INNEN DES NERVEN- UND SEELENLEVENS.
EINZEL -DABSTEL LUNGEN
Z GEBILDETE ALLES STÄNDE.
E MIT HERVORBAGENDEN FACHMÄNNERN DES IN- UND AUSLANDES
HER AUSGEO EBEN YON
Dr. L. LOEWENFELD
Dr. H. KURELLA
WIRTHSCHAFT UND MODE.
EIN BEITRAG ZUR THEORIE
MODERNEN BEDARFSGESTALTUNG.
WERNER SOMBART.
WIESBADEN.
VERLAG YON J. F. BERGMANN.
1902.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
Einzel-Darstellungen
für
Gebildete aller Stände.
Im Vereine mit hervorragenden Fachmännern des In- und Auslandes
herausgegeben von
Dr. med. L. Loewenfeld und Dr. med. H. Kurella
in München. in Breslau.
Somnambulismus und Spiritismus. (Heftl.) Von Dr. med. L. Loewenfeld
in München. M. 1.—.
Funktionelle und organische Nervenkrankheiten. (Heft II.) Von Professor
Dr. H. Oberstein er- Wien. M. 1.— .
Ueber Entartun g. (Heft III.) Von Dr. P. J. Möbius in Leipzig. M. 1.— .
Die normalen Schwankungen der Seelenthätigkeiten. (Heft IV.) Von
Dr. J. Finzi in Florenz, übersetzt von Dr. E. J entsch in Homburg v.d.H.
M. 1.-.
Abnorme Charaktere. (Heft V.) Von Dr. J. L. A. Koch in Cannstatt.
M. 1.—
Wahnideen im Völkerieben. (Heft VI/VI1.) Von Dr. M. Friedmann,
Nervenarzt in Mannheim. M. 2.—.
Ueber den Traum. (Heft VIII.) Von Dozent Dr. S. Freud in Wien.
M. 1.-.
Das Selbstbewusstsein. (Heft IX.) Empfindung und Gefühl. Von Professor
Th. Lipps in München. M. 1.— .
Muskelfunktion und Bewusstsein. (Heft X.) Von Dr. E. Storch in Breslau.
M. 1.20.
Die Grosshirnrinde als Organ der Seele. (Heft XI.) Von Professor
Dr. Adamkiewicz in Wien. M. 2.—.
Für die nächsten, in zwangloser Reihenfolge erscheinenden Hefte,
liegen u. a. folgende Arbeiten vor:
Kurella (Breslau). Ueber Begabung für Kunst und Wissenschaft
weil. Carl Lange (Kopenhagen). Sinnesgenusse und Kunstgenuss.
Schuppe (Greifswald). Das Grundproblem der Psychologie.
H. Sachs (Breslau). Gehirn und Sprache.
Na ecke (Hubertusburg). Ueber moral insanity (moralisches' Irrsein),
v. Bechterew (St. Petersburg). Ueber psychische Kraft.
Eulen bürg (Berlin). Sexual pathologische Fragen. I. Sadismus und
Masochismus.
GRENZFRAGEN
DES
NERVEN- UND SEELENLEBENS.
EINZEL-DARSTELLUNGEN
FUB
GEBILDETE ALLER STÄNDE.
IM VEREINE MIT HERVORRAGENDEN FACHMÄNNERN
DES IN- UND AUSLANDES
HEBAU8GEGEBEN TON
Dr. med. L. LOEWENFELD und Dr. med. H. KURELLA
IN MÜNCHEN. IN BBESLAU.
ZWÖLFTES HEFT:
WIRTHSCHAFT UND MODE.
EIN BEITRAG ZUR THEORIE
DER
MODERNEN BEDARFSGESTALTUNG.
VON
WERNER SOMBART.
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1902 .
WIRTSCHAFT UND MODE.
EIN BEITRAG ZUR THEORIE
DER
MODERNEN BEDARFSGESTALTUNG.
WERNER SOMBART.
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1902.
Alle Rechte Vorbehalten.
Druck von Carl Ritter in Wiesbaden.
Vorbemerkung.
Das Werk 1 ), dem die folgenden Blätter entnommen sind, hat es
sich zur Aufgabe gestellt, ein Bild vom Werden und Wesen der ge-
sammten wirtschaftlichen Kultur unserer Zeit zu geben. Dazu ist es
selbstverständlich notwendig, die Wandlungen in der Vorstellungs- und
Empfindungswelt der Massen, soweit sie einen ursächlichen Zusammen-
hang mit dem Wirtschaftsleben haben, ebenfalls zur Darstellung zu
bringen. Oanz besonders aber habe ich — im Gegensatz zu allen bis-
herigen Systemen der modernen Wirtschaft — mein Augenmerk ge-
richtet auf die Veränderungen, die die Bedarfsgestaltung der Menschen
erfahren hat, weil ich der Meinung bin, dass in dem Verständniss für
sie nicht nur der Schlüssel für das Verständniss der Veränderungen in
der Produktionssphäre des Wirtschaftslebens liegt, sondern in ihr auch
eines der wichtigsten und greifbarsten Symptome zu Tage tritt, in dem
wir die Verschiebungen unseres gesammten Kulturinhalts zu erkennen
vermögen: daher ihr allgemeines Interesse. Die folgenden Blätter ent-
halten nur einen Theil der Lehre von der Bedarfsrevolutionirung. Mögen
sie in ihrer Vereinzelung vielleicht auch diesen oder jenen zu eigenem
Denken anregen, so möchte ich sie doch nur gewertet sehen in dem
grossen systematischen Zusammenhang, in den sie gehören.
*) Der moderne Kapitalismus. 2 Bände. Leipzig. Verlag von Duncker und
Humblot.
—
I.
Nicht jede Vermehrung des Bedarfs bedeutet eine Vereinheitlichung.
Er könnte ja der Menge nach wachsen und sich der Art nach immer
mannigfaltiger gestalten. Nicht jeder massenhafte Bedarf ist ein
Massenbedarf in dem Sinne, wie er hier verstanden wird, d. h. ein
Bedarf nach gleichförmigen Gütern. Nur ob in diesem Sinne im Ver-
lauf der modernen Entwicklung ein Massenbedarf entsteht, haben wir
hier zu untersuchen.
Und zwar nur, insoweit unabhängig von der Produktion die Be-
darfsgestaltung sich uniformirt, interessirt es uns. Nicht dagegen
sollen hier jene Fälle Berücksichtigung finden, wo der Producent in
seinem Interesse den Käufern einheitliche Gebrauchsgüter aufdrängt.
Wenn beispielsweise ein Parquetfabrikant den Geschmack in der Weise
beeinflusst, dass er an Stelle kunstvoller Muster nun die sogenannten
Kapuzinerböden einbürgert, Böden nämlich, die aus dachziegelartig
schief nebeneinander gelegten, rechtwinkligen schmalen eichenen Brett-
chen bestehen. Diese Brettchen sind ein Artikel, der wie geschaffen
für die Herstellung durch die Maschine ist: Alle haben gleiche Grösse,
und da sie massiv sind, brauchen bei der Auswahl der Bretter keine
grossen Auforderungon an die Qualität gestellt zu werden. Sondern
uns interessirt nur die spontane Umformung des Bedarfs aus den Kreisen
der Consumenten heraus.
Da könnte man nun daran denken, dass eine solche Vereinheit-
lichung allein schon im Gefolge der Bevölkerungszunahme
und Reichthumsvermehrung aufträte. Und das ist gewiss auch
häufig der Fall. Wenn mehr Leute als früher etwas bedürfen, ist es
leicht möglich, dass nun auch mehr Menschen denselben Artikel ver-
langen. Das ist besonders deutlich beispielsweise bei allem Anstalts-
bedarf: wenn ein Krankenhaus früher 20 und nun 200 Betten hat, so
steigert sich der Bedarf an gleicher Waare um das Zehnfache. Und
wenn, Dank der Zunahme der Wohlhabenheit, mehr Leute Gegenstände
eines bestimmten Preises kaufen können, so mag sich ein Gebrauchsgut
das ehedem nur in einzelnen Exemplaren abgesetzt wurde, nun leicht
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. (II. Band, Heft XII.) 1
->
Wirthschaft und Mode.
zu einem „Massenartikel“ auswachsen. Hierher gehört alle sog. Demo-
kratisirung alles sog. „Luxus“. Die berühmten seidenen Strumpfe
bilden das Schulbeispiel. Einstmals — so erzählt schon Schopen-
hauer — war es ein Wahrzeichen einer Königin, wenn sie zwei Paar
seidene Strümpfe besass. Heutzutage ist eine bessere Cocotte nicht mehr
auf der Höhe ihrer betriebstechnisch nothwendigen Ausrüstung, wenn
sie der seidenen Strümpfe entbehrt.
Ueber ein den seidenen Strümpfen entsprechendes Stück weiblichen
Kleidung — den seidenen Jupon — schreibt der „Confectionär“ am
•> 1 . August 1899: „Man wird sich kaum der Uebertreibung schuldig
machen, wenn man die reinseidenen Röcke aus Moire- und Glac£-Taffet
in die Reihe der Stapelgenres rangirt, so bedeutend ist die Nachfrage
darin bei der Engros-Confection. Die luxuriösen Neigungen des Publi-
kums lassen sich gerade bei den seidenen Jupons, wenn der Consum
der Gegenwart mit dem vor wenigen Jahren nebeneinander gehalten
wird, erkennen.“
Aber man würde sicher nicht von einer der modernen Zeit eigenen
Tendenz zur Vereinheitlichung des Bedarfs sprechen dürfen, hätte es
bei jenen selbstverständlichen Folgen der Bevölkerungszunahme und des
Reicherwerdens sein Bewenden. Die durch sie geschaffene Vereinheit-
lichungstendenz würde ganz gewiss mehrfach durchkreuzt werden durch
die im Verlauf der Culturentwicklung immer deutlicher hervortretende
Neigung zur Diüerenzirung des Geschmacks. Es müssen also noch be-
sondere Kräfte am Werk sein, wenn wir tbatsächlich als ein Ergebnis*
der Entwicklung in der Gegenwart ohne Zweifel an einzelnen Stellen
wenigstens eine Zusammenballung der Bedarfsnuancen zu uniformem
Massenbedarf constatiren können. Eine solche Tendenz zur Vereinheit-
lichung des Bedarfs wird erzeugt:
1. Durch die Entstehung grosser Unternehmungen auf
dem Gebiete der Güterproduction und des Güterabsatzes. Solche gros-
industrielle oder grosscommerzielle Abnehmer stellen gegenüber einer
früher vorhandenen Mehrzahl kleiner Producenten, kleiner Händler odei
einzelner Familien wirthschaften natürlich eine einheitlicher gestaltete
Nachfrage dar. Beispielsweise: wenn das „Einmachen“ von
Früchten, Gemüsen etc. von der Hausfrau und den Einzelgärtnem auf
grosse Conservenfabriken übergeht und dadurch ein uniformer Blech-
büchsenbedarf entsteht. Oder wenn eine Schuhfabrik für viele Hundert-
tausend Mark Leder auf einmal kauft, wo früher Tausende von Einzel-
schustern das Leder halbehäuteweise bezogen hatten. Oder wenn die
grossen Brauereien nun viele Fässer einer Fafon brauchen, während
ehedem jede Kleinbrauerei ihre eigene Böttcherwaare hatte. Oder wenn
die grossen Etablissements der Textilindustrie, der Schuhwaarenfabn-
kation, der Confection ganze Berge von Versandcartons einer und der-
Wirthschaft und Mode.
