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Full text of "Über Wahnideen im Völkerleben. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Heft 6-7.)"

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GRENZFRAGEN DES NERVEN- UND SEELENLEBENS. 


EINZEL -DARSTELLUNGEN 

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GEBILDETE ALLER STÄNDE. 


IM VEREINE MIT HERVORRAGENDEN FACHMÄNNERN DES IN- UND AUSLANDES 

HERAUSGEGEBEN TON 

Dr. med. L. LOEWENFELD und Dr. med. H. KURELLA 


IN MÜNCHEN. 


IN BRESLAU. 




VI/VII. 


ÜBER WAHNIDEEN IM VÖLKERLEBEN 


VON 


Dr. M. FRIEDMANN 

Nervenarzt in Mannheim. 


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WIESBADEN. 

VERLAG VON J. F. BERGMANN. 


1901. 


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Verlag von J. F. BERGMANN m Wiesbaden. 


Von demselben Verfasser erschien in gleichem Verlage: 

Ueber den Wahn. 


Eine klinisch-psychologische Untersuchung 

nebst einer 

Darstellung der normalen Intelligenzvorgänge 

Von 

Dr. M. Friedmann, 

Nervenarzt in Mannheim. 


Mit 5 Figuren im Text, — Preis M. 8 . — 


INHALT. 

Normal -psychologischer Theil. I. Die Erinnerungsassociation 
und ihr Schema. — II. Die Ideenassociation und ihre Gesetze. — 
III. Die Associationsstufen sogen. Bewusstseinsformen, Apper- 
ception. — IV. Die Associationsform im logischen Denken. — 
V. Uebersicht des physiologischen und chemischen Grundplans des 
psychischen Organs, sogen. Mechanik des Denkens. — VI. Die 
Bildungsweise des Realitätsurtheils. — Schlussübersicht. 

Klinischer Theil. I. Abtheilung: I. Vorbemerkung. Die psy- 
chologische Methode in der gegenwärtigen Psychiatrie. — II. Kurzer 
Abriss der Entwickelung der Paranoialehre. — III. Uebersicht der 
Anomalien der vorstellenden Thätigkeit. — IV. Die psychologische 
Veranlagung der Paranoia und verwandter Formen. — II. Abthei- 
lung: Einleitung. Die jetzigen Theorien der Wahnbildung in der 
Paranoia. — Das falsche Realitätsurtheil bei annähernd normalem 
centralisirtem Denkablauf; a) die Zwangsidee, b) die paranoische 
Wahnidee. — II. Die überwerthigen Ideen bei affectiven Psychosen 
und im Schwachsinn. — Schlusswort. 

Bei dem lebhaften Interesse, das der Paranoiafrage gerade in letzter Zeit 
entgegengebraeht wird, dürfte das Werk Fried m an n’s, das eine psychologische 
Zergliederung der Wahnbildung unter Zugrundelegung der klinischen Thatsachen 
versucht, Vielen willkommen sein. Verf., der auf dem Boden der Associationspsycho- 
logie steht, erörtert zunächst im Sinne dieser Lehre die Grundlagen des normalen 
Denkens, während er im zweiten Theil die überwerthigen Ideen und die para- 
noische Disposition im Allgemeinen bespricht und sich dann den speciellen psycho- 
logischen Analysen der Wahnideen einschliesslich der Zwangsideen zuwendet. 
Ein Schlusswort giebt noch einmal in gedrängter Kürze eine Uebersicht über 
den ganzen Gedankengang des Buches. Das äusserst anregend geschriebene und 
zahlreiche neue Gesichtspunkte enthaltende Werk dürfte, da es eine nicht unbe- 
trächtliche Menge specieller Kenntnisse voraussetzt, seine Leser namentlich unter 
den Fachgenossen des Verf.’s finden, die gewiss mit Interesse seinen Darlegungen 
folgen werden. Berliner klin . Wochenschrift . 



GRENZFRAGEN 


DES 

NERVEN- UND SEELENLEBENS. 


EINZEL-DARSTELLUNGEN 

FÜR 

GEBILDETE ALLER STÄNDE. 

IM VEREINE MIT HERVORRAGENDEN FACHMÄNNERN 
DES IN- UND AUSLANDES 

HERAUSGEGEBEN VON 

Dr. med. L. LOEWENFELD und Dr. med. H. KURELLA 

IN MÜNCHEN. IN BRESLAU. 


SECHSTES UND SIEBENTES HEFT: 

ÜBER WAHNIDEEN INN VÖLKERLEBEN 


VON 

Dr. M. FRIEDMANN 

Nervenarzt in Mannheim. 


WIESBADEN. 

VERLAG VON J. F. BERGMANN. 
1901. 


OBER WAHNIDEEN IM VÖLKERLEBEN 


VON 


Dr. M. FRIEDMANN 

Nervenarzt in Mannheim. 


WIESBADEN. 

VERLAG VON J. F. BERGMANN. 


1901. 




Harvard GoiIi»ffe Library 
Se t. 19, 1Ö21 
üayward X uau 


Alle Rechte Vorbehalten. 


Druck von Carl Ritter in Wiesbaden 



Inhalts -U ebersicht. 


I. Einleitung und Allgemeines 

Frühere Deutung der Besessenheit« -Epidemien als wahrer 
Geisteskrankheit. — Jetzige Deutung durch den Begriff der Suggestion. 
— Die hypnotische Suggestion und die sogen. Wachsuggestion. — 
Grundlage der subjectivcn Ueberzeugung. — Einwirkung der Sug- 
gestion auf den Urtheilsprozess, das Primärurtheil u. die Suggestividee. 
— Genese und psychologische Natur der Suggestividee, erläutert 
durch die Analysirung der religiösen Vorstellungen, iubesondere bei 
Naturvölkern. 

II. Wahnideen im Völkerleben auf einfach suggestiver Grundlage 

Unterstützende Faktoren der Massenbewegungen (Wegfall der 
Hemmungen und Einfluss des Beispieles), Hinweis auf die Drevfus- 
Affaire. — Massgebender Einfluss einzelner überragender Personen, 
z. B. Mohammed’s. — Die sogen. Pai-Marire-Religion auf Neuseeland. 
— Die Anachoreten - Bewegung in Aegypten. — Die Periode der 
Hexenprozesse und des Hexenwahns. — Die Tulpenmanie in Holland 
und die John Law-sche Transaktion. — Die anarchistische Bewegung. 
— Der politische Wahn, sein Wesen, der Radikalismus, nationaler 
Grössenwahn und nationale Eifersucht. — Extreme religiöse Sekten 
moderner Zeit. — Verehrung mystischer Schwärmer. — Der Mahdismus 
im Sudan. — Die Heilsarmee. — Russiche Sektirer, die Skopzen u. s. w. 
— Religiöse Mördersekte in Indien. — Schlussfolgerungen, suggestive 
Bedeutung der Propaganda und der politischen Agitation. 

III. Wahnideen und perverse Massenbewegungen von hypnotischen 
und exstatischen Zuständen begleitet 

Hypose und Exstase als Aeusserungsform der Suggestion bei 
hypersensiblen Naturen und nervös überreizten Personen. — Be- 
deutung der Exstasen innerhalb der perversen Massenbewegungen, 
Gründe ihres Verschwindens in der Gegenwart. Verbindung der 
Exstasen mit der Religion überall beim ganzem Menschengeschlecht, 
speziell bei Naturvölkern. - Bosossenheitsopidomicn in Kleistern 
und Waisenhäusern. -- Die Lykanthropie-Epidemie nervöser Tic’s 
(Lafra-Krankheit). — Epidemien der Theomanie. Trembleurs des 
Cövennes u St. Medardus-Epidemie, sog. Erweckungen der Methodisten. 

Schlussbemerkung und Schlussubersicht 


Seite 

203—231 


232—280 


281—299 


300 - 305 




I. Einleitung und Allgemeines. 


In der geistigen Geschichte der Menschheit haben wiederholt, ja 
eigentlich zu jeder Zeit Vorstellungen in grossen und kleinen Kreisen 
eine starke Herrschaft geübt, welche theils in ihren Folgen sich grauen- 
haft; und verderblich erwiesen haben, theils mehr lächerlich und kindisch 
uns anmuthen. Man bezeichnet sie heute ziemlich allgemein als Wahn- 
ideen, als Wahngebilde im V ölkerleben, und man dürfte dazu 
nicht so sehr veranlasst sein durch die Kritik, welche gegenwärtig auf 
unserem hohem Stande der geistigen Cultur sich uns jenen trüben Aus- 
geburten einer vergangenen Zeit gegenüber aufdrängt; vielmehr mag 
maassgebend sein, dass man längere Zeit hindurch, speciell seit dem 
Beginne des vorigen Jahrhunderts sich gewöhnt hatte, die grellsten jener 
geistigen Strömungen direct als eine epidemische Geisteskrank- 
heit, als wirklichen Wa hn sinn aufzufassen. Das war sicherlich ein 
grosser und ausserordentlich segensreicher Fortschritt im Vergleich zu 
den Epochen, wo man die Erscheinungen nur unter dem Gesichtspunkte 
einer satanischen Verzauberung oder im günstigen Sinne der direkten 
Einwirkung der göttlichen Kraft (Inspiration, Ausgiessung des heiligen 
Geistes), jedenfalls aber als übernatürliche Wunderwirkung glaubte be- 
greifen zu können. Aber es war doch jene naturalistische Erklärung 
der Aerzte, welche endlich den Sieg über die Wundergläubigkeit davon 
trug, auch keine ganz glückliche; und dass sie sich dennoch Geltung 
verschaffte, beruht, wie der schottische Historiker der Aufklärung, 
William Hartpole Le cky ') ganz richtig bemerkt, nicht sowohl auf 
der inneren Kraft der neuen Argumente, als darauf, dass inzwischen 
eine andere Zeit angebrochen war, welche das permanente Wunder für 
abgeschmackt hielt und um so mehr nach naturalistischen Erklärungen 
verlangte. 

In der That wurde die Deutung der Zustände als Geisteskrankheit 
der beinahe merkwürdigsten Eigenschaft derselben nicht gerecht, dass sie 
eine so überaus starke Tendenz zur e p i d e m i s c h e n Ausbreitung über 
ganze Bevölkerungsklassen, vorab die Frauen und zeitweise auch die 
Kinder, an den Tag legten; man sah z. B. dämonische Besessenheit 

J ) W. H. Lecky, Geschichte des Ursprunges und des Einflusses der Auf- 
klärung in Europa, deutsch. Uehers., II. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1873. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 14 



204 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


auf einmal die Hälfte der Insassen eines ganzen Nonnenklosters nicht 
selten ergreifen, oder bei den grotesken pietistischen Uebungen der 
amerikanischen und irischen Methodisten wohl 25 °/ 0 der heimgesuchten 
Ortschaften in hallucinative und visionäre Zustände begleitet von 
sonderbaren Sprüngen und Tänzen gerathen ; ja endlich bei den berühmten 
Trembleurs des Cevennes wurde vielleicht die Ueberzahl jener nach 
Tausenden zählenden unglücklichen Hugenotten trotz der grössten 
Lebensgefahr, welche sie dadurch liefen, vom Geiste Gottes erfasst, ge- 
schüttelt und zu visionärem Prophetismus getrieben. Man hat denn 
auch, nachdem Tausende und Abertausende als Verursacher solcher 
Besessenheit oder als Teufelsanbeter unter Martern dem Scheiterhaufen 
überantwortet worden waren, deren Beschreibung uns heute noch das 
Studium dieser Dinge zu einem der peinvollsten in der Menschheits- 
geschichte gestaltet, man hat, sage ich, schon damals sich natürlich von 
der grauenhaften Beschuldigung zu reinigen gesucht, dass die Kirche 
damit nur unselige Geisteskranke so unsagbar misshandelt und qualvoll 
getödtet habe. Man durfte nicht allein dogmatische Beweise geltend 
machen, auch nicht bloss die grosse Zahl freiwilliger Geständnisse und 
anscheinend einwandfreier Zeugenaussagen, welche eidlich bekundeten, 
die Hexenpraktiken mit eigenen Augen gesehen zu haben. Und doch 
konnte man damals noch nicht ahnen, wie sehr häufig eine im besten 
Glauben gegebene und einfache thatsächliche Beurkundung von angeblich 
Selbst-Gesehenem objectiv falsch sein und lediglich auf Illusion beruhen 
kann. Man durfte aber ausserdem hinweisen, und die angesehensten 
Aerzte des 15. bis 17. Jahrhunderts haben darin beigestimmt, dass die 
sonst bekannten Psychosen, eine Melancholie, eine Manie u. s. w., durch- 
aus nicht sich epidemisch verbreiten. Auch heute noch wird ja die 
sogenannte Folie ä deux höchstens innerhalb eines einzigen Hausstandes 
beobachtet und die Zahl von 3 bis 4 gleichzeitig ergriffenen Familien- 
mitgliedern ist schon eine hohe und recht ungewöhnliche. A n - 
steckend sind also Psychosen sonst nicht. Dabei war früher die 
typische Geisteskrankheit keineswegs unbekannt, man beschrieb sie oft 
und leidlich gut. und selbst die wildesten Völker wissen die Geistes- 
krankheit zu erkennen und wohl zu scheiden von ihren dämonisch In- 
spirirten. 

Bei den Besessenheitsepidemien des Mittelalters jedoch war die 
Thatsache der Ansteckung oft wie mit Händen zu greifen. Oft genug 
begann die Plage bei einer einzigen Insassin des Klosters und die nächst 
Afficirte war ihre Zimmergenossin, welche alle die wüthenden Attaquen 
aus erster Hand kennen lernte. Dann erst beinahe explosiv erkrankt 
eine grössere Zahl der Nonnen, und wenn das ganze Schauspiel Monate 
lang gedauert hatte und die Personen der Umgebung es oft in der 
Klosterkapelle mit Furcht und Entsetzen hatten beobachten können. 



Ucber Wahnideen im Vulkerleben. 


205 


erfasste nicht selten die Seuche auch die Frauen ausserhalb der Kloster- 
mauern, wie das z. B. in ausgedehntem Maasse bei der berühmten Epi- 
demie des Klosters zu Loudun stattgefunden hat. Ja noch mehr, es 
ist nicht so selten vorgekommen, dass während des Exorcismus, der den 
Dämon heraustreiben sollte, urplötzlich der amtirende Priester zu Boden 
stürzte, sich in Zuckungen an der Erde wand, und dass nun aus seinem 
geweihten Munde die schändlichen Schmähungen gegen die heilige 
Religion ertönten, während die besessene Nonne gleichzeitig zu sich 
gekommen war und sich nun ganz ruhig verhielt. Natürlich schien das 
ein klassischer Beweis dafür zu sein, dass der Dämon die eine Person 
verlassen hatte und dafür in den Priester eingedrungen war. Zweitens 
berief man sich auf die erstaunliche Gl e ic h ar tig keit aller Symptome 
innerhalb der jeweiligen Epidemie: dieselben Visionen und lasciven Ver- 
lockungen, die gleichen Krampfzuckungen und Verdrehungen des 
Körpers, die gleichen Schmähungen gegen die Heiligthümer der Kirche 
ertönten bei Allen. Das spreche, machte man gelbend, für eine identische 
äussere Verursachung; denn handle es sich um eine von innen her 
kommende Krankheit, so sei man doch gewohnt, dass das Symptomen- 
bild individuelle Züge beträchtlicher Art darbiete. Ebensosehr war auf- 
fällig als dritte Eigenart der Thatbestand, dass die Krankheit nur 
in Paroxysmen auftrat, während die meiste Zeit in den Intervallen 
die Personen ganz wie in gesunder Zeit erschienen, freudig und correct 
alle Berufsarbeiten verrichteten und ebenso entsetzt als traurig über ihr 
Verhalten innerhalb der Anfälle sich äusserten. Endlich viertens 
besassen die Dämonomanischen klarste Krankheitseinsicht, sie empfanden 
den Zustand als ihrem eigensten Wesen fremd und aufgedrungen und 
sie glaubten oft eine doppelte Seele in sich wahrzunehmen, d. h. ihre 
eigene frühere und die parasitische des eingedrungenen Dämons. 

Sicherlich hatte man Recht darin, dass die genannten Momente 
der Annahme widersprachen, die Besessenheit beruhe auf einer Geistes- 
störung im sonstigen Wortsinne. Aehnliclies Hesse sich mutatis mutandis 
auch für die Ueberzahl der religiösen Exstasen darlegen. Richtig ist 
nur, dass einige unter den zahllosen Fällen als wahre Psychosen, ins- 
besondere Melancholien und religiöse Paranoia, noch öfter aber w r olil 
als Altersdemenz oder angeborener Schwachsinn sich charakterisiren. 
Sie sind praktisch ungemein wuchtig, weil ein grosser Tlieil der frei- 
willigen Geständnisse von derartigen wahren Geisteskranken her- 
rühren dürfte, und nicht selten geht das auch aus den erhaltenen Berichten 
über die Hexenprocesse hervor. Die grossartige Sammlung Calmeil’s, 
ferner Soldan’s und auch RoskofTs lässt das da und dort ziemlich 
sicher heraussteilen. Wissenschaftlich irrthümlich ist es aber, wenn die 
älteren Aerzte und noch der genannte so verdienstvolle Calmeil diese 
Dinge unter der Rubrik der Monomanie (Dämonomanie, Theomanie, 

14 * 



206 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Lykanthropie, Nymphomanie u. s. f.) der Psychose in Bausch und Bogen 
anreihten und an die Seite der impulsiven Monomanien (Kleptomanie, 
Mordmanie, Pyromanie u. s. w.) stellten, und dass Calmeil das thut, 
obwohl er und schon die früheren Aerzte sehr wohl die convulsiven 
Anfälle, welche im Symptomenbilde der Dämonomanie und Theomanie 
auftraten, als hysterische erkannt hatten. Man hatte zu seiner Zeit eben 
noch nicht gewusst, welche grosse Rolle die fixe Idee, die Auto- 
suggestion, im Krankheitsbilde der Hysterie spielt. Nicht erklärlich 
ist aber, wie noch in neuester Zeit ein Schilderer des epidemischen 
Wahns, Regnard 1 ), die Besessenheit und die Exstasen als epidemische 
Psychosen im gleichen Zusammenhang mit dem Morphinismus und dem 
Alkoholismus und endlich sogar mit der Dementia paralytica („dem 
Grössenwahn“) nennen und beschreiben konnte, und wie er dabei einen 
Schematismus aufstellen konnte, nach welchem das eine Jahrhundert 
die Besessenheit, das folgende die Exstase ( Medard us-Epidemie) und das 
gegenwärtige Jahrhundert dafür den paralytischen Grössenwahn ge- 
zeitigt habe. 

Wenn derartig grobe Missgriffe noch heute bei Fachgenossen 
möglich sind, dann wird man es wohl für angemessen halten dürfen, 
dass wir uns in der vorliegenden Abhandlung nicht beschränken auf die 
bis jetzt in’s Auge gefassten epidemischen Wahnbildungen, welche mit 
schwereren Intelligenz- und Bewusstseinsstörungen einhergehen, bezw. 
dem Krankheitsbilde der sogenannten grossen Hysterie zuzurechnen 
sind. Ein wahres p s y c h o 1 o g i s c h e s Verständniss der epidemischen 
Ausbreitung exorbitanter Vorstellungen im Völkerleben lässt sich nur 
dann erreichen, wenn wir sie gewissermaassen in eine Pathologie 
der Volksseele einreihen. Ohnehin konnten die tiefergreifenden 
Störungen nur erwachsen auf dem Boden von allgemein in den 
Massen des Volkes sich ausbreitenden erregenden Geistesströmungen 
absonderlichen Inhaltes. Hatte man in den letzten Jahren überall im 
Ausland mit Staunen und Missbilligung fast das ganze französische Volk 
bei dem D r e y f u s h a n d e 1 leidenschaftlich die gewaltthätige Rechts- 
beugung durch die Justiz des Heeres und des Geschworenengerichtes 
unterstützen sehen: war man nicht lange vorher betroffen über die All- 
gewalt, mit welcher die mahdistische Bewegung den ganzen afrikanischen 
Sudan auf ein Decennium hinaus entflammt hatte, ein Bild religiöser 
Volkserhebung darbietend, wie man es nur aus einer viele Jahrhunderte 
zurückliegenden Geschichte noch kannte: in allen solchen Fällen mochte 
es ja nahe liegen eine sogenannte pragmatische Erklärung für den 
speciellen Fall sich zurechtzulegen, so in Frankreich die Verhätschelung 
des Heeres, welches das Instrument der heissen Revancheideen sein 

M Paul Regnard, Maladies epidemiques de bespeit (Sorcellerie, Magnetisme, 
Morphinisme, Delire des graruleurs), Paris ls*7. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


207 


sollte, sodann die dort besonders zügel- und scrupellose Presse, über- 
haupt die moralische Entartung der inneren Politik in der dritten 
Republik anzuschuldigen; im Sudan die verzweifelten Verhältnisse der 
ägyptischen Vasallenstaaten und den, dem Islam stets eigentümlichen 
Religionsfanatismus in Betracht zu ziehen. Damit hätte man indessen 
nur erklärt, warum gerade diese abnorme geistige Strömung zustande 
kam; aber man liefe Gefahr, an der wichtigeren allgemeinen Erkenntniss 
vorbeizugehen, dass in jedem Volke und zu jeder Zeit irgend ein noch 
so sinnwidriger und in seinen Zielen hässlicher Fanatismus eingepflanzt 
werden kann, wenn es die Agitatoren nur verstehen, die richtige Saite 
des Volksgeistes anzuschlagen, und wenn ihnen die Regierung dabei 
lange genug freie Hand lässt. Im Dreyfushandel war so das wichtigste 
Argument das Operiren mit dem „Drevfussyndikat“, welches durch 
jüdisches Geld die Verteidiger des Drevfus gekauft habe; noch leichter 
lässt sich bei uns durch antisemitische Agitation die Ritualmordhetze 
(so in den Fällen von Tisza-Ezlar, Xanten und Könitz) entfachen, sowie 
eine dunkel gebliebene Mordtat an jugendlichen Personen vorgekommen 
ist. Wir haben das Umsichgreifen der anarchistischen Scheusslichkeiten 
in unserer Zeit erlebt: wahnsinnige Verstümmelungen und Selbstmorde 
verüben noch heute russische Sektirer aus religiösem Eifer. Die vor- 
erwähnten Besessenheitsepidemien gingen hervor aus der Herrschaft 
einer allgemeinen Furcht vor dem Satan und einem wahren Verfolgungs- 
wahn, der zahllose Mitmenschen als Teufelsanbeter für alles selbsterlebte 
Unglück, insbesondere für verderbliche Naturereignisse, verantwortlich 
machte, und dieser Glaube hat in einem grossen Abschnitte des ganzen 
Mittelalters den Volksgeist in seinem Banne gehalten. Unter den ge- 
bildeten Klassen unserer Tage besitzt der unsinnige Spiritismus eine 
breite Zahl von Anhängern und einzelne, wie bekannt sogar in Kreisen 
der Naturforscher, welche förmlich die Betrügenden ihrer Medien durch 
ihre grenzenlose Leichtgläubigkeit heranzüchten, und welche nach jeder 
der nun schon ansehnlich grossen Zahl von Entlarvungen sich mit dem 
schönen und nichts weniger als inductiv wissenschaftlichen Argumente 
zufrieden geben, nur die entdeckten spiritistischen Taschenspielerstück- 
chen seien preis zu gehen, an der objectiven Wahrheit der anderen 
.Geistermaterialisationen ' müssten sie überzeugt festhalten. l ) 

Die absonderlichen mystischen Speculationeii eines Tolstoi, sein 
Ruf nach Erstickung der Geschlechtsliehe, die glänzend vorgetragenen, 
aber überhaupt kaum begründeten . Uebemiensi dien"- und „Hemeii"- 
ansprüche eines N i e t zs c h e haben einegoistlose verschrobene Romantik 
verbunden mit gröbstem Naturalismus erweckt- bei einer beträchtlichen 

*) Vergleiche die gründliche Behandlung hei Lehmann. Aberglaube und 
Zauberei, deutsch, Febers. Stuttgart 



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Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Zahl meist unfähiger und unklarer Dichter und Künstler unserer Tage, 
eine Richtung die N o r d a u l ) nicht ohne Grund unter dem Begriffe der 
„Entartung“ des gegenwärtigen Geschlechtes gegeisselt hat. Ueber- 
haupt war bekanntlich die Aufklärungszeit des vorigen Jahrhunderts 
gefolgt und begleitet von der krassen Mystik eines La vater, Jung- 
Stilling und Kerner, und die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts 
haben bei einem Vilmar und Hengsten!) erg und in einem grossen 
Theil von ganz Schwaben den mittelalterlichen Teufelsglauben im buch- 
stäblichsten Sinne wieder auferstehen gesehen, und im schwäbischen 
Möttlingen heilte der eine Zeit lang sehr bekannte Pfarrer Blumhardt 
wieder Besessene durch Austreibung der Dämonen.-) Auf medicinischem 
Gebiete blüht heute wie zu allen Zeiten der elementarste Wunderglaube, 
und der „Schlofer von Dorlisheim“ wie der täglich von Hunderten und 
Tausenden aufgesuchte „Schäfer zu Radbruch“ bilden nur einzelne Phä- 
nomene unter einer ganzen Reihe ähnlicher 'W undermänner. Ja nicht 
allein die philosophischen Mystificationen einer Madame Blavatski 
finden noch immer ihr Publikum in Paris und sonst (ihr dickleibiges 
Buch soll gerade jetzt wieder neu aufgelegt werden), sondern selbst für 
die lächerlichen Angriffe eines gewissen Jezek gegen die Lehre vom 
Blutkreislauf hat sich ein Verein von Laien bereit finden lassen, der 
— als „Jezekverein“ — den Tagesblättern zufolge sich diese Reform 
der medicinisehen Wissenschaft entgegen der „Zunftgelehrsamkeit“ an- 
gelegen sein lässt. Dass, gewöhnlich ganz ungebildete, Laien überhaupt 
in mitgliederreichen „Naturheil “-Vereinen medicinische Behandlungs- 
grundsätze vertreten in Gegnerschaft zur „Schulinedicin“, ist ganz ebenso 
nur als pathologisches Symptom bezw. historisch zu verstehen. Lebrigens 
soll hier angefügt werden, dass in der Republik Mexiko noch im 
Jahre 1874 mehrere Personen als Zauberer öffentlich verbrannt wurden; 
und in der Negerrepublik Haiti kamen noch vor 20 Jahren geheime 
religiöse Feste und Orgien der christlichen Neger vor, wo Kinder tliat- 
sächlich abgeschlachtet und aufgezehrt wurden.’*) 

Wieder auf ganz anderem Gebiete, wo sonst doch der nüchterne 

r> 

Verstand am Unbestrittensten die Menschen gelenkt hat, auf dem Felde 
des Handelsbetriebes, sehen wir immer wieder die Leute ihren mühsam 
erworbenen Besitz geradezu auf die Strasse werfen, wenn sie wie bei 
der verflossenen Dachauer Bank der A d eie Sp i tzed er durch förmlich 
unmögliche Zinsversprechungen geködert worden ; ein fieberhafter Rausch, 
von dessen Intensität wir uns kaum mehr einen Begriff machen, muss 
es gewesen sein, der in Holland zur Zeit der Tulpenmanie und in 

0 Nordau, Kntartumc Herliu 

~) Vergleiche Lundin. Der Wunder- und Düinoncnglaiiho der Gegenwart. 
Leipzig 1 s*7. Ferner Heu n e a m 1* h y n , Kult ur gesell iclii e d. jüngsten Zeit. Leipzig 1*U7. 

;; i Metzirer, Haiti. Glnlais, Hd. 17. Iss:», p. *J.VJ und *J04. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


209 


Frankreich während der John Law’schen Gründungen das Volk 
berückt hatte. Wir werden darauf noch kurz zurück kommen. 

Wozu die Beispiele häufen? Soll ich noch hin weisen auf die 
blinden politischen Volksleidenschaften, die Rassenkämpfe, die elementare 
Feindschaft des russischen Volkes gegen das Deutsche, den Fanatismus 
der kleinen Tagespresse und Aehnliches, das von einer Ablenkung der 
ehemaligen religiösen Volkserregungen in ein moderneres Fahrwasser 
zeugt? Genug, dass die Erregbarkeit der Massen geblieben ist, und dass 
sie noch beinahe ebenso blind ist wie ehedem. Unsere Leser wissen, 
durch welchen neuen Begriff sich alF das heute erklärt, und wie auf 
dieser Nachtseite menschlichen Geisteslebens auch die Eingangs be- 
sprochenen scheinbaren religiösen Wunderwirkungen unter den gleichen 
psychologischen Elementarbegriff eingereiht werden konnten. Die Auf- 
deckung der Suggestion und speciell der hypnotischen Sug- 
gestion hat uns jene merkwürdigen Epidemien der Dämonomanie und 
Theomanie verstehen gelehrt, sie hat die Widersprüche glatt gelöst, 
welche mit ihrer Deutung als Psychosen, bezw. unter dem obsoleten 
Krankheitsbegriff der Monomanie verbunden waren. Die Geisteskrank- 
heit entsteht nur auf dem Boden einer specifischen constitutioneilen 
und meist vererbten Veranlagung; sie kann daher, so wenig wie etwa 
der Diabetes oder die Gicht, in epidemischer Ausbreitung herbeigeführt 
werden. Wohl aber kann die Nervosität durch starke Aufregungen 
gezüchtet werden und die Hysterie wird in solchem Maasse durch 
Nachahmung befördert, dass noch heute Hausepidemien in Schulen 
immer wieder sich ereignen, und dass die Hysterie in der französischen 
Hochschule für Hysterische, dem Pariser Krankenhaus in der Salp^triere, 
eine wesentlich complicirtere und reichere Symptomengestaltung aufweist 
als durchschnittlich bei unseren deutschen Frauen. 

Drei Grundeigenschaften der hypnotischen Suggestion schliessen 
in sich die wichtigsten Erklärungsmomente für die Gestaltungen jener 
Volkse pideraien, und wir wollen sie schon hier anführen, obwohl wir 
die Details erst im nächsten Abschnitte kennen lernen werden. Die 
hypnotische Suggestion führt 1. in ihren mittleren und höheren Graden 
eine eigenartige sensorische und neuromusculäre Ueber- 
erregbarkeit herbei oder doch mit sich, welche mit Leichtigkeit die 
verschiedensten Hallucinationen und Visionen, ferner tonische und auch 
seltener klonische Muskelkrämpfe, endlich automatische Bewegungs- 
complexe entstehen lässt. Das sind aber dieselben Eigenschaften, welche 
den hysterischen Zustand kennzeichnen ; die Hypnose und die mit 
ihr identische Exstase ist somit alseine künstlich, resp. experimentell 
erzeugte Hysterie aufzufassen. 2. Im Zustande der Hypnose wirkt jede 
einzelne Suggestion sofort und gleichsam imperatorisch; irgend ein 
Object, eine Situation, welche dem Hypnotisirten suggerirt wird, 



210 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


entsteht alsbald mit visionärer sinnlicher Deutlichkeit vor seinem Geiste r 
eine Handlung, ein Bewegungsimpuls, dessen Vorstellung in ihm an- 
geregt wird, kommt widerspruchslos zur Ausführung. Die Muskelstarre, 
ein automatisches Drehen oder Schütteln erfolgt auf ähnliche Weise. 
Ebenso wie fremde Suggestion wirkt aber auch das spontane Auftauchen 
solcher Impulse und Vorstellungen im Hypnotisirten, die sogenannte Auto- 
suggestion. Bei den Paroxysmen der Besessenheit war hier hauptsächlich 
das Vorbild wirksam, das die Person gesehen oder von dem sie gehört 
hatte. 3. Diese Zustände hochgesteigerter „Suggestibilität“, d. h. 
die Hypnose, lassen sich bei nervös veranlagten Personen durch relativ 
einfache Mittel experimentell herbeiführen, namentlich durch Ein- 
wirkung länger dauernder einförmiger Sinnesreize (Anstarren eines 
Gegenstandes z. B. nach Braid), aber auch durch consequente verbale 
Suggestion, d. h. die wiederholte energische Einflössung der Vorstellung, 
dass die Person in Schlaf versinken werde. Die autosuggestive 
Ueberzeugung, dass der hypnotische Schlaf kommen werde, führt somit 
in letzter Instanz hier die Hypnose herbei. Man erkennt leicht, wie 
wichtig dieses zweite Moment bei den epidemischen Anfällen sein musste. 
Dazu kommt aber noch die ebenfalls experimentell nachgewiesene Mög- 
lichkeit einer Trainirung, einer Erziehung zur Hypnose. Wo 
anfangs nur die ersten Grade einer hypnotischen Beeinflussung er- 
zielt worden, wo also klares Refleetiren möglich bleibt und nur eine 
Erschwerung des Denkens sich geltend macht und der Impuls, den 
Suggestionen des Experimentators Folge zu leisten, wo aber weder 
Visionen, noch Muskelstarre erzielt werden, da führt häufige 
Wiederholung der gleichen Procedur nicht selten noch zur vollen 
Hypnose. Das will sagen, die Disposition zur neuromuskulären Ueber- 
erregbarkeit und zum somnambulen Schlaf kann geweckt werden; die 
hysterische Suggestibili tiit kann gezüchtet werden. Dies 
ist denn wirklich unbeabsichtigt bei den Besessenheitsepidemien und 
planvoll bei den religiösen Exstasen geschehen. Die nervöse Grund- 
lage dazu hatte aber die religiöse Askese schon voraus entwickelt. 

Das, was die Besessenheit und die Exstase mit dem Schauer des 
Geheimnissvollen und Wunderbaren umwoben hatte, das war der That- 
bestand, dass einmal in den Paroxysmen die Personen nicht mehr ihrem 
eigenen Willen und ihrem eigenen Geiste, sondern einer fremden 
Macht anzugehören schienen, sodann dass sie zugleich der realen Welt- 
entrückt, von visionären Erscheinungen umgeben waren, während ihre 
Glieder entweder von krampfhaften Zuckungen geschüttelt wurden, oder 
aber während sie bald starr zu Boden gestreckt, bald Statuen gleich in 
regungsloser Verzückung verharrten. In der Regel bestand indessen 
hinterher gute Erinnerung für das im Paroxysmus Erlebte. Es ist das 
Verdienst hauptsächlich französischer Autoren , vorab B e r n h e i m \s . 



Ueber Wahnideen im Vi’dkerleben. 


211 


Ri eher’ s, Charcot’s und mancher Anderer, diesen Complex von Er- 
scheinungen auf den Thatbestand der künstlich und suggestiv erzeugten 
Hypuose zurückgeführt zu haben und zugleich in der gesteigerten Sug- 
gestibilität und der neuromuskulären Uebererregbarkeit die Haupt- 
charaktere der Symptome erkannt zu haben. 

Für die ganze Psychologie noch ungleich wichtiger war es aber, 
als das fortschreitende Studium in der Suggestion einen um Vieles 
umfassenderen Factor kennen lehrte im geistigen Leben des Ein- 
zelnen wie der Völker. Der hypnotischen Suggestion fügte man näm- 
lich die sogenannte Wachsuggestion hinzu; freilich fasste man sie 
für gewöhnlich nur als eine unvollkommenere Form jener eigentlichen 
und vollen Suggestivwirkung auf, und in der That ist ihr bisher die 
psychologische Forschung, wie ich vermeine, noch nicht genügend 
gerecht geworden. Theilweise fast beiläufig, wie ein Nebenprodukt des 
Hypnosestudiums, erfolgte die Beschäftigung mit der Wachsuggestion. 
So waren zunächst Bernheim und seine Schüler auf die Bedeutsamkeit 
der Nachwirkung der Hypnose, der posthypnotischen Suggestion, 
gestossen. Impulse, etwas zu thun, etwas zu holen, zu bestimmter Zeit 
zu erwachen, eine Leidenschaft (z. B. zum Alkohol) zu unterdrücken, 
übten ihre Wirkung noch Tage lang nach der hypnotischen Sitzung, 
wenn in der seinerzeitigen Suggestion das ausdrücklich der Person so 
anbefohlen war. Ein grosser Theil der Heilbestrebungen, welche die 
hypnotische Suggestion herbeiführen soll, beruht ja auch darauf, dass 
die erregten Vorstellungen und Muskelgefühle im folgenden wachen 
Zustande noch ihre Kraft bewahren ; so kann die einmal beseitigte 
hysterische Lähmung oder Taubheit dauernd geheilt bleiben. Sodann 
bemerkte man zweitens, wo eine somnambule Hypnose nicht erreicht 
wurde, sondern nur jener vorhin erwähnte erste und leichteste Grad 
der suggestiven Beeinflussung eintrat (wie so oft bei Ersthypnosen), 
dass dann gleichwohl gerade die genannte^ und erwünschten post- 
hypnotischen Wirkungen sich einstellen konnten. Und drittens 
glaubt Bernheini 1 ) bei seinen viel hypnotisirten und somit in der 
Richtung trainirten Spitalsinsassen sich überzeugt zu haben von einer 
gewissen Leichtigkeit, mit der man diesen complicirte Situationen, etwa 
einen angeblich von ihnen selbst erlebten Raubanfall, einreden, suggeriren 
könne, wenn man sie nur damit etwas brüsk überrasche und ihnen 
gegenüber bestimmt auftrete. Es würden so plastische Vorstellungen 
in den Personen erregt von der gleichen Deutlichkeit und Lebhaftigkeit, 
wie sie der Erinnerung von wirklich Erlebtem zukommen (sogenannte 
Erinnerungstäuschungen), und das sollte ohne Weiteres jeder Zeit im 
wachen Zustande der Leute gelungen sein. 

i) Beruhe im. Die Suggestion und ihre Heilwirkung, deutsche Lchersotzung, 
1. Auflage. Leipzig und Wien 1SSS. p. 7Ö fl*, und 14ä iX. 



212 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Man mag nun zweifeln, wie das auch von anderer Seite geschehen 
ist, ob die Personen eine echte Ueberzeugung für einen so direct ein- 
geredeten Roman wirklich gewonnen haben mögen, ob es eine so hoch 
gesteigerte Suggestibilität schon bei klarer Bewusstheit gebe ; dass aber 
autosuggestiv bei nervös disponirten Personen und besonders bei 
Hysterischen derlei Erinnerungstäuschungen möglich sind, davon besitzt 
jeder Nervenarzt eine hinreichende Anzahl persönlicher Erfahrungen 
und die Annalen der forensischen Medicin sind voll davon. Wie wichtig 
ist es nicht zu wissen, dass bei grossen aufregenden, sogenannten 
Monstreprocessen in die Zeugenaussagen um so mehr Illusion und 
Romantik hineinkommt, je mehr die Processe Gegenstand des allgemeinen 
Geredes geworden sind. Allmählich vermengt sich das oft Gehörte 
mit dem Selbsterlebten, Wahrheit und Idee wird nicht mehr getrennt; 
„mit jedem Verhör“, so deponirte seiner Zeit der Untersuchungsrichter 
im berühmten Ritualmordprocess zu Xanten, „wüssten die Zeugen mehr 
und Ausführlicheres zu berichten“ ; schliesslich kam bei Allen beinahe 
die „weisse Hand“ zum Vorschein, welche sich aus dem Fenster eines 
Hauses herausgestreckt habe, um das Kind zu ergreifen. Ich selbst 
habe mehrere nervös disponirte Personen gekannt, von denen einer ein 
Dorfschullehrer in Amt und Würden war, welche, sowie sie von einem 
Unglücksfall oder einer Mordthat in der Nähe hörten, sich so lebhaft 
einbildeten, sie selbst seien die Attentäter gewesen, dass sie erst vor- 
sichtig bei Anderen aushorchten, ob man nicht sie im Verdacht habe. 
AVie oft haben Hysterische grundlos Unschuldige bezichtigt, einen 
sexuellen oder räuberischen Ueberfall gegen sie ausgeführt zu haben, 
und es ist selbst vorgekommen, dass sie sich gefährlichen Bauch- 
operationen unterzogen, um die angeblich dabei eingedrungene Kugel 
entfernen zu lassen Zu den alltäglichsten Symptomen der Art gehören 
hypochondrische Einbildungen, so dass der Nervöse alsbald die schwere 
Krankheit, etwa Krebs oder Rückeninarksafiection, mit stürmischen 
Schmerzen bei sicli entdeckt, von welcher er bei einem Freunde oder 
auch nur aus der Zeitung vernommen hatte. Und hat sich nicht, wie 
wir erst soeben ausführen konnten, das proteusartige Symptomenbild 
der Hysterie unserem ärztlichen V r erständniss von dem Momente ab er- 
schlossen, wo man einsall, dass beliebig erregte Autosuggestionen hier 
all’ die vielen sensorischen und motorischen Lähmungen, die Neuralgien 
und Krampfersclieinungen insceniren? Und diese Autosuggestionen sind 
doch in der Hegel im regulären wachen Zustande concipirte Vor- 
stellungen. Auf dem gleichen Momente beruhen ja all’ die Wunder- 
heilungen von den Berichten im neuen Testament ab bis zu den 
Lourder-Quellen ; immer sind es suggestiv entstandene Störungen, welche 
auch suggestiv beim .Gläubigen“ wieder geheilt werden, und dies um 
so eher, je grösser der Ruf eines Ortes ist. je höher gespannt die 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


213 


Erwartung und die Phantasie des Kranken wird. Charcot 1 ) hat dem 
eine eigene kleinere Abhandlung gewidmet. Hake Tuke 2 ) hat in 
einem interessanten Werke eine Fülle ähnlicher Suggestiveffecte beim 
vollbewussten Menschen zusammengestellt. Wie viel Drachen, wie viel 
kämpfende Heere am Himmel und wie viel Teufelsfratzen hat im Mittel- 
alter die „erhitzte Phantasie“ dem Menschen leibhaftig vorgespiegelt! 

Halten wir auch hier inne, damit wir uns nicht in ein Detail ver- 
lieren, welches für das psychologische Problem selbst nicht den grossen 
Werth besitzt, den man ihm häufig zugeschrieben hat! Derlei Wach- 
suggestionen sind also, das wird man zugeben, gewiss nichts Seltenes. 
Aber sie verschwinden fast vor der Wirkung, welche jene in jeder Stunde 
in intensivster Art auf das ganze Menschengeschlecht ausübten. Nicht 
nur die schon berührten fanatischen Geistesströmungen, die eigentlichen 
Wahngebilde der Völker, beruhen auf der gewöhnlichen Wachsuggestion, 
sondern alle Ideale, der ganze religiöse Glaube und selbst ein bedeu- 
tender Bestandteil des wissenschaftlichen Denkens sind ihr entsprungen. 
Ich hoffe unserer heutigen Psychologie nicht zu nahe zu treten, wenn 
ich mit einem gewissen Vorwurf ausspreche, dass sie den epoche- 
machenden neuen Gesichtspunkt, der in der Suggestionsdoktrin ent- 
halten ist, doch kaum annähernd nutzbar gemacht hat für das Ver- 
ständnis» dieser geistigen Massenerscheinungen. Was hat uns denn für 
das gewöhnliche wachgeistige Leben der Suggestionsbegriff Neues 
gelehrt ? Er hat gezeigt, wie m a n einfach durch Erregen starker 
Vorstellungen das Denken der Menschen beherrschen 
und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten In- 
li alt a u f d r ä n g e n k a n n , und zweitens dass die Vorstellung 
an sich und allein eine selbstständige geistige Macht be- 
deut e n d s t e r A r t i s t. Das sind doch die beiden wesentlichen Momente, 
welche die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnotischen besitzt 

Man hat nun erstlich zu stark an dem gegebenen Entwicklungs- 
gänge der Hypnoseforschung geklebt und gar zu einseitig die Effecte 
der Wachsuggestion in der Picht ung ähnlicher sensorieller und neuro- 
muskulärer Lebererregbarkeit verfolgt, wie sie der hypnotischen Sug- 
gestion ihr eigenartiges Gepräge verleiben. Wichtiger ist aber doch, 
dass die Urthc Unbildung und die leitenden Ideen des Menschen 
unter mächtigen Einflüssen einer angeborenen Suggestibilität stehen 
Sodann hat man beinahe einnnithig den neuen Gesichtspunkt verkannt 
oder doch übersehen, dass eben die Vor s t. e 1 1 u n g an sich eine starke 

L J. M. Charcot. La toi qui guerit. Uibliothcque diabolique. Paris 1*1)7 
(F. Al can). (Mail vergleiche auch den bekannten Roman von Zola. Lourdes. der 
viel Detail bringt.) 

2) D. H. Tuke. Geist und Körper. Studien über die Wirkung der Einbildungs- 
kraft. deutsche Febersetzmig, Jena 1***. 


