:
Sie begann und endete mit Parasthesien und Schwache in den peri-
phersten Teilen der Extremitaten, betraf die unteren mehr als die
oberen, fiihrte distal zur vollkommensten Lahmung, zu den hocbsten
Graden von Atrophie und Entartungsreaktion und zu den ausgespro-
chensten Sensibilitatsstoruugen, von welch letzteren die Schadigung
der tiefen Empfindung regelmaliig am meisten hervortrat. Bei alien
blieben Reste der zuletzt zuriickgehenden Peroneuslabraung lange Zeit
nachweisbar; bei St. (Fall 13) waren sie 10 Monate, bei B. (Fall 12)
1V 2 Jahre nach Beginn derErkrankung noch vorhanden, beiK. (Fall 11)
selbst 4 Jahre spater nicht vollig geschwunden.
Im Gegensatz zu den scbweren Veranderungen bei diesen Kranken
steht der fast normale Liquorbefund bei einem vierzigjabrigen Potator
W., dessen Erkrankung innerhalb zweier Wochen todlich endete.
Hier war die Lahmung bereits nach sechs Tagen auf Atem- und Birn-
nerven ubergegangen; um diese Zeit fand sich in der Lurabalfliissig-
keit nur ein Eiweissgehalt von 3—4 Strich, ohne Zellvermebrung.
lm ubrigen verlief das Leiden in charakteristischer Weise wie obeu
beschricben, dauernd ohne Fieber, zuletzt unter psychischeu Erschei-
nungen von Korsakoffschem Typus; im Bereich der Sensibilitat war
wieder die Gelenkempfindung ganz unverbaltnismaliig stark gescha-
digt, in den Beinen war sie fast aufgehoben.
Umgekebrt wie hier im Beginn wurden auch im Riickbildungs-
stadium einer sehr schweren Arseniklahmung (30jahriger Kammer-
jager H.), acht Monate nach der akuten Vergiftung, ebenfalls nur ge-
rade noch erkennbare Veranderungen, Erhohung des Eiweisses aut
3—4 Striche nach Nissl, nacbgewiesen.
Negativ war das Ergebnis bei den wenigen alkoholischen Neuri-
tiden, die wir zu Gesicht bekamen. Allerdings handelte es sich durch-
weg um Patienten mit schon langer bestehender und symptomarmer
Digitized by
Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
liber Veranderungen der Spinalfliissigkeit usw.
321
Erkrankung: leicbten sensiblen Reiz- and Ausfallserscheinungen,
Areflexie, geringen aiaktisch-paretischen Storungen.
Alles in allem erscheint der Schluss gerechtfertigt, dass bei mul-
tipler Neuritis, besonders solcher infektios-toxischen Ursprungs, Ver¬
anderungen der Spinalfliissigkeit nor selten wabrend der ganzen Dauer
des Leidens ausbleiben diirften. Zu Beginn und im Riickbildungs-
stadium konnen sie fehlen; auf der Hohe der Krankheit gehort selbst
ein annahernd normaler Liquor offenbar zu den Ausnahmen. Die ge-
fundenen Veranderungen zeigen durchweg einen besonderen Typus,
der dadurcb gekennzeicbnet ist, dass bei erbohtem, oft sebr
betrachtlich gesteigertem Eiweissgehalt die Zahl derZellen
ganz oder nabezu normal bleibt.
Dieses Verbalten steht im Yollkommenen Gegensatz zu dem, wie
wir es bei entziindlichen Vorgangen in den Meningen, insbesondere
aucb den luetiscben und metaluetiscben zu finden gewobnt sind, Bei
diesen feblt die Zellvermebrung bekanntlich so gut wie nie und er-
reicht gelegentlich scbon hobe Grade, wenn quantitative Veranderungen
de'3 Liquoreiweisses noch nicht nachgewiesen werden konnen. Umge-
kebrt baben wir eine Vermehrung desselben auf das funfzehn* bis
zwanzigfache (vgl. Fall 10, 11, 12) z. B. bei Paralyse und selbst bei
scbwerer zerebrospinaler Gefasslues kaum jemals geseben; solche Werte
werden baufig nicht einmal bei akuter und subakuter (tuberkuloser)
Meningitis erreicht.
Bemerkenswert ist auch das Verhalten der GlobulinkOrper. Wall-*
rend die Nonne-Apeltsche Heaktion bei Mctalues nicht gerade selten als
irOhestes Symptom ebenfalls noch vor einer messbaren Eiweissvermehrung
auftritt, wnrde sie hier mehrmals vermisst, obwolil (vgl. Fall 6 und 7 )
der Eiweissgehalt der Lumballlassigkeit sehr deutlich erhdht war.
Die Liquorveranderungen bei Polyneuritis konnen somit in der
Hauptsacbe nicht direkt durch entziindliche Vorgange bedingt sein
und bediirfen einer besonderen Deutung. Sucbt man nach Analogien,
so findet man die reine Eiweissvermehrung in ausgesprochenster
Form bei den sogenannten Kompressionserkrankungen des Riicken-
marks, in geringcrer Starke unter anderem bei Hirntumoren. Hier
ist sie der Ausdruck einer venosen Stauung, die dem Liquor Odem-
fliissigkeit beimischt. Bei der volligen Ubereinstimmung der Befunde,
selbst iu quantitativer Hinsicht, wird man ahnliches auch fur die
Polyneuritis annehmen miissen; auch hier diirfte die Spinalfliissigkeit
ihre Beschaffenheit einfachen Zirkulationsstorungen und einem
dadurcb bedingten, nicht-entziindlichen Odem der Meningen ver-
danken.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
322
Qubckenstbdt
Dass dieses Odem irgendwie zu parenchymatos-neuritischen Vor-
gangen in Beziehnng steht, ist wohl yon vornherein nicht zweifelhaft.
Schwerlich ist es eine direkte, der Neuritis lediglich koordinierte
Folge der Grundkrankheit; bei nnkomplizierter Diphtherie (in 6 Fallen)
fanden wir den Liquor stets normal. Ebensowenig kann es den bei
Polyneuritis gelegentlich festgestellten Riickenmarksveranderungen ent-
sprecben, da diese dazu viel zu geringfiigig sind; aussert sicb doch
selbst der akut-entziindliche Prozess der Poliomyelitis oft fast gar
nicbt und stets nur auf kurze Dauer in Veranderungen der Spinal-
fliissigkeit.
So fanden wir z. B. bei einem Kinde mit rasch tddlich verlaufender
L&hmung normalen Liquor und stellten bei einem Soldaten, der an alien
vier Extremitaten gelahmt war, auf der Hdbe der Erkrankung nur eine
Eiweissvermehrung von 10 Strich nach Nissl fest.
Man wird also den Sitz des Oedems in erster Linie in den Um-
hiillungen der Wurzeln und' in den angrenzenden Gefassversor-
guhgsgebieten des Riickenmarks annebmen diirfen, vielleicht ausserdem
noch an der Dorsalflache des Riickenmarks, wo die Fortsetzungen der
hinteren Wurzeln in kompakter Masse der Peripherie nabliegen.
Jedenfalls deutet der Nachweis so ausgesprocbener Veranderungen
im Stiitzgewebe auf eine erheblicbe Beteiligung der subduralen Wur¬
zeln an dem neuritischen Prozess. Sie legt direkt den Gedanken nahe,
ob nicbt vielleicht die Erkrankung iiberhaupt von bier aus ihren Aus-
gang nimmt, durch eine Vergiftnng der Nervenfasern vom Liquor her,
wie etwa bei der Lumbalanasthesie.
An sich ware die klinische Symptomatology mit einer solchen An-
nahme durchaus vereinbar. Wenn die toxisch bedingte Schadigung der
Wurzeln sich nach dem Gesetz der Nervendegcneration zentrifugal fort-
pflanzt, so wird trophischer Einfluss und funktionelle Erregung das grftsste
Dekrement in den langsten Fasern ebenso erleiden mQssen, wie wenn das
Gift aus dem Blut aufgenommen und in jeder Streckeneinheit etwa gleich
stark verankert wird; in beiden Fallen muss der charakteristische distale
Labmungstypus zustande kommen.
Es spricht jedoch zuviel gegen eine solche Entstehungsweise,
als dass sie fur wahrscheinlich gelten konnte. Zu den Gegengriinden
gehort nicbt die ausbleibende Miterkrankung des zentralen Nerven-
systems, denn die bleibt auch bei hamatogener Entstehung zu erklaren.
Dass gelegentlich Zeichen einer Beteiligung der Meningen fehlen, d. h.
der Liquor ganz oder nahezu normal gefunden wird, sagt ebenfalls
nicbt viel; die Schadigung des Parenchyma konnte deswegen doch vor-
handen sein. Auch muss, nachdem letztere einmal eingetreten ist,
der Ablauf der De- und Regeneration in der Hauptsache seinen eigenen
Gesetzen folgen, und naturgemaB konnen so die Liqnorveranderungen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Veriinderungen der Spinalflussigkeit usw.
323
den klinischen Erscheinungen nur ganz im allgemeinen parallel gehen.
Wenn sie daher bei ansgedehnter, rasch todlich endender Vergiftung
der Nervensubstanz gar nicht zur Entwicklnng kommen, so ist das
ebensowenig verwunderiich, wie wenn bei langerer Dauer des Leidens
ibre Riickbildung vor der der Lahmung vollendet ift. Auffalliger
sind scbon die grossen Unterschiede bei Erkrankungen, die sich sonst
in Ursache, Schwere nnd Entwicklungsstadium vollig gleichen. Ferner
hat bekanntlich die Lumbalfliissigkeit im wesentlicben die Eigenschaften
eines echten Sekrets, in das die Mehrzahl der korperfremden Sub-
stanzen nicht iibergebt. Daselbe kann von vornherein fur Bakterien-
gifte vorausgesetzt werden, und Rom held fanddenn anch tatsachlich in
in seinem Fall weder Toxin noch Antitoxin vor. Da umgekehrt die
Aufnahme von Toxin aua der Gewebsfliissigkeit in die peripheren
Nerven -ausser jedem Zweifel steht — es braucht nur an die Gaumen-
segellahmung, besonders die einseitige nach eiuseitiger Mandeldiph-
therie erinnert zu werden — so konnte die Vergiftung der Wurzeln
vom Liquor her bestenfalls als Teilerscheinung im Gesamtprozess
der Polyneuritis in Betracht kommen. Im ubrigen ware dabei eine
entziindliche Reaktion in den Meningen zu erwarten, wahrend die
Tatsachen nur die Annahme einer Kapillarscbadigung zulassen, die
etwa der bei der Nephritis entsprache, und diese fehlt wiedernm in
aoderen Gefassgebieten. Endlich aber linden sich qualitativ ganz die
gleichen Veranderungefi der Spinalfiiissigkeit bei Affektionen ein-
zelner Nerven und Wurzeln, wo unter anderem schon der Einseitig-
keit wegen von einer toxiscben Entstehung durch Einwirkung des
Liquors keine Rede sein kann.