3
selben Grösse und Art nöthig haben. Oder wenn das Vordringen
moderner Geschäftsprincipien eine einheitliche Buchführung und damit
die Nachfrage nach uniformen Contobüchern erzeugt.
Hierher gehören aber auch Fälle der Bedarfsverschiebung, die
nicht so deutlich sich als Vereinheitlichung früher individualisirten Be-
darfs darstellen, es aber im Grunde doch auch sind. Wenn die Ge-
schäfte sich zu vergrössem die Tendenz haben, brauchen sie auch
grössere Betriebsstätten. Die Concentaitionstendenz der industriellen
und commerziellen Unternehmungen bedeutet in den meisten Fällen
eine Tendenz zur Ausdehnung der Baulichkeiten. Grössere Bauten
haben aber für sehr viele Artikel eine Vereinheitlichung des Bedarfs
zur Folge: Steine, Thüren, Fenster, Beschläge, Fussböden, Treppen,
ßeleuchtungs- und Beheizungskörper, Tische, Stühle — alles wird in
grösserer Anzahl einheitlicher Art bedurft, wenn es zur Ausstattung
eines grossen Gebäudes, statt zur Herstellung vieler kleiner dienen soll.
Aber ich rechne hier auch her die dimensionale Vergrösserung.
die in Folge jener Grossbetriebstendenz einzelne Gegenstände er-
fahren : das eiserne Gerüste einer Bahnhofshalle oder eines Ausstellungs-
gebäudes stellt selbst die Vereinheitlichung des Bedarfs an früher ver-
schiedenen kleinen Gerüsten gleicher Zweckbestimmung dar. Und wenn
grössere Kessel, grössere Maschinen bedurft werden, so wird man die
Entwicklung unter demselben Gesichtspunkt betrachten dürfen. Oder
liegt etwas anderes vor als eine Vereinheitlichung des Bedarfs, wenn
an die Stelle von mehreren Dutzend Sensen — von denen jede einzelne
individualisirte Art theoretisch wenigstens zulässt — eine Mäh-
maschine, an die Stelle von hundert Einzelpflügen ein Dampfpflug tritt
u. s. f.
2. Der Schatten, der der grosscapitalistischen Unternehmung folgt,
ist das Proletariat. Seine Entstehung bedeutet aber wiederum
nichts anderes als eine neue Tendenz zur Bedarfsvereinheitlichung. Die
grossen uniformen Massen von meist unvermögenden Käufern, deren
ganze bisherige Geschichte eine Uniformirung von Denken und Wollen
bedeutet, die noch längst keine Zeit haben, sich zu individuellem
Empfinden heraufzuentwickeln, stellen ganz begreiflicherweise Abnehmer
von Massenwaare namentlich schlechtester Qualität dar. Man muss
diese nothwendige Aufeinanderfolge der einzelnen Productionszweige in
ihrer Entwicklung zu capitalistischer Gestalt wohl beachten. Man muss
begreifen, dass eine capitalistische Schuhmacherei, Schneiderei, Tisch-
lerei u. s. w. erst möglich wurde, nachdem die alten handwerksmässigen
Formen der Textil- und Eisenindustrie in der Mühle des Capitalismus
bereits zerrieben waren, wie noch des Näheren auszuführen sein wird.
3. Zu gleicher Zeit mit der Ausdehnung der grosscapitalistischen
Unternehmungen wächst der Bedarf der öffentlichen Körper, was
1 *
4
Wirthschaft und Mode.
abermals in vielen Fällen eine Vereinheitlichungstendenz erzeugt. Ist
es doch stets eine Concentrirung der Nachfrage auf wenige Stehen,
wodurch die individuelle Geschmaeksbethätigung, oder war es auch nur
die Zufälligkeit der Einzelbedarfsdeckung, an Spielraum verlieren. In
dem Masse wie Staats- und Communalthätigkeit sich ausdehnen, wird
in Zukunft der Bedarf vieler Gegenstände einen einheitlichen Charakter
erlangen. Man könnte hier von einer Bureaukratisirung des Consms
reden. Ein interessantes Beispiel für einen fernerliegenden Causalzu-
sammenhang gedachter Art ist Folgendes: in der Schweiz sind bekannt-
lich die Lehrmittel in den Schulen verstaatlicht. Das hat zu einer
solchen Uniformirung dieser Gegenstände geführt, dass nur noch Gross-
geschäfte als Concurrenten bei der Lieferung in Frage kommen 1 ).
4. Wie aber die grosscapitalistische Unternehmung nicht an Aus-
dehnung zunehmen kann, ohne die Lohnarbeiterschaft zu vermehren, so
kann die Thätigkeit öffentlicher Körper nicht gesteigert werden, ohne
dass das Heer der Beamtenschaft einen Zuwachs erhielte. Aber-
mals ein Moment, das den Bedarf zu vereinheitlichen die Tendenz
erzeugt. Denn mit dem Bureaukraten sowohl als dem in staatlichem
oder städtischem Dienst stehenden Arbeiter wird eine Bevölkerungs-
schicht erzeugt, deren inneres und äusseres Wesen zunächst eine Cni-
formirung erfährt. Es zeigt sich das in der Gestaltung ihres Amts-
bedarfs nicht minder als in der ihres Privatbedarfs : die einheitliche Klei-
dung ist für jene der besonders markante Ausdruck. Aber es wird im
Allgemeinen nicht zweifelhaft sein, dass hundert Rathsdiener oder
hundert Postsecretäre oder hundert Eisenbahn Schaffner einen ein-
förmigeren Privatbedarf haben werden als hundert Schuster, Schneider
oder selbst Bauern. Die Schabion isirung ihres Gehirns wird viel weiter
vorgeschritten sein dank dem völlig gleichen Milieu, in dem sie ihre
Thätigkeit ausüben und damit die Vereinheitlichung ihres Geschmack
und Werthurtheils ; aber auch ihre Einkommen sind durch die etats-
mässige Zuweisung ganz gleicher Portionen viel mehr ausgeglichen, als
es je die Einkommen nicht beamteter Personen, welchen Charakters
auch immer, sein können.
Ist in den bisher besprochenen Fällen die Vereinheitlichung des
Bedarfs durch das Auftreten neuer eigenartiger Abnehmerkreise hervor-
gerufen, so ist dasjenige, was man
5. die Oollectivirung des Consums nennen kann, eine Er-
scheinung, die bei allen Consumentenschichten wenigstens im Gebiete
der modernen Civilisation, in den Grossstädten, gleichmässig sich be-
obachten lässt. Darunter sind alle diejenigen Fälle zu verstehen, in
J ) Vergl. Fachberichte aus dem Gebiete der schweizerischen Gewerbe (1^
8 . 210 .
Wirthscliaft und Mode.
5
denen ein früher individuell oder familienweise befriedigter Bedarf nun
für eine grössere Anzahl von Personen einheitlich gedeckt wird. Diese
Entwicklung, wie man es auch bezeichnen kann, zur Socialisirung
unseres Daseins vollzieht sich, wie Jeder weiss, an tausend und aber
tausend Stellen zugleich : hier als ein Ergebniss der grossstädtischen
Siedlungsweise überhaupt, wie in der Entstehung der Miethskasernen,
der Vergnügungslokale, dort als besondere Folge fortgeschrittener Tech-
nik in der communalen Wasser-, Gas- und Electricitätsversorgung :
häufig aber insbesondere als Begleiterscheinung der im Gefolge der
grossstädtischen Entwicklung nothwendig sich vollziehenden Auflösung
der früheren Privatfamilienwirthschaft. Sei es, dass weniger Familien-
wirthschaften überhaupt begründet werden : Zunahme des Ledigbleibens.
Liebesverhältnisse oder sogar Ehen ohne das Fundamentum eines sog.
häuslichen Herdes; sei es, dass die Familien wirthschaften immer mehr
sich von der Last der Güterverarbeitung, Ausbesserung etc. zu befreien
streben, bezw. zu befreien in der Lage sind.
Der Schwerpunkt der Bedarfsbefriedigung, mehr und mehr auch
der des Nahrungsbedarfs, wird aus den Küchen und Stuben der Einzel-
haushalte in die Speisehäuser und CaftTs verlegt 1 ), was aber noch im
Hause consumirt wird, kommt schon in fast völlig gebrauchsfertigem
Zustand in die Familienwirthschaft.
Alles dies wirkt wie ersichtlich in gleicher Richtung auf die Ge-
staltung des Bedarfs ein, indem sie ihn vereinheitlicht. Denn so sehr
auch meinetwegen die Speisekarte eines Restaurants oder einer Ge-
nossenschaftsküche reichhaltiger ist, als das Menu eines Einzelhaushalts :
sie ist sicher nicht so buntscheckig wie die Gesammtheit der Menus in
all den Familien sein würde, deren Glieder an einem Abend im Restau-
rant essen. Und selbst, wenn sie es wäre, so würde doch der Gross-
bedarf an den einzelnen Bestandth eilen der Nahrung: Brot, Fleisch.
Kartoffeln, Geflügel, Gemüse etc. den Bezug viel grösserer Quantitäten
einer und derselben Waare ermöglichen.
Was aber vielleicht bedeutsamer für die Vereinheitlichung des
Bedarfs als aUe vorhergehenden Entwicklungsmomente ist. ist eine innere
Wandlung des Geschmacks, ist die bekannte Erscheinung der
6. Uniformirung des Geschmacks, wie sie sich im Gefolge
der Ausbreitung grossstädtischen Wesens mit dem zunehmenden Pom-
J ) Dass diese Entwicklung erst in den Anfängen sich befindet, kann für den
aufmerksamen Beobachter nicht zweifelhaft sein. Eine ganz gewaltige Förderung
wird sie erfahren in dem Maasse, wie die genossenschaftliche Wirtschaftsführung
an Ausdehnung gewinnen wird. Neuerdings hat diese Idee eine ebenso geistreiche,
wie energische und besonnene Vorkämpferin in Frau Li ly Braun gefunden. Siehe
deren Schrift. Hauswirthschaft und Sozialdemokratie. 1901.
Wirthschaft und Mode.
I)
mercium in den modernen Staaten einzustellen pflegt. Ehedem ent-
wickelt jede Landschaft ihren Geschmack und jeder Kleinstädter ist
stolz auf seiner Väter Sitten: der Bürger trägt sich anders als der
Bauer und dieser anders als der Edelmann. Die Auflösung alfe
ständischen und landschaftlichen Wesens durch die moderne capitalistische
Entwicklung führt auch zu einer Nivellirung alles Geschmacks: Ton
den grossen Centren des socialen Lebens, den Städten, aus werden jetzt
Kleidung und Wohnungseinrichtung, wie jeder andere Güterbedarf in
ihrer Eigenart für das ganze Land geregelt. Dass hier wiederum das
Interesse der Grossproducenten nachgeholfen hat, ist gewiss. Aber im
grossen Ganzen ist doch diese Vereinheitlichung des Geschmacks eine
nothwendige Folge der ökonomischen Gesammtentwicklung *).
II.