4 



214 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


intellectuelle Kraft oder Macht darstellt. Der alten und durch einen 
Forscher wie Wundt wiedervertretenen Lehre hat man bedingungslos 
wieder Folge geleistet, dass unsere Ueberzeugung im Denken aus- 
schliesslich durch eine höhere Intelligenkraft , die Verstandeskraft, 
Apperception oder wie man sie nennen will, bedingt wird. Ihr kommt 
ein souveräner Primat im Denken zu, ihr sind die Vorstellungen nur 
die passiven Elemente, die Bausteine, die sie ordnet und annimmt oder 
abweist. Und diese Lehre erschien freilich gestützt durch die Analogie 
der Suggestion in der Hypnose. Wesentlich dadurch, dass liier, in 
letzterer, die Intelligenzleistungen. Reflexion und überlegter Wille aus- 
geschlossen seien, ergebe sich die imperative Gewalt der Suggestiv- 
vorstellung. Und für die Wachsuggestion legte man sich eine Art von 
^Fascination 4 *, eines Geblendet- und Ueberwältigtseins durch die 
Suggestividee zurecht, sodass auch hier die geordnete Reflexion passiv 
ausgeschlossen oder mit Wundt das Blickfeld der Apperception ein- 
geengt sei. Es bestünde sozusagen gar nicht die Möglichkeit einer 
logischen Kritik oder einer Hemmung durch überlegten Willen, weil 
das Herbeiströmen der anderweitigen Gedanken vereitelt wird. Man hat das 
auch mit anderen Worten, als einen Act der Dissociirung des Denkens 
und ähnlich bezeichnet, ohne damit neue Gesichtspunkte geltend zu 
machen. 1 ) 

Kurz und gut man hat die neue Thatsache nur wegzudeuten ge- 
sucht, ohne auch nur den ernsten Versuch zu machen, sie einfach 
so zu nehmen wie sie sich darstellt. Schon vordem bei der älteren 
Psychologie des religiösen Glaubens war man auf das Problem 
des Suggestivdenkens gestossen , aber man hatte sich von analogen 
schon der aristotelischen Psychologie des Intellectes entnommenen 
Grundsätzen leiten lassen. Beim Wissen ruhe die Ueberzeugung der 
Wahrheit auf dem Intellecte. beim Glauben auf dem Gefühl; daher 
könne ein Individuum widerstreitende Ueberzeugungen besitzen und 
vereinigen, da sie aus differenter Quelle flössen (die sogenannte „doppelte 
Buchhaltung* für die Ueberzeugung). Uebrigens ist anzuerkennen, dass 
die strengeren psychologischen Fassungen in der Religionspsychologie 
nicht mehr mit so complexen und veralteten psychologischen Faktoren 
operiren, wie es der Intellect oder die Verstandeskraft ist. Namentlich 
hat man gegenwärtig in modernerer Fassung sich gerne auf das Wertli- 
urtheil bezogen, aber doch wesentlich nur, um auf diesem kurzen 
Umwege das religiöse Ideal, die Erhebung des Geistes zum .Unend- 
lichen“ (d. h. eben wieder zu Gott) in die Psychologie einführen zu 
können. Das ist nicht nur der Zielpunkt in den Arbeiten einer Reihe 

1 ) Der wold beste und gründlichste Bericht über die modernen Theorien der 
Suggestion findet, sich in den Artikeln B Sugge>th-n. .Suggestivtherajde* von v. Schrenck- 
Notzing, Knevklepiidisehe Jahrbücher III. n. IV. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


215 


von theologischen Religionspsychologien 1 ), sondern im Wesentlichen 
auch der verschiedenen einschlägigen Arbeiten des Oxforder Indologen 
Max Müller, welche letzteren daher eine wirkliche Förderung des 
Problems nicht gebracht haben. 

Wie weit war man doch entfernt vom Begreifen einer Suggestiv- 
wirkung, wenn man einen so abstracten und gänzlich unvollziehbaren 
Begriff, wie es das „Unendliche“ ist, damit in Zusammenhang glaubte 
bringen zu können Aber auch der Hinweis auf das im religiösen 
Denken steckende „Werthurtheil“, ja sogar auf die viel deutlichere 
Affect- und Gemüthsein Wirkung lässt noch recht w r enig erkennen 
von dem eigentlichen Wesen des Suggestivdenkens. Die suggestive 
Vorstellung erregt nicht nur direct eine subjective Ueber- 
zeugung, sondern sie ist lebha ft sinnlicher, anschaulicher 
Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet, in 
Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu 
werden (zum Unterschiede von der Ueberredung) , und sie erzeugt 
weiter einen starken Impuls zur Activität. Beim religiösen 
Denken hat diese Seite des Suggestivvorstellens den Drang und Zwang 
zu einem Cultusdienst einerseits, und den starken Impuls zur Ueber- 
tragung auf Andere, d. h. den Fanatismus, fast immer im Gefolge ge- 
habt. Das liegt ganz gewiss sonst nicht in dem Vorstellen an sich 
begründet, am Allerwenigsten in der Idee des „Unendlichen“, wohl 
aber in der psychologischen Wirkung nachhaltigen starken, das heisst 
suggestiven Vorstellens. Entweder bedingt dieses bei nervösen Naturen 
durch die Ueberreizung eine eigenartige geistige Hemmung, in der 
der Reizzustand fortdauert, d. i. eben den hypnotischen Zustand, oder aber 
es entäussert sich unmittelbar nach der impulsiven Seite wie eine Art von 
Entladung. Wie wenig aber der logische oder ideale Gehalt solcher Vor- 
stellungen für ihre psychologische Wirkung auf den Einzelnen und die 
Völker maassgebend ist und war, dafür sollen gerade die hässlicheren 
als Wahngebilde uns erscheinenden Gestaltungen uns zeugen, welche 
immer in ihrer U eberzahl dem religiösen Denkgebiete zugehört haben, 
und welche auch deshalb von besonderem Interesse sind. 

Die vorstehenden leitenden Sätze erfordern natürlich noch eine 
speziellere Begründung, welche allerdings im Rahmen dieser Abhandlung“) 
nur andeutungsweise gegeben werden kann. Indessen zuvor soll noch 
in Kürze dasjenige Problem erörtert werden, welches wir soeben zuerst 

i) Vergl. Emil Koch, Die Psychologie in der Religionswissenschaft, Freiburg 
und Leipzig 1890. 

Ausführlich habe ich das Problem behandelt in: 1) M. Fried mann, Ueber 
die Entwicklung der Erkenntnissprincipien und ihre Beziehung zur pathologischen 
Wahnbildung. Allgemeine Zeitschrift f. Psych., Bd. 52, p. 392, und 2) Weiteres zur 
Entstehung der Wahnideen und über die Grundlagen des Urtheils, Monatsschrift 
für Psychiatr., Bd. I. u. II. 



216 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


genannt hatten, nämlich die Frage nach dem Ursprung und 
der Grundlage der subjectiven Ueberzeugung und seine 
Beziehung zum logischen Denken, zum Intellect. Der berührte 
Gegensatz zwischen der religiösen Ueberzeugung und zwischen der 
logischen Ueberzeugung der Wissenschaft und des kritischen Verstandes, 
zwischen „Glauben und Wissen“, ist ja heute zum Gemeinplatz geworden. 
Aber die Fassung scheint mir falsch zu sein, der Gegensatz besteht 
eher zwischen dem Inhalte, den Resultaten dieser beiden Denkgebiete. 
Die Ursache des Gegensatzes ist ja bekanntlich eine historische, sie lag 
in den Kämpfen nicht der Wissenschaft gegen die Religion, wohl aber 
umgekehrt der Kirche gegen die Forschung *) und in dem allmählichen 
Wandel der Weltanschauung. Gegenüber der gewaltigen Macht der 
religiösen Idee ist auch das Wissen eine „Macht“ geworden, und 
während erstere nur eine subjective war und geblieben ist, wurde jene 
eine objective. Die Wissenschaft hat uns geistig frei gemacht. 

Nicht geändert hat aber unsere Zeit den menschlichen Geist, und 
so ist die Grundlage der subjectiven Ueberzeugung die gleiche geblieben, 
die sie von je war, und so sind auch die suggestiven Wirkungen ebenso 
vorhanden wie früher, nur treffen wir sie, wie oben angeführt wurde, 
häufiger auf neuen Denkgebieten, wo sie heute eingelebten Denk- 
gewohnheiten nicht widersprechen. 

Worauf beruht nun die subjective Ueberzeugung? Oder fragen wir 
einmal naiv, wodurch erkennt Jemand selbst, dass er von Etwas über- 
zeugt ist? Die Frage ist doch nicht so naiv, wie sie scheint. Hat 
Jemand, sagen wir ein Publicist oder ein Theologe, unter dem Zwange 
der Umstände trotz anfänglicher Gewissensscrupel eine Zeit lang gewisse 
ihm zweifelhafte Lehrmeinungen selbst vertreten müssen ; woran merkt 
er schliesslich, ob er sie nun aufrichtig vertritt oder nicht? Nehmen 
wir ein etwas schroffes Beispiel, einen Fall von Reliquienglauben. Der 
heilige Rock zu Trier ist noch neuerdings wiederholt zur Erzielung von 
.Gnaden Wirkungen“ ausgestellt worden und hochgebildete Männer, 
Führer der Centrumspartei, haben das gewünscht. Was kann hier die 
Grundlage des Glaubens sein? Erstlich doch sicherlich die allgemeine 
Ueberzeugung oder Denkgewohnheit der Person, überhaupt bei Reliquien 
göttliche Gnadenbeweise bei Gläubigen für möglich und in einer Reihe 
von Fällen für thatsächlich vorgekommen zu halten. Dass Reliquien 
suggestive Heilungen bewirken können bei nervösen Affectionen, ist gar 
nicht zu bezweifeln, und der positiv Gläubige kann annehmen, dass 
darin eine direkte göttliche Einwirkung zu erblicken ist. Thatsächlich 

*) Vergleiche dazu T. W. Drape r. Geschichte der Conflicte zwischen Religion 
und Wissenschaft. Leipzig 1875 und D. Zö ekler, Geschichte der Beziehungen 
zwischen Theologie und Naturwissenschaft mit besonderer Rücksicht auf die 
Schöpfungsgeschichte. 2 Bdc., Gütersloh, 1877 — 79. (Letzteres streng theologisch.) 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


217 


sind gewisse Publikationen , z. B. die Missionszeitschriften mit einer 
besonderen Rubrik ausgestattet, in welcher durch Einsendungen aus der 
Bevölkerung die Er hör ungen des Gebetes an einen Heiligen (um 
Fürbitte bei Gott) verzeichnet werden. Man best da, dass eine lang- 
wierige Krankheit jetzt sich gebessert habe, direct nach dem Gebet sei 
der Arzt gekommen und habe z. B. das Kind jetzt für weit besser als 
Tags zuvor bezeichnet; ferner sei auf gleiche Weise eine für die Person 
werthvolle Kuh gerettet worden, ein Process von Wichtigkeit gewonnen, 
selbst ein als Familienkleinod geschätztes und verlorenes Armband bald 
nach dem Gebet wiedergebracht worden u. s. f. Also diese Denk- 
gewohnheit existirt bei Vielen. Zur Ueberzeugung gehört zweitens, 
dass keine wirksamen Widersprüche gegen die Idee sich im Geist der 
Person geltend machen, also dass er nicht solches directes göttliches 
Eingreifen für unvereinbar hält mit seiner Idee von Gott. Thatsächlich 
hat man ja von anderer Seite her häufig derartigen Glauben an un- 
mittelbare Gebetserhörung und die Gnadenwirkung der Reliquien für 
identisch mit dem Fetisch glauben der culturlosen Völker erklärt und 
daher für unvereinbar mit einer höheren Gottesidee. Ebenso könnte 
auch die Echtheit der fraglichen Reliquie Zweifel erregen. Drittens 
muss jener positive Glaube fest geh alten werden und die Beispiele 
von Heilungen, die bei Ausstellung des Rockes zu Trier als vorgekommen 
bezeugt worden sind, müssen in Zukunft bei einer neuen Reliquie der 
Person als ein Argument für deren Wirksamkeit in den Sinn kommen. 

Das Merkmal der Ueberzeugung ist somit das, dass die Idee, 
d. h. die gebildete Association (der Reliquie mit den Berichten 
ihrer Heilwirkungen) in Zukunft festgehalten wird; dass sie bei 
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie für das 
Subject bewährt, und dass nicht nothwendig dabei contra- 
stirende Vorstellungen auftauchen. Würden in jedem ernst- 
haften Falle mit der Vorstellung auch immer contrastirende Ideen sich 
einstellen, so wäre die Ueberzeugung keine echte, denn dann würde die 
Contrastvorstellung ein subjectiv nothwendiger Bestandteil der Idee sein. 

Nehmen wir ein zweites Beispiel, das gleichfalls in praxi oft sich 
darstellt, die Ueberzeugung nämlich, dass die Natur teleologisch, 
für den Menschen günstig, nach dem Gesichtspunkte der Zweck- 
mässigkeit eingerichtet sei. Diese Idee haben schon Plato und 
Aristoteles zum Mittelpunkte ihrer Naturauffassung gemacht und bis 
in eine sehr moderne Zeit war der Nachweis der einzelnen Zwecke bei 
jedem grossen und kleinen Objecte der Natur Gegenstand umfänglicher 
Schriften. Für den positiv Gläubigen lag darin der entscheidende Beweis 
für die Güte des Schöpfers, der ihn inmitten allen Jammers und aller 
Scheusslichkeiten des menschlichen Erlebens bei seinem Glauben be- 
ruhigte. Und diese Zweckmässigkeit in der Natur ist ja Thatsache, sie 



218 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


ist innerhalb des Organismus sogar, in seinen einzelnen Theilen, von 
oft wunderbarer Vollendung. Durch Darwin ist bekanntlich seit vier 
Decennien diese Idee durch ein causales Princip der Naturerklärung 
ersetzt worden, nämlich das Ueberleben des Passenden im Kampfe um 
das Dasein, sodass das Unzweckmässige eben verschwinden muss, weil 
es nicht existenzfähig ist; und im Einzelnen ist von Darwin dafür ein 
sehr reiches streng inductives Beweismaterial von Naturerfahrungen bei- 
gebracht worden. Die Naturforschung ist heute völlig durchdrungen von 
der causalen Deutung teleologisch scheinender Natureinrichtungen nach 
dem Vorgänge Darwin’s. Wie verhält sich aber das Gros der Theo- 
logen und der theologisch Denkenden dazu ? *) Man weiss, dass hier 
der Darwinismus einen ähnlichen Sturm des Kampfes und der Gegner- 
schaft entfesselt hat, wie er vielleicht nur zur Zeit des Streites um das 
Copernikanische Weltsystem im Anfänge des 17. Jahrhunderts die 
Geister bewegt hatte, und dass man auch jetzt in erster Linie den 
Darwinismus als eine „unm o rali sch e I rrle hre“ von dieser Seite 
her verworfen hat. Aber man that noch mehr, man begann die natur- 
wissenschaftliche Literatur des Darwinismus zu studiren, man sammelte 
alle Einwürfe von Seiten einiger Forscher gegen die Lehre und endigte 
dann jeweils damit, der Darwinismus sei eine falsche Hypothese, die 
nur dem seichten „Materialismus“ zu Gute komme. Der teleologische 
Standpunkt, den man auch wohl durch den Begriff der „Zielstrebigkeit“ 
ergänzte, galt als wieder rehabilitirt. Was folgt aus diesem Verhalten 
psychologisch? Offenbar schliesst erstlich im Geiste di eser Per- 
sonen die teleologische Idee contrastirende Vorstellungen (hier die 
causale Deutung) aus, es besteht ein förmlicher Impuls, sie abzuwehren. 
Zweitens die Ueberzeugung selbst ruht auf einer Gewohnheit, so 
zu denken, aber nicht a uf 1 o gisch ein Raison ne ment; denn man 
hat von vornherein den Darwinismus abgewiesen und hat gar keinen 
Versuch gemacht, die vielen Thatsachen, welche für ihn sprechen, ab- 
zuwägen gegenüber den Beweisgründen für die Teleologie. Diese letztere 
stand fest, der Darwinismus war nur ein Angriff, den es abzu- 
wehren galt. Und der Hauptgrund für diese differente Behandlung ist 
ein nicht wissenschaftlicher, die moralische Bewerthung beider 
Ideen. 

Aehnlich steht es aber , und das ist der bekannte Lehrsatz, 
welcher sich schon durch das ganze eingangs citirte Werk Lecky's 2 ) 
hindurchzieht , mit der Ueberzeugung bei allen grossen Ideen. 
Gründe, Motive sind an und für sich überflüssig und können sie 
nur etwa zu stützen helfen. Gegengründe bleiben unwirksam und 

*) Vergleiche z. B. in diesem Sinne Zö ekler a. a. ö., Bd. II, p. 521 — 737. 

2 ) W. H. Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung 
in Europa, deutsche Uebers., Leipzig und Heidelberg 1873. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


219 


werden ohne Weiteres „als Irrlehre“ verworfen. Wie aber verhält 
sich die Ueberzeugung beim wissenschaftlichen Forschen? 
Existirt hier denn überhaupt eine solche ? Real sind doch hier 
nur die sinnlichen Thatsachen selbst; alle sogenannten Naturgesetze 
und Naturkräfte gelten nur als Regeln und Hypothesen , um die 
Thatsachen unter einen verständlichen Gesichtspunkt zu bringen, 
besten Falles als eine Näherung an den wirklichen Zusammenhang 
der Dinge. Mag Einer noch so warm für seine eigene Lehre 
auftreten, wie etwa ein Lombroso für die These vom geborenen 
Verbrecher, so kann das nur heissen: „diese meine Argumente scheinen 
mir diese bestimmte Deutung zu erheischen“. Ja sogar wenn ein Natur- 
forscher „überzeugt“ ist, dass noch nie ein „Wunder“ vorgekommen 
sei, so bedeutet das nur: nach aller seitherigen Erfahrung lässt das 
Naturgesetz, so wie wir es kennen, keine Ausnahme zu, wohl aber hat 
der Glaube und die Tradition der Menschen unzählige Male irrthümlich 
solche Abweichungen postulirt. Also zumUrtheil beim forschen- 
den, beimreflectirenden Denken gehört stets das Bewusst- 
sein der Gründe sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen 
das Urtheil sprechen können. Die Forschungsresultate sind unab- 
hängig von dem subjectiven Element und sie müssen für Jeden, 
der zu reflectiren versteht, gleich verbindlich sein; ein Resultat muss 
auch sofort aufgegeben werden, sowie eine entscheidende Thatsache 
dagegen bekannt wird. Daher verfügt die Wissenschaft über eine grosse 
Zahl von Lehrsätzen, die beim heutigen Stande der Erkenntniss für 
Jedermann feststehen, der wissenschaftlich denkt, die aber dennoch 
Keiner für „Wahrheit“ oder für einen Gegenstand seiner „Ueber- 
zeugung“ erklärt. 

Also die wissenschaftliche Ueberzeugung ist keine neue Form der 
letzteren, sondern sie enthält vielmehr das Postulat, dass jede sub- 
jective Ueberzeugung beim Forschen aufgehoben sein soll und 
dass nur der logische oder objective Werth der Argumente und That- 
sachen entscheiden soll. Unter kritischem Denken versteht man 
somit die Hemmung, die Abwehr jedes suggestiven Faktors beim 
Urtheilen, sie ist Resultat der Erziehung, der Einübung, so gut 
wie die Selbstbeherrschung beim Handeln, nicht aber angeborene 
Eigenschaft des Geistes. Natürlich ist deshalb auch das kritische Denken 
im einzelnen Fall ein unvollkommenes, kein Mensch kann auch in der 
Forschung von den subjectiven Denkgewohnheiten und ihrer suggestiven 
Kraft sich vollkommen emaneipiren, und jeder besitzt „Vorur th eile“ 
für bestimmte Urtheile und Schlüsse, ~ namentlich für solche etwa, die 
er selbst schon einmal zu vertheidigen begonnen hat. Daher sind 
wir Alle kritisch gegen fremde Denkresultate und unkritisch gegen 
unsere eigenen. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. |5 



220 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


Mit anderen Worten heisst das: gerade das kritische überlegte 
Urtheilen beruht nicht auf einer primären geistigen Kraft, 
einem Organ der Intelligenz (Verstandeskraft, active Apperception) ; wo 
ein Bedürfniss besteht nach Begründung aller von der Person auf- 
zunehmenden oder festzuhaltenden Ideen, da ist dieses Bedürfniss aner- 
zogen, und zugleich ist die Suggestibilität der Person von Hause aus 
eine geringe. Von diesem Thatbestand giebt wahrlich schon ein Blick 
in das ganze Jahrtausend des Mittelalters deutlich Kunde. Nur in den 
ersten Jahrhunderten des Christen thums, als seine Lehre neu war, kam 
es zu geistigen Kämpfen und Discussionen, speciell mit der hochent- 
wickelten stoischen und neuplatonischen Philosophie. Späterhin war 
der Inhalt der Bibel die selbstverständliche Unterlage und 
Grundlage alles Wissens und Denkens 1 ), und dies nicht nur für die 
kleineren, sondern für die besten Geister der Zeit 2 ). Es kam Niemanden 
in den Sinn, dass ein Fund in der Natur richtig sein könne, wenn er 
der Bibel widerspreche. Ob Antipoden existiren, wurde entschieden dar- 
nach, ob das mit der Bibel sich vereinigen lasse; als nach Amerikas 
Entdeckung eine Anzahl unbekannter Thiere gefunden wurde, zerbrach 
man sich den Kopf, wie sich das vereinigen lasse damit, dass in dem 
Verzeichniss der von Noah in die Arche aufgenommenen Thiere die neu 
entdeckten fehlen. Ebenso buchstäblich galt für die Geologie der Tenor 
der mosaischen Schöpfungsgeschichte 3 ), es bedeutete schon sehr viel, 
wenn, was selten vorkam, Jemand annahm, ein damaliger Schöpfungs- 
tag sei gleichzusetzen einer heutigen geologischen Zeitepoche. Die all- 
mählich gefundenen Versteinerungen konnte man wohl als Reste der 
bei der Sündfluth untergegangenen Thiere auffassen, viel häufiger als 
ein Spiel der Natur oder als misslungene Probestücke bei der Schöpfung. 
Noch heute gehen katholische Schriftsteller bei Beurtheilung primitiver 
Religionen, etwa auch der alten ägyptischen, von der für sie selbst- 
verständlichen Thg-tsache aus, dass eine „ Uroffenbarung Gottes“ an alle 
Menschen stattgefunden habe, und dass sich Reste davon überall noch 
nach weisen lassen. Das übernatürliche Eingreifen von Gott, Engeln 
und Dämonen war in dieser Zeit ein ebenso regulärer Bestandteil des 

*) Vergleiche die ausführliche und polemisch gehaltene Darstellung von 
C. Sterne, Die allgemeine Weltanschauung in ihrer historischen Entwicklung. 
Stuttgart 1889. 

2 ) Es sei hier nur in Erinnerung gebracht, dass noch im 18. Jahrhundert die 
grössten Naturforscher, ein Newton, ein Haller, ein Euler streng bibelgl&ubig 
waren, und dass sie häufig theologische Werke nebenbei verfassten, so speziell 
Euler seine T Rettung der Göttlichen Offenbarung gegen die Einwürfe der Frey- 
geister (1747)“. 

Ä ) Noch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts scheint es, dass die Schullehr- 
bücher der Mineralogie und Geologie verpflichtet waren, mit der mosaischen 
»Schöpfungsgeschichte zu beginnen. 



Ueber Wahnideen im Völkerlcben. 


221 


Denkens wie heute die Beziehung auf unabänderliche Naturgesetze; bei 
dem kleinsten häuslichen Vorgänge war der Einfluss eines Engels oder 
Teufels eine der nächstliegenden Erklärungen, so etwa wie noch heute 
der russische Bauer annimmt, das Feld seines Nachbars sei besser 
gediehen, weil er den mächtigeren Schutzheiligen in seinem Hause aufge- 
stellt habe. Es wurde mit tiefem Ernst erörtert, ob Teufel oder Engel 
mit menschlichen Frauen Kinder zeugen können und wie das geschehe; 
als eine Formel, die das Meiste der satanischen Leistungen hinreichend 
klärte, galt die Annahme der „Zulassung Gottes“. Hielt Jemand die 
entsetzliche Marter der Folterung ohne zu gestehen aus, so lag es näher, 
als an die Kraft zu denken, welche fester Wille und Bewusstsein der 
Unschuld verleiht, da wieder ein Wunder, d. h. eine teuflische Gegenwirkung 
vorauszusetzen, welche die heilsame Aufgabe des Richters durchkreuzt. 

Und alles das 1 ) war absolut allgemeine Ueberzeugung, ohne 
dass je eine logische Begründung dafür gegeben war und 
ohne dass je darnach verlangt worden wäre. Der Gedanke, dass 
kritisches Zweifeln möglich sei, dass irgend etwas in den zahl- 
losen dogmatischen Lehren eines Beweises bedürfe, er musste erst 
entdeckt werden, nachdem man inzwischen inductives Denken 
gelernt hatte , auf mechanische und naturwissenschaftliche Probleme 
anzuwenden. Montaigne hatte etwas überraschend Neues ausge- 
sprochen, als er sagte, der gesundeMenschenverstand lasse ihn nicht 
daran glauben, dass alte gebrechliche Weiber auf Ofengabeln durch die 
Luft flögen; denn vorher war das zur Evidenz dadurch bewiesen worden, 
dass ja der Teufel sogar Jesus durch die Luft entrückt und davon ge- 
tragen habe. Nicht der Tiefstand der Kenntnisse im Mittelalter ist 
Schuld an all’ jenen sinnlosen Ideen, sondern die Ausschliesslich- 
keit der scholastischen Denkgewohnheiten bei den bedeuten- 
deren Köpfen der Zeit, der Umstand, dass alle principiellen Vorstellungen 
nur und allein dogmatischen Ursprung hatten, etwa so wie es heute 
noch bei dem chinesischen Volk und dessen Gelehrten besteht. 
Quantitativ war die geistige Arbeit dabei eine sehr rege, viele Folianten 
wurden zusammengeschrieben und sehr viel Scharfsinn auf dogmatische 
Spitzfindigkeiten verschwendet. 

Sind das nun nicht empirische Thatsachen genug, die bezeugen, 
dass es einer gewaltsamen Ausschliessung der intellectuellen Kräfte gar 
nicht bedarf, um beliebige Vorstellungen zur subjectiven Ueberzeugung zu 
bringen? Einzige Bedingung ist, wie wir schon sagten, dass keine 
contrastirenden Vorstellungen nothwendig mit der anzunehmenden auf- 

*) Ueber Mehrere» vergleiche z. B. 8. Meyer, Aberglaube des Mittelalters, 
Basel 1884 und von Eicken, Geschichte der mittelalterlichen Weltanschauung 
Stuttgart 1887. 



222 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


tauchen. Es hätte also der vielerlei oft so sonderbaren^psychologischen 
Annahmen der Theoretiker der Suggestion nicht bedurft, welche zeigen 
sollten, wie auch die Wachsuggestion die Fähigkeit zum associativen 
Denken, die Thätigkeit des denkenden und wollenden Ichs aufhebt, wie das 
suggestive Handeln und Vorstellen ein lediglich „automatisches“ sei 
und so fort. 

Des Specielleren habe ich schon in meiner früheren Arbeit l ) 
unterschieden: 1. Die einfache Prim ärassoci ation, das Primär- 
urtheil und 2. Die Suggesti vi d e e. die S uggesti v asso c i ation. 
Unter beiden Ausdrücken fasse ich die Urtheile und Ideen zusammen, 
welche ohne logische Reflexion von dem Individuum gebildet oder an- 
genommen werden, und das ist sicherlich die übergrosse Mehrzahl aller 
Urtheile. Den ersteren kommt aber kein drängender Impuls zu, an ihnen 
festzuhalten und sie in Handlungen umzusetzen, d. h. sie zu bethätigen, 
z. B. bei den meisten Behauptungen und Lehren, welche wir Anderen 
glauben, ohne sie genügend zu überlegen, und welche dabei keinen 
stärkeren Eindruck auf unsere Phantasie oder Gemüth machen. Bezüg- 
lich der Suggestividee dagegen muss es uns genügen, ihren Werdegang 
beim religiösen Denken am jetzigen Orte anzudeuten. 

Ich vermag mir aber hier nur von der Verwerthung ethno- 
logischer Erfahrungen Erfolg zu versprechen, und auch da nicht von 
der Rücksichtnahme auf die complicirten Gestaltungen des Glaubens, 
wie ihn die grossen Offenbarungsreligionen darbietep. Das sind keine 
ursprünglichen Schöpfungen des Volksgeistes mehr, wie wir sie bei 
den primitiven , den sogenannten Naturvölkern noch antreffen. 
Mit Recht anerkannt ist für diese die klassische Darstellung, welche 
Tylor 2 ) gegeben hat, und sie gipfelt in der Annahme, dass ur- 
sprünglich das religiöse Denken auf einer Belebung aller Natur- 
objecte durch innewohnende geistige Kräfte beruhe, also dem „Ani- 
m i s m u s * , wie es T y 1 o r kurz ausdrückt. L i p p e r t 3 ) dagegen, der 
sich ebenfalls um das Problem verdient gemacht hat, führt jede Religion 
auf den Cultus der Verstorbenen, den „Seele nc ult“, zurück. Ich er- 
achte beide Annahmen und die sonstigen verwandten Theorien noch für 
nicht genügend. Ich selbst 4 ) habe vielmehr bereits, und wie ich glaube 

1 ) Fried mann. Weiteres zur Entstehung der Wahnideen und über die Grund- 
lage des Urtheils, Monatsschrift f*. Psychiatrie. Bd. 1. p. 455 u. ff.. Bd. II. p. 286 und 292. 

2 ) Tylor, Die Anfänge der Cultur, deutsche Hebers., Leipzig 1878. 

3 ) Unter den zahlreichen Werken dieses Autors am Besten vertreten iu 
Lippert, Christenthum. Volksglaube und Yolksbraueh, Berlin 1882, und derselbe, 
Culturgoschichto der Menschheit. 2 Bde.. Stuttgart 1SS0. 

b In der citirten Abhandlung: Weiteres zur Entstehung der Wahnideen^ 
Monatsschrift f. Psychiatrie. Bd. II, p. 279.— Der Begriff der „Eigenbeziehung“ 
ist übrigens zuerst von Clemens Ne iss er für die Erklärung des sog. Beachtungs- 
wahns in der Paramdalehre gebildet und verwerthet werden und ist mit Recht als 
eine treffende und scharfsinnige Begriffshildung anerkannt worden. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


99 *} 


zum ersten Male, hingewiesen, dass man eine primitive Suggestiv- 
association der Eigenbeziehung als den elementarsten Act dieses 
Vorstellungsgebietes zu erkennen vermöge. Jeder starke äussere 
Eindruck, jede Wahrnehmung, deren Einwirkung oder Wirkungsweise 
nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, wird beinahe immer und ohne jede 
begründende Ueberlegung auf das Subject und dessen Erlebnisse be- 
zogen. Es gehört nur dazu, dass der Eindruck ein kräftiger ist, 
und das ist dann der Fall, wenn er an sich stark und schreckhaft ist. 
wie etwa Blitz und Donner, das wogende Meer, ein thätiger Vulcan, 
oder aber wenn er auffallt durch seine Ungewöhnlichkeit, so z. B. eine 
Sonnen- oder Mondfinsterniss. Weitaus der heftigste Eindruck war aber 
zu allen Zeiten der Anblick des Todes. Beim letzteren kommt 
hinzu, dass bei keinem Menschen sich die überaus starken Associationen 
mit einer nahe verwandten gestorbenen Person in Bälde lösen. Es 
bleibt das Gefühl des Zusammenhangs mit ihr, und die Vorstellung, 
dass sie mit mir gefühlt und gedacht hat, kann ich nicht sobald aus 
mir entfernen; ich gedenke ihrer daher unwillkürlich wieder bei jedem 
für mich wichtigen Erlebniss und Thun. Der Gestorbene lebt also im 
Geiste des Verwandten, und er erscheint ihm ausserdem noch öfter im 
Traume Dazu kommt, dass wohl der Begriff des Sterbens, nicht aber 
derjenige des Todt- und Vernichtetseins vorstellbar ist; es gehört eine 
starke Abstraktionsfähigkeit dazu, um sich zu denken, dass das Leben 
und die geistige Persönlichkeit in einem Momente spurlos vernichtet 
werde, während doch der Körper ganz wie im Schlafe fortbesteht. 
Natürlich kämpft ausserdem noch der Selbsterhaltungstrieb mächtig 
gegen die Idee, dass auch das eigene Ich absolut zu existiren auf- 
hören solle. 

Zwischen einem mächtigen Gestorbenen, und das ist der Vater als 
Familienhaupt bei Naturvölkern beinahe immer, und zwischen jedem 
unglücklichen Erlebnisse, besonders einer Erkrankung* einem Schmerz, 
Eintreten der gefürchteten Dürre, entsteht nun eine directe und starke 
Ideenverbindung, eine Suggestivassociation, d. h. der Gestorbene ist es, 
der das Missgeschick veranlasst hat. Der Grund, das Motiv bei dem 
Todten ist immer dasselbe wie bei jedem lebenden Menschen, jener ist 
ärgerlich und zornig und hat darum den Schaden veranlasst. Er ist 
auch ebenso wieder zu begütigen wie der Lebende , man muss ihm 
Geschenke. Speise und Trank geben und legt also solche am Grain» des 
Gestorbenen nieder. Wie es der Todte macht-, um dem Ueberlebenden 
zu schaden, auf welche Weise er Nutzen und Besitz gewinnt von den 
am Grabe deponirten Speisen, darüber haben die Naturvölker nie wirk- 
lich nachgedacht. Ganz die gleiche unmittelbare Association wird aber 
bei einem beliebigen anderen Eindrücke lebhafter Art gebildet : kommt 
ein Europäer, der die Neger stark aufregt, neu an einen Ort und wird 



224 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


gleichzeitig — aber viele Meilen entfernt — ein Häuptling von einem 
Elephanten auf der Jagd verwundet oder gar getödtet, wurde eine Frau 
von einem Krokodil zerrissen an einem Fluss, an dem der Europäer 
geweilt hatte , in allen solchen Fällen wird das erlittene Unglück 
verknüpft mit dem Erscheinen des Europäers, dieser ist Schuld daran, er 
ist wie man da und dort sagt ein „Seelenesser“. Wie das zugeht, 
warum das geschehen sei, auch darüber haben die Leute nie versucht 
sich einen Begriff zu machen. Es genügt, dass der Europäer ein 
mächtiger Mann ist, also kann er das machen. 

Das sind Beispiele primärer Eigenbeziehung, das eigene 
schlimme Erlebniss wird einfach verknüpft mit einem anderen starken 
und die Phantasie lebhaft beschäftigenden Eindrücke, also der Er- 
innerung an das gestorbene Familienhaupt und mit dem gerade ge- 
kommenen Weissen. Ist diese Erinnerung nicht mehr frisch, d. h. der 
Vater schon eine Reihe von Jahren gestorben, so spielt er keine Rolle 
mehr, und schlimme Begebenheiten werden nicht mehr auf ihn bezogen. 
In analoger Weise werden nun alle dem Menschen auffälligen Natur- 
dinge, und insbesondere die ihn schreckenden darunter, in directen 
Connex mit ihm gesetzt : so hat vor Allem die Sonnen- und Mond- 
finsterniss directen Bezug auf ihn, sie ist geschehen, weil er das Gestirn 
erzürnt hat, eine lange Regenlosigkeit ist ebenfalls seinetwegen aus- 
gebrochen, weil irgend Jemand sich vergangen hat, etwa eine verheiratete 
Frau verführt worden ist. Die Religionen, welche einen persönlichen 
Gott voraussetzen, zeigen die selbtverständliche Idee, dass der Gott jeden 
Gedanken des Menschen kenne, dass jedes Erlebniss des Menschen durch 
den Gott bewirkt sei, dass er, der Mensch, seinem Gott jedes Anliegen 
sagen könne, kurz die Eigenbeziehung zwischen dem Menschen 
und seinem Gotte ist hier die denkbar engste. 

Das ganze primitive Denken und ebenso diese Eigenbeziehungen 
klären sich nun für uns erst von dem Moment ab, wo wir uns frei 
machen von dem Vorurtheile, als ob darin irgend ein Begriff ent- 
halten sei. Ich habe das in den früheren Arbeiten ausführlich aus- 
einandergesetzt und möchte jetzt nur an ein klassisches Beispiel zum 
Beweis dessen erinnern : der Indianer in Peru, der auf die Reise geht, 
speit einen Cokaballen, wie er ihn stets im Munde führt, an eine Fels- 
wand. Findet er bei der Rückkehr dieses Zeichen noch intact, so war 
seine Frau ihm inzwischen treu gebliehen ; ist der Cokaballen herab- 
gefallen, so war die Frau untreu, und das steht für ihn fest 1 ). Ferner, 
lässt man sich von einem für klug und mächtig gehaltenen Europäer 
anspeien oder kann man gar Haare von dessen Haupt erhalten, so ist 

r ) Offenbar lässt sich zwischen dem Experiment mit dem Cokaballen und der 
Treue der Ehefrau gar kein innerer oder begrifflicher Zusammenhang hersfellen. 
und nicht einmal die llilfsvnrstellung der Zauberei scheint dabei mitzuspielen. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


225 


damit dessen Kraft und Verstand ebenfalls übertragen worden. Kann 
umgekehrt ein Anderer Haare, Nägel, Reste der genossenen Speise eines 
Australiers oder Negers erlangen, so ist der frühere Besitzer überzeugt, 
dass jener Macht über ihn erlangt habe, dass ihm Alles passiren werde, 
was seinen Effluvien widerfahrt; werden diese verbrannt, so muss er 
sterben, und er ist zu grossen Opfern bereit, um etwas der Art abzu- 
wehren. Seine Krankheiten oder gar sein Tod sind gewöhnlich auf 
solche Tücken eines Feindes zurückzuführen und glaubt man den 
Schuldigen erkannt zu haben, so muss er von den Hinterbliebenen im 
Wege der Blutrache getödtet werden. In dem letzteren Falle findet 
eine evidente Eigenbeziehung statt; die Effluvien werden bezogen auf 
ihren früheren Besitzer, und das was mit den Haaren oder Nägeln 
geschieht, wird noth wendig ebenso direct bezogen auf ihn selbst. 

Für diese starken Associationen besteht wie gesagt ein unmittel- 
barer Impuls. Da aber auch der primitive Mensch nicht bemerkt, wie 
das zugeht, so nimmt er an, dass dazu b e s o n d e r e Fähigkeiten nöthig 
sind, welche besondere Menschen besitzen, das sind seine Priester, 
Schahmanen, Fetischmänner. Diese sind ihm weiter nöthig für seine 
Reaction gegen die Einwirkungen, welche die Natur und böse 
Menschen ihm gegenüber üben. Die Reaction selbst geschieht so gut 
wie stets „in’s Blaue“, Er muss etwas thun, wenn die Sonne sich ver- 
finstert, wenn der Verstorbene ihm eine Krankheit schickt, er muss 
denjenigen ermitteln, der seine Haare oder Nägel verbrannt hat, er 
muss Sorge tragen, wenn der nöthige Regen ausbleibt. Was geschieht, 
das ist an sich gleichgiltig und ist Sache des Herkommens. Genug, es 
geschieht in der Absicht, das Schädliche abzuwehren, das Nützliche 
herbeizuführen. Oft wird einfach das gethan, was man bei seinem 
Nebenmenschen gewohnt ist zu machen, wenn man ihn abschrecken 
oder gewinnen will; so verführen zahlreiche Völker bei der Verfinsterung 
der grossen Gestirne einen Heidenlärm und schiessen mit ihren Pfeilen 
nach der Sonne, um das Ungeheuer zu verscheuchen, das sie wie man 
voraussetzt verschlingen will. Die Verstorbenen werden, wie wir ge- 
sehen haben, in solchem Falle eifrig bewirthet; das ist der vielberufene 
Ahnencult, den auch der Chinese l ) ganz ebenso treibt. In allen 
übrigen Fällen, wo man aus Mangel an Analogien mit dem Treiben 
der Menschen nicht recht weiss, was man thun solle, hat sich eben das 
Institut der Fetisch-, Medicinmänner u. s. w. ausgebildet, welche man 
für weiser und mächtiger hält als die Masse des Volkes. Bei den 
Negern nehmen diese beliebige seltsame Steine oder sonstige Dinge und 
erklären, dass man mit deren Hilfe die Geister günstig stimmen, Krank- 

J ) Die sehr interessanten Details siehe hei A. Reville, Religion chinoise. 
Paris 1889. 



226 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


heiten ab wehren könne; das sind die einfachsten Amulete und Fetische. 
Die Art, wie sie zu dieser Wirkung gelangen, ist charakteristisch; 
wenigstens in einer Reihe von Fällen geht der Mann aus in der Ab- 
sicht, ein Object der Art zu suchen, und das was ihm dann zuerst auf- 
fallt, ist ein solcher einfacher Fetisch. Der junge Indianer begiebt sich 
allein in die Wildniss, fastet dort einige Tage, legt sich zum Schlafe 
nieder, und das Ding, das Thier, welches ihm beim Erwachen zuerst 
auffällt, ist sodann seine „Medicin 44 , ersteres trägt er zeitlebens am Halse 
aufgehängt bei sich, das betreffende Thier aber wird sein persönlicher 
Schützer, sein Totem. 

Der suggestive Charakter in diesen Fällen ist so evident, dass 
eine Erläuterung dazu entbehrlich ist. In anderen Fällen handelt es 
sich um eine Analogie von gröbstem Kaliber: so wird das Regen- 
machen bewirkt, indem der Fetischmann an einem verborgenen 
Orte ein Gefäss mit Wasser aufstellt, das er verdunsten lässt; dieses 
soll dann den Regen herbeiziehen. . Zum Prophezeien, das ebenfalls 
intensiv verlangt wird, werden .jeweils Hantirungen nach dem gleichen 
Princip ausgeführt; ein Schema der Art, welchem die meisten anderen 
ähnlich sind, besteht darin, dass bei einem beabsichtigten Kriege zwei 
Reihen von Hölzern oder Zweigehen lose in die Erde gesteckt werden. 
Sie bedeuten Freund und Feind; derjenige wird siegen, von dessen 
Hölzchen die Mehrzahl am folgenden Tage noch stehen geblieben ist. 
Waren das nicht die der eigenen Partei, so wird das Unternehmen vorerst 
unterbleiben. Wir haben hier das Muster eines ungemein häufigen und 
über die ganze Erde verbreiteten Vorgehens, des Ordals. Häufiger 
wird es bei Anklagen auf Zauberei, welche den Tod Jemandes ver- 
schuldet haben soll, so gehandhabt, dass dem Kläger und dem Beschuldigten 
ein Gifttrank gereicht wird: der Unschuldige wird ihn schadlos aus- 
brechen. Auch das ist einfacher Analogieschluss; die Idee einer gött- 
lichen Gerechtigkeit, welche nicht den Tod eines Unschuldigen zulassen 
würde, findet sich bei Naturvölkern auch nicht in der leisesten An- 
deutung. 

Sehr interessant und wichtig ist es nun, dass bei allen primi- 
tiven Völkern sich mit diesen primitiven Suggestivideen, welche im 
W esentlichen ihr religiöses Denken darstellen, auch die stärkere Sug- 
gestivwirkling, die Exstase oder Hypnose verknüpft. Auf die Art 
und W eise ihrer Herbeiführung haben wir später zurückzukommen. Bei 
den Negern und tiefer stehenden Naturvölkern wird hauptsächlich 
eine religiöse Feier damit bezweckt: es werden ungemein geräusch- 
volle und anstrengende Tänze gemeinsam dargestellt und dabei ver- 
fallen die Fetiscbmänner in hysterische Krämpfe. Bei den Schahmanen 
der sibirischen Völker und der Indianer ist der Zweck der, auf diesem 
für den Schahmanen selbst und für das zuschauende Volk äusserst auf- 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


227 


regenden Wege Inspirationen zu erhalten und in Verkehr mit den 
Geistern und den Verstorbenen zu kommen. Im Zustande der Exstase 
nach den vorausgehenden Krämpfen geben die Schahmanen Aufschluss 
über das Gewünschte, d. h. gewöhnlich über die Ursache einer Krank- 
heit und die Mittel, sie zu beseitigen. 