Wir haben, seit uns die Befunde bei Polyneuritis bekannt sind,
auch bei solchen Erkrankungen regelmaCig' die Lumbalpunktion aus-
gefiibrt. Von Interesse ware das Verhalten der Spinalfiiissigkeit be¬
sonders bei rein extraduraiem Sitz der primaren Schadigung, etwa
infolge von Verletzungen, Druck von Geschwiilsten u. dgl. Bisher standen
unssolche Falle einwandfrei nicht zurVerfiigung.Bei einer totalenDruck-
lahmung des Armplexus fanden wir den Liquor unverandert; doch
beweist das wenig,da hier die Punktion kurz nach der Verletzung gemacht
wurde. Auch mogen bei so hohem Sitz der Lasion geringfiigige Ab-
weichungen durch Verdiinnung verwischt werden. Im Lumbal-
sack unterliegt der Liquor aus physiologischen Griinden viel weniger
einer Durchmischung mit dem ubrigen; der Nachweis krankhafter
Vorgange im Bereich der unteren Extremitaten ist daher von vorn¬
herein am ehesten zu erwarten. Dementsprechend haben wir denn
auch bei Ischias haufig Abweichungen vom normalen Lumbalbefund
feststellen konnen, deren Zusammenstellung unten folgt. Da ange-
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Queckenstedt
Digitized by
324
Qommen werden kann, dass die Ischias grosstenteils durch extra¬
dural wirkende Schadlichkeiten zustande kommt, so ergeben sich fiir
die Erklarung der Liquorveranderungen ganz bestimmte Vorstellungen,
die ohne weiteres auf die multiple Neuritis vibertragen werden
konnen.
Tabelle III.
- Datum
id. Punk- Zellgehalt
| tion
Eiweiss
naeh
Nissl
j Nonne-
; Apeltsche
| Reaktion
Bemerkungen
15. B., Arbei-
ter, 44 Jahr
18. IV.
1910
1
normal
2—3 Teil-
st riche
i
Ischias rechts, erstmals
vor einem Jahr, jetzt
RezidivseitdreiWoehen,
A.R., P.R. links > rechts.
16. F., Strek-
21. V.
0
1-2 Teil-
negativ
Ischias rechts. Seit 18
kenarbeiter,
67 Jahr
1912
1 ini c*mm
!
i
striche
Jahren haufig Rezidive.
P.R. rechts herabgesetzt.
W.R. in Bl. u. L. neg.
17. G.,
Schraied, 66
Jahr
19. I.
1909
normal
2 Teil-
striche
Ischias links, seit 4 Mo-
naten. Parasthesien,
AtrophiejReflexe gleich.
18. Z., Arbei-
ter, 47 Jahr
7. IV.
1911
normal
2—3 Teil-
strich-3
negativ
Ischias links, seit 11
Monaten. Atrophie, A.R.
fehlt links, P.R. henib-
gesetzt. W.R. in Bl. n.
L. neg.
19. 0.,Haus-
verwalter, 46
Jahr
10. I.
1909
o
1-2 Teil-
striche
IschiaB rechts, seit 2 Mo¬
naten. A.R. rechts her-
abgesetzt.
20. P., Arbei-
ter, 27 Jahr
19. III. :
1909 ;
vermehrt ?
2—3 Teil-
striche
i
Ischias rechts, seit 6 Mo¬
naten. Etwns Atrophie,
herabgesetzter P.R.
rechts.
21. A., Arbi¬
129. VIII. 6 im cmin;
2—3 Teil-
I ?
Ischias links, seit 6 Wo-
ter, 44 Jahr
] 1913 *
i
etwas !
Blutbei- ;
mischung
striche
'
chen. W.R, in Bl. u. L.
neg.
22. K., Depu-
tatknecht, 41
Jahr
i 5. VII.
1912
normal
2-3 Teil-
' striche
1
negativ
Ischias links, seit 9 Jah¬
ren rezidivierend. Atro¬
phie, P.R. links herab-
gesetzt.
23. B., Strek-1
kenarbeiter, L
57 Jahr
1
19. I.
j 1911
!
|
vermehrt ?
2—3 Teil-
striche
1
negativ
Ischias rechts, seit 3
Monaten, P.R. fehlt
rechts. Schmerzhaftig-
keit des Femoralis.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Veranderungen der Spinalfliissigkeit usw.
325
i Datum
d. Punk- Zellgehalt
tion
Eiweiss
nach
Nissl
Nonne-
Apeltsche
Reaktion
| Bemerkungen
1
24. St., Stadt-
diener, 32
Jahr
6. VIII.
1912
7 :3 im
cram
2-3 Teil-
striche
negativ
Ischias rechts, seit 8
Monaten, seit 4 Wochen
exazerbicrend.Parasthe¬
sien, Vasomotionssto-
rungen.
25. Ae., Mid¬
ler, G4 Jahr
3. III.
1909
normal
2-3 Teil-
striche
1
Ischias links, seit 18
Jahren. Parese und
komplette E.R. im Ti-
| bialis anticus.
2d. B., Arbei-
ter, 5S Jahr
3. VII.
1910
normal
3 Teil-
atriche
Ischias rechts, seit 4
Wochen.
27. D., Meier,
41) Jahr
13. VI.
1913
0:3
im cmm
3 Teil-
atriche
negativ
Ischias links, seit G
Wochen. Atrophie, A.R.
fehlt. Parasthesien. W.U.
] im L. neg.
28. G., Arbei-
ter, 43 Jahr
19. I.
1909
vermehrt
\
3 Teil*
atriche
Ischias rechts, etwa seit
3 Monaten. Geringe
Atrophie. P.R. herab-
i gesetzt.
29. H., Arbei-
ter, 57 Jahr
19. I.
1911
normal
3 Teil-
striche
negativ
;
i
(Ischias links, sei v 5
j Monaten. Leichte Atro-
phie. W.R. im L. neg.
30. K., Vor-i
sehnitter, 40;
Jahr
13. V.
1912
6: 3 im
1 cmm
i
i
3 Teil-
striche •
I
negativ
i
Ischias rechts, seit G
Monaten. Atrophie. AR.,
1 P.R. herabgesetzt.
31. M.. Mon-
teur, 33 Jahr
3. VII.
1910
!
1 normal
j
j
3 Teil-
striche
Ischias rechts, seit 3
Monaten. Parasthesien,
Atrophie, Beteiligung
! des Femoralisgebiets.
32 B., Arbei-
ter, 4L Jahr
16. III.
1911
i normal
1
3-4 Teil-
striche
negativ
!
Ischias links, seit ca.
G Monaten. Wade atro-
! phi sch.
33. S(*h. M,
Knecht, 33
Jahr
14. XI.
1911
1:3 im
cmm
3-4 Teil-
striche
1
positiv
Ischias rechts, seit 3
.Wochen. Atrophie A.R.
abgeschwiicht. Zyanose.
W.R. in Bl. u. L. neg.
34. Sch. W.,
Knecht, 21
Jahr
3. VI.
1912
1:3 im
cmm 1
i
3-4 Teil-
striche
po9itiv?
Ischias links, seit 3
Monaten. Atrophie. AR.
abgeschwiicht. W.R. im
Bl. neg.
35. J., Forst-
arbeiter, 40
Jahr
io. i. ;
1913
3:3 im
cmm
3-4 Teil-
striche
negativ
Ischias rechts, seit 3
j Monaten. A.R. fehlt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
326
QUECKEN8TEI>T
Digitized by
Datum
<1. Punk-
tion
Zellgehalt
Eiweiss
nach
Nissl
Nonne-
Apeltsche
Reaktion
Bemerkungen
36. B., Mau-
rerpolier, til
Jahr
6. V.
1910
normal
4 Teil-
striche
Ischias rechts, seit i*
Wochen. Paristhesien,
Atrophie.
37. R, Arhei-
S XI.
6:3 im
4 Teil-
negativ
Ischias rechts, seit 3
ter, 4G Jahr
1913
cinm
striche
Monaten. Atrophie. W.R.
in Bl. u. L. neg.
38. H., Tag-
lohner, 41
Jahr
IS XII. 1 iin emm
1911
4—5 Teil-
striche
positiv
Ischias rechts, seit t>
Wochen. x P.R. herab-
gesetzt, W.R. in Bl. ir.
L. neg.
39. P .Heizer,
9. VII.
9:3 im
5 Teil-
scliwache
Ischias rechts, seit 7
42 Jahr
1912
i
emm
striche
Opales-
zenz
Monaten,voriibergehend
auch links. A. Rf rechts
fehlend, Krafi in Fuss-
u. Zehengelenken ab-
gesehwiicht. W.R. in
Bl. u. L. neg.
40. R„ Spin¬
5. III.
5 :3 im
•>—6 Teil-
l
! schwache
Ischias rechts, seit 3
ner, 24 Jahr
1912
1
1
1
cinm
, striche
Opales-
zenz
i
j
Monaten. Atrophie A.R.
tehlt. In der Wade
fibrillare Zuckungen.
W.R. im Bl. neg.
41. Sell, 0.,
15.1.1913
9:3 im
6—7 Tcil-
Opales-
Ischias rechts vor 1 1 2
Mehlh-’indler,
37 Jahr
.
ennn
etriche
•
zenz
Jahr, geringe Rest^;
links seit 5 Wochen.