Wichtig ist es aber, zu beachten, wie das grossstädtische Wesen
den Bedarf selbst in seiner Art von Grund aus neu gestaltet. Ick
nenne den Process, der sich hier vollzieht, die Urbanisirung des
Bedarfs oder, wenn man will, Consums. Die Anforderungen an
unsere Gebrauchsgüter werden andere und in dem Masse, wie sich der
Gebrauchszweck umgestaltet, wandelt sich auch das Werthurtheil über
nützlich und schön. Jedermann verbindet mit dem Ausdruck bäueri-
scher und städtischer oder gebildeter Geschmack eine ganz bestimmte
Vorstellung. Will man den Unterschied in einem Worte zusammen-
fassen, so kann man vielleicht sagen, dass der Sinn für das Derbe.
Solide, Dauerhafte geringer wird und an seine Stelle die Lust am Ge-
fälligen, Leichten, Graziösen, am Chic tritt. Die Bauerndirne im
schweren Faltenrock, den derben Rindslederschuhen, den bunten, dicken
Wollstrümpfen, dem Mieder aus steifem Filz, dem groben Leinenbemd
und dem plumpen Kopfschmuck, vielleicht gar mit Metallplatten. wie
man es in Holland sieht, auf den festgeflochtenen Zöpfen, und dazu im
Gegensatz die grossstädtische Confectioneuse in der hellen Battistblouse
mit dem gelben Ledergürtel, den leichten Niederschuhen und den
durchbrochenen Strümpfen, dem bunten Battisthemdchen und dem
Matrosenhütchen auf dem Kopf mit der lose geschlungenen Haartockc
— sie drücken frappant die Extreme der beiden Bedarfs- und Ge-
schmacksrichtungen aus, zwischen denen sich die Entwicklung bewegt
hat. Wie es vor Allem der Wechsel des Gebrauchszwecks ist, der hier
geschmackwandelnd gewirkt hat, dafür bietet die Geschichte desSchuh-
J ) Eine anschauliche Schilderung der Umbildung des Geschmacks in Bezug
auf die Kleidung in einem kleinen westpreussischen Städtchen (Löbau) findet
in U. IV. 195 f. 201. Die Mitwirkung der „Mode“ bei diesem Unificirungsproce^
wird unten S. 1701 und öfters gewürdigt.
Wirthschaft und Mode.
werks ein lehrreiches Beispiel. Eine Bevölkerung, die auf dem Lande,
und auch noch eine, die in schlechtgepflasterten Kleinstädten lebt,
braucht vor allem dauerhaftes und wasserdichtes Schuhwerk. Der
Schaftstiefel alten Stils, wie er sich noch heute auch in Grossstädten
bei alten Professoren und Rechnungsräthen findet, dankt seine Ent-
stehung einer Zeit und einer Strassen Verfassung, als es noch gelegent-
lich angebracht war, die Beinkleider in den Stiefelschaft zu stecken,
um dem Schmutze und der Feuchtigkeit ein Paroli zu bieten. Als man
noch häufig zu Pferde stieg, um über Land zu reiten, waren die hohen
Reiterstiefel die für Herren gegebene Fussbekleidung. Heute haben sich
derartige schwerfällige Kleidungsstücke mit der .Wildschur“ und den
Ohrenwännern auf wenige unwirkliche Gebiete Osteibiens zurückge-
zogen. Die stets saubere, wohlgepflasterte Stadt mit den plattenbe-
legten Bürgersteigen, das Reisen in der geheizten Eisenbahn, die Er-
findung des Gummischuhes u. s. w. haben den Bedarf nach dauerhafter
und wasserdichter Fussbegleitung eingeschränkt und statt dessen das
Verlangen nach leichter, eleganter, wenn auch nicht so solider Schuh-
waare rege werden lassen. Der alte Schaftstiefel, die * Röhre“, stirbt
aus, von Gesichtspunkten der Hygiene, des Chics, der Bequemlichkeit
aus erscheinen der .Niederschuh, der leichte Knopf-, Schnür-, Zugstiefel
als das zweckmässigere Kleidungsstück und ihre Herrschaftssphäre dehnt
sich aus. Ebenso wie der ganz leichte Gesellschaftsschuh aus Lack
oder Chevreau oder Atlas dank der schützenden Hülle der ,, Boots“ sich
ein immer weiteres Absatzgebiet erobert: er, den ehedem nur die
Damen in der Sänfte oder die Herrschaften im eigenen Gefährt riskiren
konnten.
Aber was mir den grossstädtischen Bedarf vor allem zu charakte-
risiren scheint im Gegensatz zu dem ländlich-kleinstädtischen, ist seine
viel grössere Unstetigkeit und Wandlungsfähigkeit. Damit kommen
wir zu einer Veränderungstendenz in der modernen Bedarfsgestaltung,
die allgemeineren Charakter trägt und vielfach auf Ursachen zurück-
zuführen ist, die nicht durch Vermittlung der Herausbildung städtischen
Wesens, sondern directer wirksam sind Wir werden deshalb eine ge-
sonderte Betrachtung zu widmen haben der dritten grossen Umgestal-
tungstendenz im modernen Bedarf an gewerblichen Gütern, nämlich
jener Entwicklungsreihe, die ich unter der Bezeichnung .Mobilisirung
des Consums (und Bedarfs)“ zusammenzufassen für zweckdienlich halte.
III.
Es ist eine allbekannte Thatsache, deren Beobachtung sich jeder-
mann aufdrängt, dass in unserer Zeit die meisten Güter kürzere Ver-
brauchsperioden haben als ehedem. Der Urväter Hausrath spielt heut zu
8
Wirthschaft und Mode.
Tage nur noch eine geringe Rolle. Der junge Hausstand betritt mit
völlig neuer Ausstattung den Plan, und während unsere Eltern noch
Möbel, Betten, Wäsche, Bestecke und alles Geräth während ihrer Ehe
— und mochten sie auch die goldene Hochzeitsfeier erleben — nur aus-
nahmsweise erneuten, ist es heute Regel, dafs auch in besseren Häusern
schon mich zehn, zwölf Jahren der Erneuerungsturnus beginnt. Wir
selbst trugen noch die zurechtgemachten Kleider der Eltern und fje-
schwister und der berühmte „Bratenrock“ des Mannes, das Hochzeits-
kleid der Frau, spielten zumal in den unteren Klassen eine grosse Rolle:
sie hielten ein Leben aus und schleppten von Geschlecht sich zu
schlechte wie eine ewige Krankheit fort. Der Handel mit gebrauchten
Sachen, die Auffrischung alter Gegenstände waren in früherer Zeit,
noch um die Mitte des XIX. Jahrhunderts, blühende Erwerbszweige.
Bildeten doch die Altwaarenhändler in den meisten Städten eigene
Zünfte. Und welches schwunghafte Geschäft muss es dereinst gewesen
sein, dieser Handel mit gebrauchten Sachen, wenn wir sehen, wie im
16. Jahrhundert die Notabein von Frankreich Beschwerde führen über
die gefährliche Concurrenz, die die Schiffsladungen mit alten Hüten.
Stiefeln, Schuhen etc., die von England herüberkamen, den ansässigen
Gewerbetreibenden bereiteten I *)
Jetzt spielt der Altwaarenhändler nur noch eine untergeordnete
Rolle. In den Trödlerläden hängen jetzt die Reihen neuer Anzüge und
Mäntel, wie sie aus der Werkstatt des Sweaters kommen, stehen neben
altem Plunder immer mehr neue Tische und Spiegel aus gestrichenem
Tannenholz.
Ueberall rascher Wechsel der Gebrauchsgegenstäude, der Möbel,
der Kleider, der Schmucksachen. Man ist heute schon ein conservativer
Mann, wenn man seine Stiefel zweimal besohlen lässt, und über die
Braut wird wohl gespöttelt, die noch wie ehedem die Hemden und
Tischtücher von starkem Leinen dutzendweise in ihrem Wäscheschrank^
aufstapelt.
Was ist nun die Ursache dieser Wandelbarkeit, dieser Wechsel-
freudigkeit und Wechselhaftigkeit? Was ist es. das jene „Mobilisirung
des Bedarfs“ bewirkt hat?
Der oberflächliche Beobachter ist rasch mit der Antwort zur Hand.
Er will den Grund für jene Aenderung der Consumtionsgewohnheiten
ausschliesslich in der neuen Technik der Güterherstellung erblicken.
-Die Sachen halten nicht mehr so gut wie früher*, .bei den billigen
J ) Beschwerde der Notabein Versammlung im Jahre 1597, dass die Engländer
„remplissent le royaume de leurs vieux chapeaux, bottes et savates quils tont
porter a pleins vaisseaux en Picardie et en Normandie/ 4 G. D’Avenel. I*
möcanisme de la vie moderne, 1896, p. 32.
Wirthschaft und Mode.
9
Preisen lohnt es sich gar nicht, lange an einem Gegenstände herumzu-
flicken: man wirft ihn weg, wenn er schadhaft ist und kauft einen
neuen“. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieser Erklärungsversuch
als nichtssagende Phrase: dass die Sachen heute weniger haltbar sind,
für die man die entsprechenden Preise der früheren Zeit bezahlt, ist im
Allgemeinen sicher nicht richtig ; warum man aber wechselt, wenn man
dank der Preisermässigung wechseln kann, bedarf offenbar erst der
weiteren Begründung.
Eine solche mag man in den vielfach veränderten Lebens-
bedingungen erblicken, unter denen namentlich die Städter heut zu
Tage leben. Von grossem Einfluss auf die Art der Bedarfsgestaltung
ist hier offenbar die Verallgemeinerung der Miethswohnung gewesen.
Sie hat das moderne Nomadenthum geschaffen und mit ihm die Ab-
nahme der Lust am Dauernden, Festen. Soliden in der Wohnungs-
einrichtung. Schon dass diese fast nur noch aus „Mobilien* besteht
— jetzt schon bis auf die Oefen (Dauerbrandöfen!) — während doch
ehedem die Sitze in den Fensternischen, die Ofenbank, ja selbst das
Bett und mancher andere Hausrath mit dem Hause verwachsen war,
hat eine Tendenz erzeugt, die Gegenstände leichter, weniger für die
Ewigkeit berechnet zu machen. Und gar erst die Mobilisirung der
Menschen selbst: dieses ewige Herumziehen von Ort zu Ort. von Strasse
zu Strasse in derselben Stadt: muss es nicht den Wunsch nach leicht
transportabeln Möbeln und Gütern nahelegen? Man hält es kaum für
möglich, wenn man liest, welchen Grad von Unstetigkeit die Bevölkerung
heute erreicht hat. In einer Stadt wie Breslau von 400000 Einwohnern
betrug (1899) die Zahl der umgezogenen Personen 194602, während
innerhalb Hamburgs in demselben Jahre gar 212783 Parteien (!) ihr
Domizil wechselten. Es wurden (1899) gemeldet (NB. ausschliesslich
der Reisenden) l )
in
Berlin . .
Breslau
Hamburg .
Z u gezogene
. 235611
. 60283
. 108281
A b gezogene
178 654
54231
86245
Aber viel wichtiger ist doch der Umstand, dass mit der Veränderung*
der Technik und der äusseren Lebensbedingungen, was wir schon an
verschiedenen Stellen zu constatiren Gelegenheit hatten , auch e i n
neues Geschlecht von Menschen herangewachsen ist. Menschen,
die die Rastlosigkeit und Unstetigkeit ihres inneren Wesens auch in
der äusseren Gestaltung ihres Daseins zum Ausdruck zu bringen trachten.
