X
:/■
Phil 16.2
V
V^O.
W
GRENZFRAGEN DES NERVEN- UND SEELENLEBENS.
EINZEL -DARSTELLUNGEN
Füa
GEBILDETE ALLER STÄNDE.
IM VEREINE MIT HERVORRAGENDEN FACHMÄNNERN DES IN- UND AUSLANDES
HERAUSGEGEBEN TON
Dr. med. L. LOEWENFELD und Dr. med. H. KURELLA
IN MÜNCHEN.
IN BRESLAU.
VI/VII.
ÜBER WAHNIDEEN IM VÖLKERLEBEN
VON
Dr. M. FRIEDMANN
Nervenarzt in Mannheim.
« .1»
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1901.
■v;
Verlag von J. F. BERGMANN m Wiesbaden.
Von demselben Verfasser erschien in gleichem Verlage:
Ueber den Wahn.
Eine klinisch-psychologische Untersuchung
nebst einer
Darstellung der normalen Intelligenzvorgänge
Von
Dr. M. Friedmann,
Nervenarzt in Mannheim.
Mit 5 Figuren im Text, — Preis M. 8 . —
INHALT.
Normal -psychologischer Theil. I. Die Erinnerungsassociation
und ihr Schema. — II. Die Ideenassociation und ihre Gesetze. —
III. Die Associationsstufen sogen. Bewusstseinsformen, Apper-
ception. — IV. Die Associationsform im logischen Denken. —
V. Uebersicht des physiologischen und chemischen Grundplans des
psychischen Organs, sogen. Mechanik des Denkens. — VI. Die
Bildungsweise des Realitätsurtheils. — Schlussübersicht.
Klinischer Theil. I. Abtheilung: I. Vorbemerkung. Die psy-
chologische Methode in der gegenwärtigen Psychiatrie. — II. Kurzer
Abriss der Entwickelung der Paranoialehre. — III. Uebersicht der
Anomalien der vorstellenden Thätigkeit. — IV. Die psychologische
Veranlagung der Paranoia und verwandter Formen. — II. Abthei-
lung: Einleitung. Die jetzigen Theorien der Wahnbildung in der
Paranoia. — Das falsche Realitätsurtheil bei annähernd normalem
centralisirtem Denkablauf; a) die Zwangsidee, b) die paranoische
Wahnidee. — II. Die überwerthigen Ideen bei affectiven Psychosen
und im Schwachsinn. — Schlusswort.
Bei dem lebhaften Interesse, das der Paranoiafrage gerade in letzter Zeit
entgegengebraeht wird, dürfte das Werk Fried m an n’s, das eine psychologische
Zergliederung der Wahnbildung unter Zugrundelegung der klinischen Thatsachen
versucht, Vielen willkommen sein. Verf., der auf dem Boden der Associationspsycho-
logie steht, erörtert zunächst im Sinne dieser Lehre die Grundlagen des normalen
Denkens, während er im zweiten Theil die überwerthigen Ideen und die para-
noische Disposition im Allgemeinen bespricht und sich dann den speciellen psycho-
logischen Analysen der Wahnideen einschliesslich der Zwangsideen zuwendet.
Ein Schlusswort giebt noch einmal in gedrängter Kürze eine Uebersicht über
den ganzen Gedankengang des Buches. Das äusserst anregend geschriebene und
zahlreiche neue Gesichtspunkte enthaltende Werk dürfte, da es eine nicht unbe-
trächtliche Menge specieller Kenntnisse voraussetzt, seine Leser namentlich unter
den Fachgenossen des Verf.’s finden, die gewiss mit Interesse seinen Darlegungen
folgen werden. Berliner klin . Wochenschrift .
GRENZFRAGEN
DES
NERVEN- UND SEELENLEBENS.
EINZEL-DARSTELLUNGEN
FÜR
GEBILDETE ALLER STÄNDE.
IM VEREINE MIT HERVORRAGENDEN FACHMÄNNERN
DES IN- UND AUSLANDES
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. med. L. LOEWENFELD und Dr. med. H. KURELLA
IN MÜNCHEN. IN BRESLAU.
SECHSTES UND SIEBENTES HEFT:
ÜBER WAHNIDEEN INN VÖLKERLEBEN
VON
Dr. M. FRIEDMANN
Nervenarzt in Mannheim.
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1901.
OBER WAHNIDEEN IM VÖLKERLEBEN
VON
Dr. M. FRIEDMANN
Nervenarzt in Mannheim.
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN.
1901.
Harvard GoiIi»ffe Library
Se t. 19, 1Ö21
üayward X uau
Alle Rechte Vorbehalten.
Druck von Carl Ritter in Wiesbaden
Inhalts -U ebersicht.
I. Einleitung und Allgemeines
Frühere Deutung der Besessenheit« -Epidemien als wahrer
Geisteskrankheit. — Jetzige Deutung durch den Begriff der Suggestion.
— Die hypnotische Suggestion und die sogen. Wachsuggestion. —
Grundlage der subjectivcn Ueberzeugung. — Einwirkung der Sug-
gestion auf den Urtheilsprozess, das Primärurtheil u. die Suggestividee.
— Genese und psychologische Natur der Suggestividee, erläutert
durch die Analysirung der religiösen Vorstellungen, iubesondere bei
Naturvölkern.
II. Wahnideen im Völkerleben auf einfach suggestiver Grundlage
Unterstützende Faktoren der Massenbewegungen (Wegfall der
Hemmungen und Einfluss des Beispieles), Hinweis auf die Drevfus-
Affaire. — Massgebender Einfluss einzelner überragender Personen,
z. B. Mohammed’s. — Die sogen. Pai-Marire-Religion auf Neuseeland.
— Die Anachoreten - Bewegung in Aegypten. — Die Periode der
Hexenprozesse und des Hexenwahns. — Die Tulpenmanie in Holland
und die John Law-sche Transaktion. — Die anarchistische Bewegung.
— Der politische Wahn, sein Wesen, der Radikalismus, nationaler
Grössenwahn und nationale Eifersucht. — Extreme religiöse Sekten
moderner Zeit. — Verehrung mystischer Schwärmer. — Der Mahdismus
im Sudan. — Die Heilsarmee. — Russiche Sektirer, die Skopzen u. s. w.
— Religiöse Mördersekte in Indien. — Schlussfolgerungen, suggestive
Bedeutung der Propaganda und der politischen Agitation.
III. Wahnideen und perverse Massenbewegungen von hypnotischen
und exstatischen Zuständen begleitet
Hypose und Exstase als Aeusserungsform der Suggestion bei
hypersensiblen Naturen und nervös überreizten Personen. — Be-
deutung der Exstasen innerhalb der perversen Massenbewegungen,
Gründe ihres Verschwindens in der Gegenwart. Verbindung der
Exstasen mit der Religion überall beim ganzem Menschengeschlecht,
speziell bei Naturvölkern. - Bosossenheitsopidomicn in Kleistern
und Waisenhäusern. -- Die Lykanthropie-Epidemie nervöser Tic’s
(Lafra-Krankheit). — Epidemien der Theomanie. Trembleurs des
Cövennes u St. Medardus-Epidemie, sog. Erweckungen der Methodisten.
Schlussbemerkung und Schlussubersicht
Seite
203—231
232—280
281—299
300 - 305
I. Einleitung und Allgemeines.
In der geistigen Geschichte der Menschheit haben wiederholt, ja
eigentlich zu jeder Zeit Vorstellungen in grossen und kleinen Kreisen
eine starke Herrschaft geübt, welche theils in ihren Folgen sich grauen-
haft; und verderblich erwiesen haben, theils mehr lächerlich und kindisch
uns anmuthen. Man bezeichnet sie heute ziemlich allgemein als Wahn-
ideen, als Wahngebilde im V ölkerleben, und man dürfte dazu
nicht so sehr veranlasst sein durch die Kritik, welche gegenwärtig auf
unserem hohem Stande der geistigen Cultur sich uns jenen trüben Aus-
geburten einer vergangenen Zeit gegenüber aufdrängt; vielmehr mag
maassgebend sein, dass man längere Zeit hindurch, speciell seit dem
Beginne des vorigen Jahrhunderts sich gewöhnt hatte, die grellsten jener
geistigen Strömungen direct als eine epidemische Geisteskrank-
heit, als wirklichen Wa hn sinn aufzufassen. Das war sicherlich ein
grosser und ausserordentlich segensreicher Fortschritt im Vergleich zu
den Epochen, wo man die Erscheinungen nur unter dem Gesichtspunkte
einer satanischen Verzauberung oder im günstigen Sinne der direkten
Einwirkung der göttlichen Kraft (Inspiration, Ausgiessung des heiligen
Geistes), jedenfalls aber als übernatürliche Wunderwirkung glaubte be-
greifen zu können. Aber es war doch jene naturalistische Erklärung
der Aerzte, welche endlich den Sieg über die Wundergläubigkeit davon
trug, auch keine ganz glückliche; und dass sie sich dennoch Geltung
verschaffte, beruht, wie der schottische Historiker der Aufklärung,
William Hartpole Le cky ') ganz richtig bemerkt, nicht sowohl auf
der inneren Kraft der neuen Argumente, als darauf, dass inzwischen
eine andere Zeit angebrochen war, welche das permanente Wunder für
abgeschmackt hielt und um so mehr nach naturalistischen Erklärungen
verlangte.
In der That wurde die Deutung der Zustände als Geisteskrankheit
der beinahe merkwürdigsten Eigenschaft derselben nicht gerecht, dass sie
eine so überaus starke Tendenz zur e p i d e m i s c h e n Ausbreitung über
ganze Bevölkerungsklassen, vorab die Frauen und zeitweise auch die
Kinder, an den Tag legten; man sah z. B. dämonische Besessenheit
J ) W. H. Lecky, Geschichte des Ursprunges und des Einflusses der Auf-
klärung in Europa, deutsch. Uehers., II. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1873.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 14
204
lieber Wahnideen im Völkerleben.
auf einmal die Hälfte der Insassen eines ganzen Nonnenklosters nicht
selten ergreifen, oder bei den grotesken pietistischen Uebungen der
amerikanischen und irischen Methodisten wohl 25 °/ 0 der heimgesuchten
Ortschaften in hallucinative und visionäre Zustände begleitet von
sonderbaren Sprüngen und Tänzen gerathen ; ja endlich bei den berühmten
Trembleurs des Cevennes wurde vielleicht die Ueberzahl jener nach
Tausenden zählenden unglücklichen Hugenotten trotz der grössten
Lebensgefahr, welche sie dadurch liefen, vom Geiste Gottes erfasst, ge-
schüttelt und zu visionärem Prophetismus getrieben. Man hat denn
auch, nachdem Tausende und Abertausende als Verursacher solcher
Besessenheit oder als Teufelsanbeter unter Martern dem Scheiterhaufen
überantwortet worden waren, deren Beschreibung uns heute noch das
Studium dieser Dinge zu einem der peinvollsten in der Menschheits-
geschichte gestaltet, man hat, sage ich, schon damals sich natürlich von
der grauenhaften Beschuldigung zu reinigen gesucht, dass die Kirche
damit nur unselige Geisteskranke so unsagbar misshandelt und qualvoll
getödtet habe. Man durfte nicht allein dogmatische Beweise geltend
machen, auch nicht bloss die grosse Zahl freiwilliger Geständnisse und
anscheinend einwandfreier Zeugenaussagen, welche eidlich bekundeten,
die Hexenpraktiken mit eigenen Augen gesehen zu haben. Und doch
konnte man damals noch nicht ahnen, wie sehr häufig eine im besten
Glauben gegebene und einfache thatsächliche Beurkundung von angeblich
Selbst-Gesehenem objectiv falsch sein und lediglich auf Illusion beruhen
kann. Man durfte aber ausserdem hinweisen, und die angesehensten
Aerzte des 15. bis 17. Jahrhunderts haben darin beigestimmt, dass die
sonst bekannten Psychosen, eine Melancholie, eine Manie u. s. w., durch-
aus nicht sich epidemisch verbreiten. Auch heute noch wird ja die
sogenannte Folie ä deux höchstens innerhalb eines einzigen Hausstandes
beobachtet und die Zahl von 3 bis 4 gleichzeitig ergriffenen Familien-
mitgliedern ist schon eine hohe und recht ungewöhnliche. A n -
steckend sind also Psychosen sonst nicht. Dabei war früher die
typische Geisteskrankheit keineswegs unbekannt, man beschrieb sie oft
und leidlich gut. und selbst die wildesten Völker wissen die Geistes-
krankheit zu erkennen und wohl zu scheiden von ihren dämonisch In-
spirirten.
Bei den Besessenheitsepidemien des Mittelalters jedoch war die
Thatsache der Ansteckung oft wie mit Händen zu greifen. Oft genug
begann die Plage bei einer einzigen Insassin des Klosters und die nächst
Afficirte war ihre Zimmergenossin, welche alle die wüthenden Attaquen
aus erster Hand kennen lernte. Dann erst beinahe explosiv erkrankt
eine grössere Zahl der Nonnen, und wenn das ganze Schauspiel Monate
lang gedauert hatte und die Personen der Umgebung es oft in der
Klosterkapelle mit Furcht und Entsetzen hatten beobachten können.
Ucber Wahnideen im Vulkerleben.
205
erfasste nicht selten die Seuche auch die Frauen ausserhalb der Kloster-
mauern, wie das z. B. in ausgedehntem Maasse bei der berühmten Epi-
demie des Klosters zu Loudun stattgefunden hat. Ja noch mehr, es
ist nicht so selten vorgekommen, dass während des Exorcismus, der den
Dämon heraustreiben sollte, urplötzlich der amtirende Priester zu Boden
stürzte, sich in Zuckungen an der Erde wand, und dass nun aus seinem
geweihten Munde die schändlichen Schmähungen gegen die heilige
Religion ertönten, während die besessene Nonne gleichzeitig zu sich
gekommen war und sich nun ganz ruhig verhielt. Natürlich schien das
ein klassischer Beweis dafür zu sein, dass der Dämon die eine Person
verlassen hatte und dafür in den Priester eingedrungen war. Zweitens
berief man sich auf die erstaunliche Gl e ic h ar tig keit aller Symptome
innerhalb der jeweiligen Epidemie: dieselben Visionen und lasciven Ver-
lockungen, die gleichen Krampfzuckungen und Verdrehungen des
Körpers, die gleichen Schmähungen gegen die Heiligthümer der Kirche
ertönten bei Allen. Das spreche, machte man gelbend, für eine identische
äussere Verursachung; denn handle es sich um eine von innen her
kommende Krankheit, so sei man doch gewohnt, dass das Symptomen-
bild individuelle Züge beträchtlicher Art darbiete. Ebensosehr war auf-
fällig als dritte Eigenart der Thatbestand, dass die Krankheit nur
in Paroxysmen auftrat, während die meiste Zeit in den Intervallen
die Personen ganz wie in gesunder Zeit erschienen, freudig und correct
alle Berufsarbeiten verrichteten und ebenso entsetzt als traurig über ihr
Verhalten innerhalb der Anfälle sich äusserten. Endlich viertens
besassen die Dämonomanischen klarste Krankheitseinsicht, sie empfanden
den Zustand als ihrem eigensten Wesen fremd und aufgedrungen und
sie glaubten oft eine doppelte Seele in sich wahrzunehmen, d. h. ihre
eigene frühere und die parasitische des eingedrungenen Dämons.
Sicherlich hatte man Recht darin, dass die genannten Momente
der Annahme widersprachen, die Besessenheit beruhe auf einer Geistes-
störung im sonstigen Wortsinne. Aehnliclies Hesse sich mutatis mutandis
auch für die Ueberzahl der religiösen Exstasen darlegen. Richtig ist
nur, dass einige unter den zahllosen Fällen als wahre Psychosen, ins-
besondere Melancholien und religiöse Paranoia, noch öfter aber w r olil
als Altersdemenz oder angeborener Schwachsinn sich charakterisiren.
Sie sind praktisch ungemein wuchtig, weil ein grosser Tlieil der frei-
willigen Geständnisse von derartigen wahren Geisteskranken her-
rühren dürfte, und nicht selten geht das auch aus den erhaltenen Berichten
über die Hexenprocesse hervor. Die grossartige Sammlung Calmeil’s,
ferner Soldan’s und auch RoskofTs lässt das da und dort ziemlich
sicher heraussteilen. Wissenschaftlich irrthümlich ist es aber, wenn die
älteren Aerzte und noch der genannte so verdienstvolle Calmeil diese
Dinge unter der Rubrik der Monomanie (Dämonomanie, Theomanie,
14 *
206
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Lykanthropie, Nymphomanie u. s. f.) der Psychose in Bausch und Bogen
anreihten und an die Seite der impulsiven Monomanien (Kleptomanie,
Mordmanie, Pyromanie u. s. w.) stellten, und dass Calmeil das thut,
obwohl er und schon die früheren Aerzte sehr wohl die convulsiven
Anfälle, welche im Symptomenbilde der Dämonomanie und Theomanie
auftraten, als hysterische erkannt hatten. Man hatte zu seiner Zeit eben
noch nicht gewusst, welche grosse Rolle die fixe Idee, die Auto-
suggestion, im Krankheitsbilde der Hysterie spielt. Nicht erklärlich
ist aber, wie noch in neuester Zeit ein Schilderer des epidemischen
Wahns, Regnard 1 ), die Besessenheit und die Exstasen als epidemische
Psychosen im gleichen Zusammenhang mit dem Morphinismus und dem
Alkoholismus und endlich sogar mit der Dementia paralytica („dem
Grössenwahn“) nennen und beschreiben konnte, und wie er dabei einen
Schematismus aufstellen konnte, nach welchem das eine Jahrhundert
die Besessenheit, das folgende die Exstase ( Medard us-Epidemie) und das
gegenwärtige Jahrhundert dafür den paralytischen Grössenwahn ge-
zeitigt habe.
Wenn derartig grobe Missgriffe noch heute bei Fachgenossen
möglich sind, dann wird man es wohl für angemessen halten dürfen,
dass wir uns in der vorliegenden Abhandlung nicht beschränken auf die
bis jetzt in’s Auge gefassten epidemischen Wahnbildungen, welche mit
schwereren Intelligenz- und Bewusstseinsstörungen einhergehen, bezw.
dem Krankheitsbilde der sogenannten grossen Hysterie zuzurechnen
sind. Ein wahres p s y c h o 1 o g i s c h e s Verständniss der epidemischen
Ausbreitung exorbitanter Vorstellungen im Völkerleben lässt sich nur
dann erreichen, wenn wir sie gewissermaassen in eine Pathologie
der Volksseele einreihen. Ohnehin konnten die tiefergreifenden
Störungen nur erwachsen auf dem Boden von allgemein in den
Massen des Volkes sich ausbreitenden erregenden Geistesströmungen
absonderlichen Inhaltes. Hatte man in den letzten Jahren überall im
Ausland mit Staunen und Missbilligung fast das ganze französische Volk
bei dem D r e y f u s h a n d e 1 leidenschaftlich die gewaltthätige Rechts-
beugung durch die Justiz des Heeres und des Geschworenengerichtes
unterstützen sehen: war man nicht lange vorher betroffen über die All-
gewalt, mit welcher die mahdistische Bewegung den ganzen afrikanischen
Sudan auf ein Decennium hinaus entflammt hatte, ein Bild religiöser
Volkserhebung darbietend, wie man es nur aus einer viele Jahrhunderte
zurückliegenden Geschichte noch kannte: in allen solchen Fällen mochte
es ja nahe liegen eine sogenannte pragmatische Erklärung für den
speciellen Fall sich zurechtzulegen, so in Frankreich die Verhätschelung
des Heeres, welches das Instrument der heissen Revancheideen sein
M Paul Regnard, Maladies epidemiques de bespeit (Sorcellerie, Magnetisme,
Morphinisme, Delire des graruleurs), Paris ls*7.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
207
sollte, sodann die dort besonders zügel- und scrupellose Presse, über-
haupt die moralische Entartung der inneren Politik in der dritten
Republik anzuschuldigen; im Sudan die verzweifelten Verhältnisse der
ägyptischen Vasallenstaaten und den, dem Islam stets eigentümlichen
Religionsfanatismus in Betracht zu ziehen. Damit hätte man indessen
nur erklärt, warum gerade diese abnorme geistige Strömung zustande
kam; aber man liefe Gefahr, an der wichtigeren allgemeinen Erkenntniss
vorbeizugehen, dass in jedem Volke und zu jeder Zeit irgend ein noch
so sinnwidriger und in seinen Zielen hässlicher Fanatismus eingepflanzt
werden kann, wenn es die Agitatoren nur verstehen, die richtige Saite
des Volksgeistes anzuschlagen, und wenn ihnen die Regierung dabei
lange genug freie Hand lässt. Im Dreyfushandel war so das wichtigste
Argument das Operiren mit dem „Drevfussyndikat“, welches durch
jüdisches Geld die Verteidiger des Drevfus gekauft habe; noch leichter
lässt sich bei uns durch antisemitische Agitation die Ritualmordhetze
(so in den Fällen von Tisza-Ezlar, Xanten und Könitz) entfachen, sowie
eine dunkel gebliebene Mordtat an jugendlichen Personen vorgekommen
ist. Wir haben das Umsichgreifen der anarchistischen Scheusslichkeiten
in unserer Zeit erlebt: wahnsinnige Verstümmelungen und Selbstmorde
verüben noch heute russische Sektirer aus religiösem Eifer. Die vor-
erwähnten Besessenheitsepidemien gingen hervor aus der Herrschaft
einer allgemeinen Furcht vor dem Satan und einem wahren Verfolgungs-
wahn, der zahllose Mitmenschen als Teufelsanbeter für alles selbsterlebte
Unglück, insbesondere für verderbliche Naturereignisse, verantwortlich
machte, und dieser Glaube hat in einem grossen Abschnitte des ganzen
Mittelalters den Volksgeist in seinem Banne gehalten. Unter den ge-
bildeten Klassen unserer Tage besitzt der unsinnige Spiritismus eine
breite Zahl von Anhängern und einzelne, wie bekannt sogar in Kreisen
der Naturforscher, welche förmlich die Betrügenden ihrer Medien durch
ihre grenzenlose Leichtgläubigkeit heranzüchten, und welche nach jeder
der nun schon ansehnlich grossen Zahl von Entlarvungen sich mit dem
schönen und nichts weniger als inductiv wissenschaftlichen Argumente
zufrieden geben, nur die entdeckten spiritistischen Taschenspielerstück-
chen seien preis zu gehen, an der objectiven Wahrheit der anderen
.Geistermaterialisationen ' müssten sie überzeugt festhalten. l )
Die absonderlichen mystischen Speculationeii eines Tolstoi, sein
Ruf nach Erstickung der Geschlechtsliehe, die glänzend vorgetragenen,
aber überhaupt kaum begründeten . Uebemiensi dien"- und „Hemeii"-
ansprüche eines N i e t zs c h e haben einegoistlose verschrobene Romantik
verbunden mit gröbstem Naturalismus erweckt- bei einer beträchtlichen
*) Vergleiche die gründliche Behandlung hei Lehmann. Aberglaube und
Zauberei, deutsch, Febers. Stuttgart
208
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Zahl meist unfähiger und unklarer Dichter und Künstler unserer Tage,
eine Richtung die N o r d a u l ) nicht ohne Grund unter dem Begriffe der
„Entartung“ des gegenwärtigen Geschlechtes gegeisselt hat. Ueber-
haupt war bekanntlich die Aufklärungszeit des vorigen Jahrhunderts
gefolgt und begleitet von der krassen Mystik eines La vater, Jung-
Stilling und Kerner, und die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts
haben bei einem Vilmar und Hengsten!) erg und in einem grossen
Theil von ganz Schwaben den mittelalterlichen Teufelsglauben im buch-
stäblichsten Sinne wieder auferstehen gesehen, und im schwäbischen
Möttlingen heilte der eine Zeit lang sehr bekannte Pfarrer Blumhardt
wieder Besessene durch Austreibung der Dämonen.-) Auf medicinischem
Gebiete blüht heute wie zu allen Zeiten der elementarste Wunderglaube,
und der „Schlofer von Dorlisheim“ wie der täglich von Hunderten und
Tausenden aufgesuchte „Schäfer zu Radbruch“ bilden nur einzelne Phä-
nomene unter einer ganzen Reihe ähnlicher 'W undermänner. Ja nicht
allein die philosophischen Mystificationen einer Madame Blavatski
finden noch immer ihr Publikum in Paris und sonst (ihr dickleibiges
Buch soll gerade jetzt wieder neu aufgelegt werden), sondern selbst für
die lächerlichen Angriffe eines gewissen Jezek gegen die Lehre vom
Blutkreislauf hat sich ein Verein von Laien bereit finden lassen, der
— als „Jezekverein“ — den Tagesblättern zufolge sich diese Reform
der medicinisehen Wissenschaft entgegen der „Zunftgelehrsamkeit“ an-
gelegen sein lässt. Dass, gewöhnlich ganz ungebildete, Laien überhaupt
in mitgliederreichen „Naturheil “-Vereinen medicinische Behandlungs-
grundsätze vertreten in Gegnerschaft zur „Schulinedicin“, ist ganz ebenso
nur als pathologisches Symptom bezw. historisch zu verstehen. Lebrigens
soll hier angefügt werden, dass in der Republik Mexiko noch im
Jahre 1874 mehrere Personen als Zauberer öffentlich verbrannt wurden;
und in der Negerrepublik Haiti kamen noch vor 20 Jahren geheime
religiöse Feste und Orgien der christlichen Neger vor, wo Kinder tliat-
sächlich abgeschlachtet und aufgezehrt wurden.’*)
Wieder auf ganz anderem Gebiete, wo sonst doch der nüchterne
r>
Verstand am Unbestrittensten die Menschen gelenkt hat, auf dem Felde
des Handelsbetriebes, sehen wir immer wieder die Leute ihren mühsam
erworbenen Besitz geradezu auf die Strasse werfen, wenn sie wie bei
der verflossenen Dachauer Bank der A d eie Sp i tzed er durch förmlich
unmögliche Zinsversprechungen geködert worden ; ein fieberhafter Rausch,
von dessen Intensität wir uns kaum mehr einen Begriff machen, muss
es gewesen sein, der in Holland zur Zeit der Tulpenmanie und in
0 Nordau, Kntartumc Herliu
~) Vergleiche Lundin. Der Wunder- und Düinoncnglaiiho der Gegenwart.
Leipzig 1 s*7. Ferner Heu n e a m 1* h y n , Kult ur gesell iclii e d. jüngsten Zeit. Leipzig 1*U7.
;; i Metzirer, Haiti. Glnlais, Hd. 17. Iss:», p. *J.VJ und *J04.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
209
Frankreich während der John Law’schen Gründungen das Volk
berückt hatte. Wir werden darauf noch kurz zurück kommen.
Wozu die Beispiele häufen? Soll ich noch hin weisen auf die
blinden politischen Volksleidenschaften, die Rassenkämpfe, die elementare
Feindschaft des russischen Volkes gegen das Deutsche, den Fanatismus
der kleinen Tagespresse und Aehnliches, das von einer Ablenkung der
ehemaligen religiösen Volkserregungen in ein moderneres Fahrwasser
zeugt? Genug, dass die Erregbarkeit der Massen geblieben ist, und dass
sie noch beinahe ebenso blind ist wie ehedem. Unsere Leser wissen,
durch welchen neuen Begriff sich alF das heute erklärt, und wie auf
dieser Nachtseite menschlichen Geisteslebens auch die Eingangs be-
sprochenen scheinbaren religiösen Wunderwirkungen unter den gleichen
psychologischen Elementarbegriff eingereiht werden konnten. Die Auf-
deckung der Suggestion und speciell der hypnotischen Sug-
gestion hat uns jene merkwürdigen Epidemien der Dämonomanie und
Theomanie verstehen gelehrt, sie hat die Widersprüche glatt gelöst,
welche mit ihrer Deutung als Psychosen, bezw. unter dem obsoleten
Krankheitsbegriff der Monomanie verbunden waren. Die Geisteskrank-
heit entsteht nur auf dem Boden einer specifischen constitutioneilen
und meist vererbten Veranlagung; sie kann daher, so wenig wie etwa
der Diabetes oder die Gicht, in epidemischer Ausbreitung herbeigeführt
werden. Wohl aber kann die Nervosität durch starke Aufregungen
gezüchtet werden und die Hysterie wird in solchem Maasse durch
Nachahmung befördert, dass noch heute Hausepidemien in Schulen
immer wieder sich ereignen, und dass die Hysterie in der französischen
Hochschule für Hysterische, dem Pariser Krankenhaus in der Salp^triere,
eine wesentlich complicirtere und reichere Symptomengestaltung aufweist
als durchschnittlich bei unseren deutschen Frauen.
Drei Grundeigenschaften der hypnotischen Suggestion schliessen
in sich die wichtigsten Erklärungsmomente für die Gestaltungen jener
Volkse pideraien, und wir wollen sie schon hier anführen, obwohl wir
die Details erst im nächsten Abschnitte kennen lernen werden. Die
hypnotische Suggestion führt 1. in ihren mittleren und höheren Graden
eine eigenartige sensorische und neuromusculäre Ueber-
erregbarkeit herbei oder doch mit sich, welche mit Leichtigkeit die
verschiedensten Hallucinationen und Visionen, ferner tonische und auch
seltener klonische Muskelkrämpfe, endlich automatische Bewegungs-
complexe entstehen lässt. Das sind aber dieselben Eigenschaften, welche
den hysterischen Zustand kennzeichnen ; die Hypnose und die mit
ihr identische Exstase ist somit alseine künstlich, resp. experimentell
erzeugte Hysterie aufzufassen. 2. Im Zustande der Hypnose wirkt jede
einzelne Suggestion sofort und gleichsam imperatorisch; irgend ein
Object, eine Situation, welche dem Hypnotisirten suggerirt wird,
210
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
entsteht alsbald mit visionärer sinnlicher Deutlichkeit vor seinem Geiste r
eine Handlung, ein Bewegungsimpuls, dessen Vorstellung in ihm an-
geregt wird, kommt widerspruchslos zur Ausführung. Die Muskelstarre,
ein automatisches Drehen oder Schütteln erfolgt auf ähnliche Weise.
Ebenso wie fremde Suggestion wirkt aber auch das spontane Auftauchen
solcher Impulse und Vorstellungen im Hypnotisirten, die sogenannte Auto-
suggestion. Bei den Paroxysmen der Besessenheit war hier hauptsächlich
das Vorbild wirksam, das die Person gesehen oder von dem sie gehört
hatte. 3. Diese Zustände hochgesteigerter „Suggestibilität“, d. h.
die Hypnose, lassen sich bei nervös veranlagten Personen durch relativ
einfache Mittel experimentell herbeiführen, namentlich durch Ein-
wirkung länger dauernder einförmiger Sinnesreize (Anstarren eines
Gegenstandes z. B. nach Braid), aber auch durch consequente verbale
Suggestion, d. h. die wiederholte energische Einflössung der Vorstellung,
dass die Person in Schlaf versinken werde. Die autosuggestive
Ueberzeugung, dass der hypnotische Schlaf kommen werde, führt somit
in letzter Instanz hier die Hypnose herbei. Man erkennt leicht, wie
wichtig dieses zweite Moment bei den epidemischen Anfällen sein musste.
Dazu kommt aber noch die ebenfalls experimentell nachgewiesene Mög-
lichkeit einer Trainirung, einer Erziehung zur Hypnose. Wo
anfangs nur die ersten Grade einer hypnotischen Beeinflussung er-
zielt worden, wo also klares Refleetiren möglich bleibt und nur eine
Erschwerung des Denkens sich geltend macht und der Impuls, den
Suggestionen des Experimentators Folge zu leisten, wo aber weder
Visionen, noch Muskelstarre erzielt werden, da führt häufige
Wiederholung der gleichen Procedur nicht selten noch zur vollen
Hypnose. Das will sagen, die Disposition zur neuromuskulären Ueber-
erregbarkeit und zum somnambulen Schlaf kann geweckt werden; die
hysterische Suggestibili tiit kann gezüchtet werden. Dies
ist denn wirklich unbeabsichtigt bei den Besessenheitsepidemien und
planvoll bei den religiösen Exstasen geschehen. Die nervöse Grund-
lage dazu hatte aber die religiöse Askese schon voraus entwickelt.
Das, was die Besessenheit und die Exstase mit dem Schauer des
Geheimnissvollen und Wunderbaren umwoben hatte, das war der That-
bestand, dass einmal in den Paroxysmen die Personen nicht mehr ihrem
eigenen Willen und ihrem eigenen Geiste, sondern einer fremden
Macht anzugehören schienen, sodann dass sie zugleich der realen Welt-
entrückt, von visionären Erscheinungen umgeben waren, während ihre
Glieder entweder von krampfhaften Zuckungen geschüttelt wurden, oder
aber während sie bald starr zu Boden gestreckt, bald Statuen gleich in
regungsloser Verzückung verharrten. In der Regel bestand indessen
hinterher gute Erinnerung für das im Paroxysmus Erlebte. Es ist das
Verdienst hauptsächlich französischer Autoren , vorab B e r n h e i m \s .
Ueber Wahnideen im Vi’dkerleben.
211
Ri eher’ s, Charcot’s und mancher Anderer, diesen Complex von Er-
scheinungen auf den Thatbestand der künstlich und suggestiv erzeugten
Hypuose zurückgeführt zu haben und zugleich in der gesteigerten Sug-
gestibilität und der neuromuskulären Uebererregbarkeit die Haupt-
charaktere der Symptome erkannt zu haben.
Für die ganze Psychologie noch ungleich wichtiger war es aber,
als das fortschreitende Studium in der Suggestion einen um Vieles
umfassenderen Factor kennen lehrte im geistigen Leben des Ein-
zelnen wie der Völker. Der hypnotischen Suggestion fügte man näm-
lich die sogenannte Wachsuggestion hinzu; freilich fasste man sie
für gewöhnlich nur als eine unvollkommenere Form jener eigentlichen
und vollen Suggestivwirkung auf, und in der That ist ihr bisher die
psychologische Forschung, wie ich vermeine, noch nicht genügend
gerecht geworden. Theilweise fast beiläufig, wie ein Nebenprodukt des
Hypnosestudiums, erfolgte die Beschäftigung mit der Wachsuggestion.
So waren zunächst Bernheim und seine Schüler auf die Bedeutsamkeit
der Nachwirkung der Hypnose, der posthypnotischen Suggestion,
gestossen. Impulse, etwas zu thun, etwas zu holen, zu bestimmter Zeit
zu erwachen, eine Leidenschaft (z. B. zum Alkohol) zu unterdrücken,
übten ihre Wirkung noch Tage lang nach der hypnotischen Sitzung,
wenn in der seinerzeitigen Suggestion das ausdrücklich der Person so
anbefohlen war. Ein grosser Theil der Heilbestrebungen, welche die
hypnotische Suggestion herbeiführen soll, beruht ja auch darauf, dass
die erregten Vorstellungen und Muskelgefühle im folgenden wachen
Zustande noch ihre Kraft bewahren ; so kann die einmal beseitigte
hysterische Lähmung oder Taubheit dauernd geheilt bleiben. Sodann
bemerkte man zweitens, wo eine somnambule Hypnose nicht erreicht
wurde, sondern nur jener vorhin erwähnte erste und leichteste Grad
der suggestiven Beeinflussung eintrat (wie so oft bei Ersthypnosen),
dass dann gleichwohl gerade die genannte^ und erwünschten post-
hypnotischen Wirkungen sich einstellen konnten. Und drittens
glaubt Bernheini 1 ) bei seinen viel hypnotisirten und somit in der
Richtung trainirten Spitalsinsassen sich überzeugt zu haben von einer
gewissen Leichtigkeit, mit der man diesen complicirte Situationen, etwa
einen angeblich von ihnen selbst erlebten Raubanfall, einreden, suggeriren
könne, wenn man sie nur damit etwas brüsk überrasche und ihnen
gegenüber bestimmt auftrete. Es würden so plastische Vorstellungen
in den Personen erregt von der gleichen Deutlichkeit und Lebhaftigkeit,
wie sie der Erinnerung von wirklich Erlebtem zukommen (sogenannte
Erinnerungstäuschungen), und das sollte ohne Weiteres jeder Zeit im
wachen Zustande der Leute gelungen sein.
i) Beruhe im. Die Suggestion und ihre Heilwirkung, deutsche Lchersotzung,
1. Auflage. Leipzig und Wien 1SSS. p. 7Ö fl*, und 14ä iX.
212
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Man mag nun zweifeln, wie das auch von anderer Seite geschehen
ist, ob die Personen eine echte Ueberzeugung für einen so direct ein-
geredeten Roman wirklich gewonnen haben mögen, ob es eine so hoch
gesteigerte Suggestibilität schon bei klarer Bewusstheit gebe ; dass aber
autosuggestiv bei nervös disponirten Personen und besonders bei
Hysterischen derlei Erinnerungstäuschungen möglich sind, davon besitzt
jeder Nervenarzt eine hinreichende Anzahl persönlicher Erfahrungen
und die Annalen der forensischen Medicin sind voll davon. Wie wichtig
ist es nicht zu wissen, dass bei grossen aufregenden, sogenannten
Monstreprocessen in die Zeugenaussagen um so mehr Illusion und
Romantik hineinkommt, je mehr die Processe Gegenstand des allgemeinen
Geredes geworden sind. Allmählich vermengt sich das oft Gehörte
mit dem Selbsterlebten, Wahrheit und Idee wird nicht mehr getrennt;
„mit jedem Verhör“, so deponirte seiner Zeit der Untersuchungsrichter
im berühmten Ritualmordprocess zu Xanten, „wüssten die Zeugen mehr
und Ausführlicheres zu berichten“ ; schliesslich kam bei Allen beinahe
die „weisse Hand“ zum Vorschein, welche sich aus dem Fenster eines
Hauses herausgestreckt habe, um das Kind zu ergreifen. Ich selbst
habe mehrere nervös disponirte Personen gekannt, von denen einer ein
Dorfschullehrer in Amt und Würden war, welche, sowie sie von einem
Unglücksfall oder einer Mordthat in der Nähe hörten, sich so lebhaft
einbildeten, sie selbst seien die Attentäter gewesen, dass sie erst vor-
sichtig bei Anderen aushorchten, ob man nicht sie im Verdacht habe.
AVie oft haben Hysterische grundlos Unschuldige bezichtigt, einen
sexuellen oder räuberischen Ueberfall gegen sie ausgeführt zu haben,
und es ist selbst vorgekommen, dass sie sich gefährlichen Bauch-
operationen unterzogen, um die angeblich dabei eingedrungene Kugel
entfernen zu lassen Zu den alltäglichsten Symptomen der Art gehören
hypochondrische Einbildungen, so dass der Nervöse alsbald die schwere
Krankheit, etwa Krebs oder Rückeninarksafiection, mit stürmischen
Schmerzen bei sicli entdeckt, von welcher er bei einem Freunde oder
auch nur aus der Zeitung vernommen hatte. Und hat sich nicht, wie
wir erst soeben ausführen konnten, das proteusartige Symptomenbild
der Hysterie unserem ärztlichen V r erständniss von dem Momente ab er-
schlossen, wo man einsall, dass beliebig erregte Autosuggestionen hier
all’ die vielen sensorischen und motorischen Lähmungen, die Neuralgien
und Krampfersclieinungen insceniren? Und diese Autosuggestionen sind
doch in der Hegel im regulären wachen Zustande concipirte Vor-
stellungen. Auf dem gleichen Momente beruhen ja all’ die Wunder-
heilungen von den Berichten im neuen Testament ab bis zu den
Lourder-Quellen ; immer sind es suggestiv entstandene Störungen, welche
auch suggestiv beim .Gläubigen“ wieder geheilt werden, und dies um
so eher, je grösser der Ruf eines Ortes ist. je höher gespannt die
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
213
Erwartung und die Phantasie des Kranken wird. Charcot 1 ) hat dem
eine eigene kleinere Abhandlung gewidmet. Hake Tuke 2 ) hat in
einem interessanten Werke eine Fülle ähnlicher Suggestiveffecte beim
vollbewussten Menschen zusammengestellt. Wie viel Drachen, wie viel
kämpfende Heere am Himmel und wie viel Teufelsfratzen hat im Mittel-
alter die „erhitzte Phantasie“ dem Menschen leibhaftig vorgespiegelt!
Halten wir auch hier inne, damit wir uns nicht in ein Detail ver-
lieren, welches für das psychologische Problem selbst nicht den grossen
Werth besitzt, den man ihm häufig zugeschrieben hat! Derlei Wach-
suggestionen sind also, das wird man zugeben, gewiss nichts Seltenes.
Aber sie verschwinden fast vor der Wirkung, welche jene in jeder Stunde
in intensivster Art auf das ganze Menschengeschlecht ausübten. Nicht
nur die schon berührten fanatischen Geistesströmungen, die eigentlichen
Wahngebilde der Völker, beruhen auf der gewöhnlichen Wachsuggestion,
sondern alle Ideale, der ganze religiöse Glaube und selbst ein bedeu-
tender Bestandteil des wissenschaftlichen Denkens sind ihr entsprungen.
Ich hoffe unserer heutigen Psychologie nicht zu nahe zu treten, wenn
ich mit einem gewissen Vorwurf ausspreche, dass sie den epoche-
machenden neuen Gesichtspunkt, der in der Suggestionsdoktrin ent-
halten ist, doch kaum annähernd nutzbar gemacht hat für das Ver-
ständnis» dieser geistigen Massenerscheinungen. Was hat uns denn für
das gewöhnliche wachgeistige Leben der Suggestionsbegriff Neues
gelehrt ? Er hat gezeigt, wie m a n einfach durch Erregen starker
Vorstellungen das Denken der Menschen beherrschen
und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten In-
li alt a u f d r ä n g e n k a n n , und zweitens dass die Vorstellung
an sich und allein eine selbstständige geistige Macht be-
deut e n d s t e r A r t i s t. Das sind doch die beiden wesentlichen Momente,
welche die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnotischen besitzt
Man hat nun erstlich zu stark an dem gegebenen Entwicklungs-
gänge der Hypnoseforschung geklebt und gar zu einseitig die Effecte
der Wachsuggestion in der Picht ung ähnlicher sensorieller und neuro-
muskulärer Lebererregbarkeit verfolgt, wie sie der hypnotischen Sug-
gestion ihr eigenartiges Gepräge verleiben. Wichtiger ist aber doch,
dass die Urthc Unbildung und die leitenden Ideen des Menschen
unter mächtigen Einflüssen einer angeborenen Suggestibilität stehen
Sodann hat man beinahe einnnithig den neuen Gesichtspunkt verkannt
oder doch übersehen, dass eben die Vor s t. e 1 1 u n g an sich eine starke
L J. M. Charcot. La toi qui guerit. Uibliothcque diabolique. Paris 1*1)7
(F. Al can). (Mail vergleiche auch den bekannten Roman von Zola. Lourdes. der
viel Detail bringt.)
2) D. H. Tuke. Geist und Körper. Studien über die Wirkung der Einbildungs-
kraft. deutsche Febersetzmig, Jena 1***.