Es wird dem Leser schon aufgefallen sein, dass im Uebrigen die 
verbale Einwirkung keine Rolle bei den einschlägigen Maassnahmen 
der Naturvölker spielt, alles wird durch Manipulationen und Hantirungen 
zu erreichen gesucht. So giebt es auch kaum ein Gebet, das an die 
Geister und Kräfte in der Natur gerichtet wird. Das ist noch zu ab- 
stract auf dieser Stufe; will man einem Verstorbenen etwas mittheilen, 
so tödtet man einen Sclaven auf dem Grabe, den man vorher instruirt 
hat; dieser soll die Botschaft bringen. Es fehlt auch noch gänzlich 
der Begriff des Wunders, es fehlt ebenso das Erstaunen über 
Leistungen besonderer Art, z. B. das Feuergewehr. Alles ist möglich, 
was die Leute überhaupt denken, Nichts wird zu begreifen gesucht (von 
theoretischen Dingen); nichts braucht bezweifelt zu werden. Es wäre 
möglich, dass eiserne Nägel, welche man in die Erde säet, wachsen und 
sich vermehren; wenn man einen Fetisch mit Nägeln beschlägt, damit 
er dadurch Schmerzen bekommt, und damit er dann den Mann, etwa 
einen Dieb, um deswillen man die Nagelung vornimmt, straft, so zweifelt 
Niemand, dass das so geschehen wird, und an mehreren Orten ist das 
die beste Methode, um sein gestohlenes Gut wieder zurück zu erhalten. 
Die religiöse Handlung des Gebetes und der Wunderbegriff gehören 
somit einer höheren Stufe der Religion an, wo die Menschen schon zu 
r e f 1 e c t i r e n begonnen haben. Hier hat denn auch das ge- 
sprochene Wort seine starke Wirkung auf den Nebenmenschen er- 
langt, es ist ein suggestiver F a e t o r e r s t e n It ungos geworden, 
während auf primitiver Stufe nur der starke leibhaftige Sinnes- 
eindruck suggestiv wirkt. Dort, bei vorhandener Reflexion, sucht 
man die Kräfte der Natur hinter den Dingen und Einwirkungen, der 
Animismus findet sie in den Dingen, er trennt nicht Beides und 
denkt überhaupt nicht darüber nach. Daher hat erst die höhere Religion 
einen persö n li dien Gott, und der Gläubige kann nun auch persön- 
lich mit „seinem“ Gott verkehren. 

Deshalb sind aber auch die religiösen Suggestionswirkungen nicht 
mehr so unmittelbar, die directen Suggestiv ass o ci a t i o n e n sind 
spärlicher geworden — Reliquienwirkungen. Gespensterfurcht, überhaupt 
das Meiste von dem, was Abergla ube genannt wird, gehört noch hierher. 
— dafür sind jetzt die S ugges t i v i de e n ausgebildet. Nun erst über- 
nimmt der Vertreter der Religion, der Stifter und Priester, das per- 
s ö n 1 i c h e u n d v e r b a 1 e S u g g e r i r e n als ei n e i g e n e s A m t , 
während der Schahmaiie und Fetischmann die Reaction des primitiven 



228 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Menschen gegen die animistischen Kräfte und Factoren nur in seiner 
Eigenschaft als geschickterer und mächtigerer Mann besorgte, also 
ledigl ich den Cult und die Krankheitsbehandlung ausübte. Da alle 
primitiven Menschen den gleichen Suggestivassociationen unterliegen, 
giebt es eigentlich keinen zu vertretenden Glauben, nur die Tradition 
des herkömmlich gewordenen Cultes und einige Mythen können Gegen- 
stand des Unterrichtes in religiösen Dingen dort sein. Der „Glaube“ 
auf höherer Stufe dagegen wird in seiner speciellen Fassung von Ein- 
zelnen ausgedacht, diese Fassung muss daher gelehrt werden. Das 
bleibende primär suggestive Element bei den höheren Religionen ist 
im Wesentlichen noch die Vorstellung von der persönlichen Eigen- 
beziehung zwischem dem Ich und Gott ; in zweiter Linie bleibt die 
Furcht des Menschen vor den Naturgewalten, und diese drängt auch 
in der höheren Religion zu dem versöhnendem Cult. Während noch 
die intensiv philosophisch denkenden Inder dem Siwa, dem „Zerstörer 
in der Natur“ einen grossen Theil ihres Cultes widmen, während die 
Cultreaction des primitiven Menschen nur die schädlichen Kräfte im 
Auge hat — nicht deshalb, weil er hauptsächlich pessimistisch und 
pan phobisch denkt, wie man beinahe stets es ausdrückt, sondern 
einfach weil nur die Gefahr eine Reaction nöthig macht, aber nicht 
etwa der günstige Sonnenschein! — : so hat der Monotheismus den 
Cultus auf den grossen und gütigen Gott begrenzt. Der primitive Glaube 
hat sich indessen im Begriff des Teufels erhalten. 

Im Uebrigen ist die Praxis der monotheistischen Religion erfüllt 
geblieben von Suggestivwirkungen, nur sind sie zumeist mit bewusster 
Absicht oder auch instinctiv herbeigezogen worden, in jedem Falle aber 
künstlich zur Einübung der religiösen Ideen geschaffen 
worden. 

So wurde durch Paulus das lange Zeit wohl stärkste suggestive 
Element formulirt, die Lehre von der Erbsünde und der Erlösung durch 
den Tod Christi. Dadurch wurde dasjenige in klarer Weise, wenn auch 
dogmatisch gefasst, ausgesprochen, was bei jedem Menschen Ursprung 
des religiösen Cultes ist, d. h. es wurde dem Schutzbedürfniss des 
Menschen gegenüber den göttlichen Gewalten (später kam besonders der 
»Schutz gegen den Satan durch den Glauben hinzu!) ein Mittel ver- 
heissen. Dazu kam die Form des Cultes selbst, dessen Hauptziel ist, 
die Suggestibilität des Einzelnen durch „Inbrunst 44 im Gebet, durch 
Gesang, durch eine gewisse Betäubung, die der Weihrauch verursacht, 
durch immer zunehmendes äusseres Gepränge, ganz besonders aber noch 
durch Askese zu steigern. Jetzt, wo die Wunder bei einem von 
hellenischem Geiste noch erleuchteten Volke als solche begriffen wurden, 
galten sie als die directesten Zeugnisse der Macht und des Eingreifens 
Gottes für seine Bekenner. Wer übrigens die Bekenntnisse des heil. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


229 


Augustinus theil weise wenigstens gelesen hat, der bekommt einen Begriff 
davon, in welch unmittelbarer Weise sich die Christen dieser Zeit in per- 
sönlichster Verbindung mit ihrem Gotte nicht dachten, sondern förmlich 
fühlten. Autosuggestionen in Gestalt directer göttlicher Eingebungen 
waren gewiss zahllos. Beim Gottesdienste waren Exstasen häufig und 
das „in Zungen reden“ waren wohl solche exstatischen Prophe- 
zeiungen Seitens der Gemeinde. 

Wie sehr endlich die ganzen Zeitverhältnisse, die Thaten, die 
Werkthätigkeit, die tadellose Sittenreinheit der ersten Christen, die zahl- 
reichen Märtyrer und so vieles Andere suggestiv zur Erhöhung des 
Glaubens beigetragen haben müssen, das ist ja unzählige Male von Be- 
rufeneren dargestellt worden. Unsere Aufgabe ist erfüllt, wenn wir ge- 
zeigt haben, dass in jeder Religion nicht logische Reflexion, auch nicht 
der Ideengehalt, sondern suggestive Factoren die Einpflanzung der 
wesentlichen Vorstellungen zu Wege bringen; und weiter, dass diese 
Vorstellungen pure, d. h. als sinnlich empfundene Vorstellungen 
wirken. Daher ist denn auch der Gedanke des Erlösungstodes Christi 
durch das Kreuz und das Cruzifix überall dargestellt worden, wo religiöse 
christliche Stätten sich finden, und der directe Connex mit Gott wird 
durch das Gebet mit persönlicher Anrede in allen Religionen gekenn- 
zeichnet. Nur plastische Schilderungen von Himmel und Hölle wirken 
thatsächlich auf die Hörer, durch eine grosse Summe von Ceremonial- 
wesen muss bei abstracteren Religionen, wie der jüdischen und dem 
Islam, das sinnliche Glaubenselement ersetzt werden. Sinnlich empfunden 
bleibt aber stets das Centrum jeder Religion, die „persönliche Eigen- 
beziehung“ zum Gotte. — 

Versuchen wir es nun. die vorstehenden, allerdings nur ganz kurz- 
gefassten Erörterungen in eine allgemeinere Fassung zu bringen! 
Wir haben auf der primitiven Stufe des menschlichen Denkens nur 
zwei Gebiete, die wir wenigstens theoretisch von einander trennen 
können : Das eine ist das Gebiet der praktischen und technischen Lebens- 
fürsorge, Kleidung, Nahrung, Schutz vor feindlichen Angriffen u. s. w. 
Hier ist Alles, was erlebt und entsprechend vorgestellt wird, unmittel- 
bar sinnlich, erfahrungsmässig (empirisch). Die Wirkung der Nahrung 
wird empfunden, der Erfolg oder Nichterfolg der menschlichen Maass- 
nahmen und Einwirkungen für seine Lebenshaltung wirl ebenso direct 
sinnlich „wa h rg en om m eil“. Wir treffen aber noch auf ein 
zweites mächtiges Gebiet, das, wie die Ausgrabungen aus der Urzeit 
mit ihren reichen Gräberbeigaben beweisen, ebenfalls schon vom ersten 
Dämmern des Menschengoistes ab bestunden hat. Auch hier macht die 
umgebende Welt und Natur Eindrücke auf den Menschen, aber sie 
nützen ihm weder, noch schaden sie ihm direct, er bemerkt sinnlich gar 
keine Wirkung. So hat der gestorbene Mensch aufgehört, noch wie der 



230 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Lebende dem Nebenmenschen durch Wort oder That gegenüber zu 
treten, der rauschende Wald, das sich verfinsternde Tagesgestirn, das 
seltsame Naturobject sind ohne merkbaren Effect; kurz Nichts bezeugt, 
dass es noch andere als natürliche, d. h. übernatürliche Kräfte und 
Wirkungen giebt. Aber auch auf diese Natureindrücke und Potenzen 
sucht der Mensch seinerseits einzuwirken, und auch da hat er noch nie 
wirklich wahrgenommen, weder wie er, etwa auf die Sonne oder den 
Gestorbenen, einwirken kann, noch dass er je einen Effect erreicht hat. 

Tritt man dieser zweiten Kategorie von Vorstellungen naher, so 
bemerkt man, dass der Mensch viel mächtiger von ihnen erregt wird, 
als von der ersteren, und dass er ganz ungleich grössere Opfer an 
werthvollem Besitz für sie hinzugeben pflegt, als da wo er practische 
Ziele vor Angen hat, z. B. Erwerb eines wichtigen Geräthes, Schutz 
vor Hunger u. s. f. Namentlich folgt der beste Theil der ganzen Habe 
dem Todten ins Grab, und oft ist der Diener bereit, am Grabe sein 
eigenes Leben zu opfern, um dem Häuptlinge nachzufolgen. Nun zeigt 
sich weiter, dass die gebildeten Vorstellungen thatsächlich nicht 
theoretischer Natur sind, sie entspringen einem instinctiven associativen 
Impulse der persönlichen Eigenbeziehung, d. h. alle eigenen Erlebnisse 
des primitiven Menschen, die ihn schrecken und deren Herkunft er nicht 
kennt, z. B. Krankheit oder Missernte, werden von dem dem Menschen 
nahestehenden Todten, aber auch von irgend einem durch sein Erscheinen 
ihn aufregenden Europäer hergeleitet, welch’ letzterer zufällig zu dieser 
Zeit ortsanwesend war. Aber wie das geschehen sein soll, auch dar- 
über hat der primitive Mensch nie auch nur sporadisch nachgedacht. 
Die einzige Hilfsvorstellung ist die, dass er sich den Todten noch 
irgendwie als Geist lebend denkt und dass er ähnliche Geister in die 
Naturdinge versetzt (animistisehe Vorstellung). Wie mechanisch 
diese Eigenbeziehung auf den Todten geübt wird, ersieht man auch 
daraus, dass man ihn nicht für an sich mächtig erachtet, und dass man 
sich daher so gut wie nie hilfesuchend an ihn wendet. 

Das aber, was so auf den Menschen wirkt, das sind immer 
s t a r k e a u fr e g ende S i n n e s eindrücke. wie der Tod eines nahen 
Verwandten, die Sonnenfinsterniss, Blitz und Donner. Ist das Alles 
richtig, so kann, soweit ich sehe, nur ein Schluss gezogen worden: 
jeder starke Eindruck bewirkt direct ohne Reflexion und ohne 
Motiv bestimmte für den Menschen zwingende Ideenassociationen, be- 
sonders die der Eigenbeziehung, und er veranlasst ebenso direct den 
starken Impuls zu einer thätigeii Roaction darauf, deren Wirkungsart 
ebenfalls nicht überlegt wird. 

Auf dieser natürlichen Suggestibilität ruht nun auch in aller 
Zukunft das religiöse Vorstellen und Thun, und es sind die erregenden 
Vorstellungen immer die starken Natureindrücke. Auf höherer Cultur- 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


231 


stufe beginnt aber auch das Reflectiren, und der Mensch hat über die- 
selben Dinge, die ihn impulsiv erregen, auch theoretisch nachzudenken 
begonnen. Es ist nun eine einfache Thatsache allgemeinster Erfahrung, 
dass ein solches rein theoretisches Raisonnement nie Einfluss auf eine 
grössere Zahl von Menschen erlangt hat, es blieb stets Vorrecht weniger 
mächtiger Geister, der Philosophen. Dagegen ist der Animismus ver- 
bunden mit der Idee der Eigenbeziehung veredelt worden zu dem 
monotheistischen Dogma; aber es haben auch hier wieder in weitaus 
erster Linie rein suggestive Einflüsse gewaltet bei der Einpflanzung 
dieser zur Idee erhobenen religiösen Vorstellung. Alle Stifter haben 
sich in religiösen Exstasen befunden, sie haben direct autosuggestiv 
sich im Verkehr mit ihrem Gotte gefühlt, ihre Lehren haben ihnen selbst 
und den Anhängern als inspirirt gegolten. Welche weiteren sugge- 
stiven Wirkungen stattgehabt haben, wurde oben auseinandergesetzt. 
Namentlich die verbale Suggestion, das eindringliche und sinnlich 
auschauliche „Predigen“ der Lehre wurde immer wichtiger, und 
schliesslich wurde ein intellektuell besonders begabter und ziemlich 
zahlreicher Theil der Menschen mit der ausschliesslichen Lebensaufgabe 
betraut, als Priester die dogmatische Fassung zu vertreten. 

Aber auch das impulsive Reactionsbedürfniss ist das 
gleiche geblieben, und dabei hat sich eine zweite Seite neben dem 
Cult eröffnet, die weitere Propaganda für die Lehre. Wir wissen, 
wie fanatisch oft der Drang für letztere sich geäussert, welche Ströme 
von Blut sie gekostet* hat. Auch für die Propaganda kann kein logisches 
Motiv geltend gemacht werden, es ist der Drang, Anderen zu sugge- 
riren, was die Person selbst so stark erfüllt. 

Mit einem W orte zusammengefasst , wir sehen : Die Vor- 
stellung an und für sich ist eine starke psychische Kraft 
oder M acht, sie drängt, ohne dass irgend eine Reflexion 
betheiligt zu sein braucht, sowohl zu überzeugenden 
Associationen und Ideen als zu impulsiven Handlungen. 



II. Wahnideen im Völkerleben auf einfach suggestiver 

Grundlage. 


Die im Vorstehenden weitläufig dargelegte psychologische That- 
sache, dass zahlreiche, ja man kann fast sagen beliebige Ideen ohne 
jede positive Motivirung vom menschlichen Geiste Besitz ergreifen 
können, dass gerade sie ihn mit tiefer und leidenschaftlicher Ueberzeugung 
zu erfüllen und ihn zu impulsiver, oft fanatischer Bethätigung anzu- 
spornen pflegen, diese Thatsache ist für die geistige Geschichte der 
Menschheit von grösster und sehr oft beklagenswerther Tragweite ge- 
wesen. Die einzige Bedingung, dass keine offenen Widersprüche solchen 
Ideen beiwohnen dürfen, hat offenbar um so geringeren hemmenden 
Werth, je kleiner die Summe positiver Errungenschaften ist, welche auf 
dem Gebiete der geistigen Forschungsarbeit vorliegt, oder welche der 
einzelne Mensch besitzt. Das war ja recht wenig bis zum Anbruche 
der modernsten inductiven Aera, aber auch heute noch ist die Zahl der 
Ideen, welche sich nicht widerlegen lassen, gewiss um Vieles grösser 
als die der für undenkbar zu erachtenden Vorstellungen. Die wichtigste 
Errungenschaft der Neuzeit in dieser Hinsicht ist daher eine methodo- 
logische ; sie hat einerseits dem kritischen inductiven Denken den ersten 
Rang in der Würdigung der Gebildeten verschafft, und andererseits hat 
sie die fanatischen Ansprüche der Vertreter suggestiver Denkgebiete 
wesentlich beschränkt. Aber sie hat selbst auf wissenschaftlichem 
Gebiete direct nach der Vernunftkritik Kant's die beinahe unglaubliche 
neuplatonische „Begriffsdichtung“ eines Schelling und Hegel nicht 
verhindern können, über welcher die drei Jahrzehnte voll naturwissen- 
schaftlicher Speculation für den geistigen Fortschritt verloren gingen; 
sie kann nicht vereiteln, dass auch Forscher von Namen dem spiri- 
tistischen Unsinn zum Opfer fallen. Weniger verwunderlich ist, dass 
eine Reihe meist minder bedeutender Naturforscher dem freilich groben 
Denkfehler erlegen sind, im erklärten Gegensatz zum religiösen Spiri- 
tualismus eine rein materialistische ebenfalls dogmatische Theorie 
aufzustellen, während der allein wissenschaftlich haltbare Standpunkt 
in den letzten Fragen der des „Agnosticismus“ ist. 

Im Uebrigen kommt bei den die Massen erregenden Ideen noch 
der eminent wichtige Factor hinzu, dass intellektuelle Hemmungen 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


233 


nur so lange wirksam zu bleibeu pflegen, als die Bewegung im Beginne 
steht und noch relativ wenig Anhänger zählt. Denn die weitaus stärkste 
Hemmung für jeden einzelnen Menschen ist die Rücksicht auf die ihn 
umgebende öffentliche Meinung; durch dieses in erster Linie wieder 
suggestive, aber doch auch sehr starke praktische Moment wird der 
Einzelne von der Geltendmachung, ja sogar von der eigenen Verfolgung 
solcher Ideen abgehalten, die für thöricht oder verwerflich gelten würden. 
Und darin scheint mir auch ein sehr wesentlicher Grund zu liegen r 
warum wir abnorme Ideenbildungen, die bei E i n z e 1 n e n sich ereignen r 
in intensiver und die Person durchaus beherrschender Ausbildung eigent- 
lich nur auf geistig krankhafter Basis zu treffen pflegen, während 
eine noch physiologische Exaltation genügt, um ganz ähnliche Gedanken- 
richtungen in einer compakteren Gruppirung von Personen zum vollen 
Durchbruch zu bringen. Die Sectenbildungen mit Selbstmord- und 
Mordimpulsen grösseren Stils sind packende Beispiele dafür, und wir 
werden Einiges davon bald kennen lernen. Sowie die Personen Halt 
und Aufmunterung bei Genossen sehen, erlischt die Scheu vor „dem 
Urtheil der Welt“, und ist gar die Zahl der Anhänger eine beträchtliche T 
so kann ein förmlicher Kampf bis zum Terrorismus für die Idee geführt 
werden. Vom letzteren hat wieder die jüngste Gegenwart in der schon 
erwähnten Dreyfusaffaire uns stets neue Proben geliefert ; ist es 
doch so weit gekommen, dass die Vertheidiger des elementaren Rechts 
— das sonst zum unerschütterlichen Fels in dem öffentlichen Volks- 
geist geworden ist — sich vor der Aechtung und böswilligen Verläumdung 
mühsam schützen müssen, und dass selbst das gewissenhaft gefällte 
richterliche Urtheil zu Gunsten eines „Dreyfusard“ öffentlich verdächtigt 
wird. Ich hebe diesen Fall besonders heraus, weil da in einer dem 
ganzen Auslande voll evident gewordenen Sache l ) auf dem Gebiete 
öffentlicher Rechtsprechung fast das gesammte französische Volk heute 
noch wie zu Anfang in einem hässlichen suggestiven Wahn verharrt. 
Nicht der an und für sich kaum interessante Rechtsfall selbst oder die 
sicherlich uninteressante Person des Dreyfus waren es daher, welche 
über Jahr und Tag die Spannung des gesitteten Europas wach gehalten 
hatten, sondern das bei jedem einzelnen im Ausland gröblich beleidigte 
Rechtsgefühl, der von Jedem innerlich geführte „Kampf ums Recht“. 
Und man macht sich kaum einer Voreingenommenheit gegen das 
französische Volk schuldig, wenn man sagt, sein Verhalten habe hier 
sich nicht weit entfernt von demjenigen eines querulirenden 
Paranoikers. Insofern ist dieses Beispiel suggestiver Massenerregung 
eines der wichtigsten, das auf diesem geistigen Gebiete in der modernen 


!) Vergleiche 0. Mittelstadt: Die Affaire Dreyfus, Berlin 1899, wo schon 
vor dem Renner Prozess ein erdrückendes Material sich verzeichnet findet. 



234 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Culturgeschichte vorgekommen ist. Wer die ganze Macht sowohl der 
erregenden Momente wie des Fehlens genügender Hemmungen in diesem 
Falle ermessen will, der erwäge mit sich noch den schrankenlosen Ein- 
fluss der Tagespresse einerseits, die aufgedrungene Energielosigkeit 
einer stets ephemeren und vom Volksgeiste absolut abhängigen Regierung 
in Frankreich andrerseits. 

Ein zweiter ziemlich ebenso starker unterstützender Faktor bei 
den Massenerregungen findet sich in der suggestiven Gewalt des un- 
mittelbar vor Augen jedes Betheiligten stehenden Vorbildes und 
Beispieles. Der Impuls zur Nach ahm ung sich ausbreitender, vom 
Erfolge getragener Bewegungen ist allenthalben schon bekannt und 
gewürdigt. Er ist speciell in allen hysterischen Epidemien früherer und 
moderner Tage als das wohl wirksamste Moment hervorgetreten und 
wird uns im nächsten Abschnitte daher wieder begegnen. Aber er 
kommt den rein ideellen Bewegungen mindestens ebenso stark zu, in- 
dessen lassen sich die Details dieser Wirkung so leicht von jedem 
meiner Leser begreifen und zergliedern, dass ich mich damit nicht 
weiter aufzuhalten brauche. 

Haben wir damit die zwei hauptsächlichen unterstützenden 
Factoren kennen gelernt, welche das Umsichgreifen auch von abnormen 
und oft widerwärtigen Massenbewegungen verständlich machen, so wirft 
sich nun Für uns das Problem auf. wodurch die Einpflanzung, die 
Entstehung derselben bedingt werde, w T as das ist, was man heute ge- 
wöhnlich als die „werbende Kraft“ der Ideen bezeichnet. Wir 
kommen damit auf ein Gebiet, das einen so umfassenden Theil der 
ganzen Culturgeschichte bedeutet, dass es mir kaum möglich ist, die zu 
gebenden Andeutungen auch nur dürftig mit thatsächlichem Stoff zu 
bekleiden. Fasse ich das näher in's Auge, was uns allein hier angeht, 
die in’s Wahnhafte übergreifenden Massenerregungen, so kann ich 
eigentlich nur sagen, dass abgesehen von dem mehr zufälligen perversen 
Inhalte der Ideen ihr psychologischer Charakter sich nur durch die 
extreme und meist episodische Bekundung unterscheidet von den 
edleren und fördernden ideellen Bewegungen. Haben aber nicht auch 
die Kreuzzüge, die französische erste Revolution, der 48 er Völker- 
frühling denselben stürmischen Charakter besessen, sind viele der 
Religionsgründungen, vorab die des Islam, nicht ebenso vor sich ge- 
gangen? Immerhin aber, das dürfen wir zum Ruhme der Menschheit 
sagen, im Allgemeinen haben die perversen Bewegungen doch meist nur 
Minoritäten, wie z. B. im Anarchismus, in der Weise mit sich fort- 
gerissen, recht oft nur beschränkte Gruppen und Sekten. 

Aber doch in einem scheinen die perversen Bewegungen ihre 
psychologische Besonderheit zu haben, das ist, sie scheinen noch all- 
gemein menschlicher zu sein, d. li. sie wurzeln tiefer in der 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


235 


Volksseele, sie bringen an sich Nichts Neues an den Tag. 
Alte von je glimmende Leidenschaften und Wahngebilde, öfter das was 
gemeiner Aberglaube ist, bricht mit einem Male hervor und tritt nun 
gleich einem reissenden Strome über seine Ufer. Man hat naturgemäss 
gerne auch hier eine pragmatische Geschichtsbehandlung zu üben 
gesucht, man wollte z. B. nachweisen, wie mit * den grossen legalen 
Volksbewegungen, gleichsam angeregt und befruchtet dadurch, oft auch 
als Reaction, die perverse Stimmung und Unterströmung Leben gewinne. 
Der Aufklärung des letzten Jahrhunderts ging parallel der schon er- 
wähnte pietistische Rückschlag, an den als Retter von der socialen 
Knechtung des Proletariats aufgetretenen socialistischen Idealismus hat 
sich der blutige Anarchismus geheftet, die grosse Reformation Luther’s 
liess die Wiedertäuferorgien emporwachsen ; dem weltbefreienden und in 
ebenso schwärmerisch religiösem Idealismus als thatkräftiger Menschen- 
liebe erblühenden Christenthum ist die selbstsüchtig versunkene ana- 
choretische Bewegung gefolgt. — An dieser Auffassung scheint mir also 
sicherlich etwas Wahres zu sein, und dennoch lässt uns ein näheres 
Eingehen auf die Dinge in solchem Sinne meist unbefriedigt. Wir 
verstehen doch nicht, warum diese perversen Regungen, welche doch so 
tief in der Menschenbrust gegründet sind, gerade jetzt zum Ausbruch 
kamen, warum z. B. gerade der Anarchismus, dem doch im Herzen zu 
allen Zeiten ein leider so grosser Theil der Menschen, alle rabiaten und 
verbrecherischen Naturen zujauchzen würden, warum er bisher nur das 
eine Mal ernsthaft und in grösserem Stile sich gezeigt hat. 

Diese Bewegung speciell scheint mir ganz sicher einigen wenigen 
gar nicht anrüchigen Männern und, ausdrücklich sei es gesagt, Theo- 
retikern , vor Allem P r o u d h o n , ihren Ursprung zu verdanken. 
Und damit komme ich zu dem Punkte, der mir auch hier wieder der 
wesentlichste zu sein scheint. Man hat sich, glaube ich, viel zu sehr 
gewöhnt, den Einfluss weniger bedeutender Geister in allem 
geistigen Leben und Fortschreiten der Völker zu unterschätzen, sie zu 
sehr als Kinder ihrer Zeit, wenn auch als die besten, zu betrachten. 
Die Opposition gegen den Autoritätsglauben geht da zu w^eit. So meine 
ich auch, der Stillstand der sogenannten passiven oder Halbculturvölker 
Asiens, theilweise sogar der Naturvölker, rührt grösstentheils her von 
ihrem einförmigen geistigen Niveau, von dem Fehlen genialer 
Männer, welche neue geistige Wege finden und bedeutend und 
stark genug sind, auch die geistige Führung an sich zu reissen. Was 
haben da nicht die wenigen Genies, ein Dschingis-Khan, ein 
Mohammed über die vorher todten Massen vermocht? Nur mit Be- 
schämung kann ich es lesen, wenn ein Biograph wie Sprenger 1 ), der 


*) Sprenger. Leben und Lehre des Mohammed, 3 Bände, II. Auflage, Berlin 1869. 

Grenzfragen des Nerven- lind Seelenlebens. 


16 



236 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


mit am Besten das ganze Quellenmaterial beherrscht, sich darin gefällt, 
wo es nur geht, Mohammeds geistige Grösse herabzusetzen, und ihn als 
einen besonders späterhin gleisnerisch auftretenden Wollüstling hinzu- 
stellen. Doch auch vorurtheilsfreiere Historiker 1 ) dürften zu sehr der 
eben berührten modernen geschichtlichen Richtung nachgeben, indem 
sie den Nachweis anstreben, dass der Stifter des Islam bereits einen 
stark empfängnissfähigen Boden für die religiöse Reform im arabischen 
Volke damaliger Zeit vorfand. Die Thatsachen selbst scheinen mir 
deutlich zu zeigen, wie das ganze Werk nur durch einen Mohammed 
geleistet werden konnte, wie denn auch kein annähernd gleich be- 
deutender und gewaltiger Mann späterhin im Islam mehr aufge- 
treten ist. 

Für uns hat dieses grandiose Beispiel soviel psychologisches Inter- 
esse, dass wir es wenigstens mit zwei Worten bitten erläutern zu dürfen. 
Mohammed selbst hat stets gerne bekannt, dass er die monotheistische 
Idee aus der vielfältig zu Gebote stehenden Berührung mit jüdischen 
und christlichen Einwohnern Arabiens erhalten hat. Auch seine eigene 
Bekehrung scheint ziemlich rasch erfolgt zu sein und unter der starken 
Einwirkung von ihn tief erschütternden religiösen Exstasen mit Engels- 
erscheinungen ; und mehr als in einer anderen Religion haben diese 
Inspirationen bei ihm nachgedauert und ist das ganze Fundament der 
Religion, der Koran, aus directer Inspiration Gottes und seines Engels 
hervorgegangen, und entsprechend in oft poetisch gehobenem Stil ver- 
fasst. Nur in der Exstase schrieb er die einzelnen Suren nach und nach 
nieder, Visionen und förmliche hysterische Krampfanfälle haben ihn 
zweifelsohne oft heimgesucht. Was nun aber den religiösen Glauben 
der Araber zu seiner Zeit anlangt, so war er ein tiefstehendes Heiden- 
thum, einzelne Steine, sogar Bäume waren die Idole, um welche jeder 
Stamm sich alljährlich beim Jahrmärkte zu versammeln pflegte, und der 
von Mohammed als Verehrungsobject beibehaltene Stein der Kaaba zu 
Mekka war nichts Anderes als ein gewöhnliches derartiges Stammesidol, 
und auch die Art seiner künftigen Verehrung im Islam ist im Grunde 
wenig gewandelt worden. Man weiss aber auch, wie gering das an- 
fängliche Interesse für den Reformator, wie leicht an den Fingern herzu- 
zählen die Zahl seiner Anhänger blieb eine lange Reihe von Jahren hindurch, 
unter wie mühsamen kleinlichen Stammesfehden der Glaube emporwuchs. 
Und nun vergleiche man damit die zwei merkwürdigen Phänomene im 
Stadium der Blüthc der neuen Lehre: ich meine fürs Eine dieses allge- 

Eine recht sympathische Darstellung bietet hier F. Schwally, Die Cultur 
des Islam in He 11 wähl, Culturgeschichte, IV. Auflage, III. Band, p. 235, Leipzig^ 
18i>7. Zu fernerem Studium sei noch verwiesen auf A. von Krem er, Cultur- 
geschiclite des Orientes, 2 Bände, Wien, 1875, und derselbe, Geschichte der 
herrschenden Ideen des Islam, Leipzig 1SG8. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


237 


waltige glühende Feuer eines Glaubenseifers, welcher jeden Widerstand 
niederkämpfend in so kurzer Frist die staunenswerthe Grösse des 
osmanischen Reiches erschuf, zugleich aber auch diese eiserne Strenge 
eines jeden Anhänger für sich erfüllenden Fanatismus, der bis zum 
heutigen Tage den Islambekenner vor jeder anderen Religion aus- 
zeichnet. Doch psychologisch charakteristischer noch erscheint mir der 
zweite Punkt: gewiss nimmt in jeder der grossen Religionsgründungen 
der Stifter selbst im Herzen und im religiösen Glauben seiner Anhänger 
eine centrale Stellung ein, öfter ist er wie Buddha und Christus sogar 
zu einem Theile des göttlichen Wesens selbst geworden. Das nun ist 
— und zwar wohl nur in Folge des Gebotes Mohammeds selbst! — 
mit diesem nicht geschehen, und doch ist seine Person eine ungleich 
lebendigere und weitumfassendere Macht geworden in allem Denken der 
Islambekenner als bei irgend einer anderen Religion. Nirgends ist die 
Erforschung der persönlichen Tradition über den Religionsstifter eine 
so umfassende geworden, nirgends ging alles religiöse und sociale 
Grundlegen, ja sogar die Entscheidung in jeder der tausend Einzelheiten 
des Cultes und der Rechtsgrundsätze so bewusst und selavisch zurück 
auf die ipsissima verba des Stifters, also wieder die gesammelte „Tra- 
dition“, wo der Koran die Auskunft versagte. Nirgends endlich, selbst 
nicht im Christenthum, führt sein Bekenner den Namen des Propheten 
so unermüdlich im Munde wie dort. Und alle Sectenbildungen im Islam 
haben sich nicht um Dogmenbildungen, sondern nur um die Frage 
gedreht, wer der wahre persönliche Nachfolger des Propheten unter 
seinen ersten Anhängern und Khalifen, bezw. Imamen sei, und auch die 
Idee einer Parusie, einer Wiederkehr in messiastischem Sinne, knüpft 
sich kraftvoll an diese letztgenannte Idee. 

Nur soviel durften wir hier erwähnen. Man mag aber schon dar- 
aus ermessen, in welcher Weise sich der ganze arabische und ägyptische 
Orient früher und heute noch in geistiger Abhängigkeit von 
dem Manne fühlte, welcher die geistige Erhebung der Nationen bewirkt 
hat. Ich widerstehe der Verlockung andeuten zu wollen, was die ein- 
zelnen genialen Männer unserer eigenen Cultur geleistet haben, was 
wir wohl davon besitzen würden, wenn uns solche erste Grössen ge- 
fehlt hätten, und wie endlich sowohl die sociale als die wissenschaft- 
liche Errungenschaft heute aussehen würde, wenn nicht gerade sie, ein 
Moses, ein Christus und Paulus, ein Aristoteles, Gallilei, Newton, Kant, 
endlich ein Lavoisier, Schwann, Darwin, Virchow, Lister und Koch und wie 
alle die führenden Geister heissen, gekommen wären. Kann man wirklich 
glauben, dass die Art der geistigen Entwicklung der Menschheit, ihre Ideen- 
richtung in erster Linie inneren psychologischen Gesetzen folgt, und 
dass die Individualität der einzelnen Bahnbrecher mehr nebensächlich 
dafür sei? Dieses grosse Problem hängt immerhin nicht enge genug 



238 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


zusammen mit dem, was uns hier als Aufgabe gesetzt ist. Aber das 
schwebt mir doch als Ziel vor, an dem allergewaltigsten Experimente, 
das die culturelle Entwicklung des Menschengeschlechtes darbietet, zu 
zeigen, wie wenig selbstständig gerade die tonangebenden 
Ideen im Geiste der Massen zum Auftauchen und zur Geltung gelangen, 
wie fast Alles, was wir denken, seinen Ursprung theils der einfachen 
Uebertragung, theils der Suggestion von Person zu Person verdankt, 
somit ohne unsere geistige Initiative in uns aufgenommen wurde. 

Gerade für die perversen Volkserregungen trifft freilich, wie wir 
schon sagten, diese suggestive Einpflanzung doch nicht völlig in gleichem 
Maasse zu. Es giebt elementare Instincte, deren Aufwallungen förmlich 
explosiv in den niederen Massen sich documentiren, und so scheint 
jetzt von unten her in China jener elementare Patriotismus am 
Werke zu sein, welcher das Land vor der Besitznahme und sogar nur 
vor dem Eindringen der Fremden zu schützen sucht. Aehnlich ergeht 
es mit der Rassenfeindschaft bei uns und bei den meisten Nationen. 
Dennoch wollen wir es an den jetzt folgenden Beispielen zeigen, dass 
in der Regel auch diese Bewegungen ihre suggestive Entstehung nicht 
verläugnen und öfter überhaupt von einer einzigen Person in Scene 
gesetzt wurden. 

Ein ungemein merkwürdiges Beispiel einer plötzlichen Auf- 
wallung dagegen, das in seiner drastischen Weise vorbildlich für 
grössere und manchmal folgenreiche Erscheinungen der Art sein kann, 
bietet sich uns in der ephemeren Entstehung der sogenannten Pai- 
M a r i r e - Religion eines schon der Europäisirung nahen Naturvolkes, 
der Neuseeländer. Ich berichte darüber iiachderBeschreibungChrist- 
liiann's 1 ) der sich dabei auf zuverlässige Quellen zu stützen scheint. 
Die schon seit geraumer Zeit zum Christenthum wenigstens äusserlich 
bekehrten Ureinwohner Neu- Seelands, die Maori, hatten schon vorher 
wiederholte, aber im Ganzen gesittet geführte Kriege mit den Engländern 
unternommen, weil sie durch die Wegnahme des Grund und Bodens 
seitens der Colonisten erbittert waren. In einer dieser Fehden, im 
Mai 1S(>4, war es den Maori gelungen, eine kleine Abtheilung englischer 
Soldaten zu überfallen, und sie stürzten sich nun, was bisher nicht vor- 
gekommen war, auf den getüdteten llauptmann L 1 oi d , schnittendessen 
Kopf ah, vergruben ihn und tranken sein noch warmes Blut. Dieses 
Feindeshaupt wurde von den siegestrunkenen Leuten schon in der 
darauffolgenden Nacht wieder ausgegraben und nun zum Gegen- 

i) Christmann u. Oberländer, Ozeanien, die Inseln der Südsee. Leipzig 
iSpamerl 187:». J. Bd. p. 100 ff. (übrigens ein Werk, dessen Inhalt sonst nicht immer 
einwandfrei erscheint). Eine Bestätigung der wesentlichsten Thatsachen der Pai- 
Marire-Religion ist zu ersehen in dem »Standard- Werk : W a i tz -G er la n d, Anthro- 
pologie der Naturvölker, VI. Bd., p. 497, Leipzig 1872. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


239 


stände und Symbol einer neuen merkwürdigen und wilden 
Religion, eben der Pai-Marire (d. i. friedfertig und gut) oder Hau-Hau- 
Religion erhoben. Es wurde zum Führer in dem beabsichtigten Ver- 
nich tun gskampfe gegen die „Pakeha“, nämlich die Engländer, es sei, 
sagten die neuen Religionsgründer, das Haupt mit der Gabe der Weis- 
sagung ausgestattet, es spreche ihnen direct die Weissagungen des 
Erzengels Gabriel und die Befehle Gottes aus, durch diese Hilfe würdeu 
sie kugelfest und müssten sicher zum Siege gelangen. Jeder neue 
Anhänger wurde zum Pai-Marire geweiht, indem er Wasser trank, in 
welches Lloyd’s Kopf eingetaucht war, wie sie auch durch solches 
Wasser eine Taufe empfingen: mit demselben Glaubenssymbol an der 
Spitze zogen ihre Haufen in den Krieg. Die christliche Ehe wurde ab- 
geschafft, eine allgemeine Auferstehung aller Maori von den Todten in 
nächster Zeit prophezeit. Und diese Religion, welche ihre eigenen 
Priester erhalten hatte, verbreitete sich rasch über den Korden Neu- 
seelands und entflammte einen neuen und besonders blutigen Krieg, der 
übrigens schliesslich ebenso wie die früheren Erhebungen theils durch 
Gewalt, theils in Güte von den Engländern beendet wurde. Der Glaube 
an die Macht, welche das Haupt eines starken getödteten Feindes dem 
Besitzer gewährt, der damit einen ausgezeichneten Fetisch erhält, ist an 
sich allgemein bei vielen Naturvölkern und findet sich auch sonst bei 
den älteren Neu-Seeländern. Aber ganz ungewöhnlich ist die Begrün- 
dung einer förmlichen Religion darauf, welche sich zusnmmensetzt theils 
aus einer heidnischen Reaktion, theils aus den neu eingepflanzten 
christlichen Lehren: vor allem aber ist zu bemerken das urplötz- 
liche A u ff 1 a m m e n d er neuen I d e e , ihr fanatisch blutiger 
Charakter, die Schnelligkeit ihrer Ausbreitung und die Verknüpfung der 
neuen Religion mit einer aus lediglich politischen Motiven entstandenen 
Volkserhebung. In der starken Erregung, welche der errungene Waffen- 
erfolg und der wiederaufgelebte Kannibalismus hervorrief, drängte sich 
zunächst den Theilnehmern an der Orgie die überzeugende Ideenverbindung 
einer ganz besonderen Kraft und Macht mit dem Haupte des Feindes 
auf. Dieser ersten Ideenassociation folgte bald die zweite, dieses Haupt 
sei zu besonderen Wirkungen gerade innerhalb des jetzig n Befreiungs- 
kampfes berufen. 

Im Uebrigeu ist ersichtlich, dass das was etwa von religiöser 
Idee in dem neuen Gebilde enthalten war, erst nachträglich durch 
einzelne Führer und Priester hinzukam. welche sich der Sache bemäch- 
tigten, und dass es sich ursprünglich nur um einen rohen und grausamen 
Impuls bei seiner ersten Aufwallung gehandelt hat. Das Beispiel an 
sich ist aber sehr instructiv, weil es wieder einmal die impulsive und 
s u g g e s t i v e Gewalt mächtiger s i n n lieh e r E i n d r ü c k e vor Augen 
fuhrt ; wir sehen wieder, wie, bei Naturvölkern besonders, der Sinnes- 



240 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


eindruck eine di recte Suggestion ausübt, zu welcher auf höherer 
cultureller Stufe hauptsächlich erst das gesprochene Wort, die verbale 
Suggestion gelangen kann oder zu welcher es doch hinzutreten muss. 
In der Gestalt der imitatorischen Suggestion treffen wir jedoch jene 
ebenso unmittelbar innerhalb der Völker und namentlich der Frauen 
unserer Culturstufe. 

Wir gehen sogleich zu einem weiteren Beispiele der Wahnbildung 
im Völkerleben über und zwar einem solchen, wo eine an sich höhere 
Idee, gerade dadurch, dass in ihrer Bethätigung ein extremer und 
geistloser impulsiver Drang ausschliesslich die Herrschaft gewonnen 
hatte, wo also dadurch der Bewegung ihr Charakter des Perversen und 
Wahnhaften aufgeprägt wurde. Ich habe das mönchische Asketen- 
thum im Auge, welches um die Mitte des dritten Jahrhunderts nach 
Christus zunächst und am Stärksten in Aegypten auftrat, sich aber von 
da in mässigeren Graden über die ganze damalige christliche Welt aus- 
breitete. Die Idee der weltflüchtigen Askese ist eine an sich nahe- 
liegende bei einer Religion, deren Bekenner sich in einem so innigen 
geistigen Verkehr mit ihrem Gott fühlten; der Stifter der Religion hatte 
mit seinem Aufenthalte in der Wüste selbst das Beispiel dazu gegeben, 
und der Brahmanismus und Buddhismus Indiens hatten sie zum förm- 
lichen System ausgebildet, jeder Brahinane sollte den Abend seines 
Lebens als Einsiedler in Contemplation versunken hinbringen. Für 
die Christen speciell waren drei Motive geltend: erstlich die Absicht, 
sich in der That aus dem üppigen, die Sinne verlockenden und laster- 
haften Getriebe der Städte in die menschenleere Einöde zu retten. Als- 
dann hatte sich bei den ersten Christen einmal der schon von den 
damaligen Neuplatonikern , Stoikern, den Sekten der Manichäer und 
den späteren Cynikern gepflegte Gedanke eingelebt, es sei nur der Geist 
des Menschen würdig und der Körper mit seinen Trieben und Bedürf- 
nissen sei eine hemmende und widerwärtige Last. Es galt somit, das 
„Fleisch zu tödten“. Unter dem Einflüsse der Passionsgeschichte Christi 
und der leuchtenden Vorbilder der zahlreichen Märtyrer bildete sich 
andererseits die verwandte Idee aus, es sei ein Verdienst Uebles 
z u lei d e n , der „Sch in e r z sei ein e r s t r e 1> e n s w e r t h e s Gut.“ 
Für den perversen Charakter der Bewegung sehr bezeichnend ist es. 
dass dagegen das dritte Motiv sehr zurücktrat, nämlich das Streben 
nach ex statisch er Vereinigung mit seinem Gotte seitens des Ana- 
choreten. Auch das Geljet nämlich wurde, wozu es sich seiner inneren 
Bedeutung nach am Allerwenigsten schickt, zusammen mit der oft recht 
grausamen Selbstgeisselung als eine Art von Kasteiung und Opfer ge- 
übt, indem man einen grossen Theil des Tages damit zubrachte, 
gedankenlos die Gebetsformeln herzuleiern: oft freilich bei den vielen 
fleischlichen Anfechtungen mag es sich auch aus gepresster Brust zum 



Ueber Wahnideen im Volkerleben. 


241 


Herrn erhoben haben. In dieser Weise mag das Rosenkranzbeten ent- 
standen sein, das bekanntlich auch ganz ähnlich bei den lamaitischen 
Buddhisten in Uebung steht. Nachsinnen über religiöse Probleme, das 
übrigens zu damaliger Zeit sich nur auf die gnostische Mystik bezog, 
war das letzte, was in jenen Kreisen die Leute beschäftigte. 