A.R. nur rechts nach
Babinski. W.R. in Bl.
u. L. neg.
42. W., A**bei-
19. I.
normal
5-6 Teil-
Opales-
Ischias rechts seit An-
ter, GO Jahr
!
1
1911
i
Btriehe
zenz
fang September 1910.
Beteiligung des Femo-
ralisgebiets. Starke
Atrophie, A.R.,P.R. her-
abgesetzt. Zyanose.
14. XI
i 1911
2 :3
1—2 Teil-
striche
negativ
A.R. noch heral^esetz^.
Atrophie gebessert.
Pariistliesien.
Es fand sich also nur in 11 von 28 untersuchten Fallen ern
vollig noriualer Eiweissgehalt. Sechsmal bevvegte er sich an der*
oberen Grenze, elfmal wurde diese zum Teil erheblich iiberschritten.
Zur Bcnvertung dcr mit clem Nisslschen Zentrifugiorverfahren aus-
gefQhrten Bestimmungen sei hier noch benierkt, dass diese Metliode, ohne
eiue exakt. quantitative Messung darzustellen, nach unsern Erfahrungen
aucli eine geriuge ErliOhung ties Eiweissgebalts hinreichend zuvcrlasHg
zu beurteilen gestattet. Voraussetzung ist dabei allerdings die exaktj
Got igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Veranderungen der SpioaJflussigkeit usw.
327
Graduiernng and gleichm&ssige Weite der ZentrifagierrOhrchen, die manche
Fabrikate vermissen lassen, und wichtig ist vor allem die richtige Daucr
des Zentrifugierens, die jeder Untersacher for seine Zentrifnge erraitteln
and so bestimmen muss, dass seine Resultate mit denen anderer Unter-
sucher vergleichbar sind. Um diese Forderung zu erfdllcn, gentigt es,
gerade so lange zu zentrifugieren, wie ausreicht, um die Eiweisssflule nor-
maler Spinalfltlssigkeiten zu annflhernd konstantem Volumen zu bringen;
bei unserer elektrischen Zentrifuge betrug diese Zeit 15 Minuten. Wir
fanden, dass die Eiweisss&ule danu stets unter dem dritten Teilstrich blieb;
dieses MaB mfissen wir daher als obere Grenze des normalen ansehen.
Mit der Eiweissvermehrung war wiederum nur in einem Teil der
Falle eine positive Nonne-Apeltsche Beaktion verbunden. Die Ei-
weissbestimmung ist also hier die empfindlichere Methode, um geringe
Abweichungen von der Norm zu erkennen. Es ist notwendig, dies
zu bemerken, da mancherorts die Neigung besteht, sie einfach durch
die Globulinreaktion zu ersetzen, in der Annahme, dass die Besultate
bei beiden parallel geben. Letzteres ist nur im grossen und ganzen
richtig. Daneben kommt, wie schon oben angedeutet, der Nonne-
Apeltscben Beaktion eine gewisse selbstandige Bedeutung zu, die
sich eben darin aussert, dass fur ihr Auftreten die Eiweissvermehrung
weder notwendig noch hinreichend ist.
Dass bei raebr als der Halfte aller Ischiaskranken die Spinal-
fliissigkeit Abweichungen vom Normalen aufweist, bestatigt zunachst
die durch audere klinische Tatsachen genugsam gestiitzte und wohl
kaum noch bezweifelte Auffassung, welche in der Ischias keine Neuralgie
im alten Sinne, sondern die Folge groborganischer, zentralwarts
weit hinaufreichender Veranderungen sieht. Unmittelbarer Aus-
druck eines neuritischen Prozesses in den Wurzelteilen der peripheren
Nerven kann die Eiweissvermehrung aber auch hier wieder nicht sein.
Ebenso wie bei multipier Neuritis wird bei Ischias eine
Zellvermehrung vermisst; sonst unterscheiden sich die Befunde j
nur quantitativ. Das Auftreten des erhdhten Eiweissgehalts scheint
auch hier an ein. bestimmtes Entwicklungsstadium des Leidens ge-
bunden zu sein: nach sehr langem Bestande findet er sich nicht mehr.
So war bei Fall 42 die nach 4 Monaten festgestellte erhebliche Eiweiss¬
vermehrung nach weiteren 10 Monaten vollig normalem Verhalten
gewichen, obwohl die neuritischen Symptome zwar gebessert, aber
bei weitem nicht vollig zuriickgebildet waren. Wo es sich um Bezi-
dive handelte, fanden wir regelmabig nichts, nicht einmal bei einem
Patienten (Fall 25), der schwere Degeneration im Peroneusgebiet auf-
wies. Entsprache die Eiweissvermehrung direkt dem jeweils anzu-
nehmenden interstitiellen Entziindungsvorgange, so ware sie bei jedem
Kezidiv von neuem zu erwarten. Ist sie die Folge von Zirkulations-
Deutsche Zeilschrift f. Nervenheilkunde. Bd.57. 22
Digitized by
Gck igle
Original frpm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
328
Queckenstedt
storungen, so ist ihr dauemdes Verschwinden verstandlich, da jene
durch Anpassung an die veranderten Verbaltnisse einen Ausgleich
erfahren konnen, der auch durch eine Neuerkrankung nicht mehr ge-
stort wird.
Die G-leichartigkeit der Liquorveranderungen bei Poly¬
neuritis und lschias lasst erstere lediglich als Summationswirkung
auffassen und zwingt dazu, das ibnen zugrunde liegende Odem durch
Vorgange zu erklaren, wie sie sich aucb als Folge der Erkrankung
einzelner Nervenwurzeln ergeben konnen. Der nachstliegende Ge-
danke, es mochte sicb nur nm ein kollaterales Odem handeln, schei-
tert an der schon oben erwahnten Tatsache, dass in dieser Hinsicht
yiel intensivere Entziindungsprozesse, als sie in den Wurzeln statt-
finden, so geringfugige Wirkungen ausiiben. Dann bleiben aber zur
Erklarung nnr noch mechanische Ursachen oder Storungen der
Vasomotion iibrig. Bei der lschias, wo infolge der wobl raeist
lokal-traiimatischen Entstehung die Schadigung vasomotorischer Fasern
von vornberein zu erwarten und oft auch klinisch nachweisbar ist,
kommt die Mitwirkung des letzteren Moments noch am ehesten in
Betracht. Viel geringere Wahrscheinlichkeit hat sie bei der infektios
bedingten Neuritis, speziell nach Diphtherie, bei der ja erfahrungs-
gemaB auch in schweren Fallen die Beteiligung der Getassnerven wie
des vegetativen Systems iiberhaupt — yon der Schweisssekretion etwa
abgesehen — anffallend gering ist. Hingegen wird die Annahme
eines rein mechanisch bedingten Stauungsodems durch die ana-
tomischen Verbaltnisse der Wurzeln besonders nahegelegt. Sie sind
bei ihrem Austritt yon dem derben Gewebe der Dura umkleidet, das
etwas oberhalb des Ganglions mit ihnen verwachst und sich als feste
Scheide noch unterhalb desselben findet. In diesem eng umschlossenen
Stiick muss, wie Injektionsversuche ohne weiteres bestatigen, eine auch
nur geringfugige reaktiv-eutziindliche Exsudation das Gewebe unter
erheblich hoheren Druck setzen als in jeder anderen Nervenstrecke.
Dieser wird in erster Linie den Blutabfluss durch die Interspinalvenen
beeintrachtigen; auch mag er yielleicht rein lokal die Vasomotion
der Arterien storen. Nun kommt hinzu, dass nach den Erfahrungen
bei den sogenannten Kompressionserkrankungen die interspinalen Ge-
fasse gegen solche Schadigungen ofFenbar ganz besonders empfindlich
sind und besonders leicht mit Odem in ihrem Versorgungsgebiet
reagieren; sonst ware es nicht verstandlich, wie z. B. bei noch wenig fort-
geschrittener Wirbeltuberkulose trotz der vorhandenen Kollateralen
manchmal schon die Sperrung eines Venenpaares zum Odem des
Kiickenmarks mit alien seinen Folgen fiihrt.
Folgt man diesen Erwagungen, so wird der Eiweissgehalt der
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber Veranderungen der Spinalflussigkeit usw.
329
Spinalfiiissigkeit davon abhangen, wie weit die Degeneration des
Nervenparenchyms von reaktiven Vorgangen iiberhaupt begleitet ist
und in welcher Starke im besonderen diese sich in den duraumschei-
deten Wurzelstucken lokalisieren. Im allgemeinen wird beides mit
umso grosserer Wahrscheinlichkeit eintreten, je sehwerer die Faser-
degeneration ist. Da aber erfahrungsgemaB die Beteiligung des Inter-
stitiums am neuritischen Prozess sehr verscbieden sein kann, so ist
auch bei schweren Erkrankungen ein annahernd normaler Liquor
moglich, und es erklaren sich zwanglos die oft erheblicben Differenzen
bei sonst klinisch gleichartigen Erkrankungen.
Wenn auch die Liquorveranderungen in der Hauptsache nur ak-
zessorische Bedeutung haben, so sind doch vielleicht, und darauf mag
zum Schluss noch hingewiesen werden, die ihnen speziell zugrunde
liegenden pathologischen Vorgange fiir den Verlauf der bier bespro-
chenen Krankheiten nicht ganz gleicbgiiltig. In den eingescbeideten
Wurzelstucken miissen Ernahrungsstorungen leicbter als anderswo
zustandekommen und diese Nervenstrecke zu einem besonderen Hindernis
sowohl fur die Regeneration wie fiir die Leitung in den noch erhal-
tenen Fasern macben. Am starksten wird diese Wirkung dort sein,
wo das durale Perineurium am langsten und festesten ist, also an
den lumbalen und sakralen Wurzeln. Dazu kommt, dass von diesen
zentimeterlange Stiicke noch oberbalb der Verwachsungsstelle von
rohrenformigen Durafortsatzen eng umhiillt sind und darin dauernd
unter der Einwirkung einer fast unverdiinnten und ev. toxinhaltigen
Odemfliissigkeit stehen. So erklart es sich vielleicht, warum beson-
ders bei der Riickbildung neuritischer Lahmungen die unteren Ex-
tremitaten gegeniiber den oberen nach Zeitdauer und Vollstandigkeib
in einem Malie benachteiligt sind, das weder in der grosseren Weg-
lange der Fasern, noch in der starkeren Muskelatrophie, die wahrend
der langeren Leitungsunterbrechung naturgemaC eintritt, ausreichend
begriindet ist. Endlich liegt wohl in jenen anatomischen Verhalt-
nissen ein Teil der Ursachen dafiir, dass gerade bei der Ischias die
Fortdauer selbst geringer Schadlichkeiten geniigt, um die vollige Aus-
gleichung so ausserordentlich zu erschweren und dem Leiden die
Hartnackigkeit zu verleihen, welche seine Behandlung haufig zu einer
der undankbarsten Aufgaben des Arztes macht.
oo *
Digitized by
Goi igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
(Aug der Militar-Neryenklinik des 7. A.-K. „Mariabilf“ in Crefeld.)
liber fortschreitenden Mnskelschwund mit myotonoiden
Symptomen.