4
214
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
intellectuelle Kraft oder Macht darstellt. Der alten und durch einen
Forscher wie Wundt wiedervertretenen Lehre hat man bedingungslos
wieder Folge geleistet, dass unsere Ueberzeugung im Denken aus-
schliesslich durch eine höhere Intelligenkraft , die Verstandeskraft,
Apperception oder wie man sie nennen will, bedingt wird. Ihr kommt
ein souveräner Primat im Denken zu, ihr sind die Vorstellungen nur
die passiven Elemente, die Bausteine, die sie ordnet und annimmt oder
abweist. Und diese Lehre erschien freilich gestützt durch die Analogie
der Suggestion in der Hypnose. Wesentlich dadurch, dass liier, in
letzterer, die Intelligenzleistungen. Reflexion und überlegter Wille aus-
geschlossen seien, ergebe sich die imperative Gewalt der Suggestiv-
vorstellung. Und für die Wachsuggestion legte man sich eine Art von
^Fascination 4 *, eines Geblendet- und Ueberwältigtseins durch die
Suggestividee zurecht, sodass auch hier die geordnete Reflexion passiv
ausgeschlossen oder mit Wundt das Blickfeld der Apperception ein-
geengt sei. Es bestünde sozusagen gar nicht die Möglichkeit einer
logischen Kritik oder einer Hemmung durch überlegten Willen, weil
das Herbeiströmen der anderweitigen Gedanken vereitelt wird. Man hat das
auch mit anderen Worten, als einen Act der Dissociirung des Denkens
und ähnlich bezeichnet, ohne damit neue Gesichtspunkte geltend zu
machen. 1 )
Kurz und gut man hat die neue Thatsache nur wegzudeuten ge-
sucht, ohne auch nur den ernsten Versuch zu machen, sie einfach
so zu nehmen wie sie sich darstellt. Schon vordem bei der älteren
Psychologie des religiösen Glaubens war man auf das Problem
des Suggestivdenkens gestossen , aber man hatte sich von analogen
schon der aristotelischen Psychologie des Intellectes entnommenen
Grundsätzen leiten lassen. Beim Wissen ruhe die Ueberzeugung der
Wahrheit auf dem Intellecte. beim Glauben auf dem Gefühl; daher
könne ein Individuum widerstreitende Ueberzeugungen besitzen und
vereinigen, da sie aus differenter Quelle flössen (die sogenannte „doppelte
Buchhaltung* für die Ueberzeugung). Uebrigens ist anzuerkennen, dass
die strengeren psychologischen Fassungen in der Religionspsychologie
nicht mehr mit so complexen und veralteten psychologischen Faktoren
operiren, wie es der Intellect oder die Verstandeskraft ist. Namentlich
hat man gegenwärtig in modernerer Fassung sich gerne auf das Wertli-
urtheil bezogen, aber doch wesentlich nur, um auf diesem kurzen
Umwege das religiöse Ideal, die Erhebung des Geistes zum .Unend-
lichen“ (d. h. eben wieder zu Gott) in die Psychologie einführen zu
können. Das ist nicht nur der Zielpunkt in den Arbeiten einer Reihe
1 ) Der wold beste und gründlichste Bericht über die modernen Theorien der
Suggestion findet, sich in den Artikeln B Sugge>th-n. .Suggestivtherajde* von v. Schrenck-
Notzing, Knevklepiidisehe Jahrbücher III. n. IV.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
215
von theologischen Religionspsychologien 1 ), sondern im Wesentlichen
auch der verschiedenen einschlägigen Arbeiten des Oxforder Indologen
Max Müller, welche letzteren daher eine wirkliche Förderung des
Problems nicht gebracht haben.
Wie weit war man doch entfernt vom Begreifen einer Suggestiv-
wirkung, wenn man einen so abstracten und gänzlich unvollziehbaren
Begriff, wie es das „Unendliche“ ist, damit in Zusammenhang glaubte
bringen zu können Aber auch der Hinweis auf das im religiösen
Denken steckende „Werthurtheil“, ja sogar auf die viel deutlichere
Affect- und Gemüthsein Wirkung lässt noch recht w r enig erkennen
von dem eigentlichen Wesen des Suggestivdenkens. Die suggestive
Vorstellung erregt nicht nur direct eine subjective Ueber-
zeugung, sondern sie ist lebha ft sinnlicher, anschaulicher
Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet, in
Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu
werden (zum Unterschiede von der Ueberredung) , und sie erzeugt
weiter einen starken Impuls zur Activität. Beim religiösen
Denken hat diese Seite des Suggestivvorstellens den Drang und Zwang
zu einem Cultusdienst einerseits, und den starken Impuls zur Ueber-
tragung auf Andere, d. h. den Fanatismus, fast immer im Gefolge ge-
habt. Das liegt ganz gewiss sonst nicht in dem Vorstellen an sich
begründet, am Allerwenigsten in der Idee des „Unendlichen“, wohl
aber in der psychologischen Wirkung nachhaltigen starken, das heisst
suggestiven Vorstellens. Entweder bedingt dieses bei nervösen Naturen
durch die Ueberreizung eine eigenartige geistige Hemmung, in der
der Reizzustand fortdauert, d. i. eben den hypnotischen Zustand, oder aber
es entäussert sich unmittelbar nach der impulsiven Seite wie eine Art von
Entladung. Wie wenig aber der logische oder ideale Gehalt solcher Vor-
stellungen für ihre psychologische Wirkung auf den Einzelnen und die
Völker maassgebend ist und war, dafür sollen gerade die hässlicheren
als Wahngebilde uns erscheinenden Gestaltungen uns zeugen, welche
immer in ihrer U eberzahl dem religiösen Denkgebiete zugehört haben,
und welche auch deshalb von besonderem Interesse sind.
Die vorstehenden leitenden Sätze erfordern natürlich noch eine
speziellere Begründung, welche allerdings im Rahmen dieser Abhandlung“)
nur andeutungsweise gegeben werden kann. Indessen zuvor soll noch
in Kürze dasjenige Problem erörtert werden, welches wir soeben zuerst
i) Vergl. Emil Koch, Die Psychologie in der Religionswissenschaft, Freiburg
und Leipzig 1890.
Ausführlich habe ich das Problem behandelt in: 1) M. Fried mann, Ueber
die Entwicklung der Erkenntnissprincipien und ihre Beziehung zur pathologischen
Wahnbildung. Allgemeine Zeitschrift f. Psych., Bd. 52, p. 392, und 2) Weiteres zur
Entstehung der Wahnideen und über die Grundlagen des Urtheils, Monatsschrift
für Psychiatr., Bd. I. u. II.
216
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
genannt hatten, nämlich die Frage nach dem Ursprung und
der Grundlage der subjectiven Ueberzeugung und seine
Beziehung zum logischen Denken, zum Intellect. Der berührte
Gegensatz zwischen der religiösen Ueberzeugung und zwischen der
logischen Ueberzeugung der Wissenschaft und des kritischen Verstandes,
zwischen „Glauben und Wissen“, ist ja heute zum Gemeinplatz geworden.
Aber die Fassung scheint mir falsch zu sein, der Gegensatz besteht
eher zwischen dem Inhalte, den Resultaten dieser beiden Denkgebiete.
Die Ursache des Gegensatzes ist ja bekanntlich eine historische, sie lag
in den Kämpfen nicht der Wissenschaft gegen die Religion, wohl aber
umgekehrt der Kirche gegen die Forschung *) und in dem allmählichen
Wandel der Weltanschauung. Gegenüber der gewaltigen Macht der
religiösen Idee ist auch das Wissen eine „Macht“ geworden, und
während erstere nur eine subjective war und geblieben ist, wurde jene
eine objective. Die Wissenschaft hat uns geistig frei gemacht.
Nicht geändert hat aber unsere Zeit den menschlichen Geist, und
so ist die Grundlage der subjectiven Ueberzeugung die gleiche geblieben,
die sie von je war, und so sind auch die suggestiven Wirkungen ebenso
vorhanden wie früher, nur treffen wir sie, wie oben angeführt wurde,
häufiger auf neuen Denkgebieten, wo sie heute eingelebten Denk-
gewohnheiten nicht widersprechen.
Worauf beruht nun die subjective Ueberzeugung? Oder fragen wir
einmal naiv, wodurch erkennt Jemand selbst, dass er von Etwas über-
zeugt ist? Die Frage ist doch nicht so naiv, wie sie scheint. Hat
Jemand, sagen wir ein Publicist oder ein Theologe, unter dem Zwange
der Umstände trotz anfänglicher Gewissensscrupel eine Zeit lang gewisse
ihm zweifelhafte Lehrmeinungen selbst vertreten müssen ; woran merkt
er schliesslich, ob er sie nun aufrichtig vertritt oder nicht? Nehmen
wir ein etwas schroffes Beispiel, einen Fall von Reliquienglauben. Der
heilige Rock zu Trier ist noch neuerdings wiederholt zur Erzielung von
.Gnaden Wirkungen“ ausgestellt worden und hochgebildete Männer,
Führer der Centrumspartei, haben das gewünscht. Was kann hier die
Grundlage des Glaubens sein? Erstlich doch sicherlich die allgemeine
Ueberzeugung oder Denkgewohnheit der Person, überhaupt bei Reliquien
göttliche Gnadenbeweise bei Gläubigen für möglich und in einer Reihe
von Fällen für thatsächlich vorgekommen zu halten. Dass Reliquien
suggestive Heilungen bewirken können bei nervösen Affectionen, ist gar
nicht zu bezweifeln, und der positiv Gläubige kann annehmen, dass
darin eine direkte göttliche Einwirkung zu erblicken ist. Thatsächlich
*) Vergleiche dazu T. W. Drape r. Geschichte der Conflicte zwischen Religion
und Wissenschaft. Leipzig 1875 und D. Zö ekler, Geschichte der Beziehungen
zwischen Theologie und Naturwissenschaft mit besonderer Rücksicht auf die
Schöpfungsgeschichte. 2 Bdc., Gütersloh, 1877 — 79. (Letzteres streng theologisch.)
lieber Wahnideen im Völkerleben.
217
sind gewisse Publikationen , z. B. die Missionszeitschriften mit einer
besonderen Rubrik ausgestattet, in welcher durch Einsendungen aus der
Bevölkerung die Er hör ungen des Gebetes an einen Heiligen (um
Fürbitte bei Gott) verzeichnet werden. Man best da, dass eine lang-
wierige Krankheit jetzt sich gebessert habe, direct nach dem Gebet sei
der Arzt gekommen und habe z. B. das Kind jetzt für weit besser als
Tags zuvor bezeichnet; ferner sei auf gleiche Weise eine für die Person
werthvolle Kuh gerettet worden, ein Process von Wichtigkeit gewonnen,
selbst ein als Familienkleinod geschätztes und verlorenes Armband bald
nach dem Gebet wiedergebracht worden u. s. f. Also diese Denk-
gewohnheit existirt bei Vielen. Zur Ueberzeugung gehört zweitens,
dass keine wirksamen Widersprüche gegen die Idee sich im Geist der
Person geltend machen, also dass er nicht solches directes göttliches
Eingreifen für unvereinbar hält mit seiner Idee von Gott. Thatsächlich
hat man ja von anderer Seite her häufig derartigen Glauben an un-
mittelbare Gebetserhörung und die Gnadenwirkung der Reliquien für
identisch mit dem Fetisch glauben der culturlosen Völker erklärt und
daher für unvereinbar mit einer höheren Gottesidee. Ebenso könnte
auch die Echtheit der fraglichen Reliquie Zweifel erregen. Drittens
muss jener positive Glaube fest geh alten werden und die Beispiele
von Heilungen, die bei Ausstellung des Rockes zu Trier als vorgekommen
bezeugt worden sind, müssen in Zukunft bei einer neuen Reliquie der
Person als ein Argument für deren Wirksamkeit in den Sinn kommen.
Das Merkmal der Ueberzeugung ist somit das, dass die Idee,
d. h. die gebildete Association (der Reliquie mit den Berichten
ihrer Heilwirkungen) in Zukunft festgehalten wird; dass sie bei
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie für das
Subject bewährt, und dass nicht nothwendig dabei contra-
stirende Vorstellungen auftauchen. Würden in jedem ernst-
haften Falle mit der Vorstellung auch immer contrastirende Ideen sich
einstellen, so wäre die Ueberzeugung keine echte, denn dann würde die
Contrastvorstellung ein subjectiv nothwendiger Bestandteil der Idee sein.
Nehmen wir ein zweites Beispiel, das gleichfalls in praxi oft sich
darstellt, die Ueberzeugung nämlich, dass die Natur teleologisch,
für den Menschen günstig, nach dem Gesichtspunkte der Zweck-
mässigkeit eingerichtet sei. Diese Idee haben schon Plato und
Aristoteles zum Mittelpunkte ihrer Naturauffassung gemacht und bis
in eine sehr moderne Zeit war der Nachweis der einzelnen Zwecke bei
jedem grossen und kleinen Objecte der Natur Gegenstand umfänglicher
Schriften. Für den positiv Gläubigen lag darin der entscheidende Beweis
für die Güte des Schöpfers, der ihn inmitten allen Jammers und aller
Scheusslichkeiten des menschlichen Erlebens bei seinem Glauben be-
ruhigte. Und diese Zweckmässigkeit in der Natur ist ja Thatsache, sie
218
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
ist innerhalb des Organismus sogar, in seinen einzelnen Theilen, von
oft wunderbarer Vollendung. Durch Darwin ist bekanntlich seit vier
Decennien diese Idee durch ein causales Princip der Naturerklärung
ersetzt worden, nämlich das Ueberleben des Passenden im Kampfe um
das Dasein, sodass das Unzweckmässige eben verschwinden muss, weil
es nicht existenzfähig ist; und im Einzelnen ist von Darwin dafür ein
sehr reiches streng inductives Beweismaterial von Naturerfahrungen bei-
gebracht worden. Die Naturforschung ist heute völlig durchdrungen von
der causalen Deutung teleologisch scheinender Natureinrichtungen nach
dem Vorgänge Darwin’s. Wie verhält sich aber das Gros der Theo-
logen und der theologisch Denkenden dazu ? *) Man weiss, dass hier
der Darwinismus einen ähnlichen Sturm des Kampfes und der Gegner-
schaft entfesselt hat, wie er vielleicht nur zur Zeit des Streites um das
Copernikanische Weltsystem im Anfänge des 17. Jahrhunderts die
Geister bewegt hatte, und dass man auch jetzt in erster Linie den
Darwinismus als eine „unm o rali sch e I rrle hre“ von dieser Seite
her verworfen hat. Aber man that noch mehr, man begann die natur-
wissenschaftliche Literatur des Darwinismus zu studiren, man sammelte
alle Einwürfe von Seiten einiger Forscher gegen die Lehre und endigte
dann jeweils damit, der Darwinismus sei eine falsche Hypothese, die
nur dem seichten „Materialismus“ zu Gute komme. Der teleologische
Standpunkt, den man auch wohl durch den Begriff der „Zielstrebigkeit“
ergänzte, galt als wieder rehabilitirt. Was folgt aus diesem Verhalten
psychologisch? Offenbar schliesst erstlich im Geiste di eser Per-
sonen die teleologische Idee contrastirende Vorstellungen (hier die
causale Deutung) aus, es besteht ein förmlicher Impuls, sie abzuwehren.
Zweitens die Ueberzeugung selbst ruht auf einer Gewohnheit, so
zu denken, aber nicht a uf 1 o gisch ein Raison ne ment; denn man
hat von vornherein den Darwinismus abgewiesen und hat gar keinen
Versuch gemacht, die vielen Thatsachen, welche für ihn sprechen, ab-
zuwägen gegenüber den Beweisgründen für die Teleologie. Diese letztere
stand fest, der Darwinismus war nur ein Angriff, den es abzu-
wehren galt. Und der Hauptgrund für diese differente Behandlung ist
ein nicht wissenschaftlicher, die moralische Bewerthung beider
Ideen.
Aehnlich steht es aber , und das ist der bekannte Lehrsatz,
welcher sich schon durch das ganze eingangs citirte Werk Lecky's 2 )
hindurchzieht , mit der Ueberzeugung bei allen grossen Ideen.
Gründe, Motive sind an und für sich überflüssig und können sie
nur etwa zu stützen helfen. Gegengründe bleiben unwirksam und
*) Vergleiche z. B. in diesem Sinne Zö ekler a. a. ö., Bd. II, p. 521 — 737.
2 ) W. H. Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung
in Europa, deutsche Uebers., Leipzig und Heidelberg 1873.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
219
werden ohne Weiteres „als Irrlehre“ verworfen. Wie aber verhält
sich die Ueberzeugung beim wissenschaftlichen Forschen?
Existirt hier denn überhaupt eine solche ? Real sind doch hier
nur die sinnlichen Thatsachen selbst; alle sogenannten Naturgesetze
und Naturkräfte gelten nur als Regeln und Hypothesen , um die
Thatsachen unter einen verständlichen Gesichtspunkt zu bringen,
besten Falles als eine Näherung an den wirklichen Zusammenhang
der Dinge. Mag Einer noch so warm für seine eigene Lehre
auftreten, wie etwa ein Lombroso für die These vom geborenen
Verbrecher, so kann das nur heissen: „diese meine Argumente scheinen
mir diese bestimmte Deutung zu erheischen“. Ja sogar wenn ein Natur-
forscher „überzeugt“ ist, dass noch nie ein „Wunder“ vorgekommen
sei, so bedeutet das nur: nach aller seitherigen Erfahrung lässt das
Naturgesetz, so wie wir es kennen, keine Ausnahme zu, wohl aber hat
der Glaube und die Tradition der Menschen unzählige Male irrthümlich
solche Abweichungen postulirt. Also zumUrtheil beim forschen-
den, beimreflectirenden Denken gehört stets das Bewusst-
sein der Gründe sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen
das Urtheil sprechen können. Die Forschungsresultate sind unab-
hängig von dem subjectiven Element und sie müssen für Jeden,
der zu reflectiren versteht, gleich verbindlich sein; ein Resultat muss
auch sofort aufgegeben werden, sowie eine entscheidende Thatsache
dagegen bekannt wird. Daher verfügt die Wissenschaft über eine grosse
Zahl von Lehrsätzen, die beim heutigen Stande der Erkenntniss für
Jedermann feststehen, der wissenschaftlich denkt, die aber dennoch
Keiner für „Wahrheit“ oder für einen Gegenstand seiner „Ueber-
zeugung“ erklärt.
Also die wissenschaftliche Ueberzeugung ist keine neue Form der
letzteren, sondern sie enthält vielmehr das Postulat, dass jede sub-
jective Ueberzeugung beim Forschen aufgehoben sein soll und
dass nur der logische oder objective Werth der Argumente und That-
sachen entscheiden soll. Unter kritischem Denken versteht man
somit die Hemmung, die Abwehr jedes suggestiven Faktors beim
Urtheilen, sie ist Resultat der Erziehung, der Einübung, so gut
wie die Selbstbeherrschung beim Handeln, nicht aber angeborene
Eigenschaft des Geistes. Natürlich ist deshalb auch das kritische Denken
im einzelnen Fall ein unvollkommenes, kein Mensch kann auch in der
Forschung von den subjectiven Denkgewohnheiten und ihrer suggestiven
Kraft sich vollkommen emaneipiren, und jeder besitzt „Vorur th eile“
für bestimmte Urtheile und Schlüsse, ~ namentlich für solche etwa, die
er selbst schon einmal zu vertheidigen begonnen hat. Daher sind
wir Alle kritisch gegen fremde Denkresultate und unkritisch gegen
unsere eigenen.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. |5
220
lieber Wahnideen im Völkerleben.
Mit anderen Worten heisst das: gerade das kritische überlegte
Urtheilen beruht nicht auf einer primären geistigen Kraft,
einem Organ der Intelligenz (Verstandeskraft, active Apperception) ; wo
ein Bedürfniss besteht nach Begründung aller von der Person auf-
zunehmenden oder festzuhaltenden Ideen, da ist dieses Bedürfniss aner-
zogen, und zugleich ist die Suggestibilität der Person von Hause aus
eine geringe. Von diesem Thatbestand giebt wahrlich schon ein Blick
in das ganze Jahrtausend des Mittelalters deutlich Kunde. Nur in den
ersten Jahrhunderten des Christen thums, als seine Lehre neu war, kam
es zu geistigen Kämpfen und Discussionen, speciell mit der hochent-
wickelten stoischen und neuplatonischen Philosophie. Späterhin war
der Inhalt der Bibel die selbstverständliche Unterlage und
Grundlage alles Wissens und Denkens 1 ), und dies nicht nur für die
kleineren, sondern für die besten Geister der Zeit 2 ). Es kam Niemanden
in den Sinn, dass ein Fund in der Natur richtig sein könne, wenn er
der Bibel widerspreche. Ob Antipoden existiren, wurde entschieden dar-
nach, ob das mit der Bibel sich vereinigen lasse; als nach Amerikas
Entdeckung eine Anzahl unbekannter Thiere gefunden wurde, zerbrach
man sich den Kopf, wie sich das vereinigen lasse damit, dass in dem
Verzeichniss der von Noah in die Arche aufgenommenen Thiere die neu
entdeckten fehlen. Ebenso buchstäblich galt für die Geologie der Tenor
der mosaischen Schöpfungsgeschichte 3 ), es bedeutete schon sehr viel,
wenn, was selten vorkam, Jemand annahm, ein damaliger Schöpfungs-
tag sei gleichzusetzen einer heutigen geologischen Zeitepoche. Die all-
mählich gefundenen Versteinerungen konnte man wohl als Reste der
bei der Sündfluth untergegangenen Thiere auffassen, viel häufiger als
ein Spiel der Natur oder als misslungene Probestücke bei der Schöpfung.
Noch heute gehen katholische Schriftsteller bei Beurtheilung primitiver
Religionen, etwa auch der alten ägyptischen, von der für sie selbst-
verständlichen Thg-tsache aus, dass eine „ Uroffenbarung Gottes“ an alle
Menschen stattgefunden habe, und dass sich Reste davon überall noch
nach weisen lassen. Das übernatürliche Eingreifen von Gott, Engeln
und Dämonen war in dieser Zeit ein ebenso regulärer Bestandteil des
*) Vergleiche die ausführliche und polemisch gehaltene Darstellung von
C. Sterne, Die allgemeine Weltanschauung in ihrer historischen Entwicklung.
Stuttgart 1889.
2 ) Es sei hier nur in Erinnerung gebracht, dass noch im 18. Jahrhundert die
grössten Naturforscher, ein Newton, ein Haller, ein Euler streng bibelgl&ubig
waren, und dass sie häufig theologische Werke nebenbei verfassten, so speziell
Euler seine T Rettung der Göttlichen Offenbarung gegen die Einwürfe der Frey-
geister (1747)“.
Ä ) Noch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts scheint es, dass die Schullehr-
bücher der Mineralogie und Geologie verpflichtet waren, mit der mosaischen
»Schöpfungsgeschichte zu beginnen.
Ueber Wahnideen im Völkerlcben.
221
Denkens wie heute die Beziehung auf unabänderliche Naturgesetze; bei
dem kleinsten häuslichen Vorgänge war der Einfluss eines Engels oder
Teufels eine der nächstliegenden Erklärungen, so etwa wie noch heute
der russische Bauer annimmt, das Feld seines Nachbars sei besser
gediehen, weil er den mächtigeren Schutzheiligen in seinem Hause aufge-
stellt habe. Es wurde mit tiefem Ernst erörtert, ob Teufel oder Engel
mit menschlichen Frauen Kinder zeugen können und wie das geschehe;
als eine Formel, die das Meiste der satanischen Leistungen hinreichend
klärte, galt die Annahme der „Zulassung Gottes“. Hielt Jemand die
entsetzliche Marter der Folterung ohne zu gestehen aus, so lag es näher,
als an die Kraft zu denken, welche fester Wille und Bewusstsein der
Unschuld verleiht, da wieder ein Wunder, d. h. eine teuflische Gegenwirkung
vorauszusetzen, welche die heilsame Aufgabe des Richters durchkreuzt.
Und alles das 1 ) war absolut allgemeine Ueberzeugung, ohne
dass je eine logische Begründung dafür gegeben war und
ohne dass je darnach verlangt worden wäre. Der Gedanke, dass
kritisches Zweifeln möglich sei, dass irgend etwas in den zahl-
losen dogmatischen Lehren eines Beweises bedürfe, er musste erst
entdeckt werden, nachdem man inzwischen inductives Denken
gelernt hatte , auf mechanische und naturwissenschaftliche Probleme
anzuwenden. Montaigne hatte etwas überraschend Neues ausge-
sprochen, als er sagte, der gesundeMenschenverstand lasse ihn nicht
daran glauben, dass alte gebrechliche Weiber auf Ofengabeln durch die
Luft flögen; denn vorher war das zur Evidenz dadurch bewiesen worden,
dass ja der Teufel sogar Jesus durch die Luft entrückt und davon ge-
tragen habe. Nicht der Tiefstand der Kenntnisse im Mittelalter ist
Schuld an all’ jenen sinnlosen Ideen, sondern die Ausschliesslich-
keit der scholastischen Denkgewohnheiten bei den bedeuten-
deren Köpfen der Zeit, der Umstand, dass alle principiellen Vorstellungen
nur und allein dogmatischen Ursprung hatten, etwa so wie es heute
noch bei dem chinesischen Volk und dessen Gelehrten besteht.
Quantitativ war die geistige Arbeit dabei eine sehr rege, viele Folianten
wurden zusammengeschrieben und sehr viel Scharfsinn auf dogmatische
Spitzfindigkeiten verschwendet.
Sind das nun nicht empirische Thatsachen genug, die bezeugen,
dass es einer gewaltsamen Ausschliessung der intellectuellen Kräfte gar
nicht bedarf, um beliebige Vorstellungen zur subjectiven Ueberzeugung zu
bringen? Einzige Bedingung ist, wie wir schon sagten, dass keine
contrastirenden Vorstellungen nothwendig mit der anzunehmenden auf-
*) Ueber Mehrere» vergleiche z. B. 8. Meyer, Aberglaube des Mittelalters,
Basel 1884 und von Eicken, Geschichte der mittelalterlichen Weltanschauung
Stuttgart 1887.
222
lieber Wahnideen im Völkerleben.
tauchen. Es hätte also der vielerlei oft so sonderbaren^psychologischen
Annahmen der Theoretiker der Suggestion nicht bedurft, welche zeigen
sollten, wie auch die Wachsuggestion die Fähigkeit zum associativen
Denken, die Thätigkeit des denkenden und wollenden Ichs aufhebt, wie das
suggestive Handeln und Vorstellen ein lediglich „automatisches“ sei
und so fort.
Des Specielleren habe ich schon in meiner früheren Arbeit l )
unterschieden: 1. Die einfache Prim ärassoci ation, das Primär-
urtheil und 2. Die Suggesti vi d e e. die S uggesti v asso c i ation.
Unter beiden Ausdrücken fasse ich die Urtheile und Ideen zusammen,
welche ohne logische Reflexion von dem Individuum gebildet oder an-
genommen werden, und das ist sicherlich die übergrosse Mehrzahl aller
Urtheile. Den ersteren kommt aber kein drängender Impuls zu, an ihnen
festzuhalten und sie in Handlungen umzusetzen, d. h. sie zu bethätigen,
z. B. bei den meisten Behauptungen und Lehren, welche wir Anderen
glauben, ohne sie genügend zu überlegen, und welche dabei keinen
stärkeren Eindruck auf unsere Phantasie oder Gemüth machen. Bezüg-
lich der Suggestividee dagegen muss es uns genügen, ihren Werdegang
beim religiösen Denken am jetzigen Orte anzudeuten.
Ich vermag mir aber hier nur von der Verwerthung ethno-
logischer Erfahrungen Erfolg zu versprechen, und auch da nicht von
der Rücksichtnahme auf die complicirten Gestaltungen des Glaubens,
wie ihn die grossen Offenbarungsreligionen darbietep. Das sind keine
ursprünglichen Schöpfungen des Volksgeistes mehr, wie wir sie bei
den primitiven , den sogenannten Naturvölkern noch antreffen.
Mit Recht anerkannt ist für diese die klassische Darstellung, welche
Tylor 2 ) gegeben hat, und sie gipfelt in der Annahme, dass ur-
sprünglich das religiöse Denken auf einer Belebung aller Natur-
objecte durch innewohnende geistige Kräfte beruhe, also dem „Ani-
m i s m u s * , wie es T y 1 o r kurz ausdrückt. L i p p e r t 3 ) dagegen, der
sich ebenfalls um das Problem verdient gemacht hat, führt jede Religion
auf den Cultus der Verstorbenen, den „Seele nc ult“, zurück. Ich er-
achte beide Annahmen und die sonstigen verwandten Theorien noch für
nicht genügend. Ich selbst 4 ) habe vielmehr bereits, und wie ich glaube
1 ) Fried mann. Weiteres zur Entstehung der Wahnideen und über die Grund-
lage des Urtheils, Monatsschrift f*. Psychiatrie. Bd. 1. p. 455 u. ff.. Bd. II. p. 286 und 292.
2 ) Tylor, Die Anfänge der Cultur, deutsche Hebers., Leipzig 1878.
3 ) Unter den zahlreichen Werken dieses Autors am Besten vertreten iu
Lippert, Christenthum. Volksglaube und Yolksbraueh, Berlin 1882, und derselbe,
Culturgoschichto der Menschheit. 2 Bde.. Stuttgart 1SS0.
b In der citirten Abhandlung: Weiteres zur Entstehung der Wahnideen^
Monatsschrift f. Psychiatrie. Bd. II, p. 279.— Der Begriff der „Eigenbeziehung“
ist übrigens zuerst von Clemens Ne iss er für die Erklärung des sog. Beachtungs-
wahns in der Paramdalehre gebildet und verwerthet werden und ist mit Recht als
eine treffende und scharfsinnige Begriffshildung anerkannt worden.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
99 *}
zum ersten Male, hingewiesen, dass man eine primitive Suggestiv-
association der Eigenbeziehung als den elementarsten Act dieses
Vorstellungsgebietes zu erkennen vermöge. Jeder starke äussere
Eindruck, jede Wahrnehmung, deren Einwirkung oder Wirkungsweise
nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, wird beinahe immer und ohne jede
begründende Ueberlegung auf das Subject und dessen Erlebnisse be-
zogen. Es gehört nur dazu, dass der Eindruck ein kräftiger ist,
und das ist dann der Fall, wenn er an sich stark und schreckhaft ist.
wie etwa Blitz und Donner, das wogende Meer, ein thätiger Vulcan,
oder aber wenn er auffallt durch seine Ungewöhnlichkeit, so z. B. eine
Sonnen- oder Mondfinsterniss. Weitaus der heftigste Eindruck war aber
zu allen Zeiten der Anblick des Todes. Beim letzteren kommt
hinzu, dass bei keinem Menschen sich die überaus starken Associationen
mit einer nahe verwandten gestorbenen Person in Bälde lösen. Es
bleibt das Gefühl des Zusammenhangs mit ihr, und die Vorstellung,
dass sie mit mir gefühlt und gedacht hat, kann ich nicht sobald aus
mir entfernen; ich gedenke ihrer daher unwillkürlich wieder bei jedem
für mich wichtigen Erlebniss und Thun. Der Gestorbene lebt also im
Geiste des Verwandten, und er erscheint ihm ausserdem noch öfter im
Traume Dazu kommt, dass wohl der Begriff des Sterbens, nicht aber
derjenige des Todt- und Vernichtetseins vorstellbar ist; es gehört eine
starke Abstraktionsfähigkeit dazu, um sich zu denken, dass das Leben
und die geistige Persönlichkeit in einem Momente spurlos vernichtet
werde, während doch der Körper ganz wie im Schlafe fortbesteht.
Natürlich kämpft ausserdem noch der Selbsterhaltungstrieb mächtig
gegen die Idee, dass auch das eigene Ich absolut zu existiren auf-
hören solle.
Zwischen einem mächtigen Gestorbenen, und das ist der Vater als
Familienhaupt bei Naturvölkern beinahe immer, und zwischen jedem
unglücklichen Erlebnisse, besonders einer Erkrankung* einem Schmerz,
Eintreten der gefürchteten Dürre, entsteht nun eine directe und starke
Ideenverbindung, eine Suggestivassociation, d. h. der Gestorbene ist es,
der das Missgeschick veranlasst hat. Der Grund, das Motiv bei dem
Todten ist immer dasselbe wie bei jedem lebenden Menschen, jener ist
ärgerlich und zornig und hat darum den Schaden veranlasst. Er ist
auch ebenso wieder zu begütigen wie der Lebende , man muss ihm
Geschenke. Speise und Trank geben und legt also solche am Grain» des
Gestorbenen nieder. Wie es der Todte macht-, um dem Ueberlebenden
zu schaden, auf welche Weise er Nutzen und Besitz gewinnt von den
am Grabe deponirten Speisen, darüber haben die Naturvölker nie wirk-
lich nachgedacht. Ganz die gleiche unmittelbare Association wird aber
bei einem beliebigen anderen Eindrücke lebhafter Art gebildet : kommt
ein Europäer, der die Neger stark aufregt, neu an einen Ort und wird
224
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
gleichzeitig — aber viele Meilen entfernt — ein Häuptling von einem
Elephanten auf der Jagd verwundet oder gar getödtet, wurde eine Frau
von einem Krokodil zerrissen an einem Fluss, an dem der Europäer
geweilt hatte , in allen solchen Fällen wird das erlittene Unglück
verknüpft mit dem Erscheinen des Europäers, dieser ist Schuld daran, er
ist wie man da und dort sagt ein „Seelenesser“. Wie das zugeht,
warum das geschehen sei, auch darüber haben die Leute nie versucht
sich einen Begriff zu machen. Es genügt, dass der Europäer ein
mächtiger Mann ist, also kann er das machen.
Das sind Beispiele primärer Eigenbeziehung, das eigene
schlimme Erlebniss wird einfach verknüpft mit einem anderen starken
und die Phantasie lebhaft beschäftigenden Eindrücke, also der Er-
innerung an das gestorbene Familienhaupt und mit dem gerade ge-
kommenen Weissen. Ist diese Erinnerung nicht mehr frisch, d. h. der
Vater schon eine Reihe von Jahren gestorben, so spielt er keine Rolle
mehr, und schlimme Begebenheiten werden nicht mehr auf ihn bezogen.
In analoger Weise werden nun alle dem Menschen auffälligen Natur-
dinge, und insbesondere die ihn schreckenden darunter, in directen
Connex mit ihm gesetzt : so hat vor Allem die Sonnen- und Mond-
finsterniss directen Bezug auf ihn, sie ist geschehen, weil er das Gestirn
erzürnt hat, eine lange Regenlosigkeit ist ebenfalls seinetwegen aus-
gebrochen, weil irgend Jemand sich vergangen hat, etwa eine verheiratete
Frau verführt worden ist. Die Religionen, welche einen persönlichen
Gott voraussetzen, zeigen die selbtverständliche Idee, dass der Gott jeden
Gedanken des Menschen kenne, dass jedes Erlebniss des Menschen durch
den Gott bewirkt sei, dass er, der Mensch, seinem Gott jedes Anliegen
sagen könne, kurz die Eigenbeziehung zwischen dem Menschen
und seinem Gotte ist hier die denkbar engste.
Das ganze primitive Denken und ebenso diese Eigenbeziehungen
klären sich nun für uns erst von dem Moment ab, wo wir uns frei
machen von dem Vorurtheile, als ob darin irgend ein Begriff ent-
halten sei. Ich habe das in den früheren Arbeiten ausführlich aus-
einandergesetzt und möchte jetzt nur an ein klassisches Beispiel zum
Beweis dessen erinnern : der Indianer in Peru, der auf die Reise geht,
speit einen Cokaballen, wie er ihn stets im Munde führt, an eine Fels-
wand. Findet er bei der Rückkehr dieses Zeichen noch intact, so war
seine Frau ihm inzwischen treu gebliehen ; ist der Cokaballen herab-
gefallen, so war die Frau untreu, und das steht für ihn fest 1 ). Ferner,
lässt man sich von einem für klug und mächtig gehaltenen Europäer
anspeien oder kann man gar Haare von dessen Haupt erhalten, so ist
r ) Offenbar lässt sich zwischen dem Experiment mit dem Cokaballen und der
Treue der Ehefrau gar kein innerer oder begrifflicher Zusammenhang hersfellen.
und nicht einmal die llilfsvnrstellung der Zauberei scheint dabei mitzuspielen.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
225
damit dessen Kraft und Verstand ebenfalls übertragen worden. Kann
umgekehrt ein Anderer Haare, Nägel, Reste der genossenen Speise eines
Australiers oder Negers erlangen, so ist der frühere Besitzer überzeugt,
dass jener Macht über ihn erlangt habe, dass ihm Alles passiren werde,
was seinen Effluvien widerfahrt; werden diese verbrannt, so muss er
sterben, und er ist zu grossen Opfern bereit, um etwas der Art abzu-
wehren. Seine Krankheiten oder gar sein Tod sind gewöhnlich auf
solche Tücken eines Feindes zurückzuführen und glaubt man den
Schuldigen erkannt zu haben, so muss er von den Hinterbliebenen im
Wege der Blutrache getödtet werden. In dem letzteren Falle findet
eine evidente Eigenbeziehung statt; die Effluvien werden bezogen auf
ihren früheren Besitzer, und das was mit den Haaren oder Nägeln
geschieht, wird noth wendig ebenso direct bezogen auf ihn selbst.
Für diese starken Associationen besteht wie gesagt ein unmittel-
barer Impuls. Da aber auch der primitive Mensch nicht bemerkt, wie
das zugeht, so nimmt er an, dass dazu b e s o n d e r e Fähigkeiten nöthig
sind, welche besondere Menschen besitzen, das sind seine Priester,
Schahmanen, Fetischmänner. Diese sind ihm weiter nöthig für seine
Reaction gegen die Einwirkungen, welche die Natur und böse
Menschen ihm gegenüber üben. Die Reaction selbst geschieht so gut
wie stets „in’s Blaue“, Er muss etwas thun, wenn die Sonne sich ver-
finstert, wenn der Verstorbene ihm eine Krankheit schickt, er muss
denjenigen ermitteln, der seine Haare oder Nägel verbrannt hat, er
muss Sorge tragen, wenn der nöthige Regen ausbleibt. Was geschieht,
das ist an sich gleichgiltig und ist Sache des Herkommens. Genug, es
geschieht in der Absicht, das Schädliche abzuwehren, das Nützliche
herbeizuführen. Oft wird einfach das gethan, was man bei seinem
Nebenmenschen gewohnt ist zu machen, wenn man ihn abschrecken
oder gewinnen will; so verführen zahlreiche Völker bei der Verfinsterung
der grossen Gestirne einen Heidenlärm und schiessen mit ihren Pfeilen
nach der Sonne, um das Ungeheuer zu verscheuchen, das sie wie man
voraussetzt verschlingen will. Die Verstorbenen werden, wie wir ge-
sehen haben, in solchem Falle eifrig bewirthet; das ist der vielberufene
Ahnencult, den auch der Chinese l ) ganz ebenso treibt. In allen
übrigen Fällen, wo man aus Mangel an Analogien mit dem Treiben
der Menschen nicht recht weiss, was man thun solle, hat sich eben das
Institut der Fetisch-, Medicinmänner u. s. w. ausgebildet, welche man
für weiser und mächtiger hält als die Masse des Volkes. Bei den
Negern nehmen diese beliebige seltsame Steine oder sonstige Dinge und
erklären, dass man mit deren Hilfe die Geister günstig stimmen, Krank-
J ) Die sehr interessanten Details siehe hei A. Reville, Religion chinoise.
Paris 1889.
226
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
heiten ab wehren könne; das sind die einfachsten Amulete und Fetische.
Die Art, wie sie zu dieser Wirkung gelangen, ist charakteristisch;
wenigstens in einer Reihe von Fällen geht der Mann aus in der Ab-
sicht, ein Object der Art zu suchen, und das was ihm dann zuerst auf-
fallt, ist ein solcher einfacher Fetisch. Der junge Indianer begiebt sich
allein in die Wildniss, fastet dort einige Tage, legt sich zum Schlafe
nieder, und das Ding, das Thier, welches ihm beim Erwachen zuerst
auffällt, ist sodann seine „Medicin 44 , ersteres trägt er zeitlebens am Halse
aufgehängt bei sich, das betreffende Thier aber wird sein persönlicher
Schützer, sein Totem.
Der suggestive Charakter in diesen Fällen ist so evident, dass
eine Erläuterung dazu entbehrlich ist. In anderen Fällen handelt es
sich um eine Analogie von gröbstem Kaliber: so wird das Regen-
machen bewirkt, indem der Fetischmann an einem verborgenen
Orte ein Gefäss mit Wasser aufstellt, das er verdunsten lässt; dieses
soll dann den Regen herbeiziehen. . Zum Prophezeien, das ebenfalls
intensiv verlangt wird, werden .jeweils Hantirungen nach dem gleichen
Princip ausgeführt; ein Schema der Art, welchem die meisten anderen
ähnlich sind, besteht darin, dass bei einem beabsichtigten Kriege zwei
Reihen von Hölzern oder Zweigehen lose in die Erde gesteckt werden.
Sie bedeuten Freund und Feind; derjenige wird siegen, von dessen
Hölzchen die Mehrzahl am folgenden Tage noch stehen geblieben ist.
Waren das nicht die der eigenen Partei, so wird das Unternehmen vorerst
unterbleiben. Wir haben hier das Muster eines ungemein häufigen und
über die ganze Erde verbreiteten Vorgehens, des Ordals. Häufiger
wird es bei Anklagen auf Zauberei, welche den Tod Jemandes ver-
schuldet haben soll, so gehandhabt, dass dem Kläger und dem Beschuldigten
ein Gifttrank gereicht wird: der Unschuldige wird ihn schadlos aus-
brechen. Auch das ist einfacher Analogieschluss; die Idee einer gött-
lichen Gerechtigkeit, welche nicht den Tod eines Unschuldigen zulassen
würde, findet sich bei Naturvölkern auch nicht in der leisesten An-
deutung.
Sehr interessant und wichtig ist es nun, dass bei allen primi-
tiven Völkern sich mit diesen primitiven Suggestivideen, welche im
W esentlichen ihr religiöses Denken darstellen, auch die stärkere Sug-
gestivwirkling, die Exstase oder Hypnose verknüpft. Auf die Art
und W eise ihrer Herbeiführung haben wir später zurückzukommen. Bei
den Negern und tiefer stehenden Naturvölkern wird hauptsächlich
eine religiöse Feier damit bezweckt: es werden ungemein geräusch-
volle und anstrengende Tänze gemeinsam dargestellt und dabei ver-
fallen die Fetiscbmänner in hysterische Krämpfe. Bei den Schahmanen
der sibirischen Völker und der Indianer ist der Zweck der, auf diesem
für den Schahmanen selbst und für das zuschauende Volk äusserst auf-
lieber Wahnideen im Völkerleben.
227
regenden Wege Inspirationen zu erhalten und in Verkehr mit den
Geistern und den Verstorbenen zu kommen. Im Zustande der Exstase
nach den vorausgehenden Krämpfen geben die Schahmanen Aufschluss
über das Gewünschte, d. h. gewöhnlich über die Ursache einer Krank-
heit und die Mittel, sie zu beseitigen.
Es wird dem Leser schon aufgefallen sein, dass im Uebrigen die
verbale Einwirkung keine Rolle bei den einschlägigen Maassnahmen
der Naturvölker spielt, alles wird durch Manipulationen und Hantirungen
zu erreichen gesucht. So giebt es auch kaum ein Gebet, das an die
Geister und Kräfte in der Natur gerichtet wird. Das ist noch zu ab-
stract auf dieser Stufe; will man einem Verstorbenen etwas mittheilen,
so tödtet man einen Sclaven auf dem Grabe, den man vorher instruirt
hat; dieser soll die Botschaft bringen. Es fehlt auch noch gänzlich
der Begriff des Wunders, es fehlt ebenso das Erstaunen über
Leistungen besonderer Art, z. B. das Feuergewehr. Alles ist möglich,
was die Leute überhaupt denken, Nichts wird zu begreifen gesucht (von
theoretischen Dingen); nichts braucht bezweifelt zu werden. Es wäre
möglich, dass eiserne Nägel, welche man in die Erde säet, wachsen und
sich vermehren; wenn man einen Fetisch mit Nägeln beschlägt, damit
er dadurch Schmerzen bekommt, und damit er dann den Mann, etwa
einen Dieb, um deswillen man die Nagelung vornimmt, straft, so zweifelt
Niemand, dass das so geschehen wird, und an mehreren Orten ist das
die beste Methode, um sein gestohlenes Gut wieder zurück zu erhalten.