Wir wollen den Wechsel unserer Gebrauchsgegenstände. Es macht
J ) Jahrbuch deutscher Städte 9, 253.
10
Wirtschaft und Mode.
uns nervös, wenn wir ewig ein und dasselbe Kleidungsstück an uns
oder unserer Umgebung sehen sollen. Ein Abwechselungsbediirfniss
beherrscht die Menschen, das oft geradezu zur Rohheit in der Behand-
lung alter Gebrauchsgegenstände ausartet. Ein Ehepaar richtet sein
Haus kaltlächelnd zur silbernen Hochzeit von oben bis unten neu ein.
als ob die fünfundzwanzig Jahre gemeinsamer Nutzung nicht tausend
Fäden zwischen den Bewohnern und ihren Möbeln gesponnen hätten,
die zu zerreissen empfindsamen Naturen als eine Barbarei erscheint.
Aber das heran wachsende Geschlecht weiss nichts von der .Rührselig-
keit“ und .Gefühlsduselei“ der früheren Zeit. Es ist härter geworden
und damit sind auch die Beziehungen des Menschen zu den Gegen-
ständen seines täglichen Gebrauchs jenes oft so gemüth vollen und
romantischen Zaubers entkleidet, der in die Zimmer unserer Eltern trotz
aller ästhetischen Versündigungen doch jene Wärme hineintrug. di*
heute den glänzenden Salons der Enkel — ach wie häufig! — fehlt.
Nun ist aber endlich zu einem beträchtlichen Theil der ewige
Wechsel, den wir mit unseren Gebrauchsgegenständen vornehmen, gar
nicht einmal Ausfluss einer freien Entschliessung. In ausserordentlich
vielen Fällen untersteht der Einzelne dem Zwange, den die Sitte, den
seine Gruppe auf ihn ausübt. Er wechselt, weil er wechseln muss. Der
Wechsel ist aus einer individuellen eine sociale Thatsache geworden,
und damit gewinnt er erst jene weittragende Bedeutung, die ihm heute
innewohnt. Der Leser sieht, bis zu welchem Punkte die Untersuchung
gefördert ist: wir stehen vor dem Prolflem des Modewechsels, und da*
Thema, dessen Lösung uns obliegt, erheischt eine Erklärung dieses
Phänomens: eine Theorie der Mode.
Es ist schon manches kluge Wort über die Mode gesprochen und
geschrieben worden. Von gelehrten Kulturhistorikern 1 )- von tief-
gründigen Psychologen 2 ), von geistvollen Aestlietikern 3 ). Nur wie wir
das so gewohnt sind, wenn wir nach den Nationalökonomen fragen, die
unsern Gegenstand etwa behandelt haben, so finden wir nur geringe
Spuren ernsthafter Untersuchungen; meist nur Wiederholungen dessen
was Nichtfachmänner darüber geschrieben haben.
Durch alle Compendien und Lehrbücher schleppt sich der massig
gute Witz von Storch, der die Mode als „Meinungsconsumtioir be-
! ) Vergl. die Werke, die die Geschichte der Mode und Trachten behandeln
Falke. Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen
Kulturgeschichte. 1858. Weiss, Kostümkunde. J. L e s s i n g , Der Modeteufel
und viele andere. Eine kurzweilige, populär geschriebene Geschichte der (Kleider - 1
Mode enthält die Schrift von Rud. Schulze, Die Modenarrheiten. 1868.
2 ) Vergl. z. B. G. Simmel. Zur Psychologie der Mode in der „Zeit“. 12. Okt. 1895.
3 ) Friedrich Theodor Vischer hat eine seiner amüsantesten Schriften
unserem Thema gewidmet: Mode und Cynismus, zuerst 1878. 3. Auflage. 188&
Wirtschaft und Mode.
11
zeichnet hat. Darüber hinaus ist man bis heute, soviel ich sehe, nicht
gekommen. Man zankt sich höchstens gelegentlich einmal darüber
herum, ob bezw. bis zu welchem Grade die „Mode* unter ethischem
Gesichtspunkte verdammens werth sei und damit basta.
Demgegenüber sind etwa Folgendes die hauptsächlichsten Momente,
auf welche eine ökonomische Theorie der Mode Obacht zu
geben hätte. Sie würde zunächst zu fragen haben, worin die Bedeutung
der Mode für das Wirtschaftsleben zu suchen ist, und würde sie alsbald
finden in dem Einfluss, den sie auf die Bedarfsgestaltung ausübt. lieber
den Begriff der Mode wird man sich nicht lange zu streiten brauchen.
Man kann die Definition Vischer’s: .Mode ist ein Allgemeinbegriff*
für einen Complex zeitweise gültiger Culturformen“ ohne grosse Be-
denken annehmen, wenn man den einzelnen Bestandteilen der Begriffs-
bestimmung nur den richtigen Sinn unterlegt. Für das Wirtschafts-
leben sind es zwei notwendige Begleiterscheinungen jeder Mode, die
vornehmlich in Betracht zu ziehen sind:
1. die durch sie erzeugte Wechselhaftigkeit, aber ebenso, was
häufig übersehen wird,
2. die von ihr bewirkte Vereinheitlichung der Bedarfsgestaltung.
Denken wir uns eine Bedarfsgestaltung, die von der Mode unabhängig
ist, so würde die Nutzungsdauer für den einzelnen Gebrauchsgegenstand
vermutlich länger, die Mannigfaltigkeit der einzelnen Gebrauchsgüter
wahrscheinlich erheblich grösser sein. Jede Mode zwingt immer eine
grosse Anzahl von Personen, ihren Bedarf zu unificiren, ebenso wie sie
sie nötigt, ihn früher zu ändern, als es der einzelne Oonsument, wäre
er unabhängig, für erforderlich halten würde. Beides: Vereinheitlichung
und Wechsel sind relative Begriffe. Wann insbesondere letzterer bei-
spielsweise die .Tracht* zur .Mode“ werden lässt, ist schwer durch
eine Zeitangabe zu bestimmen. Man wird sagen dürfen, dass jede Ge-
schmacksänderung, die zu einer Umgestaltung des Bedarfs während der
Lebensdauer einer Generation führt, „Mode“ sei. Aber auf derartige
begriffliche Unterscheidungen kommt es viel weniger an als auf die ver-
gleichende Betrachtung der Art und Weise, wie die verschiedenen Zeiten
ihre Bedarfsgestaltung Veränderungen unterworfen haben. Dies führt
uns dazu, zu fragen: ob denn wirklich erst die Gegenwart es sei, die
die .Mode“ in die Geschichte eingeführt habe, und mit welchem Rechte
wir hier, wo es sich darum handelt, die Herausbildung des modernen
Wirthschaftslebens zu schildern, die „Mode“ als einen Bestandtheil der
Neuerungen bezeichnet haben.
Unzweifelhaft ist die „Mode“ keine dem 19. Jahrhundert eigene
Erscheinung; wir werden ihre Entstehung, wenn sich von einer
solchen überhaupt reden lässt, sicher in eine viel frühere Zeit verlegen
müssen. Zwar möchte ich nicht so weit wie Julius Lessing gehen.
12
Wirthschaft und Mode.
der den „Modeteufel* in allen Jahrhunderten gleichmässig am Werke
sieht: denn das Schelten auf neu eingeführte Kleidertrachten, wie wir
es in der moralisirenden Literatur seit den Kirchenvätern finden, lässt
doch nicht ohne weiteres auf die Existenz einer „Mode* im modernen
Sinne schliessen. Dagegen begegnen wir unzweifelhaft der echten Mode
in den italienischen Städten schon des 15. Jahrhunderts *) und während
des 16. und 17. scheint auch im Norden die . Modenarrheit * erheblich
an Ausdehnung gewonnen zu haben. 2 ) In Venedig und Florenz gab es
zur Zeit der Renaissance für die Männer vorgeschriebene Trachten und
für die Frauen Luxusgesetze. Wo die Trachten frei waren, wie z. B.
in Neapel, da constatiren die Moralisten, sogar nicht ohne Schmerz,
dass kein Unterschied mehr zwischen Adel und Bürger zu bemerken
sei. Ausserdem beklagen sie den bereits äusserst raschen Wechsel der
Moden und die thörichte Verehrung alles dessen, was aus Frankreich
kommt, während es doch oft ursprünglich italienische Moden seien, die
man nur von den Franzosen zurückerhalte (Burckh ard t).
Und die für die Machthaber köstliche Zeit des ancien regime. da*
Jahrhundert der Watteau, Boucher. Fragonard, Greuze können wir un>
gar nicht anders als unter dein launischen Scepter der Modegottro
stehend vorstellen. Wenn Mercier an einer Stelle ausruft 3 ): -il est
plus difficile ä Paris, de fixer fadmiration publique que de la faire
naitre ; on brise impitoyablement fidole qu'on encensait la veille et des
qu’on s’apenjoit qu’un homme ou qu’un parti veut dogmatiser. on rit:
et voilä soudain Phomme culbutä et le parti dissous*. so hätte er diese
Worte seinem ganzen Werke als Motto vorsetzen können, denn sie
kennzeichnen die Wesenheit Alles dessen, was er uns von dem alten
Paris erzählt.
Und trotzdem ist man versucht zu behaupten, dass das innerste
Wesen der Mode sich erst in dem verflossenen Jahrhundert, ja erst seit
einem Menschenalter voll entfaltet habe, dass jedenfalls erst in der
letzten Zeit die Eigenarten der Mode sich bis zu einem Grade aus-
geprägt haben, der sie befähigte, jenen bestimmenden Einfluss auf die
Gestaltung des Wirtschaftslebens auszuüben, der allein uns an dieser
Stelle das Interesse für die Mode einzuflössen vermag. Was aber die
moderne Mode vornehmlich charakterisirt und was die Mode früherer
Zeiten entweder gar nicht oder doch nur in einer unendlich viel ge-
ringeren Intensität besass. ist folgendes:
q Yergl. J. Burckhardt, Cultur der Renaissance, 3. Aufl., 2 (1878), 111 ft
2 ) Die Literatur beschäftigt sich immer häufiger mit der „Modenarrheir :
vergl. z. B. Ludw. Hartmann, Der ä la mode-Teufel, 1675 (von Lessing
citirt); oder die Stellen bei Horneck, Oesterreich über Alles, wenn es nur will
(1684) S. 18.
3 ) Mercier, Tableau de Paris 2 (1783), 75.
Wirthschaft und Mode.
13
1. die unübersehbare Fülle von Gebrauchsgegenständen,
auf die sie sich erstreckt. Diese Mannigfaltigkeit wird erzeugt einmal
durch die reichere Ausgestaltung der Güterwelt überhaupt. Was bei-
spielsweise heut zu Tage zur Vollendung der weiblichen Toilette, was
zum Bedarf eines Löwen des Salons gehört, grenzt an das Fabelhafte.
Und je unnützer der Gegenstand, desto mehr der* Mode unterworfen.