Von
F. Baake und 6 . Toss.
(Mit 2 Abbildungen.)
Die ungewohnliche und eigenartige Kombination verschieden-
artiger Storungen auf dem Gebiete des Muskelsystems recbtfertigt eine
ausfiihrliche Mitteilung des yorliegenden Falles, der uns vom Sanitats-
amt des VII. A. K. zur Begutacbtung zugewiesen wurde.
Johann M., 32 Jahre alt, war angeblicb vor seiner aktiven Milit&r-
zeit (1906—1908), von Kinderkrankheiten abgesehen, stets gesnnd. Wfth-,
rend der Dienstzeit bemerkte er, namentlich beim Exerzieren, eine Schwache
in beiden Unterschenkeln. Schleift seitdem beim Gehen mit den Fuss-
spitzen, vor allem links, Ober den Boden; tritt mit der Ferse auf; scbnelles
Gehen ist seit der Zeit unmOglich. 1910 gab er seinen Beruf als Schmied
auf, weil er nicht genug verdiente, wurde Bergmann. Tagelohn betrug
etwa 7 —8 Mark. Im Juli 1914 sollte er eine Ubung machen, wurde aber
davon befreit, weil er wegen einer Furunkulose im Krankenhause lag.
Am 2. VIII. 1914 wurde M. eingezogen, rttckte am 20. VIII. 1914
als Kanonier aus. Eonnte seinen Dienst wohl verrichten; doch machte
ihm das Heben und Tragen von Gesckossen Schwierigkeiten wegen einer
bis dahin nicht bemerkten Schwfiche in den Armen. Im Januar 1915 kam
er wegen eines Darmkatarrhs nach Speyer ins Lazarett. Rttckte, wieder-
hergestellt, im Juni 1915 zum zweitcnmal ins Feld; es zeigte sich aber
nach einiger Zeit eine dauernde Mattigkeit in den Beinen und eine zu-
nehmende Schwiche in den Armen und H&nden, so dass er schliesslich
kaum mehr etwas festhalten konnte. Im November 1915 wurde er in ein
Feld-Lazarett in Peronne eingeliefert; weshalb, weiss er nicht. Vielleicht
babe es damit in Zusammenhang gestanden, dass ihm ein Gelddiebstahl zur
Last gelegt wurde. In Peronne sowohl als auch im Kriegslazarett in
St. Qaentin stand er unter dauernder Bewachung. Von St. Quentin kam
er auf 3 Monate in die Heilanstalt zu Bedburg-Hau. (Krankenbl&tter aus
der Zeit fehlen; wiederholte Nachforschungen blieben ergebnislos, auch
waren Versuche, von den verschiedenen Lazaretten genauere Angaben Ober
die Art seiner damaligen Krankheit zu erhalten, ohne jeden Erfolg.)
Am 1. III. 1916 wurde er von Bedburg-Hau zum Ersatz-Bataillon
entlassen; 8 Tage spftter rttckte er zum drittenmal aus. Schon nach
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber fortechreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 331
einigen Tagen trat infolge der Anstrengungen die Kraftlosigkeit in den
Beinen and Armen wieder hervor. Nach etwa 14 Tagen bekam er in
einer Nackt 7 Ohnmachtsanfalle. Wenn er vom Pferde stieg, fiel
er einige Sekunden darauf bin and kam erst ganz allmahlich wieder zu
sicb. Auch in den nfichsten Tagen wiederholten sich die Anfalle; einmal
glitt er dabei vom Pferde and verstaucbte sich die linke Hand. Am 31.
III. 1916 wurde er wegen Yerdachtes auf Epilepsie in ein Feld-Lazarett
zu Nonart eingeliefert, von wo er sofort nach Mfiblhausen (Thfiringen)
transportiert wurde. Dort wurde zum ersten Male die Kraftlosigkeit der
Hfinde flrztlich festgestellt. In M. batte er mebrere Anfalle. Was wShrend
der Anfalle mit ihm geschab, wusste er nachher nicht mehr. Man erzablte
ihm spater, dass er immer Russen oder Franzosen gesehen und auf sie
gezeigt babe. Yon M. kam er in die Heilanstalt zu Pfafferode. Dort
wurden keine derartigen Anfalle beobachtet. Als noch „revierkrank“ wurde
er Mitte Juni 1916 zum Ers.-Bat. entlassen. In Karlsruhe, wo er beim
Flakzug 36 war, traten nach einiger Zeit die Ohnmachtsanfalle wieder auf.
Er wurde deshalb Ende Juli zur Beobachtung in das Res.-Laz. zu K. auf-
genommen. Dort bekam er dieselben Anfalle wie in Mfiblhausen. Un-
mittelbar nach dcm Anfall war die Erinnerung daran noch vorhanden,
bald darauf aber schwand sie. Er konnte damals die kraftig zur
Faust geballten Hande und den gescblossenen Mund nicht
schnell 6ffnen. Ende August wurde in K. das D. U.-Verfahren einge-
leitet und Mitte Oktober 1916 erfolgte seine Beurlaubung bis zur end-
gflltigen Entlassung. Hat dann zu Hause auf dcm Bergwerk fiber Tag in
einer Schmiede gearbeitet.
In Essen wurde Anfang Januar ein zweites milit&rarztliches Zeugnis
ausgcstellt und M. im Gcgensatz zum ersten Zeugnis, wo er als 25 Proz.
erwerbsunfahig bezeichnet wurde, als 15 Proz. erwerbsunfahig begutachtet.
Auf Befehl des Sanitatsamts VII. A.-K. wurde M. zur kommissarischen
Begutachtung der Militarnervenklinik des VII. A.-K. zu Crefeld fiberwiesen.
Am 21. II. 1917 erfolgte seine Aufnahme hierselbst.
Klagen: Kraftlosigkeit in beiden Handen, die, festgeschlossen, nur
mit Anstrengung geflffnet werden kOnnen. Bei krfiftigem Mundschluss
ist das Offnen ebenfalls sehr erschwert. Mitunter Kopfschmerzen und
Ohnmachtsanfalle, bei denen das Gesicht ganz blass wird und Brech-
reiz und Stuhldrang eintritt. Schwache und Abmagerung beider Unter-
schenkel. Schleppender Gang, dauernde allgemeine Mattigkeit.
Befund.
1,65 m grosser, ziemlich schmachtig gebauter Mann mit geringem
Fettpolster. Gewicht 61,5 kg.
Herz: Akzentuation des 2. Aortentons. Puls im Stehen 70 in der
Minute. Lungen o. B. Verdauung in Ordnung bis auf Mastdarmvorfall.
Blasentatigkeit regelrecht. Urin: frei von Eiweiss und Zucker.
Die oberen Augenlider hangen herab, wodurch das Gesicht einen
mfiden Ausdruck bekommt. Die unteren Augenlider stehen ebenfalls tiefer,
so dass sich dauernd Tranenflfissigkeit ansammelt. Starres, maskenartiges
Gesicht. Die Sprache ist naselnd, verwaschen; der Mund wird beim Spre-
chen nur wenig geOffnef. Bei fest geschlossenem Mund fallt das Offnen
schwer, es crfolgt langsam, geht jedoch bei mebrmaliger Wiederholung
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
332
Baakjs und Voss
Digitized by
leichter vor sich. Die linke Stirnb&lfte wird beim Sprechen dauernd hoch-
gezogen. Der Schftdel ist etwas breit geformt, der Umfang betr> 57,5 cm.
Scheitel and Stirnpartien auf Drack and Beklopfen leicht schmerzhaft.
— Stirnglatze. — Abstehende Ohrlftppchen and hober steiler Gaamen. —
Schlucken frei.
Papillen rund, gleicb weit, reagieren gat aaf Lichteinfall and An-
naherung. Augenbewegangen frei; leichte Einstellungszuckungen; Horn-
hautreflexe beiderseits herabgesetzt. Keine vermehrte Tranenabsonderung.
Kein Graefe. Zunge wird gerade vorgestreckt, ist belegt, zittert nicht.
Zungenbewegangen frei, jedocb verlangsamt. HflrvermOgen: Flfister-
spracbe recbts in 3 m, links aofgehoben. Gesichtsinnervation gleich-
massig, docli ungeschickt.
Chvosteksches Zeichen angedeutet. Kein Troasseaa.
Fibrillare Zuckungen wnrden nicht objektiv festgestellt. Nach An-
gabe des Kranken treten in der Ruhe an den Armen and Beinen, an der
Gesass- and Schaltermaskalatar Zackangen aaf („als wenn ein Ball am
Springen ware").
Beide Sternocleidomastoidei sind stark atrophiscb. Kraft und Wider-
stand der Halsmaskulatar gering, der Nackenmuskulatur dagegen gat.
SchilddrQse nicbt vergrdssert. Die Armmaskalatar, namentlich die der
Vorderarme, ist stark abgemagert, sehr verdfinnt ist der Brachio-
radialis. Hand- and Fingermuskulatnr dagegen ist nicht atrophiscb.
(Fig. 1.)
Umfang der Oberarme recbts 26, links 25 cm.