Die Bewegung scheint ursprünglich mehr zufällig und aus 
äusseren Gründen emporgekommen zu sein, indem ein ansehnlicher 
Theil der Christen sich in Folge der Decius^schen Verfolgung in die 
Wüste flüchtete, um da ungehindert seinem Glauben leben zu können, 
und der Einsiedler Paulus aus Theben *) soll das erste Beispiel der 
Art gegeben haben. Man fand sehr rasch Geschmack daran und die 
„Fortschritte der Mönche waren nicht minder reissend und allgemein 
als die des Christenthums selbst.“ Es sollen im Anfänge des vierten 
Jahrhunderts manche Klöster 1300 Insassen gezählt haben, und beim 
Osterfest sollen bisweilen 50000 Mönche in Aegypten versammelt ge- 
wesen sein. Im Uebrigen ist es bekannt, wie masslos und grotesk das 
Treiben dieser Anachoreten bald geworden ist: „ein abschreckender, 
schmutziger, ausgemergelter, unwissender, unpatriotischer und gefühl- 
loser Wahnsinniger, der sein Leben in einer langen Uebung unnützer 
und grausamer Selbstpeinigung verbrachte und vor den schauderhaften 
Phantomen seines Irrsinns erbebte, war das Ideal der Völker geworden, 
welche die Schriften Platos und Ciceros und das Leben eines Sokrates 
oder Cato gekannt hatten“, in der Weise charakterisirt Lecky jenes 
Asketenthum. Es hätte für uns wenig Zweck, in viel Detail dieser 
Dinge einzugehen, Hauptsache ist, dass ein förmlicher Wetteifer in der 
Maasslosigkeit, mit der ein solches Leben geführt wurde, lange Decennien 
hindurch im 3. und 4. Jahrhundert getrieben wurde, und dass das Volk 
und selbst die höhere Geistlichkeit darin die Würde einer besonders 
hervorragenden Heiligkeit erkannte. Nicht allein die Nahrung wurde 
in denkbar möglichem Grade begrenzt, sondern die Vernachlässigung 
des Körpers und elementarer Reinlichkeit wurde förmlich fanatisch ge- 
handhabt, sodass bei einem grossen Theil gerade der meist bewunderten 
Männer und Frauen darunter in einem Jahrzehnt kein Tropfen Wasser 
auf die Haut, kein Schermesser über Bart und Haupthaar kam; ebenso 
absolut wurde die Trennung von der Familie ausgeübt und insbesondere 
der Anblick der Mutter als eines weibliches Wesens mit oft roher Herz- 
losigkeit gemieden und verweigert. Lecky erzählt das Beispiel eines 
nach Trennung von der Familie zum Anachoreten Gewordenen, der 
nicht nur, wie das gewöhnlich war, jede Sorge für deren Unterhalt von 
sich wies, sondern der auch, als man ihm, um ihn auf die Probe zu 

J ) Lecky, Sittengeschichte Europas von Augustinus bis auf Karl den Gr., 
deutsche Hebers., Leipzig und Heidelberg 1879. 2. Bd., p. 85 ff. 



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lieber Wahnideen im Völkerleben. 


stellen, befahl seinen kleinen Sohn zu tödten und in's Wasser zu werfen, 
ohne die Spur einer Selbstüberwindung zu verrathen. sich anschickte, 
dem Gebote sogleich Folge zu leisten. Unter den Erfindungen zur 
Selbstquälerei, worin die Asketen beinahe allein noch selbstständigen 
Geist an den Tag legten, ist als die originellste diejenige des Säulen- 
heiligen Simeon berühmt geworden; er hatte auf einem hohen Berge 
eine (50 Fuss hohe Säule bestiegen, sich an dieser angekettet und hatte 
es zu solcher Uebung in diesem Leben gebracht, dass er auf seinem 
engen Aufenthaltsraume o0 Sommer und Winter hindurch aushielt und 
dabei als beliebteste Cultform die Gebetsverneigungen betrieb, von denen 
ein Zuschauer einmal 1240 nach einander gezählt haben soll; der Zu- 
schauer hielt darnach ermüdet im Zählen inne, während der Heilige 
seine Verneigungen noch fortsetzte. Die grosse Anerkennung, welche 
er im Leben und im Tode seitens des Volkes und der Geistlichkeit er- 
rungen hatte, veranlasste natürlich noch eine Reihe entsprechender Nach- 
ahmungen. 

Uebrigens war dennoch das Leben dieser Anachoreten kein 
gemüthsruhiges; sie scheinen sich im Zustande anhaltender nervöser 
Ueberreizung befunden zu haben, die Verlockungen des Fleisches, d. li. 
ihrer Phantasie, verfolgten sie oft auf Schritt und Tritt, zahlreiche 
Visionen, welche iin Glauben der Zeit als Anfechtungen und Gaukeleien 
galten, die ihnen der Teufel bereitete, erschreckten sie und machten sie 
in ihren Vorsätzen irre, allem Geschlechtsverkehr und den weltlichen 
Genüssen zu entsagen: stürmische Verzweiflung mit Hoffnungslosigkeit, 
tiefe melancholische Verstimmungen müssen sie häufig genug heim- 
gesucht haben. Selbstmorde sollen daher wiederholt vorgekommen sein, 
ebenso Ausbrüche raptusartiger Verwirrtheit, Viele haben offenbar in 
vorzeitiger Altersdemenz geendet. Diese Folgezustände, über deren 
Detail wir im Ganzen doch mangelhaft unterrichtet sind, erscheinen 
gewiss nur naturgemäss und bieten für uns nicht viel Interessantes. 
Besonders nach dieser Seite hin werden wir eine viel stärkere Aus- 
bildung bei den ßesessehheitsepidemien der Klöster im Mittelalter kennen 
lernen, und es ist von Werth zu erfahren, dass wie da bei Frauen, so 
auch weit früher schon bei männlichen Asketen die satanischen Visionen 
in grossem Umfänge sich eingestellt hatten. 

Was aber die allgemeinere Lehre anbelangt, welche wir aus 
dieser frühen geistigen Epidemie zu ziehen haben, so erkennt man, dass 
der Satz voll bestätigt, wird, mit welchem wir diese Schilderung einge- 
leitet hatten. Durch einen äusseren Anlass, die Deciusksche Ver- 
folgung, hatte sich eine Anzahl glaubenstreuer Christen in der Einöde 
zusaimnengefunden. Dadurch bildet sich förmlich explosiv und impulsiv 
der Eifer aus. einem asketischen Münchthum nachzuleben, es fand einen 
bereiten Grund und Boden in damals allgemein anerkannten Ideen. Von 


Feber Wahnideen im Völkerleben. 


243 


dem Momente ab. wo sich jedoch dessen eine grössere Zahl der Be- 
völkerung bemächtigt, verflüchtigt sich der geistige Gehalt der Ideen, 
die Ausübung wird eine fanatisch maasslose und perverse, ein ein- 
ziger Impuls, die „Abtödtung des Fleisches“, beherrscht die ganze Be- 
wegung. Irgend ein logisches Motiv ausser etwa der Hoffnung, durch 
solche Opfer um so mehr Anspruch auf das Himmelreich zu erwerben, 
fehlt durchaus; indessen die damit verknüpften Perversitäten wie die 
absolute Verachtung und Vernachlässigung des Körpers, die Zerreissung 
, jedes Familienbandes, sie können logisch nicht aus den zu Grunde 
liegenden Ideen gefolgert werden. Es sind impulsive Uebertreibungen, 
und würde ein Einzelner ein solches Treiben zu seiner Lebensaufgabe 
machen, so würde man ihn, selbst aus dem Geiste jener Zeit heraus — 
als isolirt aufgetretene Erscheinung natürlich! — für wahnsin uig 
erachten müssen — 

Ein zweites Beispiel eines viel schrecklicheren Massenwahns, das 
Beispiel, an das heute Jeder in erster Linie denkt, wenn von Massen- 
wahn die Rede ist, hat uns die Periode der Hexen processe ge- 
liefert. Sie ist von mehreren Autoren, namentlich durch Sold an, 
R o s k o f f , L e c k y und M i c hei e t ] ) aufs Eingehendste studirt worden, 
Details davon sind jedem Gebildeten geläufig, sodass auch hier unser 
Ziel nur sein kann, die Art der Gedankenrichtung selbst zu skigziren. 
So ungeheuerlich, so beispiellos grausam und blutdürstig sich dieser 
Wahn über zwei lange Jahrhunderte auf dem Höhepunkte bleibend im 
15. bis 17. Jahrhundert bekundet hat. so ruht er doch auf einer der- 
jenigen Ideen, welche am Tiefsten beinahe zu allen Zeiten und hei den 
meisten Völkern in der Menschenbrust gehaftet haben, so lange das 
Licht der modernen Naturwissenschaft nicht eine neue Weltanschauung 
mit Einsicht in die Gesetzmässigkeit der Naturdinge zu begründen fähig 
war. Wir stossen daher nur auf das Problem uns klar zu machen, 
warum dieser Wahn gerade in der Religion der Humanität, im Christen- 
thum. seine furchtbarste Ausbildung erfahren hat: und da hat die Ge- 
schichte mit blutigen Lettern in ihre Annalen die wohl unläugbare 
Thatsache aufgezeichnet, dass auch hier für den Wahn selbst eine 
Gelegenheit.« Ursache die Schuld an der Entfärbung der Epidemie 
trägt. Die Verfolgung des religiösen Gewissens, die Inquisition ist es, 
die sich auf die Idee der Satansbündnisse verrannt hatte, die Ketzer- 
richter haben geglaubt, im Dienste ihrer Kirche den Kampf mit dem 
ewigen Feind»* der Menschheit, mit dem Teufel, übernehmen und aus- 

M »Sol da li. < ii*s< , hirht»‘ der IIoxeuprnces.se. neue Bearbeitung, 2 Bde.. Stutt- 
gart ls v O: lioskoff, < Josehielite des Teufel*. 2 Ilde.. Leipzig l v 'iU ; Lecky. 
Geschichte der Aufklärung, siehe ulten; Mirhelet, La snreiero. Paris deutsche 

Febersetzung. Leipzig ferner vergleiche Meyer. Aberglaube des Mittelalters, 

Basel 1 Ss 4. 



244 


Heber Wahnideen im Völkerleben. 


fechten zu müssen, und sie haben dabei theils schrankenlos gläubig, 
theils suggestiv in ihre Opfer hinein examinirend alles jene alberne 
Detail der Hexensabbate und der Teufelswerke zusammengedichtet, 
welches jene ganze lange Zeitepoche als unumstössliche Thatsachen hin- 
genommen hat. 

Wie gesagt, neu war daran nur die specielle Ausgestaltung der 
Lehre von den Hexensabbaten und den satanischen Orgien; ursprünglicher 
Volksglaube dagegen ist sowohl die Idee eines Teufels oder allge- 
meiner gesagt der dem Menschen feindlichen Naturgewalten, als auch 
jene zweite Vorstellung, welche als elementarster und impulsiver Ver- 
folgungswahn überall und psychologisch noth wendig aufgetreten ist, 
nämlich die Beschuldigung des Nebenmenschen, dass er die 
directe Ursache eines seiner Herkunft nach unverstandenen eigenen 
Missgeschickes oder Unglückes sei. Es steht uns ein Beweis dafür zu 
Gebote, dass diese Idee an sich gar nicht abhängig von der zweiten 
Vorstellung ist, welche die Fähigkeit der Zauberei gewissen Personen 
zuschreibt. Die Furcht nämlich vor dem „bösen Blick“, welche in 
Europa, z. B. in Italien, und bei den Arabern, speciell Nordafrikas, all- 
gemein herrschend ist, tritt förmlich impulsiv auf; man nimmt an, 
dass ein beträchtlicher Theil der mit dem bösen Blick Behafteten selbst 
gar nichts davon weiss und noch weniger beabsichtigt, Schaden anzu- 
richten. Man denkt überhaupt nicht einmal daran, dass Zauberei dabei 
im Spiele sein könne, kurz man denkt überhaupt nicht an eine Er- 
klärung der Sache. Es ist eine instinctive Furcht vor dem Beachtet- 
und Fixirtwerden, das an sich bereits Schaden bringe; Fleisch müsse 
verdorren, wenn es ein solcher Unseliger betrachte, Kinder erkranken 
und sterben unter solchem Einflüsse. Offenbar spielt die Unbehaglichkeit, 
welche das Fixirtwerden den meisten Personen verursacht, die Hauptrolle 
bei dieser Idee, welche in weitestem Umfänge bekanntlich bei dem so- 
genannten Beachtung sw ah ne der Geisteskranken, der beginnenden 
Paranoiker wiederkehrt. Ebenso allgemein ist, wie wir oben (pag. 225) 
gesehen haben, die Ueberzeugung zahlreicher Naturvölker, am Stärksten 
der Australier und Neger, dass jeder in unserem Sinne durch Krankheit 
oder natürlich erfolgte Todesfall von seiten eines böswilligen Genossen 
herbeigeführt sei, und die Bongo-Neger im innern Afrika haben nach 
Sch we in furth’s 1 ) Bericht schon diese Schuld auf die ohnehin unnütz 
gewordenen alten Leute abgeladen, welche mit den Walddämonen im 
Bunde stehen sollen, und die so eifrig der Hexerei, bezw. Zauberei an- 
geklagt worden, dass kaum Einer der Alten eines natürlichen Todes 
mehr stirbt, sondern Alle durch das Urtheil des Volkes hingerichtet werden. 
Auch die fernere Idee, dass sich einige Leute in gefährliche Thiere 


') S ch wein für th, Im Herzen von Afrika, 2 Bde., Leipzig 1*74. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


245 


besonders Löwen, aber auch Hyänen (welche menschenähnlich * lachen“) 
verwandten und in deren Gestalt Unheil anrichten, also das Analogon 
der Lykanthropie, findet sich bei Negern und Malayen verbreitet. 
Und, um noch ein charakteristisches Beispiel zu nennen, als ein Führer 
der Negerkarawane Wissmann’s beim Ueberschreiten eines Flusses 
durch Umschlagen seines Nachens beinahe ertrunken wäre, veranstaltete 
er sofort darnach ein Palaver, um den Mann zu ermitteln, der durch 
seine Zauberei das Umkippen des Nachens veranlasst habe. Dinge 
der Art begegnen in Afrika alle Tage, und noch jeder Reisende hat sie 
zu sehen bekommen. 

Hier also liegt ein instinctiver Verfolgungswahn vor, der 
Nebenmensch ist die Ursache des Unfalles, auch da wo nicht der 
geringste Anhaltspunkt dazu existirt; und um ihm das aufbürden zu 
können, muss man auf die Gabe der Zauberei rekurriren, welche man 
sonst nur den speciell dafür beamteten und begabten Priestern zutraut. 
Uebrigens nachdem einmal der Volksglaube in solchem Umfange besteht, 
giebt es natürlich auch Personen, welche mit Absicht, einem Feinde zu 
schaden, solche „Zauberei“ thatsächlich ausführen, und sogar Personen, 
welche sich hinterher suggeriren lassen, sie hätten so etwas ange- 
richtet, wie ja noch heute bei uns die Liebeszauber und schlimmere 
Dinge im Volke ausgeführt werden 1 ). Gerade im letzten Jahre sind 
einige crasse Fälle der Art durch die Tagespresse und gerichtliche Ver- 
folgung weithin bekannt geworden. Jedem meiner Leser werden einige 
davon vor Augen stehen, Viele werden auch wissen, dass in der 
Diebesgilde da und dort der Aberglaube besteht, man könne sich durch 
eine Kerze aus dem Omentum ungetaufter Kinder bereitet, unsichtbar 
machen und Entdeckung * des Diebstahls verhüten. Mordthaten deshalb 
sind früher öfter und noch in der Gegenwart besonders an schwangeren 
Frauen vorgekommen. Citiren möchte ich nur noch den Fall — ob- 
wohl er nur in das Capitel der Volkszauberei im Allgemeinen gehört — 
wo vor etwa einem Jahr ein Soldat dem andern auf dessen Geheiss das 
Haupt abschlug; es sollte durch einen Spruch hinterher wieder an- 
wachsen und der also Behandelte sollte nun zum Entdecken vergrabener 
Schätze die nöthige Aufklärung und Fähigkeit erlangt haben. Für 
die eigene Schuldidee bezeichnend ist eine Geschichte, die von Eingeborenen 
aus Chile berichtet wird: Hexenprocesse sind dort häufig und die Opfer 
werden grausam verbrannt. Nun war es den katholischen Geistlichen 
gelungen, ein solches Opfer, ein lö jähriges Mädchen, das schon verurtheilt 
worden war, dem Tode zu entreissen, indem sie die eingeborenen 
Kaziken umgestimmt hatten. Aber nun bekannte das Mädchen selbst, 

i) Wuttke. Deutscher Volk^aherglauhe d. < legenwart, 3. Bearbeitung von 
E. H. Meyer, Berlin lOnU; viel Material bringt auch P I oss - Bar t e 1 s . Das Weih, 
2 Bcltv, 5. Auf!., Leipzig Ist) 7. 



246 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


das durch zauberische Mittel einen jungen Mann vergiftet haben sollte, 
auf die Frage des Kaziken, ob sie sich dazu bekenne, mit fester Stimme 
das Orakel habe richtig gesprochen, sie habe die böse That aus ver- 
schmähter Liebe ausgeführt. 1 ) 

In dem jüdischen und viel intensiver in dem christlichen Glauben 
hat nun eine lange Zeit hindurch die lebhafte Vorstellung von dem 
Wirken des Satans in dieser Welt bestanden; die ganze W f elt war 
getheilt in ein Reich Gottes und das Reich des Teufels, auch diesem 
stand eine Unzahl von Dämonen, Millionen und darüber, zu Gebote, und 
sein Hauptziel war immer auf die Verführung der menschlichen Seele 
gerichtet, wie ja schon der erste Sündenfall Adams sein Werk war und 
alle ehemaligen Götter des Heidenthums nur Dämonen der Hölle gewesen 
waren. In jenen älteren Epochen, wo die Visionen und Hallucinationen 
bei einem viel plastischer und weniger abstract als heute denkenden 
Volke ungleich häufiger wie in der Gegenwart gewesen zu sein scheinen 

— übrigens war ja auch die Beleuchtung der Wohnungen eine so viel 
schlechtere, die Möglichkeit von Gesichtsillusion daher reich vorhanden ! 

— da war auch die persönliche Erscheinung des Satans etwas Gewöhn- 
liches. Aber solange der positive Glaube felsenfest in allen Gemüthern 
sass, schreckte die Macht des Satans wenig; die Kirche besass unbe- 
dingte Gewalt gegen ihn, die Anrufung Gottes, das Zeichen des Kreuzes, 
etwas Weihwasser genügte, um sofort die Dämonen zu Paaren zu 
treiben, ihre Verlockungen zu Nichte zu machen. Dazu kam, dass jenes 
tiefe Misstrauen, jener Kampf Aller gegen Alle, welcher auf primitiver 
Stufe jeden Menschen zum Feinde macht, der nicht in die enge Gechlechts- 
genossensehaft aufgenommen ist, dass diese instinctive Furcht vor dem 
Nebenmenschen in der christlichen Cultur doch nicht mehr herrschte. 
Nur vereinzelt sind in jener ganzen Zeit Hexenprocesse und -Ver- 
urthcilungen vorgekommen, so unter Constantin, Karl dem Grossen und 
etwas häufiger im 14. Jahrhundert. Die grossen Schäden, Pestilenz, 
Hungersnot!). Stürme, welche der gütige Gott höchstens zur Strafe 
schicken konnte, galten als direct es Satanswerk, wenn das .Gott so 
zu lassen wollte.“ 

Die Wendung kam erst zu der Zeit, als bei einem Theile der 
Gebildeten der Skeptizismus sich zu regen begann, an der Neige des 
12. Jahrhunderts, nachdem die Albigenser, der Averroismus, die Kritik 
eines Abaelards und schliesslich gar die Reformation in das Denken 
Verwirrung gebracht hatten. Die Geistlichkeit selbst war durch Ueppig- 
keit degenerirt, sogar auf dem Stuhle Petri haben freigeistige Ideen 
damals zeitweise geherrscht. Eine dumpfe Aufregung wühlte im Volke, 

fl C. Och senius, Chile. Land uml Leute. Leipzig und Prag LS S 4. pag. l‘Jd 
his 124. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


247 


die Scharen von Flagellanten, welche unter anklagendem Geheul 
das Land durchzogen, verdüsterten das Gemüth, vor Allem aber die 
furchtbarste aller Seuchen, die je gewüthet haben, 1 ) der schwarze 
Tod, welcher im 14. Jahrhundert binnen G Jahren 25 Millionen 
Menschen dahinraffte, den vierten Theil der Bevölkerung Europas. Hier 
trat der alte instinctive Verfolgungswahn grell zu Tage, die 
Seuche, so ging das Gerede im Volke, war das Werk der Brunnen- 
vergiftung durch die Juden, welche wieder einmal wie schon zur Zeit 
des ersten Kreuzzugs zu Tausenden hingemordet wurden, namentlich in 
den grossen rheinischen Städten, obwohl sich ihrer die Bischöfe edel- 
niüthig angenommen hatten. Jetzt aber ging der einmal erregte Impuls 
weiter, und auch die Christen wurden nun als Veranstalter der Seuche 
durch Hexerei beschuldigt. Viel wichtiger wurde es aber, dass nun die 
Inquisition und die Ketzerrichter ihr Augenmerk auf die Hexerei und 
satanische Bündnisse richteten und als einer der ersten und schreck- 
lichsten der bekannte Konrad von Würzburg. 

In diesen völlig im Dogmatismus erstarrten und dafür um so 
leidenschaftlicheren Köpfen konnte der Gedanke gar nicht rege werden, 
dass Zweifel an der Religion, welche die Erlösung der Menschheit 
allein gewährleistete, von innen heraus, aus eigenem Denken kommen 
könnten; etwas der Art war also wieder Teufelswerk, und gegenüber 
der Gefahr, dass die nun so oft verkündete „Herrschaft des Antichrist“ 
im Herannahen sei, kannten sie nur einen Standpunkt, den des Kampfes 
für die Kirche. Und nur von dieser Idee aus haben alle die Ketzer- 
richter die Hexenprocesse geleitet, es galt nicht, Schuldige zu ermitteln 
oder gar Unschuldige freizusprechen, sondern auf der Hut zu sein gegen 
alle Tücken des mächtigen und vielgewandten Satans. Es wäre gewiss 
von psychologischem Interesse, wie das so oft geschehen ist, klarzu- 
legen, dass diese „Richter“ auch nicht die Spur einer Kritik, eines 
auf Ermittelung von Wahr und Falsch zielenden Processverfahrens be- 
sassen, wie kein Moment, das zu Gunsten des Beklagten sprach, sich 
bei ihnen Gehör verschaffen konnte: widerstand die Frau der Folter, so 
war sie vom Teufel gestärkt, war sie erwiesene rmaassen nicht aus ihrem 
Bette gekommen, so hatte der Teufel doch ihre Seele zum Hexensabbat 
entrückt oder sonst ein Blendwerk vorgemacht. Es ist vorgekommen, 
dass Frauen mitten im Verhör oder auf offener Strasse vor allem Volk 
niederfielen, zwei und mehr Stunden in Katalepsie versunken bewusstlos 
dalagen, aber hinterher erzählten, sie seien inzwischen bei einer grossen 
satanischen Orgie gegenwärtig gewesen ; auch solche Fälle machten die 

*) J. F. C. Hecker, Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, heraus- 
gegeben von Aug. Hirsch. Berlin 1*05. — Ueber die Flagellanten, speciell: 
M. Cooper, Der Flagollantismus und die Flagellanten, deutsche Uebersetzung, 
Dresden 1899. 



248 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Richter nicht mehr irre. Wo der Teufel im Spiele war, konnten 
natürliche Erklärungen nicht mehr in Frage kommen. Nein! die 
ganze Sorge dieser Männer war darauf gerichtet, nur recht Viele zu 
überführen, und Skrupel, dass sie Unschuldige verurtheilt hätten, haben 
sie selbst dann nicht gekannt, wenn die Unseligen mitten in der Folte- 
rung ihren Geist aufgaben, So kam es, dass im Bisthum Trier einmal 
in einem Jahre allein 800 Personen verbrannt wurden, in Toulouse 
einmal 400 an einem Tage, und dass der Richter Remy in Nancy sich 
rühmen durfte, „in seiner persönlichen Jurisdiction 800 Hexen dem 
Feuertode überantwortet zu haben,“ und dass die Gesammtzahl der 
Hexenverurtheilungen weit über die Million gehen wird 1 ). Der eigent- 
Canon für diese Processe ist bekanntlich enthalten in zwei Schrift- 
stücken von entsetzlicher Tragweite, der Bulle „Summis desiderantes“ 
des Papstes Innocenz VIII. vom 5. December 1484 und dem „Malleus 
maleficarum“, dem Hexenhammer vom Jahre 1487, von mehreren In- 
quisitoren verfasst. Er hat, obwohl nur eine Art Belehrung enthaltend, 

3 Jahrhunderte lang beinahe Gesetzeskraft erhalten und „unerbittlich 
losgeschlagen.“ 

Im Wesentlichen kehren immer nur die zwei Beschuldigungen 
wieder: die Hexen haben Krankheit des Viehes oder der Menschen, 
ziemlich oft eheliche Impotenz, ferner Sturm und Seuchen verursacht, 
namentlich haben sie kleine Säuglinge entwendet, um sich aus deren 
Fett die berühmte Hexensalbe zu bereiten, welche sie mit Gedanken- 
geschwindigkeit auf einem Besen durch die Lüfte trägt oder Andere 
behext. Dass Niemand noch eine solche Wirkung gesehen hatte, hat 
nie als Gegenbeweis gegen die Existenz der Salbe gegolten : sie wirkte 
eben nur, wenn der Teufel es wollte. Die zweite und wichtigere An- 
klage war rein religiöser Natur, d. i. eben die Abschwörung des 
Glaubens, das Bündniss mit dem Satan. Das letztere wurde mit Blut 
geschrieben und verpflichtete zur Theilnahme an den Hexensabbaten; 
dort erhielt der Teufel den bekannten Kuss aufs Gesäss, das Homa- 
gium, geschlechtlicher Verkehr mit dem Teufel selbst musste stattlinden, 
sonst Orgien gefeiert, die Religion verhöhnt werden, der Teufel erschien 
meist als schwarzer Bock oder mit Pferdefuss u. s. w. Diese Details 
sind tausendfach in den Processschriften aus vorhandenen Geständnissen 
belegt. Zur Erklärung der Ausdehnung der deshalb geführten Processe 
muss indessen zweierlei noch hervorgehoben werden : erstlich das, was 
wir schon mehrfach erwähnt haben; die Ueberzeugung von der entsetzlich 
grassirenden Häufigkeit der Satansbündnisse spukte damals nicht allein 
im niederen Volke oder in den Köpfen einer kritikberaubten Geistlich- 
keit, sondern die ganze Elite der Gelehrsamkeit theilte sie und schrieb 

P »Siehe Llorcnti, Histoire critique de Pinquisitiun d’Espagne, Paris 1817, 

4 yoI. (deutsch : Gmünd 1821 — 22). 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


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Folianten mit scholastischen und dogmatischen Beweisen aus der Bibel, 
wobei die Hexe von Endor, welche Saul einst erschienen war, eine 
Hauptrolle spielte. Die wenigen Gegner, wie Weier, wurden es nur 
aus Mitleid und Barmherzigkeit; Weier selbst glaubte voll und ganz 
an das überall sich breit machende Heer der Dämonen, nur half er sich 
mit der Annahme, der Teufel habe den sogenannten Hexen selbst ein 
Blendwerk vorgemacht, sodass sie nur „glaubten“ Böses zu thun, ohne 
es auszuführen. Descartes, der Erleuchtetste seiner Zeit, schwieg 
gänzlich über die Hexenfrage und Montaigne war, wie erwähnt, der erste* 
der mit kritischem Unglauben am Schlüsse der Hexenepoche hervortrat» 

Zweitens war, ebenso wie das von primitiven Völkern vorhin 
angeführt wurde, ein grosser Theil der Personen, aber beinahe 
99 Procent Frauen, wirklich durchdrungen von dem Wahn, dass 
sie Teufelsbündnisse eingegangen hätten; familiäre Belastung und starke 
Gemüthserregung fallt dabei erheblich in’s Gewicht ; besonders Frauen r 
welche durch Tod ihrer Kinder niedergedrückt waren, haben Geständnisse 
gemacht, und sehr charakteristisch ist es, wenn eine arme Frau, der die 
letzte Kuh soeben verendet war, sogleich darnach mitten in ihrer Ver- 
zweiflung von der Erscheinung des Teufels heimgesucht wird, der ihr 
die besten Versprechungen macht und sie auf der Stelle* zum Hexen- 
sabbat entführt. Der Fall ist wörtlich so berichtet worden. Die meisten 
Frauen aber haben ihren Wahn in lebhaften und visionären Tr ä um en 
empfangen während der Nacht, und wollüstige Erregungen, welche einen 
fleischlichen Verkehr mit einem Incubus-Teufel vorspiegelten, sind die 
weitaus gewöhnlichste Form gewesen. Nicht gerade selten freilich 
scheint es sich dabei um weitergehende Abnormitäten, Tagesvisionen 
und kataleptische Zustände bei Hysterischen gehandelt zu haben. Ich 
muss aber doch anführen, dass nach meinen persönlichen ärztlichen Er- 
fahrungen nächtliche Hallucinationen, die aber im noch wachen 
Zustande sich ereignen, gerade bei älteren Personen, und wieder 
namentlich bei älteren Frauen, auch heute noch keineswegs selten 
beobachtet werden: nervöse Erregungen auf dem Boden noch leichter 
Altersabnahme auf geistigem Gebiete, wie sie dem Laien noch kaum 
auffallen, waren die gewöhnliche Grundlage, Fratzen und schwarze 
Männer die häufigste Form der meist sehr schreckhaften Illusion. Fälle 
dieser oder ähnlicher Art also haben sich allenthalben damals ereignet, 
und sie sind an verschiedenen Orten förmlich epidemisch aufgetreten; 
eine der schrecklichsten Epidemien war die im Jahre 1609 in der Land- 
schaft Labourd 1 ) in den französischen Pyrenäen ausgebrochene Seuche. 
Die Leute, Fischer aus baskischem Stamme, sind sehr arm, führen ein 
rauhes Leben und besassen wenig Bildungsgelegenheit. Die Frauen nun 
wurden in Massen von jenen nächtlichen Träumen und Teufelsvisionen 

!) Calraeil, De la folie. Paris 1845, I. vol. p. 427. 



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l'eber Wahnideen im Völkerleben. 


heimgesucht, besondere Commissare der Inquisition wurden gesandt, 
welche den hervortretenden Zug der Nymphomanie in erster Linie er- 
kundeten, und Hunderte von Frauen wurden alsbald hingerichtet. Auf 
der Folter sollen verschiedene „unsagbare Genüsse“ erfahren haben, ein 
deutlicher Beweis hysterischer Anaesthesie. Nun ergriff aber der Zustand 
auch die Kinder zu Tausenden, beinahe Alle gaben sie an, von 
schwarzen Katzen, den Seelen der hingerichteten Mütter, Nachts zu den 
Hexensabbaten entführt zu werden ; man versammelte sie in Schaaren 
Nachts in den Kirchen, um sie zu behüten, aber noch Monate lang 
ging das Wesen trotzdem so weiter. 

Das also darf als sicher gelten, dass die Ketzerrichter, mögen sie 
auch im Einzelnen schlimmer als die wilden Thiere gehaust haben, dies 
doch im guten Glauben gethan haben. Der Leser erlässt uns gewiss 
gerne eine weitere Schilderung sowohl der Sonderbarkeiten der Ideen 
als der Gräuel der Verfolgung. Für uns am Wichtigsten ist die That- 
sache, die wir oben betonten: nicht die epidemische Ausbreitung des 
Wahns hat die kirchliche Verfolgung herbeigeführt, sondern umgekehrt, 
der Arm der Inquisition, der durch das Wanken der Kirchengläubigkeit 
sich zur Niederkämpfung der Haeresie veranlasst sah, hat mit dem Satan 
den Krieg aufgenommen und nach Satansbündnissen gefahndet. Erst 
dann ist eine allgemeine Hexenfurcht heraufbeschworen worden, von der 
man vorher Nichts wusste, und nun haben auch eine Anzahl nervös 
erregter und besonders altersgeschwächter Frauen die Teufelsvisionen 
erlebt und sich selbst schuldig bekannt, während freilich von nicht- 
Wenigen gegen ihre Ueberzeugung das Geständniss durch Folterqualen 
ausgepresst wurde. Die Ketzerrichter aber haben gegen die Beschul- 
digten nicht eine Untersuchung, sondern einen wirklichen Krieg geführt, 
so felsenfest war bei ihnen die suggestive Ueberzeugung, so sehr 
empfänglich waren sie nur für Gründe, welche im Sinne ihrer Idee 
sprachen, und so unzugänglich für alles Andere. Auch hier ist also die 
Epidemie durch das Eingreifen bestimmter Personen zu einer 
bestimmten Zeit entfesselt worden und nicht aus inneren cultur- 
historischen oder psychologischen Gründen. — 

Wir dürfen nun die weiteren Beispiele noch kürzer behandeln, da 
sie uns psychologisch nichts wesentlich Neues mehr bieten. Ihre Aus- 
wahl ist nahezu willkürlich und muss es sein, auch dann wenn wir uns 
nur an die in grösseren Gruppen und in Volksmassen auftreteuden 
Ideenrichtungen halten, und den dauernd im Volke wurzelnden Aber- 
glauben und die gewöhnlichen politischen und socialen Strömungen 
auch da bei Seite lassen, wo sie, wie in den Revolutionen, fanatisch sich 
geltend machen. Den Löwenantheil in der Pathologie der Volks- 
seele beansprucht zu allen Zeiten das religiöse Denken, indessen 
auch dieses, wie mir scheint und entgegen der gemeinen Ansicht, nicht 



Heber Wahnideen im Völkerleben. 


251 


aus inneren Gründen, d. h. wegen der Stärke der Gemütsbewegungen, 
welche damit verbunden sind; vielmehr repräsentirt es die älteste, 
den Menschen schon von frühester Jugend ab eingeprägte Ideenbildung 
von suggestivem Charakter, und durch den Priesterstand sowie die 
staatliche Unterstützung hat die Religion eine stärkere Gewalt über die 
Geister errungen als irgend ein anderer Ideencomplex ; dazu kommt, dass 
ihre Vorstellungen durchweg einfacher Art und für den gemeinen Mann 
leicht verständlich, zudem noch plastisch anschaulich sind. So trifft 
auf diesem Gebiete der Agitator stets ein empfängliches Publikum und 
wohl für directe Suggestion vorbereiteten Boden; die kritische Ver- 
nunft wird relativ leicht zum Schweigen gebracht, ist ja doch die 
religiöse Idee überhaupt ausdrücklich ausgenommen und ängstlich be- 
hütet vor den Angriffen der Wissenschaft und ist doch der Glaube an 
Wunder noch von der officiellen Kirche als wesentlicher Bestaudtheil 
der loyalen Gläubigkeit gefordert. In späteren Jahrhunderten mag in dem 
Inhalte und der Richtung der Wahnbildungen im Volke ein Wandel 
eintreten; heute jedoch kann dies noch nicht behauptet werden, ob- 
gleich man einer derartigen Meinung öfter begegnen kann. Immerhin 
lassen sich einzelne förmliche geistige Epidemien auf weltlichen Ge- 
bieten auffinden, innerhalb welcher die kritische Vernunft ebenso absolut 
bei Seite gesetzt wurde wie in den religiösen perversen Strömungen, und 
wo die suggestive Beherrschung der Geister durch die eine Idee eine 
nicht minder unbedingte war; dahin rechnet der moderne Anarchismus 
und die Beispiele von Speculationswuth in breiten Volksschichten, 
wie sie die Tulpenmanie in Holland und die John Law’sche Grün- 
dung in Frankreich *) gezeitigt hatten. 

Die Tulpenpflanze war um die Mitte des 16. Jahrhunderts nach 
Europa gekommen, bald wurde sie zur Zierpflanze der Mode, und nun 
steigerte sich die Nachfrage nach ihr in den niederländischen Städten 
rasch. Kaufmännische Speculation bemächtigte sich der Sache, und da 
die Tulpen aus Samen gezogen wurden, deren Entwicklung natürlich 
Zeit beanspruchte, gelangte man weiterhin zu Lieferungsverträgen aut 
Zeit, und aus diesen wurden schliesslich förmliche Termin- und Differenz- 
geschäfte, wie sie an der heutigen Börse üblich sind. Alle Welt begann 
nun, als die Preise mehr stiegen, selbst Tulpen zu züchten, weiterhin 
aber betheiligte man sich einfach an den reinen Terminspeculationen, 
nur in der Absicht, Gewinn aus den nachfolgenden Preissteigerungen 
zu ziehen, ohne die Tulpen selbst verwerthen zu wollen. Ein Taumel 
ohne Maass und Ziel ging durch ganz Holland vom Edelmann bis zum 
einfachen Bauer, Landgüter, Pferde, Hab und Gut wurden veräussert. 

1 ) Hinreichend eingehende Darstellung dieser Epidemien findet sich in dem 
wichtigen Werke : 0. St oll, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie, 
Leipzig 1894. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 1 < 



252 


Leber Wahnideen im Völ kerleben. 


um flüssige Geldmittel zur Speculation zu erhalten ; die Werthe für die 
Tulpenzwiebeln stiegen so enorm, dass einmal eine einzige Zwiebel der 
Varietät * Semper Augustus“ zu 13000 fl., ein ander Mal 3 Zwiebeln 
zu 30000 Gulden gehandelt wurden. Noch 1637 wurden für das 
Waisenhaus in Alkmeer 120 Tulpenzwiebeln für 90000 fl. verkauft. 
Indessen ebenso rasch im gleichen Jahre kam die Wendung und der 
Zusammenbruch aus dieser absolut künstlichen Werthsteigerung und 
Speculationswuth ; nach wenig Wochen kostete eine Semper Augustus 
nur noch 30 fl., etwas später nur noch 5 fl. Eine ganze Reihe von 
Existenzen war ruinirt, und der Handel erholte sich erst nach Jahren 
von dieser schrecklichen Krisis. Ganz unbedacht und plötzlich war der 
Taumel über das Volk gekommen, als man die Möglichkeit vor sich sah, 
beinahe über Nacht durch das Termingeschäft zum reichen Mann zu 
werden; da aber jegliches Fundament für die horrenden Preistreibereien 
fehlte, so hielten alsbald die Besonnenen zurück, mit gleicher Plötz- 
lichkeit kam es zur Panik, und der Preis der Zwiebeln machte erst an 
dem geringen realen Werthe der Objecte Halt. 

In Rechnung gesetzt muss aber der Faktor werden, dass die Sache, 
die Idee selbst neu war, und dass es noch sehr an richtiger Einsicht 
in die Finanztechnik und nationalöconomischen Gesetze fehlte. Aber 
der maasslose Impuls reich zu werden, der zum Preisgeben von Hab und 
Gut auf ein gewagtes Spiel hin trieb, ist auch hier lediglich sug- 
gestiver Natur gewesen, und jegliche vernünftige Ueberlegung hat 
jenen Spielern noch mehr gemangelt als etwa dem Glücksspieler an 
den grossen Spielbanken. Nicht anders ist es in der berühmten John 
La w’schen Transaction gegangen. Die Details interessiren uns auch 
hier nicht; man darf nach dem Urtheile von Sachkennern, welche 
wiederholt dem merkwürdigen Unternehmen eingehende Studien ge- 
widmet haben, sagen, dass die zu Grunde liegende Idee an sich richtig 
und bedeutend, sogar finanztechnisch Epoche machend war. Law 
fehlte nur darin, dass er der Agitation kein Hinderniss in den Weg 
legte, und dass er sich in dem jähen Taumel völlig die Zügel aus den 
Händen winden liess. Persönliche Vortheile, die mancher Scharf- 
blickende in ungemessener Höhe für sich errang, indem er seinen Gewinn 
sicher im Auslände unterbrachte, hat er selbst für seine Person ver- 
schmäht. Erwähnen wir nur, dass er eine grosse Handelsgesellschaft 
mit Monopol für allen ausländischen überseeischen Handel, die „Com- 
pagnie des Indes“ begründete, und dass er dafür Antheilscheine ganz 
nach Art unserer heutigen Actien ausgab. Da man sich nun grossen 
Gewinn von dem Unternehmen versprach, auch bedeutende Zinsen sogleich 
in Aussicht stellte, so erreichte bereits die zweite Emission der Banque 
royale, 500 000 Actien zum Nominalwerth e von 150 Millionen, einen 
Oours von 550 Livres pro Stück ; aber schon die dritte Emission 



Ueber Wahnideen im Volk erleben. 


253 


wurde zu 1000 und die letzte gar zu 5000 Livres pro Actie eingezahlt, 
also über das 16 fache des Nominalwerthes von 300 Livres. Niemand 
berechnete mehr den wahrscheinlichen Zinsertrag, es galt nur Kauf 
und rascher Verkauf mit gewaltigem Gewinnste, und der Cours wurde 
in wenig Wochen in jenem Jahre (1617) bis auf 18 000 Livres pro 
Actie getrieben. Zehn und zwanzig Mal an einem Tage pflegte der- 
selbe, Hoch und Niedrig, seine Actien zu kaufen und zu verkaufen, der 
Andrang der Leute zur Bank wurde durch das Gedränge lebensgefährlich ; 
man nahm sich nicht mehr die Zeit, zu dem Geschäfte nach Hause zu 
gehen. Baracken, die den Vorzug der Nähe bei der Banque royale be- 
sassen, wurden für die Transactionen der Speculanten vermiethet und 
erzielten gewaltige Miethen, und bekannt ist die Anekdote von jenem 
Buckeligen geworden, der auf der Strasse seinen bequemen Rücken zum 
Schreibpulte hergab und dadurch ein Vermögen von 150 000 Livres zu 
erwerben wusste. Als nun aber nach 2 Jahren endlich die Einsicht 
kam, dass die Einkünfte der Bank denn doch bei Weitem nicht solch 
enormen Werthen der Actien entsprachen, kam auch da in wenig Tagen 
der Zusammenbruch und die Liquidation der Bank mit einem Defizit 
von 2500 Millionen Livres. Natürlich verloren alle die, welche ihr 
Vermögen für den illusorischen Werth der Actien hergegeben hatten, 
ihr Geld so gut wie gänzlich, und die Panik und Deroute war eine 
ungleich schwerere als seiner Zeit bei dem Tulpenschwindel. Auch in 
Zukunft hat beim Börsenspiel sich gerade das den Geldgeschäften ferner 
stehende Publikum verblenden lassen durch die zu Ohren kommenden 
Beispiele rascher Bereicherung Einzelner, zuletzt in grossem Maassstabe 
in der Gründungsperiode der 70 er Jahre, doch war der Taumel des 
Volkes nie so grenzenlos wie in jenen ersten Fällen, weniger wohl in 
Folge besserer Einsicht und Selbstbeherrschung des grossen Publikums, 
das auf jeden gut arrangirten Schwindel „hereinfällt“, als in Folge 
der besseren Aufsicht, welche die staatliche Behörde ausübt durch eine 
umsichtige Actiengesetzgebung. 