Die religiöse Handlung des Gebetes und der Wunderbegriff gehören
somit einer höheren Stufe der Religion an, wo die Menschen schon zu
r e f 1 e c t i r e n begonnen haben. Hier hat denn auch das ge-
sprochene Wort seine starke Wirkung auf den Nebenmenschen er-
langt, es ist ein suggestiver F a e t o r e r s t e n It ungos geworden,
während auf primitiver Stufe nur der starke leibhaftige Sinnes-
eindruck suggestiv wirkt. Dort, bei vorhandener Reflexion, sucht
man die Kräfte der Natur hinter den Dingen und Einwirkungen, der
Animismus findet sie in den Dingen, er trennt nicht Beides und
denkt überhaupt nicht darüber nach. Daher hat erst die höhere Religion
einen persö n li dien Gott, und der Gläubige kann nun auch persön-
lich mit „seinem“ Gott verkehren.
Deshalb sind aber auch die religiösen Suggestionswirkungen nicht
mehr so unmittelbar, die directen Suggestiv ass o ci a t i o n e n sind
spärlicher geworden — Reliquienwirkungen. Gespensterfurcht, überhaupt
das Meiste von dem, was Abergla ube genannt wird, gehört noch hierher.
— dafür sind jetzt die S ugges t i v i de e n ausgebildet. Nun erst über-
nimmt der Vertreter der Religion, der Stifter und Priester, das per-
s ö n 1 i c h e u n d v e r b a 1 e S u g g e r i r e n als ei n e i g e n e s A m t ,
während der Schahmaiie und Fetischmann die Reaction des primitiven
228
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Menschen gegen die animistischen Kräfte und Factoren nur in seiner
Eigenschaft als geschickterer und mächtigerer Mann besorgte, also
ledigl ich den Cult und die Krankheitsbehandlung ausübte. Da alle
primitiven Menschen den gleichen Suggestivassociationen unterliegen,
giebt es eigentlich keinen zu vertretenden Glauben, nur die Tradition
des herkömmlich gewordenen Cultes und einige Mythen können Gegen-
stand des Unterrichtes in religiösen Dingen dort sein. Der „Glaube“
auf höherer Stufe dagegen wird in seiner speciellen Fassung von Ein-
zelnen ausgedacht, diese Fassung muss daher gelehrt werden. Das
bleibende primär suggestive Element bei den höheren Religionen ist
im Wesentlichen noch die Vorstellung von der persönlichen Eigen-
beziehung zwischem dem Ich und Gott ; in zweiter Linie bleibt die
Furcht des Menschen vor den Naturgewalten, und diese drängt auch
in der höheren Religion zu dem versöhnendem Cult. Während noch
die intensiv philosophisch denkenden Inder dem Siwa, dem „Zerstörer
in der Natur“ einen grossen Theil ihres Cultes widmen, während die
Cultreaction des primitiven Menschen nur die schädlichen Kräfte im
Auge hat — nicht deshalb, weil er hauptsächlich pessimistisch und
pan phobisch denkt, wie man beinahe stets es ausdrückt, sondern
einfach weil nur die Gefahr eine Reaction nöthig macht, aber nicht
etwa der günstige Sonnenschein! — : so hat der Monotheismus den
Cultus auf den grossen und gütigen Gott begrenzt. Der primitive Glaube
hat sich indessen im Begriff des Teufels erhalten.
Im Uebrigen ist die Praxis der monotheistischen Religion erfüllt
geblieben von Suggestivwirkungen, nur sind sie zumeist mit bewusster
Absicht oder auch instinctiv herbeigezogen worden, in jedem Falle aber
künstlich zur Einübung der religiösen Ideen geschaffen
worden.
So wurde durch Paulus das lange Zeit wohl stärkste suggestive
Element formulirt, die Lehre von der Erbsünde und der Erlösung durch
den Tod Christi. Dadurch wurde dasjenige in klarer Weise, wenn auch
dogmatisch gefasst, ausgesprochen, was bei jedem Menschen Ursprung
des religiösen Cultes ist, d. h. es wurde dem Schutzbedürfniss des
Menschen gegenüber den göttlichen Gewalten (später kam besonders der
»Schutz gegen den Satan durch den Glauben hinzu!) ein Mittel ver-
heissen. Dazu kam die Form des Cultes selbst, dessen Hauptziel ist,
die Suggestibilität des Einzelnen durch „Inbrunst 44 im Gebet, durch
Gesang, durch eine gewisse Betäubung, die der Weihrauch verursacht,
durch immer zunehmendes äusseres Gepränge, ganz besonders aber noch
durch Askese zu steigern. Jetzt, wo die Wunder bei einem von
hellenischem Geiste noch erleuchteten Volke als solche begriffen wurden,
galten sie als die directesten Zeugnisse der Macht und des Eingreifens
Gottes für seine Bekenner. Wer übrigens die Bekenntnisse des heil.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
229
Augustinus theil weise wenigstens gelesen hat, der bekommt einen Begriff
davon, in welch unmittelbarer Weise sich die Christen dieser Zeit in per-
sönlichster Verbindung mit ihrem Gotte nicht dachten, sondern förmlich
fühlten. Autosuggestionen in Gestalt directer göttlicher Eingebungen
waren gewiss zahllos. Beim Gottesdienste waren Exstasen häufig und
das „in Zungen reden“ waren wohl solche exstatischen Prophe-
zeiungen Seitens der Gemeinde.
Wie sehr endlich die ganzen Zeitverhältnisse, die Thaten, die
Werkthätigkeit, die tadellose Sittenreinheit der ersten Christen, die zahl-
reichen Märtyrer und so vieles Andere suggestiv zur Erhöhung des
Glaubens beigetragen haben müssen, das ist ja unzählige Male von Be-
rufeneren dargestellt worden. Unsere Aufgabe ist erfüllt, wenn wir ge-
zeigt haben, dass in jeder Religion nicht logische Reflexion, auch nicht
der Ideengehalt, sondern suggestive Factoren die Einpflanzung der
wesentlichen Vorstellungen zu Wege bringen; und weiter, dass diese
Vorstellungen pure, d. h. als sinnlich empfundene Vorstellungen
wirken. Daher ist denn auch der Gedanke des Erlösungstodes Christi
durch das Kreuz und das Cruzifix überall dargestellt worden, wo religiöse
christliche Stätten sich finden, und der directe Connex mit Gott wird
durch das Gebet mit persönlicher Anrede in allen Religionen gekenn-
zeichnet. Nur plastische Schilderungen von Himmel und Hölle wirken
thatsächlich auf die Hörer, durch eine grosse Summe von Ceremonial-
wesen muss bei abstracteren Religionen, wie der jüdischen und dem
Islam, das sinnliche Glaubenselement ersetzt werden. Sinnlich empfunden
bleibt aber stets das Centrum jeder Religion, die „persönliche Eigen-
beziehung“ zum Gotte. —
Versuchen wir es nun. die vorstehenden, allerdings nur ganz kurz-
gefassten Erörterungen in eine allgemeinere Fassung zu bringen!
Wir haben auf der primitiven Stufe des menschlichen Denkens nur
zwei Gebiete, die wir wenigstens theoretisch von einander trennen
können : Das eine ist das Gebiet der praktischen und technischen Lebens-
fürsorge, Kleidung, Nahrung, Schutz vor feindlichen Angriffen u. s. w.
Hier ist Alles, was erlebt und entsprechend vorgestellt wird, unmittel-
bar sinnlich, erfahrungsmässig (empirisch). Die Wirkung der Nahrung
wird empfunden, der Erfolg oder Nichterfolg der menschlichen Maass-
nahmen und Einwirkungen für seine Lebenshaltung wirl ebenso direct
sinnlich „wa h rg en om m eil“. Wir treffen aber noch auf ein
zweites mächtiges Gebiet, das, wie die Ausgrabungen aus der Urzeit
mit ihren reichen Gräberbeigaben beweisen, ebenfalls schon vom ersten
Dämmern des Menschengoistes ab bestunden hat. Auch hier macht die
umgebende Welt und Natur Eindrücke auf den Menschen, aber sie
nützen ihm weder, noch schaden sie ihm direct, er bemerkt sinnlich gar
keine Wirkung. So hat der gestorbene Mensch aufgehört, noch wie der
230
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Lebende dem Nebenmenschen durch Wort oder That gegenüber zu
treten, der rauschende Wald, das sich verfinsternde Tagesgestirn, das
seltsame Naturobject sind ohne merkbaren Effect; kurz Nichts bezeugt,
dass es noch andere als natürliche, d. h. übernatürliche Kräfte und
Wirkungen giebt. Aber auch auf diese Natureindrücke und Potenzen
sucht der Mensch seinerseits einzuwirken, und auch da hat er noch nie
wirklich wahrgenommen, weder wie er, etwa auf die Sonne oder den
Gestorbenen, einwirken kann, noch dass er je einen Effect erreicht hat.
Tritt man dieser zweiten Kategorie von Vorstellungen naher, so
bemerkt man, dass der Mensch viel mächtiger von ihnen erregt wird,
als von der ersteren, und dass er ganz ungleich grössere Opfer an
werthvollem Besitz für sie hinzugeben pflegt, als da wo er practische
Ziele vor Angen hat, z. B. Erwerb eines wichtigen Geräthes, Schutz
vor Hunger u. s. f. Namentlich folgt der beste Theil der ganzen Habe
dem Todten ins Grab, und oft ist der Diener bereit, am Grabe sein
eigenes Leben zu opfern, um dem Häuptlinge nachzufolgen. Nun zeigt
sich weiter, dass die gebildeten Vorstellungen thatsächlich nicht
theoretischer Natur sind, sie entspringen einem instinctiven associativen
Impulse der persönlichen Eigenbeziehung, d. h. alle eigenen Erlebnisse
des primitiven Menschen, die ihn schrecken und deren Herkunft er nicht
kennt, z. B. Krankheit oder Missernte, werden von dem dem Menschen
nahestehenden Todten, aber auch von irgend einem durch sein Erscheinen
ihn aufregenden Europäer hergeleitet, welch’ letzterer zufällig zu dieser
Zeit ortsanwesend war. Aber wie das geschehen sein soll, auch dar-
über hat der primitive Mensch nie auch nur sporadisch nachgedacht.
Die einzige Hilfsvorstellung ist die, dass er sich den Todten noch
irgendwie als Geist lebend denkt und dass er ähnliche Geister in die
Naturdinge versetzt (animistisehe Vorstellung). Wie mechanisch
diese Eigenbeziehung auf den Todten geübt wird, ersieht man auch
daraus, dass man ihn nicht für an sich mächtig erachtet, und dass man
sich daher so gut wie nie hilfesuchend an ihn wendet.
Das aber, was so auf den Menschen wirkt, das sind immer
s t a r k e a u fr e g ende S i n n e s eindrücke. wie der Tod eines nahen
Verwandten, die Sonnenfinsterniss, Blitz und Donner. Ist das Alles
richtig, so kann, soweit ich sehe, nur ein Schluss gezogen worden:
jeder starke Eindruck bewirkt direct ohne Reflexion und ohne
Motiv bestimmte für den Menschen zwingende Ideenassociationen, be-
sonders die der Eigenbeziehung, und er veranlasst ebenso direct den
starken Impuls zu einer thätigeii Roaction darauf, deren Wirkungsart
ebenfalls nicht überlegt wird.
Auf dieser natürlichen Suggestibilität ruht nun auch in aller
Zukunft das religiöse Vorstellen und Thun, und es sind die erregenden
Vorstellungen immer die starken Natureindrücke. Auf höherer Cultur-
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
231
stufe beginnt aber auch das Reflectiren, und der Mensch hat über die-
selben Dinge, die ihn impulsiv erregen, auch theoretisch nachzudenken
begonnen. Es ist nun eine einfache Thatsache allgemeinster Erfahrung,
dass ein solches rein theoretisches Raisonnement nie Einfluss auf eine
grössere Zahl von Menschen erlangt hat, es blieb stets Vorrecht weniger
mächtiger Geister, der Philosophen. Dagegen ist der Animismus ver-
bunden mit der Idee der Eigenbeziehung veredelt worden zu dem
monotheistischen Dogma; aber es haben auch hier wieder in weitaus
erster Linie rein suggestive Einflüsse gewaltet bei der Einpflanzung
dieser zur Idee erhobenen religiösen Vorstellung. Alle Stifter haben
sich in religiösen Exstasen befunden, sie haben direct autosuggestiv
sich im Verkehr mit ihrem Gotte gefühlt, ihre Lehren haben ihnen selbst
und den Anhängern als inspirirt gegolten. Welche weiteren sugge-
stiven Wirkungen stattgehabt haben, wurde oben auseinandergesetzt.
Namentlich die verbale Suggestion, das eindringliche und sinnlich
auschauliche „Predigen“ der Lehre wurde immer wichtiger, und
schliesslich wurde ein intellektuell besonders begabter und ziemlich
zahlreicher Theil der Menschen mit der ausschliesslichen Lebensaufgabe
betraut, als Priester die dogmatische Fassung zu vertreten.
Aber auch das impulsive Reactionsbedürfniss ist das
gleiche geblieben, und dabei hat sich eine zweite Seite neben dem
Cult eröffnet, die weitere Propaganda für die Lehre. Wir wissen,
wie fanatisch oft der Drang für letztere sich geäussert, welche Ströme
von Blut sie gekostet* hat. Auch für die Propaganda kann kein logisches
Motiv geltend gemacht werden, es ist der Drang, Anderen zu sugge-
riren, was die Person selbst so stark erfüllt.
Mit einem W orte zusammengefasst , wir sehen : Die Vor-
stellung an und für sich ist eine starke psychische Kraft
oder M acht, sie drängt, ohne dass irgend eine Reflexion
betheiligt zu sein braucht, sowohl zu überzeugenden
Associationen und Ideen als zu impulsiven Handlungen.
II. Wahnideen im Völkerleben auf einfach suggestiver
Grundlage.
Die im Vorstehenden weitläufig dargelegte psychologische That-
sache, dass zahlreiche, ja man kann fast sagen beliebige Ideen ohne
jede positive Motivirung vom menschlichen Geiste Besitz ergreifen
können, dass gerade sie ihn mit tiefer und leidenschaftlicher Ueberzeugung
zu erfüllen und ihn zu impulsiver, oft fanatischer Bethätigung anzu-
spornen pflegen, diese Thatsache ist für die geistige Geschichte der
Menschheit von grösster und sehr oft beklagenswerther Tragweite ge-
wesen. Die einzige Bedingung, dass keine offenen Widersprüche solchen
Ideen beiwohnen dürfen, hat offenbar um so geringeren hemmenden
Werth, je kleiner die Summe positiver Errungenschaften ist, welche auf
dem Gebiete der geistigen Forschungsarbeit vorliegt, oder welche der
einzelne Mensch besitzt. Das war ja recht wenig bis zum Anbruche
der modernsten inductiven Aera, aber auch heute noch ist die Zahl der
Ideen, welche sich nicht widerlegen lassen, gewiss um Vieles grösser
als die der für undenkbar zu erachtenden Vorstellungen. Die wichtigste
Errungenschaft der Neuzeit in dieser Hinsicht ist daher eine methodo-
logische ; sie hat einerseits dem kritischen inductiven Denken den ersten
Rang in der Würdigung der Gebildeten verschafft, und andererseits hat
sie die fanatischen Ansprüche der Vertreter suggestiver Denkgebiete
wesentlich beschränkt. Aber sie hat selbst auf wissenschaftlichem
Gebiete direct nach der Vernunftkritik Kant's die beinahe unglaubliche
neuplatonische „Begriffsdichtung“ eines Schelling und Hegel nicht
verhindern können, über welcher die drei Jahrzehnte voll naturwissen-
schaftlicher Speculation für den geistigen Fortschritt verloren gingen;
sie kann nicht vereiteln, dass auch Forscher von Namen dem spiri-
tistischen Unsinn zum Opfer fallen. Weniger verwunderlich ist, dass
eine Reihe meist minder bedeutender Naturforscher dem freilich groben
Denkfehler erlegen sind, im erklärten Gegensatz zum religiösen Spiri-
tualismus eine rein materialistische ebenfalls dogmatische Theorie
aufzustellen, während der allein wissenschaftlich haltbare Standpunkt
in den letzten Fragen der des „Agnosticismus“ ist.
Im Uebrigen kommt bei den die Massen erregenden Ideen noch
der eminent wichtige Factor hinzu, dass intellektuelle Hemmungen
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
233
nur so lange wirksam zu bleibeu pflegen, als die Bewegung im Beginne
steht und noch relativ wenig Anhänger zählt. Denn die weitaus stärkste
Hemmung für jeden einzelnen Menschen ist die Rücksicht auf die ihn
umgebende öffentliche Meinung; durch dieses in erster Linie wieder
suggestive, aber doch auch sehr starke praktische Moment wird der
Einzelne von der Geltendmachung, ja sogar von der eigenen Verfolgung
solcher Ideen abgehalten, die für thöricht oder verwerflich gelten würden.
Und darin scheint mir auch ein sehr wesentlicher Grund zu liegen r
warum wir abnorme Ideenbildungen, die bei E i n z e 1 n e n sich ereignen r
in intensiver und die Person durchaus beherrschender Ausbildung eigent-
lich nur auf geistig krankhafter Basis zu treffen pflegen, während
eine noch physiologische Exaltation genügt, um ganz ähnliche Gedanken-
richtungen in einer compakteren Gruppirung von Personen zum vollen
Durchbruch zu bringen. Die Sectenbildungen mit Selbstmord- und
Mordimpulsen grösseren Stils sind packende Beispiele dafür, und wir
werden Einiges davon bald kennen lernen. Sowie die Personen Halt
und Aufmunterung bei Genossen sehen, erlischt die Scheu vor „dem
Urtheil der Welt“, und ist gar die Zahl der Anhänger eine beträchtliche T
so kann ein förmlicher Kampf bis zum Terrorismus für die Idee geführt
werden. Vom letzteren hat wieder die jüngste Gegenwart in der schon
erwähnten Dreyfusaffaire uns stets neue Proben geliefert ; ist es
doch so weit gekommen, dass die Vertheidiger des elementaren Rechts
— das sonst zum unerschütterlichen Fels in dem öffentlichen Volks-
geist geworden ist — sich vor der Aechtung und böswilligen Verläumdung
mühsam schützen müssen, und dass selbst das gewissenhaft gefällte
richterliche Urtheil zu Gunsten eines „Dreyfusard“ öffentlich verdächtigt
wird. Ich hebe diesen Fall besonders heraus, weil da in einer dem
ganzen Auslande voll evident gewordenen Sache l ) auf dem Gebiete
öffentlicher Rechtsprechung fast das gesammte französische Volk heute
noch wie zu Anfang in einem hässlichen suggestiven Wahn verharrt.
Nicht der an und für sich kaum interessante Rechtsfall selbst oder die
sicherlich uninteressante Person des Dreyfus waren es daher, welche
über Jahr und Tag die Spannung des gesitteten Europas wach gehalten
hatten, sondern das bei jedem einzelnen im Ausland gröblich beleidigte
Rechtsgefühl, der von Jedem innerlich geführte „Kampf ums Recht“.
Und man macht sich kaum einer Voreingenommenheit gegen das
französische Volk schuldig, wenn man sagt, sein Verhalten habe hier
sich nicht weit entfernt von demjenigen eines querulirenden
Paranoikers. Insofern ist dieses Beispiel suggestiver Massenerregung
eines der wichtigsten, das auf diesem geistigen Gebiete in der modernen
!) Vergleiche 0. Mittelstadt: Die Affaire Dreyfus, Berlin 1899, wo schon
vor dem Renner Prozess ein erdrückendes Material sich verzeichnet findet.
234
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Culturgeschichte vorgekommen ist. Wer die ganze Macht sowohl der
erregenden Momente wie des Fehlens genügender Hemmungen in diesem
Falle ermessen will, der erwäge mit sich noch den schrankenlosen Ein-
fluss der Tagespresse einerseits, die aufgedrungene Energielosigkeit
einer stets ephemeren und vom Volksgeiste absolut abhängigen Regierung
in Frankreich andrerseits.
Ein zweiter ziemlich ebenso starker unterstützender Faktor bei
den Massenerregungen findet sich in der suggestiven Gewalt des un-
mittelbar vor Augen jedes Betheiligten stehenden Vorbildes und
Beispieles. Der Impuls zur Nach ahm ung sich ausbreitender, vom
Erfolge getragener Bewegungen ist allenthalben schon bekannt und
gewürdigt. Er ist speciell in allen hysterischen Epidemien früherer und
moderner Tage als das wohl wirksamste Moment hervorgetreten und
wird uns im nächsten Abschnitte daher wieder begegnen. Aber er
kommt den rein ideellen Bewegungen mindestens ebenso stark zu, in-
dessen lassen sich die Details dieser Wirkung so leicht von jedem
meiner Leser begreifen und zergliedern, dass ich mich damit nicht
weiter aufzuhalten brauche.
Haben wir damit die zwei hauptsächlichen unterstützenden
Factoren kennen gelernt, welche das Umsichgreifen auch von abnormen
und oft widerwärtigen Massenbewegungen verständlich machen, so wirft
sich nun Für uns das Problem auf. wodurch die Einpflanzung, die
Entstehung derselben bedingt werde, w T as das ist, was man heute ge-
wöhnlich als die „werbende Kraft“ der Ideen bezeichnet. Wir
kommen damit auf ein Gebiet, das einen so umfassenden Theil der
ganzen Culturgeschichte bedeutet, dass es mir kaum möglich ist, die zu
gebenden Andeutungen auch nur dürftig mit thatsächlichem Stoff zu
bekleiden. Fasse ich das näher in's Auge, was uns allein hier angeht,
die in’s Wahnhafte übergreifenden Massenerregungen, so kann ich
eigentlich nur sagen, dass abgesehen von dem mehr zufälligen perversen
Inhalte der Ideen ihr psychologischer Charakter sich nur durch die
extreme und meist episodische Bekundung unterscheidet von den
edleren und fördernden ideellen Bewegungen. Haben aber nicht auch
die Kreuzzüge, die französische erste Revolution, der 48 er Völker-
frühling denselben stürmischen Charakter besessen, sind viele der
Religionsgründungen, vorab die des Islam, nicht ebenso vor sich ge-
gangen? Immerhin aber, das dürfen wir zum Ruhme der Menschheit
sagen, im Allgemeinen haben die perversen Bewegungen doch meist nur
Minoritäten, wie z. B. im Anarchismus, in der Weise mit sich fort-
gerissen, recht oft nur beschränkte Gruppen und Sekten.
Aber doch in einem scheinen die perversen Bewegungen ihre
psychologische Besonderheit zu haben, das ist, sie scheinen noch all-
gemein menschlicher zu sein, d. li. sie wurzeln tiefer in der
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
235
Volksseele, sie bringen an sich Nichts Neues an den Tag.
Alte von je glimmende Leidenschaften und Wahngebilde, öfter das was
gemeiner Aberglaube ist, bricht mit einem Male hervor und tritt nun
gleich einem reissenden Strome über seine Ufer. Man hat naturgemäss
gerne auch hier eine pragmatische Geschichtsbehandlung zu üben
gesucht, man wollte z. B. nachweisen, wie mit * den grossen legalen
Volksbewegungen, gleichsam angeregt und befruchtet dadurch, oft auch
als Reaction, die perverse Stimmung und Unterströmung Leben gewinne.
Der Aufklärung des letzten Jahrhunderts ging parallel der schon er-
wähnte pietistische Rückschlag, an den als Retter von der socialen
Knechtung des Proletariats aufgetretenen socialistischen Idealismus hat
sich der blutige Anarchismus geheftet, die grosse Reformation Luther’s
liess die Wiedertäuferorgien emporwachsen ; dem weltbefreienden und in
ebenso schwärmerisch religiösem Idealismus als thatkräftiger Menschen-
liebe erblühenden Christenthum ist die selbstsüchtig versunkene ana-
choretische Bewegung gefolgt. — An dieser Auffassung scheint mir also
sicherlich etwas Wahres zu sein, und dennoch lässt uns ein näheres
Eingehen auf die Dinge in solchem Sinne meist unbefriedigt. Wir
verstehen doch nicht, warum diese perversen Regungen, welche doch so
tief in der Menschenbrust gegründet sind, gerade jetzt zum Ausbruch
kamen, warum z. B. gerade der Anarchismus, dem doch im Herzen zu
allen Zeiten ein leider so grosser Theil der Menschen, alle rabiaten und
verbrecherischen Naturen zujauchzen würden, warum er bisher nur das
eine Mal ernsthaft und in grösserem Stile sich gezeigt hat.
Diese Bewegung speciell scheint mir ganz sicher einigen wenigen
gar nicht anrüchigen Männern und, ausdrücklich sei es gesagt, Theo-
retikern , vor Allem P r o u d h o n , ihren Ursprung zu verdanken.
Und damit komme ich zu dem Punkte, der mir auch hier wieder der
wesentlichste zu sein scheint. Man hat sich, glaube ich, viel zu sehr
gewöhnt, den Einfluss weniger bedeutender Geister in allem
geistigen Leben und Fortschreiten der Völker zu unterschätzen, sie zu
sehr als Kinder ihrer Zeit, wenn auch als die besten, zu betrachten.
Die Opposition gegen den Autoritätsglauben geht da zu w^eit. So meine
ich auch, der Stillstand der sogenannten passiven oder Halbculturvölker
Asiens, theilweise sogar der Naturvölker, rührt grösstentheils her von
ihrem einförmigen geistigen Niveau, von dem Fehlen genialer
Männer, welche neue geistige Wege finden und bedeutend und
stark genug sind, auch die geistige Führung an sich zu reissen. Was
haben da nicht die wenigen Genies, ein Dschingis-Khan, ein
Mohammed über die vorher todten Massen vermocht? Nur mit Be-
schämung kann ich es lesen, wenn ein Biograph wie Sprenger 1 ), der
*) Sprenger. Leben und Lehre des Mohammed, 3 Bände, II. Auflage, Berlin 1869.
Grenzfragen des Nerven- lind Seelenlebens.
16
236
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
mit am Besten das ganze Quellenmaterial beherrscht, sich darin gefällt,
wo es nur geht, Mohammeds geistige Grösse herabzusetzen, und ihn als
einen besonders späterhin gleisnerisch auftretenden Wollüstling hinzu-
stellen. Doch auch vorurtheilsfreiere Historiker 1 ) dürften zu sehr der
eben berührten modernen geschichtlichen Richtung nachgeben, indem
sie den Nachweis anstreben, dass der Stifter des Islam bereits einen
stark empfängnissfähigen Boden für die religiöse Reform im arabischen
Volke damaliger Zeit vorfand. Die Thatsachen selbst scheinen mir
deutlich zu zeigen, wie das ganze Werk nur durch einen Mohammed
geleistet werden konnte, wie denn auch kein annähernd gleich be-
deutender und gewaltiger Mann späterhin im Islam mehr aufge-
treten ist.
Für uns hat dieses grandiose Beispiel soviel psychologisches Inter-
esse, dass wir es wenigstens mit zwei Worten bitten erläutern zu dürfen.
Mohammed selbst hat stets gerne bekannt, dass er die monotheistische
Idee aus der vielfältig zu Gebote stehenden Berührung mit jüdischen
und christlichen Einwohnern Arabiens erhalten hat. Auch seine eigene
Bekehrung scheint ziemlich rasch erfolgt zu sein und unter der starken
Einwirkung von ihn tief erschütternden religiösen Exstasen mit Engels-
erscheinungen ; und mehr als in einer anderen Religion haben diese
Inspirationen bei ihm nachgedauert und ist das ganze Fundament der
Religion, der Koran, aus directer Inspiration Gottes und seines Engels
hervorgegangen, und entsprechend in oft poetisch gehobenem Stil ver-
fasst. Nur in der Exstase schrieb er die einzelnen Suren nach und nach
nieder, Visionen und förmliche hysterische Krampfanfälle haben ihn
zweifelsohne oft heimgesucht. Was nun aber den religiösen Glauben
der Araber zu seiner Zeit anlangt, so war er ein tiefstehendes Heiden-
thum, einzelne Steine, sogar Bäume waren die Idole, um welche jeder
Stamm sich alljährlich beim Jahrmärkte zu versammeln pflegte, und der
von Mohammed als Verehrungsobject beibehaltene Stein der Kaaba zu
Mekka war nichts Anderes als ein gewöhnliches derartiges Stammesidol,
und auch die Art seiner künftigen Verehrung im Islam ist im Grunde
wenig gewandelt worden. Man weiss aber auch, wie gering das an-
fängliche Interesse für den Reformator, wie leicht an den Fingern herzu-
zählen die Zahl seiner Anhänger blieb eine lange Reihe von Jahren hindurch,
unter wie mühsamen kleinlichen Stammesfehden der Glaube emporwuchs.
Und nun vergleiche man damit die zwei merkwürdigen Phänomene im
Stadium der Blüthc der neuen Lehre: ich meine fürs Eine dieses allge-
Eine recht sympathische Darstellung bietet hier F. Schwally, Die Cultur
des Islam in He 11 wähl, Culturgeschichte, IV. Auflage, III. Band, p. 235, Leipzig^
18i>7. Zu fernerem Studium sei noch verwiesen auf A. von Krem er, Cultur-
geschiclite des Orientes, 2 Bände, Wien, 1875, und derselbe, Geschichte der
herrschenden Ideen des Islam, Leipzig 1SG8.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
237
waltige glühende Feuer eines Glaubenseifers, welcher jeden Widerstand
niederkämpfend in so kurzer Frist die staunenswerthe Grösse des
osmanischen Reiches erschuf, zugleich aber auch diese eiserne Strenge
eines jeden Anhänger für sich erfüllenden Fanatismus, der bis zum
heutigen Tage den Islambekenner vor jeder anderen Religion aus-
zeichnet. Doch psychologisch charakteristischer noch erscheint mir der
zweite Punkt: gewiss nimmt in jeder der grossen Religionsgründungen
der Stifter selbst im Herzen und im religiösen Glauben seiner Anhänger
eine centrale Stellung ein, öfter ist er wie Buddha und Christus sogar
zu einem Theile des göttlichen Wesens selbst geworden. Das nun ist
— und zwar wohl nur in Folge des Gebotes Mohammeds selbst! —
mit diesem nicht geschehen, und doch ist seine Person eine ungleich
lebendigere und weitumfassendere Macht geworden in allem Denken der
Islambekenner als bei irgend einer anderen Religion. Nirgends ist die
Erforschung der persönlichen Tradition über den Religionsstifter eine
so umfassende geworden, nirgends ging alles religiöse und sociale
Grundlegen, ja sogar die Entscheidung in jeder der tausend Einzelheiten
des Cultes und der Rechtsgrundsätze so bewusst und selavisch zurück
auf die ipsissima verba des Stifters, also wieder die gesammelte „Tra-
dition“, wo der Koran die Auskunft versagte. Nirgends endlich, selbst
nicht im Christenthum, führt sein Bekenner den Namen des Propheten
so unermüdlich im Munde wie dort. Und alle Sectenbildungen im Islam
haben sich nicht um Dogmenbildungen, sondern nur um die Frage
gedreht, wer der wahre persönliche Nachfolger des Propheten unter
seinen ersten Anhängern und Khalifen, bezw. Imamen sei, und auch die
Idee einer Parusie, einer Wiederkehr in messiastischem Sinne, knüpft
sich kraftvoll an diese letztgenannte Idee.
Nur soviel durften wir hier erwähnen. Man mag aber schon dar-
aus ermessen, in welcher Weise sich der ganze arabische und ägyptische
Orient früher und heute noch in geistiger Abhängigkeit von
dem Manne fühlte, welcher die geistige Erhebung der Nationen bewirkt
hat. Ich widerstehe der Verlockung andeuten zu wollen, was die ein-
zelnen genialen Männer unserer eigenen Cultur geleistet haben, was
wir wohl davon besitzen würden, wenn uns solche erste Grössen ge-
fehlt hätten, und wie endlich sowohl die sociale als die wissenschaft-
liche Errungenschaft heute aussehen würde, wenn nicht gerade sie, ein
Moses, ein Christus und Paulus, ein Aristoteles, Gallilei, Newton, Kant,
endlich ein Lavoisier, Schwann, Darwin, Virchow, Lister und Koch und wie
alle die führenden Geister heissen, gekommen wären. Kann man wirklich
glauben, dass die Art der geistigen Entwicklung der Menschheit, ihre Ideen-
richtung in erster Linie inneren psychologischen Gesetzen folgt, und
dass die Individualität der einzelnen Bahnbrecher mehr nebensächlich
dafür sei? Dieses grosse Problem hängt immerhin nicht enge genug
238
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
zusammen mit dem, was uns hier als Aufgabe gesetzt ist. Aber das
schwebt mir doch als Ziel vor, an dem allergewaltigsten Experimente,
das die culturelle Entwicklung des Menschengeschlechtes darbietet, zu
zeigen, wie wenig selbstständig gerade die tonangebenden
Ideen im Geiste der Massen zum Auftauchen und zur Geltung gelangen,
wie fast Alles, was wir denken, seinen Ursprung theils der einfachen
Uebertragung, theils der Suggestion von Person zu Person verdankt,
somit ohne unsere geistige Initiative in uns aufgenommen wurde.
Gerade für die perversen Volkserregungen trifft freilich, wie wir
schon sagten, diese suggestive Einpflanzung doch nicht völlig in gleichem
Maasse zu. Es giebt elementare Instincte, deren Aufwallungen förmlich
explosiv in den niederen Massen sich documentiren, und so scheint
jetzt von unten her in China jener elementare Patriotismus am
Werke zu sein, welcher das Land vor der Besitznahme und sogar nur
vor dem Eindringen der Fremden zu schützen sucht. Aehnlich ergeht
es mit der Rassenfeindschaft bei uns und bei den meisten Nationen.
Dennoch wollen wir es an den jetzt folgenden Beispielen zeigen, dass
in der Regel auch diese Bewegungen ihre suggestive Entstehung nicht
verläugnen und öfter überhaupt von einer einzigen Person in Scene
gesetzt wurden.
Ein ungemein merkwürdiges Beispiel einer plötzlichen Auf-
wallung dagegen, das in seiner drastischen Weise vorbildlich für
grössere und manchmal folgenreiche Erscheinungen der Art sein kann,
bietet sich uns in der ephemeren Entstehung der sogenannten Pai-
M a r i r e - Religion eines schon der Europäisirung nahen Naturvolkes,
der Neuseeländer. Ich berichte darüber iiachderBeschreibungChrist-
liiann's 1 ) der sich dabei auf zuverlässige Quellen zu stützen scheint.
Die schon seit geraumer Zeit zum Christenthum wenigstens äusserlich
bekehrten Ureinwohner Neu- Seelands, die Maori, hatten schon vorher
wiederholte, aber im Ganzen gesittet geführte Kriege mit den Engländern
unternommen, weil sie durch die Wegnahme des Grund und Bodens
seitens der Colonisten erbittert waren. In einer dieser Fehden, im
Mai 1S(>4, war es den Maori gelungen, eine kleine Abtheilung englischer
Soldaten zu überfallen, und sie stürzten sich nun, was bisher nicht vor-
gekommen war, auf den getüdteten llauptmann L 1 oi d , schnittendessen
Kopf ah, vergruben ihn und tranken sein noch warmes Blut. Dieses
Feindeshaupt wurde von den siegestrunkenen Leuten schon in der
darauffolgenden Nacht wieder ausgegraben und nun zum Gegen-
i) Christmann u. Oberländer, Ozeanien, die Inseln der Südsee. Leipzig
iSpamerl 187:». J. Bd. p. 100 ff. (übrigens ein Werk, dessen Inhalt sonst nicht immer
einwandfrei erscheint). Eine Bestätigung der wesentlichsten Thatsachen der Pai-
Marire-Religion ist zu ersehen in dem »Standard- Werk : W a i tz -G er la n d, Anthro-
pologie der Naturvölker, VI. Bd., p. 497, Leipzig 1872.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
239
stände und Symbol einer neuen merkwürdigen und wilden
Religion, eben der Pai-Marire (d. i. friedfertig und gut) oder Hau-Hau-
Religion erhoben. Es wurde zum Führer in dem beabsichtigten Ver-
nich tun gskampfe gegen die „Pakeha“, nämlich die Engländer, es sei,
sagten die neuen Religionsgründer, das Haupt mit der Gabe der Weis-
sagung ausgestattet, es spreche ihnen direct die Weissagungen des
Erzengels Gabriel und die Befehle Gottes aus, durch diese Hilfe würdeu
sie kugelfest und müssten sicher zum Siege gelangen. Jeder neue
Anhänger wurde zum Pai-Marire geweiht, indem er Wasser trank, in
welches Lloyd’s Kopf eingetaucht war, wie sie auch durch solches
Wasser eine Taufe empfingen: mit demselben Glaubenssymbol an der
Spitze zogen ihre Haufen in den Krieg. Die christliche Ehe wurde ab-
geschafft, eine allgemeine Auferstehung aller Maori von den Todten in
nächster Zeit prophezeit. Und diese Religion, welche ihre eigenen
Priester erhalten hatte, verbreitete sich rasch über den Korden Neu-
seelands und entflammte einen neuen und besonders blutigen Krieg, der
übrigens schliesslich ebenso wie die früheren Erhebungen theils durch
Gewalt, theils in Güte von den Engländern beendet wurde. Der Glaube
an die Macht, welche das Haupt eines starken getödteten Feindes dem
Besitzer gewährt, der damit einen ausgezeichneten Fetisch erhält, ist an
sich allgemein bei vielen Naturvölkern und findet sich auch sonst bei
den älteren Neu-Seeländern. Aber ganz ungewöhnlich ist die Begrün-
dung einer förmlichen Religion darauf, welche sich zusnmmensetzt theils
aus einer heidnischen Reaktion, theils aus den neu eingepflanzten
christlichen Lehren: vor allem aber ist zu bemerken das urplötz-
liche A u ff 1 a m m e n d er neuen I d e e , ihr fanatisch blutiger
Charakter, die Schnelligkeit ihrer Ausbreitung und die Verknüpfung der
neuen Religion mit einer aus lediglich politischen Motiven entstandenen
Volkserhebung. In der starken Erregung, welche der errungene Waffen-
erfolg und der wiederaufgelebte Kannibalismus hervorrief, drängte sich
zunächst den Theilnehmern an der Orgie die überzeugende Ideenverbindung
einer ganz besonderen Kraft und Macht mit dem Haupte des Feindes
auf. Dieser ersten Ideenassociation folgte bald die zweite, dieses Haupt
sei zu besonderen Wirkungen gerade innerhalb des jetzig n Befreiungs-
kampfes berufen.
Im Uebrigeu ist ersichtlich, dass das was etwa von religiöser
Idee in dem neuen Gebilde enthalten war, erst nachträglich durch
einzelne Führer und Priester hinzukam. welche sich der Sache bemäch-
tigten, und dass es sich ursprünglich nur um einen rohen und grausamen
Impuls bei seiner ersten Aufwallung gehandelt hat. Das Beispiel an
sich ist aber sehr instructiv, weil es wieder einmal die impulsive und
s u g g e s t i v e Gewalt mächtiger s i n n lieh e r E i n d r ü c k e vor Augen
fuhrt ; wir sehen wieder, wie, bei Naturvölkern besonders, der Sinnes-
240
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
eindruck eine di recte Suggestion ausübt, zu welcher auf höherer
cultureller Stufe hauptsächlich erst das gesprochene Wort, die verbale
Suggestion gelangen kann oder zu welcher es doch hinzutreten muss.
In der Gestalt der imitatorischen Suggestion treffen wir jedoch jene
ebenso unmittelbar innerhalb der Völker und namentlich der Frauen
unserer Culturstufe.
Wir gehen sogleich zu einem weiteren Beispiele der Wahnbildung
im Völkerleben über und zwar einem solchen, wo eine an sich höhere
Idee, gerade dadurch, dass in ihrer Bethätigung ein extremer und
geistloser impulsiver Drang ausschliesslich die Herrschaft gewonnen
hatte, wo also dadurch der Bewegung ihr Charakter des Perversen und
Wahnhaften aufgeprägt wurde. Ich habe das mönchische Asketen-
thum im Auge, welches um die Mitte des dritten Jahrhunderts nach
Christus zunächst und am Stärksten in Aegypten auftrat, sich aber von
da in mässigeren Graden über die ganze damalige christliche Welt aus-
breitete. Die Idee der weltflüchtigen Askese ist eine an sich nahe-
liegende bei einer Religion, deren Bekenner sich in einem so innigen
geistigen Verkehr mit ihrem Gott fühlten; der Stifter der Religion hatte
mit seinem Aufenthalte in der Wüste selbst das Beispiel dazu gegeben,
und der Brahmanismus und Buddhismus Indiens hatten sie zum förm-
lichen System ausgebildet, jeder Brahinane sollte den Abend seines
Lebens als Einsiedler in Contemplation versunken hinbringen. Für
die Christen speciell waren drei Motive geltend: erstlich die Absicht,
sich in der That aus dem üppigen, die Sinne verlockenden und laster-
haften Getriebe der Städte in die menschenleere Einöde zu retten. Als-
dann hatte sich bei den ersten Christen einmal der schon von den
damaligen Neuplatonikern , Stoikern, den Sekten der Manichäer und
den späteren Cynikern gepflegte Gedanke eingelebt, es sei nur der Geist
des Menschen würdig und der Körper mit seinen Trieben und Bedürf-
nissen sei eine hemmende und widerwärtige Last. Es galt somit, das
„Fleisch zu tödten“. Unter dem Einflüsse der Passionsgeschichte Christi
und der leuchtenden Vorbilder der zahlreichen Märtyrer bildete sich
andererseits die verwandte Idee aus, es sei ein Verdienst Uebles
z u lei d e n , der „Sch in e r z sei ein e r s t r e 1> e n s w e r t h e s Gut.“
Für den perversen Charakter der Bewegung sehr bezeichnend ist es.
dass dagegen das dritte Motiv sehr zurücktrat, nämlich das Streben
nach ex statisch er Vereinigung mit seinem Gotte seitens des Ana-
choreten. Auch das Geljet nämlich wurde, wozu es sich seiner inneren
Bedeutung nach am Allerwenigsten schickt, zusammen mit der oft recht
grausamen Selbstgeisselung als eine Art von Kasteiung und Opfer ge-
übt, indem man einen grossen Theil des Tages damit zubrachte,
gedankenlos die Gebetsformeln herzuleiern: oft freilich bei den vielen
fleischlichen Anfechtungen mag es sich auch aus gepresster Brust zum
Ueber Wahnideen im Volkerleben.
241
Herrn erhoben haben. In dieser Weise mag das Rosenkranzbeten ent-
standen sein, das bekanntlich auch ganz ähnlich bei den lamaitischen
Buddhisten in Uebung steht. Nachsinnen über religiöse Probleme, das
übrigens zu damaliger Zeit sich nur auf die gnostische Mystik bezog,
war das letzte, was in jenen Kreisen die Leute beschäftigte.