Umfang der Unterarme beiderseits 22,5 cm-
Kraft der Arme dem geringen Umfang.der Muskeln entsprechend, die
Kraft der Scbalterblattmuskulatar ist erhalten. Handedrack beiderseits
sehr schwach. Bewegungen in den grossen Gelenken frei; veranlasst man
M., die Hand fest zur Faust zu schliessen, so failt ihm die Offnung schwer,
sie erfolgt nur ganz langsam. Nach mehrfacher Wiederholung des Ver-
suches geht die Bewegung leichter von statten. Die Arme werden enter
leichtem Schwanken fiber 1 Minute gestreckt gehoben gehalten. Die Hande
sind feucht und fflhlen sich kQbl an. Morgens nach dem Aafstehen be-
steht meistens starke zyanotische Verfarbung der Nagelglieder samtlicber
Finger, die stundenlang anhalf.
MaBige Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme und der Waden.
Linke Gesassbacke schwacher entwickelt. Schulterblattstellung normal.
Leichtes Schwanken bei Fussaugenschluss. Steht nicht ganz sicher
auf jedem Bein einzeln, desgleichen failt ihm das langere Stehen auf einem
Fleck wegen beginnenden Schwindelgeftthls schwer. Der Gang ist behindert,
M. streift mit den Fussspitzen besonders links den Boden, tritt mit den
Fcrsen auf, der Fuss failt dann klappend herunter. Bei geschlossenen
Augen verschlechtert sich der Gang nicht. Aufrichtcn auf die Fussspitzen
ersebwert. Beide Beine werden im Liegen ohne -Zittern und Schwanken
1 Minute lang gestreckt gehoben gehalten, M. klagt dabei nicht fiber Er-
mfldung. Kraft und Widerstand der Obersehenkel mittelgut; Bewegungen
im Kniegelenk frei; Dorsalflexion beider Fttsse unvollstfindig. Widerstand
der Tibiales antici und Peronei sehr gering; Atrophie der Unterschenkel-
muskelu: die Gegend des Tibialis ant. ist rechts stark eingefallen. (Fig. 2.)
Beginnende Hohlfussbildung, besonders rechts.
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber fortschreitenden Muskelsehwuud ruit myotonoiden Symptomen. 333
Uinfang der Oberschenkel rechts 45, links 46,5 cm. (15 cm ober-
liulb des Kuicscheibenrandes gemessen.)
Uinfang der Waden beiderseits 32 cm.
Zielbeweguugen der Arme und Beine sicher. Beide Fttsse fahlen
sich kftbl’an und sind wachsartig weiss. Keine Skoliose Oder Lordose der
WirbelsSule.
Fig. 1. . Fig. 2.
Aufrichten atis RQckenlage erschwert. Geschlechtstrieb vorlianden,
elicr gesteigert Wassermanu im Blut negativ.
Sehmerz, Tast- und Temperaturempfindung Qberall erbalten. Lage-
verJinderungen der Finger uud Zebeu werden richtig wabrgenommen.
Kniesclieibenreflexe wechsclnd, mitunter regelrecbt, al»er meist
stark herahgesetzt, bei wiederholter Auslosung sicli erschOpfend.
Iieclits meist starker herabgesetzt.
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
334
Baake and Voss
Digitized by
Achillesreflexe recbts dauernd nicbt auszuldsen, links stark herab-
gesetzt, nur im Knien, bei herabh&ngender Fussspitze auslOsbar.
Fusssohlenstreichreflexe vorhandcn, vorflbergehend Babin ski nnd
Oppenheim rechts positiv. Rossolimo fehlt, Mendel-Bechterew dorsal.
Cremasterreflexe trttge. Bauchdeckenreflexe wechselnd; meist rechts schwa-
cher als links, biswcilcn waren die rechten unteren Reflexe nicbt nus-
zulOsen.
Biceps- nnd Tricepsreflexe rechts zuerst nicbt auszulOsen, spater
angedentet, links vorhanden, aber herabgesetzt, besonders der Bizepsreflex.
Radiusperiostreflex rechts nickt auszuldsen.
Auf psychischem Gebiet bestelit Stumpfheit und Gedachtnisschwache.
Bei Durchsicht der Akten failt anf, dass M. sich in seinen Ausserungen
haufig widerspricht. Auf der Abteilung schliesst er sich an keinen seiner
Kameraden an. Geht allein spazieren; mehrfach wurde beobachtet, dass
er sich, obwohl verheiratet, mit jungen Madchen umhertrcibt.
Elektrische :Untersuchung: Faradische Untersuclmng mit dem
Dubois-Ray mondschen Schlittenapparat.
Bei Reizung des N. radialis d. ext. sin. bei RA 120. stellt. sich eine
im Lanfe von 12 Sek. langsam bis zum HOhepunkt steigende Kontraktion
der zugehdrigen Muskeln ein, die nach Unterbrechung des Stromes in
etwa 7 Sek. langsam wieder schwindet.
MZ (Minimalzuckung) bei 132 beiderseits.
MZ des N. ulnaris beiderseits bei 133.
MZ des N. medianus d. bei etwa 127, des N. med. sin. bei etwa 130.
Deltoideus: MZ beiderseits bei 130.
Biceps: MZ beiderseits bei 145.
Bei Reizung des Biceps mit RA 120 tritt zunachst cine kraftige
Kontraktion ein. die bei Fortdauer der Reizung langsam nachlasst, aber
ohne zu schwinden (Mya. Ra.). Bei Reizung des Biceps mit Einzelscblageu
bei 110 im Rhythmus von ungefahr 2 Sek. tritt bis zu 50 Schlagen kein
erheblicbes Naclilassen ein.
Triceps: MZ bei 118.
Fingerstrecker: MZ bei 115, deutliche allmahliche Zunahme und dann
Naclilassen der Kontraktion. Hand- und Fingerbeuger: MZ bei 132 beider¬
seits. Daumenballen: MZ rechts bei etwa 112, links bei 115. Bei Reizung
<les Daumenballens beiderseits mit 110 tritt im Laufe von 14 Sek. sehr
langsam Steigerung der Kontraktion bis zum Hohepunkt ein.
Interossei: MZ bei 118 (normal bei 135).
MZ des N. femoralis beiderseits bei 125.
MZ des N. peroneus beiderseits 123.
Bei Dauerreizung des Vast. int. RA 125 erhalt man nach 20 Sek. deut-
liches Nachlassen unter Wogen und Flimmern des Muskels. Nach
40 Sek. noch starkeres Nachlassen der Kontraktion, die sich bei Unter¬
brechung des Stromes nach 1 Min. nur noch als ganz schwach erweist.
Tibialis ant.: MZ beiderseits zwischen 110 und 112.
Gastrocnemius: MZ rechts bei 120, links bei 115.
MZ des Rectus abdom. links bei 120, rechts bei 130, auffftllig lang-
same Erschlaffung. MZ des Obi. abd. extern, beiderseits bei 115.
MZ des Facialis-Stamms auf beiden Seiten bei 133.
MZ des obercn Astes beiderseits bei 134.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber fortschreitenden Mnskelschwund init myotonoiden Symptomen. 335
MZ des unteren Astes beiderseits 138.
Bei Reizang des R. ramus mentalis mit 145 tritt langsam Kontrak-
tiou auch der linken Kinnmuskulatur ein.
MZ des mittleren Astes beiderseits bei 125.
MZ des Masseter bei 135. Bei Reizung des Masseter stellt sich zu-
nfichst eine normale Eontraktion ein, die aber nach Unterbrechung des
Stromes fortbesteht und sich im Laufe von annfihernd 15 Sek. unter
Flimmern lost.
MZ der Zunge auf beiden Seiten bei 155. Bei Reizung mit 120
dauert die Eontraktion etwa 6 Sek. nach.
MZ des N. accessorius beiderseits bei 133.
MZ des Sternocleidomastoideus links bei 139, rechts bei 138.
MZ des Trapezius beiderseits bei 140.
Galvanische Untersuchung:
N. radialis: MZ bei 2—3 MA, blitzartige Zuckung.
N. ulnaris beiderseits: MZ bei 2 MA, blitzartige Zuckung.
N. medianus beiderseits: MZ bei 8 MA, blitzartige Zuckung.
Bei ESZ—MZ des Biceps bei 1—2 MA, blitzartige Zuckung, bei
ASZ—MZ bei 3 MA, gleichzeitig ASTe beiderseits.
Bei ESZ des Brachio-Radialis MZ beiderseits bei etwa 5 MA, fast gleich¬
zeitig auch Te; bei ASZ—MZ bei 7 MA und Te.
Bei Reizung des Daumenballens mit 5—7 MA erhalt man eine lang¬
sam zunehmende ton i sc he Eontraktion des Opponens, die allmahlich auf
die Flexoren dcr ttbrigeu Finger Obergeht, ebenso verhalt sich die Reak-
tion der Interossei.
MZ des N. femoralis beiderseits bei 2—3 MA.
ESZ > ASZ, blitzartige Zuckung.
MZj des N. peroneus beiderseits bei 2—3 MA, EAZ > ASZ, blitz¬
artige Zuckung.
Quadriceps (Vast, int.) beiderseits MZ bei 2 MA, blitzartige Zuckung.
Tibialis ant. MZ bei 10 MA, ASZ > ESZ, trage Zuckung.
Bei 15 MA erhalt man eine langsam anschwellende Eontraktion, die
wabrend des Durchtrilts des Stromes anhait und bei der Offnung massig
rasch aber nicht blitzartig verschwindel.
Gastrocnemius beiderseits MZ bei 7 MA, blitzartige Zuckung, ESZ
> ASZ.
Facialis-Stamm beiderseits MZ bei 7—8 MA, blitzartige
Zuckung, ESZ > ASZ.
MZ der Aste beiderseits bei 4—5 MA.
MZ der Zunge bei 3—4 MA, blitzartige Zuckung.
MZ des Accessorius beiderseits bei 2—3 MA, blitzartig.
Sternocleidomastoideus MZ bei 2 MA beiderseits, ESZ > ASZ. Von
einer 3 cm unterbalb seines Reizpunktes gelegenen Stelle erhalt man bei
annahernd 4 MA—ES Te, vom Reizpunkt selbst aus ist kein Te zu
erzielen.