Lediglich der gleichen rein physischen Hemmung verdanken 
wir es, dass jene andere furchtbare und scheussliche Idee, die des 
Anarchismus in Verbindung mit der Propaganda der That, 
einen nur massigen Umfang erreicht hat und dass sie zwar reichlich 
theoretische Anhänger, aber doch nur spärlich active Vertreter ge- 
funden hatte. Die ganze Völkerpsychologie widerlegt bei diesem 
Einzelfalle eine doppelte falsche und gefährliche Lehre, welche von ver- 
schiedener Seite her bezüglich des Anarchismus vertheidigt wurde: die 
eine Lehre ist die der reinen Demokratie, welche dem Wahne huldigt, 
falsche Ideen würden am Besten durch die Vernunft und Einsicht des 
Volkes corrigirt und seien am Unschädlichsten und Raschesten beseitigt, 
wenn man ihnen möglichst öffentliche und ungehemmte Aussprache 



254 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


gestatte. Richtig ist ja, dass in langen Zeitepochen hier schliesslich ein 
„U eberleben des Passendsten“ erfolgt, aber bis es dahin kommt, 
hat die Idee Zeit gehabt, ihre volle suggestive Gewalt zu entfalten, und 
die Periode des Hexenwahns hat wahrlich genug bekundet, wie um- 
fassend solche Zeiträume sein können. Nur wo so drastische Beweise 
ad oculos erfolgen, wie in den grossen Geldspeculationen, da kann ein 
suggestiver Irrthum schnell zu Grabe getragen werden. Die zweite, 
beinahe entgegengesetzte Lehre, die von Lombroso 1 ) und Krafft- 
Ebing gestützt wurde, lautet dahin, es sei bei der anarchistischen Be- 
wegung eine thatsächliche geistige Abnormität, speciell nach dem 
letzteren Autor eine politische Ideen hegende Paranoia, eine Para- 
noia expansiva bei einer nennenswerthen Zahl der Anhänger be- 
theiligt gewesen, insbesondere bei den Hauptmatadoren. Die von Lom- 
broso sogenannten Mattoiden (folie mattoide), die schreibsüchtigen, 
disharmonisch veranlagten Naturen, ferner Epileptiker und Hysteriker, 
dazu hypersensible Leidenschaftsverbrecher 'kommen nach diesem Autor 
hauptsächlich in Betracht. Mir scheint nun in der That diese Meinung 
für einen Theil der anarchistischen Verbrecher zuzutreffen, und ich halte 
das Material, das Lombroso 1 ) dafür beibringt, für durchaus beachtens- 
werte Es ist auch charakteristisch, dass der Anarchismus in allen 
Ständen immer nur bei einzelnen, meist besonders eigenwillig ver- 
anlagten Naturen Anhänger gefunden hat. Aber eine solche Auslese 
der für eine extreme Idee suggestiblen Personen trifft man doch auch 
bei religiösen Sectenbildungen, und dennoch hat bei günstigen 
äusseren U m ständen der Anarchismus eine starke und wild grau- 
same M a ssenbewegung in Gestalt der Pariser Commune hervor- 
gebracht. Anerkennen wir daher immerhin, dass zur vereinzelten 
Thathandlung, zum „Attentate“ speeifisch starke Impulse und eine 
ungewöhnliche Ausschaltung der sonst so mächtigen Hemmungs- 
motive erforderlich sind; wir haben das ja in der einleitenden Be- 
trachtung dieses Abschnittes ausdrücklich in's Licht gesetzt, als wir eben 
den Unterschied der Hemmungen bei der individuellen und der 
Massensuggestion hervorhoben. Wir können somit hier die Psychologie 
des Individuums für sich bei Seite lassen, soweit die passive Suggesti- 
bilität für die Ideen in Frage kommt, und uns lediglich an die Massen- 
wirkung der anarchistischen Idee halten. 

Nun zeigt es sich vielleicht nirgends besser als bei dieser Gelegen- 
heit, wie ungenügend jene populäre Auffassung ist, welche die grossen 
perversen Bewegungen im Volke theils auf die geistige Beschränktheit 
der Massen, theils vor Allem auf die blinden Leidenschaften 

b Lombroso, Die Anarchisten, eine criminal-psychologisclie u. sociologische 
Studie, deutsche Lebersetzung von H. K uro 11a, Hamburg lsbo. 


lieber Wahnideen im Vülkerleben. 


255 

derselben zurückführen will. Vielmehr muss stets ein nachhaltig sug- 
gestiv wirkendes Element, das ist eine Vorstellung oder Idee, 
vorhanden sein, und gerade der Anarchismus hat sich stets, wo er auf- 
trat, sei es in ein religiöses, sei es wie in moderner Zeit in ein 
philanthropisches oder aber mehr sozial-politisches Gewand gehüllt. 
Dies nachzuweisen ist die Aufgabe, welche uns jetzt hier obliegt. Schon 
früher ist der Gedanke aufgetaucht, der Mensch lebe am Besten und 
Naturgemässesten ganz ohne Gesetze und Beschränkungen und nur 
durch die Gesetze käme erst der Impuls zu Verlockungen und Ueber- 
tretungen. Schon im hellenischen Alterthum *) von Zeno und dann von 
Karpokrates zwei Jahrhunderte vor Christus ist diese Theorie auf- 
gestellt worden. Dann aber sind kleinere Herde von Anarchisten im 
frühen Mittelalter um 1200 wiederholt aufgetaucht, mit mystischen und 
chili astischen Vorstellungen verschwistert. So lautete bei den Amalri- 
chisten (nach Joachim von Floris und Amalrich von Beno) die 
Lehre, jeder Christ sei ein Theil Gottes, und wer in der Exstase die 
Rückkehr zu Gott gefunden habe, könne nicht mehr sündigen 
und dürfe jeden Gedanken, so verbrecherisch er scheine, ausführen. So 
wurde die wildeste Fleischeslust durch den einfachen Grundsatz motivirt, 
dass Gott ebenso „unter als über dem Gürtel wohne 44 . Trotz Inquisition 
und Scheiterhaufen breitete sich die Secte als „Brüder vom freien Geist“ 
in verschiedenen Ländern aus, vom 13. bis 15. Jahrhundert sich immer 
von Neuem erhebend. Weiter wurde unter den Hussiten durch einen 
belgischen Emigranteu, der sich für den Sohn Gottes ausgab, eine 
ähnliche Secte der „Adamiten“ begründet, welche in paradiesischer 
Unschuld und Nacktheit lebend, keinerlei Gesetz oder Ordnung für 
nöthig hielten, aber durch Ziska selbst niedergemetzelt wurden. Um 
die gleiche Zeit lebte die Secte der Chalciken, es kamen ähnliche Ideen 
in dem Wahnsinn der Wiedertäufer zu Tage, und ein Ableger der 
letzteren in Zürich, die „freien Brüder“ , proklamirten wieder auf 
christlich-religiösem Boden die freiwillige Güter- und Weibergemeinschaft. 

Alle haben sie, im offenen Zerfall mit dem herrschenden Staate, 
ein Martyrium blutiger Vernichtung erduldet, ein Beweis, dass auch 
solche extrem social gefärbte Ideale schon früh suggestive Kraft genug 
entfalteten, um dafür mit dem Opfer des Lebens einzustehen. Der 
moderne Anarchismus hat ebenfalls, so in L es sing. Fichte, God- 
win u. A., eine Reihe von theoretischen Vorläufern besessen; sein 
wirklicher Begründer ist aber Proudhon. 1 ) dem auch die Erfindung 

Ü Vergleiche Prof. Adler. Artikel Anarchismus im Handwörterbuch der 
StaatswNsenschafteii von Conrad. Lexis etc.. II. Auflage, Jena (Fischer) 

I. Band. 

*) Siehe E. V. Zenker, Der Anarchismus. Kritik und (ieschichte der anar- 
chistischen Theorie, Jena (Fischer) ls‘i.*>; Zacher. Der Anarchismus und seine 
Träger, Berlin ls*7. 



256 


Ueber Wahnideen irn Völkerleben. 


des Terminus „Anarchismus“ zukommt (in der Schrift Qu’est ce que 
c’est que la propridtä 1840). Niemand hat je gezweifelt, dass er von 
den edelsten Motiven geleitet worden ist, er war und blieb auch Theo- 
retiker vom reinsten Wasser und alles Andere eher als Agitator. Seine 
Theorie ist abstract genug und geht aus von der Untersuchung der 
Tauschwerthe ; auf gerechter Basis müsste das Tauschobject und das 
eingetauschte Gut gleichen Werth besitzen. Das finde aber bei dem 
Eintausch der Arbeitskraft gegen den Arbeitslohn nicht statt, viel- 
mehr halte der Unternehmer ungefähr ein Fünftel als Unternehmer- 
gewinn zurück, er „erntet also, wiewohl er nicht säet, er geniesst, wie- 
wohl er nicht arbeitet“. „Der Eigenthümer wird so zum Diebe“, 
„la propriätd c’est le vol“. Proudhon hat so das berühmte Sch lag - 
w*ort geschaffen, und die Ideen in dergestalt concentrirte Form gebracht 
sind erst so wirklich im Stande, Massenwirkungen zu erzielen. Denn 
die Masse verlangt eine klare anschauliche Vorstellung, dagegen nicht 
eine motivirte Theorie. Die letztere macht sich dann jeder Einzelne 
aus in der Zeitung oder in der Versammlung aufgefangenen Brocken 
nach seinem persönlichen Fassungsvermögen zurecht. Proudhon selbst 
aber fahrt fort : Die Arbeiter erhalten somit nicht soviel, um ihre eigenen 
Producte zurückkaufen zu können. Das führt zur Ueberproduction aus 
Mangel an Abnehmern und zur Krisis; die Arbeit steht still. Heute 
wird die Werkstätte geschlossen, morgen Fasttag auf den öffentlichen 
Plätzen, übermorgen Tod im Armenhaus oder ein Mahl im Gefängniss. 
Daraus folgt die Notliwendigkeit der Arbeitsfreiheit nach Neigung und 
Talent, die Aufhebung der Capitalansammlung. Da aber keine Regierung 
damit zufrieden sein wird, folgt wieder das Postulat der Regierungs- 
losigkeit, der Anarchie. Erst da ist aller Handel frei und gerecht 
und nur Producte von gleichem Werth werden getauscht. Zur Ver- 
wirklichung dieses Ideals dachte sich Proudhon eine Tauschbank, 
d. li. eine Art Vorschussbank, die ohne Zins leiht, sodass das Capital 
des Einzelnen keinen Werth inehr hat. Dass nun alles richtig gehen 
werde, dass die Menschen alle fieissig und redlich arbeiten, sich nicht 
übervortheilen etc., das wird einfach garantirt „durch die G er ech tig- 
keit*. welche „von selbst* beim Fehlen des Zwanges und der 
Regierung herrschen wird. 

Bei Stirn er dreht sich wieder Alles nur um diesen letzteren 
Grundsatz, und es seien wenigstens zwei Worte diesem anderen Haupt- 
theoretiker der Anarchie gewidmet. Sein Grundsatz ist ein moralischer 
oder besser antimoralischer : der Mensch an sich kenne nur seine 

eigenen persönlichsten Interessen, nur seinen Egoismus; jede Schranke. 
Vaterland. Religion. Gesetz, seien ihm eingeredete fixe Ideen oder Ver- 
gewaltigung des freien .Einzigen“. Statt des Staates solle es nur 
„Vereine von leben“ geben, deren jedes nur sich im Auge hat, Vereine 



Leber Wahnideen im Völkerleben. 


257 


der Egoisten. Aus Eigennutz aber müssen sie sich associiren durch 
freiwillige Verträge. Diese müssen gehalten werden, weil man sonst 
dem Contractbrüchigen nicht mehr traut. Der Beginn dieser Umwand- 
lung sollte eine allgemeine Empörung sein, und dabei sollte sich 
jeder nehmen, was ihm gefalle. Die Ordnung wird auch nach Stirn er 
„ganz von selbst“ durch die den Menschen einwohnenden guten 
Eigenschaften aufrecht erhalten werden; denn die socialen Verbrechen 
sind nur Folge des Zwanges und der Gesetze. Ebenso erklärte 
Bakunin, die Ordnung im anarchischen Staat müsse sich „ganz von 
selbst“ hersteilen durch das der gesammten Menschheit eigene „Princip 
der Solidarität“. Auch Stirne r war bekanntlich ein ganz zurückgezogen 
lebender Stubengelehrter von tadellosem Leben, der erst späterhin, 
wieder durch die Männer der Agitation — nach seinem Tode — der 
Vergessenheit entrissen und wirksam wurde. 

Die Proudhon ’ sehen Ideen sind nun weiterhin von einer immer 
steigenden Zahl von Theoretikern und namentlich von Agitatoren 
übernommen und theilweise weitergebildet worden, und sie haben sich 
wie bekannt in zwiefacher Richtung entwickelt, in derjenigen der 
Emancipation des Arbeiterproletariats, der Socialdemokratie, die als ihre 
Väter Lasalle und Marx bezeichnet, und in der Richtung des Anar- 
chismus. Beide Ideenrichtungen haben eine grosse, die erstere zum 
Theil für den Arbeiterstand eine fast universale werbende Kraft 
entfaltet, und dennoch ermangeln sie in ihrem positiven Theil so 
gut wie völlig jeder logischen Grundlegung. Die Socialdemokratie er- 
klärt den Unternehmergewinn wie Proudhon für verwerflich, muss 
aber anerkennen, dass das Capital im allgemeinen Daseinskämpfe sich 
nothwendig bei den intellectueil Stärkeren ansammelt. Sie decretirt 
daher einfach, dieser Daseinskampf müsse durch die staatliche Omni- 
potenz verboten, d. h. aufgehoben werden, sie decretirt aber eben so 
einfach, dass unzweckmässige Impulse und die Ungleichheit der Be- 
gabung der Individuen kein Hinderniss für diesen unbedingten Commu- 
nismus und noch weniger für das Glücksgefühl der Personen darin sein 
werden. Die anarchistische These dagegen steht auf förmlich kindlich 
naiver Stufe: sie decretirt, nicht die Gesetze seien durch menschliche 
conträr-sociale Impulse, sondern die letzteren seien durch die Gesetze 
provocirt worden, obwohl auch nicht das primitivste Naturvolk ohne 
streng gebandhabte Gesetze auskommt: die Tausch- und Eigenthums- 
beziehungen, welche die Socialdemokratie in gerechter Weise durch 
stärkste Staatspolizei er zwi ngen will, regeln sich für den Anarchismus 
durch die absolut guten Eigenschaften der Menschen «ganz von selbst“. 
Die Folge dieser grenzenlosen Naivität des philanthropischen Programms 
des Anarchismus ist es gewesen, dass die Zahl seiner Anhänger eine sehr 
viel kleinere als die der Socialdemokratie geblieben ist, und dass 



258 


Heber Wahnideen im Völkerleben. 


insbesondere die Gebildeten darunter sich fast nur auf die massige Zahl 
der Agitatoren beschränken und auf jenen blasirten Theil der decadenten 
Jugend in den romanischen Nationen, deren „folie sensationiste“ sich 
an der blutdürstigen Energie und Leidenschaftlichkeit der Agitation 
berauschte. 

Diese letztere wurde thatsächlich noch reiner negativ und zur 
Anklägerin der gegenwärtigen Gesellschaftsform und Gesellschaftsnorm 
als ihre anständigere revolutionäre Schwester, die Socialdemokratie ; 
ihre ersten Propheten fand sie in dem despotischen und rückständigen 
Russland, in einem Bakunin, Krapotkin und Netschajew, und 
der letztere ist, offenbar im Anschluss an den politischen Nihilismus, 
zu der Formulirung der Idee der „Propaganda der That“ gelangt. 
Er verlangte, man solle durch grässliche Unthaten das allgemeine Auf- 
sehen erregen, also eine Reclame im grössten Stil erwecken, es sollte 
Schrecken bei den Besitzenden und bei den Regierungen erregt werden. 
Keine andere Thätigkeit als die der Zerstörung sei zuzulassen, der 
Staatsbegriff solle gewaltsam vernichtet werden, wie das freilich auch der 
gutmüthige Stirn er postulirt hatte. Zum ersten Mal wurde damit das 
Attentat nicht zur Wegräumung politischer Gegner, sondern zum Zweck 
der Propaganda als Selbstzweck proklamirt (18G9). 

Das psychologische Motiv ist klar: die suggestive Idee drängt 
impulsiv zur That, bei der geringen und zudem zerstreut in der Be- 
völkerung wohnenden Menge der Anhänger ist die reguläre Geltend- 
machung durch politische Agitation ziemlich erfolglos. Die Idee des 
Anarchismus entspringt zudem einer heftigen Opposition gegen das 
Bestehende. Diese Agitation war von vornherein eine leidenschaftlich 
erboste: so war das Attentat die nächstliegende Bethätigung, und es 
galt nur eine Formel zu finden, um das Attentat ohne Ziel, „ins Blaue 
hinein“, um auf einen früheren Ausdruck zurückzukommen, zu recht- 
fertigen. So fand Netschajew psychologisch ganz richtig als Motiv 
das „Reclamebedtirfniss“. Damit wurden zugleich eigene Märtyrer 
der Idee geschaffen, wozu jede starke oppositionelle Suggesti Vorstellung 
immer hindrängt. Nur die infame Scheusslichkeit, welche das Morden 
von an sich in keiner Weise den Attentäter berührenden Personen in 
sich schliesst, hat es verschuldet, dass die Agitatoren sich begnügten, 
nur ihr Lebensglück der Idee zu opfern, während die anarchistische 
That von den an Bildung niedrigst stehenden Männern, theilweise 
wirklichen Verbrechern, ausgeführt wurde, einem Hödel, Ravachol, 
Henry etc. Von Einzelnen, wie besonders Caserio, berichtet Lom- 
broso eine Reihe von Zügen, die auf einen von Natur aus sanften 
Charakter schliessen lassen, der die anarchistische Idee mit seiner 
früheren religiösen Inbrunst vertauscht habe, irre geführt durch die 



reber Wahnideen im Völkerleben. 


259 


primitive Logik einiger Agitationsschriften ! ). Es sei hier eine specielle Arb 
der geistigen Veranlagung vorhanden, vermöge welcher die Personen durch 
eine einzige Idee völlig ausgefüllt würden, der „Monoideismus“. 
Ich finde keinerlei Grund, darin eine irgendwie specifische psychologische 
Thatsache oder Wirkung vorauszusetzen; wir finden im Anarchismus 
lediglich die gleichen Züge, wie sie jede suggestive Massenbewegung 
mit sich bringt; die Aeusserungen sind pervers, weil es auch die Idee 
ist. Der philanthropische Mantel ist lächerlich naiv, die oppositionelle 
Seite der Idee dagegen ist überaus radical und an und für sich aggressiv. 
Die Unterdrückung des Anarchismus gelang darum so relativ leicht* 
weil nun doch die wenigen höher Gebildeten, wie Elie Reclus, sich 
entsetzt von der blutigen Sache und den Gemeinheiten eines Most, des 
„Pere-Peinard“ u. s. w. ab wandten und jedenfalls nicht darum die 
Strenge der Gesetze über sich ergehen lassen wollten. Ungebildete 
können aber keine suggestive Autorität auf die Massen entfalten, und 
ein herostratischer oder neronischer Verfolgungswahn gegenüber der 
ganzen Bourgeoisie, der Trägerin unserer modernen Cultur, widerspricht 
zu sehr der menschlichen Natur, um dann noch Dauer zu bewahren* 
nachdem er sich in seiner vollen Hässlichkeit entpuppt hat. 

Die anarchistische Bewegung stellt uns ein besonders crasses, aber 
doch nur ein einzelnes Beispiel des politischen Wahns dar. Wir 
hatten schon oben bemerkt, dass dieser letztere seit dem Anbruch der 
modernen Weltanschauung doch in einem gewissen Masse an die Stelle des 
religiösen Wahns im Völkerleben getreten ist; doch ist seine Erscheinungs- 
weise im Allgemeinen einfacher, elementarer und ideenärmer als die 
religiösen Strömungen es sind, welche der Phantasie ein weites Feld 
bieten, und deshalb pflegt man für jenen meist lediglich den Terminus 
der „nationalen und politischen Leidenschaften“ anzuwenden. 
Indessen spricht man doch auch ebenso von „gallischem Grössenwahn“, 
von dem „Imperialismus“, der z. B. im amerikanischen Volke herrschende 
Strömung geworden sei, und andererseits anerkennt man, dass die 
höheren geistigen Bewegungen in den Völkern, so der Freiheitsdrang, 
der Patriotismus und Nationalstolz, wahre Ideale seien, also auf 
geistigen Prinzipien, Ideen beruhen. In der That muss man erkennen, 
dass in allen solchen Strömungen eine Idee und ein Affekt Zusammen- 
wirken, dass nur die Idee, welche Gefühl und Phantasie oder aber die 

Ü Die Art dieser Uedankengänge erhellt aus zwei Aeusserungen Ca seriös; 
brutal schreibt er: „Ich muss bald einen Bourgois am Kragen packen; mein Herz 
schreit nach Rache; ein einziger Tag ist für mich lang genug, um eine furchtbare 
Rache zu nehmen.“ Mitleidig dagegen klagte er, dass Hunderte von Arbeitern Be- 
schäftigung suchen und nicht linden; Hunger und Kälte herrschte nicht deswegen, 
weil es an Brot und Kleidern fohle, denn die Magazine seien voll davon, aber Viele 
schwelgten im Luxus, ohne zu arbeiten etc.“ 



260 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Leidenschaft kraftvoll zu erregen vermag, bisher zu einem Ideal oder 
zu einem aufreizenden Phantom der Völker geworden ist. Es sind 
sonach, um es mit unserem technischen Ausdruck zu benennen, wiederum 
Suggestivwirkungen, suggestiv wirkende Vorstellungen, die auch das 
politische Leben der Völker hauptsächlich beherrschen. 

Daraus nun erklären sich mannigfache Erscheinungen, welche dem 
aussen stehenden Beobachter des Völkerlebens wunderbar und oft auch 
beklagenswerth Vorkommen , welche ihm merkwürdige Räthsel und 
Zwiespältigkeit in der Menschenbrust offenbaren. Da ist zunächst die 
Thatsache, dass im Allgemeinen materielle und praktische, d. h. logisch 
begründete Ziele und Werthe selten die Völker zu grossen Thaten auf- 
gestachelt, dass sie kaum je tiefgehende Erregungen oder gar grosse 
Kriege in's Dasein gerufen haben. Der gewaltige wirthschaftliche Kampf 
der heutigen Culturnationen entwickelt sich in den friedlichsten Formen, 
die Völker sehen in Ruhe ihre Regierungen Handelsverträge schliessen 
oder einen heftigen Zollkrieg unternehmen; darüber entbrennt nie ihre 
Leidenschaft, mögen sie auch wirtschaftlich dadurch empfindlichen 
Schaden erleiden. Wenn das materieller denkende Volk des britischen 
Inselreiches gegenwärtig einen blutigen Vernichtungskampf gegen die 
Burenrepubliken führt, um deren an werthvollsten Gold- und Diamant- 
minen reiches Land an sich zu reissen, so kennzeichnet man sonst 
überall in Europa das als eine „engherzige Krämerpolitik“. Und doch 
spielt dabei eine jahrhundertlange politische Eifersucht, die Kränkung 
englischen Stolzes durch die starre Unnachgiebigkeit des kleinen Landes 
und endlich wohlgeleitete Aufreizung der Nation durch eine Anzahl 
von Interessenten, die von langer Hand her vorbereitet wurde, vielleicht 
die grössere Rolle. Dein gegenüber sah man bei den Kreuzzügen im 
ganzen gesitteten Europa die Bllithe aller waffenfähigen Männer, ja 
sogar unmündige Kinder das Schwert mit dem Kreuz zugleich ergreifen; 
das deutsche Mittelalter sah das Kaiserthum sich in zwei nutzlosen und 
endlosen Reihen von überaus schweren Kämpfen verzehren, einmal um 
den leeren Phantom des „römischen Kaiserthums deutscher Nation“ 
nachzujagen, d. h. einer romantischen Wiedererneuerung von Karls des 
Grossen Reich; zweitens um den ebenfalls romantischen Anspruch der 
Weltherrschaft zwischen Papstthum und Kaiserthum zu entscheiden. In 
unseren Tagen wollte das machtlose Spanien sich gegen das waffen- 
gewaltige Deutsche Reich erheben, nicht um des werthlosen Besitzes 
der Karolineneilande willen, sondern zu Schutz und Schirm für die Ehre 
der Nation. Bedarf es noch der Erinnerung an den unvergleichlichen 
Opfermuth Preussens in den deutschen Befreiungskriegen, an all* das 
was die Völker gethan und gelitten haben um das Ideal des politischen 
und verfassungsmässigen Selbstbestimimingsrechtes und das Ideal der 
nationalen Einigung ? 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


261 


So gross nun aber auch die Gewalt solcher Ideen über den Volks- 
geist sich erweist, sie theilen dennoch mit anderen Suggestivwirkungen 
die Eigentümlichkeit , dass sie der ursprünglichen Einpflanzung 
und Erregung durch fremde geistige Kraft für gewöhnlich bedürfen, 
d. i. eben die Suggestion. Man kann z B. nicht ersehen, dass eine 
höhere geistige Kultur an sich schon den Unabhängigkeitssinn der 
Völker oder gar ihren nationalen Stolz erwecke. Selbst die grösste 
aller Ideen, die der Humanität und des Menschenwerthes , war dem 
hochgebildeten Hellenen- oder gar dem Römerthum noch fremd; erst 
die junge christliche Gemeinde und später die Theoretiker der französischen 
grossen Revolution haben sie enthüllt und entwickelt. Die Aufklärungs- 
epoche am Schlüsse des 18. Jahrhunderts gefiel sich, wie man weiss, 
in einem fast vaterlandslosen Weltbürgerthum, am stärksten gerade da, 
wo es am schädlichsten war, in Deutschland nämlich. Ueberhaupt 
haften ja die einmal eingelebten politischen Ideen mit einer eisernen 
Beharrlichkeit, beinahe unabhängig von der geistigen Höhe der Völker 
und des Einzelnen, ja sogar unabhängig von ihrer materiellen Berechtigung. 
So war in Deutschland eine nahezu knechtische Fürstentreue stets das 
Ideal geblieben (der vielberufene „Bedientensinn“), und in dem gewissenlos 
ausgesogenen französischen niederen Volke ist die Idee der Emanzipation 
gewiss nicht erstanden: nicht Männer aus und im niederen Volke, 
sondern Philosophen und Weltmänner, ein Montesquieu, Voltaire, Rousseau, 
Mirabeau, Theoretiker und Rhetoren, hatten zuerst die Kühnheit der 
neuen Ideen in sich herausgebildet. Nur leidenschaftliche Kämpfe, 
nur das Feuer des Streites konnten dann die Ideen zur Reife und zur 
Ausbreitung bringen, wie das noch überall und bei allen neuen Ideen 
gewesen ist. 

In unserer Zeit vollends haben wir ein förmlich dem Priesterthum 
vergleichbares neues Amt der Leitung des Volkes erstehen gesehen in 
Gestalt sowohl der zahlreichen Parlamentarier und Berufspolitiker als 
namentlich der publicistischen Tagespresse, der „sechsten Grossmacht**. 

Für unsere jetzigen Aufgaben am interessantesten ist die dritte 
grosse Eigenthümlichkeit des politischen Lebens der Völker. Es scheint 
am Nächsten zu liegen, und man hat es vielfach ausgesprochen, dass 
eben in dem „Idealismus“ der Culturvölker die Grundlage für die er- 
staunliche werbende Kraft grosser neuer Ideen zu suchen sei. Damit 
contrastiren aber seltsam die bedenklichen Abwege , auf welche wir 
gleichzeitig den Volksinstinkt gerathen sehen. Die Völker sind heute, 
mit Ausnahme der Türkei und Russlands, überall zu eigenen Herren 
und Lenkern ihrer Geschicke geworden, die öffentliche Meinung einer 
Nation ist jetzt eine sieghafte Macht, und der Eigennutz oder die 
Genusssucht eines fürstlichen Despoten existirt kaum mehr als Faktor 
im öffentlichen Leben. Dafür zeigen aber schon die inneren politischen 



262 


Heber Wahnideen im Völkerleben. 


Parteien ein unerfreuliches Bild : für’s Eine sind es wesentlich die 
radikalsten und leidenschaftlichsten Parteien, die blühen und die die 
Stimmen der Wähler erobern. Selbst Blossstellungen, wie sie ein Ahlwardt 
erfuhr; sogar bedenkliche Verletzungen des Patriotismus, wie sie sozial- 
demokratische und auch da und dort demokratische Führer bei uns 
bekundeten; Sucht zu obstinater Verneinung und Unfähigkeit zu positiver 
Arbeit; unverhüllte Selbstsucht, wie sie die Agrarier vertreten: all’ das 
ruft nicht die Kritik der Wähler hervor und vermindert nicht die Zahl 
der Anhänger. In Frankreich vermochte ein geistloser und zudem 
energieschwacher Abenteurer wie Boulanger die Stimmen der Hauptstadt 
Paris auf sich zu vereinigen. Noch merkwürdiger erscheint ein anderes 
Verhalten: das eigentlich moderne politische Ideal, der Liberalismus 
hat in der Fortentwicklung unseres deutschen politischen Lebens stets 
mehr an Geltung und Wählerzahl eingebüsst, und die Ueberzahl der 
Wähler folgt entweder der politischen und religiösen Reaktion oder 
aber der unseren modernen Staat völlig verneinenden Sozialdemokratie. 
Man darf also sagen, dass die breiten Volksschichten je nach ihrer Er- 
ziehung heute ebenso leicht zum Mjsticismus und zum politischen 
Rückschritt wie zur planlosen Utopie zu gewinnen sind: gewiss ein 
seltsamer Gegensatz! Ich glaube, man würde unserem deutschen Volke 
unrecht thun, wenn man das durch seine geistige und politische Unreife 
erklären wollte; es offenbart sich darin nur wieder die Thatsache, dass 
planvolle Ueberlegung kein Faktor ist, mit dem geistige Massenwirkungen 
zu erzielen sind. Dagegen besitzt jeder Radikalismus, der reaktionäre 
wie der fortschrittliche, den Vorzug der starken Gefühlsbetonung, der 
Leidenschaft in seinem Vorstellen und zugleich der plastischen Klarheit 
und Schärfe in seinen Endzielen, sei dies nun der allgemeine Communismus, 
die grosse „Tlieilung“, sei es die Wiederherstellung der kirchlichen und 
religiösen Herrschaft u. s. f. Die S uggestibili tä t der Volksmassen 
stellt somit das wirksamste Moment dar. Nur sie erklärt es, dass tliat- 
süehlich unserer Cultur gefährliche Gesetzesvorlagen w T ie das Projeet 
des früheren preussisehen Schulgesetzes, ferner einer Bestrafung der 
„Gottesleugnung*, der Lex Heinze eine starke Mehrheit im Deutschen 
Reichstage haben finden können, sodass unsere konservative Regierung 
heute zum Schützer der liberalen Institutionen hat werden müssen. 

Noch deutlicher tritt diese Eigenschaft in dem eigentlichen 
nationalen Leben hervor, also in den Beziehungen eines Volkes zu 
anderen Nationen, wo sich jedes Volk als eine compakte Einheit fühlt. 
Hier fallen die regulirenden Hemmungen weg, welche die gegenseitige 
Gontrole der Regierung und der Volksvertretung , sowie endlich der 
gebildeten Kreise in der Nation im inneren politischen Leben ausübt: 
nur die physische Kraft und Macht, der Schutz, welchen das Schwert 
verleiht, vermag die Völker zu wahren und wildere Instinkte zu dämpfen. 



I'eber Wahnideen im Völkerleben. 


263 


Ganz gewiss ist es überraschend und betrübend, dass die gewaltige 
Zunahme unserer geistigen und gewerblichen Culturgüter ebenso wie 
die überaus grossen Fortschritte in unserer Gesittung und Humanität 
so gut wie keinen Einfluss erlangt haben auf die Abnahme jener 
Schmach der Menschheit, des Krieges. Und dabei sind die modernen 
Kriege keine dynastischen Unternehmungen mehr, sondern wahre Volks- 
kriege; und mit wenigen Ausnahmen sind die zu Grunde liegenden 
Gegensätze der Völker hervorgegangen aus perversen Ideen und Impulsen, 
nämlich zumeist aus einfacher Eroberungssucht, aus gesteigerter und 
förmlich zum Grössenwahn gediehener nationaler Eitelkeit, endlich aus 
gegenseitiger Missgunst und Eifersucht, welche oft an Verfolgungswahn 
grenzt. Diese Vergiftung des nationalen Denkens und Fühlens 
ist seither in jedem Dezennium nur gewachsen, und während zur Zeit 
der „heiligen Allianz“ noch ein wirkliches „Konzert der Mächte“ lange 
Jahre hindurch bestand, so ist heute das Gesammteuropa einfach unfähig 
geworden, eine so drängende und lebenswichtige Aufgabe wie die Be- 
seitigung der Türkei auch nur zu erwägen, ganz zu geschweigen von 
der Möglichkeit, die zum Aeussersten gespannte Waffenrüstung irgendwie 
herabzumindern. Die Sachlage ist heute schon so, dass es gar kein 
Vorzug ist, sondern von einer Schwäche des nationalen Empfindens 
zeugt, wenn man. wie bei den deutschen radikalen Parteien, freundliche 
Gesinnung gegen ein Nachbarvolk, speziell die Franzosen, zur Schau 
trägt, den Gebrauch des Ausdruckes „Erbfeind“ der Jugend vorenthalten 
zu wissen wünscht u. dergl. 

Wenn wir eines oder das andere der uns Deutschen speziell nahe 
liegenden Beispiele dafür iifs Auge fassen, so ist es keine gleissnerisehe 
Selbsttäuschung, sondern historische Wahrheit, dass wir Deutsche zu 
der herkömmlichen Feindschaft der Franzosen und Russen gegen 
uns nie einen anderen Anlass als den unserer Existenz gegeben haben. 
Das russische Volk hat von jeher gegen uns den Hass der Eifersucht 
bezeugt; eine Reihe tonangebender und geistig hervorragender Schrift- 
steller, wie Puschkin und Turgenjew, haben sich darin gefallen^ 
in ihren Dichtungen jeweils die Deutschen als die niederträchtigsten 
Schurken, Geizhälse und Trunkenbolde hinzustellen, zum Dank dafür, 
dass lange Zeit die grössten industriellen Unternehmungen in Russland 
von Deutschen in’s Leben gerufen und geleitet werden mussten. Wieder 
ganz ohne Grund hatte sich nach dem Berliner (Kongress eine zügellose 
Kriegspartei in Russland gerade gegen Deutschland erhoben, das damals 
am Allerwenigsten feindselig sich gegen die Russen bewiesen hatte. 
Hand in Hand damit geht die panslawistische Ausbreitungs- und Er- 
oberungslust des heute schon riesengrossen Reiches; man sollte 
meinen, es seien für den russischen Staat gar keine gedeihlichen und 
drängenden kulturellen und politischen Aufgaben im Innern des Reiches 



264 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


vorhanden; so continuirlich, rastlos und intensiv strebt es nach immer 
weiterer Länderbeute, ohne sich Zeit zu nehmen, im Innern des Landes 
merklich zu bessern. Indessen scheint sich darin im Wesentlichen das 
slawische Temperament zu äussern; denn auch ein Theil der jungen 
südslawischen Balkanstaaten scheint zeitweise von nationalem Grössen wahn 
ergriffen worden zu sein, so damals als ohne jeden Grund das eifersüchtige 
Serbien seinem bulgarischen Nachbar feindselig in den Rücken fiel. 

Das französische Volk ist durch seine beiden grossen Monarchen 
Ludwig XIV. und den ersten Napoleon förmlich erzogen worden, 
sowohl zur grenzenlosen nationalen Eitelkeit als zu jenem egoistischen 
Wahn, es sei seine politische Aufgabe, sich durch grosse Stücke des 
germanischen Nachbarlandes zu bereichern und dieses überhaupt zur 
dauernden politischen Ohnmacht und Zerrissenheit zu verurtheilen. Man 
hatte dafür den schönen diplomatischen Ausdruck vom „ europäischen 
Gleichgewicht“ erfunden, zu dem es gehörte, dass Preussen und Oesterreich 
ihre Kraft durch gegenseitigen Antagonismus lähmen sollten, während 
selbstverständlich Frankreich als die ,. grosse Nation“ den Rang der 
Vormacht in Europa besitzen musste — eine Idee, welche dann namentlich 
der dritte Napoleon ausgebildet hatte und durch welche er sich auf seinem 
Throne zu behaupten gedachte. Der Napoleonismus, das Kaiserreich 
war Alles weniger als der Friede, es war die „gloire“ für die Franzosen 
und jener Zustand in Deutschland eine der Hauptstützen dafür. Ich 
verkenne keinen Augenblick, dass der Ausdruck „Wähn“ im Voran- 
gehenden oft übertragen, sogar etwas übertreibend angewendet worden 
ist: aber für das Verhalten der Franzosen nach dem 70er Kriege und 
beim Schlüsse desselben finde ich kein anderes Wort als den der walin- 
haften Verblendung. Kaum dass das französische Volk sich von den 
krampfhaften Zuckungen seinerSchreckenszeit an der Wende des 18. Jahr- 
hunderts erholt hatte, streckte es länderhungrig seine Arme nach weiterem 
deutschen Länderbesitz aus, und während es versprochen hatte, überall nur 
Freiheit und Menschenrechte zu verbreiten, beugte sein Heros, der erste 
Napoleon, fast die Hälfte des zerstückelten Deutschlands unter seine Gewalt- 
herrschaft; nach der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Preussen 
und Oesterreich, waren es die Franzosen, welche die geradezu naive An- 
massung hatten, um „Rache für Sadowa“ zu rufen; bei Beginn des 
70 er Krieges war das linke Rheinufer und der Einzug in Berlin der 
erste Gedanke und das Ziel des Volkes: und dieselben Franzosen konnten 
es gar nicht fassen, dass Deutschland das geraubte Eisass, ja nur „einen 
Stein von ihren Festungen “verlangen, dass man dem Lande die Demüthigung 
des Einzuges in Paris zumuthen könne. Victor Hugo nannte das eine 
Entweihung „des Herzens der Welt“ , gegen die ganzEuropa protestiren müsse 

W as nach dem Kriege folgte, ist ebenso bekannt: einem Verriither- 
wahn fiel der unglückliche Bazaine zum Opfer, die Spionenfurcht der 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


265 


Franzosen erinnerte an Verfolgungswahn , die Aechtung deutscher 
Wissenschaft und Kunst 20 Jahre hindurch war kleinlich und unedel, 
die keine Grenzen mehr kennende Anbetung eines Despoten wie des 
russischen Alexander III. war für ein selbstbewusstes Volk erniedrigend; 
und überhaupt hat das Land seit den Zügellosigkeiten des Revancheidee- 
kultus eine Verwahrlosung seiner politischen Moral erfahren, die durch 
das ewige Ministerstürzen, durch scrupellose Verleumdungen, durch den 
Panama- und Dreyfuss-scandal grell genug beleuchtet wurde. 

Jene ganze traditionelle Haltung Frankreichs gegen Deutschland 
trägt recht eigentlich die Schuld au der furchtbaren Waffenrüstung, 
welche in der Neuzeit alle Culturvölker tragen müssen; sie lähmt die 
Kraft des europäischen Gesammtwillens, stört die Ruhe und den Frieden 
der Völker — und dabei hat sie nie und nimmer mit den wahren 
Interessen des Landes etwas zu thun gehabt. Sie ist das traurige 
Erbtheil der genannten zwei Despoten, des nationalen Grössenwahns, 
für dessen Einpflanzung sich das hochbegabte Volk nur zu gelehrig 
gezeigt hatte. — 

Kehren wir nun schliesslich zu den perversen Bewegungen auf 
re ligi ösem Gebiete zurück, und speciell nunmehr zu den modernen 
Aeusserungen derselben, so können wir wohl ziemlich Alles, was in 
dieser Hinsicht sich in epidemischer kleiner oder grösserer Ausbreitung 
ereignet hat, unter dem Gesammttitel der religiösen Secten- 
bildung vereinigen, obgleich dieser Titel nicht ganz streng auf Alles 
passt, was zu erwähnen ist. Auch wenn wir jetzt unseren Zwecken 
gemäss von sämmtlichen Secten absehen, welche nur in dogmatischen 
oder rituellen Fragen abweichen von den anerkannten grossen Religions- 
gesellschaften, und nur auf die Abnormität der Bewegungen abheben, 
auch dann noch wird es für uns unmöglich sein, die Beispiele irgend- 
wie systematisch so zu wählen, dass wir die wichtigsten der Bewegungen 
vor Augen führen. So lassen wir im Wesentlichen und absichtlich so- 
wohl den ganzen Spiritismus *), wie den wichtigeren Pietismus bei Seite 
— aus Mangel an Raum dafür — und erwähnen nur aus speciellen 
Gründen die Propaganda der sogenannten Heilsarmee. Für den Gang 
unserer Betrachtungen ergiebt sich ungezwungen eine Dreitheilung 
dieser Bewegungen : in der ersten Gruppe stehen diejenigen, in 
welchen sich die ganze Bewegung an eine einzelne Person als Centrum 
und Verehrungsgegenstand anscliliesst, und es ist charakteristisch 
genug, dass diese Person schliesslich so gut wie immer den Rang eines 
H eilandes, d. i. einer Incarnation desselben, erringt, nicht allein in 
der christlichen, sondern auch in der islamitischen Religion. In der 

J ) Dieser findet sich ausserdem schon behandelt von Löwenfeld in Heft I 
dieser „Grenzfrugen“. 



266 


Lieber Wahnideen im Völkerleben. 


zweiten Gruppe stünde dann der Pietismus, dessen Eigenthümlichkeit 
die Ueberspannung der religiösen Idee ist, und der stets, ebenfalls 
mit innerer Noth Wendigkeit, auf einen exstatischen Cultus hintreibt 
und uns darum im nächsten Schlussabschnitte wieder begegnen soll. In 
die dritte Gruppe gehören die Bewegungen, welche den Impuls der 
Selbstopferung, des Martyriums, zum Kennzeichen tragen, und 
welche auch in den nicht-christlichen Bekenntnissen selbst in moderner 
Zeit, so bei den Babis in Persien, sich ereigneten. Der Impuls, Andere 
gegen ihren Willen zu opfern ist damit gelegentlich verbunden ge- 
wesen, aber doch, mit Ausnahme einer indischen und russischen Secte, 
nur bei Einzelnen, und er hat noch in jüngster Zeit Opfer nach 
dem biblischen Vorbilde des Opfers Abrahams gefordert. Ich will ganz 
kurz, um damit dann abSchliessen zu können, den neulichen Fall aus 
Appel teren bei Amsterdam anführen, wo eine pietistische Secte, von der 
40 Mitglieder gerichtlich ermittelt wurden, mehrfach zu religiösem 
Zwecke geheime Morde ausgeführt haben soll. Jedenfalls geschah das zur 
„Teufelsaustreibung“ bei einem Knechte des Bauern Scherf, Namens 
Brinkman. In einer Versammlung jener ultraorthodoxen Protestanten 
im Hause Scherf’s sei die Ueberzeugung ausgesprochen worden, so 
lautet der Bericht der „Vossischen Zeitung“, es sei der Teufel im Hause 
und habe speciell von dem Knechte Brinkman Besitz ergriffen. Zu- 
nächst habe Scherf seine eigenen 5 Kinder als Opfer angeboten, die 
inan aber nicht im Hause gefunden habe, dann sei Nachts um 1 Uhr 
sofort nach jener Sitzung Brinkman aus dem Schlafe geweckt 
worden, Scherf habe die Teufelsbeschwörung begonnen und dann sei 
der Knecht mit Stangen und Stöcken von Allen todtgeschlagen worden. 
Am nächsten Tage wurde für die „Brüder und Schwestern“ ein festliches 
Mahl hergerichtet und dabei zahlreiche religiöse Lieder gesungen. Bei 
der bald folgenden Verhaftung gab der Gemeinde' vorbeter, Spiering, 
freiwillig an, er habe die feste Absicht gehabt, auch noch eines seiner 
Kinder zu opfern. 

Aehnliche Opferungen von Nicht-Mitgliedein der Secte sind mehr- 
fach schon vorgekommen, ich erinnere nur noch an das Drama im 
österreichischen Ampfelwang (1820); hier wurde ein ganzes Dorf durch 
einen mystisch fanatischen Priester so aufgeregt, dass man beschloss, 
ein altes sehr anständiges Ehepaar, welches sich von den leidenschaft- 
lichen Gebetsübungen ausschloss, zu überfallen; man schlug sie trotz 
ihrer flehentlichen Bitten nieder und bestimmte sodann durchs Loos ein 
eigenes Gemeindemitglied zum Opfer für die Sünden der Menschheit, 
ein junges blühendes Mädchen, das sofort freudig den bestimmten Tod 
erlitt. An die kann i balistischen Negeropfer mit religiösem Hintergrund, 
deren Verübung in Haiti aus neuerer Zeit oben (pag. 208) erwähnt 
wurde, sei gleichfalls hier erinnert. Bei den Leichenbegängnissen der 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


267 


Könige und den jährlichen Cultfesten in der Negerdespotie Dahomeh 
wurden bisher Hunderte und Tausende unglücklicher Sklaven und Gefangener 
auf einmal hingeschlachtet, und selbst der absolute Despot des Landes 
durfte es nicht wagen, diese vom Volke stürmisch begehrte Feier abzu- 
schaffen. Ueberhaupt hat ja das Blut- und das Menschenopfer eine 
eminente Bedeutnng für die Religion primitiver Völker, so auch für den 
Molochdienst der Phönicier und Vorderasiaten und selbst in Rudimenten 
bei den alten Juden besessen. In der Volksphantasie ist die alte Er- 
innerung nie ganz verblasst und abgesehen von solchen Beispielen, wie 
sie oben besprochen wurden, weiss man, welche Rolle die gewissenlose 
Ausbeutung der Ri tualmordidee mit der albernsten oder absichtlich 
lügenhaften Begründung *) bei der heutigen antisemitischen Hetze spielt. 