Was das Gigerl, wenn es in feldmarschmässiger Ausrüstung sich be-
findet, allein an * Gebrauchsgegenständen“ ausser der completen Kleidung
auf dem Leibe tragen muss, füllt zusammengelegt ein kleines Köfferchen
an. Die Mannigfaltigkeit der „Modeartikel“ wird aber des weiteren
auch dadurch gesteigert, dass immer neue Kategorien von Gebrauchs-
gütern in den Bereich der Mode gezogen werden. So sind erst in
neuerer Zeit recht eigentlich der Mode unterworfen nur von Bekleidungs-
gegenständen : Wäsche, Cravatten, Hüte, namentlich Strohhüte, Stiefel,
Regenschirme u. A. ;
2. ist es die absolute Allgemeinheit der Mode, die erst
in unserer Zeit sich eingestellt hat. Während in der Kenaissancezeit,
trotz des beginnenden Einflusses Frankreichs, die Verschiedenheit der
Mode selbst in den einzelnen Städten Italiens noch fortdauerte *) und
doch immerhin auch im grossen Ganzen bis in’s 19. Jahrhundert hinein,
die Gleichförmigkeit der Bedarfsgestaltung auf je einen Stand, auf eine
bestimmte sociale Klasse beschränkt blieb, ist es die Wesenheit unserer
Zeit, dass mit der Ausdehnungsintensität gasförmiger Körper sich jede
Mode binnen kürzester Zeit über den Bereich der gesummten modernen
Culturwelt verbreitet. Die Egalisirungstendenz ist heute durchaus eine
allgemeine und wird durch keine räumliche und keine ständige Schranke
mehr aufgehalten. Endlich ist
3. das rasende Tempo des Modewechsels ein ebenfalls der
Mode unserer Zeit charakteristisches Merkmal. Was wir aus vergangenen
Jahrhunderten von dem Modewechsel erfahren, ist doch immer nur eine
höchstens nach Jahren rechnende Verschiebung der Bedarfsgestaltung.
Heute ist es kein seltener Fall mehr, dass beispielsweise eine Damen-
kleidermode in einer und derselben Saison vier- bis fünfmal wechselt.
Und wenn wir bei irgendeiner „Mode“ eine Lebensdauer von mehreren
Jahren nachweisen zu können glauben, so setzt uns das höchlichst in
Erstaunen und wir sprechen schon davon, wenn es sich um eine Kleider-
mode handelt, dass die betreffende Eigenart anfange, einen Bestandtheil
unserer „Tracht“ zu bilden: wie beispielsweise der Frack der Herren.
Aber auch in diesem Falle betrifft die Dauer doch immer nur einen
Typus als Ganzes betrachtet: an den Einzelheiten bosselt und nestelt
die Mode gleichwohl immer weiter herum. Wer möchte beispielsweise
*) J. Burckhardt, a. a. 0. S. 113.
14
Wirthschaft und Mode.
den zwei- oder dreijährigen Frack nicht an der Unterschiedlichkeit in
Schnitt und Stoff vom modischen Frack jederzeit zu erkennen sich an-
heischig machen?
„Wie ein unartiges Kind, das keine Ruhe giebt, so treibt es die
Mode, sie thut's nicht anders, sie muss zupfen, rücken, umschieben,
strecken, kürzen, einstrupfen, nesteln, krabbeln, zausen, strudeln, blähen,
quirlen, schwänzeln, wedeln, kräuseln, auf bauschen, kurz, sie ist ganz
des Teufels, jeder Zoll ein Affe, aber just auch darin wieder steif und
tyrannisch, phantasielos, gleichmacherisch, wie nur irgend eine gefrorene
Oberhofmeisterin spanischer Observanz ; sie schreibt mit eisiger Ruhe die
absolute Unruhe vor, sie ist wilde Hummel und mürrische Tante, aus-
gelassener Backfischrudel und Institutsvorsteherin, Pedantin und Arlekina
in einem Athem.“ *)
Was ist es nun aber, das alle diese der Mode eigenthümlicheu
Züge gerade in unserer Zeit, die sich selbst mit Vorliebe das Prädikat
der aufgeklärten beilegt, so scharf herausgearbeitet hat? Diese Fragt*
ist naturgemäss schon oft aufgeworfen und ebenso oft beantwortet
worden, aber ich muss gestehen, dass keiner der Erklärungsversuche
mich voll befriedigt. Ich meine nicht jene Deutungen des Wesens der
Mode überhaupt. Hier sind die Untersuchungen SimmeFs und
Vischer's derart, dass ihnen kaum etwas Neues hinzugefügt werden
könnte. In dem Grundgedanken dieser beiden Schriftsteller, dass die
Mode „eine besondere unter jenen Lebensformen darstellt, durch die
man ein Compromiss zwischen der Tendenz nach socialer Egalisirung
und der nach individuellen Unterscheidungsreizen herzustellen sucht 4
(Simmel), ist sicher die psychologische Eigenart modemässigen Ver-
haltens richtig zum Ausdruck gebracht, sondern ich meine jene Theorien,
die die intensive Entfaltung der Modehaftigkeit in unserer Zeit, die
Durchtränkung des gesammten socialen Lebens der Gegenwart mit Mode,
die insbesondere die oben namhaft gemachten Specifica der modernen
Mode zu erklären sich anheischig machen. Sie tragen alle ein aus-
gesprochen doctrinärgekünsteltes Gepräge: wenn Vischer beispiels-
weise die stark ausgeprägte Modehaftigkeit der Gegenwart als eine
Frucht der scharfen Zuspitzung der Reflexion ansieht, zu welcher die
Gedankenströmungen des 18. Jahrhunderts das Bewusstsein gewetzt und
geschliffen haben. Man merkt ihnen auf den ersten Blick an, dass ihre
Verfasser keine rechte Vorstellung haben von der Art und Weise, *ie
denn „die Mode* heutigen Tags entsteht, also auch nicht von den
treibenden Kräften, die bei ihrer Bildung hauptsächlich thätig sind.
Mir scheint aber, als ob eine genaue Kenntnis dieser Vorgänge uns
allein in Stand setzt, den unserer Zeit eigentümlichen Verumständungen
J ) Vischer, a. a. 0. S. 52.
Wirthschaft und Mode.
i:>
bei der Bildung der Mode auf die Spur zu kommen und also auch allein
die Mittel an die Hand giebt, die aufgeworfene Frage sachgemäss zu
beantworten.
Um die ausserordentlich complicirten Zusammenhänge,
um die es sich bei der Entstehung der Mode handelt, mög-
lichst deutlich zur Anschauung zu bringen, greife ich eine bestimmte
Geschäftsbräuche, in der die Mode ja eine hervorragende Rolle spielt,
heraus: die Damenkleidung, und werde zunächst einfach erzählen, wie
in ihr die Entwickelung der Mode sich zu vollziehen pflegt. 1 )
Nehmen wir zum Ausgangspunkt ein Bi eslauer Damenmäntel-
Confectionshaus und treten wir in seine Geschäftsräume etwa in
der Pfingstwoche 1900 ein. So sehen wir die Detail Verkaufsräume natur-
gemäss angefüllt mit Jackets und Mänteln, die im Frühjahr und Sommer
1900 bedurft werden und deren Schicksal uns hier nicht interessiren
soll; wir finden dagegen die grossen Engros verkaufsh allen voller
Kleidungsstücke, die im Winter 1900/1901 getragen zu werden bestimmt
sind. Es sind einstweilen nur „Collectionen“, „Musterungen“, nach
denen die zureisenden Händler der Provinz ihre Bestellungen machen,
dieselben Coilectionen, mit denen in der Woche nach Pfingsten der
Schwarm der Reisenden auf der Suche nach Kunden ausserhalb Breslaus
auszieht. Diese Mäntel und Jacken tragen eine Mode: die Mode des
kommenden Winters. Wie ist sie entstanden? Zunächst sagen wir
einmal auf dem Wege der Inzucht: Zeichner unseres Breslauer Hauses
haben in Anlehnung an die herrschende Sommermode Entwürfe für
Wintersachen gemacht, die dann zur Ausführung gebracht sind: nach
Gutdünken. Aber in der Hauptsache ist es doch fremder Geist, der in
den Kleiderregalen unseres heimischen Geschäftes haust: die meisten
der dort ausgestellten Stücke sind nach Berliner Modellen, die der
Leiter des Geschäfts ein paar Wochen vorher in der Reichshauptstadt
bei den tonangebenden Confectionären, den Mannheimer und Consorten
eingekauft hat. Unser Weg zur Quelle der Mode führt uns also zu-
l ) Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf eigener Anschauung
und Aussprache mit Grossindustriellen und Grosshändlern der verschiedenen Branchen.
Das einzige, was aus der Literatur zu verwenden ist, ist das Werk von Coffignon.
Les Coulisses de la Mode (ca. 1888), dem ich viel Anregung verdanke. Es ist aber
durchaus feuilletonistisch-skizzenhaft gehalten. Ferner bieten einen reichen Stoff
in Einzelthatsachen, die freilich erst für die Zwecke der wissenschaftlichen Ver-
rerthung zurechtgemacht werden müssen, die zahlreichen Fachzeitschriften,
deren jede Branche ein halbes Dutzend und mehr besitzt, namentlich die öster-
reichischen, französischen und amerikanischen. Ganz besonders reichhaltig ist die
deutsche Zeitschrift „Der Confectionär“, der während der Saison zweimal
wöchentlich in Nummern von je 64 Folioseiten erscheint. Die im Text gegebeno
Darstellung ist an der Hand des Inhalts der letzten Jahrgänge des „Confectionärs“
luf ihre Richtigkeit hin geprüft worden.
16
Wirthschaft und Mode.
nächst nach Berlin : welcher Eingebung verdanken die Berliner
ihr Dasein? Theil weise wiederum eigener Conception: ein grösserer uni
gewandterer Stab von Dessinateuren, die im Dienste der Berliner
Confectionäre ihre Kunst verwerthen, hat aus den Vorlageblätfcem für
die Sommermode durch zweckentsprechende Abänderungen der Winter-
mode 1899/1900 — auf diese Veränderungen kommt es vor Allem an
— eine neue Wintermode heraus destillirt: hat beispielsweise die durch-
brochenen Aermel der Sommermode 1900 auf die Winterkleider der
kommenden Saison aufgeklatscht — nebenbei ganz unsinniger Weise
und rein mechanisch, denn der Durchbruch, der in der Sommertoilette
seine tiefere Bedeutung hat, wird zur Faxe bei der Wintermode. Aber
auch an den Berliner Collectionen, die den Codex für die Provinzen
Deutschlands abgeben, ist nur ein Theil eigene Erfindung. Ganz wesent-
lich haben auf ihre Gestaltung wiederum auswärtige Modelle eingewirkt;
diesmal Pariser Modelle, die die Berliner Confectionäre im Laufe des
Winters 1899/1900 in Paris eingekauft haben. In Paris beschäftigen
sich zahlreiche Geschäfte überhaupt nur mit der Anfertigung und dem
Vertrieb solcher Muster; es sind die sogen. Maisons d’echantillonneurs.
Woher haben diese Häuser ihre Mode? Auch sie haben sie nicht selbst
erzeugt, auch sie leuchten im Wesentlichen mit fremdem Licht. Diese
Licht aber, in dem die „Echantillonneurs“ leben, ist endlich die Central-
sonne, von der alle Mode in unserer Branche ausstrahlt: es sind die
grossen Schneider der halben Ganzwelt und ganzen Halbwelt in Paris.
Sie sind es, die die Originalmode schaffen, in unserem Falle also die
Wintermode 1900/1901 für Leitomisehel und Krotoschin im Frühling.
Sommer, Herbst 1899 geschaffen haben.
Es ist ein Studium für sich, ein höchst originelles und interessante
Kapitel : die Genesis derPariserMode, von dem ich nur einzelne
wenige Stücke hier wiedergeben kann. 1 )
Bekannt auf der ganzen Erde als Gebilde ganz eigenartiger Natur
sind die grossen Meister der Schneiderkunst: die „grands couturiers'.
die „tapissiers des femmes“, wie sie sich selbst lieber nennen hören, von
denen Michelet sagen zu sollen glaubte: „pour un tailleur. qui sent
modelle et rectifie la nature je donnerais trois sculpteurs classiques*.
Ihre Zahl ist nicht gering. Selbst führende Häuser giebt es fast ein
Dutzend, unter denen wiederum Rouff und Lafferiere, Pingat
und Worth, neuerdings vor allem Doeuillet und Doucet an Macht
und Ansehen hervorragen. Diese ganz Grossen sind in der „Kreirung"
der Mode fast autonom ; ganz selten, dass sie sich einer „ Anregung*
0 Yergl. noch ausser den bereits genannten Schriften: G. Worth, La c® 1 *
ture et la confection des vötements und Circulaire Nr. 14 der Serie A des Mn#*
social (30. Jun. 1897): „L’industrie de la couture et de la confection a Paria*'.
Wirthschaft und Mode.
17
bedienen, die ihnen die vendeurs d’idöes, die „dessinateurs de figurines“,
deren es etwa 12 in Paris giebt, gegen klingende Münze zukommen
lassen. Nur in Ausnahmefallen auch folgen sie den Anweisungen ihrer
Klientel.
Diese ist im Wesentlichen nur ihr Organ, ist nur das Instrument,
auf dem sie spielen. Vor allem die grossen tonangebenden Kokotten
und nächst ihnen die Heldinnen der Bühne — im Frühjahr 1899
beispielsweise die M e Bartet als Francillon, heuer mit Vorliebe die
ßöjane, die der Mannequin Doucet’s ist — dienen dazu, die meisten
Schöpfungen der genannten Herren, wie der Ausdruck lautet, zu
„lanciren“. Dieweil aber die Herrschaft der Demimondaine über Paris
naturgemäss im Winter geringer ist als in der guten Jahreszeit, so
liegen die eigentlichen Schöpfungstage der Mode im Frühjahr und
Herbst: es sind der Firistag im Salon, der Concours hippique, die
Rennen von Auteuil und namentlich der Grand Prix in den Long-
champs, während des Frühjahrs, neuerdings auch ein Grand Prix im
Herbst. Schlägt die neue Mode ein, so folgen die Mondaine der Demi-
mondaine bald nach und der Fortpflanzungsprocess, den wir oben
geschildert haben, kann beginnen, bis er sein Ende l x / 2 — 2 Jahre
später in den kleinen posenschen Städtchen an der russischen Grenze
erreicht.
Wir sagten: die europäisch -amerikanische Kleidermode sei die ur-
eigene Schöpfung des Parisers Schneiders. Das ist nun aber doch nur
mit einiger Einschränkung richtig: es bezieht sich nämlich nur auf die
„Fa^on“ der Kleidungsstücke. Machen wir uns aber klar, dass unser
„ Meister“ ja doch sein Werk componiren muss unter Zuhilfenahme
irdischer Stoffe; er bedarf der Seide und Wolle, des Samtes und Pelz-
werks, der Spitzen und Rüschen, der Passamente aller Art, der Knöpfe
und Schnallen, der Federn und Blumen, kurz einer unendlichen Fülle
gewerblicher Erzeugnisse, die ihre Geschichte schon hinter sich haben,
wenn sie in die Hände der Couturiers gelangen, deren Mode also
auch vorher schon gebildet sein muss. Zweifellos übt der
.schöpferische“ Schneider auch Einfluss auf die Moderichtung in allen
Branchen aus, deren Erzeugnisse ihm für sein Werk dienen: im grossen
Ganzen aber nimmt er die Stoffe und Zuthaten, wie sie ihm die ver-
schiedenen Industrien liefern, zum Ausgangspunkt für seine eigene
Composition. Auf unserer Wanderung ins Heimathland der Mode sind
wir also abermals auf ein ferneres Ziel hingewiesen : wir müssen die
Modebildung in den Hilfsindustrien der Schueiderei ins Auge fassen.
Und abermals stossen wir auf das Bureau von Dessinateurs, die im
Dienste der kapitalistischen Unternehmer „Muster“ und „Modelle“, sei
es für Stoffe, für Besätze, für Behang zeichnen, die von den Fabriken
ausgeführt und dann in Mustercollectionen zusammengestellt der Kund-
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. (II. Band, Heft XII.) *2
18
Wirthschaft und Mode.
schaft (die in diesem Falle nie der letzte Consument, sondern immer nur
wieder ein Fabrikant oder Händler ist) zur Auswahl vorgelegt werden.
Wer sich nicht eigene Zeichner halten kann, abonnirt sich auf solche
neue „Dessins“. In der Textilbranche giebt es in Paris Specialgeschätte
für Musteranfertigung, bei denen die grossen Webereien des In- und
Auslands ihren Bedarf an neuen Gedanken, „Dessins“, gegen Bezahlung
einer Pauschalsumme in jeder Saison zu decken in der Lage sind. In
einzelnen Branchen wurden die Muster der neuen Mode durch Beschluss
der Vertreterschaft der betreffenden Industrie gleichsam kanonisirt. So
giebt die „Chambre syndicale de fleurs et des plumes“ alljährlich eine
Farbenkarte heraus, die maassgebend ist für alle Blumen- und Feder-
erzeugung. Sie wird bestimmt wiederum auf Grund der Seidenband-
muster, die von den Lyoner Seidenbandfabrikanten zur Ansicht ver-
sandt werden und ist dann zum Preise von 3 Mk. überall käuflich.
So ergiebt sich schon ein Netz gegenseitiger Abhängigkeits-
beziehungen zwischen den einzelnen Industriezweigen selbst nach dieser
etwas schematisirten Darstellung. In Wirklichkeit ist es ein noch un-
endlich complicirterer Process, in dem die Mode zum Leben und zur
Verbreitung gelangt. Denn wenn es auch theoretisch nur für die grosser
Züge der Damenmodeentwicklung richtig ist, dass im Winter 189*99
die Stoff- und Knopfmode in den französischen Industrien creirfc winl
für die Kleider und Mäntel, die das provinziale Ostdeutschland im
Winter 1900/1901 trägt, so ist doch zu bedenken, dass dieser grad-
linige Entwicklungsgang durch zahlzeiche Tendenzen in verschiedenster
Richtung durchkreuzt wird : dadurch dass deutsche oder andere Schneider
und Confectionäre die französische Mode nach dem Original copiren.
ohne des umständlichen Y T ermittlungsmechanismus zu bedürfen, den wir
unserer Schilderung zu Grunde legen; dadurch, dass die „Dessins“ und
Mustercollectionen z. B. in der Textilindustrie eher Verbreitung finden
als die daraus gefertigten Kleidungsstücke, also selbstständig mode-
bildend wirken können; dadurch, dass die zahlreichen Fachzeitschriften
und Modejouruale die neue Mode schon fast im Momente ihrer Ent-
stehung, ja theilweise noch in ihrem embryonalen Zustande in alle Welt
verbreiten helfen: „Die Horcher wollen vernommen haben“, schreibt
beispielsweise der „Confectionär“ am I. Juni 1899, „dass Meister Worth
und Pingat für die Confection, die Mäntel und Paletots der Herbst-
saison dem engeren Aermel ihre Gunst entziehen .... Bei Redfern
wird man Herbstmodelle schaffen, die aus zweierlei Stoff gehalten sind
... Bei Francis in der Rue Auber will man den Karpfen sich zum
Muster nehmen . . . Doucet wird versuchen mittelst der M rae Re'jane
das Empirekleid wieder zu lanciren u. s. w. u. s. w.“ Endlich bleibt
auch zu bedenken, dass neben dem Hauptcentrum Paris auch noch
kleinere Centren in bescheidenen Grenzen modebildend wirken. Theih
Wirthschaft und Mode.
19
dadurch, dass sie Licht von der Centralsonne des Geschmacks borgen:
wenn die ausländische Gräfin oder Gesandtenfrau Dessins, die sie bei
einem berühmten Pariser „dessinateur de figurines“ erworben hat, bei
ihrer Wiener, Londoner oder St. Petersburger Schneiderin zur Aus-
führung bringen lässt. Gelegentlich aber wohl auch durch Eigen-
schöpfung : mit dem Rennen zu Ascot im Juni, mit dem Wiener Derby
ist immerhin zu rechnen. Es ist wenigstens möglich, dass an diesen
Tagen eine neue Mode englischer oder Wiener Inzucht das Licht der
Welt erblickt und ihren Rundgang durch Europa - Amerika ausnahms-
weise nicht von Paris aus beginnt.
Aber das alles betrifft nun erst die eine — allerdings wohl
wichtigste — Provinz des Reiches der Mode. Für die übrigen gelten
vielfach abweichende Gesetze. So ist das Centrum für die Entstehung
der Herrenmoden noch immer die Umgebung des Prinzen von Wales,
dessen Herrschaft namentlich für Hutformen und Cravattenfarben weit
über die Grenzen beider Indien hinausreicht. Schuh und Stiefel sind
besonders capriciös in Bezug auf die Mode. Sie empfangen ihre
Weisungen vielfach aus Amerika, seitdem Wiens Einfluss zurück-
gegangen ist und ihre Mode, könnte man sagen, wird auf abstractere
Weise lebendig: oft nur durch Vermittelung der Fachzeitschriften und
Modejournale, ohne das Dazwischen treten (im eigentlichen Sinne) eines
lebendigen Fusses oder Füsschens. Gelegentlich lancirt aber auch dieses
eine specielle Mode. So kamen die Moliereformen der Schuhe erst auf,
nachdem die Otero damit den Ostender Strand im Jahre 1899 beschritten
hatte u. s. f.
Ich denke aber, dass das Mitgetheilte genügen wird, um daraus
Aufschluss über die Fragen zu entnehmen, die uns beschäftigen. Was
nämlich als entscheidende Thatsache aus dem Studium des Mode-
bildungsprocesses sich ergiebt, ist die Wahrnehmung, dass die Mit-
wirkung des Consumenten dabei auf ein Minimum be-
schränkt bleibt, dass vielmehr durchaus’ die treibende
Kraft bei der Schaffung der modernen Mode der capita-
lis tische Unternehmer ist. Die Leistungen der Pariser Cocotte
und des Prinzen von Wales tragen durchaus nur den Character der
vermittelnden Beihilfe.
Alle Eigenarten der modernen Mode, wie wir deren einige oben
aufgezählt haben, sind also aus dem Wesen der capitalistischen Wirth-
schaftsverfassung zu erklären: eine Aufgabe, deren Lösung nunmehr
nicht die geringsten Schwierigkeiten mehr bereitet.
Der Unternehmer, mag er Producent, mag er Händler sein, ist
durch die Concurrenz gezwungen, seiner Kundschaft stets das Neueste
vorzulegen, bei Gefahr ihres Verlustes. Wenn ein halb Dutzend Gross-
confectionäre um den Absatz bei einem kleinstädtischen Kleiderhändler
• 2 *
20
Wirtschaft und Mode.
sich bemühen, so ist es ganz ausgeschlossen, dass sie sämmtlich nicht
mindestens auf der Höhe der neuesten Mode sind ; die Tuchfabrik, die
einem grossstädtischen Schneider auch nur ein um wenig Monate älteres
Dessin schicken, die Baumwollenfabrik, die dem Modewaarenbazar nicht
die letzte Neuheit anbieten würde, scheiden von vornherein aus dem
Wettbewerbe aus. Daher das weitverbreitete Streben des Unternehmers,
mindestens auf dem Laufenden zu bleiben, sich stets in den Besitz
der neuesten Mustercollectionen, der neuesten Vorlageblätter zu setzen.
Hier liegt die Erklärung für die Verallgemeinerung der Mode. Und
sofern es einer ganzen Categorie von Geschäften darauf ankommen
muss, das obige „Mindestens“ zu überbieten, durch reizvolle Neuheiten
den Kunden überhaupt zum Kauf und zwar zum Kauf bei ihnen zu
veranlassen, erzeugt die capitalistische Concurrenz die zweite Tendern
der modernen Mode: die Tendenz zum raschen Wechsel.
Ueberall aber, wo wir den Producenten selbst am Werke sahen,
um durch eigene „Weiterbildung“ Neues zu schaffen, wo der Confectionär
oder Textilwaarenfabrikant eigene Dessinateure unterhält, gar aber erst
bei den Geschäften, die nur dadurch bestehen, dass sie andere Neu-
heiten liefern: überall dort wird ein Herd für ein wahres Neuerung^
lieber geschaffen. Man saugt sich das Blut aus den Nägeln, martert das
Hirn, wie es denn möglich zu machen sei, immer wieder und wieder
etwas „Neues“ — und darauf kommt es im Wesentlichen an — auf
den Markt zu werfen. Ich will hier einen Stimmungsbericht aus der
Textilbranche wiedergeben, der mut. mut. für alle Geschäftszweige zu-
trifft und die Situation in ein helles Licht setzt. Es heisst da in der
Nummer des „Confectionärs“ vom 11. Mai 1899, dass die „Musterungen 4
(für das Frühjahr 1900) begonnen haben und dann weiter: „Dieser
kostspielige, schwierige Theil unserer Fabrikation verursacht von Saison
zu Saison mehr und mehr Kopfzerbrechen. Die Frage: was mustern ? ist
eine leicht gestellte, aber ungemein schwer zu beantwortende Neue
Sachen, neue Artikel, neue Dessins sollen gebracht werden. Leicht war
dies für Fabrikanten und Musterzeichner noch vor einigen Jahren, als
dies Gebiet noch nicht so ausgetreten und die Nachfrage eine bessere
war. Aber jetzt, wo die geradezu riesenhaften Anstrengungen allent-
halben gemacht worden sind und noch gemacht werden, wo man be-
reits alles mögliche im Laufe der letzten Jahre gemustert und gebracht
hat. wo man jede Verzierungsform, seien es nun Blätter und Blüthen
oder ornamentale Sachen, Diagonalen, langgestreifte und traversbildende
Muster nach jeder erdenklichen Richtung hin ausgebeutet hat; jede
Bindung und jeden Versatz durchprobirt und in Anwendung brachte,
und jedes Garn in allen nur möglichen Binduugen und Zusammen-
stellungen verarbeitete, jetzt ist es für Fabrikanten, Musterchef und
Musterzeichner schwer, oft geradezu eine Sorge: die Zusammenstellung
Wirth Schaft und Mode.
21
der neuen Collectionen. Vor einigen Jahren genügte es vollkommen,
wenn die Musterzeichner eine Collection abgesetzter Sachen, worunter
höchstens noch einige Rheingoldstreifen sich befanden, vorlegte. Man
wählte eine Anzahl Dessins für Atlasfond, Ripscreme und einige ein-
fache Grundbildungen, bestellte noch einige Rheingoldstreifen und Trauer-
crepes und war mit dem Musterzeichner fertig. Tauchte einmal etwas
Neues auf, und das war damals nicht schwer, so wurde eine oder
mehrere Saisons nebst der jetzt gänzlich verschwundenen
Nachmusterung fast weiter gar nichts gemacht, als (folgt eine
Aufzahlung stereotyper Muster). Alles dieses waren Artikel, welche
andauernd und mit Erfolg gemustert wurden.“
Bei dieser Sachlage ist es leicht verständlich, dass die Fabrikanten
hocherfreut sind, wenn ihnen von irgendwoher die Möglichkeit ge-
schaffen oder vergrössert wird, „Neuerungen“ an einem Artikel vorzu-
nehmen, mit anderen Worten, ihn der Mode mehr als bisher zu unter-
werfen. So lesen wir in einemBericht aus der Cravattenbranche (Con-
fectionär vom 13. VII. 1899): „Es ist nicht zu verkennen, dass der
Cravattenfabrikation ein sich immer mehr vergrösserter Spielraum bei
der Auswahl der Stoffe eingeräumt wird . . . Die früher als verpönt
geltenden Nüancen schmeichelten sich allmählich ein. Je mehr die
Farbenscala an Umfang gewinnt, um so interessanter und vorteilhafter
dürfte sich das Geschäft für die Fabrik und den Detailleur gestalten,
weil unter diesen Bedingungen häufiger ein radicaler Genre-
wechsel vor sich gehen kann, den die früheren Verhältnisse verboten.
Die Mode ist in das Gebiet der Herrencravatten-Confection eingezogen
und regt alle betheiligten Factoren zu rühriger Thätigkeit an.“
Damit nun aber dieses immer heftigere Concurrenzstreben der
Unternehmer untereinander auch wirklich immer den Effect des Mode-
wechsels habe, müssen noch einige andere Bedingungen in dem socialen
Milieu erfüllt sein, so wie es heute der Fall ist. An sich wäre es ja
möglich, dass ein Concurrent dem andern durch grössere Güte oder
Billigkeit einer nach Form und Stoff unveränderten Waare zuvor-
zukommen suchte. Warum durch den Wechsel der Mode? Zunächst
wohl deshalb, weil hierdurch noch am ehesten ein fictiver Vorsprung
erzeugt wird, wo ein wirklicher nicht möglich ist. Es ist immerhin
noch leichter, eine Sache anders, als sie besser oder billiger herzustellen.
Dann kommt die Erwägung hinzu, dass die Kaufneigung vergrössert
wird, wenn das nene Angebot kleine Abweichungen gegenüber dem
früheren enthielt: ein Gegenstand wird erneuert, weil er nicht mehr
•modern“ ist, trotzdem er noch längst nicht abgenutzt ist: die berühmte
•Meinungsconsumtion“ Storch 's. Endlich wird damit der von uns
gekennzeichneten Stimmung des Menschen heutzutage Rechnung ge-
tragen, die dank ihrer inneren Unrast auch eine gesteigerte Freude am
22
Wirthschaft und Mode.
Wechsel haben. Aber der entscheidende Punkt ist mit alledem noch
nicht getroffen ; das ist vielmehr folgender : Es ist einer der Haupttricb
unserer Unternehmer, ihre Waare dadurch absatzfähiger zu machen,
dass sie ihr den Schein grösserer Eleganz, dass sie ihr vor Allem anch
das Ansehen derjenigen Gegenstände geben, die dem Consum einer
socialen höheren Schicht der Gesellschaft dienen. Es ist der höchste
Stolz des Commis, dieselben Hemden wie der reiche Lebemann zu tragen,
des Dienstmädchens, dasselbe Jackett wie seine Gnädige anzuhaben,
der Fleischersmadam, dieselbe Plüschgarnitur wie Geheimraths zu be-
sitzen u. s. w. Ein Zug, der so alt wie die sociale Differenzirung xu
sein scheint, ein Streben, das aber noch niemals so vortrefflich hat be-
friedigt werden können, wie in unserer Zeit, in der die Technik keine
Schranken mehr für die Contrefa^on kennt, in der es keinen noch so
kostbaren Stoff, keine noch so complicirte Form gibt, als dass sie nicht
zum Zehntel des ursprünglichen Preises alsobald in Talmi nachgebildet
werden könnten. Nun ziehe man des Weiteren in Betracht das rasend
schnelle Tempo, in dem jetzt irgend eine neue Mode zur Kenntniss des
Herrn Toutlemonde gelangt : mittels Zeitungen, Modejournalen, aber
auch in Folge des gesteigerten Reiseverkehrs etc.
Wie mir ein hiesiger Confectionär klagte: vor ein paar Jahren
noch, wenn da der Reisende mit der neuen Mustercollection in der
kleinen Stadt ankam und seine Koffer auszupacken begann, da sammelte
sich ein Kreis staunender Bewunderer um das Mädchen aus der Fremde
und ein Ah ! nach dem andern entrang sich den Lippen der Zuschauer
Jetzt heisst es: „Ja, aber ich bitte — da habe ich neulich in meinem
Journal von der und der neuesten Fa^on gelesen: die fehlt ja gani
wie mir’s scheint, in Ihrer Collection, werther Herr** . . . Und kaum,
dass die Mode bekannt geworden, der lange Damenpaletot in der
Gesichtskreis der Ostrowoer Schönen getreten ist, so liefert die Con-
fection ihn, der eben noch nicht unter 80 Mark zu haben war, .genau
denselben** auch schon für 30 Mark. Und wenn eben mit Mühe und
Noth eine Sommerhemdenfa<;on für Herren gefunden schien, die nicht
jeder Ladenschwengel tragen konnte: die ungestärkten, bunten Ober-
hemden mit festen Manchetten, weil sie zu theuer waren, so hängen
im nächsten Sommer schon gleichfarbige Vorhemdchen mit ebenfalls
weichem Einsatz aus zum Preise für 1 Mark das Stück u. s. w. Dadurch
wird nun aber ein wahres Steeplechase nach neuen Formen und Stoffen
erzeugt. Denn da es eine bekannte Eigenart der Mode ist, dass sie in
dem Augenblick ihren Werth einbüsst, in dem sie in minderwertiger
Ausführung nachgeahmt wird , so zwingt diese unausgesetzte Ver-
allgemeinerung einer Neuheit diejenigen Schichten der Bevölkerung, die
etwas auf sich halten, unausgesetzt auf Abänderungen ihrer Bedarfs-
artikel zu sinnen. Es entsteht ein wildes Jagen, dessen Tempo in dem
Wirthschaft und Mode.
23
Maasse rascher wird, als die Productions- und Verkehrstechnik sich
vervollkommnen, nach ewig neuen Formen. Kaum ist in der obersten
Schicht der Gesellschaft eine Mode aufgetaucht, so ist sie auch schon
entwerthet dadurch, dass sie die tiefer stehende Schicht zu der ihrigen
ebenfalls macht: ein unterbrochener Kreislauf beständiger Revolutionirung
des Geschmacks, des Consums, der Production.
Eine wichtige Rolle in diesem Prozesse, der die innerste Natur
der modernen „ Moderaserei“ erst zum Verständniss bringt, spielen die
modernen grossen Detailhandelsgeschäfte, namentlich die Grands magasins
de nouveautds. Eins ihrer beliebtesten Manöver ist es, irgend einen
Kleiderstoff oder sonstigen Modeartikel, nachdem die allererste Hochfluth
der Nachfrage in den führenden Kreisen der ganzen und halben Welt
vorüber ist, in grossen Posten bei den Fabrikanten zu bestellen, so
dass sie ihn erheblich billiger beziehen, und ihn dann als Lockartikel
zum Selbstkostenpreise abzugeben: die Folge ist, dass alle Damen, die
gern ä la mode sich kleiden oder einrichten möchten, und deren
Portemonnaie doch nicht gross genug dazu ist, es den obersten Zehn-
tausend nachzuthun, nun die Gelegenheit begierig ergreifen, die „derniere
nouvaute“ im Bon Marche oder Louvre en masse zu kaufen, die dann
natürlich aufgehört hat, überhaupt noch von „anständigen“ Menschen
benutzt werden zu können.
Mit dieser letzten Gedankenreihe sind wir schon aus dem Kreis
der Betrachtungen herausgetreten, denen dieses Capitel gewidmet war:
der Umgestaltung des Consums, und haben schon hinübergegriffen in
den Bereich des nächsten Abschnittes, der die Neugestaltung der Absatz-
formen zur Darstellung zu bringen hat.
Wir nehmen Abschied von dem reizvollen Capitel von dem „ä la
Mode-Teufel“ und der Art, wie er in der Gegenwart sein oft genug
drolliges Wesen treibt, mit der Empfindung, dass unsere Ausführungen
den Zusammenhang in aller Deutlichkeit aufgewiesen haben, der auch
zwischen dem Phänomen der Mode und unserer Wirthschaftsorganisation
besteht. Man wird nicht zu fürchten brauchen, der Uebertreibung ge-
ziehen zu werden, wenn man behauptet: die Mode ist des Capitalismus
liebstes Kind: sie ist aus seinem innersten Wesen heraus entsprungen
und bringt seine Eigenart zum Ausdruck wie wenig andere Phänomene
des socialen Lebens unserer Zeit.
I : ’1
*:
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Soeben erschien:
Der
Einfluss des Alkohols
auf den
Organismus.
Von
Dr. Georg Bosenfeld,
Sp.xi.lxrxt für innere Krankheiten in Breslau.
M. 5 .60.
Auszug aus dem Inhalt.
I. Teil.
Die somatischen Leistungen des Alkohols.
Am Die physiologischen Wirkungen.
1. Der Alkohol und der Stoffwechsel.
2. Per Alkohol und die Verdauung.
3. Der Alkohol und die Wasserausscheidung.
4. Der Alkohol und die Atmung.
5. Der Alkohol und die Cirkulation.
6. Der Alkohol und die Temperatur.
7. Der Alkohol und das motorische Nervensystem.
B. Die pharmakologischen Wirkungen.
8. Die akute Alkoholvergiftung.
9. Die chronische Alkohol Vergiftung.
C. Die pathologisch-anatomischen Wirkungen.
D. Die therapeutischen Leistungen des Alkohols.
1. Alkohol bei akuten Infektionskrankheiten.
2. Alkohol bei chronischen Infektionskrankheiten.
3. Alkohol bei der Mast.
4. Alkohol bei Herzkrankheiten.
5. Alkohol bei Magen- und Darmaffektionen.
6. Alkohol bei Nieren - und Leberkrankheiten.
7. Alkohol in Stoffwechselkrankheiten.
8. Alkohol bei Nervenkrankheiten.
9. Alkohol als Schlafmittel.
10. Chirurgische Anwendung des Alkohols.
II. Teil.
Die psychischen Leistungen des Alkohols.
A Alkohol und Psychologie.
B. Alkohol und Psychopathologie.
III. Teil.
Wie sollen die Ärzte zur Alkoholfrage Stellung nehmen?
1. Soziales vom Alkohol.
2. Hygienisches vom Alkohol.
3. Alkohol und Rassen hygiene.
4. Die Stellung der Arzte zur Alkoholfrage.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Soeben erschien:
Der Hypnotismus.
Handbuch
der Lehre von
der Hypnose und der Suggestion
mit besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung
für
Medizin und Rechtspflege.
Von
Dr. L. Löwenfeld,
Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München.
Mk. 8.80.
Inhalt: Geschichtliches. — Suggestion. — Suggestlbilitit. — H jfmm
nnd Schlaf. — Hypnotislrbarkeit. — Die Technik der Hjpn*
tisirung. — Die Erscheinungen der normalen Hypnose. — Die
pathologische Hypnose. — Weitere besondere Formen der
Hypnose. — Posthypnotische Erscheinungen. — Die auser
gewöhnlichen Erscheinungen des Somnambulismus. — Die der
Hypnose verwandten Zustände. — Die Hypnose bei Thierei.
— Theoretisches. — Hypnose und Suggestion im Dienste der
Medizin. — Hypnose nnd Suggestion in ihrer Bedeutung fir
die Rechtspflege. - Hypnotismus und Psychologie. — Die
Suggestion in ihrer Bedeutung für das geistige Leben der Massai.
Die
anorganischen Salze
im
menschlichen Organismus.
Nach den Grundsätzen der modernen Chemie
systematisch zusammengestellt
von
Dr. R. Brasch in Bad Kissingen.
:: : : Preis Mk. 4.80. ■ ■ , M r
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Die Leitungsbahnen
des
Gehirns und des Rückenmarks,
vollständiger Darlegung des Verlaufes und der Verzweigung
der Hirn- und Bückenmarksnerven
von
Rudolf Glaessner.
— — — - Mit 7 farbigen Tafeln. - ■ —
Mh. 3.—.
Auszug aus dem Inhaltsverzeichniss.
Markfasersysteme des Gehirns.
I. Associationsfascrsvsteme. II. Kommissurenfasersysteme. III. Zu
(respective von) tiefer gelegenen Teilen des Grosshims und Himstammes
IV. Zu (respective von) tiefer gelegenen Teilen des Himstammes, Klein-
hirns und im Rückenmark.
Kleinhirn.
Markfasersysteme des Rückenmarks.
1. Vorderhorn. 2. Seitenhorn. 3. Clark’sche Säulen. 4. Solitäre
Ganglienzellen der Hinterhörner.
Gesamtverlauf der Gehirnbahnen.
Verlauf der Bahnen in den einzelnen Abschnitten von Hirnmantel,
Himstamm und Rückenmark.
A. Rückenmark, Nachhirn, Hinterhirn und Kleinhirn.
B. Mittelhirn.
C. Zwischenhirn und Grosshirn.
Sensible Bahnen für Blase, Mastdarni, Sexualorgane.
Verbindungssysteme der motorischen und sensiblen Bahnen.
Nerven-Topographie.
A. Gehirnnerven.
B Die Rückenmarksnerven.
Der Verfasser hat den Gedankengang festgehalten bei der
Schilderung der Verlaufsrichtung der Hirnbahnen ihre Funktionsrichtung als
die einzig massgebende zu beschreiben. Im I. Theil werden die Markfasersysteme
des Gehirnes und des Rückenmarkes, das Kleinhirn und der Verlauf der Bahnen
abgehandelt. Der II. Theil bespricht die Nerventopographie nach Systemen
geordnet. Am Schluss des Werkes finden sich 7 farbige Tafeln, welche in
schematischer Weise die Fasersysteme und den Verlauf der Bahnen illustriren,
respektive der topographischen Orientirung dienen. Die schwierige Aufgabe, die
sich der Verfasser gestellt hat, hat er in vortrefflichster Weise gelöst, indem die
Klarheit seiner Darstellung und die übersichtliche Art der Anordnung ein leichtes
Erfassen dieser so schwierigen Verhältnisse ermöglichen. Die Ausstattung des
Buches ist eine vortreffliche. Wiener klin. Rundschau,
Verlag yoii J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Soeben erschien:
Vorlesungen
Ober die
Pathologische Anatomie des Rückenmarks.
Unter Mitwirkung von
Dr. Siegfried S&cki, Nervenarzt in München.
Herausgegeben von
Dr. Hans Schmaus, >' »
A. O. Professor u. I. Assistent am pathologischen Institut in München.
Mit 187 theilweise farbigen Textabbildungen.
-= Preis M. 16.- =-
Auszug aus Besprechungen.
.... Die Vorleßun gen von Schmaus über die pathologische
Anatomie des Rückenmarkes sind das erste und einzige jetzt
existirende Werk, in welchem die verschiedenen Krankheiten
dieses Organes auf Grund streng anatomischer Forschung in
zusammenhängender Form bearbeitet sind
.... Die zahlreichen, nach Originalpräparaten des Verfassers hergestellten
vortrefflichen Abbildungen tragen wesentlich zum leichteren A r erstandniss de»
überaus klar und anregend geschriebenen Textes bei
. . . . Schmaus, welcher gerade in der Erforschung der pathologischen
Anatomie des Nervensystems schon Hervorragendes geleistet hat, nat sich durch
die Herausgabe des vorliegenden Werkes ein grosses Verdienst und damit gewiss
auch den Dank der Kliniker und Aerzte erworben; denn thatsächlich
wird durch das ausgezeichnete Werk eine empfindliche Lücke*
in der medicinischen Literatur endlich ausgefüllt.
Professor Hauson i. d. Münch, med. Wochenschrift.
Ein vortreffliches Buch, das fürs erste einzig in seiner Art ist. Es ver-
bindet kurze klinische Darstellung der Krankheitsbilder mit sorgfältiger, ja er-
schöpfender Beschreibung ihrer anatomischen Grundlagen. Dabei ist die vor-
urtheilsfreie, objektive Betrachtung und Deutung des Verhältnisses von klinischem
Bilde einerseits und anatomischem Befunde andererseits für den Leser ein
seltener Genus?. St. Petersburger tnediz . Wochenschrift Nr. 27, 7. Juli 1901 .
Das Buch ist sehr anregend geschrieben; für den Inhalt bürgt der Name
de3 Verfassers. Die Ausstattung ist über jedes Lob erhaben.
Deutsche Medizinal- Zeitung.
Die vielgebrauchte, nahezu schon stereotype Redewendung von der „Aus-
füllung einer längst gefühlten Lücke in der Litteralur* lässt sich auf das vor-
liegende Werk thatsächlich voll und ganz an wenden. Bei der Unsumme der in
den verschiedenen Zeitschriften verstreuten Mittheilungen über pathologisch-
anatomische Befunde am Nervensystem that wahrlich ein Buch noth, welches in
systematisch zusammen fassender Weise den Stand unserer gegenwärtigen Kennt-
nisse von der pathologischen Anatomie, wenigstens für das Rückenmark, lehrt.
Dass dabei auch die normale Anatomie, z. B. die Lehre von dem Aufbau der
weissen Substanz u. s. w., nicht zu kurz kam, versteht sich von selbst. Die
Ausstattung des Buches ist sehr hübsch. Nicht weniger als 187, zum grossen
Theile farbige Abbildungen finden sich im Texte, welche meisten* nach Original-
präparaten gezeichnet sind. Das Buch kann jedem bestens empfohlen werden-
Centralblatt f. d. Grenzgebiete der Mediz. Chirurgie.
Druck von Carl Ritter in Wiesbaden.