Im Trapezius beiderseits nicht ganz blitzartige Zuckung; MZ bei
2—3 MA; bei starkeren StrOmen ist das langsame Ansclnvellen dcutlich
zu sehen.
Die von Professor Monckeberg-Strassburg vorgenommene mi-
Digitized by
Go gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
336
Baake und Voss
kroskopische Untersuchung exzidierter Muskelstiicke ergab folgenden
fiefand: >
1. Tibialis anticas: Schwere atropbische Ver&nderungen, namentlich
Kaliberdifferenzen der Fasern und starke Kernvermehrung. Querstreifung
ist stellenweise verloren gegangen. Degenerationen feblen.
2. Deltoideus: Geringe Kaliberdifferenzen innerhalb normaler Grenzen.
Querstreifung Qberall deutlich vorhanden. Keinerlei degenerative Vorgauge
an den Muskelfasern, aber entschiedene Vermehrung der Muskelkerne.
Zusammenfassung.
32jahriger Mann, durch Tuberkulose erblich belasfcet; yon zwei
jiingeren Briidern litt der eine an Idiotie, der andere an Schwachsinn
mit fortschreitender Lahmung beider Beine und Klumpfussbildung.
Seit der aktiven Militarzeit yor 10 Jahren leichte Schwache in beiden
Unterschenkeln. Sonst kraftig und gesund (Hufschmied). Seit 1915
allmahliche Abnahme der Kraft, auch der Hande, dazu seit Juli 1916
Erschwerung der Hand- und MundofFnung (myotonische Spannung);
seit Marz 1016 Ohnmacbtsanfalle.
Befund: Starke Atrophie der Unterschenkel, Vorderarme und
— weniger ausgepragt — der Halsmuskeln. Mechanisch und elek-
trisch myotonische Beaktion. Herabsetzung der elektrischen Erreg-
barkeit und Entartungsreaktion in einzelnen Muskeln. Andeutung yon
myasthenischer Reaktion. Facies myopathica. Herabhangen der oberen
und unteren Augenlider. Leicht verwaschene Sprache. Sehnenreflexe
herabgesetzt, zum Teil fehlend, yoriibergehend Babinski und Oppen-
heim positiv. Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstamme, Zyanose
der Hande.
Auf psychischem Gebiet Stumpfheit, Gedachtnisschwache, ethischer
Defekt. Anfalle yon anbestimmtem Typus.
Mikroskopisch in den Muskeln keine Hypertrophie der Primitiv-
fasern, wohl aber atrophisehe Vorgange mit Vermehrung der Sarko-
lemmakerne.
Der hier geschilderte Fall reiht sich zwanglos jener Gruppe an,
die man neuerdings als Myotonia atrophica zusammengefasst hat.
Hoffmann, Pelz, Curschmann, Steinert und andere Forscher
beschreiben das Krankheitsbild, dessen Hauptziige wir kurz dahiu
zusammenfassen konnen: Myotonische Storungen der Willkurbe-
wegungen, hauptsachlich beim Faustschluss, elektrisch und mechanisch
myotonische Veranderung der Erregbarkeit in verschiedenen Muskel-
gruppen, daneben myatrophische Erscheinungen im Gesicht, den
Halsmuskeln, am starksten in der Vorderarm-, Hand-, Unterschenkel-
und Fussmuskulatur. Auserdem aber wurden Storungen beobachtet,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
fiber fortschreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 337
die iiber den Rahmen der Myotonie and Dystrophie hinausgehen: friih-
zeitiges Schwinden der Sehnenreflexe, auch in Mnskeln, die nicht er-
heblich dystrophisch sind, in anderen Fallen spastische Erscheinungen
(Babinskisches Zeichen). Ala Hinweis auf die spezifisch familiar-heri-
ditare Grundlage lasst sich in manchen Fallen eine Befceiligung der
Geschlechtsfunktion (Impotenz) mit Hodenatrophie, ferner Friibstar
nachweisen. Von einigen Autoren wird auf die atiologischen Be-
ziebungen zum innersekretoriscben System binge wiesen, die sicb in
Erscbeinnngen von seiten der Scbilddrdse' usw. aussern (Graefesches
Zeicben, Facialispbanomen, tropbiscbe Storungen).
Die Mebrzabl der Forscber legt bei der Beschreibung des Krank-
heitsbildes den Hanptnachdmck auf die myotonischen Symptome.
Hauptmann, der neuerdings an der Hand einer eigenen Beob-
achtung die Frage ausfiihrlich erortert hat, will in dem gescbilderten
Krankeitsbild ein selbstandiges, zu den heredofamiliaren Erkrankungen
gehorendes Leiden erblicken, das weder der Dystrophie angehort,
nocb aucb als reine Myotonie mit binzutretenden atrophischen Er¬
scheinungen angeseben werden darf.
Legen wir nns die Frage vor, inwieweit unser Fall mit den bis-
herigen Schilderungen ubereinstimmt, so konnen wir in ibm fast alle
typischen Erscheinungen wiederfinden. Er bestatigt die Berecbtigung
der Aufstellung einer besonderen Gruppe durchaus.
In erster Llnie steht die bereditare Belastung. Aus dem bei-
gegebenen Stammbaum seben wir die unheilvolle Wirkung der Tu-
berkulose, die vaterlicherseits in zwei Generationen der Erzeuger
bestand. Drei Geschwister des M. leiden an eigentiimlichen Nerven-
krankbeiten: ein jiingerer Bruder an Idiotie, ein zweiter ist an fort-
schreitender Labmung der Beine mit Klumpfussbildung und Betei-
ligung der Spbinkteren gestorben. Eine Scbwester hat merkwiirdige
Schlafzustande durchgemacht, ist geistig und korperlich minderwertig.
Im augenblicklicben Krankheitsbilde des M. finden wir die myo-
tonische Storung der Willkiirbewegung und die abweicbende Form
der Reaktion neben den atrophischen Erscheinungen, die Gesichts-,
Hals-, Vorderarm- und Unterschenkelmuskeln in erster Linie betreffen.
Es ist keinwesentlicher Unterschied gegeniiber den friiher be-
scbriebenen Fallen, dass die Handmuskeln bisber unbeteiligt sind,
wahrend die Vorderarm- und Unterschenkelmuskeln sehr erbebliche
Abmagerung zeigen.
Ebensowenig berechtigt das Schwinden der Sehnenreflexe unseren
Fall von den bisberigen abzutrennen, bei denen Hinterstrangbeteiligung
mebrfacb angenommen werden konnte. Weniger leicht einzuordnen sind
die spastischen Erscheinungen, vor allem das —wenn auch nurvoriiber-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
338
Baake und Voss
gehend — sicher beobachtete Babinskische und Oppenheimsche
Zeichen. Doch finden sich auch darauf Hinweise, in dem yon Stocker
beschriebenen Fall, der neben Hinterstrangerscheinungen ebenfalls
spastische Storungen aufwies.
So sind wir mit der Einordnung unseres Falles in die yon den
genannten Forschern geschaffene Sondergruppe durcbaus einverstanden.
Wir mussen uns aber scharf gegen die Subsummierung unseres und
der ibm ahnlichen Falle unter die myotonischen Erkranknngen wenden.
Auch Hauptmann will nichts yon diesem nosologischen Zusammen-
bang wissen, trotzdem behalt er die, wie uns scheint, irrefiihrende
Bezeichnnng der „atrophischen Myotonie" bei. Was gibt dazu die
Berecbtigung? Doch einzig und allein das Vorliegen der geringfugigen
myotonischen Storungen, die nocb dazu meist nur den Faustschluss
betreffen. Das Vorliegen der Myo. R. ist nicht an die Thomsensche
Krankheit gebunden: sie kommt, ebenso wie die myotonische Stoning
des Faustschlusses, rein symptomatisch yor. Ich erinnere an die
Beobachtungen von Rindfleisch und Schlesinger, die bei Syringo-
myelie ihr Vorkommen feststellten. Augenblicklich liegt auf meiner
Abteilung ein Fall yon Syringomyelie mit Krallenhandbildung und
deutlicher Myo. R. im Daumenballen. Kleist hat myotonische Er-
scheinungen bei Kleinhirnerkrankungen gesehen und ihre Entstehung
auf ein Ergriffensein der zerebellaren Systeme zuriickgefuhrt. Scbliess-
licb sind auch bei Myelitis myotonische Erscheinungen beobachtet
worden.
Nun liegt in unserem Falle ein recht wohlcharakterisiertes Krank-
heitsbild vor: Fehlten die myotonischen Symptome, so wiirde an seiner
Zugehorigkeit zur Dystrophie kaum ein Zweifel auftauchen konnen.
Gewiss ist die Verteilung der Atrophien ungewohnlich, doch erinnert
sie an die neurale Form der Dystrophie, bei der bekanntlich Unter-
schenkel und Vorderarme zunachst und am starksten erkranken. Auf
die Beteiligung der Nervenstamme deutet auch die Druckschmerz-
haftigkeit der Nervenstamme, die Herabsetzung der Erregbarkeit in
den Nerven und die Ea. R. in den sehr atrophischen Streckern des
Fusses. Auch das Vorkommen von Hinter- und Seitenstrangsymptomen
kann zum Bilde der neuralen Formen gehoren; daher stammt die
von Bernhardt vorgeschlagene Bezeichnung „spinal-neuritiscbe“
Muskelatrophie. In dem von Klieneberger beschriebenen Falle finden
sich die neuritischen Storungen sehr deutlich ausgepragt, so dass er
mit Recht von einer Mi sc hung der Dystrophie mit Neuritis spricht.