Während nun jene Rückfalle in alte grausame Cultsitten haupt- 
sächlich Interesse erregen, weil sie den extremsten Grad perverser 
Wirkung von Suggestivideen darstellen, so ist unsere erste Gruppe 
von Sectenbildungen in der Hinsicht überaus lehrreich, weil sie evident 
dafür zeugt, dass der gewaltige persönlich suggestive Einfluss 
der grossen Religionsstifter noch heute wiederkehrt bei Menschen, welche 
inmitten unserer hohen Cultur stehen. Und wir sehen weiter zu unserem 
Staunen, dass sich gleichwohl diese Sectenbegründer durchaus keiner 
neuen oder gar stärkerer Ueberredungsgründe wie in jenen alten Zeiten 
zu bedienen brauchen. Im Gegen theil, das was sie als Idee bringen, ist 
zumeist banal oder thöricht, öfter sogar moralisch verwerflich, das 
ganze Räthsel ihres Erfolges ist der persönlich suggestive Einfluss, 
und nur die Zahl ihrer Anhänger, d. h. der suggestiblen Personen 
bleibt in unserer Bevölkerung — nicht aber bei dem Mahdi des 
Sudans — eine lokal beschränkte; begrenzt eben auf die persönliche 
Einflusssphäre des Urhebers. 

Zunächst seien einige solcher Suggestivwirkungen von Ideen 
banaler Art, jedoch mit mystischer Einkleidung erwähnt ; in einer bäuer- 
lichen Bevölkerung in der Nähe Dresdens hatte eine einfache, aber 
rafftnirte Schuhmachersfrau 2 ) eine religiöse Secte in ihrem Dorfe ge- 
gründet mit dem Grundsätze des Communismus und dem Gebote der 
geschlechtlichen Abstinenz auch bei Verlieiratheten. Sie gab vor, „Send- 
botin Christi“ zu sein, hatte öfter göttliche Inspirationen, in welchen 
sie mit geschlossenen Augen (die aber dann mit blauer Brille verdeckt 
waren) in einer Art länger dauernder exstatischer Hypnose sich zu be- 
finden schien, ertheilte aber eben in diesen Zuständen ihrer Gemeinde 

b Strack, Der Blutaborglaube, 5. Auti., München 1UÜÜ, auch P. Cassel, 
Symbolik des Blutes, Berlin 1882. 

2 ) Landgerichtsrath Weingart, Die Spiritisten vor dem Landgericht Dresden, 
Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie, Bd. 55, 1808, p. 100. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 


18 



268 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


detaillirte Weisungen, in welcher Art sie ihr Vermögen ihr, der Pro- 
phetin (ihr Name war Ulbricht), anzuvertrauen hätten. Das letztere 
geschah wirklich, sodass ihr Einzelne ihre ganze Habe bis zum Betrage 
von 30000 Mark auslieferten. Im Jahre 1887 zählte diese Secte 70 Mit- 
glieder, von welchen Mehrere im Lande herumreisend Kranke durch 
Händeauflegen heilten. Auf Anzeige eines misstrauisch gewordenen 
Bauern wurde die Frau verhaftet, sie legte ein volles Geständniss ihres 
Betruges ab, theilte mit, dass sie durch ihre Eigenschaft als ehemaliges 
spiritistisches Medium die Praktiken zur Täuschung der Bauern gelernt 
habe, und wurde zu zweijähriger Gefängnissstrafe verurtheilt. Das 
Sonderbarste aber war, dass sie nach der Rückkehr aus der Strafhaft 
von der Mehrzahl ihrer Anhänger wieder im vollen Glauben als Pro- 
phetin aufgenommen wurde, sodass die Secte bis heute (1898) fort- 
besteht. 

Unter einem Publikum aus den höchsten Ständen spielte sich eine 
in Vielem ähnliche Geschichte ab, welche unter dem Titel der „ Muck er 
von Königsberg“ 1 ) bekannt geworden ist. Die Anhänger waren 
Barone, Gräfinnen, Geheimräthinnen und ein Professor der Medicin 
(Sachs), das Haupt ein lutherischer Geistlicher Ebel, dem zwei andere 
Geistliche zur Seite standen. Die von Ebel aufgebrachte Lehre war 
völlig mystisch, es handelte sich um die beiden Urwesen Licht und 
Finsterniss, Männliches und Weibliches; später traten chiliastische Ideen 
hinzu, auf das Jahr 1836 wurde der Anbruch des tausendjährigen 
Reichs und die persönliche Wiederkehr Christi ge weissagt, und natürlich 
galt Ebel als die Incarnation des Heilandes, der fleischgewordene 
Sohn Gottes. Ebel gründete für sich eine neue Hierarchie, in der 
nach ihm, dem Haupte, seine drei Frauen kamen, die erste Frau „im 
Geiste“ (eine schöne Gräfin) war die Lichtnatur, die zweite die Finsterniss- 
natur, die dritte als „die Umfassung“ seine eigene angetraute Gattin. 
Für seine Anhänger führte er die Beichte ein, welche im Kreise einer 
Reihe dafür ernannter adeliger Frauen öffentlich zu geschehen hatte, 
und bei der es in erster Linie auf die Bekenntnisse geschlechtlicher 
Sünden, besonders der Gedankenunzucht ankam. Wollüstige Uebungen 
bildeten ein weiteres Hauptstück des Cultes, der „seraphische Zungen- 
kuss“ und die Entblössung weiblicher Reize vor den Männern „zur Ab- 
härtung“. Ebel selbst liess sich von den Frauen im Bade regelmässig 
bedienen. Er wurde schliesslich gerichtlich seines Amtes entsetzt und 
als gemeiner mystischer Wollüstling gebrandmarkt; dennoch folgte auch 
ihm eine seiner Hauptanhängerinnen, eine persönlich völlig vorwurfsfrei 
dastehende Frau in die Verbannung und blieb ihm treu und vertrauend 

J ) Beschrieben bei Stell, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsycho- 
logie, Leipzig 18i4, p. 3‘JÜ. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


269 


bis an sein Lebensende. — Die Verbindung mystischer Religionsübungen 
mit sexuellen Tendenzen ist übrigens häufig auch sonst zu finden und 
jedem Psychiater bekannt. 

Wie grenzenlos aber die persönliche Macht solcher mystischer 
Herrschernaturen über ihre weiblichen Opfer ist, das zeigen Fälle eng- 
lischer und amerikanischer Methodisten, welche noch weit das eben Er- 
wähnte überbieten. Ein solcher Schwärmer, Henry James Prince, 
hatte in England eine Stätte der Liebe (Agapemone) gegründet und als 
Krönung vollfiihrte er schliesslich öffentlich vor den Augen seiner 
Gemeinde die Deflorirung einer schönen völlig unbescholtenen Jungfrau, 
nachdem er vorher angekündigt hatte, er werde bei der nächsten Ver- 
sammlung irgend eine der Jungfrauen erwählen, welche er nehmen 
werde, ohne sie um ihre Einwilligung zu befragen. Auch nach dieser 
unerhörten Handlung blieb ihm der grösste Theil seiner Anhänger treu. 

Wenn sich Frauen und Mädchen aus den besten Ständen unter 
dem suggestiven Einflüsse eines Einzelnen — und wohlgemerkt ohne 
dass irgend eine hypnotische Einwirkung stattgefunden hätte — zu 
solchen Niederträchtigkeiten im Namen der Religion verleiten lassen, 
dann kann es uns nicht in Erstaunen setzen, wenn Anderen ebenso un- 
bedingte Heeresfolge geleistet wurde, während sie sich als die vom 
Himmel ausersehenen Stifter einer neuen und besseren Religion be- 
zeichneten. Derartige Schwärmer sind zu allen Zeiten aufgetreten, noch 
vor wenigen Jahren hat ein solcher in Brasilien mit ein paar Hundert 
Bauern den Krieg mit der Landesregierung erfolgreich bestanden. Be- 
kannt und typisch ist der Fall des David Lazaretti in Italien 1 ), 
eines schönen feurigen Mannes, seines Zeichens Karrenführer. Früher 
leichtfertig und ein „grässlicher Flucher“ war dieser durch Lektüre zum 
glühenden Verehrer von Christus und Mohammed geworden. Er war 1884 
in Arcidosso geboren, hatte schon mit 14 Jahren die erste Vision, mit 
82 Jahren eine zweite Erscheinung der Jungfrau Maria; darauf ging er 
in die Lehre zu einem Einsiedler und kehrte als mystischer strenger und 
visionärer Prophet zu seinen Landsleuten zurück. Die ganze bäuer- 
liche Bevölkerung der nächsten Orte verehrte ihn jetzt als ihren Heiligen, 
er erging sich in mystischen Prophezeiungen in der Richtung einer 
Zahlenkabbalistik, erliess Manifeste an den Papst, den König, die ge- 
sammte Christenheit, betrieb die Nachahmung Christi in ausgeprägter 
Weise, versammelte daher auch die 12 Apostel um sich und stand nun 
bald in Erwartung eines ähnlichen Opfertodes, wie ihn Christus erlitten 
hatte. Auch das 40 tägige Fasten Christi wurde von ihm copirt, auf 


i) Vergleiche St oll, a. a. 0. p. 385, ausführlicher in Lombroso, Pazzi e 
anomali 1886 (Deutsche Uebersetzung von Kure 11a) und G. Barzelotti, David 
Lazaretti di Arcidosso detto il Santo, Bologna 1885. 



270 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


den 18. August 1878 ein furchtbares Erdbeben ge weissagt wie beim 
Kreuzestod des Erlösers; dabei würden alle Ungläubigen vernichtet und 
nur seine Anhänger blieben am Leben (ähnliche Prophezeiungen finden 
sich bei der islamitischen Secte der Drusen). Alles das wurde unbedingt 
geglaubt in der Umgebung des Monte Labbro, wo er sich jetzt befand. 
Da ihn der Papst verläugnete, proklamirte er die „Republik des Reiches 
Gottes“, und für den 18. August, den Tag des grossen Gerichtes, be- 
reitete er einen imposanten Aufzug aller seiner Anhänger auf den Monte 
Labbro vor. Vorher wurde 8 Tage gefastet, dann erschien er und sein 
Gefolge in phantastischen Gewändern. Aber die grosse Kundgebung 
war von der Regierung verboten worden, und bei dem folgenden Kampfe 
fiel Lazzaretti selbst als einer der Ersten und fand soden erwarteten 
Opfertod. 

So gut wie es liier und in den meisten analogen Fällen weniger 
sich um eine neue Idee handelt als um eine neue Person, einen neuen 
Verehrungsgegenstand des Volkes, ebenso trifit das auch für eine der 
grössten religiösen Bewegungen der letzten Decennien zu, den Mahdi s- 
mus 1 ) im afrikanischen Sudan. Der innere Kern der Sache ist in der 
That ungemein und Staunens wcrth dürftig und in wenigen Worten er- 
zählt. Der ausserordentlich reissende Erfolg dieses Propheten erklärt 
sich zum einen und grösseren Th eil dadurch, dass er einen zur Empfängnis 
der Idee überaus bereiten Boden vorfand, und dies in Folge einer ganzen 
Reihe von Gründen: der eine liegt an und für sich in der niederen 
(Kulturstufe des Sudans, die es leicht möglich macht, dass wie bei Be- 
gründung der grossen Religionen die Personen voll und ganz von 
einer wenn gleich einfachen Idee geistig ausgefüllt werden (der oben 
berührte Monoideismus); der z w e i te Grund liegt in der traurigen Miss- 
wirtschaft. welche in den ägyptischen Vasallenstaaten herrscht, so dass 
gerne das werthlose Leben von dem Bedrückten auf's Spiel gesetzt wird, 
wo Befreiung und Kriegsbeute winkt. Die anderen Gründe sind an sich 
religiöser Natur; wir erwähnten schon, wie fanatisch der Glaube des 
Muhammedaners geblieben ist. speciell in Aegypten; ein Ritual“) von 
fünfmaligem täglichem öffentlichen Gebet, vielfachem Fasten, Gebets- 
waschungen, das Gebot der Mekkawallfahrt, der vielfache Aberglaube 


] ) Die mir bekannt gewordenen Darstellungen des Mahdismus sind leider 
wenig ergiebig, am Besten noch ist Ohrwalder, Aufstand und Reich des Mahdi 
im Sudan. Innsbruck 1*1)2, und Richard Bucht a. der Sudan und der Mahdi. 
Stuttgart 1> V T: ausführlich, aber stets auf der Oberfläche bleibend ist S lat in 
Pascha. Kcuer und Schwert im Sudan, Leipzig eine gute kurze Besprechung 

giebt die Zeitschrift Globus, Bd. (>U, pag. 241t (Titel: Die Mahdistenbewegung.i 

-j Die genaueste Darstellung, auch heute noch, giebt E. W. La ne, Sitten und 
Gebräuche der heutigen Aegvpter, aus dem Englischen übersetzt von J. St. Zenker. 
2. Auf!., Bde.. Leipzig (o. J.). 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


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mit Amuleten aus Koransprüchen u. s. f beschäftigen und absorbiren 
bei jedem Islambekenner einen guten Theil seiner Lebenszeit. Dazu 
tritt als viertes Motiv die besondere Bedeutung, welche der islamitische 
Priester, der Imam, im Denken des Volkes besitzt; er gilt ihm, besonders 
die angeseheneren darunter, als persönlich zu verehrende Person, als 
Heiliger und Wunderthäter. Endlich fünftens ist die Idee 
einer Parusie, der Wiederauferstehung eines der ersten Ge- 
hilfen oder Nachfolger des Propheten nie untergetaucht in der Er- 
wartung seiner Anhänger. Alle Secten- und Glaubenskriege innerhalb 
des Islam haben diese Idee zum Fundament gehabt; und in Aegypten 
insbesondere sind grosse religiöse Empörungen mit solcher Begründung 
mehrfach schon vorgekommen. Das Haupt einer solchen war schon 
frühe (im Jahre 906 — 1020) ein gewisser Hakim, ein persönlich er- 
bärmlicher neronischer Wütherich, der nach seiner Tödtung eine Zeit 
lang, ja sogar bis heutigen Tages bei den Drusen, indem er als unsterblich 
fortlebend gedacht wurde, noch grössere Verehrung erfuhr. Im 11. Jahr- 
hundert trat ferner ein mächtiger Mahdi — das ist der Titel dieser Imame 
oder Nachfolger des Propheten — bei den benachbarten Berbern auf ; und 
im Anfänge dieses Jahrhunderts hat eine alle Dämme überflutende 
Bewegung durch einen weiteren Mahdi im westlichen Sudan stattgehabt, 
von der wir durch den englischen Reisenden Clapperton genaueren 
Bericht erhalten haben. Er hatte durch Verkünden des Glaubenskrieges 
und Versprechen des Paradieses für Jeden, der im heiligen Kriege 
fallen werde, aus dem zuvor fast unbekannten bedrückten Stamme der 
Fulbe ein Heer unwiderstehlicher Krieger gemacht und binnen Kurzem 
den ganzen Sudan erobert (1809), sodass noch 40 Jahre später der 
berühmte Barth die starken Spuren jener Kämpfe vorfand, und dass 
sein Werk einen relativ für diese Völker sehr langen Bestand bewahrte, 
obgleich der Prophet selbst späterhin einer brütenden Melancholie 
mit Selbstanklagen verfallen war. 

Irgend etwas Anderes und Neues treffen wir auch bei dem neuesten 
Mahdi, M o h a m m e d A c h m e d , nicht an. Er wird als ränkevoller, 
verschlagener, ausserordentlich ehrgeiziger Mann geschildert, der es ver- 
stand, einer kleinen lokalen Unruhe rasch den Wellenschlag einer all- 
gemeinen Volkserhebung zu ertheilen, indem er sogleich eine dürftige, 
aber dennoch ihres religiösen Inhaltes wegen zugkräftige Glaubensidee 
in den Vordergrund stellte. Auch er selbst soll ursprünglich nur dem 
beschränkten Ideal nachgestrebt haben, einer jener nicht seltenen lokalen 
angesehenen Heiligen, ein Fakhi, zu werden. Nachdem ihn sein durch seine 
asketische demonstrative Strenge eifersüchtig gewordener Lehrer barsch 
von seinem Kreise verbannt hatte, zog er sich zornig zurück, verdoppelte 
sein Fasten und Beten auf einer kleinen Insel bei Chartuni; und nach- 
dem sein Anhang durch kluge Benutzung kleiner Kunstgriffe gewachsen 



272 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


war, trat er nun (1881) in Briefen und Proklamationen an das Volk 
hervor mit dem Ansprüche, als neuer Mahdi anerkannt zu werden. Der 
Inhalt jener Briefe l ) beschränkt sich auf Redensarten z. B. folgender 
Art: „Wisset, dass ich der erwartete Mahdi bin, dass Gott mich gesetzt 
hat auf seinen Stuhl über die Fürsten und Edlen. Und Gott hat mich 
unterstützt mit seinen Engeln und desgleichen mit den Gläubigen unter 
den Dschinn’s. Und er hat auch gesagt: Gott hat dir Zeichen deiner 
Sendung gesetzt, und diese sind die Warzen auf der rechten Wange: 
Und noch ein anderes Zeichen gab er mir und dies ist: dass aus dem 
Lichte eine Fahne erscheint, welche mit mir ist in der Stunde des 
Kampfes und getragen wird vom Engel Azrael (Gott segne ihn). Und 
er hat mich auch wissen lassen, dass wer mich anfeindet, ein Un- 
gläubiger ist, und wer an meiner Sendung zweifelt, weder an Gott noch 
den Propheten glaubt, und dass wer mir den Krieg macht, trostlos sei 
auf beiden Wohnstätten, (d. i. im Himmel und auf Erden), und dass 
seine Güter und seine Kinder eine gute Beute sind für den Gläu- 
bigen etc.“ 

Aehnlich haben auch die wiederholt von Europäern gehörten An- 
sprachen an’s Volk gelautet, gleichfalls leere Phrasen und Betheuerungen. 

Im Uebrigen bestand die „Erneuerung der Religion“ nur in der 
Verschärfung der ohnehin schon strengen Verbote des Islam (z. B. ab- 
solutem Tabakverbot), Gebot einiger neuer Gebete und noch reichlicheren 
Fastens. Das war Alles, was neu in der Idee war. Um so 
mehr bedacht war er auf ein imponirendes persönliches Auf- 
treten: 2 ) in der Kleidung gesucht einfach wie ein Asket, in der 
Stimme süsslich, immer mild, würdevoll, eifrig bestrebt ausserdem, seine 
Prophetengabe zu beweisen, indem er geheim überbrachte Nachrichten 
dem Volke als seine Inspiration übermittelte: dem Volke zeigte er sich 
oft, hielt öffentliches Gebet, dann stürzte Gross und Klein begeistert herbei, 
man suchte sein Gewand zu erhaschen, die Kinder ihm nahe zu bringen, 
denn die Berührung war heilkräftig und segensreich. Und die von ihm 
erweckte Begeisterung kannte in der That keine Grenzen; nur mit 
Stöcken bewaffnet schlug die Handvoll seiner ersten Anhänger die freilich 
thörichter Weise schwachen Regierungstruppen zurück und vernichtete 
die, welche ihn gefangen setzen sollten. Als seine Gefolgschaft lawinen- 
artig anschwoll, hatten sie oft Niederlagen mit ungeheuren Verlusten 
zu erdulden; aber sie siegten schliesslich durch ihren ungestümen An- 
griff und durch ihre Todesverachtung. Tausende mochten fallen und 
unbekümmert um den sicheren Tod stürmten die Leute über die Gefallenen 
fort, bis ihre Hintermänner handgemein mit dem Gegner werden konnten, 

1 ) Entnommen aus : S eh w e ig e r - L e r c h o n f e 1 d , Afrika, Wien (Hartleben) 1881, 
pag. 403, ausführlicher in K. Buclita, Der Sudan und der Mahdi p. 27. 

-) Vergleiche Ohrwal der, a. a. 0. pag. 4S — 49. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


273 


den sie dann durch ihre numerische Uebermacht erdrückten. Die Details« 
interessiren uns nicht weiter; genug dass der ganze Sudan dem Mahdi 
anheimfiel, und dass auch die grossen kriegsgeübten Heere von Hicks 
Pascha völlig zermalmt wurden, ja dass sein Werk seinen Tod um 
viele Jahre überleben konnte. 

Das ganze Bild des Glaubenskrieges mit seinem wilden Feuer ist 
gewiss nicht neu; es würde als solches nicht unter die perversen Be- 
wegungen gehören. Aber gerade dieser Mahdi war sicherlich ein 
„falscher Prophet“, und seine Lehre, wenn man von einer solchen reden 
darf, war absolut inhaltslos; nur seine Person und sein Titel als Mahdi 
war und blieb die werbende Kraft, und darum darf sein blutiges Zer- 
störungswerk als ein widersinniges bezeichnet werden, dem auch keine 
besonderen politischen oder socialen Verdienste zuzukommen scheinen. 

Gerade nun was die Inhaltsleere anlangt, schliesst sich die in 
den Culturstaaten mit ähnlichem Feuereifer betriebene Agitation der 
Heilsarmee an, doch darf ihre Tendenz, die ursprünglich der Rettung 
nicht nur der religiös, sondern auch der im socialen Sinne Ver- 
lorenen galt, nicht verdächtigt werden. Ihr Fehler ist die allzuweit 
getriebene psychologische Suggerirmethode, welche den 
vorangehenden Methodisten-Erweckungen nachgebildet, schliesslich zur 
geschmacklosen Fratze geworden ist. 1 ) Im Uebrigen bedaure ich aufs 
Lebhafteste, dass uns kein Raum bleibt für eine nähere Schilderung 
dieser merkwürdigen und im Erfolge bewundernswerthen Organisation, 
welche ein einziger Mann, Booth, mit seiner ganz hervorragenden 
Gattin aus sich heraus geschaffen und allein mit seinem Geiste belebt 
hat. Hier hat Alles, was geschieht, von seinem Endzwecke natürlich 
abgesehen, lediglich die Bedeutung der suggestiven Einwirkung, 
es soll das, was beim Einzelnen etwa die Hypnose bewerkstelligen kann, 
durch eine Methodik der Massensuggestion erreicht werden ; die eigentliche 
Idee, das Predigen der Lehren der Religion wird mit Bewusstsein und Absicht 
der Kirche und dem gelehrten Priester überlassen; die Heilsarmee soll 
nur „erwecken“, und zwar den religiösen Sinn und das Gefühl. Dazu 
wird durch die gröbste und aufdringlichste Reclame zunächst Aufsehen 
um jeden Preis erregt, die militärischen Benennungen, die Uniform der 
Officiere, das anerkennenswerthe muthige Eindringen in die entlegensten 
Höhlen des Lasters, selbst die bekannten scandalösen Enthüllungen über 
Mädchen verkauf in der Pall Mall Gazette 2 ) dienen dazu. Die Versamm- 
lungen selbst sollen nicht nur die Gemüther packen und so tief als es 


] ) Th. Kolde. Die Heilsarmee, ihre Geschichte und Wesen, Erlangen und 
Leipzig, 2. Aufl. 1899; J. Fehr, Die Heilsarmee, Frankfurt 1891. 

Ä ) Sensationell war hier schon der Titel: „Jungfrauenopferung im modernen 
Babylon“ (d. i. London). 



274 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


• irgend geht, erschüttern, sondern sie sollen auch unterhalten und inter- 
essiren. Scherze, humorvolle Erzählungen, Absingen der Erbauungs- 
lieder nach der Melodie von Tänzen und Gassenhauern wechseln ab mit 
nervenbeklemmender Schilderung von Höllenqualen, Selbstbekenntnissen 
tragischer Art von Geretteten und dergl. Dazu kommt dann jene be- 
rühmte Organisation eines stets sich mehrenden Heeres von Sendboten, 
der nur im Dienste des Generals Booth stehenden Officiere, worin 
die Heilsarmee weit den Missionardienst der grossen Religionen über- 
flügelt hat. So wurde es erreicht, dass beim ersten internationalen 
Congress in London Booth eine Versammlung von 120 000 Anhängern 
zu Stande brachte, dass die Armee damals (1886) schon 40 ausländische 
«eroberte“ Provinzen besass; und so wurde selbst im skeptischen Berlin 
beim Besuche von Booth die grosse Zahl von 270 Personen als 
«gefallen“ auf dem Schlachtfeld aufgelesen, d. h. in den Versammlungen 
bekehrt, und es herrschte auch da eine bis zum Taumel sich steigernde 
Gemüthserregung, «Taschentücher wehten nieder, in die Hände wurde 
geklatscht und reife Männer tanzten vor unaussprechlicher Freude“, kurz 
es war ein Erfolg und eine Massenbekehrung, wie sie noch niemals in 
der Reichshauptstadt erlebt worden waren. So gesteht der Geschichts- 
schreiber dieser Dinge, Kol de, selbst zu, der der Bewegung unfreund- 
lich genug gegenübersteht und der ihr das übrigens passende Motto in 
seinem Buche auf den Weg mitgiebt: «Ist es auch Wahnsinn, so hat 
er doch Methode“. 

Wie eine in die Praxis des Volkslebens übersetzte Theorie der 
Suggestion, wie ein eigens ausgedachtes Experiment an einem 
Massen materiale, das dem blödesten Auge darlegen soll, «die 
specielle Einkleidung einer Idee oder gar ihre logische Begründung sei 
für die Massenbekehrung ganz nebensächlich, und alles komme auf die 
allgemeine Richtung der Idee und auf die Art und Eindringlichkeit 
ihrer Einpflanzung an“ : so erscheint die ganze Methodik der Heils- 
armee. Darum hat ihr Studium auch ein so grosses Interesse für uns. 

Wir sind damit bei der letzten Gruppe der hier zu besprechenden per- 
versen religiösen Bewegungen angelangt, und wieder einer derjenigen, 
welche unter allen uns am Stärksten an den pathologischen Wahnsinn 
gemahnen. Dennoch wird uns durchaus keine neue Seite der Sache 
begegnen : unendlich viel Blut ist vergossen und hingegeben worden im 
Dienste einer rein suggestiven Idee, im Namen eines Gottes, von dem 
die Menschheit nur auf suggestivem Wege sich Vorstellungen bilden, 
bezvv. etwas erfahren konnte. Die Suggestivvorstellung drängt impulsiv 
zur Aktion. Das haben wir vielfach jetzt erfahren. Hat diese Aktion 
ein bestimmtes Ziel vor Augen, sei es die Propaganda, sei es die Ver- 
theidigung der Idee als Kämpfer oder als Blutzeuge, so finden wir die 
vielfach bestätigte Thatsache, dass das Opfer des Lebens dafür 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


275 


relativ leicht gebracht wird, auf dem Gebiete der religiösen, der poli- 
tischen und der socialen Idee. Aber es hat auch Secten gegeben, die 
einen Impuls in sich fanden und ausbildeten, ihr Leben zu opfern ohne 
klares Ziel oder sich schwere asketische Entbehrungen, namentlich frei- 
willige geschlechtliche Enthaltung aus religiösem Motiv aufzuerlegen. 
Das kommt freilich in neuerer Zeit beinahe nur bei einigen der zahl- 
losen russisch e n'Sectirer oder Raskolniken (i. e. Ketzer), in grösserem 
Maassstabe wenigstens, vor 1 ); und man hat dafür eine doppelte Er- 
klärung gegeben. Einmal sei die Tendenz dieser Mystiker maassgebend, 
die Bibelstellen dem crassen Wortlaute nach aufzufassen und zu be- 
folgen, also z. B. dem Satze gemäss: „ärgert dich ein Glied, so wirf 
es fort“ die Castrirung vorzunehmen, die Wiederkehr des Heilands fort- 
dauernd in der Jetztzeit zu erwarten u. s. f. Diese Fassung scheint 
mir nicht ganz die richtige zu sein; nicht der Wortsinn, die Buchstaben- 
gläubigkeit, sondern die sinnliche Anschaulichkeit, die pla- 
stische Vorstellung des Bibelinhaltes ist, wie ich meine, bei allen 
Mystikern das Entscheidende. Alles was suggestiv wirken soll, muss 
plastisch anschaulich sein, und sowie man einen Bibeltext sym- 
bolisirt, sucht man sich von seiner suggestiven Wirkung zu befreien, 
der Gläubige steht dann über ihm, nicht unter ihm. Die zweite Er- 
klärung ist eine historische, es wirkten, sagt man, Ueberreste der an wilde 
Cultformen gewohnten asiatischen Vorfahren als Tradition nach, die 
Geisselungen, die Menschenopfer des Molochdienstes u. a. Man wird 
Beides leicht zugeben dürfen, und wird doch darin bei den immer wieder 
neu sich erhebenden Secten nur den vorbereitenden Boden erblicken, 
während die Hauptsache eben in dem Impulse zu einer passiven höchsten 
Bethätigung der Religion gelegen ist, einer Lust am Martyrium „in’s 
Blaue hinein“, ohne wirkliches Ziel. 

Am Crassesten und Widersinnigsten zeigt das die Secte der 
Skopzen, d. h. der Selbstverstümmler. 2 ) Sie zählt in Russland mehrere 
Tausend Anhänger, meistens aus dem niederen Volk, besonders Soldaten, 
aber auch sehr reiche Kaufleute, welche grosse Geldsummen dafür, 
früher namentlich zur Bestechung der Obrigkeit, hingaben. Zwei Bibel- 
stellen (Mathäi 19, 12 und Lucas 23, 29) dienen ihrem Ritus zur 
Grundlage: in der ersten ist einfach von Verschnittenen die Rede, ohne 
irgend eine Nutzanwendung. ln der zweiten heisst es: „die Zeit wird 
kommen, wo man sagen wird: selig sind die Unfruchtbaren, die Leiber, 
die nicht geboren, die Brüste, die nicht gesäugt haben.“ Die eigentliche 
Lehre der Secte nimmt an. der Sündenfall Adams sei die geschlechtliche 
Vermischung gewesen, denn die Menschen sollten sich nur durch 

i) Das Folgende grössteiitlioils nach: Moritz Dusch, Wunderliche Heilige. 
Leipzig 1874. 

-) Ausser Busch a. a. 0. zu vergleichen: Pfitzmaier, Die Gottesmenschen 
und Skopzen in Russland, Wien iss:',. 



276 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


„ heilige Küsse“ fortpflanzen. Aus dieser ersten Sünde seien alle übrigen 
gekommen, und die Welt sei jetzt sehr verderbt. Die Hauptlehre 
Christi, die Erlösung, bestehe aber in nichts Anderem als der „ Feuer- 
taufe“, d. h. der Entmannung durch glühendes Eisen. Diese geschieht 

— allerdings jetzt durch’s Messer — entweder durch vollständige Ablatio 
oder nur durch Castration, das „grosse und kleine Siegel.“ Damit ver- 
binden sich natürlich wieder chiliastische Ideen, im Anfang dieses Jahr- 
hunderts war ein gewöhnlicher Bauer Seliwanoff der incarnirte Christus 
und er war zugleich der Zar Peter der Dritte, der nicht wirklich ge- 
tödtet wurde. Dagegen ist der herrschende Zar der Antichrist. Drittens 
feiern sie geheime Conventikel, in welchen wildes Tanzen und Singen, 
inspirirtes — übrigens sinnloses — Predigen und offenbar auch wirk- 
liche exstatische Zustände die Hauptsache sind. Die Neubekehrte n 
werden dabei in narkotischen Schlaf versetzt und dann entmannt, die 
Weiber verschneiden ihre Brüste. Geschlechtlicher Verkehr ist natür- 
lich die grösste Sünde, weshalb die Skopzen den eigenen Eltern fluchen. 

— Die wahnsinnige Secte ist vielfach verfolgt, reiche Führer derselben 
sind nach Sibirien verbannt worden. Dennoch besteht sie unter Wahrung 
strengen Geheimnisses noch heute fort. 

V on ähnlich furchtbaren Secten seien die Teufelsanbeter er- 
wähnt, welche dem Satan Opfer darbringen; ferner die Morelstschiki, 
welche, in Sibirien angesiedelt, sich „Gott ganz darzubringen“ für 
Pflicht halten und sich in ganzen Scharen gegenseitig niederstechen 
oder verbrennen. Das thaten 1868 auf dem Gute eines Herrn von 
Gurieff an der Wolga 47 Männer und Frauen gleichzeitig; andere 
Male starben so bis zu Hundert, ja angeblich einmal sogar viele 
Hunderte derselben vor 30 — 31 Jahren zugleich. Noch rasender ge- 
berdet sich die Geisslersecte der Chlysten, welche stündlich des Unter- 
gangs der Welt und des Reichs des Antichrists gewärtig sind ; unter 
wilden Tänzen und Sängen gerathen sie in eine exstatische Wuth, wobei 
sie nicht nur sich selbst furchtbar misshandeln und peitschen, sondern 
im Jahre 1869 sich einmal auf die harmlosen Zuschauer stürzten und 
deren Einige zu todt prügelten. 

Einer der Fälle von der Art des erwähnten Opfertodes, wo 
eine grössere Anzahl russischer Sectirer, (im Gouvernement Kiew bei 
Tiraspol), beinahe alle Bewohner eines Gehöftes, 25 an Zahl, auf An- 
stiftung einer Frau — Frauen spielen überhaupt in Russland als Führer 
solcher extremer Secten eine grosse Rolle! — sich den Tod durch frei- 
williges Verhungern und Einmauernlassen gaben, wurde durch einen 
russischen Psychiater Sikorski 1 ) eingehend an Ort und Stelle unter- 

6 Sikorski, Epidemischer freiwilliger Tod und Todtschlag in den Ter- 
nowski’schen Gehöften, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 55, 1898. 
pag. o2f > — 31 (Die Sache passirte 1896 vor der allgemeinen Volkszählung, welche als 
ungeheure Sünde galt.) — 



Ueber Wahnideen im Völk erleben. 


277 


sucht. Ich empfehle das Nachlesen des Berichtes wie die genaue 
Schilderung eines analogen Falles in Wildensbuch in der Schweiz 
bei Stoll a. a. 0. ganz besonders. 

Wer erinnert sich hierbei nicht der entsetzlichen Secte der Assa- 
sinen 1 ) in Kleinasien, die ebenfalls eine mystische Lehre und Cult 
besassen, und wobei die einzelnen zu Mordthaten Ausersehenen durch 
Haschisch und persönliche Einwirkung ihres Hauptes in eine suggestive 
Willenlosigkeit versetzt wurden, um hinterher durch posthypnotischen 
Einfluss (?) zu blinden Werkzeugen des gewissenlosen Herrschers vom 
Berge zu werden ? Jedenfalls wird erzählt, der letztere habe, um einem 
besuchenden Fürsten ein Beispiel seiner Macht zu geben, Einigen die 
gerade dastanden, befohlen, sich von dem schwindelnd hohen Thurme 
herabzustürzen, und sie hätten das auf der Stelle ausgeflihrt ohne auch 
nur einen Augenblick zu zögern (Michaud, 1. c. Bd. IH, pag. 175). 

Moralisch noch tiefer steht eine Sekte der Siwaiten in Indien, die 
Thags: während bei den Assasinen der geheime Mord einer Verbindung 
von religiösen mit politischen Motiven dienstbar gemacht wurde, ist es 
bei den Thags gemeiner Strassenraub, der unter dem Aushängeschilde 
der Verehrung der Göttin Kali, Siwa’s Gemahlin, in erschreckend grossem 
Massstabe bis zu den ;3üer Jahren dieses Jahrhunderts betrieben wurde. 
Siwa ist in der indischen Trinität, der Trimurti (nämlich mit Brahma 
und Wischnu), das zeugende und das zerstörende Prinzip zugleich, und 
neben der Verkörperung des ersteren im Lingam- und Phallusbilde trat 
namentlich sein grausiger und blutdürstiger Charakter hervor; nur ihm 
wurden blutige Schlachtopfer geweiht, und im Taumel der Begeisterung 
bei dem Dschagannathfeste Hessen sich früher Viele von den Rädern 
des schweren Götterwagens, welcher den Festumzug krönte, freiwillig 
zermalmen. Als Anhänger seiner ebenso blutdürstigen Gattin Kali nun 
bezeichnen sich die Thags, und sie vollfuhren ihre Unthaten auf Grund 
einer besonderen Legende und mit entsprechendem spezifischem Ceremoniell. 
Jene Legende 2 ) besagt im Wesentlichen: der Dämon Rakat-bidsch-dana 
drohte die Welt durch seinen Heisshunger nach Menschenfleisch zu 
entvölkern. Die Göttin Kali suchte ihn daher zu tödten, aber aus dem 
Blute seiner Wunden entstanden nur neue Ungeheuer. Nun gab die 
Göttin zwei Menschen, welche sie erzeugte, eine Schlinge, und durch 
diese gelang es, den Dämon ohne Blutvergiessen zu erdrosseln. Zur 
Belohnung behielten aber jene Helfer ihre Schlinge, und sie durften 
mit ihr und unter dem Schutze der Göttin ihr Brot durch Erwürgen 

’) Michaud, Histoire dos Croisades, Bruxelles 1 s4 1 . III. vol. pag. 162 bis 
182, und Albu. Der Ursitz des Alten vom Berge, (ilobus. Bd. 65. pag. 210. wo 
Details zu finden sind. 

2 ) Ausführlichere Nachrichten findet man hei E. S ch lagi n t wei t, Indien in 
Wort und Bild, Leipzig 1891, 2. Bd.. pag. 90. 



278 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


ihrer Nebenmensehen verdienen. Deren Nachkommen aber glauben die 
Thag's zu sein, und in der That vererben sie ihr Handwerk vom Vater 
auf den Sohn. Man überfällt vermögende Personen auf der Landstrasse, 
oft mit grösster List und Keckheit, erdrosselt sie stets durch eine 
Schlinge mitten im Schlafe und während der Nacht; dann vergräbt man 
die Opfer auf der Stelle, ein gemeinsames Gebet an die Göttin folgt, 
und schliesslich wird die Beute vertheilt. Die Sekte aber blieb immer 
geheim, und nach der That verstreuten sich die Glieder einer Bande 
stets wieder im Lande. Unter ausserordentlicher Energie der englischen 
Regierung gelang es indessen in den 30 er Jaliren sie auszurotten, 
1835 waren gegen 2000 Thags gefangen, von denen ein grosser Theil 
hingerichtet wurde. 

Wollten wir noch kulturell tiefer stehende Völker in's Auge fassen, 
so müssten wir auch das sogen. Amoklaufen der Malaien und das 
Kopfabschneiden („Kopfschnellen“) der Dajaks auf Borneo, endlich die 
schlimmste Aeusserung der Mordgier, den Kannibalismus, erwähnen. Uns 
genüge die folgende -kurze Erwägung: die Gestalt seines Gottes gibt, 
wie Feuerbach treffend dargelegt hat, das Abbild des Menschen 
wieder, der ihn verehrt. So ist es ein erfreuliches Zeichen unserer Cultur, 
dass die Menschenopfer nicht nur aufgehört haben, sondern dass wir 
auch in die Tiefen russischer und indischer Culturarmuth hinabsteigen 
müssen, um selbst bei perversen Sektenbildungen einen Impuls, eine 
gewisse Lust am Selbstmorde oder am Morden Anderer sich verbünden 
zu sehen mit religiöser Inbrunst. Um so niederdrückender ist das 
Bewusstsein, dass diese schlimmsten unter allen Aeusserungen des 
religiösen Wahns gerade in unseren Tagen übernommen worden sind 
von dem politischen Massenwahn, welcher im Anarchismus und dem 
Eroberungskriege jene alten blutigen Schatten wieder beschworen hat. 
Wieder erkennen wir daraus, welche abgrundtiefen Gefahren diese gleiche 
Massensuggestion in sich birgt, welche bei der Einpflanzung idealer Ziele 
die Völker zu den höchsten Leistungen der Cultur und der Humanität 
begeistert hat. 


Unsere Uebersicht der perversen ideellen Volksbewegungen nicht- 
hypnotischen Charakters sei hiermit beschlossen. Mag diese Auswahl 
bizarrer und theilweise abschreckender Vorstellungen in den Massen für 
den Leser ermüdend sein, mag das was wir bieten konnten, besonders 
in Rücksicht des historischen Verlaufs und der Entwicklung der Ideen 
lückenhaft und kaum als Andeutung genügend sein: Eines habe ich 
wen igstens erstrebt, den e i g entlieh e n ideell e n G e h alt d e r Vor- 
stellungen zu beit* lichten und h e r a u s z u sc h ä 1 e n. 

Diese „Wahnideen im Yölkerlehen“ sind von enormer gar nicht 
zu überschätzender socialer und cultureller Bedeutung, Man hat sich 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


279 


früher die psychologische Erklärung nur vag und unvollkommen 
zurecht gelegt, indem man die erhebenden und höheren Volksbewegungen 
der Art auf ein Bedürfniss des Menschen geistes nach Idealen zurück- 
fiihrte, die perversen Formen auf die Reizbarkeit der Phantasie und die 
Leidenschaften der Massen. Man hat neuerdings ziemlich ohne Wider- 
spruch, wenigstens seitens der Psychologen, solche Massenwirkungen 
gelernt, unter den Begriff der Suggestion einzureihen. Damit war für 
das culturhistorische Problem sehr viel, für die psychologische Wissen- 
schaft aber zunächst relativ wenig gewonnen. Aus dem jetzt zu 
Gebote stehenden ungeheuren Material empirischer Thatsachen zog man 
keine neuen Folgerungen. Die Suggestion war und blieb ein passives 
Phänomen; eine Fascination, ein Monoideismus galt als das Wesen der 
Sache, die Idee erfasste, überwältigte den Menschen, sodass jede andere 
oder gar contrastirende Vorstellung keinen Raum mehr im Denken der 
Person fand. Die Apperception war einseitig festgehalten, ab- 
sorbirt; von einer directen psychologischen Wirkung der Vorstellung 
war wohl nirgends die Rede. Die durch Herbart seiner Zeit ver- 
tretene und im Beweisverfahren gänzlich gescheiterte Theorie von der 
Vorstellung als der eigentlichen psychischen Kraft war beseitigt und in 
der heutigen Psychologie überhaupt im praktischen Sinne vergessen. 

Nun ist aber eigentlich Alles, was wir hier besprochen haben, 
eine einzige Kette von Beweisen dafür, dass die Suggestion dadurch 
wirkt, dass sie eine mächtige Vorstellung in den Geist des Menschen 
einfuhrt; aber sie hemmt ihn in diesen Fällen ganz und gar nicht, 
eine Fülle psychischer Leistungen, von erweckten Ideen folgt sehr oft 
nach. Ich werde das so oft im Einzelnen Gesagte hier auch nicht 
resümirend wiederholen. Ich erinnere nur als besonders beweisend an 
die Ideen, welche wie die anarchistische oder die mahdistische eigentlich 
gar keine positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose 
Agitation, welches Uebermaass von impulsiver Thatkraft haben sie ent- 
zündet! Die besondere Bedeutung der Massenbewegung für die Psycho- 
logie ist hier offenbar die, dass sie gleichartige Wirkungen bei einer 
grossen Zahl von Personen zeitigt, dass sie damit unabhängig macht 
von jenen irreführenden Analysirungsversuchen in dem Labyrinth der 
individuellen Psyche. 1 ) i e Id e e als s o 1 c h e h a t e i n e w e r b e n d e 
Kraft, und darum war es die Hauptsache in unserer Darstellung klar 
zu legen, dass gerade die perversen Ideen ihre Macht nicht ihrem 
logischen Werthe, d. h. einer Anzahl von Beweisgründen verdanken. 

Nur zugänglich, suggestibel mussten die Personen für die 
Idee sein, die Suggestivwirkung selbst musste durch die Art und Weise 
der Einpflanzung, der U e b e r t r a g u n g besorgt werden. W i e 
aber das Letztere zu geschehen hat, darüber belehren uns die Gründer 
von religiösen und politischen Secten und das Vorgehen, was man 



280 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Agitation und Propaganda genannt hat. Man muss die eigene, 
selbstempfundene Gewalt der Idee, nicht ihre theoretische Be- 
gründung, auf die Andern wirken lassen, überzeugungsvoll, im- 
ponirend und vor allen Dingen plastisch anschaulich und 
bestimmt, reich in den Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von 
Verelendung bei Socialisten, von Hölle und Himmel, bestimmte Prophe- 
zeiungen bei religiösen Dingen u. s. w,), so muss der Ausdruck sein. 
Ein Mann, der das vermag, wirkt auf die Massen, er ist ein Agitator. 

Bedingung der Suggestibilität dagegen ist, dass die Idee in 
ihrer allgemeinen Richtung vorhandenen Denkgewohnheiten ent- 
spricht oder doch nicht widerspricht, dass sie in der Person plastisch 
anschaulich zu werden vermag, und dass sie lebhaftes, leidenschaft- 
liches Interesse in ihr erwecken kann. Sache der Agitation Anderer 
ist es, dies stets zu steigern, eine immer intensivere Beschäftigung mit 
der Idee anzuregen. 

Man sieht, diese Sache hat eine nicht zu läugnende Verwandt- 
schaft mit der Dressur höherer Thiere, und das ist an sich gar 
nichts Herabsetzendes. Die Suggestivwirkung ist eine primitive 
geistige Potenz, das logische und kritische Denken dagegen das Product 
höchst entwickelter intellectueller Erziehung, in erster Linie des 
ganzen Menschengeschlechts, in zweiter Linie jedes Einzelnen. 