Die Bewegung scheint ursprünglich mehr zufällig und aus
äusseren Gründen emporgekommen zu sein, indem ein ansehnlicher
Theil der Christen sich in Folge der Decius^schen Verfolgung in die
Wüste flüchtete, um da ungehindert seinem Glauben leben zu können,
und der Einsiedler Paulus aus Theben *) soll das erste Beispiel der
Art gegeben haben. Man fand sehr rasch Geschmack daran und die
„Fortschritte der Mönche waren nicht minder reissend und allgemein
als die des Christenthums selbst.“ Es sollen im Anfänge des vierten
Jahrhunderts manche Klöster 1300 Insassen gezählt haben, und beim
Osterfest sollen bisweilen 50000 Mönche in Aegypten versammelt ge-
wesen sein. Im Uebrigen ist es bekannt, wie masslos und grotesk das
Treiben dieser Anachoreten bald geworden ist: „ein abschreckender,
schmutziger, ausgemergelter, unwissender, unpatriotischer und gefühl-
loser Wahnsinniger, der sein Leben in einer langen Uebung unnützer
und grausamer Selbstpeinigung verbrachte und vor den schauderhaften
Phantomen seines Irrsinns erbebte, war das Ideal der Völker geworden,
welche die Schriften Platos und Ciceros und das Leben eines Sokrates
oder Cato gekannt hatten“, in der Weise charakterisirt Lecky jenes
Asketenthum. Es hätte für uns wenig Zweck, in viel Detail dieser
Dinge einzugehen, Hauptsache ist, dass ein förmlicher Wetteifer in der
Maasslosigkeit, mit der ein solches Leben geführt wurde, lange Decennien
hindurch im 3. und 4. Jahrhundert getrieben wurde, und dass das Volk
und selbst die höhere Geistlichkeit darin die Würde einer besonders
hervorragenden Heiligkeit erkannte. Nicht allein die Nahrung wurde
in denkbar möglichem Grade begrenzt, sondern die Vernachlässigung
des Körpers und elementarer Reinlichkeit wurde förmlich fanatisch ge-
handhabt, sodass bei einem grossen Theil gerade der meist bewunderten
Männer und Frauen darunter in einem Jahrzehnt kein Tropfen Wasser
auf die Haut, kein Schermesser über Bart und Haupthaar kam; ebenso
absolut wurde die Trennung von der Familie ausgeübt und insbesondere
der Anblick der Mutter als eines weibliches Wesens mit oft roher Herz-
losigkeit gemieden und verweigert. Lecky erzählt das Beispiel eines
nach Trennung von der Familie zum Anachoreten Gewordenen, der
nicht nur, wie das gewöhnlich war, jede Sorge für deren Unterhalt von
sich wies, sondern der auch, als man ihm, um ihn auf die Probe zu
J ) Lecky, Sittengeschichte Europas von Augustinus bis auf Karl den Gr.,
deutsche Hebers., Leipzig und Heidelberg 1879. 2. Bd., p. 85 ff.
242
lieber Wahnideen im Völkerleben.
stellen, befahl seinen kleinen Sohn zu tödten und in's Wasser zu werfen,
ohne die Spur einer Selbstüberwindung zu verrathen. sich anschickte,
dem Gebote sogleich Folge zu leisten. Unter den Erfindungen zur
Selbstquälerei, worin die Asketen beinahe allein noch selbstständigen
Geist an den Tag legten, ist als die originellste diejenige des Säulen-
heiligen Simeon berühmt geworden; er hatte auf einem hohen Berge
eine (50 Fuss hohe Säule bestiegen, sich an dieser angekettet und hatte
es zu solcher Uebung in diesem Leben gebracht, dass er auf seinem
engen Aufenthaltsraume o0 Sommer und Winter hindurch aushielt und
dabei als beliebteste Cultform die Gebetsverneigungen betrieb, von denen
ein Zuschauer einmal 1240 nach einander gezählt haben soll; der Zu-
schauer hielt darnach ermüdet im Zählen inne, während der Heilige
seine Verneigungen noch fortsetzte. Die grosse Anerkennung, welche
er im Leben und im Tode seitens des Volkes und der Geistlichkeit er-
rungen hatte, veranlasste natürlich noch eine Reihe entsprechender Nach-
ahmungen.
Uebrigens war dennoch das Leben dieser Anachoreten kein
gemüthsruhiges; sie scheinen sich im Zustande anhaltender nervöser
Ueberreizung befunden zu haben, die Verlockungen des Fleisches, d. li.
ihrer Phantasie, verfolgten sie oft auf Schritt und Tritt, zahlreiche
Visionen, welche iin Glauben der Zeit als Anfechtungen und Gaukeleien
galten, die ihnen der Teufel bereitete, erschreckten sie und machten sie
in ihren Vorsätzen irre, allem Geschlechtsverkehr und den weltlichen
Genüssen zu entsagen: stürmische Verzweiflung mit Hoffnungslosigkeit,
tiefe melancholische Verstimmungen müssen sie häufig genug heim-
gesucht haben. Selbstmorde sollen daher wiederholt vorgekommen sein,
ebenso Ausbrüche raptusartiger Verwirrtheit, Viele haben offenbar in
vorzeitiger Altersdemenz geendet. Diese Folgezustände, über deren
Detail wir im Ganzen doch mangelhaft unterrichtet sind, erscheinen
gewiss nur naturgemäss und bieten für uns nicht viel Interessantes.
Besonders nach dieser Seite hin werden wir eine viel stärkere Aus-
bildung bei den ßesessehheitsepidemien der Klöster im Mittelalter kennen
lernen, und es ist von Werth zu erfahren, dass wie da bei Frauen, so
auch weit früher schon bei männlichen Asketen die satanischen Visionen
in grossem Umfänge sich eingestellt hatten.
Was aber die allgemeinere Lehre anbelangt, welche wir aus
dieser frühen geistigen Epidemie zu ziehen haben, so erkennt man, dass
der Satz voll bestätigt, wird, mit welchem wir diese Schilderung einge-
leitet hatten. Durch einen äusseren Anlass, die Deciusksche Ver-
folgung, hatte sich eine Anzahl glaubenstreuer Christen in der Einöde
zusaimnengefunden. Dadurch bildet sich förmlich explosiv und impulsiv
der Eifer aus. einem asketischen Münchthum nachzuleben, es fand einen
bereiten Grund und Boden in damals allgemein anerkannten Ideen. Von
Feber Wahnideen im Völkerleben.
243
dem Momente ab. wo sich jedoch dessen eine grössere Zahl der Be-
völkerung bemächtigt, verflüchtigt sich der geistige Gehalt der Ideen,
die Ausübung wird eine fanatisch maasslose und perverse, ein ein-
ziger Impuls, die „Abtödtung des Fleisches“, beherrscht die ganze Be-
wegung. Irgend ein logisches Motiv ausser etwa der Hoffnung, durch
solche Opfer um so mehr Anspruch auf das Himmelreich zu erwerben,
fehlt durchaus; indessen die damit verknüpften Perversitäten wie die
absolute Verachtung und Vernachlässigung des Körpers, die Zerreissung
, jedes Familienbandes, sie können logisch nicht aus den zu Grunde
liegenden Ideen gefolgert werden. Es sind impulsive Uebertreibungen,
und würde ein Einzelner ein solches Treiben zu seiner Lebensaufgabe
machen, so würde man ihn, selbst aus dem Geiste jener Zeit heraus —
als isolirt aufgetretene Erscheinung natürlich! — für wahnsin uig
erachten müssen —
Ein zweites Beispiel eines viel schrecklicheren Massenwahns, das
Beispiel, an das heute Jeder in erster Linie denkt, wenn von Massen-
wahn die Rede ist, hat uns die Periode der Hexen processe ge-
liefert. Sie ist von mehreren Autoren, namentlich durch Sold an,
R o s k o f f , L e c k y und M i c hei e t ] ) aufs Eingehendste studirt worden,
Details davon sind jedem Gebildeten geläufig, sodass auch hier unser
Ziel nur sein kann, die Art der Gedankenrichtung selbst zu skigziren.
So ungeheuerlich, so beispiellos grausam und blutdürstig sich dieser
Wahn über zwei lange Jahrhunderte auf dem Höhepunkte bleibend im
15. bis 17. Jahrhundert bekundet hat. so ruht er doch auf einer der-
jenigen Ideen, welche am Tiefsten beinahe zu allen Zeiten und hei den
meisten Völkern in der Menschenbrust gehaftet haben, so lange das
Licht der modernen Naturwissenschaft nicht eine neue Weltanschauung
mit Einsicht in die Gesetzmässigkeit der Naturdinge zu begründen fähig
war. Wir stossen daher nur auf das Problem uns klar zu machen,
warum dieser Wahn gerade in der Religion der Humanität, im Christen-
thum. seine furchtbarste Ausbildung erfahren hat: und da hat die Ge-
schichte mit blutigen Lettern in ihre Annalen die wohl unläugbare
Thatsache aufgezeichnet, dass auch hier für den Wahn selbst eine
Gelegenheit.« Ursache die Schuld an der Entfärbung der Epidemie
trägt. Die Verfolgung des religiösen Gewissens, die Inquisition ist es,
die sich auf die Idee der Satansbündnisse verrannt hatte, die Ketzer-
richter haben geglaubt, im Dienste ihrer Kirche den Kampf mit dem
ewigen Feind»* der Menschheit, mit dem Teufel, übernehmen und aus-
M »Sol da li. < ii*s< , hirht»‘ der IIoxeuprnces.se. neue Bearbeitung, 2 Bde.. Stutt-
gart ls v O: lioskoff, < Josehielite des Teufel*. 2 Ilde.. Leipzig l v 'iU ; Lecky.
Geschichte der Aufklärung, siehe ulten; Mirhelet, La snreiero. Paris deutsche
Febersetzung. Leipzig ferner vergleiche Meyer. Aberglaube des Mittelalters,
Basel 1 Ss 4.
244
Heber Wahnideen im Völkerleben.
fechten zu müssen, und sie haben dabei theils schrankenlos gläubig,
theils suggestiv in ihre Opfer hinein examinirend alles jene alberne
Detail der Hexensabbate und der Teufelswerke zusammengedichtet,
welches jene ganze lange Zeitepoche als unumstössliche Thatsachen hin-
genommen hat.
Wie gesagt, neu war daran nur die specielle Ausgestaltung der
Lehre von den Hexensabbaten und den satanischen Orgien; ursprünglicher
Volksglaube dagegen ist sowohl die Idee eines Teufels oder allge-
meiner gesagt der dem Menschen feindlichen Naturgewalten, als auch
jene zweite Vorstellung, welche als elementarster und impulsiver Ver-
folgungswahn überall und psychologisch noth wendig aufgetreten ist,
nämlich die Beschuldigung des Nebenmenschen, dass er die
directe Ursache eines seiner Herkunft nach unverstandenen eigenen
Missgeschickes oder Unglückes sei. Es steht uns ein Beweis dafür zu
Gebote, dass diese Idee an sich gar nicht abhängig von der zweiten
Vorstellung ist, welche die Fähigkeit der Zauberei gewissen Personen
zuschreibt. Die Furcht nämlich vor dem „bösen Blick“, welche in
Europa, z. B. in Italien, und bei den Arabern, speciell Nordafrikas, all-
gemein herrschend ist, tritt förmlich impulsiv auf; man nimmt an,
dass ein beträchtlicher Theil der mit dem bösen Blick Behafteten selbst
gar nichts davon weiss und noch weniger beabsichtigt, Schaden anzu-
richten. Man denkt überhaupt nicht einmal daran, dass Zauberei dabei
im Spiele sein könne, kurz man denkt überhaupt nicht an eine Er-
klärung der Sache. Es ist eine instinctive Furcht vor dem Beachtet-
und Fixirtwerden, das an sich bereits Schaden bringe; Fleisch müsse
verdorren, wenn es ein solcher Unseliger betrachte, Kinder erkranken
und sterben unter solchem Einflüsse. Offenbar spielt die Unbehaglichkeit,
welche das Fixirtwerden den meisten Personen verursacht, die Hauptrolle
bei dieser Idee, welche in weitestem Umfänge bekanntlich bei dem so-
genannten Beachtung sw ah ne der Geisteskranken, der beginnenden
Paranoiker wiederkehrt. Ebenso allgemein ist, wie wir oben (pag. 225)
gesehen haben, die Ueberzeugung zahlreicher Naturvölker, am Stärksten
der Australier und Neger, dass jeder in unserem Sinne durch Krankheit
oder natürlich erfolgte Todesfall von seiten eines böswilligen Genossen
herbeigeführt sei, und die Bongo-Neger im innern Afrika haben nach
Sch we in furth’s 1 ) Bericht schon diese Schuld auf die ohnehin unnütz
gewordenen alten Leute abgeladen, welche mit den Walddämonen im
Bunde stehen sollen, und die so eifrig der Hexerei, bezw. Zauberei an-
geklagt worden, dass kaum Einer der Alten eines natürlichen Todes
mehr stirbt, sondern Alle durch das Urtheil des Volkes hingerichtet werden.
Auch die fernere Idee, dass sich einige Leute in gefährliche Thiere
') S ch wein für th, Im Herzen von Afrika, 2 Bde., Leipzig 1*74.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
245
besonders Löwen, aber auch Hyänen (welche menschenähnlich * lachen“)
verwandten und in deren Gestalt Unheil anrichten, also das Analogon
der Lykanthropie, findet sich bei Negern und Malayen verbreitet.
Und, um noch ein charakteristisches Beispiel zu nennen, als ein Führer
der Negerkarawane Wissmann’s beim Ueberschreiten eines Flusses
durch Umschlagen seines Nachens beinahe ertrunken wäre, veranstaltete
er sofort darnach ein Palaver, um den Mann zu ermitteln, der durch
seine Zauberei das Umkippen des Nachens veranlasst habe. Dinge
der Art begegnen in Afrika alle Tage, und noch jeder Reisende hat sie
zu sehen bekommen.
Hier also liegt ein instinctiver Verfolgungswahn vor, der
Nebenmensch ist die Ursache des Unfalles, auch da wo nicht der
geringste Anhaltspunkt dazu existirt; und um ihm das aufbürden zu
können, muss man auf die Gabe der Zauberei rekurriren, welche man
sonst nur den speciell dafür beamteten und begabten Priestern zutraut.
Uebrigens nachdem einmal der Volksglaube in solchem Umfange besteht,
giebt es natürlich auch Personen, welche mit Absicht, einem Feinde zu
schaden, solche „Zauberei“ thatsächlich ausführen, und sogar Personen,
welche sich hinterher suggeriren lassen, sie hätten so etwas ange-
richtet, wie ja noch heute bei uns die Liebeszauber und schlimmere
Dinge im Volke ausgeführt werden 1 ). Gerade im letzten Jahre sind
einige crasse Fälle der Art durch die Tagespresse und gerichtliche Ver-
folgung weithin bekannt geworden. Jedem meiner Leser werden einige
davon vor Augen stehen, Viele werden auch wissen, dass in der
Diebesgilde da und dort der Aberglaube besteht, man könne sich durch
eine Kerze aus dem Omentum ungetaufter Kinder bereitet, unsichtbar
machen und Entdeckung * des Diebstahls verhüten. Mordthaten deshalb
sind früher öfter und noch in der Gegenwart besonders an schwangeren
Frauen vorgekommen. Citiren möchte ich nur noch den Fall — ob-
wohl er nur in das Capitel der Volkszauberei im Allgemeinen gehört —
wo vor etwa einem Jahr ein Soldat dem andern auf dessen Geheiss das
Haupt abschlug; es sollte durch einen Spruch hinterher wieder an-
wachsen und der also Behandelte sollte nun zum Entdecken vergrabener
Schätze die nöthige Aufklärung und Fähigkeit erlangt haben. Für
die eigene Schuldidee bezeichnend ist eine Geschichte, die von Eingeborenen
aus Chile berichtet wird: Hexenprocesse sind dort häufig und die Opfer
werden grausam verbrannt. Nun war es den katholischen Geistlichen
gelungen, ein solches Opfer, ein lö jähriges Mädchen, das schon verurtheilt
worden war, dem Tode zu entreissen, indem sie die eingeborenen
Kaziken umgestimmt hatten. Aber nun bekannte das Mädchen selbst,
i) Wuttke. Deutscher Volk^aherglauhe d. < legenwart, 3. Bearbeitung von
E. H. Meyer, Berlin lOnU; viel Material bringt auch P I oss - Bar t e 1 s . Das Weih,
2 Bcltv, 5. Auf!., Leipzig Ist) 7.
246
lieber Wahnideen im Völkerleben.
das durch zauberische Mittel einen jungen Mann vergiftet haben sollte,
auf die Frage des Kaziken, ob sie sich dazu bekenne, mit fester Stimme
das Orakel habe richtig gesprochen, sie habe die böse That aus ver-
schmähter Liebe ausgeführt. 1 )
In dem jüdischen und viel intensiver in dem christlichen Glauben
hat nun eine lange Zeit hindurch die lebhafte Vorstellung von dem
Wirken des Satans in dieser Welt bestanden; die ganze W f elt war
getheilt in ein Reich Gottes und das Reich des Teufels, auch diesem
stand eine Unzahl von Dämonen, Millionen und darüber, zu Gebote, und
sein Hauptziel war immer auf die Verführung der menschlichen Seele
gerichtet, wie ja schon der erste Sündenfall Adams sein Werk war und
alle ehemaligen Götter des Heidenthums nur Dämonen der Hölle gewesen
waren. In jenen älteren Epochen, wo die Visionen und Hallucinationen
bei einem viel plastischer und weniger abstract als heute denkenden
Volke ungleich häufiger wie in der Gegenwart gewesen zu sein scheinen
— übrigens war ja auch die Beleuchtung der Wohnungen eine so viel
schlechtere, die Möglichkeit von Gesichtsillusion daher reich vorhanden !
— da war auch die persönliche Erscheinung des Satans etwas Gewöhn-
liches. Aber solange der positive Glaube felsenfest in allen Gemüthern
sass, schreckte die Macht des Satans wenig; die Kirche besass unbe-
dingte Gewalt gegen ihn, die Anrufung Gottes, das Zeichen des Kreuzes,
etwas Weihwasser genügte, um sofort die Dämonen zu Paaren zu
treiben, ihre Verlockungen zu Nichte zu machen. Dazu kam, dass jenes
tiefe Misstrauen, jener Kampf Aller gegen Alle, welcher auf primitiver
Stufe jeden Menschen zum Feinde macht, der nicht in die enge Gechlechts-
genossensehaft aufgenommen ist, dass diese instinctive Furcht vor dem
Nebenmenschen in der christlichen Cultur doch nicht mehr herrschte.
Nur vereinzelt sind in jener ganzen Zeit Hexenprocesse und -Ver-
urthcilungen vorgekommen, so unter Constantin, Karl dem Grossen und
etwas häufiger im 14. Jahrhundert. Die grossen Schäden, Pestilenz,
Hungersnot!). Stürme, welche der gütige Gott höchstens zur Strafe
schicken konnte, galten als direct es Satanswerk, wenn das .Gott so
zu lassen wollte.“
Die Wendung kam erst zu der Zeit, als bei einem Theile der
Gebildeten der Skeptizismus sich zu regen begann, an der Neige des
12. Jahrhunderts, nachdem die Albigenser, der Averroismus, die Kritik
eines Abaelards und schliesslich gar die Reformation in das Denken
Verwirrung gebracht hatten. Die Geistlichkeit selbst war durch Ueppig-
keit degenerirt, sogar auf dem Stuhle Petri haben freigeistige Ideen
damals zeitweise geherrscht. Eine dumpfe Aufregung wühlte im Volke,
fl C. Och senius, Chile. Land uml Leute. Leipzig und Prag LS S 4. pag. l‘Jd
his 124.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
247
die Scharen von Flagellanten, welche unter anklagendem Geheul
das Land durchzogen, verdüsterten das Gemüth, vor Allem aber die
furchtbarste aller Seuchen, die je gewüthet haben, 1 ) der schwarze
Tod, welcher im 14. Jahrhundert binnen G Jahren 25 Millionen
Menschen dahinraffte, den vierten Theil der Bevölkerung Europas. Hier
trat der alte instinctive Verfolgungswahn grell zu Tage, die
Seuche, so ging das Gerede im Volke, war das Werk der Brunnen-
vergiftung durch die Juden, welche wieder einmal wie schon zur Zeit
des ersten Kreuzzugs zu Tausenden hingemordet wurden, namentlich in
den grossen rheinischen Städten, obwohl sich ihrer die Bischöfe edel-
niüthig angenommen hatten. Jetzt aber ging der einmal erregte Impuls
weiter, und auch die Christen wurden nun als Veranstalter der Seuche
durch Hexerei beschuldigt. Viel wichtiger wurde es aber, dass nun die
Inquisition und die Ketzerrichter ihr Augenmerk auf die Hexerei und
satanische Bündnisse richteten und als einer der ersten und schreck-
lichsten der bekannte Konrad von Würzburg.
In diesen völlig im Dogmatismus erstarrten und dafür um so
leidenschaftlicheren Köpfen konnte der Gedanke gar nicht rege werden,
dass Zweifel an der Religion, welche die Erlösung der Menschheit
allein gewährleistete, von innen heraus, aus eigenem Denken kommen
könnten; etwas der Art war also wieder Teufelswerk, und gegenüber
der Gefahr, dass die nun so oft verkündete „Herrschaft des Antichrist“
im Herannahen sei, kannten sie nur einen Standpunkt, den des Kampfes
für die Kirche. Und nur von dieser Idee aus haben alle die Ketzer-
richter die Hexenprocesse geleitet, es galt nicht, Schuldige zu ermitteln
oder gar Unschuldige freizusprechen, sondern auf der Hut zu sein gegen
alle Tücken des mächtigen und vielgewandten Satans. Es wäre gewiss
von psychologischem Interesse, wie das so oft geschehen ist, klarzu-
legen, dass diese „Richter“ auch nicht die Spur einer Kritik, eines
auf Ermittelung von Wahr und Falsch zielenden Processverfahrens be-
sassen, wie kein Moment, das zu Gunsten des Beklagten sprach, sich
bei ihnen Gehör verschaffen konnte: widerstand die Frau der Folter, so
war sie vom Teufel gestärkt, war sie erwiesene rmaassen nicht aus ihrem
Bette gekommen, so hatte der Teufel doch ihre Seele zum Hexensabbat
entrückt oder sonst ein Blendwerk vorgemacht. Es ist vorgekommen,
dass Frauen mitten im Verhör oder auf offener Strasse vor allem Volk
niederfielen, zwei und mehr Stunden in Katalepsie versunken bewusstlos
dalagen, aber hinterher erzählten, sie seien inzwischen bei einer grossen
satanischen Orgie gegenwärtig gewesen ; auch solche Fälle machten die
*) J. F. C. Hecker, Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, heraus-
gegeben von Aug. Hirsch. Berlin 1*05. — Ueber die Flagellanten, speciell:
M. Cooper, Der Flagollantismus und die Flagellanten, deutsche Uebersetzung,
Dresden 1899.
248
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Richter nicht mehr irre. Wo der Teufel im Spiele war, konnten
natürliche Erklärungen nicht mehr in Frage kommen. Nein! die
ganze Sorge dieser Männer war darauf gerichtet, nur recht Viele zu
überführen, und Skrupel, dass sie Unschuldige verurtheilt hätten, haben
sie selbst dann nicht gekannt, wenn die Unseligen mitten in der Folte-
rung ihren Geist aufgaben, So kam es, dass im Bisthum Trier einmal
in einem Jahre allein 800 Personen verbrannt wurden, in Toulouse
einmal 400 an einem Tage, und dass der Richter Remy in Nancy sich
rühmen durfte, „in seiner persönlichen Jurisdiction 800 Hexen dem
Feuertode überantwortet zu haben,“ und dass die Gesammtzahl der
Hexenverurtheilungen weit über die Million gehen wird 1 ). Der eigent-
Canon für diese Processe ist bekanntlich enthalten in zwei Schrift-
stücken von entsetzlicher Tragweite, der Bulle „Summis desiderantes“
des Papstes Innocenz VIII. vom 5. December 1484 und dem „Malleus
maleficarum“, dem Hexenhammer vom Jahre 1487, von mehreren In-
quisitoren verfasst. Er hat, obwohl nur eine Art Belehrung enthaltend,
3 Jahrhunderte lang beinahe Gesetzeskraft erhalten und „unerbittlich
losgeschlagen.“
Im Wesentlichen kehren immer nur die zwei Beschuldigungen
wieder: die Hexen haben Krankheit des Viehes oder der Menschen,
ziemlich oft eheliche Impotenz, ferner Sturm und Seuchen verursacht,
namentlich haben sie kleine Säuglinge entwendet, um sich aus deren
Fett die berühmte Hexensalbe zu bereiten, welche sie mit Gedanken-
geschwindigkeit auf einem Besen durch die Lüfte trägt oder Andere
behext. Dass Niemand noch eine solche Wirkung gesehen hatte, hat
nie als Gegenbeweis gegen die Existenz der Salbe gegolten : sie wirkte
eben nur, wenn der Teufel es wollte. Die zweite und wichtigere An-
klage war rein religiöser Natur, d. i. eben die Abschwörung des
Glaubens, das Bündniss mit dem Satan. Das letztere wurde mit Blut
geschrieben und verpflichtete zur Theilnahme an den Hexensabbaten;
dort erhielt der Teufel den bekannten Kuss aufs Gesäss, das Homa-
gium, geschlechtlicher Verkehr mit dem Teufel selbst musste stattlinden,
sonst Orgien gefeiert, die Religion verhöhnt werden, der Teufel erschien
meist als schwarzer Bock oder mit Pferdefuss u. s. w. Diese Details
sind tausendfach in den Processschriften aus vorhandenen Geständnissen
belegt. Zur Erklärung der Ausdehnung der deshalb geführten Processe
muss indessen zweierlei noch hervorgehoben werden : erstlich das, was
wir schon mehrfach erwähnt haben; die Ueberzeugung von der entsetzlich
grassirenden Häufigkeit der Satansbündnisse spukte damals nicht allein
im niederen Volke oder in den Köpfen einer kritikberaubten Geistlich-
keit, sondern die ganze Elite der Gelehrsamkeit theilte sie und schrieb
P »Siehe Llorcnti, Histoire critique de Pinquisitiun d’Espagne, Paris 1817,
4 yoI. (deutsch : Gmünd 1821 — 22).
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
249
Folianten mit scholastischen und dogmatischen Beweisen aus der Bibel,
wobei die Hexe von Endor, welche Saul einst erschienen war, eine
Hauptrolle spielte. Die wenigen Gegner, wie Weier, wurden es nur
aus Mitleid und Barmherzigkeit; Weier selbst glaubte voll und ganz
an das überall sich breit machende Heer der Dämonen, nur half er sich
mit der Annahme, der Teufel habe den sogenannten Hexen selbst ein
Blendwerk vorgemacht, sodass sie nur „glaubten“ Böses zu thun, ohne
es auszuführen. Descartes, der Erleuchtetste seiner Zeit, schwieg
gänzlich über die Hexenfrage und Montaigne war, wie erwähnt, der erste*
der mit kritischem Unglauben am Schlüsse der Hexenepoche hervortrat»
Zweitens war, ebenso wie das von primitiven Völkern vorhin
angeführt wurde, ein grosser Theil der Personen, aber beinahe
99 Procent Frauen, wirklich durchdrungen von dem Wahn, dass
sie Teufelsbündnisse eingegangen hätten; familiäre Belastung und starke
Gemüthserregung fallt dabei erheblich in’s Gewicht ; besonders Frauen r
welche durch Tod ihrer Kinder niedergedrückt waren, haben Geständnisse
gemacht, und sehr charakteristisch ist es, wenn eine arme Frau, der die
letzte Kuh soeben verendet war, sogleich darnach mitten in ihrer Ver-
zweiflung von der Erscheinung des Teufels heimgesucht wird, der ihr
die besten Versprechungen macht und sie auf der Stelle* zum Hexen-
sabbat entführt. Der Fall ist wörtlich so berichtet worden. Die meisten
Frauen aber haben ihren Wahn in lebhaften und visionären Tr ä um en
empfangen während der Nacht, und wollüstige Erregungen, welche einen
fleischlichen Verkehr mit einem Incubus-Teufel vorspiegelten, sind die
weitaus gewöhnlichste Form gewesen. Nicht gerade selten freilich
scheint es sich dabei um weitergehende Abnormitäten, Tagesvisionen
und kataleptische Zustände bei Hysterischen gehandelt zu haben. Ich
muss aber doch anführen, dass nach meinen persönlichen ärztlichen Er-
fahrungen nächtliche Hallucinationen, die aber im noch wachen
Zustande sich ereignen, gerade bei älteren Personen, und wieder
namentlich bei älteren Frauen, auch heute noch keineswegs selten
beobachtet werden: nervöse Erregungen auf dem Boden noch leichter
Altersabnahme auf geistigem Gebiete, wie sie dem Laien noch kaum
auffallen, waren die gewöhnliche Grundlage, Fratzen und schwarze
Männer die häufigste Form der meist sehr schreckhaften Illusion. Fälle
dieser oder ähnlicher Art also haben sich allenthalben damals ereignet,
und sie sind an verschiedenen Orten förmlich epidemisch aufgetreten;
eine der schrecklichsten Epidemien war die im Jahre 1609 in der Land-
schaft Labourd 1 ) in den französischen Pyrenäen ausgebrochene Seuche.
Die Leute, Fischer aus baskischem Stamme, sind sehr arm, führen ein
rauhes Leben und besassen wenig Bildungsgelegenheit. Die Frauen nun
wurden in Massen von jenen nächtlichen Träumen und Teufelsvisionen
!) Calraeil, De la folie. Paris 1845, I. vol. p. 427.
250
l'eber Wahnideen im Völkerleben.
heimgesucht, besondere Commissare der Inquisition wurden gesandt,
welche den hervortretenden Zug der Nymphomanie in erster Linie er-
kundeten, und Hunderte von Frauen wurden alsbald hingerichtet. Auf
der Folter sollen verschiedene „unsagbare Genüsse“ erfahren haben, ein
deutlicher Beweis hysterischer Anaesthesie. Nun ergriff aber der Zustand
auch die Kinder zu Tausenden, beinahe Alle gaben sie an, von
schwarzen Katzen, den Seelen der hingerichteten Mütter, Nachts zu den
Hexensabbaten entführt zu werden ; man versammelte sie in Schaaren
Nachts in den Kirchen, um sie zu behüten, aber noch Monate lang
ging das Wesen trotzdem so weiter.
Das also darf als sicher gelten, dass die Ketzerrichter, mögen sie
auch im Einzelnen schlimmer als die wilden Thiere gehaust haben, dies
doch im guten Glauben gethan haben. Der Leser erlässt uns gewiss
gerne eine weitere Schilderung sowohl der Sonderbarkeiten der Ideen
als der Gräuel der Verfolgung. Für uns am Wichtigsten ist die That-
sache, die wir oben betonten: nicht die epidemische Ausbreitung des
Wahns hat die kirchliche Verfolgung herbeigeführt, sondern umgekehrt,
der Arm der Inquisition, der durch das Wanken der Kirchengläubigkeit
sich zur Niederkämpfung der Haeresie veranlasst sah, hat mit dem Satan
den Krieg aufgenommen und nach Satansbündnissen gefahndet. Erst
dann ist eine allgemeine Hexenfurcht heraufbeschworen worden, von der
man vorher Nichts wusste, und nun haben auch eine Anzahl nervös
erregter und besonders altersgeschwächter Frauen die Teufelsvisionen
erlebt und sich selbst schuldig bekannt, während freilich von nicht-
Wenigen gegen ihre Ueberzeugung das Geständniss durch Folterqualen
ausgepresst wurde. Die Ketzerrichter aber haben gegen die Beschul-
digten nicht eine Untersuchung, sondern einen wirklichen Krieg geführt,
so felsenfest war bei ihnen die suggestive Ueberzeugung, so sehr
empfänglich waren sie nur für Gründe, welche im Sinne ihrer Idee
sprachen, und so unzugänglich für alles Andere. Auch hier ist also die
Epidemie durch das Eingreifen bestimmter Personen zu einer
bestimmten Zeit entfesselt worden und nicht aus inneren cultur-
historischen oder psychologischen Gründen. —
Wir dürfen nun die weiteren Beispiele noch kürzer behandeln, da
sie uns psychologisch nichts wesentlich Neues mehr bieten. Ihre Aus-
wahl ist nahezu willkürlich und muss es sein, auch dann wenn wir uns
nur an die in grösseren Gruppen und in Volksmassen auftreteuden
Ideenrichtungen halten, und den dauernd im Volke wurzelnden Aber-
glauben und die gewöhnlichen politischen und socialen Strömungen
auch da bei Seite lassen, wo sie, wie in den Revolutionen, fanatisch sich
geltend machen. Den Löwenantheil in der Pathologie der Volks-
seele beansprucht zu allen Zeiten das religiöse Denken, indessen
auch dieses, wie mir scheint und entgegen der gemeinen Ansicht, nicht
Heber Wahnideen im Völkerleben.
251
aus inneren Gründen, d. h. wegen der Stärke der Gemütsbewegungen,
welche damit verbunden sind; vielmehr repräsentirt es die älteste,
den Menschen schon von frühester Jugend ab eingeprägte Ideenbildung
von suggestivem Charakter, und durch den Priesterstand sowie die
staatliche Unterstützung hat die Religion eine stärkere Gewalt über die
Geister errungen als irgend ein anderer Ideencomplex ; dazu kommt, dass
ihre Vorstellungen durchweg einfacher Art und für den gemeinen Mann
leicht verständlich, zudem noch plastisch anschaulich sind. So trifft
auf diesem Gebiete der Agitator stets ein empfängliches Publikum und
wohl für directe Suggestion vorbereiteten Boden; die kritische Ver-
nunft wird relativ leicht zum Schweigen gebracht, ist ja doch die
religiöse Idee überhaupt ausdrücklich ausgenommen und ängstlich be-
hütet vor den Angriffen der Wissenschaft und ist doch der Glaube an
Wunder noch von der officiellen Kirche als wesentlicher Bestaudtheil
der loyalen Gläubigkeit gefordert. In späteren Jahrhunderten mag in dem
Inhalte und der Richtung der Wahnbildungen im Volke ein Wandel
eintreten; heute jedoch kann dies noch nicht behauptet werden, ob-
gleich man einer derartigen Meinung öfter begegnen kann. Immerhin
lassen sich einzelne förmliche geistige Epidemien auf weltlichen Ge-
bieten auffinden, innerhalb welcher die kritische Vernunft ebenso absolut
bei Seite gesetzt wurde wie in den religiösen perversen Strömungen, und
wo die suggestive Beherrschung der Geister durch die eine Idee eine
nicht minder unbedingte war; dahin rechnet der moderne Anarchismus
und die Beispiele von Speculationswuth in breiten Volksschichten,
wie sie die Tulpenmanie in Holland und die John Law’sche Grün-
dung in Frankreich *) gezeitigt hatten.
Die Tulpenpflanze war um die Mitte des 16. Jahrhunderts nach
Europa gekommen, bald wurde sie zur Zierpflanze der Mode, und nun
steigerte sich die Nachfrage nach ihr in den niederländischen Städten
rasch. Kaufmännische Speculation bemächtigte sich der Sache, und da
die Tulpen aus Samen gezogen wurden, deren Entwicklung natürlich
Zeit beanspruchte, gelangte man weiterhin zu Lieferungsverträgen aut
Zeit, und aus diesen wurden schliesslich förmliche Termin- und Differenz-
geschäfte, wie sie an der heutigen Börse üblich sind. Alle Welt begann
nun, als die Preise mehr stiegen, selbst Tulpen zu züchten, weiterhin
aber betheiligte man sich einfach an den reinen Terminspeculationen,
nur in der Absicht, Gewinn aus den nachfolgenden Preissteigerungen
zu ziehen, ohne die Tulpen selbst verwerthen zu wollen. Ein Taumel
ohne Maass und Ziel ging durch ganz Holland vom Edelmann bis zum
einfachen Bauer, Landgüter, Pferde, Hab und Gut wurden veräussert.
1 ) Hinreichend eingehende Darstellung dieser Epidemien findet sich in dem
wichtigen Werke : 0. St oll, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie,
Leipzig 1894.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 1 <
252
Leber Wahnideen im Völ kerleben.
um flüssige Geldmittel zur Speculation zu erhalten ; die Werthe für die
Tulpenzwiebeln stiegen so enorm, dass einmal eine einzige Zwiebel der
Varietät * Semper Augustus“ zu 13000 fl., ein ander Mal 3 Zwiebeln
zu 30000 Gulden gehandelt wurden. Noch 1637 wurden für das
Waisenhaus in Alkmeer 120 Tulpenzwiebeln für 90000 fl. verkauft.
Indessen ebenso rasch im gleichen Jahre kam die Wendung und der
Zusammenbruch aus dieser absolut künstlichen Werthsteigerung und
Speculationswuth ; nach wenig Wochen kostete eine Semper Augustus
nur noch 30 fl., etwas später nur noch 5 fl. Eine ganze Reihe von
Existenzen war ruinirt, und der Handel erholte sich erst nach Jahren
von dieser schrecklichen Krisis. Ganz unbedacht und plötzlich war der
Taumel über das Volk gekommen, als man die Möglichkeit vor sich sah,
beinahe über Nacht durch das Termingeschäft zum reichen Mann zu
werden; da aber jegliches Fundament für die horrenden Preistreibereien
fehlte, so hielten alsbald die Besonnenen zurück, mit gleicher Plötz-
lichkeit kam es zur Panik, und der Preis der Zwiebeln machte erst an
dem geringen realen Werthe der Objecte Halt.
In Rechnung gesetzt muss aber der Faktor werden, dass die Sache,
die Idee selbst neu war, und dass es noch sehr an richtiger Einsicht
in die Finanztechnik und nationalöconomischen Gesetze fehlte. Aber
der maasslose Impuls reich zu werden, der zum Preisgeben von Hab und
Gut auf ein gewagtes Spiel hin trieb, ist auch hier lediglich sug-
gestiver Natur gewesen, und jegliche vernünftige Ueberlegung hat
jenen Spielern noch mehr gemangelt als etwa dem Glücksspieler an
den grossen Spielbanken. Nicht anders ist es in der berühmten John
La w’schen Transaction gegangen. Die Details interessiren uns auch
hier nicht; man darf nach dem Urtheile von Sachkennern, welche
wiederholt dem merkwürdigen Unternehmen eingehende Studien ge-
widmet haben, sagen, dass die zu Grunde liegende Idee an sich richtig
und bedeutend, sogar finanztechnisch Epoche machend war. Law
fehlte nur darin, dass er der Agitation kein Hinderniss in den Weg
legte, und dass er sich in dem jähen Taumel völlig die Zügel aus den
Händen winden liess. Persönliche Vortheile, die mancher Scharf-
blickende in ungemessener Höhe für sich errang, indem er seinen Gewinn
sicher im Auslände unterbrachte, hat er selbst für seine Person ver-
schmäht. Erwähnen wir nur, dass er eine grosse Handelsgesellschaft
mit Monopol für allen ausländischen überseeischen Handel, die „Com-
pagnie des Indes“ begründete, und dass er dafür Antheilscheine ganz
nach Art unserer heutigen Actien ausgab. Da man sich nun grossen
Gewinn von dem Unternehmen versprach, auch bedeutende Zinsen sogleich
in Aussicht stellte, so erreichte bereits die zweite Emission der Banque
royale, 500 000 Actien zum Nominalwerth e von 150 Millionen, einen
Oours von 550 Livres pro Stück ; aber schon die dritte Emission
Ueber Wahnideen im Volk erleben.
253
wurde zu 1000 und die letzte gar zu 5000 Livres pro Actie eingezahlt,
also über das 16 fache des Nominalwerthes von 300 Livres. Niemand
berechnete mehr den wahrscheinlichen Zinsertrag, es galt nur Kauf
und rascher Verkauf mit gewaltigem Gewinnste, und der Cours wurde
in wenig Wochen in jenem Jahre (1617) bis auf 18 000 Livres pro
Actie getrieben. Zehn und zwanzig Mal an einem Tage pflegte der-
selbe, Hoch und Niedrig, seine Actien zu kaufen und zu verkaufen, der
Andrang der Leute zur Bank wurde durch das Gedränge lebensgefährlich ;
man nahm sich nicht mehr die Zeit, zu dem Geschäfte nach Hause zu
gehen. Baracken, die den Vorzug der Nähe bei der Banque royale be-
sassen, wurden für die Transactionen der Speculanten vermiethet und
erzielten gewaltige Miethen, und bekannt ist die Anekdote von jenem
Buckeligen geworden, der auf der Strasse seinen bequemen Rücken zum
Schreibpulte hergab und dadurch ein Vermögen von 150 000 Livres zu
erwerben wusste. Als nun aber nach 2 Jahren endlich die Einsicht
kam, dass die Einkünfte der Bank denn doch bei Weitem nicht solch
enormen Werthen der Actien entsprachen, kam auch da in wenig Tagen
der Zusammenbruch und die Liquidation der Bank mit einem Defizit
von 2500 Millionen Livres. Natürlich verloren alle die, welche ihr
Vermögen für den illusorischen Werth der Actien hergegeben hatten,
ihr Geld so gut wie gänzlich, und die Panik und Deroute war eine
ungleich schwerere als seiner Zeit bei dem Tulpenschwindel. Auch in
Zukunft hat beim Börsenspiel sich gerade das den Geldgeschäften ferner
stehende Publikum verblenden lassen durch die zu Ohren kommenden
Beispiele rascher Bereicherung Einzelner, zuletzt in grossem Maassstabe
in der Gründungsperiode der 70 er Jahre, doch war der Taumel des
Volkes nie so grenzenlos wie in jenen ersten Fällen, weniger wohl in
Folge besserer Einsicht und Selbstbeherrschung des grossen Publikums,
das auf jeden gut arrangirten Schwindel „hereinfällt“, als in Folge
der besseren Aufsicht, welche die staatliche Behörde ausübt durch eine
umsichtige Actiengesetzgebung.
Lediglich der gleichen rein physischen Hemmung verdanken
wir es, dass jene andere furchtbare und scheussliche Idee, die des
Anarchismus in Verbindung mit der Propaganda der That,
einen nur massigen Umfang erreicht hat und dass sie zwar reichlich
theoretische Anhänger, aber doch nur spärlich active Vertreter ge-
funden hatte. Die ganze Völkerpsychologie widerlegt bei diesem
Einzelfalle eine doppelte falsche und gefährliche Lehre, welche von ver-
schiedener Seite her bezüglich des Anarchismus vertheidigt wurde: die
eine Lehre ist die der reinen Demokratie, welche dem Wahne huldigt,
falsche Ideen würden am Besten durch die Vernunft und Einsicht des
Volkes corrigirt und seien am Unschädlichsten und Raschesten beseitigt,
wenn man ihnen möglichst öffentliche und ungehemmte Aussprache
254
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
gestatte. Richtig ist ja, dass in langen Zeitepochen hier schliesslich ein
„U eberleben des Passendsten“ erfolgt, aber bis es dahin kommt,
hat die Idee Zeit gehabt, ihre volle suggestive Gewalt zu entfalten, und
die Periode des Hexenwahns hat wahrlich genug bekundet, wie um-
fassend solche Zeiträume sein können. Nur wo so drastische Beweise
ad oculos erfolgen, wie in den grossen Geldspeculationen, da kann ein
suggestiver Irrthum schnell zu Grabe getragen werden. Die zweite,
beinahe entgegengesetzte Lehre, die von Lombroso 1 ) und Krafft-
Ebing gestützt wurde, lautet dahin, es sei bei der anarchistischen Be-
wegung eine thatsächliche geistige Abnormität, speciell nach dem
letzteren Autor eine politische Ideen hegende Paranoia, eine Para-
noia expansiva bei einer nennenswerthen Zahl der Anhänger be-
theiligt gewesen, insbesondere bei den Hauptmatadoren. Die von Lom-
broso sogenannten Mattoiden (folie mattoide), die schreibsüchtigen,
disharmonisch veranlagten Naturen, ferner Epileptiker und Hysteriker,
dazu hypersensible Leidenschaftsverbrecher 'kommen nach diesem Autor
hauptsächlich in Betracht. Mir scheint nun in der That diese Meinung
für einen Theil der anarchistischen Verbrecher zuzutreffen, und ich halte
das Material, das Lombroso 1 ) dafür beibringt, für durchaus beachtens-
werte Es ist auch charakteristisch, dass der Anarchismus in allen
Ständen immer nur bei einzelnen, meist besonders eigenwillig ver-
anlagten Naturen Anhänger gefunden hat. Aber eine solche Auslese
der für eine extreme Idee suggestiblen Personen trifft man doch auch
bei religiösen Sectenbildungen, und dennoch hat bei günstigen
äusseren U m ständen der Anarchismus eine starke und wild grau-
same M a ssenbewegung in Gestalt der Pariser Commune hervor-
gebracht. Anerkennen wir daher immerhin, dass zur vereinzelten
Thathandlung, zum „Attentate“ speeifisch starke Impulse und eine
ungewöhnliche Ausschaltung der sonst so mächtigen Hemmungs-
motive erforderlich sind; wir haben das ja in der einleitenden Be-
trachtung dieses Abschnittes ausdrücklich in's Licht gesetzt, als wir eben
den Unterschied der Hemmungen bei der individuellen und der
Massensuggestion hervorhoben. Wir können somit hier die Psychologie
des Individuums für sich bei Seite lassen, soweit die passive Suggesti-
bilität für die Ideen in Frage kommt, und uns lediglich an die Massen-
wirkung der anarchistischen Idee halten.
Nun zeigt es sich vielleicht nirgends besser als bei dieser Gelegen-
heit, wie ungenügend jene populäre Auffassung ist, welche die grossen
perversen Bewegungen im Volke theils auf die geistige Beschränktheit
der Massen, theils vor Allem auf die blinden Leidenschaften
b Lombroso, Die Anarchisten, eine criminal-psychologisclie u. sociologische
Studie, deutsche Lebersetzung von H. K uro 11a, Hamburg lsbo.
lieber Wahnideen im Vülkerleben.
255
derselben zurückführen will. Vielmehr muss stets ein nachhaltig sug-
gestiv wirkendes Element, das ist eine Vorstellung oder Idee,
vorhanden sein, und gerade der Anarchismus hat sich stets, wo er auf-
trat, sei es in ein religiöses, sei es wie in moderner Zeit in ein
philanthropisches oder aber mehr sozial-politisches Gewand gehüllt.
Dies nachzuweisen ist die Aufgabe, welche uns jetzt hier obliegt. Schon
früher ist der Gedanke aufgetaucht, der Mensch lebe am Besten und
Naturgemässesten ganz ohne Gesetze und Beschränkungen und nur
durch die Gesetze käme erst der Impuls zu Verlockungen und Ueber-
tretungen. Schon im hellenischen Alterthum *) von Zeno und dann von
Karpokrates zwei Jahrhunderte vor Christus ist diese Theorie auf-
gestellt worden. Dann aber sind kleinere Herde von Anarchisten im
frühen Mittelalter um 1200 wiederholt aufgetaucht, mit mystischen und
chili astischen Vorstellungen verschwistert. So lautete bei den Amalri-
chisten (nach Joachim von Floris und Amalrich von Beno) die
Lehre, jeder Christ sei ein Theil Gottes, und wer in der Exstase die
Rückkehr zu Gott gefunden habe, könne nicht mehr sündigen
und dürfe jeden Gedanken, so verbrecherisch er scheine, ausführen. So
wurde die wildeste Fleischeslust durch den einfachen Grundsatz motivirt,
dass Gott ebenso „unter als über dem Gürtel wohne 44 . Trotz Inquisition
und Scheiterhaufen breitete sich die Secte als „Brüder vom freien Geist“
in verschiedenen Ländern aus, vom 13. bis 15. Jahrhundert sich immer
von Neuem erhebend. Weiter wurde unter den Hussiten durch einen
belgischen Emigranteu, der sich für den Sohn Gottes ausgab, eine
ähnliche Secte der „Adamiten“ begründet, welche in paradiesischer
Unschuld und Nacktheit lebend, keinerlei Gesetz oder Ordnung für
nöthig hielten, aber durch Ziska selbst niedergemetzelt wurden. Um
die gleiche Zeit lebte die Secte der Chalciken, es kamen ähnliche Ideen
in dem Wahnsinn der Wiedertäufer zu Tage, und ein Ableger der
letzteren in Zürich, die „freien Brüder“ , proklamirten wieder auf
christlich-religiösem Boden die freiwillige Güter- und Weibergemeinschaft.
Alle haben sie, im offenen Zerfall mit dem herrschenden Staate,
ein Martyrium blutiger Vernichtung erduldet, ein Beweis, dass auch
solche extrem social gefärbte Ideale schon früh suggestive Kraft genug
entfalteten, um dafür mit dem Opfer des Lebens einzustehen. Der
moderne Anarchismus hat ebenfalls, so in L es sing. Fichte, God-
win u. A., eine Reihe von theoretischen Vorläufern besessen; sein
wirklicher Begründer ist aber Proudhon. 1 ) dem auch die Erfindung
Ü Vergleiche Prof. Adler. Artikel Anarchismus im Handwörterbuch der
StaatswNsenschafteii von Conrad. Lexis etc.. II. Auflage, Jena (Fischer)
I. Band.
*) Siehe E. V. Zenker, Der Anarchismus. Kritik und (ieschichte der anar-
chistischen Theorie, Jena (Fischer) ls‘i.*>; Zacher. Der Anarchismus und seine
Träger, Berlin ls*7.
256
Ueber Wahnideen irn Völkerleben.
des Terminus „Anarchismus“ zukommt (in der Schrift Qu’est ce que
c’est que la propridtä 1840). Niemand hat je gezweifelt, dass er von
den edelsten Motiven geleitet worden ist, er war und blieb auch Theo-
retiker vom reinsten Wasser und alles Andere eher als Agitator. Seine
Theorie ist abstract genug und geht aus von der Untersuchung der
Tauschwerthe ; auf gerechter Basis müsste das Tauschobject und das
eingetauschte Gut gleichen Werth besitzen. Das finde aber bei dem
Eintausch der Arbeitskraft gegen den Arbeitslohn nicht statt, viel-
mehr halte der Unternehmer ungefähr ein Fünftel als Unternehmer-
gewinn zurück, er „erntet also, wiewohl er nicht säet, er geniesst, wie-
wohl er nicht arbeitet“. „Der Eigenthümer wird so zum Diebe“,
„la propriätd c’est le vol“. Proudhon hat so das berühmte Sch lag -
w*ort geschaffen, und die Ideen in dergestalt concentrirte Form gebracht
sind erst so wirklich im Stande, Massenwirkungen zu erzielen. Denn
die Masse verlangt eine klare anschauliche Vorstellung, dagegen nicht
eine motivirte Theorie. Die letztere macht sich dann jeder Einzelne
aus in der Zeitung oder in der Versammlung aufgefangenen Brocken
nach seinem persönlichen Fassungsvermögen zurecht. Proudhon selbst
aber fahrt fort : Die Arbeiter erhalten somit nicht soviel, um ihre eigenen
Producte zurückkaufen zu können. Das führt zur Ueberproduction aus
Mangel an Abnehmern und zur Krisis; die Arbeit steht still. Heute
wird die Werkstätte geschlossen, morgen Fasttag auf den öffentlichen
Plätzen, übermorgen Tod im Armenhaus oder ein Mahl im Gefängniss.
Daraus folgt die Notliwendigkeit der Arbeitsfreiheit nach Neigung und
Talent, die Aufhebung der Capitalansammlung. Da aber keine Regierung
damit zufrieden sein wird, folgt wieder das Postulat der Regierungs-
losigkeit, der Anarchie. Erst da ist aller Handel frei und gerecht
und nur Producte von gleichem Werth werden getauscht. Zur Ver-
wirklichung dieses Ideals dachte sich Proudhon eine Tauschbank,
d. li. eine Art Vorschussbank, die ohne Zins leiht, sodass das Capital
des Einzelnen keinen Werth inehr hat. Dass nun alles richtig gehen
werde, dass die Menschen alle fieissig und redlich arbeiten, sich nicht
übervortheilen etc., das wird einfach garantirt „durch die G er ech tig-
keit*. welche „von selbst* beim Fehlen des Zwanges und der
Regierung herrschen wird.
Bei Stirn er dreht sich wieder Alles nur um diesen letzteren
Grundsatz, und es seien wenigstens zwei Worte diesem anderen Haupt-
theoretiker der Anarchie gewidmet. Sein Grundsatz ist ein moralischer
oder besser antimoralischer : der Mensch an sich kenne nur seine
eigenen persönlichsten Interessen, nur seinen Egoismus; jede Schranke.
Vaterland. Religion. Gesetz, seien ihm eingeredete fixe Ideen oder Ver-
gewaltigung des freien .Einzigen“. Statt des Staates solle es nur
„Vereine von leben“ geben, deren jedes nur sich im Auge hat, Vereine
Leber Wahnideen im Völkerleben.
257
der Egoisten. Aus Eigennutz aber müssen sie sich associiren durch
freiwillige Verträge. Diese müssen gehalten werden, weil man sonst
dem Contractbrüchigen nicht mehr traut. Der Beginn dieser Umwand-
lung sollte eine allgemeine Empörung sein, und dabei sollte sich
jeder nehmen, was ihm gefalle. Die Ordnung wird auch nach Stirn er
„ganz von selbst“ durch die den Menschen einwohnenden guten
Eigenschaften aufrecht erhalten werden; denn die socialen Verbrechen
sind nur Folge des Zwanges und der Gesetze. Ebenso erklärte
Bakunin, die Ordnung im anarchischen Staat müsse sich „ganz von
selbst“ hersteilen durch das der gesammten Menschheit eigene „Princip
der Solidarität“. Auch Stirne r war bekanntlich ein ganz zurückgezogen
lebender Stubengelehrter von tadellosem Leben, der erst späterhin,
wieder durch die Männer der Agitation — nach seinem Tode — der
Vergessenheit entrissen und wirksam wurde.
Die Proudhon ’ sehen Ideen sind nun weiterhin von einer immer
steigenden Zahl von Theoretikern und namentlich von Agitatoren
übernommen und theilweise weitergebildet worden, und sie haben sich
wie bekannt in zwiefacher Richtung entwickelt, in derjenigen der
Emancipation des Arbeiterproletariats, der Socialdemokratie, die als ihre
Väter Lasalle und Marx bezeichnet, und in der Richtung des Anar-
chismus. Beide Ideenrichtungen haben eine grosse, die erstere zum
Theil für den Arbeiterstand eine fast universale werbende Kraft
entfaltet, und dennoch ermangeln sie in ihrem positiven Theil so
gut wie völlig jeder logischen Grundlegung. Die Socialdemokratie er-
klärt den Unternehmergewinn wie Proudhon für verwerflich, muss
aber anerkennen, dass das Capital im allgemeinen Daseinskämpfe sich
nothwendig bei den intellectueil Stärkeren ansammelt. Sie decretirt
daher einfach, dieser Daseinskampf müsse durch die staatliche Omni-
potenz verboten, d. h. aufgehoben werden, sie decretirt aber eben so
einfach, dass unzweckmässige Impulse und die Ungleichheit der Be-
gabung der Individuen kein Hinderniss für diesen unbedingten Commu-
nismus und noch weniger für das Glücksgefühl der Personen darin sein
werden. Die anarchistische These dagegen steht auf förmlich kindlich
naiver Stufe: sie decretirt, nicht die Gesetze seien durch menschliche
conträr-sociale Impulse, sondern die letzteren seien durch die Gesetze
provocirt worden, obwohl auch nicht das primitivste Naturvolk ohne
streng gebandhabte Gesetze auskommt: die Tausch- und Eigenthums-
beziehungen, welche die Socialdemokratie in gerechter Weise durch
stärkste Staatspolizei er zwi ngen will, regeln sich für den Anarchismus
durch die absolut guten Eigenschaften der Menschen «ganz von selbst“.
Die Folge dieser grenzenlosen Naivität des philanthropischen Programms
des Anarchismus ist es gewesen, dass die Zahl seiner Anhänger eine sehr
viel kleinere als die der Socialdemokratie geblieben ist, und dass
258
Heber Wahnideen im Völkerleben.
insbesondere die Gebildeten darunter sich fast nur auf die massige Zahl
der Agitatoren beschränken und auf jenen blasirten Theil der decadenten
Jugend in den romanischen Nationen, deren „folie sensationiste“ sich
an der blutdürstigen Energie und Leidenschaftlichkeit der Agitation
berauschte.
Diese letztere wurde thatsächlich noch reiner negativ und zur
Anklägerin der gegenwärtigen Gesellschaftsform und Gesellschaftsnorm
als ihre anständigere revolutionäre Schwester, die Socialdemokratie ;
ihre ersten Propheten fand sie in dem despotischen und rückständigen
Russland, in einem Bakunin, Krapotkin und Netschajew, und
der letztere ist, offenbar im Anschluss an den politischen Nihilismus,
zu der Formulirung der Idee der „Propaganda der That“ gelangt.
Er verlangte, man solle durch grässliche Unthaten das allgemeine Auf-
sehen erregen, also eine Reclame im grössten Stil erwecken, es sollte
Schrecken bei den Besitzenden und bei den Regierungen erregt werden.
Keine andere Thätigkeit als die der Zerstörung sei zuzulassen, der
Staatsbegriff solle gewaltsam vernichtet werden, wie das freilich auch der
gutmüthige Stirn er postulirt hatte. Zum ersten Mal wurde damit das
Attentat nicht zur Wegräumung politischer Gegner, sondern zum Zweck
der Propaganda als Selbstzweck proklamirt (18G9).
Das psychologische Motiv ist klar: die suggestive Idee drängt
impulsiv zur That, bei der geringen und zudem zerstreut in der Be-
völkerung wohnenden Menge der Anhänger ist die reguläre Geltend-
machung durch politische Agitation ziemlich erfolglos. Die Idee des
Anarchismus entspringt zudem einer heftigen Opposition gegen das
Bestehende. Diese Agitation war von vornherein eine leidenschaftlich
erboste: so war das Attentat die nächstliegende Bethätigung, und es
galt nur eine Formel zu finden, um das Attentat ohne Ziel, „ins Blaue
hinein“, um auf einen früheren Ausdruck zurückzukommen, zu recht-
fertigen. So fand Netschajew psychologisch ganz richtig als Motiv
das „Reclamebedtirfniss“. Damit wurden zugleich eigene Märtyrer
der Idee geschaffen, wozu jede starke oppositionelle Suggesti Vorstellung
immer hindrängt. Nur die infame Scheusslichkeit, welche das Morden
von an sich in keiner Weise den Attentäter berührenden Personen in
sich schliesst, hat es verschuldet, dass die Agitatoren sich begnügten,
nur ihr Lebensglück der Idee zu opfern, während die anarchistische
That von den an Bildung niedrigst stehenden Männern, theilweise
wirklichen Verbrechern, ausgeführt wurde, einem Hödel, Ravachol,
Henry etc. Von Einzelnen, wie besonders Caserio, berichtet Lom-
broso eine Reihe von Zügen, die auf einen von Natur aus sanften
Charakter schliessen lassen, der die anarchistische Idee mit seiner
früheren religiösen Inbrunst vertauscht habe, irre geführt durch die
reber Wahnideen im Völkerleben.
259
primitive Logik einiger Agitationsschriften ! ). Es sei hier eine specielle Arb
der geistigen Veranlagung vorhanden, vermöge welcher die Personen durch
eine einzige Idee völlig ausgefüllt würden, der „Monoideismus“.
Ich finde keinerlei Grund, darin eine irgendwie specifische psychologische
Thatsache oder Wirkung vorauszusetzen; wir finden im Anarchismus
lediglich die gleichen Züge, wie sie jede suggestive Massenbewegung
mit sich bringt; die Aeusserungen sind pervers, weil es auch die Idee
ist. Der philanthropische Mantel ist lächerlich naiv, die oppositionelle
Seite der Idee dagegen ist überaus radical und an und für sich aggressiv.
Die Unterdrückung des Anarchismus gelang darum so relativ leicht*
weil nun doch die wenigen höher Gebildeten, wie Elie Reclus, sich
entsetzt von der blutigen Sache und den Gemeinheiten eines Most, des
„Pere-Peinard“ u. s. w. ab wandten und jedenfalls nicht darum die
Strenge der Gesetze über sich ergehen lassen wollten. Ungebildete
können aber keine suggestive Autorität auf die Massen entfalten, und
ein herostratischer oder neronischer Verfolgungswahn gegenüber der
ganzen Bourgeoisie, der Trägerin unserer modernen Cultur, widerspricht
zu sehr der menschlichen Natur, um dann noch Dauer zu bewahren*
nachdem er sich in seiner vollen Hässlichkeit entpuppt hat.
Die anarchistische Bewegung stellt uns ein besonders crasses, aber
doch nur ein einzelnes Beispiel des politischen Wahns dar. Wir
hatten schon oben bemerkt, dass dieser letztere seit dem Anbruch der
modernen Weltanschauung doch in einem gewissen Masse an die Stelle des
religiösen Wahns im Völkerleben getreten ist; doch ist seine Erscheinungs-
weise im Allgemeinen einfacher, elementarer und ideenärmer als die
religiösen Strömungen es sind, welche der Phantasie ein weites Feld
bieten, und deshalb pflegt man für jenen meist lediglich den Terminus
der „nationalen und politischen Leidenschaften“ anzuwenden.
Indessen spricht man doch auch ebenso von „gallischem Grössenwahn“,
von dem „Imperialismus“, der z. B. im amerikanischen Volke herrschende
Strömung geworden sei, und andererseits anerkennt man, dass die
höheren geistigen Bewegungen in den Völkern, so der Freiheitsdrang,
der Patriotismus und Nationalstolz, wahre Ideale seien, also auf
geistigen Prinzipien, Ideen beruhen. In der That muss man erkennen,
dass in allen solchen Strömungen eine Idee und ein Affekt Zusammen-
wirken, dass nur die Idee, welche Gefühl und Phantasie oder aber die
Ü Die Art dieser Uedankengänge erhellt aus zwei Aeusserungen Ca seriös;
brutal schreibt er: „Ich muss bald einen Bourgois am Kragen packen; mein Herz
schreit nach Rache; ein einziger Tag ist für mich lang genug, um eine furchtbare
Rache zu nehmen.“ Mitleidig dagegen klagte er, dass Hunderte von Arbeitern Be-
schäftigung suchen und nicht linden; Hunger und Kälte herrschte nicht deswegen,
weil es an Brot und Kleidern fohle, denn die Magazine seien voll davon, aber Viele
schwelgten im Luxus, ohne zu arbeiten etc.“
260
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Leidenschaft kraftvoll zu erregen vermag, bisher zu einem Ideal oder
zu einem aufreizenden Phantom der Völker geworden ist. Es sind
sonach, um es mit unserem technischen Ausdruck zu benennen, wiederum
Suggestivwirkungen, suggestiv wirkende Vorstellungen, die auch das
politische Leben der Völker hauptsächlich beherrschen.
Daraus nun erklären sich mannigfache Erscheinungen, welche dem
aussen stehenden Beobachter des Völkerlebens wunderbar und oft auch
beklagenswerth Vorkommen , welche ihm merkwürdige Räthsel und
Zwiespältigkeit in der Menschenbrust offenbaren. Da ist zunächst die
Thatsache, dass im Allgemeinen materielle und praktische, d. h. logisch
begründete Ziele und Werthe selten die Völker zu grossen Thaten auf-
gestachelt, dass sie kaum je tiefgehende Erregungen oder gar grosse
Kriege in's Dasein gerufen haben. Der gewaltige wirthschaftliche Kampf
der heutigen Culturnationen entwickelt sich in den friedlichsten Formen,
die Völker sehen in Ruhe ihre Regierungen Handelsverträge schliessen
oder einen heftigen Zollkrieg unternehmen; darüber entbrennt nie ihre
Leidenschaft, mögen sie auch wirtschaftlich dadurch empfindlichen
Schaden erleiden. Wenn das materieller denkende Volk des britischen
Inselreiches gegenwärtig einen blutigen Vernichtungskampf gegen die
Burenrepubliken führt, um deren an werthvollsten Gold- und Diamant-
minen reiches Land an sich zu reissen, so kennzeichnet man sonst
überall in Europa das als eine „engherzige Krämerpolitik“. Und doch
spielt dabei eine jahrhundertlange politische Eifersucht, die Kränkung
englischen Stolzes durch die starre Unnachgiebigkeit des kleinen Landes
und endlich wohlgeleitete Aufreizung der Nation durch eine Anzahl
von Interessenten, die von langer Hand her vorbereitet wurde, vielleicht
die grössere Rolle. Dein gegenüber sah man bei den Kreuzzügen im
ganzen gesitteten Europa die Bllithe aller waffenfähigen Männer, ja
sogar unmündige Kinder das Schwert mit dem Kreuz zugleich ergreifen;
das deutsche Mittelalter sah das Kaiserthum sich in zwei nutzlosen und
endlosen Reihen von überaus schweren Kämpfen verzehren, einmal um
den leeren Phantom des „römischen Kaiserthums deutscher Nation“
nachzujagen, d. h. einer romantischen Wiedererneuerung von Karls des
Grossen Reich; zweitens um den ebenfalls romantischen Anspruch der
Weltherrschaft zwischen Papstthum und Kaiserthum zu entscheiden. In
unseren Tagen wollte das machtlose Spanien sich gegen das waffen-
gewaltige Deutsche Reich erheben, nicht um des werthlosen Besitzes
der Karolineneilande willen, sondern zu Schutz und Schirm für die Ehre
der Nation. Bedarf es noch der Erinnerung an den unvergleichlichen
Opfermuth Preussens in den deutschen Befreiungskriegen, an all* das
was die Völker gethan und gelitten haben um das Ideal des politischen
und verfassungsmässigen Selbstbestimimingsrechtes und das Ideal der
nationalen Einigung ?
lieber Wahnideen im Völkerleben.
261
So gross nun aber auch die Gewalt solcher Ideen über den Volks-
geist sich erweist, sie theilen dennoch mit anderen Suggestivwirkungen
die Eigentümlichkeit , dass sie der ursprünglichen Einpflanzung
und Erregung durch fremde geistige Kraft für gewöhnlich bedürfen,
d. i. eben die Suggestion. Man kann z B. nicht ersehen, dass eine
höhere geistige Kultur an sich schon den Unabhängigkeitssinn der
Völker oder gar ihren nationalen Stolz erwecke. Selbst die grösste
aller Ideen, die der Humanität und des Menschenwerthes , war dem
hochgebildeten Hellenen- oder gar dem Römerthum noch fremd; erst
die junge christliche Gemeinde und später die Theoretiker der französischen
grossen Revolution haben sie enthüllt und entwickelt. Die Aufklärungs-
epoche am Schlüsse des 18. Jahrhunderts gefiel sich, wie man weiss,
in einem fast vaterlandslosen Weltbürgerthum, am stärksten gerade da,
wo es am schädlichsten war, in Deutschland nämlich. Ueberhaupt
haften ja die einmal eingelebten politischen Ideen mit einer eisernen
Beharrlichkeit, beinahe unabhängig von der geistigen Höhe der Völker
und des Einzelnen, ja sogar unabhängig von ihrer materiellen Berechtigung.
So war in Deutschland eine nahezu knechtische Fürstentreue stets das
Ideal geblieben (der vielberufene „Bedientensinn“), und in dem gewissenlos
ausgesogenen französischen niederen Volke ist die Idee der Emanzipation
gewiss nicht erstanden: nicht Männer aus und im niederen Volke,
sondern Philosophen und Weltmänner, ein Montesquieu, Voltaire, Rousseau,
Mirabeau, Theoretiker und Rhetoren, hatten zuerst die Kühnheit der
neuen Ideen in sich herausgebildet. Nur leidenschaftliche Kämpfe,
nur das Feuer des Streites konnten dann die Ideen zur Reife und zur
Ausbreitung bringen, wie das noch überall und bei allen neuen Ideen
gewesen ist.
In unserer Zeit vollends haben wir ein förmlich dem Priesterthum
vergleichbares neues Amt der Leitung des Volkes erstehen gesehen in
Gestalt sowohl der zahlreichen Parlamentarier und Berufspolitiker als
namentlich der publicistischen Tagespresse, der „sechsten Grossmacht**.
Für unsere jetzigen Aufgaben am interessantesten ist die dritte
grosse Eigenthümlichkeit des politischen Lebens der Völker. Es scheint
am Nächsten zu liegen, und man hat es vielfach ausgesprochen, dass
eben in dem „Idealismus“ der Culturvölker die Grundlage für die er-
staunliche werbende Kraft grosser neuer Ideen zu suchen sei. Damit
contrastiren aber seltsam die bedenklichen Abwege , auf welche wir
gleichzeitig den Volksinstinkt gerathen sehen. Die Völker sind heute,
mit Ausnahme der Türkei und Russlands, überall zu eigenen Herren
und Lenkern ihrer Geschicke geworden, die öffentliche Meinung einer
Nation ist jetzt eine sieghafte Macht, und der Eigennutz oder die
Genusssucht eines fürstlichen Despoten existirt kaum mehr als Faktor
im öffentlichen Leben. Dafür zeigen aber schon die inneren politischen
262
Heber Wahnideen im Völkerleben.
Parteien ein unerfreuliches Bild : für’s Eine sind es wesentlich die
radikalsten und leidenschaftlichsten Parteien, die blühen und die die
Stimmen der Wähler erobern. Selbst Blossstellungen, wie sie ein Ahlwardt
erfuhr; sogar bedenkliche Verletzungen des Patriotismus, wie sie sozial-
demokratische und auch da und dort demokratische Führer bei uns
bekundeten; Sucht zu obstinater Verneinung und Unfähigkeit zu positiver
Arbeit; unverhüllte Selbstsucht, wie sie die Agrarier vertreten: all’ das
ruft nicht die Kritik der Wähler hervor und vermindert nicht die Zahl
der Anhänger. In Frankreich vermochte ein geistloser und zudem
energieschwacher Abenteurer wie Boulanger die Stimmen der Hauptstadt
Paris auf sich zu vereinigen. Noch merkwürdiger erscheint ein anderes
Verhalten: das eigentlich moderne politische Ideal, der Liberalismus
hat in der Fortentwicklung unseres deutschen politischen Lebens stets
mehr an Geltung und Wählerzahl eingebüsst, und die Ueberzahl der
Wähler folgt entweder der politischen und religiösen Reaktion oder
aber der unseren modernen Staat völlig verneinenden Sozialdemokratie.
Man darf also sagen, dass die breiten Volksschichten je nach ihrer Er-
ziehung heute ebenso leicht zum Mjsticismus und zum politischen
Rückschritt wie zur planlosen Utopie zu gewinnen sind: gewiss ein
seltsamer Gegensatz! Ich glaube, man würde unserem deutschen Volke
unrecht thun, wenn man das durch seine geistige und politische Unreife
erklären wollte; es offenbart sich darin nur wieder die Thatsache, dass
planvolle Ueberlegung kein Faktor ist, mit dem geistige Massenwirkungen
zu erzielen sind. Dagegen besitzt jeder Radikalismus, der reaktionäre
wie der fortschrittliche, den Vorzug der starken Gefühlsbetonung, der
Leidenschaft in seinem Vorstellen und zugleich der plastischen Klarheit
und Schärfe in seinen Endzielen, sei dies nun der allgemeine Communismus,
die grosse „Tlieilung“, sei es die Wiederherstellung der kirchlichen und
religiösen Herrschaft u. s. f. Die S uggestibili tä t der Volksmassen
stellt somit das wirksamste Moment dar. Nur sie erklärt es, dass tliat-
süehlich unserer Cultur gefährliche Gesetzesvorlagen w T ie das Projeet
des früheren preussisehen Schulgesetzes, ferner einer Bestrafung der
„Gottesleugnung*, der Lex Heinze eine starke Mehrheit im Deutschen
Reichstage haben finden können, sodass unsere konservative Regierung
heute zum Schützer der liberalen Institutionen hat werden müssen.
Noch deutlicher tritt diese Eigenschaft in dem eigentlichen
nationalen Leben hervor, also in den Beziehungen eines Volkes zu
anderen Nationen, wo sich jedes Volk als eine compakte Einheit fühlt.
Hier fallen die regulirenden Hemmungen weg, welche die gegenseitige
Gontrole der Regierung und der Volksvertretung , sowie endlich der
gebildeten Kreise in der Nation im inneren politischen Leben ausübt:
nur die physische Kraft und Macht, der Schutz, welchen das Schwert
verleiht, vermag die Völker zu wahren und wildere Instinkte zu dämpfen.
I'eber Wahnideen im Völkerleben.
263
Ganz gewiss ist es überraschend und betrübend, dass die gewaltige
Zunahme unserer geistigen und gewerblichen Culturgüter ebenso wie
die überaus grossen Fortschritte in unserer Gesittung und Humanität
so gut wie keinen Einfluss erlangt haben auf die Abnahme jener
Schmach der Menschheit, des Krieges. Und dabei sind die modernen
Kriege keine dynastischen Unternehmungen mehr, sondern wahre Volks-
kriege; und mit wenigen Ausnahmen sind die zu Grunde liegenden
Gegensätze der Völker hervorgegangen aus perversen Ideen und Impulsen,
nämlich zumeist aus einfacher Eroberungssucht, aus gesteigerter und
förmlich zum Grössenwahn gediehener nationaler Eitelkeit, endlich aus
gegenseitiger Missgunst und Eifersucht, welche oft an Verfolgungswahn
grenzt. Diese Vergiftung des nationalen Denkens und Fühlens
ist seither in jedem Dezennium nur gewachsen, und während zur Zeit
der „heiligen Allianz“ noch ein wirkliches „Konzert der Mächte“ lange
Jahre hindurch bestand, so ist heute das Gesammteuropa einfach unfähig
geworden, eine so drängende und lebenswichtige Aufgabe wie die Be-
seitigung der Türkei auch nur zu erwägen, ganz zu geschweigen von
der Möglichkeit, die zum Aeussersten gespannte Waffenrüstung irgendwie
herabzumindern. Die Sachlage ist heute schon so, dass es gar kein
Vorzug ist, sondern von einer Schwäche des nationalen Empfindens
zeugt, wenn man. wie bei den deutschen radikalen Parteien, freundliche
Gesinnung gegen ein Nachbarvolk, speziell die Franzosen, zur Schau
trägt, den Gebrauch des Ausdruckes „Erbfeind“ der Jugend vorenthalten
zu wissen wünscht u. dergl.
Wenn wir eines oder das andere der uns Deutschen speziell nahe
liegenden Beispiele dafür iifs Auge fassen, so ist es keine gleissnerisehe
Selbsttäuschung, sondern historische Wahrheit, dass wir Deutsche zu
der herkömmlichen Feindschaft der Franzosen und Russen gegen
uns nie einen anderen Anlass als den unserer Existenz gegeben haben.
Das russische Volk hat von jeher gegen uns den Hass der Eifersucht
bezeugt; eine Reihe tonangebender und geistig hervorragender Schrift-
steller, wie Puschkin und Turgenjew, haben sich darin gefallen^
in ihren Dichtungen jeweils die Deutschen als die niederträchtigsten
Schurken, Geizhälse und Trunkenbolde hinzustellen, zum Dank dafür,
dass lange Zeit die grössten industriellen Unternehmungen in Russland
von Deutschen in’s Leben gerufen und geleitet werden mussten. Wieder
ganz ohne Grund hatte sich nach dem Berliner (Kongress eine zügellose
Kriegspartei in Russland gerade gegen Deutschland erhoben, das damals
am Allerwenigsten feindselig sich gegen die Russen bewiesen hatte.
Hand in Hand damit geht die panslawistische Ausbreitungs- und Er-
oberungslust des heute schon riesengrossen Reiches; man sollte
meinen, es seien für den russischen Staat gar keine gedeihlichen und
drängenden kulturellen und politischen Aufgaben im Innern des Reiches
264
lieber Wahnideen im Völkerleben.
vorhanden; so continuirlich, rastlos und intensiv strebt es nach immer
weiterer Länderbeute, ohne sich Zeit zu nehmen, im Innern des Landes
merklich zu bessern. Indessen scheint sich darin im Wesentlichen das
slawische Temperament zu äussern; denn auch ein Theil der jungen
südslawischen Balkanstaaten scheint zeitweise von nationalem Grössen wahn
ergriffen worden zu sein, so damals als ohne jeden Grund das eifersüchtige
Serbien seinem bulgarischen Nachbar feindselig in den Rücken fiel.
Das französische Volk ist durch seine beiden grossen Monarchen
Ludwig XIV. und den ersten Napoleon förmlich erzogen worden,
sowohl zur grenzenlosen nationalen Eitelkeit als zu jenem egoistischen
Wahn, es sei seine politische Aufgabe, sich durch grosse Stücke des
germanischen Nachbarlandes zu bereichern und dieses überhaupt zur
dauernden politischen Ohnmacht und Zerrissenheit zu verurtheilen. Man
hatte dafür den schönen diplomatischen Ausdruck vom „ europäischen
Gleichgewicht“ erfunden, zu dem es gehörte, dass Preussen und Oesterreich
ihre Kraft durch gegenseitigen Antagonismus lähmen sollten, während
selbstverständlich Frankreich als die ,. grosse Nation“ den Rang der
Vormacht in Europa besitzen musste — eine Idee, welche dann namentlich
der dritte Napoleon ausgebildet hatte und durch welche er sich auf seinem
Throne zu behaupten gedachte. Der Napoleonismus, das Kaiserreich
war Alles weniger als der Friede, es war die „gloire“ für die Franzosen
und jener Zustand in Deutschland eine der Hauptstützen dafür. Ich
verkenne keinen Augenblick, dass der Ausdruck „Wähn“ im Voran-
gehenden oft übertragen, sogar etwas übertreibend angewendet worden
ist: aber für das Verhalten der Franzosen nach dem 70er Kriege und
beim Schlüsse desselben finde ich kein anderes Wort als den der walin-
haften Verblendung. Kaum dass das französische Volk sich von den
krampfhaften Zuckungen seinerSchreckenszeit an der Wende des 18. Jahr-
hunderts erholt hatte, streckte es länderhungrig seine Arme nach weiterem
deutschen Länderbesitz aus, und während es versprochen hatte, überall nur
Freiheit und Menschenrechte zu verbreiten, beugte sein Heros, der erste
Napoleon, fast die Hälfte des zerstückelten Deutschlands unter seine Gewalt-
herrschaft; nach der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Preussen
und Oesterreich, waren es die Franzosen, welche die geradezu naive An-
massung hatten, um „Rache für Sadowa“ zu rufen; bei Beginn des
70 er Krieges war das linke Rheinufer und der Einzug in Berlin der
erste Gedanke und das Ziel des Volkes: und dieselben Franzosen konnten
es gar nicht fassen, dass Deutschland das geraubte Eisass, ja nur „einen
Stein von ihren Festungen “verlangen, dass man dem Lande die Demüthigung
des Einzuges in Paris zumuthen könne. Victor Hugo nannte das eine
Entweihung „des Herzens der Welt“ , gegen die ganzEuropa protestiren müsse
W as nach dem Kriege folgte, ist ebenso bekannt: einem Verriither-
wahn fiel der unglückliche Bazaine zum Opfer, die Spionenfurcht der
lieber Wahnideen im Völkerleben.
265
Franzosen erinnerte an Verfolgungswahn , die Aechtung deutscher
Wissenschaft und Kunst 20 Jahre hindurch war kleinlich und unedel,
die keine Grenzen mehr kennende Anbetung eines Despoten wie des
russischen Alexander III. war für ein selbstbewusstes Volk erniedrigend;
und überhaupt hat das Land seit den Zügellosigkeiten des Revancheidee-
kultus eine Verwahrlosung seiner politischen Moral erfahren, die durch
das ewige Ministerstürzen, durch scrupellose Verleumdungen, durch den
Panama- und Dreyfuss-scandal grell genug beleuchtet wurde.
Jene ganze traditionelle Haltung Frankreichs gegen Deutschland
trägt recht eigentlich die Schuld au der furchtbaren Waffenrüstung,
welche in der Neuzeit alle Culturvölker tragen müssen; sie lähmt die
Kraft des europäischen Gesammtwillens, stört die Ruhe und den Frieden
der Völker — und dabei hat sie nie und nimmer mit den wahren
Interessen des Landes etwas zu thun gehabt. Sie ist das traurige
Erbtheil der genannten zwei Despoten, des nationalen Grössenwahns,
für dessen Einpflanzung sich das hochbegabte Volk nur zu gelehrig
gezeigt hatte. —
Kehren wir nun schliesslich zu den perversen Bewegungen auf
re ligi ösem Gebiete zurück, und speciell nunmehr zu den modernen
Aeusserungen derselben, so können wir wohl ziemlich Alles, was in
dieser Hinsicht sich in epidemischer kleiner oder grösserer Ausbreitung
ereignet hat, unter dem Gesammttitel der religiösen Secten-
bildung vereinigen, obgleich dieser Titel nicht ganz streng auf Alles
passt, was zu erwähnen ist. Auch wenn wir jetzt unseren Zwecken
gemäss von sämmtlichen Secten absehen, welche nur in dogmatischen
oder rituellen Fragen abweichen von den anerkannten grossen Religions-
gesellschaften, und nur auf die Abnormität der Bewegungen abheben,
auch dann noch wird es für uns unmöglich sein, die Beispiele irgend-
wie systematisch so zu wählen, dass wir die wichtigsten der Bewegungen
vor Augen führen. So lassen wir im Wesentlichen und absichtlich so-
wohl den ganzen Spiritismus *), wie den wichtigeren Pietismus bei Seite
— aus Mangel an Raum dafür — und erwähnen nur aus speciellen
Gründen die Propaganda der sogenannten Heilsarmee. Für den Gang
unserer Betrachtungen ergiebt sich ungezwungen eine Dreitheilung
dieser Bewegungen : in der ersten Gruppe stehen diejenigen, in
welchen sich die ganze Bewegung an eine einzelne Person als Centrum
und Verehrungsgegenstand anscliliesst, und es ist charakteristisch
genug, dass diese Person schliesslich so gut wie immer den Rang eines
H eilandes, d. i. einer Incarnation desselben, erringt, nicht allein in
der christlichen, sondern auch in der islamitischen Religion. In der
J ) Dieser findet sich ausserdem schon behandelt von Löwenfeld in Heft I
dieser „Grenzfrugen“.
266
Lieber Wahnideen im Völkerleben.
zweiten Gruppe stünde dann der Pietismus, dessen Eigenthümlichkeit
die Ueberspannung der religiösen Idee ist, und der stets, ebenfalls
mit innerer Noth Wendigkeit, auf einen exstatischen Cultus hintreibt
und uns darum im nächsten Schlussabschnitte wieder begegnen soll. In
die dritte Gruppe gehören die Bewegungen, welche den Impuls der
Selbstopferung, des Martyriums, zum Kennzeichen tragen, und
welche auch in den nicht-christlichen Bekenntnissen selbst in moderner
Zeit, so bei den Babis in Persien, sich ereigneten. Der Impuls, Andere
gegen ihren Willen zu opfern ist damit gelegentlich verbunden ge-
wesen, aber doch, mit Ausnahme einer indischen und russischen Secte,
nur bei Einzelnen, und er hat noch in jüngster Zeit Opfer nach
dem biblischen Vorbilde des Opfers Abrahams gefordert. Ich will ganz
kurz, um damit dann abSchliessen zu können, den neulichen Fall aus
Appel teren bei Amsterdam anführen, wo eine pietistische Secte, von der
40 Mitglieder gerichtlich ermittelt wurden, mehrfach zu religiösem
Zwecke geheime Morde ausgeführt haben soll. Jedenfalls geschah das zur
„Teufelsaustreibung“ bei einem Knechte des Bauern Scherf, Namens
Brinkman. In einer Versammlung jener ultraorthodoxen Protestanten
im Hause Scherf’s sei die Ueberzeugung ausgesprochen worden, so
lautet der Bericht der „Vossischen Zeitung“, es sei der Teufel im Hause
und habe speciell von dem Knechte Brinkman Besitz ergriffen. Zu-
nächst habe Scherf seine eigenen 5 Kinder als Opfer angeboten, die
inan aber nicht im Hause gefunden habe, dann sei Nachts um 1 Uhr
sofort nach jener Sitzung Brinkman aus dem Schlafe geweckt
worden, Scherf habe die Teufelsbeschwörung begonnen und dann sei
der Knecht mit Stangen und Stöcken von Allen todtgeschlagen worden.
Am nächsten Tage wurde für die „Brüder und Schwestern“ ein festliches
Mahl hergerichtet und dabei zahlreiche religiöse Lieder gesungen. Bei
der bald folgenden Verhaftung gab der Gemeinde' vorbeter, Spiering,
freiwillig an, er habe die feste Absicht gehabt, auch noch eines seiner
Kinder zu opfern.
Aehnliche Opferungen von Nicht-Mitgliedein der Secte sind mehr-
fach schon vorgekommen, ich erinnere nur noch an das Drama im
österreichischen Ampfelwang (1820); hier wurde ein ganzes Dorf durch
einen mystisch fanatischen Priester so aufgeregt, dass man beschloss,
ein altes sehr anständiges Ehepaar, welches sich von den leidenschaft-
lichen Gebetsübungen ausschloss, zu überfallen; man schlug sie trotz
ihrer flehentlichen Bitten nieder und bestimmte sodann durchs Loos ein
eigenes Gemeindemitglied zum Opfer für die Sünden der Menschheit,
ein junges blühendes Mädchen, das sofort freudig den bestimmten Tod
erlitt. An die kann i balistischen Negeropfer mit religiösem Hintergrund,
deren Verübung in Haiti aus neuerer Zeit oben (pag. 208) erwähnt
wurde, sei gleichfalls hier erinnert. Bei den Leichenbegängnissen der
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
267
Könige und den jährlichen Cultfesten in der Negerdespotie Dahomeh
wurden bisher Hunderte und Tausende unglücklicher Sklaven und Gefangener
auf einmal hingeschlachtet, und selbst der absolute Despot des Landes
durfte es nicht wagen, diese vom Volke stürmisch begehrte Feier abzu-
schaffen. Ueberhaupt hat ja das Blut- und das Menschenopfer eine
eminente Bedeutnng für die Religion primitiver Völker, so auch für den
Molochdienst der Phönicier und Vorderasiaten und selbst in Rudimenten
bei den alten Juden besessen. In der Volksphantasie ist die alte Er-
innerung nie ganz verblasst und abgesehen von solchen Beispielen, wie
sie oben besprochen wurden, weiss man, welche Rolle die gewissenlose
Ausbeutung der Ri tualmordidee mit der albernsten oder absichtlich
lügenhaften Begründung *) bei der heutigen antisemitischen Hetze spielt.
Während nun jene Rückfalle in alte grausame Cultsitten haupt-
sächlich Interesse erregen, weil sie den extremsten Grad perverser
Wirkung von Suggestivideen darstellen, so ist unsere erste Gruppe
von Sectenbildungen in der Hinsicht überaus lehrreich, weil sie evident
dafür zeugt, dass der gewaltige persönlich suggestive Einfluss
der grossen Religionsstifter noch heute wiederkehrt bei Menschen, welche
inmitten unserer hohen Cultur stehen. Und wir sehen weiter zu unserem
Staunen, dass sich gleichwohl diese Sectenbegründer durchaus keiner
neuen oder gar stärkerer Ueberredungsgründe wie in jenen alten Zeiten
zu bedienen brauchen. Im Gegen theil, das was sie als Idee bringen, ist
zumeist banal oder thöricht, öfter sogar moralisch verwerflich, das
ganze Räthsel ihres Erfolges ist der persönlich suggestive Einfluss,
und nur die Zahl ihrer Anhänger, d. h. der suggestiblen Personen
bleibt in unserer Bevölkerung — nicht aber bei dem Mahdi des
Sudans — eine lokal beschränkte; begrenzt eben auf die persönliche
Einflusssphäre des Urhebers.
Zunächst seien einige solcher Suggestivwirkungen von Ideen
banaler Art, jedoch mit mystischer Einkleidung erwähnt ; in einer bäuer-
lichen Bevölkerung in der Nähe Dresdens hatte eine einfache, aber
rafftnirte Schuhmachersfrau 2 ) eine religiöse Secte in ihrem Dorfe ge-
gründet mit dem Grundsätze des Communismus und dem Gebote der
geschlechtlichen Abstinenz auch bei Verlieiratheten. Sie gab vor, „Send-
botin Christi“ zu sein, hatte öfter göttliche Inspirationen, in welchen
sie mit geschlossenen Augen (die aber dann mit blauer Brille verdeckt
waren) in einer Art länger dauernder exstatischer Hypnose sich zu be-
finden schien, ertheilte aber eben in diesen Zuständen ihrer Gemeinde
b Strack, Der Blutaborglaube, 5. Auti., München 1UÜÜ, auch P. Cassel,
Symbolik des Blutes, Berlin 1882.
2 ) Landgerichtsrath Weingart, Die Spiritisten vor dem Landgericht Dresden,
Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie, Bd. 55, 1808, p. 100.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
18
268
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
detaillirte Weisungen, in welcher Art sie ihr Vermögen ihr, der Pro-
phetin (ihr Name war Ulbricht), anzuvertrauen hätten. Das letztere
geschah wirklich, sodass ihr Einzelne ihre ganze Habe bis zum Betrage
von 30000 Mark auslieferten. Im Jahre 1887 zählte diese Secte 70 Mit-
glieder, von welchen Mehrere im Lande herumreisend Kranke durch
Händeauflegen heilten. Auf Anzeige eines misstrauisch gewordenen
Bauern wurde die Frau verhaftet, sie legte ein volles Geständniss ihres
Betruges ab, theilte mit, dass sie durch ihre Eigenschaft als ehemaliges
spiritistisches Medium die Praktiken zur Täuschung der Bauern gelernt
habe, und wurde zu zweijähriger Gefängnissstrafe verurtheilt. Das
Sonderbarste aber war, dass sie nach der Rückkehr aus der Strafhaft
von der Mehrzahl ihrer Anhänger wieder im vollen Glauben als Pro-
phetin aufgenommen wurde, sodass die Secte bis heute (1898) fort-
besteht.
Unter einem Publikum aus den höchsten Ständen spielte sich eine
in Vielem ähnliche Geschichte ab, welche unter dem Titel der „ Muck er
von Königsberg“ 1 ) bekannt geworden ist. Die Anhänger waren
Barone, Gräfinnen, Geheimräthinnen und ein Professor der Medicin
(Sachs), das Haupt ein lutherischer Geistlicher Ebel, dem zwei andere
Geistliche zur Seite standen. Die von Ebel aufgebrachte Lehre war
völlig mystisch, es handelte sich um die beiden Urwesen Licht und
Finsterniss, Männliches und Weibliches; später traten chiliastische Ideen
hinzu, auf das Jahr 1836 wurde der Anbruch des tausendjährigen
Reichs und die persönliche Wiederkehr Christi ge weissagt, und natürlich
galt Ebel als die Incarnation des Heilandes, der fleischgewordene
Sohn Gottes. Ebel gründete für sich eine neue Hierarchie, in der
nach ihm, dem Haupte, seine drei Frauen kamen, die erste Frau „im
Geiste“ (eine schöne Gräfin) war die Lichtnatur, die zweite die Finsterniss-
natur, die dritte als „die Umfassung“ seine eigene angetraute Gattin.
Für seine Anhänger führte er die Beichte ein, welche im Kreise einer
Reihe dafür ernannter adeliger Frauen öffentlich zu geschehen hatte,
und bei der es in erster Linie auf die Bekenntnisse geschlechtlicher
Sünden, besonders der Gedankenunzucht ankam. Wollüstige Uebungen
bildeten ein weiteres Hauptstück des Cultes, der „seraphische Zungen-
kuss“ und die Entblössung weiblicher Reize vor den Männern „zur Ab-
härtung“. Ebel selbst liess sich von den Frauen im Bade regelmässig
bedienen. Er wurde schliesslich gerichtlich seines Amtes entsetzt und
als gemeiner mystischer Wollüstling gebrandmarkt; dennoch folgte auch
ihm eine seiner Hauptanhängerinnen, eine persönlich völlig vorwurfsfrei
dastehende Frau in die Verbannung und blieb ihm treu und vertrauend
J ) Beschrieben bei Stell, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsycho-
logie, Leipzig 18i4, p. 3‘JÜ.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
269
bis an sein Lebensende. — Die Verbindung mystischer Religionsübungen
mit sexuellen Tendenzen ist übrigens häufig auch sonst zu finden und
jedem Psychiater bekannt.
Wie grenzenlos aber die persönliche Macht solcher mystischer
Herrschernaturen über ihre weiblichen Opfer ist, das zeigen Fälle eng-
lischer und amerikanischer Methodisten, welche noch weit das eben Er-
wähnte überbieten. Ein solcher Schwärmer, Henry James Prince,
hatte in England eine Stätte der Liebe (Agapemone) gegründet und als
Krönung vollfiihrte er schliesslich öffentlich vor den Augen seiner
Gemeinde die Deflorirung einer schönen völlig unbescholtenen Jungfrau,
nachdem er vorher angekündigt hatte, er werde bei der nächsten Ver-
sammlung irgend eine der Jungfrauen erwählen, welche er nehmen
werde, ohne sie um ihre Einwilligung zu befragen. Auch nach dieser
unerhörten Handlung blieb ihm der grösste Theil seiner Anhänger treu.
Wenn sich Frauen und Mädchen aus den besten Ständen unter
dem suggestiven Einflüsse eines Einzelnen — und wohlgemerkt ohne
dass irgend eine hypnotische Einwirkung stattgefunden hätte — zu
solchen Niederträchtigkeiten im Namen der Religion verleiten lassen,
dann kann es uns nicht in Erstaunen setzen, wenn Anderen ebenso un-
bedingte Heeresfolge geleistet wurde, während sie sich als die vom
Himmel ausersehenen Stifter einer neuen und besseren Religion be-
zeichneten. Derartige Schwärmer sind zu allen Zeiten aufgetreten, noch
vor wenigen Jahren hat ein solcher in Brasilien mit ein paar Hundert
Bauern den Krieg mit der Landesregierung erfolgreich bestanden. Be-
kannt und typisch ist der Fall des David Lazaretti in Italien 1 ),
eines schönen feurigen Mannes, seines Zeichens Karrenführer. Früher
leichtfertig und ein „grässlicher Flucher“ war dieser durch Lektüre zum
glühenden Verehrer von Christus und Mohammed geworden. Er war 1884
in Arcidosso geboren, hatte schon mit 14 Jahren die erste Vision, mit
82 Jahren eine zweite Erscheinung der Jungfrau Maria; darauf ging er
in die Lehre zu einem Einsiedler und kehrte als mystischer strenger und
visionärer Prophet zu seinen Landsleuten zurück. Die ganze bäuer-
liche Bevölkerung der nächsten Orte verehrte ihn jetzt als ihren Heiligen,
er erging sich in mystischen Prophezeiungen in der Richtung einer
Zahlenkabbalistik, erliess Manifeste an den Papst, den König, die ge-
sammte Christenheit, betrieb die Nachahmung Christi in ausgeprägter
Weise, versammelte daher auch die 12 Apostel um sich und stand nun
bald in Erwartung eines ähnlichen Opfertodes, wie ihn Christus erlitten
hatte. Auch das 40 tägige Fasten Christi wurde von ihm copirt, auf
i) Vergleiche St oll, a. a. 0. p. 385, ausführlicher in Lombroso, Pazzi e
anomali 1886 (Deutsche Uebersetzung von Kure 11a) und G. Barzelotti, David
Lazaretti di Arcidosso detto il Santo, Bologna 1885.
270
lieber Wahnideen im Völkerleben.
den 18. August 1878 ein furchtbares Erdbeben ge weissagt wie beim
Kreuzestod des Erlösers; dabei würden alle Ungläubigen vernichtet und
nur seine Anhänger blieben am Leben (ähnliche Prophezeiungen finden
sich bei der islamitischen Secte der Drusen). Alles das wurde unbedingt
geglaubt in der Umgebung des Monte Labbro, wo er sich jetzt befand.
Da ihn der Papst verläugnete, proklamirte er die „Republik des Reiches
Gottes“, und für den 18. August, den Tag des grossen Gerichtes, be-
reitete er einen imposanten Aufzug aller seiner Anhänger auf den Monte
Labbro vor. Vorher wurde 8 Tage gefastet, dann erschien er und sein
Gefolge in phantastischen Gewändern. Aber die grosse Kundgebung
war von der Regierung verboten worden, und bei dem folgenden Kampfe
fiel Lazzaretti selbst als einer der Ersten und fand soden erwarteten
Opfertod.
So gut wie es liier und in den meisten analogen Fällen weniger
sich um eine neue Idee handelt als um eine neue Person, einen neuen
Verehrungsgegenstand des Volkes, ebenso trifit das auch für eine der
grössten religiösen Bewegungen der letzten Decennien zu, den Mahdi s-
mus 1 ) im afrikanischen Sudan. Der innere Kern der Sache ist in der
That ungemein und Staunens wcrth dürftig und in wenigen Worten er-
zählt. Der ausserordentlich reissende Erfolg dieses Propheten erklärt
sich zum einen und grösseren Th eil dadurch, dass er einen zur Empfängnis
der Idee überaus bereiten Boden vorfand, und dies in Folge einer ganzen
Reihe von Gründen: der eine liegt an und für sich in der niederen
(Kulturstufe des Sudans, die es leicht möglich macht, dass wie bei Be-
gründung der grossen Religionen die Personen voll und ganz von
einer wenn gleich einfachen Idee geistig ausgefüllt werden (der oben
berührte Monoideismus); der z w e i te Grund liegt in der traurigen Miss-
wirtschaft. welche in den ägyptischen Vasallenstaaten herrscht, so dass
gerne das werthlose Leben von dem Bedrückten auf's Spiel gesetzt wird,
wo Befreiung und Kriegsbeute winkt. Die anderen Gründe sind an sich
religiöser Natur; wir erwähnten schon, wie fanatisch der Glaube des
Muhammedaners geblieben ist. speciell in Aegypten; ein Ritual“) von
fünfmaligem täglichem öffentlichen Gebet, vielfachem Fasten, Gebets-
waschungen, das Gebot der Mekkawallfahrt, der vielfache Aberglaube
] ) Die mir bekannt gewordenen Darstellungen des Mahdismus sind leider
wenig ergiebig, am Besten noch ist Ohrwalder, Aufstand und Reich des Mahdi
im Sudan. Innsbruck 1*1)2, und Richard Bucht a. der Sudan und der Mahdi.
Stuttgart 1> V T: ausführlich, aber stets auf der Oberfläche bleibend ist S lat in
Pascha. Kcuer und Schwert im Sudan, Leipzig eine gute kurze Besprechung
giebt die Zeitschrift Globus, Bd. (>U, pag. 241t (Titel: Die Mahdistenbewegung.i
-j Die genaueste Darstellung, auch heute noch, giebt E. W. La ne, Sitten und
Gebräuche der heutigen Aegvpter, aus dem Englischen übersetzt von J. St. Zenker.
2. Auf!., Bde.. Leipzig (o. J.).
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
271
mit Amuleten aus Koransprüchen u. s. f beschäftigen und absorbiren
bei jedem Islambekenner einen guten Theil seiner Lebenszeit. Dazu
tritt als viertes Motiv die besondere Bedeutung, welche der islamitische
Priester, der Imam, im Denken des Volkes besitzt; er gilt ihm, besonders
die angeseheneren darunter, als persönlich zu verehrende Person, als
Heiliger und Wunderthäter. Endlich fünftens ist die Idee
einer Parusie, der Wiederauferstehung eines der ersten Ge-
hilfen oder Nachfolger des Propheten nie untergetaucht in der Er-
wartung seiner Anhänger. Alle Secten- und Glaubenskriege innerhalb
des Islam haben diese Idee zum Fundament gehabt; und in Aegypten
insbesondere sind grosse religiöse Empörungen mit solcher Begründung
mehrfach schon vorgekommen. Das Haupt einer solchen war schon
frühe (im Jahre 906 — 1020) ein gewisser Hakim, ein persönlich er-
bärmlicher neronischer Wütherich, der nach seiner Tödtung eine Zeit
lang, ja sogar bis heutigen Tages bei den Drusen, indem er als unsterblich
fortlebend gedacht wurde, noch grössere Verehrung erfuhr. Im 11. Jahr-
hundert trat ferner ein mächtiger Mahdi — das ist der Titel dieser Imame
oder Nachfolger des Propheten — bei den benachbarten Berbern auf ; und
im Anfänge dieses Jahrhunderts hat eine alle Dämme überflutende
Bewegung durch einen weiteren Mahdi im westlichen Sudan stattgehabt,
von der wir durch den englischen Reisenden Clapperton genaueren
Bericht erhalten haben. Er hatte durch Verkünden des Glaubenskrieges
und Versprechen des Paradieses für Jeden, der im heiligen Kriege
fallen werde, aus dem zuvor fast unbekannten bedrückten Stamme der
Fulbe ein Heer unwiderstehlicher Krieger gemacht und binnen Kurzem
den ganzen Sudan erobert (1809), sodass noch 40 Jahre später der
berühmte Barth die starken Spuren jener Kämpfe vorfand, und dass
sein Werk einen relativ für diese Völker sehr langen Bestand bewahrte,
obgleich der Prophet selbst späterhin einer brütenden Melancholie
mit Selbstanklagen verfallen war.
Irgend etwas Anderes und Neues treffen wir auch bei dem neuesten
Mahdi, M o h a m m e d A c h m e d , nicht an. Er wird als ränkevoller,
verschlagener, ausserordentlich ehrgeiziger Mann geschildert, der es ver-
stand, einer kleinen lokalen Unruhe rasch den Wellenschlag einer all-
gemeinen Volkserhebung zu ertheilen, indem er sogleich eine dürftige,
aber dennoch ihres religiösen Inhaltes wegen zugkräftige Glaubensidee
in den Vordergrund stellte. Auch er selbst soll ursprünglich nur dem
beschränkten Ideal nachgestrebt haben, einer jener nicht seltenen lokalen
angesehenen Heiligen, ein Fakhi, zu werden. Nachdem ihn sein durch seine
asketische demonstrative Strenge eifersüchtig gewordener Lehrer barsch
von seinem Kreise verbannt hatte, zog er sich zornig zurück, verdoppelte
sein Fasten und Beten auf einer kleinen Insel bei Chartuni; und nach-
dem sein Anhang durch kluge Benutzung kleiner Kunstgriffe gewachsen
272
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
war, trat er nun (1881) in Briefen und Proklamationen an das Volk
hervor mit dem Ansprüche, als neuer Mahdi anerkannt zu werden. Der
Inhalt jener Briefe l ) beschränkt sich auf Redensarten z. B. folgender
Art: „Wisset, dass ich der erwartete Mahdi bin, dass Gott mich gesetzt
hat auf seinen Stuhl über die Fürsten und Edlen. Und Gott hat mich
unterstützt mit seinen Engeln und desgleichen mit den Gläubigen unter
den Dschinn’s. Und er hat auch gesagt: Gott hat dir Zeichen deiner
Sendung gesetzt, und diese sind die Warzen auf der rechten Wange:
Und noch ein anderes Zeichen gab er mir und dies ist: dass aus dem
Lichte eine Fahne erscheint, welche mit mir ist in der Stunde des
Kampfes und getragen wird vom Engel Azrael (Gott segne ihn). Und
er hat mich auch wissen lassen, dass wer mich anfeindet, ein Un-
gläubiger ist, und wer an meiner Sendung zweifelt, weder an Gott noch
den Propheten glaubt, und dass wer mir den Krieg macht, trostlos sei
auf beiden Wohnstätten, (d. i. im Himmel und auf Erden), und dass
seine Güter und seine Kinder eine gute Beute sind für den Gläu-
bigen etc.“
Aehnlich haben auch die wiederholt von Europäern gehörten An-
sprachen an’s Volk gelautet, gleichfalls leere Phrasen und Betheuerungen.
Im Uebrigen bestand die „Erneuerung der Religion“ nur in der
Verschärfung der ohnehin schon strengen Verbote des Islam (z. B. ab-
solutem Tabakverbot), Gebot einiger neuer Gebete und noch reichlicheren
Fastens. Das war Alles, was neu in der Idee war. Um so
mehr bedacht war er auf ein imponirendes persönliches Auf-
treten: 2 ) in der Kleidung gesucht einfach wie ein Asket, in der
Stimme süsslich, immer mild, würdevoll, eifrig bestrebt ausserdem, seine
Prophetengabe zu beweisen, indem er geheim überbrachte Nachrichten
dem Volke als seine Inspiration übermittelte: dem Volke zeigte er sich
oft, hielt öffentliches Gebet, dann stürzte Gross und Klein begeistert herbei,
man suchte sein Gewand zu erhaschen, die Kinder ihm nahe zu bringen,
denn die Berührung war heilkräftig und segensreich. Und die von ihm
erweckte Begeisterung kannte in der That keine Grenzen; nur mit
Stöcken bewaffnet schlug die Handvoll seiner ersten Anhänger die freilich
thörichter Weise schwachen Regierungstruppen zurück und vernichtete
die, welche ihn gefangen setzen sollten. Als seine Gefolgschaft lawinen-
artig anschwoll, hatten sie oft Niederlagen mit ungeheuren Verlusten
zu erdulden; aber sie siegten schliesslich durch ihren ungestümen An-
griff und durch ihre Todesverachtung. Tausende mochten fallen und
unbekümmert um den sicheren Tod stürmten die Leute über die Gefallenen
fort, bis ihre Hintermänner handgemein mit dem Gegner werden konnten,
1 ) Entnommen aus : S eh w e ig e r - L e r c h o n f e 1 d , Afrika, Wien (Hartleben) 1881,
pag. 403, ausführlicher in K. Buclita, Der Sudan und der Mahdi p. 27.
-) Vergleiche Ohrwal der, a. a. 0. pag. 4S — 49.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
273
den sie dann durch ihre numerische Uebermacht erdrückten. Die Details«
interessiren uns nicht weiter; genug dass der ganze Sudan dem Mahdi
anheimfiel, und dass auch die grossen kriegsgeübten Heere von Hicks
Pascha völlig zermalmt wurden, ja dass sein Werk seinen Tod um
viele Jahre überleben konnte.
Das ganze Bild des Glaubenskrieges mit seinem wilden Feuer ist
gewiss nicht neu; es würde als solches nicht unter die perversen Be-
wegungen gehören. Aber gerade dieser Mahdi war sicherlich ein
„falscher Prophet“, und seine Lehre, wenn man von einer solchen reden
darf, war absolut inhaltslos; nur seine Person und sein Titel als Mahdi
war und blieb die werbende Kraft, und darum darf sein blutiges Zer-
störungswerk als ein widersinniges bezeichnet werden, dem auch keine
besonderen politischen oder socialen Verdienste zuzukommen scheinen.
Gerade nun was die Inhaltsleere anlangt, schliesst sich die in
den Culturstaaten mit ähnlichem Feuereifer betriebene Agitation der
Heilsarmee an, doch darf ihre Tendenz, die ursprünglich der Rettung
nicht nur der religiös, sondern auch der im socialen Sinne Ver-
lorenen galt, nicht verdächtigt werden. Ihr Fehler ist die allzuweit
getriebene psychologische Suggerirmethode, welche den
vorangehenden Methodisten-Erweckungen nachgebildet, schliesslich zur
geschmacklosen Fratze geworden ist. 1 ) Im Uebrigen bedaure ich aufs
Lebhafteste, dass uns kein Raum bleibt für eine nähere Schilderung
dieser merkwürdigen und im Erfolge bewundernswerthen Organisation,
welche ein einziger Mann, Booth, mit seiner ganz hervorragenden
Gattin aus sich heraus geschaffen und allein mit seinem Geiste belebt
hat. Hier hat Alles, was geschieht, von seinem Endzwecke natürlich
abgesehen, lediglich die Bedeutung der suggestiven Einwirkung,
es soll das, was beim Einzelnen etwa die Hypnose bewerkstelligen kann,
durch eine Methodik der Massensuggestion erreicht werden ; die eigentliche
Idee, das Predigen der Lehren der Religion wird mit Bewusstsein und Absicht
der Kirche und dem gelehrten Priester überlassen; die Heilsarmee soll
nur „erwecken“, und zwar den religiösen Sinn und das Gefühl. Dazu
wird durch die gröbste und aufdringlichste Reclame zunächst Aufsehen
um jeden Preis erregt, die militärischen Benennungen, die Uniform der
Officiere, das anerkennenswerthe muthige Eindringen in die entlegensten
Höhlen des Lasters, selbst die bekannten scandalösen Enthüllungen über
Mädchen verkauf in der Pall Mall Gazette 2 ) dienen dazu. Die Versamm-
lungen selbst sollen nicht nur die Gemüther packen und so tief als es
] ) Th. Kolde. Die Heilsarmee, ihre Geschichte und Wesen, Erlangen und
Leipzig, 2. Aufl. 1899; J. Fehr, Die Heilsarmee, Frankfurt 1891.
Ä ) Sensationell war hier schon der Titel: „Jungfrauenopferung im modernen
Babylon“ (d. i. London).
274
lieber Wahnideen im Völkerleben.
• irgend geht, erschüttern, sondern sie sollen auch unterhalten und inter-
essiren. Scherze, humorvolle Erzählungen, Absingen der Erbauungs-
lieder nach der Melodie von Tänzen und Gassenhauern wechseln ab mit
nervenbeklemmender Schilderung von Höllenqualen, Selbstbekenntnissen
tragischer Art von Geretteten und dergl. Dazu kommt dann jene be-
rühmte Organisation eines stets sich mehrenden Heeres von Sendboten,
der nur im Dienste des Generals Booth stehenden Officiere, worin
die Heilsarmee weit den Missionardienst der grossen Religionen über-
flügelt hat. So wurde es erreicht, dass beim ersten internationalen
Congress in London Booth eine Versammlung von 120 000 Anhängern
zu Stande brachte, dass die Armee damals (1886) schon 40 ausländische
«eroberte“ Provinzen besass; und so wurde selbst im skeptischen Berlin
beim Besuche von Booth die grosse Zahl von 270 Personen als
«gefallen“ auf dem Schlachtfeld aufgelesen, d. h. in den Versammlungen
bekehrt, und es herrschte auch da eine bis zum Taumel sich steigernde
Gemüthserregung, «Taschentücher wehten nieder, in die Hände wurde
geklatscht und reife Männer tanzten vor unaussprechlicher Freude“, kurz
es war ein Erfolg und eine Massenbekehrung, wie sie noch niemals in
der Reichshauptstadt erlebt worden waren. So gesteht der Geschichts-
schreiber dieser Dinge, Kol de, selbst zu, der der Bewegung unfreund-
lich genug gegenübersteht und der ihr das übrigens passende Motto in
seinem Buche auf den Weg mitgiebt: «Ist es auch Wahnsinn, so hat
er doch Methode“.
Wie eine in die Praxis des Volkslebens übersetzte Theorie der
Suggestion, wie ein eigens ausgedachtes Experiment an einem
Massen materiale, das dem blödesten Auge darlegen soll, «die
specielle Einkleidung einer Idee oder gar ihre logische Begründung sei
für die Massenbekehrung ganz nebensächlich, und alles komme auf die
allgemeine Richtung der Idee und auf die Art und Eindringlichkeit
ihrer Einpflanzung an“ : so erscheint die ganze Methodik der Heils-
armee. Darum hat ihr Studium auch ein so grosses Interesse für uns.
Wir sind damit bei der letzten Gruppe der hier zu besprechenden per-
versen religiösen Bewegungen angelangt, und wieder einer derjenigen,
welche unter allen uns am Stärksten an den pathologischen Wahnsinn
gemahnen. Dennoch wird uns durchaus keine neue Seite der Sache
begegnen : unendlich viel Blut ist vergossen und hingegeben worden im
Dienste einer rein suggestiven Idee, im Namen eines Gottes, von dem
die Menschheit nur auf suggestivem Wege sich Vorstellungen bilden,
bezvv. etwas erfahren konnte. Die Suggestivvorstellung drängt impulsiv
zur Aktion. Das haben wir vielfach jetzt erfahren. Hat diese Aktion
ein bestimmtes Ziel vor Augen, sei es die Propaganda, sei es die Ver-
theidigung der Idee als Kämpfer oder als Blutzeuge, so finden wir die
vielfach bestätigte Thatsache, dass das Opfer des Lebens dafür
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
275
relativ leicht gebracht wird, auf dem Gebiete der religiösen, der poli-
tischen und der socialen Idee. Aber es hat auch Secten gegeben, die
einen Impuls in sich fanden und ausbildeten, ihr Leben zu opfern ohne
klares Ziel oder sich schwere asketische Entbehrungen, namentlich frei-
willige geschlechtliche Enthaltung aus religiösem Motiv aufzuerlegen.
Das kommt freilich in neuerer Zeit beinahe nur bei einigen der zahl-
losen russisch e n'Sectirer oder Raskolniken (i. e. Ketzer), in grösserem
Maassstabe wenigstens, vor 1 ); und man hat dafür eine doppelte Er-
klärung gegeben. Einmal sei die Tendenz dieser Mystiker maassgebend,
die Bibelstellen dem crassen Wortlaute nach aufzufassen und zu be-
folgen, also z. B. dem Satze gemäss: „ärgert dich ein Glied, so wirf
es fort“ die Castrirung vorzunehmen, die Wiederkehr des Heilands fort-
dauernd in der Jetztzeit zu erwarten u. s. f. Diese Fassung scheint
mir nicht ganz die richtige zu sein; nicht der Wortsinn, die Buchstaben-
gläubigkeit, sondern die sinnliche Anschaulichkeit, die pla-
stische Vorstellung des Bibelinhaltes ist, wie ich meine, bei allen
Mystikern das Entscheidende. Alles was suggestiv wirken soll, muss
plastisch anschaulich sein, und sowie man einen Bibeltext sym-
bolisirt, sucht man sich von seiner suggestiven Wirkung zu befreien,
der Gläubige steht dann über ihm, nicht unter ihm. Die zweite Er-
klärung ist eine historische, es wirkten, sagt man, Ueberreste der an wilde
Cultformen gewohnten asiatischen Vorfahren als Tradition nach, die
Geisselungen, die Menschenopfer des Molochdienstes u. a. Man wird
Beides leicht zugeben dürfen, und wird doch darin bei den immer wieder
neu sich erhebenden Secten nur den vorbereitenden Boden erblicken,
während die Hauptsache eben in dem Impulse zu einer passiven höchsten
Bethätigung der Religion gelegen ist, einer Lust am Martyrium „in’s
Blaue hinein“, ohne wirkliches Ziel.
Am Crassesten und Widersinnigsten zeigt das die Secte der
Skopzen, d. h. der Selbstverstümmler. 2 ) Sie zählt in Russland mehrere
Tausend Anhänger, meistens aus dem niederen Volk, besonders Soldaten,
aber auch sehr reiche Kaufleute, welche grosse Geldsummen dafür,
früher namentlich zur Bestechung der Obrigkeit, hingaben. Zwei Bibel-
stellen (Mathäi 19, 12 und Lucas 23, 29) dienen ihrem Ritus zur
Grundlage: in der ersten ist einfach von Verschnittenen die Rede, ohne
irgend eine Nutzanwendung. ln der zweiten heisst es: „die Zeit wird
kommen, wo man sagen wird: selig sind die Unfruchtbaren, die Leiber,
die nicht geboren, die Brüste, die nicht gesäugt haben.“ Die eigentliche
Lehre der Secte nimmt an. der Sündenfall Adams sei die geschlechtliche
Vermischung gewesen, denn die Menschen sollten sich nur durch
i) Das Folgende grössteiitlioils nach: Moritz Dusch, Wunderliche Heilige.
Leipzig 1874.
-) Ausser Busch a. a. 0. zu vergleichen: Pfitzmaier, Die Gottesmenschen
und Skopzen in Russland, Wien iss:',.
276
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
„ heilige Küsse“ fortpflanzen. Aus dieser ersten Sünde seien alle übrigen
gekommen, und die Welt sei jetzt sehr verderbt. Die Hauptlehre
Christi, die Erlösung, bestehe aber in nichts Anderem als der „ Feuer-
taufe“, d. h. der Entmannung durch glühendes Eisen. Diese geschieht
— allerdings jetzt durch’s Messer — entweder durch vollständige Ablatio
oder nur durch Castration, das „grosse und kleine Siegel.“ Damit ver-
binden sich natürlich wieder chiliastische Ideen, im Anfang dieses Jahr-
hunderts war ein gewöhnlicher Bauer Seliwanoff der incarnirte Christus
und er war zugleich der Zar Peter der Dritte, der nicht wirklich ge-
tödtet wurde. Dagegen ist der herrschende Zar der Antichrist. Drittens
feiern sie geheime Conventikel, in welchen wildes Tanzen und Singen,
inspirirtes — übrigens sinnloses — Predigen und offenbar auch wirk-
liche exstatische Zustände die Hauptsache sind. Die Neubekehrte n
werden dabei in narkotischen Schlaf versetzt und dann entmannt, die
Weiber verschneiden ihre Brüste. Geschlechtlicher Verkehr ist natür-
lich die grösste Sünde, weshalb die Skopzen den eigenen Eltern fluchen.
— Die wahnsinnige Secte ist vielfach verfolgt, reiche Führer derselben
sind nach Sibirien verbannt worden. Dennoch besteht sie unter Wahrung
strengen Geheimnisses noch heute fort.
V on ähnlich furchtbaren Secten seien die Teufelsanbeter er-
wähnt, welche dem Satan Opfer darbringen; ferner die Morelstschiki,
welche, in Sibirien angesiedelt, sich „Gott ganz darzubringen“ für
Pflicht halten und sich in ganzen Scharen gegenseitig niederstechen
oder verbrennen. Das thaten 1868 auf dem Gute eines Herrn von
Gurieff an der Wolga 47 Männer und Frauen gleichzeitig; andere
Male starben so bis zu Hundert, ja angeblich einmal sogar viele
Hunderte derselben vor 30 — 31 Jahren zugleich. Noch rasender ge-
berdet sich die Geisslersecte der Chlysten, welche stündlich des Unter-
gangs der Welt und des Reichs des Antichrists gewärtig sind ; unter
wilden Tänzen und Sängen gerathen sie in eine exstatische Wuth, wobei
sie nicht nur sich selbst furchtbar misshandeln und peitschen, sondern
im Jahre 1869 sich einmal auf die harmlosen Zuschauer stürzten und
deren Einige zu todt prügelten.
Einer der Fälle von der Art des erwähnten Opfertodes, wo
eine grössere Anzahl russischer Sectirer, (im Gouvernement Kiew bei
Tiraspol), beinahe alle Bewohner eines Gehöftes, 25 an Zahl, auf An-
stiftung einer Frau — Frauen spielen überhaupt in Russland als Führer
solcher extremer Secten eine grosse Rolle! — sich den Tod durch frei-
williges Verhungern und Einmauernlassen gaben, wurde durch einen
russischen Psychiater Sikorski 1 ) eingehend an Ort und Stelle unter-
6 Sikorski, Epidemischer freiwilliger Tod und Todtschlag in den Ter-
nowski’schen Gehöften, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 55, 1898.
pag. o2f > — 31 (Die Sache passirte 1896 vor der allgemeinen Volkszählung, welche als
ungeheure Sünde galt.) —
Ueber Wahnideen im Völk erleben.
277
sucht. Ich empfehle das Nachlesen des Berichtes wie die genaue
Schilderung eines analogen Falles in Wildensbuch in der Schweiz
bei Stoll a. a. 0. ganz besonders.
Wer erinnert sich hierbei nicht der entsetzlichen Secte der Assa-
sinen 1 ) in Kleinasien, die ebenfalls eine mystische Lehre und Cult
besassen, und wobei die einzelnen zu Mordthaten Ausersehenen durch
Haschisch und persönliche Einwirkung ihres Hauptes in eine suggestive
Willenlosigkeit versetzt wurden, um hinterher durch posthypnotischen
Einfluss (?) zu blinden Werkzeugen des gewissenlosen Herrschers vom
Berge zu werden ? Jedenfalls wird erzählt, der letztere habe, um einem
besuchenden Fürsten ein Beispiel seiner Macht zu geben, Einigen die
gerade dastanden, befohlen, sich von dem schwindelnd hohen Thurme
herabzustürzen, und sie hätten das auf der Stelle ausgeflihrt ohne auch
nur einen Augenblick zu zögern (Michaud, 1. c. Bd. IH, pag. 175).
Moralisch noch tiefer steht eine Sekte der Siwaiten in Indien, die
Thags: während bei den Assasinen der geheime Mord einer Verbindung
von religiösen mit politischen Motiven dienstbar gemacht wurde, ist es
bei den Thags gemeiner Strassenraub, der unter dem Aushängeschilde
der Verehrung der Göttin Kali, Siwa’s Gemahlin, in erschreckend grossem
Massstabe bis zu den ;3üer Jahren dieses Jahrhunderts betrieben wurde.
Siwa ist in der indischen Trinität, der Trimurti (nämlich mit Brahma
und Wischnu), das zeugende und das zerstörende Prinzip zugleich, und
neben der Verkörperung des ersteren im Lingam- und Phallusbilde trat
namentlich sein grausiger und blutdürstiger Charakter hervor; nur ihm
wurden blutige Schlachtopfer geweiht, und im Taumel der Begeisterung
bei dem Dschagannathfeste Hessen sich früher Viele von den Rädern
des schweren Götterwagens, welcher den Festumzug krönte, freiwillig
zermalmen. Als Anhänger seiner ebenso blutdürstigen Gattin Kali nun
bezeichnen sich die Thags, und sie vollfuhren ihre Unthaten auf Grund
einer besonderen Legende und mit entsprechendem spezifischem Ceremoniell.
Jene Legende 2 ) besagt im Wesentlichen: der Dämon Rakat-bidsch-dana
drohte die Welt durch seinen Heisshunger nach Menschenfleisch zu
entvölkern. Die Göttin Kali suchte ihn daher zu tödten, aber aus dem
Blute seiner Wunden entstanden nur neue Ungeheuer. Nun gab die
Göttin zwei Menschen, welche sie erzeugte, eine Schlinge, und durch
diese gelang es, den Dämon ohne Blutvergiessen zu erdrosseln. Zur
Belohnung behielten aber jene Helfer ihre Schlinge, und sie durften
mit ihr und unter dem Schutze der Göttin ihr Brot durch Erwürgen
’) Michaud, Histoire dos Croisades, Bruxelles 1 s4 1 . III. vol. pag. 162 bis
182, und Albu. Der Ursitz des Alten vom Berge, (ilobus. Bd. 65. pag. 210. wo
Details zu finden sind.
2 ) Ausführlichere Nachrichten findet man hei E. S ch lagi n t wei t, Indien in
Wort und Bild, Leipzig 1891, 2. Bd.. pag. 90.
278
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
ihrer Nebenmensehen verdienen. Deren Nachkommen aber glauben die
Thag's zu sein, und in der That vererben sie ihr Handwerk vom Vater
auf den Sohn. Man überfällt vermögende Personen auf der Landstrasse,
oft mit grösster List und Keckheit, erdrosselt sie stets durch eine
Schlinge mitten im Schlafe und während der Nacht; dann vergräbt man
die Opfer auf der Stelle, ein gemeinsames Gebet an die Göttin folgt,
und schliesslich wird die Beute vertheilt. Die Sekte aber blieb immer
geheim, und nach der That verstreuten sich die Glieder einer Bande
stets wieder im Lande. Unter ausserordentlicher Energie der englischen
Regierung gelang es indessen in den 30 er Jaliren sie auszurotten,
1835 waren gegen 2000 Thags gefangen, von denen ein grosser Theil
hingerichtet wurde.
Wollten wir noch kulturell tiefer stehende Völker in's Auge fassen,
so müssten wir auch das sogen. Amoklaufen der Malaien und das
Kopfabschneiden („Kopfschnellen“) der Dajaks auf Borneo, endlich die
schlimmste Aeusserung der Mordgier, den Kannibalismus, erwähnen. Uns
genüge die folgende -kurze Erwägung: die Gestalt seines Gottes gibt,
wie Feuerbach treffend dargelegt hat, das Abbild des Menschen
wieder, der ihn verehrt. So ist es ein erfreuliches Zeichen unserer Cultur,
dass die Menschenopfer nicht nur aufgehört haben, sondern dass wir
auch in die Tiefen russischer und indischer Culturarmuth hinabsteigen
müssen, um selbst bei perversen Sektenbildungen einen Impuls, eine
gewisse Lust am Selbstmorde oder am Morden Anderer sich verbünden
zu sehen mit religiöser Inbrunst. Um so niederdrückender ist das
Bewusstsein, dass diese schlimmsten unter allen Aeusserungen des
religiösen Wahns gerade in unseren Tagen übernommen worden sind
von dem politischen Massenwahn, welcher im Anarchismus und dem
Eroberungskriege jene alten blutigen Schatten wieder beschworen hat.
Wieder erkennen wir daraus, welche abgrundtiefen Gefahren diese gleiche
Massensuggestion in sich birgt, welche bei der Einpflanzung idealer Ziele
die Völker zu den höchsten Leistungen der Cultur und der Humanität
begeistert hat.
Unsere Uebersicht der perversen ideellen Volksbewegungen nicht-
hypnotischen Charakters sei hiermit beschlossen. Mag diese Auswahl
bizarrer und theilweise abschreckender Vorstellungen in den Massen für
den Leser ermüdend sein, mag das was wir bieten konnten, besonders
in Rücksicht des historischen Verlaufs und der Entwicklung der Ideen
lückenhaft und kaum als Andeutung genügend sein: Eines habe ich
wen igstens erstrebt, den e i g entlieh e n ideell e n G e h alt d e r Vor-
stellungen zu beit* lichten und h e r a u s z u sc h ä 1 e n.
Diese „Wahnideen im Yölkerlehen“ sind von enormer gar nicht
zu überschätzender socialer und cultureller Bedeutung, Man hat sich
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
279
früher die psychologische Erklärung nur vag und unvollkommen
zurecht gelegt, indem man die erhebenden und höheren Volksbewegungen
der Art auf ein Bedürfniss des Menschen geistes nach Idealen zurück-
fiihrte, die perversen Formen auf die Reizbarkeit der Phantasie und die
Leidenschaften der Massen. Man hat neuerdings ziemlich ohne Wider-
spruch, wenigstens seitens der Psychologen, solche Massenwirkungen
gelernt, unter den Begriff der Suggestion einzureihen. Damit war für
das culturhistorische Problem sehr viel, für die psychologische Wissen-
schaft aber zunächst relativ wenig gewonnen. Aus dem jetzt zu
Gebote stehenden ungeheuren Material empirischer Thatsachen zog man
keine neuen Folgerungen. Die Suggestion war und blieb ein passives
Phänomen; eine Fascination, ein Monoideismus galt als das Wesen der
Sache, die Idee erfasste, überwältigte den Menschen, sodass jede andere
oder gar contrastirende Vorstellung keinen Raum mehr im Denken der
Person fand. Die Apperception war einseitig festgehalten, ab-
sorbirt; von einer directen psychologischen Wirkung der Vorstellung
war wohl nirgends die Rede. Die durch Herbart seiner Zeit ver-
tretene und im Beweisverfahren gänzlich gescheiterte Theorie von der
Vorstellung als der eigentlichen psychischen Kraft war beseitigt und in
der heutigen Psychologie überhaupt im praktischen Sinne vergessen.
Nun ist aber eigentlich Alles, was wir hier besprochen haben,
eine einzige Kette von Beweisen dafür, dass die Suggestion dadurch
wirkt, dass sie eine mächtige Vorstellung in den Geist des Menschen
einfuhrt; aber sie hemmt ihn in diesen Fällen ganz und gar nicht,
eine Fülle psychischer Leistungen, von erweckten Ideen folgt sehr oft
nach. Ich werde das so oft im Einzelnen Gesagte hier auch nicht
resümirend wiederholen. Ich erinnere nur als besonders beweisend an
die Ideen, welche wie die anarchistische oder die mahdistische eigentlich
gar keine positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose
Agitation, welches Uebermaass von impulsiver Thatkraft haben sie ent-
zündet! Die besondere Bedeutung der Massenbewegung für die Psycho-
logie ist hier offenbar die, dass sie gleichartige Wirkungen bei einer
grossen Zahl von Personen zeitigt, dass sie damit unabhängig macht
von jenen irreführenden Analysirungsversuchen in dem Labyrinth der
individuellen Psyche. 1 ) i e Id e e als s o 1 c h e h a t e i n e w e r b e n d e
Kraft, und darum war es die Hauptsache in unserer Darstellung klar
zu legen, dass gerade die perversen Ideen ihre Macht nicht ihrem
logischen Werthe, d. h. einer Anzahl von Beweisgründen verdanken.
Nur zugänglich, suggestibel mussten die Personen für die
Idee sein, die Suggestivwirkung selbst musste durch die Art und Weise
der Einpflanzung, der U e b e r t r a g u n g besorgt werden. W i e
aber das Letztere zu geschehen hat, darüber belehren uns die Gründer
von religiösen und politischen Secten und das Vorgehen, was man
280
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Agitation und Propaganda genannt hat. Man muss die eigene,
selbstempfundene Gewalt der Idee, nicht ihre theoretische Be-
gründung, auf die Andern wirken lassen, überzeugungsvoll, im-
ponirend und vor allen Dingen plastisch anschaulich und
bestimmt, reich in den Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von
Verelendung bei Socialisten, von Hölle und Himmel, bestimmte Prophe-
zeiungen bei religiösen Dingen u. s. w,), so muss der Ausdruck sein.
Ein Mann, der das vermag, wirkt auf die Massen, er ist ein Agitator.
Bedingung der Suggestibilität dagegen ist, dass die Idee in
ihrer allgemeinen Richtung vorhandenen Denkgewohnheiten ent-
spricht oder doch nicht widerspricht, dass sie in der Person plastisch
anschaulich zu werden vermag, und dass sie lebhaftes, leidenschaft-
liches Interesse in ihr erwecken kann. Sache der Agitation Anderer
ist es, dies stets zu steigern, eine immer intensivere Beschäftigung mit
der Idee anzuregen.
Man sieht, diese Sache hat eine nicht zu läugnende Verwandt-
schaft mit der Dressur höherer Thiere, und das ist an sich gar
nichts Herabsetzendes. Die Suggestivwirkung ist eine primitive
geistige Potenz, das logische und kritische Denken dagegen das Product
höchst entwickelter intellectueller Erziehung, in erster Linie des
ganzen Menschengeschlechts, in zweiter Linie jedes Einzelnen.
Der stärkste Beweis aber für die geistige Kraft und Macht, welche
die Suggestivvorstellung in sich besitzt, liegt in dem impulsiven Drang
zu ihrer Bethätigung, sei es mit, sei es wie so oft bei religiösen
Ideen, selbst ohne klares Ziel, „in’s Blaue hinein“.
Darin gerade unterscheidet sich die jetzt folgende Gruppe von
Suggestivwirkungen sehr wesentlich und grundsätzlich.
III. Wahnideen und derverse Massenbewegungen
von hypnotischen und exstatischen Zuständen begleitet.
Der Drang zur impulsiven Bethätigung von Suggestivideen erweist
sich als die normale Aeusserungsform bei kräftigen und männ-
lichen Naturen. Bei nervenschwachen und bei weiblichen Naturen wird
eine eigenartig überreizte Steigerung der erregten Vorstellung selbst
bewirkt zugleich mit einer Hemmung der sonstigen geistigen
Thätigkeit.
Es ist also eine Schwäche, eine Insu ffi eien z des psychischen
Organs starken und lang dauernden sensitiven Reizen gegenüber, die da
zum Ausdruck kommt, vergleichbar dem völligen Stillstand, dem Choc
bei plötzlichen starken Einwirkungen: der normale kräftige Charakter
wird bei plötzlicher Gefahr activ und stark entgegenwirken ; bei energie-
schwachen Frauen dagegen ist es vorgekommen, dass sie ihr Kind in
momentaner Gefahr antrafen, z. B. in einen Wasserkessel gestürzt, in
bedenklicher Position zum Fenster hinausgelehnt, und sie sind vor
Schreck erstarrt oder in Ohnmacht gesunken, ohne zu helfen, während
Andere wenigstens ihr Kind noch zurückreissen konnten und dann erst
in hysterische Krämpfe oder Katalepsie verfielen.
Anders und complicirter ist das Verhalten bei der suggestiven
„Ueberreizung“, welche wie gesagt immer einen 1 ä n g e r währenden
sensitiven Reiz voraussetzt. Dadurch eben entsteht jener eigenartige
traumhafte Zustand, welchen man als Hypnose und Exstase bezeichnet;
es entsteht zugleich eine Erstarrung des reflöktirenden Denkens und eine
Ueberspannung und Ueberreizung des Vorstellens, sodass die einzelnen
suggerirten Vorstellungen überstark und plastisch werden. Bei der
normalen Suggestivwirkung ist das Individuum stark activ,
wenn auch mit impulsiver Triebkraft, es fühlt sich als Vertreter der
Idee, es handelt nach vorgestelltem — wenn auch vielleicht zweck-
losem — Ziele. Die Kunst der Suggestion besteht darin, das In-
dividuum stark activ und erfüllt von der Idee zu machen, es lebhaft
zu „interessiren“. Dann wirkt die Idee zwar schon ohne motivirende
Reflexion, d. h. sie wird so concipirt. Sogleich darnach aber tritt
sie in Connex mit dem ganzen der Idee günstigen Ideenbestand des
Individuums. Bei der Exstase hingegen wird die Vorstellung nicht
282
Ueber Wahnideen ira Völkerleben.
bloss anschaulich und plastisch, sondern visionär deutlich, wie im
Traume, das Individuum fühlt sich nicht allein von ihr „ergriffen*,
nein! es wird selbst zum „Schauplatz“ der Vorstellung, es fühlt sich völlig
passiv, und selbst wo es lange Reden hervorbringt, geht dem Aussprechen
der Ideen nicht die innere Vorstellung derselben voraus; die Personen
haben, so z. B. bei dem Prophetisiren der Trembleurs des Cövennes, aus-
drücklich gesagt, sie wüssten selbst nicht, was sie sagten oder sagen
würden, sie seien selbst „Zuhörer“ und Zuschauer davon. Auch hier
drängt die suggestive Vorstellung zur Action, aber diese ist mehr als
ftnpulsiv, sie ist automatisch, d. h. wie eben gesagt, es geht die
Vorstellung der Handlung nicht voraus ihrer Ausführung. 1 ) Darum
erscheinen die Exstatiker auch wie Maschinen, darum scheint der fremde
suggerirende Wille in ihnen zu wohnen, sie sind von ihm inspirirt
oder besessen. Ist es die Autosuggestion und die unbewusst
wirkende Nachahmung, die zum Ausdruck kommt, so glaubte daher die
frühere Zeit, hier sei ein Wunder wirksam, entweder Gott oder der
Satan spreche und handle in dem Exstatiker.
Dazu kommt als weiterer Factor der Ueberrei zu ng, welcher
hinzutritt, die von der Art der suggerirenden Vorstellung unabhängige früher
besprochene „neuromuseuläre Hvperexcitabilität“; sie giebt den Bewegungen
die Tendenz zu tonischen und klonischen Krämpfen, und sie erregt die
hy stero-epileptisclien und kataleptischen Anfalle. Jener
Automatismus des V orstellens und Handelns dagegen beruht auf
der Hemmung des associativen Denkens, sodass im Wesent-
lichen nur die suggerirten Vorstellungen, aber diese hallucinativ deut-
lich, auftauchen können, und ausserdem nur jene Form der traum-
haften Phantasietliätigkeit möglich ist, welche bekanntlich die einzelne
Vorstellung zur Situation erweitert, also z. B. die Zurückversetzung
in die Kindheit, eine suggerirte Schreckensepisode mit Detail erfüllt.
Diese exstatischen Zustände treten aber nur zeitweise, paroxys-
mell auf: ist die Person schon an den Anfall gewöhnt, so genügt die
stark anwachsende Erwartung zu bestimmter Tageszeit zu ihrer Aus-
lösung, wie ja auch sonst hysterische Zustände verschiedenster Art zu
bestimmten Tagesstunden sehr oft auftreten. Für die erste In-
scenirung sind aber starke und lange Eindrücke erforderlich, am Besten
wirkt das gesehene Vorbild: vorausgegangen ist zumeist eine höchst-
gradige Erschöpfung und lleborreizung der Nerven durch manchmal
jahrelange übertriebene asketische Uebungen. Wie das moderne hyp-
notische E x p e r i m ent uns erst das V erständniss aller dieser
Ü Die Bedeutung dieses Momentes für den Charakter der Willenshandlung
liat besonders ausführlich und sachlich begründet: H. M ü n s te r berg. Die Willens-
handluug, Freiburg 18S8.
lieber Wahnideen im Völkerleben.
283
merkwürdigen und den Zuschauer aufregenden Zustände erschlossen
hat, wurde in der Einleitung auseinandergesetzt. Br aid’s grosses Ver-
dienst ist es bekanntlich, als der Erste durch methodische Versuche
bewiesen zu haben, dass nicht fremde Kräfte es sind, die wirklich in der
hypnotisirten Person sich äussern, sondern dass jede sensitiveUeberreizung,
z. B. einfaches Anstarren eines Punktes (wie z. B. die Fakire Indiens
ihren Blick auf ihren Nabel heften) dazu genüge. B e r n h e i m hat gezeigt,
dass eindringliches Einreden des herbeikommenden Schlafes zwar nicht
diesen, aber ebenfalls die Hypnose erregen kann; Charcot, Richer
und andere französische Autoren haben die weitere bedeutungsvolle
Aufklärung vermittelt, dass sowohl die Hysterie sich gleichfalls auf
extreme Suggestibilität und jene neuromusculäre Erregbarkeit zurück-
führen lasse, als auch dass die Hypnose voll nur bei Hysterischen
gelinge und in ihren geringeren Graden einer Art abortiver künstlicher
Hysterie gleichkomme. Auch das ist schon besprochen worden und
sollte jetzt nur in Erinnerung gebracht werden.
Zwei wesentliche Fragen drängen sich an dieser Stelle wohl Jedem
auf: welche Bedeutung kommt diesen eigenartigen und überraschenden
Wirkungen der Suggestion innerhalb der grossen ideellen und ins-
besondere der perversen Massenbewegungen zu ? Und zweitens:
warum beobachtet man sie heute nicht oder doch kaum mehr im
Zusammenhang mit diesen wichtigen Erscheinungen im Leben der
Völker?
Die Bedeutung der hypnotischen Wirkungen war nun im Rahmen
jener Massenbewegungen sicherlich eine ungemein grosse ; gleichwohl ist
sie im Wesentlichen von indirecter Art gewesen. Man hat, glaube ich,
die Hypnose doch stark überschätzt als ein Mittel, um gewisse Vorstellungen
mit besonderer Macht den Personen aufzudrängen, um ihren Willen zu
unterjochen. Für diesen Zweck kommt doch meist nur die sogenannte
posthypnotische Nachwirkung aus leicht verständlichen Gründen in
Betracht, und diese scheint doch nicht allzustark zu sein. Wichtiger
erscheint mir die Möglichkeit, durch gehäufte Sitzungen, die ja auch in
der Regel erfordert werden, eine allgemeine starke Suggestibilität
zu erzielen, also eine künstliche hysterische Constitution des Geistes und
der Nerven zu erzeugen. Für Heilungszwecke ist das ein recht bedenk-
liches und zweischneidiges Mittel, und es scheint mir meist nur erlaubt zu
sein, bei schon vorher hysterischen Personen auf diesem Wege zu er-
streben, dass deren eigene schädliche Autosuggestionen durch die zweck-
massigere Fremdsuggestion des Arztes ersetzt werden. In der That ersehe
ich denn auch nicht aus der Geschichte des Massenwahns, dass die
Einpflanzung der Ideen, z. B. des Hexen- und Satansglaubens, der
religiösen Opferung bei jenen russischen Secten, durch hypnotische Ein-
wirkungen merklich begünstigt wurde. Die Sache liegt, wie ja eigentlich Alle
Grenzfragen des Nerven- und Seelenleben?. 19
284
Feber Wahnideen im Völkerleben.
wissen, ganz anders: die Hypnose, die Exstase ist und bleibt
die Haupt-Quelle des Wunderglaubens, oder besser gesagt,
sie ist, sie repräsentirt das Wunder, das Uebernatürliche.
Objectiv war dafür maassgebend der Anblick der scheinbar in eine
fremde Welt Entrückten und in Krämpfe Versetzten, und ferner ihre Zu-
gänglichkeit für starke suggestive Contrastvorstellungen, d. h. die Mög-
lichkeit der Wunderheilung von Besessenen und Hysterischen. Sub-
j e c t i v war es die geschilderte Selbstwahrnehmung eines scheinbar
fremden Willens und fremder Actionsimpulse, was den Besessenen
so mächtig erschütterte und ihm imponirte. Um es bei der Wichtigkeit
der Sache nochmals zu sagen, für diese Selbstwahrnehmung ist nicht
das Wesentliche, dass keine Ziele und Zwecke für die Handlungsimpulse
vorgestellt werden, sondern dass auch nicht einmal die innere Vor-
stellung der auszuführenden Bewegungen vorangeht dem Bewegungs-
impulse; das kommt wieder daher, dass die associative Erregung und
Verkettung der Vorstellungen fehlt und gehemmt ist.
Dieser letztere psychologische Faktor ist es offenbar gewesen,
warum unter allen unverstandenen Naturereignissen und abnormen Symp-
tomen am Menschen sich die hypnotischen Zustände als die letzte Stätte
des Wunderglaubens bis in eine späte Zeit, ja sogar bis in die Gegen-
wart gerettet haben. Wie sehr haben wir es dem Fortschreiten der
psychologischen Wissenschaft zu danken, dass sie aucli da das Licht
der Forschung, die Einsicht in eine gesetzmiissige Causalitüt entzündet
hat! Ist es auch vielleicht zum Segen der Menschheit gewesen, dass
die grossen religiösen Propheten und die Heligionsstifter sich fälschlich
von der Stimme Gottes für inspirirt hielten, so hat der Hexenglaube doch
einen seiner stärksten Beweise aus der Besessenheit gezogen, und er hat
lange Zeit auch die Vertreter der Wissenschaft, die Aerzte, irre geführt.
Die endlich gewonnene Einsicht in die Dinge ist sehr neu; Braid
hat vor 50 Jahren noch wenig oder kaum Gehör gefunden, und erst
seit den letzten zwei Dezennien ist das oben kurz Zusammengefasste
von der Wissenschaft festgestellt und zum Gemeingute der Aerzte und
Laien geworden. Warum hat aber schon so viel früher die Besessen-
heit so gut wie ganz, die religiöse Exstase wenigstens seit diesem Jahr-
hundert doch im Wesentlichen aufgehört? Giebt es, so fragen wir,
weit verbreitete Eigenschaften des menschlichen Geistes, die durch Nicht-
gebrauch zum Rudimente werden? Eigenschaften, die nur noch der
Arzt künstlich erwecken kann? So liegen die Dinge bekanntlich nicht.
Wer den Verlauf jener Besessenheitsepidemieen, jener exstatischen und
convulsionären Massenmeetings, der Jumpers, der methodistischen Revivals
u. s. f. auch nur oberflächlich verfolgt hat, dem kann nicht entgangen
sein, dass man jene speeitischen Suggestiveffecte unbewusst oder be-
wusst, jedenfalls aber systematisch gezüchtet hat. Während heutzutage
Feber Wahnideen im Völkerleben.
285
der oberste Grundsatz der Hysteriebehandlung der ist, die erkrankten
Personen aus ihrer Umgebung zu nehmen, von einer hysterischen Epi-
demie erfasste Schulklassen zu schlossen, ist man mit den Besessenen
so unzweckmässig verfahren wie überhaupt möglich. Man hat sie mit
seltenen Ausnahmen in dem inficirten Kloster, selbst bei jahrelanger Dauer
der Seuche, belassen, man hat die Anfälle in vollster Publicität, meist in
den Klosterkirchen, sichallemVolke darstellen lassen ; durch die oft täglichen
Exorzismen hat man die Besessenen immer von Neuem in leidenschaftliche
Aufregung versetzt, sodass bei dieser Gelegenheit die stürmischsten Par-
oxysmen sich einzustellen pflegten ; durch unermüdliches Beobachten,
durch Aus- und Hineinfragen in die Besessene (z. B. wie viel Teufel n
ihr seien, was Alles im Himmel und in der Hölle vorgehe, wann neue
Anfälle kämen, wer Anstifter sei und Schuld an der ganzen Sache
trage u. s. w.) hat man in ihnen immer neue Suggestionen erweckt. Die
Methodisten dagegen haben durch leidenschaftlich mystisches Predigen,
namentlich aber durch die absichtlich unsinnig verlängerte Dauer der
Meetings von zwei, drei und mehr Tagen, durch Fasten und Askese,
durch das Verlangen der ungemein erschütternden öffentlichen Beichte
ihrer Sünden vor allem Volke direkt auf hysterische Convulsionen und
Nervenzustände bei ihren Anhängern hingearbeitet.
Wir wollen das nicht weiter ins Detail ausmalen, jeder Leser
kann das Nöthige selbst irgend einer genaueren Schilderung jener
Vorgänge entnehmen. Die Zuschauer der Revivals haben oft ihr Mitleid
bezeugt mit irgend einem jungen Mädchen, das am ganzen Körper
zitternd oder ohnmächtig zusammenbrechend zu der Sünderbank, dem
Pen, oder wie man die Stätte für die Erweckten sonst nannte, siel)
schleppte. Die Schaustellungen erwiesen sich oft genug als so stark auf-
regend, dass selbst vorher ungläubige Spötter fortgerissen und «vom
Geiste Gottes erfasst“ wurden. Nichts disponirt ja so sein* zur Hypnose
als der Anblick dieses Schauspieles bei Anderen, sodass öffentliche Schau-
stellungen, wie sie seiner Zeit der bekannte Hansen inaugurirt hatte,
die meisten und zahlreichsten hypnotischen Erfolge zu erzielen pflegen.
Diese Züchtung ist es nun, die heute aufgehört hat. Der Geschmack
des gebildeten Publikums und selbst von verständig denkenden Priestern
an solchen Dingen, welche nur krankhafte nervöse Folgezustände im
Volke herbeiführen, hat aufgehört. Richer 1 ) führt eine nicht geringe
Blüthenlese modernster religiöser Hysterien und von Visionen der. Jung-
frau Maria, nach dem Muster der Marpinger Erscheinung, auf. Stig-
matisationen, d. h. Auftreten blutigen Schwcissos an den Stellen der
Wundmale Christi, wie sie in alter Zeit der mystische Asket Bernhard
)) Paul Kicher. Ktudes cliniques sur la CJrandc Hysterie, 11. edit.. Paris
l>s:>. p. 8.*>l — *<>!).
19 *
286
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
von Clairvaux dargeboten hatte und wie sie neuerdings am Bekanntesten
bei der Luise Lateau geworden sind, kamen wiederholt noch zur Be-
obachtung. Jüngere hysterische Mädchen, welche durch somnambule
religiöse Prophezeiungen u. dergl. das Aufsehen ländlicher Bezirke er-
regen, kennt jeder beschäftigte Arzt aus eigener Erfahrung. Zu Anfang
dieses Jahrhunderts hatte der Mesmerismus und der sog. thierische
Magnetismus 1 ) ein reiches Feld der Hypnoseerregung bei Hysterischen
geliefert. Indessen, wie gesagt, gegenwärtig sucht man, was auch
dringend noth thut, der Ausbreitung und dem Umsichgreifen der epi-
demischen Hysterie rasch Dämme zu setzen, nöthigenfalls durch obrig-
keitliche Verbringung der ergriffenen Mädchen in geschlossene Nerven-
heilanstalten.
Die Hysterie an und für sich und ihre Eignung zu hypnotischen
und visionären Zuständen hat wohl nicht in ihrer Ausdehnung über die
Bevölkerung abgenommen, vielleicht hat sie eher zugenommen. Da, wo
man sie noch begünstigt, d. h. bei den suggestiven Heilwirkungen, wie
sie gewisse „Gnadenorte“ gleich der Lourder Quelle und einige Wall-
fahrtskapellen entfalten, da sieht man die — erwünschten — suggestiven
Effecte sich bei Schaaren von Hysterischen noch verwirklichen. Sonst
aber fehlt es an Suggestivvorstellungen, die gleichzeitig auf die
Frauenwelt in gleichem Sinne einwirken, seitdem der asketische und
das Innere des Gemüthes zerwühlende Character der Religionsübungen
verlassen worden ist. Politische und soziale Suggestionen dagegen sind
die Domäne der Männerwelt geblieben, und bei diesen haben wir die
active impulsive Bethätigung als deren reguläre Consequenz gesehen.
So bleibt das suggestive Erregungsfeld unserer heutigen Hysterischen
begrenzt auf den eigenen nervösen Zustand und auf ihre persönlichen
familiären Vorstellungen. Hier aber treffen wir noch recht stark wir-
kende Visionen an, und ein hysterischer Jüngling meiner Beobachtung
hatte z. B. Jahre hindurch immer wieder die meist vollkommen deutliche
Erscheinung seines verstorbenen Bruders, so oft er einen seiner vielen
kurzen Erregungszustände erlitt; von einem bekannten preussischen
General haben die Zeitungen berichtet, dass er nach dem Tode seiner
innigst geliebten Tochter den täglichen Besuch, die Hallucination, der-
selben Wochen lang jeweils auf geraume Zeit erhielt, und bei sonst
ungetrübter geistiger Klarheit fühlte er sich dadurch ungemein getröstet
und erhoben.
Soviel zum allgemeinen Verständniss und zur Würdigung der
epidemischen hypnotischen Erscheinungen und Zustände! Sie sind, um
das Vorhergehende in zwei Sätzen nochmals zusammenzufassen, epi-
b Vergl. die sehr klar diese Dingo erörternde Schrift von Löwenfeld.
Somnambulismus und Spiritismus. Diese ..Grenzfragen“, I. Heft. Wiesbaden 1900 .
Ueber Wahnideen im Völkerleben
287
demisch aufgetreten aus zwei Gründen: 1. weil man ehedem durch
Askese und leidenschaftlich mystische Cultübungen bei Frauen und auch
bei Männern künstlich und innerhalb religiöser Vereinigungen eine
starke und ständige allgemeine Nervenüberreizung, einen ner-
vösen oder hysterischen Zustand herbeizuführen pflegte; und 2. weil
das Auftauchen bestimmter Wahnideen im ganzen Volke gleich dem
Hexenwahn prägnante Suggestivvorstellungen lieferte, welche bei den
schon überreizten Personen paroxystische Besessenheitsexstasen erregten ;
oder auch weil gewisse pietistische Cultübungen unter systematischer
Anwendung prolongirter und gemüthserschütternder Erregungen direct
hinarbeiteten auf die hypnotische Exstase, die sog. Erweckung oder
Inspiration.
Wir treffen daher hier einerseits keinen neuen Ideengehalt mehr
an, sondern nur eine specifische Aeusserungsform der schon geschil-
derten perversen Bewegungen. Andererseits hat gerade diese Seite des
Gegenstandes durch Calmeil *) bereits Vorjahren, sodann durch Richer, 2 )
St oll, 3 ) Bechterew 4 ) und weiterhin sowohl durch die zahlreichen
Schriftsteller der Hypnose im Allgemeinen, als auch durch die Darstellungen
der religiösen Sektenbewegungen theilweise umfassender Bearbeitungen
sich zu erfreuen gehabt. Dadurch ist der Schleier des Wunderbaren
längst gelüftet worden, der früher auf diesen Gegenständen ruhte, und
neue Gesichtspunkte werden vorerst hier kaum aufzufinden sein. Aus
allen diesen Gründen beschränke ich mich darauf, an wenigen ausge-
wählten Beispielen das soeben theoretisch Besprochene empirisch zu er-
läutern.
Zunächst müssen wir wenigstens noch hin weisen auf die That-
sache, dass die Verbindung des religiösen Vorstellens mit der Hypnose
sich als eine universale herausstellt, die sich also über das ganze
Menschengeschlecht und speciell auch über die sog. Naturvölker erstreckt.
In seinem mehrfach citirten Werke hat St oll diese ethnologische Seite
des Gegenstandes sein* gründlich und umfassend behandelt. Bei Natur-
völkern dient freilich die Hypnoseerregung hauptsächlich dazu, den Cult-
handlungen der Priester das Ansehen des Zaubers und der Inspi-
ration zu verleihen, wie das schon am Schlüsse des einleitenden
Abschnittes (p. 22f>) erwähnt wurde. Beschreibungen von Reisenden und
Calmeil. I>o la folie. considörce sous lo point de Pathnlogique. Pliilo-
sophiquo, Historique et Judiciaire (Description dos grandes Kpideinies de Delire)
2 vol., Paris (J. B. Bai liiere) 1 S L>.
L> ) Richer, Ktudes cliniques snr la < Lande Hysterie, edit. Paris Iss. - »,
p. 799 — 014.
3 ) Stell a. a. O.
•*) Bechterew. Sugge-tinn und ihre soziale Bedeutung, deutsch. I/ehers.,
Leipzig lsna (s [ pp.).
lieber Wahnideen im Völkerleben.
Ethnologen liegen in überaus grosser Zahl vor, und bereits die ersten
spanischen Conquistadoren haben auf den Antillen die gleichen Uebungen
der Eingeborenen gesehen, die sie natürlich für Teufelswerk oder für
absichtliche Betrügerei der Priester hielten. Das characteristische
Merkmal bei den Exstasen der primitiven Völker ist, dass sie herbei-
geführt werden nicht so sehr durch sensorische Reize als durch bis
zur Raserei getriebene aufreibende und erschöpfende Muskelactionen,
durch einen selbst stundenlange Dauer erreichenden Tanz, begleitet von
Pantomimik und oft auch eintönig recitirendem Gesang, einer Ansprache
an die Geister ; in der Regel tritt freilich auch ein heftiges ohren-
betäubendes Trommeln oder auch das continuirliche Schütteln der
glöckchenbehangenen Schahmanentrommel hinzu. Als drittes Mittel
wird, besonders bei Indianern, ein starkes bis zur Narkose gesteigertes
Tabakrauchen angewendet. Schliesslich stürzen gewöhnlich die Schah-
manen in starken hysteroepileptischen Convulsionen ganz in Schweiss
gebadet und mit schäumendem Munde zusammen, und hinterher beginnen
sie gewöhnlich wirre Reden auszustossen ; der specielle Schutzgeist ist
dann in den Schahmanen (oder Angekok, Piaje, Ganga und wie diese Priester
alle heissen) eingekehrt, er spricht aus ihm, und aus den zusammen-
hanglosen Worten wird hinterher die gewünschte Prophezeiung zurecht
gemacht. Merkwürdig ähnlich ist bekanntlich der Vorgang bei den
Weissagungen der pythischen Priesterinnen zu Delphi gewesen. Auch
die Erziehung und Züchtung solcher „Medien“ ist ganz systematisch
bei den Naturvölkern betrieben worden ; durch lange Fasten, Einübung
der nervenerschütternden Tänze wird die Hysteroepilepsie künstlich an-
erzogen in einem meist jahrelangen Unterricht, welchen der Novize als
Lehrling und Gehilfe des älteren Schahmanen geniesst, und dabei wird
Bedacht darauf genommen, nur solche Jünglinge auszuwählen, welche
tlieils als Söhne des Schahmanen, theils durch persönliche Disposition
zur Hysterie hinneigen. Endlich wird in dem besonders empfänglichen
Pubertiitsalter der Jünglinge auch der mystische Cultus in roher ur-
sprünglicher Weise innerhalb der zahlreichen geheimen Orden der
Neger betrieben, indem sie sich einsam in die Wälder zurückziehen,
dort starke Fasten und Geisselungen auszuhalten haben, einen gewissen
geheimen Cult mitgetheilt erhalten und am Schlüsse bei der Rückkehr
zu den Eltern meist der Beschneidung unterzogen werden. *)
Wenden wir uns nun zuerst zu den Besessenheitsepidemien
innerhalb unserer europäischen Culturlünder, so kann man drei Formen
derselben unterscheiden: a) die eigentliche D ä m o n o m a n i e mit hyste-
1 l Genauere Beschreibung iiiulet sich unter Anderem hei: Schneider.
Religion d. afrikan. Naturvölker, Münster 1801; A. Reville, Los Religion* des
Peuples non-civilises, 2. vol., Paris l s S:i; Lippe rt, Allg. Geschichte d. Priester-
thums. 2 Bde.. Berlin iss:*,.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
289
rischen Paroxysmen ; b) die Lykanthropie ; c) die einfachen Tic’s, d. h.
bestimmte automatische und krampfartige Bewegungen und Impulse, wie
Bell- und Lachkrämpfe.
Sie treten alle auch vereinzelt auf, von Besessenen berichtet ja
bekanntlich schon das neue Testament, in der Hauptsache aber hat man
die eigentliche satanische Besessenheit in Frauenklöstern und in
Waisenhäusern erlebt. So trat 1566 im Findelhause zu Amsterdam
eine starke Epidemie auf, welche ganz der sogen. Chorea magna
entspricht, die wir nicht sehr selten in unserer ärztlichen PrsÄis noch
heute bei hysterischen Kindern beobachten. Bei der Mehrzahl der In-
sassen, 30 — 60 Kindern beiderlei Geschlechts, sah man damals eigen-
artige Convulsionen mit Grimassenschneiden, wüthendem Herumklettern
auf Möbeln, Dächern und Bäumen, Blöcken wie die Schafe und Ver-
schlucken eines Menge von unverdaulichen Dingen (wie Nadeln, Wolle,
Glasscherben und Lederstücken) , welche nachher wieder erbrochen
wurden. Weiterhin zeigte sich in dem Kloster Uvertet (Grafschaft
Hoorn) 1550 — 1565 nach Ablauf eines sinnlosen Fastens von 50 Tagen,
wobei die meisten Nonnen sich nur von Rübensaft nährten und beinahe
alle an einer schweren Stomatitis mit fauliger Zersetzung im Munde
litten, zunächst die Hallucination von nächtlichem Stöhnen bei einer
Nonne. Bald folgten bei ihr und demnächst einer Anzahl anderer Lach-
krämpfe, alle möglichen Verdrehungen des Körpers, kataleptische Starre
abwechselnd mit grotesken Sprüngen, Selbstmisshandlungen, welche
dann immer die Peinigung eines zornigen Teufels gewesen sein sollten;
ferner Rutschen auf den Knieen durch weite Räume und selbst die
Treppen herab, Klettern auf Bäume, von welchen die Nonnen kopfvoran
sich herunterhängen Hessen. In den Intervallen waren sie häufig sprach-
los geworden. Hervortretend war auch die Sucht, Andere zu beissen,
und überhaupt die Angriffe auf die Zuschauer. Beten in Gegenwart der
Nonnen und Widerstand steigert ihr Gebfihren zu Wuthparoxysmen.
Unter den sonderbarsten Bewegungen figurirt das Herabrollen eine ganze
Treppe hinab um die eigene Längsaxe. Die unglückliche, selbst mit-
ergriffene Köchin des Klosters und ihre alte Mutter wird stürmisch von
den Nonnen als Satansanbeterin und Urheberin der Seuche angeklagt,
beide werden verbrannt; darnach steigert sich nur die Seuche und er-
lischt erst nach 3 Jahren.
Stark nymphomanischen Cliaracter hatte die heftige Epidemie
der Ursulinerinnen in Aix (1611), wo sich die Nonnen für verführt
von Dämonen erklärten, äusserst lascive Bewegungen und Wiegen des
überdies entblössten Körpers in den Anfällen darboten und schliesslich
einen Priester Gaufridi als Urheber anklagten, der thatsächlich die
— wie er meinte — durch ein Zauberbuch erhaltene Gewalt über die
Frauen viel und schmählich missbraucht hatte und natürlich verbrannt
290
lieber Wahnideen im Völkerleben.
wurde. Die bekannteste, stärkste und tragischste aller Klosterepidemieen
war die der Ursulinerinnen des Klosters bei Loudun, einer kleinen
Stadt im Departement Vienne, 1632 — 1637 resp. 1642, dauernd. Viele
Töchter vornehmer Familien, auch eine Anverwandte Richelieu’s,
gehörten zu den Insassen, das Kloster war erst vor 6 Jahren gegründet,
ein gegenseitiges maassloses Ueberbieten in asketischen Uebungen war
von Anfang darin Sitte. Ganz plötzlich wurden 16 Nonnen, darunter
die Oberin selbst, erfasst. Den Beginn bildeten zahlreiche Visionen und
Hallucinationen erst schreckhaft von Gespenstern (darunter bezeichnender
Weise der verstorbene Beichtvater), dann Visionen lasciver Art, Erscheinungen
von Dämonen, welche durch die verschlossene Thür, öfter in der Gestalt
des derzeitigen Beichtvaters, eindrangen und unter tausend Ueberredungs-
künsten obscöne Anträge stellten. Die Nonnen liefen aus ihren Zellen,
kletterten sogar auf den Dächern herum und wurden bei ihrem Wider-
stande gegen die Verlockung der Dämonen „von diesen“ furchtbar miss-
handelt, so dass die Spuren noch Tage lang sichtbar waren. Leich-
name im Fegefeuer erschienen, die bei Bespritzen mit Weihwasser laut
aufzischten. Bald fühlten die Nonnen die Macht der Dämonen, welche
durch Mund und Genitalien einzudringen pflegten, oft mehrere, 3 — 5
zumal. Sie werden in die tollsten Verdrehungen geworfen, besonders
häufig kommt es zu dem bekannten „arc de cercle“, sodass der Kopf
weit hinten übergebogen die Zehen berührt, und in dieser Position
laufen sie mit verblüffender Schnelligkeit durch die Zimmer. Dann
schreien und brüllen sie laut in thierischen Tönen oder lassen die Zunge
schwarz und borkig weit zum Munde heraushängen. Wieder kommen
lascive Stellungen, Beckenbewegungen und schamlose Entblössungen
sehr oft vor, wobei sie die Augen schliesssen und die Hallucination
sexuellen Verkehrs zu erleben scheinen. Dazwischen blitzschnelles Kopf-
schütteln, hystero-epileptische Krämpfe mit Schaum vor dem Munde und
folgende kataleptische regungslose Starre oder flexibilitas cerea mit auto-
matischem Einhalten der eigenartigsten Positionen. j
Am Meisten bestürzte natürlich allgemein das Verhalten der Be-
sessenen bei den Exorcismen und in der Kirche überhaupt in Gegen-
wart heiliger gottesdienstlicher Uebungen. In den Intervallen schienen
die Frauen normal, gingen ihren Geschäften nach und bezeugten ihre
tiefe Verzweiflung über ihren kläglichen Zustand. Sowie aber der
Exorcismus begann, brach alsbald der Paroxysmus mit Macht aus, und
die vorher gesitteten Mädchen benahmen sich nun wie die Furien. Mit
wüsten Schimpfreden aus dem Repertoir des unteren Pöbels, von denen
man nicht wusste, woher sie die Nonnen hatten kennen lernen, zogen
sie los gegen alle die heiligsten Namen der Kirche, schalten über die
wüthenden Schmerzen, die ihnen der Anblick der heiligen Cultobjecte
verursachte, lachten und höhnten dann wieder über die Ohnmacht des
Heber Wahnideen im Völkerleben.
291
beschwörenden Priesters, und dann wanden sie sich am Boden in den
oben beschriebenen Krämpfen und Verdrehungen; lascive Reden fehlten
dabei selten.
Einstimmig wurde von den Nonnen ein schöner und geistig hoch-
stehender, weithin angesehener Priester der Stadt, Urban Grandier,
als der im Teufelsbunde stehende Veranlasser ihrer Besessenheit genannt.
Der Name dieses Unglücklichen bleibt daher für immer verbunden mit
dieser traurigen geistigen Epidemie, und beinahe allerseits wird ange-
geben, dass feindliche Amtsgenossen des zu hochfahrend auftretenden
Mannes den Namen desselben den Nonnen suggerirt hätten, um ihn
dem Verderben zu weihen.
Wir wissen übrigens bereits, dass die Besessenheit nur ein Ab-
leger des allgemeinen Hexenwahns, also einer Form des Verfolgungs-
wahns ist. Denn wie viel näher lag es doch, solche dämonische Be-
sessenheit dem directen Treiben der Dämonen zuzuschreiben! Und war
denn das Ergriffenwerden gut religiöser Personen durch den Teufel oder
war die sogen. „Zulassung Gottes“ besser erklärt, wenn sich irgend ein
anderer böser Mensch dem Satan verschrieben hatte? Kurz und gut,
das war jedoch der Wahn. Gr an di er wurde eingekerkert, seinem
Verlangen, selbst den Exorcismus an seinen Anklägerinnen vornehmen
zu dürfen, wurde stattgegeben, und dabei muss sich diese Schaar hyste-
rischer, vom Wahne ergriffener Weiber in eine Tobsucht und Raserei
hineingearbeitet haben von einer Furchtbarkeit, wie sie keiner der viel-
erfahrenen Zeugen je auch nur annähernd früher oder später wieder
gesehen hatte. Sie behaupten, Grandier wäre lebend in Stücke zer-
rissen worden, wenn man ihn nicht mit aller Gewalt beschützt hätte.
Sein Schicksal war schon vorher besiegelt, er ist unter ausgesuchter
Grausamkeit gefoltert und dann hingerichtet worden. Aber mehrere
seiner Ankläger hat hinterher das rächende Schicksal ereilt, selbst einer
vieljährigen satanischen Besessenheit zu verfallen. Die furchtbare Seuche
hat wieder den Tod ihres Opfers weit überdauert, sie hat auf die ganze
städtische und ländliche Umgebung des Klosters sich ausgebreitet, die
Augenzeuge der im ganzen Lande vielbesprochenen Krankheit war, und sie
erlosch schliesslich erst nach 9 Jahren. — Das ganze Sy mpt omenbild
dieser B e s e s s e n h e i t s z u s t ä n d e setzt si ch sehr deu tli ch zusammen aus
allgemein-hysterischen Erscheinungen, wie sie die schweren hvstero-
epileptischen Krämpfe, die tonische Starre des are de cercle. die Anaesthesie
und ähnliches darboten, und wie sie auch heute alltäglich sind, und
weiter verbunden damit aus einer Art von dramatischer Gestaltung der
Angriffe und Wuthausbrüche, welche die vermeintlich den Nonnen ein-
wohnenden Dämonen nach der Meinung der Zeit bewirken sollten.
Es handelt sich im letzteren Falle um sehr leicht verständliche Auto-
suggestionen.
292
Feber Wahnideen im Völkerleben.
Wir nehmen von den sehr zahlreichen weiteren Klosterepidemieen,
wie sie Cal m eil gewissenhaft registrirt hat, und die auch in Deutsch-
land grassirt haben, keine Notiz. Die letzte Hexe in Deutschland wurde
übrigens 1749 enthauptet als die angebliche Urheberin einer Convulsions-
epidemie, welche 1740 — 50 im Frauenkloster Unterzell in Franken ge-
wüthet hatte. Die zwei andern Formen, unter welchen sich die Be-
sessenheit noch geäussert hatte, können von uns nur gestreift werden.
Völkerpsychologisch sehr interessant ist das Auftreten der Lykanthropie.
Der Wahn und namentlich die Furcht, dass Menschen sich in reissende
Thiere verwandeln oder dass Kinder durch Hexen in „Wehrwölfe 4 * ver-
zaubert werden könnten, findet sich in verschiedener Abwandlung über
einen grossen Theil der Erde. *)
Um so kennzeichnender für die Verursachung der Hexenseuche
durch die Kirche ist es, dass ein so breit auch im europäischen Volke
wurzelnder Aberglaube keine nennenswerthe Bedeutung damals erlangt
hat, und dass bei der einzigen etwas ansehnlicheren Epidemie der
Lykanthropie, die vorgekommen zu sein scheint, derjenigen 1598
bis 1600 im schweizerischen Jura zu St. Claude bei Freiburg, dass auch
da nur wenige Frauen die Wolfsmetamorphose sich eingebildet haben,
und dass, wie es scheint, nur eine einzige darunter wirklich Kinder in
ihrem Wahne angefallen und getödtet hat. Bei den übrigen, welche
entsprechende Geständnisse abgelegt hatten, steht es beinahe sicher, dass
es sich um Angriffe von wirklichen damals im Jura nicht seltenen
Wölfen auf Kinder gehandelt hat, und dass die unglücklichen Frauen
sich suggestiv in die Erinnerungshallucination hineinreden Hessen, sie
selbst hätten in jenen Wölfen gesteckt. Weitaus im Vordergründe bei
der Untersuchung, die unglücklicher Weise einem besonders eifrigen
Verfolger zufiel (Boquet), stand natürlich wieder der gewöhnliche
Satansbund mit Hexensabbaten, und jener einzige Richter hat deshalb
600 Personen aus der Jura-Landschaft hinrichten lassen. Die Feder
eines Voltaire hat diese jahrelang andauernden Scheusslichkeiten des
Glaubens wahnes der Nachwelt überliefert. Im Uebrigen waren es stets
nur isolirt gebliebene Fälle und wohl immer von Geburt aus schwach-
sinnige junge Männer, welche Menschen überfielen und tödteten in ihrer
vermeintlichen Eigenschaft als Wehr wölfe, in die sie sich nur ab
und zu — paroxysmell — zu verwandeln pflegten. Es dürfte sich in
der Regel um epileptische Dämmerzustände, oft mit sexuell perversen
Trieben dabei, gehandelt haben.
Die dritte Form der Besessenheit ist nahe verwandt der Chorea
magna der Kinder und jenen oben kurz erwähnten entsprechenden
! ) Ausführlich mit Literatiirangnhon behandelt in R. And ree, Ethnograph.
Parallelen u. Vergleiche, Stuttgart l v 7>. p.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
293
Epidemieen in den Waisenhäusern (z. B. zu Amsterdam und Kintorp).
Wie hier die Kinder hüpfen, klettern und blocken gleich Schafen, so
kam bei erwachsenen Frauen die sogen. Laira-Krankheit in der
Gemeinde Amon bei Dax in Südfrankreich vor (1613), und es wurden
mehr als 120 Frauen ergriffen, sicher ein hoher Procentsatz der ganzen
Bevölkerung. Die eine Hauptäusserung bestand in einem lauten und
andauernden heulenden Bellen, wie es Hunde beim Vollmond hören
lassen, die zweite damit verbundene Abnormität war ein wtithendes
Herumwälzen am Boden, Umsichschlagen, Beissen, als ob die Frauen
wilde Thiere wären, abwechselnd mit typischen hystero-epileptischen
Krämpfen. Das bellende Geheul wurde gewöhnlich am Heftigsten aus-
gelöst, wenn die Frauen zum Gottesdienste versammelt waren. Natürlich
war wieder eine Anzahl von Hexen Schuld, und die Untersuchungs-
richter fanden den „ magischen“ Einfluss der Hexen besonders wunder-
bar: war nämlich eine der verdächtigen Frauen in der Nähe, ja nur
aut der Strasse, so brachen die Anfalle in unstillbarer Heftigkeit bei
den Besessenen hervor, und angeblich sollte die Besessene die Nähe der
Hexe nur durch’s Gefühl merken, sonst hätte sie oft — sagen die
Richter! — Nichts davon wissen können. Wir erkennen hier schon
die Anfänge der späteren «Clairvoyance“. Uebrigens waren die
Hexen so zahlreich, dass ausser den Richtern und den Besessenen die
Mehrzahl der Ortsbewohner verdächtigt worden war. Hingerichtet
wurden deshalb nur Einzelne, darunter Frauen, die selbst an den
Krämpfen litten. Wir wissen schon, dass das auf die Richter gar keinen
Eindruck machte: der Teufel, sagten sie, habe den Hexen die List ein-
geflösst, die Krankheit nur zum Scheine darzustellen! Auch klonische
Krämpfe, in einem Gliede, z. B. dem Arme, kamen vor in Gegenwart
der Hexe: „der Arm war verzaubert und gehörte jetzt nur der Hexe,
nicht mehr der Eigenthümerin an!“ —
Es gibt vielleicht keine entsetzlichere menschliche Ausgeburt, als
dann, wenn sich die hysterisch-hypnotische Exstase mit dem primitiven
in der menschlichen Brust ruhenden Verfolgungswahn verbindet. Wenden
wir uns von diesen Bildern des Besessenheitswahns zu denjenigen der
Theomanie, der göttlichen Inspiration, so bleiben die Scenen, welche
uns begegnen, noch bizarr genug, aber die Stimmung der Ergriffenen
ist eine oft hehre, die Aufopferungsfreudigkeit ganzer Schaaren ein-
facher Landieute zwingt uns den Zoll aufrichtiger Bewunderung ab.
Leider hat bei dem grossartigen Beispiele der f r a n z ö s i s c h e n Hag e-
notten, das uns hier vorschwebt, die offleielle Kirche wiederum das
Amt des blutigen und fanatisch mörderischen Verfolgers übernommen,
gegen die suggestive Gewalt der Idee hat sie nur das alte Mittel der
Ausrottung durch Schwert und Feuer gekannt. Der alternde Ludwig XIV.
hatte die Schmach auf sich genommen. 16 SÖ das Duldungsedikt von
294
lieber Wahnideen im Völkcrleben.
Nantes zu widerrufen. In den Landschaften Dauphin^, Vivarais und
den Cevennen wurde jede calvinistisch- protestantische Religionsübung
mit den härtesten und grausamsten Maassregeln verboten, Geistliche
hingerichtet, Güter confiscirt und dennoch die Auswanderung aufs Roheste
geahndet. In dieser Noth kam das Feuer göttlicher Inspiration den
Unglücklichen zu Hilfe: einfache Bauern, der Dauphinö zunächst,
sahen die Wiederkunft Christi nahe und erklärten sich selbst für den
auferstandenen Heiland. Die Truppen der Regierung versprachen sie
durch den heiligen Geist selbst in die Flucht zu schlagen, ja buch-
stäblich „wegzublasen“. So ging die bäuerliche Schaar furchtlos
den heranrückenden königlichen Soldaten entgegen, man theilte sich
gegenseitig durch Anblasen den heiligen Geist mit und begann nun mit
vollster Lungenkraft gegen den Feind zu hauchen, vorab thaten das die
Frauen, und brüllte ebenso mit hellster Stimme ein „Taratara“, um die
Trompetenstösse Jericho’s darzustellen. Die Leute wurden wie die Schafe
von den Soldaten wehrlos niedergemetzelt, und erst nachdem das sich
so und so oft in gleicher Art wiederholt hatte, flohen sie, und in der
Dauphine und Vivarais ward der Widerstand schliesslich dadurch
im Blute erstickt.
Nicht so in den Cevennen. Hier war der Kampf weit hartnäckiger,
und nachdem die Erwachsenen schliesslich der schonungslosen Gewalt
gewichen waren, begann der Geist die zarte Jugend ihrer Kinder zu
erfassen, wiewohl man diese gut katholisch zu unterrichten Sorge ge-
tragen hatte. Hier war in all’ dem Drangsal schon von Anbeginn die
Bewegung eine Stufe tiefer in der Richtung der suggestiven Exstase ge-
langt. Die Dörfer vereinigten sich zu gemeinsamen Bet Versammlungen,
in welchen gewöhnlich ein als Prophet anerkannter Mann den Vorsitz
führte; zunächst kamen feurige Ermahnungen zum Ausharren, dann
Absingen von Psalmen, und daraufhin der einstimmige inbrünstige Ruf
.Erbarmen“ (ähnlich dem Ruf „glory“ bei den Methodisten). Hierauf
stürzt plötzlich der Vorsitzende mit einigen aus der Versammlung nieder,
entweder in vollen Convulsionen mit schäumendem Mund oder nur unter
starkem Zittern am ganzen Körper oder klonischem Zucken von Kopf
und Schultern (daher rührt die Bezeichnung „Trembleurs des Ce-
vennes). Die Leute schilderten dabei das Gefühl, als ob im Hinstürzen
ein Hammerschlag sie getroffen hätte. 1 ) Nach dem Erwachen beginnt
r ) bin hysterisches Mädchen, das angegeben hatte, auf dem Felde durch einen
schönen I nhekannten vergewaltigt worden zu sein, und das in der Folge — als es
von einem Dorfbewohner gravid sich zeigte wegen Meineids angeklagt wurde,
gab desgleichen an, jener L’nhekannte habe sie zweimal heftig vor dem Attentat
mit dem Stocke auf die Schulter geschlagen. Fs handelte sich offenbar um sexuelle
hysterische Illusion, das Mädchen war im hysterischen Anfall niedergestürzt und
kam lebhaft am Kopfe blutend nach Hause. Fs wurde auf unser sachverständiges
Gutachten hin freigesprochen (eigene Beobachtung).
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
295
sofort Einer in gehobenem Tone und pathetisch zu prophezeien, vom
Untergange des grossen Babylons — i. e. der katholischen Kirche — ,
dem Siege ihrer Sache, der Erscheinung Gottes mit allen Engeln voll
Glorie, feurigen Ermahnungen zum Ausharren u. s. f. („Ich, d. h. Gott,
der spricht, werde die Feinde zerstören, ich werde eine neue Weintraube
wachsen lassen u. ä.“). Auch neue sonderbare Wortbildungen, eine sogen,
fremde Sprache, ertönte oft stundenlang: das frühere „in Zungen reden“
(„y^cboocug kaketv u ). Verstummte der Eine, so wurde durch Anblasen
der Geist auf einen Anderen übertragen, dieser fiel sofort nieder, wand
sich in Krämpfen, prophezeite darnach und so ging das fort. Viele
freilich hatten nur die Krämpfe, ohne darnach zu prophezeien. — Der
Eifer war ausserordentlich, viele Tausende betheiligten sich an den Ex-
stasen und Kämpfen, für einen, der hingerichtet wurde, standen zehn
Neue auf, so klagten die Schergen des Königs. Schliesslich kamen, wie
gesagt, die Kinder an die Reihe, gleichfalls in grösster Zahl — man
schätzt sie auf 8000! — , darunter ganz junge von erst 3 — 5 Jahren.
Sie hatten zwar keine Krämpfe, dafür um so mehr glänzende Visionen
und besonders die göttliche Inspiration, welche sich in einem ganz ähn-
lichen pathetischen Redestrom ergoss wie bei den Erwachsenen. Uebrigens
fehlten auch bei den letzteren die sonstigen hysterischen Symptome,
Anästhesien und Katalepsien nicht; der Eindruck der Versammlungen
war so stark, dass frühere Gegner und Katholiken mit vom Geiste er-
griffen wurden, ebenfalls zu prophezeien begannen und sich den Huge-
notten anschiossen.
Die Gesammtdauer der Bewegung betrug 20 Jahre, am Heftigsten
war sie um 1689, und sie erlosch selbst bei den Vielen, die nach Eng-
land ausgewandert waren, erst nach Jahren. Uebrigens erwiesen sich
die gleichen Personen ausserhalb ihrer Paroxysmen als todesmuthige und
äusserst unerschrockene Vertheidiger ihrer Sache auf dem Schlachtfelde.
Ebenfalls bei einer Gemeinschaft von Sektirern in Frankreich, den
Jansenisten, grassirte von 1728 — 39 eine äusserst absonderliche, übrigens
nicht von einer höheren Idee getragene, vielmehr halb rein hysterische
halb asketische Bewegung. Sie ist von einem Zeitgenossen in drei
dicken Bänden beschrieben worden, sehr reiches Detail findet der Leser
bei Calmeil und bei Regnard 1 ) über diese „St. Medard us-Epidemie“
(Miracles de St. Medard). Der etwas complicirte Hergang der Sache ist
folgender: Francois de Paris, ein rührend gutmüthiger, aber geistig
beschränkter Almosenpfleger (diacre) hatte nach einem Leben, das aus
einer einzigen Kette freiwillig gewählter Entbehrungen und Askese be-
standen hatte, sich frühzeitig verzehrt und war 37 Jahre alt (am
1. Mai 1727) in Paris in seiner Dachkammer gestorben. In seinem
J ) Regnard, Maladies epidemiques de l’esprit, Paris 18ST, pag. 90—201.
296
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
Testamente bekannte er sich als geheimen Jansenisten; auf dem kleinen
St. Medardus- Kirchhof wurde er begraben, aber hinterher seines Be-
kenntnisses wegen vom Papste verläugnet. Schon von seinem Todestage
ab begannen nun die suggestiven Wunderheilungen von schweren
und langen, öfters bis zwanzigjährigen, hysterischen Lähmungen und
sonstigen hysterischen Symptomen. Mehrere der Fälle erregten unge-
heures Aufsehen, und sie sind gewiss von nicht geringem Interesse als
Zeugnisse der Macht des Glaubens. Nun begann eine wahre Völker-
wanderung nach dem kleinen Medardus-Kirchhofe, wo bald hysterische
Krämpfe und Exstasen an der Tagesordnung waren; aber es kam nun
eine förmliche Tanzseuche daselbst auf nach Art des „grossen Veits-
tanzes“ („maladie de Saint Guy“), Männer und Frauen hüpfen und
machen alle möglichen Verdrehungen, die Frauen lieben es, ohne Rück-
sicht auf das Schamgefühl, auf dem Kopfe zu tanzen, Alles wirbelt
durcheinander, man verschlingt Kieselsteine und glühende Kohlen:
Andere lassen sich den aufgetriebenen Leib eindrücken (wie schon bei
der alten Flagellanten-Seuche), und bis zu 10 — 12 Männer mussten den
Leib dieser Frauen pressen. Allen voran wurde ein hinkender Abbe
gesehen, der auf dem Grabmale selbst stehend, als Virtuosenstück den
„Karpfensprung“ unermüdlich ausführte und behauptete, dass dadurch
sein kurzes Bein sich verlängere. In dem allgemeinen Tanze hörte man
ein „Seufzen, Heulen, Pfeifen, Deklamiren, Prophezeien und Miauen.“
Als der Unfug zu stark wurde, liess der König den Kirchhof
schliessen und den Eingang bewachen (woher das witzige Epigramm:
„De par le roi Defense ä Dieu, De faire miracles en ce lieu“). Damit
hörte die Seuche keineswegs auf, sondern sie brach jetzt allenthalben
inmitten der Stadt Paris aus, in den Höfen und auf den Strassen sah
man die (’onvulsionäre, bis man die öffentlich Betroffenen einsperrte,
was in wenig Tagen allein 00 Geistliche ereilte. Nun aber kam es zu
einer neuen Phase der Seuche, die Askese nahm Ueberhand, aber
auch sie in hysterisch bizarren und widersinnigen Formen. Einige
ältere Männer zeichneten sich durch überlanges Fasten in Dauer bis zu
40 Tagen aus. davon IS Tage absolut; einer hatte sich einen Dreh-
krainpf angewöhnt, auf dem einen Absatz und blitzschnell (bis zu
00 Touren in der Minute), 2 Mal täglich l 1 /., — 2 Stunden lang, wobei
er noch laut aus einem Erbauungsbuche las; eine Frau liess sich über
offenem Feuer einige Minuten rösten. Andere übten als Hauptstück das
Aussaugen der damals noch häufigen stinkenden gangränösen Geschwüre.
Wieder kamen alle denkbaren Convulsionen vor : Emporschnellen aus
liegender Position, Krähen wie Hähne, Bellen wie Hunde, unanständige
Purzelbäume. Alles bei Mädchen und Frauen. Diese gingen noch
weiter, einerseits zur theatralischen Darstellung der Passionsgeschichte
Christi oder zur Nachahmung des heiligen Fram/ois, wobei man selbst
lieber Wahnideen im Völkerleben.
297
sein Rasiren copirte , katechetische Uebungen mit den Zuschauern
anstellte etc. Andererseits kamen die Visionen und das Prophe-
zeien in grossem Umfange auf, darunter namentlich die Ankündigung
des jüngsten Tages, und Wunderheilungen durch Händeautlegen.
Am Bekanntesten sind gegen den Schluss der Seuche zwei un-
geheuerliche Extravaganzen geworden, Folgen der hysterischen
Anaesthesie, welche sich oft einstellte. Beide sind, gemäss dem
Urheber der Seuche, asketischer Art: die sogenannten „Secours“
und die * Kreuzigungen“. Sie wurden wieder vom weiblichen Geschlechte
in Scene gesetzt, die „Secours“ wurden zur angeblichen Erleichterung
verlangt : Schlagen des Leibes mit Latten, bis zu 3000 Mal hinter ein-
ander, Einschnüren des Kopfes in starker Schlinge, durch mehrere
Männer gezogen, Emporwerfen der Person in Tüchern, Auseinanderziehen
von Kopf und Beinen und vieles Andere mehr, wobei am Erstaunlichsten
ist, dass all’ dieser Unfug nach den Einfällen der Mädchen auch —
jeweils von mehreren Männern zugleich! — wirklich ausgeführt wurde.
Zwei gebildete Männer haben schliesslich (1750) als aufregendstes Schau-
stück am Charfreitag die wirkliche Kreuzigung von einigen hysterischen
Mädchen ausgeführt ; diese wurden zu Dreien mit starken Nägeln durch
Hände und Füsse angenagelt und das Kreuz zeitweise aufrecht erhoben ;
eine Schwester Framjoise hielt die Marter drei Stunden aus, obwohl ihr
Gefühl sehr lebhaft erhalten blieb. Sie starb aber schon im nächsten Jahre.
Die eben besprochene Seuche bietet wohl eine beinahe vollkommene
Musterkarte aller hysterischer Extravaganzen , sowohl von asketischen
als exstatischen w de convulsiven Erscheinungen, welche je im Namen der
Religion im nerven- und gemüthsüberreizten Zustande ausgeführt wurden.
Lassen wir also die furchtbare Seuche der im Mittelalter auf den
Strassen herumziehenden Flagellanten bei Seite, ferner die Epidemien
des Veitstanzes bei der Wallfahrtkapelle des St. Vitus im Eisass, 1 ) die
1 ) Vergleiche Hecker. Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, Berlin
pag. 148, auch E. 8. Wicke. Der grosse Veitstanz, Monographie, Leipzig 1844.
Der Veitstanz war nur (dne epidemisch auftretende Neurose ohne geistiges Motiv»
die Flagellanten aber stellten eine Vereinigung von Bussern dar zum Zwecke
gemeinsamer und öffentlicher Ausführung ihrer Geisselungen und Gebete auf den
8trassen der Ortschaften, in welchen sie wandernd umlierzogen . um ihre Schau-
stellungen darzubieten. Sie begannen damit schon im Jahre 1874 und den Haupt-
anlass gab wie oben erwähnt die entsetzliche Seuche des schwarzen Todes; Hauptstätte
des Unwesens waren die Kheinlande (besonders Aachen) und die Niederlande. Der
Charakter der Uebungen wandelte sich bald in eine Art von Besessenheit um,
deren Wesen in ungemein wilden Tänzen mit krampfhaftem Toben bestand, darauf
folgten starke epileptische Convulsionen. und schliesslich Hessen sich die Ergriffenen
wegen angeblicher Trommelsucht (Auftreibung) des Leibes diesen auf’s Brutalste
durch Fusstritte und Faustschläge misshandeln. Ausserdem geisselten sie sich
selbst unter Loh- und Bittgesängen öffentlich und heftig zweimal des Tages. Die
Zahl der Theilnelimcr dieser Umzüge soll oft mehrere Hundert, sogar über Tausend
betragen haben.
298
Heber Wahnideen im Völkerleben.
Tanzwuth (Johannistanz), den süditalischen Taranteltanz und die
Derwischtänze Aegyptens und Arabiens und werfen wir nur noch einen
Blick auf die modernere Wiederbelebung solcher fanatischer Schwärmerei
bei den zahlreichen amerikanischen, irischen und englischen Methodisten-
secten. Es dient nicht gerade zu deren Empfehlung, dass die düstere
Gluth, welche durch die wildesten Springtänze (Jerk’s und „Karpfen-
schnellen“} entfacht wurde, bei den religiösen Orgien der heutigen
Neger der amerikanischen Union gleichfalls die Regel sein soll. 1 ) Auch
scheint bei beiden, den weissen Pietisten wie den Negern, die gleiche
geschlechtliche Begehrlichkeit dadurch geweckt zu werden, also
die Unsittlichkeit nur gefördert zu werden bei der rücksichtslosen
Durcheinandermengung der Geschlechter in solchen „camp-meetings“,
und schon von den Scharen der Weiber, welche im Mittelalter im Kreise
der Flagellanten mitagirten, berichtet die Königshofer Chronik, dass sehr
viele unehelich schwanger wurden. Die harmlosesten Methodisten sind
noch die, wie sie Moritz Busch (a. a. 0. „Wunderliche Heilige“)
schildert, und wobei tägliche Gebetsübungen mit Laienpredigten gefolgt
werden von einem allgemeinen Tanzen und Hüpfen im engen Kreise
der Secte und in den Mauern ihres eigenen Heims. Bei den „Revivals“
(Erweckungen) und Camp-meetings dagegen zog man zu Tausenden auf
mehrere Tage auf irgend eine Waldwiese. Hier auf improvisirter
Tribüne wurden von Geistlichen Dauerpredigten hinter einander ans
Volk gerichtet, etwa 1800 — 1804 in Amerika, 1850 in Irland. Hatte
man mit den schrecklichsten Hölleandrohungen die Leute erschüttert,
wobei man systematisch erst angenehm heiter sprach, um mit plötz-
lichem Contrast düster und eindringlich zu werden: dann sah man
„vom Worte Gottes in’s Herz getroffen“, Haufen von 20 Männern und
Frauen Zusammenstürzen, theils lethargisch leblos, theils in hysterischen
Zuckungen. Dazu wurden im Chor jene oben erwähnten seltsamen
Sprünge und Tänze ausgeführt: eine Frau dreht sich wie ein Kreisel
herum, wohl 50 Mal in der Minute, andere produciren wirklich hübsche
Tänze, einige bellen wie die Hunde oder schnellen sich am Boden
liegend wie die Fische in die Höhe. Dazwischen ertönt triumphirend
der allgemeine Ruf „glory, glory“ oder „Amen— Jesus“. Zu der Sünden-
bank, ,,pen u genannt, eilten dann wohl 100 Frauen und Männer auf
einmal unter Schluchzen und erstickten Schreien. — Bei den Irländerinnen,
Fabrikmädchen zumeist, 1860, wurden 25 Procent der ganzen Bevölke-
rung, Hunderte und Tausende ergriffen; sie hatten Alle schwere
hysterische Zustände: Hinstürzen unter Schluchzen, darauf starke
Visionen glücklicher oder schreckhafter Natur, weiter Krämpfe, arc
de cercle und hinterher oft tageweise hysterische Blindheit, Taubheit
] ) Schilderung vielfach, z. B. hei Ernst Otto Hopp, Transatlantisches
Skizzenbuch, Berlin 1876, pag. 50.
Ueber Wahnideen im Völkerleben.
299
oder Lähmungen. — In Schweden trat 1841 — 42 bei mehreren tausend
Personen eine hystero-epileptische Seuche auf; bei jeder kleinen Auf-
regung begannen lokalisirte Zuckungen im Körper oder Gesicht, und es
folgte der unwiderstehliche Drang zu predigen, d. h. von den
Visionen, welche sie erfüllten, zu berichten, vor Laster und Trunk
und Lüge zu warnen etc., daher im Volke „Predigerkrankheit“
genannt. — Vergegenwärtigt man sich nunmehr das zuletzt Besprochene
nochmals, so wird es klar, dass auch die Theomanie, welche im Grunde
auf höheren und erhebenden Vorstellungen basirt, und welche im
Gegensätze zur Besessenheit religiöse Inspiration und Exstase herbei-
führt, dass auch sie keine neuen Suggestivwirkungen , keine neuen
Zustandsbilder zu schaffen vermag. Während bei den rein ideellen
Massenbewegungen die Einwirkung der suggestiven Idee eine dauernde
und ständige ist, so sind dort wiederum die eigentlichen und starken
Effekte nur in „Anfällen“, in Paroxysmen zu erzielen, und es muss zu
diesem Behufe jeweils von Neuem eine heftige Ueberreizung der Sinne
und des Gemüthes bewerkstelligt, eine neue Hypnotisirung erzielt werden.
Diesem Zwecke dient entweder ein immer leidenschaftlicher sich erhebendes
Beten und Anrufen Gottes, wie bei den Hugenotten der Cevennen oder
bei den Methodisten, oder aber eine immer wildere Muskelaktion durch
Tanzen, Springen und Heulen, wie ebenfalls bei diesen letzteren und
bei den Akteuren auf dem Medardus-Kirchhofe. Wir sehen, wie man
damit bei der Praktik der rohen Naturvölker und der Neger angelangt
war. In der Exstase selbst aber kehren die gleichen hystero-epileptischen
Convulsionen und die Visionen wieder, nur ist an die Stelle der automatisch
hervorgestossenen teuflischen Blasphemien das inspirirte Lobpreisen Gottes
und prophetisches Weissagen getreten. Der Inhalt der Gedanken hat
mit dem Zeitalter gewechselt, das Wesen der Erscheinung ist geblieben.
Auch hier ist offenkundig die autosuggestive Vorstellung, durch den Geist
Gottes inspirirt zu sein, die Grundlage des automatischen Prophetisirens
gewesen, und die Exstatiker haben sich nicht mehr als selbsthandelnd ge-
fühlt, sondern lediglich als das Organ, durch welches sich die göttliche
Stimme verkündet. So w r erden schliesslich die Personen zu von ihrer Vor-
stellung getriebenen Automaten, nicht zu leidenschaftlichen und impulsiv
thatkräftigen Vertretern ihrer Idee wie bei den geistigen Massenbewegungen.
Die Geschichte aber lehrt, dass dazu im Allgemeinen zwei ver-
schiedene Anlässe geführt haben: entweder eine schon vorher vorhandene
krankhaft exaltirte Inbrunst, wie sie theils Askese und Pietismus, theils
die Seelenmarter eines verzweifelnden Volkes in 'S Dasein gerufen hatten;
oder aber die Entdeckung der merkwürdigen hypnotischen Veranlagung
bei einer Reihe von Menschen und der Wunsch, sie zu deren Beherrschung
auszubeuten, bezw. der Wunsch, sich selbst in jenen höchsten Taumel des
Ergriffenseins zu versetzen.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
20
Schlussbemerkung.
Unser Rundgang durch all’ die Erscheinungen und Phasen des
Wahnes im Völkerleben schliesst mit dem vorstehenden Ueberblick über
die Verknüpfung hysterischer Paroxysmen und Zustände mit der Ab-
irrung des religiösen Fühlens und Denkens. Es wird dem Leser nicht
entgangen sein, dass wir indessen nicht darauf den Hauptwerth in
unserer Darstellung gelegt haben, sondern auf die, wenn ich so sagen
darf, normaleren und rein ideellen Bewegungen des Volksgeistes. Das ist
in solch’ systematischer Weise, soweit mir bekannt, bisher noch nicht
geschehen; und eben daher dürfte es rühren, dass man beinahe allgemein
gewohnt ist, in der Suggestion eine vollkommen eigenartige und räthsel-
hafte psychische Erscheinung zu erblicken, dass man die „Wach-
suggestion“ erst durch die hypnotische Suggestion glaubte begreifen zu
können, und dass man in ihr eine analoge Einengung des Bewusstseins,
nur in milderer Form, wie in der Hypnose erblickte, eine Fascination, eine
Ueberwältigung des Ichs. Wie man historisch dazu gekommen ist, das
ist oben (pag. 211 ff.) auseinandergesetzt; indessen kann ich dieser
Auffassung in keiner Weise beipflichten; die Hemmung des associativen
Denkens in der Hypnose beruht auf einer eigenartigen Fesselung und
Ueberspannung der Vorstellung, die auch bei Thieren vorkommt, welche
dann unverwandt nach einem seltsamen Object starren, z. B. Gazellen
nach einer vorbeiziehenden Karawane, und welche so davon absorbirt werden,
dass sie kaum fliehen, bis man der Reihe nach ihre Genossen wegschiesst
Dies Verhalten haben wir aber als eine merkwürdige Schwäche des
psychischen Organs aufgefasst und geschildert, die nur Frauen und
hypersensiblen Männern zukommt, und die in geradezu diametralem
Gegensätze steht zu der mächtigen und impulsiven Activität, welche die
gewöhnliche normale Consequenz der starken oder suggestiv wirkenden
Vorstellung ist. Es hemmt auch die letztere da in keiner Weise den
associativen Gedankenstrom, und auch contrastirende Vorstellungen
können reichlich bewusst werden, nur werden sie von dem Subject
wieder abgestossen und abgelehnt.
Die Suggestivvorstellung war für uns schliesslich nichts Anderes,
als eine für das Subject eindrucksvoll, mächtig oder intensiv gewordene
Schlussbemerkung.
301
Vorstellung, freilich aber eine wirkliche plastische Vorstellung,
nicht etwa eine abstracto Idee wie die der Unendlichkeit oder ein
allgemeiner Lehrsatz in Begriffsform. Diese letzteren repräsentiren keine
psychische Kraft oder Macht, ein Begriff überzeugt überhaupt nie ; Niemand
glaubt an sich den Lehrsatz, dass z. B. Tugend glücklich mache, wohl
aber mag er erlebt haben, dass brave und gewissenhafte Menschen
glücklich geworden sind. Solche rein abstracte Ideen wirken also nie
suggestiv. Nun könnte aber der Einwand nahe liegen: hat es denn
einen besonderen Zweck, für solche elementare psychische Thatsachen
den Begriff der Suggestion zu verwenden, der doch ursprünglich an den
speciellen Vorgang der Hypnose geknüpft war? genügt es nicht, ein-
fach von starken und eindrucksvollen Vorstellungen zu sprechen?
Darauf ist zu erwidern: die Thatsache der psychischen Wirkung
starker Vorstellungen auf das ganze Denken der Menschen, speciell auf
die Willens- und Intelligenzprocesse birgt eine wesentlich neue Er-
kenntnis in sich und zeigt sich in der Völkerpsychologie von einer ganz
eminenten Tragweite. Erst das Studium der geistigen Massenbewegungen
einerseits und die experimentelle Psychologie der Suggestivmethoden
andererseits hat gelehrt, welche werbende Kraft und welche die anderen
Personen beherrschende Wirkung der Uebertragung eindrucksvoller
Vorstellungen zukommt. Mit einem Wort, erst da konnte man lernen,
dass wir hier eine psychische Macht vor uns haben. Man hatte bisher
auf dem ganz ungenügenden Wege der Analyse der individuellen Psyche
einer Theorie den Vorzug gegeben, welche eigentlich nur eine psychische,
speciell intellectuelle Kraft zuliess, das war der Verstand oder moderner die
Apperception, eine Kraft, welche angeblich nur auf Grund von Motiven
überzeugende Urtheile bildete, während die einzelne Vorstellung und die
Association lediglich inactiv waren, d. h. der Apperception nur als
Material dienten. Mit den längst bekannten Thatsachen des religiösen
Glaubens und der Vorurtheile fand man sich — etwas oberflächlich —
in der Weise ab, dass man der Apperception gleichsam zwei Neben -
herrscher beigab, den Affect und die Phantasie (mit Gemüth). Sie
sollten die Apperception mit beeinflussen, sozusagen bestechen. Die
Phantasie als psychische Kraft existirt aber in der modernen Psychologie
überhaupt nicht mehr; was man damit bezeichnen wollte, das ist eben
der Thatbestand, dass die plastische Vorstellung eine intellectuelle
Wirkung ausübt, also dass sie suggestiv wirkt. Plastisch denkende
Personen, das sind die Künstler und Naturvölker, sind immer stark
suggestibel. Dass der Affect für sich allein keine Völkerbewegungen
herbeiführt, haben wir im Laufe diesei Abhandlung reichlich erörtert.
Der einfache Schlusssatz, welchen wir in den vorstehenden Linien
ausgedrückt haben, repräsentirt den leitenden Grundgedanken, der diese
ganze Abhandlung durchzogen hat. Vergegenwärtigen wir uns daher
20 *
302
Schlussbexnerkung’.
nochmals in flüchtigen Zügen, auf welchem Wege wir dazu gelangt
waren. In der ganzen geistigen Geschichte der Menschheit sahen wir
immer wieder einzelne perverse Vorstellungen, bezw. gefährliche Wahn-
bildungen auftauchen, welche mit unwiderstehlich scheinender Gewalt
gleieh einen ansteckenden Epidemie um sich griffen und theils ganze
Völker, 'theils grössere Gruppen innerhalb derselben mit fortrissen.
Bald waren es Aeusserungen eines ursprünglichen Verfolgungswahnes,
welche sich mit dem religiösen Aber- und Teufelsglauben verbündeten
und zu der langen traurigen Hexenverfolgung führten; bald brachen
nationale Eifersucht und Grössenwahn durch und veranlassten die wieder-
holten Angriffe des französischen Volkes auf das deutsche; bald wieder
hatte der Wahn, sich über Nacht bereichern zu können, die holländische
Tulpenmanie und den Rausch der John Law’ sehen Transaktionen
entfesselt. Andere Male hatte religiöser Fanatismus ein nutzloses
Martyrium russischer Sektirer oder fast ziellose, aber grossartige Glaubens-
kriege wie beim mahdistischen Aufstand hervorgebracht; sozialpolitischer
Wahn hat die vielleicht furchtbarste geistige Seuche unserer Tage, den
Anarchismus, heraufbeschworen ; einzelne faszinirende Personen konnten
beinahe allein auf ihren Namen neue ausschweifende Sekten begründen,
indem man sie für Incarftationen des auferstandenen Heilandes hielt
u. s. f. Durch mehrere unter den religiösen Massenbewegungen konnten,
besonders bei Frauen, spezifische und thatsächlich krankhafte nervöse
Zustände erzeugt werden, die der .grossen Hysterie“ zuzurechnen und
als hypnotische oder exstatische Paroxysmen zu bezeichnen waren. Noch
überraschender aber waren die regulären und normaleren Wirkungen
jener Epidemien: die einmal herrschend gewordene Idee überwältigte
das ganze Sinnen und Trachten ihrer Anhänger, nicht selten sogar liess
sie für anderes Denken kaum noch Raum (der sog. Monoideismus), und
zugleich entfachte sie eine impulsive Thatkraft und einen Opfermuth,
vermöge welcher unzählige Male mit Leichtigkeit das eigene Leben
preisgegeben worden ist. Eben darin gleichen jene Massenbewegungen
den pathologischen Wahnbildungen des Einzelnen, welche die Psychiatrie
längst kennt, und sie gleichen ihnen auch durch die Thatsache, dass
ihnen eine frappirend ungenügende logische Motivirung zukommt. Fragte
man sich nämlich, wodurch so grossartige geistige Wirkungen Zustande-
kommen. so fand sich im Allgemeinen, dass die Ziele ausschweifend
oder gar thöricht waren, ja noch mehr — was wir speziell darzulegen
uns bemüht hatten — . dass man gewöhnlich nicht einmal versucht
hatte, eine auch nur scheinbar exacte Grundlegung der Idee den Anhängern
vorzulegen. Es fiel uns sogar auf, dass auf politischem Gebiete wirklich
reale und wichtige Interessen, wie z. B. die Schädigung des Handels-
und Erwerbsbetriebes, so gut wie nie im Stande waren, die Völker
leidenschaftlich gegen einander zu erregen.
Schlussbemerkung.
303
Was also war das thatsächlich Wirksame an den Ideen?
Darauf wussten wir nur die uns bekannte Antwort zu geben:
starke Ideen irgend welcher Art überzeugen und wirken unmittelbar
und ohne Motivirung; das ist eben die nackte Thatsache, welche sich
aus dem Gesagten ergibt. Für die Einpflanzung und Ausbreitung solcher
Ideen sind dann offenbar zwei reziproke Faktoren massgebend: es
müssen starke Eindrücke sich den Personen darbieten oder ihnen dar-
geboten werden, und zweitens die Personen müssen eine genügend
erhebliche Empfänglichkeit, eine Erregbarkeit für die Ideen besitzen,
d. h. die Suggestion und die vorhandene Suggestibilität müssen sich
gegenseitig ergänzen. Als suggestiv wirkende Eindrücke der Art
lernten wir das Hereinbrechen aufregender Ereignisse kennen, so die
zunehmende Ueberfluthung China’s durch die gehassten „europäischen
Teufel“ für die Boxerbewegung und ähnliche Verhältnisse bei Entstehung
der Pai-Marire-Religion auf Neuseeland, und so leitet sich überhaupt
der primitive Cultus der Naturvölker her von der erschütternden Wirkung
der Naturgewalten auf ihr Denken und Fühlen. In ähnlichem Sinne
wirkt machtvolles und imponirendes Auftreten und rascher glänzender
Erfolg bei den Führern neuer Bewegungen Wichtiger ist aber heute
die verbale Suggestion geworden, die eigentlich von indirekter Art
ist; denn sie wirkt dadurch, dass sie die Suggestibilität in den
Personen zu wecken und aufzustacheln strebt, d. h. man sucht in
ihnen gerade die Vorstellungen zu erregen, welche die Phantasie und
die Leidenschaft der Personen oder einer Bevölkerung aufrühren. Darin
also besteht das Wesen der Massenagitation und der Propaganda. Die
Ideen selbst werden meist von einzelnen überragenden Personen geschaffen,
einem Mohammed, Napoleon, Proudhon etc. ; für die Massen sind dann
die geeigneten Schlagworte zu münzen, welche zugkräftig sein
sollen, welche sich leicht einprägen und fortpflanzen. Somit wird nicht,
der fremde Wille auf die Anderen übertragen, wie die ältere Suggestions-
lehre meinte, sondern die fremde Idee.
Wir ersehen aus dem eben Besprochenen, dass überhaupt für die
Ausbreitung von ideellen Bewegungen der zweite Faktor, der Grad
der Suggestibilität, von entscheidender Bedeutung ist. Das wäre
noch mehr der Fall, wenn nicht, wie wir sogleich sehen werden, eine
starke suggestive Empfänglichkeit stets in den Massen vorhanden wäre.
Innerhalb des Begriffes der Suggestibilität sind nämlich wieder zwei
Momente zu unterscheiden, und zu diesen kommt als drittes und
pathologisches Moment noch die vielfach zutreffende Eignung zu hyp-
notischer Ueberreizung hinzu. Leicht für uns verständlich ist das erste
Moment, der Grad der Erregbarkeit des Vorstellens, also sowohl
das Mass von plastischer Anschauungs- und G< staltungskraft als der
Grad der Gemüthsbetonung und Leidenschaftlichkeit, welcher den
304
Schlussbemerkung.
Vorstellungen beiwohnt. Wir wissen, wie sehr diese Eigenschaft wechselt
bei den Nationen, wie uns Franzosen und Slaven übertreffen durch
Phantasie und die Wärme ihrer Affekte, während dem Deutschen die
inbrünstige Gemüthstiefe eigen ist; doch scheint es uns, dass wir von
einer weiteren Verfolgung dieses Punktes absehen dürfen. Gewiss an
und für sich nicht minder bedeutungsvoll ist das zweite Moment,
welches negativer Natur ist und welches das Maass des Wider-
standes, der Hemmung darstellt, womit die Personen einer Suggestion
im Stande sind sich zu widersetzen. Dieser Widerstand ist nun auf
primitiver Stufe beinahe gleich Null anzuschlagen. Bei naiven Personen
und allgemein bei Naturvölkern besitzt bereits jede associative Ver-
knüpfung irgendwie eindrucksvoller Vorstellungen oder Eindrücke eine
ausgeprägt überzeugende Kraft; jede sich aufdrängende plastische Idee
wird sofort und ohne Weiteres geglaubt. So wird aus der einfachen
Folge zweier Ereignisse ein gültiger causaler Schluss: jener Europäer
wusch sich im Flusse und darnach wurde ebenda eine Negerfrau durch
ein Krokodil zerrissen; „folglich“ war der Europäer die Ursache des
Unglücksfalles. In dem propter hoc, quia post hoc hegt stets eine
gewisse Ueberzeugungskraft für den naiven Menschen. Dasselbe gilt
aber für die Verknüpfung analoger Vorstellungen, den Analogieschluss.
Man erfahrt als evidente Thatsache, dass Krankheiten durch Giftstoffe
oder durch Magenüberladung entstehen: „folglich“ entsteht jede
Krankheit durch schädliche „Stoffe“ oder durch Unmässigkeit. Das
ist eine populäre Theorie, die weithin leidenschaftlich und ohne weitere
verständige Motivirung im Volke und von Halbwissern aus dem Volke
vertreten wird, und welche auch im Wesentlichen die Krankheitslehre
der Naturvölker repräsentirt.
Der Glaube an solche naive oder „Primärurtheile“, wie ich
sie zu nennen vorgeschlagen habe, hält aber nicht mehr Stand, wenn
die Person offene Widersprüche dagegen wahrnimmt. Wer z. B.
an ein Arzneimittel glaubt und statt des Nutzens öfter schädliche
Wirkung konstatirt, der zweifelt nunmehr an dem Mittel. Man kann
nun die Menschen dazu erziehen, dass sie absichtlich nach der-
artigen Widersprüchen suchen, dass sie sich von suggestiven Wirkungen
dadurch zu befreien streben, dass sie Alles, was dagegen spricht, sich
ernsthaft und eindringlich vorstellen. Man könnte dieses Mittel als
Gegen Suggestion bezeichnen , gewöhnlich aber nennt man das
kritisches Denken oder Zweifeln. Die gesammte geistige Geschichte
der Menschheit bezeugt uns weiter, dass solches Zweifeln nicht auf
angeborenen Eigenschaften des Intellectes beruht, wie umgekehrt die
suggestiven Wirkungen, und in den breiten Volksschichten bestehen
somit keine kritischen Tendenzen. Sie leisten demgemäss einer suggestiven
Idee nur dann merklichen Widerstand, wenn diese in Konflikt gerätli
Schlu88bemerktmg.
305
mit anderen Ideen, welche in ihnen eingelebt sind und welche schon
Torher Gegenstand ihrer Ueberzeugung waren. Ein Mann der stets eifriger
Rationalist war, lässt sich daher nicht ftlr den Pietismus gewinnen;
dagegen hat die Heilsarmee unzählige Male bewiesen, dass einfacher
religiöser Indifferentismus ganz und gar kein Hindemiss ist, um so
denkende Personen sehr wirkungsvoll zu bekehren, üeberhaupt darf
man sich dieses Hemmungsmoment nicht als gar zu erheblich vor-
stellen, sowie es sich um sonst erregbare und kritisch wenig veranlagte
Personen und Völker handelt; nach den masslosen Orgien der demo-
kratischen Idee in der ersten französischen Republik gelang es dem
Genie eines Napoleon relativ leicht, die Franzosen nach den Grundsätzen
des aufgeklärten Absolutismus zu regieren, indem er ihren Geist durch
die Idee der „gloire“ an Stelle des Freiheitsgedankens erfüllte. Bei den
Puritanern zu CromweU’s Zeit vertrug sich extremste religiöse Mystik
und Pietismus ganz gut mit thatkräftiger und zielbewusster Vertretung
des politischen Liberalismus ; und ebenso war der Mörder Carnots,
Caserio, früher ein frommer Katholik, bis er leidenschaftlicher Anarchist
wurde.
So ist also that sächlich bei den Massen des Volkes das Moment
der psychischen Erregbarkeit das entschieden mächtigere, und als
viel schwächer erweist sich der Einfluss der intellectuellen Hemmungen ;
und deshalb hängt es zu einem grossen Theile von äusseren Umständen
und Zeitverhältnissen und fast ebenso sehr von dem Auftreten bestimmter
bedeutender Führer und von der Entwicklung einer folgerichtigen Agitation
ab, nach welcher Richtung hin die geistige Bewegung eines Volkes
geleitet werde. Ist das richtig, so wächst in gleichem Masse die Ver-
antwortung der gebildeten Classen , denen die Führung der breiten
Volksschichten zufällt, und die furchtbaren geistigen Verirrungen, welche
wir in dieser Abhandlung geschildert haben, legen lautes Zeugniss dafür
ab. Andererseits wollen wir nicht vergessen , dass doch ebenso die
hohen Ideale unserer Cultur und unseres nationalen Lebens vermöge
der gleichen Suggestibilität der Völker ihre begeisternde Macht empfangen
haben, und dass eine selbstlose Ethik sich den Völkern nur einimpfen
liess durch ihre Verbindung mit der suggestiven Kraft der religiösen
Lehren. Wir könnten diese ursprünglichste geistige Gewalt, die Suggestion,
nicht ausrotten, selbst wenn wir es wollten ; indessen sie ist da und bleibt,
wir brauchen ihre gefährliche Macht nicht absichtlich zu steigern oder
gar in’s Abnorme zur Exstase zu verzerren; was dem Volke noth thut
und ihm an erzogen werden soll, das ist die besonnene Handhabung
seiner Vernunft und eine verständige Weltanschauung.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Soeben erschien und liegt nunmehr vollständig vor:
Handbuch der Gynäkologie.
Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen
In drei Bänden herausgegeben
von J. Veit,
Professor an der Universität Leiden.
3 Bände in 5 Abtheilungen. Mit 560 Abbildungen im Teste und auf 23 Tafeln .
Preis M. 75. — • eleg. geb. M. 87. — .
I. Band. Preis M. 13.60. Inhalt:
Asepsis und Antisepsis in der Gynäkologie. Von H. Löh lein, Giessen.
Lage- und Bewegungs-Anomalien des Uterus und seiner Nachbarorgane. Von Otto
Kü stn er, Breslau.
Erkrankungen der Vagina Von J. Veit, Leiden.
Die gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen Harn- und Geschlechtsorgane. Von
E. Bumm. Basel.
Entwickelung und Entwickelungsfehlerder weiblichen Genitalien. Von W. Nagel, Berlin.
II. Band. Preis M. 18.(30. Inhalt:
Die Krankheiten der weiblichen Blase. Von H. Fritsch, Bonn.
Physikalische Untersuchungsmethoden der Blase. Von F. Viertel. Breslau.
Die Entzündungen der Gebärmutter. Von A. Döderlein, Tübingen.
Atrophia uteri. Von A. Döderlein, Tübingen.
Anatomie und Physiologie der Myome. Von C. Gebhard, Berlin.
Ätiologie, Symptomatologie, Diagnostik, Prognose der Myome. Von J. Veit, Leiden.
Die elektrische Behandlung der Myome. Von K. Sch ae Her, Berlin.
Die palliative Behandlung und die vaginalen Operationen der Uterusmyome. Von
J. Veit, Leiden.
Die abdominalen Myom-Operationen. Von R. Ols hausen, Berlin.
Myom und Schwangerschaft. Von R. Olshausen, Berlin.
III. Band, I. Hälfte. Preis M. 12.60. Inhalt:
Die Menstruation. Von C. Gebhard, Berlin.
Die Erkrankungen der Vulva, Von J. Veit, Leiden.
Die Erkrankungen des Eierstocks und des Nebeneierstocks. Von J. Pfannenstiel,
Breslau.
III. Band, II. Hälfte, I. Abth. Preis M. 16. — . Inhalt:
Die Krankheiten des Beckenbindegewebes. Von A. v. Rosthorn, Graz.
Anatomie des Carcinoma uteri Von G. Winter. Königsberg.
Aetiologie, Symptomatologie, Diagnose und Radikalbehandlung der Uteruscarcinome.
Von R. Fromm el, Erlangen.
Palliative Behandlung des inoperablen Carcinoms. Von A. Gessner, Erlangen.
Carcinom und Schwangerschaft. Von 0. Sarwey, Tübingen.
Deciduoma malignum. Von J. Veit, Leiden.
III. Band, II. Hälfte, II. Abth. Preis M. 14.20. Inhalt:
Das Hämatocele. Von E. Winternitz, Tübingen.
Die Erkrankungen der Tube. I. Aetiologie und pathol. Anatomie. Von
F. Klein haus, Prag.
Die Erkrankungen der Tube. II. Symptome, Diagnose, Prognose und
Therapie. Von J. Veit, Leiden.
Allgemeine Peritonitis. Von A. Döderlein, Tübingen.
Das Sarcoma uteri. Von A. Gessner, Erlangen.
Erkrankungen des Beckenbindegewebes. Nachtrag von A. v. Rostliorn, Graz.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
6rundriss der Stoffwechselkrankheiten =
e und Xonstitutionsanomalien.
unter besonderer Berücksichtigung ihrer
physikalisch - diätetischen Behandlung.
Von Dr. Arnold Wilke, dirigierender Arzt, Königstein im Taunus.
Preis Mk. 6. — , geh. Mk . 7. — .
Lichtvolle Darstellung der Ätiologie und Klinik unter Berücksichtigung
der neuesten Forschung! Von hervorragendem Wert ist der therapeutische
Teil und in diesem besonders die Ausführungen, welche den physikalisch-
diätetischen Maßnahmen gewidmet sind. Der Autor gibt nicht Orakelsprüche
kund, sondern überzeugt durch Gründe. — Das Buch, aus der Praxis für die
Praxis geschrieben, sei mit aufrichtiger Empfehlung geleitet.
Zeitschrift für Balneologie .
Das Buch W.s ist für die Praxis geschrieben. Ohne auf noch nicht
sicher geklärte Theorien einzugehen, erwähnt Verfasser alles Wissenswerte
unter spezieller eingehender Berücksichtigung der Therapie. Trotz der grossen
Zahl grösserer Lehrbücher und Monographien über StofFwechselerkrankungen
wird auch W.s Werk viele Freunde finden. Deutsche Ärzte- Zeitung.
funktionelle Diagnostik und Therapie der
Erkrankungen des Herzens und
der Gefässe
Von Professor Dr. August Hoffmann in Düsseldorf,
mit 109 Abbildungen und 1 farbigen Tafel.
Preis Mk . 12.—. Gebunden Mk. 13.20 .
In dem ersten, ausführlichsten Abschnitt des vorliegenden Lehrbuchs, in
der Allgemeinen Diagnostik hat Hoffmann eine ganz vortreffliche Darstellung
der heute so zahlreichen Untersuchungsmethoden des Herzens und der Gefässe
gegeben. Sie ist die vollständigste, welche dem Referenten bekannt ist. Ueberall
hat man dio Empfindung, dass ein viel erfahrener Arzt mit guter, zuverlässiger
Kritik die Methoden schildert und ihren Wert bespricht. Eingehende Literatur-
angaben und vortreffliche Abbildungen erhöhen den Wert der Darstellung
Romberg, i. d. Deutschen med. Wochenschrift.
.... Besonders eingehend behandelt der Verfasser die „Allgemeine
Diagnostik“, das soll heissen die klinischen Untersuchungsmethoden des Kreislaufs •
sie umfassen mehr als die Hälfte des Werkes. Wer sich auf diesem Gebiete
unterrichten will, wird hier eine zusammenfassende Darstellung finden, wie sie
wohl vorläufig keines der neueren einschlägigen Bücher enthält. Dadurch, dass
der Verfasser die Literatur weitgehend berücksichtigt, ist auch jedem Gelegenheit
gegeben, die betreffenden Spezialabhandlungen leicht ausfindig zu machen. Zahl-
reiche (109), gut gelungene Abbildungen erleichtern vielfach das Verständnis des
Textes, so dass dieses auf der Höhe der Zeit stehende Werk wohl empfohlen
werden kann.
H. E. Hering i. d. Prager med. Wochenschrift.