Aus dem Rahmen dieser beiden Erkrankungen fallen beim Krankeu
Klienebergers die Spontankontrakturen heraus, die ihn zu der
Annahme eines Hinzutretens der Myotonie, allerdings ohne typische
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber fortschreitenden Muskelschwund rait myotonoiden Symptomen. 339
p © • m
© cd— «><«-«%* S
•a 0 nS © ^ 2
©^ 3,0 cJ PiP P
+Z © r0 C - q>
-a £ £ So a
©.0 ® p
Sci^rT^fl©^
i _r1 -*-* • i -m • • i i t1
earn t*©©®©©©*-*;;
2 o S)Si-i-S ® S © g
x bh # tr
So tf S«. 2 sW«S
d-S S'v « ® * 0'S *
yfl ® 5 5.3 ^ © „ ® p o *~
S’w .2 ^jptcr an^a
© V° S ©-^-S^cs^E©®©©
03 <*m .SoW-S’E E'S-Sca Sts
® *'
*. ®3 . £
§>|-s 2.2
•S-g s j? £
^CO -®
~c M c ©
a © © a i
© P a tr© ©
ti ns :© •* £ c
2 © © ^ ©ns
S g'S g cM
NPSnsc/}
^ SrS g | Sols sl .2 ® A* SP.
•sl c»w©^ S-S C«◄ i-^'Sg *«'
® p © 1 ^ Q< © ^ ^ >P X;.©r| flQ c n’
© •'j n ® © 3 ® . 2.2 ^ 0 © © © .2 ■
gJ3.2 § g ® o.S J 2 ® £ ®3 «‘^'2
,3 0 ^ *“■»—i .2 -0 -2 k> 53 .2 0 _p © ®irf.£ c *2 *-•
W*“ 5 >~ifcipH©©CQ^ © *0 © ® Jid S M '—
•— zz r: . . uj
© *0 © « M rH M
p • ^ ® , ■ H •
0) -0 H fl CD « cjp
tog a A ®W>xi.
© 2 © - 2:2 *3
js~.£f§s m 3
LP £ , =N 'H p " Z 3
nn -■ ^ •*- N ® -•-* 0 ® •
£© 2 * 0 cn©P® -M gfS j* ©
S.9 “oq g-3 2 § d-g a » 5 2 o l
M ® «h^M i ® ns £
a v qq -p i i
^ 0 © © ±I t3 0 0 o ^ .
2 £-0 © £ © p *0 ^ :p £ kC
P p © sP 03 ^ 0 © t-P p n
*g ©0,0 * % „ be® £ §
« ®5«'£^'^So®’Sa
I®^sl«as-sg 8 na
CO ^ ,a -h nS © u.
2
© © 0
a ns ©
•^-< ns
© ^ •—•
o-T ©
'a
© Sv ©
^ %>*c
-Jo a
© _- — 1
2 o «
2 5 fe
« j-i
© 0
CJ co rt
s-g i —
2 o^ —
a-9^5
§
i <n a
© © © jJ_
© > ^ *
„ a n3
ns © *g ^ O
p -2 cirW
® 0 >r p
©►■VS^rH
O co pn _
"C r - i+-
0 £ ©
g -0 -g c: c 0
b .^-8 i-sia
f-SMSW-o
s-1? .2
; I £ a a a ,
- 5b S o ni © © p
.£ 2^^« a
1 2 's w J
.-“J a
> © QO fl © Jf i?
5 N O .0 -m J/}
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
340
Baake und Voss
Myo. R., veranlassten. Das Auftreten dieser tonischen Spannungen
erinnert sehr an die Beschreibung, die Stocker yon seinem Falle
gibt. Wir mochten auch hier an die moglichen Beziehungen zu Sto-
rnngen in der Kleinbirnfanktion erinnern.
m
Bei der echten Myotonie finden sich typische Veranderungen in
den Mnskeln; eine hochgradige Vergrosserung der Primitiyfasern ist
die Regel. Um unseren Fall auch nach dieser Richtung hin moglichst zu
klaren, baben wir Muskelstucke aus dein Tibialis ant. und dem Deltoideus
untersuchen lassen 1 ). Diese Muskeln warden gewahlt, da einerseits
die Fassstrecker am starksten atrophiert waren, und andererseits der
Deltoideus seinen Umfang anscheinend vollig bewahrt hatte. Der
Gegensatz zwiscben dem Deltoideus und der Ober- und besonders der
Vorderarmmuskulatur war so auffallig, dass von Vorgutacbtern die
Schultermuskeln als hypertropbisch-myotonisch geschildert wur-
den. Die mikroskopische Untersuchung ergab nun nicht die geringsten
hypertrophischen Erscbeinungen; im Tibialis anticus bestand eine fortge-
schrittene Atropbie mit starken Kaliberdifferenzen und Kernvermeh-
rung ohne degenerative Vorgange, aber mit teilweisem Verlust der
Querstreifung. Im Deltoideus fand sich keine Atrophie, wohl aber
Kernvermebrung, die wohl als Beginn des Krankheitsprozesses ange-
sehen werden darf. »
So gibt uns auch der mikroskopische Muskelbefund nicht die
geringsten Anhaltspunkte fur die Annahme echter myotonischer Ver¬
anderungen. Vielmehr bewegen sich die Abweichungen im Rahmen
gewohnlicher atrophischer Prozesse im Muskel, wie wir sie in be-
stimmten Stadien der progressiven Muskelatrophie zu finden pflegen.
Vor allem aber spricht die Entwicklung der Krankheit gegen
jede echt myotonische Grundlage. Wir sehen, dass die Erkrankung
mit einer Schwache in den Unterschenkeln begann. Erst nach vielen
Jabren gesellten sich die myotonischen Storungen binzu, obne einen
grosseren Umfang oder einen hoheren Grad zu erreichen. Schon
diese Beschrankung auf einzelne Muskelgruppen spricht gegen die
Uberscbatzung ihrer nosologischen Bedeutung. Die myotonischen,
vielleicht mit Higier besser als „myotonoid“ zu bezeichnenden, Sto¬
rungen scheineu besonders in jenen Muskeln aufzutreten, die physio-
logisch unter starkerem Tonus stehen, wie die Beuger der Finger
gegeniiber den Streckern.
Wir wollen keinen besonderen Nachdruck darauf legen, dass die
1) Fiir die Ausfuhrung der mikroskopischen Untersuchung sprechen wir
Herm Professor Monckeberg-Strassburg unseren besten Dank aus.
Digitized by
Gck igle
Original trcm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Uber fortschreitenden Muskelschwund mit myotonoiden Symptomen. 34 1
echte Myotonie meist familiar auftritt. Die in unserem Falle vor-
liegende Belastnng aussert sich mehr nacb der Richtung psychischer
Abweichungen (Schwaehsinn) and fortschreitender Lahmung. Der eine
Bruder des M. zeigte Lahmung mit Klumpfussbildang, die immer-
hin an die neurale Form erinnert.
Schliesslich ware noch auf die bei unseren Kranken beobachteten
Anfalle hinzuweisen. Im Bilde der nenralen Moskelatrophie sind
Anfalle beschrieben worden, deren Zugehorigkeit zum Krankheitsbilde
Oppenheira allerdings nieht fur erwiesen halt. Auch wir sehen in
ihnen nur einen Hinweis auf die schwere, erblich-degenerative Grund-
lage der Erkrankung, die nicht als Affektion des Muskelsystems auf-
zufassen ist, sondern als Ausdruck einer Minderwertigkeit des ge-
samten Nervenapparates(Hirn, Riickenmark, periphere Nerven) m i t
Einschluss des vegetativen Systems. Auf eine Beteiligung der en-
dokrinen Driisen weisen die Storungen der Geschlechtstatigkeit(lmpo-
tenz; in unserem Falle war eher eine Steigerung anzunebmen), die Te-
taniesymptome (Chvostek), das Graefesche Zeichen, die trophischen
und vasomotoriscben Storungen bin. Auf das Vorliegen einer Katarakt-
bildung ist unser Fall leider nicht untersucht worden. Die Haupt-
mannsche Arbeit karn uns erst nach Entlassung des M. zurKenntnis.
Wir mbchten unsere Auffassung des vorliegenden und ahnlicher
Falle dahin zusammenfassen:
Es handelt sich um eine heredo-familiare Erkrankung, die der
neuralen Form der Muskelatrophie nahestehen kann, ausserdem aber
eine Beteiligung der Riickenmarks-(Hinterstrange) und hbherer Zentren
(Kleinbirn, supranukleare Ganglien?) zeigt. Die mvotonischen Er-
scheinungen treten rein symptomatisch in diesem Bilde auf; sie
sind entweder im Sinne Jollys als ein besonderer Ausdruck der Ent-
artung des Muskels, uder aber als Innervationsstorungen zentraler
Natur (Kleinhirn — Kleist) aufzufassen. Mit der echten Myotonie
baben diese brtlichen Erscheinungen nichts zu tun; die von Higier
vorgesehlagene Bezeichnung „myotonoid“ ist durchaus angebracht,
um den Gegensatz zu der Thomsenschen Krankheit hervozuheben.
Wir lehnen daher die Bezeichnung „atrophische Myotonie 1 * fiir diese
Erkrankung ab und schlagenvor, sie als „fortschreitenden Muskel¬
schwund mit myotonoiden Symptomen" der Gruppe der Dystro-
phien zuzurechnen.
Literatur.
Hauptmann, Die atrophische Myotonie. Diese Zeitschr., Bd. ’>5 (atis-
fiihrliche Beeprechung der letzten Arbeiten).
Digitiz^o by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
342 Baake und Voss, Uber fortschreitenden Muskelschwund usw.
G. Voss, Zur Frage der erworbenen Myotonien und ihrer Kornbination
wit der progressiven Muskelatrophie. Diese Zeitachr., Bd. 34.
O. L. Klieneberger, Zur Frage der Kornbination der Muskeldystrophie
mit anderen Muskelerkrankuugen. Arch. f. Psycbiatrie u. Nervenkrankheiten,
Bd. 51.
Higier, Uber die klinische und pathogenetische Stellung der atrophischen
Myotonie usw. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., Orig.-Bd. 32, 247.
Stdcker, tjber Myotonie an Hand eines recht eigenartigen Falles von
Myotonie. Diese Zeitschr., Bd. 32, 337.
Opponheim, Lehrbuch, 6. Aufl., Bd. I, 326.
Go i igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Besprechungen.
1.
Mikroskopischer Atlas des menschlichen Gehirns. Herausgegeben
von Prof. I)r. G. Fuse (Sendai in Japan) und Prof. Dr. C. v. Mona-
kow (Zttrich). Verlag von Or ell Fussli in Zdricli. 1916. Liefe-
ruiig 1. Preis 20 M.