Der stärkste Beweis aber für die geistige Kraft und Macht, welche 
die Suggestivvorstellung in sich besitzt, liegt in dem impulsiven Drang 
zu ihrer Bethätigung, sei es mit, sei es wie so oft bei religiösen 
Ideen, selbst ohne klares Ziel, „in’s Blaue hinein“. 

Darin gerade unterscheidet sich die jetzt folgende Gruppe von 
Suggestivwirkungen sehr wesentlich und grundsätzlich. 



III. Wahnideen und derverse Massenbewegungen 
von hypnotischen und exstatischen Zuständen begleitet. 


Der Drang zur impulsiven Bethätigung von Suggestivideen erweist 
sich als die normale Aeusserungsform bei kräftigen und männ- 
lichen Naturen. Bei nervenschwachen und bei weiblichen Naturen wird 
eine eigenartig überreizte Steigerung der erregten Vorstellung selbst 
bewirkt zugleich mit einer Hemmung der sonstigen geistigen 
Thätigkeit. 

Es ist also eine Schwäche, eine Insu ffi eien z des psychischen 
Organs starken und lang dauernden sensitiven Reizen gegenüber, die da 
zum Ausdruck kommt, vergleichbar dem völligen Stillstand, dem Choc 
bei plötzlichen starken Einwirkungen: der normale kräftige Charakter 
wird bei plötzlicher Gefahr activ und stark entgegenwirken ; bei energie- 
schwachen Frauen dagegen ist es vorgekommen, dass sie ihr Kind in 
momentaner Gefahr antrafen, z. B. in einen Wasserkessel gestürzt, in 
bedenklicher Position zum Fenster hinausgelehnt, und sie sind vor 
Schreck erstarrt oder in Ohnmacht gesunken, ohne zu helfen, während 
Andere wenigstens ihr Kind noch zurückreissen konnten und dann erst 
in hysterische Krämpfe oder Katalepsie verfielen. 

Anders und complicirter ist das Verhalten bei der suggestiven 
„Ueberreizung“, welche wie gesagt immer einen 1 ä n g e r währenden 
sensitiven Reiz voraussetzt. Dadurch eben entsteht jener eigenartige 
traumhafte Zustand, welchen man als Hypnose und Exstase bezeichnet; 
es entsteht zugleich eine Erstarrung des reflöktirenden Denkens und eine 
Ueberspannung und Ueberreizung des Vorstellens, sodass die einzelnen 
suggerirten Vorstellungen überstark und plastisch werden. Bei der 
normalen Suggestivwirkung ist das Individuum stark activ, 
wenn auch mit impulsiver Triebkraft, es fühlt sich als Vertreter der 
Idee, es handelt nach vorgestelltem — wenn auch vielleicht zweck- 
losem — Ziele. Die Kunst der Suggestion besteht darin, das In- 
dividuum stark activ und erfüllt von der Idee zu machen, es lebhaft 
zu „interessiren“. Dann wirkt die Idee zwar schon ohne motivirende 
Reflexion, d. h. sie wird so concipirt. Sogleich darnach aber tritt 
sie in Connex mit dem ganzen der Idee günstigen Ideenbestand des 
Individuums. Bei der Exstase hingegen wird die Vorstellung nicht 



282 


Ueber Wahnideen ira Völkerleben. 


bloss anschaulich und plastisch, sondern visionär deutlich, wie im 
Traume, das Individuum fühlt sich nicht allein von ihr „ergriffen*, 
nein! es wird selbst zum „Schauplatz“ der Vorstellung, es fühlt sich völlig 
passiv, und selbst wo es lange Reden hervorbringt, geht dem Aussprechen 
der Ideen nicht die innere Vorstellung derselben voraus; die Personen 
haben, so z. B. bei dem Prophetisiren der Trembleurs des Cövennes, aus- 
drücklich gesagt, sie wüssten selbst nicht, was sie sagten oder sagen 
würden, sie seien selbst „Zuhörer“ und Zuschauer davon. Auch hier 
drängt die suggestive Vorstellung zur Action, aber diese ist mehr als 
ftnpulsiv, sie ist automatisch, d. h. wie eben gesagt, es geht die 
Vorstellung der Handlung nicht voraus ihrer Ausführung. 1 ) Darum 
erscheinen die Exstatiker auch wie Maschinen, darum scheint der fremde 
suggerirende Wille in ihnen zu wohnen, sie sind von ihm inspirirt 
oder besessen. Ist es die Autosuggestion und die unbewusst 
wirkende Nachahmung, die zum Ausdruck kommt, so glaubte daher die 
frühere Zeit, hier sei ein Wunder wirksam, entweder Gott oder der 
Satan spreche und handle in dem Exstatiker. 

Dazu kommt als weiterer Factor der Ueberrei zu ng, welcher 
hinzutritt, die von der Art der suggerirenden Vorstellung unabhängige früher 
besprochene „neuromuseuläre Hvperexcitabilität“; sie giebt den Bewegungen 
die Tendenz zu tonischen und klonischen Krämpfen, und sie erregt die 
hy stero-epileptisclien und kataleptischen Anfalle. Jener 
Automatismus des V orstellens und Handelns dagegen beruht auf 
der Hemmung des associativen Denkens, sodass im Wesent- 
lichen nur die suggerirten Vorstellungen, aber diese hallucinativ deut- 
lich, auftauchen können, und ausserdem nur jene Form der traum- 
haften Phantasietliätigkeit möglich ist, welche bekanntlich die einzelne 
Vorstellung zur Situation erweitert, also z. B. die Zurückversetzung 
in die Kindheit, eine suggerirte Schreckensepisode mit Detail erfüllt. 

Diese exstatischen Zustände treten aber nur zeitweise, paroxys- 
mell auf: ist die Person schon an den Anfall gewöhnt, so genügt die 
stark anwachsende Erwartung zu bestimmter Tageszeit zu ihrer Aus- 
lösung, wie ja auch sonst hysterische Zustände verschiedenster Art zu 
bestimmten Tagesstunden sehr oft auftreten. Für die erste In- 
scenirung sind aber starke und lange Eindrücke erforderlich, am Besten 
wirkt das gesehene Vorbild: vorausgegangen ist zumeist eine höchst- 
gradige Erschöpfung und lleborreizung der Nerven durch manchmal 
jahrelange übertriebene asketische Uebungen. Wie das moderne hyp- 
notische E x p e r i m ent uns erst das V erständniss aller dieser 


Ü Die Bedeutung dieses Momentes für den Charakter der Willenshandlung 
liat besonders ausführlich und sachlich begründet: H. M ü n s te r berg. Die Willens- 
handluug, Freiburg 18S8. 



lieber Wahnideen im Völkerleben. 


283 


merkwürdigen und den Zuschauer aufregenden Zustände erschlossen 
hat, wurde in der Einleitung auseinandergesetzt. Br aid’s grosses Ver- 
dienst ist es bekanntlich, als der Erste durch methodische Versuche 
bewiesen zu haben, dass nicht fremde Kräfte es sind, die wirklich in der 
hypnotisirten Person sich äussern, sondern dass jede sensitiveUeberreizung, 
z. B. einfaches Anstarren eines Punktes (wie z. B. die Fakire Indiens 
ihren Blick auf ihren Nabel heften) dazu genüge. B e r n h e i m hat gezeigt, 
dass eindringliches Einreden des herbeikommenden Schlafes zwar nicht 
diesen, aber ebenfalls die Hypnose erregen kann; Charcot, Richer 
und andere französische Autoren haben die weitere bedeutungsvolle 
Aufklärung vermittelt, dass sowohl die Hysterie sich gleichfalls auf 
extreme Suggestibilität und jene neuromusculäre Erregbarkeit zurück- 
führen lasse, als auch dass die Hypnose voll nur bei Hysterischen 
gelinge und in ihren geringeren Graden einer Art abortiver künstlicher 
Hysterie gleichkomme. Auch das ist schon besprochen worden und 
sollte jetzt nur in Erinnerung gebracht werden. 

Zwei wesentliche Fragen drängen sich an dieser Stelle wohl Jedem 
auf: welche Bedeutung kommt diesen eigenartigen und überraschenden 
Wirkungen der Suggestion innerhalb der grossen ideellen und ins- 
besondere der perversen Massenbewegungen zu ? Und zweitens: 
warum beobachtet man sie heute nicht oder doch kaum mehr im 
Zusammenhang mit diesen wichtigen Erscheinungen im Leben der 
Völker? 

Die Bedeutung der hypnotischen Wirkungen war nun im Rahmen 
jener Massenbewegungen sicherlich eine ungemein grosse ; gleichwohl ist 
sie im Wesentlichen von indirecter Art gewesen. Man hat, glaube ich, 
die Hypnose doch stark überschätzt als ein Mittel, um gewisse Vorstellungen 
mit besonderer Macht den Personen aufzudrängen, um ihren Willen zu 
unterjochen. Für diesen Zweck kommt doch meist nur die sogenannte 
posthypnotische Nachwirkung aus leicht verständlichen Gründen in 
Betracht, und diese scheint doch nicht allzustark zu sein. Wichtiger 
erscheint mir die Möglichkeit, durch gehäufte Sitzungen, die ja auch in 
der Regel erfordert werden, eine allgemeine starke Suggestibilität 
zu erzielen, also eine künstliche hysterische Constitution des Geistes und 
der Nerven zu erzeugen. Für Heilungszwecke ist das ein recht bedenk- 
liches und zweischneidiges Mittel, und es scheint mir meist nur erlaubt zu 
sein, bei schon vorher hysterischen Personen auf diesem Wege zu er- 
streben, dass deren eigene schädliche Autosuggestionen durch die zweck- 
massigere Fremdsuggestion des Arztes ersetzt werden. In der That ersehe 
ich denn auch nicht aus der Geschichte des Massenwahns, dass die 
Einpflanzung der Ideen, z. B. des Hexen- und Satansglaubens, der 
religiösen Opferung bei jenen russischen Secten, durch hypnotische Ein- 
wirkungen merklich begünstigt wurde. Die Sache liegt, wie ja eigentlich Alle 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenleben?. 19 



284 


Feber Wahnideen im Völkerleben. 


wissen, ganz anders: die Hypnose, die Exstase ist und bleibt 
die Haupt-Quelle des Wunderglaubens, oder besser gesagt, 
sie ist, sie repräsentirt das Wunder, das Uebernatürliche. 
Objectiv war dafür maassgebend der Anblick der scheinbar in eine 
fremde Welt Entrückten und in Krämpfe Versetzten, und ferner ihre Zu- 
gänglichkeit für starke suggestive Contrastvorstellungen, d. h. die Mög- 
lichkeit der Wunderheilung von Besessenen und Hysterischen. Sub- 
j e c t i v war es die geschilderte Selbstwahrnehmung eines scheinbar 
fremden Willens und fremder Actionsimpulse, was den Besessenen 
so mächtig erschütterte und ihm imponirte. Um es bei der Wichtigkeit 
der Sache nochmals zu sagen, für diese Selbstwahrnehmung ist nicht 
das Wesentliche, dass keine Ziele und Zwecke für die Handlungsimpulse 
vorgestellt werden, sondern dass auch nicht einmal die innere Vor- 
stellung der auszuführenden Bewegungen vorangeht dem Bewegungs- 
impulse; das kommt wieder daher, dass die associative Erregung und 
Verkettung der Vorstellungen fehlt und gehemmt ist. 

Dieser letztere psychologische Faktor ist es offenbar gewesen, 
warum unter allen unverstandenen Naturereignissen und abnormen Symp- 
tomen am Menschen sich die hypnotischen Zustände als die letzte Stätte 
des Wunderglaubens bis in eine späte Zeit, ja sogar bis in die Gegen- 
wart gerettet haben. Wie sehr haben wir es dem Fortschreiten der 
psychologischen Wissenschaft zu danken, dass sie aucli da das Licht 
der Forschung, die Einsicht in eine gesetzmiissige Causalitüt entzündet 
hat! Ist es auch vielleicht zum Segen der Menschheit gewesen, dass 
die grossen religiösen Propheten und die Heligionsstifter sich fälschlich 
von der Stimme Gottes für inspirirt hielten, so hat der Hexenglaube doch 
einen seiner stärksten Beweise aus der Besessenheit gezogen, und er hat 
lange Zeit auch die Vertreter der Wissenschaft, die Aerzte, irre geführt. 

Die endlich gewonnene Einsicht in die Dinge ist sehr neu; Braid 
hat vor 50 Jahren noch wenig oder kaum Gehör gefunden, und erst 
seit den letzten zwei Dezennien ist das oben kurz Zusammengefasste 
von der Wissenschaft festgestellt und zum Gemeingute der Aerzte und 
Laien geworden. Warum hat aber schon so viel früher die Besessen- 
heit so gut wie ganz, die religiöse Exstase wenigstens seit diesem Jahr- 
hundert doch im Wesentlichen aufgehört? Giebt es, so fragen wir, 
weit verbreitete Eigenschaften des menschlichen Geistes, die durch Nicht- 
gebrauch zum Rudimente werden? Eigenschaften, die nur noch der 
Arzt künstlich erwecken kann? So liegen die Dinge bekanntlich nicht. 
Wer den Verlauf jener Besessenheitsepidemieen, jener exstatischen und 
convulsionären Massenmeetings, der Jumpers, der methodistischen Revivals 
u. s. f. auch nur oberflächlich verfolgt hat, dem kann nicht entgangen 
sein, dass man jene speeitischen Suggestiveffecte unbewusst oder be- 
wusst, jedenfalls aber systematisch gezüchtet hat. Während heutzutage 



Feber Wahnideen im Völkerleben. 


285 


der oberste Grundsatz der Hysteriebehandlung der ist, die erkrankten 
Personen aus ihrer Umgebung zu nehmen, von einer hysterischen Epi- 
demie erfasste Schulklassen zu schlossen, ist man mit den Besessenen 
so unzweckmässig verfahren wie überhaupt möglich. Man hat sie mit 
seltenen Ausnahmen in dem inficirten Kloster, selbst bei jahrelanger Dauer 
der Seuche, belassen, man hat die Anfälle in vollster Publicität, meist in 
den Klosterkirchen, sichallemVolke darstellen lassen ; durch die oft täglichen 
Exorzismen hat man die Besessenen immer von Neuem in leidenschaftliche 
Aufregung versetzt, sodass bei dieser Gelegenheit die stürmischsten Par- 
oxysmen sich einzustellen pflegten ; durch unermüdliches Beobachten, 
durch Aus- und Hineinfragen in die Besessene (z. B. wie viel Teufel n 
ihr seien, was Alles im Himmel und in der Hölle vorgehe, wann neue 
Anfälle kämen, wer Anstifter sei und Schuld an der ganzen Sache 
trage u. s. w.) hat man in ihnen immer neue Suggestionen erweckt. Die 
Methodisten dagegen haben durch leidenschaftlich mystisches Predigen, 
namentlich aber durch die absichtlich unsinnig verlängerte Dauer der 
Meetings von zwei, drei und mehr Tagen, durch Fasten und Askese, 
durch das Verlangen der ungemein erschütternden öffentlichen Beichte 
ihrer Sünden vor allem Volke direkt auf hysterische Convulsionen und 
Nervenzustände bei ihren Anhängern hingearbeitet. 

Wir wollen das nicht weiter ins Detail ausmalen, jeder Leser 
kann das Nöthige selbst irgend einer genaueren Schilderung jener 
Vorgänge entnehmen. Die Zuschauer der Revivals haben oft ihr Mitleid 
bezeugt mit irgend einem jungen Mädchen, das am ganzen Körper 
zitternd oder ohnmächtig zusammenbrechend zu der Sünderbank, dem 
Pen, oder wie man die Stätte für die Erweckten sonst nannte, siel) 
schleppte. Die Schaustellungen erwiesen sich oft genug als so stark auf- 
regend, dass selbst vorher ungläubige Spötter fortgerissen und «vom 
Geiste Gottes erfasst“ wurden. Nichts disponirt ja so sein* zur Hypnose 
als der Anblick dieses Schauspieles bei Anderen, sodass öffentliche Schau- 
stellungen, wie sie seiner Zeit der bekannte Hansen inaugurirt hatte, 
die meisten und zahlreichsten hypnotischen Erfolge zu erzielen pflegen. 
Diese Züchtung ist es nun, die heute aufgehört hat. Der Geschmack 
des gebildeten Publikums und selbst von verständig denkenden Priestern 
an solchen Dingen, welche nur krankhafte nervöse Folgezustände im 
Volke herbeiführen, hat aufgehört. Richer 1 ) führt eine nicht geringe 
Blüthenlese modernster religiöser Hysterien und von Visionen der. Jung- 
frau Maria, nach dem Muster der Marpinger Erscheinung, auf. Stig- 
matisationen, d. h. Auftreten blutigen Schwcissos an den Stellen der 
Wundmale Christi, wie sie in alter Zeit der mystische Asket Bernhard 

)) Paul Kicher. Ktudes cliniques sur la CJrandc Hysterie, 11. edit.. Paris 

l>s:>. p. 8.*>l — *<>!). 

19 * 



286 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


von Clairvaux dargeboten hatte und wie sie neuerdings am Bekanntesten 
bei der Luise Lateau geworden sind, kamen wiederholt noch zur Be- 
obachtung. Jüngere hysterische Mädchen, welche durch somnambule 
religiöse Prophezeiungen u. dergl. das Aufsehen ländlicher Bezirke er- 
regen, kennt jeder beschäftigte Arzt aus eigener Erfahrung. Zu Anfang 
dieses Jahrhunderts hatte der Mesmerismus und der sog. thierische 
Magnetismus 1 ) ein reiches Feld der Hypnoseerregung bei Hysterischen 
geliefert. Indessen, wie gesagt, gegenwärtig sucht man, was auch 
dringend noth thut, der Ausbreitung und dem Umsichgreifen der epi- 
demischen Hysterie rasch Dämme zu setzen, nöthigenfalls durch obrig- 
keitliche Verbringung der ergriffenen Mädchen in geschlossene Nerven- 
heilanstalten. 

Die Hysterie an und für sich und ihre Eignung zu hypnotischen 
und visionären Zuständen hat wohl nicht in ihrer Ausdehnung über die 
Bevölkerung abgenommen, vielleicht hat sie eher zugenommen. Da, wo 
man sie noch begünstigt, d. h. bei den suggestiven Heilwirkungen, wie 
sie gewisse „Gnadenorte“ gleich der Lourder Quelle und einige Wall- 
fahrtskapellen entfalten, da sieht man die — erwünschten — suggestiven 
Effecte sich bei Schaaren von Hysterischen noch verwirklichen. Sonst 
aber fehlt es an Suggestivvorstellungen, die gleichzeitig auf die 
Frauenwelt in gleichem Sinne einwirken, seitdem der asketische und 
das Innere des Gemüthes zerwühlende Character der Religionsübungen 
verlassen worden ist. Politische und soziale Suggestionen dagegen sind 
die Domäne der Männerwelt geblieben, und bei diesen haben wir die 
active impulsive Bethätigung als deren reguläre Consequenz gesehen. 
So bleibt das suggestive Erregungsfeld unserer heutigen Hysterischen 
begrenzt auf den eigenen nervösen Zustand und auf ihre persönlichen 
familiären Vorstellungen. Hier aber treffen wir noch recht stark wir- 
kende Visionen an, und ein hysterischer Jüngling meiner Beobachtung 
hatte z. B. Jahre hindurch immer wieder die meist vollkommen deutliche 
Erscheinung seines verstorbenen Bruders, so oft er einen seiner vielen 
kurzen Erregungszustände erlitt; von einem bekannten preussischen 
General haben die Zeitungen berichtet, dass er nach dem Tode seiner 
innigst geliebten Tochter den täglichen Besuch, die Hallucination, der- 
selben Wochen lang jeweils auf geraume Zeit erhielt, und bei sonst 
ungetrübter geistiger Klarheit fühlte er sich dadurch ungemein getröstet 
und erhoben. 

Soviel zum allgemeinen Verständniss und zur Würdigung der 
epidemischen hypnotischen Erscheinungen und Zustände! Sie sind, um 
das Vorhergehende in zwei Sätzen nochmals zusammenzufassen, epi- 

b Vergl. die sehr klar diese Dingo erörternde Schrift von Löwenfeld. 
Somnambulismus und Spiritismus. Diese ..Grenzfragen“, I. Heft. Wiesbaden 1900 . 



Ueber Wahnideen im Völkerleben 


287 


demisch aufgetreten aus zwei Gründen: 1. weil man ehedem durch 
Askese und leidenschaftlich mystische Cultübungen bei Frauen und auch 
bei Männern künstlich und innerhalb religiöser Vereinigungen eine 
starke und ständige allgemeine Nervenüberreizung, einen ner- 
vösen oder hysterischen Zustand herbeizuführen pflegte; und 2. weil 
das Auftauchen bestimmter Wahnideen im ganzen Volke gleich dem 
Hexenwahn prägnante Suggestivvorstellungen lieferte, welche bei den 
schon überreizten Personen paroxystische Besessenheitsexstasen erregten ; 
oder auch weil gewisse pietistische Cultübungen unter systematischer 
Anwendung prolongirter und gemüthserschütternder Erregungen direct 
hinarbeiteten auf die hypnotische Exstase, die sog. Erweckung oder 
Inspiration. 

Wir treffen daher hier einerseits keinen neuen Ideengehalt mehr 
an, sondern nur eine specifische Aeusserungsform der schon geschil- 
derten perversen Bewegungen. Andererseits hat gerade diese Seite des 
Gegenstandes durch Calmeil *) bereits Vorjahren, sodann durch Richer, 2 ) 
St oll, 3 ) Bechterew 4 ) und weiterhin sowohl durch die zahlreichen 
Schriftsteller der Hypnose im Allgemeinen, als auch durch die Darstellungen 
der religiösen Sektenbewegungen theilweise umfassender Bearbeitungen 
sich zu erfreuen gehabt. Dadurch ist der Schleier des Wunderbaren 
längst gelüftet worden, der früher auf diesen Gegenständen ruhte, und 
neue Gesichtspunkte werden vorerst hier kaum aufzufinden sein. Aus 
allen diesen Gründen beschränke ich mich darauf, an wenigen ausge- 
wählten Beispielen das soeben theoretisch Besprochene empirisch zu er- 
läutern. 

Zunächst müssen wir wenigstens noch hin weisen auf die That- 
sache, dass die Verbindung des religiösen Vorstellens mit der Hypnose 
sich als eine universale herausstellt, die sich also über das ganze 
Menschengeschlecht und speciell auch über die sog. Naturvölker erstreckt. 
In seinem mehrfach citirten Werke hat St oll diese ethnologische Seite 
des Gegenstandes sein* gründlich und umfassend behandelt. Bei Natur- 
völkern dient freilich die Hypnoseerregung hauptsächlich dazu, den Cult- 
handlungen der Priester das Ansehen des Zaubers und der Inspi- 
ration zu verleihen, wie das schon am Schlüsse des einleitenden 
Abschnittes (p. 22f>) erwähnt wurde. Beschreibungen von Reisenden und 

Calmeil. I>o la folie. considörce sous lo point de Pathnlogique. Pliilo- 
sophiquo, Historique et Judiciaire (Description dos grandes Kpideinies de Delire) 
2 vol., Paris (J. B. Bai liiere) 1 S L>. 

L> ) Richer, Ktudes cliniques snr la < Lande Hysterie, edit. Paris Iss. - », 

p. 799 — 014. 

3 ) Stell a. a. O. 

•*) Bechterew. Sugge-tinn und ihre soziale Bedeutung, deutsch. I/ehers., 
Leipzig lsna (s [ pp.). 



lieber Wahnideen im Völkerleben. 


Ethnologen liegen in überaus grosser Zahl vor, und bereits die ersten 
spanischen Conquistadoren haben auf den Antillen die gleichen Uebungen 
der Eingeborenen gesehen, die sie natürlich für Teufelswerk oder für 
absichtliche Betrügerei der Priester hielten. Das characteristische 
Merkmal bei den Exstasen der primitiven Völker ist, dass sie herbei- 
geführt werden nicht so sehr durch sensorische Reize als durch bis 
zur Raserei getriebene aufreibende und erschöpfende Muskelactionen, 
durch einen selbst stundenlange Dauer erreichenden Tanz, begleitet von 
Pantomimik und oft auch eintönig recitirendem Gesang, einer Ansprache 
an die Geister ; in der Regel tritt freilich auch ein heftiges ohren- 
betäubendes Trommeln oder auch das continuirliche Schütteln der 
glöckchenbehangenen Schahmanentrommel hinzu. Als drittes Mittel 
wird, besonders bei Indianern, ein starkes bis zur Narkose gesteigertes 
Tabakrauchen angewendet. Schliesslich stürzen gewöhnlich die Schah- 
manen in starken hysteroepileptischen Convulsionen ganz in Schweiss 
gebadet und mit schäumendem Munde zusammen, und hinterher beginnen 
sie gewöhnlich wirre Reden auszustossen ; der specielle Schutzgeist ist 
dann in den Schahmanen (oder Angekok, Piaje, Ganga und wie diese Priester 
alle heissen) eingekehrt, er spricht aus ihm, und aus den zusammen- 
hanglosen Worten wird hinterher die gewünschte Prophezeiung zurecht 
gemacht. Merkwürdig ähnlich ist bekanntlich der Vorgang bei den 
Weissagungen der pythischen Priesterinnen zu Delphi gewesen. Auch 
die Erziehung und Züchtung solcher „Medien“ ist ganz systematisch 
bei den Naturvölkern betrieben worden ; durch lange Fasten, Einübung 
der nervenerschütternden Tänze wird die Hysteroepilepsie künstlich an- 
erzogen in einem meist jahrelangen Unterricht, welchen der Novize als 
Lehrling und Gehilfe des älteren Schahmanen geniesst, und dabei wird 
Bedacht darauf genommen, nur solche Jünglinge auszuwählen, welche 
tlieils als Söhne des Schahmanen, theils durch persönliche Disposition 
zur Hysterie hinneigen. Endlich wird in dem besonders empfänglichen 
Pubertiitsalter der Jünglinge auch der mystische Cultus in roher ur- 
sprünglicher Weise innerhalb der zahlreichen geheimen Orden der 
Neger betrieben, indem sie sich einsam in die Wälder zurückziehen, 
dort starke Fasten und Geisselungen auszuhalten haben, einen gewissen 
geheimen Cult mitgetheilt erhalten und am Schlüsse bei der Rückkehr 
zu den Eltern meist der Beschneidung unterzogen werden. *) 

Wenden wir uns nun zuerst zu den Besessenheitsepidemien 
innerhalb unserer europäischen Culturlünder, so kann man drei Formen 
derselben unterscheiden: a) die eigentliche D ä m o n o m a n i e mit hyste- 

1 l Genauere Beschreibung iiiulet sich unter Anderem hei: Schneider. 
Religion d. afrikan. Naturvölker, Münster 1801; A. Reville, Los Religion* des 
Peuples non-civilises, 2. vol., Paris l s S:i; Lippe rt, Allg. Geschichte d. Priester- 
thums. 2 Bde.. Berlin iss:*,. 



Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


289 


rischen Paroxysmen ; b) die Lykanthropie ; c) die einfachen Tic’s, d. h. 
bestimmte automatische und krampfartige Bewegungen und Impulse, wie 
Bell- und Lachkrämpfe. 

Sie treten alle auch vereinzelt auf, von Besessenen berichtet ja 
bekanntlich schon das neue Testament, in der Hauptsache aber hat man 
die eigentliche satanische Besessenheit in Frauenklöstern und in 
Waisenhäusern erlebt. So trat 1566 im Findelhause zu Amsterdam 
eine starke Epidemie auf, welche ganz der sogen. Chorea magna 
entspricht, die wir nicht sehr selten in unserer ärztlichen PrsÄis noch 
heute bei hysterischen Kindern beobachten. Bei der Mehrzahl der In- 
sassen, 30 — 60 Kindern beiderlei Geschlechts, sah man damals eigen- 
artige Convulsionen mit Grimassenschneiden, wüthendem Herumklettern 
auf Möbeln, Dächern und Bäumen, Blöcken wie die Schafe und Ver- 
schlucken eines Menge von unverdaulichen Dingen (wie Nadeln, Wolle, 
Glasscherben und Lederstücken) , welche nachher wieder erbrochen 
wurden. Weiterhin zeigte sich in dem Kloster Uvertet (Grafschaft 
Hoorn) 1550 — 1565 nach Ablauf eines sinnlosen Fastens von 50 Tagen, 
wobei die meisten Nonnen sich nur von Rübensaft nährten und beinahe 
alle an einer schweren Stomatitis mit fauliger Zersetzung im Munde 
litten, zunächst die Hallucination von nächtlichem Stöhnen bei einer 
Nonne. Bald folgten bei ihr und demnächst einer Anzahl anderer Lach- 
krämpfe, alle möglichen Verdrehungen des Körpers, kataleptische Starre 
abwechselnd mit grotesken Sprüngen, Selbstmisshandlungen, welche 
dann immer die Peinigung eines zornigen Teufels gewesen sein sollten; 
ferner Rutschen auf den Knieen durch weite Räume und selbst die 
Treppen herab, Klettern auf Bäume, von welchen die Nonnen kopfvoran 
sich herunterhängen Hessen. In den Intervallen waren sie häufig sprach- 
los geworden. Hervortretend war auch die Sucht, Andere zu beissen, 
und überhaupt die Angriffe auf die Zuschauer. Beten in Gegenwart der 
Nonnen und Widerstand steigert ihr Gebfihren zu Wuthparoxysmen. 
Unter den sonderbarsten Bewegungen figurirt das Herabrollen eine ganze 
Treppe hinab um die eigene Längsaxe. Die unglückliche, selbst mit- 
ergriffene Köchin des Klosters und ihre alte Mutter wird stürmisch von 
den Nonnen als Satansanbeterin und Urheberin der Seuche angeklagt, 
beide werden verbrannt; darnach steigert sich nur die Seuche und er- 
lischt erst nach 3 Jahren. 

Stark nymphomanischen Cliaracter hatte die heftige Epidemie 
der Ursulinerinnen in Aix (1611), wo sich die Nonnen für verführt 
von Dämonen erklärten, äusserst lascive Bewegungen und Wiegen des 
überdies entblössten Körpers in den Anfällen darboten und schliesslich 
einen Priester Gaufridi als Urheber anklagten, der thatsächlich die 
— wie er meinte — durch ein Zauberbuch erhaltene Gewalt über die 
Frauen viel und schmählich missbraucht hatte und natürlich verbrannt 



290 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


wurde. Die bekannteste, stärkste und tragischste aller Klosterepidemieen 
war die der Ursulinerinnen des Klosters bei Loudun, einer kleinen 
Stadt im Departement Vienne, 1632 — 1637 resp. 1642, dauernd. Viele 
Töchter vornehmer Familien, auch eine Anverwandte Richelieu’s, 
gehörten zu den Insassen, das Kloster war erst vor 6 Jahren gegründet, 
ein gegenseitiges maassloses Ueberbieten in asketischen Uebungen war 
von Anfang darin Sitte. Ganz plötzlich wurden 16 Nonnen, darunter 
die Oberin selbst, erfasst. Den Beginn bildeten zahlreiche Visionen und 
Hallucinationen erst schreckhaft von Gespenstern (darunter bezeichnender 
Weise der verstorbene Beichtvater), dann Visionen lasciver Art, Erscheinungen 
von Dämonen, welche durch die verschlossene Thür, öfter in der Gestalt 
des derzeitigen Beichtvaters, eindrangen und unter tausend Ueberredungs- 
künsten obscöne Anträge stellten. Die Nonnen liefen aus ihren Zellen, 
kletterten sogar auf den Dächern herum und wurden bei ihrem Wider- 
stande gegen die Verlockung der Dämonen „von diesen“ furchtbar miss- 
handelt, so dass die Spuren noch Tage lang sichtbar waren. Leich- 
name im Fegefeuer erschienen, die bei Bespritzen mit Weihwasser laut 
aufzischten. Bald fühlten die Nonnen die Macht der Dämonen, welche 
durch Mund und Genitalien einzudringen pflegten, oft mehrere, 3 — 5 
zumal. Sie werden in die tollsten Verdrehungen geworfen, besonders 
häufig kommt es zu dem bekannten „arc de cercle“, sodass der Kopf 
weit hinten übergebogen die Zehen berührt, und in dieser Position 
laufen sie mit verblüffender Schnelligkeit durch die Zimmer. Dann 
schreien und brüllen sie laut in thierischen Tönen oder lassen die Zunge 
schwarz und borkig weit zum Munde heraushängen. Wieder kommen 
lascive Stellungen, Beckenbewegungen und schamlose Entblössungen 
sehr oft vor, wobei sie die Augen schliesssen und die Hallucination 
sexuellen Verkehrs zu erleben scheinen. Dazwischen blitzschnelles Kopf- 
schütteln, hystero-epileptische Krämpfe mit Schaum vor dem Munde und 
folgende kataleptische regungslose Starre oder flexibilitas cerea mit auto- 
matischem Einhalten der eigenartigsten Positionen. j 

Am Meisten bestürzte natürlich allgemein das Verhalten der Be- 
sessenen bei den Exorcismen und in der Kirche überhaupt in Gegen- 
wart heiliger gottesdienstlicher Uebungen. In den Intervallen schienen 
die Frauen normal, gingen ihren Geschäften nach und bezeugten ihre 
tiefe Verzweiflung über ihren kläglichen Zustand. Sowie aber der 
Exorcismus begann, brach alsbald der Paroxysmus mit Macht aus, und 
die vorher gesitteten Mädchen benahmen sich nun wie die Furien. Mit 
wüsten Schimpfreden aus dem Repertoir des unteren Pöbels, von denen 
man nicht wusste, woher sie die Nonnen hatten kennen lernen, zogen 
sie los gegen alle die heiligsten Namen der Kirche, schalten über die 
wüthenden Schmerzen, die ihnen der Anblick der heiligen Cultobjecte 
verursachte, lachten und höhnten dann wieder über die Ohnmacht des 



Heber Wahnideen im Völkerleben. 


291 


beschwörenden Priesters, und dann wanden sie sich am Boden in den 
oben beschriebenen Krämpfen und Verdrehungen; lascive Reden fehlten 
dabei selten. 

Einstimmig wurde von den Nonnen ein schöner und geistig hoch- 
stehender, weithin angesehener Priester der Stadt, Urban Grandier, 
als der im Teufelsbunde stehende Veranlasser ihrer Besessenheit genannt. 
Der Name dieses Unglücklichen bleibt daher für immer verbunden mit 
dieser traurigen geistigen Epidemie, und beinahe allerseits wird ange- 
geben, dass feindliche Amtsgenossen des zu hochfahrend auftretenden 
Mannes den Namen desselben den Nonnen suggerirt hätten, um ihn 
dem Verderben zu weihen. 

Wir wissen übrigens bereits, dass die Besessenheit nur ein Ab- 
leger des allgemeinen Hexenwahns, also einer Form des Verfolgungs- 
wahns ist. Denn wie viel näher lag es doch, solche dämonische Be- 
sessenheit dem directen Treiben der Dämonen zuzuschreiben! Und war 
denn das Ergriffenwerden gut religiöser Personen durch den Teufel oder 
war die sogen. „Zulassung Gottes“ besser erklärt, wenn sich irgend ein 
anderer böser Mensch dem Satan verschrieben hatte? Kurz und gut, 
das war jedoch der Wahn. Gr an di er wurde eingekerkert, seinem 
Verlangen, selbst den Exorcismus an seinen Anklägerinnen vornehmen 
zu dürfen, wurde stattgegeben, und dabei muss sich diese Schaar hyste- 
rischer, vom Wahne ergriffener Weiber in eine Tobsucht und Raserei 
hineingearbeitet haben von einer Furchtbarkeit, wie sie keiner der viel- 
erfahrenen Zeugen je auch nur annähernd früher oder später wieder 
gesehen hatte. Sie behaupten, Grandier wäre lebend in Stücke zer- 
rissen worden, wenn man ihn nicht mit aller Gewalt beschützt hätte. 
Sein Schicksal war schon vorher besiegelt, er ist unter ausgesuchter 
Grausamkeit gefoltert und dann hingerichtet worden. Aber mehrere 
seiner Ankläger hat hinterher das rächende Schicksal ereilt, selbst einer 
vieljährigen satanischen Besessenheit zu verfallen. Die furchtbare Seuche 
hat wieder den Tod ihres Opfers weit überdauert, sie hat auf die ganze 
städtische und ländliche Umgebung des Klosters sich ausgebreitet, die 
Augenzeuge der im ganzen Lande vielbesprochenen Krankheit war, und sie 
erlosch schliesslich erst nach 9 Jahren. — Das ganze Sy mpt omenbild 
dieser B e s e s s e n h e i t s z u s t ä n d e setzt si ch sehr deu tli ch zusammen aus 
allgemein-hysterischen Erscheinungen, wie sie die schweren hvstero- 
epileptischen Krämpfe, die tonische Starre des are de cercle. die Anaesthesie 
und ähnliches darboten, und wie sie auch heute alltäglich sind, und 
weiter verbunden damit aus einer Art von dramatischer Gestaltung der 
Angriffe und Wuthausbrüche, welche die vermeintlich den Nonnen ein- 
wohnenden Dämonen nach der Meinung der Zeit bewirken sollten. 
Es handelt sich im letzteren Falle um sehr leicht verständliche Auto- 
suggestionen. 



292 


Feber Wahnideen im Völkerleben. 


Wir nehmen von den sehr zahlreichen weiteren Klosterepidemieen, 
wie sie Cal m eil gewissenhaft registrirt hat, und die auch in Deutsch- 
land grassirt haben, keine Notiz. Die letzte Hexe in Deutschland wurde 
übrigens 1749 enthauptet als die angebliche Urheberin einer Convulsions- 
epidemie, welche 1740 — 50 im Frauenkloster Unterzell in Franken ge- 
wüthet hatte. Die zwei andern Formen, unter welchen sich die Be- 
sessenheit noch geäussert hatte, können von uns nur gestreift werden. 
Völkerpsychologisch sehr interessant ist das Auftreten der Lykanthropie. 
Der Wahn und namentlich die Furcht, dass Menschen sich in reissende 
Thiere verwandeln oder dass Kinder durch Hexen in „Wehrwölfe 4 * ver- 
zaubert werden könnten, findet sich in verschiedener Abwandlung über 
einen grossen Theil der Erde. *) 

Um so kennzeichnender für die Verursachung der Hexenseuche 
durch die Kirche ist es, dass ein so breit auch im europäischen Volke 
wurzelnder Aberglaube keine nennenswerthe Bedeutung damals erlangt 
hat, und dass bei der einzigen etwas ansehnlicheren Epidemie der 
Lykanthropie, die vorgekommen zu sein scheint, derjenigen 1598 
bis 1600 im schweizerischen Jura zu St. Claude bei Freiburg, dass auch 
da nur wenige Frauen die Wolfsmetamorphose sich eingebildet haben, 
und dass, wie es scheint, nur eine einzige darunter wirklich Kinder in 
ihrem Wahne angefallen und getödtet hat. Bei den übrigen, welche 
entsprechende Geständnisse abgelegt hatten, steht es beinahe sicher, dass 
es sich um Angriffe von wirklichen damals im Jura nicht seltenen 
Wölfen auf Kinder gehandelt hat, und dass die unglücklichen Frauen 
sich suggestiv in die Erinnerungshallucination hineinreden Hessen, sie 
selbst hätten in jenen Wölfen gesteckt. Weitaus im Vordergründe bei 
der Untersuchung, die unglücklicher Weise einem besonders eifrigen 
Verfolger zufiel (Boquet), stand natürlich wieder der gewöhnliche 
Satansbund mit Hexensabbaten, und jener einzige Richter hat deshalb 
600 Personen aus der Jura-Landschaft hinrichten lassen. Die Feder 
eines Voltaire hat diese jahrelang andauernden Scheusslichkeiten des 
Glaubens wahnes der Nachwelt überliefert. Im Uebrigen waren es stets 
nur isolirt gebliebene Fälle und wohl immer von Geburt aus schwach- 
sinnige junge Männer, welche Menschen überfielen und tödteten in ihrer 
vermeintlichen Eigenschaft als Wehr wölfe, in die sie sich nur ab 
und zu — paroxysmell — zu verwandeln pflegten. Es dürfte sich in 
der Regel um epileptische Dämmerzustände, oft mit sexuell perversen 
Trieben dabei, gehandelt haben. 

Die dritte Form der Besessenheit ist nahe verwandt der Chorea 
magna der Kinder und jenen oben kurz erwähnten entsprechenden 

! ) Ausführlich mit Literatiirangnhon behandelt in R. And ree, Ethnograph. 
Parallelen u. Vergleiche, Stuttgart l v 7>. p. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


293 


Epidemieen in den Waisenhäusern (z. B. zu Amsterdam und Kintorp). 
Wie hier die Kinder hüpfen, klettern und blocken gleich Schafen, so 
kam bei erwachsenen Frauen die sogen. Laira-Krankheit in der 
Gemeinde Amon bei Dax in Südfrankreich vor (1613), und es wurden 
mehr als 120 Frauen ergriffen, sicher ein hoher Procentsatz der ganzen 
Bevölkerung. Die eine Hauptäusserung bestand in einem lauten und 
andauernden heulenden Bellen, wie es Hunde beim Vollmond hören 
lassen, die zweite damit verbundene Abnormität war ein wtithendes 
Herumwälzen am Boden, Umsichschlagen, Beissen, als ob die Frauen 
wilde Thiere wären, abwechselnd mit typischen hystero-epileptischen 
Krämpfen. Das bellende Geheul wurde gewöhnlich am Heftigsten aus- 
gelöst, wenn die Frauen zum Gottesdienste versammelt waren. Natürlich 
war wieder eine Anzahl von Hexen Schuld, und die Untersuchungs- 
richter fanden den „ magischen“ Einfluss der Hexen besonders wunder- 
bar: war nämlich eine der verdächtigen Frauen in der Nähe, ja nur 
aut der Strasse, so brachen die Anfalle in unstillbarer Heftigkeit bei 
den Besessenen hervor, und angeblich sollte die Besessene die Nähe der 
Hexe nur durch’s Gefühl merken, sonst hätte sie oft — sagen die 
Richter! — Nichts davon wissen können. Wir erkennen hier schon 
die Anfänge der späteren «Clairvoyance“. Uebrigens waren die 
Hexen so zahlreich, dass ausser den Richtern und den Besessenen die 
Mehrzahl der Ortsbewohner verdächtigt worden war. Hingerichtet 
wurden deshalb nur Einzelne, darunter Frauen, die selbst an den 
Krämpfen litten. Wir wissen schon, dass das auf die Richter gar keinen 
Eindruck machte: der Teufel, sagten sie, habe den Hexen die List ein- 
geflösst, die Krankheit nur zum Scheine darzustellen! Auch klonische 
Krämpfe, in einem Gliede, z. B. dem Arme, kamen vor in Gegenwart 
der Hexe: „der Arm war verzaubert und gehörte jetzt nur der Hexe, 
nicht mehr der Eigenthümerin an!“ — 

Es gibt vielleicht keine entsetzlichere menschliche Ausgeburt, als 
dann, wenn sich die hysterisch-hypnotische Exstase mit dem primitiven 
in der menschlichen Brust ruhenden Verfolgungswahn verbindet. Wenden 
wir uns von diesen Bildern des Besessenheitswahns zu denjenigen der 
Theomanie, der göttlichen Inspiration, so bleiben die Scenen, welche 
uns begegnen, noch bizarr genug, aber die Stimmung der Ergriffenen 
ist eine oft hehre, die Aufopferungsfreudigkeit ganzer Schaaren ein- 
facher Landieute zwingt uns den Zoll aufrichtiger Bewunderung ab. 
Leider hat bei dem grossartigen Beispiele der f r a n z ö s i s c h e n Hag e- 
notten, das uns hier vorschwebt, die offleielle Kirche wiederum das 
Amt des blutigen und fanatisch mörderischen Verfolgers übernommen, 
gegen die suggestive Gewalt der Idee hat sie nur das alte Mittel der 
Ausrottung durch Schwert und Feuer gekannt. Der alternde Ludwig XIV. 
hatte die Schmach auf sich genommen. 16 SÖ das Duldungsedikt von 



294 


lieber Wahnideen im Völkcrleben. 


Nantes zu widerrufen. In den Landschaften Dauphin^, Vivarais und 
den Cevennen wurde jede calvinistisch- protestantische Religionsübung 
mit den härtesten und grausamsten Maassregeln verboten, Geistliche 
hingerichtet, Güter confiscirt und dennoch die Auswanderung aufs Roheste 
geahndet. In dieser Noth kam das Feuer göttlicher Inspiration den 
Unglücklichen zu Hilfe: einfache Bauern, der Dauphinö zunächst, 
sahen die Wiederkunft Christi nahe und erklärten sich selbst für den 
auferstandenen Heiland. Die Truppen der Regierung versprachen sie 
durch den heiligen Geist selbst in die Flucht zu schlagen, ja buch- 
stäblich „wegzublasen“. So ging die bäuerliche Schaar furchtlos 
den heranrückenden königlichen Soldaten entgegen, man theilte sich 
gegenseitig durch Anblasen den heiligen Geist mit und begann nun mit 
vollster Lungenkraft gegen den Feind zu hauchen, vorab thaten das die 
Frauen, und brüllte ebenso mit hellster Stimme ein „Taratara“, um die 
Trompetenstösse Jericho’s darzustellen. Die Leute wurden wie die Schafe 
von den Soldaten wehrlos niedergemetzelt, und erst nachdem das sich 
so und so oft in gleicher Art wiederholt hatte, flohen sie, und in der 
Dauphine und Vivarais ward der Widerstand schliesslich dadurch 
im Blute erstickt. 

Nicht so in den Cevennen. Hier war der Kampf weit hartnäckiger, 
und nachdem die Erwachsenen schliesslich der schonungslosen Gewalt 
gewichen waren, begann der Geist die zarte Jugend ihrer Kinder zu 
erfassen, wiewohl man diese gut katholisch zu unterrichten Sorge ge- 
tragen hatte. Hier war in all’ dem Drangsal schon von Anbeginn die 
Bewegung eine Stufe tiefer in der Richtung der suggestiven Exstase ge- 
langt. Die Dörfer vereinigten sich zu gemeinsamen Bet Versammlungen, 
in welchen gewöhnlich ein als Prophet anerkannter Mann den Vorsitz 
führte; zunächst kamen feurige Ermahnungen zum Ausharren, dann 
Absingen von Psalmen, und daraufhin der einstimmige inbrünstige Ruf 
.Erbarmen“ (ähnlich dem Ruf „glory“ bei den Methodisten). Hierauf 
stürzt plötzlich der Vorsitzende mit einigen aus der Versammlung nieder, 
entweder in vollen Convulsionen mit schäumendem Mund oder nur unter 
starkem Zittern am ganzen Körper oder klonischem Zucken von Kopf 
und Schultern (daher rührt die Bezeichnung „Trembleurs des Ce- 
vennes). Die Leute schilderten dabei das Gefühl, als ob im Hinstürzen 
ein Hammerschlag sie getroffen hätte. 1 ) Nach dem Erwachen beginnt 

r ) bin hysterisches Mädchen, das angegeben hatte, auf dem Felde durch einen 
schönen I nhekannten vergewaltigt worden zu sein, und das in der Folge — als es 
von einem Dorfbewohner gravid sich zeigte wegen Meineids angeklagt wurde, 
gab desgleichen an, jener L’nhekannte habe sie zweimal heftig vor dem Attentat 
mit dem Stocke auf die Schulter geschlagen. Fs handelte sich offenbar um sexuelle 
hysterische Illusion, das Mädchen war im hysterischen Anfall niedergestürzt und 
kam lebhaft am Kopfe blutend nach Hause. Fs wurde auf unser sachverständiges 
Gutachten hin freigesprochen (eigene Beobachtung). 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


295 


sofort Einer in gehobenem Tone und pathetisch zu prophezeien, vom 
Untergange des grossen Babylons — i. e. der katholischen Kirche — , 
dem Siege ihrer Sache, der Erscheinung Gottes mit allen Engeln voll 
Glorie, feurigen Ermahnungen zum Ausharren u. s. f. („Ich, d. h. Gott, 
der spricht, werde die Feinde zerstören, ich werde eine neue Weintraube 
wachsen lassen u. ä.“). Auch neue sonderbare Wortbildungen, eine sogen, 
fremde Sprache, ertönte oft stundenlang: das frühere „in Zungen reden“ 
(„y^cboocug kaketv u ). Verstummte der Eine, so wurde durch Anblasen 
der Geist auf einen Anderen übertragen, dieser fiel sofort nieder, wand 
sich in Krämpfen, prophezeite darnach und so ging das fort. Viele 
freilich hatten nur die Krämpfe, ohne darnach zu prophezeien. — Der 
Eifer war ausserordentlich, viele Tausende betheiligten sich an den Ex- 
stasen und Kämpfen, für einen, der hingerichtet wurde, standen zehn 
Neue auf, so klagten die Schergen des Königs. Schliesslich kamen, wie 
gesagt, die Kinder an die Reihe, gleichfalls in grösster Zahl — man 
schätzt sie auf 8000! — , darunter ganz junge von erst 3 — 5 Jahren. 
Sie hatten zwar keine Krämpfe, dafür um so mehr glänzende Visionen 
und besonders die göttliche Inspiration, welche sich in einem ganz ähn- 
lichen pathetischen Redestrom ergoss wie bei den Erwachsenen. Uebrigens 
fehlten auch bei den letzteren die sonstigen hysterischen Symptome, 
Anästhesien und Katalepsien nicht; der Eindruck der Versammlungen 
war so stark, dass frühere Gegner und Katholiken mit vom Geiste er- 
griffen wurden, ebenfalls zu prophezeien begannen und sich den Huge- 
notten anschiossen. 

Die Gesammtdauer der Bewegung betrug 20 Jahre, am Heftigsten 
war sie um 1689, und sie erlosch selbst bei den Vielen, die nach Eng- 
land ausgewandert waren, erst nach Jahren. Uebrigens erwiesen sich 
die gleichen Personen ausserhalb ihrer Paroxysmen als todesmuthige und 
äusserst unerschrockene Vertheidiger ihrer Sache auf dem Schlachtfelde. 

Ebenfalls bei einer Gemeinschaft von Sektirern in Frankreich, den 
Jansenisten, grassirte von 1728 — 39 eine äusserst absonderliche, übrigens 
nicht von einer höheren Idee getragene, vielmehr halb rein hysterische 
halb asketische Bewegung. Sie ist von einem Zeitgenossen in drei 
dicken Bänden beschrieben worden, sehr reiches Detail findet der Leser 
bei Calmeil und bei Regnard 1 ) über diese „St. Medard us-Epidemie“ 
(Miracles de St. Medard). Der etwas complicirte Hergang der Sache ist 
folgender: Francois de Paris, ein rührend gutmüthiger, aber geistig 
beschränkter Almosenpfleger (diacre) hatte nach einem Leben, das aus 
einer einzigen Kette freiwillig gewählter Entbehrungen und Askese be- 
standen hatte, sich frühzeitig verzehrt und war 37 Jahre alt (am 
1. Mai 1727) in Paris in seiner Dachkammer gestorben. In seinem 


J ) Regnard, Maladies epidemiques de l’esprit, Paris 18ST, pag. 90—201. 



296 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


Testamente bekannte er sich als geheimen Jansenisten; auf dem kleinen 
St. Medardus- Kirchhof wurde er begraben, aber hinterher seines Be- 
kenntnisses wegen vom Papste verläugnet. Schon von seinem Todestage 
ab begannen nun die suggestiven Wunderheilungen von schweren 
und langen, öfters bis zwanzigjährigen, hysterischen Lähmungen und 
sonstigen hysterischen Symptomen. Mehrere der Fälle erregten unge- 
heures Aufsehen, und sie sind gewiss von nicht geringem Interesse als 
Zeugnisse der Macht des Glaubens. Nun begann eine wahre Völker- 
wanderung nach dem kleinen Medardus-Kirchhofe, wo bald hysterische 
Krämpfe und Exstasen an der Tagesordnung waren; aber es kam nun 
eine förmliche Tanzseuche daselbst auf nach Art des „grossen Veits- 
tanzes“ („maladie de Saint Guy“), Männer und Frauen hüpfen und 
machen alle möglichen Verdrehungen, die Frauen lieben es, ohne Rück- 
sicht auf das Schamgefühl, auf dem Kopfe zu tanzen, Alles wirbelt 
durcheinander, man verschlingt Kieselsteine und glühende Kohlen: 
Andere lassen sich den aufgetriebenen Leib eindrücken (wie schon bei 
der alten Flagellanten-Seuche), und bis zu 10 — 12 Männer mussten den 
Leib dieser Frauen pressen. Allen voran wurde ein hinkender Abbe 
gesehen, der auf dem Grabmale selbst stehend, als Virtuosenstück den 
„Karpfensprung“ unermüdlich ausführte und behauptete, dass dadurch 
sein kurzes Bein sich verlängere. In dem allgemeinen Tanze hörte man 
ein „Seufzen, Heulen, Pfeifen, Deklamiren, Prophezeien und Miauen.“ 
Als der Unfug zu stark wurde, liess der König den Kirchhof 
schliessen und den Eingang bewachen (woher das witzige Epigramm: 
„De par le roi Defense ä Dieu, De faire miracles en ce lieu“). Damit 
hörte die Seuche keineswegs auf, sondern sie brach jetzt allenthalben 
inmitten der Stadt Paris aus, in den Höfen und auf den Strassen sah 
man die (’onvulsionäre, bis man die öffentlich Betroffenen einsperrte, 
was in wenig Tagen allein 00 Geistliche ereilte. Nun aber kam es zu 
einer neuen Phase der Seuche, die Askese nahm Ueberhand, aber 
auch sie in hysterisch bizarren und widersinnigen Formen. Einige 
ältere Männer zeichneten sich durch überlanges Fasten in Dauer bis zu 
40 Tagen aus. davon IS Tage absolut; einer hatte sich einen Dreh- 
krainpf angewöhnt, auf dem einen Absatz und blitzschnell (bis zu 
00 Touren in der Minute), 2 Mal täglich l 1 /., — 2 Stunden lang, wobei 
er noch laut aus einem Erbauungsbuche las; eine Frau liess sich über 
offenem Feuer einige Minuten rösten. Andere übten als Hauptstück das 
Aussaugen der damals noch häufigen stinkenden gangränösen Geschwüre. 
Wieder kamen alle denkbaren Convulsionen vor : Emporschnellen aus 
liegender Position, Krähen wie Hähne, Bellen wie Hunde, unanständige 
Purzelbäume. Alles bei Mädchen und Frauen. Diese gingen noch 
weiter, einerseits zur theatralischen Darstellung der Passionsgeschichte 
Christi oder zur Nachahmung des heiligen Fram/ois, wobei man selbst 


lieber Wahnideen im Völkerleben. 


297 


sein Rasiren copirte , katechetische Uebungen mit den Zuschauern 
anstellte etc. Andererseits kamen die Visionen und das Prophe- 
zeien in grossem Umfange auf, darunter namentlich die Ankündigung 
des jüngsten Tages, und Wunderheilungen durch Händeautlegen. 

Am Bekanntesten sind gegen den Schluss der Seuche zwei un- 
geheuerliche Extravaganzen geworden, Folgen der hysterischen 
Anaesthesie, welche sich oft einstellte. Beide sind, gemäss dem 
Urheber der Seuche, asketischer Art: die sogenannten „Secours“ 
und die * Kreuzigungen“. Sie wurden wieder vom weiblichen Geschlechte 
in Scene gesetzt, die „Secours“ wurden zur angeblichen Erleichterung 
verlangt : Schlagen des Leibes mit Latten, bis zu 3000 Mal hinter ein- 
ander, Einschnüren des Kopfes in starker Schlinge, durch mehrere 
Männer gezogen, Emporwerfen der Person in Tüchern, Auseinanderziehen 
von Kopf und Beinen und vieles Andere mehr, wobei am Erstaunlichsten 
ist, dass all’ dieser Unfug nach den Einfällen der Mädchen auch — 
jeweils von mehreren Männern zugleich! — wirklich ausgeführt wurde. 
Zwei gebildete Männer haben schliesslich (1750) als aufregendstes Schau- 
stück am Charfreitag die wirkliche Kreuzigung von einigen hysterischen 
Mädchen ausgeführt ; diese wurden zu Dreien mit starken Nägeln durch 
Hände und Füsse angenagelt und das Kreuz zeitweise aufrecht erhoben ; 
eine Schwester Framjoise hielt die Marter drei Stunden aus, obwohl ihr 
Gefühl sehr lebhaft erhalten blieb. Sie starb aber schon im nächsten Jahre. 

Die eben besprochene Seuche bietet wohl eine beinahe vollkommene 
Musterkarte aller hysterischer Extravaganzen , sowohl von asketischen 
als exstatischen w de convulsiven Erscheinungen, welche je im Namen der 
Religion im nerven- und gemüthsüberreizten Zustande ausgeführt wurden. 

Lassen wir also die furchtbare Seuche der im Mittelalter auf den 
Strassen herumziehenden Flagellanten bei Seite, ferner die Epidemien 
des Veitstanzes bei der Wallfahrtkapelle des St. Vitus im Eisass, 1 ) die 

1 ) Vergleiche Hecker. Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, Berlin 

pag. 148, auch E. 8. Wicke. Der grosse Veitstanz, Monographie, Leipzig 1844. 
Der Veitstanz war nur (dne epidemisch auftretende Neurose ohne geistiges Motiv» 
die Flagellanten aber stellten eine Vereinigung von Bussern dar zum Zwecke 
gemeinsamer und öffentlicher Ausführung ihrer Geisselungen und Gebete auf den 
8trassen der Ortschaften, in welchen sie wandernd umlierzogen . um ihre Schau- 
stellungen darzubieten. Sie begannen damit schon im Jahre 1874 und den Haupt- 
anlass gab wie oben erwähnt die entsetzliche Seuche des schwarzen Todes; Hauptstätte 
des Unwesens waren die Kheinlande (besonders Aachen) und die Niederlande. Der 
Charakter der Uebungen wandelte sich bald in eine Art von Besessenheit um, 
deren Wesen in ungemein wilden Tänzen mit krampfhaftem Toben bestand, darauf 
folgten starke epileptische Convulsionen. und schliesslich Hessen sich die Ergriffenen 
wegen angeblicher Trommelsucht (Auftreibung) des Leibes diesen auf’s Brutalste 
durch Fusstritte und Faustschläge misshandeln. Ausserdem geisselten sie sich 
selbst unter Loh- und Bittgesängen öffentlich und heftig zweimal des Tages. Die 
Zahl der Theilnelimcr dieser Umzüge soll oft mehrere Hundert, sogar über Tausend 
betragen haben. 



298 


Heber Wahnideen im Völkerleben. 


Tanzwuth (Johannistanz), den süditalischen Taranteltanz und die 
Derwischtänze Aegyptens und Arabiens und werfen wir nur noch einen 
Blick auf die modernere Wiederbelebung solcher fanatischer Schwärmerei 
bei den zahlreichen amerikanischen, irischen und englischen Methodisten- 
secten. Es dient nicht gerade zu deren Empfehlung, dass die düstere 
Gluth, welche durch die wildesten Springtänze (Jerk’s und „Karpfen- 
schnellen“} entfacht wurde, bei den religiösen Orgien der heutigen 
Neger der amerikanischen Union gleichfalls die Regel sein soll. 1 ) Auch 
scheint bei beiden, den weissen Pietisten wie den Negern, die gleiche 
geschlechtliche Begehrlichkeit dadurch geweckt zu werden, also 
die Unsittlichkeit nur gefördert zu werden bei der rücksichtslosen 
Durcheinandermengung der Geschlechter in solchen „camp-meetings“, 
und schon von den Scharen der Weiber, welche im Mittelalter im Kreise 
der Flagellanten mitagirten, berichtet die Königshofer Chronik, dass sehr 
viele unehelich schwanger wurden. Die harmlosesten Methodisten sind 
noch die, wie sie Moritz Busch (a. a. 0. „Wunderliche Heilige“) 
schildert, und wobei tägliche Gebetsübungen mit Laienpredigten gefolgt 
werden von einem allgemeinen Tanzen und Hüpfen im engen Kreise 
der Secte und in den Mauern ihres eigenen Heims. Bei den „Revivals“ 
(Erweckungen) und Camp-meetings dagegen zog man zu Tausenden auf 
mehrere Tage auf irgend eine Waldwiese. Hier auf improvisirter 
Tribüne wurden von Geistlichen Dauerpredigten hinter einander ans 
Volk gerichtet, etwa 1800 — 1804 in Amerika, 1850 in Irland. Hatte 
man mit den schrecklichsten Hölleandrohungen die Leute erschüttert, 
wobei man systematisch erst angenehm heiter sprach, um mit plötz- 
lichem Contrast düster und eindringlich zu werden: dann sah man 
„vom Worte Gottes in’s Herz getroffen“, Haufen von 20 Männern und 
Frauen Zusammenstürzen, theils lethargisch leblos, theils in hysterischen 
Zuckungen. Dazu wurden im Chor jene oben erwähnten seltsamen 
Sprünge und Tänze ausgeführt: eine Frau dreht sich wie ein Kreisel 
herum, wohl 50 Mal in der Minute, andere produciren wirklich hübsche 
Tänze, einige bellen wie die Hunde oder schnellen sich am Boden 
liegend wie die Fische in die Höhe. Dazwischen ertönt triumphirend 
der allgemeine Ruf „glory, glory“ oder „Amen— Jesus“. Zu der Sünden- 
bank, ,,pen u genannt, eilten dann wohl 100 Frauen und Männer auf 
einmal unter Schluchzen und erstickten Schreien. — Bei den Irländerinnen, 
Fabrikmädchen zumeist, 1860, wurden 25 Procent der ganzen Bevölke- 
rung, Hunderte und Tausende ergriffen; sie hatten Alle schwere 
hysterische Zustände: Hinstürzen unter Schluchzen, darauf starke 

Visionen glücklicher oder schreckhafter Natur, weiter Krämpfe, arc 
de cercle und hinterher oft tageweise hysterische Blindheit, Taubheit 

] ) Schilderung vielfach, z. B. hei Ernst Otto Hopp, Transatlantisches 
Skizzenbuch, Berlin 1876, pag. 50. 


Ueber Wahnideen im Völkerleben. 


299 


oder Lähmungen. — In Schweden trat 1841 — 42 bei mehreren tausend 
Personen eine hystero-epileptische Seuche auf; bei jeder kleinen Auf- 
regung begannen lokalisirte Zuckungen im Körper oder Gesicht, und es 
folgte der unwiderstehliche Drang zu predigen, d. h. von den 
Visionen, welche sie erfüllten, zu berichten, vor Laster und Trunk 
und Lüge zu warnen etc., daher im Volke „Predigerkrankheit“ 
genannt. — Vergegenwärtigt man sich nunmehr das zuletzt Besprochene 
nochmals, so wird es klar, dass auch die Theomanie, welche im Grunde 
auf höheren und erhebenden Vorstellungen basirt, und welche im 
Gegensätze zur Besessenheit religiöse Inspiration und Exstase herbei- 
führt, dass auch sie keine neuen Suggestivwirkungen , keine neuen 
Zustandsbilder zu schaffen vermag. Während bei den rein ideellen 
Massenbewegungen die Einwirkung der suggestiven Idee eine dauernde 
und ständige ist, so sind dort wiederum die eigentlichen und starken 
Effekte nur in „Anfällen“, in Paroxysmen zu erzielen, und es muss zu 
diesem Behufe jeweils von Neuem eine heftige Ueberreizung der Sinne 
und des Gemüthes bewerkstelligt, eine neue Hypnotisirung erzielt werden. 
Diesem Zwecke dient entweder ein immer leidenschaftlicher sich erhebendes 
Beten und Anrufen Gottes, wie bei den Hugenotten der Cevennen oder 
bei den Methodisten, oder aber eine immer wildere Muskelaktion durch 
Tanzen, Springen und Heulen, wie ebenfalls bei diesen letzteren und 
bei den Akteuren auf dem Medardus-Kirchhofe. Wir sehen, wie man 
damit bei der Praktik der rohen Naturvölker und der Neger angelangt 
war. In der Exstase selbst aber kehren die gleichen hystero-epileptischen 
Convulsionen und die Visionen wieder, nur ist an die Stelle der automatisch 
hervorgestossenen teuflischen Blasphemien das inspirirte Lobpreisen Gottes 
und prophetisches Weissagen getreten. Der Inhalt der Gedanken hat 
mit dem Zeitalter gewechselt, das Wesen der Erscheinung ist geblieben. 
Auch hier ist offenkundig die autosuggestive Vorstellung, durch den Geist 
Gottes inspirirt zu sein, die Grundlage des automatischen Prophetisirens 
gewesen, und die Exstatiker haben sich nicht mehr als selbsthandelnd ge- 
fühlt, sondern lediglich als das Organ, durch welches sich die göttliche 
Stimme verkündet. So w r erden schliesslich die Personen zu von ihrer Vor- 
stellung getriebenen Automaten, nicht zu leidenschaftlichen und impulsiv 
thatkräftigen Vertretern ihrer Idee wie bei den geistigen Massenbewegungen. 

Die Geschichte aber lehrt, dass dazu im Allgemeinen zwei ver- 
schiedene Anlässe geführt haben: entweder eine schon vorher vorhandene 
krankhaft exaltirte Inbrunst, wie sie theils Askese und Pietismus, theils 
die Seelenmarter eines verzweifelnden Volkes in 'S Dasein gerufen hatten; 
oder aber die Entdeckung der merkwürdigen hypnotischen Veranlagung 
bei einer Reihe von Menschen und der Wunsch, sie zu deren Beherrschung 
auszubeuten, bezw. der Wunsch, sich selbst in jenen höchsten Taumel des 
Ergriffenseins zu versetzen. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 


20 



Schlussbemerkung. 


Unser Rundgang durch all’ die Erscheinungen und Phasen des 
Wahnes im Völkerleben schliesst mit dem vorstehenden Ueberblick über 
die Verknüpfung hysterischer Paroxysmen und Zustände mit der Ab- 
irrung des religiösen Fühlens und Denkens. Es wird dem Leser nicht 
entgangen sein, dass wir indessen nicht darauf den Hauptwerth in 
unserer Darstellung gelegt haben, sondern auf die, wenn ich so sagen 
darf, normaleren und rein ideellen Bewegungen des Volksgeistes. Das ist 
in solch’ systematischer Weise, soweit mir bekannt, bisher noch nicht 
geschehen; und eben daher dürfte es rühren, dass man beinahe allgemein 
gewohnt ist, in der Suggestion eine vollkommen eigenartige und räthsel- 
hafte psychische Erscheinung zu erblicken, dass man die „Wach- 
suggestion“ erst durch die hypnotische Suggestion glaubte begreifen zu 
können, und dass man in ihr eine analoge Einengung des Bewusstseins, 
nur in milderer Form, wie in der Hypnose erblickte, eine Fascination, eine 
Ueberwältigung des Ichs. Wie man historisch dazu gekommen ist, das 
ist oben (pag. 211 ff.) auseinandergesetzt; indessen kann ich dieser 
Auffassung in keiner Weise beipflichten; die Hemmung des associativen 
Denkens in der Hypnose beruht auf einer eigenartigen Fesselung und 
Ueberspannung der Vorstellung, die auch bei Thieren vorkommt, welche 
dann unverwandt nach einem seltsamen Object starren, z. B. Gazellen 
nach einer vorbeiziehenden Karawane, und welche so davon absorbirt werden, 
dass sie kaum fliehen, bis man der Reihe nach ihre Genossen wegschiesst 
Dies Verhalten haben wir aber als eine merkwürdige Schwäche des 
psychischen Organs aufgefasst und geschildert, die nur Frauen und 
hypersensiblen Männern zukommt, und die in geradezu diametralem 
Gegensätze steht zu der mächtigen und impulsiven Activität, welche die 
gewöhnliche normale Consequenz der starken oder suggestiv wirkenden 
Vorstellung ist. Es hemmt auch die letztere da in keiner Weise den 
associativen Gedankenstrom, und auch contrastirende Vorstellungen 
können reichlich bewusst werden, nur werden sie von dem Subject 
wieder abgestossen und abgelehnt. 

Die Suggestivvorstellung war für uns schliesslich nichts Anderes, 
als eine für das Subject eindrucksvoll, mächtig oder intensiv gewordene 



Schlussbemerkung. 


301 


Vorstellung, freilich aber eine wirkliche plastische Vorstellung, 
nicht etwa eine abstracto Idee wie die der Unendlichkeit oder ein 
allgemeiner Lehrsatz in Begriffsform. Diese letzteren repräsentiren keine 
psychische Kraft oder Macht, ein Begriff überzeugt überhaupt nie ; Niemand 
glaubt an sich den Lehrsatz, dass z. B. Tugend glücklich mache, wohl 
aber mag er erlebt haben, dass brave und gewissenhafte Menschen 
glücklich geworden sind. Solche rein abstracte Ideen wirken also nie 
suggestiv. Nun könnte aber der Einwand nahe liegen: hat es denn 
einen besonderen Zweck, für solche elementare psychische Thatsachen 
den Begriff der Suggestion zu verwenden, der doch ursprünglich an den 
speciellen Vorgang der Hypnose geknüpft war? genügt es nicht, ein- 
fach von starken und eindrucksvollen Vorstellungen zu sprechen? 

Darauf ist zu erwidern: die Thatsache der psychischen Wirkung 
starker Vorstellungen auf das ganze Denken der Menschen, speciell auf 
die Willens- und Intelligenzprocesse birgt eine wesentlich neue Er- 
kenntnis in sich und zeigt sich in der Völkerpsychologie von einer ganz 
eminenten Tragweite. Erst das Studium der geistigen Massenbewegungen 
einerseits und die experimentelle Psychologie der Suggestivmethoden 
andererseits hat gelehrt, welche werbende Kraft und welche die anderen 
Personen beherrschende Wirkung der Uebertragung eindrucksvoller 
Vorstellungen zukommt. Mit einem Wort, erst da konnte man lernen, 
dass wir hier eine psychische Macht vor uns haben. Man hatte bisher 
auf dem ganz ungenügenden Wege der Analyse der individuellen Psyche 
einer Theorie den Vorzug gegeben, welche eigentlich nur eine psychische, 
speciell intellectuelle Kraft zuliess, das war der Verstand oder moderner die 
Apperception, eine Kraft, welche angeblich nur auf Grund von Motiven 
überzeugende Urtheile bildete, während die einzelne Vorstellung und die 
Association lediglich inactiv waren, d. h. der Apperception nur als 
Material dienten. Mit den längst bekannten Thatsachen des religiösen 
Glaubens und der Vorurtheile fand man sich — etwas oberflächlich — 
in der Weise ab, dass man der Apperception gleichsam zwei Neben - 
herrscher beigab, den Affect und die Phantasie (mit Gemüth). Sie 
sollten die Apperception mit beeinflussen, sozusagen bestechen. Die 
Phantasie als psychische Kraft existirt aber in der modernen Psychologie 
überhaupt nicht mehr; was man damit bezeichnen wollte, das ist eben 
der Thatbestand, dass die plastische Vorstellung eine intellectuelle 
Wirkung ausübt, also dass sie suggestiv wirkt. Plastisch denkende 
Personen, das sind die Künstler und Naturvölker, sind immer stark 
suggestibel. Dass der Affect für sich allein keine Völkerbewegungen 
herbeiführt, haben wir im Laufe diesei Abhandlung reichlich erörtert. 

Der einfache Schlusssatz, welchen wir in den vorstehenden Linien 
ausgedrückt haben, repräsentirt den leitenden Grundgedanken, der diese 
ganze Abhandlung durchzogen hat. Vergegenwärtigen wir uns daher 

20 * 



302 


Schlussbexnerkung’. 


nochmals in flüchtigen Zügen, auf welchem Wege wir dazu gelangt 
waren. In der ganzen geistigen Geschichte der Menschheit sahen wir 
immer wieder einzelne perverse Vorstellungen, bezw. gefährliche Wahn- 
bildungen auftauchen, welche mit unwiderstehlich scheinender Gewalt 
gleieh einen ansteckenden Epidemie um sich griffen und theils ganze 
Völker, 'theils grössere Gruppen innerhalb derselben mit fortrissen. 
Bald waren es Aeusserungen eines ursprünglichen Verfolgungswahnes, 
welche sich mit dem religiösen Aber- und Teufelsglauben verbündeten 
und zu der langen traurigen Hexenverfolgung führten; bald brachen 
nationale Eifersucht und Grössenwahn durch und veranlassten die wieder- 
holten Angriffe des französischen Volkes auf das deutsche; bald wieder 
hatte der Wahn, sich über Nacht bereichern zu können, die holländische 
Tulpenmanie und den Rausch der John Law’ sehen Transaktionen 
entfesselt. Andere Male hatte religiöser Fanatismus ein nutzloses 
Martyrium russischer Sektirer oder fast ziellose, aber grossartige Glaubens- 
kriege wie beim mahdistischen Aufstand hervorgebracht; sozialpolitischer 
Wahn hat die vielleicht furchtbarste geistige Seuche unserer Tage, den 
Anarchismus, heraufbeschworen ; einzelne faszinirende Personen konnten 
beinahe allein auf ihren Namen neue ausschweifende Sekten begründen, 
indem man sie für Incarftationen des auferstandenen Heilandes hielt 
u. s. f. Durch mehrere unter den religiösen Massenbewegungen konnten, 
besonders bei Frauen, spezifische und thatsächlich krankhafte nervöse 
Zustände erzeugt werden, die der .grossen Hysterie“ zuzurechnen und 
als hypnotische oder exstatische Paroxysmen zu bezeichnen waren. Noch 
überraschender aber waren die regulären und normaleren Wirkungen 
jener Epidemien: die einmal herrschend gewordene Idee überwältigte 
das ganze Sinnen und Trachten ihrer Anhänger, nicht selten sogar liess 
sie für anderes Denken kaum noch Raum (der sog. Monoideismus), und 
zugleich entfachte sie eine impulsive Thatkraft und einen Opfermuth, 
vermöge welcher unzählige Male mit Leichtigkeit das eigene Leben 
preisgegeben worden ist. Eben darin gleichen jene Massenbewegungen 
den pathologischen Wahnbildungen des Einzelnen, welche die Psychiatrie 
längst kennt, und sie gleichen ihnen auch durch die Thatsache, dass 
ihnen eine frappirend ungenügende logische Motivirung zukommt. Fragte 
man sich nämlich, wodurch so grossartige geistige Wirkungen Zustande- 
kommen. so fand sich im Allgemeinen, dass die Ziele ausschweifend 
oder gar thöricht waren, ja noch mehr — was wir speziell darzulegen 
uns bemüht hatten — . dass man gewöhnlich nicht einmal versucht 
hatte, eine auch nur scheinbar exacte Grundlegung der Idee den Anhängern 
vorzulegen. Es fiel uns sogar auf, dass auf politischem Gebiete wirklich 
reale und wichtige Interessen, wie z. B. die Schädigung des Handels- 
und Erwerbsbetriebes, so gut wie nie im Stande waren, die Völker 
leidenschaftlich gegen einander zu erregen. 



Schlussbemerkung. 


303 


Was also war das thatsächlich Wirksame an den Ideen? 

Darauf wussten wir nur die uns bekannte Antwort zu geben: 
starke Ideen irgend welcher Art überzeugen und wirken unmittelbar 
und ohne Motivirung; das ist eben die nackte Thatsache, welche sich 
aus dem Gesagten ergibt. Für die Einpflanzung und Ausbreitung solcher 
Ideen sind dann offenbar zwei reziproke Faktoren massgebend: es 
müssen starke Eindrücke sich den Personen darbieten oder ihnen dar- 
geboten werden, und zweitens die Personen müssen eine genügend 
erhebliche Empfänglichkeit, eine Erregbarkeit für die Ideen besitzen, 
d. h. die Suggestion und die vorhandene Suggestibilität müssen sich 
gegenseitig ergänzen. Als suggestiv wirkende Eindrücke der Art 
lernten wir das Hereinbrechen aufregender Ereignisse kennen, so die 
zunehmende Ueberfluthung China’s durch die gehassten „europäischen 
Teufel“ für die Boxerbewegung und ähnliche Verhältnisse bei Entstehung 
der Pai-Marire-Religion auf Neuseeland, und so leitet sich überhaupt 
der primitive Cultus der Naturvölker her von der erschütternden Wirkung 
der Naturgewalten auf ihr Denken und Fühlen. In ähnlichem Sinne 
wirkt machtvolles und imponirendes Auftreten und rascher glänzender 
Erfolg bei den Führern neuer Bewegungen Wichtiger ist aber heute 
die verbale Suggestion geworden, die eigentlich von indirekter Art 
ist; denn sie wirkt dadurch, dass sie die Suggestibilität in den 
Personen zu wecken und aufzustacheln strebt, d. h. man sucht in 
ihnen gerade die Vorstellungen zu erregen, welche die Phantasie und 
die Leidenschaft der Personen oder einer Bevölkerung aufrühren. Darin 
also besteht das Wesen der Massenagitation und der Propaganda. Die 
Ideen selbst werden meist von einzelnen überragenden Personen geschaffen, 
einem Mohammed, Napoleon, Proudhon etc. ; für die Massen sind dann 
die geeigneten Schlagworte zu münzen, welche zugkräftig sein 
sollen, welche sich leicht einprägen und fortpflanzen. Somit wird nicht, 
der fremde Wille auf die Anderen übertragen, wie die ältere Suggestions- 
lehre meinte, sondern die fremde Idee. 

Wir ersehen aus dem eben Besprochenen, dass überhaupt für die 
Ausbreitung von ideellen Bewegungen der zweite Faktor, der Grad 
der Suggestibilität, von entscheidender Bedeutung ist. Das wäre 
noch mehr der Fall, wenn nicht, wie wir sogleich sehen werden, eine 
starke suggestive Empfänglichkeit stets in den Massen vorhanden wäre. 
Innerhalb des Begriffes der Suggestibilität sind nämlich wieder zwei 
Momente zu unterscheiden, und zu diesen kommt als drittes und 
pathologisches Moment noch die vielfach zutreffende Eignung zu hyp- 
notischer Ueberreizung hinzu. Leicht für uns verständlich ist das erste 
Moment, der Grad der Erregbarkeit des Vorstellens, also sowohl 
das Mass von plastischer Anschauungs- und G< staltungskraft als der 
Grad der Gemüthsbetonung und Leidenschaftlichkeit, welcher den 



304 


Schlussbemerkung. 


Vorstellungen beiwohnt. Wir wissen, wie sehr diese Eigenschaft wechselt 
bei den Nationen, wie uns Franzosen und Slaven übertreffen durch 
Phantasie und die Wärme ihrer Affekte, während dem Deutschen die 
inbrünstige Gemüthstiefe eigen ist; doch scheint es uns, dass wir von 
einer weiteren Verfolgung dieses Punktes absehen dürfen. Gewiss an 
und für sich nicht minder bedeutungsvoll ist das zweite Moment, 
welches negativer Natur ist und welches das Maass des Wider- 
standes, der Hemmung darstellt, womit die Personen einer Suggestion 
im Stande sind sich zu widersetzen. Dieser Widerstand ist nun auf 
primitiver Stufe beinahe gleich Null anzuschlagen. Bei naiven Personen 
und allgemein bei Naturvölkern besitzt bereits jede associative Ver- 
knüpfung irgendwie eindrucksvoller Vorstellungen oder Eindrücke eine 
ausgeprägt überzeugende Kraft; jede sich aufdrängende plastische Idee 
wird sofort und ohne Weiteres geglaubt. So wird aus der einfachen 
Folge zweier Ereignisse ein gültiger causaler Schluss: jener Europäer 
wusch sich im Flusse und darnach wurde ebenda eine Negerfrau durch 
ein Krokodil zerrissen; „folglich“ war der Europäer die Ursache des 
Unglücksfalles. In dem propter hoc, quia post hoc hegt stets eine 
gewisse Ueberzeugungskraft für den naiven Menschen. Dasselbe gilt 
aber für die Verknüpfung analoger Vorstellungen, den Analogieschluss. 
Man erfahrt als evidente Thatsache, dass Krankheiten durch Giftstoffe 
oder durch Magenüberladung entstehen: „folglich“ entsteht jede 
Krankheit durch schädliche „Stoffe“ oder durch Unmässigkeit. Das 
ist eine populäre Theorie, die weithin leidenschaftlich und ohne weitere 
verständige Motivirung im Volke und von Halbwissern aus dem Volke 
vertreten wird, und welche auch im Wesentlichen die Krankheitslehre 
der Naturvölker repräsentirt. 

Der Glaube an solche naive oder „Primärurtheile“, wie ich 
sie zu nennen vorgeschlagen habe, hält aber nicht mehr Stand, wenn 
die Person offene Widersprüche dagegen wahrnimmt. Wer z. B. 
an ein Arzneimittel glaubt und statt des Nutzens öfter schädliche 
Wirkung konstatirt, der zweifelt nunmehr an dem Mittel. Man kann 
nun die Menschen dazu erziehen, dass sie absichtlich nach der- 
artigen Widersprüchen suchen, dass sie sich von suggestiven Wirkungen 
dadurch zu befreien streben, dass sie Alles, was dagegen spricht, sich 
ernsthaft und eindringlich vorstellen. Man könnte dieses Mittel als 
Gegen Suggestion bezeichnen , gewöhnlich aber nennt man das 
kritisches Denken oder Zweifeln. Die gesammte geistige Geschichte 
der Menschheit bezeugt uns weiter, dass solches Zweifeln nicht auf 
angeborenen Eigenschaften des Intellectes beruht, wie umgekehrt die 
suggestiven Wirkungen, und in den breiten Volksschichten bestehen 
somit keine kritischen Tendenzen. Sie leisten demgemäss einer suggestiven 
Idee nur dann merklichen Widerstand, wenn diese in Konflikt gerätli 



Schlu88bemerktmg. 


305 


mit anderen Ideen, welche in ihnen eingelebt sind und welche schon 
Torher Gegenstand ihrer Ueberzeugung waren. Ein Mann der stets eifriger 
Rationalist war, lässt sich daher nicht ftlr den Pietismus gewinnen; 
dagegen hat die Heilsarmee unzählige Male bewiesen, dass einfacher 
religiöser Indifferentismus ganz und gar kein Hindemiss ist, um so 
denkende Personen sehr wirkungsvoll zu bekehren, üeberhaupt darf 
man sich dieses Hemmungsmoment nicht als gar zu erheblich vor- 
stellen, sowie es sich um sonst erregbare und kritisch wenig veranlagte 
Personen und Völker handelt; nach den masslosen Orgien der demo- 
kratischen Idee in der ersten französischen Republik gelang es dem 
Genie eines Napoleon relativ leicht, die Franzosen nach den Grundsätzen 
des aufgeklärten Absolutismus zu regieren, indem er ihren Geist durch 
die Idee der „gloire“ an Stelle des Freiheitsgedankens erfüllte. Bei den 
Puritanern zu CromweU’s Zeit vertrug sich extremste religiöse Mystik 
und Pietismus ganz gut mit thatkräftiger und zielbewusster Vertretung 
des politischen Liberalismus ; und ebenso war der Mörder Carnots, 
Caserio, früher ein frommer Katholik, bis er leidenschaftlicher Anarchist 
wurde. 

So ist also that sächlich bei den Massen des Volkes das Moment 
der psychischen Erregbarkeit das entschieden mächtigere, und als 
viel schwächer erweist sich der Einfluss der intellectuellen Hemmungen ; 
und deshalb hängt es zu einem grossen Theile von äusseren Umständen 
und Zeitverhältnissen und fast ebenso sehr von dem Auftreten bestimmter 
bedeutender Führer und von der Entwicklung einer folgerichtigen Agitation 
ab, nach welcher Richtung hin die geistige Bewegung eines Volkes 
geleitet werde. Ist das richtig, so wächst in gleichem Masse die Ver- 
antwortung der gebildeten Classen , denen die Führung der breiten 
Volksschichten zufällt, und die furchtbaren geistigen Verirrungen, welche 
wir in dieser Abhandlung geschildert haben, legen lautes Zeugniss dafür 
ab. Andererseits wollen wir nicht vergessen , dass doch ebenso die 
hohen Ideale unserer Cultur und unseres nationalen Lebens vermöge 
der gleichen Suggestibilität der Völker ihre begeisternde Macht empfangen 
haben, und dass eine selbstlose Ethik sich den Völkern nur einimpfen 
liess durch ihre Verbindung mit der suggestiven Kraft der religiösen 
Lehren. Wir könnten diese ursprünglichste geistige Gewalt, die Suggestion, 
nicht ausrotten, selbst wenn wir es wollten ; indessen sie ist da und bleibt, 
wir brauchen ihre gefährliche Macht nicht absichtlich zu steigern oder 
gar in’s Abnorme zur Exstase zu verzerren; was dem Volke noth thut 
und ihm an erzogen werden soll, das ist die besonnene Handhabung 
seiner Vernunft und eine verständige Weltanschauung. 




Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden. 


Soeben erschien und liegt nunmehr vollständig vor: 

Handbuch der Gynäkologie. 

Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen 

In drei Bänden herausgegeben 

von J. Veit, 

Professor an der Universität Leiden. 

3 Bände in 5 Abtheilungen. Mit 560 Abbildungen im Teste und auf 23 Tafeln . 

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Kü stn er, Breslau. 

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Die gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen Harn- und Geschlechtsorgane. Von 

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II. Band. Preis M. 18.(30. Inhalt: 

Die Krankheiten der weiblichen Blase. Von H. Fritsch, Bonn. 

Physikalische Untersuchungsmethoden der Blase. Von F. Viertel. Breslau. 

Die Entzündungen der Gebärmutter. Von A. Döderlein, Tübingen. 

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Die elektrische Behandlung der Myome. Von K. Sch ae Her, Berlin. 

Die palliative Behandlung und die vaginalen Operationen der Uterusmyome. Von 
J. Veit, Leiden. 

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Carcinom und Schwangerschaft. Von 0. Sarwey, Tübingen. 

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III. Band, II. Hälfte, II. Abth. Preis M. 14.20. Inhalt: 

Das Hämatocele. Von E. Winternitz, Tübingen. 

Die Erkrankungen der Tube. I. Aetiologie und pathol. Anatomie. Von 
F. Klein haus, Prag. 

Die Erkrankungen der Tube. II. Symptome, Diagnose, Prognose und 
Therapie. Von J. Veit, Leiden. 

Allgemeine Peritonitis. Von A. Döderlein, Tübingen. 

Das Sarcoma uteri. Von A. Gessner, Erlangen. 

Erkrankungen des Beckenbindegewebes. Nachtrag von A. v. Rostliorn, Graz. 


Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden. 


6rundriss der Stoffwechselkrankheiten = 
e und Xonstitutionsanomalien. 

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physikalisch - diätetischen Behandlung. 

Von Dr. Arnold Wilke, dirigierender Arzt, Königstein im Taunus. 

Preis Mk. 6. — , geh. Mk . 7. — . 

Lichtvolle Darstellung der Ätiologie und Klinik unter Berücksichtigung 
der neuesten Forschung! Von hervorragendem Wert ist der therapeutische 
Teil und in diesem besonders die Ausführungen, welche den physikalisch- 
diätetischen Maßnahmen gewidmet sind. Der Autor gibt nicht Orakelsprüche 
kund, sondern überzeugt durch Gründe. — Das Buch, aus der Praxis für die 
Praxis geschrieben, sei mit aufrichtiger Empfehlung geleitet. 

Zeitschrift für Balneologie . 

Das Buch W.s ist für die Praxis geschrieben. Ohne auf noch nicht 
sicher geklärte Theorien einzugehen, erwähnt Verfasser alles Wissenswerte 
unter spezieller eingehender Berücksichtigung der Therapie. Trotz der grossen 
Zahl grösserer Lehrbücher und Monographien über StofFwechselerkrankungen 
wird auch W.s Werk viele Freunde finden. Deutsche Ärzte- Zeitung. 

funktionelle Diagnostik und Therapie der 
Erkrankungen des Herzens und 
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Von Professor Dr. August Hoffmann in Düsseldorf, 

mit 109 Abbildungen und 1 farbigen Tafel. 

Preis Mk . 12.—. Gebunden Mk. 13.20 . 

In dem ersten, ausführlichsten Abschnitt des vorliegenden Lehrbuchs, in 
der Allgemeinen Diagnostik hat Hoffmann eine ganz vortreffliche Darstellung 
der heute so zahlreichen Untersuchungsmethoden des Herzens und der Gefässe 
gegeben. Sie ist die vollständigste, welche dem Referenten bekannt ist. Ueberall 
hat man dio Empfindung, dass ein viel erfahrener Arzt mit guter, zuverlässiger 
Kritik die Methoden schildert und ihren Wert bespricht. Eingehende Literatur- 
angaben und vortreffliche Abbildungen erhöhen den Wert der Darstellung 

Romberg, i. d. Deutschen med. Wochenschrift. 

.... Besonders eingehend behandelt der Verfasser die „Allgemeine 
Diagnostik“, das soll heissen die klinischen Untersuchungsmethoden des Kreislaufs • 
sie umfassen mehr als die Hälfte des Werkes. Wer sich auf diesem Gebiete 
unterrichten will, wird hier eine zusammenfassende Darstellung finden, wie sie 
wohl vorläufig keines der neueren einschlägigen Bücher enthält. Dadurch, dass 
der Verfasser die Literatur weitgehend berücksichtigt, ist auch jedem Gelegenheit 
gegeben, die betreffenden Spezialabhandlungen leicht ausfindig zu machen. Zahl- 
reiche (109), gut gelungene Abbildungen erleichtern vielfach das Verständnis des 
Textes, so dass dieses auf der Höhe der Zeit stehende Werk wohl empfohlen 
werden kann. 


H. E. Hering i. d. Prager med. Wochenschrift.