Die erste Lieferung dieses gross angelegten Tafelwerkes, welches
unzweifelhaft das Vollkonimenste ist, das auf dem Gehietc der bildlichen
Darstellung der feineren Verbiiltnisse des menschlichen Gehirns bisher ge-
leistet worden ist, entlialt fftiif Abbildungen von Durcbscbnitten durch die
Oblongata von der llOhc der Pyramidenkreuzung an bis zum Beginn der
BrOcke. Die Tafeln sind 50:62 cm gross und geben ein vdllig natur-
getreues Bild aller bei 40father VcrgrOsserung ini gefarbten Pr¶t
sichtbaren Fasern und Zellen. Um die Fascrdctails in klarer Weise zur
Darstellung zu bringen, wurden als Vorbilder Schuitte aus der Oblongata
eines einjahrigen Kindes gewablt. Durch das genaue Studium der Pr&-
parate und durch ibre Vergleicbung mit Praparaten von sekundaren De-
generationen wurden auch versebiedene wichtige neue Einzelheiten gefunden,
so insbesondere Ober den Seitenstrangkern, die Formatio reticularis die
Substantia gelat. Rolandi, die verschiedenen Abscbnitte der Nucl. graciles
und cuneati u. a.
Das Werk ist ein ausgezeicbnetes Hilfsniittel bei patbologisch-ana-
tomiseben Studien. Iloffentlich lasseu die weiteren Dieferungen niebt all-
zulange auf sieli warten. A. StrQmpell.
2 .
Sclnveizer Arehiv fQr Neurologie und Psycbiatrie. Redigiert von
C. v. Monakow. Bd. I. Heft 1. Zurich, Orell Fttssli. 1917.
Dicse neu gegrQndete neurologisch-psycbiatrisebc Zeitscbrift soli das
offizielle Organ der Sclnveizer. neurol. Ge«ellschaft sowie des Vereins
sclnveizer. Irrcn&rzte sein. Sie ist ein Anzeicben daftlr, mit wie grossem
Eifer und Erfolg die Neurologie und die Psycbiatrie in der Schweiz be-
tricben werden. Entsprecbend der Zusammensetzung des Schweizer Volkes
ist auch die Zeitscbrift in ihrem Titel und in ihrem Inhalt eine mebr-
sprachige. Die Arbeiten kfinnen in deutseber, franzosiseber und italienischer
Sprache verOffentlicbt werden. FQr den Wert der Arbeiten bflrgen die
Namen des Ilerausgebers und seiner Mitredaktorcn (Bing-Basel, Min¬
kowski- ZOricb und Naville-Genf far den neurologiscben Teil, Weber-
Genf und H. Maier-Ztlricb ftlr den psyebiatriseben Teil). Das vorliegende
Deutsche Zeitscbrift f. Ncrvenheilkunde. Bd.57. 23
Digitized by
v Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
344
Besprechungen.
Digitized by
Heft enthalt interessante Beitr&ge von Dubois (Somatogene ou psycho¬
gene), von Bleuler (McndelismuS bei Psychosen, speziell bei Schizophre¬
nic), von D ft ring (Etude anatomique d’une parapar6sie spastique congeni-
tale), von Brun (Zur Kenntnis der Bildungsfehler des Klein hirns), von
Egger (Le tonus statique et son role en pathologie nerveuse) und von
Hisakiyo Uemura (Pathologisch-anatomische Untersuchungen hber die
Verbindungsbahnen zwischen dera Kleinhirn und dem Hirnstamm). Den
Schluss des Heftes bilden Versammlungsberichte und Referate.
Das einffthrende Vorwort von v. Monakow enthalt die Satze: „il me
semble de plus que ce sera a nous neutres qu’appartiendra apr£s la guerre
le grand devoir d’essayer de renouer les liens scientifiques entre les nations
que la guerre aura s6par£es. La position centrale de la Suisse semble
l’indiqucr tout specialement pour l’accomplissement de cette belle oeuvre
de reconciliation dans le domaine de la science." Moge diesem Wunsch
ein guter Erfolg beschieden sein! A. Strftmpell.
Go i igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Zeitschriftentlbersiclit.
Archiv fUr Psychiatric und Nervenkrankheiten.
Redigiert von E. Sieraerling. Berlin 1917.
Band ®7 9 Heft 8*
Die Bedeutung der Spirochfttenbefnnde im Gfehirn von Paralytikern.
Von Prof. Dr. Raeckel. Nicht irgend welehe riitselhaften metasyphilitischen
Toxine, sondern die Spirochiiten selbst bedingen die lokalen entziindlichen
Veranderungen ira Gehirn, die der Paralyse zugrunde liegen. — Uber ange-
borene Kleinhirnstorungen. Von Dr. W. Beyerman-Leiden. Ausffihrliche
Krankengeschichte von 8 Fallen kongenitalen Kleinhirnraaugels. Keine Autop-
aie, aber sehr genaue klinische Untersuchung. — Multiple Sklerose und Un¬
fall* Von Ernst Maschraeyer-Gottingen. Eingehende Erorterung der Frage
auf Grand uml’assender Literaturstudien und eigener Erfahrungen (8 Fiille aus
der Gottinger Nervenklinik, die ihr Leiden auf einen Unfall zuriickfuhrten).
Im allgemeinen kommt Verf. zu einem inehr ablehnenden Ergebnis. In
hfichstens 5—10 Proz. ajler Fiille von Scler. mult, liegt die entfernte Mbglich-
keit eines Zusammenhangs zwischen Traumen und Krankheit vor. — Experi¬
mented Untersuchungen fiber die Assoziationen bei Gehirnverletzten. Von
Dr. E rich Stern-Strassburg i. E. Eingehende Assoziationsversuche an 18
Hirnverletzten und zum Vergleich hierzu an 6 Neurotikern und 6 Norinalen.
— Cber psychogene „lscbias- u , „Rheumatismus“- und Wirbels&uleerkran-
kungen. Von Dr. M. Raethel-Bonn. Zuriickweisung der Schanzschen „In-
sufficientia vertebrae". Mitteilung zahlreicher Fiille hysterischer Erkrankung
mit dem anscheinenden Krankheitsbilde einer Ischias Oder eines Muskelrheu-
matismus, Meist rasche HeiluDg durch entsprechende psychische Behand-
lung. — Die Krankheit Lenaus und Byrons. Von Dr. med. et phil. F. Kami*
giesser-Braunfeld. Wahrscheinlich Paralyse. — Erschopfungspsychosen bei
Kriegsteilnehmern mit besonderer Berficksichtigung der D&mnierzust&nde.
Von Flelenefriederike Stelzner-Innsbruck. Verf. beobachtete ziemiich
haufig reine psychotische Erscliopfungszustiinde in der Form von halluzina-
torischer Verwirrtheit, tobsiichtigen Delirien, iingstlicher Melancholie und
Dammerzustiinden. In reinen Fallen trat nach 2—12 Wocben vollige Heilung
ein. Infektionen und Intoxikationen spielen zuweilen eine begleitende Rolle.
— Studien fiber die progressive Paralyse* Von Dr, F. Jahnel. Mitteilung
fiber die Technik des Spirochatennachweises. — Paul Flechslg zum 70. Ge-
burtstag* Von E. Siemerling. A. Strfimpell.
23*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
346
Zeitschriftenubersiclit.
Digitized by
Monatsschrift fUr Psychiatric und Neurologic.
Herausgegeben von Prof. Dr. K. BonhOffer.
Band 41,' Heft 6 (Jnli 1917).
Seelert, Hans, Berlin, Untersnrhnng der Familienangehdrigen tom
Paraljtikern und Tabikern auf Syphilis und damlt znsammenh&ngende
nervose Slbrungen nnter besonderer Beriicksicbtigiing des Infektionster-
mins dieser Pnraljtiker und Tabiker. An der Hand eines Materials von
40 Kranken werden Sehlussfolgerungen gezogen, die im Original nachzu-
lesen sind.
Bimbauin, Karl, Berlin, Klinische Sclnvicrlgkeiten im Psycbogenle-
gebiet. Zu kurzem Referat nicht geeignet.
Kohnstamm, Oskar, Konigstein im Tan nils, C T ber das Krankheitsbild
der retro-anterograden Amnesie und die Unterscbeidnng des spontaaen
und des lernenden Merkens.
Bonhoeft’er, K., Berlin, Uber die Abnahme des Alkoholismus w&hrend
des Krieges. An der Hand der Berliner Krankengeschichten wird die Ab¬
nahme des Alkoholismus bestatigt.
Forster, Berlin, Die staatllcheu Hell* und Pflegeanstalten sind docb
nur bessere Strafanstalten nnd GefHngnisse (eine ofFentlioh ausgesprochene
richterliche Ansicht).
Band 42, Heft 1 (JuHH)l7).
Gregor, A., Leipzig, Uber Yerwahrlosungstypen. Gregor stellt ver-
schiedene Gruppen von Verwahrlosung auf und holft, dass das hier aufgestellte
Themaden wesentliehcn Forderungen der Fiirsorgeerziehung entspreelien durfte.
Siehert, II., Libau, Zur Klinlk der Geschwisterpsychosenanscheiuend
exogenen Ursprungs. Zu kurzem Referat iiieht. geeignet.
Bonlioeffer, K., Granatfernwirkung nnd Kriegshysterie.
Jahnel, F., Frankfurt a. M„ Uber Spiroehtttenbefunde in den Stamm*
ganglien bel Paralyse. Auf Grund von Fallen mit mikroskopischer Unter-
suchung und mikrophotograpliisdien Aufnahmen.
Band 42, Heft 2 (August 1917).
De Crinis, Max, Graz, Uber die Indernng des Serumeiweissgehaltes
unter uormalen und palhologiscben Yerhiiltnissen. Die genauen Schluss-
folgerungen sind in der Arbeit selbst naelizulesen.
Licen, E., Triest, BeitrUge zur Histopathologieder Schnssverletznngen
des BQckenmarks.
Engler, Bertha, Uber Analpbabetia partialis (kongeuitale Wort-
blindhoit). E. Ebstein.
Go i igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Go 'gle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Digitized by
Go ogle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
r
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA